eBooks

Lernen durch Vorlesen

2015
978-3-7720-5554-6
A. Francke Verlag 
Eva Gressnich
Claudia Müller
Linda Stark

Das Vorlesen gilt sowohl in der Forschung als auch in der Praxis als ein Interaktionsformat, das die kindliche Entwicklung auf verschiedenste Art und Weise fördert. Entsprechend bildet das Vorlesen ein Feld, das von einer Vielzahl an Fachdisziplinen beforscht wird. Der vorliegende Band bringt elf Beiträge zusammen, die das Vorlesen nicht nur aus den unterschiedlichen Fachperspektiven heraus beleuchten, sondern auch unterschiedliche Realisierungsorte abbilden, in denen das Vorlesen praktiziert wird: Familie, Kindergarten, Schule. Dabei werden sowohl die Frage nach interaktiven Strategien beim Vorlesen, die Sprachund Literaturerwerb befördern, als auch die Frage nach der Rolle des Buches im Vorleseprozess diskutiert. Ein weiterer Schwerpunkt des Bandes liegt in der Darstellung und Aufbereitung empirischer Forschungsergebnisse, die wertvolle Anregungen und Vorschläge für das Vorlesen in der Familien-, Schul- und Kindergartenpraxis liefern.

Lernen durch Vorlesen Sprach- und Literaturerwerb in Familie, Kindergarten und Schule Eva Gressnich / Claudia Müller / Linda Stark (Hrsg.) Lernen durch Vorlesen Eva Gressnich / Claudia Müller / Linda Stark (Hrsg.) Lernen durch Vorlesen Sprach- und Literaturerwerb in Familie, Kindergarten und Schule Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Lucas Bergmayer © 2015 © 2015 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Internet: www.francke.de E-Mail: info@francke.de Printed in Germany ISBN 978-3-7720-8554-3 Inhaltsverzeichnis Eva Gressnich, Claudia Müller & Linda Stark Einleitung.................................................................................................................. 7 I Das Buch im Vorleseprozess Bettina Kümmerling-Meibauer & Jörg Meibauer Vorlese-Input und Redewiedergabe ................................................................... 15 Marie Luise Rau Aus Bilderbüchern über Sprache lernen am Beispiel von Die große Wörterfabrik (2010) .................................................... 34 Friederike von Lehmden, Johanna Bebout & Eva Belke Effizienter Einsatz von Inputoptimierung beim Vorlesen in der Sprachförderung .............................................................. 42 Eva Gressnich & Linda Stark Erklärende Gesprächseinlagen beim Vorlesen von Bilderbüchern ................ 57 II Sprachliches und literales Lernen beim Vorlesen im Vorschulalter Tabea Becker & Claudia Müller Vorlesen und Erzählen im Vergleich .................................................................. 77 Angela Grimminger & Katharina J. Rohlfing Entstehung multimodaler Sprachlehrstrategien in spezifischen Interaktionen.................................................................................... 94 Petra Wieler Kulturelle Differenzen des Vorlesens und die Problematik der ‚richtigen‘ Literacy-Förderung in der Familie........................................... 110 Mandy Schönfelder Vorlesesituationen mit Fragen sprachfördernd gestalten .............................. 126 Inhaltsverzeichnis 6 III Lernpotenziale beim Vorlesen in der Schule Daniela Merklinger Sprachformen für Unbestimmtheit und Ungewissheit: Literarisches Lernen im Vorlesegespräch......................................................... 143 Jeanette Hoffmann Graphic Novels im Gespräch. Musterhafte Strukturen des gegenseitigen Vorlesens von grafisch erzählenden Romanen unter Schulkindern............................... 160 Jürgen Belgrad & Christin Klipstein Leseförderung durch Vorlesen. Ein empirisch begründetes Plädoyer für das regelmäßige Vorlesen im Unterricht aller Schularten ........................................................... 180 Autorenverzeichnis ............................................................................................. 199 Eva Gressnich, Claudia Müller & Linda Stark Einleitung Das Vorlesen von Bilderbüchern ist ein Interaktionsformat, das sowohl in Familien als auch in institutionellen Einrichtungen wie Kindertagesstätten und Schulen genutzt wird. Es hat den Stellenwert eines Sprachlernsettings, das Kinder im Spracherwerb vielseitig unterstützt, ihre kognitive Entwicklung von frühen Kindheitsjahren an fördert, literarische Fähigkeiten anbahnt und den Schriftspracherwerb vorbereitet. Entscheidend dafür, ob Kinder beim Vorlesen einen Zugewinn in ihrer Entwicklung erfahren, ist nicht nur, dass sie mit geeigneter Literatur und deren spezifischen sprachlichen Mustern und Formen in Berührung kommen. Grundlegend ist auch, dass sie im Vorleser 1 einen Interaktionspartner finden, der die Buchgrundlage und das Interaktionsformat auf ihren Entwicklungsstand feinabstimmt, um ihnen die Partizipation am Vorlesegespräch zu erleichtern. Der Vorleser, das Kind und das Buch stehen dabei in einer Wechselbeziehung zueinander, die den kontextuellen Rahmen der Situation bestimmt. Das Vorlesen ist aber auch gebunden an verschiedene Orte: In der frühen Kindheit findet es zunächst vorwiegend im häuslichen Umfeld statt, diese Erfahrungen werden flankiert oder maßgeblich ergänzt durch Vorleseangebote im Kindergarten. Zu einem späteren Zeitpunkt kommen die Kinder dann mit dem Vorlesen in der Schule in Berührung, sei es in der Primarstufe oder im frühen Sekundarbereich. Damit eröffnet das Vorlesen ein breites Feld, das von verschiedenen Disziplinen und aus unterschiedlichen Forschungsrichtungen bearbeitet werden kann. Um einen differenzierten, aber dennoch fachlich eingrenzbaren Blick auf das Vorlesen zu erhalten, wollen wir in diesem Band die drei wesentlichen Komponenten des Vorlesens - den Vorleser, das Buch und das Kind - näher beleuchten und mit dem kindlichen Sprachsowie Literaturerwerb in Beziehung setzen. Dazu haben wir eine Bandbreite an Beiträgen zusammengestellt, die die Rolle der literarischen Textgrundlage für das Vorlesen in den Blick nehmen, Vorleseinteraktionen aus mehrsprachiger und milieubezogener Perspektive im familialen Umfeld untersuchen und sich mit dem Vorlesen und seiner entwicklungsbezogenen Bedeutung in institutionellen 1 Im gesamten Sammelband werden aus Gründen der besseren Lesbarkeit generische Maskulinformen verwendet, die weibliche und männliche Personen gleichermaßen einschließen. Auf zusätzliche Femininformen wird daher verzichtet. Nur wenn es sich um konkrete Personen handelt, auf die in den einzelnen Beiträgen eingegangen wird, werden geschlechtsspezifische Bezeichnungen gewählt. Eva Gressnich, Claudia Müller & Linda Stark 8 Kontexten auseinandersetzen. Daraus ergeben sich für die Gliederung des Bandes drei wesentliche Abschnitte: I Das Buch im Vorleseprozess II Sprachliches und literales Lernen beim Vorlesen im Vorschulalter III Lernpotenziale beim Vorlesen in der Schule Die Beiträge, die in diesem Band zusammengetragen sind, gehen z.T. aus einer Tagung hervor, die wir am 21. und 22. Februar 2014 am Germanistischen Institut der Ruhr-Universität Bochum unter dem Titel Sprachliches Lernen durch Vorlesen mit der freundlichen Unterstützung der Professional School of Education Bochum mit knapp 100 Teilnehmern durchgeführt haben. Ein besonderer Reiz der Tagung ergab sich aus der heterogenen Zuhörerschaft, die sich aus Wissenschaftsvertretern unterschiedlicher Disziplinen und zahlreichen Experten aus der Praxis (z.B. Logopäden, Lehrern und Erziehern) mit je unterschiedlichen Interessenschwerpunkten und Perspektiven auf das Thema Vorlesen zusammensetzte. Auch der vorliegende Band zielt darauf ab, den Spagat zwischen Forschung und Praxis zu meistern und die unterschiedlichen fachlichen, didaktischen und praktischen Perspektiven auf das Feld zusammenzuführen. In dem Beitrag von Bettina Kümmerling-Meibauer und Jörg Meibauer, der den Auftakt des vorliegenden Bandes bildet und das Kapitel zur Rolle der Buchgrundlage im Vorleseprozess eröffnet, geht es um verschiedene Typen der Rede- und Gedankenwiedergabe im Bilderbuch. Die Autoren analysierten 26 Titel der Conni-Serie von Liane Schneider und Eva Wenzel-Bürger. Dabei stellten sie fest, dass sich in den untersuchten Büchern der Reihe, die sich überwiegend an Vorschulkinder richten, zahlreiche und zum Teil komplexe Arten der Rede- und Gedankendarstellung finden lassen. In ihrem Beitrag setzen sie die Ergebnisse der Korpusstudie mit Erkenntnissen zum kindlichen Erwerb der Redewiedergabe in Beziehung und schlussfolgern, dass Kinder beim Vorlesen hinsichtlich des betrachteten Erwerbsgegenstands einen Input erhalten, der für die Sprachentwicklung eine entscheidende Rolle spielen kann. Marie Luise Raus Beitrag enthält eine Detailanalyse des Bilderbuchs Die große Wörterfabrik von Agnès de Lestrade und Valeria Docampo. Die Autorin arbeitet zunächst besondere inhaltliche und narrative Eigenschaften des Buches heraus. Im Anschluss zeigt sie auf, dass sich de Lestrades und Docampos Werk dazu eignet, schon bei kleinen Kindern die Entwicklung metasprachlicher Fähigkeiten anzuregen. Die Analyse berücksichtigt die Text- und Bildebene des Buches gleichermaßen und stützt sich auf Erkenntnisse aus der Forschung zu Spracherwerbsprozessen und anderen Entwicklungsdomänen. Einleitung 9 In dem Beitrag von Friederike von Lehmden, Johanna Bebout und Eva Belke wird die Rolle der sprachlichen Inputoptimierung am Beispiel von Vorlesesituationen in einen theoretisch und empirisch begründeten Rahmen eingebettet. Die Autorinnen argumentieren dafür, dass implizite Sprachlernmechanismen durch die Darbietung eines hochstrukturierten Inputs in Vorlesesituationen angeregt werden können. Anhand von konkreten Textbeispielen zeigen sie, inwiefern morphosyntaktische Strukturen in Texten geblockt dargeboten werden können, um einen ausreichenden Input für den Erwerb derjenigen grammatischen Paradigmen bereitzustellen, die den jeweiligen Strukturen zugrunde liegen. Da derartig beschaffene Texte bisher nur marginal in der Kinderliteratur vorkommen, schließt ihr Beitrag mit einem Plädoyer für die systematische Entwicklung eines entsprechenden Vorlesebzw. Sprachfördermaterials. Eva Gressnich und Linda Stark nehmen in ihrem Beitrag exemplarische Analysen von erklärenden Gesprächspassagen in Vorlesesituationen vor, die die Lektüre des Bilderbuchtextes begleiten. Dabei arbeiten sie verschiedene Typen von Erklärungen in der Vorleser-Kind-Interaktion heraus, die sich darin unterscheiden, welche Elemente des vorgelesenen Buches sie zum Gegenstand haben. Der Fokus des Beitrags liegt auf Erklärungen zur Bildebene der Buchgrundlage. Es wird deutlich, dass Eigenschaften der Interaktion zwischen verbaler und visueller Ebene des Buches für das Auftreten dieses Erklärungstyps ausschlaggebend sind. Vor dem Hintergrund ihrer Ergebnisse plädieren die Autorinnen dafür, das Text-Bild-Verhältnis in Bilderbüchern für Zwecke der empirischen Vorleseforschung differenzierter in Betracht zu ziehen, als dies bisher getan wurde. Tabea Beckers und Claudia Müllers Beitrag, der das Kapitel zum sprachlichen und literalen Lernen beim Vorlesen einleitet, nimmt zwei familiale Sprachpraktiken in den Blick, die für die frühkindliche Entwicklung literaler Fähigkeiten zentral sind: Erzählen und Vorlesen. In ihren Vergleichen zeigen sie wesentliche Parallelen beider Diskurspraktiken auf, weisen aber auch auf zentrale Unterschiede hin. Vor allem die Diskussion der wechselseitigen Einnahme von Produzenten- und Rezipientenrolle von erwachsenem Interaktionspartner und Kind ermöglicht eine aufschlussreiche Systematisierung, von der Impulse für die Sprachförderpraxis ausgehen können. Angela Grimminger und Katharina J. Rohlfing stellen in ihrem Beitrag Ergebnisse einer Studie vor, in deren Mittelpunkt multimodale Verhaltensweisen von Müttern in Buchsituationen und freien Spielsituationen standen. Die Studie zeigt, dass Mütter in Buchsituationen mit ihren Kindern im Alter von 14 bis 18 Monaten in stärkerem Maße sprachförderliche Handlungen wie Benennen von oder Fragen zu Objekten einsetzen als in der freien Spielsituation, was wiederum positiv mit dem Wortschatzlernen der Kinder in Buchsituationen korreliert. Des Weiteren konnten die Autorinnen Eva Gressnich, Claudia Müller & Linda Stark 10 feststellen, dass das Benennen als Sprachlehrstrategie zunächst an den Kontext der Buchsituation gebunden ist, aber später auf die freie Spielsituation übertragen wird. Das Buchlesen sehen die Autorinnen daher als besonderen Sprachlernkontext an, in dem spezifische Interaktionsstrukturen etabliert werden, die dann auf andere Interaktionskontexte transferiert werden können. Petra Wieler beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit kulturellen Unterschieden beim Vorlesen. Basierend auf Forschungsergebnissen, die sie im Rahmen einer Untersuchung zum Mediengebrauch von Grundschülern in Schule und Familie gewinnen konnte, gibt die Autorin Einblicke in die Sprachpraxis mehrsprachiger Familien und zeigt, inwieweit die Orientierungen der Eltern sowie deren Umgang mit Mehrsprachigkeit im Alltag das Sprachförderhandeln in der Familie prägen. Die Komplexität der familialen Sprachpraxis sieht die Autorin als Anlass, um über Empfehlungen zur „richtigen“ Literacy-Förderung in der Familie kritisch zu diskutieren und alternative Konzepte zur Literalitätsförderung in Kindergarten und Grundschule in den Blick zu nehmen. Der Beitrag von Mandy Schönfelder behandelt mit dem Fragesatz einen für die Sprachförderung wesentlichen Satztyp. Fokussiert wird dabei das Förder- und Lernsetting des gemeinsamen Lesens und Betrachtens von Bilderbüchern in Kindertagesstätten. Die Autorin argumentiert dafür, dass es entgegen üblicher Empfehlungen zum Einsatz der Fragetechnik nicht ausreicht, bei der Beurteilung der Qualität eines potenziell sprachfördernden Dialogs zwischen offenen und geschlossenen Fragen zu unterscheiden. Sie stellt ein Modell vor, das linguistisch fundiert Frage-Formtypen mit Phasen des kindlichen Spracherwerbs in Verbindung setzt und Merkmale des kommunikativen Kontextes berücksichtigt. In dem ersten Beitrag des Kapitels zum Vorlesen in der Schule geht Daniela Merklinger der Frage nach, inwiefern Schüler in Vorlesegesprächen zu mehrdeutigen Bilderbüchern sprachliche Formen erlernen können, die dem Ausdruck von Ungewissheit dienen. Die Autorin zeigt anhand von Transkriptausschnitten aus Vorlesegesprächen, die in einer Grundschulklasse aufgezeichnet wurden, wie Kinder der vierten Klasse sprachlich mit der partiellen Ungewissheit des Bilderbuchs Schnipselgestrüpp von Christian Duda und Julia Friese umgehen. Durch ihre detaillierten Analysen wird deutlich, wie eng Möglichkeiten literarischen und sprachlichen Lernens in Vorlesegesprächen miteinander verknüpft sind. Jeanette Hoffmann schildert in ihrem Beitrag die Ergebnisse einer empirisch-qualitativen Rezeptionsstudie zum Verhalten von Grundschülern beim gemeinsamen Betrachten und gegenseitigen Vorlesen einer Graphic Novel. Es handelt sich dabei zweifach um ein Desiderat der Vorleseforschung − sowohl hinsichtlich des Buchtyps als auch hinsichtlich des besonderen Interaktionsformates, in dem kein zwischen Buch und Kindern Einleitung 11 vermittelnder Vorleser auftritt. Die Autorin stellt musterhafte Strukturen vor, die sie bei der Analyse von Vorlesegesprächen zwischen Zweitklässlern herausarbeiten konnte. Die Gespräche bezogen sich auf Jean Regnauds und Émile Bravos Graphic Novel Meine Mutter ist in Amerika und hat Buffalo Bill getroffen. Der Beitrag weist auf die zahlreichen Lernpotenziale der besonderen Rezeptionskonstellation hin und macht deutlich, an welchen Stellen es einer Unterstützung der Schüler durch eine leseerfahrene Bezugsperson bedarf. Die Frage, ob sich das Vorlesen von Kinder- und Jugendliteratur im Unterricht verschiedener Fächer auf die Lesesozialisation von Schülern auswirkt, liegt der Studie Leseförderung durch Vorlesen zugrunde, deren zentrale Ergebnisse in dem Beitrag von Jürgen Belgrad und Christin Klipstein vorgestellt werden. Auf der Grundlage der erzielten Ergebnisse, die dem Vorlesen einen durchweg positiven Einfluss auf die Lesefähigkeit und -motivation der Schüler bescheinigen, plädieren die Autoren für eine flächendeckende curriculare Verankerung des unterrichtlichen Vorlesens - nicht nur im Fach Deutsch. Abschließend möchten wir allen anonymen Gutachtern danken, die durch ihre kritische Lektüre und konstruktiven Rückmeldungen dazu beigetragen haben, die Qualität des vorliegenden Bandes zu sichern. Außerdem möchten wir Bettina Kümmerling-Meibauer und Jörg Meibauer sowie Björn Rothstein nochmals unseren Dank für ihre Anregungen und Unterstützung im Rahmen der Tagungsorganisation und -moderation aussprechen. Zuletzt bedanken wir uns bei Annedore Friedrich und Angelina Keuschnig, die uns bei der Fertigstellung des Sammelbandes unterstützt haben, sowie bei Lucas Bergmayer, der das Titelbild gestaltet hat. Mainz, Bochum und Würzburg, im Oktober 2015, Eva Gressnich, Claudia Müller & Linda Stark I Das Buch im Vorleseprozess Bettina Kümmerling-Meibauer & Jörg Meibauer Vorlese-Input und Redewiedergabe 1 Einleitung Wir gehen davon aus, dass das Vorgelesene ein spezifischer Input im kindlichen Erstspracherwerb ist. Kinder können aus dem Vorgelesenen etwas lernen, sowohl hinsichtlich der sprachlichen Formen als auch der damit verbundenen Inhalte. In diesem Beitrag geht es um die Frage, was Kinder über die Typen und Funktionen der Redewiedergabe lernen können. Die Redewiedergabe ist ein komplexes sprachliches Verfahren der Metarepräsentation (Brendel/ Meibauer/ Steinbach 2007). Sie ist nicht einfach zu lernen und kann den Kindern sogar noch im Schulalter Schwierigkeiten bereiten. Es ist gut bestätigt, dass die direkte Rede vor der indirekten Rede erworben wird und sowohl im alltagssprachlichen Input der Kinder als auch in deren eigener Sprachproduktion häufiger vorkommt (vgl. Köder 2013). Dies wirft die Frage auf, ob nicht die indirekte Rede unter anderem durch das Vorgelesene, also Texte, die indirekte Rede enthalten, gelernt wird. Es wirft aber auch die Frage auf, welche besondere narrative Leistung die direkte Rede im Gegensatz zur indirekten Rede hat, vor allem da, wo die direkte Rede ohne Inquit-Formel (Redekennzeichnung) vorkommt, z.B. in Dialogen, die aus direkter Rede bestehen. Für den mündlichen und schriftlichen Erzählerwerb ist die Redewiedergabe besonders wichtig, denn reale Sprecher und literarische Figuren werden durch ihre jeweilige Rede charakterisiert und der Erzähler repräsentiert sich durch seine Einstellung zu dem, was die Charaktere sagen. Der Vorlesende wiederum kann bei der Wiedergabe direkter Rede durch prosodische Variation den fiktionalen Sprechern eine spezifische Stimme verleihen. Im Folgenden stellen wir zunächst Typen und Funktionen der Redewiedergabe dar, wobei wir Dirscherl/ Pafel (2015) zugrunde legen. Wir resümieren dann den Kenntnisstand zum vorschulischen Erwerb der Redewiedergabe und korrelieren ihn mit Redewiedergaben aus verschiedenen literarischen Quellen, insbesondere der Conni-Reihe (pixi-Bücher). Schließlich weisen wir auf Konsequenzen für den schulischen Redewiedergabeerwerb hin. Diese Untersuchung reiht sich ein in unsere Bemühungen, „einfacher“ Kinderliteratur zu mehr wissenschaftlicher Anerkennung zu verhelfen (Kümmerling-Meibauer/ Meibauer 2011; Meibauer 2014, 2015). Bettina Kümmerling-Meibauer & Jörg Meibauer 16 2 Typen und Funktionen der Redewiedergabe Das Gebiet der Redewiedergabe ist überraschend komplex und so ist es nützlich, zunächst eine kleine Taxonomie der Redewiedergabe zu erarbeiten. Wir beziehen uns auf die Darstellung von Dirscherl/ Pafel (2015), die eine im Wesentlichen semantische Taxonomie der Rede- und Gedankendarstellung vorschlagen. In Ergänzung zu dieser Taxonomie erwähnen wir noch formale Aspekte der Rede- und Gedankendarstellung, wie zum Beispiel die Stellung des Verbs in der sogenannten referierenden Rededarstellung (indirekte Rede) oder die Verwendung von graphematischen Zeichen (wie vor allem dem Anführungszeichen und dem Doppelpunkt), ohne dass wir diese Aspekte in eine multidimensionale Taxonomie einbringen wollen (und können). Wir werden die wesentlichen Fälle anhand von Belegen aus Büchern der Conni-Reihe illustrieren. Dirscherl/ Pafel (2015) unterscheiden zwischen der Rededarstellung und der Gedankendarstellung; wir wählen als Oberbegriff einfach ‚Metarepräsentation‘. Bei beiden Darstellungsarten wird differenziert zwischen zitierender, referierender, gemischter und unspezifischer Darstellung. In einem Überblick ergibt das die folgende Taxonomie: Metarepräsentation Rededarstellung Gedankendarstellung … … … zitierend referierend gemischt unspezifisch Abb. 1: Arten der Rede- und Gedankendarstellung nach Dirscherl/ Pafel (2015) In jeder der vier Dimensionen der Rededarstellung, also zitierend, referierend, gemischt und unspezifisch, wird wiederum zwischen den beiden Merkmalen „explizit“ und „implizit“ unterschieden. Das ergibt 8 Typen. Da die gleiche Einteilung auch für die Gedankendarstellung vorgenommen wird, erhalten wir insgesamt 16 Klassen der Metarepräsentation. Beginnen wir mit den Typen der Rededarstellung. (a) zitierende Rededarstellung - explizit: Hier muss eine Redekennzeichnung (Inquit-Formel) vorhanden sein. Vorlese-Input und Redewiedergabe 17 (1) Genervt sagt sie: „Dann koch doch selbst! “ (Conni backt Pizza) - implizit: Hier ist keine Redekennzeichnung vorhanden, es handelt sich um „autonome direkte Rede“. Dirscherl/ Pafel (2015: 16) nennen als Beispiel den folgenden Dialog: „Wen mag Heine? “ „Den Moritz! “ Dialoge von dieser Art sind in den Conni-Büchern nicht zu finden, vermutlich deshalb, weil es für die Kinder schwierig sein könnte, die jeweiligen Sprecher zu identifizieren. (b) referierende Rededarstellung - explizit: Bei der expliziten referierenden Rededarstellung handelt es sich um „indirekte Rede“. (2) Sie fragt, ob er morgen nach der Schule mit ihr Pizza backen kann. (Conni backt Pizza) - implizit: Die implizite referierende Rededarstellung ist die sogenannte „berichtete Rede“. Hier gibt es keine Redekennzeichnung. Dirscherl/ Pafel (2015) unterscheiden zwischen zwei Arten von berichteter Rede. Ein Beispiel für die berichtete Rede I ist das folgende: Herr Kienast ging zu etwas anderem über. Ob Diedrich auch wisse, warum er ihm so leicht entgegengekommen sei? (Dirscherl/ Pafel 2015: 18). Dagegen enthält die berichtete Rede II keine Konjunktivmarkierung, es ist eine bloße Inhaltsangabe. (3) Heute kommt Conni ganz aufgeregt vom Ballettunterricht. Sie soll auf einer richtigen Bühne tanzen! (Conni tanzt) In (3) sehen wir kein verbum dicendi und das Modalverb sollen steht im Indikativ. Daher handelt es sich um berichtete Rede II. (c) gemischte Rededarstellung: Zu der gemischten Rededarstellung rechnen Dirscherl/ Pafel (2015: 19-21) zwei Fälle: einerseits „gemischte Rededarstellung“ im engeren Sinn (‚mixed quotation‘), andererseits „erlebte Rede“ (freie indirekte Rede). Eine gemischte Rededarstellung liegt etwa in dem folgenden Satz vor: Franziskus sagte, dass der hauende Vater „den Sinn der Würde“ kenne. Hier wird in der indirekten Rede nur ein Teil der Originaläußerung übernommen. Dieses Beispiel veranschaulicht die explizite gemischte Rededarstellung (mit Redekennzeichnung); die implizite wäre eine gemischte Wiedergabe ohne Redekennzeichnung. Wir haben in den Conni-Büchern solche Fälle nicht finden können. Dies liegt sicher daran, dass eine gemischte Wiedergabe mit besonderen Be- Bettina Kümmerling-Meibauer & Jörg Meibauer 18 deutungseffekten verbunden ist, etwa dass die besondere Wortwahl ausschnitthaft wiedergegeben werden soll. Ein Beispiel, dass dem nahekommt (ohne dass man aber auf eine Originaläußerung der Mutter zurückgreifen kann), ist das folgende: (4) Mama geht mit ihr einkaufen. Im Ballettladen hängen wunderschöne Trikots mit tollen bauschigen Röcken aus ganz viel Tüll. So eins möchte Conni gern haben! Aber Mama sagt, so ein „Tutu“ bekommt man erst bei einem Auftritt. (Conni tanzt) In diesem Fall handelt es sich darum, dass erklärt wird, dass „Tutu“ die ballettsprachliche Bezeichnung für die „bauschigen Röcke aus ganz viel Tüll“ ist. Die Kategorie der erlebten Rede (freie indirekte Rede) ist aus narratologischer Sicht besonders wichtig und stellt auch eine besondere semantische Herausforderung dar (Eckardt 2014; McHale 2013). Unter erlebter Rede verstehen Dirscherl/ Pafel (2015: 28) „einen selbständigen Satz, der eine Gedankendarstellung ist“. Ein Standardbeispiel wäre Lena beschleunigt ihren Schritt. Das Projekt war total verrückt. Dirscherl/ Pafel (2015: 28-36) versuchen zu zeigen, dass die erlebte Rede sowohl Eigenschaften der zitierenden als auch der referierenden Rededarstellung hat. Andere würden hier eher eine eigene Kategorie ansetzen. Es wundert nicht, dass man erlebte Rede, die ja ein anspruchsvolles literarisches Verfahren darstellt, in den Conni-Büchern nicht finden kann. (d) unspezifische Rededarstellung - explizit: Explizite unspezifische Rededarstellung kommt in den Conni-Büchern vor. (5) Papa ruft Oma an. (Conni und das neue Baby) (6) Über Lautsprecher begrüßt der Pilot die Fluggäste. (Connis erster Flug) - implizit: Als Beispiel für implizite unspezifische Rededarstellung nennen Dirscherl/ Pafel (2015) Er ließ den Ablauf der Tat erahnen und Sie zeigte sich erleichtert. Solche Fälle kommen in den Conni-Büchern nicht vor. Insgesamt ist aber die Kategorie der unspezifischen Rededarstellung unseres Erachtens problematisch, weil gar keine Rede dargestellt wird (es handelt sich nicht um einen dargestellten Redeinhalt), sondern dargestellt wird, dass geredet wird. Vorlese-Input und Redewiedergabe 19 Kommen wir nun zu den Fällen der Gedankendarstellung, die Dirscherl/ Pafel (2015: 25) ganz genau in Analogie zu den Fällen der Rededarstellung subklassifizieren. Der wesentliche Unterschied zwischen der Gedankendarstellung und der Rededarstellung ist, dass bei der Gedankendarstellung eine (explizite oder implizite) Gedankenkennzeichnung vorhanden sein muss. Eine explizite Gedankenkennzeichnung liegt zum Beispiel bei einem Verb des Denkens (verbum putandi) vor. (a) zitierende Gedankendarstellung - explizit (direkte Rede mit verbum putandi, vgl. Dirscherl/ Pafel 2015: 25): (7) Die Frau meint, dass Conni zum Reiten vor allem eine Reitkappe braucht. Conni wundert sich: Eine Mütze soll wichtig sein? (Conni lernt reiten) - implizit: Hier nennen Dirscherl/ Pafel (2015: 25) das Gedankenzitat, den inneren Monolog und den Bewusstseinsstrom. Gedankenzitate lassen sich auch in den Conni-Büchern nachweisen. Allerdings ist die Abgrenzung zur erlebten Rede schwierig. (8) Conni möchte auch gern bei Mama sein. Sie hat etwas Angst. Ob es Mama weh tut? (Conni und das neue Baby) (9) Conni schlägt vorsichtig ein Ei gegen den Schüsselrand. Es bleibt heil. Komisch! Vorhin auf dem Fußboden ist es doch sofort kaputtgegangen. Conni probiert es noch mal. (Conni lernt backen) Der innere Monolog und der Bewusstseinsstrom sind komplexe narrative Techniken und finden sich erwartungsgemäß in den Conni-Büchern nicht. (b) referierende Gedankendarstellung - explizit (indirekte Rede mit verbum putandi, vgl. Dirscherl/ Pafel 2015: 26): (10) Conni weiß nicht, ob sie das glauben soll. (Conni und der Osterhase) - implizit (berichtete Rede II, vgl. Dirscherl/ Pafel 2015: 26): (11) Was soll sie bloß tun? Sie will Mau auf keinen Fall hergeben! Am besten, sie versteckt sie. Aber wo? (Conni bekommt eine Katze) Bettina Kümmerling-Meibauer & Jörg Meibauer 20 Hier gibt es keine Konjunktivmarkierung und die Sequenz gibt die Gedanken von Conni wieder. Eine Einstufung als erlebte Rede ist möglich (Hinweis Eva Gressnich, vgl. Dirscherl/ Pafel 2015: 18f.). Schließlich nennen Dirscherl/ Pafel (2015: 26) die gemischte Gedankendarstellung, die als „erlebte Rede […], wenn sie der Gedankendarstellung dient“, verstanden wird, sowie die unspezifische Gedankendarstellung (Gedankenbericht), z.B. Er dachte an vieles zugleich. Beide Kategorien kommen in den Conni-Büchern nicht vor. Insgesamt zeigt sich in dieser Inspektion der Conni-Serie eine beträchtliche Anzahl von Typen der Rede- und Gedankenwiedergabe. 3 Vorschulischer Erwerb der Redewiedergabe Es liegen bislang kaum Langzeitstudien zum Erwerb der Redewiedergabe von Kindern im Vorschulalter vor. Zu den wenigen Ausnahmen gehört die Studie von Köder (2013), die Daten von 31 deutschsprachigen und 38 niederländischen Kindern im Alter zwischen 1; 1 und 4; 6 Jahren erhoben hat, um deren Erwerb der direkten und indirekten Rede (= zitierende und referierende Rededarstellung bei Dirscherl/ Pafel 2015) zu untersuchen. Ihre Auswertung der Sprecherdaten, die zumeist auf einem Dialog zwischen Kindern und erwachsenen Kontaktpersonen beruhen, zeigt, dass Kinder ab dem Alter von 2; 0 die direkte Rede ohne ein finites Verb aktiv verwenden. Typische Beispiele sind nach Köder (2013: 21): (12) Susanne sagt „schade(.)schade“. (2; 2) (13) „Muh“ sagen die, ne? (2; 1) Kinder in diesem Alter neigen dazu, bei direkter Rede nur kurze Äußerungen mit oft nur einem Wort (danke, tschüss, hallo, bitte, ja, nein) zu verwenden. Erst ab dem Alter von 2; 5 verwenden Kinder bei der direkten Rede einen vollständigen Satz mit Verb-Zweitstellung (V2). Erste Beispiele für die Verwendung von indirekter Rede konnte Köder bei Kindern ab dem Alter von 2; 3 beobachten, wobei Sätze mit Verb-Zweitstellung weitaus häufiger vorkommen als Sätze mit Verb-Letztstellung (VL). Auf einer Basis von 10.000 Wörtern ergaben sich folgende Häufigkeiten (Köder 2013: 24, Tab. 1): 2; 1-2; 6 2; 7-3; 0 3; 1-3; 6 3; 7-4; 0 4; 1-4; 6 indirekt, VL 0 0.18 0.36 0.4 0.31 indirekt, V2 0.06 0.09 0.57 0.79 1.42 Tab. 1: Anzahl von Typen indirekter Redewiedergabe pro 10.000 Wörter (Ausschnitt aus Köder 2013, Fig. 1, S. 24) Vorlese-Input und Redewiedergabe 21 Eine Mischung von direkter und indirekter Rede sei in den Daten nur einmal vorgekommen und deshalb nicht relevant (Köder 2013: 23). Köders Untersuchung bestätigt, dass der Erwerb der direkten Rede vor dem Erwerb der indirekten Rede erfolgt, wobei die Häufigkeit der verwendeten Redewiedergabeformen mit dem Input der erwachsenen Kontaktpersonen gekoppelt ist. Die Häufigkeit der Verwendung von direkter und indirekter Rede wächst mit dem Alter der Kinder, wobei diese eine Präferenz für das verbum dicendi sagen aufweisen (Köder 2013: 16). Das wichtigste Ergebnis der Studie liegt jedoch darin, dass Kinder bis zum Alter von 4 Jahren dazu tendieren, mehr direkte als indirekte Rede zu verwenden (Köder 2013: 25). Welche Gründe stehen dahinter und warum ist es für Kinder offenbar schwieriger, den Gebrauch von indirekter Rede zu lernen? Eine zentrale Herausforderung der indirekten Rede besteht darin, die direkte Redewiedergabe eines Sprechers in syntaktischer und semantischer Hinsicht zu verändern. Hierzu gehört der deiktische Wechsel (Indexikalisierung), also die Anpassung deiktischer Elemente aus der Situation der Originaläußerung an die Situation der Wiedergabeäußerung. Bei indirekter Rede mit untergeordnetem Nebensatz kommt die Möglichkeit der geänderten Stellung des Verbs (Verb-Letztstellung) hinzu. Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, dass im Deutschen oft (aber nicht notwendig) bei indirekter Rede der Konjunktiv verwendet wird, der in der gesprochenen Sprache jedoch kaum vorkommt. Das Argument, dass direkte Rede nur die Wiederholung bzw. wortwörtliche Wiedergabe einer Sprecheräußerung bedeutet und folglich leichter zu reproduzieren sei (vgl. Goodell/ Sachs 1992), wird von Köder nicht in demselben Maße geteilt, weil direkte Rede ein „constructed dialogue“ (Köder 2012: 102) sei, also auf einer Eigenleistung des aktuellen Sprechers beruhe. Köder (2012: 26) behauptet, dass direkte Rede Kindern ermögliche, ihre noch nicht voll entwickelten sprachlichen Fähigkeiten effektvoll einzusetzen. Eine weitere Erklärung liegt für Köder darin, dass Kinder und die mit ihnen kommunizierenden Erwachsenen eine Präferenz für direkte Rede zeigen, weil diese lebhafter und engagierter wirkt und zudem den Eindruck erweckt, als würden die Zuhörer direkt in die Gesprächssituation involviert. Dies spielt vor allem in Spielsituationen und beim Erzählen von Geschichten eine zentrale Rolle. In Kontexten dagegen, wo es mehr um die Übermittlung von Informationen geht, liegt der Fokus eher auf der Verwendung von indirekter Rede (Köder 2012: 26). Worüber es - zumindest nach unserem Wissensstand - noch keine Untersuchungen gibt, ist die Frage, ob Kinder direkte und indirekte Rede zunächst ausschließlich mit vorangestellter Redekennzeichnung (Inquit- Formel) erwerben oder ob sie im Vorschulalter auch schon andere Satzstellungen, also Nachstellung und Parenthese der Redekennzeichnung, beherrschen. Bettina Kümmerling-Meibauer & Jörg Meibauer 22 Im Folgenden wollen wir untersuchen, inwieweit direkte Rede und indirekte Rede in Kinderbüchern, die an Vorschulkinder und Kinder im Grundschulalter adressiert sind, eine Rolle spielen können und ob sich darüber hinaus auch nicht-marginale Formen der Gedankenwiedergabe nachweisen lassen. Des Weiteren gehen wir auf die Funktionen der Rede- und Gedankenwiedergabe ein und stellen Überlegungen darüber an, welche Verbindung zwischen Redewiedergabe und Vorlesesituation besteht. 4 Vorlese-Input: Redewiedergabe in der Conni-Serie Unser Korpus besteht aus 26 Büchern der Conni-Serie von Liane Schneider mit Bildern von Eva Wenzel-Bürger, die im Zeitraum 1993-2009 in der Pixi- Bücher-Reihe beim Carlsen Verlag erschienen sind. Von zwei Büchern, nämlich Conni geht in den Kindergarten und Conni geht zur Schule, liegen zwei verschiedene Textversionen vor. Das Alter der Hauptfigur bewegt sich zwischen 3 und 7 Jahren; in den meisten Büchern ist Conni 4, 5 oder 6 Jahre alt. Die Zielgruppe sind Kinder ab dem Alter von drei Jahren bis zu den ersten Jahren der Grundschule. Dargestellt werden typische Alltagssituationen von Kindern, also Kindergarten- und Schulalltag, Besuch beim Arzt, Kuchenbacken und sportliche Tätigkeiten (Skifahren, Ballett, Reiten, Schwimmen, Fußball), aber auch besondere Situationen, wie Feste (Weihnachten, Ostern, Geburtstag), Ferienreisen (Flug, Camping, Bauernhof), Geburt eines jüngeren Bruders oder längerer Aufenthalt im Krankenhaus. Das Figurenensemble ist überschaubar mit Conni, ihren Eltern, später dem kleinen Bruder Jakob, ihren Freundinnen und Freunden aus Kindergarten und Schule sowie wechselnden Erwachsenen, die als Erzieher, Lehrer, Arzt und Sporttrainer fungieren. Die von zahlreichen Illustrationen begleiteten Geschichten sind relativ kurz, wobei diejenigen Conni-Bücher, die sich an ältere Kinder wenden, einen größeren Umfang aufweisen. In der Regel haben die Bücher der Conni-Reihe um die 600 Wörter mit ca. 80-90 Sätzen. Einige Bücher haben lediglich 360-400 Wörter (z.B. Conni kommt in den Kindergarten, erste Fassung; Conni macht das Seepferdchen), andere wiederum haben 700-770 Wörter (Conni backt Pizza; Conni feiert Weihnachten; Conni hat Geburtstag). Interessanterweise weichen die zwei Fassungen von Conni kommt in den Kindergarten und Conni kommt in die Schule auch hinsichtlich der Wörterzahl eklatant voneinander ab: Conni kommt in den Kindergarten (1992) hat 368 Wörter (49 Sätze), die Bearbeitung von 2006 dagegen 628 (93 Sätze), obwohl Conni in der ersten Fassung vier Jahre alt ist und in der Neubearbeitung sogar erst drei Jahre. Bei Conni kommt in die Schule ist es ähnlich: Die erste Fassung von 1994 hat 499 Wörter (49 Sätze), die Bearbeitung von 2003 dagegen 673 Wörter (87 Sätze). Vorlese-Input und Redewiedergabe 23 Auch wenn diese Geschichten längere deskriptive Passagen enthalten, in denen beschrieben wird, was die Figuren machen, werden diese doch immer wieder durch Rede- und Gedankenwiedergaben unterbrochen. Die einzigen Ausnahmen sind die Pixibücher Conni kommt in den Kindergarten (1992) und Conni macht das Seepferdchen (1993), in denen sich weder zitierende noch referierende Rededarstellung findet. In den anderen Büchern sind die meisten Rede- und Gedankenbeiträge der Hauptfigur Conni zugeordnet. Bei den Redewiedergaben handelt es sich oft um kurze Dialoge mit einem anderen Gesprächspartner, die aber in der Regel nicht mehr als einen Sprecherwechsel umfassen. Bei der Auswertung der Conni-Bücher haben wir alle Formen der Rede- und Gedankenwiedergabe berücksichtigt, mit Ausnahme der unspezifischen Rededarstellung, die gelegentlich vorkommt, aber aus unserer Sicht hinsichtlich des Erwerbs der Redewiedergabe keine so bedeutende Rolle spielt wie die anderen Formen der Redewiedergabe. Hinsichtlich der Taxonomie haben wir uns an Dirscherl/ Pafel (2015) orientiert, werden dabei aber auch auf ein paar Sonderformen eingehen. Zugleich wollen wir überprüfen, ob die korpusbasierte Taxonomie von Köder (2013) in der Lage ist, die Formen der Rede- und Gedankendarstellung in kinderliterarischen Texten, die sich an jüngere Kinder richten, hinreichend zu erfassen. In 24 Conni-Büchern kommen sowohl zitierende als auch referierende Rededarstellung vor, in 14 Büchern auch noch zitierende und referierende Gedankendarstellung. Die Conni-Bücher zeigen darüber hinaus die Tendenz, dass bei den Rededarstellungen mehrheitlich die explizite Form (mit Redekennzeichnung/ Inquit-Formel) vorkommt. Dennoch findet man immer wieder implizite Formen, bei denen auf die Inquit-Formel verzichtet wird. Die Conni-Bücher weisen in der Regel zwischen 4 bis 12 Beispiele für explizit zitierende Rededarstellung auf und 2-7 Sätze in explizit referierender Rededarstellung. Die 14 Pixibücher mit Gedankendarstellung haben in der Regel nur 1-2 Beispiele. Rededarstellung Gedankendarstellung zitierend 186 21 referierend, VL 46 5 referierend, V2 26 3 Tab. 2: Absolute Häufigkeit der Darstellungsarten in den Conni-Büchern (N = 1.902 Sätze) Es fällt auf, dass der Anteil der explizit zitierenden Rededarstellung immer größer ist als derjenige der explizit referierenden Rededarstellung. Der Anteil der Rede- und Gedankenbeiträge steigt mit dem Alter der Hauptfigur. Allerdings lässt sich auch feststellen, dass innerhalb der Reihe eine Bettina Kümmerling-Meibauer & Jörg Meibauer 24 Änderung des Konzeptes zu beobachten ist. Diese Änderung bezieht sich nicht nur auf den größeren Textanteil, sondern auch auf die Varianz der Satztypen und den Wechsel zwischen Rede- und Gedankendarstellung und eher beschreibenden Passagen. In den neueren Büchern der Conni-Serie sind die Textteile, die explizite zitierende Rededarstellung enthalten, weitaus umfangreicher. Sie können zuweilen bis zu vier Redebeiträge enthalten: (14) Viele Leute kommen jetzt angerannt und ein Junge schreit: „Ein Krokodil. Da hinten ist ein Krokodil! “ „Das gibt es doch nicht“, ruft eine Dame im Bikini. Eine andere jammert: „Wenn es hier Krokodile gibt, packe ich sofort meine Sachen und fahre nach Hause! “ (Conni am Strand) Diese Redebeiträge werden noch durch explizit referierende Rededarstellung sowie implizite Formen der Rededarstellung ergänzt. Hinzu kommen noch verschiedene Formen der Gedankendarstellung. Auf diese Weise sind die Texte in den Conni-Büchern erstaunlich komplex, denn dadurch erfährt der Leser bzw. der Zuhörer nicht nur, was die Figuren machen, sondern auch, was sie sagen und denken. Des Weiteren wird der Rezipient veranlasst, einen Perspektivenwechsel vorzunehmen, indem die Redebeiträge die Sichtweisen verschiedener Figuren vermitteln. Die Gedankendarstellung ist ausschließlich auf Conni fokussiert, sodass damit nicht nur ihr Status als Hauptfigur etabliert, sondern Conni auch als mögliche Identifikationsfigur für den kindlichen Leser bzw. Zuhörer angeboten wird. Diese Vielfalt stellt hohe Anforderungen an die kognitiven Fähigkeiten der Rezipienten, denn diese müssen die Rede- und Gedankenbeiträge den jeweiligen Figuren zuordnen und in einem weiteren Schritt die Bedeutung und Funktion der Redebeiträge für den Handlungszusammenhang deuten können. Die Zuordnung zu den Figuren wird durch die Verwendung explizit zitierender bzw. referierender Rededarstellung erleichtert. Wenn die entsprechenden impliziten Formen verwendet werden, dann können diese immer Conni zugeordnet werden. Schauen wir uns jetzt einmal die explizit zitierende und referierende Rededarstellung in den Conni-Büchern an. Was zunächst ins Auge fällt, ist die große Varianz der verba dicendi. Auch wenn das Verb sagen häufig verwendet wird (bei zitierender Rededarstellung haben wir 28 Beispiele, bei referierender Rededarstellung 5 Beispiele), gefolgt von rufen, meinen (bei referierender Rededarstellung gibt es mit 7 Beispielen sogar mehr als mit dem Verb sagen) und fragen, wird eine breite Palette anderer Verben des Sagens angeboten. Hierbei trifft man auch einige Verben an, die nicht auf eine Artikulationsform verweisen, sondern kognitive Prozesse oder emotionale Zustände (sich freuen, sich wundern, staunen) und körperliche Reaktionen Vorlese-Input und Redewiedergabe 25 (nicken) bezeichnen. Bei den verba putandi ist die Auswahl deutlich geringer, hier trifft man nur denken, überlegen, wissen und glauben an. Das liegt aber auch daran, dass Gedankendarstellung in den Conni-Büchern weitaus weniger vertreten ist. Häufigkeit (Tokens) Verba dicendi 20-10 sagen (28), rufen (20), meinen (11) 9-5 fragen (8), erklären (6), lachen (6) 3 antworten, finden, staunen, trösten, wissen wollen 2 schreien, stöhnen, verkünden, versprechen 1 anrufen, ansagen, Anweisung geben, begrüßen, betteln, brüllen, flüstern, grinsen, jammern, jubeln, maulen, nicken, schimpfen, sich freuen, sich wundern, vorlesen, zugeben Tab. 3: Verba dicendi (bei zitierender Rededarstellung) Häufigkeit (Tokens) Verba dicendi 9-5 meinen (7), erklären (6), sagen (5) 4 erzählen, fragen, versprechen 3 behaupten 1 beruhigen, davon reden, einfallen, protestieren, verkünden, verraten, vorschlagen Tab. 4: Verba dicendi (bei referierender Rededarstellung) Schließlich zu den verba putandi: Es gibt 3 Beispiele für zitierende Gedankenrede mit verbum putandi; in der Regel kommt in den Conni-Büchern implizite Gedankenrede vor, die meistens als ob-Frage formuliert wird. Bei der referierenden Gedankenrede finden wir denken (2), glauben (1), überlegen (1).Diese Vielfalt an Verben ist überraschend, wenn man Köders Untersuchung berücksichtigt, in der herausgestellt wird, dass Kinder bis zum Alter von 5 Jahren vor allem das verbum dicendi sagen verwenden. Hier wird also von der Autorin der Conni-Reihe ein Input von verschiedenen, hinsichtlich ihrer Bedeutung nuancierten Verben angeboten. Im Unterschied zum eher allgemeinen Verb sagen (einem typischen „light verb“) vermitteln die anderen Verben noch weitere Informationen, u.a. über den jeweiligen Sprechakt, aber auch über den emotionalen und kognitiven Zustand der Figuren. Darauf werden wir später nochmal zurückkommen. Bettina Kümmerling-Meibauer & Jörg Meibauer 26 Bei der zitierenden und referierenden Redewiedergabe gibt es hinsichtlich der Stellung der Redekennzeichnung (Inquit-Formel) weitere Varianten, nämlich Voranstellung, Nachstellung und Parenthese: (15) Conni meint zwar: „Reiten kann ich schon, aber ich brauch bloß ein Pferd.“ (Conni lernt reiten) (16) „Das ist die Pausenklingel“, erklärt Frau Müller. (Conni kommt in die Schule) (17) „Ich will dir ein Geheimnis verraten“, sagt sie. „In meinem Bauch wächst ein Baby.“ (Conni und das neue Baby) Nachstellung der Redekennzeichnung (Inquit-Formel) dominiert in unserem Textkorpus (ca. zwei Drittel der zitierten Redebeiträge), während die beiden anderen Formen ungefähr zu gleichen Teilen vorkommen. Auch das ist eine interessante Beobachtung, denn man würde erwarten, dass die Voranstellung der Inquit-Formel favorisiert wird, weil sie erst den Sprecher identifiziert und dann seine Äußerung wiedergibt. Im umgekehrten Fall muss der Leser bzw. Zuhörer eine höhere kognitive Leistung aufbringen, indem er aufgrund des Kontextes erschließen muss, von wem die zitierte Redewiedergabe sein könnte, bevor die nachgestellte Inquit-Formel ihm darüber Auskunft gibt. Eine Variation der Stellung der Inquit-Formel gibt es bei Sprecherwechseln: (18) „Wir werden jetzt eine Plombe machen“, sagt die Ärztin. „Eine Bombe? “, ruft Conni. Die Ärztin lacht: „Eine Plombe ist nur eine Füllung für ein Loch im Zahn.“ (Conni geht zum Zahnarzt) Einen interessanten Fall von Sprecherwechsel gibt es in Conni bekommt eine Katze, als Conni beim Tierarzt ist und den Arzt mit Fragen löchert: (19) Die Tierärztin beantwortet Conni auch alle anderen Fragen: Nein, Katzen brauchen sich nicht die Zähne zu putzen. Und die meisten Katzen mögen Wasser nicht. Sie waschen sich selbst mit der Zunge. (Conni bekommt eine Katze) Der Rededarstellungstyp ist schwierig zu bestimmen. Man kann die einzelnen Sätze als zitierende Rededarstellung deuten, allerdings fehlen dann die Anführungsstriche. Der Autorin schwebte offenbar mit dieser Aneinanderreihung von Antworten vor, die einzelnen Fragen von Conni auszulassen und den Leser vor die Aufgabe zu stellen, sich selbst die Fragen zu überlegen, die zu den Antworten der Tierärztin passen. Vorlese-Input und Redewiedergabe 27 Ein weiteres Phänomen ist die Aneinanderreihung von Ellipsen, wie in: (20) „Mach ich auch! “, antwortet Conni. „Gleich morgen! Mit Simon! Der kann Pizza! “ (Conni backt Pizza) Auch hier ist der Leser/ der Zuhörer aufgefordert, die fehlenden Satzinformationen selbst zu entschlüsseln, also dass Conni morgen kochen will, dass sie diese Aktion zusammen mit Simon durchführen will, weil dieser Pizza backen kann. Bei der impliziten Gedankenrede findet zuweilen ein Wechsel zwischen zitierender und referierender Gedankenrede statt: (21) Wann kommt endlich der Weihnachtsmann? Hoffentlich nicht, wenn sie gerade in der Kirche sind, so wie letztes Jahr. […] Hoffentlich war der Weihnachtsmann noch nicht da! (Conni feiert Weihnachten) Der zweite Satz ist eine referierende Gedankenrede, indiziert durch das Pronomen sie (bei ziterender Gedankenrede müsste stattdessen das Pronomen wir verwendet werden). Es ist nicht ganz eindeutig, ob diese Äußerungen gedacht oder auch laut geäußert werden. Der Kontext lässt allerdings vermuten, dass es sich um Gedanken Connis handelt. Eine besonders komplexe Form der Redewiedergabe mit Sprecherwechsel gibt es in Conni hat Geburtstag: (22) „Mama, wie viele Kinder darf ich einladen? “, fragt Conni aufgeregt. Sie hat nämlich bald Geburtstag. Ihren fünften! Man lädt fünf Kinder ein, wenn man fünf wird, sagt Mama. Oje, das wird schwierig. Also Julia auf jeden Fall, weil sie ihre beste Freundin ist. Dann Laura und Jolanda. Das sind drei. Natürlich ihren Cousin Michael. Und Semire! Die Zwillinge Katja und Lars sowieso! Das sind sieben. „Sieben geht gerade noch“, meint Mama. (Conni hat Geburtstag) Auffällig sind hier drei Dinge: a) der Einleitungssatz und der Schlusssatz dieses Dialogs werden in Anführungszeichen gesetzt, alle anderen Redewiedergaben nicht; b) die erste zitierende Redewiedergabe ist explizit mit Inquit-Formel, ebenso der letzte Redebeitrag, alle anderen Redewiedergaben sind implizit zitierend; und c) die impliziten Redewiedergaben sind alle Conni zuzuordnen. Es bleibt aber unklar, ob es nicht noch (vom Zuhörer dazu gedachte) Zwischenbemerkungen der Mutter gibt, auf die Conni mit ihren Überlegungen referiert, oder ob es sich um eine fortlaufende Rede- Bettina Kümmerling-Meibauer & Jörg Meibauer 28 wiedergabe handelt, die die Erwägungen Connis hinsichtlich der einzuladenden Gäste bündelt. Bei der referierenden Rededarstellung gibt es sowohl Nebensätze mit Verbletztals auch mit Verbzweitstellung: (23) Sie fragt, ob er morgen mit ihr Pizza backen kann. (Conni backt Pizza) (24) Papa sagt, die Knubbeln heißen „Stollen”. (Conni spielt Fußball) (25) Aber Mama sagt, so ein „Tutu“ bekommt man erst beim ersten Auftritt. (Conni tanzt) Als wichtiges Ergebnis der Auswertung der Conni-Bücher können wir hier bereits festhalten, dass Kinder (jedenfalls solche, die Bücher wie Conni lesen) schon früh mit komplexen Verfahren der Rede- und Gedankendarstellung konfrontiert werden. Es könnte also sein, dass diese Formen von den Kindern gelernt werden, genau so, wie ja auch neue Wörter aus dem Vorlese-Input gelernt werden können. Dies weckt die Frage nach der Qualität von Korpusdaten wie denjenigen, die Köder (2013) verwendet hat. Wenn aber Kinder resistent gegenüber dem Vorlese-Input sein sollten, was wir nicht genau wissen, dann wäre auch dies ein sehr erklärungsbedürftiger Befund. Eva Gressnich (p.M.) gibt zu bedenken, dass Kinder schon früh sensibel für Unterschiede zwischen gesprochener Alltagssprache und literarischer Sprache sein könnten. Entsprechend würden sie dazu neigen, in Alltagsdialogen nur einfache Formen der Rede- und Gedankendarstellung zu verwenden. 5 Redewiedergabe und Narration In einem nächsten Schritt wollen wir uns die narrativen Aspekte der Rede- und Gedankendarstellung genauer ansehen. Zugleich diskutieren wir dabei die Frage, inwiefern Rede- und Gedankenwiedergabe Einfluss auf die Vorlesesituation nehmen. Rede- und Gedankendarstellung ist ein wesentlicher Bestandteil fiktionaler Texte und dient vor allem der Charakterisierung der Figuren. Der Leser/ Zuhörer bekommt Einblick in die Gedankenwelt von literarischen Figuren, partizipiert durch deren Redewiedergabe aber auch an deren Meinungen und Einstellungen. Individuelle Sprechweisen und der gewählte Wortschatz geben weitere Hinweise, ebenso ihr Sprecherverhalten gegenüber anderen Personen. Die Rede- und Gedankenbeiträge in den Conni- Büchern sind zwar oft kurz, dennoch gewinnt man dadurch schon einen ersten Eindruck von den Charaktereigenschaften der Figuren. Conni wird Vorlese-Input und Redewiedergabe 29 als aufgewecktes und lernbegieriges Mädchen dargestellt, das gerne Fragen stellt und alles wissen will. Dennoch werden auch ihre Sorgen und Ängste angesprochen. Den Eltern und anderen Erwachsenen kommt vor allem die Rolle zu, etwas zu erklären, aber sie machen auch mal einen Witz. Der kleine Bruder Jakob hat insgesamt nur zwei Redebeiträge, einmal wird darauf hingewiesen, dass er die Texte der Weihnachtslieder nicht kennt und deshalb nur lala singt (Conni feiert Weihnachten) und einmal ruft er laut Auto, Auto! (Conni lernt Rad fahren). Da Jakob höchstens zwei Jahre alt ist, entspricht das dem Spracherwerbsstand seiner Altersgruppe. Die emotionalen Zustände der Figuren, insbesondere Connis, werden vor allem durch die verba dicendi, wie etwa maulen, trösten, jubeln, lachen, betteln, protestieren und sich freuen, sowie begleitende Adverbien ausgedrückt. Der Ausdruck begeistert rufen kommt vier Mal vor, ansonsten findet man Formulierungen wie: genervt sagen, atemlos erklären, aufgeregt fragen, schnell sagen, lustig finden, enttäuscht sagen und stolz sagen. Zur emotionalen Markierung kann man auch Onomatopoetika (Iih, Hui), Emphase (sooo), unvollständige Sätze (Guck mal! Da! Der Osterhase! ) und Gestik zählen. Die Verbindung von verbum dicendi bzw. putandi und damit zusammenhängender Gestik bzw. Körperbewegung kommt mehrere Male in den Conni-Büchern vor: (26) „Das Meer ist eben nichts für ein Krokodil“, sagt Conni und drückt ihren Fridolin ganz fest an sich. (Conni am Strand) Die Illustrationen spielen bei der Charakterisierung der Figuren ebenfalls eine tragende Rolle. Die die Rede- und Gedankenbeiträge begleitenden Bilder verstärken noch die emotionale Markierung durch die entsprechende Körperhaltung und den Gesichtsausdruck der redenden, denkenden und zuhörenden Figuren. Bei Dialogen werden die jeweiligen Dialogpartner als sich zugewandt gezeigt, sie haben in der Regel Blickkontakt, ihre Aussage wird in der Regel durch passende Gesten unterstrichen. Ein besonders interessantes Beispiel findet sich in Conni geht zum Zahnarzt, als Conni am Vorabend des geplanten Arztbesuches etwas besorgt ihren Vater fragt, ob man mit seiner Bohrmaschine in ihren Zähnen bohren kann. Auf der Illustration sieht man Conni, die mit ihrer Katze auf dem Bett hockt, während der Vater auf der Bettkante sitzt und ihr mit leicht erhobenem Zeigefinger erklärt, dass der Zahnarztbohrer viel kleiner sei und auch ganz anders aussehe als seine Bohrmaschine. Neben Connis Kopf ist eine große Sprechblase gezeichnet, in die eine Bohrmaschine mit Kabel und Stecker gezeichnet ist (das ist auch das einzige Beispiel in allen vorliegenden Conni-Büchern). Auffallend ist diese Illustration nicht nur deswegen, weil hier eine visuelle Konvention aus Comics übernommen wird, sondern auch, Bettina Kümmerling-Meibauer & Jörg Meibauer 30 weil die Sorge Connis durch die Sprechblase mit Bild zusätzlich zum darunter gedruckten Text betont wird. Die vielfältige Rede- und Gedankendarstellung in den Conni-Büchern trägt aber nicht nur zur Figurencharakterisierung und zur Dialogizität der Texte bei, sondern hat auch einen wesentlichen Einfluss auf den Vorlesemodus. Da diese Bücher sich an Kinder wenden, die selbst noch nicht lesen können, benötigen sie einen erwachsenen Vermittler, der ihnen die Texte vorliest. Während die ersten beiden Conni-Bücher, die 1993 erschienen, noch gänzlich ohne Rededarstellung auskommen, enthalten die nachfolgenden Bände kurze Dialoge oder Gedankendarstellungen, um den Text lebendiger und vielfältiger zu gestalten. Sie dienen aber auch dazu, die direkte Kommunikation zwischen den Figuren zu verbalisieren und damit auch einen entsprechenden Input für das zuhörende Kind anzubieten. Dialoghaltige Texte laden den Vorlesenden dazu ein, mit verschiedenen „Stimmen“ zu sprechen, also seine Stimme hinsichtlich Lautstärke und Tonhöhe so zu ändern, dass die verschiedenen fiktionalen Sprecher durch individuelle Vorlese-Stimmen markiert werden. Diese Strategie erleichtert es dem zuhörenden Kind, den Unterschied zwischen berichtendem bzw. beschreibendem Text und Dialogen bzw. Gedankendarstellungen zu erfassen. Je mehr Figuren durch Rede- und Gedankenbeiträge in einem literarischen Text vorkommen, desto mehr stimmliche Variation wird von Seiten des Vorlesenden verlangt. Das bedeutet also auch vom erwachsenen Vermittler ein hohes Maß an Aufmerksamkeit und die Fähigkeit, die eigene Stimme durch Modulation und Intonation an die Figurenrede anzupassen. Bei den Conni-Büchern treten in der Regel 3-4 Figuren auf, die durch Redebeiträge charakterisiert werden. Es gibt jedoch keine Dialoge, die mehr als zwei verschiedene Sprecher einbeziehen, so dass der Vorlesende im Idealfall seine Stimme so verändern sollte, dass zwischen Bericht und zwei Sprechern differenziert werden kann. Hinsichtlich der Lautstärke, Intonation und anderer expressiver stimmlicher Elemente wie Akzent oder Pausen wird in den Conni-Büchern eine Hilfestellung durch die Wortwahl, Interpunktion und Orthographie geboten. Verba dicendi wie rufen, schreien, brüllen, flüstern, begeistert rufen, genervt sagen und laut vorlesen können dem Vorlesenden indizieren, dass der vorgestellte oder nachgestellte Redebeitrag analog stimmlich angepasst werden sollte. Eine Aufeinanderfolge von Rededarstellungen mit Ausrufezeichen lädt dazu ein, die entsprechenden Phrasen emphatisch zu betonen. Gedankenstriche oder Auslassungspunkte indizieren eine kurze Pause beim Vorlesen: (27) „Klar“, grinst Günter, „wir haben doch die Pampers-Liga“. Conni protestiert - sie braucht keine Windeln mehr! Günter beruhigt sie: Sie wird in der F-Jugend spielen. (Conni spielt Fußball) Vorlese-Input und Redewiedergabe 31 (28) Frau Becker sieht Mama an. „Wenn deine Eltern einverstanden sind…“, sagt sie. „Bitte, Mama! “, bettelt Conni. (Conni bekommt eine Katze) Beim ersten Beispiel macht Günter, bereits durch das Verb grinsen angedeutet, einen Witz, der durch die lustige Formulierung Pampers-Liga akzentuiert wird. Durch den eingefügten Gedankenstrich nach Conni protestiert wird dem Vorlesenden signalisiert, hier eine kurze Pause zu machen und dann den nachfolgenden Protest Connis besonders stark zu betonen. Die Emphase wird noch durch das Ausrufezeichen bestärkt. Die nachfolgende explizite referierende Redewiedergabe verwendet dagegen den Doppelpunkt. Günters beruhigende Aussage steht der Emphase der vorhergehenden Äußerung kontrastiv gegenüber. Das zweite Beispiel beschreibt die Situation, als Frau Becker sich bei Conni erkundigt, ob sie auch gut für ihre Katze sorgen würde. Die Auslassungspunkte bei ihrem Redebeitrag indizieren ebenfalls eine kurze Pause beim Vorlesen, um auf diese Weise auch das Zögern von Frau Becker auszudrücken, die sich hinsichtlich der Reaktion von Connis Mutter unsicher ist. Anschließend kommt die Bitte Connis an ihre Mutter, die durch das Verb betteln besonders betont wird. Unseres Wissens gibt es noch keine empirischen Studien, die Vorlesesituationen im Hinblick auf Rede- und Gedankenwiedergabe in kinderliterarischen Texten untersuchen. Die Analyse der Conni-Bücher hat bereits gezeigt, wie komplex Rede- und Gedankendarstellung bereits in Texten für Kinder im Vorschulalter sein kann. Die Bandbreite der Rede- und Gedankendarstellung in den Conni-Büchern ist durch die eher einfache Taxonomie bei Köder nicht annähernd erfasst. Hier bedarf es weiterer, präziserer Studien, um den Erwerb der Rede- und Gedankenwiedergabe vom dritten Lebensjahr bis in die ersten Schuljahre hinein zu untersuchen. Kinderliteratur, so viel steht fest, stellt einen bedeutenden und vielfältigen Input für den Erwerb der Rede- und Gedankendarstellung dar. 6 Schluss Das wesentliche Ergebnis ist, dass die sich an Kinder im Alter von 3-7 Jahren gerichteten Conni-Bücher eine Reihe von Rede- und Gedankendarstellungen enthalten, die zum Teil sehr komplex sind. Wir gehen davon aus, dass diese vorgelesenen Texte einen spezifischen Input für die Kinder darstellen, sodass sie im Prinzip daraus etwas lernen können. Ob sie das tatsächlich tun, wissen wir natürlich nicht. Welche Rolle die Art des Vorlesens, d.h. die Übernahme von Stimmen, dabei spielen könnte, wissen wir genauso wenig. Dies sind Felder, die einer weiteren empirischen Prü- Bettina Kümmerling-Meibauer & Jörg Meibauer 32 fung bedürfen. Die Ergebnisse legen aber nahe, dass der Blickwinkel der Spracherwerbsforschung etwas verengt sein könnte. Köder (2013) verfolgt die Hypothese, dass es einen typischen Erwerbsverlauf „ungerahmte direkte Rede > direkte Rede > indirekte Rede, V2 > indirekte Rede, Vl“ gebe. Im Conni-Angebot spielen aber weder der erste Typ noch der dritte Typ (indirekte Rede, V2) eine größere Rolle. Dagegen gibt es verschiedene Arten der Gedankenrede, vereinzelt auch gemischte Redewiedergabe, die in Köders Aufstellung gar nicht erfasst werden. Es muss zudem festgehalten werden, dass das Verständnis der Rede- und Gedankendarstellung ein langjähriger Prozess ist, der weit über das Alter von sieben Jahren hinausgeht. Dies geht aus der Studie von Dannerer (2012) hervor, die den mündlichen und schriftlichen Erzählerwerb von Schülern der 5. bis 12. Schulstufe auch im Hinblick auf den Erwerb der vielfältigen Formen der Rede- und Gedankenwiedergabe untersucht hat. Insgesamt ist mit unserer Analyse der Conni-Bücher deutlich geworden, dass die Untersuchung, wie der spezifische Bilderbuchinput mit dem Erwerb der Rede- und Gedankendarstellung zusammenhängen könnte, erst noch am Anfang steht. Literatur Brendel, E.; Meibauer, J. & Steinbach, M. (2007): Aspekte einer Theorie des Zitierens. In: dies. (Hgg.): Zitat und Bedeutung. Sonderheft 15/ 2007 der Linguistischen Berichte. Hamburg: Buske, 5-26. Dannerer, M. (2012): Narrative Fähigkeiten und Individualität. Mündlicher und schriftlicher Erzählerwerb im Längsschnitt von der 5. bis zur 12. Schulstufe. Tübingen: Stauffenburg. Dirscherl, F. & Pafel, J. (2015): Die vier Arten der Rede- und Gedankendarstellung. Zwischen Zitieren und Referieren. In: Linguistische Berichte 24, 3-47. Eckardt, R. (2014): The Semantics of Free Indirect Discourse. How Texts Allow to Mindread and Eavedrop. Leiden: Brill. Goodell, E.W. & Sachs, J. (1992): Direct and Indirect Speech in English-Speaking Children’s Retold Narratives. In: Discourse Processes 15, 395-422. Köder, F. (2013): How children acquire reported speech in German and Dutch: a corpus study. In: Perspektiven. Diskussionsforum Linguistik in Bayern/ Bavarian Working Papers in Linguistics 2, 15-28. http: / / epub.ub.uni-muenchen.de/ 14616/ 1/ Diskussionsforum_Perspektiven_neu.pdf [4.5.2015]. Kümmerling-Meibauer, B. & Meibauer, J. (2011): Early-concept books. Acquiring nominal and verbal concepts. In: Kümmerling-Meibauer, B. (Hg.): Emergent Literacy. Children’s books from 0 to 3. Amsterdam: John Benjamins, 91-114. McHale, B. (2013): Speech Representation. In: The living handbook of narratology. http: / / www.lhn.uni-hamburg.de/ article/ speech-representation [26.4.2015]. Meibauer, J. (2014): Einfachheit, Anpassung und Early Literacy. In: LiLi. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 174, 9-23. Vorlese-Input und Redewiedergabe 33 Meibauer, J. (2015): What the child can learn from simple descriptive picturebooks. An inquiry into Lastwagen/ Trucks by Paul Stickland. In: Kümmerling-Meibauer, B.; Meibauer, J., Nachtigäller, K. & Rohlfing, K.J. (Hgg.): Learning from Picturebooks. Perspectives from child development and literacy studies. London: Routledge, 51-70. Marie Luise Rau Aus Bilderbüchern über Sprache lernen am Beispiel von Die große Wörterfabrik (2010) Wenn ein Zweijähriger in einem Bilderbuch Interessantes findet, eine Vierjährige es sich wiederholt vorlesen lässt, Einzelheiten kommentiert und es auch gerne alleine liest, freut es den erwachsenen Vorleser. Wenn es dann auch noch ältere Kinder anzieht und beispielsweise eine Zweitklässlerin das Bilderbuch in der Lesewoche ihrer Schule anderen Kindern vorstellt, beweist das seine herausragende Qualität. Die große Wörterfabrik (2010) von Agnès de Lestrade, illustriert von Valeria Docampo, regt auch noch Erwachsene an, über Sprache nachzudenken. Ziele im Bereich Sprach- und Literacyerwerb beschränken sich in der Regel auf Lautwahrnehmung und Wortbildung (Phonologie, Morphologie und Lexik). In einer Übersicht über den Studiengang Kindheitspädagogik der Evangelischen Hochschule Berlin fehlt im Studienschwerpunkt „Sprache und Kommunikation“ der Begriff „Metasprache“ und wird nur im Zusammenhang mit Schrift erwähnt, die „das Sprechen und Denken über Sprache […] erleichtert“ (Naujok 2014: 29, 33). Es verwundert also nicht, wenn die Achtjährige Die große Wörterfabrik anderen Kindern vorliest und die zuhörende Lehrerin dazu nur erstaunt konstatiert „So was liest du! “, statt bei Unkenntnis des Buchs wenigstens zu fragen, was der Vorleserin daran gefiele oder warum sie es ausgewählt hätte. Das Bilderbuch beschreibt gesellschaftliche Verhältnisse, den Unterschied zwischen Arm und Reich in einem Land, in dem die Wörter in der Fabrik hergestellt werden und man sie kaufen und schlucken muss, um sie auszusprechen. Zunächst analysiere ich die Bilderbuchgeschichte im Zusammenspiel zwischen Bild- und Texterzählung und beziehe dabei Ergebnisse aus Entwicklungspsychologie und Kognitionsforschung ein. Im Anschluss betrachte ich aus sprachwissenschaftlicher Sicht, welche Erfahrungen über das Funktionieren von Sprache Kinder beim Lesen des Bilderbuchs sammeln können, und stütze mich dabei auch auf Beispiele aus Vorlesedialogen in der häuslichen Umgebung und Mitteilungen aus dem Bekanntenkreis. 1 Inhaltliche und narratologische Analyse Thema in Die große Wörterfabrik ist der gesellschaftliche Unterschied zwischen Reich und Arm. Die Bilderbuchkünstlerinnen Agnès de Lestrade Aus Bilderbüchern über Sprache lernen 35 und Valeria Docampo verknüpfen die soziale Spannung mit der Funktion der Sprache: Das Bilderbuch beschreibt ein Land, in dem Wörter käufliche Fabrikware sind. Man muss sie kaufen und schlucken, um sie auszusprechen. Die Metapher ist im alltäglichen Sprachgebrauch fest verankert. In Anlehnung an die Theorie von George Lakoff und Mark Johnson in Metaphors we live by (1980) geht es um die konzeptuelle Metapher WÖRTER SIND GELD/ NAHRUNGSMITTEL. Wir sprechen von Wortschatz, Worterwerb, ein neues Wort prägen; eine Erklärung kann wortreich sein, ein Mensch wortarm. Wörter oder Worte kann man zählen, (sich) sparen und verschwenden wie Geld. Ein Wort liegt einem auf der Zunge, jemand schluckt und verdaut die Worte, die andere ihm an den Kopf werfen, oder er schnappt eine Bemerkung auf. Wörter mit einem Schmetterlingsnetz fangen wie die Kinder im Bilderbuch spricht kleine Leser an. Die meisten kennen die Suche nach Nützlichem im Abfall. Im Bilderbuch sucht man im Müll nach Wörtern. Allerdings wechselt hier in der deutschen Übersetzung die Sprachebene überflüssigerweise zur Kindersprache und stößt manchen erwachsenen Leser ab, zumal „Hundekacka“ und „Hasenpipi“ durch große Lettern auch typografisch herausstechen. Im französischen Original sind es Wörter der Standardsprache, „Ziegenknittel“ und „Hasenhinterteil“. Einkaufen ist den kindlichen Rezipienten früh vertraut und hier anschaulich in Text und Bild auf den Handel mit Wörtern bezogen. Es gibt Sonderangebote, Schlussverkauf, Heimkehr mit vollgepackten Taschen. Die Doppelseite mit einer Einkaufsstraße ist eine Fundgrube für Beobachtungen. Zum einen sind es die Spezialgeschäfte für Bedeutungsfelder: „Sommerworte“, „Böse Worte“ (im Deutschen besser „Wörter“) und Wörter für Sprechakte z.B. „Glückwünsche“. Die Einkaufsstraße ist Aktionsraum der Reichen. Sie tragen Buchstaben und Wörter auf ihrer Kleidung, im Haar, selbst ihre Einkaufstaschen sind in dieser Weise dekoriert, während die Armen ihre Kleidung mit einfachen Strichbildchen verzieren, aber immer auch durch die freundliche Farbe Rot angenehm abstechen. Ihnen bleibt nur der neugierige Blick ins Schaufenster. Humoristische Details fehlen nicht, wie beispielsweise die Gabel, die am Zylinder eines finster dreinblickenden Herrn mit Schnauzbart befestigt ist, und das Hündchen, das seinem Frauchen ähnelt. Nach mehrmaligem Lesen wird man noch mehr entdecken: Für den Worterwerb nützt hier die Brille vor dem Auge der Frau beim Einkauf, um die Wörter zu lesen. In der häuslichen Szene schaut der Leser einem Kind zu, das eine Suppe löffelt, in der Buchstabenkombinationen schwimmen. Eine davon führt es gerade mit dem Löffel Suppe zum Mund, den linken Arm hat es um den Teller gelegt, um sich den Besitz zu sichern. Den Kontrast bilden die anderen, die getrennt sitzen vor ihren gefüllten Suppentellern ohne Einlage. Die Mutter teilt aus. Ihr Kopf ist abgeschnitten, denn nur auf Suppentopf und Schöpflöffel kommt es an. Der Vater isst, das Marie Luise Rau 36 kleine Kind hat den Löffel vor dem Gesicht, ohne ihn festzuhalten. Will es nicht essen? Warum nicht? Will es Suppe mit Buchstaben wie die Schwester? Die Szene knüpft an Vertrautes an. Die kindlichen Leser kennen die Buchstabensuppe, die in dieser Szene das Kind im Vordergrund löffelt. Buchstaben in essbarer Form gibt es als Plätzchen, Russisch Brot und Gummibonbons. Die Figuren Paul und Oskar werben beide um Marie, die so arm ist, dass sie gar keine Wörter hat. Paul liebt Marie, seine Nachbarin, von ganzem Herzen und möchte ihr etwas zum Geburtstag schenken, besitzt aber nur drei gerade eingefangene Wörter und ein weiteres Wort, das er sich als besonders kostbar aufgespart hat. Oskar, sein Gegenspieler, ist Sohn reicher Eltern und wortgewaltig. Gegensätzliche Werte prallen aufeinander: Materialismus auf der einen und ehrliche Gefühle auf der anderen Seite, Phrasen als Fertigprodukte gegenüber Einzelwörtern, die von Herzen kommen. Wörter aus der Fabrik, auf Streifen, konkurrieren mit Wörtern, die verglichen werden mit „kostbare[n] Kieselsteinchen“ aus der Natur. Die gegensätzlichen Werte werden auf der Erzählebene personifiziert. Es sind fast ausschließlich die Bilder, die die handelnden Personen charakterisieren: Oskar, ohne sichtbare Augen, ähnelt in Form und bräunlich dunkler Farbe der Fabrik. Durch die Kameraperspektive von schräg unten wirkt Oskar überdimensional und erdrückend. Bei Kindern entwickelt sich die moralische Bewertung aus den Gefühlen, die sie empfinden (Dunn 2006; Dunn 2006Kagan/ Lamb 1987). Hier fühlen sich kleine Leser natürlich zu Paul und Marie hingezogen. Sie sind zierlich und wie Mangafiguren gemalt. Sie sprechen die kindlichen Rezipienten durch die Farben Rot und Weiß und ihre leichtfüßige Bewegung an. Bilder können besser als Text Gefühle vermitteln. Die hier angeschnittenen Themen Freundschaft bzw. Liebhaben, Geburtstag und Schenken beschäftigen Kinder ganz früh brennend. Die gesellschaftlichen Verhältnisse im Land der großen Wörterfabrik werden in Form der auktorialen Erzählung mit Nullfokalisierung geschildert (vgl. Martínez/ Scheffel 2012: 67). Am Höhepunkt, in der direkten Konfrontation zwischen Oskar und Paul, der Hauptfigur, wechselt die Perspektive nicht nur im Bild, sondern auch im Text zu Paul. Er beobachtet seinen Widersacher angstvoll. Die Bilderbuchkünstlerinnen vermitteln Pauls inneren Konflikt, indem der Leser durch Pauls Augen blickt und Pauls Gedanken teilt. Im Text wechselt die Erzählperspektive zu interner Fokalisierung und geht in Erlebte Rede über. Abgehackte, kurze, unvollständige Sätze drücken aus, dass Paul der Atem stockt vor Angst: „Oskar lächelt nicht. Er spricht. Zu Marie.“ Es ist Pauls Perspektive, aber auch die des Lesers. Die Kamera ist hinter Marie positioniert und von schräg unten auf Oskar gerichtet, der dadurch umso mächtiger wirkt. Die Typografie bewirkt, dass Oskars Worte laut und beherrschend klingen. Dann wechselt die Kameraposition. In der objektiven Perspektive kommt Paul wieder ins Bild, Aus Bilderbüchern über Sprache lernen 37 allein und mit dem Blick auf den Leser gerichtet. Bei Pauls Worten in direkter Rede steht zweimal „denkt Paul“. Beispiele für diese Form des inneren Monologs (direkte Rede, erste Person: ich und denken anstelle eines Verbs des Sagens) finden sich auch in anderen Bilderbüchern für die jüngsten Leser. Es ist sicherlich die einfachste Form, den kindlichen Leser am inneren Konflikt des Protagonisten teilnehmen zu lassen, weil sie der Figurenrede am nächsten kommt (vgl. Martínez/ Scheffel: 55, 61-63). Im Bilderbuch ist es mehr als ein Selbstgespräch, wenn sich dabei der Protagonist im Bild dem Leser zuwendet. Dazu gehört außerdem die Erzählstimme, die beinahe identisch ist mit dem Protagonisten, aber sprachlich und kognitiv überlegen und eher in der Lage auszudrücken, was dem Protagonisten durch den Kopf geht. Was Martínez/ Scheffel (2012) in ihrer Theorie über die Erwachsenenliteratur beschreiben, hat natürlich im Bilderbuchkontext die wichtige Funktion, Verstehen zu fördern. Paul entschließt sich, seine drei Wörter Marie zu senden: „Kirsche! “, „Staub! “, „Stuhl! “: Die Kamera verfolgt den Weg zwischen Sender auf der linken Seite und Empfängerin auf der folgenden rechten Bildseite. Auf zwei Seiten ist Platz für begleitende fantasievolle Gedanken. Gesichtsausdruck, geschlossene Augen, Hände am Herz signalisieren innige Gefühle. Kinder können diese Metaphern früh entschlüsseln. Als Marie Paul mit einem Kuss antwortet, gewinnt Paul Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl. Es heißt: „Er blickt Marie fest in die Augen und sagt ‚Nochmal‘, sein sorgsam gespartes Wort, bei dem jetzt Bedeutung und Gefühl in der Kommunikation übereinstimmen. Bewegung (Tanz), Schmetterlinge und leuchtend rote Farbe beschreiben synaesthetisch Glück und Harmonie inmitten der tristen Architektur (vgl. Rau 2011, 2013). Im französischen Original schwingt für den erwachsenen Leser bei den Namen Phileàs und Cybelle Mythisches mit, der Gedanke, dass sich die wahre Gefühlswelt jeder Diktatur entzieht. Der erwachsene Leser wird sich bei den Bildern aus der Wörterfabrik vielleicht an die Sprachbänder mittelalterlicher Malerei erinnern oder bei der Außenansicht an den Turmbau zu Babel. Die Fabrik wirkt wie ein Bunker (drinnen arbeiten Roboter) und bildet architektonisch einen Kontrast zu der Architektur, in der sich Paul und Marie bewegen. Das Treppenhaus ihres Wohnhauses wirkt wie das Innere eines Schneckenhauses. Die ungewöhnliche Perspektive verstärkt den Eindruck, dass die architektonische Form die Figuren zusammenführt. Die konsequent geometrisch gestaltete Bildebene orientiert sich am Kubismus. Wie im Bilderbuch enthalten Bilder von George Braque ebenso Schriftelemente. Text in Bilder zu integrieren entspricht einer Tendenz im Bilderbuch. Diese Schriftelemente im Bild erregen früher kindliches Interesse als der Geschichtentext selbst. Die durchgehend verwendete Metapher macht die Bilderbuchgeschichte zu einer Allegorie. Marie Luise Rau 38 2 Linguistische Analyse metasprachlicher Elemente Metasprachliche Betrachtungsweise bedeutet, Sprache von einer höheren Warte aus zu betrachten (altgriech. meta = ‚über … hinaus‘). Die Sprachwissenschaft unterscheidet die Bereiche Phonologie (Laute), Morphologie (Flexion und Wortbildung), Syntax (Satzstruktur), Semantik (Bedeutung und Sprachgebrauch) und - in den 1960er Jahren hinzugekommen - Pragmatik. Auch in der Pragmatik geht es um Bedeutung, aber nicht um Ausdrucksbedeutung wie in der Semantik, sondern um Äußerungsbedeutung (vgl. Bußmann 2002). Die Pragmatik erforscht und beschreibt, was ein Sprecher mit seiner Äußerung in bestimmten Kontexten im Sinn hat und was er bewirken will. Was der Adressat damit macht, gehört dazu. Es genügt in unserem Zusammenhang, die drei Fachbegriffe Sprechakt, Kooperationsprinzip bzw. Konversationsmaxime und Implikatur kurz zu erklären. Sprechakte (vgl. Searle 1971) bezeichnen ‚Sprechhandlungen‘ wie Bitten, Versprechen oder auch, wie im Bilderbuch, Oskars Heiratsantrag. Ein Sprechakt wie das Versprechen glückt, wenn es nach Möglichkeit eingehalten wird. Zwischen Sprecher und Adressat gilt das Kooperationsprinzip/ die Konversationsmaximen: Der Hörer kann davon ausgehen, dass der Sprecher, soweit es ihm möglich ist, die Wahrheit sagt und der Adressat das Gesagte wörtlich nehmen kann (Grice 1989). Bei Metaphern, Ironie und Lügen geht es um Fälle nicht-wörtlicher Bedeutung; sie spielen also in der Sprache und auch im Spracherwerb eine gesonderte Rolle. Alles, was über die wörtliche Bedeutung hinausgeht, umfasst der Begriff Implikatur (Grice: what is meant vs. what is said). Implikatur bezeichnet, was aus dem Kontext erschlossen werden kann (vgl. Meibauer 2001: 26, 31f.). In der Schlüsselszene des Bilderbuchs, in der die Perspektive zu Paul wechselt, heißt es, dass Oskar sein „schlimmster Feind“ ist. „Seine Eltern sind sehr reich.“ Die naheliegende Implikatur, dass Paul Oskar wegen seiner reichen Eltern beneidet, wird gleich im folgenden Satz ausgeräumt: „Aber das ist nicht der Grund, weshalb ihn Paul nicht leiden kann.“ Die Erzählstimme, die an dieser Stelle beinahe identisch mit Paul ist, begründet es indirekt damit, dass Paul nicht weiß, wen Marie eigentlich anlächelt: „Marie lächelt noch immer. Und Paul weiß nicht, wen sie eigentlich anlächelt.“ Sprache verleiht Macht. Kinder empfinden früh, wie nützlich und wirksam Sprache ist und wie sie ihnen hilft, ihre Eigeninteressen durchzusetzen. Frühe Konflikte, die ihre eigenen Rechte betreffen, lernen Kinder am ehesten zu rechtfertigen, mit ca. 36 Monaten (Dunn 1988: 40f.). Oskars donnernde Rede wird sicherlich als Ausdruck der Macht, die keinen Widerspruch duldet, vom kleinen Rezipienten verstanden, zumal die Erzählstimme erklärt, Aus Bilderbüchern über Sprache lernen 39 dass Paul sich eingeschüchtert fühlt: „In Oskars Augen blitzt so viel Selbstbewusstsein.“ Der Kunstgriff der Bilderbuchautorinnen besteht darin, das umfangreiche Gebiet Sprache zu vereinfachen. Zum einen reduzieren sie Sprache in der Formenlehre auf Wörter, zum anderen im Bereich der Pragmatik auf den Sprechakt, dem anderen seine Liebe mitzuteilen, bei Oskar sogar mit Heiratsantrag, den er als Sprechakt in der konventionellen Form beherrscht. Die fetten, kantigen Druckbuchstaben auf Schriftstreifen, die an das Fabrikprodukt erinnern, füllen die Doppelseite und lassen keinen Raum für mehr an Bedeutung als das Gesagte (what is said). Pauls Wörter vergleicht die Erzählstimme mit „kostbaren Kieselsteinchen“, im Kontrast zu Oskars Sätzen aus der Wortfabrik. Pauls drei Wörter schweben zierlich geschwungen, weiß auf rotem Hintergrund über eineinhalb Seiten vom Sender zum Empfänger und transportieren „all die Liebe in seinem Herzen“ (what is meant). In ihrer metaphorischen Bedeutung in Gestik, Farbe und Bewegung verstehen sie auch kleinere Leser, vor allem auch durch die Zuspitzung des Kontrasts: verbal perfekter Sprechakt ohne die entsprechende innere Haltung bei Oskar und aufrichtiges Gefühl ohne ausreichende sprachliche Mittel bei Paul. Bei Marie genügt Gestik allein zur Kommunikation. Bei „Nochmal“ sind alle Glückensbedingungen für den Sprechakt der Aufforderung erfüllt. Paul drückt mit dem Wort genau aus, was er sich wünscht, und Marie versteht ihn. Durch den Kontrast zu Oskars Rede entwickelt sich hier wirkliche Kommunikation mit einem harmonischen Ende und regt Kinder zu Kommentaren an. Alle kindlichen Bemerkungen eignen sich, weiter über Sprache nachzudenken und zu sprechen. Einer vierjährigen Leserin kommt der Gedanke, dass man die Wörter nur einmal aussprechen kann und entdeckt auf diese Weise für den erwachsenen Vorleser, dass das Bilderbuch diese Frage offen lässt. Die Bilderbuchkünstlerinnen Agnès de Lestrade und Valeria Docampo malen die Szenerie im Land der großen Wörterfabrik aus, indem sie beschreiben, wie die Wörter entstehen, wie Bewohner sie erwerben und aussprechen. Es schwirren außer Wörtern auch Buchstaben durch die Luft und entweichen im Rauch aus der Wörterfabrik. Wenn Roboter Buchstabenbänder zu Wörtern der verschiedensten Sprachen zerschneiden, erscheint das plausibel, so wie Hörer den Sprachfluss segmentieren. Auch dass man mit Wörtern spart, weil sie teuer sind oder man zu wenig hat, leuchtet ein. Natürlich eignen sich alle kindlichen Bemerkungen, um weiter über Sprache nachzudenken und zu sprechen. Fragen, die sich ergeben, führen manchmal zu Antworten, die den Vorleser völlig überraschen, zum Beispiel eine Antwort auf die Frage, welche Wörter teuer sind. Als erwachsener Vorleser denkt man an Wertbegriffe wie „Freundschaft“ und merkt dann, dass es für den Erstklässler die langen Wörter wie „Radiergummi“ sind. Der Kommentar eines Neunjährigen, aus Marie Luise Rau 40 dem Gedächtnis gefragt, was ihm an dem Bilderbuch gefiele, nennt die Tatsache, dass in dem Land wenig geredet wird, und versucht auszudrücken, dass es aber auch nicht richtig ist, dass manche kein Geld haben, sich Wörter zu kaufen. Man erlebt, wie das Bilderbuch durch seine Allegorie ganz grundlegende Fragen anstößt. Dabei bestätigen Gedanken auch jüngerer Rezipienten, wie die Metapher Kinder anregt, sie weiterzuspinnen, beispielsweise, dass man sich Wörter verschaffen könnte, indem man sie malt und isst. Die Doppelseite mit der Einkaufsstraße bietet zahlreiche Redeanlässe, die oben schon teilweise genannt wurden. Kinder lassen sich vorlesen, was auf dem Schild und den Wortbändern steht („Sommerworte“, „Sonne“, „grün“). Nach eigener Beobachtung interessieren sie sich gerade dann für Schriftelemente im Bild, wenn sie beginnen, gezielt Buchstaben und Zahlen zu schreiben (vgl. Rau 2013: 94). Für „Böse Wörter“ finden kleine Leser verschiedenen Alters unterschiedliche Beispiele von „Zauberer“ (2; 7), „Drache“ (4; 11) bis zu Schimpfwörtern aus dem Schulalltag. Die Coverillustration soll den Leser auf den Inhalt gespannt machen. Die französische Ausgabe und das Cover der deutschen Erstausgabe erfüllen diese Funktion. Ein großer, düster wirkender Schatten der Wörterfabrik nimmt beinahe die ganze Seite ein. Ein Schornstein, der eher einer Kanone ähnelt, schleudert an der Spitze Buchstaben heraus. Die kleine Figur mit gespanntem, erwartungsvollen Blick und einem Schmetterlingsnetz in der Hand wird der Leser später als den Protagonisten Paul identifizieren, der Wörter einfangen will. Der deutsche Verlag änderte die Coverillustration und wählte in den folgenden Auflagen auf rotem Hintergrund die Szene, in der Marie Paul küsst, was dem Bilderbuch viel von seinem tieferen Sinn nimmt. Die Resonanz beim Vorlesen beweist, dass sich auch schon Dreijährige für metasprachliche Gesprächsthemen interessieren, die sie als wichtig im Alltag erleben, selbst wenn sie die Formenlehre noch längst nicht beherrschen. Zum Vorlesen gehört es, dass Bilderbücher immer wieder vorgelesen werden und sich dabei ein tieferes Verständnis entwickelt. Der hohe künstlerische, literarische und inhaltliche Anspruch des Bilderbuchs von Agnès de Lestrade und Valeria Docampo wird sein Potenzial erst bei wiederholtem Lesen entfalten. Literatur Bußmann, H. (2002 3 ) (Hg.): Lexikon der Sprachwissenschaft. Stuttgart: Alfred Kröner Verlag. de Lestrade, A. & Docampo, V. (2010 2 ): Die große Wörterfabrik. Aus dem Französischen übersetzt von A. Taube. München: mixtvision Verlag (Originalausgabe (2009): La grande fabrique de mots. Brüssel: Alice Éditions). Aus Bilderbüchern über Sprache lernen 41 Dunn, J. (1988): The Beginnings of Social Understanding. Cambridge/ MA: Harvard University Press. Dunn, J. (1993): Young Children’s Close Relationships. Beyond Attachment. Individual Differences and Development: Series Vol. 4. Thousand Oaks, London, New Delhi: Sage Publications. Dunn, J. (2006): Moral Development in Early Childhood and Early Interaction in the Family. In: Killen, M. & Smetana, J.G. (Hgg.): Handbook of Moral Development. Mahwah/ NJ, London: Lawrence Erlbaum Ass., 331-350. Grice, P. (1989): Logic and Conversation. In: Grice, P.: Studies in the Way of Words. Cambridge/ MA: Harvard University Press, 22-40. Kagan, J. & Lamb, S. (1987) (Hgg.): The Emergence of Morality in Young Children. Chicago/ IL: University of Chicago Press. Lakoff, G. & Johnson, M. (1980): Metaphors We Live By. Chicago/ IL: University of Chicago Press. Martínez, M. & Scheffel, M. (2012 9 ): Einführung in die Erzähtheorie. München: C.H. Beck. Meibauer, J. (2001 2 ): Pragmatik. Eine Einführung. Tübingen: Stauffenburg. Naujok, N. (2014): Literacy zwischen Spielen und Lernen. Umsetzungsmöglichkeiten in Kita, Schule und Hochschule. In: JuLit 40, 26-35. Rau, M.L. (2011): Metaphors in picturebooks from 0 to 3. In: Kümmerling-Meibauer, B. (Hg.): Emergent Literacy. Picturebooks from 0-3. Amsterdam: John Benjamins, 141-159. Rau, M.L. (2013): Kinder von 1 bis 6. Bilderbuchrezeption und kognitive Entwicklung. Frankfurt a.M.: Peter Lang Verlag. Searle, J.R. (1971): Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Friederike von Lehmden, Johanna Bebout & Eva Belke Effizienter Einsatz von Inputoptimierung beim Vorlesen in der Sprachförderung 1 Einleitung Bilderbücher werden häufig als ein wichtiges Mittel zur (alltagsintegrierten) Förderung sprachlicher Fähigkeiten in der Familie oder in Betreuungseinrichtungen betrachtet. Im folgenden Beitrag fordern wir dazu auf, das Vorlesen von illustrierten Kinderbüchern noch systematischer einzusetzen, indem der begleitende sprachliche Input in optimierter Form dargeboten wird. Wir beginnen zunächst damit, die positiven Aspekte der Sprachförderung durch Vorlesen zu erläutern, bevor wir darauf eingehen, dass ein im Vergleich zur Alltagssprache sehr häufiger (hochfrequenter) und ein speziell geordneter (hochstrukturierter) Input den Grammatikerwerb besonders fördern kann. Abschließend geben wir durch ein paar Beispiele Anregungen, wie diese Inputoptimierung in bereits bestehenden Büchern umsetzbar ist. 2 Möglichkeiten der Sprachförderung durch Vorlesen Das gemeinsame Lesen von (Bilder-)Büchern sowie das Besprechen von Bildern und abgebildeten Ereignissen mit offenen Fragen und alltagsbezogenen Gesprächen gilt in Kombination mit aufmerksamkeitsrichtenden Hinweisen (wie z.B. Sieh mal! ) als sprachfördernd (z.B. Bertschi-Kaufmann 2007; Biemiller/ Boote 2006; Feneberg 1994; Wasik/ Bond 2001; Zevenbergen/ Whitehurst/ Zevenbergen 2003). Im Spracherwerb kommt der gemeinsam gerichteten Aufmerksamkeit eine besondere Rolle zu (z.B. Tomasello 2003), da der zu lernende sprachliche Inhalt für das Kind durch die Triade von Erwachsenem, Kind und Gegenstand oder Ereignis so verdeutlicht wird, dass das Kind dem Gegenstand oder Ereignis den sprachlichen Ausdruck einfacher zuordnen kann. Illustrierte Kinderbücher bieten hierfür eine optimale Möglichkeit: Das Vorlesen von diesen Bilderbüchern ist eine höchst soziale Interaktion. Sie erzwingt die gemeinsam vom Vorlesenden und Kind gerichtete Aufmerksamkeit auf die Ereignisse und Bilder im Buch besonders bei den ersten Büchern mit wenigen abgebildeten Gegenständen auf einer Seite (so genannten early concept books, zu diesen Büchern: Kümmerling-Meibauer/ Meibauer 2005). Somit ist der Aufmerk- Effizienter Einsatz von Inputoptimierung beim Vorlesen in der Sprachförderung 43 samkeitsfokus auf einen bestimmten Referenten beschränkt, der vom Erwachsenen benannt wird. Das Kind kann nun den Gegenstand und seine Bezeichnung miteinander verbinden (vgl. hierzu Markmans (1991) Theorie, dass Kinder als erstes ein neues Wort auf ein Objekt in seiner Gesamtheit beziehen und nicht auf Einzelheiten (whole object bias)). So ist es nicht verwunderlich, dass das Vorlesen oder gemeinsame Betrachten von Büchern gerade im Bereich des Wortschatzerwerbs als besonders sprachfördernd herausgehoben wird (z.B. Biemiller/ Boote 2006; Böhme-Dürr 2001; Robbins/ Ehri 1994; Sénéchal 1997). Wiederholendes Vorlesen führt zur Automatisierung und Ritualisierung der gelesenen Geschichten (Horst 2013) und schlussendlich zur aktiven Beteiligung des Kindes, da es sich durch die Vertrautheit mit der Geschichte einfacher in den Vorlese- und Besprechungsprozess einbringen kann. Insgesamt hat das Vorlesen auch einen positiven Einfluss auf die narrativen Fähigkeiten von Kindern (Bertschi-Kaufmann 2007; Lever/ Sénéchal 2011; Zevenbergen/ Whitehurst/ Zevenbergen 2003). Die Vertrautheit mit der Schriftsprache, die positiven Einflüsse auf den Wortschatz und die Erzählleistungen können schlussendlich auch zu verbesserten Lese- und Schreibfähigkeiten der Kinder (z.B. Chomsky 1972; Wells 1985) und somit zu einer erfolgreicheren Schulkarriere beitragen (Bertschi-Kaufmann 2007; Hurrelmann 2004). Bei komplexeren Bilderbüchern oder Büchern, in denen vermehrt Text vorkommt, der sich nicht mehr nur auf die Bilder bezieht, ist die Interpretation referenzieller Ausdrücke nicht so einfach zu vollziehen. Da die Kinder, für die diese Bücher geschrieben wurden, allerdings bereits über fortgeschrittenere sprachliche Fähigkeiten verfügen, ist auch der nächste Lernschritt auch nicht mehr ausschließlich die Wortschatzerweiterung, sondern zudem das Vertrautwerden mit zunehmend komplexeren grammatischen Strukturen, wie z.B. mit der Adjektiv-Nomen-Kongruenz oder mit Nebensatzstrukturen. In Studien mit speziell zu diesem Zweck entwickelten Büchern konnte ein Einfluss des gemeinsamen Lesens auf die morphosyntaktischen Fähigkeiten bei Vorschulkindern belegt werden (Vasilyeva/ Huttenlocher/ Waterfall 2006; von Lehmden et al. 2013). Sprachförderung wird bisher häufig in Kindergärten oder Schulen in Gruppen durchgeführt. Auf Grund des oft recht hohen Anteils an Kindern mit Deutsch als Zweitsprache in den Sprachfördergruppen ist es wichtig, die Bedürfnisse dieser Kinder aufzunehmen und besonders zu berücksichtigen. Denn sie haben bei einigen sprachlichen Bereichen besondere Probleme. Deren Bewältigung ist für den Schulerfolg unerlässlich (siehe z.B. Frieg et al. 2014). Aber auch einsprachigen Kindern können diese sprachlichen Bereiche schwerfallen. Der Erwerb des vollständigen Lautinventars und der Fähigkeit, Laute und Silben zu erkennen und diese voneinander zu unterscheiden, kann Friederike von Lehmden, Johanna Bebout & Eva Belke 44 beispielsweise Schwierigkeiten bereiten. Weiterhin sind die Deklination in der Nominalgruppe (Nomen, Adjektive, Artikel und Pronomen) und die Konjugation der Verben und ihre Stellung im Satz sowie der Auf- und Ausbau eines Inhalts- und Funktionswortschatzes problematische sprachliche Bereiche (für einen Überblick über die Stolpersteine des Deutschen siehe z.B. Frieg et al. 2014; Rösch 2003). Wenn Bilderbücher als Medium in der Sprachförderung und Sprachtherapie eingesetzt werden, sollte darauf geachtet werden, dass gerade diese problematischen sprachlichen Strukturen besonders herausgehoben werden und die Bücher somit optimale Möglichkeiten beinhalten, den Kindern sprachliche Strukturen zu verdeutlichen. Da nicht jede Sprachförderkraft, jede Fachkraft im Kindergarten und jeder Lehrer, aber auch nicht jeder Sprachtherapeut das nötige Wissen über die besonderen Stolpersteine des Deutschen und das Wissen über die Möglichkeiten der strukturierten Inputdarbietung mitbringt, wäre es ein wichtiger Schritt, Bücher zu konzipieren, die bereits durch ihre textliche Gestaltung die Möglichkeit bieten, spezifische sprachliche Problembereiche durch das Vorlesen zu fördern. Dieser Beitrag kann diese Forderung nicht einlösen, er soll aber Fachkräften Anregungen geben, sich selbst gezielt mit dem Bereich der Grammatikförderung beim Vorlesen zu beschäftigen. 3 Möglichkeiten des effizienten Einsatzes von Büchern Ein großer Bestandteil der kindgerichteten Sprache besteht aus Wiederholungen von Wörtern, Phrasen und ganzen Sätzen (Ferguson 1977; Snow 1977). Diese Wiederholungen können nach Horst/ Parson/ Bryan (2011) einen Schlüssel im Lernprozess darstellen, da Kinder, um eine längerfristige und vollständige Repräsentation aufzubauen, den Lerninhalt in einem Slow- Mapping-Prozess über einen längeren Zeitraum mehrfach präsentiert bekommen müssen (vgl. Horst/ Samuelson 2008; McGregor 2004). Erst durch eine wiederholte Darbietung in unterschiedlichen Kontexten sind Kinder in der Lage, über den speziellen Input, den sie bekommen, zu generalisieren und das Gelernte auf Neues anzuwenden (z.B. Horst 2013; Horst et al. 2011; Vasilyeva et al. 2006). Im Normalfall reicht der kindgerichtete sprachliche Input aus, damit Kinder ihre Umgebungssprache erwerben. Wenn jedoch ein Kind eine Sprachentwicklungsstörung aufzeigt oder der sprachliche Input quantitativ oder qualitativ nicht ausreichend ist, was z.B. bei zweisprachig aufwachsenden Kindern der Fall sein kann, ist es für das Lernen hilfreich, wenn der Input besonders strukturiert dargeboten wird. Eine Strukturierung von sprachlichen Besonderheiten kann beim Erkennen von grammatischen Strukturen und Formen (also z.B. Artikeln, Pronomen und dem Kasus- Effizienter Einsatz von Inputoptimierung beim Vorlesen in der Sprachförderung 45 system) helfen. Sie muss dann nicht explizit gemacht werden, um die Strukturen und Formen erfolgreich zu erwerben. Im natürlichen Sprachgebrauch ist eine strukturierte Darbietung beispielsweise in Sprachspielen, Kinderreimen oder Liedern bereits häufig vorhanden (z.B. Frieg et al. 2014). Bilderbücher, die darauf zurückgreifen, sind allerdings weniger vorhanden. Im Folgenden werden zunächst die hochfrequente und die strukturierte Inputdarbietung genauer dargestellt, bevor Beispiele für ihren Einsatz in Büchern gegeben werden. 3.1 Die hochfrequente Inputdarbietung In den im vorherigen Kapitel erwähnten Studien von Vasilyeva et al. (2006) und von Lehmden et al. (2013) wurden Bücher mit einer hohen Anzahl an Vorgangspassiven (mit durchschnittlich 51 % Passivstrukturen in den Geschichten) vorgelesen und anschließend der Zuwachs an Passiven bei den Kindern gemessen. In dieser Förderung handelte es sich somit um eine sehr hochfrequente Darbietung der zu fördernden Struktur. Das Passiv wird im Gespräch mit Kindern im Vergleich zu Aktivstrukturen sehr selten verwendet. Eine Annahme, warum der Erwerb des Passivs vergleichsweise lange dauert, beruht gerade auf dieser Gegebenheit: Da deutsche Kinder nur selten Kontakt zu der Struktur bekommen, haben sie weniger Möglichkeiten, das Passiv zu erwerben als in anderen Sprachen, in denen das Passiv frequenter verwendet wird (vgl. Demuth/ Kline 2006; Wegener 2003). Daher ist eine höherfrequente Inputdarbietung eine erfolgversprechende Methode, um die Fähigkeiten der Kinder, Passive (korrekt) zu produzieren, zu verbessern. Das Passiv als solches stand dabei nicht im zentralen Interesse der Studie, sondern wurde als das Mittel zur Untersuchung einer morphosyntaktischen Struktur genutzt. In der Studie von von Lehmden et al. (2013) fand die spezifische Sprachförderung über vier Wochen mit ins Passiv umgeschriebenen Bilderbüchern statt. Zudem gab es von jedem Buch eine thematisch ähnliche Aktiv-Variante. Die Kinder, die an der Studie teilnahmen, waren sprachlich unauffällig. Während die Hälfte der Kinder in der ersten Förderphase Bücher vorgelesen bekam, die ausschließlich im Aktiv geschrieben waren, hörte die andere Hälfte Geschichten mit vielen Passiven. Nach vier Wochen wurden die Bücher in den Gruppen getauscht, so dass die Kinder in der zweiten Förderphase mit den jeweils anderen Büchern gefördert wurden. Alle Kinder wurden also zu einem Zeitpunkt mit Aktiv- und zum anderen Zeitpunkt mit Passivgeschichten gefördert. Somit konnte der spezifische Einfluss der Bücher im Passiv gemessen werden. Die Sprachförderungsphase war demnach insgesamt zwei Monate lang. Eine Testaufgabe zum Nacherzählen wurde zu Beginn (vor der Förderung), nach einem Monat (am Ende der ersten Förderphase), nach zwei Monaten (am Ende der zweiten Förderphase) und nach einem weiteren Friederike von Lehmden, Johanna Bebout & Eva Belke 46 sprachförderfreien Monat durchgeführt. Alle Kinder produzierten nach einem Monat der Sprachförderung (am Ende der ersten Förderphase) mit den Büchern, egal in welcher Gruppe sie waren, mehr Verbalphrasen als zu Beginn der Förderungsphase. Dieses Ergebnis spricht für einen unspezifischen Fördereffekt des Vorlesens. Die Kinder produzierten auch unabhängig von ihrer Fördergruppe mehr Passive. Es zeigte sich allerdings, dass die Kinder direkt nach der Förderung mit den Passivbüchern signifikant mehr unterschiedliche Passive beim Nacherzählen einer Geschichte produzierten. Dies war bei beiden Gruppen zu dem Testzeitpunkt zu finden, nachdem sie die spezifische Passivförderung erhalten hatten. Die Verwendung einer größeren Anzahl unterschiedlicher Passive spricht dafür, dass die Kinder die Struktur generalisieren konnten. Eine hochfrequente Inputdarbietung einer spezifischen grammatischen Struktur ist demnach bereits förderlich, wenn Kinder diese Struktur erwerben sollen. Allerdings muss man einschränken, dass das Passiv in diesem Fall eine sehr auffällige sprachliche Form darstellt und dadurch möglicherweise schon die Fördereffekte hervorrufen kann. Manche morphosyntaktische Strukturen und Formen kommen häufiger im Sprachgebrauch vor als das Passiv und sind durch ihr variables Auftreten weniger offensichtlich. Bei diesen Strukturen ist eine noch häufigere Präsentation, als sie im Alltag schon geschieht, allein wenig erfolgsversprechend. Gerade beim Erwerb des Genus-Kasussystems (Artikel, Pronomen, Adjektivendungen) können Kinder daher von einer strukturierten Darbietung des Inputs profitieren. 3.2 Die strukturierte Inputdarbietung Eine strukturierte Inputdarbietung wird in unterschiedlichen Sprachförder- und Sprachtherapiekonzepten für die Bereiche Phonetik/ Phonologie, Semantik/ Lexikon und die Morpho-Syntax angewendet (z.B. G. Belke 2003; Siegmüller/ Kauschke 2006). Die Generative Textproduktion (GT) nach G. Belke (2003) ist ein solches didaktisches Konzept, das auf das Prinzip der strukturierten Inputdarbietung zurückgreift. Sie kann in multilingualen Gruppen im Kindergarten, in der Schule im Regel-, aber auch im Förderunterricht und u.a. zur Unterstützung des (Schrift-) Spracherwerbs Verwendung finden. Es ist möglich, die GT mündlich und schriftlich einzusetzen. Die Methode ist für Kinder mit Deutsch als Zweit- oder Erstsprache geeignet, da es möglich ist, den Schwierigkeitsgrad je nach den Fähigkeiten der Kinder abzuwandeln. G. Belke (2006) schreibt: Wenn Texte systematisches sprachliches Lernen ermöglichen sollen, müssen sie patterns, d. h. Satzmuster, Satzbaupläne und Paradigmen, d. h. Effizienter Einsatz von Inputoptimierung beim Vorlesen in der Sprachförderung 47 Deklinationen, Konjugationen, semantische Paradigmen, Analogien enthalten. (G. Belke 2006: 850) Sie geht davon aus, dass syntagmatische Beziehungen im natürlichen Spracherwerb einfacher erworben werden und sich daher Sprachunterricht auf die paradigmatischen Beziehungen konzentrieren sollte (G. Belke 2006: 850). 1 Poetische Texte bieten die Möglichkeit, beide Beziehungen zu vereinen. Da sie im Gegensatz zum funktionalen Sprachgebrauch wichtige Regularitäten wie Reime, Rhythmus, Parallelismus oder Ketten- und Reihenbildung hervorheben, ist es für Kinder einfach, sich diese Texte zu merken und immer wieder zu wiederholen. Die Kinder sollen bei der GT nach dem Muster eines vorgegebenen poetischen Textes oder Liedes eigene Texte produzieren. Das Wichtige dabei ist, dass die Vermittlung des Lerninhaltes zunächst implizit durch die Darbietung von Material erfolgt, z.B. indem der Text bzw. das Lied zunächst gemeinsam gesprochen, gelesen oder gesungen wird. Der nächste Schritt ist, dass Paradigmen ersetzbarer Einheiten gemeinsam erarbeitet werden, damit die Kinder in der Lage sind, sprachlich korrekte Texte mit Teilen des Originaltextes zu formulieren (zum Vorgehen siehe z.B. G. Belke 2007a). Bei der Suche nach den Ersetzungsmöglichkeiten wird die Reflexion über Sprache angeregt. Das Verfassen des eigenen Textes kann ggf. durch explizite Regelvermittlung zusätzlich unterstützt werden, sodass eine Trennung zwischen Rechtschreib-/ Grammatikunterricht und Schreibunterricht nicht stattfinden muss (G. Belke 2007a). Beispiel (1) für einen „Puppe in der Puppe“-Text zur Förderung der Nominalflexion: Sankt Johannes hat ein Schloss, in dem Schloss ist ein Garten, in dem Garten ist ein Baum, in dem Baum ist ein Nest, in dem Nest ist ein Ei, in dem Ei ist ein Dotter, in dem Dotter ist ein Has’, der springt dir auf die Nas! (G. Belke 2007b: 106) In Beispiel (1) stehen jeweils zwei Artikel zu einem Nomen (der unbestimmte Artikel ein und der bestimmte im Dativ stehende Artikel dem) 1 Paradigmatische Relationen beziehen sich auf die Auswahl sprachlicher Zeichen. So kann man z.B. nach Hause gehen/ laufen/ rennen/ fahren. Syntagmatische Relationen beziehen sich auf die Kombination sprachlicher Zeichen, also bspw. die Relation der Wörter nach, Hause und laufen. Friederike von Lehmden, Johanna Bebout & Eva Belke 48 zusammen und bilden dadurch eine strukturierte Opposition, die durch die hochfrequente Darbeitung beider Artikel den Kindern vertraut wird. Beispiel (2) für einen selbstgeschriebenen Text, abgeleitet aus dem Kindervers aus Beispiel 1 (Katja, 4. Schuljahr): Auf der bunten Wiese da steht ein rotes Haus, in dem roten Haus da ist ein gelbes Zimmer, in dem gelben Zimmer da steht ein weißes Bett, in dem weißen Bett da liegt ein brauner Hund! Na und? (E. Belke/ G. Belke 2006: 196) Die GT ist im Unterricht evaluiert (für eine ausführliche Darstellung, s. Frieg 2014) und experimentell fundiert worden. Für die experimentelle Fundierung präsentierten Bebout und E. Belke (in Vorbereitung) Probanden eine artifizielle Grammatik, die diese in unterschiedlichen Bedingungen lernen sollten. Die Hälfte der Probanden erwarb die Grammatik in einer hochstrukturierten (gruppierten) Darbietung (Experiment 1), in der alle Sätze, die auf dasselbe Nomen referierten, direkt nacheinander dargeboten wurden, damit die genus-kasus-markierten Formen zu einem Nomen gemeinsam verarbeitet werden konnten. Die andere Hälfte der Probanden erlernte die Grammatik in einer unstrukturierten, zufälligen Darbietung (Experiment 2). In beiden Experimenten wurden die Probanden einer von vier Bedingungen zugeordnet: Präsentation a) in Reimform, b) in Melodieform, c) in Reim- und Melodieform und d) gänzlich ohne Reim- und Melodieform. Die Ergebnisse zeigen, dass die Probanden die genusartigen Subklassen der neuen Grammatik in allen Bedingungen lernten, außer in der unstrukturierten Darbietung ohne Reim und Melodie, in der sie nahe dem Zufallsniveau blieben (Bebout i.V.). Die hochstrukturierte Darbietung aus Experiment 1 erwies sich insgesamt als effektiver als die zufällige Darbietung. Dabei hatte die Bedingung c) Reim- und Melodieform einen zusätzlich unterstützenden, positiven Effekt auf die Ergebnisse. Bebout und E. Belke sowie Frieg et al. (2014) gehen daher davon aus, dass Kinderlieder, die alle drei Mechanismen (strukturierter Input, Reim, Meldodie) kombinieren, eine hervorragende Möglichkeit darstellen, um Sprache zu fördern. Wenn man diese Mechanismen auf die Verwendung von Büchern in der Sprachförderung bezieht, sollten die Strukturen in den Büchern hochstrukturiert, also gruppiert, dargeboten sein und im besten Fall auch noch mit Reimen unterstützt werden (Ein hierfür zu nennendes Beispielbuch wäre Der Katzentatzentanz von Vahle/ Heine (2003).). In dem Patholinguistischen Ansatz von Siegmüller/ Kauschke (2006) folgt die Sprachtherapie einer klaren, vorher festgelegten Struktur. Diese orientiert sich an der Störungssymptomatik des Kindes und dem Ablauf des ungestörten Spracherwerbs mit dem Ziel, den stagnierten Spracherwerbs- Effizienter Einsatz von Inputoptimierung beim Vorlesen in der Sprachförderung 49 prozess zu synchronisieren und zu aktivieren (Siegmüller/ Kauschke 2006: 15). Eine wichtige Methode des Ansatzes besteht in der Inputspezifizierung, bei der eine ausgewählte Zielstruktur für das Kind besonders herausgestellt und somit wahrnehmbar und erlernbar gemacht wird. Erst nach der Inputspezifizierung beginnt in der Therapie das Evozieren der Struktur in der Spontansprache und in Übungen sowie das korrigierende Modellieren. So ist sie folglich der erste Schritt, um Kindern eine Struktur näher zu bringen. Inputspezifizierungen können unter anderem als Inputsequenz umgesetzt werden, bei der der sprachliche Input in konzentrierter Form dargeboten wird. Diese Methode beruht auf der Inputtherapie nach Penner und Kölliker Funk (1998), bei der das Kind ausschließlich rezipiert. Für das Vorgehen der Inputsequenz bieten sich z.B. Geschichten an, die dem Kind vorgelesen werden. Hierbei ist darauf zu achten, dass die Äußerungen korrekt und grammatisch vollständig sind. Ungrammatische Verkürzungen sind zu vermeiden. Dennoch sollte eine so natürlich wie mögliche Sprache verwendet werden. Die zu lernende Struktur wird flexibel und kontrastierend in unterschiedlichen Satzstrukturen eingesetzt, um starre Satzstrukturen zu umgehen und um die Struktur besonders zu fokussieren. Die Materialien zur Therapie nach dem Patholinguistischen Ansatz (PLAN) von Kauschke/ Siegmüller (2012) bieten unter anderem sechs solcher Bücher im Gesamtkonzept an. Auch bei der Inputspezifizierung ist die frequente Präsentation der Strukturen im Input Siegmüller und Kollegen zufolge wichtig, nicht nur um ein häufigeres Auftreten der Strukturen als gewöhnlich im Alltag zu garantieren, sondern auch um eine thematische und syntaktische Variation der Struktur im Input möglich zu machen. Eine Präsentation der Struktur in nahezu jedem Satz wäre dabei ideal und besonders fördernd (vgl. hierbei z.B. Siegmüller/ Fröhling 2010: 138). Das Ziel dabei ist es, die Zielstruktur über unterschiedliche Wörter und Kontexte generalisierbar zu machen. Die Struktur sollte dabei prägnant sein, um in den Fokus der Aufmerksamkeit des Kindes rücken zu können. Der Patholinguistische Ansatz wurde für Kinder mit einer Sprachentwicklungsstörung entwickelt und macht daher eine sehr spezifische Analyse der kindlichen Fähigkeiten erforderlich, um darauf aufbauend eine Therapie zu gestalten. In der Sprachförderung kommen jedoch häufig Kinder mit unterschiedlichen sprachlichen Fertigkeiten und Schwierigkeiten zusammen, die gemeinsam gefördert werden sollen. Somit ist es sinnvoll, in diesem Kontext Möglichkeiten für Inputsequenzen anzubieten, die spezielle und vor allem häufige Förderschwerpunkte berücksichtigen. Bücher mit Texten, die Merkmale der Patholinguistischen Therapie bereits beinhalten, stellen eine hilfreiche, vorstrukturierte Fördermöglichkeit dar. Friederike von Lehmden, Johanna Bebout & Eva Belke 50 4 Beispiele für eine Inputoptimierung beim Vorlesen Bilderbücher können für die Sprachförderung noch effektiver gestaltet werden, wenn ein hochfrequenter Input mit einem strukturierten Input und, so es sich anbietet, mit ästhetischen Gestaltungsmitteln, z.B. Reimen, kombiniert wird. Es gibt bereits zwei einzeln erwerbbare Bücher mit sprachtherapeutischen Inputgeschichten (Friedrich 2012, 2013), die inputspezifisch arbeiten und somit bestimmte sprachliche Aspekte (die Verbzweitstellung und die Akkusativmarkierungen) hochfrequent und kontrastierend darbieten. Im Folgenden werden zwei Beispiele aus diesen Büchern gegeben, um die Inputspezifizierung zu verdeutlichen. Beispiel (3) für die Kontrastierung der Verbstellung: Jona bekommt einen Hund. Er freut sich riesig, als er seine Hündin Mira bekommt. Jona weiß noch nicht viel über Hunde. Seine Mama erklärt im alles, damit er schnell das Wichtigste weiß. (Friedrich 2012: 1) Diese Sätze kontrastieren die Verbzweitstellung mit der Verbfinalstellung, indem das gleiche Verb (bekommt bzw. weiß) einmal in einem Hauptsatz und dann in einem Nebensatz verwendet wird. Durch die direkte Gegenüberstellung des Haupt- und des Nebensatzes soll dem Kind ersichtlich werden, wovon die Verbstellung im Deutschen abhängt. Beispiel (4) für die Verwendung des Akkusativs: Seinen Riesenkran muss Jona abbauen und aufräumen. Der Kran hat ihn schon länger gestört. Der Hüpfball liegt auch noch im Weg, also räumt er den Ball in den Keller. (Friedrich 2013: 1) In diesem Beispiel wird der Akkusativ Maskulinum (Seinen Riesenkran; den Ball) in den Kontrast zum Nominativ Maskulinum (Der Kran; der Ball) gesetzt. Dabei wird im ersten und zweiten Satz die Topikalisierung (also die Stellung des Akkusativobjekts als erstes Satzglied) genutzt, damit es dem Kind einfacher fällt, den Akkusativ und den Nominativ zu erkennen und zu unterscheiden. Hier wird zudem das Possesivpronomen mit dem bestimmten Artikel kontrastiert. Man könnte vermuten, dass dies für das Kind eine Schwierigkeit darstellen könnte, genauso wie die Verwendung der Komposita Riesenkran und Hüpfball in der Gegenüberstellung mit den Nomina Kran und Ball. Nach dem Patholinguistischen Ansatz nach Siegmüller/ Kauschke (2009) entspricht dies allerdings dem Prinzip der Flexibilisierung, mit dem einer ungenügenden Flexibilität bei der Verwendung sprachlicher Strukturen vorgebeugt werden soll. Für den Einsatz von Bilderbüchern in der Sprachförderung plädieren wir für eine Kombination von Sprachspielen nach G. Belke und inputspezi- Effizienter Einsatz von Inputoptimierung beim Vorlesen in der Sprachförderung 51 fischer Arbeit nach Siegmüller und Kauschke, um den Umgang mit Büchern in der Sprachförderung zu optimieren. Sprachförderung und Sprachtherapie unterscheiden sich im Grad der Spezifizierung der Ziele. Während Sprachförderung in der Regel unspezifisch in alltäglichen Situationen oder im Kindergarten oder der Schule stattfindet, ist eine Sprachtherapie auf spezifische Schwierigkeiten des einzelnen sprachentwicklungsgestörten Kindes ausgerichtet. Sprachförderung wird in den Institutionen häufig in Kleingruppen durchgeführt. Dabei treffen, wie bereits erwähnt, Kinder aufeinander, die unterschiedliche Sprachfähigkeiten mitbringen. Aus diesem Grund sollten inputoptimierte Bücher für die Sprachförderung die o.g. Stolpersteine thematisieren, die das Deutsche bereithält. Eine genauere Betrachtung erschienener Bilderbücher ohne spezifische Sprachförderziele kann bereits Möglichkeiten eröffnen, die Texte, sofern dies möglich ist, minimal umzuschreiben, um sie für die Sprachförderung zu optimieren. Bei der Auswahl der Struktur kann man sich an den Problemen der Kinder oder generell an den o.g. Stolpersteinen des Deutschen orientieren. Schön wäre es zudem, wenn die Bücher dem Kind Anregungen geben, die Geschichte weiterzuerfinden oder damit zu spielen. Im Folgenden werden exemplarisch zwei ursprüngliche und dazu mögliche, optimierte Textausschnitte vorgestellt. Diese Beispiele sollen Anregungen bieten, selbst Bücher zu einer spezifischen sprachlichen Struktur umzuformulieren. Beispiel (5) für einen Ausschnitt aus dem Originaltext: Nein, nein! Das ist ein Elefant! So groß ist meine Mami nicht, hat keinen Rüssel im Gesicht und keinen dünnen Wedel hinten - sie kann den Schwanz um Bäume winden. […] Nein, nein! Das ist eine Schlange! Mami guckt nicht so gemein. Sie zischelt nicht und sie hat Beine - Dieses Schlangentier hat keine. (Scheffler/ Donaldson 2000) In dem Buch Wo ist Mami? von Scheffler/ Donaldson (2000) werden unterschiedliche Tiere besprochen, die ein Schmetterling für die Mami des kleinen Affen hält. Das Buch bietet sich an, um anhand der besprochenen Tiere die Genera Maskulinum und Femininum bei Artikeln und Pronomen gegenüberzustellen. Auf jeder Seite des Buches wird ein anderes Tier vorgestellt, bei dem es möglich ist, im Nominativ den unbestimmten Artikel, den bestimmten Artikel und das Personalpronomen zu jeweils einem Tier und somit auch einem Genus hintereinander zu verwenden, um ihre Zusammengehörigkeit zu verdeutlichen: Friederike von Lehmden, Johanna Bebout & Eva Belke 52 Beispiel (6) für einen optimierten Text zur Förderung der Nominalflexion: Nein, nein! Das ist ein Elefant! Der hat einen Rüssel im Gesicht. So was hat meine Mami nicht. Er hat einen dünnen Wedel hinten, Mami kann den Schwanz um Bäume winden. Nein, nein! Das ist eine Schlange! Die guckt grimmig und gemein! Das soll meine Mama sein? Sie schlängelt sich ja um den Baum Meine Mama kann das kaum. Der so strukturierte Input könnte bei späteren Vorlesesitzungen durch Fraugen, die auf die Artikel und Personalpronomen zielen, ergänzt werden (z.B. Was ist das? , Was hat der? , Was kann sie? ) und erneut aufgegriffen werden, wenn das Kind keine oder fehlerhafte Artikel oder Personalpronomen verwendet. Die Kinder könnten zudem im Sinne der GT überlegen, welche Tiere noch in der Geschichte vorkommen könnten und warum sie oder warum sie gerade nicht die Mami vom kleinen Affen sein könnten. Auch das nächste Beispiel soll eine Möglichkeit aufzeigen, einen bestehenden Text so umzuschreiben, dass eine bestimmte sprachliche Struktur verdeutlicht wird. Beispiel (7) für einen Ausschnitt aus dem Originaltext: Mama Katz sucht ihre Kätzchen, Grau gestreift, mit weißen Lätzchen. Die Schlingel haben sich versteckt. Miau - jetzt hat sie eins entdeckt! Klappst du die Wagenklappe runter, Wird das kleine Kätzchen munter. Gemeinsam gehen sie zu Mama Schwein. Glaubst du, hier könnten die Kätzchen sein? (Neubacher-Fesser/ Cuno 2008) In dem Buch Wer versteckt sich auf dem Bauernhof? sucht eine Katze ihre Kinder an unterschiedlichen Orten auf einem Bauernhof. Dieses Buch bietet sich an, um Kindern Wechselpräpositionen näher zu bringen bei denen eine Präposition zwei verschiedene Kasus, den Akkusativ und den Dativ erfordert, je nachdem, ob eine Bewegung oder Ortsbestimmung vorliegt. Die Markierung geschieht über die Artikel, die in optimierter Form eine direkte Opposition bilden. Effizienter Einsatz von Inputoptimierung beim Vorlesen in der Sprachförderung 53 Beispiel (8) für einen optimierten Text zur Förderung der Wechselpräpositionen (z.T. als Ergänzung des bestehenden Textes möglich): Wer ist in den Anhänger geschlichen - mit weicher Tatze? In dem Anhänger schläft die Katze! Schau mal in die Kiste rein. In der Kiste sitzt ein Schwein! Auch zu diesem umgeschriebenen Text bieten sich im Verlauf der Förderung später Fragen direkt zu dem Text an, wie z.B. Worein ist die Katze geschlichen? oder Worin schläft die Katze? , durch die das Kind die Wechselpräpositionen produktiv üben kann. Weiterhin ist es möglich, die Kinder mit der Geschichte selbst im Sinne der GT spielen zu lassen: Wo könnte sich (evtl. im Kindergarten) noch ein Kätzchen versteckt haben? Wo ist es wohl hereingekrochen? 5 Zusammenfassung Es gibt bereits viele Bilderbücher, die gut geeignet sind, um eine allgemeine Sprachförderung mit ihnen durchzuführen. Diese können viele Aspekte der Sprachentwicklung (z.B. Wortschatz, Erzählfähigkeit) fördern. Dadurch, dass viele Kinder bestimmte Bücher immer wieder lesen wollen, ergibt sich von selbst oft eine hochfrequente Darbietung der Buchinhalte. Für spezifische Aspekte der Grammatikförderung kann es sinnvoll sein, den mit den Büchern verbundenen sprachlichen Input etwas umzuschreiben, um einzelne sprachliche Strukturen hochfrequenter und hochstrukturierter darzubieten als es in dem Originaltext oder im Alltag generell der Fall ist. Hilfreich sind bei der Umschreibung gruppierte Darbietungen und sinnvolle Oppositionen (z.B. eine Gegenüberstellung der grammatischen Geschlechter oder unbestimmter und bestimmter Artikel) sowie Sortierungen des Inputs (z.B. nach grammatischem Geschlecht). Zudem ist es hilfreich, wenn die Kinder nicht nur rezeptiven Input bekommen, sondern durch gezielte Fragen direkt dazu angeregt werden können, den Input in späteren Vorlesesitzungen unterstützt selbst produzieren zu können. Es ist möglich, wenn auch sehr zeitaufwendig, bestehende Bücher umzuschreiben. Hilfreicher wäre es daher, wenn sehr viel mehr Bücher als die bisher herausgegebenen zu bestimmten Förderschwerpunkten bestehen würden, die einen hochfrequenten und hochstrukturierten Input aufweisen. Literatur Bebout, J. (i.V.): Can language play promote morphosyntactic learning? A study about the impact of rhyme, melody and input structuring on gender-like category Friederike von Lehmden, Johanna Bebout & Eva Belke 54 acquisition. Bisher unveröffentlichte Dissertation an der Ruhr-Universität Bochum. Bebout, J. & Belke, E. (i.V.): Language play facilitates language learning: Optimizing the input for gender-like category induction. Belke, G. (2003): Mehrsprachigkeit im Deutschunterricht. Sprachspiele, Spracherwerb und Sprachvermittlung. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. Belke, G. (2006): Methoden des Sprachunterrichts in multilingualen Lerngruppen. In: Bredel, U.; Günther, H.; Klotz, P. & Siebert-Ott, G. (Hgg.): Didaktik der deutschen Sprache. Ein Handbuch. 2. Teilband. Paderborn: Schöningh, 840−853. Belke, G. (2007a): Poesie und Grammatik. Kreativer Umgang mit Texten im Deutschunterricht mehrsprachiger Lerngruppen. Textkommentar. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. Belke, G. (2007b): Mit Sprache(n) spielen. Kinderreime, Gedichte und Geschichten für Kinder zum Mitmachen und Selbermachen. Textsammlung. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. Belke, E. & Belke, G. (2006): Das Sprachspiel als Grundlage institutioneller Sprachvermittlung. In: Becker, T. & Peschel, C. (Hgg.): Gesteuerter und ungesteuerter Grammatikerwerb. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 174−200. Bertschi-Kaufmann, A. (2007): Offene Formen der Leseförderung. In: Bertschi- Kaufmann, A. (Hg.): Lesekompetenz Leseleistung Leseförderung. Grundlagen, Modelle und Materialien. Hannover: Kallmeyer Klett. Biemiller, A. & Boote, C. (2006): An effective method for building meaning vocabulary in primary grades. In: Journal of Educational Psychology 98, 44−62. Böhme-Dürr, K. (2001): Einfluß von Medien auf den Sprachlernprozeß. In: Grimm, H. (Hg.): Sprachentwicklung. Göttingen: Hogrefe, 433−459. Chomsky, C. (1972): Stages in language development and reading exposure. Harvard Educational Review 42, 1−33. Demuth, K. & Kline, M. (2006): The distribution of passives in spoken Sesotho. In: Southern African Linguistics and Applied Language Studies 24, 377−388. Feneberg, S. (1994): Wie kommt das Kind zum Buch? Die Bedeutung des Geschichtenvorlesens im Vorschulalter für die Leseentwicklung von Kindern. Neuried: ars una. Ferguson, C. (1977): Baby talk as a simplified register. In Snow, C. & Ferguson, C. (Hgg.): Talking to Children: Language Input and Acquisition. Cambridge: Cambridge University Press, 209−235. Friedrich, K. (2012): Jona und Mira, Mira ist nicht faul! Sprachtherapeutische Inputgeschichten. Bad Endorf: nikalog Verlag. Friedrich, K. (2013): Jona und Mira, Jona wünscht sich einen Hund! Sprachtherapeutische Inputgeschichten. Stephanskirchen: nikalog Verlag. Frieg, H. (2014): Sprachförderung im Regelunterricht der Grundschule: Eine Evaluation der Generativen Textproduktion. Dissertation an der Ruhr-Universität Bochum. Frieg, H. et al. (2014): Dschungeltanz und Monsterboogie. Lieder zur systematischen Sprachvermittlung im Vor- und Grundschulalter. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. Horst, J. (2013): Context and repetition in word learning. In: Frontiers in Psychology 4, 1−11. Effizienter Einsatz von Inputoptimierung beim Vorlesen in der Sprachförderung 55 Horst, J.; Parson, K. & Bryan, N. (2011): Get the story straight: Contextual repetition promotes word learning from storybooks. In: Developmental Psychology 2, 1-11. Horst, J. & Samuelson, L. (2008): Fast mapping but poor retention by 24-month-old infants. In: Infacy 13, 128−157. Hurrelmann, B. (2004): Informelle Sozialisationsinstanz Familie. In: Groeben, N. & Hurrelmann, B. (Hgg.): Lesesozialisation in der Mediengesellschaft. Ein Forschungsüberblick. Weinheim: Juventa, 169−201. Kauschke, C. & Siegmüller, J. (Hgg.) (2012): Materialien zur Therapie nach dem Patholinguistischen Ansatz (PLAN): Syntax und Morphologie. München: Elsevier Urban & Fischer. Kümmerling-Meibauer, B. & Meibauer, J. (2005): First pictures, early concepts: Early concept books. The Lion and the Unicorn 29, 324-347. Lever, R. & Sénéchal, M. (2011): Discussing stories: On how a dialogic reading intervention improves kindergartners’ oral narrative construction. In: Journal of Experimantal Child Psychology 108, 1−24. Markman, E.M. (1991): The whole-object, taxonomic, and mutual exclusivity assumptions as initial constraints on word meanings. In Gelman, S.A. & Byrnes, J. P. (Hgg.): Perspectives on Language and Thought: Interrelations in Development. Cambridge: Cambridge University Press, 72−106. McGregor, K. (2004): Developmental dependencies between semantics and reading. In: Stone, C. A.; Sillimann, E.R.; Ehren, B.J. & Wallach, G.P. (Hgg.): Handbook of Language and Literacy, Development and Disorders. New York: Guilford Publications, 302-317. Neubacher-Fesser, M. & Cuno, S. (2008): Wer versteckt sich auf dem Bauernhof. Ravensburg: Ravensburger. Penner, Z. & Kölliker Funk, M. (1998): Therapie und Diagnose von Grammatikstörungen. Ein Arbeitsbuch. Luzern, Edition SZH/ SPC. Robbins, C. & Ehri, L. (1994): Reading storybooks to kindergardeners helps them learn new vocabulary words. In: Journal of Educational Psychology 86, 54−64. Rösch, H. (2003) (Hg.): Deutsch als Zweitsprache. Sprachförderung. Grundlagen, Übungsideen, Kopiervorlagen. Braunschweig: Schroedel Verlag. Scheffler, A. & Donaldson, J. (2000): Wo ist Mami? Weinheim: Beltz & Gelberg. Sénéchal, M. (1997): The differential effect of storybook reading on preschoolers’acquisition of expressive and receptive vocabulary. In: Journal of Child Language 24, 123−138. Siegmüller, J. & Fröhling, A. (2010): Das PräSES-Konzept. Potenzial der Sprachförderung im Kita-Alltag. München: Urban & Fischer. Siegmüller, J. & Kauschke, C. (2006): Patholinguistische Therapie bei Sprachentwicklungsstörungen. München: Elsevier. Snow, C. (1977): The development of conversation between mothers and babies. In: Journal of Child Language 4, 1−22. Tomasello, M. (2003): Constructing a Language: A Usage-Based Theory of Language Acquisition. Cambridge: Harvard University Press. Vahle, F. & Heine, H. (2003): Der Katzentatzentanz. Weinheim: Beltz & Gelberg. Vasilyeva, M.; Huttenlocher, J. & Waterfall, H. (2006): Effects of language intervention on syntactic skill levels in preschoolers. In: Developmental Psychology 42, 164−174. Friederike von Lehmden, Johanna Bebout & Eva Belke 56 von Lehmden, F.; Kauffeldt, J.; Belke, E. & Rohlfing, K.J. (2013): Das Vorlesen von Kinderbüchern als implizites Mittel zur Sprachförderung im Bereich Grammatik. In: Praxis Sprache 1, 18−27. Wasik, B. & Bond, M.A. (2001): Beyond the pages of a book: Interactive book reading and language development in preschool classrooms. In: Journal of Educational Psychology 93, 243−250. Wegener, H. (2003): Das Passiv im Spracherwerb und in der Spracherwerbsforschung. In: Beckmann, F. & Eschenlohr, S. (Hgg.): Neuere Arbeiten zur Diathesenforschung. Studien zur deutschen Grammatik, Band 64. II/ 258. Tübingen: Stauffenburg (unveröffentlicht). Wells, G. (1985): Language development in the pre-school years. Language at home and at school, Vol. 2. Cambridge: Cambridge University Press. Zevenbergen, A.; Whitehurst, G. & Zevenbergen, J. (2003): Effects of a shared-reading intervention on the inclusion of evaluative devices in narratives of children from low-income families. In: Journal of Applied Developmental Psychology 24, 1−15. Eva Gressnich & Linda Stark Erklärende Gesprächseinlagen beim Vorlesen von Bilderbüchern 1 Einleitung Familiale Vorlesesituationen bestehen aus drei wesentlichen Komponenten: dem Buch 1 , dem Kind und dem Vorleser, zumeist Mutter oder Vater des Kindes. Je nachdem, wie die Vorlesesituation von Vorleser und Kind begriffen wird, kommt dem Buch eine mehr oder weniger dominierende Rolle zu: So haben geschlossene Vorlesepraktiken die Funktion, den Buchtext mitzuteilen (vgl. Wieler 1997: 317ff.). Bei diesem Mitteilen des Textes nimmt das Kind eine eher passive Zuhörerrolle ein; der Vorleser fungiert dann vor allem als Übermittler, indem er den schriftlichen Text (nahezu) wortwörtlich in das Medium der Mündlichkeit überträgt und ihn dem Kind so erst zugänglich macht. Demgegenüber stehen offene Vorlesepraktiken, innerhalb derer eine verbale Kommunikation zwischen Vorleser und Kind stattfindet, die über den im Buch enthaltenen Text hinausgeht. Neben der rein medialen Übermittlungsfunktion hat der Vorleser hierbei auch die Rolle des direkten Kommunikationspartners des Kindes inne (vgl. Wieler 1997: 317ff.). Durch die Loslösung vom vorgegebenen Bilderbuchtext im Rahmen dieser offenen Vorlesepraktiken entstehen innerhalb von Vorleseinteraktionen Gesprächsabschnitte, die wir in Anlehnung an Spinner (2004: 295) als „Gesprächseinlagen“ begreifen. Wir gehen davon aus, dass diese Gesprächseinlagen häufig der Feinabstimmung („finetuning“, Snow 1995: 180) der Buchgrundlage an die Fähigkeiten bzw. den Entwicklungsstand des Kindes dienen (vgl. z.B. DeLoache 1983; DeLoache/ de Mendoza 1987; McDonnell et al. 2003), indem der Vorleser zwischen dem Buch und dem Kind vermittelt. In diesem Prozess der Feinabstimmung spielen Erklärungen, die der Vorleser dem Kind zusätzlich zu der Textlektüre anbietet, eine zentrale Rolle (vgl. Rothstein 2013). Bei der Erforschung feinabstimmender Gesprächseinlagen in Eltern-Kind-Vorlesesituationen standen bisher vor allem das interaktive Verhalten des Vorlesenden und dessen Einfluss auf diverse Lernprozesse des Kindes im Vordergrund (vgl. z.B. Fletcher/ Reese 2005). Im Gegensatz 1 Wir konzentrieren uns in unserem Beitrag auf die Rezeption von Bilderbüchern, auch wenn das Vorlesen längst nicht auf diese kinderliterarische Erscheinungsform beschränkt ist. Eva Gressnich & Linda Stark 58 dazu wurde der Rolle des Buches innerhalb der extratextuellen Kommunikation in Vorlesegesprächen in der Forschung bislang nur wenig Beachtung geschenkt (vgl. Fletcher/ Finch 2015: 3). An dieses Desiderat knüpfen wir in unserem Beitrag an. Wir stellen die Ergebnisse einer qualitativ-rekonstruktiven Fallanalyse dreier natürlicher Mutter-Kind-Vorlesesituationen vor. Bei der Analyse gingen wir der Frage nach, welchen Einfluss die Bilderbuchgrundlage auf erklärende Gesprächseinlagen im Vorleseprozess hat. Nach einer kurzen Zusammenfassung des Forschungsstandes zu Erklärungen beim Vorlesen sowie einer Beschreibung des in den untersuchten Vorlesesituationen verwendeten Bilderbuches erläutern wir in Abschnitt 4 die Ergebnisse unserer Analyse. Dabei geht es zunächst um die Frage, welche Elemente von Bilderbüchern erklärende Gesprächseinlagen zum Gegenstand haben. Erklärende Gesprächseinlagen, die sich auf die Bildebene des Bilderbuches beziehen, bilden eine von drei Kategorien, die aus der Analyse hervorgegangen sind. Es zeigte sich, dass diesem Erklärungstyp beim Vorlesen eine besondere Rolle zukommt, was wohl v.a. daran liegt, dass es sich bei der visuellen Ebene um den Informationskanal handelt, der dem Kind - im Gegensatz zur Textebene - unmittelbar zugänglich ist. In einem zweiten Analyseschritt untersuchten wir deshalb alle in den Vorlesegesprächen vorkommenden Erklärungen zur Bildebene genauer (s. Abschnitt 4.3). Wir wollten v.a. wissen, ob und, wenn ja, welche Merkmale der Interaktion zwischen der visuellen und der verbalen Ebene des Bilderbuches das Aufkommen von bildbezogenen Erklärungen bedingen. Im letzten Teil des Beitrags diskutieren wir unsere Ergebnisse vor dem Hintergrund einschlägiger Klassifikationen des Text-Bild-Verhältnisses in Bilderbüchern (vgl. Kümmerling-Meibauer 2012; Nikolajeva/ Scott 2001). Dabei argumentieren wir auf der Grundlage unserer Ergebnisse dafür, dass es in der Vorleseforschung nicht ausreicht, Urteile über die Interaktion zwischen Text und Bild global für die Gesamtheit eines Bilderbuches zu treffen. Es scheint notwendig zu sein, das Verhältnis zwischen Text und Bild für einzelne Details des Bilderbuches zu betrachten, um den Einfluss, den das Buch auf die extratextuelle Kommunikation in der Vorlesesituation ausübt, erfassen zu können. In der genauen Kenntnis dieses Einflusses besteht eine zentrale Voraussetzung dafür, erklärende Gesprächseinlagen in Vorlesesituationen zu Förderzwecken gezielt platzieren und elizitieren zu können. 2 Erklärungen in Vorlesegesprächen Mit Morek (2013a, 2013b) können Erklärungen als Produkte sprachlich komplexer kommunikativer Praktiken verstanden werden, „die der Auf- Erklärende Gesprächseinlagen beim Vorlesen von Bilderbüchern 59 lösung eines zuvor bestehenden Wissens- oder Verstehensdefizits dien[en]“ (Morek 2013a: 70). Jemandem wird ein Sachverhalt, Begriff, Zusammenhang oder Prozess so klar gemacht, dass er oder sie einen Wissenszuwachs bzw. ein tiefergehendes Verständnis des jeweiligen Erklärgegenstandes (d.h. Explanandums) erlangt. (Morek 2013a: 70) Aufgrund der unterschiedlichen Wissens- und Erfahrungsschätze, über die Kinder und Erwachsene verfügen, nehmen Erwachsene in der Kommunikation mit Kindern zumeist die Rolle des Erklärenden ein, mit dem Ziel, dass das zuhörende Kind den Erklärgegenstand verstehen und sein Wissen erweitern kann. Allerdings können diese Rollen auch verkehrt werden - bspw. zu Zwecken der Diskursförderung in didaktischen Kontexten oder zur Steigerung der kindlichen Aktivität in Vorlesesituationen. In diesen Fällen äußert die Förderperson ein (vermeintliches) Wissens- oder Verstehensdefizit, was das Kind zu einer eigenen Erklärung anregen soll. Vorlesesituationen in Kindergärten oder Grundschulen stellen geeignete Kontexte dar, um die Erklärfähigkeiten von Kindern gezielt zu fördern (vgl. Gosen et al. 2013), v.a. vor dem Hintergrund, dass die Handlung des Erklärens eine bildungsrelevante Sprachkompetenz ist (vgl. Morek 2013a: 71f.). In familialen Vorlesesituationen, in denen ein Elternteil mit seinem Kind ein Buch rezipiert, eröffnen sich hingegen eher Gelegenheiten, um durch Erklärungen des Erwachsenen einen Wissenszuwachs bzw. ein tieferes Verständnis des jeweiligen Erklärgegenstandes - z.B. ein noch unbekanntes Wort - auf Seiten des Kindes in einer natürlichen Interaktion anzuregen (vgl. Evans et al. 2011). Durch diese Erklärungen eines Erwachsenen, die nicht zwangsläufig auf eine gezielte Förderung angelegt sind, findet ein Brückenschlag zwischen der Buchgrundlage und dem Kenntnisstand des Kindes statt (vgl. Gosen 2012: 17), der als Prozess der Feinabstimmung betrachtet werden kann. Die genannten Studien zu Erklärungen in Vorlesesituationen zielten darauf ab, die interaktiven Mechanismen, die Erklärungen in Vorlesesituationen begleiten, sowie die Strategien der Vorleser, die in den Erklärungen wirksam werden, zu ergründen, um deren Potenziale, Funktionen und Wirkungen für die sprachliche Entwicklung auf Seiten der Kinder auszuloten. Unberücksichtigt blieb hingegen die Frage danach, welche Rolle die Buchgrundlage dabei spielt, was von Vorlesern und Kindern zum Gegenstand von Erklärungen gemacht wird. Eine Erforschung des Einflusses des Buches auf Erklärungen in Vorlesesituationen ist jedoch die Voraussetzung für die Entwicklung eines gezielten Förderkonzeptes. Und dies gilt sowohl für die Förderung diskursiver Fähigkeiten durch Erklärungen des Kindes als auch für die Förderung von bspw. lexikalischem Wissen, das dem Kind durch Erklärungen eines Erwachsenen nähergebracht werden kann. Denn Eva Gressnich & Linda Stark 60 nur dann, wenn man um die Wirkung und den Einfluss der Buchgrundlage weiß, kann u.E. eine durchdachte Gestaltung von Vorlesegesprächen und ein gezielter Einsatz von Büchern zu Zwecken der Sprachförderung erfolgen. Wir wollen daher mit unserem Aufsatz einen ersten Beitrag dazu leisten, eine Forschungsgrundlage zu schaffen, die auch für die Sprachförderpraxis nutzbar gemacht werden kann. 3 Die Buchgrundlage: Der Prinz mit der Trompete (2011) Die Mutter-Kind-Paare in den von uns analysierten Vorlesesituationen lasen das Bilderbuch Der Prinz mit der Trompete, geschrieben von Heinz Janisch und illustriert von Birgit Antoni. Da wir in unseren Analysen vor allem die Rolle des Buches als Auslöser für erklärende Gesprächseinlagen in Vorlesesituationen fokussierten, ist dessen Beschreibung eine notwendige theoretische Grundlage. Das Bilderbuch umfasst insgesamt zwölf Doppelseiten, die alle sowohl über einen Text verfügen als auch Bildmaterial, teilweise mehrere Abbildungen pro Doppelseite, enthalten. Die in Text und Bild übermittelte Handlung lässt sich wie folgt zusammenfassen: Ein junger Prinz, der zwar nicht gut kämpfen, dafür aber umso besser Trompete spielen kann, verlässt die elterliche Burg, um erwachsen zu werden und sein Glück zu finden. Bei dem Versuch, seine vermeintliche Herzensdame zu erobern, eine - wie sich herausstellt - eingebildete und unfreundliche Prinzessin, trifft er auf einen Drachen, mit dem er Freundschaft schließt und mit dessen Hilfe er die wahre Liebe seines Lebens - „eine Prinzessin ohne Krone“ (Janisch/ Antoni 2011: o.S.) - findet. Mittels des Textes wird in diesem Bilderbuch eine Geschichte erzählt, die sich in dem enthaltenen Bildmaterial spiegelt, sodass Bild und Text inhaltlich übereinstimmen. Dieses unauffällige und in Bilderbüchern weitverbreitete Text-Bild-Verhältnis kann mit Hilfe der Klassifikation in Kümmerling-Meibauer (2012) als redundant bzw. symmetrisch bezeichnet werden, da ihm eine „Doppelung der Aussage“ (Kümmerling-Meibauer 2012: 148) zugrunde liegt: „Text und Bild erzählen dieselbe Geschichte mithilfe der ihnen eigenen narrativen und symbolischen Darstellungsweisen“ (Kümmerling-Meibauer 2012: 148). Eine Abgrenzung zur Kategorie des illustrierten Buches ist auf den ersten Blick nicht leicht: Die Geschichte, die in Janischs und Antonis Buch auf der Textebene vermittelt wird, kann auch ohne die dazugehörigen Bilder gelesen und verstanden werden, sodass man von einer rein dekorativen Funktion der Bilder ausgehen könnte. Jedoch sind u.W. Text und Bild des Buches zeitgleich als Einheit bzw. Gesamtwerk erschienen, d.h. es handelt sich nicht um die nachträgliche Illustration eines bereits vorhandenen Tex- Erklärende Gesprächseinlagen beim Vorlesen von Bilderbüchern 61 tes, wie sie für illustrierte Bücher typisch ist (vgl. Nikolajeva/ Scott 2001: 8). Insofern betrachten wir Janischs und Antonis Werk als Bilderbuch mit symmetrischem Text-Bild-Verhältnis. Es gehört damit zu derjenigen Text- Bild-Verhältnis-Kategorie, der die überwiegende Mehrheit aller Bilderbücher zuzuordnen ist (vgl. Nikolajeva/ Scott 2001: 14). In Klassifikationen zur Text-Bild-Interaktion in Bilderbüchern wird nicht immer bedacht, dass es aufgrund der unterschiedlichen Funktionsweisen der beiden Repräsentationsmodi niemals ein vollkommen symmetrisches Zusammenspiel von Text und Bild geben kann, schon gar nicht bezogen auf die Gesamtheit eines Bilderbuches. Wie vermutlich in allen Bilderbüchern lassen sich auch in Der Prinz mit der Trompete Stellen finden, an denen Details aus dem Bilderbuchtext im Bild nicht dargestellt sind oder an denen im Bild dargestellte Elemente im Text nicht erwähnt werden. Dieses sporadische Mehr oder Weniger an Information auf einer der beiden Ebenen entsteht auf natürliche Weise aus der Unterschiedlichkeit der beiden Darstellungsmodi. So lässt sich z.B. Zeit im Bild nur sehr eingeschränkt und durch die Anwendung spezieller Techniken darstellen, während in der Sprache zahlreiche Mittel zur Verfügung stehen, die eine Bezugnahme auf komplexe zeitliche Relationen ermöglichen (vgl. Nikolajeva/ Scott 2001: 139ff.). Zu unterscheiden sind Abweichungen dieser Art, die nicht vom Produzenten des Bilderbuches intendiert sind, von bewusst verursachten Informationslücken auf einer der beiden Ebenen des Buches. In Klassifikationen der Bilderbuchforschung wird für Bilderbücher, in denen solche beabsichtigten Lücken auftreten, die Kategorie Komplementarität angenommen (vgl. Kümmerling-Meibauer 2012: 148; Nikolajeva/ Scott 2001: 11ff.). In entsprechenden Fällen ist die eine Ebene auf die andere Ebene angewiesen. Weder Text noch Bild in dem Bilderbuch Der Prinz mit der Trompete weisen so große Lücken auf, dass es notwendig wäre, die entsprechenden Informationen durch die jeweils andere Ebene zu ergänzen. Somit wäre es auch nicht angemessen, das Bilderbuch der Kategorie Komplementarität zuzuordnen. Wie sich jedoch in der Darstellung unserer Ergebnisse zeigen wird, liegt in Janischs und Antonis Werk zumindest teilweise eine Abweichung zwischen Text und Bild vor, die sich nicht zwangsläufig aus der Natur der beiden Repräsentationsmodi ergibt, sondern vielmehr bewusst von den beiden Künstlern herbeigeführt worden zu sein scheint. Diese Überlegungen zur Interaktion zwischen den beiden Informationsebenen des Bilderbuches spielten im Rahmen unserer Analyse eine entscheidende Rolle und werden in den folgenden Abschnitten wieder aufgegriffen. Eva Gressnich & Linda Stark 62 4 Erklärende Gesprächseinlagen im Vorlesegespräch: eine qualitative Analyse Als Datengrundlage für die exemplarischen Falluntersuchungen, die in diesem Beitrag vorgestellt werden, dienten drei Vorlesesituationen aus einem größeren Gesamtkorpus, das im Rahmen des Dissertationsprojektes von Stark (i.V.) erhoben wurde. Die drei Aufzeichnungen wurden deshalb ausgewählt, weil sie zu denjenigen des zuvor annotierten Gesamtkorpus gehören, die die meisten Gesprächseinlagen enthalten. In allen drei Fällen ist die Mutter des jeweiligen Kindes die Vorleserin. Die soziale Herkunft aller drei Familien kann als sehr privilegiert und bildungsnah beschrieben werden. Alle drei Mütter gaben an, dass das Vorlesen von Bilderbüchern zur alltäglichen Familienroutine gehöre und die Kinder zum Zeitpunkt der Aufzeichnung bereits über einen großen Leseerfahrungsschatz verfügten. Das Kind in Beispiel A ist 2; 6 Jahre alt, das Kind in Beispiel B 3; 0 Jahre und das Kind in Beispiel C ist 5; 6 Jahre alt. Aufgrund der Berufstätigkeit aller drei Mütter besuchen die Kinder unter der Woche eine Kindertagesstätte. Vorlesesituation A dauerte 9 Minuten, Vorlesesituation B 10 Minuten und Vorlesesituation C 11 Minuten. Sie wurden von den Müttern selbstständig mittels einer handlichen Digitalkamera im jeweiligen Zuhause der Kinder aufgezeichnet. In unserer Analyse untersuchten wir alle erklärenden Gesprächseinlagen in den drei Vorlesesituationen. 2 Wir wollten wissen, auf welche Elemente des Bilderbuches diese Gesprächseinlagen bezogen sind. Es stellte sich heraus, dass die nachweisbaren erklärenden Äußerungen drei unterschiedliche Bestandteile der Buchgrundlage als Erklärgegenstand haben: 1. Elemente der dargestellten Handlung, 2. sprachliche Elemente und 3. Bildelemente. 2 Neben Erklärungen ließen sich bei Abweichungen vom Bilderbuchtext folgende Diskursaktivitäten feststellen: Einbinden spielerisch-interaktiver Elemente durch den Vorleser; Kommentare des Vorlesers, die der Aufrechterhaltung der Aufmerksamkeit des Kindes dienen und keinen erklärenden Wert besitzen (z.B. unspezifische deiktische Verweise wie Guck mal); reine Kenntnisnahme, Bestätigung oder Wiederholung von Kommentaren des Kindes durch den Vorleser; Fragen und Kommentare des Kindes, auf die keine Reaktion des Vorlesers folgt; Dekontextualisierungen, die Inhalte des Bilderbuches mit der Erfahrungswelt des Kindes verknüpfen; kurzfristige Ausstiege aus dem gesamten Rezeptionsprozess, d.h. verbale oder non-verbale Handlungen, die nicht an die Buchgrundlage anknüpfen und meist vom Kind initiiert werden (z.B. das Verlangen des Kindes nach dem Kuscheltier). Wir konnten außerdem multifunktionale Gesprächseinlagen beobachten, in denen zwei oder mehr der genannten Diskursaktivitäten kombiniert auftreten. Erklärende Gesprächseinlagen beim Vorlesen von Bilderbüchern 63 Kategorie 1 und 2 veranschaulichen wir im Folgenden anhand von jeweils einem Beispiel, bevor wir im Anschluss daran einen genauen Blick auf Kategorie 3 werfen. 4.1 Elemente der dargestellten Handlung als Erklärgegenstand In einer Sequenz des Bilderbuches Der Prinz mit der Trompete bedankt sich eine Frau bei dem Prinzen für die schöne Musik, die er auf seiner Trompete spielt. Im Bilderbuchtext wird dies in der direkten Rede folgendermaßen wiedergegeben: „Du hast uns reich beschenkt.“ (Janisch/ Antoni 2011: o.S.). Das folgende Beispiel zeigt, wie die Mutter in Vorlesesituation C sicherzugehen versucht, dass ihre Tochter (5; 6) versteht, womit der Prinz seine Zuhörer beschenkt hat. Nach der Wiedergabe der Figurenrede richtet sich die Mutter mit einer entsprechenden Frage direkt an ihre Tochter, die die Frage wiederum korrekt beantworten kann. 1 M: und weil die stimmung so gut war, 2 stellte sich der prinz auf einen stein und 3 spielte auf seiner trompete. 4 (1.5) ((verstellt die stimme)) ich danke dir 5 für die schöne musik, 6 sagte eine frau. 7 als er wieder vom felsen stieg. 8 (---) du hast uns reich beschenkt. 9 ich will dir auch etwas geben. 10 (1.2) womit hat (-) der prinz die denn beschenkt? 11 was hat er denen geschenkt? 12 (0.6) 13 K: die musik. 14 M: genau, 15 die schönen lieder, 16 die der [gespielt hat.] 17 K: [mhm.] 18 M: genau. Transkriptausschnitt 1 3 : Erklärung eines Handlungselements in Vorlesesituation C Da insbesondere Kinder den Akt des Schenkens mit dem Übergeben von Objekten verbinden dürften, scheint die Mutter hier einen zusätzlichen Erklärungsbedarf zu antizipieren. Die daraus entstehende Gesprächseinlage 3 Dieser sowie die übrigen in dem Beitrag verwendeten Transkriptausschnitte sind entsprechend der GAT 2-Konvention zu Minimaltranskripten (vgl. Selting et al. 2009) gestaltet. Der abgelesene Bilderbuchtext wird in fettgedruckten Lettern wiedergegeben, um ihn von den Gesprächseinlagen optisch abzugrenzen. Die Sprecherangabe M steht für Mutter, K für Kind. Eva Gressnich & Linda Stark 64 dient offenbar dazu sicherzustellen, dass das Handlungselement vom Kind verstanden wird. Die Sequenz zeigt, dass Erklärungen nicht immer vom Vorleser ausgehen müssen, sondern auch - durch Fragen des Vorlesers initiiert - vom Kind selbst geleistet werden können Es handelt sich im oben angeführten Beispiel um eine erklärende Gesprächseinlage, die sich auf ein Handlungsdetail bezieht, das für das globale Verständnis des Bilderbuches nicht wesentlich ist. In Vorlesesituationen kommt es sicherlich häufig zu Erklärungen, die zentrale Bestandteile des Plots als Gegenstand haben. So kann man sich z.B. gut vorstellen, dass Vorleser und Kind gemeinsam Gründe für das Handeln von Figuren reflektieren. In unseren Daten ließen sich entsprechende Sequenzen jedoch nicht nachweisen. 4.2 Sprachliche Elemente als Erklärgegenstand Die folgende Gesprächseinlage aus Vorlesesituation B beinhaltet eine Erklärung eines sprachlichen Elements. Die Mutter paraphrasiert die im Bilderbuchtext enthaltene Präpositionalphrase „nach deinem Geschmack“ (Janisch/ Antoni 2011: o.S.). Ausgelöst wird die Sequenz dadurch, dass die Tochter (3; 0) in einem eigenen Kommentar einen Teil der sprachlichen Konstruktion aufgreift: „mhm schmack“ (Zeile 5). Die Mutter versteht die Äußerung des Kindes als Signalisierung eines Wissensdefizits. Das Kind schafft eine „Anschlussstelle“ (Becker/ Müller i.d. Band), an die die Mutter eine Erklärung anfügt, um ihrer dreijährigen Tochter die Präpositionalphrase verständlich zu machen. 1 M: vielleicht findest du eine prinzessin nach 2 deinem geschmack. 3 (0.6) der prinz [in seinem] ((lacht)) nach 4 deinem geschmack. 5 K: [(mhm schmack)] 6 M: das heißt so viel wie, 7 vielleicht findest du eine prinzessin, 8 die du lieb hast. 9 (0.5) mhm, 10 soll der sich eine prinzessin suchen. 11 (1.0) [der prinz] ja, Transkriptausschnitt 2: Erklärung eines sprachlichen Elements in Vorlesesituation B 4.3 Bildelemente als Erklärgegenstand Bei der dritten Kategorie, die wir in den Vorlesesituationen feststellen konnten, handelt es sich um erklärende Gesprächseinlagen, die auf die Bildebene der Buchgrundlage bezogen sind. Passend zu Überlegungen wie Erklärende Gesprächseinlagen beim Vorlesen von Bilderbüchern 65 in Rothstein (2013: 324), dass bei der Bilderbuchlektüre die visuelle Ebene für gewöhnlich „textunterstützend kommentiert“ wird, konnten wir diese Kategorie in den drei analysierten Vorlesegesprächen besonders häufig beobachten. In einem zweiten Schritt untersuchten wir deshalb die Kategorie der Bilderklärungen genauer. Uns interessierte insbesondere, ob die Interaktion zwischen Text- und Bildebene als Auslöser für entsprechende Sequenzen anzusehen ist. Dabei zeigte sich, dass die Erklärungen dieser Kategorie mit unterschiedlichen Merkmalen des Text-Bild-Verhältnisses im Bilderbuch und der Rezeption des Text-Bild-Verhältnisses durch Mutter und Kind in Zusammenhang stehen. Relevant dafür, dass eine die Bildebene erklärende Gesprächseinlage auftritt, ist, a) welche Art von Text-Bild-Verhältnis an der Stelle vorliegt, an der die Gesprächseinlage einsetzt, und b) ob dem Kind die Zuordnung von Text- und Bildinformationen gelingt bzw. ob der Vorleser auf Seiten des Kindes Schwierigkeiten bei der Zuordnung von Text- und Bildinformationen annimmt. Anhand unserer Daten lassen sich die folgenden vier Fälle unterscheiden, die weiter unten durch Beispiele veranschaulicht werden. Art der Text-Bild-Interaktion und Rezeption der Text-Bild-Interaktion Prototypische Frage- und Erklärungsformate I Es liegt ein symmetrisches Text-Bild- Verhältnis vor. Das Kind findet einen Referenten aus dem Text im Bild nicht wieder (oder nicht mit Sicherheit wieder) ODER der Vorleser nimmt an, dass das Kind einen Referenten aus dem Text im Bild nicht wiederfindet (oder nicht mit Sicherheit wiederfindet). - Wo/ Wer/ Was ist X? - Ist das X? - Da ist X. - Das ist X. II Der Text ist informativer als das Bild, d.h. ein Element, auf das im Text referiert wird, wird im Bild nicht gezeigt. Das asymmetrische Verhältnis führt zu einer Zuordnungslücke, die vom Kind oder vom Vorleser thematisiert wird. - Wo/ Wer/ Was ist X? - Ist das X? - X sieht man nicht. Eva Gressnich & Linda Stark 66 III Es liegt ein symmetrisches Text-Bild- Verhältnis vor. Das Kind kann einem Bildelement auf Basis der Textinformation keine (oder nicht mit Sicherheit eine) Identität zuordnen ODER der Vorleser nimmt an, dass das Kind einem Bildelement auf Basis der Textinformation keine (oder nicht mit Sicherheit eine) Identität zuordnen kann. - Wer/ was ist das? - Das ist X. IV Das Bild ist informativer als der Text, d.h. auf ein Element, das im Bild gezeigt wird, wird im Text nicht referiert. Das asymmetrische Verhältnis führt zu einer Zuordnungslücke, die vom Kind oder vom Vorleser thematisiert wird. - Wer/ was ist das? - Das könnte X sein. Tab. 1: Typen von Erklärungen zur Bildebene Die Tabelle zeigt, dass den zu unterscheidenden Fällen drei verschiedene Arten der Text-Bild-Interaktion zugrunde liegen. In den Kategorien I und III ist jeweils ein symmetrisches Verhältnis der Ausgangspunkt, d.h. ein Element wird sowohl im Text genannt als auch im Bild gezeigt. In Kategorie II ist die Textebene informativer als die Bildebene, während in Kategorie IV der umgekehrte Fall vorliegt. Wir vermuten, dass bestimmte Referenzdomänen wie Person-/ Dingreferenz und Situationsreferenz (vgl. Vater 2005) bei der Zuordnung von Text- und Bildinformationen durch Vorleser und Kind dominanter und relevanter sind als andere Domänen. Dafür scheinen mindestens zwei Dinge ausschlaggebend zu sein. Zum einen sind Personen, Dinge und Situationen (also auch Handlungen) zentral für den Plot von Geschichten, zum anderen handelt es sich dabei um Entitäten, die sich sowohl im Text als auch im Bild gut darstellen lassen 4 und für die man entsprechend eine ‚doppelte‘ Übermittlung (und somit ein symmetrisches Text-Bild-Verhältnis) erwarten kann. Die Bilderklärungen in den von uns analysierten Gesprächseinlagen spiegeln diese Domänendominanz wider. Die prototypischen Frage- und Erklärungsformate sind vermutlich im weitaus häufigeren Fall so verteilt, dass das Kind fragt und der Vorleser erklärt. Hinsichtlich der Erklärungen von Bildelementen gilt das auch für unsere Daten. Transkriptausschnitt 1, der oben als Beispiel für die Erklärung 4 In dieser Hinsicht stehen sie im Gegensatz z.B. zu den bereits erwähnten zeitlichen Aspekten, deren Visualisierung durchaus herausfordernd sein kann (vgl. Nikolajeva/ Scott 2001: 139ff.). Erklärende Gesprächseinlagen beim Vorlesen von Bilderbüchern 67 von Handlungselementen dient, zeigt jedoch, dass auch die umgekehrte Verteilung möglich ist. Immer dann, wenn der Vorleser mögliche Verständnisprobleme beim Kind annimmt, kann er entweder die Erklärung selbst leisten oder - wie in Transkriptausschnitt 1 beobachtbar - vom Kind die Erklärung durch eine Frage einfordern, die ein potenzielles Verstehensdefizit thematisiert. Wir werden nun die verschiedenen Typen von Bilderklärungen anhand von Beispielen erläutern. 4.3.1 Erklärungen zur Bildebene - Typ I Die beiden folgenden Transkriptausschnitte veranschaulichen den in Tab. 1 angeführten Typen I. In der ersten Sequenz, die Vorlesesituation A entnommen ist, gelingt es dem Kind (2; 6) nicht, den im Text erwähnten Protagonisten der Geschichte im Bild wiederzufinden, obwohl an der betroffenen Stelle ein symmetrisches Text-Bild-Verhältnis vorliegt. Auf Nachfrage des Kindes hin hilft die Mutter bei der Zuordnung von Text- und Bildinformationen, indem sie deiktisch und mithilfe einer Zeigegeste auf die im Bild dargestellte Figur verweist. 1 M: (2.2) es wird zeit, 2 sagten die eltern des prinzen eines tages. 3 (--) die alte burg ist zu klein geworden für 4 uns drei. 5 K: wer ist der prinz? 6 M: ((flüstert; zeigt auf das Bild)) der da. Transkriptausschnitt 3: Erklärungen zur Bildebene I - Suchen eines Textreferenten im Bild durch das Kind und erklärendes Zuordnen durch die Mutter in Vorlesesituation A Die zweite Sequenz, die Typ I veranschaulichen soll, stammt aus Vorlesesituation B. Auch hier hilft die Mutter ihrer Tochter (3; 0) mit einer zusätzlichen Erklärung dabei, den im Text erwähnten Prinzen im Bild zu entdecken. Durch ihren deiktischen Verweis „guck“ (Zeile 11) 5 stellt die Mutter sicher, dass ihrer Tochter die Zuordnung zwischen dem im Text Erwähnten und dem im Bild Dargestellten gelingt. 1 M: (0.4) wenn die anderen kinder im hof 2 schwertkämpfe übten, 3 (.) stand der prinz oben in seinem turmzimmer 4 und spielte so SCHÖN trompete, 5 Im vorliegenden Datenmaterial ist nicht erkennbar, ob die Mutter an dieser Stelle auch mit dem Finger auf das entsprechende Bildelement deutet. Eva Gressnich & Linda Stark 68 5 dass alle leute im land bei der arbeit 6 innehielten [zuhörten] (0.7) und sagten (0.9) 7 oh, 8 [...] 9 (1.2) DA fliegt schon wieder MUSIK durch die luft, 10 sagten die leute (0.7) 11 guck, so spielt der da trompete. Transkriptausschnitt 4: Erklärungen zur Bildebene I - Unaufgefordertes erklärendes Zuordnen von Text- und Bildinformationen durch die Mutter in Vorlesesituation B Es liegt die Vermutung nahe, dass die Mutter davon ausgeht, dass ihre Tochter möglicherweise Probleme damit hat, den Trompete spielenden Prinzen im Bild zu entdecken. Die von ihr angeführte Erklärung wird nicht vom Kind initiiert. Grund für die Annahme der Mutter dürfte sein, dass das Bild der entsprechenden Buchseite sehr detailreich ist und viele Personen abbildet. Der Rezipient muss unter mehreren potenziellen Kandidaten auf der Basis der vorhandenen Textinformationen, aber auch auf der Basis von Weltwissen den richtigen herausfiltern. Erschwerend kommt hinzu, dass der Prinz im Bild nicht sehr prominent dargestellt ist, auch wenn die Blickrichtung zahlreicher anderer abgebildeter Personen, die dem Prinzen beim Trompetespielen zusehen, als hilfreiche Markierung dient. 4.3.2 Erklärungen zur Bildebene - Typ II Die folgende Gesprächseinlage aus Vorlesesituation B ist ein Beispiel für Typ II, also für den Fall, in dem die verbale Ebene informativer ist als die visuelle Ebene, was beim Abgleichen der beiden Ebenen möglicherweise zu Irritation führt, da ein Element aus dem Text im Bild nicht gefunden werden kann. An der Stelle des Bilderbuches, um die es in der folgenden Sequenz geht, findet im Text bereits eine Referenz auf den Drachen statt, im Bild wird der Drache jedoch noch nicht gezeigt. Durch diese Asymmetrie entsteht beim Kind (3; 0) eine Zuordnungslücke, die es durch seine Frage in Zeile 4 verbalisiert. 1 M: die die prinzessin hat ANGST vor dem 2 feuerspeienden drachen, 3 der drüben am see [sein unwesen treibt.] 4 K: [wo ist der drache? ] 5 M: ich hab ihn noch nicht gesehen. Transkriptausschnitt 5: Erklärungen zur Bildebene II - Fragen des Kindes nach einem im Bild nicht dargestellten Textreferenten und Erklärung der Mutter in Vorlesesituation B Erklärende Gesprächseinlagen beim Vorlesen von Bilderbüchern 69 Geht man davon aus, dass in Bilderbüchern die symmetrische Darstellung von zentralen Figuren auf beiden Ebenen der Standardfall ist und dass Kinder diese Konvention in ihrer Vorlesebiografie schnell erwerben, dann ist die Frage des Kindes nach dem Drachen nicht verwunderlich. In der sich anschließenden Äußerung erklärt die Mutter (oder sie legt es zumindest nahe), dass der Drache im Bild nicht abgebildet ist. Wie das Beispiel zeigt, geht es bei Typ II nicht um das Erklären eines Bildelements, sondern um das Erklären (oder im Beispiel zumindest um die Nennung) des Nicht-Vorhandenseins eines Elements im Bild. Man kann annehmen, dass es sich bei der Informationslücke in diesem Beispiel um eine von den beiden Bilderbuchkünstlern intendierte Abweichung handelt. Im Text wird der Drache vom Vater der Prinzessin als eine angsteinflößende Kreatur beschrieben, was - wie sich später herausstellt - nicht auf den Drachen zutrifft. Das Fehlen des Drachens im Bild ist somit Teil der Dramaturgie der Handlungsdarstellung. Andererseits befindet sich der Drache an der entsprechenden Stelle nicht an dem Ort, der im Bild dargestellt ist, sondern „drüben am See“ (Janisch/ Antoni 2011: o.S.). Insofern ließe sich auch argumentieren, dass das Nicht-Vorhandensein des Drachens auf der visuellen Ebene darin begründet ist, dass in einem Bild für gewöhnlich nur ein Schauplatz dargestellt ist und dass aus dieser Konvention resultiert, dass alles, was sich im Rahmen der Handlung nicht an diesem Schauplatz befindet, im Normalfall im Bild nicht gezeigt wird. 4.3.3 Erklärungen zur Bildebene - Typ III Wie bei Typ I liegt bei Typ III ein symmetrisches Text-Bild-Verhältnis vor. Das Problem bei der Zuordnung von Text und Bild verläuft jedoch in umgekehrter Richtung. Während es bei Typ I darum geht, dass ein Textreferent im Bild nicht gefunden wird, kann bei Typ III einem Bildelement auf Basis der Textinformation keine Identität zugeordnet werden. Der folgende Ausschnitt gehört zu Vorlesesituation B. Dem Kind (3; 0) gelingt es nicht, die Prinzessin im Bild als solche zu identifizieren. Wir nehmen an, dass ein Grund dafür sein könnte, dass die Prinzessin teilweise verdeckt und in einer Rückansicht dargestellt ist. Die Mutter vermutet in ihrer sich an die Frage des Kindes anschließenden Erklärung, dass es sich bei dem infrage stehenden Bildelement um die Prinzessin handelt. Dafür führt sie zusätzlich eine Begründung an. 1 M: (--) seit tagen hat sie ihr zimmer nicht mehr 2 verlassen, 3 (.) aus angst vor dem feuerspeienden drachen, 4 der [drüben beim see sein unwesen treibt.] 5 K: [mamie was ist das? ] 6 M: (0.8) mhm, Eva Gressnich & Linda Stark 70 7 ich glaub das ist die prinzessin. 8 (0.5) man sieht nur die HAARe von hinten. 9 (1.4) hier meinst du doch, oder? Transkriptausschnitt 6: Erklärungen zur Bildebene III - Fragen des Kindes nach der Identität eines Bildelements, auf das im Text referiert wird, und Erklärung der Mutter in Vorlesesituation B Es ist durchaus denkbar, dass analog zu Typ I (s. Transkriptausschnitt 4) auch bei Typ III eine Situation auftreten kann, in der der Vorleser beim Kind Schwierigkeiten bei der Zuordnung von Text- und Bildinformationen vermutet und unaufgefordert eine erklärende Hilfestellung gibt. Dieser Fall ließ sich in den drei Vorlesesituationen, die wir untersucht haben, jedoch nicht nachweisen. 4.3.4 Erklärungen zur Bildebene - Typ IV Das folgende Beispiel veranschaulicht Typ IV, d.h. den Fall, in dem die Bildebene mehr zeigt, als dem Text zu entnehmen ist. Als der Prinz zum ersten Mal auf den Drachen trifft, ist er im Bild mit einem Schwert in der Hand zu sehen. Auf derselben Doppelseite des Buches wird das Schwert jedoch im Text nicht erwähnt. Lediglich auf der vorangehenden Doppelseite findet eine entsprechende Referenz statt (hier allerdings ohne Darstellung des Schwertes im Bild). Der Junge (2; 6) in Vorlesesituation A kann die geforderte seitenübergreifende Zuordnung von Text- und Bildinformationen offensichtlich noch nicht leisten und benötigt zum Verständnis der Abbildung des Schwertes eine zusätzliche Erklärung seiner Mutter, die er durch seine Frage in Zeile 6 einfordert. Die Mutter benennt das infrage stehende Objekt und greift dabei auf die Bezeichnung zurück, die der Bilderbuchtext auf der vorherigen Seite zur Verfügung stellt. 1 M: (---) dann erkannte er erst, 2 (--) dass es sich um den [drachen handelte.] 3 K: [(xxx)] 4 M: (0.8) bitte? 5 (0.6) 6 K: (was hat der) an der HAND? 7 M: der hat einen (.) ein schwert in der hand. Transkriptausschnitt 7: Erklärungen zur Bildebene IV - Fragen des Kindes nach der Identität eines Bildelements, auf das im Text (derselben Doppelseite) nicht referiert wird, und Erklärung der Mutter in Vorlesesituation A Betrachtet man die entsprechende Doppelseite isoliert, so besteht eine Asymmetrie in der Interaktion zwischen Text und Bild, woraus wiederum Erklärende Gesprächseinlagen beim Vorlesen von Bilderbüchern 71 eine Zuordnungslücke auf Seiten des kindlichen Rezipienten hervorgeht. In diesem Fall ist wohl nicht von einer von den beiden Künstlern intendierten Abweichung zwischen verbaler und visueller Ebene auszugehen. Wir nehmen eher an, dass die Produzenten des Bilderbuches mögliche Schwierigkeiten bei einer seitenübergreifenden Zuordnung von Text- und Bildinformationen nicht antizipiert haben. 5 Die Betrachtung des Text-Bild-Verhältnisses in Vorlesestudien Aus der vorangegangenen Betrachtung der Vorlesegesprächsausschnitte geht deutlich hervor, dass das Text-Bild-Verhältnis des Bilderbuches innerhalb von erklärenden Gesprächseinlagen eine zentrale Rolle spielen kann. Insbesondere zeigt sich, dass in den Aushandlungsprozessen zwischen Kind und Vorleser, die sich innerhalb der von uns schwerpunktmäßig betrachteten Erklärungen zur Bildebene vollziehen, stets ein einziges Element der Bilderbuchgeschichte Erklärgegenstand ist - so z.B. der im Text benannte Drache in Transkriptausschnitt 5 oder das im Bild dargestellte Schwert in Transkriptausschnitt 7. Wie man sehen konnte, dienen diese Aushandlungsprozesse zwischen Vorleser und Kind dem Zweck, die fokussierte Information in Text oder Bild mit der jeweils anderen Ebene abzugleichen. Aufgrund dieser Beobachtung erschien es uns notwendig, während unserer Analyse das Text-Bild-Verhältnis des Bilderbuches, das in Abschnitt 2 zunächst nur auf Grundlage eines Gesamteindruckes beschrieben wurde, differenziert in Bezug auf einzelne Bild- oder Textelemente, d.h. an den von den bildbezogenen Gesprächseinlagen betroffenen Stellen punktuell zu betrachten. Diese kleinschrittige Betrachtung zeigte, dass in Janischs und Antonis Bilderbuch bei einzelnen Elementen, die zum Gegenstand von bildbezogenen Erklärungen werden, die nachfolgenden drei Möglichkeiten der Interaktion zwischen Text und Bild vorhanden sind: 1. Ein Referent wird sowohl im Text erwähnt als auch im Bild gezeigt. 2. Ein Referent wird im Bild gezeigt, jedoch im Text nicht erwähnt. 3. Ein Referent wird im Text erwähnt, jedoch im Bild nicht gezeigt. Während sich in der ersten Möglichkeit das für das gesamte Buch festgestellte symmetrische Text-Bild-Verhältnis widerspiegelt, liegt bei den Möglichkeiten 2 und 3 ein komplementäres Verhältnis zwischen Text- und Bildebene vor. Obwohl uns also der Gesamteindruck des Text-Bild-Verhältnisses zu dem Schluss führte, dass ein symmetrisches Verhältnis zwischen den Informationsebenen Text und Bild vorliegt, konnten wir bei unserer differenzierteren Untersuchung beobachten, dass an manchen Stellen und in Bezug auf einzelne Elemente der Text informativer ist als das Bild oder umgekehrt. Wir haben gezeigt, dass beim Vorlesen aus den drei Arten der Eva Gressnich & Linda Stark 72 Interaktion zwischen Text und Bild vier verschiedene Typen von Erklärungen resultieren können, die die Bildebene zum Gegenstand haben. Wir nehmen an, dass in Vorlesesituationen, in denen ein Bilderbuch gelesen wird, das anstatt oder zusätzlich zu Symmetrie und Komplementarität andere Arten der Text-Bild-Interaktion enthält, auch andere Typen von Bilderklärungen vorkommen. Insbesondere beim gemeinsamen Lesen von Bilderbüchern mit kontrapunktischem Verhältnis zwischen Text und Bild (vgl. Kümmerling-Meibauer 2012: 148) dürften höchst komplexe Erklärmuster auftreten. In solchen Fällen liefern die beiden Ebenen des Buches sich widersprechende Informationen, was die am Vorleseprozess Beteiligten vor besondere Herausforderungen stellt. In der Erweiterung unserer in Tab. 1 aufgestellten Taxonomie sehen wir zahlreiche Anknüpfungspunkte für eine notwendige Anschlussforschung. Über die drei genannten Kategorien punktueller Symmetrie bzw. Komplementarität hinausgehend fiel uns auf, dass auch die Art und Weise der Darstellung von Elementen als Auslöser für bildbezogene Erklärungen fungieren kann. So liegt der Gesprächseinlage in Transkriptausschnitt 6 eine Abbildung zugrunde, die eine Person (die Prinzessin) unvollständig bzw. aus einer ungewöhnlichen Perspektive zeigt. Auch umgekehrte Fälle sind möglich, in denen z.B. im Text eine Bezeichnung für einen Referenten verwendet wird, die nicht die treffendste Bezeichnung für das ist, was im Bild gezeigt wird. In Janischs und Antonis Bilderbuch wird im Text auf die Mutter und den Vater des Prinzen erstmalig durch die Nominalphrase „die Eltern des Prinzen“ (Janisch/ Antoni 2011: o.S.) referiert. Zwei Verständnisschwierigkeiten sind hier denkbar: Zum einen könnte die pluralische Referenz auf zwei im Bild dargestellte Personen für junge Kinder schwierig sein (im Gegensatz zu zwei Einzelreferenzen); zum anderen sind die beiden Personen im Bild sehr prominent in ihren Rollen als Königin und König dargestellt, sodass man eine dazu passende Referenz im Text erwarten würde. Vor dem Hintergrund unserer - wenn auch nur explorativ erzielten Erkenntnisse - möchten wir dafür plädieren, bei Analysen von Vorlesesituationen das Text-Bild-Verhältnis der Bilderbuchgrundlage kleinschrittig, d.h. für einzelne Elemente, zu betrachten. In literaturwissenschaftlichen Zusammenhängen (vgl. Kümmerling-Meibauer 2012; Nikolajeva/ Scott 2001) muss das Text-Bild-Verhältnis als globales Untersuchungskriterium durchaus mit einem gewissen Abstand und in einer Gesamtbetrachtung beurteilt werden, v.a. auch um spezielle Bilderbuchtypen wie das ironische Bilderbuch (vgl. Kümmerling-Meibauer 1999) definieren zu können. Aber auch in literaturwissenschaftlichen Arbeiten finden sich mitunter punktuelle Beurteilungen der Interaktion zwischen Text und Bild. Zuletzt wurde von Martinez/ Harmon (2012) der Versuch unternommen, die beiden Informationsebenen Text und Bild im Bilderbuch in ihrem Verhältnis zueinander nicht global, sondern in Bezug auf einzelne Elemente zu bewerten. Erklärende Gesprächseinlagen beim Vorlesen von Bilderbüchern 73 Sie verwenden dabei die Bezugsgröße des literarischen Elements - darunter verstehen sie Plot, Charaktere, Setting und Stimmung/ Atmosphäre - und betrachten diese zumindest teilweise einzeln für jede Bilderbuchseite. Dieser Differenzierungsversuch erscheint uns sinnvoll, auch wenn Martinez/ Harmon (2012) im Anschluss an ihre Feinanalysen deren Ergebnisse wiederum zu einem globalen Gesamteindruck zusammenfassen. 6 Fazit In unserem Beitrag haben wir drei familiale Vorlesegespräche auf darin eingebettete Erklärungen hin betrachtet. Wir stellten dabei fest, dass sich Erklärungen auf drei Bestandteile der Bilderbuchgrundlage beziehen können: 1) auf Elemente der dargestellten Handlung, 2) auf sprachliche Elemente und 3) auf Bildelemente. Wie unsere Fallanalysen gezeigt haben, lässt sich der dritte Typ, d.h. Erklärungen, die sich auf die Bildebene beziehen, in Abhängigkeit des Text-Bild-Verhältnisses der Bilderbuchgrundlage und der Rezeption des Text-Bild-Verhältnisses durch Vorleser und Kind noch feiner differenzieren. Im Zuge dieser weiteren Differenzierung stellte sich heraus, dass es in Vorlesestudien, die auf die Rolle des zugrunde liegenden Bilderbuches fokussieren, notwendig ist, eine kleinschrittige Beurteilung der Interaktion zwischen Text und Bild vorzunehmen. Wir möchten einerseits dazu ermutigen, in der Vorleseforschung dem Buch, das Vorleser und Kind gemeinsam lesen, mehr Beachtung zu schenken, und sehen es andererseits als notwendig an, im Falle von Bilderbüchern einen sorgfältigen Blick auf das Verhältnis zwischen den beiden Informationsebenen Text und Bild zu werfen. Beides ist unseres Erachtens erforderlich, um Erkenntnisse der Vorleseforschung für die Förderpraxis nutzbar machen zu können. Literatur DeLoache, J.S. (1983): What’s this? Maternal questions in joint picture book reading with toddlers (MS). http: / / www.eric.ed.gov/ PDFS/ ED251176.pdf [5.3.2015]. DeLoache, J.S. & de Mendoza, O. (1987): Joint picturebook interactions of mothers and 1-year-old children. In: British Journal of Developmental Psychology 5, 111- 123. Evans, M.A.; Reynolds, K.; Shaw, D. & Pursoo, T. (2011): Parental explanations of vocabulary during shared reading: A missed opportunity. In: First Language 31, 195-213. Fletcher, K. & Finch, W.H. (2015): The role of book familiarity and book type on mothers’ reading strategies and toddlers’ responsiveness. In: Journal of Early Childhood Literacy 15, 73-96. Fletcher, K. & Reese, E. (2005): Picture book reading with young children: A conceptual framework. In: Developmental Review 25, 64-103. Eva Gressnich & Linda Stark 74 Gosen, M. (2012): Tracing learning in interaction. An analysis of shared reading of picture books at kindergarten. http: / / www.rug.nl/ staff/ m.n.gosen/ binnenwerk_final_mngosen.pdf [7.12.2014]. Gosen, M.N.; Berenst, J. & Glopper, K. de (2013): The interactional structure of explanations during shared reading at kindergarten. In: International Journal of Educational Research 62, 62-74. Janisch, H. & Antoni, B. (2011): Der Prinz mit der Trompete. Wien, München: Betz. Kümmerling-Meibauer, B. (1999): Metalinguistic awareness and the child’s developing concept of irony: the relationship between pictures and text in ironic picture books. In: The Lion and The Unicorn 23, 157-183. Kümmerling-Meibauer, B. (2012): Bilderbuch. In: Ueding, G. (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Ergänzungsband. Berlin, New York: de Gruyter, 146- 161. Martinez, M. & Harmon, J. (2012): Picture/ text relationships: an investigation of literary elements in picturebooks. In: Literacy Research and Instruction 51, 323- 343. McDonnell, S.A.; Friel-Patti, S. & Rosenthal Rollins, P. (2003): Patterns of change in maternal-child-discourse behaviours across repeated storybook readings. In: Applied Psycholinguistics 24, 323-341. Morek, M. (2013a): Erklären. In: Rothstein, B. & Müller, C. (Hgg.): Kernbegriffe der Sprachdidaktik Deutsch. Ein Handbuch. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 70-72. Morek, M. (2013b): Erklärung. In: Rothstein, B. & Müller, C. (Hgg.): Kernbegriffe der Sprachdidaktik Deutsch. Ein Handbuch. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 72-75. Nikolajeva, M. & Scott, C. (2001): How picturebooks work. London: Garland. Rothstein, B. (2013): Ein Sprachhandlungsansatz für das Vorlesen am Beispiel von Hervé Tullets Turlututu. In: Frickel, D.; Boelmann, J. & Rupp, G. (Hgg.): Literatur, Lesen, Lernen. Festschrift für Gerhard Rupp. Frankfurt: Lang, 317-336. Selting, M. et al. (2009): Gesprächsanalytisches Transkriptionssystem 2 (GAT 2). In: Gesprächsforschung - Online-Zeitschrift zur verbalen Interaktion 10, 353-402. http: / / www.gespraechsforschung-ozs.de/ fileadmin/ dateien/ heft2009/ pxgat2.pdf [30.10.2014]. Snow, C. (1995): Issues in the study of input: finetuning, universality, individual and developmental differences, and necessary causes. In: Flechter, P. & MacWhinney, B. (Hgg.): The Handbook of Child Language. Oxford: Blackwell, 180-193. Spinner, K. (2004): Gesprächseinlagen beim Vorlesen. In: Härle, G. & Steinbrenner, M. (Hgg.): Kein endgültiges Wort. Die Wiederentdeckung des Gesprächs im Literaturunterricht. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 291-308. Stark, L. (i.V.): Präteritumerwerb und Vorlesen. Dissertation an der Ruhr-Universität Bochum. Vater, H. (2005): Referenz-Linguistik. München: Fink. Wieler, P. (1997): Vorlesen in der Familie. Weinheim: Juventa. II Sprachliches und literales Lernen beim Vorlesen im Vorschulalter Tabea Becker & Claudia Müller Vorlesen und Erzählen im Vergleich 1 Einleitung Das Erzählen, aber auch das Vorlesen sind Sprachaktivitäten, die in der westlichen Kultur eine wichtige Rolle in der kindlichen Sprachsozialisation spielen. Beide Diskursformen gelten als Spracherwerbskontexte, in denen Kinder vergangene Ereignisse und fantastische Welten entdecken und dabei Wissen in verschiedenen Entwicklungsbereichen aufbauen können (vgl. Becker 2011; Müller/ Stark 2015). Zwischen dem Vorlesen und dem Erzählen bestehen vielerlei Gemeinsamkeiten und Überlappungen. Viele dieser Aspekte liefern sowohl für den Sprachals auch für den Literaturerwerb entscheidende Entwicklungsimpulse. So wird sowohl das Erzählen als auch das Vorlesen häufig als ein zentraler Zugang zu schriftsprachlichen Entwicklungsdomänen gesehen (vgl. Müller 2012). Ja, aus der Perspektive eines kindlichen Rezipienten mag Vorlesen und Erzählen sogar als ein und dieselbe Diskursaktivität wahrgenommen werden. So haben wir Kenntnis von einem Kind, dem sowohl sehr viel vorgelesen als auch erzählt wurde. Unterbrechungen des Vorlesens waren ihm sehr unliebsam und so war regelmäßig die ungeduldige Aufforderung zu hören: „Mama, les weiter! “. Dies wurde zu einer Äußerung, die auch beobachtet werden konnte, sobald die Mutter ihre Erzählungen unterbrach. Zwar mag hier der formelhafte Charakter dieser Äußerung eine Rolle gespielt haben, dennoch ist anzunehmen, dass für das Kind kein allzu wesentlicher Unterschied zwischen (dem) Vorlesen und dem Erzählen bestand. Aber sind sich Erzählen und Vorlesen tatsächlich linguistisch so ähnlich, dass sie nahezu austauschbar erscheinen? Welche Unterschiede und Gemeinsamkeiten lassen sich zwischen beiden Diskursformen ausmachen? Wie gestaltet sich die jeweilige Produzenten- und Rezipientenseite? Um diesen Fragen näher auf den Grund zu gehen, wollen wir im Folgenden das Erzählen und Vorlesen einem systematischen Vergleich unterziehen. Hierfür wollen wir zunächst das Erzählen und Vorlesen theoretisch eingrenzen und somit eine einheitliche Definition für unsere Ausführungen finden. Daran anknüpfend erarbeiten wir verschiedene Unterscheidungskategorien, die der Systematisierung beider Diskursformen und ihrer Teilmengen dienen. Zuletzt möchten wir einen kurzen Ausblick auf didaktische Fragen geben, die die Förderpraxis in Kindergarten und Grundschule adressieren. Beginnen möchten wir unsere Darstellung mit dem Erzählen, da es als produktive Fähigkeit dem Vorlesen in der Tabea Becker & Claudia Müller 78 Sprachentwicklung vorgelagert ist und sich daher als Einstieg für den hier angestellten Vergleich besonders eignet. 2 Erzählen Erzählen ist eine universelle, kulturübergreifende sprachliche Handlung: In den Sprachen aller bekannter Kulturen wird erzählt, alle Völker kennen das mündliche Erzählen als eine Wiedergabe realer vergangener oder fiktiver Ereignisse in übersatzmäßiger Form, meist mit einer spezifischen, aber kulturabhängigen Struktur. Phylogenetisch und ontogenetisch ist das mündliche Erzählen dem Vorlesen bzw. Lesen vorgeschaltet: Menschen verfügten zuerst über mündliche Fähigkeiten, bevor sie schriftsprachliche Kenntnisse und damit die Fähigkeit, Texte vorzulesen, ausbildeten. Ebenso erwerben Kinder zuerst kommunikative Fähigkeiten im Mündlichen, bevor sie literales Wissen aufbauen (vgl. Dürscheid 2006). Was zeichnet aber nun das Erzählen sprachstrukturell und gattungsspezifisch aus und auf welche Weise fördert es den Spracherwerb? Zunächst ist festzuhalten: Das Erzählen, welches wir dem Vorlesen gegenüberstellen wollen, ist nicht das, was alltagssprachlich oft gemeint ist, wenn es heißt: „Erzähl doch mal, was du heute gemacht hast! “ oder „Ich verstehe das nicht, erzähl mal! “. Gemeint ist vielmehr das Erzählen im engeren Sinne, also im Sinne des Erzählens einer Geschichte (vgl. Becker 2009; Ehlich 1980). Dabei wird im Diskurs eine längere Sequenz abgegrenzt, innerhalb derer die Erzählung realisiert wird; meist mit relativ klar verteilten Rollen eines Erzählers und eines oder mehrerer Zuhörer, wobei sich viele Spielarten dieser interaktiven Dynamik beobachten lassen. So kann sich der Hörer z.B. auf wenige kurze Rezeptionssignale beschränken oder aber eine aktive unterstützende Rolle einnehmen. Außerdem verfügt die Erzählsequenz in der Regel über eine spezifische Struktur (auch story grammar): Abstract (optional), Orientierung, Komplikation, Auflösung (vgl. Becker 2009; Labov/ Waletzky 1973). Deutlich werden diese Struktur und die damit verbundenen Eigenschaften einer Erzählung im folgenden Transkript 1 , in dem ein siebenjähriger Junge einem Erwachsenen ein Erlebnis erzählt. 01 K: ich bin AUCH schon mal ins WAsser gefallen. (1.5) 02 E: aha - und erZÄHL uns des mal (---) geNAUer; (--) 03 wie is des [passie: rt? ] 04 K: [da war] so=n TEICH - (--) 05 E: mhm (1.5) 06 K: und da: (-) wollt ich WASser holen, 1 Die folgenden Transkripte entstammen Datensammlungen der Autorinnen und sind mittels GAT 2 (vgl. Selting et al. 2009) transkribiert. Vorlesen und Erzählen im Vergleich 79 07 und da bin ich REINgefallen. (2.5) 08 E: und dann? 09 K: da hat mi: ch (-) meine SCHWESter wieder rausgeholt. In Zeile 1 liefert der Junge eine kurze Zusammenfassung dessen, was er zu erzählen beabsichtigt, das sogenannte Abstract. Der Hörer kann nun die Erzählabsicht ratifizieren, indem er, wie hier geschieht, zum ausführlichen Erzählen auffordert. Zeile 04 und 06 stellen die Orientierung dar, die zwar hier recht knapp ausfällt, aber durchaus alles enthält, was zum Verständnis nötig ist, nämlich das Wie, Wo, Wer und Was der Geschichte. Die Komplikation in Zeile 07 wird zwar nicht explizit sprachlich markiert (üblich sind z.B. Temporaladverbien wie plötzlich oder auf einmal), aber dennoch inhaltlich deutlich als ein unerwartetes, plötzliches Ereignis ausgewiesen. Dieses macht das eigentlich Erzählwürdige an der Geschichte aus. Wie bei jüngeren Kindern oft zu beobachten, endet die Erzählung vorläufig mit dieser Komplikation. Erst auf die Nachfrage des Hörers hin erfolgt die Auflösung in Zeile 09. Anhand des zweiten Beispiels können wir sehen, dass diese Struktur sich auch auf andere Erzählformen und -genres übertragen lässt. In diesem Beispiel erzählt ein Drittklässler eine Fantasiegeschichte: 01 Da war mal n=kleiner DinoSAUrier, und der war ganz 02 alLEIn ne, und da hat er gedacht, da wär=n Anderer 03 dinosaurier, und da isser mal durch (-) n=WALD gedappt, 04 und hat er gesagt, OH, bin ich der EINzigste? 05 und dann war er ganz TRAUrig, und eines tages isser 06 SCHWIMmen gegangen, und da kam ein anderer Dinosaurier, 07 und dann ham die geSPIELT, und dann wurden se RICHtig 08 gu: te freu: nde; aber dann war=n=se zuzweit, und das war 09 immer noch ein bißchen la: ngweilig, und dann ham=se 10 geDACHT, da wären bestimmt irgendwo noch Andere 11 dinosaurier, und dann sind se auf WANderschaft gegangen, 12 und ham Überall das ga: nze land durchSUCHT; und dann 13 ham se DOCH no: ch n=andern dino sau: rier gefunden, und 14 der war AUCH ganz alleine, 15 und dann sind se gu: te FREUNde geworden. Auch hier findet zunächst eine Orientierung statt, nämlich in Zeile 1. Komplikationen finden sich gleich zwei: zunächst in Zeile 05, dann noch in Zeile 07-09, indiziert mit Hilfe des kontrastierenden Adversativ-Junktors „aber“. Die Auflösung wird schließlich in Zeile 14f. erbracht, und zwar in Form eines klassischen „Happy Ends“. Des Weiteren finden wir typische Eigenschaften einer Erzählung: formelhafte Wendungen (Zeile 01), Redewiedergabe (Zeile 04) oder auch Adjektive und Emphasen (Zeile 05, 07) (fett gedruckt im Transkript). Tabea Becker & Claudia Müller 80 Wie sich der Erzählerwerb vollzieht, ist mittlerweile empirisch gut erforscht. Studien belegen, dass Kinder mit ungefähr drei Jahren beginnen, erste Vorformen von Erzählungen zu produzieren (vgl. Wagner/ Steinsträter 1989). Bis zur Einschulung entwickeln sie sich dann immer mehr zu kleinen Erzählern (der größte Entwicklungsschub liegt in der Regel zwischen 5 und 8 Jahren). Jedoch sind die Erzählfähigkeiten von vielerlei intrinsischen (Veranlagung, allgemeiner Sprachstand etc.) und extrinsischen (Erzählform, Zuhörer, Erzählsituation etc.) Faktoren abhängig (vgl. Becker 2011). Auch verläuft der Erwerbsprozess insgesamt bis weit in die Adoleszenz hinein (vgl. Dannerer 2012). Inwieweit das Rezipieren einer Erzählung den Spracherwerb unterstützt, inwiefern das Erzählen also Lernmedium ist, ist hingegen eine Frage, deren Beantwortung methodisch gesehen eine größere Herausforderung darstellt. Entsprechend liegen bislang nur wenige Studien zum Einfluss von Erzählsituationen auf den Spracherwerb vor. In ersten Langzeitstudien konnten positive Effekte des narrativen Inputs vor allem auf die Entwicklung schriftsprachlich relevanter Fähigkeiten belegt werden (z.B. Wells 1986). Des Weiteren lässt sich annehmen, dass auch andere kindliche Entwicklungsbereiche durch die Teilhabe an Erzählsituationen gefördert werden. So zeigt etwa die Studie von Leyva/ Berrocal/ Nolivos (2014), dass sich die Bearbeitung negativer Emotionen in familialen Erzählungen der Eltern positiv auf das Sozialverhalten der Kinder (vor allem im Vorschulalter) auswirkt. Groß angelegte Untersuchungen, die die Wirksamkeit des Erzählens in Form von Inventionsstudien erfassen, stehen im deutschsprachigen Raum noch aus. 3 Vorlesen Das Vorlesen steht dem Erzählen als Lernmedium in seiner literalitätsfördernden Funktion in nichts nach. Im Gegenteil: Vorlesesituationen haben den Stellenwert von Interaktionskontexten, die für das spätere schulische Lernen entscheidende Entwicklungschancen bereithalten (vgl. Ezell/ Justice 2005). Da in ihnen Texte und Elemente der Kinderliteratur in das Mündliche transferiert und damit ihre sprachlichen und literarischen Eigenschaften an das Kind übermittelt werden, unterstützen sie den kindlichen Sprach- und Literaturerwerb (vgl. Becker 2014; Belgrad/ Schünemann/ Schupp 2011; Schönauer-Schneider 2012). Vergleichbar mit dem Erzählen können auch beim Vorlesen mehrere interaktive Varianten unterschieden werden. Rothstein (2013) nimmt eine Differenzierung des Vorlesens nach einem „engen“ und „weiten Sinne“ vor. Diese Unterscheidung bezieht sich allerdings nicht wie beim Erzählen auf die jeweiligen Gattungsmerkmale, Vorlesen und Erzählen im Vergleich 81 sondern bildet die interaktive Gestaltung der Vorlesesituation durch den Vorleser ab: Liest der Vorlesende penibelst [sic! ] genau den vorgegebenen Text, ohne von ihm abzuweichen, so liegt Vorlesen im engen Sinn vor. Allerdings können auch hier unterschiedliche Interpretationen durch gezielte Einsätze suprasegmentaler phonologischer Merkmale wie Intonation entstehen. (Rothstein 2013: 323f., Hervorh. im Orig.) In einem „engen Sinn“ lässt sich das Vorlesen also erst einmal als das laute Lesen eines Buches verstehen, wobei ein Leser einem oder mehreren Zuhörern vorliest. Kennzeichnend ist außerdem, dass Leser und Hörer körperlich nah sind 2 und die Textgrundlage differieren kann: Das Buch kann zusätzlich bebildert sein, nur reinen Text oder auch lediglich Bilder enthalten (textlose Bilderbücher). Häufig ist die Textgrundlage jedoch narrativ konzipiert, auch wenn prinzipiell natürlich auch Sachtexte vorgelesen werden. Mit Blick auf die Schnittstelle zum Erzählen konzentrieren wir uns hier auf narrative Buchvorlagen. Unter Vorlesen „im engen Sinn“ wird demnach die unmittelbare Verbalisierung einer illustrierten oder nicht illustrierten Textgrundlage verstanden, die eine globale narrative Struktur aufweist. Rothstein (2013) grenzt davon das Vorlesen „im weiten Sinn“ ab: Von Vorlesen im weiten Sinn spricht man dann, wenn der Vorlesende den vorgegebenen Text durch eigene Anmerkungen ergänzt. Da Bilderbücher nicht nur aus literarischen Sprechhandlungen bestehen, sondern eine Kombination von Bild und Text darstellen, wird das Bildmaterial beim Vorlesen üblicherweise textunterstützend kommentiert. (Rothstein 2013: 324, Hervorh. im Orig.) Diese flankierenden Sprachaktivitäten können einerseits Kommentierungen sein, die sich auf die Illustrationen im Buch beziehen oder auf die außertextuelle Welt verweisen. Sie können andererseits gezielte sprachliche Impulse des Vorlesers darstellen, die die Funktion haben, das Kind in den Vorleseprozess stärker einzubeziehen sowie sein Text- und Bildverständnis zu unterstützen (vgl. hierzu Gressnich/ Stark i.d. Band). Aber auch die Art und Weise, wie vorgelesen wird, ist für die Entfaltung des sprachlichen und literarischen Lernens wesentlich. Diese umfasst nicht nur die vom Vorleser gesetzten Impulse, sondern auch den Grad an Empathie, die der Vorleser dem Kind gegenüber einbringt, sowie die beim Vorlesen entstehende positive Atmosphäre. Hierbei spielen vor allem die Bildungsorientierungen der vorlesenden Bezugspersonen eine wichtige Rolle (vgl. Weigel/ Martin/ Bennett 2006) und deren Vorlesemotive (vgl. Müller 2012). Während das Vorlesen in Eltern-Kind-Dyaden breit erforscht ist (vgl. z.B. Stark i.V.), ist die Frage, wann die Fähigkeit des Vorlesens bei Kindern 2 Dadurch werden Hörbücher aus unseren Überlegungen ausgeschlossen. Tabea Becker & Claudia Müller 82 entsteht, noch weitgehend unbeleuchtet. Explorative Untersuchungen in diesem Feld (vgl. Cook-Gumperz 1995; Müller & Stark eingereicht) weisen auf die Bedeutung des mimetischen Lernens hin, also der Nachahmung der Vorleseweise, die Kinder selbst in Vorlesesituationen am Modell ihrer Eltern erfahren haben. Bredel/ Fuhrhop/ Noack (2011) sprechen in diesem Zusammenhang von „figuralen Lesekonzepten“. Die Kinder imitieren die körperlichen Aktivitäten eines Lesers - und sind überzeugt davon, dass sie jetzt lesen. Andere können häufig vorgelesene Texte im genauen Wortlaut wiedergeben. (Bredel/ Fuhrhop/ Noack 2011: 100) Da die Kinder im eigentlichen Sinne nicht lesen, sondern mündlich rezipierte Sprachstrukturen in ihren eigenen Sprachgebrauch einpassen, resultieren daraus Überschneidungen zum Erzählen. Denn auch beim imitierenden Vorlesen lässt sich wie beim Nacherzählen (vgl. Merklinger 2011) beobachten, dass vorschulische Kinder Textmuster von Geschichten, die sie zuvor gehört haben, für ihre eigene Sprachproduktion nutzen (vgl. Curenton/ Craig/ Flanigan 2008). 4 Vorlesen und Erzählen - Gemeinsamkeiten und Unterschiede Anhand der obigen Ausführungen wird deutlich, dass es große Ähnlichkeiten zwischen den beiden Diskursaktivitäten Erzählen und Vorlesen gibt. Wir wollen im Folgenden nun diese Ähnlichkeiten systematisch zusammenstellen, aber auch herausarbeiten, worin die Unterschiede bestehen. 4.1 Mediale Realisierung Zunächst einmal bestehen Gemeinsamkeiten in der medialen Realisierung. Beide Diskursaktivitäten treten im Gesprochensprachlichen auf, wobei, im Gegensatz zum Erzählen, das Vorlesen ausschließlich im Gesprochenen stattfindet. Oder anders gesagt: Erzählt werden kann auch schriftlich, vorgelesen werden kann nur mündlich. Im Unterschied zum Erzählen ist beim Vorlesen die Versprachlichung bereits vollzogen. Dies bedeutet zum einen für den Sprachproduktionsprozess eine größere Reibungslosigkeit und Flüssigkeit. Zum anderen aber auch eine größere sprachliche Fixierung. Diese Fixierung spielt eine wichtige Rolle für den Spracherwerb. So konnte nachgewiesen werden, dass das Wortlernen beim Vorlesen besonders durch mehrmaliges Lesen desselben Textes unterstützt wird (vgl. Horst/ Parson/ Bryan 2011). Vermutlich ist es das intuitive Wissen um die optimalen Lernbedingungen oder die Freude an Wiederholungen, welches auch dazu führt, dass Kinder diese Fixierung oft von sich aus einfordern. Viele Erzähler/ Vorleser haben die Erfahrung gemacht, dass die Kinder Proteste Vorlesen und Erzählen im Vergleich 83 erheben, sobald bei einem bekannten Text variiert wird: „Mama/ Papa, les richtig! “. Auch die Realisierungsmöglichkeiten selbst sind beim Erzählen insofern flexibler, als dass sie nicht an das Medium Buch gebunden sind. So lässt sich beim Wandern, beim Autofahren oder bei anderen Tätigkeiten, die Hände und Füße in Anspruch nehmen, dennoch gut erzählen. 4.2 Körperliche Nähe Bei beiden Diskursaktivitäten wird zudem eine körperliche Nähe erzeugt, die besonders im familiären Kontext zu einer vertrauensvollen, intimen Atmosphäre zwischen den Kommunikationspartnern führt. Hiermit einhergehen besonders gute akustische Wahrnehmungsbedingungen. Oft sitzt ein Kind auf dem Schoß des erwachsenen Vorlesers/ Erzählers, wodurch die Sprachquelle in unmittelbare Nähe des Kinderohres rückt. Erzählen und Vorlesen evozieren neben körperlicher auch emotionale und soziale Nähe. Denn es wird nicht nur eine kommunikative Einheit zwischen Erzähler/ Vorleser und Zuhörer(n) geschaffen, sondern auch ein gemeinsamer Erlebnis- und Erfahrungsraum, der ‒ obwohl in der Gedankenwelt ‒ auf die materielle Welt einwirkt. Selbst bei älteren Kindern hat das Vorlesen positive Auswirkungen auf die sozialen Beziehungen (vgl. Belgrad i.d. Band). 4.3 Diskursive Einbettung Beide Diskursaktivitäten stellen in ihrer Summe eine Diskurseinheit dar, die innerhalb eines Gesprächs heraussticht und jeweils einen Initial- und Endpunkt aufweist, der als solcher von den Gesprächsteilnehmern indiziert werden muss (vgl. Hausendorf/ Quasthoff 2005). In dem in Kapitel 2 vorgestellten Erzähltranskript fungiert die Sequenz „ich bin AUCH schon mal ins WAsser gefallen“ als Ankündigung einer solchen Erzähleinheit, die dann auch durch die hörerseitige Aufforderung „erzähl uns des mal genauer“ als erwünschte und erwartete Einheit geliefert werden kann. Eine Erzählung innerhalb des Diskurses bedarf also immer einer Einleitung oder einer Ankündigung, etwa in Form von: „Jetzt erzähl ich dir mal was! “, „Möchtest du eine Geschichte hören? “, „Mir ist was ganz Lustiges passiert.“. Ebenso abgegrenzt vom Diskurs ist das Vorlesen. Der Vorleser kann selbst eine Vorlesesituation initiieren, indem er sich beispielsweise mit einem Kind zusammensetzt, ein Buch heranzieht, die erste Seite aufschlägt und den Titel des Buches vorliest bzw. auf den Inhalt des Buches verweist („Weißt du noch, worum es geht in dem Buch? “), oder von einem Kommunikationspartner dazu aufgefordert werden, eine Geschichte vorzulesen („Lies vor! “). Stark (i.V.) konnte darüber hinaus zeigen, wie Vorleser auf mehreren sprachlichen Ebenen markieren, welches der Vorlese- und welches der Gesprächsdiskurs ist. Zwar erfolgt diese Markierung an den Tabea Becker & Claudia Müller 84 Übergängen von Vorlesezu Gesprächsdiskursen in erster Linie prosodisch, aber auch Lexik und Morpho-Syntax können deutliche Unterschiede aufweisen. Solche Markierungen werden auch beim Erzählen vorgenommen. So zeigen bereits Grundschulkinder mittels intonatorischer und rhythmischer Sprachvariation, dass eine narrative Einheit realisiert wird (vgl. Becker 2005). Der Abschluss kann bei beiden Diskursformen durch das Ende der Erzählung oder das Ende der vorgelesenen Geschichte erfolgen oder durch ein Ereignis, das die Schließung der Geschichte durch den Vorleser/ Erzähler in Aussicht stellt („für heute ist es genug, morgen lesen wir weiter“ bzw. „morgen erzähle ich die Geschichte zu Ende“). 4.4 Sprachliche Bearbeitung und interaktive Anpassung Die Diskurseinheit zu füllen ist, unabhängig davon, ob es sich dabei um ein Kind oder einen Erwachsenen handelt, bei beiden Diskursaktivitäten die Aufgabe des „primären Sprechers“ (Quasthoff 1990), beim Erzählen der Erzähler, beim Vorlesen der Vorleser. Seine Aufgabe besteht darin, die Diskurseinheit zu „elaborieren“ (vgl. Hausendorf/ Quasthoff 2005), d.h. sprachlich und inhaltlich gemäß den kommunikativen und genrespezifischen Anforderungen der interaktiven Situation zu gestalten, sei es in Form einer eigenerzählten Geschichte, einer nacherzählten oder einer vorgelesenen Geschichte. Danach hat der Vorleser/ Erzähler die Aufgabe, die Diskurseinheit auszugestalten und an einem finalen Punkt zum Abschluss zu bringen. Die Elaborierungsphase des Vorlesens und Erzählens kann zwar unterschiedlich gestaltet werden, weist aber auch Kernmerkmale auf, die beiden Diskursformen gemein sind. Im Zentrum beider Diskurseinheiten steht ‒ bezieht sich der Vorleser oder der Erzähler auf einen narrativen Text ‒ ein Ereignis, das durch dessen Besonderheit und Unerwartetheit dem Verbalisierten eine erzählwürdige Charakteristik zuweist (siehe Kapitel 2). An den Vorleser sind bei der Explikation dieses Ereignisses jedoch geringere Anforderungen gestellt als an den Erzähler, d.h. der Vorleser hat die Möglichkeit, auf den Text als Erzählgrundlage zurückzugreifen und die darin bereits gestaltete Komplikation zu reproduzieren, er muss keine eigene Erzählleistung erbringen. Bei beiden Diskursaktivitäten, Erzählen und Vorlesen, kann der „primäre Sprecher“ jedoch seine Rolle flexibel handhaben. Er kann sich auf das reine Vorlesen oder Erzählen beschränken. Er kann aber auch das Vorlesen oder Erzählen gezielt mit flankierenden Sprachaktivitäten gestalten, um den Verstehensprozess des Zuhörers zu unterstützen. In der konversationsanalytischen Forschung spricht man an dieser Stelle von dem sog. „recipient design“ (Bergmann 1981: 30), also dem verbalen und non-verbalen Abgleichen des eigenen Interaktionsverhaltens mit dem Vorwissen des Kommunikationspartners. Vorlesen und Erzählen im Vergleich 85 4.4.1 Der Erwachsene als Produzent, das Kind als Rezipient Die Orientierung am „recipient design“ wird dann besonders relevant, wenn der Rezipient einen geringeren sprachlichen Wissensstand hat als der „primäre Sprecher“. Dies ist etwa der Fall, wenn Erwachsene jungen Kindern eine Geschichte erzählen. Daraus ergibt sich Varianz in der Phase der Elaborierung und Anschlussstellen zu anderen Diskursaktivitäten (vgl. Gressnich/ Stark i.d. Band). Diese werden entweder durch den Vorleser/ Erzähler initiiert oder durch das Kind in den Vorlese-/ Erzählprozess integriert. Inwieweit diese Anschlussstellen sprachlich befüllt und mit anderen Diskursaktivitäten verknüpft werden, ist wiederum von der interaktiven Aushandlung zwischen Kind und Vorleser abhängig, d.h. a) wie geht das Kind auf den sprachlichen Impuls des Vorlesers/ Erzählers ein bzw. wieviel investiert der Vorleser/ Erzähler interaktiv, damit das Kind darauf eingehen kann; b) identifiziert der Vorleser/ Erzähler Anschlussstellen, die durch das Kind während des Vorlesens/ Erzählens etabliert werden und greift er diese auf. Damit variiert, wie folgende Transkriptausschnitte am Beispiel des Vorlesens zeigen, auch die Form der Bearbeitung der Anschlussstelle: Beispiel 1: 109 M: ich hab dich BIS zum ! FLUSS! (.) ! UND! über 110 den BERG lieb, (.) SAGte der große hase; = 111 =un wie weit geht DES? (2.0) 112 K: ((sagt nichts)) 113 M: hm, (.) 114 nochmal RUNter und nochmal hoch,=ne? (5.0) 115 O: H; (.) DAS ist ! SEHR! weit; (.) 116 DACHte der kleine hase; (--) In Beispiel 1 setzt die Mutter (M) eine Anschlussstelle, um das Text- und Bildverständnis des Textes zu sichern, welche aber durch das Kind (K) nicht befüllt wird (Zeile 113). Die Mutter belässt es dabei, befüllt die Anschlussstelle selbst und leitet zum Vorlesediskurs zurück (Zeile 115-116). Beispiel 2: 138 M: DA: NN: (---) DANN (.) ! KUSC! helte sich der ! GRO: ! ße 139 HAse an den kleinen hasen,= 140 =und FLÜSterte lächelnd,= 141 =<<flüsternd> BIS zum mond und wieder zurück>. 142 (--) OAH; (.) da ! STRECKT! er sich nochmal,= 143 =und was macht er DANN wahrscheinlich? (.) 144 K: SCHLAfen.= 145 M: =dann SCHLÄFT=er. (-) Tabea Becker & Claudia Müller 86 In Beispiel 2 integriert die Mutter erneut eine Anschlussstelle, um das Kind sprachlich zu aktivieren und mögliche Handlungskonsequenzen zu antizipieren (Zeile 143). In diesem Fall bedient das Kind den interaktiven Impuls der Mutter durch eine inhaltlich angemessene Antwort, die durch die Mutter bestätigend reformuliert wird (Zeile 145). Beispiel 3: 104 M: TOLle HÜPferung; = 105 =dachte der kleine Hase; = 106 K: =ISses es auch; = 107 M: =wenn ich nur ! AUCH! so hüpfen KÖNNte; (--) 108 K: muss er ALles noch ! LER! nen; = 109 M: =mhm; (.) wann KANN er das dann? 110 K: hm? (-) 111 M: wann kann er das DANN? (.) 112 geNAU so gut? = 113 K: =wenn er AUCH so groß is; = 114 M: =mhm; (-) 115 K: oder wenn man SO groß is; (.) 116 wenn er SO groß ist. (-) In Beispiel 3 schafft das Kind durch Kommentierung der Handlung (Zeile 108) selbst eine Anschlussstelle. Die Mutter greift diese Äußerung auf, um daran einen kognitiven Impuls in Form einer Transferfrage anzuschließen, die das Kind in Zeile 115-116 beantwortet. 4.4.2 Das Kind als Produzent, der Erwachsene als Rezipient Ein anderes Bild der Elaborierung ergibt sich hingegen, wenn das Kind in der Rolle des Erzählers oder des Vorlesers ist. Aufgrund des sich noch im Aufbau befindenden sprachlichen und diskursiven Wissens fällt es Kindern noch schwer, die Rolle des „primären Sprechers“ auszugestalten (vgl. Becker 2011), entsprechend hat hier der Rezipient die Aufgabe, zur sprachlichen Realisierung der Diskurseinheit maßgeblich beizutragen. Je jünger ein Erzähler ist, desto mehr Unterstützung bedarf es seitens des Zuhörenden (vgl. Hausendorf/ Quasthoff 2005: 233), um den Vorlese- und Erzählprozess aufrechtzuerhalten und zu vollenden. Innerhalb der psycho-sozial basierten Diskurskonventionen gilt in der Regel, dass der ältere Diskursteilnehmer das Gespräch steuert. Sind die Rollen in diesem Sinne verteilt, wird der Erwachsene dann - ganz intuitiv - eingreifen, wenn das Kind Unterstützung benötigt. Deutlich wird dies etwa im folgenden Beispiel, bei dem eine Erwachsene (E) ein vorschulisches Kind, Lea (L), 4 Jahre, auffordert, von seinem schönsten Tag im Kindergarten zu erzählen: Vorlesen und Erzählen im Vergleich 87 01 E: SAG mal,(.) 02 was war denn, (.) 03 was war denn bislang dein SCHÖNster tag im kindergarten? (--) 04 L: ((lacht))am ERsten tag (.) 05 ! DA! bin ich gleich in die PUPpenecke; (-) 06 ohne halLO: : zu sagen; (-) 07 <<lachend> und hab mich als prinZESsin verkleidet; > 08 (-) des war der SCHÖNste tag,= 09 =aber SONST- (--) 10 gefällts mir ! GA: R! nich im [(kindergarten)]. 11 E: [Okay; (.)] 12 und was ist da ! NOCH! paSSIERT? (-) 13 als du DA als prinzessin (.) als prinzessin 14 verkleidet warst? (--)[...] 15 L: da hab ich ge! SPIELT! ,= 16 E: =mhm ; (3 sec.) 17 und is da noch was (.) paSSIERT? 18 L: <<abgelenkt>> [...] 19 E: ist da NOCH was pa! SSIERT! ? (---) 20 an deinem SCHÖNSten tag ? (--) 21 L: ähm (.) da hab ich noch geGESsen,= 22 = am SANDtisch gesandelt, (--) 23 dann weiß ich (.) musste ich ! WIE! der GEhen,= 24 E: aha; (-) 25 L: WEISST du,= 26 = ich bin da am MITtag gegangen, (-) 27 nich am ! MOR: : ! gen. (-) 28 E: Oka: y; (---) SU: : per. Die Erwachsene versucht in diesem Beispiel, auch wenn die Erzählung bereits in den Zeile 04-10 maßgeblich durch das Kind geleistet wird 3 , durch iterative Fragen (Zeile 11ff., 17, 19f.; fett markiert) den in Zeile 01-04 gesetzten übergeordneten narrativen Zugzwang (siehe Kasten) zu verstärken und damit dem Kind Chancen für eine weitere Elaborierung seiner Erzählung zu geben. Inwieweit sich ein ähnliches Interaktionsverhalten des Erwachsenen zeigt, wenn Kinder selbst im Sinne des „figuralen Lesekonzepts“ (Bredel/ Fuhrhop/ Noack 2011) die Rolle des Vorlesers übernehmen, wird derzeit untersucht (vgl. Müller/ Stark eingereicht). Da es auch hier um die Produktion einer narrativen Struktur geht, die, wenn Kinder noch nicht lesen können, von ihnen selbst geschaffen werden muss, ist eine vergleichbare interaktive Unterstützungsleistung seitens des erwachsenen Zuhörers anzunehmen. 3 Zum Beispiel in Form der Herstellung des zeitlichen Kontextes der Handlung („am ersten Tag“) oder der Implementierung eines überraschenden Ereignisses: „da bin ich gleich in die Puppenecke, ohne Hallo zu sagen“. Tabea Becker & Claudia Müller 88 4.5 Literale Sprache Zwar wird sowohl das Erzählen als auch das Vorlesen in der gesprochenen Sprache realisiert, die Sprache, die bei beiden Diskursformen verwendet wird, ist jedoch konzeptionell meist eher schriftlich (vgl. Koch/ Oesterreicher 1985). Es handelt sich also um literale Sprache. Literale Sprache 4 unterscheidet sich von der gesprochenen Alltagssprache in vielerlei Hinsicht (im Überblick bezogen auf das Vorlesen Becker 2014): Zunächst einmal ist sie deutlicher artikuliert und akzentuiert, die Aussprache ist standardnäher, daher wirkt vor allem die Flexionsmorphologie deutlich markanter. Es erfolgen kaum Klitisierungen, Verschleifungen oder Apokopierungen oder um es einfacher auszudrücken: Es wird weniger „verschluckt“ und „genuschelt“. Im Bereich der Morphologie sind aber nicht nur vielfältigere, standardförmige und akzentuiertere Flexionsformen zu nennen. Die Verbflexion weist mit den Konjunktiven und dem Präteritum auch eine größere Vielfalt auf. Einige Präteritalformen und der Konjunktiv I begegnen uns ausschließlich in der literalen Sprache. Für die Syntax gilt, dass eher komplexe, subordinierende Konstruktionen vorkommen, die in der gesprochenen Sprache sonst selten sind. Umgekehrt gilt aber auch, dass die Syntax der literalen Sprache stärkeren Restriktionen unterliegt, so sind z.B. Linksversetzungen 5 oder Apokoinu 6 im Schriftlichen unüblich (vgl. Duden 2009: 1198ff). Generell besteht, v.a. was die Besetzung von Vor- und Nachfeld anbelangt, in der literalen Sprache weit weniger Flexibilität. Unterzieht man Vorlesen und Erzählen einem sprachstrukturellen Vergleich, so ist davon auszugehen, dass der Literalitätsgrad beim Vorlesen höher als beim Erzählen ist: Der Text, den der Vorleser vorliest, erfüllt die sprachlichen Kriterien standardisierter Texte, was zu einer höheren syntaktischen Dichte und lexikalischen Wohlgeformtheit führt als beim mündlichen Erzählen, das an die spontanen, weniger Planungszeit zulassenden und weniger standardisierten Kommunikationsbedingungen des Gesprochenen angepasst ist. Texte der Kinderliteratur weisen zudem eine größere sprachliche Vielfalt auf, da sie das Werk verschiedener Autoren sind, die unterschiedliche sprachliche Akzente setzen und ein breiteres Formenrepertoire verarbeiten als singuläre Erzähler. Damit wird das Erfordernis, in der Interaktion einen ausgewogenen, auf das jeweilige Alter der Interaktanten abgestimmten Kontext herzustellen, insbesondere bei Vorleseformen relevant, die auf Texten der Kinderliteratur basieren. Sie evozieren eine sprachliche Hürde, die in der Interaktion von allen Kom- 4 In der Literatur findet sich in diesem Zusammenhang auch der Begriff „literat“ (vgl. Maas 2008). 5 „Den weg den fahr ich jetzt schon im schla: f“ (Duden 2009: 1199). 6 „Aber wo musst=denn heut mit=a=lungenentzündung muss doch niemand mehr sterben“ (Duden 2009: 1201). Vorlesen und Erzählen im Vergleich 89 munikationspartnern genommen werden muss. Diese Anforderung besteht zwar auch beim Erzählen, doch ergibt sich der Bedarf der interaktiven Anpassung und der fehlenden Standardisierung aufgrund des geringeren Literalitätsgehalts nicht in dem Maße wie beim Vorlesen. Wie der Literalitätsgehalt eines Textes gemeinsam zwischen Vorleser und Kind erarbeitet und ausgehandelt wird, zeigt die folgende Vorlesesequenz, die im Zusammenhang mit dem Bilderbuch Weißt du eigentlich, wie lieb ich dich hab? entstanden ist (vgl. McBratney/ Jeram 2014). Die Mutter (M), die ihrer sechsjährigen Tochter (K) das Buch vorliest, versucht in dieser Sequenz den abstrakten Begriff Liebe, um den es in diesem Buch geht, dem Kind verständlich zu machen (fett markiert). Dazu stellt sie in Zeile 60−63 die Frage, ob sich Liebe als nicht-dingliche Repräsentation quantifizieren und darstellen lässt. 52 M: ich hab ! DICH! lieb (.) so HOCH (.) ich 53 reichen kann; (.) 54 SAGte der große hase. (---) 55 das ist ! ZIE: M! lich HOCH; = 56 =dachte der kleine HAse.= 57 K: =ISses auch; (.) 58 M: mhm; (.) 59 wenn ich nur AUCH so lange ! AR! me hätte, (6.0) 60 KANN es überhaupt ! ZEI! gen, (.) 61 wie GROSS man, (.) 62 wie=wie LIEB man jemand hat,= 63 =wenn man zeigt wie GROSS was ist? (-) 64 man kann SAgen, (.) 65 K: wie GRO: SS man jemanden ! LIE: B! hat, (-) Rothstein (2013: 324, Hervorh. im Orig.) spricht in diesem Fall von einem „Vorlesegespräch“: „Ein Vorlesegespräch liegt dann vor, wenn Zuhörer und Vorleser sich begleitend zur gemeinsamen Textlektüre über den Text unterhalten. In der Regel erfolgt dies durch Nachfragen, Erklärungen, zusätzliche Überlegungen, Wiederholungen usw.“ Durch die dadurch zustande kommende Dialogizität kann eine Brücke zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit geschlagen werden; der Übergang von der realen (Alltags-)Welt in die Textwelt wird unterstützt. 5 Zusammenfassung und Ausblick Wie dargestellt, bestehen enge Verbindungen und Gemeinsamkeiten zwischen Erzählen und Vorlesen. So ist sowohl das Erzählen (im idealtypischen Sinne) als auch das Vorlesen charakterisiert durch Tabea Becker & Claudia Müller 90 - körperliche Nähe - einen „primären Sprecher“ - eine diskursive Abgrenzung im Diskursverlauf - Ko-Konstruktion - interaktive Unterstützungsprozesse des Rezipienten, vor allem im Falle von kindlichen Erzählern und Vorlesern - strukturelle Merkmale der story grammar - potenzielle Textbasiertheit - literale Sprache Es bestehen aber auch, wie folgende Tabelle verdeutlicht, Unterschiede zwischen beiden Diskursformen. Erzählen Vorlesen Grad der sprachlichen Fixierung (formal und inhaltlich) Potenzielle schriftliche Fixierung und Textgebundenheit Schriftliche Fixierung und Textgebundenheit Sprachproduktionsprozess Versprachlichung muss geschaffen werden Versprachlichung bereits vollzogen Mediale Einbettung Flexiblere, vom Buch losgelöste Realisierungsmöglichkeit Gebunden an das Medium Buch Sprache Geringere Standardisierung, geringere sprachliche Komplexität Differenzierteres Vokabular aufgrund der stärkeren Textbasiertheit Interaktive Gestaltung Aufgrund der geringeren Textbasiertheit geringerer Bedarf an interaktiver Anpassung Aufgrund der stärkeren Textbasiertheit größerer Bedarf an interaktiver Anpassung Mediale Realisierung Sowohl im Mündlichen als auch im Schriftlichen Nur im Mündlichen Tab.1: Unterschiede zwischen den Diskursformen Erzählen und Vorlesen Zu bedenken ist allerdings, dass diese Gegenüberstellung lediglich eine grobe Unterteilung ist. Innerhalb der jeweiligen Diskurspraxis (Erzählen oder Vorlesen) können in der konkreten Situation durchaus sehr unterschiedliche Realisierungsformen beobachtet werden, so dass sich daraus Vorlesen und Erzählen im Vergleich 91 keine pauschalen Empfehlungen bezüglich didaktischer Fragen ableiten lassen. Vielmehr ist nicht so sehr die Unterscheidung zwischen Erzählen und Vorlesen relevant, sondern eher, wie wann wem was erzählt/ vorgelesen wird und wie beide Diskurspraktiken miteinander verbunden werden können. So kann innerhalb eines Vorlesegesprächs, in dem das Kind zunächst die Rolle des Rezipienten hat, gezielt ein Setting geschaffen werden, in dem das Kind, etwa nach dem Vorlesen einer Geschichte, selbst einen produktiven Anteil erhält, z.B. durch Nacherzählen oder Vorlesen des Bilderbuches im Sinne von „So tun als ob“. So lernt das Kind, die wahrgenommenen Sprachstrukturen und -muster in das eigene Erzählen einzugliedern (vgl. Müller/ Stark i.V.; Merklinger 2011). Für diese Sprachförderung bieten sich auch Bilderbücher an, in deren Texte narrative Zugzwänge gesetzt sind (vgl. auch Müller/ Stark 2015). Exemplarisch ist hier das Bilderbuch Der kleine Retter zu nennen (Glitz/ Swoboda 2013), auf dessen letzter Seite ein solcher Erzählanlass integriert ist. Im Gegensatz zum Vorlesen kann beim Erzählen das Kind sowohl Rezipient als Produzent sein. Die bei aller Gemeinsamkeit vorhandenen Unterschiede der beiden Praktiken rechtfertigen aber auch, dass beide Formen, Vorlesen und Erzählen, komplementär in der Förderpraxis von Kindergarten und Schule eingesetzt werden, um jeweils unterschiedliche Lernchancen oder Potenziale (z.B. für das frühe Wortschatzlernen, die sprachliche Fixierung beim Vorlesen) zu nutzen. Insgesamt stellen beide Diskursformen sehr wichtige pädagogische Instrumente frühkindlicher Bildung dar, obwohl oder vielleicht gerade weil Lernen hierbei vor allem implizit geschieht. Das Vorlesen kann das Verstehen und vor allem auch Produzieren von Erzähltem unterstützen. Umgekehrt bereitet das Erzählen die Rezeption und Rekonstruktion von Textwelten vor und wirkt damit gleichermaßen auf die schriftsprachliche Entwicklung von Kindern ein. Literatur Becker, T. (2005): Mündliche Vorstufen literaler Textentwicklung: vier Erzählformen im Vergleich. In: Feilke, H. & Schmidlin, R. (Hgg.): Literale Textentwicklung. Untersuchungen zum Erwerb von Textkompetenz. Frankfurt a. M.: Peter Lang Verlag, 19-42. Becker, T. (2009): Erzählentwicklung beschreiben, diagnostizieren und fördern. In: Krelle, M. & Spiegel, C. (Hgg.): Sprechen und Kommunizieren. Entwicklungsperspektiven, Diagnosemöglichkeiten und Lernszenarien in Deutschunterricht und Deutschdidaktik. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 64-81. Becker, T. (2011): Kinder lernen erzählen. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. Becker, T. (2014): Sprachliches und literarisches Lernen am Bilderbuch. In: Abraham, U. & Knopf, J. (Hgg.): Bilderbücher in der Primarstufe. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 164-174. Tabea Becker & Claudia Müller 92 Belgrad, J.; Schünemann, R. & Schupp, B. (2011): Möglichkeit zur basalen Leseförderung durch Vorlesen. In: Alfa-Forum 76, 12-14. Bergmann, J.R. (1981): Ethnomethodologische Konversationsanalyse. In: Schröder, P. & Steger, H. (Hgg.): Dialogforschung. Jahrbuch 1980 des Instituts für deutsche Sprache. Düsseldorf: Schwann, 9-51. Bredel, U.; Fuhrhop, N. & Noack, C. (2011): Wie Kinder lesen und schreiben lernen. Tübingen: Narr. Cook-Gumperz, J. (1995): “Tell me a book” or “Play me a story”: The oral roots of literacy socialization. In: Quasthoff, U. M. (Hg.): Aspects of oral communication. Berlin, New York: de Gruyter, 275-288. Curenton, S.M., Craig, M.J. & Flanigan, N. (2008): Use of Decontextualized Talk across Story Contexts: How Oral Storytelling and Emergent Reading Can Scaffold Children’s Development. In: Early Education & Development 19, 161-187. Dannerer, M. (2012): Narrative Fähigkeiten und Individualität. Mündlicher und schriftlicher Erzählerwerb im Längsschnitt von der 5. bis zur 12. Schulstufe. Tübingen: Stauffenburg. Duden (2009): Die Grammatik. Mannheim: Duden-Verlag. Dürscheid, C. (2006): Einführung in die Schriftlinguistik. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Ehlich, K. (1980): Der Alltag des Erzählens. In: Ehlich, K. (Hg.): Erzählen im Alltag. Frankfurt: Suhrkamp, 11-27. Ezell, H.K. & Justice, L.M. (2005): Shared Storybook Reading. Building Young Children’s Language & Emergent Literacy Skills. Baltimore: Brookes. Glitz, A. & Swoboda, A. (2013): Der kleine Retter. Stuttgart/ Wien: Thienemann Verlag. Hausendorf, H. & Quasthoff, U.M. (2005): Sprachentwicklung und Interaktion. Eine linguistische Studie zum Erwerb von Diskursfähigkeiten. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Horst, J.; Parsons, K.L. & Bryan, N.M. (2011): Get the story straight: contextual repetition promotes word learning from story books. In: Frontiers in Psychology 2, 1-11. Koch, P. & Oesterreicher, W. (1985): Sprache der Nähe - Sprache der Distanz. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld von Sprachtheorie und Sprachgeschichte. In: Romanistisches Jahrbuch 36, 15-43. Labov W. & Waletzky, J. (1973): Erzählanalyse: Mündliche Versionen persönlicher Erfahrung. In: Ihwe, J. (Hg.): Literaturwissenschaft und Linguistik. Frankfurt: Fischer-Athenäum, 78-126. Leyva, D.; Berrocal, M. & Nolivos, V. (2014): Spanish-speaking parent-child emotional narratives and children’s social skills. In: Journal of Cognition and Development 15, 22-42. Maas, U. (2008): Sprache und Sprachen in der Migrationsgesellschaft: Die schriftkulturelle Dimension. Göttingen: V&R unipress. Merklinger, D. (2011): Frühe Zugänge zu Schriftlichkeit. Eine explorative Studie zum Diktieren. Freiburg i.B.: Fillibach. McBratney, S. & Jeram, A. (2014): Weißt du eigentlich, wie lieb ich Dich habe? Bad Orb: Sauerländer. Müller, C. (2012): Kindliche Erzählfähigkeiten und (schrift-)sprachsozialisatorische Einflüsse in der Familie. Eine longitudinale Einzelfallstudie mit ein- und Vorlesen und Erzählen im Vergleich 93 mehrsprachigen (Vor-)Schulkindern. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. Müller, C. & Stark, L. (2015): Sprachdidaktische Anreize in Kinderliteratur - Ein Typologisierungsversuch. In: Eder, U. (Hg.): Sprache lernen mit Kinder- und Jugendliteratur. Theorien, Modelle und Perspektiven für den Deutschals Fremd- und Zweitsprachenunterricht. Wien: Praesens-Verlag. Müller, C. & Stark, L. (eingereicht): Pretended reading in parent-child-interaction. Interactive mechanisms of role taking and scaffolding. In: Proceedings of the 24 th International Colloquium on Communication 2014. Quasthoff, U.M. (1990): Das Prinzip des primären Sprechers, das Zuständigkeitsprinzip und das Verantwortungsprinzip. Zum Verhältnis von „Alltag“ und „Institution“ am Beispiel der Verteilung des Rederechts in Arzt-Patient-Interaktionen. In: Ehlich, K. (Hg.): Medizinische und therapeutische Kommunikation. Diskursanalytische Untersuchungen. Opladen: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 66-81. Rothstein, B. (2013): Ein Sprachhandlungsansatz für das Vorlesen am Beispiel von Hervé Tullets Turlututu. In: Frickel, D.A. & Boelmann, J.M. (Hgg.): Literatur - Lesen - Lernen: Festschrift für Gerhard Rupp. Frankfurt: Peter-Lang, 317-335. Schönauer-Schneider, W. (2012): Sprachförderung durch dialogisches Bilderbuchlesen. In: Günther, H. & Bindel, W.R. (Hgg.): Deutsche Sprache in Kindergarten und Vorschule. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 238-266. Selting, M. et al. (2009): Gesprächsanalytisches Transkriptionssystem 2 (GAT 2). In: Gesprächsforschung - Online-Zeitschrift zur verbalen Interaktion 10, 353-402. http: / / www.gespraechsforschung-ozs.de/ fileadmin/ dateien/ heft2009/ pxgat2.pdf [30.10.2014]. Stark, L. (i.V.): Präteritumerwerb und Vorlesen. Dissertation an der Ruhr-Universität Bochum. Wagner, K.R. & Steinsträter, C. (1989): Individuelle Profile beim Erzählerwerb. In: Ehlich, K. & Wagner, K.R. (Hgg.): Erzähl-Erwerb. Frankfurt a. M.: Peter Lang Verlag, 49-62. Wells, G. (1986): The meaning makers: Children learning language and using language to learn. Portsmouth: Heinemann. Weigel, D.J.; Martin, S.S. & Bennett, K.K. (2006): Mothers’ literacy beliefs: Connections with the home literacy environment and pre-school children’s literacy development. In: Journal of Early Childhood Literacy 6, 191-211. Angela Grimminger & Katharina J. Rohlfing Entsteheung multimodaler Sprachlehrstrategien in spezifischen Interaktionen 1 Einleitung Das gemeinsame Buchlesen mit Kindern kann sich positiv auf deren sprachliche Entwicklung auswirken (vgl. De Temple/ Snow 2003; Reese/ Sparks/ Leyva 2010). Dabei scheint sich dieser Effekt weniger auf die Häufigkeit des Lesens als vielmehr auf die Qualität des verbalen Inputs beim Buchlesen zurückführen zu lassen (vgl. De Temple/ Snow 2003). So lässt sich in Vorlesesituationen etwa gemeinsame Aufmerksamkeit herstellen, die als eine Vorläuferfähigkeit für erfolgreiche Kommunikation gilt (vgl. Tomasello 2003; Zukow-Goldring 1996) und deren positiver Zusammenhang mit der Sprachentwicklung belegt ist (vgl. Bakeman/ Adamson 1984; Baldwin 1995; Della Corte/ Benedict/ Klein 1983; Mundy et al. 2007; Tomasello/ Farrar 1986). Elternprogramme nutzen diese Erkenntnisse, indem Eltern bestimmte Vorlesestrategien mit dem Ziel vermittelt werden, den produktiven sowie rezeptiven Wortschatz der Kinder zu fördern (vgl. Buschmann 2011; Reese/ Sparks/ Leyva 2010). In diesen Programmen (z.B. Buschmann 2011) liegt der Schwerpunkt auf verbalen Sprachlehrstrategien. Beobachtet man Vorlesesituationen von Eltern und ihren Kindern aber genauer, so fällt auf, dass sich das Lesen nicht auf sprachliches Verhalten allein beschränkt, sondern sich beide Kommunikationspartner zu einem großen Teil nonverbaler Mittel bedienen (vgl. Rohlfing/ Grimminger/ Nachtigäller 2015). Dass das gestische Verhalten beider Interaktionspartner von Bedeutung ist, zeigt die Forschung der letzten Jahre. Nicht nur die eigene gestische Kommunikation eines Kindes ist prädiktiv für die spätere Wortschatz- und Syntaxentwicklung (vgl. Colonnesi et al. 2010; Rowe/ Özçaliskan/ Goldin- Meadow 2008; Rowe/ Goldin-Meadow 2009), sondern auch der gestische und verbale Input, den Kinder durch ihre Bezugspersonen erfahren, ermöglicht den Erwerb sprachlicher Kompetenzen (vgl. Rowe/ Goldin- Meadow 2009). Im Kontext des Vorlesens wird der gestische Input bisher nur am Rande thematisiert. Solche Untersuchungen sind jedoch wichtig, um die Mechanismen besser zu verstehen, die aus der Situation des gemeinsamen Lesens eine sprachförderliche Situation machen. Im folgenden Kapitel legen wir deshalb den Fokus auf die Fragen, inwiefern sich das multimodale Verhalten (d.h. die Kombination von verbalen und nonverbalen Äußerungen) von Müttern in einer Buchsituation Entstehung multimodaler Sprachlehrstrategien in spezifischen Interaktionen 95 qualitativ von dem in einer freien Spielsituation unterscheidet und ob die verwendeten Strategien in Zusammenhang mit dem Wortschatz der Kinder stehen. Im darauffolgenden Kapitel gehen wir auf bereits vorhandene Erkenntnisse ein, die darauf hinweisen, dass die Situation des Vorlesens bestimmte pragmatische Bedingungen schafft. Ausgehend von diesen Erkenntnissen haben wir in unserem Untersuchungsdesign (das Gegenstand von Kapitel vier ist) die pragmatischen Bedingungen kontrolliert, um das multimodale Verhalten von Müttern in einer Buchsituation mit dem in einer freien Spielsituation vergleichen zu können. Dabei gehen wir der Frage nach, ob sich bestimmte Verhaltensweisen zunächst nur in einer Situation zeigen, ehe sie auch in einer anderen verwendet werden. 2 Gestischer Input beim Vorlesen Murphy (1978) sowie Rohlfing et al. (2015) untersuchten das multimodale Verhalten in natürlichen Vorlesesituation in Mutter-Kind-Interaktionen und beobachteten zwei multimodale Strategien der Mütter: 1) Hindeuten mit einer Zeigegeste und den Referenten benennen wie auch 2) hindeuten und nach dem Referenten oder einem Merkmal fragen. Murphy (1978) analysierte das mütterliche Zeigeverhalten bei 32 Mutter- Kind-Dyaden, die sich in vier Altersgruppen unterteilten: 9, 14, 20 und 24 Monate. Sie hat dabei beobachten können, dass sich die beiden Strategien mit zunehmendem Alter des Kindes verändern. Die Mütter der jüngeren Kinder verwenden die Zeigegeste hauptsächlich mit einer Benennung und ziehen damit während der Benennung den Aufmerksamkeitsfokus des Kindes auf den Referenten. Beim Lesen mit den 20 und 24 Monate alten Kindern benutzen die Mütter die Zeigegeste hingegen eher zusammen mit einer W-Frage. Damit geben sie dem Kind die Gelegenheit, entweder selbst den Referenten zu benennen, weiteres Wissen über den Referenten mitzuteilen oder auf andere Bereiche des Bildes zu zeigen. Blewitt (2015) berichtet, dass das Stellen von Fragen den Spracherwerb des Kindes fördern kann. Dass ab dem 20. Lebensmonat natürlicherweise diese Strategie häufiger zum Einsatz kommt, lässt sich auf der Grundlage der Beobachtung erklären, dass die Kinder in diesem Alter damit beginnen, selbst die Bilder zu benennen. Die Mütter stellen ab diesem Alter möglicherweise mehr Fragen, um ihre Kinder zur eigenen Sprachproduktion anzuregen und somit auf deren weitere Wortschatzentwicklung einzuwirken. Auch Ninio (1980) fand, dass Mütter verschiedene Routinen abhängig vom sprachlichen Entwicklungsstand der Kinder einsetzen, obgleich sie sich auf den verbalen Input konzentrierte. Ebenso wie Murphy (1978) beobachtete sie, dass Mütter von Kindern mit größerem Wortschatz eher W-Fragen einsetzen, um bei ihren Angela Grimminger & Katharina J. Rohlfing 96 Kindern eine Benennung oder Zeigegeste zu elizitieren, während sie Objekte gegenüber Kindern mit kleinerem Wortschatz eher benennen. Eine weitere Studie, die den Fokus auf das multimodale Verhalten der Bezugspersonen legte, wurde von Rowe/ Pan (2004) durchgeführt. Die Autorinnen untersuchten den Zusammenhang zwischen dem verbalen und gestischen Verhalten von Müttern in natürlichen Interaktionen mit ihren 24 Monate alten Kindern und dem rezeptiven Wortschatz der Kinder ein Jahr später. Der innovative Aspekt dieser Studie lag darin, das Verhalten der Mütter mit ihren zweijährigen Kindern in zwei Situationen zu vergleichen - dem Buchvorlesen und dem freien Spiel, da sich gerade in der frühen Interaktion deutliche Unterschiede zwischen diesen beiden Situationen zeigen (vgl. Yont/ Snow/ Vernon-Feagans 2003). Die Autorinnen fanden nur für die Buchsituation einen positiven Zusammenhang zwischen dem mütterlichen gestischen Input (Zeigegesten pro Minute) und dem späteren rezeptiven Wortschatz der Kinder. Die Kinder reagierten in dieser Situation häufiger mit einer Benennung auf die mütterliche Zeigegeste als in der freien Spielsituation. In ihrem verbalen Verhalten griffen die Mütter beim Buchlesen häufiger das auf, was sich im gemeinsamen Aufmerksamkeitsfokus befand. Im Rahmen einer eigenen Untersuchung beschäftigten auch wir uns mit diesen Unterschieden und verglichen die Kombination von verbalen und nonverbalen Äußerungen in einer Buchsituation mit der in einem freien Spiel (vgl. Rohlfing/ Grimminger/ Nachtigäller 2015). Ergänzend zu den Befunden von Rowe/ Pan (2004), die sich auf 24 Monate alte Kinder beziehen, konnten wir zeigen, dass die Mütter in der Buchlesesituation mit ihren 14 Monate alten Kindern bereits signifikant mehr Zeigegeste pro Wort als beim freien Spiel benutzten. Hinsichtlich der von Murphy (1978) identifizierten multimodalen Strategien der Mütter fanden wir, dass diese besonders häufig in der Buchlesesituation vorkamen: Fast die Hälfte der mütterlichen Zeigegesten während des Buchlesens kamen in einer Benennroutine vor (verglichen mit knapp 10 % während des freien Spiels), und knapp 12 % zusammen mit Fragen (verglichen mit ca. 3 % während des freien Spiels). Diese Strategien spielen für den Spracherwerb eine besondere Rolle: Sie heben nicht nur einen Referenten und dessen Bedeutung hervor (vgl. Booth/ McGregor/ Rohlfing 2008); innerhalb einer Benennroutine ist zudem die Rolle der jeweiligen Interaktionspartner verankert: Wenn ein Erwachsener eine Zeigegeste produziert, erwartet das Kind z.B. eine Benennung oder eine Frage (vgl. Murphy 1978). Mit zunehmender Erfahrung mit solchen pragmatischen Strategien findet das Kind (s)eine eigene Rolle in dieser gemeinsamen Aktivität und wird auf eine W-Frage entweder mit einer Wortbenennung oder Zeigegeste auf den Referenten antworten. Diese Entstehung multimodaler Sprachlehrstrategien in spezifischen Interaktionen 97 Kompetenz, sequentielle und sprachliche Muster zu erkennen, beschreibt Quasthoff (2009) im Rahmen des Erwerbs der Kommunikationskompetenz. Wir fanden auch Zusammenhänge zwischen dem Input der Mütter und dem Wortschatz der Kinder. Das gestische Verhalten der Mütter korrelierte signifikant mit dem rezeptiven sowie produktiven Wortschatz der Kinder (laut Elternfragebogen) mit 14 Monaten und marginal mit dem produktiven Wortschatz der Kinder mit 18 Monaten. Weiterhin erklärte der frühe multimodale Input beim Buchlesen mit 14 Monaten (Anzahl der Wörter, die gleichzeitig mit einer Zeigegeste geäußert wurden) 39 % der Varianz des produktiven Wortschatzes der Kinder mit 24 Monaten. Eine Buchsituation scheint also sprachförderliche Verhaltensweisen bei den Bezugspersonen zu elizitieren. Ungeklärt bleibt jedoch die Frage, warum diese Verhaltensweisen sprachfördernd wirken. Wir möchten an dieser Stelle vorschlagen, dass die Wirkung durch „Interaktionsformate“ am besten zu erklären ist, die sich laut Bruner (1987) im gemeinsamen sprachlichen Handeln zwischen Erwachsenem und Kind entfalten und damit eine wichtige Rolle im Spracherwerb spielen. 3 Zur Rolle von „Interaktionsformaten” im Spracherwerb Ein Format ist ein standardisiertes Interaktionsmuster zwischen einem Erwachsenen und einem Kleinkind, welches als ursprünglicher Mikrokosmos feste Rollen enthält, die mit der Zeit vertauschbar werden. (Bruner 1987 in Weigl/ Reddemann-Tschaikner 2002: 44) Diese Interaktionsmuster helfen Kindern, nicht nur das gemeinsame Ziel einer kommunikativen Handlung zu erkennen, sondern ihre eigene Rolle (auch Sprachrolle) in der Interaktion zu begreifen. Die Bezugsperson gibt diese Rollen zunächst vor, indem sie den Teil, den das Kind später übernehmen soll, selbst übernimmt. Sie zieht sich dann, in wiederholten Situationen, zunehmend aus diesem Teil zurück (vgl. Murphy 1978) und weist damit dem Kind einen eigenen Teil in der gemeinsamen Handlung zu. Bruner (1985) machte darauf aufmerksam, dass bereits sehr junge Kinder auch ohne Lautsprache eine aktive Rolle übernehmen können, indem sie als Handelnde mit ihrer Geste oder ihrem Verhalten in dieser Interaktion einen Beitrag leisten. In einem einfachen Spiel wie dem Guck-Guck zeigten Bruner und Sherwood (1976), dass sich routinisierte Abläufe zwischen Mutter und Kind über die Zeit hinweg etablieren. Wird das Kind dabei allerdings nicht als Handelnder betrachtet, so verschwinden solche Spiele wieder aus dem Repertoire einer Dyade, genauso wie Wörter, die aus dem Wortschatz verschwinden, wenn sie nicht gebraucht werden (vgl. Bruner/ Sherwood 1976). Die Ausbildung zu einer Rollenerfüllung ist somit eine zentrale Voraussetzung für eine gelingende Interaktion. In den oben genannten Angela Grimminger & Katharina J. Rohlfing 98 Strategien, dem Benennen und Fragen, wird eine solche Rollenerfüllung durch den Einsatz von Gesten erleichtert und eingeübt. Mittels Gestik können junge Kinder bereits an Interaktionen teilnehmen, obwohl ihre Lautsprache noch nicht ausgereift ist. Zugleich visualisiert Gestik aber auch die Äußerungen der Bezugsperson. Je schwieriger eine sprachliche Aufgabe ist, desto mehr neigen Mütter dazu, ihre Äußerungen gestisch zu unterstreichen (vgl. Grimminger/ Rohlfing/ Stenneken 2010). Zusammen mit einem bestimmten sprachlichen Verhalten (dem Benennen oder der Frage) kann eine Geste den Bezug zu einem Referenten verstärken (vgl. Axelsson/ Churchley/ Horst 2012; Booth/ McGregor/ Rohlfing 2008). Die Ergebnisse der oben genannten Studien (vgl. Murphy 1978; Ninio 1980; Rohlfing/ Grimminger/ Nachtigäller 2015; Rowe/ Pan 2004) zeigen, dass die Buchsituation die Verwendung bestimmter multimodaler Verhaltensweisen begünstigt, d.h. sprachliches Verhalten gemeinsam mit gestischem elizitiert, welche unserer Annahme nach die Herausbildung von Interaktionsformaten unterstützen. Dabei legen wir den Fokus auf die Frage, inwiefern sich erstens das multimodale Verhalten der Mütter in einer Buchsituation qualitativ von dem in einer freien Spielsituation unterscheidet und ob sich bestimmte Verhaltensweisen zunächst nur in einer Situation zeigen, ehe sie auch in einer anderen verwendet werden. Dazu untersuchen wir zwei Zeitpunkte. Konkret stellt sich damit zweitens die Frage, ob die Vorlesesituation einen situativen Vorteil für die Emergenz bestimmter multimodaler Strategien bietet. Drittens soll untersucht werden, ob die verwendeten Strategien in Zusammenhang mit dem Wortschatz der Kinder stehen, um deren sprachfördernde Wirkung zu überprüfen. 4 Methodisches Vorgehen 4.1 Teilnehmer Die Daten unserer Untersuchung sind Teil einer Längsschnittstudie, an der 18 Mütter mit ihren Kindern teilgenommen haben. Zwischen dem 10. und 27. Lebensmonat der Kinder wurden die Familien alle 6 Wochen besucht. Wir berichten hier die Daten zum 14. (M = 14 Monate, 22 Tage) und 18. Lebensmonat (M = 17 Monate, 30 Tage). Aufgrund eines Experimentalfehlers zum 14. Lebensmonat konnten nur 17 Mutter-Kind-Dyaden in die Analyse aufgenommen werden. 4.2 Ablauf Die Familien wurden zu Hause besucht und zunächst in einer freien Spielsituation beobachtet. Um die Spielsituation zwischen allen Teilnehmern vergleichbar zu halten, wurden den Dyaden nacheinander vier Taschen mit je drei Spielzeugsets gegeben (wie z.B. Magnete und eine Magnettafel, Entstehung multimodaler Sprachlehrstrategien in spezifischen Interaktionen 99 Stapelbecher, eine Puppe mit einer Kette), mit denen sie etwa fünf Minuten spielen konnten, bevor ein Experimentator die Taschen austauschte. Die Mütter wurden instruiert so mit ihrem Kind zu spielen, wie sie es normalerweise tun. Im Anschluss an das freie Spiel bekamen sie ein Buch (s. 4.3), das sie sich gemeinsam anschauen sollten. Die Instruktion hierbei war, sich möglichst jede Seite anzusehen und darüber zu sprechen. Die Mutter-Kind- Interaktionen wurden frontal mit einer Videokamera aufgenommen und die Aufzeichnungen anschließend mit dem XML-basierten Programm MAR- THA transkribiert und kodiert (siehe 4.4 und 4.5). Zum 14. und 18. Lebensmonat wurden die Mütter gebeten den ELFRA-1 (Grimm/ Doil 2000) auszufüllen, einen standardisierten Elternfragebogen, der den rezeptiven und produktiven Wortschatz der Kinder erfasst. Da zwei Kinder zum Erhebungszeitpunkt mit 18 Monaten jedoch ihren 18. Lebensmonat bereits vollendet hatten, bekamen ihre Mütter den Elternfragebogen ELFRA-2 (Grimm/ Doil 2000), mit dem der produktive Wortschatz sowie syntaktische und morphologische Fähigkeiten der Kinder erfragt werden. 4.3 Verwendete Bücher Für die Buchsituation haben wir Bilderbücher erstellt, die aus 12 bzw. 14 laminierten Fotografien bestanden. Die Hälfte der Teilnehmer bekam ein Buch, in dem einzelne Objekte abgebildet waren (z.B. eine Tasse oder eine Schaukel), die andere Hälfte schaute sich gemeinsam ein Buch an, in dem Objekte in Relation zueinander abgebildet waren (z.B. eine Tasse auf dem Tisch oder ein Kind auf einer Schaukel). Die unterschiedlichen Bücher wurden für andere Fragestellungen eingesetzt (vgl. Nachtigäller/ Rohlfing 2011; Rohlfing/ Grimminger/ Nachtigäller 2015). Da sich jedoch keine Unterschiede im gestischen Verhalten der Mütter zwischen den Buchvorlagen zeigten (vgl. Rohlfing/ Grimminger/ Nachtigäller 2015), betrachten wir die beiden Gruppen für die vorliegende Analyse zusammen. Abb. 1: Beispielbilder aus den Büchern. Oben: Seiten mit einzeln abgebildeten Objekten. Unten: Seiten mit Objekten in Relation zueinander. Angela Grimminger & Katharina J. Rohlfing 100 4.4 Kodierung des nonverbalen Verhaltens Neben allen gesprochenen Wörtern der Mütter wurden auch die deiktischen Gesten der Mütter kodiert und folgendermaßen weiter spezifiziert als: - Zeigegeste [pointing] mit dem Zeigefinger oder der ganzen Hand, - Zeigen [showing] eines Objektes durch Hinhalten vor den Interaktionspartner oder - Geben [giving] eines Objektes durch Ausstrecken der Hand in Richtung des Interaktionspartners. Weiterhin wurde die multimodale Semantik kodiert: Wenn die Geste und sprachlichen Äußerung die gleichen Informationen vermittelten, so wurde die Geste als verstärkend [reinforcing] kodiert. Diente die Geste dazu, die Referenz der sprachlichen Äußerung aufzulösen (z.B. „Was ist das? ”, „Schau mal hier.”), wurde sie als ergänzend [supplementing] kodiert (vgl. Iverson/ Goldin-Meadow 2005). 4.5 Kodierung der multimodalen Strategien In einem zweiten Schritt wurden die Strategien kodiert. Dazu wurde bei allen Zeigegesten [pointing] der Mütter, die gemeinsam mit einer sprachlichen Äußerung auftraten, überprüft, ob die sprachliche Äußerung eine W- Frage (fragen) oder eine Benennung (benennen) beinhaltete (vgl. Murphy 1978). Als Benennstrategie wurden gestisch begleitete Äußerungen kodiert, die den Referenten der Zeigegeste enthielten, wie zum Beispiel: „Das ist eine Schaukel.” oder auch „Hier schaukelt das Kind.”, aber auch Ja/ Nein-Fragen wie „Ist das eine Socke? ”, weil diese die Referenten ebenfalls benannten. Äußerungen wie „Was ist das? ” oder auch „Wo sind denn deine Füße? ” wurden als Fragestrategie kodiert. 5 Ergebnisse Die pragmatischen Situationen werden nun dahingehend miteinander verglichen, ob beide Strategien (Zeigegeste mit entweder fragen oder benennen) an den Kontext des Buchlesens gebunden sind. Zugleich analysieren wir, inwiefern ein situativer Vorteil der Buchsituation mit dem Alter der Kinder zusammenhängt. Weiterhin wurde untersucht, ob die Strategien mit dem Wortschatz der Kinder zu verschiedenen Zeitpunkten in Zusammenhang stehen. Entstehung multimodaler Sprachlehrstrategien in spezifischen Interaktionen 101 5.1 Vergleich von Buchlesen und freiem Spiel hinsichtlich der verwendeten Strategien im Input Um die individuellen Unterschiede in der Häufigkeit der verwendeten Zeigegesten der Mütter zu kontrollieren, wurde jeweils der prozentuale Anteil der verschiedenen Strategien an allen Zeigegesten berechnet und diese Anteile sowohl zwischen den Situationen (Buchlesen und freies Spiel) als auch zu beiden Zeitpunkten (14 und 18 Monate) mit dem Wilcoxon-Test miteinander verglichen (statistische Kennwerte s. Tab. 1). Es zeigte sich, dass beide multimodale Strategien zu beiden Zeitpunkten signifikant häufiger beim gemeinsamen Lesen verwendet wurden. Zu dem Zeitpunkt, zu dem die Kinder 14 Monate alt waren, benutzten die Mütter nur in der Buchsituation einen erheblichen Anteil, nämlich 50 %, ihrer Zeigegesten in Verbindung mit einer Benennstrategie. Im freien Spiel kamen die Zeigegesten kaum in Verbindung mit einer Benennstrategie vor (0,1 %). Dieser Unterschied zwischen den Situationen ist hoch signifikant. Ähnlich verhält es sich mit der Fragestrategie, wobei diese zum Zeitpunkt von 14 Monaten selbst in der Buchsituation noch wenig ausgeprägt war (11 %). Vier Monate später, zum 18. Lebensmonat, benutzten die Mütter in der Buchsituation 26 % ihrer Zeigegesten in Verbindung mit Fragen, während nur 3 % der Zeigegesten dieser Fragestrategie im freien Spiel gewidmet wurden. Auch für die Benennstrategie zeigt sich ein signifikanter Unterschied zwischen den Situationen, wobei jedoch zu diesem Zeitpunkt im freien Spiel bereits ein Drittel der Zeigegesten mit einer Benennung kombiniert wurde. M (SD) Z 14. Lebensmonat Zeigegesten mit Benennen Buchlesen 0,50 (0,21) - 3,57*** freies Spiel 0,001 (0,002) Zeigegesten mit Fragen Buchlesen 0,11 (0,16) - 2,82** freies Spiel 0,0003 (0,0006) 18. Lebensmonat Zeigegesten mit Benennen Buchlesen 0,56 (0,19) - 2,39* freies Spiel 0,33 (0,26) Angela Grimminger & Katharina J. Rohlfing 102 Zeigegesten mit Fragen Buchlesen 0,26 (0,17) - 3,52*** freies Spiel 0,03 (0,05) *p < 0,05; **p < 0,01; ***p < 0,001 Tab. 1: Vergleich der beiden Situationen zum 14. und 18. Lebensmonat hinsichtlich der multimodalen Strategien der Mütter (Anteile der Strategien bezogen auf alle Zeigegesten) Vergleicht man die einzelnen Strategien zu den verschiedenen Zeitpunkten, so zeigt sich für das Buchlesen, dass die Fragestrategie zum 18. Lebensmonat signifikant häufiger eingesetzt wurde als noch zum 14. Monat: Z = - 3,36, p = 0,001. Das Benennen beim Buchlesen unterscheidet sich zwischen den beiden Zeitpunkten nicht signifikant: Z = -1,11, p = 0,27. Für die freie Spielsituation zeigt sich ein umgekehrtes Muster. Die Benennstrategie hat einen signifikanten Zuwachs vom 14. zum 18. Lebensmonat erfahren (Z = -3,41, p = 0,001), während sich für die Fragestrategie lediglich ein Trend zeigte: Z = -1,68, p = 0,09. 5.2 Zusammenhang der multimodalen Strategien mit dem Wortschatz der Kinder In unserer weiteren korrelationalen Analyse haben wir den Zusammenhang zwischen dem rezeptiven sowie produktiven Wortschatz der Kinder zu verschiedenen Zeitpunkten (den die Mütter jeweils in einem Elternfragebogen angegeben haben) und den verwendeten multimodalen Strategien der Mütter in beiden Situationen überprüft (Spearman-Rho) (statistische Kennwerte s. Tab. 2). Dabei ist anzumerken, dass diese Art von Analyse keine Aussagen über kausale Wirkungen erlaubt. 5.2.1 Ergebnisse für das Buchlesen Während die Benennstrategie zum 14. Monat mit keinem der ELFRA-Werte korrelierte, zeigten sich marginale negative Zusammenhänge zwischen der Benennstrategie zum 18. Lebensmonat und dem rezeptiven und produktiven Wortschatz zum gleichen Zeitpunkt, d.h. dass die Mütter in der Buchsituation gegenüber Kindern mit kleinerem Wortschatz häufiger die Benennstrategie benutzten. Für die Fragestrategie zeigten sich zu beiden Erhebungszeitpunkten positive Zusammenhänge mit verschiedenen ELFRA-Werten: Zum 14. Monat korrelierte der Anteil der Zeigegesten, den die Mütter mit Fragen begleiteten, signifikant mit dem produktiven Wortschatz der Kinder mit 18 Monaten. Zu diesem Zeitpunkt zeigten sich statistische Trends (p < .09) mit Entstehung multimodaler Sprachlehrstrategien in spezifischen Interaktionen 103 dem rezeptiven Wortschatz mit 18 Monaten sowie mit dem produktiven Wortschatz mit 24 Monaten. Der Anteil der Zeigegesten in Verbindung mit Fragen zum 18. Lebensmonat korrelierte positiv mit dem rezeptiven Wortschatz mit 18 Monaten sowie dem produktiven Wortschatz mit 24 Monaten; ein statistischer Trend zeigte sich mit dem produktiven Wortschatz mit 18 Monaten. Die Zusammenhänge zwischen der multimodalen Fragestrategie und dem Wortschatz der Kinder lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: Die Mütter der Kinder, die zum 18. bzw. 24. Lebensmonat über einen größeren Wortschatz verfügen, verwenden beim gemeinsamen Lesen mit 14 und 18 Monaten häufiger eine Zeigegeste in Verbindung mit einer Frage. 5.2.2 Ergebnisse für das freie Spiel Für die Strategien beim freien Spiel zeigten sich zwar ebenfalls einige Zusammenhänge, doch muss dabei beachtet werden, dass die Strategien dabei generell sehr selten vorkamen. Der Anteil der multimodalen Benennstrategie korrelierte zum 14. Monat signifikant, zum 18. Monat nur marginal mit dem rezeptiven Wortschatz mit 14 Monaten. Weiterhin zeigte sich ein marginaler Zusammenhang zwischen der Benennstrategie mit 18 Monaten und dem produktiven Wortschatz mit 24 Monaten. Interessanterweise neigten die Mütter dazu, zum 18. Monat mehr Benennungen (im Vergleich zum 14. Monat) ins freie Spiel zu bringen, wenn die Kinder einen größeren Wortschatz aufwiesen. Der Zuwachs der Benennstrategie korrelierte marginal mit dem produktiven Wortschatz mit 24 Monaten: r s = .61, p = .06. Diesen Zuwachs greifen wir als „Übertragung“ der Interaktionsformate in der Diskussion auf. Die Fragestrategie beim freien Spiel korrelierte zu keinem der beiden Zeitpunkte mit einem der ELFRA-Werte. Multimodale Strategien beim Buchlesen Wortschatz r s Benennen mit 18 Monaten 18 Monate rezeptiv - 0,60 + produktiv - 0,50 + Fragen mit 14 Monaten 18 Monate rezeptiv 0,57 + produktiv 0,54* 24 Monate produktiv 0,57 + Angela Grimminger & Katharina J. Rohlfing 104 Fragen mit 18 Monaten 18 Monate rezeptiv 0,69* produktiv 0,50 + 24 Monate produktiv 0,64* Multimodale Strategien beim freien Spiel Benennen mit 14 Monaten 14 Monate rezeptiv 0,60* Benennen mit 18 Monaten 14 Monate rezeptiv 0,52 + 24 Monate produktiv 0,61 + *p < 0,05; + markiert einen statistischen Trend (p < 0,09) Tab. 2: Korrelationen zwischen den verwendeten multimodalen Strategien der Mütter beim Buchlesen und in der Spielsituation mit dem Wortschatz der Kinder zu verschiedenen Zeitpunkten. Angegeben sind nur die signifikanten Korrelationen bzw. Trends 6 Diskussion In unserer längsschnittlichen Untersuchung haben wir zwei pragmatisch unterschiedlich strukturierte Situationen miteinander verglichen, nämlich die Buchsituation und das freie Spiel, und sind der Frage nachgegangen, ob das Buchlesen einen situativen Vorteil bietet. Dafür haben wir zwei multimodale Routinen in frühen Mutter-Kind-Interaktionen untersucht: das Benennen von sowie das Fragenstellen zu Objekten, Objektmerkmalen und Ereignissen verbunden mit einer Zeigegeste. Die Analyse von zwei Zeitpunkten, dem 14. und 18. Lebensmonat der Kinder, ergab, dass die Mütter mehr von diesen Sprachlehrstrategien in der Buchsituation verwendeten und dass diese besonders sprachförderlich gestaltet ist: Das gemeinsame Buchbetrachten ermöglicht es den Eltern, Routinen mit einem konkreten Ziel aufzubauen und so die Kinder an der Interaktion teilnehmen zu lassen. Speziell in der Buchsituation unterscheiden sich die multimodalen Strategien zu beiden Zeitpunkten ebenso wie deren Zusammenhang mit dem kindlichen Wortschatz. Der Anteil der Benennstrategie verändert sich nicht signifikant über die zwei Zeitpunkte. Wenn Mütter diese Strategie allerdings zum späteren Zeitpunkt verwenden, dann weist das auf einen geringeren Wortschatz der Kinder hin, da sich hier eine negative Korrelation zeigt. Der Anteil der Fragestrategie hingegen nimmt vom 14. zum 18. Lebensmonat hochsignifikant zu. Diese Verhaltensweise ist zwar auch schon beim gemein- Entstehung multimodaler Sprachlehrstrategien in spezifischen Interaktionen 105 samen Buchlesen mit 14 Monate alten Kindern zu beobachten, sie etabliert sich aber erst stärker mit zunehmendem Alter und sprachlichen Kompetenzen der Kinder (vgl. Murphy 1978). Im Gegensatz zu der Benennstrategie korrelierte sie zu beiden Zeitpunkten positiv mit dem späteren Wortschatz. Die Mütter derjenigen Kinder, die laut ELFRA zum 18. und 24. Monat einen größeren Wortschatz aufwiesen, benutzten sowohl bereits mit 14 als auch 18 Monaten häufiger die Frageals die Benennstrategie. Die Ergebnisse verdeutlichen, wie Mütter sich dem Sprachstand der Kinder anpassen: Multimodale Benennstrategien tragen bei jüngeren Kindern dazu bei, den Wortschatz aufzubauen. Ist der Wortschatz dabei sich zu entfalten, fördern Mütter das spätere Sprachverhalten ihrer Kinder mit Fragestrategien. Gerade das Stellen von Fragen wird in Elternprogrammen als wichtige Sprachlehrstrategie vermittelt (vgl. Buschmann 2011) und hat sich auch in anderen Untersuchungen als wirksame sprachförderliche Strategie erwiesen (vgl. Blewitt et al. 2009). Auf eine offene Frage kann ein Kind verbal oder mit einer Handlung antworten, was ihm die Möglichkeit gibt, eine aktive Rolle als Interaktionspartner einzunehmen. Walsh/ Blewitt (2006) haben gezeigt, dass diese Frageform zu Fortschritten im rezeptiven und/ oder produktiven Wortschatz führen kann. Blewitt et al. (2009) haben eine weitere Einteilung von Fragen vorgenommen, indem sie sie hinsichtlich des kognitiven Anspruchs, den sie an das Kind stellen, unterschieden. Die anspruchsvolleren Fragen [‚high demand questions‘] sind solche, bei denen ein Kind selbst Schlussfolgerungen ziehen oder Vorhersagen treffen soll, die über den Bild- und Textinhalt des Buches hinausgehen. Die weniger anspruchsvollen Fragen [‚low demand questions‘] beziehen sich noch stärker auf den Bildinhalt. Für beide Frageformen wurde gezeigt, dass sie die Wortschatzentwicklung begünstigen (vgl. Haden/ Reese/ Fivush 1996; Whitehurst et al. 1988). Reese/ Cox (1999) nehmen aber an, dass die weniger anspruchsvollen Fragen gegenüber Kindern, deren Wortschatz noch kleiner ist, effektiver sind. Die Mütter in unserer Untersuchung, deren Kinder jünger waren und daher noch einen kleineren Wortschatz hatten, benutzten fast ausschließlich diese sogenannten weniger anspruchsvollen Fragen. Diese Interpretation der Ergebnisse der Korrelationen zwischen den Strategien und dem kindlichen Wortschatz müsste jedoch durch weitere Untersuchungen überprüft werden. Bisher konzentriert sich unsere Analyse auf das Verhalten der Mütter und ihr Interaktionsangebot. Ob Kinder diese Interaktionsformate tatsächlich aufgreifen und es ihnen leichter fällt, innerhalb einer konkreten Situation - wie dem Buchlesen - daran teilzunehmen, werden weitere Analysen zeigen. Neben den situationalen Unterschieden und den Korrelationen der einzelnen Strategien mit dem kindlichen Wortschatz betraf eine weitere Frage, wann eine Strategie, die sich innerhalb einer Situation etabliert, auf Angela Grimminger & Katharina J. Rohlfing 106 andere Situationen übertragen wird. Diese Übertragung konnten wir in unseren Daten bei der Benennstrategie beobachten. Diese ist bereits früh zu beobachten, allerdings zunächst vorwiegend an eine ganz bestimmte Situation gebunden, nämlich die des Buchlesens. Mit der Zeit findet sie zunehmend Eingang in das freie Spiel. Dieser Eingang korrelierte positiv mit dem späteren Wortschatz der Kinder. Es scheint, als würde sich eine Strategie auf einen anderen Kontext „ausdehnen“ (vgl. Bruner/ Sherwood, 1976), wenn sie sich zuvor etabliert hat und die Kinder einen größeren Wortschatz aufweisen. Eine aktuelle Studie von Lieberman/ Hatrak/ Mayberry (2014), in der etwas ältere Kinder untersucht wurden, unterstützt diesen Gedanken indirekt. Die Autoren untersuchten gehörlose Mütter mit ihren gehörlosen Kindern im Alter von 2 und 3 Jahren beim gemeinsamen Buchlesen und freien Spiel und fanden heraus, dass sich die mütterlichen Strategien in der Organisation der gemeinsamen Aufmerksamkeitsbezüge in diesen Altersgruppen nicht zwischen den Situation unterscheidet. Zusammengefasst weisen unsere Ergebnisse darauf hin, dass sich die Interaktionsformate mit der Zeit verändern. Insbesondere in einer frühen Mutter-Kind-Interaktion geben multimodale Strategien den Kindern die Möglichkeit, an der Interaktion teilzunehmen. Die Interaktion findet aber innerhalb einer fest definierten Situation statt. Möglicherweise begünstigt der situative Rahmen (das Buch als Material, das gemeinsame Sitzen, die gemeinsamen Aufmerksamkeitsbezüge) das Entstehen bestimmter Interaktionsroutinen, die, wenn sie sich erst innerhalb eines situativen Kontextes etabliert haben, dann auch auf andere Situationen (z.B. vom gemeinsamen Vorlesen auf freies Spiel) übertragen werden können und sich auf diese Weise mehr als abstraktere Interaktionsprinzipien - als als kontextgebundene Interaktionsroutinen - etablieren und schließlich in jedem situativen Kontext angewendet werden. 7 Danksagung Wir danken allen teilnehmenden Familien. Die Datenerhebung fand im Rahmen des von der VolkswagenStiftung geförderten Dilthey-Fellowships (Projekt Symbiose von Sprache und Handlung) von Katharina Rohlfing statt. Diese Arbeit wurde vom Exzellenzcluster Cognitive Interaction Technology ‚CITEC‘ (EXC 277) der Universität Bielefeld unterstützt, welches durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert wird. Entstehung multimodaler Sprachlehrstrategien in spezifischen Interaktionen 107 Literatur Axelsson, E.L.; Churchley, K. & Horst, J.S. (2012): The right thing at the right time: Why ostensive naming facilitates word learning. In: Frontiers in psychology 3, 1-8. Bakeman, R. & Adamson, L.B. (1984): Coordinating attention to people and objects in mother-infant and peer-infant interaction. In: Child Development 55, 1278-1289. Baldwin, D.A. (1995): Understanding the link between joint attention and language. In: Moore, C. & Dunham, P.J. (Hgg.): Joint attention: Its origins and role in development. Hillsdale/ NJ: Lawrence Erlbaum, 131-158. Blewitt, P. (2015): Growing vocabulary in the context of shared book reading. In: Kümmerling-Meibauer, B.; Meibauer, J., Nachtigäller, K. & Rohlfing, K.J. (Hgg.): Learning from picturebooks. Perspectives from child development and literacy studies. New York: Routledge. Blewitt, P.; Rump, K.M.; Shealy, S.E. & Cook, S.A. (2009): Shared book reading: When and how questions affect young children’s word learning. In: Journal of Educational Psychology 101, 294-304. Booth, A.E.; McGregor, K.K. & Rohlfing K.J. (2008): Socio-pragmatics and attention: Contributions to gesturally guided word learning in toddlers. In: Language Learning and Development 4, 179-202. Bruner, J.S. (1985): The role of interaction formats in language acquisition. In: Forgas, J.P. (Hg.): Language and Social Situation. New York: Springer, 31-46. Bruner, J.S. (1987): Wie das Kind sprechen lernt. Bern: Huber. Bruner, J.S. & Sherwood, V. (1976): Peekaboo and the learning of rule structures. In: Bruner, J.S.; Jolly, A. & Sylva, K. (Hgg.): Play: Its role in development and evolution. New York: Basic Books, 277-285. Buschmann, A. (2011 2 ): Heidelberger Elterntraining zur frühen Sprachförderung. München: Urban & Fischer. Colonnesi, C.; Stams, G.J.J.M.; Koster, I. & Noom, M.J. (2010): The relation between pointing and language development: A meta-analysis. In: Developmental Review 30, 352-366. De Temple, J. & Snow, C.E. (2003): Learning words from books. In: Kleeck, A. van; Stahl, S.A. & Bauer, E.B. (Hgg.): On reading books to children: Parents and teachers. Mahwah/ NJ: Lawrence Erlbaum, 16-36. Della Corte, M.; Benedict, H. & Klein, D. (1983): The relationship of pragmatic dimensons of mothers’ speech to the referential-expressive distinction. In: Journal of Child Language 10, 35-43. Grimm, H. & Doil, H. (2000): Elternfragebögen für die Früherkennung von Risikokindern. Göttingen: Hogrefe. Grimminger, A.; Rohlfing, K.J. & Stenneken, P. (2010): Childrens lexical skills and task demands affect gestural behavior in mothers of late-talking children and children with typical language development. In: Gesture 10, 251-278. Haden, C.A.; Reese, E. & Fivush, R. (1996): Mothers’ extratextual comments during storybook reading: Stylistic differences over time and across texts. In: Discourse Processes 21, 135-169. Iverson, J.M. & Goldin-Meadow, S. (2005): Gesture paves the way for language development. In: Psychological Science 16, 367-371. Angela Grimminger & Katharina J. Rohlfing 108 Lieberman, A.M.; Hatrak, M. & Mayberry, R.I. (2014): Learning to look for language: Development of joint attention in young deaf children. In: Language Learning and Development 10, 19-35. Mundy, P.; Block, J.; Delgado, C.; Pomares, Y; Van Hecke, A.V. & Parlade, M.V. (2007): Individual differences and the development of joint attention in infancy. In: Child Development 78, 938-954. Murphy, C.M. (1978): Pointing in the context of a shared activity. In: Child Development 49, 371-380. Nachtigäller, K. & Rohlfing, K.J. (2011): Mothers’ talking about early object and action concepts during picture book reading. In: Kümmerling-Meibauer, B. (Hg.): Emergent Literacy: Children’s books from 0 to 3. Amsterdam: John Benjamins, 193-208. Ninio, A. (1980): Picture-book reading in mother-infant dyads belonging to two subgroups in Israel. In: Child Development 51, 587-590. Quasthoff, U. (2009): Entwicklung der mündlichen Kommunikationskompetenz. In: Becker-Mrotzek, M. (Hg.): Unterrichtskommunikation und Gesprächsdidaktik. Teilband Mündlichkeit in der Handbuchreihe Deutschunterricht in Theorie und Praxis. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 84-100. Reese, E.; Sparks, A. & Leyva, D. (2010): A review of parent interventions for preschool children’s language and emergent literacy. In: Journal of Early Childhood Literacy 10, 97-117. Reese, E. & Cox, A. (1999): Quality of adult book reading affects children’s emergent literacy. In: Developmental Psychology 35, 20-28. Rohlfing, K.J.; Grimminger, A. & Nachtigäller, K. (2015): Gesturing in joint bookreading. In: Kümmerling-Meibauer, B.; Meibauer, J., Nachtigäller, K. & Rohlfing, K.J. (Hgg.): Learning from picturebooks. Perspectives from child development and literacy studies. New York, London: Routledge, 99-116. Rowe, M.L. & Pan, B.A. (2004): Maternal pointing and toddler vocabulary production during bookreading versus toy play. Poster presented at 14th Biennial International Conference on Infant Studies, Chicago, May 5-8. Rowe, M.L. & Goldin-Meadow, S. (2009): Early gesture selectively predicts later language learning. In: Developmental Science 12, 182-187. Rowe, M.L.; Özçaliskan, S. & Goldin-Meadow, S. (2008): Learning words by hand: Gesture’s role in predicting vocabulary development. In: First Language 28, 182- 199. Tomasello, M. (2003): Constructing a language: A usage-based approach to language acquisition. Cambridge/ MA: Harvard University Press. Tomasello, M. & Farrar, M.J. (1986): Joint attention and early language. In: Child Development 57, 1454-1463. Walsh, B.A. & Blewitt, P. (2006): The effect of questioning style during storybook reading on novel vocabulary acquisition of preschoolers. In: Early Childhood Education Journal 33, 273-278. Weigl, I. & Reddemann-Tschaikner, M. (2002): HOT—ein handlungsorientierter Therapieansatz für Kinder mit Sprachentwicklungsstörungen. Stuttgart: Thieme. Whitehurst, G.J. et al. (1988): Accelerating language development through picture book reading. In: Developmental Psychology 24, 552-559. Entstehung multimodaler Sprachlehrstrategien in spezifischen Interaktionen 109 Yont, K.M.; Snow, C.E. & Vernon-Feagans, L. (2003): The role of context in motherchild interactions: an analysis of communicative intents expressed during toy play and book reading with 12-month-olds. In: Journal of Pragmatics 35, 435-454. Zukow-Goldring, P. (1996): Sensitive caregiving fosters the comprehension of speech: When gestures speak louder than words. In: Early development and parenting 5, 195-211. Petra Wieler Kulturelle Differenzen des Vorlesens und die Problematik der ‚richtigen‘ Literacy-Förderung in der Familie 1 Einleitung Wie schon die in den 1990er Jahren durchgeführten deutschsprachigen Untersuchungen zur familialen Lesesozialisation und gleichermaßen übereinstimmend mit den grundlegenden Prinzipien der angelsächsischen emergent literacy-Forschung, betonen auch neuere, thematisch einschlägige empirische Studien die maßgebliche Bedeutung früher Literalitäts- und zugehöriger Interaktionserfahrungen für den (späteren) Bildungserfolg von Kindern (Leseman/ de Jong 2004; Leseman et. al. 2007). Stets aufs Neue richtet sich die Aufmerksamkeit dabei auch auf die in ethnographischen Studien (Heath 1982; 1983) gewonnene Einsicht, der gemäß eine bestimmte, vornehmlich in bildungsorientierten Familien zu beobachtende musterhafte Ausprägung von (Vorlese-)Gesprächen - so die routinehafte Gestaltung von Gesprächssequenzen schon mit dem kleinen Kind durch Aufruf, Frage, Bezeichnung, Rückmeldung - große Nähe zu den Mustern späterer Unterrichtskommunikation zeigt. In der Folge und unter Berücksichtigung auch anderer (syntaktischer und semantischer) Merkmale von Unterrichtssprache wird etwa deren Einbindung in vermeintlich bewährte Interaktionsroutinen empfohlen (van Kleeck/ Schwarz 2011), die es insbesondere mit Kindern aus bildungsfernen Familien und mit Kindern aus Einwandererfamilien bereits im Vorschulalter einzuüben gelte. In eine andere Richtung weisen thematisch einschlägige kultur- und sprachübergreifende Untersuchungen (Bus/ Leseman/ Keultjes 2000; Kuyumcu/ Senyıldiz 2011), die nachweisen, wie über die Bildungs- und Leseaffinität der Familien hinaus kulturelle Überzeugungen - u.a. bezüglich angemessener Formen der Eltern-Kind-Interaktion - in die Gestaltung von Vorlesesituationen miteinfließen, ebenso aber auch oralitäts- und literalitätsorientierte kulturelle Praktiken die frühe sprachlich-literarische Enkulturation des Kindes insgesamt prägen. Dieser Beitrag sucht eine kritische Auseinandersetzung insbesondere mit den aus einzelnen Untersuchungen abgeleiteten ‚Sprachfördermaßnahmen‘ (so durch van Kleeck/ Schwarz 2011) und tritt damit zugleich der Auffassung einer vermeintlich ‚richtigen‘ Literacy-Förderung entgegen. Er beruft sich dabei auf entsprechende Erkenntnisse der internationalen Kulturelle Differenzen des Vorlesens 111 Forschungsdiskussion (Anderson et al. 2003) wie auch auf die in einer eigenen empirischen Studie (Wieler et al. 2008) gewonnenen Beobachtungen zur familialen Lese- und Mediensozialisation mehrsprachiger Kinder. In diesem Zuge werden mögliche didaktische Perspektiven einer sprach-, kultur- und medienübergreifenden Förderung von Literacy-Fähigkeiten in Familie und Schule aufgezeigt. 2 Formate des Vorlesens und ihre unterschiedliche Ausprägung in verschiedenen sozialen Milieus Nahezu alle Vorlesestudien der 1990er Jahre (zur Übersicht vgl. Hurrelmann 2004) nehmen Bezug - wenn auch zum Teil in kritischer Erweiterung - auf Bruners (1987) Format-Theorie. Dieser zufolge ist es insbesondere die routinemäßige Gestaltung von Handlungssituationen durch kompetente Teilnehmer einer Sprachgemeinschaft, die als Unterstützungssystem für die Progression sprachlicher und metakognitiver Fähigkeiten des Kindes fungiert und den primären Spracherwerb als kulturellen Lernprozess ausweist. Die zyklische Struktur einer solchen Kommunikationssituation umfasst die stereotype Aufeinanderfolge von vier Äußerungstypen: „These are the ATTENTIONAL VOCATIVE: Look! , the QUERY: What’s that? , the LABEL: It’s an X, and the FEEDBACK UTTERANCE: Yes.” (Ninio/ Bruner 1978: 6). Als Beispiel führt Bruner (1987: 65f.) einen Protokollauszug zu einer Vorlesesituation mit Richard im Alter von I; I.I [1 Jahr; 1 Monat, 1 Tag] an: Mutter: Schau! (Aufruf) Kind: (berührt das Bild) Mutter: Was ist das? (Frage) Kind: („babbelt“ als Antwort und lächelt) Mutter: Ja, das sind Kaninchen. (Rückmeldung und Bezeichnung) Kind: (macht stimmliche Äußerungen, lächelt und schaut zur Mutter auf) Mutter: (lacht) Ja, Kaninchen. (Rückmeldung und Bezeichnung) Kind: (gibt wieder Laute von sich, lächelt) Mutter: Ja. (lacht) (Rückmeldung). Als Besonderheit dieser in einem mittelständischen Milieu beobachteten Interaktionsroutine wird stets wieder hervorgehoben, dass dabei selbst das noch nicht sprechende Kind genau demjenigen Interaktionsmuster begegnet, das zahlreichen Studien zur Unterrichtsforschung zufolge (Cazden 1988; Mehan 1979; Streeck 1979, 1983) Unterrichtsgespräche gewissermaßen ausmacht: Petra Wieler 112 Before the age of two, the child is socialized into the ‚initiation-reply- evaluation‘ sequences repeatedly described as the central structure of classroom lessons […]. (Heath 1982: 51; vgl. auch Anderson et al. 2003: 205) Ergänzend gilt die Aufmerksamkeit auch den Abweichungen von diesem Interaktionsmuster, die in anderen sozialen und/ oder kulturellen Milieus beobachtet wurden. Diese zeigten sich bereits in einer Untersuchung von Ninio (1980a, 1980b, 1983) in einem hebräischsprachigen Kontext mit Müttern asiatischer und nordafrikanischer Herkunft (und niedrigem sozioökonomischen Status), deren Interaktionsverhalten zwar dem aktuellen sprachlichen Entwicklungsstand des Kindes entsprach, sich aber nicht zukunftsorientiert steigerte - dies mit der Folge, dass die Kinder bereits mit 19 Monaten über einen geringeren aktiven Wortschatz verfügten als gleichaltrige Kinder aus Familien mit hohem sozioökonomischen Status. Ähnliche Beobachtungen dokumentiert eine ethnographische Studie von Miller/ Nemoianu/ De Jong (1986) zum frühen Vorlesen in einer ‚working class community‘. So bestanden die Merkmale der in diesem sozialen Kontext beobachteten Vorlesedialoge zwischen Müttern und ihren 24 bis 30 Monate alten Töchtern im weitgehenden Verzicht auf feedback utterances, ferner wurde neben der Frageform „What’s this/ that? “ auch die Aufforderung „Say X“ beobachtet. Schon die Unterschiedlichkeit der bislang skizzierten Befunde unterstreicht die Bedeutsamkeit der ethnographischen Perspektive der emergent literacy-Forschung, die es dem Forschenden erlaubt, diejenige Bedeutung von literacy events - so u.a. erster Situationen des picturebook reading - zu rekonstruieren, die sie für die involvierten Gesprächsteilnehmer hat: By ethnographic we mean descriptions that take into account the perspective of members of a social group, including the beliefs and values that underlie and organize their activities and utterances. An ethnographic perspective allows the researcher to find out the meaning of events for those who are involved in them. This entails investigating the contexts of the uses of literacy, the meaning of literacy, and the forms of literate communication as it is organized in and plays a role in organizing particular social interactions. (Schieffelin 1986: viii) Als wie unverzichtbar sich die Berücksichtigung auch der normativen Prämissen der Beteiligten erweist, belegt eine Studie von Heath (1982). Diese setzt die Beobachtung, dass Fantasiegeschichten von Kindern in einem bestimmten sozialen Milieu wenig Wertschätzung finden, in Beziehung zur dort vorherrschenden Auffassung der Erziehenden: „Any fictionalized account of a real event is viewed as a lie; reality is better than fiction“ (Heath 1982: 63). In ähnlicher Weise dürfte der in einer Studie zum familialen Vorlesen (Wieler 1997) in einzelnen Familien beobachtete durchgängige Kulturelle Differenzen des Vorlesens 113 Verzicht auf positive Bestärkungen der Äußerungen des Kindes in einem spezifischen Erziehungskonzept (womöglich der ‚Lebensertüchtigung‘) begründet sein; denn im Interview befragt, äußern sich die Erziehenden bei dieser Studie durchaus anerkennend zu besonderen Leistungen und Entwicklungsfortschritten ihres Kindes: „Also ich fang nicht an, sie dafür zu loben, aber ich finde es innerlich sehr schön, daß sie da bestimmte Dinge herausholen, die ich manchmal gar nicht sehe.“ (Wieler 1997: 194, Hervorh. i.O.). Überaus fraglich erscheint, ob entsprechende Erziehungsweisen, insbesondere die ihnen zugrundeliegenden Überzeugungen, zu verändern sind. Zu berücksichtigen ist ferner, dass es sich auch bei den in einem mittelständischen Milieu beobachteten Vorlesegesprächen und deren musterhafter Ausprägung vornehmlich um den Ausdruck einer ‚Lebensform‘ handelt, und zwar die eines schulbzw. bildungsorientierten Milieus, die keineswegs problemlos in eine Vorlesestrategie zu übertragen und allgemeinverbindlich zu empfehlen ist. Dies wirft ein kritisches Licht auf einzelne präventive, speziell für Vorschulklassen konzipierte Sprachfördermaßnahmen, die Teile dieser Vorleseroutine explizit thematisieren, um auf diese Weise Kinder aus bildungsfernen Familien oder Kinder mit Migrationshintergrund („nonmainstream cultural backgrounds“) auf ein Frage-Antwort-Muster vorzubereiten, wie es auch die Lehrer-Schüler-Interaktion in Unterrichtssituationen kennzeichnet (vgl. van Kleeck/ Schwarz 2011). Durchaus anknüpfend an die rekonstruktive Analyse der im vorliegenden Beitrag bislang skizzierten Dialogbeispiele und unter Verweis auf die Spezifika von Unterrichtssprache („academic talk“), so u.a. deren (syntaktische und semantische) Nähe zur Schriftsprache, kennzeichnen van Kleeck/ Schwarz (2011) Unterrichtssprache als ein von der üblichen alltagssprachlichen Verständigung gesondertes ‚Register‘ gesprochener Sprache, mit dessen Einbindung in spezifische Interaktionmuster und durch sog. „known information questions“ - auch „test questions“ (! ) genannt (van Kleeck/ Schwarz 2011: 36f.) - Kinder aus bildungsorientierten Familien häufig schon von früh an vertraut sind. Weitaus zurückhaltender einzuschätzen ist allerdings die von den Autorinnen daraus abgeleitete (präventive) Sprachfördermaßnahme: So wird dafür plädiert, bereits in „preschool classrooms“ (van Kleeck/ Schwarz 2011: 32) auf eine Differenzierung zwischen den beiden Registern „social and academic talk“ (van Kleeck/ Schwarz 2011: 36) hinzuarbeiten, und zwar anhand von „building knowledge questions“ (van Kleeck/ Schwarz 2011: 37f.), die Kinder in Vorlese- und Erzählsituationen zur Versprachlichung ihrer Überlegungen, zugleich aber auch zum Vergleich bzw. zur Verallgemeinerung ihrer persönlichen Erfahrungen und Eindrücke in Richtung ‚allgemein verbindlichen theoretischen Wissens‘ auffordern; vgl. dazu die folgende für den Vorschulunterricht ‚empfohlene‘ Dialogsequenz: Petra Wieler 114 Because we are in school, I’m going to ask you and the other children questions I already know the answer to. If you know the answer, I want you to raise your hand, and tell me the answer. In school, tell me answers I already know so I can see if you know the answer. That helps me know if I’m doing a good job teaching you. If you don’t know the answer, that’s okay, too. Maybe another child or I will give the answer. (van Kleeck/ Schwarz 2011: 34) Konkret auf die gemeinsame Bilderbuch-Rezeption bezogen wird den Erzieherinnen folgendes Frage-Antwort-Muster nahegelegt: For example, looking at the cover […], the teacher might ask, “What colour is the bear? ” If one child correctly answered and said, “Brown”, the teacher then might say, “That’s right, the bear is brown. And I like the way you answered my question, even though you probably thought I already knew the bear was brown. That’s how we talk in school. (van Kleeck/ Schwarz 2011: 35) Deutliche Skepsis gegenüber didaktischen Empfehlungen dieser Art scheint angebracht, zumal die einschlägige empirische Forschung keinerlei Anhaltspunkte dafür bietet, dass die ‚explizite‘ Thematisierung der Anforderungen von Unterrichtssprache den Erwerb des entsprechenden sprachlichen Registers durch Kinder befördert. Als wenig hilfreich, u. U. sogar kontraproduktiv, dürften sich somit auch die zur Veranschaulichung angeführten „fiktiven“ (! ) Dialogbeispiele erweisen, deren situationsabstraktes Niveau die sprachlichen und meta-kognitiven Fähigkeiten von Kindern im Vorschulalter erheblich zu überschreiten droht. Gegen eine mögliche Modellfunktion der vorgeschlagenen Sprachförderstrategie spricht ferner, dass die sprachlichen Sozialisationsbedingungen der in der Untersuchung durch von van Kleeck und Schwarz fokussierten (nonmainstream) „Latino immigrant“ und „African American children“ nicht ohne weiteres mit denen von Kindern aus Sprachminderheiten und bildungsfernen Milieus in europäischen Staaten vergleichbar sind. Das vorgestellte Konzept unterstellt jedoch die Verallgemeinerbarkeit, somit auch Übertragbarkeit und nicht zuletzt die generelle Effektivität einer singulären Sprachförderstrategie - dies in deutlichem Widerspruch zu aktuellen Forschungseinsichten, denen zufolge Fördermaßnahmen für den Sprach- und (! ) Literacy-Erwerb von Vorschulkindern möglichst vielfältig auszurichten sind und grundsätzlich einer spezifischen Abstimmung auf den jeweiligen Adressatenkreis bedürfen. Die zuletzt genannte Auffassung bestätigen auch vergleichende sprach- und kulturübergreifende Untersuchungen, denen zufolge über das Bildungsniveau der Erziehenden und ihre Vertrautheit mit Büchern hinaus kulturelle Überzeugungen - so u.a. bezüglich ‚angemessener‘, teils auch deutlich restriktiver und disziplinorientierter Formen der Eltern-Kind-Inter- Kulturelle Differenzen des Vorlesens 115 aktion - die Gestaltung von Vorlesesituationen maßgeblich beeinflussen. So etwa stellen Bus/ Leseman/ Keultjes (2000) in einer Studie fest, dass die von ihnen in surinamisch-niederländischen, türkisch-niederländischen und einsprachig niederländischen Familien beobachteten Vorlesesituationen ein sehr unterschiedlich ausgeprägtes kognitiv-sprachliches Förderpotenzial aufwiesen, dies einschließlich der dabei vorgenommenen Anregungen von bedeutungskonstituierenden Gesprächen zur Vertiefung des Verstehens und Vergnügens bei der gemeinsamen Bilderbuch-Rezeption. In der Schlussfolgerung der Studie heißt es: In line with previous research, this study confirms that storybook reading may not hold a monopoly on the socialization of early literacy, even at the level of a simple children’s book […]. […] The present results question whether the provision of books to families and the encouragement to read together actually produce meaningful conversations around text in homes and cultures in which reading is not intrinsically embedded in daily activities […]. (Bus/ Leseman/ Keultjes 2000: 73) In eine ähnliche Richtung weisen die Beobachtungen von Kuyumcu/ Senyıldiz (2011), die aufgrund der unterschiedlichen Ergebnisse ihrer (jeweiligen) qualitativen Studien zu den familialen Literalitätserfahrungen in Deutschland lebender türkisch- und russischsprachiger Kindergartenkinder (vgl. auch Kuyumcu 2014; Senyıldiz 2010) darauf aufmerksam machen, dass unterschiedliche Sprach- und Bildungspraktiken, die Vorschulkinder mit Migrationshintergrund im häuslichen Umfeld erfahren, maßgeblich auch von den Herkunftskulturen der Familien beeinflusst werden. Während Literalität in der russischen Kultur hoch angesehen sei, (Mittelschicht- )Kinder von ihren Eltern noch vor der Einschulung alphabetisiert würden, spielten in der oral geprägten türkischen Kultur Kompetenzen in der gesprochenen Sprache eine wesentlich größere Rolle, würden Geschichten und Märchen auch in der Familie eher erzählt als vorgelesen. Sehr dezidiert treten die beiden Autorinnen in ihrer vergleichenden Studie normativen Erwartungen bezüglich des ‚richtigen Wegs‘ zur Literacy-Förderung entgegen (vgl. Kuyumcu/ Senyıldiz 2011: 111). Grundlegender noch weisen Anderson et al. (2003) in ihrer Übersicht zur einschlägigen internationalen Forschung mehrerer Jahrzehnte die Unterstellung zurück, speziell das dialogische oder interaktive Vorlesen von Geschichten für Kinder sei kulturübergreifend konstitutiver Bestandteil familialer Alltagspraxis. One sometimes gets the impression from the literature that bedtime storybook reading is a natural event in families’ lives. Furthermore, the im- Petra Wieler 116 plication seems to be that families who don’t ‘naturally‘ read with their children can be taught to do so with relative ease. (Anderson et al. 2003: 212) So wie das kanadische Forscherteam vor einer allzu leichtgläubigen Auffassung warnt, eine entsprechende Vorlesepraxis ließe sich problemlos auch in Milieus mit einer anderen kulturellen Orientierung/ Tradition integrieren, stellt es zugleich die ihr zuerkannte Rolle (gewissermaßen) als ‚Königsweg‘ einer gelingenden Literacy-Erziehung in Frage. […] ”in all cultures, caregivers find effective ways to teach children to make sense of their world and communicate with others” […]. There is no reason why this principle should not hold for storybook reading. […] we see a real possibility that imposing storybook reading on parents and children might do more harm than good, and indeed might cause many children to disengage from reading. (Anderson et al. 2003: 225) Zugleich ist allerdings zu berücksichtigen, dass der Erwerb der Fähigkeit zu dekontextualisierter (situationsabstrakter) Sprachverwendung - sei es in Kontexten des gemeinsamen (genre-übergreifenden) book reading, ebenso wie beim Erzählen und Anhören von (fiktionalen) Geschichten oder auch in anderen themenspezifisch ausgerichteten Eltern-Kind-Gesprächen - allen einschlägigen Studien zufolge zu den zentralen Voraussetzungen eines erfolgreichen Literacy-Erwerbs im Primarschulbereich zählt (u.a. Leseman et al. 2007; Wells 1985) und damit maßgeblich über den Bildungserfolg von Kindern mitentscheidet (zur Übersicht über auch unterschiedliche Auslegungen des Literacy-Konzepts vgl. Wieler 2013). Vor diesem Hintergrund sollen im Folgenden anhand einer qualitativen Untersuchung zur familialen Medienrezeption ausgewählte - insgesamt durchaus geeignet erscheinende - Eigeninitiativen mehrsprachiger Familien aufgezeigt werden, die Sprach- und Literacy-Förderung ihrer Kinder zu unterstützen. 3 Zur Sprach- und Literacy-Förderung mehrsprachiger Kinder im Kontext familialer Medienrezeption Die vorgestellte Interventionsstudie untersucht Gespräche und Erzählungen zur Medienrezeption von siebenbis achtjährigen Grundschulkindern in schulischen und familialen Kontexten (Wieler et al. 2008). Über einen Zeitraum von mehreren Wochen wurde den Familien ein Medienpaket mit aktuellen Kinder-/ Bilderbüchern, Videofilmen und Kinderliteratur-Adaptionen auf CD-ROM zur Verfügung gestellt. Als Datengrundlage der Untersuchung dienen (jeweils transkribierte) leitfadengestützte Interviews, wie sie sowohl mit den Eltern als auch mit den Kindern geführt wurden, ferner Interaktionsdokumente zur Medienrezeption in den Familien. Bei deren Erhebung und rekonstruktiven Analyse zeigte sich - zunächst eher Kulturelle Differenzen des Vorlesens 117 unerwartet - bezogen auf die (Teilgruppe der) ‚Familien mit Migrationshintergrund‘, dass diese dem Umgang mit Medien eine maßgebliche Rolle bezüglich der Sprachförderung der Kinder zuschreiben (vgl. Wieler 2007). Zur Veranschaulichung vorgestellt werden ausgewählte Fallbeispiele zur familialen Medienrezeption von zwei im schulischen Kontext durch die Klassenlehrerin als ‚leistungsstark‘ beurteilten mehrsprachigen Grundschülerinnen. „Ich lies das fast ein halbes Jahr schon“ - Kalina 1 - (8; 7 J.) Bruder Marcin 11; 6 J.; Vater: Taxifahrer; Mutter: Arzthelferin (ausgebildete Hebamme) Kalinas Eltern stammen aus Polen, Kalina und ihr Bruder sind in Deutschland geboren und wachsen mit beiden Sprachen auf. Vermutlich im Bewusstsein der Dominanz der Umgebungssprache fördern die Eltern innerhalb der Familie vor allem ihre Herkunftssprache Polnisch, dies u.a. durch eine intensive zweisprachige Medienpraxis. Im gesamten Interview sind Bücher ein bedeutendes Thema. Konsequent hält die Mutter die Kinder an, Bücher in beiden Sprachen zu lesen. Die Meinung des älteren Bruders zu dieser Praxis geht recht eindeutig aus Kalinas Kommentar „Mein Bruder würde sein Leben riskieren, um nicht zu lesen“ hervor. Bei dem Besuch der Interviewerin merkt der Bruder an, dass seine Mutter ihm die polnische Version des Robinson Crusoe „aufgezwungen“ habe. Sowohl polnischals auch deutschsprachige Bücher leihen Mutter und Tochter in der öffentlichen Bibliothek aus. Dass aber insbesondere das Lesen in der polnischen Sprache noch sehr mühsam für Kalina ist, geht aus dem Kinder-Interview hervor, bei dem Kalina sich mit ihrem älteren Bruder vergleicht: Ja, er liest besser auf Polnisch als ich. Und überhaupt, er hat schon so ein großes Buch, so ein kleines, so wie Dzieci z Bullerbü [polnische Übers. von Wir Kinder aus Bullerbü] schon durchgelesen. Und ich bin erst auf der … hundertfünfundvierzig Seite. [I: Das ist auch schon viel.] Nein, ich lies das fast ein halbes Jahr schon. Neben Büchern werden auch andere Medien in dieser Familie gezielt zur Sprachförderung genutzt. Die Aufmerksamkeit der Mutter gilt jedoch in erster Linie der Lesepraxis der Kinder. Dies ist auch Kalina durchaus bewusst: Also, meine Mutter findet’s schön, wenn ich ganz viel lese. Dann freut sie sich. Beim Computer auch. Na ja, nicht so viel. Und beim Fernsehen, ehm, nicht so. Trotz der recht forcierten Sprach-/ Leseförderungsbemühungen der Mutter 1 Die Namen der Kinder wurden anonymisiert. Petra Wieler 118 scheint in Kalinas Perspektive die Qualität der Gespräche über ihre Leseerfahrungen zu überwiegen. Nachvollziehbar wird dies anhand des folgenden Interaktionsdokuments - es geht um eine Begriffsklärung zur Geschichte Ein Feuerwerk für den Fuchs (1987) aus der Reihe von Pettersson und Findus. Kalina [...] der hat hier so Draht aus so Beine und so Kopf (gemacht) der hatte aus einem/ die gro/ von der großen Gans/ äh Gans, was sag ich! ... [flüsternd] ( ) Mutter Wie heißt das auf Deutsch? Kalina Huhn, also Hahn, ganz viel Federn genommen und <( ) Mutter <[laut] Huhn oder Hahn, na entscheide dich! Kalina Hahn [lacht]. Und dann hat ... <( ) Mutter <[sehr laut] Huhn oder Hahn? Kalina Hahn. ... Huhn Hahn! Mutter [lacht] [lachend] Na enscheide dich! Kalina [lachend] Hahn. ... Eh Huhn! Mutter [lacht] Kalina [fällt ins Lachen ein] [lachend] Huhn. ... Dann hat der so aus Draht so Kopf und Beine gemacht, dann hat von der größten ... Haaaahn Mutter <Huuuhn! [lacht] Die zunächst rigide anmutende Forderung der Mutter nach einer eindeutigen Bezeichnung für ein Tier der Bilderbuchgeschichte (laut Text geht es um eine „Henne“) wird im Verlauf des Gesprächs zu einem spielerisch belustigenden Wettbewerb, der sich in gemeinsamem Lachen auflöst, aus dem heraus Kalina die Geschichte des Buches dann wiederum weitererzählt. „Dann fällt ihr wohl Deutsch leichter“ - Vater von Ayse Ayse 9; 4 J.; Bruder Ismet 15; 0 J.; Vater: Kameramann; Mutter: Hausfrau Ayses Eltern sind aus der Türkei nach Deutschland migriert. Ursprünglich ist Türkisch die Familiensprache (auch das Interview wird auf Türkisch geführt), unter den Geschwistern hat sich jedoch Deutsch als Alltagssprache etabliert - letzteres vermutlich durchaus im Sinne der Eltern. Diese erkennen Deutsch als Ayses dominante Sprache an. Ayses Präferenz für die deutsche Sprache verbindet bzw. erklärt der Vater mit der Literalisierung in der (deutschsprachigen) Schule: „das Lesen und Schreiben lernt das Kind ja auf Deutsch. […] Und das fällt ihm dann im ganzen weiteren Leben/ ehm, das Deutsche fällt einem dann leichter“. Er schildert dazu die folgende Beobachtung: Ich habe mal bei Ayse darauf geachtet. Also, sie erzählte ihren Spielpuppen immer Märchen, und das tat sie auf Deutsch. […] Auf Türkisch erzählte sie die nicht. Also, überleg mal! Wenn das Kind aus der eigenen Fantasie etwas erzählt und es auf Deutsch erzählt, dann fällt ihr wohl Kulturelle Differenzen des Vorlesens 119 Deutsch leichter. Deshalb sollte man sie auch nicht zu sehr zum Türkischen drängen. Ebenso wenig forciert wird auch die Literalisierung im Türkischen verfolgt. Die Eltern bieten der Tochter zwar vereinzelt auch türkischsprachige Bücher an, akzeptieren zugleich aber auch deren Zurückhaltung. „Türkische Bücher hat sie nicht so viel gelesen“ (Vater). Die Mutter erklärt dies damit, dass „sie ja Türkisch nicht so gut versteht“. Auch wenn in dieser Familie eher nicht oder wenig vorgelesen wird, die Tochter vielmehr (bereits) selbständig liest oder Hörmedien rezipiert, spielen Geschichten eine bedeutende Rolle im Familienalltag und in der familialen Kommunikation: „Abends, wenn sie schlafen geht, hört sie sich Geschichten an oder liest ein Buch“ (Mutter). Ähnlich wie bei Kalina sind die Bibliotheksbesuche in Ayses Familie regelmäßige Besuche einer großen Buchhandlung mit „Sitzgelegenheit[en]“ gemeinschaftsstiftend. Dort werde „stundenlang“ gestöbert und außerdem sei „der Eisladen auch gleich an der Ecke“ (Vater). Ausgangspunkt bei der Buchauswahl ist vor allem das Interesse des Kindes: „Und ich frage mich halt, was sie interessieren könnte“ (Vater). Trotz ihrer gelassenen Haltung vertreten die Eltern - womöglich bestärkt durch die entsprechenden Leseförderungsinitiativen der Grundschule - ein dezidiertes Medienerziehungskonzept, das vor allem Büchern eine fördernde Wirkung zuschreibt. Das Fernsehen hingegen genießt weniger Ansehen. Dies ist auch Ayse bewusst: „Sie [die Mutter] findet’s schlecht, dass ich immer ganz viel fernseh gucke. […] Aber sie finden gut, dass ich lese“ (Ayse). Gespräche über Bücher scheinen zur alltäglichen Praxis zu gehören; dies veranschaulicht die eingespielte Interaktion von Vater und Tochter, wie sie auch das folgende im Rahmen der vorgestellten Studie erhobene Gespräch zur familialen Medienrezeption dokumentieren: Vater Kannst du mir kurz erklären, was in diesem Buch … Ayse passiert ist? Vater Ja. Ayse [holt aus] Also, Gustavsson und Findus die haben Hühner… und da kommt immer in der Nacht die Fuchs und klaut welche. Wenngleich die Deutschkenntnisse des Vaters (dem Interview zufolge) geringer als die der Tochter sind, so ist doch er es, der ihrer Erzählung durch Zwischenfragen ein „Gerüst“ verleiht, das diese kohärent und verständlich werden lässt. Dennoch wirkt das Gespräch nicht verschult, vielmehr scheint der Vater tatsächlich an der Geschichte und ihrem Verständnis interessiert zu sein. Petra Wieler 120 Ayse Ja, eh, ich weiß, ich hab ( ) guck. Einmal ist Gustavsson gekommen, Petterssons Nachbar und hat gesagt: In dieser Nacht kommt wieder der Fuchs. Vater [bestätigend] Hm. Ayse Und da hat Pettersson gesagt: Ich möchte mir jetzt was überlegen, dass die/ der Fuchs die Hühner heute nicht wieder schnappt. Vater Die Hühner lebt/ gibt es keine Hühnernest? Die Hühner lebt auf (dem) Freien? Ayse Nein, im Stall. Vater Im Stall Hühnerstall oder Hühnernest? Ayse Ja, Hühnerstall. Vater Wie kannst du im Stall reingehen? Ayse [ungeduldig] Äh, da ist ja eine Tür. Vater Und wie ( ) der Fuchs kann die Tür aufmachen? Ayse Nein, da gibt’s einen Zaun/ / Vater Zaun. Ach so die Fuchs sp/ Fuchs springt <über den Zaun. Ayse < Und ein Haus. Und ein Haus, ein ganz großes Haus aus Holz. Vater Ja. Ein ganz kleine Haus, Hüttenhaus. Ayse Ja eine Hütte. Vater Ja. Ayse Und dann hat sich Pettersson einfallen lassen, er hat in einen Ballon Pfeffer reingemacht/ / Zur Fernseh-Rezeption der Familie gibt der Vater an: „Was wir mit Ayse zusammen gucken, sind meistens türkische Serien“. Dabei treten offenbar auch Verstehensschwierigkeiten auf: „Zum Beispiel halt … da wird ein Witz erzählt […] Sie kann darüber nicht lachen. Sie kann es nicht verstehen. Dann wird sie unzufrieden“. Mit explizitem Bezug auf Ayses Interessen werden auch deutsche Serien genannt, die die Familie zusammen anschaut: „Und wir sehen uns von den Serien, die Ayse mag, Heidi, zusammen an“ (Mutter). Die Interaktionen bei der gemeinsamen Beschäftigung mit narrativen Computerspielen - ebenso wie andere Interaktionen im Alltag - finden im Gegensatz zur buchbezogenen Anschlusskommunikation in Teilen auch zweisprachig statt, d.h. der Vater wechselt gelegentlich ins Türkische. Vater und Tochter zeigen bei dieser Beschäftigung übereinstimmend großes Engagement und „geteilte“ Spielbegeisterung. Dabei scheint das Gespräch für den Vater - unabhängig von der Sprachwahl - von zentraler Bedeutung zu sein: „Also sie bringt mir bei, wie das gespielt wird. Also, ich frage dann: ‚Wie geht das? Wo hast du das gefunden? ‘ Und so in der Art halt“. Diese fragende Haltung der Eltern und die rahmende Einbindung der Rezeption in Gespräche sind für die Medienpraxis in dieser Familie insgesamt kennzeichnend. Allein die beiden ausgewählten Fallbeispiele veranschaulichen, als wie eng verknüpft die Medienrezeption und die sprachliche Enkulturation der Kin- Kulturelle Differenzen des Vorlesens 121 der von Familien mit Zuwanderergeschichte aufgefasst werden. Auch die anderen (ingesamt sieben) an der entsprechenden Studie (Wieler et al. 2008) beteiligten mehrsprachigen Familien nutzen Medien, um die Sprachentwicklung ihrer Kinder zu unterstützen; zugleich aber treten unterschiedlich wirksame Ausprägungen der Sprachförderung hervor. So etwa ist in einigen Familien die Herkunftssprache unverzichtbar für die Kommunikation der Familienmitglieder, kommt deren Pflege eher einer Notlösung gleich. Demgegenüber findet in anderen - so etwa in Kalinas Familie - eine zielorientierte Förderung von Erst- und Zweitspracherwerb statt (einschließlich der Literalisierung in beiden Sprachen). Als eine weitere Ausprägung ließe sich die in Ayses Familie beobachtete konzeptionelle Förderung von Erst- und Zweitspracherwerb (einschließlich der Begegnung mit Schriftkultur in beiden Sprachen) charakterisieren; dabei erfolgt die Sprachförderung grundsätzlich orientiert an den entwicklungsspezifischen Bedürfnissen des Kindes und gemäß geteilter Interessen. Der möglichen Favorisierung eines der skizzierten Sprachförderungskonzepte steht entgegen, dass die von den Eltern vertretenen Erziehungskonzepte hinsichtlich des Zusammenhangs von Medienrezeption und Sprachförderung, die Einschätzungen der Kinder und die realen Praktiken der familialen Medienrezeption in einer je spezifischen Art von Wechselspiel miteinander korrespondieren. Überprüft man in diesem Sinne etwa die jeweilige (oben wiedergegebene) medienbezogene Anschlusskommunikation in den Familien daraufhin, inwieweit es den Erziehenden gelingt, die Eltern-Kind-Interaktion als symmetrische Kommunikationsbeziehung zu gestalten, so bieten die in Ayses Familie geführten Mediengespräche deutlich ausgeprägte Anhaltspunkte, mutet aber auch die Qualität des (durchaus vergnüglichen) buchorientierten Mutter-Kind-Gesprächs in Kalinas Familie weitaus viel versprechender an als das eher allzu forcierte Sprachförderungskonzept von Kalinas Mutter. Von entscheidender Bedeutung dürfte nicht zuletzt sein, inwieweit es den Erziehenden gelingt, ihre Kinder auch bei Prozessen der Medienrezeption und -verarbeitung als Subjekte des Lernprozesses ernst zu nehmen - und zwar sowohl auf dem Weg zu einem auch selbstbestimmten Sprach- und Literacy-Erwerb als auch bei der Ausbildung einer eigenen (möglicherweise von der der Eltern unterschiedenen) kulturellen Identität. Zu entsprechenden Schlüssen berechtigen die beiden folgenden Kommentare aus einem Interview mit dem Vater von Ayse durchaus: „Und wir versuchen eben über diese Dinge, die Ayse interessieren, die sie halt mag, ihr diese Lesegewohnheit zu vermitteln.“ „Es bringt sie weiter, dass sie zur Bücherei geht, zum Schwimmen geht, also unter Leute.“ Petra Wieler 122 4 Ausblick Einmal mehr bestätigen die in diesem Beitrag vorgestellten Studien zur frühen sprachlichen Enkulturation und Literacy-Erziehung von Kindern mit und ohne Migrationshintergrund den maßgeblichen Einfluss „elterliche[r] Vorstellungen darüber, welche Bedingungen für eine positive kindliche Sprachentwicklung von Vorteil sind und welche Funktion dabei Vorlesesituationen haben” (Müller 2013: 235); speziell in mehrsprachigen Familien treten dabei „Sprachentscheidungen der Eltern, die den Umgang mit verschiedenen Sprachen im Alltag betreffen und durch die eigene Sprachbiografie motiviert sind” (Müller 2013: 235), hinzu. Allein die in den Untersuchungen stets wieder hervortretende Bedeutsamkeit der (kaum beeinflussbaren) ‚normativen Prämissen‘ elterlicher Spracherziehung (Heath 1982), zugleich aber auch die Vielzahl der von Erziehenden wahrgenommenen Gelegenheiten zu einer sprach-, kultur- und medienübergreifenden Umsetzung ihrer (Sprach-)Förderungsabsichten (Wieler et al. 2008) verweisen auf die engen Grenzen allzu einsinnig ausgerichteter Empfehlungen zur Literacy-Förderung von Kindern im Vor- und Grundschulalter. Dies gilt für die dirigistisch anmutende Einübung unterrichtsnaher Formate von Vorlesegesprächen ohnehin, stellt angesichts der Sprach- und Bildungspraktiken, wie sie mehrsprachige Kinder u.a. aufgrund der oral geprägten Herkunftskultur ihrer Familien erfahren, aber auch die zuweilen ausschließlich dem Vorlesen (von Geschichten) zuerkannte Bedeutung für eine erfolgreiche Literacy-Förderung in Frage. Viel eher sollte es wohl darum gehen, auch die Erziehenden selbst von der Unverzichtbarkeit ihrer Unterstützung bei der Förderung des Literacy-Erwerbs ihrer Kinder zu überzeugen und auf die Vielzahl entsprechender Möglichkeiten aufmerksam zu machen. Schon bei Vierjährigen bewährt haben sich in dieser Hinsicht ein inhaltlich möglichst breites Spektrum an Kinderbuchangeboten, „narrative books, picture books and information books” (Leseman et al. 2007: 340), zugleich aber auch ein kontinuierliches Angebot an Gesprächsgelegenheiten, die anhand situationsabstrakter Themen zu effektivem Sprachgebrauch (und zum Sprachlernen) motivieren, nämlich „talking with the child about personal experiences, memories and stories, and about topics of general interest” (Lesemann et al. 2007: 340). Insbesondere für den Grundschulunterricht ergibt sich vor dem Hintergrund der vorgestellten Untersuchungen die Aufgabe, an ein (zuweilen) überaus heterogenes Spektrum vor- und außerschulischer Sprach- und Literacy-Erfahrungen anzuknüpfen. Bereits vorliegende „Erkenntnisse zum Zusammenspiel früher literarischer Erfahrungen und der Herausbildung narrativer sowie schriftsprachlicher Kompetenzen verschiedener Art” (Gressnich 2014: 150, vgl. auch Müller 2012) legen auch in der Grundschule vielfältige Begegnungen mit ein- und mehrsprachigen Bilderbüchern nahe, Kulturelle Differenzen des Vorlesens 123 darunter auch Geschichten märchenhafter Art (Sinemus/ Strozyk 2013), die aufgrund ihrer Motivähnlichkeit auch mehrsprachigen Kindern Wiedererkennungsmöglichkeiten erlauben. Weitere Perspektiven, die Anleitung zu konzeptioneller Schriftlichkeit mit der Aktualisierung narrativer Muster zu vermitteln, die Kindern auch aus anderen (z.B. Hör-)Medien bekannt sind, und dabei zugleich implizite Lernprozesse anzustoßen (Hüttis-Graff 2008, 2011), eröffnen aktuelle didaktische Studien zum ‚Diktierenden Schreiben‘ (Merklinger 2011), ebenso wie zum (vermeintlichen) Vorlesen von Geschichten durch Kinder im Vorschulalter (Purcell-Gates 2001). Nicht selten dokumentieren die dabei entstehenden Erzähltexte ausgeprägtes sprachliches Engagement auf Seiten der Kinder, so u.a. ihr Bemühen um Formulierungen auf gehobenem Sprachniveau. Entsprechende sprachliche Bemühungen treten vor allem bei der Produktion und Rezeption von Geschichten sowie in Gesprächen und schriftlichen Texten hervor, in denen die Kinder Eindrücken und Erfahrungen von subjektiv hoher emotionaler und kognitiver Qualität Ausdruck zu verleihen suchen. Wenn die Notwendigkeit hervorgehoben wird, auch Sprache selbst verstärkt zum „Gegenstand der Aufmerksamkeit” (Dehn 2011: 129) werden zu lassen, dann ist die Realisierung dieses Anliegens bezogen auf die didaktische Konzeptualisierung von Unterrichtssituationen offenbar in entscheidender Weise von der Bedeutsamkeit der erörterten Inhalte in der Perspektive der Kinder abhängig. Nicht zuletzt diese Einsicht gilt es auch mit Blick auf die Literacy-Erziehung von Vorschulkindern sehr viel eingehender zu berücksichtigen, als es insbesondere präventive Sprachfördermaßnahmen (wie die oben dargestellten) bislang verheißen. In der Schule bedarf es darüber hinaus aber auch eines breiten Spektrums musterhafter Sprachangebote und Gesprächskonstellationen, die unterschiedliche Niveaus der sprachlichen Dekontextualisierung zur Anschauung bringen und an denen sich die Kinder auf dem Weg zur ihren Textproduktionen orientieren können. Literatur Anderson, J.; Anderson, A.; Lynch, J. & Shapiro, J. (2003): Storybook Reading in a Multicultural Society: Critical perspectives. In: Kleeck, A. van; Stahl, S.A. & Bauer, E.B. (Hgg.): On Reading Books to Children. Parents and Teachers. Mahwah/ NJ: Mallory International, 203-230. Bruner, J.S. (1987): Wie das Kind sprechen lernt. (Engl. Orig. (1983): Child’s Talk: Learning to use Language.) Bern: Huber. Bus, A.G.; Leseman, P.M. & Keultjes, P. (2000): Joint Book Reading across Cultures: a Comparison of Suriname-Dutch, Turkish, and Dutch Parent-Child Dyads. In: Journal of Literacy Research 32, 53-76. Cazden, C. (1988): Classroom discourse: The language of teaching and learning. Portsmouth: Heinemann. Petra Wieler 124 Dehn, M. (2011): Elementare Schriftkultur und Bildungssprache. In: Fürstenau, S. & Gomolla, M. (Hgg.): Migration und schulischer Wandel: Mehrsprachigkeit. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, 129-151. Gressnich, E. (2014): Bilderbücher im Erstleseunterricht. In: Knopf, J. & Abraham, U. (Hgg.): BilderBücher. Bd. 1. Theorie. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 148-156. Heath, S.B. (1982): What no bedtime story means: narrative skills at home and at school. In: Language in Society 11, 49-76. Heath, S.B. (1983): Ways with words. Language, life and work in communities and classrooms. Cambridge/ MA: Harvard University Press. Hüttis-Graff, P. (2008): Vom Hören zum Lesen. Literarisches Lernen mit Lese-Hör- Kisten. In: Wieler, P. (Hg.): Medien als Erzählanlass. Wie lernen Kinder im Umgang mit alten und neuen Medien? Freiburg i.B.: Fillibach, 105-123. Hüttis-Graff, P. (2011): Implizites Lernen in frühen Bildungseinrichtungen. Vorschulkinder schreiben für den Löwen. In: Hüttis-Graff, P. & Wieler, P. (Hgg.): Übergänge zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Vor- und Grundschulalter. Freiburg i.B.: Fillibach, 249-272. Hurrelmann, B. (2004): Informelle Sozialisationsinstanz Familie. In: Groeben, N. & Hurrelmann, B. (Hgg.): Lesesozialisation in der Mediengesellschaft. Ein Forschungsüberblick. Weinheim: Juventa, 169-201. Kleeck, A. van & Schwarz, A. L. (2011): Making “academic talk” explicit: Research directions for fostering classroom discourse skills in children from nonmainstream cultures. In: Schweizerische Zeitschrift für Bildungswissenschaften 33, 29-45. Kuyumcu, R. (2014): Sprach(en)entwicklung und Sprachreflexion. Drei Fallstudien zu zweisprachig aufwachsenden Vorschulkindern mit Erstsprache Türkisch und Zweitsprache Deutsch. Tübingen: Stauffenburg. Kuyumcu, R. & Senyıldiz, A. (2011): Familiale Literalitätserfahrungen türkisch- und russischsprachiger Kindergartenkinder. In: Schweizerische Zeitschrift für Bildungswissenschaften 33, 109-123. Leseman, P.M. & Jong, P.F. de (2004): Förderung von Sprache und Präliteralität in Familie und (Vor-)Schule. In: Faust, G.; Götz, M. & Hacker, H. (Hgg.): Anschlussfähige Bildungsprozesse im Elementar- und Primarbereich. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, 168-189. Leseman, P.P.M.; Scheele, A.F.; Mayo, A.Y. & Messer, M.H. (2007): Home literacy as a special language environment to prepare children for school. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 10, 334-355. Mehan, H. (1979): Learning Lessons. Social Organization in the Classroom. Cambridge/ MA: Harvard University Press. Merklinger, D. (2011): Frühe Zugänge zu Schriftlichkeit. Eine explorative Studie zum Diktieren. Freiburg im Breisgau: Fillibach. Miller, P.; Nemoianu, A.; De Jong, J. (1986): Early Reading at Home: Its Practice and Meanings in a Working-Class Community. In: Schieffelin, B.B. & Gilmore, P. (Hgg.): The Acquisition of Literacy: Ethographic Perspectives. Norwood/ NJ: Ablex, 3-15. Müller, C. (2012): Kindliche Erzählfähigkeiten und (schrift-)sprachsozialisatorische Einflüsse in der Familie: eine longitudinale Einzelfallstudie mit ein- und mehrsprachigen (Vor-)Schulkindern. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. Kulturelle Differenzen des Vorlesens 125 Müller, C. (2013): „Ich lese Anfang, dann sie erzählt“ - Familiales Sprachlernen und seine Bedeutung für die Entwicklung kindlicher Erzählfähigkeiten in der Zweitsprache. In: Becker, T. & Wieler, P. (Hgg.): Erzählforschung und Erzähldidaktik heute. Entwicklungslinien, Konzepte, Perspektiven. Tübingen: Stauffenburg, 233-254. Ninio, A. (1980a): Ostensive definition in vocabulary teaching. In: Journal of Child Language 7, 565-573. Ninio, A. (1980b): Picture-book reading in mother-infant dyads in two sub-groups in Israel. In: Child Development 51, 587-590. Ninio, A. (1983): Joint picture-book reading as a multiple vocabulary acquisition device. In: Developmental Psychology 19, 445-451. Ninio, A. & Bruner, J. (1978): The achievement and antecedents of labelling. In: Journal of Child Language 5, 5-15. Purcell-Gates, V. (2001): Emergent Literacy Is Emerging Knowledge of Written, Not Oral, Language. In: New Directions for Child and Adolescent Development (92). New York: Wiley Periodicals, 7-22. Schieffelin, B.B. (1986): Introduction. In: Schieffelin, B.B. & Gilmore, P. (Hg.): The Acquisition of Literacy: Ethnographic Perspectives. Norwood/ NJ: Ablex, viii-xiii. Senyıldiz, A. (2010): Wenn Kinder mit Eltern gemeinsam Deutsch lernen. Soziokulturell orientierte Fallstudien zur Entwicklung erst- und zweitsprachlicher Kompetenzen bei russischsprachigen Vorschulkindern. Tübingen: Stauffenburg. Sinemus, A. & Strozyk, K. (2013): Bilderbücher im integrativen Unterricht. In: kjl&m 65, 49-56. Streeck, J. (1979): Sandwich. Good for you. Zur pragmatischen und konversationellen Analyse von Bewertungen im institutionellen Diskurs der Schule. In: Dittmann, J. (Hg.): Arbeiten zur Konversationsanalyse. Tübingen: Niemeyer, 235-257. Streeck, J. (1983): Lernerwelten. Kinderwelten. Zur vergleichenden Ethnographie von Lernkommunikation innerhalb und außerhalb der Schule. In: Ehlich, K. & Rehbein, J. (Hgg.): Kommunikation in Schule und Hochschule. Tübingen: Narr, 203-214. Wells, G. (1985): Preschool literacy-related activities and success in school. In: Olson, D.R.; Torrance, N. & Hildyard, A. (Hgg.): Literacy, language and Learning: The nature and consequences of reading and writing. Cambridge UK: Cambridge University Press, 229-255. Wieler, P. (1997): Vorlesen in der Familie. Fallstudien zur literarisch-kulturellen Sozialisation von Vierjährigen. Weinheim: Juventa. Wieler, P. (2007): Medienrezeption, Sprachförderung und kulturelle Identität bei Migrantenkindern. In: Bonfadelli, H. & Moser, H. (Hgg.): Medien und Migration. Europa als multikultureller Raum. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, 303-325. Wieler, P. (2013): Varianten des Literacy-Konzepts und ihre Bedeutung für die Deutschdidaktik. In: Abraham, U.; Bremerich-Vos, A.; Frederking, V. & Wieler, P. (Hgg.): Deutschdidaktik und Deutschunterricht nach PISA. Freiburg i.B.: Fillibach, 47-68. Wieler, P.; Brandt, B.; Naukok, N.; Petzold, J. & Hoffmann, J. (2008): Medienrezeption und Narration. Gespräche und Erzählungen zur Medienrezeption von Grundschulkindern. Freiburg i.B.: Fillibach. Mandy Schönfelder Vorlesesituationen mit Fragen sprachfördernd gestalten 1 Förderung sprachlichen Lernens Mit dem Ziel, bereits im Vorschulalter den Lernerfolg, die Chancengleichheit und Integration durch Frühförderung positiv zu beeinflussen (Fried/ Briedigkeit 2008; Dickinson/ Porche 2011), wurden in den letzten Jahren neue Impulse und Forderungen formuliert (vgl. OECD 2004; nach den Studien EPPE und EPEY 2002). Dabei wird die frühe sprachliche Bildung und Förderung zu einer Querschnittsaufgabe erklärt. Die spracherwerbsbezogene Unterstützung von Kindern sowie deren sprachlich angemessene Begleitung (vgl. Dannenbauer 1994) zählen zu den zentralen Aufgaben der frühpädagogischen Fachkräfte. Für die Sprachförderung eröffnet der Kindergartenalltag eine Vielzahl anregender Lernanlässe. Losgelöst von Sprachförderprogrammen lernen Kinder Sprache im Alltag und am Alltag orientiert. Sprachförderung […] wird nicht als isoliertes Sprachtraining verstanden, sondern als gezielte Erweiterung der Sprachkompetenz durch in den Alltag integrierte sprachanregende Angebote. (Ministerium für Kultur, Jugend und Sport Baden-Württemberg 2011: 93) Vor allem Gesprächskreise, der Frühstückstisch, das Freispiel sowie geführte Angebote mit Spielmaterialien und Bilderbüchern stellen sprachförderliche Situationen im Betreuungsalltag dar. Sie bieten den Kindern die Möglichkeit, sprachlich kommunikative Erfahrungen (rezeptiv und produktiv) zu sammeln. Diese Spracherfahrungen fußen auf einer gleichberechtigten, beidseits aktiven Interaktion (König 2009). Im Dialog zwischen Fachperson und Kind werden substantielle Gesprächsbeiträge sowie kognitiv herausfordernde Gedanken entwickelt, ausgehandelt und fortgeführt. Diese dialogorientierte Gesprächsführung ist unter dem Begriff des Sustained Shared Thinking (Siraj-Blatchford/ Sylva 2004) bekannt. Um den Dialog mit Kindern sprachförderlich zu begleiten, sollte die frühpädagogische Fachperson konkrete Strategien einsetzen. Eine bewährte Strategie ist hierbei das Stellen von Fragen. Es regt die Kinder zum Sprechen an und bietet ihnen die Möglichkeit, sich aktiv an der Interaktion zu beteiligen. Dabei wird der offenen Frage ein didaktischer Mehrwert zugesprochen (Kannengieser et al. 2013; King et al. 2011; Siraj-Blatchford/ Manni Vorlesesituationen mit Fragen sprachfördernd gestalten 127 2008; Whitehurst et al. 1999), wohingegen geschlossene Fragen als nicht förderlich eingestuft sind. In dieser Empfehlung bleiben die sprachlichen Fähigkeiten der Kinder und der situative Kontext jedoch weitestgehend unbeachtet. Es zeigt sich eine Kluft zwischen Frageformat, Spracherwerbsstand und Situationsorientierung. Diese begründet das Interesse für die Problemstellung des vorliegenden Beitrags: Inwieweit können Frageformen adressatenorientiert und situativ eingesetzt werden? Daraus leiten sich zwei inhaltliche Schwerpunkte ab. Zu Beginn der Ausführungen wird das Medium Bilderbuch als Sprachlernanlass aufgegriffen, das Förderpotenzial beleuchtet und Sprachlehrstrategien für den Dialog (Bilderbuchbetrachtung) genannt. Aus den skizzierten Fördermaßnahmen geht die Strategie des Fragens als Untersuchungsgegenstand hervor. Es wird das sprachförderliche Potenzial verschiedener Frageformen beschrieben und im Spannungsfeld zwischen Herausforderung und Entwicklungsangemessenheit ausgelotet. Daran anknüpfend bemüht sich der vorliegende Beitrag um eine Konzeptualisierung und ist zugleich Basis für weitere didaktische Überlegungen. Dazu erfolgt im zweiten Teil die praktische Anwendung erlangter Erkenntnisse. Die Strategie des sprachfördernden Fragens wird an einem Fallbeispiel veranschaulicht. Damit soll ein Bewusstsein geweckt werden, wie dialogorientierte Bilderbuchsituationen mit Fragen entwicklungsangemessen gestaltet sein können. Der vorliegende Artikel greift einen inhaltlichen Baustein des Dissertationsprojektes 1 der Verfasserin auf. Neueste Erkenntnisse aus Wissenschaft und Praxis finden dabei ihre Berücksichtigung, wohingegen der Anspruch einer empirischen Untersuchung vorliegend nicht erhoben wird. 2 Das mediengestützte Sprachlernsetting: Bilderbuch Dialogische Bilderbuchbetrachtungen sind für die Sprachförderung sehr bedeutsam. So belegen Wirkungsstudien (vgl. Snow 1977; Thiele 2007: 7; Whitehurst/ Lonigan 1998), dass regelmäßige Bilderbuchbetrachtungen den Spracherwerb positiv beeinflussen können. Indem die frühpädagogische Fachperson mit den Kindern ein Gespräch über das Bilderbuch führt, werden Sprachverständnis und Sprachgebrauch unterstützt (Kraus 2005; Whitehurst et al. 1988). Dem Bilderbuch als einem wichtigen Medium in der kindlichen Lebenswelt (Niebuhr/ Ritterfeld 2002) kann ein besonderes Potenzial zur Förderung sprachlicher Fähigkeiten sowie anderer Erwerbsdomänen zu- 1 „Die große Frage - Eine empirisch linguistische Untersuchung zur Strategie des sprachfördernden Fragens und deren Bedeutung für den Kindspracherwerb“. Mandy Schönfelder 128 gesprochen werden. In einem narrativen Zusammenspiel von Text und Bild ist das Bilderbuch an den kindlichen Betrachter adressiert und verortet sich als Impulsgeber im didaktischen Kontext. Multisensorisch gehen Bild und Text unter dialogischer Begleitung eine sprachfördernde Verbindung ein (vgl. Thiele 2003). In seiner Medialität (Bild und Text oder nur Bild) ermöglicht das Medium einen Gestaltungsrahmen, um den Kindern sprachliche Strukturen anzubieten und gemeinsame Gedanken zu entwickeln (Adler 2011: 166-198). Ulich (2003) beschreibt die frühe Literacy-Erfahrung als eine Sonderform des Dialogs, in der grafische Objekte benannt und beschrieben werden und die narrative Entwicklung gefördert wird. Das Medium Bilderbuch bietet vielfältige sprachliche Erfahrungen auf symbolischer und narrativer Ebene. Zum einen entwickeln die kindlichen Betrachter ein Verständnis dafür, dass die Bilder reale oder fiktive Einheiten abbilden. Andererseits werden neue Wortbedeutungen gesammelt und verinnerlicht. Darüber hinaus müssen Abbildungen und Text in einen sachlogischen Zusammenhang gerückt werden. Der Rezipient ist herausgefordert, den Handlungsstrang über Bild- Text-Bezüge zu erschließen, ggf. nachzuerzählen und Deutungshypothesen herzuleiten. Zur Unterstützung dieser Spracherfahrungen verweisen Gasteiger-Klicpera/ Kucharz/ Knapp (2010: 47ff.) auf die Bedeutung der Anschlusskommunikation. Die Aufgabe der Fachperson ist es dabei, Themen des Bilderbuches dialogisch aufzugreifen und zu vertiefen. Was das Kind im Bilderbuch sieht, wird von der Fachperson versprachlicht. Die Kinder bringen eigene Gedanken ein und werden zum Sprechen über das Buch angeregt. In wechselseitiger Interaktion entwickeln Fachperson und Kind ein Gespräch zur Handlung. Whitehurst et al. (1988) prägten dafür den Ausdruck des Dialogic Reading, in dem sich die Interaktion als kokonstruktiver Prozess versteht und durch den Einsatz situationsverwobener Sprachförderstrategien gekennzeichnet ist (vgl. Willige 2008). Die Sprachlehrstrategien, eingesetzt durch die frühpädagogische Fachperson, stehen als Mittler zwischen Medium und kindlichem Betrachter. Zugleich begleiten und unterstützen sie die Spracherfahrungen. 3 Sprachlehrstrategien im Überblick Gegenwärtig werden forschungsorientiert und in didaktisch-methodischer Ausrichtung Initiativen zur Sprachförderung umgesetzt, die an die Akteure frühkindlicher Bildung adressiert sind. Ihnen ist ein Einsatz von Sprachförderstrategien gemeinsam. Die Qualität sprachförderlicher Maßnahmen (vgl. König 2009; Kuger/ Sechtig/ Anders 2012; Ruberg/ Rothweiler/ Utecht 2012: 44ff.) wird durch nachfolgende Kriterien bestimmt: Einerseits konstituiert sich die Güte frühpädagogischer Intervention durch das Ziel, sprach- Vorlesesituationen mit Fragen sprachfördernd gestalten 129 fördernde Verhaltensweisen an den Entwicklungsstand des Kindes anzupassen - die Adaptivität. So bedarf es einem Wissen um den Spracherwerb sowie der Beobachtung sprachlicher Fähigkeiten, damit das Strategieinventar adaptiv und wirksam eingesetzt werden kann. Zum anderen ist es hilfreich, sprachliche Strukturen als Gerüst vorzugeben (scaffolding). Die Kinder können sich damit leichter am Dialog beteiligen (vgl. Collins/ Brown/ Newman 1987). Ein weiteres Kriterium umfasst die Kontextoptimierung (vgl. Motsch 2010). Sie zielt darauf, dass die Kinder die sprachlichen Formen und Funktionen in konkreten Situationen wahrnehmen können. Die Spracherfahrungen gehen aus der konkreten Situation oder dem Sprachmaterial (Medium) hervor. Vor allem Vorlesesituationen ermöglichen eine sprachliche Erfahrung. So dient das Bilderbuch häufig als Impulsgeber in Sprachfördersituationen. Es eröffnet in Text und Bild handlungs- oder situationsrelevante Kontexte zur Förderung schwieriger oder neuer Sprachstrukturen. Dabei ist die frühpädagogische Fachperson aufgefordert, das Medium auf situationsverwobene (Sprach-)Phänomene zu untersuchen und diese über Sprachlehrstrategien abzurufen. Die Strategien, die in einen Dialog über das Bilderbuch eingebunden sind, greifen nur handlungsrelevante Themen sprachlich auf, erweitern und vertiefen diese. Erst durch eine kontextorientierte Auseinandersetzung werden sprachliche Strukturen verinnerlicht und gefestigt. Um die sprachlichen Fähigkeiten von Kindern zu begleiten und zu unterstützen, kann die Fachperson konkrete Sprachlehrstrategien im Alltag einsetzen. Es werden Strategien des Sprachinputs (Wortschatzförderung nach Pepper/ Weitzmann 2004, das Versprachlichen kindlicher Handlungen nach Tough 1977), die Modellierungstechnik (vgl. Dannenbauer 2002; Motsch 2010: 91) und stimulierende Strategien unterschieden. In letztgenannter Form kann die sprachliche Rezeption gleichermaßen wie die Sprachproduktion angeregt werden. Den begleitenden und anregenden Fragestellungen ist hierbei eine bedeutsame Funktion zugesprochen (vgl. Kontos/ Wilcox- Herzog 1997). Sie begründet die Relevanz für eine nachstehende Auseinandersetzung. 4 Die Fragestrategie Die Fragestrategie als pädagogisches Handlungsmuster (vgl. Briedigkeit 2011) und sprachdidaktisches Werkzeug ist ein fester Bestandteil im Kindergartenalltag. Dabei wird der offenen Frage ein besonderes Sprachförderpotenzial zugesprochen (vgl. Briedigkeit 2011; King et al. 2011; Siraj- Blatchford/ Manni 2008) und ihr Einsatz im Kontext sprachlicher Bildung explizit gewünscht. Die frühpädagogische Fachperson soll „offene Fragen [...], sogenannte ‚W‘-Fragen“ (Kannengieser et al. 2013: 76) stellen. Sie er- Mandy Schönfelder 130 möglichen längere Antworten als geschlossene Fragen, die nur ein einzelnes Wort hervorrufen. Damit werden geschlossene Fragestrukturen negativ bewertet. Ihnen gelinge es nicht, den kindlichen Spracherwerb adäquat voranzutreiben. Diese Auffassung spiegelt sich auch in den Ergebnissen einer Befragung frühpädagogischer Fachpersonen wider (Sprima- Interventionsstudie 2 ). Befragt zu ihrer Erfahrung und Grundhaltung gegenüber sprachförderlicher Fragestellungen zeigt sich bei 90 % der Befragten, dass die geschlossene Fragestellung negativ besetzt ist. Pädagogische Fachkräfte aus dem Projekt Mit Kindern im Gespräch (King et al. 2011) bestätigen in einer Selbsteinschätzung (Fördertagebücher) gleichermaßen, dass sie „bewusst W-Fragen bzw. offene Fragen [- synonym verwendet (Anm. d. Verf.) -] stellen“ (King et al. 2011: 491) und einzelne Wörter (bspw. Antwortpartikeln wie ja, nein oder doch) nur selten erfragen. Demgegenüber konstatiert eine qualitative Feldforschung von Siraj- Blatchford/ Manni (2008) die Dominanz geschlossener Fragestellungen. In der Performanz erscheinen sie hochfrequent, sodass lediglich 3,7 % auf Fragen offener Struktur entfallen. Tendieren Fachkräfte in ungeplanten Situationen zu Fragen mit geschlossener Antwortstruktur, sind angeleitete Sprachlernsettings, die bewusst geführt werden, durch offene Fragen gestaltet. Für das mediengestützte Sprachlernsetting bestätigt sich dieses Verhältnis. Die pädagogischen Verhaltensweisen sind im strukturierten Bilderbuchangebot komplexer angelegt als in Freispielsituationen. W-Fragen organisieren dabei den Dialog (vgl. Willige 2008). Dass Fragen einen besonderen Stellenwert für den Bereich der frühen Sprachbildung einnehmen, belegen die vorangestellten Studien. Zugleich etabliert der aktuelle Diskurs die Forderung nach offenen Fragen (vgl. Briedigkeit 2011; King et al. 2011; Siraj-Blatchford/ Manni 2008). Das Postulat eines didaktischen Mehrwertes erwächst und markiert dabei den Qualitätsanspruch - losgelöst von Adaptivität und Situationsgebundenheit. Davon ausgenommen beleuchten Whitehurst et al. (1999) erstmals verschiedene Verhaltenstechniken im Kontext der dialogischen Bilderbuchbetrachtung und setzen diese in Abhängigkeit zum Alter des Kindes. Es handelt sich hierbei um praktische Hinweise. Für die Fragetechnik ist formuliert, dass Fragen mit zunehmendem Alter an Komplexität gewinnen sollen - von den einfachen W-Fragen bei zweibis dreijährigen Kindern (Wer? , Was? , Wo? , Wie? ) zu offenen Frageformulierungen, die einen Alltagsbezug herstellen (Hast du so etwas auch schon erlebt? ) und an Kinder zwischen vier und fünf Jahren gerichtet sind. Betrachtet man die Empfehlungen kritisch, ist anzumerken, dass sich der Altersbezug (zweibis 2 Die Interventionsstudie Sprima - Sprachförderung im Alltag unter der Leitung von Franziska Vogt (Pädagogische Hochschule St. Gallen) und Cordula Löffler (Pädagogische Hochschule Weingarten, Co-Leitung) rückt die Sprachförderkompetenz der pädagogischen Fachkräfte und deren Professionalisierung in den Fokus. Vorlesesituationen mit Fragen sprachfördernd gestalten 131 dreijährige Kinder und vierbis fünfjährige Kinder) als unzureichend für die sprachfördernde Praxis erweist. Vielmehr sollte das individuelle Sprachalter, das den Phasen des Spracherwerbs zugrunde liegt, Berücksichtigung finden, um das Frageformat entwicklungsangemessen und sukzessiv aufbauend auszuwählen („Zone der nächsten Entwicklung“ nach Vygotski 1987). Zudem entzieht sich die Aufstellung einer sprachwissenschaftlichen Referenz, wodurch die Begriffe der Offenheit versus Geschlossenheit unspezifische Rückschlüsse hervorbringen. So ist das Beispiel Hast du so etwas auch schon erlebt? der offenen Frage zugeordnet, wenngleich die Fragestruktur mit Verb-Erststellung eine Zustimmung oder Verneinung (ja, nein oder doch) abruft - die Antwortpartikel als Merkmal geschlossener Formulierungen. Das Frageformat passt nicht mit dem Ziel überein, das Kind zum Erzählen anzuregen (vgl. Whitehurst et al. 1999). Es gilt nunmehr, ein theoriegeleitetes Modell für die Fragestrategie zu generieren, das die Einzelaspekte Fragesatz, Bezugsrahmen und kindliches Sprachniveau wirksam zusammenführt. 5 Konzeptualisierung: Das Förderpotenzial von Fragestellungen im mediengestützten Sprachlernsetting Grundlegend konstituiert sich der Fragesatz als Form-Funktions-Gefüge (vgl. Altmann 2003: 1007). Als satzförmige Struktur (Form) referiert die Frage auf eine Leerstelle und fordert den Adressaten auf (Funktion), die unvollständige Aussage im Bezugsrahmen zu erweitern (vgl. Linke/ Nussbaumer/ Portmann 2004: 54f.; Rost-Roth 2006). 5.1 Erste Perspektive: Funktionen und Formen von Fragen Im pädagogischen Kontext unterliegt die Fragestrategie einer kommunikativen Aufgabe. Sie wird durch die Fachkraft bewusst oder intuitiv erwählt. Briedigkeit (2011: 508f.) unterscheidet dazu sechs Zieldimensionen des Fragens: 1) Beziehung, 2) Dirigieren, 3) Überprüfen, 4) Informieren, 5) Unterstützen und 6) Herausfordern. Fragen der ersten beiden Dimensionen, Beziehung und Dirigieren, basieren auf dem Ansatz der sensitiven Responsivität (vgl. Remsperger 2013). Dabei werden Signale der Kinder aufgegriffen und ihre sprachlichen Äußerungen ergänzt. Es gilt, das Augenmerk auf einen konkreten Blickpunkt (bspw. Bildobjekt) zu lenken und einen gemeinsamen Dialog einzuleiten. Demgegenüber fügen sich die Zweckbereiche Überprüfen, Informieren, Unterstützen und Herausfordern in die Trias Fachkraft-Kind-Medium ein. Fachkraft und Kind führen ein Gespräch über das Bilderbuch. Mit dem übergeordneten Ziel der Informationsbeschaffung können einzelne oder Mandy Schönfelder 132 kohärente Sachverhalte des Bilderbuches beleuchtet werden. Folgende Fragen werden unterschieden: - Fragen, die inhaltliche oder grafisch dargestellte Fakten konkret erfragen - überprüfende Fragen mit einer begrenzten Anzahl an Antwortmöglichkeiten - Fragen, die über die kindliche Lebenswelt informieren - (verständnis)unterstützende Fragen - Fragen, die den kindlichen Rezipienten auffordern, „Vermutungen über einen [voranschreitenden] Sachverhalt“ (Briedigkeit 2011: 509) anzustellen = herausfordernde Fragen Der Umfang des erfragten Inhaltsaspektes unterscheidet diese Frageformen voneinander und ordnet sie sogleich einem speziellen Formtyp zu (vgl. Altmann 1993). In formaler Perspektive können nunmehr strukturelle Muster erschlossen werden. Jenseits von Formen des Rück- und Nachfragens (Echo- W-Fragen, assertive Fragen) gliedert sich die initiierende Fragestrategie in drei Hauptformen (vgl. Altmann 1993; Rost-Roth 2006): Entscheidungs-, Alternativ- und Ergänzungsfragesätze. Die Entscheidungsfrage, gekennzeichnet durch die Verb-Erststellung und ein ansteigendes Intonationsmuster, zielt auf die Zustimmung oder Ablehnung eines ausgedrückten Sachverhalts. (1) Isst du Erdbeeren gern? (2) Sieht die Raupe hungrig aus? Als Entscheidungsfrage mit der Präsentation von mindestens zwei Antwortmöglichkeiten bildet die Alternativfrage eine Sonderform höherer Komplexität. Es werden sprachliche Strukturen modellhaft vorgegeben, die vom kindlichen Empfänger ausgewählt und reproduziert werden können. Die Informationsbeschaffung ist dabei auf eine Alternativmenge der Aspekte begrenzt. (3) Magst du lieber Obst oder Gemüse? Demgegenüber eröffnen Ergänzungsfragen einen „n-fach differenzierten Alternativraum“ (Altmann 1993) und bedienen damit die höchste Komplexität in der Antwortstruktur. (4) Wer sitzt auf dem Blatt? (5) Was frisst die Raupe? (6) Warum hat der Apfel dort ein Loch? Vorlesesituationen mit Fragen sprachfördernd gestalten 133 Mit einem W-Operator (Fragewort) eingeleitet, können einzelne Wörter (Ergänzungen im Nominativ, anderenfalls mit Kasusmarkierung), verweisende Angaben (Adverbien), Wortgruppen mit und ohne Präposition oder Nebensätze aktiviert werden. Der geforderte Mindestumfang 3 einer zulässigen Antwort wird dabei durch das Fragewort festgelegt (vgl. Bäuerle 1979). Es lässt sich zusammenfassen, dass der Fragedialog in eine Abfolge aus Frage und evozierter Antwort gegliedert ist. Dabei bestimmen Verbstellung in einer Frage oder W-Fragewörter (Operatoren wie Interrogativpronomen, Interrogativadverbien) den Antwortumfang. Umgekehrt ist für die Auswahl der Fragestellung in der Fachkraft-Kind-Interaktion anzumerken, dass eine Feinabstimmung zwischen der zu leistenden Antwort und den sprachlichen Fähigkeiten des Kindes (vgl. entwicklungsproximaler Ansatz nach Dannenbauer 1994) stattfinden muss. Sprachstrukturell gibt es eine Wechselbeziehung im Fragedialog. Eine Frage lockt eine Antwortstruktur hervor, die das Kind erfüllt oder noch nicht erfüllen kann. Die Fachperson erhält damit einen Einblick in die sprachlichen Fähigkeiten des Kindes und kann diese für die Auswahl weiterer Fragen entsprechend berücksichtigen. 5.2 Zweite Perspektive: Sprachförderndes Potenzial von Fragestrukturen Für eine wirksame Sprachförderung muss die Fragestrategie inhaltlich und formal am nächsten Entwicklungsschritt des Kindes orientiert sein. Das Qualitätskriterium der Adaptivität wird in nachfolgender Ordnung bedacht. Fragen mit Verb-Erststellung (Entscheidungsfragen) tragen ihr Potenzial im Ansatz sensitiver Responsivität. So erwirken sie eine Vertrauensbasis zwischen Fachperson und Kind. Kindliche Signale werden von der frühpädagogischen Fachperson aufgegriffen und positiv verstärkt. Darüber hinaus ermöglicht es die Entscheidungsfrage, dass die Kinder einen ersten Gesprächsbeitrag niedrigster Ordnung (ja oder nein) formulieren können. In Form einer Zustimmung oder Ablehnung gewinnt das Kind Zuversicht in die eigenen sprachlichen Fähigkeiten. Die gegebene Antwort wird als 3 Explizite Antworten vervollständigen den Fragesatz lediglich um „die geforderte Ergänzung der passenden syntaktischen Kategorie“ (Bäuerle 1979: 97). Bäuerle beschreibt, dass Frage und Antwort gemeinsam einen Sachverhalt ausdrücken (Bäuerle 1979: 95). Satzelemente der Fragen werden von den Gesprächsteilnehmenden mitgedacht und müssen um die fehlende Information ergänzt werden. Das bestimmt den Mindestumfang einer Antwort. Demgegenüber doppeln implizite Satzantworten Strukturen der Frage und liefern damit einen erweiternden Beitrag. Beispielsweise wäre die Frage Was tut der Marienkäfer? mit der kindlichen Äußerung fliegt oder fliegen hinreichend beantwortet. Die Erwiderung Der tut fliegen (implizite Antwort) ist hingegen eine Erweiterung auf Satzebene. Das Kind greift Strukturen der Frage auf und wiederholt sie in einem Satz. Mandy Schönfelder 134 „Guthaben“ positiv und bestärkend verbucht. In mediengestützten Sprachlernsettings übernimmt dieses Frageformat eine weitere zentrale Aufgabe. Die Entscheidungsfrage lenkt das Augenmerk auf einen gemeinsamen Bildpunkt. Diese geteilte Aufmerksamkeit ebnet den Einstieg in den Dialog oder hält die Interaktion aufrecht. Zugleich können Entscheidungsfragen einen Bezug zur kindlichen Lebenswelt herstellen. Der Inhalt des Bilderbuches wird dabei mit Erfahrungswerten verknüpft, eigene Gedanken werden entwickelt und thematisch vertieft. In der Sprachförderung verfügen Alternativfragen über einen besonderen Stellenwert. So gestaltet die Antwort auf eine Alternativfrage als sprachliche (Re-)Produktion den Übergang zur ersten eigenständigen Konstruktion. Dieser Fragetyp präsentiert (mindestens) zwei Antwortmöglichkeiten und fordert das Kind auf, eine sprachliche Form auszuwählen und nachzusprechen. Verschiedene Spracherwerbsbereiche können mit der Alternativfrage begleitet werden: Zum einen leisten sie bei Nicht-Beantwortung einer Ergänzungsfrage eine inhaltliche Hilfestellung. Zum anderen können Fragen mit Antwortalternativen unbekannte oder bislang fehlerhafte Satzstrukturen anbieten. Sie dienen dem Kind als sprachliches Modell. Ergänzungsfragen weisen eine informativ-herausfordernde Funktion auf. Sie zielen auf eine eigenständige kindliche Sprachproduktion und können Bildobjekte (Einzelwörter), Erklärungen (Wortgruppen oder Teilsätze) und Zusammenhänge im Bilderbuch erfragen. Zugleich orientiert sich ihr Einsatz an kindlichen Lernern. Die Ergänzungsfrage setzt voraus, dass Kinder bereits Wortbausteine abrufen und wiedergeben können. Auch in diesem Format bleibt eine entwicklungsangemessene Sprachförderung umsetzbar: Beispielsweise findet die Strategie der gestuften Ergänzungsfrage ihre Berücksichtigung. So evozieren Fragewörter wie Wer? , Was? , Wem? , Wen? einfache Ergänzungen, der vielzählige Operator Wo? erfragt eine Wortgruppe mit einleitender Präposition oder ein Adverb und das Fragewort Warum? einen Nebensatz - entsprechend der Phasen des Grammatikerwerbs nach Clahsen (1988). Für die Wo-Frage gibt es darüber hinaus gestufte Formen. So ist es möglich, bei Erfragung einer Präpositionalphrase die Präposition bereits in die Frage einzubauen und auf die Kasusendung betont zu verweisen. Die Fragen Auf wem?  Worauf?  Wo? bahnen sukzessiv den nächsten Entwicklungsschritt an. Zu Erwerbsbeginn ist es hilfreich, möglichst viele grammatische Einheiten der Zielantwort aufzuzeigen. Die Frage Auf wem? gibt dem Kind die Präposition und den dazugehörigen Kasus vor - sozusagen die ersten zwei Bausteine der Antwort. Worauf? hilft dem Kind, die richtige Präposition zu finden. Bei dem Fragewort Wo? muss die inhaltliche Ergänzung selbständig in eine Präpositionalgruppe eingebettet werden. Das nachfolgende Modell gibt einen Überblick über die Frageformen und ihren adaptiven Einsatz in mediengestützten Sprachlernsettings. Vorlesesituationen mit Fragen sprachfördernd gestalten 135 6 Fallbeispiel Nachfolgender Ausschnitt 4 entstammt einer dialogischen Bilderbuchbetrachtung. In einem Einzelsetting findet die Erarbeitung des Bilderbuches Die kleine Raupe Nimmersatt von Eric Carle (1969) statt, in dem eine hungrige Raupe auf ihrem Lebensweg zum Schmetterling beschrieben ist. An der Sprachlernsituation nimmt die 2-jährige Marie teil. Marie ist ein aufgeschlossenes Mädchen. Im Kindergartenalltag zeigt sich, dass Maries Stärke in ihrer unbändigen Sprechfreude liegt. Sie erzählt viele Geschichten und berichtet gern von vergangenen Erlebnissen. Sprachliche Auffälligkeiten gibt es keine. Dennoch kann Marie sprachlich gefördert bzw. herausgefordert werden. Da sich Marie für das Bilderbuch Die kleine Raupe Nimmersatt interessiert, ergibt sich die Gelegenheit zur Wortschatzerweiterung. 4 Das Beispiel entstammt dem Sprima-Datensatz. Zugunsten einer besseren Nachvollziehbarkeit wurden Zwischenkommentare, Unterbrechungen und dialektale Färbungen getilgt (standardsprachliche Wiedergabe). Abb. 1: Adaptiver und situativer Einsatz verschiedener Fragetypen Mandy Schönfelder 136 FP: Frühpädagogin K: Mädchen (2; 10, Deutsch als Erstsprache, geänderter Name: Marie) 1 K: Die Raupe Nimmersatt. 2 FP: Die Raupe Nimmersatt! Was macht die Raupe Nimmersatt? 3 K: Die essen. 4 FP: Was tut sie essen? 5 K: Ja, dies da. (zeigt auf das Buch) - n’Apfel. 6 FP: Was tut sie essen? 7 K: Ein Apfel- 8 FP: Einen Apfel. [Auslassung] 9 Und dann geht sie weiter. Und was isst sie dann? 10 K: (zeigt) Das da. 11 FP: Und was ist das? 12 K: Erdbeern. 13 FP: Erdbeeren. 14 K: Ja. Da ist sie jetzt ganz dick und fett. 15 FP: Genau, weil sie so viel gefressen hat. Weißt du noch, was sie alles gefressen hat? Anknüpfend an das bilderbuchgestützte Setting zielt das im Transkript aufgezeigte Gespräch auf eine Wortschatzerweiterung zum Thema Lebensmittel. Hierzu nutzt die Frühpädagogin unter anderem die Strategie des Fragens. Nachfolgend sollen die sprachfördernden Bemühungen einer kritischen und qualitativen Bewertung unterzogen werden. Eingeleitet über eine W-Frage soll in Zeile 2 zunächst eine Zuordnung zwischen Tier und Handlung vorgenommen werden. Der kindliche Adressat ist aufgefordert, das Prädikat inhaltlich zu erweitern. Daran anschließend gestalten zahlreiche W-Fragen (ab Zeile 4: „Was tut sie essen? “) den weiteren Verlauf des Frage-Antwort-Dialogs. Die Frühpädagogin überprüft Maries Wortschatzwissen. Die „Was? “-Frage aktiviert einzelne Wörter im Nominativ oder Akkusativ und regt Marie dazu an, sie sprachlich wiederzugeben. Eine Vertiefung bleibt hingegen ausgespart. Für die sprachfördernde Fragestrategie zeigt sich bei der Frühpädagogin eine Tendenz in der Verwendung von Ergänzungsfragen einfacher Ordnung. Hierbei erscheint das Fragewort „Was? “, das eine Antwort im Nominativ oder Akkusativ aktiviert, hochfrequent. Dieses Frageformat zielt darauf, die grafischen Objekte im Bilderbuch zu benennen. Wenngleich der Bilderbuchimpuls ein Zeigen und Benennen funktional impliziert (kontextsensitiv), unterstützen die Frageformulierungen die kindliche Sprachentwicklung nur einseitig. Die Frühpädagogin verweilt in der Struktur, sodass eine Variation und Prozesshaftigkeit nicht erkennbar ist. Das Transkript zeigt, dass sie damit vor allem das Wortwissen überprüft. Sprachförderlich für Marie wären hingegen Fragen, die nicht nur Begriffe Vorlesesituationen mit Fragen sprachfördernd gestalten 137 abrufen (Überprüfen), sondern spezifische Merkmale zum Bildobjekt erfragen (Informieren, Herausfordern). Alternativ wäre es möglich gewesen, einen Lebensweltbezug herzustellen (Isst du auch gern Früchte? Was ist dein Lieblingsobst? ). So erleichtert sich das Abspeichern von Wörtern, wenn sie in verschiedene Kontexte gestellt werden. Für Marie hätten die Förderziele, die Bildobjekte zu beschreiben, komplexe Zusammenhänge der Bilder sprachlich zu formulieren und den Handlungsstrang zu entwickeln, erschlossen werden können - maßgeblich befördert durch Ergänzungsfragen höchster Ordnung (Wie konnte die Raupe nur so dick werden? oder Wie sieht die Frucht aus? ). 7 Schlussbetrachtung Für die sprachliche Förderung stellt das Betrachten und Vorlesen von Bilderbüchern einen besonderen Sprachlernkontext dar (vgl. Kraus 2005). Erklärtes Ziel der frühpädagogischen Fachperson sollte dabei sein, gemeinsam in den Dialog (Fachkraft-Kind-Interaktion) zu treten und den sprachlichen Ausdruck des Kindes zu begleiten (Rezeptions- und Produktionsprozesse). Hierbei ist das Stellen von Fragen eine bewährte Sprachlehrstrategie. Mit einem Gesprächsanteil von 11 % (Briedigkeit 2011) dient die Frage als Impulsgeber und Bindeglied zwischen Kind und Medium. Der Dialog wird über das Stellen von Fragen initiiert oder eine bestehende Interaktion aufrechterhalten. Die frühpädagogische Fachperson kann über verschiedene Fragen konkrete Bildelemente (Wer? , Was? , Wem? , ...) und Hintergrundinformationen zur Bilderbuchhandlung (Wo? , Wie? , Warum? ) erfragen. Es lässt sich zusammenfassen, dass im Einsatz sprachfördernder Fragen ein „enger Zusammenhang zwischen dem pädagogischen Fragestil und der Möglichkeit, wie sich Kinder in die Interaktion [sprachlich einbinden] können“ (Wood 1992, zitiert nach König 2009: 119) existiert. Nur Fragen, die gleichermaßen kontextorientiert und entwicklungsangemessen sind, erfüllen den Anspruch, sprachförderlich zu sein. Somit beschränkt sich die Güte des Fragedialogs nicht auf die Unterscheidung zwischen offener versus geschlossener Frage (Mehrwert einer offenen Fragestruktur: vgl. Briedigkeit 2011; King et al. 2008), sondern auf die Adaptivität des Impulses. Zum anderen sollen die sprachlichen Erfahrungen nicht konstruiert, sondern im situativen Kontext erfahrbar gemacht werden (vgl. Adler 2011: 179; Gasteiger-Klicpera/ Kucharz/ Knapp 2010: 108). Es gilt, die Möglichkeiten medialer Erfahrung mithilfe der Fragestrategie auszuschöpfen und das Frageformat an die sprachlichen Fähigkeiten des Kindes anzupassen. Mandy Schönfelder 138 Literatur Adler, Y. (2011): Kinder lernen Sprache(n). Alltagsorientierte Sprachförderung in der Kindertagesstätte. Stuttgart: Kohlhammer. Altmann, H. (1993): Satzmodus. In: Jacobs, J.; Stechow, A. von; Sternefeld, W. & Vennemann, T. (Hgg.): Syntax. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. Berlin, New York: de Gruyter, 1006-1029. Bäuerle, R. (1979): Temporale Deixis, temporale Frage. Zum propositionalen Gehalt deklarativer und interrogativer Sätze. Tübingen: Narr. Briedigkeit, E. (2011): Institutionelle Überformung sprachlicher Herkunftsmuster. Realisation von Fragetypen im Erzieherin-Kind(er)-Diskurs. In: Empirische Pädagogik 25, 499-517. Collins, A.; Brown, J.S. & Newman, S.E. (1987): Cognitive apprenticeship. Teaching the craft of reading, writing and mathematics (Technical Report No. 403). BBN Laboratories, Cambridge/ MA: Centre for the Study of Reading, University of Illinois. Dannenbauer, F.M. (1994): Zur Praxis der entwicklungsproximalen Intervention. In: Grimm, H. & Weinert, S. (Hgg.): Intervention bei sprachgestörten Kindern. Voraussetzungen, Möglichkeiten und Grenzen. Stuttgart: Fischer, 83-104. Dannenbauer, F.M. (2002 5 ): Grammatik. In: Baumgartner, S. & Füssenich, I. (Hgg.): Sprachtherapie mit Kindern. München: Reinhardt UTB, 105-139. Dickinson, D.K. & Porche, M.V. (2011): Relation between language experiences in preschool classrooms and children’s kindergarten and fourth-grade language and reading abilities. In: Child Development 82, 870-886. Fried, L. & Briedigkeit, E. (2008): Sprachförderkompetenz - Selbst- und Teamqualifizierung für Erzieherinnen, Fachberatungen und Ausbilder. Berlin: Cornelson Scriptor. Gasteiger Kilcpera, B.; Knapp, W. & Kucharz, D. (2010): Abschlussbericht der wissenschaftlichen Begleitung des Programms «Sag mal was - Sprachförderung für Vorschulkinder». PH Weingarten. http: / / www.sagmalwas-bw.de/ media/ WiBe%201/ pdf/ PH-Weingarten_Abschlussbericht_2010.pdf [2.11.2014]. Kannengieser, S.; Kappeler Suter, S.; Aggeler-Lätsch, F. & Plangger, N. (2013): Nashorner haben ein Horn. Sprachförderung in Spielgruppen und Kindertageseinrichtungen. Seelze: Klett/ Kallmeyer. King, S.; Metz, A.; Kammermeyer, G. & Roux, S. (2011): Ein sprachbezogenes Fortbildungskonzept für Erzieherinnen auf Basis situierter Lernbedingungen. In: Empirische Pädagogik 25, 481-498. König, A. (2009): Interaktionsprozesse zwischen ErzieherInnen und Kindern. Eine Videostudie aus dem Kindergartenalltag. Wiesbaden: VS Verlag. Kontos, S. & Wilcox-Herzog, A. (1997): Teachers’ interactions with children: Why are they so important? In: Young Children 52, 4-12. Kraus, K. (2005): Dialogisches Lesen - Neue Wege der Sprachförderung in Kindergarten und Familie. In: Roux, S. (Hg.): PISA und die Folgen: Sprache und Sprachförderung im Kindergarten. Landau: Verlag Empirische Pädagogik, 109- 129. Kuger, S.; Sechtig, J. & Anders, Y. (2012): Kompensatorische (Sprach-)Förderung. Was lässt sich aus US-amerikanischen Projekten lernen? In: Frühe Bildung 1, 181-193. Linke, A.; Nussbaumer, M. & Portmann, P. (2004): Studienbuch Linguistik. Tübingen: Niemeyer. Vorlesesituationen mit Fragen sprachfördernd gestalten 139 Ministerium für Kultur, Jugend und Sport Baden-Württemberg (2011): Orientierungsplan für Bildung und Erziehung in baden-württembergischen Kindergärten und weiteren Kindertageseinrichtungen. http: / / www.kultusportal-bw.de/ site/ pbsbw/ get/ documents/ KULTUS.Dachmandant/ KULTUS/ import/ pb5start/ pdf/ K M_KIGA_Orientierungsplan_2011.pdf [4.3.2015]. Motsch, H.-J. (2010): Kontextoptimierung. Förderung grammatischer Fähigkeiten in Therapie und Unterricht. München: Reinhardt. Nieburh, S. & Ritterfeld, U. (2002): Sprachförderung durch Medienrezeption? In: Spinath, B. & Heise, E. (Hgg.): Pädagogische Psychologie unter gewandelten gesellschaftlichen Bedingungen, 145-160. OECD (2004): Die Politik der frühkindlichen Betreuung, Bildung und Erziehung in der Bundesrepublik Deutschland. Ein Länderbericht der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). http: / / www.bmfsfj.de/ RedaktionBMFSFJ/ Abteilung5/ Pdf- Anlagen/ oecdl_C2_A4nderbericht [2.11.2014]. Pepper, J. & Weitzmann, E. (2004): It Takes Two to Talk. Toronto: Hanan Centre. Remsperger, R. (2013): Das Konzept der Sensitiven Responsivität. Ein Ansatz zur Analyse des pädagogischen Antwortverhaltens in der ErzieherInnen-Kind- Interaktion. In: Frühe Bildung 1, 12-19. Rost-Roth, M. (2006): Nachfragen. Formen und Funktionen äußerungsbezogener Interrogationen. Berlin, New York: de Gruyter. Ruberg, R.; Rothweiler, M. & Utecht, D. (2012): Spracherwerb und Sprachförderung in der KiTa. Stuttgart: Kohlhammer. Siraj-Blatchford, I.; Sylva, K.; Muttock, S.; Gilden, R. & Bell, D. (2002): Researching Effective Pedagogy in the Early Years. Research Report No. 256. Norwich: Queen’s Printer. Siraj-Blatchford, I. & Sylva, K. (2004): Researching pedagogy in English pre-schools. British Educational Research Journal 30, 713-730. Siraj-Blatchford, I. & Manni, L. (2008): “Would you like to tidy up now? “ An analysis of adult questioning in the English Foundation Stage. In: Early Years 28, 5-22. Snow, C. (1977): Mothers’ Speech Research: From Input to Interaction. In: Snow, C. & Ferguson, C.A. (Hgg.): Talking to Children. Language Input and Interaction. Cambridge: Cambridge University Press, 31-49. Sylva, K.; Melhuish, E.; Sammons, P.; Siraj-Blatchford, I. & Taggart, B. (2004): The effective provision of pre-school education project - Zu den Auswirkungen vorschulischer Einrichtungen in England. In: Faust, G.; Götz, M. & Hacker, H. (Hgg.): Anschlussfähige Bildungsprozesse im Elementar- und Primarbereich. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, 154-167. Thiele, J. (2003 2 ): Das Bilderbuch. Ästhetik - Theorie - Analyse - Didaktik - Rezeption. Oldenburg: Isensee. Tough, J. (1977): Talking und learning. A guide to fostering communication skills in nursery and infant schools. London: Drake Educational Associates. Ulich, M. (2003): Literacy - Sprachliche Bildung im Elementarbereich. In: Kindergarten heute 33, 6-18. Vygotskij, L.S. (1972): Denken und Sprechen. Stuttgart: Fischer. Mandy Schönfelder 140 Willige, K. (2008): Interaktionsverhalten von ErzieherInnen: Eine Fallstudie zum Gebrauch von Sprachlehrstrategien im Elementarbereich. Universität Hamburg, Diplomarbeit. Whitehurst, G.J. et al. (1988): Accelerating language development through picture book reading. Developmental Psychology 24, 552-558. Whitehurst, G.J. & Lonigan, C.J. (1998): Relative efficacy of parent and teacher involvement in a shared-reading intervention for preschool children from lowincome backgrounds. In: Early Childhood Research Quarterly 13, 163-290. Whitehurst, G.J.; Zevenbergen, A.A.; Crone, D.A.; Schultz, M.D.; Velting, O.N. & Fischel, J. (1999). Outcomes of an emergent literacy intervention from Head Start through second grade. In: Journal of Educational Psychology 91, 261-272. Wood, D. (1992): Culture, Language and Child Development. In: Language and Education 6, 123-140. III Lernpotenziale beim Vorlesen in der Schule Daniela Merklinger Sprachformen für Unbestimmtheit und Ungewissheit: Literarisches Lernen im Vorlesegespräch Der Erwerb literarischer Kompetenzen ist nicht an die Fähigkeit gebunden, selbst lesen zu können, sondern beginnt schon lange vor der Schule: beim Vorlesen und Erzählen, aber auch im Umgang mit audio-visuellen Medien, Hörmedien und neuen Medien. Das haben Studien zur frühen literarischen Sozialisation in der Familie gezeigt (z.B. Elias 2009; Müller 2012; Wieler 1997; für die Kindertagesstätte vgl. Knopf 2009), die zudem herausstellen, dass die Vorlesesituation insbesondere dann lernförderlich ist, wenn die Kinder aktiv an der Gestaltung der Ko-Konstruktion von Bedeutung beteiligt sind; das ist in bildungsferneren Familien weniger üblich als in bildungsnäheren. Da nicht allen Kindern in der Familie vorgelesen wird (oder Geschichten erzählt werden), stellt sich die Frage, wie Kinder, die diese Beteiligung an der Bedeutungs-Ko-Konstruktion nicht vom häuslichen Vorlesen kennen, diese in der Schule erfahren können. Eine Möglichkeit besteht darin, ihnen in der Schule regelmäßig vorzulesen und ihnen Möglichkeiten der Anschlusskommunikation anzubieten: als Sprechen über Literatur. Vorlesegespräche können so für einige Kinder an familiäre Formate anknüpfen bzw. diese Formate für manche Kinder überhaupt erst einführen - natürlich unter schulischen Bedingungen. Dass literarisches Lernen - genauso wie das Leseverstehen und die Lesemotivation - ein zentrales Anliegen des Deutschunterrichts in der Grundschule ist, zeigen grundschulbezogene thematische Publikationen. 1 Waldt (2010 2 ) hebt in ihrer Studie zum literarischen Lernen in der Grundschule die Bedeutung ästhetisch anspruchsvoller Texte hervor, wobei sie z.B. Gedichte von Trakl und Brecht verwendet; Knopf (2009) greift u.a. auf Eichendorff und Brecht zurück. Heizmann (2011) macht das Gedicht ‚Zirkuskind‘ von Rose Ausländer zum Gegenstand eines literarischen Gesprächs mit Dritt- und Viertklässlern; Wiprächtiger-Geppert (2009) führt mit Förderschülern literarische Unterrichtsgespräche u.a. zu Ringelnatz. Dass auch Bilderbücher den Anspruch an literar-ästhetische Komplexität erfüllen, zeigen neuere Publikationen aus der didaktisch orientierten Bilderbuchforschung (vgl. z.B. 1 Zum Beispiel Duderstadt/ Forytta (1999); Pompe (2012); Wieler (2014); Themenhefte ‚Literarisches Lernen‘: Grundschulunterricht Deutsch (2007), Grundschule Deutsch (i.V.), AJuM (2007). Daniela Merklinger 144 Jantzen/ Klenz 2013; Knopf/ Abraham 2014a, 2014b; Kruse/ Sabisch 2013; Scherer/ Volz/ Wiprächtiger-Geppert 2014). An dieser Stelle setzt der vorliegende Beitrag an. Ich arbeite seit mehreren Semestern in Lehrveranstaltungen zum forschenden Lehren und Lernen zur Thematik des literarischen Lernens in Vorlesegesprächen. Die Studierenden bereiten ein Vorlesegespräch zu einem Bilderbuch theoriegeleitet vor, führen es in einer kooperierenden Koblenzer Schulklasse durch, transkribieren das Gespräch und werten es wiederum theoriegeleitet mit Blick auf das Wechselspiel zwischen Impuls und Kinderäußerungen unter der Thematik des literarischen Lernens aus (vgl. ausführlich Merklinger/ Preußer 2014). Aus dieser Arbeit mit Studierenden sind auch das Gespräch zum Bilderkino (vgl. 3.1) und das Vorlesegespräch zu dem Bilderbuch Schnipselgestrüpp (Duda/ Friese 2013) entstanden, aus denen ich nachfolgend drei Ausschnitte analysiere (vgl. Raths 2014). Der Unterricht hat Mitte des 4. Schuljahres stattgefunden. 2 Ziel dieser Betrachtung ist, zu rekonstruieren, welche Möglichkeiten für literarisches Lernen in einem Gespräch über dieses Bilderbuch entstehen können. Dabei steht im Mittelpunkt des Interesses, wie die Schüler Leerstellen füllen und wie sie mit der Mehrdeutigkeit literarischer Texte umgehen. Es ist anzunehmen, dass die Mehrdeutigkeit literarischer Texte und die „Unabschließbarkeit des Sinnbildungsprozesses“ (Spinner 2006) Kinder in besonderer Weise dazu herausfordert, Sprachformen für die vorhandene ‚Unbestimmtheit des Gegenstandes‘ und eine daraus folgende ‚Ungewissheit im Verständnis‘ zu finden. Auf die Bedeutung solcher Sprachformen, die vielerorts vorkommen, aber bisher kaum Beachtung finden, hat Mechthild Dehn aufmerksam gemacht - am Beispiel des Sprechens und Schreibens zu Gemälden sowie zu Bilderbüchern (Dehn 2014: 128-131; vgl. Dehn i.D.). Diese Beobachtung möchte ich in dem vorliegenden Beitrag für ein Gespräch zu den Bildern des Bilderbuches Schnipselgestrüpp (die Situation des Bilderkinos, s.u.) und für ein Vorlesegespräch zu diesem Buch fruchtbar machen: Welche Sprachformen Kinder finden, um ihre Vorstellungen (bzw. Deutungen) zu kennzeichnen, ist Gegenstand der exemplarischen Betrachtungen in Kapitel 3. Dabei möchte ich zeigen, dass die Ungewissheit im Verständnis, die die Kinder zum Ausdruck bringen, nicht unpräzise ist, sondern in hohem Maße textbezogen und dabei der Unbestimmtheit des literarischen Gegenstands angemessen. An dieser Stelle deutet sich ein Zusammenhang zwischen Prozessen sprachlichen und literarischen Lernens an, der in der gemeinsamen Aushandlung subjektiver Bedeutungen, die anhand der Schüleräußerungen rekonstruiert werden können, seinen Ursprung hat. Sprachliches Lernen ereignet sich dement- 2 Ich danke Stefanie Raths für die Bereitstellung des Materials. Sie hat den Unterricht konzipiert, durchgeführt und die Transkripte erstellt. Sprachformen für Unbestimmtheit und Ungewissheit 145 sprechend eher beiläufig; die Annäherung an und Auseinandersetzung mit dem literarischen Text sowie das Aushalten von Mehrdeutigkeiten steht im Vordergrund. 1 Vorlesegespräche Ziel eines Vorlesegesprächs ist der Erwerb literarischer Kompetenzen, gleichwohl diese schwer begrifflich zu modellieren sind (vgl. Kammler 2006: 11ff.). Dennoch lassen sich zentrale Aspekte literarischen Lernens beschreiben: Es ist wichtig, dass der Rezipient in die Fiktion der vorgelesenen Geschichte eintaucht und eigene Vorstellungen, eigene Imaginationen entwickelt. Dazu gehört, dass er sich selbst mit der Geschichte in Beziehung setzt, die Perspektiven literarischer Figuren nachvollzieht, Alterität wahrnimmt und sich mit einzelnen Figuren, mit der dargestellten Welt identifiziert oder sich kritisch davon distanziert. Dabei gilt es immer wieder, die eigene subjektive Involviertheit mit einer genauen Textwahrnehmung abzugleichen. Das beinhaltet auch, die metaphorische und symbolische Ausdrucksweise eines Textes zu erschließen sowie vorhandene Leerstellen zu füllen. In Anlehnung an das methodische Konzept zur Gestaltung von Vorlesegesprächen von Kaspar Spinner (2004) und Iris Kruse (2010) findet die Gesprächsphase anders als im Heidelberger Literarischen Gespräch (vgl. Härle/ Steinbrenner 2004; Wiprächtiger-Geppert/ Steinbrenner 2015) nicht im Anschluss an die Rezeption statt, sondern bereits während des Vorlesens. Das Gespräch wird von gezielt gesetzten Impulsen begleitet, die auf die narrative Struktur des Textes abgestimmt sein sollten, die die Imaginationsfähigkeit der Kinder unterstützen und zugleich eine vertiefende Auseinandersetzung mit Text und Bild anregen (zu verschiedenen Arten von Impulsen vgl. ausführlicher Spinner 2005). Ein wesentliches Merkmal literarischen Verstehens ist dabei die Fähigkeit, sich auf die „Unabschließbarkeit des Sinnbildungsprozesses“ (Spinner 2006) einzulassen und diese auszuhalten. Ob dies in einem Vorlesegespräch möglich ist, hängt stark ab von der Gesprächskultur einer Klasse - der Lehrer hat hier eine Vorbildfunktion (vgl. z.B. Bräuer 2011). Denn Voraussetzung dafür, dass Gespräche entstehen können, in denen es um Verständigung geht und in denen im gemeinsamen Austausch individuelle Bedeutungen entstehen, die (textbezogen) nebeneinander stehen können, ist, dass die Lehrkraft ein inhaltliches Interesse an den Beiträgen der Schüler hat und verstehen möchte, wie sie über das Vorgelesene denken. Dazu gehört auch, Anschlussfähigkeit zwischen den Beiträgen einzelner Schüler herzustellen. Daniela Merklinger 146 Natürlich können die normativ geprägten, schulischen Rahmenbedingungen auch in literarischen Gesprächen nie ganz ausgeblendet werden (vgl. auch Wieler 1989). 3 Ist die Gesprächskultur von der Suche nach der von der Lehrerin vermeintlich als richtig erachteten Antwort geprägt, kann ein Gespräch, in dem individuelle Deutungen, Ungewissheit und Nicht- Verständnis zur Sprache kommen, für die Schüler riskant sein, weil die schülerseitige Meinung schnell beurteilt und nicht zu verstehen versucht wird. Trotzdem kann auch in der Schule eine Gesprächskultur entstehen, in der Kinder miteinander ins Gespräch kommen und unterschiedliche Positionen miteinander verhandeln, ohne dass am Ende eine eindeutige Lösung stehen muss. Nicht in einem endgültigen Ergebnis, sondern im Prozess der Verstehenssuche liegt der Sinn der Auseinandersetzung mit Literatur. Dabei spielt auch eine Rolle, dass in der Thematisierung literarischer Erfahrung die begriffliche Sprache an ihre Grenze stößt, dass aber gerade das Vorantreiben des Redens über Literatur bis zu dieser Grenze erkenntnisfördernd ist. (Spinner 2011: 71) Sich in Unterrichtszusammenhängen darauf einzulassen, ‚sprachliche Wagnisse‘ einzugehen, unkonventionelle Gedanken sowie Nichtverstehen zum Ausdruck zu bringen, ist im literarischen Gespräch nicht nur geduldet, sondern geradezu erwünscht und wird als Qualitätsmerkmal für Prozesse sprachlichen und literarischen Lernens verstanden. 2 Schnipselgestrüpp - Das Bilderbuch Das Bilderbuch erzählt die Geschichte eines Jungen, dessen Familie arm ist und in der wenig kommuniziert wird: Der Junge ist in seinem (grauen) Zimmer, Mutter und Vater sitzen zu Beginn der Geschichte stumm und starr vor dem „plappernden“ Fernseher. Da der Junge kein Spielzeug hat, schneidet er Bilder aus Zeitungen aus, klebt sie an die Wand und schafft sich anhand der Bilder eine eigene Fantasiewelt. Diese handelt zunächst vom Krieg. Die Mutter zerstört diese Fantasiewelt, indem sie die Schnipsel von der Wand reißt. Neue Zeitungen, die sie ihm bringt, berichten von Gottesanbeterinnen. Während des Ausschneidens träumt sich der Junge erneut in eine Fantasiewelt hinein, dieses Mal in die Natur. Er verwandelt sich 3 Dass das Gespräch über Literatur in der Schule immer auch durch schulische Normen bestimmt ist, hat Wieler für die Sekundarstufe bereits Ende der 1980er Jahre gezeigt: Den Schülern geht es hauptsächlich darum, ihre Vertrautheit mit einer schulspezifischen Verfahrensweise der ‚Texterschließung‘ zu demonstrieren und gleichzeitig den Schein aufrechtzuerhalten, die Auseinandersetzung orientiere sich an ihren eigenen Verstehensinteressen und vermittle ihnen subjektiv relevante Einsichten (Wieler 1989: 114). Sprachformen für Unbestimmtheit und Ungewissheit 147 schließlich selbst in eine Gottesanbeterin. Nachdem der Vater dies zuerst nicht glaubt, verwandelt auch er sich, wird zum Frosch und taucht mit dem Jungen in dessen Fantasiewelt ein. Auf der letzten Doppelseite wachsen die Pflanzen über die Grenze zum Wohnzimmer hinaus: Sohn und Eltern beginnen sich anzunähern. Am Ende schlägt die Mutter Wurzeln. Inhaltlich berührt Schnipselgestrüpp das Thema materieller und sozialer Armut - ein ernstes Thema, das lange Zeit im Bilderbuch gemieden oder zumindest verharmlost wurde, um Kinder davor zu schützen (vgl. Thiele 2003: 164f.). 4 Häufig wird dabei übersehen, dass eine Geschichte wie Schnipselgestrüpp auch Mut machen kann: Den gleichgültig wirkenden Eltern steht der aktive Widerstand des Sohnes gegenüber. Welche Möglichkeiten für literarisches Lernen in einem Gespräch über dieses Bilderbuch entstehen können und welche Rolle dabei der Ausdruck und das Aushalten von Unbestimmtheit und Ungewissheit haben, möchte ich nachfolgend anhand von drei Ausschnitten aus einer Gesprächssituation zum Bilderkino (s.u.) und einem Vorlesegespräch zeigen, die Mitte des 4. Schuljahres in derselben Klasse entstanden sind (vgl. Raths 2014). Ausgangspunkt für die Auswahl war das gehäufte Vorkommen von Sprachformen für Unbestimmtheit und Ungewissheit, eine - auf den ersten Blick - eher unscheinbare Besonderheit kindlichen Sprechens, die „in der Grundschule bisher kaum wahrgenommen und wertgeschätzt“ wird (Dehn 2014: 133). 3 Sprachformen für Unbestimmtheit und Ungewissheit 3.1 Bilderkino: „… die Mutter (.) sieht irgendwie so aus, als ob …“ 5 Die Unbestimmtheit des Gegenstandes wird insbesondere im Zusammenhang mit den Bildern von den Schülern zum Thema gemacht. Dazu ein Beispiel aus der Gesprächssituation des Bilderkinos, in der die Schüler gemeinsam anhand der Bilder die Geschichte erzählt haben. Den Text kennen sie zu diesem Zeitpunkt nicht (zur didaktischen Begründung vgl. Hoffmann 2013). 6 4 Dass es auch heute Bedenken gibt, Bilderbücher wie Schnipselgestrüpp in der Schule einzusetzen, zeigen erste Ergebnisse einer qualitativen Pilotstudie zu handlungswirksamen Überzeugungen von Grundschullehrerinnen bei der Auswahl von Bilderbüchern - exemplarisch sogar an demselben Bilderbuch (vgl. Ritter/ Ritter 2014). 5 Die Abschnitte 3.1, 3.2 und 3.4 sind übernommen aus Merklinger (2015). 6 Dass dieses Setting die Text-Bild-Korrespondenz einseitig zu Gunsten der Bilder auflöst, lässt sich auch kritisch diskutieren. Daniela Merklinger 148 Abb. 1: Schnipselgestrüpp, fünfzehnte Doppelseite Es entsteht folgender Austausch zwischen den Schülern 7 : 394 395 396 Finn: aber warum hat der em vater nen KRUMMEN fuß? 397 Maurice: froschfuß. 398 Yves: froschfuß. ((…)) ((organisation des gesprächsverlaufs)) 402 403 404 405 406 407 408 409 410 411 412 413 414 415 416 417 418 419 420 421 422 423 424 425 Daria: (…) UND (.) zu finn. der hat sich verwandelt. deshalb ist sein fuß so KOMISCH. (2) und noch ein ding zur MUTTER. (2) em, die MUTTER, die mutter sieht irgendwie so aus, als ob sie sich em so so, wie heißt das nochmal, SO wenn man so was schlechtes GETAN hat, als (.) wenn die WENN die jetzt mit dem VATER gestritten hat und dann will die so äm wieder mit dem reden und dann weiß die nicht, wo der IST, keine ahnung, und die sieht so aus, als wenn sie SO nachdenkt und die sich fragt, wo der VATER jetzt IST. 7 Alle Namen sind hier und auch im Folgenden anonymisiert. Sprachformen für Unbestimmtheit und Ungewissheit 149 426 Studentin: woran siehst du das? 427 428 429 430 431 432 433 434 435 Daria: weil die irgendwie SO aussieht und so gesichtsausdruck so ist, als ob die so guckt und denkt, der kommt irgendwann durch die eingangstür hereinspaziert, weil FALLS es stimmt, wie LENA es sagt, dass DAS alles nur die wohnung ist, kann die ja überall gucken. Die Schüler beschreiben nicht nur, was auf der Doppelseite zu sehen ist, sie suchen auch nach Deutungen, sie füllen Leerstellen - gemeinsam, im Gespräch. Maurice, Yves und Daria deuten die Verwandlung des Vaters in einen Frosch als mögliches Handlungsmoment der Geschichte. Die Unbestimmtheit des Bildes scheint für Maurice, Yves und Daria hier vergleichsweise klein zu sein: Maurice und Yves bezeichnen den Fuß als „Froschfuß“ (397, 398). Auch Daria wählt in ihrer Antwort auf Finns Frage den Indikativ und stellt die Verwandlung des Vaters als Tatsache dar (403f.): „Der hat sich verwandelt. (.) Deshalb ist sein Fuß so KOMISCH.“ Finns Frage nach einer Begründung, warum der Vater „nen krummen Fuß“ hat (394ff.), führt weiter in die Geschichte hinein und zeigt, dass er die dargestellte fiktive Welt auch verstehen möchte - zugleich ist sie der Ausgangspunkt dafür, dass die Kinder versuchen, das Unbestimmte und Ungewisse in Sprache zu fassen. So versucht Daria, anhand des Bildes auf eine mögliche narrative Handlungslogik zu schließen: Die Mutter hat sich mit dem Vater gestritten und möchte sich wieder mit ihm vertragen - ohne dass sie weiß, wo der Vater sich gerade befindet, so die Logik von Daria. Dabei bezieht sie sich nach Aufforderung der Studentin auf das Bild und begründet ihre Deutung mit dem Gesichtsausdruck der Mutter, d.h., sie bringt ihre subjektive Involviertheit mit einer genauen Textbzw. Bildwahrnehmung in Verbindung - ein zentraler Aspekt literarischen Lernens. Zudem erfolgt eine Perspektivübernahme, wenn Daria Überlegungen zur Gedankenwelt der Figur der Mutter anstellt. Dass es in diesem Rezeptionsgespräch nicht darum geht, die eine, „richtige“ Antwort zu finden, zeigt die Häufung von Formulierungen, die die Unbestimmtheit des Gegenstandes wie auch die Ungewissheit im eigenen Verständnis zum Ausdruck bringen - und damit auch ein Sich-Einlassen auf die Unabschließbarkeit des Sinnbildungsprozesses als grundlegendem Aspekt literarischen Lernens. In dem Moment, wo die Kinder sich darum bemühen, die Gedankenwelt der Figuren zu verstehen, häufen sich entsprechend Sprachformen, die Ungewissheit ausdrücken und zugleich Subjektivität deutlich machen, so Daniela Merklinger 150 z.B. wenn Daria auf die Gedankenwelt der Mutter zu sprechen kommt, hier zunächst auf Satzebene: „…die mutter (.) sieht irgendwie so aus, als ob…“ (408f.) „… als (.) wenn die WENN die jetzt mit dem VATER gestritten hat“ (416f.) „die sieht so aus, als wenn sie SO nachdenkt…“ (423) Und auch auf die Nachfrage der Studentin, die einen Bildbezug und damit eine genaue Bildwahrnehmung herausfordert, signalisiert Daria ihre Ungewissheit sprachlich: „weil die irgendwie SO aussieht und so gesichtsausdruck so ist, als ob die so (.) guckt und denkt“ (427ff.) Daria thematisiert auch metasprachlich ihre bestehende Ungewissheit im Verständnis, hier mit Blick auf eine vorausgegangene Äußerung ihrer Mitschülerin Lena: „… weil FALLS es stimmt, wie LENA es sagt…“ (432) Das ‚als ob‘ und ‚als wenn‘ sind dabei Sprachformen, die im Zusammenhang mit dem Sprechen über Bilderbücher eine besondere Bedeutung haben, schließlich machen sie deutlich, dass die Kinder sich die dargestellte Welt vorstellen und versuchen, tiefer in die Geschichte einzudringen, sie kennzeichnen durch das ‚als wenn‘ und ‚als ob‘, dass sie über ihre Vorstellungen zu dem Gehörten oder (Vor-)Gelesenen sprechen, über ihre Imagination. Helga Andresen hat in ihren Studien zum kindlichen Rollenspiel die Bedeutung der Fiktion herausgestellt: Zentral für die Überwindung des sympraktischen (situationsgebundenen, D.M.) Sprachgebrauchs ist die interaktive, sprachliche Erzeugung von Fiktion. (Andresen 2002b: 10) Typisch sind formelhafte Wendungen wie „‚du bist wohl der Vater‘, ‚aus Spaß ist meine Hand gebrochen‘“ (Andresen 2002b: 8). Durch die Markierung des fiktiven Charakters der Bedeutungen erzeugen die Kinder nicht einfach einen anderen Kontext, sondern einen anderen Typ von Kontext, denn die „fiktiven Bedeutungen im Spiel haben eine andere epistemische Qualität als die ‚Realbedeutungen‘“ (Andresen 2002a: 216). (Bilder-)Bücher gehen hier den umgekehrten Weg: Sie bieten den Kindern eine sprachlich (und bildlich) geschaffene, fiktive Welt an, die diese sich als Rezipienten erschließen können. Das tun Kinder z.B., indem sie die im Erzählraum von Text und Bild entstehenden Leerstellen füllen. Interessant ist, dass sie dabei sprachlich signalisieren, wenn sie in diesem Fall nicht über die reale Welt wie im Rollenspiel hinausgehen, sondern in die dargestellte (Vorstellungs-)Welt der Geschichte eindringen. Mechthild Dehn Sprachformen für Unbestimmtheit und Ungewissheit 151 spricht in diesem Zusammenhang (mit dem Fokus des Bildverstehens beim Sprechen und Schreiben über Kunst) von ‚Fiktionalitätssignalen‘, die nicht textseitig bestimmt sind, sondern die die Kinder bei der Rezeption artikulieren: Mit dem ‚als ob‘ und dem ‚vielleicht‘ signalisieren die Kinder, dass sie sich auf die Unbestimmtheit und Mehrdeutigkeit des Objekts einlassen, dass sie es nicht als Sachverhalt (faktual), sondern als dargestellte und erzeugte Vorstellung (fiktional) betrachten. Die Fiktionalitätssignale kennzeichnen eine Haltung. Ob die Markierungen von Unbestimmtheit und Ungewissheit auf der Wortebene jeweils im Einzelnen als Fiktionalitätssignal angesehen werden, soll dahingestellt bleiben. In der Gesamtheit tragen sie aber zu dem besonderen Sprachmodus bei. (Dehn i.D.) Gespräche, die den Schülern die Möglichkeit geben, eigene Ungewissheiten in Sprache zu fassen und auszuhalten, haben insofern eine besondere epistemische Qualität gegenüber Gesprächen, die eher auf Eindeutigkeit ausgerichtet sind. 3.2 Vorlesegespräch: „Also, ich bin mir nicht sicher, aber ich glaub …“ Nach der Situation des Bilderkinos (s.o.) liest die Studentin am nächsten Tag den Text vor. Das Bild ist parallel zu sehen. Die Auswahl erfolgte hier mit Blick darauf, wie die Kinder sich die metaphorische Ausdrucksweise der Bilderbuchseite erschließen: irgendwo kreischt jemand und plötzlich ist es STILL. man hört nichts; nein. ein fernsehapparat plappert und dann hört man auch leises rauschen, das näher kommt, dabei lauter und lauter wird, bis es grell bläst. schon ist es ein orkan, ein STARKER [Ergänzung durch die Vorleserin] wirbelsturm, der mit hoher stimme brüllt und alles mit sich reißt. Abb. 2: Schnipselgestrüpp, siebte Doppelseite Daniela Merklinger 152 Die folgenden Reaktionen verschiedener Schüler sind dem unmittelbar anschließenden Gespräch entnommen, das nach einer Pause von 7 Sekunden mit der Frage „warum ein STARKER wirbelsturm? “ eingeleitet wurde: damit ist (.) die mutter gemeint, (.) die dann die ga: nzen Bilder abreißt. ((…)) Em (2) weil da steht ja (.) der alles mit sich reißt (.) und dann glaub ich auch (.) em (.), dass das die Mutter ist, die das dann alles von der Wand wegmacht (.) und alles sauber macht. (Nikolai) weil ein wirbelsturm, (.) der em (.) REIßT ja alles so ka/ also so mit und (.) macht alles KAPUTT und auch die mutter, die macht das ja au: ch. (2) also die macht ja alles weg: , (.) em (.) macht alles kaputt. (3) (Yasmina) also, ich bin mir nicht sicher, aber ich glaub, (.) em (.) die mutter wollte nur nicht, dass da auf der wand KRIEG ist. (.) sondern schönere sachen. (Elif) Nikolai ist der Meinung, dass mit dem Orkan bzw. Wirbelsturm die Mutter gemeint ist und belegt dies mit einem Zitat aus dem vorgelesenen Text: „em (2) weil da steht ja (.) der alles mit sich reißt (.)“ Auch Yasmina und Elif deuten die Leerstelle entsprechend, schlagen aber mit Blick auf das Motiv der Mutter gegensätzliche Deutungen vor, die im Rahmen der Geschichte plausibel erscheinen und die deutlich machen, dass die Schülerinnen die Perspektive der literarischen Figur der Mutter nachvollziehen und ihr Figurenverhalten reflektieren: Die Mutter „macht alles KAPUTT“, wenn sie die aufgeklebten Bilder von der Wand reißt“ vs. „also, ich bin mir nicht sicher, aber ich glaub, (.) em (.) die mutter wollte nur nicht, dass da auf der Wand KRIEG ist. (.) sondern schönere sachen“ - auch hier ein Rückbezug auf den vorgelesenen Text als Beleg. An dieser Stelle ist deutlich zu sehen, dass die Ungewissheit im Verständnis mit einer sehr präzisen Textwahrnehmung einhergeht. D.h., die hier vorgestellten Sprachformen für Ungewissheit mögen auf den ersten Blick zwar unpräzise erscheinen, sind jedoch in hohem Maße auf den literarischen Gegenstand bezogen und sind ein Versuch, sich diesem zu nähern und ihn zu verstehen. Sie sind ein sprachlicher Ausdruck des Wechselspiels zwischen subjektiver Involviertheit und genauer Textwahrnehmung - anders als ein ‚keine Ahnung‘ oder ein ‚weiß nicht‘, was im Hinblick auf den Gegenstand nicht weiter kontextualisiert wird. Die verschiedenen Deutungen der Kinder bleiben im Gespräch nebeneinander stehen. Die Kinder machen die Subjektivität ihrer Deutungen dadurch deutlich, dass sie sie sprachlich durch ‚ich bin nicht sicher‘ und ‚ich glaub‘ markieren: „also, ich bin mir nicht sicher, aber ich glaub…“ (Elif) „und dann glaub ich auch…“ (Nikolai) Sprachformen für Unbestimmtheit und Ungewissheit 153 In Gesprächen über Vorgelesenes, in denen die gemeinsame Bedeutungskonstruktion im Zentrum steht, sind solche sprachlichen Formen häufig zu beobachten (vgl. Abschnitt 3.4 Sprachformen im Vergleich). 3.3 Metakommunikation im Vorlesegespräch: „… fast in jeder aussage […] war ja DENKEN (.) GEDANKEN machen.“ Die Sprachformen für Unbestimmtheit und Ungewissheit, die die Schüler im Gespräch über das Bilderbuch Schnipselgestrüpp zur Sprache bringen, wenn sie z.B. sagen, dass sie etwas ‚glauben‘ oder ‚denken‘, werden an einer Stelle des Gesprächs explizit von einer Schülerin thematisiert. In der Geschichte geht es gerade darum, dass der Junge behauptet, eine Gottesanbeterin zu sein, der Vater widerspricht ihm, denn er sähe wie ein Kind aus. Die Vorleserin liest die ersten beiden Sätze der darauf folgenden Seite vor, wiederholt dabei den zweiten Satz und macht eine Pause: „Der Junge würde jetzt gerne mit dem Fuß aufstampfen. Das geht nicht, weil er kopfüber an einem Zweig hängt.“ (Duda/ Friese 2013, zwölfte Doppelseite). Ziel dieses Impulses ist, das Verhältnis von Bild und Text in den Aufmerksamkeitsfokus der Schüler zu rücken, was hier eine „kontrapunktische Spannung“ (Thiele 2003: 47) erzeugt und die Zuhörer dazu herausfordert, die gegensätzlichen Aussagen von Text und Bild zusammenzudenken, denn auf dem Bild ist lediglich zu sehen, dass der Junge auf seinem Bett sitzt: Abb. 3: Schnipselgestrüpp, siebte Doppelseite Folgender Austausch entsteht: 253 254 255 256 257 258 259 Elif: ich denke auch, dass der autorer (2) es gut/ es gut ausgesucht hat, weil em (…) das wär so wie so LANGweilig, wenn man ALLES wüsste. Daniela Merklinger 154 260 261 262 263 264 dann hätte ICH irgendwann mit diesem buch, obwohl es so kurz ist, aufgehört. Ich weiß ja sonst, das erzählt mir DIREKT, was da passiert. ((…)) 290 291 292 293 Yasmina: wenn da jetzt nur BILDER sein würden, auf die man alles GENAU sieht, dann bräuchte man auch gar nicht mehr den TEXT zu lesen. 294 295 Studentin: Mhm. (2) Und so? 296 297 Yasmina: Und so muss man noch den TEXT lesen und sich AUCH noch geDANKEN machen. 298 Studentin: Und dann, was passiert dann? 299 Yasmina: dann weiß man nur SO, dass da noch was ist. 300 301 302 303 304 305 306 307 308 309 310 311 312 313 314 315 316 Daria: also zu elifs und yasminas aussage. yasmina hat ja gesagt, dann bräuchte man ja nur die BILDER angucken. seh ich auch so. dann wär es ein bisschen so wie ein kinderbuch ((unverständlich)) und ja, zu elifs und yasminas aussage und zu meiner. das alles, was wir jetzt sagen wir haben fast in jeder aussage ((…)) war ja DENKEN GEDANKEN machen. das erinnert mich alles irgendwie so sehr an ethik. weil mit herr heinrich heißt es auch immer GE: DANKEN machen, GE: DANKENexperimente. und das hier wirkt so ähnlich wie ethik, finde ich. 317 Studentin: wie ein gedankenexperiment? 318 319 320 Daria: ja, so ein bisschen. nur, dass wir das alles in einer gruppe machen und nicht einzeln (6) Die Schüler scheinen sich einig darüber zu sein, dass die gegensätzlichen Aussagen von Text und Bild das Buch interessanter machen, und bewerten positiv, dass der Rezipient den Zusammenhang durch Nachdenken erschließen muss - zugleich ein Zeichen dafür, dass sie sich bewusst mit Fiktionalität auseinandersetzen. Bemerkenswert ist hier nicht nur der wiederholte Gebrauch des Konjunktiv (258-304), sondern auch, dass Daria am Sprachformen für Unbestimmtheit und Ungewissheit 155 Ende des Austauschs von sich aus eine Metaperspektive auf das Gespräch einnimmt: „… das alles, was wir jetzt sagen, wir haben in fast in jeder aussage ((…)) war ja DENKEN (.)GEDANKEN machen.“ (Z. 308ff.) Daria macht die kognitiven Prozesse des Verstehens zum Thema. Damit ist zugleich eine Haltung angesprochen, die auch grundlegend für den Umgang mit Literatur und für literarisches Lernen ist: Indem die Gesprächsteilnehmer das Gesagte explizit als ihre persönlichen Gedanken kennzeichnen, machen sie indirekt deutlich, dass es auch andere Deutungsmöglichkeiten gibt. Das ist eine wesentliche Voraussetzung, um sich auf die Unabschließbarkeit des Sinnbildungsprozesses einlassen zu können und dabei auch Mehrdeutigkeiten auszuhalten. Daria assoziiert an dieser Stelle des Gesprächs Inhalte aus dem Ethikunterricht: „weil mit herr heinrich heißt es auch immer GE: DANKEN machen, (.) GE: DANKENexperimente. und das hier wirkt so ähnlich wie ethik, finde ich.“ (313ff.). Während Gedankenexperimente Ausflüge der Fantasie und des Verstandes in eine mögliche ausgedachte Welt sind (vgl. Michalik/ Schreier 2006), denken die Kinder hier über die Wirkung der gegensätzlichen Aussage von Bild und Text nach und dringen so - im gemeinsamen Austausch - tiefer in den dargestellten Erzählraum des Bilderbuches ein, der sich erst im Zusammenspiel von Bild und Text entfaltet. Das Bilderbuch ist hier also kein Impulsgeber für ein Thema, über das auch losgelöst von der literarischen Vorgabe gesprochen werden kann, wie z.B. beim Philosophieren mit Kindern (vgl. de Boer/ Fuhrmann 2015). 3.4 Sprachformen im Vergleich Vergleicht man die Sprachformen für Unbestimmtheit und Ungewissheit, die die Kinder in den beiden hier zugrunde gelegten Gesprächen äußern (in der Situation des Bilderkinos und im Vorlesegespräch), so sind das ‚als-ob‘ und ‚als-wenn‘ im gesamten Vorlesegespräch nur an zwei Stellen zu finden - am häufigsten ist auf Satzebene das ‚ich glaub‘ vertreten (20 mal), auf Wortebene das ‚vielleicht‘ (18 mal). Im Bilderkino hingegen findet sich das ‚als-ob‘ acht Mal, auf Satzebene das ‚ich glaub‘ (32 mal) und auf Wortebene das ‚vielleicht‘ (117 mal). Anders als beim ‚als-ob‘, das eine Vorstellungswelt aufmacht, scheinen das ‚ich glaub‘ und das ‚vielleicht‘ eher eine kognitive Leistung darzustellen, die verschiedene Deutungsmöglichkeiten eines Textes thematisiert bzw. abwägt - Daria spricht sogar explizit von „… DENKEN (.) GEDANKEN machen“ und reflektiert das Gesagte so auf einer Metaebene. Das Vorherrschen dieser kognitiven Sprachformen (im Gegensatz zum imaginierenden ‚als ob‘) könnte auch durch das Setting bedingt sein, denn der Text ergänzt im zeitlich nachgelagerten Vorlesegespräch die bereits bekann- Daniela Merklinger 156 ten Bilder aus der Gesprächssituation des Bilderkinos und verringert so den Grad an Unbestimmtheit und Ungewissheit. Dass der Grund dafür nicht allein die zweischrittige Präsentationsform des Bilderbuches sein kann, dass die Zusammenhänge deutlich komplexer sind und z.B. auch die Unbestimmtheit des Buches von Bedeutung ist, zeigt ein Blick auf Transkripte anderer Vorlesegespräche, die in der Seminararbeit mit Studierenden entstanden sind. Denn darin kommt das ‚als-ob‘ und ‚als-wenn‘ ebenfalls in sehr unterschiedlicher Häufigkeit vor. Aber auch hier scheinen die hier als kognitiv orientiert bezeichneten Sprachformen insgesamt häufiger Verwendung zu finden. 4 Schluss In Vorlesegesprächen wird die Mehrdeutigkeit von Bilderbüchern zum Thema. Der Austausch über individuelle Lesarten ermöglicht eine vertiefende Auseinandersetzung mit dem literarischen Gegenstand. In diesem Zusammenhang kann auch sprachliches Lernen stattfinden, wenn Kinder bestimmte sprachliche Formen verwenden, um ihrer Ungewissheit im Verständnis Ausdruck zu verleihen. Dass die Schüler sich trauen, Ungewissheiten, die das eigene Verständnis betreffen, zu äußern, ist nicht selbstverständlich, sondern ein Qualitätsmerkmal der Gesprächskultur einer Klasse. Literarisches Lernen ereignet sich dabei zwischen der Mehrdeutigkeit literarischer Texte und der Unabschließbarkeit des Sinnbildungsprozesses. Solche Äußerungen lassen zugleich auf ein Bemühen schließen, sich dem literarischen Gegenstand anzunähern - in dem Wissen, dass letztlich immer eine Differenz im Verstehen bestehen bleibt. Die Analyse der Transkriptausschnitte hat gezeigt, wie eng sprachliches und literarisches Lernen miteinander verbunden sind. Hier bekommen Sprachformen für Ungewissheit, die in der Schule sonst eher wenig Beachtung erfahren, weil sie häufig als unpräzise gelten (z.B. „irgendwie“, „irgendwann“, „vielleicht“, „ich glaub“) eine neue Bedeutung: Weil sie gerade in ihrer Unbestimmtheit sehr präzise sind - sofern sie von den Schülern auf den literarischen Gegenstand bezogen werden. Diese Sprachformen kommen auch in Transkripten literarischer Gespräche anderer Autoren vor, stehen allerdings dort nicht im Fokus der Betrachtung (vgl. z.B. Merklinger/ Preußer 2014: 169; Wieler 2014; Wiprächtiger-Geppert 2009, besonders Abschnitt 4.2). Eine systematische Erforschung dieser Sprachformen steht noch aus: Was kennzeichnet sie? Wann treten sie auf? Welche Erscheinungsformen gibt es? Was ist der Bildungswert dieser Sprachformen? Welche Zusammenhänge zwischen sprachlichem und literarischem Lernen gibt es? Sprachformen für Unbestimmtheit und Ungewissheit 157 Eines lässt sich festhalten: Mit der Fähigkeit, Ungewissheiten im eigenen Verständnis in Worte zu fassen und auszuhalten, können die Schüler im Vorlesegespräch eine Fähigkeit erproben und erweitern, die auch - aber nicht nur - im Hinblick auf literarisches Lernen und Literatur von zentraler Bedeutung ist. Literatur AJuM - AG Jugendliteratur und Medien (2007) (Hg.): Literarisches Lernen in der Grundschule. kjl&m 07.3. AJuM - AG Jugendliteratur und Medien (2013) (Hg.): Bilderbücher - Aktuelle ästhetische Bildwelten und ihr didaktisches Potenzial. kjl&m 13.1. Andresen, H. (2002a): Interaktion, Sprache und Spiel. Zur Funktion des Rollenspiels für die Sprachentwicklung im Vorschulalter. Tübingen: Narr. Andresen, H. (2002b): Spiel, Interaktion und Dekontextualisierung von Sprache vor Schulbeginn. In: Der Deutschunterricht 3, 7-14. de Boer, H. & Fuhrmann, C. (2015): Mit Bilderbüchern philosophieren. In: Dehn, M. & Merklinger, D. (Hgg.): Erzählen - Vorlesen - Zum Schmökern anregen. Frankfurt a.M.: Grundschulverband, 165-176. Bräuer, C. (2011): Literarische Gespräche im Deutschunterricht. Über Literatur sprechen (lernen) In: Kirschenmann, J.; Richter, C. & Spinner, K. (Hgg.): Reden über Kunst. München: kopaed, 73-91. Dehn, M. (2014): Visual Literacy, Imagination und Sprachbildung. In: Knopf, J. & Abraham, U. (Hgg.): BilderBuch. Band 1: Theorie. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 125-134. Dehn, M. (i.D.): Kunstkommunikation in der Deutschdidaktik. In: Hausendorf, H. & Müller, M. (Hgg.): Sprache in der Kunstkommunikation. Berlin, New York: de Gruyter. Duda, C. & Friese, J. (2013 2 ): Schnipselgestrüpp. Weinheim: Beltz & Gelberg. Duderstatt, M. & Forytta, C. (1999): Literarisches Lernen. Frankfurt a.M.: Grundschulverband. Elias, S. (2009): Väter lesen vor. Soziokulturelle und bildungstheoretische Aspekte der frühen familialen Lesesozialisation. Weinheim: Juventa. Grundschule Deutsch (i.V.): Themenheft ‚Literarisches Lernen‘. Grundschulunterricht Deutsch (2007): Themenheft ‚Literarisches Lernen‘. Härle, G. & Steinbrenner, M. (2004): Das literarische Gespräch im Unterricht und in der Ausbildung von Deutschlehrerinnen und -lehrern. Eine Einführung. In: Härle, G. & Steinbrenner, M. (Hgg.): Kein endgültiges Wort. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 1-24. Heizmann, F. (2011): Ästhetische Alteritätserfahrung in Literarischen Gesprächen mit Grundschulkindern. In: Kirschenmann, J.; Richter, C. & Spinner, K. (Hgg.): Reden über Kunst. München: kopaed, 93-119. Hoffmann, J. (2013): „Vielleicht sehnt der sich nach Sonne …“ - Entfaltung von Perspektiven im Gespräch zum Bilder(buch)kino. In: Jantzen, C. & Klenz, S. (Hgg.): Bild und Text - Text und Bild. Bilderbücher im Deutschunterricht. Freiburg i.B.: Fillibach, 37-72. Daniela Merklinger 158 Jantzen, C. & Klenz, S. (2013): Text und Bild - Bild und Text. Bilderbücher im Unterricht. Freiburg i.B.: Fillibach. Kammler, C. (2006): Literarische Kompetenzen - Standards im Literaturunterricht. Anmerkungen zum Stand der Diskussion. In: Kammler, C. (Hg.): Literarische Kompetenzen - Standards im Literaturunterricht. Seelze: Klett Kallmeyer, 7-23. Knopf, J. (2009): Literaturbegegnung in der Schule - Eine kritisch-empirische Studie zu literarisch-ästhetischen Rezeptionsweisen in Kindergarten, Grundschule und Gymnasium. München: Iudicium. Knopf, J. & Abraham, U. (2014a) (Hgg.): BilderBuch. Band 1: Theorie. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. Knopf, J. & Abraham, U. (2014b) (Hgg.): BilderBuch. Band 2: Praxis. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. Kruse, I. (2010): Das Vorlesen lernförderlich gestalten. Astrid Lindgrens Märchen „Sonnenau“ - Ein Unterrichtsbeispiel zum „Höreraktivierenden Vorlesen“. In: Grundschulunterricht Deutsch 57, 18-22. Kruse, I. & Sabisch, A. (2013) (Hgg.): Fragwürdiges Bilderbuch. Blickwechsel - Denkspiele - Bildungspotentiale. München: kopaed. Merklinger, D. (2015): Spuren literarischen Lernens im Vorlesegespräch: Schnipselgestrüpp. In: Dehn, M. & Merklinger, D. (Hgg.): Erzählen - Vorlesen - Zum Schmökern anregen. Frankfurt a.M.: Grundschulverband, 124-135. Merklinger, D. & Preußer, U. (2014): Im Vorlesegespräch Möglichkeiten für literarisches Lernen eröffnen. Steinsuppe. In: Scherer, G.; Volz, S. & Wiprächtiger- Geppert, M. (Hgg.): Bilderbuch und literar-ästhetische Bildung. Trier: WVT, 155- 173. Michalik, K. & Schreier, H. (2006): Wie wäre es, einen Frosch zu küssen? Philosophieren mit Kindern im Grundschulunterricht. Braunschweig: Westermann. Müller, C. (2012): Kindliche Erzählfähigkeiten und (schrift-)sprachsozialisatorische Einflüsse in der Familie. Eine longitudinale Einzelfallstudie mit ein- und mehrsprachigen (Vor-)Schulkindern. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. Pompe, A. (2012) (Hg.): Literarisches Lernen im Anfangsunterricht. Theoretische Reflexionen - Empirische Befunde - Unterrichtspraktische Entwürfe. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. Raths, S. (2014): „Da muss man ein bisschen nachdenken, damit man merkt, was da passiert.“ Auf der Spur von Bild-Text-Korrespondenzen im Bilderbuch. Masterarbeit Universität Koblenz. Ritter, A. & Ritter, M. (2014): Zwischen vermeintlichen Stühlen - Einstellungen und beliefs von Grundschullehrer(inne)n im Kontext literarischer Lernprozesse mit Bilderbüchern. In: Scherer, G.; Volz, S. & Wiprächtiger-Geppert, M. (Hgg.): Bilderbuch und literar-ästhetische Bildung. Aktuelle Forschungsperspektiven. Trier: WVT, 141-153. Scherer, G.; Volz, S. & Wiprächtiger-Geppert, M. (Hgg.) (2014): Bilderbuch und literar-ästhetische Bildung. Aktuelle Forschungsperspektiven. Trier: WVT. Spinner, K. (2004): Gesprächseinlagen beim Vorlesen. In: Härle, G. & Steinbrenner, M. (Hgg.): Kein endgültiges Wort. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 291-308. Sprachformen für Unbestimmtheit und Ungewissheit 159 Spinner, K. (2005): Höreraktivierung beim Vorlesen und Erzählstruktur. In: Wieler, P. (Hg.): Narratives Lernen in medialen und anderen Kontexten. Freiburg i.B.: Fillibach, 153-166. Spinner, K. (2006): Literarisches Lernen. In: Praxis Deutsch 34, 6-16. Spinner, K. (2011): Gespräch über Literatur. Was Schülerinnen und Schüler lernen sollen. In: Kirschenmann, J.; Richter, C. & Spinner, K. (Hgg.): Reden über Kunst. München: kopaed, 63-72. Thiele, J. (2003 2 ): Das Bilderbuch. Ästhetik - Theorie - Analyse - Didaktik - Rezeption. Oldenburg: Isensee. Waldt, K. (2010 2 ): Literarisches Lernen in der Grundschule. Herausforderung durch ästhetisch anspruchsvolle Texte. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. Wiprächtiger-Geppert, M. (2009): Literarisches Lernen in der Förderschule. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. Wiprächtiger-Geppert, M. & Steinbrenner, M. (2015): Gemeinsam über Geschichten nachdenken und sprechen. Das Heidelberger Modell des Literarischen Unterrichtsgesprächs. In: Dehn, M. & Merklinger, D. (Hgg.): Erzählen - Vorlesen - Zum Schmökern anregen. Frankfurt a.M.: Grundschulverband, 136-145. Wieler, P. (1989): Sprachliches Handeln im Literaturunterricht als didaktisches Problem. Weinheim: Juventa. Wieler, P. (1997): Vorlesen in der Familie. Weinheim: Juventa. Wieler, P. (2014): Gespräche und Geschichten mehrsprachiger Grundschulkinder zu einem Bilderbuch ohne Text. Literarisches Lernen und der Erwerb schriftsprachlicher Textualität. In: Eder, U. (Hg.): Sprache erleben und lernen mit Kinder- und Jugendliteratur I. Theorien, Modelle und Perspektiven für den Deutsch als Zweitsprachenunterricht. Wien: prasens Verlag, 119-142. Jeanette Hoffmann Graphic Novels im Gespräch. Musterhafte Strukturen des gegenseitigen Vorlesens von grafisch erzählenden Romanen unter Schulkindern Egon und Robert, zwei Jungen am Ende des zweiten Schuljahres, sitzen auf einem Sofa im Bibliotheksraum der Schule und schauen sich eine Graphic Novel an bzw. lesen sich gegenseitig hieraus vor. Die Geschichte beginnt mit dem ersten Schultag der Hauptfigur Jean, an dem dieser sich etwas verloren vorkommt und von der älteren Lehrerin sehr eingeschüchtert ist. Auf der Doppelseite zwischen dem ersten und dem zweiten Kapitel angekommen (vgl. Abb. 1, Regnaud/ Bravo 2009: 14-15), entspinnt sich folgendes Gespräch zwischen den beiden Jungen 1 : 1 Egon kapitel zwei mein papa. (2.0) die mamas und papas holen ihre kinder von der schule ab 2 Robert (-) ist das die oma? (-) diese eine lehrerin? 3 Egon ja 4 Robert [das ist wohl die andere lehrerin 5 Egon [hm (-) die sieht komisch aus] 6 Robert <<mit verstellter Stimme> guckt mal das das ist ein> (-) em wie sagt 7 Egon quadrat 8 Robert <<mit verstellter Stimme> quadrat und das ist ein dreieck> (-) <<rufend> ein quadra: : : t> 9 Egon hö: : 10 Robert (3.0) der denkt gar nicht dran 11 Egon ich werde von: em (-) 12 Robert y: y: vette 13 Egon yvette abgeholt (-) yvette ist unser kindermädchen ((...)) In diesem kurzen Gesprächsausschnitt sind in verdichteter Form verschiedene musterhafte Strukturen des gegenseitigen Vorlesens von grafisch erzählenden Romanen unter Schulkindern enthalten, um die es in diesem Beitrag gehen wird: 1) Das gegenseitige Vorlesen und der gemeinsame Austausch über die Bilder wechseln sich während des Vorleseprozesses ab. 1 Die Transkriptionskonventionen orientieren sich an dem Gesprächsanalytischen Transkriptionssystem GAT 2 (Selting et al. 2009). Graphic Novels im Gespräch 161 2) Die Jungen versuchen zunächst auf dem Eingangsbild des zweiten Kapitels bekannte Figuren wiederzuentdecken („ist das die oma? (-) diese eine lehrerin“) sowie versuchsweise unbekannte einzuordnen („das ist wohl die andere lehrerin“) und einzuschätzen („die sieht komisch aus“), wobei sie die Möglichkeitsformen sprachlich markieren („wohl“). 3) Der Bildbetrachtungsprozess ist sprunghaft und nicht an die Leserichtung gebunden, bspw. wechseln die Jungen nahtlos vom Eingangsbild des zweiten Kapitels zum Abschlussbild des ersten Kapitels, ohne dass es zu Verständnisschwierigkeiten kommt. 4) Mit ihren Fragen, Deutungen und Inszenierungen versuchen sie gegenseitig, ihre Aufmerksamkeit auf bestimmte Bilddetails zu lenken und diese so miteinander zu teilen. 5) Die Symbole in den Denk- und Sprechblasen (die geometrischen Figuren bei der Lehrerin oder die Regenwolke bei Jean), spezifische Stilmittel des grafischen Erzählens, ermuntern die Kinder zur Versprachlichung („guckt mal das ist ein […] quadrat und das ist ein dreieck“) und zur Deutung der Innenwelten („der denkt gar nicht dran“). 6) Fremdsprachliche (und andere schwierige) Ausdrücke, in diesem Fall die französischen Eigennamen der Figuren („y: y: vette“), stellen die Kinder vor Herausforderungen beim Lesen, die sie durch gegenseitige Unterstützung meistern. 7) Insgesamt erhält man den Eindruck, dass es sich um eine sehr vergnügliche Vorlese- und Gesprächssituation handelt. Diese Form des gegenseitigen Vorlesens bzw. gemeinsamen Bildbetrachtens unter Schulkindern enthält offensichtlich einige (schrift)sprachliche, literarische und ästhetische Lernpotenziale. In der Vorleseforschung besteht hierzu allerdings bislang ein Desiderat sowohl hinsichtlich des spezifischen Gegenstandes (Graphic Novels) als auch der spezifischen Interaktionskonstellation (Vorlesen unter Kindern). Der vorliegende Beitrag ist diesem Desiderat gewidmet und fragt nach den musterhaften Strukturen des gegenseitigen Vorlesens und gemeinsamen Betrachtens von grafisch erzählenden Geschichten. Dazu werden zunächst der Forschungsstand zum Vorlesen von Bilderbüchern skizziert (Abschnitt 1) sowie die ausgewählte Graphic Novel (Abschnitt 2) und das Forschungsdesign der Studie, in der die Daten erhoben wurden (Abschnitt 3), vorgestellt. Im Fokus des Beitrags stehen die Analysen der musterhaften Vorlesesequenzen, immer verbunden mit der literarisch-graphischen Vorlage (Abschnitt 4). Der Beitrag mündet schließlich in ein bündelndes Fazit (Abschnitt 5). 1 Vorlesen von Graphic Novels unter Kindern als Forschungsdesiderat Die Rezeptionsforschung, die sich mit dem Vorlesen beschäftigt, fokussiert primär die Interaktion zwischen erwachsenen Vorlesern und kindlichen Jeanette Hoffmann 162 Rezipienten - sich gegenseitig vorlesende Kinder jedoch wurden bislang nicht berücksichtigt. Häufig wird die Mutter-Kind- oder Vater-Kind-Dyade (Elias 2009; Volz 2014; Wieler 1997) als der primäre Ort der kindlichen Lesesozialisation in den Blick genommen. Im institutionellen Zusammenhang werden die Vorlesesituationen insbesondere in Grundschulen (Kruse 2014; Merklinger/ Preußer 2014; Spinner 2005; Wieler et al. 2008), wiederum zwischen sprachlich-literarisch erfahrenen Erwachsenen und sich im (Schrift-)Spracherwerbsprozess befindlichen Kindern untersucht. Gerade jedoch in der Phase des (fortgeschrittenen) Schriftspracherwerbs scheinen in Situationen gegenseitigen Vorlesens unter Kindern sprachlich-literarische Lernprozesse verborgen, die in diesem Beitrag erkundet und systematisiert werden sollen. Da das (vertraute) Rezeptionsterrain jüngerer Kinder die Bilder sind (vgl. Wieler 1997: 313) und sich Kinder zu Beginn der Grundschulzeit Schrift in aller Regel noch mühsam aneignen müssen, bieten sich in Text und Bildern erzählende Geschichten, wie etwa Graphic Novels, als Einstiegslektüre an. Comics sind während des Schriftspracherwerbs sehr beliebt, insbesondere (aber nicht nur) bei den Jungen (vgl. Böck 2000: 161). Mit diesen visuellen Narrativen beschäftigen sich Kinder schon sehr früh allein und sie erlangen auch eine nachhaltige Bedeutung im Lesesozialisationsprozess: Junge Erwachsene würdigen das Anschauen von Bilderbüchern und Comics rückblickend zu Recht als erste Erfahrung mit Literatur, weil sie so aktiv ins erzählerische Medium eintreten und weil sie die unterhaltende Qualität medial vermittelter Geschichten kennen lernen. Generell ist die Bedeutung dieser frühen Rezeption im Erlernen des Verknüpfens von Sprache und Bild zu sehen, also als Hinführung zu der Fähigkeit, Texte in der Fanatasie in bildliche Vorstellungen zu übertragen. Mit Bilderbüchern und Comics üben Kinder als Nebeneffekt der Schaulust bereits vor der Lesezeit die Voraussetzungen der Imaginationsfähigkeit und durch die Textanteile können diese Bildmedien sogar das Lesenlernen begleiten. (Graf 2011: 21) Beim geselligen Stöbern in Bildern und Texten können Kinder über die gemeinsame Fokussierung ihrer Aufmerksamkeit ihre Rezeptionseindrücke miteinander teilen. Voraussetzung für das Bedürfnis, sich einer Lektüre zu widmen und darüber ins Gespräch kommen zu wollen, sind „handlungsleitende Themen“ der Kinder (Charlton/ Neumann 1990) und der „Stil“, die je spezifische Art und Weise des Erzählens der Geschichte (Magunna 1995: 85). Die in Comics verwendeten Stilmittel des Erzählens in Bildern stellen die lesenden und sehenden Kinder jedoch auch vor ganz eigene Herausforderungen, was bspw. die Leserichtung innerhalb oder zwischen den Panels oder die Deutung von Symbolen, Typographien etc. anbetrifft. Vor diesem Hintergrund sollen im Folgenden Sequenzen aus Vorlesesituationen unter Zweitklässlern zu einer aktuellen Graphic Novel hinsicht- Graphic Novels im Gespräch 163 lich ihrer musterhaften Strukturen untersucht werden. Hiermit sind Handlungsmuster gemeint, die immer wieder in einer ähnlichen Form in den Rezeptionsdokumenten auftauchen und somit über den Einzellfall hinaus aussagekräftig werden. 2 Die Graphic Novel Meine Mutter ist in Amerika und hat Buffalo Bill getroffen Die ausgewählte Graphic Novel Meine Mutter ist in Amerika und hat Buffalo Bill getroffen von Jean Regnaud und Émile Bravo (2009) spielt in einer kleinen Stadt in Frankreich im Jahr 1970 und wird aus der Perspektive des Jungen Jean erzählt (vgl. Hoffmann 2010). Er und sein ein Jahr jüngerer Bruder Paul leben zusammen mit ihrem sorgenvollen Vater und dem fürsorglichen Kindermädchen Yvette; die Mutter ist verstorben, aus Sicht der Kinder aber nur ‚auf Reisen‘. Erzählt wird die Zeit von Jeans Einschulung bis kurz nach Weihnachten; das ist gleichzeitig die Zeit, in der Jean beginnt, nach seiner Mutter zu fragen, und in der er schließlich von ihrem Tod erfährt: „Abends im Bett sage ich mir, dass es mit Mama wohl so ist wie mit dem Weihnachtsmann ... ... Ich bin jetzt zu groß, um an sie zu glauben ...“ (Regnaud/ Bravo 2009: 115). Die Geschichte wird in chronologisch aufeinanderfolgenden Episoden aus der Perspektive des Ich-Erzählers Jean erzählt. Die Suche nach der abwesenden Mutter zieht sich von Beginn an leitmotivisch durch die Geschichte. Jedes Kapitel ist einer Figur aus Jeans Lebenswelt gewidmet, beginnend mit der Lehrerin, Madame Moinot, über seinen Vater und Michèle, das zwei Jahre ältere Nachbarmädchen, bis hin zum Weihnachtsmann. Erzählt wird in thematisch angelegten und mit unterschiedlichen Naturtönen grundierten Kapiteln, deren Farbgebung die jeweilige Stimmung in den einzelnen Situationen und die Beziehungen zwischen den Figuren symbolisiert. So erscheint die schulische Eingangssituation rund um die alt(modisch)e Lehrerin etwa in einem etwas stickigen Ockergelb, das Kapitel um den zerstreuten und überforderten Vater in einem blassen Blaugrau. Die Kapitel beginnen jeweils mit einem ganzseitigen Eingangsbild und sind miteinander durch „Intermezzi“ - Zwischenspiele - verbunden. Diese Übergänge bilden eine weitere Erzählebene, in der Erinnerungen, Ängste und Unverständliches in in sich abgeschlossenen kurzen Episoden, zum Teil als Einzelbilder oder Bildfolgen ohne Worte, aufgehoben sind. Neben den Bildern und Comic-Elementen wie der wörtlichen Rede und der Verwendung von Symbolen in Sprech- oder Denkblasen dominieren erzählende Passagen in Blocktexten, die insbesondere Einsichten in die Bewusstseinslandschaft (Bruner 1986) der Hauptfigur eröffnen. Jeanette Hoffmann 164 3 Eine empirisch-qualitative Rezeptionsstudie Die Graphic Novel Meine Mutter ist in Amerika… wurde in einer Dresdener Grundschulklasse am Ende des zweiten Schuljahres gelesen (vgl. Hoffmann 2015). Die Klassenlehrerin plante und führte eine Unterrichtseinheit durch, die von uns ethnographisch beobachtet wurde. Die Einheit gliederte sich insgesamt in drei Phasen: Zu Beginn näherten sich die Schüler den Figuren durch die gemeinsame Betrachtung von Figurenbildern in einem Kreisgespräch. Danach folgten freie (Vor-)Lese-, Schreib- und Gestaltungszeiten, in denen die Kinder selbstständig allein, zu zweit oder in Gruppen mit der Graphic Novel und in persönlichen Lesetagebüchern arbeiten konnten. Abgeschlossen wurde die Einheit mit einem Kreisgespräch, in dem einzelne Figuren im Erzählzusammenhang der Geschichte noch einmal genau in den Blick genommen wurden. Die Unterrichtseinheit ist Teil der laufenden Studie „Erzählen in Bildern und Texten - Graphic Novels im Deutschunterricht“, in der die Rezeption von Graphic Novels durch Schulkinder untersucht wird (vgl. Hoffmann 2014). Ziel der Studie ist, sprachlich-literarische und ästhetische Lernpotenziale zu rekonstruieren. Da die Rezeption von Graphic Novels noch nicht erforscht ist, bietet sich Grundlagenforschung aus ethnographischer Perspektive mit qualitativen Methoden an. Um die kindlichen Aneignungsprozesse von Graphic Novels zu untersuchen, wurden Videographien und Transkriptionen der Unterrichtsgespräche angefertigt sowie die Texte und Bilder der Schüler dokumentiert. Aus diesen verschiedenen Rezeptionsdaten werden key incidents ausgewählt, die eine Schlüsselfunktion in den Gesprächen, Texten und Bildern der Schüler einnehmen und auf allgemeinere Strukturen verweisen (vgl. Kroon/ Sturm 2002: 98). Mithilfe der ethnographischen Gesprächsanalyse (Deppermann 1999) sowie der Spurensuche nach literarischen und medialen Mustern in Kindertexten und -bildern (Dehn 2005) werden die key incidents analysiert und miteinander trianguliert. Zur Plausibilisierung des Analyseprozesses erfolgt die Darstellung der key incidents als Zusammenspiel zwischen den Bildern des Buches, den Texten, Gesprächen oder Zeichnungen der Schüler sowie einer zusammenfassenden Interpretation. Im Folgenden stehen die Gespräche während des (Vor-)Lesens im Fokus. 4 Vorlesegespräche unter Grundschulkindern In der freien (Vor-)Lesezeit suchen die Schüler sich im Bibliotheksraum der Schule mit der Graphic Novel einen Rückzugsort für ihre Lektüre. Manche schauen gemeinsam in ein Buch und lesen sich gegenseitig vor bzw. erzählen zu den Bildern, andere sitzen mit eigenen Büchern nah beieinander Graphic Novels im Gespräch 165 und kommentieren zwischendurch immer wieder ihre je individuelle Lektüre oder lesen sich gegenseitig die für sie bedeutsamen Stellen vor. Floris und Nils haben es sich auf einem Kissenberg gemütlich gemacht und lesen sich abwechselnd je eine Seite vor. Während der eine Junge liest, hört der andere zu und betrachtet die Bilder. Egon und Robert sitzen eng beieinander auf einem Sofa, schauen gemeinsam in ein Buch, betrachten die Bilder und lesen sich gegenseitig vor. Gernot, Jan, Mattis und Nikolaus haben sich in eine Couchecke zurückgezogen. Jeder liest still für sich in einem Buch bzw. betrachtet die Bilder. Dabei äußern die Jungen immer wieder ihre bei der Rezeption auftauchenden Fragen, Vermutungen und Deutungen. Manchmal bleiben diese ohne Reaktion der anderen, scheinen eine Form des Selbstgesprächs zu sein, in dem die innere Sprache eine Form gewinnt. Andere Male entspinnen sich (Vor-)Lesegespräche zu einzelnen Sequenzen. Entlang der ersten drei Kapitel des Buches, die der Lehrerin Madame Moinot, dem Vater und dem Nachbarsmädchen Michèle gewidmet sind, werden nun musterhafte Strukturen des gegenseitigen Vorlesens hinsichtlich des Umgangs mit erzählenden Bildern (4.1), der Gestaltung der Vorlesesituationen (4.2) sowie der Imagination der Figuren (4.3) rekonstruiert. 4.1 Umgang mit erzählenden Bildern Das erste Kapitel erzählt von Jeans Erfahrungen an seinem ersten Schultag. Als die Lehrerin, eine ältere Dame kurz vor der Pensionierung, die Kinder nach ihren Namen und den Berufen der Eltern fragt, gerät Jean in Panik, weil er nicht weiß, was er über seine Mutter sagen soll (vgl. Abb. 1). In der Graphic Novel wird Jeans Verzweiflung auf der Bildebene durch sein Erröten, einen Schweißausbruch, das Senken des Blicks und das Falten der Hände dargestellt. Auf der Textebene erhalten die Rezipienten Einblicke in Jeans Gedanken durch innere Monologe in Blocktexten wie etwa: „Ich will nicht an die Reihe kommen. Ich will, dass die Zeit stehen bleibt. KÖNNTE ICH DOCH WEGRENNEN! ! ! “ (Regnaud/ Bravo 2009: 10, Panel 2). Aber auch die Sprech- und Denkblasen, die in den folgenden Analysen im Fokus stehen, verraten hinsichtlich ihrer Form, der in ihnen dargestellten Bilder, Symbole oder Typographien einiges über Jeans Innenleben. Wie die Kinder sie während des Vorleseprozesses rezipieren, zeigen folgende Analysen. Jeanette Hoffmann 166 Abb. 1: Kapitel 1: Madame Moinot (Regnaud/ Bravo 2009: 12-15) Graphic Novels im Gespräch 167 4.1.1 „meinpapaistchefundmeinemamasekretärin“ - (typo)graphische Stolperstellen Die von Jean unter hohem Druck (s. die ihn umgebenden Stoßwölkchen), mit zittriger Stimme (s. die wellenförmigen Umrisse der Sprechblase) und in einem Fluss ohne Luftholen (s. die fehlenden Wortmarkierungen in der Sprechblase) hervorgebrachte Auskunft über seinen Namen und die Berufe seiner Eltern (vgl. Abb. 1, Regnaud/ Bravo 2009: 12, Panel 2) stellt die lesenden Kinder vor große Herausforderungen. Viele erlesen sich an dieser Stelle nur mit großer Mühe und gegenseitiger Unterstützung den Text (insbesondere das Fremdwort „Sekretärin“). In einer Jungengruppe kommt es zu folgendem Gespräch: 1 Jan äh: was steht_n hier (--) <<langsam> mein papa (-) ist chef [und> 2 Mattis [chef und meine mama sekreterien 3 Jan (2.0) stimmt das eigentlich Die beiden Jungen richten zunächst ihre Aufmerksamkeit auf das gleiche Panel und ergänzen sich dann gegenseitig beim Vorlesen. Der kurze Dialog endet in der Frage „stimmt das eigentlich“, die offen im Raum stehen bleibt. Vermutlich deuten die Jungen die graphische und typographische Darstellung des Panels in der Form, dass ‚hier etwas nicht stimmen kann‘. Worauf genau sich diese Unstimmigkeit bezieht, ist an dieser Stelle der Lektüre allerdings noch nicht antizipierbar. Aber eine erste Frage ist aufgeworfen. 4.1.2 „da streicht er die Lehrerin durch“ - visuelle Herausforderungen Auf der nächsten Buchseite kündigt die Lehrerin ihren an Weihnachten bevorstehenden Ruhestand an, woraufhin Jean die ältere, mürrisch ausschauende und ihn einschüchternde Dame gedanklich durch eine junge, gut aussehende und lächelnde Lehrerin ersetzt. Dies ist auf der Bildebene in zwei einander gegenüberstehenden Gedankenblasen mit den Portraits der realen und der ersehnten Lehrerin dargestellt, wobei das der realen durchgestrichen ist (vgl. Abb. 1, Regnaud/ Bravo 2009: 13, Panel 2). Der Blocktext nimmt hierauf nicht Bezug, sondern bezieht sich lediglich auf die bis zur Pensionierung verstreichende Zeit. 1 Mattis jan (-) jan ((pustet in das Aufnahmegerät)) 2 Jan (6.0) da streicht er die lehrerin durch ( ) Jan versprachlicht die Denkblase mit den Worten „da streicht er die Lehrerin durch“ und verbleibt damit auf der Bildoberfläche. Er beschreibt, was er sieht (die durchgestrichene Lehrerin) - die dahinter liegende Sehnsucht des Jeanette Hoffmann 168 Protagonisten nach einer vertrauenswürdigeren Bezugsperson bleibt unausgesprochen. Hierin zeigen sich die Verstehensanforderungen der stilistischen Mittel narrativer Bilder für Kinder in der Anfangszeit ihres selbstständigen Lesens. Eine ähnliche Situation findet sich im folgenden key incident. 4.1.3 „und der so regnet? “ - Versprachlichen von Symbolen Im „Intermezzo“ zwischen den Kapiteln eins und zwei wird ein Blick auf die gesamte Schulklasse aus der Vogelperspektive geworfen: Die Lehrerin steht vor der Klasse, weist mit einem Zeigestock auf eine geometrische Figur an der Tafel und nennt den Schülern den Begriff dazu, dargestellt in der Sprechblase in symbolischer Form, durch ein Ausrufezeichen in seiner Lautstärke bzw. Betonung markiert. Während alle Schüler nach vorne blickend im Chor nachsprechen (dargestellt in einer vielzackigen Sprechblase), blickt der kleine Jean in der hintersten Reihe zur Seite. Die dunkle Regenwolke in seiner Denkblase gibt Einblick in sein Inneres. 1 Mattis jan (--) guck mal uä: m 2 Jan <<flüsternd> quadra: : t> 3 Mattis [und der so 4 Jan [(die) brüllt richtig 5 Mattis und der so regnet? regnet? hm Die beiden Jungen betrachten miteinander das Bild, der eine macht den anderen auf ein Detail aufmerksam mit der für Vorleseprozesse unter Kindern spezifischen Aufforderung „guck mal“. In der Erwachsenen-Kind- Interaktion sind es hingegen die Fragen „Siehste? “ oder „Wo ist …? “, mit denen die Bilder durch den Erwachsenen ins Gespräch gebracht werden (vgl. Wieler 1997: 313f.). Der angesprochene Jan versprachlicht daraufhin das Symbol in der geometrischen Fachsprache als „Quadrat“und weist auf die Lautstärke dieser Äußerung hin. Die dunkle Wolke wird von Mattis anschließend allerdings nicht auf symbolischer Ebene gedeutet als Zeichen für schlechte Stimmung oder gedankliche Abwesenheit, wie es etwa Egon und Robert im Eingangsbeispiel getan haben („der denkt gar nicht dran“). Mattis’ Deutung verbleibt auf der konkreten Ebene des Bildes („der so regnet? regnet? “). 4.1.4 „erstens milch eingießen“ - Erzählen zu narrativen Bildern Leichter zu verstehen als die Symbole in den Denkblasen sind Bilder von Handlungsabläufen, wie etwa die (bis auf die Überschrift textlose) Sequenz zum „Rezept für leckeren Eiskakao von Yvette“ (vgl. Abb. 2, Regnaud/ Bravo 2009: 18) aus dem folgenden, dem Vater gewidmeten Kapitel, die allen Jungen Freude bereitet und auch von allen versprachlicht wird. Graphic Novels im Gespräch 169 1 Jan das rezept für leckeren eiskakao von jette (-) erstens milch eingießen (-) zweitens kakao rein (-) umrühren (-) in kühlschrank (5.0) warten (-) Dem Jungen scheint die Sprache von Rezepten, bspw. das Verwenden des Infinitivs, bekannt. Mit „eingießen“ bedient er sich der Bildungssprache (er sagt nicht z.B. „reinschütten“). An anderen Stellen bezeichnet der Junge die Tätigkeiten in verkürzter Form, indem er auf einen Teil des Prädikats („zweitens kakao rein“) oder das Objekt („umrühren“) verzichtet. Das letzte Panel dieser Sequenz scheint der Junge länger zu betrachten. Es vergehen insgesamt fünf Sekunden, bis er den Vorgang, der durch einen geschlossenen Kühlschrank und einen Blick Jeans auf die Küchenuhr dargestellt ist, mit „warten“ beschreibt. Vermutlich tastet er das Panel an dieser Stelle mit einem ‚wandernden Blick‘ (Uhlig 2014: 16) ab, um Worte dafür zu finden. In der Sequenz verdichtet sich die Fürsorglichkeit Yvettes für die Kinder im Zubereiten von deren Lieblingsgetränk. Vermutlich ist sie auch deshalb bei den jungen Rezipienten so beliebt, dass sich einige von ihnen im Anschluss daran das Rezept für ihr Lesetagebuch kopieren lassen. 4.2 Gestaltung der Vorlesesituation Das zweite, blaugrau grundierte Kapitel der Graphic Novel fokussiert die Figur des Vaters. In der Vater-Sohn-Beziehung spielt zunächst, wie im vorhergehenden key incident erkennbar, das Kindermädchen Yvette, die die Rolle der fürsorglichen Mutter übernimmt, eine zentrale Rolle. Der Vater wirkt beruflich sehr eingespannt und gedanklich abwesend (vgl. Abb. 2). In den (bisher) erstellten Rezeptionsdokumenten wird der Vorleseprozess selbst wiederholt zum Thema. Die Kinder handeln untereinander aus, wie sie ihn gestalten wollen. Dabei zeigen sich unterschiedliche Herangehensweisen, wie im Folgenden anhand zweier key incidents gezeigt wird. Die Kinder lesen sich hier aus den Szenen vor, in denen von den Abendritualen der Familie erzählt wird (vgl. Abb. 2, Regnaud/ Bravo 2009: 19-20). Jeanette Hoffmann 170 Abb. 2: Kapitel 2: Mein Papa (Regnaud/ Bravo 2009: 18-21) Graphic Novels im Gespräch 171 4.2.1 „du hast irgendwie die leichten seiten“ - die Anstrengung des (Vor-)Lesens 1 Floris ((...)) gehen (-) wir (-) in (-) die (-) badewanne (-) danach gibt es (-) a(-) bendbrot wir sagen (-) a (-) abendbrot und nicht abend (-) abend (-) abende: ssen (-) abendessen (-) vor (-) du hast irgendwie die leichten seiten ((blättert zuürck)) (-) <<auf einzelne Seiten zeigend> hier hier leichter (hier hast du die schwereren) ( ) hier hast du die schweren seiten (-) hier hatte ICH die schwerere (-) hier du hattest ( ) (-) hier hier hatte ICH wieder [die schwereren ( )> 2 Nils [ich hatte immer die schwer_n 3 Floris abendessen vorweg gibt es immer eine suppe (-) meine lieb(-)lings(-) suppe ist (-) die mit zahlen und buchstaben (-) yvette versucht uns (-) ein (-) bisschen (-) das alpha(-)bet beizubringen Nils und Floris haben sich die Doppelseiten untereinander aufgeteilt: Der eine liest die linke, der andere die rechte Seite vor. Zwischendurch ereifern sie sich darüber, wer die „schwereren“ vorlesen musste. Das zügige Durchblättern der bereits gelesenen Seiten lässt vermuten, dass sie sich mit ihrer Einschätzung auf die Textmenge, weniger auf den Schwierigkeitsgrad einzelner Wörter bzw. die Geschichte selbst beziehen. In den Augen der Jungen ist das Betrachten bzw. Versprachlichen der Bilder eindeutig leichter als das Erlesen des Textes. Insbesondere für Floris scheint der Leseprozess noch mühsam zu sein, da er im Verlauf des Vorleseprozesses wiederholt von Nils unterbrochen wird, der für ihn weiterliest wie etwa zu Beginn der Vorlesesituation („ich helf dir auch manchmal okay? “). Floris allerdings möchte die Hürde selbstständig meistern und erobert sich wiederholt das Leserecht zurück („ja aber jetzt erstmal ( )“). An Motivation mangelt es den beiden Jungen nicht, die Textmengen in den Blocktexten, Sprech- und Denkblasen scheinen bewältigbar. Auch bei einer anderen Jungengruppe wird um das Vorlesen verhandelt. 4.2.2 „jetzt bin ich wieder dran“ - Aushandeln des Vorlesens 1 Robert mein papa kommt spät von der arbeit (-) das liegt nicht dra daran (-) dass er einen weiten weg hat denn seine fabrik steht genau neben unserem haus (-) es liegt an seiner verantwortung er ist der chef (-) und (-) anscheinend ist chef ein prima beruf um jede menge sorgen zu haben (--) oh nach der seite bist du wieder dran 2 Egon hm ((lacht)) 3 Robert sorgen kann man an der stirn erkenn_n (-) ah das ist also der papa (-) das ist der papa und der ist chef (8.0) dann ist das dort die mutter (-) das: 4 Egon yvette 5 Robert (-) ah das ist die lehrerin (-) die dort 6 Egon so jetzt bin ich wieder dran Jeanette Hoffmann 172 7 Robert nein ich bin noch nicht ganz fertig 8 Egon oh manno 9 Robert a: e: u: 10 Egon okay mach ich jetzt <<mit verstellter stimme> e: aber ich heiß u: > ((kichert)) oh mannö wie langweilig (2.0) eine frage beschäftigt (-) mich jeden abend ich will ich sie ich will (-) ich sie stellen ((...)) Während der Vorleseprozess bei Floris und Nils insgesamt eher von Konkurrenz geprägt ist, wirkt das gegenseitige Vorlesen von Robert und Egon im Gesamten einvernehmlicher, auch wenn sie an dieser Stelle das Redebzw. Vorleserecht aushandeln. Ihnen scheint das Vorlesen selbst Freude zu bereiten, so dass es der eine von ihnen hinauszögert und auch die in den Bildern dargestellten Buchstaben in der Buchstabensuppe beim familialen Abendessen lautiert. Das kurze Innehalten über das Vorlesen ermöglicht den Jungen aber auch, sich Zeit für das Betrachten der Bilder und damit die Einordnung der Figuren („ah das ist also der papa“) zu nehmen. Bei dem anschließenden Dialog zwischen den Figuren am Abendbrottisch spielt die Typographie der Schrift wiederum eine Rolle, um die wenig einfühlsamen sprachlichen Korrekturen des Vaters als solche wahrzunehmen (sie sind mit Großbuchstaben und Unterstreichungen markiert). An dieser Stelle korrigiert der zuhörende den lesenden Jungen („ich weiß ES nicht“), dieser nimmt die Korrektur in der Betonung auf, indem er sie wiederholt, und fährt dann weiter fort. Die Stelle zeigt neben der geglückten Interaktion des Helfens (Wagener 2014) auch, dass beide Kinder sich in dieser Sequenz auf die Textebene konzentrieren. 4.2.3 „ist das die mama“ - Einordnen der Figuren Zur Imagination der Figuren - ein thematischer Vorgriff auf den Abschnitt 4.3 - versuchen die Kinder, sie fortwährend einzuordnen. Am Ende des Gesprächs am Abendbrottisch angekommen, ist die Frage, die Jean seit Wochen beschäftigt („Wo ist meine Mama? “), immer noch unausgesprochen und sie bleibt es, denn auch nach Yvettes aufmerksamer Nachfrage erscheint sie lediglich in Jeans Gedanken in Form einer Denkblase. Robert und Egon gehen in ihrem Gespräch auf die Frage selbst nicht ein, sondern suchen auf der nächsten Seite im Intermezzo nach einer Antwort: 1 Egon was ist los jean (-) möchtest du etwas sagen (-) wie nein (-) wo ist meine mama ((blättert um)) 2 Robert ist das die mama 3 Egon nein die prügeln sich wieder Yvette scheint für Robert - wie auch im vorherigen key incident beim Versuch die Figuren einzuordnen - immer noch als mögliche Mutterfigur infrage zu kommen, auch wenn Egon dies wieder bestreitet. Ein weiteres Graphic Novels im Gespräch 173 Gespräch jedoch über den Verbleib der wirklichen Mutter findet nicht statt - vermutlich lässt Robert deshalb nicht von seiner Deutung ab. In einer anderen Gruppe äußert ein Junge nach der stillen Lektüre dieser Sequenz sein Erstaunen über die begrenzte Figurenperspektive: „<<erstaunt> der fragt sich jetzt erst wo seine mama is? > (-) aber die ist gestorben weiß ich“. Seine Äußerung bleibt jedoch ebenfalls unkommentiert im Raum stehen. 4.2.4 „paff paff […] gn: : : klong klon: : : g klong“ - Freude an Onomatopoetika Die Graphic Novel wird von Schülern häufig zwischen „lustig“ und „traurig“ eingeschätzt, wie ein Einblick in Lesetagebücher einer anderen Lerngruppe zeigt (vgl. Hoffmann 2010: 52f.). So thematisch anspruchsvoll die Sehnsucht und Suche des Protagonisten nach seiner verstorbenen Mutter ist, so entlastend ist die humorvolle Art des Erzählens insbesondere in den Bildern. Und so werden auch alltägliche Streitereien zwischen Jean und seinem jüngeren Bruder amüsant dargestellt, wie etwa die abendliche Kissenschlacht im Intermezzo am Ende des zweiten Kapitels (vgl. Abb. 3, Regnaud/ Bravo 2009: 22). 1 Mattis ja ( ) guck ma 2 Jan paff paff 3 Mattis ja echt 4 Jan gn: : : klung klun: : : g klung 5 Mattis (3.0) hier dtsch: : dtsch: : (-) dtsch: : (-) <<schnarchen imitierend> chrrr chrrr> Jan und ein anderer Junge machen sich gegenseitig auf diese primär in Bildern erzählte Sequenz aufmerksam und erfreuen sich an den Onomatopoetika, die sie geräuschvoll und sich gegenseitig ergänzend in Szene setzen. Dabei wirken sie sehr vergnügt. Insofern nehmen die Onomatopoetika eine äußerst motivierende Funktion in der Lektüre ein, wie auch an vielen anderen Stellen des Vorlesens - nicht nur in dieser Gruppe - zu erkennen ist. 4.3 Imagination der Figuren Im dritten Kapitel wird von Jeans ambivalenter Beziehung zur zwei Jahre älteren Nachbarin Michèle erzählt (vgl. Abb. 3), die ihn nur dann als Spielgefährten ernst nimmt, wenn ihre gleichaltrigen Freundinnen keine Zeit haben. Da die Eltern der beiden den Kontakt zwischen ihnen nicht wünschen, treffen sie sich heimlich zwischen den Gartengrundstücken unter der Ligusterhecke. Dieser inoffizielle Ort der Begegnung umrahmt symbolisch das Geheimnis, das die beiden Kinder miteinander teilen. Als Michèle nämlich bemerkt, dass Jean seine verstorbene Mutter auf Reisen Jeanette Hoffmann 174 glaubt, beginnt sie, ihm Postkarten im Namen seiner Mutter zu schreiben, um ihn zu trösten. 4.3.1 „das ist gar nicht die schwester“ - Einordnen der Figuren Als Floris und Nils zum dritten Kapitel gelangen, indem von Jean und Michèle erzählt wird, entwickelt sich folgender Dialog (vgl. Abb. 3, Regnaud/ Bravo 2009: 23). 1 Floris kapitel drei (-) ((schaut sich die Seite an)) 2 Nils michèle 3 Floris das ist gar nicht die schwester das ist die FREUNdin 4 Nils ah 5 Floris meine nachbarin heißt michele meunier sie ist zwei jahre älter als ich Nachdem Floris den Beginn der Überschrift („kapitel drei“) gelesen hat, hält er zunächst inne und lässt seinen Blick über die Seite wandern. Währenddessen übernimmt Nils den Part, die Überschrift - die analog zu den anderen Kapiteln eine Figur aus Jeans Lebenswelt benennt - zu Ende zu lesen („michèle“). In der Zwischenzeit hat Floris durch die genaue Betrachtung des Eingangsbildes erkannt, dass es sich bei dem Mädchen nicht, wie im anfänglichen Kreisgespräch zu Figurenbildern in der Klasse vermutet, um Jeans Schwester handeln kann. Vermutlich schlussfolgert er dies aus der die beiden Gärten und somit auch die Kinder trennenden Hecke. Wahrscheinlich greift er dabei nicht auf die sprachliche, sondern die visuelle Erzählebene zurück, denn er bezeichnet das Mädchen spontan als „FREUNdin“ - nicht als Nachbarin, wie es im Blocktext eingeführt wird. Erst im Anschluss an seine verweilende Bildrezeption und die bestätigende Erkenntnisäußerung durch Nils („ah“) fährt Floris damit fort, die Blocktexte vorzulesen. In dieser Sequenz wird deutlich, dass die lesenden und betrachtenden Kinder während des gemeinsamen Rezeptionsprozesses ihre Erwartungen, Vermutungen und Deutungen an die erzählte Geschichte herantragen, zunehmend korrigieren und differenzieren. Ferner wird ersichtlich, dass sie sich dabei auf die visuelle wie verbale Erzählebene gleichermaßen stützen. Graphic Novels im Gespräch 175 Abb. 3: Kapitel 3: Michèle (Regnaud/ Bravo 2009: 22-25) Jeanette Hoffmann 176 4.3.2 „die arme michèle“ - Mitleiden mit den Figuren Auch in einer anderen Jungengruppe formulieren zwei von ihnen während der Lektüre ihre Entdeckung, dass es sich bei der Figur Michèle um das Nachbarsmädchen handelt („michèle (-) nachbarin“, „das ist die nachbarin (- ) das mädchen“). Kurz vor Ende der Lesephase fühlt sich einer der Jungen in Michèle hinein, vermutlich, als er sich die Sequenz aus ihrer Familie angeschaut hat, in der sich ständig alle anschreien (vgl. Abb. 3, Regnaud/ Bravo 2009: 24). 1 Mattis man ey die arme michèle 2 Jan (-) ( ) Wie sein Sitznachbar hierauf reagiert, ist leider nicht verständlich. Es scheint ihm aber wichtig, auf diese Figurendeutung einzugehen. 4.3.3 „hier guck jeder auf seiner seite“ - Teilen von Entdeckungen Als Egon und Robert zu der Stelle gelangen, in der von dem heimlichen „Zwischenraum“ des Spiels der beiden Kinder unter der Ligusterhecke erzählt wird, entspinnt sich folgendes Gespräch: 1 Egon ((...)) mein papa will nicht dass ich bei michaela spiele er sagt ihre hunde sind gefährlich michaelas (-) eltern wollen nicht dass sie bei mir spielt ich glaube sie mögen meinen papa nicht wenn (-) wir also (---) (miteinander) 2 Robert die spiel=n so hier das ist in der mitte die spielt auf der andern seite und der auf der (seite) (-) na (-) da geht niemand rüber (---) hier guck jeder auf seiner seite (auf der) (-) ( ) jeder auf seiner seite der ligus (-) 3 Egon spielen machen wir es so (--) wenn wir also miteinander spielen machen wir es so (-) jeder auf seiner seite der ligusterhecke zwischen unseren gärten Während Egon den das folgende Panel einleitenden Blocktext vorliest, scheint Roberts Blick bereits stöbernd über das Bild zu wandern. Den zögernden Moment von Egon nutzt er, um seine Bildrezeption zu versprachlichen und damit die Geschichte weiterzuführen. Er hat mit seinem ‚wandernden Blick‘ die Lösung der Kinder für ihre heimliche Zusammenkunft, den Ort des Treffens unter der Hecke als Zwischenraum zwischen den beiden Lebenswelten der Kinder erkannt („die spiel=n so hier das ist in der mitte die spielt auf der andern seite und der auf der (seite) (-) na (-) da geht niemand rüber“). Im Anschluss daran findet er in dem das Panel abschließenden Blocktext die Bestätigung für seine Deutung und will dies mit Egon teilen: „hier guck jeder auf seiner seite“. Dieser liest - nach einer Pause, in der er Robert zugehört und vermutlich ebenfalls das Bild betrachtet Graphic Novels im Gespräch 177 hat - nun weiter vor. Auch in dieser Sequenz wird sichtbar, dass die Kinder während des Vorlesens und Zuhörens die in den Bildern erzählte Geschichte genau wahrnehmen und deuten, dabei Bild und Text aufeinander beziehen und ein Interesse daran haben, ihre Entdeckungen miteinander zu teilen. 5 Fazit Betrachtet man die hier vorgestellten Szenen zum gemeinsamen Anschauen und gegenseitigen Vorlesen von Graphic Novels, so fallen insgesamt das große Interesse an und das Vergnügen der Kinder bei der Lektüre auf. Sie sind hoch motiviert, die erzählenden Bilder zu betrachten, aber auch, sich gegenseitig vorzulesen, wenngleich dies für manche ein noch mühsamer Prozess ist. Dabei ermöglichen Onomatopoetika einen spielerischen Umgang mit Sprache und Momente der Entlastung im Vorleseprozess. Somit bieten Graphic Novels sich in der Phase des Schriftspracherwerbs als Einstiegslektüre an. Im Rezeptionsprozess der Kinder spielen sowohl der Text als auch die erzählenden Bilder eine bedeutende Rolle. Während der Lektüre wird immer wieder innegehalten, um den Blick wandern zu lassen, um Bild und Text miteinander in Beziehung zu setzen. Textlos erzählende Passagen fordern die Kinder bei der gemeinsamen Lektüre in besonderem Maße zu Versprachlichungen heraus. Durch das gemeinsame Betrachten und gegenseitige Vorlesen zu zweit nehmen die Kinder immer wieder die Gelegenheit wahr, Gedanken zu versprachlichen, Deutungen zu entfalten oder Fragen zu stellen. Auch wenn diesen im gemeinsamen Zwischengespräch nicht immer nachgegangen wird, so sind es doch Momente des Innehaltens und Formulierens eigener Rezeptionseindrücke. Insofern bietet die Interaktionssituation des gemeinsamen Betrachtens und gegenseitigen Vorlesens besondere Gestaltungsspielräume, in denen die Geschichte im Zusammenspiel hervorgebracht wird, ähnlich wie bei der gemeinsamen Rezeption von Spielgeschichten am Computer (vgl. Naujok 2012). Die Interaktionssequenzen zeigen aber auch den Bedarf nach einer Rahmung der Lektüre im Gespräch mit erfahrenen Lesern (vgl. Hoffmann 2015), in dem die beim (Vor-)Lesen entstehenden Fragen der Kinder (hier bspw. nach dem Verbleib der Mutter) aufgegriffen und eine gemeinsam geteilte Deutung entwickelt werden kann. Insbesondere die Symbolsprache der visuellen Erzählebene fordert die Kinder bei der Lektüre heraus. Die mitunter auf der Bildoberfläche verbleibenden Versprachlichungen der in Bildern erzählten Landschaften des Bewusstseins können im gemeinsamen Rezeptionsgespräch in der Klasse oder in schriftlichen Formen der Anschlusskommunikation an Deutungstiefe gewinnen (vgl. Hoffmann 2015). Jeanette Hoffmann 178 Literatur Böck, M. (2000): Das Lesen in der neuen Medienlandschaft. Zu den Lesegewohnheiten und Leseinteressen der 8bis 14-jährigen in Österreich. Innsbruck: Studien Verlag. Bruner, J.S. (1986): Actual Minds, Possible Worlds. Cambridge/ MA: Harvard University Press. Charlton, M. & Neumann, K. (1990): Medienrezeption und Identitätsbildung. Kulturpsychologische und kultursoziologische Befunde zum Gebrauch von Massenmedien im Vorschulalter. Tübingen: Narr. Dehn, M. (2005): Schreiben als Transformationsprozess. Zur Funktion von Mustern: literarisch - orthografisch - medial. In: Dehn, M. & Hüttis-Graff, P. (Hgg.): Kompetenz und Leistung im Deutschunterricht. Spielraum für Muster des Lernens und Lehrens. Ein Studienbuch. Freiburg i.Br.: Fillibach, 8-32. Deppermann, A. (1999): Gespräche analysieren. Eine Einführung in konversationsanalytische Methoden. Opladen: Leske + Budrich Verlag. Elias, S. (2009): Väter lesen vor: Soziokulturelle und bindungstheoretische Aspekte der frühen familialen Lesesozialisation. Weinheim: Juventa. Graf, W. (2011 3 ): Lesegenese in Kindheit und Jugend: Einführung in die literarische Sozialisation. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. Hoffmann, J. (2010): Vom Schweigen über den Tod. Die Graphic Novel Meine Mutter ist in Amerika und hat Buffalo Bill getroffen. In: kjl&m 4, 46-54. Hoffmann, J. (2014): Rezeptionsspuren von Graphic Novels in Lesetagebüchern. In: Scherer, G.; Volz, S. & Wiprächtiger-Geppert, M. (Hgg.): Bilderbuch und literarästhetische Bildung - Aktuelle Forschungsperspektiven. Trier: WVT, 123-139. Hoffmann, J. (2015): Graphic Novels als Einladung zum Lesen, Sehen und Imaginieren: Dehn, M. & Merklinger, D. (Hgg.): Erzählen - Vorlesen - zum Schmökern anregen. Frankfurt am Main: Grundschulverband, 209-222. Kroon, S. & Sturm, J. (2002): „Key Incident Analyse” und „internationale Triangulierung” als Verfahren in der empirischen Unterrichtsforschung. In: Kammler, C. & Knapp, W. (Hgg.): Empirische Unterrichtsforschung und Deutschdidaktik. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 96-114. Kruse, I. (2014 2 ): Gut vorlesen. Textpotenziale entfalten. In: Pompe, A. (Hg.): Literarisches Lernen im Anfangsunterricht. Theoretische Reflexionen - Empirische Befunde - Unterrichtspraktische Entwürfe. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 102-121. Magunna, M. (1995): Das „Spiegelstadium“ und die Phantasie beim Lesen. Ein Beitrag zum Verstehen des Lesens von fiktionaler Literatur. In: Der Deutschunterricht 5, 84-96. Merklinger, D. & Preußer, U. (2014): Im Vorlesegespräch Möglichkeiten für literarisches Lernen eröffnen. Steinsuppe von Anaïs Vaugelade. In: Scherer, G.; Volz, S. & Wiprächtiger-Geppert, M. (Hgg.): Bilderbuch und literar-ästhetische Bildung - Aktuelle Forschungsperspektiven. Trier: WVT, 155-173. Naujok, N. (2012): Zu zweit am Computer. Eine Studie zur gemeinsamen Rezeption von Spielgeschichten im Deutschunterricht der Grundschule. München: kopaed. Regnaud, J. & Bravo, É. (2009): Meine Mutter ist in Amerika und hat Buffalo Bill getroffen. Hamburg: Carlsen. Graphic Novels im Gespräch 179 Selting, M. et al. (2009): Gesprächsanalytisches Transkriptionssystem 2 (GAT 2). In: Gesprächsforschung - Online-Zeitschrift zur verbalen Interaktion 10, 353-402. http: / / www.gespraechsforschung-ozs.de [29.3.2015]. Spinner, K.H. (2005): Höreraktivierung beim Vorlesen und Erzählstruktur. In: Wieler, P. (Hg.): Narratives Lernen in medialen und anderen Kontexten. Freiburg i.Br.: Fillibach, 153-166. Uhlig, B. (2014): „Ich sehe etwas, was du nicht siehst.“ Bildsehen und Bildimagination bei der Betrachtung von Bilderbüchern. In: Scherer, G.; Volz, S. & Wiprächtiger- Geppert, M. (Hgg.): Bilderbuch und literar-ästhetische Bildung - Aktuelle Forschungsperspektiven. Trier: WVT, 9-22. Volz, S. (2014): „Kann der hinterher? “ Verstehensleistungen und Vermittlungshilfen: zeitgenössische Bilderbücher in der Rezeption von Grundschulkindern. In: Scherer, G.; Volz, S. & Wiprächtiger-Geppert, M. (Hgg.): Bilderbuch und literarästhetische Bildung - Aktuelle Forschungsperspektiven. Trier: WVT, 23-43. Wagener, M. (2014): Gegenseitiges Helfen. Soziales Lernen im jahrgangsgemischten Unterricht. Wiesbaden: Springer VS Verlag. Wieler, P. (1997): Vorlesen in der Familie. Fallstudien zur literarisch-kulturellen Sozialisation von Vierjährigen. Weinheim: Juventa. Wieler, P., Brandt, B.; Naujok, N.; Petzold, J. & Hoffmann, J. (2008): Medienrezeption und Narration - Gespräch und Erzählung als Verarbeitung der Medienrezeption im Grundschulalter. Freiburg i.Br.: Fillibach. Jürgen Belgrad & Christin Klipstein Leseförderung durch Vorlesen. Ein empirisch begründetes Plädoyer für das regelmäßige Vorlesen im Unterricht aller Schularten Wenn man mit einem Buch allein ist, dann spricht das Buch zu einem, wenn man Glück hat. Wenn ein Mensch zu dir spricht, dann ist das wie in der Oper. Dann kommt eine Inszenierung dazu, da sind Klänge. Und die erreichen unser Herz und unser Gemüt mehr als das geschriebene Wort. (Heidenreich 2004) 1 Einleitung Elke Heidenreich spricht in diesem Zitat zahlreiche positive Effekte des Vorlesens an. Auch in der fachdidaktischen und wissenschaftlichen Literatur wird vielfach darauf verwiesen, dass sich das Vorlesen in der Familie und der Schule positiv auf das Lernen und auf die Lesekompetenz auswirkt. Dieser Einfluss konnte auch durch Studien belegt werden (vgl. Garbe 2010; Hurrelmann et al. 1993; Stiftung Lesen 2007 1 , 2008 2 ; Wieler 1997). Die Stiftung Lesen zeigte in einer repräsentativen Vorlesestudie mit 10bis 19-Jährigen, dass Vorlesen in der Familie eine nachhaltige Wirkung bis in die Pubertät und Adoleszenz hinein hat: Der Aussage „Bücher zu lesen macht Spaß“ stimmten 58 % der befragten Jugendlichen zu, denen regelmäßig vorgelesen wurde; bei Jugendlichen, denen nicht vorgelesen wurde, waren es nur 45 %. Der Effekt des Vorlesens steigert sich noch: Wenn Kindern täglich vorgelesen wurde, lasen 87 % der späteren Jugendlichen mindestens einmal in der Woche in einem Buch. Zum Vergleich: Bei Jugendlichen, denen nicht vorgelesen wurde, waren dies nur 64 % (vgl. Stiftung Lesen 2011). Es beunruhigt die Tatsache, dass 42 % der befragten Eltern der Bahnstudie (2007, 2008) ihren Kindern (unter zehn Jahren) nicht regelmäßig vorlasen, auch wenn sich 33 % der Kinder Vorlesezeiten wünschten. Erschwerend kommt hinzu, dass 40 % der Jugendlichen bei PISA 2000 angaben, nicht zum Vergnügen zu lesen (vgl. Baumert 2001). 1 URL: www.stiftunglesen.de/ materialarchiv/ pdf1 [10.01.2001]. 2 URL: www.stiftunglesen.de/ materialarchiv/ pdf2 [10.01.2011]. Leseförderung durch Vorlesen 181 Die umfassende deutsche Schülerleistungsstudie DESI (Deutsch-Englisch- Schülerleistungen-International) zeigte die positiven Wirkungen der Lesemotivation auf die Lesekompetenz sehr deutlich (vgl. DESI-Konsortium 2008). Zusätzlich berichten Lehrkräfte der Primar- und Sekundarstufe immer wieder von den erfreulichen Auswirkungen des Vorlesens auf die Lesemotivation und die Lesebereitschaft der Schüler. Dennoch wird in der Sekundarstufe immer seltener vorgelesen. Vermutlich gehen die Lehrkräfte davon aus, dass der Leselernprozess zu dem Zeitpunkt bereits abgeschlossen ist. Zusätzlich sprechen die Ergebnisse unserer Pilotstudien, bei denen die Wirkung des Vorlesens in der Grundschule erforscht wurde, für die vielfach positiven Effekte des Vorlesens (vgl. Belgrad/ Schau 1998). Die breit angelegte Studie Leseförderung durch Vorlesen, die mit insgesamt mehr als 22.000 Schülern von 2010 bis 2015 an Grund- und Hauptschulen, Realschulen und einigen Gymnasien und Berufsschulen durchgeführt wurde, zeigte die Bedeutung des Vorlesens der Lehrkraft für die Lernenden. Zunächst sollen in diesem Beitrag die Funktionen des Vorlesens kurz umrissen werden. Danach werden ausführlich die Wirkungen des Vorlesens in der Schule anhand der quantitativ und qualitativ ermittelten Ergebnisse unserer ersten Hauptstudie von 2010 erläutert. Die Befunde der Studien von 2011 bis 2015 ergänzen die vorangegangenen Ergebnisse. In einem Resümee werden Konsequenzen aus dem Forschungsprojekt gezogen. Dabei zeigt sich die elementare Schlüsselrolle des Vorlesens für die Leseförderung. 2 Funktionen des Vorlesens Zentrales Anliegen der Schule ist die Organisation von Lernprozessen. Dabei kommt dem Lesen eine zentrale Rolle zu. Lesen ist eine schulische und gesellschaftliche Schlüsselkompetenz. Vorlesen hat dabei die Funktion einer zentralen „Sprungfeder“ für das Lesen. Das Vorlesen in den Fokus der Studie Leseförderung durch Vorlesen zu stellen, hatte unterschiedliche Gründe, die sich anhand einiger vermuteter Funktionen des Vorlesens wie folgt zusammenfassen lassen: 1. Die kulturelle Funktion Zunächst geht es beim Vorlesen um die Weitergabe einer kulturellen und literarischen Tradition, die vielfach nicht mehr gewährleistet ist (vgl. z.B. Stiftung Lesen 2007, 2008). Lesen von Schriften in gedruckter oder digitaler Form ist eine der wichtigsten Schlüsselqualifikationen bei der Aufnahme und Verwertung von Informationen. Als Vorstufe in Kindergarten, Schule oder Hochschule trägt Vorlesen zur Teilhabe an der fiktionalen und faktu- Jürgen Belgrad & Christin Klipstein 182 alen Schriftlichkeit bei. Vorlesen ermöglicht das Erfahren konzeptioneller Schriftlichkeit im Medium des Mündlichen. Während das Vorlesen in den Lehrplänen vorgeschrieben und in Grundschulen bereits zum Ritual geworden ist, praktizieren Lehrkräfte in der Sekundarstufe das Vorlesen sehr viel weniger (vgl. Stiftung Lesen 2013). 2. Die literarisch-ästhetische Funktion Lehrkräfte können Lesevorbilder und damit faktisch Lesemodelle für Lernende sein, an denen diese sich orientieren können (vgl. Garbe/ Holle/ Weinhold 2011: 7). Die vorlesenden Lehrkräfte üben dabei eine Brückenfunktion aus: Die Lernenden können - auch mit geringer Lesefähigkeit - am literarischen Leben teilnehmen, ohne selbst zu lesen. Das betrifft zum einen die „Noch-nicht-Leser“ (Elementarstufe und Erstklässler), zum anderen „leseferne Schüler“. Letztere bewerten Literatur aufgrund ihrer von Misserfolgen geprägten Leseerfahrungen meist negativ. Durch Vorlesen können die Schüler am ästhetischen Genuss von Literatur teilhaben, ohne die Mühen des Selberlesens. Ziel ist es aber, für beide Gruppen durch das Vorlesen Interesse und Neugier für Literatur zu wecken (vgl. Gailberger 2011; Garbe/ Holle/ Jesch 2009). 3. Die kognitive Funktion Geweckt wird dieses neue Interesse, indem ausschließlich zugehört wird und nicht gelesen werden muss. Beim Vorlesen entfällt das eigene, mühsame Dekodieren des Textes (hierarchieniedriger Prozess). Durch diese Entlastung vom Dekodieren wird Verarbeitungskapazität für Verstehensleistungen frei. Lesekompetenz besteht über die Dekodierprozesse hinaus u.a. darin, innere Vorstellungsbilder zu erzeugen. Wann immer wir Situationen bewältigen müssen, spielen wir deren Realisierung zuvor gedanklich durch. Wir planen dabei im Kopf die möglichen Szenen und Handlungsabfolgen (vgl. SZ 2009). Wahrscheinlich trainieren wir beim Vorlesen diese grundlegende Fertigkeit der alltäglichen Lebensbewältigung und die inneren Vorstellungsbilder. Wenn dieses Training immer wieder erfolgt, ist die Vermutung erlaubt, dass es uns wahrscheinlich leichter fällt, „mentale Modelle“ entwickeln zu können (vgl. Garbe/ Holle/ Jesch 2009: 30; Nold/ Willenberg 2007: 23). Dieses „En-passant-Training“ von Vorstellungsbildern erhöht zugleich die Möglichkeit des Verstehens von Texten - auch wenn sie nicht selbst gelesen werden (Verstärkung hierarchiehöherer Prozesse). Darüber hinaus wird nicht nur das Zuhören, sondern auch die Konzentration auf das Verstehen geschult. Leseferne Lernende (mit oder ohne Migrationshintergrund) erhalten durch das Vorlesen und über anschlusskommunikative Prozesse Unterstützung für das Textverstehen, wenn sie die Texte später selbst lesen (vgl. Klages 2009). Leseförderung durch Vorlesen 183 4. Die emotionale Funktion Wenn die Lernenden nicht mit dem mühsamen Prozess des Dekodierens belastet sind, können sie sich entspannt dem Genuss der Literatur widmen. Womöglich gelingt es deswegen, die Lernenden für Literatur (neu) zu begeistern. Damit einher geht die Schaffung einer Leseatmosphäre, die ein emotional positives Leseklima unterstützt. Die Lernenden hören der Lehrperson beim Vorlesen (gespannt) zu und sind ganz auf sie konzentriert (vgl. Hurrelmann et al. 1993; Wieler 1997). Hier bildet und festigt sich auch die emotionale Bindung an die Lehrperson und nicht nur die Faszination für das Vorgelesene. Dies erleichtert zudem das Einfühlen in die literarischen Figuren und eine mögliche Perspektivenübernahme der emotionalen Haltungen der Figuren. 5. Die kommunikative Funktion Wenn Lernende über das Vorgelesene ins Gespräch kommen, können sie mit einer „Anschlusskommunikation“ angeregt werden, über den Text nachzudenken (vgl. Garbe/ Holle/ Jesch 2009: 33). Diese Form des Gesprächs, das vor, während oder nach dem Vorlesen erfolgt, ist ein wichtiger motivationaler Faktor, um die Lernenden anzuregen, sich über das Gehörte auszutauschen. Durch Gespräche über das Vorgelesene verbessern die Lernenden ihren mündlichen Ausdruck: indem sie das beim Zuhören Empfundene verbalisieren, Leerstellen füllen, Wortbedeutungen erschließen und dadurch ihren Wortschatz erweitern. Sie erhalten durch das Vorlesen ein Vorbild für sprachliche Korrektheit im Hinblick auf Aussprache, Intonation und Grammatik. 6. Die reflexive Funktion Die Ergebnisse von PISA 2009 zeigten erneut, dass Lernende an Schulen in Deutschland Schwächen im „Reflektieren und Bewerten“ aufweisen. Literatur präsentiert in den dargestellten Figuren und Handlungen immer auch Lebensentwürfe, die damit indirekt zur Debatte gestellt werden. Beim Nachspüren und Reflektieren der Erfahrungen der literarischen Figuren spüren und denken die Schüler auch über ihre eigenen Lebenssituationen nach. Erleben die Kinder eine Vielfalt von literarischen Begegnungen, so erleben sie auch eine Vielzahl von Lebensentwürfen, die ihr Potenzial an Lebensgestaltungen erweitern. Kommen noch mündliche und schriftliche Prozesse in der Anschlusskommunikation oder in literarischen Gesprächen hinzu, befinden wir uns im Übergang zum „Reflektieren und Bewerten“ (Belgrad/ Schünemann 2011: 145-148). In den nachfolgend beschriebenen Studien zum Projekt Leseförderung durch Vorlesen markieren diese Funktionen das Terrain des Untersuchungsinteresses. Jürgen Belgrad & Christin Klipstein 184 3 Ergebnisse der Studie von 2010: Wirkung des Vorlesens in der Schule Nachdem viele Lehrkräfte über den großen Erfolg regelmäßigen Vorlesens berichteten und Gailberger (2011) dies auch in einer Studie zeigen konnte, ergaben sich genügend Anhaltspunkte, diese Vermutungen näher zu untersuchen. Unsere These lautete somit: Regelmäßige Vorleseaktivitäten verstärken die basale Lesefertigkeit (Dekodieren, Leseflüssigkeit und basales Textverstehen) der Schüler. Zusätzlich wurde untersucht, ob das Vorlesen die Lesemotivation und das Freizeitverhalten der Schüler positiv beeinflusst. 3.1 Design der Studie Für die durchgeführten Studien Leseförderung durch Vorlesen wurde folgendes Design festgelegt: 1. Pretest: a) Zunächst wurden mithilfe eines standardisierten Fragebogens Informationen zum Freizeitverhalten erhoben, um wichtige Hinweise auf den Stellenwert des Lesens im Alltag der Schüler zu erhalten (Dauer ca. 15 min). b) Danach erfolgte der Pretest mit dem Salzburger Lesescreening (SLS): Er misst die Leseflüssigkeit und die basale Lesefertigkeit (Dauer ca. 10 min). 2. Intervention in der Versuchsgruppe („Lesegruppe“): Jede Lehrkraft las danach den Schülern im Unterricht dreibis viermal in der Woche vor. Die Dauer des Lesens wurde, basierend auf Erfahrungen von Lehrkräften aus der Vorstudie, auf 10 bis 15 Minuten pro Vorleseeinheit begrenzt. Weitere Vorgaben wurden den Lehrkräften nicht gemacht, um die Akzeptanz des Designs bei den Lehrkräften so hoch wie möglich zu halten (auch nicht bezüglich der vorgelesenen Texte). Die Lehrkräfte protokollierten lediglich, wie häufig, wie lang und welche Texte sie vorgelesen hatten (zu weiteren differenziellen Anlagen des Designs vgl. die nachfolgenden Punkte 3.6-3.9). Die Intervention wurde ca. 15 Wochen durchgeführt (September bis Februar). Dies entspricht einem halben Schuljahr. 3. Posttest: Im Anschluss an die Interventionseinheit wurden der standardisierte Fragebogen und eine zweite Version des Lesetests (SLS) erneut eingesetzt (quantitative Untersuchung). Die Kontrollgruppen nahmen nur an den Phasen 1 und 3 teil. Ansonsten erlebten diese Schüler normalen Unterricht. Die Lehrkräfte erhielten keine weiteren Anweisungen. Leseförderung durch Vorlesen 185 4. Leitfadeninterviews: Zusätzlich wurden mit 30 Lehrkräften und 80 Schülern Leitfadeninterviews durchgeführt (qualitative Untersuchung). Quantitative und qualitative Daten wurden zwar getrennt ausgewertet, aber in der Interpretation aufeinander bezogen. Diese Triangulation ermöglichte die gegenseitige Absicherung der Ergebnisse. 3.2 Hauptergebnisse der Studie von 2010 Ca. 1800 Achtklässler an Hauptschulen in Baden-Württemberg nahmen an der ersten großen Studie von 2010 teil. Davon konnten die Daten von 1041 Schülern in der Versuchsgruppe und 311 Schülern der Kontrollgruppe ausgewertet werden. Die Hauptergebnisse waren eindeutig (vgl. Belgrad/ Schünemann 2011): Die basale Lesefertigkeit verbesserte sich durch die Intervention hoch signifikant. Zwar ergab sich ein Gesamtzuwachs im Lesequotienten (LQ 3 ) sowohl bei der Kontrollgruppe (Teilnahme am Projekt ohne Vorlesen) als auch bei der Lesegruppe (Teilnahme am Projekt mit Vorlesen). Während sich jedoch die Kontrollgruppe durchschnittlich um +2,61 Punkte im LQ verbesserte, steigerte sich die Lesegruppe im Schnitt um +5,02 Punkte, also um etwa das Doppelte (p** 4 = ,002; der Unterschied zwischen der Kontrollgruppe und der Lesegruppe ist hoch signifikant). Zusätzlich verbesserte sich diese Lesefertigkeit noch weiter, wenn über die Texte geredet wurde (Anschlusskommunikation; ebenso hoch signifikant p** = ,000; siehe auch Abschnitt 3.6). 3.3 Vergleich der Geschlechter Im Hinblick darauf, dass bei Jungen viele Bildungsmaßnahmen weniger erfolgreich sind als bei Mädchen (vgl. z.B. Hurrelmann/ Schulz 2012) 5 , wurden die Ergebnisse noch einmal geschlechterspezifisch untersucht (vgl. Garbe 2010; Müller-Walde 2010). Die Mädchen verbesserten sich um +5,1 LQ-Punkte, die Jungen um +4,78 LQ-Punkte; der Unterschied ist dabei nicht signifikant (p = ,650). Hier zeigte sich, dass Mädchen und Jungen ähnlich stark von der Leseförderung durch Vorlesen profitierten. 3 Der Lesequotient (LQ) normiert die erhobene Leseleistung, um diese mit anderen erhoben Leseleistungen vergleichbar zu machen. Die durchschnittliche Leseleistung wird dabei mit 100 angesetzt (wie der Intelligenzquotient (IQ), der die durchschnittliche Intelligenz mit 100 festlegt) (vgl. Auer et al. o.J.). 4 ** bedeutet im Folgendem immer „hoch signifikant“; * bedeutet im Folgendem immer „signifikant“; alle Signifikanzen wurden mit dem T-Testverfahren ermittelt. 5 Allgemeine Informationen zum Leseverhalten von Jungen und Lektüretipps finden sich auf der von der Universität zu Köln betreuten Homepage www.boysandbooks.de. Jürgen Belgrad & Christin Klipstein 186 3.4 Vergleich Deutsch als Erst- und Zweitsprache Schüler mit mehrsprachiger Sozialisation profitierten ebenfalls vom Vorlesen. Allerdings zeigte sich, dass Lernende mit der Herkunftssprache Deutsch einen stärkeren LQ-Gewinn erzielten (+5,43 LQ-Punkte) als ihre Peers mit der Zweitsprache Deutsch (+4,11 LQ-Punkte). Der Unterschied ist jedoch nicht signifikant (p = ,094). Beide Gruppen profitierten also ähnlich stark vom Vorlesen. 3.5 Vorlesen oder Vorlesen und Mitlesen? Eine Gruppe von Schülern in der Studie hatte die Aufgabe, beim Vorlesen nur zuzuhören, eine andere hatte die Aufgabe, immer auch mitzulesen. Während die „Zuhörer“ sich um +5,26 LQ-Punkte verbesserten, steigerten sich die „Mitleser“ um +2,45 LQ-Punkte (p* = ,022). Reines Zuhören steigert die basale Lesefertigkeit stärker, als wenn die Schüler mitlesen. Es ist zu vermuten, dass leseschwächere Schüler beim Mitlesen nicht so schnell dekodieren und dadurch den Anschluss an den Vorleser verlieren, weil sie nicht mehr wissen, auf welche Wahrnehmung sie sich stärker konzentrieren müssen: auf das auditive Zuhören oder das visuelle Mitlesen. Beide Wahrnehmungssysteme driften offensichtlich auseinander. Die guten Leser können wahrscheinlich beide Wahrnehmungsformen eher koordinieren. Gailberger (2011) hatte bei einer Population von N = ca. 120 konträre Ergebnisse. 3.6 Über den Text reden Wenn die Lehrkraft mit den Schülern über den vorgelesenen Text redete (hier „dialogisch“), dann steigerte sich der Lesequotient hoch signifikant (p** = ,000). Die Lernenden in der dialogischen Vorlesegruppe verbesserten sich durchschnittlich um +6,79 LQ-Punkte und damit um mehr als das Doppelte als bei der monologischen (vgl. Abb. 1), deren LQ-Zuwachs +3,13 Punkte betrug. Die Lernenden, denen dialogisch vorgelesen wurde, profitierten stärker als die Gruppe der Lernenden, deren Vorleseform „monologisch“, also ohne Anschlusskommunikation, stattfand (p** = ,000). Dies könnte darauf zurückzuführen sein, dass durch die sprachliche Formulierung und Verarbeitung passive Vorstellungsgehalte in aktive Formulierungen übertragen und dadurch Verstehensprozesse verbessert werden. Zusätzlich bietet die Anschlusskommunikation die beste Gelegenheit, diese Vorstufe zu literarischen Gesprächen zu trainieren und so zusätzliche Verstehens- und Genussmomente zu schaffen (vgl. Steinbrenner/ Wiprächtiger-Geppert 2006: 227-241). Leseförderung durch Vorlesen 187 Abb. 1: Die Schüler profitierten stärker von einer dialogischen Vorleseform 3.7 Qualifikation der Lehrkräfte Das Vorlesen wirkte stärker, wenn die Lehrkräfte im Vorlesen geschult wurden (fünf Stunden Coaching durch einen Sprechwissenschaftler). Lasen geschulte Lehrkräfte vor, so verbesserte sich die Lesefertigkeit der Schüler um +6,18 LQ-Punkte. Wenn ungeschulte Lehrkräfte vorlasen, betrug die Steigerung +4,25 LQ-Punkte (Signifikanz dieses Gruppenunterschieds: p** = ,007). Dieser positive Effekt könnte damit zusammenhängen, dass die geschulten Lehrkräfte den Text interessanter (Mimik, Gestik, Proxemik) gestalteten. Dadurch kam vermutlich eine höhere Aufmerksamkeit zustande, die es den Lernenden ermöglichte, den Text besser zu verstehen. Dieses Ergebnis legt nahe, eine solche Schulung in der Lehrerausbildung und Lehrerfortbildung verbindlich zu etablieren. 3.8 Jugendbuch oder Kurzgeschichte Von Lehrkräften wird oft gefordert, dass mehr Ganzschriften gelesen werden sollen. Es konnte jedoch kein Unterschied gemessen werden, ob Kurzgeschichten oder Ganzschriften vorgelesen wurden (p = ,519; nicht signifikant). Wenn ein Jugendbuch vorgelesen wurde, verbesserte sich die Lesefertigkeit um +5,27 LQ-Punkte. Wenn eine Kurzgeschichte vorgelesen wurde, konnte eine Steigerung der basalen Lesefähigkeit um +4,79 LQ- Punkte gemessen werden. Offensichtlich beeinflusst die Wahl der vorgelesenen Textsorte die Wirkung des Vorlesens nicht. Jürgen Belgrad & Christin Klipstein 188 3.9 Leitfadeninterviews mit Lehrkräften und Schülern In einem Leitfadeninterview wurden Lernende und Lehrende im Rahmen der Studie zu unterschiedlichen Aspekten des Vorlesens bzw. des Projekts befragt. 67 % der befragten Lehrkräfte gaben an, dass sie im Laufe des Projekts Veränderungen in ihren Klassen feststellen konnten. Übereinstimmend berichteten die Lehrkräfte, dass Folgendes zu beobachten war: 1. Zunahme des Interesses an Vorlesen, Lesen, Literatur 2. Zunahme von Konzentration und Zuhörfähigkeit 3. Verbesserung des Klassenklimas und der Arbeitsatmosphäre Das regelmäßige Vorlesen hatte zudem weitere Effekte: Die Schüler verwendeten Figuren der vorgelesenen Texte in ihren Aufsätzen. 92 % der Schüler wollten, dass ihnen die Lehrkraft weiter vorliest. 4 Vergleichbare Ergebnisse zur Wirkung des Vorlesens in den Studien von 2011 bis 2015 Im Rahmen der Studie von 2010 machten die Lehrkräfte der Hauptschule sehr positive Erfahrungen mit dem Vorlesen. Um zu prüfen, ob sich diese positiven Effekte auch in den anderen Schularten einstellen, wurde das Projekt in den Schuljahren 2011 bis 2015 an Grund-, Haupt-, Realschulen und einigen Gymnasien, wieder mit begleitenden Studien, durchgeführt. Insgesamt nahmen bis 2015 mehr als 22.000 Schüler aus den Klassen 1-10 aller Schularten im Zuständigkeitsbereich von acht staatlichen Schulämtern in Baden-Württemberg teil. Hier konnten Trends bestätigt werden, die sich schon in der ersten Studie zeigten: - Das Vorlesen wird sowohl von den Lehrkräften als auch von den Schülern sehr positiv bewertet. - Die Vorlesegruppen schneiden in Bezug auf die Steigerung des LQ immer besser ab als die Kontrollgruppen. 4.1 Grundschulen Hier verbesserte sich der LQ durchschnittlich um fast +10 LQ-Punkte, also fast um eine komplette Lesestufe (vgl. Abb. 2). Leseförderung durch Vorlesen 189 Abb. 2: Zunahme des Lesequotienten in der Grundschule Schaut man sich die Verteilung nach Klassen an, so lag die größte Steigerung bei den 2. Klassen mit +15 LQ-Punkten und den 3. Klassen mit +11,5 LQ- Punkten (p** = ,000). Die geringere Steigerung in den 4. Klassen erklärten sich die Lehrkräfte damit, dass ihre Schüler schon relativ gut lesen könnten und der Zuwachs damit nicht so groß sein könne. Als Schlussfolgerung könnte man hier ziehen, dass Leseförderungsmaßnahmen zu Beginn der Grundschulzeit stärker wirken als am Ende der Grundschulzeit. Ein wichtiger Indikator für positive Wirkungen des Vorlesens war die Steigerung der eigenen Leselust, die Auswirkungen auf das Selber-Lesen hatte. Bei den untersuchten 3. Klassen zeigte sich eine Zunahme der Leselust von 47 % auf 57 % bei „sehr oft“ (p** = ,000). Regelmäßiges Vorlesen erhöht also die Leselust und die Eigenaktivität zum Selber-Lesen. 4.2 Hauptschulen 2013 wurden auch die 5. Klassen untersucht. Die Auswertung des LQ- Zuwachses der 5. Klassen ergab, dass der LQ sich von 84,6 auf 92,2 LQ- Punkte verbesserte (vgl. Abb. 3). Zudem wurden die Ergebnisse der 5. Klassen von 2013 mit denen der 8. Klassen aus der Studie von 2010 verglichen. Dabei wurde festgestellt, dass die 5. Klassen ihren LQ um fast +8 LQ-Punkte und damit noch einmal um +3 LQ-Punkte mehr als die Schüler der 8. Klassen steigerten. Diese Verbesserung ist hoch signifikant. Jürgen Belgrad & Christin Klipstein 190 Abb. 3: Zunahme des Lesequotienten in den 5. Klassen der Hauptschule Nach den Auswertungen des Lesetests 2013 in den 5. Klassen bestand zwischen den Geschlechtern ein starker Unterschied im Zuwachs der LQ- Punkte. Dieser betrug bei Mädchen +10,21 LQ-Punkte und bei Jungen nur +5,37 LQ-Punkte. Die Gründe für die unterschiedlichen Zuwächse konnten nicht ermittelt werden. 4.3 Realschulen In der Realschule nahm die Leseleistung ebenfalls deutlich zu. Hier steigerte sich der LQ von 97 auf 107 LQ-Punkte. Wie in der Grundschule, so lag auch in der Realschule der Zuwachs bei +10 LQ-Punkten. Interessanterweise sank der Lesequotient in der Kontrollgruppe von 98 auf 90 LQ-Punkte, sodass sich hier die Frage stellt, ob die Lesekompetenz in der Sekundarstufe im Normalunterricht zu wenig gefördert wurde. Teilte man die Klasse in drei Niveaus der Lesekompetenz (1. Drittel, 2. Drittel, 3. Drittel der Lesequotientpunkte), so konnte man feststellen, dass die schwächsten Schüler am stärksten vom Vorlesen profitierten (Zunahme von ca. +15 LQ-Punkte); die mittelstarken Schüler erreichten eine Zunahme von ca. +10 LQ-Punkten (wie der Durchschnitt aller untersuchten Klassen). Die sehr guten Schüler profitierten trotz ihrer Leistungsstärke um ca. +5 LQ- Punkte (vgl. Abb. 4). Leseförderung durch Vorlesen 191 Abb. 4: Die leseschwächsten Schüler profitierten am stärksten vom Vorlesen 4.4 Gymnasien In einer Pilotstudie mit sechs Gymnasien (Klassen 5-10) nahm die Leseleistung ähnlich wie bei den Realschulen um ca. +10 LQ-Punkte zu (Kontrollgruppe ca. +6 LQ-Punkte; der Zuwachs in beiden Gruppen ist hoch signifikant). Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass sich in allen Schularten und Schulstufen insgesamt eine Steigerung der basalen Lesekompetenz um ca. +10 LQ-Punkte abzeichnete. Dies entspricht der Zunahme der Leseleistung um ca. eine Lesestufe (bzw. einem Fortschritt der basalen Leseleistung um mehr als ein halbes Schuljahr gegenüber der Kontrollgruppe (vgl. Abb. 5). Was für die Lehrkräfte erfreulich war: Alle Schüler, von den lesestärksten bis zu den leseschwächsten (siehe dazu Kapitel 4.3, Abb. 4), profitierten vom Vorlesen. Zwar kam das Vorlesen den Lesestarken überproportional zugute, aber auch Schüler im mittleren und unteren Drittel des Leistungsspektrums konnten die Lesefertigkeit gleichfalls signifikant steigern. Die vorliegenden Ergebnisse konnten belegen, dass die Schüler aller Schularten durch das Vorlesen der Lehrkraft ihre basale Lesekompetenz verbesserten. Jürgen Belgrad & Christin Klipstein 192 Abb. 5: Zunahme des Lesequotienten im Gymnasium 5.-9. Klasse 4.5 Qualitative Auswertung der Interviews Nach Befragen einiger beteiligter Lehrkräfte (N = 90) konnten folgende Beobachtungen im Projekt Leseförderung durch Vorlesen angestellt werden: - Klassengemeinschaft wurde gestärkt (übereinstimmende Aussagen) - Figuren des vorgelesenen Buches tauchten im literarischen Deutschaufsatz der Schüler wieder auf (6. Klasse Realschule) - Schüler wollten, dass auch in der Pause vorgelesen wird (8. Klasse Hauptschule) - Schüler schlugen vor, dass der Lehrer vorlesen soll, damit die Schüler ruhiger werden (8. Klasse Hauptschule) - Eltern wunderten sich darüber, dass Kinder zu Hause mehr lasen (5. Klasse Realschule) - Auf die Lehrerfrage, ob jetzt jemand mehr zu Hause liest, meldeten sich 22 von 23 Kindern (aus einer 6. Klasse Realschule) Hier noch zwei exemplarische Statements von Lehrpersonen aus den Studien des Jahres 2014: - Hauptschule-Sprachheilzentrum (Rektor): „Unsere Schüler waren begeistert und haben zum Lesen gefunden. Das Projekt ist zumindest aus unserer Sicht ein voller Erfolg. Ein Großteil der Klasse hat inzwischen vom eigenen Taschengeld bei mir Bücherbestellungen in Auftrag gegeben! Sie wollten vorgelesene Bücher noch einmal Leseförderung durch Vorlesen 193 selber lesen bzw. von manchen Büchern die Fortsetzungen lesen. Sogar in den Pausen gehen sie mit dem Buch vor der Nase umher. Und das alles bei sprachbehinderten Kindern, die in der Regel große Schwierigkeiten mit dem Lesen haben.“ - Grundschule in Stuttgart (Junglehrerin): „Schüler mit Schwierigkeiten im Verhaltensbereich werden durch Vorlesen sehr ruhig und konzentriert (Inklusionskinder, E-Bereich). Gerade diese Kinder fordern Vorlesen auch vehement ein. Lehrer haben immer mehr Freude am Vorlesen entwickelt und wollen es nach Projektende weiterführen.“ 4.6 Vorlesevariationen: Vorlesen und szenisches Spiel - Vorlesen und Leseflüssigkeitstraining - Vorlesen oder Hörbuch In einer weiteren kleinen Studie wurde das Vorlesen mit szenischen Verfahren kombiniert. In einer anderen Pilotstudie wurde das Vorlesen mit einem Training der Leseflüssigkeit kombiniert. In einer weiteren Teiluntersuchung wurde geprüft, ob der Einsatz eines Hörbuchs oder Vorlesen durch die Lehrkraft eine größere Steigerung des Lesequotienten bewirkten. 4.6.1 Leseförderung durch Vorlesen und szenisches Spiel Lehrkräfte förderten die Schüler mit dieser Methodenkombination zusätzlich je eine Stunde pro Woche, insgesamt 15 Wochen lang. Gedichte und Geschichten aus Jugendtheaterstücken wurden in kleinen Szenen umgesetzt. Hierdurch sollte sowohl der Textinhalt verdeutlicht als auch die Motivation gesteigert werden, sich darüber zu unterhalten (Anschlusskommunikation). Entgegen der Erwartung, dass das szenische Spiel eine bessere Imagination bewirkt und sich der LQ so eher steigert als bei der reinen Vorlesegruppe, profitierten die Schüler von einer verbalen Anschlusskommunikation stärker als von einer szenischen Auseinandersetzung (vgl. Hempel 2011: 100 ff.): Die rein verbale Gruppe mit Anschlusskommunikation (N = 51) verbesserte ihre Lesekompetenz um +15,7 LQ-Punkte, die szenische Gruppe ohne Anschlusskommunikation (N = 47) verbesserte ihre Lesekompetenz um +8,8 LQ-Punkte (p** = ,008). Das mag damit zusammenhängen, dass bei szenischen Verfahren oft das Spiel selbst zu stark gegenüber dem Text in den Vordergrund rückt. Andererseits fördert die verbale Formulierung von Inhalten des Textes das Verstehen vielleicht mehr als das szenische Spiel. Allerdings könnte der hohe Handlungsteil eine höhere Motivation beim szenischen Spiel auslösen. Und dies könnte sich auf die Dauer als ein zusätzlicher positiver Faktor auch auf die Lesekompetenz auswirken (Lesemotivation verbessert Lesekompetenz, s.o.). Jürgen Belgrad & Christin Klipstein 194 4.6.2 Leseförderung durch Vorlesen und Leseflüssigkeitstraining Lehrkräfte förderten die Schüler 15 Wochen lang zusätzlich je eine Stunde pro Woche durch Verfahren des Parallel-Lesens: Die Lehrkraft kombiniert Tandems von besseren Lesern („Trainer“) und schwächeren Lesern („Sportler“). Dabei soll der „Sportler“ beim Lesen und Mitsprechen lernen, wie der „Trainer“ dekodiert, betont und wie er flüssig liest. Der „Sportler“ beobachtet beim Selber-Lesen, wie der andere vorliest, und macht es ihm nach. So soll der „Sportler“ seine eigene Leseflüssigkeit und Dekodierfähigkeit verbessern (vgl. Rosebrock/ Nix 2011). Eine Pilotstudie (vgl. Weisser 2012) ergab für die Sekundarstufe, dass in einem Interventionszeitraum von 15 Wochen die reine Vorlesegruppe (N = 30) ihren Lesequotienten von 89 auf 98 um +9 LQ-Punkte steigerte (p** = ,005). In der Gruppe, bei der vor allem die Leseflüssigkeit (mit nur fünfminütigen Vorleseteilen) trainiert wurde (N = 63), sank dagegen der LQ von 98 auf 97 Punkte (p = ,579; nicht signifikant). Allerdings ergab eine weitere Pilotstudie zum Leseflüssigkeitstraining in einer 4. Klasse der Primarstufe (N = 22) in einem Interventionszeitraum von fünf Wochen eine Steigerung des Lesequotienten von 102 auf 106 um +4 LQ-Punkte (vgl. Döser 2015). Das zusätzliche Leseflüssigkeitstraining wirkte sich unter Berücksichtigung des Interventionszeitraums in der Primarstufe stärker aus als in der Sekundarstufe (Primarstufe ohne Kontrollgruppe). Offensichtlich gelang in einer Grundschulklasse mit einer breiten Streuung der Lesekompetenz die Steigerung des LQ leichter als in einer Hauptschulklasse mit geringeren Lesekompetenzen. Leseflüssigkeitstraining unterstützt also den Dekodierprozess beim Lesen. Szenische Verfahren, so die Annahme, unterstützen durch die Verkörperlichung in Figuren die mentale Textrepräsentation, also die Imagination im „Kopfkino“. Diese Annahme konnte bislang allerdings noch nicht bestätigt werden. 4.6.3 Leseförderung durch Vorlesen oder Hörbuch Im Rahmen einer zusätzlichen Studie (Herdegen 2012) wurde bei einer Stichprobe (6. und 8. Klasse Realschule; N = 350) untersucht, inwieweit es für die Förderung der basalen Lesefähigkeit eine Rolle spielt, ob der Text den Schülern als Hörbuch vorgespielt wird oder ob die Lehrkraft selber vorliest. Hier zeigt das Ergebnis eindeutig die höhere Wirkung der vorlesenden Lehrkraft auf den Zuwachs des Lesequotienten. Wenn die Lehrkraft wie bei den anderen Studien 15 Wochen vorlas, stieg die Lesekompetenz durchschnittlich um +23 LQ-Punkte. Wird das Hörbuch eingesetzt, steigt die Lesekompetenz lediglich um +7 LQ-Punkte (vgl. Herdegen 2012). Leseförderung durch Vorlesen 195 Die körperlich präsente Lehrkraft, die mit sprachlichen, stimmlichen und v.a. körperlichen Mitteln den Vortrag unterstützt, kann den Text packender und spannender für die Schüler vermitteln, als es das Hörbuch vermag. 4.7 Konsequenzen aus dem Forschungsprojekt Seit dem 1. Juli 2013 wird das Projekt mit Unterstützung des Kultusministeriums Baden-Württemberg und der Regierungspräsidien in ganz Baden- Württemberg durchgeführt. Im Schulamtsbezirk Stuttgart beispielsweise erhielten dazu mehr als 16 Schulen das Zertifikat Auszeichnung Vorleseschule. Diese Auszeichnung wird Schulen verliehen, die mit mindestens fünf Klassen am Projekt Leseförderung durch Vorlesen teilgenommen haben, und wird ergänzend unterstützt durch die Stiftung „Kinder fördern - Zukunft stiften“, die den ausgezeichneten Schulen Lesekoffer zur Verfügung stellt. Das Projekt wurde ab 2014 auch als „Regionalprojekt Leseförderung durch Vorlesen“ mit allen Schularten und Kitas in einigen Region Süddeutschlands weitergeführt: Zusammen mit dem jeweiligen Bildungsbüro des Landkreises wurde das Konzept unter der Federführung eines die Kooperation organisierenden Schulleiters (mit Zustimmung des Staatlichen Schulamts und des Regierungspräsidiums) angestoßen: Kindern in den Kitas und Schülern der Grund-, Haupt-, Realschulen sowie der Gymnasien und Berufsschulen wird in allen Klassenstufen und neben dem Fach Deutsch auch in anderen Fächern (wie Englisch, Religion, Geschichte usw.) ein Jahr lang regelmäßig vorgelesen. Dieses Konzept ist auf allen Hierarchieebenen der Lesekompetenz sofort mit Anschlusskommunikation, Leseflüssigkeitstraining, szenischem Spiel, literarischem Gespräch und narrativen Sachtexten kombinierbar und kann zeitlich leicht in den Unterrichtsalltag integriert werden. Außerdem ist eine grenzüberschreitende Ausdehnung des Projekts nicht nur auf andere Bundesländer wie Sachsen und Brandenburg, sondern auch mit Partnern in der Schweiz und in Österreich bereits im Stadium der Konkretisierung. Inhaltlich wird das bestehende Vorlese-Konzept auch um den Aspekt der Mehrsprachigkeit erweitert. In Zukunft soll auch in der Zweitsprache Englisch und der Drittsprache Französisch vorgelesen und die jeweiligen Auswirkungen auf die Leseleistung untersucht werden. 5 Fazit Die Ergebnisse aller Studien von 2010-2015 zeigen in eine Richtung: Bereits nach einem halben Schuljahr ergaben sich durch regelmäßiges Vorlesen der Lehrkraft hoch signifikante Fortschritte in der basalen Lesefähigkeit. Dieser Effekt konnte noch verstärkt werden, wenn die Lehrkräfte geschult wurden. Wenn Lehrkräfte leseschwächeren Schülern nur vorlasen und diese nicht Jürgen Belgrad & Christin Klipstein 196 mitlesen mussten, steigerte sich der Lesequotient nochmals. Eine weitere deutliche Steigerung wurde erreicht, wenn die Lehrperson mit der Klasse im Anschluss an das Vorlesen über den Text redete. Das regelmäßige Vorlesen hatte zudem weitere Effekte: Die Klassengemeinschaft wurde gestärkt und die Arbeitsatmosphäre in der Klasse besserte sich deutlich. Zudem nahm die Konzentrationsfähigkeit der Schüler zu. Die Schüler griffen außerdem in ihrer Freizeit häufiger zu Büchern. Die teilnehmenden Schüler gewannen deutlich mehr Lust am Selber-Lesen. Gerade vor dem Hintergrund der PISA-Studie, die gezeigt hat, dass etwa 40 % aller Schüler nicht zum Vergnügen lesen, ist das ein sehr interessanter Befund. Zusätzlich verwendeten sie Figuren aus den vorgelesenen Texten in Aufsätzen, weil sie in diesen Figuren offensichtlich Anknüpfungspunkte zu ihrer Lebenswirklichkeit entdeckten. Die Studien machten auch deutlich, dass das Gefallen am Vorlesen im Deutschunterricht nach dem Projekt signifikant gestiegen ist. Daher ist zu empfehlen, regelmäßige Vorlesezeiten sowohl in der Primarals auch in der Sekundarstufe im Curriculum zu etablieren. Betrachtet man die Gesamtheit der Ergebnisse und vergleicht diese mit den anfangs erläuterten Funktionen des Vorlesens, lassen sich Korrespondenzen formulieren. Diese werden in den folgenden Thesen stichwortartig skizziert: - Die kulturelle Funktion kann unterstützt werden durch die Präsentation konzeptioneller Schriftlichkeit beim Vorlesen. - Die literarisch-ästhetische Funktion kann durch die Auseinandersetzung mit den literarischen Figuren intensiviert werden. - Am eindeutigsten wird die kognitive Funktion durch die Steigerung des Lesequotienten gefördert. - Die emotionale Funktion konnten wir durch die Steigerung der Lesebereitschaft anregen. - Die kommunikative Funktion verstärkte sich durch Prozesse der Anschlussfunktionen. - Und schließlich: Die reflexive Funktion konnte durch die Auseinandersetzung über die Lebensentwürfe der Figuren gestützt werden. Aus den hier vorgestellten Studien des Projekts Leseförderung durch Vorlesen ergaben sich einige Hypothesen, die allerdings erst noch einer stärkeren empirischen Überprüfung ihrer Wirksamkeit standhalten müssen: - Kinder und Jugendliche erfahren durch das Vorlesen konzeptionelle Schriftlichkeit. - Vorlesen erhöht die Lesemotivation und die Häufigkeit des Selber- Lesens. - Vorlesen trainiert die Imaginationsfähigkeit und verbessert so das Textverstehen. Leseförderung durch Vorlesen 197 - Das Vorlesen verbessert die Imaginationen beim Leseprozess und deshalb kommt es beim Selbstlesen zu früherem Worterkennen und damit zu einer Geschwindigkeitszunahme beim Lesen. - Die Beschleunigung beim Ablauf des Selbstlesens führt zu einer Erhöhung der Leselust und -motivation. Literatur Baumert, J. (Hg.) (2001): PISA 2000. Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich. Leverkusen: Leske + Budrich Verlag. Belgrad, J. & Schau, A. (1998): Leseförderung durch Vorlesen. Eine Interventionsstudie an 600 Schülern der dritten Klasse der Grundschule (MS). Belgrad, J. & Schünemann, R. (2011): Leseförderung durch Vorlesen: Ergebnisse und Möglichkeiten eines Konzepts zur basalen Leseförderung. In: Eriksson, B. & Behrens, U. (Hgg.): Sprachliches Lernen zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Bern: hep Verlag, 144-171. DESI-Konsortium (Hg.) (2008): Unterricht und Kompetenzerwerb in Deutsch und Englisch. DESI-Ergebnisse. Band 2. Weinheim, Basel: Beltz. Döser, V. (2015): Auswertung des Salzburger Lesescreenings und des Fragebogens zum Leseverhalten der Schüler und Schülerinnen in einer vierten Grundschulklasse. Teilstudie zum Projekt LESEFÖRDERUNG DURCH VORLESEN (MS, Pädagogische Hochschule Weingarten). Gailberger, S. (2011): Lesen durch Hören. Leseförderung in der Sek. I mit Hörbüchern und neuen Lesestrategien. Weinheim, Basel: Beltz. Garbe, C.; Holle, K. & Jesch, T. (2009): Texte lesen. Textverstehen, Lesedidaktik, Lesesozialisation. Paderborn: Schöningh UTB. Garbe, C. (2010): Wie werden Kinder zu engagierten und kompetenten Lesern? In: Schulz, G. (Hg.): Lesen lernen in der Grundschule. Berlin: Cornelsen Scriptor, 9-23. Garbe, C.; Holle, K. & Weinhold, S. (2011): Wie Lesekompetenzen von Jugendlichen wirksam verbessert werden können. In: Newsletter SDD 31, S. 5-7. Heidenreich, E. (2004): Vorlesen! http: / / www.presseportal.de/ pm/ 6788/ 625144 [15.5.2015]. Hempel, C. (2011): Leseförderung durch Vorlesen in Verknüpfung mit Verfahren des szenischen Spiels an 8. Realschulklassen. Teilstudie zum Projekt LESEFÖRDE- RUNG DURCH VORLESEN (MS, Pädagogische Hochschule Weingarten). Herdegen, T. (2012): Leseförderung durch Vorlesen oder Hörbücher. Eine vergleichende Untersuchung in einer sechsten und achten Klasse Realschule. Teilstudie zum Projekt LESEFÖRDERUNG DURCH VORLESEN (MS, Pädagogische Hochschule Weingarten). Hurrelmann, B.; Hammer, M.; Niess, F.; Epping, S.; Ofteringer, I. (1993): Leseklima in der Familie. Lesesozialisation. Band I. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung. Hurrelmann, K. & Schulz, T. (2012): Jungen als Bildungsverlierer. Brauchen wir eine Männerquote in Kitas und Schulen? Weinheim, Basel: Beltz. Klages, H. (2009): Textverstehen im frühen Zweitspracherwerb. In: Ahrenholz, B. (Hg.): Empirische Befunde zu DAZ-Erwerb und Sprachförderung. Freiburg i.B.: Fillibach. Jürgen Belgrad & Christin Klipstein 198 Mayringer, H. & Wimmer, H. (o.J.): Salzburger Lesescreening (SLS). http: / / www.eduhi.at/ dl/ Salzburger_Lesescreening_Handbuch.pdf [18.8.2015]. Müller-Walde, K. (2010): Warum Jungen nicht mehr lesen und wie wir das ändern können. Frankfurt am Main: Campus-Verlag. Rosebrock, C.; Gold, A.; Nix, D. & Rieckmann, C. (2011): Leseflüssigkeit fördern. Lautleseverfahren für die Primar- und Sekundarstufe. Seelze: Klett Kallmeyer. Steinbrenner, M. & Wiprächtiger-Geppert, M. (2006): Verstehen und Nicht-Verstehen im Gespräch. Das Heidelberger Modell des Literarischen Unterrichtsgesprächs. In: Literatur im Unterricht 7, 227−241. Stiftung Lesen (2007): Bahn-Studie 2007. Vorlesen in Deutschland. Eine Forschungsinitiative der Deutschen Bahn AG, der ZEIT und der Stiftung Lesen. http: / / www.stiftunglesen.de/ materialarchiv/ pdf1 [10.1.2001]. Stiftung Lesen (2008): Bahn-Studie 2008. Vorlesen im Kinderalltag. Repräsentative Befragung von Kindern im Vor- und Grundschulalter (und bis 11 Jahre). Eine Studie der Deutschen Bahn, der ZEIT und der Stiftung Lesen. http: / / www.stiftunglesen.de/ materialarchiv/ pdf2 [10.1.2011]. Stiftung Lesen (2011): Die Bedeutung des Vorlesens für die Entwicklung von Kindern. Repräsentative Befragung von 10bis 19-Jährigen. Eine Studie der Stiftung Lesen, der Deutschen Bahn und der ZEIT. http: / / www.stiftunglesen.de/ download.php? type=documentpdf&id=504 [15.3.2015]. Stiftung Lesen (2013): Neuvermessung der Vorleselandschaft. Repräsentative Befragung von Eltern mit Kindern im Alter von 2 bis 8 Jahren. http: / / www.stiftunglesen.de/ download.php? type=documentpdf&id=1064 [24.11.2014]. Über die Studie von Jeffrey M. Zacks: Warum man in einem Buch versinken kann. In: SZ, 26.10.2009. Weisser, S. (2012): Förderung der basalen Lesefertigkeiten „Leseflüssigkeit“ und „Decodierfähigkeit“ am Beispiel von sechsten und siebten Klassen der Hauptschule. Teilstudie zum Projekt LESEFÖRDERUNG DURCH VORLESEN (MS, Pädagogische Hochschule Weingarten). Wieler, P. (1997): Vorlesen in der Familie. Fallstudien zur literarisch-kulturellen Sozialisation von Vierjährigen. Weinheim: Juventa. Autorenverzeichnis M. Sc. Johanna Bebout Cochlear Implant Centrum Ruhr Plümers Kamp 10 45276 Essen E-Mail: J.Bebout@cic-ruhr.de Prof. Dr. Tabea Becker Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover Deutsches Seminar Welfengarten 1 30167 Hannover E-Mail: tabea.becker@germanistik.unihannover.de Prof. Dr. Jürgen Belgrad Pädagogische Hochschule Weingarten Kirchplatz 2 88250 Weingarten E-Mail: belgrad@ph-weingarten.de www.lesefoerderung-durchvorlesen.de Prof. Dr. Eva Belke Ruhr-Universität Bochum Sprachwissenschaftliches Institut Universitätsstr. 150 44801 Bochum E-Mail: Belke@linguistics.rub.de Eva Gressnich, M.A. Johannes Gutenberg-Universität Mainz Deutsches Institut 55099 Mainz E-Mail: gressnic@uni-mainz.de M. Sc. Angela Grimminger Universität Bielefeld Exzellenzcluster „Cognitive Interaction Technology” Inspiration 1 33619 Bielefeld E-Mail: agrimminger@uni-bielefeld.de Prof. Dr. Jeanette Hoffmann Technische Universität Dresden Institut für Erziehungswissenschaft 01062 Dresden E-Mail: Jeanette.Hoffmann@tudresden.de Christin Klipstein Pädagogische Hochschule Weingarten Kirchplatz 2 88250 Weingarten klipsteichriswg@ph-weingarten.de Prof. Dr. Bettina Kümmerling- Meibauer Eberhard Karls Universität Tübingen Deutsches Seminar Wilhelmstr. 50 72074 Tübingen E-Mail: bettina.kuemmerlingmeibauer@uni-tuebingen.de Prof. Dr. Jörg Meibauer Johannes Gutenberg-Universität Mainz Deutsches Institut 55099 Mainz E-Mail: meibauer@uni-mainz.de Autorenverzeichnis 200 Prof. Dr. Daniela Merklinger Universität Koblenz-Landau, Campus Koblenz Institut für Grundschulpädagogik Universitätsstr. 1 56070 Koblenz E-Mail: merklinger@uni-koblenz.de Jun.-Prof. Dr. Claudia Müller Ruhr-Universität Bochum Germanistisches Institut Universitätsstr. 150 44801 Bochum E-Mail: c.mueller@rub.de Dr. Marie Luise Rau E-Mail: ml.rau@t-online.de Prof. Dr. Katharina Rohlfing Universität Paderborn Warburger Str. 100 33098 Paderborn E-Mail: katharina.rohlfing@unipaderborn.de Mandy Schönfelder Pädagogische Hochschule Weingarten Fach Deutsch mit Sprecherziehung Kirchplatz 2 88250 Weingarten E-Mail: schoenfelder@phweingarten.de Linda Stark Julius-Maximilians-Universität Würzburg Philosophische Fakultät Institut für deutsche Philologie Am Hubland 97074 Würzburg E-Mail: linda.stark@uni-wuerzburg.de Dr. Friederike von Lehmden Ruhr-Universität Bochum Germanistisches Institut Universitätsstr. 150 44801 Bochum E-Mail: Friederike.vonLehmden@rub.de Das Vorlesen gilt sowohl in der Forschung und als auch in der Praxis als ein Interaktionsformat, das die kindliche Entwicklung auf verschiedenste Art und Weise fördert. Entsprechend bildet das Vorlesen ein Feld, das von einer Vielzahl an Fachdisziplinen beforscht wird. Der vorliegende Band bringt elf Beiträge zusammen, die das Vorlesen nicht nur aus den unterschiedlichen Fachperspektiven heraus beleuchten, sondern auch unterschiedliche Realisierungsorte abbilden, in denen das Vorlesen praktiziert wird: Familie, Kindergarten, Schule. Dabei werden sowohl die Frage nach interaktiven Strategien beim Vorlesen, die Sprach- und Literaturerwerb befördern, als auch die Frage nach der Rolle des Buches im Vorleseprozess diskutiert. Ein weiterer Schwerpunkt des Bandes liegt in der Darstellung und Aufbereitung empirischer Forschungsergebnisse, die wertvolle Anregungen und Vorschläge für das Vorlesen in der Familien-, Schul- und Kindergartenpraxis liefern.