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Forschungsmethoden in der Fremdsprachendidaktik

2022
978-3-8233-9432-7
Gunter Narr Verlag 
Daniela Caspari
Friederike Klippel
Michael K. Legutke
Karen Schramm
10.24053/9783823394327

Das bewährte Handbuch wurde für die zweite Auflage um neue Kapitel erweitert sowie gründlich überarbeitet und aktualisiert. Es wendet sich an alle, die in den fremdsprachendidaktischen Fächern forschen und Forschung begleiten. Ausgehend von Grundsatzfragen zu Forschungstraditionen, zu historischer, theoretischer und empirischer Forschungsausrichtung und zur Forschungsethik werden die unterschiedlichen Verfahren der Erhebung, Auswertung und Analyse von ausgewiesenen Expertinnen und Experten erläutert. Dabei beziehen sich die einzelnen Darstellungen individueller Forschungsverfahren auf fünfzehn Referenzarbeiten, in denen diese Verfahren beispielhaft zum Einsatz kommen. Grafische Darstellungen und Literaturempfehlungen liefern zusätzliche Hilfen. Fremdsprachendidaktische Forschung wird im Handbuch aus mehreren Perspektiven thematisiert: So geht es zum einen ganz praktisch um die Gestaltung des Forschungsprozesses von der Ideenfindung über die Literaturrecherche und Erarbeitung des Designs bis zur Publikation. Dies schließt umfangreiche Hilfen und Handlungsempfehlungen für die Betreuung wissenschaftlicher Arbeiten ein. Aus theoretischer Sicht behandelt der Band zum anderen die Entwicklung fremdsprachendidaktischer Forschung und ihre Positionierung im aktuellen wissenschaftlichen und (bildungs-)politischen Kontext. Zudem regt er in vielen Kapiteln zum Nachdenken über grundsätzliche Forschungsentscheidungen an sowie über die Parameter, die in der Fremdsprachendidaktik zentral sind: Theorie und Praxis, Empirie und Theorie, Lehren und Lernen.

Daniela Caspari, Friederike Klippel, Michael K. Legutke, Karen Schramm (Hrsg.) Forschungsmethoden in der Fremdsprachendidaktik Ein Handbuch 2., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage Forschungsmethoden in der Fremdsprachendidaktik Daniela Caspari / Friederike Klippel / Michael K. Legutke / Karen Schramm (Hrsg.) Forschungsmethoden in der Fremdsprachendidaktik Ein Handbuch 2 ., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage Daniela Caspari ist Professorin für Didaktik der romanischen Sprachen und Literaturen an der Freien Universität Berlin. Friederike Klippel ist Professorin em. für Didaktik der englischen Sprache und Literatur an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Michael K. Legutke ist Professor em. für Didaktik der englischen Sprache und Literatur an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Karen Schramm ist Professorin für Deutsch als Fremdsprache an der Universität Wien. Die ganzseitigen Übersichtsgrafiken für die 1 . Auflage wurden von Frau Prof. Dr. Kristina Peuschel (Augsburg) erstellt und für die 2 . Auflage von Jeannine Feix (Berlin) ergänzt bzw. teils überarbeitet. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. DOI: https: / / doi.org/ 10.24053/ 9783823394327 © 2022 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D- 72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISBN 978-3-8233-8432-8 (Print) ISBN 978 - 3 - 8233 - 9432 - 7 (ePDF) ISBN 978 - 3 - 8233 - 0349 - 7 (ePub) www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® Inhalt 1. Zur Orientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Daniela Caspari/ Friederike Klippel/ Michael K. Legutke/ Karen Schramm 2. Grundfragen fremdsprachendidaktischer Forschung . . . . . . . . 7 Daniela Caspari 3. Forschungstraditionen der Fremdsprachendidaktik . . . . . . . . . 23 Friederike Klippel 3.1 Historische Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 Friederike Klippel 3.2 Theoretische Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 Michael K. Legutke 3.3 Empirische Forschung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 Karen Schramm 4. Forschungsentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Karen Schramm 4.1 Texte, Daten und Dokumente als Forschungsgrundlage . . . . . . . . . . . 63 Michael K. Legutke 4.2 Prototypische Forschungsdesigns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Daniela Caspari/ Andreas Grünewald 4.3 Sampling . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Urška Grum/ Michael K. Legutke 4.4 Triangulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Petra Knorr/ Karen Schramm 4.5 Der zweite Blick: Meta-Analysen und Replikationen . . . . . . . . . . . . . 105 Claudia Harsch 4.6 Forschungsethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 Michael K. Legutke/ Karen Schramm 5. Forschungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 5.1 Grundsatzüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Friederike Klippel VI Inhalt 5.2 Gewinnung von Dokumenten, Texten und Daten . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Karen Schramm 5.2.1 Dokumentensammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 Elisabeth Kolb/ Friederike Klippel 5.2.2 Textzusammenstellung (für theoretische Arbeiten) . . . . . . . . . 138 Barbara Schmenk 5.2.3 Beobachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Karen Schramm/ Götz Schwab 5.2.4 Befragung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 Claudia Riemer 5.2.5 Introspektion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Lena Heine/ Karen Schramm 5.2.6 Erheben und Erfassen von Lernersprache und Korpuserstellung 190 Verena Maar/ Christin Schellhardt/ Yazgül Şimşek 5.2.7 Erfassen von unterrichtsbezogenen Produkten . . . . . . . . . . . . 202 Daniela Caspari 5.2.8 Testen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Claudia Harsch 5.3 Aufbereitung und Analyse von Dokumenten, Texten und Daten . . . . 228 Karen Schramm 5.3.1 Analyse historischer Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Dorottya Ruisz/ Elisabeth Kolb/ Friederike Klippel 5.3.2 Hermeneutische Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 Laurenz Volkmann 5.3.3 Grounded Theory . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 Karin Aguado 5.3.4 Dokumentarische Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 David Gerlach 5.3.5 Inhaltsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Eva Burwitz-Melzer/ Ivo Steininger 5.3.6 Typenbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 Michael Schart 5.3.7 Diskursanalytische Auswertungsmethoden . . . . . . . . . . . . . . 302 Götz Schwab/ Karen Schramm 5.3.8 Analyse von Lernersprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 Nicole Marx/ Grit Mehlhorn 5.3.9 Korpusanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 Cordula Meißner/ Daisy Lange/ Christian Fandrych Inhalt VII 5.3.10 Statistische Verfahren - Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 Urška Grum/ Wolfgang Zydatiß 5.3.11 Deskriptiv- und Inferenzstatistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 Julia Settinieri 5.3.12 Test- und Fragebogenstatistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366 Henning Rossa/ Daniel Mischa Helsper 5.3.13 Exploratorische und konfirmatorische Faktorenanalysen . . . . 378 Thomas Eckes 6. Etappen im Forschungsprozess: Erfahrungen und Empfehlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 Friederike Klippel 6.1 Von der Idee zur Forschungsfrage. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 Daniela Caspari 6.2 Wechselspiele zwischen Theorie und Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 400 Daniela Caspari 6.3 Literaturüberblick und Forschungsstand. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406 Michael K. Legutke 6.4 Gestaltung des Designs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412 Karen Schramm 6.5 Prozessplanung und -steuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419 Karen Schramm 6.6 Zusammenfassung und Diskussion der Erträge . . . . . . . . . . . . . . . . . 423 Michael K. Legutke 6.7 Präsentation von Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 430 Friederike Klippel 6.8 Betreuung von Forschungsarbeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437 Daniela Caspari 7. Referenzarbeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443 Arras, Ulrike ( 2007 ). Wie beurteilen wir Leistung in der Fremdsprache? . 444 Biebricher, Christine ( 2008 ). Lesen in der Fremdsprache . . . . . . . . . . . . . . 448 Bracker, Elisabeth ( 2015 ). Fremdsprachliche Literaturdidaktik. Ein Plädoyer für die Realisierung bildender Erfahrungsräume im Unterricht 453 Doff, Sabine ( 2002 ). Englischlernen zwischen Tradition und Innovation . . 457 Ehrenreich, Susanne ( 2004 ). Auslandsaufenthalt und Fremdsprachenlehrerbildung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461 Georgia Gödecke ( 2020 ). Gestaltung eines e-Portfolios in der Fremdsprachenlehrkräfteausbildung zur Förderung fachspezifischer Reflexionskompetenz - eine empirische Studie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465 VIII Inhalt Hochstetter, Johanna ( 2011 ). Diagnostische Kompetenz im Englischunterricht der Grundschule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 470 Kienberger, Martina ( 2020 ). Das Potenzial des potenziellen Wortschatzes nutzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 474 Marx, Nicole ( 2005 ). Hörverstehensleistungen im Deutschen als Tertiärsprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 478 Özkul, Senem ( 2011 ). Berufsziel Englischlehrer/ in. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 482 Schart, Michael ( 2003 ). Projektunterricht - subjektiv betrachtet . . . . . . . . 486 Schmenk, Barbara ( 2002 ). Geschlechtsspezifisches Fremdsprachenlernen? . . 490 Schmidt, Torben ( 2007 ). Gemeinsames Lernen mit Selbstlernsoftware im Englischunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 494 Schwab, Götz ( 2009 ). Gesprächsanalyse und Fremdsprachenunterricht. . . 498 Tassinari, Maria Giovanna ( 2010 ). Autonomes Fremdsprachenlernen . . . . 502 8. Fremdsprachendidaktische Forschung im Kontext . . . . . . . . . . 507 Petra Kirchhoff/ Friederike Klippel/ Michael Legutke Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 519 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 529 1. Zur Orientierung Daniela Caspari/ Friederike Klippel/ Michael K. Legutke/ Karen Schramm 1.1 Zur Zielsetzung dieses Handbuchs Forschung ist genuiner Bestandteil von Wissenschaft. Wie und wozu in einzelnen Wissenschaften Forschung betrieben wird, hat viel mit den jeweils herrschenden Grundannahmen und Erkenntnisinteressen zu tun. Junge Wissenschaften orientieren sich in ihren Forschungsmethoden zu Beginn an Nachbardisziplinen, und es ist ein Zeichen der erfolgten Etablierung, wenn sie eigene Forschungsansätze heranbilden. Die Fremdsprachendidaktik ist eine vergleichsweise junge Wissenschaft. Sie kann sich allerdings auf eine ausgedehnte Geschichte von Lehr-/ Lern-Praxis in ihrem Feld berufen, so dass das Nachdenken über die Vermittlung und das Erlernen von Sprachen eine lange Tradition hat, in die wir uns mit diesem Band einordnen. In den letzten Jahrzehnten hat sich für die Erforschung der vielfältigen Kontexte, Praxen und Prozesse des Lehrens und Lernens fremder Sprachen ein bestimmtes Repertoire an Forschungsansätzen herausgebildet. Es ist das Ziel dieses Handbuches, umfassend in diese fremdsprachendidaktische Forschung einzuführen und dabei alle grundlegenden Ansätze systematisch zu berücksichtigen. Bei der Verwendung des Begriffs Fremdsprachendidaktik als Sammelbegriff für Sprachlehr- und Sprachlernforschung, für unterrichtsbezogene Zweitspracherwerbsforschung, für Fremdsprachenforschung und für Zweitsprachendidaktik lehnen wir uns an die Auffassung von Gnutzmann/ Königs/ Küster ( 2011 : 7 ) an, dass „die Entwicklungen, die den Ansprüchen und Forderungen der Sprachlehrfoschung ja weitgehend gefolgt sind, dazu geführt [haben], dass man dem Begriff ‚Fremdsprachendidaktik‘ aufgrund seiner längeren Geschichte und der eingetretenen Veränderungen durchaus den Vorzug geben kann“. Auch wenn sich dieses Handbuch auf die deutschsprachige Fremdsprachendidaktik konzentriert, so haben wir doch die internationale Entwicklung in allen Teilen des Handbuchs im Blick. Es geht uns dabei zunächst einmal um eine Darstellung des aktuellen Standes der Forschungsmethodologie und um praktische Hilfen für den Forschungsprozess. Wir möchten sowohl denjenigen Informationen und Hilfestellung bieten, die in die Forschung einsteigen, als auch diejenigen unterstützen, die wissenschaftliche Qualifikationsarbeiten betreuen und selbst forschend tätig sind. Weiterhin wollen wir dazu anregen, sich über Forschung, Forschungsverfahren und -ansätze nicht nur aus der Sicht einer guten handwerklichen Gestaltung von Forschungsprozessen zu informieren, sondern auch über allgemeine Aspekte von Forschung in unserem Feld nachzudenken. Wenn sich die hier entworfenen Systematiken der Forschungstraditionen und -felder sowie die Gruppierung der Forschungsverfahren auch für die Einordnung zukünftiger Forschungsarbeiten als hilfreich erweist, wäre 2 1. Zur Orientierung ein wichtiges Anliegen erfüllt. Noch weitreichender ist die Hoffnung, dass Leser*innen des vorliegenden Handbuchs es als Einladung begreifen, die Gesamtentwicklung der Fremdsprachendidaktik auf einer Metaebene zu reflektieren und kritisch zu begleiten. Im Unterschied zu den bisher vorliegenden forschungsmethodischen Grundlagenwerken der Fremdsprachendidaktik setzt sich dieser Band deshalb zunächst mit den Grundfragen fremdsprachendidaktischer Forschung (Kap. 2 ) auseinander und stellt sodann die historische, die theoretische und die empirische Forschungstradition in der Fremdsprachendidaktik dar (Kap. 3 ), wobei auch wichtige Meilensteine fremdsprachendidaktischer Forschung erfasst werden. Stärker handwerklichen Charakter nimmt das Handbuch ab Kapitel 4 an, in dem Prototypen von Forschung sowie grundsätzliche Forschungsentscheidungen erörtert werden, wie beispielsweise die Forschungsgrundlage in Form von Texten, Daten und Dokumenten, das Design, das Sampling, die Triangulation oder ethische Fragen. Das Kernkapitel des Bandes (Kap. 5 ) stellt eine große Palette unterschiedlicher Forschungsverfahren zur Datengewinnung und -auswertung vor; hier wurden die Teilkapitel von ausgewiesenen Expert*innen für das jeweilige Verfahren verfasst. Die überblicksartigen Dachkapitel 5 . 1 zu Grundsatzüberlegungen in Bezug auf diese Forschungsverfahren, 5 . 2 zur Gewinnung von Dokumenten, Texten und Daten und 5 . 3 zu deren Aufbereitung und Analyse sollen jeweils Orientierung über die beachtliche Vielfalt der in der Fremdsprachendidaktik eingesetzten Forschungsverfahren bieten. Die Etappen des Forschungsprozesses, die von der Idee für ein größeres Forschungsprojekt (einer Masterarbeit, einer Dissertation oder einer Habilitationsschrift) bis zur Publikation der abgeschlossenen Studie dargestellt werden und die auch Fragen der Betreuung betreffen, sind Thema von Kapitel 6 , das auf der langen und breitgefächerten Betreuungserfahrung der Autor*innen in unterschiedlichen fremdsprachendidaktischen Fächern basiert und sich deshalb auch im Duktus und der Verweisdichte von den anderen Kapiteln des Handbuchs deutlich unterscheidet. Kapitel 7 präsentiert 15 ausgewählte Dissertationen, die in diesem Handbuch an vielen Stellen als Referenzarbeiten dienen. Da Wissenschaft von der Auseinandersetzung mit bisherigen Forschungsergebnissen und -verfahren bzw. vom entsprechenden Diskurs darüber lebt, erscheint es uns vorteilhaft, die forschungsmethodischen und -methodologischen Fragen immer wieder auch mit Bezug auf solche konkreten forschungsmethodischen Vorgehensweisen zu thematisieren und zu illustrieren. Ein Blick auf die gesellschaftlichen und (bildungs-)politischen Kontexte fremdsprachendidaktischer Forschung steht am Ende des Bandes (Kap. 8 ) und soll dazu beitragen, dem oben skizzierten Anliegen gerecht werden, einen analytischen Blick auch auf die Gesamtentwicklung der Forschung in der Fremdsprachendidaktik zu ermöglichen. An dieser kurzen Vorstellung der einzelnen Kapitel wird deutlich, dass dieses Handbuch in der Absicht erstellt wurde, unterschiedlichen Lesergruppen zu dienen: Es wendet sich gleichermaßen an diejenigen, die einen systematischen Überblick über fremdsprachendidaktische Forschungsmethoden zu gewinnen suchen, ebenso an diejenigen, die etwas zu spezifischen Forschungsverfahren erfahren möchten, und schließlich an jene, die sich zu Grundsatzfragen fremdsprachendidaktischer Forschung, zu deren Entwicklung und gegenwärtigem Stand informieren möchten. 1.3 Auswahl und Funktion der Referenzarbeiten 3 1.2 Zugriffe Ein Handbuch dient vor allem dem gezielten Nachschlagen von Informationen, die auf dem aktuellen Stand präsentiert werden. Viele Elemente des Handbuches unterstützen einen transparenten Zugriff: So finden sich zu Beginn jedes Großkapitels einleitende Passagen; in allen Kapiteln des Handbuchs gibt es zahlreiche Querverweise; viele Kapitel enthalten zudem kommentierte Leseempfehlungen. Ein Novum sind die informativen Grafiken, die vor allem die Teilkapitel zu den Forschungsentscheidungen (Kap. 4 ) und Forschungsverfahren (Kap. 5 ) illustrieren. In enger Abstimmung mit den jeweiligen Autor*innen und den Herausgeber*innen haben Kristina Peuschel und Jeannine Feix Kernelemente und -prozesse einzelner Verfahren grafisch umgesetzt. Die Grafiken vermögen die Lektüre eines Kapitels nicht zu ersetzen, sie erleichtern jedoch das Erkennen der wesentlichen Zusammenhänge und - insbesondere für visuelle Lerner*innen - auch das Behalten. Besonders geeignet erscheinen uns die Grafiken zur Unterstützung von Methodenseminaren oder Doktoranden-Kolloquien zu sein, wenn ein Überblick über die zentralen Elemente einzelner Forschungsmethoden gegeben wird. 1.3 Auswahl und Funktion der Referenzarbeiten Dass die in einem Forschungshandbuch angesprochenen forschungsmethodischen Fragen und Aspekte an Beispielen dargestellt und erläutert werden, ist in der internationalen Forschung gute Tradition. Dass dies durch ein ganzes Buch hindurch vorzugsweise an fünfzehn ausgewählten Dissertationen, so genannten Referenzarbeiten, geschieht, ist eine Besonderheit dieses Buches. Auf die in Kapitel 7 durch die Forscher*innen selbst vorgestellten Studien wird in den einzelnen Kapiteln des Buches immer wieder Bezug genommen. Sie stehen exemplarisch für zentrale Forschungsfelder und -themen der Fremdsprachendidaktik. Sie repräsentieren bestimmte Erhebungs- und Auswertungsverfahren und sind überzeugende Beispiele für das funktionale Zusammenspiel von Forschungsinteresse, Forschungsfrage, Design und Forschungsmethode(n) sowie für eine transparente und klare Darstellung des Forschungsprozesses und der Ergebnisse. Um der Vielfalt der fremdsprachendidaktischen Forschung und den unterschiedlichen Realisierungsformen bestimmter Designs und Formate Rechnung zu tragen, wird in jedem Kapitel dieses Forschungshandbuches zusätzlich auf viele andere Studien zurückgegriffen. Gleichwohl stellen die Referenzarbeiten in ihrer Gesamtheit relevante Entwicklungen der Forschungsmethodik in den Fremdsprachendidaktiken der letzten Jahre sowie einen repräsentativen Ausschnitt der Fremdsprachendidaktik als Forschungsdisziplin in dieser Zeitspanne dar. Unsere Wahl fiel auf Dissertationen, weil sie einen bedeutenden Anteil an der gesamten fremdsprachendidaktischen Forschung stellen und die Verfasser*innen und deren Betreuer*innen von Dissertationen die Hauptzielgruppe dieses Buches sind. Für die Auswahl der Arbeiten haben wir eine Reihe von Kriterien angelegt: Die Arbeiten wurden zwischen 2002 und 2020 veröffentlicht und unter den in der Fremdsprachen- 4 1. Zur Orientierung didaktik bislang üblichen Bedingungen realisiert, d. h. es handelt sich ausschließlich um Studien, die als Einzelarbeit ohne übergreifende Projektkontexte entstanden sind. Sie sind forschungsmethodologisch als Ganzes gelungen und zumindest in Einzelaspekten vorbildlich. Außerdem folgen sie dem Primat der Gegenstandsangemessenheit, d. h. sie sind vom Gegenstand und einer klaren Forschungsfrage her entwickelt worden. Sie entsprechen den gängigen Gütekriterien (s. Kap. 2 ) und zeichnen sich durch die Passung von Forschungsfrage und Methodik, durch ein systematisches, forschungsökonomisches Vorgehen sowie durch Klarheit der Darstellung aus. Für die Aufnahme in ein Forschungshandbuch sind zudem ein angemessenes Reflexionsniveau hinsichtlich der Forschungsmethodologie und -methodik sowie ein sinnvolles Verhältnis von forschungsmethodischer Reflexion (‚Aufwand‘) und inhaltlichen Ergebnissen (‚Ertrag‘) unabdingbar. Aus den vielen Arbeiten, die diesen Kriterien genügen, wurden fünfzehn nach dem Prinzip maximaler Variation ausgewählt, um in der Gesamtheit eine möglichst große Breite hinsichtlich folgender Kriterien zu erreichen: • Forschungstraditionen (historisch, theoretisch-konzeptionell, empirisch-qualitativ, empirisch-quantitativ); • Forschungsfelder (z. B. Professionsforschung, Lernforschung, Begegnungsforschung, Kompetenzforschung etc., s. Kap. 2 ); • Settings; • Erhebungsinstrumente; • Verfahren der Datenauswertung; • (Fremd-)Sprachen; • Forschungspartner*innen (Lehrkräfte, Studierende, Schüler*innen unterschiedlicher Schulformen, Lerner*innen aus außerschulischen Kontexten); • Grad der forschungsmethodischen Komplexität (von eher gering bis sehr komplex); • Grad der thematischen Breite (von sehr fokussiert bis sehr weit). Zudem wurden Besonderheiten, wie z. B. die besonders gründliche Reflexion der Forscher*innenrolle, die Art der Kombination von Theorie und Empirie bzw. von qualitativen und quantitativen Verfahren oder der Prozesscharakter der Studie, berücksichtigt sowie auch Designs, die einen besonderen Erkenntnisgewinn speziell für fremdsprachendidaktische Fragestellungen versprechen. Trotz dieser Kriterien ist die nach langen Recherche-, Lese- und Diskussionsphasen gemeinsam getroffene Auswahl natürlich subjektiv, denn selbstverständlich gibt es auch außerhalb dieses Samples eine Reihe hervorragender Forschungsarbeiten. Insbesondere dann, wenn es zu einem Design oder einem bestimmten Forschungsverfahren zahlreiche überzeugende Arbeiten gab, fiel die Auswahl schwer. Insgesamt will die vorliegende Auswahl das gesamte methodische Spektrum fremdsprachendidaktischer Forschung in seiner Vielfalt dokumentieren. Um sich schnell und unaufwändig einen Eindruck von den ausgewählten Studien verschaffen zu können, wurden die Verfasser*innen gebeten, ihre Dissertation unter forschungsmethodischer Perspektive selbst vorzustellen. Die in Kapitel 7 zu findenden Darstellungen erlauben es, die einzelne Arbeit als Ganzes zu verstehen und insbesondere den jeweiligen inhaltlichen Bezug zwischen Forschungsinteresse, Forschungsfrage und 1.4 Entstehung des Handbuchs 5 eingesetzten Methoden nachzuvollziehen sowie die wichtigsten Ergebnisse zu erfahren. So können in den einzelnen Kapiteln des Forschungshandbuches direkt spezifische Aspekte und Details dieser Arbeiten angesprochen werden. Wir danken den Autor*innen, dass sie sich auf diese neue Textsorte „Darstellung der Forschungsarbeit“ eingelassen haben. 1.4 Entstehung des Handbuchs Man kann eine Publikation besser einschätzen, wenn man ihre Genese ein wenig kennt. An diesem Handbuch sind viele Autor*innen in unterschiedlichem Umfang und in unterschiedlicher Funktion beteiligt. Unser Anliegen als Herausgeber*innen und Autor*innen war und ist es, ein Handbuch vorzulegen, das den aktuellen Stand der Forschungsmethodologie in der Fremdsprachendidaktik angemessen wiedergibt. Dazu war es erforderlich, die in einzelnen Forschungsverfahren führenden Wissenschaftler*innen für eine Autorschaft zu gewinnen. Das ist in erfreulichem Umfang gelungen. Wir danken allen Autor*innen für ihre konstruktive und geduldige Mitwirkung an diesem Band und der nun erfolgten Erweiterung und Aktualisierung in der zweiten Auflage. Zugleich war es unser Ziel, ein in sich geschlossenes, kohärentes Handbuch vorzulegen, dessen Kapitel miteinander verschränkt sind und aufeinander Bezug nehmen und das auf einer von uns allen geteilten Vorstellung von Forschung in der Fremdsprachendidaktik basiert. Dieses gemeinsame Forschungsverständnis haben wir Herausgeber*innen uns in häufigen intensiven Diskussionen und breiten Recherchen über etwa fünf Jahre hinweg bis zum Erscheinen der ersten Auflage erarbeitet. Und wir haben diesen intensiven Diskurs bei der Arbeit an der zweiten Auflage fortgesetzt. Jedes Kapitel, das von einer/ m von uns verfasst ist, wurde in allen Fassungen von allen gelesen, einer kritischen Analyse unterworfen, kommentiert, ergänzt und ausführlich besprochen. Insofern ist dieses Handbuch auch in all den Teilen, für die eine/ r der vier Herausgeber*innen namentlich genannt ist, dennoch in vielerlei Hinsicht ein Gemeinschaftswerk. Das heißt jedoch nicht, dass unser Ziel der Vereinheitlichung und Abstimmung immer bis in die Formulierungen hineinwirkt. Aufmerksame Leser*innen werden feststellen, dass sich durchaus noch unterschiedliche Schreibstile, verschiedene und unterschiedlich konsequente Arten des gendergerechten Schreibens und Variationen in der Verweisdichte ergeben haben. Auch für die Konzeption und Struktur des Handbuches zeichnen wir - Daniela Caspari, Friederike Klippel, Michael K. Legutke, Karen Schramm - gemeinsam verantwortlich. Am Anfang stand die Idee eines Handbuchs, das die Situation der deutschen fremdsprachendidaktischen Forschung und insbesondere Kontexte und Erfordernisse der Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses berücksichtigt. Der Erfolg der ersten Auflage bestätigt unseren Optimismus, ein diesbezüglich nützliches Handbuch geschrieben zu haben. 6 1. Zur Orientierung 1.5 Zur zweiten Auflage Es ist unser Anliegen, das Handbuch auf dem neuesten Stand zu halten. Darunter verstehen wir zum Ersten eine Aktualisierung der in der ersten Auflage enthaltenen Kapitel im Hinblick auf neue Erkenntnisse und Entwicklungen, auf die benutzte Literatur oder die Einbeziehung zusätzlicher Referenzarbeiten, zum Zweiten aber auch eine Erweiterung des Spektrums der Forschungsverfahren, die in den letzten Jahren eine stärkere Berücksichtigung erfahren haben. So enthält die zweite Auflage im zentralen Kapitel 5 zwei neue Unterkapitel, und zwar zur Dokumentarischen Methode (s. Kap. 5 . 3 . 4 ) und zu Test- und Fragebogenstatistik (s. Kap. 5 . 3 . 12 ). Zudem wurden mehrere Grafiken überarbeitet, Passagen in allen Kapiteln aktualisiert oder modifiziert und Literaturhinweise ausgetauscht oder ergänzt. Allerdings war es durch die Schließung der Bibliotheken während der Corona-Pandemie in den Jahren 2020 und 2021 nicht in allen Fällen möglich, Zitate mit eventuellen Neuauflagen der betreffenden Werke abzugleichen oder neu erschienene Publikationen einzusehen. Wir danken zahlreichen Kolleg*innen aus der Wissenschaft, unseren Doktorand*innen und Habilitand*innen sowie vielen kritischen Leser*innen für konstruktive und ermutigende Rückmeldungen zur ersten Auflage. Diese haben uns motiviert und bei der Überarbeitung geleitet. Daniela Caspari Friederike Klippel Michael K. Legutke Karen Schramm › Literatur Gnutzmann, Claus/ Königs, Frank/ Küster, Lutz (2011). Fremdsprachenunterricht und seine Erforschung. Ein subjektiver Blick auf 40 Jahre Forschungsgeschichte und auf aktuelle Forschungstendenzen in Deutschland. In: Fremdsprachen Lehren und Lernen 40, 1-28. 2. Grundfragen fremdsprachendidaktischer Forschung Daniela Caspari 2.1 Was ist Forschung? Welches sind zentrale Forschungsentscheidungen? Diese grundlegende Frage wird in den bisher erschienenen deutschsprachigen Handbüchern bzw. Einführungen in die fremdsprachendidaktischen Forschungsmethoden nicht thematisiert. Obwohl auch im Rahmen dieses Handbuches keine grundlegende Abhandlung möglich ist, erscheint es gerade in Hinblick auf die Zielgruppe Forschungsnoviz*innen sinnvoll, sich die Unterschiede zwischen Beobachtungen im Alltag oder in der beruflichen Praxis einerseits, so wie sie z. B. von angehenden Lehrperonen im Praktikum oder Referendariat verlangt werden, und der wissenschaftlichen Erforschung von Fragestellungen andererseits bewusst zu machen. Diese Unterschiede sind eher gradueller als grundsätzlicher Natur, wie z. B. an der Geschichte der Fremdsprachenforschung (s. Kap. 3 . 1 ), an forschungsmethodischen Ansätzen wie der Aktionsforschung (s. Kap. 4 . 2 ) oder bestimmten Verfahren zur Datengewinnung (s. z. B. Kap. 5 . 2 . 3 und 5 . 2 . 4 ) zu erkennen ist. Denn es scheint in der Natur des Menschen zu liegen, Phänomenen in seiner Umwelt auf den Grund zu gehen, nach Gesetzmäßigkeiten zu suchen sowie auf der Basis von Beobachtungen und Erfahrungen Theorien aufzustellen und Vorhersagen zu machen. Während dies im Alltag in der Regel eher zufällig, unbewusst und ad hoc geschieht, zumeist um konkrete Herausforderungen und Probleme des täglichen Lebens zu meistern, zeichnet sich wissenschaftliche Forschung durch eine systematische, regelgeleitete und methodisch kontrollierte Herangehensweise aus. Sie ist gleich in zweifacher Hinsicht systematisch: zum einen bezüglich der untersuchten Phänomene (hier gilt es, gründlich zu suchen und alles zu berücksichtigen, was man findet, und nicht nur das, was zur eigenen Vorstellung passt), zum anderen bezüglich der Forschungsschritte und Forschungsverfahren. Das schließt nicht aus, dass Forschung auch durch beiläufiges Finden angeregt werden kann, das dann ein gezieltes Weiter-Suchen auslöst (zum Wechselspiel zwischen Suchen und Finden vgl. Schlömerkemper 2010 : 11 - 13 ). Der Forschungsprozess folgt etablierten Regeln, die beständig reflektiert und kontrolliert werden, die Ergebnisse sind intersubjektiv nachvollziehbar bzw. überprüfbar und falsifizierbar. Ein wesentliches Merkmal besteht darin, dass die Ergebnisse auf der Basis von 8 2. Grundfragen fremdsprachendidaktischer Forschung bzw. in Zusammenhang mit bereits vorhandenem wissenschaftlichen Wissen entstehen und diskursiv verhandelbar bzw. korrigierbar sind. Daher ist es erforderlich, dass die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung veröffentlicht bzw. allgemein zugänglich gemacht werden. Bei wissenschaftlicher Forschung handelt es sich um einen Prozess, der von den Forscher*innen beständig Entscheidungen verlangt: von der Wahl des Forschungsgegenstandes (Thema), über die Forschungsfrage/ n, den Forschungszugang, die Erhebungs- und Auswertungsverfahren bis hin zu Art und Ort der Veröffentlichung der Ergebnisse. Es ist unabdingbar, diese Entscheidungen bewusst und in Kenntnis ihrer Bedingungen und Auswirkungen zu treffen, daher sind sie Gegenstand dieses Kapitels. Grundlegend für die Wahl des Forschungszugangs sind die jeweiligen Annahmen über die Beschaffenheit der sozialen Wirklichkeit und die Möglichkeiten ihrer Erforschung. Unterschieden werden auf einer Makroebene daher ein subjektivistischer und ein objektivistischer Forschungszugang ( subjectivist approach vs. objectivist approach ; vgl. im Folgenden Cohen/ Manion/ Morrison 2018 : 5 - 8 ), die sich u. a. in ihrer Auffassung von der Natur des Menschen und der Wirklichkeit unterscheiden. Mit diesen unterschiedlichen Forschungszugängen gehen Annahmen darüber einher, was und wie man etwas herausfinden und dies anderen mitteilen kann: Kann ich soziale Wirklichkeit von außen, d. h. durch Beobachtung wahrnehmen und erklären, ihre Gesetzmäßigkeiten erkennen und daraus Voraussagen über zukünftiges Verhalten ableiten? Diese Auffassung legt einen etischen Zugang zum Forschungsfeld nahe, in dem von außen Kategorien an einen Untersuchungsgegenstand angelegt werden. Oder muss ich Menschen bzw. spezifischen Gruppen von Menschen und ihren Referenzsystemen möglichst nahekommen, damit ich, soweit dies überhaupt möglich ist, ihre Innensicht auf sich selbst und ihr soziales Umfeld nachzeichnen kann? Diese Auffassung legt einen emischen Zugang zum Forschungsfeld nahe, der von den kultur- und sprachspezifischen Kategorien der Forschungspartner*innen ausgeht. Mit diesen unterschiedlichen Positionen sind ebenfalls unterschiedliche Forschungszugänge verbunden (s. auch Kap. 3 . 3 ): Der objektivistischen Herangehensweise entsprechen sog. nomothetische Forschungszugänge ( nomothetic ), die das Ziel verfolgen, allgemein gültige Gesetzmäßigkeiten aufzustellen. Ausgangspunkt von Forschungsarbeiten in diesem, auch als analytisch-nomologisch bezeichneten Forschungsparadigma (vgl. Grotjahn 1993 : 229 - 230 ) sind i. d. R. zuvor aufgestellte Theorien, Modelle oder hypothetische Kausalbeziehungen; das Ziel besteht darin, die daraus abgeleiteten Hypothesen zu überprüfen. Ein solches Vorgehen ist grundsätzlich dann möglich, wenn der Forschungsstand weit entwickelt und die Fragestellungen eng gefasst sind. Bevorzugte Forschungsverfahren in diesem Paradigma sind Tests, Experimente und repräsentative Befragungen. Der subjektivistischen Herangehensweise entsprechen sog. ideographische Forschungszugänge ( ideographic ), die das Ziel verfolgen, das Individuelle, Besondere zu beschreiben, zu interpretieren und daraus Erkenntnisse zu gewinnen. Innerhalb dieses, auch als explorativ-interpretativ bezeichneten Forschungsparadigmas (vgl. Grotjahn 1993 : 230 - 231 ) stehen somit Hypothesen und Konzepte bzw. Theorien nicht am Anfang des Forschungsprozesses, sondern sind dessen Ergebnis. Dieser Zugang bietet sich immer dann an, wenn der Gegenstand noch nicht gut erforscht ist oder wenn eine weite Forschungsfrage gestellt 2.1 Was ist Forschung? 9 wird. Bevorzugte Forschungsverfahren in diesem Paradigma sind Fallstudien, Beobachtungen und Interviews. Über diese grundsätzlichen Paradigmen bzw. Forschungszugänge hinaus werden die für jedes Forschungsprojekt notwendigen einzelnen Entscheidungen durch zahlreiche weitere Faktoren beeinflusst. Von entscheidender Bedeutung sind selbstverständlich die Disziplin und innerhalb der Disziplin die jeweilige Forschungsrichtung, die mehr oder weniger explizit gemachte Vorgaben bzw. Erwartungen an eine konkrete Forschungsarbeit richten. Die in den Disziplinen vorherrschenden Traditionen (s. Kap. 3 ) sind, was sich besonders deutlich in der Rückschau zeigt, nicht selten aktuellen Moden und Tabus unterworfen. Zur Entstehung von zu einem bestimmten Zeitpunkt vorherrschenden Forschungspraktiken tragen neben der allgemeinen Forschungslandschaft und entsprechenden Tendenzen in den jeweiligen Bezugsdisziplinen auch einflussreiche Forscher*innen bzw. Forschungsgruppen sowie Förderinstitutionen bei. Auch der aktuelle gesellschaftliche Kontext spielt eine Rolle: Welcher Beitrag zur gesellschaftlichen Entwicklung wird von der Forschung erwartet? Welche Themen stehen im Zentrum des Interesses? Wie verläuft der mediale Diskurs zu diesen Themen? (Zu den verschiedenen Kontexten fremdsprachendidaktischer Forschung s. auch Kap. 8 .) Die Forschungstraditionen schlagen sich nicht selten in etablierten, sog. prototypischen Forschungsdesigns (s. Kap. 4 . 2 ) nieder, die gewisse Standards setzen und oft als modellhaft gelten. Gerade wenn solche Designs detaillierte Vorgaben hinsichtlich der Erhebungs- und Auswertungsverfahren machen, sind sie insbesondere für Anfänger*innen attraktiv und helfen, die notwendige methodische Qualität einer Forschungsarbeit zu sichern. Den gleichen Effekt kann die Orientierung an sog. Schulen bewirken. Damit bezeichnet man die Tendenz, dass einzelne Wissenschaftler*innen oder Gruppen von Wissenschaftler*innen innerhalb einer Disziplin grundsätzlich bestimmte Forschungsverfahren und Designs propagieren. Der Anschluss an Schulen oder die Ausrichtung auf etablierte Designs kann jedoch dazu führen, dass bestimmte Forschungsfragen gar nicht erst gestellt werden oder dass die ursprüngliche Frage an die Erkenntnismöglichkeiten des Designs angepasst wird. Daher sollte ein Forschungsprojekt nicht mit methodischen Entscheidungen beginnen, sondern von der Forschungsfrage geleitet sein (s. Kap. 4 ). Bei den sich anschließenden forschungsmethodischen Entscheidungen ist zu beachten, dass die in der Fremdsprachendidaktik verwendeten Forschungsverfahren i. d. R. aus anderen Forschungsdisziplinen stammen, in der empirischen Forschung z. B. häufig aus den Sozialwissenschaften oder der Linguistik. Sie müssen daher sorgfältig auf ihre Eignung für die jeweilige fremdsprachendidaktische Forschungsfrage geprüft und ggf. entsprechend adaptiert werden. Neben den Entwicklungen in den Bezugswissenschaften tragen auch technische bzw. technologische Entwicklungen zur Weiterentwicklung und -verbreitung bestimmter Forschungsverfahren bei. So waren die zunehmend preisgünstige Verfügbarkeit von technisch ausgereiften Kameras und die Entwicklung von spezieller Auswertungssoftware Voraussetzung für den aktuellen Boom der Videographie in der fremdsprachendidaktischen (Unterrichts-)Forschung (s. Kap. 5 . 2 . 3 ). Andere Beispiele sind die Möglichkeit der Nutzung von umfangreichen Korpora zur Lernersprache (s. Kap. 5 . 2 . 6 und 5 . 2 . 8 ) oder von immer komfortableren, leicht zugänglichen Programmen zur Auswertung qualitativer Daten (s. Kap. 5 . 3 . 5 ). Zu beachten ist jedoch, dass auch und gerade 10 2. Grundfragen fremdsprachendidaktischer Forschung für leicht zugängliche Datenquellen oder scheinbar unkompliziert bedienbare Programme forschungsmethodisches Wissen unabdingbar ist, damit die gewählten Prozeduren tatsächlich die gewünschten Ergebnisse liefern. Häufig weniger beachtet, sowohl in Hinblick auf die individuelle Entscheidung für bestimmte Forschungsprojekte und -verfahren als auch für die Entwicklung innerhalb der Disziplin, werden äußere Einflussfaktoren wie die zur Verfügung stehende Zeit, Unterstützungsmöglichkeiten, administrative Hürden oder auch die Erwartungen des Umfeldes (s. Kap. 6 und Kap. 8 ). Gerade weil diese Faktoren sehr einflussreich sein können und bestimmte Wege nahelegen, erscheint es umso wichtiger, sich als Forscher*in darüber klar zu werden, welche Vorstellungen von sozialer Wirklichkeit sowie der Art und Zielsetzung ihrer Erforschung man selbst teilt, bevor man die zentralen Forschungsentscheidungen trifft. Generell wird zwischen Grundlagenforschung und angewandter Forschung unterschieden, wobei insbesondere in einer anwendungsorientierten Wissenschaft wie der Fremdsprachendidaktik die Grenzen fließend sind. Grundlagenforschung zielt auf Erkenntnisgewinn in der Disziplin an sich, unabhängig von möglichen Verwendungszusammenhängen. Sie „entwickelt die relevant erscheinenden Fragen und Aufgaben aus sich selbst heraus. Interessant ist, was die Wissenschaftler interessiert“ (Kanning et al. 2007 : 239 ). Häufig geht Grundlagenforschung generellen Fragen nach und versucht, allgemein gültige Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten aufzuspüren. Das Erkenntnisinteresse von angewandter Forschung ist dagegen vor allem auf praxisrelevante Themen und Fragen ausgerichtet: „Im Gegensatz zur Grundlagenforschung ist die Suche nach nützlichen Erkenntnissen der eigentliche Motor der Forschungsaktivität“ (ebd.). Innerhalb der angewandten Forschung können verschiedene Forschungszweige, wie z. B. die Entwicklungsforschung oder die Evaluationsforschung, unterschieden werden. Je nach erkenntnistheoretischer Position, Forschungszweig, Forschungsstand und Erkenntnisinteresse kommt Forschung unterschiedliche Funktionen zu: Die Spannweite reicht vom Aufzeigen und genauen Beschreiben von bestimmten Phänomenen über die Strukturierung, Systematisierung und Kategorisierung von Wirklichkeitsbereichen bis hin zur Entwicklung und Überprüfung von Hypothesen, Konzepten und Modellen. Im Bereich der anwendungsorientierten Forschung liegt der Schwerpunkt dabei auf der Erzeugung von praxisrelevantem Wissen sowie der theoriegeleiteten, systematischen Entwicklung und empirischen Überprüfung von für die Praxis relevanten Konzepten und Materialien. Welches Wissen tatsächlich als praxisrelevant betrachtet wird, kann je nach Zeit, Kontext und Erwartungen der Rezipient*innen variieren; leitend scheint daher die Absicht der Forscher*innen zu sein, Wissen zu erzeugen, das für die unterschiedlichen Akteur*innen in Praxiskontexten interessant ist oder zumindest sein könnte. 2.2 Was ist fremdsprachendidaktische Forschung? 11 2.2 Was ist fremdsprachendidaktische Forschung? Und welches sind ihre zentralen Forschungsfelder? Fremdsprachendidaktische Forschung konstituiert sich durch ihren Gegenstandsbereich, „das Lehren und Lernen fremder Sprachen in allen institutionellen Kontexten und auf allen Altersstufen“ (Bausch/ Christ/ Krumm 2003 : 1 ). Aufgrund der Entwicklungen der letzten beiden Jahrzehnte wurde diese bekannte Definition durch die Elemente Zweitsprachen und außerinstitutionelle Kontexte sowie den Aspekt der Forschungsmethoden ergänzt. Bausch et al. formulieren in der Neuauflage des „Handbuch[s] Fremdsprachenunterricht“ als Gegenstandsbereich die Beschäftigung mit „dem Erwerb, Lernen und Lehren von fremden Sprachen bzw. Zweitsprachen […] mit differenzierten gegenstandsangemessenen Methoden“ (Bausch et al. 2016 : 1 ). Während die Ursprünge fremdsprachendidaktischer Forschung bereits im 19 . Jahrhundert liegen (vgl. Kap. 3 . 1 ), etablierte sich die Fremdsprachendidaktik als universitäre Disziplin erst nach dem 2 . Weltkrieg. Folgende sechs Merkmale sind als besonders charakteristisch herauszustellen (vgl. im Folgenden Bausch/ Christ/ Krumm 2003 ; Doff 2008 und 2010 ; Edmondson/ House 2006 ; Grotjahn 2006 ; Wilden/ Rossa 2019 ): 1. Das wichtigste Charakteristikum fremdsprachendidaktischer Forschung ist ihr Erkenntnisinteresse. Noch in den 1950 er und 60 er Jahren wurde die zentrale Aufgabe der Didaktik darin gesehen, praktische Empfehlungen für den schulischen Unterricht zu geben. Seit den 1970 er Jahren ist nicht zuletzt unter dem Einfluss der Sprachlehrforschung sowohl eine stärker theoretisch ausgerichtete (Grundlagen-)Forschung als auch eine stärkere Ausdifferenzierung des Theorie-Praxis-Bezuges zu beobachten. Das theoretische Ziel fremdsprachendidaktischer Forschung besteht - ganz allgemein - darin, die einzelnen Faktoren fremdsprachlichen Lernens und Lehrens differenziert zu erforschen und in ihrem Zusammenwirken immer genauer zu verstehen. Das praktische Ziel besteht - grob gesagt - darin, die Qualität des Fremdsprachenunterrichts und außerunterrichtlicher Lernangebote theoretisch und/ oder empirisch begründet beständig zu verbessern. Dies kann angesichts der Vielfalt und Komplexität der Praxis jedoch nicht durch simple Ableitung theoretisch gewonnener Erkenntnisse geschehen, sondern nur in der Interaktion zwischen Theorie und Praxis. Als anwendungsorientierte Wissenschaft zeichnet sich die Fremdsprachendidaktik daher durch ein beständiges Wechselspiel zwischen Forschung und Anwendung aus. 1 Generelles Ziel ist es, durch das forschungsgeleitete Aufstellen, empirische Überprüfen und erkenntnisbasierte Ausschärfen von theoretischen Grundlagen, Begriffen, Konzepten und Modellen das Erkennen, Verstehen und Erklären von komplexen Lehr- und Lernsituationen voranzutreiben und das Handeln in diesen Situationen zu verbessern. 1 Grundsätzlich ist zwischen der Fremdsprachendidaktik als Forschungsdisziplin und als Lehrfach zu unterscheiden. Bedauerlicherweise ist fachdidaktische Lehre, auch durch die Erwartungshaltung von Studierenden und die Einführung von langen Praxisphasen ins Studium bei gleichzeitiger Verkürzung des Vorbereitungsdienstes, nicht selten auf unmittelbaren Anwendungsbezug hin ausgerichtet oder gar begrenzt. 12 2. Grundfragen fremdsprachendidaktischer Forschung 2. Charakteristisch für den Gegenstandsbereich der Fremdsprachendidaktik ist weiterhin seine Faktorenkomplexion (Königs 2010 ), denn beim Lehren und Lernen von Fremdsprachen wirken zahlreiche Faktoren zusammen. Ein bekanntes Modell stammt von Edmondson ( 1984 , wiedergegeben in Edmondson/ House 2006 : 25 , im Folgenden leicht adaptiert). Er unterscheidet fünf große, sich gegenseitig beeinflussende Faktorenkomplexe: • Unterricht (beeinflusst durch Curriculum, Lern-/ Lehrziele, Lehrinhalte, Lehrmethoden, Prinzipien, Übungsformen, Lehrwerke, Medien usw.) • Lehr- und Lernumgebungsfaktoren (Dauer, Frequenz, Ausstattung, Lerngruppengröße usw.) • personenbezogene Faktoren, d. h. Lehrkräfte und Lernende (personale Faktoren, Ausbildung, Motivation/ Interesse, fremdsprachige Kompetenzen etc.) • soziopolitische Faktoren (Status der Fremdsprache, Fremdsprachenpolitik, Ausbildung, ökonomische Bedingungen etc.) • wissenschaftliche Faktoren (Ergebnisse aus der Sprachlehrforschung und der Fremdsprachendidaktik sowie aus den Bezugswissenschaften). Angesichts der Vielzahl und der Interdependenz der - keinesfalls vollständig aufgeführten - Einzelfaktoren leuchtet unmittelbar ein, dass die isolierte Darstellung und Erforschung eines Einzelfaktors forschungsmethodisch nicht sinnvoll zu realisieren ist. Fremdsprachendidaktische Forschung muss sich daher auch bei der notwendigen Fokussierung auf einen oder wenige Faktoren stets der Tatsache bewusst sein, dass es sich um Einzelaspekte innerhalb eines komplexen Gefüges handelt. 3. Fremdsprachendidaktik ist aufgrund des weiten und komplexen Gegenstandsbereiches, der durch die vielen Sprachen, Institutionen und Traditionen eine weitere Ausdifferenzierung erfährt, eine vielfältige und heterogene Forschungsdisziplin. 4. Aus diesen drei Merkmalen ergibt sich das vierte: Fremdsprachendidaktische Forschung ist interdisziplinär, denn sie greift sowohl inhaltlich als auch forschungsmethodisch auf Bezugswissenschaften zurück. Je nach Gegenstand und Fragestellung handelt es sich z. B. um die Erziehungswissenschaften, die Linguistik und Literaturwissenschaft, die Kultur- und Medienwissenschaften, die Sozialwissenschaften und/ oder die Psychologie. Dabei stellt sich immer wieder die Herausforderung, die Theorien, Modelle und Erkenntnisse aus den Bezugswissenschaften (selbst-)bewusst für die spezifischen Fragen und Interessen der Fremdsprachendidaktik zu nutzen und die unterschiedlichen Perspektiven mit Fokus auf die Fremdsprachendidaktik zu integrieren. 5. Dieses interdisziplinäre und integrierende Vorgehen hat zur Folge, dass fremdsprachendidaktische Forschung durch eine große Breite an methodischen Herangehensweisen charakterisiert ist und sich je nach Gegenstand und Forschungsfrage unterschiedlicher methodischer Ansätze und Verfahren bedient. Dazu überprüft sie die Passung zwischen ihren Fragen und den Ansätzen bzw. Verfahren verwandter Disziplinen und wandelt sie ggf. ab. In diesem Prozess entstehen zunehmend spezifisch fremdsprachendidaktische forschungsmethodische Zugänge und Forschungsdesigns. 2.2 Was ist fremdsprachendidaktische Forschung? 13 6. Aus dem Theorie-Praxis-Bezug ergibt sich, dass Praktiker*innen (wie Lerner*innen, Lehrer*innen oder Ersteller*innen von Curricula und Prüfungen) nicht nur Forschungspartner*innen sind, sondern auch selbst zu Forschenden werden können, die selbst oder in Zusammenarbeit mit universitären Forscher*innen sie interessierende Fragen untersuchen. Im Design der Aktionsforschung und der insbesondere im englischsprachigen Raum verbreiteten Forschungsrichtung der teacher research (s. Kap. 4 . 2 ) liegen dafür weithin akzeptierte Forschungsansätze vor. Das Gros der fremdsprachendidaktischen Forschung findet allerdings an Universitäten und Pädagogischen Hochschulen, in geringem Umfang auch an außeruniversitären Einrichtungen wie dem Institut für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) statt (vgl. auch Kap. 8 ). 7. Charakteristisch für die Fremdsprachendidaktik ist weiterhin, dass der allergrößte Teil der Forschung von den Wissenschaftler*innen selbst angestoßen und durchgeführt wird, wobei den Qualifikationsarbeiten von Nachwuchswissenschaftler*innen besondere Bedeutung zukommt. Auftragsforschung z. B. von Länderministerien oder Behörden ist eher selten. Neben den vielen Forschungsprojekten in Einzelarbeit entstehen zunehmend Arbeiten in kleineren Forschungsverbünden (z. B. in Graduiertenkollegs oder Research Schools ) oder als Teil großer interdisziplinärer Projekte (s. auch Kap. 8 ). Forschungsfelder Typisch für fremdsprachendidaktische Forschungsarbeiten ist weiterhin, dass sie nicht nur Forschungsfelder anderer Disziplinen aufnehmen, sondern oft auch innerhalb der Fremdsprachendidaktik mehrere Felder betreffen. Forschungsfelder sind durch einen inhaltlichen Schwerpunkt charakterisiert, zu dem thematisch und i. d. R. auch forschungsmethodisch vielfältige Untersuchungen vorliegen. Die folgende Aufstellung entstand anhand der Durchsicht von annähernd einhundert Qualifikationsarbeiten. Auch wenn die die einzelnen Felder nicht immer klar voneinander abgegrenzt werden können, erlaubt die alphabetische Liste der Forschungsfelder eine generelle Orientierung und verdeutlicht die inhaltliche Breite fremdsprachendidaktischer Forschung: 2 • Begegnungsforschung: Hier sind Arbeiten zu finden, die direkte und (medial) vermittelte Begegnungen von Sprechern unterschiedlicher Sprachen und unterschiedlicher (kultureller) Herkunft konzeptuell-theoretisch, historisch und empirisch untersuchen. • Curriculumforschung: Arbeiten in diesem Feld sind mit der theoretischen Begründung, historischen Entwicklung und empirischen Validierung von Lehrprogrammen für Sprachunterricht befasst. • Diagnostik: Arbeiten in diesem Forschungsfeld sind Tätigkeiten gewidmet, die in Abgrenzung zur Diagnostik anderer Berufsfelder unter dem Begriff Pädagogische Diagnostik zusammengefasst werden können. Im Brennpunkt stehen mit Bezug auf das Lehren und Lernen von Fremd- und Zweitsprachen Tätigkeiten „durch die bei einzelnen Lernenden und den in einer Gruppe Lernenden Voraussetzungen und Bedingungen 2 Vgl. auch die Erprobung dieser Forschungsfelder für die Bestimmung von Forschungstendenzen in Caspari ( 2019 ). 14 2. Grundfragen fremdsprachendidaktischer Forschung planmäßiger Lehr- und Lernprozesse analysiert und Lernergebnisse festgestellt werden, um individuelles Lernen zu optimieren“ (Ingenkamp/ Lissmann 2005 : 15 ). • Interaktionsforschung: Forschungen zu Bedingungen, Verlaufsformen und Strukturmerkmalen fremdsprachiger Interaktion in unterschiedlichen sozialen Arrangements sowie ihre Erträge sind diesem Feld zugeordnet. • Kompetenzforschung: Hier geht es um die theoretische Bestimmung und empirische Modellierung von Kompetenzen im Bereich des Lehrens und Lernens von Fremdsprachen (insbesondere sprachlicher, literarischer, medialer und interkultureller Kompetenzen) und um die Erforschung ihrer Entwicklung unter spezifischen institutionellen Bedingungen (Schule, Hochschule, Erwachsenenbildung). • Konzeptforschung: Die Entwicklung und systematische Analyse umfassender Konzepte und tragender Konstrukte der Fremdsprachendidaktik sowie die Modellbildung machen den gemeinsamen Nenner der Arbeiten dieses Forschungsfelds aus. • Lehr- und Professionsforschung: Forschungsarbeiten in diesem Feld beschäftigen sich mit dem Lehren fremder Sprachen als Beruf. Von Interesse sind nicht nur gesellschaftliche Ansprüche an Lehrpersonen oder deren berufliches Selbstverständnis, sondern in gleicher Weise Fragen ihrer Aus- und Weiterbildung. Mit Blick auf die Praxis werden zudem Bedingungen und Prozesse des Lehrens von Fremd- und Zweitsprachen in diesem Feld unter besonderer Berücksichtigung der Lehrpersonen, ihres Wissens, ihrer Erfahrungen, Einstellungen und ihres Handelns in spezifischen Kontexten bearbeitet. • Lehrwerks- und Materialienforschung: Hier geht es um die systematische Analyse historischer wie gegenwärtiger Lehrwerke und Medienverbundsysteme analoger und digitaler Provenienz. Auf diesem Feld sind folglich Forschungen angesiedelt, die Materialentwicklung, Evaluation und Nutzung in Lehr- und Lernprozessen fokussieren. • Lernforschung: Die Lernforschung untersucht die komplexen Voraussetzungen, Prozesse und Ergebnisse individuellen und kooperativen Sprachenlernens unter natürlichen und gesteuerten Bedingungen. • Lernerforschung: In diesem Feld steht die Sprachen lernende Person im Zentrum der Aufmerksamkeit und zwar als Individuum und als soziales Wesen mit ihrer speziellen Sprachlerngeschichte, mit ihren Potenzialen, sprachlich zu handeln, ihrer kognitiven und affektiven Ausstattung. • Forschungen zum institutionellen Kontext, insb. in Form von Schulbegleit- und Schulentwicklungsforschung: Ziel dieser Forschung ist es, relevante Aspekte des Lehrens und Lernens von Fremdsprachen unter den institutionellen Bedingungen zu erkennen, um das Zusammenspiel zwischen der Institution und den in ihr tätigen Individuen und Gruppen zu verstehen. In diesem Feld sind ebenfalls Projekte angesiedelt, in denen Lehrpersonen und professionell Forschende von Hochschulen und/ oder Forschungsinstituten zusammenwirken mit dem Ziel, die Handlungskompetenz der Beteiligten zu entwickeln. • Testforschung: Hier geht es sowohl um die Entwicklung, Validierung und Implementierung standardisierter Sprachtests als auch um unterrichtsbezogene Verfahren formativer und summativer Lernstandsermittlung, ihre Entwicklung und Erprobung. • Zweitsprachenerwerbsforschung: Aus diesem wesentlich weiteren Forschungsfeld sind für die fremdsprachendidaktische Forschung solche Arbeiten relevant, die sich darum 2.3 Welche Gütekriterien gelten für fremdsprachendidaktische Forschung? 15 bemühen, Prozesse ungesteuerten wie gesteuerten Fremdsprachenerwerbs zu beschreiben, Erwerbssequenzen zu bestimmen und Zusammenhänge zwischen Lehren und Erwerb aufzudecken. Dabei finden u. a. das Wechselverhältnis von Erst- und Zweitsprachen sowie weiterer Sprachen Berücksichtigung, soziale Bedingungen des Erwerbs oder die besonderen Merkmale der Erwerbssituation. Betrachtet man die ausgewählten Referenzarbeiten, so ist ein Großteil der Arbeiten in mindestens zwei Forschungsfeldern angesiedelt: die Referenzarbeiten von Biebricher ( 2008 ) und Marx ( 2005 ) in der Lern- und Kompetenzforschung, die von Ehrenreich ( 2004 ) in der Begegnungs- und Professionsforschung, die von Schmidt ( 2007 ) in der Materialien- und Lernforschung, die von Schart ( 2003 ) in der Kompetenz- und Professionsforschung, die von Kienberger ( 2020 ) in der Diagnostik und Lernforschung; die Arbeit von Hochstetter ( 2011 ) betrifft die Diagnostik, die Kompetenz- und die Professionsforschung, die Untersuchung von Doff ( 2002 ) die Felder der Lernforschung, Schulforschung und Professionsforschung. Die Fokussierung dieser in mehreren Feldern angesiedelten Arbeiten erfolgt jeweils durch das Thema und die Forschungsfrage. Im Gegenzug berücksichtigen die Studien, die primär in nur einem Forschungsfeld verortet sind wie die Referenzarbeiten von Arras ( 2007 ) (Testforschung), Özkul ( 2011 ) und Gödecke ( 2020 ) (Professionsforschung), Schwab ( 2009 ) (Interaktionsforschung), von Schmenk ( 2002 ) und Tassinari ( 2010 ) (Konzeptforschung) sowie Bracker ( 2015 ) (Interaktionsforschung) die Faktorenkomplexion z. B. bei der Einordnung bzw. Gewichtung der Ergebnisse oder der Rückbindung an den Kontext bzw. eine Theorie. Möglicherweise ist die Faktorenkomplexion auch ein Grund dafür, dass in der Fremdsprachendidaktik der Theorie-Empirie-Bezug in der Form der Überprüfung von zuvor aufgestellten Modellen wenig verbreitet ist. Der Vielfalt der Lehr-/ Lernsituationen und der weiten Verbreitung von Einzelforschung könnte wiederum geschuldet sein, dass noch immer vergleichsweise wenige Studien auf repräsentative Ergebnisse abzielen. Dafür konnten in den letzten 20 Jahren durch zahlreiche Studien mit qualitativen Forschungsansätzen der Gegenstandsbereich des Lehrens und Lernens fremder Sprachen besser exploriert und viele Einzelfaktoren und -aspekte in ihrer Vielschichtigkeit und Komplexität erforscht und dargestellt werden. 2.3 Welche Gütekriterien gelten für fremdsprachendidaktische Forschung? Wissenschaftliche Forschung unterscheidet sich von der anfangs erwähnten Alltagsbeobachtung nicht zuletzt durch die Einhaltung bestimmter forschungsmethodischer Standards, den sog. Gütekriterien. Nutzt man die Gütekriterien als Prinzipien für Planung, Durchführung und Auswertung einer Forschungsarbeit, so helfen sie dabei, die Qualität zu sichern; nutzt man die Gütekriterien als Bewertungskriterien, ermöglichen sie, im Nachhinein die Qualität und die Reichweite der gewonnenen Ergebnisse einer Forschungsarbeit zu beurteilen. 16 2. Grundfragen fremdsprachendidaktischer Forschung Auffällig ist, dass Gütekriterien bislang nahezu ausschließlich im Kontext empirischer Forschung diskutiert werden. Auffällig ist ebenfalls, dass sich die Diskussion über Gütekriterien in der empirischen Forschung nach wie vor zumeist an der sozialwissenschaftlichen, psychologischen und erziehungswissenschaftlichen Forschung orientiert. Erst seit der Etablierung der Gegenstandsangemessenheit als zentralem Gütekriterium ist zu beobachten, dass in fremdsprachendidaktischen Arbeiten bei der Präsentation und Reflexion der Forschungsmethodik offensiver anhand fremdsprachenforschungsspezifischer Charakteristika argumentiert wird. Trotzdem ist der Stand der Diskussion aus den genannten Disziplinen nach wie vor wegweisend. Die im Folgenden genannten Kriterien gelten für jede Forschungsarbeit, sie werden mit zunehmender Größe und Bedeutung der Forschungsarbeiten jedoch differenzierter und strenger gehandhabt (s. auch Kap. 3 . 3 , Stufen der Empirie). Grundsätzlich unterscheiden sich die Gütekriterien in quantitativen und qualitativen Forschungsansätzen (vgl. Kap. 3 . 3 ). Als zentrale Kriterien quantitativer Forschung (vgl. im Folgenden Edmondson/ House 2010 : 39 - 40 , Grotjahn 2003 , Schmelter 2014 ) gelten Objektivität, Reliabilität und Validität. Unter Objektivität versteht man die Intersubjektivität einer Methode, d. h. die Unabhängigkeit der Ergebnisse von den Forscher*innen, die die Untersuchung durchgeführt haben. Dabei unterscheidet man anhand der einzelnen Forschungsschritte Durchführungs-, Auswertungs- und Interpretationsobjektivität. Detaillierte Vorschriften sollen dafür sorgen, dass sowohl der Einfluss der Untersuchung auf die Untersuchungsteilnehmer*innen als auch der Einfluss der Forscher*innen auf die Untersuchung kontrolliert und möglichst geringgehalten wird. Eng mit dem Kriterium der Objektivität zusammen hängt das Kriterium der Zuverlässigkeit (Reliabilität). Es misst die Genauigkeit des Datenerhebungsbzw. Messvorgangs und gibt den Grad der Verlässlichkeit der Ergebnisse an. Für ein hochreliables Ergebnis müssen bei einer Wiederholung der Untersuchung unter gleichen Bedingungen die gleichen Ergebnisse erzielt werden (Replizierbarkeit der Messergebnisse). Reliabilität umfasst drei Aspekte: die Stabilität (die Übereinstimmung der Messergebnisse zu unterschiedlichen Zeitpunkten), die Konsistenz (das Maß, mit dem die zu einem Merkmal gehörenden Items dasselbe Merkmal messen) und die Äquivalenz (die Gleichwertigkeit von Messungen, wenn z. B. durch das Wiederholen eines Tests ein Lerneffekt eintritt). Objektivität und Reliabilität der Methoden bestimmen die Validität, d. h. die Gültigkeit einer Variable, eines Messverfahrens bzw. der erzielten Ergebnisse. Sie bestimmt das Maß ihrer Übereinstimmung mit dem untersuchten Realitätsausschnitt. Man unterscheidet in Bezug auf Untersuchungsverfahren zum einen innere bzw. interne Validität (das Maß, in dem ein Forschungsverfahren tatsächlich das erfasst oder misst, was es erfassen oder messen soll, und nicht z. B. durch andere Einflüsse wie z. B. Störvariablen oder systematische Messfehler beeinträchtigt wird). Hierbei unterscheidet man insbesondere die Inhaltsvalidität (die Eignung eines Verfahrens für die Erfassung bzw. Messung des Konstruktes), die Kriteriumsvalidität (die Übereinstimmung der gemessenen Ergebnisse mit einem empirischen Kriterium, z. B. den Ergebnissen, die mit einem anderen Verfahren gewonnen wurden) und die Konstruktvalidität (die Zuverlässigkeit der Ergebnisse bezüglich des gesamten untersuchten Konstruktes und nicht nur einzelner Aspekte des Konstruktes). 2.3 Welche Gütekriterien gelten für fremdsprachendidaktische Forschung? 17 Zum anderen bestimmt man die externe Validität, d. h. die Möglichkeit der Übertragung der Ergebnisse über die jeweilige Stichprobe und Situation der konkreten Untersuchung hinaus (Möglichkeit der Verallgemeinerung, Repräsentativität). Grundsätzlich ist eine hohe Reliabilität eine Voraussetzung für hohe Validität, allerdings kann sich eine zu hohe Reliabilität negativ auf die Validität auswirken, weil dann nur sehr enge Konstrukte erfasst werden können. Während Studien mit einem quantitativen Forschungsansatz das Forschungsfeld und die Forschungsgegenstände aus einer distanzierten Außenperspektive betrachten, setzt sich qualitative Forschung das Ziel, die Untersuchungsgegenstände soweit es geht aus der Innenperspektive der Beteiligten zu erforschen (s. Abschnitt 1 und Kap. 3 . 3 ). Diese Forschung verlangt daher andere Gütekriterien (vgl. im Folgenden Flick 1995 und 2020 ; Schmelter 2014 ; Steinke 1999 ). Ein Teil dieser Kriterien stellt eine Um- oder Neudefinition der aufgeführten Gütekriterien quantitativer Forschung dar, dazu kommen spezifische Kriterien qualitativer Forschung. Das Kriterium der Objektivität ist nicht vereinbar mit der Subjektivität der Forschungsbeteiligten, der Notwendigkeit ihrer Interaktion und der Anwendung interpretativer Auswertungsverfahren; zudem widerspricht es zentralen Charakteristika qualitativer Forschung wie z. B. den Prinzipien der Gegenstandsentfaltung, der Offenheit, der Alltagsorientierung und der Kontextualität. Als Äquivalenzkriterium führt Steinke ( 1999 : 143 ) das Kriterium der Intersubjektiven Nachvollziehbarkeit ein, für das die genaue Dokumentation und Reflexion der Forschungsentscheidungen und der einzelnen Forschungsschritte Voraussetzung ist. Auch das Kriterium der Reliabilität ist nicht direkt auf qualitative Forschung übertragbar, u. a. weil weder eine Standardisierung der Erhebungssituation noch eine vorgängige exakte Bestimmung und Operationalisierung des Untersuchungsgegenstandes möglich bzw. sinnvoll sind, auch ist das Untersuchungsphänomen in den meisten Fällen nicht ausreichend stabil. Stattdessen schlägt Flick ( 1995 : 242 ) die Prüfung der Verlässlichkeit von Daten und Vorgehensweisen vor, für die u. a. die konsequente Dokumentation des Forschungsprozesses notwendig ist. Daneben werden auch Verfahren der Reliabilitätsprüfung aus quantitativen Forschungsansätzen auf qualitative Designs übertragen, wenn z. B. zwei Forscher*innen die gleichen Texte kodieren und ihre unterschiedlichen Deutungen diskutieren ( Inter-Coder -Reliabilität). Das Kriterium der Validität wird für qualitative Forschungsansätze dagegen teilweise übernommen und in Bezug auf den Auswertungs- und Interpretationsprozess hin erweitert. Validierung wird verstanden als - zumeist kommunikativer - Prozess, in dem das Zustandekommen der Daten, die Darstellung der Phänomene und die daraus abgeleiteten Schlüsse auf systematische Verzerrungen oder Täuschungen hin untersucht werden (Flick 1995 : 244 - 245 ). Die zentrale Frage lautet, „inwieweit die Konstruktionen des Forschers in den Konstruktionen derjenigen, die er untersucht hat, begründet sind (…) und inwieweit für andere diese Begründungen nachvollziehbar sind“ (Flick 1995 : 244 ). Ein Verfahren der Validitätsprüfung ist die Triangulation (s. Kap. 4 . 4 ), die jedoch nicht primär auf die Bestätigung der Ergebnisse und damit auf die Gewinnung eines einheitlichen Gesamtbildes abzielt, sondern auf ergänzende und vertiefende Perspektiven. 18 2. Grundfragen fremdsprachendidaktischer Forschung Neben den drei genannten gelten als weitere wichtige Kriterien qualitativer Forschung Offenheit (gegenüber dem Forschungsfeld und gegenüber unerwarteten Ergebnissen), Flexibilität (angesichts gewachsener Erkenntnisse oder als Reaktion auf Unerwartetes), die Darlegung des Vorverständnisses, die Reflexion der Rolle der Forscher*in, die Indikation des Forschungsprozesses und der Bewertungskriterien (d. h. die Prüfung, ob die getroffenen methodischen Entscheidungen angemessen gewählt worden waren) sowie die empirische Verankerung der Theoriebildung (die Theoriebildung erfolgt dicht an den Daten). Obwohl mit qualitativen Untersuchungen keine Generalisierung angestrebt werden kann, ist zu prüfen, wie weit die gewonnenen Ergebnisse über den Untersuchungskontext hinaus Gültigkeit beanspruchen können (Kriterium der Limitation bzw. Reichweite). Im Unterschied zu den Gütekriterien in quantitativen Forschungsansätzen zielen die Kriterien in qualitativen Forschungsansätzen weniger auf Kontrolle, sondern auf Vertrauenswürdigkeit, Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit. Wichtige Gütekriterien für beide Ansätze sind die Offenlegung des Gegenstandsverständnisses (es bildet die Grundlage für die Beurteilung der Angemessenheit des gewählten Ansatzes und der eingesetzten Methoden) sowie die theoretische und praktische Relevanz der Fragestellung und der Forschungsergebnisse (es muss z. B. deutlich erkennbar sein, an welchen Theorien und Ergebnissen die Untersuchung anknüpft, welche Praxisaspekte sie aufgreift sowie welche neuen Deutungen oder Erklärungen für die untersuchten Phänomene sie bereitstellt und welches Innovationspotential sie enthält). Darüber hinaus müssen jeweils ethische Standards eingehalten werden (s. Kap. 4 . 6 ). Die zentralen Gütekriterien sind in jedem Fall die Gegenstandsangemessenheit der gewählten Ansätze und Verfahren für die Bearbeitung der Forschungsfrage und, darüber hinaus, die Passung, d. h. das sinnvolle Zusammenwirken der einzelnen Elemente und Entscheidungen innerhalb der Forschungsarbeit: zum einen Passung von Gegenstand, Fragestellung, Zielsetzung, Relevanz untereinander, zum anderen Passung von Forschungstradition, Forschungskonzept bzw. -design und Verfahren untereinander sowie die unerlässliche Passung beider Stränge. › Literatur Arras, Ulrike (2007). Wie beurteilen wir Leistung in der Fremdsprache? Strategien und Prozesse bei der Beurteilung schriftlicher Leistungen in der Fremdsprache am Beispiel der Prüfung Test Deutsch als Fremdsprache (TestDAF) . Tübingen: Narr. [Referenzarbeit, s. Kap. 7] Bausch, Karl-Richard/ Christ, Herbert/ Krumm, Hans-Jürgen (2003). Fremdsprachendidaktik und Sprachlehrforschung. In: Dies. (Hg.). 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In: Settinieri, Julia/ Demirkaya, Sevuken/ Feldmeier, Alexis/ Gültekin-Karakoç, Nazan/ Riemer, Claudia (Hg.) (2014). Empirische Forschungsmethoden für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Eine Einführung . Paderborn: Schöningh, 33-45. Schmenk, Barbara ( 2002 ). Geschlechtsspezifisches Fremdsprachenlernen? Zur Konstruktion geschlechtstypischer Lerner- und Lernbilder in der Fremdsprachenforschung . Tübingen: Stauffenburg. [Referenzarbeit, s. Kap. 7] Schmidt, Torben (2007). Gemeinsames Lernen mit Selbstlernsoftware im Englischunterricht. Eine empirische Analyse lernprogrammgestützter Partnerarbeitsphasen . Tübingen: Narr. [Referenzarbeit, s. Kap. 7] Schwab, Götz (2009). Gesprächsanalyse und Fremdsprachenunterricht . Landau: Verlag Empirische Pädagogik. [Referenzarbeit, s. Kap.7] Steinke, Ines (1999). Kriterien qualitativer Forschung: Ansätze zur Bewertung qualitativ-empirischer Sozialforschung . Weinheim: Juventa. Tassinari, Giovanna ( 2010 ). Autonomes Fremdsprachenlernen. Komponenten, Kompetenzen, Strategien . Frankfurt/ M.: Lang. [Referenzarbeit, s. Kap.7] » Zur Vertiefung empfohlen Caspari, Daniela (2019). Forschungstendenzen in der Fremdsprachendidaktik - Grundsatzüberlegungen und Auswertung der Dissertationen der Jahre 2014 bis 2016 aus dem deutschsprachigen Raum. In: Kreft, Annika/ Hasenzahl, Mona (Hg.). Aktuelle Tendenzen in der Fremdsprachendidaktik. Zwischen Professionalisierung, Lernerorientierung und Kompetenzerwerb. Frankfurt/ M.: Lang, 17-45. Für diesen Beitrag wurden die in diesem Zeitraum erschienenen 68 Dissertationen in die allgemeinen Forschungstendenzen in der Fremdsprachendidaktik eingeordnet. Auf dieser Basis konnten neun Thesen zur Entwicklung der Disziplin abgeleitet werden. Cohen, Louis/ Manion, Lawrence/ Morrison, Keith (2018). Research Methods in Education. 8. Auflage London: Routledge, 3-30. Im ersten Kapitel dieses Handbuches „The nature of enquiry: setting the field“ erläutern die Autoren die zentralen Forschungsparadigmen einschließlich ihrer erkenntnistheoretischen Grundlagen. Kron, Friedrich W. (1999). Wissenschaftstheorie für Pädagogen. Tübingen: E. Reinhardt. [=UTB] In diesem Handbuch wird ein systematischer Überblick über die wichtigsten wissenschaftstheoretischen Begriffe, Fragen und Konzepte gegeben. Die Darstellung der zentralen Paradigmen und Methoden erfolgt aus Sicht der Pädagogik. Schmelter, Lars (2014). Gütekriterien. In: Settinieri, Julia/ Demirkaya, Sevuken/ Feldmeier, Alexis/ Gültekin-Karakoç, Nazan/ Riemer, Claudia (Hg.) (2014). Empirische Forschungsmethoden für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Eine Einführung. Paderborn: Schöningh, 33-45. Dieser Artikel gibt, ausgehend vom Forschungsgegenstand der Fremdsprachenforschung, einen Überblick über Gütekriterien quantitativer und qualitativer Forschungsansätze. Außerdem wer- 2.3 Welche Gütekriterien gelten für fremdsprachendidaktische Forschung? 21 den übergreifende Gütekriterien sowie bislang ungelöste Fragen hinsichtlich der Gütekriterien fremdsprachendidaktischer Forschung diskutiert. Wilden, Eva/ Rossa, Henning (Hg.) (2019). Fremdsprachenforschung als interdisziplinäres Projekt. Frankfurt/ M.: Lang. Dieser Sammelband widmet sich einem der zentralen Charakteristika der Fremdsprachendidaktik als Forschungsdisziplin, der Interdisziplinarität. In den Beiträgen werden zum einen theoretische Überlegungen zur Disziplinarität dieser „bunten Disziplin“ angestellt, zum anderen wird, auch an konkreten Projekten, die Vielfalt interdisziplinärer Zugänge, Formate und Methoden aktueller fremdsprachendidaktischer Forschung sichtbar. 3. Forschungstraditionen der Fremdsprachendidaktik Friederike Klippel Die Fremdsprachendidaktiken sind als wissenschaftliche Disziplinen noch relativ jung, denn sie etablierten sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland als akademische Fächer. Dennoch gibt es eine Tradition der Erforschung des Lehrens und Lernens von Sprachen, die viel weiter zurückreicht als in die 1960 er Jahre, in denen an den Pädagogischen Hochschulen der Bundesrepublik Deutschland in größerem Umfang Professuren für die Fachdidaktiken in den Sprachenfächern eingerichtet wurden. Wenn man unter Forschung die systematische Suche nach neuen Erkenntnissen versteht (s. auch Kap. 2 ), dann müssen auch die Bemühungen aus früheren Jahrhunderten anerkannt werden, die Ziele, Inhalte, Verfahren und kontextuelle Einbettung des Sprachenlernens theoretisch oder empirisch genauer zu fassen. Kelly ( 1969 ) charakterisiert zwei Grundtypen früher Forschung zum Sprachenlernen: The all-important stages of learning a language were developed by two sorts of amateur. One was the professional grammarian who, for various reasons, found himself in the classroom; the other was the professional educator who, because of an interest in language, turned to teaching languages. Erasmus is a good example of the first and Comenius of the second. (Kelly 1969: IX) Auch wenn Kellys Bezeichnung „amateur“ für Gelehrte wie Erasmus und Comenius nicht ganz passend erscheint, so besitzt doch seine Unterscheidung in diese beiden Grundtypen bis in das 20 . Jahrhundert hinein Gültigkeit: Ein Interesse an der intensiven Beschäftigung mit dem Sprachenlernen erwuchs entweder aus der Beschäftigung mit der Sprache oder den Sprachen selbst, so etwa im Falle von Hermann Breymann, Professor für französische und englische Sprache an der Münchener Universität von 1875 bis 1909 . Breymann, der vor seinem Ruf nach München sieben Jahre lang in England u. a. als Französischlektor selbst Sprachunterricht erteilt und Lehrbücher für das Französische verfasst hatte (Riedl 2005 : 233 ), widmete sich als Wissenschaftler sowohl der Erforschung des Provençalischen, der historischen Entwicklung des Französischen und Spanischen und bestimmten Epochen der englischen Literatur als auch der inhaltlichen Gestaltung der Lehrerbildung in den neueren Sprachen und der bibliographischen Aufarbeitung der neusprachlichen Reformbewegung. Seine kommentierten Bibliographien zur Reformbewegung (Breymann 1895 , 1900 ) sind bis heute eine unverzichtbare Grundlage der fachhistorischen Forschung. Als Vertreter des anderen Typus, nämlich des Pädagogen, dessen Interesse an Bildungsprozessen im Allgemeinen auch die sprachliche Bildung im Besonderen umfasst, wäre z. B. Carl Wilhelm Mager zu nennen, der um die Mitte des 19 . Jahrhunderts ein Konzept für 24 3. Forschungstraditionen der Fremdsprachendidaktik eine umfassende Schulbildung entwirft, in dessen Rahmen dem Unterricht in Sprachen, und zwar sowohl den lebenden als auch den klassischen Sprachen, besonderer Stellenwert zukommt (Mager 1846 ). Die von Mager dafür entwickelte und propagierte „genetische Methode“ wurde zu seiner Zeit in einigen erfolgreichen Lehrbüchern umgesetzt (Klippel 1994 : 444 - 447 ). Die Klassifizierung in eher linguistisch oder pädagogisch motivierte frühe fremdsprachendidaktische Forschung liegt quer zu der heute üblichen Unterscheidung von Grundlagenforschung und angewandter Forschung (s. Kap. 2 ). Die aktuell gültigen und allgemein üblichen Güte- und Qualitätskriterien für Forschungsarbeiten (s. Kap. 2 ) waren im 19 . und frühen 20 . Jahrhundert noch nicht in gleichem Maße bekannt oder selbstverständlich. Das bedeutet jedoch nicht, dass weit zurückliegende Forschungsarbeiten a priori fehlerhaft oder gar wertlos sind. Man muss sie allerdings - ganz im Sinne einer inneren und äußeren Quellenkritik (dazu Kap. 5 . 3 . 1 ) - im Kontext ihrer Zeit lesen und interpretieren. Geht man vom zeitlichen Rahmen bisheriger großer historischer Abrisse des Fremdsprachenlehrens und -lernens aus (Kelly 1969 ; Germain 1993 ; Wheeler 2013 ), dann lassen sich Überlegungen zum Sprachenlehren und -lernen aus 5000 bis 2500 Jahren belegen. Sicherlich sind nicht alle diese Überlegungen als Forschung im engeren Sinne einzuordnen, aber die Grenze zwischen den in den vergangenen Jahrhunderten niedergelegten Annahmen, Prinzipien und Beobachtungen engagierter Sprachenlehrer (etwa von Seidelmann 1724 oder Falkmann 1839 ) einerseits und theoretischen Ideen und Konzepten etwa eines Comenius ( 1643 ) andererseits ist schwer festzulegen. Ist beides, nur eines oder gar nichts davon als Forschung zu sehen? Da der Fokus dieses Handbuchs auf der deutschsprachigen Fremdsprachendidaktik liegt, werden im Folgenden deren Forschungstraditionen ab dem 19 . Jahrhundert skizziert, seit es eine theoretische, historische und empirische Auseinandersetzung mit dem Forschungsfeld in größerem Ausmaß gibt. Wer forscht? Heute erfolgt ein Großteil der fremdsprachendidaktischen Forschung an Universitäten und Hochschulen, oftmals im Kontext wissenschaftlicher Qualifizierungsarbeiten oder geförderter Projekte. Das war im 19 . und frühen 20 . Jahrhundert noch völlig anders. In einer Zeit, in der sich die modernen Sprachen erst langsam an Schulen und Universitäten etablierten (dazu z. B. Finkenstaedt 1983 : 27 - 123 ; Hüllen 2005 : 75 - 91 ), befand sich ein Großteil derer, die sich systematisch mit dem Fremdsprachenunterricht befassten, als Lehrer an einer höheren Schule. Viele der damaligen Sprachlehrer waren leidenschaftliche Verfechter ihres Faches und kämpften für dessen Berechtigung und stärkere Berücksichtigung. Dazu veröffentlichten sie theoretische Abhandlungen in den ebenfalls ab der Mitte des 19 . Jahrhunderts entstehenden pädagogischen und philologischen Fachzeitschriften. Insbesondere zu Zeiten der neusprachlichen Reformbewegung ab etwa 1880 setzten sich Befürworter und Gegner der Reform intensiv auseinander. In diesem Kontext entstanden auch die ersten Forschungsarbeiten, die sich in heutiger Terminologie eventuell als empirische Unterrichtsforschung oder Aktionsforschung bezeichnen lassen, indem einzelne Lehrer (z. B. Klinghardt 1888 ) über einen längeren Zeitraum hinweg ihren Unterricht systematisch aufzeichneten, ihre Beobachtungen notierten und diese dann mit Bezug auf 3. Forschungstraditionen der Fremdsprachendidaktik 25 die damals gängigen Theorien zum Sprachenlernen interpretierten (Klippel 2013 ). Andere Lehrer untersuchten die Geschichte des Französisch- oder Englischunterrichts (s. Kap. 3 . 1 zu einschlägigen Beispielen), wiederum andere befassten sich mit theoretischen Konzepten zu einer Sprachenfolge in den höheren Schulen - etwa Julius Ostendorf (dazu Ostermeier 2012 ). Der Beginn der Forschungstradition im Bereich der Fremdsprachendidaktik ist also eng verknüpft mit der Lehrerschaft. Die zunehmende Professionalisierung dieser Lehrer und ihr starkes Engagement für die aufstrebenden modernen Sprachen sowie ihr Bemühen, den Unterricht wissenschaftlich zu fundieren und zu optimieren, führten zu einem regen fachlichen Diskurs. Und es ist festzuhalten, dass bereits damals historisch, theoretisch und empirisch geforscht wurde - wenn auch letzteres nicht in breitem Umfang. Bis in die 1960 er Jahre ändert sich diese Situation nicht wesentlich. Zwar gibt es vereinzelt Dissertationen zum Lehren und Lernen fremder Sprachen (s. Überblick in Sauer 2006 ), doch findet der wissenschaftliche Diskurs primär nicht auf akademischer Ebene statt, sondern vielmehr bei Fachtagungen und in fachdidaktischen Fachzeitschriften, wie z. B. Die Neueren Sprachen , Neusprachliche Mitteilungen , Praxis des neusprachlichen Unterrichts , die weiterhin für den Unterricht in den beiden Sprachen Englisch und Französisch publizieren 1 und zumeist, so scheint es, von Sprachlehrern selbst herausgegeben, verfasst und gelesen werden. Der Französisch- und Englischunterricht ist in der ersten Hälfte des 20 . Jahrhunderts an Gymnasien und Mittelschulen etabliert; an den Universitäten sind fast überall Professuren für die neuphilologischen Fächer eingerichtet, deren Schwerpunkte jedoch weiterhin in der Literaturwissenschaft und der Historischen Sprachwissenschaft liegen. Erst mit dem Ausbau des Unterrichts in einer modernen Fremdsprache, meist Englisch, für Schülerinnen und Schüler aller Schulformen in Folge des Hamburger Abkommens von 1964 gewinnen die Fachdidaktik Englisch (vgl. dazu Doff 2008 ) und infolgedessen auch die Fachdidaktik der romanischen Sprachen an wissenschaftlicher Statur und Forschungskapazität. Denn nun werden an den Pädagogischen Hochschulen Professuren in den fremdsprachendidaktischen Fächern eingerichtet, um den stark gestiegenen Bedarf an Fremdsprachenlehrkräften für Haupt- und Mittelschulen decken zu helfen. Zugleich stimuliert der Ausbau des Fremdsprachenunterrichts die Forschung, in der sich die neu ernannten Professor*innen breit engagieren. Im Bereich Deutsch als Fremdsprache erfolgt die Entwicklung mit einiger Verzögerung und unter anderen Vorzeichen, denn ein wissenschaftliches Fach etabliert sich in der alten Bundesrepublik erst Ende der 1970 er Jahre in unterschiedlich enger Verzahnung mit der Germanistik und mit unterschiedlichen Denominationen (vgl. Götze et al. 2010 : 19 - 20 ). Für Deutsch als Fremdsprache geht die Forschungstätigkeit weniger von den praktizierenden Lehrkräften aus als von den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Als „Motor der Entwicklung im Wissenschaftsbereich“ identifizieren Götze et al. ( 2010 : 20 - 21 ) ab 1971 den Arbeitskreis Deutsch als Fremdsprache (AKDaF; heute Fachverband Deutsch als Fremdsprache FaDaF). In den 1970 er Jahren entstehen die einschlägigen DaF-Publikations- 1 Die fremdsprachendidaktische Zeitschrift der DDR, Fremdsprachenunterricht , enthielt auch Artikel zum Russischunterricht. 26 3. Forschungstraditionen der Fremdsprachendidaktik organe wie etwa die Zeitschrift Zielsprache Deutsch (ab 1970 ) und das Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache (ab 1975 ) (vgl. Götze et al. 2010 : 21 ). Die hier geschilderte Entwicklung verlief in der DDR etwas anders. So gab es am Leipziger Herder-Institut, an dem seit 1956 Deutschunterricht für ausländische Studierende erteilt wurde, bereits ab 1968 eine Professur im Fach Deutsch als Fremdsprache. Die fremdsprachendidaktische Forschung in der DDR orientierte sich weitgehend an der russischen (Psycho-)Linguistik und Pädagogik, während die westdeutsche eher in die USA blickte. Vor der Wiedervereinigung 1989 wollte oder konnte man sich in BRD und DDR gegenseitig kaum in den jeweiligen Forschungsbemühungen wahrnehmen (so Hüllen 1991 ), wenngleich es etwa im Bereich der fachhistorischen Forschung bereits in den 1980 er Jahren auf der Basis der Initiative einzelner Forscher zu einem wissenschaftlichen Austausch kam (etwa Strauß 1985 ). Die große Steigerung der Forschungsaktivität ab den späten 1960 er Jahren zeigt sich eindrücklich an der wachsenden Zahl von Dissertationen und Habilitationsschriften, die in der Fremdsprachendidaktik angefertigt werden. Während Sauer ( 2006 ) für den Zeitraum von 1900 bis 1962 lediglich 19 einschlägige Arbeiten aufführt, sind es von 1968 bis zum Jahr 2000 insgesamt 355 . Ab dem Jahr 2000 erfolgen in Deutschland jährlich im Durchschnitt zwischen 15 und 30 Promotionen und Habilitationen in den fremdsprachendidaktischen Fächern. 2 Selbstverständlich sind unter den Promovend*innen und Habilitand*innen auch praktizierende Lehrkräfte der Sprachenfächer; genaue Zahlen dazu gibt es jedoch nicht. Dennoch hat sich somit in den letzten 50 Jahren die Forschungstätigkeit eindeutig aus den Schulen in die Universitäten und Hochschulen verlagert, zumal für Lehrkräfte im Schuldienst eine Promotion keine die Laufbahn direkt fördernde Qualifikation darstellt. Es ist heutzutage nicht in jedem Bundesland zwingend erforderlich, dass bei der Besetzung von fachdidaktischen Professuren in den Sprachenfächern Schul- oder Unterrichtspraxis nachgewiesen wird. Insofern hat sich auch in dieser Hinsicht die Forschung aus der Schule heraus verlagert. Was wird erforscht? Fremdsprachendidaktische Forschung dient dem Ziel, die Komponenten des fremd- und zweitsprachlichen Unterrichts, dessen Ziele, Inhalte und Methoden, aber auch die Prozesse der Sprachaneignung und die Kontexte, in denen Lehren und Lernen realisiert wird, besser zu verstehen und in Folge effektiver zu gestalten. Wenn man also das Didaktische Dreieck zum Ausgangspunkt einer Analyse nimmt, dann bestehen für die fremdsprachendidaktische Forschung die vier Optionen, ihren Fokus stärker auf die Lern(er)perspektive, die 2 Zu Zahl und Titeln der Dissertationen und Habilitationen in den fremdsprachendidaktischen Fächern gibt es in Fortführung der Chronologie von Sauer ( 2006 ) drei Zusammenstellungen auf der Webseite der DGFF, die den Zeitraum bis 2020 umfassen: www.dgff.de/ assets/ Uploads/ dokumente/ Chronologie-Diss-u-Habil-bis-Ende- 2015 -korr.pdf und www.dgff.de/ assets/ Uploads/ dokumente/ Chronologie- Didaktik-des-Fremdsprachenunterrichts- 2014 -bis- 2020 .pdf [Zugriff 30 . 01 . 2022 ] Zusätzlich werden einige Dissertationen und Habilitationen in den Fremdsprachendidaktiken auch in der Datenbank Pro- Habil des Fachportals Pädagogik geführt: www.fachportal-paedagogik.de/ literatur/ produkte/ prohabil/ prohabil_start.html [Zugriff 29 . 05 . 2021 ]. Allerdings ist keine dieser Listen vollständig. 3. Forschungstraditionen der Fremdsprachendidaktik 27 Lehr(er)perspektive oder die Inhaltsperspektive zu legen; als weiterer Fokus kommt der Kontext hinzu, in dem Lehren bzw. Lernen verortet ist. Betrachtet man die jüngere deutsche Tradition der fremdsprachendidaktischen Forschung in den vergangenen gut einhundert Jahren, so kann man Phasen unterscheiden, in denen einzelne der genannten Schwerpunkte im Zentrum der Forschung standen, während andere kaum Beachtung fanden. Zu jeder Zeit gibt es Bereiche des Sprachenlernens, die als weitgehend geklärt oder unstrittig gelten, so dass sie als wenig ertragreich für die Forschung betrachtet werden. Gegenwärtig ist das etwa für die generelle Ausrichtung des Fremdsprachenunterrichts auf funktionale Sprachfertigkeiten der Fall. Dass dies ein wichtiges Ziel ist, wird grundsätzlich und in der theoretischen Diskussion kaum hinterfragt; die Mehrzahl der Forschungsvorhaben konzentriert sich vielmehr auf Fragen nach dem optimalen Gestalten von Lernumgebungen, Aufgaben oder Leistungsmessung innerhalb dieses allgemein akzeptierten Konzepts. Solange fremdsprachendidaktische Forschung vor allem durch die Sprachlehrer selbst erfolgte, standen Fragen nach der methodischen Gestaltung des Unterrichts und nach der Eignung bestimmter Texte und Materialien im Vordergrund. Die Lern(er)perspektive findet sich in dieser Zeit nur sehr selten. So scheint zwar die kleine Monographie von Felix Franke ( 1884 ) aufgrund ihres Titels Die praktische Spracherlernung auf Grund der Psychologie und der Physiologie der Sprache dargestellt einen Fokus auf das Lernen zu besitzen, doch geht es Franke vielmehr um die möglichst einsprachige, aus seiner Sicht natürliche Methode, um Sprachen zu vermitteln. Die nützliche und leider fast vergessene Bibliographie von Kohl/ Schröder ( 1972 ), die Veröffentlichungen zur englischen Fachdidaktik und deren Bezugsfelder bis 1971 aufführt, liefert für die Zeit bis 1960 unter der Rubrik „Der Fremdsprachen-Lernprozess“ (Kohl/ Schröder 1972 : 62 - 65 ) wesentlich weniger Einträge als ab 1960 . Insgesamt enthält die Bibliographie zu dem Themenbereich des Fremdsprachenlernens nur einen geringen Bruchteil an Publikationen im Vergleich zu denen, die unter „Methodische Grundfragen“ zusammengestellt sind (Kohl/ Schröder 1972 : 191 - 286 ) und die sich also mit der Lehrperspektive befassen. Auch wenn viele der in dieser Bibliographie genannten Aufsätze und Monographien nicht zur Forschungsliteratur im engeren Sinne gezählt werden können, so werden doch zeitlich bedingte Schwerpunktsetzungen sehr deutlich. Die Lern(er)perspektive wird ab den 1970 er Jahren im Zuge der Etablierung der Sprachlehrforschung sehr viel stärker berücksichtigt. Dieser Blickwechsel wird durch internationale Entwicklungen gestützt, die der Second Language Acquisition Research zur Blüte verhelfen (Königs 2003 ). Applied Linguistics emanzipiert sich von der Sprachwissenschaft und behauptet sich seitdem als eigener Forschungszweig. Zahlreiche Verbands- und Zeitschriftengründungen im englischsprachigen Raum in den 1960 er und 1970 er Jahren tragen dem Rechnung. So gibt es die Association Internationale de Linguistique Appliquée (AILA) seit 1964 , die British Association for Applied Linguistics (BAAL) seit 1967 , die American Association for Applied Linguistics (AAAL) seit 1977 . Organisationen und Zeitschriften, die sich auf Forschung zur Vermittlung einer Sprache konzentrieren, sind in der Regel jüngeren Datums als diejenigen, die sich mit mehreren lebenden Sprachen befassen, was die fortlaufende Differenzierung des gesamten Feldes in Einzeldisziplinen in Deutschland und im internationalen Raum widerspiegelt. So gibt es 28 3. Forschungstraditionen der Fremdsprachendidaktik die Vereinigung der Fremdsprachenlehrer in den USA, die National Federation of Modern Language Teachers , und ihre Zeitschrift Modern Language Journal bereits seit 1916 . Nach dem zweiten Weltkrieg werden wichtige internationale englischdidaktische Zeitschriften gegründet: English Language Teaching (heute: English Language Teaching Journal ) besteht seit 1946 , TESOL Quarterly seit dem Jahr 1966 , Language Teaching seit 1967 . Auch in Deutschland differenziert sich das Angebot an einzelsprachigen Zeitschriften erst ab den 1960 er Jahren aus: Englisch wird 1965 gegründet, Englisch-Amerikanische Studien (EASt) im Jahr 1979 . Man kann wahrscheinlich davon ausgehen, dass Dissertationen und Habilitationsschriften im Großen und Ganzen mit den jeweils aktuellen Forschungstrends konform gehen. Blickt man auf die Themen der seit dem Jahr 1843 abgeschlossenen Arbeiten (Sauer 2006 und Internetquellen siehe Fußnote 2 ), dann lassen sich anhand der Titel die thematischen Schwerpunkte zumindest oberflächlich feststellen. Tabelle 1 gibt einen Überblick. Thematischer Schwerpunkt 1843 bis 1970 1971 bis 1999 2000 bis 2014 2015 bis 2020 N = 29 N = 336 N = 282 N = 151 Inhalte 1 24 % 123 37 % 86 30 % 37 25 % Lehren, Lehrer 10 34 % 58 17 % 56 20 % 30 20 % Lernen, Lerner 7 3 % 127 38 % 124 44 % 66 44 % Kontext 12 41 % 28 8 % 16 6 % 16 11 % Tabelle 1: Themenbereiche fremdsprachendidaktischer Dissertationen und Habilitationen 1843 bis 2020 Selbstverständlich kann eine solche Übersicht nur einen groben Trend verdeutlichen, denn zum ersten sind erwiesenermaßen nicht alle Dissertationen und Habilitationen in den verfügbaren Übersichten erfasst, zum zweiten lässt sich das Themengebiet oder der Fokus der Forschungsfrage aus den Titeln nicht immer eindeutig bestimmen und zum dritten umgreifen sehr viele Arbeiten vermutlich mehr als nur einen Schwerpunkt. Dennoch ist die Verlagerung von der Lehrperspektive zur Lernperspektive klar zu erkennen. Studien zu den Inhalten des Fremdsprachenunterrichts haben sich in ihrem Anteil nicht wesentlich verändert, was vor allem darauf zurückzuführen ist, dass literatur- und kulturdidaktische Untersuchungen in der deutschen Fremdsprachendidaktik - anders als etwa im englischsprachigen Raum - seit jeher einen hohen Stellenwert besitzen. Wie wird geforscht? Wenn man von den drei großen Kategorien von Forschung ausgeht, die auch in diesem Handbuch unterschieden werden, nämlich historische, theoretische und empirische Forschung, dann haben sich die Gewichte in den letzten drei Jahrzehnten stark zur empirischen Forschung hin verschoben. Vor gut hundert Jahren gab es zwar auch schon erste empirische Studien zum Fremdsprachenunterricht, der Großteil der Forschung war jedoch eher theoretisch-konzeptuell und historisch-beschreibend ausgerichtet. Es ist nicht ver- 3. Forschungstraditionen der Fremdsprachendidaktik 29 wunderlich, dass die historische Forschung in den letzten Jahrzehnten des 19 . und bis in die späten 1960 er Jahre bedeutsam war, denn jede neue Disziplin sucht im Prozess der Selbstdefinition und Selbstfindung nach historischen Wurzeln und Belegen für eine eventuell schon vorhandene Tradition. Während im englischsprachigen Raum mit der Entwicklung der Applied Linguistics nach einer theoretischen Konsolidierungsphase in den 1960 er Jahren (z. B. Halliday/ McIntosh/ Strevens 1964 ) in den letzten Jahrzehnten vor allem empirische Forschungsvorhaben durchgeführt wurden, blieben die Traditionen der theoretisch-konzeptuellen und der historischen Forschung im deutschsprachigen und europäischen Raum stärker lebendig, wenngleich auch bei uns die empirische Forschung heute den Hauptanteil aller Vorhaben in der Fremdsprachendidaktik ausmacht (Caspari 2019 ). Es ist insofern interessant, dass erst jetzt in der englischsprachigen Welt der Fremdsprachendidaktik die Forderung nach systematischer historischer Forschung geäußert wird (Smith 2015 ), die etwa auch in der Romania schon lange im Rahmen von SIHFLES ( Société Internationale pour l’Histoire du Français Langue étrangère ou seconde ) oder CIRSIL ( Centro Interuniversitario di Ricerca sulla Storia degli Insegnamenti Linguistici ) erfolgt. Die Einflüsse auf die fremdsprachendidaktische Forschung in Deutschland stammen aus unterschiedlichen Feldern. Durch die feste Verankerung der Fremdsprachendidaktik in der Lehrerbildung ergeben sich Schnittmengen mit der bildungswissenschaftlichen Forschung und der in anderen Fachdidaktiken. Der Aufstieg der empirischen Bildungsforschung hat auch in der Fremdsprachendidaktik Wirkungen entfaltet. Zudem geschieht Forschung heute stärker als noch vor einigen Jahrzehnten in größeren Verbünden; das DESI-Projekt (Deutsch-Englisch-Schülerleistungen-International) ist dafür ein Beispiel. Eine größere Kooperation gibt es auch über die Grenzen einzelner Fachdidaktiken hinweg; ab 2015 ist dies häufiger im Rahmen von Verbundprojekten der Qualitätsoffensive Lehrerbildung (gefördert durch das BMBF) der Fall (s. Kap. 8 ). Für die fremdsprachendidaktische Forschung sind auch die Initiativen und Aktivitäten des IQB ( Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen ) von großer Bedeutung, mit denen etwa eine Entwicklung und empirische Validierung von fachspezifischen Aufgaben erfolgt, die in den Schulen die Erreichung der Bildungsstandards fördern und überprüfen sollen. Fremdsprachendidaktische Forschung war auch schon früher mit Innovationen und Entwicklungen im Schulwesen eng verknüpft. Insbesondere die Einführung des Englischunterrichts in der Grundschule führte in den 1970 er (Doyé/ Lüttge 1977 ) und frühen 1990 er Jahren (Kahl/ Knebler 1996 ) zu wichtigen Forschungsarbeiten. Wie geforscht wird und geforscht werden kann, hängt nicht zuletzt auch mit den vorhandenen Infrastrukturen zusammen. Die fremdsprachendidaktische Forschung hat vor allem von der Etablierung von Professuren in den letzten fünfzig Jahren profitiert, aber auch von der Einrichtung des DFG-Schwerpunkts „Sprachlehrforschung“ und der Graduiertenkollegs der DFG. Zwölf Jahre lang, von 1991 bis 2003 , bestand das Graduiertenkolleg Didaktik des Fremdverstehens an der Justus-Liebig-Universität Gießen und hat durch seine Absolvent*innen, von denen weit mehr als ein Dutzend erfolgreich die Wissenschaftler*innenlaufbahn eingeschlagen haben, die deutsche Forschungslandschaft der fremdsprachendidaktischen Fächer in den vergangenen zwanzig Jahren nachhaltig geprägt. Offenbar gehen eine intensive Nachwuchsförderung und ein bedeutsamer Forschungs-Output Hand 30 3. Forschungstraditionen der Fremdsprachendidaktik in Hand, wie ein Blick in die Zusammenstellung von Sauer ( 2006 ) zeigt. Universitäten, an denen zahlreiche Dissertationen und Habilitationsschriften entstanden sind (vgl. Sauer 2006 : 75 - 109 ) - etwa Gießen, Bielefeld, Hamburg, München und Berlin - können auch als forschungsstark angesehen werden, wenngleich nicht immer in allen fremdsprachendidaktischen Fächern. Der Blick zurück zeigt eine Reihe von parallel und sukzessive verlaufenden Entwicklungen sowie einige Konstanten. Die fremdsprachendidaktische Forschung hat sich in den letzten 130 Jahren von den Lehrern auf die Wissenschaftler*innen an Universitäten und Hochschulen verlagert. Neben die Inhalts- und Lehrperspektive ist zunehmend die Lernperspektive als Forschungsgegenstand getreten. Historische und theoretische Forschungsansätze haben zwar an Bedeutung verloren, sind jedoch keineswegs völlig obsolet. Diesen Verschiebungen im Fokus fremdsprachendidaktischer Forschungsaktivitäten stehen die Konstanten gegenüber, die sich etwa in den Forschungsfragen zeigen, von denen sich viele - zwar im jeweiligen Zeitraum anders formuliert und fokussiert - mit der Sinnhaftigkeit bestimmter Lehr-/ Lernziele oder der Wirksamkeit einzelner unterrichtlicher Maßnahmen befassen. Auch die Analyse von Lehr- oder Lernmaterialien ist ein immer wieder aufgegriffenes Forschungsthema. Der Blick in diese reiche Tradition lohnt sich auch heute und in Zukunft. › Literatur Breymann, Hermann (1895). Die neusprachliche Reform-Literatur 1876-1893 . Eine bibliographischkritische Übersicht. Leipzig: Deichert. Breymann, Hermann (1900). Die neusprachliche Reform-Literatur 1894-1899. Eine bibliographischkritische Übersicht. Leipzig: Deichert. Caspari, Daniela (2019). Forschungstendenzen in der Fremdsprachendidaktik - Grundsatzüberlegungen und Auswertungen der Dissertationen der Jahre 2014 bis 2016 aus dem deutschsprachigen Raum. In: Kreft, Annika/ Hasenzahl, Mona (Hg.). Aktuelle Tendenzen in der Fremdsprachendidaktik. Zwischen Professionalisierung, Lernerorientierung und Kompetenzerwerb. Berlin: Peter Lang, 17-45. Comenius, Johann Amos (1643). Janua Linguarum Reserata . Danzig: Hünefeld. Doff, Sabine (2008). Englischdidaktik in der BRD 1949-1989. München: Langenscheidt. Doyé, Peter/ Lüttge, Dieter (1977). Untersuchungen zum Englischunterricht in der Grundschule. Bericht über das Braunschweiger Forschungsprojekt „Frühbeginn des Englischunterrichts“ FEU. Braunschweig: Westermann. Falkmann, Christian Friedrich (1839). Einige Bemerkungen über den Unterricht in den neuern Sprachen . Lemgo: Meyer. Finkenstaedt, Thomas (1983). Kleine Geschichte der Anglistik in Deutschland. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Franke, Felix (1884). 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Forschungstraditionen der Fremdsprachendidaktik 3.1 Historische Forschung Friederike Klippel Die Beschäftigung mit der Geschichte von Fächern und Disziplinen hat in den Fachdidaktiken eine gewisse Tradition, wenngleich fachhistorische Forschung meist nur ein Minderheiteninteresse darstellt. Der Großteil gegenwärtiger Forschungstätigkeit in der Fremdsprachendidaktik befasst sich verständlicherweise mit Fragen, die aus der Gegenwart erwachsen oder die nahe Zukunft der Fachdidaktiken und ihres Praxisfelds betreffen und nimmt dazu vorliegende Forschungsergebnisse nur aus einem Zeitraum von wenigen Jahren zur Kenntnis. Bestenfalls findet man in den jeweiligen Einleitungen kurze Hinweise auf die Genese des Forschungsfeldes und einige seiner früheren Erträge. Weiter zurückliegende Forschung wird in der Regel bei dieser sog. Einleitungshistorie kaum berücksichtigt; auch findet eine intensive Auseinandersetzung mit Traditionen, früheren theoretischen Überlegungen und gelebter Praxis meistens nicht statt. Dadurch gehen wichtige Erkenntnisse, weiterhin gültige theoretische Annahmen und Wissensbestände sowie auch das Wissen über erfolgreiche Praktiken verloren. Es bedarf daher auch der gezielten historischen Forschung. Historische Forschung in der Fremdsprachendidaktik kann insofern eine gewisse fachliche Kontinuität herstellen, ein Bewusstsein für fundamentale Fragen und Entwicklungen schaffen und zur Selbstreflexion und Selbstvergewisserung der Disziplin beitragen. In der rückblickenden Analyse von Entwicklungen, Theorien, Praktiken, Materialien und institutionellen sowie individuellen Lehr-/ Lernsituationen besitzt die fachdidaktisch historische Forschung Schnittstellen zu historischer Bildungsforschung und zur Wissenschaftsgeschichte ebenso wie zu Ideen- und Kulturgeschichte, denn Lehren und Lernen war immer Teil kultureller Praktiken. 3.1.1 Die Anfänge fremdsprachendidaktischer historischer Forschung um 1900 Die Forschung zur Geschichte des Fremdsprachenlehrens und -lernens setzt in Deutschland gegen Ende des 19 . Jahrhunderts ein. Das erklärt sich aus einer Reihe von Entwicklungen: Zum ersten etablierten sich im Verlauf des 19 . Jahrhunderts sowohl die modernen Sprachen als Unterrichtsfächer an den höheren Schulen als auch die Neuphilologien als forschende und lehrerbildende Disziplinen an den Universitäten. Zum zweiten entstand im Zuge dieser Konsolidierungen eine selbstbewusste, gebildete und wissenschaftlich interessierte Lehrerschaft, deren forschende Neugier sich auch auf die historischen Wurzeln des eigenen Tuns richteten. Zum dritten gab es mit den ab 1824 jährlich zu erstellenden Schulprogrammen, die jeweils auch einen wissenschaftlichen Beitrag enthielten (s. Klippel 1994 : 302 ) und den gegen Ende des 19 . Jahrhunderts zunehmend verbreiteten pädagogischen Lexika und Handbüchern (z. B. Rein 1895 ) sowie der steigenden Zahl an pädagogischen 3.1 Historische Forschung 33 und neuphilologischen Zeitschriften zahlreiche Möglichkeiten zur Publikation historischer Arbeiten. Das Interesse dieser frühen historischen Arbeiten richtete sich auf die Darstellung der Entwicklung des Unterrichts in den modernen Fremdsprachen in früheren Jahrhunderten im Allgemeinen (Lehmann 1904 ; Boerner/ Stiehler 1906 ), in bestimmten Regionen (z. B. Ehrhart 1890 zu Württemberg), an bestimmten Institutionen (z. B. zu Berliner Handelsschulen Gilow 1906 , zur Universität Gießen Behrens 1907 ), im Hinblick auf bestimmte Lehr-/ Lernmaterialien (zu Comenius siehe Liese 1904 , zu Johann König siehe Driedger 1907 , zu Grammatiken siehe Horn 1911 ) oder auf die Vermittlung einzelner Sprachen, wie des Französischen (Dorfeld 1892 ; Streuber 1904 ; Huth 1905 ) oder Englischen (Pariselle 1895 ; Junker 1904 ). Für die gegenwärtige historische Forschung liefern diese frühen Schriften, denen aus heutiger Perspektive natürlich in gewisser Weise auch der Status historischer Quellen zukommt, aufschlussreiche Einblicke in die damalige Sicht auf die Vergangenheit, die von den Diskursen ihrer Entstehungszeit - etwa im Sinne der Positionierung im Hinblick auf die Neusprachenreform - geprägt ist. Wichtiger für die heutige Forschung sind diese Veröffentlichungen jedoch als Belege zu den Quellen früherer Jahrhunderte, von denen viele die Weltkriege und deren Zerstörungen nicht überdauert haben. Es ist für die heutige Forschung zudem ein großer Vorteil, dass die Fremdsprachendidaktiker der Wende vom 19 . zum 20 . Jh nicht nur eigene historische Untersuchungen durchgeführt haben, sondern auch die Publikationen ihrer Zeit akribisch recherchiert und als bibliographische Hilfsmittel zusammengestellt haben. Eine besondere Position nimmt dabei die von Hermann Breymann über einen längeren Zeitraum publizierte Bibliographie zur neusprachlichen Reformliteratur (Breymann 1895 , 1900 ; Breymann/ Steinmüller 1905 , 1909 ) ein, die die Beiträge der Neusprachenreformer und ihrer Gegner nicht nur bibliographisch aufführt, sondern auch kommentiert und Entwicklungen analysiert, so dass der Diskurs im Kontext seiner Zeit aus der Sicht des Bibliographen abgebildet wird, der weder ein radikaler Reformer noch ein Reformgegner war. Eine bedeutsame Rolle spielen auch die ab der Mitte des 19 . Jahrhunderts erscheinenden Enzyklopädien zum Studium der neueren Sprachen, in denen zahlreiche Hinweise auf Lehrwerke, Literatur, Zeitschriften, einschlägige zeitgenössische Veröffentlichungen und den jeweiligen Kenntnisstand zu einzelnen Bereichen der Sprachen und ihrer Vermittlung zu finden sind (siehe etwa Schmitz 1859 ; Körting 1884-1888 ; Wendt 1893 ). 3.1.2 Fremdsprachendidaktische historische Forschung nach 1945 Nach der ersten Blüte der historischen Forschung zum Fremdsprachenunterricht um 1900 gibt es für die Zeit bis zum Ende des zweiten Weltkriegs nur ein größeres Werk, das auch heute noch nicht überholt ist, nämlich Wilhelm Aehles ( 1938 ) Untersuchung zum frühen Englischunterricht insbesondere an den Ritterakademien. Man kann spekulieren, dass die durch die nationalsozialistische Schulpolitik vorgenommene Aufwertung des Englischen 34 3. Forschungstraditionen der Fremdsprachendidaktik gegenüber dem bis dahin klar dominierenden Französisch die Erforschung der Anfänge des Englischunterrichts in Deutschland motiviert hat. Wie schwierig sich damals die historische Forschung aufgrund der Rahmenbedingungen gestaltete, erkennt man an Aehles Vermutung, dass sich wohl kein Englischbuch aus dem 18 . Jahrhundert mehr auffinden lasse, wenn selbst die Bibliothek des traditionsreichen Gymnasiums zum Grauen Kloster in Berlin kein Exemplar des Ende des 18 . Jahrhunderts an der Schule verwendeten Buches von Gedicke mehr besitze (vgl. Aehle 1938 : 222 - 223 ). Heute bestehen aufgrund des hervorragend vernetzten und vielfach leicht digital zugänglichen Bibliotheks- und Archivwesens wesentlich bessere Voraussetzungen für die historische Forschung und auch zahlreiche Lehrwerke des 18 . Jahrhunderts sind noch vorhanden (vgl. Klippel 1994 ; Turner 1978 ). In den 1960 er Jahren setzte die historische Forschung zum Lehren und Lernen von Sprachen wieder ein und stellt bis heute einen stetigen, wenngleich geringen Anteil aller Forschungsarbeiten im Feld der Fremdsprachendidaktiken, wie man aus der Chronologie bei Sauer ( 2006 ) ersehen kann. Vier Dissertationen aus den 1960 er Jahren zeigen zum einen die nun gefestigte Vorrangstellung des Englischen, denn sowohl Sauer ( 1968 , zum Englischunterricht in der Volksschule) als auch Schröder ( 1969 , zum Englischunterricht an den Universitäten bis 1850 ) befassen sich ausschließlich mit der Vermittlung des Englischen, während Flechsig ( 1962 ) und Rülcker ( 1969 ) Entwicklungen der neusprachlichen Bildung und des neusprachlichen Unterrichts über längere Zeiträume untersuchen. Aus Konrad Schröders Beschäftigung mit der Geschichte des Sprachenlernens an Universitäten im deutschsprachigen Raum erwuchs eine überaus fruchtbare und ertragreiche Tätigkeit als Bibliograph und Chronist, deren Ergebnis zahlreiche nützliche Nachschlagewerke zu Lehrbüchern, Lernorten und Sprachenlehrenden vergangener Jahrhunderte sind (etwa Schröder 1975 ; Schröder 1980-1985 ; Schröder 1987-1999 ; Glück/ Schröder 2007 ). Es ist in der Tat ein Kennzeichen der historischen Forschung des letzten Drittels des 20 . Jahrhunderts, dass die Erschließung und Aufarbeitung der Vergangenheit in zahlreichen Bibliographien und Quellensammlungen ihren Niederschlag findet, die bestimmte Felder kartieren und in Folge anderen Forscher*innen als Arbeitsmittel zur Verfügung stehen (z. B. Flechsig 1965 und Hüllen 1979 mit Primärquellen; von Walter 1977 zu Schulprogrammschriften; Christ/ Rang 1985 zu Lehrplänen; Macht 1986-1990 zu Lehrbüchern; neuerdings die Arbeiten von Helmut Glück und anderen in der Reihe Fremdsprachen in Geschichte und Gegenwart ). Somit sind die Voraussetzungen für historische Forschung am Ende des 20 . und zu Beginn des 21 . Jahrhunderts sehr viel besser als jemals zuvor. Der leichtere Zugriff auf die Quellen mag dazu beigetragen haben, dass ab den 1980 er Jahren die Forschungsfragen spezifischer und/ oder die untersuchten Zeiträume kürzer werden. Dabei geraten zunehmend auch zeitgeschichtliche Entwicklungen in den Blick, wie etwa die Zeit der Kulturkunde (Mihm 1972 ), die des Nationalsozialismus (Lehberger 1986 zum Englischunterricht; Hausmann 2000 zur Romanistik bzw. Hausmann 2003 zu Anglistik und Amerikanistik an den Universitäten), die Nachkriegszeit (Ruisz 2014 ), die Zeit zwischen 1945 und 1989 (Doff 2008 ) oder die Epoche des kommunikativen Fremdsprachenunterrichts (Kolb 2013 ). Zugleich verengt sich der Fokus der einzelnen Arbeiten auf spezifische Fragestellungen: So analysiert Franz ( 2005 ) die speziell für deutsche Auswanderer nach Nordamerika veröffentlichten Sprachführer im 19 . Jahrhundert, Ostermeier ( 2012 ) untersucht die Debatte um die Sprachenfolge an höheren Schulen im 19 . Jahr- 3.1 Historische Forschung 35 hundert und Schleich ( 2015 ) stellt auf breiter Quellenbasis die Anfänge des internationalen Schülerbriefwechsels vor dem ersten Weltkrieg dar. Das 19 . Jahrhundert spielt zu Recht eine wichtige Rolle in der fremdsprachendidaktischen historischen Forschung, denn in dieser Zeit wurden wesentliche Grundlagen für den modernen Sprachunterricht in institutioneller (Lehrpläne, Stundentafeln), materieller (Schulbücher, Materialien, Medien), personeller (Lehrer) und wissenschaftlicher (Lehrerbildung, Forschung) Hinsicht gelegt. Nicht alle dieser Aspekte wurden bisher gleichermaßen untersucht. So wissen wir Näheres nur über wenige wichtige Aktanten dieser Zeit - etwa über V.A. Huber und S. Imanuel (Haas 1990 ) oder Julius Ostendorf (Ostermeier 2012 ); viele wichtige Persönlichkeiten, wie etwa Ludwig Herrig oder Carl Mager, jedoch harren noch darauf, in ihrem Wirken und ihren Werken näher erforscht zu werden. Die Entstehung neuphilologischer Lehrstühle an den Universitäten ist gut dokumentiert und analysiert (z. B. Haenicke 1979 ; Finkenstaedt 1983 ; Christmann 1985 ; Kalkhoff 2010 ), doch wurde bislang die Lehrerbildung nur punktuell einbezogen (Haenicke 1982 ). Die mit dem Fremdsprachenunterricht verknüpften Bildungsvorstellungen und außersprachlichen, kulturellen Inhalte untersuchen Flechsig ( 1962 ) und Raddatz ( 1977 ). Einzelne Forschungsarbeiten zu dieser Epoche widmen sich der Entwicklung von Medien (z. B. Schilder 1977 ; Reinfried 1992 ) sowie Lehr- und Lesebüchern (Diehl 1975 ; Bode 1980 ; Niederländer 1981 ; Klippel 1994 ); dabei wird die Methode der historischen Lehrbuchanalyse zunehmend verfeinert. Schwierig ist es, aus historischer Sicht etwas zu den konkreten Lernbedingungen in den Schulen der Vergangenheit und zu den Lernenden selbst herauszufinden. Selbstverständlich gehen alle Untersuchungen vom vermeintlichen Normalfall aus; für das 19 . Jahrhundert sind das die höheren Schulen, die Knaben vorbehalten waren. Die wegweisende Studie von Sabine Doff ( 2002 ) zum Fremdsprachenlernen von und Fremdsprachenunterricht für Mädchen im 19 . Jahrhundert (s. Kap. 7 ) liefert Einsichten in ein anderes, aus heutiger Sicht moderneres Konzept von Sprachenlernen. In Kubanek-German ( 2001 ) wird die Ideengeschichte des Fremdsprachenunterrichts für jüngere Kinder aufgearbeitet. Die Lernenden im privaten oder schulischen Umfeld sind immer Ziel des methodischen Bemühens des Sprachmeisters oder Sprachlehrers. Die Frage nach der richtigen, der besten, der effektivsten, der natürlichsten Methode der Sprachvermittlung hat nicht nur die Sprachenlehrenden aller Zeiten beschäftigt, sie ist auch in der historischen Forschung sehr präsent. Neben Dokumentationen (Macht 1986-1990 ) und Überblicksdarstellungen zur Methodenentwicklung (Apelt 1991 ; Klippel 1994 ) finden sich auch Untersuchungen zur Rolle der Muttersprache (Butzkamm 1973 ). Alle diese Untersuchungen stammen aus dem 20 . Jahrhundert, und es ist bemerkenswert, dass gerade in jüngerer Zeit keine historischen Arbeiten zu fremdsprachenunterrichtsmethodischen Fragen mehr entstanden sind. Zu den historischen fremdsprachendidaktischen Forschungsfeldern zählt auch die Geschichte des Deutschunterrichts in anderen Ländern (z. B. Wegner 1999 ; Eder 2006 ) und die Geschichte des Unterrichts in anderen als den gängigen Schulfremdsprachen. Auch wenn es angesichts der zahlreichen historischen Untersuchungen aus gut einhundert Jahren und der großartigen Synthesen von Hüllen ( 2005 ) und Kuhfuß ( 2013 ) so scheinen mag, als lägen Erkenntnisse für alle Epochen und Aspekte der Geschichte des Sprachenlernens und -lehrens der unterschiedlichen Sprachen vor, gibt es doch weiterhin viele weiße Flecken auf der Landkarte der Vergangenheit. 36 3. Forschungstraditionen der Fremdsprachendidaktik 3.1.3 Forschungsdesiderata und forschungsmethodische Entwicklungen Nimmt man das Didaktische Dreieck mit seinen drei Ecken Lehrer-Lerner-Inhalte als Ausgangspunkt, dann fehlen historische Untersuchungen zu Lehrerbildung und Lehrerverhalten, wenngleich letzteres natürlich nur sehr schwer zu rekonstruieren ist. Dass die Frage nach der Entwicklung von Unterrichtsmethoden, die ja gerade im 20 . Jahrhundert viele Wandlungen erfahren haben, bislang keine Aufmerksamkeit erfahren hat, wurde bereits erwähnt. Aber auch die konkreten Verkörperungen von Methoden, nämlich Lehrmaterialien und Handbücher für den Unterricht, wurden bisher nur punktuell aus historischer Perspektive untersucht. Die Geschichte der Medien ist noch nicht bis in die Gegenwart fortgeschrieben worden. Im Hinblick auf die Lernenden existiert keine Sozialgeschichte der Fremdsprachenlerner, deren altersmäßige und soziale Zusammensetzung sich insbesondere im 20 . Jahrhundert stark verändert hat. Auch ein Überblick über die Entwicklung der Sprachlerntheorien und deren Rezeption in der Unterrichtspraxis wäre wünschenwert. Zu den Unterrichtsinhalten und Curricula liegen erste Arbeiten vor (z. B. Kolb 2013 ). Zusätzlich zu diesen breit gefassten, bisher kaum oder gar nicht bearbeiteten Feldern gibt es eine Vielzahl von regionalen, lokalen oder gar individuellen Forschungsfragen, deren Aufarbeitung sich lohnen würde. In den vergangenen drei Jahrzehnten hat sich die historische fremdsprachendidaktische Forschung in Anlehnung an die aktuellen Ansätze in der allgemein-historischen und der bildungshistorischen Forschung methodisch weiterentwickelt. Verfahren der Quellenkritik und der Diskursanalyse (s. Kap. 5 . 3 . 1 Analyse historischer Quellen) und deren Reflexion sind ebenso selbstverständlich geworden wie der Gang in die Archive (z. B. Ruisz 2014 ) und der Blick über die nationalen Grenzen (z. B. Kolb 2013 ). Es ist heute unabdingbar, den historischen Entstehungskontext in die Analyse einzubeziehen und neben der Entwicklung im Bildungssystem auch politische, wirtschaftliche, soziale und technische Fortschritte der Zeit zu betrachten, die das Interesse an und die Vermittlung von bestimmten Sprachen stark beeinflussten (so beispielhaft in Schleich 2015 ). Des Weiteren hat sich in den jüngeren Arbeiten zur Geschichte des Fremdsprachenlernens und -lehrens eine größere Sensibilität gegenüber dem historischen Sprachgebrauch entwickelt (s. Kap. 5 . 2 . 1 und 5 . 3 . 1 ), so dass in der Vergangenheit verwendete Begrifflichkeiten nicht ohne weiteres als identisch mit heutigen gleichlautenden Konzepten angesehen, sondern vielmehr konzeptuell analysiert werden. Fremdsprachendidaktische historische Forschung hat sich insofern als eigenständiger Forschungszweig auch in methodologischer Hinsicht etabliert. › Literatur Aehle, Wilhelm ( 1938 ). 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Legutke Neben der historischen und der empirischen Forschung zählt die theoretische Forschung zu den bedeutsamen Arbeitsbereichen der Fremdsprachendidaktik. Theoretische Forschung zeichnet sich dadurch aus, dass sie bemüht ist, den Gegenstandsbereich Lehren und Lernen von Fremdsprachen und seine verschiedenen Teilbereiche zu bestimmen, zu systematisieren, Konzepte zu entwickeln bzw. diese einer kritischen Reflexion zu unterziehen und/ oder angesichts gesellschaftlicher Entwicklungen und neuerer Forschungsergebnisse weiter zu entwickeln. Theoretische Forschung ordnet empirische Befunde, systematisiert und kategorisiert Phänomene des Gegenstandsbereiches, entwirft handlungsleitende Modelle und erörtert deren Grenzen und Reichweite. Sie gewinnt Erkenntnisse in Auseinandersetzung sowohl mit der Theoriebildung innerhalb der Fremdsprachendidaktik als auch mit Konzeptbildungen und Erkenntnissen affiner Wissenschaftsdisziplinen (wie der Spracherwerbsforschung, der Bildungswissenschaften, der Sozialwissenschaften, der Linguistik und der Kultur- und Medienwissenschaften). Theoretische Arbeiten sind nicht gleichzusetzen mit der Literaturanalyse, die als Voraussetzung jeder Art wissenschaftlicher Forschung zu gelten hat, sondern schließen diese ein (vgl. Kap. 6 . 3 ). Eine Möglichkeit der Systematisierung theoretischer Forschung bieten ihre unterschiedlichen Funktionen. Diese sollen zunächst unter Berücksichtigung exemplarischer Arbeiten skizziert werden. Danach werden vier Meilensteine theoretischer Forschung in der Fremdsprachendidaktik vorgestellt, die aus unterschiedlichen Fachkulturen stammen und Arbeitsweisen solcher Forschung verdeutlichen. Das besondere Verhältnis theoretischer Forschung zur Empirie soll in einem letzten Abschnitt angesprochen werden. 3.2.1 Typen und Funktionen theoretischer Forschung Die folgende Zusammenstellung erhebt nicht den Anspruch auf Vollständigkeit, sondern bietet die Möglichkeit der Orientierung in einem weiten Feld teils sehr unterschiedlicher Forschungsaktivitäten. Die zur Verdeutlichung herangezogenen Arbeiten haben exemplarischen Charakter. Soweit als möglich wurden Studien zu unterschiedlichen Fremdsprachen berücksichtigt. Die zur Bezeichnung von Typen und Funktionen theoretischer Forschung gewählten Begriffe sind nicht trennscharf. Daher sind Mehrfacheinordnungen möglich und die genannten Typen dienen eher der Systematisierung und Orientierung, als dass sie einen Versuch darstellen, theoretische Forschung über ihren Bezug zu affinen Wissenschaftsdisziplinen zu bündeln. Selbst Arbeiten, die vorwiegend einer Disziplin verpflichtet scheinen, wie die folgenden Beispiele und die Meilensteine zeigen, belegen, dass die Faktorenkomplexion fremdsprachlichen Lehrens und Lernens fachdidaktische Forschungsgegenstände nur durch interdisziplinäre Zugriffe analysierbar macht. 3.2 Theoretische Forschung 41 1 Entwicklung umfassender Konzepte der Sprachvermittlung In der Konsolidierungsphase der Fremdsprachendidaktik in den 70 er und 80 er Jahren des letzten Jahrhunderts (vgl. Doff 2008 ) stellten theoretische Forschungen den Hauptanteil der Forschungsaktivitäten dar. Sie beförderten die Konturierung des Faches und seiner Teildisziplinen. Für die Sprachdidaktik wären als Beispiele zu nennen: Werner Hüllens Didaktische Analysen zum Verhältnis von Linguistik und Englischunterricht (Hüllen 1971 , 1979 , s. u. „Linguistik und Englischunterricht“), Harald Gutschows schulstufenspezifische Ausdifferenzierung der Englischdidaktik für die Hauptschule (Gutschow 1964 , 1973 ), Hans-Eberhard Piephos Arbeiten zur Kommunikativen Kompetenz als übergeordnetem Lernziel des Englischunterrichts (Piepho 1974 ) oder Helmut Heuers lerntheoretische Fundierung des Englischunterrichts (Heuer 1976 ). Die Literaturdidaktik wurde als eigenständige Teildisziplin konturiert durch die Arbeiten Lothar Bredellas ( 1976 ), der die Hermeneutik und Rezeptionsästhetik für die Fremdsprachendidaktik nutzbar machte (s. u. „Das Verstehen literarischer Texte“). Konzepte einer politisch engagierten Landeskundedidaktik legte Gisela Baumgratz-Gangl vor ( 1990 , s. u. „Persönlichkeitsentwicklung und Fremdsprachenerwerb“). Für den Komplex Literatur- und Kulturdidaktik wären auch die an einer skeptischen Hermeneutik orientierten Arbeiten Hans Hunfelds zu nennen (z. B. Hunfeld 2004 ). Beispielhaft für den hier zusammengefassten Typus theoretischer Forschung kann ferner die Kritische Methodik des Englischunterrichts von Rudolf Nissen ( 1974 ) gelten. 2 Entwicklung und/ oder kritische Analyse tragender Konstrukte der Fremdsprachendidaktik Arbeiten dieses Typus fokussieren zentrale Konstrukte der Fremdsprachendidaktik, deren Herausbildung interdisziplinär verortet und deren Grenzen und Möglichkeiten für unterschiedliche Praxisfelder kritisch erörtert werden, beispielsweise für die Materialentwicklung, die Unterrichtsgestaltung, die Aufgabenkonstruktion oder die Lehrerbildung. Drei Beispiele sollen diesen Typus verdeutlichen. ( 1 ) Mit seiner Studie Aufgeklärte Einsprachigkeit. Zur Entdogmatisierung der Methode im Fremdsprachenunterricht , ebenfalls situiert in der Konstituierungsphase der Fremdsprachendidaktik, positioniert sich Wolfgang Butzkamm ( 1973 ) in der Debatte um die Einsprachigkeitsproblematik, indem er Befunde der Bilingualismusforschung, der Lernpsychologie und der Spracherwerbsforschung auswertet und zu einer Unterrichtmethodik verdichtet, die dem gezielten Gebrauch der Muttersprache eine angemessen funktionale Verwendung im Unterricht zuweist. 3 ( 2 ) Für Daniela Caspari ist Kreativität im Umgang mit literarischen Texten im Fremdsprachenunterricht Untersuchungsgegenstand (Caspari 1994 ). Sie arbeitet zentrale Aspekte der psychologischen Kreativitätsforschung und der rezeptionstheoretischen Lesetheorien heraus, die sie vergleichend analysiert, um auf diesem Hintergrund das kreative Potenzial fremdsprachiger literarischer Texte zu erfassen, das in unterrichtlichen Lehr- und Lernprozessen genutzt werden kann. Caspari wertet dabei ein breites Spektrum dokumentierten Unterrichts und problematisierender fachdidaktischer Arbeiten aus. ( 3 ) Aus der Perspektive des Deutschen 3 Zur wissenschaftsgeschichtlichen Einordnung der Arbeiten von Butzkamm und zu seinem Beitrag zur Konstitution der Fremdsprachendidaktik als Wissenschaft vgl. Doff 2008 : 216 - 17 . 42 3. Forschungstraditionen der Fremdsprachendidaktik als Fremdsprache skizziert Swantje Ehlers in ihrer Arbeit Lesetheorie und fremdsprachliche Lesepraxis ( 1998 ) einen theoretischen Entwurf für eine fremdsprachliche Lesedidaktik, nämlich „Ansätze einer fremdsprachlichen Leselehre“ (ebd., 231 ), die der Eigengesetzlichkeit fremdsprachlichen Lesens Rechnung tragen soll. Sie wertet dazu lesetheoretische Positionen zum Lesen in der Erst- und Zweisprache aus, bündelt entwicklungs- und kognitionspsychologische Forschung, um dann die Besonderheiten fremdsprachlichen Lesens zu fokussieren. Dabei setzt sie sich kritisch mit der empirischen Leseforschung in der Fremdsprachendidaktik auseinander. Dem hier angesprochenen Typus wären auch Arbeiten zuzuordnen wie die von Corinna Koch ( 2013 ) und Elena Bellavia ( 2007 ), die das fremdsprachendidaktische Potenzial der Metapher untersuchen. Bellavia fokussiert Deutsch als Fremdsprache, Koch die Sprachen Englisch, Französisch und Spanisch. Die Theoriebildung ermöglicht es beiden Autorinnen, ein Instrument zur kritischen Analyse und Optimierung von Lehrmaterial zu entwickeln. 3 Modellbildung Die Entwicklung und kritische Erörterung von Modellen gehört zu den zentralen Aufgaben theoretischer Forschung, denn Modelle haben die Funktion, komplexe Zusammenhänge und Abläufe verständlich zu machen - sie sind ein notwendiger Teil von Theoriebildung, die deshalb auch ohne Modelle nicht vorstellbar ist. Insofern arbeiten alle bisher erwähnten Beispiele mit mehr oder weniger expliziten Modellen. Wenn hier dennoch ein eigener Typus theoretischer Arbeiten markiert wird, so geschieht dies im Anschluss an die Tradition didaktischer Modelle, die den Anspruch erheben, handlungsleitend zu sein. Im Kontext fachdidaktischer Forschung spielen Modellbildungen eine bedeutende Rolle ( Jank & Meyer 2002 ). Für das Lehren und Lernen von Fremdsprachen repräsentieren zwei Arbeiten den hier gemeinten Typus: ( 1 ) Ausgehend vom kulturwissenschaftlichen Konzept der Intertextualität modelliert Wolfgang Hallet ( 2002 ) das fremdsprachliche Klassenzimmer als hybrid-kulturellen Handlungsraum für die diskursive Aushandlung und die Erprobung gesellschaftlicher Partizipationskompetenz. Das Modell ist handlungsleitend für die Konzeption von Lehr- und Lernmaterial (s. u. „Das Spiel der Texte und Kulturen“). ( 2 ) In der Referenzarbeit Autonomes Fremdsprachenlernen: Komponenten, Kompetenzen, Strategien entwickelt, validiert und erprobt Maria Tassinari ein „dynamisches Autonomiemodell“ mit seinen Deskriptoren. Das Modell liefert die Basis für Checklisten zur Reflexion eigener Lernprozesse von Studierenden (Tassinari 2010 , Referenzarbeit, s. Kap. 7 ). 4 Analyse und Auswahl von Lehr- und Lernmaterial Der Komplex Analyse von Lehr- und Lernmaterial lässt sich nach zwei Gruppen von Arbeiten ordnen, nämlich nach solchen, die sich mit einem Lehrwerksystem oder Materialien einer Fremdsprache befassen und solchen, die lehrwerkvergleichend mehrere Fremdsprachen berücksichtigen. Innerhalb der beiden Gruppen kann nach den Bezugstheorien unterschieden werden, aus denen die Analysekriterien entwickelt werden. So bestimmen beispielsweise lerntheoretische Überlegungen die Studie von Dietmar Rösler ( 1984 ) zum Spannungsverhältnis von Lernerbezug und vorgefertigtem Lehrmaterial für Deutsch als Fremdsprache. Politik- und sozialwissenschaftlich orientiert ist die Analyse 3.2 Theoretische Forschung 43 von Angelika Kubanek-German ( 1987 ): Dritte Welt im Englischlehrbuch der Bundesrepublik Deutschland. Aspekte der Darstellung und Vermittlung . Methodengeschichtliche Kriterien bestimmen die Studie von Lilli-Marlen Brill ( 2005 ), die am Beispiel von Lehrwerken zu Deutsch als Fremdsprache die These überprüft, ob Lehrwerkgenerationen als Ausdruck bestimmter Vermittlungsmethoden gelten müssen. Als prägnante Vertreter theoriegeleiteter, vergleichender Lehrwerkanalyse für mehrere Sprachen können die Studie von Dagmar Abendroth-Timmer ( 1998 ) und Christian Thimme ( 1996 ) gelten. Abendroth-Timmer vergleicht Lehrwerke zu den Sprachen Deutsch, Französisch und Russisch in Hinblick auf landeskundliches und interkulturelles Lernen. Für Thimme ist die Behandlung landeskundlicher, insbesondere geschichtlicher Aspekte in Lehrwerken für Deutsch und Französisch Forschungsgegenstand. Für den Komplex der Auswahl von Lehr- und Lernmaterial können stellvertretend zwei literaturdidaktische Studien herangezogen werden, die das didaktische Potenzial literarischer Genres untersuchen. Annette Werner ( 1993 ) rekonstruiert Kontinuität und Diskontinuität des fachdidaktischen Diskurses zur Behandlung von Lyrik im Englischunterricht, indem sie sowohl pädagogische und didaktische Begründungen seit 1945 als auch Lyriksammlungen, Handreichungen und Rahmenpläne untersucht. Forschungsgegenstand der Arbeit von Nancy Grimm ( 2009 ) sind Romane der indigenen Gegenwartsliteratur als Textgrundlage für die Förderung des Fremdverstehens im fortgeschrittenen Englischunterricht. Die Mehrzahl der für diesen Typus erwähnten Arbeiten bedienen sich hermeneutisch-textanalytischer Verfahren. 5 Phänomenologische Arbeiten Dieser Typus versammelt Arbeiten, die Phänomene aus dem Gegenstandsbereich Lehren und Lernen fremder Sprachen zusammenstellen, systematisch beschreiben, ihre Behandlung in theoretischen Diskursen nachzeichnen und die Relevanz für die unterrichtliche Praxis ausloten. Zwei repräsentative Beispiele sollen ihn verdeutlichen: ( 1 ) Die Studie von Friederike Klippel ( 1980 ) ist dem Spielphänomen gewidmet. Nach der Aufarbeitung spieltheoretischer und spielpädagogischer Grundlagen sichtet die Verfasserin die Behandlung des Lernspiels in der fachdidaktischen Literatur (Lexika, didaktisch-methodische Handbücher, Richtlinien) und rekonstruiert seine Stellung im fremdsprachlichen Unterricht aus Erfahrungsberichten und Spielesammlungen. Ansätze einer Theorie des Lernspiels liefern die Grundlagen für die Erörterung des bewussten und integrativen Einsatzes des Lernspiels im Englischunterricht. Eine Klassifizierung von Lernspielen, verbunden mit einem Instrument zu ihrer didaktischen Aufarbeitung, sind u. a. Ergebnisse dieser Studie. ( 2 ) Das Offenheits-Paradigma bestimmt die Studie von Engelbert Thaler ( 2008 ), dessen vielfältige Wurzeln zunächst aufgedeckt werden (u. a. philosophisch-erkenntnistheoretische, anthropologisch-pädagogische, fremdsprachendidaktisch-methodische). Das Paradigma dient dazu, unterschiedliche Lernarrangements zu erfassen und zu analysieren sowie im Kontext der fachdidaktischen und bezugswissenschaftlichen Diskussion zu verorten. Thalers Studie bietet damit einen theoriegeleiteten, deskriptiven Methodenvergleich. 44 3. Forschungstraditionen der Fremdsprachendidaktik 6 Bildungswissenschaftliche und bildungspolitische Positionierungen Auch hier sollen zwei Studien diesen Typus verdeutlichen. ( 1 ) Lutz Küster ( 2003 ) liefert eine bezugs- und bildungswissenschaftliche sowie eine bildungspolitische Positionierung fremdsprachendidaktischer Kernkonzepte, die mit Bezug auf empirische Aspekte des Anfangsunterrichts im Fach Französisch sowie auf den fortgeschrittenen Unterricht mit literarischen Texten verdeutlicht werden. Der Autor versteht diese Bezüge als „Verknüpfungen und Vertiefungen“ zu den von ihm behandelten Grundsatzfragen der Didaktik des Fremdverstehens, der Literaturdidaktik, der Theorien interkultureller, ästhetischer und medialer Bildung. ( 2 ) Das zweite Beispiel fokussiert den bilingualen Sachfachunterricht. Nach einer problem- und ideengeschichtlichen Rekonstruktion des Theoriediskurses unternimmt Stephan Breidbach ( 2007 ) eine bildungstheoretisch und bildungswissenschaftlich fundierte Theoriebildung zum bilingualen Sachfachunterricht, die als Basis für die Weiterentwicklung seiner Didaktik dienen soll. Auch die schon erwähnte und unten im Detail vorgestellte Arbeit von Baumgratz-Gangl ( 1990 , s. u.) ließe sich hier verorten. 7 Vergleichende Überblicksforschungen Vergleichende Überblicksforschungen bezeichnen Arbeiten, deren Forschungsgegenstand vorhandene Studien, wissenschaftliche Publikationen und Theorieansätze sowie Lehr- und Lernmaterialien sind, die unter einer spezifischen Fragestellung systematisch analysiert werden; existente Forschung wird unter einer neuen Perspektive kritisch gesichtet. Beispiele für diesen Typus theoretischer Forschung liefern die Studien von Barbara Schmenk Lernerautonomie. Karriere und Sloganisierung des Autonomiebegriffs ( 2008 ) und die Referenzarbeit Geschlechtsspezifisches Fremdsprachenlernen? Zur Konstruktion geschlechtsspezifischer Lerner- und Lernbilder in der Fremdsprachenforschung ( 2002 , 2009 , Referenzarbeit, s. Kap. 7 ). Die interdisziplinäre Anlage, Fragen der Textauswahl und ihrer Systematisierung sowie die qualitativ-interpretative Herangehensweise als auch forschungsmethodologische Implikationen vergleichender Überblicksforschungen werden dort transparent dargestellt. Exemplarisch ist ferner die Studie von Leo Will ( 2018 ), denn sie liefert eine systematische und umfassende Analyse des fremdspachendidaktischen Diskurses zur Authentizität, wie er sich seit den 1960 er Jahren herausgebildet hat. Will berücksichtigt dabei wissenschaftliche Publikationen mit Schwerpunkt Englisch als Fremd- und Zweitsprache im englisch- und deutschsprachigen Raum. 3.2.2 Meilensteine theoretischer Forschung Vier Meilensteine theoretischer Forschung in der Fremdsprachendidaktik werden nun vorgestellt, die zum einen aus unterschiedlichen Fachkulturen und Teilbereichen der Disziplin stammen, zum anderen einige Funktionen und Arbeitsweisen solcher Forschung verdeutlichen und die sich schließlich durch ihre Bezugnahme auf affine Wissenschaftsdisziplinen zumindest teilweise unterscheiden. 3.2 Theoretische Forschung 45 1 „Das Verstehen literarischer Texte“: Literaturwissenschaft und Rezeptionsästhetik Ein prägnantes Beispiel theoretischer Forschung liefern die Arbeiten Lothar Bredellas, die zur Konstitution der Literaturdidaktik als noch junger, eigenständiger Teildisziplin der Fremdsprachendidaktik beitrugen (Bredella 1976 , 1980 , 2002 , 2004 ). Bredella erörtert die Bedeutung literarischer Texte für das Lernen von Fremdsprachen aus der Perspektive des Verstehensprozesses, den er vor allem in kritischer Auseinandersetzung mit den literaturtheoretischen Positionen des New Criticism entfaltet. Nicht die textimmanente Interpretation des für sich selbst sprechenden Kunstwerks, sondern die Sinnbildung durch Lesen und Deuten rücken in den Vordergrund. Bezugspunkte sind die philosophische Hermeneutik (Gadamer) und die literaturwissenschaftliche Rezeptionsästhetik der Konstanzer Schule (Iser, Jauß). Mit der expliziten Fokussierung auf den Vorgang der Rezeption zeigt Bredella, dass literarische Texte eine authentische Kommunikationssituation im Klassenzimmer schaffen helfen, weil sie Lernende zu Deutungen und Stellungnahmen herausfordern. Indem Bredella dem Vorverständnis, den subjektiven Wahrnehmungen und Reaktionen der Lernenden im Rezeptionsvorgang ein eigenes Gewicht gegenüber dem Text zuweist, eröffnet er ein Feld für pädagogisch bedeutungsvolles Handeln, für Lernerorientierung. Gleichzeitig betont er jedoch die besondere Gestalt des literarischen Textes. Aus diesem Grund weist er subjektivistische Rezeptionsmodelle, die die Zeichenhaftigkeit und formale Gestalt des Textes ausblenden und seine besondere Qualität damit entwerten, entschieden zurück (Bredella 2002 ). Bredella versteht deshalb auch den Verstehensprozess als dialogisch, als Interaktion zwischen Leser und Text, die unter den institutionellen Bedingungen von Lehren und Lernen immer sozialer Natur ist und die Lehrkraft als Dialogpartner einschließt. Aus der Fokussierung auf den Verstehensprozess leitet Bredella zwei zentrale Aufgaben für die Literaturdidaktik ab. Zum einen geht es um die Auswahl herausfordernder und bedeutungsvoller literarischer Texte für den unterrichtlichen Diskurs, zum anderen um die Entwicklung und Erprobung angemessener Verfahren, die die Leser-Text-Interaktion im Klassenzimmer ermöglichen. Beiden Aufgaben stellt sich Bredella in seinen Arbeiten, indem er zahlreiche literarische Texte im Hinblick auf ihr Interaktionspotenzial exemplarisch deutet und unterrichtsnahe Handlungsoptionen skizziert. 2 „Das Spiel der Texte und Kulturen“: Kultur- und Textwissenschaft Text- und diskurstheoretische Überlegungen, insbesondere eine Auseinandersetzung mit dem Konstrukt der Intertextualität, führen Hallet zur Modellierung des fremdsprachlichen Klassenzimmers als „hybriden“ Raum (Hallet 2002 : 48 ), in dem „Texte und Diskurse aus verschiedenen kulturellen Sphären in ein wechselseitiges Zusammenspiel treten“ (ebd. 54 ). Fremdsprachenunterricht wird als eine eigenkulturelle Diskurssphäre markiert, als kultureller Handlungsraum, in dem vielfältige kulturelle Stimmen wahrnehmbar werden können, die den Lernenden Gelegenheit bieten, eigene Überzeugungen und Wahrnehmungsmuster zu erkennen, zu hinterfragen und möglicherweise zu modifizieren. Dialogische Aushandlungsprozesse unter Nutzung der Fremdsprache sind wesentliches Merkmal der unterrichtlichen Diskurssphäre, Lernende werden als (inter)kulturelle Aktanten (ebd. 46 3. Forschungstraditionen der Fremdsprachendidaktik 34 ) und diskursive Mitspieler begriffen. Hallet erörtert das didaktische Potenzial von Intertextualität in doppelter Weise. Zum einen thematisiert er die Zusammenstellung von Materialien als Textensembles, zum anderen das intertextuelle Arbeiten und die Rolle lerneraktivierender Verfahren. Beide Perspektiven führen ihn zu einer Neubewertung von Materialentwicklung im weiteren Sinne und somit zu einer Neubestimmung der Aufgaben der Textdidaktik. Hallet konkretisiert sein Modell und dessen Implikationen für die Materialentwicklung auf der einen und die Strukturierung des Lern- und Begegnungsraums auf der anderen Seite durch verschiedene Unterrichtsmodelle und Unterrichtsreihen, die das Zusammenspiel von literarischen Schlüsseltexten als Teil komplexerer Textensembles und den diskursiven Zugriffen im Klassenzimmer weiter differenzieren. Die Möglichkeiten der Kontextualisierung literarischer Texte durch andere Textsorten sowie das Potential gattungstypologischen Arbeitens mit einer klaren Orientierung auf thematisch relevante Diskurse werden unterrichtsnah mit Beispielen erörtert. 3 „Persönlichkeitsentwicklung und Fremdsprachenerwerb“: Landeskundedidaktik Gisela Baumgratz-Gangls Forschungsarbeit ( 1990 ) ist in den engagierten bildungspolitischen Diskussionen der 70 er und 80 er Jahren situiert, die auf die Expansion des europäischen Binnenmarktes folgte und der damit gegebenen größeren Mobilität seiner Bürger. Sie nimmt Bezug auf eine ganze Reihe deutsch-französischer Bildungsprojekte. Letztere galten sowohl der Entwicklung von Unterrichtskonzepten für den Französischunterricht der Sekundarstufe I und II , der Lehrerfortbildung durch erlebte Landeskunde und vor allem der Förderung deutsch-französischer Austauschaktivitäten, die von Korrespondenzprojekten über Studienfahrten bis hin zum Schüleraustausch reichten. Baumgratz-Gangl entwickelt einen theoriegeleiteten Zugriff auf diese Erfahrungen, ohne sie allerdings empirisch auszuwerten. Ausgehend von der Annahme, dass der schulische Fremdsprachenunterricht einen „wichtigen Beitrag zur Verbesserung transnationaler und internationaler Kommunikation leisten“ kann, „wenn es gelingt, die Schüler für andere Menschen, ihre Gefühle, Gewohnheiten, Wünsche und Lebensbedingungen zu interessieren“ (ebd. 28 ), erörtert Baumgratz-Gangl Ergebnisse der Sozialisationsforschung, insbesondere psychosoziale Faktoren der Subjektkonstitution, um zu bestimmen, welche Persönlichkeitsentwicklung bei Schülerinnen und Schülern gefördert werden muss, damit sie befähigt werden, sowohl die Herausforderungen transkultureller Mobilität (etwa Erfahrungen der Fremdheit und Entfremdung) zu meistern als auch die Chancen zum Lernen von und mit anderen selbstbewusst zu ergreifen. Der Tätigkeitstheorie von Galperin folgend skizziert Baumgratz-Gangl Dimensionen einer relationalen Sprach- und Landeskundedidaktik, die nicht primär das Ziel verfolgt, Wissen zu vermitteln, sondern auf die „Qualifizierung der Persönlichkeit für den zwischenmenschlichen Umgang mit Angehörigen der anderen Gesellschaft und Kultur, bzw. anderer Gesellschaften und Kulturen“ (ebd. 131 ) setzt. Das Gesamtarrangement des Unterrichts (das Ensemble von Themen, Texten und kommunikativen Situationen) berücksichtigt die persönlichen Erfahrungen der Lernenden; die Unterrichtsmethoden stärken ihre Risikobereitschaft und sensibilisieren für den Umgang mit Fremden. In Bamgratz-Gangls Lehr- und Lernkonzept spielen alle jene Situationen eine 3.2 Theoretische Forschung 47 Schlüsselrolle, die einen kommunikativen Ernstfall involvieren: die Klassenkorrespondenz, das Auslandspraktikum und der Schüleraustausch. 4 „Linguistik und Englischunterricht“ Das zweibändige Werk Werner Hüllens Linguistik und Englischunterricht (Hüllen 1971 , 1979 ) trägt den Untertitel „Didaktische Analysen“, die sich zum Ziel setzen, den fremdsprachlichen „Unterricht, wie er im praktischen Vollzug erfahren wird, durch theoretische Überlegungen konsistenter, verlässlicher, wohl auch besser und erfolgreicher zu machen“ (Hüllen 1971 : 7 ). Kontext für Hüllens Arbeiten sind zum einen die bildungspolitischen Umwälzungen, die sich in der 1965 beschlossenen Einführung der ersten Fremdsprache für alle Kinder ab der 5 . Klasse, also auch für die Hauptschüler, zeigten und deshalb neue Konzepte für das Lehren und Lernen von Fremdsprachen erforderlich machten, zum anderen die Theoriebildung in der Linguistik, insbesondere die Herausbildung der Angewandten Linguistik. Hüllen geht es um eine Klärung des Verhältnisses der verschiedenen Teilbereiche und Modelle der Sprachwissenschaft zu dem eigenständigen Handlungsbereich Fremdsprachenunterricht. Er erörtert didaktische Implikationen linguistischer Grundbegriffe (Sprache, Grammatik, Lexik, Semantik), diskutiert didaktische Leistungen linguistischer Modelle (Generative Transformationsgrammatik, Kontextualismus) und wendet sich dann vor allem den Implikationen der Pragmalinguistik zu, die zusammen mit der Fokussierung der Emanzipation als übergeordnetem Lernziel des Fremdsprachenunterrichts in der Phase der sogenannten Kommunikativen Wende die fachdidaktische Diskussion bestimmte. Zu welchen Ergebnissen linguistisch fundierte Planung von Englischunterricht führt und wie dabei Linguistik und Fachdidaktik zusammenwirken, wird für verschiedene Komplexe verdeutlicht (Passiv in einer didaktischen Grammatik, Nominalkomposita oder Ausspracheunterricht). Im Schlusskapitel des zweiten Bandes bilanziert Hüllen mit Rückblick auf mehr als ein Jahrzehnt Diskussion über das Verhältnis von Linguistik und Didaktik, dass die „hohen Erwartungen an eine didaktische Verwendbarkeit linguistischer Begriffe, Methoden und Erkenntnisse [. . .] zurückgenommen werden mussten“ ( 1976 : 141 ) und dass eine direkte Übernahme linguistischer Erkenntnisse und Analyseverfahren für den Fremdsprachenunterricht seinen besonderen Bedingungen nicht Rechnung tragen kann. Es sei Aufgabe der Fremdsprachendidaktik, ihre Möglichkeiten als praxisorientierte Wissenschaft interdisziplinär zu verorten und von einer solchen Perspektive ihre Forschungspraxis und damit zugleich das Verhältnis von Linguistik und Didaktik zu bestimmen ( 1976 : 151 ). 3.2.3 Theorie und Empirie Theoretische Forschung als Teil einer praxisorientierten Disziplin, einer Handlungswissenschaft, bezieht sich immer auch auf die Empirie, wie die hier erwähnten und skizzierten Beispiele zeigen. Ein solcher Bezug kann in mehrfacher Weise deutlich werden: Die Empirie kann diesen Studien entweder vorgelagert sein und geht als Bericht, als dokumentierte Erfahrung, als Erfahrung der Autorinnen und Autoren in die Überlegungen ein. Der Studie 48 3. Forschungstraditionen der Fremdsprachendidaktik von Klippel zum Lernspiel vorgelagert waren „viele anregende englische „Spielstunden“ mit Hauptschülern unterschiedlicher Klassenstufen“ (Klippel 1980 : 5 ); Hallets Textensembles (Hallet 2002 ) sind vor ihrer diskursiven Erörterung durch mehrjährige Erprobungen im eigenen Unterricht gegangen. Oder die Empirie ist den Studien nachgelagert und erscheint in der Form von Überprüfung oder Vergewisserung: Nach der umfassenden Bestimmung kreativer Verfahren im Umgang mit literarischen Texten befragt Caspari ( 1994 ) Berliner Französischlehrkräfte zum Einsatz und zur Bewertung eben dieser Verfahren. Ferner lassen Ergebnisse theoretischer Forschung die Empirie als anvisierte erscheinen. Sie manifestiert sich in Handlungsvorschlägen, Empfehlungen oder Angeboten von neuen Sichtweisen auf die Praxis, etwa in der Bestimmung und Begründung von Textauswahl und im Entwurf lerneraktivierender Aufgaben für zukünftigen Unterricht (Bredella 2002 ). Sie zeigt sich in der Konkretisierung intertextueller Unterrichtsmodelle (Hallet 2002 ), in Vorschlägen zur Nutzung transkultureller Begegnungen innerhalb und jenseits des Unterrichts (Baumgratz-Gangl 1990 ), in Ansätzen einer fremdsprachlichen Leselehre (Ehlers 1998 ) sowie im Erkennen und Auskundschaften von Spielräumen für Autonomie (Schmenk 2008 ). Dieser anvisierte Praxisbezug ist jedoch in keinem der Beispiele präskriptiv gemeint bzw. von dem Verständnis bestimmt, als zwingend aus der Theorie gewonnene Ableitungen für praktisches Handeln im Unterricht zu gelten. Die hier skizzierte theoretische Forschung versteht sich folglich auch nicht als Anwendungsdidaktik. Denn alle auf die Praxis bezogenen Erkenntnisse, zum Teil als Empfehlungen für das Handeln im Unterricht formuliert, bedürfen nicht nur der diskursiven Würdigung und Validierung derjenigen, die aus den unterschiedlichen Perspektiven ihrer jeweiligen Praxis (als Lehrende, als Verfasserinnen und Verfasser von Lehr- und Lernmaterial) auf solche Erkenntnisse zugreifen und dabei ihre Relevanz und Reichweite ausloten. Die Erkenntnisse verlangen auch nach empirischer Überprüfung. Ein besonderes Merkmal theoretischer Arbeiten besteht deshalb darin, dass sie Angebote zum Diskurs über zentrale Aspekte des Gegenstandsbereichs Lehren und Lernen von Fremdsprachen machen und zugleich Grundlage empirischer Forschung sein können. › Literatur Abendroth-Timmer, Dagmar (1998). Der Blick auf das andere Land. Ein Vergleich der Perspektiven in Deutsch-, Französisch- und Russischlehrwerken. Tübingen: Narr. Baumgratz-Gangl, Gisela ( 1990 ). 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Die Entwicklung einer fachdidaktischen Debatte. Augsburg: Universität Augsburg (= Augsburger I & I Schriften, Bd. 67). Will, Leo (2018). Authenticity in English Language Teaching. An Analysis of Academic Discourse . Münster: Waxmann. 3.3 Empirische Forschung Karen Schramm 3.3.1 Begriffsklärung Im Gegensatz zu historischer und theoretischer Forschung (s. Kap. 3.1 und 3.2 ) ist für die empirische Forschung charakteristisch, dass sie auf der datengeleiteten Untersuchung einer Forschungsfrage beruht. Riemer ( 2014 : 15 ) stellt in Anlehnung an einschlägige Arbeiten dazu fest, dass „[v]on empirischem Wissen […] - anders als im Fall von Allgemeinwissen und unsystematisch reflektiertem Erfahrungswissen - erst dann gesprochen werden [kann], wenn die allgemeinen Merkmale der Systematizität und Datenfundiertheit wissenschaftlicher Forschung eingehalten werden“. Diese für die jeweilige Untersuchung erfasste oder erhobene Datengrundlage (s. Kap. 5.2 ) kann unterschiedlich umfangreich sein, sodass sich empirische Forschung auf einem Kontinuum von Erfahrungsberichten über explorative und deskriptive Studien bis hin zu explanativen Studien beschreiben lässt. Eine erste Stufe der Empirie stellen Erfahrungsberichte dar. Als fremdsprachendidaktische Beispiele kann u. a. auf Rattunde ( 1990 ), Minuth ( 1996 ) oder Wernsing ( 1995 ) verwiesen werden, die über Unterrichtserfahrungen berichten und auf dieser Grundlage methodische Handlungsempfehlungen entwickeln. Für den Bereich der Projektarbeit zeigt Peuschel ( 2012 : 13 - 17 ) als Grundlage ihrer eigenen Studie in ihrem Literaturbericht beispielsweise auf, dass bisherige Forschungen zu diesem Thema weitestgehend auf der Stufe von Erfahrungsberichten angesiedelt sind. Blickt man auf die Entwicklung der empirischen Forschung in der Fremdsprachendidaktik zurück, so ist auch bemerkenswert, dass uns bereits aus früheren Jahrhunderten einige empirische Arbeiten der Fremdsprachendidaktik zugänglich sind, die sich in der Regel auf dieser ersten Stufe der Empirie bewegen (s. Kap. 3 und 3 . 1 ). Als zweite Stufe der Empirie zielen explorative Studien auf die Erkundung eines Untersuchungsgegenstands ab, der bisher kaum erforscht ist. In der Regel ist es Ziel solcher explorativen Studien, Hypothesen über einen bisher wenig erforschten Untersuchungs- 3.3 Empirische Forschung 51 gegenstand zu generieren. Zahlreiche der in Kapitel 7 unter methodisch-methodologischer Perspektive vorgestellten - und an vielen Stellen dieses Handbuchs illustrativ aufgegriffenen - Referenzarbeiten liefern Beispiele für solche gewinnbringenden Explorationen: Arras ( 2007 ) zu Leistungsbeurteilungen, Ehrenreich ( 2004 ) zum ausbildungsbiographischen Ertrag eines assistant -Jahres, Hochstetter ( 2011 ) zur diagnostischen Kompetenz von Englischlehrpersonen in der Grundschule, Schart ( 2003 ) zur Perspektive von Lehrenden auf Projektunterricht und Schmidt ( 2007 ) zum gemeinsamen Lernen mit Selbstlernsoftware. Auf einer dritten Stufe lassen sich deskriptive Studien einordnen, die genaue Beschreibungen von Phänomenen vornehmen, die bereits in Vorgängerstudien exploriert wurden. Die Referenzarbeit von Özkul ( 2011 ) illustriert den Fall einer Fragebogenstudie, die aufgrund von quantitativen Daten zu statistischen Aussagen (und zwar über Berufs- und Studienfachwahlmotive) gelangt; die Referenzarbeit von Schwab ( 2009 ) dagegen zeigt den Fall einer konversationsanalytischen Videostudie, die aufgrund von qualitativen Daten interpretative Aussagen (und zwar über Partizipationsmöglichkeiten von Schüler*innen im Plenumgsgespräch) trifft. Auf einer vierten Stufe der Empirie bewegen sich explanative Studien, die auf die Erforschung kausaler Zusammenhänge abzielen. Hierbei steht die Überprüfung von Hypothesen, die zu einem extensiv explorierten und deskriptiv erforschten Untersuchungsgegenstand zum Zeitpunkt der Studie bestehen, im Zentrum der Forschungsanstrengung. Der Wunsch, über die Deskription von Fremdsprachenunterricht hinauszugehen und auch explanative Studien durchzuführen, ist in der Fremdsprachendidaktik spätestens nach Erscheinen des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens (Europarat 2001 ) und dem Erstarken der Kompetenzorientierung deutlich erkennbar. Die (quasi-)experimentellen Interventionsstudien zum Hörverstehen im Deutschen als Tertiärsprache von Marx ( 2005 ) und zu Effekten extensiven Lesens im Fremdsprachenunterricht von Biebricher ( 2008 ) illustrieren als Referenzarbeiten dieses Handbuchs, dass auch Dissertationen, die nicht in größere Verbundprojekte eingebunden sind, fundierte Aussagen über Ursache und Wirkung treffen können; oft nutzen explanative Qualifikationsarbeiten aber auch Synergieeffekte aus kooperativen, teils standortübergreifenden Projekten für Einzelstudien. Die folgenden Abschnitte geben einen einführenden Überblick über prototypische Designs fremdsprachendidaktischer Empirie (s. 3 . 3 . 2 ). Dabei findet einerseits die statistische Auswertung quantitativer Daten (s. 3 . 3 . 3 ) und andererseits die interpretative Auswertung qualitativer Daten besondere Berücksichtigung (s. 3 . 3 . 4 ). Auch die komplexen Kombinationsmöglichkeiten dieser Vorgehensweisen in Studien, die als mixed methods bezeichnet werden, sollen kurz angerissen werden (s. 3 . 3 . 5 ). 3.3.2 Quantitatives und qualitatives Paradigma In der Regel werden das qualitative und das quantitative Forschungsparadigma als zwei sich gegenüber stehende empirische Arbeitsweisen charakterisiert, die sich bezüglich des Erhebungskontextes, der erhobenen Daten, der Auswertungsmethoden und der dahinterliegenden Wissenschaftstheorie diametral unterscheiden (s. Kap. 2 ). 52 3. Forschungstraditionen der Fremdsprachendidaktik Als Prototyp quantitativer Forschung gilt das Experiment. Für dessen quantitative Natur ist die Tatsache charakteristisch, dass es im Labor, also nicht im natürlichen Kontext, und damit unter streng kontrollierten Bedingungen durchgeführt wird. Bei den in Experimenten erhobenen Daten handelt es sich typischerweise um Messwerte (z. B. um Reaktionszeitmessungen oder Test-Werte), die mithilfe statistischer Verfahren ausgewertet werden. Experimentelle Forschung basiert auf der wissenschaftstheoretischen Position des Rationalismus, nach der in einem hypothesentestenden Verfahren eine objektive bzw. universalgültige Wahrheit aus der Außenperspektive von Forscher*innen, einer sogenannten etischen Perspektive, beschrieben werden soll (s. Kap. 2 ). Als Prototyp qualitativer Forschung gilt hingegen die Ethnographie, bei der die Daten mittels teilnehmender Beobachtung im natürlichen Kontext und damit unter hochgradig unkontrollierten Bedingungen gesammelt werden. Diese Daten werden zu Zwecken der Hypothesengenerierung mithilfe interpretativer Verfahren ausgewertet, wobei eine emische Perspektive verfolgt wird, d. h. dass Forschende die Innenansicht der Forschungspartner*innen analytisch herausarbeiten. Wissenschaftstheoretisch basiert diese Vorgehensweise auf dem Relativismus, der der rationalistischen Vorstellung einer universalgültigen Wahrheit das Konzept (sozio-)kulturell geprägter bzw. kontextgebundener Wahrheiten entgegensetzt (s. Kap. 2 ). Grotjahn ( 1987 ) hat in einem auf die deutschsprachige Fremdsprachendidaktik sehr einflussreichen Beitrag bereits in den 80 er Jahren verdeutlicht, dass diese simple Gegenüberstellung von zwei Prototypen den vielen denkbaren Varianten empirischer Forschungsdesigns nicht gerecht wird. Er unterscheidet neben diesen beiden „Reinformen“ (Grotjahn 1987 : 59 ) des explorativ-interpretativen und des analytisch-nomologischen Paradigmas sechs weitere „Mischformen“ (ebd.), die sich aus den möglichen Kombinationen der drei Aspekte (a) (quasi-) experimentelles vs. nicht-experimentelles Design, (b) quantitative vs. qualitative Daten und (c) statistische vs. interpretative Auswertung ergeben: Beispielsweise ist es möglich, im Feld metrische Werte zu erheben und statistisch auszuwerten oder im Labor verbale Daten zu erheben, die interpretativ ausgewertet werden. Somit wird deutlich, dass empirische Designs nicht immer eindeutig einem paradigmatischen Prototypen zugeordnet werden können, sondern dass sich eine Vielzahl von durch das Erkenntnisinteresse geleiteten grundlegenden Design-Möglichkeiten ergibt. 3.3.3 Quantitative Daten und statistische Auswertungen Zur fremdsprachdidaktischen Illustration des analytisch-nomologischen s können die Referenzarbeit von Marx ( 2005 ) als Forschungsleistung einer Einzelperson und die DESI-Studie als Forschungsleistung eines umfassenden Verbundes dienen. In der Untersuchung von Marx ( 2005 ) zu Hörverstehensleistungen im Deutschen als Tertiärsprache handelt es sich um ein Experiment, bei dem Lernende im Bereich Deutsch als Fremdsprache nach Englisch (DaFnE) auf der Grundlage von Eingangstests und Fragebögen mit dem Ziel einer Balancierung von Kontroll- und Experimentalgruppe auf zwei parallele Nullanfängerkurse verteilt wurden. Oft steht die Verteilung von Proband*innen auf unterschiedliche Kurse nicht im Einflussbereich der Forschenden, sodass bei Experi- 3.3 Empirische Forschung 53 menten, die im Feld durchgeführt werden, i. d. R. mit bestehenden Parallelgruppen in einem sogenannten Quasi-Experiment gearbeitet wird. In solchen Fällen stellt sich dann die Frage der Vergleichbarkeit der Gruppen, die häufig in Paarvergleichen abgesichert werden soll. In der Studie von Marx ( 2005 ) handelt es sich jedoch nicht um ein Quasi-Experiment, sondern tatsächlich um ein Experiment, bei dem die Gruppen gezielt nach bestimmten Überlegungen in vergleichbarer Weise zusammengesetzt wurden. Anders als in der oben beschriebenen Reinform des analytisch-nomologischen Paradigmas wurden dabei jedoch nicht für das Experiment charakteristische Messwerte erhoben, sondern Daten aus Hörverstehensaufgaben und retrospektive Erklärungen zu den von Lernenden wahrgenommenen Gründen für erfolgreiches Verstehen, die beide für die Zwecke einer statistischen Auswertung mittels Mann-Whitney-U-Test und MANOVA (s. Kap. 5.3.11-12 ) erst in Zahlenwerte überführt werden mussten (s. dazu die Darstellung der Referenzarbeit in Kap. 7 ). 4 Ein zweites Beispiel aus dem Bereich der Fremdsprachendidaktik ist die DESI -Studie (Deutsch-Englisch-Schülerleistungen-International). Sie zielte darauf ab, den Leistungsstand in Deutschland, Österreich und der Schweiz in den Fächern Deutsch und Englisch zu erfassen und zur Verbesserung von Curricula, Lehrmaterialien, Aus- und Weiterbildung von Lehrpersonen und Unterrichtsgestaltung in diesen beiden Fächern beizutragen: In einem interdisziplinären Team aus Bildungsforscher*innen und Fachdidaktiker*innen wurden dazu ca. 11000 Schüler*innen der neunten Klasse aller Schularten befragt und zu zwei Zeitpunkten getestet sowie neben Videoaufnahmen des Unterrichts auch Befragungen mit Lehrpersonen, Eltern und Schulleitungen durchgeführt (Klieme 2008 ). Zur Kurz-Illustration des Umfangs dieser Art von empirischer Großuntersuchung sei als eine der vielen DESI -Teilstudien die Videostudie des Englischunterrichts (Helmke et al. 2008 ) herausgegriffen, die Aufnahmen, Transkripte, Basiskodierungen und Beurteilungen der Unterrichtsqualität von 105 Englischstunden beinhaltet. Auf dieser Grundlage konnten u. a. quantitative Aussagen zu einer Reihe von Aspekten des untersuchten Englischunterrichts (z. B. verwendete Unterrichtssprache, Sprechanteile von Lehrpersonen und Schüler*innen, Art und Länge der Schüleräußerungen, Fehlerkorrektur und Wartezeit) sowie auch Zusammenhänge dieser Unterrichtsmerkmale mit anderen Variablen wie Schülerleistungen (z. B. in einem C-Test oder Hörverstehenstest) herausgearbeitet werden. 3.3.4 Qualitative Daten und interpretative Auswertungen Als fremdsprachendidaktische Beispiele für den Gegenpol, das explorativ-interpretative Paradigma, sollen hier die Dissertation von Haider ( 2010 ) zu Sprachbedürfnissen von Pfleger*innen mit Deutsch als Zweitsprache und die umfangreiche Studie zur mündlichen Fehlerkorrektur im Italienisch- und Spanischunterricht von Kleppin & Königs ( 1991 ) dienen. Haiders ( 2010 ) Untersuchung ist im Themenfeld Deutsch für den Beruf angesiedelt und wird von der Autorin selbst im Titel als kritische Sprachbedarfserhebung charakterisiert. Mithilfe von Erhebungsmethoden wie job-shadowing , also der Begleitung der Forschungs- 4 Es sei angemerkt, dass diese quantifizierten Daten wiederum um qualitative, interpretativ ausgewertete Daten (Fragebögen zum Unterricht) ergänzt wurden. 54 3. Forschungstraditionen der Fremdsprachendidaktik partner*innen im Arbeitsalltag, und insbesondere auf der Grundlage von 13 halbstandardisierten, interpretativ ausgewerteten Interviews arbeitet die Forscherin heraus, welchen sprachlichen Herausforderungen Gesundheits- und Krankenpfleger*innen in Österreich, die Deutsch als Zweitsprache erwerben, sich bei ihrer Berufstätigkeit ausgesetzt sehen. Charakteristisch für das explorativ-interpretative Paradigma ist u. a. ihre Zielsetzung, die Innenperspektive des Pflegepersonals zu erfassen: Im Gegensatz zu klassischen Bedarfsanalysen, die stärker die Außenperspektive einnehmen und beispielsweise Anforderungen des Arbeitsmarktes ins Zentrum der Untersuchung stellen, ist diese Studie der emischen Perspektive zuzuordnen. Anhand der Schilderungen des Berufseinstiegs will die Autorin sprachliche Probleme der Berufspraxis aufzeigen, die die Betroffenen selbst als relevant erleben; diese sollen als Grundlage für berufsorientierte Deutschkurse dienen - und letztlich will die Autorin damit auch in einem politisch-kritischen Sinn Mängel im System von Pflegeeinrichtungen mit Bezug auf Spracherwerbsmöglichkeiten offenlegen und auf deren Behebung drängen. Die umfassende Studie von Kleppin/ Königs ( 1991 ), in der sie „[d]er Korrektur auf der Spur“ sind - so der Titel -, kann als vergleichsweise früher Meilenstein fremdsprachendidaktischer Empirie bezeichnet werden. Das untersuchte Datenkorpus besteht aus 97 videografierten Stunden Spanisch-Unterricht und 91 videografierten Stunden Italienisch- Unterricht; weiterhin wurden auch zwölf flankierende Lehrpersoneninterviews ausgewertet. Ergänzend wurden „zu einem Teil der Unterrichtsaufzeichnungen“ (Kleppin/ Königs 1991 : 107 ) Daten nachträglichen Lauten Denkens als „unterrichtskommentierende Daten“ (ebd.) erhoben. Auch fokussierte Interviews und ein in elf Klassen verteilter und von 198 Lernenden ausgefüllter Fragebogen waren Grundlage der Analysen. Die Autor*innen erläutern, dass sie die an einem Datensatz gewonnenen Interpretationen an einem anderen Datensatz zu bestätigen gesucht haben, um die Reichweite der jeweiligen Interpretation zu erhöhen bzw. um bei Nicht-Bestätigung entsprechend vorsichtig mit der Interpretation umzugehen (Kleppin/ Königs 1991 : 117 ). Zentrale Aspekte der Auswertung betreffen die linguistisch basierte Fehlerkodierung und -auszählung nach Unterrichtsphasen, die diskursanalytische Auswertung von Initiation der Korrektursequenz, Reaktion auf Initiationen, Korrekturen und ihrer Art und Weise sowie von Reaktionen und Nachreaktionen auf die Korrekturen. Für 16 Unterrichtsstunden nehmen die Autor*innen detaillierte Quantifizierungen dieser Aspekte vor; darüber hinaus präsentieren sie Befunde zu den subjektiven Theorien der Lehrpersonen und zu Schülerwünschen und -erwartungen hinsichtlich der mündlichen Fehlerkorrektur. Die Autor*innen ordnen diese frühe, beeindruckende Videostudie des Fremdsprachenunterrichts explizit der explorativ-interpretativen Forschungsrichtung zu (ebd.) und dementsprechend würdigt Henrici ( 1992 : 250 ) in seiner Rezension - neben vielen anderen Aspekten - auch „die vorsichtig zurückhaltende Darstellung der Ergebnisse, die dem verwendeten Paradigma und dessen Ansprüchen gerecht wird“. 3.3 Empirische Forschung 55 3.3.5 Mixed methods Unter dem Begriff mixed methods ist die Möglichkeit der Kombination von Verfahren aus dem sogenannten qualitativen und quantitativen Paradigma (s. 3.3.2 ) diskutiert worden und nach anfänglichen Zweifeln bezüglich der grundsätzlichen Vereinbarkeit von Ansätzen, die auf wissenschaftstheoretisch so unterschiedlichen Grundannahmen basieren (s. Kap. 2 ), doch das besondere Potenzial einer solchen Verknüpfung betont worden (einführend - allerdings ohne fremdsprachendidaktischen Bezug - s. Kuckartz 2014 ). Dabei lassen sich in Anlehnung an Ivankova/ Creswell ( 2009 : 138 ) zur methodologischen Einordnung von mixed-methods -Studien die Aspekte (a) zeitliche Anordnung ( timing ), (b) Gewichtung ( weighting ) und (c) Mischung ( mixing ) qualitativer und quantitativer Verfahren unterscheiden (vgl. auch Riazi/ Candlin 2014 : 146 - 149 ). Mit dem ersten Begriff der zeitlichen Anordnung ist gemeint, dass eine qualitative und eine quantitative Teilstudie entweder sequentiell zeitlich aufeinander folgen (qualitativ → quantitativ oder quantitativ → qualitativ) oder dass sie gleichzeitig durchgeführt werden können (qualitativ + quantitativ). Der zweite Begriff der Gewichtung zielt darauf ab, die Bedeutung der qualitativen und der quantitativen Anteile der Studie zueinander in Beziehung setzen: Sind beide gleichgewichtet ( QUAL , QUAN ), ist der qualitative Anteil höher einzuschätzen (QUAL, quan) oder ist der quantitative Anteil stärker gewichtet (qual, QUAN )? Schließlich bezieht sich der dritte Begriff des Mischens auf die Forschungsphase, in der die qualitativen und quantitativen Anteile miteinander in Beziehung gesetzt werden; dies kann in der Phase der Erhebung, der Auswertung oder der Interpretation der Ergebnisse geschehen. Im Hinblick auf den letztgenannten Aspekt ist in der mixed-methods- Diskussion von einigen Forschenden die weitreichende Forderung vertreten worden, dass die Mischung alle Phasen des Forschungsprozesses betreffen müsse; auf diesen rigorosen Fall bezieht sich der Begriff mixed models . Auf der Grundlage der Kriterien zeitlicher Anordnung, Gewichtung und Mischung lassen sich in Anlehnung an Kuckartz ( 2014 ) folgende vier mixed-methods -Designs unterscheiden: • Vertiefungsdesign (auch: explanatory design ): Es ist sequenziell angeordnet und die Studie schreitet vom Quantitativen zum Qualitativen voran ( QUAN → qual, quan → QUAL , QUAN → QUAL ). Die qualitativen Befunde der zweiten Teilstudie dienen dazu, die quantitativen Befunde der ersten Teilstudie vertiefend zu erklären. Beispielsweise könnte auf der Grundlage bestehender Forschungsergebnisse zunächst eine umfassende Fragebogenstudie erfolgen und im zweiten Schritt könnten überraschende Befunde in einer Interviewstudie zu Einzelfällen genauer beleuchtet werden. • Verallgemeinerungsdesign (auch: exploratory design ): Es ist ebenfalls sequenziell, aber bei diesem Design ist die qualitative Forschung der quantitativen vorgeschaltet ( QUAL → quan, qual → QUAN , QUAL → QUAN ). Dies ist beispielsweise der Fall, wenn zunächst in explorativer Absicht eine Studie einzelner Fälle durchgeführt und auf der Grundlage dieser Exploration dann ein Fragebogen entwickelt und bei einer weitreichenderen Stichprobe eingesetzt wird. Die quantitative Teilstudie dient dabei dem Ziel, 56 3. Forschungstraditionen der Fremdsprachendidaktik die qualitativen Befunde zu verallgemeinern oder Zahlenangaben über einzelne Aspekte der qualitativen Befunde zu erhalten. • Das parallele Design (auch: triangulatory design ): Es handelt sich nicht um ein sequenzielles Design, sondern um eins, das auf der Gleichzeitigkeit bzw. Parallelität einer qualitativen und einer quantitativen Teilstudie beruht ( QUAL + quan, qual + QUAN , QUAL + QUAN ). Hierbei bauen die Teilstudien nicht aufeinander auf, sondern sie werden unabhängig voneinander durchgeführt und erst danach werden beim Mixing die parallelen Ergebnisse und Schlussfolgerungen miteinander verglichen oder kontrastiert. Der aus beiden Teilstudien integrierte Forschungsbericht soll somit möglichst gut validierte Forschungsergebnisse erbringen. • Das Transferdesign (auch: embedded design ): Es zeichnet sich dadurch aus, dass entweder qualitative Daten quantifiziert werden (wenn beispielsweise bei einer qualitativen Inhaltsanalyse Kodierungen ausgezählt werden) oder dass quantitative Daten qualifiziert werden (wenn beispielsweise nach einer Zeitmessung die metrischen Daten in verbale Angaben oder Kategorien überführt werden). Als Beispiel für eine zweitsprachdidaktische mixed-methods -Studie sei an dieser Stelle die Arbeit von Ricart Brede ( 2011 ) zur Sprachförderung in Kindertagesstätten kurz vorgestellt. Es handelt sich um zwei sequentielle Teilstudien, die in einer groben Annäherung dem Vertiefungsdesign (quan → QUAL ) zugeordnet werden können. In der ersten Teilstudie nimmt die Forscherin niedrigbis mittelinferente Kodierungen von 48 Videoaufnahmen von Sprachfördereinheiten vor. Dabei werden Aktivitäten (wie Begrüßung/ Verabschiedung, Organisatorisches, Aufgabe mit bzw. ohne Spielcharakter, motorisch bestimmte Tätigkeit, Lied/ Vers, Arbeit mit Text/ Bild, mündliche Kommunikation und Sonstiges), Sozialformen (Gesamtgruppe-Dialog, Gesamtgruppe-Monolog, Partner-/ Kleingruppenarbeit und Einzelarbeit) sowie auch Sprachbereiche (phonologische Bewusstheit, Wortschatz, Grammatik, Gespräch, Erklären, Erzählen, Vorlesen/ Rezitieren) kodiert (s. Ricart Brede 2011 : 124 ). In dieser ersten Teilstudie kann die Forscherin u. a. den chronologischen Ablauf einer typischen Sprachfördereinheit herausarbeiten. Für die zweite Teilstudie erfolgt aus den 625 auf diese Weise gebildeten Handlungssequenzen eine Stichprobenziehung von 40 Sequenzen, die einer hochinferenten (also stärker interpretativen) Analyse in Bezug auf bestimmte Qualitätsmerkmale von Sprachförderung wie sprachlicher Input der Sprachförderperson (z. B. Äußerungsfunktionen oder Umgang mit Fehlern), Intake der Kinder (z. B. Aufmerksamkeit) und sprachlicher Output der Kinder (z. B. Komplexität der Äußerungen) unterzogen werden. Mit Blick auf den mixed-methods -Charakter dieser Studie ist weiterhin anzumerken, dass diese Untersuchung in beiden Teilstudien mit der Quantifizierung von qualitativen (genauer gesagt videographischen) Interaktionsdaten arbeitet, sodass beide Teilstudien jeweils auch ein Transferdesign beinhalten. Dieser kurze Überblick deutet die vielfältigen Möglichkeiten an, die sich für fremdsprachendidaktische mixed-methods -Designs aus den unterschiedlichen Kombinationen von zeitlicher Anordnung, Gewichtung und Mischung ergeben. Zentrale Bedeutung hat bei Entscheidungen auf Designebene die Forschungsfrage, die vor dem Hintergrund des erreichten Forschungsstands in einem (oder an der Schnittstelle mehrerer) Forschungsfeld(er) formuliert wurde. Gerade bei Qualifikationsarbeiten und bei begrenzten Ressour- 3.3 Empirische Forschung 57 cen sollte die Vielfalt der Möglichkeiten aber keinesfalls dazu verleiten, das Design allzu komplex zu gestalten. 3.3.6 Fazit und Ausblick Zusammenfassend ist festzuhalten, dass eine breitere methodologische Diskussion zu empirischen Fragen in der Fremdsprachendidaktik ab den 90 er Jahren zu beobachten ist, in der die Erfahrungen mit empirischer Forschung in wichtigen Bezugsdisziplinen verstärkt zur Kenntnis genommen werden. In der Auseinandersetzung mit diesen beginnt die Fremdsprachendidaktik in dieser Zeit verstärkt, erfolgreich um die Eigenständigkeit fremdsprachendidaktischer Forschung zu ringen (z. B. Müller-Hartmann/ Schocker-von Ditfurth 2001 ). Trotz zahlreicher wichtiger Studien, die auf quantitativen Daten und statistischen Auswertungen beruhen, haben die Erhebung von qualitativen Daten und deren interpretative Auswertung in der fremdsprachendidaktischen Empirie bisher deutlich mehr Aufmerksamkeit erfahren. Dies bedeutet mit Blick auf die Ausbildung von Nachwuchsforscher*innen für die Fremdsprachendidaktik zweifellos eine Herausforderung, die ebenfalls für die Weiterentwicklung des mixed-methods- Zugangs grundlegend ist. Das aktuelle Interesse der Fremdsprachendidaktik bzw. ihre intensive Beschäftigung mit empirischen Forschungsmethoden zeigt sich - nicht zuletzt im Zusammenhang mit der Verankerung entsprechender Ausbildungsangebote der Fremdsprachendidaktik im Zuge der mit der Bologna-Reform verbundenen Revision der entsprechenden Studiengänge - auch in zahlreichen aktuellen Publikationen zur Methodenlehre (s. die Einführungen von Doff 2012 und Settinieri et al. 2014 oder die Sammelbände mit spezifischerem Fokus von Aguado/ Schramm/ Vollmer 2010 und Aguado/ Heine/ Schramm 2013 ). › Literatur Forschungsarbeiten, in denen die hier erläuterten Verfahren angewendet werden, sind mit einem Sternchen markiert. Aguado, Karin/ Heine, Lena/ Schramm, Karen (Hg.) (2013). Introspektive Verfahren und Qualitative Inhaltsanalyse in der Fremdsprachenforschung . Frankfurt a. M.: Peter Lang. Aguado, Karin/ Schramm, Karen/ Vollmer, Helmut Johannes (Hg.) (2010). Fremdsprachliches Handeln beobachten, messen, evaluieren. Neue methodische Ansätze der Kompetenzforschung und der Videographie. Frankfurt a. M.: Peter Lang. *Arras, Ulrike (2007). Wie beurteilen wir Leistung in der Fremdsprache? Strategien und Prozesse bei der Beurteilung schriftlicher Leistungen in der Fremdsprache am Beispiel der Prüfung „Test Deutsch als Fremdsprache“ (TestDaF). Tübingen: Narr. [Referenzarbeit, s. Kap. 7] *Biebricher, Christine (2008). Lesen in der Fremdsprache. Eine Studie zu Effekten extensiven Lesens. Tübingen: Narr. [Referenzarbeit, s. Kap. 7] Doff, Sabine (Hg.) (2012). Fremdsprachenunterricht empirisch erforschen. Grundlagen - Methoden - Anwendung. Tübingen: Narr. 58 3. Forschungstraditionen der Fremdsprachendidaktik *Ehrenreich, Susanne (2004). Auslandsaufenthalt und Fremdsprachenlehrerbildung. Eine qualitative Interviewstudie zum ausbildungsbiographischen Ertrag des assistant-Jahres . München: Langenscheidt. [Referenzarbeit, s. Kap. 7] Europarat/ Rat für kulturelle Zusammenarbeit (2001). 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Dieser einführende Sammelband liefert Empirie-Noviz*innen hilfreiche Hinweise zu Vorüberlegungen zu einem Forschungsprojekt, zu Untersuchungsdesigns, zur Datenerhebung und -analyse. Zur Illustration und Vertiefung werden zahlreiche Erhebungs- und Analyseverfahren jeweils anhand eines Qualifikationsprojekts konkret im Zusammenhang mit Forschungsfrage und Design thematisiert. Settinieri, Julia/ Demirkaya, Sevilen/ Feldmeier, Alexis/ Gültekin-Karakoç, Nazan/ Riemer, Claudia (Hg.) ( 2014 ). Empirische Forschungsmethoden für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. München: Fink/ Schöningh. Diese Einführung ist zwar spezifisch auf das Fach Deutsch als Fremd- und Zweitsprache bezogen, bietet jedoch zweifellos auch Leser*innen anderer fremdsprachendidaktischer Fächer einen verständlich geschriebenen, höchst lohnenswerten Einstieg in empirische Erhebungs- und Auswertungsmethoden. Auf Designebene werden insbesondere die Themen Methodologie, Gütekriterien, Triangulation und Planung empirischer Studien thematisiert. 4. Forschungsentscheidungen Karen Schramm Ist eine grundsätzliche Entscheidung dahingehend gefallen, in welcher Forschungstradition (s. Kap. 3 ) die eigene geplante Studie verortet werden soll, sind zahlreiche Überlegungen zur Anlage der Studie auf der Makroebene zu treffen. Wichtige Aspekte solcher Makroentscheidungen werden in diesem Kapitel thematisiert, während das darauffolgende Kapitel 5 die nachgeordneten Entscheidungen auf der Ebene der Gewinnung von Dokumenten, Texten und Daten sowie auch auf der Ebene von deren Aufbereitung und Analyse beleuchtet. In der empirischen Forschung steht auf der Makroebene das zielgerichtete Zusammenspiel von Forschungsfrage und Auswahl des Erhebungskontexts, von Datentyp(en) sowie auch von Aufbereitungs- und Auswertungsverfahren im Zentrum der Überlegungen, während Fragen auf der Mikroebene spezifischer auf Entscheidungen in Bezug auf Einzelaspekte der Erhebung oder der Aufbereitung und Analyse bezogen sind. Dabei ist zu berücksichtigen, dass ein Wechselspiel der Entscheidungen auf beiden Ebenen nicht nur unvermeidbar, sondern sinnvoll und gewinnbringend ist. Die Notwendigkeit, Entscheidungen beim Entwurf der eigenen Studie vielfach zu überdenken und zu verfeinern, sollte von Forschungsnoviz*innen deshalb keinesfalls als persönliches Scheitern, sondern als erfolgreiche Ausdifferenzierung eines Designs zur Beantwortung der Forschungsfrage gedeutet werden, das in einem anspruchsvollen - und dementsprechend auch anstrengenden - Prozess des Nachdenkens immer weiter an Gestalt und Qualität gewinnt. Auch Arbeiten in historischer oder theoretischer Tradition sind durch dasselbe Wechselspiel von Entscheidungen auf unterschiedlichen Ebenen betroffen. Dementsprechend haben auch bei solchen Studien viele Entscheidungen auf der Mikroebene, die in Kapitel 5 angesprochen werden, Rückwirkungen auf die Makroentscheidungen. Das Kapitel 4 . 1 zur Grundlage der eigenen Forschungsarbeit ist stark mit der Entscheidung für eine bestimmte Forschungstradition verknüpft. Hier ist eine (zunächst vorläufige) Weichenstellung bezüglich der Frage vorzunehmen, ob bzw. welche Daten, Dokumente oder Texte grundsätzlich dazu geeignet sind, der Forschungsfrage nachzugehen. Hieran schließen sich Entscheidungen für einen grob skizzierten Gang der Untersuchung bzw. im Fall von empirischen Studien für einen Design-Entwurf an. In Kapitel 3 wurden für die verschiedenen Forschungstraditionen charakteristische Vorgehensweisen bereits kurz angesprochen; diese gilt es für die eigenen Zielsetzungen genau zu prüfen, zu adaptieren und kreativ zu gestalten. Zu diesem Zweck stehen auch bestimmte etablierte Untersuchungsformen bereit, die - oft im Rahmen spezifischer Forschungsfelder oder theoretischer Schulen - gewissermaßen fest gefügte Ensembles von Makroentscheidungen als Substrat vorangegangener Untersuchungsentwürfe für das eigene forscherische 62 4. Forschungsentscheidungen Handeln zur Verfügung stellen (s. dazu Kap. 4 . 2 ). In Bezug auf solche Design-Vorlagen auf Makroebene wie beispielsweise die Fallstudie, die Aktionsforschung und das Forschungsprogramm Subjektive Theorien ist zu betonen, dass sie - wie jeder andere Projektentwurf auch - vor dem Hintergrund der Forschungsfrage als mögliche Handlungsoption kritisch zu hinterfragen und gegenstandsadäquat auszugestalten (sowie den Leser*innen explizit zu begründen) sind. Solche Makroentscheidungen können selbstverständlich nur in Abhängigkeit vom jeweiligen Forschungsstand getroffen werden. In besonderer Weise gilt dies für zwei Sonderfälle: die Entscheidung für eine Meta-Analyse oder für eine Replikationsstudie, welche beide in Kapitel 4 . 5 unter der Metapher des zweiten Blicks behandelt werden. Bei Metaanalysen ist ein sehr umfänglicher empirischer Forschungsstand vonnöten, damit auf dieser Grundlage eine Synthese der unterschiedlichen Befunde mithilfe statistischer Verfahren durchgeführt werden kann. Dabei wird gewissermaßen aus den Mosaiksteinchen zahlreicher Einzelstudien ein Gesamtbild zusammengesetzt. Die Replikationsstudie ist dagegen eher angezeigt, wenn bisher noch wenige Erkenntnisse bzw. gesicherte Befunde bezüglich eines Untersuchungsgegenstands vorliegen und aus diesem Grund ein bestimmtes Design in einen anderen Kontext transferiert bzw. dort erneut oder in vergleichbarer Form durchgeführt wird. Spezielle Spielarten der vielfältigen Erscheinungsformen empirischer Forschung sind nicht nur durch die in Kapitel 3 . 3 thematisierte Frage von Rein- und Mischformen von Designs bestimmt, sondern ergeben sich auch aus verschiedenen Formen der Triangulation. Kapitel 4 . 4 stellt einführend die vielfältigen Entscheidungsalternativen in Bezug auf Daten-, Methoden-, Forscher*innen- und Theorientriangulation vor. Unter dem Titel Sampling bietet Kapitel 4 . 3 zahlreiche Denkanstöße zu Auswahlentscheidungen an, die vor allem die Forschungspartner*innen bzw. die Stichprobenziehung betreffen. Sampling beinhaltet darüber hinaus durchaus aber auch weitere Selektionsprozesse, z. B. in Bezug auf die Vertiefung der Analyse bestimmter Datensätze oder die Präsentation ausgewählter Beispiele. An das Ende von Kapitel 4 zu den Makroentscheidungen haben wir das Ethikkapitel 4 . 6 gestellt, das das vorausschauende Abwägen bestimmter Handlungsalternativen unter Berücksichtigung des Schutzes der Forschungspartner*innen oder anderer Personen, Institutionen oder des Fachs sowie auch den reflektierten Umgang mit ethischen Dilemmata ergründet. Viele der hier angesprochenen Fragen, beispielsweise die Anonymität der Forschungspartner*innen oder die Frage des Feldzugangs, betreffen zwar die Datenerhebung und könnten damit auch der Mikroebene zugeordet werden; doch reichen die ethischen Entscheidungen auch in andere Phasen des Forschungsprozesses hinein (z. B. die kommunikative Validierung oder die Präsentation der Ergebnisse), sodass es stringent erscheint, sie an dieser Stelle im Verbund mit den anderen Entscheidungen auf Makroebene anzusprechen. 4.1 Texte, Daten und Dokumente als Forschungsgrundlage 63 4.1 Texte, Daten und Dokumente als Forschungsgrundlage Michael K. Legutke Ziel des folgenden Beitrags ist es, drei Schlüsselbegriffe zu bestimmen, deren Bedeutung in der Forschungsliteratur selten geklärt, sondern anscheinend als allgemein bekannt vorausgesetzt wird. Mit diesen Begriffen werden in der fremdsprachendidaktischen Forschung die Belege bezeichnet, die ihr als Forschungsgrundlage dienen. Während Daten nur in der empirischen Forschung Verwendung finden, sind Texte und Dokumente für alle drei Forschungstraditionen von Bedeutung: für die historische, die theoretische und die empirische Forschung (s. Kap. 3 ). 4.1.1 Texte als Forschungsgrundlage Unabhängig davon, welcher Forschungstradition oder welchem Forschungsparadigma der Forscher oder die Forscherin verpflichtet ist, sie/ er wird auf jeden Fall (meist zu Beginn der Arbeit) das Vorhaben im wissenschaftlichen fremdsprachendidaktischen Diskurs verorten und dabei oftmals nicht nur einen Literaturbericht liefern (s. Kap. 6 . 3 ), sondern bereits eigene Hypothesen entwickeln und Positionen formulieren, um den theoretischen Bezugsrahmen der Arbeit zu markieren. Grundlage solcher Bemühungen sind vorwiegend schriftliche wissenschaftliche Texte, wobei zwischen primären Texten (umfassende Studien) und sekundär Texten (Zusammenfassungen und Überblicksdarstellungen) unterschieden wird (s. Kap. 5 . 2 . 2 ). Neben primären und sekundären wissenschaftlichen Texten können auch andere Textgenres die Grundlage theoretischer Forschungsarbeiten bilden (s. Kap. 3 . 2 ). Je nachdem, welcher Teildisziplin der Fremdsprachendidaktik (z. B. Sprach-, Literatur-, Kultur- oder Mediendidaktik) die einzelne Forschungsarbeit zuzuordnen ist, werden bestimmte Textgenres eher als andere die Grundlage des Forschungsbemühens sein. Für kultur- und literaturdidaktische Arbeiten könnten beispielsweise klassische literarische Texte (Kurzgeschichten) oder multimodale literarische Texte (multimodale Jugendromane), Animationsfilme oder Lehrmaterialien die zentrale Forschungsgrundlage bilden. Aber angesichts der Komplexität des Gegenstandsbereichs und abhängig von der Fragestellung wird es meist darum gehen, ein Ensemble verschiedener Texte zusammenzustellen und auszuwerten. 4.1.2 Dokumente als Forschungsgrundlage Auch Dokumente sind Texte; sie unterscheiden sich jedoch von den oben genannten wissenschaftlichen Primär- und Sekundärtexten insofern, als sie nicht im Kontext wissenschaftlicher Arbeit entstanden sind, sondern einem anderen Zweck dienen. Der Begriff 64 4. Forschungsentscheidungen Dokument wird dabei allgemein im Anschluss an McCulloch verstanden als „a record of an event or process“ (McCulloch 2011 : 249 ). Dokumente können verschiedene Erscheinungsformen haben (s. Kap. 5 . 2 . 1 ). Sie stehen nicht nur als gedruckte Texte, sondern in vielfältig medialen Realisierungen zur Verfügung (Bilder, Fotografien, Filme). In der fremdsprachendidaktischen Forschung werden Dokumente nach den Urhebern, nach dem Vertriebsweg und ihrer Zugänglichkeit unterschieden: offizielle Dokumente (z. B. Gesetze der Bundesländer, Stellungnahmen der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder, Expertisen des Europarats, Lehrpläne), halboffizielle Dokumente (z. B. schulinterne Curricula, Arbeitspapiere von Lehrergruppen, Konferenzprotokolle, sog. graue Papiere) und private Dokumente (Tagebücher, Briefe, aber auch Stundenvorbereitungen von Lehrkräften oder Hausaufgaben der Schüler). Als öffentlich werden Dokumente dann bezeichnet, wenn sie in der einen oder anderen Form veröffentlicht wurden und deshalb leicht zugänglich sind. 1 Für die Fremdsprachenforschung von Interesse sind unter anderem die Dokumente, die als unterrichtsbezogene Produkte entstehen. Obwohl im öffentlichen Kontext Schule situiert, sind sie private Dokumente von Lehrenden und Lernenden. Ihr Spektrum reicht von unterschiedlichen schriftlichen und mündlichen Sprachhandlungsprodukten der Lehrkraft oder der Lernenden (schriftliche Unterrichtvorbereitungen, Tafelanschriebe, Plakate oder Präsentationen von Einzelnen und von Gruppen, Aufzeichnungen von Rollenspielen) über Bewertungen unterschiedlicher Provenienz (Verbalbeurteilungen, Kommentare zu Einzelarbeiten) bis hin zu Tagebuchnotizen (s. Kap. 5 . 2 . 7 ). Für die historische Fremdsprachenforschung liefern Dokumente die entscheidende Forschungsgrundlage (Kap. 3 . 1 und 5 . 3 . 1 ). Dokumentenanalyse kann jedoch auch ein Teil theoretischer Forschung sein, zum Beispiel im Zusammenhang von Lehrwerkanalysen oder im Kontext empirischer Studien erfolgen. 4.1.3 Daten als Forschungsgrundlage Auch Daten lassen sich mit der allgemeinen Definition „a record of an event or process“ (McCulloch 2011 : 249 ) bestimmen. Diese Definition geht auf Gregory Bateson zurück, der wie folgt formulierte: „[…] ‚data‘ are not events or objects but always records or desricptions or memories of events or objects“ (Bateson 1973 : 24 ). Was Daten jedoch von Dokumenten unterscheidet, ist ihre Entstehung, denn sie werden durch die eingesetzten Erhebungsverfahren erst hervorgebracht, d. h. sie werden geschaffen. Daten sind demnach das Produkt von Forschungshandlungen. Die Ausprägung von Daten kann entweder qualitativer oder quantitativer Art sein, ihr Inhalt wird durch die Forschungsfrage und die Datenquellen bestimmt. In der fremdsprachendidaktischen Forschung wird zwischen Primär-, Sekundär- und Tertiärdaten unterschieden. Primärdaten sind sprachliche Rohdaten (z. B. Videodaten einer Unterrichtsstunde, Ergebnisse eines Prä- oder Posttests). Sekundärdaten sind alle Verarbeitungsstufen der Rohdaten (z. B. kodierte Daten, Transkripte, skalierte 1 Eine differenzierte Begriffsklärung liefert das Kapitel 5 . 2 . 1 „Dokumentensammlung“. Hier wird auch der begriffliche Unterschied zwischen Dokumenten und Quellen erörtert. 4.1 Texte, Daten und Dokumente als Forschungsgrundlage 65 Testergebnisse). Tertiärdaten schließlich sind alle Metadaten zu den vorangegangenen Datentypen (z. B. Angaben zum Kontext, zur Entstehungszeit; s. auch Kap. 5 . 2 . 6 ; 5 . 3 . 9 ). Häufig wird in der allgemeinen Forschungsliteratur nur zwischen Primär- und Sekundärdaten unterscheiden. Erstere bezeichnen dann Daten, die bei der Datenerhebung unmittelbar geschaffen werden, letztere hingegen solche, die von anderen Forschern oder von Institutionen erhoben wurden: Beispiele sind das Statistische Bundesamt, Statistische Landesämter, Ministerien, die OECD, die UNO, die Weltbank (vgl. O’Leary 2014 : 243 - 273 ). Quantitative Daten sind das Ergebnis eines Transformationsprozesses, in dem Belege zu Sachverhalten, Ereignissen, Prozessen und Objekten in eine Zahlenform verwandelt werden. Man spricht deshalb auch von numerischen Daten. Sie bilden die Grundlage für den Einsatz statistischer Verfahren und sind das Herzstück einer quantitativ-hypothesenprüfenden Fremdsprachenforschung, die sich um objektiv überprüfbare und repräsentative Ergebnisse sowie validierbare Verallgemeinerungen bemüht (s. Kap. 3 . 3 ). Datenquellen sind zum Beispiel Tests aller Art (Sprach-, Kompetenz- oder Intelligenztests), strukturierte und kontrollierte Messungen bestimmter Phänomene (Reaktionszeiten bei der Bearbeitung von Online-Aufgaben) oder Fragebögen. Quantitative Daten verdichten komplexe Zusammenhänge zu messbaren Einheiten. Eine vertiefende Einführung liefern die Kapitel 5 . 3 . 10 bis 5 . 3 . 13 . Qualitative Daten sind Belege zu Sachverhalten, Ereignissen und Prozessen, die in unterschiedlicher Text- und Medienform die Grundlage rekonstruktiv-qualitativer Fremdsprachenforschung bilden. Ihre Interpretation liefert nicht repräsentative oder generalisierbare Erkenntnisse, sondern erschließt, was konkrete Menschen in spezifischen sozialen und institutionellen Kontexten tun, wie sie interagieren, wie sie ihr Handeln verstehen und bewerten. Folgende Datentypen seien hier als Beispiele, d. h. ohne Anspruch auf Vollständigkeit genannt. Die Bezeichnungen bieten eine grobe Orientierung und sind nicht trennscharf: 2 • Deskriptive Daten: Daten, die Verhalten von Menschen, Ereignisse, Institutionen und konkrete Settings repräsentieren. Erhoben werden diese durch Beobachtungen aller Art mit Hilfe von (Feld-)Notizen, Tagebüchern der Forschenden oder Beobachtungsprotokollen. • Narrative Daten: Diese repräsentieren biographische und berufliche Erfahrungen. Erhebungsinstrument sind narrative Interviews (s. Kap. 5 . 3 . 4 ). • Introspektionsdaten: Diese gestatten Einblicke in Gedanken und Gefühle der Forschungspartner, die der Beobachtung in der Regel nicht zugänglich sind. Erhoben werde solche Daten durch Verfahren des Lauten Denkens und Lauten Erinnerns (s. Kap. 5 . 2 . 5 ). • Berichts- und Meinungsdaten: Diese machen zugänglich, was Menschen zu Situationen, Ereignissen und Zusammenhängen sagen und/ oder meinen. Sie werden u. a. durch Interviews erhoben (s. Kap. 5 . 2 . 4 ). • Diskursdaten: Diese geben wieder, was Menschen in spezifischen Situationen wie zueinander sagen (z. B. im fremdsprachlichen Klassenzimmer). Erhebungsinstrumente sind hier Audio- und Videoaufzeichnung (s. Kap. 5 . 3 . 7 ). 2 Einen tabellarischen Überblick über qualitative Datentypen mit Datenbeispielen bietet Holliday 2012 : 62 - 63 . 66 4. Forschungsentscheidungen Auch die oben genannten Dokumente, nämlich die unterrichtsbezogenen Produkte und Artefakte, werden in der Forschungsliteratur häufig als Datenquelle gefasst und somit den qualitativen Daten zugeschlagen (vgl. Zydatiß 2002 ). Eine solche Zuordnung ist insofern plausibel, als diese Produkte zwar als integrale Bestandteile des laufenden Unterrichts entstehen und demnach nicht durch die Forschungsverfahren geschaffen werden. Sie sind jedoch durch die Forschungsfrage(n) aus diesem quasi naturwüchsigen Zusammenhang herausgehoben, werden besonders markiert und bestimmten Verfahren der Aufarbeitung und Analyse unterzogen. Die Grenze zwischen den Begriffen Dokumente und Daten ist bezogen auf diese Belege demnach fließend. Der Unterschied zwischen Daten (geschaffene Belege) und Dokumenten (unterrichtsbezogene Belege im Fokus einer Forschungsfrage) legt auf jeden Fall nahe, begrifflich zwischen dem Erfassen von Dokumenten und Erheben von Daten zu unterscheiden (s. Kap. 5 . 2 . 6 ). Da für die empirische Fremdsprachenforschung prinzipiell vier Perspektiven unterschieden werden können, nämlich der „Blick auf die Produkte, die Akteure und die Lern- und Bildungsprozesse selbst“ (Bonnet 2012 : 286 ) sowie auf die Kontexte (s. Kap. 3 . 3 ), können auch Datenquellen und die aus ihnen gewonnenen Daten diesen vier Perspektiven zugeordnet werden. Eine solche Einteilung der Daten nach Produkt-, Personen-, Prozess- und Kontextdaten kann sich u. a. als funktional für das Datenmanagement (s. u.) erweisen. Die Ausprägung dieser Daten kann je nach Forschungsansatz entweder qualitativer oder quantitativer Natur sein. In Studien, die quantitativ-hypothesenprüfende und qualitativ-rekonstruktive Ansätze kombinieren, werden beide Datenarten nebeneinander vertreten sein. 4.1.4 Texte, Dokumente und Daten im Verbund: zwei Beispiele Dass sich für empirische Arbeiten in der fremdsprachendidaktischen Forschung besondere Chancen eröffnen, wenn sie auf alle drei Belegtypen im Verbund zugreifen, soll anhand der Arbeit von Britta Freitag-Hild ( 2010 ) erläutert werden. Freitag-Hild verfolgt die These, dass das kulturwissenschaftliche Konzept der Transkulturalität nicht nur geeignet ist, kulturelle Komplexität und Hybridität deskriptiv zu erfassen, sondern auch die Grundlage für die Konzeption von Unterrichtseinheiten bietet (Bestimmung von Inhalten, Lernzielen, Textauswahl, Auswahl und Integration von Aufgaben), die Lernende für kulturelle Vielstimmigkeit sensibilisieren. Die Verfasserin entwickelt zunächst ein theoretisch fundiertes Unterrichtsmodell zu British Fictions of Migration , das dann in drei Fallstudien im Literaturunterricht der Sekundarstufe II konkretisiert und auf seine Leistungsfähigkeit in Hinblick auf die angestrebte Sensibilisierung untersucht wird. Unterrichtsgegenstand sind ein Spielfilm und zwei Romane. Die qualitativ-explorative Untersuchung der Unterrichtsprozesse über mehrere Wochen führt die Verfasserin zu einer Neukonzeption des zunächst theoretisch entwickelten Unterrichtsmodells. Für die theoretische Fundierung und Konzeptualisierung des Unterrichtsmodells bilden sowohl kulturwissenschaftliche und kulturbzw. literaturdidaktische theoretische Primär- und Sekundärtexte die Forschungsgrundlage als auch literarische Texte unterschiedlicher 4.1 Texte, Daten und Dokumente als Forschungsgrundlage 67 Genres (Kurzgeschichten, Romane) und Filme, die auf ihr didaktisches Potenzial im Sinne der übergeordneten Fragestellung analysiert werden. Für die unterrichtsbezogene Aufbereitung der Analyseergebnisse wertet die Verfasserin weitere Texte aus, die sie mit den ausgewählten literarischen Texten und Filmen zu intertextuellen Arrangements als Arbeitsgrundlage im Unterricht verknüpft. Die Erörterung des didaktischen Potentials erfolgt schließlich in Verbindung mit der Analyse offizieller Dokumente staatlicher Institutionen (Lehrpläne, Bildungsstandards, Einheitliche Prüfungsanforderungen im Abitur). Datenquellen der drei Fallstudien sind das Unterrichtsgeschehen und insbesondere die Interaktionsprozesse, die beobachtet und audiovisuell aufgezeichnet werden. Freitag-Hild erhebt Daten zu Lehrer-Schüler-Interaktionen, Unterrichtsgesprächen, Phasen der Gruppenarbeit sowie zur Vorbereitung von Rollenspielen in Gruppen. Forschungsgrundlage sind ferner eine Vielzahl von Produkten dieser Interaktionsprozesse, also Dokumente des laufenden Unterrichts wie Lernertexte (interpretative und kreative Schreibprodukte, Poster, Collagen, Rollenspiele) und Klausuren (Vorschläge der Forscherin, Klausuraufgaben der Lehrkraft sowie ausgewählte Klausurbeispiele von Schülern und Schülerinnen). Die Außenperspektive der Forscherin auf die Prozesse und ihre Produkte (festgehalten durch Beobachtungsprotokolle) werden ergänzt und differenziert durch die Innenperspektive der Akteure (Lehrkräfte und Lernende). Diese Datenquellen werden durch retrospektive Interviews nach einzelnen Stunden und am Ende der Unterrichtseinheiten erschlossen. Auch wenn Freitag-Hilds Arbeit deutlich macht, wie für die Beantwortung bestimmter Forschungsfragen die Verschränkung vieler Datenquellen, Texte und Dokumente in besonderer Weise zielführend sein kann, ist damit nicht gesagt, fremdsprachendidaktische Forschung müsse stets derart breit und mehrmethodisch angelegt sein. Als Gegenbeispiel kann die Referenzarbeit von Michael Schart ( 2003 ) dienen (s. Kap. 7 ). Die Studie beschäftigt sich mit dem subjektiven Verständnis des Projektunterrichts bei Lehrenden für Deutsch als Fremdsprache im universitären Kontext und benutzt neben primären und sekundären Texten zwei Datenquellen: In einem mixed-methods -Ansatz verknüpft Schart quantitative Daten, die aus einer Fragebogenerhebung gewonnen wurden, mit qualitativen Daten aus problemorientierten, halbstandardisierten Interviews. 4.1.5 Organisation und Überprüfbarkeit der Belege Wie die verschiedenen Belegtypen gesammelt, organisiert und/ oder katalogisiert werden müssen, hängt nicht zuletzt von den Forschungstraditionen ab, denen die Studie verpflichtet ist, und den jeweiligen Forschungsverfahren. Möglichkeiten des Datenmanagements werden im Kapitel 5 . 3 „Aufbereitung und Analyse von Dokumenten, Texten und Daten“ dieses Handbuchs in den jeweiligen Teilkapiteln angesprochen. Eine klare Organisation der Belege ist nicht nur aus forschungspraktischen Gründen von großer Wichtigkeit, sondern schafft auch die Voraussetzung dafür, dass die Auswahl von Texten und Dokumenten von anderen Forschenden nachvollzogen, dass Daten überprüft werden bzw. als Grundlage weiterer Forschungen, etwa in Metastudien (s. Kap. 4 . 5 ), genutzt werden können. Sofern es sich um wissenschaftliche Primär- und Sekundärtexte und um offizielle Dokumente handelt, garantiert die genaue bibliographische Angabe die 68 4. Forschungsentscheidungen Überprüfbarkeit. Weniger klar ist die Sachlage für halboffizielle und vor allem für private Dokumente. In solchen Fällen kann es sinnvoll sein, die Belege unter Berücksichtigung forschungsethischer Prinzipien (s. Kap. 4 . 6 ) als Anhänge zu den Forschungsarbeiten zugänglich zu machen. Besondere Aufmerksamkeit verlangen qualitative und quantitative Daten. Sie müssen nicht nur für das jeweilige Projekt organisiert werden, sondern sollten im Sinne der Leitlinien zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis (DFG 2019 ), zu der nicht zuletzt der Umgang mit Forschungsdaten gehört, gesichert und aufbewahrt werden. Wie die dort formulierten Empfehlungen und Leitlinien im Einzelnen in die Praxis umgesetzt werden, hängt von den Regeln ab, die sich Forschungsinstitutionen, Universitäten, Fachbereiche oder Institute gegeben haben. Verpflichtende Strukturen und Formen der Datenarchivierung existieren in Deutschland nicht (s. Klump, o. J.). › Literatur Bateson, George (1973). Steps to an Ecology of Mind. Collected Essays in Anthropology, Psychiatry, Evolution and Epistomology . London: Granada Publishing. Bonnet, Andreas (2012). Von der Rekonstruktion zur Integration: Wissenssoziologie und dokumentarische Methode in der Fremdsprachenforschung. In: Doff, Sabine (Hg.). Fremdsprachenunterricht empirisch erforschen. Grundlagen. Methoden. Anwendung . 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So stellt die Wahl einer bestimmten Forschungstradition eine richtungsweisende Vorentscheidung für geeignete Erhebungs- und Auswertungsverfahren dar, die dann je nach Forschungsfrage und Gegebenheiten ausgewählt und miteinander kombiniert werden können. Auch innerhalb der empirischen Forschungstradition stellt die Wahl eines bestimmten Paradigmas (qualitativ - quantitativ - mixed methods ) eine Vorentscheidung für die Auswahl der verwendbaren Forschungsinstrumente dar (z. B. Fragebogen nur mit geschlossenen Fragen versus Fragebogen mit teiloffenen und offenen Fragen; quantitative versus qualitative Inhaltsanalyse). Im Laufe der Zeit hat sich insbesondere innerhalb der quantitativ-empirischen Forschungstradition eine Reihe von festen Elementen und Abfolgen herausgebildet, die sich für bestimmte Zielsetzungen besonders gut eignen, z. B. für experimentelle Forschung, Evaluationsforschung oder Implementationsforschung. Eine solche Kombination bestimmter Erhebungs-, Aufbereitungs- und Auswertungsverfahren im Kontext eines bestimmten Forschungsansatzes bzw. für eine bestimmte Zielsetzung wird auch als komplexes Forschungsdesign bezeichnet. In der qualitativen Forschungstradition gibt es im Rahmen bestimmter Forschungsansätze ebenfalls solche festgelegten Kombinationen, z. B. bei der Grounded Theory oder der Dokumentarischen Methode (s. Kap. 5 . 3 . 3 und 5 . 3 . 4 ). In diesem Kapitel werden vier Forschungsdesigns vorgestellt, die als komplexe, relativ fest gefügte Ensembles einen forschungsmethodologischen und forschungsmethodischen Rahmen für bestimmte Zielsetzungen und Absichten bieten, ohne sich eindeutig dem qualitativen oder quantitativen Paradigma zuzuordnen. Diese vier unterschiedlichen Designs stehen innerhalb der pädagogischen und fachdidaktischen Forschung für ganz unterschiedliche Absichten: 1. Fallstudien verfolgen das Ziel, einzelne Personen, Gruppen oder Institutionen in ihrer Komplexität zu erfassen. Sie gehen davon aus, dass sich in diesen Einzelfällen allgemeinere Strukturen manifestieren. 2. Das Forschungsprogramm Subjektive Theorien (FST) ist ein theoretischer und methodologischer Ansatz, mit dem individuelle Kognitionen und Argumentationen von Menschen erhoben, rekonstruiert und - in der weiten Fassung des Programms - an der Realität überprüft werden können. 3. Die Aktionsforschung bietet Praktiker*innen ein zyklisches Verfahren, um alleine oder in Zusammenarbeit mit Kolleg*innen oder Forscher*innen ihren Unterricht systematisch zu erforschen und im Prozess der Erforschung zu verändern. Dabei stehen häufig unterrichtspraktische Fragen im Mittelpunkt. 4. Educational Design Research (DR), im deutschsprachingen Kontext häufig als Designbased-research bezeichnet, ist ein methodologischer Rahmen, der darauf ausgerichtet ist, Erkenntnisse in Hinblick auf Lehr- und Lernprozesse zu gewinnen und Unterricht 70 4. Forschungsentscheidungen zu innovieren. Im Fokus stehen einerseits die Qualitätssteigerung von Unterricht und das Verändern der Unterrichtspraxis durch die zyklische Entwicklung, Erprobung und Analyse von innovativen Verfahren, Materialien oder ganzen Lernumgebungen. Gleichzeitig verfolgt der DR-Ansatz immer auch die empirisch gestützte Entwicklung (lokaler) Theorien. In der forschungsmethodischen und -methodologischen Literatur gibt es weder einen festen Oberbegriff noch eine einheitliche Einordnung für diese Ansätze, man findet sie z. B. unter „ styles of educational research “ (Cohen/ Manion/ Morrison 2011 ) oder unter „ research design issues “ (Nunan/ Bailey 2009 ). Häufig werden sie mit „ approach “ bzw. „ research approach “ (Hitchcock/ Hughes 1995 ; Heighman/ Croker 2009; Nunan/ Bailey 2009 ) bezeichnet. Unter Forschungsansatz bzw. approach versteht Lamnek ( 2016 : 285 - 286 ) eine vielschichtige methodische Vorgehensweise, die methodologisch zwischen einem Paradigma und einer konkreten Erhebungstechnik angesiedelt ist. Der hier gewählte Begriff „Forschungsdesign“ soll die Gesamtheit und das funktionale Zusammenspiel der für die Erreichung des Forschungsziels notwendigen Einzelelemente betonen; der Begriff „prototypisch“ wurde deswegen gewählt, weil die Designs wesentliche Ziele pädagogischen bzw. fachdidaktischen Forschens verfolgen und beispielhaft in einem Forschungsdesign umsetzen. Daher ist mit diesem Kapitel auch keinesfalls eine vollständige Darstellung solcher „besondere[r] Forschungsansätze“ (Feldmeier 2014 : 255 ) beabsichtigt. Vielmehr soll an vier in der fremdsprachendidaktischen Forschung häufig verwendeten Forschungsdesigns auf diese methodologische Besonderheit aufmerksam gemacht werden. 4.2.1 Fallstudie Fallstudien (engl. case studies ) stehen in der Tradition enthnografischer Forschungsansätze. Während sie in den deutschsprachigen Erziehungswissenschaften bishlang eher ein „Mauerblümchendasein“ fristen (Lamnek 2016 : 285 ), kommt ihnen in den Untersuchungen zum Erst- und Zweitsprachenerwerb sowie in der englischsprachigigen erziehungswissenschaftlichen Forschung seit den 1970 er Jahren eine große Bedeutung zu. Bislang gibt es keinen einheitlichen Begriffsgebrauch (Fatke 2013 : 161 , vgl. auch die Zusammenstellung unterschiedlicher Definitionen in Nunan/ Bailey 2009 : 161 ). Zentrales Merkmal ist die Konzentration auf einzelne Einheiten wie Menschen, Gruppen oder Organisationen, d. h. Individuen in einem sozialwissenschaftlichen Sinn (Lamnek 2016 : 287 ). Innerhalb des quantitativen Forschungsparadigmas können Fallstudien vor oder nach einer quantitativ orientierten Studie zur Exploration, zur Entwicklung von Hypothesen, zur Operationalisierung sowie zur Illustration oder zur Überprüfung der Praktikabilität ihrer Ergebnisse eingesetzt werden (Lamnek 2016 : 289 - 297 ). Als eigenständige Forschungsmethode ist das Haupteinsatzgebiet von Fallstudien jedoch die qualitative, d. h. explorativ-interpretative Forschung (s. Kap. 3 . 3 ). Man geht davon aus, dass sich in Einzelfällen über das ihnen Spezifische hinaus generellere Strukturen manifestieren, so dass sich „[a]us dem Besonderen eines Einzelfalls […] stets noch anderes von allgemeiner Relevanz ableiten [lässt], als nur das, was dem Theoretiker in seinen 4.2 Prototypische Forschungsdesigns 71 kategorialen Blick gelangt“ (Fatke 2013 : 167 ). Als Vorteile gelten insbesondere der hohe Grad an Vollständigkeit und die Tiefe der Analyse, die Integration vielfältiger Sichtweisen und Interpretationen sowie die Möglichkeit, dass die Leser*innen im dargestellten Fall ihre Wirklichkeit wiedererkennen und daraus Erkenntnisse gewinnen können (vgl. Nunan/ Bailey 2009 : 166 - 167 ). Wichtig ist daher eine vielschichtige, offene Herangehensweise, wobei die Methodentriangulation zugleich eine relative Gewähr bietet, Methodenfehler vergleichend zu erkennen bzw. zu vermeiden (vgl. Lamnek 2016 : 286 ). Grundlage der Forschung ist die gezielte Auswahl des Falls bzw. der Fälle (typische Fälle vs. gezielt abweichende oder extreme Fälle, vgl. auch Kap. 4 . 3 ). In Studien mit mehreren Fällen folgt der individuellen Auswertung häufig ein Fallvergleich mit dem Ziel der Erfassung der überindividuellen Phänomene sowie einer Typisierung (vgl. Lamnek 2016 : 304 , zur Typenbildung vgl. auch Kap. 5 . 3 . 6 ). Fallstudien in der Fremdsprachendidaktik Auch in der deutschsprachigen Fremdsprachendidaktik erfreut sich der Einsatz von Fallstudien großer Beliebtheit. Neben den vielen Studien zum Zweit- und Fremdsprachenerwerb existiert eine Fülle von kleineren und größeren Untersuchungen, die 2021 in der Datenbank des ifs (Informationszentrum Fremdsprachenforschung) als „Fallstudie“ klassifiziert wurden. Diese Beliebtheit dürfte nicht nur daran liegen, dass dieses Design eine Möglichkeit darstellt, der Faktorenkomplexion des Lehrens und Lernens von Sprachen gerecht zu werden, sondern vor allem daran, dass „die Einzelfallstudie als elementarer Baustein jeder qualitativen Studie anzusehen ist, denn eine qualitative Befragung von dreißig Personen etwa besteht aus dreißig Einzelfallstudien, die sich der gleichen Erhebungstechnik bedienen und analytisch miteinander verbunden sind“ (Lamnek 2016 : 298 ). Häufig werden auch einzelne Fälle aus einer umfangreicheren (Interview-)Studie vorab veröffentlicht. Für die Auswahl der Beispiel aus der Fremdsprachendidaktik wurde ein engeres Verständnis von Fallstudie zugrunde gelegt: Kriterium ist die mehrmethodische Untersuchung unterschiedlicher Konstituenten eines oder mehrerer komplexer Fälle. Beispiele hierfür sind u. a. die Studien von Biebricher ( 2008 , Referenzarbeit, s. Kap. 7 ), Freitag-Hild ( 2010 ), Gießler ( 2018 ), Grünewald ( 2006 ), Kocher ( 2019 ), Peuschel ( 2012 ), Prokopowicz ( 2017 ), Rauschert ( 2014 ), Schubert ( 2013 ) und Steininger ( 2014 ). Grünewald ( 2006 ) konzipiert seine Untersuchung zur subjektiv wahrgenommenen Wirkung verschiedener Computeranwendungen im Anfangsunterricht Spanisch aufgrund der zugrunde gelegten konstruktivistischen Auffassung von Fremdsprachenlernen (ebd.: 21 - 53 ) als Fallstudie. Um den Motivationsverlauf und den selbst eingeschätzten Lernfortschritt von Schüler*innen aus drei neunten Klassen (n= 60 ) zu erheben, verwendet er unterschiedliche Instrumente: Eingangsfragebogen, strukturiertes Lerntagebuch mit Motivationskurven, Abschlussfragebogen und Leitfadeninterviews mit 15 ausgewählten Schüler*innen. Grünewald versteht die Falldarstellung als „Methode“, die bereits mit der Datenaufbereitung und der Fallanalyse beginnt (vgl. ebd.: 167 - 168 ). Daher verfolgt die Auswertung der Daten mit Hilfe des Transkriptionsprogramms MAXQDA das Ziel, jeden einzelnen Fall möglichst individuell zu erfassen. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, 72 4. Forschungsentscheidungen wurden die Kategorien aus dem Material entwickelt und es wurden zu jedem bzw. jeder Lerner*in zusätzlich zu den Daten aus den Interviews die Daten aus den anderen Untersuchungsinstrumenten mit kodiert. Ausgewählt wurden schließlich sechs Fälle (zu den Auswahlkriterien vgl. ebd.: 151 - 152 ), die auf jeweils gut 20 Seiten dargestellt und in einer vergleichenden Synopse zusammengestellt werden. Die in Form von „zusammenfassenden Thesen“ dargestellten Ergebnisse beruhen ausschließlich auf diesen sechs Fällen. In der abschließenden Reflexion kommt Grünewald zu dem Schluss „dass methodisch kontrollierte Einzelfalldarstellung[en] mehr können, als Theorien zu veranschaulichen oder zu überprüfen. Sie können auch mehr als nur Hypothesen für weitere […] Forschung generieren: Sie tragen zur Gewinnung neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse und damit letztendlich zur Theoriebildung bei“ (ebd.: 316 ). Die Studie von Rauschert ( 2014 ) ist ein Beispiel für ein Forschungsdesign, das Fallstudie und Aktionsforschung (s. Abschnitt 3 ) miteinander verknüpft. Ausgehend von dem zuvor nur in der Pädagogik bekannten Unterrichtsansatz des Service Learning setzt sich die Arbeit mit der Frage auseinander, wie im Englischunterricht in der gymnasialen Mittelstufe durch Projektarbeit, die fachspezifische Ziele und Inhalte mit sozialem Engagement verbindet, interkulturelle und kommunikative Kompetenzen gefördert werden können. Auf der Basis von Byrams Modell der interkulturellen kommunikativen Kompetenz (Byram 1997 ) und dem Leitgedanken des Service Learning gestaltet die Verfasserin ein Projekt in einer 10 . Klasse, in dessen Rahmen die Schüler*innen in Zusammenarbeit mit indischen Schüler*innen ein Magazin zum Thema „Happiness in India and Germany“ erarbeiten und produzieren, dessen Erlös einer indischen Schule zugute kommt. In dieser Studie stellt die deutsch-indische Projektgruppe den Einzelfall dar, der in den einzelnen Projektphasen mit unterschiedlichen Formen der Datenerhebung untersucht wird: erstens ein Fragebogen im Pretest-Posttest-Format zur Feststellung interkultureller Fähigkeiten, Kenntnisse sowie Einstellungen, zweitens drei Tests zur Feststellung der Interpretationsfähigkeit der deutschen Schüler*innen anhand von Videointerviews, drittens eine (simulierte) Pressekonferenz, viertens eine freie Textproduktion (Portfolio) und schließlich eine schriftliche Abschlussbefragung ein Jahr nach dem Projekt. Alle Formen der Datenerhebung werden im Hinblick auf die Gütekriterien empirischer Forschung genau analysiert. Der eingesetzte Fragebogen wurde sowohl mit einer großen Stichprobe pilotiert als auch einem Expertenrating unterworfen. Dadurch konnte das Projekt in seinen unterschiedlichen Zielsetzungen mit quantitativen und qualitativen Forschungsverfahren untersucht werden, wobei ein vielschichtiges Bild des Projektes und der an ihm Beteiligten entsteht, das an eine dichte Beschreibung im Sinne Geertz‘ ( 1987 ) erinnert. Rauschert diskutiert den action research cycle anhand ihres eigenen Projekts (Rauschert 2014 : 161 - 166 ). Dabei reflektiert sie ihre Rollen als Forscherin und Lehrerin und setzt sich mit kritischen Einschätzungen dieses Forschungsansatzes auseinander. Somit wird deutlich, dass die Wahl des forscherischen Vorgehens getragen ist von genauer Kenntnis des Ansatzes in seinen Schwächen und Stärken, von nachvollziehbaren Überlegungen zur Passung von Forschungsthema, Fragestellungen und Methode und von (selbst-)kritischer Reflexion der eigenen Rollen. 4.2 Prototypische Forschungsdesigns 73 4.2.2 Forschungsprogramm Subjektive Theorien (FST) Das zentrale Ziel qualitativer Forschung ist die Erhebung der Innenbzw. Binnensicht der Forschungspartner*innen. Dazu gibt es eine Reihe von Konzepten und Zugängen, z. B. die Erforschung von Einstellungen ( attitudes ), Überzeugungen ( beliefs ), Wissen ( knowledge ) oder persönlichen Konstrukten ( personal constructs ) bzw. Konzepten ( conceptions ). In der deutschsprachigen fremdsprachendidaktischen Forschung wurde der vergleichsweise weit gefasste integrative Ansatz der subjektiven Theorien besonders populär. Hauptvertreterin dieses Ansatzes im deutschsprachigen Raum ist eine Gruppe um Norbert Groeben, die in den 1970 er und 80 er Jahren das Forschungsprogramm Subjektive Theorien (FST) (Groeben et al. 1988 , s. im Folgenden auch Scheele/ Groeben 1998 ) entwickelte. Dieses theoretisch und methodisch ausgereifte, anspruchsvolle Modell geht von der sog. „Strukturparallelität“ des Denkens aus, d. h. davon, dass Forscher*innen und Forschungspartner*innen prinzipiell die gleichen Denkstrukturen und -prozesse verwenden, die zum Aufbau von Subjektiven Theorien führen. Damit werden relativ stabile Denkinhalte und -strukturen bezeichnet, die sich auf die eigene Person, auf andere Personen und die übrige Welt beziehen können. Sie können sowohl aus bewussten wie auch aus impliziten, dem Bewusstsein der Personen nicht zugänglichen Kognitionen bestehen und weisen eine zumindest implizite Argumentationsstruktur auf. In Analogie zu wissenschaftlichen Theorien dienen sie u. a. dazu, Situationen zu definieren, Sachverhalte zu erklären, Vorhersagen zu treffen oder Handlungsentwürfe und -empfehlungen zu konstruieren. Im FST wird Subjektiven Theorien zudem eine zumindest potenziell handlungsleitende Funktion zugeschrieben. In der sog. „engen Begriffsexplikation“ werden zwei weitere Anforderungen an Subjektive Theorien gestellt: Sie müssen im „Dialog-Konsens“ zwischen Forscher*in und Forschungspartner*in rekonstruierbar sein, d. h. es soll durch eine nachträgliche kommunikative Validierung sichergestellt werden, dass die erhobene Subjektive Theorie adäquat verstanden und rekonstruiert worden ist. Zudem soll durch eine „explanative“ oder Handlungsvalidierung festgestellt werden, ob die rekonstruierte subjektive Theorie auch tatsächlich handlungsleitend und damit als sog. objektive Theorie gültig ist. In dieser weiten Explikation vermag das FST zur „Überwindung des unfruchtbaren Gegensatzes von sog. qualitativer und quantitativer Forschung beizutragen“ (Grotjahn 1998 : 34 ). Das FST in der Fremdsprachendidaktik Das FST stellt die Grundlage zahlreicher Studien zur Erhebung der Binnensicht von Lerner*innen und Lehrer*innen dar. Die Feststellung von Schart ( 2001 : 56 ), dass man „zumindest im deutschen Sprachraum nicht umhin [komme], den eigenen Ansatz [dazu] in Bezug […] zu setzen“ gilt bis heute. Dabei legen nur wenige Arbeiten die enge Begriffsexplikation zugrunde (u. a. Lochtman 2002 , Richert 2009 ). Wesentlich häufiger wird auf die weite Explikation rekurriert (u. a. von Hochstetter 2011 , Referenzarbeit, s. Kap. 7 ; Martinez 2008 ; Schart 2003 ), nicht selten zuzüglich der kommunikativen Validierung (u. a. Berndt 2003 ; Kallenbach 1996 ; Morkötter 2005 ; Strohn 2015 ; Viebrock 2007 ). Zwar beklagt Grotjahn ( 1998 : 34 ), dass das FST „häufig in einer sehr vagen und allgemeinen Bedeutung sowie ohne hinreichende theoretische Verankerung verwendet wird“; trotzdem kam und kommt 74 4. Forschungsentscheidungen dem FST vor allem als Prototyp in dem Sinne, dass von Forscher*innen in Auseinandersetzung mit dem FST eine individuelle, gegenstandsbezogene Forschungsmethodik für die eigene Forschungsfrage entwickelt wird, eine hohe Bedeutung für die forschungsmethodologische Diskussion innerhalb der Fremdsprachendidaktik zu. Als Anwendungsbeispiel wird im Folgenden die eng an die Methodik des FST angelehnte, häufig zitierte Arbeit von Kallenbach ( 1996 ) skizziert. Sie untersucht die individuellen Vorstellungen von fortgeschrittenen Fremdsprachenlerner*innen. Um diese subjektiven Theorien mittlerer Reichweite zu erheben, führte die Forscherin halbstrukturiert-leitfadenorientierte Interviews mit insgesamt 14 Schüler*innen aus verschiedenen 12 . Klassen, die seit einem guten Jahr zusätzlich Spanisch lernten. Aus den Interviews erstellte sie eine erste Rekonstruktion der individuellen subjektiven Theorien. Diese wurden anschließend mit Hilfe der Heidelberger Strukturlege-Technik kommunikativ validiert. Dazu erstellten die Schüler*innen aus den von der Verfasserin ausgewählten und auf Kärtchen notierten zentralen Begriffen aus den Interviews mit Hilfe von zehn Relationskärtchen (z. B. Wechselwirkung, Folge/ Konsequenz, Ober-/ Unterbegriff oder Beispiel) ein Strukturbild, das ihre subjektive Theorie möglichst genau wiedergab. Die Strukturbilder boten einen Anlass, im Gespräch bestimmte Aspekte erneut zu thematisieren; außerdem wurden sie später den in den Interviews entwickelten Argumentationen gegenübergestellt, so dass sich Hinweise auf die Konsistenz der erhobenen Theorien ergaben. Zusätzlich füllten die Schüler*innen zwischen Interview und kommunikativer Validierung einen fünfseitigen Fragebogen mit Fragen zu ihrem Fremdsprachenlernen aus, den die Verfasserin punktuell als Zusatzinformation heranzog. Fünf der subjektiven Theorien werden als einzelne Fälle dargestellt, zusätzlich werden die zentralen, von allen Gesprächspartner*innen thematisierten Aspekte des Fremdsprachenlernens interviewübergreifend zusammengestellt. 4.2.3 Aktionsforschung Mit der 1990 erschienenen Erstauflauge des Werks Lehrer erforschen ihren Unterricht (Altrichter/ Posch 1990 ) etablierte sich die Aktionsforschung ( action research ) oder Handlungsforschung bzw. die häufig als Synonyme verwendeten, eng damit verbundenen Konzepte der Praxisforschung und teacher research auch im deutschsprachigen Raum. Sie bietet die Möglichkeit, ebenso wie Educational Design Research (DER bzw. DR) (s. Abschnitt 4 ), Theorie und Praxis in der Forschung untrennbar miteinander zu verbinden (zum Verhältnis von Theorie und Praxis s. auch Kap. 6 . 2 ). Beide Designs verfolgen das Ziel, die jeweiligen Aktionsfelder weiterzuentwicklen, wobei in der Aktionsforschung die Praxisperspektive überwiegt. In solchen Projekten erforschen, im Gegensatz zu DR-Studien, i. d. R. Lehrkräfte ihren eigenen Unterricht oder andere Akteur*innen ihr pädagogisches Handlungsfeld und werden dabei nicht zwangsläufig durch Wissenschaftler*innen unterstützt. Außerdem stehen in von Lehrer*innen initiierten Projekten der Aktionsforschung unterrichtspraktische Fragen im Mittelpunkt, während DR-Studien über die Entwicklung und Erprobung von Lehr-Lern-Arrangements und die Untersuchung von deren Wirkung auf den Lernprozess hinaus auch immer die Generierung eines Theoriebeitrags zum Ziel haben. 4.2 Prototypische Forschungsdesigns 75 Grundgedanke bei der Aktionsforschung ist die Vorstellung von Lehrer*innen als reflektierende Praktiker*innen, die aktiv und systematisch ihren Unterricht erforschen und im Forschungsprozess verändern. Aktionsforschung kann in unterschiedlichen Kontexten angewandt werden: als Instrument der Aus- und Fortbildung (z. B. Benitt 2015 ; Bergfelder-Boos 2018 ), als Verfahren, um (selbstbestimmt) den eigenen Unterricht weiterzuentwickeln, als Verfahren zur Unterrichts- und Schulentwicklung (vgl. Weskamp 2003 ), als Schulbegleitforschungsprojekt für die Konkretisierung und Erprobung bildungspolitischer Innovationen (z. B. Abendroth-Timmer 2007 ; Bechtel 2016 ), als Instrument zur Implementation von Forschungsergebnissen in der Praxis (vgl. Feldmeier 2014 : 257 ) sowie als Instrument zur Erprobung und ggf. Weiterentwicklung wissenschaftlicher Erkenntnisse in der Praxis (z. B. Even 2003 ; Jäger 2011 ; Lamsfuß-Schenk 2008 ; Müller-Hartmann/ Schocker/ Pant 2013 ; Raith 2011 ; Schart 2008 ; Schreiber 2010 ). Normalerweise werden die Ergebnisse von Aktionsforschungsprojekten nur im letzten Fall veröffentlicht, die anderen stehen der Öffentlichkeit zumeist nicht zur Verfügung. Die Aktionsforschung folgt auch in weiteren Aspekten nicht unbedingt den traditionellen Kriterien wissenschaftlicher Forschung bzw. definiert sie teilweise neu (vgl. Altrichter 1990 ; Altrichter/ Feindt 2011 : 214 - 215 ): • Die traditionelle Trennung von Forschung und Entwicklung wird in einem Prozess, in dem Forschung und Entwicklung einander bedingen, aufgehoben. • Ähnlich wie im FST (s. Abschnitt 2 ) werden Praktiker*innen als Akteur*innen des Forschungsprozesses angesehen. • Die Forschung ist als längerfristiger, zyklischer Prozess angelegt, innerhalb dessen - i. d. R. ausgehend von einem Praxisproblem z. B. im Unterricht, in der Lehrpersonenbildung oder in der Schulentwicklung - theoretische Annahmen zur Veränderung der Praxis im praktischen Handeln überprüft werden und nach erneuter Reflexion in revidierten Praxisvorschlägen bzw. Veränderungen der theoretischen Annahmen münden (vgl. auch die Darstellung in Burns 2010 : 9 ). • Aktionsforschung versucht der Komplexität der Praxis durch den Einbezug möglichst unterschiedlicher Forschungsinstrumente (i. d. R. (Selbst-)Beobachtungen und Befragungen) und Perspektiven (im Fall von Unterrichtsveränderung neben beteiligten Lehrer*innen und ggf. universitären Forscher*innen z. B. Schüler*innen, Kolleg*innen, studentische Beobachter*innen) gerecht zu werden. • Viele Aktionsforschungsprojekte werden als Gemeinschaftsprojekte durchgeführt. Neben forschungspraktischen Gründen wird dies der Vorstellung von professionellem Lernen als sozialem Lernen gerecht. • Dadurch, dass Aktionsforschung in soziale Praktiken eingreift, kann sie nicht wertneutral sein. • Die traditionellen, am quantitativen Paradigma ausgerichteten Vorstellungen von Objektivität, Reliabilität und Validität werden neu definiert bzw. ersetzt durch Multiperspektivität, praktische Erprobung und ethische Kriterien, z. B. der Vereinbarkeit mit pädagogischen Zielen. 76 4. Forschungsentscheidungen Aktionsforschung in der Fremdsprachendidaktik Praktische Anleitungen zur Planung, Durchführung und Auswertung von Aktionsforschungsprojekten finden sich z. B. in Altrichter/ Posch/ Spahn ( 2018 ), auf den Fremdsprachenunterricht fokussierte Anleitungen und Beispiele in Burns ( 2010 ), Feldmeier ( 2014 ) und Wallace ( 1998 ). Aktionsforschung zählt inzwischen zu einem in der Fremdsprachendidaktik anerkannten prototypischen Design. Auffällig ist, dass alle aufgeführten Arbeiten entweder von universitären Wissenschaftler*innen begleitet wurden oder das Aktionsforschungsprojekt Gegenstand der eigenen Qualifikationsschrift war. Insbesondere für Nachwuchswissenschaftler*innen, die parallel als Fremdsprachenlehrkräfte tätig sind, scheint es sich um ein attraktives Forschungsdesign zu handeln, mit dem sie die beiden beruflichen Felder verbinden können. So stellte sich Jäger ( 2011 ) aufgrund der Beobachtung, dass sich viele Lehrkräfte mit der Entwicklung interkultureller Kompetenzen im Englischunterricht schwertun, die Frage, welche Aufgaben sich dazu besonders gut eignen und unter welchen Bedingungen sie ihr Potenzial am besten entfalten können. Dazu entwarf sie unter Rückgriff auf Forschungen und Erfahrungsberichte zum interkulturellen Lernen, zum aufgabenorientierten Ansatz, zur Literaturdidaktik und zur Dramenpädagogik einen theoretischen Rahmen für die Erstellung von Aufgaben. In ihrem Aktionsforschungsprojekt erprobte sie sodann die für den Jugendroman „Bend it like Beckham“ von ihr entwickelten Aufgaben in drei Realschulklassen, wobei sie im ersten Durchgang selbst unterrichtete und aufbauend auf den gemachten Erfahrungen aus diesem ersten sowie dem darauffolgenden Durchlauf die Aufgaben schließlich veränderte. Als Forschungsinstrumente setzte sie Forschungstagebuch, teilnehmende Beobachtung, Video- und Audioaufnahmen der Unterrichtsstunden, die schriftlichen Unterrichtsprodukte und retrospektive Leitfadeninterviews sowie Fragebögen ein ( Jäger 2011 : 180 - 189 ). In der engen Zusammenarbeit mit den beteiligten Lehrkräften, Schüler*innen und den (je nach Zyklus wechselnden) begleitenden Studierenden entstand eine Gemeinschaft von Forscher*innen, die den Prozess des Unterrichtens, der Datenerhebung und -auswertung gemeinsam durchführte bzw. beobachtete und dadurch eine Vielperspektivität sicherstellte, die sich in den dichten Beschreibungen und den detaillierten Analysen der einzelnen Unterrichtssequenzen niederschlägt. 4.2.4 Design Research oder Educational Design Research Im englischsprachigen Kontext wird mit Blick auf Unterrichtsforschung von Educational Design Research oder Design Research in Education gesprochen. Damit wird eine Unterscheidung zu anderen designbezogenen Disziplinen wie Architektur, Informatik usw. angestrebt. In den allermeisten Publikationen wird aber für den Fall, dass der Kontext eindeutig ist, der Bezug zum educational context weggelassen. Daher ist im Folgenden von Design Research (DR) die Rede. Der im deutschsprachigen Raum häufig verwendete Begriff Design-Based-Research soll die Verflechtung der beiden Begriffe „ design “ und „ research “ veranschaulichen: Das Design wird forschungsbzw. theoriebasiert entwickelt, die Forschung wiederum wird designbasiert durchgeführt. Eine der ersten, die den Designbegriff in die Lehr-Lernforschung eingeführt hat, war Brown mit der Idee des „ design experiments “ (Brown 1992 ), später wurde dann von „ design studies “ oder „ design research “ gesprochen (zur Geschichte des Designbegriffs vgl. Grünewald et al. 2014 a, zur Historie des DR-Ansatzes vgl. Bakker 2019 : 23 - 34 .). Zugrunde lag das Bedürfnis nach einem Forschungsansatz, der Lernphänomene nicht in Labors, sondern in realen Unterrichtssituationen untersucht. Die Entwicklung eines Designs im DR-Ansatz kann z. B. der systematisch dokumentierten Entwicklung eines Lehr-/ Lern-Arrangements entsprechen, bei der Materialien, Werkzeuge, Aufgaben, methodische Entscheidungen und alle anderen dazugehörigen Aktivitäten und Dokumente gegenstandsbezogen so zusammengestellt werden, dass das Ensemble geeignet ist, einen Lernprozess zu initiieren oder einer konkreten Herausforderung aus der Praxis zu begegnen. Schließlich finden sich zahlreiche weitere Bezeichnungen dieses Forschungsansatzes (z. B. fachdidaktische Entwicklungsforschung). Ihnen allen gemein sind die folgenden Chrakteristika (vgl. van den Akker/ Gravemeijer/ McKenney/ Nieveen 2006 ; Cobb et al. 2003 ): • Interventionsorientierung: Design Research hat zum Ziel, unterrichtspraktische Fragestellungen unter realen Bedingungen weiterzuentwickeln, daher sind Interventionen im Forschungsfeld notwendig und wünschenswert. • Theorieorientierung: Nicht nur die Entwicklung des Designs erfolgt theoriebasiert; auch mit der Umsetzung und Beforschung des Designs wird das Ziel verfolgt (lokale) Theorien über Lernprozesse und Designelemente zu generieren. • Praxisorientierung: Der Startpunkt eines DR-Projektes kann entweder eine theoretisch begründete Annahme oder eine konkrete, von den Akteur*innen der schulischen Praxis wahrgenommene Problemlage sein. In beiden Fällen zielt DR auf der Basis eines theoretischen Konzepts auf die (Weiter-)Entwicklung von Lehr- und Lernarrangements in der Unterrichtspraxis und die Generierung bzw. Weiterentwicklung eines theoretischen Beitrags. Dieser muss sich in der Praxis bewährt haben (ökologische Validität). • Iterativität und Zyklusgebundenheit: Die Design-Konzeption, die Design-Erprobung und die retrospektive Analyse sowie Reflexion erfolgen in iterativen Zyklen. • Prospektivität und Reflexivität: Dem auf theoretischer Grundlage entwickelten Design liegen Annahmen über den Einfluss des Designs auf den Lernprozess zugrunde. Mit der Analyse und Reflexion der Design-Erprobung werden retrospektiv Abweichungen zwischen den Annahmen und den tatsächlich beobachteten Lernprozessen erkannt; diese können zur Optimierung des Designs beitragen. In Bezug auf die kontroverse Diskussion um Theorie und Praxis in der Fremdsprachendidaktik ist als besonders wichtiges Merkmal von DR hervorzuheben, dass der Forschungsansatz nicht von der Praxis losgelöst ist, sondern die enge Verzahnung von Theorie und Praxis zum tragenden Merkmal der Methodologie deklariert. Das Ziel ist es, unterrichtspraktische Designlösungen für real existierende Herausforderungen zu schaffen, diese Lösungen einer sorgfältigen Analyse, Reflexion und Überarbeitung zu unterziehen und wesentliche Beiträge zur Lerntheorie zu leisten. Theorie und Praxis werden nicht als getrennte und sequentiell zu bearbeitende Entitäten betrachtet. Vielmehr wird die Umset- 4.2 Prototypische Forschungsdesigns 77 78 4. Forschungsentscheidungen zung des Designs in der Praxis als unabdingbar für Theorieentwicklung im Bereich des Lehrens und Lernens gesehen (Lehmann-Wermser/ Konrad 2016 ). Der iterative Verlauf einer Design Research -Studie nach dem Bremer Modell (Peters/ Roviró 2017 ), das explizit auch eine fremdsprachendidaktische Ausrichtung von DR beschreibt, verläuft in wiedererkennbaren Strukturen (s. Abb. 1 ): Der dem iterativen Design-Zyklus vorgelagerte Design-Kontext wird definiert als eine Herausforderung in der Unterrichtspraxis, die auf theoretischer Grundlage bestimmt wird, oder als eine aus der unterrichtlichen Praxis beschriebene Problemstellung. Der Design-Kontext definiert also den Lehr-Lern-Kontext und beschreibt diesen unter Heranziehung theoretischer Grundlagen und fachdidaktischer Theorien. Auf dieser Basis erfolgt der Einstieg in den iterativen Prozess durch die Bestimmung des Design-Gegenstands. Die fortlaufende Strukturierung und Spezifizierung des Design-Gegenstandes enthält alle für die Entwicklung des Lehr- Lern-Arrangements wichtigen Merkmale, die unter Rückbezug auf Theorien ebenso festgelegt werden, wie die Zielsetzung der Studie. Den nächsten Schritt bildet die Design-Konzeption. Basierend auf dem Design-Kontext und der Spezifizierung des Design-Gegenstands werden Hypothesen zur Wirkung von Design-Elementen auf den Lernprozess formuliert und Design-Prinzipien entwickelt. Diese sind Teil der Theorie zu Lehr-Lernprozessen und bilden wichtige Orientierungen für das entwickelte Design (vgl. Prediger et al. 2012 : 454 ), weisen aber über das spezifische Design hinaus. Die Design-Prinzipien im Sinne von Erkenntnis- und Handlungsprinzipien bilden den Ausgangspunkt für die Übertragbarkeit des Designs auf andere unterrichtliche Siuationen (lokale Theorie). Im ersten Zyklus werden sie meist aus der Theorie abgeleitet, mit fortschreitendem Forschungsprozess werden sie aus den Ergebnissen der Analyse und Reflexion der Design-Erprobung spezifiziert. In weiteren Zyklen erfolgt die schrittweise Optimierung und Ausdifferenzierung des Lehr-Lern-Arrangements. Im letzten Schritt des Zyklus wird die Umsetzung des Designs in Form eines Lehr-Lern-Arrangements vollzogen. Das Design und dessen Umsetzung werden analysiert und reflektiert. Die Ergebnisse dieses Prozesses sind die Grundlage für das erneute Durchlaufen des Zyklus, so lange, bis eine mehr oder wenige gesättigte Datenlage eintritt und die Design-Prinzipien in immer wieder anderen Lernsituationen funktionieren. Auf dieser Grundlage können dann ein Referenzdesign und eine lokale Theorie (Design-Theorie) beschrieben werden, die als Modell in der Praxis umsetzbar sind. Abbildung 1: Bremer Modell zum Design Research-Prozess, Bearbeitung Andreas Grünewald 4.2 Prototypische Forschungsdesigns: feste Fügung von Forschungsinstrumenten mit spezifischen Zielen Ziele Charakteristika quantitative und / oder qualitative Forschungsverfahren q u a n t i t a t i v e u n d / o d e r q u a l i t a t i v e F o r s c h u n g s v e r f a h r e n Fallstudien (case studies) Einzelfallanalyse multipel, holistisch, beschreibend, analytisch tiefgehend, vergleichend, multiperspektivisch in der Spezifik generelle Strukturen finden - Exploration, Überprüfung der Praktikabilität von Annahmen - Fokus auf Individuen oder sozialen Gemeinschaften häufig qualitative Interviews, Fragebögen oder Beobach tungen Fallstudien (case studies) Einzelfallanalyse(n), multiple, holistisch, beschreibend, analytisch tiefgehend, vergleichend, multiperspektivisch in der Spezifik generelle Strukturen finden - Exploration, Überprüfung der Praktikabilität von Annahmen - Fokus auf Individuen oder sozialen Gemeinschaften häufig qualitative Interviews, Fragebögen oder Beobachtungen Forschungsprogramm Subjektive Theorien (FST) Strukturparallelität des Denkens von Forscher*innen und Partner*innen - Rekonstruktion der Binnensicht von Forschungspartner*innen ggf. Überprüfung der Handlungsleitung - Fokus auf Individuen häufig qualitative Interviews und Fragebögen - Strukturbilder, explanative und kommunikative Validierung Aktionsforschung reflektierende Praktiker*innen erforschen (gemeinsam) den eigenen Unterricht, zyklisches Verfahren - Analyse, Veränderung und Optimierung der eigenen Praxis wissenschaftliche Begleitung möglich - Beobachtungen, Interviews, Forschungstagebuch, Evaluationen Educational Design Research zyklisches Verfahren, iteratives Vorgehen, praxis- und theorieorientiert, prospektiv und reflexiv - Optimierung und Innovierung der Unterrichtspraxis durch Entwicklung und Erprobung von Designs - Generierung eines Theoriebeitrags - Design und dessen Einfluss auf Lernprozesse stehen im Mittelpunkt forschungsmethodisch offen © 2022 ⚫ Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 80 4. Forschungsentscheidungen Design Research in der Fremdsprachendidaktik DR wurde im deutschsprachigen Raum vor allem in der Mathematikdidaktik bekannt. Der DR-Ansatz erfährt eine kontinuierliche Weiterentwicklung beispielsweise in der Fremdsprachendidaktik (Grünewald et al. 2014 a, 2014 b, 2019 ; Gödecke 2020 ). Anleitungen und Beispiele zur Umsetzung der Design Research -Methodologie in der Fremdsprachendidaktik finden sich beispielsweise in Peters/ Roviró ( 2017 ), Bakker ( 2018 ) und McKenney/ Reeves ( 2019 ). Als Anwendungsbeispiel wird im Folgenden die DR-Studie von Gödecke ( 2020 , Referenzarbeit, s. Kap. 7 ) skizziert. Der Design-Kontext dieser Studie bezieht sich auf die Praxisphasen der Fremdsprachenlehrkräfteausbildung, in dessen Rahmen Studierende eigenständig Fachunterricht planen, umsetzen und reflektieren. Da Studierende aufgrund mangelnder Erfahrung oftmals nicht wissen, was und wie sie reflektieren können, entwickelte Gödecke ( 2020 ) im Rahmen ihrer DR-Studie ein e-Portfoliokonzept (= Design- Gegenstand), das Französisch- und Spanischstudierende dazu anleitet, fachspezifische Reflexionsprozesse systematisch zu vollziehen. Das e-Portfolio wurde umgesetzt, empirisch untersucht (= Design-Erprobung) sowie zyklisch weiterentwickelt. In seiner finalen Version (= Referenzdesign) besteht es aus Aufgaben, die fachdidaktisches Wissen und Können in Bereichen wie Differenzierung, Diagnose oder Spracherwerb fördern und in Prozesse der Unterrichtsplanung, -umsetzung und -reflexion eingebunden sind. Darauf aufbauend formuliert Gödecke (ebd.) gemäß des DR-Ansatzes auf der Forschungsebene eine lokale Theorie zu gegenstandsspezifischen Lernprozessen (= Reflexionsprozessen); der theoretische Beitrag der Studie besteht demnach in der Definition fachspezifischer Reflexionskompetenz und der Entwicklung eines dazugehörigen Reflexionsmodells (= lokale Theorie). Die Studie zeigt exemplarisch, dass DR als methodologischer Rahmen offen ist für unterschiedliche Forschungsverfahren und vielfätige methodische Arrangements. 4.2.5 Fazit Die jeweils hohe Anzahl an Studien, die methodisch auf die hier vorgestellten komplexen Forschungsdesigns zurückgreifen, deutet darauf hin, dass es sich hierbei um für fremdsprachendidaktische Forschung besonders attraktive methodologische bzw. methodische Rahmungen handelt. Dies könnte mit bestimmten Spezifika fremdsprachendidaktischer Forschung (s. Kap. 2 ) zusammenhängen: So ist es mit Fallstudien besonders gut möglich, die Komplexität fremdsprachlicher Lehr-/ Lernprozesse zu berücksichtigen. Auch scheint dieses Design der Tatsache entgegenzukommen, dass fremdsprachendidaktische Qualifikationsarbeiten i. d. R. als Einzelprojekt geplant und durchgeführt werden. In Fallstudien werden zumeist mehrere Fälle (Subjekte, Lerngruppen, institutionelle Kontexte) vorgestellt, so dass auf diese Weise nicht nur die Vielschichtigkeit, sondern auch die Vielperspektivität fremdsprachendidaktischer Realitäten abgebildet werden kann. Das FST als Ansatz zur Erforschung der Binnensicht von Subjekten spiegelt zum einen die hohe Bedeutung, die den Akteur*innen fremdsprachlicher Lehr-/ Lernprozesse als Subjekten bzw. Individuen in der fremdsprachendidaktischen Forschung zukommt. Zum ande- 4.2 Prototypische Forschungsdesigns 81 ren ermöglicht das Forschungsprogramm wie der Ansatz der Fallstudien, die Komplexität und Unterschiedlichkeit subjektiver Vorstellungen sichtbar zu machen. Die enge Variante des FST erlaubt darüber hinaus, das Handeln der untersuchten Personen in den Blick zu nehmen, und bietet damit eine - wenn auch nicht unumstrittene - Möglichkeit Theorie und Praxis zu verbinden. Dies ist ebenfalls das Anliegen der Aktionsforschung, wobei dieser Ansatz bewusst über das Verstehen von Praxis hinausgeht und explizit auf ihre (forschende) Veränderung abzielt. Dies geschieht ebenfalls in Form von Fallstudien, wobei den im Lehr-/ Lernprozess handelnden Akteur*innen eine Schlüsselrolle zukommt. Häufig geht es um das Beobachten, Erfassen und Verändern methodischer Entscheidungen des unterrichtlichen Handelns. Zudem wird in diesem Ansatz - wie auch im Educational Design Research - das zentrale Anliegen jeglicher fremdsprachendidaktischer Forschung, direkt oder indirekt auf eine Verbesserung des Fremdsprachenlernens hinzuwirken, unmittelbar sichtbar. Im Educational Design Research werden Theorie und Praxis als nicht trennbare Entitäten angesehen. Im Mittelpunkt stehen die Optimierung von Lernprozessen und das Innovieren von Unterricht durch die Entwicklung lokaler Theorien. Maßgeblich ist hierfür die enge Zusammenarbeit von Forscher*innen und Praktiker*innen. › Literatur Abendroth-Timmer, Dagmar (2007). Akzeptanz und Motivation: Empirische Ansätze zur Erforschung des unterrichtlichen Einsatzes von bilingualen und mehrsprachigen Modulen . Frankfurt/ M.: Lang. Altrichter, Herbert (1990). Ist das noch Wissenschaft? Darstellung und wissenschaftstheoretische Diskussion einer von Lehrern betriebenen Aktionsforschung . München: Profil. Altrichter, Herbert/ Feindt, Andreas (2011). 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Es richtet sich an Forscher*innen, die sich bisher nicht mit diesem methodologischen Rahmen auskennen und vermittelt anschaulich die theoretischen Grundlagen und das praktische Handwerkszeug für die Planung, Durchführung und Dokumentation von design studies . Im zweiten Teil des Buches werden zahlreiche Beispiele von DR-Studien expliziert. Burns, Anne (2010). Doing Action Research in English Language Teaching. A Guide for Practitioners. New York: Routledge. Hierbei handelt es sich um eine umfassende, an Praktiker*innen gerichtete Einführung in die Aktionsforschung. Die Verfasserin behandelt alle für die Planung, Durchführung und Auswertung von Aktionsforschungsprojekten notwendigen Grundlagen, Aspekte und Verfahren, wobei der Schwerpunkt auf der kollaborativen Aktionsforschung liegt. Viele Beispiele von Aktionsfor- 4.3 Sampling 85 schungsprojekten und zahlreiche praktische Hinweise ermutigen dazu, selbst ein solches Projekt zu beginnen oder zu begleiten. De Florio-Hansen, Inez (Koord.) (1998). Fremdsprachen Lehren und Lernen 27. Themenschwerpunkt: Subjektive Theorien von Fremdsprachenlehrern. Dieses Themenheft enthält zahlreiche Beiträge zur Erforschung subjektiver Theorien in der Fremdsprachendidaktik. Die Spannweite reicht von grundlegenden forschungsmethodologischen und -methodischen Aufsätzen über Beiträge zur Erforschung von subjektiven Theorien von (angehenden) Lehrkräften bis hin zu Berichten über die Arbeit mit subjektiven Theorien in der Lehrerausbildung. 4.3 Sampling Urška Grum/ Michael K. Legutke 4.3.1 Begriffsklärung und Einführung Empirisch arbeitende Fremdsprachendidaktiker und Fremdsprachendidaktikerinnen müssen im Forschungsprozess Auswahlentscheidungen treffen, die wesentlichen Einfluss auf die Datenerhebung, die Datenauswertung sowie die Präsentation der Ergebnisse haben und damit nicht zuletzt den Erfolg und die Aussagekraft der Studie bestimmen. Den Prozess der Auswahlentscheidungen, der im folgenden Kapitel skizziert werden soll, nennt man Sampling . So geht es u. a. um die Frage, von welchen Personen, Gruppen, Objekten oder Merkmalen (Stichprobe) in welcher Anzahl Daten erhoben werden sollen (Stichprobenziehung). Entschieden werden muss ferner, welche der erhobenen Daten im Detail zu analysieren sind (Datensampling) und welche Ergebnisse der Analyse prominent diskutiert und dargestellt werden müssen (Präsentationssampling). Unter Sample versteht man eine Stichprobe, also eine Gruppe von Menschen oder Objekten, die einer Grundgesamtheit (Population) entnommen wurde, um diese auf bestimmte Merkmale hin zu untersuchen, sprich um von dieser Daten zu erheben. In der qualitativen Studie von Steininger ( 2014 ), die die Modellierung literarischer Kompetenz für den Englischunterricht am Ende der Sekundarstufe I versucht, setzt sich die Stichprobe aus jeweils zwei 10 . Gymnasialklassen, zwei 10 . Realschul-, zwei 10 . Gesamtschul- und schließlich zwei 9 . Hauptschulklassen zusammen (Steininger 2014 : 99 ). Sie besteht demnach aus acht Fällen bzw. Teilstichproben. Die Grundgesamtheit bildet hier die Gruppe aller Schülerinnen und Schüler mit Englischunterricht am Ende der Sekundarstufe in Hessen. Da Forschungsvorhaben, die einem quantitativen Paradigma verpflichtet sind, sich in den grundlegenden Zielsetzungen von denen unterscheiden, die qualitativen Designs folgen, differieren auch die Auswahlentscheidungen und -prozesse. Aus diesem Grund wird nachfolgend Sampling in der quantitativen (Abschnitt 2 ) und der qualitativen Forschung (Abschnitt 3 ) getrennt erörtert. Trotz der Unterschiede zwischen quantitativen und qualitativen Forschungsarbeiten sind empirisch arbeitende Forschende in der Regel mit den 86 4. Forschungsentscheidungen Herausforderungen des Zugangs zum Forschungsfeld konfrontiert, den Schlüsselpersonen und Institutionen ( gatekeepers ) regulieren. Für Arbeiten im schulischen Bereich sind dies u. a. die Kultusministerien der Länder, die Schulleitungen, die Schulkonferenzen und die Lehrkräfte. Gatekeepers spielen häufig eine zentrale Rolle bei der Konkretisierung der Auswahlentscheidungen (Merkens 2012 : 288 ). Forschende können oftmals gar nicht anders, als ein aus forschungsstrategischen Überlegungen als ideal eingestuftes Sampling zu modifizieren, weil die Anforderungen der gatekeepers Einschränkungen mit sich bringen (s. auch Kap. 4 . 6 ). Auswahlentscheidungen sind deshalb häufig Ergebnisse von Kompromissen, ohne die das jeweilige Forschungsprojekt gefährdet wäre, wie unten an Beispielen noch verdeutlicht wird. 4.3.2 Sampling in der quantitativen Forschung Quantitative Forschung strebt vom Grundsatz her Repräsentativität der Ergebnisse an. Diese wäre vollständig gegeben, würden alle für die Beantwortung der Forschungsfrage zu untersuchenden Personen, Merkmale oder Objekte untersucht. Da dies jedoch aus Praktikabilitätsgründen meistens nicht möglich ist, muss aus der Grundgesamtheit eine Stichprobe gezogen werden, die das zu untersuchende Phänomen möglichst genau abbildet, sprich repräsentiert. Mit anderen Worten: quantitative Forschung ist daran interessiert, Ergebnisse zu gewinnen, die nicht nur für die Stichprobe selbst, sondern für die gesamte Population gültig sind. Die zugrunde gelegte Population, die anhand einer Stichprobe genauer untersucht werden soll, kann dabei sehr groß (z. B. alle 15 -jährigen Schülerinnen und Schüler weltweit) oder auch sehr klein sein (z. B. alle Schülerinnen und Schüler einer Klasse). Welche Stichprobengröße in Relation zur Grundgesamtheit angemessen ist, wird in Abschnitt 2 erläutert. Zunächst soll jedoch diskutiert werden, welche Sampling-Strategien (Stichprobenziehungsverfahren) dafür zum Einsatz kommen können (Abschnitt 2 ) und welche a priori Entscheidungen getroffen werden müssen, um eine größtmögliche Repräsentativität der Stichprobe zu gewährleisten (Abschnitt 1 ). Zur Verdeutlichung möglicher Sampling-Strategien werden ausgewählte Forschungsarbeiten aus den Fremdsprachendidaktiken herangezogen. 1 Vorabentscheidungen Um die mit Hilfe statistischer Verfahren gewonnenen Analyseergebnisse einer Stichprobe später auf die gesamte Population verallgemeinern zu können, müssen vorab genaue Überlegungen angestellt werden, wie die Repräsentativität der Stichprobe sichergestellt werden kann. Vollständige Repräsentativität ist gegeben, wenn alle Mitglieder der Grundgesamtheit untersucht werden, so dass Population und Stichprobe deckungsgleich sind. Diese Total- oder Vollerhebung stellt die einfachste Sampling-Strategie dar. In diesem Fall ist die gesamte Population erhebungsrelevant und kann mit den gegebenen Ressourcen in ihrem Umfang auch erfasst werden. Beispielsweise ließen sich über eine Vollerhebung alle Schülerinnen und Schüler einer Schule zu ihrer Zufriedenheit mit dem kulinarischen Angebot der Schulmensa befragen, wohingegen es ein hoffnungsloses Unterfangen wäre, mit 4.3 Sampling 87 dieser Sampling-Strategie die Lesekompetenz aller 15 -jährigen Schülerinnen und Schüler weltweit messen zu wollen. Hier empfiehlt es sich, von einer Vollerhebung abzusehen und die erhebungsrelevante Grundgesamtheit in ihrer Anzahl (Umfang der Grundgesamtheit: N) im Rahmen einer Teilerhebung auf eine Stichprobe geringerer Zahl (Stichprobenumfang: n) zu reduzieren. Um jedoch die aus der Analyse der über die Stichprobe gewonnenen Befunde auf die Grundgesamtheit (alle 15 -Jährigen weltweit) beziehen zu können, bedarf es einer Stichprobe, die die Grundgesamtheit repräsentiert. Eine repräsentative Stichprobe stellt ein unverzerrtes Miniaturabbild der Grundgesamtheit in Bezug auf die zu untersuchenden Personen, Objekte oder Merkmale dar. Ist die Miniatur nicht deckungsgleich mit dem Original, entsteht ein Zerrbild, was die Grundgesamtheit nicht zuverlässig darstellt. Repräsentativität ist in der Forschungspraxis eher eine theoretische Zielvorgabe als ein Attribut konkreter Untersuchungen […] Die meisten Laien […] glauben, dass große Stichproben (z. B. 1000 Befragte) bereits die Kriterien für Repräsentativität erfüllen. […] Es ist ein weit verbreiteter Irrtum, dass mit wachsender Stichprobengröße die Repräsentativität der Stichprobe generell steigt. Dies trifft nur bei unverzerrter Auswahl zu. Bei einer verzerrten Auswahl hilft auch ein großer Stichprobenumfang nicht, den Fehler zu beheben, er wiederholt sich nur in großem Stil. (Bortz/ Döring 2006: 398) Repräsentativität ist eine Grundvoraussetzung für schließende bzw. inferenzstatistische Verfahren, die auf die Daten der Stichprobe angewendet werden. Ist die Stichprobe nicht repräsentativ für die Grundgesamtheit, lassen sich formal-statistisch die Studienergebnisse nicht auf die Grundgesamtheit verallgemeinern und die Aussagekraft der Studie reduziert sich auf die Stichprobe selbst. Es lassen sich zur Beschreibung der Stichprobe lediglich Verfahren der deskriptiven Statistik verwenden. Repräsentative und nicht-repräsentative Stichproben unterscheiden sich also in ihrer Aussagekraft und in der Art statistischer Verfahren, die auf sie angewendet werden können. Damit empfiehlt es sich, vorab festzulegen, welche Aussagekraft die Ergebnisse einer Studie haben sollen und Stichprobe und Sampling-Verfahren entsprechend zu wählen. Es gibt verschiedene Sampling-Strategien, die eine größtmögliche Repräsentativität der Stichprobe anstreben. Sampling-Strategien geben einen Stichprobenplan vor, nach dem die Stichprobenziehung erfolgt. Dieser legt genau fest, welche Elemente in welcher Anzahl in die Stichprobe aufgenommen werden. Es gibt probabilistische wie nicht-probabilistische Sampling-Strategien. Erfolgt die Auswahl aus der Grundgesamtheit so, dass die ausgewählten Elemente die gleiche bzw. bekannte Auswahlwahrscheinlichkeit haben, entstehen probabilistische Stichproben; ist die Auswahlwahrscheinlichkeit unbekannt, ergeben sich nicht-probabilistische Stichproben (vgl. z. B. Bortz/ Döring 2006 : 402 ; Döring/ Bortz 2016 : 294 ). 2 Sampling-Strategien Probabilistischen Sampling-Strategien (Zufallsstichprobenauswahl) liegt die Annahme zugrunde, dass sich Zufallsstichproben, die von einer Grundgesamtheit gezogen werden, zwar unterscheiden, aber alle Elemente der Grundgesamtheit qua Zufall eine ähnliche Wahrscheinlichkeit haben, genauso verteilt zu sein wie in der Grundgesamtheit. Statistisch betrachtet ist somit eine ausreichend große Wahrscheinlichkeit gegeben, dass eine einzel- 88 4. Forschungsentscheidungen ne Zufallsstichprobe dem Mittel der Grundgesamtheit ähnelt. Aus probabilistischen Stichproben gewonnene Ergebnisse erlauben daher populationsbeschreibende Rückschlüsse. Aus den gängigsten probabilistischen Sampling-Strategien resultieren u. a. folgende Stichprobentypen: • Zufallsstichprobe: Eignet sich für Untersuchungen, bei denen noch nichts über die untersuchungsrelevanten Merkmale bekannt ist. Per Zufallsauswahl werden die Probandinnen und Probanden (oder Objekte) direkt aus der Grundgesamtheit gezogen. Dazu muss die Grundgesamtheit bekannt sein und die Auswahl nachweislich zufällig stattfinden (vgl. z. B. Döring/ Bortz 2016 : 312 ; Bortz/ Schuster 2010 : 80 ; Cohen/ Manion/ Morrison 2018: 215 ). Dies kann z. B. dadurch gewährleistest werden, dass jedes Mitglied der Grundgesamtheit eine Nummer erhält. Die Auswahl der zur Stichprobe gehörigen Nummern erfolgt dann über einen Zufallsgenerator. Hier wird statistisch unterschieden zwischen einfacher Zufallsstichprobe (die gezogenen Nummern werden zurückgelegt und können erneut ausgewählt werden) und Zufallsstichprobe (hier kann jedes Mitglied der Grundgesamtheit nur einmal in die Stichprobe gewählt werden). • Geschichtete Stichprobe: Um die Verteilung der zu untersuchenden Merkmalsausprägung in einer Stichprobe analog zu ihrer Verteilung auf verschiedene Schichten innerhalb der Grundgesamtheit replizieren zu können, muss diese Verteilung (z. B. aus Vorstudien) bekannt sein. Die Mitglieder aus den Schichten der Grundgesamtheit werden zufällig in die entsprechende Schicht der Stichprobe gewählt (vgl. z. B. Döring/ Bortz 2016 : 312 ; Bortz/ Schuster 2010 : 81 ; Cohen/ Manion/ Morrison 2018: 216 ). Ist beispielsweise bekannt, dass sich Leistungskurse in der Fremdsprache Französisch im Mittel aus 20 % männlichen und 80 % weiblichen Jugendlichen zusammensetzen, dann sollte sich diese Quote auch in der Stichprobe einer entsprechenden Studie wiederfinden. Gleiches gilt für alle Merkmale, die Einfluss auf die im Forschungsfokus stehende Eigenschaft haben könnten. • Klumpenstichprobe: Als Klumpen werden natürliche Teilkollektive oder bereits bestehende Gruppen bezeichnet, wie etwa Schulklassen und Schulen. Analog zur Zufallsstichprobenziehung ist auch hier eine Liste aller studienrelevanten Klumpen notwendig, aus der per Zufall eine bestimmte Anzahl an Klumpen in ihrer Gesamtheit für die Stichprobe ausgewählt wird (vgl. z. B. Döring/ Bortz 2016 : 314 ; Bortz/ Schuster 2010 : 81 ; Cohen/ Manion/ Morrison 2018: 216 ). Es ist beispielsweise nicht möglich, im Rahmen einer Klumpenstichprobenziehung, für die ganze Schulklassen ausgewählt werden, nur einige Schüler aus einer gewählten Schulklasse in die Stichprobe aufzunehmen. • Mehrstufige Stichprobe: Klumpenstichproben können oftmals zu umfangreich werden, wenn die Klumpen selbst schon sehr groß sind. In diesen Fällen bieten sich zwei- oder mehrstufige Stichprobenziehungen an. Dabei wird in einem ersten Schritt eine Liste aller untersuchungsrelevanten Klumpen erstellt, aus der per Zufall eine bestimmte Anzahl an Klumpen ausgewählt wird (Klumpenstichprobe). In einem zweiten Ziehungsschritt wird wiederrum per Zufall eine bestimmte Anzahl an einzelnen Untersuchungsobjekten für die Stichprobe ausgewählt. Diese Schritte können mehrfach wiederholt werden (vgl. z. B. Döring/ Bortz 2016 : 315 ; Cohen/ Manion/ Morrison 2018: 217 ). Die Stichprobenziehungen der PISA -Studien folgen annäherungsweise einer zweistufigen Sampling- 4.3 Sampling 89 Strategie: Zuerst werden per Zufall aus einer vollständigen Liste infrage kommender Bildungseinrichtungen Schulen ausgewählt (Klumpenstichprobe), aus denen dann in einem zweiten Schritt zufällig die 15 -jährigen Probandinnen und Probanden gezogen werden. Um größtmögliche Repräsentativität der Stichprobe zu gewährleisten, muss in der Forschungspraxis oft auf mehrstufige Sampling-Verfahren zurückgegriffen werden. Dies lässt sich beispielhaft an der Studie von Grum ( 2012 ) darstellen: Untersucht wurde das Leistungsspektrum mündlicher englischer Sprachfähigkeit von Schülerinnen und Schüler der zehnten Jahrgangsstufe mit und ohne Bilingualem Sachfachunterricht in Berlin. Da es zum Erhebungszeitpunkt eine überschaubare Menge an Schulen mit bilingualem Sachfachunterricht gab (drei Gymnasien und drei Realschulen), wurden alle Schulen in die Studie aufgenommen. Anschließend wurden zu gleichen Anteilen aus den bilingualen wie regulären Klassen per Zufall, stratifiziert nach Geschlecht und Leistung, 84 Schülerinnen und Schülern gezogen, die an einem mündlichen Test teilnahmen. Der Stichprobenplan stellt somit eine Kombination aus Vollerhebung und geschichteter Stichprobe dar. Als weiteres Beispiel aus der Sprachlehr-Lernforschung sei hier die Studie von Özkul ( 2011 ) zur Berufs- und Studienfachwahl von Englischlehrenden genannt. Auch hier wurde auf eine Mischform der Stichprobenziehung zurückgegriffen. Die Grundgesamtheit lässt sich folgendermaßen beschreiben: alle Lehramtsstudierende mit Anglistik/ Amerikanistik an deutschen Hochschulen im Wintersemester 2008 , die an studieneinführenden Veranstaltungen teilnahmen. An 19 von 40 möglichen Hochschulen wurden Fragebögen verschickt, die von den Studierenden beantwortet wurden. Dieses Verfahren scheint zu einer Klumpenstichprobe in Kombination mit einer Zufallsstichprobe zu führen. Allerdings kann dieses Verfahren nicht als probabilistisch beschrieben werden, da sich Hochschulen und Studierende selbst für die Teilnahme an der Fragebogenergebung entschieden haben (Selbstauswahl) und nicht per Zufall ausgewählt wurden. Somit ist die Stichprobe nicht zufällig, sondern willkürlich entstanden und als nicht-probabilistisch einzustufen. Bei nicht-probabilistischen Sampling-Strategien (Quotenauswahlstrategien) spielt der Zufall keine Rolle, sodass ein höheres Risiko besteht, Auswahlfehler zu begehen, die zu einem verzerrten Abbild der Grundgesamtheit führen. Aus nicht-probabilistischen Stichproben gewonnene Ergebnisse erlauben daher keine verallgemeinernden Aussagen über die Grundgesamtheit, gleichwohl lässt sich aber die Stichprobe beschreiben. Daher sind nicht-probabilistische Stichprobenverfahren dann sinnvoll, wenn beispielsweise die Grundgesamtheit unbekannt ist oder eine Studie zu rein deskriptiven oder explorativen Zwecken durchgeführt wird. Zu nicht-probabilistischen Sampling-Strategien gehören u. a. folgende Stichprobentypen: • Ad-hoc-Stichprobe (Bequemlichkeitsauswahl oder Gelegenheitsstichprobe): Eine bereits bestehende Personengruppe bildet die Stichprobe (z. B. eine Schulklasse oder Lerngruppe, Passanten). Es ist meist nicht zu rekonstruieren, welche Grundgesamtheit eine Ad-hoc-Stichprobe abbildet (vgl. z. B. Döring/ Bortz 2016 : 306 ; Bortz/ Schuster 2010 : 82 ; Cohen/ Manion/ Morrison 2018: 217-218 ). Das für die Untersuchung von Kienberger ( 2020 , s. Kap. 7 ) vorgenommene Sampling stellt ein Beispiel für eine Gelegenheitsstichprobe dar. 90 4. Forschungsentscheidungen • Quotenstichprobe: Die Zusammensetzung der Stichprobe erfolgt nach Merkmalsquoten, die analog zur Zusammensetzung dieser in der Population erfolgt. Es werden gezielt vermeintlich passende Untersuchungsobjekte in die Stichprobe aufgenommen, um die Quote für bestimmte Merkmalskategorien zu erfüllen. Die Erfüllung der Quoten spielt dabei eine größere Rolle als die zufällige Auswahl der Stichprobe und erfolgt nicht per Zufall, sondern nach subjektiven Kriterien der Datenerhebenden (vgl. z. B. Döring/ Bortz 2016 : 307 ; Bortz/ Schuster 2010 : 82 ; Cohen/ Manion/ Morrison 2018: 218 ). Von einer Quotenauswahl kann beispielsweise dann gesprochen werden, wenn die Vorgabe ist, je vier Englischlehrerinnen und -lehrer zu befragen und der Interviewer sich in den Schulpausen im Lehrerzimmer solange passende Interviewpartner sucht, bis die Quote erfüllt ist. • Theoretische Stichprobe: Nicht zufalls-, sondern theoriegeleitet werden für eine Forschungsfrage besonders typische oder untypische Fälle ausgewählt, mit dem Ziel, deren Verteilung in der Grundgesamtheit in der Stichprobe widerzuspiegeln (vgl. z. B. Döring/ Bortz 2016 : 302 ; Bortz/ Schuster 2010 : 82 ; Cohen/ Manion/ Morrison 2018 : 222 - 23 ). Dieses Verfahren wird auch bei quantitativen Studien eingesetzt, findet aber primär in der qualitativen Forschung Anwendung (s. Kap. 4 . 3 ). 3 Stichprobengröße Um eine möglichst hohe Repräsentativität für die Aussagekraft der Ergebnisse einer Studie zu erzielen, ist neben der Genauigkeit, mit der eine Stichprobe die Grundgesamtheit abbildet, und dem Grad an Zufälligkeit, mit der die Elemente der Grundgesamtheit in die Stichprobe gewählt werden, auch die Größe der Stichprobe von Bedeutung. Prinzipiell lassen sich statistische Kennzahlen mit jedem ‚irgendwie‘ erhobenen Datensatz jeglicher Größe berechnen - jedoch lassen sich weder die Qualität der Ergebnisse noch die Aussagekraft der Studie nachvollziehen. Wird ein quantitativ-empirisches Forschungsdesign mit auf die Grundgesamtheit schließenden inferenzstatistischen Verfahren angestrebt, lässt sich a priori der Umfang für die probabilistisch zu erhebende Stichprobe berechnen. Dabei wird ein möglichst optimaler Stichprobenumfang angestrebt, denn zu kleine Stichproben verringern die Teststärke und zu große Stichproben erhöhen den Erhebungsaufwand unnötig. „Stichprobenumfänge sind optimal, wenn sie einem Signifikanztest genügend Teststärke geben, um einen getesteten Effekt bei vorgegebener Effektgröße entdecken und auf einem vorgegebenen Signifikanzniveau absichern zu können“ (Bortz/ Döring 2006 : 736 ). Statistisch gesehen hängen Teststärke, Effektgröße, α-Fehlerniveau und Stichprobenumfang voneinander ab. Dies bedeutet, dass sich die Stichprobengröße berechnen lässt, wenn man Teststärke, Effektgröße und α-Fehlerniveau festlegt. Diese Berechnung ist auch abhängig vom gewählten statistischen Verfahren, das auf die Daten angewendet werden soll. Das α-Fehlerniveau wird oftmals auf 5 % oder 1 % festgelegt und die Teststärke auf 80 %. Die Effektgröße hingegen ist stark abhängig vom Forschungszusammenhang und dem Studiendesign. Sie wird oft in kleinere, mittlere und größere Effekte unterteilt (s. hierzu Grum 2019 ). Der optimale Stichprobenumfang lässt sich für spezifische statistische Tests beispielsweise mit der Software G*Power berechnen oder in Tabellen nachschlagen (vgl. z. B. Cohen/ Manion/ Morrison 2018: 212-13; Döring/ Bortz 2016 : 842 - 849 ). 4.3 Sampling 91 Zusammenfassend lässt sich für die Planung eines quantitativen Samplings folgender Ablaufplan erstellen: Zuerst wird entschieden, ob es nötig ist, eine Stichprobe zu ziehen oder ob eine Vollerhebung durchgeführt werden kann. Danach wird die Population in ihrer Größe und ihren erhebungsrelevanten Merkmalen definiert. Anschließend erfolgt die Festlegung auf eine für die Studie passende Sampling-Strategie. Zum Schluss wird überprüft, ob Zugang zur Stichprobe besteht ( gatekeepers ) oder ggf. die Sampling-Strategie geändert werden muss. 4.3.3 Sampling in der qualitativen Forschung Da qualitative Forschungen nicht statistische Repräsentativität der Ergebnisse anstreben, spielt die Frage auch keine Rolle, ob die für die Datenerhebung gewählte Stichprobe für die Gesamtheit einer Population repräsentativ ist. Bei qualitativen Studien werden Auswahlentscheidungen deshalb nicht von probabilistischen, sondern eher von inhaltlichen Gesichtspunkten gesteuert; sie sind eng mit dem Forschungsprozess verbunden und stellen sich auf drei Ebenen, nämlich ( 1 ) der Ebene der Datenerhebung, ( 2 ) der Ebene der Datenauswertung und schließlich ( 3 ) der Präsentation der Ergebnisse (vgl. Flick 2016 : 155 ). Damit das jeweilige Forschungsvorhaben intersubjektiv nachvollziehbar ist, muss das Sampling transparent und damit nachvollziehbar sein. Im Folgenden sollen solche Auswahlentscheidungen unter Berücksichtigung ausgewählter Forschungsarbeiten aus den Fremdsprachendidaktiken skizziert werden. 1 Vorabentscheidungen und Festlegung des Samples für die Datenerhebung Die Festlegung der Stichprobe wird zunächst durch die Forschungsfrage und die theoretischen Vorüberlegungen des Forschers/ der Forscherin bestimmt; sie leiten eine von Kriterien bestimmte, gezielte Auswahl. Die Entscheidung ist demnach theorie- und kriteriengeleitet: purposive sampling und criterion sampling (Silverman 2000 : 104 - 5 ). Als Beispiel für solche begründeten (Vorab-)Entscheidungen diene die Referenzarbeit von Ehrenreich ( 2004 ), in der die Forscherin die Bedeutung des Auslandsaufenthalts für die Fremdsprachenlehrerbildung unter besonderer Berücksichtigung des Assistant -Jahres mit Hilfe einer Interviewstudie untersucht. Theoretische Vorüberlegungen im Zusammenhang der Aufarbeitung der Fachliteratur bilden die Basis für eine Kriterienmatrix mit entsprechenden Parametern, die die Forscherin bei der tatsächlichen Informantenauswahl leiteten. Auswahlkriterien sind u. a.: Geschlecht, Herkunftsbundesland, Zielland und Ausbildungsphase zum Zeitpunkt der Interviews. Unter Berücksichtigung dieser Matrix konstituiert Ehrenreich im Schneeballverfahren (s. Kap. 5 . 2 . 1 ) die Stichprobe ihrer Studie, eine Gruppe von 22 Informanten, die zum einen als typisch markierte Fälle gemäß der Kriterien enthält, zum anderen eine maximale Variation der Teilnehmenden innerhalb der Gesamtgruppe abbildet (Ehrenreich 2004 : 158-59) . Kimes-Link ( 2013 ) untersucht „welche Aufgaben und Methoden Lehrkräfte im englischen Literaturunterricht der gymnasialen Oberstufe bei der Lektüre von Ganzschriften einsetzen und inwiefern diese geeignet sind, die Interaktion zwischen den Lernenden und 92 4. Forschungsentscheidungen dem Text sowie die Interaktion innerhalb der Lerngruppe zu intensivieren, gemeinsame Bedeutungsaushandlungen zu initiieren und vertiefte Verstehensprozesse zu begünstigen“ (Kimes-Link 2013 : 85 ). Sie konstituiert theoriegeleitet die Stichprobe ihrer Studie aus insgesamt sieben Kursgruppen gymnasialer Oberstufen, die zum einen unterschiedliche Schul- und Kurstypen repräsentieren, zum anderen ein Spektrum unterschiedlicher literarischer Genres zum Arbeitsgegenstand haben (Dramen, Jugendromane, Romane und Kurzgeschichten). A priori vorgenommene, kriterien- und theoriegeleitete Konstruktionen einer Stichprobe werden, wenn es um die konkrete Realisierung des Projekts geht, von drei Aspekten beeinflusst, die letzten Endes den Forschungsprozess beeinflussen und häufig für das Sampling modifizierend wirken. Die Frage, wo und wie Forschende ihre Forschungspartner gewinnen, bringt die Herausforderung auf den Begriff. Da ist zum einen der Aspekt der räumlichen und institutionellen Zugänglichkeit. So kann es sein, dass ein räumlich naher und deshalb forschungspragmatisch günstiger Kontext, der für die Bearbeitung der Forschungsfrage zudem sehr vielversprechend wäre, nicht zugänglich ist, weil die gatekeepers unüberwindliche Hürden errichten. Andererseits kann ein räumlich ferner Kontext zugänglich sein, der den Forschenden jedoch einen größeren Zeitaufwand abnötigt und damit den Forschungsprozess erheblich belastet. Damit ist auch der zweite Aspekt angesprochen, nämlich die Machbarkeit des Projekts. Gerade für Qualifikationsarbeiten, die in der Regel von Individuen und nicht von Forschergruppen geleistet werden und mit oft sehr begrenzten Zeitbudgets auskommen müssen, ist die Frage, was unter den konkreten Bedingungen leistbar ist, von Bedeutung. Machbarkeitsüberlegungen werden deshalb in das Sampling eingehen müssen. Die Kombination von Machbarkeits- und Zugänglichkeitsüberlegungen kann zu einer Ad-hoc-Stichprobe führen, die weniger kriterien- und zielgeleitet, als vielmehr pragmatisch bestimmt ist: Die Forschende wendet sich Personen und Kontexten zu, die zur Verfügung stehen, wie die Untersuchung von Roters ( 2012 : 161 - 63 ) verdeutlicht. Roters befasst sich in ihrer explorativen Studie mit dem Konstrukt der Reflexion, das in Diskursen zur Entwicklung von Lehrerprofessionalität als Schlüsselkompetenz markiert wird. Untersuchungsgegenstand sind die Beschreibung und Analyse zweier Lehrerbildungsprogramme und -kontexte einer deutschen und einer US -amerikanischen Universität. Die Auswahl der Stichprobe erfolgte zunächst theoriegeleitet und über umfangreiche Dokumentenanalysen, dann aber nach Kriterien der Zugänglichkeit und Machbarkeit, wobei nicht zuletzt formale und institutionelle Anforderungen bestimmend wirkten. Von Relevanz für die Bestimmung der Stichprobe ist schließlich die Bereitschaft der Forschungspartner, sich auf die Belastungen des Forschungsprozesses einzulassen: etwa auf narrative Interviews (Ehrenreich 2004 ) oder auf Videoaufnahmen im Klassenzimmer (Kimes-Link 2013 ): „[…] wie kann [der Forscher , die Forscherin] erreichen, dass eine entsprechende Bereitschaft nicht nur geäußert wird, sondern zu konkreten Interviews und anderen Daten führt“ (Flick 2016 : 143 )? 2 Entscheidungen bei der Datenbearbeitung und Sampling-Strategien Auch wenn zunächst entschieden ist, von welchen Personen und Gruppen Daten erhoben werde sollen, ist damit für qualitativ Forschende in der Regel das Sampling nicht abge- 4.3 Sampling 93 schlossen. Nicht nur Forschungsanfänger und -anfängerinnen stehen vor der Herausforderung, die große Datenfülle, die in qualitativen Studien anfallen kann, zu meistern. Dabei stellen sich zwei Fragen. Welche Daten sind für die Beantwortung der Forschungsfrage zielführend, „the real challenge is not to generate enough data, but to generate useful data“ (Dörnyei 2007 : 125, Hervorh. im Original) und welche Daten sollen in welcher Breite und Tiefe etwa mit Hilfe von Datentriangulation (s. Kap. 4 . 4 ) bearbeitet werden. Entscheidungen sind dann häufig an den Prozess der Datenbearbeitung gebunden, aus dem sich oftmals auch eine weitere Differenzierung der Forschungsfrage(n) ergibt. Die Fälle werden damit schrittweise ausgewählt, Entscheidungskriterium ist ihre Relevanz für die Forschungsfrage und nicht ihre Repräsentativität (Flick 2011 : 163 ). Forschenden stehen eine Reihe von Sampling-Strategien zur Verfügung, zu denen u. a. folgende gehören: 3 • Sampling typischer Fälle: Der Forscher, die Forscherin, der/ die sich z. B. mit dem beruflichen Selbstverständnis von Englischlehrkräften in der Grundschule befasst, konzentriert sich auf Personen in den Daten, die in Hinblick auf die Forschungsfrage über typische Eigenschaften, Merkmale und/ oder Erfahrungen verfügen (weibliche Lehrkräfte mit mehr als drei Jahren Berufserfahrung, die Englisch nicht als Muttersprache mitbringen), auf Personen also, die typisch für die Mehrzahl der untersuchten Fälle sind. • Sampling maximaler Variation: Der Forscher, die Forscherin interessiert sich besonders für Fälle, die signifikante Unterschiede aufweisen, um die Bandbreite und Variabilität von Erfahrungen der untersuchten Gruppe zu erfassen und dabei mögliche Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten. • Sampling extremer oder abweichender Fälle: Die Strategie ähnelt der vorangegangenen. Der Forscher, die Forscherin fokussiert auf die Extremfälle, z. B. auf Lehrkräfte, die ihr berufliches Selbstverständnis besonders stark mit der Einschätzung ihrer L 2 -Kompetenz verknüpfen und sich Muttersprachlern/ Muttersprachlerinnen besonders unterlegen fühlen. Auch hier könnte von Interesse sein, ob selbst solche Extremfälle Gemeinsamkeiten aufweisen. • Event-Sampling: Diese Sampling-Strategie ist vorwiegend in der Videoforschung vertreten und filtert bestimmte niedrig- oder hochinferente Phänomene (wie Partnerarbeit oder mündliche Fehlerkorrekturen) aus dem Videomaterial heraus. Event-Sampling wird vom Time- Sampling abgegrenzt. Beim Time -Sampling werden Kodierungen in bestimmten Zeitabständen vorgenommen (z. B. alle 2 Minuten) (vgl. Appel/ Rauin 2015 ). • Sampling kritischer Fälle: Diese Strategie ist dem Event-Sampling ähnlich. Sie zielt auf Fälle in den Daten, die als zentral für die untersuchten Zusammenhänge gelten können. Schwab ( 2006 ), der mit Hilfe einer konversationsanalytischen Longitudinalstudie die Interaktionsstrukturen im Englischunterricht einer Hauptschulklasse untersucht, konkretisiert nach der ersten Durchsicht einer Grobtranskription der Daten die Gesprächspraktik „Schülerinitiative“ als ein kritisches Phänomen und zentrales Element von Schülerpartizipation. 81 dieser kritischen Fälle werden dann im Detail transkribiert und einer differenzierten Analyse unterzogen (Schwab 2006 ). Die Referenzarbeit von Schwab verdeutlicht, dass Sampling-Prozesse in qualitativen Studien in der Regel offen 3 Zu den einzelnen Strategien vgl.: Dörnyei 2007 : 95 - 101 ; Flick 2016 : 165 - 67 ; Cohen/ Manion/ Morrison 2018: 223-225. . 94 4. Forschungsentscheidungen und iterativ sind, denn die zu untersuchenden Fälle gewinnen oftmals erst im Prozess der Datenbearbeitung an Gestalt: die Grundgesamtheit kann nicht von vorneherein genau bestimmt werden, sondern konstituiert sich durch einen Prozess der sukzessiven Differenzierung bereits gewonnener Erkenntnisse und die daraus folgende, erneute Interpretation der Daten, die u. U. sogar eine weitere Phase der Datengewinnung im Sinne der Forschungsfrage nahe legt. Die Auswahlentscheidungen werden durchgängig von Relevanzkriterien für die Forschungsfrage und durch die bereits formulierten Einsichten und Vermutungen und, nicht zuletzt, durch vorhandene Wissensbestände (Vorwissen, Fachwissen) geleitet. Dieses zyklisch voranschreitende Auswahlverfahren wird als Theoretical- Sampling bezeichnet und wurde erstmals von Vertretern der empirischer Sozialforschung im Zusammenhang der Grounded Theory beschrieben (s. Kap. 5 . 3 . 3 ). Obwohl der Begriff ursprünglich in der Grounded Theory -Methodologie verortet ist und dort den Prozess der datengeleiteten Theoriegenerierung bezeichnet, wird das Verfahren des Theoretical- Sampling auch mit anderen Methoden qualitativer Forschung verbunden (s. Kap. 5 . 3 . 5 ). Alle oben genannten Sampling-Strategien können im Verfahren des Theoretical- Sampling zur Anwendung kommen. 4 3 Entscheidungen für die Präsentation der Ergebnisse Da es für qualitative Studien nicht per se die richtige Entscheidung oder Strategie gibt, sondern diese sowohl von der Fragestellung, dem Gang der Analyse und vorhandenen Wissensbeständen abhängt, zu der das jeweilige Forschungsprojekt in Beziehung steht, müssen die Entscheidungen auch im Kontext dieses Gesamtzusammenhangs gefällt und entsprechend begründet werden: „Samplingentscheidungen lassen sich nicht isoliert treffen“ (Flick 2011 : 169 ). Das gilt natürlich auch für Entscheidungen, welche Befunde wie zu präsentieren sind. Als Beispiel diene die Referenzarbeit von Arras ( 2007 ), die Prozesse der Beurteilungsarbeit mit Hilfe eines Mehrmethodendesigns erforschte. Arras erhob qualitativ introspektive Daten (Laut-Denk-Protokolle) von vier Beurteilerinnen, die danach durch Daten aus retrospektiven Interviews ergänzt und vertieft wurden. Die Datenanalyse erbrachte eine solche Fülle von Einzelhandlungen und Strategien der Beurteilerinnen, dass für die Darstellung der Befunde eine Auswahl getroffen werden musste. Arras begründet ihre Entscheidung mit zwei Auswahlkriterien: Sie konzentriert sich einerseits gemäß ihrer zentralen Fragestellung auf jene Befunde, die „den Umgang mit dem Beurteilungsverfahren und … die Rolle … der Deskriptoren beleuchten. Zum anderen werden jene Beobachtungen referiert …, die über das Test-DaF-Beurteilungsinstrumentarium hinausweisen“ (Arras 2007 : 217 ). Von besonderem Interesse sind nämlich „Strategien, die vermutlich auf zugrunde liegenden subjektiven Annahmen und persönlichen Erfahrungen gründen“. Befunde dieser beiden Großgruppen werden dann im Detail präsentiert. 5 4 Das methodische Vorgehen des Theoretical Sampling und seine methodologische Begründung werden im Kapitel 5 . 3 . 3 . erörtert und mit Hinweisen auf Referenzarbeiten verdeutlicht. Eine Einzeldarstellung entfällt deshalb an dieser Stelle. S. auch Silverman 2000 : 105 - 110 . 5 Weitere Beispiele für solche Entscheidungsprozesse liefern die Arbeiten von Benitt ( 2015 ) und Zibelius ( 2015 ). 4.3 Sampling 95 4.3.4 Fazit Auch wenn es sinnvoll ist, Sampling-Verfahren nach qualitativ und quantitativ zu unterscheiden, lassen sich Forschungsvorhaben nicht immer strikt in quantitative oder qualitative Erhebungs- und Analyseverfahren unterteilen, so dass es auch Sampling-Strategien gibt, bei denen quantitative und qualitative Verfahren kombiniert werden (Mixed-Methods-Sampling). Hierzu gehören z. B. parallele, sequenzielle oder multi-level Auswahlverfahren (vgl. z. B. Kuckartz 2014 ; Cohen/ Manion/ Morrison 2018: 224-25 ; Teddlie/ Yu 2007 , s. auch Kap. 3 . 3 und 6 . 4 ). Prinzipiell sollte die Sampling-Strategie immer auf Basis der Forschungsfrage gewählt werden und dem Forschungszweck dienen. Die gewählte Strategie muss transparent sein, mögliche Einschränkungen berücksichtigen und zum gewählten Design passen. Alle diese Aspekte bestimmen letztendlich auch den Grad an Generalisierbarkeit, der für die gewonnenen Ergebnisse erreicht werden kann bzw. die angestrebte Aussagekraft der Studie. › Literatur Forschungsarbeiten, in denen hier erläuterte Sampling-Strategien angewendet werden, sind mit einem Sternchen markiert. Appel, Johannes/ Rauin, Udo (2015). Methoden videogestützter Beobachtungsverfahren in der Lehr- und Lernforschung. In: Elsner, Daniela/ Viebrock, Britta (Hg.). Triangulation in der Fremdsprachenforschung . Frankfurt/ Main: Peter Lang, 59-79. *Arras, Ulrike (2007). Wie beurteilen wir Leistung in der Fremdsprache? Strategien und Prozesse bei der Beurteilung schriftlicher Leistungen in der Fremdsprache am Beispiel der Prüfung Test Deutsch als Fremdsprache (Test DAF ). Tübingen: Narr. [Referenzarbeit, s. Kurzbeitrag Kapitel 7] *Biebricher, Christiane (2008). Lesen in der Fremdsprache. Eine Studie zu Effekten extensiven Lesens. Tübingen: Narr. [Referenzarbeit, s. Kurzbeitrag Kapitel 7] *Benitt, Nora (2015). Becoming a (Better) Language Teacher. Classroom Action Research and Teacher Learning. Tübingen: Narr. Bortz, Jürgen/ Döring, Nicola (2006). Forschungsmethoden und Evaluation für Human- und Sozialwissenschaftler . 4. Auflage. Berlin: Springer. Bortz, Jürgen/ Schuster, Christof (2010). Statistik für Human- und Sozialwissenschaftler . 7. Auflage. Berlin: Springer. Cohen, Louis/ Manion, Lawrence/ Morrison, Keith (2018). Research Methods in Education . 8. Auflage. London: Routledge. Döring, Nicola/ Bortz, Jürgen (2016). Forschungsmethoden und Evaluation in den Sozial- und Humanwissenschaften . 5. Auflage. Berlin: Springer. Dörnyei, Zoltan (2007). Research Methods in Applied Linguistics . Oxford: Oxford University Press. *Ehrenreich, Susanne (2004). Auslandsaufenthalt und Fremdsprachenlehrerbildung. Das assistant- Jahr als ausbildungsbiographische Phase . München: Langenscheidt. [Referenzarbeit, s. Kurzbeitrag Kapitel 7] Flick, Uwe (2016). Qualitative Sozialforschung. Eine Einführung 7. Auflage. Reinbek: Rowohlt. G*Power [http: / / www.gpower.hhu.de] (25. 09. 2015) *Grum, Urška (2012). Mündliche Sprachkompetenzen deutschsprachiger Lerner des Englischen. Entwicklung eines Kompetenzmodells zur Leistungsheterogenitä t. Frankfurt/ Main: Peter Lang. 96 4. Forschungsentscheidungen Grum, Urška (2019). Effektstärken und ihre Bedeutung für die quantitative Fremdsprachenforschung: Ein Überblick. In: Falkenhagen, Charlott/ Funk, Hermann/ Reinfried, Marcus/ Volkmann, Laurenz (Hg.). Sprachen lernen integriert - global, regional, lokal. Dokumentation zum 27. Kongress für Fremdsprachendidaktik der Deutschen Gesellschaft für Fremdsprachenforschung (DGFF) . Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 323-334. *Kienberger, Martina (2020). Das Potenzial des potenziellen Wortschatzes nutzen. Erschließungsstrategien für unbekannten Wortschatz unter DaF-Lernenden an spanischen Universitäten . [Online: http: / / othes.univie.ac.at/ 62970/ .] (28.08.2020) *Kimes-Link, Ann (2013). Aufgaben, Methoden und Verstehensprozesse im englischen Literaturunterricht der gymnasialen Oberstufe. Eine qualitativ-empirische Studie . Tübingen: Narr. Kuckhartz, Udo ( 2014 ). Mixed Methods. Methodologie, Forschungsdesigns und Analyseverfahren . Wiesbaden: Springer. Merkens, Hans (2012). Auswahlverfahren, Sampling, Fallkonstruktion. In: Flick, Uwe/ von Kardorff, Ernst/ Steinke, Ines (Hg.). Qualitative Forschung. Ein Handbuch . 9. Auflage. Reinbek: Rowohlt, 286-299. *Özkul, Senem (2011). Berufsziel Englischlehrer/ in. Berufswahlmotive der Lehramtsstudierenden in Anglistik/ Amerikanistik . Berlin: Langenscheidt. [Referenzarbeit, s. Kurzbeitrag Kapitel 7] *Roters, Bianca (2012). Professionalisierung durch Reflexion in der Lehrerbildung. Eine empirische Studie an einer deutschen und einer US -amerikanischen Universität. Münster: Waxmann. *Schart, Michael ( 2003 ). Projektunterricht - subjektiv betrachtet. Eine qualitative Studie mit Lehrenden für Deutsch als Fremdsprache . Hohengehren: Schneider. [Referenzarbeit, s. Kurzbeitrag Kapitel 7] *Schwab, Götz (2009). Gesprächsanalyse und Fremdsprachenunterricht . Landau: Verlag Empirische Pädagogik. [Referenzarbeit, s. Kurzbeitrag Kapitel 7] Silverman, David (2000). Doing Qualitative Research. A Practical Handbook . London: Sage. *Steininger, Ivo (2014). Modellierung literarischer Kompetenz. Eine qualitative Studie im Fremdsprachenunterricht der Sekundarstufe I . Tübingen: Narr. Teddlie, Charles/ Yu, Fen (2007). Mixed Methods Sampling. A Typology with Examples. Journal of Mixed Methods Research 1/ 1, 77-100. *Zibelius, Marja ( 2015 ). Cooperative Learning in Virtual Space. A Critical Look at New Ways of Teacher Education . Tübingen: Narr. » Zur Vertiefung empfohlen Cohen, Louis/ Manion, Lawrence/ Morrison, Keith (2018). Research Methods in Education [Chapter 12. Sampling]. Hoboken: Taylor and Francis, 143-164. Das Kapitel „Sampling“ gibt einen sehr umfassenden Überblick über Samplingprozesse in quantitativer, qualitativer und Mixed-Method-Forschung. Dörnyei, Zoltan (2007). Research Methods in Applied Linguistics. Oxford: Oxford University Press, 95-100 (Sampling in quantitative research); 125-29 (Sampling in qualitative research). Beide Teilkapitel bieten eine knappe Einführung in Sampling-Fragen und -Prozesse für die Fremd- und Zweitsprachenforschung. 4.4 Triangulation Petra Knorr/ Karen Schramm 4.4.1 Begriffsklärung Mit Triangulation wird eine methodologische Strategie bezeichnet, bei der ein Forschungsgegenstand aus zwei oder mehreren Perspektiven betrachtet wird und es zu einer Kombination verschiedener Methoden, Datenquellen, theoretischer Zugänge oder Einflüsse durch mehrere Forschende kommt. Der Begriff ist der Landvermessung entlehnt und wird dort für die exakte Lokalisierung eines Objektes durch die Verwendung bereits bekannter Fixpunkte verwendet. Der Grundgedanke, durch den Einsatz mehrerer Bezugspunkte möglichst genaue Ergebnisse zu erzielen, führte einst auch zur Verwendung des Begriffs als Metapher in der sozialwissenschaftlichen Forschung (Campbell/ Fiske 1959 ; Webb et al. 1966 ). Triangulation stand zunächst dafür, die Validität von Forschungsergebnissen zu erhöhen, indem vor allem im Rahmen quantitativer Studien der Reaktivität von Methoden durch die Verwendung mehrerer Messinstrumente entgegengewirkt werden sollte. Die Schwächen einer Methode sollten durch komplementäre Testverfahren ausgeglichen, Messartefakte sollten ausgeschlossen werden. Denzin ( 1970 ) sprach sich für eine Verbindung qualitativer und quantitativer Methoden aus und brachte die Triangulation als Validierungsstrategie in die qualitative Methodendiskussion ein. Das Verständnis über die Zielsetzung von Triangulation hat sich seither weiter ausdifferenziert und umfasst gegenwärtig weniger die Validierung von Forschungsergebnissen als vielmehr die Vertiefung und Erweiterung von Erkenntnissen (Denzin 1989 revidierte Position; Fielding/ Fielding 1986 ). Vor allem vor dem Hintergrund konstruktivistischer Positionen wurde problematisiert, dass ein methodischer Zugang nicht durch einen anderen korrigiert oder validiert werden kann, denn jede Methode lenkt den Blick auf andere Aspekte eines Phänomens: Sie bestimmt, was wir erfahren, und konstituiert den Gegenstand. Ziel eines mehrmethodischen Vorgehens kann es daher nicht sein, das eine richtige Bild der Realität offenzulegen. Vielmehr liegt das Potential eines triangulierenden Vorgehens darin, den jeweiligen Gegenstandsbereich umfassender und weitreichender beschreiben und erklären zu können. Daher eignet sich die Triangulation insbesondere in Settings, die durch eine hohe Faktorenkomplexion gekennzeichnet sind (wie z. B. fremdsprachliche Lehr- und Lernkontexte). Es besteht nicht der Anspruch, kongruente Ergebnisse zu erzielen; vielmehr werden durchaus Befunde erwartet, die divergieren, sich aber komplementär und multiperspektivisch ergänzen (vgl. Aguado 2015 ). Die Betrachtung verschiedener Perspektiven kann sich durch verschiedene Formen der Triangulation realisieren. Diese wurden von Denzin ( 1970 ) klassifiziert und vier Typen zugeordnet, auf die seither rekurriert wird: Daten-, Methoden-, Forscher*innen- und Theorientriangulation. 4.4 Triangulation 97 98 4. Forschungsentscheidungen 4.4.2 Datentriangulation Von Datentriangulation wird gesprochen, wenn Datensätze kombiniert werden, die verschiedenen Quellen entstammen (Denzin 1970 ). Allein nach dieser Definition könnte jedoch jede Art der Triangulation, die sich unterschiedlicher Erhebungsmethoden bedient, auch als Datentriangulation bezeichnet werden, denn der Einsatz verschiedener Erhebungsmethoden führt immer auch zu unterschiedlichen Datensätzen (Aguado 2015 : 207 ; Settinieri 2015 : 23 ). Denzin spricht daher nur dann von Datentriangulation, wenn dieselbe Erhebungsmethode verwendet und das gleiche Phänomen untersucht wird (Denzin 1970 : 301 ). In Anlehnung an Denzin können drei Subtypen von Datentriangulation entsprechend der Triangulation verschiedener Zeitpunkte, Personen und/ oder Orte unterschieden werden. So kann, wie z. B. in der Studie von Schwab ( 2009 ), die Datenerhebung zu mehreren Zeitpunkten stattfinden. Obwohl es nicht um das Nachzeichnen einer Entwicklung ging, erstreckten sich die Videomitschnitte von Unterrichtssequenzen in dieser Untersuchung über zwei Schuljahre. Die Erhebung von Daten mit einer spezifischen Methode kann auch mit einer weiteren Person oder Personengruppe durchgeführt werden, was geradezu den Regelfall darstellt und mit Blick auf Sampling-Prozeduren zu reflektieren ist (s. Kap. 4 . 3 ). In der Referenzstudie von Bracker da Ponte ( 2015 ) wurden beispielsweise mehrere Lernendengruppen zu einer Aufgabenbearbeitung in Form von Gruppendiskussionen angeregt. Der dritte Triangulationstyp beschreibt die Kombination von Datensätzen, die an mehreren verschiedenen Orten erhoben wurden. In allen drei Fällen geht es nicht darum, auf diese Weise unterschiedliche Variablen (verschiedene Zeitpunkte, Personen oder Orte) zu erfassen und bei der Analyse zu berücksichtigen, sondern Datentriangulation dient grundsätzlich dazu, die Robustheit der Studie zu erhöhen. Die Beispiele machen deutlich, dass meist mehrere Triangulationsstrategien gleichzeitig verwendet werden und Denzins Klassifizierungen nicht immer trennscharf sind. So ist die lokale Datentriangulation auch zwingend immer eine Kombination verschiedener Personen(gruppen). In Bezug auf die zeitliche Triangulation wird mehrfach angemerkt, dass demnach auch Longitudinalstudien triangulierende Untersuchungen wären, da hier die Datensätze mehrerer Zeitpunkte in Beziehung zueinander gesetzt werden. Dieses Vorgehen dient jedoch weder der Validierung noch der Vertiefung von Erkenntnissen, sondern der Erforschung von Prozessen (s. auch Aguado 2015 : 207 - 208 ). Im Unterschied zu Denzins Verwendung des Begriffs Datentriangulation als Oberbegriff gehen andere Klassifizierungen von Datentriangulation (bezogen auf Personen als verschiedene Informationsquellen) von zeitlicher und örtlicher Triangulation als nebeneinander stehende Triangulationstypen aus (Brown/ Rodgers 2002 ; Cohen/ Manion/ Morrison 2017 ). Denzin plädiert in Anlehnung an das theoretical sampling der Grounded Theory dafür, innerhalb einer Studie nach möglichst vielen auf den Forschungsgegenstand bezogenen Datenquellen zu suchen, um durch Vergleiche möglichst kontrastiver Settings entsprechende theoretische Konzepte sukzessive herausarbeiten zu können (Denzin 1970 : 301 ). Dem Prinzip von Replikationsstudien (s. Kap. 4 . 5 ) liegt ein ähnlicher Gedanke zugrunde, doch spricht man von Triangulation nur in den Fällen, in denen Daten bei der Analyse 4.4 Triangulation 99 direkt zueinander in Beziehung gesetzt werden; dies ist in der Regel nur im Rahmen jeweils einer Studie der Fall, da Replikationsstudien zwar die Befunde, in der Regel aber nicht die Daten von Vorgängerstudien mit den eigenen Daten in Beziehung setzen (s. auch Kap. 4 . 5 zu Metaanalysen). 4.4.3 Methodentriangulation Die Kombination mehrerer Methoden zur Erforschung eines Gegenstands ist die wohl am häufigsten durchgeführte Art der Triangulation. Denzin ( 1970 : 308 - 309 ) unterscheidet hier zwei Formen: zum einen die Triangulation innerhalb einer Methode (within-method) und zum anderen die Verwendung verschiedener Methoden zur Beantwortung einer Forschungsfrage (between-method). Wenn z. B. in den Referenzarbeiten von Schart ( 2003 ) und Gödecke ( 2020 ) innerhalb eines Fragebogens offene und geschlossene Fragen gestellt werden, kann hier von methodeninterner Triangulation gesprochen werden. Schwab ( 2009 ) arbeitete in seiner Untersuchung methodenübergreifend und triangulierte das Verfahren der videografischen Unterrichtsbeobachtung mit anschließenden retrospektiven Interviews mit den an der Studie teilnehmenden Lehrenden; außerdem wurden die Schülerinnen und Schüler leitfadengestützt interviewt (between-method triangulation) . Diese Referenzarbeit illustriert somit das Potential einer Kombination von Beobachtungen zur Erfassung der sozialen Dimension mit Befragungen zur Erfassung der mentalen Dimension. Vergleichsweise selten findet der methodentriangulatorische Fall Erwähnung, dass derselbe Datensatz mit unterschiedlichen Auswertungsverfahren bearbeitet wird wie beispielsweise von Knorr ( 2015 ), die Planungsgespräche von angehenden Lehrpersonen sowohl inhaltsanalytisch als auch gesprächsanalytisch auswertete. Werden jedoch unterschiedliche Variablen mit unterschiedlichen Methoden erhoben, wie dies u. a. die Referenzarbeit von Biebricher ( 2008 ) illustriert, so handelt es sich nicht um ein triangulatorisches, sondern um ein mehrmethodisches Vorgehen. Eine spezielle Form der methodologischen Triangulation stellt die Verbindung quantitativer und qualitativer Forschungsmethoden dar, die auch als mixed methods oder mixed methodologies bezeichnet wird (s. Kap. 3 . 3 ). Diese Mischung von Methoden, die ehemals nahezu unvereinbare Paradigmen verknüpft, wird gegenwärtig nicht mehr in Frage gestellt; es werden jedoch Diskussionen nach dem Verhältnis beider Positionen innerhalb eines Forschungsdesigns, nach der Gewichtung der Ergebnisse, der Abfolge des Einsatzes der jeweiligen Methode und nach dem Umgang mit Divergenzen geführt (z. B. Flick 2011 : 75 - 96 ; Kelle/ Erzberger 2008 ; Kuckartz 2014 ; Lamnek 2010 : 245 - 265 ; Mayring 2001 ; Schründer-Lenzen 2014 ). Gerade divergierende Ergebnisse werden eher als Chance betrachtet, da die Suche nach alternativen Erklärungen zur Modifikation von Theorien führen kann (Lamnek 2010 : 259 ). 100 4. Forschungsentscheidungen 4.4.4 Forscher*innentriangulation Als Forscher*innentriangulation wird der Fall bezeichnet, bei dem „das gleiche Phänomen von unterschiedlichen Forschern (Beobachtern) untersucht und interpretiert [wird]; die Ergebnisse werden trianguliert, man erhofft sich so, den Einfluss von Forschern auf den Forschungsgegenstand ermitteln zu können“ (Kuckartz 2014 : 46 ). Es ist damit also kein arbeitsteiliges Vorgehen, sondern der Prozess der Zusammenführung von gemeinsam oder unabhängig voneinander durchgeführten Erhebungs-, Aufbereitungsund/ oder Auswertungsschritten gemeint. Dieser Prozess dient zumeist der Erhöhung der Reliabilität, in einigen Fällen auch der Komplementarität von individuell bedingten Herangehensweisen. Die Erhebung von Messwerten und deren statistische Auswertung im Rahmen des quantitativen Forschungsparadigmas erfordern in der Regel keine Forscher*innentriangulation, doch bei der Quantifizierung qualitativer Daten (also beispielsweise bei der Überführung von Video- und Videotranskriptdaten in Zahlenwerte) empfiehlt es sich, die Inter-Coder bzw. die Inter-Rater -Reliabilität zu überprüfen (vgl. Hugener et al. 2006 ). Bei niedrig-inferenten Kodier- und Beurteilungsvorgängen (z. B. Welches Objekt hat die im Morgenkreis erzählende Person in der Hand? Wie ruhig verhalten sich die Zuhörenden im Erzählkreis? ) ist dies möglicherweise unnötig, während es bei hoch-inferenten Kodier- und Beurteilungsprozessen (z. B. Welche Art von Geschichte erzählt die Person? Inwieweit wirkt sie motiviert? ) jedoch sehr relevant erscheint. Im Rahmen des qualitativen Forschungsparadigmas handelt es sich fast durchgängig um hoch-inferente interpretative Analyseprozesse, die den Gütekriterien der Transparenz und der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit gerecht werden sollen (s. Kap. 2 ). Dementsprechende Beispiele für Forscher*innentriangulation reichen von der Präsentation und Diskussion eigener interpretativer Analysen in einer Forschungsgruppe über interaktionsanalytische Datensitzungen bis zur Gegenkodierung von Teil- oder Gesamtdatenkorpora wie beispielsweise in der Referenzarbeit von Hochstetter ( 2011 ), in der das gesamte Material von zwei Kodiererinnen getrennt voneinander bearbeitet wurde. Aufgrund begrenzter Ressourcen ist eine wünschenswerte Forscher*innentriangulation jedoch häufig unmöglich; in solchen Fällen erscheint die Überprüfung der Intra- (im Gegensatz zur Inter-) Coder bzw. der Intra-Rater -Reliabilität als mögliche Lösung. So wurde in der Referenzarbeit von Arras ( 2007 ) zur Erhöhung der Reliabilität beispielsweise eine Zweitkodierung im zeitlichen Abstand von drei Monaten von derselben Forscherin durchgeführt. Forscher*innentriangulation spielt im Rahmen qualitativer Forschung jedoch nicht nur bei der interpretativen Auswertung eine wichtige Rolle: Auch der Einfluss der forschenden Person(en) in der Erhebungsphase ist bei nicht-standardisierten Verfahren, beispielsweise bei Interviews oder bei teilnehmender Beobachtung, von großem Interesse (vgl. auch Schründer-Lenzen 2014 zur epistemologischen Funktion von Triangulation in der Ethnographie). Darüber hinaus ist es bei der Aufbereitung von Audio- und Videodaten im Rahmen interaktionsanalytischer Forschung üblich, die dabei entstehenden detailreichen Transkripte von einer zweiten Person korrigieren zu lassen und das entsprechende Transkriptions- und Korrekturverhältnis zu erfassen, um die Reliabilität der Analysegrundlage zu erhöhen bzw. für die Leser*innenschaft einschätzbar zu machen. 4.4 Triangulation Betrachtung eines Forschungsgegenstands aus mehreren Perspektiven Voraussetzungen: Gegenstandsangemessene Integration von Verfahren/ Ansätzen, Methodenkompetenz, professionelle Reflektiertheit Methodentriangulation Kombination von Methoden within-method methodeninterne Triangulation between-methods Triangulation verschiedener Methoden mixed-methods Kombination qualitativer und quantitativer Methoden Forscher*innentriangulation Untersuchung des gleichen Phänomens durch unterschiedliche Personen (z.B. Interrater-Reliabilität) Datentriangulation Kombination verschiedener Datensätze bei gleicher Methode: Variation des Zeitpunktes, der Personen, des Ortes Theorientriangulation Annäherung an Daten aus verschiedenen theoretischen Perspektiven Fors chungsgegens tand © 2022 ⚫ Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 102 4. Forschungsentscheidungen 4.4.5 Theorientriangulation Unter Theorientriangulation versteht man in Anlehnung an Denzin ( 1970 : 303 ) in der Regel die Annäherung an Daten aus verschiedenen theoretischen Perspektiven und mit unterschiedlichen Hypothesen, um auf diese Weise ggf. Hypothesen zu widerlegen und die Nützlichkeit und Stärke verschiedener Theorien zu überprüfen. Laut Flick ( 2011 : 14 ) „sollen hier aber auch die Erkenntnismöglichkeiten fundiert und verbreitert werden“. Aguado ( 2014 : 50 ) stellt fest, dass Theorientriangulation „in der Forschungsrealität kaum vor[kommt]“, und vertritt die Auffassung, dass es „weder sonderlich zielführend noch sehr ökonomisch [ist], mehrere theoretische Ansätze gleichzeitig in Anwendung zu bringen.“ Konzept und Potential der Theorientriangulation lassen sich jedoch an der zweitsprachendidaktischen Dissertation von Gadow ( 2016 ) illustrieren, die mit Blick auf das bildungssprachliche Handeln von Viertklässler*innen bei Berichten über Experimente zum Sinken und Schwimmen systematisch Theorien aus der Naturwissenschaftsdidaktik und aus der Linguistik zusammenführt. Sie arbeitet u. a. heraus, dass das auf das inhaltlich-konzeptionelle Lernen ausgerichtete naturwissenschaftsdidaktische Konstrukt des evidenzbasierten Begründens gewinnbringend mit den unter funktional-pragmatischer Perspektive entwickelten Konstrukten des (einfachen und funktionalen) Beschreibens und des (einfachen und funktionalen) Erklärens in Verbindung gebracht werden kann. Ihre empirische Untersuchung zeigt, dass sich eine Theorientriangulation in Form einer „bedeutsame[n] Integration“ (Aguado 2015 : 208 ) im Gegensatz zur „bloße[n] Akkumulation“ (ebd.) insbesondere als Grundlage von interdisziplinär angelegten Forschungsarbeiten als sehr gewinnbringend erweisen kann. Dieser Aspekt ist für kooperative Projekte von besonderer Relevanz. 4.4.6 Fazit Allen Triangulationsarten liegt der Gedanke einer Integration im Gegensatz zu einer reinen Akkumulation zugrunde. Daten- und Methodentriangulation spielen in der Fremd- und Zweitsprachenforschung zweifellos eine prominentere Rolle als Forscher*innen- und Theorientriangulation. Der Einsatz mehrerer Methoden ist inzwischen fast zu einem Gütekriterium qualitativer Forschung geworden, was vielfach kritisch hinterfragt wird (z. B. Aguado 2015 ; Lamnek 2010 ; Settinieri 2015 ). Aguados Meinung nach sollte nicht der Eindruck entstehen, „dass ein mehrmethodisches Vorgehen für eine hochwertige, aktuellen forschungsmethodologischen Entwicklungen verpflichtende qualitative Forschung zwingend erforderlich sei“ ( 2015 : 204 ). Als notwendige Voraussetzung für die Durchführung einer triangulierenden Studie wird immer wieder die angemessene Auswahl an Methoden und deren sinnvolle Kombination gefordert, um ein eklektisches Nebeneinander diverser Verfahren ohne direkten Mehrwert zu vermeiden. Vor allem bei einer mixed-methods- Triangulation, aber auch bei Triangulation innerhalb des qualitativen Paradigmas ist zu beachten, dass nicht alle Methoden per se miteinander kombinierbar sind. Es muss daher sorgfältig abgewägt werden, ob Untersuchungsgegenstand, Forschungsfrage(n) und Erhebungssowie Auswertungsmethode optimal zueinander passen. Neben einem erhöhten 4.4 Triangulation 103 Aufwand bei der Durchführung mehrmethodischer Forschung ist ein höheres Maß an Methodenkompetenz und professioneller Reflektiertheit nötig, um die Potentiale der Methodentriangulation voll ausschöpfen zu können. Grundsätzlich erscheint eine Annäherung an den Forschungsgegenstand notwendig, die sich zunächst der Vielfalt theoretischer Perspektiven bewusst wird, um daran anschließend Entscheidungen bezüglich der Verwendung verschiedener Methoden, Datensätze, Forscher*innen oder Theorien gegenstandsangemessen und theoretisch begründet zu treffen. › Literatur Forschungsarbeiten, in denen die hier erläuterten Verfahren angewendet werden, sind mit einem Sternchen markiert. Aguado, Karin (2014). Triangulation. In: Settinieri, Julia/ Demirkaya, Sevilen/ Feldmeier, Alexis/ Gültekin-Karakoç, Nazan/ Riemer, Claudia (Hg.). Empirische Forschungsmethoden für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Paderborn: Schöningh, 47-56. Aguado, Karin (2015). Triangulation: Möglichkeiten, Grenzen, Desiderate. In: Elsner, Daniela/ Viebrock, Britta (Hg.). Triangulation in der Fremdsprachenforschung . Frankfurt/ M.: Lang, 203-219. *Arras, Ulrike (2007). Wie beurteilen wir Leistung in der Fremdsprache? Strategien und Prozesse bei der Beurteilung schriftlicher Leistungen in der Fremdsprache am Beispiel der Prüfung „Test Deutsch als Fremdsprache“ (TestDaF). Tübingen: Narr. [Referenzarbeit, s. Kap. 7] Biebricher, Christine (2008). Lesen in der Fremdsprache. Eine Studie zu Effekten extensiven Lesens. Tübingen: Narr. Brown, James D./ Rodgers, Theodore S. (2002). Doing Second Language Research. Oxford: Oxford University Press. Campbell, Donald T./ Fiske, Donald W. (1959). Convergent and discriminant validation by the multitrait-multimethod matrix. In: Psychological Bulletin 56, 81-105. Cohen, Louis/ Manion, Lawrence/ Morrison, Keith (2017). Research Methods in Education 8th edition. New York: Routledge. Denzin, Norman K. (1970). The Research Act. Chicago: Aldine. Denzin, Norman K. (1989). The Research Act. 3. Auflage. Englewood Cliffs, NJ : Prentice Hall. Fielding, Nigel G./ Fielding, Jane L. (1986). Linking Data. Beverly Hills, CA : Sage. Flick, Uwe (2011). Triangulation. Eine Einführung . 3. aktualisierte Auflage. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften. *Gadow, Anne (2016). Bildungssprache im naturwissenschaftlichen Sachunterricht. Beschreiben und Erklären von Kindern mit deutscher und anderer Familiensprache. Berlin: ESV . *Hochstetter, Johanna (2011). Diagnostische Kompetenz im Englischunterricht der Grundschule: Eine empirische Studie zum Einsatz von Beobachtungsbögen. Tübingen: Narr. [Referenzarbeit, s. Kap. 7] Hugener, Isabelle/ Rakoczy, Katrin/ Pauli, Christine/ Reusser, Kurt (2006). Videobasierte Unterrichtsforschung. Integration verschiedener Methoden der Videoanalyse für eine differenzierte Sicht auf Lehr-Lernprozesse. In: Rahm, Sybille/ Mammes, Ingelore/ Schratz, Michael (Hg.). Schulpädagogische Forschung. Bd. 1: Unterrichtsforschung. Perspektiven innovativer Ansätze . Innsbruck: Studienverlag, 41-53. 104 4. Forschungsentscheidungen Kelle, Udo/ Erzberger, Christian (2008). Qualitative und quantitative Methoden: kein Gegensatz. In: Flick, Uwe/ Kardorff, Ernst von/ Steinke, Ines (Hg.). Qualitative Forschung: Ein Handbuch. 6., durchges. und aktualisierte Aufl., Reinbek: Rowohlt, 299-309. *Knorr, Petra (2015). Kooperative Unterrichtsvorbereitung: Unterrichtsplanungsgespräche in der Ausbildung angehender Englischlehrender . Tübingen: Narr. Kuckartz, Udo (2014). Mixed Methods. Methodologie, Forschungsdesigns und Analyseverfahren. Wiesbaden: Springer Fachmedien. Lamnek, Siegfried (2016). Qualitative Sozialforschung. Lehrbuch. 6. überarbeitete Auflage. Weinheim: Beltz. Mayring, Philipp (2001). Kombination und Integration qualitativer und quantitativer Analyse. In: Forum Qualitative Sozialforschung/ Forum Qualitative Social Research 2(1), Art. 6. [Online: https: / / doi.org/ 10.17169/ fqs-2.1.967] (11. 8. 2015). *Schart, Michael ( 2003 ). Projektunterricht - subjektiv betrachtet. Eine qualitative Studie mit Lehrenden für Deutsch als Fremdsprache. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. [Referenzarbeit, s. Kap. 7] Schründer-Lenzen, Agi (2014). Triangulation - ein Konzept zur Qualitätssicherung von Forschung. In: Friebertshäuser, Barbara/ Langer, Antje/ Prengel, Annedore (Hg.). Handbuch Qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft . 4. durchgesehene Auflage. Weinheim: Juventa, 149-158. *Schwab, Götz (2009). Gesprächsanalyse und Fremdsprachenunterricht. Landau: Verlag Empirische Pädagogik. [Referenzarbeit, s. Kap. 7] Settinieri, Julia (2015). Forschst Du noch, oder triangulierst Du schon? In: Elsner, Daniela/ Viebrock, Britta (Hg.). Triangulation in der Fremdsprachenforschung . Frankfurt/ M.: Lang, 17-35. Webb, Eugene J./ Campbell, Donald T./ Schwartz, Richard D./ Sechrest, Lee (1966). Unobtrusive Measure: Nonreactive Research in the Social Sciences. Chicago: Rand McNally. » Zur Vertiefung empfohlen Flick, Uwe (2011). Triangulation. Eine Einführung. 3. aktualisierte Auflage. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften. Bei der Monografie von Flick handelt es sich um einen gut lesbaren und komprimierten Überblick über die Thematik der Triangulation. Flick gibt einen Abriss über Ursprung und Geschichte des Konzepts und zeichnet kritische Diskussionen nach. Er arbeitet mit zahlreichen Verweisen auf Norman Denzin als den Begründer der Triangulation im Bereich qualitativer Forschung sowie mit vielen beispielhaften Veranschaulichungen aus der Forschungspraxis. Neben einem Fokus auf Methodentriangulation in der qualitativen Forschung, insbesondere in der Ethnographie, richtet Flick sein Augenmerk auf die Kombination qualitativer und quantitativer Forschung und zeigt abschließend praktische Durchführungsprobleme von Triangulationsstudien auf. Settinieri, Julia (2015). Forschst Du noch, oder triangulierst Du schon? In: Elsner, Daniela/ Viebrock, Britta (Hg.). Triangulation in der Fremdsprachenforschung. Frankfurt/ M.: Lang, 17-35. Dieser einführende und sehr verständlich geschriebene Beitrag leistet eine präzise Klärung des Triangulationsbegriffs. Dazu wird erstens der Forschungsdiskurs zu den beiden Funktionen Validierung und Erkenntniserweiterung seit den 1950er Jahren nachgezeichnet und zweitens ein informativer Überblick über Daten-, Methoden-, Theorien- und Forscher*innentriangulation ge- 4.5 Der zweite Blick: Meta-Analysen und Replikationen 105 geben. Der Begriff der Triangulation wird drittens in ebenso erhellender Weise auch auf die Diskussion von mixed methods bezogen und viertens in der überraschenden Wendung der Titelfrage zu „Triangulierst Du noch, oder forschst Du schon? “ auch als aktuelle Modeerscheinung kritisch hinterfragt. 4.5 Der zweite Blick: Meta-Analysen 6 und Replikationen Claudia Harsch 4.5.1 Einführung Mit steigender Zahl an Studien und der Kumulierung von Forschungsergebnissen zu einem bestimmten Bereich steigt auch der Bedarf an einer Synthese dieser Ergebnisse, ebenso wie das Interesse an einer Replikation bestimmter Studien, um zu generalisierbaren Aussagen über verschiedene Zielgruppen und Kontexte hinweg zu gelangen (z. B. Plonsky 2012 a). Zur Synthese empirischer Daten eignen sich Meta-Analysen: Ausgehend von einer umfassenden Literaturrecherche werden systematisch empirische Daten gesammelt und analysiert, um zu empiriegestützten Aussagen über eine Vielzahl von Studien hinweg zu gelangen; darüber hinaus erlauben Meta-Analysen die Analyse etwaiger Moderatorvariablen zur Bestimmung des Einflusses, die diese auf die zu untersuchenden Variablen ausüben (Plonsky/ Oswald 2012 a). Replikationsstudien hingegen haben das Ziel, ausgewählte Studien zu replizieren, um Ergebnisse zu validieren oder die Übertragbarkeit von Ergebnissen auf andere Kontexte oder Zielgruppen zu überprüfen. Die Ergebnisse solcher Replikationsstudien können ebenfalls in Meta-Analysen einfließen, um zu evidenzbasierten und möglichst generalisierbaren Synthesen zu kommen. Solche Synthesen können zum einen eine gegebene Studie im Kontext des derzeitigen Wissensstands platzieren, sie stellen aber auch die Basis für weitere Forschung dar, da sie den derzeitigen Erkenntnissstand zusammenfassen und somit aufzeigen helfen, wo es Forschungsbedarf gibt. Des Weiteren leisten sie einen Beitrag zur evidenzbasierten Entscheidungsfindung, indem sie die Forschungserträge auf einem bestimmten Gebiet kumulativ zusammenstellen (z. B. Rousseau/ McCarthy 2007 ). Meta-Analysen und Replikationen sind jedoch zu unterscheiden von vergleichenden Überblicksforschungen, wie sie etwa Schmenk ( 2008 ) darstellt. Solch ein zweiter theoretischer Blick fasst existente Forschung zusammen, doch werden keine neuen Analysen mit bestehenden Daten und keine neuen Datenerhebungen durchgeführt. Eine gute Übersicht zu mehr als 140 Meta-Analysen und Forschungssynthesen im Bereich der Zweit- und Fremdsprachenforschung bietet die Internetseite von Luke Plonsky (https: / / lukeplonsky.wordpress.com/ bibliographies/ meta-analysis/ ). Die Universität Mur- 6 Ich möchte mich bei Yo In’nami und Eric A. Surface für den wertvollen Input ihres Pre-Conference Workshops auf dem Language Testing Research Colloquium (LTRC) im Juni 2014 in Amsterdam bedanken. cia bietet unter http: / / www.um.es/ metaanalysis eine Übersicht über Bücher zum Thema und eine Datenbank zu Publikationen von Meta-Analysen. 4.5.2 Durchführung von Meta-Analysen Meta-Analysen werden wegen ihres Umfangs meist von einem Team von Forschenden durchgeführt; sie bestehen aus einer Abfolge von Schritten, welche im Folgenden kurz beschrieben werden: • Problemstellung; • Literaturrecherche; • Evaluation und Kodierung der ausgewählten Studien; • Datenanalyse, Untersuchung der Ergebnisse, Interpretation; • Berichterstattung, Publikation. Die Formulierung der Problemstellung, der zu untersuchenden Fragestellung, ist von zentraler Bedeutung. Sie kann sowohl theoriegeleitet als auch empirisch begründet sein. Eng geführte Fragen eignen sich, um bekannte Hypothesen und Effekte zu prüfen, Forschungen zu dieser Themenstellung zusammenzufassen oder bestimmte Populationen und Kontexte zu vergleichen. Offenere Problemstellungen eignen sich, um neue Erkenntnisse aus der Synthese zu gewinnen. Die Fragestellung bestimmt somit, welche Studien in die Meta-Analyse einfließen sollen; beispielsweise hängen die Auswahl und der Fokus auf konzeptionelle Fragen, Methoden, Probanden, Messmodelle und berichtete empirische Indizes ( outcome measures ) von der Fragestellung ab. Die Literaturrecherche ist direkt von der Problemstellung geleitet. Hier gilt es, so umfassend und systematisch wie möglich vorzugehen, um möglichst viele Studien und Replikationen in der zu untersuchenden Problemstellung zu erfassen. Dabei sollten neben den einschlägigen Zeitschriften, Buch- und Kongresspublikationen und Internetrecherchen (z. B. google scholar ) auch Datenbanken abgefragt werden (In’nami/ Koizumi 2011 ). Bei der Recherche stellt sich das Problem des so genannten publication bias , da in der Regel nur Studien mit signifikanten Effekten publiziert werden; dadurch gehen für die Synthese wertvolle Informationen verloren, welche zumindest teilweise durch statistische Verfahren abgefangen werden können (Hunter/ Schmidt 2004 ; s. unten die Ausführungen zu Datenanalyse und Untersuchung der Ergebnisse). Darüber hinaus gibt es Datenbanken zu unveröffentlichten Studien, die herangezogen werden können. Auch auf den so genannten English language bias darf verwiesen werden: Publikationen in internationalen englischsprachigen Journals berichten oft stärkere Effekte als Publikationen in anderen Sprachen; hier hilft es, auch anderssprachige Publikationen zu beachten. Es gilt, transparente Kriterien zum Einschluss (und ggf. Ausschluss) von Studien zu entwickeln; der Kriterienkatalog kann in einem iterativen Prozess während der Auseinandersetzung mit der Literatur verfeinert werden. Hierbei sollten Forschungsstandards angelegt werden, wie sie beispielsweise Porte ( 2010 ) beschreibt. Wichtig ist es, eine gesunde Balance zwischen Ein- und Ausschlusskriterien zu finden, um nicht die Generalisierbarkeit durch den Ausschluss zu vieler Studien zu gefährden, andererseits aber nicht die Qualität und Validität 106 4. Forschungsentscheidungen 4.5 Der zweite Blick: Meta-Analysen und Replikationen 107 der Ergebnisse der Meta-Analyse durch den Einschluss methodisch mangelhafter Studien zu riskieren. Alle Schritte der Literaturrecherche und der eingesetzten Strategien und Kriterien zur Suche und Auswahl sollten transparent dokumentiert werden. Sind die Studien ausgewählt, müssen sie hinsichtlich ihrer Charakteristika und der berichteten Effektstärken evaluiert und kodiert werden. Hier helfen ein Kodierplan und ein Kodierbuch, um die relevanten Charakteristika und das Kodierschema zu definieren. Idealerweise wird das Kodierschema pilotiert und alle Studien werden von mindestens zwei Forschenden kodiert, um zu reliablen und validen Kodierungen zu kommen. In’nami 7 schlägt vor, mindestens die folgenden Charakteristika zu den Studien und den empirischen Daten zu kodieren: Studie Empirische Datenlage • ID , bibliographische Angaben, Abstract; • Moderatorvariablen: Population, Kontext; • Kriterien zur Qualität der Studie; • Informationen zu etwaigen Artefakten (Hunter/ Schmidt 2004 ); • Forschungsdesign: Probanden, experimentelles (oder anderes) Design, Manipulationen. • Effektstärke (s. Ausführungen unten) Datenbasis, Methode der Bestimmung, etwaige Gewichtung; • Stichprobengröße; • Gemessene(s) Konstrukt(e), Instrumente; • Zeitpunkte, zu denen die verschiedenen Variablen gemessen wurden; • Reliabilität der Messungen; • statistische Tests, die zum Einsatz kamen; • Moderatorvariablen. Abbildung 1: Kodiervorschläge nach In’nami (s. Fußnote 7) Spätestens bei der Kodierung der Studien kann es sein, dass fehlende Daten zu Tage treten. Hier kann es helfen, die Autoren direkt anzuschreiben, um gezielt nach fehlenden Informationen zu fragen. Im Zweifelsfall müssen Studien, zu denen keine hinreichenden Daten vorliegen, ausgeschlossen oder die fehlenden Werte mittels statistischer Verfahren imputiert werden. Auch dies sollte dokumentiert werden. Das Konzept der Effektstärken sei hier kurz skizziert (s. auch Kap. : 5.3.11 ), da sie die zentrale Analyseeinheit von Meta-Analysen darstellen (s. Borenstein et al. 2011 , insbesondere Kap. 3 - 9 ; Plonsky 2012 b). Die Ergebnisse empirischer Studien werden in der Regel mittels zweier Statistiken berichtet: Zum einen interessiert die Größe oder die Stärke eines untersuchten Effekts (die so genannte Effektstärke), zum anderen ist die Signifikanz der Effekte wichtig - man bedenke, dass nicht-signifikante Ergebnisse ebenso bedeutsam sind wie signifikante Effekte, doch werden sie meist nicht publiziert (s. oben, publication bias ). Effektstärken sind statistische Indizes, welche grundsätzlich auf zwei Wegen bestimmt werden können: mittels Korrelationen (die Gruppe der sogenannten r Indizes) oder mittels (standardisierter) Unterschiede in Mittelwerten oder Standardabweichungen (die Gruppe der d Indizes). Die in den für eine Meta-Analyse ausgewählten Studien berichteten 7 Unveröffentlichte Präsentation aus dem Pre-Conference Workshop Meta-Analysis, LTRC 2014 , Amsterdam. 108 4. Forschungsentscheidungen Statistiken lassen sich problemlos in die Effektstärken r oder d überführen 8 , je nachdem, welche Herangehensweise für die Meta-Analyse verwendet werden soll. Johnson/ Eagly ( 2000 ) empfehlen r für Studien, die vorwiegend Korrelationen berichten, und d für Studien, welche ANOVA und t-Tests einsetzen. Zur eigentlichen Datenanalyse und zur Untersuchung der Ergebnisse gibt es eigens für Meta-Analysen entwickelte Computerprogramme, beispielsweise das Programm Comprehensive Meta-Analysis 9 . Eine Evaluation verschiedener Programme ist unter https: / / www.um.es/ metaanalysis/ software.php zu finden. Es empfiehlt sich, Einführungen und Workshops zur Nutzung eines bestimmten Programms zu besuchen, um sich mit den Spezifika, Modellen, Annahmen und Anforderungen vertraut zu machen. Generell besteht die zentrale Datenanalyse einer Meta-Analyse aus der Berechnung des Mittelwerts und der Varianz der in den ausgewählten Studien berichteten Effektstärken (Plonsky/ Oswald 2012 b: 275 ). Dazu gibt es verschiedene Modelle (die so genannten fixed- , random - oder mixed-effect Modelle, s. Borenstein et al. 2011 , insb. Kap. 10 - 14 und 19 ), von denen das angemessenste gewählt werden muss. Ebenso müssen Entscheidungen getroffen werden hinsichtlich der zu nutzenden Effektstärkeindizes (s. oben) und der Gewichtung bestimmter Studien. Zur Interpretation der Ergebnisse ist es nötig, die Effektstärken, Konfidenzintervalle und die Richtung der Effekte der einzelnen Studien sowie Mittelwert und Varianz der Effekte über die Studien hinweg zu betrachten, um die Homogenität der gefundenen Effektstärken beurteilen zu können. Zur Interpretation helfen neben den statistischen Indizes so genannte forest plots , graphische Darstellungen, welche von den Programmen erstellt werden. Es kann nötig sein, den erwähnten publication bias statistisch zu korrigieren; hierzu gibt es verschiedene Möglichkeiten (s. z. B. Banks/ Kepes/ Banks 2012 ; Borenstein et al. 2011 , Kap. 30 ), von denen die graphische Methode des funnel plottings in der Fremdsprachenforschung die verbreiteste ist (z. B. Norris/ Ortega 2000 ). Es empfehlen sich weiterführende Moderator-Analysen, um den Effekt bestimmter Moderatorvariablen auf die zu untersuchende Variable festzustellen; beispielsweise haben Jeon/ Yamashita ( 2014 ) Befunde zum Leseverstehen in der Fremdsprache in einer groß angelegten Meta-Analyse zusammengestellt und dabei u. a. die Moderatoren Alter und Vokabelwissen untersucht. Abschließend darf auf so genante Power Analysen verwiesen werden (z. B. Cohen 1988 ; Plonsky 2013 ), um die Wahrscheinlichkeit zu bestimmen, dass ein bestimmter statistischer Test einen gegebenen Effekt auch erfassen kann. Dazu werden die notwendige minimale Stichprobengöße oder die minimal zu erwartende Effektgröße bei einer gegebenen Stichprobengröße bestimmt. Power Analysen können für die Einzelstudien, die in eine Meta- Analyse einfließen, ebenso wie retrospektiv für eine gegebene Meta-Analyse durchgeführt werden. Sind die Effektgrößen bestimmt und die Ergebnisse interpretiert, so schließt sich die Phase der Berichterstattung und Publikation an. Hier darf auf die APA Meta-Analysis Reporting Standards ( American Psychological Association 2010 , 2020 ) verwiesen werden, ebenso 8 In’nami empfiehlt den ES Calculator https: / / www.campbellcollaboration.org/ escalc/ html/ EffectSize- Calculator-SMD-main.php 9 Download: http: / / www.meta-analysis.com/ pages/ full.php; das Programm kann einen Monat kostenlos getestet werden. 4.5 Der zweite Blick: Meta-Analysen und Replikationen 109 wie auf die Hinweise in Plonsky ( 2012 b); letztere eignen sich auch gut zur Evaluation publizierter Meta-Analysen. Folgende Elemente sollte die Publikation minimal abdecken: Eingeschlossene Studien Resultate • Auswahlkriterien, Publikationsstatus, Referenzen, Datenbanken; • Forschungskontext; • Teilnehmende: demographische Angaben, Stichprobengrößen; • Forschungsdesign: experimentelles (oder anderes), Pre-/ Post, Längs-/ Querschnitt; • eingesetzte Instrumente. • Effekgrößen: Datenbasis, Methode der Bestimmung, Gewichtung; • Konfidenzintervalle, obere und untere Grenzen, Mittelwert, Varianz, forest plots; • weiterführende Analysen (Moderatoren, publication bias ); • Interpretation, Kontextualisierung der Ergebnisse; • Implikationen. Abbildung 2: Minimale Publikationselemente von Meta-Analysen 4.5.3 Replikationsstudien Replikationsstudien dienen der Wiederholung bestimmter Experimente, Interventionen oder Studiendesigns, einerseits zum Zweck der Überprüfung der Generalisierbarkeit der Ergebnisse der Originalstudie für andere Zielgruppen oder Kontexte, andererseits zur Validierung der berichteten Ergebnisse (Abbuhl 2012 ; Porte 2010 ). In empirischen Untersuchungen kommt der Replizierbarkeit einer Studie und deren Ergebnissen besondere Bedeutung zu, können doch auf diese Weise die Fehlertypen I und II (fälschliches Verwerfen bzw. Akzeptieren der Nullhypothese) kontrolliert werden (Schmidt 2009 ). Abbuhl ( 2012 ) unterscheidet verschiedene Typen von Replikationsstudien, die sie auf einem Kontinuum von exakter Replikation (eher selten in den Sozialwissenschaften zu finden) über systematische oder approximative Replikation bis hin zur konzeptuellen oder konstruktiven Replikation anordnet. Bei der approximativen Replikation wird die Originalstudie so getreu wie möglich repliziert, doch eine der Schlüsselvariablen wird variiert, um etwa eine andere Zielgruppe oder einen anderen Kontext zu untersuchen. Die konzeptuelle Replikation bleibt dem Untersuchungsgegenstand treu, doch verwendet sie zusätzlich zu den qualitativen der Originalstudie andere Zugänge, wie etwa andere Instrumente oder quantitative Methoden. Replikationsstudien beginnen mit der Forschungsfragestellung und der Evaluation und Auswahl einer geeigneten Studie, welche die Forschungsfrage in relevanter Weise operationalisiert und untersucht. Es schließt sich die Entscheidung an, welche Art der Replikation für die zu untersuchende Fragestellung angemessen ist. Hierbei muss die Vergleichbarkeit und Anschlussfähigkeit zwischen Replikation und Originalstudie bedacht werden in Hinblick auf Zielpopulationen und Stichproben, Untersuchungsgegenstand, Design, eingesetzte Instrumente und Analysemethoden. Etwaige Abweichungen sollten wohlbegründet sein (Gass/ Mackey 2005 ). Nach der Durchführung und Analyse der Replikationsstudie erfolgt Meta-Analysen Synthese empirischer Daten über einzelne Studien hinweg, meist im Forschungsteam → Formulierung der Problemstellung → Auswahl der Studien publication bias → Evaluation, Kodierung Effektstärken → Datenanalyse mit Hilfe von Statistik-Software → Berichterstattung nach APA Standards Replikationsstudien Wiederholung von Studien zur Überprüfung der Generalisierbarkeit von Ergebnissen → Forschungsfragestellung → Auswahl der Originalstudie → Replikationstyp: exakt, systematisch, approximativ → Durchführung und Analyse → Ergebnisinterpretation im Vergleich zum Original Studie 1 Studie 2 Studie x Studie 3 4.5 Der zweite Blick: Meta-Analysen und Replikationen Forschungsergebnisse synthetisieren und kumulieren ! aufwändige Umsetzung Studie x Studie y © 2022 ⚫ Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 4.5 Der zweite Blick: Meta-Analysen und Replikationen 111 die Interpetation der Ergebnisse, immer auch in Bezug auf die Resultate der Originalstudie. Unterstützen die Replikationsbefunde die Ergebnisse der Originalstudie, so kann dies als ein weiterer Hinweis auf die Validität der ursprünglichen Befunde gedeutet werden. Widersprechen die Replikationsergebnisse denen der Originalstudie, kann dies als Anlass genommen werden, die Generalisierbarkeit bestimmter Ergebnisse kritisch zu diskutieren, oder die Parameter, die in die Studien einflossen, zu hinterfragen und gezielt in weiteren Untersuchungen zu erforschen (z. B. Eden 2002 ). Abschließend steht der Schritt der Publikation an, in welcher der Anlass der Replikationsstudie und etwaige Abweichungen von der Originalstudie begründet werden, die Vorgehensweise transparent dargestellt und die Ergebnisse im Vergleich zur Originalstudie diskutiert und kommentiert werden sollten. 4.5.4 Anwendung in Studien Während es, wie Schmidt ( 2009 ) ausführt, nur wenige Replikationsstudien in den Sozialwissenschaften gibt, erfreuen sich Meta-Analysen zunehmender Beliebtheit. Hier sollen drei Meta-Analysen exemplarisch das Feld illustrieren. Eine frühe, einflussreiche Meta-Analyse wurde von Norris/ Ortega ( 2000 ) zur Effektivität von L 2 Instruktionen durchgeführt. Sie verglichen die Effektstärken von 49 experimentellen und quasi-experimentellen Studien, die in den Jahren 1908 bis 1998 durchgeführt wurden. Sie fanden u. a. heraus, dass explizite Formen des Unterrichtens effektiver sind als implizite und dass fokussiertes Unterrichten zu langfristigen Lernerfolgen führt. Allerdings mussten sie feststellen, dass die Effektstärke vom jeweils eingesetzten Messinstrument beeinflusst wird und dass die Ergebnisse ihrer Meta-Analyse nur beschränkt generalisierbar sind, da es damals dem Feld noch an empirisch rigorosen Operationalisierungen und Replikationen der Konstrukte mangelte. Eine wesentlich umfangreichere Meta-Analyse, die eine gewisse Generalisierbarkeit aufweist, führte Hattie ( 2009 ) durch. Die so genannte „Hattie-Studie“ beeinflusste die bildungspolitische Diskussion im In- und Ausland, weshalb sie hier erwähnt werden soll, wenngleich die meisten Studien, die in Hatties Meta-Analyse eingingen, nicht aus dem fremdsprachlichen Unterricht stammen. Er unterzog über 800 Meta-Analysen einer Meta- Metaanalyse und untersuchte 138 unterrichtsrelevante Variablen und ihre Effektivität auf das Lernen. Das Novum an seinem Ansatz ist, dass er die Effektstärken inhaltlich interpretiert, indem er sie in unterschiedliche Bereiche einteilt. Für den untersten Bereich (bis 0 , 15 ) behauptet Hattie, dass diese Effekte auch erzielt würden, wenn kein Unterricht stattfinde; Effektstärken im Bereich 0 , 15 bis 0 , 40 würden auch durch regulären Unterricht einer durchschnittlichen Lehrkraft erzielt; nur Effektstärken über 0 , 40 würden auf tatsächliche Effekte der untersuchten Variablen deuten. Die stärksten Effekte fand Hattie in den Variablen self-reported grades , Piagetian programmes und providing formative evaluation . Es wäre interessant, diese Variablen gezielt für den fremdsprachlichen Unterricht zu untersuchen. Hattie leitet auf Basis seiner Ergebnisse ein theoretisches Modell erfolgreichen (fachunabhängigen) Lehrens und Lernens ab; er nutzt die Meta-Analyse also zur Theorie-Generierung. 112 4. Forschungsentscheidungen Die dritte Meta-Analyse, die hier vorgestellt werden soll, wurde von Jeon/ Yamashita ( 2014 ) durchgeführt für den Bereich des Leseverstehens in der Fremdsprache. Diese Studie soll die o. g. Moderatorenanalysen illustrieren. Jeon/ Yamashita ( 2014 ) untersuchten u. a. die Moderatoren Alter und Vokabelwissen. Die Befunde legen nahe, dass das fremdsprachliche Leseverständnis am höchsten mit fremdsprachlichem Grammatik- und Vokabelwissen korreliert und dass Leseverstehen vom Alter und der Distanz zwischen erster und zweiter Sprache beeinflusst wird. 4.5.5 Fazit Die hier vorgestellten Möglichkeiten des ‚zweiten Blicks‘ auf existente Studien, sei es mittels quantitativer Meta-Analysen oder mittels Replikationsstudien, stellen eine Möglichkeit dar, existente Ergebnisse zu nutzen und zu transformieren. Auf diese Weise können, wie es beispielsweise Hattie ( 2009 ) zeigt, Theorien entwickelt und untermauert werden, oder es können Ergebnisse eines Bereichs oder Kontexts in neuen Kontexten überprüft werden, wie es in Replikationsstudien geschieht. Diese Herangehensweisen bieten effektive Wege, existente Ergebnisse zusammenzuführen, sie zu validieren und etwa zur evidenzbasierten Entscheidungsfindung oder zur weiteren Forschungsplanung zu nutzen. Allerdings sollten sie in ihrem Aufwand nicht unterschätzt werden. › Literatur Forschungsarbeiten, in denen die hier erläuterten Verfahren angewendet werden, sind mit einem Sternchen markiert. Abbuhl, Rebekha (2012). Why, when, and how to replicate research. In: Mackey, Alison/ Gass, Susan M. (Hg.). Research Methods in Second Language Acquisition: A Practical Guide . London: Basil Blackwell, 296-312. American Psychological Association (2010). Publication Manual of the American Psychological Association. 6. Auflage. Washington, DC : American Psychological Association. American Psychological Association APA (2020). Quantitative Meta-Analysis Reporting Standards. [Online: https: / / apastyle.apa.org/ jars/ quant-table-9.pdf](02.12.2020) Banks, Georges C./ Kepes, Sven/ Banks, Karen P. 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In: Academy of Management Learning and Education 6, 94-101. Schmenk, Barbara (2008). Lernerautonomie. Karriere und Sloganisierung des Autonomiebegriffs . Tübingen: Narr. Schmidt, Stefan (2009). Shall we really do it again? The powerful concept of replication is neglected in the social sciences. In: Review of General Psychology 13, 90-100. » Zur Vertiefung empfohlen Borenstein, Michael/ Hedges, Larry V./ Higgins, Julian P. T./ Rothstein, Hannah R. (2011). Introduction to Meta-Analysis. Chichester, UK : Wiley. Das Buch beschreibt in klarer und umfassender Weise alle grundsätzlichen und weiterführenden Aspekte, die zu einer Meta-Analyse gehören. Es erläutert zugrunde liegende Konzepte und führt die Leser an die statistischen Grundlagen und Formeln, welche durch Beispiele veranschaulicht werden. Das Buch eignet sich gut zum Selbststudium und wird durch Online-Materialien ergänzt. Cooper, Harris/ Hedges, Larry V./ Valentine, Jeff C. (Hg.). (2009). The Handbook of Research Synthesis and Meta-Analysis. 2nd edition. New York: Russel Sage Foundation. Das Handbuch bietet einen guten Einstieg in die Thematik der Meta-Analsyen. Es ist als Enzyklopädie angelegt, wobei die Kapitel sich je einem spezifischen Aspekt widmen. Eine Besonderheit ist, dass sich alle Kapitel auf denselben Datensatz beziehen. Das Buch ist geeignet für Forschende und Statistiker. Plonsky, Luke/ Oswald, Frederick L. (2012b). How to do a meta-analysis. In: Mackey, Alison/ Gass, Susan M. (Hg.). Research Methods in Second Language Acquisition: A Practical Guide. London: Basil Blackwell, 275-295. Das Kapitel gibt eine leicht verständliche Einführung in die Planung und Durchführung von Meta-Analysen, mit praktischen Tipps und Anregungen. Es eignet sich gut als erster Einstieg. Porte, Graeme K. (Hg.) ( 2012 ). Replication Research in Applied Linguistics. New York: Cambridge University Press. Das Buch bringt Experten zusammen, die die Bedeutsamkeit von Replikationsstudien in der Angewandten Linguistik unterstreichen. Die Autoren beleuchten Replikationsstudien von theoretischer Seite, geben praktische Ratschläge zur Planung, Vorbereitung, Durchführung solcher Studien und nicht zuletzt Hinweise dazu, wie die Studien und Ergebnisse berichtet werden können. 4.6 Forschungsethik Michael K. Legutke/ Karen Schramm 4.6.1 Begriffsklärung Der Gegenstandsbereich der Forschungsethik umfasst Prinzipien und Regeln, die das Handeln der Forschenden leiten sollen. Er befasst sich mit Fragen wie: Was darf ich als Forschender/ als Forschende? Was ist erlaubt? Wem bin ich verantwortlich? (Bach/ Viebrock 2012 ). Obwohl empirische Studien in besonderer Weise ethischen Ansprüchen Rechnung tragen müssen, wie wir darlegen werden, unterliegen alle Typen von Forschung, egal welcher Forschungstradition sie zuzuordnen sind, ethischen Codes. Küster ( 2011 : 139 ) schlägt vor, den Komplex Ethik in der Fremdsprachenforschung unter zwei Perspektiven in fünf Handlungsfelder zu strukturieren. Er unterscheidet eine „prudentielle Perspektive“ mit den beiden Handlungsfeldern ( 1 ) „Verantwortung des Forschers vor und für sich selbst“ und ( 2 ) „Verantwortung des Fremdsprachenforschers gegenüber seinem privaten Umfeld“ sowie eine „moralische Perspektive“. Zur letzteren gehört ( 3 ) die „Verantwortung des Fremdsprachenforschers gegenüber der scientific community “. Diese zeigt sich u. a. in der Sorgfalt und Vertrauenswürdigkeit des Forschers/ der Forscherin im Umgang mit anderen Forschungen und Quellen, in der Ehrlichkeit im Umgang mit Positionen und Forschungsergebnissen, der Strenge der Arbeitsweisen und Darstellung sowie der Transparenz der Argumentationen, der Integrität und Lauterkeit des wissenschaftlichen Arbeitsprozesses. Zur moralischen Perspektive gehören ferner ( 4 ) die „Verantwortung des empirischen Fremdsprachenforschers gegenüber den unmittelbar Beforschten (quantitative Forschung) bzw. den am Forschungsprozess unmittelbar Beteiligten (qualitative Forschung und Handlungsforschung)“ (Küster 2011 : 139 ) und schließlich ( 5 ) die „Verantwortung des Fremdsprachenforschers gegenüber gesellschaftlichen und universitären Institutionen und deren 114 4. Forschungsentscheidungen 4.6 Forschungsethik 115 Anforderungen“ (Küster 2011 : 139 ). Viebrocks ( 2015 ) schriftliche Befragung von fremdsprachendidaktisch Forschenden während ihrer Qualifikationsphase weist großes Interesse an und Informationsbedürfnisse in Bezug auf die moralische Perspektive nach, die wir in diesem Beitrag fokussieren wollen. Nationale wie internationale Fachgesellschaften aus den Natur- und Sozialwissenschaften haben Ethik-Kodizes entwickelt, die Forschenden eine Grundorientierung geben und deren Prinzipien und Regeln sich auch für die Praxis der Fremdsprachenforschung fruchtbar machen lassen. 10 Zu den Grundprinzipien, die in diesen Kodizes in unterschiedlichen Graden der Konkretisierung erscheinen, gehören: das Prinzip der Schadensvermeidung, das Prinzip des Nutzens bzw. des Mehrwerts von Forschung, der Respekt vor anderen Menschen sowie das Prinzip der Redlichkeit (vgl. Kitchener/ Kitchener 2009 : 13 - 16 ; Bach/ Viebrock 2012 ). Im Folgenden werden wir die Implikationen solcher Prinzipien für verantwortungsvolles Handeln in der Fremdsprachenforschung verdeutlichen. 4.6.2 Gestaltung von Forschungsbeziehungen Wesentliches Merkmal empirischer fremdsprachendidaktischer Forschung ist ihr sozialer Charakter, denn sie ist abhängig von und situiert in den Beziehungen des Forschers/ der Forscherin zu Personen und deren Umfeld. Aus diesem Umstand ergeben sich Verantwortlichkeiten und Ansprüche gegenüber den Personen und ihren Handlungskontexten auf der einen Seite und gegenüber der scientifc community auf der anderen Seite. So stellt sich nicht nur die Frage, wie der Forscher/ die Forscherin Zugang zu dem Forschungsfeld finden kann und welche Regeln dabei zu beachten sind (z. B. Forschungserlasse der Kultusministerien der Länder), sondern auch, wie ein vertrauensvolles Arbeitsbündnis entwickelt wird, das für den anvisierten Forschungsprozess tragfähig ist. Die Personen(gruppen) haben Anspruch, dass ihre Interessen geschützt sind und ihre Privatsphäre respektiert wird, dass sie über das Vorhaben, über mögliche Belastungen 11 und die Nutzung der Daten (s. Kap. 4 . 6 . 3 und 4 . 6 . 4 ) informiert werden. Arbeitsbündnisse können dann besondere Produktivität entfalten, wenn es gelingt, Formen der Gegenseitigkeit zu entwickeln, die von den am Forschungsprozess beteiligten Personen als gewinnbringend wahrgenommen werden, wenn es also gelingt, ein Verhältnis des Gebens und Nehmens zu 10 Für die Fremdsprachenforschung sind besonders relevant: Der Ethikkodex der Deutschen Gesellschaft für Fremdsprachenforschung (DGFF) <https: / / www.dgff.de/ dgff- 2 / ethik-kodex/ >; Teachers of English to Speakers of Other Languages (TESOL) <http: / / www.tesol.org>; The American Association of Applied Linguistics (AAAL) <http: / / www.aaal.org>; die Deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaften (DGfE) <http: / / www.dgfe.de/ fileadmin/ OrdnerRedakteure/ Service/ Satzung/ Ethikkodex_ 2010 .pdf>. Vgl. auch die Vorstellungen der Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis: <http: / / www.dfg.de/ download/ pdf/ dfg_im_profil/ reden_stellungnahmen/ download/ empfehlung_wiss_praxis_ 0198 .pdf>. Die Ethik-Kodizes verwandter deutscher Fachgesellschaften werden dargestellt in Viebrock 2015 : 87 - 97 . 11 Es ist selbstverständlich, dass körperliche und psychische Beeinträchtigungen der Untersuchungsteilnehmenden bestmöglich zu vermeiden sind: Unbeabsichtigte Beeinträchtigungen erfordern unverzügliches forscherseitiges Eingreifen; beabsichtigte Beeinträchtigungen wie das Herbeiführen einer besonderen Anstrengung sind im Hinblick auf ihre Notwendigkeit und Zumutbarkeit ethisch zu reflektieren (Aeppli/ Gasser/ Gutzwiller/ Tettenborn 2010 : 58 - 59 ). 116 4. Forschungsentscheidungen etablieren. Als Beispiele für das forscher*innenseitige Geben sind neben einer möglichen Bezahlung von Untersuchungsteilnehmenden verschiedene Möglichkeiten zu nennen, die vom Versenden der Forschungsergebnisse über das Angebot von Fortbildungen bis hin zu langfristigen Kooperationen reichen können. 12 Im Hinblick auf das forscher*innenseitige Nehmen ist beispielsweise zu reflektieren, dass es angesichts der von den Forschungspartnern und Forschungspartnerinnen investierten Zeit und Mühe nicht gerechtfertigt erscheint, Daten zu erheben, die anschließend nicht ausgewertet werden. Auch wird immer häufiger thematisiert, dass die Forschungspartner und Forschungspartnerinnen (und nicht wie bisher zumeist der/ die Forschende) als Eigentümer bzw. Eigentümerin der Daten zu konzeptualisieren seien und ihnen damit das Recht der Auswahl von Daten für Analyseprozesse zukomme. Die ethische Forderung nach Transparenz der Ziele, Verfahren und Ergebnisse des Vorhabens bringt allerdings eine doppelte Herausforderung für die Forschenden mit sich. Denn erstens bedarf die Fachsprache der Wissenschaft, die die Beteiligten in der Regel als unzugänglich wahrnehmen, der angemessenen Übersetzung in die Alltagsprache. Verständnis muss erarbeitet und ausgehandelt werden. Das Dilemma sprachlicher Vermittlung zwischen dem Forscher/ der Forscherin und den Forschungspartnern und -partnerinnen einerseits und andererseits den Anforderungen, die an die Veröffentlichung der Ergebnisse von Seiten der Wissenschaft gestellt werden, thematisiert die Referenzarbeit von Schart ( 2003 : 51 - 52 ). Zweitens stellt sich die Frage, wie viel Transparenz aus ethischen Gründen nötig und aus forschungsmethodischen Anforderungen möglich ist, ohne das Vorhaben selbst zu gefährden. Wenn Forschungspartnern und -partnerinnen aus Gründen des Forschungsdesigns bestimmte Informationen vorenthalten oder sie getäuscht werden, ist von Seiten der Forschenden explizit zu reflektieren, ob dies für das Design tatsächlich unabdingbar ist und ob den Teilnehmenden dadurch in psychologischer Hinsicht Schaden wie beispielsweise Stress oder Unbehaglichkeit entsteht. In der Debriefing -Phase einer solchen Studie sollten die Verantwortlichen dann gewissenhaft dafür Sorge tragen, dass die Teilnehmenden über die Täuschung und die Gründe für die Täuschung aufgeklärt werden ( dehoaxing ) und dass sie jegliche durch die Studie verursachte unangenehme Gefühle abbauen können ( desensitizing ), beispielsweise indem man unerwünschtes Verhalten oder unangenehme Gefühle auf eine Situationsvariable statt auf die Person zurückführt oder indem man verdeutlicht, dass das Verhalten oder die Gefühle so erwartbar waren ( Johnson/ Christensen 2008 : 116 - 117 ). Besondere Aufmerksamkeit verlangt schließlich die Phase des Projekts, wenn der Forscher/ die Forscherin das Feld wieder verlässt und damit die Beziehung beendet. Dieser Feldrückzug muss bewusst als Beendigung einer Beziehung gestaltet und den Teilnehmenden erklärt werden. Rallis/ Rossman ( 2009 : 278 ) erörtern in diesem Zusammenhang das Bild des Verführens und Sitzenlassens: „The image is that you seduce the participants 12 In besonderer Weise stellt sich die Problematik des Gebens auch dann, wenn vielversprechende oder kostenintensive Maßnahmen (z. B. zusätzliche Sprachförderung, moderne technische Ausstattung) nur bei einem Teil der Forschungspartner und Forschungspartnerinnen erprobt werden. Um die Vergleichsgruppe nicht schlechter zu behandeln, bietet es sich in solchen experimentellen Designs an, die beteiligten Gruppen nacheinander mit den erwünschten Maßnahmen zu versorgen. 4.6 Forschungsethik 117 into disclosing their worldviews, then abandon them when you have gotten what you wanted - data“. Auch gehen viele Forschende davon aus, dass den Beteiligten unbedingt die Ergebnisse der Forschung bekannt zu machen seien. Andere wiederum erkennen darin die Gefahr eines „Verletzungsrisiko[s]“ (Miethe 2013 : 933 ); so reflektiert beispielsweise Viebrock ( 2007 ) an einem Beispiel aus der Fremdsprachendidaktik, inwieweit ihr Versuch der kommunikativen Validierung schmerzhaft für die betroffene Forschungspartnerin war. Da der Forscher/ die Forscherin mit dem Eintritt in das Feld und mit dem Aufnehmen und Unterhalten der Beziehungen, dies gilt in besonderem Maße bei qualitativen Studien, durch seine/ ihre Präsenz nolens volens den Forschungsprozess mit prägt und damit das Forschungsvorhaben selbst verändert, wobei Forschungsfragen neu justiert, konkretisiert und oftmals modifiziert werden (Holliday 2016 ), erwächst eine besondere Verantwortung gegenüber der scientific community , diesen Forschungsprozess, die Rolle des Forscher/ der Forscherin und die Dynamik der Beziehungen transparent zu machen (Freeman 2009 ). 4.6.3 Freiwilligkeit der Teilnahme Ein zentrales datenschutzrechtliches und damit gesetzliches Erfordernis empirischer Untersuchungen ist, dass Forschungspartner und -partnerinnen freiwillig an einer Studie teilnehmen. Forschende müssen deshalb ihre Forschungspartner und -partnerinnen vor einer Untersuchung über das geplante Vorgehen detailliert informieren und sich deren Teilnahmebereitschaft schriftlich bestätigen lassen. Dies betrifft insbesondere Ziele, Zeitdauer, Procedere, mögliche Nach- und Vorteile für die Forschungspartner und -partnerinnen, Maßnahmen zur Einhaltung gesetzlicher Datenschutzbestimmungen sowie Ansprechpartner und Ansprechpartnerinnen bei rechtlichen und inhaltlichen Fragen (vgl. dazu genauer Mackey/ Gass 2005 ; Johnson/ Christensen 2008 ). Den Forschungspartnern und -partnerinnen ist ausreichend Gelegenheit zu geben, dazu Fragen zu stellen bzw. zu klären. Essentiell ist dabei, dass die Forschungspartner und -partnerinnen keinerlei Nachteile bei Nicht-Teilnahme befürchten und dass sie keinerlei Bedrängnis zur Teilnahme verspüren, wie dies beispielsweise der Fall wäre, wenn Forschungspartner und -partnerinnen dem Fortschritt der Wissenschaft nicht im Weg stehen wollen und sich deshalb der Autorität des Forschers/ der Forscherin unterordnen, wenn Vorgesetzte ausdrücklich die Teilnahme ihrer Lehrer*innenschaft wünschen, wenn Lehrpersonen ihre Schülerschaft um Einwilligung bitten oder wenn Eltern bei Nicht-Teilnahme ihrer Kinder Nachteile für diese in der Schule befürchten. Forscher und Forscherinnen stehen in der Verantwortung, proaktiv Maßnahmen gegen derartigen sanften oder unbeabsichtigten Druck zu ergreifen. Die informierte Einwilligungserklärung sollte grundsätzlich auch auf die Tatsache aufmerksam machen, dass die Teilnahme an der Studie jederzeit (während und auch nach der Datenerhebung) ohne weitere Erklärung zurückgezogen werden kann; zu diesem Zweck sollte der Forscher/ die Forscherin die entsprechenden Kontaktinformationen bereitstellen. Darüber hinaus müssen die Forschungspartner und -partnerinnen über die weitere Verwendung der Daten informiert werden. Dazu gehört, dass sie vor ihrer informierten Einwilligungserklärung erfahren, wie lange die Daten verwahrt werden, wer Zugang zu 4.6 Forschungsethik Forschung = dynamisches Arbeitsbündnis im sozialen Gefüge wissenschaftliches Fehlverhalten Manipulation von Daten, Verleugnen der Autorschaft, Plagiarismus Gesetze informierte Einwilligungserklärung, Datensicherheit, Pseudonymisierung / Anonymisierung Ethik-Kodizes Mehrwert, Respekt, Redlichkeit, Schadensvermeidung F orscher/ in Forschungsfeld scientific co mmunity (*) Transparenz Ehrlichkeit Geben und Nehmen Zugang zum Feld Rückzug aus dem Feld Freiwilligkeit Vertraulichkeit handlungsleitende Prinzipien und Regeln (*) Verantwortung 1) für sich selbst 2) für das Umfeld 3) gegenüber der scientific community 4) gegenüber den Beteiligten 5) gegenüber Institutionen prudentielle Perspektive moralische Perspektive © 20 22 ⚫ Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 4.6 Forschungsethik 119 den Daten hat und in welcher Form die Daten in Publikationen oder Vorträgen präsentiert werden. Darüber hinaus sind ethische Prinzipien auch dann zu bedenken und in den entsprechenden Publikationen zu thematisieren, wenn Zweifel bestehen, inwieweit die Forschungspartner und -partnerinnen in der Lage sind, die Einwilligungserklärung zu verstehen. Dies ist in der Fremdsprachenforschung in sprachlicher Hinsicht insbesondere im Hinblick auf die Zusammenarbeit mit Migranten und Migrantinnen von Bedeutung, denen die Einwilligungserklärungen bei entsprechenden Zweifeln in ihrer Erstsprache vorgelegt oder mündlich in der Erstsprache erläutert werden sollten. Doch auch konzeptuelle Verständnisschwierigkeiten schutzbedürftiger Gruppen wie beispielsweise schriftunkundiger Zweitsprachlernender, Kinder, dementer oder kognitiv beeinträchtiger Personen sind ggf. zu reflektieren und angemessen zu berücksichtigen. Bei Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren sind darüber hinaus ebenfalls die Eltern um ihre Einverständniserklärung zu bitten; bei Untersuchungen in Schulen ist beim entsprechenden Kultusministerium eine Genehmigung zu erwirken, was in der Regel einen längeren zeitlichen Vorlauf von mehreren Monaten erfordert. Noch virulenter sind solche ethischen Problemlagen häufig bei Internetforschungen, bei denen schwerer zu beurteilen ist, ob die Forschungspartner und -partnerinnen die Informationen zum Forschungsvorhaben tatsächlich verstanden haben und ob sie in der Lage oder alt genug sind, ihre Einwilligung zu erklären. In solchen Fällen gewinnen nach Eynon/ Fry/ Schroeder ( 2008 ) Bemühungen um eine verständliche Sprache und ggf. auch online-Verständnistests besondere Bedeutung. Erwähnt sei in diesem Zusammenhang auch, dass Beobachtungsstudien in virtuellen Welten wie Second Life oder bei der Teilnahme an Chatgroups mit derselben ethischen Reflexion wie auch in der realen Welt anzugehen sind (ebd.); auch für das Debriefing ist bei Internetforschung besondere Sorge zu tragen ( Johnson/ Christensen 2008 : 126 ). 4.6.4 Vertraulichkeit der Daten Ebenfalls gesetzlich geregelt ist in den meisten (Bundes-)Ländern, welche Anforderungen an die Vertraulichkeit der Daten zu stellen sind. Eine wichtige Unterscheidung ist in diesem Zusammenhang zwischen Anonymisierung und Pseudonymisierung zu treffen. Anonyme Daten liegen dann vor, wenn dem Untersuchungsteam die Zuordnung von Daten zu Namen unmöglich ist (bspw. beim Einsatz nummerierter Fragebögen ohne Erhebung von Namen). Pseudonymisierung bedeutet hingegen, dass dem datenerhebenden Forscher/ der Forscherin die Namen der Forschungspartner und -partnerinnen bekannt sind, diese aber bei der Aufbereitung der Daten durch Pseudonyme ersetzt werden, sodass weder bei der Bearbeitung der Daten noch bei der Präsentation der Ergebnisse die Identität der Forschungspartner und -partnerinnen bekannt wird. 13 13 Auch bereits während der Datenerhebung ist darauf zu achten, dass auf Nachfrage der Forschungspartner und -partnerinnen keine Weitergabe der Informationen von anderen Personen erfolgt. Die Referenzarbeit von Ehrenreich ( 2004 : 457 ) illustriert den Einbezug der Forschungspartnerinnen in die Pseudonymisierung der Transkripte. Die Autorin gibt den interviewten Fremdsprachenassistentinnen neben der Korrektur inhaltlicher Fehler auch die Möglichkeit, über die von der Autorin vorgenommene Pseudonymisierung 14 hinaus auch bestimmte Wörter zu neutralisieren oder zu streichen. Fürsorglich weist sie im Sinne eines Schutzes der Forschungspartnerinnen auch darauf hin, dass niemand aufgrund der für die Mündlichkeit charakteristischen Satzbrüche und anderer Phänomene der Mündlichkeit an der eigenen Ausdrucksfähigkeit zweifeln solle. Pseudonymisierung stellt insbesondere bei der Arbeit mit Bild- und Videomaterial eine Herausforderung dar, da arbeitsaufwändige Verpixelungen oder Balken über Gesichtern die Identitäten von Forschungspartnern und -partnerinnen unter Umständen nicht hinreichend verdecken, möglicherweise aber sogar die Datenauswertung behindern. So ist es bei Einwilligungserklärungen hinsichtlich videographischer Fremdsprachenforschung insbesondere von Interesse, den Forschungspartnern und -partnerinnen mehrere Präsentationsmöglichkeiten der audiovisuellen Daten (von der Begrenzung auf pseudonymisierte Transkripte bis hin zu Filmvorführungen bei Vorträgen auf wissenschaftlichen Konferenzen und in der Lehreraus- und -weiterbildung) anzubieten und ihr schriftliches Einverständnis einzuholen. Ethisch zu reflektieren ist auch der Wunsch einiger Forschungspartner und -partnerinnen, ihre Identität zu benennen, um auf diese Weise ihren Forschungsbeitrag zu würdigen. Wie Miethe ( 2013 : 931 - 932 ) ausführt, ist bei De-Anonymisierung jedoch insbesondere zu bedenken, inwieweit die Betroffenen, vor allem Kinder, die Reichweite einer solchen Entscheidung absehen können und inwieweit damit auch andere Personen wie Familienmitglieder oder Kollegen und Kolleginnen de-anonymisiert werden. Ebenfalls reflexionsbedürftig erscheint bei Internetforschung beispielsweise das Zitieren von Postings in Diskussionsforen, da diese im Internet unmittelbar aufgefunden werden können und möglicherweise die Identität der Beforschten preisgeben; auch die sichere Datenübertragung bei Befragungen bzw. der mögliche Zugriff Dritter auf die Daten muss Internetforschenden in besonderer Weise beschäftigen (vgl. Eynon/ Fry/ Schroeder 2008 ). Da bei Internetforschung keine klaren nationalen Grenzen gegeben sind und somit rechtliche Grauzonen entstehen, erscheint in diesen Fällen die ethische Reflexion durch das Forschungsteam in besonderer Weise geboten (s. ebd. sowie auch Cohen/ Manion/ Morrison 2018 : 144 - 153 ). 4.6.5 Wissenschaftliches Fehlverhalten Neben dem Betrug wie beispielsweise dem Fälschen von Daten oder dem Manipulieren von Ergebnissen sind als wissenschaftliches Fehlverhalten auch solche Fälle zu bezeichnen, in denen der Umgang mit gefälschten Daten von Kollegen und Kolleginnen bewusst übersehen wird, bestimmte (widersprüchliche) Daten gezielt zurückgehalten werden oder 14 Allerdings spricht Ehrenreich ( 2004 : 457 ) selbst von Anonymisierung. 120 4. Forschungsentscheidungen das Forschungsdesign auf Druck des Geldgebers verändert wird ( Johnson/ Christensen 2008 : 104 ; s. Kap. 2 ). Bei Publikationsaktivitäten ist im Hinblick auf wissenschaftliches Fehlverhalten zum einen die Frage der Autor*innenschaft von besonderer Relevanz. Autor*innenschaft gebührt denjenigen, die entscheidend zur Entwicklung und Durchführung des Forschungsprojekts beigetragen haben; besondere Sensibilität ist diesbezüglich bei einem hierarchischen Gefälle der Beteiligten bzw. bei Kooperationen von etablierten Forschern und Forscherinnen mit Nachwuchswissenschaftlern und Nachwuchswissenschaftlerinnen angebracht. Zum anderen steht der Plagiarismus immer wieder im Mittelpunkt der universitären und der öffentlichen Diskussion, da der Diebstahl geistigen Eigentums einen grundlegenden Verstoß gegen die ethischen Prinzipien des wissenschaftlichen Arbeitens sowie auch gegen das Urheberrecht und damit ein strafbares Vergehen darstellt, das rechtliche Konsequenzen nach sich zieht (Ackermann 2003 ; Aeppli/ Gasser/ Gutzwiller/ Tettenborn 2010 : 57 ). 4.6.6 Fazit Die hier erörterten Handlungsmaximen sind nicht als abzuarbeitender Regelkatalog misszuverstehen. Vielmehr sollen sie die Sensibilität für die Implikationen forschenden Handelns fördern. Forschende sind gehalten, sich immer wieder neu der Konsequenzen ihres Handelns bewusst zu werden. Abweichungen von Prinzipien sind im Kontext konkreter Forschungsprojekte nicht zu vermeiden; solche Abweichungen bedürfen jedoch der genauen Begründung und der kritischen Abwägung, die auch den Rat von Experten und Expertinnen mit einbezieht (vgl. Denscombe 2010 : 77 ). Macfarlane ( 2009 ) entwickelt seine Forschungsethik auf der Grundlage von sechs Tugenden. Zu diesen gehört neben Mut, Respekt, Entschlossenheit, Ernsthaftigkeit und Bescheidenheit die Schlüsseltugend der Reflexivität, die Fähigkeit Abstand zu nehmen, zu fragen, ob ich als Forscherin, als Forscher meinen Verantwortlichkeiten gerecht werde und wie ich mein Handeln begründe. Es ist genau jene Tugend, der wir mit diesem Kapitel das Wort reden. › Literatur Ackermann, Kathrin (2003). Plagiat. In: Ueding, Gert (Hg.). Historisches Wörterbuch der Rhetorik . 6. Auflage. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1223-1230. Aeppli, Jürg/ Gasser, Luciano/ Gutzwiller, Eveline/ Tettenborn, Annette (2010). Empirisches wissenschaftliches Arbeiten. Ein Studienbuch für die Bildungswissenschaften. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Bach, Gerhard/ Viebrock, Britta (2012). Was ist erlaubt? Forschungsethik in der Fremdsprachenforschung. In: Doff, Sabine (Hg.). 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Eine systematische Betrachtung . Frankfurt/ Main: Lang. » Zur Vertiefung empfohlen Cannella , Gaile S./ Lincoln, Yvonna S. (2017). Ethics, research regulations, and critical social science. In: Denzin, Norman K./ Lincoln, Yvonna S. (Hg.). The Sage Handbook of Qualitative Research. 5. Auflage. Los Angeles: Sage, 83-96. Dieser Beitrag aus einem sozialwissenschaftlichen Handbuch zur qualitativen Forschung diskutiert das Konzept der Forschungsethik aus kritischer, transformativer und postkolonialer Perspektive. Dabei stehen Fragen der Solidarität mit marginalisierten und unterdrückten Personen sowie auch von Macht und Gouvernementalität in Forschungsprozessen im Mittelpunkt. 4.6 Forschungsethik 123 Cohen, Louis/ Manion, Lawrence/ Morrison, Keith (2018). Research Methods in Education 8th Edition [Chapter 7. The ethics of educational and social research. Chapter 8. Ethics in Internet research]. Hoboken: Taylor and Francis, 111-152. Das Kapitel „The ethics of educational and social reseach“ gibt einen sehr umfassenden Überblick sowohl zu grundsätzlichen Fragen der Forschungsethik als auch zu praktischen Erfordernissen wie Zugang zum Feld und Forschungsverträge (z. B. finden sich dort besonders interessante ethische Prinzipien für Aktionsforscher*innen, s. S. 139). Ethische Kodizes einschlägiger Fachgesellschaften aus dem anglo-amerikanischen Raum werden eingeführt und kommentiert. Holliday, Adrian (2016). Doing and Writing Qualitative Research. 3. Auflage [Kap. 7: Writing about Relations]. Los Angeles, CA : Sage, 145-170. Auf der Grundlage extensiver Beispiele aus der fremdsprachendidaktischen Forschungspraxis werden in diesem Handbuchkapitel Problemfälle beim Feldzugang und insbesondere bei der Gestaltung der Beziehung mit den Forschungspartnern thematisiert. Angesichts der Tatsache, dass das Untersuchungsfeld eine andere Kultur als die der Forscher*innen aufweist, plädiert Holliday für konsequentes kulturelles Lernen und eine culture of dealing , bei der sich die Forscher*innen der zu untersuchenden Welt unterordnen. Miethe, Ingrid (2013). Forschungsethik. In: Friebertshäuser, Barbara/ Langer, Antje/ Prengel, Annedore (Hg.). Handbuch Qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft. 4., durchgesehen Auflage. Weinheim: Juventa, 927-937. In diesem erziehungswissenschaftlichen Handbuchartikel behandelt die Autorin die Themen (a) informierte Einwilligung als Basis der Forschungsbeziehung, (b) Anonymisierung und (c) Publikation bzw. die Frage der Rückmeldung von Ergebnissen. Dabei arbeitet sie besonders deutlich die jeweils kontroversen Aspekte dieser drei Themen heraus. Viebrock, Britta (2015). Forschungsethik in der Fremdsprachenforschung. Eine systematische Betrachtung. Frankfurt/ Main: Lang. Diese erste umfassende Darstellung der Forschungsethik für den Gegenstandsbereich Fremdsprachenforschung bietet differenzierte Vertiefungen zu grundsätzlichen Fragestellungen (z. B. zur Integrität des Forschers, der Forscherin), zu theoretischen Konzepten und Hintergründen (z. B. Ethik-Theorien) und praxisnahen Problemstellungen, die in dem vorliegenden Kapitel angesprochen werden. 5. Forschungsverfahren 5.1 Grundsatzüberlegungen Friederike Klippel Im zentralen fünften Kapitel dieses Handbuches geht es um das methodische Kernelement von Forschung: zum ersten um die wesentlichen Verfahren und Werkzeuge für die Datengewinnung und -erhebung sowie die Zusammenstellung von Dokumenten (Kap. 5 . 2 . 1 bis 5 . 2 . 8 ), zum zweiten um Verfahren und Instrumente für die Aufbereitung und Analyse von Daten und Dokumenten ( 5 . 3 . 1 bis 5 . 3 . 13 ). Dieses Kapitel ist denn auch bei weitem das umfangreichste des Handbuchs. Die einzelnen Teilkapitel wurden von ausgewiesenen Expert*innen für das jeweilige Verfahren verfasst; wie in Kapitel 4 illustrieren auch hier klare Grafiken die zentralen Vorgehensweisen und Elemente der unterschiedlichen Forschungsmethoden. Während Kapitel 4 die grundsätzlichen Forschungsentscheidungen im Hinblick auf das zu wählende Design, auf Fragen des Samplings oder der Forschungsethik behandelt, also Aspekte der Forschungsmethodologie, geht es hier vor allem um einzelne Forschungsmethoden. Wir verstehen den Begriff Forschungsmethode bzw. Forschungsverfahren relativ breit; Methoden oder Verfahren der Forschung bedienen sich unterschiedlicher Instrumente oder Werkzeuge. So arbeitet die Methode der Befragung etwa mit dem Instrument Fragebogen, zu dessen quantitativer Auswertung das Werkzeug SPSS in Anwendung kommen kann. Auch das Interview ist ein Verfahren der Befragung; bei seiner Durchführung kann als Instrument der Interviewleitfaden eingesetzt werden. Bei der Inhaltsanalyse etwa ist ein Instrument das Kodierschema; dazu hilft als Werkzeug eine Software wie z. B. MAXQDA. Allerdings lassen sich Werkzeuge und Instrumente nicht für jedes Forschungsverfahren sauber voneinander trennen. Zugleich sind einige Werkzeuge bei der Anwendung unterschiedlicher Verfahren einsetzbar. Wenn im Folgenden die Verfahren für historische, theoretische und empirische Forschung in dieser Reihenfolge im Einzelnen vorgestellt werden, dann bedeutet diese Reihung keinerlei Wertung. Desgleichen ist mit der vergleichsweise breiten Darstellung von Verfahren für die empirische Forschung nicht ausgesagt, dass diese Art von Forschung grundsätzlich bedeutsamer sei als andere Forschungsansätze. Es ist jedoch unübersehbar, dass sich die aktuelle Diskussion zu und Beschreibung von Forschungsmethoden fast ausschließlich auf empirische Forschung bezieht, während historische und theoretisch-konzeptuelle Forschung in den gängigen Handbüchern nur selten überhaupt beachtet werden. Insofern betritt dieses Kapitel Neuland, indem es auch diese Herangehensweisen unter forschungsmethodischer Perspektive thematisiert. Die 21 Teilkapitel bieten eine breite Palette an geeigneten Forschungsmethoden für die Fremdsprachendidaktik, wobei wir selbstverständlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit 126 5. Forschungsverfahren erheben. Da sehr viele Autor*innen an Kapitel 5 mitgewirkt haben, ergibt sich an dieser Stelle des Handbuchs eine gewisse Vielfalt der Stile und Sichtweisen. Zudem wird deutlich, dass sich einzelne Instrumente und Werkzeuge nicht nur einem, sondern mehreren Verfahren zuordnen lassen, da gewisse Affinitäten zwischen unterschiedlichen Verfahren bestehen. In einem Handbuch, das Hilfen für die eigene Forschungsarbeit oder zur Betreuung von Qualifikationsarbeiten bereitstellen möchte, sollte es vor allem um eine klare und konkrete Darstellung der einzelnen Verfahren und Instrumente zum gegenwärtigen Zeitpunkt gehen. Diesem Ziel dienen die Übersichts-Grafiken, die fast allen Kapiteln zugeordnet sind. Weniger wichtig erschien es daher aus Sicht der Herausgeber*innen, historische Entwicklungen von einzelnen Methoden, bestimmte Schulenbildungen oder Kontroversen zu einzelnen Forschungsmethoden detailliert zu referieren. Dieses Kapitel, in dem sehr viele Forschungsmethoden vorgestellt werden, mag vielleicht den Charakter eines Menüs suggerieren, aus dem man nach Geschmack beliebig auswählen kann. Sich über unterschiedliche Zugangsweisen in der Forschung zu informieren, hat jedoch immer das Ziel, die für das jeweilige Forschungsvorhaben am besten geeignete Methode zu finden. Die Passung von Forschungsfrage und Forschungsmethode spielt in jeder Forschungsarbeit eine zentrale Rolle. Nicht jedes Verfahren eignet sich zur Bearbeitung jeder Forschungsfrage; vielmehr muss auf der Basis des treibenden Erkenntnisinteresses überlegt werden, wie man am besten zu Ergebnissen gelangt. Die eingesetzten Forschungsmethoden und ihre Instrumente sind zudem nicht wertneutral, sondern tragen eine bestimmte Perspektive, ein bestimmtes Menschenbild in sich. Daher gibt es durchaus gewisse Affinitäten zwischen dem Wissenschafts- und Forschungsverständnis individueller Forscher*innen und deren bevorzugter Wahl von bestimmten Forschungsmethoden. Neben die individuellen Präferenzen treten zeitbedingte Strömungen. Jede Epoche besitzt häufigere und weniger beachtete Ausprägungen von Forschung, und zwar sowohl im Hinblick auf die beforschten Bereiche und Themen als auch auf die forschungsmethodischen Ansätze. Schließlich durchläuft auch die Forschungsmethodologie generell durch die fortwährende Forschungstätigkeit eine Entwicklung, die zur Verfeinerung, Ausweitung, Schärfung, Neuentwicklung oder auch zum Aufgeben bestimmter Verfahren führen kann. Noviz*innen in der Forschung sollten daher bestehende Methoden oder Designs nicht einfach unreflektiert übernehmen, sondern - abhängig von der Forschungsfrage - durch ihre Ideen und Experimentierfreude dazu beitragen, auch die Forschungsverfahren weiterzuentwickeln. Anregungen dazu können aus der Kombination unterschiedlicher Methodologien, der Modifikation bekannter Verfahren oder aus benachbarten Disziplinen kommen. Allerdings muss dabei beachtet werden, dass sich nicht alles mit allem sinnvoll kombinieren lässt, da den einzelnen Ansätzen unterschiedliche Auffassungen von Forschung zugrundeliegen können (s. Kap. 2 ). Dass solche forschungsmethodischen Innovationen in Qualifikationsarbeiten zudem nur in Absprache mit den betreuenden Wissenschaftler*innen vorgenommen werden sollten, ist selbstverständlich. Betrachtet man die in diesem Kapitel vorgestellten Verfahren mit dem Ziel, unterschiedliche Arten des Forschens zu unterscheiden, dann ließe sich eine grobe Differenzierung in eher zyklische und eher lineare Vorgehensweisen treffen. Hermeneutische, inhaltsanalytische und hypothesen-generierende Ansätze beruhen ebenso wie die historische Forschung auf einer wiederholten Befassung mit den zu analysierenden Texten, Dokumenten und 5.2 Gewinnung von Dokumenten, Texten und Daten 127 Daten. Demgegenüber ist die hypothesenprüfende Vorgehensweise stärker linear und umfasst eine Reihe von klar definierten, aufeinanderfolgenden Schritten. Eine Rückbindung an die theoretische Grundlegung, die man als zyklisches Element ansehen könnte, erfolgt in diesen Verfahren vor allem im Zuge der Interpretation und Diskussion der Ergebnisse. Angesichts der Fülle der möglichen forschungsmethodischen Zugriffe ist es für Forschungsnoviz*innen oft schwer, sich für ein bestimmtes Verfahren zu entscheiden. Die Wahl der Forschungsmethode ist eine zentrale Weichenstellung für die gesamte Arbeit und bedarf gründlicher Überlegung. Dieses Kapitel soll dabei helfen, die gesamte Breite der forschungsmethodischen Optionen und deren besondere Stärken bewusst werden zu lassen. Als Illustration für ein spezifisches Vorgehen dienen jeweils Referenzarbeiten, die als Beispiele ausgewählt wurden, weil in ihnen die forschungsmethodische Umsetzung besonders gelungen ist. Insofern liefert dieses Großkapitel auch die Möglichkeit, an guten Beispielen zu lernen. 5.2 Gewinnung von Dokumenten, Texten und Daten Karen Schramm Dieser Abschnitt thematisiert Verfahren der Dokumenten-, Text- und Datengewinnung. Diese stellen einen zentralen Arbeitsschritt im Forschungsprozess dar, der zwar prinzipiell nach der forschungsfragebasierten Design-Erstellung (s. Kap. 3 und 4 ) und vor der Datenaufbereitung und -analyse (s. Kap. 5 . 3 ) zu verorten ist. Dennoch ist zu betonen, dass sich diese Arbeitsschritte - insbesondere bei explorativ-interpretativen Forschungsarbeiten - nicht einfach in linearer Abfolge sukzessiv abarbeiten lassen, sondern dass aufgrund der komplexen Zusammenhänge spiralförmig voranschreitende Vorgehensweisen bzw. dabei vorzunehmende kontinuierliche Verfeinerungen notwendig sind. Gelingt es, das Forschungsdesign und die entsprechende Größe des Dokumenten-, Text- oder Datenkorpus hinreichend zu präzisieren, so lässt sich bei der Gewinnung dieses Korpus eine überdimensionierte Anhäufung vermeiden. Die Forschungspraxis zeigt jedoch, dass die gezielte Eingrenzung allzu häufig Schwierigkeiten bereitet. Im Bereich der empirischen Forschung wird darauf scherzhaft mit der Metapher von Datenfriedhöfen Bezug genommen; damit ist die Ansammlung von Daten gemeint, die aufgrund der für die Auswertung zur Verfügung stehenden zeitlichen Ressourcen nicht analysiert werden können. Diesen unglückseligen Fall schon im Vorfeld zu vermeiden, erscheint mit Rücksicht auf die Anstrengungen, die eine Datenerhebung den Forschungspartner*innen abverlangt, genauso wichtig wie im Hinblick auf die begrenzten Ressourcen der erhebenden Forschenden selbst (s. auch Kap. 4.6 zur Forschungsethik). Grundlegend unterscheiden wir in diesem Handbuch zwischen dem Erfassen und dem Erheben und nutzen den Begriff der Gewinnung von Dokumenten, Texten und Daten (s. zu dieser Unterscheidung Kap. 4 . 1 ) als Oberbegriff für beide Verfahren. Das Konzept des Erfassens bezieht sich dabei auf Dokumente, Texte und Daten, die unabhängig von der 128 5. Forschungsverfahren jeweiligen Forschungsarbeit vorzufinden sind. Wie Abbildung 1 verdeutlicht, kann dieses Erfassen sich erstens konkret auf den Unterricht beziehen (beispielsweise auf das Einsammeln von lehrer- und lernerseitigen Arbeitsprodukten wie Unterrichtsplanungen oder Aufsätze). Es wurde in der forschungsmethodischen Diskussion bislang kaum thematisiert; das in dieser Hinsicht innovative Kapitel 5 . 2 . 7 ist solchen Verfahren gewidmet. Zweitens ist für die Fremdsprachendidaktik auch die Erfassung von Dokumenten und Texten von Interesse, die über konkrete Unterrichtssituationen hinausreichen und die entweder auf eine Dokumentensammlung für historische Forschungsarbeiten (s. Kap. 5 . 2 . 1 ) oder eine Textsammlung für theoretische Studien (s. Kap. 5 . 2 . 2 ) hinauslaufen. Im Gegensatz zum Erfassen ist für das Erheben die Tatsache charakteristisch, dass die gewonnenen Daten ohne die Forschungsarbeit nicht existierten. Abbildung 1 zeigt die vielen Verfahren zur Datenerhebung, die in der Fremdsprachendidaktik Beachtung finden: Hier ist zunächst einmal die häufig getroffene Unterscheidung von Beobachten und Befragen relevant. Die vielfältigen Formen des Beobachtens (unter anderem die ethnographisch motivierte teilnehmende Beobachtung mit Feldnotizen, die gesteuerte Beobachtung anhand von Beobachtungsbögen oder die videographische Beobachtung) werden in Kapitel 5 . 2 . 3 thematisiert. Befragungen in Form von Fragebögen und Interviews stellt Kapitel 5 . 2 . 4 vor. Die in Kapitel 5 . 2 . 5 aufgefächerten Verfahren der Introspektion sind in Abbildung 1 zwischen dem Beobachten und Befragen abgebildet, da Verfahren des Lauten Denkens und des Lauten Erinnerns einerseits ähnlich wie Befragungen auf Impulsen der Forschenden beruhen, aber andererseits ähnlich wie Beobachtungen nicht-kommunikativ bzw. auch in Abwesenheit der Forschenden ablaufen können. Auch der Themenbereich des Testens ließe sich begrifflich der Befragung zuordnen; aufgrund der Bedeutung dieses Bereichs wurde er in Abbildung 1 jedoch ausgegliedert und wird in einem eigenen Kapitel ( 5 . 2 . 8 ) ausführlich behandelt. Im Fall des Kapitels zur Lernersprache und Korpuserstellung ( 5 . 2 . 6 ) hat es sich als gewinnbringend erwiesen, das Erfassen und Erheben gemeinsam zu thematisieren, sodass dieses Kapitel in Abbildung 1 entsprechend platziert ist. Als wesentlich für die Charakterisierung von empirischen Unterrichtsdaten wird seit spätestens den 1980 er Jahren die Unterscheidung von Produkt- und Prozessdaten betrachtet. In Abbildung 1 weist die hell- und dunkelgraue Markierung auf diese (nicht immer trennscharfe) Dichotomie hin, die zwischen den punktuellen Ergebnissen des Lernens, dem Produkt, und dem zeitlich ausgedehnten Vorgang des Lernens, dem Prozess, unterscheidet: Als eher produktorientiert sind die unterrichtsbezogene Erfassung von Daten, das Erfassen und Erheben von Lernersprache und das Testen zu charakterisieren, während das Beobachten, das Befragen und die Introspektion sich besonders für die Erforschung von (meta-)kognitiven, affektiven und sozialen Prozessen eignen. Steht bei einer Untersuchung die sprachliche oder kulturelle Entwicklung von Lernenden über einen längeren Zeitraum im Vordergrund, erweist sich auch die begriffliche Unterscheidung von Längs- und Querschnittdaten als zentral. Dabei zeichnen Längsschnittdaten die tatsächliche Entwicklung von Personen über einen längeren Untersuchungszeitraum nach, während Querschnittdaten Personengruppen in unterschiedlichen Entwicklungsstadien (z. B. Klassenstufen oder Sprachniveaus) untersuchen, um auf der Grundlage einer Datenerhebung zu einem einzigen Zeitpunkt Aussagen über angenommene Entwicklungsprozesse zu treffen. 4.6.6 Fazit 129 Erfassen Erheben Designerstellung (3 & 4) Dokumenten-, Text- und Datengewinnung (5.2) Datenaufbereitung und Analyse (5.3) im Unterricht eher prozessbezogen eher produktbezogen Lernersprache und Korpuserstellung (5.2.6) Beobachtung (5.2.3) Introspektion (5.2.5) Befragungen (5.2.4) Testen (5.2.8) außerhalb des Unterrichts Erfassen unterrichtsbezogener Produkte (5.2.7) Dokumentensammlung für historische Studien (5.2.1) Textsammlung für theoretische Studien (5.2.2) © 2022 ⚫ Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Abbildung 1: Übersicht über Verfahren zur Gewinnung von Dokumenten, Texten und Daten 130 5. Forschungsverfahren 5.2.1 Dokumentensammlung Elisabeth Kolb/ Friederike Klippel Wenn das Erkenntnisinteresse einer Forschungsarbeit darin liegt, gegenwärtige Prozesse und Zustände oder vergangene Epochen und Ereignisse zu beschreiben, zu interpretieren und zu bewerten, so ist es nötig, sich auf Dokumente zu stützen, die diese Gegebenheiten repräsentieren. Um tatsächlich gültige Aussagen treffen zu können, muss diese Analyse auf einer möglichst breiten, objektiven, systematischen, repräsentativen und validen Basis an Belegen beruhen. Daher sind wichtige Forschungsstrategien die Suche, Sammlung, Auswahl und Anordnung von Dokumenten. Dokumente können je nach Forschungsinteresse unterschiedliche Realisierungen aufweisen: Sie können von Daten derart unterschieden werden, dass Dokumente jegliche Art von schriftlichen oder gegenständlichen Belegen umfassen, die nicht speziell für das Forschungsprojekt generiert wurden, wohingegen Daten erst durch die eingesetzten Erhebungsverfahren geschaffen werden. Während mit Heuristik der erste Schritt des Auffindens von Dokumenten beschrieben ist, verlangt die anschließende Korpuserstellung begründete Entscheidungen dazu, welche der gefundenen Dokumente ausgewählt und analysiert werden sollen. Im Folgenden werden 1 . für fremdsprachendidaktische Forschung relevante Dokumenttypen vorgestellt, 2 . die Schritte bei Heuristik und Korpuserstellung erläutert und 3 . konkrete Verfahrensweisen, Schwierigkeiten bei der Sammlung verschiedener Dokumente und der Umgang damit dargestellt. 1 Welche Dokumente kommen in Frage? Terminologie Grundsätzlich werden unter Dokumenten Texte, Materialien und Medien verstanden, die nicht im Kontext aktueller wissenschaftlicher Arbeit als wissenschaftliche (Sekundär-) Literatur entstanden sind, sondern ursprünglich einem anderen Zweck dienen, so wie es etwa für alle Arten von unterrichtsbezogenen Produkten der Fall ist (s. dazu Kap. 5 . 2 . 7 ). 1 Während die Bezeichnung Dokument vor allem in der sozialwissenschaftlichen Forschung Verwendung findet, wird in der Geschichtswissenschaft eher von Quellen gesprochen; diese Begrifflichkeit differenziert nach gegenwärtiger bzw. vergangener Entstehungszeit (Glaser 2013 : 366 - 367 ). Allerdings ist insbesondere für historische Forschungsarbeiten diese Kategorisierung nicht eindeutig: So können beispielsweise Zeitschriftenaufsätze oder Rezensionen in ihrer Entstehungszeit Dokumente gewesen sein, während sie jetzt als Quellen zur Rekonstruktion vergangener Geschehnisse oder Zeitabschnitte herangezogen werden. Weiterhin können Primär- und Sekundärdokumente unterschieden werden: Während erstere von Zeitzeugen oder direkt Beteiligten produziert werden, verwenden letztere Primärdokumente, um ein Ereignis oder eine Epoche zu rekonstruieren und zu beschreiben (Martin 2018 : 325 ). Auch hier gibt es fließende Übergänge zwischen diesen beiden Polen: Ein Zeitge- 1 Somit werden vor allem diejenigen Texte ausgeschlossen, die bei jeder Forschungsarbeit gefunden werden müssen, um den Stand der Forschung zu referieren. Dennoch ist das heuristische Verfahren jeweils ganz ähnlich beschaffen (vgl. Kap. 6 . 3 ). 5.2.1 Dokumentensammlung 131 nosse kann mit zeitlichem Abstand, z. B. in seiner Autobiographie, Gegebenheiten darstellen; ein derartiger Rückblick kann deutlich anders aussehen als ein zeitgenössischer Bericht. Relevante Arten von Dokumenten Für die fremdsprachendidaktische Forschung äußerst relevant ist die Einteilung nach den Urheber*innen der Dokumente sowie nach dem Vertriebsweg bzw. der Zugänglichkeit der Dokumente (vgl. Scott 1990 : 14 - 18 ). Ausgehend von der Zugehörigkeit zu verschiedenen Kommunikationsbereichen können hauptsächlich offizielle, halboffizielle, öffentliche und private Dokumente unterschieden werden. • Offizielle Dokumente werden von staatlichen Institutionen veröffentlicht und in erster Linie auch von deren Vertreter*innen rezipiert. Dazu gehören z. B. Gesetze, Lehrpläne, Stundentafeln, Verordnungen und Verträge. Sie zeigen, wie der Staat als Akteur die Organisation und den Ablauf von (Fremdsprachen-)Unterricht konzeptionell vorgibt. Diese Dokumente erlauben nur in begrenztem Maß Rückschlüsse auf die Unterrichtswirklichkeit und sind vielmehr als Absichtserklärungen auf der Makroebene der Schul- und Unterrichtsorganisation zu sehen (Fend 2008 : 167 ; Kolb 2013 : 38 - 40 ). • Halboffizielle Dokumente entstehen in der Kommunikation zwischen Institutionen und Angehörigen dieser Institutionen und Privatpersonen. Wenn auch die Zuordnung nicht immer eindeutig ist, so können dazu Handreichungen von Landesinstituten, Schulprogrammschriften, Stoffverteilungspläne, schulinterne Curricula, Unterrichtsentwürfe, Jahresberichte, Klassenbücher, Schülerzeitungen, Zeugnisse, Tests usw. gezählt werden (s. Kap. 5 . 2 . 7 ). Während einige dieser Dokumenttypen eher innerhalb der Institution Schule rezipiert werden, haben andere auch außerhalb ein Publikum, z. B. Eltern. Sie spiegeln amtliche Positionen wider, sind aber gleichzeitig als Dokumente der Mesoebene der schulischen Institutionen oder als Dokumente der Mikroebene des Unterrichts auch näher an der Unterrichtsrealität (Fend 2008 : 167 ). • Zu den privaten Dokumenten, die von unterschiedlichen Beteiligten stammen können, zählen beispielsweise Tagebücher von Lernenden und Lehrenden, Interviews, Briefe oder (Auto-)Biographien, Webseiten, Blogs und Posts von Fremdsprachendidaktiker*innen, Lehrpersonen oder Sprachenlernenden. Am Übergang zwischen halboffiziellen und privaten Dokumenten befinden sich Lernertexte (z. B. ausgefüllte Arbeitsblätter, Klassenarbeiten, Aufsätze oder Portfolios) (s. Kap. 5 . 2 . 7 ). Diese und viele weitere Dokumente geben kleine, subjektiv gefärbte Ausschnitte aus verschiedenen Bereichen wieder und müssen daher, was Zuverlässigkeit und Korrektheit betrifft, vorsichtig rezipiert und interpretiert werden (s. Kap. 5 . 2 . 7 . und 5 . 3 . 1 ). • Als öffentlich können Dokumente bezeichnet werden, wenn sie in irgendeiner Form - gedruckt oder digital - veröffentlicht sind, so dass sie bei Interesse relativ leicht zugänglich sind. Dazu sind verschiedene Dokumente zu zählen wie Rezensionen, Zeitschriften- und Zeitungsartikel, Konferenzberichte, Statistiken, kommerzielle Selbstlernmaterialien, Lehrwerke und zugehörige Medien, Podcasts, Videos, Dokumente im open access , Plakate, Anzeigen, Graffiti oder auch literarische Texte. 132 5. Forschungsverfahren Was die Zugänglichkeit betrifft, so können schriftliche Dokumente beispielsweise frei im Buchhandel erhältlich sein oder in Bibliotheken bereitgestellt werden, sie können in Archiven vorhanden sein, oder sie können nur intern einem begrenzten Adressatenkreis (z. B. als Arbeitspapier oder als private Nachricht) verfügbar sein (vgl. Scott 1990 : 14 - 18 ). Schriftliche Dokumente aus allen o. g. Kategorien, die nicht öffentlich zugänglich sind, sondern innerhalb eines bestimmten Rezipientenkreises zirkulieren, werden als graue Literatur bezeichnet (Bortz/ Döring 2006 : 360 ). Da sie meist schwierig aufzufinden sind, werden sie oft vernachlässigt; sie bieten jedoch viele Gelegenheiten, neue Erkenntnisse zu bestimmten Diskursen zu gewinnen, etablierte Sichtweisen zu ergänzen und möglicherweise gar zu revidieren. Im Internet werden solche Texte zwar gelegentlich auf privaten Webseiten oder in Foren veröffentlicht; dadurch sind sie aber nicht automatisch leichter zu finden. Ein weiterer wichtiger Anhaltspunkt, um zu analysierende Dokumente auszuwählen, ist das Medium. Neben gedruckten Texten sollten auch andere mediale Realisierungsformen beachtet werden. Lohnend kann beispielsweise die Analyse von (audio-)visuellen Dokumenten wie Bildern, Fotografien, Cartoons, (Spiel-)Filmen, CDs oder Overheadfolien sein, wobei diese visuellen bzw. audiovisuellen Dokumente sowohl die Perspektive der Lehr- und Unterrichtsmaterialien als auch die der Lernerprodukte verkörpern können. Für fachhistorische Untersuchungen sind etwa Lehrbuchillustrationen, frühe Formen von Unterrichtsmedien oder verwendete Realien des Ziellandes aufschlussreich. Zunehmend werden digitale Sammlungen schwer zugänglicher Dokumente erstellt (dazu Mattes 2020 ). Mit fortschreitender Digitalisierung wächst der Anteil digitaler Dokumente, zu denen etwa Blogs, Webseiten, Chat-Daten, E-Mails, Lern- und Übungsmaterialien, Spiele, Clips in Videoportalen, Youtube-Videos etc. zu zählen sind. Allerdings besteht hierbei eventuell das Problem der nicht-permanenten Verfügbarkeit. Für einige methodische Ansätze sind bestimmte reale Gegenstände konstitutiv, etwa die c uisenaire rods und fidel charts für den Silent Way . Selbstverständlich können Realien und Objekte wie Gebäude, Klassenzimmerausstattungen, Medienräume, technische Hilfsmittel (Hardware), Wandtafeln usw. in eine Untersuchung einbezogen werden; diese Arten von Dokumenten werden auch Relikte genannt ( Johnson/ Christensen 2012 : 416 ). Natürlich ist es durchaus möglich, verschiedene Dokumententypen für eine einzelne Studie zu sammeln und auszuwerten. Dabei werden zuweilen halboffizielle oder private Dokumente, die im Unterrichtsbetrieb ohnehin anfallen (etwa Lernertexte), kombiniert mit gezielt erhobenen Daten für den Forschungszweck. So werden beispielsweise in der Referenzarbeit von Schmidt ( 2007 , s. Kap. 7 ) Anfangs- und Abschlussfragebögen, Video- und Audioaufnahmen aus dem Unterricht, Feldnotizen, Lernertexte, Interviews und Lerntagebücher verwendet (Schmidt 2007 : 186 - 203 ). Ähnlich sieht es bei Bellingrodt ( 2011 ) aus, die Fragebögen, Interviews und verschiedene Dokumente aus den Portfolios der Lernenden einbezieht. Wenn unterschiedliche Dokumentarten für eine gemeinsame Fragestellung herangezogen werden, muss im Rahmen der Triangulation eine Verknüpfung der verschiedenen Perspektiven erfolgen (siehe dazu Kap. 4 . 4 ). 5.2.1 Dokumentensammlung 133 2 Wie laufen Heuristik und Korpuserstellung ab? Bevor mit der Sammlung jeglicher Art von Dokumenten begonnen werden kann, müssen das Forschungsfeld, der Forschungsgegenstand und die Forschungsfragen genau bestimmt werden, damit Dokumente gezielt gesucht und ausgewählt werden können (vgl. Keller 2011 : 80 - 87 ). Vielfach finden sich in der gesichteten Forschungsliteratur zum Forschungsfeld bereits Hinweise auf aufschlussreiche Arten von Dokumenten. In einem zweiten Schritt sind folgende Überlegungen anzustellen: • Anhand welcher Dokumente kann den Forschungsfragen nachgegangen werden? • Welche örtliche und zeitliche Eingrenzung der Dokumentenauswahl ist sinnvoll? Diese Vorgehensweise zeigt sich sehr gut in der Referenzarbeit von Doff ( 2002 , s. Kap. 7 ), in der eine Konzentration auf Preußen und auf das späte 19 . Jahrhundert erfolgt. Genauso geht Kolb ( 2013 ) vor, wenn sie verschiedene europäische Länder und den Zeitraum von 1975 bis 2011 auswählt. Derartige lokale und temporale Beschränkungen können von den Forschungsfragen abhängen, aber auch ganz pragmatisch durch die Verfügbarkeit von Dokumenten bedingt sein. Letzerer Aspekt zeigt sich oft erst, wenn Heuristik und Korpuserstellung bereits begonnen haben. Allerdings kann es auch notwendig sein, den betrachteten Zeitraum auszuweiten, wenn relevante Dokumente auch noch später veröffentlicht wurden oder das Forschungsthema nur im Vergleich mit früheren oder späteren Entwicklungen zufriedenstellend bearbeitet werden kann. Dies ist z. B. gerade bei Lehrplänen der Fall, die häufig Fortschreibungen früherer Versionen sind (Kolb 2013 ). Nach diesen beiden vorbereitenden Schritten beginnt die eigentliche Heuristik, bei der zu klären ist, wo und wie sich die Dokumente ausfindig machen lassen. Bei der Suche und Auswahl von bereits existierenden Dokumenten sind verschiedene Verfahren denkbar, die sich gegenseitig ergänzen können: • Systematische Suche oder Suche nach dem Schneeballprinzip (vgl. Roos/ Leutwyler 2017 : 35 - 46 ) • Vollständige Erfassung aller möglichen Dokumente oder Auswahl einer Stichprobe Sowohl das Schneeballverfahren als auch die systematische Suche werden in der Referenzarbeit von Doff ( 2002 ) und bei Kolb ( 2013 ) angewendet. Bei ersterem Verfahren werden neuere Sekundärliteratur oder Quellensammlungen zum gewählten Thema gesucht und anhand deren Bibliographien weitere Dokumente ausfindig gemacht (Doff 2002 : 16 ; Kolb 2013 : 140 - 142 , 237 - 241 , 306 - 309 ). Dieser Vorgang wird so oft wiederholt, bis genügend Dokumente vorliegen, wobei sich meist zeigt, dass gewisse Dokumente und Quellen als Standard in unterschiedlicher Literatur immer wieder genannt werden (Roos/ Leutwyler 2017 : 30 ). Bei letzterer Vorgehensweise werden beispielsweise Bibliographien und komplette Zeitschriftenjahrgänge nach relevantem Material durchgesehen (Doff 2002 : 16 ) oder Datenbanken und Bibliothekskataloge anhand von Stichwörtern oder Autorennamen durchsucht (Kolb 2013 : 142 , 239 , 308 ). Zu Beginn der Suche sollte darauf geachtet werden, so breit wie möglich vorzugehen, um nicht zu früh potentiell interessante und ergiebige Dokumente auszuschließen. Dabei hängen Forschungsinteresse und Sammlung von Materialien eng zusammen: Einerseits 134 5. Forschungsverfahren werden Dokumente, die sich beim ersten Durchsehen als zur Fragestellung passend erweisen, einbezogen; andererseits können die Forschungsfragen durch aufgefundene Dokumente erweitert oder verändert werden. Dies wiederum hat Einfluss auf die weitere Recherche. Es bestehen somit Parallelen zum theoretical sampling (s. Kap. 5 . 3 . 3 ): Dieses Verfahren der Grounded Theory bedeutet, dass der Auswahlplan nicht vorher festgelegt wird, sondern auf Basis der Vorkenntnisse und der im Forschungsprozess entstandenen Hypothesen und Theorien schrittweise entwickelt wird (vgl. Glaser/ Strauss 2010 : 61 - 65 ; s. Kap. 5 . 3 . 3 ). Sammlung und Analyse der Dokumente laufen zirkulär ab. Wichtig ist in jedem Fall, dass die Rechercheprinzipien offengelegt werden, damit so Suche und Auswahl der Dokumente intersubjektiv nachvollzogen werden können. Die Frage, wann die Dokumentensammlung abgeschlossen werden kann, stellt sich für jede Art von Forschungsarbeit etwas anders. Beispielsweise begründet Summer ( 2011 : 83 - 87 ) ihre Analyse der Grammatikdarstellung in ausgewählten Lehrwerken mit Bezug auf Schulform, Niveaustufe und Thema. Will ( 2018 : 99 - 120 ) stellt den Prozess der Dokumentensammlung zu seiner diskursanalytischen Studie in anschaulichen Schritten dar und zeigt, wie selbst eindeutige Suchkriterien nachträgliche Justierungen erfordern. In historischen, hermeneutischen, diskursanalytischen, aber auch anderen Ansätzen wird man häufig weiterrecherchieren, bis eine Sättigung erreicht ist. Dies bedeutet, dass keine weiteren Dokumente mehr gefunden werden können, die neue Erkenntnisse liefern (vgl. Glaser/ Strauss 2010 : 76 - 78 ). Das Material für den entsprechenden Aspekt der Forschungsfrage kann dann als vollständig angesehen und, falls nötig, die Suche für einen anderen Gesichtspunkt fortgesetzt werden. Aus der Gesamtheit der gefundenen Dokumente ist das Korpus zu erstellen, mit dem weitergearbeitet wird. Begrifflich lassen sich so imaginäres Korpus (Menge aller jemals existierenden Dokumente zu einem Thema), virtuelles Korpus (Menge der noch erhaltenen Dokumente) und konkretes Korpus (Menge der tatsächlich analysierten Dokumente) unterscheiden (vgl. Landwehr 2018 : 99 - 100 ). Kriterien für die Auswahl von Dokumenten sind ihre Repräsentativität, ihre genügend große Anzahl und ihre thematische und zeitliche Breite (s. Landwehr 2018 : 100 ). In manchen Untersuchungen kann es wichtig sein, die Gesamtheit aller auffindbaren Dokumente einzubeziehen (s. Kolb 2013 für die Analyse aller Lehrplanversionen im Untersuchungszeitraum); in anderen Fällen ist die Auswahl einer Stichprobe für die Fallanalyse einer bestimmten Frage möglicherweise sinnvoller: So konzentriert sich Doff ( 2008 ) auf die durch eine Umfrage unter Expert*innen bestimmten Standardwerke bzw. auf durch Zitationsanalyse ausgewählte Zeitschriftenartikel (Doff 2008 : 72 - 84 ). Dokumente, die näher analysiert werden sollen, können entweder gemäß des Prinzips der maximalen Kontrastierung - also nach größtmöglicher Unterschiedlichkeit - oder des Prinzips der minimalen Kontrastierung - also nach einer möglichst starken Ähnlichkeit - ausgewählt und angeordnet werden (vgl. Keller 2011 : 92 ). 3 Welche Probleme und Hilfsmittel existieren? Bevor jedoch die nähere Analyse des Korpus erfolgen kann (vgl. z. B. die methodische Beschreibung von Quellenkritik und -analyse in Kap. 5 . 3 . 1 ), müssen die gefundenen Dokumente genau erfasst werden. Für gedruckte Dokumente sind Entstehungsdatum und -ort, 5.2.1 Dokumentensammlung 135 5.2.1 Dokumentensammlung Eingrenzung zeitlich, örtlich, bildungspolitisch, etc. Forschungsgegenstand Forschungsfrage(n) imaginäres Korpus virtuelles Korpus Untersuchungskorpus konkretes Korpus repräsentativ genügend breit genau erfasst Suche systematisch oder Schneeballsuche Dokumente offiziell, halboffiziell, privat, öffentlich frei bzw. nicht frei zugänglich unterschiedliche Kommunikationsbereiche Art der Urheberschaft © 2022 ⚫ Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 136 5. Forschungsverfahren Umfang, Autor*innen und Zusammenfassungen der Kernaussagen zu notieren. Auch andere Arten von Dokumenten müssen in einer informativen und konsistenten Weise erfasst werden. Die Erstellung einiger dieser Angaben, aber auch weitere Elemente des Prozesses der Dokumentensammlung können Probleme bereiten. So können die Autor*innen unbekannt sein oder bewusst anonym gehalten werden; dies ist beispielsweise bei Lehrplänen häufig der Fall. Besonders bei älteren Dokumenten kann die Datierung schwierig sein. Sollte eine Klärung von Autorschaft und Datum nicht möglich sein, so ist dies ebenfalls zu vermerken. Auch können die Dokumente unvollständig sein oder Unklarheiten enthalten. Hier kann nur versucht werden, durch Vergleich mit anderen Quellen und Dokumenten die fehlenden Informationen zu erschließen. Entscheidend dafür, wie aufwändig die Dokumentensammlung ist, ist jedoch hauptsächlich die Frage, um welche Art von Dokumenten es sich handelt. Soll unveröffentlichtes Material aus der Gegenwart verwendet werden, so kann es hilfreich sein, sich direkt an Autor*innen und andere Akteur*innen zu wenden und um Manuskripte und die Erlaubnis, diese zu verwenden, zu bitten (vgl. Kolb 2013 : 254 , 307 ). Bei historischen Dokumenten sind Archive die Hauptanlaufstelle, während neuere Dokumente sich häufig über Datenbanken, Bibliotheks- und Buchhandelskataloge oder das Internet recherchieren lassen. Teilweise gibt es für historische Forschung auch Quellen- und Dokumentensammlungen, auf die man sich bei der Recherche stützen kann (vgl. Doff 2002 : 16 - 17 ). Beispiele hierfür sind Kössler ( 1987 ) für Schulprogrammschriften, Schröder ( 1975 ) für Lehrwerke und Unterrichtsmaterialien bis 1900 sowie Christ/ Rang ( 1985 ) und Christ/ Müllner ( 1985 ) für Lehrpläne. Lehrwerke werden durch das Georg-Eckert-Institut für internationale Schulbuchforschung zugänglich gemacht (www.gei.de). Zur Suche von Monographien bietet sich zusätzlich zu den jeweiligen Hochschulbibliotheken die Metasuche über den Karlsruher Virtuellen Katalog (KVK) an, mit der weltweit nach Medien gesucht werden kann (kvk.bibliothek.kit.edu). Für Zeitschriften ist die Elektronische Zeitschriftenbibliothek der Universität Regensburg (EZB, rzblx 1 .uni-regensburg. de/ ezeit/ ) nützlich. Gerade für die deutschsprachige Pädagogik und Didaktik lassen sich die FIS Literaturdatenbanken (www.fachportal-paedagogik.de), der Deutsche Bildungsserver (bildungsserver.de) sowie besondere Fachdatenbanken, die über die Hochschulbibliotheken ausfindig gemacht werden können, verwenden. In gedruckter Form liegt die in Marburg verantwortete Bibliographie Moderner Fremdsprachenunterricht vor, die zwischen 1970 und 2020 fremdsprachendidaktische Veröffentlichungen und auch graue Literatur bibliographiert hat. Über die Deutsche Nationalbibliographie können außer Printmedien auch audiovisuelle Medien, elektronische Medien, Karten und Online-Ressourcen recherchiert werden (www.dnb.de). Weitere Hilfen zur Literaturrecherche im Internet und in Bibliotheken finden sich bei Franke et al. ( 2014 ). Die Suche nach Dokumenten jeder Art erfordert Findigkeit, Geduld und Gründlichkeit. Diese wichtige Phase im Forschungsprozess sollte nicht unterschätzt werden, da im kumulativen Prozess des Suchens, Findens, Einordnens und Aussortierens sich auch die Forschungsfragen weiter klären und man mit dem zu analysierenden Material zunehmend vertraut wird. 5.2.1 Dokumentensammlung 137 › Literatur Forschungsarbeiten, in denen die hier erläuterten Verfahren angewendet werden, sind mit einem Sternchen markiert. *Bellingrodt, Lena Christine (2011). ePortfolios im Fremdsprachenunterricht. Empirische Studien zur Förderung autonomen Lernens . Frankfurt/ M.: Peter Lang. Bortz, Jürgen/ Döring, Nicola (2006). Forschungsmethoden und Evaluation für Human- und Sozialwissenschaftler . Heidelberg: Springer. Christ, Herbert/ Müllner, Klaus (1985). Richtlinien für den Unterricht in den neueren Fremdsprachen in den Schulen der BRD 1945-1984. Eine systematische Bibliographie . Tübingen: Narr. Christ, Herbert/ Rang, Hans-Joachim (1985). Fremdsprachenunterricht unter staatlicher Verwaltung . 7 Bände. Tübingen: Narr. *Doff, Sabine (2002). Englischlernen zwischen Tradition und Innovation . München: Langenscheidt- Longman. [Referenzarbeit, s. Kap. 7] *Doff, Sabine (2008). Englischdidaktik in der BRD 1949-1989. Konzeptuelle Genese einer Wissenschaft im Dialog von Theorie und Praxis . München: Langenscheidt. Fend, Helmut (2008). Neue Theorie der Schule. Einführung in das Verstehen von Bildungssystemen . 2., durchgesehen Auflage. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Franke, Fabian/ Kempe, Hannah/ Klein, Annette/ Rumpf, Louise/ Schüller-Zwierlein, André (2014). Schlüsselkompetenzen. Literatur recherchieren in Bibliotheken und Internet . 2. aktualisierte und erweiterte Auflage. Stuttgart: Metzler. Glaser, Barney G./ Strauss, Anselm L. (2010). Grounded Theory. Strategien qualitativer Forschung . Bern: Huber. Glaser, Edith (2013). Dokumentenanalyse und Quellenkritik. In: Friebertshäuser, Barbara/ Langer, Antje/ Prengel, Annedore (Hg.). Handbuch Qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft . 4. durchgesehene Auflage. Weinheim: Juventus, 365-375. Johnson, Burke; Christensen, Larry ( 2012 ). Educational Research. Quantitative, Qualitative, and Mixed Approaches . 4. Auflage. London: Sage. Keller, Reiner (2011). Diskursforschung. Eine Einführung für Sozialwissenschaftlerinnen . 4. Auflage. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. *Kolb, Elisabeth (2013). Kultur im Englischunterricht. Deutschland, Frankreich und Schweden im Vergleich (1975-2011). Heidelberg: Winter. Kössler, Franz (1987). Verzeichnis von Programm-Abhandlungen deutscher, österreichischer und schweizerischer Schulen der Jahre 1825-1918 . München: Saur. Landwehr, Achim ( 2018 ). Historische Diskursanalyse . 2 . aktualisierte Auflage. Frankfurt/ M.: Campus. Martin, Jane (2018). Historical and Documentary Research. In: Cohen, Louis/ Manion, Lawrence/ Morrison, Keith (Hg.). Research Methods in Education . 8. Auflage. London: Routledge, 323-333. Mattes, Monika (2020). Digitale Ressourcen für Bildungshistoriker*innen - ein Überblick. In: bildungsgeschichte.de, Berlin. DOI: doi.org/ 10.25523/ 32552.2 McCulloch, Gary ( 2004 ). Documentary Research in Education, History and the Social Sciences . London: Routledge Falmer. Roos, Markus/ Leutwyler, Bruno (2017). Wissenschaftliches Arbeiten im Lehramtsstudium . 2. überarbeitete Auflage. Bern: Huber. *Schmidt, Torben (2007). Gemeinsames Lernen mit Selbstlernsoftware im Englischunterricht. Eine empirische Analyse lernprogrammgestützter Partnerarbeitsphasen . Tübingen: Narr. [Referenzarbeit, s. Kap. 7] 138 5. Forschungsverfahren Schröder, Konrad (1975). Lehrwerke für den Englischunterricht im deutschsprachigen Raum. 1665-1900. Einführung und Versuch einer Bibliographie . Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Scott, John (1990). A Matter of Record. Documentary Sources in Social Research . Cambridge: Polity Press. *Summer, Theresa (2011). An Evaluation of Methodological Options for Grammar Instruction in EFL Textbooks. Are Methods Dead? Heidelberg: Winter. *Will, Leo (2018). Authenticity in English Language Teaching. An analysis of academic discourse. Münster: Waxmann. » Webseiten Deutscher Bildungsserver: www.bildungsserver.de Deutsche Nationalbibliographie: www.dnb.de Elektronische Zeitschriftenbibliothek: rzblx1.uni-regensburg.de/ ezeit/ FIS Literaturdatenbanken: www.fachportal-paedagogik.de/ start.html Georg-Eckert-Institut für internationale Schulbuchforschung: www.gei.de Karlsruher Virtueller Katalog: kvk.bibliothek.kit.edu/ Überblick in: Mattes, Monika (2020). Digitale Ressourcen für Bildungshistoriker*innen - ein Überblick. In: bildungsgeschichte.de, Berlin. DOI: doi.org/ 10.25523/ 32552.2 » Zur Vertiefung empfohlen McCulloch, Gary (2004). Documentary Research in Education, History and the Social Sciences. London: Routledge Falmer. In dieser Monographie wird die Bedeutung von Dokumenten für geistes- und sozialwissenschaftliche Forschung dargelegt. Recherche- und Analysemethoden werden erklärt und an Beispielen erläutert, wobei ein breites Spektrum an Dokumenten abgedeckt wird. Tight, Malcolm (2019). Documentary Research in the Social Sciences. Los Angeles: Sage. Dieser Band erklärt , was unter „Documentary Research“ zu verstehen ist, erläutert die Verfahren, um Dokumente zu finden, zu kategorisieren, auszuwählen und auf verschiedene Arten auszuwerten. Dabei werden qualitative, quantitative sowie mixed methods Ansätze berücksichtigt. 5.2.2 Textzusammenstellung (für theoretische Arbeiten) Barbara Schmenk Theoretische Arbeiten in der Fremdsprachenforschung können ganz unterschiedlicher Natur sein und umfassen sowohl Arbeiten zur Theorie- und Modellbildung als auch solche, die sich mit spezifischen Fragestellungen der Fremdsprachenforschung beschäftigen. Für theoretische Arbeiten gilt dabei allgemein, dass die Verfasser*innen sich mit einem 5.2.2 Textzusammenstellung (für theoretische Arbeiten) 139 Textkorpus auseinandersetzen müssen, dessen Erstellung ein recht aufwändiger und langwieriger Prozess sein kann. Das Erkenntnisinteresse theoretischer Arbeiten liegt immer auch darin, spezifische Ausschnitte der Forschungslandschaft genauer zu erfassen und zu durchdringen. Diejenigen Texte, auf die sich solche Arbeiten stützen, umfassen normalerweise neben Studien aus dem entsprechenden Bereich der Fremdsprachenforschung auch Arbeiten aus anderen - affinen - Fachbereichen, in denen thematisch und erkenntnistheoretisch relevante bzw. vergleichbare Forschungsprojekte durchgeführt werden (z. B. der jeweiligen Fachwissenschaften, der Allgemeinen Pädagogik, der Psychologie, der Lehr- und Lernforschung sowie anderer Fachdidaktiken). Damit sind theoretische Arbeiten häufig zugleich interdisziplinär angelegt, da es hier oft darum geht, die Perspektive der Fremdsprachenforschung gezielt zu erweitern, zu schärfen und in größere theoretische Zusammenhänge zu stellen. Die Lektüre theoretischer Schriften (z. B. aus den Kulturwissenschaften oder der Philosophie) zu bestimmten Themen und Fragestellungen ist damit häufig eine wichtige Voraussetzung bzw. Hilfe sowohl für die Entwicklung des theoretischen Bezugsrahmens als auch für die Auswahl und ggf. Klassifikation von Texten aus der Fremdsprachenforschung sowie anderer relevanter Fachbereiche. Im Folgenden wird zunächst genauer aufgefächert, was unter „Text“ zu verstehen ist und welche Arten von Texten für theoretische Arbeiten unterschieden werden können. Der anschließende Teil widmet sich der Auswahl und Zusammenstellung von Texten. Im letzten Teil werden konkrete Tipps, Ressourcen und Datenbanken vorgestellt, die zur Textfindung und -zusammenstellung hilfreich sein können. 1 Welche Texte können für theoretische Arbeiten verwendet werden? Anders als im Fall von Dokumenten oder Quellen (s. Kap. 5 . 2 . 1 ) handelt es sich bei „Texten“ um eine medial engere Kategorie, da hier hauptsächlich schriftliche und zumeist wissenschaftliche Publikationen gemeint sind. Selbstverständlich bedeutet das nicht, dass man zur Darstellung eines bestimmten Forschungsgebiets ausschließlich auf wissenschaftliche Texte zurückgreifen muss - schließlich gibt es zahlreiche weitere Dokumente, die für bestimmte Frage- und Themenstellungen relevant sind und die auch entsprechend zu berücksichtigen sind (z. B. Videomaterial, Zeitungsartikel, ggf. auch Werbematerialien, Lehrwerke und Lernmaterialien etc.). Im Folgenden wird der Schwerpunkt jedoch auf wissenschaftlichen Texten liegen, da man auch hier zwischen verschiedenen Arten von Texten unterscheiden muss, die es zusammenzustellen gilt, wenn es um die Erstellung einer theoretischen Arbeit geht. Prinzipiell ist dabei zwischen primären Texten (auf der Basis empirischer Arbeiten) und sekundären Texten (Zusammenfassungen und Überblicksdarstellungen) zu unterscheiden. Empirische Studien aus der Fremdsprachenforschung (Aufsätze und Monographien) Empirische Studien bzw. ihre Publikation in Aufsätzen und Büchern stellen Primärtexte dar, wenn es um die Erfassung des status quo eines spezifischen Forschungsthemas innerhalb der Fremdsprachenforschung geht. Welcher Art die jeweiligen empirischen Studien sind, nämlich ob eher quantitativ-nomologisch oder qualitativ-interpretatorisch, ist dabei 140 5. Forschungsverfahren zunächst irrelevant. Jede Publikation empirischer Daten zu einem bestimmten Thema vermag auf je spezifische Weise Licht auf bestimmte Aspekte zu werfen, die in den gewählten Gegenstandsbereich fallen (vgl. auch Grotjahn 1999 ). Empirische Studien aus anderen Fachbereichen (Aufsätze und Monographien) Da der Gegenstandsbereich der Fremdsprachenforschung sich häufig überlappt mit anderen Fachbereichen, ist es notwendig, auch weitere empirische Arbeiten zu berücksichtigen, die den gewählten Gegenstandsbereich zu erhellen vermögen (z. B. Arbeiten aus anderen Fachdidaktiken, der Psychologie, Soziologie, Pädagogik). Diese stellen zwar in Bezug auf ihre unmittelbare empirische Evidenz ebenfalls Primärtexte dar, sind jedoch meist von denen der Fremdsprachenforschung zu unterscheiden, insofern sie sich nicht unmittelbar dem Lernen und Lehren von neuen Sprachen widmen. Sie können deshalb als affine primäre Texte verstanden werden. Man trifft hier mitunter auf andere forschungsgeschichtliche und wissenschaftssoziologische Gegebenheiten, die das Lesen solcher Publikationen mitunter erschweren bzw. die eine eingehende Beschäftigung mit den jeweiligen fachspezifischen Voraussetzungen erfordern, damit man den entsprechenden Beitrag in seinem Entstehungskontext nachvollziehen und einordnen kann. Viele Arbeiten in der Psychologie etwa basieren auf Daten, die in experimentellen Forschungsdesigns gewonnen wurden und die nicht ohne weiteres auf den Gegenstandsbereich Fremdsprachenlernen und -lehren übertragen werden können. Eine Beschäftigung mit experimentellen Designs, Datengewinnung und Interpretation ist dabei oft unabdingbar (z. B. Bierhoff/ Petermann 2014 ). Bei der Verwendung affiner primärer Texte aus anderen Fachbereichen ist immer auch Vorsicht und Augenmaß geraten, im Idealfall auch Austausch mit Forschenden der betreffenden Disziplinen, wenn man im Rahmen einer Textsichtung für ein Projekt in der Fremdsprachenforschung auf dergleichen Forschungsergebnisse stößt. Wer eine Arbeit verfasst, die sich auf Modelle und Studien anderer Fächer bezieht, ist wahrscheinlich gut beraten, direkten Kontakt mit Fachvertreter*innen zu suchen (z. B. durch den Besuch von Vorträgen auf Konferenzen, Seminarbesuche, schriftlichen Kontakt). Überblicksdarstellungen in der Fremdsprachenforschung und in affinen Fachbereichen Von Darstellungen empirischer Studien sind solche zu unterscheiden, die sich zwar auf empirische Arbeiten beziehen, diese jedoch in einem Überblick zusammenfassen mit dem Ziel, den Forschungsstand in einem bestimmten Gegenstandsbereich darzustellen. Das Spektrum der Texte reicht von der kompakten Darstellung in Handbüchern und Lexika (wie Burwitz-Melzer et al. 2016 ; Surkamp 2017 ) bis hin zu differenzierten Forschungsüberblicken in Monographien (z. B. Ellis 2008 ). Dabei wird häufig auch auf einige der oben als „affine primäre Texte“ bezeichneten Publikationen Bezug genommen, so dass diese Gruppe von Texten bereits eine interdisziplinäre Tendenz aufweist. Sie stellen insofern sekundäre Texte dar und können sowohl ihren Schwerpunkt im Bereich der Fremdsprachenforschung als auch in anderen Fachbereichen haben. Von besonderer Bedeutung für diese sekundären Texte (und deshalb für Forschende immer bei der Lektüre und Arbeit mit ihnen zu bedenken) ist, dass hier eine zusätzliche interpretatorische Dimension zu berücksichtigen ist, da die jeweiligen Autorinnen und Autoren ihrerseits primäre Texte zusammenfassen, gruppieren, auswerten und in einem Zusammenhang darstellen. Zu bedenken ist außerdem, dass zahlreiche primäre Texte auch Anteile aufweisen, die in die Gruppe der sekundären Texte fallen können. Dies verhilft einerseits zu einer strukturierten Darstellung und vermittelt einen konzisen Überblick über einen bestimmten Forschungsbereich aus einem bestimmten Zeitraum, die man als Leser*in sicherlich zu schätzen weiß. Andererseits handelt es sich bei der Strukturierung aber natürlich um eine Form der Interpretation, die ggf. für die eigene Arbeit überdacht werden muss. Forschungsüberblicke finden sich nicht nur in Handbüchern, Lexika oder sonstigen übergreifenden Darstellungen, sondern auch in jeder Veröffentlichung empirischer Befunde; und häufig finden wir hier eindeutige interpretatorische Tendenzen, die die jeweiligen Verfasserinnen und Verfasser aufgrund der eigenen Sichtweisen und Forschungsinteressen entsprechend zusammengestellt und dargelegt haben. Solche Forschungsüberblicke in primären Texten erfordern deshalb dieselbe Lesehaltung wie sekundäre Texte, insofern hier zwischen primären Textanteilen (Darstellung und Auswertung eigener empirischer Forschung) einerseits und sekundären Teilen (der Interpretation anderer primärer Texte durch die jeweiligen Verfasserinnen und Verfasser) andererseits unterschieden werden muss (s. Kap. 6 . 3 ). Theoretische Arbeiten Zu unterscheiden von primären und sekundären Texten sind solche, die sich eher beiläufig und z. T. auch nicht systematisch auf empirische Forschung beziehen, sondern die den Anspruch erheben, theoretische Fragestellungen und Zusammenhänge zu erkunden und zu entwickeln, indem sie beispielsweise Diskurse bündeln, kritisch hinterfragen und neu perspektivieren. Theoretische Arbeiten in der Fremdsprachenforschung basieren zudem ihrerseits meist auch auf theoretischen Schriften aus anderen Fachbereichen. So wurde z. B. bei der Arbeit von Hu ( 2003 ) auf kulturwissenschaftliche Schriften (z. B. Bhabha 1994 ), in der Arbeit von Schmenk ( 2002 ) auf Titel aus dem Bereich der Gender Studies zurück gegriffen (z. B. Butler 2000 ), während Wills ( 2018 ) Studie zu Authentizitätsbegriffen im Bereich Englisch als Fremdsprache u.a. auf wissenssoziologische Modelle und Theorien zurückgreift (z. B. Keller 2008 ). Für die Arbeiten von Küster ( 2003 ), Breidbach ( 2007 ) und Schmenk ( 2008 ) wurden bildungstheoretische Schriften herangezogen (z. B. Humboldt 1995 ; Meyer-Drawe 1990 ). 2 Auswahl und Zusammenstellung von Texten Theoretische Arbeiten erfordern eine breite Rezeption von primären und sekundären Texten sowie eingehende Lektüren theoretischer Arbeiten, um sowohl den Gegenstandsbereich zugleich möglichst weiträumig und intensiv zu ‚erlesen‘, als auch um den Blickwinkel auf bestimmte Themen und Fragestellungen zu erweitern und theoretisch zu fundieren. Theoretische Forschungsprojekte in der Fremdsprachenforschung nehmen i. d. R. ihren Anfang in Studien zu einem bestimmten Gegenstandsbereich in der Erforschung des Lehrens und Lernens von Sprachen. Bei dem Thema „Didaktik des bilingualen Unterrichts“ (Breidbach 2007 ) sind das entsprechend Studien aus dem Bereich CLIL oder dem bilingualen Lernen und Lehren, bei gender (Schmenk 2002 ) Studien zur Rolle und Bedeutung des 5.2.2 Textzusammenstellung (für theoretische Arbeiten) 141 142 5. Forschungsverfahren Geschlechts beim Fremdsprachenlernen und -lehren, bei „pluraler Bildung“ (Küster 2003 ) Studien zum interkulturellen Lernen sowie zum fremdsprachlichen Literaturunterricht. Da es inzwischen eine kaum noch überblickbare Fülle wissenschaftlicher Publikationen zu allen erdenklichen Themen und Problemstellungen der Fremdsprachenforschung gibt, ist eine Vorauswahl unumgänglich und stellt eine entscheidende Weichenstellung dar. Das erste Kriterium ist hier normalerweise die Sprache bzw. Herkunft der jeweiligen Publikationen. Aus welchen Sprach- und Kulturräumen kann und will man Forschungsergebnisse für die eigene Arbeit nutzen? Hier gilt es abzuwägen zwischen der Tatsache, dass die deutschsprachige Bildungs- und Sprachenlandschaft zwar in gewisser Weise singulär ist (vor allem aufgrund der spezifischen Bildungssysteme und Institutionen), dass jedoch zahlreiche vergleichbare Forschungs- und Anwendungsbereiche in anderen europäischen Regionen wie auch außerhalb des europäischen Raums vorliegen. Dennoch kann man nicht alles lesen, was thematisch in den eigenen Interessensbereich zu fallen scheint (zeitliche wie auch sprachliche Grenzen besitzt nun einmal jede/ r). Ein gangbarer (wenn auch nicht gänzlich befriedigender) Weg ist es, eine möglichst umfangreiche Sammlung deutschsprachiger Publikationen zusammenzustellen und dann die englischsprachige Literatur gezielt zu sichten (s. u.). Da mittlerweile auch im deutschen Sprachraum zunehmend englischsprachige Texte rezipiert und veröffentlicht werden, scheint eine Sichtung und Sammlung von primären und sekundären Texten, die auf Englisch verfasst wurden, unumgänglich. Hinzu kommt, dass auch Forschungsarbeiten anderer Herkunft oft auf Englisch publiziert werden (z. B. aus den skandinavischen Ländern), so dass man mit den Wissenschaftssprachen Deutsch und Englisch durchaus viele verschiedene Herkunftsorte von Forschungsergebnissen berücksichtigen kann. Daneben ist nicht nur bei Arbeiten im Bereich der romanischen Sprachen eine Sichtung von Publikationen in französischer und/ oder spanischer Sprache sinnvoll. In der Sprachenwahl der Texte liegt einerseits immer ein limitierendes Moment, das man letztlich nicht aufheben kann, zum anderen ermöglicht sie u. U. ein größere Differenziertheit und Breite der Diskussion. Eine zweite Entscheidung betrifft dann die Auswahl derjenigen Arbeiten, die man für das eigene Forschungsprojekt tatsächlich berücksichtigen möchte. Aufgrund der oben erwähnten Publikationsmenge in vielen Bereichen der Fremdsprachenforschung gilt es hier, mindestens drei Kriterien systematisch zu berücksichtigen. Qualitative Merkmale der Auswahl: Variation von Forschungsdesigns und -ergebnissen Um einen spezifischen Forschungsdiskurs überblicken und erfassen zu können, also die Voraussetzungen für die Abfassung einer theoretischen Arbeit zu schaffen, sollten bei der Textzusammenstellung möglichst verschiedenartige primäre Texte ausgewählt werden. Das gilt sowohl für die Forschungsmethodologie und das Design der Studien (qualitative wie auch quantitative Designs, Daten von unterschiedlichen Populationen und ggf. aus unterschiedlichen Lern- und Lehrkontexten und Regionen) als auch für die Ergebnisse (um die Bandbreite der Forschungsresultate zu erfassen). Bei Schmenk ( 2002 ) wurden Studien aus dem englisch- und deutschsprachigen Raum berücksichtigt, die sich mit dem Geschlecht von Fremdsprachenlernenden und -lehrenden beschäftigen. Hier war zu beobachten, dass bereits diese erste Sichtung zeigte, dass verbreitete und in sekundären Texten 5.2.2 Textzusammenstellung (für theoretische Arbeiten) 143 übereinstimmend attestierte ‚Wahrheiten‘ über das Geschlecht nicht haltbar sind. Die Fülle der unterschiedlichen und bisweilen inkonsistenten Resultate empirischer Forschungsarbeiten zum Geschlecht wird in sekundären Texten zugunsten konsistenter Aussagen etwa über das bessere Lernergeschlecht nicht kenntlich gemacht bzw. nicht erwähnt. Quantitative Entscheidungen zur Textzusammenstellung: Wie viele Texte sind nötig, wie viele hinreichend? Hat man nach dem ersten Kriterium eine Liste von Texten zusammengestellt, gilt es nach dem zweiten Kriterium zu entscheiden, mit wie vielen Texten man sich für das jeweilige Arbeitsvorhaben tatsächlich genauer beschäftigen sollte bzw. kann. Für den bzw. die Forschende ist es schon nach einer ersten Sichtung nach Kriterium 1 der qualitativen Variation möglich, Tendenzen der Forschung zu erkennen und einen Überblick über die Forschungslage zu geben. Damit lässt sich ein spezifischer Forschungsdiskurs zumindest oberflächlich beschreiben (im Falle von Will [ 2018 ] ist das ein Überblick über Authentizitätsbegriffe in wissenschaftlichen Publikationen speziell im Bereich TESL / TEFL , die sich seit den 1960 er Jahren unterscheiden lassen). Um einen Forschungsdiskurs genauer zu durchdringen, bedarf es jedoch einer weit intensiveren Beschäftigung mit einzelnen primären (auch sekundären) Texten. Hier geht es nun um das Kriterium der Quantität: Wie viele Arbeiten kann man tatsächlich im Detail untersuchen? Diese Frage lässt sich letztlich nur im Einzelfall beantworten, jedoch ist zumindest zu bedenken, dass man für bestimmte Argumentationsmuster jeweils verschiedene Texte untersuchen muss, damit man Gemeinsamkeiten und Unterschiede sowie die Muster selbst exakter bestimmen kann, die in Forschungsarbeiten erkennbar sind. Schmenk ( 2002 ) unterscheidet verschiedene Faktoren, die im Zusammenhang mit dem Lernergeschlecht untersucht und mit diesem korreliert worden sind, wie etwa Motivation und Lernstile. Für jeden dieser Faktoren wurden verschiedene Einzelstudien herangezogen, um anhand von deren Ergebnissen sowie den Argumentationen ihrer Verfasser*innen nachzuzeichnen, welche Rolle bzw. welcher Effekt jeweils dem Geschlecht der Lernenden attestiert wird und inwiefern es mit den jeweils untersuchten Faktoren korreliert bzw. in welchen argumentativen Zusammenhang die Verfasser*innen das Geschlecht stellen, wenn sie davon ausgehen, dass es mit anderen Faktoren korreliert. Da es in diesem Fall eine deutliche Tendenz gab, Argumentationen nach demselben Muster aufzubauen, wurden nur wenige Arbeiten knapp skizziert. Generell ist eine Beschränkung auf wenige Texte bei eingehenderen Untersuchungen von Texten dann möglich, wenn sich eine Tendenz zu gleichförmigen Argumentationsfiguren abzeichnet. Im Fall von gender war das die Neigung, bestimmte Einflussfaktoren als binär zu konzipieren (z. B. holistische vs. analytische kognitive Stile oder integrative vs. instrumentelle Motivation) und diese dann unmittelbar mit einem Geschlecht zu assoziieren (männlich-weiblich), was zu einerseits stark polarisierten geschlechtsspezifischen Lerner- und Lernbildern führt, sich andererseits jedoch in Bezug auf die zugrunde liegende Lerntheorie als problematisch erweist (da z. B. Motivation eher als Kontinuum zu verstehen ist und zudem nicht als statisches Merkmal von Lernenden angesehen werden kann; vgl. Schmenk 2002 : 48 - 61 ). 144 5. Forschungsverfahren Qualitative Entscheidungen zur Textzusammenstellung: Welche Texte warum? Das letztlich entscheidende Kriterium zur Textauswahl ist bedingt durch den ausgewählten theoretischen Rahmen der Arbeit. Da Fremdsprachenforschende in der Regel nicht bereits über umfangreiche Kenntnisse etwa philosophischer Debatten verfügen, ist neben der Lektüre und Arbeit mit primären und sekundären Texten auch eine vertiefte Lektüre theoretischer Arbeiten notwendig. Selbst wenn man von Beginn an eine theoretische Frage- oder Problemstellung im Kopf hat, die man gern im Rahmen der Fremdsprachenforschung genauer verfolgen oder anwenden möchte, wird man im Laufe der Lektüre von primären und sekundären Texten meist feststellen, dass weitere Aspekte zu bedenken, die theoretischen Hintergründe zu differenzieren und ggf. auch zu modifizieren sind. Diese theoretischen Überlegungen sind schließlich ausschlaggebend sowohl für die Untersuchung von primären und sekundären Texten als auch für weitere Überlegungen, Vorschläge und Kritik im Rahmen des spezifischen Forschungsdiskurses der Fremdsprachenforschung. Theoretische Arbeiten weisen deshalb immer auch den Charakter von Diskursanalysen auf, wenn es um die möglichst präzise Erfassung eines spezifischen Forschungsgegenstands geht. Dies stellt die Voraussetzung dar für das Entwickeln eigener Theorien und Modelle wie auch für andere theoretische Studien zu Aspekten des Fremdsprachenlehrens und -lernens. So entwickelt Breidbach ( 2007 ) anhand seiner differenzierten Untersuchung von Überlegungen zur Begründung und Praxis des bilingualen Unterrichts sowie von Bildungsdiskursen unter postmodernen Bedingungen eine reflexive Didaktik für den bilingualen Sachfachunterricht, die sowohl fachwissenschaftliche als auch allgemeinpädagogische und bildungstheoretische Dimensionen berücksichtigt. Schmenk ( 2002 ) verhilft die Orientierung an den Gender Studies u. a. zu einer Klassifikation von Geschlechtsbegriffen in der Fremdsprachenforschung ( sex versus gender, gender als Substantiv vs. gender als Verb), die für die Auswahl von primären Texten zur eingehenden Analyse herangezogen wird (vgl. Referenzarbeit Schmenk 2002 ). Will ( 2018 ) greift zur Zusammenstellung und Analyse seines Korpus primärer Texte zu Authentitizitätskonzepten in der Fremdsprachenforschung auf wissenssoziologische und historische Diskursbegriffe sowie auf systemisch funktionale Grammatik zurück. Die größte Herausforderung besteht für VerfasserInnen von theoretischen Arbeiten sicherlich darin, sich Einblick in Theorien zu verschaffen, die nicht aus der Fremdsprachenforschung stammen. Um in der Lage zu sein, Kerntexte zu identifizieren, zentrale Diskussionspunkte zu kennen und sich selbst auch kritisch damit auseinander setzen zu können, ist häufig ein Selbststudium in entsprechenden Fachbereichen und deren Theoriebildung unvermeidlich, ebenso wie sehr viel Lesen und Wiederlesen sowie Kommunizieren mit FachvertreterInnen. Im Laufe der Lektüre kommt man dann an den Punkt, an dem man Kerntitel kennt und wiedererkennt, weil auf diese immer wieder in verschiedenen Arbeiten verwiesen wird. (Für die Heuristik und Korpuserstellung vgl. außerdem die Hinweise in Kap. 5 . 1 . 2 ). 3 Ressourcen und Datenbanken Deutschsprachige Publikationen der Fremdsprachenforschung sind inzwischen in verschiedenen Apparaten erfasst und deshalb vergleichsweise gut zugänglich (vgl. 5 . 2 . 1 ). Für den Bereich der englischsprachigen Forschungslandschaft ist die Suche von Texten aufgrund der hohen Anzahl von Publikationen sowie der unterschiedlichen Orte und Kon- 5.2.2 Textzusammenstellung für theoretische Arbeiten Textzusammenstellung Forschungslandschaft wissenschaftliche Publikationen (Texte), Dokumente, Videos, Lehrmaterialien etc. LLBA, RIC, MLA, IFS etc. theoretisches Erkenntnisinteresse Erfassen und Durchdringen eines Themas bzw. einer Fragestellung der Fremdsprachendidaktik Auswahlentscheidung inhaltliche Tendenzen erkennbare Argumentationsmuster Begrenzungskriterien theoretischer Rahmen, Sprach(en), Gegenstandsbereich, Vielfalt der dargestellten Methoden und Ergebnisse bibliographische Recherche primäre (empirische) Texte sekundäre (zusammenfassende) Texte theoretische Texte Interdisziplinarität erweiterte Perspektiven durch Ansätze aus Bezugswissenschaften (z.B. Philosophie, Pädagogik, Kulturwissenschaften, Psychologie) © 2022 ⚫ Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 146 5. Forschungsverfahren tinente der Publikationen schwieriger. Die folgenden Datenbanken können dabei sehr hilfreich sein (vgl. auch Angaben zu Datenbanken Kap. 5 . 2 . 1 ): • Linguistics and Language Behavior Abstracts ( LLBA ), abrufbar über viele Bibliotheksserver. Datenbasis mit verschiedenen Suchfunktionen für Zeitschriften. Die Einträge erfassen zahlreiche englischsprachige Publikationen aus den Bereichen Sprache und Linguistik. • RIC (Educational Resources Information Center), kostenloser Zugriff über http: / / eric. ed.gov/ . Datenbasis mit zahlreichen Suchfunktionen für Zeitschriften und andere Pulikationen (Sammelbände, Monographien etc.) mit den Themenschwerpunkten Erziehung und Bildung. • MLA International Bibliography , abrufbar über viele Bibliotheksserver. Datenbasis mit zahlreichen Suchfunktionen für Zeitschriften. Die Einträge erfassen zahlreiche englischsprachige Publikationen aus den Bereichen Literatur, Film, Linguistik, angewandte Linguistik und Didaktik. • IFS ( Informationszentrum Fremdsprachenforschung ), kostenloser Zugriff über http: / / www.uni-marburg.de/ ifs. Neben diesen Datenbasen gibt es auch die Möglichkeit, Bibliographien über folgende Ressourcen zusammenzustellen: • USA : Library of Congress (http: / / www.loc.gov), ca. 14 Millionen Einträge, nicht nur in englischer Sprache. • Kanada: Canadian National Catalogue (Amicus) (http: / / amicus.collectionscanada.ca/ aaweb/ aalogine.htm). • Australien: National Library of Australia (http: / / catalogue.nla.gov.au/ ). • Großbritannien: British Library Public Catalogue (http: / / catalogue.bl.uk/ primo_library/ libweb/ action/ search.do? dscnt= 1 &dstmp= 1394914136152 &vid= BLVU 1 &fromLogin=true). › Literatur Forschungsarbeiten, in denen die hier erläuterten Verfahren angewendet werden, sind mit einem Sternchen versehen. Burwitz-Melzer, Eva/ Mehlhorn, Grit/ Riemer, Claudia/ Bausch, Karl-Richard/ Krumm, Hans-Jürgen (Hg.) (2016). Handbuch Fremdsprachenunterricht, 6. Auflage. Tübingen: Francke. Bierhoff, Hans-Werner/ Petermann, Franz (2014). Forschungsmethoden der Psychologie . Göttingen: Hogrefe. Bhabha, Homi (1994). The Location of Culture . New York: Routledge. *Breidbach, Stephan (2007). Bildung, Kultur, Wissenschaft. Reflexive Didaktik für den bilingualen Sachfachunterricht. Münster: Waxmann. Butler, Judith (2000). Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity . 3. Aufl. 2007. New York: Routledge. Ellis, Rod (2008). The Study of Second Language Acquisition . Oxford: Oxford University Press. Grotjahn, Rüdiger (1999). Thesen zur empirischen Forschungsmethodologie. In: Zeitschrift für Fremdsprachenforschung 10 [H. 1], 133-158. 5.2.3 Beobachtung 147 *Hu, Adelheid (2003). Schulischer Fremdsprachenunterrichts und migrationsbedingte Mehrsprachigkeit . Tübingen: Narr. Humboldt, Wilhelm von (1995). Schriften zur Sprache . Hrsg. V. Michael Böhler. Stuttgart: Reclam. Keller, Reiner (2008). Wissenssoziologische Diskursanalyse. Grundlegung eines Forschungsprogramms. 2. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. *Küster, Lutz (2003). Plurale Bildung im Fremdsprachenunterricht. Interkulturelle und ästhetische Aspekte von Bildung an Beispielen romanistischer Fachdidaktik . Frankfurt/ M.: Lang. Meyer-Drawe, Käte (1990). Illusionen von Autonomie. Diesseits von Ohmacht und Allmacht des Ich . München: Kirchheim. *Schmenk, Barbara (2002). Geschlechtsspezifisches Fremdsprachenlernen? Zur Konstruktion geschlechtstypischer Lerner- und Lernbilder in der Fremdsprachenforschung . Tübingen: Stauffenburg. [Referenzarbeit, s. Kap. 7] *Schmenk, Barbara (2008). Lernerautonomie. Karriere und Sloganisierung des Autonomiebegriffs . Tübingen: Narr. Surkamp, Carola ( 2017 ). Metzler Lexikon Fremdsprachendidaktik . 2 ., überarb. Aufl., Stuttgart: Metzler. *Will, Leo (2018). Authenticity in English Language Teaching . An Analysis of Academic Discourse . Münster/ New York: Waxmann. » Zur Vertiefung empfohlen Gee, James Paul/ Handford, Michael (Hg.) (2012). The Routledge Handbook of Discourse Analysis. London: Routledge. In diesem Band werden Formen und Aufgaben von Diskursanalysen dargestellt. Zahlreiche Beispiele und verschiedene Formen von Diskursanalysen werden detailliert erläutert. Für theoretische Arbeiten bietet der Band eine Reihe von methodischen Ideen zum Umgang mit Texten mit dem Zweck, Diskurse zu analysieren. Jorgensen, Marianne & Phillips. Louise J. (2002). Discourse Analysis as Theory and Method. London: Sage. In diesem Band geben die Verfasserinnen einen Überblick über Theorien und Methoden von Diskursanalysen, die sich hauptsächlich auf neuere poststrukturalistische Theorien stützen. Wer eine theoretische Arbeit verfassen will, die sich zur Aufgabe macht, Forschungsdiskurse in ihrer Entstehung zu begreifen sowie Tendenzen in bestimmten Diskursen darzustellen, findet in diesem Band wertvolle Tipps und Hintergründe für den Umgang mit Texten. 5.2.3 Beobachtung Karen Schramm/ Götz Schwab 1 Begriffsklärung Im Gegensatz zu Befragungen (s. Kap. 5 . 2 . 4 ), welche insbesondere zur Erforschung innerer Aspekte wie Einstellungen, Meinungen und Gefühle geeignet sind, richten sich Beobachtungen auf äußerlich wahrnehmbares Verhalten. Beobachtet werden können beispielsweise die fremdsprachliche Interaktion oder Produktion mit ihren verbalen Handlungen, 148 5. Forschungsverfahren also den sprachlichen Äußerungen, mit ihren nonverbalen Handlungen wie beispielsweise Zeigen, Nicken usw. und mit ihren begleitenden aktionalen Handlungen wie beispielsweise dem Umgang mit Gegenständen. Nicht direkt beobachtbar sind dagegen diesen Prozessen zugrundeliegende Kognitionen und Emotionen sowie auch die fremdsprachliche Rezeption. Da Ansichten, wie sie in Befragungen kundgetan werden, und tatsächliches Verhalten, wie es beobachtet werden kann, in manchen Fällen divergieren, ist in einigen Untersuchungen die Kombination von Befragungen und Beobachtungen von besonderem Interesse. Im Forschungsprogramm Subjektive Theorien (s. Kap. 4 . 2 ) ist beispielsweise nach einer kommunikativen Validierung von Interviewdaten auch eine zweite Phase der explanativen Validierung durch Beobachtung der handelnden Subjekte vorgesehen (Scheele/ Groeben 1998 : 24 - 29 ). Beobachtungen basieren zu einem gewissen Anteil immer auch auf dem Vorwissen der Beobachtenden. Im Gegensatz zu anderen Erhebungsmethoden ist für die Beobachtung also charakteristisch, dass sich dabei Erhebungs- und Interpretationsprozesse stark mischen, denn Beobachtung ist per se durch Selektion, Abstraktion und Klassifikation charakterisiert. Wichtig erscheint es diesbezüglich, die verschiedenen Herangehensweisen an Beobachtungen aus einer emischen von solchen aus einer etischen Forschungsperspektive zu unterscheiden (s. Kap. 2 ; Watson-Gegeo 1988 : 579 - 582 ; Markee/ Kasper 2004 : 493 - 495 ). Dient die Beobachtung einer Rekonstruktion der Innenperspektive der Akteur*innen, also einer emischen Zielsetzung, dann sind die Vertrautheit mit den beobachteten Forschungspartner*innen sowie ein umfassendes Kontextwissen zentral für die Datenerhebung. Aus der emischen Perspektive, die insbesondere für die Ethnographie konstitutiv ist (s. dazu genauer Abschnitt 3 ), geht es beim Beobachten um ein Fremdverstehen, um ein Sich-Hineinversetzen in die Kultur der Forschungspartner*innen. So laufen Forschende aufgrund der Bedeutung des Vorwissens für die Informationsaufnahme Gefahr ethnozentrischer bzw. „zu weit gehende[r] Interpretationen […], wenn der Beobachter dem Beobachteten sein eigenes Sinnverständnis unterlegt“ (Lamnek/ Krell 2016 : 518 ) - genau dies gilt es aus emischer Perspektive jedoch zu vermeiden. Eine etisch motivierte Beobachtung ist dagegen nicht am Fremdverstehen interessiert, sondern setzt ein bestimmtes theoretisches Verständnis des zu beobachtenden Untersuchungsgegenstands bereits voraus und wendet es konsequent auf ihn an. Zur Qualitätssicherung legen Beobachtungsstudien aus etischer Perspektive deshalb in der Regel Wert darauf, mithilfe von Beobachtungsleitfäden, von Beobachtungstraining mit entsprechendem Feedback und von Reliabilitätsüberprüfungen einen hohen Grad an intersubjektiver Übereinstimmung zu erreichen. Somit läuft diese Herangehensweise an Beobachtungen wiederum Gefahr, andere Sinnstrukturen als die theoretisch bereits modellierten nicht zu erfassen - und insbesondere andere Sinnstrukturen als die der Beobachteten anzuwenden, sodass die Forschungsergebnisse aus deren Sicht nicht valide sein könnten. Unter dem Begriff Beobachtung werden insgesamt so unterschiedliche Formen der Datenerhebung wie die teilnehmende Beobachtung ethnographischer Feldforschender (Abschnitt 3 ), die Unterrichtsbeobachtung auf der Grundlage von Beobachtungsbögen (Abschnitt 4 ) und die Audio- und Videographie von Unterrichts- oder Lernprozessen (Abschnitt 5 ) zusammengefasst. Bevor diese im Folgenden einzeln vorgestellt werden, sollen 5.2.3 Beobachtung 149 in Abschnitt 2 einige übergreifende Aspekte zur Unterscheidung verschiedener Arten von Beobachtung thematisiert werden. 2 Arten der Beobachtung Man unterscheidet zunächst zwischen der ungesteuerten (auch: unstrukturierten, unsystematischen) Beobachtung und der gesteuerten (auch: strukturierten, systematischen Beobachtung auf der Grundlage von im Vorfeld festgelegten Beobachtungsschwerpunkten (s. Lamnek/ Krell 2016 : 516 ; Ricart Brede 2014 : 138 - 139 ), wobei es sich nicht um eine Dichotomie, sondern vielmehr um eine graduelle Unterscheidung handelt. Die strukturierte Beobachtung basiert nach Lamnek (Lamnek/ Krell 2016 : 526 ) auf „einem relativ differenzierten System vorab festgelegter Kategorien“, die unstrukturierte Beobachtung dagegen auf „mehr oder weniger allgemeine[n] Richtlinien, d. h. bestenfalls grobe[n] Hauptkategorien als Rahmen der Beobachtung“ (ebd.). Bezogen auf Fremdsprachenunterricht können beide Formen mit oder ohne Vorbereitung auf die jeweilige Unterrichtsstunde (z. B. Rezeption der lehrerseitigen Unterrichtsplanung oder gemeinsame Planung der Stunde seitens Lehrperson und Forschenden) erfolgen (Ziebell/ Schmidjell 2012 : 37 - 40 ). Eine weitere terminologische Unterscheidung ist die zwischen teilnehmender und nichtteilnehmender Beobachtung: Der Unterschied zwischen teilnehmender und nicht-teilnehmender Beobachtung besteht darin, dass bei der teilnehmenden Beobachtung der Beobachter selbst Element des zu beobachtenden sozialen Feldes wird, wohingegen bei der nicht teilnehmenden Beobachtung der Beobachter gleichsam von außen her das ihn interessierende Verhalten beobachtet. (Lamnek/ Krell 2016 : 528 ) Die nicht-teilnehmende Beobachtung in der Referenzarbeit von Schwab ( 2009 ) fand beispielsweise durch die Positionierung einer Kamera im vorderen Teil des Klassenzimmers in der Nähe des Fensters statt. In der Forschungsliteratur werden in der Regel vier verschiedene Ausprägungen auf einem Kontinuum des Partizipationsgrads von complete participant über participant-as-observer , observer-as-participant und complete observer unterschieden (vgl. Tab. 1 ), die im Folgenden in enger Anlehnung an Johnson/ Christensen ( 2012 : 209 ) erläutert werden. complete participant Der/ die Forscher*in wird Mitglied der untersuchten Gruppe und teilt den Gruppenmitgliedern nicht mit, dass sie untersucht werden. participant-as-observer Der/ die Forscher*in verbringt als Insider*in ausgedehnte Zeit mit der Gruppe und teilt den Gruppenmitgliedern mit, dass sie untersucht werden. observer-as-participant Der/ die Forscher*in verbringt begrenzte Zeit mit der Beoachtung von Gruppenmitgliedern und teilt ihnen mit, dass sie untersucht werden. complete observer Der/ die Forscher*in beobachtet die Gruppenmitglieder als Außenseiter*in und teilt den Beobachteten dies nicht mit. Tabelle 1: Rollen bei der Feldforschung (zusammengestellt und übersetzt aus Johnson/ Christensen 2012: 209) 150 5. Forschungsverfahren Die Rolle als complete participant läuft auf eine verdeckte Beobachtung hinaus und erscheint deshalb aus forschungsethischen Gründen nicht akzeptabel, da datenschutzrechtliche Aspekte grundsätzlich eine offene Beobachtung erforderlich machen (zu Fragen der Offenlegung des Untersuchungsinteresses und zu Fällen von Täuschung über das Untersuchungsinteresse, s. Kap. 4 . 6 ). Eine Beobachterrolle als participant-as-observer nimmt dagegen in Kauf, dass die Gruppenmitglieder von der Beobachtung wissen und sich deshalb unter Umständen weniger natürlich verhalten, vertraut aber darauf, dass sich mit zunehmender Gewöhnung an den oder die Beobachter*in und mit wachsendem Vertrauen die Natürlichkeit ihres Verhaltens wieder einstellt. Ein observer-as-participant dagegen verbringt deutlich weniger Zeit mit den Gruppenmitgliedern und ist deshalb in geringerem Maße durch Identifikation und in stärkerem Maße durch Distanz charakterisiert. Schließlich wird ein complete observer die Gruppe vollkommen von außen und in verdeckter Weise beobachten, um das Beobachterparadoxon bzw. die Reaktivität der Erhebungsmethode zu umgehen - aufgrund datenschutzrechtlicher Vorgaben handelt es sich um einen abstrahierten Pol des Kontinuums, der in dieser Form praktisch nicht vorkommen sollte. Weiterhin wird mit dem Begriffspaar online/ offline unterschieden, ob die Beobachtung im Moment des Geschehens selbst erfolgt ( online ) oder auf Basis von Audio- und Videoaufzeichnungen im Anschluss an das Geschehen ( offline ), wobei in letzterem Fall ein iteratives Beobachten möglich ist. Oftmals werden aber auch beide Verfahren miteinander verbunden, indem z. B. schon während Filmaufnahmen im Klassenzimmer nebenher Notizen erstellt werden (z. B. Referenzarbeit von Schwab 2009 , s. Kap. 7 ). Typischerweise sind Beobachtungen im authentischen Feld angesiedelt. Seltener, weil auch deutlich kostenaufwändiger ist die Unterrichtsbeobachtung in einer Laborsituation: Hier stehen technisch entsprechend ausgerüstete Laborklassenzimmer zur Verfügung, in der zahlreiche Kameras aus unterschiedlichen Perspektiven den Unterricht dokumentieren, beispielsweise können in der Decke installierte Kameras von oben die Schreibprozesse der Schüler*innen dokumentieren. Für die Beobachtung von einzelnen Personen, beispielsweise Lernenden im Lernprozess oder Lehrpersonen bei der Unterrichtsplanung, ist dagegen der Verzicht auf Feldbedingungen einfacher zu realisieren, so dass in diesen Fällen zwischen den Vorteilen der Natürlichkeit des Feldes und Ungestörtheit des Labors abzuwägen ist. Schließlich werden auch die Fremd- und die Selbstbeobachtung unterschieden, wobei die Fremdbeobachtung im Zentrum dieses Kapitels steht, während die Selbstbeobachtung vor allem mit der Aktionsforschung (s. Kap. 4 . 2 ) verbunden ist und der Introspektion nahesteht (s. Kap. 5 . 2 . 5 ). 3 Teilnehmende Beobachtung in der Ethnographie Die teilnehmende Beobachtung ist zentrales Erhebungsverfahren der Ethnographie, welche sich jedoch auch anderer im Feld zugänglicher Daten wie beispielsweise Dokumente, alltagskultureller Materialien, Gespräche, Interviews, Gruppendiskussionen, Audio-/ Videoaufnahmen oder Fotos bedient (s. van Lier 1990 ; Friebertshäuser/ Panagiotopoulou 2013 : 309 - 312 ). Mittels einer länger andauernden Teilnahme, für die Dörnyei ( 2007 : 131 ) einen Zeitraum von mindestens sechs bis zwölf Monaten angibt, suchen Ethnograph*innen die Lebenswelt bzw. die Innenperspektive einer (sozio-) kulturellen Gruppe zu erforschen: 5.2.3 Beobachtung 151 Im Zentrum der ethnographischen Neugierde steht […] die Frage, wie die jeweiligen Wirklichkeiten praktisch ‚erzeugt‘ werden; es geht ihr also um die situativ eingesetzten Mittel zur Konstitution sozialer Phänomene aus der teilnehmenden Perspektive. Ein derartiges Erkenntnisinteresse ist nicht identisch mit dem alltäglichen Blick der Teilnehmer. Während diese üblicherweise daran interessiert sind, ihre handlungspraktischen Probleme zu lösen, konzentriert sich der ethnographische Blick auf jene Aspekte der Wirklichkeit, die diese gleichsam als selbstverständlich voraussetzen, nämlich die Praktiken zu ihrer ‚Erzeugung‘, und fragt, wie es die Teilnehmer schaffen, sich selbst und anderen gegenüber soziale Fakten zu schaffen. (Lüders 2019: 390) Bei der teilnehmenden Beobachtung nehmen Ethnograph*innen am Alltag der Forschungspartner*innen teil, indem sie im Feld eine dort akzeptierte Rolle einnehmen, und sie wachsen auf diese Weise gewissermaßen in die ‚fremde‘ Gruppe hinein. Dabei ergibt sich ein für die teilnehmende Beobachtung charakteristisches Spannungsfeld von (für das Verstehen notwendiger) Identifikation auf der einen Seite und (für das Berichten notwendiger) Distanz auf der anderen Seite (s. einführend Lamnek/ Krell 2016 : 582 - 591 und mit speziellem Fokus auf Ethnographie im digitalen Internet-Zeitalter Markham 2018 ). Mit Blick auf die ethnographische Erforschung der vermeintlich vertrauten Schulwirklichkeit betont Breidenstein ( 2012 : 40 ; Hervorhebung im Original), dass sie „so zu beobachten [ist], als sei sie fremd , um neu nach grundlegenden Merkmalen und Funktionsweisen dieser Praxis fragen zu können“ und auch die „Skurrilität und Absonderlichkeit solcher Praktiken“ (ebd.) in den Blick zu bekommen. Essentiell ist für die teilnehmende Beobachtung in der Ethnographie das Anfertigen von stichwortartigen Feldnotizen und von darauf aufbauenden Beobachtungsberichten, in denen die Feldforschenden ihre Eindrücke „nachträglich sinnhaft verdichten, in Zusammenhänge einordnen und textförmig in nachvollziehbare Protokolle gießen“ (Lüders 2019 : 396 ). Zu beachten ist, dass sich in solchen Beobachtungsprotokollen Beschreibungen und Interpretationen mischen (Friebertshäuser/ Panagiotopoulou 2013 : 313 ) und dass die vertiefte Reflexion durch die Verschriftlichung der Beobachtungen auch auf die Feldkontakte zurückwirkt (Legewie 1995 : 192 ). Darüber hinaus dient vielen Ethnograph*innen ein Forschungstagebuch für die Dokumentation und Selbstreflexion. Die sprachdidaktisch motivierte Studie von Heath ( 1983 ) stellt ein frühes und prototypisches Beispiel einer solchen ethnographischen Vorgehensweise dar. 2 Auf der Grundlage einer langjährigen teilnehmenden Beobachtung am Alltagsleben von zwei Arbeitergemeinden in den Südstaaten der USA , die sie als Trackton and Roadville bezeichnet, charakterisiert die Forscherin die oralen und literalen Sprachpraktiken der jeweiligen Anwohner*innen. Feldnotizen, Forschertagebuch und Audioaufnahmen dienen ihr beispielsweise dazu, die kulturell divergierenden Vorstellungen von einer gelungenen mündlichen Erzählung in beiden Gemeinden herauszuarbeiten. Mit mehreren solchen aufschlussreichen Detailanalysen zeichnet sie ein umfassendes Bild der kulturell bedingten Unterschiede in den sprachlichen Praktiken beider Gemeinden. Auf dieser Grundlage untersucht sie, auf welche Herausforderungen Kinder aus beiden Arbeitergemeinden mit ihren unter- 2 Für einen Überblick über deutschsprachige Ethnographie in der Erziehungswissenschaft, s. Friebertshäuser/ Panagiotopoulou ( 2013 : 304 ). 152 5. Forschungsverfahren schiedlichen sprachlichen Repertoires stoßen, wenn sie die Schule mit ihren mittelstandsorientierten bildungssprachlichen Anforderungen besuchen. Ihren Ansatz, die Lehrpersonen für einen solchen ethnographischen Blick zu sensibilisieren, charakterisiert Heath folgendermaßen: In Part I of the book, the reader moves with me, the ethnographer, as unobtrusively as possible in the worlds of Trackton and Roadville children. In Part II of the book, my role as ethnographer is intrusive, as I work with teachers to enable them to become participant observers in their own domains and to use the knowledge from the ethnographies of Trackton and Roadville to inform their motivations, practices, and programs of teaching. (Heath 1983: 13) Als aktuelles Beispiel für eine zweitsprachendidaktisch motivierte ethnographische Beobachtung lässt sich die Dissertation von Waggershauser ( 2015 ) zu literalen Praktiken von russischsprachigen Zweitschriftlernenden anführen. Die Forscherin begleitet fünf Teilnehmende für die Dauer ihres Integrationskurses mit Alphabetisierung in ihrem Alltag außerhalb des Kurses und erstellt ein umfangreiches Korpus von literalen Artefakten wie beispielsweise Gesprächsstützen, Kochrezepten oder Wegskizzen. Auf diese Weise kann sie Einblicke in den sozialen Umgang mit Schrift der Kursteilnehmenden erarbeiten, die wertvolle Grundlagen für eine funktional ausgerichtete Schreibdidaktik in Alphabetisierungskursen bieten. 4 Einsatz von Beobachtungsbögen Der Einsatz von Beobachtungsbögen zur Erforschung von Fremdsprachenunterricht hat eine lange Tradition. Ein frühes Kategoriensystem zur Beobachtung von Unterricht (im allgemeinen) ist das FIAC 3 von Flanders, der bereits 1960 das Potential einer systematischen Beobachtung der Beiträge von Lehrenden und Lernenden bzw. ihrer Redeanteilen für die Lehrer*innenbildung erkannte; eine fremdsprachenspezifische Adaption erfolgte durch Moskovitz ( 1971 ) mit dem FLINT 4 -Beobachtungssystem. Auch das COLT 5 von Fröhlich/ Spada/ Allen ( 1985 ) zur Beobachtung kommunikativen Fremdsprachenunterrichts ist als frühes und besonders verbreitetes Instrument aus der Vielzahl von Beobachtungsinstrumenten hervorzuheben. Bei explorativ-interpretativen Arbeiten und in der Aus- und Weiterbildung von Lehrpersonen 6 mittels Hospitationen ist der Einsatz offener Beobachtungsbögen verbreitet. Diesen Fall illustriert das Beispiel in Abbildung 1 : Die Fragen auf dem Beobachtungsbogen zum freien Sprechen fordern dazu auf, eine große Bandbreite an Phänomenen zu beobachten. Sie erfordern an vielen Stellen hohe Interpretationsleistungen und sie sehen offene Antworten vor. 3 Das Akronym FIAC steht für Flanders System of Interaction Categories. 4 Das Akronym FLINT steht für Foreign Language Interaction. 5 Das Akronym COLT steht für Communicative Orientation of Language Teaching . 6 Nicht als Forschungsmethode, sondern als Untersuchungsgegenstand und als Impuls für entsprechende Gruppendiskussionen wählt Hochstetter ( 2011 ) Beobachtungsbögen (Referenzarbeit, s. Kap. 7 ). In ihrem mehrstufigen Projekt hat sie Videoaufzeichnungen des Einsatzes neu entwickelter Bewertungsbögen zur Sprechleistung den beteiligten Lehrkräften zur nachträglichen vergleichenden Bewertung gezeigt. Hinführung/ Einstieg • Wie geschieht die Hinführung zum Thema? • Wie wird die Sprachhandlungssituation, in der frei gesprochen werden soll, eingeführt? Inhaltliche und sprachliche Vorbereitung • Wie werden die TN inhaltlich und sprachlich auf das freie Sprechen vorbereitet? • Wie erarbeitet die KL inhaltliche und sprachliche Hilfen für das freie Sprechen? Arbeitsform • Welche Arbeitsformen werden eingesetzt, in denen freies Sprechen möglich wird (z. B. Simulation, Rollenspiele, Diskussionen usw.? ) Korrekturverhalten • Lässt die KL die TN frei sprechen, ohne sie zu unterbrechen und zu korrigieren? • Wann und wie wird korrigiert? Erweiterung der Sprechfertigkeit • Entwickeln die TN spürbar die Bereitschaft und Fähigkeit, das neu Gelernte in der simulierten Sprachhandlungssitatuion angemessen einzusetzen? • Woran ist dies zu beobachten? • Verwenden die TN die neu erworbene Lexik und die neuen Stukturen im freien Sprechen? Lernziel(e) • Welches Lernziel/ Welche Lernziele werden im Rahmen dieser Unterrichtseinheit mit Blick auf das freie Sprechen erreicht? • Woran ist das zu beobachten? Sprachlernstrategien • Gibt es Anregungen, Aufgaben, Unterstützung für autonomes Weiterlernen und die Anwendung außerhalb des Unterrichts? • Welche? Abbildung 1 : Fragen auf einem Beobachtungsbogen zum freien Sprechen (zusammengestellt aus Ziebell/ Schmidjell 2012 : 58 ) Quantitativ ausgerichtete Forschungsarbeiten arbeiten dagegen bei Beobachtungen - sei es auf der Grundlage von im Feld bzw. Klassenzimmer auszufüllenden Beobachtungsbögen, auf der Grundlage von Videos oder auf der Grundlage von Transkripten - entweder mit Kodierungen oder mit Beurteilungen: Kodierende Beobachtungsverfahren zielen darauf ab, das Auftreten und ggf. die Dauer bestimmter Ereignisse oder Verhaltensweisen zu erfassen und festzuhalten. Die erzeugten Daten geben Aufschluss über die Häufigkeit, Verteilung oder zeitlichen Anteile bestimmter Verhaltens- oder Interaktionsmerkmale. Demgegenüber geht es bei Schätzverfahren (oft auch englisch als „Ratings“ bezeichnet) um eine Einschätzung oder Beurteilung des Beobachtungsgegenstandes, indem anhand von Schätzskalen die Ausprägung bestimmter Merkmale (z. B. bestimmter Qualitätsdimensionen) eingestuft wird. (Pauli 2012: 47; vgl. einführend auch Appel/ Rauin 2015). 5.2.3 Beobachtung 153 154 5. Forschungsverfahren Darüber hinaus sind bei quantifizierend orientierten Beobachtungen Zeitstichproben ( time-sampling ) und Ereignisstichproben ( event-sampling ) zu unterscheiden (s. auch Kap. 4 . 3 ). Eine Kodierung nach dem Prinzip des time-sampling bedeutet, dass das Videomaterial in bestimmten Intervallen, beispielsweise in Abständen von 30 Sekunden oder von 3 Minuten, kodiert wird (s. z. B. das oben genannte klassische FLINT -Beobachtungssystem von Moskovitz 1971 ). Die Zahl der Schüler*innenmeldungen ließe sich z. B. in solchen Intervallen erfassen. Als Ereigniskodierung werden dagegen Fälle bezeichnet, in denen Kodierer*innen bestimmte Phänomene - zumeist auf der Grundlage abstrakter Beschreibungen solcher Phänomene und konkreter Ankerbeispiele sowie auch eines extensiven Kodiertrainings - erkennen und entsprechend vermerken. Das Auftreten von Gruppenarbeit wäre ein Beispiel für eine Ereigniskodierung, wobei hier die zeitliche Dauer des Ereignisses durchaus miterfasst werden kann (zur Entwicklung eines Beobachtungssystems s. Ricard Brede et al. 2010 ; Pauli 2012 : 50 - 58 ). Abbildung 2: Beoachtungsbogen zur Klassenzimmerorganisation (Strube 2014 : 98 ) Eine weitere Unterscheidung betrifft das Inferenzniveau. Niedrig-inferente Analyseentscheidungen erfordern vergleichsweise wenig Interpretationen auf seiten des/ der Beobachter*in. Die oben beispielhaft erwähnten Meldungen und Sozialformen sind Beispiele für niedrige Inferenzniveaus. Ein hohes Inferenzniveau liegt dann vor, wenn die Analysenentscheidungen anspruchsvollere Interpretationen erfordern, wie beispielsweise bei der Bestimmung der Fehlerart oder des korrektiven Feedbacks (s. Beispiel unten in Abbildung 3 ). Die Abbildungen 2 und 3 aus einer Untersuchung von Strube ( 2014 ) zum Erwerb mündlicher Kompetenzen in Niederländischkursen für erwachsene Migrant*innen mit wenig Schulerfahrung zeigen Beispielbögen für Ereigniskodierungen. Der Beobachtungsbogen in Abbildung 2 ist auf umfassendere pädagogische Aspekte wie inhaltlicher Fokus, Sozialformen und Materialien bezogen. Auch wenn dieser Bogen von der Forscherin auf der Grundlage von Transkripten ausgefüllt wurde, so zeigt er doch den Fall vergleichsweise 5.2.3 Beobachtung 155 niedrig-inferenter Ereigniskodierungen, die auch zeitgleich mit dem Unterrichtsgeschehen, also direkt im Klassenzimmer erfasst werden könnten. Das zweite Beispiel in Abbildung 3 zu korrektivem Feedback illustriert dagegen den Fall einer geradezu mikroskopischen Ereigniskodierung, die vergleichsweise hoch-inferent und nur mit entsprechendem Zeitaufwand und auf der Grundlage von Transkripten durchführbar ist. Abbildung 3: Beobachtungsbogen zu korrektivem Feedback im Klassenzimmer (Strube 2014 : 104 ) Die beiden Beobachtungsbögen stellen nur eine Auswahl von Erhebungsinstrumenten der Dissertation von Strube ( 2014 ) dar, in der sie auf der Grundlage von Transkripten von 33 Stunden Unterricht umfassende, detailreiche Analysen der Unterrichtskommunikation vornimmt, parallel dazu lernersprachliche Entwicklungen im lexikalischen und morphosyntaktischen Bereich beschreibt und aus der Verbindung beider Analysen Hypothesen zur Lernförderlichkeit bestimmter Klassenzimmer-Charakteristika aufstellt. 5 Erhebung von Audio- und Videodaten Die Erhebung von Audio- und Videodaten erlaubt die wiederholte Beobachtung zu beliebig vielen Zeitpunkten und bietet damit enormes Potential für Analysen von Unterricht und Lernprozessen. Aufgrund von Fragen des Feldzugangs, datenschutzrechtlicher und ethischer Aspekte müssen solche Aufnahmen langfristig und detailliert vorbereitet werden (s. dazu genauer Schramm 2014 ). In technischer Hinsicht sind bei der Vorbereitung audiographischer Aufnahmen insbesondere unterschiedliche Arten von Mikrofonen zu prüfen, die für Aufnahmen von Plenumsunterricht vs. Partner- und Gruppenarbeit geeignet sind; denkbar ist allerdings auch der Einsatz von einfacheren Aufnahmegeräten (z. B. Smartphones), wie die zweitsprachendidaktisch motivierten Studien von Levine ( 2008 ) oder Pietzuch ( 2015 ) illustrieren, bei denen die Forschungspartner*innen Sprachaufnahmen in ihrem Alltagsleben machten. 156 5. Forschungsverfahren Dass auch allein auf der Grundlage von Audioaufnahmen bahnbrechende Forschungsergebnisse zu erzielen sind, zeigen die bis heute grundlegende Untersuchung von Sinclair/ Coulthard ( 1975 ) zu typischen Interaktionsmustern im lehrer*innenzentrierten Unterricht und die als klassisch zu bezeichnende Arbeit von Wong-Fillmore ( 1979 ) zu Strategien von Kindern beim L 2 -Erwerb Englisch (s. auch Bracker 2015 , Referenzarbeit, Kap. 7 ). Bei Videoaufnahmen ist zu klären, mit wie vielen Kameras (und entsprechend Mikrofonen) gearbeitet werden soll und wie diese unter Berücksichtigung der Lichtverhältnisse und insbesondere des Untersuchungsgegenstands positioniert werden sollen. In der Regel wird vom Fenster weg und mithilfe eines Stativs, ggf. mit Kameraschwenks, gefilmt, doch für geübte Kameraleute kommt auch der Einsatz beweglicher Kameras in Frage. Insbesondere bei größeren Forschungsprojekten findet oft ein Kameraskript Einsatz, das im Vorfeld der Untersuchung Details zu diesbezüglichen Entscheidungen festlegt und somit die Einheitlichkeit der Aufnahmen in einem Projekt absichert (s. bspw. Ricart Brede 2011 : Anhang). Wird bei den Aufnahmen mit mehreren Kameras gearbeitet, ist bei der Aufbereitung und Analyse die Synchronisierung in Split-Screen- Formaten von Interesse. Bei der Erforschung eines fremdsprachlichen Kurses für Sprecher*innen von Gebärdensprache ist es beispielsweise unerlässlich, mit zwei synchronisierten Videoaufnahmen zu arbeiten, um die Interaktion von frontaler Lehrperson und Lernendengruppe dokumentieren zu können. Aus einem sehr umfassenden Forschungsprojekt berichten Blume/ Schmidt ( 2020 ) auch von multiperspektivischen Erhebungen mit 10 - 20 Kameras. Mit Bezug auf Online- Sprachunterricht machen Rösler/ Zeyer ( 2021 ) u.a. auf die unterschiedlichen Ansichten aufmerksam, die Kursteilnehmende jeweils haben. Die Referenzarbeit von Schmidt ( 2007 : 190 - 192 ) illustriert den Fall, dass Partnerarbeiten am Computer videographiert wurden. Dazu wurde per Zufallssampling regelmäßig jeweils ein Paar bei der Bearbeitung von Softwareübungen videographiert. Ergänzend wurde mittels einer Bildschirmaufzeichnungssoftware (Camtasia) dokumentiert, wie die Schüler*innen die Übungen am Bildschirm bearbeiteten. Zudem wurde auch der größere Unterrichtskontext videographisch und mittels Feldnotizen dokumentiert. Darüber hinaus thematisiert Aufgebauer ( 2021 ) mit Blick auf die fremdsprachendidaktisch motivierte Schreibprozessforschung die Triangulation von Videoaufnahmen der schreibenden Person mit Bildschirmprotokollen und Keystroke-Logging-Daten. Für die Aufbereitung und Analyse von Videodaten stehen inzwischen zahlreiche Softwarepakete zur Verfügung, welche teils auch mehrere Audio- und Videospuren gleichzeitig darstellen können (z. B. Transana). Einige Beispiele sind: • Anvil (http: / / www.anvil-software.org), • Interact (s. http: / / www.mangold-international.com/ de/ software/ interact-videographiesoftware.html), • Observer (http: / / www.noldus.com/ observer-xt) • Transana (http: / / www.transana.com) und • Videograph (http: / / www.dervideograph.de). Die videogestützte Erforschung von Fremdsprachenunterricht hat ungefähr seit der Jahrtausendwende einen regelrechten Boom erlebt (s. Überblick in Schramm/ Aguado 2010; Schwab 2020 ), sodass sich inzwischen verschiedene Ansätze herausgebildet haben. emische Forschungsperspektive Gefahr ethnozentrischer Interpretationen (oder fehlender Distanz) etische Forschungsperspektive Gefahr der Ausblendung nicht-modellierter Sinnstrukturen Erhebung Auswertung teilnehmend nicht-teilnehmend im Feld im Labor 5.2.3 Beobachtung complete observer complete participant oberserver-as-participant participant-as-observer unstrukturiert strukturiert quantifizierende Kodierung / Schätzung ethnographisches Beobachtungsprotokoll Forschungstagebuch Feldnotiz offener Beobachtungsbogen © 2022 ⚫ Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 158 5. Forschungsverfahren Schramm ( 2016 ) unterscheidet diesbezüglich drei Typen videogestützter Forschung zu fremdsprachendidaktischen Fragen: Erstens untersuchen in pragmalinguistischer Tradition stehende Videointeraktionsanalysen in deskriptiver Absicht den (Fremdsprachen-) Unterrichtsdiskurs (s. beispielsweise die Referenzarbeit von Schwab 2009 ; Méron-Minuth 2009 ; s. auch Kap. 5 . 3 . 7 ). Im Unterschied dazu zieht die methodentriangulatorische Videographie ausgehend von Videoaufnahmen auch weitere Daten (wie beispielsweise videobasiertes Lautes Erinnern, Interviews oder Fragebögen) heran, um in Anlehnung an ethnographische Vorgehensweisen die Innenperspektive der Akteur*innen zu rekonstruieren (z. B. Feick 2016 ). Drittens ist die quantifizierende, modellbildende videobasierte Unterrichtsforschung, die u. a. durch die TIMSS -Studien und verwandte Fachdidaktiken (z. B. Riegel/ Macha 2013 ) inspiriert wurde, an kausalen Zusammenhängen zwischen Aspekten der Unterrichtsqualität und den Lernergebnissen interessiert (z. B. Helmke et al. 2008 ). 6 Fazit Für die Untersuchung von fremdsprachendidaktischen Themen, insbesondere zur Erforschung der fremdsprachlichen Klassenzimmerinteraktion, stellt die Beobachtung ein zentrales Erhebungsinstrumentarium dar. Bei teilnehmenden Beobachtungen im Feld, bei nicht-teilnehmenden Beobachtungen mittels mehr oder wenig strukturierter Beobachtungsbögen und bei audio- und videographischen Aufzeichnungen ist gleichermaßen bereits im Vorfeld genau zu bedenken, wie und in welcher Form die Beobachtung vorgenommen werden kann und soll. Dies bedeutet auch darüber nachzudenken, welche Auswirkungen der Beobachtungsprozess auf die eigentliche Forschungsintention hat. Entscheidend ist dabei u. a., wie invasiv die Beobachtung ist und wie gegenstandsangemessen das Vorgehen ist. Aus ethischer Sicht scheint es von zentraler Relevanz, die Vorgehensweise klar und deutlich mit den Betroffenen abzusprechen und allen Beteiligten gegenüber offen darzulegen (z. B. auch den Schulbehörden oder Eltern). Wichtig ist darüber hinaus, die Beobachtungsmodalitäten beim Publizieren der Ergebnisse deutlich und umfassend darzustellen. › Literatur Forschungsarbeiten, in denen die hier erläuterten Verfahren angewendet werden, sind mit einem Sternchen markiert. Aguado, Karin/ Schramm, Karen/ Vollmer, H. Johannes (Hg.) (2010). Fremdsprachliches Handeln beobachten, messen und evaluieren. Neue methodische Ansätze der Kompetenzforschung und Videographie. Frankfurt/ M.: Lang. Appel, Johannes/ Rauin, Udo (2015). Methoden videogestützter Beobachtungsverfahren in der Lehr- und Lernforschung. In: Daniela Elsner/ Britta Viebrock (Hg .). Triangulation in der Fremdsprachenforschung. Frankfurt/ M.: Lang, 59-79. Aufgebauer, Marlene (2021). 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Neue methodische Ansätze der Kompetenzforschung und Videographie. Frankfurt/ M.: Peter Lang. Dieser Sammelband präsentiert fünf Beiträge zur Videographie in der Fremdsprachendidaktik. Hier finden sich sowohl ein Überblick über den Forschungsstand als auch spezialisierte Beiträge zu Fragen der Erhebung, der Transkription und der Entwicklung von Beobachtungssystemen. Seedhouse, Paul (Hg.) (2021). Video Enhanced Observation for Language Teaching. Reflection and Professional Development. New York: Bloomsbury. Geschrieben von Expert*innen der angewandten Linguistik, Pädagogik und Bildungstechnologie, erklärt Video Enhanced Observation for Language Teaching die Prinzipien und Verfahren, die mit dem Einsatz digitaler Beobachtungstechnologien im Unterricht verbunden sind, und ermöglicht es anderen Fachleuten, diese Technologien in ihre eigene Umgebung und Praxis zu integrieren. Wajnryb, Ruth (1992). Classroom Observation Tasks: A Resource Book for Language Teachers and Trainers. Cambridge: Cambridge University Press. In diesem Arbeitsbuch erhalten Lehrkräfte und noch unerfahrene Forschende eine verständliche Anleitung, wie Unterrichtsprozesse beobachtet und analysiert werden können, um daraus konkrete Schlüsse für die eigene Praxis zu ziehen. Anhand zahlreicher Aufgaben werden gezielt Beobachtungskompetenzen erlernt, ohne dass man sich auf bestimmte theoretische Interpretationsansätze und Forschungsmethoden festlegen muss. 162 5. Forschungsverfahren 5.2.4 Befragung Claudia Riemer 1 Begriffsklärung und Ausgangslage In der empirischen Fremdsprachenforschung werden mündliche und schriftliche Befragungsmethoden zur Datenerhebung sehr häufig eingesetzt, auch in der überwiegenden Zahl der für diesen Band als Referenzen fungierenden empirischen Forschungsarbeiten. Vielfach wird an vorhandenen forschungsmethodischen und -methodologischen Diskussionen aus den Sozialwissenschaften, der Erziehungswissenschaft und Psychologie angeknüpft, zunehmend stehen auch fachinterne Ausführungen zur Verfügung (vgl. exemplarisch Daase/ Hinrichs/ Settinieri 2014 für Befragung allgemein; Dörnyei 2010 , Zydatiß 2012 für die schriftliche Befragung; Trautmann 2012 für qualitative Interviews). Die Gründe für diese große Beliebtheit sind vielfältig: Mit Blick auf das allgemeine Erkenntnisinteresse der Erforschung des Lehrens und/ oder Lernens von Fremd- und Zweitsprachen, bietet es sich häufig an, hierfür gerade die Protagonisten - die Lehrenden und Lernenden - selbst mit ihrer Binnensicht zu Wort kommen zu lassen. Es hat aber auch damit zu tun, dass viele Untersuchungsgegenstände (wie etwa Erfahrungen, Einstellungen, Motivationen oder Haltungen von Lehrenden und Lernenden) nicht aus der Außenperspektive beobachtbar sind und dann eine Operationalisierung in Form von Selbstauskünften befragter Personen sinnvoll ist. Es spielt aber sicher auch eine Rolle, dass Befragungsmethoden an alltäglichen kommunikativen Erfahrungen des Fragens und Antwortens anknüpfen und daher insbesondere Forschungsnovizen hier weniger methodische Zugangshürden antizipieren; einen Fragebogen zu entwickeln oder ein Interview durchzuführen erscheint zunächst eine leicht(er) zu bewältigende Aufgabe zu sein. Wie bei anderen Datenerhebungsmethoden auch, spielt die Qualität des Erhebungsinstruments die entscheidende Rolle für die Qualität von Befragungsdaten. Befragungsdaten sind allerdings das Ergebnis von Selbstauskünften (engl. self reports ) und daher mit der generellen Problematik verbunden, dass ihre Zuverlässigkeit eingeschränkt ist. Dies hängt u. a. von der Bereitschaft und Fähigkeit der Befragten zu wahrheitsgemäßen und relevanten Aussagen ab; auch Erinnerungsfehler, sozial erwünschte Antworten, Gefälligkeitsaussagen und Einflüsse persönlicher Antworttendenzen (engl. response set ), wie z. B. die Akquieszenz ( Ja-Sage-Tendenz), sind nie auszuschließen. Möglichst unverfälschte Daten durch Befragung zu erheben, muss daher durch die jeweiligen Verfahren, so weit es nur geht, sichergestellt werden. Ein Beispiel für gute Reflexion der Effekte sozialer Erwünschtheit bei Fragebogenbefragungen sowie deren Berücksichtigung bei der Fragebogenkonstruktion findet sich in der Studie von Özkul ( 2011 : 94 - 95, Referenzarbeit, s. Kap. 7 ), die Berufswahlmotive von Lehramtsstudierenden untersucht. Zu unterscheiden sind schriftliche (Fragebogen) und mündliche Formen (Interview) der Befragung sowie der Grad ihrer Standardisierung. Fragebögen werden gewöhnlich dann eingesetzt, wenn größere Probandengruppen erfasst werden sollen und/ oder die Anonymität schon in der Befragungssituation gewahrt bleiben soll. In der Regel sind Fragebögen stark standardisiert. Die Erhebung der Fragebogendaten selbst sowie deren Aufbereitung 5.2.4 Befragung 163 und Auswertung ist relativ unaufwändig - was allerdings auf die Erstellung eines geeigneten Fragebogens nicht zutrifft. Interviews haben den Vorteil, dass für viele Befragte der mündliche Modus einfacher ist und Befragte sich intensiver mit den Fragen auseinandersetzen; ihre Anonymität kann allerdings frühestens während der Datenaufbereitung (Transkription) hergestellt werden. Interviews werden als Einzelinterviews oder als Gruppeninterviews bzw. Gruppendiskussionen durchgeführt, was im Vergleich zu schriftlichen Befragungen einen erheblich größeren Zeitaufwand für die Datenerhebung (und auch für die darauf folgende Transkription und Datenanalyse) erforderlich macht und daher in der Regel den Umfang der Probandengruppen einschränkt. Beide Formen sind im Rahmen qualitativer und quantitativer Forschungsansätze einsetzbar, wobei sich der jeweils erforderliche bzw. erwünschte Grad der Standardisierung unterscheidet. Die Standardisierung von Befragungen umfasst verschiedene Aspekte: die Geschlossenheit der Fragen, die Festlegung der Fragenreihenfolge sowie die Gestaltung der Befragungssituation. Standardisierte Befragungen (auch als „strukturierte“ Befragungen bezeichnet) sind typisch für einen zugrundegelegten quantitativen, hypothesentestenden Forschungsansatz und sehen v. a. geschlossene Fragen in festgelegter Reihenfolge sowie eine exakte Kontrolle der Datenerhebungssituation vor (gleiche Bedingungen für alle Probanden, gleiches Verhalten der Interviewer, u. a. gleiche Befragungshilfen sowie Verzicht auf Nachfragen sowie individualisierte Erläuterungen). Offene bzw. semi-offene Befragungen verfolgen einen qualitativen, hypothesengenerierenden Forschungsansatz und sind nur minimal oder gar nicht standardisiert. Sie sehen v. a. offene Fragen und keine festgelegte Fragereihenfolge vor (diese ergibt sich aus dem Gesprächsverlauf und wird v. a. durch den Befragten bestimmt); die Rahmenbedingungen für die Datenerhebungssituation werden in der Regel nicht kontrolliert (Eingehen auf Wünsche der Befragten z. B. in Bezug auf Ort und Zeit, Nachfragen und Erläuterungen des Interviewers möglich). Bei Befragungen können unterschiedliche Arten von Fragen gestellt werden (vgl. Porst 2014 : 53 - 69 ). Offene Fragen, die häufig W-Fragen sind (z. B. „Warum lernen Sie Deutsch als Fremdsprache? “), sind von den Befragten mit eigenen Worten zu beantworten, was die Tiefgründigkeit und Vielseitigkeit der Antworten erhöht - aber auch vom Grad der Verbalisierungsfähigkeit und Bereitschaft des Befragten zu relevanten Antworten abhängt. Bei geschlossenen Fragen (z. B. „Wie stark interessieren Sie sich für Deutsch als Fremdsprache? “) müssen die Befragten aus einer begrenzten Zahl vorgegebener Antworten auswählen (z. B. „sehr stark, stark, wenig, überhaupt nicht“); auch Mehrfachauswahloptionen ( multiple choice ) sind möglich (z. B. „Welche Sprachen haben Sie in der Schule gelernt? Antwortoptionen: Englisch, Französisch, Spanisch, Latein, Türkisch“). Halboffene Fragen erlauben neben der Auswahl aus vorgegebenen Antworten eine weitere freie Antwort (s. letztes Beispiel, weitere Antwortoption: „sonstige“). Geschlossene Fragen haben den Vorteil, dass sie schnell auszuwerten, auf einer Nominal-, Ordinal- oder Intervallskala zu quantifizieren sind (s. dazu näher Kap. 5 . 3 . 11 ) und die Daten miteinander vergleichbar sind. Sie unterliegen allerdings immer dem Risiko, dass sich Befragte nicht in den Fragen wiedererkennen und daher beliebig antworten, teilweise Antworten auslassen oder im schlimmsten Fall den Fragebogen abbrechen - was entweder „fehlende Werte“ für die statistische Auswertung bedeutet bzw. die Güte der Befragung insgesamt verringert. 164 5. Forschungsverfahren Allein aus diesem Grund bieten sich halboffene und offene Fragen als Ergänzung zu geschlossenen Fragen an. Der standardisierte Fragebogen mit vorrangig geschlossenen Fragen mit Antwortoptionen stellt die klassische Form der Befragung im Rahmen eines quantitativen Forschungsansatzes dar, während das offene bzw. semi-offene Interview ein gängiges Instrument qualitativer Forschung ist. Offene Fragen in schriftlichen Befragungen sind in der Regel nicht geeignet, die Ziele qualitativer Forschung hinreichend abzubilden. Häufig werden in der Fremdsprachenforschung sowohl standardisierte Fragebögen als auch qualitative Einzelinterviews (z. B. bei Biebricher 2008 im Rahmen einer quasi-experimentell angelegten Interventionsstudie zum extensiven Lesen; Referenzarbeit, s. Kap. 7 ) eingesetzt. Fragebögen können außerdem vor Einzelinterviews zur Abfrage von reinen Faktenfragen und demographischen Angaben eingesetzt werden - sie können so zur Entlastung der Gesprächssituation (und zur Umfangreduktion bei der Datenaufbereitung) beitragen. Ein Beispiel dazu findet man bei Ehrenreich 2004 (Referenzarbeit s. Kap. 7 ), die mittels eines Kurzfragebogens wichtige kontextuelle und biographische Rahmenbedingungen abfragt, bevor sie Untersuchungsteilnehmer dann mittels Interview zu einem Assistant-Teacher -Auslandsaufenthalt befragt. Auf das Forschungsthema zugeschnittene Fragebogenerhebungen können das kontrastive Sampling für eine qualitative mündliche Befragung unterstützen (zum Sampling s. auch Kap. 4 . 3 ). Aber auch mit anderen Erhebungsverfahren werden Befragungsverfahren kombiniert, um unterschiedliche Perspektiven zu gewinnen (z. B. Kombination von strukturierter Unterrichtsbeobachtung mit Befragungen von Lehrenden zu ihren Überzeugungen qua qualitativem, leitfadengestützten Interview und Gruppendiskussion bei Hochstetter 2011 ; Referenzarbeit s. Kap. 7 ) oder ergänzende Informationen zu erhalten (z. B. Ergänzung der zentralen Methode der Unterrichtsbeobachtung/ Videographie durch strukturierte Fragebögen, retrospektives Interview, Lerntagebuch und Gruppendiskussion bei Schmidt 2007 ; Referenzarbeit s. Kap. 7 ). Solche mehr-methodischen Designs verfolgen Triangulationsansätze, die mit besonderen Herausforderungen bei der Datenanalyse sowie dem Ergebnisabgleich konfrontiert sind (s. dazu Kap. 4 . 4 ). 2 Fragebogen Der Einsatz von Fragebögen ist mit einer Reihe von Vorteilen verbunden: Befragungen können mittels Fragebögen sehr exakt vorstrukturiert werden, Fragen können klar festgelegt und präzise formuliert werden. Fragebögen sind relativ leicht und räumlich wie zeitlich flexibel einsetzbar; große Mengen an Daten können mit überschaubarem Aufwand erhoben werden. Sie können auf Papier ausgeteilt werden und nach kurzer Zeit wieder eingesammelt werden. Alternativ können sie auf postalischem oder elektronischem Wege versandt und erhoben werden; darüber hinaus kann bei elektronisch unterstützten Befragungen mittels Einsatz von Fragebogensoftware sichergestellt werden, dass alle Fragen beantwortet werden. Die Anonymität der Befragten kann bewahrt werden. Die gewonnenen Daten sind vergleichbar und - abhängig vom Grad ihrer Standardisierung - leicht quantifizierbar und quantitativen Analyseverfahren zuzuführen. Aber: Wenn Fragebögen zu schnell erstellt und eingesetzt werden, geht dies meistens zu Lasten der Datenqualität, 5.2.4 Befragung 165 was die Güte von Fragebogenstudien erheblich einschränken kann. So fordert u. a. Dörnyei ( 2010 : XIII ) für die Fremdsprachenforschung, dass der Einsatz von Fragebögen besser forschungsmethodisch und -methodologisch reflektiert und vorbereitet werden muss, als dies in vielen Studien der Fall ist. Zunehmend werden Online-Fragebögen eingesetzt, die auf Web-Servern hinterlegt sind und direkt im Browser bearbeitet werden können (vgl. Jackob et al. 2009 ; Kuckartz et al. 2009 ), was mit Vorteilen hinsichtlich Kosten, Zeit und Reichweite verbunden ist (vgl. den Einsatz von Online-Fragebögen in Kienberger 2020 , Referenzarbeit, s. Kap. 7 , die DaF-Lehrende und -Lernende an allen spanischen Universitäten zu Wortschatzstrategien befragt hat), auch Video- und Audioelemente können eingebunden werden. Ein weiterer Vorteil liegt in einer häufig unaufwändigen Übertragung der Datensätze in statistische Datenanalysesoftware, was auch Übertragungsfehler minimiert. Nachteile hinsichtlich Beteiligung, Zielgruppenbezug und Abbrüchen sind zu bedenken, ebenfalls die Sicherstellung des Datenschutzes. Skalentypen Fragen können als geschlossene oder offene Fragen gestellt werden. In standardisierten Fragebögen überwiegen die geschlossenen Fragen, für die Antwortoptionen in Form unterschiedlicher Skalen vorgegeben sind (zu ausführlichen Erläuterungen zum Skalenniveau, vgl. auch Porst 2014 : 71 - 97 ). Offene Fragen haben oft den Charakter eines Annex und werden häufig von den Untersuchungsteilnehmern gar nicht beantwortet - oder spielen bei der Datenanalyse keine wichtige Rolle. Oft enthalten Fragebögen gar keine Fragen, auf die die Befragten mittels vorgegebener oder (seltener) freier Antworten reagieren sollen. Häufig zu finden sind Rating-Skalen, insbesondere so genannte Likert-Skalen, die positiv oder negativ formulierte Statements vorhalten, die den Befragten zur (Selbst-)Einschätzung auf einer vorgegebenen, anzukreuzenden Ratingskala vorgelegt werden (vgl. Porst ebd.; Dörnyei 2010 : 26 - 33 ). Mittels solcher Items werden z. B. Einstellungen, Haltungen und Erfahrungen operationalisiert. Empfohlen werden fünf bis neun Skalenpunkte, wobei zu berücksichtigen ist, dass bei einer hohen Anzahl mit pseudodifferenzierten Antworten zu rechnen ist. Die Anzahl der skalierten Ankreuzmöglichkeiten kann gerade oder ungerade sein; beides ist in der Forschung üblich. Zu bedenken ist aber stets, dass eine ungerade Anzahl Unschärfen bei der Datenerhebung (und späteren Datenauswertung) ergeben kann, weil Untersuchungsteilnehmer die Mittelposition einer Skala unterschiedlich interpretieren. Wenn sie die Mittelposition ankreuzen, kann dies bedeuten, dass sie keine Meinung dazu haben - aber evtl. auch, dass sie die Frage uninteressant finden; evtl. sind sie aber wirklich neutral. Alternativ könnte bei einer ungeraden Anzahl eine zusätzliche Antwortkategorie, wie die Option „weiß nicht“/ „nicht zutreffend“ vorgegeben werden. Eine gerade Anzahl wiederum zwingt die Befragten, sich für eine Seite zu entscheiden, auch wenn sie vielleicht unentschieden sind. Die Punkte auf den Ratingskalen werden mittels geeigneter Begriffe sprachlich festgelegt (vgl. Bsp. 1 für eine 5 -stufige Skala, Bsp. 2 für eine 7stufige Skala in anderer Zustimmungsrichtung, Bsp. 3 für eine 4stufige Skala, die die Befragten zu einer Antwortrichtung 166 5. Forschungsverfahren zwingt); alternativ können auch Piktogramme, wie z. B. Smileys für Skalenpunktmarkierungen verwendet werden (z. B. für den Einsatz von Likert-Skalen bei Kindern vgl. Dörnyei 2010 : 28 - 29 ). Schwieriger ist die Benennung der Skalenpunkte bei Häufigkeitsangaben, da Angaben wie „selten“ oder „häufig“ unterschiedlich interpretiert werden können (vgl. Bsp. 4 für eine häufig anzutreffende Lösung). Als Alternative bieten sich ausschließlich endpunktbenannte Skalen an, da so die Gleichabständigkeit (Äquidistanz) der Zwischenstufen besser erreicht wird, insbesondere wenn die Benennung vieler Zwischenstufen nicht eindeutig möglich ist. Der Grad der Gleichabständigkeit der Skalen ist eine wesentliche Voraussetzung für die Art der Quantifizierung der mit solchen Items gewonnenen Daten. In der Regel sind Likert-Skalen nicht äquidistant; daher sind damit gewonnene Daten im strengen Sinn keine intervallskalierten Daten, sondern ordinale bzw. rangskalierte Daten, woraus unterschiedliche Möglichkeiten für die statistische Analyse resultieren (vgl. Kap. 5 . 3 . 10 ). Beispiel 1: Item aus dem Fragebogen zur Messung der fremdsprachenspezifischen Angst von Horwitz/ Horwitz/ Cope (1986: 129) 1. I never feel quite sure of myself when I am speaking in my foreign language class. Strongly agree-- Agree-- Neither agree nor disagree-- Disagree-- Strongly disagree Beispiel 2: Item aus dem Fragebogen zur Messung der integrativen und instrumentellen Orientierung zum Fremdsprachenlernen von Gardner (1985: 179) 1. Studying French can be important for me only because I’ll need it for my future career. Strongly Disagree Moderately Disagree Slightly Disagree Neutral Slightly Agree Moderately Agree Strongly Agree Beispiel 3: Item zur Messung von Einstellungen zu Computer-Sprachlernprogrammen von Schmidt (2007: Online-Anhang 3, Abschlussfragebogen Schülerinnen) sehr hilfreich eher hilfreich wenig hilfreich nicht hilfreich Wörterbuch Englisch-Deutsch □ □ □ □ Beispiel 4: Item zur Messung der Häufigkeit der Computerbenutzung von Schmidt (2007: Online- Anhang 2, Anfangsfragebogen für Lehrende) sehr oft oft manchmal selten nie (Mehr als dreimal pro Woche) (Ein bis zwei Mal pro Woche) (Ein bis zwei Mal pro Monat) (Höchstens einmal pro Monat) Wie oft surfen Sie im Internet? □ □ □ □ □ Abbildung 1: Skalentypen im Fragebogen 5.2.4 Befragung 167 Erstellung eines Fragebogens Eine schriftliche Befragung ist nur so gut wie ihr Fragebogen - und ein Fragebogen ist nur so gut wie seine Items. Im Vergleich zu den Vorteilen einer Fragebogenbefragung in Bezug auf den Zeitaufwand der Erhebung und Auswertung ist nicht zu unterschätzen, welcher Aufwand bei der Erstellung eines Fragebogens zu leisten ist. Entscheidende Schritte sind die Formulierung sowie Zusammenstellung der Items. Gerade bei Untersuchungsgegenständen, für die es noch keine geprüften Verfahren gibt, und bei abstrakten Konstrukten, wie z. B. Einstellungen, Meinungen oder anderen Persönlichkeitsvariablen, sind Multi- Items gegenüber Einfach-Items vorzuziehen, d. h. mehrere, gewöhnlich vier bis zehn Items werden in Annäherung an das zu erfassende Konstrukt formuliert (zur Verwendung von Multi-Items vgl. Dörnyei 2007 : 103 - 104 ; Dörnyei 2010 : 23 - 26 ). Es gibt keine harten Regeln für die Itemformulierung - und vorhandene Empfehlungen bleiben in gewisser Weise immer abstrakt. Aus der Vielzahl von Methodeneinführungen (vgl. Daase/ Hinrichs/ Settinieri 2014 : 105 ; Dörnyei 2007 : 108 - 109 ; Dörnyei 2010 : 40 - 46 ; Mayer 2013 : 91 ; Porst 2014 : 20 - 31 , 98 - 118 ) können jedoch einige Faustregeln abgeleitet werden, da sie insbesondere Forschungsnovizen vor vermeidbaren Fehlern bewahren können; alle Regeln sind besonders sorgsam zu beachten, wenn die Sprache des Fragebogens nicht die L 1 der Befragten ist. Faustregeln für die Formulierung von Fragebogenitems • Items sind kurz und in einfacher, verständlicher Sprache zu formulieren (in der Regel weniger als 20 Worte), die von allen Beteiligten in gleicher Weise verstanden werden. • Uneindeutige Wörter (wie z. B. „gut“, „einfach“, „manchmal“, „oft“, „viel(e)“), unklare Wörter (z. B. „jung“, „Nachbarschaft“) oder mehrdeutige Wörter (wie z. B. „modern“, „Heimat“, „Stress“) sollen vermieden werden-- denn jeder Befragte kann etwas Anderes darunter verstehen. • Unklare Begriffe sind-- so sie nicht vermieden werden können-- zu definieren. • Allgemeine Fragen sind zugunsten konkreter Fragen zurückzustellen. • Suggestivfragen jeder Art und hypothetische Fragen sind zu vermeiden. • Doppelte Verneinungen sind zu vermeiden, denn sie führen zu Missverständnissen. • Jedes Item darf nur einen Aspekt behandeln. • Items dürfen die Befragten nicht überfordern-- sie sollen aber auch nicht trivial sein. • Items sollen nicht auf Informationen zielen, über die die Befragten möglicherweise nicht verfügen. • Der räumlich-zeitliche Bezug von Items soll immer klar und eindeutig sein. • Zustimmende und ablehnende Antwortmöglichkeiten sollen balanciert sein; Items sollen so formuliert sein, dass sich abwechselnd positive und negative Antworten für den Befragten ergeben. • Antwortoptionen sollen hinreichend erschöpfend und überschneidungsfrei sein. • Und noch eine wichtige Regel: Bei der Formulierung von Items sollte man im Blick behalten, dass sie die Übersetzung in andere Sprachen nicht unnötig erschwert (z. B. Vermeidung indirekter Sprache und metaphorisierter Ausdrücke). Abbildung 2 : Faustregeln für die Erstellung von Fragebogenitems 168 5. Forschungsverfahren Zur Festlegung der Items gehört neben der Formulierung der Fragen oder Statements auch die der Auswahl der Skalentypen (s. oben) bzw. Antwortoptionen. Bei Faktenfragen (z. B. nach demographischen Variablen wie Alter, Bildungslaufbahn, Geschlecht) sind geeignete Antwortoptionen festzulegen, z. B. im Multiple-Choice-Format. Statements müssen entsprechende Rating-Skalen zugeordnet werden, wobei begründete Entscheidungen getroffen werden müssen, was die Anzahl und Äquidistanz der Zwischenstufen betrifft und ob diese gerade oder ungerade sein soll. Auch sollte bedacht werden, dass es bei Mehrfachantworten die häufige Tendenz gibt, dass Befragte die ersten ( primacy-effect ) oder letzten Antwortkategorien ( recency-effect ) vermehrt ankreuzen (dieser Effekt verstärkt sich bei standardisierten mündlichen Befragungen). Bei der Anordnung der Fragen ist zu beachten, dass sie der Aufmerksamkeitsspanne des Befragten entspricht. Zum Einstieg in den Fragebogen sollten möglichst inhaltliche und themenbezogene, motivierende Items vorgesehen werden, die von den Untersuchungsteilnehmern leicht beantwortet werden können und sie persönlich betreffen. Auf diese Weise soll eine Bindung des Befragten erreicht werden (vgl. auch die „Regeln für die Einstiegsfrage“ bei Porst 2014 : 139 - 146 ). Die zentralen Items für die Fragestellung sollen in den ersten zwei Dritteln des Fragebogens gestellt werden. Generell gilt hierfür die Empfehlung, dass Items logisch in Themenblöcken geordnet werden sollen; Multi-Items sowie Items zu sehr nah verwandten Konstrukten sollten jedoch randomisiert werden (z. B. bei testähnlichen Messungen von Persönlichkeitseigenschaften), um Gedächtniseffekte zu vermeiden. Es empfiehlt sich darüber hinaus, unaufwendige Fragen eher an das Ende des Fragebogens zu stellen (z. B. demographische Fragen und leicht abrufbare Faktenfragen). Heikle Fragen, die möglicherweise Befürchtungen von Befragten in Bezug auf Sanktionen wecken könnten oder tabuisierte Themenbereiche betreffen (das kann z. B. auch eine Frage nach dem Einkommen sein), sollten in das hintere Drittel des Fragebogens gerückt werden, um den vorzeitigen Abbruch der Befragung unwahrscheinlicher zu machen. Nicht unterschätzt werden sollten mögliche Ausstrahlungseffekte von Fragen auf die Folgefragen. Am Ende des Fragebogens sollte den Befragten gedankt werden und die Möglichkeit zu inhaltlichen Ergänzungen und methodischen Anmerkungen gegeben werden; ggfs. sollte angeboten werden, unter Achtung datenschutzrechtlicher Regelungen, Informationen über die Ergebnisse der Studie zu erhalten oder sich für Folgebefragungen (auch mündlicher Art) zur Verfügung zu stellen. Weitere Parameter für einen guten Fragebogen sind mit der Gestaltung des Fragebogens verbunden: Länge (als Faustregel gilt eine optimale Länge von nicht über vier Druckseiten für den Frageteil und eine Gesamtbearbeitungszeit von unter 30 Minuten (vgl. Dörnyei 2010 : 13) ), gutes und professionell wirkendes Layout mit einem optisch ansprechenden und das Thema erläuternden Deckblatt, genaue Erläuterungen zum Ausfüllen des Fragebogens (z. B. Hinweise, wie die Skalen anzukreuzen sind, dass es keine richtigen oder falschen Antworten gibt, dass Ehrlichkeit wichtig ist) - und v. a.: nicht zu viel Text in lesbarer Schriftgröße pro Seite (es soll Spaß machen, den Fragebogen auszufüllen! ). Viele genaue Hinweise und Beispiele dazu sind in den Einführungen von Dörnyei ( 2010 ) und Porst ( 2014 ) zu finden. Bei nicht direkter, auch elektronischer Administration darf ein einladendes Anschreiben mit der Bitte um Teilnahme und Zusicherung der Wahrung der datenschutzrechtlichen und forschungsethischen Regelungen sowie Regelungen guter 5.2.4 Befragung 169 wissenschaftlicher Praxis (vgl. dazu Kap. 4 . 6 ) nicht fehlen. Wird der Fragebogen durch den Forscher selbst verteilt, spielt darüber hinaus das persönliche Auftreten eine wichtige Rolle. Qualitative schriftliche Befragung Schriftliche Befragungsverfahren werden in der qualitativen Fremdsprachenforschung nur recht selten verwendet. Sie bieten sich aber dann an, wenn subjektive Erfahrungen in größerer Breite erhoben werden sollen und/ oder Sonderformen von Introspektion schriftlich erfolgen können. Ein bekanntes Beispiel stellt das Tagebuch, häufig in der Form eines Sprachlerntagebuchs, dar (vgl. Bailey/ Ochsner 1983 ). Ein anderes Beispiel ist das Instrument der mittels eines relativ offenen Frageimpulses erhobenen schriftlichen Sprachlernbiographie, die in der deutschen Sprachlehrforschung zur Untersuchung von Lernervariablen eingesetzt wird (vgl. exemplarisch Edmondson 1997 ; Riemer 2016 ). 3 Interview Zu unterscheiden sind quantitative von qualitativen Interviews. Quantitative, strukturierte Interviews spielen in der deutschen wie internationalen Fremdsprachenforschung keine große Rolle. Sie sind eine Sonderform der standardisierten Befragung, für die die oben genannten Regeln und Grundlagen der Fragebogenbefragung gelten; Frageformulierungen und Antwortoptionen sind vorgegeben. Die Durchführung eines strukturierten Interviews ist eine mündliche Administration eines vorgegebenen Fragebogens; allerdings mit dem Vorteil, dass die direkte (oder telefonische) mündliche Befragung das Risiko vermindert, dass Items ausgelassen oder viel zu flüchtig durchgegangen werden. Aus Gründen der notwendigen Gleichbehandlung geschieht dies allerdings um den Preis einer recht künstlichen Gesprächssituation, bei der keine Spielräume für Frageanpassungen, Nachfragen oder auf den jeweiligen Untersuchungsteilnehmer bezogene Erläuterungen bestehen. Qualitative Interviews Qualitative Interviews sind zentrale Datenerhebungsmethoden in qualitativen Forschungsansätzen, da sie dem Ziel der Erhebung möglichst reichhaltiger und tiefgründiger Daten gut entsprechen. Die Untersuchungsteilnehmer sollen in möglichst natürlich gehaltenen Gesprächen zur ausführlichen Darlegung ihrer Erfahrungen, Meinungen, Überzeugungen und auch ihres Wissens angeregt werden. Widersprüchlichkeit, Vagheit und auch Nicht- Wissen können in den Antworten zum Ausdruck gebracht werden. Während geschlossene Befragungen darauf setzen (müssen), von den Untersuchungsteilnehmern auf vorgegebene Items möglichst lückenlos ehrliche Einschätzungen zu bekommen, wollen qualitative Interviews die Befragten dazu bringen, selbst Auskünfte darüber zu geben, was und warum etwas für sie relevant ist. Die Tiefe und Breite der Antworten soll nicht eingeschränkt werden. Für qualitative Interviews gilt das Prinzip der Offenheit; den Untersuchungsteilnehmern wird Raum für Elaborationen, Klarstellungen und Erklärungen und damit die Option zu tiefgründigeren und glaubwürdigeren Auskünften gegeben. Nicht ausgeschlossen werden kann dabei allerdings, dass für den Untersuchungsgegenstand irrelevante oder 170 5. Forschungsverfahren nur oberflächliche Informationen gewonnen werden. Dieses Risiko zu minimieren, stellt ein wesentliches Ziel der Interviewgestaltung seitens des Interviewers dar. Daten, die aus qualitativen Befragungen resultieren, sind nur eingeschränkt vergleichbar, da die Offenheit der Fragestellung unterschiedliche Schwerpunktsetzungen und auch unterschiedliche Breite und Tiefe der Ausführungen der Befragten erlaubt. In den empirischen Disziplinen in den Sozialwissenschaften wurde eine Reihe unterschiedlicher Interviewformate entwickelt, die auf einem Kontinuum semi-offener bis maximal offener Verfahren angesiedelt werden können. So gibt es Interviewformen, die nur sehr wenige Steuerungselemente haben (z. B. narratives Interview, Gruppendiskussion), andere (wie z. B. das leitfadengestützte Interview oder das Experteninterview) strukturieren die Erhebungssituation etwas stärker vor - aber in keiner Weise so umfangreich, wie dies bei strukturierten Interviews der Fall ist. Die Steuerung der Gesprächssituation erfolgt während des Gesprächs und ist weniger von einem Instrument wie dem Leitfaden, sondern stark von den Strategien des Interviewers zur (zurückhaltenden) Lenkung des Gesprächs abhängig. Es werden viele unterschiedliche Interviewvarianten unterschieden (vgl. z. B. Friebertshäuser/ Langer 2010 ; Helfferich 2011 : 35 - 46 ; Kvale 2007 : 67 - 77 ; Reinders 2016 : 85 - 117 ; Misoch 2019 ), von denen im Folgenden die gängigsten etwas genauer erläutert werden. Das Leitfadeninterview Das Leitfadeninterview ist eine häufig anzutreffende, semi-offene Form des qualitativen Interviews. Die wesentlichen Aspekte des Untersuchungsgegenstands und der Forschungsfrage(n) werden vorab in Stichworten und (offenen) Fragen festgehalten. Durch die Entscheidung für diese etwas stärker vorstrukturierte mündliche Befragung kann gewährleistet werden, dass die interessierenden Aspekte des Untersuchungsgegenstands zur Sprache kommen - sie werden durch entsprechende Impulsfragen des/ der Interviewenden eingebracht. Dabei muss allerdings in Kauf genommen werden, dass die erhobenen Daten etwas stärkeren Elizitierungscharakter haben, was mit der reinen Lehre der qualitativen Forschungsmethodologie nicht völlig im Einklang steht. Die Leitfragen sollen aus diesem Grund so offen gehalten sein, dass die Untersuchungsteilnehmer ausreichend Möglichkeit haben, eigene Sinnzusammenhänge zu elaborieren bzw. eigene Schwerpunkte zu setzen. Der Leitfaden sollte daher nicht zu umfangreich sein und eher als Orientierung und weniger als ein strikter Ablaufplan gehandhabt werden (zum Dilemma der „Leitfadenbürokratie“ vgl. die frühen Ausführungen von Hopf 1978 ). Fragenreihenfolge und exakte Formulierungen werden nicht vorgegeben, sondern sollen sich möglichst harmonisch in den Gesprächsfluss, der v. a. durch den Untersuchungsteilnehmer bestimmt wird, einfügen. Die Befragten sollen zu möglichst ausführlichen Antworten ermutigt werden; auch sollte ihnen, z. B. bereits zu Beginn des Interviews, Raum für eigene Erzählungen gegeben werden, wofür erzählgenerierende Fragen eingesetzt werden können. Nachfragen sind ein wichtiges Instrument der Gesprächslenkung (s. unten). Wie offen ein Leitfadeninterview tatsächlich ist, hängt von der Gestaltung durch den/ die Interviewende/ n ab bzw. von seiner/ ihrer Fähigkeit, den Befragten in ein Gespräch zu verwickeln, das diesen zu tiefgründigen Aussagen ermuntert. Dabei ist stets zu beachten, dass Fragen per se Aufforderungscharakter 5.2.4 Befragung 171 an die Interviewten haben und der Fragestil eine motivierte Teilnahme des Interviewten fördern soll. Es ist eine Kunst, die ‚richtigen‘ Fragen zum richtigen Zeitpunkt zu stellen. Fehler dabei sind unvermeidbar (was jeder Forschende spätestens bei der Transkription und Auswertung der Interviews feststellen wird); es kommt aber darauf an, mit Fragen in der Gesprächssituation bewusst und kontrolliert umgehen zu können. Faustregeln für Leitfäden sowie Fragen in offenen und semi-offenen Interviews (vgl. Dörnyei 2007 : 136 - 138 ; Helfferich 2011 : 102 - 114 ; Kvale 2007 : 60 - 65 ) Leitfäden • sollen nicht zu lang sein, d. h. es sollen nicht zu viele Fragen vorgesehen werden; • sollen formal so gestaltet sein, dass sich Interviewer während des Interviews leicht darin zurechtfinden: Fragen sollen auf keinen Fall vorgelesen werden; • sollen thematische Sprünge vermeiden; • können vorformulierte Fragen, Aufrechterhaltungsfragen und Nachfragen enthalten, auf die der Interviewer im Bedarfsfall zurückgreifen kann; • im Leitfaden vorgesehene Einzelfragen sollen immer zugunsten spontan gelieferter Erzählungen zurückgestellt werden; • müssen zu Beginn des Interviews um Erlaubnis für die Aufzeichnung des Gesprächs bitten; • sollten die Möglichkeit einer selbstreflexiven Abschlussäußerung des Untersuchungsteilnehmers eröffnen (z. B. „Möchten Sie noch etwas sagen, wonach ich nicht gefragt habe? “). Fragen • sind stets verständlich, widerspruchsfrei und möglichst kurz zu halten (keine Fremdwörter oder Fachausdrücke). Diese Regel ist besonders streng zu beachten, wenn die Sprache des Interviews nicht die L 1 der Befragten ist; • sollen nicht nur mit ja oder nein zu beantworten sein; • sollen nicht als geschlossene Fragen gestellt werden; • sollen nicht zu viele Aspekte auf einmal ansprechen; • Insbesondere Nachfragen sollen möglichst nicht mit „warum“, „wieso“, „weshalb“ beginnen, da sie als indirekte Kritik verstanden werden können oder zur Konstruktion vorschneller Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen animieren; • Insbesondere erzählgenerierende Fragen sind daraufhin zu prüfen, ob sie Präsuppositionen, also Vorannahmen, enthalten; • Aufrechterhaltungsfragen sollen keine neuen inhaltlichen Impulse liefern, sondern zu weiteren Elaborationen führen (z. B. „Können Sie das etwas genauer erzählen? “, „Wie war diese Situation für Sie? “) oder die Erzählung voranbringen (z. B. „Wie ist es dann weitergegangen? “); • Steuerungsfragen können das Gespräch wieder zum Thema zurückführen, indem z. B. ein bereits gefallenen Stichwort aufgegriffen oder ein vorher fallengelassenes Thema wieder eingebracht wird; • Nachfragen sorgen für die Tiefgründigkeit und Reichhaltigkeit der Daten, indem z. B. um Erläuterungen und Beispiele gebeten wird (z. B. „Ich bin unsicher, ob ich das richtig verstanden habe; können Sie das bitte noch einmal erklären? “, „Können Sie bitte ein Beispiel geben? “), Zusammenhänge hergestellt werden (z. B. „Wie kommen Sie jetzt auf diesen Punkt? “) sowie 172 5. Forschungsverfahren die Genauigkeit oder Vollständigkeit überprüft wird (z. B. „Ich versuche mal zusammenzufassen, was Sie bisher gesagt haben-…“; „Sie haben also aus folgenden Gründen damals mit dem Lernen der deutschen Sprache begonnen-…? “); • Themen, die vom Interviewten nicht selbstständig angesprochen werden, sollten behutsam eingebracht werden; • Besondere Vorsicht ist bei Tabu-Fragen angezeigt. Abbildung 3 : Faustregeln für Leitfäden sowie Fragen in offenen und semi-offenen Interviews In den Sozialwissenschaften werden weitere Interviewvarianten unterschieden (vgl. Misoch 2019 ), die in der Regel ebenfalls Leitfäden vorsehen und daher den semi-offenen Verfahren zuzuordnen sind. Ihre Unterschiede liegen weniger in ihrer methodischen Ausrichtung, die je nach Begründungszusammenhang auch flexibel gehandhabt werden kann, sondern eher in ihrer Zielsetzung (z. B. Untersuchung von spezifischen Problemlagen) und Berücksichtigung hervorgehobener Teilnehmergruppen (z. B. Experten). Auch in der Fremdsprachenforschung finden einige dieser Varianten zunehmend Verwendung. Das problemzentrierte Interview Das problemzentrierte Interview (vgl. die ausführlichen und praxisorientierten Ausführungen bei Witzel 2000 ) konzentriert sich auf eine thematisch festgelegte „gesellschaftlich relevante Problemstellung“, deren „objektive Rahmenbedingungen“ vorab zur Kenntnis genommen werden (ebd.: 2 ). Es beginnt mit einer erzählgenerierenden, offen gehaltenen und vorformulierten Einstiegsfrage an den Untersuchungsteilnehmer, ist dann im weiteren Verlauf aber dialogisch geprägt. Der/ die Interviewer/ in fragt detailliert und problembezogen nach, er/ sie sondiert, bilanziert und bringt weitere Themen ein, die vorab in einem Leitfaden fixiert werden. Um die Vergleichbarkeit der Interviews zu erhöhen, können gegen Ende des Gesprächs Fragen gestellt werden, die zentrale Aspekte des Themas betreffen, aber im Gesprächsverlauf nicht angesprochen wurden. Bereits vor Beginn des Interviews werden relevante demographische Variablen mit einem Kurzfragebogen eingeholt. Das fokussierte Interview Als Variante kann das in den Sozialwissenschaften bereits länger zum Einsatz kommende fokussierte Interview (vgl. Merton/ Kendall 1993 ) gelten, das sich thematisch auf ausgewählte Aspekte einer gemeinsamen Erfahrung der Untersuchungsteilnehmer bezieht, deren subjektive Sichtweisen und Reaktionen erhoben werden sollen. Fokussiert wird die nicht konstruierte, erlebte spezifische Erfahrung der Untersuchungsteilnehmer in Bezug auf den gewählten Gegenstand. Die Aufforderung, sich an ein bestimmtes Ereignis zu erinnern, bzw. ein Gesprächsstimulus eröffnet das Interview. Dies kann beispielsweise - auf den Fremdsprachenunterricht bezogen - eingesetzte Lehr-Lern-Materialien betreffen, welche vorab zur Konstruktion eines Gesprächsleitfadens einer Inhaltsanalyse unterzogen wurden. Der weitere Gesprächsverlauf wird durch den Interviewer nicht strikt gesteuert, der Leitfaden dient lediglich als Orientierungsrahmen. Von diesen an Leitfäden orientierten Interviewformen sind offenere Formen zu unterscheiden: das narrative Interview und die Gruppendiskussion. Das narrative Interview Das narrative Interview setzt im Unterschied zu den leitfadengestützten Interviews nicht darauf, dass Themensetzungen und Impulse durch den Interviewer in das Gespräch eingebracht werden (können). In Idealform stellt es den Typ eines maximal offenen Interviews dar, der den Zielen und forschungsmethodologischen Erwägungen qualitativer Forschung am besten entspricht. Es stellt eine stärker monologisch geprägte, erzählgenerierende Interviewform dar, die in ihrem Hauptteil daraus besteht, dass auf der Grundlage einer vorformulierten Erzählaufforderung durch den Interviewer der Befragte eine längere selbstgestaltete und selbstreflexive Stegreiferzählung produziert, die durch inhärente Gestalterschließungs-, Kondensierungs- und Detaillierungszwänge idealerweise konzise und reichhaltig ausfällt. Im zweiten Teil des Interviews, in dem Nachfragen zur Haupterzählung gestellt werden, sowie im dritten Teil, dem Bilanzierungsteil, bringt sich der Interviewer stärker ein (vgl. die praxisorientierten Ausführungen zum narrativen Interview bei Lucius-Hoene/ Deppermann 2004 ). Das narrative Interview kommt insbesondere seit der Konjunktur soziokultureller Ansätze in der Fremdsprachenforschung häufiger zur Anwendung. Da narrative Interviews (insbesondere für die Stegreiferzählung) an die Untersuchungsteilnehmer hohe Verbalisierungs- und Reflexionsanforderungen stellen, die in vielen Fällen nicht vorausgesetzt werden können (z. B. aufgrund von Alter, Sprachkompetenz, Bildungshintergrund), werden in der Praxis häufig unterschiedliche Mischformen von Leitfadeninterview und narrativem Interview eingesetzt. Diese sehen dann z. B. immer wieder erzählgenerierende Impulse vor. Wie eine dem Erkenntnisinteresse folgende sinnvolle Mischform aus erzählgenerierendem Interview und leitfadengestütztem, fokussiertem und problemzentriertem Interview aussehen kann, verdeutlicht die Studie von Ehrenreich ( 2004 , insb. 150 - 156 ; s. Kap. 7 ), die Erfahrungen längerer Auslandsaufenthalte angehender Englischlehrender untersucht. Die Gruppendiskussion Die Gruppendiskussion (seltener als Gruppeninterview bezeichnet; engl. focus group interview ) stellt eine Sonderform der qualitativen mündlichen Befragung dar (vgl. Barbour 2007 ; Daase/ Hinrichs/ Settinieri 2014 : 115 - 119 ; Dörnyei 2007 : 144 - 146; zur Abgrenzung zwischen den unterschiedlichen Gruppeninterviewverfahren vgl. Misoch 2019 : 137 - 168 ), in der Gruppen (empfohlen werden mindestens sechs, maximal acht bis zwölf Personen) gemeinsam eine bis zwei Stunden über ein festgelegtes Thema diskutieren. Damit die Gesprächssituation nicht von gruppendynamischen Prozessen sowie stillschweigender Übereinkunft dominiert wird, sollten die Untersuchungsteilnehmer nicht Teil einer Realgruppe sein; das Gesprächsthema sollte sie aber als gruppenspezifisches Problem betreffen. Der Interviewer hat die Funktion eines Gesprächseröffners und Moderators, nach einer offen gestellten Einstiegsfrage sollte er sich stark zurückhalten und nur noch Zuhörersignale geben; Steuerung und Vorstrukturierung spielen insgesamt 5.2.4 Befragung 173 174 5. Forschungsverfahren eine marginale Rolle. Gruppendiskussionen erlauben im Idealfall ökologisch valide und reichhaltige Daten; sie sind als Verfahren relativ unaufwändig, was aber nicht auf den Aufwand der zeitlichen Organisation, Datenaufbereitung und -analyse zutrifft. Dörnyei ( 2007 : 145 ) empfiehlt die Erhebung von mindestens vier bis fünf Gruppendiskussionen, um ein ausreichend großes Datenkorpus zu erhalten. Alternativ kommen Gruppendiskussionen als ergänzende Methode auch im Rahmen von mixed-methods-designs zum Einsatz. Ein Beispiel hierfür stellt die Studie von Hochstetter ( 2011 ; s. Kap. 7 ) zur diagnostischen Kompetenz von Englischgrundschullehrenden dar, bei der ergänzend zu Leitfadeninterviews sog. Gruppengespräche zur Gewinnung von individualisierten Aussagen von Lehrkräften zum reflexiven Abschluss einer längeren Untersuchungsphase durchgeführt werden. Retrospektive Interviews Eine Sonderform der mündlichen Befragung stellen retrospektive Interviews dar, mit denen Befragte im Nachgang zu einer Situation oder Handlung (z. B. Befragung von Lehrkräften zu Korrekturen im Fremdsprachenunterricht) aufgefordert werden, sich laut zu erinnern und dabei Erläuterungen und Interpretationen zu liefern. Solche Verfahren können von einer medialen Untersützung stark profitieren (im Idealfall mittels videographierter Auszüge oder zumindest Audioaufnahmen oder Gesprächstranskripten). Dabei erhobene Daten unterliegen wie alle introspektiven Daten methodologischen Einschränkungen, insbesondere was die Gedächtnisleistung und Verbalisierungsfähigkeit der Befragten betrifft. Retrospektive Interviews sind zu unterscheiden von Erhebungen, bei denen simultan zu mentalen oder interaktiven Handlungen Gedanken und Emotionen von Untersuchungsteilnehmern durch Lautes Denken an die Oberfläche gebracht werden sollen (s. Kap. 5.2.5 ). Das Experteninterview ‚Quer‘ zu den aufgeführten Formen von Interviews liegt die in letzter Zeit verstärkt verwendete Form des Experteninterviews. In diesem Rahmen (vgl. Bogner/ Littig/ Menz 2014 ; Meuser/ Nagel 2009 ; Mayer 2013 : 37 - 57 ) werden Untersuchungsteilnehmer befragt, die für den gewählten Untersuchungsgegenstand als besonders kompetent gelten und soziale Repräsentanten des entsprechenden Handlungsfelds mit Gestaltungs- und Entscheidungsfunktionen sind. Ziel ist die Erhebung von Expertenwissen (Fakten-, Prozess- und Deutungswissen). Es wird u. a. zur Untersuchung organisationsstruktureller Themen (z. B. Lehrerbefragung zu Aspekten der Schulentwicklung) eingesetzt. Der Interviewer führt einen themenfokussierten Dialog und orientiert sich dabei in der Regel stark an einem Leitfaden; aber auch offenere Erzählimpulse durch den Interviewer sind möglich. Experteninterviews können als Einzelinterviews oder auch im Rahmen von Gruppendiskussionen durchgeführt werden. Zugangsprobleme bei der Rekrutierung von Untersuchungsteilnehmern sowie Steuerung und Statusbzw. Rollenklärung im Rahmen der Interviewdurchführung stellen besondere Herausforderungen dar. 5.2.4 Befragung 175 Interviewerverhalten Wie bereits deutlich wurde, kommt dem Interviewer in Bezug auf die Vorbereitung und Gestaltung des Interviews eine besondere Verantwortung zu. Ein Interview unterliegt nicht den Kommunikationsregeln eines Alltagsgesprächs (vgl. Helfferich 2011 : 46 - 48 ), bei dem die Beteiligten unterschiedliche Rollen abwechselnd übernehmen; es sollte aber gleichzeitig möglichst ‚natürlich‘ sein - dies sind Anforderungen, die immer in einem gewissen Widerspruch bleiben. Die notwendigen Kompetenzen bringen unerfahrene Interviewer in der Regel nicht mit, sie müssen durch Training und v. a. Probe-Interviews eingeübt werden; auch die Beobachtung der Interviewführung erfahrener Forscher/ innen kann dies unterstützen. Schwerpunkte dabei sollten die Gestaltung der Intervieweröffnung sein (z. B. Was sind geeignete Eingangsfragen? ), die Aufrechterhaltung des Gesprächsflusses inkl. der Fähigkeit, unter Zeitdruck passende Formulierungen zu finden (z. B. für Nachfragen und Vertiefungsfragen) sowie die Beendigung des Interviews (z. B. Sicherstellung, dass alles Wichtige aus Sicht der Untersuchungsteilnehmer und auch in Bezug auf das Erkenntnisinteresse gesagt wurde). Eine besondere Herausforderung stellt das sogenannte aktive Zuhören dar. Dies setzt eine Gesprächshaltung voraus, bei der der Interviewer eigene Mitteilungen, Bewertungen und Deutungen bei sich behält und sich völlig auf den Interviewpartner konzentriert, dem die Zeit und Ruhe für die Elaboration seiner persönlichen Sichtweisen gewährt und durchgängig Interesse daran signalisiert wird. Das Einbringen von Zuhörersignalen und Paraphrasen, das Ertragen auch längerer Pausen und das Nachfragen erst danach sind hierfür förderlich (vgl. Helfferich 2011 : 90 - 95 ). Insbesondere in leitfadengestützten Interviews ist darauf zu achten, dass nicht unbewusst durch das ‚interne Abhaken‘ des Leitfadens ein geschäftsmäßiger Stil entsteht (z. B. „Gut, danke. Ich habe da noch eine weitere Frage …“). 4 Stolpersteine Es gilt der Grundsatz: Jede Befragung beinhaltet Befragungsfehler, die teilweise unvermeidlich sind, teilweise erst bei der Datenanalyse sichtbar werden. Aus solchen Fehlern kann man selbst (und auch die scientific community ) für Folgeuntersuchungen lernen, sie sollten nicht verschwiegen und bei der Datenanalyse durchgängig reflektiert werden. Da es sich bei Befragungsdaten um Selbstauskünfte handelt, kann nie ganz ausgeschlossen werden, dass die Güte der Daten durch Selbstdarstellungseffekte (Wer gibt schon gern vermeintlich Negatives über sich preis? ), schlichtes Nicht-Wissen, Über- oder Unterforderung, Unkonzentriertheit, mangelnde Ausdrucksmöglichkeiten u. v. a. m. eingeschränkt ist. Typische Schwachstellen bei schriftlichen Befragungen Trotz aller Sorgfalt bei der Erstellung ist die Pilotierung von Fragebögen notwendig. Wird darauf verzichtet, ist dies als forschungsmethodischer Mangel festzuhalten. Schwerpunkt der Überprüfung sollten die typischerweise auftretenden methodischen Schwächen wie die folgenden sein: Frageformulierungen, Positionseffekte (z. B. Ausstrahlungseffekte von sensiblen Fragen auf andere Fragen, bei Auswahlantworten werden häufig die erstaufgeführten Elemente gehäuft angekreuzt), Neigung von Untersuchungsteilnehmern, eher 176 5. Forschungsverfahren positiv, neutral oder negativ zu bewerten (engl. response set ) - aber auch das Einsammeln von Rückmeldungen zum Layout und Länge sowie zur Administration des Fragebogens. Zum Stolperstein kann auch das Sampling der Untersuchungsteilnehmer werden (s. Kap. 4 . 3 ). Wenn v. a. auf freiwillige Teilnahme durch Selbstselektion gesetzt wird (z. B. Meldung auf Aushänge und breite Versendung von Anfragen), kann dies Rücklaufverzerrungen bedeuten und das Ergebnis der Untersuchung insgesamt verfälschen, wenn nicht nachgewiesen werden kann, dass die zustande gekommene Stichprobe hinreichend repräsentativ ist. Auch wenn geringe Rücklaufquoten in den Sozialwissenschaften als normal gelten, so sollten doch - allein aus Gründen der Minimierung von Rücklaufverzerrungen gerade bei überschaubaren Teilnehmergruppen (z. B. Lernende oder Lehrende bestimmter Schulen) - keine Mühen gescheut werden, durch persönlichen Einsatz möglichst viele Teilnehmer zu bewegen, an der Befragung teilzunehmen. Nicht ausreichend große Stichproben werden auch dann zum Problem, wenn quantitative Datenanalysen (hier: Statistik) geplant sind: Eine Mindestgrenze von 50 auswertbaren Fragebögen bzw. bei multivariaten Verfahren von 100 Fragebögen wird als Faustregel angesehen (vgl. Dörnyei 2010 : 62 - 63 ). Dass auch bei postalischer Versendung von Fragebögen gute Rücklaufquoten erreicht werden können, zeigt die Studie von Özkul ( 2011 ) zur Untersuchung der Berufswahlmotive von Anglistik-Lehramtstudierenden (s. Kap. 7). Typische Schwachstellen bei mündlichen Befragungen Bereits oben wurde ausgeführt, wie wichtig das Training des Interviewerverhaltens und das Führen von Probeinterviews sind. Trotz bester Vorbereitung wird die Rolle des Interviewers in der konkreten Interviewsituation aber immer ambig bleiben und permanent ad hoc-Entscheidungen verlagen, die retrospektiv betrachtet als Fehler erscheinen. Interviewer sollen eine gute Gesprächsatmosphäre herstellen und - je nach spezifischem Format - mehr oder weniger ausgeprägt Zurückhaltung wahren, aber auch steuernd eingreifen sowie auf Augenhöhe mit den Befragten kommunizieren. Nichtsdestotrotz bleibt die Situation asymmetrisch und die Rollenbeziehung zwischen Interviewer und Befragtem komplex; persönliche Merkmale des Interviewers bzw. der Interviewerin (Alter, Geschlecht, Sprache, akademischer und kultureller Hintergrund, unbewusst repräsentierter Habitus qua Auftreten und Kleidung) verstärken dies. Auch solche Aspekte müssen bei der Interpretation der Daten reflektiert werden. Zwei Aspekte semi-offener Interviews sollten im Vorfeld eines Interviews gesondert beachtet werden: Oft sind Leitfäden viel zu lang - auch der Leitfaden muss sorgfältig erstellt und pilotiert werden. Eine gute Möglichkeit, wie Leitfäden sinnvoll erstellt werden können, liefert Helfferich ( 2011 : 161 - 169 ) mit dem von ihr vorgeschlagenen SPSS -Prinzip (Sammeln - Prüfen - Sortieren - Subsumieren). Die von ihr vorgeschlagene Form des Leitfadens listet nicht einfach gruppierte Leitfragen auf, sondern weist inhaltlich bedeutsame Bezugspunkte aus und hält Vorformulierungen von allgemeinen Leitfragen, konkreten Fragen für Nachfragephasen sowie Aufrechterhaltungs- und Steuerungsfragen bereit, auf die während des Interviews zurückgegriffen werden kann. Der zweite Aspekt betrifft die zu interviewende Zielgruppe, deren Besonderheiten (z. B. Alter, Herkunft, sozio-ökonomisches Umfeld) bei der Auswahl einer Interviewform, dem 5.2.4 Befragung Interview individuell ↪ Leitfaden: ja / nein ↪ problemzentriert / fokussiert / narrativ + reichhaltige, tiefgründige Daten, ausführliche Darlegung von Meinungen, Erfahrungen etc. ! Prinzipien guter Interviewführung Experteninterview themenfokussierter Dialog mit Repräsentantinnen des Handlungsfeldes Fragebogen größere Personengruppen schriftlich und mündlich anonym + Strukturiertheit der Befragung, Festlegung der Fragen, präzise Formulierungen, Flexibilität im Einsatz Items ↪ Formulierung ↪ Reihenfolge der Fragen ↪ Antwortoptionen Gruppendiskussion ( focus group interview ) mehrere Personen begrenzte Zeit ein Thema Kontrolle der Erhebungssituation: hoch ─ gering ↪ Erhebung und Erhebungsinstrumente: standardisiert ─ nicht standardisiert ↪ Grad der Standardisierung der Fragen und Items: geschlossen ─ semi-offen ─ offen © 2022 ⚫ Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 178 5. Forschungsverfahren Feldzugang und bei der Interviewdurchführung kontextsensitiv zu beachten sind (vgl. Reinders 2016 zu Interviews mit Jugendlichen). Und damit es gar nicht zum Stolperstein wird, sollte der Umgang mit technischen Geräten zum Datenmitschnitt gut geübt werden; es sollten immer Geräte-Alternativen vorgehalten werden, damit technische Störungen nicht zum Datenverlust führen. Nach der Aufnahme sollten sofort Sicherheitskopien angefertigt werden. Bei der Auswahl von Geräten ist zu erwägen, wie sehr sie aufgrund ihrer Größe störend wirken können. Weitere wichtige Parameter sind die Qualität der Ton- oder Videoaufnahme sowie die Dateiformate (so sollte geprüft werden, ob spezifische Transkriptionssoftware bestimmte Dateiformate erwartet, um später Umformatierung und damit verbundene Qualitätsverluste zu vermeiden). Bei der Analyse qualitativer Interviewdaten (s. Kap. 5 . 3 . 3 - 5 . 3 . 9 ) ist zu beachten, dass Tiefe und Reichhaltigkeit der Daten nicht durch (vorschnelle) Kategorisierung und Deduktion verloren gehen (vgl. Riemer 2007 ) - dies würde die Mühe der Datenerhebung konterkarieren! › Literatur Forschungsarbeiten, in denen die hier erläuterten Verfahren angewendet werden, sind mit einem Sternchen markiert. Bailey, Kathleen M./ Ochsner, Robert (1983). A methodological review of the diary studies: windmill tilting or social science? In: Bailey, Kathleen M./ Long, Michael H./ Peck, Sabrina (Hg). Second Language Acquisition Studies . Rowley, MA : Newbury House, 188-198. Barbour, Rosaline (2007). Doing Focus Groups . Los Angeles: Sage. *Biebricher, Christiane (2008). Lesen in der Fremdsprache. Eine Studie zu Effekten extensiven Lesens . Tübingen: Narr. [Referenzarbeit, s. Kap. 7] Bogner, Alexander/ Littig, Beate/ Menz, Wolfgang (2014). Interviews mit Experten. Eine praxisorientierte Einführung . Wiesbaden: Springer VS . Daase, Andrea/ Hinrichs, Beatrix/ Settinieri, Julia ( 2014 ). Befragung. In: Settinieri, Julia/ Feldmeier, Alexis/ Gültekin-Karakoç, Nazan/ Riemer, Claudia (Hg.). 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Der Artikel in einer auf Deutsch als Fremd- und Zweitsprache fokussierten forschungsmethodischen Einführung behandelt die Grundlagen von empirischen Befragungsverfahren mit Schwerpunkt auf Fragebogen, Interview und Gruppendiskussion. Er richtet sich an Leser mit wenigen Vorkenntnissen und bietet Aufgaben und dazugehörige Lösungsvorschläge. Dörnyei, Zoltán (with contributions from Tatsuya Taguchi) (2010). Questionnaires in second language research. Construction, administration, and processing. Second edition. New York: Routledge. Mit dieser Monographie liegt eine gut lesbare und fachspezifische Einführung in die forschungsmethodischen und -methodologischen Grundlagen von Fragebogenstudien vor. Schwerpunkte liegen auf Fragen der Konstruktion von Fragebögen sowie ihrem Einsatz, aber auch auf der Auswertung von Fragebogendaten. Viele hilfreiche Tipps und Beispiele werden gegeben. Helfferich, Cornelia ( 2011 ). Die Qualität qualitativer Daten. Manual für die Durchführung qualitativer Interviews. 4. Auflage. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Die Monographie liefert gutes Handwerkszeug für alle, die vor der Herausforderung stehen, ein qualitatives Interview durchzuführen. Anders als in vielen eher forschungsmethodologisch orientierten Einführungen stehen hier Fragen der praktischen Interviewdurchführung (u. a. Vorbereitung und Organisation des Interviews, Gestaltung der Gesprächssituation, Strategien des Interviewers) im Vordergrund, wofür viele nützliche Hinweise und Reflexionsanlässe gegeben werden. Das Manual liefert auch Material für die Durchführung von Workshps zum Interviewer-Training. Misoch, Sabina ( 2019 ). Qualitative Interviews. 2 ., erweiterte und aktualisierte Auflage. Berlin/ Boston: de Gruyter. In dieser Monographie werden die in der Sozialforschung gängigsten qualitativen Interviewformen ausführlich und kritisch erläutert (u.a. narrative Interviewformen, Leitfadeninterview, problemzentriertes Interview, fokussiertes Interview, Experteninterview sowie unterschiedliche Gruppeninterviewverfahren). Ablaufmodelle der unterschiedlichen Interviewformen, Anmerkungen zur jeweiligen Rolle der Forschenden, aber auch Ausführungen zur Interviewdurchführung, -aufbereitung und -auswertung und Gütekriterien bieten vielfältige, auch forschungspraktische Hinweise. Porst, Rolf ( 2014 ). Fragebogen. Ein Arbeitsbuch. 4 . erweiterte Auflage. Wiesbaden: Springer VS Verlag für Sozialwissenschaften. Die ausführliche und mit vielen Beispielen versehene Einführung in die Fragebogenkonstruktion bietet sich hervorragend als Ergänzung zur stärker fachspezifischen Einführung von Dörnyei (2010) an. Viele Hinweise betreffen auch das strukturierte Interview bzw. sind auf dieses übertragbar. 5.2.5 Introspektion 181 5.2.5 Introspektion Lena Heine/ Karen Schramm 1 Begriffsklärung Der Begriff Introspektion wird in der Fremdsprachenforschung für die Bezeichnung von Datenerhebungsverfahren verwendet, bei denen Forschungspartner*innen durch lautes Aussprechen Einblicke in ihre Gedanken und Emotionen gewähren, die der Beobachtung normalerweise unzugänglich sind. Nach einem weiten Begriffsverständnis zählen hierzu alle Formen von Interviews und Tagebuchdaten, die ohne gezielten Bezug auf eine konkrete Handlung erhoben werden (vgl. Ericsson/ Simon 1993 : 49 - 62 ; Heine 2005 ; Knorr 2013 : 32 für Terminologiediskussionen); in der Fremdsprachenforschung herrscht jedoch ein engeres Verständnis vor, so dass hier solche Verfahren als introspektiv bezeichnet werden, bei denen gezielt Daten bezüglich einer bestimmten (mentalen oder interaktionalen) Tätigkeit erhoben werden (z. B. Strategien beim Übersetzen, fremdsprachliche Schreibprozesse, Vorgehen beim Lösen von Grammatikaufgaben, mündliche Kommunikations- und Kompensationsstrategien etc.). So kommt es, dass die Fremdsprachenforschung insbesondere Lautes Denken und retrospektive Verfahren wie stimulated recall und Lautes Erinnern unter introspektive Verfahren subsumiert. Bei diesen Verfahren werden während bzw. direkt im Anschluss an eine zu untersuchende Tätigkeit Daten erhoben (Heine 2013 : 14 ; vgl. auch Dörnyei 2007 : 147 ). 7 Lautes Denken kann dabei in Anlehnung an Knorr/ Schramm ( 2012 : 185 ) definiert werden als „die aus dem Arbeits- oder Kurzzeitgedächtnis erfolgende simultane, ungefilterte Verbalisierung einer Person von Gedanken während einer (mentalen, interaktionalen oder aktionalen) Handlung“. Durch das unreflektierte laute Aussprechen von solchen Gedanken, die den Forschungspartner*innen beim Ausführen einer Tätigkeit durch den Kopf gehen, wird möglichst ohne Beeinflussung der betreffenden Tätigkeit versucht, Einblick in die mentalen Abläufe zu erhalten. Zhang/ Zhang ( 2019 : 305 ) bezeichnen diese Form treffend als „non-metalinguistic think-aloud“. Eng verwandt damit ist das Laute Erinnern, bei dem die Verbalisierung allerdings nicht simultan, sondern erst im Anschluss an die zu untersuchende Tätigkeit erfolgt; damit liegt kein unmittelbarer Zugang zu den Gedanken während der Tätigkeit mehr vor, da Erinnerungen aus dem Langzeitgedächtnis abgerufen werden, welche mit generellen Einstellungen, Selbstbild etc. verknüpft sind („metacognitive verbal report“ nach Bowles 2010 ). Um dennoch so viele Gedanken aus der Erhebungssituation wie möglich zu reaktivieren, wird Lautes Erinnern häufig auf der Grundlage eines Videoimpulses bezüglich der zu untersuchenden Handlung (videobasiertes Lautes Erinnern) verwendet. Es kann grundsätzlich aber auch auf der Grundlage anderer Impulse (wie audiographischer oder visueller Daten sowie Tastaturprotokollen) oder aber auch ohne jeglichen Impuls erfolgen. 7 In Einzelfällen wird der Begriff Introspektion nicht als Oberbegriff, sondern mit Bezug auf das simultane Vorgehen als Pendant zum Begriff Retrospektion benutzt (vgl. Heine 2005 ). 182 5. Forschungsverfahren Einen zweiten Typ retrospektiver Datenerhebung stellen neben dem Lauten Erinnern Befragungen dar, die im Anschluss an eine konkrete Handlung auf die entsprechenden mentalen Aktivitäten der Forschungspartner*innen abzielen. Die genannten drei introspektiven Verfahren - Lautes Denken, Lautes Erinnern und retrospektive Befragungen - sollen im Folgenden genauer beleuchtet werden. 2 Lautes Denken Das Laute Denken basiert auf der Annahme, dass die Aktivierung von Gedächtnisinhalten in vielen Fällen unmittelbar mit einer verbalen Form assoziiert ist, die laut ausgesprochen werden kann (s. Abb. 1 ). Bringt man Forschungspartner*innen dazu, Inhalte des Arbeitsgedächtnisses während des Ausführens einer bestimmten Tätigkeit zu verbalisieren, so greift man auf die innere Sprache ( inner speech) zu, die - anders als die private Sprache (private speech) im Wygotskianischen Sinne - nicht selbstadressiert ist, so dass idealiter durch das laute Aussprechen auch keine Reflexion des eigenen Vorgehens angestoßen wird. Durch diese spontanen Äußerungen entsteht ein Verbalprotokoll, das typischerweise aus fragmentarischen und syntaktisch unverbundenen verbalen Daten besteht. Aus ihm kann rekonstruiert werden, worauf die Versuchsperson zu verschiedenen Zeitpunkten jeweils ihre Aufmerksamkeit gerichtet hat. Abbildung 1: Lautes Denken als lautes Aussprechen von verbalen Assoziationen von Gedanken (nach Ericsson/ Simon 1987 : 33 ) Dies bedeutet u. a., dass auf der Grundlage Lauten Denkens nur solche Gedankengänge analytisch rekonstruiert werden können, die im Arbeitsgedächtnis verarbeitet wurden; automatisierte Prozesse sind dagegen nicht zugänglich. Für Datenerhebungen ist es daher von zentraler Wichtigkeit nur solche Aufgaben und Erhebungsstimuli einzusetzen, durch die auch tatsächlich mental zugängliche und potentiell mit einer verbalen Form verbundene Abläufe angeregt werden. So eignen sich beispielsweise stark motorisch geprägte Anforderungen eher weniger, weil hier für eine Verbalisierung erst in einem künstlich hervorgerufenen Suchprozess Worte gefunden werden müssten, die normalerweise nicht mitaktiviert würden. Besser eignen sich Anforderungen, bei denen eine verbale Ebene automatisch aktiv wird, wie etwa das Verfassen von Texten oder das Betrachten von Abbildungen. Beim Lauten Denken ist daneben auch davon auszugehen, dass grundsätzlich viel weniger verbalisiert werden kann als gedacht wird, u. a. weil mehrere Prozesse parallel ablaufen. Die Möglichkeiten der quantitativen Auszählung von Phänomenen in Lautdenkdaten werden durch diesen Aspekt relativiert. Ein Risiko für die Validität von Daten Lauten Denkens besteht weiterhin darin, dass Forschungspartner*innen bewusst oder unbewusst Informationen kommunizieren, die durch die Erhebungssituation generiert worden sind, etwa indem sie angenommenen Erwartungen seitens des Forschenden zu entsprechen versuchen (Rossa 2012 spricht in diesem Zusammenhang von „Konfabulation“) und damit ihre Gedanken gegenüber einer stillen Bearbeitung verändern. Die Referenzarbeit von Arras ( 2007 ) illustriert die zentralen Komponenten einer Datenerhebung durch Lautes Denken: den sorgfältig formulierten Impuls zum lauten Aussprechen der Gedanken, das Training darin, die Rückmeldung der/ des Forschenden zu der Trainingsphase und das zurückhaltende Eingreifen während des Lauten Denkens (s. dazu genauer Heine/ Schramm 2007 ). Arras ( 2007 : 499 ) dokumentiert auch die von ihr verwendeten Instruktionen zum Verfahren des Lauten Denkens. Aufgrund der Tatsache, dass sie das Laute Denken audiographisch dokumentiert, bittet sie ihre Forschungspartner*innen, ebenfalls zu verbalisieren, welches Material (z. B. Lernertext oder Bewertungsrichtlinien) sie jeweils fokussieren; so vermischen sich in diesem Fall Lautdenkdaten mit Kommentierungen durch die Forschungspartner*innen. Da Forschende in der Regel bemüht sind, solche Konfundierungen zu vermeiden, wäre im Fall von videographischen Dokumentationen eine Aufforderung zum Zeigen auf fokussierte Textstellen oder die Triangulation mit Bildschirmprotokollen (z. B. Schnell 2020 ; Aufgebauer 2021 ) vorteilhafter als die Aufforderung zur verbalen Kommentierung. In der Regel wird in der forschungsmethodischen Diskussion zusätzlich vor dem Training auch die Darbietung eines (Video-)Beispiels oder ein Modellieren des Lauten Denkens seitens des/ der Forschenden empfohlen (s. Heine/ Schramm 2007 : 178 ; Bowles 2010 : 117 ). Weiterhin ist bei fremdsprachendidaktischen Studien mit Lernenden - anders als bei Arras’ Testbewertenden - die Wahl der Verbalisierungssprache(n) genau zu reflektieren, denn da Studien in der Fremdsprachenforschung in der Regel mit mehrsprachigen Individuen arbeiten, stehen auch immer mindestens zwei Sprachen für eine Verbalisierung zur Verfügung, die sich jedoch im Beherrschungs- und Automatisierungsgrad und der Art der Verknüpfung mit konzeptuellen Inhalten unterscheiden können (vgl. Heine 2014 ). U. a. ist davon auszugehen, dass Mehrsprachige auch gedanklich zwischen ihren Sprachen wechseln. Wird nun eine Sprache für die Verbalisierung vorgegeben, kann dies zu Suchprozessen beim lauten Aussprechen und damit zu Veränderungen der ablaufenden Gedanken führen. In Arras’ ( 2007 : 188 ) Studie erwiesen sich alle vier Probandinnen als „sehr geeignet für das Laut-Denk-Verfahren“. Dies ist jedoch nicht generell für alle Forschungspartner*innen zu erwarten, da verschiedene Menschen ihre Gedanken offenbar unterschiedlich stark mit verbalen Formen verknüpfen. So zeigen die Ergebnisse in Heine ( 2010 ), dass dieselbe Lautdenk-Anforderung für manche Individuen sehr natürlich, für andere dagegen 5.2.5 Introspektion 183 184 5. Forschungsverfahren schwer sein kann und dass Lautes Denken von einer hohen Dynamik geprägt ist, was den Grad der Reaktivität der Methode anbelangt - streckenweise weitgehend automatisiert verbalisierende Personen, die völlig versunken in die Aufgabe sind und sich nicht auf das laute Aussprechen konzentrieren, können zu anderen Zeitpunkten durchaus wieder mehr Aufmerksamkeit auf die Tatsache lenken, dass sie sich in einer Erhebungssituation befinden, und dann wieder verstärkt metakognitive und an die/ den Forscher*in adressierte Äußerungen einfließen lassen, die sie bei einer stillen Bearbeitung der Anforderung nicht hätten denken müssen. Es lassen sich damit kaum grundsätzliche Pauschalaussagen vom Typ „Lautes Denken ist keine reaktive Methode“ (wie etwa Bowles 2010 es versucht) oder „Probandin X ist ein verbaler Typ und verbalisiert ihre Gedanken problemlos“ machen. Dies deutet darauf hin, dass die mittels dieser Methode erhobenen Daten stets genau betrachtet und in der jeweiligen Auftretenssituation kritisch eingeschätzt werden müssen. 3 (Videobasiertes) Lautes Erinnern Beim Lauten Erinnern verbalisieren Forschungspartner*innen nicht simultan, sondern werden im Anschluss an die zu untersuchende Tätigkeit gebeten, sich in die jeweilige Situation zurückzuversetzen und sich an ihre Gedanken dabei zu erinnern. Hier erfolgt die Verbalisierung der Kognitionen damit nicht direkt aus dem Arbeitsgedächtnis, sondern diese müssen zuvor aus dem Langzeitgedächtnis aktiviert werden. Dieser Prozess kann während der Ausführung einer durch Lautes Erinnern immer wieder unterbrochenen Handlung erfolgen (bspw. beim Lesen das Stoppen nach jedem dritten Absatz, on-line retrospection ) oder nach Beendigung der Handlung (bspw. nach der Lektüre eines gesamten Textes, off-line retrospection ). In der Regel wird mit Blick auf die Gefahr einer abnehmenden Erinnerungsfähigkeit empfohlen, das Laute Erinnern möglichst noch am selben Tag der zu untersuchenden Handlung, spätestens aber innerhalb von 24 Stunden durchzuführen. Wie auch beim Lauten Denken wird beim Lauten Erinnern in der Regel eine Demonstration, möglicherweise auch ein Training, sowie eine Reflexion bezüglich der Verbalisierungssprache(n) und eine standardisierte Instruktion empfohlen (vgl. Knorr/ Schramm 2012 : 192 - 195 ). Werden Prozessdaten wie Audio- und Videoaufnahmen oder Tastaturprotokolle als Stimulus für die Erinnerung verwendet (vgl. Gass/ Mackey 2016 ), können die Forschungspartner*innen entweder selbst die gesamte Prozessdokumentation an für sie relevanten Stellen zur Verbalisation ihrer Erinnerungen stoppen oder es kann eine Auswahl an Stellen zum Lauten Erinnern herausgegriffen werden, wobei entweder die Versuchspersonen selbst oder der/ die Forscher*in eine Auswahl treffen. Eine Auswahl bietet sich besonders für langwierige Handlungen an, stellt alle Beteiligten aber vor zeitliche Herausforderungen, da die Retrospektion, wie oben erwähnt, möglichst bald nach Abschluss der zu untersuchenden Kognitionen durchgeführt werden sollte. Abzuwägen sind dabei auch die Möglichkeiten einer forscherseitigen, gezielten Auswahl mit Blick auf das Untersuchungsinteresse auf der einen Seite und die Auswahl seitens der Forschungspartner*innen bzw. deren Eigentümerschaft ( ownership ) der Daten auf der anderen Seite. Letztere ist aus ethischen Gründen zu empfehlen, wenn die Forschungspartner*innen Wert auf die selbstbestimmte Auswahl legen. Sie führt darüber hinaus erfahrungsgemäß aber auch zu reichhaltigeren Daten, da die Betroffenen wissen, an welchen Stellen besonders 5.2.5 Introspektion 185 intensive mentale Vorgänge stattfanden. Ein Beispiel für den Einsatz videostimulierten Lauten Erinnerns in einer DaF-Studie zu Handy-Videoprojekten ist unter methodischer Perspektive in Feick ( 2012 ) aufbereitet (s. auch Feick 2016 ). Obwohl das Laute Erinnern auf die Wiedergabe der Kognitionen zum vergangenen Zeitpunkt der Handlung ( there-and-then responses ) zielt, mischen sich in der Praxis durchaus aber nachträgliche Reflexionen ( here-and-now responses ) mit den erinnerten Gedanken, was analytisch zu identifizieren und zu berücksichtigen ist (vgl. Knorr/ Schramm 2012 ). Andere Untersuchungen richten ihr Augenmerk gerade auf die Reflexionen, die sich im Rückblick ergeben, so beispielsweise Raith ( 2011 ) bei der Untersuchung von Lehrkompetenzen von Englischreferendaren. Er nutzt Tagebücher der angehenden Lehrkräfte, um deren Reflexionen bezüglich bestimmter Unterrichtsereignisse zu erfassen, und wertet diese - wie auch die Interviews mit den Betroffenen - inhaltsanalytisch im Sinne einer Datentriangulation zu Validierungszwecken aus. Derartige Studien zur reflection-on-action im Gegensatz zu der durch Lautes Erinnern angezielten (aus dem Langzeitgedächtnis reaktivierten) reflection-in-action fallen zwar unter einen weiten, nicht aber den hier gewählten engen Begriff von Introspektion. 4 Retrospektive Befragung Unter dem (engen) Begriff der Introspektion wird neben dem Lauten Denken und dem Lauten Erinnern auch die retrospektive Befragung von Forschungspartner*innen im Hinblick auf ihre Kognitionen in Bezug auf eine spezifische Handlung subsumiert. 8 Die Referenzarbeit von Arras ( 2007 ) illustriert eine solche retrospektive Befragung, die in Triangulation mit den oben erwähnten Lautdenkdaten vorgenommen wurde. Die Autorin charakterisiert die Interviews, die sie jeweils einen Tag nach dem Lauten Denken durchführte, als problemzentrierte semistrukturierte Interviews von 90 - 140 Minuten mit dem Ziel, zum einen „zu besonders relevanten oder unklar gebliebenen Stellen des Laut-Denken-Protokolls weitere bzw. erhellende Informationen zu erhalten“ und zum anderen „anhand [der] Notizen aus den Laut-Denken-Sitzungen Fragen zu Besonderheiten zu stellen, um auch in dieser Hinsicht weitere Informationen oder Verifikation von Hypothesen zu erhalten“ (Arras 2007 : 189 - 190 ). Auch Eckerth ( 2002 ) setzt retrospektive Interviews ein, mit denen interaktive Aufgabenbearbeitungsdaten trianguliert werden. Bei dem von ihm verwendeten Mehr-Methoden-Ansatz mussten über Nacht Transkripte der Prozessdaten erstellt werden, da diese als Stimulus für die retrospektiven Befragungen dienten. Eine andere Form der retrospektiven Befragung setzte Haudeck ( 2008 ) ein, die bei einer Untersuchung von Wortschatzstrategien von Englischlerner*innen der Klassenstufen 5 und 8 innovative Audio-Tagebücher zum Einsatz bringt. Die elf offenen Fragen in ihrem Leitfaden des Audio-Tagebuchs (Haudeck 2008 : 116 ) beziehen sich größtenteils konkret auf gerade erfolgte Vokabellernprozesse, wie beispielsweise die folgenden: „Wähle aus den Wörtern, die du heute gelernt hast, zwei aus und beschreibe, wie du versucht hast, 8 Befragungen, die sich nicht auf eine spezifische Handlung (die in der Regel nicht länger als 24 Stunden zurückliegt), sondern allgemein auf Erfahrungen mit einer bestimmten Art von Handlung beziehen (s. als Beispiel die Referenzarbeit bzw. Interviewstudie von Ehrenreich 2004 ), sind diesem engen Begriffsverständnis nicht zuzurechnen (vgl. auch Kap. 5 . 2 . 4 zur Befragung). 186 5. Forschungsverfahren sie dir einzuprägen.“ oder „Welche konntest du dir nur schwer merken? Was hast du dann gemacht? “. Auf dieser Grundlage konnte Haudeck ( 2008 ) ergiebige retrospektive Daten erheben und analysieren. 5 Potenzial introspektiver Daten Die drei thematisierten introspektiven Datenerhebungsverfahren des Lauten Denkens, des Lauten Erinnerns und der retrospektiven Befragung sind in zahlreichen fremdsprachendidaktischen Studien zu kognitiven Prozessen mit einem hohen Grad an forschungsmethodischer Reflexion eingesetzt worden und haben substanzielle Ergebnisse erbracht. Obwohl die Diskussion über eine potenzielle Reaktivität und andere Validitätsprobleme der Methode noch nicht abgeschlossen erscheint (vgl. Bowles 2018; Zhang/ Zhang 2019 ), haben sich introspektive Verfahren als geeignet für ein breites Spektrum an Forschungsfragen, insbesondere als Teil von Mehrmethodendesigns, als sinnvoll erwiesen. Dennoch ist auch von pauschalen Positivurteilen bezüglich der Validität introspektiver Verfahren Abstand zu nehmen; vielmehr zeichnet sich ab, dass die durch Introspektion erhobenen reichhaltigen Datensätze im Detail zu analysieren sind und stets auch von einer streckenweisen Beeinflussung der Forschungspartner*innen durch die Datenerhebung auszugehen ist (vgl. Heine 2013 ). Diese kann wohl - selbst bei sorgfältig durchgeführter Erhebung - kaum vermieden werden und muss stattdessen bei der Analyse der Datensätze soweit wie möglich identifiziert und diskutiert werden. Notwendig hierfür ist ein grundlegendes Verständnis unterliegender kognitiver Prozesse und des Zusammenhangs zwischen Denken und Sprechen. Aktuelle forschungsmethodische Beiträge zur Introspektion wenden sich zunehmend der Frage zu, inwieweit die kognitionstheoretischen Postulate bezüglich der introspektiven Datenerhebungsverfahren aus einem soziokulturellen Paradigma oder der Perspektive der embodied cognition neu zu überdenken sind (z. B. Sasaki 2008 ; Feick 2013 ; Heine 2013 ; Knorr 2013 ; Schnell 2013; Deschambault 2018 ; Aufgebauer 2021 ). Daneben wird auch verstärkt die theoretische Basis der Introspektion in Hinblick darauf ausgearbeitet, dass für den Bereich der Fremdsprachenforschung mehrsprachige und dynamische Modelle des mentalen Lexikons notwendig sind, um die verbalen Daten adäquat erheben und interpretieren zu können (vgl. Heine 2013 ; Heine 2014 ). › Literatur Forschungsarbeiten, in denen die hier erläuterten Verfahren angewendet werden, sind mit einem Sternchen markiert. Aguado, Karin/ Heine, Lena/ Schramm, Karen (Hg.) (2013). 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Wahl der Impulse, Training der Methode, Wahl der Verbalisierungssprache, individuelle Unterschiede Introspektion im weiteren Sinne 5.2.5 Introspektion Ziel: Einblicke in normalerweise unzugängliche Gedanken und Emotionen Interviews Introspektion im engeren Sinne retrospektive Befragung Beantwortung von Interviewfragen zur Handlung ( reflectionon-action ), nach der Handlungssituation Lautes Denken Verbalisierung von innerer Sprache aus dem Arbeitsgedächtnis, simultan zur Handlungssituation Lautes Erinnern stimulated recall Verbalisierung von reflection-in-action aus dem Langzeitgedächtnis, nach der Handlung oder die Handlungssituation unterbrechend inner speech Offline- Retrospektion Online-/ Offline- Retrospektion © 2022 ⚫ Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 188 5. Forschungsverfahren *Aufgebauer, Marlene (2021). Schreiben im Kontext der Schreibprozessforschung: Dialogizität, Adressiertheit und Interaktionalität in Laut-Denk-Daten. In: Reitbrecht, Sandra (Hg.). 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The Routledge Handbook of Research Methods in Applied Linguistics . Taylor & Francis, 302-311. » Zur Vertiefung empfohlen Zhang, Lawrence J./ Zhang, Donglan (2019). Think-aloud protocols. In: McKinley, Jim/ Heath, Rose (Hg.). The Routledge Handbook of Research Methods in Applied Linguistics. Taylor & Francis, 302-311. Dieser Beitrag gibt einen Überblick zum Stand der Forschung zum Lauten Denken in der Fremdsprachenforschung, thematisiert dabei die Möglichkeiten und Begrenzungen der Methode und geht auch explizit auf Erhebungskontexte ein, in denen mehr als eine Sprache verwendet werden kann. Heine, Lena/ Schramm, Karen ( 2007 ). Lautes Denken in der Fremdsprachenforschung: Eine Handreichung für die empirische Praxis. In: Vollmer, Helmut Johannes (Hg.). Synergieeffekte in der Fremdsprachenforschung. Frankfurt/ M.: Lang, 167-206. Dieser Beitrag bietet einen Überblick über Fragen und Herausforderungen, die sich bei einer Laut-Denk-Studie im Vorfeld der Datenerhebung und während des Lautens Denkens ergeben. Weiterhin erfolgen detaillierte Überlegungen zur Transkription und einige Hinweise zur Auswertung von Laut-Denk-Daten. Knorr, Petra/ Schramm, Karen (2012). Datenerhebung durch Lautes Denken und Lautes Erinnern in der fremdsprachendidaktischen Empirie. In: Doff, Sabine (Hg.). Fremdsprachenunterricht empirisch erforschen: Grundlagen, Methoden, Anwendung. Tübingen: Narr, 184-201. In diesem forschungsmethodischen Artikel werden zwei der hier thematisierten introspektiven Erhebungsverfahren, das Laute Denken und das Laute Erinnern, ausführlich dargestellt. Nach einer kurzen Begriffsklärung behandeln die Autorinnen Aspekte wie Instruktion, Demonstration, Training, Impulsdarbietung, Datenaufzeichnung, Verbalisierungssprache und Transkription ausführlich und reflektieren abschließend kurz die Grenzen beider Erhebungsverfahren. 190 5. Forschungsverfahren 5.2.6 Erheben und Erfassen von Lernersprache und Korpuserstellung Verena Maar/ Christin Schellhardt/ Yazgül Şimşek 1 Zur Unterscheidung von Erheben und Erfassen Basis für die Analyse von Lernersprache (s. dazu Kap. 5 . 3 . 8 ) ist immer die komplexe sprachliche Einheit, der Text. Dieser kann im Zusammenhang der nachfolgenden Ausführungen sowohl medial mündlich als auch schriftlich verfasst und/ oder dokumentiert worden sein. Somit beziehen wir uns hier auf eine sehr weite Definition des Begriffes „Text“, wie z. B. Linke/ Nussbaumer/ Portmann ( 1991 : 245 ): „Ein Text ist eine komplex strukturierte, thematisch wie konzeptuell zusammenhängende sprachliche Einheit, mit der ein Sprecher eine sprachliche Handlung mit erkennbarem kommunikativem Sinn vollzieht“. Im Folgenden werden die verschiedenen Möglichkeiten thematisiert, Texte von Lernenden zu erhalten, zu dokumentieren und für die Analyse vorzubereiten. Dabei unterscheiden wir grundsätzlich zwischen Erhebung und Erfassung von Lernersprache: Charakteristisch für die Erhebung ist die Tatsache, dass Forschende gezielt eine Situation schaffen, in der Lernende Sprache produzieren müssen, z. B. in einem Experiment oder in einem Sprachtest im Rahmen eines Forschungsprojekts wie z. B. DESI (s. DESI-Konsortium 2008 ; Klieme/ Beck 2007 ). Dabei ist die Produktion von Sprachdaten i. d. R. stark kontrolliert und gesteuert. Zur Erhebung gehören auch Techniken wie das sog. stimulated recall bzw. das stimulusbasierte Laute Erinnern, wobei authentische Aufnahmen des Unterrichts den Lernenden vorgespielt und zur Reflexion über ihre Sprachfähigkeiten und Lernprozesse genutzt werden (vgl. Kap. 5 . 2 . 5 ). Erhebung wird von uns somit synonym mit dem in der Linguistik üblichen Begriff der Elizitierung verwendet. Ein Beispiel für die Erhebung von Lernerdaten liefert Eckerth ( 2003 ) in seiner Studie zu aufgabenbasierten Interaktionen. Den Kern seines Datenmaterials bilden forscherseitig initiierte Aufnahmen von Lerner-Lerner-Interaktionen während der gemeinsamen Lösung einer Aufgabe. Tests, die vor und nach der interaktiven Aufgabenlösung individuell mit den Lernenden durchgeführt wurden, und retrospektive Interviews ergänzen das Korpus. Im Gegensatz dazu bezeichnet die Erfassung von Lernersprache, dass die Forschenden auf Produkte zugreifen, die im Unterricht ohnehin entstehen, z. B. Klassenarbeiten oder Schülerpräsentationen (s. Kap. 5 . 2 . 7 ). Ein Beispiel für die Erfassung von Lernersprache stellt die Arbeit von Méron-Minuth ( 2009 ) dar. Sie ist longitudinal angelegt und beobachtet die Schülerinnen und Schüler einer Klasse, die Französisch als erste Fremdsprache lernen. Der Unterricht wird in regelmäßigen Abständen über den Zeitraum von vier Jahren in Form von Videoaufnahmen dokumentiert. Diese Videoaufnahmen geben den Unterrichtsverlauf in seiner natürlichen Form wieder und die Forscherin bleibt in der Rolle der Beobachterin. Um die erfassten Daten zu ergänzen, werden aber auch zusätzlich Protokolle der Forschenden und Lehrenden erhoben. Die Studie von Dauster ( 2007 ) zum Frühen Fremdsprachenlernen Französisch kombiniert beide Verfahren: Sie greift zum einen auf einen Datensatz von 90 erfassten Unter- 5.2.6 Erheben und Erfassen von Lernersprache und Korpuserstellung 191 richtsstunden, zum anderen auf 23 für die Studie erhobene mündliche Kurztests (sog. Père-Noël -Erhebungen) zurück. Grenzfälle zwischen Erheben und Erfassen ergeben sich dann, wenn Forschende Lehrkräfte darum bitten, in ihrem regulären Unterricht bestimmte lernersprachliche Produkte erstellen zu lassen oder, wie z. B. Bechtel ( 2003 ), den eigenen (Hochschul-)Unterricht auf die Erhebung bestimmter Daten hin ausrichten. Bei allen (Misch-)Formen von Erheben und Erfassen sind ethische Fragen, insb. die informierte Einwilligung der Lernenden, zu berücksichtigen (s. Kap. 4 . 6 ). 2 Verfahren des Erhebens und Erfassens Bei Erheben und Erfassen ist von grundsätzlicher Relevanz, ob es sich um schriftliche oder mündliche Daten handelt. Die Erfassung mündlicher Daten in Form von Ton- oder Videoaufnahmen ermöglicht, von den Forschenden ungesteuert, eine Dokumentation natürlicher Unterrichtssituationen. Sie beinhaltet aber generell das Problem, dass der entsprechende Probandenkreis durch die Anwesenheit fremder Personen und technischer Geräte in seinem Handeln dahingehend beeinflusst werden kann, dass er sich beobachtet fühlt und sich möglicherweise entsprechend anders verhält (zum Phänomen des sog. Beobachterparadoxons vgl. Bergmann 2001 , s. auch Kap. 5 . 2 . 3 ). Formen der Erhebung, wie beispielsweise die videographische Dokumentation mündlicher Präsentationen, Diskussionen oder Rollenspiele, sind mündliche Diskursarten, die sowohl von der Lehrperson natürlich eingesetzt und von den Forschenden beobachtet und erfasst werden können als auch vom Untersuchenden selbst innerhalb einer Lernergruppe gesteuert einsetzbar sind. Der Fokus auf bestimmte Diskursarten ist häufig eng mit dem Forschungsinteresse an bestimmten sprachlichen Strukturen verbunden, die in dieser Diskursart vermehrt zu erwarten sind. So wie bei der Gewinnung mündlicher Sprachdaten sollte auch bei der Erhebung bzw. Erfassung von schriftlichen Texten unbedingt beachtet werden, welche Textsorten sich für das Untersuchungsziel eignen und inwieweit das Wissen über Textmuster und Genres in die Forschungsfrage integriert werden soll. Dementsprechend wird für die erfolgreiche Erhebung einer bestimmten Textsorte eine Methode mit einer präzisen Aufgabenstellung gewählt, die für den Schreibenden möglichst einen der Textsorte angemessenen Kontext aufbaut. So müsste z. B. bei einer E-Mail den Probanden oder Probandinnen vorgegeben werden, an wen sie schreiben sollen (z. B. einen Freund oder den Vertreter einer Institution). Erst dann wird er in der Lage sein, adäquate sprachliche Mittel aus seinem Repertoire auszuwählen. Weiterhin ist bei der Erhebung von Texten in einer Fremdsprache der mögliche Einfluss kulturell bedingter kommunikativer Praktiken aus der Erstsprache zu bedenken und bei der Konzeption der Aufgabenstellung und der Analyse zu beachten. 9 Ein weiterer Aspekt, der bei der Erhebung und Erfassung von Texten - unabhängig von der Textsorte - beachtet werden muss, ist die Frage danach, ob und wie Arbeitsprozesse bei der Entstehung von Texten festgehalten werden können. Die Erhebung oder 9 Dies gilt auch für die Erhebung mündlicher Daten. Routinen der Gesprächsorganisation - sequenzielle Organisation von Bewertungen (vgl. Günthner 1993 , 2001 ; Casper-Hehne 2008 ), Komplimente, Begrüßungen und ähnliche Routinen - sind potentielle Schablonen, die durch Herkunftssprache bzw. -kultur beeinflusst sein können. 192 5. Forschungsverfahren Erfassung kann z. B. durch ein Portfolio mit allen Textentwürfen und -überarbeitungen oder durch Videoaufnahmen des Schreibprozesses ergänzt werden. Den Probanden und Probandinnen sind dann entsprechende Anweisungen zu erteilen (wie etwa „Bitte nichts ausradieren, sondern durchstreichen.“). Insbesondere bei der Entstehung von Texten am PC oder beim Umgang mit Lernsoftware können für die Forschenden sowohl non-verbale als auch verbale Kanäle relevant sein, so dass Videoaufnahmen nötig werden, die sowohl die Interaktionen der Lernenden als auch das Geschehen auf dem Bildschirm erfassen; vgl. dazu die Hinweise in der Referenzarbeit von Schart ( 2003 ) und in der Untersuchung von Schmitt ( 2007 ). Im Folgenden sollen einige Aufgaben, die in der neueren Forschung eingesetzt wurden, beispielhaft besprochen werden. Dies soll verdeutlichen, dass ein Szenario erforderlich ist, um Probanden und Probandinnen einen möglichst natürlichen kommunikativen Kontext nahezulegen. So ist es möglich, auch in Bezug auf die sprachlichen Repertoires der Probanden und Probandinnen möglichst aussagekräftige Daten zu erhalten. Bei den einzelnen Instrumenten der Datenerhebung sind zunächst die jeweiligen Aufgabenstellungen und die dafür jeweils geeigneten Stimuli relevant, wobei unter Stimulus der Anlass zu verstehen ist, den man den Probanden und Probandinnen gibt, damit sie diesem Input entsprechend eine Handlung ausführen können. Setzt man beispielsweise eine Karte oder ein Wimmelbild als Stimulus ein, kann die Aufgabe lauten, dass der Proband bzw. die Probandin die einzelnen in der Karte bzw. im Wimmelbild dargestellten Elemente wiedergeben soll (Beschreibung des Stimulus) oder dass er bzw. sie einen Weg von Punkt A zu Punkt B in der Karte beschreiben soll bzw. auf Basis des Wimmelbildes eine Geschichte erzählen soll (Aufbau eines Szenarios mit Hilfe des Stimulus). Innerhalb eines eher freien Rahmens wie im letzten Fall können die entstehenden Texte erhebliche Unterschiede in der Textstruktur und in den Inhalten aufweisen, was eine Auswertung und Analyse unter Umständen erschweren kann. Andererseits führt die größere Freiheit bei der Umsetzung der Aufgabe dazu, dass die Aufgaben von Probanden und Probandinnen als natürlichen kommunikativen Zwecken ähnlicher wahrgenommen und die Lösungen entsprechend den eigenen Kompetenzen und Interessen produziert werden. Die Textsorten, die im Rahmen solch variabler Szenarien erhoben werden können, gehen über Erzählungen und Bildbeschreibungen hinaus; Berman und Verhoeven ( 2002 ) erheben beispielsweise auch expositorische Texte: Im sog. Spencer Project wird Schülerinnen und Schülern ein vierminütiger Stummfilm als Stimulus gezeigt, der unterschiedliche negative Schulereignisse (Mobbing, Spicken u. Ä.) szenisch darstellt. Anschließend sollen die Schülerinnen und Schüler die zweiteilige Frage beantworten, ob sie auch schon einmal Derartiges erlebt haben (Erhebung eines narrativen Textes) und was sie denn von derartigen Verhaltensweisen und Vorkommnissen halten (Erhebung eines expositorischen Textes im Original expository text ). Innerhalb eines ähnlich freien Rahmens erheben Cantone und Haberzettl ( 2009 ) einen argumentativen Text, indem sie Probanden und Probandinnen bitten, ihre Meinung zum Thema „Handyverbot in der Schule“ schriftlich zu formulieren. Je nachdem, wie das Szenario ausgestaltet wird, lassen sich unterschiedliche Textsorten erheben, an denen jeweils unterschiedliche sprachliche Merkmale untersucht werden können (weitere Beispiele für ein Erhebungsinstrument mit ähnlich freier Aufgabenstellung vgl. Knapp 1997 ; Petersen 2014 ). 5.2.6 Erheben und Erfassen von Lernersprache und Korpuserstellung 193 Vergleichbare Szenarien lassen sich auch zunächst als mündliche Rollenspiele einführen, an die sich dann die Schreibaufgabe anschließt (vgl. Mayr/ Mezger/ Paul 2010 ). Macht man zusätzlich Audio- oder Videoaufnahmen solcher Rollenspiele, sind Analysen möglich, die die dialogischen Lösungen der Lernenden zu den schriftlichen Sprachprodukten in Beziehung setzen. Dabei muss allerdings bedacht werden, dass komplexe Szenarien nicht in jeder Lerngruppe gleichermaßen gut umsetzbar sind, da Probanden und Probandinnen Schwierigkeiten haben können, sich in Situationen hineinzuversetzen, mit denen sie in ihrem Alltag nicht vertraut sind. In solchen Fällen sind Ausweichlösungen zu finden, wie beispielsweise eine Inszenierung, in der man die Situation von Dritten spielen lässt (vgl. das Forschungsprojekt OLDER 10 ). Hinweise zur Durchführung Bei der Gewinnung von Daten, besonders im Schulkontext, sind einige rechtliche und organisatorische Hinweise zu beachten, die für das Gelingen des Projektes von entscheidender Bedeutung sein können. Hat der Forschende sich für eine Forschungsfrage und einen dazugehörigen Erhebungskontext entschieden, sollte zunächst ein detaillierter Ablaufplan erstellt werden. Besonders bei der Arbeit in Schulen ist zu beachten, dass dazu oftmals Genehmigungen bei Schulbehörden oder anderen dafür zuständigen Einrichtungen einzuholen sind. Diese sollten mit genügend Vorlaufzeit beantragt werden. Bei minderjährigen Probanden und Probandinnen ist zudem eine Einverständniserklärung der Eltern vonnöten, genauso wie von allen Teilnehmenden die Genehmigung, die erhaltenen Daten für wissenschaftliche Zwecke verwenden und veröffentlichen zu dürfen. Führt man die Erhebung/ Erfassung nicht selbst oder nicht alleine durch, ist darauf zu achten, die Mitarbeitenden entsprechend zu schulen. Gerade wenn den Probanden und Probandinnen eine Aufgabe gestellt wird, sollten die Formulierungen und das Szenario möglichst immer gleich sein (also auch schriftlich ausformuliert), um später eine maximale Vergleichbarkeit der Daten zu gewährleisten. Zudem sollte die Durchführung, falls möglich, vorher getestet und geübt werden. Eine solche Pilotierung verschafft dem Forschenden die Möglichkeit, Instrumente und Anweisungen auf ihre Funktionalität zu überprüfen und eventuell fehlende oder unklare Informationen zu überarbeiten. Grundsätzlich sollten alle Arbeitsmaterialien ausreichend vorhanden sein und technische Geräte auf ihre Funktionstüchtigkeit getestet werden. Es ist wichtig, sich auch auf den Fall vorzubereiten, dass Geräte ausfallen könnten. Nach der Erhebung/ Erfassung muss sichergestellt werden, dass die Daten schnell und in unterschiedlichen Formaten gesichert werden. Rechtzeitig sollte über Form und Art der Anonymisierung der gewonnenen Daten nachgedacht werden. 10 Forschungsprojekt OLDER = Orale und literale Diskursfähigkeiten - Erwerbsmechanismen und Ressourcen, unter der Leitung von Uta M. Quasthoff ( 2002 ff.); Projektbeschreibung unter http: / / home.edo.tu-dortmund.de/ ~older/ Kurzbeschreibung.html ( 30 . 12 . 2021 ). 3 Aufbereitung der gewonnenen Daten Datenbanken und Transkriptionssoftware Bevor man beginnt, die gewonnenen Daten zu analysieren, müssen sie zunächst gesichert und verarbeitet werden. Gegenüber Kopien bietet sich das Scannen zur Datensicherung schriftlicher Texte besonders an, da sie somit digitalisiert sind und unter Umständen in den späteren Analyseprozess eingebunden werden können. Für eine detaillierte Analyse kann es jedoch auch notwendig sein, die Lernertexte in der vorliegenden Form möglichst originalgetreu abzutippen. Bei Audio- und Videoaufnahmen gestaltet sich die Datensicherung schwieriger. Hier ist zunächst zu empfehlen, die Dateien auf mehreren Datenträgern (z. B. externe Festplatte, Server) zu sichern und diese dann weiter zu verarbeiten. Bei größeren Datenmengen empfiehlt sich der Gebrauch von Datenbanken. Dies gilt insbesondere für die meist umfangreichen Meta-Datensätze, wie z. B. Angaben zu Alter, Sprachlerndauer und Erhebungskontext. Mit Hilfe der heutzutage einfach zu erstellenden Datenbanken kann man die Daten nach präzise auf das Forschungprojekt abgestimmten Kriterien durchsuchen. Ein solches Datenbanksystem stellt die kommerzielle Datenbanksoftware FileMaker dar, die Waggershauser ( 2015 ) in ihrer ethnographischen Untersuchung russischer Zweitsprachenlernender bespielsweise dazu nutzt, im Alltag von Integrationskursteilnehmenden erfasste literale Artefakte zusammen mit ihren entsprechenden Beobachtungsnotizen digital aufzubereiten. Durch umfassende einfache und kombinierte Suchabfragen und Gestaltungsmöglichkeiten können umfangreiche Informationen ausgewertet werden. Das Programm erlaubt den In- und Export von Daten in gängigen Datenformaten und ist somit flexibel. Die sehr aufwändige Arbeit des Transkribierens (siehe Kap. 5 . 3 . 7 sowie auch Mempel/ Mehlhorn 2014 ) kann durch die Nutzung von Transkriptionssoftware erleichtert werden, die zu großen Teilen auch frei zugänglich ist. Den verschiedenen Programmen gemeinsam ist die Einbindung eines Audio- oder Videopanels und eines Texteditors in einer Benutzeroberfläche. Sie unterscheiden sich unter anderem hinsichtlich der bearbeitbaren Datenformate, der Kompatibilität mit anderen Programmen, den Ausgabeformaten und der Möglichkeit der Einbindung in Analyseprogramme (vgl. Moritz 2011 : 28 ). Im Folgenden sollen einige in der fremdsprachendidaktischen Forschung eingesetzte Transkriptionsprogramme vorgestellt werden. Darüber hinaus bietet das Gesprächsanalytische Informationssystem GAIS Informationen und Hinweise von der Aufnahme der eigenen Daten bis hin zur Korpuserstellung. 11 Das Transkriptionsprogramm F 4 bzw. F 5 unterstützt das Transkribieren von Audio- oder Videodateien. Das Audiopanel ermöglicht die einfache Handhabung des Datenmaterials durch eine variable Abspielgeschwindigkeit und frei wählbare Rückspulintervalle. Das Einfügen von Zeitmarken ermöglicht den schnellen Rückbezug zum Datenmaterial. Dieses Programm ist inbesondere für grobe Transkiptionen geeignet. Bei FOLKER handelt es sich um eine Transkriptionssoftware, welche für das Projekt „Forschungs- und Lehrkorpus gesprochenes Deutsch“ des Instituts für deutsche Sprache 11 Siehe http: / / prowiki.ids-mannheim.de/ bin/ view/ GAIS/ ( 11.05.2021 ). 194 5. Forschungsverfahren 5.2.6 Erheben und Erfassen von Lernersprache und Korpuserstellung 195 Mannheim ( IDS ) entwickelt wurde. Es stellt eine Benutzeroberfläche zur Transkription ausschließlich auditiver Daten nach der Transkriptionskonvention GAT 2 12 dar. Dabei hat der Nutzer die Wahl zwischen der für GAT typischen Segmentschreibung, der Partiturnotation oder der Beitrags-Ansicht. Die Implementierung eines Audioplayers sowie die Darstellung des Sprachsignals durch ein Oszillogramm ermöglichen eine präzise Auswahl von Zeitmarken und zu transkribierender Segmente (vgl. Schmidt/ Schütte 2016 : 3 ). Auch wenn in FOLKER selbst keine linguistischen Annotationen des Datenmaterials vorgesehen sind, können mit FOLKER erstellte Transkripte für weitere Analysen unproblematisch in ELAN, Praat oder EXMAR a LDA eingebunden werden. Darüber hinaus wurde ergänzend zu FOLKER OrthoNormal entwickelt, welches die orthographische Normalisierung von Transkripten unterstützt. 13 Andere Programme stellen sogenannte Mehrzweckeditoren dar, die nicht nur eine Oberfläche zur Transkription anbieten, sondern gleichzeitig die technischen Rahmenbedingungen zu weiteren Analysen bereitstellen. Im Folgenden werden die am weitesten verbreiteten Mehrzweckeditoren vorgestellt. ELAN ist das Transkriptions- und Annotationsprogramm des Max-Planck-Instituts für Psycholinguistik der Universität Nijmegen und wurde speziell zur Verarbeitung und Analyse multimodaler Daten entwickelt (vgl. Tacchetti 2013 : iv). Die Transkription wird gemäß der HIAT-Konventionen durchgeführt (vgl. Moritz 2011 : 29 , Rehbein et al. 2004 sowie Kap. 5 . 3 . 7 ). ELAN stellt über die reine Transkriptionsoberfläche hinaus eine Struktur zur linguistischen Analyse bereit, mittels derer beliebig viele Spuren für Annotationen angelegt werden können, die voneinander abhängig sein oder auf einander bezogen werden können (vgl. Tacchetti 2013 : 16 ). Das CHILDES -System wurde im Rahmen des CHILDES -Projektes unter Leitung von Brian MacWhinney entwickelt. Dabei handelt es sich um ein dreiteiliges System, welches Werkzeuge zur Transkription, Analyse und Korpusverwaltung zur Verfügung stellt. Für die Erstellung der Transkripte und Annotation des Sprachmaterials wird die Transkriptionskonvention CHAT genutzt. Die in CHAT erstellten Transkripte können mittels des CLAN -Analyse-Werkzeugs in die Datenbank aufgenommen werden (vgl. MacWhinney 2000 : 9 ). EXMAR a LDA ist ebenfalls ein System verschiedener Werkzeuge zur Transkription und Annotation gesprochener Sprache sowie der Korpuserstellung und -abfrage. Es besteht aus dem Partitur-Editor, der mit dem implementierten Audioplayer sowie dem integrierten Oszillogramm die Transkription des Datenmaterials nach den verschiedenen gängigen Transkriptionskonventionen sowie beliebig viele Annotationen ermöglicht. Der Corpus- Manager ( COMA ) unterstützt die Erstellung von Korpora aus EXMAR a LDA -Transkripten (aber auch aus Transkripten, die in FOLKER , ELAN oder CHAT erstellt wurden) und die Anreicherung der Sprachdaten mit den unterschiedlichsten Metadaten (vgl. Schmidt 2017 : 9 - 10 ). Mittels des Suchwerkzeugs EXAKT lassen sich Korpora nach sprachlichen Phänomenen in den transkribierten und annotierten Spuren durchsuchen (vgl. Schmidt 2017 ). 12 Für Informationen zu GAT 2 siehe Kap. 5 . 3 . 7 und Selting/ Auer 2009 . 13 Siehe https: / / exmaralda.org/ de/ orthonormal-de/ ( 11.05.2021 ). 196 5. Forschungsverfahren Zur Aufbereitung von Videomaterial ist das Programm Transana besonders geeignet. Dafür hält die an der Universität Wisconsin-Madison entwickelte Analysesoftware ausführliche Bearbeitungs- und Verwaltungsmöglichkeiten bereit. Audiofiles und Videos können in für die Analyse relevante Clips geschnitten und anschließend je nach Bedarf passend zusammengestellt werden. Die Option einer Team-Version ermöglicht eine direkte und einfache Zusammenarbeit von Projektgruppen. Während die genannte Transkriptionssoftware in der Regel für linguistische Fragestellungen genutzt wird, bietet sich für das thematische Kodieren von inhaltlichen Aspekten der Lernersprache das Programm MAXQDA an. Die Möglichkeit, Video- und Audiotranskripte durch Zeitmarken mit der Videobzw. Audiospur zu verknüpfen, erlaubt einen guten Überblick über das Datenmaterial. Korpuserstellung und -verwaltung Sind die gewünschten Daten elizitiert und verarbeitet worden, kann man sie zu einem Korpus zusammenstellen. Bei einem Korpus handelt es sich prinzipiell um eine „[e]ndliche Menge von konkreten sprachlichen Äußerungen, die als empirische Grundlage für sprachwiss[enschaftliche] Untersuchungen dienen“ (Bußmann 2008 : 378 ). Dabei bilden Größe, Inhalt, Beständigkeit und Repräsentativität die wichtigsten Kriterien zum Aufbau eines eigenen Korpus (vgl. Scherer 2006 : 5 - 10 ). Wie ein Korpus konkret beschaffen ist, hängt vor allem von der spezifischen Fragestellung ab (vgl. Bußmann 2008 : 378 ; Scherer 2006 : 56 ). Unter Berücksichtigung der Parameter, die man im Rahmen der Untersuchung miteinander vergleichen möchte, kann die Bildung von sog. Subkorpora nützlich sein. Dabei handelt es sich um Teile des Gesamtkorpus, die anhand ausgewählter Metadaten extrahiert wurden. Möchte man beispielsweise die Lernprogression von Lernenden des Englischen im Rahmen des Fremdsprachenunterrichts untersuchen und liegen Daten von Lernenden vor, die unterschiedlich lange Unterricht in dieser Sprache erhalten haben, dann könnte die Dauer des Fremdsprachenunterrichts ein wesentliches Kriterium zur Bildung von Subkorpora sein. Grundsätzlich sollte aber kritisch überlegt werden, ob sich der Aufwand der Einrichtung von Teilkorpora für die Beantwortung der Forschungsfrage lohnt (vgl. Scherer 2006 : 57 ). Prinzipiell kann ein Korpus sowohl in digitaler als auch in analoger Form erstellt und ausgewertet werden (vgl. Scherer 2006 : 57 ). Der Nutzen, den ein computerverarbeitetes Korpus bietet, muss gegen den Aufwand der Digitalisierung abgewogen werden. Für eine computergestützte Verarbeitung der Korpusdaten spricht grundsätzlich die Möglichkeit der mehrfachen Speicherung und damit der Sicherung der Daten und Analysen. Darüber hinaus bietet ein gut zugängliches Korpus durch unkomplizierte Suchabfragen die Möglichkeit Forschungsfragen zu variieren oder zu erweitern (s. dazu genauer Kap. 5 . 3 . 9 ). Unabhängig von der Digitalisierung von Korpora können die enthaltenen Daten in Primär-, Sekundär- und Tertiärdaten unterschieden werden (vgl. Draxler 2008 : 13 ). Primärdaten sind sprachliche Rohdaten. Dabei kann es sich um Ton- oder Videoaufnahmen gesprochener Sprache oder um Scans handschriftlich verfasster Texte handeln. Sekundärdaten hingegen sind alle Verarbeitungsstufen dieser sprachlichen Rohdaten. Damit sind die Transkriptionen mündlicher oder schriftlicher Texte gemeint sowie alle Arten von 5.2.6 Erheben und Erfassen von Lernersprache und Korpuserstellung 197 linguistischen Annotationen. Bei Tertiärdaten handelt es sich um alle Metadaten bezüglich der einzelnen Texte des Korpus, wie Entstehungskontext, intendierte Textsorte, Entstehungszeit, Sprache usw., sowie bzgl. der Textproduzenten, wie Alter, Geschlecht, Lernerbiographie usw. Mithilfe von Metadaten können die im Korpus vorhandenen Sprachdaten dokumentiert und damit für andere Nutzer nachvollziehbar gemacht werden. Außerdem können Metadaten für die Zusammenstellung von Subkorpora nach einzelnen Kriterien herangezogen werden (vgl. Lemnitzer/ Zinsmeister 2010 : 48 ). Primärdaten sind grundsätzlich unveränderlich, während Sekundärdaten immer wieder verändert und überarbeitet werden können. So können Transkriptionen schrittweise erweitert bzw. spezifi ziert werden oder es können immer neue Annotationsebenen hinzugefügt werden (vgl. Draxler 2008 : 13 ). Im Folgenden wird am Beispiel von EXMAR a LDA gezeigt, wie ein digitales Korpus erstellt werden kann. Mithilfe des EXMAR a LDA Corpus-Managers (Coma) können EXMA- R a LDA -Transkripte mit Metadaten versehen und zu Korpora zusammengestellt werden. Anhand dieser Metadaten können die Daten in Coma durchsucht und zu Teilkorpora zusammengestellt werden. 14 Abbildung 1: Datenansicht im Corpus Manager (Quelle: Online-Hilfe für Coma) Zum Erstellen eines Korpus aus EXMAR a LDA -Transkripten stellt das Tool einen Assistenten bereit, der in sechs Schritten durch die Korpuserstellung führt. Zunächst gilt es den Speicherort der zu erstellenden Coma-Datei auszuwählen und damit gleichzeitig den Ord- 14 Ausführliche Anleitungen zur Arbeit mit dem Corpus-Manager Coma und zum Erstellen von Korpora sind online verfügbar. 5.2.6 Erheben und Erfassen von Lernersprache incl. Korpuserstellung ! Einverständniserklärung(en), Datenschutzvereinbarung, Vorlaufzeit, Schulung, Pilotierung ... sichern und aufbereiten. digitalisieren - Ablagesystem ✓ dokumentieren - Datenbank ✓ nutzbar machen - Korpus ✓ anonymisieren - Siglen ✓ transkribieren - Konventionen ✓ annotieren - Kriterien ✓ Daten gewinnen, ... Erhebung (auch: Elizitierung) gezielter Sprachproduktion in stark kontrollierter Situation → Experiment, Test, stimulated recall Erfassung sprachlicher Produkte der Unterrichtsrealität → Klassenarbeiten, Vorträge mündlich: Audio/ Videoaufnahmen Beobachtungsparadoxon schriftlich: Textprodukte, Portfolios Aufgabenstimulus Korpus digital analog erstellen verwalten auswerten analysieren ggf. bereitstellen z.B. IDS Tertiärdaten Zusatzinformationen und Metadaten Sekundärdaten Transkript, Annotation Primärdaten Audio, Video, Scans, Kopien © 2022 ⚫ Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 5.2.6 Erheben und Erfassen von Lernersprache und Korpuserstellung 199 ner zu bestimmen, in dem sich die korpusrelevanten Transkripte befinden. Anschließend werden die Dateien ausgewählt, die für das zu erstellende Korpus relevant sind und die in einem weiteren Schritt segmentiert werden sollen. Daraufhin können Metadaten, die bereits in den Transkripten enthalten sind, für die Korpusdatei ausgewählt oder bewusst davon ausgeschlossen werden. Ebenso kann auch mit den an der Kommunikation beteiligten Personen verfahren werden. Die erzeugte Datei kann anschließend in Coma geöffnet werden (s. Abb. 1 ). Im Reiter „Daten“ können Metadaten zu Gesprächsereignissen, Sprechern, Transkripten und Aufnahmen eingegeben und selektiert werden. Auf der linken Seite werden alle im Korpus befindlichen Kommunikationen dargestellt. Auf der rechten Seite werden alle in den Korpusdaten beteiligten Personen aufgeführt. Durch Auswahl einzelner können Metadaten zu Kommunikationen oder Personen angelegt werden. Abbildung 1 zeigt in der Mitte die für die Kommunikation „Rudi Völler: Wutausbruch“ eingetragenen Metadaten, die an dieser Stelle auch bearbeitet werden können. Ferner sind hier auch Verknüpfungen zwischen Kommunikationen und Personen möglich. Durch die Nutzung von Filtern kann die Anzeige der Korpusdateien eingeschränkt werden. Hat man das Korpus entsprechend eines oder mehrerer Parameter gefiltert, können über das Einkaufswagen-Symbol die ausgewählten Datensätze in den Korpus-Korb abgelegt werden, wo diese dann als Teilkorpora gespeichert werden können. Wie auch die Entscheidung für eine Methode zur Datengewinnung hängen die Auswahl und Art der Zusammensetzung eines Lernerkorpus von der Fragestellung ab, die an die Daten des Korpus gestellt wird (vgl. Lüdeling 2008 : 121 ). Faktoren wie der Sprachstand der Lernenden, ihre L 1 , die Aufgabenstellung oder Umstände und Entstehungskontext der Daten können als Parameter zur Korpuszusammenstellung herangezogen werden (vgl. Lüdeling 2008 : 122 ; Granger 2002 : 9 ). Diese Kriterien sollten in den Metadaten dokumentiert sein, um die Erstellung des Korpus transparent und damit für jeden nachvollziehbar zu machen und gleichzeitig die Bildung von Teilkorpora nach anderen Parametern zu ermöglichen. Hilfreich dabei ist eine ausreichend intensive Dokumentation der Metadaten der Textproduzenten, zum Beispiel mittels Fragebogen. Für die Erstellung von Metadaten gibt es verschiedene Standards, die die Bildung von Teilkorpora oder auch den Austausch von Korpora vereinfachen (s. dazu Lemnitzer/ Zinsmeister 2010 : 48 - 50 ). Bezüglich der Durchführung der an die Korpuserstellung anschließenden Datenanalyse gibt es neben inhaltlichen auch zahlreiche technische Aspekte zu berücksichtigen (Näheres dazu in Kap. 5 . 3 . 8 und 5 . 3 . 9 ). In Anbetracht des enormen Aufwandes beim Erheben und Erfassen lernersprachlicher Daten und aller damit verbundenen Fallstricke ist die Bereitstellung solch aufwändig erarbeiteter Korpora für die weitere Entwicklung der fremdsprachendidaktischen Forschung wünschenswert, damit auch andere Forschende diese für weitere Untersuchungen und Fragestellungen nutzen können, wie beispielsweise im Fall der videobasierten Studie von Ricart Brede ( 2011 ) geschehen. 200 5. Forschungsverfahren › Literatur Forschungsarbeiten, in denen die hier erläuterten Verfahren angewendet werden, sind mit einem Sternchen markiert. *Bechtel, Mark (2003). Interkulturelles Lernen beim Sprachenlernen im Tandem. Eine diskursanalytische Untersuchung . Tübingen: Narr. Bergmann, Jörg R. (2001). Das Konzept der Konversationsanalyse. In: Brinker, Klaus/ Antos, Gerd/ Heinemann, Wolfgang/ Sager, Svend F. (Hg.). Text- und Gesprächslinguistik: Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung . 2. Halbband. 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Empirische Forschungsmethoden für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Paderborn: Schöningh, 243-254. In diesem einführenden forschungsmethodischen Beitrag finden sich praxisnahe Hinweise zur Vorbereitung von Videoaufnahmen im Klassenzimmer sowie zur tatsächlichen Erhebung und zur Transkription. Daneben werden auch Themenfelder videobasierter Unterrichtsforschung und unterschiedliche Ansätze zur Analyse von Videodaten vorgestellt. 5.2.7 Erfassen von unterrichtsbezogenen Produkten Daniela Caspari Die verschiedenen Erhebungsverfahren dienen i. d. R. dazu, Texte und Dokumente zu gewinnen, mit denen eine zuvor definierte Forschungsfrage bearbeitet werden soll. In diesem Kapitel wird für das umgekehrte Vorgehen plädiert, nämlich von Texten bzw. Dokumenten auszugehen, die nicht extra erhoben werden müssen, sondern bereits vorhanden sind. Gemeint sind damit halboffizielle und private Dokumente (s. Kap. 5 . 2 . 1 ), die tagtäglich in Lehr-/ Lernsituationen bzw. in ihrem direkten Umfeld (z. B. Fachkonferenz, Fachseminarleitertreffen) entstehen. Während in Kapitel 4 . 1 zwischen (wissenschaftlichen) Texten und (anderen) Dokumenten unterschieden wird, werden die beiden Begriffe im Folgenden synonym verwendet. Bezeichnet werden damit die vor, während und nach dem Unterricht tagtäglich in großer Zahl entstehenden sog. unterrichtsbezogenen Produkte, z. B. Unterrichtsplanungen, Tafelbilder, Hospitationsnotizen, Blog-Einträge, Präsentationen, Gedichte, Plakate, Podcasts, Portfolios, Rollenspiele, Padlets usw. Alle diese, von Lerner*innen, Lehrer*innen, Referendar*innen, Eltern und anderen Akteur*innen in den unterschiedlichen institutionellen Lehr-/ Lernkontexten verfassten Texte können als Dokumente gesammelt und unter den verschiedensten Fragestellungen in der fremdsprachendidaktischen Forschung untersucht werden. Dies gilt auch für Produkte, die im Kontext der Hochschule, z. B. in Sprachpraxiskursen oder in der fachdidaktischen Lehre entstehen. Bislang ist außerhalb historischer Forschung (s. Kap. 3 . 1 ) jedoch nur punktuell, z. B. im Rahmen der Fehlerforschung oder bei der Erforschung kreativer Verfahren, darüber nachgedacht worden, welches Potenzial für die Erforschung des Fremdsprachenunterrichts in ihnen steckt. Da diese Dokumente bereits existieren, besteht das Ziel dieses Kapitels nicht darin, bestimmte Erhebungsverfahren zu beschreiben (Hinweise zur Sammlung solcher Produkte und zur Korpusbildung s. Kap. 5 . 2 . 1 ), sondern es will dafür werben, dass die genannten unterrichtsbezogenen Produkte in ihrem Wert für die Forschung erkannt und genutzt werden. Dabei wird man zumeist von einer Forschungsfrage aus entsprechende Dokumente gezielt sammeln; es ist allerdings - anders als sonst im Forschungsprozess üblich - auch möglich, dass man erst über die Dokumente verfügt und anschließend eine dazu passende Forschungsfrage entwickelt oder ein Forschungsinteresse auf die vorhandenen Produkte hin konkretisiert. 5.2.7 Erfassen von unterrichtsbezogenen Produkten 203 1 Eingrenzung und Abgrenzung unterrichtsbezogener Produkte Unter unterrichtsbezogenen Produkten werden im Folgenden die unterschiedlichsten Formen schriftlicher, mündlicher, graphischer und multimodaler Texte verstanden, die in unterrichtlichen Arrangements oder in direktem Zusammenhang mit ihnen entstehen. Die erfassten Texte können die von Lerner*innen, Lehrpersonen, Ausbilder*innen oder anderen direkt am Lehr-/ Lernprozess beteiligten Akteur*innen erstellt werden. Sie können in Vorbereitung auf den Unterricht (z. B. vorbereitende Hausaufgaben oder Stundenplanungen), während des Unterrichts im Klassenzimmer, in digitaler Lehre oder an außerschulischen Lernorten (z. B. kreative Texte, Standbilder, Interviews, Wikis, Umfragen, Wortwolken) oder nach dem Unterricht (z. B. Lehrtagebücher, Projektarbeiten) entstehen. Zu unterrichtsbezogenen Produkten zählen ebenfalls Texte, die als intendiertes Ergebnis von unterrichtlichen Lernprozessen erhoben werden (z. B. Klassenarbeiten oder Prüfungen incl. der Kommentare und Beurteilungen). Ebenfalls dazu zählen Texte, die von (angehenden) Lehrpersonen oder Ausbilder*innen in Zusammenhang mit der Vor- und Nachbereitung von Unterricht bzw. in der Diskussion über das Fach und seinen Unterricht entstehen (z. B. Alternativaufgaben, Beurteilungsraster, Fortbildungsmaterialien). Die folgenden Übersichten sollen - ohne Anspruch auf Vollständigkeit - die Fülle und die Vielfalt dieser unterrichtsbezogenen Lerner*innen- und Lehrer*innentexte verdeutlichen. Die vorgenommene Einteilung der Lerner*innentexte sortiert nach Medium (mündlich - schriftlich) und Textsorte bzw. Genre des Produktes, an zwei Stellen auch nach der didaktischen Funktion. Die Lehrer*innentexte unterscheiden sich nach Entstehungsort und nach der Funktion. Innerhalb der Rubriken wurde - wenn möglich - nach steigender Komplexität angeordnet. Neben der Verwendung unterschiedlicher Kategorien besteht eine Unschärfe darin, dass viele Textsorten nicht eindeutig definiert und dass Mehrfachzuordnungen möglich sind. Außerdem sind für viele Textsorten inzwischen auch multimodale Realisierungsmöglichkeiten entwickelt worden. Für die Zielsetzung, (forschenden) Lehrpersonen und Forscher*innen die Vielfalt und Fülle der vorliegenden bzw. möglichen Produkte bewusst zu machen, erscheint dieser Systematisierungsvorschlag jedoch ausreichend. 204 5. Forschungsverfahren mündlich - monologisch - Beschreibungen (Bilder, Personen, Wege) - Erzählungen - Märchen - Witze - Statements - Berichte - Argumentationen - Reden mündlich - diabzw. multilogisch - Gespräche, z. B. während Partner- und Gruppenarbeit, im Tandem - Diskussionen (auch: Einzelbeiträge) - Interviews, Umfragen - Rollenspiele - Debatten - mdl. Sprachmittlung mündlich - theatral - Standbilder - Spielszenen - Sketche - Rezitationen - Songs/ Chansons mündlich - medial unterstützt - Referate, Präsentationen schriftlich - kleine Formen - Notizen - Listen, Tabellen - Statistiken (auch: Fehlerstatistik) - Mindmaps, Cluster, Wortwolken - Wörterbilder, Wörternetze - Grammatikregeln - Beispielsätze - Slogans - Kurznachrichten - Rätsel (z. B. Kreuzworträtsel) 5.2.7 Erfassen von unterrichtsbezogenen Produkten 205 schriftlich - Sach- und Gebrauchstexte - Aufschriften, Beschriftungen - Formulare, Fragebögen - E-Mails, Briefe, Postkarten (untersch. Adressaten, untersch. Funktionen) - Blogeinträge - Einladungen - Kochrezepte - Lebenslauf - Beschreibungen (Bilder, Personen) - Artikel, z. B. Zeitungsartikel - Posts, Leserbriefe schriftlich - graphisch gestaltet - Bilder (mit/ ohne Text) - Fotos, Collagen (mit/ ohne Text) - Plakate, Wandzeitungen - Handouts, Flugblätter, Flyer - Sketchnotes schriftlich - Schreiben über Texte - Zusammenfassungen - Analysen, Interpretationen, Charakteristiken etc. - Kommentare - Rezensionen schriftlich - das Lernen dokumentieren - ausgefüllte Übungs- und Aufgabenblätter, z. B. zu Wortschatz, Grammatik, Sprachmittlung (auch aus Prüfungen) - Portfolios (EPS, e-Portfolios, themen- oder aufgabenbezogene Portfolios) - Lerner*innentagebuch, Logbuch - von Lerner*innen selbst erstellte Tests und Aufgaben schriftlich - literarische bzw. literarisierende Texte - Geschichten (unterschiedliche Genres, mit/ ohne sprachliche oder inhaltliche Vorgaben) - Filmskripte/ Treatments - Gedichte - Lieder - Tagebucheinträge - Essays schriftlich multimodal - Comics - Bildergeschichten, Fotoromane - Buchumschläge (z. B. Klappentext) 206 5. Forschungsverfahren multimedial - multimodal - Videos, Video-Clips - Buch-/ Filmtrailer - Erklärvideos - Chat- oder Blogeinträge - Wikis - Webseiten - (digitale) Spiele Tabelle 1: Unterrichtsbezogene Lerner*innentexte Texte und Materialien im bzw. für den Unterricht - Arbeitsaufträge - Lernaufgaben, Prüfungsaufgaben, Tests (auch mit Lerner*innen gemeinsam erstellt) - Tafelbilder, (digitale) Folien, PPbzw. Prezi-Präsentationen - Arbeitsblätter - Erklärvideos - Unterrichtsplanungen (auch ins Internet gestellt) Reaktionen auf Lerner*innenprodukte - schriftl. Feedback, Reaktionen auf Fehler - aufgezeichnete mdl. und schriftl. Kommentierungen von Lerner*innentexten - Beurteilungsraster Aus-/ Weiterbildung, Reflexion - Protokolle und Mitschriften (auch digital, z. B. auf Padlets) von Besprechungen, Konferenzen oder Fort-/ Weiterbildungen - Beiträge in Blogs oder Foren - Tagebücher, Podcasts, Wiki-Einträge - schriftl. Kommentierungen von fremdem Unterricht (z. B. bei Hospitationen, Prüfungen) - Portfolio (z. B. in Ausbildung, Weiterbildung) - Fachseminarplanungen - Prüfungsleistungen (z. B. Praktikumsberichte, Masterarbeiten, Prüfungsarbeiten in der 2 . Phase) Info-Materialien - Schulcurricula - Schulhomepage (z. B. Darstellung des Faches) - Flyer, Broschüren (z. B. Infos für die Fremdsprachenwahl) Tabelle 2: Unterrichtsbezogene Lehrer*innentexte Selbstverständlich können die allermeisten dieser Textsorten ebenfalls gezielt erhoben werden, z. B. um den Sprachstand von Lerner*innen (s. Kap. 5 . 2 . 6 ) oder den Erfolg bestimmter Unterrichtsverfahren zu erfassen. Auch für Studien im Rahmen der Lehrerfor- 5.2.7 Erfassen von unterrichtsbezogenen Produkten 207 schung werden viele der hier genannten Dokumente erhoben, um z. B. bestimmte Einstellungen oder Entwicklungen von Lehrpersonen zu verfolgen. In diesen Fällen wurde zuvor ein Forschungsprojekt mit Fragestellung und Design entwickelt; der Impuls für die Erhebung geht von den Forscher*innen aus und die Erhebungssituation und die zu erhebenden Produkte werden zielgerichtet auf das Forschungsinteresse bzw. die Forschungsfrage hin ausrichtet. Diese Texte entstehen somit in einer gezielt gestalteten Situation, auch wenn diese Situation im natürlichen Kontext (Regelunterricht, reguläre Prüfung, Fortbildungsveranstaltung etc.) geschaffen wird. Bei einer Erfassung (zum Unterschied zwischen Erhebung und Erfassung s. auch Kap. 5 . 3 . 8 ), um die es in diesem Kapitel geht, werden die Produkte dagegen ohne vorgängige Forscher*innenabsicht erstellt und erst im Nachhinein für Forschungszwecke genutzt (Natürlichkeit des Feldes). Dies könnte z. B. in der Form geschehen, dass ein/ e Lehrer*in die im Laufe des Berufslebens oder in der Zeit der Begleitung einer Lerngruppe gesammelten ‚schönsten Schülerarbeiten‘ selbst auswertet bzw. zur Verfügung stellt. Eine andere Möglichkeit könnte darin bestehen, die für einen Wettbewerb eingereichten Schülerarbeiten unter anderen als den Wettbewerbskriterien auszuwerten (vgl. Morys 2018 ). Auch die bei der Umstellung auf digitale Lehrformate entstandenen Produkte und Interaktionen bieten reichhaltiges Material für die Erforschung von Lehr-/ Lernprozessen (vgl. Caspari in Vorb.). Diesen Beispielen ist gemein, dass das Material jeweils ohne Forschungsabsicht und damit ohne direkte Steuerung oder indirekte Beeinflussung durch die Forscher*innen entstanden ist, wie dies in geplanten Projekten kaum zu vermeiden ist. Natürlich gibt es auch Mischformen zwischen Erhebung und Erfassung in dem Sinne, dass die Erhebung von in einer natürlichen Situation entstehenden Produkten zuvor geplant wird. Dies ist bspw. dann der Fall, wenn Lehrpersonen (z. B. im Rahmen eines Aktionsforschungsprojektes) in ihrem Unterricht bestimmte Lernprodukte erstellen lassen oder wenn Forscher*innen alleine oder in Zusammenarbeit mit Lehrer*innen Unterrichtsarrangements erstellen, in denen bestimmte Textsorten entstehen. Der zentrale Unterschied zu klassischen Erhebungssituationen besteht hier in der Natürlichkeit der Situation: Die gewünschten Texte könnten in der entsprechenden (Unterrichts-)Situation genauso gut auch unabhängig von einer Forschungsabsicht entstehen. Der zentrale Unterschied zur klassischen Erfassung besteht darin, dass die Entstehung der Produkte von der Forscher*in oder im Einvernehmen mit ihm/ ihr intendiert ist. Obwohl in zahlreichen Forschungsarbeiten unterrichtsbezogene Produkte herangezogen werden, meist als eine von mehreren Datenformen, wurden sie unter forschungsmethodischer Hinsicht bislang vor allem in der historischen Forschung betrachtet (s. Kap. 5 . 2 . 1 ). In aktuellen forschungsmethodischen Handbüchern werden sie dagegen bislang so gut wie nicht beachtet: Lediglich in der Aktionsforschung (s. Kap. 4 . 2 , z. B. Burns 2010 ) und im Zusammenhang mit Triangulationsverfahren in der ethnographischen Forschung (z. B. Nunan/ Bailey 2009 : 213 ) werden solche unterschiedlichen, im Kontext des Unterrichts entstehenden Produkte überhaupt als potenzielle Forschungsdaten aufgelistet. Angesichts dieser Situation erscheint es sinnvoll, sich zunächst mit den Produkten selbst zu beschäftigen. 208 5. Forschungsverfahren 2 Möglichkeiten der Systematisierung Aus den Tabellen 1 und 2 wird ersichtlich, dass es nicht einfach ist, eine einheitliche Klassifizierung unterrichtsbezogener Produkte vorzunehmen, weil sie anhand einer Reihe von Dimensionen näher beschrieben und systematisiert werden können: Autorenschaft Wer produziert die Texte, Lerner*innen, Lehrer*innen, andere Akteur*innen? Textsorten/ Genres Welche Textsorten bzw. Genres werden erfasst? Umfang Wie umfangreich sind die Texte? (Länge, Dauer) Medium In welchem Medium liegen die Texte vor: mündlich, schriftlich, graphisch, multimodal bzw. multimedial? Entstehungskontext Ist der Entstehungskontext bekannt? Welche Details sind bekannt oder können nachträglich rekonstruiert werden (z. B. Zielsetzung, genaue Aufgabenstellung, beteiligte Personen, zur Verfügung gestellte Zeit, Hilfsmittel)? Zeitpunkt Wann wurden die erfassten Produkte erstellt? Ort Fand die Textproduktion innerhalb des Unterrichts oder an außerunterrichtlichen bzw. außerschulischen Lernorten statt? Art Handelt es sich um einen offiziellen, halboffiziellen oder privaten Text? (s. Kap. 5 . 2 . 1 ) Anlass Wurde die Textproduktion von den Verfasser*innen verlangt bzw. erwartet (z. B. gemeinsame Aufgabenentwicklung), wurde sie angeregt (z. B. Wettbewerbsbeitrag) oder entstand sie aus Eigenmotivation der Verfasser*innnen (z. B. Tagebuch)? Erfassungskontext Wurden die Produkte gezielt gesucht und oder lagen sie bereits vor? Von wem wurden sie zusammengestellt? Nach welchen Kriterien? Natürlichkeit vs. Planung Werden bzw. wurden die Produkte unabhängig von der Absicht, sie als Forschungsdaten zu verwenden, erstellt? Oder wird bzw. wurde der Unterricht bzw. die Situation unter Berücksichtigung des Forschungsinteresses gestaltet? Ziele Welche Ziele werden bzw. wurden mit den Texten in Bezug auf die Lehr-/ Lernsituation verfolgt und welche Ziele in Bezug auf die Forschungssituation? Realisierung Wer führt den Unterricht bzw. die Situation durch: Der bzw. die üblichen Akteur*innen (z. B. die Lehrperson mit ihrer gewohnten Lerngruppe) oder die Forscher*innen? Tabelle 3: Dimensionen unterrichtsbezogener Produkte Für die Analyse und Interpretation der Produkte ist nicht nur die Kenntnis dieser Kontextdaten von Bedeutung, sondern ebenfalls, wie stark die Lerner*innen und Lehrpersonen inhaltlich, sprachlich und durch die jeweiligen Textsortenkonventionen festgelegt sind. Selbstverständlich hängt der Grad der Steuerung im Einzelfall von der konkreten Situation und der expliziten oder impliziten Zielsetzung bzw. Aufgabenstellung ab. So gibt es z. B. 5.2.7 Erfassen von unterrichtsbezogenen Produkten 209 bei Rollenspielen durch die Art der Vorgaben ein Kontinuum von inhaltlich und sprachlich sehr eng geführten bis zu sehr freien Formen. Trotzdem ist es sinnvoll, grundsätzlich zwischen stärker vorgegebenen und eher freien Textsorten sowie zwischen sprachlich eher imitativen bzw. reproduktiven sowie sprachlich produktiven bzw. kreativen Formen zu unterscheiden. Bei dieser Einteilung wird eine sehr weite Definition von Textsorte bzw. Genre im Sinne von Regeln für die Produktion und das Produkt in einer bestimmten Situation zu Grunde gelegt. eher freie mündliche Textsorten z. B. Unterrichtsgespräche (im Plenum, in Kleingruppen), Tandemgespräche, Rollenspiele ohne/ mit wenigen Vorgaben, Rollengespräche, Gespräche beim gemeinsamen Lösen einer Aufgabe, Features stärker vorgegebene mündliche Textsorten z. B. Lehrwerks-Dialoge mit engen Vorgaben, Debatten, Sprachmittlungsaufgaben, Bildgeschichten eher freie schriftliche Textsorten z. B. Lerntagebücher mit offenen Impulsen, E- Mails, kreative Texte ohne formale Vorgaben, Essays, Portfolios stärker vorgegebene schriftliche Textsorten z. B. Einsetz- und Umformungsübungen, Inhaltsangaben, Charakteristiken, Erörterungen, Briefe, Gedichte, commentaires de texte , Sprachmittlungsaufgaben, Bildgeschichten eher freie multimodale bzw. multimediale Textsorten z. B. medial gestützte Präsentationen, Video- Clips, Kurzfilme, Photoromane stärker vorgegebene multimodale bzw. multimediale Textsorten z. B. Nachrichten, Erklärvideos Tabelle 4: Beispiele für eher freie und eher vorgegebene Textsorten Selbstverständlich können je nach Forschungsfrage für die Auswahl und Systematisierung vorliegender Texte weitere Kriterien relevant sein, z. B. Themen und Inhalte, Funktion der Texte in der ursprünglichen Situation, Original-Fassung oder korrigierte bzw. überarbeitete Version, Endprodukt oder Produkt innerhalb eines (Überarbeitungs-)Prozesses (z. B. Portfolio). Gerade wenn die Produkte nicht nach vorher festgelegten Kriterien erstellt worden sind, ist es wichtig, sie vor der bzw. für die Analyse und Interpretation möglichst genau zu beschreiben. 3 Forschungsinteresse Der große Gewinn einer Arbeit mit unterrichtsbezogenen Texten liegt darin, dass diese nicht gezielt für Forschungszwecke verfasst wurden, sondern in natürlichen Kontexten entstanden sind. Das heißt, dass es keine durch Design und Instrumente verursachte Beeinflussungen, Begrenzungen und Artefakte gibt, sondern dass sie das Resultat authentischer Lehr-/ Lernbzw. Aus- und Fortbildungssituationen in der Gegenwart oder der Vergangenheit sind. 210 5. Forschungsverfahren Aus diesem Grund können sie einen direkten und unverfälschten Einblick in die Realität der unterschiedlichsten fremdsprachenbezogenen Lehr- und Lernkontexte geben. Die Beschäftigung mit unter realen Praxisbedingungen entstandenen Produkten ist interessant, weil sie in einem umfassenden Sinn authentisch sind. Sie ist auch deswegen aufschlussreich, weil das Wissen über die Wirklichkeit des Fremdsprachenunterrichts und anderer fremdsprachenbezogener Lehr-/ Lernsituationen noch immer sehr begrenzt ist. Es gibt noch immer viel zu wenige empirische Studien, die den nicht oder nur wenig arrangierten Fremdsprachenunterricht oder gar alltägliche Aus- und Fortbildungssituationen untersuchen. Im günstigsten Fall spiegeln unterrichtsbezogene Produkte eine große Bandbreite an unterschiedlichen Realisierungsformen einer Situation oder eines Themas, z. B. die unterschiedlichen Formate und Aufgabenstellungen, die Lehrer*innen für Klassenarbeiten in einer fünften Englischklasse wählen, oder die unterschiedlichen Formen, mit denen Schulen für Russisch, Chinesisch oder andere seltener gelernte Fremdsprachen werben. Wählt man nicht gerade Wettbewerbsbeiträge oder Produkte, die beim Elternabend oder beim Tag der Offenen Tür präsentiert werden, dürfte die Qualität der Produkte von sehr unterschiedlicher Qualität sein. Systematisch erfasst liefern sie sowohl best practice als auch worst practice -Beispiele. Auf jeden Fall aber gewähren sie Einblicke in professionelle Lern-, Lehr- und Aushandlungsprozesse, wie sie wirklich stattfinden. Im Unterschied zu den in Kapitel 5 . 2 . 6 beschriebenen Lerner*innenprodukten, die mit dem Ziel erhoben werden, sprachliche Lernstände bzw. sprachliche Fortschritte von Lerner*innen festzustellen, ermöglichen die erfassten Produkte, einen Einblick in komplexe Situationen, Prozesse und Ergebnisse des Unterrichts. Gerade für die sogenannten schwer messbaren produktiven und interkulturellen Kompetenzen (vgl. Hu/ Leupold 2008 ) und für Zielsetzungen, die über den Spracherwerb im engen Sinne hinausgehen, wie z. B. die Anwendung von Strategien oder die Bereitschaft, sprachliche Risiken einzugehen, dürften unterrichtsbezogene Produkte über ein großes Forschungspotenzial verfügen. Sie ermöglichen sowohl, Lernprodukte in einzelnen Dimensionen (z. B. Inhalt, Textsortenadäquanz, sprachliche Leistung, Kreativität) als auch in ihrer Komplexität zu erfassen. Untersucht man Portfolios oder Gruppenhefter, die die unterschiedlichen Etappen einer Texterstellung enthalten, so können z. B. inhalts- und sprachbezogene Entscheidungen beim gemeinsamen Lösen einer Aufgabe nachgezeichnet oder die Genese bestimmter Lernergebnisse nachverfolgt werden. Und bei der Untersuchung von Lesetagebüchern z. B. kann nicht nur nachverfolgt werden, ob und wie Lerner*innen diese Aufgabe bewältigen, sondern auch, welche Aspekte sie im Einzelnen notieren. Die Untersuchung unterrichtsbezogener Lerner*innenprodukte ermöglicht ebenfalls Lerner*innen- (und Lehrer*innen-)Interessen zu identifizieren und Einblicke in die Organisation von Lernprozessen zu gewinnen. Nicht zuletzt erlaubt sie, Wissensstände über die unterschiedlichsten, im Unterricht verhandelten oder in den Unterricht eingebrachten Themen zu erheben. Dies wurde bislang lediglich für den bilingualen Sachfachunterricht erforscht, ist aber nicht zuletzt aufgrund der heftigen Kritik am vermeintlichen Verlust von Inhalten im kompetenzorientierten Unterricht von großem Interesse. Falls Lehrpersonen diese Produkte erforschen, kann eine Analyse der Texte ihrer Lerner*innen nach anderen als bewertungsrelevanten Kriterien zu neuen Einsichten führen, sind sie es doch i. d. R. gewohnt, sie lediglich unter dem Gesichtspunkt der Korrektur und Notengebung zu betrachten. 5.2.7 Erfassen von unterrichtsbezogenen Produkten 211 Das Gleiche gilt für Texte von (angehenden) Lehrer*innen. Zwar ermöglicht die Lehrpersonenforschung bereits vielfältige Einblicke in die unterschiedlichsten Aspekte des Lehrer*innen-Seins aus der Sicht der Beteiligten. Jedoch ist es nicht dasselbe, ob die Entstehung von mündlichen oder schriftlichen Lehrer*innentexten zu Forschungszwecken geplant und damit auch die Forschungsabsicht bekannt ist, oder ob Lehrpersonen in ihren beruflichen Alltagssituationen Texte erstellen, die erst im Nachhinein zu Forschungszwecken verwendet werden. Denn erfahrungsgemäß ist es fast unmöglich, den Faktor der (von den Lehrpersonen vermuteten) professionellen oder sozialen Erwünschtheit auszuschalten, wenn sie im Vorhinein um ihr Einverständnis gefragt werden. Werden sie jedoch erst im Nachhinein um Erlaubnis gebeten, die entstandenen Texte (z. B. Unterrichtsplanungen oder die Kommentierung von schriftlichen Lerner*innentexten) zu Forschungszwecken nutzen zu dürfen, kann es sein, dass sie Bedenken haben, weil diese Texte unter Alltagsbedingungen längst nicht immer so gestaltet worden sind, wie es dem Anspruch der Lehrpersonen an sich selbst entspricht. Daher gehört zu den üblichen forschungsethischen Standards (s. Kap. 4 . 6 ) immer auch die Möglichkeit, die Erlaubnis im Nachhinein zurückziehen zu können. 4 Forschungsmethodische Überlegungen Auch wenn m. W. bislang noch keine größeren Forschungsarbeiten vorliegen, die ausschließlich auf der Grundlage von erfassten Texten entstanden sind, so geben Lerner*innen- und Lehrer*innentexte, die in (weitgehend) authentischen Lehr-/ Lernsituationen entstanden sind, Hinweise auf das Potenzial für die fremdsprachendidaktische Forschung sowie auf forschungsmethodische Herausforderungen. Als Beispiel sei die Dissertation von Peuschel ( 2012 ) aus dem universitären Fremdsprachenunterricht genannt, die vier radiodaf -Projekte mit insgesamt 47 Teilnehmer*innen als Beobachterin begleitete. Diese Projekte richten sich an studentische DaF-Lerner*innen, die weitgehend selbstbestimmt einzelne Radiobeiträge bzw. ganze Sendungen erstellen und aufnehmen, die in einem Freien Radio ausgestrahlt werden. Die Forschungsarbeit verfolgt das Ziel, Erkenntnisse zum sprachlichen Lernen in einem solchen Projekt mit Beobachtungen zur Realisierung von gesellschaftlicher Teilhabe der Lerner*innen während ihres Lernprozesses zu verbinden. Die Basis bilden insgesamt 87 Tonaufnahmen (Beiträge der Sendungen und Probeaufnahmen) und 95 schriftliche Texte (Vorlagen für die gesprochenen Radiobeiträge, Notizen, Stichpunkte und Vorversionen dieser Vorlagen sowie Übersetzungen bzw. Übersetzungsversuche von einzelnen Texten). Dazu kommen Beobachtungsprotokolle sowie Interviews und Lerner*innentagebücher. Im Mittelpunkt der Auswertungen stehen jedoch die mündlichen und schriftlichen Lerner*innenprodukte, die „einen Zwischenstatus zwischen natürlichen und elizitierten Daten“ haben (Peuschel 2012 : 67 , unter Verweis auf Larsen-Freeman/ Long 1994 : 26 ff.). Die Verfasserin betont dabei die Natürlichkeit und Authentizität der Produkte, da diese auch ohne ihre Studie entstanden seien (Peuschel 2012 : 68 ). An dieser Forschungsarbeit kann man gut die Herausforderungen der Arbeit mit einem solchen Textkorpus erkennen. Zum einen stellen sich Fragen der Sicherung und Aufbereitung der Daten (im Folgenden Peuschel 2012 : 72 - 83 , s. auch Kap. 5 . 2 . 6 ). Dazu zählen 212 5. Forschungsverfahren das Sampling, die Transkription der gesprochenen Texte, die Digitalisierung von handschriftlichen Lerner*innenprodukten sowie die Erstellung einer Datenbank. Zum anderen stellen sich Fragen der Auswertung und der Ergebnisdarstellung. Die Verfasserin wählt das ethnografische Verfahren der dichten Beschreibung (Geertz 1995 ), mit dem die erfassten Produkte in drei Schritten rekonstruiert und analysiert werden. Dabei wird ähnlich wie beim hermeneutischen Zirkel (s. Kap. 5 . 3 . 2 ) beständig zwischen übergreifenden Strukturen und Details der Dokumente hin- und hergewechselt. Besondere Sorgfalt verlangt bei diesem Projekt der Umgang mit den verschiedenen Versionen der Lerner*innenprodukte, damit die sprachlichen Entwicklungsverläufe nachvollzogen werden können, ohne sie ausschließlich an der zielsprachigen Norm zu messen. Insgesamt zeigt die Studie von Peuschel ( 2012 ), dass die sorgfältige Analyse von Lerner*innenprodukten detaillierte Einblicke in individuelle und kollaborative Prozesse der Texterstellung, in Entwicklungsverläufe bei der Textproduktion sowie in die Zusammenhänge zwischen sprachlicher Tätigkeit und Teilhabeoptionen erlaubt. An dem Beispiel wird deutlich, dass es je nach Fragestellung und Art der erfassten Produkte angemessene Verfahren der Aufbereitung, Analyse und Interpretation zu finden gilt. Anregungen für die Zusammenstellung und Aufbereitung lassen sich in diesem Handbuch vor allem in den Kapiteln 5 . 2 . 1 (Dokumentensammlung), 5 . 2 . 2 (Textzusammenstellung) sowie 5 . 2 . 6 (Erheben und Erfassen von Lernersprache und Korpuserstellung) finden. Anregungen für die Auswahl und die Analyse bzw. Interpretation finden sich vor allem in den Kapiteln 4 . 3 (Sampling), 5 . 3 . 2 (Hermeneutische Verfahren), 5 . 3 . 3 ( Grounded Theory ), 5 . 3 . 5 (Inhaltsanalyse) sowie 5 . 3.6 (Typenbildung). Für den Umgang mit den erfassten Dokumenten gelten prinzipiell die gleichen Regeln wie für jede andere Forschung, d. h. auch die üblichen Gütekriterien (s. Kap. 2 ) und forschungsethischen Prinzipien (s. Kap. 4 . 6 ). Allerdings ergeben sich aus der Tatsache, dass es sich um Produkte handelt, die zunächst ohne Forschungsabsicht entstanden sind, spezielle Fragen. Zum Beispiel stellt sich die Frage, wie man mit Produkten umgeht, zu denen man nachträglich keine Erlaubnis der Verfasser*innen mehr einholen kann, denn es muss auf jeden Fall ausgeschlossen werden, dass die Verwendung ihnen auf irgendeine Weise schaden könnte. Es stellt sich ebenfalls die Frage, welche Kontextdaten notwendig sind, um die Produkte der Forschungsfrage entsprechend angemessen einordnen und interpretieren zu können, und wie man damit umgeht, wenn dies im Nachhinein nicht bzw. nicht vollständig möglich ist. Außerdem stellt sich die Frage, wie man die Art und die Anzahl der Dokumente erhält, die für die Bearbeitung der Forschungsfrage notwendig sind. Forschung mit unterrichtsbezogenen Produkten kann selbstverständlich mit einer Forschungsfrage beginnen, zu der die entsprechenden Dokumente gesucht und gesammelt werden. Es ist jedoch auch möglich, anhand vorhandener Dokumente eine Forschungsfrage zu entwickeln. Dann ähnelt das Vorgehen der Forscher*in dem Vorgehen in historischen und ethnographischen Forschungsansätzen. Es gilt, zunächst die Produkte sorgfältig und umfassend zu sichten, um zu erkennen, welches Potenzial in ihnen erkennbar ist und was an ihnen besonders interessant für die fremdsprachendidaktische Forschung ist. Nach einer vorläufigen Formulierung der Forschungsfrage ist ein zirkuläres Vorgehen zu empfehlen, d. h. sich erneut in die Produkte zu vertiefen, um ihr Potenzial für die Beantwortung der Forschungsfrage zu überprüfen. Anschließend gilt es, die für die Beantwortung der 5.2.7 Erfassen von unterrichtsbezogenen Produkten 213 Forschungsfrage angemessenen und für die Produkte gleichermaßen geeigneten Verfahren zu bestimmen und zu erproben, mit denen sie gesichert, ausgewertet und interpretiert werden können. Weitere Fragen stellen sich, wenn die erfassten Produkte nur einen Teil der in einem Forschungsprojekt verwendeten Daten und Texte darstellen, wie z. B. in der Studie von Kimes-Link ( 2013 ) zum Umgang mit literarischen Texten im Englischunterricht der gymnasialen Oberstufe. Anhand von vier Fallstudien untersucht sie, wie die Rezeption von und Interaktion mit literarischen Gegenständen stattfindet und welche Ergebnisse dabei erzielt werden. Ein Hauptaugenmerk gilt der Wirkung der Aufgaben und unterrichtlichen Verfahren, mit denen Lehrpersonen die Textarbeit steuern (vgl. Kimes-Link 2013 : 10 - 11 ). Um die sechs bis 19 Unterrichtsstunden umfassenden Einheiten in ihrer Komplexität rekonstruieren zu können, setzt sie eine Vielzahl von Erhebungsmethoden ein, durch die gleichzeitig eine Daten- und Perspektiventriangulation ermöglicht wird: Ton- und Videoaufzeichnungen des Unterrichts, Feldnotizen der Forscherin, ausgewählte schriftliche Arbeiten von Schüler*innen (Hausaufgaben, Arbeitsblätter, während des Unterrichts verfasste Texte, Klassenarbeiten), fotografierte Tafelbilder sowie retrospektive Interviews mit den Lehrpersonen und Schüler*innen (ebd.: 98 - 105 ). Die Tafelbilder stellen sich „im Sinne eines breiten Datensatzes“ (ebd.: 103 ) als gute Ergänzung zu den Videoaufnehmen heraus, den schriftlichen Schüler*innenprodukten kommt die Funktion zu, „weiteren Aufschluss über die Verstehensprozesse der Lernenden“ zu liefern (ebd.: 104 ). In der rekonstruktiven Analyse der Unterrichtseinheiten erhalten die Schüler*innentexte denn auch eine große Rolle: In allen vier Unterrichtsreihen werden jeweils mehrere unterschiedliche schriftliche Schülerarbeiten analysiert und in den retrospektiven Interviews werden die Schüler*innen zu ihnen befragt. Auch inhaltlich liefern sie einen bedeutenden Beitrag zur Beantwortung der Forschungsfrage, denn anhand der Analyse kann im Detail aufgezeigt werden, welche Funktion der jeweiligen Aufgabe bzw. dem jeweiligen Verfahren für den Prozess der literarischen Auseinandersetzung zukommt und welche Analyse- und Interpretationsleistungen die Schüler*innen jeweils erbringen. In Kombination mit der Analyse des Unterrichtsdiskurses kann Kimes-Link nachzeichnen, was die Lehrkraft davon aufgreift bzw. was davon nicht für den weiteren Lehr-/ Lernprozess verfügbar gemacht wird. So ermöglichen die Analyse und Interpretation der Lerner*innentexte es, die Eignung bestimmter methodischer Verfahren für das literarische Verstehen der Schüler*innen festzustellen (vgl. ebd.: 352 - 366 ). Durch die Analyse des Unterrichtsdiskurses über die Schülerarbeiten wird darüber hinaus deutlich, wie das Potenzial dieser Texte besser genutzt werden könnte (vgl. ebd.: 366 - 368 ). An der Studie von Kimes-Link ( 2013 ) wird neben dem forschungsmethodischen Potential einer solchen Fülle von erfassten und erhobenen Texten und Dokumenten zugleich die große Herausforderung im Umgang mit ihnen deutlich: Es muss jeweils sehr genau überlegt und transparent gemacht werden, welche Texte und Dokumente im Einzelnen ausgewählt werden, wie die unterschiedlichen Textsorten ausgewertet und interpretiert sowie aufeinander bezogen werden und welchen Textsorten dabei welche Funktion bzw. welcher Stellenwert zukommt. Dies verlangt neben einer breiten forschungsmethodischen Kenntnis und der Fähigkeit, die jeweiligen Analysen und Interpretationen jeweils funktional in die Gesamtauswertung einfließen zu lassen, einen enormen Dokumentationsauf- 214 5. Forschungsverfahren wand, damit die Leser*innen die einzelnen Forschungsentscheidungen auch tatsächlich im Detail nachvollziehen können. Eine große Vielzahl unterschiedlicher Daten, Texte und Produkte kann tatsächlich zu „einem ganzheitlicheren Verständnis der Komplexität der beobachteten Lehr- und Lernsituationen und ihrer Bedingungsfaktoren“ führen, wie Freitag-Hild ( 2010 : 158 ) in ihrer ähnlich angelegten Studie zum interkulturellen Lernen mit Migrationsliteratur im Englischunterricht bilanziert. Jedoch besteht bei einer so großen Menge an Texten und Dokumenten grundsätzlich die Gefahr, dass das Erkenntnispotenzial der einzelnen Quellen nicht ausgenutzt wird oder dass forschungsethisch nicht unproblematische „Datenfriedhöfe“ (s. Kap. 3 . 3 ) entstehen. So konnte Kimes-Link „[a]ufgrund der Datenfülle“ ( 2013 : 111 ) nur vier von sieben der so aufwändig dokumentierten Unterrichtsreihen in ihrer Studie darstellen. Dies zeigt, dass gerade bei einer Kombination von erhobenen und erfassten Texten und Dokumenten im Vorfeld sorgfältige forschungsmethodische und -ökologische Überlegungen anzustellen sind. › Literatur Forschungsarbeiten, in denen die hier erläuterten Verfahren angewendet werden, sind mit einem Sternchen markiert. Burns, Anne (2010). Doing Action Research in English Language Teaching. A Guide for Practitioners . New York: Routledge. *Caspari, Daniela (in Vorb.). Peer-Feedback geben (lernen) digital - Erfahrungen in einem fremdsprachendidaktischen Masterseminar. In: Bechtel, Mark/ Fricke, Johanna/ Dittmann, Lara (Hg.). Fremdsprachliche Lehrer*innenbildung digital? Frankfurt/ M.: Lang. *Freitag-Hild, Britta (2010). Theorie, Aufgabentypologie und Unterrichtspraxis inter- und transkultureller Literaturdidaktik. ‚British Fictions of Migration‘ im Fremdsprachenunterricht. Trier: WVT. Geertz, Clifford (1995). Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme . 4. Auflage. Frankfurt/ M.: Suhrkamp. Hu, Adelheid/ Leupold, Eynar (2008). Schwer messbare Kompetenzen. In: Tesch, Bernd/ Leupold, Eynar/ Köller, Olaf (Hg.) (2008). Bildungsstandards Französisch: konkret . Sekundarstufe I: Grundlagen, Aufgabenbeispiele und Unterrichtsanregungen . Berlin: Cornelsen Scriptor, 64-74. Larsen-Freeman, Diane/ Long, Michael (1994). An introduction to second language acquisition research . London: Longman. *Kimes-Link, Ann (2013). Aufgaben, Methoden und Verstehensprozesse im englischen Literaturunterricht der gymnasialen Oberstufe. Eine qualitativ-empirische Studie . Tübingen: Narr. *Morys, Nancy (2018). „ Bandes dessinées “ im Fremdsprachenunterricht Französisch. Annäherung an eine empirisch fundierte Teilbereichsdidaktik . Frankfurt/ M.: Lang. Nunan, David/ Bailey, Kathleen M. (2009). Exploring Second Language Classroom Research. A Comprehensive Guide . Boston, MA: Heinle. *Peuschel, Kristina (2012). Sprachliche Tätigkeit und Fremdsprachenlernprojekte. Fremdsprachliches Handeln und gesellschaftliche Teilhabe in „radiodaf “-Projekten. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. 5.2.8 Testen 215 5.2.8 Testen Claudia Harsch 1 Begriffsklärungen Tests werden in der Fremdsprachenforschung zur Erhebung, Messung und Beurteilung fremdsprachlicher Lernerleistungen eingesetzt. Sie gehören dem rationalistischen Paradigma an (s. Kap. 2 und 3 . 3 in diesem Band; auch Cohen/ Manion/ Morrison 2018 ) und werden oft in Experimentaldesigns, in Prä-/ Posttest-Designs (s. etwa die Studie von Biebricher 2008 , s. Abschnitt 4 ) oder Interventionsstudien verwendet (s. etwa die Studie von Marx 2005 , s. Abschnitt 4 ). Tests können in der Fremdsprachenforschung einer Reihe von Zwecken dienen, etwa der punktuellen Kompetenzmessung, der Individualdiagnose, der Auswahl, der längsschnittlichen Untersuchung von Kompetenzentwicklung, dem Bildungsmonitoring, der Evaluation von Lehrmethoden und Lernerfolg, der Erforschung von Effekten bestimmter Interventionen oder der Untersuchung von Einflüssen und Zusammenhängen bestimmter Faktoren in Lehr- und Lernkontexten. Der Untersuchungszweck bestimmt, ob Tests als Kompetenztests, Lernerfolgskontrollen, Diagnosetests oder Einstufungstests entwickelt und eingesetzt werden. Für eine detaillierte Ausführung zu Formen und Funktionen von Sprachtests darf auf Grotjahn ( 2010 ) verwiesen werden. Je nach Einsatzbereich, sei es eine landesweite Untersuchung oder das eigene fremdsprachliche Klasszimmer, werden large-scale von small-scale Tests unterschieden. Oft werden in kleineren Untersuchungen, etwa innerhalb einer Gruppe von LernerInnen, informelle Tests eingesetzt, wohingegen in groß angelegten Studien, bei denen es darum geht, generalisierbare Ergebnisse zu erhalten, formale Tests zum Einsatz kommen. Diese werden auch als standardisierte Tests bezeichnet, die einer Reihe von Qualitätsanforderungen genügen müssen (s. unten); standardisierte Tests werden im Unterschied etwa zu selbst erstellten Vokabel- oder Grammatiktests auf der Basis eines theoretischen Konstrukts entwickelt. Je nachdem, welche Berechtigungen und Folgen ein Test nach sich zieht, spricht man von high-stakes vs. low-stakes Tests. An high-stakes Tests, ebenso wie an standardisierte Tests, werden in der Regel hohe formale, inhaltliche und ethische Anforderungen gestellt. 15 Die verschiedenen Testarten verlangen unterschiedliche Konstrukte und Inhalte: Während eine Lernerfolgskontrolle auf die Bereiche und Inhalte ausgerichtet ist, die in einem bestimmten Zeitraum in einem bestimmten Kontext gelehrt wurden, ist ein Kompetenztest nicht curricular orientiert, unabhängig von einem spezifischen Lehr-/ Lernkontext und erfasst handlungsbezogene Sprachkompetenzen. Diagnosetests wiederum müssen in der Lage sein, detaillierte Aspekte so zu erfassen, dass Rückschlüsse auf Stärken und Schwächen der Lernenden gezogen werden können; hier ist eine relativ große Anzahl an Testaufgaben (Items) nötig, um zu verlässlichen Ergebnissen zu kommen. Ein Einstufungstest hingegen hat zum Ziel, mit relativ geringem Aufwand die ProbandInnen zu bestimmen, 15 Hier darf auf die Qualitätsstandards der internationalen Testgesellschaften verwiesen werden, vgl. etwa Association of Language Testers in Europe (ALTE 2020 ), European Association of Language Testing and Assessment (EALTA 2006 ) oder International Language Testing Association (ILTA 2020 ). 216 5. Forschungsverfahren die zu einem bestimmten Programm zugelassen werden; hier sind Tests denkbar, die mit Indikatoren arbeiten (z. B. C-Tests oder Vokabeltests), die sich als gute Prädiktoren für eine Klassifizierung von Lernenden erwiesen haben, die aber nicht ausgelegt sind, Handlungskompetenzen zu erfassen. Neben diesen grundsätzlichen Einteilungen in verschiedene Testarten gibt es weitere Begrifflichkeiten, die hier kurz erläutert werden sollen. Tests können formativ oder summativ eingesetzt werden, wobei formatives Testen den lernfördernden und entwickelnden Aspekt in den Vordergund rückt, während summative Tests auf das fokussieren, was Lernende zu einem bestimmten Zeitpunkt beherrschen. Die Ausrichtung eines Tests auf eine bestimmte Bezugsgruppe oder auf inhaltlich-qualitative Kriterien bestimmt, ob ein Test als norm- oder kriterienorientiert klassifiziert wird; dies wiederum wird beeinflusst vom Einsatzzweck: Ein Test zur Lernerfolgskontrolle etwa kann normorientiert eingesetzt werden, wenn es darum geht, die 10 % Leistungsstärksten einer Lernergruppe zu identifizieren; ist der Lernerfolg hingegen durch das Erreichen eines bestimmten Standards oder Kriteriums bestimmt, so ist der Test kriterienorientiert. All diese Klassifizierungen schlieβen sich nicht gegenseitig aus, vielmehr sind sie auf einem Kontinuum angeordnet und Überschneidungen sind denkbar (s. z. B. Harsch 2012 ). Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über die hier genannten Begriffe: Testzwecke (Auswahl) - punktuelle Kompetenzmessung - Individualdiagnose - längsschnittliche Untersuchung von Kompetenzentwicklung - Bildungsmonitoring - Evaluation von Lehrmethoden - Erforschung von Interventionseffekten - Untersuchung von Einflüssen und Zusammenhängen bestimmter Faktoren in Lehr- und Lernkontexten Einsatz - large-scale - landesweite Untersuchungen wie etwa DESI oder der Ländervergleich - small-scale - etwa das eigene Klassenzimmer • large-scale - formale, standardisierte Tests - operationalisieren ein theoretisches Konstrukt - müssen Gütekriterien genügen - formal erprobt (pilotiert) - generalisierbare Ergebnisse bei repräsentativer Stichprobe • small-scale - kleine Stichprobe, oft das eigene Klasszimmer - keine generalisierbaren Ergebnisse 5.2.8 Testen 217 Auswirkungen - high-stakes Tests ziehen Berechtigungen nach sich - low-stakes Tests haben i. d. R. keine an sie gebundenen Berechtigungen Testarten • Kompetenztest erfasst handlungsbezogene Sprachkompetenzen, unabhängig von Curricula und spezifischen Lehr-/ Lernkontexten • Lernerfolgskontrolle ist ausgerichtet auf die Bereiche und Inhalte, die in einem bestimmten Zeitraum in einem bestimmten Kontext gelehrt wurden • Diagnosetest erfasst durch groβe Anzahl von Aufgaben detaillierte Aspekte, ermöglicht Rückschlüsse auf Stärken und Schwächen der Lernenden • Einstufungstest bestimmt mit geringem Aufwand Zulassung zu einem bestimmten Programm, oft mittels Indikatoren formativ/ summativ • formative Beurteilung: lernfördernd und entwickelnd • summative Tests: Fokus auf Können zu einem bestimmten Zeitpunkt norm-/ kriterienorientiert • normorientiert: Ausrichtung eines Tests auf eine bestimmte Bezugsgruppe • kriterienorientiert: Ausrichtung auf inhaltlich-qualitative Kriterien Tabelle 1: Übersicht Begrifflichkeit zum Testen Eine Besonderheit von Tests sei hier erwähnt: In der Fremdsprachenforschung kommt Tests eine duale Rolle zu. Sie können als Forschungsinstrument zur Datenerhebung und Leistungsmessung dienen. Sie können aber auch zum Gegenstand der (interdisziplinären) Forschung werden, wenn es darum geht, neu entwickelte Instrumente auf ihre Güte hin zu überprüfen und sie zu validieren (Testanalyse und -validierung, z. B. Bachman/ Palmer 2010 ; Lienert/ Raatz 1998 ), oder Auswirkungen von Tests zu untersuchen (prädiktive, systemische Validität, z. B. Weir 2005 , Washback -Studien, vgl. etwa Green 2007 ; Wall 2005 ). 2 Gütekriterien Da in beiden Einsatzbereichen die Güte der Testinstrumente eine zentrale Rolle spielt, sollen hier die wichtigsten Qualitätskriterien aufgelistet werden (Bachman 2004 ; Bachman/ Kunnan 2005 ; Douglas 2010 ; Grotjahn 2007 ). Die bekanntesten Kriterien umfassen Reliabilität und Validität. Reliabilität bezieht sich auf die Messkonsistenz oder Zuverlässigkeit der Messung und wird in der Regel statistisch geprüft, etwa durch den Index Cronbachs Alpha. Reliabilität umfasst auch Aspekte der Bewertungskonsistenz, welche ebenfalls statistisch ermittelt wird (s. etwa die Studien von Harsch/ Martin 2012 , 2013 ). Objektivität bezieht sich auf die Unabhängigkeit der Beurteilung von den Beurteilenden oder dem Beurteilungsinstrument und ist eine Voraussetzung für Reliabilität, ebenso wie 218 5. Forschungsverfahren Reliabilität als Voraussetzung der Validität betrachtet wird. Validität bezieht sich auf die Frage, ob ein Test das misst, was er zu messen vorgibt, ob er also die Kompetenzen und Fähigkeiten erfasst, auf die hin er ausgelegt wurde. Validität wird zunehmend von einer qualitativen Warte aus diskutiert und untersucht (z. B. Kane 2001 ; Messick 1989 ; Weir 2005 oder die Validierungsstudie von Rossa 2012 , die in Abschnitt 5 vorgestellt wird). Die Validierung eines Tests zieht sich idealiter durch den gesamten Testentwicklungsprozess und den eigentlichen Testeinsatz, um in jeder Phase empirische Belege sammeln zu können (s. Abschnitt 3 ). Manche Forschenden beziehen auch die Auswirkungen von Tests in die Validitätsforschung mit ein. Die Konsequenzen und Auswirkungen von Tests auf die Kontexte, in denen sie zum Einsatz kommen, werden im Bereich der sog. consequential validity (Weir 2005 ) oder auch systemischen Validität untersucht. Dem Kriterium der Praktikabilität kommt insofern Bedeutung zu, als dass Testentwicklung ein ressourcenintensives Vorhaben ist, so dass begrenzte Ressourcen Auswirkungen auf die Testgüte haben können. Praktikabilität spielt aber auch beim Einsatz von Tests eine Rolle, denn die Durchführung der Tests muss praktikabel und die Beantwortung der Testaufgaben machbar sein. Vermehrt werden auch ethische Aspekte als Qualitätskriterium diskutiert (vgl. etwa den ILTA Code of Ethics 2018 oder McNamara/ Roever 2006 ); Testethik umfasst Aspekte der Testentwicklung ebenso wie die des Testeinsatzes und des Nutzens von Testergebnissen. Hier sollten, wie bei allen anderen Forschungsinstrumenten zur Datengewinnung, die geltenden Standards der Forschungsethik zur Anwendung kommen (s. Kap. 4 . 6 ). 3 Testentwicklung und -analyse Im Folgenden werden zentrale Schritte der Testentwicklung und -analyse (vgl. auch ALTE 2011 ) näher beleuchtet, da sie eine unmittelbare Auswirkung auf die Güte der Testinstrumente haben. Auch wenn in der fremdsprachlichen Forschung oft bestehende und bereits validierte Tests als Forschungsinstrumente eingesetzt werden, ist dennoch Grundlagenwissen im Bereich der Testentwicklung und -analyse nötig, um das geeignete Instrument auszuwählen 16 . Testentwicklung und Testanalyse gehören einem iterativen, zyklischen Prozess an, der im Idealfall mit der Bedarfsanalyse beginnt; hier werden Einsatzzweck, Zielgruppe und zu testende Bereiche (Konstrukte) bestimmt, ehe das eigentliche Testentwicklungsprojekt geplant werden kann. Sind Fragen der Praktikabilität und der Zuständigkeiten in der Testentwicklung geklärt, muss der Test in sog. Spezifikationen zunächst charakterisiert und beschrieben werden. Insbesondere der Definition des zugrunde liegenden Konstrukts kommt besondere Bedeutung zu, ist dies doch die Grundlage der weiteren Testentwicklung und Validierung. Auf Basis der Spezifikationen können das Konstrukt operationalisiert und Testaufgaben konstruiert werden. Diese müssen in einem weiteren Schritt pilotiert werden; die statistische und qualitative Analyse (s. unten) der Pilotdaten liefert erste Hinweise zur Güte und sollte idealiter zur Revision derjenigen Testaufgaben führen, die den Gütekriterien nicht genügen. In dieser Phase können qualitative Experteneinschätzungen zur Inhalts- und Konstruktvalidierung der Testaufgaben eingesetzt werden, ebenso wie Verfahren der Introspektion (s. Kap. 5 . 2 . 5 ), um mentale Prozesse der Testprobanden zu un- 16 Vgl. auch die Checkliste zur Auswahl bestehender Testinstrumente in Harsch 2012 : 161 - 162 . tersuchen und so zur kognitiven Validierung beizutragen. Revidierte Aufgaben sollten neu pilotiert und reanalysiert werden. Genügen die Tests den Gütekriterien, können sie zum Einsatz kommen (s. Abschnitt 4 ). Die Daten der eigentlichen Testdurchführung müssen wiederum einer statistischen und qualitativen Analyse standhalten, um zu verlässlichen Ergebnisrückmeldungen zu kommen. Nun können sich Validierungsstudien anschlieβen, etwa um kriterienbezogene Validität im direkten Vergleich zu bereits validierten Testinstrumenten zu untersuchen, oder um Impact - und Washback -Effekte zu erforschen. Tests, die regelmäßig zum Einsatz kommen, sollten fortlaufend auf ihre Güte und ihre Effekte hin evaluiert und ggf. revidiert werden. Testanalysen umschließen i. d. R. qualitative und quantitative Aspekte (z. B. Bachman 2004 ; Bortz/ Döring 2002 ; Lienert/ Raatz 1998 ). Statistische Itemanalysen können mittels der klassischen Testtheorie oder mittels der Item-Response-Theory ( IRT ) ausgeführt werden, wobei nur letztere relativierbare Aussagen in Bezug auf die Schwierigkeiten der Testaufgaben zulassen. Klassische Analysen hingegen beziehen sich immer nur auf die Probandengruppe, die den Test auch tatsächlich abgelegt hat. Regelmäßig werden Testaufgaben klassisch auf ihre Reliabilität, ihre Lösungshäufigkeiten und ihre Diskriminanz untersucht, ebenso wie auf die Funktionalität ihrer Distraktoren und auf etwaigen Bias, die Begünstigung oder Benachteiligung bestimmter Gruppen. IRT -Analysen untersuchen diese Aspekte ebenfalls, doch sie haben den Vorteil, dass sie Probandenfähigkeiten und Aufgabenschwierigkeiten auf derselben Skala abbilden; allerdings benötigt man für sie hinreichend große Stichproben (s. auch Kap. 5 . 3 . 12 ). Testaufgaben, die produktive Fertigkeiten erfassen, verlangen zusätzlich die Konstruktion von Bewertungskriterien und die Untersuchung der Bewerterreliabilitäten. Bei der Konstruktion der Bewertungskriterien und -raster können theoretische Modelle oder Leistungen der Lernenden als Basis genutzt werden (Fulcher 1996 ); die Bewertungsraster müssen erprobt und validiert werden (vgl. die Validierungsstudie von Harsch/ Martin 2012 ). Bei der Untersuchung der Bewertungsreliabilität können IRT -Analysen (Multifacetten-Modelle, Eckes 2011 ) wertvolle Hilfe leisten, da sie Bewertungsstrenge, Aufgabenschwierigkeiten und Probandenfähigkeiten berücksichtigen (z. B. die Studie von Harsch/ Rupp 2011 ). Dazu können qualitative Studien zum Verhalten der BewerterInnen treten, um die Güte und Validität der Auswertung zu evaluieren (z. B. Lumley 2005 oder Arras 2007 ). 4 Einsatz von Tests als Untersuchungsinstrument Im Folgenden wird anhand von Forschungsarbeiten dargestellt, wozu Tests als Untersuchungsinstrumente in der Fremdsprachenforschung eingesetzt werden können. Dabei werde ich auf zwei Bereiche eingehen, den der Interventionsstudien und den Bereich der standardisierten Leistungsmessungen. Die Referenzarbeit von Biebricher ( 2008 , s. Kap. 7) und die Arbeit von Rumlich ( 2012 ) illustrieren Interventionsstudien mit (quasi-) experimentalen Prä-/ Posttest-Designs. In diesem Untersuchungsdesign helfen Tests, Effekte von Interventionen festzustellen. Dabei werden Tests vor und nach der Intervention eingesetzt, um Leistungsunterschiede zu messen. Hier ist zu beachten, dass vergleichbare Tests zum Einsatz kommen müssen, um 5.2.8 Testen 219 220 5. Forschungsverfahren Effekte der Intervention, und nicht etwa Einflüsse der unterschiedlichen Tests zu messen. Dabei kann es helfen, standardisierte und bereits kalibrierte Testinstrumente zu wählen, deren Schwierigkeiten bekannt sind und die ein vergleichbares Konstrukt messen. Bei Biebricher ( 2008 ) etwa kommen erprobte und validierte standardisierte Testaufgaben aus dem Cambridge Proficiency English -Test PET zur Prä- und Posttestung zum Einsatz, um die Auswirkungen extensiven Lesens auf die Lese- und Sprachkompetenz von RealschülerInnen zu untersuchen; diese werden während der Intervention durch nicht-standardisierte Leseproben begleitet. In einem ähnlichen quasi-experimentellen Design untersucht Rumlich ( 2012 ) die Auswirkung bilingualen Unterrichts in einer Longitudinalstudie. Zu drei Messzeitpunkten setzt er erprobte Tests ein, unter anderem die C-Tests aus der KESS -Studie und zwei Schreibaufgaben aus VERA 6 . Die Referenzarbeit von Marx ( 2005 , s. Kap. 7 ) illustriert ein Studiendesign, das zwei balancierte Gruppen vergleicht (nur die Experimentalgruppe erhält eine Intervention). Hierbei liegt der Fokus lediglich auf dem Vergleich des Lernstands zwischen den beiden Gruppen und nicht wie oben auf dem Lernzuwachs, sodass eine Prä-/ Posttestung entfallen kann. Da in beiden Gruppen dieselben informellen Lernerfolgstests parallel eingesetzt werden, sind die Ergebnisse direkt vergleichbar. Kommen selbst entwickelte Tests zum Einsatz, ist deren Gütebestimmung wichtig (s. Abschnitt 3 ). Es gilt dabei, die oben erwähnten Schritte der Testentwicklung zu beachten, um von einem theoriegeleiteten Konstrukt zu einem validen und reliablen Messinstrument zu kommen. Biebricher ( 2008 ) dokumentiert eine gelungene C-Test-Entwicklung, ausgelegt auf ihre Studienzwecke und die Zielgruppe. Bei allen Testeinsätzen muss beachtet werden, dass diese in der Zielgruppe zunächst pilotiert werden sollten, selbst wenn standardisierte und kalibrierte Tests ausgewählt wurden, wie dies zum Beispiel von Biebricher ( 2008 ) oder Rumlich ( 2012 ) berichtet wird. Kommen selbst entwickelte Tests zum Einsatz, ist die Pilotierung umso wichtiger, will man doch sicherstellen, dass die Tests das intendierte Konstrukt valide messen und dass die Testversionen der Prä- und Posttestung vergleichbare Ansprüche stellen. Biebricher ( 2008 ) etwa schaltet ihrer Hauptuntersuchung eine Pilotphase und eine Vorstudie vor, um die Testinstrumente in ihrer Zielgruppe auf ihre Reliabilität und Eignung zu prüfen. Bei Prä-/ Posttest-Designs sollte bedacht werden, dass nicht derselbe Test zu beiden Messzeitpunkten eingesetzt wird, um nicht Interventionseffekte mit dem Lernzuwachs zu konfundieren, der alleine durch das wiederholte Ablegen desselben Tests erzielt wird. Dazu kann es hilfreich sein, zwei vergleichbare Testversionen, etwa auf Basis der Pilotierung, zu erstellen und diese zu beiden Zeitpunkten in einem gekreuzten Design einzusetzen: In beiden Gruppen (Experimental- und Kontrollgruppe) kommen zu jedem Messzeitpunkt beide Versionen zum Einsatz, doch jede/ r SchülerIn bearbeitet je eine andere Version zu den beiden Zeitpunkten. Wenn beide Versionen sog. Ankeritems enthalten (Testaufgaben, die in beiden Versionen vorkommen), können die Testergebnisse verlinkt werden. Bei genügend großer Stichprobe leisten IRT -Analysen (s. oben) wertvolle Hilfe. Um Veränderungen im Leistungszuwachs zu verschiedenenen Messzeitpunkten und in verschiedenen Gruppen zu untersuchen, werden i. d. R. statistische Signifikanztests und Varianzanalysen ( ANOVA ) durchgeführt. 5.2.8 Testen 221 Nicht nur Tests, auch die Zusammensetzung und Auswahl der Untersuchungsgruppen kann die Forschungsergebnisse beeinflussen. Um SchülerInnen in vergleichbar leistungsstarke Untersuchungsgruppen (in Experimentaldesigns Experimental- und Kontrollgruppen genannt) einzuteilen, können Einstufungstests hiflreiche Dienste leisten. Hier nutzt etwa Biebricher ( 2008 ) die erwähnten selbst entwickelten C-Tests zur Gruppeneinteilung. Aber auch wenn es darum geht, ProbandInnen auszuwählen, die sich in ihrer Leistungsstärke unterscheiden, können C-Tests zum Einsatz kommen, wie Rossa ( 2012 ) exemplifiziert: Er nutzt die in der DESI -Studie erprobten C-Tests, um leistungsstarke und leistungsschwache SchülerInnen auszuwählen, deren Hörverstehensprozesse er dann duch Lautes Denken untersucht und vergleicht. Die Testinstrumente in Interventionsstudien werden in der Regel flankiert durch weitere, auch qualitative Instrumente, um die Testdaten anzureichern und quantitative Befunde erklären zu können. Marx ( 2005 ) etwa nutzt retrospektive Befragungen (s. Kap. 5 . 2 . 4 ); Biebricher ( 2008 ) setzt neben Fragebögen Beobachtungen (s. Kap. 5 . 2 . 3 ), Leitfadeninterviews und impulsgestützte Stellungnahmen sowie nicht-standardisierte Leseproben ein. Der Forschungsbereich der standardisierten Leistungsuntersuchungen soll hier durch die large-scale Schulleistungsstudie Deutsch-Englisch Schülerleistungen International ( DESI ; DESI -Konsortium 2008 ) und den KMK -Ländervergleich (Köller/ Knigge/ Tesch 2010 ; Weiterführung als IQB -Bildungstrend Sprachen) illustriert werden. Bei DESI wurden Sprachkompetenztests in einem Längsschnittdesign summativ zum Systemmonitoring für den Sprachunterricht eingesetzt, begleitet durch Fragebögen und Unterrichtsvideografie: „Als bundesweit repräsentative Untersuchung und durch ihre breitgefächerte Anlage ermöglicht die Studie differenzierte Aussagen über Lehr-Lernprozesse und den Erwerb sprachlicher Kompetenzen, die für Unterrichtspraxis, Lehrerbildung und Bildungspolitik gleichermaßen wichtig sind“ (Klieme 2008 : 1 ). Hierzu wurden die Kompetenztests und Fragebogeninstrumente auf Basis von Curriculumanalysen und theoretischen Konstrukten entwickelt, pilotiert und validiert, ehe sie zum Einsatz kamen (Beck/ Klieme 2007 ). Die repräsentative Stichprobe erlaubt Rückschlüsse auf die Gesamtheit der Schülerinnen und Schüler in der neunten Jahrgangsstufe. Diese Generalisierbarkeit ist auch für den KMK -Ländervergleich gegeben, der dem Bildungsmonitoring dient. Den Rahmen des Bildungsmonitorings bilden die 2003 bzw. 2004 verabschiedeten Bildungsstandards der KMK , die die „Gleichwertigkeit der schulischen Ausbildung und der Schulabschlüsse in den Ländern“ (Köller/ Knigge/ Tesch 2010 : 9 ) sicherstellen sollen. Folgerichtig wurden die Bildungsstandards in kompetenzorientierte Testaufgaben operationalisiert, die am IQB Berlin pilotiert, validiert und normiert wurden (s. hierzu auch die Ausführungen unten in Abschnitt 6 ). Der Ländervergleich überprüft nun, inwieweit die Bildungsstandards in den Ländern auch erreicht werden. Dabei ist zu beachten, dass solche groß angelegten Schulleistungsstudien nicht den Anspruch erheben, Aussagen bezogen auf individuelle Lernende oder deren individuelle Lernfortschritte zu treffen. Es geht vielmehr um generalisierbare Rückschlüsse auf die Gesamtheit der Lernenden im Schulsytem. 222 5. Forschungsverfahren Testeinsatz und Durchführung Die folgenden Ausführungen wenden sich wieder den small-scale Studien zu, denn FremdsprachenforscherInnen werden Tests meist in Studien einsetzen, die vergleichsweise klein angelegt sind; große Schulleistungsstudien werden i. d. R. durch Testinstitute durchgeführt. Ist das Forschungsdesign geplant, sind die Konstrukte bestimmt und die Testinstrumente und Bewertungsschemata entwickelt, erprobt und auf ihre Güte hin analysiert, können sie eingesetzt werden. Alternativ können existente Tests zum Einsatz kommen, wenn sie auf ihre Passung für ein bestimmtes Forschungsvorhaben geprüft sind und Nutzungsrechte eingeholt werden konnten. Vor jedem Einsatz eines existenten Testinstruments ist zu prüfen, ob der Einsatzbereich, in dem ein bestimmter Test verwendet werden soll, auch mit den Zwecken, Bereichen und Zielgruppen vereinbar ist, für die der Test ursprünglich validiert wurde. Andernfalls riskiert man, nicht-valide Daten zu erheben. Sind Konstrukte, Kontexte, Zwecke und Ziele vereinbar, muss eine geeignete Stichprobe gefunden und müssen Genehmigungen zur Datenerhebung eingeholt werden. Gerade bei Untersuchungen an Schulen müssen gesetzliche Regelungen (etwa Elterngenehmigungen) beachtet werden, die je nach Bundesland variieren. Der Testeinsatz selbst, soll er unter standardisierten Bedingungen ablaufen, erfordert eventuell die Schulung von TestleiterInnen und das Erstellen von Testleitungsskripten, die helfen den Ablauf am Testtag zu regeln. Werden Hörverstehens- oder Hör-/ Sehverstehenstests eingesetzt, müssen geeignete Abspielgeräte bereitgestellt werden. Die Durchführung mündlicher Tests sollte durch geschulte Personen durchgeführt werden; die Lernerleistungen sollten idealiter für spätere Analysen aufgezeichnet werden. Ist dies nicht möglich, müssen sie simultan während der Erhebung bewertet werden; dies könnte jedoch die Transparenz und Nachvollziehbarkeit der Bewertung beeinflussen. Die Bewertung produktiver Leistungen erfordert ein Training der BewerterInnen. Hier haben sich sog. Benchmark -Texte bewährt, Leitsungen von Lernenden also, die ein bestimmtes Kriterium und Niveau illustrieren. Sie können beispielsweise aus den Pilotierungen gewonnen werden. Generell muss die Auswertung der Tests geplant und organisiert werden, ebenso wie die Dateneingabe, Bereinigung und Aufbereitung, bevor die Daten analysiert werden können. Es empfiehlt sich, den teilnehmenden ProbandInnen (Lernenden wie Lehrenden) (ggf. vorläufige) Ergebnisse zeitnah rückzumelden. Hierfür sollten die Ergebnisse in einer für die Teilnehmenden nützlichen Weise aufbereitet werden. Für Rückmeldung und weitere Auswertungen muss entschieden werden, wie die Daten ausgewertet und aufbereitet werden sollen. Dies hängt wiederum vom Zweck der Untersuchung und den Forschungsfragen ab, ebenso wie von der Gröβe der Stichprobe. Bei groβen Stichproben werden Testdaten i. d. R. IRT -skaliert (s. oben). Die resultierende Kompetenzskala kann ggf. in Kompetenzniveaus eingeteilt werden über sog. Standard-Setting Verfahren (s. z. B. Cizek/ Bunch 2007 für einen Überblick über verschiedene Methoden). Oft werden Fremdsprachentests dabei an den Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen (Council of Europe 2018 , Europarat 2001 ) angebunden; das Manual for Relating Examinations to the CEFR (Council of Europe 2009 ) gibt Hilfestellung bei der Durchführung. Ein Beispiel für solch eine Anbindungsstudie findet sich in Harsch/ Pant/ Köller ( 2010 ). 5.2.8 Testentwicklung zur Erhebung, Messung und Beurteilung fremdsprachlicher Lernleistungen und Lernstände Zwecke Kompetenztests, Diagnosetests, Lernerfolgskontrollen, Einstufungstests etc. Validierung als begleitender Prozess von Bedarfsanalyse bis Testevaluation Planung Spezifikation Konstruktdefinition Operationalisierung: Konstruktion der Items/ tasks und Bewertungskriterien Pilotierung Analyse Revision Testeinsatz Testauswertung Bedarfsanalyse Testevaluation Gütekriterien Reliabilität, Validität, Objektivität, Praktikabilität, Testethik © 2022 ⚫ Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Grafik nach: ALTE (2011): Manual for Language Test Development and Examining, fig. 15, S. 47 (https: / / rm.coe.int/ manual-for-language-test-development-and-examining-for-use-with-the-ce/ 1680667a2b) 224 5. Forschungsverfahren 5 Testinstrumente als Untersuchungsgegenstand Wie oben angedeutet, kommt Tests in der Fremdsprachenforschung eine duale Bedeutung zu - sie werden oft vor ihrem eigentlichen Einsatz zum Gegenstand der Forschung. Dieser Bereich soll hier knapp anhand von Validierungsstudien, begleitender Forschung in der Testentwicklung und Impact-/ Washback -Studien dargestellt werden. Den Bereich der Validierungsstudien soll die Arbeit von Rossa ( 2012 ) illustrieren. Er untersucht die Konstruktvalidität der Hörverstehenstestaufgaben aus der DESI -Studie. Mittels introspektiver Verfahren (s. Kap. 5 . 2 . 5 ) elizitiert er mentale Prozesse von Testteilnehmenden, wobei er kompetente und weniger kompetente Lernende vergleicht; die Gruppenzuteilung erfolgt mittels der DESI C-Tests. Die Referenzarbeit von Arras ( 2007 ) kann ebenfalls dem Bereich der Validierungsstudien zugeordnet werden. Sie erforscht Strategien von Beurteilenden und Prozesse bei der Bewertung schriftlicher Leistungen im TestDaF. In ihrer Studie werden introspektive Erhebungsverfahren eingesetzt, um Beurteilungsvalidität zu untersuchen. Die begleitende Forschung in der Testentwicklung wird am Beispiel der Studien von Harsch/ Rupp ( 2011 ) und Harsch/ Martin ( 2012 , 2013 ) illustriert, die die Testentwicklung zur Evaluation der Bildungsstandards am IQB Berlin, insbesondere die Entwicklung der Schreibaufgaben und die Validierung der Bewertungsskalen, begleitete. Der Bereich der Impact-/ Washback -Studien gewinnt zunehmende Bedeutung, um die Auswirkungen von Tests in ihren bildungs- und sozialpolitischen Kontexten zu untersuchen. Eine Übersicht über solche Studien findet sich in Taylor/ Weir ( 2009 ). Green ( 2007 ) und Wall ( 2005 ) beispielsweise untersuchen die Auswirkungen von high-stakes Tests auf Fremdsprachenunterricht in verschiedenen Kontexten. 6 Potenzial des Einsatzes von Testinstrumenten Testinstrumente sind in zahlreichen Studien erfolgreich eingesetzt worden, um empirische Daten zur Leistungsmessung zu gewinnen. Selbstredend erfordern Testentwicklung und Testeinsatz ein ausreichendes Maß an Sachwissen und Expertise, um verantwortungsvoll mit Tests und ihren Auswirkungen umzugehen, sei es in der Forschung, im Klassenzimmer oder in der Bildungspolitik. Dieser Bereich der assessment literacy erfährt zunehmend Aufmerksamkeit, scheint es doch gerade hier großen Bedarf unter allen an der Beurteilung Beteiligten zu geben (z. B. Fulcher 2012 ). Zur Förderung der assessment literacy bieten Standardwerke zu Testen und Beurteilung einen ersten Einstieg (etwa Bachman/ Palmer 2010 ; Dlaska/ Krekeler 2009 ; Douglas 2010 ; Fulcher 2010; Hinger/ Stadler 2018 ); die Internetseite von Glenn Fulcher (http: / / languagetesting.info) bietet aktuelle Informationen zu Beurteilen und Testen. Darüber hinaus bieten Gesellschaften wie ALTE (www.alte.org), EALTA (www.ealta.eu.org) oder ILTA (www.iltaonline.com) regelmäßig Fortbildungsangebote in Form von Sommerschulen und Workshops an. Standardisierte Testverfahren haben gegenüber anderen Formen der Leistungserhebung den Vorteil, vergleichbare und verlässliche Daten zu erheben, die bei geeigneter Stichprobengröße und -zusammensetzung Aussagen auf Populationen und Vergleiche über Bezugsgruppen hinweg ermöglichen. In Interventionsstudien sind reliable und valide Testdaten eine der Voraussetzungen, um Effekte von Interventionen zu evaluieren. 5.2.8 Testen 225 Tests erlauben auch die Untersuchung des Einflusses bestimmter Faktoren auf die Kompetenzentwicklung, sowie die Erforschung der Struktur von Kompetenzen, etwa über Regressionsanalysen und Strukturgleichungsmodelle (vgl. Kap. 5 . 3 . 12 ). Diese empirisch basierten Studien sind in der deutschen Fremdsprachenforschung, wie überhaupt in der deutschen Bildungspolitik, ein relatives Novum und werden teils kritisch rezipiert. Bei aller berechtigten Kritik (etwa gegen extensives Testen, das alleine nicht zur Verbesserung des Unterrichts führt) muss jedoch das Potential guter Tests als Forschungs- und Evaluationsinstrument anerkannt werden: Zur Erhebung reliabler valider empirischer Daten zu bestimmten Messzeitpunkten sind Tests unerlässlich; zudem ermöglichen standardisierte Tests Vergleichbarkeit und Gerechtigkeit dadurch, dass derselbe kalibrierte und validierte Maßstab an alle Testteilnehmenden angelegt wird. Werden Tests um qualitative Instrumente und Zugänge ergänzt, wie dies häufig in der Interventions- und testbegleitenden Forschung geschieht, so erlauben solche mixed-methods Forschungsdesigns (s. Kap. 3 . 3 ; Creswell/ Plano Clark 2017 ) eine umfassendere Sicht auf die Forschungsfragen, als dies mit rein quantitativen oder rein qualitativen Designs möglich wäre. › Literatur Forschungsarbeiten, in denen die hier erläuterten Verfahren angewendet werden, sind mit einem Sternchen markiert. *Arras, Ulrike (2007). Wie beurteilen wir Leistung in der Fremdsprache? Strategien und Prozesse bei der Beurteilung schriftlicher Leistungen in der Fremdsprache am Beispiel der Prüfung Test Deutsch als Fremdsprache (TestDaF). Tübingen: Narr. [Referenzarbeit, s. Kap. 7] Association of Language Testers in Europe (2011). Manual for Language Test Development and Examining . [Online: https: / / www.alte.org/ resources/ Documents/ ManualLanguageTest-Alte2011_ EN.pdf] (02.12.2020) Association of Language Testers in Europe ALTE (2020). Principles of good practice . 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(2010). Language assessment in practice. Oxford: Oxford University Press. Diese Monographie ist eines der Standardwerke in der Testliteratur; sie diskutiert alle wesentlichen Aspekte des Designs, der Entwicklung und des Nutzens von Sprachtestes und Sprachbeurteilung. Insbesondere die Ausführungen zum Assessment Use Argument sind bemerkenswert, da sie die Testnutzung und den Einsatz von Beurteilung in den Mittelpunkt rücken. 228 5. Forschungsverfahren Hinger, Barbara/ Stadler, Wolfgang (2018). Testen und Bewerten fremdsprachlicher Kompetenzen. Tübingen: Narr. Dieses Studienbuch wendet sich sowohl an Studierende als auch PraktikerInnen und gibt einen guten Einblick in die relevanten Aspekte des Testen und Bewertens. Dabei werden der aktuelle Forschungsstand und praktische Anwendungsbeispiele mit einbezogen. Douglas, Dan (2010). Understanding Language Testing. London: Hodder Education. Dieser Band bietet eine kurze und leicht verständliche Einführung in die Natur, Entwicklung, Analyse und den Einsatz von Sprachtests. Harsch, Claudia ( 2012 ). Der Einsatz von Sprachtests in der Fremdsprachenforschung: Tests als Untersuchungsgegenstand und Forschungsinstrument. In: Doff, Sabine (Hg.). Fremdsprachenunterricht empirisch erforschen: Grundlagen, Methoden, Anwendung. Tübingen: Narr, 150-183. In diesem forschungsmethodischen Artikel werden Sprachtests in ihrer dualen Funktion als Forschungsinstrument und Untersuchungsgegenstand der Testforschung und -evaluation ausführlich dargestellt. Ausgehend von Qualitäts- und Gütekriterien diskutiert die Autorin Aspekte der Testanalyse, der weiterführenden Forschung zur Validierung, zur Bildung von Kompetenzniveaus und zur Evaluation der Auswirkungen von Tests. Der Beitrag bietet u. a. eine Checkliste, die die Analyse und Auswahl angemessener Tests für die eigene Forschung erleichtern soll. Darüber hinaus werden die grundsätzlichen Schritte des Testeinsatzes in Forschungsprojekten praxisorientiert beschrieben. Kunnan, Anthony J. (Hg.) (2013). The Companion to Language Assessment. Oxford: Wiley- Blackwell. Dieses vier Bände umfassende Werk gibt einen Überblick über das Gebiet der Sprachbeurteilung und -bewertung. Das Referenzwerk deckt 140 Aspekte der Beurteilung in einer Vielzahl von Kontexten ab. Es wendet sich an Forschende, Praktiker und Lehrkräfte auf dem Gebiet des fremdsprachlichen Lehrens und Beurteilens. 5.3 Aufbereitung und Analyse von Dokumenten, Texten und Daten Karen Schramm Nicht erst dann, wenn wichtige Etappen des Forschungsprozesses wie die Gewinnung von Dokumenten, Texten oder Daten geschafft sind, stellt sich für den erfolgreichen Abschluss eines fremdsprachendidaktischen Forschungsprojekts die Frage nach einer zielführenden Aufbereitung und Analyse der Daten: Sie sollte bereits bei der Design-Erstellung Berücksichtigung finden. Das Methodenspektrum ist diesbezüglich ähnlich breit gefächert wie in Bezug auf die Gewinnung von Dokumenten, Texten und Daten (Kap. 5 . 2 ). Es reicht von der Analyse historischer Quellen und von interpretativen Vorgehensweisen in Bezug auf deren Inhalte, Bedeutungen, Muster und Beziehungen (z. B. hermeneutische Verfahren, Grounded Theory , Dokumentarische Methode und Inhaltsanalyse) über Möglichkeiten der 5.3 Aufbereitung und Analyse von Dokumenten, Texten und Daten 229 Typenbildung zu interpretativen Vorgehensweisen in Bezug auf linguistische Aspekte (z. B. diskursanalytische Auswertungsmethoden, Analysen von Lernersprache) bis zu statistischen Verfahren (z. B. deskriptive und inferentielle Statistik oder exploratorische und konfirmatorische Faktorenanalyse). Aufbereitung Die zuvor notwendige Aufbereitung ist dabei keinesfalls als mechanisches Vorgehen zu verstehen, sondern bereits als interpretativer Teil des Auswertungsprozesses. Sie sollte deshalb in diesem Sinne reflektiert und begründet werden. Beispielsweise stellt sich bei der Aufbereitung mündlicher Daten in Form von Transkripten die Frage nach einer zielführenden Genauigkeit: Sollten bei Interviews beispielsweise Phänomene der Mündlichkeit wie dialektale Färbung, Reparaturen oder sprachliche Fehler originalgetreu transkribiert oder sollte lieber eine geglättete Version erstellt werden? Erfordert die Transkription einer videografierten Unterrichtssequenz beispielsweise die genaue Dokumentation der Intonation, wie sie im Deutschen bei den Interjektionen (wie dem zustimmenden oder ablehnenden „hmhm“) bedeutungsunterscheidend ist, und welche nonverbalen und aktionalen Handlungen sollen bei der Transkription Berücksichtigung finden? Diese Beispiele zeigen, dass Transkriptionen kein simples, medial schriftliches Abbild mündlicher Daten sind, sondern dass diesbezüglich vor dem Hintergrund des Analyseziels und -verfahrens zahlreiche Entscheidungen begründet zu treffen sind. Die Vielzahl an Transkriptionsprogrammen wurde bereits in Kapitel 5 . 2 . 6 behandelt; im Zusammenhang mit diskursanalytischen Auswertungsmethoden wird in Kapitel 5 . 3 . 7 auch die Frage nach Transkriptionssystemen gestellt, die in unterschiedlichen theoretischen Schulen entwickelt wurden - und damit noch einmal den interpretativen Charakter einer Datenaufbereitung illustrieren. Dieser trifft, wenn auch in geringerem Maße, ebenfalls auf die Aufbereitung von quantitativen Daten sowie von Dokumenten und Texten zu. Allgemeine Fragen der Datenaufbereitung betreffen u. a. die digitalen Möglichkeiten der Speicherung und Abfrage in projektspezifischen oder sogar öffentlich zugänglichen Datenbanken. Hier sind z. B. die Bereitstellung von Transkript-Korpora oder die Digitalisierung von historischen Quellen von Interesse. Als Beispiele für spezifische Aspekte der Datenaufbereitung sind für die Fremdsprachendidaktik u. a. Übersetzungen und Transliterationen relevant. Bei der Arbeit mit Übersetzungen ist beispielsweise zu überdenken, ob sich eine aufbereitende Übersetzung nicht eher nachteilig auf die Analyse - beispielsweise das Erkennen latenter Sinnstrukturen - auswirkt. Digitale Transliterationen handschriftlicher Produkte erweisen sich ebenfalls als non-triviales Unterfangen, wenn Bearbeitungsspuren, nicht eindeutig erkennbare Buchstaben von Schreibanfänger*innen, graphische Elemente o. ä. eine dem Untersuchungsgegenstand angemessene Aufbereitung erfahren sollen. Forschungen, die nicht-lateinische Alphabetschriften (wie die kyrillische oder griechische) oder nicht-alphabetische Schriften (wie chinesische Schriftzeichen) involvieren, können ebenfalls zielführende Aufbereitungen zu Zwecken der Analyse oder der Präsentation erfordern. 230 5. Forschungsverfahren Analyse Bei der Analyse bedienen sich historische und theoretische Forschungen (s. Kap. 3 . 1 und 3 . 2 ) grundsätzlich interpretativer Verfahren; in Bezug auf empirische Studien (s. Kap. 3 . 3 ) lassen sich dagegen bei der Datenanalyse interpretative und statistische Vorgehensweisen unterscheiden. Die Analyse historischer Quellen (s. Kap. 5 . 3 . 1 ) orientiert sich an aus der Geschichtswissenschaft übernommenen Verfahren wie der historischen Diskursanalyse oder der Quellenkritik, während für hermeneutische Verfahren (s. Kap. 5 . 3 . 2 ) in Orientierung an philosophische und philologische Traditionen die Auslegung von Texten ausschlaggebend ist. Diese Analyseverfahren sind verwandt mit interpretativen Verfahren zur Analyse empirischer Daten wie der Grounded Theory (s. Kap. 5 . 3 . 3 ) und der Dokumentarischen Methode (s. Kap. 5 . 3 . 4 ) oder der Inhaltsanalyse (s. Kap. 5 . 3 . 5 ), welche von der Fremdsprachendidaktik vorrangig aus den Sozial- und Verhaltenswissenschaften übernommen bzw. für eigene Zwecke adaptiert wurden. Sie stellen beispielsweise Überlegungen zu Kodiervorgängen oder zu Zusammenfassungen ins Zentrum; dabei ist eine gängige Unterscheidung die zwischen datenexpandierenden und datenreduzierenden Verfahren. Auch Überlegungen zu Typenbildung (s. Kap. 5 . 3 . 6 ) sind vorrangig von diesen Bezugswissenschaften inspiriert. Allerdings handelt es sich hierbei im Gegensatz zu den gerade genannten Verfahren um ein Vorgehen, das auf bereits ausgewertete Daten angewendet wird, um auf einer höheren Ebene ‚Ordnung zu schaffen‘. Auch von der wichtigen Bezugsdisziplin der Linguistik sind zahlreiche in der Fremdsprachendidaktik eingesetzte Analyseverfahren stark beeinflusst. Der Pragmalinguistik entlehnt sind diskursanalytische Verfahren wie die Interaktionsanalyse und die Funktionale Pragmatik (s. Kap. 5 . 3 . 7 ), die u. a. zum Gesprächsverhalten von Lehrpersonen (z. B. mündliches Korrekturverhalten, Fragetypen) oder zu Interaktionen in Partner- und Gruppenarbeiten Aussagen treffen können. Die Analyse von Lernersprache orientiert sich eng an phonetischen, grammatikalischen, lexikalischen und text-/ diskurslinguistischen Bezugsarbeiten und ist insbesondere durch die Tradition der Zweitspracherwerbsforschung geprägt (s. Kap. 5 . 3 . 8 ). Und auch korpuslinguistische Studien mit fremdsprachendidaktischer Intention sind klar in der wichtigen Bezugsdisziplin der Sprachwissenschaft zu verorten (s. Kap. 5 . 3 . 9 ). Neben dieser Vielfalt interpretativer Auswertungsverfahren stehen die statistischen Vorgehensweisen, die in der Fremdsprachendidaktik bislang eine vergleichsweise geringe Beachtung erfahren haben (s. Kap. 5 . 3 . 10 ). Wichtige Impulse hierzu erhält die Fremdsprachendidaktik insbesondere aus den Sozialwissenschaften, der Psychologie und der empirischen Bildungsforschung. Das Kapitel 5 . 3 . 11 stellt die entsprechenden Grundlagen deskriptiver und inferentieller Statistik dar, während das Kapitel 5.3.12 komplexere Test- und Fragebogenstatistik und das Kapitel 5.3.13 exploratorische und konfirmatorische Faktorenanalysen behandelt. Die in der fremdsprachendidaktischen Forschung eingesetzten Analyseverfahren sind also äußerst breit gefächert - und die Übersicht über diese Vielfalt stellt nicht nur für Noviz*innen eine Herausforderung dar. Der konkrete Einsatz eines solchen Verfahrens 5.3.1 Analyse historischer Quellen 231 erfordert einen gewissen Grad an methodischer Spezialisierung; hierbei kann die Beratung durch Mentor*innen und Peers äußerst wertvolle Unterstützung bieten. 5.3.1 Analyse historischer Quellen Dorottya Ruisz/ Elisabeth Kolb/ Friederike Klippel Für die historische Arbeit kommen alle für die Fremdsprachendidaktik relevanten schriftlichen, bildlichen, akustischen oder gegenständlichen Dokumente als Analysegegenstände in Frage, wie Fachzeitschriften, Lehrpläne, Schulbücher, Ton- und Filmaufnahmen oder Fotografien. Quellen entstammen der untersuchten vergangenen Zeit und werden in der historischen Forschung streng getrennt von der Sekundärliteratur, den wissenschaftlichen Arbeiten zu historischen Fragestellungen. Nicht immer ist diese Unterscheidung jedoch generell zu treffen, denn früher verfasste Sekundärliteratur beispielsweise kann durchaus für spätere historische Forschung zur Quelle werden. „So ist die am Anfang des 20 . Jahrhunderts entstandene Darstellung der Geschichte des Unterrichts in den modernen Sprachen an der Universität Gießen (Behrens 1907 ) zwischenzeitlich zu einer historischen Quelle geworden, wenn auf sie in einer aktuellen Untersuchung eben dieser Geschichte Bezug genommen wird“ (Klippel/ Ruisz 2020 : 12 ). Die Sammlung der Quellen geschieht im zyklischen heuristischen Prozess des Suchens und Findens; dabei werden Forschungsfrage(n) und Quellenbasis sukzessive präzisiert (s. Kap. 5 . 2 . 1 und 5 . 2 . 2 ; vgl. Klippel/ Ruisz 2020 ). Wenn ein zu analysierendes Quellenkorpus vorliegt, das Erkenntnisse zu den Forschungsfragen verspricht, folgen gemäß der klassischen historischen Methode die Schritte der Kritik und der Interpretation der Quellen, also die intensive Arbeit an den Texten selbst. Im Folgenden wird diese Arbeit in vier Abschnitten geschildert: 1 . Quellenkritik, die sich mit der Qualität und Zuverlässigkeit der Quellen auseinandersetzt, 2 . Diskurs und Diskursanalyse, die Rekonstruktion von Prozessen der sozialen Kommunikation, 3 . Kontext, in den die Quellen eingebettet sind, 4 . Interpretation, die Auslegung und Erklärung der Quellen. 1 Quellenkritik Generell unterscheidet man eine äußere und eine innere Quellenkritik (vgl. Rüsen 2008 : 123 - 127 ). Die äußere Quellenkritik betrifft die Umstände der Quellenentstehung und Quellenüberlieferung; sie prüft die Echtheit und Vollständigkeit der Quellen. In diesem Zusammenhang ist wichtig, in welchem Publikationsorgan (bei gedruckten Quellen) ein Text erschienen ist und wer die Verfasser*innen sind. Zudem wird man sich genau ansehen, um welche Art von Quelle es sich handelt: offizielle Dokumente, wissenschaftliche oder journalistische Texte, (auto)biographische Texte oder persönliche Dokumente (z. B. Tagebuch, Korrespondenz), Lehrmaterialien und Lehrerhandreichungen, Rezensionen, Schülerarbeiten etc., da die Zuverlässigkeit je nach Quellenart sehr variieren kann. Die innere Quellenkritik bezieht sich auf Kriterien wie Zeitnähe, Ergiebigkeit und Aussagekraft im Hinblick auf die Forschungsfragen. Für das Kriterium der Zeitnähe ist zu be- 232 5. Forschungsverfahren rücksichtigen, dass bestimmte Quellengattungen, wie etwa Lehrpläne, eine lange Entstehungszeit besitzen und daher auch durchaus selbst dann Relevanz besitzen können, wenn sie außerhalb des eigentlichen Untersuchungszeitraums veröffentlicht wurden. Deswegen kann es notwendig sein, den eigentlichen Untersuchungszeitraum für diesen Bereich zu erweitern (so bei Ruisz 2014 : 19 ). Das Kriterium der Ergiebigkeit ist relevant, da meist nicht alle existierenden bildungsgeschichtlichen Quellen des Untersuchungszeitraumes gesichtet werden können und daher eine sinnvolle Auswahl getroffen werden muss. Für die Referenzarbeit von Doff ( 2002 ; s. Kap. 7 ) bedeutet dies zum Beispiel, dass in erster Linie nur die Fachzeitschriften studiert wurden, „die insbesondere für die Entwicklung des höheren Mädchenschulwesens von Bedeutung gewesen sind“ (Doff 2002 : 16 ). Dort fand die Forscherin die für ihre Forschung relevanten Quellen. Das Kriterium der Aussagekraft ist mehr oder weniger erfüllt, je nachdem, in welchem Ausmaß eine einzelne Quelle zu Antworten im Hinblick auf die Forschungsfragen führt. Zur inneren Quellenkritik gehört auch, dass die dem Geschriebenen zugrundeliegenden Ideologien zu beachten sind. Beispielsweise ist bei Zeitschriften zu bedenken, dass sie oftmals bestimmte sprachen- oder bildungspolitische Positionen vertraten, wie etwa im späten 19 . Jahrhundert im Falle der beiden Zeitschriften Die Neueren Sprachen (pro Neusprachenreform) und Zeitschrift für französischen und englischen Unterricht (contra Neusprachenreform), so dass man diese Ausrichtungen bei der Quellenkritik im Auge behalten muss. Des Weiteren wird quellenkritisch vorgegangen, wenn das in den Quellen Geäußerte mit bereits vorhandenen Erkenntnissen zum Untersuchungszeitraum und mit anderen Informationsquellen verglichen wird, um die Zuverlässigkeit zu beurteilen oder eventuelle Motive zur Darstellung aus einer bestimmten Perspektive aufzudecken. Außerdem können allein auf der Basis derartiger Vergleiche Angaben dazu gemacht werden, ob die Behauptungen und Argumentation der jeweiligen Autor*innen für die Zeit und den gegebenen Kontext repräsentativ oder eher eine Randerscheinung sind. Insofern wird deutlich, dass die Quellen nicht für sich selbst sprechen, sondern im Kontext der Zeit und auf dem Hintergrund des bereits vorhandenen historischen Wissens analysiert werden müssen. 2 Diskurs und Diskursanalyse Da es in der historischen Forschung um die Rekonstruktion vergangener kommunikativer Wirklichkeit geht, ist die Diskursanalyse eine passende Ergänzung zur klassischen historischen Methode (Haslinger 2006 ; Landwehr 2018 ) und wurde deswegen in einer Reihe von Arbeiten zur Geschichte der Fremdsprachendidaktik angewendet (z. B. in Ostermeier 2012 ; Kolb 2013 ; Ruisz 2014 ; Will 2018 ). Bei der Diskursanalyse oder -forschung handelt es sich um eine Forschungsmethode, zu der eine Reihe von Ansätzen gezählt werden: So gibt es unter anderem linguistische, geschichtswissenschaftliche und wissenssoziologische Ausrichtungen der Diskursforschung; häufig wird auf Foucault und seine Aussagen zu historischen Wissensordnungen und Machtstrukturen verwiesen (vgl. zu den Ansätzen der Diskursanalyse Keller 2011 : 13 - 64 ; zu praktischen Anwendungen Keller et al. 2010 ). In der Diskursanalyse werden die sozialen Kommunikationsprozesse der Teilnehmer nachvollzogen. 5.3.1 Analyse historischer Quellen 233 Grundlage der Diskursanalyse ist der Diskursbegriff. Ein Diskurs wird durch wiederholte, gesellschaftlich legitimierte oder institutionalisierte Aussagen zu einem Themenkomplex gebildet. In der praktischen Forschungsarbeit lässt sich am besten mit dem teilweise inflationär gebrauchten Diskursbegriff arbeiten, wenn explizit auf dessen Bedeutungskomponenten hingewiesen wird (Keller 2011 : 34 , 68 ). Mit Diskurs kann zunächst die Gesamtheit der Aussagen gemeint sein, die den Untersuchungsgegenstand betreffen. Dieser gesellschaftliche Gesamtdiskurs spielt sich zum Beispiel in Politik, Alltag und den Medien - auf den Diskursebenen - ab. Auf diesen Ebenen werden jeweils von einzelnen Gruppen der Gesellschaft Spezialdiskurse geführt. Die Spezialdiskurse wiederum bestehen aus einzelnen Texten, Textstellen und Begriffen bzw. Bezeichnungen, den so genannten Diskursfragmenten. Diskursfragmente mit dem gleichen Thema werden jeweils einem Diskursstrang zugeordnet ( Jäger 2015 : 80 ; zum Themenbegriff s. Höhne 2010 : 428 - 429 ). Die Diskursteilnehmer sind individuelle oder kollektive Akteure, die sowohl produktiv als auch rezeptiv am Kontext mitwirken. Dabei können sie unterschiedliche Meinungen vertreten, die durch die Bevorzugung bestimmter Unterthemen und unterschiedlicher Argumentationen erkennbar werden (Haslinger 2006 : 40 - 41 ). Ausführlich wird in der Arbeit von Kolb dargelegt, welche Akteure (nämlich individuelle Fremdsprachendidaktiker*innen und meist anonyme Vertreter der Bildungsverwaltung) und welche Themen (die kulturellen Sachthemen des Englischunterrichts) in der Diskursanalyse untersucht werden (Kolb 2013 : 37 - 45 ). Damit sind die Diskursebenen klar benannt. Ausgehend von dem Thema des Gesamtdiskurses werden in dem Quellenmaterial verschiedene Diskursstränge ausfindig gemacht, voneinander unterschieden und nach ihren Aussagen analysiert. Besonders aufschlussreich zur Aufzeichnung geschichtlicher Entwicklungen sind sowohl Kontinuitäten als auch Brüche in der Argumentation. Diese lassen sich besonders gut auswerten, wenn ein längerer Zeitraum untersucht wird. Bei Kolb ( 2013 ) wird dieselbe Textsorte (Lehrpläne) von 1975 bis 2011 untersucht: So zeigen beispielsweise Formulierungen, die mehr oder weniger identisch zu verschiedenen Zeiten auftauchen, die traditionelle Fortschreibung dieser Dokumente an; die Veränderung der Reihenfolge der Lehrplaninhalte deutet auf einen Bruch hin (vgl. Kolb 2013 : 191 - 193 ). In der Untersuchung von Müller ( 2019 ) zur Geschichte der Grammatikvermittlung im Englischunterricht der Volksschule seit 1945 wird zum einen deutlich, wie sich der Stellenwert der Grammatik für das Englischlernen in den einzelnen Diskurssträngen (Lehrpläne, Lehrbücher, fachdidaktische Literatur) bei wechselseitiger Beeinflussung verändert hat, zum anderen belegt die Analyse der Lehrbücher bestimmte Beharrungstendenzen, die im Widerspruch zum jeweiligen fachdidaktischen Diskussionsstand stehen. 3 Kontext Für die Diskursanalyse ist nicht nur die Untersuchung von Texten, Textstellen und Wörtern relevant, sondern darüber hinaus der weitere Zusammenhang, in welchem diese entstanden sind. Wenn beispielsweise Lehbergers Studie zum Englischunterricht im Nationalsozialismus zunächst die Einbindung der gesamten Lehrerschaft in das Herrschaftssystem behandelt (Lehberger 1986 : 13 - 22 ), dann geschieht dies in der Absicht, den sozialen, geistigen oder politischen Kontext zu charakterisieren. Ohne diesen wären die darauf 234 5. Forschungsverfahren folgenden Ausführungen zur eigentlichen Frage nach dem Fremdsprachenunterricht unvollständig und würden möglichweise falsch verstanden werden. Die Relevanz der Verknüpfung zwischen einem gerade zu untersuchenden Text und weiteren Quellentexten zur Rekonstruktion des Kontexts sei an einem konkreten Beispiel verdeutlicht. Aus der Tatsache, dass in einer neuphilologischen Zeitschrift der Nachkriegszeit für einen Fremdsprachenunterricht plädiert wird, der den Vorstellungen der amerikanischen Besatzer zur Demokratisierung des deutschen Schulwesens entspricht, könnte man auf eine Neuausrichtung des Faches nach 1945 schließen. Erst das Heranziehen weiterer Quellen verrät zum Teil Gegenteiliges (so in Ruisz 2014 : 148 - 177 ). Zum einen müssen also biographischer Hintergrund und andere Publikationen der jeweiligen Autor*innen betrachtet werden, so dass deren Motive und Absichten sowie ihre Stellung in ihrer Berufsgruppe oder innerhalb der Gesellschaft erschlossen werden können. Zum anderen ist die eingehende Kenntnis weiterer zeitgenössischer Texte zu ähnlichen Themen die Voraussetzung dafür, dass die Bedeutung und Reichweite eines einzelnen Schriftstücks ausgemacht werden kann. Obwohl die Intertextualität eine tragende Rolle spielt, muss einschränkend angefügt werden, dass eine Distanzierung von der Gegenwart und ein Eintauchen in den historischen Kontext nicht perfekt gelingen kann, da sowohl die Forschungsfragen als auch das individuelle Vorwissen der Forscher*innen und der Forschungsstand fest in der aktuellen Gegenwart verankert sind. Daher verweist Kolb in ihrer Dissertation auf die Subjektivität qualitativer Textauslegung, die durch das Offenlegen der Vorannahmen und der Methoden der Textinterpretation kontrolliert werden sollte (Kolb 2013 : 29 - 30 ). Es ist für die historische Forschung wichtig, die relative Fremdheit von Konzepten und Ideen der Vergangenheit zu beachten (Rittelmeyer 2006 : 3 ). Nach Skinners Arbeiten im Rahmen der Cambridge School wird diese Fremdheit als „essential variety“ bezeichnet (Skinner 1969 : 52 ). Historisches ist eben fremd, und es ist nicht legitim, eine „essential sameness“ anzunehmen (ebd.: 52 ). Für die Forschungspraxis bedeutet dies, dass der historisch-soziale Kontext, in dem ein Diskursfragment entstanden ist, gründlich zu erforschen ist; somit ist ein Quellentext stets im jeweiligen historischen Zusammenhang intertextuell zu studieren (Overhoff 2004 : 325 , 328 ). Nach Skinners Terminologie wird dieser historische Kontext als „ideological context“ oder einfach als „ideology“ bezeichnet (Skinner 1966 : 287 , 313 , 317 ; Overhoff 2004 : 326 ). Ein weiterer Ansatz, in dem ebenfalls das Augenmerk auf die Eigenheiten der Entstehungszeit der analysierten Diskursfragmente gelenkt wird und in dem der Fokus auf dem Ideologiebegriff liegt, ist die Critical Discourse Analysis , kurz CDA (vgl. dazu O’Halloran 2010 ; zur Adaption der CDA für fremdsprachendidaktische Arbeiten siehe Ruisz 2014 ; Will 2018 ). Dieser Ansatz kommt aus der Linguistik, wird jedoch inzwischen in verschiedenen Disziplinen angewandt (vgl. für die Geschichtswissenschaft Reisigl/ Wodak 2010 ; für die Erziehungswissenschaft Rogers 2011 ). Die CDA beruht auf der Grundannahme, dass sich die Machtstrukturen der Gesellschaft in der Sprache abbilden (O’Halloran 2010 : 121 ) und somit auch in den Äußerungen Einzelner kein Spielraum für Ideologiefreiheit besteht (Kress 1985 : 30 ). Eine gründliche Quellenanalyse lässt somit auf die Ansichten und Absichten der Verfasser*innen schließen. 5.3.1 Analyse historischer Quellen 235 Zur Untersuchung des Kontexts gehört in diesem Zusammenhang die Herausarbeitung der Bedeutung der von den Textverfasser*innen verwendeten Begriffe (Klafki 1971 : 141 - 142 ; Rittelmeyer 2006 : 46 ). Die in den Quellentexten verwendeten Begriffe sollten aus ihrer Zeit heraus verstanden werden; die heutige Begriffsbedeutung darf nicht auf sie projiziert werden (dazu Klippel 1994 : 28 - 30 ). Dies fängt schon bei Bezeichnungen an, die vermeintlich völlig eindeutig sind, wie etwa Lesen. Doch sind in den Sprachlehren des 18 . Jahrhunderts gerade die Abschnitte zur Aussprache mit „Vom Lesen“ überschrieben (etwa bei König 1755 ). Auch haben etwa Schulformen im Verlauf der letzten Jahrhunderte immer wieder Bezeichnungen getragen, z. B. Realschule oder Handelsschule, hinter denen sich andere Schulkonzepte verbergen, als wir sie heute für diese Bezeichnungen kennen. Zum Teil ergeben sich sogar abhängig von der jeweiligen Situation und dem jeweiligen Diskursteilnehmer unterschiedliche Bedeutungen. Deswegen muss zum Beispiel geprüft werden, ob die amerikanischen Besatzer unter politischer Bildung im Fremdsprachenunterricht das Gleiche verstanden wie die einheimischen Bildungspolitiker (Ruisz 2014 ). Das kontextuelle Vorgehen führt des Weiteren auch dazu, dass erkannt werden kann, was in einer Quelle nicht erwähnt wird. Die Nicht-Erwähnung mag zum einen darin begründet sein, dass bestimmte Konzepte oder Verfahren in einer Zeit als so selbstverständlich gelten, dass sie nicht erwähnt werden müssen. Zum anderen lässt sich aus dem Nicht- Gesagten auch schlussfolgern, welche Aussagen öffentlich nicht akzeptabel waren oder mit Absicht gemieden wurden. In dieser Weise kann die Erschließung des Kontexts zu den Werten und Grundannahmen einer Zeit sowie zu den Motiven und Absichten der am Diskurs teilnehmenden Akteure führen, die stets von bestimmten Interessen geleitet sind (Klafki 1971 : 127 ). 4 Interpretation - zwischen Hermeneutik und Analytik Die vorliegenden Quellen werden also im Kontext gedeutet oder interpretiert. Neben der Beachtung des Kontexts sind textimmanente Verfahren der Interpretation zentral. Historisches Wissen entsteht nicht nur, indem Zusammenhänge zwischen Texten hergestellt, sondern auch indem die einzelnen Texte im Hinblick auf die Forschungsfragen gedeutet werden. Dabei sind subjektive Deutungsmuster zu vermeiden; vielmehr ist darauf zu achten, dass die Interpretation der Quellen intersubjektiv nachvollziehbar ist. Als übergeordnete Forschungsstrategie bieten sich hermeneutische Verfahren an. Bei der Hermeneutik, der Auslegung von Texten, geht es um das Verstehen der Quellen (Lengwiler 2011 : 58 ; s. auch Kap. 5 . 3 . 2 ). Bezogen auf die Interpretation bedeutet dies, dass Sinnzusammenhänge und Argumentationslinien im erhobenen Quellenmaterial herauszuarbeiten sind (Rüsen 2008 : 119 , 131 ). Wenn es sich um eine große Anzahl von Texten handelt, sind diese zunächst zusammenzufassen und zu verdichten, damit diese der Forschung leichter zugänglich werden. Zum Beispiel werden zum Kernthema der Arbeit von Doff ( 2002 ) die Funde leicht lesbar dargestellt (v. a. in Kap. 5 ), so dass sich weitere Forschungsarbeiten anschließen lassen. Im Zuge eines hermeneutischen Verstehensprozesses sind die Quellentexte also vor allem aus sich selbst heraus zu verstehen. In dieser Weise beschreibt der Historiker Koselleck das „Vetorecht der Quellen“: 236 5. Forschungsverfahren Streng genommen kann uns eine Quelle nie sagen, was wir [Historiker] sagen sollen. Wohl aber hindert sie uns, Aussagen zu machen, die wir nicht machen dürfen. Die Quellen haben ein Vetorecht. Sie verbieten uns, Deutungen zu wagen oder zuzulassen, die aufgrund eines Quellenbefundes schlichtweg als falsch oder als nicht zulässig durchschaut werden können. (Koselleck 1979: 206) Trotz dieses Vetorechts verleitet reines Verstehen dazu, sich intuitiv in die Quellen hineinzuversetzen (Lengwiler 2011 : 59 - 62 ). Deswegen muss die Interpretation geordnet ablaufen, wobei die Unterscheidung zwischen Makro- und Mikroanalyse hilfreich ist (Landwehr 2018 : 110 - 116 ). Beim makroanalytischen Vorgehen werden der Inhalt und die Struktur des vorliegenden Textes erarbeitet. Mikroanalytisch wird hingegen vorgegangen, wenn Argumentation, Rhetorik und Stil untersucht werden. Wie in vielen diskursanalytischen Arbeiten werden auch in Kolbs Dissertation (Kolb 2013 ) beide Analyseverfahren kombiniert: Auch wenn der Schwerpunkt auf der Herausarbeitung der inhaltlichen Aussagen zu kulturellen Sachinhalten des Englischunterrichts in Lehrplänen und fremdsprachendidaktischen Veröffentlichungen liegt, wird an ergiebigen Stellen auch die rhetorische und stilistische Gestaltung im Detail untersucht. So dienen beispielsweise häufig verwendete Metaphern dazu, die diskursiven Positionen in der Anspielung auf positive oder negative Konnotationen in andere Diskursstränge einzubinden und umso eindrücklicher vorzubringen (Kolb 2013 : 283 - 286 ). Dabei sind im Prozess des „hermeneutischen Zirkels“ (Gadamer 6 1990 [ 1960 ]: 270 - 312 ; s. Kap. 5 . 3 . 2 ) auch immer wieder die Forschungsfragen zu überprüfen und eventuell anzupassen. In der historischen Forschung zur Fremdsprachendidaktik gilt die Hermeneutik als übergeordnete Forschungsstrategie (so in Doff 2002 ; Ostermeier 2012 ; Kolb 2013 ; Ruisz 2014 ; Giesler 2018 ). Der Grund hierfür ist offensichtlich: Historische Forschung hat zumeist die Quellen im Blick, die zunächst verstanden werden müssen; und die Geschichtswissenschaft wendet sich daher häufig hermeneutischen Verfahren zu (vgl. Lengwiler 2011 : 85 , 87 ). In diesem Zusammenhang spielt der so genannte linguistic turn eine Rolle, durch den ein gesteigertes Interesse an Texten entstanden ist, in welchem das Subjekt sprachlich zum Ausdruck bringt, wie es seine Umgebung wahrnimmt (Lengwiler 2011 : 87 ; Jordan 2018 : 189 ). Dass dieser hermeneutische Ansatz jedoch die Forschungsstrategie der Analytik nicht ausschließt, ist eindeutig. Bei der Analyse von Diskursen konzentriert man sich auf die sprachlichen Äußerungen historischer Personen und Institutionen, die in einem jeweiligen Kontext eingebunden sind (Lengwiler 2011 : 87 - 90 ; Jordan 2018 : 122 ) - das ist der Punkt, an dem es dann neben dem Verstehen doch ergänzend auf die Erklärungen der Wissenschaft ankommt; nur so kann die Qualität der historischen Untersuchung gesichert werden. Die Analytik orientiert sich nicht nur an den Quellentexten, also der Empirie, sondern auch am theoretischen Erkenntnisinteresse (Rüsen 2008 : 145 ; Lengwiler 2011 : 94 - 95 , 272 ). Es sind die Kausalitäten zwischen den geschichtlichen Ereignissen und Handlungen der Diskursteilnehmer zu erklären. Forschungsarbeiten, die sich rein auf das Verstehen der Quellen beschränken, lassen neue Erklärungen für die gelieferten Quellendeutungen vermissen. Wenn zum Beispiel erkannt wird, dass die amtlichen Verlautbarungen der USamerikanischen Besatzungsmacht für den Englischunterricht im Bayern der Nachkriegszeit nur wenig ergiebig sind, ist dies ein Befund, der weiterer Erklärungen bedarf; der Leser 5.3.1 Analyse historischer Quellen 237 5.3.1 Quellenanalyse Anwendung historische Fremdsprachenforschung Heuristik historische Frage und Gegenwartsbezug Erstellung eines Textkorpus Auswahl für die Feinanalyse Interpretation Auslegung und Erklärung der Quellen Aufdecken von Zusammenhängen Historische Methode Verfahren hermeneutische und analytische Verfahren Analyse des historischen Kontexts Diskursanalyse: Rekonstruktion von Prozessen der sozialen Kommunikation im Diskurs Makro- und Mikroanalysen Kritik äußere Kritik: Echtheit, Vollständigkeit, Autorschaft innere Kritik: Zeitnähe, Aussagekraft, Zuverlässigkeit © 2022 ⚫ Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 238 5. Forschungsverfahren möchte erfahren, warum es sich so verhielt (s. Ruisz 2014 : 101 - 124 ); Ähnliches gilt für den Wechsel in den Zielen und Methoden des Grammatikunterrichts seit 1945 (Müller 2019 ). Für die Analyse von Quellen bieten sich also sowohl hermeneutische als auch ergänzende analytische Verfahren an. Übergeordnet bleibt dabei stets die klassische historische Methode mit den Schritten der Heuristik, Kritik und Interpretation. In diesem methodischen Gerüst ist die begründete Auswahl unterschiedlicher Analyse- und Interpretationstechniken angebracht, um zu einem möglichst umfassenden Verständnis der Quellen und ihres Kontextes zu gelangen. Diese Mühe lohnt sich, zumal in der Geschichte des Fremdsprachenunterrichts noch etliche Forschungslücken zu schließen sind. › Literatur- Forschungsarbeiten, in denen die hier erläuterten Verfahren angewendet werden, sind mit einem Sternchen markiert. Behrens, Dietrich (1907). Zur Geschichte des neusprachlichen Unterrichts an der Universität Gießen . Gießen: Töpelmann. *Doff, Sabine (2002). Englischlernen zwischen Tradition und Innovation. Fremdsprachenunterricht für Mädchen im 19. Jahrhundert. München: Langenscheidt-Longman. [Referenzarbeit, s. Kap. 7] Gadamer, Hans Georg ( 6 1990 [1960]). Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen: Mohr. *Giesler, Tim (2018 ). Die Formation des institutionellen Englischunterrichts. Englisch als erste Fremdsprache in Bremen (1855-1873). Trier: Wissenschaftlicher Verlag. Haslinger, Peter (2006). Diskurs, Sprache, Zeit, Identität. Plädoyer für eine erweiterte Diskursgeschichte. In: Eder, Franz X. (Hg.). Historische Diskursanalysen: Genealogie, Theorie, Anwendungen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 27-50. Höhne, Thomas ( 2010 ). Die thematische Diskursanalyse - dargestellt am Beispiel von Schulbüchern. In: Keller et al., 423-453. Jäger, Siegfried (2015). Kritische Diskursanalyse: Eine Einführung . 7. Auflage. Münster: Unrast. Jordan, Stefan (2018). Theorien und Methoden der Geschichtswissenschaft. 4. Auflage. Paderborn: Schöningh. Keller, Reiner (2011). Diskursforschung. Eine Einführung für SozialwissenschaftlerInnen . 4. Auflage. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Keller, Reiner/ Hirseland, Andreas/ Schneider, Werner/ Viehöver, Willy (Hg.) ( 2010 ). Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse. Forschungspraxis. Bd. 2. 4. Auflage. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Klafki, Wolfgang (1971). Hermeneutische Verfahren in der Erziehungswissenschaft. In: Ders. (Hg.). Funk-Kolleg Erziehungswissenschaft . Bd. 3. Frankfurt/ M.: S. Fischer, 126-153. *Klippel, Friederike (1994 ). Englischlernen im 18. und 19. Jahrhundert. Die Geschichte der Lehrbücher und Unterrichtsmethoden . Münster: Nodus. Klippel, Friederike/ Ruisz, Dorottya (2020). Historisch forschen in der Fremdsprachendidaktik. In: Zeitschrift für Fremdsprachenforschung 31, 7-21. *Kolb, Elisabeth (2013). Kultur im Englischunterricht: Deutschland, Frankreich und Schweden im Vergleich (1975-2011). Heidelberg: Carl Winter. König, Johann (1755). Der getreue englische Wegweiser . 6. Auflage. Leipzig: Jacobi. 5.3.1 Analyse historischer Quellen 239 Koselleck, Reinhart (1979). Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt/ M.: Suhrkamp. Kress, Gunther R. (1985). Ideological structures in discourse. In: Dijk, Teun Adrianus van (Hg.). Handbook of discourse analysis. Discourse analysis in society. Bd. 4 . London: Academic Press, 27 - 42 . Landwehr, Achim (2018). Historische Diskursanalyse . 2. aktualisierte Auflage. Frankfurt am Main: Campus-Verlag. *Lehberger, Reiner (1986). Englischunterricht im Nationalsozialismus . Tübingen: Stauffenburg. Lengwiler, Martin (2011). Praxisbuch Geschichte. Einführung in die historischen Methoden. Zürich: Orell Füssli. *Müller, Hannes Florian (2019). 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Theorien und Methoden der Geschichtswissenschaft. 4. Auflage. Paderborn: Schöningh. Lengwiler, Martin ( 2011 ). Praxisbuch Geschichte. Einführung in die historischen Methoden. Zürich: Orell Füssli. Diese beiden Bände bieten einen Einstieg in die Methoden der Geschichtswissenschaft. Die zentralen theoretischen Forschungsansätze werden leserfreundlich vorgestellt und die Arbeitstechniken des Historikers praxisnah beschrieben. 240 5. Forschungsverfahren Landwehr, Achim (2018). Historische Diskursanalyse. 2. aktualisierte Auflage. Frankfurt am Main: Campus-Verlag. In dieser Monographie argumentiert der Autor, dass sich die die Diskursanalyse als Methodik für die historische Forschung eignet, und stellt dar, wie diese forschungsmethodische Vorgehensweise für historische Arbeiten angewendet werden kann. Rüsen, Jörn (2008). Historische Orientierung. Über die Arbeit des Geschichtsbewußtseins, sich in der Zeit zurechtzufinden. 2. Auflage. Schwalbach/ Ts: Wochenschau Verlag. In dem Kapitel „Historische Methode“ (S. 116 - 149 ) wird der Leser in die Grundlagen historischen Arbeitens eingeführt. Die Regulative der Forschung ‚Heuristik‘, ‚Kritik‘ und ‚Interpretation‘ sowie die Forschungsstrategien der ‚Hermeneutik‘ und ‚Analytik‘ werden klar beschrieben. 5.3.2 Hermeneutische Verfahren 17 Laurenz Volkmann 1 Hermeneutik als Kunst des Verstehens Die Hermeneutik ist ursprünglich als Kunst der Auslegung von religiösen Texten und Übersetzungstexten sowie philosophischen und literarischen Werken zu verstehen. Als Entschlüsselungskunst bezieht sie sich auf Texte, deren Bedeutung nicht unmittelbar evident erscheint und deren Tiefenschichten es aufzudecken gilt. Seit der Antike erweiterten sich die Herangehensweisen hermeneutischer Ansätze: zunächst über die Kirchenväter (Augustin), die Philosophen der Aufklärung (Friedrich Schlegel, Johann Gottfried Herder, Friedrich Schleiermacher) bis zu den Haupttheoretikern der Hermeneutik Wilhelm Dilthey, Martin Heidegger und vor allem Hans-Georg Gadamer - im Verbund mit phänomenologischen Richtungen (Edmund Husserl, Clemens Brentano). Die Lehre von der Deutung und Interpretation tradierter religiöser, juristischer, philosophischer und literarischer Schriften versteht sich heute als die Anbahnung von Verstehens- und Auslegungsprozessen, welche vor allem auf die Sinnerkundung menschlicher Existenz und Handlungen allgemein ausgerichtet sind (zur Einführung Ahrens 2004 ; Rittelmeyer 2010 ; Jung 2018 ). Somit bezieht sich die Hermeneutik nicht mehr allein und im Sinne der im 19 . Jahrhundert etablierten philologischen Interpretations- und Analyseverfahren auf kanonisierte, bedeutungsvolle Kunstformen und gesellschaftliche Überlieferungen. Hermeneutische Verfahren charakterisiert vor allem das Bemühen, manifest-latente Sinngehalte aufzuspüren. Entsprechend gleichen diese Herangehensweisen einer detektivischen Spurensuche, dem Entschlüsseln eines Rätsels (Klein 2013 : 263 ). Prägend für die geisteswissenschaftliche Forschung im 20 . Jahrhundert waren die Arbeiten des Heidelberger Philosophen Hans-Georg Gadamer ( 1900 - 2002 ), der mit seinem Hauptwerk Wahrheit und Methode ( 1960 / 1965 ) ein eigenes Forschungs- und Methodenideal entwickelte. Gadamer propagierte das geisteswissenschaftliche Paradigma der Inter- 17 Ich danke den Herausgeber*innen für wichtige Hinweise zur Forschung. 5.3.2 Hermeneutische Verfahren 241 pretationskunst und erklärte die Hermeneutik als „ein Können, das besondere Feinheit des Geistes verlangt“ (Gadamer 1965 : 290 ). In der Tradition Gadamers kommt das hermeneutische Paradigma zum Tragen, wenn Forscher*innen Lebenswelten und Kulturpraxen in einem dialektischen Wechselspiel zwischen Beobachtenden/ Interpretierenden und Text in einem weiten Sinne, d. h. Medien, Personen, Praxen erkunden, wenn es sich dabei um Prozesse der Ko-Konstruktion von Bedeutung handelt, in denen die subjektive Perspektive hinterfragt wird. Diese breit angelegte Definition verdeutlicht, dass dem hermeneutischen Interaktionsparadigma auch in der Erforschung des Fremdsprachenunterrichts, des Fremdsprachenlernens und bei Fragen interkultureller Sinnbildung grundsätzliche Bedeutung zukommt: Denn die jeweils bei Prozessen der Bedeutungsaushandlung Beteiligten - wie Betrachtende, Lernende, Lehrende, Texte (wie Medien, Literatur, kulturelle Artefakte usw.) - sind stets als historisch situierte Elemente eines eingehender zu erkundenden, jeweils nur partiell zu beschreibenden Prozesses der Verstehensentfaltung zu sehen. Ein derartiger Prozess der Bedeutungsaufklärung kann daher keinesfalls eine allgemeine, transkulturelle, sich intersubjektiv stets gleich formierende Gültigkeit beanspruchen. Als Wissenschaftstradition ging die Hermeneutik unmittelbar ein in ein fremdsprachendidaktisches Bildungsverständnis, welches - philologisch orientiert - auf die Vermittlung kanonischer Werke setzte und eine ästhetisch-literarische Bildung akzentuierte. Vor allem die Literatur- und Kulturdidaktik greift hermeneutische Ansätze der Rezeptionsästhetik auf (Bredella 2010 : 18 - 30 ), indem sie sich von einem rein textimmanent ausgerichteten oder gar autorenzentrierten Verständnis von Textinterpretation und -analyse löst und Texterschließung primär als dialogische, offene Interaktion zwischen Rezipient*in und Text versteht. Im Sinne eines erweiterten, semiotisch zu bezeichnenden Textbegriffs bezieht sich die hermeneutische Herangehensweise zunehmend auch auf kulturelle Texte, Kulturen oder kulturell Andere. Es entwickelte sich zugleich der für deutschsprachige Länder bedeutsame Forschungsstrang der Auseinandersetzung mit dem Fremdverstehen - also einer philosophisch akzentuierten Auseinandersetzung mit dem Thema interkulturelles Lernen unter besonderer Berücksichtigung des Zugangs zum Fremden durch Literatur und/ oder Medien. Dabei tritt in hermeneutischer Tradition der Bildungswert literarischästhetischer Gegenstände und Herangehensweisen hervor. Hermeneutische Zugriffe sind nicht nur für die kultur- und literaturdidaktische Forschung von großer Relevanz, sondern auch für qualitativ-empirische Untersuchungen (vgl. etwa im Überblick bei Bortz/ Döring 2006 ). Denn jede textbasierte oder Daten auswertende Forschung - sei sie empirisch, theoretisch oder historisch— erfordert hermeneutische Verfahren und Zugriffe. So gelangen beispielsweise bei der Aufbereitung, Darstellung und Analyse von Interviewdaten Grundmuster der Hermeneutik zur Anwendung, vor allem wenn es um kritische Herangehensweisen unter Berücksichtigung von Subjektivität, Voreingenommenheit und Interessenshintergrund von fremdsprachendidaktischen Forschungsprojekten geht (s. Kap. 5 . 3 . 3 - 5 . 3 . 6 ). 242 5. Forschungsverfahren 2 Hermeneutische Deutungsmethoden und Vorgehensweisen Die hermeneutische Methodik wird in der Regel äußerst komplex definiert, beispielsweise wenn gefordert wird, dass das „Forschungsmaterial in einem zirkulären, irritationsgeleiteten, deutungsoffenen und mehrperspektivischen Erkenntnisgang über verschiedene Sinnschichten entschlüsselt wird“ (Klein 2013 : 263 ). Zudem ist je nach Forschungsinteresse, Forschungsmaterial und der Frage der Berücksichtigung anderer Faktoren wie historischkultureller Kontexte eine Vielzahl von Herangehensweisen zu unterscheiden, wie dies bei Rittelmeyer geschieht, der im Wesentlichen sechs Interpretationsmethoden vorstellt ( 2013 : 237 - 247 ). Diese sollen im Folgenden in starker Adaption kurz erläutert und mit Beispielen fremdsprachendidaktischer Fragestellungen illustriert werden: Die strukturale Interpretation: Gemeint ist damit die textimmanente Analyse und Interpretation eines in sich abgeschlossenen Textes in seiner Gesamtheit wie in Einzelteilen (dies entspricht der traditionellen philologischen, analytischen, textimmanenten Interpretation). Diese stark literaturwissenschaftlich geprägten Analyseverfahren können auch in fachdidaktischen Publikationen zum Tragen kommen - beispielhaft beim Hinterfragen von Textintentionen, beim Aufdecken von persuasiven Argumentationsfiguren und dem Herausarbeiten des Interessegeleitetseins der in der eigenen Studie verarbeiteten Sekundärliteratur. Dazu gehört auch die Reflexion über die narrativen Erklärungsmuster der eigenen Studie. Analytische Verfahren als textimmanente Interpretation einzelner Texte der Fremdkultur spielen in der fremdsprachendidaktischen Forschung inzwischen allerdings eher eine untergeordnete Rolle. Die komparative Interpretation: Hierbei werden Texte mit anderen Texten zum gleichen Thema oder aus dem gleichen oder anderen Textgenres verglichen, um Besonderheiten wie Gemeinsamkeiten prägnant herauszuarbeiten. Zum Tragen kommen komparatistische Ansätze vor allem bei der Analyse historischer Quellen (s. Kap. 5 . 3 . 1 und Dickel et al. 2020 ) und bei Forschungsüberblicken mit Hinsicht auf eine bestimmte Fragestellung (vgl. Schmenk 2009 ); gleichfalls wären sie bei Vergleichen von Interviewaussagen oder anderen Datenmengen zu berücksichtigen (s. Kap. 5 . 3 . 7 ). Die experimentelle Interpretation: Sie akzentuiert die spekulative, erprobende, alternative Deutungsmuster durchspielende Herangehensweise an Texte. Erhofft wird eine neue, ungeahnte Perspektive auf bestimmte Fragestellungen oder Interpretationsansätze. Experimentelle Elemente werden wirksam, wenn ungewöhnliche, bisher nicht beachtete oder gedanklich nicht gewagte Fragestellungen an Datenmaterialien herangetragen werden - auch im Sinne eines Gegen-den-Strich-Lesens oder der Übernahme einer advocatus-diaboli -Position, um erstarrte Denkmuster aufzubrechen oder aufzudecken (vgl. etwa die Studie von Delanoy ( 2000 a), in welcher der Forscher seinen eigenen Unterricht selbstkritisch reflektiert und gerade Elemente des Konflikts oder studentischen „Widerstehens“ (vgl. Delanoy 2000 a: 9 ) hervorhebt, um innovative Erkenntnisse über unterrichtliche Verstehensprozesse zu erlangen). Die psychologisch-mimetische Interpretation: Hier geraten vor allem affektive, auf (tiefen-)psychologische Vorprägungen der Beobachtenden oder Lesenden ausgerichtete Reaktionen auf den Text in den Vordergrund. Diese Herangehensweise folgt rezeptionsästhetischen Fragestellungen: Was stellt dieser Text mit mir an? Wie passt er in mein Vor- 5.3.2 Hermeneutische Verfahren 243 verständnis bzw. auf welche Weise stellt er mein Vorverständnis in Frage? In Forschungskontexten bedeutet dies die Fähigkeit, sich von Forschungsthemen bzw. -gegenständen auch überraschen und selbst in Frage stellen zu lassen. Auch hier weist die Studie von Delanoy ( 2000 a) paradigmatische Züge auf, zielt sie doch im hermeneutischen Sinn ab auf eine sukzessive „Distanzierung von eigenen ‚Vorurteilen‘ und ein Betreten eines qualitativ anderen Erfahrungsraums“ (Delanoy 2000 a: 59 ). Wenn die Reaktionen der Studierenden auf bestimmte Texte gegenüber der vorgefassten Interpretation des Forschers/ der Forscherin differieren, wird dies weniger als defizitäre Deutung abgewertet denn als erhellender Respons, welcher ein dialogisches Bedeutungsaushandeln in Gang setzt. Die kontextuelle Interpretation: Hierbei ist der zu interpretierende Text in seiner Einbettung in andere Kontexte zu verstehen, als Teil eines soziokulturellen Diskurses, der weit über Texte, Gegenstände usw. hinausgeht und vor allem Wertvorstellungen, Ideologien und Normen beinhaltet, die der jeweils zu deutende Text verhandelt, so etwa bei der Quellenanalyse in der historischen Forschung (s. Kap. 5 . 3 . 1 ). Deutlich wird die Bedeutung kontextueller Interpretationen beispielsweise auch in Studien zur Rezeption fremdkultureller Texte; in ihrer Studie zur Fremdwahrnehmung der Kulturen der Native Americans ( indigenous people ) kann Grimm ( 2009 ) etwa aufzeigen, wie stark negativ bestimmte tradierte Heterostereotype die Auseinandersetzung mit diesen Kulturen im deutschsprachigen Kulturraum vorgeformt haben. Die kulturanalytische Interpretation: Diese Deutungsrichtung bewegt sich in Richtung der kritischen Aufdeckung und „Entlarvung“ der soziohistorischen Konstellationen, in welchen der jeweilige Text situiert ist, und erkundet beispielhaft die Frage, wie ein Text sich hierzu affirmativ, oppositionell oder subversiv verhält. Die kulturanalytische Interpretation kann durchaus in eine emanzipatorische, auf bildungspolitische Veränderung drängende Richtung deuten, wie in den oben angesprochenen Studien auf unterschiedliche Weise akzentuiert wird. Die Grunddeutungsmethode ist dabei die des hermeneutischen Zirkels, der paradigmatisch bei der Interpretation von historischen Quellen zur Anwendung kommt: Das sich spiralförmig bewegende Deuten eines Textes zielt zunächst darauf, ein Grundverständnis, eine allgemeine Einordnung des Textes zu etablieren. Ausgehend davon werden die einzelnen Elemente des Textes analysiert und die daraus gewonnenen Einsichten gelangen anschließend wieder mit dem Gesamttext in einen sinnerhellenden Verständniszusammenhang. Im sequenziellen Wechselspiel des wiederholten Berücksichtigens von Teilen und Ganzem entsteht dabei sukzessive ein tieferes, durchdringendes Verständnis des Textes in seiner Gesamtheit wie in seinen Teilen (vgl. auch Bortz/ Döring 2006 : 303 ; speziell Baacke 1993 ; vgl. auch die Methoden des zirkulären Kodierens verschriftlichter Daten etwa in der Grounded Theory , s. Kap. 5 . 3 . 3 , oder die sukzessive Analyse historischer Quellen, s. Kap. 5 . 3 . 1 ). Das Verfahren des hermeneutischen Zirkels birgt jedoch auch die Gefahr des Zirkelschlusses, wenn die Interpretation zur self-fulfilling prophecy gerät: Der/ die Forschende glaubt im Gegenstand etwas zu erkennen, welches sich im Auge des Betrachters dann in den Einzelteilen des Gegenstandes spiegelt; die am Gegenstand erkannten Eigenschaften werden dann auch in anderen Gegenständen erkannt und zunehmend als Bestätigung der Eingangswahrnehmung gedeutet. Das durch Vorwissen bzw. Vorurteile geprägte Wissen wird lediglich bestätigt. Es stellt sich hierbei die Grundsatzproblematik jeglicher 244 5. Forschungsverfahren Forschungstätigkeit, nämlich wie mit dem eigenen Vorwissen umzugehen ist: Wie ist es selbstreflexiv zu thematisieren und zu beachten? Wie beeinflusst die eigene Beobachtungsperspektive den Forschungsvorgang? Wie in der fremdsprachendidaktischen Forschung mit den Gefahren des hermeneutischen Trugschlusses auf unterschiedliche Weise umgegangen wird, sei anhand zweier prägnanter Beispiele illustriert: In ihrer Überblicksstudie zur Rolle der Konstruktion von binärer Geschlechteropposition in fachdidaktischen Publikationen der letzten Jahrzehnte kann Barbara Schmenk ( 2009 ; Referenzarbeit, s. Kap. 7 ) nachweisen, wie die oben beschriebene Forschungsfigur der self-fulfilling prophecy fremdsprachendidaktische Studien geformt hat, da diese den Unterschied zwischen der sozial konstruierten Kategorie gender und der biologisch vorgegebenen Kategorie sex unbeachtet ließen. [K]ritikwürdig ist hier nicht nur, dass gender nicht als sozial konstruiert verstanden wird, sondern etwas Grundlegenderes: Es sind nicht Verhalten, Eigenschaften oder soziale Praktiken der Probanden, deren soziale Konstituiertheit Forscher nicht genügend berücksichtigen, sondern es sind die Geschlechtsbilder der Forschenden, die einen bestimmten hegemonialen Geschlechterdiskurs immer wieder reproduzieren, indem sie von diesem hervorgebrachte ‚Wahrheiten‘ in ihren Arbeiten fortwährend bestätigt sehen. (Schmenk 2009: 230, Hervorhebung im Original) Das Ausbrechen aus dem Circulus vitiosus der eigenen Vorannahmen oder Vorurteile erscheint entsprechend als eine wesentliche Prämisse auch für fremdsprachendidaktische Forschung, wie sich dies am Beispiel Gender, aber auch mit Bezug auf Ethnie, Alter, Motivation, Begabung usw. erläutern ließe. Während Schmenk derartige, die Forschungsergebnisse auf verfälschende Weise präfigurierende Denkmuster aufdeckt, geht Werner Delanoy den genau entgegengesetzten Weg, indem er fremdsprachliche Unterrichtssituationen (hier ein selbst gehaltenes literatur- und kulturdidaktisches Seminar) vor allem daraufhin untersucht, inwieweit die Perspektive der Lehrperson bzw. des partizipierenden Unterrichtsforschers von Vorannahmen bestimmt ist. Mit Gadamer erkennt Delanoy ( 2002 a: 40 ) gerade das „Enttäuschtwerden“, die Diskrepanz zwischen Erwartung und Erfahrung, als den Impuls, der „neue Einsichten möglich sowie für neue Lernprozesse offen macht“. Dadurch ergibt sich ein Klären der eigenen Forschungsperspektive, welche ein theoretisch-konzeptuelles „ retheorising and reformulating auf der Grundlage einer reflektierten Betrachtung“ (ibid.: 55 ) von eigenem, aber auch von fremdem Unterricht anstrebt. Da Fragen des menschlichen Verstehens zum Schlüsselproblem wissenschaftlichen Forschens und Erkenntnisgewinns gehören, gelangen hermeneutische Verfahren - oftmals ohne als solche identifiziert zu werden - in allen Wissenschaftsdisziplinen zur Anwendung (zur Bedeutung für erziehungs- und bildungswissenschaftliche Fragestellungen vgl. die Überblicke bei Bortz/ Döring 2006 ; Rittelmeyer 2010 ; Klein 2013 ; Sichler 2020 ; zur Bedeutung für fachdidaktische Forschung vgl. Dickel et al. 2020 ; für die Fremdsprachendidaktik vgl. etwa Kolb 2013 ; Plikat 2017 ). Prinzipielle Gemeinsamkeiten finden sich gerade zu den für empirische Verfahrensweisen bedeutsamen Bezugswissenschaften der anthropologischen und ethnologischen Forschung (s. Kap. 5 . 3 . 1 , 5 . 3 . 3 ). Wie diese (etwa bei Vertretern der Chicagoer Schule und des symbolischen Interaktionalismus) betont die Hermeneutik, dass Sinn jeweils in der Interaktion situativ ausgehandelt wird, dass alle Daten bereits Auslegungen darstellen und dass jede Präsentation komplexer Wirklichkeiten gleichzeitig 5.3.2 Hermeneutische Verfahren 245 und unvermeidbar eine Deutung von Handlungen, Äußerungen und Dokumenten ist. Hermeneutische Verfahrensweisen gleichen dabei dem Geertz’schen Paradigma der dichten Beschreibung einer „Vielfalt komplexer, oft übereinander gelagerter oder ineinander verwobener Vorstellungsstrukturen, die fremdartig und zugleich ungeordnet und verborgen sind“ (Geertz 1983 : 15 ; vgl. auch den Beitrag zur Grounded Theory , Kap. 5 . 3 . 3 sowie die Ausführungen zur Dokumentarischen Methode, Kap. 5 . 3 . 4 ). Sie gilt es, mit größtmöglicher Sorgfalt und Präzision - gleichsam in archäologischer Feinarbeit - aufzudecken und zu deuten. Die oben genannten kontextorientierten und kritischen Herangehensweisen der Hermeneutik zeigen zudem eine evidente Nähe zu und verbinden sich zugleich deutlich mit kritischen Formen der Diskursanalyse (Foucault 1972 ; Fairclough 1992 ; s. Kap. 5 . 3 . 1 , 5 . 3 . 4 und 5 . 3 . 7 ), kulturwissenschaftlichen Ansätzen der race, class and gender studies , der postkolonialen Studien, der kritischen Stereotypenforschung sowie der von den critical whiteness studies beeinflussten rassismuskritischen Fremdsprachenforschung (Volkmann 2000 ; Fereidooni/ Simon 2020 ). 3 Das hermeneutische Schlüsselthema: Verstehen des Anderen Die Hermeneutik hat vor allem mit ihrer bei Gadamer paradigmatisch diskutierten Schlüsselproblematik des Verstehens des Anderen ihre Bedeutung für die Fremdsprachendidaktik erhalten. Denn das Andere, welches bei Gadamer zunächst der andere literarische Text oder die andere Person war und in der Alteritätsforschung in vielfachen Manifestationen (Gender, Ethnie usw.) untersucht wird, wurde in der Fremdsprachendidaktik als das sprachlich und kulturell Andere fokussiert - vom Text über das Individuum bis zu Gemeinschaften. Zentral geraten hier Prozesse des Fremdverstehens in den Vordergrund, von den eher kulturwissenschaftlich ausgerichteten Vertretern der Alteritätsforschung und Xenologie (der „Lehre vom Fremden“, vgl. im Überblick Wierlacher/ Albrecht 2008 ) über die Grundproblematiken interkulturellen und transkulturellen Lernens und der dabei zu vermittelnden Kompetenzen (vgl. Bredella et al. 2000 ) bis zu philosophisch-erkenntnistheoretischen wie erkenntnispraktischen Fragestellungen der fremdsprachendidaktischen Forschung im Bereich des Fremdverstehens primär durch (literarische) Texte (vgl. Bredella/ Delanoy 1996 ; Bredella et al. 2000 ; Nünning/ Bredella/ Legutke 2002 ; Bredella 2010 ). Zentral für die Diskussion im Bereich des Fremdverstehens ist Gadamers Denkfigur der Horizontverschmelzung , um die es beim hermeneutischen Verstehensprozess mit Bezug auf den (textuellen) Anderen geht: Im Verstehen geschieht eine „Verschmelzung der Horizonte“ (Gadamer 1965 : 359 ; vgl. die Diskussion bei Hellwig 2005 ). Neuere hermeneutische Ansätze verstehen diese Horizontverschmelzung weniger als harmonisches Erlangen einer erweiterten Verstehensebene, sondern vielmehr als offenen, nur begrenzt lenkbaren, vorhersehbaren und beendbaren Langzeitprozess der Interaktion (v. a. Delanoy 2002 a: 15 ). Lothar Bredella hat in diesem Zusammenhang einflussreich auf das Wechselspiel von Außen- und Innenperspektive beim Prozess des Fremdverstehens aufmerksam gemacht: Der Erkenntnis- und Bildungsprozess, der letztlich Auswirkungen auf die Veränderung des eigenen Vorverständnisses hat, stellt sich damit als komplexe Wechselbeziehung von Perspektivenübernahme, Perspektivenwechsel und Perspektivenkoordination dar (vgl. Plikat 2017 : 126 - 151 ). Bredella und andere verweisen dabei auf die Gefahren einer Reduktion 246 5. Forschungsverfahren des Fremden auf vertraute Verstehensschemata, gelangen jedoch zu der Einsicht, dass Kulturen nicht allein aus sich selbst heraus verstehbar sind, sondern auch von außen, aus der Distanz, wenn hermeneutische Prinzipien - Bewusstmachung habitualisierter Vorstellungen, Dialog, Prozessartigkeit, Interaktion, Offenheit - berücksichtigt werden. Bei Gadamer (wie auch in den Forschungsarbeiten von Lothar Bredella, Karlheinz Hellwig, Hans Hunfeld und Ansgar Nünning) erhält die Literatur einen privilegierten Status im Kontext des Verstehens. Werke herausragender Qualität, so eine hermeneutische Grundannahme und zugleich ein ethischer Anspruch, regen besonders zu verlangsamten, reflektierenden Wahrnehmungsprozessen an. Ihre semiotische Dichte sowie ihre künstlerisch kreierten Unbestimmtheiten produzieren eine intrikate Appellstruktur, welche Lesende und auch Lernende dazu auffordert, Bedeutung zu interferieren. Die Rezeption fremdsprachiger oder fremdkultureller Texte stelle beim Prozess der Horizontverschmelzung bzw. bei der sukzessiven Horizontaushandlung einen „gesteigerte[n] Fall hermeneutischer Schwierigkeit, d. h. von Fremdheit und Überwindung derselben“ (Gadamer 1965 : 365 ) dar. Das Potenzial der literarischen Kunst, die enigmatische, irritierende Ambivalenz ihres Verweisens durch Leer- und Unbestimmtheitsstellen wird in der von Gadamer beeinflussten Rezeptionsästhetik (v. a. bei Iser 1976 ) besonders hervorgehoben. Die literaturdidaktische Forschung hat seit den 1970 er und 1980 er Jahren die von der Rezeptionsästhetik ausgehenden Impulse einer Bedeutungsverlagerung vom Text auf den individuellen Leser hin verstärkt aufgegriffen (vgl. Hellwig 2005 ). Die Appelle zur Verstehenserweiterung, die von literarischen Texten ausgehen, lassen die individuelle Reaktion der Lernenden in den Mittelpunkt treten und hinterfragen die Vorstellung von sich objektiv gerierenden, universalen Deutungsarten oder Musterinterpretationen zu Gunsten eines subjektiven und erfahrungsorientierten Literaturverständnisses. Als beispielhaft für die heuristische Ausrichtung einer Vielzahl literatur- und kulturdidaktischer Arbeiten, welche Vorschläge für die Erweiterung des fremdsprachlichen Schulkanons bieten, kann die Studie von Nancy Grimm ( 2009 ) gelten. Auf Basis der in Fachpublikationen geführten Debatte zur Erweiterung des literarischen Kanons im Englischunterricht der Oberstufe (Stichwort: heimlicher Kanon), einer umfangreichen Lehrwerkanalyse und stichpunktartigen Schülerbefragungen verdeutlicht Grimm die Notwendigkeit, tradierte, auf erheblichen Vorurteilen fußende Einschätzungen ethnischer Minderheiten in den USA, hier vor allem der indigenen Bevölkerung, durch didaktisch aufbereitete Vorschläge zu alternativen Texten auszubalancieren. Nochmals kann auf die Referenzarbeit von Barbara Schmenk ( 2009 ; s. Kap 7 ) verwiesen werden, welche sowohl die Theoriediskussion wie auch empirische Forschungsarbeiten zum geschlechtsspezifischen Fremdsprachenlernen kritisch sichtet und dabei auf Grundlage der neueren Gender-Forschung aufzeigen kann, wie die Prämissen eines dominanten Geschlechterdiskurses die fremdsprachendidaktische Forschung nicht allein affizieren, sondern sogar Forschungsergebnisse präfigurieren. Als einschlägige Publikation sei schließlich die fremdsprachenübergreifende Studie von Plikat ( 2017 ) erwähnt, in welcher gängige Theorien und Konzepte des Fremdverstehens (in Anlehnung an Bredella) sowie des inter- und transkulturellen Verstehens als didaktische Zielkonstrukte hermeneutisch erschlossen werden. Dies geschieht mit der grundlegenden Intention, für die Fremdsprachenforschung anwendbare Kategorien zum 5.3.2 Hermeneutische Verfahren 247 reflektierten Umgang mit fremden Kulturen im Spannungsfeld von Universalismus und Kulturrelativismus zu entwickeln (vgl. auch Volkmann 2020 ). 4 Hermeneutische Ansätze und ihre Implikationen Hermeneutische Ansätze betonen die Notwendigkeit qualitativer Verfahren und setzen in der Regel auf qualitativ perspektivierte Triangulation, auch bei der Auswertung quantitativer Daten. Dennoch besitzt die Hermeneutik auch für quantitative empirische Forschungsvorhaben Bedeutung, denn die den zu testenden Hypothesen zugrundeliegenden Normen und Werte können nur hermeneutisch erfasst werden. Das zeigt auch die Studie von Schmenk ( 2009 ), indem sie die derartigen Forschungen zugrundeliegenden, soziokulturell bedingten Vorannahmen erkennt, in Frage stellt und gegebenenfalls dekonstruiert. Wie die ethnographische Herangehensweise fordert die Hermeneutik dazu auf, Selbstreflexivität und dialogische Interaktionsmuster walten zu lassen, den Einfluss des Beobachters auf das Beobachtete zu beachten, ebenso wie die Veränderung des Forschungsfeldes im Verlauf der intensivierten Interaktion mit dem Feld. Zentrales Untersuchungsfeld der Hermeneutik bleibt zum einen der (Verstehens-) Prozess bei der Interaktion zwischen Text und Leser*in im Fremdsprachenunterricht und die Frage nach Zusammenhängen, Bedingungen und Konsequenzen von Leseakten. Selbstverständlich müssen dabei Aspekte aus pädagogischen, psychosozialen, literatur- und kulturdidaktischen Komplexen mit berücksichtigt werden. Hier gilt es, Rückkoppelungseffekte zwischen Empirie und Praxis auszulösen: für Empfehlungen zur Auswahl und zum Einsatz von Literatur und Texten überhaupt, für die Gestaltung von Unterrichtsmaterialien und Aufgaben, zur Vorbereitung, Planung und Durchführung von Unterricht, und auch zur (Weiter-)Qualifizierung von Lehrkräften (vgl. eingehender die Vorschläge zu Forschungsfeldern bei Burwitz-Melzer 2001 : 140 - 45 ; Delanoy 2002 a: 166 ; Delanoy 2002 b: 86 - 88 ; zum Methodenrepertoire Burwitz-Melzer 2001 : 145 ; Klein 2013 : 271 ). Zum anderen gehören hermeneutische Verfahren als wichtiger Bestandteil vieler Forschungsansätze zum Basisrepertoire der fremdsprachendidaktischen Forschung, sei sie historisch, theoretisch oder empirisch ausgerichtet. Zusammengefasst kann aus der Perspektive der hermeneutischen Forschung eine Reihe von handlungsleitenden kritischen Fragestellungen bei der Aufbereitung, Darstellung und Analyse von Daten zum Tragen kommen: - Beachte ich als Forscher*in meine subjektive Perspektive, mein Interessegeleitetsein, meine Verankerung in bestimmten historischen, sozialen, bildungs- und forschungspolitischen Diskursmustern? Gehe ich auf Verfahren intersubjektiver Bedeutungsaushandlung ein, wie diese z. B. für die Kategorienbildung in der Inhaltsanalyse zum Tragen kommen (s. Kap. 5 . 3 . 5 )? Wie hinterfrage ich meine eigene Position (Vorannahmen, Überzeugungen usw.) und meine methodischen Verfahren (Fragen der subjektiven Nachvollziehbarkeit und ggf. ethischer Problemstellungen) und lege diese Reflexionen und ihre Konsequenzen offen? - Beachte ich dabei, auch in der Darstellung, welche Stimmen und Positionen ich ausblende bzw. nicht beachte? Bedenke ich die Gründe für diese Akte von Exklusion? Lasse ich andere, meinen Ansatz möglicherweise radikal in Frage stellende Positionen in meine 248 5. Forschungsverfahren Prozesse der Erkenntnisgewinnung: zirkulär mehrperspektivisch deutungsoffen 5.3.2 Hermeneutische Verfahren Ziel: Verstehen von Texten, Prozessen, Kulturen, … Gefahr von Zirkelschlüssen Mögliche Zugriffe: strukturale Interpretation komparative Interpretation experimentelle Interpretation psychologisch-mimetische Interpretation kontextuelle Interpretation kulturanalytische Interpretation Außen- und Innenperspektive Hermeneutischer Zirkel Denkmuster hinterfragen eigene Vorannahmen reflektieren Sinn aushandeln Interaktion und Dialog Grundverständnis, allgemeine Einordnung Analyse von Einzelelementen verändertes Grundverständnis neue Einzelelemente NB: Hermeneutische Verfahren sind Teil vieler Forschungsansätze. © 2022 ⚫ Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 5.3.2 Hermeneutische Verfahren 249 Reflexionen oder meine Argumentationsstruktur einfließen, indem ich z. B. advocatusdiaboli -Perspektiven durchdenke? - Beachte ich immer wieder die Gefahr des hermeneutischen Trugschlusses, der darin besteht, dass unhinterfragt akzeptierte Vorannahmen oder vorläufig erstellte Hypothesen meine weitere Auseinandersetzung mit den Daten vorprägen und meine Vor-Urteile letztlich nur bekräftigen? Betrachte ich mein Gesamtnarrativ durchaus auch einmal im Überblick kritisch, mit dem Ziel, unterschwellig wirkende Vorannahmen zu revidieren und zu differenzierten Ergebnissen zu kommen, bei denen eventuell auch ungelöste Probleme und vorläufige Ergebnisse weiter existieren? - Richte ich bei historisch ausgerichteten Arbeiten meinen Blick auch auf die historischsozialen Kontexte der Entstehungsgeschichte von Texten und versuche diese aus sich heraus zu verstehen (vgl. Kap. 5 . 3 . 1 zur Analyse historischer Quellen)? Bin ich mir bewusst, dass meine Perspektive entscheidend von gegenwärtigen Erkenntnissen über die Vergangenheit geprägt ist? - Beachte ich bei der Untersuchung von Verstehensprozessen im Fremdsprachenunterricht den individuell sehr unterschiedlich ausprägten Erfahrungs- und Wissenshorizont der Lernenden, z. B. bei affektiven Komponenten, dem interkulturellen Moment sowie bei der Passung von Themen, Inhalten, Texten, Methoden, Kompetenzen und Lernzielen? Stellte Eva Burwitz-Melzer noch zu Beginn der 2000 er Jahre ( 2001 : 139 ) fest, dass es besonderen empirischen Forschungsbedarf bezüglich des Stellenwerts interkultureller Inhalte gebe, primär zu Fragen der Lernziele und Lehr-Lernmethoden in diesem Bereich, so kann inzwischen konstatiert werden, dass auf diesem Gebiet gerade unter Rückgriff auf hermeneutische Forschungskontexte erhebliche wissenschaftliche Nachholleistungen erbracht wurden (vgl. beispielhaft Freitag-Hild 2010 ). Es gilt jedoch weiterhin, wie Plikat urteilt, dass „Interkulturelle Kompetenz sich als empirisch äußerst schwer zugänglich erwiesen hat“ (Plikat 2017 : 300 ). Mit Plikat sei dabei festgestellt, dass die Bemühungen um eine empirische Erforschung von interkulturellen Verstehens- und Vermittlungsprozessen im Sinne eines hermeneutischen Zirkels auch Reflexionsprozesse auf der Theorieebene vorangebracht haben. 250 5. Forschungsverfahren › Literatur Forschungsarbeiten, in denen die hier erläuterten Verfahren angewendet werden, sind mit einem Sternchen markiert. Ahrens, Rüdiger (2004). Hermeneutik. In: Nünning, Ansgar (Hg.). Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze - Personen - Grundbegriffe . 3. Auflage. Stuttgart: Metzler, 252-255. Baacke, Dieter (1993). Ausschnitt und Ganzes. In: Baacke, Dieter/ Schulze, Theodor (Hg.). Aus Geschichten lernen. Zur Einübung pädagogischen Verstehens . München: Juventa, 87-125. Bortz, Jürgen/ Döring, Nicola (2006). 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In: Nünning, Vera/ Nünning, Ansgar (Hg.). Methoden der literatur- und kulturwissenschaftlichen Textanalyse. Ansätze, Grundlagen. Modellanalysen. Stuttgart: Metzler, 29-50. Der Beitrag mit literatur- und kulturwissenschaftlichem Fokus liefert eine knappe Einführung in die zugrunde liegende Theorie der Methode, stellt die Methode vor und liefert eine Musterinter- 252 5. Forschungsverfahren pretation zu Shakespeares Sonett 73. Eine abschließende Kritik ordnet die Methode in die neuere Theoriediskussion ein. Bredella, Lothar (2010). Das Verstehen des Anderen. Kulturwissenschaftliche und literaturdidaktische Studien. Tübingen: Narr. Diese Publikation stellt eine Zusammenfassung verschiedener, überarbeiteter Publikationen Bredellas dar und bietet eine gute Einführung in das Denken des für hermeneutische Positionen in der Fremdsprachendidaktik so bedeutungsvollen Forschers. Es finden sich hier sowohl essenzielle Überlegungen zu Grundzügen der Didaktik des Fremdverstehens als auch zahlreiche Diskussionen literarischer Fallbeispiele. Delanoy, Werner (2002b). Literaturdidaktik und fremdsprachlicher Literaturunterricht: Theorie und Praxis als Dialog. In: Legutke et. al, 55-98. Für eine hermeneutische Fremdsprachendidaktik, die den Prinzipien der Selbstreflexion und der dialogischen, offenen Interaktion verpflichtet ist, stellt dieser auf den Gedanken Gadamers und auch Bredellas aufbauende Aufsatz einen wichtigen Beitrag dar. Er nennt zahlreiche Forschungsprinzipien und mögliche Forschungsgebiete. Rittelmeyer, Christian (2013). Methoden hermeneutischer Forschung. In: Friebertshäuser, Barbara/ Langer, Antje/ Prengel, Annedore (Hg.). Handbuch Qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft. 4. Auflage. Weinheim, München: Juventa, 235-248. Schlömerkemper, Jörg (2010). Konzepte pädagogischer Forschung. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Kap. 4.1 Hermeneutisch-interpretative Konzepte, 54-60. In Kombination gelesen, führen dieser Handbuchbeitrag von Rittelmeyer und das genannte Kapitel in Schlömerkemper in die Grundlagen und Grundfragen hermeneutischer Forschungsansätze in den Erziehungswissenschaften ein. In seinem Beitrag kategorisiert und erläutert Rittelmeyer zudem die unterschiedlichen Formen hermeneutischer Forschung. 5.3.3 Grounded Theory Karin Aguado Ziel des vorliegenden Beitrags ist die Darstellung und Diskussion eines bedeutenden und inzwischen weit verbreiteten methodisch-methodologischen Ansatzes, der ursprünglich zur Untersuchung von Fragestellungen der qualitativen Sozialforschung entwickelt worden ist, sich in den letzten Jahren jedoch auch in der empirischen Fremdsprachendidaktik zunehmend großer Beliebtheit erfreut. Gemeint ist die Grounded Theory -Methode bzw. -Methodologie (im Folgenden mit GTM abgekürzt) 18 , ein Forschungsstil, der fest in der Ethnomethodologie verwurzelt ist, also 18 Im vorliegenden Text wird absichtlich kein Versuch unternommen, die Bezeichnung des hier behandelten Verfahrens der GT ins Deutsche zu übersetzen. Es wird vielmehr davon abgeraten, es zu tun, weil dies unweigerlich zu unangemessenen Verkürzungen dieser komplexen Forschungsstrategie führen würde. In der Vergangenheit unternommene Vorstöße führten zu Bezeichnungen wie „gegenstandsbegründete“, „gegenstandsbasierte“, „gegenstandsbezogene“ oder auch „datengestützte“ Theoriebildung, wobei keine von ihnen den Kern des Verfahrens trifft bzw. alle zu kurz greifen. Aus diesem Grund wird 5.3.3 Grounded Theory 253 einer Richtung innerhalb der Soziologie, die die Methoden, Verfahren und Techniken untersucht, mit denen die Angehörigen einer sozialen Gemeinschaft ihre alltäglichen Aktivitäten und Handlungen organisieren und steuern. Nach Bergmann ( 1988 : 3 ) dient die ethnomethodologische Vorgehensweise dazu „zu rekonstruieren, wie wir die Wirklichkeit (…) in unserem tagtäglichen Handeln und im sozialen Umgang miteinander als eine faktische, geordnete, vertraute, verlässliche Wirklichkeit hervorbringen.“ Zu den zentralen Merkmalen ethnographischer Ansätze zählen Ganzheitlichkeit, interpretativer Zugang und Reflexivität im Hinblick auf den Forschungsprozess - allesamt Charakteristika, die für das hier vorgestellte Verfahren in besonderer Weise kennzeichnend sind. Grundsätzlich gilt in der qualitativen Forschung der Grundsatz, dass die Forschungsmethode vom jeweiligen Gegenstand bestimmt wird bzw. ihm anzupassen ist. Rekonstruktive Verfahren wie die GTM zeichnen sich dadurch aus, dass sie Prozesse, Ereignisse, Situationen und Handlungen aus einer emischen Perspektive beschreiben und zu verstehen versuchen, d. h. sie aus der Innensicht der untersuchten Akteure zu rekonstruieren, und zwar mittels der beiden empirischen Basismethoden Beobachtung und Befragung. Gleichzeitig gehen Vertreter dieser Verfahren von der Prämisse aus, dass es keine subjektbzw. standortunabhängige Forschung gibt. Daraus folgt zwecks Erfüllung des Gütekriteriums der Transparenz bzw. der Nachvollziehbarkeit, dass diese Perspektivgebundenheit in Bezug auf sämtliche Phasen des Forschungsprozesses, also Erhebung, Aufbereitung, Analyse und Interpretation, durchgängig zu dokumentieren und zu reflektieren ist. Anhand ausgewählter Referenzarbeiten soll gezeigt werden, wie die konkrete Anwendung der GTM in der fremdsprachenlehr-/ -lernbezogenen Forschungspraxis im Idealfall aussehen kann. Schon an dieser Stelle sei vorweggenommen, dass in der qualitativen Forschung heute kaum ein methodisches Verfahren in Reinform angewendet wird, sondern zumeist entweder durch spezifische Anpassungen oder durch Kombinationen mit anderen Verfahren (z. B. im Rahmen eines Mixed Methods -Design (s. Kap. 3 . 3 . 5 )) gekennzeichnet ist, allerdings i. d. R. nicht ohne eine solche Hybridisierung explizit zu machen, nachvollziehbar zu begründen und kritisch zu reflektieren. 1 Grounded Theory : Entstehung, Ziele, Spezifika 19 Im Zusammenhang mit der Frage, ob es sich bei der Grounded Theory ( GT ) um eine Forschungsmethode, um eine Forschungsmethodologie oder um eine Forschungsstrategie handelt, ist zunächst einmal sowohl inhaltlich als auch terminologisch zwischen Prozess bzw. Weg (= Grounded Theory- Methode bzw. -Methodologie) und Produkt bzw. Ziel hier grundsätzlich für die Beibehaltung der englischsprachigen Originalbezeichnung Grounded Theory plädiert. 19 Da es im Rahmen des vorliegenden Beitrags nicht möglich ist, die gesamte Entwicklung, die sich im Laufe der Jahre zunehmend entwickelnde Kontroverse zwischen Barney G. Glaser und Anselm L. Strauss sowie die Weiterentwicklungen der GTM durch die zweite Generation im Detail nachzuzeichnen, sei an dieser Stelle auf den kontinuierlich aktualisierten Grounded Theory Reader hingewiesen, dessen aktuelle Ausgabe von Mey/ Mruck im Jahr 2011 herausgegeben worden ist. Darüber hinaus sei allen an forschungsmethodologischen Fragen im Bereich der qualitativen Forschung interessierten Leser*innen die an der FU Berlin veröffentlichte Open-Access -Zeitschrift Forum Qualitative Sozialforschung/ Forum: Qualitative Social Research (FQS) empfohlen: www.fu-berlin.de/ sites/ open_access/ e-publishing/ fu_ojs_zeitschriften/ fqs.html 254 5. Forschungsverfahren (= Grounded Theory ) zu unterscheiden. Da der Fokus des vorliegenden Handbuchs im Bereich der Verfahren der empirischen Fremdsprachenforschung liegt und es sich bei dem im Folgenden dargestellten Verfahren nicht um eine einheitliche Methode handelt, sondern im Laufe der Jahre ein Spektrum an Varianten mit unterschiedlichen Fokussierungen entstanden ist, spreche ich im vorliegenden Beitrag nicht von Methode, sondern von Methodologie ( GTM ). Mit ihrer Monographie The Discovery of Grounded Theory. Strategies for Qualitative Research haben die beiden Soziologen Barney G. Glaser und Anselm L. Strauss im Jahr 1967 das Konzept des von ihnen gemeinsam entwickelten Verfahrens für eine systematische datengeleitete Theoriegenerierung präsentiert. Ihr Ziel war es, nicht nur generell eine Lanze für eine qualitative empirische Herangehensweise an wissenschaftliche Fragestellungen zu brechen und eine Alternative zu den bis dato bevorzugt angewendeten quantitativ-deduktiven Vorgehensweisen zu entwerfen. Sie wollten darüber hinaus eine Ergänzung zu rein deskriptiven qualitativen Ansätzen anbieten. Gründe dafür waren die aus ihrer Sicht überfällige Hinterfragung sogenannter Grand Theories , im Rahmen derer sie selbst sozialisiert worden waren (wie z. B. Symbolischer Interaktionismus, Pragmatismus oder Kritischer Rationalismus), und die Ermutigung des wissenschaftlichen Nachwuchses, sich von diesen mächtigen Theorien zu emanzipieren und in der eigenen empirischen Arbeit neue, dem jeweiligen Gegenstand angemessenere Wege einzuschlagen. Das zentrale innovative Merkmal der in der Sekundärliteratur (z. B. von Mey/ Mruck 2011 : 12 ) als „programmatisch“ bezeichneten Veröffentlichung von Glaser/ Strauss ist zusammengefasst die Eröffnung der Möglichkeit, systematisch erhobene Daten nicht nur zu beschreiben und anhand vorgegebener Kategorien regelgeleitet zu analysieren, sondern sie selbst zur Konzept- und Theoriebildung zu nutzen. Es scheint, als habe die qualitativ arbeitende scientific community seinerzeit auf eine solche Herangehensweise gewartet, denn die GTM wurde mit Begeisterung aufgenommen und hat sich in den vergangenen fünf Jahrzehnten fest in der qualitativen Forschung etabliert, wobei - wie oben bereits angedeutet wurde - sie inzwischen in mehreren Varianten - in der einschlägigen Literatur auch „Spielarten“ (vgl. z. B. Bücker 2020 : Abschnitt 14 ) genannt - ko-existiert. So gibt es sowohl im internationalen Vergleich als auch hinsichtlich der verschiedenen empirischen Disziplinen, die sich der GTM bedienen, z. T. unterschiedliche Entwicklungen und Schwerpunktsetzungen, auf die weiter unten noch einzugehen sein wird. 20 Im Unterschied zu anderen Forschungsstrategien handelt es sich bei der GTM um ein außerordentlich komplexes, ganzheitliches Verfahren, das sowohl zur Gewinnung als auch zur Analyse und zur Interpretation von Daten dient. Es integriert die genannten drei Forschungsphasen bzw. -ebenen, d. h. die klassische Trennung entfällt: Man wartet mit der Aufbereitung, Analyse und Interpretation also nicht, bis sämtliche Daten erhoben sind, sondern beginnt unmittelbar nach der ersten Datenerhebung mit der Analyse, deren 20 An dieser Stelle sei kurz die grundsätzliche Frage aufgeworfen, ob bzw. inwiefern es angemessen ist, methodische Herangehensweisen, die im Rahmen eines gegebenen (disziplinären und kulturellen) Kontexts entwickelt worden sind, unhinterfragt auf einen Kontext zu übertragen, der von anderen (fachlichen) Traditionen, Gegenständen, Erkenntnisinteressen, Praktiken und Einstellungen geprägt ist. 5.3.3 Grounded Theory 255 Ergebnisse dann das weitere Vorgehen bestimmen, wie z. B. die Auswahl der als nächstes zu erhebenden Daten. Diese Vorgehensweise ist konstitutiv für die GTM und bringt für Forschende den großen Vorteil mit sich, bereits zu Beginn des Forschungsprozesses sehr nah an den Daten zu arbeiten, d. h. sich mit ihnen vertraut zu machen, sowie erste Kodierungen und Kategorisierungen vorzunehmen. So verringert sich auch das Risiko, sogenannte Datenfriedhöfe zu produzieren, da im weiteren Forschungsprozess idealiter nur solche Daten erhoben werden, von denen begründet angenommen werden kann, dass sie für die jeweilige Arbeit - also für das eigene Erkenntnisinteresse, die Beantwortung der Forschungsfrage(n), das Erreichen des übergeordneten Forschungsziels und die Aufstellung einer in empirischen Daten verankerten, erklärenden Theorie - relevant und zielführend sind. Von der theoretischen Sensibilität über das theoretische Sampling bis zur theoretischen Sättigung Zu Beginn ihrer gemeinsamen Arbeit forderten Glaser und Strauss von Forschenden, die mit dem GTM -Ansatz arbeiten wollten, den völligen Verzicht auf jegliche Lektüre einschlägiger Literatur und daraus möglicherweise resultierenden störenden theoretischen Begriffsbildungen. Stattdessen hielten sie das Vorhandensein einer theoretischen Sensibilität für notwendig und hinreichend. Damit gemeint ist die Fähigkeit, im Datenmaterial theoretisch relevante Kategorien sowie zwischen ihnen bestehende Beziehungen entdecken zu können. 21 Während Glaser bis heute an dieser Position festhält, hat Strauss (in seinen Publikationen zusammen mit Corbin) im Laufe der Zeit seine Einstellung zur Einbeziehung vorhandener Forschungsliteratur geändert bzw. angepasst. Glaser zufolge sollte im Vorfeld einer empirischen Arbeit nicht einmal ein Forschungsbericht angefertigt werden, weil die Kenntnis und Einbeziehung von Literatur zu einer Kontamination der zu bildenden Kategorien führen könnte und so das eigentliche Ziel der GTM - nämlich eine Theorie aus den Daten emergieren zu lassen - von Vornherein vereitelt würde. Die angestrebte Emergenz setzt Glaser zufolge voraus, dass Forschende die Daten unvoreingenommen und ohne Vorwissen jedweder Art betrachten. Entsprechend sollten frühestens nach der Generierung der zentralen Kategorien für die aufzustellende GT überhaupt andere Informationsquellen konsultiert werden. So empfiehlt - in Anlehnung an Glaser ( 1978 ) - auch Charmaz ( 2003 ), die einschlägige Fachliteratur erst nach dem Analyseprozess zu rezipieren. Die hier zugrundeliegende ‚Befürchtung‘ besteht darin, dass Literaturkenntnis die Sicht auf die Daten verfälschen und die Kreativität der Forschenden einschränken könnte. Vielmehr solle die geforderte theoretische Sensibilität strikt am Material und ausschließlich durch die Auseinandersetzung mit den empirischen Daten entstehen. Wenngleich diese sehr rigide Position theoretisch konsequent und somit prinzipiell nachvollziehbar ist, stellt sie gleichzeitig eine nicht unproblematische Forderung dar. So wäre hier grundsätzlich zu entgegnen, dass die Rezeption und Verarbeitung vorhandener Fachliteratur für einen jeden 21 Es handelt sich hierbei eine sehr abstrakte und nicht näher spezifizierte Eigenschaft oder Kompetenz, bei der sich (nicht nur) Forschungsanfänger*innen fragen könnten, ob man sie überhaupt erwerben kann oder ob es sich nicht vielmehr um ein Persönlichkeitsmerkmal handelt, über das man entweder verfügt oder nicht. 256 5. Forschungsverfahren wissenschaftlichen Forschungsprozess eine zentrale Rolle spielt und dabei u. a. vor unangenehmen Überraschungen oder vermeintlichen Neuentdeckungen schützt. Ferner ist unbestritten, dass empirische Beobachtungen nicht nur von fachlichem Vorwissen, sondern auch von subjektiven Erfahrungen und Erwartungen beeinflusst werden, und so gehört es inzwischen zum wissenschaftlichen Standard, Vorwissen jeglicher Art entsprechend zu dokumentieren, gezielt zu reflektieren und hinsichtlich seines Stellenwerts zu evaluieren (für ein typisches Beispiel vgl. die Referenzarbeit von Ehrenreich 2004 , Abschnitt BI. 1 . 3 , in dem die Forscherin explizit ihr ausbildungs- und berufsbiographisch geprägtes Vorwissen benennt und hinsichtlich seiner Rolle für die empirische Untersuchung reflektiert. So beschreibt Ehrenreich die aus ihrer vorhandenen Vertrautheit mit dem Forschungsfeld resultierenden Auswirkungen auf das Verhältnis zu den von ihr Befragten sowie auf die Kommunikationsstruktur und die Gesprächsinhalte). Strauss ( 1987 , 1998 ) sowie Strauss & Corbin ( 1990 , 1996 ) betrachten die gezielte und reflektierte Einbeziehung vorhandener Forschungsliteratur insgesamt pragmatischer und befürworten u. U. gar die Übernahme von Codes oder Kategorien aus vorhandener Literatur - allerdings mit der gebotenen Vorsicht und Reflektiertheit. Kelle ( 2010 ) geht sogar noch einen Schritt weiter, indem er im Rahmen von Forschungen mittels der GTM sogar das gezielte Überprüfen von Vorwissen für denkbar hält. Wenngleich also ein offener Blick auf das zu untersuchende Phänomen ein zentrales Merkmal aller Varianten der GTM darstellt und der Forschungsprozess mit der Formulierung der Forschungsfrage eröffnet, nicht aber fixiert wird (vgl. dazu Kühlmeyer et al. 2020 : Abschnitt 18 ), ist offensichtlich, dass es eine völlige theoretische Offenheit nicht geben kann, weil Alltagsbzw. Erfahrungswissen niemals ausgeschaltet werden können. Dies gesteht auch Charmaz ( 2006 : 130 ) im Rahmen des von ihr vertretenen konstruktivistischen GTM -Ansatzes zu: „The theory depends on the researcher’s view; it does not and cannot stand outside of it.“ Das zuvor bereits angedeutete methodische Vorgehen der GTM bei der Datengewinnung wird als Theoretical Sampling bezeichnet. Damit ist die im Rahmen der Theorieentwicklung kontinuierlich erfolgende Erhebung weiterer Daten gemeint, deren Funktion in der Zusammenstellung eines möglichst breiten Variationsspektrums besteht - was ein zentrales Moment der Qualitätssicherung darstellt. Die methodisch-methodologische Begründung für das theoretische Sampling ist die im Rahmen der qualitativen Forschung bestehende Problematik der Bestimmung einer Grundgesamtheit und die daraus resultierende Unmöglichkeit der Ziehung einer repräsentativen Stichprobe. Stattdessen wird eine sukzessive Differenzierung und Verfeinerung der bereits gewonnenen, jedoch stets als vorläufig zu betrachtenden Erkenntnisse angestrebt. Die weiteren Daten werden nach ihrer Relevanz für den untersuchten Gegenstand ausgewählt, wobei generell eine maximale Heterogenität bzw. ein größtmöglicher Kontrast zwischen ihnen anzuvisieren ist. Im Unterschied zu allen strikt sequentiell angelegten (hypothesentestenden oder hypothesengenerierenden) Verfahren geht die GTM also iterativ, rekursiv, zyklisch 22 vor, d. h. 22 Vielfach wird in deutschsprachigen Publikationen in diesem Zusammenhang auch das Adjektiv ‚zirkulär‘ verwendet - eine aus meiner Sicht vollkommen unangemessene Bezeichnung, da sie einen wichtigen Kerngedanken der GTM , nämlich die dynamische Theorieentwicklung, gerade nicht zum Ausdruck bringt. 5.3.3 Grounded Theory 257 die Erhebung weiterer Daten, ihre unmittelbare Kodierung und Analyse sowie der kontinuierliche kontrastierende Vergleich mit bereits kodierten und analysierten Daten zum Zweck der Bildung theoretischer Konzepte werden so lange betrieben, bis der Forscher/ die Forscherin an einem Punkt angelangt ist, den Glaser und Strauss theoretische Sättigung nennen - ein zentrales Prinzip der Theorieentwicklung im Rahmen der GTM : Wenn sich also zeigt, dass die Erhebung und Analyse von weiteren Daten keinen neuen Erkenntnisgewinn mehr bringen, die Kategorien bereits maximal dicht und ihre Beziehungen untereinander identifiziert und benannt sind, gilt die bis dahin aufgestellte Theorie als vorläufig gesättigt. Hinsichtlich der Güte einer auf diese Weise gewonnenen Theorie sei hier die Position von Mey/ Mruck zitiert: „Nicht die Zahl der Fälle, sondern die Systematik ihres Einbezugs und der Vergleiche macht die Qualität einer GT aus“ (Mey/ Mruck 2011 : 29 ). Gleichzeitig muss an dieser Stelle eingeräumt werden, dass es ein sehr hoch gestecktes Ziel ist, im Rahmen einer einzelnen Studie volle Sättigung erreichen zu wollen. In diesem Zusammenhang interessant und sehr sinnvoll erscheint mir daher der Vorschlag von Dey ( 1999 ), hier eher von Hinlänglichkeit ( sufficiency ) anstatt von Sättigung ( saturation ) zu sprechen. Die skizzierte Iterativität ist für eine begründete und valide Theoriengenerierung also unverzichtbar, wobei mittels GTM in der Regel die Formulierung von Theorien mittlerer Reichweite (vgl. dazu Merton 1949 ) angestrebt wird. Hier ist zu beachten, dass die meisten auf diese Weise generierten Theorien immer nur Teil-Theorien, Entwürfe oder Skizzen sind, denn: „The published word is not the final one, but only a pause in the never-ending process of generating theory“ (Glaser/ Strauss 1967 : 40 ). Auf die Frage eines Interviewers, wann er das Gefühl hätte, dass es sich bei einer Vorgehensweise nicht mehr um ‚seine‘ Methode handeln würde, antwortete Anselm Strauss ( 2011 : 75 ): „Das ist eine gute Frage. Ich würde antworten: Wenn die genannten drei Essentials [theoretisches Kodieren, theoretisches Sampling , Vergleiche zwischen Phänomenen und Kontexten, aus denen die theoretischen Konzepte entstehen - Ergänzung K.A.] beachtet werden, ist es Grounded Theory , wenn nicht, ist es etwas anderes. Aber wenn jemand sich trotzdem auf die Methodologie der Grounded Theory beruft, kann ich es auch nicht verhindern! “ Offenes, axiales und selektives Kodieren 23 Um Kategorien entwickeln zu können, müssen die erhobenen Daten zunächst kodiert werden. Dazu stehen in der GTM drei chronologisch aufeinander folgende Kodierverfahren zur Verfügung: 24 Das erste Verfahren - das offene Kodieren - umfasst das detaillierte Zeile für Zeile-Lesen der Daten zwecks Beantwortung der allgemeinen Frage: „Worum geht es hier? “ Hier ist ein maximal freier Umgang mit den Daten das Ziel, d. h. es sollen sämtliche Ideen und Assoziationen notiert und mit groben, vorläufigen Kodes versehen werden. Bei der Benennung wird zwischen soziologischen Konstrukten auf der einen Seite und natürlichen Kodes (auch in-vivo -Kodes genannt, weil sie dem Material direkt entnommen sind) auf der anderen Seite unterschieden. Bei dem sich nun anschließenden 23 N.B. Während dieser Prozess bei Glaser ( 1978 ) „theoretisches Kodieren“ genannt wird, heißt er bei Charmaz ( 2006 ) „initiales und fokussiertes Kodieren“. 24 Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf die von Strauss ( 1987 ) bzw. Strauss/ Corbin ( 1990 ) vorgeschlagene und inzwischen fest etablierte Vorgehensweise. 258 5. Forschungsverfahren Schritt - dem axialen Kodieren - geht es um die systematische Bildung, Differenzierung und Verfeinerung der gewonnenen Kategorien und deren zunehmende Abstraktion. Dazu werden die zuvor ermittelten Kodes anhand des von Strauss ( 1987 ) und Strauss/ Corbin ( 1990 ) entwickelten Kodierparadigmas systematisch auf Bedingungen, Verbindungen und Konsequenzen überprüft. D. h. beim axialen Kodieren stehen die Kategorien im Zentrum und werden systematisch hinsichtlich ihrer Relationen zu anderen Kategorien betrachtet und verdichtet. Im letzten Schritt - dem selektiven Kodieren - geht es um die Ermittlung der Kernkategorie als Grundlage für die angestrebte Theoriebildung. Die mittels des axialen Kodierens gewonnenen Kategorien werden nun zwecks Bestimmung von Oberkategorien abermals systematisch klassifiziert, d. h. die praktische Vorgehensweise ist prinzipiell identisch mit dem zweiten Kodierschritt, das Resultat weist allerdings einen zunehmend höheren Abstraktionsgrad auf (vgl. Strauss/ Corbin 1990 : 117 ). Für die sich nun anschließende Formulierung der zu generierenden Theorie werden sämtliche interpretativen Schritte miteinander integriert. Abschließend ist die gewonnene Theorie einer Überprüfung an Daten zu unterziehen. Im Hinblick auf die Qualität der Theoriebildung betont Muckel ( 2011 ) die Wichtigkeit des wiederholten genauen Lesens der erhobenen Daten sowie deren permanenter Vergleich. Hinsichtlich der Kategorienbildung schreibt sie, dass […] die entwickelten Kategorien umso besser (dichter, prägnanter, integrativer) [sind], je mehr es den Forschenden gelingt, u. a. zwischen zwei Einstellungen/ Haltungen den Daten gegenüber zu wechseln : Zum einen sollte versucht werden, eigenen Interpretations- und Lesartenideen nachzugehen und sie in verschiedenen Datenausschnitten zu belegen. Zum anderen sollte man immer wieder eine Gegenbewegung dazu antreten und sozusagen fragen, ob etwas auch anders sein könnte, als es gerade erscheint. Diese beiden Haltungen einzunehmen - also Belege und Widersprüche in den Daten zu suchen - schleift Kategorien, indem sie gleichzeitig präzisiert und pluralisiert werden, und das macht sie gut. (Muckel 2011: 351; Hervorhebungen im Original). Aus seiner Perspektive sicherlich folgerichtig, aus aktueller methodologischer Warte betrachtet jedoch nicht länger haltbar ist Glasers Plädoyer, den mittels der GTM gewonnenen Erkenntnissen auch ohne nochmalige Überprüfung zu trauen. Als Argument führt er die Verlässlichkeit der Methode des ständigen Vergleichens an. Strübing sieht diesen „objektivistischen Methodenglauben“ (Strübing 2011 : 272 ) Glasers kritisch, da dieser unberechtigterweise davon ausgehe, dass eine richtige Methodenanwendung auch automatisch und zwingend zu korrekten Ergebnissen führe. GTM - ein Forschungsstil mit vielen Varianten Es besteht in der einschlägigen Forschungsszene Einigkeit darüber, dass es inzwischen mindestens zwei zentrale Varianten der GTM gibt, und zwar zum einen die von Barney Glaser und seinen Schüler*innen vertretene, größtenteils mit der Originalversion aus dem Jahr 1967 übereinstimmende Variante und zum anderen die sich z. T. deutlich davon unterscheidende von Anselm Strauss und seinen Schüler*innen entwickelte Variante. Wie bereits angedeutet, gingen die beiden Begründer der GTM relativ bald nach ihrer bahnbrechenden gemeinsamen Publikation in methodisch-methodologischer Hinsicht jeweils eigene Wege und entfernten sich im Laufe der Zeit immer weiter voneinander. Der endgültige Bruch 5.3.3 Grounded Theory 259 wurde durch die von Strauss/ Corbin im Jahr 1990 veröffentlichte Monographie Basics of Qualitative Research ausgelöst, in Bezug auf die Glaser ( 1992 ) seinen ehemaligen Ko-Autoren Strauss der Verfälschung des zuvor gemeinsam entwickelten methodisch-methodologischen Ansatzes bezichtigte. Zusammenfassend und auf den Punkt gebracht, könnte man es so formulieren: Während Glaser grundsätzlich und nach wie vor eine eher strengpuristische Position vertritt, an der ursprünglichen Version der seinerzeit entwickelten Forschungsstrategie festhält und jegliche Veränderungen ablehnt, vertreten Strauss und seine Schüler*innen eine eher pragmatische, nützlichkeitsbezogene Position mit Blick auf mögliche Weiterentwicklungen des ursprünglichen Ansatzes. Strübing ( 2011 ) vertritt - im Unterschied zu Mey/ Mruck 2009 - die Ansicht, dass es sich bei den beiden Konzeptionen der GTM wissenschafts- und erkenntnistheoretisch „um zwei grundverschiedene Verfahren qualitativer Sozialforschung handelt“ (Strübing 2011 : 273 ). Entsprechend schlussfolgert er, „dass Forschende, die sich auf Grounded Theory berufen, nicht umhin können, sich für die eine oder die andere der beiden Varianten zu entscheiden“ (Strübing 2011 : 262 ). Die zuvor bereits genannten poststrukturalistischen, konstruktivistischen Weiterentwicklungen der GTM durch Forscher*innen der zweiten Generation wie insbesondere z. B. Kathy Charmaz ( 2000 , 2003 , 2006 ) und Adele Clarke ( 2005 , 2009 , 2012 ) werden in der fremdsprachendidaktischen Empirie in Deutschland bisher noch zurückhaltend rezipiert, was sich jedoch sicherlich in absehbarer Zeit ändern wird, so dass - je nachdem, ob eher individuelle oder gesellschaftliche Gegenstände fokussiert werden sollen - aus einer noch größeren Vielfalt an GTM-Ansätzen ausgewählt werden kann. Es ist unbestritten, dass Glaser und Strauss im Hinblick auf ihre forschungsmethodologische Reflektiertheit eine nicht zu unterschätzende Pionierfunktion zukommt. Dass sie bereits in den 1960 er Jahren so stark den Forschungsprozess fokussierten, war innovativ und für die heutige qualitative Forschung von zentraler Bedeutung: So führten sie das für die GTM zentrale Prinzip „Stop and memo! “ ein, demzufolge die Datenkodierung regelmäßig und systematisch zu unterbrechen ist, um den eigenen Analyse- und Erkenntnisprozess kontinuierlich zu reflektieren: Dieses Erstellen von Memos zur Reflexion und Dokumentation von Überlegungen zu Codes und Kategorien während der allmählichen Theoriebildung ist ein konstitutives Merkmal der GTM . Auch dass Glaser und Strauss der datengeleiteten bottom up -Vorgehensweise gegenüber dem theoriegeleiteten top down - Verfahren Priorität einräumten, war wegweisend und ist aus der heutigen qualitativen Forschungsmethodologie nicht mehr wegzudenken. Die aus meiner Sicht bedeutendste Errungenschaft für die qualitative Forschung besteht allerdings in der Einführung des Prinzips „Analyse von Anfang an“ und somit im Aufbrechen der strikten Linearität des Forschungsprozesses. 25 2 GTM in der empirischen Fremdsprachenforschung Illustrative Beispiele dafür, dass strikt-puristische Herangehensweisen à la Glaser in der aktuellen qualitativen Fremdsprachenforschung einen schweren Stand haben, sind u. a. die Referenzarbeiten von Ehrenreich ( 2004 ) und Schart ( 2003 ) (s. Kap. 7 ). Triangulierende, mehrmethodische, z. T. sogar paradigmenübergreifende Herangehensweisen und deren 25 Ein gutes und sehr illustratives Beispiel stellt hier die Arbeit von Muckel ( 2011 ) dar. 260 5. Forschungsverfahren gegenstandsbezogene Begründung sind inzwischen gängige Praxis, d. h. in nahezu allen aktuellen Studien werden mehrere - meist qualitative - Verfahren bzw. Ansätze miteinander kombiniert angewendet (vgl. z. B. Stoike-Sy 2017 ). Im Folgenden soll kurz skizziert werden, wie sich einige zentrale Aspekte bzw. Schritte der GTM in den genannten Studien zeigen. Gütekriterien - Sampling - Datenerhebung - Kategoriengewinnung - Auswertungsverfahren Die Umsetzung der zentralen qualitativen Gütekriterien Offenheit, Flexibilität und Transparenz wird in beiden zuvor genannten Arbeiten aufs Vorbildlichste demonstriert. Zwar bleibt Ehrenreich in ihrer genauen Verortung im GTM -Paradigma insgesamt etwas vage - sie bezieht sich auf Glaser/ Strauss ( 1967 ) 26 -, aber sie diskutiert die sich im Rahmen der GTM bietenden Möglichkeiten ausführlich und weiß sie begründet zu nutzen. Ausgehend von der vorläufigen, eher gerichteten und verkürzten Fragestellung „In welcher Hinsicht/ Ist das Fremdsprachenassistenten-Jahr ertragreich für angehende Fremdsprachenlehrer? “ (Ehrenreich 2004 : 131 ) hat sie anhand der ersten Interviewdaten bzw. im Anschluss an die Pilotierung ihres Leitfadens und die Ergänzung der Impulsfragen ihre zentrale Forschungsfrage deutlich ausdifferenziert 27 und dabei insbesondere den subjektiven Bedeutungszuschreibungen der befragten Akteure einen höheren Stellenwert zugeordnet: Der eigentliche Forschungsgegenstand konstituierte sich somit erst im Laufe des Forschungsprozesses (vgl. dazu auch Schädlich 2009 : 147 ), und zwar empirisch begründet auf der Basis gleich zu Beginn vorgenommener Datenanalysen. Was das Sampling betrifft, so geht Ehrenreich kriteriengeleitet vor. Die Auswahlkriterien sind: Geschlecht, Herkunftsbundesland, Zielland, Ausbildungsphase zum Zeitpunkt der Interviews, subjektive Bewertung der Fremdsprachenassistenz, Aufenthaltsdauer. Darüber hinaus erfolgt die Auswahl ihrer 22 Interviewpartner*innen - wie in den meisten qualitativen Studien - nach deren individueller Bereitschaft und nicht nach der von der GTM eigentlich favorisierten Methode des theoretischen Sampling . Hier wird deutlich, dass theoretische und methodologisch plausible Überlegungen in der Forschungsrealität aus pragmatischen Gründen nicht immer ohne Weiteres umgesetzt werden können und die Forschenden daher flexibel sein und ggf. spontan Alternativlösungen entwickeln müssen - und dies auch tun. In GTM -orientierten Forschungen werden Daten primär mittels teilstrukturierter, problemorientierter, narrativ-fokussierter Interviews mit variabel einzusetzenden Leitfäden gewonnen (Ehrenreich 2004 ; Schart 2003 ), die - wenn sie unterschiedliche Perspekti- 26 Vgl. dazu die oben zitierte Einschätzung von Strübing ( 2011 ). 27 Die Forschungsfragen lauten schließlich: „ 1 ) Wie stellt sich ein Auslandsaufenthalt als Fremdsprachenassistent in einem englischsprachigen Land aus der Perspektive der Beteiligten dar. Durch welche internen und externen Rahmenbedingungen wird dieser Aufenthalt strukturiert? 2 a) Wie bewerten die Beteiligten Ertrag und Auswirkung ihres Auslandaufenthaltes als deutsche/ r FremdsprachenassistentIn in einem englischsprachigen Land? 2 b) Wie sind Ertrag und Auswirkung ihres Auslandaufenthaltes als deutsche/ r FremdsprachenassistentIn in einem englischsprachigen Land im Licht der Lehrerbildung zu bewerten? 3 ) Welche Implikationen birgt die Gegenüberstellung dieser beiden Perspektiven im Blick auf die Ausbildungsinhalte und Struktur der Fremdsprachenlehrerbildung? “ (Ehrenreich 2004 : 199 ). 5.3.3 Grounded Theory 261 5.3.3 Grounded Theory Gütekriterien: Offenheit, Transparenz, intersubjektive Nachvollziehbarkeit Rekonstruktion von Prozessen aus emischer Perspektive Theoriebildung aus Daten Dat enerhebungen, Analysen, Vergleiche, Kategorienbildu ng, Interpretationen Differ enzierung, maximale Heterogenität ,größt möglicher Kontrast Beobachtung / Befragung B eobachtung / Befr agung Situation Handlung Prozess © 2022 ⚫ Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Ganzheitlichkeit Interpretation Reflexivität Theoretische Sensibilität Sampling Theoretische Sättigung Kodieren Stop and Memo! offen axial selektiv 262 5. Forschungsverfahren ven erheben - in der Auswertung dann miteinander werden (vgl. z. B. Schädlich 2009 ). Diese Interviews werden zumeist durch kontextualisierende schriftliche Befragungen zu biographischen Hintergrundinformationen flankiert. Wie zuvor bereits angedeutet, geht auch Schart ( 2003 ), der in seiner qualitativen Interviewstudie das subjektive Verständnis untersucht, das DaF-Lehrende von Projektunterricht haben, mehrmethodisch vor, um verstehend die handlungsleitenden Überlegungen der befragten Personen zu rekonstruieren. Die methodisch an der GTM orientierte Studie von Ehrenreich illustriert anschaulich die vielfältigen Möglichkeiten der Gewinnung von Auswertungskategorien: Sie erfolgt sowohl auf der Basis eigenen Vorwissens, durch die Auseinandersetzung mit der Forschungsliteratur und entlang des zuvor erstellten Interviewleitfadens als auch datenbasiert, d. h. durch Auswertung der ersten Interviewdaten. Dabei wird dem von Strauss/ Corbin ( 1990 ) aufgestellten Kodierparadigma aufgrund seiner Plausibilität, Strukturiertheit und direkten Anwendbarkeit gegenüber den eher allgemeinen, abstrakten Kodierfamilien von Glaser der Vorzug gegeben. Schädlich ( 2009 : 160 ) verfährt in ihrer Interviewstudie zur Rekonstruktion der subjektiven Wahrnehmungen von Lehrveranstaltungen zur französischen Literaturwissenschaft durch Lehrende und Studierende so, dass sie zwar dem Prinzip des theoretischen Kodierens der GTM folgt, sich in der konkreten Auswertungsarbeit jedoch an Mayrings ( 2010 ) Vorgehen der strukturierten Inhaltsanalyse (s. Kap. 5 . 3 . 5 ) orientiert und dabei mit zuvor festgelegten Ordnungskriterien arbeitet. Somit haben wir auch hier ein Beispiel für ein mehrmethodisches Design, im Rahmen dessen die für das eigene Forschungsziel jeweils am geeignetsten erscheinenden Verfahren aus verschiedenen methodisch-methodologischen Ansätzen miteinander kombiniert werden. Zusammenfassend ist festzustellen, dass mittels der GTM außerordentlich relevante lehr-lernbezogene Einsichten in die Wahrnehmungen, Erfahrungen und Interpretationen der betroffenen Akteure - also Lehrende, Studierende, Lernende - gewonnen werden können. So zeigt die von Schart ( 2003 ) vorgenommene detaillierte Rekonstruktion subjektiver Wahrnehmungen von DaF-Lehrenden in Bezug auf die Sozialform Projektunterricht, wie wichtig reflexive und erfahrungsorientierte Modelle in der Aus- und Fortbildung von Lehrenden sind. Ähnliches gilt für die Interviewstudie von Ehrenreich ( 2004 ), die anschaulich belegt, dass ausbildungsbezogene Auslandsaufenthalte spezifische Lerngelegenheiten sind, die nicht nur vorbereitet und strukturiert, sondern auch reflektiert werden müssen, wenn sie denn ihren Zweck erfüllen sollen. 3 Fazit Rekonstruktive, die emische Perspektive einnehmende Verfahren wie die GTM ermöglichen Einblicke in konzeptbildende und handlungsleitende Prozesse, deren Potential in der deutschsprachigen fremdsprachendidaktischen Forschung zunehmend genutzt wird. An dieser Stelle möchte ich Bonnet ( 2012 : 286 ) zustimmen, wenn er feststellt, dass „qualitativ-rekonstruktive Ansätze […] einen unverzichtbaren Beitrag zur Theoriebildung in der Fremdsprachenforschung leisten“. Ob es - wie er weiter annimmt - allerdings zutrifft, dass sie mit quantitativ-hypothesenprüfenden Verfahren integriert werden können, um die 5.3.3 Grounded Theory 263 Nachteile beider Ansätze zu überwinden, ist eine kontrovers diskutierte methodologische Grundsatzfrage, die es weiter zu bearbeiten gilt. Abschließend seien hier zwei der von Caspari ( 2019 ) aufgestellten Thesen genannt, nämlich These 6 : „Die Forschungsdesigns sind in den letzten zehn Jahren tendenziell immer komplexer geworden.“ (S. 36 ) und These 7 : „Die forschungsmethodische Qualität empirischer Forschungsarbeiten ist generell gestiegen. Forschungsmethodische Reflexionen zu den verwandten Instrumenten und die Einhaltung von Gütekriterien gehören zum Standard“ (S. 37 ). Beide Thesen können insbesondere in Bezug auf die im vorliegenden Beitrag behandelte Forschungsstrategie der GTM und die damit durchgeführten Projekte als voll zutreffend bezeichnet werden. Mit Blick auf die Vermittlung und den Erwerb forschungsmethodischer Kompetenzen sei angemerkt, dass jeder Forschungsstrategie spezifische erkenntnistheoretische und forschungsmethodologische Annahmen zugrunde liegen, die sich unmittelbar auf den Gegenstand und die mit seiner Erforschung möglichen Erkenntnisse auswirken. Um es auf den Punkt zu bringen: Methoden ermöglichen Erkenntnisse, begrenzen diese aber auch. Nicht zuletzt aus diesem Grund ist es von zentraler Bedeutung, in jeder Forschungsarbeit den Zusammenhang bzw. die Wechselwirkung zwischen Gegenstand und Methode explizit zu reflektieren. Die inhärente Offenheit der GTM übt insbesondere auf Forschungsnoviz*innen eine hohe Anziehungskraft aus. Erfolgreiches, gelingendes Arbeiten mit dieser Forschungsstrategie bedarf allerdings einer intensiven Praxis, und zwar - wie Kühlmeyer et al. ( 2020 : Abschnitt 24 ) hervorheben - „idealerweise im Kontext von Codiergruppen und unter Anleitung einer erfahrenen GTM-Forscherin oder eines erfahrenen GTM-Forschers“. Wer das Glück hat, unter solchen Voraussetzungen die Prinzipien, Schritte und Techniken der GTM zu erwerben, zu trainieren und anzuwenden, wird die mit dieser anspruchsvollen qualitativen Forschungsstrategie verbundenen Herausforderungen souverän annehmen und bewältigen können. › Literatur Forschungsarbeiten, in denen die hier erläuterten Verfahren angewendet werden, sind mit einem Sternchen markiert. Bergmann, Jörg R. (1988). Ethnomethodologie und Konversationsanalyse . Kurseinheit 1. Hagen: Fernuniversität Hagen. Bücker, Nicola (2020). Kodieren - aber wie? Varianten der Grounded-Theory-Methodologie und der qualitativen Inhaltsanalyse im Vergleich. Forum Qualitative Sozialforschung 21(1), Art. 2. Bonnet, Andreas (2009). Die Dokumentarische Methode in der Unterrichtsforschung. Ein integratives Forschungsinstrument für Strukturrekonstruktion und Kompetenzanalyse. In: Zeitschrift für Qualitative Forschung 10(2), 219-240. Caspari, Daniela (2019). Forschungstendenzen in der Fremdsprachendidaktik - Grundsatzüberlegungen und Auswertung der Dissertationen der Jahre 2014 bis 2016 aus dem deutschsprachigen Raum. In: Kreft, Annika/ Hasenzahl, Mona (Hg.). Aktuelle Tendenzen in der Fremdsprachendidaktik. Zwischen Professionalisierung, Lernerorientierung und Kompetenzerwerb . Frankfurt/ M.: Lang, 17-45. 264 5. Forschungsverfahren Charmaz, Kathy (2000). Grounded theory: Objectivist and constructivist methods. In: Denzin, Norman K./ Lincoln, Yvonna S. (Hg.). Handbook of Qualitative Research. 2. Aufl. Thousand Oaks: Sage, 509-535. Charmaz, Kathy (2003). Grounded theory. In: Smith, Jonathan A. (Hg.). 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Eine qualitative Studie mit Lehrenden für Deutsch als Fremdsprache . Baltmannsweiler: Schneider. [Referenzarbeit, s. Kap. 7] 5.3.3 Grounded Theory 265 *Stoike-Sy, Rahel (2017). In mehreren Sprachen studieren: Repräsentationen und Praktiken von Mehrsprachigkeit in dreisprachigen Studienprogrammen an der Universität Luxemburg. Frankfurt/ M.: Lang. Strauss, Anselm (1987). Qualitative Analysis for Social Scientists. Cambridge: Cambridge University Press. Strauss, Anselm/ Corbin, Juliet (1990). Basics of Qualitative Research . Newbury Park; London: Sage. Strauss, Anselm (im Gespräch mit Heiner Legewie und Barbara Schervier-Legewie) (2011). „Forschung ist harte Arbeit, es ist immer ein Stück Leiden damit verbunden. Deshalb muss es auf der anderen Seite Spaß machen.“ In: Mey, Günter/ Mruck, Katja (Hg.), 69-79. Strübing, Jörg (2011). Zwei Varianten von Grounded Theory? Zu den methodologischen und methodischen Differenzen zwischen Barney Glaser und Anselm Strauss. In: Mey, Günter/ Mruck, Katja (Hg.), 262-277. » Zur Vertiefung empfohlen Breuer, Franz/ Muckel, Petra/ Dieris, Barbara. (2018). Reflexive Grounded Theory. Eine Einführung für die Forschungspraxis. 7. Aufl. Wiesbaden: Springer. Diese Einführung liefert einen sehr guten Überblick über die Arbeit mit dem Forschungsstil der GTM . Einem historischen Abriss folgt eine Darstellung seiner erkenntnistheoretischen Grundlagen und Denkweisen sowie eine Beschreibung der konkreten Schritte im Forschungsprozess. Dabei wird insbesondere die reflexive Selbst-Aufmerksamkeit der Forschenden fokussiert, was sich v. a. in den Kapiteln „Das Bild des Anderen und der Forschende als Subjekt“ und „Forschen als leibgebunden-engagierte Tätigkeit im Kontext“ zeigt. Es handelt sich bei dieser Einführung somit um eine außerordentlich nützliche Anleitung für alle, die an einer praktischen Anwendung des Forschungsstils der Grounded Theory interessiert sind. Equit, Claudia/ Hohage, Christoph (Hg.) (2016). Handbuch Grounded Theory. Von der Methodologie zur Forschungspraxis. Weinheim: Beltz Juventa. In diesem Handbuch wird in vier Großkapiteln (Theorietraditionen und Programmatik; Methodologische Grundlinien und Desiderata im Kontext der Forschungspraxis; Zusammenwirken der Grounded Theory mit anderen Forschungsprogrammen; Zur Gestaltung der Forschungspraxis) nicht nur eine fundierte Einführung in die verschiedenen Varianten der GT geboten; es wird darüber hinaus gezeigt, wie die GT mit anderen Forschungsstrategien bzw. Forschungsprogrammen sinnvoll integriert werden kann. Konkrete Beispiele zur Gestaltung einer gelingenden Forschungspraxis runden diese Einführung ab. Mey, Günter/ Mruck, Katja (Hg.) (2011). Grounded Theory Reader. 2. aktualisierte und erweiterte Auflage. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Auch dieser Sammelband bietet einen guten Einblick in die Entwicklung und den aktuellen Stand der Grounded Theory -Methodologie. In Originalbeiträgen und Interviews (in deutscher Übersetzung) stellen die Begründer dieser Forschungsstrategie - Barney Glaser und Anselm Strauss sowie Kathy Charmaz, Adele Clarke und Juliet Corbin als zentrale Repräsentantinnen der zweiten Generation - ihre jeweiligen Positionen und Arbeitsweisen vor. Darüber hinaus werden von den Herausgeber*innen sowie von weiteren einschlägigen Expert*innen die mit der Grounded Theory -Methodologie verbundenen Herausforderungen in Bezug auf ihre Nutzung in der konkreten Forschungspraxis beleuchtet und diskutiert. 266 5. Forschungsverfahren Strübing, Jörg (2021). Grounded Theory. Zur sozialtheoretischen und epistemologischen Fundierung eines pragmatistischen Forschungsstils. 4. Auflage. Wiesbaden: Springer VS. Auf Grundlage der Arbeiten von Peirce, Dewey, Mead und James wird die historische Entwicklung der Grounded Theory -Methodologie nachgezeichnet. Dabei werden auch die gravierenden methodologischen Unterschiede zwischen der von Anselm L. Strauss geprägten und der von Barney G. Glaser vertretenen Variante der Grounded Theory diskutiert, bevor sich der Autor der Darstellung der als pragmatistisch bezeichneten Weiterentwicklung der Grounded Theory im Kontext postmodernen Denkens widmet. Abschließend geht er auf den aktuellen Diskurs zur Etablierung ansatzübergreifender Gütekriterien qualitativen Forschens in Bezug auf die Grounded Theory ein und liefert damit wertvolle Argumente zur Begründung und Legitimation empirischer Designs im Kontext der GTM . Truschkat, Inga/ Kaiser, Manuela/ Reinartz, Vera (2005). Forschen nach Rezept? Anregungen zum praktischen Umgang mit der Grounded Theory in Qualifikationsarbeiten. Forum Qualitative Sozialforschung Vol. 6, No. 2, Art. 22, Mai 2005. Die Autorinnen richten sich in ihrem praxisbezogenen Beitrag insbesondere an wenig erfahrene Forscher*innen, denen sie eine Reihe von wertvollen Hinweisen und praktischen Ratschlägen rund um den mit hohen Ansprüchen verbundenen Sampling -Prozess geben. Dabei illustrieren sie gut nachvollziehbar die zentralen Begrifflichkeiten der GTM und weisen nachdrücklich darauf hin, wie wichtig sowohl die Engführung des Forschungsgegenstands und die Präzisierung der Forschungsfrage als auch der Austausch mit anderen Forscher*innen und die auf diese Weise mögliche kommunikative Validierung ermittelter Kernkategorien sind. 5.3.4 Dokumentarische Methode David Gerlach Die Dokumentarische Methode (im Folgenden: DM) ist eine soziologische, qualitative Methodik und Methodologie der Rekonstruktion von Sinn in sozial geteilten Erfahrungsräumen. Derartige sozial geteilte Erfahrungsräume finden sich z. B. innerhalb einer Gruppe von Lernenden im Fremdsprachenunterricht oder bei Lehrenden. Die Grundlagen für die DM wurden im Wesentlichen von Ralf Bohnsack ( 2014 ) bereits in den 1980 er Jahren auf Basis der Wissenssoziologie Karl Mannheims ( 1964 ) entwickelt und von Bohnsack sowie Arnd- Michael Nohl ( 2017 ) und Kolleginnen und Kollegen stetig verfeinert. Die dahinterstehende methodologische Theorie nennt Bohnsack ( 2017 ) „Praxeologische Wissenssoziologie“. Die DM hat über die Soziologie hinaus auch breite Anwendung in den Erziehungswissenschaften gefunden und erfreut sich wachsender Beliebtheit in den Fachdidaktiken und der Fremdsprachenforschung. Hier sind Grundlagenarbeiten insbesondere von Bonnet ( 2009 , 2012 ) und Tesch ( 2019 ) vorgelegt worden, auf die in Qualifikationsschriften zurückgegriffen wird. Letztere werden im Folgenden - nach einer kurzen Darstellung der Prinzipien, möglichen Anwendungsfeldern und dem eigentlichen, methodischen Vorgehen innerhalb der DM - exemplarisch vorgestellt. 5.3.4 Dokumentarische Methode 267 1 Prinzipien rekonstruktiver Verfahren Rekonstruktive Verfahren (vgl. z. B. Aguado/ Finkbeiner/ Tesch 2018 ) nähern sich im Gegensatz zu hypothesenüberprüfenden, subsumtionslogischen Verfahren ihrem Untersuchungsgegenstand in einer möglichst großen Offenheit. Es gilt, Handeln ergebnisoffen zu betrachten und mögliche Hintergründe für dieses Handeln oder mögliche Wissensbestände zu entdecken, also theoriegenerierend zu wirken (vgl. Glaser/ Strauss 1979 ): „Kurz gesagt besteht das Erkenntnisinteresse darin, wie Lehren und Lernen, Vermittlung und Aneignung im Fremdsprachenunterricht hergestellt wird“ (Tesch 2019 : 20 ). Ähnlich der Grounded-Theory -Methodologie (s. Kap. 5 . 3 . 3 ) und den diskursanalytischen Verfahren (s. Kap. 5 . 3 . 7 ) soll theoretisches Wissen der Forschenden den Blick auf den Gegenstand möglichst nicht eintrüben oder eingrenzen, obwohl dies nicht immer zu vermeiden ist und daher durch die Forschenden im Prozess reflektiert werden muss. Im Gegensatz zur Grounded Theory , die codiergeleitet ist, und der Diskursanalyse, welche pragmalinguistische Prinzipien anlegt und sequentiell vorgeht, orientiert sich die DM stärker an sozialwissenschaftlichen Konstrukten und nähert sich damit dem Feld nochmal offener. Diese Offenheit im Prozess insgesamt und bei der Datenerhebung führen nicht selten zu hoher Komplexität, aus der die den Gegenstand konstituierende Eigentümlichkeit erst einmal herausgearbeitet werden muss. Denn: „Der zentrale Forschungsgegenstand ist der soziale Sinn, der sich in Interaktionen konstituiert, in Erzählungen dokumentiert oder in eigentheoretischen Äußerungen subjektiv theoretisiert oder reflektiert wird“ (Bonnet 2020 : 7 ). Qualitative Daten wie z. B. Videoaufnahmen oder Standbilder von Interaktionen, Audioaufnahmen von Interviews oder Gruppendiskussionen (und ihre Transkriptionen) sowie schriftliche Texte erlauben die Rekonstruktion von Sinn, Handlungen und Motiven in den aufgenommenen Daten. Im Fremdsprachenunterricht kann hier z. B. von Interesse sein, wie fremdsprachliche Diskurse oder Diskursfähigkeit hergestellt werden, wie Lernende miteinander interagieren, literarische Texte deuten usw. Das Ableiten von Ergebnissen erfolgt durch Abduktion - dem Feststellen einer gewissen Gesetzmäßigkeit innerhalb der Daten über permanenten Vergleich immanenter Charakteristika - und z. B. einer Typenbildung (s. u. und Kap. 5 . 3 . 6 ). 2 Gegenstandsangemessenheit und Erhebungsmethoden Eine der grundsätzlichen Annahmen der DM ist, dass es einen bedeutenden Unterschied zwischen explizitem (theoretischem) und implizitem (atheoretischem oder „konjunktivem“) Wissen gibt, welches sich in qualitativen Daten differenzieren lässt. Wissenssoziologisch gilt das implizite Wissen als stark habitualisiert und handlungsleitend (vgl. Mannheim 1964 ), bestimmt also, wie Akteur*innen (inter-)agieren, ohne dass sie selbst davon ‚wissen‘ oder sich dessen bewusst sind. Innerhalb einer Gruppe oder einem bestimmten Milieu agieren Beteiligte demnach in einem konjunktiven Erfahrungsraum, sie handeln also ähnlich auf Grundlage dieses (impliziten) Wissens und bestimmter Routinen. Sie erkennen sich einander als Mitglieder dieses Raums (an). In den gruppenbezogenen Daten kann analysiert werden, wie sich Sinn und seine Handlungslogik implizit z. B. als Erzählungen in Interviews ‚dokumentiert‘ und wie er in stärker normativ gewendete Argumentationen und Bewertungen (explizitem Wissen) zu diesem Handeln eingebettet ist. Der soziale Sinn steht damit immer in einem sogenannten Orientierungsrahmen der/ des 268 5. Forschungsverfahren Handelnden (vgl. Bohnsack 2014 ), in dem wiederum das kommunikative (= explizite bzw. explizierbare) Wissen und das konjunktive (= implizite) Wissen in einem Spannungsverhältnis stehen. Der Orientierungsrahmen im engeren Sinne wird - auch im Anschluss an Bourdieu - Habitus genannt. Er ist der sogenannte modus operandi der Handlungspraxis und stellt die generative Struktur des Handelns und der Wissensherstellung dar. Dieses habituelle Wissen und Handeln wird innerhalb sozialer Gruppen von Akteur*innen erworben bzw. hergestellt und kann über die Rekonstruktion von Wissen und Praktiken beschrieben werden. Der Habitus findet sich in gesprochenen Daten als Erzählungen und Beschreibungen (s. u.), in Fotos oder Standbildern aus Videomaterial als verkörperlichte (korporierte) Handlungen (vgl. Tesch 2018 ) oder als Körper-Ding-Beziehungen. Das explizite/ kommunikative Wissen zeigt sich stärker in theoretisierenden, reflexiven Passagen von Interviews oder Diskussionen, in denen auch Normen und Rollenerwartungen an die Akteur*innen durchscheinen (vgl. Gerlach 2020 ). Die DM macht damit einen Wechsel der Analyseeinstellung bei der Interpretation der erhobenen Daten nötig: Es geht neben der Erhebung des „Was“ in Form von explizit erhobenem Wissen anhand von entsprechenden Äußerungen, insbesondere darum, „wie“ über einen bestimmten Gegenstand oder ein Thema gesprochen wird. Diese methodologischen Prämissen fordern Erhebungsmethoden ein, die die Genese und Rekonstruierbarkeit impliziten Wissens ermöglichen. Hierzu eignen sich z. B. Gruppendiskussionen (s. Referenzarbeit von Bracker in Kap. 7 ), die ohne großen Einfluss des/ der Forschenden und als Folge des gemeinsamen (= konjunktiven) Erfahrungsraums eine eigene Dynamik entfalten (vgl. Bohnsack 2014 ), oder auch narrative (Einzel-)Interviews, die die Befragten in ein Erzählen bringen (vgl. Nohl 2017 ). Für Interaktionsbzw. Unterrichtsforschung sind videographierte Daten und Standbilder zielführend (vgl. Asbrand/ Martens 2018 ; Baltruschat 2018 ), diese müssen mit kontextuellen Informationen gemeinsam betrachtet werden. 3 Vorgehen und Schritte der Dokumentarischen Methode Die Schritte der DM im engeren Sinne sind 1 . die thematische Gliederung und formulierende Interpretation, 2 . die reflektierende Interpretation, 3 . die Fallbeschreibung und 4 . die Typenbildung. Um den gesamten Arbeitsprozess nachvollziehbar zu machen, werden im Folgenden die vorab stattfindende Datenaufbereitung sowie die Präsentation der Ergebnisse skizziert. Aufbereitung der Daten Die Schritte der DM folgen zunächst insbesondere dem Ziel, dass Forschende sich gegenüber den Daten selbst „fremd“ machen, d. h. Abstand zu möglicherweise im Datenerhebungsprozess gewonnenen subjektiven Eindrücken zu erhalten. Ein erster Schritt hierzu kann die auszugsweise oder auch vollständige Transkription und Anonymisierung (durch Ziffern oder Codes) bzw. Pseudonymisierung (durch die Vergabe von Pseudonymen oder Fantasienamen) der erhobenen Unterrichtssequenzen, Gruppendiskussionen oder Interviews sein. Bohnsack, Nentwig-Geseman und Nohl ( 2013 : 399 - 400 ) schlagen die Transkriptionsrichtlinien Talk in Qualitative Research vor. Diese Richtlinien machen insbesondere Sprecher*innenwechsel oder -einwürfe sowie Pausen und Diskurspartikel kenntlich und liefern damit für die Interpretation dienliche Annotationen (s. Referenzarbeit Bracker in Kap. 7 ). Für Einzelinterviews werden jedoch durchaus auch einfachere Transkriptionsregeln verwendet (vgl. Gerlach 2020 ). Im Anschluss an die Aufbereitung der Daten beginnen die eigentlichen vier Kernschritte der DM. Thematische Gliederung und formulierende Interpretation Im ersten Schritt, der thematischen Gliederung und formulierenden Interpretation, wird das vorliegende Transkript grob in thematische Einheiten (Ober- und Unterthemen) unterteilt z. B. mittels einer Tabelle. Das Ziel ist die Identifikation relevanter Passagen, die zunächst auf der Ebene des kommunikativen Sinns stattfindet, d. h. dem „Was“ des Gesagten oder Diskutierten auf einer Oberflächenstruktur. Bei dieser Durchsicht liegt ein Augenmerk auf interaktiv besonders „dichten“ Passagen, sogenannten „Fokussierungsmetaphern“ (Bohnsack 2014 : 46 ), welche einer Interpretation bedürfen. Diese Textstellen werden im Zuge der formulierenden Interpretation meist paraphrasiert, um ihren Sinngehalt zu bewahren. Für die Fallauswahl ist neben den Fokussierungsmetaphern nach Nohl ( 2017 : 30 ) ebenso das Forschungsinteresse bedeutsam wie auch Themen, die von allen befragten Personen aufgeworfen werden und sich für eine spätere komparative Analyse eignen. Diese waren möglicherweise zunächst in der theoretischen Herleitung des Forschungsinteresses noch nicht im Blick der/ des Forschenden, entfalten sich aber im Vergleich über alle Befragten hinweg. Die Fallauswahl ist jedoch der eigentlichen Fallbestimmung nachgeordnet. Die Frage, was ein Fall ist bzw. was von Forschenden zum Fall gemacht wird, muss im Laufe des Forschungsprozesses ständig reflektiert und mit Bezug auf das Tertium comparationis, d. h. fallübergreifende Eigenschaften, Themen und Positionen, ggf. neu justiert werden. In der Referenzarbeit von Bracker zur DM (s. Kap. 7 ) erhielt die formulierende Interpretation eine deutliche Aufwertung; bezogen auf literaturdidaktische Gegenstände ist dort nämlich ebenso relevant, was tatsächlich in Unterrichtsinteraktionen von Lernendenseite explizit als relevant gesetzt wurde (und was nicht). Für videografisches Material (vgl. Tesch/ Vernaci/ Ströbel 2020 ) wird analog vorgegangen: Mögliche Szenen werden aufgrund einer hohen interaktiven Dichte ausgewählt, auf dieser Basis werden zudem ein Transkript sowie entlang der Schritte der DM Forschungstexte erstellt, die die Theoriegenese dokumentieren (vgl. Asbrand/ Martens 2018 ). Fotogramme (Standbilder), die parallel zum Transkript genutzt werden, erlauben situativ Einblicke in Personenkonstellationen, Gesten und Körpersprache (vgl. Tesch 2019 ). Letztere Aspekte werden in die formulierende Interpretation mit einbezogen und sind von besonderer Bedeutung für die reflektierende Interpretation. Reflektierende Interpretation Nach dem Herauslösen relevanter Passagen aus dem Datenmaterial beginnt die eigentliche Interpretation und Analyse der Daten. Das Ziel ist, den dokumentarischen Sinn (das „Wie“) über das implizite Wissen und ihr Verhältnis zum expliziten Wissen in einer Tiefenstruktur zu rekonstruieren. Hierfür ist die sogenannte Textsortentrennung von Bedeutung: Nach Schütze ( 1987 ) lassen sich gesprochene Daten in vier Textsorten unterscheiden, die ein 5.3.4 Dokumentarische Methode 269 270 5. Forschungsverfahren gewisses Kontinuum abbilden in ihrem Potenzial, implizites Wissen rekonstruierbar zu machen: • Erzählungen sind in einer gewissen Chronologie berichtete (vergangene) Handlungen „durch spezifische Zeit- und Ortsbezüge gekennzeichnet“ (ebd.: 146 ); • Beschreibungen sind stärker generalisierte, häufig vorkommende Handlungen; • Argumentationen stellen Begründungszusammenhänge her und weisen auf Motive hin, die Handlungen zugrunde liegen; • Bewertungen sind „evaluative Stellungnahmen zu eigenem oder fremdem Handeln“ (Nohl 2017 : 32 ). Erzählungen und Beschreibungen zeigen ein größeres Potenzial, implizites Wissen (Orientierungsrahmen) rekonstruierbar zu machen als Argumentationen und Bewertungen. Letztere sind stark reflexiv eingefärbt, d. h. die Sprechenden nutzen explizite Wissensbestände, um innerhalb ihrer Handlungsbeschreibung zu argumentieren und ihr Handeln (oder das von Dritten) zu bewerten. Die Berücksichtigung von Passagen mit Argumentationen und Bewertungen innerhalb der reflektierenden Interpretation ist wichtig, um Oberflächenstrukturen und Tiefenstrukturen zu erreichen. Letztere bieten „gleichzeitig Verweise auf Haltungen, Wissensbestände, Gefühle oder Überzeugungen“ (Bonnet 2012 : 292 ) und vermögen damit das Spannungsverhältnis zwischen Orientierungsschemata und Habitus (s. o.) zu offenbaren. Die klare Trennung der Textsorten ist nicht immer einfach, sondern selbst interpretationswürdig: Teilweise vermischen sich Erzählungen und Bewertungen; innerhalb von Rahmenerzählungen finden sich selbstreflexive Einschübe von Bewertungen und Argumentationen. Bedeutend ist dann die Frage, ob das Verhältnis zwischen diesen Textsorten Hinweise auf den Orientierungsrahmen im Ganzen liefern und sich anhand anderer Datenpassagen (auch in anderen Fällen) bestätigen, widerlegen oder kontrastieren lassen. Wenn Befragte im Datenmaterial für einen Orientierungsrahmen relevante Themen eröffnen, wird von Propositionen gesprochen (vgl. Bohnsack 2014 : 137 ). Von diesem bzw. dem in der Gruppe geteilten Erfahrungsraum können sie sich in einem negativen Gegenhorizont abgrenzen oder sich mit ihm in einem positiven Gegenhorizont identifizieren. Für letzteren Fall kann dann ein Enaktierungspotenzial rekonstruiert werden, d. h. die Möglichkeit, dass die Person den eigenen Orientierungsrahmen tatsächlich praktisch verwirklicht (vgl. Kleemann/ Krähnke/ Matuschek 2009 : 161 f.), z. B. den kommunikativen Nutzen einer Sprache erlebt oder - im Gegensatz - nicht wahrnimmt (vgl. z. B. Fritz 2020 ). Zur validen Rekonstruktion von Orientierungen und Horizonten muss der/ die dokumentarische Interpretierende frühzeitig einen Vergleich mit anderen Fällen vornehmen: Werden Propositionen in anderen Fällen ähnlich oder sehr unterschiedlich verhandelt? Finden sich ähnliche Fokussierungsmetaphern oder stark abweichend rekonstruierbare Enaktierungspotenziale? Sind diese auf unterschiedliche Orientierungsrahmen in Gänze bzw. auf Habitus innerhalb der Fälle zurückzuführen? Welche Tertia comparationis finden sich, welche für eine spätere fallübergreifende Beschreibung und Typenbildung förderlich sind? Ähnlich dem Vorgehen in anderen rekonstruktiven Verfahren oder auch der Grounded Theory -Methodologie (s. Kap. 5 . 3 . 3 ) wird also ständig fallübergreifend gesucht nach minimalen wie maximalen Kontrasten (vgl. Bohnsack 2014 ): „Das Ziel ist, durch die hiermit 5.3.4 Dokumentarische Methode 271 entstehenden Vergleichshorizonte, ein möglichst breites, in seiner intra- und interspezifischen Minimal- und Maximalkontrastierung stimmiges Bild der Einzelfälle herauszuarbeiten“ (Gerlach 2020 : 187 ). Diese Einzelfälle können anschließend aufgeschlossen und zur besseren Nachvollziehbarkeit der Studienrezipient*innen beschrieben werden. Fallbeschreibung Die Fallbeschreibung hat „primär die Aufgabe der vermittelnden Darstellung, Zusammenfassung und Verdichtung der Ergebnisse im Zuge ihrer Veröffentlichung“ (Bohnsack 2014 : 141 ). Zu beschreiben sind folglich der Orientierungsrahmen im weiteren Sinne, d. h. wie dort das Spannungsverhältnis von Orientierungsschemata und Habitus (Orientierungsrahmen im engeren Sinne) bearbeitet wird, und inwiefern dieser Fall damit charakteristisch ist im Kontrast mit den anderen zu präsentierenden Fällen. Zur Illustration können Datenauszüge (Transkriptionen) verwendet werden, in denen exemplarisch (auch in den anderen Fallbeschreibungen) z. B. entlang eines Tertium comparationis , entlang von Eingangserzählungen, Diskursverläufen (besonders in Gruppendiskussionen) oder entlang von Simultan- und Sequentialstrukturen in videografischen Dokumenten reflektierend interpretiert wird. Wesentlich und notwendig ist, das Spezifische des Falls herauszuarbeiten. Häufig erfolgt im Anschluss eine fallübergreifende Darstellung (vgl. z. B. Bracker 2015 , Benitt 2015 , Schneider 2018 , Gerlach 2020 ), bevor es zur Typenbildung kommt. Typenbildung Die Typenbildung (s. Kap. 5 . 3 . 6 ) ist die notwendige Loslösung der Orientierungsrahmen von den Einzelfällen. Sie dient damit der Abstraktion über eine „abduktive Erkenntnishaltung“ (Nentwig-Gesemann 2013 : 307 ). Zugrunde gelegt wird häufig eine Basistypik, die auf einer „Orientierungsdiskrepanz“ (ebd.: 313 ) basiert und sich fallübergreifend findet. Spaltet diese sich in unterschiedliche Bearbeitungsdimensionen auf, kann eine mehrdimensionale Typenbildung hergestellt werden (vgl. Nohl 2013 ). Hier zeigen sich z. B. für zwei Fälle A & B sowie C & D eine gemeinsame Typik, welche jeweils zu einem Typus 1 und 2 führen, gleichzeitig zeigt sie aber auch innerhalb eines anderen Orientierungsrahmens eine andere Typik mit Typus 3 und 4 , welche sich aus einer gemeinsamen Betrachtung der Fälle A & C und B & D ergibt (vgl. exemplarisch z. B. Gerlach 2020 ). Für die DM wird zudem eine sinngenetische und eine soziogenetische Typenbildung unterschieden. „Die sinngenetische Typenbildung zeigt, in welch unterschiedlichen Orientierungsrahmen die erforschten Personen jene Themen und Problemstellungen bearbeiten, die im Zentrum der Forschung stehen.“ (Nohl 2017 : 43 ) Diese Typenbildung kann aber nicht aufzeigen, wie sich ein Orientierungsrahmen im engeren Sinne (der Habitus) entwickelt hat, d. h. wie er in gesellschaftlichen oder institutionellen Zusammenhängen entstanden ist. Forschungsprojekte, in denen eine solche soziogenetische Typenbildung nicht hergestellt werden kann wie z. B. häufig in der Unterrichtsforschung, versuchen zumindest, eine Relationalität zwischen den Typen aufzuzeigen (vgl. ebd.) oder eine Mehrebenenanalyse vorzunehmen (vgl. Asbrand/ Martens 2018 ; Kreft 2020 ). 272 5. Forschungsverfahren Präsentation der Ergebnisse Die Präsentation der Forschungsergebnisse für Projekte der DM ist nicht selten abhängig vom Publikationsformat: In Zeitschriften- oder Sammelbandbeiträgen ist selten Platz, um die Komplexität der Fälle umfänglich auszubreiten, wodurch häufig zwar exemplarische Analysen auch mit Datenmaterial veröffentlicht, primär aber als maßgebliches Ergebnis der Untersuchung die entstandenen Typen diskutiert und voneinander abgegrenzt werden. Da in Monographien in der Regel zunächst keine Seitenbeschränkung vorliegt, bieten diese die Chance, den gesamten Forschungsprozess zu dokumentieren und die Fälle ausführlich zu beschreiben. Nicht selten werden die im Forschungsprozess entstandenen Fallbeschreibungen hierfür noch einmal gekürzt und auf die wesentlichen Aspekte reduziert. Je nach Forschungsinteresse kann es zudem sinnvoll sein, zunächst einen groben Überblick über die entstandenen Typen zu geben und diese über die Fallbeschreibungen zu entwickeln. Varianten sind möglich und je nach Anlage der Arbeit auch für die Leserinnen und Leser möglicherweise zugänglicher. Bracker ( 2015 , s. Kap. 7 ) beispielsweise argumentiert mit dem höheren Stellenwert der formulierenden Interpretation des Gruppendiskurses für das Entfallen der Typenbildung in ihrer Arbeit und gibt letzteren einen großen Raum. Üblich ist jedoch weiterhin zunächst die Präsentation der Einzelfälle, um anschließend in der Typenbildung die Abstraktion zu erhöhen. Reflektiert werden sollte - über den gesamten Forschungsprozess hinweg, aber auch innerhalb (bzw. am Ende) einer Publikation - die eigene Rolle als Forscher*in und Interpretierende*r im Prozess, d. h. ihre*seine Standortgebundenheit. 4 Beispiele für den Einsatz der Dokumentarischen Methode in der Fremdsprachenforschung Die DM hat insbesondere im vergangenen Jahrzehnt verstärkten Einsatz in der Fremdsprachenforschung erfahren. Dies geht zum einen einher mit einer starken Konjunktur der Methode in den Bezugsdisziplinen der Erziehungswissenschaften und Soziologie, zum anderen rücken verstärkt Desiderata in den Vordergrund, die sich lohnen, durch rekonstruktive Verfahren beforscht zu werden. Hierzu gehören Fragestellungen, die sich nicht (nur) mit der kompetenztheoretischen Beschreibung von Lernprozessen (vgl. Asbrand/ Martens 2018 ), sondern z. B. auch der Frage nach Einstellungen zum Lernen, Überzeugungen entlang eines Unterrichtsgegenstandes sowie reflexiven Bildungsprozessen innerhalb normativ aufgeladener (Lern-)Räume eingehen (vgl. Bonnet 2012 , 2020 , Fritz 2020 ). Auch unter genuin fremdsprachendidaktischen Fragestellungen wie der Arbeit mit literatur- oder kulturdidaktischen Gegenständen (vgl. Bracker 2015 , Kreft 2020 ) oder der Ebene von Sprachbewusstheit (vgl. Tesch 2019 ) zeigen sich vielfältige Anwendungsfelder. Die bislang vorgelegten, größeren Arbeiten lassen sich gegenständlich im Wesentlichen in Akteur*innenforschung (Lehrpersonen und Lernende) oder Interaktionsbzw. Kompetenzforschung kategorisieren. Tesch ( 2010 ) rekonstruiert Lehr- und Lernverhalten, beforscht also sowohl Lehrpersonen wie auch Lernende, und wie diese mit aufgabenorientierten Settings umgehen. Die Arbeit erlaubt damit Rückschlüsse auf lernförderliche Bedingungen kompetenzorientierten Fremdsprachenunterrichts. Fritz ( 2020 ) untersucht das Unterrichtserleben von Französisch- und Spanischlernenden in der Sekundarstufe I 5.3.4 Dokumentarische Methode Daten (Transkripte,Videos, Bilder) Soziale Praxis der Handelnden Erfahrungsräume der Handelnden Interview Gruppendiskussion Video erhoben als ... aufbereitet zu Thematische Gliederung Oberflächenstruktur: Formulierende Interpretation Tiefenstruktur: Reflektierende Interpretation Textsorte Sinnebene Habitus Typenbildung sinngenetisch soziogenetisch relational rekonstruiert Kontrastierender Fallvergleich Fall 1 Fall 2 Fall 3 ... © 2022 ⚫ Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 274 5. Forschungsverfahren und bezieht unterschiedliche Datenquellen aufeinander. Um kulturelle bzw. transkulturelle Bildungsprozesse geht es Schneider ( 2018 ), respektive Kreft ( 2020 ): Erstere widerlegt, dass sich trotz eines theoretisch bildenden Unterrichtssettings im bilingualen Unterricht mitnichten subjektive Bildungsprozesse einstellen; und auch hinsichtlich transkultureller Bildung scheinen im wortwörtlichen Sinne „Grenzen“ zu bestehen, wenn anhand der Analyse der Unterrichtsinteraktionen klar wird, dass das Potenzial literarischer Gegenstände nur unzureichend genutzt wird. Bauer ( 2015 ) und Bracker ( 2015 , s. Kap. 7 ) stellen die Bedeutung des unterrichtlichen „Erfahrungsraumes“ heraus: Sinnkonstruktion seitens der Lernenden zeigt sich, wie Bauer ( 2015 ) deutlich macht, stark abhängig von verschiedenen Bedingungen wie dem soziokulturellen oder dem individuell-identitären Hintergrund der Lernenden. Ähnlich wie bei Kreft ( 2020 ) zeigt sich auch bei Bracker ( 2015 ), dass das Potenzial von Literatur nicht gänzlich ausgeschöpft wird; allerdings kommt es in Anschlusskommunikation zu literarischen Texten wohl im Wesentlichen auf die Ausbalancierung von sprachlich-inhaltlichem (Vor-)Wissen und dem „Aushalten“ von Neuem an. Lehrkräfte stehen ebenfalls zunehmend im Fokus von Arbeiten aus der Fremdsprachenforschung mit der DM: Benitt ( 2015 ) untersucht, unter welchen Bedingungen Professionalisierung in einer aktionsforschend angelegten Fortbildung stattfinden kann, während Gerlach ( 2020 ) rekonstruiert, wie die Personengruppe von Lehrerbildner*innen im fremdsprachendidaktischen Vorbereitungsdienst ihre Ausbildungspraxis strukturiert. Bonnet/ Hericks ( 2020 ) zeigen, unter welchen Schließungszwängen Englischlehrkräfte stehen, selbst wenn sie ihren Unterricht z. B. durch Unterrichtsformen wie kooperatives Lernen öffnen möchten. 5 Fazit Die DM zeigt ein vielfältiges Potenzial im Feld der qualitativ-rekonstruktiven Forschung. Da die Methodologie der DM von ihren Nutzer*innen durchdrungen und sowohl die Passung hinsichtlich des Untersuchungsgegenstands als auch des Erkenntnisinteresses kritisch befragt wird, sind die Einsatzorte und die Durchführung in den vergangenen Jahren durchaus flexibler geworden - insbesondere ihr Einsatz in der videobasierten Unterrichtsforschung (vgl. Asbrand/ Martens 2018 ; Kreft 2020 ; Tesch 2019 ) und hinsichtlich des Hinzuziehens weiterer Datenquellen (vgl. z. B. Benitt 2015 ; Fritz 2020 ). Beachtet werden muss für die fremdsprachendidaktische Professionsforschung (aber nicht nur) die Rolle von Normen und wie sich diese im kommunikativen Wissen der Beforschten als Argumentationen und Bewertungen finden. Nicht selten erschwert eine hohe Reflexivität befragter Lehrpersonen die Rekonstruktion von Orientierungsrahmen im engeren Sinne, da die Textformen Erzählung oder Beschreibung nur selten in den generierten Interviewdaten zu finden sind (vgl. z. B. Gerlach 2020 ). Gleichzeitig liegt eine große Chance darin, implizites Wissen als Können zu bezeichnen und damit als „die praktische Anwendung von Handlungswissen in Anwendungssituationen“ (vgl. Asbrand/ Martens 2018 : 18 ). Eine solche Betrachtung von Handlungswissen ermöglicht dokumentarische Kompetenzforschung auf Seiten von Lehrenden und Lernenden (vgl. Tesch 2010 ; Kreft 2020 ) in einem komplexen Unterrichtsgeschehen. Und es geht einher mit einem methodologischen Diskurs, wonach Habitus als Konglomerat von impliziten Überzeugungen und Routinen 5.3.4 Dokumentarische Methode 275 nicht mehr als derart starr angesehen wird, wie es auf Basis von Bourdieus Arbeiten zu sozialen Schichten noch konzeptualisiert wurde. Es lassen sich durchaus fremdsprachliche Lern- oder Professionalisierungsprozesse kompetenztheoretisch mittels der Dokumentarischen Methode rekonstruieren (vgl. Asbrand/ Martens 2018 ; Bonnet/ Hericks 2020 ). Die Güte qualitativer und damit auch rekonstruktiver Arbeiten wird häufig darauf hinterfragt, inwiefern die abduktiv generierten Schlüsse zu Handlungslogiken valide, objektiv und reliabel sind. Eine genaue Dokumentation des Forschungsprozesses zum Zwecke der Objektivität, der ständige Fallvergleich sowie die Abstraktion durch Typenbildung tragen dazu bei, dass aus der Falldarstellung ein Fallverstehen mit einer reliablen Allgemeingültigkeit abgeleitet werden kann. Dies stellt allerdings hohe Anforderungen an die Dokumentation bzw. Publikation zum Forschungsvorgaben. Wenn die DM auch großes Potenzial entlang der besprochenen Untersuchungsgegenstände zeigt, so darf nicht verheimlicht werden, dass Datenerhebung, -interpretation und -analyse aufwändig sind. Innerhalb von Qualifikationsprojekten ist daher eine engmaschige Betreuung nötig, die z. B. durch gemeinsame Daten- und Interpretationssitzungen entlastet werden kann. Die Forschungsgemeinschaft Rekonstruktive Fremdsprachenforschung (www.rekonstruktive-fremdsprachenforschung.de) ist eine Anlaufstelle für Beratung und Vernetzung von Forschenden, die mit rekonstruktiven Verfahren wie der DM arbeiten. » Literatur Forschungsarbeiten, in denen die hier erläuterten Verfahren angewendet werden, sind mit einem Sternchen markiert. Aguado, Karin/ Finkbeiner, Claudia/ Tesch, Bernd (Hg.) (2018). Lautes Denken, Stimulated Recall und Dokumentarische Methode. Rekonstruktive Verfahren in der Fremdsprachenforschung. Berlin: Lang. Asbrand, Barbara/ Martens, Matthias (2018). Dokumentarische Unterrichtsforschung. Wiesbaden: Springer VS. Baltruschat, Astrid (2018). Didaktische Unterrichtsforschung . Wiesbaden: Springer VS. * Bauer, Viktoria (2015). Englischlernen - Sinnkonstruktion - Identität. Eine Interviewstudie mit Schülerinnen und Schülern der Sekundarstufe II . Opladen: Budrich. * Benitt, Nora (2015). Becoming a (Better) Language Teacher. Classroom Action Research and Teacher Learning . Tübingen: Narr. Bohnsack, Ralf (2014). Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in qualitative Methoden. 9. überarbeitete und erweiterte Auflage. Opladen: Budrich. Bohnsack, Ralf (2017). Praxeologische Wissenssoziologie. Opladen: Budrich. Bonnet, Andreas (2009). Die dokumentarische Methode in der Unterrichtsforschung. Ein integratives Forschungsinstrument für Strukturrekonstruktion und Kompetenzanalyse. In: Zeitschrift für Qualitative Forschung 10(2), 223-240. Bonnet, Andreas (2012). Von der Rekonstruktion zur Integration: Wissenssoziologie und dokumentarische Methode in der Fremdsprachenforschung: Grundlagenbeitrag. In: Doff, Sabine (Hg.). Fremdsprachenunterricht empirisch erforschen. Tübingen: Narr, 286-305. Bonnet, Andreas (2020). Die notwendige Zumutung der Komplexität und welche Früchte sie trägt. Prinzipien, Gegenstände und ausgewählte Befunde rekonstruktiver Fremdsprachenforschung. In: Zeitschrift für Rekonstruktive Fremdsprachenforschung 1(1), 4-18. 276 5. Forschungsverfahren * Bonnet, Andreas/ Hericks, Uwe (2020). Kooperatives Lernen im Englischunterricht. Empirische Studien zur (Un-)möglichkeit fremdsprachlicher Bildung in der Prüfungsschule . Tübingen: Narr. * Bracker, Elisabeth ( 2015 ). Fremdsprachliche Literaturdidaktik. Plädoyer für die Realisierung bildender Erfahrungsräume im Unterricht. Wiesbaden: Springer VS. [Referenzarbeit, s. Kap. 7] * Fritz, Julia (2020). Fremdsprachenlernen aus Schülersicht: Eine qualitative Untersuchung zum Unterrichtserleben von Französisch- und Spanischlernenden am Ende der Sekundarstufe I. Tübingen: Narr. * Gerlach, David ( 2020 ). Zur Professionalität der Professionalisierenden: Was machen Lehrerbildner*innen im fremdsprachendidaktischen Vorbereitungsdienst? Tübingen: Narr. Glaser, Barney G./ Strauss, Anselm L. (1979). Die Entdeckung gegenstandsbezogener Theorie: eine Grundstrategie qualitativer Sozialforschung. In: Hopf, Christel & Weingarten, Elmar (Hg.). Qualitative Sozialforschung . Stuttgart: Klett, 91-111. Kleemann, Frank/ Krähnke, Uwe/ Matuschek, Ingo (2009). Interpretative Sozialforschung. Eine praxisorientierte Einführung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. * Kreft, Annika (2020). Transkulturelle Kompetenz und literaturbasierter Fremdsprachenunterricht. Eine rekonstruktive Studie zum Einsatz von fictions of migration im Fach Englisch . Berlin: Lang. Mannheim, Karl (1964). Wissensoziologie . Neuwied: Luchterhand. Nentwig-Gesemann, Iris (2013). Die Typenbildung der dokumentarischen Methode. In: Bohnsack, Ralf/ Nentwig-Gesemann, Iris/ Nohl, Arnd-Michael (Hg.). Die dokumentarische Methode und ihre Forschungspraxis. Grundlagen qualitativer Sozialforschung . Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 295-323. Nohl, Arnd-Michael (2013). Relationale Typenbildung und Mehrebenenvergleich. Neue Wege der dokumentarischen Methode . Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Nohl, Arnd-Michael ( 2017 ). Interview und Dokumentarische Methode. Anleitungen für die Forschungspraxis. 5. Auflage. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. * Schneider, Eva (2018). Von hybriden Schülerinnen und Schülern in Dritten Räumen. Rekonstruktion kultureller Bildungsprozesse im bilingualen Unterricht. Wiesbaden: Springer VS. Schütze, Fritz (1987). Das narrative Interview in Interaktionsfeldstudien. Studienbrief der Universität Hagen (Teil 1). Hagen: Universität Hagen. * Tesch, Bernd (2010). Kompetenzorientierte Lernaufgaben im Fremdsprachenunterricht. Konzeptionelle Grundlagen und eine rekonstruktive Fallstudie zur Unterrichtspraxis (Französisch). Frankfurt am Main: Lang. * Tesch, Bernd (2018). Mimesis und Diegesis. Die Aneignung öffentlicher Verständigung im fremdsprachlichen Klassenzimmer. Eine dokumentarische Videoanalyse. In: Zeitschrift für Fremdsprachenforschung 29(1), 51-72. Tesch, Bernd (2019). Sinnkonstruktionen im Fremdsprachenunterricht. Einführung in die Rekonstruktive Fremdsprachenforschung mit der Dokumentarischen Methode . 2 . neubearbeitete und erweiterte Auflage. Frankfurt am Main: Peter Lang. Tesch, Bernd/ Vernaci, Damian/ Ströbel, Lisa (2020). Auswahlprozesse bei der Dokumentarischen Unterrichtsvideoanalyse. Ein praxeologisch-wissenssoziologischer Zugang. In: Zeitschrift für Rekonstruktive Unterrichtsforschung 1(1), 71-84. 5.3.5 Inhaltsanalyse 277 » Zur Vertiefung empfohlen Asbrand, Barbara/ Martens, Matthias ( 2018 ). Dokumentarische Unterrichtsforschung. Wiesbaden: Springer VS. Das Lehrbuch dient als Einführung in die rekonstruktive Beforschung von Unterricht mittels Videographie und der Dokumentarischen Methode. Neben den methodisch-methodologischen Grundlagen wird zudem herausgearbeitet, was Unterricht eigentlich ausmacht. Bonnet, Andreas/ Hericks, Uwe (2020). Kooperatives Lernen im Englischunterricht. Empirische Studien zur (Un-)Möglichkeit fremdsprachlicher Bildung in der Prüfungsschule. Tübingen: Narr. Die Autoren untersuchen, welchen Nutzen kooperatives Lernen im Englischunterricht hat. Neben Unterrichtsforschung und Interviews mit den Lehrkräften werden C-Tests zur Messung der Entwicklung sprachlicher Kompetenz als Datenquellen triangulierend hinzugezogen. Tesch, Bernd (2019). Sinnkonstruktionen im Fremdsprachenunterricht. Einführung in die Rekonstruktive Fremdsprachenforschung mit der Dokumentarischen Methode. 2. neubearbeitete und erweiterte Auflage. Frankfurt am Main: Peter Lang. Auch dieser Einführungsband fokussiert primär auf Unterrichtsforschung, aber mit einem besonderen Fokus auf Fremdsprachenunterricht und seine Besonderheiten wie fremdsprachliche Aneignungsprozesse oder fachdidaktische Normen. 5.3.5 Inhaltsanalyse Eva Burwitz-Melzer/ Ivo Steininger Bei der Inhaltsanalyse handelt es sich um ein kodifiziertes und kodifizierendes Forschungsverfahren, das kommunikative Texte im weitesten Sinne systematisch untersucht und auswertet. Inhaltsanalysen können als quantitatives wie auch als qualitatives Verfahren eingesetzt werden. Wie bei kaum einer anderen Forschungsmethode lässt sich die allmähliche Ablösung des quantitativen Verfahrens durch das qualitative ab der Mitte des 20 . Jahrhunderts in der Forschungsliteratur vornehmlich der USA und Deutschlands gut verfolgen. Heute wird vor allem die qualitative Inhaltsanalyse sehr häufig und in ganz unterschiedlichen Kontexten eingesetzt, aber es gibt zunehmend auch Arbeiten, die beide Analyseverfahren miteinander kombinieren. Für die Fremdsprachenforschung stellt vor allem die qualitative Inhaltsanalyse eine gewinnbringende Forschungsmethode dar, wenn Kommunikationsmaterial (Texte, Hypertexte, Videosequenzen, bildliches oder musikalisches Material) theorieund/ oder datengeleitet untersucht und ausgewertet werden soll. Im Folgenden werden beide Verfahren erklärt und in den Kontext der Fremdsprachenforschung gestellt. Zu zwei zentralen Methoden der qualitativen Inhaltsanalyse werden Beispiele aus aktuellen Studien der Fremdsprachenforschung vorgestellt. 278 5. Forschungsverfahren 1 Grundlagen der Inhaltsanalyse Grundlagen der quantitativen Inhaltsanalyse Die Anfänge der Inhaltsanalyse sind in den Kommunikationswissenschaften auf den Beginn des 20 . Jahrhunderts zu datieren (vgl. Mayring 2002 : 114 ; Kuckartz 2018 : 13 - 15 ). Vorrangig in den USA der 1920 er Jahre entwickelt, zielte die quantitative Inhaltsanalyse auf die Untersuchung großer Datenmengen in Massenmedien (vgl. Krippendorff 2004 ). Die Erfindung des Radios und die Kriegsberichterstattung in den 1940 er Jahren brachten inhaltsanalytische Studien hervor, die die politischen Aspekte dieser Forschungsmethode in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückten. Die Begrifflichkeit der Inhaltsanalyse entwickelte sich zusammen mit der zunehmenden Forschungstätigkeit: Begriffe wie content analysis , sampling unit , category oder inter-coder-reliability stammen aus dieser regen Publikationszeit (vgl. Kuckartz 2018 : 30 - 33 , 47 ). Im Fokus des Interesses der damaligen Publikationen war die quantitative Auswertung 28 sprachlichen Materials (vgl. Mayring 2000 : 469 ): • Häufigkeitsanalysen (bestimmte Textelemente werden gezählt). • Indikatorenanalysen (bestimmte Textelemente werden als Indikatoren für übergeordnete Konzepte ausgewertet). • Valenz- und Intensitätsanalysen (im Vorfeld entwickelte Skalen werden genutzt, um Texte entsprechend einzuordnen). • Kontingenzanalysen (kontextuelle Zusammenhänge von Textelementen werden untersucht). In den folgenden Jahrzehnten wuchs das Interesse an der quantifizierenden Inhaltsanalyse, die sich zunehmend auch statistischer Verfahren bediente, um sozial- und kommunikationswissenschaftliche Aspekte in unterschiedlichen Medien zu untersuchen. Dabei wurde ganz bewusst und programmatisch auf die Erforschung von Phänomenen an der Oberfläche der Texte gezielt, da dies als objektives Forschungsverfahren galt. Kuckartz zitiert hierzu Berelson: „Content analysis is a research technique for the objective, systematic and quantitative description of the manifest content of communication“ (Berelson 1952 : 18 zitiert nach Kuckartz 2018 : 15 ). Allerdings beschwor diese sehr einseitige Ausrichtung der Forschungsmethode auch Kritik herauf: Kritisiert wurde an den rein quantitativen Analyseschritten, dass implizite und subtile Aspekte unterhalb der Textoberfläche und Aspekte der Interpretation zu kurz kämen, so dass beispielsweise der Kontext, Sinnstrukturen, besondere Einzelfälle oder aber Elemente, die an der Textoberfläche nicht auf den ersten Blick wahrnehmbar sind, übersehen würden (vgl. Mayring 2002 : 114 ; Kuckartz 2018 : 15 ). Viele Forscher konzipierten deshalb die qualitative Inhaltsanalyse als eine Art „Erweiterung“ oder „Präzisierung“ (Kuckartz 2018 : 22 - 26 ) des Verfahrens. Wenn Dörnyei die Unterschiede zwischen quantita- 28 Für einen Überblick zu Vorgehensweisen der quantitativen Auswertung der Inhaltsanalyse (auch als empirische Inhaltsanalyse bezeichnet) siehe Kromrey ( 2009 : 300 - 325 ). 5.3.5 Inhaltsanalyse 279 tiver und qualitativer Inhaltsanalyse herausarbeitet, beschreibt er genau diese zusätzliche Dimension: Another way for distinguishing quantitative and qualitative content analysis is by referring to the former as ‚manifest level analysis‘, because it is an objective and descriptive account of the surface meaning of the data, and the latter as ‚latent level analysis‘, because it concerns a second level, interpretive analysis of the underlying deeper meaning of the data (Dörnyei 2007: 245-246). Grundlagen der qualitativen Inhaltsanalyse An den Problemen der quantitativen Inhaltsanalyse setzt die qualitative Inhaltsanalyse an. Sie will sich nicht auf die oberflächlichen manifesten Textinhalte bei der Analyse beschränken, sondern bezieht auch Elemente der Interpretation mit ein (vgl. Kuckartz 2018 : 21 - 27 ). Charakteristisch für die qualitative Inhaltsanalyse sind die Bildung von Kategorien, auf die in der Analyse fokussiert wird, sowie eine Kategorisierung des gesamten Datenmaterials. Dabei ist der „Zuordnungsprozess von Kategorien und Textstellen als Interpretationsakt“ zu verstehen, den man „durch inhaltsanalytische Regeln kontrollieren möchte“ (Mayring 2008 : 10 ). Die konsequente und systematische Nutzung des jeweils aufgestellten Kategoriensystems stellt dabei ein Unterscheidungskriterium von freieren Formen der Textinterpretation (z. B. hermeneutischen Verfahren, s. Kap. 5 . 3 . 2 ) dar. Für die heutige qualitative Inhaltsanalyse sind auch Faktoren wie die Anerkennung von Gütekriterien, wie z. B. die inter-coder-reliability von zentraler Bedeutung, falls in einem Forschungsprojekt mehrere Kodierende das Datenmaterial analysieren (vgl. Kuckartz 2018 : 210 - 212 ). Ihrem Ursprung in den Kommunikationswissenschaften gemäß versteht die qualitative Inhaltsanalyse einen Text stets als eingebettet in ein Kommunikationsmodell. Nicht der Text für sich allein genommen ist dabei von Interesse, sondern vielmehr die aus dem Text heraus geschlossenen Zusammenhänge zur kommunikativen Absicht, in der Fragen nach dem Verhältnis zwischen Sender und Empfänger, Medium, Textmerkmale und Gestaltung, Wirkungsabsicht sowie Wirkung auf die Adressaten relevant sind (vgl. Mayring/ Brunner 2010 : 325 ). Dass es dabei oft auch um das Aufdecken versteckter Botschaften und nicht offen geäußerter Mitteilungen gehen kann, versteht sich von selbst. Gerade deshalb ist die qualitative Inhaltsanalyse für komplexe Untersuchungsfelder interessant, da mit ihrer Hilfe vielschichtige Datensammlungen wie z. B. Lehrer-/ Lernertexte (bzw. unterrichtliche Produkte im weiteren Sinne, s. Kap. 5 . 2 . 7 ) oder Transkriptionen von Audiobzw. Videomaterial von Unterricht oder Interviewsequenzen sehr gut analysiert werden können. Forschungen im Bereich der Fremdsprachendidaktik verwenden häufig eine qualitative Inhaltsanalyse, da das Suchen nach Themen in schriftlichen oder mündlichen Lehrer- oder Schüleräußerungen oder in Interviews über Unterricht, sowie das Auffinden von Mustern, das Kategorisieren und Interpretieren dieser Funde helfen, viele Forschungsfragen zum Fremdsprachenunterricht gegenstandsangemessen zu analysieren und zu beantworten. Grundsätzlich lassen sich zwei Grundformen der qualitativen Inhaltsanalyse unterscheiden, die deduktive und die induktive Analyse (vgl. Mayring 2008 ; Kuckartz 2018 : 63 - 78 ), wobei die Differenzierung über den Zeitpunkt der Kategorienbildung und die Anbindung an die theoretischen Grundlagen bzw. die empirischen Daten erfolgt: Im deduktiv orien- 280 5. Forschungsverfahren tierten Ansatz wird das Datenmaterial entlang vorab systematisierter Kategorien geordnet und strukturiert, so dass theoretische Vorannahmen und Erklärungsmodelle an das Material herangetragen werden können. Im induktiv orientierten Ansatz dient erst das Datenmaterial selbst dazu, Kategorien zu bilden, die Struktur eines Erklärungsmodells aus den systematisierten Zusammenhängen abzuleiten und mit der Theorie vereinbar zu machen. Gerade der zweite Ansatz zeigt eine Nähe zu den Kodiervorgängen der Grounded Theory (s. Kap. 5 . 3 . 3 ), die ebenfalls darauf zielen, Erklärungsmodelle datengeleitet und datenbasiert zu generieren (vgl. Kuckartz 2018 : 79 - 82 ). In zahlreichen Veröffentlichungen der letzten zehn Jahre finden sich deshalb Erläuterungen zur Kategorienbildung der qualitativen Inhaltsanalyse in Zusammenhang mit den Kodiervorgängen der Grounded Theory (vgl. Dörnyei 2007 ; Friedman 2012 ; Kuckartz 2018 ). 29 Für den Kontext der fremdsprachendidaktischen Forschung sind - je nach Forschungsgegenstand - beide Vorgehensweisen denkbar und erfolgversprechend. Kuckartz verweist auch auf mögliche Mischformen der deduktiv-induktiven Kategorienbildung, die zunächst theoriegeleitet vorgehen, dann jedoch die Vorab-Kategorien am empirischen Material modifizieren und ergänzen (vgl. Kuckartz 2018 : 95 - 96 ). 2 Vorgehensweisen der qualitativen Inhaltsanalyse Vor der Datenanalyse Bevor wir auf das Analyseverfahren zu sprechen kommen, sind noch einige Bemerkungen zu Datensammlung und Transkription wichtig: Analyseverfahren der qualitativen Inhaltsanalyse sind an kein bestimmtes Verfahren der Datensammlung gebunden (vgl. Kuckartz 2018 : 52 ), denn hier gelten die Grundregeln des gegenstandsangemessenen und für die Beobachteten transparenten Verfahrens der Sammlung. Alle Methoden der qualitativen Inhaltsanalyse arbeiten sprachbezogen, d. h. sie sind für unterschiedliche verbale Daten nutzbar, Unterrichtsdiskurse und Schülermaterialien können ebenso erfolgreich mit ihnen analysiert werden wie Filme, fiktionale Texte oder andere Kulturprodukte. Die Aufbereitung der Daten folgt auf die Datensammlung im Forschungsfeld. Das verwendete Transkriptionssystem sollte auf die Forschungsfragen und das Erkenntnisinteresse abgestimmt sein. Gerade bei der Transkription von Videosequenzen können sensible Daten wie nonverbale Aspekte der Interaktion und Kommunikation nur durch ein entsprechend ausgerichtetes Transkriptionssystem in textuelle Elemente überführt werden (vgl. Kowal/ O’Connell 2000 ). Die qualitative Inhaltsanalyse Im deutschsprachigen Raum hat sich die qualitative Inhaltsanalyse in der Sozialwissenschaft zu einem kodifizierten Forschungsstil entwickelt, als dessen prominenteste Vertreter Philipp Mayring ( 1983 , 2000 , 2002 , 2008 ) und Udo Kuckartz ( 1999 , 2018 ) zu nennen sind. Viele Forscherinnen und Forscher aus dem Bereich der Fremdsprachenforschung 29 Eine Studie aus der Fremdsprachenforschung, die nach einem solchen Mischverfahren vorgeht und als Beispiel noch vorgestellt werden wird, stammt von Ehrenreich ( 2004 ). 5.3.5 Inhaltsanalyse 281 haben sich dieses Paradigma in einer seiner Varianten in den letzten zehn Jahren zu eigen gemacht, um ihre Unterrichts- oder Interviewdaten zu analysieren (vgl. Burwitz-Melzer 2003; sowie die Referenzarbeiten von Schart 2003 ; Ehrenreich 2004 ; Hochstetter 2011 ). Auch im internationalen, insbesondere im englischsprachigen Forschungsraum wird die qualitative Inhaltsanalyse im Kontext von second language classroom research häufig in verschiedenen Varianten angewandt (vgl. hierzu Dörnyei 2007 ; Nunan/ Bailey 2009 ; Mackey/ Gass 2012 ). Gemeinsam sind diesen fremdsprachendidaktischen Forschungsarbeiten in der Regel komplexe Fragestellungen, die sich auf einen komplexen unterrichtlichen Gegenstand beziehen und eine mehrstufige Datensammlung erfordern, die sehr unterschiedliche Datensätze wie Unterrichtsmaterialien, Lehrwerke, Videomitschnitte von Unterricht, Einzel- oder Gruppeninterviews etc. umfassen können. Hier kann die qualitative Inhaltsanalyse gegenstandsangemessen in der induktiven, der deduktiven Form oder in einer Mischform aus beidem helfen, einzelne Datensätze zu strukturieren und zu analysieren. Dabei steht nicht immer ein ‚Aufräumen‘ im Mittelpunkt des Forscherinteresses, sondern es geht vor allem darum, die im Datenmaterial enthaltenen Übereinstimmungen, Widersprüche, unterschiedlichen Perspektivierungen und Gewichtungen klar herauszuarbeiten. Deduktive Kategorienbildung Ob eine theoriegeleitete, also deduktive qualitative Inhaltsanalyse durchgeführt wird, hängt in hohem Maße davon ab, wie gut das Forschungsgebiet bereits erschlossen ist. Ist der Gegenstandsbereich bereits gut vorstrukturiert, kann dies bei der Formulierung von Hypothesen helfen. Stehen Hypothesen fest, können Forschungsfragen und eine Vorabbildung von Kategorien noch vor der ersten Lektüre der Daten erfolgen, weil bereits feste theoretische Bezugspunkte vorliegen (vgl. Kuckartz 2018 : 64 - 72 ). Kuckartz verweist auf das besondere Problem der Abgrenzung der Kategorien, die vorab gebildet werden; ihre Trennschärfe und Differenziertheit sorgen für die Reliabilität der Studie. Es empfiehlt sich deshalb gerade bei theoriegeleiteter Kategorienbildung die Reliabilität, also die Belastbarkeit und Trennschärfe der Kategorien, durch eine Übereinstimmung zwischen den Kodierenden zu überprüfen, falls in einer Gruppe geforscht wird. Forscher und Forscherinnen, die allein arbeiten, sollten an dieser Stelle entweder Kollegen und Kolleginnen zu Rate ziehen oder besonders sorgfältig vorgehen und mehrere Korrekturschleifen einplanen, um die Qualität zu sichern (vgl. Kuckartz 2018 : 205 , 210 - 212 ). Stellt sich im Laufe der Datenlektüre und -analyse heraus, dass die Trennschärfe und Genauigkeit der Kategorien nicht in ausreichender Form gegeben ist, kann man durch eine Bildung neuer induktiv gewonnener Kategorien gegensteuern und die vorab gebildeten Kategorien sinnvoll ergänzen. Schrittfolgen der deduktiven Inhaltsanalyse 1. Fragestellung formulieren und Material festlegen; 2. Hypothesen formulieren; 3. Kategorien theoriegeleitet strukturieren; 4. Regeln für die Zuordnung/ die Codierung formulieren; 5. Material schrittweise durchgehen; 6. Phänomene entlang der Kategorien überprüfen; 282 5. Forschungsverfahren 7. Zwischendurch überprüfen, ob die Kategorien trennscharf und ausreichend sind; 8. Ist dies der Fall, das Material vollständig codieren; 9. Ist dies nicht der Fall, neue induktive Kategorien formulieren; 10. Interpretation der Ergebnisse hinsichtlich Fragestellung und theoretischer Erkenntnis. (vgl. hierzu auch Mayring 2000; Kuckartz 2012, 2018 ) Abbildung 1 : Schrittfolgen der deduktiven Inhaltsanalyse Induktiv ausgerichtete Kategorienbildung Die Bildung von Kategorien am gesammelten Datenmaterial kann als vorrangiges Unterscheidungskriterium der induktiven Inhaltsanalyse gesehen werden. Man folgt dabei dem „Grundgedanken, dass die Verfahrensweisen der zusammenfassenden Inhaltsanalyse genutzt werden, um schrittweise Kategorien aus einem Material zu entwickeln“ (Mayring 2000 : 472 ). Es wird zunächst das Ziel der Kategorienbildung auf der Basis der Forschungsfragen definiert. Wenn klar ist, was mit der Kategorienbildung erreicht werden soll, müssen der Grad der Differenziertheit und der Abstraktion der zu bildenden Kategorien festgelegt werden. Dies ist das Grundgerüst, das bereits vor der induktiven Kategorienbildung feststehen sollte. Dann wird mit der ersten Textstelle, die herangezogen werden soll, mit der Kategorienbildung begonnen, indem Zeile für Zeile direkt am Text ein Phänomen benannt wird, das mit Stift oder auch elektronisch markiert wird (vgl. Kuckartz 2018 : 74 - 78 ). Dabei kann es sich bei der Markierung um einen bestimmten Begriff, einen kurzen Satz, ein Argument etc. handeln. So wird nach und nach das gesamte Material gesichtet und strukturiert. Fällt dasselbe Phänomen wieder auf, bekommt es dieselbe Kodemarkierung; handelt es sich um ein neues Phänomen, wird eine neue Kategorie eingeführt. Nachdem etwa 10 bis zu maximal 50 % des Datenmaterials untersucht wurde, gilt es, das Kategoriensystem zu überprüfen. Dabei kommt es darauf an, Kategorien hinsichtlich ihrer logischen Beziehung untereinander sowie hinsichtlich einer etwaigen Überschneidung und Dopplung zu kontrollieren (vgl. Kuckartz 2018 : 77 - 78 ). Im Falle einer daraus resultierenden Veränderung des Kategoriensystems ergibt sich ein erneuter Durchgang des Anfangsmaterials. Ansonsten folgt der am Kategoriensystem ausgerichtete kodierende Durchgang des Gesamtmaterials. 30 30 Sowohl für die deduktive als auch die induktive Inhaltsanalyse gilt, dass im Anschluss an die Kodierung des Gesamtmaterials quantitative Analysen durchgeführt werden können. Eine Quantifizierung qualitativer Daten (vgl. Dörnyei 2007 : 269 - 70 ) wird durch die Nutzung sogenannter QDA (Qualitative Datenanalyse Software) ermöglicht, mit der Daten, Kategoriensysteme und Kodiervorgänge zu verwalten sind. Anhand der Datenbank können numerische Werte genutzt werden, um damit in Form von Häufigkeitsverteilungen, Korrelationen und Antikorrelationen statistisch zu arbeiten (vgl. ebd.). Für einen Überblick zum computergestützten Arbeiten mit qualitativen Daten siehe Kuckartz ( 1999 , 2018 : 163 - 200 ). 5.3.5 Inhaltsanalyse 283 Abbildung 2: Phasenmodell der induktiven Inhaltsanalyse , aus Mayring ( 2000 : 472 ) 3 Zwei Beispiele für qualitative Inhaltsanalysen Im Folgenden wird die Vorgehensweise der qualitativen Inhaltsanalyse an zwei Beispielarbeiten dargestellt, die für die Forschung im Bereich der Fremdsprachendidaktik als gegenstandsangemessen bezeichnet werden können. Es versteht sich von selbst, dass dies keine erschöpfende Darstellungen sein können, denn es gibt zum einen mehr Varianten (vgl. Mayring 2008 ; Kuckartz 2018 ), zum anderen wandeln Forscherinnen und Forscher in explorativen Studien die Varianten häufi g gegenstandsangemessen und begründet ab. Um eine solche Form handelt es sich im ersten Beispiel, in dem die qualitative Inhaltsanalyse in Verbindung mit Grundzügen der Grounded Theory als Mischverfahren genutzt wird. Bei der ersten Variante handelt es sich um die inhaltlich strukturierende Inhaltsanalyse, die sich auch in der Forschungsliteratur als ein zentrales Verfahren fi nden lässt (vgl. Mayring 2008 ; Kuckartz 2018 ; Schart 2003 ). Die beiden in diesem Kapitel vorgestellten Arbeitsbeispiele werden jeweils nur grob umrissen und in Hinsicht auf einen Forschungsaspekt bzw. ein Analyseverfahren untersucht, wobei die erste Studie dafür genutzt wird, die im vorangegangenen Abschnitt vorgestellten Phasen der qualitativen Inhaltsanalyse zu konkretisieren. Bei beiden Studien handelt es sich um sehr komplexe Arbeiten mit mehreren Forschungsfragen, die nach dem Prinzip der mixed methods bzw. qualitativ vorgehen. Sie können hier nur mit dem Fokus auf die jeweils gewählte qualitative Inhaltsanalyse dargestellt werden. 284 5. Forschungsverfahren Kategorisierendes und sequentiell vorgehendes Mischverfahren Ehrenreich ( 2004, Referenzarbeit, s. Kap. 7 ) untersucht in ihrer Studie Auslandsaufenthalt und Fremdsprachenlehrerbildung den Ertrag des Fremdsprachenassistenten-Jahres für Fremdsprachenlehrende (vgl. ebd.: 19 ). Als Datensätze wurden dafür teilstrukturierte Leitfadeninterviews und Kurzfragebögen generiert (vgl. ebd.: 149 - 156 ). Die Untersuchungsgruppe setzt sich aus zweiundzwanzig Assistenten zusammen, die durch die Kurzfragebögen vorinformiert und ausgewählt wurden (vgl. ebd.: 159 - 162 ). Entsprechend des kategorisierenden Ansatzes wurden die Daten unter dem Aspekt der „fallübergreifenden Theoriebildung ausgewertet“ (ebd.: 170 ). Mit dem sequentiell orientierten Paradigma sollte innerhalb der Studie allerdings auch der „Rekonstruktion der Struktur des Einzelfalles“ zugearbeitet werden (ebd.). Im Auswertungsdesign, dem eine computergestützte Analyse der qualitativen Daten zugrunde liegt, wurden insgesamt fünf Teilschritte verfolgt (vgl. ebd.: 173 ): Auf eine (a) materialbezogene (induktive) Kategorienbildung erfolgte die (b) „Konstruktion und Erprobung des Kategoriensystems“ (ebd.), daran schlossen sich (c) Einzelfallanalysen, (d) „eine synoptische Themenanalyse“ (ebd.) und (e) kategorisierende Analysen mit dem Ziel der Theoriebildung an. Abbildung 3: Beispielausschnitt des Kategoriensystems aus Ehrenreich ( 2004 : 176 ) Die Abbildung zeigt einen Ausschnitt aus dem Kategoriensystem der Studie, das mit der Software MAX QDA 31 angelegt und verwaltet wurde. Das Programm bietet die Möglichkeit, die Zuweisungen von Kodes und Textpassagen in einer Datenbank zu archivieren und stellt damit auch Ansatzpunkte für quantitative Analysen, wie bspw. Häufigkeitsverteilungen und Korrelationen, bereit. Kategorien, wie sie hier zu sehen sind, wurden im ersten Schritt aus der Sichtung des Materials und in Bezug auf die theoretischen Grundlagen des Forschungsbereichs gebildet (siehe hierzu das Phasenmodell in Abb. 1 ). Im zweiten Schritt wurde das angelegte Kategoriensystem auf alle Datensätze bezogen, wobei sich die entwickelte Hierarchie bestätigte und lediglich „eine zusätzliche Hauptkategorie […] aus methodologischen Erwägungen“ hinzugefügt wurde (ebd.: 175 ). Für die letzten Schritte dienten Kategorien dann dazu, die Einzelfälle auf das Erkenntnisinteresse zu beziehen und 31 Bei MAXQDA handelt es sich um eine kommerzielle Software für qualitative Datenanalyse (CAQDAS = Computer Assisted Qualitative Data Analysis Software ) eines deutschen Anbieters. 5.3.5 Inhaltsanalyse 285 kontextuelle Zusammenhänge herauszuarbeiten, sowie die Perspektive auf Gemeinsamkeiten zu stärken, indem auf fallübergreifende Theorieelemente fokussiert wurde. Analysiert wurden diese, indem mittels des sogenannten text retrieval des Programms „Kombinationen von Kategorien bzw. die entsprechenden Textsegmente […] sowohl textimmanent als auch textübergreifend“ miteinander verglichen wurden (ebd.: 178 ). Mit diesen Schritten zeigt die Vorgehensweise der Studie starke Anlehnung an die Kodiervorgänge der G rounded Theory (s. Kap. 5.3.3 ). Kodiervorgänge, die computergestützt mit MAX QDA vorgenommen werden, sind zunächst Zuweisungen bzw. Ordnungsprozesse. Im Programm wird eine Struktur von Kodes, die Kategorien repräsentieren, angelegt (s. Abb. 2 ). Innerhalb dieser Struktur findet sich ein System von Kategorien und Sub-Kategorien (Subsumtion von Kategorien, s. Abb. 1 ), ein sogenannter Kodebaum. In Abbildung 3 setzt sich dieser zum Beispiel aus der Kategorie Kulturvergleich mit den dazugehörigen Subkategorien Gemeinsamkeiten/ kult. Unterschiede zusammen, die wiederum differenziert werden in Themen/ Konzepte und subj. Interpretation . Genutzt wird dieses Kategoriensystem, um die textuellen Daten zu kodieren. In einem weiteren Fenster des Programms findet sich bspw. der Interviewtext, der mittels der Kategorien kodiert werden kann (s. Abb. 4 ). Im Programm werden zumeist Textelemente, die Wörter, Satzteile, Sätze oder Paragraphen umfassen können, mit Kodierungen versehen. Diese stellen dann sog. Kodings dar und können auch mehrere Paragraphen verbinden. Konkret bedeutet dies, dass im Datenmaterial (hier der Interviewtext) ein Phänomen erkannt werden muss, das auf eine der etablierten Kategorien bezogen werden kann. Das Phänomen in den Daten wird als kategorial relevant erkannt und ihm wird eine entsprechende Kodierung zugewiesen. Diese Zuweisung stellt einen Akt der Interpretation dar, denn der Forschende entscheidet, welcher Kategorie das entsprechende Phänomen zugeordnet werden soll. Die Regeln, an die sich diese Zuordnung zu halten hat, werden in sogenannten Kodiermemos festgehalten und ergeben in ihrer Gesamtheit den Kodierleitfaden. Dort wird definiert, unter welchen Umständen ein Phänomen einer Kategorie zugeordnet werden kann, sprich: wann Daten zu Kodings einer Kategorie werden. Das Programm fungiert dabei lediglich als Datenbank, die es ermöglicht, Kodes (im Sinne von Kategorien und Subkategorien) entsprechenden Kodings zuzuweisen und diese auch über verschiedene Datensätze hinweg aufzurufen ( text retrieval ). Abbildung 4: Beispielausschnitt einer Kodierung eines Interviewtextes (Ehrenreich 2004 : 177 ) 286 5. Forschungsverfahren Kodieren bedeutet, das Datenmaterial nach themengleichen Passagen zu durchsuchen. Phänomene, die in diesen Passagen enthalten sind, stellen Repräsentationen der Kategorien im Datenmaterial dar. 32 Wie diese Kategorien im System zu strukturieren sind, wird dabei durch den Gegenstand bzw. die Fragestellung vorgegeben, dienen sie doch dazu, Muster auf dem beforschten Feld interpretativ zu (re)konstruieren. Kodings können dabei im Grad der Abstraktion variieren: kodierte Phänomene können explizit auf eine Kategorie verweisen, indem das Enthaltene eine Repräsentationsform der Kategorie darstellt, oder in ihnen ist implizit etwas enthalten, das auf einer entsprechend höheren Abstraktionsstufe auf die Kategorie verweist. Bei der Präsentation der Forschungsergebnisse sind diese Kodiervorgänge so nachzuzeichnen, dass sie intersubjektiv nachvollziehbar sind. Kodings müssen daher stets in den Kontext der zugehörigen Kategorien und Kodierregeln eingeordnet werden und der Forschende legt die zugrundeliegenden Interpretationsstufen dar. Schwerpunktsetzungen innerhalb des Kategoriensystems ergeben sich sowohl aus der theoretischen Relevanz der entsprechenden Kategorie für das beforschte Feld als auch aus deren Auftreten im empirischen Material. Die inhaltlich strukturierende Inhaltsanalyse Die inhaltlich strukturierende Inhaltsanalyse ist aus heutiger Sicht die wohl häufigste Form der qualitativen Inhaltsanalyse in der deutschen empirischen Fremdsprachenforschung. Sie zielt auf eine Strukturierung und Reduktion der gesammelten Daten ab, die deduktiv oder induktiv oder in einer Mischform aus beiden Verfahren kategorisiert werden können. Häufig werden die Kategorien in einem mehrstufigen Verfahren erstellt, das zunächst grobe Hauptkategorien zum Beispiel nach den Themen eines Interviewleitfadens aufstellt, die dann in mehreren Arbeitsschritten am Datenmaterial verfeinert und ausdifferenziert werden (vgl. Kuckartz 2018 : 97 - 121 ). So kann eine Themenmatrix erstellt werden, die als Grundlage für weitere Strukturierungen dient. Als Themen können Einzelaspekte einer Fragestellung dienen, aber auch methodische Aspekte, Aspekte einer Evaluation etc. Die letzte Kodierphase unterzieht dann das gesamte Datenmaterial dem endgültig ausdifferenzierten Kategoriensystem. Ist dieser Schritt abgeschlossen, kann eine Fallmatrix erstellt werden, die Aufschluss über Differenzen und Übereinstimmungen zwischen den einzelnen Fällen der qualitativen Untersuchung gibt. Zusammen mit der Themenmatrix stellt die Fallmatrix eine Profilmatrix aller Daten dar, ist also eine Komprimierung und Reduktion der Daten auf die im Sinne der Forschungsfrage relevanten Erkenntnisse (vgl. Kuckartz 2018 : 49 - 50 ). Die Profilmatrix ist wichtig für die Erstellung einer abschließenden Betrachtung der Untersuchung; man kann sie themenorientiert lesen, also alle Fälle miteinander vergleichen, oder fallorientiert analysieren, also einen Fall unter Berücksichtigung der Bandbreite der Themen betrachten. Ein Beispiel aus der aktuellen empirischen Fremdsprachenforschung soll hier zur Erläuterung dienen: In ihrer Studie Diagnostische Kompetenzen im Englischunterricht der Grundschule untersucht Hochstetter ( 2011 , Referenzarbeit, s. Kap. 7 ) das Beobachtungsverhalten von Lehr- 32 Für eine ausführliche Darstellung der Wandlung von in den Daten enthaltenen Phänomenen zu Kodes und zu Theorieelementen innerhalb der Kodiervorgänge der Grounded Theory siehe Steininger ( 2014 : 107 - 120 ). 5.3.5 Inhaltsanalyse kodifizierte und kodifizierende Untersuchung von Texten qualitativ interpretative Analyse der Texttiefenstruktur durch Überführung sprachlicher Phänomene in Kodes mittels Abstraktion quantitativ statistische Analyse von Elementen der Textoberfläche durch: Einbettung der Elemente in Kommunikationsmodelle und Erarbeitung der Texttiefenstruktur mittels interpretativer Verfahren Häufigkeitsanalyse Indikatorenanalyse Valenzanalyse Intensitätsanalyse Kontingenzanalyse deduktiver Ansatz Kodierung der Daten auf der Basis von bestehenden Kategorien induktiver Ansatz Vergrößerung des Kategoriensystems durch Entwicklung aus den Daten Text Kategorie X Kode 1, Kode 2, Kode 3 Kategorie Y Kode 4, Kode 5, Kode 6 Quantifizierung interpretative Vertiefung © 2022 ⚫ Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 288 5. Forschungsverfahren kräften im Englischunterricht mehrerer Grundschulen und befragt sie anschließend auch zu ihren Einstellungen zu den benutzten Beobachtungsbögen. Für die zweite Forschungsfrage zu den Einstellungen wählt die Forscherin eine leitfadengestützte teilstrukturierte Interviewform, die durch ihre Schwerpunktsetzung bereits eine gewisse thematische Vergleichbarkeit aller Interviews herstellt (vgl. Hochstetter 2011 : 88 ). Hochstetter (ebd.) spricht die besondere Eignung dieses Analyseverfahrens an, […] weil die Inhaltsanalyse eine Auswertung an deduktiv und induktiv gewonnenen Kategorien zulässt. […] So kann gezielt nach Äußerungen im Text gesucht werden, die sich auf Einstellungen beziehen, es können aber zusätzlich induktiv weitere Kategorien aus dem Datenmaterial gewonnen und systematisch in die Analyse einbezogen werden. Der Fokus der Analyse liegt auf den Themen, die die Lehrkräfte ansprechen und nicht auf dem Verlauf der Interviews […]. (ebd.) Die Studie, in der deduktiv, induktiv und mit MAX QDA unterstützt Kategorien erstellt werden, gibt mit der Analyse der Interviews einen guten thematischen Überblick über die offen angesprochenen und im Gespräch jeweils auch latent vorhandenen Einstellungen der Lehrkräfte, die sich auf die aktuell beobachteten Stunden, aber auch auf ganz allgemeine, nicht direkt erfragte Überzeugungen beziehen. So tritt z. B. zutage, dass die Tendenz zu externalen Kausalattributionen von Schülermeinungen bei den meisten Lehrkräften sehr stark ist, die Haltung zu formativer, pädagogischer Leistungsüberprüfung aber in vielen Fällen negativ ist, weil sie als problematisch für die Lernenden angesehen wird (vgl. Hochstetter 2011 : 212 - 214 ). Erst im Vergleich der Lehrkräfte untereinander werden die einzelnen thematischen Aspekte in ihrer Ausdifferenziertheit fassbar. Die Studie zeigt, wie eine Themenmatrix zu einem komplexen fremdsprachendidaktischen Kontext erarbeitet und auch nach Bedarf erweitert werden kann und wie die einzelnen Fälle vor diesem Hintergrund mit Unterschieden und Übereinstimmungen wahrgenommen werden. In den letzten Jahren sind zahlreiche kommerzielle und kostenfreie ( freeware ) Programme, sogenannte CAQDAS ( Computer Assisted Qualitative Data Analysis Software ) mit unterschiedlichen Angeboten zur Forschungsarbeit mit qualitativen Inhaltsanalysen entstanden, auf die in diesem Zusammenhang auch kurz hingewiesen werden soll. In der Regel helfen diese Programme beim Transkribieren, Kodieren und Analysieren der Daten und beim späteren Präsentieren der Ergebnisse. Etliche dieser Programme bieten ihren Service für eine große Bandbreite von Daten und Medien an, also nicht nur für Textdokumente, sondern auch für Videos, Audio-Dateien und Daten, die aus den sozialen Netzwerken stammen. Meist weisen Video-Tutorials in die Arbeit mit dem jeweiligen Programm ein. Hilfreich sind zunächst Überblicks-Webseiten, die eine Vielzahl an kostenlosen Software-Programmen auflisten, wie zum Beispiel https: / / www.predictiveanalyticstoday. com/ top-qualitative-data-analysis-software/ und https: / / www.predictiveanalyticstoday. com/ top-free-qualitative-data-analysis-software/ ( 19 . 8 . 2021 ). Darüber hinaus gibt es auch einige kommerzielle Plattformen, die einen umfassenden Codier- und Analysier-Service anbieten, oft sogar mit kollaborativen Arbeitsmöglichkeiten, falls ein Team die qualitative Inhaltsanalyse erstellt; hier sind vor allem https: / / www.maxqda.de, https: / / atlasti.com, https: / / www.nvivo.de/ und https: / / www.qcamap.org zu nennen, die auch jeweils kostenlose Testversionen zum Ausprobieren zur Verfügung stellen. 5.3.5 Inhaltsanalyse 289 4 Fazit Die qualitative Inhaltsanalyse kann als eigenständiges Verfahren gelten, das mit seiner Kodifizierung eine Abfolge von Analyseschritten bereithält, die als Rahmen für Forschungsansätze in der Fremdsprachendidaktik angesehen werden können. Bereits vor der empirischen Wende in den Fremdsprachendidaktiken im letzten Drittel des 20 . Jahrhunderts stellten Lehrwerkanalysen einen wichtigen Teil der Forschung dar. Diese waren den später entwickelten qualitativen Inhaltsanalysen ähnlich und folgten zumeist dem deduktiven Ansatz auf der Basis vorab definierter Kategorien (vgl. Heuer/ Müller 1973 , 1975 ; einen Überblick zur Erforschung von „Völkerbildern“ in Sprachlehrwerken geben Grothuesmann/ Sauer 1991 ). Die inhaltliche und analytische Auseinandersetzung mit Texten ist somit Grundlage für eine Vielzahl von qualitativen Forschungsdesigns in der Fremdsprachendidaktik. Daher sind Aspekte wie die Arbeit mit Textsegmenten, Kodes und dazugehörigen Kategorien, die von diesen illustriert werden, auch in Mischformen in vielen Studien präsent. Für die Fremdsprachendidaktik bedeutet eine kategorisierende Analyse von Texten das Herausarbeiten von Bedeutungsstrukturen auf komplexen Feldern. Unabhängig von der Fragestellung des Forschers oder der Forscherin müssen Kodierungen so dargestellt werden, dass sie intersubjektiv nachvollziehbar sind; dadurch vergrößert sich zunächst die (erklärende) Textmenge, erst im zweiten Schritt kann mittels Kategorien Komplexität reduziert werden. › Literatur Forschungsarbeiten, in denen die hier erläuterten Verfahren angewendet werden, sind mit einem Sternchen markiert. *Burwitz-Melzer, Eva (2003). Allmähliche Annäherungen: Fiktionale Texte im interkulturellen Fremdsprachenunterricht der Sekundarstufe I . Tübingen: Narr. Dörnyei, Zoltàn (2007). Research Methods in Applied Linguistics. Oxford: Oxford UP . *Ehrenreich, Susanne (2004). Auslandsaufenthalt und Fremdsprachenlehrerbildung: Das „assistant“- Jahr als ausbildungsbiographische Phase. Berlin: Langenscheidt. [Referenzarbeit, s. Kap. 7]. Friedman, Debra A. (2012). How to collect and analyse qualitative data. In: Mackey, Alison/ Gass, Susan M. (Hg.). Research Methods in Second Language Acquisition. A Practical Guide. West Sussex: Wiley-Blackwell, 180-200. Grothuesmann, Heinrich/ Sauer, Helmut (1991). Völkerbilder in fremdsprachenunterrichtlichen Lehrwerken. Ein Literaturbericht. In: Zeitschrift für Fremdsprachenforschung 2, 66-92. Heuer, Helmut/ Müller, Richard Matthias (Hg.) (1973). Lehrwerkkritik - ein Neuansatz. Dortmund: Lensing. Heuer, Helmut/ Müller, Richard Matthias (Hg.) ( 1975 ). Lehrwerkkritik 2 - Landeskunde, Illustrationen, Grammatik. Dortmund: Lensing. *Hochstetter, Johanna (2011). Diagnostische Kompetenz im Englischunterricht der Grundschule: Eine empirische Studie zum Einsatz von Beobachtungsbögen. Tübingen: Narr. [Referenzarbeit, s. Kap. 7] Kowal, Sabine/ O’Connell Daniel C. (2000). Zur Transkription von Gesprächen. In: Flick, Uwe/ von Kardorff, Ernst/ Steinke, Ines (Hg.). Qualitative Forschung. Ein Handbuch . Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 437-447. 290 5. Forschungsverfahren Krippendorff, Klaus (2004). 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Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 468-475. Mayring, Philipp (2002). Einführung in die Qualitative Sozialforschung . Weinheim: Beltz. Mayring, Philipp (2008). Neuere Entwicklungen in der qualitativen Forschung und der Qualitativen Inhaltsanalyse. In: Mayring, Philipp/ Gläser-Zikuda, Michaela (Hg.). Die Praxis der Qualitativen Inhaltsanalyse. Weinheim: Beltz, 7-19. Mayring, Philipp/ Brunner, Eva (2010). Qualitative Inhaltsanalyse. In: Friebertshäuser, Barbara/ Langer, Antje/ Prengel, Annedore (Hg.). Handbuch Qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft . Weinheim: Juventa, 323-333. Nunan, David/ Bailey, Kathleen (2009). Exploring Second Language Classroom Research: A Comprehensive Guide. Boston: Heinle. *Schart, Michael ( 2003 ). Projektunterricht - subjektiv betrachtet: Eine qualitative Studie mit Lehrenden für Deutsch als Fremdsprache. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. [Referenzarbeit, s. Kap. 7] *Steininger, Ivo (2014). Modellierung literarischer Kompetenz. Eine qualitative Studie im Fremdsprachenunterricht der Sekundarstufe I . Tübingen: Narr. » Zur Vertiefung empfohlen Aguado, Karin (2012). Die Qualitative Inhaltsanalyse in der empirischen Fremdsprachenforschung: Grenzen, Potentiale, Desiderate. In: Aguado, Kerstin/ Heine, Lena/ Schramm, Karen (Hg.). Introspektive Verfahren und Qualitative Inhaltsanalyse in der Fremdsprachenforschung. Frankfurt/ M.: Lang, 119-135. Bei diesem Text handelt es sich um eine knappe Einführung in das Thema Qualitative Inhaltsanalyse, die ihre zentralen Merkmale und ihr Potenzial gerade für den Fremdsprachenunterricht herausstellt. Es werden auch kritische Meinungen aus der Sekundärliteratur vorgestellt und diskutiert. Gut geeignet als Einstieg in dieses Forschungsthema. Gläser-Zikuda, Michaela (2012). Qualitative Inhaltsanalyse in der Bildungsforschung - Beispiele aus diversen Studien. In: Aguado, Kerstin/ Heine, Lena/ Schramm, Karen (Hg.). Introspektive Verfahren und Qualitative Inhaltsanalyse in der Fremdsprachenforschung. Frankfurt/ M.: Lang, 136-159. 5.3.6 Typenbildung 291 Dieser Artikel ist als kurzer Informationseinstieg in ein anspruchsvolles Forschungsthema durchaus geeignet. Die Autorin geht auch auf Mischformen aus qualitativer und quantitativer Inhaltsanalyse ein und liefert anschauliche Beispiele aus Studien im Kontext der Bildungsforschung. Neuendorf, Kimberly A. (2002). Content Analysis Guidebook. London: Sage Publications. Dieses Werk wird zur eingehenden Vertiefung empfohlen, denn es stellt umfassend und ausführlich verschiedene Kontexte und Verfahrensweisen der quantitativen und qualitativen Inhaltsanalyse vor. Die Autorin wendet sich an fortgeschrittene Studierende der Kommunkationswissenschaften, der Psychologie und Sozialwissenschaften, das Buch ist also nicht primär auf den Fremdsprachenunterricht ausgerichtet. Mit seiner gründlichen Einführung, kurzen historischen Darstellung und zahlreichen Arbeitsbeispielen kann es aber wertvolle Anregungen geben, wie man die Inhaltsanalyse in verschiedenen Berufs- und Lebenswelten zur Forschung nutzen kann. 5.3.6 Typenbildung Michael Schart 1 Begriffsklärung Menschen ordnen die Erfahrungen, die sie mit und in ihrer Lebenswelt gewinnen, nach charakteristischen, wiederkehrenden Wahrnehmungs- und Verhaltensmustern (Schütz 1993 ). Diese „anthropologische Basistechnik“ (Kuckartz 2010 : 554 ) macht sich auch die Wissenschaft zunutze, wenn sie soziale Phänomene mit Blick auf das Typische untersucht. Insbesondere im Umfeld der qualitativen Sozialforschung sind Verweise auf typische Handlungen, Denkmuster oder soziale Konstellationen weit verbreitet, womit jedoch nicht immer auf ein methodisch kontrolliertes Vorgehen rekurriert wird. Dieses Kapitel beschäftigt sich mit einer systematischen Bildung von Typen, die sich auf der Grundlage der Analyse von empirischen Daten vollzieht. Sowohl in der quantitativen als auch in der qualitativen Sozialforschung gilt die Konstruktion von Typologien als ein effektives Verfahren, um umfangreiches Datenmaterial zu reduzieren, zu verdichten und schließlich in eine übersichtliche Ordnung zu bringen. Die Zielsetzung besteht darin, im untersuchten Gegenstandsbereich Strukturen und Zusammenhänge zu identifizieren und diese dann als unterschiedliche Typen zu interpretieren. In der quantitativen Forschung kommen in diesem Prozess explorative statistische Verfahren wie beispielsweise Clusteranalysen zum Einsatz, mit denen in den Daten typische Muster bzw. Korrelationen zwischen Merkmalsträgern oder Merkmalsausprägungen aufgedeckt werden können (vgl. Schmidt-Hertha/ Tippelt 2011 : 25 ). Auch in der qualitativen Sozialforschung, die im Mittelpunkt der folgenden Betrachtung stehen wird, bezieht sich der Begriff der Typenbildung im Kern auf eine Methode der Datenanalyse, mit der komplexe soziale Phänomene einer Deutung zugänglich gemacht werden sollen (s. auch Kap. 5 . 3 . 3 ). In einem konkreten Forschungsdesign können typenbildende Verfahren in unterschiedlichen Funktionen eingesetzt werden. „Der Anspruch reicht von der Beschreibung und deskriptiven Gliederung eines Untersuchungsfeldes bis 292 5. Forschungsverfahren hin zur Hypothesengenerierung bzw. Theorieentwicklung auf der Grundlage eher induktiver oder aber abduktiver Prozesse“ (Nentwig-Gesemann 2013 : 300 ). Seit Max Weber zu Beginn des 20 . Jahrhunderts seine Überlegungen zu einer verstehenden Soziologie mithilfe von idealtypischen Konstruktionen ausformulierte (z. B. Weber 1988 [ 1922 ]: 190 - 214 ), wurden gerade in der deutschsprachigen empirischen Sozialforschung eine ganze Reihe typenbildender Verfahren entwickelt (siehe z. B. Kelle/ Kluge 2010; Kuckartz 2012 ; Ecarius/ Schäffer 2020 ). Diese grenzen sich zwar in Einzelaspekten deutlich voneinander ab, verfolgen jedoch die gemeinsame, grundlegende Strategie, das Datenmaterial in eine bestimmte Ordnung zu bringen, um dann vor dieser Folie das soziale Phänomen zu beschreiben und zu erklären. Im Kern geht es allen typenbildenden Verfahren somit um eine „Informationsreduktion bei gleichzeitigem Wissensgewinn“ (Schmidt- Hertha/ Tippelt 2011 : 23 ). Im Prozess der Typenbildung werden einzelne Daten aus den untersuchten Fällen zu neuen Einheiten zusammengesetzt. Die so entstandenen Gruppen zeichnen sich dadurch aus, dass die in ihnen versammelten Elemente eine möglichst hohe Ähnlichkeit aufweisen (interne Homogenität), während verschiedene Gruppen untereinander durch möglichst deutliche Kontraste gekennzeichnet sind (externe Heterogenität) (Kelle/ Kluge 2010 : 85 - 86 ). Die interne Homogenität eines einzelnen Typus bzw. die externe Heterogenität zwischen den verschiedenen Typen in einer Typologie ergeben sich durch je spezifische Konstellationen von Merkmalen. Ein wichtiger Schritt der Analyse bei der Typenbildung besteht deshalb darin, relevante Merkmale zu benennen und zu begründen, anhand derer die zu gruppierenden Elemente verglichen und kontrastiert werden können. Mit Bildung von Typologien ist der Anspruch verbunden, die enge Bindung an das Singuläre der einzelnen Fälle zu überwinden und empirisch begründete, fallübergreifende Aussagen über einen Gegenstandsbereich zu treffen. Hieraus leitet sich eine besondere Stellung dieses Ansatzes innerhalb der qualitativen Sozialforschung ab, denn typenbildende Verfahren schlagen eine Brücke zwischen detaillierten Einzelfallanalysen, wie sie etwa in ethnografischen Ansätzen praktiziert werden, und Vorgehensweisen, die — beispielsweise im Sinne der Grounded Theory (s. Kap. 5 . 3 . 3 ) — auf die Formulierung von Theorien abzielen (vgl. Kuckartz 2010 : 555 ). Der Begriff der Typenbildung lässt sich daher nicht auf eine Analysetechnik reduzieren, sondern er ist zugleich auch mit methodologischen und methodischen Implikationen verbunden, die den gesamten Forschungsprozess betreffen. Die folgenden Abschnitte werden diese Zusammenhänge eingehender thematisieren. Angesichts der Vielzahl von Ansätzen kann es in diesem Beitrag nicht darum gehen, einen detaillierten Leitfaden für den Ablauf der Typenbildung vorzustellen. Stattdessen sollen deren grundlegende Prinzipien aufgezeigt und einige zentrale Kontroversen nachgezeichnet werden. In der empirischen Fremdsprachenforschung spielen typenbildende Verfahren bislang eher eine untergeordnete Rolle. Gleichwohl können sie — und das soll im Folgenden an einigen Studien verdeutlicht werden — auch bei der Erforschung fremdsprachlicher Lehr- und Lernprozesse erkenntnisreiche Perspektiven eröffnen. So bietet sich ihr Einsatz bei qualitativen Untersuchungsdesigns immer dann an, wenn im Anschluss an Beschreibungen von Einzelfällen die Datenanalyse zu generalisierenden Aussagen über das erforschte 5.3.6 Typenbildung 293 Phänomen zusammengeführt werden soll (wie z. B. über das didaktische Konzept „Projektunterricht“ in Schart 2003 ). Die Studien von Haudeck ( 2008 ), Roche ( 2006 ) und Feick ( 2016 ) demonstrieren, wie die Typenbildung genutzt werden kann, um verschiedene Verhaltensweisen in Gruppen von Lernenden (z. B. Lernstrategien, Lerntechniken oder Lernstile, Teilnahme an Gruppenentscheidungsprozessen) zu identifizieren und zu beschreiben. Roters ( 2012 ) Studie zur Reflexionskompetenz von Studierenden in der Lehrerausbildung zeigt, dass sich aus Typisierungen Hinweise für die konkrete Gestaltung von Bildungsprogrammen ableiten lassen. Und Gerlach ( 2020 ) kommt in seiner Untersuchung über kontrastive Fallvergleiche zu einer Typologie des professionellen Selbstverständnisses von Ausbildenden im fremdsprachendidaktischen Vorbereitungsdienst. 2 Merkmalsräume als Grundlage der Typenbildung Typologien beruhen immer auf der Konstruktion eines Merkmalsraums, wie ihn die Abbildungen 1 und 2 schematisch darstellen. Dieser muss zwar nicht zwingend in dieser Form einer Kreuztabelle veranschaulicht werden, aber solche Visualisierungen erleichtern es Forschenden zum einen, den Auswertungsprozess zu strukturieren — vor allem wenn der betreffende Merkmalsraum mehr als zwei Dimensionen umfasst. Zum anderen stellen sie eine sinnvolle Möglichkeit dar, die Grundlagen und Ergebnisse einer Typenbildung anschaulich zu präsentieren. Bei den Abbildungen 1 und 2 wird dieser Merkmalsraum von nur zwei Dimensionen gebildet, d. h. die beiden Merkmale (auch: Kategorien oder Variablen) Form und Färbung lassen jeweils nur zwei Merkmalsausprägungen (auch: Subkategorien) zu, anhand derer die einzelnen Elemente der Systematik zugeordnet werden können. Dieses Prinzip wird sowohl bei quantitativen als auch bei qualitativen Analyseprozessen angewendet. Die Vier-Felder-Matrix von Abbildung 1 zeigt eine Typologie, bei der sich alle gebildeten Typen trennscharf voneinander unterscheiden lassen. Zugleich weisen diese Typen auch intern keine Varianzen auf. Solche Typologien sind bei sozialen Phänomenen nur dann zu erwarten, wenn man relativ eindeutige Kategorien wählt (z. B. Geburtsjahr, Geschlecht, Ausbildung u.ä.) oder den Vergleich auf quantifizierbare Variablen reduziert (z. B. erreichte Punktzahl in einem Test, Anzahl besuchter Unterrichtsstunden u.ä.). Dieses Vorgehen wird auch als deskriptive Typenbildung bezeichnet (Miethe 2020 ). Sie mündet in merkmalshomogenen (auch: monothetischen) Typen, wie sie sich in Abbildung 1 finden. 33 Können alle untersuchten empirischen Fälle eindeutig, ausschließlich und vollständig zu Gruppen geordnet werden, spricht man von einer Klassifikation (Schmidt-Hertha/ Tippelt 2011 : 23 ). 33 Eine andere Möglichkeit, solche „reinen Typen“ hervorzubringen, geht auf Max Webers Konstruktion von Idealtypen zurück. Bei deren Bildung werden einzelne Merkmalsausprägungen gedanklich überhöht, andere dagegen ausgeblendet, so dass man „theoretische Konstruktionen unter illustrativer Benutzung des Empirischen“ erhält (Weber 1988 [ 1922 ]: 205 ). Im Unterschied zu den in den Abbildungen 1 und 2 dargestellten Realtypen besteht bei solchen Idealtypen nur noch bedingt ein Zusammenhang mit empirischen Daten bzw. realen Fällen. 294 5. Forschungsverfahren Abbildung 1 : Zweidimensionaler Merkmalsraum, Typologie mit merkmalshomogenen Typen Abbildung 2 : Zweidimensionaler Merkmalsraum, Typologie mit merkmalsheterogenen Typen Dagegen münden typenbildende Verfahren, die auf das Erfassen komplexerer Strukturen und Zusammenhänge abzielen, eher in merkmalsheterogenen (auch: polythetischen) Typen, wie sie in Abbildung 2 dargestellt werden. Hier sind — im Unterschied zu den vier merkmalshomogenen Typen aus Abbildung 1 — die einzelnen Elemente innerhalb einer Gruppe keineswegs identisch. Sie werden vielmehr aufgrund deutlicher Ähnlichkeiten zum gleichen Typ gezählt. Tritt dabei der Fall ein, dass einzelne Elemente der idealen Ausprägung der verglichenen Merkmale sehr nahe kommen, können diese als Optimalfall (oder auch Prototypen) ihrer jeweiligen Gruppe gelten. Sie repräsentieren dann ihren Typ, ohne jedoch mit ihm identisch zu sein (vgl. Kelle/ Kluge 2010 : 105 ; Nentwig-Gesemann 2013 : 301 ). Durch den Vergleich der Abbildungen 1 und 2 lässt sich erkennen, dass die Zusammenfassung von Elementen zu Typen anhand von unterschiedlichen Merkmalsausprägungen in der qualitativen Forschung keine Aufgabe darstellt, die ausschließlich formalisiert erfolgen kann. Notwendig ist vielmehr die eingehende Interpretationsleistung der Forschenden. Ein sehr anschauliches Beispiel dafür bietet die Arbeit von Roche ( 2006 ), in der beschrieben wird, wie der Analyseprozess mehrere Interpretationsschleifen von der Typologie zu den Daten (in diesem Fall Einträge in Lernerjournalen) und wieder zurück durchläuft. Auf dem Weg von den Einzelfällen zu einer Typologie müssen eine Reihe von methodischen und methodologischen Entscheidungen getroffen werden, die im Folgenden anhand von drei zentralen Fragen der Typenbildung umrissen werden. 5.3.6 Typenbildung 295 3 Zentrale Fragen der Typenbildung Woher kommen die Vergleichsdimensionen? Im vorangegangenen Abschnitt wurde betont, dass die Definition eines Merkmalsraums die Grundlage für den Vergleich darstellt. Damit ist jedoch noch nicht die für den Forschungsprozess maßgebliche Frage beantwortet, woher die Merkmale oder Kategorien stammen, anhand derer Daten verglichen werden können. Die verschiedenen Varianten typenbildender Verfahren finden darauf sehr unterschiedliche Antworten. So werden in einigen Ansätzen die Merkmale bereits vor dem Beginn des Vergleichs definiert, indem man sie beispielsweise direkt aus einer Theorie oder der Forschungsfrage ableitet (siehe z. B. die „typenbildende Inhaltsanalyse“ bei Kuckartz 2012 : 115 - 131 ; s. Kap. 5 . 3 . 5 ). Dabei bleibt zunächst unbeachtet, ob sich die einzelnen Merkmalskombinationen anhand konkreter Fälle auch tatsächlich empirisch nachweisen lassen. Diese Herangehensweise kann dazu führen, dass so genannte künstliche Typologien entstehen, in denen einzelne Felder des Merkmalsraums im Verlauf des Typisierungsprozesses unbesetzt bleiben. Aber auch dieses Ergebnis stellt einen Erkenntnisgewinn über das beforschte Phänomen dar. Denn Felder, die nicht gefüllt werden können, stehen dann für einen Typ, der zwar logisch plausibel erscheint, sich aber in den Daten nicht nachweisen lässt (vgl. Lofland et al. 2006 : 148 ). So stößt beispielsweise Roche ( 2006 ) bei seinem Versuch, eine zunächst auf der Basis theoretischer Überlegungen zu Lernstilen konstruierte Typologie mit konkreten Lernerdaten zu füllen, mehrfach auf diese Schwierigkeit. Bei einer anderen Herangehensweise an die Typenbildung wird die Vorabauswahl von Vergleichsdimensionen dagegen grundsätzlich abgelehnt. Ausgangspunkt für die Konstruktion eines Merkmalsraums bilden in diesem Fall zunächst immer nur die Daten selbst, weshalb man auf diesem Weg zu sogenannten natürlichen Typologien kommt. Ein Beispiel dafür stellt die Dokumentarische Methode dar (s. Kap. 5 . 3 . 4 ). Deren Vertreterinnen und Vertreter bezeichnen ihr Vorgehen auch als praxeologische Typenbildung. Es zielt darauf ab, die „implizite Regelhaftigkeit von Erfahrungen und den in dieser Regelhaftigkeit liegenden dokumentarischen Sinngehalt“ zu erfassen (Nohl 2017 : 36 ). Hypothesen über das Untersuchungsfeld sollen allein aus dem empirischen Material heraus mit Hilfe abduktiver Schlüsse gewonnen werden. Die Entscheidung über die Vergleichsdimensionen des Merkmalsraums ist also mit grundsätzlichen methodologischen Überlegungen verknüpft. Es geht zum einen um die Frage, inwieweit Forschende ihr Vorwissen (in Form von Theoriewissen, eigenen Erfahrungen mit dem zu erforschenden Phänomen etc.) im Forschungsprozess ausblenden oder sich von diesem distanzieren können. Zum anderen wird diskutiert, ob die Generierung von neuartigen Typologien im Sinne eines explorativen Vorgehens überhaupt möglich sei, wenn man die Vergleichsdimensionen bereits vorab festlege und damit die einzelnen Elemente theoriegeleitet zu Typen anordne (siehe z. B. die Kritik bei Bohnsack 2010 : 487 an einem theoriegeleiteten Vorgehen). Eine vermittelnde Position nehmen Kelle/ Kluge ( 2010 : 18 - 27 ) ein. Sie bezeichnen die Annahme, dass Kategorien und Konzepte gleichsam aus dem Datenmaterial emergieren könnten, als „induktivistisches Selbstmissverständnis“ der qualitativen Methodenlehre. 296 5. Forschungsverfahren Der kreative und spielerische Umgang mit den Daten, wie er für induktive oder abduktive Vorgehensweisen typisch ist, sei für das Generieren von Typologien zwar notwendig, aber zugleich auch riskant und vage. Wissenschaftliches Wissen, so die Argumentation bei Kelle/ Kluge, entstehe immer aus der Kombination von bereits Bekanntem und Neuem. Sie sprechen sich daher für eine beständige Integration von empirischen und theoretischen Arbeitsschritten aus, wobei das Vorwissen der Forschenden einfließen sollte. Entscheidend sei dabei, dass sich Forschende auf abstrakte Konzepte bzw. empirisch gehaltlose Kategorien 34 beschränkten. Nur diese könnten als „theoretische Heuristiken“ bei der Typenbildung dienen, weil sie den Blick auf das Neue in den Daten nicht verstellten (Kelle/ Kluge 2010 : 63 ). Während also die Kategorien in diesem vermittelnden Ansatz theoriegeleitet formuliert werden, entstehen die Subkategorien des Merkmalsraums in der Auseinandersetzung mit dem Datenmaterial. Roters ( 2012 ) orientiert sich in ihrer vergleichenden Studie zur Reflexionsfähigkeit von angehenden Fremdsprachenlehrerinnen und -lehrern in Deutschland und den USA an dem von Kelle/ Kluge ( 2010 ) beschriebenen Vorgehen. Sie entwickelt einen Merkmalsraum für die Typisierung von studentischen Reflexionen, indem sie zunächst Daten aus den beiden Ländern getrennt analysiert. Dabei fließen neben theoretischem Vorwissen Dokumentenanalysen und Experteninterviews ein. Durch die Gegenüberstellung der länderspezifischen Analyse kommt Roters zu einer sechsstufigen Typologie, anhand derer sie verschiedene Reflexionsniveaus von Novizen charakterisieren und hochschuldidaktische Empfehlungen für ein reflexives Professionalisierungskonzept in der Lehrerbildung formulieren kann. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass eine Antwort auf die Eingangsfrage dieses Abschnitts, die keine Variante der Typenbildung ausgrenzt, unspezifisch ausfallen muss: Die einzelnen Vergleichsdimensionen des Merkmalsraums können offensichtlich auf dem Vorwissen der Forschenden beruhen oder ebenso erst im Prozess der Datenauswertung entstehen. Sie lassen sich von der Forschungsfrage ableiten oder können vom Forschungsinstrument — etwa den Fragen eines Interviewleitfadens — beeinflusst sein. Welches Vorgehen bevorzugt wird, hängt vom untersuchten Gegenstand und den Forschungsfragen ab. Für die wissenschaftliche Qualität einer Typologie ist jedoch ausschlaggebend, ob die Konstruktion des Merkmalsraums eingehend reflektiert, nachvollziehbar dargestellt und begründet wird. Was wird typisiert? Am Beginn einer Typenbildung sollte nicht nur Gewissheit darüber bestehen, wie man zu den Kategorien gelangt, anhand derer die empirischen Daten verglichen werden. Ebenso wichtig ist es, eine Vorstellung davon zu besitzen, worauf sich dieser Vergleich konkret beziehen soll. Traditionell wird von einer Parallelität zwischen Fällen und typisierten Elementen ausgegangen. Die Individuen werden bei der Datenerhebung (etwa durch Interviews, Beobachtung u.ä.) als einzelne Fälle behandelt und dann auch in dieser Form 34 Kelle/ Kluge ( 2010 : 63 ) nennen als Beispiel das Konzept „Rollenerwartung“, das noch keine konkreten Aussagen darüber enthalte, wie sich die Rollenerwartungen in einem zu untersuchenden Feld gestalten. Die Wahrnehmung der Forschenden bei der Analyse werde somit zwar gelenkt, aber der empirische Gehalt entstehe erst durch die intensive Beschäftigung mit den Daten. 5.3.6 Typenbildung 297 typisiert. Sowohl Haudeck ( 2008 ) als auch Roche ( 2006 ) wählen in ihren Studien diesen Weg. Lernstrategien, Lerntechniken oder Lernstile bleiben somit eng mit den Lernenden verknüpft, auf deren Daten die Bildung der Typologie beruht. Ebenso ist dies der Fall bei Roters ( 2012 ), die ihre Typisierung von Reflexionsniveaus auf einzelne Studierende bezieht. Und auch für Feick ( 2016 ) und Gerlach ( 2020 ) stellen die einzelnen Personen die zu typisierende Einheit dar. Bei anders gelagerten Forschungsinteressen erscheint es aber weitaus sinnvoller zu sein, eine größere Gruppe von Individuen als Einzelfall zu betrachten, etwa wenn die Lernatmosphäre in unterschiedlichen Klassen untersucht werden soll und deshalb u. a. Gruppendiskussionen als Forschungsinstrument zum Einsatz kommen. Die Typenbildung kann auch derart konzipiert werden, dass sie sich auf Ereignisse und Situationen konzentriert oder unterschiedliche Denkfiguren und Handlungsmuster innerhalb eines sozialen Kontextes ins Zentrum der Analyse rückt. In all diesen Beispielen können zwar Daten von einzelnen Personen die Datengrundlage schaffen, doch im Verlauf des Analyseprozesses ergibt sich eine immer größere Distanz zwischen den ursprünglichen Einzelfällen und den typisierten Elementen. Ein Beispiel für diesen Ansatz liefert die Referenzarbeit von Schart ( 2003 ), die sich subjektiven Unterrichtstheorien von DaF-Lehrenden widmet. Auch in dieser Arbeit werden nicht die befragten Individuen selbst typisiert, sondern die Argumentationslinien, denen die Lehrenden folgen, wenn sie ihre Sicht des Projektunterrichts beschreiben. Ein vergleichbares Vorgehen findet sich in der Studie von Ertelt-Vieth ( 2005 ), auch wenn sich die Autorin nicht explizit auf die Typenbildung bezieht. Bei ihrer Untersuchung von deutschrussischem Schüleraustausch richtet Ertelt-Vieth ihr Augenmerk auf Elemente, die das gegenseitige Verständnis erschweren (sogenannte Lakunen) und typisiert diese nach einer Reihe von Kriterien. Sie kommt dadurch zu verschiedenen Typen von Lakunen, die nicht mehr fest mit den untersuchten Einzelfällen verknüpft sind. Bei einer solchen weiten Definition der zu typisierenden Elemente ist es unvermeidlich, dass die Daten einzelner Fälle verschiedenen Typen zugeordnet werden. Man erhält multidimensionale Typologien, wie sie besonders elaboriert im Rahmen der Dokumentarischen Methode herausgearbeitet werden. Durch die Identifizierung solcher fallübergreifenden Muster kann es zu vielschichtigen Überschneidungen zwischen Typen und Einzelaspekten von Fällen kommen. Diese sind jedoch nur dann bedenklich, wenn sich am Ende ein Großteil der Fälle in vielen Typen wiederfindet. Kommt es zu einer Typologie, in der viele typisierte Elemente mehrfach vertreten sind, gerät deren Erklärungskraft in Zweifel, denn dann drängt sich zwangsläufig die Frage nach dem Sinn der Typisierung auf (vgl. Richards 2006 : 182 ). Auch die entgegengesetzte Tendenz erscheint problematisch: Können viele Elemente gar nicht erst typisiert werden, sind die Vergleichsdimensionen für das empirische Material nicht angemessen gewählt (vgl. Lofland et al. 2006 : 149 ). Ein großer Vorteil der Trennung von Einzelfall und typisierten Elementen liegt darin, dass sich neue Möglichkeiten der Datenanalyse ergeben. Es lassen sich beispielsweise systematisch und empirisch begründet Modellfälle oder Modelltypen entwickeln, die eine neue Perspektive auf das betreffende soziale Phänomen erschließen. So verdeutlicht Schart ( 2003 : 212 ) die extremen Gegensätze zwischen den typischen Argumentationslinien in 298 5. Forschungsverfahren seiner Studie, indem er auf der Grundlage seiner Daten einen fiktiven Dialog zwischen zwei hypothetischen Lehrenden konstruiert (siehe dazu auch Kuckartz 2012 : 130 ). Wann beginnt und wann endet die Typenbildung im Forschungsprozess? Die bis hierhin geschilderten Prinzipien und Kontroversen vermitteln eine Vorstellung davon, weshalb die Typenbildung mehr darstellt als eine reine Technik der Datenanalyse. Die Entscheidung für dieses Verfahren kann sich — je nach gewähltem Ansatz — auf den gesamten Forschungsprozess auswirken. Daher fällt es auch sehr schwer, eine befriedigende Antwort auf die Frage zu finden, die diesem Abschnitt voransteht. Tendenziell erscheint es für quantitative Untersuchungen eher unproblematisch zu sein, den Beginn der Typenbildung erst relativ spät im Forschungsprozess einsetzen zu lassen. So können auch bereits erhobene und analysierte Daten nachträglich einem explorativen Verfahren wie der Clusteranalyse unterzogen werden, um sie nach typischen Mustern zu befragen. Für die qualitative Forschung hingegen ist ein solches Vorgehen eher selten realisierbar. Hier beginnt die Typenbildung, wie Kelle/ Kluge ( 2010 ) überzeugend darstellen, bereits bei der Auswahl der Einzelfälle (s. Kap. 4 . 3 Sampling), deren Zusammensetzung das Ergebnis der Typisierung entscheidend beeinflusst. Selbst wenn man sich auf den zentralen Bereich der Typenbildung konzentriert, also nur den Vergleich und die Gruppierung der Daten sowie die Formulierung der Typen betrachtet, findet man keine klare Antwort darauf, an welchem Punkt die Typenbildung einsetzen sollte. Denn eng verknüpft mit dieser Entscheidung ist die Frage, welche Bedeutung einem genauen Verständnis der Einzelfälle im Prozess der Typenbildung zukommen sollte. Für einige Ansätze ist es zwingend erforderlich, dass sich Forschende zunächst mit den einzelnen Fällen und ihrem jeweiligen Bedingungsgefüge vertraut machen, bevor sie mit einer Konstruktion von Typen beginnen. Kuckartz ( 2012 ) beispielsweise betont, dass die eingehende Analyse der Einzelfälle eine grundlegende Voraussetzung dafür darstelle, um mit dem Vergleich beginnen zu können. Und Lofland et al. ( 2006 : 149 ) geben zu bedenken, dass das gesamte Verfahren leicht in einer sterilen Übung enden könne, wenn die Einzelfälle unverstanden blieben. Daher wird der Analyseteil entsprechender Studien mit detaillierten Beschreibungen einzelner Phänomene oder Personen eingeleitet. Dem steht die Dokumentarische Methode (s. Kap. 5 . 3 . 4 ) mit ihrer Strategie entgegen, die Rekonstruktion der Einzelfälle und deren Vergleich parallel zu vollziehen. Diese als „komparative Sequenzanalyse“ bezeichnete Praxis stellt ein grundlegendes Prinzip des Ansatzes dar und beruht auf der Idee, dass die Besonderheiten der Einzelfälle gerade durch die kontinuierliche, gegenseitige Kontrastierung hervortreten. Es sei nicht die Aufgabe von Forschenden, so Nohl ( 2017 : 9 ), „einen Fall besonders gut zu kennen, sondern seine wesentlichen Orientierungsrahmen zu identifizieren, die sich vom Fall abheben und auch in anderen Fällen finden lassen.“ Mit dieser Herangehensweise ist die Hoffnung verbunden, der Befangenheit, in der sich die Forschenden durch ihr Vorwissen und ihre Erwartungen befinden, die Wirkungskraft zu nehmen. Der Vergleich als eine „durchgängige Analysehaltung“ soll somit nicht nur eine erkenntnisgenerierende, sondern auch eine erkenntniskontrollierende Funktion erfüllen (Nohl 2013 : 15 ). 5.3.6 Typenbildung 299 Daten / Fälle Leitfrage: Welche Zusammenhänge und Muster lassen sich beschreiben? Vergleichsdimensionen festlegen Merkmalsraum konstruieren Einzelfälle und Daten zuordnen Quelle der Vergleichsdimension Gegenstand des Vergleichs Verhältnis zur Einzelfallanalyse Ergebnisse/ Endpunkt der Typenbildung 5.3.6 Typenbildung Typologie Daten in klassifikatorischer Ordnung interne Homogenität und externe Heterogenität der gebildeten Typen Beschreibung und Gliederung eines Untersuchungsfeldes, Hypothesengenerierung bzw. Theorieentwicklung Typ 3 Typ 4 Typ 2 Typ 1 © 2022 ⚫ Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 300 5. Forschungsverfahren Die konkrete Ausgestaltung des Vergleichs bei der Typenbildung ergibt sich jedoch nicht nur aus solchen methodologischen Überlegungen. Eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen auch die technischen Arbeitsmittel, die Forschenden zur Verfügung stehen. Seit den 1990 er Jahren wachsen mit zunehmend umfangreicheren und leistungsfähigeren Computerprogrammen auch die Möglichkeiten der Datenanalyse. Diese Entwicklung verlieh gerade der Typenbildung eine besondere Dynamik, denn hierdurch ergaben sich die notwendigen Mittel und Wege, diese „wirklich transparent, methodisch kontrolliert und intersubjektiv nachvollziehbar“ (Kuckartz 2012 : 153 ) zu gestalten. Ein relativ frühes Einsetzen von Quervergleichen zwischen den Einzelfällen stellt daher aus technischer Sicht inzwischen kein Problem mehr dar, weil QDA-Software ein kontinuierliches Springen von den kodierten Elementen zu den Kontexten erlaubt, denen sie entstammen. Bleibt schließlich die Frage, wann genau die Typenbildung ihren Abschluss findet. Einig sind sich die verschiedenen Ansätze darin, dass es mit Blick auf die wissenschaftliche Qualität einer Studie nicht ausreicht, diese in der Beschreibung einer Typologie enden zu lassen. Die Darstellung von empirischen Regelmäßigkeiten bei einem sozialen Phänomen markiert zwar einen wichtigen Zwischenschritt, ihr muss jedoch zwingend die Erklärung dieser Zusammenhänge folgen. Denn der gesamte Prozess beruht letztlich auf dem Anspruch, über das Typische zu einer Generalisierung zu gelangen oder mit den Typologien zur Theorieentwicklung beizutragen. Das kann auf sehr unterschiedliche Art und Weise erfolgen. Im Umfeld der Dokumentarischen Methode beispielsweise wird ein zweistufiges Verfahren gewählt, um die Erkenntnisse über den untersuchten Kontext zu verallgemeinern. Der sinngenetischen, eng auf die Inhalte bezogenen Typenbildung folgt eine soziogenetische Typenbildung, bei der die kollektive Verortung in den Fokus rückt und daher als Vergleichsdimensionen wie Milieu oder Geschlecht hinzugezogen werden. Ein anderes mögliches Vorgehen stellt Kuckartz ( 2012 ) dar. Er plädiert dafür, die auf qualitativer Datenanalyse beruhende Typologie in ein quantifizierendes Verfahren zu überführen. Welchen Weg Forschende auch wählen: als Ergebnis der Typenbildung sollten sie verdeutlichen, weshalb es sinnvoll erscheint, das betreffende soziale Phänomen gerade in dieser Weise zu interpretieren. Sie müssen sich und auch den Rezipienten ihrer Studie Klarheit darüber verschaffen, was eigentlich das Neuartige an ihren Typen darstellt und inwiefern die konstruierte Typologie als heuristisches Instrument auch in anderen sozialen Kontexten Anwendung finden kann (vgl. Richards 2009 : 182 ; Kuckartz 2010 : 565 ). › Literatur Forschungsarbeiten, in denen die hier erläuterten Verfahren angewendet werden, sind mit einem Sternchen markiert. Bohnsack, Ralf ( 2010 ). Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in qualitative Methoden. 8 ., durchges. Aufl. Opladen: Budrich. Ecarius, Jutta/ Schäffer, Burkhard (2020) (Hg.). Typenbildung und Theoriegenerierung. Methoden und Methodologien qualitativer Bildungs- und Biographieforschung . 2. überarbeitete und erweiterte Aufl. Opladen: Budrich. 5.3.6 Typenbildung 301 *Ertelt-Vieth, Astrid (2005). Interkulturelle Kommunikation und kultureller Wandel: eine empirische Studie zum russisch-deutschen Schüleraustausch . Tübingen: Narr. *Feick, Diana (2016). Autonomie in der Lernendengruppe: Entscheidungsdiskurs und Mitbestimmung in einem DaF-Handyvideoprojekt . Tübingen: Narr. *Gerlach, David (2020). Zur Professionalität der Professionalisierenden: Was machen Lehrerbildner*innen im fremdsprachendidaktischen Vorbereitungsdienst? Tübingen: Narr. *Haudeck, Helga ( 2008 ). Fremdsprachliche Wortschatzarbeit außerhalb des Klassenzimmers. Eine qualitative Studie zu Lernstrategien und Lerntechniken in den Klassenstufen 5 und 8 . Tübingen: Narr. Kelle, Udo/ Kluge, Susann (2010). Vom Einzelfall zum Typus. Fallvergleich und Fallkontrastierung in der qualitativen Sozialforschung . 2. überarbeitete Aufl. Wiesbaden: Springer VS. Kuckartz, Udo (2010). Typenbildung. In: Mey, Günter/ Mruck, Katja (Hg.). Handbuch qualitative Forschung in der Psychologie . Wiesbaden: VS Verlag, 553-568. Kuckartz, Udo (2012). Qualitative Inhaltsanalyse. Methoden, Praxis, Computerunterstützung . Weinheim: Beltz Juventa. Lofland, John/ Snow, David/ Anderson, Leon/ Lofland, Lyn H. (2006). Analysing Social Settings. A Guide to Qualitative Observation and Analysis . 4th edition. Belmont: Wadsworth. Miehte, Ingrid (2020). Systematisieren - Generieren - Generalisieren. Der Beitrag deskriptiver und genetischstrukturaler Typen zur Theoriebildung. In: Ecarius, Jutta/ Schäffer, Burkhard (Hg.). Typenbildung und Theoriegenerierung. Methoden und Methodologien qualitativer Bildungs- und Biographieforschung . 2. überarbeitete und erweiterte Aufl. Opladen: Budrich, 161-179. Nentwig-Gesemann, Iris ( 2013 ). Die Typenbildung in der dokumentarischen Methode. In: Bohnsack, Ralf/ Nentwig-Gesemann, Iris/ Nohl, Arndt-Michael (Hg.). Die dokumentarische Methode und ihre Forschungspraxis . 3. aktualisierte Aufl. Wiesbaden: Springer VS, 297-322. Nohl, Arnd-Michael (2013). Relationale Typenbildung und Mehrebenenvergleich. Neue Wege der dokumentarischen Methode . Wiesbaden: Springer VS. Nohl, Arnd-Michael ( 2017 ). Interview und Dokumentarische Methode. Anleitungen für die Forschungspraxis. Wiesbaden: Springer VS. Richards, Lyn (2009). Handling Qualitative Data. A Practical Guide . 2nd ed. London: Sage. *Roche, Thomas (2006). Investigating Learning Style in the Foreign Language Classroom . Berlin: Langenscheidt. *Roters, Bianca (2012). Professionalisierung durch Reflexion in der Lehrerbildung : Eine empirische Studie an einer deutschen und einer US-amerikanischen Universität . Münster: Waxmann. *Schart, Michael ( 2003 ). Projektunterricht - subjektiv betrachtet. Eine qualitative Studie mit Lehrenden für Deutsch als Fremdsprache . Hohengehren: Schneider. [Referenzarbeit, s. Kap. 7] Schmidt-Hertha, Bernhard/ Tippelt, Rudolf (2011). Typologien. In: Zeitschrift für Weiterbildungsforschung 34, 23-35. Schütz, Alfred ( 1993 ). Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie . 6. Aufl. Frankfurt/ M.: Suhrkamp. Weber, Max/ Winckelmann, Johannes (1988 [1922]). Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. 7. Aufl. Tübingen: Mohr. » Zur Vertiefung empfohlen Ecarius, Jutta/ Schäffer, Burkhard (2020) (Hg.). Typenbildung und Theoriegenerierung. Methoden und Methodologien qualitativer Bildungs- und Biographieforschung, 2. überarbeitete und erweiterte Aufl. Opladen: Budrich. 302 5. Forschungsverfahren Der Band bietet einen Überblick über verschiedene Ansätze der Typenbildung und zeichnet zentrale methodologische und methodische Kontroversen des Forschungsfeldes nach. Vertreten sind so unterschiedliche Perspektiven wie die Dokumentarische Methode, die Objektive Hermeneutik, die Grounded Theory oder die Biografieforschung. Kelle, Udo/ Kluge, Susann ( 2010 ). Vom Einzelfall zum Typus. Fallvergleich und Fallkontrastierung in der qualitativen Sozialforschung. 2. überarbeitete Aufl. Wiesbaden: Springer VS. Die Arbeit zählt inzwischen zur Standardliteratur zum Thema. Mit ihrem Stufenmodell einer empirisch begründeten Typenbildung versuchen die Autoren, die verschiedenen Methoden und Modelle von Typenbildung in der qualitativen Sozialforschung in einen gemeinsamen methodologischen Rahmen zu stellen und damit Forschenden ein hilfreiches Werkzeug an die Hand zu geben. Kuckartz, Udo (2012). Qualitative Inhaltsanalyse. Methoden, Praxis, Computerunterstützung. Weinheim: Beltz Juventa. In dieser Arbeit wird die typenbildende qualitative Inhaltsanalyse als eine von drei Basismethoden für die inhaltsanalytische Auswertung qualitativer Daten vorgestellt. Die Darstellung zeichnet sich dadurch aus, dass enge Bezüge zur Forschungspraxis hergestellt werden, wobei der Analyse mit Hilfe von QDA-Software besondere Aufmerksamkeit gilt. 5.3.7 Diskursanalytische Auswertungsmethoden Götz Schwab/ Karen Schramm 1 Begriffsklärung Unter dem Begriff der Diskursanalyse werden verschiedene pragmalinguistisch fundierte Verfahren zur Auswertung sozialer Interaktionen gefasst. Nach van Lier ( 1996 : 4 ) kann die Bedeutung solcher Interaktionen im Fremdsprachenunterricht nicht einfach als selbstverständlich vorausgesetzt werden, „but the interaction itself must be meticulously described and understood.“ Der Begriff Interaktion selbst umfasst die beiden Aspekte inter (lat. zwischen) und actio (lat. Handlung, Tätigkeit) und wird von Henrici folgendermaßen definiert: Unter Interaktion sollen im Folgenden sprachliche und nichtsprachliche Handlungen verstanden werden, die zwischen mindestens zwei Gesprächspartnern stattfinden und mindestens einen Beitrag (’turn’) der jeweiligen Partner umfassen, der inhaltlich an den jeweils anderen gerichtet ist. (Henrici 1995: 25; Hervorhebung im Original) Goffman (z. B. 1981 ) hat für solche Interaktionen den zentralen Begriff der Begegnung ( encounter ) geprägt und impliziert damit, was House ( 1991 : 405 ) als „wechselseitige Beeinflussung von Individuen oder Gruppen“ bezeichnet. Demnach hat die Forschung zu Interaktion grundlegend das Gegenüber im Blick - unabhängig von der Frage, ob als direkter Adressat oder nur als passiver Zuhörender. Es sind daher alle Partizipientinnen und Partizipienten im Analyseprozess zu berücksichtigen, was gerade für die Unterrichtsforschung bedeutsam ist, da die Kommunikation in der Regel in größeren Gruppen, beispielsweise Schulklassen, stattfindet (Schwab 2011 ). Eine einseitige Reduktion auf bestimmte Teilnehmende (z. B. nur die Lehrperson) ist nach diesem Verständnis nicht angemessen, 5.3.7 Diskursanalytische Auswertungsmethoden 303 sondern verzerrt den Blick auf den Interaktionsprozess als Ganzes. Auch wenn der Fokus auf bestimmte Teilnehmende der Interaktion gelegt wird (z. B. Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund oder Erzieherinnen und Erzieher in der ersten Phase ihrer Ausbildung), so muss doch immer das Gesamtgefüge in den Analyseprozess eingeschlossen werden (vgl. bspw. Hoshii/ Schumacher 2010 zur Konstellation bei der fremdsprachendidaktisch motivierten Videokonferenz). In der Unterrichtsforschung haben neben der Funktionalen Pragmatik insbesondere die Interaktionsanalyse und die ihr zuzuordnende Gesprächsanalyse größere Bedeutung gewonnen. Die Gesprächsanalyse geht auf die Konversationsanalyse zurück, versteht sich aber als weitergefasster Ansatz, welcher z. B. „durch Prozeduren der interaktionalen Soziolinguistik , der discursive psychology und der grounded theory “ (Deppermann 2001 : 10 ; Hervorhebung im Original) ergänzt wird und weniger eng gefasst ist als die traditionelle (ethnomethodologische) Konversationsanalyse (Deppermann 2001 ; vgl. hierzu auch Henne/ Rehbock 2001 ). Beide diskursanalytischen Forschungstraditionen, sowohl (a) die Interaktionsanalyse als auch (b) die Funktionale Pragmatik, untersuchen Interaktionsabläufe in allen Bereichen des öffentlichen (z. B. Podiumsdiskussion, Fernsehinterview) und privaten Lebens (z. B. Familiendebatte, Arztbesuch), werden aber im Folgenden begrenzt auf institutionelle Lernorte wie Kindergarten, Schule oder Hochschule behandelt. Gemeinsam ist ihnen der Fokus auf die Handlungsebene, insbesondere die Qualität und Ausgestaltung der sprachlichen Äußerungen: Beide Methoden eignen sich für ein tiefergehendes Verständnis der Sprachhandlungen, die z. B. Lernende und Lehrende in der Klassenzimmer-Interaktion ausführen, wenngleich die Ansätze methodologisch aus unterschiedlichen theoretischen Traditionen stammen und differente Herangehensweisen aufweisen. Während die Interaktionsanalyse stark durch die soziologische Forschung und Ethnomethodologie beeinflusst wurde (Deppermann 2001 ), ist die Funktionale Pragmatik deutlich linguistischer geprägt. (a) Interaktionsanalyse impliziert ein umfassenderes Verständnis von Gesprächen als dies z. B. bei der klassischen Konversationsanalyse suggeriert wird, da neben verbalen und non-verbalen Aspekten auch die Rolle des Visuell-Räumlichen von Sprachhandlungen verdeutlicht wird (Deppermann/ Schütte/ Ernst o. J.). Dies wird vor allem in multimodalen Ansätzen deutlich, welche der Komplexität sprachlichen Handels weitaus mehr Gewicht zukommen lassen (Mondada 2013 ). In der englischsprachigen Literatur wird allerdings eher der Begriff discourse analysis als übergeordneter Begriff verwendet (z. B. Nunan 1993 oder Schiffrin/ Tannen/ Hamilton 2003 ), unter welchem neben interaktionsanalytischen teilweise auch konversationsanalytische Ansätze firmieren (z. B. Schiffrin 1994 ). Innerhalb der Diskursanalyse unterscheiden Ellis/ Barkhuizen ( 2005 ) überdies zwischen interactional analysis und interaction analysis. Während interactional analysis dem deutschen Begriff Interaktionsanalyse entspricht, ist mit Letzerem ein im Vorfeld festgelegtes Beobachtungsraster gemeint, wie z. B. das von Flanders ( 1978 ) entwickelte FIAC ( Flanders’ Interaction Analysis Categories ) oder das Beobachtungsprotokoll von Brophy/ Good ( 1976 ) zur Lehrer-Schüler-Interaktion (s. Kap. 5 . 2 . 3 zur Beobachtung). Ein etwas anderes, aber nichtsdestotrotz einflussreiches Modell von discourse analysis haben die britischen Linguisten John Sinclair und Malcolm Coulthard 304 5. Forschungsverfahren in ihrem Buch Towards an Analysis of Discourse ( 1975 ) entwickelt. Basierend auf einem sprechakttheoretischen Verständnis von (Unterrichts-)Interaktion stellen sie ein Analysemodell zur Beschreibung sprachlicher Handlungen vor, in dessen Mittelpunkt der sogenannte IRF -exchange ( initiation-response-feedback 35 ), zu Deutsch pädagogischer Austausch (z. B. Schwab 2009 ), steht. Diese dreischrittige Sequenz bildet das kommunikative Rückgrat des lehrerzentrierten Plenumunterrichts - in der Regel operationalisiert durch ( 1 ) Lehrerfrage, ( 2 ) Schülerantwort und ( 3 ) Feedback zur Schülerantwort (vgl. hierzu auch Becker-Mrotzek/ Vogt 2001 : 15 - 24 ). (b) Die Funktionale Pragmatik bezieht dagegen bei der analytischen Modellierung von Unterrichtsinteraktionen im Gegensatz zur Interaktions- und Konversationsanalyse die mentale Dimension der Interaktantinnen und Interaktanten explizit mit ein. In sogenannten Handlungsmustern wird das Zusammenspiel sprecher- und hörerseitiger mentaler Operationen und Entscheidungen mit interaktionalen Handlungsschritten (Pragmemen) in einem zweckgerichteten Ensemble rekonstruiert (s. einführend Becker-Mrotzek/ Vogt 2001 ; Weber/ Becker-Mrotzek 2012 ). So wird beispielsweise der oben beschriebene interaktionsanalytische IRF pattern unter Einbezug von lehrpersonseitigen Einschätzungen und schülerseitigem Wissensabruf als Handlungsmuster „Aufgabe stellen - Aufgabe lösen“ in nicht nur drei Schritten, sondern als Zusammenspiel von 19 Pragmemen zum Zwecke des akzelerierten Wissenserwerbs modelliert (Ehlich/ Rehbein 1986 ). Ein weiterer wichtiger Unterschied zur Interaktions- und Konversationsanalyse besteht in der Annahme, dass Handlungsmuster gesellschaftlich ausgearbeitet und vermittelt sind (vgl. hierzu auch den Ansatz der Critical Discourse Analysis, z. B. Fairclough 2015 ). 2 Merkmale von Interaktionsanalyse und Funktionaler Pragmatik Grundlegend für diskursanalytische Ansätze ist die Annahme, dass sprachliches Handeln und Lernprozesse gleichermaßen in sozialen Interaktionen sichtbar werden. Diese Grundannahme impliziert auch ein Verständnis von Lernen, welches den Erwerbsprozess nicht allein auf mentale Vorgänge des Einzelnen begrenzt, sondern vielmehr als interaktives Unterfangen beschreibt, bei dem alle Beteiligten eine Rolle spielen und somit den Prozess beeinflussen. Das sozio-kulturelle Verständnis von Kognition als mediated mind (Vygotsky 1978 ) unterstreicht diesen Gedanken des sozialen Charakters von Lernen. Auch der Erwerb einer Sprache muss im Kontext von interaktionalen Handlungenprozessen betrachtet werden, d. h. Prozessen, bei denen Menschen sich Sprache in der Begegnung mit anderen aneignen. Die Analyse von Interaktionen und Handlungsmustern im Fremdsprachenunterricht hat demnach eine zweifache Orientierung. Zum einen werden die sprachlichen Handlungen en detail beschrieben und interpretiert; zum anderen wird versucht, das Lernen selbst in seiner interaktionalen Verortung zu beschreiben und hieraus Schlüsse für den Spracherwerb zu ziehen. Um dies zielführend umzusetzen, müssen bei der Analyse einige Prinzipien berücksichtigt werden, die im Folgenden aufgezeigt und erklärt werden (vgl. 35 Manche Autorinnen und Autoren sprechen anstelle von feedback auch von evaluation und damit einem IRE exchange bzw. IRE structure (vgl. Walsh 2006 : 46 ). 5.3.7 Diskursanalytische Auswertungsmethoden 305 Ehlich/ Rehbein 1986 ; Becker-Mrotzek/ Vogt 2001 ; Deppermann 2001 ; Seedhouse 2004 ; Dalton-Puffer 2007 ; Schwab 2009 ; Weber/ Becker-Mrotzek 2012 ). (a) Empirische Datengrundlage: Interaktionsanalyse und Funktionale Pragmatik basieren auf Daten, die in natürlichen Settings gewonnen werden. In der Regel sind dies Videound/ oder Audiomitschnitte. Das schließt vorherige Absprachen (sogenannte Untersuchungsskripts) mit den Forschungssubjekten aus; vielmehr sollte das Unterrichtsgeschehen möglichst natürlich und unbeeinflusst von den Forschenden vonstatten gehen. Dabei geht man bei der Datenerhebung von einer nicht-teilnehmenden Beobachtung aus (s. Kap. 5 . 2 . 3 zur Beobachtung), bei der die Forschenden nicht verdeckt, sondern für alle Akteure sichtbar mitschneiden. Mit observer’s paradox (Labov 1972 ) bezeichnet man das sich daraus ergebende Dilemma, dass Forschende bei Interaktionen anwesend sind, bei denen sich die Interaktantinnen und Interaktanten aber so verhalten sollen, als ob sie unbeobachtet wären. Häufig wird jedoch in Forschungsberichten konstatiert, dass sich der Zustand natürlichen Verhaltens recht schnell einstellt, gerade bei jüngeren Personen. (b) Emische Perspektive: Mit emischer Perspektive ist ein grundsätzliches Verständnis ethnographischer Arbeiten angesprochen, bei welchem das Handeln der Beteiligten aus deren individueller Perspektive betrachtet wird (Seedhouse 2004 ). Nicht die Sichtweise der von außen beobachtenden Forscher (etische Perspektive) ist ausschlaggebend, sondern das Verständnis der Partizipientinnen und Partizipienten selbst. Ziel der Analyse muss sein, die ureigene Handlungslogik der Interaktantinnen und Interaktanten zu ergründen. Dies geht aus interaktionsanalytischer Perspektive nur, wenn man sich konsequent und permanent die Frage stellt „[W]hy that now? “ (Schegloff/ Sacks 1973 : 299 ), d. h., warum Akteure in einer konkreten Situation so und nicht anders handeln. Aus funktional-pragmatischer Perspektive steht hingegen die Rekonstruktion der Handlungsziele der Beteiligten im Vordergrund, die sie in gesellschaftlich etablierten Handlungsmustern verfolgen. (c) Detail- und Materialtreue: Beide Ansätze implizieren, dass sämtliche Interpretationen und Deutungsvorschläge vom Material ausgehen, wobei die Konversationsanalyse sich hier deutlich von der Funktionalen Pragmatik unterscheidet und theoretische Überlegungen grundsätzlich hintan stellt. Nur was in den Daten sichtbar ist, sollte Berücksichtigung finden. A priori -Annahmen, theoriegeleitet oder auf Alltagswissen beruhend, müssen zunächst außen vor bleiben. Dabei sollte eine Aufnahme immer Vorrang vor der Verschriftlichung (Transkription) haben. Dennoch darf nie vergessen werden, dass auch ein Videomitschnitt immer nur einen Ausschnitt der Wirklichkeit darstellt. (d) Sequentialität von Interaktionen/ Handlungsmustern: Die Interaktionsanalyse geht davon aus, dass Gespräche einer sequentiellen Ordnung folgen. Das bedeutet, Äußerungen bauen auf das unmittelbar zuvor Gesagte auf und werden in einem zeitlichen Kontinuum positioniert. In dieser Zeitlichtkeit ist auch der Analyseprozess zu sehen (‚Zeile für Zeile‘). Ein einzelner Redebeitrag ( turn ) steht also niemals unabhängig von anderen Äußerungen. Vielmehr hat jeder Beitrag einen bestimmenten Platz innerhalb einer Sequenz. Deppermann ( 2001 ) spricht daher auch von der Sequenzanalyse, d. h. 306 5. Forschungsverfahren der Untersuchung von sich fortschreibenden Sequenzen, die einer inhärenten Ordnung unterliegen. Sacks ( 1984 : 22 ) hat dies mit „ order at all points “ ausgedrückt. Gespräche gelten demnach auch dann noch als geordnet, wenn der subjektive Eindruck von einem vielstimmigen Durcheinander dominiert - was in einem Klassenzimmer ja immer wieder der Fall sein kann. Im Gegensatz dazu betont die Funktionale Pragmatik den zweckgebundenen Zusammenhalt verschiedener Pragmeme in einem Handlungsmuster. Die Sequentialität von Interaktionen wird auch bei der funktionalpragmatischen Analyse berücksichtigt; jedoch wird mit dem Konzept des Musterdurchlaufs die Linearität der Interaktion in eine zugrundliegende nicht-lineare Ordnung gebracht und zusätzlich auch der möglicherweise iterative Charakter von Handlungseinheiten (also die Möglichkeit mehrfacher Musterdurchläufe) erfasst. (e) Kontextualität: In enger Verbindung zur Sequentialität von Interaktionen steht der Begriff der Kontextualität, der nur für die Interaktionsanalyse zentral ist und in der Funktionalen Pragmatik nicht zu den grundlegenden Prinzipien gehört. Nach diesem Prinzip sind Sprachhandlungen immer aus ihrer unmittelbaren Situiertheit zu verstehen, d. h. im Kontext der sequentiellen Entfaltung einer Interaktion zu deuten ( contextshaped ). Dadurch sind sie gleichzeitig context-renewing: Jeder Beitrag, jede Äußerung schafft wiederum einen erweiterten, wenn nicht neuen Kontext (vgl. Seedhouse 2004 ). Partizipientinnen und Partizipienten realisieren das u. a. mithilfe linguistischer Mittel (z. B. deiktische Ausdrücke wie ‚er‘, ‚dieses‘ oder ‚dort‘), paralinguistischer Ressourcen (z. B. Intonation bei der Verabschiedung der Klasse) oder non-verbaler Handlungen (z. B. Proxemik oder Zeigen auf bestimmte Gegenstände oder Personen). Solche contextualization cues (Gumperz 1982 ) werden von den Interaktantinnen und Interaktanten permanent benutzt und gedeutet, um einem Gespräch den kontextuellen Rahmen zu geben, den man als Außenstehende(r) leicht als gegeben ansieht, ohne zu bemerken, wie er doch erst durch die Sprachhandlungen der Akteure zum Leben erweckt wird. Ein schönes Beispiel stellt die zielsprachliche Begrüßung am Anfang des Fremdsprachenunterrichts dar (‚Good morning, class‘). Damit wird der Kontext ‚zielsprachliche Interaktion‘ umgehend etabliert ( context-shaped ). Die zielsprachliche Erwiderung der Schülerinnen und Schüler manifestiert das und fungiert somit als context-renewing (‚Good morning Ms/ Mr x‘). (f) Offenheit gegenüber Methodentriangulation: Im Gegensatz zu einem rein konversationsanalytischen Verständnis attestieren wir den hier vorgestellten Ansätzen eine grundsätzliche Offenheit gegenüber anderen Methoden. „Methodenpurismus“ (Deppermann 2001 : 15 ) wird besonders dann schwierig, wenn über die Gesprächsstruktur hinaus auch spracherwerbsspezifische Prozesse untersucht werden sollen. Als eine aktuelle Weiterentwicklung der hier vorgestellten (videobasierten) Interaktionsanalysen beschreibt Schramm ( 2016 ) die (triangulative) Videografie, die mittels weiterer (meist introspektiver und/ oder befragender) Datenerhebungsmethoden den ethnographischen bzw. emischen Charakter der Untersuchung verstärkt. So untersucht Feick ( 2016 ) am Beispiel mexikanischer Lernender soziale Autonomie im DaF-Projektunterricht. Zusätzlich zu den Besprechungen der Projektgruppen erhebt sie Protokolle videobasierten Lauten Erinnerns der Gruppenteilnehmenden und kann auf diese Weise die Transkripte der Gruppengespräche um die individuellen (in der Gruppensituatio- 5.3.7 Diskursanalytische Auswertungsmethoden 307 nen unausgesprochenen) Gedanken ergänzen, um auf dieser methodentriangulativen Basis eine fremdsprachendidaktisch motivierte diskursanalytische Untersuchung der Entscheidungsfindungen vorzunehmen. (g) Quantifizierbarkeit und Offenheit gegenüber videobasierter Unterrichtsforschung: Grundsätzlich lassen sich die interpretativ ausgewerteten Interaktionsdaten auch quantifizieren und damit für statistische Auswertungen nutzen. Beispielsweise verbindet Dauster ( 2007 ) bei der Untersuchung von Französischunterricht an Grundschulen qualitative Analysen von Unterrichtsmitschnitten mit einer Quantifizierung des erhobenen Datenmaterials, welches kodiert (z. B. nach Redeanteilen, Länge der Äußerungen) und statistisch ausgewertet wird. Ebenfalls vielversprechend erscheinen Designs zur Untersuchung von mehreren Variablen, bei denen (mindestens) eine Variable interaktionsanalytisch und andere Variablen mit anderen Verfahren ausgewertet werden, um Zusammenhänge zu untersuchen. So kombinieren beispielsweise Keßler/ Schwab ( 2015 ) eine psycholinguistische Methode zur Untersuchung individueller Lernersprachentwicklung ( Processability Theory ) mit interaktionaler Unterrichtsforschung ( Conversation Analysis for Second Language Acquisition ), um das Verhältnis zwischen Produkt und Prozess beim Fremdsprachenerwerb besser beschreiben zu können. Auch die Untersuchung von Eckerth ( 2003 ) illustriert einen solchen Mehrmethoden-Ansatz: Hier werden qualitative Verfahren der Unterrichtsbeobachtung (Audioaufnahmen von Lerner-Lerner-Interaktionen) und retrospektive Interviews mit quantitativen Daten (Sprachstandstests) in Verbindung gebracht. Prominentestes Beispiel für eine weitreichende videobasierte Unterrichtsforschung, die sich inferenzstatistischer Verfahren zur Modellbildung bedient, ist vermutlich die DESI -Videostudie (Helmke et al. 2008 ), in der Basiskodierungen von 105 transkribierten Englischstunden im Zusammenspiel mit zahlreichen anderen Variablen ausgewertet werden. 3 Vorgehensweisen bei der Aufbereitung und Auswertung der Daten Diskursanalytische Vorgehensweisen folgen keinem a priori genau festgelegten Verlaufsplan, sondern orientieren sich am Datenmaterial selbst. In solch einem Verfahren muss es stets darum gehen, was das Datum zeigt bzw. an interpretativen Deutungsmöglichkeiten bietet. Die eigentliche Theoriebildung ist diesem Prozess nachgestellt und verlangt daher eine zirkuläre Vorgehensweise (s. Kap. 5 . 3 . 2 ), wobei Forschende immer wieder die einzelnen Schritte transparent machen und - wann immer möglich - im Sinne einer Forschendentriangulation mit Kolleginnen und Kollegen diskutieren (s. Kap. 4 . 4 ). Auch sollten die einzelnen Schritte nicht strikt voneinander getrennt werden. So ist es z. B. sinnvoll, zügig mit der Aufbereitung des Materials (Transkription) und ersten, zunächst vorläufigen Analysen zu beginnen. Dies ermöglicht bei weiteren Erhebungen einen fokussierten Blick auf bestimmte Phänomene, welche sich als besonders relevant herausgestellt haben (z. B. auffällige Proxemik, sprachliche Besonderheiten oder störendes Verhalten Einzelner). Sollten sich im Laufe der Analyse weitere Auffälligkeiten zeigen, so können diese in den Untersuchungsprozess miteinbezogen werden. Zur Verdeutlichung haben wir die wichtigsten Schritte in Abbildung 1 zusammengefasst und nachstehend erläutert. Nicht berücksichtigt wurde dabei die ursprüngliche Entscheidung hinsichtlich des 308 5. Forschungsverfahren inhaltlichen Rahmens und der Zielsetzung des Forschungsvorhabens. Hierbei wäre neben einer grundsätzlichen Entscheidung für die Methodologie insbesondere die Intention eines solchen Vorhabens zu klären. Abbildung 1: Diskursanalytische Arbeitsschritte Datenaufbereitung Audio- oder videografierte Gesprächsdaten (s. Kap. 5 . 2 . 3 ) müssen für diskursanalytische Auswertungen grundsätzlich verschriftet, d. h. transkribiert werden. 36 Eine Transkription basiert in der Regel auf einer Transkriptionskonvention, die sich an der Standardorthografie orientiert, aber auch non-verbale und parasprachliche Elemente einbeziehen kann. Inwieweit darüber hinaus eine phonetische Umschreibung nötig ist, hängt neben dem Datum selbst vor allem von der Zielsetzung des Vorhabens ab. Im deutschsprachigen Kontext finden die Transkriptionssysyteme GAT und HIAT besonders häufig Verwendung (vgl. Mempel/ Mehlhorn 2014 ). Mit GAT bzw. GAT 2 (Gesprächsanalytisches Transkriptionssytem) (Selting et al. 2009 ) können ausgehend von einer sequentiellen Darstellung (Zeile für Zeile) mit unterschiedlicher Genauigkeit (Minimal-, Basis- oder Feintranskript) verbale und non-verbale Gesprächsdaten (also auch deren paralinguistische Merkmale, z. B. Prosodie) verschriftlicht werden, ohne dass ein besonderer Schriftsatz (z. B. IPA -Lautschrift) verwendet werden muss. Das grundlegende Inventar der zu verwendenden Zeichen und Regeln ist im Anhang dieses Beitrags beigefügt. Mittlerweile werden in gesprächsanalytischen Arbeiten immer häufiger auch 36 Hierfür gibt es mittlerweile eine Reihe an Computerprogrammen, die Forschende bei dieser Arbeit unterstützen (s. Kap. 5 . 2 . 6 ). Diese Programme bieten überdies bereits Applikationen, welche bei der Analyse der Daten helfen. 5.3.7 Diskursanalytische Auswertungsmethoden 309 sogenannte multimodale Analysen durchgeführt (z. B. Schmitt 2011; Hoffmann 2016) . Hierbei finden neben den Transkripten auch (Stand-)Bilder (screenshots ) aus den Videos Berücksichtigung. Das System der Halbinterpretativen Arbeitstranskription ( HIAT ) ist dagegen eher mit funktionalpragmatischen Untersuchungen verknüpft (Rehbein et al. 2004 ). Charakteristisch für HIAT ist u. a. die Partiturschreibweise, mit der die Simultaneität von verbalen, non-verbalen und aktionalen Handlungen detailgenau abgebildet wird. Das in Abbildung 2 abgedruckte Transkriptbeispiel zeigt fünf Partiturflächen, in denen 17 Segmente und der Beginn eines 18 . Segments nummeriert sind. Bei den meisten Segmenten handelt es sich um Äußerungen, die in den Verbalspuren der Lehrerin mit dem Pseudonym LIAB und des Schülers mit dem Pseudonym AIASG abgebildet sind. In Partiturfläche 5 ist jedoch auch eine Spur für nonverbale Kommunikation ( NVK ) zu erkennen, in der das lehrerinnenseitige Gestikulieren einer ziehenden Bewegung und ein zweisekündiges Nicken notiert wurden. Betonungen wurden gemäß der HIAT -Konventionen mit einer Unterstreichung, Reparaturen mit „/ “ und Abbrüche mit „…“ markiert. Bei „Hmhm“ (Segment 16 in Partiturfläche 5 ) wurde der fallend-steigende Intonationsverlauf angegeben, um den bestätigenden Charakter der Interjektion zu dokumentieren. Abbildung 2: Ausschnitt aus dem Transkript „Wuschelbär“ (Schramm, nicht veröffentlicht) Datenanalyse An dieser Stelle kann keine ausführliche Darstellung aller möglichen Aspekte diskursanalytischer Transkriptauswertungen erfolgen. Hierfür empfehlen wir z. B. Ehlich/ Rehbein ( 1986 ), Deppermann ( 2001 ), Becker-Mrotzek/ Vogt ( 2001 ) oder Seedhouse ( 2004 ). Für die 310 5. Forschungsverfahren Interaktionsanalyse gilt jedoch grundlegend, dass „[d]ie detaillierte Sequenzanalyse […] das Herzstück der Gesprächsanalyse [ist]“ (Deppermann 2001 : 53 ). Hier geschieht die wichtigste Arbeit, an deren Ende eine in sich stringente Interpretation des vorhandenen Datenmaterials steht. Für Neulinge der Interaktionsanalyse stellt sich immer wieder die Frage, wo überhaupt begonnen werden kann, nachdem man erste Erhebungen gemacht hat. Deppermann schreibt hierzu: Üblicherweise sucht man Passagen aus, die auffällige, neuartige etc. Phänomene enthalten, klare Fälle ( ‚clear cases‘ ) einer Gesprächspraktik zu sein scheinen oder offenbare Verdeutlichungsleistungen ( ‚displays‘ ) der Interaktionsteilnehmer beinhalten. (Deppermann 2001: 52; Hervorhebung im Original) Solch ein phänomenologischer Zugang entwickelt sich am Material selbst ( data-driven ) und impliziert im Gegensatz zu einem theoriegeleiteten Vorgehen ( theory-driven ) den Vorrang der konkreten Praxis über die Theorie. Nachdem eine erste Sequenz beschrieben und analysiert wurde, werden weitere, vergleichbare Stellen gesucht und, basierend auf den ersten Erkenntnissen, untersucht. Im Laufe der weiteren Analyse ergibt sich eine Kollektion an Sequenzen, die auf ein bestimmtes Interaktionsmuster hinweist. Dies nennt man eine Gesprächspraktik. Im Kontext der schulischen Interaktion gehört der pädagogische Austausch respektive IRF -exchange ( initiation - response - feedback ) (Sinclair/ Coulthard 1975 ) sicherlich zur bekanntesten interaktionalen Praktik. Funktionalpragmatische Transkriptanalysen beginnen in Abhängigkeit von der Forschungsfrage häufig mit der Segmentierung der fortlaufenden Interaktion in über- und untergeordnete Handlungseinheiten, wobei sowohl inhaltliche Aspekte als auch sprachliche Gliederungssignale Berücksichtigung finden. Entscheidender Motor der Analyse ist die Frage nach dem Zweck sprachlicher Handlungen; unter dieser Perspektive werden die Illokutionen der einzelnen Äußerungen bestimmt und die involvierten mentalen Handlungsschritte rekonstruiert. Fremdsprachenunterrichtsspezifische Beispiele sind das verständnissichernde Handeln oder die didaktische Frage ( display questions ). Auch größere Formen wie Erzählungen im Morgenkreis der Grundschule sind Gegenstand der Analyse und können auf funktionalpragmatischer Basis beispielsweise präzise von Berichten oder Beschreibungen abgegrenzt und in Bezug auf ihren Zweck in zahlreiche Untertypen wie Leidens-, Sieges-, Klatsch- oder Angebergeschichten unterteilt werden. Auch die Frage, wie Institutionen das sprachliche Handeln beeinflussen oder überformen, wird thematisiert und beispielsweise das Erzählen in der Schule im Vergleich zum Erzählen vor Gericht, im Krankenhaus oder auf dem Sozialamt untersucht. Ein gemeinsames Charakteristikum diskursanalytischer Interpretationen ist deren Überprüfbarkeit an den entsprechenden Transkripten. Das Gütekriterium der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit wird dadurch erfüllt, dass die Leserinnen und Leser am Material selbst die Interpretation nachvollziehen und bei Bedarf im Anhang der Forschungsarbeit den Transkriptausschnitt in seinem Kontext situiert nachlesen können. 5.3.7 Diskursanalytische Auswertungsmethoden 311 Theoriebildung Ausgehend von der Datenanalyse kommt es zur Theoriebildung, die auf einer Zusammenführung der Interpretationen mit der einschlägigen Literatur beruht. Hierbei geht es vor allem um die Abstraktion und Verallgemeinerung der gewonnenen Erkenntnisse, welche wiederum auf den Transkriptdaten basieren. Da bei diskursanalytischen Untersuchungen im Vorfeld keine Hypothesen gebildet werden, muss es an dieser Stelle darum gehen, die Forschungsfragen zu beantworten und in einen größeren Forschungskontext zu stellen. Während gesprächsanalytische Arbeiten versuchen, sogenannte Gesprächspraktiken herauszuarbeiten (vgl. Deppermann 2001 ), gilt es bei der Funktionalen Pragmatik, Handlungsmuster zu eruieren. Hierbei geht es jeweils um übergeordnete (Sinn-) Strukturen, welche für bestimmte Gesprächsabläufe konstituierend sind. So untersuchte z. B. Méron-Minuth ( 2009 : 11 ), „wie sich eine Gruppe von Grundschülerinnen und -schülern in einem immersiv angelegten Fremdsprachenunterricht kommunikationsstrategisch einbringt“ und ihre Anliegen mit ihren zielsprachlichen Mitteln realisiert. Basierend auf transkribierten Videoaufzeichnungen sowie Protokollen der beteiligten Lehrpersonen als auch Protokollen zu den videografierten Stunden analysierte sie das umfangreiche Korpus. In dieser Studie konnte eine detaillierte Typologie an Kommunikationsstrategien herausgearbeitet werden, die von Schülerinnen und Schülern im Verlauf ihrer ersten vier Jahre Fremdsprachenunterricht entwickelt und eingesetzt wurden. 4 Beispielanalyse Im Folgenden soll exemplarisch an der interaktionsanalytischen Referenzarbeit von Schwab ( 2009 ) gezeigt werden, wie eine Unterrichtsdiskursanalyse konkret aussehen kann. Nachdem der Feldzugang und damit die Möglichkeit der Datenerhebung mit Lehrperson, Schulleitung, Eltern und Schulbehörde abgeklärt worden war, konnten die ersten Video- und Audioaufnahmen gemacht werden. Die Transkription erfolgte parallel zu den Aufnahmen und ersten Analysen nach der Konvention GAT . Dabei wurden folgende Aspekte als zentral und unterrichtskonstituierend herausgearbeitet: ( 1 ) Lehrerinitiative, ( 2 ) Schülerinitiative (vgl. auch van Lier 2001 ). Insbesondere die Konstitution der sogenannten Schülerinitiative im lehrerzentrierten Unterrichtsgespräch erwies sich als auffällig, bedeutungsvoll und bis dahin wenig beforscht. Das Korpus wurde daraufhin gezielt auf dieses Phänomen hin untersucht und es wurden Ankerbeispiele herausgearbeitet respektive zu einer Kollektion verdichtet. In Abbildung 3 ist ein Beispiel aus der Kollektion abgebildet. Es soll exemplarisch analysiert und in den größeren Kontext der Arbeit eingebettet werden. Die Legende zu den GAT 2 - Transkriptionssystemen befindet sich im Anhang zu diesem Kapitel. 312 5. Forschungsverfahren Abbildung 3: Exzerpt Schülerinitiative (Schwab 2009 : 24 ) (Legende zu den verwendeten GAT 2 -Transkriptionskonventionen s. Anhang) Die hier als Schülerinitiative bezeichnete Gesprächspraktik ist in Zeile 7 sichtbar. Sequentiell positioniert die Schülerin ihren leise artikulierten Beitrag unmittelbar in die kurze Lücke, die sich nach der Lehrerfrage auftut, obschon sie nicht von der Lehrperson aufgerufen wurde (self selection). Inhaltlich könnte man die Äußerung als Antwort auf die Frage (ohne direkten Adressaten) kennzeichnen, da sie thematisch an die Frage anschließt und ihren Beitrag in die von der Lehrerin angebotene sequentielle Lücke setzt. Allerdings passiert hier etwas anderes. Die Reaktion der Lehrperson in Zeile 8 (‚mit leichtem Lächeln‘) zeigt die Besonderheit des Schülerbeitrags, mit der die Lehrerin scheinbar nicht gerechnet hat. Dementsprechend wird Rachels Beitrag auch nicht evaluiert, sondern generiert eine neue Sequenz, die kurzerhand eingeschoben wird. Aus einem gewöhnlichen pädagogischen Austausch bzw. IRF exchange (Sinclair/ Coulthard 1975 ) entwickelt sich ein sogenanntes Nachbarschaftspaar ( adjacency pair ) mit wechselseitigen Beiträgen (Zeile 7 / 8 - 9 / 10 ), wobei gerade die Schülerin die wichtige Position am Anfang der Sequenz und damit die Ini- 5.3.7 Diskursanalytische Auswertungsmethoden 313 5.3.7 Diskursanalytische Auswertungsmethoden Analyse verbaler und non-verbaler Handlungen in sozialen Interaktionen Prinzipien: a) ‚natürliche‘ Daten/ Settings b) emische Perspektive c) Detail- und Materialtreue d) Sequentialität/ Musterdurchlauf e) Kontextualität f) Offenheit gegenüber Triangulierung g) ggf. Quantifizierbarkeit Analyseprozess zirkulär, iterativ: Interaktionsanalyse Ethnomethodologie / Soziologie, Gesprächsforschung Gesprächspraktik Forschungsansätze Forschungstradition Analysefokus Funktionale Pragmatik Soziokulturelle Handlungstheorie Handlungsmuster © 2022 ⚫ Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Analyseprozess - Gesprächspraktik Analysefokus Datenerhebung Theoriebildung Datenaufbereitung Datenanalyse 314 5. Forschungsverfahren tiative übernimmt. Nachbarschaftspaare stellen nach interaktionsanalytischer Auffassung in nicht-institutionellen, alltäglichen Gesprächen die sequentielle Grundstruktur dar und bilden das strukturelle Grundgerüst für informelle Kommunikation. In solchen Situationen adäquat zu agieren ist ein bedeutsames Ziel kommunikativen Unterrichts. Das scheint hier ansatzweise der Fall zu sein, wobei - wiederum ein typisches Phänomen unterrichtlicher Interaktionswirklichkeit - die Lehrperson in Zeile 13 zum ursprünglichen Modus zurückkehrt und eine neue Frage stellt, nachdem von Rachel kein weiterer Beitrag folgt. Die Analyse weiterer solcher Beispiele verdeutlicht, wie diese Gesprächspraktik einer Schülerinitiative von den Partizipientinnen und Partizipienten in lehrpersonenzentrierte Gesprächsabläufe integriert wird. Lehrpersonen können kommunikative Räume zur Verfügung stellen und damit die interaktionale Kontrolle kurzfristig abgeben. Sie holen sich diese Kontrolle aber immer wieder zurück, um das Unterrichtsgeschehen in ihrem Sinne fortführen zu können (vgl. Zeile 13 ). Von Schülerseite wird dies im Regelfall akzeptiert. Im Rückgriff auf die einschlägige Literatur zeigt sich, dass diese Gesprächspraktik bisher nur in Ansätzen behandelt wurde (z. B. Garton 2012 ). Zumeist wird zwischen lehrerzentrierten Interaktionen, die allein auf dem pädagogischen Austausch basieren, und schülerzentrierten und damit eher gleichberechtigen Gesprächsformen unterschieden. Eine detaillierte Untersuchung von Unterrichtsgesprächen zeigt hingegen eine weitaus größere Komplexität und vermag überdies Impulse für einen bewussteren und kommunikativer gestalteten Unterricht zu geben (vgl. Schwab 2014 ). So wird deutlich, dass mithilfe der Interaktionsanalyse detaillierte Einsichten in unterrichtliche Interaktionsabläufe gewonnen werden können, die mit anderen Methoden kaum auszumachen wären. 5 Potenzial für die Fremd- und Zweitsprachendidaktik Diskursanalytische Untersuchungen des Fremdsprachenunterrichts verlangen allen Beteiligen viel ab (s. Kap. 4 . 6 zur Forschungsethik). Die Forschungspartnerinnen und Forschungspartner - insbesondere die beteiligten Lehrpersonen - müssen eine große Offenheit gegenüber dem Vorhaben mitbringen und auch über einen längeren Zeitraum behalten. Sie müssen bereit sein, sich einer akribischen Analyse ihres Gesprächsverhaltens zu unterziehen, was gerade im Fremdsprachenunterricht, wo auch auf Lehrendenseite Fehler nicht ausbleiben, nicht selbstverständlich ist. Je nach Zielsetzung der Studie ist der eigentliche Gewinn der Untersuchung nicht unbedingt für Lehrpersonen einsichtig - es sei denn, man bezieht sie von vornherein in den Analyseprozess mit ein (z. B. Schwab 2014 ); das ist aber nicht immer möglich und/ oder zielführend. Als diskursanalytische Forschungsdesiderate lassen sich abschließend fünf zentrale Bereiche nennen. Erstens überwiegt die Zahl der Untersuchungen zum Plenumsunterricht bei weitem und es besteht ein großer Bedarf an der Untersuchung von lernerzentrierten Interaktionen (z. B. bei Partner- und Gruppenarbeit). Zweitens geht es um Möglichkeiten, interaktionale und psycholinguistische Ansätze zu verknüpfen, also den Versuch, Prozess und Produkt des Zweit- und Fremdspracherwerbs in institutionellen Lernumgebungen besser zu verzahnen (vgl. Keßler/ Schwab 2015 ). Drittens sind im Hinblick auf die Verbindung von sprachlichem und fachlichem Lernen auch interdisziplinäre Verknüpfungen diskursanalytischer Verfahren mit anderen fachdidaktischen Vorgehensweisen von Inte- 5.3.7 Diskursanalytische Auswertungsmethoden 315 resse. So zeigen Schramm/ Hardy/ Saalbach/ Gadow ( 2013 ) und Gadow ( 2016 ) am Beispiel des wissenschaftlichen Begründens im Sachunterricht der Grundschule das Potenzial, aber auch die terminologischen Herausforderungen einer solchen Theorientriangulation auf. Viertens sind im Sinne einer videobasierten Unterrichtsforschung Möglichkeiten der Quantifizierung diskursanalytischer Interpretationen und der inferenzstatistischen Auswertung zu Zwecken der Modellbildung zu eruieren. Damit bieten diskursanalytische Auswertungsverfahren nicht nur die Möglichkeit einer fokussierten Perspektive auf unterrichtliche Interaktionsabläufe, sondern auch eine Vielzahl an Anknüpfungspunkten an andere Herangehensweisen und Traditionen innerhalb der Erforschung des Fremdsprachenunterrichts. Fünftens muss auch die Interaktionsforschung der zunehmenden Digitalisierung Rechnung tragen und Online-Kommunikation als Untersuchungsgegenstand gezielt untersuchen (z. B. Balaman/ Sert 2017 ). › Literatur Forschungsarbeiten, in denen die hier erläuterten Verfahren angewendet werden, sind mit einem Sternchen markiert. Balaman, Ufuk & Olcay Sert (2017). Development of L2 interactional resources for online collaborative task accomplishment, In: Computer Assisted Language Learning 30, 601-630. Becker-Mrotzek, Michael/ Vogt, Rüdiger (2001). Unterrichtskommunikation. Linguistische Analysemethoden und Forschungsergebnisse. Tübingen: Niemeyer. Brophy, Jere E./ Good, Thomas L. (1976). 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Hier werden u. a. exemplarisch die Vorgehensweisen der Funktionalen Pragmatik (Ehlich/ Rehbein 1986), Konversationsanalyse (Mehan 1979) und Diskursanalyse (Sinclair/ Coulthard 1975) dargestellt. Anhand von Gruppendiskussionen oder des fragend-entwickelnden Unterrichts werden 318 5. Forschungsverfahren Beispielanalysen durchgeführt. Der Fokus liegt allerdings nicht auf dem Fremdsprachen-, sondern dem Deutschunterricht. Sert, Olcay (2015). Social Interaction and L2 Classroom Discourse. Edinburgh: Edinburgh University Press. Durch eine gelungene Verknüpfung von konversationsanalytischer Interaktionsforschung und konkreter Unterrichtspraxis stellt dieses Buch eine umfassende Ressource für Dozierende und angehende Fremdsprachen-Lehrkräfte dar. Sert zeigt durch seine akribischen Analysen ausgewählter Beispielsequenzen und Transkripte wie ein besseres und fundierteres Verständnis institutionellen L2-Lernens in verschiedenen Kontexten ermöglicht werden kann. Walsh, Steven (2006). Investigating Classroom Discourse. London: Routledge. Der Autor gibt einen Überblick über verschiedene Ansätze der Diskurs- und Konversationsanalyse und stellt einschlägige Studien kurz vor. Darauf basierend entwickelt er das Analyseinstrument SETT ( Self Evaluation of Teacher Talk ) und stellt es anhand zahlreicher Beispiele ausführlich vor. Weber, Peter/ Becker-Mrotzek, Michael (2012). Funktional-pragmatische Diskursanalyse als Forschungs- und Interpretationsmethode [Online: http: / / www.fallarchiv.uni-kassel. de/ wp-content/ uploads/ 2012/ 07/ weber_mrotzek_diskurs_ofas.pdf] (2. 1. 2022). Diese kurze, verständlich geschriebene Einführung in die funktional-pragmatische Diskursanalyse aus dem Online-Fallarchiv Schulpädagogik der Universität Kassel gibt einen umfassenden Überblick über die theoretischen Grundlagen, das methodische Vorgehen und die Kritik, die an der Funktionalen Pragmatik geübt wurde. Auch Fragen der Verbindung mit quantitativen Verfahren und der empirischen Bildungsforschung werden dabei angesprochen. » Anhang Das gesprächsanalytische Transkriptionssystem ( GAT 2 ) nach Selting et al. ( 2009 ) - Komprimierte Darstellung [ ] Überlappung und Simultansprechen = schneller, unmittelbarer Anschluss neuer Sprecherbeiträge oder Segmente (latching). ( . ) Mikropause ( - ), ( - - ), ( - - - ) kurze, mittlere, längere Pausen von ca. 0 . 25 - 0 . 75 Sek.; bis ca. 1 Sek. ( 3 . 5 ) genaue Zeit bei Pausen von mehr als 1 Sek. Dauer und_ä h Verschleifungen innerhalb von Einheiten : , : : , : : : Dehnung, Längung, je nach Dauer / Abbruch nach Glottalverschluss (Ergänzung G. S.) 5.3.7 Diskursanalytische Auswertungsmethoden 319 °h/ h° einatmen bzw. ausatmen a k Z E N T Fokusakzent a k ! Z E N T ! extra starker Akzent ? hoch steigend , mittel steigend gleich bleibend ; mittel fallend . tief fallend ( ( h u s t e t ) ) para-/ außersprachliche Handlungen/ Ereignisse < < h u s t e n d > > > sprachbegleitende para- und außersprachliche Handlungen, Ereignisse und Interpretationen mit Reichweite ( ) unverständliche Passage nach Länge ( s o l c h e ) vermuteter Wortlaut ( s o l c h e/ w e l c h e ) mögliche Alternativen [ . . . ] bei Auslassung mehrerer Zeilen [Ergänzung der Autoren] ` S O fallend ´ S O steigend ´` S O steigend-fallend ↑ kleinere Tonhöhensprünge nach oben ↓ kleinere Tonhöhensprünge nach unten ↑↑ größere Tonhöhensprünge nach oben ↓↓ größere Tonhöhensprünge nach unten → Verweis auf im Text behandelte Transkriptzeile < < t >> tiefes Tonhöhenregister 320 5. Forschungsverfahren < < h >> hohes Tonhöhenregister < < f >> forte, laut < < f f >> fortissimo, sehr laut < < p >> piano, leise < < p p >> pianissimo, sehr leise < < a l l >> allegro, schnell < < l e n >> lento, langsam < < c r e s c >> crescendo, lauter werdend < < d i m >> diminuendo, leiser werdend < < a c c >> accelerando, schneller werdend < < r a l l >> rallentando, langsamer werdend 5.3.8 Analyse von Lernersprache Nicole Marx/ Grit Mehlhorn 1 Begriffsklärung Das Konzept der Lernersprache ( interlanguage , Selinker zuerst 1969 , veröffentlicht 1972 ) und die Idee, diese zu analysieren, haben zu einem grundlegenden Perspektivenwechsel in der Fremdsprachenforschung und -didaktik geführt. Das Lernersprachenkonzept entwickelte sich aus unterschiedlichen Forschungstraditionen, wobei v. a. die Kontrastive Analyse (vgl. Fries 1945 ; Weinreich 1953 ; Lado 1957 ) und die Fehleranalyse ( error analysis , u. a. Corder 1967 ) eine große Rolle spielten. Es wuchs aus dem Verständnis heraus, dass das erfolgreiche Lernen einer neuen Sprache nicht nur durch die Zielsprache an sich sowie den Fleiß des Lernenden beeinflusst wird, sondern auch durch andere Faktoren wie das System der Erstsprache. Da die Lernersprachenanalyse seit den ersten Auseinandersetzungen mit dem Thema eines der wichtigen Standbeine der Fremdsprachenforschung ist, wird ihr in diesem Werk ein gesondertes Kapitel gewidmet. Lernersprache - im Deutschen auch bekannt als Interimsprache (Raabe 1974 ) - bezeichnet das individuelle sprachliche System, das Lernende beim Aneignen einer Zielsprache im Verlaufe ihres Sprachlernprozesses aufbauen und das ihren Äußerungen zugrundeliegt (u. a. Corder 1974 ; Nemser 1971 ; Selinker 1972 , 1992 ). Lernersprachen sind somit nicht nur unvollständige Versionen einer langue (i. S. Saussures), sondern dynamische und hoch individuelle Systeme eines jeden Sprechenden. Sie enthalten zu nicht prognostizierbaren Anteilen neben Merkmalen der Zielsprache auch Eigenschaften der Erst- und weiterer Fremdsprachen (vgl. Selinker 1992 : 164 ) sowie Merkmale, die keinem anderen, dem Lernenden bekannten Sprachsystem zugeschrieben werden können. Sie können sich immer weiter in Richtung zielsprachlicher Strukturen entwickeln. 5.3.8 Analyse von Lernersprache 321 Lernersprache ist vor allem durch Dynamik und Individualität gekennzeichnet. Die Dynamik der Lernersprache zeigt sich im kontinuierlichen Prozess des Bildens und Testens von Hypothesen über die Zielsprache (vgl. u. a. Zhao/ Song/ Cherrington 2013 : 357 ). Zudem ist jede Lernersprache individuell und stellt ein System dar, das auf bestimmten - z. T. recht idiosynkratischen - Regeln basiert, die durchgehend überprüft und evtl. korrigiert, erweitert, verworfen oder verfestigt werden. Dies zeigt sich u. a. durch systematische Abweichungen von der Zielsprache (Fehler). Zur Individualität von Lernersprachen gehört auch ihre Instabilität auf Grund persönlicher und situationeller Faktoren. Wer müde, aufgeregt oder uninteressiert ist, wird i. d. R. seine sprachlichen Kompetenzen anders präsentieren, als diese tatsächlich sind. Ziel der Lernersprachenanalyse ist es, die Performanz von Lernenden zu untersuchen, um Aufschlüsse über den jeweiligen individuellen Lernstand zu gewinnen und evtl. die Entwicklung der Sprachkompetenzen von Lernenden nachzeichnen zu können. Bei der Untersuchung der Lernersprache müssen v. a. die genannten Merkmale der Dynamik und Individualität beachtet werden. 2 Zu untersuchende Aspekte von Lernersprache Das wissenschaftliche Interesse an Lernersprache konzentriert sich nicht nur auf Ausprägungen des jeweils untersuchten sprachlichen Systems bei einzelnen Lernenden, sondern auch auf kognitive Prozesse, die beim Lernen und bei der Verwendung einer Sprache eingesetzt werden. Obwohl solche Prozesse nicht einheitlich konzipiert werden, bietet das ursprüngliche Verständnis von interlanguage einen sinnvollen Anfang für Lernersprachenanalysen. Mit der Analyse von Lernersprache nehmen die meisten Forschenden eine produktionsorientierte Sicht ein: Von Interesse ist das, was der Lernende in der Zielsprache selbst formuliert. Zunächst kann Lernersprache anhand der unterschiedlichen Sprachebenen wie Phonetik/ Phonologie, Orthographie, Morphologie, Syntax, Lexik, textdiskursive Merkmale und Pragmatik untersucht werden. Für die Spracherwerbsforschung ist v. a. das Zusammenwirken der verschiedenen Bereiche sprachlichen Wissens interessant. Aber auch kognitive Prozesse, die für die Entwicklung einer Lernersprache bedeutend sind, können erforscht werden. Selinker ( 1972 : 216 - 217 ) zufolge sind fünf, sich zum Teil überschneidende kognitive Prozesse von Bedeutung: • Transfer von der Erstsprache bzw. anderen bereits bekannten Sprachen auf die Zielsprache (sowohl „positiver“, also zu korrekten Äußerungen führender Transfer als auch „negativer“ Transfer oder „Interferenz“, die zu Fehlern in der Zielsprache führt), • Übungstransfer (z. B. durch das häufige Üben einer Struktur im Unterricht), • Fremdsprachenlernstrategien, • Fremdsprachenkommunikationsstrategien, • Übergeneralisierungen zielsprachlicher Einheiten. Hierbei handelt es sich um unterschiedliche Kategorien. Die beobachtbaren sprachlichen Phänomene können als Indizien für viele der o. g. kognitiven Prozesse herangezogen werden (ein Wort aus der L 1 , das in der L 2 verwendet wird, dient z. B. als Indiz für Trans- 322 5. Forschungsverfahren fer). Dagegen kann eine Untersuchung der kognitiven Prozesse - hierfür werden eher introspektive Erhebungen benötigt - Erklärungen für bestimmte sprachliche Phänomene in der Zielsprache liefern. Viele Untersuchungen zur Lernersprache gehen auf den Zusammenhang von (nur indirekt beobachtbaren) kognitiven Prozessen und (direkt beobachtbaren) sprachlichen Phänomenen ein, wenn sie z. B. die Entwicklung einer Verbalform untersuchen und dabei mögliche Erklärungen für die unterschiedlichen Varianten finden. Als Erläuterung ein Beispiel zur morphologischen Produktion eines Englisch lernenden Deutschen, der im Laufe eines Kurses unterschiedliche Varianten produziert: Produzierte Aussage Sprachliche Ebene Vermutlicher kognitiver Prozess I *read a good book right now. Morphologie Lernstrategie (Vereinfachung); Transfer aus L 1 ( ich lese zurzeit ein gutes Buch ) I *am reading good books every day. Übungstransfer (zu häufiges Üben der Verlaufsform) [What do you like? ] ? Good books. Kommunikationsstrategie (Vermeidung unsicher beherrschter Formen) Abbildung 1: Varianten einer Verbalform Innerhalb einzelner sprachlicher Ebenen lassen sich weitere Aspekte von Lernersprache differenzieren, wie im Beispiel oben der Aspekt als Teilbereich der Verbalmorphologie. Auch schrift- oder diskurslinguistische Phänomene rücken immer häufiger in den Fokus von lernersprachlichen Analysen. Hierzu gehören u. a. die Äußerungskomplexität, z. B. die Anzahl und Art produzierter erweiterter Nominalphrasen oder das Aufkommen von Nominalisierungen. Bei schriftlichen Textproduktionen können auch textdiskursive Merkmale wie Kohäsion und Kohärenz, Anaphorik und Textstruktur sowie schreibstrategische Aspekte wie die Nähe zu einer Textvorlage unter die Lupe genommen werden; bei mündlicher Sprachproduktion spielt z. B. die Flüssigkeit von Äußerungen in Form von typischen Performanz- und Hesitationsphänomenen wie Wiederholungen (z. B. von Pronomen), gefüllten und ungefüllten Pausen und Reduktionen eine wichtige Rolle. Lernersprache kann aus beschreibender oder beurteilender Perspektive untersucht werden (deskriptive vs. normative Analyse). V. a. bei der beurteilenden Analyse sind Vergleichsdaten von L 1 -Sprechenden sinnvoll, so dass neben Normentsprechungen (i. d. R. korrekten Äußerungen) auch Normabweichungen feststellbar sind. Bei bilingualen Sprechenden sollte ein Vergleich mit Gleichaltrigen der jeweiligen Erstsprache erfolgen. 3 Verfahren zur Analyse von Lernersprache Bei der Analyse von Lernersprache ist zunächst vorrangig, wie Daten erhoben wurden (s. Kap. 5 . 2 . 6 ). So muss nicht nur die Art der Daten festgestellt werden (z. B. medial mündliche vs. schriftliche Daten, kürzere Lückenübungen oder längere Texte), sondern auch wie sie erhoben wurden (z. B. einmalig oder mehrfach, mit gesteuerten oder ungesteuerten Eli- 5.3.8 Analyse von Lernersprache 323 zitationsverfahren, einzeln oder im Dialog, handschriftlich oder elektronisch), was dabei fokussiert wurde (Produkt oder Prozess), und von wem die Daten stammen (z. B. von einer Person oder mehreren), um Analysefehler zu vermeiden. Nach der Datenerhebung, aber noch vor der eigentlichen Analyse erfolgt die Datenaufbereitung, bei der die Daten sorgfältig archiviert, systematisiert und entsprechenden Metadaten zugeordnet werden. Je nach erhobener Datenart erfolgt dies unterschiedlich. Nach heutigem Standard werden mündliche Lerneräußerungen zumindest auditiv aufgezeichnet, oft sogar videographiert und im Anschluss mit Hilfe eines entsprechenden Notationssystems transkribiert; erst auf Basis dieser Transkription werden Daten analysiert. Solche Transkriptionen sollten möglichst mit einer geeigneten Software angefertigt werden, die später auch Annotationen zulässt (vgl. Mempel/ Mehlhorn 2014 und Kap. 5 . 3 . 7 ). Von Vorteil ist hierbei, dass in digitalisierten Korpora in der Regel beliebig viele Annotationsebenen eingefügt werden können (s. Kap. 5 . 2 . 6 ). Auch schriftliche Daten werden meist aufbereitet; im einfachsten Fall handelt es sich um die Digitalisierung handschriftlich geschriebener Äußerungen in einem Textverarbeitungsprogramm. Die Übertragung in eine Transkriptionssoftware erleichtert die Annotation und reduziert Fehler bei der Datenanalyse. Die zu untersuchenden Äußerungselemente und Strukturen müssen als nächstes im Datenmaterial identifiziert und isoliert werden. Der Isolierungsprozess ist abhängig von der Art des Erhebungsinstruments, des produzierten Textes, der Transkription, dem Untersuchungsinteresse und dem theoretischen Ansatz des Forschungsprojekts (vgl. Ahrenholz 2014 ). Die Datenanalyse erfolgt entweder mit bereits vor der Datenerhebung festgelegten Kategorien, oder die Kategorien werden aus dem erhobenen Datenmaterial entwickelt (rationalistische vs. empirische Kategorienbildung). Die Kategorisierungen sollten möglichst konsistent durchgeführt und Zuordnungsentscheidungen bei der Ergebnispräsentation dokumentiert werden. Neben der Entscheidung für eine top-down- oder bottom-up -Herangehensweise wird zwischen unterschiedlichen theoretischen Ansätzen für die Lernersprachenanalyse unterschieden. Für den europäischen Kontext nennt Ahrenholz ( 2014 : 171 ) drei besonders relevante Ansätze: • strukturalistisch orientierte Analysen, die u. a. der Steuerung des Spracherwerbs durch universalgrammatische Prinzipien nachgehen (z. B. Clahsen/ Meisel/ Pienemann 1983 ), • die Funktionale Pragmatik, die den Sprachgebrauch in Handlungsmustern einschließlich der sozialen Einbettung der Sprachverwendung beschreibt (z. B. Ehlich/ Rehbein 1979 ), • den funktionalen konzeptorientierten Ansatz, bei dem die lernerseitige Sprachproduktion als Bezugspunkt zur Untersuchung der Realisierung semantischer Grundkonzepte wie Temporalität, Lokalität und Modalität dient (z. B. von Stutterheim 1997 ). Mit der Weiterentwicklung digitaler Korpora und der Möglichkeit, sehr große und breit zugängliche (Lerner-)Korpora zu analysieren, spielen zunehmend auch korpusbasierte Ansätze eine Rolle, die insbesondere auch durch gebrauchsbasierte Theorien ( usage-based approaches ) vorangetrieben werden (z. B. Wulff/ Gries 2011 ). 324 5. Forschungsverfahren Der theoretische Ansatz bestimmt den Fokus der Analyse, kann in einer Theorietriangulierung (s. Kap. 4 . 4 ) aber mit anderen Ansätzen kombiniert werden, um unterschiedliche Perspektiven auf erhobene Daten zu ermöglichen (vgl. z. B. die Untersuchung von Zweitspracherwerbsphasen in Wegener 1995 ). In der Fremdsprachenforschung gibt es unterschiedliche Methoden zur Lernersprachenanalyse. Wir gehen im Folgenden insbesondere auf die Möglichkeiten von Fehleranalysen, kompetenzbezogenen Analysen, Profilanalysen und Ratings ein. Fehleranalyse Der Tradition der Kontrastiven Analyse folgend wird nach wie vor das Zusammenwirken von Erstsprache, Lernersprache und Zielsprache v. a. anhand von Fehleranalysen untersucht. Hierbei werden häufig nur Ausgangs- und Zielsprache verglichen, obwohl auch drei oder mehrere Sprachen verglichen werden können (z. B. in der Referenzarbeit von Kärchner-Ober 2009 , s. Kap. 7 ). Auch zur Erläuterung von Informationen zur Lernprogression, erreichten Lernniveaus, möglichen Fossilierungen, interindividuellen Unterschieden u. v. m. werden Fehleranalysen durchgeführt. Bei allen Varianten ist der noch umstrittene Fehlerbegriff von zentraler Bedeutung; Fehler werden i. d. R. als nicht normgerechte Äußerungen definiert. Die typischen Schritte einer linguistischen Fehleranalyse sind Identifizierung, Klassifizierung und Erklärung der einzelnen Fehler. In der Unterrichtspraxis kommen Fehlerkorrektur und -bewertung hinzu. Jeder Schritt ist mit bestimmten Tücken verbunden, so dass eine sorgfältige Planung (und Pilotierung) einzelner Schritte unabdingbar ist. Dabei sind Entscheidungen stets vor dem Hintergrund der Forschungsfragen und des Analysephänomens zu treffen. So ist z. B. schon bei der Identifizierung von Fehlern zu entscheiden, ob zwischen eindeutigen Fehlern (z. B. ein nicht existentes oder in einem bestimmten Kontext nicht passendes Wort, eine falsch betonte Silbe) und graduellen Abweichungen (z. B. ein in Bezug auf das Register nicht ganz passendes Wort, ein betonter Vokal, der weder als lang noch als kurz klassifiziert werden kann) differenziert werden sollte. Das Problem verstärkt sich bei der Analyse von Texten, weswegen hier oft andere Analyseverfahren wie Ratings herangezogen werden. Auch die Fehlerklassifizierung erfordert viel Sorgfalt und soll möglichst an bereits bestehende Fehlerkataloge zur Untersuchung des gleichen Phänomens angelehnt werden. Schließlich wird oft nach Fehlerursachen gesucht, wobei ohne die Einbeziehung introspektiver Methoden die Gefahr einer Simplifizierung des Prozesses besteht. Problematisch ist insgesamt, dass Fehleranalysen wenig über Fremdsprachenlernprozesse verraten. Positiver Transfer, sprachliche Kreativität, Überproduktionen bestimmter Strukturen sowie Vereinfachungs- und Vermeidungsstrategien werden dabei ebenfalls nicht berücksichtigt. Kompetenzbezogene Analyse Im Gegensatz zu Fehleranalysen legen kompetenzbezogene Analysen den Schwerpunkt darauf, was Lernende in der Zielsprache bereits ausdrücken können. In der Fremdsprachendidaktik am bekanntesten hierfür sind wohl die Kann-Beschreibungen des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens (GeR), die anhand von Kompetenzskalen versuchen 5.3.8 Analyse von Lernersprache 325 zu ermitteln, in welchem Maße bestimmte Kompetenzen von einzelnen Lernenden bereits gemeistert werden. Für die frühkindliche Spracherwerbsforschung ist diese Art von Analyse das wohl wichtigste Analyseverfahren schlechthin (ein bekanntes Beispiel sind die Screenings der MacArthur Communicative Development Inventories, CDI , u. a. Fenson et al. 2007 ). Solche Analysen können von der Lehrkraft, vom Lernenden oder von anderen beteiligten Personen - beim Erstspracherwerb z. B. von einem Betreuer - ausgefüllt werden und sind in unterschiedlichem Maße differenziert (vgl. die Frage: „Versteht das Kind das Wort ‚ Ameise‘? “ im CDI vs. „Kann vertraute, alltägliche Ausdrücke und ganz einfache Sätze verstehen und verwenden“ im GeR). Insgesamt hat die Fremdsprachendidaktik in den letzten Jahren eine Wende von der Fehlerzur Kompetenzfokussierung erfahren, was sich u. a. auch in den Bildungsstandards sowie in Lehrwerken für die Fremdsprachen widerspiegelt; eine ähnliche Entwicklung wäre für die wissenschaftliche Analyse lernersprachlicher Äußerungen wünschenswert. Profilanalyse Kompetenzorientiert sind ebenfalls Profilanalysen, die sich dadurch auszeichnen, dass sie anhand bestimmter Kriterien natürliche Sprachaufnahmen analysieren. Oft setzen sie das Ziel, notwendige Förderbereiche herauszustellen. Sie beruhen auf einem stufenweisen Verständnis der Lernersprachenentwicklung und legen unterschiedliche - meist syntaxbasierte - Lernstadienmodelle zugrunde. Weil Profilanalysen spezifischen sprachlichen Elementen nachgehen, konzentrieren sie sich i. d. R. auf einen sprachlichen Bereich wie Grießhabers ( 2006 , 2012 ) Profilanalyse für Kinder mit Deutsch als Zweitsprache, die syntaktische Strukturen in mündlichen und schriftlichen Produktionen einzelner Lernender erhebt, oder auf eine bestimmte Menge quantifizierbarer Elemente wie das Rapid Profile- Verfahren für Englisch als Fremdsprache (zuerst Pienemann/ Johnston/ Brindley 1988 ), das elizitierte mündliche Lerneräußerungen kodiert. Wenn hier z. B. im Rahmen eines Elizitationstasks auf die Frage „What is the man doing? “ geantwortet wird: „He read a book.“, können sowohl Aussagen zur Morphologie (inkorrekte Flexion), zum Aspekt (fehlende Verlaufsform), zur Syntax (korrekte Wortfolge) und zur Lexik getroffen werden. Profilanalysen haben den Vorteil, in einem standardisierten Verfahren unterschiedliche Lernende vergleichen zu können und somit in Situationen einsetzbar zu sein, in denen Aufschlüsse über individuellen Lernzuwachs im Kontext einer ähnlichen Situation benötigt werden. Für die Untersuchung kleiner (z. B. phonetischer) Merkmale und großer sprachlicher Einheiten (Texte) bieten sich Verfahren an, die Experteneinschätzungen heranziehen (Ratings). In diesen Verfahren werden mindestens zwei Experten (je nach Untersuchungsaspekt z. B. geschulte Erstsprachler oder Schreibexperten) darum gebeten, spezifische Äußerungen, oft auf einer bestimmten Skala, nach ihrer Korrektheit, Verständlichkeit und/ oder Angemessenheit einzuschätzen. Bei einer Analyse der phonetischen Ebene von Lernersprache können somit neben akustischen Analysen im digitalen Sprachsignal (z. B. mit dem OpenSource -Programm Praat, vgl. Richter 2008 ) auch eine perzeptive Bewertung durch trainierte Expertenhörer (oft Erstsprachler), die Abweichungen einschätzen (vgl. Baur/ Nickel 2009 ), herangezogen werden. In Praat kann eine Rating-Skala hinzugefügt werden, um die akustischen Stimuli auch auditiv zu bewerten. Die Triangulierung beider 326 5. Forschungsverfahren 5.3.8 Analyse von Lernersprache Rekonstruktion von Erwerbsprozessen an sprachlichen Produkten Kompetenzbezogene Analysen Einordnung auf skalierten Kompetenzbeschreibungen Fehleranalysen Fehlerklassifikation und -erklärung Profilanalysen Lernstadien in Modellen Ratings Experteneinschätzungen spezifischer Merkmale Korpora von Lernersprache ['lɛ ʁ nɐʃpʁaːxə] „das individuelle sprachliche System, das Lernende beim Aneignen einer Zielsprache im Verlaufe ihres Sprachlernprozesses aufbauen und das ihren Äußerungen zugrundeliegt“ Sprachebenen (Phonetik, Orthographie, Morphologie, Syntax etc.) und kognitive Prozesse (Transfer, Strategien, Übergeneralisierung etc.) in mündlichen oder schriftlichen lernersprachlichen Datenkorpora deskriptiv oder normativ untersuchen © 2022 ⚫ Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 5.3.8 Analyse von Lernersprache 327 Methoden kann eine Balance zwischen der inhärenten Subjektivität perzeptiver Bewertung und der Einseitigkeit von akustischen Analysen als einzigem Auswertungsinstrument schaffen (vgl. Mehlhorn 2012 : 206 ). Rating Sehr sinnvoll lassen sich Ratings auch in Hinblick auf textlinguistische Aspekte einsetzen, die sich nur schwierig in ein richtig/ falsch-Schema einordnen lassen und eher schwer bestimmbare Merkmale wie Angemessenheit, Kohärenz und Kohäsion einbeziehen. Aspekte der Textqualität werden fast ausschließlich in Ratings beurteilt. Diese haben den Vorteil, zumindest in bestimmter Weise auch sprachenübergreifend einsetzbar zu sein (für einen Vergleich zweier Ratingverfahren bei bilingualen Schreibdaten s. Wenk 2018 ). Ratings finden auch in Prüfungen wie dem TestDaF Anwendung; hier wird der Testteil „Schriftlicher Ausdruck“ anhand diverser Kriterien wie „Sind die Sätze im Text miteinander verbunden, d. h. ist der Text kohärent? “ (http: / / www.testdaf.de/ ) durch den Prüfer bewertet. Werden Lernerkorpora analysiert, liefern notierte Metadaten Deutungsmöglichkeiten zu Hintergründen und Ursachen für bestimmte Auffälligkeiten. Für die korpusbasierte Sprachbeschreibung können z. B. die Häufigkeit der Verwendung bestimmter Lemmata, Konstruktionen oder grammatischer Formen oder die Textlänge in Abhängigkeit von Faktoren wie Lerndauer, Alter, Sprachlernerfahrung, Mehrsprachigkeit, Kursart, Sprachumgebung usw. in Bezug auf das Sprachenlernen und Sprachverhalten im Alltag analysiert werden (s. Kap. 5 . 3 . 9 ). Lernerkorpora können mit verschiedenen Methoden ausgewertet werden. So sind z. B. Fehleranalysen und gesprächsanalytische Untersuchungen möglich. Neben qualitativen Beschreibungen von Lernersprachen bieten Korpusanalysen Möglichkeiten der quantitativen Untersuchung, z. B. durch den statistischen Vergleich von Lernerdaten mit erstsprachlichen Vergleichsdaten. So zeigt Nesselhauf ( 2005 ) in ihrer lernerkorpuslinguistischen Studie, in welchen Bereichen fortgeschrittene deutsche Lerner des Englischen im Kollokationsgebrauch noch deutlich von Erstsprachlern abweichen. 4 Erforschung von Lernersprache - Perspektiven Um ein ganzheitliches Bild der Entwicklung von Lernersprache zu erhalten, ist es notwendig, über Fehleranalysen und eine Konzentration auf interlingualen Transfer hinauszugehen (Selinker 1992 ). Auch die Prozesshaftigkeit der Lernersprachenentwicklung muss stärkere Beachtung finden. Ebenfalls unklar ist, in welchen Situationen und in welchem Ausmaß interlingualer Transfer auftritt und wann sowie von welchen Lernenden bestimmte kognitive Prozesse in den Lernprozess eingehen. Hierbei würden grundlegende sprachlernbiographische Daten (vorgelernte Sprachen, Umfang des erhaltenen Fremdsprachenunterrichts, Qualität und Quantität des Zielsprachenkontakts u. v. m.) das Wissen über Lernersprache deutlich vergrößern. Die Entstehung weit verbreiteter Korpora mit authentischer Sprache und die rasante Entwicklung der digitalen Medien eröffnen völlig neue Perspektiven für die Analyse von Lernersprache (vgl. Rösler 2020 ). Technologien wie keystroke logging - und screen-capture- Programme oder Smart Pens , die den Schreibprozess in allen Schritten aufnehmen und digitalisieren, geben viel besser Einsicht in die Textproduktion; Diktierprogramme 328 5. Forschungsverfahren ermöglichen die schnelle Erstellung und Transkription umfangreicher mündlicher Korpora. Welchen Zugang man für die Analyse lernersprachlicher Äußerungen wählt, hängt jedoch letztendlich vom Erkenntnisinteresse und von der spezifischen Forschungsfrage ab. › Literatur Forschungsarbeiten, in denen die hier erläuterten Verfahren angewendet werden, sind mit einem Sternchen markiert. Ahrenholz, Bernt (2014). Lernersprachenanalyse. In: Settinieri, Julia et al. (Hg.), 167-181. *Baur, Rupprecht S./ Nickel, Aneta (2009). „Man kann doch sowieso merken, dass wir nicht Deutsch bin“. Phonetische Analysen am ESA-Korpus. In: Ahrenholz, Bernt (Hg.). Empirische Befunde zu DaZ-Erwerb und Sprachförderung. Beiträge aus dem 3 . Workshop Kinder mit Migrationshintergrund. Freiburg i.Br.: Fillibach, 313-331. Europarat (Hg.) (2001). Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen für Sprachen: lernen, lehren, beurteilen. Berlin: Langenscheidt. *Clahsen, Harald/ Meisel, Jürgen M./ Pienemann, Manfred (1983). Deutsch als Zweitsprache. Der Spracherwerb ausländischer Arbeiter. 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Eine Interventionsstudie zur Wirksamkeit sprachlich unterschiedlich profilierter Schreibarrangements im Deutschunterricht auf die Textqualität in der Familiensprache Türkisch bei bilingualen Schülerinnen und Schülern der Sekundarstufe I . Diss., Universität Bremen. Wulff, Stefanie/ Gries, Stefan Thomas (2011). Corpus-driven methods for assessing accuracy in learner production. In: Robinson, Peter (Hg.). Second Language Task Complexity. Researching the Cognition Hypothesis of Language Learning and Performance . Amsterdam: John Benjamins, 61 - 87 . Zhao, Yuqin/ Song, Li/ Cherrington, Ruth (2013). Interlanguage. In: Byram, Michael/ Hu, Adelheid (Hg.). Routledge Encyclopedia of Language Teaching and Learning. London: Routledge, 357-359. » Zur Vertiefung empfohlen Ahrenholz, Bernt (2014). Lernersprachenanalyse. In: Settinieri, Julia/ Demirkaya, Sevilen/ Feldmeier, Alexis/ Gültekin-Karakoç, Nazan/ Riemer, Claudia (Hg.). Empirische Forschungsmethoden für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Paderborn: Schöningh, 167-181. Der Handbuchartikel skizziert Bereiche sprachlichen Wissens, erläutert Faktoren der lernersprachlichen Entwicklung, diskutiert Fragen der Datenerhebung und -interpretation. Die Analyse gesprochener Lernersprache wird am Beispiel einer mündlichen Erzählung zu der Bilderfolge Cat Story veranschaulicht. Konkrete Übungen zur Lernersprachenanalyse und Lösungsvorschläge erleichtern den Einstieg in diese Thematik. Selinker, Larry (1992). Rediscovering interlanguage. London: Longman. Die Monographie ist ein umfangreicher und gut lesbarer Überblick zur Entstehung und (Weiter-) Entwicklung des Konzepts Lernersprache und zu seinen forschungsmethodischen Perspektiven. Sie geht auf die unterschiedlichen theoretischen Richtungen, die sich mit Lernersprache auseinandersetzen, sowie auf die daraus entstandenen Kontroversen, Erweiterungen und Verzahnungen mit neueren Forschungsergebnissen ein. 330 5. Forschungsverfahren 5.3.9 Korpusanalyse Cordula Meißner/ Daisy Lange/ Christian Fandrych 1 Begriffsklärung Die empirische Auseinandersetzung mit Korpusdaten ist für die eher anwendungsorientierten Disziplinen der Fremdsprachenerwerbsforschung mittlerweile unerlässlich. Untersuchungen auf der Basis breiter Datenkollektionen können dabei in linguistischen, didaktischen, kulturwissenschaftlichen, soziologischen sowie weiteren verwandten Kontexten angesiedelt und mit je spezifischen Fragestellungen verbunden sein. In der Fremdsprachenerwerbsforschung werden Korpora einerseits zum Zweck linguistischer Beschreibungen herangezogen, insbesondere, um Regelmäßigkeiten und Gebrauchsmuster einer Sprache (auch kontrastierend) zu ermitteln oder auch Lernersprache selbst im Hinblick auf verschiedene Aspekte der Sprachverwendung und Kompetenzentwicklung zu analysieren. Andererseits kommen Korpora u. a. in der Lehrmaterial- und Curriculaentwicklung, der Testwissenschaft, der empirischen Unterrichtsforschung sowie als Unterrichtsmedium selbst zur Anwendung. Das folgende Kapitel stellt zentrale Begriffe und Methoden der Korpusanalyse vor und verweist auf entsprechende Analysewerkzeuge. Die Verwendung des Korpusbegriffs ist in den Kontexten linguistischer und didaktischer Forschung nicht immer sehr einheitlich. Man kann Sammlungen von Sprachressourcen bezüglich vielerlei Kriterien voneinander unterscheiden. Auswahl und Zuschnitt solcher Sprachdatensammlungen sollten in erster Linie in Hinblick auf die Erfordernisse des spezifischen Untersuchungsgegenstandes und der konkreten Forschungsfrage(n) erfolgen. Der hier zu Grunde gelegte Korpusbegriff orientiert sich an der in der Korpuslinguistik etablierten und allgemein akzeptierten Definition, welche Korpora als größere, zu einem bestimmten Zweck zusammengestellte Sammlungen authentischer schriftlicher Texte oder gesprochener Äußerungen versteht, die digitalisiert vorliegen und somit elektronisch durchsuchbar sind (Lüdeling/ Walter 2010 : 315 ). Unterschieden werden Korpustypen u. a. nach dem Verwendungszweck (Referenzkorpora, Spezialkorpora, Vergleichskorpora, Parallelkorpora, Lernerkorpora), dem Medium (Textkorpora, Korpora mündlicher Sprachdaten, multimodale Korpora) oder der Entstehungszeit ihrer Texte (Korpora der Gegenwartssprache vs. Korpora historischer Sprachstufen). Von besonderem Interesse für die Fremdsprachenerwerbsforschung und -didaktik sind Korpora, die geschriebene (z. B. das ICLE 37 ) oder gesprochene Lernerbzw. L 2 -Daten enthalten (z. B. das GeWiss- Korpus 38 ), und die gelegentlich sogar die Kennzeichnung und Klassifizierung von Fehlern beinhalten (z. B. Falko 39 ). In Verbindung mit kontrastiven Analysen können solche Korpora Aufschlüsse über Lernstadien, -schwierigkeiten oder Erwerbshierarchien geben (ausführlicher zu Lernerkorpora und ihrem Einsatz in der Fremdsprachenerwerbs- und 37 International Corpus of Learner English, https: / / uclouvain.be/ en/ research-institutes/ ilc/ cecl/ icle.html ( 08 . 02 . 2021 ). 38 Gesprochene Wissenschaftssprache kontrastiv, https: / / gewiss.uni-leipzig.de/ ( 08 . 02 . 2021 ). 39 Fehlerannotiertes Lernerkorpus, https: / / www.linguistik.hu-berlin.de/ institut/ professuren/ korpuslinguistik/ forschung/ falko ( 08 . 02 . 2021 ). 5.3.9 Korpusanalyse 331 didaktischen Forschung vgl. Granger/ Gilquin/ Meunier 2015 , Lüdeling 2007 ) 40 . Lemnitzer/ Zinsmeister ( 2015 : 137 - 156 ) sowie Scherer ( 2014 : 16 - 31 ) bieten in ihren Einführungen zur Korpuslinguistik jeweils sowohl einen Überblick über verschiedene Korpustypen als auch eine Auflistung entsprechender international zur Verfügung stehender Korpora. Bei der Beurteilung der Eignung eines Korpus für eine bestimmte Untersuchung sind zudem Kriterien wie Zugänglichkeit und Funktionalitäten, die integrierten Sprachen oder Varietäten, die Korpusgröße und -persistenz (statische oder dynamische Korpora) sowie die Ausgewogenheit bzw. Heterogenität der Korpusdaten zu beachten (vgl. Lemnitzer/ Zinsmeister 2015 : 137 - 142 ). Für die Auswertung von Korpusdaten gilt, dass alles such- und analysierbar ist, was kodiert ist (Lüdeling/ Walter 2010 : 316 ). Dies umfasst neben den Primärdaten wie den Originaltexten oder -kommunikationen (als Audio- oder Videosequenzen) auch Sekundär- und Metadaten. Für die Analyse gesprochener Sprache unentbehrlich sind Sekundärdaten in Form von Transkripten, d. h. Verschriftungen von Audio- oder Videoaufzeichnungen nach zuvor festgelegten Konventionen. Metadaten umfassen beschreibende Angaben zur Korpusentstehung, den Korpusinhalten sowie zu bestimmten Korpusmerkmalen. Sie ermöglichen Vergleiche im Hinblick auf bestimmte Charakteristika der Kommunikationen bzw. Texte und der Sprecher bzw. Autoren. Für spezifischere Analysezwecke können zusätzliche Beschreibungsebenen in Form von Annotationen notwendig sein. Annotationen sind vorab festgelegte oder induktiv durch die Analyse des Datenmaterials gewonnene Kategorien, mit denen dieses nachträglich ausgezeichnet wird. Sie ermöglichen es, die Daten nach den entsprechenden Kategorien zu systematisieren und quantitativ wie qualitativ zu untersuchen. 2 Methoden der Korpusanalyse Im Kern beinhaltet das korpusanalytische Vorgehen das elektronisch gestützte, z. T. automatische Durchsuchen, Sortieren, Zählen, Vergleichen und Interpretieren (größerer Mengen) von sprachlichen Rohbzw. transkribierten oder durch Annotation aufbereiteten Daten. Entsprechende Analyseschritte können sowohl im Rahmen eines induktiven als auch eines deduktiven Ansatzes Anwendung finden. Während theoriegeleitet ( theory-driven ) die Korpusdaten nach dem Raster vordefinierter Kategorien auswertet werden, gewinnt man beim datengeleiteten Vorgehen ( corpus-driven ) erst induktiv aus der Sichtung der Daten (vgl. Tognini-Bonelli 2001 ) die Analysekategorien. Für das korpusgesteuerte Vorgehen stellt das Korpus somit die Grundlage dar, von der ausgehend die Beschreibungseinheiten formuliert und Gebrauchsregelmäßigkeiten beschrieben werden (Steyer/ Lauer 2007 : 493 ). Eine solche Herangehensweise will vermeiden, nur die Daten zu erfassen, die mit zuvor festgelegten Kategorien vereinbar sind (Bubenhofer 2009 : 101 ). Datengeleitet-induktives und deduktives Vorgehen können ergänzend ineinandergreifen: Aus Beschreibungskategorien, die datengeleitet ermittelt wurden, lassen sich Hypothesen ableiten, die wiederum an den Korpusdaten überprüft werden können (vgl. Steyer/ Lauer 2007 ). 40 Unter https: / / uclouvain.be/ en/ research-institutes/ ilc/ cecl/ learner-corpus-bibliography.html ( 08 . 02 . 2021 ). ist eine umfangreiche Bibliographie zu Studien und methodischen Arbeiten im Zusammenhang mit Lernerkorpora (vorrangig im Bezug zum Englischen als Fremdsprache) abrufbar. 332 5. Forschungsverfahren Im Hinblick auf die fremdsprachendidaktische Forschung findet die Korpusanalyse als Methode Anwendung u. a. zur empirischen Absicherung curricularer Entscheidungen, indem etwa aus Korpora ermittelte Häufigkeiten sprachlicher Strukturen als Kriterium zur Auswahl von Lern- und Lehrinhalten herangezogen werden (Schlüter 2002 ; Tesch 2000 ). Darüber hinaus sind Korpora in der Sprachausbildung für stark ausdifferenzierte berufliche bzw. fachliche Bereiche von großer Bedeutung, da sie hier eine bedarfsgerechte Ermittlung curricularer Inhalte ermöglichen. Korpusanalytisches Vorgehen bildet darüber hinaus die Grundlage der korpusbasierten Lehrwerksanalyse (vgl. z. B. Niederhaus 2011 ) und findet Verwendung im Bereich der Spracherwerbsforschung, bspw. in kontrastiven Untersuchungen von Lerner- und Zielsprachen (vgl. Zeldes/ Lüdeling/ Hirschmann 2008 ; Granger/ Paquot 2009 ) und zur Korrelation von grammatischer Korrektheit und Niveaustufen (vgl. Wisniewski 2018 ). Die im Folgenden vorgenommene Unterteilung in quantifizierende Analysemethoden einerseits und qualitative, beschreibend-deutende Herangehensweisen andererseits dient der Übersichtlichkeit der Darstellung, findet sich jedoch in der Forschungspraxis nicht in derart strikter Form. Auch in scheinbar rein quantitative Untersuchungen fließen qualitative Verfahren und Entscheidungen ein. So geht einer quantifizierenden Analyse stets eine qualitative Kategorisierungsentscheidung im Bezug auf die gezählten Einheiten voraus (vgl. Lüdeling 2007 ). Das qualitative Sichten von Einzelbelegen ist zudem unverzichtbarer Bestandteil zur Validierung von quantitativen Analysen, welche zumeist auf der Formebene ansetzen (müssen) und semantisch begründete Ambiguitäten (Homonymie, Polysemie und kontextspezifische Bedeutungsvarianten) systematisch ausblenden. Vor diesem Hintergrund ist zu betonen, dass die in den folgenden Abschnitten Quantitative Methoden und Qualitative Methoden dargestellten Analyseschritte in der Praxis integrativ Anwendung finden bzw. entsprechend reflektiert werden sollten. Quantitative Methoden Grundlage quantitativer korpusanalytischer Methoden ist das Zählen von Einheiten. In Korpora können verschiedene Größen gezählt werden, so etwa die laufenden Wörter, also alle einzelnen Wortformenvorkommen ( token ) oder alle unterschiedlichen Wörter unter Zusammenfassung gleicher Wortformen ( types ), daneben aber auch etwa häufige Wortkombinationen. Zu beachten ist hierbei, dass die Zählung rein formbasiert erfolgt und homonyme Formen zu fehlerhaften Ergebnissen führen. Eine Aufbereitung der Korpusdaten durch Wortartenannotation und Lemmatisierung ermöglicht es, neben den grammatisch desambiguierten Wortformen auch Lemmata zu zählen. Hierbei kann jedoch vor allem eine kombinierte Auswertung aufschlussreich sein, da sich relevante Unterschiede etwa in Lernerproduktionen auch auf spezifische Wortformen beziehen können (vgl. z. B. die Ergebnisse von Granger/ Paquot 2009 ). Ein Vorgehen im Sinne einer quantitativen Korpusanalyse bedeutet, den Untersuchungsgegenstand in suchbarer und auszählbarer Form zu operationalisieren und dabei theoretische Konzepte in empirische Häufigkeiten zu übersetzen. Die Fragestellung wird dabei so formuliert, dass die Häufigkeit, welche im Korpus unter den in Frage stehenden Bedingungen ermittelt wird, die abhängige Variable darstellt (vgl. Stefanowitsch 2005 ). 5.3.9 Korpusanalyse 333 Ein Beispiel soll diesen Ansatz verdeutlichen: Zeldes/ Lüdeling/ Hirschmann ( 2008 ) untersuchen, welche Strukturen für den Erwerb des Deutschen als Fremdsprache als schwierig anzusehen sind, indem sie in vergleichbaren wortartenannotierten Erstsprachler- und Lernerkorpora die Vorkommenshäufigkeit aller Wortformentypes und Wortartentag-Abfolgen auszählen. Sie operationalisieren die Schwierigkeit im Erwerb einer Struktur über Abweichungen in der Gebrauchshäufigkeit bei Lernern und Erstsprachlern und interpretieren die in den Lernertexten signifikant mindergebrauchten Einheiten bzw. Strukturen als Bereiche von Erwerbsschwierigkeiten. Zur Durchführung quantitativer Korpusanalysen stehen zahlreiche Softwarewerkzeuge zur Verfügung (vgl. Wiechmann/ Fuhs 2006 für einen Überblick). Ihre Anwendung erfolgt in der Regel lokal auf dem Computer des Forschers und setzt voraus, dass das zu untersuchende Korpus ebenfalls lokal zur Verfügung steht. Große öffentlich zugängliche Korpora wie etwa DeReKo Deutsches Referenzkorpus / DGD Datenbank für Gesprochenes Deutsch , DWDS Das Digitale Wörterbuch der Deutschen Sprache (für das Deutsche) oder BNC British National Corpus , VOICE Vienna-Oxford International Corpus of English , (für das Englische) sind hingegen oft nur online verfügbar. Die Analysemöglichkeiten sind dann auf das beschränkt, was die Weboberfläche des Korpusbetreibers anbietet (dies umfasst oft vor allem unterschiedlich umfangreiche Konkordanzsuchen). Im Folgenden werden grundlegende Werkzeuge der quantitativen Korpusanalyse vorgestellt, mit denen sich Textsammlungen in ihrer Gesamtheit charakterisieren lassen (Wortlisten, Schlüsselwortanalysen, N-Gramme, Type-Token-Verhältnis), sowie solche, die auf die quantitative Analyse ausgewählter Einheiten abzielen (Quantitative Konkordanzsuche, Kookkurrenzanalyse, vgl. zu den Suchinterfaces großer Korpora des Deutschen Hirschmann 2019 : 156 - 172 ). Methoden zur quantitativen Korpusbeschreibung Wortlisten: Um eine Textsammlung quantitativ zu charakterisieren, bieten Wortlisten eine erste Zugriffsmöglichkeit, d. h. Listen aller im Korpus auftretenden Wortformen mit Angabe der Häufigkeit ihres Vorkommens. Sie können für den durch die Korpuszusammenstellung repräsentierten Sprachverwendungsbereich Aufschluss über frequente und weniger frequente Einheiten geben und so etwa bei der Bestimmung von Lernwortschätzen zu Rate gezogen werden. Entscheidend für die Bewertung von Wortlisten ist die der Zählung zugrunde gelegte Wort-Definition, in die u. a. Entscheidungen bzgl. der Art der Grenzmarkierung oder hinsichtlich der Beachtung der Großschreibung einfließen. Bspw. würde die Beachtung der Großschreibung in deutschen Sprachdaten dazu führen, dass Wortvorkommen an Satzanfängen anders behandelt werden als im Satz. Eine Wortdefinition, die Leerzeichen als Grenzsymbole zugrunde legt, würde z. B. bei englischen Daten mit Spatien innerhalb von Komposita dazu führen, dass die Kompositumsbestandteile jeweils separat gezählt werden. Es ist daher zu beachten, wie die Parameter der Wortdefinition in der Korpusanalysesoftware voreingestellt sind bzw. wie sie für die eigene Untersuchung gewählt werden. Unabhängig von der konkreten Korpuszusammensetzung werden in Wortlisten immer wenige hoch- und viele niedrigfrequente Einheiten erscheinen (vgl. Baroni 2009 ). Die häufigen Einheiten umfassen dabei i. d. R. Funktionswörter. Neben der 334 5. Forschungsverfahren frequenzbezogenen Sortierung bietet Korpusanalysesoftware für Wortlisten oft auch eine alphabetische sowie eine rückläufige Sortierungsoption an, welche es ermöglichen, gezielt bspw. verschiedene Wortbildungstypen zu untersuchen. Der über frequenzbasierte Wortlisten ermittelte häufigste Wortschatz wird etwa zur Bestimmung von Grund- und Aufbauwortschätzen herangezogen (vgl. Tschirner 2005 ). Keyword-Analyse: Neben den häufigsten Wörtern eines Korpus können diejenigen von Interesse sein, die es von vergleichsrelevanten anderen Textsammlungen unterscheiden. Solche Wörter lassen sich mittels Keyword-Analysen ermitteln. Die Schlüsselwörter ( key words ) eines Textes oder einer Textsammlung sind jene, die signifikant häufiger auftreten, als aufgrund ihrer Vorkommenshäufigkeit in einem Referenzkorpus zu erwarten wäre. Grundlage ist dabei der Vergleich der Wortliste des untersuchten Korpus mit der Wortliste eines Referenzkorpus: Bei der statistischen Ermittlung wird für jedes Wort des Spezialkorpus (z. B. akademische Lehrbuchtexte verschiedener Fächer) die Häufigkeit bestimmt und mittels Signifikanztest mit der Häufigkeit der Wörter in einem Referenzkorpus (z. B. einem gemeinsprachlichen Korpus) verglichen. Lassen sich signifikante Unterschiede feststellen, handelt es sich um Schlüsselwörter des Spezialkorpus, im Beispiel also um Einheiten, die typisch für akademische Lehrbuchtexte sind. Durch Schlüsselwortanalysen lässt sich der inhaltlich und stilistisch charakteristische Wortschatz eines Sprachverwendungsbereichs bestimmen. Zu beachten ist hierbei, dass die Aussagekraft einer Keyword-Analyse stark davon abhängt, wie geeignet und ausgewogen das verwendete Referenzkorpus ist. Schlüsselwortanalysen können bspw. bei der Ermittlung domänenspezifischer Wortschätze zur Anwendung kommen. So zieht Paquot ( 2007 ) keyness als ein grundlegendes Kriterium heran, um eine produktionsorientierte Wortliste des akademischen Englisch zu erstellen. Sie ermittelt hierzu die Schlüsselwörter eines Korpus akademischer Texte im Vergleich zu einem belletristischen Korpus, aus welchen sie dann nach Häufigkeits- und Verbreitungskriterien die Einheiten ihrer Wortschatzliste gewinnt. Häufige Wortfolgen: Neben den prominenten Einzelwörtern eines Korpus können seine häufigsten Type-Verbindungen oder N-Gramme (N steht für die Anzahl der Types) ermittelt werden. Biber/ Conrad/ Cortes ( 2004 ) charakterisieren mit Hilfe dieses Maßes kontrastiv den mündlichen und schriftlichen Sprachgebrauch in der akademischen Lehre. Type-Token-Verhältnis: Der Type-Token Quotient (engl. type-token ratio , kurz TTR ) ist ein Maß zur Beschreibung der Wortschatzvarianz bzw. lexikalischen Vielfalt. Zu seiner Berechnung wird die Anzahl der Types eines Textes oder einer Textsammlung durch die Anzahl der Tokens geteilt. Je näher der Quotient bei 1 liegt, desto größer die lexikalische Vielfalt. Das Maß findet u. a. Anwendung zur Einschätzung des Schwierigkeitsgrades von Texten oder zur Beschreibung des Wortschatzreichtums von Lernertexten, anhand dessen die lexikalische Kompetenz der Schreibenden eingeschätzt werden kann. Zu beachten ist bei der Verwendung des TTR einerseits dessen starke Abhängigkeit von der Textlänge, zum anderen sein rein quantitativer Charakter, welcher die Art der gezählten Wörter unberücksichtigt lässt. Soll in einer Untersuchung etwas über die Sprachkompetenz eines Lerners ausgesagt werden, ist nicht nur die Anzahl verwendeter Types relevant, sondern etwa auch, ob es sich hierbei um Einheiten des Grundwortschatzes handelt oder um spezifischere, niedrigfrequentere Einheiten fortgeschrittener Sprachstände (vgl. Daller/ van Hout/ Treffers-Daller 2003 für eine diesbezügliche Diskussion des TTR ). 5.3.9 Korpusanalyse 335 Methoden zur quantitativen Beschreibung ausgewählter Einheiten in Korpora Quantitative Konkordanzsuche: Der einfachste Weg, die Häufigkeit einer untersuchten Einheit zu ermitteln, ist die Konkordanzsuche. Nach Eingabe des Suchbegriffs oder der komplexen Suchanfrage erhält man die Anzahl aller Treffer im Korpus und die zugehörigen Belege, die anschließend auf mögliche Fehltreffer geprüft werden sollten. Im Normalfall wird die Konkordanzsuche als Wortformensuche ausgeführt, d. h. bei flektierenden Wortarten sind ggf. alle einzelnen Wortformen einzugeben, die gefunden werden sollen. Die Suche nach Lemmata setzt ein diesbezüglich annotiertes Korpus voraus (z. B. bietet das DWDS eine solche lemmabezogene Abfrage an). Im Abschnitt Qualitative Methoden wird ausführlich auf die Arbeit mit Konkordanzsuchen eingegangen. Kookkurrenzanalyse: Die mit einer untersuchten Einheit typischerweise gemeinsam auftretenden Wörter lassen sich über statistische Zusammenhangsmaße in der Kookkurrenzanalyse ermitteln. Zur Berechnung von Kookkurrenzen bzw. Kollokationen im empirisch-statistischen Sinn sind Entscheidungen hinsichtlich der Spanne zu treffen, in welcher die Kookkurrenzpartner vom Suchwort rechts oder links entfernt auftreten können ( collocational span ). Neben der Festlegung des Abstandes ist die Wahl des statistischen Zusammenhangsmaßes von Einfluss auf die ermittelten Kookkurrenzen. Während auf die Stärke der Kookkurrenz abzielende Maße wie Mutual Information ( MI ) niedrigfrequente Wörter mit beschränkter Kombinationsfähigkeit übergewichten, erhalten bei den auf die Sicherheit der Kookkurrenz abzielenden Signifikanzmaßen wie dem t-Wert höherfrequente Wörter mit vielen Belegen für die fragliche Kombination eine stärkere Gewichtung ( MI gibt daher eher Auskunft über das lexikalisch/ idiomatische Verhalten eines Wortes, der t-Wert eher über sein grammatisches, vgl. Hunston 2002 : 74 ). Analog zu der beschriebenen Ermittlung von Assoziationen zwischen Worttypes lassen sich in entsprechend aufbereiteten Datensammlungen auch Kookkurenzen von einzelnen Wörtern bzw. Lexemen und grammatischen Strukturen errechnen, wie dies etwa unter dem Begriff der Collostructional Analysis verfolgt wird (vgl. Stefanowitsch/ Gries 2009 ). Mittels statistischer Kookkurrenzanalysen können für Fremdsprachenlernende wichtige Einblicke in die Verwendungstypik sprachlicher Ausdrücke gewonnen werden. Über die korpuslinguistisch ermittelten Kookkurrenzpartner lässt sich so bspw. eine inhaltliche Differenzierung von Synonymen vornehmen oder die semantische Prosodie eines Ausdrucks, d. h. eine ihm aus wiederkehrenden Gebrauchsumgebungen zuwachsende konnotative Bedeutung, erfassen (vgl. Hunston 2002 ). Qualitative Methoden Vorwiegend qualitativ ausgerichtete Korpusanalysen verfolgen das Ziel, bestimmte in den Korpusdaten abgebildete (sprachliche) Phänomene zunächst zu ermitteln, sie zu klassifizieren, einzuordnen und zu interpretieren (Scherer 2014 : 37 ). Konkret kann die qualitative Arbeit mit Korpusdaten dazu dienen, die Komplexität sprachlicher Phänomene zu erforschen, Regelmäßigkeiten und Muster im Sprachgebrauch zu erkennen, diese mit anderen Daten zu vergleichen, aber auch Kategorien zur Aufbereitung des Korpus aufzustellen und diese in weiterführenden (mitunter auch frequenzorientierten) Analysen anzuwenden. Anders als bei der Analyse von vom Kontext abstrahierten sprachlichen Einheiten 336 5. Forschungsverfahren in quantitativen Untersuchungen liegen qualitativen Auswertungen von Korpora meist umfangreichere Belegausschnitte zu Grunde. Der konkrete Verwendungskontext einer sprachlichen Einheit dient den Forschenden dazu, zu erkennen, wie in bestimmten Beispielen Bedeutungen generiert und welche Lesarten aktualisiert werden (Wynne 2008 : 711 ). Die explorativ-interpretative Arbeit mit Korpusdaten bedient sich einer Anzahl an Methoden, die nicht ausschließlich korpuslinguistisch im engeren Sinn orientiert sein müssen. Im Folgenden sollen einige dieser Methoden benannt und im Hinblick auf verschiedene Anwendungsfelder diskutiert werden. Methoden qualitativer Korpusanalyse auf Grundlage von Volltexten Volltexte können einerseits einer ersten Orientierung hinsichtlich des Untersuchungsgegenstandes dienen, im Rahmen derer Hypothesen generiert werden. Andererseits lassen sich an kompletten Texten eines bestimmten Genres oder bestimmter Varietäten, einer spezifischen Sprecher- oder Autorengruppe Charakteristika herausarbeiten, klassifizieren und/ oder mit denen anderer Texttypen oder Sprachnutzer vergleichen. Methoden der Text-, Diskurs- oder Konversationsanalyse können im Rahmen von Bedarfsanalysen, kontrastiven Untersuchungen (vgl. Schmied 2009 ), u. a. zu Lernersprache, oder im Hinblick auf die Erstellung von Curricula oder Lehrmaterialien zur Anwendung kommen. Abgesehen von Untersuchungen zu rein sprachlichen und textuellen Aspekten können je nach Art der Daten aber auch konkrete Inhalte der in den Korpora verfügbaren Texte von Relevanz sein, denen methodisch auf vielfältige Weise nachgegangen werden kann (vgl. hierzu Kap. 5 . 3 . 3 - 5 . 3 . 7 ). Das Sichten vollständiger Texte und Kommunikationen ist häufig Ausgangspunkt für die explorative Erarbeitung von Kategorisierungen für spätere Analysestufen. Ein hermeneutisches Vorgehen bezüglich der manuellen Identifikation und Klassifizierung bestimmter in den Daten abgebildeter Phänomene sowie die rückwirkende und prüfende Anwendung dieser Klassen auf die Datensamples sollte in nachvollziehbaren induktiven und deduktiven Zyklen erfolgen und nach Möglichkeit durch weitere Forscherpersonen validiert werden (vgl. Lüdeling 2007 : 38 - 39 ). Die aus den Auswertungsprozessen gewonnenen Kategorien lassen sich schließlich als Annotationen in das Datenkorpus einbinden und sind insbesondere für diejenigen Untersuchungsaspekte nötig, für die es entsprechende empirisch gewonnene Kategorien oder Standards nicht gibt. Für einzelne Beschreibungsebenen stehen bereits erprobte Tagsets zur Verfügung, an denen sich die manuelle Annotation orientieren kann und die für die jeweiligen Datensamples adaptiert werden können, so zum Beispiel das Stuttgart-Tübingen-TagSet ( STTS ) für die Wortartenannotation ( POS -Tagging ). Für die technische Integration induktiv erarbeiteter Annotationen können neben speziell in der Korpuslinguistik genutzten Werkzeugen wie @nnotate 41 oder dem Annotation-Panel des EXMAR a LDA -Partitureditors auch verschiedene QDA -Tools ( Qualitative Data Analysis ) verwendet werden, sofern die zur Verfügung stehenden Korpora das Herunterladen ganzer Texte zur Weiterverarbeitung zulassen. Verfügbare Tools zur 41 http: / / www.coli.uni-saarland.de/ projects/ sfb 378 / negra-corpus/ annotate.html ( 08.02.2021) . 5.3.9 Korpusanalyse 337 (halb-)automatischen Annotation sind zum Beispiel der TreeTagger 42 oder WebAnno 43 , das im Rahmen der CLARIN -Initiative 44 aufgebaut wurde. Bei der Nutzung derartiger Werkzeuge ist zu beachten, dass die automatisch annotierten Daten einer manuellen Qualitätsüberprüfung unterzogen werden sollten, da insbesondere im Hinblick auf Ambiguitäten bestimmter Wortformen unzuverlässige Kategorisierungen erfolgen können (vgl. hierzu auch die Hinweise von Lüdeling 2007 : 32 ). Bei der Auswahl der Annotationssoftware sollte berücksichtigt werden, ob eine elektronische Weiterverarbeitung oder Verfügbarmachung für weitere Analyseschritte, ggf. mit zusätzlichen Such- oder Analysewerkzeugen, gewährleistet bleibt. Für die Fremdsprachenerwerbsforschung hat sich die Analyse und Beschreibung von Lernersprache und damit im Zusammenhang auch die Annotation von Fehlern als äußerst fruchtbar erwiesen (vgl. Granger/ Gilquin/ Meunier 2015 ). Das Lernerkorpus Falko stellt fehlerannotierte Lernertexte für Analysen frei zur Verfügung (zu Prinzipien und Problemen im Zusammenhang mit Fehlerannotation vgl. Lüdeling 2007 ). Im Hinblick auf die Erforschung von Transfers und Interferenzen, von Fehlerursachen, der Lernprogression und zur Ermittlung von potenziellen Problemen für bestimmte Lernergruppen ist zudem der Vergleich zu Sprachstrukturen der jeweiligen Erstsprachen mittels entsprechender Parallelkorpora oder (multilingualer) Vergleichskorpora notwendig (vgl. auch Römer 2008 : 117 ). Lernertexte und deren Analyse lassen sich darüber hinaus auch als Mittel der Sprachsensibilisierung und -förderung nutzen. So zeigt Mukherjee ( 2006 ), wie die Fehleranalyse englischsprachiger Lernertexte von deutschen Schülern zur motivierenden und konstruktiven Auseinandersetzung mit der Fremdsprache beitragen kann (vgl. dazu auch Römer 2008 : 121 ). Methoden qualitativer Korpusanalyse auf Grundlage von Konkordanzsuchen Konkordanzen sind im Rahmen qualitativ orientierter Korpusanalysen eine häufig genutzte Visualisierungsform, über die eine Analysegrundlage zusammengetragen und ggf. spezifiziert werden kann. Sie dienen beispielsweise der Untersuchung von Mustern und paradigmatischen Beziehungen, die sprachliche Einheiten im Sprachsystem eingehen können. Konkordanzwerkzeuge umfassen die Suchmöglichkeit nach Wörtern, Wortverbindungen und Annotationen. Die Ergebnisansicht erfolgt tabellarisch als Keyword-in- Context -Darstellung ( KWIC- Konkordanz), d. h. Belege des Suchausdrucks werden mit einer definierten Anzahl der sie umgebenden Wörter angezeigt (vgl. Abb. 1 ). Online abruf- und analysierbare Korpora wie FOLK (über die DGD 45 ), GeWiss, MICASE , das BNC u. a. bieten ein implementiertes Werkzeug für solche Konkordanzsuchen an. Für die Arbeit mit eigens erstellten oder unveröffentlichten Korpora stehen zahlreiche Tools zur Verfügung (vgl. Wiechmann/ Fuhs 2006 und 2 . 1 ). 42 http: / / www.cis.uni-muenchen.de/ ~schmid/ tools/ TreeTagger/ ( 08.02.2021 ). 43 https: / / webanno.github.io ( 08 . 02 . 2021 ). 44 https: / / www.clarin.eu/ content/ about ( 08.02.2021 ). 45 https: / / dgd.ids-mannheim.de ( 08 . 02 . 2021 ). 338 5. Forschungsverfahren 5.3.9 Korpusanalyse Korpustypen Referenz-, Spezial-, Vergleichs-, Parallel-, Lernerkorpora (nach Verwendungszweck) schriftliche Textkorpora, mündliche Sprachdaten, multimodale Korpora (nach Medium) Gegenwartssprache, historische Sprachstufen (nach Entstehungszeit) Korpus (ling.) größere, zweckgebunden zusammengestellte, digitalisierte Sammlungen authentischer schriftlicher und mündlicher Texte mit Metadaten und Annotationen z.B. ICLE, GeWiss, FALKO, COSMAS/ DGD ... elektronisch gestützte Analyse größerer Mengen von Sprachdaten Korpusanalysen Muster des Sprachgebrauchs beschreiben Kompetenzentwicklung analysieren induktiv ( corpus driven ) deduktiv ( theory driven ) types und tokens durchsuchen sortieren zählen vergleichen interpretieren Volltextsuche Inhaltsanalyse Tag-Set-Suche Konkordanzsuche Schlüsselwortanalysen Type-Token-Verhältnis Kookkurrenzanalyse © 2022 ⚫ Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 5.3.9 Korpusanalyse 339 Abbildung 1: Konkordanzansicht zum Suchwort „vermitteln“ in den deutschsprachigen Korpora des GeWiss- Korpus Darüber hinaus bieten Konkordanztools weitere Optionen zur Aufbereitung der Ergebnisse für eine eingehendere Analyse. Im Hinblick auf qualitativ bearbeitbare Forschungsfragen gehört hierzu die Erweiterung der Konkordanz um zusätzliche Angaben wie Metadaten oder Annotationen, die Möglichkeit des manuellen An- und Abwählens von Belegen, das Filtern der Ergebnisse nach bestimmten Kriterien, das Sortieren sowohl des Kontextes als auch anderer hinzugewählter Parameter, sowie das Exportieren der Belege, um die lokale Weiterverarbeitung mit Hilfe anderer Programme zu gewährleisten (detaillierter zu den einzelnen Operationen vgl. z. B. Wynne 2008 ). Diese Analyseoptionen erlauben es, relevante Belege in der Art auszuwählen, anzuordnen und zu reduzieren, wie es für das Forschungsinteresse erforderlich ist und so die Grundlage für die interpretative Auseinandersetzung mit den Datensamples zu schaff en. 3 Potenzial korpusanalytischen Vorgehens Bisher ermöglichen die meist verwendeten Formen der Korpusaufbereitung und die gängigen korpusanalytischen Instrumente v. a. einen formorientierten Zugang zu Sprachdaten. Dadurch können zum einen Informationen zu bestimmten Arten von sprachbezogenen Daten (etwa Wortformen) sehr schnell und einfach abgerufen werden und in vielerlei Hinsicht für sprachdidaktische bzw. -forschungsbezogene Fragestellungen genutzt werden (bspw. allgemeine und domänenspezifi sche Wortschatzerhebung und Lexikographie, Fehleranalyse, Lernerwortschatz-Analyse, empirische Überprüfung von Vorkommen und Verwendung ausgewählter grammatisch-struktureller Phänomene). So können die genannten Phänomene (die Existenz geeigneter Korpora immer vorausgesetzt) auf einer sehr viel breiteren empirischen Basis untersucht und in ihrer didaktischen bzw. Spracherwerbsrelevanz eingeschätzt werden. Gleiches gilt für die Erstellung und Analyse von lernprozessbezogenen Korpora (wie etwa Korpora mit Unterrichtsvideographien). Andererseits besteht die Gefahr, dass Phänomene, die an der sprachlichen Oberfl äche nicht (direkt) ablesbar sind (bspw. komplexe semantische und pragmatische Phänomene wie etwa bestimmte sprachliche Handlungen und Handlungsverkettungen; Ambiguitäten verschiedener Art; stark interpretationsbedürftige Phänomene) dabei aus dem Blick geraten können. Hier gilt es, in den verschiedenen Forschungsfeldern umfangreiche qualitative Analysekategorien 340 5. Forschungsverfahren auf- und auszubauen, zu diskutieren und letztlich mit entsprechenden Annotationsverfahren zu verbinden, so dass derartige Phänomene auch anhand größerer Korpora untersucht werden können. Ähnliches gilt für die Dimensionen der Multimodalität (Gestik, Mimik, Proxemik) und Intonation in ihrem Zusammenspiel mit verbalem Handeln. Die Entwicklung entsprechender Analysekategorien und ihre kritische empirische Überprüfung und Weiterentwicklung ist nur möglich, wenn Korpora einer möglichst großen Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden - im Idealfall online, wobei im Einzelfall datenschutzrechtliche Fragen zu berücksichtigen sind (etwa bei videographierten Daten). Daneben ist es aus didaktischer wie auch aus forschungsmethodischer Sicht wünschenswert, nicht nur bzw. nicht in erster Linie den quantitativen, sondern auch und vor allem den qualitativen Ausbau der Korpora voranzutreiben. Dies betrifft etwa den systematischen Ausbau von Korpora gesprochener Sprache (vgl. Schmidt 2018 ), die Anlage von umfangreichen und konsistenten Korpus-Metadaten; die Annotation sowie den Ausbau der Bandbreite von relevanten sprachlichen Ereignissen, die in Korpora abgebildet werden. Daneben gilt es, Nutzungsbedürfnisse und Nutzungsverhalten von zentralen Nutzergruppen empirisch genauer zu erforschen (von Forschenden über Fremdsprachenlehrende bis hin zu den Lernenden) und auf dieser Grundlage flexible und nutzergerechte Korpusanalyse-Funktionalitäten zu schaffen 46 . Mit Sicherheit werden der weitere Ausbau von Korpora und die damit einhergehenden forschungsmethodischen Möglichkeiten, Wünsche und Probleme sowie die Bewertung der so erzielten Ergebnisse einen wichtigen Beitrag dazu leisten, dass forschungsmethodische Fragestellungen in der Fremdsprachendidaktik einen noch höheren Stellenwert einnehmen werden als dies bisher ohnehin schon der Fall war. › Literatur Forschungsarbeiten, in denen die hier erörterten Verfahren angewendet werden, sind mit einem Sternchen markiert. *Biber, Douglas/ Conrad, Susan/ Cortes, Viviana (2004). If you look at …: Lexical Bundles in University Teaching and Textbooks. In: Applied Linguistics 25, 371-405. Bubenhofer, Noah (2009). Sprachgebrauchsmuster. Korpuslinguistik als Methode der Diskurs- und Kulturanalyse . Berlin: de Gruyter. *Daller, Helmut/ van Hout, Roeland/ Treffers-Daller, Jeanine (2003). Lexical richness in the spontaneous spech of bilinguals. In: Applied Linguistics 24, 197-222. Granger, Sylviane/ Gilquin, Gaëtanelle/ Meunier, Fanny ( 2015 ). The Cambridge Handbook of Learner Corpus Research. Cambridge: Cambridge University Press. *Granger, Sylviane/ Paquot, Magali (2009). Lexical verbs in academic discourse: A corpus-driven study of learner use. In: Charles, Maggi/ Pecorari, Diane/ Hunston, Susan (Hg.). Academic Writing. At the Interface of Corpus and Discourse . London: Contiunuum, 193-214. Hirschmann, Hagen (2019). Korpuslinguistik. Eine Einführung. Stuttgart: Metzler. Hunston, Susan (2002). Corpora In Applied Linguistics . Cambridge: University Press. Lemnitzer, Lothar/ Zinsmeister, Heike (2015). Korpuslinguistik. Eine Einführung, 3., überarbeitete und erweiterte Auflage (= Narr Studienbücher). Tübingen: Narr. 46 Vgl. dazu die Zugänge zu multimodalen Korpora gesprochener Sprache, die im Projekt ZuMult entwickelt wurden unter https: / / zumult.org/ demo/ ( 08 . 02 . 2021 ). 5.3.9 Korpusanalyse 341 Lüdeling, Anke/ Kytö, Merja (Hg.) (2008). Corpus Linguistics. Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft ( HSK ) 29.1, Berlin: de Gruyter. Lüdeling, Anke/ Kytö, Merja (Hg.) (2009). Corpus Linguistics. Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft ( HSK ) 29.2, Berlin: de Gruyter. Lüdeling, Anke/ Walter, Maik (2010). Korpuslinguistik. In: Krumm, Hans-Jürgen/ Fandrych, Christian/ Hufeisen, Britta/ Riemer, Claudia (Hg.). Deutsch als Fremd- und Zweitsprache . Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft ( HSK ) 35.1. Berlin: de Gruyter, 315-322. Mukherjee, Joybrato (2006). Corpus linguistics and language pedagogy: the state of the art - and beyond. In: Braun, Sabine/ Kohn, Kurt/ Mukherjee, Joybrato (Hg.). Corpus Technology and Language Pedagogy: New Resources, New Tools, New Methods. Frankfurt am Main: Lang, 5-24. *Niederhaus, Constanze (2011). Fachsprachlichkeit in Lehrbüchern. Korpuslinguistische Analysen von Fachtexten in der beruflichen Bildung . Münster: Waxmann. *Paquot, Magali (2007). 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Auch praktische Auswirkungen für die Korpusanalyse, wie die resultierende unhintergehbare Belegknappheit im Bezug auf viele Einheiten, werden diskutiert. Lüdeling, Anke (2007). Das Zusammenspiel von qualitativen und quantitativen Methoden in der Korpuslinguistik. In: Kallmeyer, Werner/ Zifonun, Gisela (Hg.). Sprachkorpora - Datenmenge und Erkenntnisfortschritt ( IDS -Jahrbuch 2006). Berlin: de Gruyter, 28-48. Der Beitrag legt zunächst dar, inwiefern auch quantitative Korpusanalysen in jedem Fall auf vorausgehenden qualitativen Datenkategorisierungsentscheidungen beruhen und durch diese beeinflusst sind. Am Beispiel der Fehlerannotation von Lernerdaten wird dann ein Verfahren der Mehrebenenenannotation vorgestellt, welches es erlaubt verschiedene, auch konfligierende Interpretationen in von den Rohdaten getrennten Ebenen festzuhalten und transparent auswertbar zu machen. Römer, Ute (2008). Corpora and language teaching. In: Lüdeling, Anke/ Kytö, Merja (Hg.), 112-131. Römer untersucht in ihrem Beitrag die Beziehungen zwischen Korpuslinguistik und der Sprachvermittlung und gibt im Zuge dessen einen gelungenen Überblick über wichtige pädagogische und methodisch-didaktische Anwendungsfelder von Korpora im Rahmen der Sprachlehre. Stefanowitsch, Anatol/ Gries, Stefan Th. (2009). Corpora and grammar. In: Lüdeling, Anke/ Kytö, Merja (Hg.), 933-952. Der Handbuchartikel stellt den korpuslinguistischen Ansatz der Collostruction-Analyse vor, welcher Muster gemeinsamen Auftretens von lexikalischen Elementen und grammatischen Strukturen erfassen will. Das statistische Verfahren wird an Beispielen illustriert und im Kontext früherer kollokationsbasierter Ansätze eingeordnet. Schmied, Josef (2009). Contrastive corpus studies. In: Lüdeling, Anke/ Kytö, Merja (Hg.), 1140-1159. Der Beitrag skizziert aktuelle Entwicklungen und Ansätze in der kontrastiven Korpusanalyse und zeigt ihr Potential für verschiedene linguistische Disziplinen auf. Schmied betont dabei den Wert multilingualer Korpora für Untersuchungen in diesem Feld, gibt aber auch einen Ausblick auf mögliche Anwendungsbereiche in weiteren Fächern. 5.3.10 Statistische Verfahren - Einleitung 343 5.3.10 Statistische Verfahren - Einleitung Urška Grum/ Wolfgang Zydatiß 1 Zur Faktorenkomplexion des fremdsprachlichen Unterrichts Fremdsprachenunterricht, also das Lehren und Lernen einer Fremdsprache innerhalb einer Institution (in die auch Einwirkungen von außen hineinspielen), ist ein hoch komplexes, soziokulturell eingebettetes Handlungsfeld. Fremdsprachendidaktische Forschung muss sich m. a. W. der Faktorenkomplexion des fremdsprachlichen Unterrichts stellen; d. h. die sich wechselseitig beeinflussenden Variablen müssen (so weit wie möglich) berücksichtigt bzw. isoliert und damit kontrolliert oder überhaupt erst sichtbar gemacht werden. Ausgehend von einer klar formulierten Fragestellung bieten statistische Verfahren fremdsprachendidaktisch Forschenden systematische Prozeduren, mit denen in Hypothesenform ausgewiesene Forschungsfragen objektiv überprüft und zahlenmäßig erfasste Forschungsergebnisse beschrieben und interpretiert werden können. Statistische Verfahren sind somit ein unverzichtbares „kulturelles Werkzeug“ (Vygotsky), um: • Informationen über einen Untersuchungsgegenstand systematisch zu sammeln und darzustellen, • aus Ergebnissen begründete Schlussfolgerungen zu ziehen sowie • validierbare Verallgemeinerungen in Bezug auf das jeweilige Erkenntnisinteresse zu formulieren. Etablierte statistische Verfahren (als mathematisch fundierte standardisierte Prozeduren) haben den großen Vorteil, in der Diskursgemeinschaft empirisch-quantitativ Forschender anerkannt und nachvollziehbar zu sein. Damit ist nicht nur eine höhere Qualität und größere Reichweite der aus den Forschungsergebnissen gezogenen Konsequenzen zu erzielen, sondern auch die Wiederholbarkeit der Analysen (unter analogen oder variierten Bedingungen) möglich, um so unser Wissen über Lehr-Lernprozesse von Fremdsprachen unter institutionell-unterrichtlichen Bedingungen kontinuierlich voranzubringen (s. auch Kap. 4 . 5 ). Diese empirische Realität zu ‚befragen‘ (sprich, zu erforschen), muss Aufgabe einer angewandt-praxisorientierten Disziplin wie der Fremdsprachendidaktik sein, die sich (rational-reflexiver Prämissen folgend) letztendlich der Optimierung fremdsprachlicher Lernergebnisse verschreibt. Ein kompetenter Umgang mit statistischen Methoden ist für quantitativ Forschende daher unabdingbar. Kapitel 5 . 3 . 11 , 5 . 3 . 12 und 5 . 3 . 13 geben einen Überblick über ausgewählte statistische Verfahren und bieten so eine erste Orientierungshilfe. Zur Konkretisierung und Veranschaulichung werden in diesem Kapitel zunächst Beispiele von Einsatzmöglichkeiten statistischer Verfahren in der fremdsprachendidaktischen Forschung gegeben. In jüngster Zeit werden vermehrt statistische Forschungsmethoden in der Fremdsprachenforschung eingesetzt. Rein quantitative Vorgehensweisen stellen in den Qualifikationsarbeiten trotzdem nach wie vor eine Minderheit dar; gelegentlich wird von ihnen als Ergänzung zu qualitativen Methoden Gebrauch gemacht, z. B. im Rahmen von Daten- oder Methodentriangulationen ( mixed methods research ) (s. Kap. 3 . 3 ). Dieser Trend zur 344 5. Forschungsverfahren Multiperspektivität auf einen komplexen Forschungsgegenstand kann nur begrüßt werden. Aber auch hier gilt es, das Wissen um statistische Verfahren und die Qualität in der Anwendung auszubauen. In diesem Zuge ließe sich auch der Mythos zerschlagen, für quantitative Studien seien hohe Stichprobenzahlen nötig, die von einzelnen forschenden Personen nie erreicht werden können. Auch Studien mit kleinen Stichprobengrößen können zu aufschlussreichen, methodisch sauberen Ergebnissen führen (vgl. z. B. Bortz/ Lienert 2008 ). Zudem kann bei der Studienplanung a priori der optimale Stichprobenumfang ermittelt werden (s. unten). Nachfolgend werden Qualifikations- und Forschungsarbeiten beschrieben, in denen in sehr unterschiedlichem Ausmaß quantitative Methoden zum Einsatz kommen. Da sich die Fremdsprachenforschung diesbezüglich noch in der Entwicklungsphase befindet, ist die jeweilige Anwendung und Interpretation statistischer Analysen von ganz unterschiedlicher Qualität. 2 Anwendungsbeispiele statistischer Verfahren Bevor Daten statistisch ausgewertet werden können, müssen sie in eine statistisch auswertbare Zahlenform gebracht werden. Beispielsweise beschreibt Özkul ( 2011 , Referenzarbeit s. Kap. 7 ) in ihrer Studie sehr ausführlich, wie die Antworten einer Fragebogenerhebung zur Berufs- und Studienfachwahl von Englischlehrenden als Zahlen in die Statistiksoftware SPSS ( Statistical Package for the Social Sciences ) aufgenommen werden können. Auch Bellingrodt ( 2011 ) zeigt, wie Daten einer Fragebogenerhebung (hier zum Einsatz von ePortfolios im Fremdsprachenunterricht) für SPSS kodiert werden können. Eine kostenlose Alternative zu SPSS bietet die Open-Source-Statistiksoftware R (www.r-project.org). Beide Statistikprogramme übernehmen die Berechnung und grafische Darstellung deskriptiver statistischer Werte wie auch die Berechnungen und Analysen komplexerer statistischer Verfahren. Das gewählte statistische Verfahren leitet sich aus der Fragestellung an die Daten ab. Gewöhnlich wird zunächst die Verteilung der Daten beschrieben. Dazu eigenen sich grafische Darstellungen (z. B. Histogramm, Polygon, Streudiagramm, Boxplot) und deskriptivstatistische Kennzahlen, wie Maße zentraler Tendenz (z. B. Modus, Median, arithmetisches Mittel) und Dispersionsmaße (z. B. Spannweite, Quartilsabstand, Varianz, Standardabweichung). Es ist essentiell zu ermitteln, wie die Daten verteilt sind, da dies einen Einfluss auf die Wahl geeigneter statistischer Verfahren und deren Auswertung hat. Viele gängige statistische Analyseverfahren setzen normalverteilte Daten voraus, da ihr mathematisches Modell auf dieser Grundannahme beruht. Mathematische Details dazu lassen sich ausführlicher etwa in Bortz/ Schuster ( 2010 ), Field ( 2018 ) oder Rasch et al. ( 2010 ) nachlesen. Auf die mathematische Berechnung deskriptiver Kennwerte (arithmetisches Mittel, Varianz, Standardabweichung) geht Duscha ( 2007 ) in seiner Arbeit zum Einfluss von Schrift auf das Fremdsprachenlernen in der Grundschule näher ein, bevor er diese in inferenzstatistische Folgeanalysen einfließen lässt. Wie Rossa und Helsper in Kapitel 5 . 3 . 12 darlegen, ermöglichen die deskriptiven Kennwerte eine erste Annäherung an die Frage, wie es um die Güte der Instrumente bestellt ist, die zum Zweck der Datenerhebung ausgewählt bzw. entwickelt wurden. 5.3.10 Statistische Verfahren - Einleitung 345 Sollen die gewonnenen Daten nicht nur zusammenfassend beschrieben, sondern auf ihrer Basis auch allgemeingültige, über die Stichprobe hinausgehende Hypothesen überprüft werden, müssen inferenzstatistische Verfahren herangezogen werden. Beispielsweise wird in der Studie von Staschen-Dielmann ( 2012 ) zur narrativen Kompetenz im bilingualen Geschichtsunterricht u. a. folgende, ungerichtete Forschungshypothese untersucht: Die Stichprobe der Schülerinnen und Schüler aus der 10 . Jahrgangsstufe unterscheidet sich hinsichtlich des Anteils akademischer Lexik in schriftlichen Aufgaben von der der 12 . Jahrgangsstufe. Diese Hypothese lässt sich in eine Nullhypothese (H 0 : Es besteht kein systematischer Unterschied, die Befunde resultieren zufällig aus der Zusammensetzung der Stichprobe.) und eine gegenläufige Alternativhypothese (H 1 : Es besteht ein systematischer Unterschied, die Befunde resultieren nicht zufällig aus der Zusammensetzung der Stichprobe.) aufteilen. Mit Hilfe eines statistischen Tests lässt sich nun formal prüfen, ob die H 0 unter Annahme eines geringen Restrisikofaktors, falsch zu liegen, zugunsten der H 1 verworfen werden kann. Es liegen eine ungerichtete Hypothese, metrisch skalierte, normalverteilte Daten sowie zwei unabhängige Stichproben vor, so dass ein zweiseitiger t-Test für unabhängige Stichproben gerechnet werden kann (vgl. Kap. 5 . 3 . 13 ). Aufgrund der Befunde ( t ( 124 ) = - 7 . 99 ***) kann die H 0 abgelehnt und die H 1 , unter einem geringen Restrisiko von maximal 1 % bei der Ablehnung der H 0 falsch zu liegen ( p < . 001 ), angenommen werden. T-Testverfahren sind in der Fremdsprachenforschung recht weit verbreitet, da oftmals in Hinblick auf die Wirksamkeit eines Unterschiedsmerkmals oder Treatments (z. B. Bilingualer Sachfachunterricht, Einsatz vom Schriftbild, Verwendung von ePortfolios) zwei unterschiedliche Schülergruppen (Experimentalvs. Kontrollgruppe) miteinander verglichen werden sollen. In anderen Fällen interessiert beispielsweise der Vergleich von zwei Gruppen, die mehrfach einem Treatment ausgesetzt wurden; dann kann ein t-Test für abhängige Stichproben herangezogen werden. Sollen mehr als zwei Gruppen verglichen werden, kann eine Varianzanalyse (Analysis of Variance = ANOVA ) eingesetzt werden. Sollen mehr als zwei Gruppen in Bezug auf mehrere Einflussfaktoren gleichzeitig verglichen werden, ließe sich eine MANOVA ( Multivariate ANOVA ) durchführen (vgl. z. B. Bortz/ Schuster 2010 ; Field 2018 ). Beispielsweise untersuchte Biebricher ( 2008 , Referenzarbeit, s. Kap. 7 ) in ihrer Studie zu Effekten extensiven Lesens in der Fremdsprache u. a. anhand einer univariaten Varianzanalyse mit Messwiederholung, welche Unterschiede zwischen der Experimental- und Kontrollgruppe bezüglich der Ergebnisse eines C-Tests vor und nach dem Treatment (selbstgesteuertes, extensives Lesen englischer Texte) erreicht werden. Es wird also geprüft, ob sich die Allgemeine englische Sprachkompetenz (gemessen an einem C-Test) in den beiden Gruppen durch den vermuteten Einfluss des Treatments unterscheidet. Kienberger ( 2020 , Referenzarbeit, s. Kap. 7 ) erforscht Einflüsse auf den Einsatz von Lesebzw. Worterkennungsstrategien und nutzt dazu multivariate Varianzanalysen, die Zusammenhänge zwischen Faktorenscores aus den Likert-Skalen und Multiple-Choice Items als abhängigen und verschiedener Lernercharakteristika als unabhängigen Variablen prüfen. Auch Marx ( 2005 , Referenzarbeit, s. Kap. 7 ) setzt eine univariate Varianzanalyse mit Messwiederholung ein, um Einflussfaktoren auf Hörverstehensleistungen im Deutschen als Tertiärsprache (Deutsch als Fremdsprache nach Englisch) in einer Experimental- und einer Kontrollgruppe zu analysieren, die beide mehrfach getestet wurden. Hingegen werden Unterschiedshypothesen zwischen 346 5. Forschungsverfahren den beiden Gruppen bezüglich eines Merkmals zu einem bestimmten Messzeitpunkt mit Hilfe eines Mann-Whitney-U-Tests untersucht. Dieser stellt das ordinale Pendant zum t- Test für unabhängige Stichproben dar (vgl. Kap. 5 . 3 . 12 ). Richtet sich die Forschungsfrage nicht auf die Untersuchung von Unterschiedshypothesen, sondern auf die von Zusammenhängen zwischen Variablen, eignen sich korrelationsstatistische Verfahren zur Aufklärung. Beispielsweise war für Hochstetter ( 2011 , Referenzarbeit, s. Kap. 7 ) in ihrer Studie zu diagnostischen Kompetenzen von Grundschullehrerinnen im Englischunterricht u. a. die Frage interessant, ob es einen statistischen Zusammenhang zwischen der Güte der Einschätzung von Schülerleistungen durch Lehrende und der Übereinstimmung der Einschätzungsurteile der Lehrkräfte untereinander gab. Da es sich um metrische Daten bei beiden Variablen handelte, wurde die Korrelation nach Pearson berechnet ( r = -. 80 **, p = . 002 ). So konnte folgender statistischer Zusammenhang festgestellt werden: Je besser die Leistung des Kindes, desto übereinstimmender die Einschätzungen der Lehrkräfte. In der Studie von Grum ( 2012 ) hingegen lagen die Daten der Variablen metrisch und ordinal skaliert vor, so dass alle Korrelationen über den Korrelationskoeffizienten Spearmans Rho berechnet wurden (vgl. auch Kienberger 2020 , Referenzarbeit, s. Kap. 7 ). In der fremdsprachendidaktischen Forschung sieht man sich oft mit der Faktorenkomplexion des fremdsprachlichen Unterrichts konfrontiert: Es sind viele mögliche Einflussfaktoren zu berücksichtigen, die Zusammenhänge verschiedener Variablen sind nicht erkennbar, viele Variablen nicht direkt messbar - man sieht sich einer Vielzahl konfundierender Variablen gegenüber. Um Licht in das Datendickicht zu werfen, kann sich eine exploratorische Faktorenanalyse (EFA) eignen. Dieses multivariate statistische Analyseverfahren bietet die Möglichkeit, eine große Anzahl von beobachteten Variablen auf eine kleinere, übergeordnete Anzahl nicht direkt beobachtbarer Variablen (Faktoren) zu reduzieren (vgl. Kap. 5 . 3 . 13 ). Grum ( 2012 ) machte sich die EFA in ihrer Studie zu mündlichen englischen Sprachkompetenzen zunutze. Hier wurde eine große Anzahl an Daten zur mündlichen englischen Sprachfähigkeit erhoben. Über eine EFA ließen sich die Variablen, die am höchsten untereinander korrelierten, zu übergeordneten Faktoren zusammenfassen. Diese Faktoren flossen anschließend in weiterführende Analysen ein. So wurde über die EFA zum einen sichtbar, dass für dialogische Sprachverwendungen zum Teil andere Sprachkompetenzen aktiviert werden als für monologische. Folgeanalysen auf Basis der berechneten Faktoren konnten zeigen, dass sich mündliche und schriftsprachliche Kompetenzen für fortgeschrittene Englischlernende deutlicher voneinander unterscheiden als für weniger fortgeschrittene. In analoger Weise konnte Zydatiß ( 2007 ) über einen dreistündigen Sprachleistungs- und Sprachfähigkeitstest drei distinktive Faktoren identifizieren, die eine datenreduzierende, inhaltliche Interpretation der vielfältigen Skalen dieses Tests erlauben, und zwar die Kompetenzen des Leseverstehens und des textgebundenen Schreibens sowie die Allgemeine Sprachfähigkeit (operationalisiert über die verschiedenen Exemplare eines C-Tests). Hinsichtlich einer Erhellung von Hintergrundinformationen bei der Evaluation des Schulversuchs zum Bilingualen Unterricht konnte andererseits mittels einer EFA gezeigt werden, dass sich Schülerinnen und Schüler in bilingualen Zügen z. B. hoch signifikant von Regelschülerinnen und -schülern unterscheiden, was die aktive Nutzung des Internets angeht (wobei die Frage offen bleiben muss, ob dies als Ursache oder 5.3.10 Statistische Verfahren - Einleitung 347 Wirkung zu interpretieren ist). Ohne den Einsatz statistischer Analyseverfahren wären diese empirischen Befunde nicht möglich gewesen. Zur Entscheidungsfindung darüber, welche Fragestellung mit welchem Auswertungsverfahren beantwortet werden kann bzw. welche statistischen Analysen mit welchen Daten durchgeführt werden können, sind Baumdiagramme, wie z. B. in Field ( 2013 : 916 ) oder Porte ( 2010 : 292 - 293 ) dargestellt, sehr hilfreich. Denn vor der Anwendung eines statistischen Verfahrens ist es unabdingbar, sich genau über dessen Voraussetzungen und die Reichweite der Ergebnisinterpretation zu informieren. Zudem kann zur Qualitätssteigerung einer empirischen Studie a priori mittels Power -Analyse der optimale Stichprobenumfang berechnet werden (s. Kap. 5 . 3 . 13 oder vgl. z. B. Rasch et al. 2010 ; Bortz/ Lienert 2008 ). Kann auf die Stichprobengröße jedoch kein Einfluss genommen werden (was in der schulischen Fremdsprachenforschung durchaus der Fall sein kann), lassen sich a posteriori Effekt- und Teststärke ( power ) berechnen und so die Qualität eines gefundenen Effekts beurteilen und die Sinnhaftigkeit einer Folgestudie abschätzen. Zudem ermöglichen diese Parameter die Vergleichbarkeit verschiedener Studien, so wie es sich etwa Hattie ( 2009 ) zunutze gemacht hat. In Grum ( 2012 ) wurden für alle dort durchgeführten t-Tests deren Effekt- und Teststärke berechnet. 3 Abschließender Appell Der Umgang mit statistischen Verfahren gilt (nicht zuletzt unter fremdsprachendidaktisch Forschenden) als schwierig bzw. mühsam. Er ist nicht selten angstbesetzt oder wird als irrelevant abgetan. Wer sich im Rahmen einer wissenschaftsfundierten wie berufsfeldbezogenen Lehrerbildung genuin für die Vermittlung und den Erwerb von Fremdsprachen unter schulisch-unterrichtlichen Bedingungen interessiert, wird an einer forschungsbasierten quantitativen Empirie - verbunden mit einem vergleichend-prüfenden und generalisieren Nachdenken - nicht vorbeikommen. Eine derartige Forschung sollte den zusätzlichen Anspruch haben, die eigenen Ergebnisse und Implikationen so zu modellieren, dass daraus curriculare Weichenstellungen erwachsen und unterrichtsmethodische Konsequenzen sichtbar werden. › Literatur Forschungsarbeiten, in denen die hier erläuterten Verfahren angewendet werden, sind mit einem Sternchen markiert. In eckigen Klammern werden statistische Analyseverfahren genannt, die in der jeweiligen Studie verwendet oder diskutiert werden und über deskriptive Kennwerte hinausgehen. *Bellingrodt, Lena Christine (2011). ePortfolios im Fremdsprachenunterricht. Empirische Studien zur Förderung autonomen Lernens . Frankfurt/ M.: Lang. [Cramer’s V] *Biebricher, Christine ( 2008 ). Lesen in der Fremdsprache. Eine Studie zu Effekten extensiven Lesens . Tübingen: Narr. [Cronbachs Alpha, Varianzanalyse, Korrelation (Pearson)] [Referenzarbeit, s. Kap. 7 ] Bortz, Jürgen/ Lienert Gustav R. (2008). Kurzgefasste Statistik für die klinische Forschung. Leitfaden für die verteilungsfreie Analyse kleiner Stichproben . 3. Auflage. Berlin: Springer. 348 5. Forschungsverfahren Bortz, Jürgen/ Schuster, Christof (2010). Statistik für Human- und Sozialwissenschaftler . 7. Auflage. Berlin: Springer. *Duscha, Michael (2007). Der Einfluss der Schrift auf das Fremdsprachenlernen in der Grundschule. Dargestellt am Beispiel des Englischunterrichts in Niedersachsen . Dissertation. Universität Braunschweig. Online: www.digibib.tu-bs.de/ ? docid=00021088 (24.09.2021). [t-Test] Field, Andy P. (2013). Discovering Statistics Using IBM SPSS Statistics . 4. Auflage. London: Sage. Field, Andy P. (2018). Discovering Statistics Using IBM SPSS Statistics . 5. Auflage. London: Sage. *Grum, Urška (2012). Mündliche Sprachkompetenzen deutschsprachiger Lerner des Englischen. Entwicklung eines Kompetenzmodells zur Leistungsheterogenität . Frankfurt/ M.: Lang. [t-Test, Rangkorrelation (Spearman), Effekt-, Teststärke, exploratorische Faktorenanalyse; diskutiert: Kolmogoroff-Smirnov-Anpassungstest (KSA-Test), Levene-Test, Mann-Whitney-U-Test, Chi-Quadrat-Test, Rangkorrelation (Kendall), Varianzanalyse] Hattie, John (2009). Visible Learning. A Synthesis of over 800 Meta-Analyses Relating to Achievement . Oxford: Routledge. *Hochstetter, Johanna (2011). Diagnostische Kompetenz im Englischunterricht der Grundschule . Tübingen: Narr. [Korrelation (Pearson)] [Referenzarbeit, s. Kap. 7] *Kienberger, Martina ( 2020 ). Das Potenzial des potenziellen Wortschatzes nutzen . Dissertation, Universität Wien. Philologisch-Kulturwissenschaftliche Fakultät. 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[Neuauflage: Rasch, Björn/ Friese, Malte/ Hofmann, Wilhelm/ Naumann, Ewald (2021). Quantitative Methoden 1. Einführung in die Statistik für Psychologie, Sozial- & Erziehungswissenschaften . 5. Auflage. Berlin: Springer.] *Staschen-Dielmann, Susanne (2012). Narrative Kompetenz im bilingualen Geschichtsunterricht . Frankfurt/ M.: Lang. [Chi-Quadrat-Test, t-Test, Korrelation (Pearson)] *Zydatiß, Wolfgang (2007). Deutsch-Englische Züge in Berlin (DEZIBEL) . Frankfurt/ M.: Lang. [Chi- Quadrat-Test, t-Test, Varianzanalyse, Korrelation (Pearson), exploratorische Faktorenanalyse] 5.3.11 Deskriptiv- und Inferenzstatistik 349 5.3.11 Deskriptiv- und Inferenzstatistik Julia Settinieri 1 Begriffsklärung Der Begriff Statistik umfasst alle Rechenverfahren, die der Beschreibung und Analyse quantitativer Daten dienen. Die Spannbreite reicht dabei von basalen, ohne Weiteres im Kopf zu rechnenden Verfahren bis hin zu sehr komplexen, nur unter Einsatz von Statistik- Software zu bewältigenden. Dieses Kapitel erläutert statistische Grundlagen und gibt einen Überblick über die unterschiedlichen Verfahrensgruppen und ihre Einsatzmöglichkeiten mit dem Ziel, eine Auswahl aus Grundverfahren treffen zu können. Abschließend werden Möglichkeiten und Grenzen statistischen Erkenntnisgewinns diskutiert. 2 Skalenniveaus 47 Der erste Schritt im Rahmen quantitativer Datenanalyse besteht darin, alle für die Untersuchung relevanten Beobachtungen (z. B. eine Unterrichtsbeobachtung, einen schriftlichen Test oder auch das Sprachverhalten von Kindern im KiTa-Alltag) in Zahlen umzuwandeln (sofern sie nicht ohnehin bereits in Zahlenform vorliegen). Bei der Kodierung müssen verschiedene Regeln beachtet werden, die im Folgenden erläutert werden. Zunächst gilt, dass die Konversion einer Beobachtung bzw. einer Messung in eine Zahl einerseits von Eigenschaften des Merkmals selbst, andererseits von der Abbildung dieser Eigenschaften durch das Messinstrument abhängt. So können Merkmale beispielsweise latent oder manifest, dichotom, kategorial, diskret oder stetig ausgeprägt sein (Eigenschaften des Merkmals). Gleichzeitig kann eine genuin stetige Variable wie das Lebensalter sowohl diskret in Jahren (z. B. 14 , 34 , 25 Jahre usw.) als auch kategorial (z. B. Kinder vs. Jugendliche vs. Erwachsene) als auch dichotom (z. B. unter 18 vs. über 18 Jahre) modelliert werden (Eigenschaften des Messinstruments). In Abhängigkeit davon, wie differenziert das Merkmal selbst ist und wie differenziert das Instrument es misst, können vier unterschiedliche Skalenniveaus zur Abbildung von Merkmalen unterschieden werden, die jeweils unterschiedliche Rechenverfahren zulassen. Kann über die unterschiedlichen Ausprägungen einer Variable lediglich ausgesagt werden, ob das Merkmal jeweils in gleicher oder in unterschiedlicher Form vorhanden (oder auch nicht vorhanden) ist, so handelt es sich um ein Merkmal auf Nominalskalenniveau. Dies trifft auf Variablen wie das Geschlecht, die Sprache(n), die jemand spricht, oder auch den Aufenthaltsstatus zu. Nominalen Merkmalen wird im Zuge der Kodierung einfach eine beliebige Zahl zugeordnet, wobei lediglich darauf geachtet werden muss, dass jeder gegebenen Merkmalsausprägung genau eine und immer dieselbe Zahl zugeordnet wird. Möchte ich beispielsweise Untersuchungsteilnehmende danach klassifizieren, ob sie Deutsch jeweils als L 1 oder nicht als L 1 sprechen, so spielt es keine Rolle, ob ich die L 1 -Sprecher*innen mit 1 und die L 2 -Sprecher*innen mit 2 oder umgekehrt kodiere oder auch ganz andere Zahlen wähle; wichtig ist nur, dass allen L 1 respektive allen L 2 -Spre- 47 Die Ausführungen dieses Abschnitts folgen in enger Anlehnung Rasch et al. ( 2014 : 6 - 10 ). 350 5. Forschungsverfahren cher*innen die gleiche Zahl zugeordnet wird und dass sich diese Zahlen zwischen beiden Gruppen wiederum voneinander unterscheiden. Auf dem nächsthöheren Skalenniveau, dem Ordinalskalenniveau, ist es nicht nur möglich, etwas über die Gleich- oder Verschiedenheit von Merkmalsausprägungen zu sagen, sondern die unterschiedlichen Ausprägungen darüber hinaus auch in eine Rangfolge zu bringen. Die Anordnung spiegelt dabei die unterschiedliche Intensität der Merkmalsausprägung wider, so dass Zahlen in aufsteigender Folge zugeordnet werden können. Rankings oder Schulabschlüsse sind Beispiele für ordinalskalierte Variablen. So ist es beispielsweise möglich, die Aussage zu treffen, dass eine Person mit Abitur einen höheren Schulabschluss hat als eine mit Hauptschulabschluss, so dass eine Kodierung von Schulabschlüssen z. B. mit 0 = kein Abschluss, 1 = Hauptschulabschluss, 2 = Realschulabschluss, 3 = Abitur möglich wäre. Dabei könnten theoretisch auch beliebige andere Zahlen, wie z. B. 2 , 5 23 und 69 vergeben werden, solange diese den Abschlüssen, denen sie zugeordnet werden, entsprechend aufsteigen. Variablen auf Intervallskalenniveau als dritte Variablengruppe zeichnen sich zusätzlich dadurch aus, dass zwischen den einzelnen Merkmalsstufen exakt gleich große Abstände bestehen (Kriterium der Gleichabständigkeit), bei Verhältnisskalen tritt ein sog. absoluter oder auch natürlicher Nullpunkt als Kriterium hinzu. Die Verhältnisskala vereint somit alle genannten möglichen Skalencharakteristika auf sich. Für statistische Zwecke können Intervall- und Verhältnisskala als metrische Skalen zusammengefasst werden. Metrische Variablenausprägungen werden durch Zahlen repräsentiert, die die charakteristische Gleichabständigkeit der Skalenschritte abbilden. Ein doppelt so stark ausgeprägtes Merkmal wird demnach auch durch eine doppelt so große Zahl repräsentiert. Dies gilt z. B. für Variablen wie Alter, Umfang erhaltenen Sprachunterrichts, Aufenthaltsdauer im Zielland usw. Zu beachten ist, dass manche Merkmale aufgrund lebensweltlich zugeordneter Zahlen metrisch skaliert erscheinen, obwohl sie lediglich die Anforderungen an eine ordinale Skala erfüllen. So sind Schulnoten beispielsweise ordinalskaliert (und nicht etwa metrisch), da sie das Merkmal der Gleichabständigkeit nicht erfüllen. Zwar kann man wohl in der Regel davon ausgehen, dass alle Zweierschüler*innen eine bessere Leistung gezeigt haben als die Dreierschüler*innen und diese wiederum als die Viererschüler*innen, dass mithin eine ordinale Rangfolge gegeben ist. Man kann jedoch nicht sagen, dass alle Zweierschüler*innen eine exakt gleich gute Leistung erbracht hätten oder dass die Abstände zwischen allen Zweien und Dreien genauso groß wären wie die zwischen allen Dreien und Vieren. Die Vergabe von Zahlen bei der Notengebung suggeriert hier eine Genauigkeit der Leistungsmessung, die de facto gar nicht gegeben ist. Zusammenfassend erlauben Variablen unterschiedlicher Skalenniveaus die in Tabelle 1 in Übersicht dargestellten Aussagen und Rechenoperationen, wobei die höheren die niedrigeren jeweils mit einschließen: 5.3.11 Deskriptiv- und Inferenzstatistik 351 Skalentyp Mögliche Aussagen Beispiele Mögliche Relationen Nominalskala gleich/ ungleich Geschlecht, L 1 , Aufenthaltsstatus =, ≠ Ordinalskala größer/ kleiner Ranking, Schulabschluss, Schulnote =, ≠ >, < Intervallskala (Metrische Skala) Gleichheit von Differenzen Temperatur in Celsius, Intelligenzquotient, Pegelstand =, ≠ >, < +, - Verhältsnisskala (Metrische Skala) Gleichheit von Verhältnissen Alter, Umfang erhaltenen Sprachunterrichts, Aufenthaltsdauer im Zielland =, ≠ >, < +, - ×, ÷ Tabelle 1: Skalenniveaus 3 Deskriptiv- vs. Inferenzstatistik Liegen schließlich alle Variablen in Zahlenform vor, kann mit der Analyse begonnen werden. Dabei kann Statistik entweder dazu dienen, die Vielzahl der einzelnen Messwerte zusammenzufassen, so dass sie als Ganzes interpretierbar werden, oder dazu, Aussagen darüber zu treffen, ob die Zahlenverhältnisse in einer einzelnen Studie, die durchgeführt wurde, mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auch als exemplarisch für vergleichbare Kontexte gelten können oder ob sie über die vorliegenden Daten hinaus nicht verallgemeinerbar erscheinen. Der Begriff ,Statistik‘ umfasst somit in unserem Verständnis alle quantitativen Analysetechniken, mit denen empirische Daten zusammenfassend beschrieben werden können (deskriptive Statistik) bzw. mit denen auf Grund empirischer Daten Aussagen über die Richtigkeit von Hypothesen formuliert werden können (Inferenzstatistik). (Bortz 2005: 15) Deskriptivstatistik Die deskriptive Statistik versucht, die häufig sehr unüberschaubare Zahlenmenge, die im Rahmen quantitativer Untersuchungen entsteht, mittels weniger Kennwerte zusammenzufassen. Sie bezieht sich dabei auf die Stichprobe: „Eine bestimmte Gruppe wird zu einem bestimmten Zeitpunkt beschrieben und analysiert. Deskriptivstatistische Ergebnisse sagen ausschließlich etwas über die Objekte aus, die tatsächlich untersucht wurden.“ (Wirtz/ Nachtigall 2012 : 29 ) Bei der Beschreibung einer Stichprobe geht es einerseits um die Frage, welche Werte in Bezug auf eine bestimmte Variable sehr häufig vorkommen und somit typische Werte darstellen (→ Maße der zentralen Tendenz), andererseits darum, wie starke Abweichungen es von diesen typischen Werten gibt (→ Streuungsmaße). In Abhängigkeit vom Skalenniveau der Variable werden dabei unterschiedliche statistische Kennwerte verwendet (vgl. Tab. 3 ), wobei wiederum gilt, dass für höhere Skalen prinzipiell auch Kennwerte niedrigerer Ska- 352 5. Forschungsverfahren len zur Stichprobenbeschreibung herangezogen werden können. Um die folgenden Ausführungen zu veranschaulichen, wird ein Rechenbeispiel eingesetzt. Rechenbeispiel 48 Angenommen 30 Lerner*innen, die seit einigen Monaten in Deutschland leben und von Beginn ihres Aufenthalts studienvorbereitende Deutschkurse desselben Kursanbieters besuchen, absolvieren einen Sprachtest, in dem maximal 100 Punkte zu erreichen sind. Die Bestehensgrenze für den Test liegt bei 50 Punkten. Je 15 Lernende unterscheiden sich in einem für die Studie relevanten Merkmal, nehmen wir an der L 1 , von den anderen 15 , was in Tabelle 2 durch A vs. B symbolisiert wird. Außerdem wird die Kontaktdauer mit der getesteten Sprache (in Monaten) erfasst, die gleichzeitig auch die Unterrichtsdauer in Monaten darstellt. Untersucht werden sollen die folgenden Fragestellungen: • Schneiden Untersuchungsteilnehmer*innen mit L 1 A vs. B im Test gleich oder unterschiedlich gut ab? • Besteht ein Zusammenhang zwischen der Kontaktdauer mit der Zielsprache und den Testergebnissen? TN 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 TW 52 45 90 44 24 39 58 66 50 64 80 83 76 61 85 KD 2 8 8 1 1 3 1 2 4 7 7 6 3 4 6 L1 A A A B A B B A A B B A B B A TN 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 TW 52 83 86 60 28 65 86 81 83 76 66 55 95 47 95 KD 9 14 13 9 8 10 10 8 12 16 17 11 9 13 14 L1 B B B A B A A B A B A B B A A Tabelle 2: Testwerte (TW) und Kontaktdauer mit der Zielsprache in Monaten (KD) sowie L1 von 30 Untersuchungsteilnehmer*innen (TN, laufend durchnummeriert) 49 Als Maß der zentralen Tendenz für nominalskalierte Variablen wird der Modus (oder Modalwert) verwendet, der schlicht angibt, welche Merkmalsausprägung in der Stichprobe am häufigsten vorkommt. Kommen mehr als ein Merkmal in gleicher Anzahl am häufigs- 48 Vgl. bzgl. Anwendungsbeispielen und Ergebnissatzformulierungen für einzelne Testverfahren z. B. auch Larson-Hall ( 2012 ) und Gültekin-Karakoç/ Feldmeier ( 2014 ) sowie erstere auch zu geeigneten graphischen Darstellungsmöglichkeiten, letztere auch zu einführenden Erläuterungen zu den entsprechenden mathematischen Formeln und zur Vorgehensweise in SPSS. 49 Obwohl es sich lediglich um 30 Untersuchungsteilnehmer*innen und drei Variablen handelt und obwohl der Test nicht in seinen Einzelaufgaben, sondern bereits in Form eines Summenwertes abgebildet ist, insgesamt also ein vergleichsweise wenig umfangreicher Datensatz vorliegt, sind aus der Wertetabelle auf den ersten Blick kaum Tendenzen bzgl. der Fragestellungen zu erkennen, was den Nutzen deskriptiver Statistik unmittelbar einsichtig erscheinen lässt. 5.3.11 Deskriptiv- und Inferenzstatistik 353 ten vor, kann es auch mehrere Modalwerte geben, wie im Rechenbeispiel die je zweimal vorkommenden Werte 2 , 6 , 8 und 10 für die Kontaktdauer in Monaten der Gruppe A. Der Median, der ab Ordinalskalenniveau herangezogen werden kann, referiert den mittleren Wert in einer aufsteigend angeordneten Werteverteilung. Er halbiert die Verteilung quasi. Im Falle einer geraden Anzahl von Messwerten wird der Median als arithmetisches Mittel der beiden in der Mitte der Verteilung liegenden Werte gebildet. Im vorliegenden Rechenbeispiel müssten bspw. die Kontaktdauerwerte für die Gruppe A folglich 1 , 2 , 2 , 4 , 6 , 6 , 8 , ← 8 →, 9 , 10 , 10 , 12 , 13 , 14 , 17 angeordnet werden, was einen Median von 8 Monaten ergäbe. Der Mittelwert im Sinne des arithmetischen Mittels schließlich darf nur für metrische, d. h. gleichabständig skalierte, Daten berechnet werden und stellt den Durchschnittswert aller Messergebnisse (Summe aller Messwerte, geteilt durch die Anzahl der Messwerte) dar, für die durchschnittliche Kontaktdauer der Gruppe A also z. B. ( 1 + 2 + 2 + 4 + 6 + 6 + 8 + 8 + 9 + 10 + 10 + 12 + 13 + 14 + 17 ) : 15 = 8 , 13 Monate. Da nominale Daten im eigentlichen Sinne keinen Mittelwert haben (sondern lediglich häufiger und weniger häufig vorkommende Ausprägungen), können sie auch nicht um einen Mittelwert streuen. Streuungskennwerte können folglich nur für ordinale und metrische Variablen angegeben werden. Ab Ordinalskalenniveau gibt die Variationsbreite (auch Range ) an, in welchem Bereich die Werte liegen, indem sie die Differenz zwischen dem größten und dem kleinsten vorkommenden Wert angibt (für die Kontaktdauer der Gruppe A z. B. 17 - 1 = 16 ). Auch der niedrigste und höchste Wert selbst (Minimum und Maximum, z. B. 1 und 17 ) können referiert werden. Ergänzend zeigt der Quartilsabstand an, wie stark die mittlere Hälfte der Messwerte streut, wobei wie folgt vorgegangen wird: Die durch den Median bereits mittig geteilten Hälften der Verteilung werden erneut jeweils mittig geteilt, wodurch die Verteilung insgesamt geviertelt wird ( 1 , 2 , 2 ← 4 → 6 , 6 , 8 , ← 8 →, 9 , 10 , 10 ← 12 → 13 , 14 , 17 ). Die drei Werte, die die vier Viertel jeweils voneinander trennen, werden Quartile genannt. Das zweite Quartil ist ja der Median, und der Quartilsabstand wird nun gebildet, indem die Differenz zwischen dem dritten und ersten Quartil berechnet wird (im Beispiel 12 - 4 = 8 ). Median und Quartilsabstand vermitteln zusammen genommen einen Eindruck von der Symmetrie der Verteilung, ob sie beispielsweise links- oder rechtssteil ist, ob sich ein Deckeneffekt abzeichnet o. Ä. Maße der zentralen Tendenz Streuungsmaße Nominalskala Modus/ Modalwert ( Mo ) --- Ordinalskala Median ( Md ) Spannweite ( R [= range ]), Quartilsabstand ( QA ) Metrische Skala Arithmetisches Mittel/ Mittelwert ( M, x̄ ) Varianz ( s 2 ), Standardabweichung ( s , SD [= standard deviation ]) Tabelle 3: Maße der zentralen Tendenz und Streuungsmaße Bei metrischen Daten schließlich wird die Streuung als Varianz angegeben, die sich aus der Summe der quadrierten Abweichungen aller einzelnen Messwerte vom Mittelwert, 354 5. Forschungsverfahren dividiert durch die Anzahl der Messwerte (z. B. [ 1 - 8 , 13 ] 2 + [ 2 - 8 , 13 ] 2 + [ 2 - 8 , 13 ] 2 + [ 4 - 8 , 13 ] 2 + [ 6 - 8 , 13 ] 2 + [ 6 - 8 , 13 ] 2 + [ 8 - 8 , 13 ] 2 + [ 8 - 8 , 13 ] 2 + [ 9 - 8 , 13 ] 2 + [ 10 - 8 , 13 ] 2 + [ 10 - 8 , 13 ] 2 + [ 12 - 8 , 13 ] 2 + [ 13 - 8 , 13 ] 2 + [ 14 - 8 , 13 ] 2 + [ 17 - 8 , 13 ] 2 : 15 = 22 , 67 ) berechnet. Zieht man die Wurzel aus der Varianz, erhält man die Standardabweichung (im Beispiel 4 , 72 ), die den Vorteil hat, dass ihr Maß der Achsenskalierung entspricht und daher unmittelbar interpretiert werden kann (d. h. 4 , 72 Monate). Maße der zentralen Tendenz und Streuungsmaße sollten in empirischen Studien stets für jede einzelne Variable berichtet werden. In der Regel werden dabei pro Variable nur die höchstmöglichen Kennwerte der zentralen Tendenz und Streuung referiert (vgl. Tab. 4 ). Alternativ ist jedoch auch die Wahl eines niedrigeren Skalenniveaus möglich. Im vorliegenden Beispiel wäre es z. B. denkbar, angesichts der relativ kleinen Stichprobe und der Tatsache, dass bei einem nicht-normierten Test nicht ohne Weiteres von einer Gleichabständigkeit der Skalenwerte auszugehen ist, zumindest die Testwertvariable auf Ordinalniveau herunterzuskalieren. In ähnlicher Weise betrachtet auch Marx ( 2005 : 216 - 217 ) Daten aus einem Hörverstehenstest lediglich als ordinal skaliert, da sie zwei Gruppen vergleicht, die jeweils nur aus 14 Personen bestehen. Darüber hinaus handelt es sich bei dem von ihr eingesetzten Hörverstehenstest um keinen normierten Test, so dass das Kriterium der Gleichabständigkeit nicht als gegeben gelten kann. Testwert in Punkten von 0 bis 100 Kontaktdauer in Monaten Gruppe A Gruppe B gesamt Gruppe A Gruppe B gesamt Modus 66 ; 83 76 83 2 ; 6 ; 8 ; 10 1 ; 3 ; 7 ; 8 ; 9 8 Median 66 64 65 , 5 8 8 8 Mittelwert 66 , 47 65 , 20 65 , 83 8 , 13 7 , 60 7 , 87 Spannweite 71 67 71 16 15 16 Minimum 24 28 24 1 1 1 Maximum 95 95 95 17 16 17 Quartilsabstand 35 29 31 , 5 8 8 7 , 5 Varianz 414 , 84 372 , 03 380 , 28 22 , 27 21 , 40 21 , 15 Standardabweichung 20 , 37 19 , 29 19 , 50 4 , 72 4 , 63 4 , 60 Tabelle 4: Vollständige deskriptive Statistik für das Rechenbeispiel (in Publikationen standardmäßig zu referierende Werte durch Fettung hervorgehoben) 5.3.11 Deskriptiv- und Inferenzstatistik 355 Inferenzstatistik Zumeist möchte quantitative Forschung aber nicht nur eine bestimmte, ausgewählte Gruppe beschreiben, sondern vielmehr aus den Daten auch verallgemeinernde Schlussfolgerungen ziehen. Diesem Zwecke dient die Inferenzstatistik (auch schließende Statistik genannt). „Die erfassten Personen oder Objekte werden als repräsentative Teilmenge einer Gesamtheit (Population) aufgefasst. Signifikanztests […] ermöglichen es, mit einer gewissen Fehlerwahrscheinlichkeit von den Verhältnissen in der Stichprobe auf die Verhältnisse in der Population zu schließen.“ (Wirtz/ Nachtigall 2012 : 29 - 30 ) Die Begriffe Population und Stichprobe können dabei wie folgt definiert werden: Als Grundgesamtheit ( Population ) bezeichnen wir allgemein alle potenziell untersuchbaren Einheiten oder ,Elemente‘, die ein gemeinsames Merkmal (oder eine gemeinsame Merkmalskombination) aufweisen. […] Eine Stichprobe stellt eine Teilmenge aller Untersuchungsobjekte dar, die die untersuchungsrelevanten Eigenschaften der Grundgesamtheit möglichst genau abbilden soll. Eine Stichprobe ist somit ein ,Miniaturbild’ der Grundgesamtheit. (Bortz 2005: 86, Hervorhebung i. O.) Auf welche Population sich eine Studie bezieht, wird im Zuge der Formulierung einer genauen Forschungsfrage von den Forscher*innen selbst festgelegt. Für die Sprachlehr- und -lernforschung interessante Populationen könnten z. B. alle Integrationskursteilnehmenden Deutschlands, alle Schülerinnen und Schüler, die im 1 . Schuljahr mit Englisch als Fremdsprache beginnen und monolingual mit Deutsch als L 1 aufgewachsen sind, oder auch alle Studierenden eines bestimmten Faches einer bestimmten Universität sein. Da eine Grundgesamtheit aus rein forschungspraktischen Gründen in den seltensten Fällen vollständig untersucht werden kann, muss eine begründete Auswahl an Untersuchungsteilnehmer*innen getroffen werden. Entscheidendes Kriterium ist dabei, dass die Stichprobe in allen für die Fragestellung relevanten Merkmalen repräsentativ für die Population sein sollte. Das bedeutet beispielsweise, dass in eine Stichprobe prozentual ebenso viele Sprecher einer bestimmten L 1 , durchschnittlich ebenso gebildete Personen usw. eingehen sollten wie in der Grundgesamtheit, der sie entstammt, vorhanden sind. Proband*innen dürfen folglich keineswegs beliebig ausgewählt werden. Vielmehr spielt das Sampling eine zentrale Rolle für die Güte einer empirischen Untersuchung und sollte sehr genau reflektiert werden (s. dazu Kap. 4 . 3 ). 50 Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Deskriptivstatistik einen tatsächlich vorliegenden Datensatz beschreibt, während Inferenzstatistik Sachverhalte in der Population lediglich mit einer gewissen Fehlerwahrscheinlichkeit aus der Stichprobe heraus schätzt (vgl. Popham/ Sirotnik 1973 : 40 ). Inferenzstatistik geht zudem grundsätzlich hypothesentestend vor, wobei rechnerisch betrachtet sog. Null- und Alternativhypothesen formuliert und gegeneinander getestet werden. „Die Alternativhypothese postuliert dabei einen bestimmten Effekt, den die Nullhypothese negiert.“ (Bortz/ Döring 2006 : 25 ) In Publikationen wird allerdings zumeist nur die Alternativhypothese angeführt. Bezogen auf das vorliegende Rechenbeispiel könnten die Untersuchungshypothesen beispielsweise lauten: 50 Zu Methoden der Stichprobenziehung in quantitativen Studien vgl. z. B. Bortz ( 2005 : 86 - 89 ), Bortz/ Döring ( 2006 : 393 - 487 ), Raithel ( 2008 : 54 - 61 ) und Meindl ( 2011 : 132 - 134 ). 356 5. Forschungsverfahren • Teilnehmer*innen der L 1 -Gruppen A und B schneiden im Test unterschiedlich gut ab (ungerichtete Hypothese). Alternativ könnte auch angenommen werden: Teilnehmer*innen der Gruppe A schneiden im Test besser als Teilnehmer*innen der Gruppe B ab (gerichtete Hypothese 51 ). • Kontaktdauer mit der Zielsprache und Testergebnisse korrelieren positiv miteinander. Wichtig ist, wie oben erläutert, dass die Hypothesen mit Blick auf die Population aufgestellt werden. Ein signifikantes Ergebnis liegt vor, wenn ein Signifikanztest eine sehr geringe Irrtumswahrscheinlichkeit ermittelt. Dies bedeutet, dass sich das gefundene Stichprobenergebnis nicht gut mit der Annahme vereinbaren lässt, dass in der Population die Nullhypothese gilt. Man lehnt deshalb die Nullhypothese ab und akzeptiert die Alternativhypothese. (Bortz/ Döring 2006: 26-27) Welches statistische Verfahren jeweils zur Hypothesentestung eingesetzt werden kann, hängt von verschiedenen Faktoren ab. In diesem Zusammenhang ist zwischen einfachen (univariaten und bivariaten) und komplexen (multivariaten) Verfahren, d. h. Verfahren, die mehrere Variablen in Beziehung zueinander modellieren, zu unterscheiden. Im Rahmen einfacher statistischer Verfahren hängt die Wahl zunächst davon ab, wie die entsprechenden Variablen skaliert sind und ob eine Unterschieds- oder Zusammenhangshypothese getestet werden soll. Im Falle einer Unterschiedshypothese ist für die Auswahl zusätzlich entscheidend, ob Unterschiede zwischen zwei oder mehr als zwei Gruppen untersucht werden sollen und ob die Stichproben voneinander unabhängig oder miteinander verbunden sind. Diese Auswahlkriterien sollen im Folgenden genauer erläutert werden. nominal ordinal metrisch zwei Stichproben unabhängige Stichproben Chi-Quadrat- Test Mann-Whitney- U - Test/ Rangsummentest t- Test für unabhängige Stichproben abhängige Stichproben McNemar-Test Wilcoxon-Test t- Test für abhängige Stichproben mehr als zwei Stichproben unabhängige Stichproben Chi-Quadrat- Test Kruskal-Wallis-Test Varianzanalyse/ ANOVA abhängige Stichproben Cochrans Q - Test Friedman-Test Varianzanalyse mit Messwiederholung Tabelle 5: Überblick über Testverfahren zur Unterschiedstestung (vgl. auch ähnliche Übersichten z. B. in Brown 1988: 160 - 161; Larson-Hall 2010: 129 - 147; Meindl 2011: 245 - 248; Gültekin-Karakoç/ Feldmeier 2014: 207) 51 Ob eine Hypothese gerichtet oder ungerichtet formuliert wird, d. h., ob eine Annahme über die Richtung eines Unterschieds oder Zusammenhangs formuliert wird oder ob dies offen gelassen wird, hängt vom Stand der bereits vorhandenen Forschung zum Thema ab. Lässt sich aus Vorstudien eine Richtungsannahme ableiten, sollte eine gerichtete Hypothese formuliert werden (vgl. genauer z. B. Brown 1988 : 109 - 111 ; Meindl 2011 : 148 - 152 ; Kuckartz et al. 2013 : 144 - 151 ). 5.3.11 Deskriptiv- und Inferenzstatistik 357 Unterschiedshypothesen postulieren einen Unterschied bzgl. einer Variablen zwischen zwei oder mehreren Gruppen, z. B. Untersuchungsteilnehmer*innen der Gruppen A und B schneiden im Test unterschiedlich gut ab . Zusammenhangshypothesen hingegen beziehen sich auf eine einzige Gruppe bzw. Stichprobe, für die ein Zusammenhang zwischen zwei Variablen vermutet wird, z. B. Kontaktdauer mit der Zielsprache und Testergebnisse korrelieren positiv miteinander. Sie sind in Je-desto-Formulierungen transformierbar, z. B. Je länger Kontakt mit der Zielsprache besteht, desto besser fallen die Testergebnisse aus. Sind die zwei Variablen metrisch skaliert (wie im vorliegenden Beispiel), wird Pearsons r (auch Produkt-Moment-Korrelation genannt) als Korrelationskoeffizient berechnet. Im Rechenbeispiel korrelieren Kontaktdauer und Testergebnisse mit r = . 43 , p = . 02 miteinander. 52 Sind beide oder eine von beiden Variablen lediglich ordinalskaliert, wird Spearmans Rho verwendet. Für nominale Daten kann der Kontingenzkoeffizient C herangezogen werden (vgl. Bortz 2005 : 234 - 235 ). Bei der Berechnung von Gruppenunterschieden ist weiter zu prüfen, ob die zu vergleichenden Stichproben voneinander unabhängig gezogen wurden, ob es sich z. B. um Männer vs. Frauen oder auch um Lerner mit L 1 Arabisch vs. Kurdisch vs. Türkisch handelt oder ob die Stichproben in irgendeiner Art und Weise miteinander verbunden, d. h. voneinander abhängig, sind. Verbundene Stichproben liegen z. B. vor, wenn Messwiederholungen durchgeführt werden, um zu prüfen, ob sich der Sprachstand derselben Lerner zwischen dem Zeitpunkt T 1 und dem Zeitpunkt T 2 signifikant verbessert hat. Ist dies der Fall, sind Verfahrensvarianten der Rechenwege für unabhängige Stichproben einzusetzen (vgl. Tab. 5 für eine Übersicht). Im vorliegenden Beispiel würde die Unterschiedshypothese beispielsweise mit einem t- Test geprüft, da zwei unabhängige Stichproben (Lerner der Gruppen A und B) vorliegen, die bezüglich einer metrisch skalierten Variablen (dem Sprachtestergebnis) miteinander verglichen werden sollen. Der Unterschied zwischen beiden Gruppen ist nicht signifikant ( t ( 28 ) = -. 18 , p = . 86 ). Für alle Verfahren gelten des Weiteren spezifische Voraussetzungen, wie z. B. Normalverteilung oder Varianzhomogenität der Daten, die im Vorfeld der Testung zu prüfen sind (vgl. genauer z. B. Larson-Hall 2010 : 250 - 251 ). Sind Voraussetzungen metrischer Verfahren verletzt, ist es im Rahmen einfacher statistischer Verfahren häufig sinnvoll, die korrespondierenden ordinalen Verfahren einzusetzen. Einen Einblick in komplexere statistische Verfahren bietet das Folgekapitel (vgl. für eine knappe Verfahrensübersicht auch Settinieri 2012 : 266 ). 4 Signifikanz, Effektstärke, Teststärke und Stichprobenumfang Herkömmlich werden statistische Ergebnisse auf Grundlage eines p -Wertes ( p für engl. probability ) interpretiert, also der prozentualen Angabe einer Wahrscheinlichkeit. Und zwar gibt der Wert an, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, ein vorgefundenes, für die Alternativhypothese sprechendes Ergebnis in einer Stichprobe vorzufinden, wenngleich in der Population die Nullhypothese gilt. 52 Zur Interpretation dieser und der folgenden statistischen Kennwerte vgl. die Erläuterungen in Abschnitt 4 . 358 5. Forschungsverfahren Ein p-Wert von 0.05 oder 5 % sagt aus, dass der Mittelwert unserer Stichprobe so weit vom Populationsmittelwert abweicht, dass er (oder ein extremerer Wert) per Zufall in 5 % aller Stichproben vorkommen würde, die aus dieser Population gezogen werden. Es hat sich nun im Laufe der Zeit eingebürgert, diese Wahrscheinlichkeit von 5 % für selten genug zu erachten, um den Schluss zu ziehen, dass unsere Stichprobe wohl nicht aus einer Population stammt, von der sie so weit abweicht, dass dies nur in 5 % der Fälle auch zufälligerweise zustande kommen kann. (Faller 2004: 175) Letztendlich handelt es sich also um eine willkürliche, konventionelle Festlegung des Signifikanz-Niveaus. Eingebürgert haben sich ferner weitere Niveau-Abstufungen. 53 Bedacht werden sollte allerdings, dass 5 % Fehlerquote auch bedeuten, dass durchschnittlich jede 20 . Messung tatsächlich fälschlich signifikant wird. Dieser Umstand wird vor allem dann kritisch, wenn eine große Anzahl von Hypothesentestungen durchgeführt wird (vgl. Faller 2004 : 175 ; Larson-Hall 2010 : 252 ; Bühner/ Ziegler 2017 : 604 - 607 ). Außerdem bedeutet ein nicht signifikantes Ergebnis keinesfalls, dass die Nullhypothese deshalb zutreffend wäre; vielmehr bleibt die Frage, ob ein Effekt vorliegt, genau genommen offen (vgl. Bortz/ Döring 2006 : 26 - 27 ). Denn neben dem sog. Alpha-Fehler (auch Fehler 1 . Art), der im Signifikanz-Niveau p ausgedrückt wird, ist auch der Beta-Fehler (auch Fehler 2 . Art) in Betracht zu ziehen (vgl. Tab. 6 ). Während der Alpha-Fehler den Fall beschreibt, dass ein in der Stichprobe vorgefundener Effekt in der Population nicht vorhanden ist, bezieht sich der Beta-Fehler auf den umgekehrten Fall, dass in der Stichprobe kein Effekt gefunden wird, obwohl er in der Population existiert. Obgleich sich die Forschung lange Zeit ausschließlich auf den Alpha-Fehler konzentriert hat, gibt es Forschungszusammenhänge, in denen ein Beta-Fehler durchaus problematischer als ein Alpha-Fehler sein kann. Denkt man z. B. an die Medizinforschung, so wäre es u. U. folgenreicher, die tatsächlich sehr hohe Wirksamkeit eines Medikaments im Kampf gegen eine gefährliche Krankheit nicht entdeckt zu haben, als ein unwirksames, den Zustand eines Patienten aber auch nicht verschlimmerndes Medikament fälschlich für wirksam gehalten zu haben. Population H 0 H 1 Stichprobenentscheidung H 0 ✔ Beta-Fehler H 1 Alpha-Fehler ✔ Tabelle 6: Alpha- und Beta-Fehler Die (alleinige) Aussagekraft des p -Wertes wird aber zunehmend noch viel grundsätzlicher in Frage gestellt, wie Faller ( 2004 : 175 - 176 ; vgl. auch Larson-Hall 2012 : 248 - 249 ) zusammenfassend erläutert: Die Signifikanzprüfung hat mehrere erhebliche Nachteile: 1. Sie setzt ein willkürliches, dichotomes Kriterium; 2. ob dieses Kriterium erfüllt wird oder nicht, hängt aber sehr wesentlich von 53 So findet sich in der Literatur häufig eine Differenzierung in p > 0 . 05 (nicht signifikant, n.s.), p ≤ 0 . 05 * (signifikant), p ≤ 0 . 01 ** (sehr signifikant) und p ≤ 0 . 001 *** (hoch signifikant). 5.3.11 Deskriptiv- und Inferenzstatistik 359 der Stichprobengröße ab; 3. sie gibt uns keine Information über die Größe und 4. über die […] Bedeutsamkeit eines Effekts […]. Im Gegenteil: Ein und derselbe Effekt kann in der einen Studie signifikant sein, in einer anderen, bis auf die Stichprobengröße identischen Studie hingegen nicht. […] Dass sich Wissenszuwachs entlang derartiger Ja-oder-Nein-Entscheidungen vollzieht, ist wenig plausibel; viel interessanter ist dagegen die Frage, wie groß ein Unterschied zwischen zwei Gruppen oder wie stark ein Zusammenhang zwischen zwei Merkmalen ist. Darüber enthält der p-Wert jedoch keinerlei Information. […] ‚Sehr signifikant‘ heißt nicht ‚sehr wichtig‘. Die Abhängigkeit des Signifikanzwerts von der Stichprobengröße entsteht dadurch, dass die Standardabweichung in sehr großen Stichproben verhältnismäßig klein ausfällt, so dass größere Abweichungen vom Mittelwert entsprechend seltener vorkommen (vgl. Faller 2004 : 176 ). Dieser Zusammenhang hat zur Folge, dass bei sehr großen Stichproben auch sehr kleine Effekte signifikant werden, obwohl sie erkenntnistheoretisch unbedeutend sind, und bei sehr kleinen Stichproben größere, theoretisch bedeutsame Effekte nicht aufgedeckt werden können, obgleich sie vorhanden sind. Daher wird immer häufiger die zusätzliche Inbetrachtnahme von Effektstärkemaßen gefordert, welche weitere Interpretationshilfen bieten können (vgl. z. B. Rasch et al. 2014 : 48 - 54 ; Albert/ Marx 2016 : 161 - 167 ; Larson-Hall 2010 : 114 - 120 ). Die relative Effektstärke ist ein von der Stichprobengröße unabhängiges und damit grundsätzlich auch über unterschiedliche Studien vergleichbares Maß: „Effect size is a measure of how important the differences between groups are, or how strong the relationship between variables is.“ (Larson-Hall 2012 : 248 ) A priori kann unter Berücksichtigung der gewünschten minimalen Effektstärke ein optimaler Stichprobenumfang für die Untersuchung berechnet werden. Während Stichprobengrößen herkömmlich entweder als anfallende Stichproben oder Daumenregeln wie z. B. mindestens zehn Fälle pro Zelle bzw. pro Gruppe (vgl. z. B. Raithel 2008 : 61 - 62 ) oder auch mindestens 30 Fälle, um von einer Normalverteilung der Daten ausgehen zu können (vgl. z. B. Meindl 2011 : 137 ), folgend gebildet wurden, ist es somit möglich, optimale Stichprobengrößen zu berechnen (z. B. Rasch et al. 2014 : 91 ; Larson-Hall 2010 : 104 - 111 ). Dies geschieht mittels Power-Analyse. 54 Die Power oder Teststärke ist dabei definiert als die Wahrscheinlichkeit, mit der ein in einer Population vorhandener Effekt einer bestimmten Mindestgröße mit einer bestimmten Stichprobengröße N und einem festgelegten p -Niveau auch tatsächlich aufgedeckt werden kann. Die Wahrscheinlichkeit, dass man bei zutreffender Alternativhypothese ein signifikantes Ergebnis erhält und dann auch die richtige Entscheidung trifft (also die Alternativhypothese auch annimmt), wird als Teststärke ( power ) des Signifikanztests bezeichnet. Sie wird mit dem griechischen Buchstaben ε (epsilon) gekennzeichnet und ist das Komplement zum Beta-Risiko, also ε = 1-β. (Meindl 2011: 153, Hervorhebung im Original) Eine Power-Analyse zielt also auf die Frage, wie groß eine Stichprobe sein muss, damit ein bestimmter Effekt überhaupt entdeckt werden kann. Sinnvollerweise sollte die Test- 54 Vgl. genauer z. B. Rasch et al. ( 2014 : 64 - 68 ; 91 ), Atteslander ( 2010 : 281 - 283 ), Larson-Hall ( 2010 : 104 - 111 ); vgl. auch einschlägige Webseiten, wie z. B. G*Power (www.psychologie.hhu.de/ arbeitsgruppen/ allgemeine-psychologie-und-arbeitspsychologie/ gpower) oder die Free Statistics Calculators (www.danielsoper.com/ statcalc/ default.aspx). 360 5. Forschungsverfahren stärke mindestens . 50 , idealerweise aber . 80 und mehr betragen (Larson-Hall 2010 : 96 , 100 - 111 ). Die Durchführung einer Power-Analyse im Vorfeld einer empirischen Studie kann einerseits dazu beitragen, Studien mit zu kleiner Stichprobe und Teststärke gar nicht erst durchzuführen, bzw. andererseits Studien von vornherein mit einem genau berechneten, zur Aufdeckung eines bestimmten Effekts notwendigen N planen zu können (Stichprobenplanung). A posteriori kann ein Blick auf die Effekt- und Teststärken im Falle signifikanter Ergebnisse die Vergleichbarkeit unterschiedlicher Studien ermöglichen, im Falle nicht signifikanter Ergebnisse aufzeigen, ob eine weitere Untersuchung auf Basis einer größeren Stichprobe interessant erschiene. Als Effektstärkemaß für t- Tests wird häufig Cohens d (Cohen 1988 ; berechnet aus der Differenz beider Stichprobenmittelwerte, geteilt durch die gemeinsame Standardabweichung über alle Messwerte, vgl. z. B. Lind 2014 : 7 - 8 ) herangezogen, wobei konventionell d = 0 . 2 als kleiner, 0 . 5 als mittlerer und 0 . 8 als großer Effekt gelten. 55 Larson-Hall ( 2012 : 252 ) verweist jedoch auf Oswald/ Plonsky ( 2010 : 99 ), die auf Grundlage der Sichtung von Metaanalysen (s. dazu Kap. 4 . 5 ) spezifisch für die Zweitsprachenerwerbsforschung tentativ d = 0 . 4 , 0 . 7 und 1 . 0 als Richtwerte vorschlagen. Im vorliegenden Rechenbeispiel liegt die Effektstärke bei d = 0 . 06 , ist also sehr gering. Ein Beispiel für die konsequente Berücksichtigung der Effektstärke im Rahmen eines quasi-experimentellen Vergleichs zwischen zwei unverbundenen Stichproben bietet die Studie von Pietrzykowska ( 2011 ), die Effekte typographischer Hervorhebung linguistischer Strukturen auf den Erwerb indirekter Fragesätze untersucht. Obwohl mehrere Testergebnisse nicht signifikant sind, lassen sich durch den Einbezug von Effektstärken in die Diskussion der Ergebnisse relevante Schlussfolgerungen ziehen. Die Stärke des Zusammenhangs zwischen zwei metrischen Variablen wird hingegen in der Regel mit dem Produkt-Moment-Korrelationskoeffizienten r ausgedrückt, wobei r = 0 . 1 als kleiner, 0 . 3 als mittlerer und 0 . 5 als großer Effekt gelten (Cohen 1992 : 156 - 157 ). Der Wert kann positiv oder negativ zwischen 0 und ± 1 schwanken, wobei - 1 einen maximalen negativen und + 1 einen maximalen positiven Zusammenhang darstellen, während 0 für einen Nicht-Zusammenhang steht. Letztendlich hängt die Interpretation der Größe eines Effekts aber immer auch von der Fragestellung und von den Effektgrößen vergleichbarer Studien ab, so dass Richtwerte grundsätzlich zu relativieren sind. Wie weiter oben bereits erwähnt, liegt der Zusammenhang zwischen Kontaktdauer und Testergebnissen im Rechenbeispiel bei r = . 43 , was einen mittleren Effekt darstellt. Der Beitrag von Piske, MacKay und Flege ( 2001 ) zeigt exemplarisch, wie auf Basis korrelationaler Analysen der Einfluss unterschiedlicher Faktoren auf den Spracherwerb (hier die Akzentuiertheit von L 2 -Aussprache) modelliert werden kann. Außerdem verdeutlicht die Studie, dass Kor- 55 „Effektgrößen für Unterschiede werden Abstandsmaße genannt, weil sie den Abstand der beiden Mittelwerte repräsentieren. […] Die Effektgröße d drückt einen Mittelwertsunterschied durch die Standardisierung folglich in Standardabweichungseinheiten aus. Ein d von 1 oder - 1 entspricht also einer Standardabweichungseinheit und kann auch entsprechend interpretiert werden.“ (Schäfer 2016 : 177 - 178 , Hervorhebung im Original; vgl. auch Larson-Hall 2012 : 248 ) Für ANOVA-Analysen wird analog Eta-Quadrat herangezogen, das als prozentuale Varianzaufklärung interpretiert werden kann (Larson-Hall 2012 : 249 , 258 ). 5.3.11 Deskriptiv- und Inferenzstatistik 361 relationen zwischen Variablen keinesfalls als kausale Zusammenhänge missverstanden werden dürfen. Effektstärke Cohens d Pearsons r klein +/ - 0 , 2 +/ - 0 , 1 mittel +/ - 0 , 5 +/ - 0 , 3 groß +/ - 0 , 8 +/ - 0 , 5 Tabelle 7: Häufig verwendete Effektstärkenmaße (vgl. Ellis 2010: 13 - 14 für eine Gesamtübersicht) Einschränkend ist allerdings anzumerken, dass der Wert der relativen Effektstärke von der Standardabweichung beeinflusst wird, die in unterschiedlichen Studien verschieden groß sein kann, was bei der Interpretation von Metaanalysen bedacht werden muss (vgl. zu weiteren Einschränkungen auch Lind 2014 : 8 - 11 ). Ebenfalls für die Einschätzung der praktischen Bedeutsamkeit der Ergebnisse einer quantitativen Studie herangezogen werden sollte die absolute Effektstärke, also beispielsweise der Mittelwertunterschied zwischen zwei Stichproben. Wie wir die Größe dieses Unterschieds einschätzen, hängt zunächst einmal damit zusammen, wie gut die verwendete Skala bereits erforscht ist, d. h., einerseits von unserem Wissen darüber, wie groß Effekte in vorherigen Studien auf dieser Skala waren, andererseits von unserem Wissen über lebensweltliche Konsequenzen von Unterschieden einer bestimmten Größe. Lind ( 2014 : 12 - 13 ) zieht als Beispiel einer sehr gut erforschten Skala Temperaturmessungen in Celsius heran. Die Temperaturskala ist uns Menschen seit langem gut vertraut. Wir wissen z. B. [sic] wie viel Energie notwendig ist, die Temperatur eines Liters Wasser von 20 Grad Celsius Raumtemperatur auf 100 Grad Kochtemperatur anzuheben. Wir wissen auch, welche Konsequenzen ein Anstieg der Körpertemperatur auf 40 Grad hat und wie wir unsere Bekleidung ändern müssen, wenn die Außentemperatur um ca. 5 Grad steigt oder fällt. In den Sozialwissenschaften hingegen variieren die Operationalisierungen und die verwendeten Skalen häufig stark und messen deutlich ungenauer, was die Interpretation von Messwertunterschieden erschwert. Darüber hinaus ist in der Regel nicht klar zu entscheiden, ab wann ein gemessener Effekt tatsächlich bedeutsam ist. Wie groß muss beispielsweise eine Verbesserung in den Mathematik-Ergebnissen des PISA-Tests sein, damit der Effekt sich a) bis zum Schulabschluss hält und b) tatsächlich zu besser qualifizierten Arbeitskräften führt? Zentral für die Einschätzung solcher Fragen ist in den Sozialwissenschaften stets der Vergleich. Wie groß ist der Effekt einer Intervention im Vergleich zu alternativen Interventionen bzw. zu einer Kontrollgruppe? Wie aufwändig ist es, ebenfalls im Vergleich zu alternativen Vorgehensweisen, diesen Effekt zu erzielen? Lohnt sich der Aufwand (Effizienz)? Und die zentrale und am schwierigsten zu beantwortende Frage lautet: Haben gemessene Effekte auch tatsächlich eine Auswirkung auf das Verhalten von Menschen (prognostische Validität; vgl. Lind 2014 : 20 - 21 )? Zusammenfassend sind also vier miteinander interagierende Wirkgrößen für die Planung und Interpretation einer quantitativen Studie relevant: Stichprobenumfang, Signi- 362 5. Forschungsverfahren 3 Interpretation der Rechenergebnisse 5.3.11 Deskriptive und Inferenzstatistik Verfahren zur Beschreibung und Analyse quantitativer Daten deskriptive Statistik (beschreibend) zahlenmäßige Beschreibung von Eigenschaften einer Stichprobe zusammenfassende Darstellung großer Datenmengen - Kennwerte: Maße der zentralen Tendenz und Streuungsmaße abhängig vom Skalenniveau Inferenzstatistik (schließend) - Feststellen der Signifikanz einer Beschreibung für die Population häufig hypothesentestend (Nullvs. Alternativhypothese) einfache (unibzw. bivariate) und komplexe (multivariate) Verfahren verallgemeinernde Schlussfolgerungen Daten (Messwerte) mit spezifischen Merkmalen - Eigenschaften eines Merkmals - Abbildung der Eigenschaften durch das Messinstrument - Skalenbildung: nominal, ordinal, metrisch 1 Umwandlung von Beobachtungen in Zahlen (Kodierung) 2 statistische Berechnungen © 2022 ⚫ Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 5.3.11 Deskriptiv- und Inferenzstatistik 363 fikanzniveau, Effektgröße und Teststärke (vgl. Abb. 1 ). Schließlich kann zusätzlich auch das Konfidenzintervall des Unterschieds zwischen Gruppen berechnet werden, um einen Eindruck davon zu vermitteln, innerhalb welcher Bandbreite der Effekt mit 95 %-iger Wahrscheinlichkeit liegt (Faller 2004 : 178 ). In Publikationen referiert werden im Bereich der Inferenzstatistik neben dem p -Wert regulär die für die einzelnen Verfahren spezifischen Kennwerte, die häufig, aber nicht immer auch namensgebend für das Verfahren sind, wie z. B. im Falle des Chi-Quadrat- oder des t- Tests. Darüber hinaus müssen in einigen Fällen auch Freiheitsgrade 56 angegeben werden. Zusätzlich sollten Angaben zu Effekt- und Teststärke in die Interpretation eingehen. 57 Abbildung 1 : Wechselseitige Beziehungen im Signifikanztest (nach Bortz/ Döring 2006 : 627 ) 5 Schlussfolgerungen Zusammenfassend kann also festgehalten werden: „Ein signifikanter Effekt sollte […] nicht mit einem wichtigen Effekt verwechselt werden. Ob ein Effekt nämlich auch inhaltlich von Interesse ist, hängt von seiner Größe und der Fragestellung ab. Was aber erfahren wir über die Größe des Effektes, wenn wir einen Signifikanztest gemacht haben? Die Antwort ist: gar nichts.“ (Schäfer 2016 : 171 , Hervorhebung im Original) Für die Fremdsprachenforschung birgt die Abkehr von der ausschließlichen Fixierung auf den p -Wert großes Potenzial in sich. Sie bedeutet, dass einerseits auch Studien mit (aus forschungspraktischen Gründen häufig nur erreichbaren) vergleichsweise kleinen Stichproben einen Erkenntnisgewinn mit sich bringen können, wenn zusätzlich auf die Effektstärken geschaut wird und Replikationsstudien zu ähnlichen Ergebnissen kommen. Und in den Fällen, in denen auch große Stichproben gezogen werden können, ermöglicht eine Power-Analyse, genau zu bestimmen, wie viele Probanden benötigt werden, um einen Effekt einer bestimmten, theoretisch als relevant erachteten Stärke auch tatsächlich aufde- 56 „Die Anzahl der Freiheitsgrade gibt an, wie viele Werte in einer Berechnungsformel frei variieren dürfen, damit es zu genau einem bestimmten Ergebnis kommt.“ (Rasch et al. 2014 : 40 ) Dabei hat jede einzelne Varianz n - 1 Freiheitsgrade. 57 Einen sehr empfehlenswerten Gesamtüberblick von der Auswahl des statistischen Verfahrens, über die Berechnung in SPSS bis hin zur Formulierung eines typischen Ergebnissatzes bieten auch die Seiten der Methodenberatung der Universität Zürich: www.methodenberatung.uzh.ch/ de.html. 364 5. Forschungsverfahren cken zu können. Damit eröffnen sich sowohl für die Planung als auch für die Auswertung quantitativer Studien interessante Perspektiven. 58 › Literatur Forschungsarbeiten, in denen die hier erläuterten Verfahren angewendet werden, sind mit einem Sternchen markiert. Albert, Ruth/ Marx, Nicole (2016). Empirisches Arbeiten in Linguistik und Sprachlehrforschung. Anleitung zu quantitativen Studien von der Planungsphase bis zum Forschungsbericht. 3. Aufl. Tübingen: Narr. Atteslander, Peter (2010). Methoden der empirischen Sozialforschung . 13. neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Berlin: Erich Schmidt. Bortz, Jürgen (2005). Statistik für Human- und Sozialwissenschaftler. 6. vollständig überarbeitete und aktualisierte Auflage. Heidelberg: Springer. [Neuauflage: Bortz, Jürgen/ Schuster, Christof (2010). Statistik für Human- und Sozialwissenschaftler. 7 . vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage. Heidelberg: Springer.] Bortz, Jürgen/ Döring, Nicola (2006). Forschungsmethoden und Evaluation für Human- und Sozialwissenschaftler. 4 . überarbeitete Auflage. Heidelberg: Springer. [Neuauflage: Bortz, Jürgen/ Döring, Nicola (2016). Forschungsmethoden und Evaluation für Human- und Sozialwissenschaftler. 5. vollständig überarbeitete, aktualisierte und erweiterte Auflage. Heidelberg: Springer]. Brown, James Dean (1988). Understanding Research in Second Language Learning. A Teacher’s Guide to Statistics and Research Design. Cambridge: Cambridge University Press. Bühner, Markus/ Ziegler, Matthias (2017). Statistik für Psychologen und Sozialwissenschaftler. Grundlagen und Umsetzung mit SPSS und R. 2. aktualisierte und erweiterte Auflage. München: Pearson. Cohen, Jacob (1988). Statistical Power Analysis for the Behavioral Sciences. 2. Auflage. Hillsdale/ New Jersey: Lawrence Erlbaum. Cohen, Jacob (1992). A Power Primer. In: Psychological Bulletin 112, 155-159. Ellis, Paul D. (2010). The Essential Guide to Effect Sizes. Statistical Power, Meta-Analysis, and the Interpretation of Research Results. Cambridge: CUP. Faller, Hermann (2004). Signifikanz, Effektstärke und Konfidenzintervall. Significance, Effect Size, and Confidence Interval. In: Rehabilitation 43, 174-178. Gültekin-Karakoç, Nazan/ Feldmeier, Alexis (2014). Analyse quantitativer Daten. In: Settinieri, Julia/ Demirkaya, Sevilen/ Feldmeier, Alexis/ Gültekin-Karakoç, Nazan/ Riemer, Claudia (Hg.). Einführung in empirische Forschungsmethoden für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Paderborn: Schöningh, 183-211. Kuckartz, Udo/ Rädiker, Stefan/ Ebert, Thomas/ Schehl, Julia (2013). Statistik. Eine verständliche Einführung. 2. überarbeitete Auflage. Wiesbaden: Springer VS. Larson-Hall, Jenifer (2012). How to run statistical analyses. In: Mackey, Alison/ Gass, Susan M. (Hg.). Research Methods in Second Language Acquisition. Malden/ MA: Wiley-Blackwell, 245-274. Larson-Hall, Jenifer (2016). A Guide to Doing Statistics in Second Language Research Using SPSS and R. New York: Routledge. 58 Thomas Eckes, Nazan Gültekin-Karakoç sowie dem Herausgeberteam danke ich herzlich für ihre hilfreichen Anmerkungen zu früheren Versionen dieses Aufsatzes. 5.3.11 Deskriptiv- und Inferenzstatistik 365 Lind, Georg (2014). Effektstärken: Statistische, praktische und theoretische Bedeutsamkeit empirischer Befunde. [https: / / www.researchgate.net/ publication/ 235701049_Statistische_praktische_und_ theoretische_Bedeutsamkeit] (16.03.2021) *Marx, Nicole (2005). Hörverstehensleistungen im Deutschen als Tertiärsprache. Zum Nutzen eines Sensibilisierungsunterrichts in „DaFnE“. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. Meindl, Claudia (2011). Methodik für Linguisten. Eine Einführung in Statistik und Versuchsplanung. Tübingen: Narr. Oswald, Frederick L./ Plonsky, Luke (2010). Meta-analysis in second language research: Choices and challenges. In: Annual Review of Applied Linguistics 30, 85-110. *Pietrzykowska, Agnieszka (2011). The influence of visual input enhancement on the acquisition of English embedded questions. In: Pawlak, Mirosław (Hg.). Extending the Boundaries of Research on Second Language Learning and Teaching. Berlin: Springer, 3-13. *Piske, Torsten/ MacKay, Ian R.A./ Flege, James Emil ( 2001 ). Factors affecting degree of foreign accent in an L2. A review. In: Journal of Phonetics 29, 191-215. Popham, William James/ Sirotnik, Kenneth A. (1973). Educational Statistics. Use and Interpretation . 2. Auflage. New York: Harper and Row. Raithel, Jürgen ( 2008 ). Quantitative Forschung. Ein Praxiskurs. 2 . durchgesehene Auflage. Wiesbaden: VS. Rasch, Björn/ Friese, Malte/ Hofmann, Wilhelm/ Naumann, Ewald (2014). Quantitative Methoden 1. Einführung in die Statistik für Psychologen und Sozialwissenschaftler. 4. Auflage. Berlin: Springer. Schäfer, Thomas (2016). Methodenlehre und Statistik. Einführung in Datenerhebung, deskriptive Statistik und Inferenzstatistik. Wiesbaden: Springer. Settinieri, Julia (2012). Statistische Verfahren. Grundlagenbeitrag. In: Doff, Sabine (Hg.). Fremdsprachenunterricht empirisch erforschen. Grundlagen - Methoden - Anwendung. Tübingen: Narr, 249-270. Wirtz, Christof/ Nachtigall Markus ( 2012 ). Deskriptive Statistik. Statistische Methoden für Psychologen Teil 1. 6. überarbeitete Auflage. Weinheim: Beltz Juventa. » Zur Vertiefung empfohlen Backhaus, Klaus/ Erichson, Bernd/ Plinke, Wulff/ Weiber, Rolf (2016). Multivariate Analyseverfahren. Eine anwendungsorientierte Anwendung. 14. überarbeitete und aktualisiert Auflage. Berlin: Springer. Ein Klassiker im Bereich der multivariaten Analyseverfahren ist Backhaus et al. (2016), der kapitelweise in die einschlägigen Verfahren einführt, so dass es problemlos möglich ist, auch nur zu einem ausgewählten Verfahren zu lesen. Allerdings ist diese Einführung nicht auf unser Fach bezogen. Field, Andy ( 2017 ). Discovering Statistics Using IBM SPSS Statistics. 5 . Auflage. Los Angeles: Sage. Diese englischsprachige Einführung in Statistik mit SPSS ist einerseits unterhaltsam und bereits für Einsteiger verständlich geschrieben, umfasst andererseits alle relevanten Grundlagen und Verfahren, so dass sich die Anschaffung auch längerfristig lohnt. Der Autor hat darüber hinaus zahlreiche weitere Statistik-Einführungen geschrieben, u. a. auch R-basierte. 366 5. Forschungsverfahren Larson-Hall, Jenifer (2016). A Guide to Doing Statistics in Second Language Research Using SPSS and R. New York: Routledge. Eine der wenigen aktuellen fachspezifischen Einführungen in statistische Analysen bietet Larson- Hall (2016). Besonders lesenswert ist Kapitel 4, das unter dem Titel „Changing the Way We Do Statistics“ auf neuere Überlegungen zu Effekt- und Teststärkeanalysen eingeht. Eine Kurzversion, die insbesondere auch Ergebnissatzformulierungen, Graphikoptionen und Beispielstudien bietet, ist Larson-Hall (2012; s. o.). Plonsky, Luke (Hg.) (2015). Advancing Quantitative Methods in Second Language Research. New York: Routledge. Ebenfalls fachspezifisch gehen die Beiträge dieses Sammelbands auf für die Fremdsprachenforschung besonders relevante statistische Verfahren ein. Neben Grundverfahren werden dabei auch komplexere und aktuellere Verfahren wie Meta-Analysen, Rasch-Analysen oder auch Bayes-Statistik thematisiert. Rasch, Björn/ Friese, Malte/ Hofmann, Wilhelm/ Naumann, Ewald (2014). Quantitative Methoden 1/ 2. Einführung in die Statistik für Psychologen und Sozialwissenschaftler. 4. Auflage. Berlin: Springer. Diese Einführung erläutert sehr kleinschrittig statistische Grundlagen, stellt allerdings ausschließlich Grundverfahren dar und spart multivariate Verfahren aus. Dafür sind Überlegungen zu Effekt- und Teststärke sowie zum Stichprobenumfang ausführlich berücksichtigt, ohne dabei zu mathematisch zu werden. Übungen und Aufgaben sowie ergänzende Online-Materialien bieten Gelegenheit, den Stoff zu vertiefen. 5.3.12 Test- und Fragebogenstatistik Henning Rossa/ Daniel Mischa Helsper 1 Zum Einsatz von Tests und Fragebögen in fremdsprachendidaktischer Forschung Mit Tests und Fragebögen werden in quantitativ orientierten Forschungsdesigns Daten erhoben, die der empirischen Überprüfung von theoretisch begründeten Annahmen zu Untersuchungsgegenständen dienen. In der fremdsprachendidaktischen Forschung soll auf diese Weise ein Beitrag zu der grundlegenden Aufgabe geleistet werden, Wirkungen und Zusammenhänge im Kontext des Lehrens und Lernens von Fremdsprachen empirisch zu erfassen, zu beschreiben und in ihrer Komplexität zu verstehen (s. Kap. 2 ). Die methodische Entscheidung für den Einsatz von Tests und Fragebögen ist dabei durch inhaltliche Fragestellungen motiviert, die sich auf bereits etablierte theoretische Konzepte beziehen. Konzepte, die für die fremdsprachendidaktische Theoriebildung von Bedeutung sind, (z. B. mit Blick auf die Lehrenden fachdidaktisches Professionswissen und Selbstwirksamkeitserwartungen von angehenden Lehrkräften oder mit Blick auf die Lernenden Lesekompetenz in der Fremdsprache und Motivation für das Sprachenlernen) zeichnen sich dadurch aus, dass sie nicht direkt beobachtbar und somit nicht direkt messbar sind. Diese sog. latenten Konstrukte (auch: latente Variablen, latente Merkmale) lassen sich anders als manifeste Variablen wie „Alter“, „Anzahl bereits erworbener Sprachen“oder 5.3.12 Test- und Fragebogenstatistik 367 „Bildungsgang“ in der Regel nicht durch einen einzigen Indikator (Item) erfassen. Stattdessen werden zur Messung latenter Konstrukte verschiedene Indikatoren (Fragen bzw. Aufgaben) in Fragebogenskalen bzw. Tests zusammengefasst, um die Komplexität der Konstrukte angemessen abzubilden. Es ist außerdem zu beachten, dass im fremdsprachendidaktischen Diskurs gewöhnlich kein klarer Konsens bezüglich der Frage existiert, wie das jeweilige Konstrukt genau zu verstehen, geschweige denn empirisch zu erfassen ist. Im Rahmen der Auswahl und Entwicklung geeigneter Test- und Fragebogeninstrumente (s. Kap. 5 . 2 . 4 und 5 . 2 . 8 ) muss daher möglichst genau erläutert und spezifiziert werden, welche Bedeutung das Konstrukt im vorliegenden Forschungsvorhaben hat und wie es in Aufgaben bzw. Fragebogenskalen operationalisiert wird. Angesichts dieser notwendigen theoriebezogenen Vorarbeiten wird deutlich, dass im weiteren Verlauf des Forschungsprozesses die Qualitätssicherung der eingesetzten Messinstrumente von fundamentaler Bedeutung ist, bevor in einem zweiten Schritt die erhobenen Daten mit Blick auf die inhaltlichen Fragestellungen sinnvoll ausgewertet und interpretiert werden können. Hier stehen insbesondere die Kriterien der Reliabilität und Validität der erhobenen Daten im Vordergrund (s. Kap. 5 . 2 . 8 ): Wie belastbar, wie konsistent sind die Messungen? Lassen sich die theoretischen Annahmen in Bezug auf die latenten Forschungsgegenstände bestätigen? Inwiefern sind inhaltliche Schlüsse und Interpretationen der Daten gültig? Antworten auf diese Fragen lassen sich mithilfe von statistischen Verfahren finden und überprüfen. Verfahren der Test- und Fragebogenstatistik lassen sich allgemein dem Bereich der sogenannten Testtheorie zuordnen. Diese beschäftigt sich mit der Messung latenter Konstrukte und unterteilt sich wiederum in die Ansätze der klassischen (KTT) und probabilistischen Testtheorie (auch Item-Response -Theorie oder IRT genannt). Die klassische Testtheorie kommt meist bei kontinuierlichen Antwortformaten (z. B. Fragebögen), die probabilistische Testtheorie bei dichotomen Antwortformaten (z. B. Tests) zum Einsatz. Auch wenn die Ansätze häufig gegenübergestellt werden, ergänzen sie sich gegenseitig. Mithilfe der KTT wird in der Regel versucht, Schlüsse auf die wahren Werte einer Stichprobe zu ziehen. Sie wird daher auch als Messfehlertheorie bezeichnet. Die IRT konzentriert sich auf die Schätzung von Item- und Personenparametern, um Aussagen über latente Merkmale von Items und Personen zu treffen. Bei beiden Ansätzen handelt es sich um standardisierte mathematische Prozeduren, mit denen anhand numerischer Daten Annahmen über latente Konstrukte und Schlussfolgerungen über Ausprägungen, Wirkungen und Zusammenhänge geprüft werden. So untersucht Marx ( 2005 , Referenzarbeit, s. Kap. 7 ) in ihrer Studie zu Hörverstehensleistungen Gruppenunterschiede mit zwei unterschiedlichen Verfahren, den non-parametrischen Mann-Whitney-U-Tests und der Varianzanalyse bei Messwiederholung (MANOVA). In der Referenzarbeit von Biebricher ( 2008 , s. Kap. 7 ) prüft die Autorin die Varianzhomogenität ihrer Kontroll- und Experimentalgruppen und nutzt ebenfalls die univariate Varianzanalyse, um Veränderungen hinsichtlich zweier Sprachkompetenzindikatoren zu prüfen. In den folgenden Abschnitten des Beitrags gehen wir einen Schritt zurück und beschreiben die grundlegenden Analysen, die für die Auswahl und (Weiter-)Entwicklung der Messinstrumente von Bedeutung sind. 368 5. Forschungsverfahren 2 Itemanalysen: Schwierigkeit, Varianz, Trennschärfe Itemanalysen dienen dazu, die Indikatoren eines Tests bzw. Fragebogens hinsichtlich ihrer Differenzierungsfähigkeit zu überprüfen. Es stellt sich zunächst die Frage, inwiefern es den Items insgesamt gelingt, zwischen unterschiedlichen Ausprägungen des erfassten Konstrukts auf Seiten der Teilnehmenden zu diskriminieren. Das Ziel der Analysen besteht darin, im Rahmen einer ersten empirischen Erprobung an einer Stichprobe (Pilotierung) geeignete Items für einen Test bzw. Fragebogen auszuwählen und weniger geeignete Items zu identifzieren und ggfs. zu überarbeiten (vgl. Kelava/ Moosbrugger 2020 : 153 ). Als deskriptive statistische Werte, die eine solche Einschätzung der Messinstrumente ermöglichen, gelten üblicherweise die Schwierigkeit, die Varianz und die Trennschärfe. Alle drei Kriterien zusammengenommen lassen sich als Hinweise deuten, ob die Items dasselbe Konstrukt messen und die angestrebte Differenzierung zwischen den Teilnehmenden ermöglichen. Zusätzlich sind auch stärker qualitativ orientierte Maßnahmen der Qualitätssicherung zu empfehlen, z. B. Interviews mit Teilnehmenden oder der Einsatz introspektiver Methoden, um zu entscheiden, ob Items klar verständlich sind oder ob möglicherweise noch weitere Items entwickelt werden müssen, damit ggfs. bislang nicht berücksichtigte Facetten des Konstrukts noch in den Test bzw. die Fragebogenskala aufgenommen werden können. Die Itemanalyse besteht nach Kelava und Moosbrugger ( 2020 : 145 ) aus mehreren Schritten: 1. Analyse der Itemschwierigkeiten 2. Bestimmung der Itemvarianzen 3. Vorläufige Testwertermittlung 4. Trennschärfeanalyse der Items 5. Itemselektion auf Basis von Itemschwierigkeit, Itemvarianz und Trennschärfe 6. Erneute Testwertbestimmung Der Begriff Itemschwierigkeit beschreibt das durchschnittliche Antwortniveau eines Items und bezieht sich auf das Ziel der Differenzierung: Items müssen so konstruiert werden, dass die Teilnehmenden unterschiedliche Antworten auswählen oder eingeben. Bei dichotomen Daten entspricht die Itemschwierigkeit dem prozentualen Anteil richtig gelöster Aufgaben. Bei anderen Skalenniveaus werden der Median bzw. der Mittelwert berechnet und üblicherweise auf Werte zwischen 0 und 1 standardisiert. Für die Berechnung werden üblicherweise richtige und falsche Antworten sowie ausgelassene und unbearbeitete Antworten gezählt. In der Item-Response -Theorie werden Itemschwierigkeiten und die Fähigkeiten der Teilnehmenden auf derselben Skala geschätzt. Die wichtigste Annahme der Item-Response- Theorie ist eine stochastische Beziehung zwischen der erfolgreichen oder erfolglosen Bearbeitung einer Aufgabe und der gemessenen latenten Fähigkeit (vgl. Embretson/ Reise 2000 ). Die Annahmen der Klassischen Testtheorie lassen Items, die extrem schwierig oder extrem leicht sind (weniger als 20 % richtige Lösungen bzw. mehr als 80 % richtige Lösungen) messtheoretisch problematisch erscheinen (Bodeneffekt/ Deckeneffekt, vgl. Lienert/ Raatz 1994 ). Modelle der IRT hingegen ermöglichen die Modellierung von Items auf allen Schwierigkeitsniveaus, allerdings ist zu beachten, dass die Genauigkeit der Schätzung bei extremen Werten zunehmend kleiner wird. Wenn im Prozess der Testentwicklung Zusammenhänge zwischen Aufgabenmerkmalen und empirisch gewonnenen Schwierigkeitswerten von Testaufgaben erkannt werden, können diese bei der weiteren Auswahl und Revision der Aufgaben berücksichtigt werden, um die Schwierigkeitsstufe einer gegebenen Aufgabe bewusst zu steigern bzw. zu verringern. Um solche Zusammenhänge darzustellen, ist es notwendig, die Korrelation zwischen Merkmalseinschätzungen (Rating-Verfahren) und den durchschnittlichen Lösungshäufigkeiten der Aufgaben zu berechnen. Die Itemvarianz entspricht bei zweistufigen Items dem Produkt der Wahrscheinlichkeiten das Item richtig oder falsch zu lösen. Die maximale Varianz ergibt sich somit für Items mit einer Schwierigkeit von 50 %, während bei Schwierigkeiten von 100 % bzw. 0 % (alle bzw. keine Teilnehmenden haben die richtige Antwort gewählt oder gegeben) keine Varianz vorliegt. Durch Addition der Itemwerte der einzelnen Teilnehmenden ergeben sich die vorläufigen Testwerte. Der Zusammenhang dieser Werte mit den einzelnen Itemwerten entspricht den (unkorrigierten) Itemtrennschärfen. Diese Korrelationen können Werte von - 1 bis 1 annehmen und geben an, in welchem Maße die Differenzierungsleistung eines Items der Differenzierungsleistung aller Items zusammen entspricht. Eher positive Trennschärfenwerte zeigen an, dass das Item von Teilnehmenden richtig gelöst wird, die auch insgesamt einen hohen Testwert erreichen. Teilnehmende mit einer geringeren Ausprägung des erfassten Merkmals lösen das Item eher nicht richtig. Positive Trennschärfenwerte lassen sich also als Hinweis darauf interpretieren, dass das Item einen Beitrag zur Messgenauigkeit des Tests insgesamt leistet, während negative Trennschärfenwerte das Gegenteil bedeuten (Kelava/ Moosbrugger 2020 : 155 ). In diesen Fällen lohnt es sich, das Item und die dazugehörigen Instruktionen auf möglicherweise irreführende Formulierungen oder sonstige Mängel wie konstruktirrelevante Anforderungen zu überprüfen. 3 Messgüte von Tests und Fragebögen: Reliabilität und Validität Wie eingangs erwähnt, geht es beim Einsatz von Tests und Fragebögen in der fremdsprachendidaktischen Forschung in der Regel um eine Messung latenter Konstrukte, auf deren Grundlage verallgemeinerbare Aussagen über inhaltliche Forschungsfragen getroffen werden sollen (z. B. ob das fachdidaktische Professionswissen von Englischlehrkräften mit deren Selbstwirksamkeitserwartungen zusammenhängt). Die Aussagekraft der so gewonnen Daten hängt in entscheidendem Maße davon ab, wie gut es überhaupt gelungen ist, die Konstrukte zu erfassen. Die Bestimmung der Messgüte stellt daher einen zentralen - wenn auch manchmal etwas randständig behandelten - Aspekt beim Einsatz von Tests und Fragebögen in der fremdsprachendidaktischen Forschung dar. Dies gilt nicht nur für die Entwicklung neuer Messinstrumente, sondern auch für den Einsatz bereits existierender Tests und Fragebögen. Auch bestehende Messinstrumente sollten zunächst erprobt und ggfs. für die eigenen Zwecke angepasst werden. Die Bestimmung der Messgüte in der klassischen Testtheorie (KTT) orientiert sich an den Gütekriterien der Reliabilität und Validität: 5.3.12 Test- und Fragebogenstatistik 369 370 5. Forschungsverfahren 1. Wie zuverlässig messen wir das, was wir messen? (Reliabilität) 2. Messen wir tatsächlich das, was wir messen wollen? (Validität) Diese Fragen implizieren, dass es für die Bestimmung der Reliabilität zunächst unerheblich ist, ob mit dem Test oder Fragebogen auch das gemessen wird, was gemessen werden soll. Sie stellt zunächst nur ein Maß für die Genauigkeit der Messung dar. Dennoch kann die Reliabilität als eine wesentliche Voraussetzung für eine valide Messung betrachtet werden. Im Folgenden werden gängige Praktiken der Reliabilitäts- und Validitätseinschätzung in der fremdsprachendidaktischen Forschungspraxis vorgestellt. Reliabilität Mit dem Begriff der Reliabilität wird die Messgenauigkeit bzw. -zuverlässigkeit eines Tests oder Fragebogens bezeichnet, welche sich mithilfe geeigneter statistischer Verfahren überprüfen bzw. schätzen lässt. Messungen latenter Konstrukte basieren auf (oftmals impliziten) Messmodellen (z. B. dass alle Items eines Tests oder Fragebogens ein und dasselbe Konstrukt erfassen oder in gleichem Maße zwischen den Probanden unterscheiden). Im Folgenden werden Verfahren der klassischen Testtheorie (KTT) vorgestellt, die sich auf eindimensionale Konstrukte beziehen (für mehrdimensionale Modelle vgl. Schermelleh- Engel/ Gäde 2020 und für die Schätzung der Messgenauigkeit im Rahmen der Item-Response- Theorie vgl. Rose 2020 ). Gemäß der klassischen Testtheorie misst ein Test oder Fragebogen ein Konstrukt genau, wenn die Messergebnisse nur einen geringen Messfehler aufweisen. Diese Annahme basiert auf der Grundgleichung der klassischen Testtheorie (KTT), die davon ausgeht, dass sich jeder Messwert einer Person auf einer Variablen y i additiv aus einem wahren Wert τ i und einem Messfehler ε i zusammensetzt (Gäde/ Schermelleh-Engel/ Werner 2020 : 310 ): 𝑦𝑦𝑦𝑦 𝑖𝑖𝑖𝑖 = 𝜏𝜏𝜏𝜏 𝑖𝑖𝑖𝑖 + 𝜀𝜀𝜀𝜀 𝑖𝑖𝑖𝑖 Die klassische Testtheorie versucht dementsprechend, Aussagen über die wahren Werte und die Messfehler in konkreten Stichproben zu machen. Die Reliabilität als Maß der Messgenauigkeit ist nach Gäde, Schermelleh-Engel und Werner ( 2020 : 308 ) definiert als das Verhältnis der Varianz des wahren Werts zur Gesamtvarianz, wobei sich die Gesamtvarianz aus der Varianz des wahren Werts und der Varianz des Messfehlers zusammensetzt: 𝑅𝑅𝑅𝑅𝑅𝑅𝑅𝑅𝑅𝑅𝑅𝑅(𝑌𝑌𝑌𝑌) = 𝑉𝑉𝑉𝑉𝑉𝑉𝑉𝑉𝑉𝑉𝑉𝑉(𝑇𝑇𝑇𝑇) 𝑉𝑉𝑉𝑉𝑉𝑉𝑉𝑉𝑉𝑉𝑉𝑉(𝑌𝑌𝑌𝑌) = 𝑉𝑉𝑉𝑉𝑉𝑉𝑉𝑉𝑉𝑉𝑉𝑉(𝑇𝑇𝑇𝑇) 𝑉𝑉𝑉𝑉𝑉𝑉𝑉𝑉𝑉𝑉𝑉𝑉(𝑇𝑇𝑇𝑇) + 𝑉𝑉𝑉𝑉𝑉𝑉𝑉𝑉𝑉𝑉𝑉𝑉(𝐸𝐸𝐸𝐸) Der Wertebereich der Reliabilität liegt - egal welches Reliabilitätsmaß verwendet wird - immer zwischen 0 (fehlende Messgenauigkeit) und 1 (perfekte Messgenauigkeit). Für die Schätzung der Reliabilität stehen im Rahmen der klassischen Testtheorie unterschiedliche Verfahren zur Verfügung, die sich grob in klassische und modellbasierte Verfahren unterteilen lassen (vgl. Gäde/ Schermelleh-Engel/ Werner 2020 ; Schermelleh-Engel/ Gäde 2020 ). Alle diese Verfahren dienen dazu, die Reliabilität gemäß der o. g. Definition zu schätzen, tun dies jedoch auf unterschiedliche Weise. Klassische Methoden der Reliabili- 5.3.12 Test- und Fragebogenstatistik 371 tätsschätzung basieren auf empirischen Stichprobenkennwerten (z. B. den Varianzen und Kovarianzen der Items eines Tests oder eines Fragebogens), während modellbasierte Methoden auf den Modellparametern eines formal spezifizierten Messmodells basieren, die im Rahmen konfirmatorischer Faktorenanalysen (CFA) geschätzt werden können (s. Kap. 5 . 3 . 11 ). Verfahren der Reliabilitätsschätzung liegen in der Regel implizite Messmodelle mit teils strikten Modellannahmen zugrunde. Modellbasierte Verfahren besitzen den Vorteil, dass mit ihnen verschiedene Messmodelle mit unterschiedlich strengen Annahmen explizit überprüft und ggfs. verworfen werden können, während diese Bedingungen bei klassischen Verfahren selten überprüft bzw. teilweise überhaupt nicht formuliert werden (wenn z. B. Cronbachs Alpha berichtet wird, ohne die damit verbundenen Modellannahmen vorab explizit zu überprüfen). Klassische und modellbasierte Verfahren der Reliabilitätsschätzung unterscheiden sich darüber hinaus hinsichtlich der ihnen zugrundeliegenden Modellannahmen: Damit ein empirisches Varianzverhältnis als Reliabilität interpretiert werden darf, muss die Gültigkeit bestimmter Modellrestriktionen gegeben sein. Die klassischen und modellbasierten Methoden unterscheiden sich u. a. hinsichtlich der Art und Anzahl der geforderten Modellrestriktionen. (Schermelleh-Engel/ Gäde 2020: 337) Das wohl bekannteste klassische Maß für die Reliabilität ist Cronbachs Alpha (Cronbach 1951 ). Die Berechnung von Cronbachs Alpha ist mit gängigen Statistikprogrammen (z. B. SPSS, R) möglich, so dass hier auf eine formale Darstellung der Formel verzichtet wird. Allerdings sind mit der Berechnung von Cronbachs Alpha und allgemein klassischen Methoden der Reliabilitätsschätzung meist unausgesprochene messtheoretische Annahmen verbunden, die nur selten formuliert und noch seltener überprüft werden. Misst man beispielsweise die Selbstwirksamkeitserwartungen angehender Fremdsprachenlehrkräfte mithilfe eines mehrere Items umfassenden Fragebogens und berechnet anschließend Cronbachs Alpha, geht man implizit von der Eindimensionalität des Konstrukts aus. Eindimensionalität bedeutet, dass alle Items eines Tests oder Fragebogens ein einziges, gemeinsames latentes Konstrukt erfassen. Ob diese Annahme gerechtfertigt ist, wird nur selten überprüft, kann jedoch mithilfe der CFA geprüft werden. Darüber hinaus geht Cronbachs Alpha von der Messäquivalenz der Items aus, was bedeutet, dass alle Items eines Tests oder Fragebogens in gleichem Maße zwischen den Teilnehmenden diskriminieren. Cronbachs Alpha liegen also zwei implizite Modellannahmen zugrunde: die Messäquivalenz der einzelnen Items und die Eindimensionalität des Modells. Da diese Annahmen in der Praxis häufig verletzt sind, werden in neueren Forschungen stattdessen weniger restriktive Maße wie McDonalds Omega (McDonald 1999 ) empfohlen (vgl. Schermelleh-Engel/ Gäde 2020 ). Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass sich auch Cronbachs Alpha nicht nur klassisch, sondern auch modellbasiert bestimmen lässt. Dennoch ist auch in diesem Falle zu überprüfen, inwiefern die Daten den zugrundeliegenden Modellannahmen entsprechen. Ist eine faktorenanalytische Überprüfung der Voraussetzungen für Cronbachs Alpha aufgrund eines zu geringen Stichprobenumfangs nicht möglich, kann ggfs. dennoch Cronbachs Alpha herangezogen werden, sollte jedoch vorsichtig interpretiert werden (vgl. Gäde/ Schermelleh-Engel/ Werner 2020 : 332 ). Eine wichtige Einschränkung bei der 372 5. Forschungsverfahren Interpretation des Reliabilitätsmaßes besteht darin, dass Cronbachs Alpha zwar Eindimensionalität des gemessenen Konstrukts voraussetzt, selbst jedoch nicht als Maß für die Dimensionalität der Messung genutzt werden kann (vgl. Gäde/ Schermelleh-Engel/ Werner 2020 : 318 ). Als Faustregeln für die Beurteilung klassischer Reliabilitätsmaße gelten folgende Konventionen (vgl. z. B. Nunally 1967 , 1978 und v. a. Gäde/ Schermelleh-Engel/ Werner 2020 : 331 ): • bei heterogenen Konstrukten mindestens 0 , 70 • bei homogenen Konstrukten zwischen 0 , 80 und 0 , 90 • bei Leistungstests > 0 , 90 Der Vollständigkeit halber sei auf weitere klassische Methoden der Reliabilitätsschätzung hingewiesen. Dazu zählen v. a. Formen der Test-Test-Reliabilität, die auf Korrelationen zwischen mehreren Tests oder Testhälften basieren, wie die Retest-Reliabilität, Paralleltest- Reliabilität und Split-Half-Reliabilität. Da diese Formen der Reliabilitätsschätzung jedoch noch strengere Annahmen mit sich bringen als Cronbachs Alpha, wird auf eine detaillierte Darstellung an dieser Stelle verzichtet (vgl. dazu Gäde/ Schermelleh-Engel/ Werner 2020 : 322 - 328 ). Daneben gibt es eine Reihe weiterer Probleme wie die potenzielle Instabilität des erfassten Konstrukts oder Erinnerungseinflüsse auf Seiten der Testteilnehmenden bei Wiederholungsmessungen. Bei der Messung produktiver fremdsprachiger Kompetenzen wie auch bei der beobachtungsbasierten Messung anderer latenter Konstrukte (z. B. Unterrichtsqualität) spielt noch eine weitere Form der Reliabilität eine gewichtige Rolle: die Beurteilerübereinstimmung (vgl. z. B. Harsch/ Martin 2012 , 2013 ). Sie basiert auf der Übereinstimmung der Perspektiven mehrerer Personen. Auch hierfür stehen verschiedene Koeffizienten zur Verfügung (vgl. Wirtz/ Caspar 2002 ), wobei in der jüngeren Forschung vermehrt auf im Rahmen von Generalisierbarkeitsstudien gewonnene Generalisierbarkeitskoeffizienten zurückgegriffen wird (vgl. Cronbach et al. 1972 ; Shavelson/ Webb 1991 ; Brennan 2001 ; Praetorius 2014 ). Validität Im Gegensatz zur Reliabilität existieren für die Bestimmung der Validität keine eindeutig definierten statistischen Maße. Stattdessen wird vermehrt auf qualitative Ansätze der Validierung zurückgegriffen (vgl. Messick 1989 ; Kane 2001 ; Weir 2005 ; Rossa 2012 ). Insbesondere der argumentationsbasierte Ansatz verdient besondere Hervorhebung (vgl. Kane 2001 ), der die verschiedenen Formen der Validität (Konstruktvalidität, Kriteriumsvalidität, prognostische Validität, Inhaltsvalidität, Augenscheinvalidität, konvergente und divergente/ diskriminante Validität, faktorielle Validität) berücksichtigt und zu vereinigen sucht (vgl. Hartig/ Frey/ Jude 2020 : 531 ). Neuere Ansätze betrachten Validität nicht als Eigenschaft eines Tests oder Fragebogens, sondern als Gütekriterium dafür, „inwieweit spezifische Interpretationen von Testwerten für die beabsichtigten Verwendungen“ (Hartig/ Frey/ Jude 2020 : 530 ) eines Tests oder Fragebogens gerechtfertigt sind. Es gibt im Fachdiskurs auch Stimmen, die den Sinn der traditionellen korrelativen Validierungsstudien in Frage stellen, da diese sich oft auf nur © 2022 ⚫ Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 5.3.12 Test- und Fragebogenstatistik Entwicklung der Messinstrumente Latentes Konstrukt Datenauswertung Evaluation Pilotierung Stichprobe auswählen Verständlichkeit prüfen Dimensionalität prüfen Aufgabenmerkmale einschätzen Itemanalysen Itemselektion Item 01 Item 04 Item 02 Item 05 Item n Item 03 Schwierigkeit Itemwerte Testwert Varianz Trennschärfe Reliabilität Belege für die Gültigkeit der Testergebnisse und ihrer Interpretation zusammentragen (argumentationsbasierte Validierung). Einfluss von Variablen auf die Testergebnisse (korrelative Strukturen) prüfen durch Varianz- und Faktorenanalysen. 374 5. Forschungsverfahren vage postulierte Zusammenhänge zwischen dem zu messenden Konstrukt und anderen Attributen stützen. Borsboom, van Heerden und Mellenbergh ( 2004 : 1061 ) argumentieren, dass Validität sehr wohl als Merkmal eines Tests und seiner Items zu begreifen ist: If something does not exist, then one cannot measure it. If it exists but does not causally produce variations in the outcomes of the measurement procedure, then one is either measuring nothing at all or something different altogether. Thus, a test is valid for measuring an attribute if and only if (a) the attribute exists and (b) variations in the attribute causally produce variations in the outcomes of the measurement procedure. 4 Anwendungsbeispiel: Pilotierung von Testaufgaben Die Pilotierung von Testaufgaben zielt darauf ab, die testtheoretische Güte der Aufgaben zu prüfen und Bezüge zu den gemessenen Fähigkeiten der Testteilnehmenden herzustellen. Messen die Aufgaben zuverlässig und konsistent die gleiche Fähigkeit? Gelingt es den Aufgaben, zwischen verschiedenen Fähigkeitsniveaus auf Seiten der Testteilnehmenden zu unterscheiden? Gibt es genügend leichte, mittelschwere und schwere Aufgaben? In der folgenden Tabelle werden die zehn Items eines fremdsprachigen Hörverstehenstests nach abnehmender Schwierigkeit bzw. zunehmender Lösungshäufigkeit (Auswahl der richtigen Antwort) sortiert, die an einer Stichprobe von 81 Schülerinnen und Schülern pilotiert wurden. Die Spalten mit der Überschrift „Antwort“ zeigen die prozentuale Verteilung der gewählten Antworten. Insgesamt lässt sich mit Blick auf die hier analysierten Hörverstehensaufgaben feststellen, dass die durchschnittliche Lösungshäufigkeit bei 56 , 77 % liegt. Dies deutet an, dass der Test angemessen schwierig für die gewählte Stichprobe ist. Antwort Item a b c ausgelassen fehlend HV1 -1 25 , 9 0 , 0 70 , 5 1 , 4 2 , 2 HV1 -2 62 , 6 29 , 5 4 , 3 1 , 4 2 , 2 HV1 -3 30 , 2 54 , 0 11 , 5 3 , 6 0 , 7 HV1 -10 13 , 7 21 , 6 55 , 4 8 , 6 0 , 7 HV1 -8 13 , 7 56 , 8 16 , 5 12 , 2 0 , 7 HV1 -7 11 , 5 58 , 3 28 , 8 0 , 7 0 , 7 HV1 -9 32 , 4 3 , 6 59 , 0 0 , 7 4 , 3 HV1 -6 25 , 9 69 , 8 2 , 2 0 , 7 1 , 4 HV1 -4 7 , 2 12 , 2 74 , 1 5 , 0 1 , 4 HV1 -5 7 , 2 6 , 5 84 , 9 0 , 0 1 , 4 Tabelle 1: Lösungshäufigkeiten HV Multiple-Choice Items, richtige Antworten grau markiert 5.3.12 Test- und Fragebogenstatistik 375 Für Items, die zusammengenommen eine Skala ergeben, gilt in der Regel die Annahme, dass Cronbachs Alpha Werte über 0 , 7 und unter 0 , 9 annehmen sollte, um eine genügende Konsistenz der Aufgaben berichten zu können. Eine genügende Konsistenz der Aufgaben unterstützt die Vermutung, dass alle Items die gleiche Fähigkeit messen (vgl. hierzu Nunnally/ Bernstein 1994 ). Die Reliabilitätswerte des hier analysierten Hörverstehenstests (Items HV 1 - 1 bis HV 1 - 10 ) sind angesichts der Tatsache, dass es sich bei der vorliegenden Pilotierung um die erste empirische Überprüfung der entwickelten Aufgaben handelt, als akzeptabel einzuschätzen (Cronbachs Alpha: 0 , 712 bzw. EAP/ PV, Reliabilitätswert im Rahmen der Raschskalierung: 0 , 726 ; vgl. Rost 2004 ). Die Itemtrennschärfe schätzt ein, inwiefern Items dazu in der Lage sind, zwischen stärker und schwächer ausgeprägten Kompetenzen auf Seiten der Testteilnehmenden zu unterscheiden. Aufgaben mit geringer oder gar negativer Trennschärfe verfälschen gewissermaßen die Erkenntnisse über die Fähigkeitsausprägungen der Testteilnehmenden, die sich aus den Testergebnissen ableiten lassen. Im Allgemeinen wird bei Trennschärfen unterhalb des Wertes 0 , 25 empfohlen, Items aus dem Test zu entfernen. Dies trifft bei den hier dokumentierten Hörverstehensaufgaben auf fünf Items zu. Eine weniger strenge Auswahl ergibt drei Items mit Werten unter 0 , 20 (Spalte „Trennschärfe“ bei Items HV 1 - 1 , HV 1 - 3 , HV 1 - 9 , s. Tab. 2 ). Item % korrekt Trennschärfe Reliabilität, wenn Item gelöscht Veränderung der Reliabilität, wenn Item gelöscht HV1 -1 26 , 5 , 14 , 717 , 000 HV1 -2 30 , 1 , 42 , 694 -, 023 HV1 -3 54 , 3 , 19 , 714 -, 003 HV1 -10 55 , 8 , 42 , 693 -, 024 HV1 -8 57 , 2 , 26 , 709 -, 008 HV1 -7 58 , 7 , 28 , 707 -, 010 HV1 -9 61 , 7 , 17 , 716 -, 001 HV1 -6 70 , 8 , 35 , 700 -, 017 HV1 -4 75 , 2 , 22 , 711 -, 006 HV1 -5 86 , 1 , 25 , 710 -, 007 Tabelle 2: Itemanalyse HV1, problematische Items grau markiert Die Itemanalyse soll zudem helfen, solche Items zu identifizieren, deren Ausschluss die Reliabilität der Skala steigern würde. Wie in der folgenden Tabelle zu erkennen ist, trifft diese Beschreibung auf drei Items eines weiteren Aufgabensets (HV 2 -HV 3 ) zu (s. grau markierte Werte in der letzten Spalte, Tab. 3 ), die außerdem problematische Trennschärfen aufweisen. 376 5. Forschungsverfahren Item % korrekt Trennschärfe Reliabilität, wenn Item gelöscht Veränderung der Reliabilität, wenn Item gelöscht HV2 -1 25 , 9 , 11 , 720 , 003 HV2 -2 33 , 8 , 32 , 702 -, 015 HV2 -4 59 , 0 , 62 , 670 -, 047 HV2 -5 62 , 6 , 47 , 685 -, 032 HV2 -3 89 , 2 , 31 , 705 -, 012 HV3 -5 50 , 4 , 04 , 727 , 010 HV3 -2 50 , 7 , 35 , 700 -, 017 HV3 -3 71 , 0 , 36 , 700 -, 017 HV3 -1 74 , 1 , 36 , 700 -, 017 HV3 -4 82 , 0 -, 09 , 732 , 015 Tabelle 3: Itemanalyse HV2, HV3 Auf diese Weise können schon in der Vorbereitung eines Forschungsvorhabens deskriptive statistische Verfahren dazu genutzt werden, die Qualität der entwickelten Forschungsinstrumente und somit schließlich auch die Präzision und empirische Fundierung der Forschungsergebnisse zu sichern. › Literatur Forschungsarbeiten, in denen die hier erläuterten Verfahren angewendet werden, sind mit einem Sternchen markiert. *Biebricher, Christiane (2008). Lesen in der Fremdsprache. Eine Studie zu Effekten extensiven Lesens. 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Empirisches Arbeiten in Linguistik und Sprachlehrforschung: Anleitung zu quantitativen Studien von der Planungsphase bis zum Forschungsbericht. Tübingen: Narr. Der Band bildet in seiner Struktur die Phasen einer quantitativ orientierten empirischen Studie ab. Für Studien in den Forschungsfeldern der Linguistik und Sprachlehrforschung bieten die Autorinnen konkrete Hinweise, Hilfestellungen und Übungen, die sich auf alle Schritte im 378 5. Forschungsverfahren Forschungsprozess beziehen: eine Fragestellung formulieren, Gütekriterien berücksichtigen, ein angemessenes Forschungsdesign planen, Methoden der Datenerhebung und -auswertung auswählen und anwenden und schließlich den Forschungsbericht schreiben. Moosbrugger, Helfried/ Kelava, Augustin (Hg.) (2020). Testtheorie und Fragebogenkonstruktion. 3., vollständig neu bearbeitete, erweiterte und aktualisierte Auflage. Berlin: Springer. Das Handbuch beschreibt detailliert grundlegende Prinzipien der Entwicklung, Analyse und Auswertung von Tests und Fragebögen aus der Perspektive der psychologischen Diagnostik, einschließlich eines neun Kapitel umfassenden Mittelteils zur Testtheorie. Die Kapitel 12, 13 und 16 bieten eine Einführung in die Grundannahmen der klassischen und probabilistischen Testtheorie, während die übrigen Kapitel vertieft, aber anwenderfreundlich in grundlegende statistische Verfahren dieser beiden testtheoretischen Ansätze einführen. Plonsky, Luke (Hg.) (2015). Advancing Quantitative Methods in Second Language Research. New York: Routledge. Der Sammelband vereint Kapitel zu unterschiedlichen statistischen Verfahren im Kontext der internationalen quantitativen Fremdsprachenerwerbsforschung (SLA), einschließlich eines Kapitels zur Rasch-Analyse von Ute Knoch/ Tim McNamara. 5 . 3 . 13 Exploratorische und konfirmatorische Faktorenanalysen Thomas Eckes 1 Einleitung Faktorenanalysen bilden eine Klasse multivariater statistischer Analyseverfahren. Sie zielen darauf ab, Zusammenhänge zwischen einer großen Zahl von beobachteten (manifesten) Variablen (z. B. Skalen, Aufgaben oder Items von Sprachtests) auf eine deutlich geringere Zahl von nicht direkt beobachtbaren Variablen (z. B. fremdsprachliche Kompetenzen, Formen der Sprachlernmotivation) zurückzuführen. Diese nicht direkt beobachtbaren Variablen werden als Faktoren, latente Variablen oder Dimensionen bezeichnet. Bei einer exploratorischen Faktorenanalyse (EFA) ist vor der Untersuchung weder die Zahl der Faktoren noch die Art ihrer Beziehung zu den beobachteten Variablen bekannt. Eine EFA dient dazu, in den Daten möglicherweise vorhandene Strukturen aufzudecken. Diese Strukturen können zu Hypothesen darüber führen, wie die beobachteten Zusammenhänge zustande gekommen sind. Hierfür sind die Faktoren inhaltlich zu interpretieren, d. h., es sind die theoretisch bedeutsamen Variablen (Konstrukte) zu bestimmen, die den manifesten Variablen zugrunde liegen. Gibt es bereits Hypothesen oder Erklärungsansätze, so können diese mittels einer konfirmatorischen Faktorenanalyse ( confirmatory factor analysis ; CFA) überprüft werden. Eine CFA verlangt präzise Annahmen darüber, welche Faktoren mit welchen Variablen in Verbindung stehen; sie lässt sich damit der Formulierung und Analyse von Strukturgleichungsmodellen ( structural equation modeling ; SEM) subsumieren. 5.3.13 Exploratorische und konfirmatorische Faktorenanalysen 379 EFA und CFA teilen die Grundannahme, dass sich beobachtete Zusammenhänge zwischen einer Vielzahl von Variablen auf einige wenige Faktoren zurückführen lassen. Unterschiede zwischen EFA und CFA liegen primär in den theoretischen Voraussetzungen und im Ziel der Analyse bzw. Stand der Forschung (Brown 2006 ; Bandalos/ Finney 2010 ; Fabrigar/ Wegener 2012 ): In frühen Phasen eines Forschungsprozesses hilft eine EFA, beobachtete Zusammenhänge zwischen Variablen zu ordnen, die Anzahl von Faktoren zu bestimmen oder Messinstrumente (Skalen) zu entwickeln bzw. zu validieren; hierunter fällt auch die Analyse der dimensionalen Struktur von Sprachtests. In späteren Phasen, wenn schon erste empirisch gewonnene Erkenntnisse im fraglichen Gegenstandsbereich vorliegen, können im Rahmen einer CFA weiterführende Hypothesen über relevante Faktoren und ihre Beziehungen zu beobachteten Variablen formuliert und getestet werden. Eine CFA erlaubt auch den Vergleich konkurrierender Hypothesen oder Modelle. 2 Exploratorische Faktorenanalyse (EFA) Konzeption Die Grundidee der EFA sei anhand eines fiktiven Beispiels erläutert. Um einen Test des Leseverstehens in Deutsch als Fremdsprache zu entwickeln, mögen die folgenden sieben Testverfahren oder Skalen vorliegen: ( 1 ) Ein Lesetext mit fünf Multiple-Choice-Aufgaben (Skala von 0 bis 5 Punkten); ( 2 ) ein Text mit drei offenen Fragen ( 0 bis 3 Punkte); ( 3 ) ein C-Test (vier Lückentexte mit je 20 Lücken; 0 bis 80 Punkte); ( 4 ) ein mündlich zu reproduzierender Text ( 0 bis 3 Punkte); ( 5 ) ein schriftlich zusammenzufassender Text ( 0 bis 3 Punkte); ( 6 ) ein Wortschatztest ( 0 bis 20 Punkte); ( 7 ) ein Grammatiktest ( 0 bis 20 Punkte). Hat eine Stichprobe von Deutschlernenden jedes dieser Testverfahren bearbeitet, lassen sich die paarweisen Zusammenhänge zwischen den Verfahren ermitteln, vorzugsweise durch Berechnung der Produkt-Moment-Korrelation (PMK). Die resultierenden 21 Korrelationen werden in einer Matrix angeordnet. Diese Korrelationsmatrix dient der EFA als Datenbasis. Die Fragen, die zu beantworten sind, könnten wie folgt lauten: Messen alle sieben Verfahren dieselbe zugrunde liegende Dimension, also die Kompetenz im Leseverstehen, oder messen sie verschiedene Dimensionen? Um welche Dimensionen handelt es sich? Sind alle Verfahren gleichermaßen geeignet zur Messung einer gegebenen Dimension? Antworten auf diese Fragen hätten auch Konsequenzen für die Testauswertung (z. B. Berechnung von Testwerten im Gesamttest oder in Subtests) sowie für die Interpretation und Verwendung der Testergebnisse (z. B. für Zwecke der Einstufung oder Zertifizierung). Im Folgenden gehe ich davon aus, dass die manifesten Variablen in standardisierter Form vorliegen, d. h., die Werteverteilungen aller Variablen haben denselben arithmetischen Mittelwert ( M = 0 ) und dieselbe Standardabweichung ( SD = 1 ) bzw. Varianz ( Var = 1 ; so genannte z -Standardisierung). Die Beziehung zwischen einer standardisierten Variablen z i und den Faktoren f 1 bis f k wird in der Grundgleichung der EFA ( common factor model ) wie folgt ausgedrückt: 380 5. Forschungsverfahren (1) . 2 2 1 1 i k ik i i i u f a f a f a z + ⋅ + + ⋅ + ⋅ =  Die Gewichtungskoeffizienten a i 1 bis a ik geben an, wie gut die Variable z i durch die Faktoren f 1 bis f k erklärt wird; diese Koeffizienten werden auch Faktorladungen genannt. Faktorladungen können als Korrelationen zwischen Variablen und Faktoren interpretiert werden. Die Faktoren f 1 bis f k heißen gemeinsame Faktoren. Schließlich steht u i für die Residualvariable ( uniqueness component ; manchmal auch Fehlervariable genannt); die Residualvariable setzt sich zusammen aus (zufälligen) Messfehlern und (wahren) Anteilen, die auf Einflüsse eines oder mehrerer spezifischer Faktoren zurückgehen. Spezifische Faktoren sind Faktoren, die nur auf eine einzige Variable Einfluss nehmen. Im obigen Beispiel könnte dies z. B. bedeuten, dass die Leistung im Multiple-Choice-Test nicht nur von der Lesekompetenz, sondern auch von der strategischen Kompetenz beim Lösen von Multiple- Choice-Aufgaben abhängt. Abbildung 1 veranschaulicht das Modell der EFA am Beispiel eines einzigen Faktors. Eine grafische Darstellung dieser Art heißt auch Pfaddiagramm. Die Testverfahren bilden die manifesten Variablen; die Korrelationen zwischen den Testverfahren werden auf den Faktor Lesekompetenz zurückgeführt (die Pfeile zeigen die Richtung des Einflusses an). Die Residualvariablen sind mit u 1 bis u 7 , die Faktorladungen mit a 11 bis a 71 bezeichnet. Abbildung 1: Pfaddiagramm eines (fiktiven) EFA-Modells mit einem einzigen Faktor (Lesekompetenz) und sieben manifesten Variablen (Testverfahren) Setzt man unkorrelierte (orthogonale) Faktoren voraus, lässt sich die Varianz einer Variablen z i , Var ( z i ) = 1 , als Summe der quadrierten Faktorladungen und der Varianz der Residualkomponenten (Residualvarianz), Var ( u i ), darstellen: (2) ). ( ) ( 2 22 21 i ik i i i u Var a a a z Var + + + + =  Die Summe der Faktorladungsquadrate wird Kommunalität genannt. Bei der Kommunalität einer beobachteten Variablen handelt es sich um den Varianzanteil, der durch die Fakto- 5.3.13 Exploratorische und konfirmatorische Faktorenanalysen 381 ren erklärt wird, oder anders ausgedrückt, um den Anteil der gemeinsamen Varianz an der Gesamtvarianz einer Variablen. Die Höhe der durch einen Faktor erklärten Varianz aller standardisierten Variablen wird Eigenwert des Faktors genannt. Je höher der Eigenwert eines Faktors, desto größer ist sein Einfluss auf die Variablen. Abbildung 2 veranschaulicht die Varianzzerlegung im Modell der EFA. Abbildung 2: Aufteilung der Gesamtvarianz einer standardisierten Variablen gemäß EFA in die gemeinsame Varianz (Summe der Faktorladungsquadrate), die spezifische Varianz und die durch zufällige Messfehler bedingte Varianz Die Reliabilität einer Variablen setzt sich aus der Kommunalität (Anteil gemeinsamer Varianz) und der Spezifität (Anteil spezifischer Varianz) zusammen. Vergleicht man die Kommunalität einer Variablen mit ihrer Reliabilität, lässt sich der mögliche Einfluss spezifischer Faktoren abschätzen. Liegt die Kommunalität etwa auf Höhe der Reliabilität, teilt die Variable einen Großteil ihrer Varianz mit den gemeinsamen Faktoren; spezifische Faktoren sind dann von geringer oder gar keiner Bedeutung. Fällt dagegen die Kommunalität deutlich niedriger aus als die Reliabilität, ist anzunehmen, dass die Residualvarianz in erheblichem Maße auf einen oder mehrere spezifische Faktoren und nicht bloß auf Messfehler zurückgeht. Hauptschritte einer EFA Die Durchführung einer EFA gliedert sich in mehrere Schritte. Einige dieser Schritte erfordern Entscheidungen, die sich nicht oder nicht ausschließlich an objektiven Kriterien orientieren. Abbildung 3 gibt nach Art eines Flussdiagramms die Hauptschritte und ihre Abfolge wieder. Ausführliche Darstellungen geben z. B. Eid/ Gollwitzer/ Schmitt ( 2015 ), Hair et al. ( 2018 ) sowie Tabachnick/ Fidell ( 2018 ). Hinweise zur praktischen Anwendung finden sich bei Henson/ Roberts ( 2006 ) sowie Osborne/ Costello/ Kellow ( 2008 ). 382 5. Forschungsverfahren Abbildung 3: Hauptschritte einer exploratorischen Faktorenanalyse Zunächst ist das Ziel der Analyse zu klären. Liegen bereits Hypothesen über Faktorstrukturen vor und sind diese empirisch zu prüfen, dann handelt es sich um eine konfirmatorische Fragestellung, die mit einer CFA (oder einem SEM-Ansatz) zu untersuchen wäre; andernfalls wäre eine EFA angezeigt. Prinzipiell können Zusammenhänge zwischen Variablen, Fällen oder anderen Analyseeinheiten betrachtet werden. Üblicherweise werden Korrelationen zwischen Variablen berechnet und analysiert (auch R-Technik genannt; vgl. Bortz/ Schuster 2010 ). Werden dagegen Fälle (z. B. Testteilnehmer, Beurteiler oder Interviewer) mit Methoden der EFA untersucht, spricht man von Q-Technik. Mittels Q-Technik haben z. B. Diederich/ French/ Carlton ( 1961 ) Beurteiler danach klassifiziert, wie sie die Qualität von Englischaufsätzen auf einer neunstufigen Skala bewerteten. Allerdings finden sich Anwendungen dieser Technik eher selten, auch weil Clusteranalysen für die Klassifikation von Objekten oder Personen in der Regel geeigneter sind (Eckes/ Roßbach 1980 ; Bacher/ Pöge/ Wenzig 2010 ; Everitt et al. 2011 ). Vor der Durchführung einer EFA ist zu prüfen, ob die Daten bestimmte Voraussetzungen erfüllen. Ein Teil der Voraussetzungen betrifft das Design der Untersuchung, insbesondere 5.3.13 Exploratorische und konfirmatorische Faktorenanalysen 383 den Stichprobenumfang ( N ), die Anzahl der manifesten Variablen und das Skalenniveau der Variablen. Wird der Umfang N zu klein gewählt, sind ungenaue oder instabile Ergebnisse (z. B. verzerrte Schätzungen der Faktorladungen) zu erwarten. In den meisten Fällen, insbesondere bei Kommunalitäten unter . 60 , ist ein N deutlich über 100 erforderlich. Hat man eine grobe Vorstellung von der Anzahl der gemeinsamen Faktoren, wären pro Faktor fünf oder mehr Variablen zu berücksichtigen (Hair et al. 2018 ). Die Variablen selber sollten zumindest annähernd als intervallskaliert betrachtet werden können. Ein anderer Teil von Voraussetzungen bezieht sich auf die Korrelationsmatrix als Datenbasis einer EFA. Üblicherweise werden lineare Zusammenhänge zwischen den Variablen angenommen (z. B. bei Berechnung der PMK). Daher sollten bivariate Streudiagramme ( scatterplots ) auf Abweichungen von der Linearität untersucht werden. Zudem sollten wenigstens einige Variablen substanziell miteinander korrelieren. Liegt z. B. keine Einzelkorrelation höher als . 30 , wäre eine EFA wenig sinnvoll (der Anteil gemeinsamer Varianz läge sehr niedrig). Ein statistischer Test hierzu ist der Bartlett-Test auf Sphärizität. Ein signifikantes Ergebnis des Tests spräche dafür, dass die Variablen in der Population tatsächlich korreliert sind; damit wäre eine Mindestvoraussetzung für die Durchführung einer EFA erfüllt. Die Faktorenextraktion, also die Bestimmung der Faktoren bzw. Faktorladungen, kann nach mehreren Methoden erfolgen. Häufig kommen die Hauptachsenanalyse ( principal axis factoring ; PAF) oder die Maximum-Likelihood- Methode (ML-Methode) zur Anwendung. Letztere ist zugleich die Standardmethode im Rahmen einer CFA; sie wird im Abschnitt zur CFA kurz besprochen. Die PAF ist mit der Hauptkomponentenanalyse ( principal component analysis , PCA) verwandt. Aber anders als die PAF (bzw. das Modell der EFA) unterscheidet die PCA nicht zwischen gemeinsamer Varianz, spezifischer Varianz und Fehlervarianz einer beobachteten Variablen; Ziel ist es, die gesamte Varianz aufzuklären. Folglich fallen Unterschiede zwischen PAF- und PCA-Ergebnissen (unter sonst gleichen Bedingungen) umso größer aus, je höher die Anteile von spezifischer Varianz und Fehlervarianz sind. Die PCA ist eine Methode der statistischen Datenreduktion; sie dient dazu, eine Vielzahl von beobachteten Variablen unter möglichst geringem Informationsverlust zusammenzufassen, d. h. in Hauptkomponenten zu bündeln. Diese Hauptkomponenten bilden neue, unkorrelierte Variablen, die sich etwa als Prädiktoren in einer multiplen Regressionsanalyse verwenden lassen. Allerdings kommt die PCA häufig auch dann zum Einsatz, wenn eine Analyse nach dem EFA-Modell angezeigt wäre. Kritische Einschätzungen dieser weit verbreiteten Praxis geben z. B. Bandalos/ Boehm-Kaufman ( 2009 ), Fabrigar/ Wegener ( 2012 ) und Eid/ Gollwitzer/ Schmitt ( 2015 ). Im Fall einer PAF werden die gemeinsamen Faktoren aus einer reduzierten Korrelationsmatrix extrahiert. Diese Matrix ergibt sich aus der Ausgangsmatrix, indem die Einsen in der Hauptdiagonalen um den Anteil der Residualvarianz gemindert werden, d. h., in der Hauptdiagonalen stehen die Kommunalitäten (bei einer PCA bleibt es dagegen bei den Einsen, weil die Gesamtvarianz der Variablen aufzuklären ist). Da aber die Kommunalitäten vor der Analyse noch unbekannt sind, müssen diese zunächst geschätzt werden (z. B. durch das Quadrat der multiplen Korrelation einer gegebenen Variablen mit allen anderen Variablen). Die Faktoren werden dann in einem iterativen Verfahren so extrahiert, dass 384 5. Forschungsverfahren sie (a) sukzessive ein Maximum an (gemeinsamer) Varianz der Variablen erklären und (b) voneinander unabhängig sind. Im nächsten Schritt ist die geeignete Anzahl von Faktoren zu bestimmen. Hierfür stehen wieder mehrere Methoden zur Verfügung. Den Standard bildet der Scree-Test - eine grafische Methode, bei der die Ordnungszahl der Faktoren auf der horizontalen Achse und die Höhe der Eigenwerte auf der vertikalen Achse abgetragen werden. Diejenigen Faktoren gelten als substanziell, deren Eigenwerte links von einem „Knick“ im Verlauf der Eigenwerte liegen. Daneben empfiehlt sich eine so genannte Parallelanalyse. Hierbei werden die Eigenwerte der empirischen Korrelationsmatrix mit den Eigenwerten von Matrizen gleicher Größe, die ausschließlich Zufallskorrelationen enthalten, verglichen. Für eine Interpretation in Frage kommen diejenigen Faktoren, deren Eigenwerte größer sind als die Eigenwerte, die aus einer Analyse der Zufallsdaten resultieren. Das häufig verwendete Kaiser-Kriterium, nach dem Faktoren mit Eigenwerten größer als 1 beizubehalten sind, kommt allenfalls im Rahmen einer PCA in Betracht; es hat sich zudem in Methodenstudien als wenig geeignet erwiesen (Bandalos/ Boehm-Kaufman 2009 ; Lorenzo-Seva/ Timmermann/ Kiers 2011 ). Die Extraktion der Faktoren folgt statistischen Kriterien wie dem der sukzessiven Aufklärung maximaler Varianz. Das hat zur Folge, dass die meisten Variablen hoch auf dem ersten, varianzstärksten Faktor laden, mit deutlich niedrigeren Ladungen auf dem zweiten und allen weiteren Faktoren. Eine inhaltliche Interpretation der Faktoren wird dadurch erschwert. Um leichter interpretierbare Faktoren zu gewinnen, wird die Faktorlösung in aller Regel transformiert. Diese Transformation wird als Rotation bezeichnet. Auf den Anteil der gemeinsamen Varianz an der Gesamtvarianz der Variablen hat eine Rotation keinen Einfluss (die Varianz wird zwischen den Faktoren nur umverteilt). Ziel ist zumeist eine so genannte Einfachstruktur: Auf jedem Faktor sollten einige Variablen möglichst hoch und andere möglichst niedrig laden; außerdem sollten auf verschiedenen Faktoren verschiedene Variablen möglichst hoch laden. Als Minimum gelten Ladungen von .30 bis . 40 (Absolutbetrag). Eine solide Basis für inhaltliche Interpretationen bieten Ladungen von . 70 oder höher (Absolutbetrag); in diesem Fall erklärt ein Faktor wenigstens rund 50 % der Varianz einer Variablen (Hair et al. 2018 ). Es sind zwei Klassen von Rotationsmethoden zu unterscheiden. Bei einer orthogonalen Rotation (z. B. Varimax) bleiben die Faktoren unkorreliert, bei einer obliquen (schiefwinkligen) Rotation (z. B. Promax) können untereinander korrelierte Faktoren resultieren. Eine oblique Rotation kommt insbesondere dann in Betracht, wenn es gute empirische und/ oder theoretische Gründe gibt, Korrelationen zwischen den Faktoren bzw. zwischen den Konstrukten, die sie repräsentieren, anzunehmen. Beispielsweise sind im Bereich des Sprachtestens Teilkompetenzen wie Leseverstehen und Hörverstehen als korreliert anzunehmen, sodass eine oblique Rotation der Faktoren angemessener wäre. Sollten die betrachteten Faktoren tatsächlich unkorreliert sein, würde eine oblique Rotation eine orthogonale Lösung liefern. Im Falle einer obliquen Rotation dürfen die Faktorladungen allerdings nicht mehr wie Korrelationen zwischen (manifesten) Variablen und Faktoren interpretiert werden. Vielmehr ist zwischen Musterkoeffizienten und Strukturkoeffizienten zu unterscheiden. Ein Musterkoeffizient gibt die spezifische Beziehung zwischen einer Variablen und einem Fak- 5.3.13 Exploratorische und konfirmatorische Faktorenanalysen 385 tor wieder; Einflüsse anderer Faktoren sind dabei herausgerechnet (statistisch kontrolliert). Ein Strukturkoeffizient gibt die einfache Korrelation zwischen einer Variablen und einem Faktor wieder; diese Korrelation schließt auch Einflüsse der anderen, korrelierten Faktoren ein. Sind die Faktoren nur schwach korreliert, nehmen Muster- und Strukturkoeffizienten ähnliche Werte an. Um die Faktorlösung und deren Interpretation empirisch abzusichern bzw. zu validieren, sind weitere Untersuchungen durchzuführen. Hierzu zählen die Variation der Extraktions- und Rotationsverfahren, die Überprüfung der Stabilität der Faktorlösung anhand von Daten einer unabhängigen Stichprobe von Teilnehmenden und die Formulierung eines faktorenanalytischen Erklärungsmodells, das auf den Ergebnissen der EFA aufbaut und anhand einer CFA getestet wird. EFA-Anwendungen Die hier skizzierten Anwendungen des EFA-Modells dienen lediglich der Illustration von Themen und Fragestellungen in fremdsprachendidaktischen Studien. Eine Besprechung einzelner Auswertungsschritte ist aus Platzgründen nicht möglich; auch sind in vielen Arbeiten die Analysen nicht detailliert genug beschrieben. Grotjahn ( 1987 ) ging der Frage nach, ob C-Tests als Lesetests verstanden werden können. Eine EFA der Korrelationen zwischen einem französischen C-Test und acht Untertests eines traditionellen Französischtests (u. a. zum Leseverstehen) lieferte einen einzigen Faktor. Auf diesem Faktor lud der C-Test mit . 82 deutlich höher als die meisten Untertests und auch höher als der Untertest zum Leseverstehen (mit einer Ladung von . 41 ) - ein Hinweis darauf, dass C-Tests nicht bloß Lesetests sind. Andere Studien zielten auf die Analyse der Lernstrategien und Interessen beim Leseverstehen in Englisch als Fremdsprache (Finkbeiner 2005 ), auf die Dimensionalität eines 207 Items umfassenden Englischtests (Zydatiß 2007 ), auf eine Betrachtung der Faktoren, die mündlicher Sprachkompetenz in der Fremdsprache Englisch zugrunde liegen (Grum 2012 ), auf die Struktur curricularer Standards in der fremdsprachlichen Lehrerbildung (Schneider/ Bodensohn 2008 ) oder auf die Konstruktion von Skalen zur Messung von Fremdsprachverwendungsangst ( foreign language anxiety ), Sprachlernmotivation und sprachbezogenen Einstellungen (Grotjahn 2004 ; Gardner 2010 ). In ihrer Dissertation zur Wortschatzaneignung beim Lernen von Fremdsprachen ging Kienberger ( 2020 , Referenzarbeit, s. Kap. 7 ) u. a. der Frage nach, welche Faktoren auf die Anwendung von Strategien beim Erschließen unbekannter Wortbedeutungen Einfluss nehmen. 3 Konfirmatorische Faktorenanalyse (CFA) Konzeption Wie bereits ausgeführt ist die CFA ein hypothesentestendes, die EFA ein hypothesengenerierendes Verfahren. Das bedeutet u. a., dass bei einer EFA die Zahl der (gemeinsamen) Faktoren anhand der Daten empirisch ermittelt, bei einer CFA a priori festgelegt wird. Ebenso wird bei einer EFA die Zuordnung der manifesten Variablen zu Faktoren daten- 386 5. Forschungsverfahren geleitet zumeist im Sinne der Einfachstruktur vorgenommen, bei einer CFA erfolgt die Zuordnung hypothesengeleitet. Die Datenbasis einer CFA bildet in der Regel nicht eine Korrelationsmatrix, sondern eine Kovarianzmatrix; in dieser Matrix sind die Variablen nur zentriert (d. h. M = 0 ), nicht aber standardisiert. Das Pfaddiagramm in Abbildung 4 veranschaulicht ein einfaches CFA-Modell mit zwei latenten Faktoren, denen je zwei manifeste Variablen zugeordnet sind. Der erste Faktor steht für Sprachrezeption und die beiden zugehörigen Variablen sind separate Tests des Lese- und Hörverstehens; der zweite Faktor steht für Sprachproduktion mit zugeordneten Tests der schriftlichen bzw. mündlichen Produktion. Zudem wird postuliert, dass beide Faktoren miteinander korreliert sind (dargestellt durch den Doppelpfeil). Die Residualbzw. Fehlerterme sind mit u 1 bis u 4 , die Faktorladungen mit a 11 und a 21 (für Faktor 1 , Rezeption) bzw. a 32 und a 42 (für Faktor 2 , Produktion) bezeichnet. Ziel der Analyse ist es, die im Pfaddiagramm wiedergegebenen Hypothesen auf ihre Geltung hin zu prüfen. Abbildung 4: Pfaddiagramm eines (fiktiven) CFA-Messmodells mit zwei korrelierten Faktoren (Rezeption, Produktion) und je zwei zugeordneten manifesten Variablen Hauptschritte einer CFA Die Abfolge der Hauptschritte einer CFA ist in Abbildung 5 wiedergegeben. Hier können diese zum Teil komplexen Schritte nur sehr knapp umrissen werden (vgl. für detaillierte Darstellungen Bühner 2021 ; Eid/ Gollwitzer/ Schmitt 2015 ; Hair et al. 2018 ). 5.3.13 Exploratorische und konfirmatorische Faktorenanalysen 387 Abbildung 5: Hauptschritte einer konfirmatorischen Faktorenanalyse Zunächst ist die hypothetische Struktur in ein Messmodell zu übersetzen; d. h., es ist ein CFA-Modell zu spezifizieren, aus dem hervorgeht, welche Faktoren auf welche manifesten Variablen Einfluss nehmen; die Faktoren selber können frei miteinander korrelieren. Im allgemeineren SEM-Ansatz ist neben einem Messmodell ein Strukturmodell zu spezifizieren. Ein Strukturmodell definiert die Art der Beziehungen zwischen den Faktoren, also z. B., welche Faktoren auf bestimmte andere Faktoren direkt oder indirekt Einfluss nehmen (Kunnan 1998 ; Brown 2006 ; Ockey 2014 ). Damit ein CFA-Modell überprüft werden kann, ist zu gewährleisten, dass alle Parameter des Modells (z. B. Faktorladungen oder Faktorkorrelationen) anhand der gegebenen Daten eindeutig bestimmt werden können; d. h., das Modell muss statistisch identifizierbar sein. Die Modellidentifikation wird begünstigt, wenn pro Faktor mindestens drei manifeste Variablen (Indikatoren) erhoben werden (Hair et al. 2018 ). Die Schätzung der Modellparameter erfolgt meist mittels der Maximum-Likelihood -Methode. Diese Methode setzt neben einem hinreichend großen Stichprobenumfang (In’nami/ Koizumi 2013 ) voraus, dass die manifesten Variablen mindestens intervallskaliert und multivariat normalverteilt sind. Das Prinzip der ML-Methode besteht darin, die vom Messmodell implizierte Kovarianzmatrix so zu schätzen, dass sie (a) die Modellvoraussetzungen erfüllt und (b) möglichst gut mit der empirischen Kovarianzmatrix übereinstimmt. Sind 388 5. Forschungsverfahren 5.3.13 Exploratorische und konfirmatorische Faktorenanalysen Exploratorische Faktorenanalyse (EFA) Erkunden von Zusammenhängen, Strukturieren von Daten Konfirmatorische Faktorenanalyse (CFA) Formulieren und Testen von Hypothesen, Vergleichen von Modellen beobachtbare Variablen Zusammenhänge D a t e n ( P e r s o n e n x V a r i a b l e n ) Faktorlösung (Personen x Faktoren) Variable 1 Variable 2 Variable 3 Variable 4 Variable 5 Variable 6 Variable 7 Variable n multivariate statistische Analysen nicht beobachtbare Variablen Faktor 1 Faktor 2 Faktor k © 2022 ⚫ Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG die Voraussetzungen für eine ML-Schätzung nicht erfüllt, können weniger anspruchsvolle Methoden zur Anwendung kommen (z. B. weighted least squares , WLS; Brown 2006 ; Eid/ Gollwitzer/ Schmitt 2015 ). Die Güte der Übereinstimmung zwischen Daten und Modell, also die Anpassungsgüte oder der Modellfit, lässt sich anhand einer ganzen Reihe von statistischen Maßen bestimmen. Ein Beispiel ist der root mean square error of approximation (RMSEA). Der RMSEA gibt an, wie gering die Abweichung des zu prüfenden Modells vom wahren Modell ist. Bei RMSEA-Werten kleiner als . 08 spricht man von einer „akzeptablen“ Anpassung, Werte kleiner als . 05 indizieren eine „gute“ Anpassung. Ist die Anpassung zufrieden stellend, wird das Modell beibehalten; ansonsten wird das Modell verworfen. In der Regel ist es ratsam, eine Entscheidung über die Annahme oder Ablehnung eines Modells auf mehrere verschiedene Maße zu stützen. Statt ein Modell zu verwerfen, könnte in Frage kommen, die Spezifikation des Modells hypothesengeleitet zu modifizieren (z. B. Korrelationen zwischen einzelnen Faktoren zuzulassen). So genannte Modifikationsindizes können hierfür wichtige Anhaltspunkte liefern. Die Option der Modellmodifikation rückt den Prozess des Hypothesentestens allerdings mehr in die Nähe eines exploratorischen Vorgehens. CFA-Anwendungen Auch hier seien Themen und Fragestellungen anhand einer kleinen Auswahl von Untersuchungen illustriert. Das in Abbildung 4 gezeigte CFA-Modell betrachteten Eckes/ Grotjahn ( 2006 ) unter Einbeziehung eines deutschen C-Tests. Der beste Modellfit ergab sich für ein Modell, in dem der C-Test dem Produktionsfaktor zugeordnet war. Da aber beide Faktoren, Produktion und Rezeption, hoch miteinander korrelierten und das Ein-Faktor-Modell ebenfalls eine zufrieden stellende Anpassung lieferte, konnten die Ergebnisse als Beleg dafür interpretiert werden, dass C-Tests allgemeine Sprachkompetenz messen. Mit einem SEM-Ansatz untersuchten Nold/ Haudeck/ Schnaitmann ( 1997 ) die Einflüsse von Lernstrategien und anderen kognitiven, motivationalen und sozialen Faktoren auf die rezeptive und produktive Englischleistung in Realschulklassen des achten Schuljahres. Lernstrategien und motivationale Faktoren erwiesen sich dabei als einflussreich, während der soziale Faktor des Klassenklimas eher unbedeutend war. Shin ( 2005 ) verglich vier unterschiedlich komplexe Modelle der Struktur einer englischen Sprachtestbatterie und betrachtete den relativen Modellfit in Abhängigkeit vom Fähigkeitsniveau der Sprecher. Die Struktur der Testbatterie erwies sich als weitgehend invariant gegenüber den Niveauunterschieden (vgl. auch In’nami/ Koizumi 2010 , 2011 ; Sawaki/ Sinharay 2018 ). Porsch ( 2010 ) analysierte die Dimensionalität von Schreibproduktionen in der Fremdsprache Englisch. Die Daten stützten ein CFA-Modell mit einem einzigen Faktor (Schreibkompetenz) und vier Kriterien bzw. manifesten Variablen (Inhalt, Organisation, Grammatik, Lexik). Koizumi/ In’nami ( 2020 ) untersuchten anhand mehrerer CFA-Modelle die Relation von Wortschatzumfang und Wortschatztiefe in Englisch als Fremdsprache und konnten belegen, dass Umfang und Tiefe als separate Dimensionen des Wortschatzwissens aufzufassen sind. Im Mittelpunkt der Betrachtungen zur dimensionalen Struktur fremdsprachlicher Kompetenzen steht bei Dunn/ McCray ( 2020 ) das Bifaktormodell. Dieses CFA-Modell enthält 5.3.13 Exploratorische und konfirmatorische Faktorenanalysen 389 390 5. Forschungsverfahren einen übergeordneten, allgemeinen Faktor (z. B. Sprachkompetenz), auf dem alle Items direkt laden, und eine Reihe untergeordneter orthogonaler Faktoren (z. B. Leseverstehen, Hörverstehen, Grammatik, Wortschatz usw.), auf denen jeweils nur Teilmengen von Items laden. In exemplarischen Analysen konnten Dunn/ McCray die Nützlichkeit des Modells für die Validierung von Sprachtests aufzeigen. 4 Computerprogramme Programme zur Durchführung exploratorischer Faktorenanalysen sind in allen gängigen kommerziellen Statistikpaketen verfügbar (z. B. in SPSS oder SAS). Dabei ist zu beachten, dass diese Statistikpakete häufig Voreinstellungen anbieten (z. B. eine PCA als Extraktionsmethode oder das Kaiser-Kriterium zur Bestimmung der Faktorenzahl), von denen in den meisten Fällen abzuraten ist. Daneben gibt es eine Reihe frei zugänglicher, leistungsstarker Programme, von denen CEFA (Browne et al. 2011 ), FACTOR (Lorenzo-Seva/ Ferrando 2021 ) oder die im Programmsystem R (www.r-project.org) vorhandenen Routinen (z. B. Kubinger/ Rasch/ Yanagida 2011 ) besonders empfehlenswert sind. Für konfirmatorische Faktorenanalysen stehen kommerzielle Spezialprogramme wie AMOS, EQS, LISREL oder Mplus zur Verfügung. Auch hier bietet R kostenlose Alternativen. › Literatur Forschungsarbeiten, in denen die hier erläuterten Verfahren angewendet werden, sind mit einem Sternchen markiert. Bacher, Johann/ Pöge, Andreas/ Wenzig, Knut (2010). Clusteranalyse: Anwendungsorientierte Einführung in Klassifikationsverfahren . 3. Auflage. München: Oldenbourg. Bandalos, Deborah L./ Boehm-Kaufman, Meggen R. ( 2009 ). Four common misconceptions in exploratory factor analysis. In: Lance, Charles E./ Vandenberg, Robert J. (Hg.). Statistical and Methodological Myths and Urban Legends: Doctrine, Verity and Fable in the Organizational and Social Sciences . New York: Routledge, 61-87. Bandalos, Deborah L./ Finney, Sara J. (2010). Factor analysis: Exploratory and confirmatory. In: Hancock, Gregory R./ Mueller, Ralph O. (Hg.). The Reviewer’s Guide to Quantitative Methods in the Social Sciences . New York: Routledge, 93-114. Bortz, Jürgen/ Schuster, Christof (2010). Statistik für Human- und Sozialwissenschaftler . 7. 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Essex, UK: Pearson. *Zydatiß, Wolfgang (2007). Deutsch-Englische Züge in Berlin (DEZIBEL): Eine Evaluation des bilingualen Sachfachunterrichts an Gymnasien . Frankfurt/ Main: Lang. » Zur Vertiefung empfohlen Bühner, Markus (2021). Einführung in die Test- und Fragebogenkonstruktion. 4. Auflage. München: Pearson Studium. Der Autor setzt sich in Kapitel 6 mit der EFA und in Kapitel 7 mit der CFA auseinander. In beiden Kapiteln werden die theoretischen und konzeptionellen Grundlagen detailliert und zugleich anschaulich dargestellt. Die praktische Durchführung einer EFA wird mittels SPSS, die Durchführung einer CFA mittels AMOS anhand von Beispielen gut nachvollziehbar erläutert. Eid, Michael/ Gollwitzer, Mario/ Schmitt, Manfred (2015). Statistik und Forschungsmethoden. 4. Auflage. Weinheim: Beltz. Die Autoren geben in ihrem über 1000 Seiten umfassenden Lehrbuch eine testtheoretisch fundierte Darstellung faktorenanalytischer Modelle und Methoden. Einen Schwerpunkt bilden die Anwendung von Maximum-Likelihood-Methoden der Parameterschätzung und die Überprüfung der Modellanpassung. Hair, Joseph F./ Black, William C./ Babin, Barry J./ Anderson, Rolph E. (2018). Multivariate Data Analysis. 8. Auflage. Essex, UK: Pearson. Die Autoren behandeln in ihrem bewährten Lehrbuch ausführlich die einzelnen Schritte, die bei der Durchführung einer EFA bzw. CFA zu beachten sind. Der gewachsenen Bedeutung konfirmatorischer Ansätze tragen die Autoren durch drei separate Kapitel zu den Grundlagen von SEM, zur CFA und zur Modellprüfung Rechnung. 6. Etappen im Forschungsprozess: Erfahrungen und Empfehlungen Friederike Klippel Eine Forschungsarbeit in Angriff zu nehmen, ähnelt dem Aufbruch zu einem Abenteuer. Das trifft sowohl für die Person zu, die mit der Forschung beginnt, als auch für die, die sie ggf. dabei betreut. Abenteuerreisen sind mit einer guten Reiseleitung weniger riskant. Für Forschungsnoviz*innen ist daher eine solche Betreuung von großer Bedeutung. Angesichts der möglichen individuellen Unterschiede, die sich im jeweiligen Fall aufgrund der Arbeits- und Lebenssituationen, der Persönlichkeiten von Forscher*in und Betreuer*in, des Themas und des Forschungsansatzes ergeben, erscheint es schwierig, allgemeingültige Ratschläge und Empfehlungen zu formulieren. Wir verstehen dieses Kapitel daher nicht als ein abzuarbeitendes Programm, das feste Vorgaben für die einzelnen Etappen einer wissenschaftlichen Arbeit macht, sondern vielmehr als Hinweis auf Leitlinien, als Anregung zur Reflexion, als Angebot von Optionen, als Entscheidungshilfe oder Denkanstoß. Die Empfehlungen dieses Kapitels beruhen zum ersten auf unserer addierten Betreuungserfahrung, die fast 70 abgeschlossene Promotionen und etwa zehn Habilitationen sowie mehrere hundert Abschlussarbeiten in den fremdsprachendidaktischen Fächern umfasst, zum zweiten auf bewährten Techniken wissenschaftlichen Arbeitens allgemein, wie wir sie selbst praktizieren, unseren Doktorand*innen empfehlen und sie in den einschlägigen, fachunspezifischen Handreichungen zu finden sind. Unsere Leitung von und Mitwirkung bei Graduiertenkollegs und Graduiertenschulen, Sommerschulen, Nachwuchstagungen, internationalen und regionalen Doktorandenseminaren und Forschungskollegs haben uns darüber hinaus Einblicke in sehr unterschiedliche Herausforderungen und Fragen zum Forschungsprozess in allen seinen Stadien verschafft. Wir meinen also, die FAQs ( frequently asked questions ) aus Sicht der Nachwuchswissenschaftler*innen und Betreuer*innen ganz gut zu kennen, und haben auf dieser Basis die Struktur und die Inhalte von Kapitel 6 geplant. Dennoch kann ein solches Kapitel sicherlich nicht für alle individuell existierenden Probleme oder Fragen Antworten bereithalten und auch das intensive Gespräch mit der/ m jeweiligen Betreuer*in nicht ersetzen. Auch erfahrene Wissenschaftler*innen, die Promovend*innen und Habilitand*innen betreuen, können eventuell von einzelnen Ideen und Empfehlungen profitieren, die im Folgenden thematisiert werden. Forschen (und Forschende zu betreuen) bedeutet immer auch, dass man selbst viel lernt. Da kann es hilfreich sein, die eigene Reflexion festzuhalten und in Form eines Forschungs- oder Betreuungs-Tagebuchs zu dokumentieren, um sich so den eigenen Entwicklungsprozess bewusst zu machen und wertvolle Einsichten nicht zu vergessen. 394 6. Etappen im Forschungsprozess: Erfahrungen und Empfehlungen Jeder, der in einem Feld forscht, ist Teil einer community of practice. Eine solche Gemeinschaft definiert sich u. a. durch eine Reihe von allgemein akzeptierten Arbeitsweisen, Werten und Einstellungen. Für junge Wissenschaftler*innen ist es wichtig, sich in die community of practice zu integrieren. Das geschieht durch Teilnahme am Diskurs, etwa durch Lektüre der Fachliteratur, bei Konferenzen und anderen Veranstaltungen sowie durch die Präsentation der eigenen Forschung. Die folgenden Kapitel liefern praktische Hinweise und Reflexionshilfen für alle Phasen des Forschungsprozesses. Im Groben folgen die einzelnen Kapitel dem Ablauf eines Forschungsprojekts mit abschließender Veröffentlichung: So beginnt Kapitel 6 . 1 mit der Genese der Forschungsfrage(n), deren klare Festlegung für Forschungsnoviz*innen in der Regel nicht ganz einfach ist. Bei den meisten fremdsprachendidaktischen Forschungsvorhaben spielt das Verhältnis zwischen dem Praxisfeld des Unterrichts oder der Lehrerbildung, um nur zwei der häufig untersuchten Bereiche zu nennen, und der zugrundegelegten Theorie eine zentrale Rolle; dies ist Thema von Kapitel 6 . 2 . In Kapitel 6 . 3 finden sich Hinweise und Erläuterungen zur Erstellung der Literaturüberblicke zum untersuchten Thema und zum gewählten Forschungsansatz. Die Gestaltung der eigenen Untersuchung bzw. die Konzeption des Designs ist eine besonders anspruchsvolle Herausforderung, die häufig in einem langwierigen Prozess von einer vagen Kernidee über mehrere Phasen der Präzisierung, der Ergänzung, der Umgestaltung und häufig auch des beherzten Zusammenschrumpfens hin zu einem komplexen - und gleichzeitig doch realisierbaren - Vorhaben bewältigt wird. Diesen kreativen Prozess, der von Forschungsnoviz*innen auch ein gewisses Maß an Frustrationstoleranz erfordert, beschreibt Kapitel 6 . 4 . Kapitel 6 . 5 gibt im Anschluss sodann Hinweise dazu, wie auf der Grundlage eines solchen präzisierten Forschungsvorhabens Zeit- und Arbeitspläne erstellt werden können, und macht deutlich, dass sie im Zuge einer metakognitiven Kontrolle und Steuerung des Arbeitsprozesses immer wieder den aktuellen Gegebenheiten und Einsichten entsprechend umzustoßen bzw. weiterzuentwickeln sind. Sind Datenerhebung oder Dokumentensammlung abgeschlossen und die Ergebnisse erarbeitet, stellt sich die Herausforderung, den Ertrag der Forschungsarbeit so darzubieten, dass die zentralen Befunde deutlich herausgestellt, die offenen Fragen thematisiert und die gesammelten Erträge in den theoretischen Forschungszusammenhang eingeordnet werden (Kap. 6 . 6 ). Anregungen für die Präsentation der eigenen Forschung in allen Phasen des Forschungsprojekts in mündlicher oder schriftlicher Form liefert Kapitel 6 . 7 , das auch die unterschiedlichen Optionen der abschließenden Publikation erörtert. Das letzte Kapitel ( 6 . 8 ) befasst sich mit wichtigen Aspekten der Betreuung von wissenschaftlichen Arbeiten und will sowohl Betreuenden als auch Betreuten Hinweise geben, wie dieses Verhältnis für alle Beteiligten fruchtbar und konstruktiv gestaltet werden kann, damit das Abenteuer des Forschungsvorhabens gelingt. 6.1 Von der Idee zur Forschungsfrage 395 6.1 Von der Idee zur Forschungsfrage Daniela Caspari Themen von Forschungsarbeiten, die der wissenschaftlichen Qualifizierung dienen, also Dissertationen und Habilitationsschriften, können entweder im Rahmen eines größeren Projekts, im Rahmen von Verbundforschung oder als Einzelstudie entstehen (vgl. auch Kap. 8 . 2 ). Im ersten Fall sind Thema und Fragestellung oder auch die Forschungsmethodik in der Regel weitgehend vorgegeben, während im zweiten Fall größere Freiheitsgrade bestehen und man im dritten Fall erwartet, dass die betreffende Forscherin oder der Forscher Thema und Forschungsfrage selbst vorschlägt. In der Fremdsprachenforschung sind die meisten Qualifikationsarbeiten bislang als Einzelstudien entstanden, und sie spiegeln damit auch die Forschungsthemen der Nachwuchswissenschaftler und -wissenschaftlerinnen wider. Bis Thema, Forschungsfrage und Methode präzise bestimmt sind, kann es leicht mehrere Wochen oder auch Monate dauern. Aber diese Zeit und Mühe sind gut investiert, denn bei diesem Findungsprozess handelt sich keineswegs nur um eine lästige Vorarbeit. Er ist vielmehr ein wichtiger Teil der Forschungsarbeit selbst, in dem nach und nach die entscheidenden Weichen für das Projekt gestellt und der bzw. die Betreuerinnen und Betreuer eingebunden werden. Zumeist verläuft dieser herausfordernde Prozess zirkulär, denn die Aspekte „Thema“, „Forschungsfrage“ und „Design“ bzw. „Methode“ sind sehr eng miteinander verbunden und beeinflussen sich gegenseitig: Präzisierungen oder Veränderungen an einem der Aspekte erfordern zumeist auch Veränderungen an den beiden anderen. 6.1.1 Wie finde ich ein Thema? Ausgangspunkte für die Themenfindung können das eigene Studium oder die eigene Praxis sein (vgl. Schart 2001 ). So liefern Themen, über die man immer schon mehr wissen wollte, oder Praxiserfahrung, über die man schon längst einmal gründlicher nachdenken wollte, gute Startpunkte. Eine andere Möglichkeit besteht darin, mit der Themenwahl auf eine bestimmte berufliche Richtung (z. B. Aus- und Fortbildung, Lehrmaterialienentwicklung, Bildungsadministration) hinzuarbeiten und sich ein Themenfeld zu erschließen, in dem man zukünftig gerne tätig sein möchte. Man kann aber auch damit beginnen, sich einen Überblick über Forschungsgebiete und aktuelle Trends in der Fremdsprachendidaktik zu verschaffen. Um herauszufinden, zu welchen Themen gerade geforscht wird, eignen sich neben unregelmäßig erscheinenden Forschungsüberblicken (z. B. Caspari 2019 ; Dalton-Puffer/ Boeckmann/ Hinger 2019 ; Heine et al. 2020 ) und der auf Selbsteintrag beruhenden Chronologie der Dissertationen und Habilitationen im deutschsprachigen Raum (prohabil.de; bis 2018 Listen im Auftrag der DGFF (Deutsche Gesellschaft für Fremdsprachenforschung) unter www.dgff.de/ publikationen/ qualifikationsarbeiten/ ) eine Durchsicht aktueller Zeitschriften und Sammelbände. Auf diese Weise erfährt man indirekt ebenfalls, welche Themen gerade nicht im Zentrum des allgemeinen Interesses stehen, obwohl es sich möglicherweise um zentrale Fragen der Fremdsprachendidaktik bzw. des Fremdspra- 396 6. Etappen im Forschungsprozess: Erfahrungen und Empfehlungen chenunterrichts handelt, die es lohnen, unter neuen Gesichtspunkten weiter erforscht zu werden. Möglicherweise können auch die Themen von Sektionen und Vorträgen bei Kongressen und Nachwuchstagungen der DGFF, GFD (Gesellschaft für Fachdidaktik) oder weiterer fremdsprachendidaktischer Verbände sowie anderer Fachdidaktiken und Bezugswissenschaften Anregungen geben, genau wie eine Empfehlung des bzw. der potentiellen Betreuer*in oder anderer Doktorand*innen. Wichtig ist, dass einem das Thema persönlich so wichtig ist bzw. wird, dass man sich gut vorstellen kann, ihm mit Freude und forschender Leidenschaft mehrere Jahre seines Lebens zu widmen. Sobald erste Ideen gefunden sind, empfiehlt es sich, einen groben Überblick über das Forschungsgebiet zu gewinnen. So erfährt man, welche Fragen bereits intensiver diskutiert worden sind und wo es möglicherweise noch Forschungsbedarf gibt. Eine allererste Orientierung über die zentralen Aspekte, Strukturen und Fragen eines Forschungsgebietes und die an ihm arbeitenden Forscher*innen bieten aktuelle Einführungen, Handbücher und Lexika. Auch Sammelbände und Themenhefte von Zeitschriften können eine gute Einführung darstellen. Für einen genaueren Überblick sind jedoch die Suche nach Forschungsüberblicken ( state of the art -Beiträge in Fachzeitschriften, z. B. Language Teaching ) und Rezensionen sowie eine Datenbankabfrage (z. B. Informationszentrum für Fremdsprachenforschung, Fachportal Pädagogik, Deutscher Bildungsserver) unerlässlich. Ist die entsprechende Literatur identifiziert, sollte man sich Zeit zum Einlesen lassen. Dabei ist es nicht nur wichtig, durch gezielte, thematisch vorstrukturierte Lektüre einen Überblick über das Thema mit seinen verschiedenen Teilbereichen, Aspekten und Ansatzpunkten zu gewinnen. Es ist ebenfalls sinnvoll, über das Thema hinaus Einblick in angrenzende Themen und Gebiete zu gewinnen, entweder um sich abzugrenzen oder um zusätzliche Anregungen zu erhalten. Dieses gezielt suchende und beiläufig findende Lesen dauert seine Zeit. Bereits in dieser vorbereitenden Lesephase kann mit dem Führen eines Forschungstagebuches begonnen werden. In manchen Ansätzen der qualitativen Sozialforschung, insbesondere in der ethnographischen Feldforschung (Friebertshäuser/ Panagiotopoulou 2010 ) und in der Aktionsforschung (Altrichter/ Posch/ Spann 2018 ), ist das Führen eines Forschungstagebuches als systematisches Selbstreflexions- und Datensicherungsinstrument obligatorisch. Aber auch für jedes andere Forschungsprojekt ist das regelmäßige schriftliche Reflektieren über den eigenen Forschungsprozess von Vorteil: Es sichert wichtige Informationen und (auch spontane) Ideen, Überlegungen und Thesen, es erhöht die Selbstaufmerksamkeit, ermöglicht (beim Wiederlesen) eine De-Zentrierung, lässt die Genese von Gedanken, Standpunkten und Entscheidungen nachvollziehen und erlaubt einen Überblick über das, was man bereits geschafft hat. Inhalte eines solchen Forschungstagebuches, das entweder als gebundenes Heft, als Ordner oder in elektronischer Form geführt werden kann, sind in regelmäßigen Abständen die Reflexion der Forschungsziele, der persönlichen Sicht auf den Forschungsgegenstand und den Forschungsprozess sowie die Dokumentation der einzelnen Forschungsschritte, einschließlich der dabei auftauchenden Probleme (z. B. auch als Vorbzw. Nachbereitung von Gesprächen mit den Betreuer*innen oder im Forschungskolloquium, s. auch Kap. 6 . 7 und 6 . 8 ). Dazu kommen die Funde aus der alltäglichen Arbeit und aus Gesprächen, z. B. Hinweise auf Literatur, andere Quellen oder Personen, interessante Zitate (mit genauer Angabe der Fundstelle), Überlegungen zu Forschungsmethoden, neue Fragen und Interpretationen, aber auch die eigenen Emotionen. 6.1 Von der Idee zur Forschungsfrage 397 Hilfreich ist es, sich feste Zeiten für die Einträge zu reservieren, jeweils Datum, Ort und ggf. Situation zu notieren und das Tagebuch möglichst übersichtlich zu gestalten (Randspalte, Inhaltsverzeichnis, Seitenzahlen, Unterstreichungen, Symbole…). Je nach persönlichem Arbeitsstil können auch vorstrukturierte Blätter verwendet werden. Bei der Eingrenzung des Themas können bestimmte Techniken aus einschlägigen Ratgebern helfen (z. B. Beinke et al. 2016 : 19 - 40 ; Boeglin 2012 : 131 - 140 ; Esselborn-Krumbiegel 2017 : 33 - 70 ; Kornmeier 2021 : 51 - 78 ). Man kann z. B. überlegen, was man bereits aus anderen Zusammenhängen über den Themenbereich weiß, was einen an dem Thema fasziniert bzw. irritiert, man kann möglichst viele Fragen zu einem Themenbereich stellen und mögliche Antworten antizipieren, man kann W-Fragen an das Thema stellen oder versuchen, es aus mehreren Perspektiven zu betrachten. Auch das Clustern von Assoziationen und ihre Strukturierung in Form von Mindmaps können dabei helfen, den Themenschwerpunkt zu identifizieren. Wenn man unsicher ist, ob man mit dem gefundenen Thema tatsächlich die kommenden Monate oder Jahre verbringen will, könnte es helfen, mit der gleichen Sorgfalt ein alternatives Thema zu suchen, sich der Diskussion zu beiden Themen in einem Doktorandenseminar zu stellen - und dann auf sein Bauchgefühl zu achten. Oftmals besteht die Sorge, dass ein Thema möglicherweise nicht neu bzw. nicht spektakulär genug sei oder nicht ausreichend neue Erkenntnisse verspreche. Oder auch, dass man in Konkurrenz zu anderen stehe, die zur gleichen Zeit am gleichen Thema arbeiten. Diese Sorge ist in aller Regel unbegründet, denn selbst sehr ähnliche Arbeiten, z. B. zwei empirische Arbeiten mit fast identischem Titel, werden sich bzgl. der Fragestellung, der zugrunde gelegten Theorien oder der Forschungsmethoden in aller Regel deutlich unterscheiden. Dies entbindet einen aber natürlich nicht von der Pflicht, sich mit diesen Arbeiten intensiv auseinanderzusetzen. Gerade bei aktuellen Themen ist damit zu rechnen, dass man nicht der bzw. die Einzige ist, die sich gerade dafür interessiert. Und auch bei länger nicht bearbeiteten bzw. zeitlosen Themen gilt, dass sie niemals abgeschlossen sind. Denn jede wissenschaftliche Arbeit trägt einen neuen Aspekt, eine neue Sichtweise oder ein neues Ergebnis zum Gesamtmosaik des jeweiligen Themenbereiches bei. 6.1.2 Wie formuliere ich eine Forschungsfrage? Während der Suche und Eingrenzung des Themas konkretisiert sich das Erkenntnisinteresse: Zu welchem Thema möchte man arbeiten, was interessiert einen daran, und warum interessiert es einen? Im nächsten Schritt gilt es zu bestimmen, was genau man herausfinden möchte, d. h. es gilt, die Forschungsfrage bzw. -hypothese zu formulieren. Das bedeutet, dass man ausgehend vom eigenen Erkenntnisinteresse unter Berücksichtigung des aktuellen Forschungsstandes und der geeigneten Forschungsmethodik (zum Zusammenhang s. Kap. 6 . 1 . 3 ) eine so präzise Fragestellung herausarbeitet, dass zum gewählten Thema tatsächlich neue Ergebnisse und Erkenntnisse gewonnen werden können. Die Forschungsfrage ist der Startpunkt des Forschungsprojektes und wird im Verlauf der Arbeit oftmals weiter ausdifferenziert und präzisiert. Möglicherweise muss sie mit steigendem Wissensstand oder je nach auffindbaren Materialien bzw. aufgrund der Datenlage auch noch einmal verändert werden, damit sie tatsächlich im Rahmen eines zeitlich und ressour- 398 6. Etappen im Forschungsprozess: Erfahrungen und Empfehlungen cenmäßig begrenzten Projektes erfolgreich bearbeitet werden kann. Während das zirkuläre Einkreisen der Forschungsfrage typisch für historische und hermeneutische Arbeiten und sogar ein fester Bestandteil vieler qualitativer Arbeiten ist, wird in quantitativen Arbeiten die eingangs formulierte Hypothese im Forschungsprozess selbst nicht mehr verändert. Die Formulierung der Forschungsfrage setzt eine theoretische Verortung in Bezug auf das gewählte Thema voraus und sie führt zu einer Beschränkung und Richtungsbestimmung: Was möchte ich mit meiner Arbeit herausfinden? Welches Problem möchte ich bearbeiten, welchen Widerspruch klären, welche Frage beantworten? Die Forschungsfrage definiert somit Ziel und Zweck der Arbeit. Dies kann in Form unterschiedlicher Fragen geschehen (vgl. z. B. Kornmeier 2021 : 60 - 74 ), z. B. kann ein Gegenstandsbereich genauer beschrieben oder systematisiert werden, es können Interpretationen oder Erklärungen für einen Tatbestand gefunden, Entwicklungen analysiert oder neue Anwendungsfelder erschlossen werden. Gute Forschungsfragen, d. h. Forschungsfragen, die sich im Rahmen einer Forschungsarbeit systematisch und ausreichend tief beantworten lassen, sind i. d. R. sehr konkret, sie sind kurz und eindeutig, sie bestehen aus nur einer Frage (ggf. mit Nebenfragen) bzw. einer (Hypo-)These oder einer pro-contra-Aussage, sie sind klar, einfach und genau formuliert. Dazu sind sie für den Schreibenden interessant, sie entsprechen dem Stand der Wissenschaft und sind im Fachkontext relevant und beantwortbar. 1 Die größte Herausforderung besteht darin, die Frage nicht zu weit, aber auch nicht zu eng zu formulieren. Umgekehrt kann man nicht hinreichend entwickelte Forschungsfragen u. a. daran erkennen, dass sie unklar sind, zu weit gefasst sind, in sich widersprüchlich sind, dass sie auf unklaren Vorannahmen beruhen oder dass es sich nicht um echte Fragen, sondern um als Fragen formulierte Behauptungen oder um beeinflussende bzw. tendenziöse Fragen handelt (vgl. z. B. Karmasin/ Ribing 2010 : 23 - 24 ). Das Formulieren einer einfachen, konkreten und ausreichend eng gefassten Forschungsfrage verlangt i. d. R. mehrere Anläufe (hilfreiche Techniken wie Freewriting, Mindmaps, Präzisierungen findet man z. B. bei Wolfsberger 2021 : 77 - 85 ) und sollte in Rückkopplung mit dem bzw. der Betreuer*in erfolgen. Für ein Dissertationsprojekt ist es nicht ungewöhnlich, wenn die Einlesephase und die ersten Formulierungen der Forschungsfrage ein halbes Jahr in Anspruch nehmen. Aber dieser Aufwand lohnt sich, denn die Forschungsfrage leitet den nachfolgenden Lese- und Schreibprozess, sie hilft bei der gezielten Suche und Sichtung von Literatur bzw. Material und bei der Entwicklung der Struktur bzw. des Argumentationsgangs der Arbeit. Denn jedes Kapitel der Arbeit zielt durch Beantwortung einer Teilfrage darauf, dass am Ende die Forschungsfrage beantwortet werden kann. 6.1.3 Wie hängen Thema, Forschungsfrage und Forschungsmethode zusammen? Mit der Formulierung der Forschungsfrage einher geht die Entscheidung für eine bestimmte Forschungsmethodik. Während die Wahl eines Themas noch keine Entscheidung 1 Vgl. als Beispiele hierzu die Forschungsfragen in der Darstellung der Referenzarbeiten (Kap. 7 ). 6.1 Von der Idee zur Forschungsfrage 399 bzgl. einer bestimmten Forschungstradition impliziert, legt die Forschungsfrage in aller Regel zumindest die Forschungstradition, oft auch bestimmte Forschungsverfahren bzw. -methoden nahe. Dies soll am Beispiel des Themas „Umgang mit Fehlern im Fremdsprachenunterricht“ skizziert werden. • Interessiert am Thema der Aspekt der Veränderungen im Umgang mit Fehlern von 1970 bis heute, ist die Arbeit in der historischen Tradition angesiedelt (vgl. Kap. 3 . 1 ). Innerhalb dieser Tradition können ganz unterschiedliche Forschungsfragen gestellt werden, z. B.: Wie haben sich die Curricula bzw. die entsprechenden Verordnungen in diesem Zeitraum verändert? Wie hat sich die Korrekturpraxis in Klassenarbeiten oder Abiturarbeiten verändert? Wie haben sich die Auffassungen der Lehrkräfte diesbezüglich verändert? Diese Fragen legen unterschiedliche Verfahren nahe. Z. B. könnte man die erste Frage gut durch eine Dokumentenanalyse der entsprechenden offiziellen Vorschriften beantworten. • Interessiert dabei der Aspekt, was überhaupt ein Fehler ist, bzw. was als Fehler gilt, käme eine theoretische bzw. konzeptionelle Arbeit in Frage (vgl. Kap. 3 . 2 ). Innerhalb dieser Forschungsrichtung könnte man z. B. folgende Fragen beantworten: Welche Definitionen und Bezugsnormen werden für den Begriff Fehler herangezogen? Welche Fehlertypen werden unterschieden? Welche Hinweise zum Umgang mit Lernerfehlern kann man aus der Vorstellung konzeptioneller Mündlichkeit gewinnen? Wie unterscheiden sich die Verordnungen der Bundesländer zur Definition von und zum Umgang mit Fehlern? Zur Beantwortung eignen sich jeweils hermeneutische, d. h. analysierende und vergleichende Verfahren. • Fragen, die sich auf die individuelle Wahrnehmung und den Umgang mit Fehlern beziehen, können mit einer qualitativ empirischen Arbeit beantwortet werden (vgl. Kap. 3 . 3 . 4 ), auf Lernerseite z. B.: Was fangen Lernende mit Tipps und Tricks zur Fehlervermeidung an? Wie gehen sie mit schriftlichen Fehlerkorrekturen um? Auf Seite der Lehrenden z. B.: Welche unterschiedlichen Auffassungen zum Umgang mit Fehlern haben angehende Lehrkräfte? Wie verändern sie sich im Laufe ihres Referendariates? Für diese Fragen wären z. B. halbstandardisierte Fragebögen und Verfahren der Typenbildung geeignet. • Möchte man dagegen Genaueres über einen bestimmten Einzelaspekt erhalten, käme eine Arbeit in der quantitativ empirischen Forschungstradition in Frage (vgl. Kap. 3 . 3 . 3 ). Mit den dort üblichen Verfahren könnten z. B. die Fragen beantwortet werden: Welche Fehler markieren Lehrkräfte in schriftlichen Klassenarbeiten im Fach Italienisch in Klasse 10 ? Wie bewerten Lehrkräfte das Kriterium „sprachliche Korrektheit“ in einer mündlichen Prüfung zum Mittleren Schulabschluss? Verändert sich ihr Bewertungsverhalten durch ein Bewertertraining? Die letzte Frage könnte z. B. im Rahmen einer Interventionsstudie mit Experimental- und Kontrollgruppe beantwortet werden. An diesen Beispielen wird deutlich, dass es zu jedem Thema eine Vielzahl interessanter Forschungsfragen gibt und dass sie je nach interessierendem Aspekt innerhalb unterschiedlicher Forschungstraditionen bearbeitet werden können. Erst mit der Formulierung der Forschungsfrage in ihrer Passung von Thema, zu erforschendem Aspekt und Forschungsmethodik legt man sich fest. Ist diese Entscheidungen getroffen, kann das Verfassen des Exposés (s. Kap. 6 . 7 ) in Angriff genommen werden. 400 6. Etappen im Forschungsprozess: Erfahrungen und Empfehlungen › Literatur Altrichter, Herbert/ Posch, Peter/ Spann, Harald ( 2018 ). Lehrerinnen und Lehrer erforschen ihren Unterricht . 5., grundlegend überarbeitete Auflage. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt. Beinke, Christiane/ Brinkschulte, Melanie/ Bunn, Lothar/ Thürmer, Stefan (2016). Die Seminararbeit . Schreiben für den Leser. 3., völlig überarbeitete Auflage. Konstanz: UVK-Verlags-Gesellschaft. Boeglin, Martha (2012). Wissenschaftlich Arbeiten Schritt für Schritt . 2., durchgesehene Auflage. München: Fink. [=UTB] Caspari, Daniela (2019). Forschungstendenzen in der Fremdsprachendidaktik - Grundsatzüberlegungen und Auswertung der Dissertationen der Jahre 2014 bis 2016 aus dem deutschsprachigen Raum. In: Kreft, Annika/ Hasenzahl, Mona (Hg.). Aktuelle Tendenzen in der Fremdsprachendidaktik. Zwischen Professionalisierung, Lernerorientierung und Kompetenzerwerb. Frankfurt/ M.: Lang, 17-45. Dalton-Puffer, Christiane/ Boeckmann, Klaus-Börge/ Hinger, Barbara (2019). Research on language teaching and learning in Austria (2011-2017). In: Language Teaching 52, 2, 201-230. Esselborn-Krumbiegel, Helga (2017). Von der Idee zum Text . 5., aktualisierte Auflage. Paderborn: Schöningh. Friebertshäuser, Barbara/ Panagiotopoulou, Argyro ( 2010 ). Ethnographische Feldforschung. In: Friebertshäuser, Barbara/ Langer, Antje/ Prengel, Annedore (Hg.). Handbuch Qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft . Weinheim: Juventa, 301-322. Heine, Lena/ Marx, Nicole/ Schädlich, Birgit/ Wilden, Eva (2020). Review of doctoral research in language education in Germany (2014-2018). In: Language Teaching 53, 3, 341-357. Karmasin, Matthias/ Ribing, Rainer (2010). Die Gestaltung wissenschaftlicher Arbeiten. Ein Leitfaden für Seminararbeiten, Bachelor-, Master- und Magisterarbeiten sowie Dissertationen . 5. aktualisierte Auflage. Wien: Facultas. [= UTB] Kornmeier, Martin (2021). Wissenschaftlich schreiben leicht gemacht für Bachelor, Master und Dissertationen . 9. aktualisierte und ergänzte Auflage. Bern: Haupt. [= UTB] Schart, Michael (2001). Aller Anfang ist Biografie - Vom Werden und Wirken der Fragestellung in der qualitativen Forschung. In: Müller-Hartmann, Andreas/ Schocker-von Ditfurth, Marita (Hg.). Qualitative Forschung im Bereich Fremdsprachen lehren und lernen . Tübingen: Narr, 40-61. Wolfsberger, Judith (2021). Frei geschrieben. Mut, Freiheit und Strategie für wissenschaftliche Abschlussarbeiten . 5., bearbeitete Auflage. Wien: Böhlau. [= UTB] 6.2 Wechselspiele zwischen Theorie und Praxis Daniela Caspari Nicht selten werden Promovend*innen in der Fremdsprachendidaktik gefragt, ob sie eine „theoretische“ oder „praktische“ Arbeit schrieben. Gemeint ist damit vermutlich, ob die Arbeit eher auf einen Beitrag zur Theoriebildung, auf einen Beitrag zur Erforschung der Praxis oder auf einen Beitrag zur Veränderung bzw. Verbesserung der Praxis abzielt. Möglicherweise ist mit der Frage auch gemeint, in welcher Forschungstradition sich die Arbeit verortet, der historischen, der theoretisch-konzeptuellen oder der empirischen (s. Kap. 3 . 1 , 3 . 2 , 3 . 3 , 6 . 1 ). Dass diese vermeintlich einfache Frage auf so unterschiedliche Ebenen abzielen kann, deutet bereits an, dass es darauf keine einfache Antwort geben kann. Dies liegt 6.2 Wechselspiele zwischen Theorie und Praxis 401 vor allem in der Fremdsprachendidaktik als wissenschaftlicher Disziplin selbst begründet, die sich als angewandte Wissenschaft in dem Sinne versteht, dass jegliche Forschung direkt oder indirekt auf das Verstehen und/ oder die Veränderung von Praxis abzielt (vgl. Kap. 2 ; Königs 2018 ). Fremdsprachendidaktische Studien können somit niemals ‚reine‘ Theorie- oder ‚reine‘ Praxisarbeiten sein, sondern sie erforschen auf unterschiedliche Art und mit unterschiedlicher Zielsetzung die komplexen Bezüge zwischen Theorie und Praxis. Dieses Kapitel soll daher - ungeachtet einer noch ausstehenden Theorie des Theorie- Praxis-Bezuges in der Fremdsprachendidaktik - den Blick für die möglichen Wechselspiele schärfen und erweitern. Dies kann dazu beitragen, die mit der Forschungsarbeit verbundenen Absichten zu klären und gezielt ein solches Design auszuwählen, das den eigenen Voraussetzungen und Absichten am besten entspricht. 6.2.1 Zum Verhältnis von Theorie und Praxis in der fremdsprachendidaktischen Forschung Im Rahmen dieses forschungspraktischen Beitrags können die vielschichtigen Begriffe „Theorie“, „Praxis“ und „Empirie“ nicht detailliert definiert werden (vgl. z. B. Kron 1999 ). Es muss daher genügen, Theorie als „ein nach wissenschaftlichen Regeln entstandenes Ergebnis oder Produkt theoretischer und/ oder empirischer Erkenntnisse [zu verstehen], das in Begriffen und Sätzen ausgedrückt wird“ (Kron 1999 : 75 ). Praxis soll hier im Sinne von „Lebenspraxis“ oder „Alltagshandeln“ (Kron 1999 : 34-35 ) im Feld des Lehrens und Lernens von Fremdsprachen verstanden werden, das von den Beteiligten selbst und von externen Forscher*innen mithilfe empirischer Methoden beschrieben, reflektiert, analysiert und interpretiert werden kann. Dies kann mit oder ohne Absicht geschehen, die Praxis zu bewerten und/ oder zu verändern (vgl. auch Decke-Cornill/ Küster 2015 : 3-5 ). Zu beachten ist die grundsätzliche Schwierigkeit, das komplexe Wechselverhältnis von Theorie und Praxis zu strukturieren, allein schon, weil Theorie und Praxis keine klar voneinander abgrenzbaren, dichotomen Kategorien sind. Zudem hat fremdsprachendidaktische Theoriebildung i. d. R. direkt oder indirekt die Praxis des Lehrens und Lernens von Sprachen zum Inhalt, und Praxis umfasst neben dem handelnden Vollzug auch die Theorien der beteiligten Akteur*innen. Trotzdem erscheint es für eine Orientierung in der fremdsprachendidaktischen Forschungspraxis sinnvoll, Grundformen der möglichen Zusammenhänge zwischen Theorie und Praxis zu beschreiben. Im Folgenden wird ein solcher Versuch unternommen. 6.2.2 Theorie-Praxis-Bezüge im Forschungsdesign Bei den in Tabelle 1 unterschiedenen Grundformen des Theorie-Praxis-Bezugs in der fremdsprachendidaktischen Forschung handelt es sich um gedankliche Modelle, die in der Forschungspraxis häufig nicht so klar zugeordnet und voneinander unterschieden werden können, zudem gibt es Kombinationsmöglichkeiten, z. B. mixed-methods -Forschung (s. 402 6. Etappen im Forschungsprozess: Erfahrungen und Empfehlungen Kap. 3 . 3 . 5 ). Die Grundformen können jedoch dazu beitragen, eine grundlegende Orientierung für das eigene Forschungsvorhaben zu finden. Angegeben ist in der Tabelle zunächst der Ausgangspunkt der Forschung: Geht man von bereits vorliegenden Theorien, d. h. von elaborierten Theorien, Modellen oder Konzepten (zur Unterscheidung vgl. Kron 1999 : 77-78 ), auch aus anderen Disziplinen, aus oder ist die beobachtbare bzw. erlebte Praxis der Ausgangspunkt? Danach kann man entscheiden, welches Ziel mit der Forschungsarbeit verfolgt wird: Möchte man primär einen Beitrag zur Theoriebildung oder primär einen Beitrag für die Praxis leisten? In Abhängigkeit von Ausgangspunkt und Zielsetzung der Forschungsarbeit sind unterschiedliche Forschungszugänge und -designs geeignet: • Geht es darum, vorhandene theoretische Ansätze z. B. auf eine neue Frage zu beziehen oder unter einem neuen Aspekt zu betrachten, um daraus eine eigene Theorie oder ein eigenes Modell bzw. Konzept zu entwickeln, so handelt es sich um Grundform 1 (theoretische Forschung, s. Kap. 3 . 2 ). • Soll die Gültigkeit, Eignung oder Wirksamkeit vorliegender oder (weiter-)entwickelter Theorien, Modelle bzw. Konzepte an der Praxis überprüft werden, so handelt es sich um Grundform 2 . Ausgangspunkt der empirischen Untersuchung ist bzw. sind die aus den theoretischen Überlegungen abgeleitete (Hypo-)Thesen, die z. B. in Form eines Experimentes mit Interventions- und Kontrollgruppen überprüft werden können (s. Kap. 3 . 3 ). • Besteht das Ziel jedoch darin, theoretische Ansätze für die Weiterentwicklung der Praxis nutzbar zu machen, so handelt es sich um Grundform 3 . Denn hier erfolgt die Übernahme vorliegender Theorien, Modelle und Konzepte bzw. ihre (Weiter-)Entwicklung mit dem Ziel, daraus Anwendungsmöglichkeiten für die Praxis zu generieren, z. B. in Form von Unterrichtsvorschlägen, Aufgaben oder Lernhilfen. In der Regel wird die Eignung dieser Vorschläge anschließend in der Praxis überprüft, meist in Form von Fallstudien. Anhand dieser Ergebnisse können abschließend die entwickelten Anwendungsmöglichkeiten überarbeitet werden und/ oder die Ergebnisse für die Weiterentwicklung der Theorie genutzt werden (Prototypen: Entwicklungsforschung und Evaluationsforschung, s. Kap. 3 . 3 , oder Design Research bzw. Design-based-Research , s. Kap. 4 . 2 ). • Von der Praxis aus gehen die Grundformen 4 und 5 . Das Ziel von Grundform 4 besteht in der Entwicklung einer Theorie auf der Grundlage der in einer empirischen Untersuchung der Praxis gewonnenen Daten. Die Erhebung erfolgt zunächst datengeleitet, d. h. ohne vorgängige theoretische Kategorien (Prototypen: Grounded Theory , s. Kap. 5 . 3 . 3 , und Dokumentarische Methode, s. Kap. 5 . 3 . 4 ). • Besteht das Ziel der Forschung in der systematischen und überprüfbaren Veränderung konkreter Praxissituationen, so eignet sich Grundform 5 . Ausgehend von der Analyse dieser Praxis werden theoriegeleitet Lösungen bzw. alternative Handlungsmöglichkeiten erarbeitet und systematisch erprobt. Nach der Überprüfung ihrer Wirksamkeit werden sie weiterentwickelt und ggf. erneut eingesetzt. Darüber hinaus können sie Anstoß für weiterführende theoretische Forschung sein (Prototyp: Aktionsforschung und Design Research , s. Kap. 4 . 2 ). 6.2 Wechselspiele zwischen Theorie und Praxis 403 Tabelle 1 : Mögliche Theorie-Praxis-Bezüge in der fremdsprachendidaktischen Forschung Ausgangspunkt Primäres Ziel Forschungsschritte/ Forschungsverfahren Rolle der Praxis Beispiel Grundform 1 Theorie(n) Theoriebildung hermeneutische Verfahren Objektbereich der Theoriebildung theoretische Forschung Grundform 2 Theorie(n) Überprüfung der Theorie an der Praxis 1 . Entwicklung von Modell und/ oder These bzw. Hypothese 2 . theoriegeleitete Anwendung empirischer Verfahren (deduktives Vorgehen) 3 . ggf. Weiterentwicklung des Modells bzw. der Theorie Untersuchungsgegenstand, i.d.R. unter Laborbedingungen Experiment Grundform 3 Theorie(n) Nutzbarmachen von Theorie für die Praxis 1 . (Weiter-)Entwicklung von Theorie, Modell bzw. Konzept 2 . theoriegeleitete Entwicklung praktischer Realisierungsmöglichkeiten (deduktives Vorgehen) 3 . ggf. empirische Erprobung in der Praxis 4 . ggf. Weiterentwicklung der Theorie auf der Basis der empirischen Ergebnisse Ziel der Forschungsbemühungen Entwicklungsforschung Evaluationsforschung Design Research Grundform 4 Praxis Theoriebildung 1 . datengeleitete empirische Untersuchung der Praxis 2 . Theorie der untersuchten Praxis (induktives Vorgehen) 3 . ggf. Weiterentwicklung der Theorie durch erneute Untersuchung der Praxis Untersuchungsgegenstand, im Feld Grounded Theory Dokumentarische Methode Grundform 5 Praxis Veränderung der Praxis 1 . Analyse der Praxis 2 . theoriegeleitete Entwicklung von Handlungsalternativen 3 . Überprüfung ihrer Wirksamkeit 4 . theoriegeleitete Weiterentwicklung der Handlungsalternativen, ggf. erneute Überprüfung Ausgangspunkt und Ziel der Forschungsaktivitäten Aktionsforschung Design Research 404 6. Etappen im Forschungsprozess: Erfahrungen und Empfehlungen Auch wenn diese Einteilung lediglich das Ziel verfolgt, mögliche Theorie-Praxis-Bezüge aufzuzeigen, wird dennoch deutlich, dass es sich in den einzelnen Grundformen um unterschiedliche Konzepte von Theorie und Praxis handelt. So kann die Praxis Untersuchungsgegenstand, Ziel der Forschung oder Objektbereich der Theoriebildung sein. Deutlich wird auch, dass der empirische Zugang je nach Grundform auf unterschiedliche Weise erfolgen kann: induktiv oder deduktiv, theorie- oder datengeleitet. 6.2.3 Weitere Dimensionen Um sich über diese Grundformen hinaus der eigenen Verortungen und Ziele noch bewusster zu werden und die eigenen Stärken gezielt zu nutzen, kann es sinnvoll sein, weitere Entscheidungsdimensionen und Phasen des Forschungsprozesses unter Theorie-Praxis- Bezügen zu betrachten (vgl. auch Caspari 2011 ). Dazu gehört zunächst die Person des Forschers bzw. der Forscherin: Auf welche Ausbildung, Berufserfahrung sowie welchen fachlichen bzw. fachwissenschaftlichen Hintergrund rekurriert er bzw. sie für die Forschungsarbeit? Über welche fachlichen und forschungsmethodischen Kompetenzen verfügt er bzw. sie bereits und welche ist er bzw. sie bereit zu erwerben? Welchem Handlungsfeld fühlt er bzw. sie sich primär zugehörig? Auch Forschungsgegenstand und Forschungsfrage können in Hinblick auf Theorie-Praxis-Bezüge betrachtet werden: Aus welchem Kontext stammen Thema und Forschungsfrage? Wie sind sie entstanden? Handelt es sich um theoretische Fragen oder sind eigene oder fremde Praxisprobleme der Ausgangspunkt? Besonders wichtig ist es, die Ziele und Absichten des Forschungsprojektes in Hinblick auf Theorie-Praxis-Bezüge zu durchdenken: Welche Ziele und Absichten werden mit der Forschungsarbeit primär verfolgt: Soll sie eher die Praxis verändern oder die Theorie weiter entwickeln oder beides? Welche weiteren Ziele und Absichten sind dem bzw. der Forscher*in möglicherweise ebenfalls wichtig? Was soll mit den Ergebnissen geschehen? Diese Fragen betreffen ebenfalls die avisierte Zielgruppe: Für wen sind das Thema, die Forschungsfrage und die Ergebnisse (möglicherweise) relevant? Dies hat u. a. Auswirkungen darauf, wo und in welcher Form die Ergebnisse veröffentlicht werden und in welcher Sprache bzw. in welchem Duktus die Arbeit verfasst wird. Hierbei sind ggf. auch weitere Verwertungszusammenhänge z. B. in Form von Handreichungen oder Fortbildungen zu bedenken. 6.2.4 Weitere Überlegungen Für die Präzisierung des eigenen Anliegens und für die eigene Positionierung ist es wichtig, sich vor und während der Forschungsarbeit die oben aufgeführten Fragen zu stellen und sie z. B. im Forschungstagebuch (s. Kap. 6 . 1 ) für sich zu beantworten. Darüber hinaus können die Fragen dazu anregen, die eigenen Vorannahmen und die eigene Rolle als Forscher*in zu reflektieren und die persönliche Entwicklung im Forschungsprozess wahrzunehmen. Auch wenn eine entsprechende Darlegung bislang nur in qualitativen 6.2 Wechselspiele zwischen Theorie und Praxis 405 Forschungsdesigns gefordert wird, so ist es zwecks eigener Bewusstwerdung und zur Erhöhung der Transparenz sicher auch für Forschungsarbeiten in anderen Traditionen sinnvoll, diese Aspekte zu reflektieren. Die in Abschnitt 2 unterschiedenen Grundformen möglicher Theorie-Praxis-Bezüge können dabei helfen, die grobe Richtung des geplanten Forschungsprojektes zu bestimmen; die in Tabelle 1 aufgeführten groben Forschungsschritte können bei der Planung des Projektes eine Orientierung bieten (s. Kap. 6 . 5 ). Außerdem können sie Anregungen für die Struktur der schriftlichen Fassung der Arbeit geben sowie für die Entscheidung, welche Aspekte möglicherweise besser in einer externen Publikation oder einer anderen Form der Anschlusskommunikation aufgehoben sind. Die im Verlauf dieses Kapitels angestellten Überlegungen zeigen, dass die eingangs gestellte Frage nach einer theoretischen oder praktischen Arbeit tatsächlich zu kurz greift. Jede fremdsprachendidaktische Forschungsarbeit hat es mit Theorie(n) und mit Praxis zu tun. Immer geht es darum, vergangene oder gegenwärtige Praxis genauer zu verstehen, und, sei es auf einer Metaebene, sie zu beschreiben oder zu erklären. Dazu ist jeweils theoretische Reflexion nötig, die enger oder breiter erfolgt. Nicht immer will oder kann man durch die Forschung zukünftige Praxis direkt beeinflussen und verändern. Das Ergebnis einer Forschungsarbeit sollte jedoch stets einen Erkenntnisgewinn für die Theorie - und dadurch zumindest indirekt auch für die Praxis - liefern. › Literatur Caspari, Daniela (2011). Zum Verhältnis von „Theorie“ und „Praxis“ im Forschungsfeld „Lehren und Lernen von Fremdsprachen“. In: Bausch, Karl-Richard/ Burwitz-Melzer, Eva/ Königs, Frank G./ Krumm, Hans-Jürgen (Hg.). Erforschung des Lehrens und Lernens fremder Sprachen : Forschungsethik, Forschungsmethodik und Politik. Arbeitspapiere der 31. Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts . Tübingen: Narr, 42-51. Decke-Cornill, Helene/ Küster, Lutz (2015). Fremdsprachendidaktik. Eine Einführung . 3. vollst. überarbeitete und erweiterte Auflage. Tübingen: Narr. Königs, Frank (2018). Theorie und Praxis in der Fremdsprachendidaktik: Dauerkonflikt oder ziehen sich Gegensätze tatsächlich an? In: Rößler, Elke (Hg.). Wilhelm, Alexander und wir: Einheit von Lehre und Forschung im Fremdsprachenunterricht an Hochschulen . Dokumentation der 29. Arbeitstagung des AKS 2016 . Bochum: AKS, 41-61. Kron, Friedrich W. (1999). Wissenschaftstheorie für Pädagogen . Tübingen: E. Reinhardt. [=UTB] 406 6. Etappen im Forschungsprozess: Erfahrungen und Empfehlungen 6.3 Literaturüberblick und Forschungsstand Michael K. Legutke Ein unabdingbarer Baustein jeder fremdsprachendidaktischen Forschungsarbeit ist der Literaturüberblick, der als eine eigene Textsorte bezeichnet werden kann. Er erscheint in der Regel in zwei Formen mit teils unterschiedlichen Funktionen in der Forschungsarbeit. Zum einen bezieht er sich in einer inhaltlichen Orientierung auf den Forschungsgegenstand (Literaturüberblick 1 ), zum anderen auf das Design und forschungsmethodologische Aspekte der Studie (Literaturüberblick 2 ). Beide Formen sollen im Folgenden unter drei Fragestellungen erörtert werden. ( 1 ) Welche Ziele verfolgt der Literaturüberblick bzw. welche Funktionen lassen sich für ihn benennen? ( 2 ) Wie ist er zu erstellen und zu schreiben? ( 3 ) Wann sollte er verfasst werden? 6.3.1 Was? Merkmale und Funktionen Literaturüberblick Jegliche Forschungsarbeit muss auf bekanntem Wissen aufbauen und bestrebt sein, dieses zu erweitern. Der Literaturüberblick 1 ist deshalb von besonderer Bedeutung, weil er dem Forschungsvorhaben Legitimität und Glaubwürdigkeit bei den Lesern, der Gemeinschaft der Forschenden und nicht zuletzt innerhalb größerer gesellschaftlicher Zusammenhänge verleiht. Er macht nämlich deutlich, dass es sich hier um originäre Forschung handelt und nicht um die Reproduktion vorhandenen Wissens. Aus diesem Grund ist es geboten, dass der/ die Forschende auch Forschungsergebnisse anderer Fachdidaktiken als der eigenen, die seine/ ihre Forschungsfrage tangieren, zur Kenntnis nimmt. Damit dieses übergeordnete Ziel erreicht werden kann, muss er so verfasst sein, dass er vier Funktionen erfüllt. Diese sollen hier in idealtypischer Abfolge nachgezeichnet werden. Positionierung im Forschungsfeld: Der/ die Forschende muss nicht nur deutlich machen, in welchem Forschungsfeld sein/ ihr Projekt angesiedelt ist (s. Kap. 2 ), sondern auch darlegen, wie es sich zu den dort formulierten Positionen und bereits vorhandenen Forschungsergebnissen verhält, d. h. er/ sie muss die Forschungsfrage in ihrem Verhältnis zum Forschungsstand erörtern, indem er/ sie beispielsweise Positionen und Gegenpositionen entfaltet und sich von folgenden Fragen leiten lässt: Welche Ergebnisse liegen bisher vor? Welches sind mögliche Anknüpfungspunkte für das eigene Projekt? Welche Traditionslinien lassen sich nachzeichnen und können aufgenommen werden? Welche Schwerpunkte der Argumentation lassen sich hervorheben? Dabei kann es sinnvoll sein, nach empirisch gewonnenen Forschungsergebnissen und theoretischen Positionen zu unterscheiden. Da es angesichts der Faktorenkomplexion fremdsprachendidaktischer Forschung (und abhängig von der Forschungsfrage) notwendig sein wird, Positionen und Erkenntnisse affiner Disziplinen im Literaturüberblick zu berücksichtigen, stellt sich immer auch die Frage der Abgrenzung und Beschränkung: eine besondere Herausforderung, auf die noch einzugehen sein wird. 6.3 Literaturüberblick und Forschungsstand 407 Theoretische Fundierung: Eine weitere Funktion des Literaturüberblicks ist die kritische Auseinandersetzung mit den zentralen theoretischen Konzepten, die der Forschungsfrage zugrunde liegen. Auch diese müssen im Zusammenhang vorhandener Arbeiten dargestellt, möglicherweise gegeneinander abgeglichen und für das eigene Projekt genau bestimmt werden. Herausarbeiten von Forschungslücken: Während die beiden ersten Funktionen darauf zielen, deutlich zu machen, was andere geforscht und zu sagen haben, geht es nachfolgend darum, Forschungslücken zu benennen, die beim Studium der Literatur deutlich wurden. Ziel ist es, den Raum zu skizzieren, in dem die eigene Forschung angesiedelt werden soll. Besetzung einer Forschungslücke: Sind die Desiderata herausgearbeitet, gilt es schließlich, eine oder mehrere der Lücken zu ‚besetzen‘, indem hervorgehoben und begründet wird, warum es notwendig und sinnvoll ist, diese zu bearbeiten. Die Relevanz der eigenen Studie tritt damit deutlich in Erscheinung. Während der Literaturüberblick 1 den Forschungsgegenstand, zugrundeliegende Konzepte und vorhandene bzw. fehlende Forschungsergebnisse fokussiert, ist der Literaturüberblick 2 auf das Design der Studie und die gewählten Forschungsverfahren, nämlich die Gewinnung von Dokumenten, Texten und/ oder Daten sowie deren Aufarbeitung und Analyse bezogen. Auch wenn der Literaturüberblick 1 und der Literaturüberblick 2 eng zusammenhängen, was sich in der Darstellung auch spiegeln wird (s. u.), werden sie in der Regel in unterschiedlichen Kapiteln der Forschungsarbeit erscheinen. Der Literaturüberblick 2 muss folgenden zwei Zielen dienen: Begründung des Designs: Er muss zum einen transparent machen, warum das gewählte Design für die Bearbeitung der spezifischen Forschungsfrage als angemessener Weg gelten kann und auf welche Quellen sich diese Überzeugung stützt. Quellen sind u. a. forschungsmethodologische Erörterungen und vergleichbare Studien. Beschreibung und Begründung der Forschungswerkzeuge: Um zu verdeutlichen, weshalb die gewählten Forschungswerkzeuge als gegenstandsangemessen gelten können, sind diese nicht nur zu beschreiben, sondern auch in ihren Grenzen und Möglichkeiten zu erörtern. Auch hier muss transparent werden, welche Quellen die Einschätzung stützen. Dokumentierte Forschungsvorhaben können inspirierend gewirkt haben, indem sie das Potenzial bestimmter Werkzeuge belegen oder erkennbar machen, welche Herausforderungen mit ihrem Einsatz verbunden sind. Auch wenn Literaturüberblick 1 und Literaturüberblick 2 in der Regel in separaten Kapiteln erscheinen, sind vor allem bei qualitativen Arbeiten auch andere Lösungen denkbar. So können es der Verlauf des Erkenntnisgewinns und der Argumentation durchaus vertretbar und ggf. sogar notwendig machen, dass die Auseinandersetzung mit der Literatur an verschiedenen Stellen in die Arbeit einfließt. Der Literaturüberblick 2 fokussiert ausschließlich das Projekt, sein Design und seine Forschungswerkzeuge. Selbstverständlich muss dargelegt werden, dass die eigene Arbeit den Gütekriterien fachdidaktischer Forschung genügt. 408 6. Etappen im Forschungsprozess: Erfahrungen und Empfehlungen 6.3.2 Wie? Schritte und Verfahren Die Abfassung des Literaturüberblicks setzt umfangreiche und systematische Rechercheaktivitäten voraus. Lesen, lesen und nochmals lesen, lautet die Devise. Der Fokus der Recherche sollte so angelegt sein, dass das empirische und theoretische Umfeld der Forschungsfrage weiträumig gesichtet und eingeschätzt werden kann. Dabei sollten nicht nur die letzten 5-10 Jahre einbezogen, sondern durchaus auch frühere Perioden der Fremdsprachendidaktik sowie unbedingt Forschungen im Feld anderer Fremdsprachen berücksichtigt werden. Diese weite Anlage der Recherche impliziert allerdings nicht, dass die Lektürebefunde alle in den Literaturüberblick eingehen werden. Vielmehr sind Verdichtungen und Synthesen gefordert. Eine zu frühe Begrenzung der Suche birgt die Gefahr, dass die im Forschungsfeld vorhandenen Schätze verborgen bleiben. Einzelne Schritte auf dem Weg zum Literaturüberblick sollen nun kurz angesprochen werden. Bereits die Erstellung des Exposés und die vorläufige Formulierung einer Forschungsfrage (s. Kap. 6 . 1 ) ist mit einer Literaturrecherche verbunden. Diese gilt es nun gezielt auszuweiten und in einer annotierten Bibliographie zu dokumentieren, die alphabetisch nach Autoren geordnet ist. Letztere enthält nicht nur die genauen bibliographischen Angaben, sondern eine kurze Zusammenfassung des Beitrags/ der Studie sowie erste, stichwortartige Einschätzungen/ Vermutungen, ob und wenn ja in welcher Weise der Text für das eigene Projekt relevant ist. Der Einstieg in die systematische und vertiefende Recherchearbeit erfolgt am besten über folgende Medien: 2 • einschlägige Fachlexika: z. B. Byram/ Hu 2013 ; Palacio Martínez, Ignacio M./ Alonso Alonso, María Rosa/ Cal Varela, Mario/ López Rúa, Paula/ Varela Pérez, José Ramón 2007 , Surkamp 2017 . • einschlägige Handbücher: z. B. Burwitz-Melzer/ Mehlhorn/ Riemer/ Bausch/ Krumm 2016 ; Cohen/ Manion/ Morrison 2018 ; Friebertshäuser/ Langer/ Prengel 2010 , Hallet/ Königs 2010 ; Hallet/ Königs/ Martinez 2020 ; Hinkel 2005 , 2011 ; Krumm et al. 2011 ; Long/ Doughty 2009 ; Lantolf/ Poehner 2018 ; Garton/ Copland 2019 ; Gao 2019 . • Forschungsüberblicke: Arbeitspapiere der Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts (Übersicht in: Burwitz-Melzer/ Riemer/ Schmelter 2021 : 243 - 247 ), State-of-the-Art Articles und Research Timelines in Language Teaching . • einschlägige Überblicksdarstellungen zu Forschungsmethoden: z. B. Dörnyei 2007 , Flick 2020 . • einschlägige Fachzeitschriften: z. B. Applied Linguistics , Language Teaching , Fremdsprachen lehren und lernen , The Modern Language Journal , Zeitschrift für Fremdsprachenforschung. • nationale und internationale Datenbanken: z. B. Fachportal Pädagogik , Informationszentrum für Fremdsprachenforschung der Universität Marburg ( IFS ), Education Resources Information Center ( ERIC ). 2 Die folgenden Angaben sind als Beispiele zu verstehen. 6.3 Literaturüberblick und Forschungsstand 409 Für die Organisation und Verwaltung der Literatur und der annotierten Bibliographie bietet sich die Verwendung einer elektronischen Hilfe an. 3 Aus der annotierten Bibliographie wird später ein wesentlicher Teil des Literaturverzeichnisses für die Publikation der Forschungsarbeit gewonnen. Parallel zur Recherche müssen die Systematisierung und eine differenziertere Bewertung der Literatur im Hinblick auf das Forschungsfeld und den konkreten Forschungsgegenstand erfolgen. Hier helfen Mind-Maps, Flussdiagramme oder Hierarchisierungen. Wie schon oben angedeutet, empfiehlt es sich nach inhaltlichen und methodischen Gesichtspunkten zu unterscheiden, wenn Zusammenhänge hergestellt und Verknüpfungen zum eigenen Projekt vorgenommen werden. 4 Die annotierte Bibliographie und die visualisierten Darstellungen von Zusammenhängen sind Bausteine des Literaturüberblicks, aber nicht mit ihm gleichzusetzen. Nunan und Bailey ( 2009 ) verdeutlichen den Unterschied mit dem anschaulichen Bild einer Flickendecke ( quilt ): The difference between an annotated bibliography and a literature review is that the former consists of separate entries arranged alphabetically by author, while the literature review is thematically organized: It extracts, records, and synthesizes the main points, issues, findings, and research methods of previous studies. We like to use the analogy of a quilt to explain the relationship. The annotations are like bits of cloth, the raw materials, assembled and organized before you start quilting. An effective literature review, in contrast, is more like a well-designed and carefully executed quilt. It is a unified whole. (Nunan/ Bailey 2009: 35) Entsprechend den o. g. Funktionen empfiehlt es sich, die rhetorische Struktur des Literaturüberblicks in drei großen Argumentationsblöcken zu entfalten. Im ersten Block geht es um die Markierung eines Themenfeldes (die Bedeutung des Themas in der fremdsprachendidaktischen Forschung hervorheben, Hintergrundinformationen liefern, Definitionen von Begriffen vornehmen, einen Überblick über vorhandenes Wissen und bisherige Forschungen liefern). Der zweite Block fokussiert Forschungslücken (formulieren, was nicht gesehen, berücksichtigt, erörtert wurde, was bisher fehlt, Fragen formulieren und Probleme benennen, zeigen, welche Traditionen aufgenommen oder fortgesetzt werden müssen). Der dritte Block schließlich liefert die Argumente dafür, wie die geplante Forschungsarbeit die Lücke besetzen wird und leitet damit über zur detaillierten Ankündigung des eigenen Projekts (eine Gegenposition zur Forschungslage beziehen, sich abgrenzen, die eigene Position verdeutlichen). Hier könnte auch der Ort sein, an dem methodische Fragen bereits angesprochen werden (Literaturüberblick 2 ). In der Regel findet der Literaturüberblick 2 jedoch dort seinen Platz, wo das Design und die Forschungsverfahren erörtert werden. 5 3 Wiederum nur als Beispiele seien genannt: LitRat , Citavi , EndNote . Informationen finden sich im Internet zu den genannten Programmen und in den zahlreichen Doktorandenforen (z. B. doktorandenforum.de ). 4 Beispiele für Verfahren der Systematisierung der Ergebnisse der Literaturrecherche finden sich u. a. in: Bitchener ( 2010 : 59 - 67 ) und O’Leary ( 2014 : 85 - 104 ). Anregungen zur Textzusammenstellung liefert auch das Kapitel 5 . 2 . 2 . 5 Die rhetorische Struktur des Literaturüberblicks ist von der anglo-amerikanischen Forschung zum akademischen Schreiben mit Bezug auf das CARS-Modell ( Creating a Research Space ) differenziert untersucht worden, siehe z. B. Swales 1990 , Kwan 2006 . Dort werden auch Beispiele für Argumentationsverläufe gegeben. 410 6. Etappen im Forschungsprozess: Erfahrungen und Empfehlungen Um sich mit der rhetorischen Struktur des Literaturüberblicks und seinem Aufbau vertraut zu machen, lohnt es sich für Forschende, unterschiedliche Textbeispiele, etwa in den Referenzarbeiten, zu rezipieren (s. Kap. 7 ). Für das Abfassen des Literaturüberblicks zitieren Nunan und Bailey ( 2009 ) mit Bezug auf Wiersma ( 2008 ) acht Merkpunkte, die eine gute Orientierung bieten können. Sie sollen deshalb auch diesen Abschnitt abschließen: 1. Select studies that relate most directly to the problem at hand. 2. Tie together the results of the studies so that their relevance is clear. Do not simply provide a compendium of seemingly unrelated references in paragraph form. 3. When conflicting findings are reported across studies - and this is quite common in educational research - carefully examine the variations in the findings and possible explanations for them. Ignoring variation and simply averaging effects loses information and fails to recognize the complexity of the problem. 4. Make the case that the research area reviewed is incomplete or requires extension. This establishes the need for research in this area. (Note: This does not make the case that the proposed research is going to meet the need or is of significance.) 5. Although the information from the literature must be properly referenced, do not make the review a series of quotations. 6. The review should be organized according to major points relevant to the problem. Do not force the review into a chronological organization, for example, which may confuse the relevance and continuity among the studies reviewed. 7. Give the reader some indication of the relative importance of the results from studies reviewed. Some results have more bearing on the problem than others and this should be indicated. 8. Provide closure for the section. Do not terminate with comments from the final study reviewed. Provide a summary and pull together the most important results. (Nunan/ Bailey 2009 : 35 - 36 ) 6.3.3 Wann? Entwurf und Revision Bei der Beratung von Qualifikationsarbeiten taucht immer wieder die Frage auf, wann der Literaturüberblick am besten zu verfassen sei. Auch wenn die generelle Antwort lautet, dass es sich um einen fortlaufenden Prozess handelt, der nicht zuletzt vom Verlauf der Arbeit abhängt, ist es dennoch sinnvoll, nach Forschungsverfahren zu unterscheiden, die eher linear vorgehen (hypothesenprüfende Vorgehensweise) und solchen, die eher zyklisch vorgehen (hermeneutische, historische oder empirisch-interpretative Vorgehensweise). Da erstere Verfahren theoretisch präzise bestimmte Konstrukte und klar definierte Schrittabfolgen für Samplingentscheidungen sowie angestrebte Messungen voraussetzen, ist es durchaus möglich und sinnvoll, bereits vor der Datenerhebung und Auswertung den Literaturüberblick ( 1 und 2 ) zu verfassen. Dieser bedarf dann immer noch einer abschließenden Revision, hat jedoch weitgehend schon seine Endgestalt gefunden. Deutlich anders verhält es sich mit der zweiten Gruppe von Vorgehensweisen. Diese bringen in der Regel eine wiederholte Beschäftigung mit Daten, Texten und Dokumenten 6.3 Literaturüberblick und Forschungsstand 411 mit sich, die nicht selten zur Modifikation der Forschungsfrage und zur Befassung mit neuen Theorien führt. Zunächst nicht geplante Recherchen und Lektüreprozesse werden ausgelöst und verändern so den Literaturüberblick. Auch in diesem Fall ist trotzdem anzuraten, vor der Befassung mit Daten, Texten und Dokumenten den schriftlichen Entwurf des Literaturüberblicks ( 1 und 2 ) zu versuchen, wohl wissend, dass je nach dem Verlauf des Forschungsprozesses Modifikationen (Kürzungen, Erweiterungen, Neugewichtungen) unerlässlich sein werden. Die kritische Frage, der sich alle Forschenden unabhängig von ihrer Vorgehensweise stellen müssen, ist die nach der Funktionalität der referierten und erörterten Arbeiten für das eigene Projekt: Sind die hier behandelten Wissensbestände (Theorien, Forschungsergebnisse, Verfahren) wirklich erforderlich, damit das Besondere, das Innovative des eigenen Projekts eingeordnet und nachvollzogen werden kann? Ein Teil der Überlegungen wird, wie oben schon angedeutet, auch der Frage gelten, ob die im Zusammenhang der Recherche erfolgten Ausflüge in affine Disziplinen und Forschungsfelder, die ohne Frage die Perspektive erweiterten, für die Arbeit selbst noch funktional sind und deshalb bei der Darstellung auch berücksichtigt werden müssten. Oftmals ist diese Entscheidung erst auf der Basis einer Gesamtschau der Ergebnisse möglich. Diese zentralen Fragen werden auch den letzten Revisionsvorgang des Literaturüberblicks leiten, bevor die Arbeit eingereicht oder publiziert wird. Dabei kann sich zeigen, dass es sehr sinnvoll ist, Kürzungen vorzunehmen. Spätestens im Verlauf dieser letzten Revision empfiehlt es sich, dafür Sorge zu tragen, dass der Literaturüberblick mit den anderen Teilen der Forschungsarbeit wirklich vernetzt ist (z. B. bei der Erörterung der Ergebnisse oder der Zusammenfassung der Erträge), damit der rote Faden der Argumentation klar in Erscheinung tritt. › Literatur Bitchener, John (2010). Writing an Applied Linguistics Thesis or Dissertation. A Guide to Presenting Empirical Research . Houndmills, Basingstoke: Palgrave Macmillan. Burwitz-Melzer, Eva/ Riemer, Claudia/ Schmelter, Lars (Hg.) (2021). Entwicklung von Nachhaltigkeit beim Lehren und Lernen von Fremdsprachen. Arbeitspapier der 41. Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts . Tübingen: Narr. Burwitz-Melzer, Eva/ Mehlhorn, Grit/ Riemer, Claudia/ Bausch, Karl-Richard/ Krumm, Hans-Jürgen (Hg.) (2016). Handbuch Fremdsprachenunterricht . 6. Auflage. Tübingen: Francke. Byram, Michael/ Hu, Adelheid (Hg.) (2013). Routledge Encyclopedia of Language Teaching and Learning . 2. Auflage. London: Routledge. Cohen, Louis/ Manion, Lawrence/ Morrison, Keith (2018). Research Methods in Education . 8. Auflage. London: Routledge. Dörnyei, Zoltan (2007). Research Methods in Applied Linguistics. Quantitative, Qualitative and Mixed Methodologies . Oxford: Oxford University Press. Flick, Uwe (2020). Introducing Research Methodology. Thinking Your Way through Your Research Project . Third Edition. London: Sage Publications. Friebertshäuser, Barbara/ Langer, Antje/ Prengel, Annedore (Hg.) (2010). Handbuch Qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft. 3. Auflage. Weinheim: Juventa. Gao, Xuesong (Hg.) (2019). Second Handbook of English Language Teaching . Cham: Springer Nature 412 6. Etappen im Forschungsprozess: Erfahrungen und Empfehlungen Garton, Sue/ Copland, Fiona (Hg.) (2019). The Routledge Handbook of Teaching English to Young Leraners . New York: Routledge. Hallet, Wolfgang/ Königs, Frank (Hg.) (2010). Handbuch Fremdsprachendidaktik . Seelze-Velber: Klett Kallmeyer. Hallet, Wolfgang/ Königs, Frank/ Martinez, Hélène (Hg.) (2020). Handbuch Methoden im Fremdsprachenunterricht . Hannover: Klett/ Kallmeyer. Hinkel, Eli (Hg.) (2005). Handbook of Research in Second Language Teaching and Learning . Volume I. London: Lawrence Erlbaum. Hinkel, Eli (Hg.) (2011). Handbook of Research in Second Language Teaching and Learning. Volume II . London: Routledge. Krumm, Hans-Jürgen et al. (Hg . ) (2011) . Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Ein Internationales Handbuch. Berlin: De Gruyter. Kwan, Becky (2006). The schematic structure of literature reviews in doctoral theses of Applied Linguistics. In: English for Specific Purposes 25, 30-55. Lantolf, James/ Poehner, Matthenw (Hg.) (2019). The Routledge Handbook of Sociocultural Theory and Second Language . New York: Roeutledge. Long, Michael/ Doughty, Catherine (Hg.) (2009). The Handbook of Language Teaching . Chichester, U. K.: Wiley-Blackwell. Müller-Hartmann, Andreas/ Schocker-v. Ditfurth, Marita (Hg.) (2001). Qualitative Forschung im Bereich Fremdsprachen lehren und lernen . Tübingen: Narr. Nunan, David/ Bailey, Kathleen (2009). Exploring Second Language Classroom Research. A Comprehensive Guide . Boston: Heinle Cengage Learning. O’Leary, Zina (2014). Doing Your Research Project . 2. Auflage. Los Angeles: SAGE . Palacio Martínez, Ignacio M./ Alonso Alonso, María Rosa/ Cal Varela, Mario/ López Rúa, Paula/ Varela Pérez, José Ramón (2007). Diccionario de enseňanza y aprendizaje de languas . Madrid: En-Clave- ELE . Wiersma, William. (2008). Research Methods in Education. An Introduction . 9. Auflage. Boston: Pearson. Surkamp, Carola (Hg.) (2017). Metzler Lexikon Fremdsprachendidaktik. Ansätze. Methoden. Grundbegriffe . 2., aktualisierte und erweiterte Auflage. Stuttgart: Metzler. Swales, John (1990). Genre Analysis: English in Academic Research Settings . Cambridge: Cambridge University Press. 6.4 Gestaltung des Designs Karen Schramm Eine besonders kreative Phase des Forschungsprozesses betrifft die Gestaltung des Designs der Gesamtuntersuchung. Voraussetzung für diesbezügliche Überlegungen ist eine klar formulierte, in umfassender Lektüre zum Forschungsstand präzisierte und theoretisch verortete Forschungsfrage. Erst auf dieser Grundlage kann die Gestaltung beginnen, die selbstverständlich auch bei historischen und theoretischen Studien von großer Bedeutung ist, um komplexe Fragestellungen systematisch untersuchen zu können. Die Verwendung 6.4 Gestaltung des Designs 413 des Begriffs Designs ist jedoch auf empirische Arbeiten bezogen und die Gestaltung solcher Designs soll in diesem Kapitel genauer beleuchtet werden. Wie auch bei der Konzeption von historischen und theoretischen Arbeiten stellt es dabei eine besondere Herausforderung dar, die passende Balance zu finden zwischen der Ambition, forscherische Höchstleistungen zu erbringen und neue Erkenntnisse über möglichst umfassende Zusammenhänge zu erarbeiten einerseits, und der Begrenztheit zeitlicher und anderer Ressourcen, die für das Forschungsprojekt zur Verfügung stehen, andererseits. Die Gestaltung des Designs ist daher neben dem gedanklichen Spiel mit den verschiedenen Möglichkeiten auch ein Prozess, der eine weitsichtige Abschätzung des Arbeitsaufwands und eine kühle Reduktion unrealistischer, weil überfrachteter Arbeitsvorhaben erfordert: The setting up of the research is a balancing act, for it requires the harmonizing of planned possibilities with workable, coherent practice , i. e. the resolution of the difference between what could be done/ what one would like to do and what will actually work/ what one can actually do, for, at the end of the day, research has to work. (Cohen/ Marion/ Morrison 2007: 78; Hervorhebungen im Original) 6.4.1 Von der Forschungsfrage zum vorläufigen Design- Entwurf Mit der zumindest vorläufigen Bestimmung der Forschungsfrage hat der bzw. die Forscher*in für sich geklärt, welche Untersuchungsgegenstände bzw. theoretischen Konstrukte fokussiert werden sollen. Auf dieser Grundlage kann er oder sie für die Design- Gestaltung erste Überlegungen dahingehend anstellen, welche gegenstandsadäquaten, aussagekräftigen Daten dazu erfasst oder erhoben werden können. Zu dieser Frage sollte man sich einführend in einschlägigen Forschungshandbüchern informieren, um die theoretischen Hintergründe der gewählten Verfahren und mögliche Alternativen kennen zu lernen. Der weitere Weg der Design-Gestaltung fällt je nach Forschungsparadigma sehr unterschiedlich aus. Wie Abbildung 1 aus Lamnek ( 2010 : 120 ) zeigt, gehen quantitative bzw. analytisch-nomologische Studien von Theorien und Hypothesen aus (s. Kap. 3 . 3 ). Die theoretischen Begriffe, die mit der Hypothese fokussiert werden, sind bei solchen Studien mithilfe von Indikatoren zu operationalisieren. Den Begriff der Operationalisierung definiert Flick ( 2014 : 311 ) als „Maßnahme zur empirischen Erfassung von Merkmalsausprägungen. Dabei werden ein Datenerhebungsverfahren und Messoperationen festgelegt.“ Cohen/ Manion/ Morrison ( 2007 : 81 ) beschreiben diesen Prozess auch als Übersetzen oder Herunterbrechen allgemeiner Ziele in immer konkretere Elemente: The process of operationalization is critical for effective research. Operationalization means specifying a set of operations or behaviours that can be measured, addressed or manipulated. What is required here is translating a very general research aim or purpose into specific, concrete questions to which specific, concrete answers can be given. The process moves from the general to the particular, from the abstract to the concrete. Thus the researcher breaks down each general research purpose or general aim into more specific research purposes and constituent elements, 414 6. Etappen im Forschungsprozess: Erfahrungen und Empfehlungen continuing the process until specific, concrete questions have been reached to which specific answers can be provided. (Cohen/ Manion/ Morrison 2007: 81; Hervorhebung im Original) Bei der Operationalisierung ist der Frage nach der Inhalts- und Konstruktvalidität besondere Aufmerksamkeit zu schenken, d. h. danach, ob „das Messinstrument oder der Test den zu untersuchenden Gegenstand erschöpfend erfasst“ (Flick 2014 : 266 ) und „inwieweit das von einer Methode erfasste Konstrukt mit möglichst vielen anderen Variablen in theoretisch begründbaren Zusammenhängen steht und hieraus Hypothesen ableitbar sind, die einer empirischen Prüfung standhalten“ (Flick 2014 : 267 ; s. auch Kap. 2 ). Abbildung 1 : Stellenwert der Operationalisierung in der quantitativen und qualitativen Sozialforschung (Lamnek 2010 : 120 ) Ausgangspunkt für die Design-Gestaltung im Rahmen qualitativer Forschung bzw. des explorativ-interpretativen Paradigmas (s. Kap. 3 . 3 ) sind dagegen die soziale Realität und die daraus entwickelten Alltagsbegriffe. Die entsprechende Design-Entwicklung beginnt deshalb oft mit Explorationen des Feldes und einer ersten Intuition, welche Arten von Daten für den Untersuchungszweck geeignet sein könnten. Diese ergibt sich in der Regel aus vorliegenden Forschungsberichten zum fokussierten Themenfeld, in denen Erfahrungen mit den eingesetzten Verfahren von anderen Forschenden thematisiert und Gesamtdesigns kritisch reflektiert werden. Insofern ist zum Zeitpunkt erster Design-Gestaltungsversuche eine erneute Rezeption von Vorgängerstudien, die in methodologisch-methodischer Hinsicht Inspiration oder zumindest Orientierung bieten, unter eben dieser spezifischen Perspektive empfehlenswert. 6.4 Gestaltung des Designs 415 An der Weitergabe solch methodologisch-methodischer Erfahrung in Forschungsbeiträgen zeigt sich auch der genuin kooperative Charakter von Forschung: Unabhängig von Zeit und Ort werden auf diese Weise an Kolleg*innen wertvolle Einsichten vermittelt, damit im Gesamtgefüge der Anstrengungen einer wissenschaftlichen Gemeinschaft Fortschritt möglich wird. Wer in diesem Geiste kooperativer Wissenschaft von transparenten Vorgängerstudien für die eigene Empirie profitiert hat, wird später bei der Präsentation der eigenen Untersuchungsergebnisse (s. Kap. 6 . 7 ) auch nicht versucht sein, forschungsmethodische Probleme zu verbergen, sondern diesbezüglich vielmehr Reflexionen anstellen, weil er oder sie bei eigenen Orientierungsversuchen bereits Zweck und Relevanz selbstkritischer Forschungsmethodenreflexion von Kolleg*innen als gewinnbringend erlebt hat. Wenig erfolgversprechend ist es dagegen, wenn die ersten Überlegungen zur Datengewinnung ohne genauere Informationen ex negativo erfolgen, beispielsweise weil man gehört hat, dass Transkribieren aufwändig sei, oder weil man glaubt, dass statistische Rechenverfahren schwierig seien. Das jeweilige Handwerkszeug ist durchaus erlernbar, wobei es natürlich vorteilhaft ist, wenn die Betreuungsperson, andere Mentor*innen oder die Peers diese Kompetenzen bereits beherrschen und Noviz*innen bei der selbständigen Aneignung solcher Forschungsverfahren unterstützen. Auch Workshops und Sommerschulen stellen eine gute Möglichkeit dar, sich solche neuen Kompetenzen anzueignen. Sind die Typen von Daten identifiziert, die sich zur Beantwortung der Forschungsfrage eignen, stellen sich u. a. Fragen nach der Korpusgröße und der Datentriangulation. Welche Personen, Zeitpunkte und Orte sind für die Datengewinnung besonders geeignet? Hier kommen Fragen des Sampling (s. Kap. 4 . 3 ) und der Forschungsethik (s. Kap. 4 . 6 ) ins Spiel. Weitergehend ist zu überlegen, mit welchen Aufbereitungs- und Auswertungsmethoden diese Daten bearbeitet werden sollen (s. Kap. 5 . 3 ). Weiß man beispielsweise um das Transkriptionsverhältnis für ein Interview von 1 : 5 und weniger oder für eine gesprächsanalytische Transkription von 1 : 60 oder 1 : 80 , dann lässt sich der Aufwand in Arbeitsstunden allein für die Aufbereitung schon bei der Design-Entwicklung überschlagen. Entsprechende Überlegungen sind auch zur Eingabe statistischer Daten und zum Zeitaufwand von Auswertungen im Vorfeld anzustellen, denn sie können zur Einsicht in die Notwendigkeit einer Reduktion des jeweiligen Korpus führen. So werden gewissermaßen rückwärts gerichtete Entscheidungen notwendig, bei denen Überlegungen zur Aufbereitung und Analyse auf die Größe und Zusammensetzung des Datenkorpus zurückverweisen und bei denen Überlegungen zur Gewinnung von Daten Einsicht in die Notwendigkeit zur Veränderung der Forschungsfrage mit sich bringen. Auch der umgekehrte Fall vorwärts gerichteter Entscheidungen tritt natürlich auf: Nach einem ersten Design-Entwurf wird deutlich, dass sich auf dieser Grundlage die Forschungsfrage noch nicht hinreichend beantworten lässt und dass weitere Daten, eine Methodentriangulation oder ein komplexeres Design erforderlich werden. Parallel zu und gewissermaßen im Wechselspiel mit diesem Einstieg in die Design- Gestaltung über die Frage nach untersuchungsgegenstandsadäquaten Daten ist auch die Orientierung an prototypischen Designs sinnvoll, die aufgrund eines Forschungsparadigmas (s. Kap. 3 . 3 ) oder einer Forschungstradition in einem bestimmten Untersuchungsfeld naheliegen (s. Kap. 4 . 2 ). Sie bieten ebenfalls Ausgangspunkte dafür, einen vorläufigen Entwurf eines empirischen Forschungsdesigns zu konzipieren, der anschließend in einem 416 6. Etappen im Forschungsprozess: Erfahrungen und Empfehlungen kontinuierlichen Prozess von Revisionen und Präzisierungen weiterentwickelt wird. Bei quantitativen Studien wird diese Planungsphase vor der Datenhebung durchgeführt und nimmt einen beträchtlichen Anteil der Gesamtarbeitszeit für das Forschungsprojekt ein, während sich das Design von qualitativen Studien teilweise erst während der Datengewinnung entwickelt. 6.4.2 Revisionen und Präzisierungen des Designs Kontinuierliche Revisionen und Präzisierungen eines ersten groben Design-Entwurfs führen nach einem längeren Arbeitsprozess zu einem voll ausgearbeiteten, tragfähigen Forschungsdesign. Dabei ist im Hinblick auf Gütekriterien, die angesichts der ersten Design-Entscheidungen zu präzisieren sind (s. Kap. 2 ), zu prüfen, ob bzw. in welcher Weise das geplante Vorgehen erlaubt, sie einzuhalten. Solche Überarbeitungen bestehen häufig aus den folgenden drei Prozessen: (a) der Überprüfung der Untersuchungsschwerpunkte bzw. Variablen, (b) der Überprüfung der Daten pro Variable und (c) der Abstimmung der Verfahren bzw. Teilstudien aufeinander. a. Überprüfung der Untersuchungsschwerpunkte bzw. Variablen: Die Betreuungserfahrung zeigt, dass einige Doktorand*innen empirische Designs im ersten Zugriff zu breit anlegen, da ihnen aufgrund der Faktorenkomplexion des Fremdsprachenunterrichts viele Aspekte des zu untersuchenden Phänomens wichtig, ja unverzichtbar für die geplante Studie erscheinen. Der Weg zur Einsicht, dass die eigene Untersuchung nur einen sehr kleinen Ausschnitt der Realität erforschen kann, ist im ersten Moment nicht selten von Gefühlen der Enttäuschung oder der Belanglosigkeit des eigenen Projekts begleitet. Je mehr es jedoch gelingt, den Blick auch bereits über die Datengewinnung hinaus auf die arbeitsaufwändigen Aufbereitungs- und Auswertungsverfahren zu lenken, umso höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Fokussierung auf vermeintlich geringfügige Realitätsausschnitte als zielführend erlebt wird. Dass ein wohldurchdachtes Design mit mehreren Variablen durchaus zu bewältigen ist, zeigt die Referenzarbeit von Biebricher ( 2008 ): Sie illustriert den Fall einer Dissertation, die erfolgreich mit einer sehr hohen Zahl an sowohl quantitativen Daten (C-Test, Leseteil des Preliminary English Test , Fragebogen) als auch qualitativen Daten (Beobachtung, Fragebogen, nicht-standardisierte Leseprobe, Leitfadeninterview und impulsgestützte Stellungnahmen) arbeitet. b. Überprüfung der Daten pro Variable: Neben der Herausforderung, die zu berücksichtigenden theoretischen Konstrukte auszuwählen, gilt es im Design-Gestaltungsprozess auch kontinuierlich die Überlegungen zum Datenkorpus zu verfeinern, das zu jeweils einem theoretischen Konstrukt bzw. Untersuchungsgegenstand erhoben wird. Auch stellt sich die Frage, ob dabei mehrere Erhebungsmethoden zum Einsatz kommen sollen (zur Methodentriangulation s. Kap. 4 . 4 ). 6.4 Gestaltung des Designs 417 Als Gegenpol zu Biebrichers ( 2008 ) Arbeit kann die Referenzarbeit von Arras ( 2007 ) als Beispiel dafür herangezogen werden, dass in der Hauptstudie ein sehr begrenztes Inventar an Datentypen, in diesem Fall Daten Lauten Denkens und retrospektive Daten, verwendet wird. Zwar nutzt die Verfasserin in zwei Vorstudien auch Fragebogenerhebungen und problemzentrierte Interviews, um die Forschungsfragen genauer fassen zu können, doch in ihrer Hauptuntersuchung nimmt sie eine rigorose Begrenzung der Datentypen vor und ermöglicht so eine tiefgehende Auseinandersetzung mit entsprechenden interpretativen Analysestrategien. c. Abstimmung der Verfahren bzw. Teilstudien aufeinander: Aus einer Kernidee für ein einfaches empirisches Design kann im Prozess des gestalterischen Nachdenkens auch ein komplexeres Design entstehen, in dem in zielführender Weise mehrere Teilstudien miteinander kombiniert werden, die parallel oder sequenziell aufeinander bezogen sind (s. Kap. 3 . 3 ). Bei sequentiellen Designs sollten die Gewichtung und die jeweilige Funktion der Teilstudien im Zusammenspiel genau geklärt werden. Im Fall von parallelen Studien ist die Verschränkung der Teilstudien miteinander im Detail zu planen; besonderes Augenmerk sollte dabei der Frage gelten, in welchen Phasen des Forschungsprozesses Zusammenhänge zwischen verschiedenen Methoden hergestellt werden (s. zu Fragen des mixing von Methoden einführend Kuckartz 2014 ). Grundsätzlich erscheint es hilfreich für gestalterische Überlegungen, für Beratungsgespräche und nicht zuletzt auch für Leser*innen, wenn Forscher*innen ihr Design auch graphisch darstellen (s. Beispiel in Referenzarbeit Biebricher). Eine solche Visualisierung zwingt naturgemäß zur Begrenzung auf das Wesentliche; wenn dabei die Variablen und die jeweilige Erhebungsmethode incl. Korpusgröße explizit angegeben und die Aufbereitungs- und die Auswertungsmethoden präzise und in ihren Zusammenhängen abgebildet werden, lassen sich mögliche Design-Probleme wie ein fehlender Zusammenhalt zwischen einzelnen Verfahren, Gestaltungslücken oder überdimensionierte Korpusgrößen oft leichter erkennen als in Fließtexten. Eine weitere wichtige Möglichkeit, die Gestaltung des Designs voranzutreiben, stellen Pilotierungen dar. Zahlreiche der in Kapitel 7 vorgestellten Referenzarbeiten illustrieren, dass wichtige Präzisierungen des Designs erst auf dieser Grundlage vorgenommen werden konnten (s. Arras 2007 ; Biebricher 2008 ; Tassinari 2010 ; Özkul 2011 ; Kienberger 2020 ). 6.4.3 Fazit Nach einem ersten vorläufigen Design-Entwurf, der häufig zur Verfeinerungsarbeit bezüglich der Forschungsfrage zurückführt, werden im weiteren Gestaltungsprozess detaillierte Revisions- und Präzisierungsprozesse erforderlich. Die Vorstellung, ein Design könne einfach so aus dem Ärmel geschüttelt werden, ist illusorisch; es muss vielmehr in zahlreichen Runden immer wieder umstrukturiert und immer weiter verfeinert werden. Deshalb erscheint es wichtig, sich in Vorbereitung auf diese Phase der Design-Gestaltung klarzumachen, dass es sich um einen anspruchsvollen kreativen Prozess handelt, der gründliches 418 6. Etappen im Forschungsprozess: Erfahrungen und Empfehlungen Nachdenken, gute Beratung von klug ausgewählten Mentor*innen mit Erfahrung in den relevanten Bereichen, Geduld, Hartnäckigkeit und Lernbereitschaft erfordert. Settinieri ( 2014 : 66 - 67 ) formuliert dazu u. a. die folgenden Maximen: Denke Deine Untersuchung bis ganz zum Schluss durch! […] Pilotiere Deine Datenerhebungsinstrumente, was das Verhalten der Datenerhebenden und der Untersuchungsteilnehmenden einschließt! Ändere und optimiere Dein Forschungsdesign auf der Grundlage der Pilotierung, nötigenfalls auch mehrmals! […] Präsentiere nach der Pilotierung, aber vor der eigentlichen Datenerhebung bei jeder sich bietenden Gelegenheit das Design Deiner Studie und hole nicht nur inhaltsbezogenes, sondern auch methodisches Feedback dazu ein! Vernetze Dich mit Forschenden auf unterschiedlichen Qualifikationsebenen und rege den gegenseitigen unterstützenden Austausch bzgl. Datenerhebung, -aufbereitung, -auswertung und -interpretation an! Gehe davon aus, dass Du in jedem Fall irgendwelche Methodenfehler begehst, suche aktiv nach ihnen, reflektiere sie im Rahmen Deiner Arbeit und beziehe sie in Deine Ergebnispräsentation ein […]! (Settinieri 2014: 66-67) Handlungsleitend sollten im Prozess der Design-Gestaltung zum einen die Frage nach der Forschungsökonomie sein - also danach, ob das Design eine effiziente Beantwortung der Forschungsfrage erlaubt - und zum anderen die Frage nach der Forschungsökologie - also danach, ob das Design nachhaltig ist und sparsam mit Ressourcen umgeht (s. auch Kap. 4 . 6 ). › Literatur Arras, Ulrike (2007). Wie beurteilen wir Leistung in der Fremdsprache? Strategien und Prozesse bei der Beurteilung schriftlicher Leistungen in der Fremdsprache am Beispiel der Prüfung „Test Deutsch als Fremdsprache“ (TestDaF). Tübingen: Narr. [Referenzarbeit, s. Kap . 7] Biebricher, Christine (2008). Lesen in der Fremdsprache. Eine Studie zu Effekten extensiven Lesens. Tübingen: Narr. [Referenzarbeit, s. Kap . 7] Cohen, Louis/ Manion, Lawrence/ Morrison, Keith (2007). Research Methods in Education. London: Routledge. Flick, Uwe (2014). Sozialforschung. Methoden und Anwendungen. Ein Überblick für die BA-Studiengänge. 2. Auflage. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuchverlag. Kienberger, Martina (2020). Das Potenzial des potenziellen Wortschatzes nutzen. Erschließungsstrategien für unbekannten Wortschatz unter DaF-Lernenden an spanischen Universitäten [http: / / othes. univie.ac.at/ 62970/ ] (06.12.2020). [Referenzarbeit, s. Kap. 7] Kuckartz, Udo (2014). Mixed Methods. Methodologie, Forschungsdesigns und Analyseverfahren. Wiesbaden: Springer VS. Lamnek, Siegfried (2010). Qualitative Sozialforschung. 5. überarbeitete Auflage. Weinheim: Beltz. Özkul, Senem ( 2011 ). Berufsziel Englischlehrer/ in . München: Langenscheidt. [Referenzarbeit, s. Kap. 7 ] Settinieri, Julia (2014). Planung einer empirischen Studie. In: Settinieri, Julia/ Demirkaya, Sevilen/ Feldmeier, Alexis/ Gültekin-Karakoç, Nazan/ Riemer, Claudia (Hg.). Empirische Forschungsmethoden für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache . Eine Einführung . Paderborn: Ferdinand Schöningh, 57-71. Tassinari, Maria G. (2010). Autonomes Fremdsprachenlernen: Komponenten, Kompetenzen, Strategien. Frankfurt/ Main: Lang. [Referenzarbeit, s. Kap. 7] 6.5 Prozessplanung und -steuerung 419 6.5 Prozessplanung und -steuerung Karen Schramm 6.5.1 Planung komplexer Arbeitsprozesse Ein neues Forschungsprojekt zu beginnen, bedeutet oft nicht nur, sich auf ein neues thematisches Abenteuer einzulassen, sondern sehr oft ist es auch so, dass das neue Projekt in seinen Dimensionen die bisherigen Forschungserfahrungen der Betroffenen übersteigt. Bei Qualifikationsarbeiten ist dies mit der Steigerung der Anforderungen von einer BAüber eine MA-Arbeit bis hin zu einer Dissertation oder gar Habilitation systematisch so angelegt. Aber auch bei anderen, beispielsweise kooperativen Forschungsprojekten ist es kein seltener Fall, dass Fremdsprachendidaktiker*innen in Bezug auf die Komplexität der neuen Studie über ihre bisherigen Forschungserfahrungen hinausgehen und sich in diesem Prozess - wie auch Nachwuchswissenschaftler*innen im Qualikationsprozess - weiterentwickeln. Somit ist der Beginn eines neuen Projekts zumeist nicht nur in thematischer, sondern auch in organisatorischer Hinsicht das Sich-Vorwagen in ein unbekanntes Terrain. Dass dabei so manche Herausforderung und Überraschung lauert, hat Riemer ( 2014 : 17 ) mit dem Bild der Forschungspraxis als „anstrengende[r] Trekkingtour“ verdeutlicht. Unter Bezugnahme auf Alemann ( 1984 ) spricht sie von schwierigen Wegabschnitten wie dem „Gipfel der Konfusion“, dem „Pass des Geldes“, dem „Wald der Müdigkeit“ oder dem „Sumpf der verlorenen Manuskripte“ (Riemer 2014 : 18 - 19 ). Die Metapher der Trekkingtour veranschaulicht einerseits, dass nicht alle Wegstrecken im Detail vorausgesehen werden können, und macht andererseits auch deutlich, dass gerade deshalb eine gute Vorbereitung notwendig ist, um auf dieser anstrengenden Tour den unweigerlichen Überraschungen und unerwarteten Anforderungen erfolgreich begegnen zu können. Somit sind Kompetenzen im Projektmanagement und insbesondere in der Zeit- und Arbeitsplanung hilfreich. An vielen Universitäten wird gefordert, bereits im Exposé eine erste Planung der Arbeitsschritte und des jeweiligen Zeitbedarfs vorzunehmen (s. auch Kap. 6 . 1 ). Dies kann beispielsweise in Form einer tabellarischen Zeitplanung oder in einem Gantt-Diagramm geschehen. Die Herausforderung liegt dabei gerade darin, die naturgemäß zunächst noch diffusen Vorstellungen über den Arbeitsprozess bestmöglich zu konkretisieren und in eine - praktisch realisierbare - lineare Reihenfolge zu bringen. Erst die explizite schriftliche Planung erlaubt es in vielen Fällen, auch Details rechtzeitig zu berücksichtigen, beispielsweise dass die Datenerhebung an einer Schule nur zu bestimmtem Phasen des Schuljahrs realistisch erscheint oder dass eine Schulung zu einer relevanten Analyse-Software nur zu bestimmten Zeitpunkten angeboten wird. Gleichzeitig ist natürlich zu betonen, dass die Planung immer wieder den (teils nicht vorhersehbaren) Realitäten anzupassen ist - deshalb erscheint eine Feinplanung für die nächsten Wochen zusätzlich zu einer Grobplanung für die nächsten Monate geeignet. Der Wunsch nach einer solchen Struktur in Form von Arbeits- und Zeitplänen ist bei Doktorand*innen je nach Persönlichkeitstyp unterschiedlich ausgeprägt: Während einige die Freiheit genießen, auf der 420 6. Etappen im Forschungsprozess: Erfahrungen und Empfehlungen Trekking-Tour nach Gespür spontane Entscheidungen über den Reiseverlauf zu treffen, gewinnen andere Sicherheit aus einem vorstrukturierten Pfad, der ihnen ein zielorientiertes Voranschreiten ermöglicht. Über die diesbezüglichen Wünsche nachzudenken und mit der/ dem Betreuer*in darüber zu sprechen, kann eventueller Frustration auf der einen oder anderen Seite vorbeugen. In diesem Planungsprozess empfiehlt es sich, Meilensteine zu definieren; dies sind konkrete Arbeitsprodukte wie beispielsweise der Erstentwurf eines Erhebungsinstruments oder Kapitels, das Transkriptkorpus oder der Anhang der Dissertation. Im Falle einer gelungenen Planung sind die Meilensteine die Fixpunkte, die bei der Trekking-Tour als nächstes Etappenziel angepeilt werden. Das bedeutet auch, dass nicht das bleierne Gewicht der gesamten fertigzustellenden Dissertation auf den Schultern zu tragen ist, sondern pro Etappe von beispielsweise zwei oder drei Monaten ,nur‘ das aktuelle Arbeitspaket - dies kann sehr erleichternd sein und Gefühlen von Überforderung oder Mutlosigkeit entgegenwirken. Eine solche Planung ist auch eine wichtige Grundlage für Betreuungsgespräche, in denen Betreuer*innen aufgrund ihrer Forschungserfahrung bereits manches Problem voraussehen und rechtzeitig im Vorfeld ansprechen können (s. auch Kap. 6 . 8 ). Dazu gehören u. a. Fragen der Reihenfolge ( z. B. „Lässt sich das Theoriekapitel tatsächlich schon schreiben, bevor das Forschungsdesign steht? “), der zeitlichen Planung (z. B. „Dauert es tatsächlich nur vier Wochen, die Genehmigung der Schulbehörde einzuholen? “) oder des Arbeitsaufwands (z. B. „Ist es realistisch, ein Videokorpus von 15 Unterrichtsstunden in zwei Monaten zu transkribieren? “). In manchen Fällen können Betreuer*innen auch Hinweise zu den in der Planung noch nicht berücksichtigten Arbeitsphasen geben. Beispielsweise wird die Notwendigkeit zur Pilotierung, zur kommunikativen Validierung oder zur Erstellung eines Anhangs, der Transparenz über die Analyse schafft, in den ersten Schritten zur Planung eines Dissertationsprojekts oft noch nicht erkannt. Auch das Einholen von Feedback zu Kapitelentwürfen und die entsprechenden Revisionsprozesse bleiben von Doktorand*innen bei den ersten Planungen häufig unberücksichtigt - ebenso wie die aufwändige Abschlussformatierung. Anzumerken ist in Bezug auf die Zeitplanung, dass sich historische, theoretische sowie empirische Forschungsarbeiten (und hier wiederum hypothesengenerierende und hypothesenüberprüfende) deutlich in der zeitlichen Gewichtung der verschiedenen Arbeitsphasen unterscheiden. Bei historischen Arbeiten benötigt vor allem die Suche nach den Quellen erfahrungsgemäß viel Zeit, da sich deren Fundorte erst im Verlauf der Recherche erschließen. Theoretische Arbeiten zeichnen sich insbesondere durch eine umfängliche Literaturrecherche und iterative Leseprozesse aus. Während Forscher*innen sich bei empirischen Projekten, mit denen sie Hypothesen generieren wollen, eher frühzeitig ins Feld begeben und an die Datenerhebung wagen, erfordern hypothesenüberprüfende Studien eine deutlich längere Vorbereitungszeit, bevor die Datenerhebung sinnvollerweise stattfinden kann. Demgegenüber steht dann wiederum bei hypothesengenerierenden Projekten eine in der Regel deutlich längere Auswertungsphase als bei hypothesenüberprüfenden Studien. 6.5 Prozessplanung und -steuerung 421 6.5.2 Steuerung komplexer Arbeitsprozesse Selbstverständlich sind auch die besten Planungen dazu da, angesichts neuer Einsichten und praktischer Erfordernisse umgestoßen zu werden. Dies sollte wohlüberlegt und zielorientiert geschehen. Keinesfalls darf der Steuerungsprozess ein hilfloses Dahintreiben im Strom der vielen Möglichkeiten oder der vielen wohlgemeinten Ratschläge von unterschiedlichen Seiten sein. Damit ist das Spannungsfeld von Fremd- und Selbststeuerung bei einem komplexen Arbeitsprozess wie der Erstellung einer Dissertation angesprochen. Wichtig erscheint, dass der oder die Doktorand*in auf der Trekkingtour den Kompass selbst in der Hand hat und durch kontinuierliche Orientierung den Weg zum Ziel eigenständig findet. Um dabei zielführende Entscheidungen treffen zu können, ist die Einbindung in eine community of practice von Forschenden von höchster Bedeutung. Der Austausch mit erfahreneren ‚Doktorgeschwistern‘ liefert wertvolle Anregungen in Bezug auf bereits bestandene (bzw. für den/ die Noviz*in noch zu bestehende) Abenteuer. Gleichermaßen tragen die Denkanstöße, die man selbst als Doktorand*in den ‚Doktorgeschwistern‘ anbieten kann, zur eigenen Reflexion bei: Es ist kein seltener Fall, dass man an den Projekten anderer, in die man emotional weniger involviert ist, methodische Probleme klarer erkennt als am eigenen und daraus Nutzen für das eigene Projekt zieht. Auch das Gespräch mit mehreren professoralen Berater*innen stellt den Zugang zu einer Vielfalt von Erfahrungsperspektiven sicher und ist keinesfalls als ‚Verrat‘ an der oder dem eigenen Betreuer*in zu begreifen. Entscheidend ist dabei, dass Beratung jeweils als Denkanstoß oder als Anregung - nicht als Handlungsdirektive - verstanden wird. Doktorand*innen sollten Entscheidungen nicht aus Vertrauen in die Ratschläge anderer, sondern auf der Grundlage einer klaren eigenständigen Orientierung und entsprechend gefestigter Überzeugung treffen. Zur Dokumentation und Reflexion möglicher Handlungsalternativen bietet sich ein Forschungstagebuch oder ein Logbuch an (s. auch Kap. 6 . 1 ). Eine solche Dokumentation kann dabei helfen, regelmäßig auf einer Metaebene den eigenen Tourverlauf zu reflektieren, Bilanz zu ziehen und die nächsten Etappen zu planen. Beispielsweise kann es an einem Punkt der Arbeit zu der Entscheidung kommen, einen bereits erarbeiteten Themenbereich aus der Dissertation auszugliedern und zu einem späteren Zeitpunkt einen Artikel darüber zu schreiben. Regelmäßig Bilanz zu ziehen, ist auch Voraussetzung für das Erkennen des eigenen Fortschritts. Beispielsweise kann es die Motivation anfachen und die Konturen für die nächsten Arbeitsschritte klarer erkennbar werden lassen, wenn man die fertiggestellten Teile in der Gliederung farbig markiert. Dass es neben der klugen Steuerung durch gründliches Nachdenken auch einer guten Kondition und eines gewissen sportlichen bzw. intellektuellen Ehrgeizes bedarf, ist vermutlich selbstverständlich. Es wird bei Dissertationsprojekten kaum zu vermeiden sein, dass in den verschiedenen Phasen eine hohe Arbeitsbelastung entsteht, die es nicht nur in kognitiver, sondern auch in affektiver und sozialer Hinsicht zu bewältigen gilt. Der vertrauensvolle Austausch mit Peers über erfolgreiche Strategien zum Umgang mit diesen Herausforderungen ist dabei hilfreich: Wie haben andere Doktorand*innen Motivationstiefs oder gar Verzweiflung überwunden? Welche Maßnahmen haben sie ergriffen, um Abstand zu gewinnen und um auf ihre Gesundheit zu achten? Wie haben sie sich selbst 422 6. Etappen im Forschungsprozess: Erfahrungen und Empfehlungen angefeuert? Welche Arbeiten haben sie delegiert? Wie haben sie Partner*innen, Familie und Freunde zu strategischen Verbündeten in Sachen Dissertationsprojekt gemacht? Gerade der letzte Punkt erscheint für den erfolgreichen Abschluss einer Dissertation von besonderer Bedeutung; die Unterstützung durch das soziale Umfeld spielt eine nicht zu unterschätzende Rolle. In den verschiedenen Phasen des Forschungsprozesses stellen sich hinsichtlich der Detailplanung und Steuerung teils charakteristische Herausforderungen. Bei der empirischen Datenerhebung könnte eine solche Herausforderung beispielsweise darin bestehen, dass das Untersuchungsfeld schwer zugänglich ist oder die hohen Ansprüche der Forscherin oder des Forschers nicht mittragen kann - hier gilt es, sich nicht entmutigen zu lassen und Kompromisse zu schließen, die als wichtige Forschungserfahrung auch in der Dissertation dokumentiert werden. In vielen Fällen wird auch eine zeitliche Abhängigkeit der Datenerhebungen zu bedenken sein: So wird in Bezug auf das videobasierte Laute Erinnern beispielsweise häufig postuliert, dass es innerhalb von 24 Stunden geschehen solle. In Bezug auf problemzentrierte Interviews ist zu bedenken, dass die entsprechenden Impulse für das Interview möglicherweise nicht nur erhoben, sondern auch bereits transkribiert oder gar analysiert sein müssen, um ihre Funktion zu erfüllen. Auch könnte es wichtig sein, die Erhebungen so zu planen, dass die Forschungsparter*innen sich darüber nicht austauschen können; zu diesem Zweck wären simultane Erhebungen durch Forschungsassistent*innen eine Lösung. Die Datenverwaltung ist bei großen Mengen von Dokumenten, Texten und Daten eine nicht zu unterschätzende Herausforderung, der man nur durch akribische Sorgfalt im Erhebungsprozess und gute - heute in der Regel digitale - Ablagesysteme gerecht werden kann. Sollen beispielsweise verschiedene Daten wie Videoaufnahmen und Lerner*innentexte mittels eines Klassenspiegels zugeordnet werden, so ist das keine triviale Herausforderung, die ohne weiteres im Zuge der Erhebungen zu erledigen ist. Auch eine sichere Aufbewahrung ist wichtig, um die in aufwändigen Arbeitsprozessen gewonnenen Dokumente, Texte und Daten vor Kindern und neugierigen Haustieren, vor Feuer und Wasser und insbesondere vor dem digitalen Verpuffen (versehentliches Löschen, fehlende Datensicherung bei gestohlenen oder kaputten Laptops etc.) zu schützen. Bei der Datenaufbereitung kann eine erfolgreiche Steuerung darin bestehen, sich eine hochkonzentrierte Arbeit wie das Transkribieren aufzuteilen (beispielsweise nicht länger als zwei Stunden am Stück), sich gute Ausrüstung zu besorgen (beispielsweise mit Einstellungen für Wiederholungsschleifen zu arbeiten) oder sich eine Datenbank passend zum eigenen Projekt einzurichten. Sollten mehrere Personen an solchen Aufbereitungsprozessen beteiligt sein, sind Schulungen einzuplanen, um die Einheitlichkeit sicherzustellen. Die Analyse stellt bei interpretativen Auswertungen möglicherweise die höchsten Anforderungen an die metakognitive Kontrolle und Steuerung des gesamten Prozesses. Die vertiefte Beschäftigung mit Detailanalysen einerseits und die Suche nach einer Gesamtstrategie für die Analyse andererseits kommen oft einem Balanceakt gleich. Hilfreich ist es in der Regel, exemplarische Einzelanalysen im Rahmen eines Kolloquiums oder einer Arbeitsgruppe, die idealerweise mit dem Projekt schon längere Zeit vertraut ist, vorzustellen. Die kritischen Freunde werden mit ihren Nachfragen dazu beitragen, die Analyse auf der Mikroebene zu schärfen und ihre Einbindung auf der Makroebene genauer zu 6.6 Zusammenfassung und Diskussion der Erträge 423 fassen. Nicht nur, aber besonders bei unerwarteten Befunden wird eine erneute Auseinandersetzung mit der Forschungsliteratur notwendig. In der Regel ist nach der Analyse qualitativer Daten auch die Frage zu stellen, wie die jeweiligen Befunde abstrahiert und modelliert werden können. Bei der Erstellung des Schlusskapitels ist bei empirischen Projekten eine Rückbindung der Ergebnisse an den Forschungsstand bzw. eine (oder mehrere) Theorie(n) gefordert (s. Kap. 6 . 6 ). Wichtige Fragen sind hier u.a.: Wie kann der Bogen zur Einleitung und zum Theoriekapitel geschlagen werden? Wie sind das Design und die Methoden im Rückblick zu bewerten? Welche zitierfähigen Passagen fassen hieb- und stichfest die eigenen Arbeitsergebnisse zusammen? Welche Forschungsdesiderata ergeben sich daraus für zukünftige Untersuchungen? Bei historischen und theoretischen Arbeiten geht es dagegen in der Regel um einen Ausblick auf weiterhin offene oder neu entstandene Fragen. Ist die Trekking-Tour zu einem glücklichen Abschluss gekommen, steht am Ende nicht nur der fachliche Ertrag bzw. das eigene Buch, sondern der oder die Doktorand*in wird in der Regel auch einen großen persönlichen Gewinn aus der Autonomie- und Selbstwirksamkeitserfahrung der abenteuerlichen Reise ziehen. Es steht zu erwarten, dass dieser persönliche Gewinn an Mut, Veränderung anzugehen und Verantwortung zu übernehmen, auf der weiteren Reise des Lebens erkennbar werden wird. › Literatur Alemann, Heine von (1984). Der Forschungsprozeß. Eine Einführung in die Praxis der empirischen Sozialforschung. 2. Aufl. Stuttgart: Teubner. Riemer, Claudia (2014). Forschungsmethodologie Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. In: Settinieri, Julia/ Demirkaya, Sevilen/ Feldmeier, Alexis/ Gültekin-Karakoç, Nazan/ Riemer, Claudia (Hg.). Empirische Forschungsmethoden für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Paderborn: Schöningh, 15-31. 6.6 Zusammenfassung und Diskussion der Erträge Michael K. Legutke Nach der Gewinnung von Daten, Dokumenten oder Texten sowie deren Aufbereitung und Analyse sieht sich der/ die Forschende mit der Herausforderung konfrontiert, die gewonnenen Erkenntnisse und erarbeiteten Erträge so zu bündeln und darzustellen, dass sowohl das Besondere der Studie in Erscheinung tritt, als auch die Fragen angesprochen werden, die offen bleiben mussten oder die sich als Folge der Untersuchung neu stellen. Das folgende Kapitel bietet einige Anregungen dazu, was beim Umgang mit dieser Herausforderung zu bedenken ist, wenn die entsprechenden Teile der Forschungsarbeit abgefasst werden. Auch wenn die Zusammenfassung und Diskussion der Erträge in Abhängigkeit von den Forschungstraditionen (historisch, theoretisch, empirisch, s. Kap. 3 ) sowie dem For- 424 6. Etappen im Forschungsprozess: Erfahrungen und Empfehlungen schungsansatz und den gewählten Vorgehensweisen (quantitativ, qualitativ, mixed methods ) in zum Teil unterschiedlicher Form erfolgen wird, wie noch zu erläutern ist, sollte sich der/ die Forschende in jedem Fall an folgenden Zielen orientieren. Dabei kann es durchaus sinnvoll sein, bei der Darstellung inhaltliche und methodische Aspekte getrennt zu erörtern: • Die Zusammenfassung und Diskussion geschieht mit klarem Bezug zu der Forschungsfrage/ den Forschungsfragen und schlägt argumentativ die Brücke zum Forschungsstand und Literaturüberblick (s. Kap. 6 . 3 ). • Die Erträge werden in die mit dem Forschungsstand erörterten theoretischen Zusammenhänge eingeordnet. • Der Geltungsanspruch und die Reichweite der Erträge werden erörtert und offene Fragen benannt. Damit wird deutlich, warum die Erträge der Studie ernst zu nehmen sind und warum sie den Gütekriterien fremdsprachendidaktischer Forschung entsprechen. • Die theoretische Bedeutung der Studie und mögliche Implikationen für praktisches Handeln werden verdeutlicht. • Perspektiven für weitere Forschungen, die sich aus den Erträgen herleiten lassen, werden skizziert. • Das gesamte Design wird ebenso wie einzelne Forschungsentscheidungen und Verfahren auf der Basis der Erträge kritisch reflektiert. • Besonders gewinnbringende ebenso wie problematische Ereignisse im Forschungsprozess werden, sofern vorhanden, benannt und diskutiert. • Der Text ist leserfreundlich formuliert, sprachlich zugänglich und nachvollziehbar. Er trägt mit dieser Qualität der sozialen Verpflichtung von Forschung Rechnung - ist es doch ein Bestimmungsmerkmal von Forschung, dass sie wahrgenommen und diskutiert wird. Die sprachlich-argumentative Qualität der Zusammenfassung und Diskussion schaffen dafür eine wichtige Voraussetzung. • In mehreren Handbüchern findet sich der Hinweis, der/ die Forschende solle versuchen, die Zusammenfassung und Diskussion der Ergebnisse als Geschichte zu konzeptualisieren: „Your findings need to tell a story related to your aims, objectives and research questions“ (O’Leary 2014 : 288 ; vgl. auch Dörnyei 2007 : 292 - 93 ). Damit ist nicht gemeint, der/ die Forschende solle versuchen, den Gang der Arbeit chronologisch nachzuerzählen. Die Anregung ist vielmehr metaphorisch zu verstehen, nämlich als Hinweis, darüber nachzudenken, wie die Darstellung der Erträge und ihrer Diskussion anschaulich gestaltet werden kann. Eine solche Empfehlung mag sich für historische und empirische Forschungen eher realisieren lassen als für theoretisch-konzeptuelle Arbeiten; als generelle Aufforderung, sich um Leserbezogenenheit und Lebendigkeit der Darstelllung zu bemühen, sollte sie auf jeden Fall ernst genommen werden. Welche Möglichkeiten der Realisierung einzelne Forschende gewählt haben, zeigen exemplarisch die Referenzarbeiten im Kapitel 7 dieses Handbuchs. Unter Berücksichtigung von Forschungstraditionen und Vorgehensweisen ist es angebracht, spezifische Anregungen für empirische (Abschnitt 1 ) und historische sowie theoretische Forschung (Abschnitt 2 ) gesondert aufzuführen. 6.6 Zusammenfassung und Diskussion der Erträge 425 6.6.1 Erträge empirischer Arbeiten 1 Quantitative Forschungsarbeiten Für quantitativ arbeitende Forschende stellt sich zunächst die grundsätzliche Frage, ob die Präsentation und die Diskussion der Ergebnisse verschränkt oder in getrennten Kapiteln erfolgen soll. Für beide Varianten kann es gute Gründe geben. Eine verschränkte Darstellung bietet einerseits den Vorteil, dass dadurch eine fortlaufende Argumentation entfaltet und kontinuierlich Theoriebezüge hergestellt werden können. Diese Art der Darstellung kann es dem/ der Leser*in erleichtern, der Argumentation, die sich ja auf Messergebnisse stützt, zu folgen; sie wäre dann leserfreundlicher. Sie eignet sich sicher besonders bei kürzeren Forschungsbeiträgen, etwa in Fachzeitschriften. Andererseits kann die Breite unterschiedlicher Ergebnistypen, die sich aus den zur Beantwortung der Forschungsfrage(n) zielführenden statistischen Verfahren ableiten, eine Darstellung in zwei getrennten Kapiteln nahe legen. Eine integrierte Darstellung wäre möglicherweise zu unübersichtlich. Eine solche Trennung kann sich vor allem bei größeren Forschungsprojekten, etwa bei Qualifikationsarbeiten (Promotionen, Habilitationen), anbieten. Die Entscheidung wird aber letzten Endes von den Forschungsfragen und den statistischen Auswertungsverfahren abhängen. In der anglo-amerikanischen Tradition ( Applied Linguistics ) hat sich auch für kürzere Darstellungen in Fachzeitschriften unter den Überschriften Findings/ Results und Discussion eine Zweiteilung als Regelfall durchgesetzt. 6 Neben dieser Grundsatzentscheidung müssen auf jeden Fall zwei weitere Herausforderungen gemeistert werden. Die erste beinhaltet die wichtige Frage des Präsentationssamplings; es geht darum zu entscheiden, welche Ergebnisse der Analyse prominent dargestellt und diskutiert werden sollen (s. Kap. 4 . 3 ). Forschende sollten der Versuchung widerstehen, für jedes einzelne Messergebnis oder jede einzelne Variable der Studie Graphen, Kurven, Tabellen, Skalen oder Schaubilder anzubieten. Man kann dieser Versuchung leicht erliegen, denn die verfügbaren Statistiksoftwareprogramme ermöglichen auf Knopfdruck die graphische Darstellung von Ergebnissen, die durch deskriptive oder komplexere statistische Verfahren gewonnen wurden. Die zweite Herausforderung betrifft die Art der Darstellung und ihre sprachliche Form. O’Leary bringt die Herausforderung folgendermaßen auf den Begriff: Now when it comes to how your data should be presented, I think there is one golden rule: your presentation should not be hard work for the reader. Most people’s eyes glaze over when it comes to statistics, so your data should not be hard to decipher. You should not need to be a statistician to understand it. Your challenge is to present your data graphically and verbally so that meanings are clear. Any graphs and tables you present should ease the task for the reader. So while you need to include adequate information, you do not want to go into information overload. (O’Leary 2014: 288). 6 Vgl. z. B. Forschungsbeiträge in der Zeitschrift TESOL Quarterly . Auch in der deutschsprachigen Zeitschrift für Fremdsprachenforschung zeigt sich bei der Darstellung quantitativer Forschung die Tendenz zur Zweiteilung. 426 6. Etappen im Forschungsprozess: Erfahrungen und Empfehlungen Gezielt eingesetzte Graphiken, Kurven und Tabellen können ohne Frage dazu beitragen, die Darstellung insgesamt leserfreundlich und in ihrer inneren Logik gut nachvollziehbar zu machen. Allerdings gilt es darauf zu achten, dass der begleitende Text nicht einfach die Aussage der Graphen verbal verdoppelt, sondern vielmehr einordnet, ergänzt oder weiterführt. 7 2 Qualitative Forschungsarbeiten Während Forschende bei der Abfassung quantitativer Forschungsarbeiten in der Regel einem konventionalisierten Schema folgen, in dem Präsentation und Diskussion der Ergebnisse einen festen Platz in der Reihenfolge der Kapitel einnehmen, haben qualitativ arbeitende Forschende einen deutlich größeren Spielraum, der sich nicht zuletzt auf die hier zur Debatte stehende Zusammenfassung und Diskussion der Ergebnisse bezieht. Dies hängt einmal mit dem grundlegend explorativen und iterativen Vorgehen qualitativer Forschung zusammen. Die Abfassung der Arbeit ist deshalb nicht so sehr die Herstellung eines Endprodukts, sondern ein notwendiger Teil des Forschungsprozesses selbst, der den/ die Forscher*in nicht nur zur Entwicklung neuer Ideen und damit zur Reinterpretation der Daten antreibt, sondern ihm/ ihr häufig auch die Aufnahme neuer theoretischer Konzepte und die Auseinandersetzung mit weiterer Literatur abverlangt. Zum anderen sind Zusammenfassung und Diskussion der Ergebnisse von den zur Aufarbeitung und Interpretation der Daten herangezogenen Methoden abhängig (s. Kap. 5 . 3 . 2 bis 5 . 3 . 7 ), die zwar unterschiedliche Verfahrensweisen und Schrittabfolgen vorsehen, die andererseits aber auch für notwendige Anpassungen an den Forschungsgegenstand offen sind. Da Forscher*innen aufgrund des iterativen Charakters qualitativer Forschung oftmals nicht umhin können, Datensätze wiederholt zu analysieren, fällt die Entscheidung manchmal schwer, die Datenanalyse zu beenden. Der Forschungsprozess muss aber zu Ende kommen; eine zusammenfasende Präsentation und Diskussion der Ergebnisse sind gefordert. Aus der Beratungspraxis können die folgenden Empfehlungen gegeben werden, die bei der Erstellung der Endfassung der Forschungsarbeit bedacht werden sollten: 8 Der/ die Forschende muss ebenso wie bei quantitativen Arbeiten entscheiden, welche Erträge der Datenaufarbeitung und Analyse zur Beantwortung der Forschungsfrage(n) unbedingt und prominent dargestellt werden müssen (Präsentationssampling). Die Beantwortung dieser Frage ist vielfach von den Samplingentscheidungen abhängig, welche die Datenanalyse (Datensampling) leiteten (s. Kap. 4 . 3 ). Das Präsentationssampling sollte auf jeden Fall transparent gemacht werden. Auch wenn es für manche qualitative Forschungsarbeit durchaus sinnvoll sein kann, die Zusammenfassung der Ergebnisse und ihre Diskussion in zwei separaten Kapiteln vorzunehmen, legen es das explorative und iterative Vorgehen der Datenanalyse häufig nahe, die Darstellung der Erträge in Etappen und/ oder thematisch gegliedert in Teilkapiteln unter Berücksichtigung weiterer Forschungsliteratur vorzunehmen. Der/ die Forschende 7 Hinweise für die Abfassung quantitativer Studien unter Berücksichtigung der Darstellung und Diskussion der Erträge liefern u. a. Dörnyei 2007 : 277 - 289 und O’Leary 2014 : 274 - 289 . 8 Ausführliche Darstellungen zur Abfassung qualitativer Studien, insbesondere zur Zusammenfassung und Diskussion der Erträge bieten Dörnyei 2007 : 290 - 300 , Holliday 2007 , Richards 2009 : 191 - 207 und Silverman 2000 : 201 - 256 . 6.6 Zusammenfassung und Diskussion der Erträge 427 muss dann deutlich machen, wie sich die Einzelaspekte zu einem Ganzen zusammenfügen. Leser*innen brauchen klare Orientierungspunkte, damit sie der Argumentation folgen können. Die Bereitstellung solcher Markierungen und damit die Herstellung von Kohärenz sind wichtige Aufgaben der Forschenden. Da qualitative Studien in der Regel komplexe Phänomene und ihre Bedeutungen aufdecken, indem sie verschiedene Perspektiven und Stimmen, die des Forschers/ der Forscherin eingeschlossen, berücksichtigen, besteht die Gefahr, dass für den/ die Leser*in die Übersicht verloren geht. Qualitative Forschung hilft erschließen, was konkrete Menschen in spezifischen sozialen und institutionellen Kontexten tun, wie sie interagieren, wie sie ihr Handeln bewerten und verstehen, wenn sie Sprachen lernen oder lehren. Die Präsentation der Erträge einer Studie kann deshalb erheblich an Lebendigkeit und Aussagekraft gewinnen, wenn sie Beteiligte direkt durch Zitate aus den Daten zu Wort kommen lässt und wenn es gelingt, konkrete Zusammenhänge anschaulich zu beschreiben. Immerhin ist die Argumentation in vielen Fällen auf den ‚Stimmen‘ der Forschungspartner*innen aufgebaut. Es besteht allerdings auch die Gefahr, dass durch den Rekurs auf zu viele Daten die Darstellung zwar lebendig wird, aber in der Deskription stecken bleibt, die Stimmen nicht mehr interpretierend und kommentierend eingeordnet werden. Dörnyei fasst hier prägnant zusammen: „The challenge is to achieve a thick description without the study being overly desriptive but rather analytical as a whole“ (Dörnyei 2007 : 297 ). Eine gelungene Zusammenfassung der Erträge wird sich folglich durch eine Balance zwischen Partikularem und Allgemeinerem auszeichnen, den Zitaten aus den Daten und den interpretierenden und einordnenden Kommentaren. Ähnliches gilt in Bezug auf die Berücksichtigung des Kontextes, dem die Daten entstammen. Nur indem die Darstellung der Erträge deren Kontexabhängigkeit transparent macht, kann für den/ die Leser*in deutlich werden, ob und wenn ja, in welcher Weise die für den besonderen Kontext erarbeiteten Erträge über ihn hinaus Geltung beanspruchen dürfen. Nicht nur im vorliegenden Beitrag, sondern an mehreren Stellen dieses Handbuchs ist im Zusammenhang der Erörterung qualitativer Verfahren der Datenaufarbeitung und Analyse deutlich geworden, dass solche Forschungsverfahren zwei miteinader verschränkte Funktionen haben. Zum einen helfen sie die Forschungsfragen zu beantworten, zum anderen liegt es in ihrer Natur, neue Perspektiven auf den Forschungsstand zu eröffnen; bisherige Forschung, die der Literaturbericht bündelte, muss möglicherweise neu bewertet werden. Forschungen, die bisher nicht berücksichtigt wurden, müssen u. U. in die Erörterung aufgenommen werden. Forschende sollten für solche reflexiven Prozesse offen und bereit sein, im Lichte der Erträge den Literaturüberblick möglicherweise zu modifizieren und/ oder zu erweitern (s. Kap. 6 . 3 ). Schließlich gilt es bei der Zusammenfassung und Diskussion der Erträge qualitativer Arbeiten zu prüfen, ob und wenn ja, in welcher Weise an dieser Stelle die Rolle des Forschers/ der Forscherin explizit thematisiert und kritisch reflektiert werden muss. 428 6. Etappen im Forschungsprozess: Erfahrungen und Empfehlungen 6.6.2 Erträge theoretischer und historischer Arbeiten Die generellen Empfehlungen, die zu Beginn dieses Beitrags formuliert wurden, haben auch für theoretische Arbeiten Gültigkeit. Im Kapitel 3 . 2 wird die Vielfalt theoretisch-konzeptueller Forschung über die Darstellung unterschiedlicher Typen und Funktionen geordnet. Vielfalt und Unterschiedlichkeit spiegeln sich auch in Inhalt und Form der Zusammenfassung und Erörterung der Erträge. Gemeinsam ist theoretischen Arbeiten das Bestreben, auf der Basis vorhandener einzelner Konzepte und/ oder umfassenderer Theorien etwas Neues zu entwickeln. Damit dieses Neue sichtbar wird, müssen das Vorhandene gewichtet, Zusammenhänge verdeutlicht, Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausgearbeitet und/ oder Teilaspekte neu kombiniert werden. Verbunden damit ist die Notwendigkeit, dem/ der Leser*in schlüssige, durch Belege fundierte Argumentationen anzubieten, die in plausiblen Schlussfolgerungen münden. Eine solche Bündelung der Erträge kann durch die Fokussierung auf einen repräsentativen (Teil-)Gegenstand der Studie erfolgen. Zwei Beispiele sollen dies verdeutlichen. ( 1 ) In Arbeiten, in denen es um die Entwicklung umfassender theoretischer Konzepte der Sprachvermittlung geht, könnte die Modellierung eines spezifischen Konzepts den Fokus bilden, unter dem Erträge aus einer diachronen Rekonstruktion und kritischen Erörterung affiner Konzepte auch anderer Disziplinen zusammengführt und auf ihre Implikationen für die Praxis überprüft werden. Die Modellierung bietet zudem die Möglichkeit, gegenwärtige Diskurse im Umfeld des bearbeiteten Konzepts neu zu gewichten. ( 2 ) Bei Arbeiten, die der Analyse und Auswahl von Lehrmaterial gelten, könnte eine zusammenfassende Erörterung der Erträge mit Hilfe eines theoretisch fundierten Materialensembles aus Texten, Aufgaben und Übungen erfolgen, verknüpft mit einem begründeten Plädoyer, dieses in einem empirisch ausgerichteten Folgeprojekt zu validieren. Das Entscheidende und zugleich Herausfordernde für Forschende ist es, einen für den jeweiligen Typus theoretischer Forschung angemessenen Fokus für die Zusammenfassung der Erträge zu finden. Letzten Endes wird es vom Forschungsgegenstand, der Forschungsfrage und dem Typus theoretisch-konzeptueller Forschung abhängen, wie Ergebnisse zu bündeln und argumentativ abzusichern sind. In der historisch arbeitenden Forschung besteht der bei weitem überwiegende Teil einer Studie aus der Darstellung der Ergebnisse. Auf der Basis der kritisch geprüften, nach thematischen und systematischen Gesichtspunkten geordneten Quellen und deren mehrfacher, gründlicher Analyse werden Prozesse, Phänomene, Diskurse oder andere historische Gegebenheiten in einer wissenschaftlichen Forschungsarbeit dargestellt. Dabei müssen Argumentationslinien entworfen, durch Quellen und Informationen aus der Sekundärliteratur (etwa zum historischen Kontext) belegt und miteinander verknüpft werden, damit die Forschungsergebnisse sowohl in ihrem deskriptiven Charakter (diese Fakten etc. sind belegt; „so war es“) als auch in ihrer Erklärung des Vergangenen sichtbar werden. Wichtig ist dabei immer, zwischen der Aussage von Quellen und dem Referieren weiterer Literatur auf der einen Seite und den eigenen auf den Quellen basierenden Schlussfolgerungen und Interpretationen sprachlich klar zu unterscheiden. Durch häufiges Zitieren aus den Quellen wird die Argumentation anschaulich; allerdings kann es erforderlich sein, sprachliche oder inhaltliche Besonderheiten der Quellen für geschichtliche Laien zu erläutern, da meis- 6.6 Zusammenfassung und Diskussion der Erträge 429 tens weder Spezialkenntnisse noch Vertrautheit mit früheren sprachlichen Konventionen vorausgesetzt werden können. Wenn man über die Vergangenheit schreibt, benutzt man im Deutschen in der Regel das Imperfekt. Lediglich Einleitung und Ausführungen zum forscherischen Vorgehen werden im Präsens verfasst. Da man heute wesentlich entspannter mit dem Umstand zurechtkommt als früher, dass auch eine historiographische Forschungsarbeit subjektive Züge trägt, ist der Gebrauch des Pronomens „ich“ nicht länger verpönt. Auch wenn die historische Forschung sich in der Gegenwart stärker an sozialwissenschaftlichen oder linguistischen Analyseverfahren orientiert, sollte man nicht vergessen, dass einer historischen Abhandlung auch Geschichten innewohnen. Besonders gelungen sind historische Forschungsarbeiten dann, wenn sie die gefundenen Fakten und die quellenbasierten Interpretationen zu einem Gesamtbild verdichten, das als facettenreicher und mehrdimensionaler Blick in die Geschichte überzeugt. 6.6.3 Fazit: das Schlusskapitel Während kürzere Forschungsbeiträge in der Regel eine Conclusio, einen Schlussteil, in die Zusammenfassung und Diskussion der Erträge integrieren, werden größere Arbeiten wie Dissertationschriften ein eigenes Schlusskapitel vorsehen, in dem einige der zu Anfang dieses Beitrags genannten zentralen Punkte angesprochen bzw. abgearbeitet werden. Dazu gehören die Frage nach der Reichweite der Studie und ihrer Grenzen; offene Fragen wären hier zu nennen wie neue Fragen, die sich zukünftiger Forschung stellen. Bei aller notwendigen kritischen Selbstreflexion sollte der/ die Forschende sich allerdings nicht scheuen, selbstbewusst die eigene Forschungsleistung herauszustellen. Der/ die Leser*in sollte mit einem positiven Eindruck, die Forschungsleistung betreffend, die Lektüre beenden. Welche konkreten Wege einzelne Forschende einschlagen, um die Zusmammenfassung und Diskussion der Ergebnisse zu realisieren und wie sie integriert oder separat die Studie mit einer Conclusio komplettieren, zeigen die Referenzarbeiten in Kapitel 7 , die nicht zuletzt auch deshalb als ermutigende Beispiele zur Lektüre empfohlen werden. › Literatur Bitchener, John (2010). Writing an Applied Linguistics Thesis or Dissertation. A Guide to Presenting Empirical Research . Houndmills, Basingstoke: Palgrave Macmillan. Dörnyei, Zoltan (2007). Research Methods in Applied Linguistics. Quantitative, Qualitative and Mixed Methodologies . Oxford: Oxford University Press. Holliday, Adrian (2007). Doing and Writing Qualitative Research . 2 nd edition. Los Angeles: SAGE . O’Leary, Zina (2014). Doing Your Research Project . 2 nd edition. Los Angeles: SAGE . Richards, Lyn (2013). Handling Qualiative data. A Practical Guide. 2 nd edition. Los Angeles: SAGE . Silverman, David (2000). Doing Qualitative Reserch. A Practical Handbook . Los Angeles: SAGE . 430 6. Etappen im Forschungsprozess: Erfahrungen und Empfehlungen 6.7 Präsentation von Forschung Friederike Klippel In den einzelnen Phasen einer Forschungsarbeit verfolgt man mit der Präsentation der eigenen Ideen und Ergebnisse unterschiedliche Zwecke und spricht daher andere Personenkreise an. Am Ende des Schreibprozesses - so schreiben es die meisten Promotionsordnungen vor - steht dann die Publikation der Arbeit in digitaler oder Printform. 9 Die Wissenschaft kann sich nur weiterentwickeln, wenn neue Erkenntnisse kommuniziert und für weitere Forschung nutzbar gemacht werden. Auch die Gesellschaft hat ein Interesse daran, relevante Forschungsergebnisse zu erfahren, die - im Falle der Fremdsprachendidaktik - beispielsweise den schulischen Fremdsprachenunterricht, Materialien und Verfahren für die Vermittlung von Sprachen oder die Lehrerbildung verbessern können, um nur einige praxisrelevante Aspekte zu nennen. Vor der Veröffentlichung der gesamten Arbeit, zu der im zweiten Abschnitt noch viel gesagt wird, soll es im Folgenden jedoch zuerst um Präsentationen im Verlauf des Forschungsvorhabens gehen. Dabei wird der Begriff Präsentation weit gefasst und schließt auch Veröffentlichungen von Teilen des Forschungsprojekts und Gespräche über das Projekt ein. 6.7.1 Präsentationen während des Forschungsprozesses 1 Im Recherchestadium Wer ein Forschungsvorhaben beginnt, ist zunächst damit befasst, möglichst breit und genau die bereits vorhandenen einschlägigen Vorarbeiten und Erkenntnisse zur eigenen Forschungsfrage zu erfassen. In den ersten Stadien der Literaturrecherche, der Präzisierung der Forschungsfrage und der Entscheidung für ein bestimmtes Forschungsdesign geht es vor allem darum, sich selbst klar zu werden, was man wie untersuchen will. In dieser explorativen Phase kann es nützlich sein, seine Überlegungen im Rahmen eines lokalen Doktorandenkolloquiums oder Oberseminars, auch eines fächerübergreifenden, zu erläutern, um von anderen Feedback und Anregungen zu erhalten. Da alle Teilnehmer*innen in einer solchen Veranstaltung ‚im gleichen Boot sitzen‘, aber bereits unterschiedlich weite Strecken in ihrer Forschung zurückgelegt haben, ist der Diskurs in der Regel sehr konstruktiv und unterstützend. Zugleich hilft es dem eigenen Denken, wenn man seine Ideen, Fragen und Theorien für ein Publikum formulieren muss, das zwar mit wissenschaftlichem Arbeiten vertraut, nicht jedoch Expert*in für das eigene Thema ist. Nicht zuletzt sind solche Präsentationen für das Arbeitsverhältnis zum Betreuer oder zur 9 Für Bachelor- und Masterarbeiten besteht dieses Erfordernis nicht, denn sie gelten nicht in gleichem Maße als eigenständige Forschungsleistung, obwohl dies gerade im Fall von Masterarbeiten durchaus der Fall sein kann. Daher gibt es zunehmend Tendenzen, besonders gelungene Arbeiten z. B. über die Dokumentenserver der Universitäten oder in Aufsatzform zu veröffentlichen. 6.7 Präsentation von Forschung 431 Betreuerin wichtig, einerseits um Rückmeldungen zu erhalten, andererseits um ihn oder sie über die Entwicklung der Arbeit auf dem Laufenden zu halten. Doktorand*innen fragen gelegentlich, ab welchem Zeitpunkt sie ihr Thema auf der eigenen oder der Universitäts-Webseite, in den sozialen Netzwerken, auf Blogs oder bei Umfragen (in der Anglistik etwa AREAS zu laufenden Promotionen) angeben sollten. Dabei sind einige Aspekte gegeneinander abzuwägen. Auch wenn es sehr unwahrscheinlich ist, dass jemand anderes dasselbe Thema ebenfalls für eine Arbeit übernimmt, so steckt doch in der Formulierung des Themas und des Abstracts schon ein gewisses geistiges Eigentum, das man eventuell schützen möchte, jedenfalls so lange, bis die Arbeit etwas fortgeschritten ist. Auch mag es ungünstig sein, eine Arbeit zu einem Thema anzukündigen, von der man in einem frühen Stadium eventuell noch gar nicht weiß, ob sich dazu ausreichend Daten oder Dokumente werden finden lassen, so dass die Forschungsfrage beantwortet werden kann. Allerdings kann es manchmal auch von Vorteil sein, wenn man ein Thema für sich ‚besetzt‘, d. h. in der Fachöffentlichkeit als jemand bekannt wird, der/ die sich mit einer bestimmten Frage näher befasst. Das sollte idealerweise jedoch nicht nur durch dessen Nennung auf einer Seite oder Liste erfolgen, sondern durch einen wissenschaftlichen Beitrag, i. d. R. ein Exposé, einen Vortrag bei einer Konferenz oder einen wissenschaftlichen Artikel. Wenn man sich um ein Stipendium oder die Aufnahme in ein Graduiertenkolleg oder eine Graduiertenschule bewerben möchte, dann ist es erforderlich, das eigene Forschungsprojekt in Form eines Exposés, incl. einer (kommentierten) Arbeitsgliederung, eines Literaturverzeichnisses sowie eines Arbeits- und Zeitplans zu präsentieren. Das Exposé sollte Angaben zum Forschungsfeld, zum Forschungsstand, zur Forschungsfrage und zum geplanten Forschungsansatz enthalten. Es ist dabei allen Beteiligten klar, dass sich Arbeitstitel, einzelne Abschnitte der Gliederung oder auch der genaue Fokus der Forschungsfrage im Verlauf des Forschungsprozesses noch ändern können (vgl. Franck 2019 : 67 - 72 ). Ein solches Exposé gibt also Auskunft über das Projekt auf der Basis des aktuellen Kenntnisstandes, und man braucht weder extrem bescheiden zu sein noch sollte man das eigene Vorhaben zu vollmundig anpreisen. Zudem erhält man durch das Feedback der Auswahlkommission wertvolle Hinweise auf das eigene Vorhaben und dessen eventuelle Schwachstellen. 2 Im Erarbeitungszeitraum Während der gesamten Entstehungszeit einer wissenschaftlichen Studie kann der Austausch im Doktorandenseminar hilfreich sein. Hier kann man seinen Forschungsüberblick darbieten, die für die Pilotierung vorgesehenen Forschungsinstrumente diskutieren oder das durchgesehene Daten- oder Dokumentenkorpus vorstellen. Wenn Forschungsfragen und Vorgehensweise weitgehend geklärt sind, dann ist der Zeitpunkt gekommen, bei überregionalen oder interdisziplinären Doktorandentreffen, Workshops oder Nachwuchstagungen zum eigenen Vorhaben vorzutragen, um von einem weiteren Personenkreis Rückmeldungen zu erhalten und in den Diskussionen zu ganz anders ausgerichteten Arbeiten etwas zu lernen. Im Bereich der deutschen Fremdsprachendidaktik gibt es dazu die alle zwei Jahre stattfindende Nachwuchstagung der DGFF; eine Gelegenheit zur for- 432 6. Etappen im Forschungsprozess: Erfahrungen und Empfehlungen schungsmethodischen Weiterbildung und zur Vorstellung der eigenen Arbeit bietet zudem das DGFF Kolleg oder die DGFF Sommerschule, die etwa alle drei Jahre an wechselnden Universitäten veranstaltet wird. Nachwuchswissenschaftler*innen in der Fremdsprachendidaktik sind auch bei ähnlichen Workshops und Tagungen der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE), anderer Fachdidaktiken, der Gesellschaft für Fachdidaktik (GfD) oder in der Sprachbzw. Kulturwissenschaft willkommen. Es gibt eine ganze Reihe von Möglichkeiten der Präsentation bei solchen Veranstaltungen. Man kann seine Arbeit im Rahmen eines Vortrags, eines Thesenpapiers, eines Posters oder einer Powerpoint/ Prezi-Präsentation zur Diskussion stellen. Oftmals ist es auch möglich, eigene Daten in Datensitzungen einzubringen, die im Rahmen von Methoden-Workshops veranstaltet werden. Welche Form man wählt, hängt dabei sowohl vom Arbeitsstand als auch von den eigenen Erwartungen an die Rückmeldungen ab, die man sich zu eventuell bestehenden Fragen oder Problemen erhofft. Es ist sicher sinnvoll, einerseits mit möglichst klaren Fragen in diese Präsentationen zu gehen („Wozu ich gerne von euch eine Rückmeldung haben möchte …“), sie andererseits aber vor allem als Chance dafür zu begreifen, die eigenen Überlegungen und forschungsmethodischen Entscheidungen auf der Basis der Reaktionen anderer (Nachwuchs-) Wissenschaftler*innen erneut zu überdenken. Sich mit den Fragen und Kommentaren anderer auseinanderzusetzen, muss nicht bedeuten, dass man die von anderen geäußerten Kritikpunkte oder Anregungen in jedem Fall aufnimmt; wichtig ist der daraufhin einsetzende eigene Reflexionsprozess. Immer häufiger finden auch in den geisteswissenschaftlichen Fächern Poster-Präsentationen bei Konferenzen statt, was vermutlich durch die starke Zunahme empirischer Arbeiten ausgelöst wurde. Poster waren vor einiger Zeit vor allem in den empirisch arbeitenden Natur- und Verhaltenswissenschaften üblich. Bei der Gestaltung eines Posters gilt es - ebenso wie bei Präsentationen - der (typo)grafischen, farblichen und der inhaltlichen Ebene gleichermaßen Aufmerksamkeit zu schenken, um das Projekt optimal zu präsentieren. Klarheit und Beschränkung auf das Wesentliche sollten die leitenden Gedanken dabei sein. Das Forschungsprojekt wird so knapp und anschaulich wie möglich dargestellt, so dass das Poster in etwa fünf Minuten gelesen werden kann. Dabei erfolgt die Leserführung entweder von links nach rechts (Querfomat) oder von oben nach unten (Hochformat). Die Textteile sind kurz gehalten; selbst-erklärende Schaubilder oder Grafiken verdeutlichen Zusammenhänge und/ oder Ergebnisse. Über sinnvolle Farbgebung und Fontwahl informiert man sich am besten auf einschlägigen Webseiten (s. auch Macgilchrist 2014 : Kap. 7 ). Einer breiteren wissenschaftlichen Öffentlichkeit stellt man sich, wenn man in einem fortgeschrittenen Stadium Näheres zu seinem Forschungsprojekt als Bericht in einer Fachzeitschrift, z. B. der Zeitschrift für Fremdsprachenforschung (ZFF) oder Fremdsprachen Lehren und Lernen (FLuL) veröffentlicht. Ein solcher Schritt sollte jedoch erst erfolgen, wenn man einen guten Überblick über das betreffende Forschungsfeld gewonnen hat, die Forschungsfrage und das Design geklärt sind und erste Zwischenergebnisse vorliegen. Während ein Forschungsbericht in der entsprechenden Rubrik einer Fachzeitschrift klar signalisiert, dass es sich um work in progress handelt, wird dies bei einem ‚normalen‘ wissenschaftlichen Beitrag in einer Zeitschrift oder Sammelband i. d. R. weniger deutlich. Möchte man Zwischenergebnisse oder Teile der noch nicht erschienenen Doktorarbeit oder Habilitationsschrift vorab publizieren, so ist als erstes der Blick in die jeweilige Pro- 6.7 Präsentation von Forschung 433 motions- oder Habilitationsordnung sinnvoll, ob solche Vorabpublikationen gestattet sind. Selbst wenn es keine offizielle Regelung gibt, so ist zu überlegen, ob man wichtige Erkenntnisse und Ergebnisse der eigenen Forschungsarbeit vor der Gesamtveröffentlichung bekannt machen möchte. Manchmal mag es günstig sein, sich frühzeitig als Expert*in in einem Feld zu melden, oder man hält die eigenen Forschungsergebnisse für so brisant und interessant, dass man sie vor dem Abschluss des Verfahrens bereits der wissenschaftlichen Öffentlichkeit präsentieren möchte. Das ist vor allem dann der Fall, wenn es sich um ein sich rasch entwickelndes aktuelles Forschungsfeld handelt. Allerdings ist es nicht akzeptabel, lange Passagen aus einem vorab erschienenen eigenen Aufsatz wörtlich und ohne Verweis auf die frühere Publikation später in der Dissertation zu verwenden. Zwar handelt es sich bei solch langen Selbstzitaten nicht um ein Plagiat (also einen Diebstahl geistigen Eigentums anderer) im engeren Sinne, da man ja jeweils Autor*in ist, dennoch werden solche Textübernahmen in den Geisteswissenschaften eher negativ eingeschätzt. Ist eine Vorabpublikation zu einem Forschungsprojekt, an dem mehrere Wissenschaftler*innen beteiligt sind, unter multipler Autorenschaft erschienen, wäre eine wörtliche Übernahme von langen Textpassagen unter keinen Umständen angebracht, da es sich um eine gemeinschaftlich verantwortete Publikation und das geistige Eigentum aller Autor*innen handelt. Der positive Effekt eines vorab publizierten Aufsatzes liegt darin, dass man sich im wissenschaftlichen Schreiben übt und auf knappem Raum wesentliche Aspekte des Forschungsvorhabens darstellen muss. Im Erfolgsfall schafft das Selbstvertrauen für den Schreibprozess. Werden in einem Aufsatz bestimmte Teile des Forschungsprojekts abschließend behandelt, so kann dies die Fertigstellung der umfassenderen Studie sehr fördern. Für Habilitationen und - weniger häufig - für Promotionen besteht die Möglichkeit der Einreichung einer kumulativen Qualifikationsschrift. Das heißt, dass eine Anzahl von Aufsätzen (Zahlen schwanken zwischen fünf und zehn) zu einem ihnen gemeinsamen Forschungsfeld mit verbindenden Textpassagen in der Summe die Dissertation oder Habilitationsschrift darstellen und als äquivalent zu einer Monographie anzusehen sind. Die Aufsätze müssen i. d. R. bereits in renommierten Fachzeitschriften publiziert oder zur Veröffentlichung angenommen worden sein. Man geht davon aus, dass das Peer-Review-Verfahren der Zeitschriften eine gewisse Qualitätsgarantie darstellt. Im Falle kumulativer Habilitationen oder Promotionen sind Vorab-Publikationen also Teil der wissenschaftlichen Qualifikation. Der Schreibprozess selbst unterliegt bestimmten Konventionen, die sprachen- und fächerabhängig sind. In vielen deutschsprachigen Handbüchern zum wissenschaftlichen Arbeiten und Schreiben findet man Hinweise zu Textgestaltung, Formatierung und bibliographischen Angaben (z. B. Franck 2019 ; Esselborn-Krummbiegel 2021 ); des weiteren gibt es Ratgeber für alle Phasen, Probleme und Aspekte des Schreibprozesses (z. B. Franck 2019 ; Pyerin 2019 ). Zudem existieren an vielen Universitätsinstituten style sheets oder Vorgaben der Promotionsordnung zur Gestaltung des Manuskripts. Außerdem kann man vielerorts eine Schreibberatung aufsuchen. Will man seine Dissertation in englischer Sprache verfassen, so sollte man als Nicht-Muttersprachler*in Bücher zum wissenschaftlichen Schreiben aus dem englischen Sprachraum konsultieren (z. B. Sword 2012 ; Macgilchrist 2014 ), denn 434 6. Etappen im Forschungsprozess: Erfahrungen und Empfehlungen Konventionen der Formulierung und Arten der Textgestaltung variieren von Sprache zu Sprache. Bislang gibt es nur sehr wenige speziell auf das wissenschaftliche Schreiben in der fremdsprachendidaktischen Forschung ausgerichtete Publikationen; diese finden sich vor allem im englischsprachigen Kontext, etwa Holliday ( 2012 ) oder Bitchener ( 2010 ): letzterer enthält für die Darstellung empirischer Arbeiten aus dem Bereich der Applied Linguistics wertvolle Anregungen und zahlreiche Beispiele. 6.7.2 Präsentationen nach der Fertigstellung der Arbeit Am intensivsten denkt man über die Präsentation seiner Forschung nach, wenn die Arbeit fertig geschrieben ist. Zuerst gilt es an vielen Universitäten, die Arbeit im Rahmen einer Disputation oder Defensio vorzustellen und zu verteidigen. Ein Blick in die Promotionsordnung und das Gespräch mit dem/ der Betreuer*in hilft, die richtige Form zu finden. Mancherorts wird eine Powerpoint Präsentation erwartet, anderenorts ist sie verpönt. Auch Fokus und Länge variieren, ebenso der organisatorische Rahmen und die Anwesenheit von Zuhörenden aus der Universität oder darüber hinaus. Immer ist es jedoch erforderlich, die eigene Arbeit knapp und präzise zusammenzufassen. Weiterhin ist es von Vorteil, in der Präsentation auf die Monita der Gutachten einzugehen und sich auf diesbezügliche Fragen vorzubereiten. Nach Abschluss des Verfahrens steht die Frage der Veröffentlichung an. Da es unterschiedliche Formen und Orte der Publikation gibt, muss man Kosten, Nutzen, Aufwand und Zeitrahmen gegeneinander abwägen. Zuerst muss daher immer ein Blick in die jeweilige Promotionsordnung erfolgen, um die möglichen Optionen zu kennen. Oft schreiben die Promotionsordnungen beispielsweise die Abgabe einer bestimmten Anzahl von Pflichtexemplaren (je nach Publikationsart) und eine bestimmte Frist vor, innerhalb derer die Dissertation erscheinen soll (meist ein oder zwei Jahre), damit der/ die Doktorand*in den erworbenen Titel auch führen darf. Man kann daher die Publikation nicht lange aufschieben, was auch aus anderen Gründen nicht sinnvoll wäre. Denn lässt man zwischen der Einreichung und der eventuellen Überarbeitung in Vorbereitung der Veröffentlichung zu viel Zeit verstreichen, ist es sehr mühsam, sich wieder in die Gedankengänge und Zusammenhänge der eigenen Arbeit so weit zu vertiefen, dass man sie sinnvoll (und eventuell unter Berücksichtigung der in den Gutachten gemachten Auflagen) in die endgültige Form bringen kann. Zudem kann sich bei einem aktuellen Thema der Diskussionsstand rasch ändern, so dass nach einer gewissen Zeit vielleicht einige Teile der Arbeit nicht mehr aktuell sind oder man intensiver unter Berücksichtigung der zwischenzeitlich erschienenen Forschungsliteratur überarbeiten muss. Am günstigsten, schnellsten und billigsten ist die Online-Veröffentlichung auf der Universitäts-Webseite. Wenn die Promotionsordnung eine Überarbeitung erlaubt (das ist nicht immer der Fall), muss man den Text erneut im Detail durchgehen, einzelne Passagen gegebenenfalls umarbeiten und gründlich Korrektur lesen. Auf der Universitäts-Webseite allerdings ist die Arbeit, in die man viele Jahre Mühen investiert hat, für das Fachpublikum gegenwärtig noch sehr schwer aufzufinden. Bislang werden Online-Veröffentlichungen nicht systematisch erfasst und auch nicht rezensiert. Damit sind sie für den Fachdiskurs 6.7 Präsentation von Forschung 435 und das Praxisfeld momentan noch wenig sichtbar. Das könnte sich allerdings mit der Weiterentwicklung von Open-Access-Angeboten und Veränderungen im Rezensionswesen bald ändern. Einige Universitäten verlangen bei einer Online-Publikation zusätzlich die Abgabe von einigen gedruckten Pflichtexemplaren für die eigene Universitätsbibliothek, die man im Copyshop herstellen lassen kann. Der Gang zum Copyshop ist in der Regel die zweitgünstigste Variante, was das Finanzielle betrifft. Je nach den Regeln der lokalen Promotionsordnungen müssen bis zu über 100 Exemplare eingereicht werden, da die eigene Universitätsbibliothek andere Bibliotheken damit versorgt. Aber auch für diese Art der Veröffentlichung gelten die gleichen Nachteile wie für die Online-Publikation. Es gibt kein Marketing, keine Rezensionen und keine Wirkung der Arbeit auf Wissenschaft oder Praxis. Zudem sind die im Copyshop verfügbaren Klebebindungen oft so wenig haltbar, dass das Buch bei Gebrauch nach einiger Zeit zerfleddert. Für die Publikation der Forschungsarbeit als Buch bestehen verschiedene Optionen. Eine Reihe von Verlagen hat sich auf Dissertationen spezialisiert und bietet entweder ein generelles Verlagsprogramm, allgemeine Reihen (z. B. Europäische Hochschulschriften) oder eventuell auch stärker fachbezogenene Schriftenreihen an. Als Autor*in muss man sein Manuskript in druckfertiger Form einreichen und dazu eine verlagsspezifische Druckvorlage berücksichtigen. Da in diesen Verlagen in der Regel keine fachspezifischen Lektorate zu finden sind, gibt es auch keinerlei inhaltliche Rückmeldung oder Betreuung bei der Manuskripterstellung. Man ist also für die orthografische und formelle Korrektheit ebenso wie für die inhaltliche Gestaltung ausschließlich selbst verantwortlich. Für den Druck des Buches in einer üblicherweise niedrigen Gesamtauflage (ca. 200 - 300 ; einige Promotionsordnungen verlangen eine Mindestauflage etwa von 150 ) muss ein Druckkostenzuschuss gezahlt werden, dessen Höhe nach Umfang des Buches, Bindung und Umschlaggestaltung schwankt, wohl aber meist im unteren vierstelligen Bereich liegen dürfte. Der Herstellungsprozess dauert meist nur wenige Wochen, so dass eine rasche Veröffentlichung erfolgen kann. Die Verlage werben auf ihren Webseiten und durch gedruckte Kataloge für ihr Programm. Allerdings besteht die Gefahr, dass das Werk im Strom der Neuerscheinungen ‚untergeht‘. Sichtbarer für die Fachwelt ist eine Veröffentlichung in einer der vielen fremdsprachendidaktischen Reihen, die es bei unterschiedlichen Verlagen gibt. Solche Reihen werden von Universitätsbibliotheken im Abonnement angeschafft und von Zeitschriften für Rezensionen berücksichtigt. Möchte man sein Werk dort platzieren, muss es von den Herausgeber*innen der jeweiligen Reihe akzeptiert werden. Das bedeutet auch, dass man abgelehnt werden kann - etwa wenn das Thema nicht zur Reihe passt oder die Arbeit den Qualitätsansprüchen der Herausgeber*innen nicht entspricht - oder dass man nur mit Auflagen zur Überarbeitung angenommen werden kann. Es ist in den meisten Fällen so, dass der Text der Forschungsarbeit für die Publikation erneut überarbeitet und gegebenenfalls gekürzt werden muss, denn sowohl die Kritikpunkte in den Gutachten als auch in den Kommentaren der Reihenherausgeber*innen müssen aufgegriffen werden, was eine nochmalige gründliche Befassung mit dem Manuskript erfordert. Zudem gilt es auch hier eine bestimmte Formatvorlage zu beachten, sich gegebenenfalls um Copyright- Fragen zu kümmern und einen Druckkostenzuschuss zu zahlen. Wenn das Buch in einer 436 6. Etappen im Forschungsprozess: Erfahrungen und Empfehlungen renommierten Reihe akzeptiert wurde, ist es jedoch einfacher, sich um einen Zuschuss zu den Druckkosten bei der eigenen Universität, bei Stipendien- oder Drittmittelgebern zu bewerben. Als Teil einer bekannten Schriftenreihe wird das Werk in der Fach-Community breit rezipiert. Bei fremdsprachendidaktischen Forschungsarbeiten, die in deutscher Sprache geschrieben wurden, ist es auch sinnvoll, an weitere, internationale Veröffentlichungen zum eigenen Forschungsthema in einer anderen Sprache zu denken. Dazu können einzelne Aspekte der Arbeit fokussiert werden. Eine andere Möglichkeit besteht - je nach Thema - in der Aufbereitung von (Teil-)Ergebnissen für Lehrerfortbildungen oder Materialien für die Praxis. Da in den seltensten Fällen alle Überlegungen und Ausarbeitungen, die im Verlauf einer großen Forschungsarbeit entstehen, letztlich Eingang in die Abschlusspublikation finden, hat man für eine gewisse Zeit ausreichend Material, um zum Thema der eigenen Forschung mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung zu publizieren. Ist die Promotion oder Habilitation abgeschlossen und das Werk erschienen, liegt es nahe, seine Arbeit in einschlägigen Listen und Publikationsorganen zu melden. Für die Fremdsprachendidaktik ist eine Meldung an den Vorstand der DGFF sinnvoll, der gemeldete Titel in die Datenbank ProHabil einspeist (Verzeichnis von Dissertationen und Habilitationsn aus der Bildungsforschung). In der Anglistik erscheint jährlich ein Buch mit Zusammenfassungen von gerade publizierten Monographien ( English and American Studies in German: a Supplement to Anglia; Summaries of Theses and Monographs ), die von den jeweiligen Autor*innen selbst erstellt werden. Wer sich in Deutschland als Mitglied bei der Verwertungsgesellschaft Wort (VG Wort) registriert, in Österreich bei Literar mechana, einem Zusammenschluss von Autor*innen und Verlagen, erhält für seine Publikation(en) auf Basis der Bibliotheksnutzung Tantiemen. Mehrere Hunderttausend Autor*innen aus allen Bereichen von Literatur, Medien und Wissenschaft lassen sich von der VG Wort vertreten. Wissenschaft lebt vom geistigen Austausch, vom Diskurs. Daher ist es für jede/ n Forschende/ n wichtig, sich mit den Forschungsfragen, den Methoden und Ergebnissen der eigenen Arbeit einer breiteren (wissenschaftlichen) Öffentlichkeit zu stellen. Das kann auf sehr unterschiedliche Weise geschehen. Aber immer ist es wichtig, dass das, was Forschende schreiben oder vortragen, für die Zuhörer*innen oder Leser*innen verständlich ist. Denn nur dann können sich diese mit den Inhalten auseinandersetzen und der Argumentation folgen. Die Verständlichkeit wissenschaftlicher Präsentationen und Texte beruht vor allem auf klarer Strukturierung und einer präzisen, jargonfreien Sprache. › Literatur Bitchener, John (2010). Writing an Applied Linguistics Thesis or Dissertation. A Guide to Presenting Empirical Research. Basingstoke: Palgrave Macmillan. Esselborn-Krummbiegel, Helga (2021). Richtig wissenschaftlich schreiben. Wissenschaftssprache in Regeln und Übungen. 6. Aufl. Paderborn: Schöningh. Franck, Norbert (2019). Handbuch Wissenschaftliches Schreiben. Eine Anleitung von A bis Z . Paderborn: Schöningh. 6.8 Betreuung von Forschungsarbeiten 437 Holliday, Adrian (2012). Doing and Writing Qualitative Research . 2nd edition. Los Angeles: SAGE. Lobin, Henning (2012). Die wissenschaftliche Präsentation: Konzept - Visualisierung - Durchführung . Paderborn: Schöningh. Macgilchrist, Felicitas (2014). Academic Writing. Paderborn: Schöningh. Pyerin, Brigitte (2019). Kreatives wissenschaftliches Schreiben: Tipps und Tricks gegen Schreibblockaden. 5., vollständig überarbeitete und erweiterte Aufl. Weinheim und Basel: Beltz Juventa. Sword, Helen (2012). Stylish Academic Writing. Cambridge (Mass.) & London: Harvard University Press. » Wichtige Webseiten Verzeichnis von Dissertationen und Habilitationsn aus der Bildungsforschung: https: / / www.fachportal-paedagogik.de/ forschungsinformation/ Datenbank-ProHaBil- 12123 -de.html Hinweise zur Gestaltung von Postern: betterposters.blogspot.de/ [06.12.2020] Informationszentrum Fremdsprachenforschung: www.uni-marburg.de/ ifs Vewertungsgesellschaft in Österreich: www.literar.at Verwertungsgesellschaft Wort: www.vgwort.de 6.8 Betreuung von Forschungsarbeiten Daniela Caspari Während auf dem Titelblatt der Dissertations- oder Habilitationsschrift allein der Name des Verfassers bzw. der Verfasserin steht, erfährt man im Vorwort oder der Danksagung zumeist, wer noch zu diesem Werk beigetragen hat. Vor den Kolleg*innen, Freund*innen und Familienangehören werden zumeist der bzw. die Betreuer*innen genannt. Hinter den meist zwei oder drei Zeilen Dank verbirgt sich in der Regel eine mehrjährige Beziehung, in der Nachwuchswissenschaftler*innen und Betreuer*innen gemeinsam auf dieses Ziel hingearbeitet haben. Da zu einer erfolgreichen Beziehung immer beide Partner*innen beitragen, wendet sich dieses Kapitel ausdrücklich an beide. Sprach man noch vor nicht langer Zeit von „Doktorvater“ bzw. „Doktormutter“, so hat sich inzwischen der neutralere Begriff „Betreuer“ bzw. „Betreuerin“ durchgesetzt. Er bezeichnet das professionelle Verhältnis zwischen Promovend*innen bzw. Habilitand*innen und Betreuer*innen, das von einer klaren Rollenverteilung und gegenseitigen Verbindlichkeiten geprägt ist. Trotz aller offiziellen Leitlinien für ein solches Betreuungsverhältnis (s. Angaben im Literaturverzeichnis) hängt die Ausgestaltung dieser meist sehr allgemein gehaltenen Formulierungen von der konkreten Situation und von den jeweiligen Personen ab. Eine Einzelbetreuung wird in der Regel anders ablaufen als die Betreuung in einem Graduiertenkolleg oder innerhalb eines strukturierten Promotionsprogramms, wo meist mehrere Personen als Ansprechpartner*innen für die Nachwuchswissenschaftler*innen fungieren; auch kann sich die Betreuung von wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen anders gestalten als von externen Promovend*innen. Die folgenden Ausführungen betreffen in erster Linie das Betreuungsverhältnis zum bzw. zur Hauptbetreuer*in. 10 Das Aufgabenspektrum und die Auffassungen bzgl. der Rolle der Betreuer*in können im deutschsprachigen Raum vom supervisor der anglo-amerikanischen Universität, bei dem vor allem die Funktion des Coachens im Mittelpunkt steht, bis zum directeur de recherche der französischen Universitäten reichen, der klare Vorgaben und Erwartungen an die Promovend*innen richtet. Umgekehrt können die Erwartungen der Promovend*innen von engmaschiger Führung bis zu völliger Eigenständigkeit reichen, je nach Persönlichkeit, Erfahrung, Vorwissen sowie wissenschaftlichem und kulturellem Hintergrund. Daher ist es wichtig, sich rechtzeitig über die gegenseitigen Erwartungen zu verständigen. Diese können in Form eines schriftlichen Betreuungsvertrages festgehalten werden, den viele Universitäten im Internet bereithalten. Selbst wenn der Abschluss eines solchen Vertrages von der Universität nicht verlangt wird, kann er im Sinne einer verbindlichen Absichtserklärung beider Seiten sinnvoll sein. 6.8.1 Wechselseitige Erwartungen an das Betreuungsverhältnis Nachwuchswissenschaftler*innen hegen höchst unterschiedliche Erwartungen an ihre Betreuung. Dies betrifft zum einen die Häufigkeit von Gesprächen bzw. Rückmeldungen. Sie reicht vom Wunsch nach wöchentlicher Konsultation bis zum nur zweimaligen Treffen: einmal, um Thema und Titel zu besprechen, und das zweite Mal, um Rückmeldungen zum fast fertigen Manuskript zu erbitten. Sicher hängt die Häufigkeit individueller Beratungen vom Stadium der Arbeit und aktuell anstehenden Aufgaben und Fragen ab; grundsätzlich ist sie immer dann anzuraten, wenn es um Rückmeldung zu größeren Arbeitsphasen sowie um Entscheidungen hinsichtlich neuer Arbeitsschritte geht. Dabei kann die Vorstellung und Diskussion des aktuellen Arbeitsstandes im Doktorandenkolleg ein individuelles Gespräch durchaus ersetzen. Auch in Bezug auf Umfang, Breite und Tiefe der Beratung existieren ganz unterschiedliche Wünsche. Sie reichen von einer kurzen Bestätigung, dass man sich auf dem richtigen Weg befindet, bis zur intensiven Diskussion einzelner Details, von der 15 -minütigen Abstimmung bis zu mehrstündigen tiefen Gesprächen. Auch hier lässt sich keine Regel aufstellen, jedoch sind die Betreuer*innen vor allem dafür da, bei grundlegenden Fragen zu beraten, nicht aber dafür, jede einzelne Entscheidung mit abzuwägen. Generell wird bei der Anfertigung einer Dissertation in der Fremdsprachendiaktik von den Promovend*innen, noch mehr von den Habilitand*innen, eine hohe Selbstständigkeit und Eigenverantwortung erwartet. So gehören z. B. die Themensuche, Formulierung der Forschungsfrage und Gestaltung des Forschungsdesigns bei Einzelarbeiten in den Verantwortungsbereich der Promovend*innen; die Betreuer*innen geben hier lediglich Ratschläge. Auch eine fundierte 10 In dieses Kapitel sind eine Reihe von Überlegungen aus einem Beitrag von Caspari et al. 2011 eingegangen, in dem sich drei Nachwuchswissenschaftler*innen und zwei Betreuer*innen über die gegenseitigen Erwartungen an ein gutes Betreuungsverhältnis ausgetauscht haben. 438 6. Etappen im Forschungsprozess: Erfahrungen und Empfehlungen Diskussion einzelner Details können die Betreuer*innen in aller Regel nicht leisten, zumal sie normalerweise nicht so tief in das Thema eingearbeitet sind wie die Doktorand*innen selbst. Grundsätzlich besteht die Aufgabe der Betreuer*innen vor allem darin, die Arbeit als Ganzes im Blick zu behalten. Dazu gehört in erster Linie, bei der Gesamtkonzeption der Arbeit zu beraten sowie bei der Konzeption der einzelnen Schritte und bei der Besprechung der einzelnen Teile ihren jeweiligen Beitrag zur Gesamtargumentation einzuschätzen, um so inhaltliche oder methodische Sackgassen vermeiden zu helfen. Auch Hinweise auf ein angemessenes Maß (z. B. bzgl. des Literaturberichts oder der Anzahl der notwendigen Proband*innen für ein Experiment) und auf realistische, gangbare Wege sind wichtig, damit die Arbeit in angemessener Zeit bearbeitet werden kann. Und falls man einmal gar nicht weiterkommt, werden die Betreuer*innen auch akut Hilfe und Ermutigung geben. Aus den Beispielen wird deutlich, dass beide Seiten sich darüber verständigen sollten, was sie im konkreten Fall und zum jeweiligen Zeitpunkt für notwendig bzw. angemessen halten. Dafür sollten sie möglichst klar ihre gegenseitigen Wünsche und Erwartungen kommunizieren und gemeinsam überlegen, was wer wann leisten kann. Zu dieser Absprache gehört auch zu akzeptieren, dass die Betreuer*innen manches nicht für ihre Aufgabe halten. Die Basis eines gelungenen Betreuungsverhältnisses besteht darin, dass gemeinsam getroffene Vereinbarungen und Absprachen eingehalten werden bzw. dass man sich rechtzeitig informiert, wenn man sie nicht einhalten kann. Für Promovend*innen ist es z. B. wichtig, dass sie zeitnah Rückmeldung erhalten. Wenn man den vereinbarten Termin als Betreuer*in jedoch einmal nicht einhalten kann, weil die Betreuung von Nachwuchswissenschaftler*innen nur einen kleinen Teil der Aufgaben darstellt und daher manchmal unerwartete Termine, wichtige Projekte, deadlines oder allgemeine Arbeitsüberlastung dazwischen kommen, empfiehlt es sich, einen neuen, zeitnahen Termin zu vereinbaren. Für das gegenseitige Verständnis ist weiterhin wichtig, dass das Anfertigen einer Forschungsarbeit nicht nur für die Promovend*innen einen Lernprozess darstellt, sondern ebenfalls für die Betreuer*innen, insbesondere wenn Thema oder Forschungsmethode nicht zu den eigenen Schwerpunkten und Praktiken gehören. In Rücksprache mit dem bzw. der Hauptbetreuer*in kann es sinnvoll sein, sich bei weiteren Expert*innen Rat und Hilfe zu holen. Grundsätzlich ist anzuraten, auch außerhalb des eigenen Institutes bzw. der eigenen Universität nach Austausch und Anregung zu suchen und sich insbesondere mit anderen Nachwuchswissenschaftler*innen zu vernetzen (s. auch Kap. 6 . 7 ). Falls man als Promovend*in dabei durch stark divergierende oder gegensätzliche Rückmeldungen verunsichert wird, sollte man dies unbedingt mit dem bzw. der Hauptbetreuer*in besprechen - vielleicht muss man sein Anliegen oder sein Design nur besser ausschärfen oder genauer begründen, vielleicht sollte man es aber auch verändern. Zum Aufbau von Netzwerken ist ebenfalls der Besuch von Kongressen und Tagungen wichtig. Hierzu können die Betreuer*innen der Forschungsarbeit entsprechende Hinweise geben. Auch durch Empfehlungen und die Ermutigung zu eigenen Beiträgen und, zumindest am Anfang, entsprechende praktische Unterstützung können sie den Eintritt der Promovend*innen in die scientific community unterstützen. 6.8 Betreuung von Forschungsarbeiten 439 440 6. Etappen im Forschungsprozess: Erfahrungen und Empfehlungen 6.8.2 Praktische Hinweise Im Vorfeld von Betreuungsgesprächen ist es hilfreich, wenn der Promovend bzw. die Promovendin schriftlich den aktuellen Stand der Arbeit skizziert und die aktuelle Gliederung (incl. Thema und Forschungsfrage) sowie das Literaturverzeichnis mitschickt. Außerdem ist es angebracht, möglichst genau mitzuteilen, was man besprechen möchte. Dies klärt und fokussiert die eigenen Gedanken und gibt den Betreuer*innen die Möglichkeit, sich vorzubereiten. Auch bei der Abgabe von einzelnen Kapiteln ist es sinnvoll, zusätzlich die aktuelle Gliederung und das Gesamtliteraturverzeichnis mitzuschicken sowie konkrete Fragen oder Hinweise zu formulieren, z. B. „Bitte achten Sie besonders auf xy.“, „Bitte sagen Sie mir, ob diese Argumentation stimmig ist.“, „Was steht als Nächstes an? “. Es ist verständlich, dass man als Promovend*in nicht nur eine Rückmeldung erhalten möchte, ob die Arbeit in die richtige Richtung geht, sondern - besonders gegen Ende - auch, welche Note sie wohl erhalten wird. Dazu kann sich jedoch keine Betreuer*in äußern, weil die Note erst durch die Kommission beschlossen wird. Bei einer sich noch entwickelnden wissenschaftlichen Arbeit ist es zudem schwierig, Prognosen über die Qualität des zu erwartenden Gesamtproduktes abzugeben. Die an eine Forschungsarbeit üblicherweise angelegten Qualitätsbzw. Beurteilungskriterien findet man in den entsprechenden Kapiteln dieses Handbuches; was davon den Betreuer*innen besondes wichtig ist, erfährt man direkt oder indirekt im Gespräch und aus den Rückmeldungen zur eigenen Arbeit. In Deutschland ist es in der Regel die gleiche Person, die eine Dissertation als Hauptbetreuer*in begleitet und sie nach dem Abschluss als Erstgutachter*in bewertet. Zwischen diesen beiden Rollen zu unterscheiden, fällt nicht immer leicht; so darf man als Promovend*in z. B. von einem freundlichen, zugewandten Verhalten des bzw. der Betreuer*in nicht automatisch auf eine gute Note schließen. Im Umkehrschluss muss eine zurückhaltende oder kritische Betreuung nicht bedeuten, dass die Qualitäten der Arbeit beim abschließenden Urteil nicht angemessen gewürdigt werden. Da die Note der Dissertationsschrift von der Kommission beschlossen wird, ist es wichtig, rechtzeitig mit dem bzw. der Hauptbetreuer*in zu beraten, wer als Zweitgutachter*in und - wenn die Abgabe der Arbeit in Aussicht steht und die Promotionsordnung dies vorsieht - wer als Kommissionsmitglied in Frage kommen könnte. Aus den vorstehenden Überlegungen wird deutlich, dass die besondere Beziehung zwischen Betreuer*in und Promovend*in bzw. Habilitand*in von beiden gemeinsam ausgestaltet werden muss. Eine gute Basis dafür sind - interessanterweise - die gleichen Eigenschaften, die auch als Gütekriterien an eine wissenschaftliche Arbeit angelegt werden: Kommunikation, Transparenz, Konsistenz, Ehrlichkeit, Respekt, Rationalität. Dazu kommen ein gegenseitiges Grundvertrauen sowie die Verbindlichkeit von Absprachen. › Literatur Caspari, Daniela/ Deutsch, Bettina/ Küster, Lutz/ Plikat, Jochen/ Siebel, Katrin (2011). Doktorvater, Doktormutter, Doktorkind: gekreuzte Blicke auf ein nicht unproblematisches Verhältnis. In: Zeitschrift für Fremdsprachenforschung 22, 243-252. » Weiterführende Hinweise Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) (2019). Empfehlungen für das Erstellen von Betreuungsvereinbarungen . [https: / / www.dfg.de/ formulare/ 1_90/ 1_90.pdf] (6.8.2021) Hochschulrektorenkonferenz (2012). Zur Qualitätssicherung in Promotionsverfahren. Empfehlungen des Präsidiums der HRK vom vom 23.4.2012 an die promotionsberechtigten Hochschulen . [https: / / www.hrk.de/ positionen/ beschluss/ detail/ zur-qualitaetssicherung-in-promotionsverfahren/ ] (07.02.2022) Qualitätszirkel Promotion (QZP) (2018). Gemeinsam die Promotion gestalten. Handlungsempfehlungen für Promovierende . 4. Auflage. [https: / / www.qz-promotion.de/ home/ handbuecher/ gemeinsam-die-promotion-gestalten/ ] (07.02.2022) Qualitätszirkel Promotion (QZP) (2018). Gemeinsam die Promotion gestalten. Handlungsempfehlungen für Betreuende . 4. Auflage. [https: / / www.qz-promotion.de/ home/ handbuecher/ gemeinsam-die-promotion-gestalten/ ] (6.8.2021) Wissenschaftsrat (2011). Anforderungen an die Qualitätssicherung der Promotion. Positionspapier . [http: / / www.wissenschaftsrat.de/ download/ archiv/ 1704-11.pdf] (6.8.2021) 6.8 Betreuung von Forschungsarbeiten 441 7. Referenzarbeiten In diesem Kapitel sind fünfzehn Referenzarbeiten erfasst, auf die in verschiedenen Kapiteln des Handbuchs unter spezifischen methodischen Fragestellungen verwiesen wird. Hier werden diese Dissertationen als Gesamtstudie kurz vorgestellt, und zwar von den jeweiligen Autor*innen selbst. Es handelt sich um Zusammenfassungen der Untersuchungen unter methodischen Gesichtspunkten. Sie sollen ein Globalverständnis der Referenzarbeiten ermöglichen, sodass in anderen Kapiteln ohne weitere Erläuterungen methodische Details daraus aufgegriffen werden können. Nach welchen Prinzipien diese Referenzarbeiten ausgewählt wurden, ist in Kapitel 1 genauer beschrieben. Es handelt sich um folgende Dissertationen: Arras, Ulrike (2007). Wie beurteilen wir Leistung in der Fremdsprache? Strategien und Prozesse bei der Beurteilung schriftlicher Leistungen in der Fremdsprache am Beispiel der Prüfung „Test Deutsch als Fremdsprache“ (TestDaF). Tübingen: Narr. Biebricher, Christine (2008). Lesen in der Fremdsprache. Eine Studie zu Effekten extensiven Lesens. Tübingen: Narr. Bracker, Elisabeth (2015). Fremdsprachliche Literaturdidaktik. Ein Plädoyer für die Realisierung bildender Erfahrungsräume im Unterricht . Wiesbaden: VS Springer. Doff, Sabine (2002). Englischlernen zwischen Tradition und Innovation. Fremdsprachenunterricht für Mädchen im 19. Jahrhundert. München: Langenscheidt. Ehrenreich, Susanne ( 2004 ). Auslandsaufenthalt und Fremdsprachenlehrerbildung. Eine qualitative Interviewstudie zum ausbildungsbiographischen Ertrag des assistant -Jahres. München: Langenscheidt. Gödecke, Georgia (2020). Gestaltung eines e-Portfolios in der Fremdsprachenlehrkräfteausbildung zur Förderung fachspezifischer Reflexionskompetenz - eine empirische Studie . Trier: WVT. Hochstetter, Johanna (2011). Diagnostische Kompetenz im Englischunterricht der Grundschule: Eine empirische Studie zum Einsatz von Beobachtungsbögen . Tübingen: Narr. Kienberger, Martina (2020). Das Potenzial des potenziellen Wortschatzes nutzen. Erschließungsstrategien für unbekannten Wortschatz unter DaF-Lernenden an spanischen Universitäten . [Online: http: / / othes.univie.ac.at/ 62970/ .] (28.08.2020) Marx, Nicole (2005). Hörverstehensleistungen im Deutschen als Tertiärsprache: zum Nutzen eines Sensibilisierungsunterrichts im ‚DaFnE‘. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. Özkul, Senem (2011). Berufsziel Englischlehrer/ in . München: Langenscheidt. Schart, Michael (2003). Projektunterricht - subjektiv betrachtet. Eine qualitative Studie mit Lehrenden für Deutsch als Fremdsprache. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. Schmenk, Barbara (2002, 2009). Geschlechtsspezifisches Fremdsprachenlernen? Zur Konstruktion geschlechtsspezifischer Lerner- und Lernbilder in der Fremdsprachenforschung. Tübingen: Narr. Schmidt, Torben ( 2007 ). Gemeinsames Lernen mit Selbstlernsoftware im Englischunterricht - Eine empirische Analyse lernprogrammgestützter Partnerarbeitsphasen im Unterricht der Klasse 7 . Tübingen: Narr. Schwab, Götz (2009). Gesprächsanalyse und Fremdsprachenunterricht. Landau: Verlag Empirische Pädagogik. Tassinari, Maria G. (2010). Autonomes Fremdsprachenlernen: Komponenten, Kompetenzen, Strategien. Frankfurt/ Main: Lang. 444 7. Referenzarbeiten Ulrike Arras Darstellung der Referenzarbeit: Arras, Ulrike (2007). Wie beurteilen wir Leistung in der Fremdsprache? 1. Thema und Forschungsfragen Die Leistungsbeurteilung ist neben der Erstellung valider Testaufgaben und der objektiven Prüfungsdurchführung ein weiterer Gegenstand der Qualitätssicherung einer Prüfung. Denn die Anforderungen, die in einem Sprachtest gestellt werden, ergeben sich nicht allein aus den Schwierigkeitsfaktoren der Aufgabenstellung, etwa der Komplexität des Themas, der erwarteten Textsorte oder den erforderlichen sprachlichen Mittel, sondern auch aus den Beurteilungsmaßstäben. Dabei sind die Konstrukt-konforme Interpretation und die konsistente Anwendung der Beurteilungsmaßstäbe für die valide Beurteilung (schriftlicher oder mündlicher) Prüfungsleistungen entscheidend. Hierzu ist es erforderlich, die mit der Beurteilung von Prüfungsleistungen betrauten Personen in der Handhabung des Beurteilungsinstrumentariums zu schulen. Aber selbst bei intensiver Schulung bleibt die Beurteilungsarbeit selbst weitgehend im Dunkeln. So bedürfen etwa die folgenden Fragen einer genaueren Betrachtung: • Wie verläuft die konkrete Beurteilungsarbeit? Welche Prozesse lassen sich dabei beobachten? • Wie wird das Beurteilungsinstrumentarium gehandhabt, das die Institution vorgibt? Welchen Stellenwert haben etwa die Beurteilungskriterien, die in skalierter Form als Raster für die Beurteilung zur Verfügung stehen? • Wie werden die vorgegebenen Maßstäbe interpretiert? • Worauf richtet sich das Augenmerk bei Lektüre und Bewertung? • Welche Determinanten beeinflussen die Wahrnehmung und damit das Urteil? Welche Textfaktoren sind ausschlaggebend für ein bestimmtes Urteil? Und vor allem: Welche, von der eigentlichen Leistung unabhängige, also testkonstrukt-irrelevante, beispielsweise affektive, Faktoren beeinflussen die Wahrnehmung? Die Untersuchung hatte als Grundlage schriftliche Leistungen aus dem Subtest ‚Schriftlicher Ausdruck‘ der standardisierten und seit 2001 weltweit administrierten Prüfung ‚Test Deutsch als Fremdsprache‘. Mit dem TestDaF können ausländische Studierende nachweisen, dass sie über solche sprachlichen Kompetenzen verfügen, die für ein Hochschulstudium in Deutschland erforderlich sind. Die schriftlichen (und auch mündlichen) Leistungen werden von eigens geschulten BeurteilerInnen bewertet. Das Bewertungsverfahren sowie das Beurteilungsinstrumentarium sind standardisiert. Leistungen aus dem Prüfungsteil ‚Schriftlicher Ausdruck‘ werden anhand von neun Einzelkriterien beurteilt, Arras, Ulrike (2007). Wie beurteilen wir Leistung in der Fremdsprache? 445 das Beurteilungsverfahren sieht eine Kombination aus holistischem und analytischem Beurteilungsverfahren vor. 2. Datenerhebung Die Arbeit bediente sich eines Mehrmethodendesigns auf der Basis von Fallstudien und bestand aus zwei Vorstudien und einer Hauptuntersuchung. Die Hauptuntersuchung erhob qualitative introspektive Daten zunächst anhand von Laut-Denken-Protokollen mit vier Beurteilerinnen (Primärdaten), die je acht Leistungen aus dem TestDaF-Prüfungsteil ‚Schriftlicher Ausdruck‘ bewerteten; dies diente der Eruierung spezifischer Beurteilungsstrategien und -prozesse. Das Verfahren des Lauten Denkens hat sich bereits in ähnlichen Forschungszusammenhängen bewährt (etwa Lumley 2005 ). Denn trotz der Einschränkungen hinsichtlich der Generalisierbarkeit der identifizierbaren Strategien und Prozesse sind es gerade introspektive Verfahren, die Einblicke in die individuell geprägten Vorgehensweisen und internen Prozesse ermöglichen. Introspektion hat im vorliegenden Fall ein breites Repertoire an Strategien und Strategiebündeln sichtbar machen können. Zusätzlich wurde zu Übungszwecken die Beurteilung einer Leistung unter Laut-Denken-Bedingungen vorgeschaltet, um eine gewisse Vertrautheit mit dem ungewohnten lauten Denken zu gewährleisten und zudem korrigierend und kommentierend eingreifen zu können. Die Protokolle wurden aufgezeichnet. Am nächsten Tag wurden retrospektive Interviews mit allen vier Beurteilerinnen durchgeführt, in denen anhand der Audio-Datei der Protokolle problemzentriert um Kommentierung spezieller Handlungen und Äußerungen zur Beurteilungsarbeit gebeten wurde. In der Phase der beiden Vorstudien wurden qualitative Daten mittels einer Fragebogenerhebung und per problemzentrierter Interviews erfasst und das für die Hauptuntersuchung entwickelte introspektive Verfahren erprobt. Ziel der Vorstudien war es, zunächst explorativ Einblicke in die Bewertungsarbeit, ihre Prozesse und spezifischen Schwierigkeiten zu erlangen und auf dieser Basis die o. g. Forschungsfragen zu fokussieren, methodische Entscheidungen für die Hauptuntersuchung zu treffen und das Verfahren des Lauten Denkens während der Beurteilungsarbeit zu testen. 3. Datenaufbereitung und Datenauswertung Alle Daten der Hauptstudie wurden transkribiert. Es handelte sich um nahezu 13 Stunden Laut-Denken-Protokolle bei vier Versuchspersonen, die je 8 schriftliche Leistungen beurteilten, dazu noch knapp 8 Stunden retrospektive Interviews. Die Transkription der Protokolle erwies sich als aufwendig, weil auch Pausen und Abbrüche abgebildet werden mussten, um zugrundeliegende Prozesse zu erfassen. Zudem wurden die Laut-Denken- Protokolle segmentiert und kodiert, um möglichst genau die Strategien und deren Prozesshaftigkeit nachzuvollziehen. Bei den retrospektiven Interviews hingegen war eine einfache Transkriptionsweise ausreichend, denn hier sollten lediglich problemzentriert ausgewählte Phänomene aus den Laut-Denken-Sitzungen näher beleuchtet werden. Der 446 7. Referenzarbeiten Redefluss in den Interviews war zudem stringenter, weil die Versuchspersonen nicht (wie im Falle der Laut-Denken-Sitzungen) zwischen der zu beurteilenden Leistung, den Beurteilungskriterien und dem schriftlichen Festhalten der Einstufung wechseln mussten. Die Segmentierung der Verbaldaten aus den Protokollen erfolgte mit dem Ziel Einzelhandlungen und ihren Prozesscharakter im Verlauf der Beurteilungsarbeit nachvollziehbar zu machen. Im Zentrum des Erkenntnisinteresses standen dabei Problemlösestrategien und die Rolle der Beurteilungskriterien. Die Entwicklung des Kodiersystems und dessen praktische Anwendung erwiesen sich als komplex. Mehrfach musste das Kodiersystem verändert und justiert werden, um die eruierten Prozesse und Strategien weitgehend zuverlässig zu erfassen. Zudem erwies sich die Kodierung selbst als fehleranfällig, denn sie ist in hohem Maße interpretativ, weil ggf. auch prosodische und implizite Informationen einbezogen werden müssen, was ein manuelles Vorgehen erforderlich machte. Zur Erhöhung der Reliabilität wurde deshalb eine Zweitkodierung im zeitlichen Abstand von ca. drei Monaten durchgeführt. Die durch Transkription, Segmentierung und Kodierung eruierten Einzelhandlungen wurden sodann systematisiert. Aufgrund der Fülle der Einzelhandlungen und Strategien musste für die Darstellung der Befunde eine Auswahl vorgenommen werden. Auswahlkriterien waren dabei zum einen die Dominanz bzw. Frequenz bestimmter Strategien, zum anderen Hinweise auf spezifische Problemlöse- und Beurteilungsstrategien. Auf dieser Grundlage wurden zum einen jene Handlungen interpretiert, die den Umgang mit dem Beurteilungsverfahren sowie die Rolle der Beurteilungskriterien dokumentieren, zum anderen jene Beobachtungen, die über das TestDaF-Beurteilungsinstrumentarium hinauswiesen, so z. B. Strategien, die vermutlich auf zugrundeliegende subjektive Annahmen und auf persönliche Erfahrungen gründen, was sich oftmals aus den Kommentaren und Bezügen in den Protokollen und in den retrospektiven Interviews ablesen ließ. Darüber hinaus wurden deskriptive Analysen der Resultate der Beurteilungsarbeit vorgenommen und mit den Daten der qualitativen Analysen trianguliert. Beispielsweise wurde die Beurteilungsübereinstimmung zwischen den vier Teilnehmerinnen analysiert und ihre Leistungseinstufungen in Beziehung gesetzt zur Zeit, die sie für die Beurteilung der einzelnen schriftlichen Leistungen benötigten. 4. Ergebnisse Die Untersuchung hat gezeigt, dass die Beurteilung (schriftlicher) Leistungen eine komplexe kognitive Handlung darstellt, die aus verschiedenen, sich ergänzenden und aufeinander aufbauenden Strategien und Strategiebündeln besteht. Sie werden zum einen von persönlichen und zum anderen von institutionellen Faktoren geprägt. Persönlichkeitsfaktoren sind beispielsweise individuelle Vorlieben und Erfahrungen, besonders natürlich berufliche Erfahrungen im Kontext Sprachunterricht. Andere Strategien hingegen sind durch das Beurteilungsinstrumentarium bestimmt, welches von der Testinstitution vorgegeben wird, etwa das standardisierte Beurteilungsverfahren oder die Schulungsmaßnahmen, die das Testkonstrukt und die Beurteilungsmaßstäbe operationalisieren. Arras, Ulrike (2007). Wie beurteilen wir Leistung in der Fremdsprache? 447 Folgende Hauptergebnisse können festgehalten werden: 1. Die Beurteilungsarbeit erfolgt in weitgehend klar trennbaren und interpersonell relevanten Phasen. Diese sind stark durch die institutionellen Vorgaben geprägt, insbesondere durch das vom TestDaF-Institut vorgegebene standardisierte Beurteilungsverfahren, durch das Beurteilungsinstrumentarium sowie durch entsprechende Schulungen und Monitoring-Maßnahmen. 2. Eine Vielzahl an Strategien kann eruiert und beschrieben werden. Die Kategorisierung zeigte, dass sie zum einen auf eigenen, v. a. auch beruflichen, Erfahrungen und subjektiven Theorien, zum anderen auf die Standardisierung der Beurteilungsarbeit gründen. Meist treten die Strategien in Clustern auf, d. h. in bestimmten Phasen oder bei bestimmten Problemen der Beurteilungsarbeit werden bestimmte Strategien eingesetzt, die wiederum bestimmte Strategien nach sich ziehen. 3. Von besonderer Bedeutung bei der Urteilsfindung ist das Testkonstrukt, auf welches die Versuchspersonen, auch auf der Basis subjektiver Daten und Hypothesen, referieren. So wird insbesondere auf die Funktion des TestDaF referiert als Begründung für bestimmte Leistungseinstufungen, etwa vor dem Hintergrund der Frage, ob ein Text ‚hochschultauglich‘ ist. 4. Als Herzstück der Beurteilungsarbeit erweist sich das Beurteilungsraster, welches die Maßstäbe in Form von skalierten Leistungsbeschreibungen (Deskriptoren) präsentiert. Es wird stark und in unterschiedlicher Weise und Ausprägung frequentiert, ist weitgehend verinnerlicht und dient den Versuchspersonen als Sprachmaterial für die Formulierung ihrer Urteile. Literatur Arras, Ulrike (2007). Wie beurteilen wir Leistung in der Fremdsprache? Strategien und Prozesse bei der Beurteilung schriftlicher Leistungen in der Fremdsprache am Beispiel der Prüfung „Test Deutsch als Fremdsprache“ (TestDaF). Tübingen: Narr. Lumley, Tom (2005). Assessing Second Language Writing. The Rater’s Perspective. Frankfurt/ Main: Lang. 448 7. Referenzarbeiten Christine Biebricher Darstellung der Referenzarbeit: Biebricher, Christine (2008). Lesen in der Fremdsprache 1. Thema und Forschungsfragen Die Studie beschäftigt sich mit dem Lesen der Fremdsprache Englisch an Realschulen. Sie evaluiert, inwieweit extensives Lesen Auswirkungen auf die Lese- und Sprachkompetenz, Motivation und Lesesozialisation deutscher Realschüler hat. Im internationalen Kontext wird extensives Lesen als Möglichkeit gesehen, Lesekompetenz, Motivation und Lesesozialisation positiv beeinflussen zu können. Dies wird für den deutschen Forschungskontext untersucht. Den drei 9 . Realschulklassen (n = 75 ), die die Experimentalgruppe bildeten, wurde für vier Monate eine englische Klassenbibliothek mit 95 Texten verschiedener Genres und Schwierigkeitsstufen zur Verfügung gestellt, von denen mindestens vier gelesen werden sollten. Während einer Unterrichtsstunde pro Woche ( 45 Minuten) wurde still und individuell gelesen, die Teilnehmer konnten zusätzlich Bücher ausleihen. Die Teilnahme am Leseprojekt war freiwillig und gelesene Texte wurden nicht im Unterricht besprochen. In den drei Kontrollgruppen (n = 85 ) fand gewöhnlicher Englischunterricht statt. Alle Teilnehmer kamen aus dem gleichen Schulamtsbezirk in Baden-Württemberg. Für die Lese- und Sprachkompetenz beantwortete die Untersuchung die folgenden Fragen: 1. Können Schülerinnen und Schüler durch extensives Lesen ihre fremdsprachliche Lesekompetenz verbessern? 2. Wirkt sich extensives fremdsprachliches Lesen auf die allgemeine englische Sprachkompetenz aus? 3. Gibt es geschlechtsspezifische Unterschiede in diesen Bereichen? Für den Bereich der Lesemotivation wurde untersucht: 1. Hat extensives Lesen Auswirkungen auf die Lesemotivation? 2. Verändert sich die englische Selbstwirksamkeitserwartung durch Erfolgserlebnisse? Für die fremdsprachliche Lesesozialisation wurden folgende Fragen evaluiert: 1. Führt extensives Lesen eine Veränderung im Leseverhalten und in der Einstellung zur Sprache herbei? 2. Kann die Lesesozialisation durch extensives Lesen unterstützt werden? 3. Gibt es geschlechtsspezifische Unterschiede bei fremdsprachlichem Lesen? Schließlich wurde insgesamt geprüft, ob sich innerhalb eines kurzen Zeitraums von vier Monaten Veränderungen in einzelnen Bereichen ergaben. Biebricher, Christine (2008). Lesen in der Fremdsprache 449 2. Datenerhebung Die Untersuchung bediente sich eines quasi-experimentellen Interventionsdesigns mit non-äquivalenten Kontrollgruppen sowie mit Vorher-Nachher-Messungen. Um die Sprachkompetenz vor dem Treatment (extensives Lesen) kontrollieren zu können, wurde jeder Experimentalgruppe, die durch die Bereitschaft der Lehrer zum Treatment festgelegt wurde, im Vorfeld eine Kontrollgruppe zugeordnet. Hierzu wurde ein C-Test mit allen Schulen im Schulbezirk der Experimentalgruppen durchgeführt ( 19 Klassen, n = 524 Schülerinnen und Schüler), dessen Ergebnis bezüglich der Durchschnittspunkte, der Varianz innerhalb der Gruppe, Gruppengröße und des Geschlechterverhältnisses die Basis für das Matching darstellte. Als Methoden der Datenerhebung wurden in der Studie im qualitativen Bereich Beobachtung, Befragung (Fragebogen und Leitfadeninterview) und impulsgestützte Stellungnahmen eingesetzt, im quantitativen Bereich ein Teil des Fragebogens und verschiedene Sprachtests. Vor Beginn des Treatments erfolgte die Erfassung des fremdsprachlichen Leseverstehens der Experimental- und Kontrollgruppen mit dem Leseteil des standardisierten Sprachtests ‚Preliminary English Test (PET)‘, der dem B 1 -Niveau des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens entspricht. Zur Erhebung der Lesemotivation und -gewohnheiten erhielten alle Gruppen einen halboffenen Fragebogen sowie einen geschlossenen Fragebogen zur Selbstwirksamkeitserwartung. Während des Treatments wurden in den Experimentalgruppen drei nicht-standardisierte Leseproben durchgeführt, in denen das Leseverstehen relativ langer englischer Texte überprüft wurde. Die Teilnehmer lasen jeweils ein Kapitel eines Readers und waren aufgefordert, Informationen zum Inhalt auf Deutsch wiederzugeben oder zu inferieren. Die Jugendlichen hielten ihre Einstellung zum Leseprojekt und ihre Lesemotivation in zwei impulsgestützten Stellungnahmen nach drei und nach neun Wochen des Treatments fest. Schließlich gaben alle am Treatment Beteiligten einen schriftlichen Kurzkommentar in vorgefertigtem Format zu jedem gelesenen Text ab, der nach Titel sortiert in der Klasse verblieb. Dies diente zur Feststellung der Leseinteressen, aber auch als Leseempfehlung innerhalb der Klassen. Nach Abschluss des Treatments wurden mit allen Schülerinnen und Schülern der Experimental- und Kontrollgruppen der bereits zuvor eingesetzte C-Test und der Leseteil des PET durchgeführt. Zusätzlich erhielten alle einen halboffenen, leicht abgewandelten Fragebogen und erneut den geschlossenen Fragebogen zu Selbstwirksamkeitserwartung. Aus den Experimentalteilnehmern wurden aufgrund der Ergebnisse aller Instrumente 26 Interviewkandidaten ausgewählt, woraus wiederum sechs für Fallbeispiele ausgesucht wurden. 3. Datenaufbereitung Alle eingesetzten Instrumente wurden in einer Pilotphase sowie in einer Vorstudie erprobt, validiert und teilweise modifiziert. Ergebnisse der Vorstudie führten zu leichten Veränderungen in der Hauptstudie. Längere Einträge in ein ‚Reading Notebook‘ erwiesen sich in 450 7. Referenzarbeiten der Vorstudie beispielsweise als wenig hilfreich und wurden durch Kurzkommentare zu Texten ersetzt. Die Ergebnisse der Sprachtests (C-Test und PET ) wurden jeweils getrennt und nach Gruppen sortiert zur Auswertung in SPSS eingegeben. Vor der Auswertung der Leseproben stellten drei Englischlehrer schriftlich Antwortmöglichkeiten für jede Leseprobe zusammen. Zur höheren Interrater-Reliabilität wurden diese im Anschluss mit der Untersuchungsleiterin diskutiert und wurde ein gemeinsamer Erwartungshorizont und ein Auswertungsschema festgelegt. Geschlossene Items der verschiedenen Fragebogen wurden in SPSS kodiert, wobei kleinere Werte geringere Zustimmung bedeuteten (‚trifft nicht zu‘ = 1 ; bzw. ‚überhaupt nicht‘ = 1 ). Offene Items sowie die Inhalte der jeweiligen impulsgestützten Stellungnahmen wurden elektronisch erfasst und anonymisiert. Alle durchgeführten Interviews wurden vollständig transkribiert. Da Inhalte im Vordergrund der Untersuchung standen, wurde die Darstellung des Gesprächs an die Schriftsprache angeglichen und dialektale Redewendungen im Transkript geglättet und es wurde ein Post-Skript zum Interviewpartner angelegt. Alle interviewten Personen wurden pseudonymisiert. Erstellte Transkriptionen wurden den Interviewpartnern zur kommunikativen Validierung vorgelegt und daraufhin erfolgte Änderungen wurden in das Transkript eingearbeitet und als solche kenntlich gemacht. 4. Datenauswertung Fragebogen: Für geschlossene Items des Fragebogens wurden mit SPSS zunächst Mittelwerte, Standardabweichungen sowie Häufigkeiten berechnet. Identische Items im Fragebogen vor und nach dem Treatment wurden im Anschluss mit Hilfe des Wilcoxon-Tests für nichtparametrische Tests auf signifikante Veränderungen im Leseverhalten, der Lesemotivation, der Lesehäufigkeit und der lesebezogenen Selbstwirksamkeitserwartung geprüft. Offene Items wurden nach Fragen sortiert und teilweise quantifiziert (z. B. Lieblingsbücher der Klassenbibliothek) sowie inhaltlich strukturiert und in ähnliche Themenblocks gruppiert. In einem nächsten Schritt wurden so entstandene Gruppen unter neuen Kategorien subsumiert. Das entstandene Kategoriensystem wurde mit Frequenzanalysen und Mittelwerten der geschlossenen Items in Beziehung gesetzt und hinsichtlich der Forschungsfragen interpretiert. Schriftliche Stellungnahmen: Die Aussagen der Teilnehmer waren bereits durch die gegebenen Impulse (Aufgaben) vorstrukturiert. Beide Stellungnahmen wurden in ähnlicher Weise wie der Fragebogen ausgewertet. Interview: Durch den Leitfaden war das Interview zwar bereits in Themenbereiche gegliedert, doch wurde es in einem ersten Schritt daraufhin durchgesehen, ob andere Themen an weiteren Stellen des Interviews angesprochen wurden. Nach der inhaltlichen Strukturierung wurden Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Aussagen der Interviewten herausgearbeitet sowie verschiedene Kategorien, die zu den Ergebnissen der Fragebogen und schriftlichen Stellungnahmen in Beziehung gesetzt und interpretiert wurden. Biebricher, Christine (2008). Lesen in der Fremdsprache 451 Fallbeispiele: In Anlehnung an thematisches Kodieren wurden einzelne Fälle nach bestimmten Kriterien ausgewählt und analysiert ( criterion sampling ). Zur Auswertung dieser sechs Fallbeispiele wurden alle verfügbaren Daten herangezogen. Sprachtests: Zunächst wurde versucht, die interne Validität durch die Parallelisierung der Experimental- und Kontrollgruppen zu erhöhen und personengebundene Störvariablen gering zu halten. Sequenzeffekte wurden durch den relativ großen zeitlichen Abstand limitiert. Nachdem die drei parallelisierten Experimental- und Kontrollgruppen-Paare auf Varianzhomogenität überprüft worden waren, wurden die Ergebnisse des C-Tests (Indikator Sprachkompetenz) und des PET -Leseteils (Indikator Lesekompetenz) mit einer univariaten Varianzanalyse (Analysis of Variance = ANOVA ) mit Messwiederholung berechnet, um signifikante Veränderungen zwischen Test- und Kontrollgruppen, dem Prä- und Post- Test und einem Effekt des Treatments feststellen zu können. Abbildung 1: Forschungsdesign 5. Ergebnisse Bezüglich der Forschungsfragen, ob extensives Lesen sich auf die fremdsprachliche Lesekompetenz und die allgemeine Sprachkompetenz auswirkt und ob es geschlechtsspezifische Unterschiede hierzu gibt, zeigte die Untersuchung, dass extensives Lesen zur verbesserten Lesekompetenz beitrug, dass die allgemeine Sprachkompetenz in zwei der drei Gruppen signifikant anstieg und Mädchen häufig die besseren Ergebnisse in beiden Bereichen erzielten. Extensives Lesen hatte in der Untersuchung signifikante positive Auswirkungen auf die Lesemotivation, während die Motivation der Kontrollgruppen kontinuierlich abfiel. Extensives Lesen förderte die Wertschätzung englischer Texte und leistete somit einen Beitrag zur Lesesozialisation. Tendenziell lasen Mädchen mehr und mit höherer Motivation. Allerdings ließ die Untersuchung keine eindeutigen Schlussfolgerungen über die Zusammenhänge von Lesemotivation und Lesekompetenz zu. Erhöhte Lesemotivation hatte nicht unbedingt ein besseres Ergebnis im Lesetest zur Folge, wie beispielsweise die 452 7. Referenzarbeiten Ergebnisse vieler Jungen bestätigten. Umgekehrt konnten vereinzelt verbesserte Leistungen erzielt werden, obwohl kaum Lesemotivation bestand. Auch ein Zusammenhang von Lesemenge, Lesemotivation und Leseverstehen reichte nicht als Erklärung für die Ergebnisse der Tests aus. Obgleich der gewählte multiperspektivische Ansatz der Untersuchung mit seiner Vielzahl an Erhebungsinstrumenten notwendig erschien, bliebe zu bedenken, ob dies nicht zu einer Testermüdung bei den Teilnehmern führte. Beispielsweise hätte auf Leseproben und einen der Fragebogen zur Selbstwirksamkeitserwartung verzichtet werden können. In zukünftigen Forschungen wäre zu untersuchen, ob sich regelmäßiges extensives Lesen über einen längeren Zeitraum, beispielsweise über ein Schuljahr hinweg, positiv auf Lese- und Sprachkompetenz sowie Lesemotivation auswirkt ebenso wie die Zusammenhänge von Lesemotivation und Lesekompetenz in der Fremdsprache genauer zu erforschen wären. Kritik an extensivem Lesen als lediglich input ohne erwarteten output legt Forschungen nahe, die sich mit extensivem Lesen einschließlich Aufgaben dazu beschäftigen und Auswirkungen auf die Lesekompetenz und -motivation untersuchen. Literatur Biebricher, Christine (2008). Lesen in der Fremdsprache. Eine Studie zu Effekten extensiven Lesens. Tübingen: Narr. Elisabeth Bracker da Ponte Darstellung der Referenzarbeit: Bracker, Elisabeth (2015). Fremdsprachliche Literaturdidaktik. Ein Plädoyer für die Realisierung bildender Erfahrungsräume im Unterricht 1. Thema und Forschungsfrage Was spielt sich im Einzelnen ab, wenn sich Englischlernende der Sekundarstufe II in Kleingruppen ohne konkrete Aufgabenstellung zu einem literarischen Text austauschen? Diese Forschungsfrage steht im Zentrum der hier zusammengefassten Dissertationsschrift (Bracker 2015 ), die in der fremdsprachlichen Literaturdidaktik angesiedelt ist. Anliegen der Studie ist es, einen Blick auf interaktive Aushandlungsprozesse von Schüler*innen zu werfen, die sich an einer Kurzgeschichte entzünden. Der Studie liegt ein rezeptionsästhetisches Verständnis literarischer Bedeutsamkeit zugrunde, dem zufolge nicht etwa Bedeutung dem literarischen Gegenstand eingeschrieben ist, sondern zuallererst in der Interaktion zwischen Leser*in und Text entsteht. Dies verweist zum einen auf die aktive Rolle der Rezipient*innen im Sinnbildungsprozess, zum anderen impliziert dieses Verständnis, dass sich Rezeptionsprozesse auf einer - vom Text gelenkten - individuellen Ebene abspielen. Dadurch wiederum werden Merkmale wie Offenheit, Vielstimmigkeit und Ambiguität sowie die potenzielle Unabschließbarkeit von Interpretationszugängen hervorgehoben. 2. Datenerhebung Die Logik der wissenssoziologisch abgeleiteten rekonstruktiven Sozialforschung, innerhalb derer die Studie methodisch verortet ist, verlangt nach einem Erhebungssetting, das den Untersuchungspersonen die Möglichkeit bietet, weitestgehend innerhalb ihres eigenen kommunikativen „Regelsystems“ zu bleiben, in dem eigene Relevanzsetzungen erfolgen können. Es sind also möglichst offene Untersuchungssettings gefragt, die von den Akteur*innen ausgestaltet werden können. Im Gruppendiskussionsverfahren, das für diese Studie gewählt wurde, werden diese Gegebenheiten erfüllt. Das Vorgehen bei der Datenerhebung verlief in jeder der insgesamt sieben Lerngruppen der gymnasialen Oberstufe gleich, um eine methodische Vergleichbarkeit zu gewährleisten: Während einer 90 -minütigen Doppelstunde wurde den Schüler*innen in einem ersten Schritt der literarische Text „Girl“ präsentiert. 1 Die Lernenden wurden zunächst 1 Die Kurzgeschichte ‚Girl‘, gelegentlich auch als Gedicht bezeichnet, bildet das tertium comparationis , also das Moment, das alle Fälle in einem Punkt vergleichbar miteinander macht (vgl. Bohnsack 2010 : 204 ), insofern sich alle Gruppendiskussionen auf diesen Text beziehen. Verfasst wurde er von der in 454 7. Referenzarbeiten gebeten, den Text individuell zu rezipieren ohne sich untereinander auszutauschen. In einem nächsten Schritt wurden die Lernenden in Kleingruppen eingeteilt. Der Impuls zur nun stattfindenden Diskussion lautete in jeder Gruppe gleich: „Talk about the text.“ Die entstandenen Gespräche wurden audiografiert. 3. Datenaufbereitung Die Datengrundlage der Studie bilden 15 aufgezeichnete Gruppendiskussionen. Sie wurden vollständig nach den Richtlinien des Talks in Qualitative Research (TiQ) (vgl. u. a. Bohnsack 2007 : 235 ) transkribiert. Das Transkriptionsverfahren berücksichtigt neben der Dokumentation des Sprachlichen auch non- und paraverbale Aspekte wie bspw. sprachliche Überlappungen, lange Pausen und Lachen. Derartig transkribierte Sprachdaten sind die Grundlage für die dokumentarische Analyse, die neben dem Was (gesagt wird) gleichermaßen auch das Wie (etwas gesagt wird) in den Blick nimmt. 4. Datenauswertung Die transkribierten Gespräche wurden nach der dokumentarischen Methode ausgewertet. Diese beinhaltet ein mehrschrittiges Analysevorgehen. Sie beginnt mit der formulierenden Interpretation als der Rekonstruktion dessen, was gesagt wird und geht dann über zur reflektierenden Interpretation, der Rekonstruktion dessen, wie etwas gesagt wird. Bei der reflektierenden Interpretation wird der Orientierungsrahmen einer Gruppe herausgearbeitet. Es wird also danach geschaut, woran sich die Akteur*innen in einer Diskussion orientieren, auf was sie Bezug nehmen, wovon sie sich abgrenzen. Im nächsten Schritt folgt die Fallbeschreibung, in der die Besonderheiten der einzelnen Fälle, ihre Orientierungsrahmen, schlüssig und nachvollziehbar dargestellt werden. Die sinngenetische und die soziogenetische Typenbildung bilden den Abschluss des dokumentarischen Analyseprozesses. In beiden Formen der Typenbildung werden rekonstruierte Orientierungsrahmen aus unterschiedlichen Fällen, die auf gemeinsame Kategorien verweisen, zu einer Typik zusammengefasst. Die Summe aller gefundenen Typiken bildet dann wiederum die Typologie, „die das gesamte Feld relevanter Erklärungsmuster abdeckt“ (Bohnsack 2010 : 295 ). Allerdings wurde im Rahmen dieser Studie auf den Schritt der Typenbildung verzichtet. Begründet wird dies über das Kriterium der Gegenstandsangemessenheit, da wir es im Setting der Untersuchung von Schüler*innengesprächen mit „Strukturen mittlerer Reichder Karibik aufgewachsenen Autorin Jamaica Kincaid (* 1949 ), die dem postkolonialen, feministischen Autor*innenkreis zuzuordnen ist. Der Text entzieht sich den Konventionen klassischer Textgenres. Er besteht ausschließlich aus direkter Rede zweier nicht näher benannter Figuren, wobei die eine Figur deutlich dominiert, die andere hingegen nur in zwei Passagen in Erscheinung tritt. Auf der inhaltlichen Ebene wird von der dominanten Figur eine Liste an Verhaltensregeln formuliert, die sich an junge Frauen richten und weder systematisiert noch kontextualisiert werden. Der Text wirkt formal und inhaltlich irritierend und provoziert eine Auseinandersetzung mit (kulturellen und Geschlechter-) Normen. Die im Text vorhandenen inhaltlichen, sprachlichen und formalen Leerstellen - so die leitende Annahme bei der Textauswahl - fordern die Rezipient*innen zu aktiven Sinnbildungsprozessen auf. Bracker, Elisabeth (2015). Fremdsprachliche Literaturdidaktik 455 weite“ zu tun haben, „deren Vorkommen räumlich und zeitlich begrenzt ist“ (Bonnet 2009 : 223 ). So ist es nicht Ziel der Rekonstruktion, „das gesamte Feld relevanter Erklärungsmuster“ abzudecken, sondern einen explorativen Einblick in die situativen inhaltlichen und diskursiven Aushandlungsprozesse von fortgeschrittenen Englischlernenden im Setting der literarischen Anschlusskommunikation zu erhalten. Aus diesem Grund erfährt die formulierende Interpretation durch den gezielten Blick auf die inhaltlich-thematische Entfaltung von Interaktionen im Unterricht im Vergleich zum klassischen Vorgehen der dokumentarischen Methode eine prinzipielle Aufwertung. Ihr wird ein eigenständiger Erkenntnisgewinn zugewiesen; sie dient damit nicht nur als Vorstufe zu den weiteren Analyseschritten. Denn fasst man Unterricht grundsätzlich als Ort, an dem eine ausgewählte spezifische Thematik (der fachliche Gegenstand) interaktional zur Disposition gestellt wird, dann ist per se von Interesse, was über diesen Gegenstand zur Sprache kommt und auch, was gerade nicht . Diese Ebene steht allerdings in einem komplexen Wechselspiel zur Art und Weise, wie die Themen in den Schüler*innengesprächen verhandelt werden. Die Analyse geht dabei sowohl innerhalb einer Gruppendiskussion sequenziell als auch konsequent zwischen den Diskussionen fallvergleichend vor. Die komparative Analyse ist zentral für den dokumentarischen Forschungsprozess. Denn erst über den Fallvergleich lassen sich „die Vergleichshorizonte des Interpreten empirisch fundieren“ und auf diese Weise „intersubjektiv nachvollziehbar und überprüfbar“ machen (Bohnsack 2010 : 137 ). Den situativen und formalen Rahmen der empirischen Untersuchung bildet also das Setting der Gruppendiskussionen, in welchen die Lernenden aufgefordert werden, sich in der englischen Sprache über einen ihnen unbekannten literarischen Text auszutauschen. Das Ziel der dokumentarischen Analyse ist es herauszuarbeiten, auf welche Art und Weise die Ausgestaltung dieses Rahmens vonstatten geht und woran und wie sich die Lernenden fremdsprachlich, inhaltlich und interaktiv-diskursstrukturell orientieren. Diese Ausgestaltung kann sich auf einvernehmliche, konjunktive , aber auch auf krisenhafte, brüchige und disparate Weise vollziehen. 5. Ergebnisse Eine Erkenntnis der Studie ist das ausgesprochen enge Wechselverhältnis zwischen (fremd-) sprachlicher und inhaltlicher Bedeutungsaushandlung. Die Bedeutungsaushandlung spielt sich dabei im Spannungsfeld von imaginiert-fiktiver Welt des Textes und lebensweltlichen Bezügen sowie (kulturellem) Weltwissen der Schüler*innen ab. Bei einigen Gruppendiskussionen kann dies fallübergreifend am Beispiel der Bedeutungsaushandlung um den in der Kurzgeschichte benannten und für alle Schüler*innen unbekannten Begriff benna gezeigt werden. Von einer Reihe an Kleingruppen wird die fremdsprachliche Leerstelle zum Anlass genommen, Hypothesen über die Bedeutung des Begriffs zu bilden, die dann hinsichtlich ihrer Plausibilität im Kontext des Textes geprüft werden, wie das folgende Beispiel zeigt: 456 7. Referenzarbeiten S1: the benna reminded me of ehm of the United States ( lachend ) but I think only because of this ehm (2) this ehm (2) ehm die Hymne? ( Anm. EBP „The Star-Spangled Banner “) S2: I don’t think that’s in the US because I guess it’s somewhere where it’s really (.) it has to be ehm (2) warm really, really warm. Die Auseinandersetzung mit Literatur und ihrem Sinn- und Deutungsangebot ist in vielen Sequenzen in den Gesprächen der Schüler*innen eng mit einer Auseinandersetzung mit (Fremd-) Sprache und Konzepten von Welt und damit (kulturellen) Vorstellungen verwoben. Mit Blick auf die Fremdsprachendidaktik zeigt dieses Ergebnis, wie sehr die Bereiche Sprach-, Kultur- und Literaturunterricht ineinandergreifen. Es lohnt sich, Settings im Unterricht zu schaffen, in denen die unterschiedlichen Lesarten und damit auch Vorstellungen der Lernenden expliziert und gegeneinander geführt werden. Literatur Bohnsack, Ralf ( 2010 ). Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in qualitative Methoden. Stuttgart: UTB Verlag. Bohnsack, Ralf (2007): Typenbildung, Generalisierung und komparative Analyse: Grundprinzipien der dokumentarischen Methode. In: Bohnsack, Ralf/ Nentwig-Gesemann, Iris/ Nohl, Arnd-Michael (Hg.). Die dokumentarische Methode und ihre Forschungspraxis. Grundlagen qualitativer Sozialforschung . Wiesbaden: VS Springer, 225-253. Bonnet, Andreas (2009). Die dokumentarische Methode in der Unterrichtsforschung. Ein integratives Forschungsinstrument für Strukturrekonstruktion und Kompetenzanalyse. In: Zeitschrift für Qualitative Forschung , 10: 2, 219-240. Bonnet, Andreas/ Bracker da Ponte, Elisabeth (2018). Überfachliches Lernen durch Ungewissheit? Social skills und Reflexivität im kooperativen Englischunterricht. Fremdsprachen Lehren und Lernen 47, 25-39. Bracker, Elisabeth (2015). Fremdsprachliche Literaturdidaktik. Ein Plädoyer für die Realisierung bildender Erfahrungsräume im Unterricht. Wiesbaden: VS Springer. Kincaid, Jamaica (1978). Girl ( June 26, 1978). The New Yorker Doff, Sabine (2002). Englischlernen zwischen Tradition und Innovation 457 Sabine Doff Darstellung der Referenzarbeit: Doff, Sabine (2002). Englischlernen zwischen Tradition und Innovation 1. Thema und Forschungsfragen Gegenstand der Dissertationsschrift ist der Unterricht in den neueren Fremdsprachen (Französisch und insbesondere Englisch) für Mädchen im 19 . Jahrhundert in Deutschland. Der Fokus liegt auf der Methodik des Englischunterrichts an höheren Mädchenschulen bis zum Beginn des 20 . Jahrhunderts; das Phänomen wird im ideengeschichtlichen (Kapitel 1 : ‚Ideengeschichtliche Grundlagen: Deutsche Entwürfe von Weiblichkeit und Bildung‘), sozialhistorischen (Kapitel 2 : ‚Sozialhistorische Aspekte der weiblichen Bildungsfrage: Die Frauenbewegung‘) und bildungshistorischen (Kapitel 3 : ‚Entwicklung des höheren Mädchenschulwesens in Deutschland‘) Kontext verortet. Zugrunde liegt die These, dass die bis heute viel diskutierte markante Affinität von Mädchen und Frauen zu den neueren Fremdsprachen (vgl. Kapitel 4 : ‚Die Englischlehrerinnen‘) wesentlich die methodische Ausgestaltung des Unterrichts in diesen Schulfächern sowie dessen didaktische Ausrichtung (Kapitel 5 : ‚Geschichte des Faches Englisch und seiner Didaktik im Kontext der weiblichen Bildung‘) über den Untersuchungszeitraum hinaus prägte. Die Arbeit nähert sich dem Untersuchungsgegenstand in der Schnittmenge zwischen Fremdsprachendidaktik, Historischer Bildungsforschung und Genderforschung. 2. Zusammenstellung der Dokumente Dieser interdisziplinäre Ansatz spiegelt sich in der Zusammenstellung der Dokumente: Berücksichtigt wurden neben Standardwerken zur deutschen Bildungsgeschichte die gehäuft im letzten Drittel des 20 . Jahrhunderts entstandenen Quellensammlungen zur weiblichen Bildungsgeschichte. Daneben wurden weitere, bis dato nicht in diesem Umfang berücksichtigte historische Originalquellen in großem Umfang herangezogen. Dazu gehören vorrangig im letzten Drittel des 19 . Jahrhunderts erschienene einschlägige Zeitschriften, u. a. zum Fremdsprachenunterricht und zur weiblichen Bildung, sowie Schulprogrammschriften. Bei letzteren handelt es sich um jährliche Veröffentlichungen von Einzelschulen, die im 17 . und 18 . Jahrhundert ursprünglich das Programm der öffentlichen Prüfung enthielten; ab der Mitte des 18 . Jahrhunderts wurde häufig eine wissenschaftliche Abhandlung (z. B. über das Lehren und Lernen von Fremdsprachen) beigefügt. Seit dem 2 . Viertel des 19 . Jahrhunderts enthielten diese Schriften ferner einen Bericht über das vergangene Schuljahr. Bei den Zeitschriften wurden schwerpunktmäßig diejenigen ausgewählt, die für die Entwicklung des höheren Mädchenschulwesens von Bedeutung waren. Insgesamt 458 7. Referenzarbeiten neun Zeitschriften (u. a. ‚Die Lehrerin in Schule und Haus‘, Leipzig, ab 1849 sowie ‚Die Mädchenschule‘, Bonn: Weber, ab 1888 ) wurden innerhalb des Untersuchungszeitraums einer vollständigen Durchsicht unterzogen, v. a. im Hinblick auf Fragen, die den Fremdsprachenunterricht betreffen. Daneben wurde eine möglichst vollständige Berücksichtigung der Schulprogrammschriften des 19 . Jahrhunderts aus allen deutschen Ländern angestrebt, die sich auf den Fremdsprachenunterricht, insbesondere den für Mädchen, im Kontext der höheren Bildung beziehen. Grundlage der Recherche der Schulprogrammschriften waren existierende einschlägige Bibliographien sowie die (Online-)Kataloge der Staatsbibliotheken in München und Berlin. Es stellte sich dabei heraus, dass die Quellenlage für Schulprogrammschriften insbesondere für den Fremdsprachenunterricht an höheren Mädchenschulen in Preußen besonders günstig ist. Einbezogen wurden ferner relevante Stundentafeln und Curricula für den Sprachenunterricht an höheren Schulen sowie Lehrbücher und andere Unterrichtsmaterialien des Untersuchungszeitraums, die explizit für den neusprachlichen Unterricht für Mädchen erstellt wurden. 3. Interpretation der Dokumente Im ersten Schritt wurden die herangezogenen Quellen zunächst nach ihren formalen Merkmalen (äußere Quellenkritik) sowie nach dem Aussagewert ihres Inhalts (innere Quellenkritik) analysiert. Die wichtigsten Analyseschritte der äußeren Quellenkritik waren die Kritik der Provenienz, Echtheit und Originalität. Bei der inneren Quellenkritik erwiesen sich als zentrale Analysekriterien der Standpunkt bzw. Horizont der Autor/ innen sowie der Kontext der jeweiligen Quelle. Der Anspruch bei der Interpretation der Dokumente war, den Zeitgeist der untersuchten Periode zu verstehen sowie die kulturelle Atmosphäre einzuschätzen, um den Untersuchungsgegenstand auf diesem Hintergrund adäquat analysieren zu können. Grundlegende Deutungsmuster für die Interpretation bildeten zwei Prämissen: Erstens wurde dem politischen, ökonomischen und sozialen Bezugsrahmen hohe Bedeutung für die Untersuchung des Ausschnitts der (weiblichen) Bildungsgeschichte zugewiesen. Im Umkehrschluss gilt, dass Schul- und Bildungsgeschichte neue Sichtweisen auf politische, ökonomische oder kulturelle Geschichte ermöglichen. Zweitens wurde eine teleologische Entwicklung von Geschichte dezidiert abgelehnt, d. h. es wurde nicht davon ausgegangen, dass Reformen im Fremdsprachenunterricht automatisch mit Fortschritt gleichzusetzen sind. Im Umkehrschluss werden zeitlich frühere Konzepte und Methoden nicht automatisch als defizitär, jüngere nicht automatisch als überlegen begriffen. Die Standardwerke zur deutschen Bildungsgeschichte sowie Quellensammlungen zur weiblichen Bildungsgeschichte wurden zur Kontextualisierung herangezogen, dienten also insbesondere der ideengeschichtlichen und sozialhistorischen Einbettung des Untersuchungsgegenstandes. Es stellte sich dabei heraus, dass erstere das höhere Mädchenbildungswesen nicht selten stiefmütterlich behandeln und dass letztere - was als korrespondierende Entwicklung dazu aufgefasst werden kann - vielfach als Teil der Genderforschung im letzten Drittel des 20 . Jahrhunderts aufgefasst werden können. Dies galt es, bei der Interpretation dieser Dokumente entsprechend zu berücksichtigen. Doff, Sabine (2002). Englischlernen zwischen Tradition und Innovation 459 Auf der Grundlage des umfangreichen Quellenmaterials kann die Vielschichtigkeit eines lange gewachsenen und bis heute andauernden historischen Prozesses dargestellt werden. Interpretiert wurden die Quellen ausgehend von den erläuterten generellen Grundannahmen sowie von der oben genannten spezifischen These. Letztere diente in einem zyklischen Prozess im Laufe des Quellenstudiums als Grundlage für die Auswahl und Bewertung von Quellen; sie wurde parallel dazu immer weiter ausdifferenziert, wenn sich aus den Quellen neue Erkenntnisse ergaben. Ziel dieses hermeneutischen Vorgehens war es, durch das Zusammenspiel von Fragestellung und Quellenarbeit Einsichten in historische Begründungszusammenhänge, Denkweisen und Ereignisse zu gewinnen. Als für den Untersuchungsgegenstand besonders lohnenswerte Quellen erwiesen sich die Schulprogrammschriften sowie einschlägige Zeitschriftenbeiträge. Gerade in letzteren hatten auch die beteiligten Frauen selbst die seltene Chance, ihren Standpunkt darzulegen. 4. Ergebnisse Die den Ausgangspunkt für die Arbeit bildende These wurde bestätigt und konnte ausgeweitet werden. Die Ergebnisse zeigen, dass nicht nur die Inhalte und Lehrpläne, sondern auch die in Schulprogrammschriften und Zeitschriften dokumentierte Didaktik der neueren Fremdsprachen im 19 . Jahrhundert eine mitunter erhebliche Abweichung von den dominanten didaktischen Ansätzen in den klassischen Sprachen zeigten. Diese spezifische, d. h., stark verkürzt gesprochen, im Wesentlichen auf die mündliche Sprachfertigkeit fokussierte Ausrichtung der Neusprachendidaktik wurde in der Regel an höheren Mädchenschulen von Lehrerinnen unterrichtet, fernab von staatlicher Regulierung und Normierung. Der Staat zeigte an der Regulierung des höheren Mädchenschulwesens bis zum letzten Viertel des 19 . Jahrhunderts nur sehr geringes Interesse, was dazu führte, dass Mädchenschulen eine Art didaktisches Experimentierfeld boten, in dem die Erprobung von Innovationen leichter möglich war als im staatlichen Regelschulsystem für Knaben. Über die Ausgangsfragen hinaus konnte gezeigt werden, dass die Anforderungen an Lehrkräfte in den neueren Sprachen sich sukzessive wandelten (z. B. der wachsende Anspruch an die Sprachkompetenz der Lehrkräfte). Dieser Wandel begünstigte die während des 19 . Jahrhunderts vom universitären Studium ausgeschlossenen Frauen in diesem Beruf stark, da sie anstelle von oder zusätzlich zum Lehrerinnenseminar längere Auslandsaufenthalte vorzugsweise in England oder/ und Frankreich realisierten. Die Untersuchung legt mit diesem Teilergebnis nahe, dass die neueren Fremdsprachen die Fächer waren, die den Lehrerinnen den Weg in das höhere (Regel-)Schulwesen ermöglichten. Somit konnte sowohl in personeller als auch in inhaltlicher Hinsicht eine spezifisch weiblich geprägte Neusprachendidaktik nachgewiesen werden. Durch die ab 1880 einsetzende Neusprachliche Reformbewegung, die nicht wenige markante Überschneidungen mit dieser weiblichen Tradition des Fremdsprachunterrichts zeigte, erhielt dieses Konzept eine theoretisch fundierte Grundlegung. Die Ergebnisse legen nahe, dass beide Strömungen in vielerlei Hinsicht auf das gleiche Ziel - primär die Stärkung der Mündlichkeit - hinwirkten; inhaltliche Ergänzungen in zentralen Punkten 460 7. Referenzarbeiten sowie personelle Überschneidungen (viele Neusprachenreformer waren zumindest zeitweise an höheren Mädchenschulen tätig) ermöglichten eine wirksame Durchsetzung von methodisch-didaktischen Neuerungen in einem Fremdsprachenunterricht im höheren Mädchen- und mit einiger Verzögerung sowie abgeschwächt auch im höheren Knabenschulwesen. Die Einflüsse dieser Tradition reichen bis über den Untersuchungszeitrahmen hinaus; viele ihrer Leitlinien erwiesen sich als für den heutigen Fremdsprachenunterricht aktuell - wenn auch unter veränderten Vorzeichen. Der in dieser Arbeit ausschnitthaft geleistete Blick in die Geschichte des Fremdsprachenunterrichts verdeutlicht, dass eine kritische historische Betrachtungsweise der Brüche und Konstanten durchaus Hilfestellungen für ein wacheres Verständnis gegenwärtiger Problemstellungen und aktueller Herausforderungen liefern kann. Literatur Doff, Sabine (2002). Englischlernen zwischen Tradition und Innovation. Fremdsprachenunterricht für Mädchen im 19. Jahrhundert. München: Langenscheidt. 6.8 Betreuung von Forschungsarbeiten 461 Susanne Ehrenreich Darstellung der Referenzarbeit: Ehrenreich, Susanne (2004). Auslandsaufenthalt und Fremdsprachenlehrerbildung 1. Thema und Forschungsfragen Ausgangspunkt der Studie war folgende vorläufige Forschungsfrage: (Inwiefern) Ist das Fremdsprachenassistenten-Jahr ertragreich für angehende FremdsprachenlehrerInnen? Da es keine soliden Voruntersuchungen zum Thema gab, war die Durchführung einer explorativen Studie qualitativen Zuschnitts angezeigt. Diese methodologische Entscheidung brachte recht unmittelbar eine Neuakzentuierung mit sich. Schon die ersten Interviewdaten zeigten deutlich, dass die vorläufige Fragestellung normativ verkürzt, d. h. auf die Relevanz des Assistentenjahres für die Lehrerbildung ausgerichtet war. Darüber hinaus mussten jedoch auch die subjektiven Bedeutungszuschreibungen der Akteure berücksichtigt und aus einer phänomenologischen Perspektive ergänzt werden. Die für die Datenauswertung maßgeblichen Einzelfragen lauteten daher: 1 . Wie stellt sich ein Auslandsaufenthalt als Fremdsprachenassistent/ in (FSA) in einem englischsprachigen Land aus der Perspektive der Beteiligten dar? 2 a. Wie bewerten die Beteiligten Ertrag und Auswirkung ihres Auslandsaufenthaltes als deutsche/ r FSA in einem englischsprachigen Land? 2 b. Wie sind Ertrag und Auswirkung eines Auslandsaufenthaltes als FSA in einem englischsprachigen Land im Licht der Lehrerbildung zu bewerten? 3 . Welche Implikationen birgt die Gegenüberstellung dieser beiden Perspektiven im Blick auf Ausbildungsinhalte und Struktur der Fremdsprachenlehrerbildung? Die konzeptuelle Integration der phänomenologischen und der evaluativen Perspektive auf das Assistentenjahr gelang mithilfe des entwicklungstheoretisch ausgerichteten berufsbiographischen Ansatzes von Terhart ( 2001 ). Als Gütekriterien wurden die Kriterien der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit und der Indikation des Forschungsprozesses angelegt. 2. Datenerhebung Für die Erforschung der Wirksamkeit eines Ausbildungsabschnitts wäre die Durchführung einer Langzeitstudie ideal. Aus Gründen der Machbarkeit war in diesem Fall jedoch eine Querschnittsuntersuchung angezeigt; die Frage, ob und inwiefern sich die Bewertung des Ertrags des assistant -Jahres in Abhängigkeit von der jeweiligen Ausbildungsphase unterscheidet, wurde über die kriteriengeleitete Zusammenstellung der Untersuchungsgruppe 462 7. Referenzarbeiten gelöst. Folgende Strategien wurden hierzu kombiniert: die Berücksichtigung quantitativer Angaben zur Population, die gezielte und die theoretische Auswahl (vgl. Silverman 2000 : 104 ). Damit bestimmten sechs Kriterien die Auswahl der UntersuchungsteilnehmerInnen: die Ausbildungsbzw. Berufsphase zum Zeitpunkt des Interviews, das Geschlecht, das Herkunftsbundesland, das Zielland, die subjektive Bewertung der Fremdsprachenassistenz sowie die Aufenthaltsdauer bzw. frühzeitige Rückkehr. Der Feldzugang erfolgte über ein multiples Schneeballsystem, bei 22 Befragten war eine theoretische Sättigung erreicht. Als Datenerhebungsinstrument wurde das Interview gewählt, weil es u. a. eine gewisse ‚Hebammenfunktion‘ der Forscherin bei der Ko-Konstruktion der Daten ermöglicht. Für die Entwicklung der Interviewform war die Balance zwischen Offenheit und Strukturierung leitend, zum Einsatz kam daher das ‚teilstrukturierte Leitfadeninterview mit Erzählimpulsen‘. Zur Kontextualisierung der Interviewsituation wurden vor dem Interview relevante Angaben zur Person erfasst, Informationen zum Interviewverlauf wurden in einem Postskriptum festgehalten. Der Interview-Leitfaden gliederte sich in eine offene Eingangsfrage nach der wichtigsten Erfahrung während des assistant -Jahres und in die thematischen Bereiche Person, Sprache, Interkulturelles Lernen, Schule und Unterricht sowie einige Ausblicksfragen. Die Abfolge der Fragen wurde größtenteils durch die InterviewpartnerInnen bestimmt. Nach vier Pilotinterviews wurde der Leitfaden ohne große Veränderungen für die Gesamtstudie übernommen. Die Interviewgespräche wurden von der Forscherin über einen Zeitraum von sieben Monaten durchgeführt und dauerten durchschnittlich je einhundert Minuten. 3. Datenaufbereitung Für die Transkriptionsregeln galt das Prinzip der guten Lesbarkeit, wodurch gleichzeitig der forschungsethische Anspruch einer fairen Repräsentation der Befragten erfüllt wurde. Die Transkriptionen wurden von der Forscherin durchgeführt; die anonymisierten Transkripte wurden im Zuge des member check von den InterviewpartnerInnen gegengelesen und anschließend in das Textmanagement-Programm MAXQDA importiert. 4. Datenauswertung Für das Auswertungsdesign wurden kategorisierende Verfahren (vgl. den Ansatz der Grounded Theory von Glaser/ Strauss 1967 ) mit sequentiellen Analyseverfahren kombiniert. Darüber hinaus wurde nicht nur darauf geachtet, was gesagt, sondern auch darauf, wie etwas gesagt wurde (vgl. Freeman 1996 ). Die Auswertung erfolgte in folgenden fünf Arbeitsschritten: 1. Materialbezogene Kategorienbildung und Entwicklung einer Inhaltsübersicht: Die intensive Lektüre und Interpretation von zunächst drei Interviewtexten diente der Entwicklung der Auswertungskategorien. Diese wurden zum einen datenbasiert gebildet, zum anderen in Auseinandersetzung mit der Forschungsliteratur, dem Interviewleitfa- Ehrenreich, Susanne (2004). Auslandsaufenthalt und Fremdsprachenlehrerbildung 463 den und dem konzeptuellen Bezugsrahmen der Studie. Ein erstes Netzwerk dieser Kategorien wurde erstellt und als zusätzliches Arbeitsinstrument wurde ein mehrteiliges Überblicksschema für die Einzelinterviews entwickelt. 2. Konstruktion und Erprobung des Kategoriensystems: Anschließend wurden die vorläufig entwickelten Kategorien zu einem hierarchisch angelegten Kategoriensystem (Codesystem) angeordnet und in die Software MAXQDA importiert. Einige Kategorien wurden dabei mit so genannten Code-Memos versehen. Im Zuge der - nun elektronischen - Codierung zweier weiterer Interviewtexte wurde das vorläufige Codesystem auf seine Reichweite und Flexibilität geprüft und minimal modifiziert. 3. (Vergleichende) Einzelfallanalyse und Codierung sämtlicher Interviewtexte: In dieser multifunktionalen Arbeitsphase wurde codierend am Einzeltext und zunehmend auch textübergreifend und -vergleichend gearbeitet. Insgesamt bewährte sich das System mit seinen 350 Kategorien in der Anwendung auf alle Texte. Die Memo-Funktion des Programms wurde genutzt, um Ankerbeispiele, Literaturhinweise und insbesondere erste textübergreifende theoretische Bezüge zu dokumentieren. Zusätzlich wurde für jedes Interview die oben genannte Inhaltsübersicht erstellt. 4. Synoptische Themenanalyse: Hier erfolgte die synoptische Datenanalyse, bei der über die Programmfunktion des Text-Retrievals alle einer Kategorie zugeordneten Textstellen vergleichend analysiert, in ihrer empirischen Ausprägung bewertet und interpretiert wurden. Narrative Passagen wurden entsprechend ausgewertet. 5. Textimmanente und -übergreifende axiale Themenanalyse mit dem Ziel der Theorieentwicklung: In Schritt 3 und 4 kristallisierten sich zentrale Kategorien heraus, die in ihrem axialen Zusammenhang zu analysieren waren (vgl. Strauss/ Corbin 1990 : 114 ). Dabei wurden Ursachen, Bedingungen, Korrelationen und Konsequenzen bestimmter Phänomene textimmanent und -übergreifend zueinander in Beziehung gesetzt. Weitere theoretische Rahmenkonzepte umfassten Entwicklungsverläufe, Identitäten sowie die von ehemaligen AssistentInnen geteilten Relevanzsysteme. 5. Ergebnisse Die Erwartungen an das FSA -Jahr einerseits und die retrospektiv erfolgten Interpretationen prägen als subjektive Relevanzen die Bewertung des jeweils Erlebten. Persönliches tritt während des Jahres und im Rückblick stark in den Vordergrund, die Fremdsprache - in der Regel das Hauptmotiv für den Aufenthalt - bekommt in der Gesamterfahrung eine nebengeordnete Rolle zugewiesen. Der (inter-)kulturelle Bereich bleibt zeitübergreifend von zentraler Bedeutung, wird aber von ambivalenten Erträgen bestimmt. Schule und Unterricht im Zielland geben häufig Anlass zu Enttäuschung. Im Ergebnis zeigt die Studie, dass die durch Mythen des ‚Sprach- und Kulturbades‘ verklärte Sicht auf den Auslandaufenthalt aufzugeben ist. Dieser ist vielmehr als spezifischer Lernort zu begreifen, den es vorzubereiten, zu strukturieren und zu reflektieren gilt. 464 7. Referenzarbeiten Literatur Ehrenreich, Susanne (2004). Auslandsaufenthalt und Fremdsprachenlehrerbildung. Das assistant- Jahr als ausbildungsbiographische Phase. München: Langenscheidt. Freeman, Donald ( 1996 ). ‚To take them at their word‘: Language data in the study of teachers’ knowledge. In: Harvard Educational Review 66, 732-761. Glaser, Barney/ Strauss, Anselm (1967). The Discovery of Grounded Theory. Strategies for Qualitative Research . Chicago: Aldine. Silverman, David (2000). Doing Qualitative Research. A Practical Handbook . London: Sage. Strauss, Anselm/ Corbin, Juliet (1990). Basics of Qualitative Research . London: Sage. Terhart, Ewald (2001). Lehrerberuf und Lehrerbildung. Forschungsbefunde, Problemanalysen, Reformkonzepte . Weinheim: Beltz. Georgia Gödecke Darstellung der Referenzarbeit: Georgia Gödecke ( 2020 ). Gestaltung eines e-Portfolios in der Fremdsprachenlehrkräfteausbildung zur Förderung fachspezifischer Reflexionskompetenz - eine empirische Studie 1. Thema und Forschungsfragen Angehende Fremdsprachenlehrkräfte absolvieren im Laufe ihrer ersten Ausbildungsphase eine Reihe an Praxisphasen und stehen dabei vor der Herausforderung, die Bezugsrahmen Universität und Schule sowie die damit verbundenen unterschiedlichen Auffassungen aufeinander zu beziehen. Seitens der Universität mangelt es jedoch oftmals an Lerngelegenheiten, die eine wechselseitige Bezugnahme von wissenschaftlichen und subjektiven Theorien sowie Praxiserfahrungen explizit fördern. Die Studierenden wissen somit nicht, was und wie sie reflektieren können; pauschale und beschreibende Reflexionen ohne Verarbeitung fachspezifischen Wissens und praktischer Erfahrungen sind daher keine Seltenheit. Um einen Beitrag zur Ausgestaltung reflexionsorientierter Szenarien während der Praxisphasen in der fremdsprachlichen Lehrer*innenausbildung zu leisten, dokumentiert die Arbeit die Entwicklung eines Lehr-Lernarrangements im Bereich der Didaktik der romanischen Sprachen, das die Förderung fachspezifischer Reflexionskompetenz ins Zentrum stellt. Auch wenn Reflexion in der deutschen Fremdsprachenlehrkräfteausbildung als integraler Bestandteil von Professionalisierungsprozessen gilt, stellen fachspezifische Ausdifferenzierungen bislang ein Desiderat dar. Wird aber der Anspruch verfolgt, über reflexive Prozesse die Professionalisierung angehender Fremdsprachenlehrkräfte zu fördern, so müssen zum einen das Konzept von Reflexion fachspezifisch gefüllt und zum anderen Lerngelegenheiten entwickelt werden, die eine Auseinandersetzung mit unterrichtsrelevanten Fachinhalten fördern. Die aufgezeigte Ausgangslage führte im Rahmen der Arbeit zu den folgenden zentralen Fragestellungen: 1. Was ist unter fachspezifischer Reflexionskompetenz zu verstehen? 2. Wie muss ein e-Portfoliodesign gestaltet sein, damit es Französisch- und Spanischstudierende im Rahmen ihrer schulpraktischen Ausbildung dazu anleiten kann, fachspezifische Reflexionsprozesse zu vollziehen? Mit diesen Forschungsfragen war das Ziel verbunden, fachdidaktische Forschung und universitäre Lehrpraxis in ein sinnvolles Verhältnis zueinander zu setzen. Vor diesem Hintergrund diente der Forschungsansatz Design-Based Research ( DBR ) als methodologischer Rahmen: Das fachspezifisch-reflexionsorientierte e-Portfolio wurde als Design implementiert, empirisch untersucht und zyklisch weiterentwickelt. In seiner finalen Version 466 7. Referenzarbeiten besteht es aus Aufgaben, die fachdidaktisches Wissen und Können in Bereichen wie u. a. Differenzierung, Diagnose oder Spracherwerb fördern und in Prozesse der Unterrichtsplanung, -umsetzung und -reflexion eingebunden sind. Für die Aufgabenbearbeitung ist fachspezifische Reflexionskompetenz notwendig, die sowohl hinsichtlich der Relationierung zwischen den einzelnen Wissensbereichen (fachwissenschaftliches, fachdidaktisches, pädagogisches Wissen) als auch zwischen Theorie und Praxis eine Schlüsselkompetenz einnimmt. Ein e-portfoliobezogenes Reflexionsmodell, das strukturierte Frageprompts zu Teilbereichen fachspezifischer Reflexionskompetenz umfasst und ein Novum in der fremdsprachlichen Lehrer*innenausbildung darstellt, dient dabei als Unterstützungsinstrument. Darüber hinaus fungiert auch die digitale Form des Portfolios als Hilfsmittel, wenn es darum geht, Arbeitsprozesse und -produkte für Lernpartner*innen, Universitätslehrende und schulische Mentor*innen beliebig zu öffnen und damit einen ständigen Austausch zu ermöglichen. 2. Datenerhebung Im Rahmen der e-portfoliobezogenen Aufgabenausarbeitungen entstanden Reflexionstexte und -gespräche. Daraus ergaben sich im Bereich des methodischen Vorgehens zwei grundsätzliche Zielsetzungen: Zum einen bestand ein übergreifendes Anliegen darin, das reflexionsorientierte e-Portfoliokonzept zu entwerfen und zu optimieren. Dazu wurden über die Zyklen hinweg Fragebögen als schriftliche sowie Interviews als mündliche Formen der Befragung eingesetzt, die Rückmeldungen der unterschiedlichen Akteur*innen (Lehrende und Studierende) einfangen konnten. Diese bezogen sich vor allem auf die Aufgabenkonstruktion, das damit verbundene Reflexionssetting sowie die digitale Lernplattform. Zum anderen wurden die Reflexionstexte und -gespräche der Studierenden mit dem Ziel untersucht, fachspezifische Reflexionskompetenz im gegebenen Kontext möglichst differenziert konzeptualisieren zu können. Während im ersten Zyklus (SoSe 2017 ) insgesamt 33 Französisch- und Spanischstudierende das e-Portfolio bearbeiteten, waren es im zweiten Durchgang (SoSe 2018 ) 31 Studierende. Von jeweils sechs Studierenden aus jedem Zyklus wurden die Reflexionstexte und -gespräche analysiert und zueinander in Beziehung gesetzt. Die Auswahl dieser Studierenden erfolgte zufällig, damit grundsätzlich jedes Reflexionsdokument die gleiche Auswahlchance erhielt, in die Stichprobe zu gelangen. 3. Datenaufbereitung Durch die freie Auswahl an Präsentationsarten entstanden schriftliche, mündliche, grafische und multimodale Reflexionsdokumente: Formate wie z. B. Videos oder Bildschirmpräsentationen wurden in eine schriftliche Form übertragen, um sie verarbeitungsfähig und damit auch leichter analysierbar zu machen. Die Reflexionsgespräche wurden in Form von Audioaufnahmen aufgezeichnet, in digitaler Form gespeichert und anschließend transkribiert. Ebenso verhielt es sich mit dem Gruppeninterview aus dem ersten und dem Georgia Gödecke ( 2020 ). Gestaltung eines e-Portfolios in der Fremdsprachenlehrkräfteausbildung 467 Experteninterview aus dem zweiten Zyklus. Der Fragebogen, der eine hohe Variation an Fragearten umfasste, wurde mithilfe eines Online-Umfragetools erstellt. Dadurch waren die Daten sofort verfügbar und boten den Ausgangspunkt für zahlreiche Analysemöglichkeiten; Antwortübersichten aller Teilnehmer*innen waren ebenso darstellbar wie individuelle Antwortprofile. 4. Datenauswertung Da der halbstandardisierte Fragebogen der vorliegenden Untersuchung aus geschlossenen und offenen Fragen bestand, wurden sowohl quantitative als auch qualitative Daten erhoben. Erstere umfassten geschlossene Antworten seitens der Studierenden und wurden in Form von Tabellen und Grafiken zusammengestellt; damit war bereits ein zentraler Schritt im Bereich der Deskription getan, die als Teilgebiet der Statistik der Beschreibung und Darstellung von Daten dient. Die in dieser Grundauswertung zusammengestellten Daten wurden anschließend mit Blick auf die Forschungsfragen analysiert. Für den offenen Teil der Befragung musste eine Kategorisierung manuell vorgenommen werden: Das methodische Vorgehen orientierte sich hier vornehmlich an Mayrings ( 2015 : 62 ) allgemeinem inhaltsanalytischen Ablaufmodell und wurde für die vorliegende Analyse gegenstandsangemessen adaptiert. Für die Auswertung des fokussierten Gruppeninterviews und des Experteninterviews diente die inhaltlich strukturierende qualitative Inhaltsanalyse nach Kuckartz ( 2016 : 97 - 122 ) als Orientierung. Und damit erhoben werden konnte, inwieweit die e-Portfolioaufgaben fachspezifische Reflexionsprozesse tatsächlich fördern können, mussten auch die Reflexionstexte und -gespräche differenziert untersucht werden. Aus forschungsmethodischer Sicht war dabei zu berücksichtigen, dass Reflexionen nicht direkt beobachtbar sind, sondern sich nur indirekt über Reflexionsdokumente rekonstruieren lassen. Im Sinne der Gegenstandsangemessenheit wurde daher ein indirektes Verfahren gewählt, um aus der Performanz konkreter Reflexionstätigkeiten auf reflexive Kompetenz schließen zu können. Die evaluative qualitative Inhaltsanalyse nach Kuckartz ( 2016 : 123 - 142 ) diente dabei als Referenzpunkt, da sie mit einer Klassifizierung und Bewertung von Inhalten einhergeht. Zur Einschätzung von Stärken und Schwächen in den einzelnen Teilbereichen fachspezifischer Reflexionskompetenz fungierte das fachspezifische Reflexionsmodell. 5. Ergebnisse Durch die zyklische Ausgestaltung des Entwicklungs- und Forschungsprozesses sowie durch triangulierende Verfahren in den Bereichen Datenerhebung und -auswertung sind umfassende Analysen entstanden. Darauf aufbauend wurde gemäß des DBR -Ansatzes auf der Forschungsebene eine lokale Theorie zu gegenstandsspezifischen Lernprozessen (= Reflexionsprozessen) formuliert und auf der Entwicklungsebene ein konkretes, für den Einsatz in der fremdsprachlichen Lehrkräfteausbildung erprobtes Lehr-Lernarrangement erarbeitet. Es hat sich herausgestellt, dass die fachspezifischen Aufgaben als Reflexions- 468 7. Referenzarbeiten anlass im Praxissemester tragen: In Kombination mit dem entwickelten Reflexionsmodell eignen sie sich dafür, fachspezifisches Professionswissen, implizites Wissen und Praxiswissen miteinander zu vernetzen. Zentrale Elemente stellen in diesem Zusammenhang Möglichkeiten zur eigenständigen Auswahl an didaktisch-methodischen Schwerpunkten sowie Impulse für eine abwechslungsreiche Unterrichtsgestaltung dar (im Sinne einer Vorbereitung auf das Referendariat). Hinsichtlich der e-portfoliobezogenen Reflexionen über Unterrichtsplanungen und -durchführungen gab eine beträchtliche Mehrheit der Studierenden an, diese Reflexionsprozesse für ihre Professionalisierung als Fremdsprachenlehrkraft als wichtig zu erachten, allerdings betonte sie auch, dass sich die individuellen fachspezifischen Reflexionstätigkeiten als durchaus herausfordernd erwiesen haben. Notwendig gewesen seien Unterstützungsangebote wie Leitfragen oder Austauschprozesse mit Kommiliton*innen, Lehrenden sowie Mentor*innen. In Bezug auf die Frage, was unter fachspezifischer Reflexionskompetenz zu verstehen ist, konnte im Rahmen der Einschätzungsprozesse über die Zyklen hinweg induktiv festgestellt werden, dass die Reflexionen unterschiedliche qualitative Ausprägungen aufwiesen: Sie unterscheiden sich hinsichtlich ihres Öffnungsgrades gegenüber neuen Erfahrungen. So gab es im ersten Zyklus vereinzelt Studierende, die in ihre Reflexionen nur die eigene Perspektive mit einbezogen und sich beispielweise nicht mit der Frage auseinandersetzten, inwieweit die fremdsprachliche Handlungsfähigkeit der Schüler*innen tatsächlich gefördert werden konnte ( geschlossene Reflexion ). Es lagen jedoch auch Reflexionen vor, die die Lerngruppe nicht aus dem Blick verloren und zumindest die Bestrebung erkennbar machten, die zuvor anvisierten Lernziele mit deren Realisierung zu vergleichen ( halboffene Reflexion ). Und nicht zuletzt konnten insbesondere im zweiten Zyklus - im Anschluss an die Ausdifferenzierung des Reflexionssettings - Reflexionsdokumente ausgemacht werden, die zur Durchdringung der Unterrichtsgestaltung den Blick intensiv auf die Lernprozesse der Schüler*innen richteten und im Sinne einer Lösungsorientierung begründete Rückbezüge zu fachspezifischen Theorien und Modellen zogen. Reflexionskomplexität und -differenziertheit auf inhaltlicher und sprachlicher Ebene waren die Folge ( offene Reflexion ). In diesem Zusammenhang wurde ebenso ersichtlich, dass fachspezifische Reflexionsprozesse und Fachsprachlichkeit in einem interdependenten Verhältnis zueinanderstehen. Insgesamt kam die Bündelung aller Ergebnisse zu dem Schluss (= Design-Theorie), dass es im Rahmen von Reflexionsprozessen auf ein strukturiertes Setting ankommt, durch welches das vorausschauende Blicken und das (Rück-)Blicken auf die jeweiligen fachunterrichtsbezogenen Aktivitäten systematisch organisiert werden können. Bedeutend ist dabei eine fachspezifisch-inhaltsbezogene Ausdifferenzierung der Reflexionsprompts, deren Anliegen es ist, fremdsprachliche Reflexionsbereiche in die Auseinandersetzung mit einzubeziehen (so z. B. eine Perspektivenerweiterung durch Theorierückbezüge aus der Fremdsprachendidaktik und ihren Bezugswissenschaften und/ oder ein Einbezug subjektiver Erfahrungen im fachspezifischen Feld). Georgia Gödecke ( 2020 ). Gestaltung eines e-Portfolios in der Fremdsprachenlehrkräfteausbildung 469 Literatur Gödecke, Georgia (2020). Gestaltung eines e-Portfolios in der Fremdsprachenlehrkräfteausbildung zur Förderung fachspezifischer Reflexionskompetenz - eine empirische Studie. Trier: WVT. Kuckartz, Udo (2016). Qualitative Inhaltsanalyse. Methoden, Praxis, Computerunterstützung . 3. Auflage. Weinheim u.a.: Beltz. Mayring, Philipp (2015). Qualitative Inhaltsanalyse: Grundlagen und Techniken . 12. Auflage. Weinheim u.a.: Beltz. 470 7. Referenzarbeiten Johanna Hochstetter Darstellung der Referenzarbeit: Hochstetter, Johanna (2011). Diagnostische Kompetenz im Englischunterricht der Grundschule 1. Thema und Forschungsfragen Im Fremdsprachenunterricht der Grundschule stehen die mündlichen Kompetenzen Hörverstehen und Sprechen im Mittelpunkt. Um mündliche Kompetenzen gezielt fördern zu können, müssen im Unterricht immer wieder die bereits erworbenen Kompetenzen in diesem Bereich festgestellt und analysiert werden. Im Sinne eines adaptiven Unterrichts, der die individuelle Förderung der Lerner zum Ziel hat, dient eine solche Analyse als Ausgangspunkt für differenzierte Unterrichtsangebote und erfordert diagnostische Kompetenz der Lehrenden. Mündliche Kompetenzen lassen sich insbesondere in dieser Altersstufe nicht mit klassischen paper-and-pencil -Testformaten erheben, sie sind aber der direkten Beobachtung zugänglich. Ein Hilfsmittel für die systematische Beobachtung sind strukturierte Beobachtungsbögen. Für die Untersuchung stellten sich damit zwei Aufgaben: die Entwicklung von Beobachtungsbögen für das Fach Englisch in der Grundschule und die Erprobung dieser Bögen. Für die Entwicklung der Beobachtungsbögen lauteten die zentralen Fragen, welche Beobachtungskriterien für welche Art von Aufgaben sich eignen und in welcher Weise eine Abstufung im Grad des Könnens (Skalierung) beobachtbar ist. In der Erprobungsphase standen zwei weitere Forschungsfragen im Zentrum der Untersuchung. Zum einen sollte untersucht werden, inwieweit verschiedene Lehrkräfte Sprachproduktionsund/ oder -rezeptionsleistungen ein und desselben Kindes mit Hilfe der Beobachtungsbögen übereinstimmend beurteilen. Zum anderen ging die Studie der Frage nach, welche Überzeugungen Lehrkräfte hinsichtlich der Arbeit mit Beobachtungsbögen äußern. 2. Datenerhebung Zur Beantwortung dieser Fragen wurde in der Entwicklungsphase Fachliteratur zu den Themengebieten Diagnostik (z. B. Klieme/ Leutner 2006 ; von der Groeben 2003 : 7 ), und hier speziell Beobachtungsverfahren (z. B. Feeley 2002 ), und zu mündlichen Kompetenzen im Fremdsprachenunterricht (z. B. Europarat 2001 ) hinzugezogen. Als weitere wichtige Grundlage für die Entwicklung der Beobachtungsbögen wurden vier Unterrichtsstunden Englischunterricht an einer Grundschule videografiert; die Lehrkraft war Seminarleiterin für Englischunterricht in der Grundschule und bereit, Unterricht mit Fokus auf mündliche Rezeptions- und Produktionsaufgaben zu gestalten. Aus diesen Unterrichtsstunden wurden vier Sequenzen zu Hörverstehens- und Sprechaufgaben transkribiert. Zwei weitere Hochstetter, Johanna (2011). Diagnostische Kompetenz im Englischunterricht der Grundschule 471 Videosequenzen wurden aus dem Projekt E- LINGO 2 hinzugezogen. Alle Videosequenzen wurden unter der Fragestellung ausgewertet, inwieweit mündliche Teilkompetenzen wie z. B. Flüssigkeit oder Aussprache beobachtbar sind. In mehreren Überarbeitungsschleifen entstand dabei ein Baukastensystem mit sieben Beispielbeobachtungsbögen. Als Grundmuster dient für alle Bögen eine Dreiteilung. Im obersten Abschnitt der Bögen ist Platz für Angaben zum Kind, zum Aufgabentyp (z. B. Rollenspiel, Präsentation) und für das erwartete verbale oder non-verbale Verhalten des Kindes. Im zentralen Bereich befindet sich das Feld ‚Beobachtungen‘. Dieses enthält in Abhängigkeit vom Aufgabentyp Beobachtungskategorien mit Deskriptoren auf vier Niveaustufen. Für folgende Beobachtungskategorien wurden Skalen erarbeitet: ‚Aussprache‘, ‚Korrektheit‘, ‚Flüssigkeit‘, ‚Spektrum‘, ‚soziolinguistische Angemessenheit‘ und - für Hörverstehensaufgaben - ‚Korrektheit der Reaktion‘ sowie ‚Schnelligkeit der Reaktion‘ sowie übergeordnet die Kategorie ‚Lernkompetenz‘. Es wurde eine vierstufige Skalierung gewählt, um eine Tendenz zur Mitte oder Zentraltendenz zu erschweren und keine Parallelität zur sechsteiligen deutschen Notenskala nahezulegen. Im dritten Abschnitt der Bögen befinden sich die beiden Freitextfelder ‚Sonstiges‘ und ‚Fördermaßnahmen‘, in denen besondere Stärken und Schwächen notiert und nächste Lernschritte - auch gemeinsam mit dem Kind - geplant und dokumentiert werden können. Für die Erprobung wurden fünf Grundschullehrerinnen gewonnen, die bis auf eine Multiplikatorin für Englisch in der Grundschule arbeiteten und von der Schulrätin angesprochen worden waren. Nach einem Einführungsworkshop, in dem anhand von Beispiel- Videosequenzen das Beobachten geübt worden war, wurden in der Erprobungsphase die Beobachtungsbögen sowohl direkt im Unterricht als auch in zwei Workshops mit Videosequenzen erprobt. Die Erprobungen im Unterricht fanden während des ‚normalen‘ Unterrichts statt. Die Lehrkräfte wurden gebeten, Hörverstehensund/ oder Sprachproduktionsaufgaben unterrichtlich zu initiieren und zu beobachten; Themen und Aufgaben wurden ihnen nicht vorgegeben. Als Vorgabe für die zu beobachtenden Kinder galt, dass möglichst Schüler und Schülerinnen verschiedener Leistungsniveaus berücksichtigt werden sollten. Um untersuchen zu können, inwieweit verschiedene Lehrkräfte Sprachproduktionsund/ oder -rezeptionsleistungen ein und desselben Kindes übereinstimmend beurteilen, wurden die Beobachtungssituationen im Unterricht der fünf Lehrkräfte videografiert. Durch die Videoaufnahmen konnten alle fünf Lehrkräfte in zwei gemeinsamen Workshops dieselben Kinder einschätzen. Es liegen für zwölf beobachtete Kinder von jeder der fünf Lehrkräfte ein Beobachtungsbogen aus der Einschätzung im Workshop und ein zusätzlicher Beobachtungsbogen von der unterrichtenden Lehrkraft aus ihrem Unterricht vor. Zur Beantwortung der zweiten Frage bezüglich der lehrerseitigen Überzeugungen wurden sowohl teilstandardisierte Leitfadeninterviews mit jeder einzelnen Lehrkraft zu ihrem Unterricht geführt als auch Gruppengespräche im Rahmen der Workshops zu Fragen der Beobachtung und Bewertung einzelner Schüler und Schülerinnen initiiert und als Audio- Dateien erhoben. 2 E-LINGO war ein Fern- und Kontaktstudiengang zum Frühen Fremdsprachenlernen, der von der Pädagogischen Hochschule Freiburg in Kooperation mit der Pädagogischen Hochschule Heidelberg und der Justus-Liebig-Universität Gießen angeboten wurde. 472 7. Referenzarbeiten 3. Datenaufbereitung und Datenauswertung In der quantitativen Datenanalyse wurden mit Hilfe von Häufigkeitsberechnungen alle Beurteilungen zu einem Kind sowie alle Beurteilungen zu einer Kategorie, seien sie im Unterricht oder im Workshop entstanden, auf ihre Übereinstimmung hin verglichen. Um der Frage nachzugehen, ob einzelne Lehrkräfte in ihren Urteilen eine statistisch signifikante Tendenz zur Milde oder Strenge aufweisen, wurden t-Tests für abhängige Stichproben paarweise für alle Lehrkräfte sowie eine einfaktorielle Anova gerechnet. Korrelationsberechnungen (Pearsons r) dienten dazu, Zusammenhänge zwischen den Leistungen einzelner Kinder und der Übereinstimmung, mit der sie bewertet wurden, zu analysieren. Zur Beantwortung der zweiten Frage bezüglich der Überzeugungen wurden die Interviews und Gruppengespräche für die Auswertung in Anlehnung an die Transkriptionsregeln von Mayring (Mayring 2003 : 49 ) transkribiert und einer qualitativen Inhaltsanalyse unterzogen. Die Kategorienbildung erfolgte induktiv. Das gesamte Material wurde von zwei Kodiererinnen getrennt voneinander kodiert. 4. Ergebnisse Die quantitativen Auswertungen der ausgefüllten Beobachtungsbögen ergeben für sechs der acht entwickelten Skalen (‚Aussprache‘, ‚Korrektheit‘, ‚Flüssigkeit‘, ‚Spektrum‘ und - für Hörverstehensaufgaben - ‚Korrektheit der Reaktion‘ sowie ‚Schnelligkeit der Reaktion‘), zufriedenstellende bis gute Werte für die Übereinstimmung. 3 Für zwei Skalen (‚Lernkompetenz‘ und ‚soziolinguistische Angemessenheit‘) besteht weiterer Forschungsbedarf. Eine statistisch signifikante Tendenz zur Milde oder Strenge einzelner Lehrkräfte kann in den vorliegenden Daten nicht festgestellt werden. Durch die Korrelationsberechnungen zeigt sich folgender Zusammenhang: Je leistungsstärker ein Kind eingeschätzt wird, desto übereinstimmender wird es bewertet, und umgekehrt, je leistungsschwächer ein Kind wahrgenommen wird, desto weniger übereinstimmend wird es beurteilt. Die Auswertungen der qualitativen Daten geben wichtige Hinweise, warum es in bestimmten Fällen zu unterschiedlichen Einschätzungen der Schülerleistung kam. Dies trat z. B. in folgenden Fällen auf: • wenn Kinder sich selbst korrigierten und die Lehrkräfte uneinig waren, ob sie dies als korrekt oder als inkorrekt ansehen wollten, • wenn Lehrkräfte nicht das Beobachtete an sich zu dokumentieren versuchten, sondern das Wahrgenommene sogleich anhand von unterschiedlichen Attributionen interpretierten (z. B. „die Schülerin ist sonst besser“). Die Intention der Beobachtungsbögen, Raum zu geben für eine detaillierte Dokumentation der Beobachtungen und diese wiederum für eine formative Leistungsrückmeldung und zur adaptiven Planung von Unterricht zu nutzen, steht im Kontrast zu zentralen Über- 3 Als zufriedenstellend wird eine Übereinstimmung der Bewertungen von mehr als 66 %, als gut von mehr als 80 % angesehen. Hochstetter, Johanna (2011). Diagnostische Kompetenz im Englischunterricht der Grundschule 473 zeugungen von mindestens einem Teil der befragten Lehrkräfte. Aus den Formulierungen zweier Lehrkräfte in den Interviews lässt sich ein Konzept rekonstruieren, nach dem sie als Lehrkräfte die Kinder umfassend wahrnehmen, ihre Beobachtungen vollständig ‚im Kopf ‘ abspeichern und zu späteren Zeitpunkten wieder abrufen können. Eine detaillierte Dokumentation der Beobachtungen erscheint ihnen folglich auch nicht zwingend notwendig. Aus den Ergebnissen kann abgeleitet werden, dass die diagnostische Kompetenz von Lehrkräften nicht allein dadurch weiterentwickelt werden kann, dass sie in den Umgang mit Beobachtungsverfahren eingeführt werden. Neben sprachbezogen-fachlichen Kenntnissen erscheint es notwendig, auch Kenntnisse über die Grenzen und Probleme von Beobachtungen zu vermitteln, um zu ermöglichen, dass Konzepte von der ‚Unfehlbarkeit‘ der eigenen Erinnerung an Beobachtetes reflektiert und hinterfragt werden können. Es ergeben sich erste Hinweise aus der Studie, dass der Einsatz von Videoaufnahmen in Workshops Lehrkräften die Möglichkeit gibt, ihre eigenen Wahrnehmungen zu reflektieren. Literatur Europarat (Hg.) (2001). Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen für Sprachen: lernen, lehren, beurteilen. München: Langenscheidt. Feeley, Thomas Hugh (2002). Comment on halo effects in rating and evaluation research. In: Human Communication Research 28(4), 578-586. Hochstetter, Johanna (2011). Diagnostische Kompetenz im Englischunterricht der Grundschule: Eine empirische Studie zum Einsatz von Beobachtungsbögen . Tübingen: Narr. Klieme, Eckhard/ Leutner, Detlev (2006). Kompetenzmodelle zur Erfassung individueller Lernergebnisse und zur Bilanzierung von Bildungsprozessen: Beschreibung eines neu eingerichteten Schwerpunktprogramms der DFG . In: Zeitschrift für Pädagogik 52(6), 876-903. Mayring, Philipp (2003). Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken. 8. Auflage. Weinheim: Beltz. Von der Groeben, Annemarie ( 2003 ). Verstehen lernen: Diagnostik als didaktische Herausforderung. In: Pädagogik 55(4), 6-9. 474 7. Referenzarbeiten Martina Kienberger Darstellung der Referenzarbeit: Kienberger, Martina ( 2020 ). Das Potenzial des potenziellen Wortschatzes nutzen 1. Thema und Forschungsfragen Im Zentrum dieser Dissertationsschrift stehen die Strategien, die von Lernenden von Deutsch als Fremdsprache bei der Bedeutungserschließung unbekannter Wörter, insbesondere beim Lesen von Texten, eingesetzt werden. Durch Rückgriff auf ihr Vorwissen (aus Erstsprache, Zielsprache, weiteren Sprachen, Weltwissen etc.) und die Hinweise im Sprachmaterial (auf morphologischer, semantischer, syntaktischer Ebene etc.) können vor allem lernerfahrene, mehrsprachige Personen die Bedeutung einer Vielzahl unbekannter Wörter bei ihrem ersten Kontakt mit diesen erschließen. Die Nutzung dieses Potenzials trägt zu besserem Leseverstehen und Wortschatzerweiterung bei. Diese Art von Erschließungsstrategien wurde bislang entweder bezogen auf konkrete Situationen der Strategienanwendung an einer limitierten Anzahl von Lernenden oder im Rahmen groß angelegter Studien zu Vokabellern- oder Lesestrategien als eine Gruppe von Strategien neben anderen untersucht. Primäres Ziel dieser Arbeit war es daher, detaillierte Angaben zum allgemeinen, über einzelne Situationen hinausgehenden Einsatz von Erschließungsstrategien in einer großen Lernerpopulation zu erfassen, wobei die Wahrnehmung der Lernenden und die Individualität des Strategieneinsatzes berücksichtigt werden sollten. Ergänzend sollte auch die Perspektive der Lehrenden Beachtung finden. Der untersuchte Kontext der Deutschkurse an spanischen Universitäten stellt eine typische Tertiärsprachenlernsituation dar. Folgende Forschungsfragen wurden formuliert: 1. Welche Aussagen treffen Lernende von Deutsch als Fremdsprache an spanischen Universitäten über ihren wahrgenommenen Einsatz von Strategien zur Erschließung unbekannter Wortbedeutungen, insbesondere beim Lesen von Texten? 2. In welchem Kontext und auf welche Weise haben Lernende Erschließungsstrategien erworben? 3. Wie bewerten die Lernenden Einsatz und Erwerb von Erschließungsstrategien? 4. Welche Rolle spielen Studienrichtung, Sprachkenntnisse, Lernerfahrungen, Alter und Geschlecht beim wahrgenommenen Einsatz von Erschließungsstrategien? 5. Welche Aussagen treffen Lehrende von Deutsch als Fremdsprache an spanischen Universitäten über den beobachtbaren Einsatz von Erschließungsstrategien ihrer Lernenden? Kienberger, Martina (2020). Das Potenzial des potenziellen Wortschatzes nutzen 475 6. Welche Bedeutung haben Erschließungsstrategien für unbekannten Wortschatz im DaF- Unterricht an spanischen Universitäten? Welche Strategien werden unterrichtet und mit welchen Methoden? 7. Woher beziehen die Lehrenden ihr Wissen und Material zur Behandlung von Erschließungsstrategien? 2. Datenerhebung Zur Beantwortung der Forschungsfragen wurde zunächst unter Berücksichtigung vorliegender Arbeiten aus den Bereichen der Wortschatzdidaktik, der Leseforschung und der Lernerstrategieforschung eine detaillierte Taxonomie von Erschließungsstrategien zusammengestellt. Diese diente als Grundlage für die Entwicklung zweier zielgruppenspezifischer Fragebögen, dem FES-U für universitäre Lernende und dem FES-UL für Lehrende, deren Design in Anlehnung an validierte Erhebungsinstrumente gestaltet und für die Durchführung in elektronischer Form optimiert wurde. Der 4 -teilige FES-U erfasst Angaben der Lernenden zur Frequenz des Strategieneinsatzes sowie zur Bedeutung von Erschließungsstrategien mithilfe 5 -stufiger Likert-Skalen, Aussagen zu Kontexten und Methoden der Strategienaneignung werden im Multiple-Choice-Format mit Filterfragen erhoben. Der letzte Teil bezieht sich auf demographische und situationsspezifische Angaben. Der FES-UL wurde ähnlich angelegt, mit weitgehend analog formulierten Items, sodass die Ergebnisse der beiden Befragungen aufeinander bezogen werden konnten. Zur Datenerfassung wurde mit der Online-Plattform Qualtrics Research Suite gearbeitet, zusätzlich kam in besonderen Fällen eine Papierversion des FES-U zum Einsatz. Die Pilotierung der Erhebungsinstrumente fand an der Universität Salamanca statt, wobei im Fall der Lehrenden-Befragung auch Lehrkräfte anderer Sprachen miteinbezogen wurden. Quantitative und qualitative Analysen wiesen auf gute Reliabilität und Validität hin. Nach Vornahme kleiner Änderungen wurden die Fragebögen daher in der spanienweiten Hauptstudie eingesetzt und die Daten der Pilotstudie in die Datenauswertung inkludiert. Die untersuchte Gruppe stellt eine Gelegenheitsstichprobe dar: Über germanistische Netzwerke wurden DaF-Lehrende an verschiedenen Universitäten kontaktiert und zur Beteiligung an der Studie mit ihren Lernenden gebeten, wobei diese in oder außerhalb der Unterrichtszeit durchgeführt werden konnte. Angaben von insgesamt 401 Lernenden und 53 Lehrenden konnten auf diese Weise erfasst werden. 3. Datenaufbereitung und Datenauswertung Die Datenbereinigung und -auswertung wurde mithilfe von frei zugänglichen, auf statistische Datenverarbeitung spezialisierten Software-Bibliotheken in den Programmiersprachen Python und R (z. B. Pandas , NumPy , Scipy , Scikit learn ; Psych , Ltm , Biotools ; zur Einführung: McKinney 2018 , Long/ Teetor 2019 ) durchgeführt. Neben Verfahren der deskriptiven Statistik wie der Berechnung von Median, Modalwert, Variationsbreite, Mittelwert und Standardabweichung kamen auch multivariate Methoden (Brown et al. 2012 ) 476 7. Referenzarbeiten und Machine Learning -Anwendungen, die sich Algorithmen künstlicher Intelligenz bedienen (Ghani/ Schierholz 2017 ), zum Einsatz. Zur Aufdeckung von Relationen zwischen Items verschiedener Fragenkomplexe wurden Korrelationen mittels Spearman’s Rho berechnet und explorative Faktorenanalysen durchgeführt. Faktorenanalysen wurden außerdem kombiniert mit einer Item-Analyse nach dem Rasch-Modell (Bond/ Fox 2015 ) in der psychometrischen Evaluation des FES-U und als datenreduzierendes Verfahren eingesetzt. Durch Cluster-Analysen (eine Art von Machine Learning -Techniken, Ghani/ Schierholz 2017 : 154 - 161 ) war es möglich, Muster im individuellen Antwortverhalten zu untersuchen und Gruppen von unterschiedlichen Strategiennutzern zu identifizieren. Zur Analyse möglicher Einflussfaktoren auf den Strategieneinsatz der Befragten wurden die Relationen zwischen Faktoren- Scores als abhängigen und einer Reihe an Lernercharakteristika als unabhängigen Variablen durch multivariate Varianzanalysen (MANOVA) untersucht. Gruppenunterschiede wurden in weiterer Folge mittels t-Tests und Hauptkomponentenanalysen/ Biplots analysiert. Der Biplot (Gower et al. 2011 ) reduziert komplexe, mehrdimensionale Relationen auf zwei Dimensionen, die grafisch dargestellt werden können, wobei die unterscheidenden Merkmale im Vergleich zu anderen Techniken deutlicher hervortreten. Als nicht-parametrisches, nicht-lineares Verfahren kam außerdem die Machine Learning -Technik Random Forest zum Einsatz, eine Art von Ensemble Methods , die zahlreiche Algorithmen kombinieren (Ghani/ Schierholz 2017 : 169 - 173 ). Im Fall von Random Forest wird eine große Zahl an Entscheidungsbäumen ( Decision Trees ) erstellt und in eine Analyse integriert, wobei verschiedene unabhängige Variablen in ihrem Zusammenspiel untersucht werden können. Auf diese Weise konnten mögliche Einflussgrößen auf einen wahrgenommenen breiten Strategieneinsatz festgestellt werden. 4. Ergebnisse Hinsichtlich Art und Frequenz des wahrgenommenen Strategieneinsatzes (Forschungsfrage 1 ) konnten einige allgemeine Tendenzen beobachtet werden, z. B. die häufige Nutzung von Nachschlagewerken, des Kontexts, des Transfers aus dem Englischen sowie intralingualer Strategien auf Wortebene und metakognitiver Strategien; es zeigten sich aber auch große individuelle Differenzen. Durch die Cluster-Analysen konnten Profile von Strategiennutzern nach Häufigkeit der gewählten Antwortoptionen und Art der angegebenen Strategien ermittelt werden. Eine große Gruppe zeichnet sich durch generell hohe Frequenzangaben aus, daneben konnten verschiedene Profile identifiziert werden, die sich durch die Bevorzugung bestimmter Arten von Strategien charakterisieren. Insbesondere die Nutzung der Erstsprache, sozialer Strategien sowie von Strategien des engeren Kontexts stellen differenzierende Merkmale dar. Die Beobachtungen der Lehrenden (Forschungsfrage 5 ) bestätigen den aus der Lernenden-Befragung gewonnenen Eindruck, allerdings wurden im Vergleich höhere Werte bei den sozialen Strategien und niedrigere bei den nicht direkt beobachtbaren Strategien ermittelt. Sowohl die befragten Lernenden als auch die Lehrenden sind sich mehrheitlich der Bedeutung von Erschließungsstrategien bewusst und unterstützen deren Behandlung in Kienberger, Martina (2020). Das Potenzial des potenziellen Wortschatzes nutzen 477 Deutschkursen (Forschungsfragen 3 und 6 ). Ein Großteil der Lehrkräfte thematisiert eine große Bandbreite an Strategien im Unterricht, dabei konnten viele Übereinstimmungen, aber auch einige Differenzen zu jenen Strategien, die häufig von Lernenden genutzt werden, festgestellt werden. Die Untersuchungsergebnisse legen nahe, dass eine Vielzahl an Faktoren für die Strategienwahl der Lernenden (Forschungsfrage 4 ) von Bedeutung ist und diese in Kombination zu betrachten sind. So scheint etwa das Niveau des aktuellen Deutschkurses für die Anwendung intra- und interlingualer Strategien eine Rolle zu spielen; führt man Analysen getrennt nach Niveaustufen durch, treten andere Faktoren wie die Studienrichtung oder Kontexte und Methoden der Strategienaneignung hervor. Auch das non-lineare Verfahren Random Forest zeigt, dass relevante Variablen wie Anzahl erlernter Sprachen und bestimmte Strategienerwerbskontexte und -methoden erst in Kombination zur Erklärung breiten Strategieneinsatzes dienen können. Als wichtigste Kontexte der Strategienaneignung (Forschungsfrage 2 ) konnten der aktuell besuchte Deutschkurs sowie der schulische Englischunterricht ausgemacht werden, zudem gaben viele Befragte an, Erschließungsstrategien autonom erworben zu haben. Auch in Unterrichtskontexten bilden viele Lernende Strategien ihrer Wahrnehmung nach unbewusst aus. Als Methoden der Strategienvermittlung wurden außerdem häufiger die Angabe von Tipps zur selbständigen Aneignung sowie die Vorstellung und Erklärung durch die Lehrperson und das Üben mit Beispielen genannt, seltener bewusstheitsfördernde Maßnahmen. Letztere werden von einem Teil der befragten Lehrenden häufig eingesetzt (Forschungsfrage 6 ), wobei diese Personen generell oft Strategien im Unterricht fördern. Andere Lehrende bevorzugen die zuvor genannten Techniken und einige führen prinzipiell selten Maßnahmen zur Strategienförderung durch. Als wichtigste Quellen für die im Unterricht behandelten Erschließungsstrategien (Forschungsfrage 7 ) stellen sich Lehrwerke und Lehrerhandbücher dar. Literatur Bond, Trevor G./ Fox, Christine M. (2015). Applying the Rasch Model: Fundamental Measurement in the Human Sciences . 3. Auflage. New York, London: Routledge. Brown, Bruce L./ Hendrix, Suzanne B./ Hedges, Dawson W./ Smith, Timothy B. (2012). Multivariate Analysis for the Biobehavioral and Social Sciences: A Graphical Approach . Hoboken, N.J.: Wiley. Ghani, Rayid/ Schierholz, Malte (2017). Machine learning. In: Foster, Ian/ Ghani, Rayid/ Jarmin, Ron S./ Kreuter, Frauke/ Lane, Julia. (Hg.): Big Data and Social Science: A Practical Guide to Methods and Tools . Boca Raton u.a.: Chapman and Hall/ CRC, 147-186. Gower, John C./ Gardner-Lubbe, Sugnet/ Le Roux, Niel J. (2011). Understanding Biplots . Sussex, UK: John Wiley & Sons. Kienberger, Martina (2020). Das Potenzial des potenziellen Wortschatzes nutzen. Erschließungsstrategien für unbekannten Wortschatz unter DaF-Lernenden an spanischen Universitäten. [Online: othes. univie.ac.at/ 62970/ .] (28.08.2020) Long, James/ Teetor, Paul (2019). R Cookbook . 2. Auflage. O’Reilly. [Online: rc2e.com/ ] (28.08.2020) McKinney, Wes (2018). Datenanalyse mit Python: Auswertung von Daten mit Pandas, NumPy und IPython . Heidelberg: O’Reilly. 478 7. Referenzarbeiten Nicole Marx Darstellung der Referenzarbeit: Marx, Nicole (2005). Hörverstehensleistungen im Deutschen als Tertiärsprache 1. Thema und Forschungsfragen Ziel der experimentellen Studie war es, die Auswirkung eines auf die besondere Lernsituation heutiger Deutsch-als-Fremdsprache-Lernender ausgerichteten Unterrichts zu überprüfen. Thematisch bewegte sich die Arbeit im Feld der Tertiärsprachendidaktik. Diese basiert auf Erkenntnissen der Mehrsprachigkeitsforschung und konzipiert einen Unterricht, der besonders auf Lernende einer zweiten oder weiteren Fremdsprache (im Folgenden: Tertiärsprache bzw. L 3 ) ausgerichtet ist. Über die Unterstützung von Erstsprachenkenntnissen, Lernumgebung und motivationalen Faktoren hinaus hebt die Tertiärsprachendidaktik die lernfördernde Wirkung einer früher gelernten L 2 hervor, die für wissenserweiternde Strukturen und Wortschatz sowie durch Lernerfahrungen gewonnene Strategien der neuen L 3 Pate steht. Ungeklärt war allerdings, ob eine Sensibilisierung für mitgebrachte Lernerfahrungen und die Interlanguage der L 2 erstens möglich und zweitens förderlich ist. Somit fragte die Untersuchung danach, ob der mehrfach geforderte Einbezug der L 2 , die bei DaF-Lernenden heutzutage fast ausnahmslos Englisch ist, gewinnbringend für das Lernen des DaF nach Englisch (DaFnE) genutzt werden könne. Die übergreifende Fragestellung der Untersuchung lautete: Unterstützt eine besondere DaFnE-Sensibilisierung das Lernen des Deutschen als L 3 ? Die auf den Erkenntnissen der bisherigen Forschung basierende Ausgangshypothese besagte, dass sensibilisierte Lernende ihre Kenntnisse der L 2 während der Rezeption eines gesprochenen L 3 -Textes eher zu nutzen wissen als nicht sensibilisierte. Da sich der Großteil der bisherigen Tertiärsprachenforschung mit produktiven Fertigkeiten befasste, sollte sich die Studie der weniger untersuchten sprachlichen Fertigkeit des Hörverstehens widmen. 2. Datenerhebung Versuchspersonen waren 18 angehende ausländische Studierende mit nicht-germanischen Erstsprachen im Alter von 18 - 25 Jahren in englischsprachigen naturwissenschaftlichen Studiengängen einer deutschen Hochschule. Alle waren ohne Deutschkenntnisse eingereist und wohnten zur Zeit des Untersuchungsbeginns erst wenige Tage oder Wochen in Deutschland. Um der Fragestellung nachzugehen, wurde im Rahmen von Nullanfängerkursen mit jeweils 16 Unterrichtsstunden pro Woche in einer sechswöchigen Intensivphase eine Inter- Marx, Nicole (2005). Hörverstehensleistungen im Deutschen als Tertiärsprache 479 ventionsstudie mit experimentellem Design durchgeführt. Nach einem Eingangstest und Fragebogen zum Zweck einer Gruppenbalancierung wurden die Versuchspersonen in zwei curricular identische, parallel laufende Kurse eingeteilt. Die unabhängige Variable stellte der Rückgriff auf Prinzipien der L 3 -Didaktik dar: Während die Kontrollgruppe möglichst ohne Einbezug der L 2 die neue L 3 lernte, erhielt die Experimentalgruppe einen Sprachunterricht, bei dem wöchentlich wenige Unterrichtsstunden (etwa 15 - 20 %) durch einen gezielten DaFnE-Unterricht (‚Sensibilisierungsunterricht‘) ersetzt wurden. Die abhängige Variable zu den jeweiligen Hypothesen stellte dann das Ergebnis bei den unterschiedlichen Messinstrumenten (Hörverstehenstests sowie Fragebogendaten) dar. Um Störfaktoren möglichst gering zu halten, wurden weitere Variablen kontrolliert. Dies bezog sich auf die Einteilung in die Gruppen (Quotenverfahren mit Balancierung nach Geschlecht, Alter und Herkunftsland), auf die Kursbedingungen (Materialien, Curriculum, Räumlichkeiten, Zeiten, Diensterfahrung der Lehrerinnen etc.) und auf die Datenerhebung (während des Regelunterrichts, gleiche aufgenommene Hörtexte, Aufgabenstellungen und Instruktionen etc.). Auch die als Messinstrumente eingesetzten Hörtexte waren innerhalb der Kategorien angeglichen, so dass bei Texttyp 2 und 3 (s. u.) der Schwierigkeitsgrad aller zehn Texte vergleichbar war. (Eine Angleichung des Schwierigkeitsgrads des Texttyps 1 war nicht sinnvoll, da diese die wöchentliche Lernprogression nachzeichnen sollte). Die Hauptfragestellung wurde in vier Untersuchungsfragen aufgeteilt, wozu jeweils eine Hypothese aufgestellt wurde. Die Messinstrumente bezogen sich direkt auf die zu prüfenden Hypothesen: Hypothese Messinstrument(e) 1 : DaFnE-sensibilisierte Lernende wissen ihr L 2 -Vorwissen besser zu nutzen und erzielen daher bessere Testergebnisse bei Aufgaben, die ihrem Sprachniveau entsprechen und viele L 2 -Kognaten enthalten. Texttyp 1 : dem Niveau der Lernenden entsprechende Hörverstehenstexte und hohe Kognatendichte (GER Stufe A 1 ) mit Aufgaben zum selektiven Hörverstehen 2 : Sensibilisierte Lernende wissen ihre L 2 - Kenntnisse beim Hören schwieriger Texte mit vielen englisch-deutschen Kognaten eher zu ihrem Vorteil zu nutzen. Radio-Nachrichtentexte mit offenen Aufgaben zum globalen und selektiven Hörverstehen: Texttyp 2 (Texte mit vielen deutsch-englischen Kognaten); Texttyp 3 (Texte ohne viele deutsch-englische Kognaten) 3 : Mit fortschreitender Zeit werden die Unterschiede zwischen den beiden Lernergruppen deutlicher. 4 : Sensibilisierte Lernende sind sich bewusster, welche Vorteile sie aus vorher gelernten Fremdsprachen und vorherigen Lernerfahrungen mitbringen. Retrospektive Erklärungen (schriftlich) zu den vom Lernenden wahrgenommenen Gründen für erfolgreiches Verstehen; qualitative Fragebögen zum Unterricht Tabelle 1: Hypothesen und Messinstrumente in der Studie Die Datenerhebung zu allen Hörtexten erfolgte zu den regulären Kurszeiten als Vortest zum Kursbeginn (Woche 0 ), für Texttyp 1 wöchentlich während des Intensivkurses (Wo- 480 7. Referenzarbeiten chen 1 , 2 , 3 , 4 , 5 , 6 ), für Texttyp 2 und 3 alle zwei Wochen (Wochen 2 , 4 , 6 ) und schließlich für alle Texttypen einmalig als Posttest sechs Wochen nach Ende des Intensivkurses (Woche 12 ). 3. Datenauswertung Die Datenauswertung wurde durch zwei unabhängige Rater durchgeführt und der Mittelwert aus den Ratings zur Datenanalyse verwendet. Für Texttyp 1 wurden Ergebnisse anhand einer korrekten Antwort auf geschlossene Fragen zum Text berechnet; für Texttyp 2 und 3 gingen sowohl die Anzahl der verstandenen Satzglieder als auch die Anzahl der aufgegriffenen Kognaten in die Auswertung ein. Die Antworten zu den Fragebögen und die retrospektiven Erklärungen wurden eingesammelt und kategorisiert. Um die Mittelwerte der zwei Gruppen zu vergleichen, wurden unterschiedliche statistische Verfahren herangezogen. Bei Texttyp 1 , bei dem die Texte zu den unterschiedlichen Erhebungszeiten nicht das gleiche Niveau aufwiesen, wurden auf Grund der kleinen Gruppengrößen non-parametrische Mann-Whitney-U-Tests (ein Test für unabhängige Gruppen-Designs) vollzogen. Bei den Texttypen 2 und 3 (Nachrichtentexte) sowie bei den Kognatenergebnissen wurden Varianzanalysen mit Messwiederholung ( MANOVA s) verwendet. Beide sehr aussagekräftigen Tests ziehen die Anzahl der beobachteten Fälle in Betracht, was besonders bei kleineren Gruppengrößen einen α-Fehler zu vermeiden hilft. Zur Überprüfung der MANOVA -Ergebnisse wurden auch post-hoc Analysen (U-Tests) durchgeführt, um Unterschieden zu spezifischen Testzeiten nachzugehen. Die retrospektiven Erklärungen wurden quantitativ ausgewertet (Anzahl und Art der Erklärungen für das Verstehen, die statistisch durch Varianzanalyse und post-hoc durch Mann-Whitney-U-Tests überprüft wurden), die Fragebogen zu subjektiven Beurteilungen des Kurses und des Wertes der L 2 beim Lernen einer L 3 jedoch durch Kategorisierung und Darlegung der Kommentare qualitativ. 4. Ergebnisse 4 Beim Texttyp 1 ergaben Mann-Whitney-U-Tests signifikante Unterschiede zwischen der Experimental- und der Kontrollgruppe zu vier von den insgesamt sieben Erhebungszeiten nach Kursanfang. Somit konnte die erste Hypothese bestätigt werden: Lernende mit einer Sensibilisierung in der besonderen Situation des DaFnE-Lernens nutzen ihre (Vor-) Kenntnisse besser als ihre mit den gleichen Voraussetzungen angefangenen Kommilitonen. Zur Prüfung der zweiten Hypothese wurden Texttyp 2 und 3 eingesetzt. Hier haben die durchgeführten Analysen signifikante Unterschiede zwischen den beiden Gruppen beim Verstehen des Hörtexttyps 2 (hohe Kognatendichte) ergeben ( F ( 1 ; 9 ) = 7 , 079 , p < , 05 ). 5 4 Aus Platzgründen wird hier auf eine ausführliche Darstellung der Ergebnisse verzichtet; stattdessen wird exemplarisch von einigen statistischen Ergebnissen berichtet. 5 Die Darstellung der statistischen Ergebnisse folgt dem Usus aus dem Jahr 2004 , als die Dissertation eingereicht wurde. In den letzten zwei Jahrzehnten seitdem haben sich die Gepflogenheiten und Re- Marx, Nicole (2005). Hörverstehensleistungen im Deutschen als Tertiärsprache 481 Zudem konnte die Sensibilisierungsgruppe mehr Kognaten bei diesem Texttyp erfassen als die Kontrollgruppe ( F ( 1 ; 9 ) = 6 , 039 , p < , 05 ). Beim Verstehen des Texttyps 3 (niedrige Kognatendichte) waren keine Unterschiede zwischen den zwei Lernergruppen nachzuweisen ( F ( 1 ; 9 ) = 0 , 126 , p = n. s.). Somit wurde auch die zweite Hypothese bestätigt: Der Sensibilisierungskurs verhalf den Lernenden zu einem besseren Textverstehen, allerdings nur bei solchen Texten, die mehr deutsch-englische Parallelen enthielten. Die dritte Hypothese, dass Unterschiede zwischen den zwei Gruppen im Laufe der Erhebungszeit größer würden, musste sowohl für Texttyp 2 ( F ( 4 ; 9 ) = 1 , 157 , p = n. s.) als auch für Texttyp 3 ( F ( 4 ; 9 ) = 0 , 254 , p = n. s.) widerlegt werden. Dies könnte auf Mehreres hindeuten, u. a. darauf, dass fortschreitende Erfahrung mit dem Sensibilisierungsunterricht zwar hilfreich ist, aber eventuell weniger bedeutend als die Tatsache, dass ein Auslöser ( trigger ) zum Nutzen der L 2 bereits früh gesetzt wurde. Bei der vierten Frage ging es darum, ob sich sensibilisierte Lernende über ihre Vorteile als Tertiärsprachenlernende bewusster sind als solche, die keinen gezielten DaFnE-Unterricht erhalten. Unterschiedliche Ergebnisse, die an dieser Stelle nicht referiert werden können, bestätigten diese Hypothese, zeigten aber auch, dass reflektierte Vorteile v. a. auf der Mikroebene verhaftet bleiben. So kann geschlussfolgert werden, dass der Sensibilisierungskurs im Vergleich zu einem herkömmlichen DaF-Unterricht in mehrfacher Hinsicht, insbesondere auf lexikalischer Ebene, eine positive Auswirkung auf den tatsächlichen Lernerfolg hatte, was sich in den Ergebnissen der Hörverstehenstests, der Retrospektionen und Fragebögen sowie der hier nicht diskutierten Abschlussprüfungen spiegelte. Das unterstützende Potential der L 2 wird allerdings erst dann wirksam, wenn Lernenden die Gelegenheit eingeräumt wird, diese zu reflektieren und zu üben. Literatur Marx, Nicole (2005). Hörverstehensleistungen im Deutschen als Tertiärsprache: zum Nutzen eines Sensibilisierungsunterrichts im ‚DaFnE‘. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. geln weiter entwickelt, insbesondere was die Darstellung von statistischer Signifikanz und Effektgrößen betrifft. Bei laufenden Forschungsprojekten empfiehlt es sich, entsprechende Empfehlungen zu beachten, z. B. die von der American Psychological Association (APA) (vgl. https: / / apastyle.apa. org/ , 19 . 11 . 2021 ). 482 7. Referenzarbeiten Senem Şahin Darstellung der Referenzarbeit: Senem Özkul (jetzt: Şahin) (2011). Berufsziel Englischlehrer/ in 1. Thema und Forschungsfragen Es gibt zahlreiche Untersuchungen zur Frage, weshalb sich Abiturienten für den Lehrerberuf entscheiden (u. a. Oesterreich 1987 ; Krieger 2000 ; Ulich 2004 ). Bei diesen Untersuchungen wurde jedoch die Rolle des Fachinteresses kaum differenziert erforscht. In dieser Studie wurden deshalb Berufs- und Studienfachwahlmotive von Lehramtsstudierenden in der Anglistik/ Amerikanistik mit einem Fokus auf den geschlechtstypischen Unterschieden untersucht. Außerdem wurde das Phänomen Berufsentscheidungssicherheit und dessen Gründe hinterfragt, welche Rückschlüsse auf die von Lehramtsstudierenden wahrgenommene Unattraktivität des Lehrerberufs erlauben. Vor diesem Hintergrund verfolgte die Untersuchung die folgenden drei Forschungsfragen: • Welche Gründe bewegen junge Menschen dazu, den Lehrerberuf zu ergreifen? • Wie unterscheiden sich die Berufs- und Studienfachwahlmotive der weiblichen und männlichen Lehramtsstudierenden? • Welche Bedingungen oder Umstände erzeugen eine Unsicherheit bezüglich der bereits getroffenen Berufswahlentscheidung als Lehrer/ in? 2. Datenerhebung Da es sich bei dem Forschungsthema um ein subjektiv-internes und nicht direkt beobachtbares Phänomen handelt, wurde eine teilstandardisierte schriftliche Befragung als Untersuchungsmethode eingesetzt. Bei derartigen Forschungsinhalten kann es vorkommen, dass Probanden Motive angeben, die nicht der Lebenswirklichkeit entsprechen. Um das Ausmaß der sozialen Erwünschtheit im Antwortverhalten von Probanden möglichst gering zu halten, wurde die Befragung anonym durchgeführt. Ein weiterer Grund für die Methodenwahl war, dass eine möglichst große Zahl von Probanden erreicht werden sollte, um repräsentative bzw. aussagekräftige Ergebnisse zu erhalten. Die Konstruktion eines ausgereiften und selbsterklärenden Fragebogens wurde in drei Phasen erreicht. Die Vorbefragung wurde mit Hilfe dreier offener Fragen zur Berufs- und Studienfachwahl sowie Berufsentscheidungssicherheit konzipiert. Beabsichtigt wurde damit, ausgehend von den freien und spontanen Formulierungen der Befragten eine konkrete Sammlung von Antwortmöglichkeiten für die Hauptbefragung zu gewinnen. Die Ergebnisse der Vorbefragung wurden mit Hilfe des Programms MAXQDA statistisch ausgewertet. Aus den Senem Özkul (jetzt: Şahin) (2011). Berufsziel Englischlehrer/ in 483 in der Vorbefragung gewonnenen Antworten der Befragten wurden Motivkategorien der Berufs- und Studienfachwahl gebildet: • intrinsische Berufswahlmotive (Kompetenz und Interessen, pädagogische Motive, gesellschaftsbezogene Motive); • extrinsische Berufswahlmotive (tätigkeitsbezogene Motive, pragmatische Motive, erfahrungsbestimmte Motive, Studienbedingungen, sonstige Motive, wie z. B. Berufswahl als Verlegenheitslösung); • intrinsische Studienfachwahlmotive (Verbesserung der Sprachkenntnisse, sprachliche Kompetenz, Interesse/ Desinteresse, gesellschaftsbezogene Motive, Freude an der Sprache); • extrinsische Studienfachwahlmotive (erfahrungsbestimmte Motive, tätigkeitsbezogene Motive, pragmatische Motive, Studienbedingungen). In einem weiteren Schritt wurde anhand der Pilotierung der ersten Version des Fragebogens festgestellt, welche Fragenkomplexe relevant sind und auf welche Antworten der Befragten später in Form von Antwortmöglichkeiten für die geschlossenen Fragen eingegangen werden sollte. Im Anschluss an die Pilotierung wurde in der letzten Erstellungsphase die endgültige Version des Fragebogens angefertigt, die aus fünf Teilen bestand: Fragen zur Person und Herkunftsfamilie, zur Berufswahl, zur Berufsentscheidungssicherheit, zur Studienfachwahl und schließlich zur Reflexion der Befragten über die Studie. Die Zielgruppe bestand aus Lehramtsstudierenden der Anglistik/ Amerikanistik, die sich noch in der Anfangsphase ihres Studiums befanden. Grundlegend hierfür war die Annahme, dass die Beweggründe für einen Beruf bzw. für ein Studium in der Anfangsphase noch frisch und somit gut zu untersuchen sind. Die Hauptbefragung fand von Mitte Oktober bis Ende Dezember 2008 statt. Es konnten 19 Universitäten aus zehn Bundesländern für die Teilnahme an dieser Studie gewonnen werden. Von insgesamt 2575 verschickten Fragebögen wurden 1727 zurückgesandt und 1709 (Frauen 76 , 24 %; Männer 23 , 76 %; 65 , 7 % aus dem ersten bis dritten Semester) davon konnten in die Auswertung aufgenommen werden. Daraus errechnet sich eine verwertbare Rücklaufquote von 66 , 37 %. 3. Datenaufbearbeitung Um die erhobenen Daten mit SPSS (Statistical Package for the Social Sciences) auswerten zu können, müssen die in Papierform vorliegenden Daten in eine Rohdatentabelle nach einem Kodierplan übertragen werden, womit die Daten sowohl für die quantitative als auch für die qualitative Analyse zugänglich gemacht werden. Es wird eine Liste aller im Fragebogen erhobenen Variablen mit den dazugehörigen Ausprägungen bzw. Antwortvorgaben erstellt, wobei jeder Variablen und jeder Merkmalsausprägung ein spezieller Kode zugeordnet wird. Die Angaben zu den offenen Fragen wurden in ein digitales Dokument übertragen und inhaltsanalytisch ausgewertet. 484 7. Referenzarbeiten 4. Datenauswertung Bei der Datenauswertung wurde zunächst anhand des Signifikanztests untersucht, ob zwischen den Variablen des Fragebogens signifikante Korrelationen auftreten. Die signifikanten Zusammenhänge zwischen den zwei korrelierten Merkmalen wurden innerhalb der interpretativen Auswertung analysiert. Während die Ergebnisse der deskriptiven Analyse lediglich über die Stichprobe der vorliegenden Studie Informationen geben, bringen die Resultate eines Signifikanztests die Tendenzen der gesamten Population ans Licht. Um eine übersichtliche und den zeitlichen Etappen des Berufsentscheidungsprozesses entsprechende Gliederung und somit eine strukturierte Diskussion der umfangreichen Forschungsergebnisse zu ermöglichen, wurde ein Phasenmodell entwickelt. Nach Ansicht der Forscherin wird ein Berufswähler in der Vorentscheidungsphase von extrinsischen und intrinsischen Gründen bei seiner Berufswahl beeinflusst. Im Anschluss daran entscheidet er sich entweder direkt für eine Tätigkeit oder testet erst alternative Berufe (Entscheidungsphase). Nachdem die Person ihre Wahl getroffen hat, kann sie entweder mit ihrer Entscheidung zufrieden sein und in der Tätigkeit verbleiben oder unzufrieden sein und eine Alternative (Nachentscheidungsphase) suchen. 5. Ergebnisse Die Lehramtsstudentinnen orientieren sich in ihrer Berufsentscheidung vornehmlich an pädagogischen Motiven. Dementsprechend kamen an erster Stelle Aussagen hinsichtlich der Liebe zu Kindern („ich mag Kinder“; „ich arbeite gerne mit Kindern und Jugendlichen“). Auch die anderen am häufigsten genannten Berufswahlmotive der Frauen beziehen sich auf den sozialen Aspekt der Tätigkeit: das Interesse an einem Beruf mit viel Kontakt zu anderen Menschen und der Wunsch, eine soziale und sinnvolle Tätigkeit auszuüben. In der Rangfolge der Männer kam das Motiv ‚Erfüllung einer sozialen und sinnvollen Aufgabe‘ an erster Stelle. Darauf folgte der Grund, dass sie gerne mit Kindern und Jugendlichen arbeiteten. Weitere Motive waren: „Ich habe die Möglichkeit, zur Erziehung der nächsten Generationen beizutragen“ und „ich bin an einem Beruf mit viel Kontakt zu den anderen Menschen interessiert“. Sowohl Frauen als auch Männer wurden in ihrer Studienfachwahl v. a. durch ihr Interesse an englischsprachigen Ländern und Kulturen sowie durch ihren Wunsch nach einer Verbesserung ihrer Sprachkenntnisse während des Studiums bewegt. An dritter Stelle folgte bei den Frauen die Begeisterung für Fremdsprachen, während die Männer ihre bereits vor dem Studium vorhandenen Englischkenntnisse als Beweggrund angaben. Ein hochsignifikanter Unterschied konnte bei der subjektiven Einschätzung der eigenen Sprachbegabung festgestellt werden: Frauen betrachteten sich häufiger als sprachbegabt als Männer. Am stärksten wurde die Berufs- und Studienfachwahl beider Geschlechter durch positive Erfahrungen mit eigenen Lehrern ( 64 , 7 %) beeinflusst. Die Probanden möchten in ihrem Berufsleben ‚gute‘ Lehrpersonen nachahmen oder Erfahrungen, die sie mit ‚schlechten‘ Lehrpersonen gemacht haben, mit einem besseren Unterricht übertreffen. Dieser Befund ist deshalb erwähnenswert, weil er die relativ hohe Bewertung Senem Özkul (jetzt: Şahin) (2011). Berufsziel Englischlehrer/ in 485 des Motivs und den Stellenwert der Vorbildfunktion der Lehrkräfte bei der Berufswahl verdeutlicht. Betrachtet man die Angaben bezüglich der Berufsentscheidungssicherheit, so ist festzustellen, dass mehr Männer als Frauen in ihrer Entscheidung unsicher waren. Der häufigste Grund für die Unsicherheit der Frauen war: „Weil ich mich auch für einen anderen Beruf interessiere“. Die Männer gaben dagegen am häufigsten an, dass sie sich in ihrer Lebensplanung noch nicht ganz sicher seien. Die Zahl der Studierenden, die keineswegs Lehrer werden wollten, war bei den Männern ebenfalls höher als bei den Frauen. Literatur Kiel, Ewald/ Pollak, Guido/ Eberle, Thomas ( 2007 ). Lehrer werden ist nicht schwer …? ! Die problematische Studienwahl von Lehramtsstudierenden. In: Pädagogik 59(9), 11-15. Krause, Andreas/ Dorsemagen, Cosima (2007). Ergebnisse der Lehrerbelastungsforschung: Orientierung im Forschungsdschungel Verlag für Sozialwissenschaften. In: Rothland, Martin (Hg.). Belastung und Beanspruchung im Lehrerberuf . Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, 52 - 80 . Krieger, Rainer (2000). Berufswahlmotive und Erziehungsvorstellungen im Wandel: Generationenvergleiche bei Lehramt-Studierenden. In: Krampen, Günter/ Zayer, Hermann (Hg.). Psychologiedidaktik und Evaluation II . Bonn: Deutscher Psychologen Verlag, 239-255. Nieskens, Birgit (2009). Wer interessiert sich für den Lehrerberuf - und wer nicht? Berufswahl im Spannungsfeld von subjektiver und objektiver Passung . Göttingen: Cuvillier. Oesterreich, Detlef (1987). Die Berufswahlentscheidung von jungen Lehrern . Berlin: Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. Özkul, Senem (2011). Berufsziel Englischlehrer/ in . München: Langenscheidt. Ulich, Klaus (2004). Ich will Lehrer/ in werden: Eine Untersuchung zu den Berufsmotiven von Studierenden. Weinheim: Beltz. 486 7. Referenzarbeiten Michael Schart Darstellung der Referenzarbeit: Schart, Michael (2003). Projektunterricht-- subjektiv betrachtet 1. Thema und Forschungsfragen Die Studie beschäftigt sich mit dem subjektiven Verständnis des Projektunterrichts bei Lehrenden für Deutsch als Fremdsprache. Sie wurde im Rahmen von Sommerkursen an deutschen Universitäten durchgeführt. Der Forschungsprozess zielt dabei auf ein verstehendes Nachvollziehen jener Überlegungen, auf die Lehrende ihr Handeln im Unterricht stützen, nicht aber auf die Untersuchung unterrichtlicher Praxis selbst. Forschungsleitend waren die folgenden Fragestellungen: 1. Was meinen Lehrende konkret, wenn sie von Projektunterricht sprechen? Welche subjektiven Sichtweisen zu Einsatzmöglichkeiten, Ablauf und Effizienz von Projektarbeit werden formuliert? 2. Welche typischen Argumentationslinien und -muster lassen sich aufzeigen? 3. Welche Rolle spielen die jeweiligen institutionellen Rahmenbedingungen und Entscheidungsmaximen? 4. Welche Rückschlüsse lassen sich auf Möglichkeiten und Grenzen von Projektarbeit im Kontext der Sommerkurse an deutschen Universitäten (bzw. vergleichbarer Kursformen) ziehen? 5. Welche Konsequenzen ergeben sich für die wissenschaftlichen Diskussionen um den Projektunterricht einerseits und die Aus- und Fortbildung von Lehrenden andererseits? 2. Datenerhebung Wie der Titel der Arbeit verdeutlicht, stehen qualitative Verfahren der Datenproduktion und -analyse im Zentrum des Forschungsprozesses. Genauer betrachtet verfolgte die Studie jedoch einen mixed-methods- Ansatz: Zunächst wurde eine Fragebogenerhebung durchgeführt, deren Ergebnisse dann den Ausgangspunkt für problemorientierte, halbstandardisierte Interviews darstellten. Die Fragebögen enthielten offene und geschlossene Items und wurden - in zwei unterschiedlichen Versionen - zunächst an die Organisatorinnen und Organisatoren der Sommerkurse, darauffolgend auch an die dort tätigen Lehrenden verschickt. Dieses Vorgehen erleichterte es, direkte Kontakte mit den Personen im zu untersuchenden Feld aufzubauen. Die Ergebnisse der Fragebogenerhebung bildeten zugleich eine wichtige Grundlage für die Konstruktion des allgemeinen Interviewleitfadens sowie die Formulierung individueller Fragestellungen für jedes der Interviews. Nicht Schart, Michael (2003). Projektunterricht-- subjektiv betrachtet 487 zuletzt ergaben sich aus den Fragebögen bereits Antworten auf einzelne Forschungsfragen. Für die Studie wurden 13 Interviews mit 17 Lehrenden geführt. Sie dauerten zwischen 60 und 120 Minuten. 3. Datenaufbereitung Alle Interviews wurden audiographisch aufgezeichnet und komplett transkribiert, wobei die Interviewäußerungen in ein normales Schriftdeutsch überführt und sprachbegleitende Handlungen nur dann notiert wurden, wenn sie offensichtlich die Aussage einer Passage beeinflussten. Nach der Transkription erhielten die Interviewpartnerinnen und -partner die Möglichkeit, ihre Äußerungen zu korrigieren oder zu ergänzen. Die autorisierten Transkriptionen wurden schließlich gemeinsam mit den qualitativen Daten aus den Fragebögen in eine QDA -Software eingelesen (Win MAX , jetzt: MAXQDA ), die quantitativen Daten für die weitere Analyse über die Software SPSS erfasst. Alle aufbereiteten Daten befinden sich auf einer der Publikation beiliegenden CD . 4. Datenauswertung Die qualitative Datenanalyse erfolgte in mehreren Schritten. Als Ergebnis einer initiierenden Textarbeit an den Transkriptionen wurden zunächst vertiefende Einzelfallinterpretationen für alle Interviews vorgenommen. Die Grundlage dafür bildeten die Prinzipien der inhaltlich strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse. Bei dieser formulierenden Interpretation spielen genaue Wiedergaben von Textpassagen eine hervorgehobene Rolle. Die Interviewpartnerinnen und -partner kommen in den Darstellungen so viel wie möglich selbst zu Wort und ihre Kernaussagen dienen als Ankerpunkte für eine dichte Beschreibung des Falls. In diesen Einzelfalldarstellungen geht es vor allem darum, eine emische Perspektive einzunehmen, individuelle Denk- und Erklärungsweisen zu verstehen und die Heterogenität subjektiver Sichtweisen zum Projektunterricht aufzuzeigen. Im Unterschied dazu strebt der sich anschließende Schritt der Datenauswertung - die typenbildende Inhaltsanalyse - danach, die Vielfalt der Sichtweisen in Strukturen einzubinden, Ambivalenzen aufzulösen und die Betrachtung auf eine abstraktere Ebene zu führen. Mit Hilfe einer QDA -Software wurde das gesamte Textmaterial auf wiederkehrende Themen hin betrachtet und einzelne Passagen wurden durch Kodierung einem oder mehreren Themen zugeordnet. Die Kodierungen ergaben sich einerseits deduktiv aus dem Aufbau des Interviewleitfadens, andererseits wurden sie aber auch im Prozess der Analyse induktiv aus dem Textmaterial gebildet. Die Datenanalyse vollzog sich durch den thematischen Vergleich der gebildeten Kategorien und das Herausarbeiten von multidimensionalen Beziehungsmustern zwischen verschiedenen Textpassagen. Die Orientierung wechselte also in dieser Phase der Datenauswertung von den einzelnen Fällen zu den Themen und vom Konkreten zum Allgemeineren. Prinzipiell folgte der Analyseprozess zwar den vier grundlegenden Stufen der Typenbildung (Erarbeiten von relevanten Vergleichsdimensionen, Gruppieren der Fälle 488 7. Referenzarbeiten anhand empirischer Regelmäßigkeiten, Analyse inhaltlicher Sinnzusammenhänge und Charakterisierung der gebildeten Typen), doch der thematische Vergleich wurde nicht auf die Forschungssubjekte selbst bezogen, sondern auf einzelne ihrer Ansichten, Probleme und Konzeptionen. Typisiert wurden somit Formen der Wahrnehmung und des Erklärens, zu denen sich die einzelnen Interviewpartnerinnen und -partner in wechselnden Kombinationen zuordnen lassen. Als Ergebnis der komparativen Analysen konnten die überindividuellen Typen zu Argumentationslinien und -mustern zusammengesetzt werden. Die Auswertung der quantitativen Daten beschränkte sich auf eine deskriptive statistische Analyse. So wurden vor allem die Mittelwerte betrachtet, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu verdeutlichen. Die Stärke bzw. die Schwäche der Zusammenhänge zwischen einzelnen Items wurde mit Hilfe des Korrelationskoeffizienten untersucht. Die Ergebnisse wurden abschließend mit den Erkenntnissen aus der qualitativen Inhaltsanalyse verknüpft. 5. Ergebnisse Die Studie verdeutlicht, dass die individuellen Projektbegriffe ihren Ausgang im beruflichen Selbstverständnis der DaF-Lehrenden nehmen, in ihren grundlegenden Einstellungen zum Gegenstand und zu den Zielen des institutionellen Fremdsprachenunterrichts. Lehrende formen sich aus einer vagen Idee ihre eigene, für sie praktikable Projektkonzeption, indem sie diese weitestgehend widerspruchsfrei mit ihren Vorstellungen eines effektiven Fremdsprachenunterrichts verschmelzen. Dabei erfahren einzelne Aspekte besondere Aufmerksamkeit, während andere vernachlässigt oder weitgehend ausgeblendet werden (Forschungsfrage 1 ). Als Ergebnis der Analyse kann auch dargestellt werden, auf welchen Wegen sich diese subjektive Einpassung der Projektidee vollzieht. Dafür werden zunächst die beiden idealtypischen Argumentationslinien in Form einer Diskussion von zwei fiktiven Lehrenden dargestellt (Forschungsfrage 2 ). In ihrer Gegensätzlichkeit verdeutlichen ihre Argumentationen die wahrgenommenen Entscheidungsspielräume beim Projektunterricht in den Sommerkursen (Forschungsfrage 3 ). Als ein weiteres Ergebnis der komparativen Analyse können anschließend vier unterschiedliche Argumentationsmuster beschrieben werden (Forschungsfrage 2 ). Diese spielen eine herausgehobene Rolle bei der Integration der Projektidee in die didaktischen Überlegungen von DaF-Lehrenden und tragen damit zu einem besseren Verständnis der Unterschiede in den individuellen Projektdefinitionen bei. Jede dieser vier prinzipiellen Orientierungen führt zwangsläufig zu anderen Schlussfolgerungen darüber, mit welchen Zielen die Projektarbeit verknüpft, welche Möglichkeiten ihr eingeräumt und welche Grenzen ihr gesetzt werden. Jede wirkt anders auf den Stellenwert zurück, der Projekten innerhalb eines komplexeren Kursprogramms zugesprochen wird, und jede nimmt schließlich ihren besonderen Einfluss darauf, wie die institutionellen Rahmenbedingungen beurteilt werden. So zeigt etwa die Verknüpfung mit den quantitativen Daten aus der Fragebogenerhebung, dass die Einstellungen von Organisatorinnen und Organisatoren einerseits und Lehrenden andererseits einen entscheidenden Einfluss daraus ausüben, ob bzw. in welcher Schart, Michael (2003). Projektunterricht-- subjektiv betrachtet 489 Form Projektunterricht in den Sommerkursen durchgeführt wird (Forschungsfragen 3 und 4 ). In den 17 Einzelfalldarstellungen zeigen sich sehr unterschiedliche, individuelle Konfigurationen dieser vier Argumentationsmuster. Die Lehrenden bringen sie jeweils in eine andere Hierarchie und ergänzen diese immer mit Faktoren, die nur für ihren Fall von Interesse sind und die Bedeutung des jeweiligen Kontextes für die subjektiven Wahrnehmungen herausstellen. Vor diesem Hintergrund geht die Ergebnisdarstellung abschließend auf theoretische Implikationen ein und bringt die Frage der Aus- und Fortbildung zur Diskussion (Forschungsfrage 5 ). Da die individuellen Interpretationen der Projektidee im beruflichen Selbstverständnis der Lehrenden wurzeln, sind sie eng mit dem Wertesystem der betreffenden Person verknüpft. Das lässt sie relativ resistent gegen abstrakte Innovationsbemühungen erscheinen. Die Studie veranschaulicht somit am Beispiel des Projektunterrichts, wie die Reichweite didaktischer Modelle durch die Subjektivität der Lehrenden begrenzt wird. Sie bietet damit weitere Evidenz für die Notwendigkeit reflexiver und erfahrungsorientierter Modelle der Aus- und Fortbildung von Lehrenden. Literatur Schart, Michael (2003). Projektunterricht - subjektiv betrachtet. Eine qualitative Studie mit Lehrenden für Deutsch als Fremdsprache. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. 490 7. Referenzarbeiten Barbara Schmenk Darstellung der Referenzarbeit: Schmenk, Barbara (2002). Geschlechtsspezifisches Fremdsprachenlernen? 1. Thema und Forschungsfragen Die Arbeit widmet sich der Rolle und Bedeutung von gender in der Erforschung des Fremdsprachenlehrens und -lernens. Das Geschlecht als Gegenstand der Fremdsprachenforschung spielte zum Zeitpunkt der Entstehung der Arbeit nur eine marginale Rolle, lediglich der verbreitete Glaube an eine weibliche Überlegenheit beim Fremdsprachenlernen war bemerkenswert. Wenn das Geschlecht überhaupt berücksichtigt wurde, dann nur als ein ‚Faktor‘, der gemäß dem dominanten quantitativ-nomologischen forschungsmethodischen Paradigma vornehmlich anglo-amerikanischer Provenienz konzeptualisiert wurde als Prädiktor von Fremdsprachenlernprozessen, zum Teil auch im Verbund mit weiteren individuell unterschiedlich ausgeprägten Faktoren wie Motivation, Lernstrategieverwendung, kognitive Stile u. a. Die seit den 90 er Jahren entstandenen Arbeiten im Bereich der Gender Studies hingegen konzeptualisierten das Geschlecht als eine kulturell konstruierte Kategorie und verwendeten diskursanalytische Ansätze und forschungsmethodische Zugriffe, die es ermöglichten, das Geschlecht als historisch-kulturell kontextualisierbare Kategorie einer kulturwissenschaftlich-diskursanalytisch orientierten Analyse zu unterziehen. Vor dem Hintergrund dieser Arbeiten zum Thema gender lag die Aufgabe meiner Arbeit darin, den Geschlechterdiskurs in der Fremdsprachenforschung in einer kritischen (Diskurs-)Analyse genauer unter die Lupe zu nehmen und die spezifischen ‚Wahrheiten‘, die er hervorgebracht hat (wie etwa die weibliche Überlegenheit etc.), nicht lediglich als ‚empirische Fakten‘ zu akzeptieren, sondern diese als im historisch-kulturellen Kontext entstandene Interpretationen von empirischen Beobachtungen nachzuzeichnen und zu hinterfragen. 2. Datenerhebung Das für die Arbeit zusammengestellte Korpus von Arbeiten aus der Fremdsprachenforschung besteht aus all denjenigen mir zugänglichen internationalen Publikationen zur Rolle des Geschlechts beim Fremdsprachenlernen in englischer und deutscher Sprache, die seit den 1950 er Jahren veröffentlich wurden (mehrheitlich empirische Studien zum Einfluss des Geschlechts auf Sprachlernprozesse und -erfolg) sowie Überblicksdarstellungen, die sich u. a. dem Thema Geschlecht beim Fremdsprachenlernen widmen. Die Studie ist in ihrem Charakter eine Metastudie, da sie sich nicht direkt mit empirischen Daten befasst, sondern mit dem Korpus vorhandener Arbeiten bzw. Publikationen. Schmenk, Barbara (2002). Geschlechtsspezifisches Fremdsprachenlernen? 491 Dergleichen Metastudien existieren beispielsweise in der Psychologie, waren bis dato aber lediglich quantitativer Art, d. h. es wurden Statistiken erstellt, die Einzelstudien und ihre Daten jeweils berücksichtigten und die gleich einer Sammelstatistik eine Gesamttendenz errechneten. Für meine Arbeit erwies sich eine solche quantitative Metastudie allerdings als nicht hinreichend, da sie lediglich die Befunde von Studien zur Geschlechtsspezifik en gros akzeptiert hätte. Die Sichtung der vorhandenen Forschungsbefunde zeigte jedoch, dass diese sehr heterogen sind und quantitative Metadaten entsprechend inkonsistent waren und weiterer Erklärungen und differenzierter Betrachtungen bedurften. Die Heterogenität bzw. Widersprüchlichkeit der Forschungsergebnisse zum Faktor Geschlecht machte vielmehr eine qualitativ-interpretative Herangehensweise erforderlich, die es ermöglichte, das Zustandekommen bestimmter empirischer Daten, Befunde und Interpretationen zu ermitteln. Für die Studie wurden deshalb neben der Darstellung der Ergebnisse in diesem Forschungsbereich auch detaillierte Analysen von insgesamt vier Einzelstudien vorgenommen (jeweils zwei zu den unterschiedlichen Geschlechtskonzeptionen anhand von sex bzw. gender ), um die jeweils zugrunde liegenden Argumentations- und Interpretationsmuster freizulegen und zu ermitteln, wie die Kategorie Geschlecht im Kontext von Fremdsprachenlernprozessen konzeptualisiert wird und welche Bedeutungen ihr jeweils beigemessen werden. 3. Datenauswertung und -interpretation Mit Hilfe der Analysekategorien der Gender Studies und speziell im Anschluss an Foucaults Diskursbegriff bestand die Aufgabe darin, den in der Fremdsprachenforschung etablierten Geschlechterdiskurs genauer zu analysieren, um zu ermitteln, wie dort bestimmte ‚Wahrheiten‘ zustande kommen bzw. konstruiert werden. Statt das Geschlecht als eine empirische oder gar biologische Gegebenheit zu setzen, sollte es als diskursiv konstruierte Kategorie erfasst werden, die jeweils in Forschungsarbeiten geschaffen und unter Rekurs auf bestehende Diskurse (re-)produziert wird. Zu diesem Zweck wurden die verschiedenen Studien jeweils daraufhin untersucht (S. 134 ), • was über ‚Geschlecht‘ ausgesagt wird (Wird von einem biologischen Konzept von Geschlecht als sex ausgegangen oder von einem eher soziokulturellen Konzept im Sinne von gender ? Ist die Studie von vornherein auf die Messung von Geschlechtsspezifika angelegt oder erweisen sich solche erst als Nebenprodukt? Wenn ja, wie werden diese erklärt? Welche Daten wurden genau erhoben, welche statistisch signifikanten Ergebnisse wurden ermittelt, wie werden diese erklärt und begründet? ); • was unausgesprochen vorausgesetzt wird (Wie wird sex bzw. gender operationalisiert, was wird dabei über die Zweigeschlechtlichkeit angenommen, ohne dass es explizit thematisiert bzw. gemessen wird? Viele Erklärungen in Studien erweisen sich bei näherer Betrachtung als reine Behauptungen über Geschlechtsspezifika, die auf inferierten Annahmen über Weiblichkeit und Männlichkeit basieren, die nicht in der betreffenden Studie gemessen wurden); 492 7. Referenzarbeiten • wo, wie und aus welchem Grund die Aussagen über ‚Geschlecht‘ innerhalb der Ausführungen eingebunden sind; • welche argumentative Rolle unausgesprochen vorausgesetzte Annahmen über ‚Geschlecht‘ innerhalb der betreffenden Publikation spielen (Sind die Ergebnisse der Studie tatsächlich auf die erhobenen Daten zurückzuführen oder werden diese vielmehr mit Hilfe von Vorannahmen über die Zweigeschlechtlichkeit und verbreitete Stereotype über Weiblichkeit und Männlichkeit interpretiert? Argumente zugunsten von Geschlechts-‚Spezifika‘ unterschlagen i. d. R. die Differenziertheit statistischer Messungen und Daten und legen stattdessen nahe, dass es sich bei männlichen und weiblichen Lernenden um zwei klar unterscheidbare Gruppen handelt). 4. Ergebnisse Die Untersuchung hat gemäß ihrer doppelten Perspektive sowohl Ergebnisse im Sinne einer state-of-the-art Zusammenschau der Forschungsergebnisse im Bereich Geschlecht und Fremdsprachenlernen hervorgebracht als auch darüber hinaus Prinzipien der Beschaffenheit des Geschlechterdiskurses in der Fremdsprachenforschung sichtbar gemacht, die sich auch in anderen Disziplinen und Kontexten finden. Insofern konnten viele Befunde aus den Gender Studies auch für die Fremdsprachenforschung bestätigt werden. Darüber hinaus wurde deutlich, wie sich der Glaube an Geschlechtsspezifika (und nicht die empirisch erhobenen Daten) auch auf die Theoriebildung der Fremdsprachenforschung auswirkt. Das Geschlecht wird zum sinnbildenden Zentrum in Argumentationen zum vermeintlich geschlechtsspezifischen Fremdsprachenlernen, so dass man meist unbemerkt implizite Modelle des Sprachenlernens konstruiert, die mit den Einsichten der Fremdsprachenforschung oft wenig zu tun haben. • Feminisierung und Empirie: Fakten und Mythen Empirische Forschung zum Geschlecht ist zum Zeitpunkt der Entstehung der Arbeit primär darauf gerichtet, Geschlechtsspezifika zu bestimmen. Man geht damit implizit davon aus, dass das Geschlecht ein Faktor ist, der zu unterschiedlichen Lernweisen, Haltungen oder Erfolgen führt. Forschungsdesigns, die auf dieser Annahme beruhen, können deshalb nur die Existenz dessen bestätigen, was schon a priori gesetzt wurde: dass es zwei unterschiedliche Gruppen von Lernenden gibt, männliche und weibliche. Empirische Erhebungen bestätigen diese klare Unterscheidbarkeit jedoch nicht, gleich, ob die Mittelwerte weiblicher Probanden höher liegen oder nicht. In der Interpretation dieser Daten wird jedoch grundsätzlich davon ausgegangen, dass die Gruppe der männlichen Lernenden distinktive Merkmale aufweist (die stereotyp männlichen Attribute wie Dominanz, Wettbewerbsorientierung, analytisches Denken, Aggressivität), die sie von der Gruppe der weiblichen Lernenden unterscheidet (denen wiederum stereotyp weibliche Attribute zugeschrieben werden wie Einfühlsamkeit oder Kooperativität). Im Ergebnis werden so die heterogenen empirischen Daten vereinheitlicht und pauschal interpretiert zugunsten von Thesen zu einem besseren Lernergeschlecht (sei dies weiblich der männlich) oder zu geschlechtsspezifischem Sprachenlernen. Diese Thesen er- Schmenk, Barbara (2002). Geschlechtsspezifisches Fremdsprachenlernen? 493 weisen sich als Resultate einer self-fulfilling prophecy , was man auch als Mythenbildung bezeichnen kann, die sich im Alltag fortwährend zu bestätigen scheint und die in der Forschung ungeprüft übernommen wird. • Gender-Binarität als epistemologische Falle Aufgrund der binären Verfasstheit des Faktors Geschlecht und seiner immanenten Komplementarität gerät man in eine epistemologische Falle, wenn man das Geschlecht als Gegebenes nimmt und seinen Einfluss bestimmen möchte. Auch eine Trennung von sex und gender erweist sich hier nicht als hinreichend zur Differenzierung, verweist diese doch auch immer nur zurück auf die basale Annahme der Zweigeschlechtlichkeit. • Glauben und Wissen: Geschlechtsspezifisches Fremdsprachenlernen und Theorie(miss-) bildungen Sowohl die strukturelle Verfasstheit der Kategorie Geschlecht - seine Binarität - als auch die hinreichend verbreiteten Geschlechterstereotype über Männlichkeit und Weiblichkeit verführen dazu, Theorien über geschlechtsspezifisches Lernen aufzustellen, die sich bei Licht betrachtet als kaum haltbar erweisen. Die Logik dieser Argumentationen speist sich primär aus dem Glauben an eine kategorische Unterscheidbarkeit der Geschlechter sowie dem nachträglich inferierten Alltagswissen über Männer und Frauen. Kausale Verknüpfungen dieser Art lassen sich jedoch nicht von den erhobenen empirischen Daten ableiten, sondern entstammen anderen Diskursen, die außerhalb der Fremdsprachenforschung existieren und deren Wahrheit somit auch in der Fremdsprachenforschung wiederum bestätigt wird. Literatur Schmenk, Barbara (2002, 2 2009). Geschlechtsspezifisches Fremdsprachenlernen? Zur Konstruktion geschlechtsspezifischer Lerner- und Lernbilder in der Fremdsprachenforschung. Tübingen: Narr. 494 7. Referenzarbeiten Torben Schmidt Darstellung der Referenzarbeit: Schmidt, Torben (2007). Gemeinsames Lernen mit Selbstlernsoftware im Englischunterricht 1. Thema und Forschungsfragen Während Lernsoftware als gängiges Musterbeispiel für individualisiertes Lernen gilt, wurde in dieser Studie der folgenden bisher kaum beachteten Frage nachgegangen: Inwieweit kann Selbstlernsoftware entgegen dem intendierten Verwendungszweck im Kontext individualisierten Übens eingesetzt werden, um gemeinsames Lernen im Klassenzimmer voranzutreiben und eine weitergehende Ausbildung der sprachlichen Fertigkeiten in einem kommunikativen Fremdsprachenunterricht zu erzielen? Dies war der Ansatzpunkt für die explorativ-interpretativ angelegte Unterrichtsforschung, die im Sinne einer Methoden-, Perspektiven- und Datentriangulation die Vielfalt der Einflussfaktoren bei der Arbeit mit Selbstlernsoftware (English Coach 2000 , Cornelsen) in Partnerphasen des Englischunterrichts in Klasse 7 zu erfassen und in ihrem Zusammenspiel zu analysieren versuchte. Dabei wurden fünf Hauptfragen für die Untersuchung definiert: • Wie beeinflussen Aspekte der Programmbedienung, der Steuerung der Übungsformate sowie insgesamt technische Rahmenbedingungen das Arbeiten mit der Software im Englischunterricht? • Welche Möglichkeiten und Grenzen der didaktischen Interaktionen zwischen Software und Lernenden ergeben sich (z. B. im Rahmen des Umgangs mit Aufgabenstellungen, Eingaberückmeldungen und Leistungsbewertungen sowie im Kontext der Nutzung sprachlicher Hilfs- und Unterstützungsangebote)? • Welche Merkmale der Kooperation und Kommunikation der Lernenden untereinander sind für Partnerarbeitsphasen mit der Lernsoftware charakteristisch? • Eignet sich die für das individualisierte Üben konzipierte Software auch als Unterrichtsmedium, und welche Vor-, Begleit- und Folgeaufgaben zur Softwarearbeit sind für den unterrichtlichen Einsatz sinnvoll? • Welche Rolle kommt der betreuenden Lehrperson in Phasen des unterrichtlichen Arbeitens mit der Lernsoftware zu? 2. Datenerhebung Die Datenerhebung wurde in vier siebten Klassen mit insgesamt 127 Schülerinnen eines Mädchengymnasiums durchgeführt. Im Sinne der Methoden- und Perspektiventriangulation wurden unterrichtliche Handlungen und Interaktionen erfasst. Zu Beginn wurde zur Schmidt, Torben (2007). Gemeinsames Lernen mit Selbstlernsoftware im Englischunterricht 495 Klärung der Ausgangslage zunächst ein Anfangsfragebogen für die beteiligten Schülerinnen eingesetzt, dessen Fokus insbesondere auf Art und Umfang der Computernutzung zu Hause, Vorerfahrungen der Schülerinnen mit Englisch-Lernsoftware, Umfang und Art der Computernutzung im schulischen Kontext sowie auf Erfahrungen mit kooperativen Lern- und Arbeitsformen im Englischunterricht lag. Ein Anfangsfragebogen für die vier beteiligten Lehrkräfte, der vom Aufbau und den Inhalten her dem Schülerinnenfragebogen ähnelte, hatte insbesondere die bisherige unterrichtliche Mediennutzung der Lehrkräfte (allgemeine Einstellungen zur Computernutzung, Art und Umfang des Einsatzes, besuchte Fortbildungen etc.) als Schwerpunkt. Im Rahmen der Datenerhebung während des Unterrichts wurde dann im Laufe des gesamten Schuljahres in den vier teilnehmenden Klassen in insgesamt 50 Unterrichtsstunden videographiert. Dabei wurde die Software zu Übungszwecken (Vokalen, Grammatik, Hörverstehen) oder als inhaltlicher Impulsgeber (z. B. Arbeit mit Hörtexten im Programm als vorbereitende Aktivität für weitere Unterrichtsaktivitäten) eingesetzt. Per Zufallssampling wurde regelmäßig jeweils ein Schülerinnenpaar bei der Bearbeitung der Softwareübungen videographiert. Parallel dazu wurde das Bildschirmgeschehen mit der Bildschirmaufzeichnungssoftware Camtasia (TechSmith) aufgezeichnet. Darüber hinaus wurden unterrichtliche Vorbereitungs-, Begleit- und Folgeaktivitäten zur Softwarearbeit (z. B. die Entwicklung und Präsentation mündlicher und schriftlicher Produkte) ebenfalls filmisch dokumentiert. Vom Forschenden erstellte Feldnotizen dienten als ergänzende Quelle. Außerhalb des Unterrichts wurden zu thematisch relevanten Aspekten und Bezug nehmend auf konkrete Unterrichtssituationen regelmäßig mit den Schülerinnen und Lehrkräften leitfadengestützte, retrospektive Interviews ( 20 Interviews mit Schülerinnen und 10 Interviews mit Lehrkräften, Dauer jeweils ca. 15 Min.) durchgeführt. Außerdem führten pro Klasse jeweils drei Schülerinnen ein Lerntagebuch; insgesamt wurden dabei ca. 100 Lerntagebucheinträge erstellt. Die Phase der Datenerhebung wurde am Ende des Schuljahres mit Abschlussfragebögen für die Lehrkräfte bzw. für die Schülerinnen sowie einem retrospektiven Gruppeninterview mit den vier Lehrkräften abgeschlossen. 3. Datenaufbereitung Im Zentrum der Datenaufbereitung stand neben der Überführung der Fragebogenergebnisse in ein Statistikprogramm sowie der Pseudonymisierung und Strukturierung der bereits schriftlich vorliegenden Daten (Lerntagebucheinträge, Feldnotizen, Lernertexte) insbesondere die Transkription der Audio- und Videoaufzeichnungen (Partnerarbeit mit der Software inklusive Bildschirmgeschehen, retrospektive Interviews mit Schülerinnen und Lehrkräften). Dabei wurde für die Erfassung der Partnerarbeit mit der Software die halbinterpretative Arbeitstranskription ( HIAT ) als Methode gewählt. So wurden in Partiturschreibweise, angelehnt an eine Zeitachse, sowohl die auf dem Bildschirm sichtbaren Aktivitäten (was wurde angeklickt, welche Meldungen erschienen etc.), die verbale Kommunikation der Schülerinnen vor dem Computer sowie - falls für die Beschreibung der Kommunikations- und Interaktionsprozesse und die Bearbeitung der Softwareübungen 496 7. Referenzarbeiten relevant - einzelne paraverbale (Lautstärke, Betonung) und nonverbale Besonderheiten (z. B. bestimmte Gesten) in Tabellenform in Word in ihrer Gleichzeitigkeit erfasst. Im Gegensatz zu dieser relativ detailreichen und diskursanalytisch orientierten Transkription der Partnerarbeitsprozesse mit der Software wurde bei der Verschriftung der retrospektiven Interviews mit den Lehrenden und Schülerinnen mit Blick auf eine primär inhaltsanalytisch orientierte Auswertung auf die Erfassung non- und paraverbaler Besonderheiten verzichtet. 4. Datenauswertung Die Transkripte der Videoaufzeichnungen der Partnerarbeitsphasen mit der Software stellten die für die Untersuchung zentralen Daten dar. Dabei wurde im Zuge der Datenauswertung zunächst ausgehend von den Forschungsfragen ein grober Kodierungskatalog entwickelt, der im weiteren Verlauf des Kodierungsprozesses sukzessive erweitert und verfeinert wurde. Ziel dieses Vorgehens war es, die erhobenen Videodaten der Partnerarbeit am Computer zu codieren, zu kategorisieren und insgesamt häufig auftretende Phänomene und typische Abläufe zu identifizieren. Insgesamt wurden in fünf Hauptkategorien 48 Codes definiert, die dann wiederum teilweise in weitere Untercodes aufgeteilt wurden. In der Hauptkategorie B „Umgang mit den schriftlichen Aufgabenstellungen und Fehlerrückmeldungen, Nutzung der Hilfs- und Informationsangebote der Software“ wurden etwa unter dem Code B 4 „Es tauchen Probleme auf, weil die Schülerinnen die Aufgabenstellung nicht verstehen“ die Untercodes B 1 „Nutzung der Programmhilfen“, B 2 „Rufen der Lehrperson“, B 3 „Abbruch und Überspringen einer Übung“ und B 4 „Abbruch und Neustart der Übung“ als typische Verhaltensweisen identifiziert und in Codes überführt. In einem nächsten Schritt wurden die so codierten Daten im Sinne der Datentriangulation mit den anderen Datenquellen (z. B. relevante, erklärende oder vertiefende Aussagen in Interviews, Lerntagebüchern und Feldnotizen, quantitative und qualitative Ergebnisse der eingesetzten Fragebögen) verglichen, verknüpft und somit inhaltlich dazu in Bezug gesetzt. Die entsprechenden Daten und Textstellen der Interviews und Lerntagebücher wurden in MAXQDA gekennzeichnet, mit Kommentaren und Codebzw. Kategorieverknüpfungen versehen, sodass eine rasche Zuordnung, ein problemloses Auffinden der Passagen, eine Zusammenführung der Ergebnisse und schließlich eine auf verschiedenen Datenquellen und Perspektiven basierende Interpretation gewährleistet werden konnte. 5. Ergebnisse • Optisch und akustisch teilweise nicht sinnhaft gestaltete, bedienungstechnisch zu schwierige oder fehlerhafte Übungsformate in Kombination mit zu ungenauen Aufgabenstellungen und regelmäßig auftretenden Hardwareproblemen wirkten sich negativ auf die Konzentration und Motivation der Schülerinnen aus. • Grundsätzlich schätzten es die Schülerinnen sehr, mit einem interaktiven Medium zu arbeiten, das sie korrigiert und bewertet, das den Lernverlauf speichert, das spieleri- Schmidt, Torben (2007). Gemeinsames Lernen mit Selbstlernsoftware im Englischunterricht 497 sche Übungsformate bietet und das bei auftretenden sprachlichen Problemen verschiedene Hilfs- und Informationsangebote (z. B. Wörterbuch, Mini-Grammatik) bereithält. Schwächen in den Bereichen der Eingabeanalyse, des informierenden Fehlerfeedbacks und der Lerntipps wirkten allerdings immer wieder störend. Außerdem waren einige Aufgabenstellungen zu unpräzise bzw. zu kompliziert, sodass die Schülerinnen teilweise nicht verstanden, wie die jeweilige Übung zu bearbeiten ist. Nur durch eine Erhöhung des Bedienkomforts der Software, kombiniert mit einer gezielten Schulung der computerbezogenen Fähigkeiten der Lernenden, konnte die Aufmerksamkeit vollständig auf die Übungsinhalte und weg von Bedienungsfragen gelenkt werden. • Insgesamt wirkte die Partnerarbeit mit der Lernsoftware in hohem Maße kommunikations- und kooperationsfördernd, weil permanent im Dialog mit der jeweiligen Lernpartnerin sprachliche Probleme diskutiert, Lösungsvorschläge begründet sowie Eingaberückmeldungen, Korrekturen und Bewertungen durch das Programm durchdacht und verarbeitet werden mussten. • Bestimmte Übungsformate und Inhalte des Programms (z. B. das Hörverstehensformat Listen & Act oder die vertonten Bildgeschichten) lassen sich mit verschiedenen lerneraktivierenden und kommunikativen Begleit- und Folgeaufgaben zur Softwarearbeit sinnvoll verknüpfen (z. B. kreative Schreibaufgaben, Partnerinterviews, Internetrecherchen, Entwicklung und Präsentation von Dialogen und kleinen Szenen). Solche Aufgaben intensivierten die verbalen Auseinandersetzungen mit den Programminhalten zwischen den gemeinsam arbeitenden Lernenden, wirkten motivations- und konzentrationssteigernd und bewegten die Lernenden insgesamt zu einem gezielten Gebrauch der Fremdsprache. • Die Integration der Selbstlernsoftware in den Unterricht veränderte maßgeblich die Lehrerrolle: Die Lehrkraft wurde als sprachlicher Experte, Hilfs- und Bewertungsinstanz zurückgedrängt und agierte eher als Moderator, Organisator und Experte im Hintergrund. Gleichzeitig wurde die Lehrkraft als technischer Experte gefordert, der diverse Hard- und Softwareprobleme lösen musste. Literatur Schmidt, Torben (2007). Gemeinsames Lernen mit Selbstlernsoftware im Englischunterricht - Eine empirische Analyse lernprogrammgestützter Partnerarbeitsphasen im Unterricht der Klasse 7 . Tübingen: Narr. 498 7. Referenzarbeiten Götz Schwab Darstellung der Referenzarbeit: Schwab, Götz (2009). Gesprächsanalyse und Fremdsprachenunterricht 1. Thema und Forschungsfrage Ausgangspunkt der Arbeit ist die Frage nach interaktionalen Prozessen im Fremdsprachenunterricht mit lernschwachen und/ oder benachteiligten Schülerinnen und Schülern, wie man sie insbesondere in Hauptschulbildungsgängen findet. Der Fokus liegt dabei auf der Lehrer-Schüler-Interaktion und den damit verbundenen Partizipationsstrukturen im Englischunterricht. Das Erkenntnisinteresse der Untersuchung fokussiert somit das mündliche Engagement der Beteiligten. Damit wird von vornherein der Blick auf einen ganz bestimmten Teilaspekt des Unterrichts gerichtet. Dieses Forschungsinteresse spiegelt sich auch in der forschungsleitenden Frage wider, wie sie der Arbeit zugrunde gelegt wurde: Wie gestaltet sich die unterrichtliche Interaktion zwischen Schülerinnen/ Schülern und Lehrkraft in einem so genannten kommunikativ geführten Englischunterricht zum Ende der regulären Hauptschulzeit (Klasse 8 / 9 )? Die Arbeit folgt einem qualitativen Paradigma. Sie stellt den Versuch dar, Englischunterricht mittels eines konversationsanalytischen Untersuchungsinstrumentariums emisch, d. h. aus Sicht der Beteiligten - Schüler wie Lehrer - darzustellen und in den Kontext fremdsprachendidaktischer Forschung zu stellen. In der einschlägigen angelsächsischen Literatur wird dieser Ansatz auch als Conversation Analysis for Second Language Acquisition ( CA for SLA ) bezeichnet (Markee/ Kasper 2004 ). 2. Datenerhebung Die Datenerhebung erfolgte insbesondere durch digitale Video- und Audiomitschnitte des Unterrichts im Abstand von vier bis sechs Wochen. Es wurde bewusst nur eine Kamera eingesetzt, um die Unterrichtsatmosphäre nicht zu sehr zu strapazieren. Bewährt hat sich die parallele Audioaufnahme mit einem zusätzlichen Gerät in zentraler Position. Damit konnten Schwierigkeiten bei der Verständlichkeit von Schülerbeiträgen reduziert werden. Zu jeder Aufnahme wurden Feldnotizen angefertigt. Die Erhebung war auf eine Klasse beschränkt und erstreckte sich über zwei Schuljahre in den Klassenstufen 8 respektive 9 . Sie kann somit als explorative Einzelfallbzw. Longitudinalstudie bezeichnet werden. Bei der Auswahl der Klasse wurde darauf geachtet, dass neben der zielsprachlichen Kompetenz der Lehrkraft auch die unterrichtliche Interaktion und hier vor allem das verbale Engagement auf Schülerseite deutlich wird, was eher in höheren Klassen zu finden ist. Schwab, Götz (2009). Gesprächsanalyse und Fremdsprachenunterricht 499 Diesbezüglich weist das Korpus eine große Bandbreite an beispielhaften Sequenzen auf, die zweifellos auch für andere Lerngruppen und andere Unterrichtssettings von Bedeutung sein können. Um ein möglichst natürliches Setting abzubilden, wurde auf jegliche Form der Beeinflussung von unterrichtlichen Inhalten verzichtet. Insgesamt konnten 13 Aufnahmen gemacht werden. Eine weitere Aufnahme wurde von den Schülern selbst erstellt, umfasst aber nur einen Teil der Gruppe ( 5 Schüler), welche einen Zusatzunterricht für bessere Lerner besuchten. Damit befindet sich die Untersuchung quantitativ leicht über dem, was Seedhouse ( 2004 ) als durchschnittliche Anzahl an erhobenen Unterrichtsstunden in konversationsanalytischen Arbeiten angibt ( 5 bis 10 Stunden). Die Gesamtzeit der Aufnahmen beträgt 8 Zeitstunden und 33 Minuten. Die Rolle des Videografen kann als Beobachter ohne direkte Aufgabe oder, wie Friedrichs ( 1990 : 97 ) es nennt, „ observer-as-participant “ bezeichnet werden. Die Anwesenheit im Unterricht beschränkte sich somit rein auf die Aufnahmetätigkeit. Um weitere Einblicke in die Klassen- und Lernsituation zu erlangen wurden mit den Schülern Leitfadeninterviews und mit der Lehrkraft ein retrospektives ( stimulated recall ) Interview geführt. 3. Datenaufbereitung Zur Aufbereitung wurden die Unterrichtsmitschnitte komplett verschriftet. Zunächst wurden Grobtranskriptionen erstellt, die als Unterstützung bei der Sichtung des Materials dienten. Die eigentliche Auswahl der Sequenzen erfolgt dann in einem nächsten Schritt. Diese Selektion orientierte sich einerseits an der allgemeinen Zielsetzung der Arbeit (forschungsleitende Frage), andererseits aber auch am Material selbst. Ein solch phänomenologischer Ansatz führt zu einer rekursiven Vorgehensweise, bei der das Erkenntnisinteresse nicht a priori festgeschrieben, sondern vielmehr im Laufe des Forschungsprozesses konkretisiert wird (Deppermann 2001 ). Die Gesprächspraktik ‚Schülerinitiative‘ kann als ein solches Phänomen angesehen werden, welches als zentrales Element von Schülerpartizipation im Verlauf der Untersuchung herausgearbeitet werden konnte. Insgesamt wurden n = 81 Sequenzen, mit einer Länge zwischen 7 Sekunden und 3 Minuten und 53 Sekunden, identifiziert und gemäß der Transkriptionskonvention GAT (Selting et al. 1998 ) fein transkribiert, was mithilfe einer Transkriptionsoftware (www.transana.org) geschah. Auch die Interviews mit der Lehrkraft sowie die Leitfadeninterviews wurden verschriftet, wobei die literarische Umschrift gemäß der Standardorthografie des Deutschen erfolgte. 4. Datenauswertung Da es sich um vornehmlich verbale Daten handelte, wurde mit der Konversationsanalyse eine Analysemethode gewählt, die nicht nur in der ethnografischen Tradition verwurzelt ist (Garfinkel/ Sacks 1970 ), sondern auch im Kontext fremdsprachenspezifischer Untersuchungen mehr und mehr an Bedeutung gewinnt (Markee/ Kasper 2004 ). Gerade die mikroanalytische Rigorosität der Konversationsanalyse ermöglicht dem Forschenden äußerst 500 7. Referenzarbeiten detaillierte Einsichten in unterrichtliche Interaktionsabläufe, wie sie wohl kaum mit einer anderen Methode möglich wären. Die identifizierten Sequenzen ließen sich im Zuge der Analyse ordnen und zu so genannten Kollektionen zusammenfassen. Die verwendete Software Transana ermöglichte dabei nicht nur das gleichzeitige Abspielen der Videos und synchrone Betrachten der Transkripte, sondern auch eine Einordnung der Sequenzen bzw. Teilsequenzen in das generierte Kategoriensystem. Neben der Gesprächsinitiation durch Lehrer oder Lerner schließt dies umfassendere Sequenztypen in der Lehrer-Schüler-Interaktion, unterrichtliches Reparaturverhalten (‚Korrektur‘), aber auch sprachliche Merkmale, die für die Partizipationsgestaltung auf Schülerseite relevant sind, mit ein. Innerhalb der Kategorien wurden Ankerbeispiele ausgewählt und ausführlich diskutiert. Aufgrund der Komplexität der einzelnen Sequenzen mussten diese z. T. in Teilsequenzen untergliedert und unter verschiedenen Gesichtspunkten interpretiert werden. Die Interviewdaten wurden kategorisiert und in den Analyseprozess eingebunden, indem sie den Unterrichtssequenzen gegenübergestellt wurden. Rückblickend lässt sich jedoch sagen, dass dieser Schritt nur wenig zum besseren Verständnis des unterrichtlichen Handelns beigetragen hat. Eine gesprächsanalytische Herangehensweise scheint vielmehr ausreichend zu sein, um unterrichtliche Interaktionsstrukturen zu erforschen (vgl. Markee/ Kasper 2004 ). 5. Ergebnisse Die Untersuchungsergebnisse lassen sich auf drei Ebenen darstellen: 1. Unterrichtsstruktur: Die Lehrer-Schüler-Interaktion kann als multilogische Diskursform bezeichnet werden, die im quasi öffentlichen Raum des Unterrichts unter Beteiligung aller Anwesenden, jeweils mit unterschiedlichen Rollen, stattfindet. Die interaktional-inhaltliche Rahmung findet dabei grundsätzlich durch die Lehrkraft statt. Neben dieser klar gesteuerten Interaktionsform kommt es jedoch immer wieder zu Situationen mit erhöhter Schülerpartizipation. Diese sind sequentiell vorwiegend in eingebetteten Nebensequenzen anzutreffen. 2. Partizipationsmöglichkeiten: Die Dominanz der Lehrkraft liegt in erster Linie darin begründet, dass sie Gespräche in den allermeisten Fällen initiiert und beendet. Schülerpartizipation kann somit als ein Gewährenlassen seitens der Lehrkraft bezeichnet werden. Besonders deutlich wird dies, wenn Schülerinnen und Schüler Raum zur Eigeninitiative erhalten. 3. Realisierung der Partizipation: Diese Eigeninitiative wird hier als Schülerinitiative bezeichnet und ist ein Charakteristikum besonders intensiver Partizipation. Dabei zeigte sich, dass Schülerinitiative als eigenständige und komplexe Gesprächspraktik zu bezeichnen ist, welche insbesondere diskursive Kompetenzen erfordert, wie z. B. die Fähigkeit Beiträge zum genau richtigen Zeitpunkt einzubringen. Gerade bei den z. T. deutlichen sprachlichen Defiziten von Schülerinnen und Schülern in Hauptschulbildungsgängen ist dies kein leichtes Unterfangen. Schwab, Götz (2009). Gesprächsanalyse und Fremdsprachenunterricht 501 Insgesamt zeigte die Untersuchung, wie Lernende im Fremdsprachenunterricht wiederholt versuchen, ihr kommunikatives Potential einzusetzen und auszuspielen. Wenngleich die institutionelle Konversation stark reglementiert ist, ergeben sich doch immer wieder Möglichkeiten der stärkeren Partizipation von Schülerinnen und Schülern, auch wenn die linguistischen Kompetenzen in der Zielsprache klar beschränkt sind. Entscheidend hierbei ist das kommunikative Geschick der Lehrkraft, gerade in der den Fremdsprachenunterricht dominierenden direkten Lehrer-Schüler-Interaktion. Literatur Deppermann, Arnulf (2001). Gespräche analysieren. Eine Einführung. Opladen: Leske und Budrich. Friedrichs, Jürgen (1990). Methoden empirischer Sozialforschung. Opladen: Westdeutscher Verlag. Garfinkel, Harold/ Sacks, Harvey (1970). On formal structures of practical action. In: McKinney, John C./ Tiryakian, Edward A. (Hg.). Theoretical Sociology . New York: Appleton-Century-Crofts, 337-366. Markee, Numa/ Kasper, Gabriele (2004). Classroom talks: An introduction. In: The Modern Language Journal 88(4), 491-500. Schwab, Götz (2009). Gesprächsanalyse und Fremdsprachenunterricht. Landau: Verlag Empirische Pädagogik. Seedhouse, Paul (2004). The Interactional Architecture of the Language Classroom: A Conversation Analysis Perspective. Oxford: Blackwell. Selting, Margret/ Auer, Peter/ Barden, Birgit/ Bergmann, Jörg R./ Couper-Kuhlen, Elizabeth/ Günthner, Susanne/ Meier, Christoph/ Quasthoff, Uta M./ Schlobinski, Peter/ Uhmann, Susanne (1998). Gesprächsanalytisches Transkriptionssystem ( GAT ). In: Linguistische Berichte 173, 91-122. 502 7. Referenzarbeiten Maria Giovanna Tassinari Darstellung der Referenzarbeit: Tassinari, Maria Giovanna (2010). Autonomes Fremdsprachenlernen 1. Thema und Forschungsfragen In der Arbeit ging es zum Ersten darum, eine wissenschaftlich fundierte und praxisorientierte Definition von Lernerautonomie beim Fremdsprachenlernen zu erarbeiten. Auf deren Basis wurde zum Zweiten ein Instrument zur Beschreibung von Kompetenzen und Strategien von Lernenden entwickelt, um Lernende und Lehrende in autonomisierenden Lernprozessen zu unterstützen. Dieses Instrument, ein dynamisches Autonomiemodell mit Deskriptoren, wurde drittens theoretisch und empirisch von Expertinnen validiert und viertens an Studierenden und Lehrenden erprobt. Die zentralen Forschungsfragen waren: 1. Wie kann Lernerautonomie beim Fremdsprachenlernen wissenschaftlich begründet und praxisorientiert definiert und beschrieben werden? 2. Wie können daraus ein Autonomiemodell und Deskriptoren entwickelt werden? 3. Wie können Autonomiemodell und Deskriptoren theoretisch und empirisch validiert werden? 4. Wie können diese Erkenntnisse zum Nutzen von Lernenden und Lehrenden sinnvoll umgesetzt werden? 2. Phasen des Forschungsprozesses und Datenerhebung Die Komplexität der Fragestellung erforderte eine explorativ-interpretative Zugangsweise (Grotjahn 2006 ), sodass das Forschungsdesign ein enges Zusammenspiel zwischen einem theoretisch-konzeptuellen und einem empirischen Zugang vorsah. Ziele des Theorieteils (Frage 1 ) waren Beschreibung und Definition von Lernerautonomie. Die Ziele des empirischen Teils (Fragen 2 bis 4 ) lagen in der Entwicklung, Validierung und Erprobung des dynamischen Autonomiemodells mit seinen Deskriptoren. Tabelle 1 bildet die Phasen des Forschungsprozesses sowie deren Zielsetzung und zeitlichen Ablauf ab. Tassinari, Maria Giovanna (2010). Autonomes Fremdsprachenlernen 503 Phase Zielsetzung und zeitliche Verortung im Forschungsprozeß Phase 1 Literaturrecherche und -analyse Ziel: Erarbeitung einer Definition, Festlegung der Grundkomponenten von Lernerautonomie, Ermittlung von Ansätzen für die Entwicklung von Deskriptoren Phase 2 Erarbeitung einer Methode für die Entwicklung der Deskriptoren Ziel: Festlegung nachvollziehbarer Kriterien und Schritte für die Entwicklung von Deskriptoren Phase 3 Entwicklung des Autonomiemodells (AM) und der Deskriptoren Ziel: Erarbeitung eines wissenschaftlich basierten und praxisorientierten Instruments für die Unterstützung von Lernenden und Lehrenden in autonomisierenden Lern- und Lehrprozessen Phase 4 Pilotstudie Ziel: Erarbeitung und Erprobung eines Verfahrens für die Validierung und Erprobung des AM und der Deskriptoren Phase 5 Empirischer Teil: Validierungsverfahren Ziels: intersubjektive Validierung des AM und der Deskriptoren bzw. Hinweise für deren Überarbeitung Phase 6 Empirischer Teil: Erprobung Ziel: Erprobung des AM und der Deskriptoren an Lernenden und Lehrenden Phase 7 Wissenschaftliches Schreiben Zielsetzung: Darstellung und Reflexion über die Ergebnisse und Erkenntnisse des gesamten Forschungsprozesses Tabelle 1: Phasen des Forschungsprozesses 504 7. Referenzarbeiten Ausgangspunkt bildete die Analyse der einschlägigen Literatur, hauptsächlich aus dem deutsch-, englisch- und französischsprachigen Raum, anhand mehrerer Forschungsfragen: Wie bzw. anhand welcher Kriterien wird Lernerautonomie insgesamt definiert? Welche Kompetenzen werden festgelegt und wie werden sie beschrieben? Welche Entwicklungsstufen von Lernerautonomie werden genannt? Daraus ergaben sich Grundkomponenten von Lernerautonomie sowie Ansätze für die Entwicklung von Deskriptoren für Kompetenzen, Strategien und Einstellungen von Lernenden. In Phase 2 wurden die Deskriptoren in Anlehnung an einige Prinzipien der für den Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen entwickelten Methode definiert (Europarat 2001 : 200 - 217 ). In Phase 3 wurden das dynamische Autonomiemodell und die Deskriptoren entwickelt. In Phase 4 (Pilotstudie) wurden die Verfahren und die Instrumente der Hauptstudie erprobt. Im Fokus der Phase 5 standen die Entwicklung und Durchführung eines qualitativen Verfahrens für die intersubjektive Validierung des dynamischen Autonomiemodells und der Deskriptoren. Dadurch sollte über Autonomiemodell und Deskriptoren ein intersubjektiver Konsens erzielt und somit deren Nachvollziehbarkeit sichergestellt werden. Das Validierungsverfahren, eine themenzentrierte Expertendiskussion, wurde in Anlehnung an Flick ( 2000 : 131 - 142 ) entwickelt, pilotiert und in der Hauptstudie mit zwei verschiedenen Expertengruppen mit leicht unterschiedlichen Schwerpunkten durchgeführt. Für die Auswahl der Expertinnen wurden Kriterien festgelegt, z. B. wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex und berufliche Erfahrung in der Förderung von Lernerautonomie beim Fremdsprachenlernen. Zu den Expertengruppen gehörten Fachwissenschaftlerinnen und Didaktikerinnen. Zusätzlich erfolgte die Datenerhebung für das Validierungsverfahren über Aufgaben der Struktur-Lege-Technik. Zugleich fand eine Erprobung mit Studierenden und Lehrenden statt (Phase 6 ), deren Ziel es war, Feedback zur Selbsteinschätzung auf der Basis des dynamischen Autonomiemodells und der Deskriptoren zu erhalten. Außerdem sollte die Befragung von Studierenden und Lehrenden zur Triangulation der Daten beitragen. Für die Erprobung wurden das Autonomiemodell und die Deskriptoren als Checklisten zur Selbsteinschätzung aufbereitet. Zwei Gruppen von Studierenden führten eine Selbsteinschätzung ihrer Lernkompetenzen anhand der Checklisten durch und gaben dazu Feedback. Zudem wurden zwei Lehrende zum Einsatz der Selbsteinschätzung mit diesen Checklisten in autonomiefördernden Lehrsituationen befragt. Die Datenerhebung der Erprobung sah folgende Schritte vor: (i) Erhebung persönlicher Daten der Befragten; (ii) Leitfadeninterview zu Einstellungen und Erfahrungen der Befragten mit Lernerautonomie; (iii) Durchführung einer Selbsteinschätzung mit den Checklisten sowie (iv) Feedback zur Selbsteinschätzung. Die Expertendiskussionen (Phase 5 ), die Interviews mit Studierenden und Lehrenden sowie die Feedbackgespräche (Phase 6 ) wurden aufgenommen und transkribiert. Die in der Struktur-Lege-Technik (Phase 5 ) von den Expertinnen erarbeiteten Materialien sowie die von den Studierenden ausgefüllten Checklisten (Phase 6 ) wurden eingesammelt. Tassinari, Maria Giovanna (2010). Autonomes Fremdsprachenlernen 505 3. Datenaufbereitung und Datenauswertung Das dynamische Autonomiemodell wurde auf der Basis der Literaturanalyse konzipiert. Wichtig hierfür waren die Festlegung der Komponenten von Lernerautonomie sowie die Abbildung ihrer gegenseitigen Beziehungen im autonomen Lernprozess. Die Modellbildung (Phase 3 ) erfolgte in mehreren Schritten: Das Modell wurde mehrmals im akademischen Kontext vorgestellt und mehrfach überarbeitet. Die Transkripte der Expertendiskussionen wurden im Hinblick auf verschiedene Leitfragen in einer qualitativen Inhaltsanalyse untersucht. Darüber hinaus wurden Argumente und Vorschläge der Expertinnen kontextualisiert, d. h. zuerst im Kontext der Diskussion, dann anhand von Hintergrundinformationen über den beruflichen und akademischen Bezugsrahmen der Expertinnen analysiert, um sie angemessen zu interpretieren und im Hinblick auf die Fragestellung zu gewichten. Dadurch konnte die Validität der Ergebnisse gesichert werden. Außerdem wurde für die Expertendiskussionen eine Gesprächsanalyse mit dem Ziel durchgeführt, die Validität des Verfahrens abzusichern und die Rolle der Forscherin in den Diskussionen aufzuschlüsseln und zu reflektieren. In der Gesprächsanalyse wurden die Expertendiskussionen in ihrer Gesamtheit auf die Prinzipien gut gelungener Kommunikation hin analysiert. Darüber hinaus wurden die Beiträge der Diskussionsteilnehmerinnen sowie der Forscherin auf ihren illokutionären Gehalt hin untersucht (Sprechakttheorie, Searle 1979 ). So konnte ein genaues Bild der jeweiligen Diskussionen erarbeitet werden. Ebenso wurden das kommunikative Verhalten und die Haltung der Forscherin in der Diskussion im Detail analysiert. 4. Ergebnisse Als Ergebnisse liegen zum ersten die Definition von Lernerautonomie, das dynamische Autonomiemodell und die Deskriptoren vor sowie die Methode für die Entwicklung des Autonomiemodells und der Deskriptoren. Diese besteht aus einem doppelten Zugang: Die Erkenntnisse aus einer gezielten Analyse der einschlägigen Literatur (Phase 1 ) konnten anhand nachvollziehbarer Kriterien und Schritte (Phase 2 ) in ein praxisorientiertes Instrument umgesetzt werden (Phase 3 ). Das Validierungsverfahren diente der Absicherung des Autonomiemodells. Die themen- und zielorientierten Diskussionen mit Expertinnen erwiesen sich als geeignet, um den intersubjektiven Konsens über das Autonomiemodell und die Deskriptoren zu erlangen. Die Gesprächsanalyse ermöglichte außerdem einen tiefgreifenden Einblick in kommunikationsdynamische Aspekte der Expertendiskussionen und unterstrich somit die Validität des Verfahrens: Die Diskussionen konnten als inhaltlich und wissenschaftlich relevant betrachtet werden. Sie waren sachlich und erfüllten alle wichtigen kommunikativen Merkmale einer erfolgreichen Diskussion. Durch einen regen, sachlichen und ausgewogenen Austausch führten die Diskussionen zu einer gemeinsamen Bedeutungskonstruktion und konnten somit als gemeinschaftlicher Erkenntnisprozess betrachtet werden. 506 7. Referenzarbeiten Zum Ergebnis der Forschungsfrage 3 gehört außerdem die Reflexion zur Rolle der Forscherin. Diese wurde zum einen durch die genaue Definition und die Abgrenzung zwischen meiner Aufgabe als Forscherin und als Diskussionsleiterin durchgeführt, zum anderen durch die Gesprächsanalyse untermauert, insbesondere durch die genaue Aufstellung meiner Sprechakte und die Reflexion über meine Haltungen in der Diskussion. Die Studierenden hielten die Checklisten zur Selbsteinschätzung für ein gutes Instrument zur Reflexion über den eigenen Lernprozess (Forschungsfrage 4 ). Sie erreichten dadurch eine tiefere Bewusstheit über ihre Einstellungen und Kompetenzen sowie einen Überblick über verschiedene Lernmöglichkeiten. Auch die Lehrenden hielten einen gezielten Einsatz der Checklisten in autonomiefördernden Lernprozessen für sinnvoll und ertragreich. Literatur Europarat, Rat für kulturelle Zusammenarbeit ( 2001 ). Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen für Sprachen: lernen, lehren, beurteilen . Berlin: Langenscheidt. Flick, Uwe (2000). Qualitative Forschung. Theorien, Methoden, Anwendung in Psychologie und Sozialwissenschaften . 5. Auflage. Reinbek: Rowohlt. Grotjahn, Rüdiger (2006). Zur Methodologie der Fremdsprachenerwerbsforschung. In: Scherfer, Peter/ Wolff, Dieter (Hg.). Vom Lehren und Lernen fremder Sprachen: Eine vorläufige Bestandsaufnahme . Frankfurt/ Main: Lang, 247-270. Searle, John (1979). Expression and Meaning. Studies in the Theory of Speech Acts . Cambridge: Cambridge University Press. Tassinari, Maria Giovanna (2010). Autonomes Fremdsprachenlernen: Komponenten, Kompetenzen, Strategien. Frankfurt/ Main: Lang. 8. Fremdsprachendidaktische Forschung im Kontext Petra Kirchhoff/ Friederike Klippel/ Michael K. Legutke An mehreren Stellen in diesem Handbuch scheint auf, in welcher Art und Weise die unterschiedlichen Kontexte auf die fremdsprachendidaktische Forschung wirken, sei es, dass bestimmte Forschungsfelder stärker oder weniger stark beachtet werden, sei es, dass die Forschenden selbst in anderen Kontexten tätig sind. Internationale Entwicklungen beeinflussen die häufig gewählten Forschungsmethoden oder -themen und die öffentliche Förderung gibt bestimmte Parameter vor. Schließlich tragen bildungspolitische, gesellschaftliche und wissenschaftliche Kontexte auch dazu bei, wie viel Forschung überhaupt möglich ist. Fragen, die sich aus diesen unterschiedlichen Zusammenhängen ergeben, sollen im abschließenden Kapitel des Handbuches skizziert werden, ohne dass es möglich ist, tiefergehende wissenschaftstheoretische und -soziologische Aspekte breit zu entfalten. Die Kontexte werden dabei in Form von konzentrischen Kreisen in den Blick genommen. 8.1 Kontext Fach Der engste Kontext für die Fachdidaktik einer Fremdsprache im deutschsprachigen Raum ist die jeweilige Philologie, aus der sich einerseits der Großteil eines vertieften Wissens über Inhalte und Kompetenzen für das Unterrichten der Schulfächer und andererseits ein philologisch geprägter Zugang zur Forschung speisen. Anders als an anglo-amerikanischen Universitäten, an denen die Schwesterdisziplin Applied Linguistics der Sprachwissenschaft oder auch der Psychologie zugeordnet ist, bestehen an den meisten deutschen Universitäten und den Pädagogischen Hochschulen enge Verbindungen zwischen der Literatur-, Kultur- und Sprachwissenschaft einer Philologie und deren zugehöriger Fachdidaktik. Für die fachdidaktische Forschung hat diese Nähe einige Konsequenzen. Zum ersten zeigt ein Blick auf die Forschungstraditionen (s. Kap. 3 ), dass etwa literatur- und kulturdidaktische Arbeiten im deutschsprachigen Raum viel häufiger durchgeführt werden als anderswo. Diese erfolgen sowohl im bewährten konzeptionell-theoretischen Ansatz als auch in zunehmendem Maße empirisch. Der innerfachliche Dialog, so es ihn gibt, und die Verortung der Fachdidaktik mögen diese thematische Ausrichtung fördern; wichtig ist aber sicher auch, dass die Forscher*innen in der Fremdsprachendidaktik in der Regel selbst über die Philologien wissenschaftlich sozialisiert wurden und in diesen Feldern über Kenntnisse verfügen und Interessen verfolgen. Allerdings haben Forscher*innen in den Fremd- 508 8. Fremdsprachendidaktische Forschung im Kontext sprachendidaktiken immer schon relevante Forschungsfragen aus den Bezugsdisziplinen außerhalb des eigenen Fachs aufgegriffen, etwa der Pädagogik oder Psychologie. Derzeit trifft dies beispielsweise auf die Forschung zum inklusiven Fremdsprachenunterricht zu, für den eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen und Evidenzen der Förderpädagogik unabdingbar ist. Zum zweiten bestehen Beziehungen zwischen Forschungsthemen und -verfahren in einem fremdsprachendidaktischen Fach und der jeweiligen Philologie, wenn man daran denkt, dass Forschung anschlussfähig sein soll und fachintern kommuniziert wird. Als stärker auf ein bestimmtes Praxisfeld gerichtete Disziplinen, nämlich Schule oder Bildungseinrichtungen, streben die Fremdsprachendidaktiken u. a. die Verbesserung der Praxis durch neue Erkenntnisse an. Deswegen erachtet man sie in ihrem Fachkontext gelegentlich als zu stark anwendungsbezogen. Hier liegen unterschiedliche Auffassungen von Wissenschaft vor. Es mag also vorkommen, dass fremdsprachendidaktische Forschung bewusst so ausgerichtet wird, dass sie im philologischen Gesamtfach nicht als zu praxisorientiert kritisiert werden kann. Zum dritten bedeutet die fachliche Anbindung für Fremdsprachendidaktiker*innen aber auch, dass man mit den aktuellen Entwicklungen der Forschung in der Sprach-, Literatur- oder Kulturwissenschaft in der entsprechenden Zielsprache konfrontiert wird, was wiederum für die fachdidaktische Forschung Anregungen liefert. Kennzeichnend für diese Zusammenhänge sind u. a. erkennbar fachspezifische Prägungen fremdsprachendidaktischer Forschungsschwerpunkte. Als Beispiele solcher Prägungen seien genannt: Untersuchungen von Unterrichtsdiskursen (geprägt durch die Pragmalinguistik), genre-didaktische Forschungen (geprägt durch die fachspezifische Textlinguistik und Literaturwissenschaft) oder Studien zum kulturellen Lernen mit Jugendliteratur (geprägt durch fachspezifische Kultur- und Literaturwissenschaft). Dass sich die romanistische Fachdidaktik der Erforschung der Mehrsprachigkeit zugewandt hat, ist sicher nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, dass sich das Fach selbst als konstitutiv mehrsprachig versteht. Trotz der Nähe zum Fach sind die Fremdsprachendidaktiken jedoch selbstständige Wissenschaftsdisziplinen, die genuine Forschungsgegenstände bearbeiten. Ihre Aufgabe ist es folglich auch nicht, primär fachwissenschaftliche Inhalte für die schulische Praxis zu transformieren, sondern ihr Selbstverständnis zielt auf die - interdisziplinär und zunehmend transdisziplinär verankerte - eigenständige Erforschung unterrichtsbezogener Fragestellungen. 8.2 Kontext Universität bzw. Hochschule Während seit dem 19 . Jahrhundert bis in die 1960 er Jahre fremdsprachendidaktische Forschungsarbeiten vor allem von Lehrer*innen und somit im Kontext der Schule durchgeführt wurden, verlagerte sich die Forschung nach der Etablierung der Englisch- und der Französischdidaktik an den Pädagogischen Hochschulen (s. Kap. 3 ) allmählich in den Hochschulbereich. Mit der Einrichtung von Professuren, die zunächst mit promovierten Lehrkräften besetzt wurden, entstand zudem das Erfordernis, die wissenschaftliche Qualifizierung durch Promotionen und (später) Habilitationen in einem fremdsprachendidakti- 8.2 Kontext Universität bzw. Hochschule 509 schen Fach zu ermöglichen, um Nachwuchs für die Professuren auszubilden. An den Pädagogischen Hochschulen, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten in den alten Bundesländern in die Universitäten integriert wurden (z. B. in den frühen 1970 er Jahren in Hessen, 1980 in Nordrhein-Westfalen, bis heute nur teilweise in Baden-Württemberg), vertraten die Professuren jeweils das ganze Fach, also Englisch oder Französisch, und waren somit auch für die fachwissenschaftliche Ausbildung der angehenden Lehrkräfte zuständig. Dadurch waren die Forschungsarbeiten dieser Wissenschaftler*innen nicht automatisch auf fachdidaktische Themen im engeren Sinne beschränkt. An den Universitäten wirkt sich vielerorts die geringe personelle Ausstattung der fremdsprachendidaktischen Professuren insofern auf die Forschung aus, als an vielen Standorten die Belastung durch Lehre und Prüfungen sehr hoch ist - höher als in den fachwissenschaftlichen Bereichen, in denen sich mehrere Professuren befinden, die zudem in der Regel über mehr wissenschaftliches Personal verfügen. Weitere Aufgaben in der Praktikumsbetreuung und der Lehrerfortbildung reduzieren zusätzlich die für die Forschung zur Verfügung stehende Zeit. Gleichzeitig besteht auch für die Wissenschaftler*innen in den Fremdsprachendidaktiken der Druck, zur Lösung von konkreten Bildungsproblemen einen wissenschaftlich fundierten Beitrag zu erbringen sowie Drittmittel für Forschungsprojekte einzuwerben, um Zielvorgaben zu erreichen und allgemeinen Leistungserwartungen zu genügen. Aufgrund der geringen Repräsentanz von Fachdidaktiker*innen aus den Geisteswissenschaften in Auswahlgremien für Drittmittel, etwa unter den Gutachter*innen der DFG, sind die Aussichten, tatsächlich eine Drittmittel-Finanzierung für fremdsprachendidaktische Forschung zu erhalten, nicht besonders gut. Auch ist insgesamt die Zahl der Förderprogramme bei Forschungsförderungsinstitutionen eher gering, die zu fremdsprachendidaktischen Forschungsthemen passen. Durch die Qualitätsoffensive Lehrerbildung hat sich die Lage seit 2015 jedoch verbessert, und die Fremdsprachendidaktiken sind in Projekte eingebunden. Stellvertretend für zahlreiche Beispiele seien hier der Fächerverbund Sprachen unter dem Dach des Projekts Level - Lehrerbildung vernetzt entwickeln an der Universität Frankfurt genannt sowie die Einbindung der Fremdsprachendidaktik in das Kompetenznetzwerk digitale fachbezogene Lehrer*innenbildung der Universität Erfurt oder der landesweite Projektverbund ComeIn in NRW. Für das Fach Deutsch als Zweitsprache/ Deutsch als Fremdsprache stellt sich die Situation allerdings besser dar, weil in diesem Bereich Fördermittel für Entwicklungsprojekte bereit stehen, in deren Folge auch Forschungsprojekte möglich werden (s. Teilkapitel 4 ). Entwicklungen in einzelnen Bundesländern, die im Gefolge der Exzellenzinitiativen des Bundes ähnliche Förderprogramme aufgelegt haben, bieten möglicherweise auch neue Perspektiven für die fremdsprachendidaktische Forschung, wie das FaBiT-Projekt (Fachbezogene Bildungsprozesse in Transformation) der Universität Bremen zeigt. In diesem Forschungsprojekt arbeiten insgesamt sechs Vertreter*innen unterschiedlicher Fachdidaktiken und des Zentrums für Lehrerbildung zusammen (Doff/ Bikner-Ahsbahs/ Grünewald/ Lehmann-Wermser/ Peters/ Roviró 2014 ). Insbesondere Verbundprojekte über die Grenzen der eigenen Philologie hinaus sind vielversprechend, da Lösungsansätze für zentrale Bildungsprobleme, wie beispielsweise die wissenschaftliche Fundierung der Qualität von Unterricht nun über erste Studien (z. B. DESI-Studie, DESI Konsortium 2008 ) hinaus, mit weiteren Forschungsansätzen und -per- 510 8. Fremdsprachendidaktische Forschung im Kontext spektiven entwickelt und empirisch validiert werden können (Praetorius/ Nehring 2020 ). Dies kann in zwei Formen der Kooperation erfolgen: Zum Ersten kann interdisziplinäre Forschung entstehen, bei der Fächer mit unterschiedlichen Forschungstraditionen ihre jeweilige Perspektive einbringen, ohne eigene Paradigmen aufzugeben. Zum Zweiten kann die Kooperation transdisziplinäre Forschung leisten, bei der die Zusammenarbeit unterschiedlicher Fächer neue, gemeinsame Forschungsansätze hervorbringt (z. B. Schilcher/ Krauss/ Kirchhoff et al. 2021 ). In allen genannten Forschungsformaten sollten die Kooperationspartner mit einem erweiterten Methodenspektrum, aber vor allem die Forschungsergebnisse selbst mit einer größeren Aussagekraft vom wissenschaftlichen Austausch profitieren. Insgesamt steht zu hoffen, dass sich einerseits die pädagogische und psychologische Forschung an der für den Lernerfolg sehr bedeutsamen fachwissenschaftlichen und fachdidaktischen Fundierung der schulischen Lehr- und Lernprozesse weiterentwickelt und andererseits die Fremdsprachendidaktiken an der Forschungsmethodenkompetenz und den gesicherten Evidenzen der empirischen Bildungswissenschaften wachsen. Da heute ein erheblicher Anteil der fremdsprachendidaktischen Forschung im Rahmen von wissenschaftlichen Qualifikationsarbeiten entsteht, ist die Rekrutierung des wissenschaftlichen Nachwuchses eine wichtige Aufgabe. In der Regel werden daher in den fremdsprachendidaktischen Fächern besonders erfolgreiche Absolvent*innen eines Lehramtsstudiums angesprochen, ob sie promovieren möchten - denn man kann ein Fach wie Englisch- oder Französischdidaktik, anders als Deutsch als Fremd- und Zweitsprache, ja nicht als alleiniges wissenschaftliches Fach im BA oder MA studieren. Da eine erfolgreiche Promotion im staatlichen Schuldienst weder eine bessere Bezahlung noch eine bessere Stellung bewirkt, ist das Interesse an wissenschaftlicher Arbeit in der Fachdidaktik auch bei hervorragenden Absolvent*innen so lange sehr gering, solange die Einstellungschancen im Schuldienst gut sind. Die Beschäftigung auf einer halben Qualifikationsstelle von unsicherer Dauer an einer Universität kann mit dem sicheren, meist unbefristeten Status im Schuldienst in der Regel nicht konkurrieren. Daher liegen die Zahlen für erfolgte Promotionen in den Fachdidaktiken meist wesentlich unter denen in den fachwissenschaftlichen Bereichen. Auch herausragend qualifizierte Absolvent*innen, die zunächst den Wunsch äußern, nach abgeschlossenem Referendariat in die Forschung zurückzukehren, setzen diesen Wunsch oftmals nicht in die Praxis um, weil entweder an den Hochschulen angemessene Qualifikationsstellen fehlen oder die Kultusministerien kaum Abordnungen von Lehrkräften an die Hochschulen ermöglichen. 8.3 Kontext Lehrerbildung Heute sind die fremdsprachendidaktischen Professuren an Universitäten und Pädagogischen Hochschulen verankert und dort vor allem in der Ausbildung von Lehrkräften für alle Schulformen (für die Schulfremdsprachen und Deutsch als Zweitsprache) oder für den Einsatz im Deutschunterricht in nicht deutschsprachigen Regionen (Deutsch als Fremdsprache) tätig. Diese Schwerpunktsetzung in der Lehre und der damit verknüpfte Kontakt zum Praxisfeld bedingen für viele Fremdsprachendidaktiker*innen eine wissenschaftliche 8.4 Kontext Bildungs-, Kultur- und Sprachenpolitik 511 Fokussierung auf den gesteuerten, institutionell gebundenen Fremdsprachenerwerb sowie auf Inhalte, Methoden und Wirksamkeit von Lehrer*innenbildung in allen Phasen der Professionalisierung. Darüber hinaus sind einige Fremdsprachendidaktiker*innen in der Fortbildung von Lehrer*innen sowie in der Qualifikation von Quereinsteiger*innen engagiert und begleiten diese wissenschaftlich (Caspari 2018 ). In der Zusammenarbeit mit anderen Fachdidaktiken und den Bildungswissenschaften, die heute vielfach an den Lehrerbildungszentren verortet ist, entstehen weitere Impulse für die Forschung. Derzeit geschieht dies häufig im Rahmen von inter- und transdisziplinären Verbundprojekten und -aktivitäten, die bei der Qualitätsoffensive Lehrerbildung (Förderung durch das BMBF ab 2015 ) eingeworben wurden. Diese Kooperationen sind für alle Beteiligten anregend, weil Fragestellungen aus unterschiedlichen Perspektiven und mit eventuell sehr unterschiedlichen Forschungsmethoden angegangen werden und deshalb auch neue Erkenntnisse versprechen. Gerade für die pädagogische und psychologische Forschung ist ein fachlicher Fokus oftmals interessant. Im Gegenzug profitiert die Fremdsprachendidaktik von der Forschungsmethodenkompetenz der empirischen Bildungswissenschaften. Da die Lehrerbildung und die mit ihr verbundene Schulentwicklung in der Verantwortung der Länder liegt, können Institutionen in diesem Feld (Ministerien, Fortbildungsinstitute und Lehrerakademien) Impulse für Forschung geben, indem sie etwa die wissenschaftliche Begleitung und Evaluation von Entwicklungsprojekten finanzieren und Fachdidaktiker*innen zur Mitarbeit einladen. Ein Beispiel für solche Forschung ist die von Nordrhein-Westfalen in Auftrag gegebene Evaluation Englisch in der Grundschule EVE- NING (Groot-Wilken 2009 ; Börner/ Engel/ Groot-Wilken 2013 ). Im Hamburger Schulversuch alles<<könner wurden in Zusammenarbeit mit dem IPN Kiel (Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik) u. a. Materialien zur Weiterentwicklung und Implementierung kompetenzorientierten Unterrichts für unterschiedliche Unterrichtsfächer, z. B. für Englisch, erstellt sowie Forschungsprojekte angestoßen (Harms/ Schroeter/ Klüh 2016 ). Auch in Bremen wurde in Kooperation zwischen dem Landesinstitut und der Universität eine Reihe von Schulbegleitforschungsprojekten durchgeführt (z. B. Bechtel 2015 ). Vergleichbare Evaluationsstudien und Ergebnisse wissenschaftlicher Begleitung von Schulprojekten ließen sich auch für einige andere Bundesländer nennen. Der Kontext der Lehrerbildung bringt jedoch noch weitere Aspekte ins Spiel. In den einzelnen Bundesländern existieren unterschiedliche Zugriffsmöglichkeiten auf das Praxisfeld Schule zum Zwecke der Forschung. Ob Fremdsprachendidaktiker*innen daher Zugang zum Unterricht, zu Lehrkräften und Schüler*innen erhalten, hängt sehr stark von den jeweils notwendigen Genehmigungsverfahren ab. 8.4 Kontext Bildungs-, Kultur- und Sprachenpolitik Erheblichen Einfluss auf die fremdsprachendidaktische Forschung haben bildungspolitische Entwicklungen - auf deutscher und auf internationaler Ebene. So hat der Gemeinsame europäische Referenzrahmen für Sprachen (GeR), der die Verabschiedung von Bildungsstandards in Deutschland beeinflusste, vielfältige affine Forschungsvorhaben mo- 512 8. Fremdsprachendidaktische Forschung im Kontext tiviert. Die Einrichtung des IQB (Institut für Qualitätssicherung im Bildungswesen) schuf weitere Projekte, in deren Rahmen fremdsprachendidaktische Forschung erfolgte. Einzelne Bundesländer haben zudem länderspezifische Institutionen eingerichtet, die sich mit der Qualitätssicherung auf Landesebene befassen und Forschung anstoßen. Am Fach Deutsch als Fremd- und Zweitsprache lässt sich verdeutlichen, wie die Untersuchungsgegenstände zu bestimmten Zeitpunkten stark durch die Bildungspolitik oder die auswärtige Kulturpolitik verändert werden: Die Auswirkungen der Integrationskursverordnung und die entsprechende Zuständigkeit des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge für den Bereich der DaZ-Erwachsenenbildung in Deutschland sind Beispiele für diesen Einfluss im Inland. Die Initiative Schulen: Partner der Zukunft (PASCH ), mit der der Deutschunterricht weltweit an Schulen gefördert wurde, illustriert den auslandsbezogenen Fall. Solche massiven Veränderungen im Unterrichtswesen wecken selbstverständlich das Interesse von Forscher*innen im Fach DaF/ DaZ. Darüber hinaus sind Mittlerorganisationen der auswärtigen Kulturpolitik wie beispielsweise der DAAD und das Goethe-Institut nicht nur einflussreiche Akteure, wenn es um die Anbahnung von internationalen Forschungskooperationen geht, sondern sie gestalten ausgewählte Forschungsbereiche aktiv mit, die in ihrem zentralen bildungs-, kultur- und sprachenpolitischen Interessenfeld liegen. Als Beispiel kann das Test-DaF-Institut angeführt werden, das als An-Institut der Ruhr-Universität Bochum von der Gesellschaft für Akademische Studienvorbereitung und Testentwicklung e. V. beraten wird und dessen Budget und Aufgaben von diesem Verein beschlossen werden; Mitglieder des Vereins sind neben vielen anderen DAAD, Hochschulrektorenkonferenz und Goethe-Institut. 1 Vielfach ermöglichen die von einflussreichen Akteuren der Kulturpolitik geförderten Entwicklungsprojekte in ihrer Peripherie fachdidaktische Forschungsprojekte. Ein prägnantes Beispiel ist das vom Goethe-Institut in Verbindung mit der Süddeutschen Zeitung über 10 Jahre an der Justus-Liebig-Universität Gießen geförderte Entwicklungsprojekt JETZT Deutsch lernen . Es bot u. a. den Forschungskontext für die explorativ-interpretative Studie zu interkulturellen Interaktionen im Chat (Marques-Schäfer 2013 ). Von besonderer Bedeutung für fremdsprachendidaktische Forschungen sind die kultur- und bildungspolitischen Initiativen zahlreicher Stiftungen, von denen stellvertretend einige genannt werden, die vor allem im Bildungsbereich und zum Teil auch auf dem Feld des Lehrens und Lernens fremder Sprachen aktiv sind: Baden-Württembergstiftung (ehemals Landesstiftung Baden-Württemberg), BMW-Stiftung, Dr. Werner Jackstädt-Stiftung, Körber-Stiftung, Hertie-Stiftung Mercator Stiftung, Robert-Bosch-Stiftung, Stiftung Lernen, Telekom Stiftung und Volkswagenstiftung. Ähnlich wie im Falle der o. g. Mittlerorganisationen werden von den Stiftungen in der Regel innovative Entwicklungsprojekte gefördert, die im bildungspolitischen Trend liegen. Im Umfeld solcher Projekte können an den beteiligten Hochschulen Möglichkeiten und Freiräume für Forschung entstehen, die ohne das Engagement der Stiftungen nicht existieren würden. Als Beispiel diene das von der Baden-Württembergstiftung in Kooperation mit dem Land Hessen, den Pädagogischen Hochschulen Freiburg und Heidelberg und der Justus-Liebig-Universität Gießen geförderte Entwicklungsprojekt E-LINGO. Didaktik des frühen Fremdsprachenlernens , das zur 1 Vgl. www 2 .testdaf.de/ ueber-uns/ gremien ( 04 . 06 . 2021 ). Realisierung eines Masterprogramms im Blended-Learning -Format führte (Landesstiftung 2008 ). Im Windschatten des Projekts entstanden eine Promotion zum frühen Englischlernen (Drese 2008 ) und zwei Promotionen zur Qualifizierung von Lehrkräften für den Primarbereich Englisch (Benitt 2015 ; Zibelius 2015 ). Auf ein weiteres, ebenfalls von einer Stiftung ermöglichtes und durch lokale und internationale Wirtschaftsunternehmen gestütztes Beispiel der Universität Wuppertal wird in dem Teilkapitel „Kontext Wirtschaft“ verwiesen. In den Bereichen DaZ/ Sprachbildung engagiert sich das von der Mercator- Stiftung unterstützte Mercator-Institut an der Universität zu Köln. Seit 2012 werden z. B. in vielen Bundesländern Forschungs- und Entwicklungsprojekte mit dem Ziel einer Verbesserung der diesbezüglichen Ausbildung von Studierenden aller Lehrämter gefördert. Einerseits ist es sehr positiv zu sehen, dass fremdsprachendidaktische Forschung durch die Veränderungen des Bildungswesens und seiner Parameter gefördert wird. Andererseits muss man jedoch fragen, inwieweit eine solche ideelle oder materielle Förderung die Ergebnisse in gewisser Weise präjudiziert und die Erforschung anderer, ebenfalls wichtiger Fragen verhindert. Was geschieht mit unliebsamen Ergebnissen in solchen Forschungsprojekten, die im öffentlichen Auftrag handeln? Und zuweilen werden bildungspolitische Weichenstellungen vollzogen, ohne dass es dazu eine Begleitforschung oder wissenschaftliche Evaluation gibt. Das war etwa beim Begegnungssprachenunterricht in den nordrhein-westfälischen Grundschulen in den 1990 er Jahren der Fall. Ein signifikantes Beispiel aus der jüngsten Gegenwart ist die von den Bundesländern praktizierte Inklusion, der eine qualifizierte und vorgelagerte Begleitforschung für die Fachdidaktiken fehlt. Im Umkehrschluss führen allerdings auch erfreulich positive Forschungsergebnisse nicht automatisch zu bildungspolitischen Veränderungen. In der Fremdsprachendidaktik selbst gibt es bisher keine Diskussion um öffentliche Förderung bestimmter Forschungsvorhaben und damit zusammenhängend um Auftragsforschung. Das DESI-Projekt war ein bedeutendes, mit öffentlichen Geldern gefördertes Großprojekt für den Sprachunterricht und wurde durch einen Wissenschaftlichen Beirat beraten (Beck/ Klieme 2007 ; Göbel 2007 ; DESI-Konsortium 2008 ). Allerdings sind die dort erhobenen Daten, etwa die Videodaten, nach Abschluss des Projekts nicht im open-access Verfahren für die weitere Forschung zugänglich, was die Frage nach der Nachhaltigkeit aufwirft. Auch bei anderen, vor allem den durch Drittmittel geförderten Projekten ist Nachhaltigkeit von Forschungsergebnissen ein ernstes Thema. Insbesondere bei Entwicklungsprojekten stellt sich die Frage, ob und wie lange das geschaffene Material oder Konzept praktisch verwendet wird. Dies ist eine grundsätzliche Problematik, die die Fremdsprachendidaktik wie andere Wissenschaften betrifft. Wissenschaftler*innen agieren vielfach in der Beratung von Institutionen, öffentlichen Einrichtungen, Gremien und gesellschaftlichen Initiativen. Aus diesen Kontexten ergeben sich für sie eventuell Einblicke in Entwicklungen, die einen gewissen Informationsvorsprung im Hinblick auf geplante Fördermaßnahmen und Möglichkeiten der Antragstellung darstellen können. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach der Transparenz der Auswahlkriterien für Berater*innen. In demokratischer und wissenschaftspolitischer Hinsicht besorgniserregend erscheint die Tatsache, dass selbst auf ministerialer Ebene häufig an den entsprechenden Fachverbänden vorbei die Zusammenarbeit mit Einzelpersonen gesucht wird, die in dieser Zusammenarbeit selbstverständlich auch eigene Inter- 8.4 Kontext Bildungs-, Kultur- und Sprachenpolitik 513 514 8. Fremdsprachendidaktische Forschung im Kontext esse verfolgen (müssen) und entsprechend der politischen Interessen auch ausgewechselt werden. Daher sollte von den Mitgliedern der forschenden Gemeinschaft zur Fremdsprachendidaktik immer selbstkritisch hinterfragt und kommuniziert werden, ob uns auch tatsächlich evidenzbasiertes Veränderungs- und Handlungswissen für die Beratung von Bildungspolitik zur Verfügung steht oder ob wir auf einer Basis von normativen Entscheidungen operieren müssen (vgl. Baumert 2016 : 226 ). Zudem wäre es wünschenswert, wenn die Instrumente und Daten aus Erhebungen der Bildungssysteme wie beispielsweise Jahrgangs- und Abschlusstests stärker von Forscher*innen unter Einhaltung von forschungsethischen und datenschutzrechtlichen Richtlinien genutzt werden (könnten). Zukünftig dürften auch in den Fremdsprachendidaktiken Wissenschaftspraktiken der Open Science , bei denen primäre Forschungsdaten und Metadaten offen zur Verfügung gestellt werden, um Re-Analysen zu ermöglichen und Transparenz zu erzeugen, eine zunehmend größere Rolle spielen. 8.5 Kontext Wirtschaft Ohne Frage gehen auch von den für die Fremdsprachendidaktiken relevanten Wirtschaftsunternehmen Impulse aus, etwa den privaten Sprachenschulen oder den Verlagen für Lehrmaterial. Besonders letztere können durch die Arbeit der z. T. mit Wissenschaftler*innen besetzten Beratungsgruppen, die bei einschlägigen Verlagen bestehen, Forschungsthemen anstoßen. Fremdsprachendidaktiker*innen haben somit einerseits die Möglichkeit, an wirtschaftlichen Entwicklungen zu partizipieren und andererseits deren Richtung mitzubestimmen - auch wenn dies nur in begrenztem Maße möglich ist. Damit eröffnen sich im direkten Kontakt mit den Prozessen der Materialentwicklung Aufgaben für Forschung, die besonders in Umbruchsphasen an Brisanz gewinnen. So macht die Digitalisierung als Motor der Mediatisierung des letzten Jahrzehnts ein neues Nachdenken über Konzeption und Implementierung von Lehr- und Lernmaterialien dringend erforderlich, denn deren zukünftige Rolle und Ausgestaltung durch die Bildungsverlage ist nicht geklärt. Trotz des engen fachlichen Verhältnisses und partieller Kooperation der Fremdsprachendidaktiken mit Verlagen haben letztere bisher nicht in eine systematische Nutzerforschung investiert. Dies könnte erklären, weshalb im Forschungsfeld Lehrwerks- und Materialforschung die Analyse bereits vorliegender, also historischer und gegenwärtiger Lehr- und Lernmaterialien bei weitem dominiert, eine systematische Erforschung von Notwendigkeiten der Anpassung von Lehrmaterialien an das sich verändernde Bildungssystem und die Lerngewohnheiten der Menschen - beispielsweise im Vergleich zu den naturwissenschaftlichen Fachdidaktiken - jedoch kaum entwickelt ist. Von dem für die fremdsprachendidaktische Forschung wichtigsten Wirtschaftszweig, den Bildungsverlagen, sind auch in Zukunft nur sehr eingeschränkte Mittel für die Forschungsförderung zu erwarten, wie auch andere Wirtschaftszweige kaum Interessen entwickeln dürften, größere Forschungsvorhaben zu fördern. Dennoch bleibt festzuhalten, dass es Forscher*innen immer wieder gelingt, lokale wie international agierende Wirtschaftsunternehmen für die Förderung einzelner (lokaler) Projekte zu gewinnen. Als Beispiel diene das MobiDic - Projekt ( Mobile Dictionaries ) der Ber- 8.6 Kontext Gesellschaft und Fazit 515 gischen Universität Wuppertal, das den Einsatz von portablen elektronischen Wörterbüchern in Englisch Grundkursen an Haupt- und Gesamtschulen in Wuppertal untersuchte. Die Basisförderung durch die Dr. Werner Jäckstädt-Stiftung (s. o.) konnte durch Mittel der Stadtsparkasse Wuppertal und Sachspenden der Firmen Casio und Sharp ergänzt werden (Diehr/ Gießler/ Kassel 2016 ) 2 . Gerade die Verflechtung wirtschaftlicher und wissenschaftlicher Interessen in Projekten dieser Art macht es jedoch zwingend erforderlich, dass Forscher*innen auf die Transparenz des Forschungsdesigns und die Darstellung sämtlicher Forschungsergebnisse achten, damit die Unabhängigkeit der Forschung gewahrt bleibt. 8.6 Kontext Gesellschaft und Fazit Der Weg durch die konzentrischen Kreise verdeutlicht, in welch vielfältiger Art und Weise die einzelnen Kontexte auf die fremdsprachendidaktische Forschung einwirken und wie diese solche Impulse aufnimmt. Für eine praxisorientierte Disziplin, die den Anspruch erhebt, das Lehren und Lernen von Sprachen sowie die Lehrer*innenbildung für die Vermittlung von Fremdsprachen besser zu verstehen sowie auf der Basis der gewonnenen Erkenntnisse weiter zu entwickeln und zu verbessern, stellt sich die Frage, ob und wenn ja, in welcher Weise sie die Kontexte beeinflussen und damit ihre Entscheidungs- und Handlungsspielräume bestimmen und/ oder gar erweitern kann. Diese Frage berührt ein komplexes Geflecht von Zusammenhängen und unterschiedlichen Diskursen, weshalb es kaum verwundert, dass sie innerhalb der Disziplin kontrovers erörtert wird (vgl. Bausch/ Burwitz-Melzer/ Königs/ Krumm 2011 ). Insbesondere im Hinblick auf die Bildungspolitik zeigen sich unterschiedliche Dynamiken. Einerseits sind in Bezug auf bestimmte bildungspolitische Entscheidungen Problemfelder erkennbar, die die fremdsprachendidaktische Forschung als „nachholende Forschung“ (Hallet 2011 ) erscheinen lassen; eine Forschung die „man je nach Standort als Bearbeitung, als Kritik, als Korrektur und Reparatur […] bezeichnen kann“ (Hallet 2011 : 65 ). Prägnantes Beispiel ist hier sicher die Einführung der Bildungsstandards (vgl. Königs 2011 ). Andererseits lassen sich auch Beispiele anführen, die zeigen, dass Bewegungen in der Praxis, begleitet von zunächst einzelnen Forschungsprojekten, durchaus von der Bildungspolitik aufgenommen werden und diese beeinflussen können. Die Geschichte des bilingualen Unterrichts illustriert diesen Fall: Entstanden als eine Bewegung der Schulpraxis hat sich das Konzept bundesweit durchgesetzt und zugleich weitere Forschung in erheblichem Ausmaß stimuliert. Und schließlich gibt es auch Bereiche, in denen die Bildungspolitik weder die Forschung anregt noch relevante Forschungsergebnisse zu Reaktionen der Bildungspolitik führen. Zu Letzterem ist beispielsweise auf die traditionelle zweite Phase der Lehrerbildung zu verweisen, deren notwendige Umgestaltung trotz vorliegender Forschungsergebnisse (vgl. etwa Gerlach 2020 ) bislang nicht erfolgt. 2 S. www.anglistik.uni-wuppertal.de/ forschung/ forschungsprojekte/ mobile-dictionaries/ mobidic-home. html ( 04 . 06 . 2021 ) 516 8. Fremdsprachendidaktische Forschung im Kontext Das vielschichtige Wechselverhältnis von fremdsprachendidaktischer Forschung und Bildungspolitik einerseits und Öffentlichkeit andererseits lässt sich an der Einführung von Fremdsprachen in den Grundschulbereich verdeutlichen. Diese erfolgte in einigen Bundesländern mit unterschiedlich aufwändiger Begleitforschung und stimulierte eine ganze Palette vorwiegend empirischer Studien zu Teilaspekten frühen Fremdsprachenlernens. Die Ergebnisse der Studien bestätigen einerseits, dass die Kinder trotz begrenzter Zeitbudgets mit Begeisterung das neue Fach annehmen und Teilkompetenzen erwerben, die in den weiterführenden Schulen ausgebaut werden können. Andererseits haben sie signifikante Defizite bezüglich der Aus- und Fortbildung der Lehrkräfte aufgedeckt, die von der Bildungspolitik der Länder weitgehend nicht beachtet werden. Der Fremdsprachenunterricht in der Grundschule hatte lange den Status eines ‚heißen Themas‘. Wie häufig bei heißen Themen bedienten sich unterschiedliche Interessengruppen (etwa Lehrer- und Elternverbände) einzelner Forschungsergebnisse, die sie über die Presse lancierten. Der offensive Umgang mit der Instrumentalisierung von isolierten Forschungsergebnissen durch Interessengruppen ist genauso wie das Einbringen von differenzierten Forschungsergebnissen in den öffentlichen Diskurs sicher eine der wichtigen Aufgaben von Forscher*innen. Um letzteres bemüht sich z. B. die Mehrsprachigkeitsdidaktik, indem sie vernetztes Sprachenlernen als Bildungsaufgabe beschreibt und Wege seiner Realisierung erörtert. Sie reagiert damit auf die soziokulturellen Entwicklungen der weltweiten Migrationsbewegungen und der wirtschaftlichen Globalisierung, die immer offensichtlicher werden lassen, dass etablierte Sprachunterrichtskonzepte in einer multilingualen Schule der Revision bedürfen (z. B. Hu 2003 ; Meißner/ Beckmann/ Schröder-Sura 2008 ; Hülsmann/ Ollivier/ Strasser 2020 ). Fremdsprachendidaktische Forschung ist eine gesellschaftlich alimentierte Tätigkeit. Gesellschaftliche Institutionen haben deshalb zu Recht einen gewissen Anspruch auf verwertbare Forschungsergebnisse und verlässliche Beratung in öffentlichen Einrichtungen, Gremien und Initiativen. Allerdings würde man die Leistungsfähigkeit auch einer praxisorientierten Wissenschaft wie der Fremdsprachendidaktik gründlich missverstehen, würde man sie ausschließlich danach bewerten, wie stark sie direkt auf die Praxis einwirkt und dabei praktische Probleme löst. In vielen Kapiteln dieses Handbuchs wird das differenzierte Verhältnis von Theorie und Empirie und damit auch die Relation von Forschung und Praxis nicht zuletzt mit Bezug auf die allgemeinen Gütekriterien von Forschung erläutert. Fremdsprachendidaktische Forschung muss - wie alle Forschung - unabhängig, zuvörderst am Erkenntnisgewinn orientiert und von grundlegenden ethischen Prinzipien geleitet sein. Zu dieser Unabhängigkeit gehört u. a. die Bereitschaft und Fähigkeit der Forscher*innen, neue Fragen zu stellen, dem bildungspolitischen Mainstream analytisch und kritisch zu begegnen, den Mut zu zeigen, auch gegen den Strom zu schwimmen und damit den Trends zu widerstehen, die möglicherweise einfache Lösungen signalisieren. Nicht zuletzt gehört es zur forscherischen Haltung, die Erkenntnishorizonte der eigenen Forschung aufzudecken und auch sich selbst und das eigene Projekt immer wieder kritisch zu reflektieren. 8.6 Kontext Gesellschaft und Fazit 517 › Literatur Baumert, Jürgen (2016). Leistungen, Leistungsfähigkeit und Leistungsgrenzen der empirischen Bildungsforschung. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 19, 215-253. DOI: 10.1007/ s11618- 016-0704-4. Bausch, Karl-Richard/ Burwitz-Melzer, Eva/ Königs, Frank/ Krumm, Hans-Jürgen (Hg.) (2011). Erforschung des Lehrens und Lernens fremder Sprachen: Forschungsethik, Forschungsmethodik und Politik . Tübingen: Narr. Bechtel, M. 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Unterricht und Kompetenzerwerb in Deutsch und Englisch. Ergebnisse der DESI-Studie . Weinheim: Beltz. Diehr, Bärbel/ Gießler, Ralf/ Kassel, Jan Philipp (2016 ). Englisch lernen mit portablen elektronischen Wörterbüchern. Ergebnisse der Studie Mobile Dictionaries . Frankfurt/ M.: Lang. Doff, Sabine/ Bikner-Ahbahs, Angelika/ Grünewald, Andreas/ Komoss. Regine/ Lehmann-Wersmer, Andrea/ Peters, Maria/ Roviró, Bàrbara (2014). Change and continuity in subject-specific contexts: Research report of an interdisciplinary project group at the University of Bremen. In: Zeitschrift für Fremdsprachenforschung 25/ 1, 73-88. Drese, Karin (2008). Einschätzung der Sprechleistung von Lernern im Englischunterricht der Grundschule . Gießen: Universitätsbibliothek [Online: geb.uni-giessen.de/ geb/ volltexte/ 2008/ 6338] (04.06.2021). Gerlach, David (2020). Zur Professionalität der Professionalisierenden: Was machen Lehrerbildner*innen im fremdsprachendidaktischen Vorbereitungsdienst? Tübingen: Narr. 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Fremdsprachendidaktische Forschung im Kontext Hülsmann, Christoph/ Ollivier, Christian/ Strasser, Margareta (Hg.) (2020). Lehr- und Lernkompetenzen für die Interkomprehension. Perspektiven für die mehrsprachige Bildung. Münster: Waxmann. Königs, Frank (2011). Eine Frage der Ehre - und nicht nur eine, und nicht nur der Ehre. Grundsätzliche Anmerkungen zur Erforschung des Lehrens und Lernens fremder Sprachen. In: Bausch, Karl-Richard/ Burwitz-Melzer, Eva/ Königs, Frank/ Krumm, Hans-Jürgen (Hg.), 113-124. Landesstiftung Baden-Württemberg (Hg.) (2008). E-LINGO. Didaktik des frühen Fremdsprachenlernens. Erfahrungen und Ergebnisse mit Blended-Learning in einem Masterstudiengang . Tübingen: Narr. Marques-Schäfer, Gabriela (2013). Deutsch lernen online. Eine Analyse interkultureller Interaktionen im Chat. Tübingen: Narr. Meißner, Franz-Josef/ Beckmann, Christine/ Schröder-Sura, Anna (2008). Mehrsprachigkeit fördern. Vielfalt und Reichtum Europas in der Schule nutzen (MES). 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Register A Ad-hoc-Stichprobe 89 adjacency pair 312 Aktionsforschung 69, 75, 81, 402 Alpha-Fehler 358 Alteritätsforschung 245 Alternativhypothese 345, 355, 357 Analyse deduktive 279 induktive 279 kategorisierende 289 kompetenzbezogene 324 kontrastive 330 von Diskursen 236 Analyseprozess 297 analytisch-nomologisch 8, 52 Ankerbeispiele 311 Ankeritems 220 anonym 119 Anonymisierung 119, 268 Anordnung zeitliche 55 Antwortoption 168 anwendungsorientierte Wissenschaft 11 Arbeitsplanung 419 Artefakte 66 assessment literacy 224 Audioaufnahme 151, 156, 267 Audio-Tagebücher 185 Audio- und Videodaten 155, 305 Aufbereitung 194 Aufnahmen 155 Auftragsforschung 13, 513 Ausstrahlungseffekt 168 Auswahl qualitative Merkmale der 142 Auswahl und Zusammenstellung von Texten 141 Auswertung 331 B Beboachtung teilnehmende 150 Beeinflussung 209 Befragung 162 mündliche 162, 169 offene 163 schriftliche 162, 169 semi-offene 163 standardisierte 163 Befragungsfehler 175 Begleitforschung 516 Begriff 235 Belege 67 Organisation der 67 Überprüfbarkeit der 67 Beobachtung 147, 149, 150 gesteuerte (auch: strukturierte, systematische) 149 nicht-teilnehmende 149 teilnehmende 149 ungesteuerte (auch: unstrukturierte, unsystematische) 149 Beobachtungsbericht 151 Beobachtungsbogen 152, 155 Bequemlichkeitsauswahl 89 Beratung 421, 438, 513 Berichts- und Meinungsdaten 65 Beta-Fehler 358 Betreuung 438, 440 Betreuungsgespräch 420 Betreuungsvertrag 438 between-method 99 Beurteilerübereinstimmung 372 Beurteilung 153 Bibliographie 34, 133, 409 Bibliothekskataloge 133 Bildungspolitik 225 bildungspolitische Positionierung 44 bildungswissenschaftliche Positionierung 44 Binnensicht 73 bivariate Verfahren 356 C CFA 385 Chi-Quadrat 363 complete observer 150 complete participant 150 Conclusio 429 context 306 criterion sampling 91 Cronbachs Alpha 371 D data driven 310 Daten 63, 127, 414, 415 Analyse 254 deskriptive 65 Gewinnung 254 Gruppierung der 298 Interpretation 254 intervallskalierte 166 narrative 65 normalverteilte 344 ordinale 166 qualitative 65 quantitative 65 rangskalierte 166 520 Register Verteilung der 344 Datenanalyse 106, 108 Datenaufbereitung 323 Datenbanken 106, 133, 144, 194 Datenerhebung 267 Datenfriedhöfe 127, 255 Datenmanagement 67 Datenmitschnitt 178 Datensampling 85 Datenschutz 117 Datentriangulation 98 de-anonymisiert 120 deduktive Analyse 279 dehoaxing 116 desensitizing 116 Design 56, 412 mehrmethodisches 262 Design-Based-Research 402 Design Research 402 Design-Theorie 78 deskriptiv 50, 51 Deskriptivstatistik 351, 355 Diagnosetest 215, 217 d Indizes 107 discourse analysis 303 Diskurs 233 Diskursanalyse 36, 232, 233 Diskursdaten 65 Diskursebene 233 Diskursfragment 233 Diskursstrang 233 Diskussion der Erträge 423 Disputation 434 Doktorandenkolloquium 430 Doktorandenseminar 431 Dokumentarische Methode 298 Dokumente 63, 127, 130, 139, 202, 231 Anordnung von 130 Auswahl von 130 halboffizielle 64, 131 öffentliche 131 offizielle 64, 131 private 64, 131 Sammlung von 130 Suche von 130 Verfügbarkeit von 133 Dokumentensammlung 130 Dokumenttypen 130 Drittmittel 509 E Educational Design Research (DR) 69 EFA 385 Effekte Signifikanz der 107 Effektgröße 90, 108, 360, 363 Effektstärke 107, 108, 111, 357, 359, 360, 361, 363 Effektstärkeindizes 108 Eigentümerschaft (ownership) 184 Einfach-Item 167 Einstufungstest 215, 217, 221 Einwilligung 117 Einwilligungserklärung 117, 120 Einzelfall 292, 297 Einzelinterview 163 Elizitierung 190 embedded design 56 emisch 8, 148, 305, 306 emische Perspektive 52, 253, 262 Empirie 47, 50, 51 empirische Forschung 50 Enaktierungspotenzial 270 English language bias 106 Entwicklungsforschung 402 Ereignisstichproben (event sampling) 154 Erfahrungsbericht 50 Erfahrungsraum 270 erfassen 127, 190 Erfassung 190, 191, 193, 207 Ergebnisse Untersuchung der 106 erheben 127, 190 Erhebung 190, 191, 192, 193, 207 Erinnern lautes 181 stimulusbasiertes lautes 190 videobasiertes lautes 184 Erkenntnisinteresse 11, 397 Erkenntnisprozess 259 Erträge Diskussion der 423 empirischer Arbeiten 425 historischer Arbeiten 428 theoretischer Arbeiten 428 Zusammenfassung der 423 Erzählimpulse 174 ethischer Code 114, 115 Ethnographie 52, 150 Ethnomethodologie 252 etisch 8, 148 etische Perspektive 52 Evaluation 511 Evaluationsforschung 402 Evaluation von ausgewählten Studien 106 Event-Sampling 93 Experiment 52, 402 Experteninterview 170, 174 explanativ 50, 51 explanatory design 55 explorativ 50 explorativ-interpretativ 8, 52, 53, 54 explorativ-interpretatives Paradigma 414 exploratorische Faktorenanalyse (EFA) 346, 378 exploratory design 55 Exposé 419, 431 Extraktion 385 Extraktion der Faktoren 384 Register 521 Exzellenzinitiative 509 F Fach-Community 436 Fachliteratur Rezeption und Verarbeitung vorhandener 255 Fachöffentlichkeit 431 fachspezifische Prägung 508 Fachzeitschrift 25 Faktor 383, 384, 385, 386 Faktoren 378 latente 386 Faktorenanalyse exploratorische 378, 390 konfirmatorische 378, 390 Faktorenextraktion 383 Faktorenkomplexion 12, 15, 40, 97, 343, 346 Faktorladung 380, 383, 384, 386, 387 Fallbeschreibung 271 Fallmatrix 286 Fallstudie 69, 80 Fallvergleich 71 Fehleranalyse 324 Fehlverhalten 120 Feld 150 Feldnotiz 151 Feldrückzug 116 Flexibilität 260 focus group interview 173 formativ 217 Forschendentriangulation 307 Forscher*in Rolle als 404 Forscher*innentriangulation 100 Forschertagebuch 151 Forschung angewandte 10 empirische 50 Funktionen theoretischer 40 historische 32 theoretische 40, 402 Typen theoretischer 40 Forschungsansatz 70 Forschungsbericht 432 Forschungsbeziehung 115 Forschungsentscheidung 61 Forschungsethik 114 Forschungsfeld 13, 15 Zugang zum 115 Forschungsfrage 136, 202, 212, 398, 399 Forschungslücke 407 Forschungsmethode 125 Forschungsmethodologie 253 Forschungspartner*innen ‚Stimmen‘ der 427 Forschungsprogramm Subjektive Theorien (FST) 69, 80, 148 Forschungsprozess 2, 255, 259, 260, 298, 394 Linearität des 259 Forschungsstand 406 Forschungstagebuch 151, 396, 421 Forschungstradition 399 Forschungstrend 28 Forschungsüberblick 141 Forschungsverfahren 9, 125 Forschungszugang 8, 9 objektivistischer 8 subjektivistischer 8 Frage geschlossene 163 halboffene 163 offene 163 Fragebogen 162, 164, 168, 176, 367 standardisierter 164 Freiwilligkeit der Teilnahme 117 Fremdbeobachtung 150 Fremdsprachendidaktik Konstrukte der 41 fremdsprachendidaktische Reihe 435 Fremdverstehen 245 Funktionale Pragmatik 303, 304 G GAT 308 gatekeepers 86, 91 Gegenstandsangemessenheit 16, 18 geistiges Eigentum 121 Gelegenheitsstichprobe 89 generalisierbar 105, 111 Generalisierbarkeit 95, 106, 111, 221 generieren 51 Gesprächsanalyse 303 Gesprächspraktik 310, 312, 314 Gewichtung 55 Graduiertenkolleg 29 graue Literatur 132 Grounded Theory 94, 280, 285, 402 Grundgesamtheit 85, 88, 89, 256, 355 Grundlagenforschung 10 Gruppendiskussion 163, 170, 173, 174, 267, 268 Gruppeninterview 163 Gültigkeit 18 Gutachter*innen 509 Gütekriterien 217, 219, 253 qualitative 260 H Habilitation 26 Handlungen sprachliche 310 Handlungsforschung 74 Handlungslogik 275 Handlungsmuster 304 522 Register Handlungswissen 274 Häufigkeitsanalyse 278 Heidelberger Strukturlege- Technik 74 Hermeneutik 236 Untersuchungsfeld der 247 hermeneutischer Trugschluss 244 hermeneutischer Zirkel 236, 243 Heterogenität externe 292 Heuristik 130, 133 theoretische 296 HIAT 309 Hinlänglichkeit (sufficiency) 257 historische Quellen 33, 231 hoch-inferent 100, 155 Homogenität interne 292 Horizontverschmelzung 245 Hypothese 413 Hypothesen Überprüfung von 51 Hypothesen generieren 50 I ideographisch 8 Impact-/ Washback-Studie 224 Indikator 367 Indikatorenanalyse 278 Indizes empirische 106 induktive Analyse 279 Inferenzniveau 154 Inferenzstatistik 355, 363 Inhaltsanalyse 262, 277, 279 deduktive 282 induktive 282, 283 inhaltlich strukturierende 286 qualitative 277, 278, 279, 280, 283, 289 quantitative 279 Innenperspektive 150 Rekonstruktion der 148 Innensicht 73 innere Sprache (inner speech) 182 Intensitätsanalyse 278 interactional analysis 303 Interaktion 302 Interaktionsanalyse 303 Interaktionsforschung 272 Inter-Coderbzw. Inter-Rater- Reliabilität 100 Inter-Coder-Reliabilität 100, 279 interdisziplinär 12, 102 Interimsprache 320 Internetforschung 119, 120 Interpretation 106, 148, 236 experimentelle 242 komparative 242 kontextuelle 243 kulturanalytische 243 psychologisch-mimetische 242 strukturale 242 textimmanente 242 Verfahren der 235 intersubjektive Nachvollziehbarkeit 17, 310 Intertextualität 42, 234 Intervallskalenniveau 350 Interventionsstudie 219, 221, 224 Interview 162, 169, 185, 268 fokussiertes 172 leitfadengestütztes 170 narratives 170, 173 problemzentriertes 172 problemzentriertes semistrukturiertes 185 qualitatives 169 quantitatives 169 retrospektives 174 Interviewerverhalten 175, 176 Interviewformat 170 Intra-Coder-Reliabilität 100 Intra-Rater-Reliabilität 100 Introspektion 169, 181 introspektives Verfahren 181 IRF-exchange 304, 312 IRT-Analyse 219 Itemanalyse 368 Itemformulierung 167 Item-Response-Theory (IRT) 219, 367 Itemschwierigkeit 368 Itemvarianz 369 Iterativität 77, 257 K Kamera 156 Kategorie 279, 281, 282, 285, 286, 289, 293 Kategorienbildung 280, 282 deduktive 281 deduktiv-induktive 280 induktive 282, 284 theoriegeleitete 281 Kategoriensystem 152, 279, 282, 284, 286 Kategorisierung 255, 279, 336 kausale Zusammenhänge 51 Kennwerte deskriptive 344 Keyword-Analyse 334 Klumpenstichprobe 88 Kode 285, 289 natürlicher 257 Kodebaum 285 Kodierbuch 107 Kodieren 286 axiales 258 offenes 257 selektives 258 theoretisches 262 Register 523 Kodiermemos 285 Kodierparadigma 258 Kodierplan 107 Kodierschema 107 Kodierung 107, 153, 154, 255, 285, 289 von ausgewählten Studien 106 Kodierverfahren 257 Kodings 285, 286 Kommunalität 380, 381, 383 Kompetenzforschung 272 Kompetenztest 215, 217, 221 Konkordanzsuche 337 quantitative 335 Konkordanzwerkzeuge 337 Können 274 Konstrukt 366 Kontext 112, 306, 427 geistiger 233 historischer 234 natürlicher 209 politischer 233 sozialer 233, 234 Kontextdaten 66, 208, 212 Kontextualität 306 Kontingenzanalyse 278 kontrastive Analyse 330 Konversationsanalyse 303 Konzept- und Theoriebildung 254 Kookkurrenzanalyse 335 Korpora lernprozessbezogene 339 Korpus 196, 197, 199 imaginäres 134 konkretes 134 virtuelles 134 Korpusanalyse 330, 331 qualitative 336 Korpusaufbereitung 339 Korpusbegriff 330 Korpusbeschreibung quantitative 333 Korpusdaten 330, 331 Korpuserstellung 130, 190, 194, 196, 197 Korpuslinguistik 330 Korpustyp 330 Korrelation 107, 357 Kulturpolitik auswärtige 512 Kulturvermittlung Konzepte der 41 kumulative Qualifikationsschrift 433 L Labor 150 Längs- und Querschnittdaten 128 lautes Denken 181, 182 lautes Erinnern 181 Lehrbuchanalyse historische 35 Lehrerfrage 312 Lehr- und Lernmaterial Analyse 42 Auswahl 42 Lehr- und Unterrichtsmaterialien 132 Lehrwerkanalyse 289 Lehrwerksforschung 514 Leistungsuntersuchung standardisierte 221 Leitfaden 170, 172, 176, 185 Leitfadeninterview 170, 173, 174 Lektüre einschlägiger Literatur 255 Lernerkorpora 327, 333, 337 Lernerprodukte 132 Lernersprache 190 Lernersprachenanalyse 323 Lernersprache (interlanguage) 320, 321, 322, 327 Lernprozess 272 Likert-Skalen 165 lineare Vorgehensweisen 126 Literaturrecherche 106 Literaturüberblick 406, 409 Literatur- und Kulturdidaktik 41, 241 Literaturvermittlung Konzepte der 41 M Machbarkeit 92 Makro- und Mikroanalyse 236 Mann-Whitney-U-Test 346 Materialentwicklung 46, 514 Materialforschung 514 MAXQDA 284 Mehrebenenanalyse 271 Mehrfachauswahloption 163 Mehrmethoden-Ansatz 307 Mehrmethodendesign 186 Mehrsprachigkeitsdidaktik 516 Meilenstein 420 Merkmal 292, 349, 350, 352, 355 merkmalsheterogen 294 merkmalshomogen 293 Merkmalsraum 293 Messinstrument 111 Meta-Analysen 105 Metadaten 197, 199, 331, 339 Methode 331, 332, 333, 336 historische 231, 232 qualitative 335 quantitative 332 quantitative korpusanalytische 332 Methodentriangulation 99, 306 methodenübergreifend 99 Methodik hermeneutische 242 metrisch 350, 353 Mischen 55 524 Register Mittelwert 353 Mittlerorganisation 512 mixed methodologies 99 mixed methods 55, 99 Mixed-Methods-Sampling 95 mixed models 55 Modellbildung 42 Modellfall 297 Modelltyp 297 Moderatorenanalysen 112 moralische Perspektive 114 Multi-Item 167 Multimodalität 340 multiple choice 163 multivariat 346, 356, 378 Musterdurchlauf 306 N Nachbarschaftspaar 312 Nachfragen 170, 173 Nachhaltigkeit 513 Nachvollziehbarkeit 253 intersubjektive 310 Nachwuchstagung 431 Natürlichkeit 207, 211 Neusprachenreform 33 neusprachliche Reformbewegung 24 niedrig-inferent 100, 154, 155 nominal 353, 357 Nominalskalenniveau 349 nominalskaliert 352 nomothetisch 8 Nullhypothese 345, 355 O objektivistisch 8 Objektivität 16, 75, 217 observer as participant 150 Offenheit 260 off-line retrospection 184 online/ offline 150 on-line retrospection 184 Online-Veröffentlichung 434 Operationalisierung 413 ordinal 353, 354, 357 Ordinalskalenniveau 350, 353 Orientierungsrahmen 267 outcome measures 106 P PAF 383 Paradigma 9 paralleles Design 56 participant as observer 150 Partizipationsgrad 149 PCA 383, 384 Pearsons r 357 Perspektive emische 52 etische 52 moralische 114 prudentielle 114 Pfaddiagramm 380, 386 phänomenologische Arbeiten 43 Pilotierung 175, 193, 417 Pilotierung von Testaufgaben 374 Plagiarismus 121 Plagiat 433 Population 86, 355, 356 Positionseffekt 175 Poster-Präsentation 432 Power-Analyse 108, 347 Praktikabilität 218 Prä-/ Posttest-Design 219, 220 Präsentation 272, 432 Präsentationssampling 85, 425, 426 Praxis 401, 404 primacy effect 168 Primärdaten 64, 196, 197, 331 Primär- und Sekundärdokumente 130 Prinzip der maximalen Kontrastierung 134 Prinzip der minimalen Kontrastierung 134 Produkte 202 unterrichtsbezogene 202, 210 Produkt- und Prozessdaten 128 Professionalisierung 274 Professionsforschung 274 Profilanalyse 325 Profilmatrix 286 Projektmanagement 419 Promotion 26 Promotionsordnung 434 Prototyp 294 prototypisches Forschungsdesign 9 Prozess iterativer 78 zyklischer heuristischer 231 prudentielle Perspektive 114 Pseudonym 119 Pseudonymisierung 119, 120, 268 publication bias 106, 108 Publikation 106, 108 purposive sampling 91 p-Wert 357, 358, 363 Q QDA-Software 300 Qualifizierungsarbeit 24 Qualitätsoffensive Lehrerbildung 511 Qualitätssicherung 512 quantifizieren 307 quantitative Inhaltsanalyse 278 Quasi-Experiment 53 Quellen 130, 139 Quellenkorpus 231 Register 525 Quellenkritik 36 äußere 231 innere 231, 232 Quellensammlungen 34 Quellentext 235 Quotenauswahlstrategien 89 Quotenstichprobe 90 R Rating 327 Rating-Skalen 165 Rationalismus 52 Reaktivität 184 Realien und Objekte 132 recency effect 168 Recherche 408 Redeanteil 307 Referenzarbeit 443 reflection in action 185 reflection on action 185 Reflexivität 253 Reichweite 234 Rekonstruktion 266 Relationalität 271 Relativismus 52 Reliabilität 16, 75, 100, 217, 219, 369 Reliabilitätsschätzung 372 Relikte 132 Replikation 105 approximative 109 konstruktive 109 konzeptuelle 109 systematische 109 Replikationsstudien 105, 109 repräsentative Stichprobe 87 Repräsentativität 86 Ressourcen 144 retrospektives Verfahren 181 Rezeptionsästhetik 45, 241 rhetorische Struktur 409 r Indizes 107 Rotation 384, 385 S Sampling 85, 98, 176 Sampling abweichender Fälle 93 Sampling extremer Fälle 93 Sampling kritischer Fälle 93 Sampling maximaler Variation 93 Sampling-Strategien probabilistische 87 Sampling typischer Fälle 93 Sättigung 134 theoretische 257 Sättigung (saturation) 257 Schlüsselvariablen 109 Schlüsselwortanalyse 334 Schlusskapitel 429 Schneeballprinzip 133 Schreibprozess 433 Schulprogramm 32 Segmentierung 310 Sekundärdaten 64, 196, 197, 331 Selbstauswahl 89 Selbstbeobachtung 150 Selbstreflexivität 247 Sequentialität 305 Sequenzanalyse 305 Signifikanz 355, 356, 357, 358, 359, 361, 363 Skalenniveau 349, 350, 351, 354 Skalentypen 165, 166 Softwarewerkzeuge 333 sozialer Sinn 267 Spearmans Rho 357 Sprache innere ( inner speech ) 182 Spracherwerbsrelevanz 339 Sprachlernbiographie 169 Sprachvermittlung Konzepte der 41 Standardabweichung 354, 359, 360, 361 Statistik 351 statistische Verfahren 106 Stegreiferzählung 173 Stichprobe 85, 133, 134, 351, 352, 354, 355, 356, 357, 358, 359, 360, 361, 363 geschichtete 88 mehrstufige 88 nicht-repräsentative 87 repräsentative 87 theoretische 90 unabhängige 357 verbundene 357 Stichprobengröße 86, 90, 344, 359 Stichprobenumfang 359, 361, 366 Stichprobenziehung 85 Stiftung 512 stimulated recall 181, 190 Stimulus 192 Strukturgleichungsmodell 378 subjektivistisch 8 Suche systematische 133 summativ 217 Synthese 35, 105 Szenario 192, 193 Szenarios 192 T Tagebuch 169 Tertiärdaten 65, 197 Test 215, 217, 219, 224, 366, 367 summativer 216 Testanalyse 218, 219 Testaufgabe, Pilotierung 374 Testeinsatz 222, 224 testen 215 formatives 216 Testentwicklung 218, 224 Testethik 218 Tests 216 Teststärke 90, 357, 359, 360, 363 Testtheorie klassische 367 probabilistische 367 Text 63, 69, 127, 139, 190, 279 Textauslegung qualitative 234 Texte 127, 267 affine primäre 140 Auswahl und Zusammenstellung 141 primäre 63, 139 sekundäre 63, 139 Textinterpretation Methoden der 234 text retrieval 285 Textsortentrennung 269 Textzusammenstellung 138 qualitative Entscheidungen zur 144 quantitative Entscheidungen zur 143 Thema 397 Themenmatrix 286 theoretical sampling 94, 98 theoretische Arbeiten 138, 141 theoretische Forschung 63 Funktionen 40 Typen 40 Theorie 47, 112, 401, 404 Theoriebildung 40, 311 Theoriegenerierung datengeleitete 254 Theorientriangulation 102 Theorie-Praxis-Bezug 13, 401 Theorie- und Modellbildung 138 theory driven 310 Totalerhebung 86 Transferdesign 56 Transkribieren 194 Transkription 153, 195, 229, 271, 308, 323 Transkriptionsprogramm 194 Transkriptionssoftware 194, 196 Transkriptionssysytem 308 Transparenz 116, 253, 260, 514, 515 Triangulation 97 methodeninterne 99 triangulatory design 56 t-Test 345, 357, 360, 363 Typenbildung 267, 271 sinngenetische 300 soziogenetische 300 Type-Token-Verhältnis 334 Typologie Konstruktion von 291 multidimensionale 297 natürliche 295 U Überblicksdarstellung 140 Überblicksforschung vergleichende 44 Unabhängigkeit 516 univariat 345 unterrichtsbezogenes Produkt 64, 66 Unterrichtsforschung 303 videobasierte 158, 307 Unterrichtsvideographien Korpora mit 339 Unterschiedshypothese 356, 357 V Valenzanalyse 278 validieren 105, 112 Validierung 97, 109, 218, 219, 332 Validierungsstudie 224 Validität 16, 17, 75, 97, 106, 186, 218, 369, 372, 414 ökologische 77 Variable 293, 350, 366 latente 378 manifeste 378, 379, 380, 386 Varianzanalyse 345, 367 Variationsbreite 353 Verallgemeinerungsdesign 55 Verbalprotokoll 182 Verbundprojekt 511 Verfahren bivariate 356 hermeneutisches 235 hypothesengenerierende 256 hypothesentestende 256 hypothesenüberprüfende 267 inferenzstatistische 345 introspektives 181 korrelationsstatistische 346 multivariate 356 rekonstruktive 267 retrospektives 181 statistische 343 subsumtionslogische 267 typenbildendes 291 univariate 356 Vergleich 295 Verhalten 147 Verhältnisskala 350 Verlag 514 Veröffentlichung 434 Vertiefungsdesign 55, 56 Vertraulichkeit 119 Video 153, 305 Videoaufnahme 156, 267 videobasierte Unterrichtsforschung 158, 307 Videodaten 156 Videographie 158 526 Register Register 527 Videointeraktionsanalysen 158 Vollerhebung 86 Vorauswahl 142 Vorgehen zyklisches 126, 256 W Wahrnehmungsprozess 246 Wissen explizites 267 implizites 267, 270 wissenschaftliche Begleitung 511 wissenschaftlicher Beitrag 432 wissenschaftlicher Nachwuchs 510 wissenschaftliche (Sekundär-) Literatur 130 within-method 99 Wortliste 333 Z Zeitplanung 419, 420 Zeitschriften 27 Zeitschriftenjahrgänge 133 Zeitstichproben (time-sampling) 154 Zitationsanalyse 134 Zufallsstichprobe 88 Zufallsstichprobenauswahl 87 Zugänglichkeit 92, 132 Zusammenfassung der Erträge 423 Die Autorinnen und Autoren Karin Aguado, Prof. Dr., Universität Kassel, Deutsch als Fremd- und Zweitsprache: Fremdsprachenlehr- und -lernforschung Ulrike Arras, Dr., Gesellschaft für Akademische Studienvorbereitung und Testentwicklung e. V. (g.a.s.t.) / TestDaF-Institut, Bochum Christine Biebricher, Dr.phil, The University of Auckland, Faculty of Education and Social Work, School of Curriculum and Pedagogies Elisabeth Bracker da Ponte, Cornelsen Verlag, Learning Design & Research Eva Burwitz-Melzer, Prof. Dr., Justus-Liebig Universität Giessen, Institut für Anglistik, Didaktik des Englischen Daniela Caspari, Prof. Dr., Freie Universität Berlin, Institut für Romanische Philologie, Didaktik der Romanischen Sprachen und Literaturen Sabine Doff, Prof. Dr., Universität Bremen, Sprach- und Literaturwissenschaften, Fremdsprachendidaktik Englisch Thomas Eckes, Priv.-Doz. Dr., Ruhr-Universität Bochum, TestDaF-Institut, Psychometrie und Sprachtestforschung Susanne Ehrenreich, Prof. Dr., Technische Universität Dortmund, Institut für Diversitätsstudien, Angewandte Linguistik und Englische Fachdidaktik Christian Fandrych, Prof. Dr., Universität Leipzig, Herder-Institut, Linguistik des Deutschen als Fremdsprache David Gerlach, Prof. Dr., Bergische Universität Wuppertal, Anglistik/ Amerikanistik, Didaktik des Englischen Georgia Gödecke, Dr., Universität Bremen, Sprach- und Literaturwissenschaften, Didaktik der romanischen Sprachen Andreas Grünewald, Prof. Dr., Universität Bremen, Sprach- und Literaturwissenschaften, Didaktik der romanischen Sprachen Urška Grum, Prof. Dr., Universität Potsdam, Institut für Anglistik und Amerikanistik, Didaktik der englischen Sprache Claudia Harsch, Prof. Dr., Universität Bremen, Sprachlehr- und -lernforschung, Sprachenzentrum der Hochschulen im Land Bremen Lena Heine, Prof. Dr., Ruhr-Universität Bochum, Germanistisches Institut, Arbeitsbereich Sprachbildung und Mehrsprachigkeit Daniel Mischa Helsper, M. A., M. Ed., Universität Trier, Sprach-, Literatur- und Medienwissenschaften, Anglistik, Fachdidaktik Englisch Johanna Hochstetter, Dr., Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation, Abteilung Struktur und Steuerung des Bildungswesens Martina Kienberger, Dr., Universidad de Granada (Spanien), Departamento de Filologías Inglesa y Alemana Petra Kirchhoff, Prof. Dr., Universität Erfurt, Sprachwissenschaft, Sprachlehr- und -lernforschung Englisch Friederike Klippel, Prof. em. Dr. Dr. h. c., LMU München, Department für Anglistik und Amerikanistik, Didaktik der englischen Sprache und Literatur 530 Die Autorinnen und Autoren Petra Knorr, Dr., Universität Leipzig, Institut für Anglistik, Didaktik des Englischen als Fremdsprache Elisabeth Kolb, Dr., Kaisheim Daisy Lange, M. A., Universität Leipzig, Herder-Institut, Linguistik des Deutschen als Fremdsprache Michael K. Legutke, Prof. em. Dr., Justus-Liebig-Universität Gießen, Institut für Anglistik, Didaktik der englischen Sprache und Literatur Verena Maar, M. A., Universität Potsdam, Institut für Germanistik, Deutsch als Fremd- und Zweitsprache Nicole Marx, Prof. Dr., Universität zu Köln, Institut für deutsche Sprache und Literatur II, Mercator- Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache Grit Mehlhorn, Prof. Dr., Universität Leipzig, Institut für Slavistik, Didaktik der slavischen Sprachen Cordula Meißner, Ass.-Prof. Dr., Universität Innsbruck, Institut für Germanistik, Germanistische Linguistik Senem Özkul (jetzt Şahin), Dr., Universität Augsburg, Philologisch-Historische Fakultät, Anglistik / Amerikanistik, Didaktik des Englischen Claudia Riemer, Prof. Dr., Universität Bielefeld, Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft, Deutsch als Fremd- und Zweitsprache Henning Rossa, Prof. Dr., Universität Trier, Sprach-, Literatur- und Medienwissenschaften, Anglistik, Fachdidaktik Englisch Dorottya Ruisz, Dr., Ludwig-Maximilians-Universität München, Department für Anglistik und Amerikanistik, Didaktik der englischen Sprache und Literatur Michael Schart, Prof. Dr., Friedrich-Schiller-Universität Jena, Institut für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache und Interkulturelle Studien, Methodik und Didaktik Deutsch als Fremd- und Zweitsprache Christin Schellhardt, M. A., Universität Potsdam, Institut für Germanistik, Deutsch als Fremd- und Zweitsprache Barbara Schmenk, Prof. Dr., University of Waterloo (Kanada), Germanistik, Deutsch als Fremdsprache Torben Schmidt, Prof. Dr., Leuphana Universität Lüneburg, Institute of English Studies Karen Schramm, Prof. Dr., Universität Wien, Institut für Germanistik, Deutsch als Fremdsprache Götz Schwab, Prof. Dr., Pädagogische Hochschule Ludwigsburg, Institut für Englisch, Englische Sprachwissenschaft und Sprachdidaktik Julia Settinieri, Prof. Dr., Universität Bielefeld, Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft, Deutsch als Fremd- und Zweitsprache/ Mehrsprachigkeit Yazgül Șimșek, Dr., Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Germanistisches Institut, Centrum für Mehrsprachigkeit und Spracherwerb (CEMES) Ivo Steininger, Dr., Wetzlar Maria Giovanna Tassinari, Dr., Freie Universität Berlin, Sprachenzentrum Laurenz Volkmann, Prof. Dr., Friedrich-Schiller-Universität Jena, Institut für Anglistik/ Amerikanistik, Englische Fachdidaktik Wolfgang Zydatiß, Prof. em. Dr., Berlin ISBN 978 -3 - 8233 - 8432- 8 Das bewährte Handbuch wurde für die 2. Auflage um neue Kapitel erweitert sowie überarbeitet und aktualisiert. Ausgehend von Grundsatzfragen zu Forschungstraditionen, zu historischer, theoretischer und empirischer Forschungsausrichtung und zur Forschungsethik werden die unterschiedlichen Verfahren der Erhebung, Auswertung und Analyse von ausgewiesenen Expert: innen erläutert. Die Darstellungen individueller Forschungsverfahren beziehen sich auf Referenzarbeiten, in denen diese Verfahren eingesetzt werden. Grafische Darstellungen und Literaturempfehlungen liefern zusätzliche Hilfen. Fremdsprachendidaktische Forschung wird im Handbuch aus mehreren Perspektiven thematisiert: Es geht um die Gestaltung des Forschungsprozesses von der Ideenfindung über die Literaturrecherche und Erarbeitung des Designs bis zur Publikation. Dies schließt Hilfen und Handlungsempfehlungen für die Betreuung wissenschaftlicher Arbeiten ein. Zudem behandelt der Band die Entwicklung fremdsprachendidaktischer Forschung und ihre Positionierung im aktuellen wissenschaftlichen und (bildungs-)politischen Kontext. www.narr.de Caspari, Klippel, Legutke, Schramm (Hrsg.) Forschungsmethoden in der Fremdsprachendidaktik 2. A. Daniela Caspari, Friederike Klippel, Michael K. Legutke, Karen Schramm (Hrsg.) Forschungsmethoden in der Fremdsprachendidaktik Ein Handbuch 2., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage