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Belgien – anregend anders

Fachwissenschaft und Fachdidaktik untersuchen die Vielfalt der Sprachen, Literaturen und Kulturen in Belgien

von Corinna Koch (Band-Herausgeber:in) Sabine Schmitz (Band-Herausgeber:in)
Sammelband 414 Seiten

Zusammenfassung

Belgien bietet seinen Einwohner/innen, europäischen Nachbarn und Wissenschaftler/innen einen spannenden Entwurf sozialer, lebensweltlicher und kultureller Optionen, denn Vielfalt prägt den Alltag des Königreichs. Für Forschende, Lehrende und Lernende gilt es, möglichst viele dieser sprachlichen, kulturellen und literarischen Elemente
(kritisch) zu reflektieren, um ein ‚anregend anderes‘ Land und einen wichtigen, aber
eher unbekannten Nachbarn Deutschlands kennen zu lernen.
In neun Beiträgen beschäftigen sich Tandems aus fachwissenschaftlichen und fachdidaktischen Expert/innen der Germanistik, Geschichte, Niederlandistik und Romanistik aus Deutschland, Belgien und den Niederlanden mit Themen und Medien, die wissenschaftlich wie schulisch von zentralem Interesse sind, um Belgien intensiv zu
beleuchten.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort
  • Literatur aus Belgien im Fremdsprachenunterricht. Interkulturelle Kompetenzen, Empathie und kritische Distanz in niederländischsprachigen Graphic Novels am Beispiel von Judith Vanistendael (Lut Missinne/Stéphanie Vanasten)
  • Un voyage virtuel à Bruxelles : à la découverte de la bande dessinée belge en langue française (Marie Weyrich/Corinna Koch)
  • La Belgique à travers les textes – Potenziale des sprachlichen und soziokulturellen Wissenserwerbs (Sabine De Knop/Christoph Bürgel)
  • Belgien und der Kongo: Koloniale und postkoloniale Diskurse als Gegenstand des Französischunterrichts (Julien Bobineau/Christiane Fäcke)
  • Realismus und Surrealismus im belgischen Kino: Dardenne und Van Dormael (Christian von Tschilschke/Dagmar Abendroth-Timmer)
  • Literatur und Demokratiebildung: Der Reference Framework of Competences for Democratic Culture – literaturdidaktische Überlegungen zum niederländischsprachigen Jugendbuch Vallen von Anne Provoost (Christina Lammer/Sven Weirich unter Mitarbeit von Vanessa Joosen)
  • Phantastik in Belgien: Erzählungen von Franz Hellens und Thomas Gunzig über Doppelgänger, Monster und Kuhfräulein (Sabine Schmitz/Birgit Schädlich)
  • Das BelgienNet – ein Portal zu Belgien für die Schule, die Forschung und die breite Öffentlichkeit (Yves Huybrechts/Resul Karaca/Audrey Thonard)
  • Interkulturelle Sensitivität und Kulturauffassungen der „Deutschen in Belgien“. Eine explorative Untersuchung (Hubert Roland/Ferran Suñer Muñoz)
  • Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

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Vorwort

Belgien, in der Mitte Europas gelegen und geographisches Machtzentrum der Europäischen Union, fordert Wissenschaftler/innen der Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften sowie der Fachdidaktik mit seiner in der Verfassung verankerten Dreisprachigkeit, seiner auf Ausgleich zielenden anspruchsvollen konstitutionellen Architektur, seinem großen Reichtum an lokalen und regionalen Kulturen und seiner Rolle als historisch bedeutsamer, zentraler Drehscheibe europäischer Kultur und Geschichte heraus. Eine Beschäftigung mit Belgien erfordert nicht nur, das komplexe Zusammenspiel von Regionen und Gemeinschaften sowie der Hauptstadt Brüssel zu verstehen, sondern auch das damit verbundene Potential für die didaktische Aufbereitung von Belgien als Unterrichtsgegenstand zu durchdringen. Vielfalt und Vielsprachigkeit prägen den Alltag in Schulen – sowohl in Belgien als auch in Deutschland –, sie erfordern komplexe Aushandlungsprozesse, die oft nur durch die sprichwörtliche ‚Kunst‘ der Belgier/innen, einen Kompromiss zu finden, bewältigt werden können.

Ebenso kann am Gegenstand „Belgien“ ein reflektierter Zugang zu Bildern eröffnet werden, die durch die Neuen Medien die Sprache in den Hintergrund zu drängen scheinen. Belgien steht für die Erfindung einer überwältigenden Bildsprache, die seit dem ausgehenden Mittelalter bis zum Comic der Gegenwart die europäische Bildkunst, das Bildgedächtnis und das Bildverständnis maßgeblich mitprägt. Diese Bildsprache dient nicht erst seit den Brüdern Van Eyck der Inszenierung und Vermittlung komplexer innerer und äußerer sozialer Veränderungs- und Darstellungsprozesse und ist somit anschlussfähig an mediale Prozesse der Gegenwart. In diesem Zusammenhang treten neben die bedeutenden belgischen Vertreter/innen des Symbolismus und Surrealismus in der Malerei ebenso wichtige Schriftsteller/innen. Mit Werken aus Flandern und der Wallonie hat Belgien sowohl die niederländischsprachige Gegenwartsliteratur z. B. durch Hugo Claus, Stefan Hertmans oder Saskia de Coster, Fikry El Azzouzi, Tom Lanoye und Griet Op de Beeck maßgeblich mitbestimmt als auch die französischsprachige z. B. durch Georges Simenon, Thomas Owen, Jean-Philippe Toussaint, Amélie Nothomb und Stéphane Lambert. Zudem zeichnet das Königreich Belgien eine Lebenskunst aus, die bereits seit Jahrhunderten nicht nur durch eine vielfältige und hochwertige Koch- und ←7 | 8→Esskultur bekannt ist, sondern auch durch die handwerkliche Herstellung von Lebensmitteln, die weit über Pralinen, Waffeln und Bier hinausreicht. Diese Kultur des Lebens steht in einem anregenden Spannungsverhältnis zu sich aktuell ausprägenden gesellschaftlichen Strömungen, die einerseits den Erfolg des amerikanisch geprägten Fast Foods anprangern und andererseits die Tendenz verurteilen, dass Kochen und Essen zur ‚Ersatzreligion‘ geworden seien. Gesunde Ernährung und Lebensmittelverwendung als Schulfach wird in diesem Kontext immer häufiger thematisiert. Die meisten Europäer/innen sehen, einer aktuellen Umfrage des belgischen Außenministeriums zufolge, die Belgier/innen als wahrhaftige bon vivants.1

Diese aufgezeigten vielfältigen Elemente, die den Alltag in Belgien auf der Ebene von Sprache, Literatur und Kultur bestimmen, müssen Forschende wie schulische Lehrende wie Lernende (kritisch) reflektieren, um ein anregend anderes Land und einen wichtigen Nachbarn Deutschlands kennenzulernen sowie belgische Realitäten nicht als Labyrinth, sondern als einen spannenden, bedenkenswerten Entwurf sozialer, lebensweltlicher und kultureller Optionen im 21. Jahrhundert begreifen zu können. Im schulischen Französischunterricht erfolgt dies bisher eher punktuell, doch zunehmend benennen die Oberstufenlehrpläne und Abiturvorgaben in den einzelnen Bundesländern Belgien als obligatorisches Thema, z. B. Bayern2 und Nordrhein-Westfalen3, bzw. empfehlen die Behandlung im Rahmen der Frankophonie, z. B. Rheinland-Pfalz4. Hervorgehoben wird Belgien in diesen Dokumenten als Land mit bemerkenswerten – ‚anregend anderen‘ – geographischen, geschichtlichen, sozialen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Besonderheiten, zu denen u. a. ←8 | 9→die sprachliche und regionale Vielfalt, der Sitz europäischer Institutionen, die Grenze mit Deutschland und das Studien- und Arbeitsangebot zählen.

Der vorliegende Sammelband ist aus einem fachwissenschaftlich-fachdidaktischen Symposium hervorgegangen, das am 21. und 22. April 2021 – bedingt durch die der Corona-Pandemie geschuldeten Einschränkungen in einem innovativen digitalen Format – am Belgienzentrum der Universität Paderborn stattgefunden hat. Alle Vorträge sind online auf dem BelgienNet verfügbar. Es war bereits die dritte Tagung dieser Art, nachdem 2015 „Dialogische Krimianalysen: Fachdidaktik und Literaturwissenschaft untersuchen aktuelle Repräsentationsformen des französischen Krimis“ und 2018 „Verhandlung religiöser Identitäten in Spanien: Fachwissenschaft und Fachdidaktik im Dialog über historische und aktuelle Konstruktionen und Dekonstruktionen des Konzepts der convivencia“ in Paderborn betrachtet wurden, zu denen 2017 und 2020 jeweils ein Tagungsband erschienen ist.5 Der besondere Zuschnitt dieser Tagungen, in denen alle Vorträge bzw. Beiträge von einem Tandem aus je einem/r Literaturwissenschaftler/in und einem/r Fachdidaktiker/in erarbeitet wurden, führten nach Einschätzung aller Teilnehmenden zu einer äußerst gewinnbringenden, komplementären Ergänzung der jeweiligen fachspezifischen Forschungsperspektiven und zu einer gemeinsamen Entwicklung neuer Ansätze. Die teils überraschenden Synergieeffekte, die aus der Zusammenarbeit der Teams hervorgingen, werden auch in den Dialogen deutlich, die in den ersten beiden Sammelbänden den jeweiligen Beiträgen nachfolgen und in denen die Autor/innen über ihre Zusammenarbeit, ihre Arbeitsergebnisse und neue Einsichten in das Verständnis der eigenen sowie der anderen Fachdisziplin reflektieren. An dieses ‚Erfolgsrezept‘ haben wir mit der dritten Tagung „Belgien – anregend anders: Fachwissenschaft und Fachdidaktik untersuchen die Vielfalt der Sprachen, Literaturen und Kulturen in Belgien“ angeschlossen. Diese widmet sich wieder dem Fach Französisch und nimmt mit Belgien, wie bereits dargelegt, ein in Deutschland – in schulischen Kontexten – bisher weniger beachtetes französisch-, niederländisch- und deutschsprachiges Nachbarland in den Blick. Eine zentrale Weiterentwicklung des Formats bestand darin, dass zum ersten Mal zahlreiche Kolleg/innen aus ←9 | 10→dem Ausland, konkret aus Belgien und den Niederlanden, unter den Expert/innen waren. Zudem erfolgte durch die Öffnung auf weitere Disziplinen, wie Germanistik, Geschichte und Niederlandistik, eine inter- und transdisziplinäre Fokussierung, die zur Analyse des Erkenntnisgegenstands unerlässlich ist. Dies eröffnete nicht nur die Möglichkeit, intensive Diskussionen über die Konstruktion von Selbst- und Fremdbildern zu führen, sondern auch, unterschiedliche fachliche Perspektiven auf das (fremdsprachliche) Lernen, insbesondere in den Schulfächern Französisch und Niederländisch für Fremd- und Muttersprachler/innen, im schulischen wie hochschulischen Kontext in Belgien, Deutschland und den Niederlanden zu erörtern.

In neun sprach-, literatur- und/oder kulturwissenschaftlich ausgerichteten Beiträgen beschäftigen sich im vorliegenden Band 20 Expert/innen aus der Germanistik, Geschichte, Niederlandistik und Romanistik jeweils im Tandem aus einer/m fachdidaktischen Kollegen/in oder einer/m fachwissenschaftlichen Kollegen/in aus Deutschland, Belgien und den Niederlanden mit verschiedenen Themengebieten und Medien, die aus beiden Perspektiven von zentralem Interesse sind, um die Kultur, Geschichte und Sprachen Belgiens intensiv zu beleuchten.

Die ersten vier Beiträge des Bandes widmen sich Comics. Diese haben in Belgien einen hohen kulturellen Stellenwert, der inzwischen weit über den von Artefakten der Populärkulturen hinausreicht. Die Wertschätzung der neunten Kunst in der nationalen Kultur findet ihren sichtbarsten Ausdruck in der Tatsache, dass das berühmte Brüsseler Belgisch Stripcentrum bzw. Musée de la bande dessinée in einem der schönsten Jugendstilgebäude Brüssels, Victor Hortas berühmtem Kaufhaus Waucquez (Magasins Wauacquez), residiert. Überdies belegt die sehr früh einsetzende Ausbildung von Comickünstler/innen an Kunsthochschulen, zu deren wichtigsten Ausbildungsstätten die traditionsreiche Brüsseler Künstlerschmiede École Supérieure des Arts Saint-Luc gehört, den Stellenwert den dieses Medium in der belgischen Kultur einnimmt.

Im ersten Beitrag „Literatur aus Belgien im Fremdsprachenunterricht. Interkulturelle Kompetenzen, Empathie und kritische Distanz in niederländischsprachigen Graphic Novels am Beispiel von Judith Vanistendael“ zeigen Stéphanie Vanasten und Lut Missinne, wie die Adressierung und kritische Auseinandersetzung emotionaler und kognitiver Fähigkeit zum Mitfühlen bzw. Mitdenken sowie zur kritischen Distanznahme von Schüler/innen bzw. Studierenden im Fremdsprachenunterricht Niederländisch (NAF) erfolgen kann. Anhand von Judith Vanistendaels graphischem Roman De maagd en de neger (2007) arbeiten sie die enge Bezogenheit von Empathie und interkultureller Kompetenz heraus und formulieren ihre Einbettung als große Herausforderung ←10 | 11→für den Fremdsprachenunterricht, die sie in ihrer Vorstellung von De maagd en de negger veranschaulichen. In dieser Rahmung wird deutlich, dass neben einer vertieften Kenntnis des kulturellen Kontexts, in dem sich die graphic novel verortet, die Berücksichtigung ihrer medialen Verfasstheit ebenso wichtig ist wie die Erkenntnis, dass Empathie nicht nur positive, sondern auch negative Wirkung zeigen kann. Der Beitrag eröffnet vielfältige und kritisch reflektierte Zugänge zu einem spannenden Medium, um im NAF-Unterricht das (persönliche) Verstehen von komplexen kulturgesellschaftlichen Prozessen einzufordern und zu fördern.

Marie Weyrich und Corinna Koch unterbreiten anschließend in „Un voyage virtuel à Bruxelles : à la découverte de la bande dessinée belge en langue française“ einen literaturwissenschaftlich untermauerten didaktischen Vorschlag für eine virtuelle Reise für Schüler/innen eines fortgeschrittenen Französischunterrichtes. Inspiriert durch in Brüssel omnipräsente Comic-Bilder an Hauswänden, erarbeiten sich die Lernenden in diesem Rahmen auf anschauliche Art und Weise arbeitsteilig Ausschnitte aus elf wichtigen Werken (Blake et Mortimer, Gaston Lagaffe, Spirou, Les Schtroumpfs, Tintin, Lucky Luke; Broussaille, Les Cités Obscures, La Vache; Faire semblant, c’est mentir und Les Rigoles) drei zentraler Epochen der Entwicklung des franko-belgischen Comics (La bande dessinée franco-belge, des années 1990 und contemporaine). Der Beitrag liefert sowohl Hinweise zu dem etwa fünfstündigen fachdidaktischen Szenario als auch grundlegende kultur- und literaturwissenschaftliche Informationen zur franko-belgischen Comicgeschichte.

In „La Belgique à travers les textes – Potenziale des sprachlichen und soziokulturellen Wissenserwerbs“ beleuchten Sabine de Knop und Christoph Bürgel anhand der Gegenüberstellung des französischen Originals von Astérix chez les Belges und seiner deutschsprachigen Übersetzung linguisti-sche Besonderheiten der belgischen Varietät des Französischen. Dabei zeigen sie anhand vielfältiger Beispiele auf, dass die vermeintlichen deutschen ‚Äquivalente‘ an vielen Stellen die belgischen Charakteristika nicht treffend widerspiegeln. Ferner beschäftigen sich die Autorin und der Autor mit in der Comicgeschichte verbal oder visuell angesprochenen soziokulturellen Elementen. Aus didaktischer Perspektive erläutern sie darauf aufbauend, wie Lernende ihre rezeptive Varietätenkompetenz durch ein Vertrautmachen mit lexikalischen, syntaktischen und morphologischen Eigenheiten des belgischen Französisch sowie ihr soziokulturelles Orientierungswissen anhand von Astérix chez les Belges spielerisch und anschaulich erweitern können.

Der Beitrag von Julien Bobineau und Christiane Fäcke, „Belgien und der Kongo: Koloniale und postkoloniale Diskurse als Gegenstand des ←11 | 12→Französischunterrichts“, nähert sich aus einer kulturwissenschaftlichen und einer fachdidaktischen Perspektive der belgisch-kongolesischen Kolonialgeschichte an. Nach einer historischen Einführung in die belgische Kolonialzeit bis zur Unabhängigkeit (1870–1960) sowie in die rückwärtsgerichtete Perspektivierung liegt der Schwerpunkt der Ausführungen auf der heutigen Erinnerungskultur, bevor aus fachdidaktischer Sicht eine diesbezügliche Analyse bildungspolitischer Dokumente und einschlägiger Lehrwerke erfolgt. Diese kommt zu dem ernüchternden Ergebnis, dass letztere die koloniale Vergangenheit Belgiens höchstens marginal thematisieren. Anhand des Comic-Klassikers Tintin au Congo und seiner (damaligen wie heutigen) Rezeption wird aufgezeigt, wie verschiedene Facetten der grundlegenden Missachtung zentraler Menschenrechte, Werte und Normen im Kontext der Global Citizenship Education mit Lernenden der gymnasialen Oberstufe behandelt werden können.

Ebenso wie dem Comic wird der Filmkunst in Belgien ein hoher Stellenwert zugemessen. Sie spielt seit Jahrzehnten eine wichtige Rolle für die Entwicklung des europäischen Kinos. In dem Beitrag von Christian von Tschilschke und Dagmar Abendroth-Timmer, „Realismus und Surrealismus im belgischen Kino: Dardenne und Van Dormael“, unterziehen die beiden die Filme Deux jours, une nuit (2014) von Jean-Pierre und Luc Dardenne sowie Le tout nouveau testament (2015) von Jaco Van Dormael als zwei gewichtige zeitgenössische Werke des belgischen Kinos einer vergleichenden Analyse in Bezug auf realistische und surrealistische Merkmale. Sowohl die Frage nach ‚typisch belgischen‘ Elementen als auch nach (trans-)nationalen und regionalen Bezügen wird dabei erörtert, der Fokus liegt jedoch auf den charakteristischen kulturgeschichtlich geprägten und dennoch individuell ausgestalteten cineastischen Darstellungsstilen hinsichtlich der Dimensionen Wirklichkeitsbezug, Thematik und künstlerische Verfahren. Für ein unterrichtliches Szenario schlagen sie einen ganzheitlichen transaktionalen Rezeptionsansatz vor, der den Lernenden emotional-handelnde und reflexive Zugänge eröffnet.

Der letzte gemeinsame Gastlandauftritt von Belgien und den Niederlanden auf der Frankfurter Buchmesse 2016 hat gezeigt, dass die niederländischsprachige belgische Kinder- und Jugendliteratur heute weltweit geschätzt wird, hierzu tragen bekannte Autor/innen wie Lize Spit, Anne Provoost und Bart Moeyaert maßgeblich bei. In ihrem Aufsatz „Literatur und Demokratiebildung: Der Reference Framework of Competences for Democratic Culture – literaturdidaktische Überlegungen zum niederländischsprachigen Jugendbuch Vallen von Anne Provoost“ stellen Christina Lammer und Sven Weirich unter Mitarbeit von Vanessa Joosen eine Fokussierung des von ihnen ←12 | 13→in den Blick genommenen Jugendromans vor, die die ihm eingeschriebene Verhandlung komplexer politischer Fragestellungen greifbar macht. Auf der Basis der Analyse der in dem Roman virulenten Gewaltdarstellungen, deren rechtsextreme und nationalsozialistische Fundierung aufgezeigt wird, erfolgt im Anschluss die Aufschlüsselung dieser Gewaltbeschreibungen auf der Basis des Reference Framework of Competences for Democratic Culture (RFCDC), um eine kritische Auseinandersetzung mit demokratischen Wertvorstellungen im schulischen Fremdsprachenunterricht im Fach Niederländisch anzuleiten. Anhand dieses Fallbeispiels wird deutlich, dass der RFCDC einen wichtigen und fruchtbaren Bezugsrahmen bietet, um eine kritische Auseinandersetzung mit demokratischen Wertevorstellungen im Fremdsprachenunterricht in der Schule anzuleiten.

Neben Comic, Kino und Jugendliteratur hat in Belgien die phantastische Literatur und Kunst einen hohen Stellenwert und wird, ebenso wie der Surrealismus, als nationale Kunst- und Literaturströmung vereinnahmt. Sabine Schmitz und Birgit Schädlich stellen in ihrem Beitrag „Phantastik in Belgien: Erzählungen von Franz Hellens und Thomas Gunzig über Doppelgänger, Monster und Kuhfräulein“ am Beispiel von zwei Erzählungen unterschiedliche Phasen der Phantastik in Belgien vor und zeigen auf, dass sowohl ihre Motivik als auch die sie kennzeichnenden formal-ästhetischen Charakteristika einer exklusiv nationalen Rahmung der Texte entgegenstehen. Die fachdidaktischen, kultur- und literaturwissenschaftlichen Analysen dieser Zusammenhänge sind in den einzelnen Argumentationsschritten eng miteinander verflochten und werden in Form einer Reihenplanung für den schulischen Französischunterricht nachvollziehbar gemacht. Letztere erlaubt nicht nur die Sichtbarmachung des Prozesses der kritischen Auseinandersetzung mit den gewonnenen Analyseergebnissen im Horizont seiner ‚Didaktisierung‘, sondern auch die explizite Diskussion der unterrichtlichen Entscheidungen, die vielfach Unterrichtsplanung und -gestaltung zugrunde liegen.

Der Beitrag „Das BelgienNet – ein Portal zu Belgien für die Schule, die Forschung und die breite Öffentlichkeit“, verfasst von Yves Huybrechts, Resul Karaca und Audrey Thonard, widmet sich einem vielversprechenden digitalen Zugang zu Belgien. Die drei präsentieren in einem ersten Teil die interaktive Internet-Plattform www.belgien.net, die darauf abzielt, ein breites Publikum in Deutschland über das Nachbarland Belgien zu informieren, den wissenschaftlichen Austausch über Belgien anzuregen und zu erleichtern sowie belgienbezogenes Unterrichtsmaterial für den Französisch- und Niederländischunterricht in Deutschland bereitzustellen. Der zweite Teil des Beitrags präsentiert einige der bereits verfügbaren elf Unterrichtsbausteine für das Schulfach Französisch, ←13 | 14→gibt Einblicke in deren didaktisch-methodische Erstellung und skizziert schulbezogene Zukunftsperspektiven. Der dritte Teil liefert anhand von Beispielen konkrete Vorschläge, wie digitale Tools das Unterrichtsmaterial des BelgienNet bereichern können, z. B. indem automatisches Feedback erteilt und mehr Austausch unter Lernenden angeregt wird.

Im finalen Beitrag des vorliegenden Sammelbandes gelingt es Hubert Roland und Ferran Suñer Muñoz in ihrer Studie „Interkulturelle Sensitivität und Kulturauffassungen der ‚Deutschen in Belgien‘. Eine explorative Untersuchung“ aktuelle Forschungen zu Kulturtransfer und -vermittlung in Hinblick auf Begrifflichkeiten und Konzepte zu hinterfragen und neue Perspektivierungen dieses Themenfeldes aufzuzeigen. In einer explorativen Befragung von in Belgien lebenden deutschen Kulturmittler/innen untersuchen sie deren Selbst- und Fremdbilder bzw. ihre Wahrnehmungen der belgischen und deutschen Kultur im Vergleich. Auf der Grundlage der erhobenen Daten wird ein überraschender Zusammenhang zwischen dem Grad interkultureller Sensitivität der Kulturmittler/innen und der Homogenität ihrer Kulturkonzeptionen aufgedeckt. Die gewonnenen Erkenntnisse führen zu konkreten Ableitungen für Sprach- und Kulturvermittlung und insbesondere den Umgang mit Stereotypen, deren Relevanz für deutsch-belgische Schüler/innen und Studierendenaustausche beispielhaft vorgestellt wird.

Der vielschichtige interdisziplinäre und internationale Blick auf das Thema „Belgien“ sowie das wechselseitige Lernen in den Tandems und beim Austausch im Rahmen des Kolloquiums lassen uns auch nach dem dritten Sammelband an der Notwendigkeit und der Fruchtbarkeit des engen Dialoges zwischen Fachwissenschaft und Fachdidaktik festhalten. Eine Fortsetzung des Formats wird daher in naher Zukunft folgen.

Paderborn und Münster, im August 2022

Details

Seiten
414
ISBN (PDF)
9783631891537
ISBN (ePUB)
9783631891544
ISBN (Hardcover)
9783631891001
DOI
10.3726/b20265
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2023 (Januar)
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2023. 414 S., 14 farb. Abb., 28 s/w Abb., 4 Tab.

Biographische Angaben

Corinna Koch (Band-Herausgeber:in) Sabine Schmitz (Band-Herausgeber:in)

Die Herausgeberinnen Corinna Koch ist Professorin für Romanistische Fachdidaktik an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Sabine Schmitz ist Professorin für Romanische Literatur- und Kulturwissenschaft und Leiterin des Belgienzentrums an der Universität Paderborn.

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