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Wie Kinder lesen und schreiben lernen

2017
978-3-7720-5626-0
A. Francke Verlag 
Ursula Bredel
Nanna Fuhrhop
Christina Noack

Uns Erwachsenen scheint es selbstverständlich, lesen und schreiben zu können. Wir erinnern uns kaum daran, wie wir als Kinder mühsam die ersten Buchstaben gelernt haben, und doch vollbringen alle Kinder ein kleines Wunder, wenn sie lesen und schreiben lernen. Um eine solche Leistung zu verstehen, erklärt dieses Buch zunächst, wie das Schreiben im Deutschen funktioniert. Deutlich wird dabei: Mit den richtigen Lernangeboten erwerben Kinder die Schriftsprache ähnlich wie die Muttersprache - das Lesen- und Schreibenlernen ähnelt dann dem Sprachen lernen. Dass der Schrifterwerb nicht immer problemlos verläuft, wissen wir nicht erst seit PISA. Viele Lehrer/innen und Eltern sind unsicher, wie sie mit Fehlern umgehen sollen. Das Buch zeigt Methoden und Wege, wie wir die Kinder beim Schriftspracherwerb beobachten und fördern können und welche typischen Stolperfallen auftauchen. Eine besondere Herausforderung stellt der Schriftspracherwerb für die Kinder dar, für die Deutsch nicht die Muttersprache ist. In einem eigenen Kapitel erklären die Autorinnen, was Lehrer/innen über andere Sprachen wissen sollten, um diesen Schüler/innen beim Lesen- und Schreibenlernen des Deutschen helfen zu können.

2. Auflage ISBN 978-3-7720-8626-7 Uns Erwachsenen scheint es selbstverständlich, lesen und schreiben zu können. Wir erinnern uns kaum daran, wie wir als Kinder mühsam die ersten Buchstaben gelernt haben, und doch vollbringen alle Kinder ein kleines Wunder, wenn sie lesen und schreiben lernen. Um eine solche Leistung zu verstehen, erklärt dieses Buch zunächst, wie das Schreiben im Deutschen funktioniert. Deutlich wird dabei: Mit den richtigen Lernangeboten erwerben Kinder die Schriftsprache ähnlich wie die Muttersprache - das Lesen- und Schreibenlernen ähnelt dann dem Sprachen lernen. Dass der Schrifterwerb nicht immer problemlos verläuft, wissen wir nicht erst seit PISA. Viele Lehrer/ innen und Eltern sind unsicher, wie sie mit Fehlern umgehen sollen. Das Buch zeigt Methoden und Wege, wie wir die Kinder beim Schriftspracherwerb beobachten und fördern können und welche typischen Stolperfallen auftauchen. Eine besondere Herausforderung stellt der Schriftspracherwerb für die Kinder dar, für die Deutsch nicht die Muttersprache ist. In einem eigenen Kapitel erklären die Autorinnen, was Lehrer/ innen über andere Sprachen wissen sollten, um diesen Schüler/ innen beim Lesen- und Schreibenlernen des Deutschen helfen zu können. www.francke.de Bredel · Fuhrhop · Noack Wie Kinder lesen und schreiben lernen Wie Kinder lesen und schreiben lernen Ursula Bredel · Nanna Fuhrhop · Christina Noack Wie Kinder lesen und schreiben lernen Ursula Bredel/ Nanna Fuhrhop/ Christina Noack Wie Kinder lesen und schreiben lernen 2., überarbeitete Auflage Prof. Dr. Ursula Bredel ist Professorin für deutsche Sprache und ihre Didaktik an der Universität Hildesheim. Prof. Dr. Nanna Fuhrhop ist Professorin für deutsche Sprache an der Universität Oldenburg. Prof. Dr. Christina Noack ist Professorin für Didaktik der deutschen Sprache an der Universität Osnabrück. Titelbild: SunKids/ Shutterstock.com 2., überarbeitete Auflage 2017 1. Auflage 2011 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.francke.de E-Mail: info@francke.de Einbandgestaltung: Bernd Rudek Design GmbH, www.rudek.de Satz: pagina GmbH, Tübingen Printed in Germany ISBN 978-3-7720-8626-7 Inhalt Kapitel 1 - Einleitung und Übersicht Schriftlichkeit - Mündlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Neue Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Adressaten und Aufbau des Buches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Kapitel 2 - Wie funktioniert unsere Schrift? Vom Hören zum Schreiben: die Hinhörschreibung und wo sie endet . 13 Vom Lesen zum Schreiben: Was sehen wir eigentlich, wenn wir genau hinsehen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Das Schreiben der Wörter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 Punkt, Komma, Fragezeichen - Wie Sätze entstehen . . . . . . . . . . . . . 53 Die Entstehung des Schriftsystems - ein Rückblick . . . . . . . . . . . . . . . 66 Kapitel 3 - Wie funktioniert der Schriftspracherwerb? Lernen oder erwerben? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Wann beginnt und wann endet der Schriftspracherwerb? . . . . . . . . . 75 Schriftspracherwerb auf allen Ebenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Wie natürlich kann unser Schriftsystem erworben werden? . . . . . . . 95 Die Rolle des Unterrichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Kapitel 4 - Fehler und Störungen Jeder Fehler erzählt eine eigene Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Fehler als Hinweise auf Lernfortschritte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 Fehler als Hinweise auf Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 Lesefehler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 Fehlerkonzepte in Rechtschreib- und in Lesetests . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Lese- und Rechtschreibstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 Kapitel 5 - Zweitschrifterwerb Mehmet spricht türkisch und soll deutsch schreiben . . . . . . . . . . . . . . 187 Welche Rolle spielt die Erstsprache beim Zweit- und Fremdschrifterwerb? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 VI Inhalt Zwei Schriften zugleich lernen - geht das? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 Verblüffende Strategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 Kapitel 6 - Schriftsprachförderung über das Fach Deutsch hinaus Literacy als Schlüsselkompetenz im Bildungskanon . . . . . . . . . . . . . . 206 Worin bestand noch gleich der PISA-Schock? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Was Mathematik mit Lesen- und Schreibenkönnen zu tun hat . . . . . 211 Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 Kapitel 1 - Einleitung und Übersicht Die im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung durchgeführte Studie leo (Level-One) erregte bereits kurz nach ihrem Erscheinen im März 2011 großes Aufsehen: 7,5 Millionen Erwerbsfähige in Deutschland - das sind 14,5 % - können keine zusammenhängenden Texte lesen und schreiben Sie sind funktionale Analphabeten (Grotlüschen & Riekmann 2011) In dieser Studie stecken weitere brisante Befunde: 4,4 Millionen der Betroffenen sind deutsche Muttersprachler/ innen Die Ursache kann also nicht einfach in einer unzureichenden Kenntnis des Deutschen gesucht werden Und auch wer meint, früher sei alles besser gewesen, irrt: In die Untersuchung einbezogen wurden 18bis 64-Jährige; der Anteil der Analphabeten ist in allen untersuchten Altersgruppen etwa gleich groß Und noch ein weiterer Befund der Studie ist für uns von allergrößtem Interesse: Zusätzliche 25 % der Befragten haben erhebliche Probleme mit der Rechtschreibung Sie können selbst gebräuchliche Wörter nicht fehlerfrei lesen und schreiben Zählt man die Analphabeten und diejenigen, die Schwierigkeiten mit der Rechtschreibung haben, zusammen, errechnet sich ein Anteil von 40 % der erwerbsfähigen Bevölkerung, die trotz Beschulung keine hinreichenden Lese- und Schreibfähigkeiten erworben haben Das Ministerium für Bildung und Forschung hat nach der Veröffentlichung der Studie ein Programm zur „arbeitsplatzorientierten Alphabetisierung und Grundbildung“ aufgelegt Für eine langfristige und nachhaltige Verbesserung muss jedoch nicht nur mehr, sondern auch an anderen Orten investiert werden Dort nämlich, wo die Probleme entstehen: in der Schule . Und wie in der leo- Studie betont wird, sind viele der Kompetenzen, die den Betroffenen fehlen, solche, die bereits in der Grundschule hätten erworben werden sollen Auch aus anderen Studien ist bekannt, dass sich Probleme, die in frühen Lernaltern entstehen, später häufig zu erheblichen Schwierigkeiten auswachsen Wie wichtig es ist, frühzeitig mit der Literalisierung zu beginnen, kann also gar nicht stark genug betont werden Wir möchten dafür führende Forscher auf dem Gebiet der Entwicklungspsychologie zu Wort kommen lassen, die die Ergebnisse der PISA- und der IGLU-Befunde (Internationale Grundschulleseuntersuchung) wie folgt interpretieren: „Was auf der Ebene der Grundschule nicht gelingt, lässt sich offenbar - dies zeigen die PISA-Befunde - auf der Ebene der Sekundarstufe I nicht mehr kompensieren Vielmehr ist nach den PISA-Befunden davon auszugehen, dass sich die auf der Ebene der Grundschule nicht befriedigend gelösten Probleme auf der Ebene der Sekundarstufe I weiter verschärfen Insbesondere Schülerinnen und Schüler, die im Rahmen von IGLU zur unteren Leis- 2 Einleitung und Übersicht tungsgruppe gehören, werden den Anschluss an das Lernen der Sekundarstufe I nur mit Mühe finden und mit hoher Wahrscheinlichkeit auch gegen Ende ihrer Pflichtschulzeit zur Risikogruppe zählen “ (Schwippert, Bos, Lankes 2003: 300) Die wichtigste Lehre, die wir aus solchen Befunden ziehen können, ist, dass es falsch ist, die Zeit der Grundschule als Schonzeit zu identifizieren, als Zeit des reinen Spiels, der Kreativität oder des freien Lernens Vielmehr kommt alles darauf an, die kognitiven Fähigkeiten der Grundschulkinder herauszufordern: Sie wollen lernen Und sie brauchen Strukturen . Die Bereitschaft, sich mit den Mustern der Schrift auseinanderzusetzen, sich also ein Wissensgerüst aufzubauen, das die unabdingbare Basis für alle weiteren Lernprozesse darstellt, ist nie größer als in dieser Zeit Später eingeschulte Kinder zeigen keine besseren Leistungen im Lesen und Rechtschreiben als früh oder vorzeitig eingeschulte, eher im Gegenteil, wie eine Heidelberger Forschergruppe herausgefunden hat (Roos & Schöler 2009) Der Schwerpunkt unseres Buchs liegt deshalb auf dem primären Schriftspracherwerb in der Grundschule Angesichts der oben genannten Befunde wird es aber auch nötig sein, den einen oder anderen Blick auf spätere Lernerkarrieren zu richten, insbesondere auf missglückte, und Wege aufzuzeigen, wie fehlgeleitete Lernprozesse korrigiert werden könnten Bei all unseren Überlegungen wird uns eine wichtige Erkenntnis wie ein roter Faden begleiten: Ob und wie gut jemand lesen und schreiben lernt, ist nicht einfach von subjektiven Faktoren abhängig, sondern vor allem davon, ob es ihm die Schule ermöglicht, eigenaktiv und autonom an der Schriftkultur teilzuhaben Unser Buch sei deshalb denen gewidmet, die es nicht lesen können Gerichtet ist es an die, die ihnen helfen könnten: Lehrer und Lehrerinnen, Eltern, Erzieher und Erzieherinnen, sowohl für den vorschulischen als auch für den nebenschulischen Bereich, also die Hortbetreuung Denn ohne ein fundiertes Wissen darüber, wie der Schriftspracherwerb und das zu erwerbende Schriftsystem funktionieren, ist es kaum möglich, die Kinder wirksam zu unterstützen Vieles, was über das Schriftsystem und seinen Erwerb im Umlauf ist, lebt von alten und im gesellschaftlichen Wissen fest verankerten Halbwahrheiten und Vorurteilen Dazu gehört zum Beispiel und allem voran die Auffassung, die Schrift sei im Prinzip die Abbildung der Lautsprache, im Deutschen werde also lautgetreu geschrieben, und alles, was dieser Lauttreue nicht entspricht, müsse als Ausnahme gelten und deshalb auswendig gelernt oder zur Not nachgeschlagen werden Ebenso aber auch die Auffassung, dass Kinder ihre Schreibkompetenzen dann am besten entwickeln, wenn sie möglichst lange in einem regelfreien Raum verbleiben Oder die Auffassung, der Schriftspracherwerb folge natürlichen Entwicklungsschritten, sei also im Prinzip unabhängig vom Lernangebot, das den Kindern zur Verfügung gestellt werde Schriftlichkeit - Mündlichkeit 3 Folgendes wollen wir verdeutlichen: - Das deutsche Schriftsystem ist regelhaft Das gilt auch für die oben schon genannten „Ausnahmen“, die nur dann als solche erscheinen, wenn man einer Abbildtheorie statt einer Systemtheorie folgt . Die besten Chancen auf einen erfolgreichen Schriftspracherwerb haben Kinder dann, wenn sie dabei unterstützt werden, die Funktionsweise des Systems verstehen zu lernen - Das deutsche Schriftsystem ist am Leser orientiert Dieser wichtige Aspekt wird in der Diskussion über die Schrift häufig übersehen . Mangelhafte orthographische Fähigkeiten wirken sich deshalb auf das Schreiben und auf das Lesen aus Der enge Zusammenhang zwischen der Orthographie und dem Lesen wird in der öffentlichen Diskussion, aber auch in der Schule bisher kaum wahrgenommen . Das hat auch damit zu tun, dass Fehler in der Schreibung so einfach zu sehen, zu zählen und damit auch zu bewerten sind ‚Lesefehler‘ finden hingegen für das bloße Auge unsichtbar statt, nämlich im Kopf Was wir zeigen wollen, ist, wie sehr auch der Leseerwerb davon profitiert, wenn den Kindern Gelegenheit gegeben wird, das System der Schrift zu entdecken und zu nutzen Schriftlichkeit - Mündlichkeit Wenn Kinder mit schriftlichen Texten konfrontiert werden, und das beginnt bereits mit dem ersten Vorlesen, dann lernen sie nicht nur ein neues Medium kennen . Sie begegnen zugleich einer neuen, einer standardisierten Sprache, die komplexer ist als die Sprache ihres Alltags - einer Sprache, in der sie nicht mehr die unmittelbar Angesprochenen sind, in der eine Welt außerhalb des Alltags und meist auch außerhalb der Alltäglichkeit entsteht Weil sie in unterschiedliche Dimensionen sprachlicher Praxis eintauchen, die Auswirkungen auf ihr gesellschaftliches und kulturelles Leben sowie ihren weiteren Sprachausbau haben werden, greift es zu kurz, hier einfach nur vom Schreiben- und Lesenlernen zu sprechen Maas (zuletzt 2010) hat in diesem Sinne den Begriff literat (im Gegensatz zur orat-mündlichen Dimension der Sprache) geprägt und meint damit die gesamte Bandbreite der schriftkulturellen Durchdringung einer Sprache, von der individuellen Aneignung eines Schriftsystem und den damit verbundenen Initiationsriten des Schulbeginns bis zur kultursoziologischen Teilhabe an einer schriftbasierten Gesellschaft bzw einem schriftsprachlichen Kulturkreis In der Sprachwissenschaft und in der Sprachdidaktik ist es auf der reinen Textebene 4 Einleitung und Übersicht inzwischen üblich geworden, Schriftlichkeit und Mündlichkeit nicht nur medial, sondern auch konzeptionell voneinander zu unterscheiden (Koch & Oesterreicher 1986) Ein wissenschaftlicher Vortrag ist zum Beispiel medial mündlich Mündliche Version: also ähm einmal war ich mit anne da - der erzieherin vom hort - und/ mit (…) ein paar andern kindern und dann sind wir dahin gegangen und dann haben wir gefragt mmh also gefragt nach, wo der cool liegt. das ist der junge, der im krankenhaus liegt und mmh dann sind wir hingegangen da war er nicht da sind wir da reingegangen aber dann wurde uns gesagt, dass er im spielzimmer ist, dann sind wir dahin gegangen. das war ein raum, da war ein fernseher drin und so nem kleinen spieleinkaufsladen da konnte man Puzzle machen ja und dann hat der cool uns ein bisschen erzählt, halt wie er gefallen ist und also was da wie es passiert ist, aber das weiß ich nicht mehr genau ja und dann, als em dann hat er uns ein wassereis gegeben und mmh als ich das zweite Mal da war mit sandra auch ner erzieherin vom hort und wieder ein paar anderen kindern (…) und dann haben wir noch ein wassereis bekommen. Schriftliche Version: Abb. 1-1: Texte von Luise Schriftlichkeit - Mündlichkeit 5 (er wird ja gesprochen), aber er ist konzeptionell schriftlich . Das andere Extrem bilden Formen wie die Chat-Kommunikation Chat-Äußerungen sind konzeptionell eher mündlich, medial aber schriftlich (sie werden ja geschrieben) Auch Kinder kennen diesen Unterschied, wie die beiden Texte der neunjährigen Luise (Abb 1-1) zeigen Ihre Aufgabe war es, eine Begebenheit zu erzählen und anschließend die gleiche Begebenheit aufzuschreiben . Einige Beobachtungen: Bevor wir an einigen Punkten zeigen, wie sich schriftliche Texte typischerweise von mündlichen Texten unterscheiden, müssen wir beachten, dass sich in Luises mündlicher Erzählung auch typische schriftsprachliche Elemente finden . So ist z B die Einführung der Personen (Anne, Cool, Sandra) recht genau (Erzieherinnen, der Junge, der im Krankenhaus liegt), genauer jedenfalls, als wir es in mündlichen Erzählungen normalerweise erwarten Dass Luise so vorgeht, liegt wahrscheinlich daran, dass sie ihre Erzählung auf eine Kassette aufgesprochen hat und ihr nicht ganz klar war, für wen sie spricht Diese Situation ist eigentlich typisch für schriftliche Texte Sie werden meist an anderen Orten als dem Entstehungsort und von Personen gelesen, die keine Gelegenheit haben nachzufragen . Schriftliche Texte müssen also mehr Informationen liefern - und genau dies tut Luise hier Dennoch finden wir auch eine Reihe sehr typischer sprachlicher Unterschiede zwischen der schriftlichen und der mündlichen Version: 1. Verknüpfer In der gesprochenen Version wählt Luise als Verknüpfer sehr häufig und dann, in der geschriebenen Sprache verwendet sie andere Ausdrücke (als erstes, doch, zum Schluss, an dem Tag) Es kann sein, dass Luise dies bereits in der Schule gelernt hat (‚Benutze nicht immer und dann‘) Interessant bleibt aber die große Diskrepanz zwischen gesprochener und geschriebener Sprache Denn wir können sehen, dass es für Luise einen deutlichen Unterschied zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit gibt: In der gesprochenen Sprache werden die Ereignisse chronologisch-reihend, in der geschriebenen Sprache werden sie logisch-strukturierend verknüpft 2. Themenentfaltung In beiden Texten beschreibt Luise den Raum, in dem die Besuchergruppe Cool angetroffen hat In der mündlichen Version braucht sie dafür drei Sätze (1 das war ein Raum, 2 . da war ein Fernseher drin und ein Spieleinkaufsladen, 3 . da konnte man Puzzle machen) Im Geschriebenen formuliert sie einen Satz Es ist deutlich erkennbar, dass die Themenentfaltung im mündlichen Text prozessual verläuft (eine Erinnerung löst die nächste aus) Im geschriebenen Text sehen wir eine resultative Themenentfaltung: Die verschiedenen Erinnerungen werden auf ihre Versprachlichung hin im Kopf vorsortiert; die sprachliche Wiedergabe kann somit geplant und damit auch verdichtet erfolgen . 6 Einleitung und Übersicht Zur Vorplanung des Textes gehört auch die Überschrift als ein sehr typisches schriftsprachliches Mittel, mit dem die Schreiberin das Thema ihres Textes bereits vor Eintritt in das Schreiben umreißt und dem Leser/ der Leserin damit eine Orientierung gibt, während sich die Themenfindung und -bearbeitung in der mündlichen Erzählung im Prozess des Erzählens auffaltet 3. Selbstkorrekturen Im gesprochenen Text finden wir deutliche Hinweise darauf, dass der Text simultan zu seinem Entstehen geplant wird und werden muss Das zeigen nicht nur die Planungssignale (ehm, mmh) selbst, sondern auch Formulierungskorrekturen (FK) wie „und dann haben wir gefragt mmh also gefragt nach, wo der Cool liegt“ Auch nachgetragene Informationen, also Informationskorrekturen (IK), hier: „Das ist der Junge, der im Krankenhaus liegt“, sind deutliche Hinweise darauf, dass mündliche Texte nicht vor dem Sprechen, sondern während des Sprechens entstehen Korrekturen finden wir auch im schriftlichen Text Wir können hier zwei Typen unterscheiden: Schreibkorrekturen (SK), sie entsprechen FK in der Mündlichkeit, und unsere IKs Beide begegnen uns schon in den ersten zwei Zeilen: sk ik Abb. 1-2: Schreibkorrekturen und Informationskorrekturen Der Typ von Korrekturen, den wir nicht finden, sind Planungssignale Denn in geschriebenen Texten ist der Faktor Produktionszeit ausgeschaltet Luise kann sich mit dem Schreiben so viel Zeit nehmen, wie sie braucht, ohne dem Leser/ der Leserin darüber Rechenschaft ablegen zu müssen, dass sie kurz überlegen muss Die Zeitspuren der Textplanung sind im geschriebenen Text verwischt 4. Wortwahl sagen - mitteilen: Mündlich benutzt Luise sagen, schriftlich mitteilen, ein sehr typischer Unterschied, ganz analog dazu hingegangen (mündlich) und besuchen (schriftlich) Im schriftlichen Text drückt sich Luise ‚gewählter‘ aus Auch hier wieder wirkt sich die Planbarkeit schriftlicher Texte auf das Produkt aus: Luise Schriftlichkeit - Mündlichkeit 7 kann sich beim Schreiben Zeit nehmen, verschiedene Wörter auszuprobieren und das jeweils passende auszuwählen 5. Zeitformen Luise benutzt unterschiedliche Zeitformen Im mündlichen Text führt das Perfekt (haben bekommen) im schriftlichen das Präteritum (bekam) Möglicherweise wurde der Gebrauch des Präteritums als Standardform für schriftliche Erzählungen in der Schule bereits thematisiert Unabhängig davon gebraucht Luise in der gesprochenen Version ihrer Geschichte intuitiv das Perfekt, das als Standardform für mündliche Erzählungen gilt 6. ‚Verschliffene Formen‘ In der gesprochenen Version finden wir Formen wie ner, ne usw Das liegt nicht daran, dass Luise undeutlich spricht Solche Formen stellen in der gesprochenen Sprache den Normalfall dar Vor allem grammatische Endungen fallen in der gesprochenen Sprache gern unter den Tisch So werden Formen wie rennen, fahren, kommen oft einsilbig gesprochen, also [En], [fAn], [kOm] Außerdem finden wir nich als typische gesprochene Form für nicht und eben ner, ne als typische Formen für einer und eine usw Dass Luise all diese Formen in der geschriebenen Sprache nicht benutzt, sondern die lexikalische und die grammatische Struktur vollständig verschriftet, zeigt deutlich, dass sie sehr genau zwischen grammatischen Vollformen der geschriebenen Sprache und den Reduktionsformen der gesprochenen Sprache unterscheiden kann Die hier aufgeführten Unterschiede haben nichts oder wenig damit zu tun, dass Luise noch ‚klein‘ ist Es sind vielmehr Unterschiede, die typisch für konzeptionell mündliche und konzeptionell schriftliche Texte sind Luise, die aus einem bildungsnahen Elternhaus stammt, ist auf dem besten Weg zu einer kompetenten Schreiberin, die die konzeptionellen Eigenschaften von Texten zunehmend für ihre Textproduktion nutzen wird Mit stärkerer Planungssicherheit werden auch die Selbstkorrekturen abnehmen: Zum einen wird sie weiter an Schreibsicherheit gewinnen und deshalb immer weniger Schreibkorrekturen vornehmen müssen, zum anderen wird zunehmendes Textwissen auch die Informationskorrekturen weniger werden lassen Was wir zugleich sehen können, ist, wie nützlich es ist, wenn Kinder nicht mit dem Tintenkiller arbeiten, sondern Ausstreichungen sichtbar bleiben: Lehrer/ innen können sich so ein gutes Bild über den Fortschritt in der Textproduktion machen Nicht alle Kinder schaffen den Sprung von der Mündlichkeit in die Schriftlichkeit so gut wie Luise Viele kommen auch nach mehreren Lernjahren noch nicht mit den Merkmalen der Schriftlichkeit zurecht . Bei den meisten von ihnen ist die mündliche Sprache jedoch völlig unauffällig, so dass Lehrer/ innen und Eltern, denen der Unterschied zwischen der gesprochenen und der geschriebenen Sprache nicht bewusst ist, häufig ratlos sind 8 Einleitung und Übersicht Wie wir bereits jetzt deutlich sehen können, steht der Unterricht im Lesen und Schreiben vor viel größeren Herausforderungen als der schlichten Unterweisung im ABC Es steht nichts weniger zur Diskussion als die Literalisierung in einem umfassenden Sinn Das vorliegende Buch will und muss also auch über den Erwerb des Wortschreibens und -lesens hinaus Einblicke in Lernwege und in mögliche Unterstützungsangebote geben Neue Medien Was verstehen wir unter neuen Medien? Wohl kaum Radio und Fernsehen, sondern viel mehr Handy, Computer und Internet, die ja so neu auch nicht mehr sind Nun gab es schon immer einen Aufschrei, wenn neue Medien die Gesellschaft, vor allem aber die Kinder erreichten Dann ist die Angst immer groß, dass ganze Kulturgüter verschwinden, dass die Sitten verkommen und am Ende die gesamte Gesellschaft Schon aus dem 18 Jahrhundert kennen wir die „Lesesuchtdebatte“: Die zunehmende Verbreitung vor allem der sogenannten schönen Literatur, so befürchtete man, würde zur Trivialisierung der Weltwahrnehmung und zur Verweichlichung insbesondere junger Männer beitragen Goethes Werther wurde für besonders gefährlich gehalten - heute ist er Schullektüre Auch nach der Erfindung des Kinos befürchtete man eine unaufhaltsame Verbilderung und damit Verwilderung der gesamten Gesellschaft Heute sind Ereignisse wie die Filmfestspiele in Cannes oder Berlin weltweit beachtete kulturelle Höhepunkte Wir werden hier also keine Medienkritik üben Dies auch deshalb nicht, weil Studien zur Mediennutzung von Kindern und Jugendlichen zeigen, dass die landläufige Annahme, die neuen Medien verdrängten die alten, so gar nicht haltbar ist Medienforscher sprechen vielmehr von einer Integration der neuen Medien in das Konzert der Mediennutzung Wir haben es also mit neuen Nutzungsprofilen zu tun, bei denen das mediale Angebot jeweils neu aufeinander abgestimmt wird Der zweite Grund, warum wir uns der Kritik enthalten, ist, dass sich hinter dieser eine seltsame Auffassung vom Lesen und Schreiben verbirgt: Wer meint, dass die Neuen Medien die Kinder vom Lesen (und Schreiben) abhalten, dem schwebt das Bücherlesen als einzig akzeptable Form der literalen Bildung vor Computer und Internet sind nun aber Instrumente, bei denen wir ohne Lesen und Schreiben gar nicht auskommen Ihre Benutzung führt dazu, dass die Kinder und Jugendlichen sogar mehr schreiben und lesen als ohne diese Medien . Wir müssten also begeistert sein Warum aber ist die öffentliche Wahrnehmung eine so völlig andere? Einer der Gründe für die Negativbewertung ist neben dem schon genannten, eher traditionellen Bildungsbegriff und generellen Kulturpessimismus sicherlich, dass bei SMS und Mail meist weder die normale Rechtschreibung noch eine besonders gewählte Sprechweise genutzt wird - SMS-Nachrichten und Mails weisen sogar eher Formen konzeptioneller Mündlichkeit auf Adressaten und Aufbau des Buches 9 Eine Trivialisierung also? Ein unvoreingenommener Blick zeigt, dass es sich hier nicht um defizitäre Formen handelt, sondern um unterschiedliche Spielarten des Schreibens und Lesens Ein Schweizer Forscherteam um Christa Dürscheid und Elisabeth Stark findet die neuen Kommunikationsformen sogar so interessant, dass sie in dem Projekt sms4science ein Korpus von fast 24 000 SMS-Nachrichten auf ihre besonderen sprachlichen Mittel hin untersuchen Die Produktivität, die Kinder und Jugendliche beim Schreiben von elektronischen Nachrichten aufbringen, steht häufig in einigem Widerspruch zu dem, was sie in der Schule zu Papier bringen Hemmungen, die ein weißes Blatt Papier bei manchen auslöst, werden vom Handy nicht ausgelöst; auch deshalb, weil in den neuen Medien Verstöße gegen Rechtschreibung und andere Schreibkonventionen nicht nur weniger sanktioniert, sondern oft sogar absichtlich herbeigeführt werden Betrachten wir noch das Lesen: Untersuchungen wie die JIM-Studie aus dem Jahr 2014 über das Verhalten von Kindern im Internet zeigen, dass sie sich dort auch in Zeitschriften informieren oder für die Schule recherchieren Sie lesen also Texte, die auch gedruckt zur Verfügung stünden Unter Umständen lesen sie aber mehr, weil sie sie nicht kaufen müssen Und die internetbasierte Informationsbeschaffung (für die Schule) macht ihnen meist sehr viel mehr Spaß als die herkömmliche Recherche: Warum? Wegen der Links Man muss weder ein Fremdwörterbuch besorgen noch lange recherchieren, wenn sich neue Fragen ergeben . Kommen wir noch kurz auf das Verhältnis der Schule zu den neuen Medien zu sprechen Nicht nur wegen der häufig fehlenden technischen Möglichkeiten, sondern auch wegen jahrhundertealter didaktischer Gewohnheiten wird sie noch immer vom Papier beherrscht Die Schüler und Schülerinnen erleben so zunehmend zwei sehr verschiedene Schreib- und Lesewirklichkeiten Will die Schule Kinder und Jugendliche aber tatsächlich auf künftige Anforderungen vorbereiten, sollte sie sich öffnen: Nicht nur deshalb, weil damit die schulischen und die alltäglichen Schreib- und Lesewirklichkeiten näher zusammenrücken könnten, sondern auch deshalb, weil das Lesen und Recherchieren im Netz eine eigene, nicht immer leicht zu bewältigende Herausforderung ist, für die die Schule Unterstützung anbieten könnte Adressaten und Aufbau des Buches Dieses Buch wendet sich an alle, die Kinder auf dem Weg zur Schrift begleiten, an Erzieher und Erzieherinnen, an Grundschullehrer und -lehrerinnen (wir sind überzeugt, dass es auch für die Lehrenden an weiterführenden Schulen interessant ist), an Sozialarbeiter und -arbeiterinnen usw . - und an alle die, die einen dieser Berufe anstreben Es richtet sich ebenso an Eltern Der Schriftspracherwerb ist ebenso faszinierend wie der Spracherwerb: Während Eltern und mit ihnen die ganze Umgebung beim Spracherwerb aber 10 Einleitung und Übersicht häufig völlig aus dem Häuschen sind, was ihr Kind schon kann, ist es beim Schriftspracherwerb häufig so, dass sie sich Sorgen darüber machen, was es alles noch nicht kann Dieses Buch soll dazu beitragen, an angemessenen Stellen gelassener zu werden; andererseits soll es auch helfen, echte Probleme früh zu erkennen . Und es soll dabei helfen, die richtigen Antworten auf die Fragen der Kinder zu finden Um Lehrkräften, Erzieher/ innen und Eltern die Gelegenheit zu geben, mit Kindern neue Wege in den Schriftspracherwerb zu gehen, sind in unserem Buch anschauliche Beispiele gegeben, die zur Weiterarbeit anregen sollen Zusätzlich werden unter http: / / www francke de/ wie-kinder-lesen-undschreiben-lernen Lese- und Schreibübungen eingestellt, mit denen es gelingt, die wichtigsten Bauprinzipien der Schrift zusammen mit den Kindern spielerisch zu entdecken Zum Aufbau des Buches: Da über das Schriftsystem viele falsche und irreführende Annahmen im Umlauf sind - leider auch unter Leuten, die es besser wissen müssten, und sogar unter solchen, die Schreiben und Lesen unterrichten (Grundschullehrer und Grundschullehrerinnen), noch häufiger aber unter denjenigen, die flankierend tätig sind (Eltern und Erzieher/ innen) - haben wir dem Schriftsystem ein relativ ausführliches Kapitel gewidmet Es ist die Zielgröße, die erreicht werden soll Wir haben uns aber dafür entschieden, im Wesentlichen das zu erläutern, was wir gemeinhin als Rechtschreibung bezeichnen . Es geht nur in Andeutungen auch um Textschreiben und -lesen, das wäre eine logische Fortsetzung des hier vorgestellten Ansatzes Wenn das System klar dargestellt ist, erläutern wir, wie man sich den Schriftspracherwerb vorstellen kann Was wird gelernt und was erworben? Was bringen die Kinder in die Schule mit und was müssen wir ihnen zeigen? Welche Hilfsmittel stellt die Schule den Kindern zur Verfügung und welche helfen ihnen wirklich? Wie können einzelne Schreibphänomene wie etwa die Dehnungsschreibung, die Großschreibung oder die Getrennt- und Zusammenschreibung zielführend unterrichtet werden? Ein eigenes Kapitel widmen wir Fehlern, die jeden Schriftspracherwerbsprozess begleiten Zu verstehen, wie sie zustande kommen, hilft „gute“, also lernförderliche, und „schlechte“, also lernhinderliche Fehler auseinanderzuhalten Unser Fehlerkapitel gibt zusätzlich Einsichten in Lese- und Rechtschreibtests und widmet sich in einem eigenen Abschnitt umschriebenen Lese-/ Rechtschreibstörungen Als besonders schwierig gilt, dass einige Kinder die Schrift nicht in ihrer Erstsprache, sondern in ihrer Zweitsprache lernen (Kapitel 5) . Sicherlich wäre es wunderbar, wir könnten auch diesen Kindern ermöglichen, zuerst die Schrift derjenigen Sprache kennenzulernen, die sie besser beherrschen Aber wir wissen auch, dass das nicht für alle praktizierbar ist Deswegen haben wir ein Kapitel darüber geschrieben, wie Kinder mit anderer Erstsprache die Schreibung des Deutschen lernen und welche von ihrer Muttersprache beeinflussten Schrei- Adressaten und Aufbau des Buches 11 bungen gerade am Anfang auftreten können Bei entsprechender Aufmerksamkeit in den Anfängen des Schreibens sieht man den Texten ziemlich schnell nicht mehr an, dass die Autoren/ innen eine andere Erstsprache haben Der Schriftspracherwerb ist nicht ausschließlich auf den Deutschunterricht zu beschränken, sondern sollte in allen Fächern gefördert werden Der derzeitige Stand ist allerdings ein anderer: Es wird häufig nicht erkannt, dass Probleme in anderen Fächern sprachliche Ursachen haben Manche Textaufgaben sind zum Beispiel so verquast formuliert, dass man um drei Ecken denken muss, um sie überhaupt zu verstehen Dem Kind wird dann möglicherweise fehlende mathematische Begabung attestiert, obwohl es gar nicht bis zu einer genuin mathematischen Aufgabe vorgedrungen ist Mit dem Schriftspracherwerb in allen Fächern beschäftigt sich deshalb das letzte Kapitel Kapitel 2 - Wie funktioniert unsere Schrift? Was Kinder schon können Bevor es darum geht, wie Kinder lesen und schreiben lernen, müssen wir uns klarmachen, was die Kinder lernen sollen: die Schreibung des Deutschen . Nur wenn wir verstehen, wie die Schrift und speziell die Schreibung des Deutschen funktioniert, können wir auch verstehen, wie das Lesen- und Schreibenlernen funktioniert . Wenn ein Kind selbst zu schreiben beginnt, bringt es bereits sehr viel mit - durch das Hören von Gesprochenem und Gelesenem und durch das eigene Sprechen Denn beim Hören begegnet es der deutschen Sprache, und spätestens wenn es in die Schule geht, wird es sehr viele Texte sehen und zu lesen beginnen, lange bevor es selbst Vergleichbares schreiben kann Wenn Kinder in ihrer Muttersprache lesen und schreiben lernen, beherrschen sie diese im Allgemeinen schon recht gut Lange vor der Schule sprechen, singen und spielen die Kinder in ihrer Muttersprache, sie können ohne Weiteres schwindeln, unglaubliche Geschichten erzählen, Vergangenes und Zukünftiges ausdrücken Diese Fähigkeiten sind nicht trivial Sie zeigen, welche erstaunliche Leistung das Gehirn der Kinder bereits vollbringt Auch mit der Schrift haben die Kinder bereits vor der Schule Erfahrungen Vom Hinhören, Lesen und Schreiben Wenn Kinder schreiben lernen, müssen sie all die Schritte erlernen, die wir in vielen Jahren des Umgangs mit Schrift und schriftlichen Texten nach und nach automatisiert haben Dabei stellen sich zwei wichtige Fragen: 1 Wie weit kommen wir mit dem Tipp, genau hinzuhören? Es ist eine geläufige Ansicht, dass man schreibe, wie man spreche, dass also Schreiben die Umsetzung gesprochener Sprache in schriftliche Form sei Zu Beginn dieses Kapitels werden wir untersuchen, wie weit wir mit dem Hinhören tatsächlich kommen Eine Warnung vorweg: Es ist fatal, ausschließlich das Hören vorzugeben und Kindern zu sagen „hör doch genau hin, dann kannst du richtig schreiben“ Mit dieser Vorgabe sind Fehler programmiert . Dennoch bildet das Gehörte die Grundlage des Schreibens; wie das funktioniert und wie weit es uns hilft, werden wir mithilfe eines Experiments zeigen 2 Wie kann die richtige Schreibung systematisch hergeleitet werden? Der Hauptteil dieses Kapitels zeigt, wie die Kinder vom Lesen zum Schreiben kommen Dabei wird wohlgemerkt nicht der Weg „vom Schreiben zum Lesen“ erklärt, sondern der Weg vom Lesen zum Schreiben Das hat drei Vom Hören zum Schreiben: die Hinhörschreibung und wo sie endet 13 wichtige Gründe: Zum einen sieht jedes Kind vor der Schulzeit und in den ersten Schuljahren ungleich mehr Texte, als es selbst schreibt Beim Sehen und Lesen lernt es enorm viel über Sprache und Schrift, lange bevor es selbst aktiv alles schreiben kann: Es sieht Leerzeichen und dazwischen Wörter, es sieht kleine und große Buchstaben, und all das hilft ihm beim Lesen und Verstehen Dies führt zum zweiten Grund, warum hier das Schreiben vom Lesen her erklärt wird: Beim Rechtschreibunterricht werden manchmal Regeln und Schreibungen als Probleme dargestellt, besonders prägnante Beispiele hierfür sind die Großschreibung und die Kommasetzung Und was als Problem vermittelt wird, das wird dann oft auch zum Problem, obwohl die Kinder beim Lesen implizit mit den Hilfestellungen umgehen, die große und kleine Buchstaben, Punkt und Komma liefern . Darum folgt dieses Kapitel dem, was Kinder an der Schrift sehen und lesen und was sie dadurch verstehen Der dritte Grund ist schlichtweg der, dass den Kindern in geschriebenen Texten das präsentiert wird, was sie erreichen sollen, also die Zielschreibung Vom Hören zum Schreiben: die Hinhörschreibung und wo sie endet Um Ihnen zu verdeutlichen, welche Hürden die Kinder nehmen müssen, wenn sie bisher die Sprache allein durch Hören gelernt haben, nun aber schreiben und lesen lernen, möchten wir Sie nun zu unserem Experiment einladen . Wir lassen Sie in diesem Abschnitt unseres Buchs den Text „Nordwind und Sonne“, eine klassische Fabel, „hören“, die Sie, wenn Sie neugierig sind, auf Seite 23 nachlesen können . Wie bringen wir Sie nun zum Hören? Schließlich haben Sie kein Hörbuch vor sich, sondern lesen ein Buch, das ihnen zeigen will, was Sie hören Ganz schön verzwickt! Wir werden Ihnen darum Schritt für Schritt zeigen, was man tatsächlich hören kann, was daraus für die Schreibung abzuleiten ist (und was nicht), und wie man dennoch zu dem Text in gültiger Rechtschreibung kommt Als erstes sehen Sie nur einen kleinen Ausschnitt unseres Textes, und zwar in maschineller Darstellung des Gesprochenen Hörbares sichtbar machen: das Oszillogramm Es ist möglich, gesprochene Sprache maschinell in Abbildungen zu verwandeln, zum Beispiel im sogenannten Oszillogramm Dieses zeigt Luftdruckschwankungen, die entstehen, wenn die Stimmlippen im Kehlkopf schwingen Das Bild macht einst stritten s [/ aInsStItnz] sichtbar (das ist der Anfang der erwähnten Fabel von Nordwind und Sonne) 14 Wie funktioniert unsere Schrift? Abb. 2-1: Oszillogramm von „Einst stritten s“ Man sieht verschiedene Ausschläge in verschiedener Dichte So ist sowohl bei [s] als auch bei [S] dichtes Schwarz zu sehen Hingegen erkennt man bei den Vokalen und dem Nasal [n] schon eher einzelne Schwingungen Interessant sind auch die beiden [t]: Wie in der Abbildung zu sehen, hört man zunächst nichts, das entspricht dem eher schwingungslosen Bereich, wenn der Mundraum verschlossen ist (beim [t] wird mit der Zungenspitze ein Verschluss am sogenannten Zahndamm gebildet) Dann hört man ein Geräusch, wenn sich der Verschluss löst, sichtbar durch den schwarzen Bereich Die vermeintliche ‚Pause‘ ist also keine Segmentgrenze, sondern der ‚Laut‘ [t] Wir haben hier eine visuelle Darstellung akustischer Phänomene gewählt; interessant ist aber eigentlich, wie wir hören Wenn man einen einzelnen Laut wie das [t] einer Person als isolierten Abschnitt vorspielen würden, so würde diese kein eindeutiges [t] erkennen, sondern unsicher sein, ob [t], [k] oder [p] gesprochen wurde Nur wenn wir das [t] zusammen mit benachbarten Lauten hören, ist es von einem [p] oder [k] zu unterscheiden Und wenn man das weiß, sieht man auch, dass die angegebene, vermeintliche Segmentierung eine Idealisierung ist Wir sprechen nicht Laut für Laut (so wie wir Buchstabe für Buchstabe schreiben können), sondern Laute gehen ineinander über (die sogenannte ‚Koartikulation‘) Das wird auch deutlich, wenn wir einen Ausschnitt des Oszillogramms genauer betrachten Abb. 2-2: Ausschnitt aus dem Oszillogramm Vom Hören zum Schreiben: die Hinhörschreibung und wo sie endet 15 In dieser Abbildung ist das erste Wort [/ aIns] noch einmal vergrößert dargestellt . Ein auslautendes [t] ‚fehlt‘ hier; für bestimmte Endränder ist es typisch, dass letzte Konsonanten nicht unbedingt gesprochen werden Wir möchten hier aber auf Übergänge eingehen, denn es ist kaum eine genaue Stelle für den Übergang zwischen [I] und [n] auszumachen: Die kleinere der beiden Schwingungen, die für das [I] typisch ist, verschwindet in den Schwingungen von [n] nach und nach, aber nicht abrupt Oszillogramme lassen in der Regel den Unterschied zwischen ‚klingenden‘ Lauten (wie [a, e, i, o, n, l] usw ) und ‚Geräuschlauten‘ (wie [p, t, k]) erkennen Handelt es sich aber um eine Anhäufung von ‚klingenden‘ Lauten oder nur von ‚Geräuschlauten‘, scheinen die Übergänge fließend zu sein In der Abbildung sind die einzelnen Schwingungen zu erkennen Der Unterschied zwischen den periodischen und den aperiodischen Schwingungen wird sehr schön deutlich Periodische Schwingungen wiederholen sich in der gleichen Form, sowohl beim [a], beim [I] als auch beim [n]; aperiodische (hier der schwarze Bereich für [s]) nicht Akustisch entspricht dem der Unterschied zwischen Klängen (periodische Schwingungen) und Geräuschen (aperiodische Schwingungen) Ganz grob gesagt sind in der gesprochenen Sprache Klänge solche Laute, die ausschließlich mit der Stimme erzeugt werden . Pure Geräusche werden entweder durch Sprengung eines Verschlusses (wie [p], [t], [k]) oder durch eine Engebildung (wie [f], [s]) erzeugt Einige wichtige Erkenntnisse haben wir hier gewonnen: Laute in Isolation klingen anders als Laute in Wörtern Gesprochene Ereignisse bilden ein Lautkontinuum, und je mehr ähnlich klingende Laute nacheinander vorkommen, desto weniger gut lassen sie sich voneinander abgrenzen Am besten voneinander unterschieden werden können Klänge und Geräusche . Lautnahe Verschriftung mit dem phonetischen Alphabet Ein wesentlicher Schritt beim Lernen der Alphabetschrift ist die Aufteilung des Schallflusses in einzelne Einheiten, seine Segmentierung, die auf der Annahme von einzelnen Lauten beruht Wie uns das Oszillogramm gezeigt hat, ist diese Segmentierung alles andere als leicht Nehmen wir aber an, wir hätten es geschafft . Dann erhalten wir Folgendes, geschrieben mit der generell üblichen Lautschrift, dem Internationalen Phonetischen Alphabet (IPA): / aInsStItn`zInOtvIntUnzOnvefnim`baIdn`voldStEkve/ alzaIvand dEInaInvam`mantl` `ghYltvadsvegsdahekamzIvUdn`/ aInIdasdeje nIgfYdn`StekngEltn`zOltdEdvandtsvINN`vYdzaImmantlaptsUn 16 Wie funktioniert unsere Schrift? emm`dEnOtvImblismIt/ almaXt / abjeme0blisdEstofEsthYltzIdvan d/ InzaIm`mantl`aIn/ EntlIgapdnOtvIndNkampfaUfnun/ EvEmtdIzOn dIlUfpmItinfOIntlIn`Staln`/ UnSonaXvenINN`/ aUg N NblIkNtsokdvandzaIm mantl`/ aUsdamUstdnOtvIntsugeb m m` dasdizOnfnim`baIdn`dStEkva (nach Pompino-Marschall 1995: 257) Haben Sie den Text gleich lesen können? Vermutlich nicht Es könnte daran gescheitert sein, dass Sie die Zeichen nicht kennen - aber welche genau kennen Sie eigentlich nicht? Die phonetischen Zeichen, wie sie oben in dem Text stehen, sind ja durchaus den lateinischen Buchstaben nachempfunden . Eine Hilfe ist vielleicht, einige Zeichen umzudrehen, also  und  als R und a zu lesen; S steht für den Laut, der im Deutschen als sch verschriftet wird und  für ch in sich . Wenn man nun laut vorliest, klappt es vielleicht einigermaßen Ungewohnt ist sicherlich, dass sich nicht nur die Zeichen von unseren Buchstaben unterscheiden, sondern dass auch Leerzeichen und Interpunktionszeichen fehlen . Der Text zeigt andeutungsweise, was wir hören und eben auch, was Kinder hören, wenn sie schreiben lernen sollen Er ist allerdings schon eine ‚Übersetzung‘ eines Oszillogramms, wie wir es oben gesehen haben . Es hat bereits eine Segmentierung (und das heißt: eine große Abstraktionsleistung) stattgefunden, und jedem Segment wurde ein Zeichen zugeordnet - ein für Schreibnovizen äußerst schwieriges Geschäft Ansonsten folgt die Transkription relativ genau einer tatsächlichen Äußerung Das beinhaltet auch, dass es nicht die einzig mögliche Transkription dieses Textes ist; er könnte zum Beispiel Eigenheiten eines Sprechers oder einer Sprecherin enthalten, zum Beispiel regionale Besonderheiten Wenn Sie diesen Text jedoch gehört hätten, wie er hier steht, dann hätten Sie keine Schwierigkeit gehabt, ihn zu verstehen Die Laut-Buchstaben-Beziehungen des Deutschen Als nächsten Schritt werden wir die Laute durch Buchstaben ersetzen . Andere Zeichen aus dem IPA-Text wie zusätzliche Punkte und Striche behalten wir im Hinterkopf Grundlage für eine solche Ersetzung soll eine Lauttabelle, wie sie in vielen Grundschulen verwendet wird, sein Wir haben uns hier für die unseres Wissens neueste Lauttabelle entschieden (Riegler, Praxis Deutsch 221: 60) Es handelt sich - wie leicht zu sehen - nicht um eine reine Anlauttabelle, denn manche Laute kommen nicht im (Wort-)Anlaut vor wie CH in Milch und Dach In reinen Anlauttabellen steckt eine große Gefahr, denn das E in Rabe steht ja für einen ganz anderen Laut als das jeweils erste E in Esel oder Ente Bei der Behandlung der silbischen Strukturen kommen wir auf diese für das Deutsche überaus wichtige Eigenschaft zurück Vom Hören zum Schreiben: die Hinhörschreibung und wo sie endet 17 Abb. 2-3: Lauttabelle (nach Riegler 2010: 60) Mithilfe der Lauttabelle ‚übersetzen‘ wir in der folgenden tabellarischen Übersicht Laut für Laut in Buchstaben Die obere Zeile gibt jeweils die Laute wieder (L), die untere die Buchstaben (B) Wenn sich ein Laut in der Lauttabelle nicht findet, wird ein Fragezeichen gesetzt (hier zur Verdeutlichung grau unterlegt) L / a I n s S t  I t n z I  n o  t v I n t U n z O n  B ? A I N S SCH T R I T N S I CH N O ? T W I N T U N S O N E L v e  f  n i m b ai d n v o l d  S t E  k    v e   B W E ? F E N IE M B EI D N W O L D ? SCH T E ? K E R E W E R E L / a l s a i  v a n d    d E  I n a I n v a m m a n t l B ? A L S A I M W A N D E R ? D E ? I N A I N W A M M A N T L Abb. 2-4: Übersetzung der Laute in Buchstaben Folgende Laute (mit grauer Unterlegung) konnten wir nicht direkt übersetzen: / (der erste Laut),  (in [nOtvInt] usw ),  haben wir als M geschrieben [/ ], der sogenannte Knacklaut, wird nicht verschriftet Das führt dazu, dass Sprecher, die bereits schreiben können, ihn nicht mehr hören Er wird 18 Wie funktioniert unsere Schrift? typischerweise im Deutschen in betonten Silben gesprochen, die mit keinem anderen Konsonanten anfangen Im Gesangsunterricht wird er häufig explizit abtrainiert, und typischerweise lassen ihn Italiener und Franzosen zunächst weg, wenn sie Deutsch sprechen Dieses Weglassen ist ein Teil des typischen italienischen oder französischen ‚Akzents‘, analog zum Weglassen von [h] am Wortanfang [] hingegen ist häufig, hier müssen wir uns etwas überlegen In der Lauttabelle fehlt er . Wie würden Sie ihn nach der Lautung schreiben? Vom Lautlichen her ist a/ A das Ähnlichste, das wir für die folgende Darstellung ausgewählt haben [] ist zwar leicht zu schreiben, ist aber in der hier vorliegenden ‚einheitlichen‘ Transkription eine Vereinfachung: Die Transkription gibt einen hinteren Reibelaut wieder, wenn dieser Laut mit der Zungenspitze produziert wird, wird er mit dem kleinen [r] wiedergegeben (s Noack 2016a: 25) . In drei Schritten vom Hören zum Schreiben Für den gesamten Text erhalten wir folgende Buchstabenkette: Schritt 1: Laut-Buchstaben-Zuordnung ainsschtritnsichnoatwintunsoneweafeniMbaidnwoldaschteakerewerealsaiM wanderadeainainwaMMantlgehültwaadeswegesdaheakaMsiwuadnainichdasde ajenigefüadnsteakarengeltnsoltedeadMwanderazwingngwüardesaiMMantlaPt zurneMMdeanoatwintblisMitalaMachtabajeMeaablisdestofestahültesichdavan derainsaiMMantlainentlichgaPdanoatwindenkaMPfaufnuneawerMtedisonedi lufPMitianfrointlichnschtralnunschonachweningngaugngblikngtzokdawande rasaiMMantlausdaMustedanoatwintzugebMdasdisonefeniMbaidndaschteakerewaa In der phonetischen Transkription, von der wir oben ausgegangen sind, sind weitere Zeichen angegeben Neben den Bezeichnungen für einzelne Laute, die wir hier weitgehend mit Buchstaben übersetzt haben, finden sich zusätzlich die folgenden fünf Symbole: 1 hochgestellte Striche (der erste vor S) und tiefgestellte Striche ([ghYlt]) 2 Bögen, zum Beispiel unter [ai] usw 3 kurze senkrechte Striche unter Buchstaben (zum Beispiel unter [m]) 4 hochgestellte Buchstabenzeichen ( n , l , m und h ) 5 Doppelpunkte und halbe Doppelpunkte ( und ) Diese Symbole fügen wir nun als Zusatzinformationen aus dem Transkript in unseren Text und erhalten durch Aufnahme der anderen Zeichen, jenseits der reinen Lautzeichen, den folgenden Text: Vom Hören zum Schreiben: die Hinhörschreibung und wo sie endet 19 ains'schtritn`sich'noatwintun'soneweafeniM`'baidn`wolda'schteakerewerealsai M'wanderadeainain'waM`'Mantl`gehültwaades'wegesda'heakaMsiwuadn`'ainic hdas'deajenigefüadn`'steakarengeltn`soltedeadM'wandera'zwingngwüardesai M'Mantl'aPtzurneMM`dea'noatwint'blisMit'ala'Machtabaje'Meaa'blisdesto'fes ta'hültesichda'vanderainsaiM`'Mantl`ain 'entlichgaPda'noatwinden'kaMPf' 'wer Mtedi'sonedi'lufPMitian'frointlichnschtraln`unschonach'weningng'augNngbli kngt'zokdawanderasaiM'Mantl`ausdaMusteda'noatwint'zugebmM`dasdi'sonefeni M`'baidnda'schteakerewaa Der nächste Schritt könnte sein, die eben nachgetragenen Zeichen durch Schriftzeichen zu ersetzen • Der Verbindungsbogen lässt sich wie folgt übersetzen: In aI meint er, dass es sich um eine Lautverbindung handelt, also die Laute enger zusammen gesprochen werden als sonst Als solche Verbindungen sind in der Lauttabelle die Buchstabenkombinationen ei, au und eu zu verstehen Sind die Laute getrennt, wird entsprechend den einzelnen Lauten verschriftet, also beispielsweise ai als ai (in prosaisch oder Haiti) und nicht als ei wie in einst Der Verbindungsbogen unter Verbindungen mit A als zweitem Bestandteil ist ähnlich zu interpretieren: Es handelt sich um zwei vokalische Laute, die in eine Silbe gehören, der zweite Laut war im Transkript mit [] wiedergegeben, ohne dass wir in der Lauttabelle dafür Entsprechungen gefunden hätten . Die Verbindungen werden mit dem entsprechenden Vokalbuchstaben und einem folgenden <r> geschrieben, also Nortwint für [nOtvInt] • Der Strich unter einzelnen Buchstaben zeigt, dass es sich dabei um eine Silbe handelt, obwohl lautlich kein Vokal vorhanden ist . Die Schreibung des Standarddeutschen ist hier konsequent und fügt den Buchstaben e ein, also / n` / wird zu <en>, zum Beispiel am Anfang der ersten Zeile SCHTRITN` - SCHTRITEN • Die hochgestellten Zeichen wie n, N, m, l und h bleiben unbeachtet: Hochgestellte n, m, l gehen genau den gleichen Lauten voran, sie werden sozusagen schon in Verbindung mit anderen Lauten ‚vorartikuliert‘ baIdn BAIDEN/ BEIDEN Anders verhält es sich mit h: Typischerweise werden bestimmte Laute (zum Beispiel p, t, k, die alleine vor einem Vokal in einer betonten Silbe stehen) im Deutschen stark aspiriert/ behaucht ausgesprochen - also mit einem starken Lufthauch, hier für das Wort kam [kam] Diese Aspiration wird in der Schrift nicht wiedergegeben Die hochgestellten phonetischen Zeichen werden in der Verschriftung also ignoriert • Der Doppelpunkt ist ein sogenanntes Längen- oder Dehnungszeichen Er zeigt an, dass der vorangehende Vokal lang gesprochen wird . Die Schreibung hat keine einheitliche Kennzeichnung für die Länge, in den meisten Fällen ist sie gar nicht markiert Die Ausnahme ist der Vokal [i]: Er wird regelmäßig als <ie> geschrieben, was in der Lauttabelle auch ausdrücklich genannt ist (<ie> 20 Wie funktioniert unsere Schrift? wie in Biene) Grundsätzlich hat das Deutsche als - überaus selten verwendete - Möglichkeit die Verdopplung des Vokalbuchstabens (Boot, Saal) Das Dehnungs-h ist häufiger, markiert aber nicht konsequent die Länge, so zum Beispiel klingen mahlen - malen gleich Wir werden also nur [i: ] durch <ie> wiedergeben und sonst keine Dehnungsmarkierungen einfügen Damit führen bisher zwei der Markierungen (der untergestellte Strich und der Verbindungsbogen) zu einer Veränderung der Schreibweise Die kurzen, hochgestellten Striche hingegen sind weiter zu bearbeiten, dies erfolgt in Schritt 3 Schritt 2: Ersetzung der Striche und Bögen unter den Lautzeichen eins'schtritensich'nortwintun'sonewerfenieeM'beidenwolda'schterkerewereals eiM'wanderadeainein'waeM'Mantelge'hültwardes'wegesda'heakaMsiwurden'ein ichdas'derjenigefüaden'schterkaren'geltensoltederdM'wandera'zwingngwürde seiM'Mantl'aPtsur'neMeMder'nortwiM'bliesMit'ala'Machtabaje'Mera'bliesdesto'f estar'hültesichda'wandereinseineM'Mantelein'entlichgaPda'nortwindeng'kaMPf 'aufnunea'werMtedie'sonedie'lufPMitirn'frointlichnsschtralenunschonach'wen ingng'augeng'blikngtsokda'wanderaseiM'MantelausdaMusteda'nortwin'tsugebe Mdasdi'zonefenieeM'beidnda'schterkerewar Was zeigen nun die kurzen hochgestellten und die tiefgestellten Striche? Sie zeigen, dass die nachfolgende Silbe akzentuiert wird; bei den hochgestellten Strichen handelt es sich um einen sogenannten Hauptakzent, bei den tiefgestellten um einen Nebenakzent Akzent meint dabei, dass die betreffende Silbe besonders betont wird Betonung kann dabei rein durch Lautstärke oder durch höhere Tonhöhe realisiert werden (der Akzent im Deutschen ist eine Mischung aus verschiedenen Faktoren, am wichtigsten ist der Tonhöhenunterschied) Die Unterscheidung von Haupt- und Nebenakzent deutet schon an, dass Akzente ein graduelles Phänomen sind Überlegen wir nun, ob die Akzente Hinweise auf die Schreibung geben Ja und nein Sie geben Hinweise auf Segmentierungen, die ja bisher weitgehend fehlen Wenn man annimmt, dass es Einheiten gibt, die nur einen Akzent zulassen, stellt sich die Frage, ob diese Einheiten den Akzent an beliebiger Stelle tragen oder zum Beispiel am Anfang Versuchshalber setzen wir vor jedes Akzentzeichen ein Leerzeichen, wir nehmen also an, dass die besagten Einheiten mit dem Akzent beginnen Vom Hören zum Schreiben: die Hinhörschreibung und wo sie endet 21 Schritt 3: Interpretation der Akzentzeichen als ‚Leerzeichenstifter‘ eins schtritensich nortwintun sone werfenieeM beidenwolda schterkerewere alseiM wandera deainein waeM Mantelge hültwar des wegesda heakaM siwurden einich das derjenigefüaden schterkaren geltensolte derdM wandera zwingngwürde seiM Mantl aPtsur neMeM der nortwiM bliesMit ala Macht abaje Mera blies desto festar hültesichda wandereinseineM Mantelein entlichgaPda nortwindeng kaMPf auf nunea werMtedie sonedie lufPMitirn frointlichnsschtralen unschonach weningng augeng blikngtsokda wanderaseiM Mantelaus daMusteda nortwin tsugebeM dasdi zonefenieeM beidnda schterkerewar Nun wird der Text schon lesbarer Allerdings: Die Einheiten, die wir so erhalten haben, sind offenbar keine Wörter, sondern größer als diese Dennoch haben wir hier weitgehend hilfreiche Segmentierungen erhalten . Auf S .30 ff . werden wir sehen, dass die Akzente eine weitere, viel wichtigere Funktion für die Schrift haben, denn nur in den akzentuierten Silben kommen bestimmte Arten der weiteren Markierungen zum Zuge, zum Beispiel Dehnungsmarkierungen Mit Fassung 3 sind wir am Ende dessen, was wir ‚hören‘ können, und zwar dann, wenn wir die Zerlegung des Lautstroms in einzelne Laute akzeptiert haben Aber auch unabhängig davon mussten eine Menge Vorannahmen gemacht werden: So ist zum Beispiel die Annahme, dass eine Einheit nur einen Akzent hat, eine Aussage über das Deutsche Weiter unten werden wir zeigen, wie man systematisch zu einer weitgehend zielführenden Schreibung kommt; mit weiteren Prinzipien jenseits des reinen Hinhörens Vergleichen wir nun kurz die ‚Hinhörschreibung‘ mit der Zielschreibung: eins schtritensich nortwintun sone werfeniM beidenwolda schterkerewere einst stritten sich nordwind und sonne, wer von ihnen beiden wohl der stärkere wäre, Es gibt noch viele Unterschiede auf verschiedenen Ebenen Systematisch fehlt die Groß- und Kleinschreibung, denn die kann man nicht hören Aber auch auf der Segmentebene bestehen noch Unterschiede wie fehlende letzte Buchstaben (eins statt einst, un statt und), fehlende Doppelkonsonanten wie in SONE usw Viele der Schreibungen, die wir aus der lautlichen Ebene abgeleitet haben, die aber nicht der Zielschreibung entsprechen, finden wir auch bei Schreibnovizen Nach knapp drei Monaten Beschulung schreibt Nina den folgenden Text: 22 Wie funktioniert unsere Schrift? eintzt striten sich nortwint und sone wer von inen beiben wol der stekere were als ein wanderer der in einen warmen mantel gehült war des weges darherkarm sie wurden einig das derjenige für den sterkerrin gelten sollte 18. 11. 2010 (= 4 wochen nach herbstferien; unterrichtsmethode: freies schreiben) nina, 6 jahre und 4 Monate (bildungshaushalt; starke schreiberin) Wenn wir die Schreibung von Nina ansehen, fällt als erstes auf, dass sie einen sehr guten Wortbegriff hat, also Leerzeichen setzt, die nichts mit dem Hinhören zu tun haben Schon das ist ein Zeichen dafür, dass Nina eine ‚starke‘ Schreiberin ist Auf der anderen Seite sehen wir im Vergleich zur Zielschreibung viel Lautgeleitetes: Das gilt zum Beispiel für nortwint oder gehült . Nina wird es nichts nützen, wenn wir sie auffordern, „besser hinzuhören“: nortwint und gehült zeigen, dass sie gut hingehört hat, aber die Zielschreibungen Nordwind und gehüllt ergeben sich aus anderen Prinzipien, die wir später in diesem Kapitel noch kennenlernen werden Die Hinhörschreibung hat uns also nicht zum Ziel geführt und ‚genaueres‘ Hinhören und deutliches Sprechen (wie von vielen Lehrern und Lehrerinnen verlangt) wird uns auch nicht zum Ziel führen Das Experiment ist fürs Erste beendet Wir müssen jetzt völlig andere Strategien entwickeln, die uns zu der gewünschten Schreibung bringen Am Ende des Kapitels werden wir auf die in Schritt 3 dargestellte Schreibung noch einmal zurückkommen, mit den dann entwickelten Strategien werden wir sie zu Ende führen Wir haben in diesem Abschnitt Folgendes gesehen: Wir meinen häufig, dass wir schreiben, wie wir sprechen, und leiten daraus ab, dass man nur genau hinhören müsse, wenn man richtig schreiben will . Das ist fatal, denn wer einem Kind sagt ‚hör genau hin und schreibe genau so‘, der programmiert Lese- und Schreibschwierigkeiten bei den Kindern, die sich das System nicht selbst erschließen (s Kapitel 3 und Kapitel 4) . Wir hören nur wenige der Wortzwischenräume, man kann keine zwei [t] in Matte hören, wir hören weder ein [e]/ [] noch einen r-Laut in Männer, großgeschriebene Buchstaben ‚klingen‘ nicht anders als kleingeschriebene und wir hören keinen Unterschied zwischen dass und das. Die Reihe ließe sich fast beliebig fortsetzen Die Schrift ist keine Abbildung der Lautung; sie ist vielmehr eine Abbildung von Grammatik Wer die Kinder auffordert, zu schreiben, wie sie sprechen, erschwert oder versperrt ihnen den Weg in diese alles entscheidende Einsicht Vom Lesen zum Schreiben: Was sehen wir eigentlich, wenn wir genau hinsehen? 23 Vom Lesen zum Schreiben: Was sehen wir eigentlich, wenn wir genau hinsehen? Nachdem Sie sich viele schwer lesbare Fassungen des Beispieltextes angeschaut haben, möchten wir Ihnen jetzt als Auftakt zum Thema Lesen den oben genannten Text in der üblichen Schreibung zeigen, auf den wir an mehreren Stellen zurückkommen werden 1 einst stritten sich nordwind und sonne, wer von ihnen beiden wohl der stärkere wäre, als ein wanderer, der in einen warmen Mantel gehüllt war, des weges daherkam. sie wurden einig, dass derjenige für den stärkeren gelten sollte, der den wanderer zwingen würde, seinen Mantel abzunehmen. der nordwind blies mit aller Macht, aber je mehr er blies, desto fester hüllte sich der wanderer in seinen Mantel ein. endlich gab der nordwind den kampf auf. nun erwärmte die sonne die luft mit ihren freundlichen strahlen, und schon nach wenigen augenblicken zog der wanderer seinen Mantel aus. da musste der nordwind zugeben, dass die sonne von ihnen beiden der stärkere war. Bisher sind wir die ‚Schreibrichtung‘ gegangen: Die Aufgabe war, eine Lautkette in eine Buchstabenkette zu überführen, also das Gehörte zu schreiben Versetzen wir uns nun in die Kinder und überlegen, was sie alles sehen beim „Lesen“, wenn sie also auf einen Text schauen Jedes Kind sieht viele Dinge, die ihm beim Verstehen und später beim eigenen Schreiben helfen: Leerzeichen, dazwischen weniger oder mehr Buchstaben, und die können klein oder groß sein . Wir können auch sagen, wie häufig diese Elemente sind . Neben den Kleinbuchstaben enthält das Schriftsystem als zweithäufigstes Zeichen das Leerzeichen . An dritter Stelle in der Häufigkeit stehen Großbuchstaben, dann die Satzzeichen (meistens ist das Komma vor dem Punkt das häufigste), schließlich die Absatzzeichen . Dies sind alles Hilfsmittel der Schrift, die mit dem Lautsystem gar nichts (Großschreibung) oder nur ein bisschen (Leerzeichen, von denen wir einige mithilfe der Akzente rekonstruieren konnten) zu tun haben . Im Hauptteil des Kapitels widmen wir uns nun all diesen Phänomenen, die die Kinder sehen und lesen können, und wir zeigen dabei, was ihnen und jedem, der liest, die Schreibung über die Grammatik zeigt 1 Die vorliegende Entwicklung des deutschen Schriftsystems entspricht dem Stand der Diskussion Wir haben nicht in jedem Punkt aufgeführt, von wem die Sachverhalte zuerst benannt wurden, denn wir wollen hier nicht die Forschungsentwicklung wiedergeben Deswegen möchten wir hiermit explizit (und stellvertretend) auf die Schriften von Peter Eisenberg, Hartmut Günther, Utz Maas und Beatrice Primus hinweisen 24 Wie funktioniert unsere Schrift? Leerzeichen - Ein Komfort fürs Auge Die Leerzeichen sind in der Schrift ohne Weiteres zu erkennen, und damit auch die Wörter, die zwischen ihnen stehen einststrittensichnordwindundsonnewervonihnenbeidenwohlderstärkerewärealseinwandererderineinenwarmenmantelgehülltwardeswegesdaherkam einst stritten sich nordwind und sonne wer von ihnen beiden wohl der stärkere wäre als ein wanderer der in einen warmen mantel gehüllt war des weges daherkam Offenbar ist die Setzung von Leerzeichen auch nicht allzu schwer zu lernen - sieht man von einem eigentlich kleinen, wenn auch häufig genannten Bereich von Zweifelsfällen ab Fehler wie eine Zusammenschreibung von *dasHaus oder *dasaltehaus kommen im fortgeschrittenen Schriftspracherwerb fast nicht vor Wie wir an Ninas Text sehen konnten, macht sie schon nach drei Lernmonaten hier keinen Fehler mehr Leerzeichen zeigen uns also Wörter Wozu brauchen wir das? In Wörtern kommen verschiedene Dinge zusammen: So sind sie einerseits die Grundeinheiten, die einen Satz aufbauen, die selbstständig in einem Satz auftreten und dort verschiedene Funktionen einnehmen können Andererseits transportieren Wörter Bedeutung, sie haben eine lexikalische Bedeutung, die gelernt wird . Dies ist besonders gut erkennbar beim Vokabellernen in einer fremden Sprache: Wörter lernen wir auswendig, Sätze hingegen nicht Wörter sind also in unseren Köpfen gespeichert - und zwar mit Bedeutungen In der Forschung zur Sprachverarbeitung wird immer wieder darauf hingewiesen, wie überraschend schnell wir Wörter bei Bedarf finden - vor allem dann, wenn man weiß, dass wir allein in unserer Erstsprache um die 50 000 davon im Kopf gespeichert haben In der Forschung wird deshalb auch die Frage behandelt, wie diese Wörter im Kopf sortiert sind Es geht hier zwar nicht um die Sprachverarbeitung, sondern um das Schriftsystem Aber solche Hinweise helfen, sich zu klarzumachen, dass jedes noch so kleine Hilfsmittel in der Schreibung dazu dient, Prozesse der Worterkennung unbeschwerter und schneller ablaufen zu lassen (Aitchison 1997: 30 ff ) . Wenn wir lesen, geht es als erstes darum, Texte zu verstehen Damit stellen wir das Erfassen von Bedeutungen, und zwar sowohl von Wörtern als auch von Sätzen, über das Erfassen von Lautstrukturen . Wir erkennen Wörter, und auch wenn Sie die Sätze der kleinen Geschichte zum Nordwind und der Sonne noch nie gelesen oder gehört haben - wenn Sie nicht Sprachwissenschaft studiert haben, diese Geschichte ist nämlich von der Internationalen Phonetischen Gesellschaft in verschiedene Sprachen übersetzt und transkribiert worden und deswegen ein Standardbeispiel -, konnten sie wahrscheinlich alles verstehen: Aus der Grundbedeutung der Wörter und ihrer Kombinatorik haben Sie die Vom Lesen zum Schreiben: Was sehen wir eigentlich, wenn wir genau hinsehen? 25 Bedeutung der Sätze hergeleitet Dass hier Nordwind und Sonne als Handelnde beschrieben sind (sie streiten sich), dass sie also personifiziert werden, was zu der Grundbedeutung der Wörter Nordwind und Sonne eigentlich nicht passt, haben Sie durch die metaphorische Interpretation akzeptiert, die die Textsorte Fabel ja geradezu verlangt In einem Wetterbericht wären Sie wahrscheinlich eher stutzig geworden Andererseits kann man den Satz nicht verstehen, wenn man nicht zumindest eine Grundbedeutung der Wörter abrufen kann Wir müssen wissen, was ‚streiten‘ heißt, was die Bedeutung der Wörter ‚Wind‘ und ‚Sonne‘ ist, wir müssen aber auch Wörter wie ‚einst‘ und ‚und‘ verstehen . Es ist also wesentlich, eine Einheit wie ‚Wort‘ direkt zu erkennen Das Wort als Einheit, die eine lexikalische Bedeutung trägt und die in einer interpretierbaren (strukturell immer vergleichbaren) Beziehung zu anderen Wörtern steht, wird uns vom Leerzeichen direkt ‚serviert‘ Besonders komfortabel ist das Leerzeichen in Konstruktionen, die mehrere Möglichkeiten bieten Nehmen wir dafür ein Wort wie Erbsensuppe Oder ist das gar kein Wort? Sehen wir uns die folgenden Beispiele an: Karl kocht Erbsensuppe. - *Karl kocht Erbsen Suppe. Karl kocht aus Erbsen Suppe. - *Karl kocht aus Erbsensuppe. Nun haben Sie in der Schule nie so etwas gelernt wie ‚Erbsensuppe, das kann man getrennt oder zusammen schreiben‘ Dennoch nehmen wir an, dass die meisten von Ihnen die grammatisch korrekten Beispiele (also jeweils den ersten Satz) genau so geschrieben hätten Die Schreibung zeigt uns hier zweierlei, und zwar erstens, wie einzelne Einheiten im Satz verarbeitet werden, ob sie also vom Satzbau her selbstständig oder unselbstständig sind: Was durch Leerzeichen begrenzt ist, wird syntaktisch verarbeitet, was zusammengeschrieben ist, wird wortintern interpretiert Zweitens leitet uns die Zusammen- und Getrenntschreibung auch bei der Interpretation: Erbsensuppe ist insgesamt eine Suppe, Erbsen für sich genommen natürlich nicht Er kocht Erbsensuppe und Kartoffeln - er kocht Erbsen, Suppe und Kartoffeln. Im ersten Satz stehen zwei Kochtöpfe auf dem Herd, im zweiten Satz sind es drei Das hier diskutierte Beispiel war das Substantiv-Substantiv-Kompositum Erbsensuppe Solche zusammengesetzten Wörter bereiten kompetenten Lesern/ innen und Schreibern/ innen in der Regel keine Schwierigkeiten . Einige eher schwierige Fälle finden wir in unserem Beispieltext 26 Wie funktioniert unsere Schrift? Zusammenschreibungen in der Fabel Nordwind, Augenblicken, daherkam, abzunehmen Nordwind und Augenblicken zeigen mit der Zusammenschreibung, dass es sich jeweils um eine Einheit handelt, denn wenn dort gestanden hätte, einst stritten sich Nord ( , ) Wind und Sonne - dann hätten wir drei, die sich streiten, so sind es nur zwei Bei Nordwind und Augenblicken handelt es sich um Erbsensuppen-Fälle Schwieriger ist der Fall daherkam Möglicherweise stutzen Sie sogar über die Zusammenschreibung (bzw . Sie hätten es selbst nicht so geschrieben) Hier geht es aber zunächst darum, zu überlegen, was die Zusammenschreibung zeigt: Sie vereindeutigt die Bedeutung von daher Im zusammengeschriebenen Ausdruck ist daher nur als unselbstständiger Ausdruck interpretierbar: er ist ein Modifikator von kommen - beschrieben wird also eine bestimmte Art des (Daher-)Kommens Stünde daher alleine, könnte es ‚aus diesem Grund‘ (daher/ deshalb kommt er) oder ‚von dort‘ (er mag Ostfriesland, er kommt daher) heißen In der Konstruktion: als ein Wanderer des Weges daherkam kann daher nur die erste Lesart haben - sie wird durch die Zusammenschreibung erzwungen Das Verb abnehmen ist hier ebenfalls zusammengeschrieben, obwohl ab und nehmen jeweils auch selbstständige Wörter sein können Die Zusammenschreibung zeigt dem Leser/ der Leserin, dass es sich hierbei um ein komplexes Verb handelt und gerade nicht um zwei selbstständige Einheiten, die unabhängig voneinander verarbeitet werden müssen Dass sie zusammen gelesen werden müssen, zeigen auch einfache Tests, und zwar sowohl vom Verb nehmen als auch von dem Bestandteil ab her betrachtet: Das Verb nehmen verhält sich anders als das Verb abnehmen: ich nehme den Mantel ab - ich nehme den Mantel; ich nehme ihm den Mantel ab - ? ich nehme ihm den Mantel. (Ein Fragezeichen vor Beispielen zeigt, dass die Grammatikalität intuitiv fraglich ist ) ab ist ohne ein spezifisches Verb eine Präposition, das heißt, sie braucht eine nominale Ergänzung (wir nehmen ab Frankfurt den Zug nach Wiesbaden; die Finanzämter nehmen ab einem bestimmten Jahreseinkommen keine Rücksicht mehr.) Ohne die unterstrichenen Nominalgruppen wären die Sätze unvollständig (und damit auch ungrammatisch) Die Probe zeigt, dass in dem Satz aus dem Nordwind-Text ab nicht als Präposition, sondern als Verbpartikel gebraucht ist Das Wort abnehmen verhält sich anders als die beiden Einzelteile ab und nehmen es bei freier Verwendung tun würden; es handelt sich also um ein komplexes Wort, und das zeigt die Zusammenschreibung, die natürlich nur dann möglich ist, wenn die beiden Bestandteile nebeneinanderstehen Was große und kleine Buchstaben über die Struktur von Sätzen sagen Beim Lesen sehen wir außer den Leerzeichen und den Wörtern vor allem die Buchstaben und dabei besonders deutlich die Großbuchstaben Diese haben zum einen die Funktion, Satzanfänge (hier Einst) anzuzeigen Aber auch innerhalb des Satzes kommt Großschreibung vor Bei der Großschreibung von Satz- Vom Lesen zum Schreiben: Was sehen wir eigentlich, wenn wir genau hinsehen? 27 anfängen sprechen wir von satzinitialer, bei der Großschreibung von Wörtern im Satz von der satzinternen Großschreibung Die satzinterne Großschreibung ist eine Besonderheit des Deutschen . Gemeinhin wird sie unter dem Begriff ‚Substantivgroßschreibung‘ zusammengefasst Aber sind es wirklich Substantive, die großgeschrieben werden? Großschreibung in der Fabel Einst stritten sich Nordwind und Sonne, wer von ihnen beiden der Stärkere wäre, als ein Wanderer, der in einen warmen Mantel gehüllt war, des Weges daherkam. Neben dem Satzanfang Einst sind im ersten Satz Nordwind, Sonne, Stärkere, Wanderer, Mantel, Weges großgeschrieben Es ist wenigstens ein Wort dabei, das primär kein Substantiv ist, und zwar Stärkere Gemeinhin wird nun gesagt, dass Substantive diejenigen Wörter sind, vor denen ein Artikel stehen kann Das ist ein mögliches Kriterium, aber man muss es auch richtig anwenden können Vor Stärkere und Wanderer stehen gleichermaßen Artikel, vor Nordwind und Sonne stehen keine Ob hier Artikel stehen könnten, ist eine Frage Denn Nordwind und Sonne sind wie Eigennamen verwendet - analog etwa zu Peter und Paul. Eigennamen werden großgeschrieben, Artikel können in bestimmten Regionen Deutschlands davorgesetzt werden, aber in vielen Regionen ist der Peter sehr ungewöhnlich Sehen wir uns stärkere genauer an: Bei der stärkere Junge finden wir wie bei der Stärkere einen Artikel, und dennoch wird stärkere hier nicht großgeschrieben Die Artikelprobe ist also ein Hinweis, aber sie ist kein Selbstzweck Fakt ist, dass wir im Deutschen eine syntaktische Großschreibung haben; Großschreibung ist nicht an eine Wortart gebunden, sondern an eine bestimmte Verwendung im Satzzusammenhang: Großgeschrieben werden Kerne von Nominalgruppen In der Fabel ist Stärkere als Kern gebraucht, in der stärkere Junge ist Junge der Kern der Nominalgruppe Und hier bietet die Schreibung eine wesentliche Hilfe beim Lesen: In der Stärkere im Text wird durch die Großschreibung sofort deutlich, dass Stärkere der Kern ist, wir müssen also beim Lesen keinen anderen Kern suchen Und so hilft die Großschreibung beim Verstehen Es ist zwar richtig, dass Kerne von Nominalgruppen sehr häufig Substantive sind und diese auch in genau diese Funktion drängen Aber erstens drängen auch andere Wortarten in den Kern von Nominalgruppen und zweitens stehen Substantive zwar häufig, aber nicht immer in dieser Position Das heutige Deutsch schreibt also nicht die Großschreibung einer bestimmten Wortart vor, sondern die Großschreibung einer besonderen syntaktischen Funktion, also einer Funktion der Wörter im Satz (Maas 1992, Bredel 2010a) Hier folgen Beispiele für andere Wortarten, die wegen der Funktion, die sie in den jeweiligen Beispielsätzen einnehmen, großgeschrieben werden: 28 Wie funktioniert unsere Schrift? das singen, ein tanzen, ein springen das singen der kantate macht ihm viel freude. das grün, das hoch, das tief das heutige wetter wird von einem tief aus norddeutschland bestimmt der stärkere, der angestellte die angestellten der verkehrsgesellschaften demonstrieren heute in frankreich. das heute das heute ist in vieler hinsicht besser als das gestern. das auf und ab das ständige auf und ab der beziehung hat ihn viel kraft gekostet. das a und o das a und o eines erfüllten lebens ist doch, gemäß seinen eigenen wünschen und vorstellungen zu leben. Für den Leser/ die Leserin wird sofort deutlich, welches Wort den Kern der Nominalgruppe bildet, und er gruppiert andere Einheiten wie Attribute um diesen Kern herum Um deutlich zu machen, wie wichtig diese Kennzeichnung ist, möchten wir Sie zu einem weiteren kleinen Experiment einladen Im folgenden Kasten sind Satzanfänge vorgegeben, die Sie ergänzen sollten: Experiment die fliegen … die rochen … alle versprechen … wie viele rennen … sie waren zufrieden, denn alle reisen … alle versprechen … sie waren zufrieden, denn alle reisen … die rochen … wie viele rennen … die fliegen … Wie Sie sicherlich bemerkt haben, kommen alle Satzanfänge doppelt vor: Einmal mit einem klein-, einmal mit einem großgeschriebenen Ausdruck (zum Beispiel Alle Versprechen/ Alle versprechen …) Je nachdem, ob die Ausdrücke klein- oder großgeschrieben waren, mussten Sie verschiedene Fortsetzungen finden Die Sätze mit großgeschriebenen Wörtern haben Sie sehr wahrscheinlich mit einem Verb fortgesetzt, diejenigen mit kleingeschriebenen Wörtern nicht Sie haben sich also bei der Ergänzung der Sätze von der Groß- und Kleinschreibung leiten lassen und daraus die richtigen Konsequenzen für die Struktur der Sätze abge- Vom Lesen zum Schreiben: Was sehen wir eigentlich, wenn wir genau hinsehen? 29 leitet Dasselbe machen Sie beim Lesen, wo die Großschreibung Ihnen nicht nur einen Hinweis auf die Funktion des großgeschriebenen Wortes gibt, sondern zugleich einen Hinweis auf die gesamte Satzstruktur Als Schreiber/ in muss man die Entscheidung, ob großgeschrieben wird oder nicht, selbst treffen Dabei hilft das Kriterium der Erweiterbarkeit: Denn Kerne von Nominalgruppen haben die Eigenschaft, nähere Bestimmungen (Attribute) zuzulassen: die schwarzen Fliegen; die großen Versprechen, die die Bundesregierung gegeben hat; ein fröhliches Tanzen und Springen; das heutige Hoch; der zufriedene Angestellte; das dunkle Heute; das ständige Auf und Ab; das wirkliche A und O; das lyrische Ich. Dies gilt auch für die Fälle wie das kleine Schwarze, das vergessene Alte, der eingebildete Kranke. Um noch einmal deutlich zu zeigen, dass die Großschreibung nicht an die Wortart Substantiv gebunden ist, betrachten wir nun Beispiele, in denen Substantive nicht Kerne von Nominalgruppen sind, zum Beispiel schuld in schuld sein. Typisch sind Fälle, in denen sie analog zu Adjektiven gebraucht werden können, zum Beispiel in Zusammenhang mit dem Verb sein Im Zusammenhang mit sein können sowohl Substantive als auch Adjektive verwendet werden, wie in er ist schön - er ist Lehrer. Hier gibt es kein Vertun mit der Großschreibung, denn Lehrer kann zu einer (komplexen) Nominalgruppe erweitert werden, was wir mit der folgenden Erweiterungsprobe sehen können (Röber-Siekmeyer 1999): er ist Lehrer er ist ein Lehrer er ist ein guter Lehrer er ist ein guter, engagierter Lehrer er ist ein guter, engagierter Lehrer, der sich um seine Schüler kümmert usw. Anders sieht es in Fällen wie er ist schuld aus. Schuld ist in dieser Position nicht erweiterbar: *er ist eine schuld *er ist große schuld *er ist die ganze schuld (an dem Unfall). *er ist schuld, die er jetzt verbüßen muss. Dass schuld/ Schuld hier nicht zu erweitern ist, ist eine Eigenschaft, die das Wort mit schuldig gemeinsam hat Dass sich schuld/ Schuld lediglich in diesem speziellen Kontext besonders verhält, kann man an den Beispielsätzen er hat Schuld und er trägt (die) Schuld gut sehen (s Fuhrhop 2015: 50): 30 Wie funktioniert unsere Schrift? er hat die alleinige Schuld er trägt die alleinige Schuld er hat die ganze Schuld er trägt die ganze Schuld an dem Unfall Die Fälle sind deutlich voneinander zu unterscheiden; die verschiedenen Schreibungen beruhen nicht auf der Willkürlichkeit einer Regelung, sondern auf grammatischen Unterschieden der gesamten Konstruktion . So haben wir als kompetente Sprecher und Sprecherinnen des Deutschen (und entsprechend auch die Kinder) eine klare Intuition darüber, dass sich Schuld/ schuld in er hat Schuld und er ist schuld völlig unterschiedlich verhalten, wie die Sätze oben zeigen . Und deswegen ist die unterschiedliche Schreibung auch nicht wirklich schwer, sofern sie richtig vermittelt wird . Im 3 Kapitel, S . 112 zeigen wir, wie diese Vermittlung funktionieren sollte . Durch falsche Vermittlung wird die Schreibung allerdings nahezu unlernbar, was wir im 4 . Kapitel, S 148 f . zeigen wollen Um noch einmal zu verdeutlichen, dass die satzinterne Großschreibung beim Lesen hilft, sei auf Experimente aus der Sprachverarbeitung hingewiesen: Das eindrücklichste Experiment ist nach wie vor, dass niederländische Leser/ innen spontan niederländische Texte in der deutschen Großschreibung schneller gelesen haben als die selben Texte in der niederländischen Schreibung (Gforerer, Günther, Bock 1989) Die Versuchspersonen waren zwar grundsätzlich mit dem Deutschen vertraut; dennoch ist interessant, dass sie auch die niederländischen Texte spontan schneller lesen konnten, obwohl sie ein für das Niederländische ungewohntes Schriftbild vor sich hatten Die satzinterne Großschreibung hat also auch ihnen beim Lesen geholfen, weil sie die Funktion von Wörtern im Satz anzeigt Solche Befunde sollten uns vorsichtig machen, wenn es um Reformen geht: Die Abschaffung der satzinternen Großschreibung, wie sie immer wieder einmal verlangt worden ist, hätte erhebliche Konsequenzen für den Leser/ die Leserin Wird sie angemessen unterrichtet - werden also auch Schreiber/ innen in die Lage versetzt, die richtigen Entscheidungen zu treffen - gibt es für die Abschaffung auch von dieser Seite aus keinen Grund Die Silbe und der Rhythmus werden sichtbar gemacht Der Begriff ‚Silbe‘ stammt zunächst aus der gesprochenen Sprache . Wörter sind aus Silben aufgebaut Silben sind leichter zugänglich als Einheiten wie Laute, Wörter und auch Sätze: Ein Kind kann vor dem Beginn des Schriftspracherwerbs eher sagen, wie viele Silben eine bestimmte Einheit (Äußerung) hat, als es die Anzahl von Lauten, Wörtern oder gar Sätzen feststellen kann (so Höhle/ Weissenborn 2000) Das wird auch deutlich an Abzählreimen, Liedern usw Silben sind lautliche Einheiten mit bestimmten Eigenschaften, die ein Kind wahrnehmen kann Wir haben hier bewusst von der Anzahl von Silben gesprochen: Möglich scheint es, die Silbenkerne zu bestimmen; die genaue Festlegung von Vom Lesen zum Schreiben: Was sehen wir eigentlich, wenn wir genau hinsehen? 31 Silbengrenzen (also die genau Stelle, an der eine Silbe aufhört und eine andere anfängt) ist sehr viel schwieriger Der Begriff der Silbe kann auf die geschriebene Sprache übertragen werden (Primus 2003) Dabei geht es nicht um die reine Abbildung einer lautlichen Einheit Die Schreibsilbe soll vielmehr verstanden werden als (sichtbare) Einheit „zwischen“ den anderen sichtbaren Einheiten, nämlich dem Buchstaben und dem Wort Im Allgemeinen ist eine geschriebene Silbe umfangreicher als ein Buchstabe, und sehr häufig bestehen Wörter aus mehr als einer Silbe . Die Grundidee der Schreibsilbe als sichtbarer Einheit kann man sich einfach an der Struktur der Kleinbuchstaben unseres Alphabets klar machen . Ein sehr augenfälliger Unterschied ist, dass einige Buchstaben Längen haben, andere nicht . Längen meint dabei, dass ein Buchstabe in den oberen oder unteren Bereich hineinreicht (hier dargestellt an den Beispielen p, b, d, t und k) Nicht-lange Buchstaben sind hier a, e, o, i, u Das i gilt trotz des i-Punkts als nicht-lang, weil der Punkt nicht mit dem Strich verbunden ist Der i-Punkt hat die Funktion, das i zu verdeutlichen, es wäre ansonsten der unauffälligste aller Buchstaben und würde gegebenenfalls übersehen werden p b d t k vs a e i u o Nun stehen die langen und kurzen Buchstaben nicht beliebig gemischt in den Silben, sondern in einer ganz bestimmten Reihenfolge, die beim Lesen hilft: Während die langen Buchstaben den Silbenrand besetzen, besetzen die nichtlangen Buchstaben den Silbenkern Es ergibt sich damit als Grundtendenz folgendes Bild von Schreibsilben: gut, froh, tut, tust, blöd, … Die Kurven zu den Rändern hin geben alternativ Ober- und Unterlängen wieder Tatsächlich ist das System der Buchstaben noch ausgeklügelter (Fuhrhop/ Buchmann 2009), aber die Grundidee soll an dieser Stelle reichen Die Silbenränder sind häufig, aber nicht immer besetzt; so ist bei dem Wort ab der Anfangsrand nicht besetzt, bei da der Endrand nicht Die Position des Schreibsilbenkerns ist im Deutschen aber immer besetzt . Das sichere Erkennungszeichen von Silben ist also der Silbenkern (und nicht der Silbenrand), und damit sind wir bei einer Parallelität zu dem, was wir für die Sprechsilbe oben angenommen haben: Die Anzahl von Silben ist über die Silbenkerne zu bestimmen Besonders deutlich wird dies, wenn wir versuchen, die lautliche Silbengrenze in einem Wort wie Nörgler festzustellen Sagen Sie zum Beispiel [n{k.l] oder [n{.gl]? Die Silbengrenze ist jeweils durch den Punkt gekennzeichnet Das Beispiel ist besonders schön, weil, je nachdem, wo Sie die Silbengrenze setzen, der gleiche Konsonant als k oder g realisiert würde Unstrittig ist aber, dass das Wort aus zwei Silben besteht, es hat zwei Silbenkerne 32 Wie funktioniert unsere Schrift? Halten wir also fest, welche Buchstaben die Silbenkernposition einer geschriebenen Silbe besetzen können: a, e, i, o, u, ä, ö, ü. In jeder Schreibsilbe kommt einer dieser Buchstaben vor, für den Fremdwortbereich kommt alternativ y hinzu Wir können also mit folgendem Bild operieren Das Sigma ( σ ) steht jeweils für eine Silbe, Phi ( ϕ ) für den Fuß, die Gruppierung rund um die betonten Silben In Sünden gehören drei Buchstaben zur ersten Silbe, drei zur zweiten, in Süden ist die zweite Silbe die gleiche, zur ersten gehören nur zwei Buchstaben Die Anzahl der Silben ist über die Silbenkerne (a, e, i, o, u) zu ermitteln Häufig sind die Ränder nicht von langen Buchstaben besetzt, die Kerne aber immer von nicht-langen σ σ S ü n d e n ϕ S ü d e n Abb. 2-5 Der Rhythmus wird sichtbar gemacht: die unbetonbaren Silben Wir haben den Ausflug in die Silbe gestartet, weil sehr viele Wörter mehrsilbig sind, im Deutschen besonders häufig zweisilbig Besonders typisch ist dabei für das Deutsche, dass die zwei Silben in einem Wort sehr unterschiedlich sind Typische Zweisilber sind solche wie gelbe, Hunde, Betten, tragen, Süden, Sünden, Lehrer, Hütte, Hüte, Bilder, eitel, Atem. Diese Wörter zeigen eine bestimmte rhythmische Struktur, und zwar ist die erste Silbe betont und die zweite unbetont Die zweite Silbe ist sogar unbetonbar, also man kann sie nicht betonen, ohne die Substanz zu verändern: Betont man bei Hunde die zweite Silbe, entsteht Hundé/ Hundee, ein völlig anderes Wort Unbetonbare Silben werden auch Reduktionssilben genannt Um zu zeigen, wie prägend diese Struktur für das heutige Deutsch ist, betrachten wir den ersten Satz vom Nordwind-und-Sonne-Text In dem Transkript sind die unbetonbaren Silbenkerne fettgesetzt, in der orthographischen Schreibung sind die unbetonbaren Silben unterstrichen Beides ist nicht ganz deckungsgleich, weil im Zusammenhang mit der Aussprache mehrerer Wörter eher mehr Silben unbetonbar realisiert werden als bei Einzelaussprache der Wörter; zum Beispiel wird von im Zusammenhang als fn, kontextfrei eher als fOn artikuliert . Die Struktur ist besser an der orthographischen Wiedergabe zu erkennen als in der phonetischen, da es zunächst um Silben geht, die strukturell unbetonbar sind und die ausschließlich in Mehrsilbern vorkommen Vom Lesen zum Schreiben: Was sehen wir eigentlich, wenn wir genau hinsehen? 33 / aInsStItn `zI nOtvInt Un zOn ve fn im` baIdn` vol d StEk ve / als aIvand dEV In aIn vam` mantl ``ghYlt va ds vegs dahekam einst stritten sich nordwind und sonne, wer von ihnen beiden wohl der stärke-re wäre, als ein wande-rer, der in einen warmen Mantel gehüllt war, des weges daherkam. In der phonetischen Transkription sind die Silbenkerne von unbetonbaren Silben auf drei unterschiedliche Weisen wiedergegeben: Durch das sogenannte Schwa [], durch einen anderen Reduktionsvokal [] und durch silbische Konsonanten (den Strich unter l, m und n) Der Reduktionsvokal [] kann allerdings auch Bestandteil von Vokalverbindungen sein (nOtvInt), und zwar nur in nicht-reduzierten Silben Alleiniger Silbenkern ist er nur in reduzierten, also unbetonbaren Silben In der geschriebenen Sprache sind die Silbenkerne der unbetonbaren Silben alle (auch) durch den Buchstaben e wiedergegeben: stritten (silbischer Konsonant), Sonne (Schwa), Wanderer () Schauen wir einmal auf die betonbaren und die unbetonbaren Silben: In dem Satz finden sich vierzehn (bzw dreizehn wegen ein - einen) mehrsilbige Wörter, nur zwei davon enthalten keine unbetonbare Silbe (Nordwind, daherkam) Diese beiden sind zusammengesetzt, die Einzelbestandteile können einzeln vorkommen wie Nord, Wind, kam, da und her Nur eines der übrigen zwölf Wörter beginnt mit einer unbetonbaren Silbe (gehüllt), bei allen anderen ist die unbetonbare Silbe am Ende zu finden, in zwei Wörtern sogar zwei unbetonbare Silben hintereinander (Stärkere, Wanderer) . Neben den vierzehn/ dreizehn mehrsilbigen Wörtern finden sich dreizehn/ vierzehn einsilbige Wörter Die Zählerei soll hier eines verdeutlichen: Die unbetonbaren Silben sind sehr prägend für das Deutsche, fast in jedem zweiten Wort findet sich wenigstens eine davon; es handelt sich also um alles andere als eine Randerscheinung . In der Silbenstruktur, die wir oben schon kennengelernt haben, werden die Silben entsprechend als ‚stark‘ (betonbare Vollsilben) und ‚schwach‘ (unbetonbare Silben) gekennzeichnet σ stark σ schwach S ü n d e n ϕ S ü d e n Abb. 2-6 34 Wie funktioniert unsere Schrift? Zur Verdeutlichung dieser Besonderheit können wir hier das Deutsche mit dem Italienischen vergleichen - das Standarditalienische kennt keine unbetonbaren Silben nordwind und sonne - auf italienisch (der erste satz) si bistittSavano un dZorno il vEnto ditramontana e il sole l uno pretendEndo d Esser pju ffOrte dell altro kwando videro um viaddZatore ke vveniva innantsi avvOlto nel mantEllo si bisticciavano un giorno il vento di tramontana e il sole, l’uno pretendendo d’esser più forte dell’altro, quando videro un viaggiatore, che veniva innanzi, avvolto nel mantello. Im Italienischen haben wir zwar auch viele mehrsilbige Wörter, aber diese enden mit einem Vollvokal (Pizza, Pasta, Pesto, Mokka, Prosecco) . Manche Leute meinen, dass sich deswegen Italienisch besser zum Singen eigne und Opern darum eher auf Italienisch aufgeführt würden . Typisch für das Deutsche sind also Strukturen wie Rose, Silbe, gute, rote, dieses, Kinder, laufen usw Diese Struktur, in der die erste Silbe betont, die zweite Silbe unbetont, häufig sogar unbetonbar ist, nennt man Trochäus (s . zum Beispiel Eisenberg 4 2013: 123) Der Trochäus prägt die rhythmische Struktur des Deutschen . Das Schriftsystem reagiert darauf: Die unbetonbare Silbe wird mit e als Silbenkern verschriftet, unabhängig davon, ob lautlich überhaupt ein Vokal auszumachen ist (stritten, Mantel StItn, 'mantl`` usw in den Beispielen) oder wie er sich anhört (in Rose anders als in Keller) e steht im Kern der zweiten, unbetonbaren Silbe . Wenn man das Geschriebene sieht, wird damit sofort deutlich, wie viele Silben das jeweilige Wort hat - jeder Vokal, der durch einen Konsonantenbuchstaben von dem anderen Vokal getrennt ist, ist ein Silbenkern Unbetonbare Silben in ‚Nordwind und Sonne‘ Im Folgenden wollen wir den Text durchgehen und überprüfen, ob wir die ‚unbetonbaren‘ Silben in der Schrift erkennen können: Zunächst einmal vermuten wir unbetonbare Silben nur in mehrsilbigen Wörtern, weshalb die Einsilber, um die wir uns nicht kümmern, hier heller erscheinen Weil wir wissen, dass die unbetonbaren Silben wegen der trochäischen Basisstruktur eher am Ende von Wörtern vorkommen, unterstreichen wir jeweils die letzte und - wenn es eine gibt - vorletzte Silbe mit e einst stritten sich nordwind und sonne, wer von ihnen beiden wohl der stärkere wäre, als ein wande-rer, der in einen warmen Mantel gehüllt war, des weges Vom Lesen zum Schreiben: Was sehen wir eigentlich, wenn wir genau hinsehen? 35 daherkam. sie wurden einig, dass derjenige für den stärke-ren gelten sollte, der den wande-rer zwingen würde, seinen Mantel abzunehmen. der nordwind blies mit aller Macht, aber je mehr er blies, desto fester hüllte sich der wande-rer in seinen Mantel ein. endlich gab der nordwind den kampf auf. nun erwärmte die sonne die luft mit ihren freundlichen strahlen, und schon nach wenigen augenblicken zog der wande-rer seinen Mantel aus. da musste der nordwind zugeben, dass die sonne von ihnen beiden der stärke-re war. Trotz dieser sehr simplen Methode ist unsere Ausbeute phänomenal: Denn wir haben keine falsche Unterstreichung vorgenommen, das heißt keine unserer unterstrichenen Silbe ist eine Vollsilbe, und haben bis auf zwei unbetonbare Silben, nämlich gein gehüllt, erin erwärmte alle erwischt Wozu brauchen wir einen Rhythmus beim leisen Lesen? Wir haben bisher an der Silbenstruktur gesehen, dass eine bestimmte ‚Aussprache‘ vorgesehen ist . Es scheint also vor allem um das laute Vorlesen zu gehen, welches besser funktioniert, wenn man über diese Silbenstruktur Bescheid weiß . Demnach könnte diese für das leise Lesen egal sein . Dem ist aber nicht so, denn viele der unbetonbaren Silben zeigen uns etwas von der Grammatik und helfen beim Lesen und Verstehen - anders gesagt: Viele unbetonbare Silben zeigen die Wortstruktur oder Wortgrammatik, also die Morphologie (den Bau der Wörter) . Mit Morphem bezeichnet man die kleinste bedeutungstragende Einheit und man unterscheidet zwischen lexikalischen Morphemen (die im nächsten Abschnitt behandelt werden) und grammatischen Morphemen, die uns hier interessieren . Grammatische Morpheme sind zum Beispiel Flexionsendungen, also Endungen, die je nach Kontext benötigt werden, wie in *ein fest Teig - ein fester Teig, in einen warmen Mantel, stritten Mit grammatischen Morphemen werden Beziehungen zwischen den einzelnen Wörtern hergestellt So zeigt stritten beispielsweise, dass sich das Verb auf mehrere Streitende bezieht und nicht nur auf einen er stritt (sich). Grammatische Morpheme können aber auch neue Wortbildungen verursachen wie zum Beispiel Lehrer aus dem Verbstamm lehr- Um nun zu zeigen, dass die Schrift diese grammatischen Morpheme ‚zeigt‘, die folgenden drei Beispiele: • fester ist eine Form von fest (fest-er), die im Nordwind-und-Sonne-Text eine Steigerung zeigt (ansonsten könnte sie auch Flexion (Beugung) zeigen wie in fest-er Teig), • soll-te ist die Vergangenheitsform (3 Person, Singular/ Einzahl) von soll-en, • in warm-en zeigt die Endung -en einen Bezug zu Mantel und zu ein-en usw . Die Regel ist dabei die: Das grammatische Morphem entspricht der letzten Silbe ohne ihren ersten Konsonanten bzw von der Schrift her gesehen der Einheit, 36 Wie funktioniert unsere Schrift? die mit dem Buchstaben e anfängt Die Silbengrenze entspricht also nicht der Morphemgrenze, aber die Morpheme sind dennoch deutlich zu erkennen Bei den erwähnten Strukturen ergibt sich der ‚Knick‘ vor dem e, die Grenze zwischen dem lexikalischen Stamm und der grammatischen Endung ist deutlich (Bredel 2010b: 14 ff ) σ stark σ schwach S ü n d e n ϕ S ü d e n Morphemschnitt Abb. 2-7 Betrachten wir im Folgenden, wie häufig in dem Text durch die unbetonbaren Silben Morphologie sichtbar wird Wir unterstreichen jetzt nicht mehr die ganze Silbe, sondern nur noch alles rechts vom Morphemschnitt: einst stritten sich nordwind und sonne, wer von ihnen beiden wohl der stärke-re wäre, als ein wanderer, der in einen warmen Mantel gehüllt war, des weges daherkam. sie wurden einig, dass derjenige für den stärker-en gelten sollte, der den wanderer zwingen würde, seinen Mantel abzunehmen. der nordwind blies mit aller Macht, aber je mehr er blies, desto fester hüllte sich der wanderer in seinen Mantel ein. endlich gab der nordwind den kampf auf. nun erwärmte die sonne die luft mit ihren freundlichen strahlen, und schon nach wenigen augenblicken zog der wanderer seinen Mantel aus. da musste der nordwind zugeben, dass die sonne von ihnen beiden der stärker-e war. Für den ersten Satz sind folgende Interpretationen anzunehmen: • stritten vs stritt: Durch die Endung wird der Plural gezeigt, mehrere Personen sind beteiligt • In Sonne handelt es sich um einen sogenannten Femininmarker, der aber bei anderer Wortbildung wie in sonnig abgespalten werden kann. • Bei ihnen vs ihn wird der Plural gezeigt • In beiden steckt ebenfalls ein Plural, es ist ein Wort, das nur im Plural vorkommt (ähnlich wie Eltern und Ferien), ähnlich wie in Sonne kann die Markierung abgespalten werden (beidseitig) Vom Lesen zum Schreiben: Was sehen wir eigentlich, wenn wir genau hinsehen? 37 • Bei Stärkere finden sich zwei unbetonbare Silben, es ist abgeleitet von stark. Die erste unbetonbare Silbe (zusammen mit dem Umlaut) bildet eine Steigerungsform stark - stärker, die zweite eine Flexionsform der Stärkere, es handelt sich um die sogenannte schwache Adjektivflexion • In wäre ist die unbetonbare Silbe Teil der Konjunktivflexion, also der Möglichkeitsform von war • Bei der zweiten e-Silbe in Wanderer handelt es sich um ein Wortbildungssuffix, von einem Verbstamm wander wird ein Substantiv Wanderer abgeleitet (wie lehr - Lehrer usw ) Diese Analyse können wir für den ganzen Text fortsetzen und kommen nur auf wenige Fälle, in denen sich das e in den nicht-einsilbigen Wörtern nicht auf heute noch durchsichtige Morphologie bezieht Und selbst aus historisch verdunkelten morphologische Einheiten können wir noch Schlüsse ziehen: So wissen wir, dass Sonne feminin ist (wie Rose, Blume, Tulpe) und dass Mantel als Maskulinum einen endungslosen Plural bildet (der Mantel - die Mäntel, wie Apfel - Äpfel) usw Interessanter sind aber sicherlich die Beispiele mit heute durchsichtiger Morphologie, in denen die e-Silben zu interpretieren sind Nach der intensiven Beschäftigung mit den Einheiten, die normalerweise keine Beachtung finden, nämlich den unbetonbaren Silben, können wir nun folgende Schlüsse ziehen: • Zweite Silben mit e sind meistens unbetonbare Silben Wir wissen also, wie wir sie aussprechen müssten, wenn wir laut vorlesen würden Sie kommen in der Regel am Wortende vor • In der Silbenstruktur steckt Grammatik: In den betonten Silben (auf diese kommen wir noch) steckt die ‚Lexik‘, also die lexikalische Bedeutung In den unbetonbaren Silben stecken hingegen die Hinweise auf die Beziehungen zwischen den Wörtern im Satz Das Ziel des Leseerwerbs kann also nicht darin bestehen, dass die Kinder lernen, Buchstabe für Buchstabe zu lesen Vielmehr geht es darum, Strukturen zu erkennen, und das heißt auch, sensibel auf Wortpositionen zu reagieren und die gegebenen Buchstabeninformationen jenseits ihres Lautbezugs zu deuten . Bis hierher haben wir den Nachweis erbracht, dass die Reduktionssilben Morphologie zeigen Wir wollen die Frage nun umdrehen: Wird alle (Flexions-) Morphologie in Reduktionssilben angezeigt oder gibt es zusätzliche Marker? Zur Annäherung an diese Frage werden wir unseren Text nach Wörtern durchsuchen, die sich flektieren lassen Dabei lassen wir die bereits behandelten aus einst stritten sich nordwind und sonne, wer von ihnen beiden wohl der stärkere wäre, als ein wanderer, der in einen warmen Mantel gehüllt war, des weges daherkam. sie wurden einig, dass derjenige für den stärkeren gelten sollte, der den 38 Wie funktioniert unsere Schrift? wanderer zwingen würde, seinen Mantel abzunehmen. der nordwind blies mit aller Macht, aber je mehr er blies, desto fester hüllte sich der wanderer in seinen Mantel ein. endlich gab der nordwind den kampf auf. nun erwärmte die sonne die luft mit ihren freundlichen strahlen, und schon nach wenigen augenblicken zog der wanderer seinen Mantel aus. da musste der nordwind zugeben, dass die sonne von ihnen beiden der stärkere war. Es kommen einige einsilbige Verbformen wie war, kam, blies, gab, zog vor Sie zeigen die grammatischen Informationen nicht extern, also durch das Anhängen von Reduktionssilben an, sondern durch die Veränderung ihres Stammes (komm - kam; geb - gab etc ) Wir sprechen bei ihnen von starken Verben Im Plural werden sie wieder mehrsilbig - mit der bekannten trochäischen Struktur: waren, kamen, bliesen, gaben, zogen Auch die unterstrichenen Substantive Wind, Kampf, Luft bilden im Plural unsere gewohnte Form: Winde, Kämpfe, Lüfte. Wir können also zusammenfassen, dass die meisten unbetonbaren Silben Flexion zeigen und dass umgekehrt die Flexion sehr häufig (nahezu vollständig) durch unbetonbare Silben angezeigt wird Ausnahmen machen Wörter, die ihre Formänderung wortintern organisieren wie unsere starken Verben, oder auch einige Substantive wie Mutter - Mütter, und einige nicht-silbische grammatische Bausteine wie -t in läuft, -st in läuf-st oder -s in Mutter-s Exkurs: Laster und Zahnpasta, Mutter und Mama Wörter wie Laster oder Pasta werden (in manchen Regionen unterschiedslos) am Ende mit einem [a]-ähnlichen Laut gesprochen Kinder, die sich an der Lautstruktur orientieren, schreiben deshalb dort den Buchstaben <a> In Kapitel 3, S 87 werden wir Renée kennenlernen, die im Alter von 5 Jahren und 7 Monaten einen Text geschrieben hat, in denen Ostereier eine wichtige Rolle spielen Renée schreibt: Abb. 2-8: „Ostereier“ in der Graphie von Renée Oben haben wir nun aber gesehen, dass die Verschriftung mit <er> statt mit <a> sehr gute Gründe hat: Denn es handelt sich bei -er um ein äußerst leistungsfähiges grammatisches Morphem: In Kinder zeigt -er den Plural, in Lehrer eine Ableitung vom Verb (lehr(en) - Lehrer), in guter ist -er eine Möglichkeit, die Form der Umge- Vom Lesen zum Schreiben: Was sehen wir eigentlich, wenn wir genau hinsehen? 39 bung anzupassen (in mit guter Soße Feminin Dativ und in guter Tee Maskulin Neutrum) . Bei Adjektiven hat -er sogar noch eine zweite Funktion, nämlich die Steigerung zu zeigen wie in stärker, schöner, so dass es zum Aufeinandertreffen zweier er-Endungen kommen kann wie in ein stärkerer Mann oder ein schönerer Koffer In manchen Fällen gibt es Formen, in denen die Schreibung mit r auch von der Lautung her einleuchtet, die also die r-Schreibung ‚unterstützen‘: Lehrer - Lehrerinnen, stärker - stärkere Häufig ist das aber nicht so, so dass der Schreiber/ die Schreiberin nicht lautorientiert vorgehen kann, sondern eine morphologische Analyse vornehmen muss Wie wir aber sehen, gilt auch hier: Was für den Schreiber erst einmal schwieriger zu sein scheint, macht das Lesen leichter Denn der Leser/ die Leserin erkennt in der e-haltigen Silbe sofort, dass die Endung eine morphologische Information enthält, und bekommt so die entsprechende Hilfestellung beim Lesen Dass -er auch in Mutter eine morphologische Information enthält, ist sicherlich schwerer zu erkennen -ter/ -der ist ein (heute eher undurchsichtiges) ‚Verwandtschaftssuffix‘ - es hält die Wörter Mutter, Schwester, Tochter, Vater und Bruder zusammen . Dagegen zeigt der <a>-Ausgang in Mama, dass hier keine morphologische Information kodiert ist . Wörter, die mit dem Buchstaben <a> enden, sind entweder Fremdwörter wie Pasta, Pizza, Mafia oder Eigennamen wie Sina, Lea, Nicola, oder sie gehören zu einer kleinen Restgruppe, die im nicht-fremden Bereich vier Elemente enthält: Mama, Papa, Oma, Opa Weil sich ihre Schreibung nicht systematisch herleiten lässt, Kinder gerade aber diese Wörter gern und häufig gebrauchen, gehören sie an die Klassenwand Der Rhythmus wird sichtbar gemacht: die betonten Silben Kommen wir nun zu den Vollsilben im Deutschen, also den Silben, die einen Vollvokal und keinen Reduktionsvokal enthalten Vollsilben sind grundsätzlich betonbar und im nativen Wortschatz des Deutschen sind sie auch meistens betont Typisch sind ja Wörter wie Rose, Mantel, Fenster, größer, Wörter mit genau einer betonten und genau einer unbetonbaren Silbe: Trochäen . Mehrsilbige Strukturen wie Forelle, Ameise sind überaus selten, in Fremdwörtern finden wir sie eher, wie in Urologe, Kapelle oder Maschine Aber es soll uns hier um den nativen Bereich gehen In betonten Vollsilben kommen alle Vollvokale des Deutschen vor . Die erste Frage, die hier gestellt werden muss, ist die nach der Vokalquantität Handelt es sich um lange oder kurze Vokale? Um der Frage näher zu kommen, woran wir die Vokalquantität eigentlich erkennen, möchten wir ein kleines Experiment mit Ihnen durchführen: Wie würden Sie die folgenden Pseudowörter aussprechen? 40 Wie funktioniert unsere Schrift? tuke tulke nater nanter lodel londe tose tonse Obwohl Sie diese Wörter noch nie gesehen haben, wussten Sie sofort, was zu tun war: Zum einen haben Sie alle Wörter auf der ersten Silbe betont, die zweite Silbe war unbetonbar Sie haben den Wörtern also automatisch eine trochäische Struktur zugewiesen Außerdem haben Sie die links stehenden Wörter mit einem langen, gespannten Vokal ausgesprochen (also analog zu Fuge, Nagel und rodeln), die rechts stehenden mit einem kurzen, ungespannten (wie in Tulpe, Lasten, Gold) (Gespannt und ungespannt meint, dass es sich nicht wirklich um die gleichen Vokale handelt, besonders deutlich wird dies beim [o] und [O] in Ofen/ offen; im Deutschen werden aber in betonten Silben die gespannten Vokale eher lang ausgesprochen, die ungespannten eher kurz, die Merkmale fallen also häufig zusammen ) Nicht zufällig haben wir hier trochäische Zweisilber gewählt, denn an ihnen sieht man die strukturellen Zusammenhänge am besten: In offenen Vollsilben (die Silbe endet mit dem Vokal) wie in Tu-ke, Na-ter, Lo-del und To-se wird der Vokal lang und gespannt gesprochen, also [tu], [nA], [lo] und [to] Wir sprechen auch von einem sogenannten sanften Silbenschnitt: Die zweite Silbe ist nur lose mit der ersten verknüpft, der Vokal der Vollsilbe kann „austrudeln“ (Maas 2006: 172) Ist die Vollsilbe geschlossen (endet sie also mit einem oder mehreren Konsonanten) wie in Tul-ke, Nan-ter, Lon-de und Ton-se und wird der Vokal kurz und ungespannt gesprochen, handelt sich um einen scharfen Schnitt oder auch festen Anschluss (s . Eisenberg 4 2013: 126) Der bildet mit dem Folgevokal eine artikulatorische Kontur, also [tUl], [nan], [lOn], [tOn] Bis hierher haben wir die besprochenen Gesetzmäßigkeiten an Pseudowörtern illustriert, sie sind aber natürlich auch bei realen Wörtern richtig und gültig: • offene Hauptsilbe: He-fe, Tü-te, Ro-se, ra-sen, We-sen, Fe-der → langer, gespannter Vokal, sanfter Silbenschnitt • geschlossene Hauptsilbe: Hef-te, tüf-teln, ros-ten, Wes-ten, Fel-der → kurzer, ungespannter Vokal, scharfer Silbenschnitt In unserer Graphik können wir ganz bildlich sehen, was mit „offen“ und „geschlossen“ gemeint ist: Vom Lesen zum Schreiben: Was sehen wir eigentlich, wenn wir genau hinsehen? 41 σ stark σ schwach S ü n d e n ϕ S ü d e n Abb. 2-9 Offen wie in Süden sind Silben dann, wenn zwischen den Vokalbuchstaben der Haupt- und der Reduktionssilbe ein und nur ein Konsonantenbuchstabe steht Er gehört in den Anfangsrand der Reduktionssilbe, der Endrand der Hauptsilbe ist somit unbesetzt, der Hauptsilbenvokal kann sich nach rechts „ausbreiten“, er wird lang und gespannt gesprochen, der Silbenschnitt ist sanft Geschlossen wie in Sünden sind Silben dann, wenn zwischen den Vokalbuchstaben der Haupt- und Reduktionssilbe mindestens zwei Konsonantenbuchstaben stehen Der zweite Konsonantenbuchstabe steht im Anfangsrand der Reduktionssilbe Der erste Konsonantenbuchstabe schließt die Vollsilbe, der Vokal kann sich nicht nach rechts ausbreiten, er wird kurz und ungespannt gesprochen, der Silbenschnitt ist scharf In Wörtern wie Sünden, Pflaster, Rente oder Opfer, also in solchen, in denen auch in der Lautstruktur zwei verschiedene Konsonanten zwischen den Vokalen vorkommen, ergibt sich diese Struktur ganz natürlich Schwierig für die Schrift sind Wörter, die in der gesprochenen Sprache nur einen Konsonanten zwischen den Vokalen aufweisen, deren Hauptsilbe also offen ist, bei denen aber ein scharfer Silbenschnitt vorliegt und die deshalb mit kurzem, ungespannten Vokal gesprochen werden müssen Die Schrift reagiert auf solche Strukturen mit der Verdoppelung des Konsonantenbuchstabens: wollen, Mut-ter, Was-ser, Män-ner. Die Hauptsilbe ist nun geschlossen und der Vokal kann gelesen werden wie bei anderen geschlossenen Hauptsilben auch . Anders ist das nur bei <z> und <k>, die nicht verdoppelt werden, sondern bei denen die Hauptsilbe mit <t> (<tz> - Katze, *Kazze) bzw mit <c> (<ck> - rackern, *rakkern) geschlossen wird Eine zweite Ausnahme machen Konsonantengrapheme, die aus mehr als einem Buchstaben bestehen: <sch>, <ch>, <ng> können nicht verdoppelt werden - es ergäbe sich eine graphische Überlänge *<Taschsche>, die überall, wo es möglich ist, vermieden wird Die Schnittstelle zwischen den Silben, bei denen die Schrift den Konsonantenbuchstaben verdoppelt, wird manchmal mit dem Begriff des Silbengelenks beschrieben Damit ist gemeint, dass der Konsonant der gesprochenen Wörter weder zur Hauptnoch zur Reduktionssilbe gehört, sondern zwischen diesen 42 Wie funktioniert unsere Schrift? hängt, gerade so wie ein echtes Gelenk Und weil die Schrift keine Gelenke visualisieren kann (Buchstaben können ja nur linear nacheinander notiert werden), hilft sich die Schrift eben mit der Verdoppelung Bisher haben wir uns mit zweisilbigen Wörtern beschäftigt Kann man ähnliche Regeln auch für einsilbige Wörter aufstellen? • Einfach ist dies für Wörter, die auf einen Vokalbuchstaben enden, also so, da, ja, wo, Klo. Sie funktionieren wie offene Hauptsilben, werden also mit langem, gespanntem Vokal gelesen • Einfach ist es auch für Wörter, die auf mehr als einen Konsonantenbuchstaben enden, also Fest, Wald, Land, und morphologisch einfach sind Ihre Lautung ist ableitbar aus der trochäischen Langform Feste, Wälder, Länder Der Vokal muss kurz und ungespannt gelesen werden • Uneindeutig kann die Lage sein, wenn ein und nur ein Konsonantenbuchstabe im Endrand steht: Wir unterscheiden Wörter wie zum, an oder man von solchen wie Hut, Ton und kam. Die erste Gruppe weist einen kurzen, ungespannten die zweite einen langen, gespannten Vokal auf Auch hier hilft uns die Ableitung aus dem Zweisilber: Hut, Ton und kam haben zweisilbige Partner: Hu-tes, To-nes, ka-men. Der letzte Konsonantenbuchstabe wandert in die Reduktionssilbe, die Hauptsilbe ist offen, der Vokal lang und gespannt . Dagegen sind zum, an und man partnerlos Der letzte Konsonantenbuchstabe schließt die Hauptsilbe - die Vokale werden kurz und ungespannt artikuliert In den meisten Fällen ist also klar, wie der Vokal ausgesprochen wird . Nun gibt es aber einige zusätzliche Markierungen, nämlich das Dehnungs-h, die ie- Schreibung und die Verdopplung von Vokalbuchstaben Warum das? • Die Verdopplung von Vokalbuchstaben ist ein weitgehend marginales Phänomen: Erstens können nicht alle Vokalbuchstaben im Deutschen verdoppelt werden, betroffen sind lediglich a, o, e, nicht aber i, u, ä, ö, ü Zweitens ist die Schreibung von aa und oo eher selten . Ungefähr 20 Wörter, darunter Moor, Boot, Saal, Haar usw , gehören dazu Wir werden diese Schreibweise hier vernachlässigen Sie ist irregulär und deshalb müssen diese Wörter einzeln gelernt werden Moor, Boot, Saal und Haar usw . gehören also in die Lernkartei Ein bisschen anders stellt sich ee dar: Hier haben wir neben Teer und Meer insbesondere Schreibungen, die auf ee enden Wir unterscheiden einsilbige wie See, Tee, Schnee, Klee und mehrsilbige wie Armee, Allee, Frikassee und mit der Rechtschreibreform auch Exposee, Dublee usw Die Mehrsilber sind Fremdwörter, die Einsilber Erbwörter Insbesondere bei den Mehrsilbern kann man sich schnell klar machen, warum hier ein einfaches e nicht reicht: Arme, Alle - diese Wörter würden mit dem Reduktionsvokal Schwa gelesen werden, die letzte Silbe würde also als Reduktionssilbe identifiziert werden: Arme(e) wie Arme (Plural von Arm), Alle(e) wie alle Vom Lesen zum Schreiben: Was sehen wir eigentlich, wenn wir genau hinsehen? 43 Dies ist indirekt auch auf die einsilbigen Wörter zu übertragen: *Se, *Te, *Schne, *Kle würden wir sicherlich ‚lang‘ lesen, gemäß der Regel, dass jedes Wort im Deutschen mindestens eine Vollsilbe enthält . Aber diese Wörter können ja auch mit anderen Wörtern Komposita bilden: *Kamillente, *Baggerse, *Neuschne, *Glückskle. Die Verdopplung des e führt dazu, dass schon auf den ersten Blick eine Lesung mit Schwa verhindert wird (Eisenberg 4 2013: 304) • Eine der Dehnungsschreibungen ist für nur einen Vokal reserviert: Es geht um die ie-Schreibung Das Dehnungs-e sorgt regelmäßig dafür, dass <ie> als lang und gespannt zu lesender Vokal identifiziert werden kann Dass das [i] eigens markiert wird, hängt sicherlich auch an seiner Form: Der Buchstabe i ist schmal und eher unscheinbar; er erhält Verstärkung vom e • Mit einer letzten Dehnungsschreibung müssen wir uns noch befassen, dem Dehnungs-h Es kommt in Wörtern wie fehlen, nehmen, wohnen oder lehren vor, also in Wörtern, bei denen der Anfangsrand der Reduktionssilbe mit einem l, m, n oder r besetzt ist Ausgeschlossen werden können Schreibungen wie *Behsen, *gehben, *ruhfen Warum das Dehnungs-h nun überhaupt auftritt, ist damit jedoch noch nicht geklärt Denn die Hauptsilbenvokale von fehlen, nehmen, wohnen und lehren wären ja auch ohne das Dehnungs-h als lange, gespannte erkennbar (*felen, *nemen, *wonen, *leren) . Hinzu kommt, dass das Dehnungs-h noch nicht einmal bei allen l,m,n,r-Wörtern vorkommt Neben Wörtern wie fehlen und wohnen finden wir Wörter wie hören, grämen, planen und holen Den Komfort, den das Dehnungs-h bietet, erkennen wir dort, wo die h-Wörter flektiert sind: Wir schreiben gefehlt, ihr nehmt, wohnt, Gelehrter usw Das Dehnungs-h zeigt uns in diesen Formen sehr viel besser als es in Formen wie *gefelt, *ihr nemt, *wont, *Gelerter der Fall wäre, dass wir den Vokal lang und gespannt sprechen müssen Es gibt ein weiteres h, das nach dem Vokal stehen kann, das aber nicht mit dem Dehnungs-h zu verwechseln ist Es geht um das sogenannte silbeninitiale h, das in Fällen wie drehen, nähen, ruhen vorkommt Manchmal wird angenommen, der Buchstabe h habe hier eine lautliche Entsprechung, gesprochen würde also ['de.hn], ['n.hn] und ['u.hn] Wir wissen aber, dass dies eine eher unrealistische Aussprache ist Deutlich wird dies auch, wenn man den Klang von leihen und schreien vergleicht Wir sprechen deshalb von einer schriftlich überformten Aussprache: Weil ein h geschrieben wird, wird angenommen, es werde auch gesprochen . Die Normalaussprache von Wörtern mit silbeninitialem h ist aber h-los, also ['de.n], ['n.n] und ['u.n], in der Regel werden daraus sogar Einsilber wie ['den], ['nn] und ['un] Dass die Schrift ein h vorsieht, hilft dem Leser/ der Leserin, Silben zu identifizieren Ohne das silbeninitiale h würden die Wörter drehen, nähen und ruhen als *dreen, *näen, *ruen geschrieben Weil zwischen den Vokalbuchstaben der Haupt- und der Reduktionssilbe kein hörbarer Konsonant interveniert, die Schrift aber klare Silbengrenzen bevorzugt, springt das h ein 44 Wie funktioniert unsere Schrift? Und auch wenn man in der gesprochenen Sprache oft einen Einsilber hört: Verben sind in ihrer Grundform zweisilbig und benötigen schon deshalb diese besondere Markierung Nur zwei Verben sperren sich hier: sein und tun Sie werden nicht nur einsilbig gesprochen, sondern auch einsilbig geschrieben Sein ist das unregelmäßigste Verb des Deutschen überhaupt (man schaue sich nur die Flexion an bin, bist, ist - war); die ‚unregelmäßige‘ Schreibung des Infinitivs ist also nicht verwunderlich Die Schreibung von tun ist erstaunlicher, aber jeder Grundschullehrer und jede Grundschullehrerin kennt Schreibungen wie *tuen und *tuhen Beide entsprechen dem System mehr als die Schreibung tun . Trotz seiner scheinbar einfachen Form erweist sich tun so als Merkwort Dass Schreiber/ innen hier auch über die primäre Schriftspracherwerbsphase hinaus Schwierigkeiten haben, zeigt folgender Einblick in ein Übersetzungsforum im Internet (http: / / www .uni-protokolle .de/ foren/ viewt/ 98964,0 .html) . Dort war folgendes zu lesen: frage: was heißt im englischen „so tuen als ob“? habs leider nicht im wörterbuch gefunden. antwort: kein wunder, weil es „so tun als ob“ heisst. [zuerst mal sollte man seine eigene sprache einwenig beherrschen können, was?  ] → to fake/ to pretend/ to simulate usw. und in gutefrage.net (http: / / www.gutefrage.net/ frage/ tuhen-oder-tun-oder-beides) wird folgende frage gestellt: etwas tun? ist das einfach nur die abkürzung von tuhen? ich tu(e).. von tuhe? genauso wie „dem“ zb von „diesem“? mir fallen immer unterschiedliche schreibweisen auf.. wollte mal nachfragen. Silbische Schreibungen zusammengefasst Im Deutschen werden zwei Typen von Silben unterschieden: Vollsilben und Reduktionssilben Das minimale deutsche Schriftwort besteht aus genau einer Vollsilbe (man, Kern, Pol, Feld) Das optimale deutsche Schriftwort ist der Trochäus, bestehend aus einer Vollsilbe und einer Reduktionssilbe (Rose, Zettel, Lehrer) Auf dieser Form baut praktisch die gesamte Wortschreibung des Deutschen auf Im Einzelnen konnten wir folgende Strukturmerkmale finden: • Jede Silbe weist im Silbenkern mindestens einen Vokalbuchstaben auf; damit wird jede einzelne Silbe eindeutig identifizierbar In der Reduktionssilbe steht immer ein <e> im Silbenkern, in Vollsilben kommen alle Vokalbuchstaben vor, auch Diphthonge wie <ei>, <au> und <eu> • Silbenkerne von Vollsilben können zusätzlich gekennzeichnet sein (zum Beispiel durch Dehnungsgraphien oder durch verdoppelte Konsonantenbuchstaben), Silbenkerne von Reduktionssilben können das nicht Vom Lesen zum Schreiben: Was sehen wir eigentlich, wenn wir genau hinsehen? 45 Die Zusatzmarkierungen werden deshalb erforderlich, weil bei gesprochenen Vollsilben zwischen langen, gespannten und kurzen, ungespannten Vokalen unterschieden werden muss In Reduktionssilben ist das nicht der Fall • Die Orthographie drückt das Merkmal Länge/ Gespanntheit bzw Kürze/ Ungespanntheit nicht direkt an dem betroffenen Vokal aus, sondern im Endrand der Vollsilbe: kurzvokalische Vollsilben sind geschlossen (Fel-der), langvokalische sind offen (Fe-der) Weil Sondermarkierungen nur betonte Vollsilben betreffen, sind sie zugleich ein Hinweis auf die Akzentuierung: Doppelkonsonanten, die ie-Schreibung, die Doppelvokalbuchstaben, das Dehnungs-h und das silbeninitiale h kommen nur in oder im unmittelbaren Kontakt von betonten Silben vor • Die klare visuelle Struktur von Haupt- und Reduktionssilben ermöglicht dem Leser/ der Leserin nicht nur einen sicheren Zugriff auf den Sprachrhythmus, sondern zusätzlich einen Zugriff auf die Morphologie: Denn in Vollsilben stecken lexikalische, also bedeutungstragende Informationen, in Reduktionssilben stecken funktionale, also grammatische Informationen Warum Wortbausteine im Deutschen gleich aussehen Nicht nur Silben, sondern auch Wortbausteine werden im Deutschen kenntlich gemacht Für die grammatischen Wortbausteine hatten wir schon gesehen, dass sie in der Reduktionssilbe immer in derselben Weise kodiert sind . Und auch für die lexikalischen Bausteine gilt: Gleiches wird - wenn immer möglich - gleich geschrieben Was auf den ersten Blick trivial klingt, erklärt uns viele Schreibungen Nehmen wir als Beispiel der Held, der hält (Jens Lehmann in der WM 2006) Die Wörter Held und hält klingen gleich, aber durch die unterschiedliche Schreibung ist sofort deutlich, dass Held zum gleichen Wortstamm wie Helden gehört, hält zum gleichen Wortstamm wie halten Auch diese Gesetzmäßigkeit hat wenig mit dem Schreiben und viel mit dem Lesen zu tun: Beim Lesen kann ein Wort auf einen Blick der Wortfamilie zugeordnet werden, zu der es gehört Wir bezeichnen Wortbausteine als Morpheme, weshalb die Gleichschreibung von Wortbausteinen ‚Morphemkonstanz‘ genannt wird . Sie kommt immer dann zum Einsatz, wenn lautliche Prinzipien nicht dagegen sprechen . In den meisten Fällen ist die Morphologie des heutigen Deutsch so aufgebaut, dass tatsächlich gleich geschrieben werden kann wie in legen - legt, dehnen - dehnt, kommen - kommt . Unterschiede haben wir insbesondere bei den sogenannten starken Verben, die wir oben schon als Ausreißer kennengelernt haben In kommen - kam werden weder die Silbenkerne (o - a) gleich geschrieben noch wird die Doppelkonsonantenschreibung konstant gehalten, denn die Beziehung zur Lautung würde dagegensprechen: kamm würde man mit einem kurzen, unge- 46 Wie funktioniert unsere Schrift? spannten Vokal lesen müssen, den die Lautung hier nicht vorsieht, und dass die Vokalbuchstaben nicht einfach ausgetauscht werden können (*kammen statt kommen oder *kom statt kam), ist sowieso klar Die Nichtwirkung der Morphemkonstanz beschränkt sich aber wesentlich auf eben diese starken Verben . Einzelne von ihnen kommen zwar häufig vor, aber insgesamt gibt es nicht wirklich viele Man geht von ca 170 starken Verben im heutigen Deutschen aus, aber von einigen Tausend schwachen Häufig ergibt sich Morphemkonstanz ‚von alleine‘: Für beide - beiden, Sonne - Sonnen usw sind die angegebenen Schreibungen die naheliegenden . Anders ist es zum Beispiel bei Wind Wenn man die Lautung betrachtet, wäre es naheliegender, Wint zu schreiben; mit Bezug auf die Form Winde wirkt hier aber die Morphemkonstanz und wir schreiben Wind Zusammenfassend: Der Vorteil der Morphemkonstanz für das Lesen ist das direkte Erkennen von Stämmen Häufig ist Morphemkonstanz einfach gegeben (wie in dem Fall beide - beiden, Sonne - Sonnen), aber sie wird auch häufig explizit sichtbar gemacht: Typisch sind hierfür Doppelkonsonantenschreibungen, wenn sie nicht zwischen zwei Silben stehen (stritt, sollte, gehüllt), der Buchstabe ä (wäre, Stärkere, erwärmte) und die Buchstaben b, d, g am Silben- oder Wortende (Nord, Wind, einig, gab, zog), wo sie als / p,t,k/ gesprochen werden Wir zeigen die Wirksamkeit der Morphemkonstanz wiederum an unserem Text an Adjektiven, Substantiven und Verben: einst stritten sich nordwind und sonne, wer von ihnen beiden wohl der stärkere wäre, als ein wanderer, der in einen warmen Mantel gehüllt war, des weges daherkam. sie wurden einig, dass derjenige für den stärkeren gelten sollte, der den wanderer zwingen würde, seinen Mantel abzunehmen. der nordwind blies mit aller Macht, aber je mehr er blies, desto fester hüllte sich der wanderer in seinen Mantel ein. endlich gab der nordwind den kampf auf. nun erwärmte die sonne die luft mit ihren freundlichen strahlen, und schon nach wenigen augenblicken zog der wanderer seinen Mantel aus. da musste der nordwind zugeben, dass die sonne von ihnen beiden der stärkere war. Die folgenden Schreibungen können nur unter Einbezug der Morphemkonstanz überhaupt verstanden werden: • Nord und Wind schreiben wir mit d wegen Norden und Winde • Stärkere schreiben wir nicht *Sterkere, der Bezug auf stark wird durch ä verdeutlicht, analog schreiben wir wäre wegen war Vom Lesen zum Schreiben: Was sehen wir eigentlich, wenn wir genau hinsehen? 47 • gehüllt wird mit Doppel-l geschrieben wegen hüllen . • Die Formen stritten, Sonne und Weges sind die ‚Auslöser‘ von Morphemkonstanzschreibungen bei zugehörigen Formen wie stritt, Sonntag, Weg (statt strit, Sontag, Wek oder Wech) • Blies wird mit s geschrieben und nicht mit ß wegen blasen, endlich ist verwandt mit Ende, gab schreiben wir mit g wegen geben/ gaben, erwärmte mit ä wegen warm, freundlich mit d wegen Freund - Freunde, wenig wegen wenige, musste mit Doppel-s wegen müssen usw Nicht in allen Sprachen ist die Morphemkonstanz in derselben Weise ausgeprägt . So verschriftet zum Beispiel das Spanische relativ lautnah (Meisenburg 1996) Deshalb wird cien (hundert) mit n, ciempiés (Tausendfüßler oder eher: Hundertfüßler) mit m geschrieben Betrachten wir dies genauer: cien lautet auf n aus, in Zusammenhang mit piés wird aber aus diesem n ein m . Das geschieht aufgrund einer artikulatorischen Anpassung: [m] und [p] werden an der gleichen Stelle im Mundraum produziert, und zwar mit den Lippen - man kann das leicht überprüfen, indem man die Laute einzeln ausspricht . Bei [n] liegt die Zungenspitze dagegen hinter den Zähnen Benachbarte Laute neigen dazu, so ähnlich wie möglich ausgesprochen zu werden: Das n wird zum m . Solche lautlichen Anpassungsprozesse sind sehr häufig, auch im Deutschen, wie wir auch bei dem Nordwind-und-Sonne-Transkript an ihnen beiden (im`'baIdn`) sehen können: [n] wird wegen des nachfolgenden [b] als [m] artikuliert; geschrieben wird im Deutschen aber <n> Solche Prozesse finden sich auch innerhalb von Wörtern . So wird zum Beispiel in fünf und Senf jeweils häufig ein m und kein n ausgesprochen: [fYmpf] und [zEmpf] Das Besondere am spanischen Schriftsystem ist, dass diese lautliche Anpassung in der Schrift wiedergegeben wird Das ist schreiberfreundlich (man schreibt so, wie man spricht), aber nicht leserfreundlich - man erkennt das Wort cien nicht gleich in ciempiés. Nordwind und Sonne auf Spanisch lautschrift [el bjento norte j el sol porfjaban sobre kwal de eos era el mas fwerte kwando aTer'to a pa'sar um bjaxero embwelto en anca kapa kombinjeron en ke kjen antes lograra obli'gar al bjaxero a kitarse la kapa seria konsiderato mas poderoso el bjento norte so'plo kon gram furja, pero kwanto mas soplaba mas se arrebuxaba en su kapa el bjaxero por fin el bjento norte abando'no la empresa entonTes bri'o elsol kon ar'dor e immedjatamente se despo'xo de su kapa el bjaxero por lo ke l bjento norte ubo de rrekono'Ter la superjori'dad del sol] (nach dem iPa 1949/ 1984: 22 f.) 48 Wie funktioniert unsere Schrift? Es handelt sich bei den Transkriptionen für die nicht-deutschen Sprachen um sogenannte ‚breite‘ Transkriptionen, sie sind also schriftnaher als der Lautstrom es eigentlich hergibt Das ist schon auf den ersten Blick an den Leerzeichen zu sehen Nichtsdestotrotz ist eine Menge daran zu erkennen orthographie el viento norte y el sol porfiaban sobre cuál de ellos era el más fuerte, cuando acertó a pasar un viajero envuelto en ancha capa. convinieron en que quien antes lograra obligar al viajero a quitarse la capa sería considerado más poderoso. el viento norte sopló congran furia, pero cuanto más soplaba, más se arrebujaba en su capa el viajero; por fin el viento norte abandonó la empresa. entonces brilló el sol con ardor, e inmediatamente se despojó de su capa el viajero; por lo que el viento norte hubo de reconocer la superioridad del sol. Einige Buchstaben-Laut-Korrespondenzen wie [] zu <ll> (ellos) oder [b] zu <v> sind uns fremd Wenn man sie aber erst einmal gelernt hat, ist es relativ einfach, von der Transkription zur Verschriftung zu kommen Dies gilt allerdings nur auf der Laut-Buchstaben-Ebene (die Einteilungen in Wörter sind hier schon in der Transkription vorgegeben) Im Gegensatz zum Spanischen ist das französische Schriftsystem ein tiefes; die geschriebene Sprache zeigt mehr morphologische Strukturen als die gesprochene Sprache Der Vergleich zwischen Spanisch und Französisch ist besonders interessant, weil die Sprachen historisch miteinander eng verwandt sind, die Schriftsysteme sich aber deutlich unterscheiden . Nordwind und Sonne auf Französisch [la biz e l sOlEj s dispytE Sak{ asyrA k il etE l ply fOr kAt iz O vy { vwajaZ{r ki s avAsE AvlOpe dA sO mAto i sO tObe dakOr k slyi ki arivrE l prmje a fEr ote sO mAto o vwajaZ{r srE rgarde kOm l ply fOr alOr la biz s E miz a sufle d tut sa fOrs mE ply El suflE ply l vwajaZ{r sErE sO mAto otur d lyi fEr ote alOr l sOlEj a kOmAse a brije e o bu d { mOmA l vwajaZ{r reSofe a ote sO mAto Esi la biz a dy rkonEtr k l sOlEj etE l ply fOr de dP] nach iPa (1949/ 1984: 21 f.) la bise et le soleil se disputaient, chacun assurant qu’il était le plus fort, quand ils ont vu un voyageur qui s’avançait, enveloppé dans son manteau. ils sont tombés d’accord que celui qui arriverait le premier à faire ôter son manteau au voyageur serait regardé comme le plus fort. alors, la bise s’est mise à souffler de toute sa force mais plus elle soufflait, plus le voyageur serrait son manteau autour de lui et à la fin, la bise a renoncé à le lui faire ôter. alors le soleil a commencé à briller et au bout d’un moment, le voyageur, réchauffé a ôté son manteau. ainsi, la bise a du reconnaître que le soleil était le plus fort des deux. Das Schreiben der Wörter 49 Schon ab dem zweiten Wort sieht man deutliche Unterschiede zwischen der geschriebenen und der gesprochenen Sprache: <bise> ist ein geschriebener Zweisilber, [biz] ein gesprochener Einsilber Bei <et> wird das t nicht gesprochen, bei <le> kein Vokal Ein richtig schönes Beispiel ist aber das Verb [dIspytE] - disputaient . Die Schreibung <aient> wird phonetisch mit [E] wiedergegeben Hergeleitet werden kann die Schreibung <aient> nur über die Morphologie: <ai> kodiert das Vergangenheitsmorphem, <ent> die 3 Person Plural Wir haben es also deutlich mit der Visualisierung von Morphologie zu tun, die in der gesprochenen Sprache kein Pendant hat Dabei ist das Schriftsystem des Französischen sehr systematisch Man kann es relativ schnell lesen lernen Schreiben kann man es nur, wenn man die Formenlehre durchschaut (Meisenburg 1996) Das Schreiben der Wörter Wir hatten zu Beginn dieses Kapitels bei der Hinhörschreibung gesehen, dass das reine Hinhören nicht zu der Zielschreibung führt, sondern dass das Ergebnis sogar relativ weit davon entfernt ist Das, was man hört, aufzuschreiben, führt zu einer Schreibung, die zur Not lesbar ist, aber letztlich nur über lautes Lesen - also quasi dadurch, dass das Geschriebene wieder in phonologische Formen gebracht und von dort aus nach Bedeutungen und grammatischen Funktionen gesucht wird . Ein für Leser/ innen außerordentlich unkomfortables Verfahren Wir haben dann den Schritt über das Lesen genommen und gesehen, welche Aussagen in denjenigen orthographischen Strukturen stecken, die wir gerade nicht hören - in den Leerzeichen, in der satzinternen Großschreibung, in der Silbenstruktur, in der Morphemkonstanz Auf die Interpunktion und die Unterscheidung von dass und das werden wir noch zu sprechen kommen . Im Folgenden werden wir jedoch noch einmal von Lautketten ausgehen und zeigen, wie man systematisch zur Zielschreibung kommt Denn das ist es, was Kinder, die schreiben lernen sollen und wollen, wissen müssen . Dafür werden wir in einem ersten Schritt Schreibprinzipien formulieren, die sich aus den schon bekannten schriftsprachlichen Strukturen ergeben In einem zweiten Schritt wird gezeigt, wie diese Schreibprinzipien miteinander in Interaktion treten, wie also entschieden werden kann, welches Prinzip wann greift Das System der Schreibung Wir nehmen für die Wortschreibung des Deutschen die folgenden Prinzipien an (nach Eisenberg 4 2013: 285 ff ): 1 phonographisches Prinzip 2 silbische Prinzipien 3 morphologische Prinzipien 4 syntaktische Prinzipien 50 Wie funktioniert unsere Schrift? Die hier gewählte Reihenfolge ist für ein Modell des Schriftsystems geeignet, nicht für ein Modell des Schriftspracherwerbs Denn beim Schriftspracherwerb werden die benannten Prinzipien integrativ angeeignet, für unser Schriftmodell hilft es aber, die Prinzipien nacheinander anzuordnen und mit ihrer Hilfe aufzudecken, wie die Wortschreibung im Deutschen funktioniert Das phonographische Prinzip betrifft die Beziehung zwischen Lautgesten und Buchstaben Seine Anwendung führt zu einer rein lautbasierten Schreibung So erhalten wir etwa <man> für [man], <dent> für [dent] und <bunt> für [bUnt], <schtal> für [Stal] oder [StAl] Die silbischen Prinzipien betreffen im Wesentlichen die Silbenkerne, und zwar sowohl der betonten als auch der unbetonbaren Silben Bei den betonten Silben geht es darum, ob Gespanntheit oder Ungespanntheit der Vokale jeweils explizit gezeigt wird oder nicht Für die Mehrheit der Fälle ergibt sich die Ableitung der Lautung durch den Silbenschnitt, Gespannt- oder Ungespanntheit werden also nicht eigens durch einen zusätzlichen Buchstaben gekennzeichnet Es gibt aber einige besondere Kennzeichnungen, die zum großen Teil systematisch gebraucht werden Diese Kennzeichnungen finden in betonten Silben nach folgenden Regeln statt: • i-Schreibung: Immer markiert werden betonte Silben mit einem langen, gespannten i-Laut, hier wird <ie> geschrieben, wenn es nicht die ersten Buchstaben eines Wortes sind Ein Wort mit <ie> am Anfang gibt es im Deutschen nicht Hier wird bei den Pronomen <ih> geschrieben (ihnen, ihr, ihm usw .), dies sind Lernwörter ebenso wie Igel Ausnahmen wie wider, Lid, Biber sind im nativen Bereich relativ selten und müssen ebenfalls auswendig gelernt werden Im Kapitel 4, in dem wir auf Fehler zu sprechen kommen, die in Lernprozessen vorkommen, werden wir noch einmal ausführlich auf die i-Schreibung und ihren Erwerb eingehen • Schärfungsschreibung: Die Ungespanntheit/ Kürze des Hauptsilbenvokals wird dann durch Konsonantenverdopplung markiert, wenn zwischen dem ungespannten, kurzen Vokal einer betonten Silbe und dem Vokal einer unbetonten Silbe genau ein Konsonant hörbar ist Für einige Konsonantenbuchstaben gibt es Sonderregeln: k wird zu ck, z zu tz; wenn der Konsonant durch mehrere Buchstaben verschriftet wird (sch, ng und ch), wird nicht verdoppelt • Dehnungs-h: Nach einem gespannten, langen Vokal wird in manchen Fällen ein Dehnungs-h gesetzt, wenn dem Vokal l, m, n, r folgt • Silbeninitiales <h>: Das silbeninitiale <h> wird gesetzt, wenn zwischen dem Vollvokal der betonten Silbe und dem Reduktionsvokal der unbetonten Silbe kein Konsonant hörbar ist Ausnahmen sind Wörter mit Diphthongen in der Vollsilbe Nach au und eu steht das silbeninitiale h nie (Bauer, Feuer), nach ei steht es manchmal (Weiher, Reiher), manchmal auch nicht (Eier, Feier) Das Schreiben der Wörter 51 Die Reduktionssilben weisen im Silbenkern ein <e> auf Sie verfügen über keine weiteren Markierungen Die morphologischen Prinzipien betreffen sowohl die betonten als auch die unbetonbaren Silben • Für die betonten Silben gilt: Mit dem Morphemkonstanzprinzip wird die Verwandtschaft zu anderen Formen angezeigt Die Morphemkonstanz greift, wenn eine bestehende Verwandtschaft gekennzeichnet werden kann, ohne dass phonographisch etwas dagegenspricht • Für die unbetonbaren Silben gilt: Handelt es sich um Endungen mit morphologischer Information, dann wird <e> als Silbenkern geschrieben - unabhängig davon, ob dieses <e> hörbar ist oder nicht • Prinzipiell gilt: Morphologische Informationen werden visualisiert, wenn es geht, auch dann wenn sie nicht hörbar sind: So schreiben wir bei gehen den Stamm geh und die Infinitivendung en, also <gehen>, auch wenn nur [gen] hörbar ist, im Gegensatz zum monomorphemischen <Gen>, das genauso ausgesprochen wird Die syntaktischen Prinzipien wirken erst im Kontext Sowohl die Groß- und Kleinschreibung als auch die Getrennt- und Zusammenschreibung gehören hierher • Bei der Groß-/ Kleinschreibung unterscheiden wir die satzinitiale Großschreibung (Großschreibung zur Markierung des Satzanfangs) und die satzinterne Großschreibung (Großschreibung von Kernen von Nominalgruppen: Alle Reisen nach Berlin waren teurer als geplant, aber: Alle reisen nach Berlin) • Getrennt-/ Zusammenschreibung: Im Satz analysierbare Einheiten werden getrennt geschrieben: er kocht aus Erbsen Suppe, aber er kocht Erbsensuppe . Die Benennung der Schreibprinzipien hilft nun vorerst nur bedingt Denn die entscheidende Frage ist, wann welches Prinzip zur Anwendung kommt . Im Folgenden werden wir die Wirksamkeit der Prinzipien an den Schreibungen <man>, <Mann> und <Männer> beispielhaft verdeutlichen So ist am besten zu sehen, wie sie miteinander interagieren Dabei behalten wir bei allen Überlegungen im Kopf, dass schon das erste Prinzip, das phonographische, das fast überall als natürlich gilt, äußerst voraussetzungsreich ist, wie uns die Analyse des Oszillogramms gezeigt hat <man> - <Mann> - <Männer> Phonographisches Prinzip: Aus den Lautketten [man] - [mEn] ergeben sich die Buchstabenketten <man> - <mena> Hier wurde jeder Laut durch denjenigen Buchstaben präsentiert, der der Lautwahrnehmung am nächsten kommt 52 Wie funktioniert unsere Schrift? <man> bleibt <man> Für das Pronomen man ist die Zielschreibung bereits erreicht; wir schreiben man also so, wie wir es hören Nun müssen wir natürlich auch verstehen, warum es sich nicht weiter verändert Man hat ein Prinzip ja erst dann verstanden, wenn man erstens weiß, wann es wirkt und entsprechend zu Veränderungen führt, und wenn man zweitens weiß, wann es nicht wirkt und entsprechend nicht zu Veränderungen führt Warum also führt bei man die Wirkung der weiteren Prinzipien nicht zu Veränderungen der phonographischen Schreibung? Das silbische Prinzip führt zu keiner Änderung, weil man ein Einsilber mit einem ungespannten Vokal und einem Konsonanten im Auslaut ist; für diesen Kontext liefern die silbischen Prinzipien keine Hinweise, es bleibt also bei der Schreibung <man> Die morphologischen Prinzipien zeigen Verwandtschaften, aber zu dem Pronomen man gibt es keine weiteren Formen Es kann ausschließlich im Nominativ Singular stehen Das ist sicherlich ein außergewöhnliches grammatisches Verhalten, aber leicht nachzuweisen: Man sieht sich. Man wird gesehen, aber nicht *Er sieht man, *ich gebe man ein Buch. Auch eine Pluralform existiert nicht Morphologische Prinzipien wirken nur, wenn es verwandte Formen gibt Für das Pronomen man gibt es keine weiteren Formen, daher greifen die morphologischen Prinzipien nicht Die syntaktischen Prinzipien wirken wie gesagt kontextabhängig . man kann ohne Zweifel am Satzanfang stehen: Man sieht sich. Man kommt ja so selten zum Schwimmen. Auch als Kern der Nominalgruppe ist es zu finden: Das verflixte Man führt doch nur dazu, dass niemand weiß, wer gemeint ist. Dieser Satz ist zwar ungewöhnlich, aber denkbar: man ist in den Kern der Nominalgruppe gerutscht Normalerweise tut man das nicht, und es wird daher sicherlich in den meisten Fällen kleingeschrieben Zusammenschreibung ist hier kaum zu konstruieren, weil man als Pronomen nicht ohne Weiteres in die Wortbildung eingeht; etymologisch sind aber Vorgänger von man in jemand, niemand zu finden Wann ist ein <man> ein <Mann>? - Oder: Wie aus <man> <Mann> wird und aus <mena> <Männer> Nun zu einem Paar, das zusammengehört, nämlich Mann - Männer . Wie kommen wir zu diesen Schreibungen? Die phonographische Schreibung ergibt, wie oben gezeigt, man - mena. Das silbische Prinzip bei betonten Silben ist bei dem Substantiv man genauso wenig zu erwarten wie bei dem Pronomen man (geschlossene Silbe, kurzer, ungespannter Vokal) . Bei dem Wort [mEn] hingegen ist der Kontext für den Doppelkonsonanten gegeben: Es liegen zwei Silben vor, deren beide Silbenkerne durch genau einen Konsonanten voneinander getrennt sind, die erste Silbe ist betont und hat einen ungespannten Kurzvokal Wir kommen also zu menna . Punkt, Komma, Fragezeichen - Wie Sätze entstehen 53 Das silbische Prinzip für Reduktionssilben besagt, dass in ihrem Silbenkern ein <e> steht Bei der Lautung [] steht im Endrand der Reduktionssilbe ein <r> . Wir gelangen also zu der Schreibung <menner> Nun wird das morphologische Prinzip aktiv: Beide Formen <man> und <menner> gehören zusammen, die eine ist die Pluralform der anderen Das Doppel-n von <menner> wird wegen der Morphemkonstanz auf die Singularform übertragen, also <mann> - <menner> Außerdem führt das <a> der Singularform zur Schreibung <ä> in der Pluralform, also <mann> - <männer> Mit den syntaktischen Prinzipien wird anhand konkreter Kontexte entschieden, ob klein- oder großgeschrieben werden muss und ob Getrennt- oder Zusammenschreibung vorgesehen ist Weil die Ausdrücke <mann> und <männer> bevorzugt im Kern von nominalen Gruppen auftreten, werden sie schon grundständig als Großschreibungsausdrücke geführt, also <Mann>, <Männer> Wir sind hier bei der Zielschreibung angelangt Die Wortschreibung hat sich als eine Art Konzert erwiesen, bei dem die Instrumente, unsere Prinzipien, optimal aufeinander abgestimmt sind Dabei ist es weder für Sprachwissenschaftler/ innen, die die Wortschreibung darstellen wollen, noch für Lehrer/ innen, die die Wortschreibung unterrichten, sinnvoll und nötig, jedes Wort einzeln zu bestimmen - um im Bild zu bleiben: für jedes Wort ein eigenes Stück zu komponieren Denn die Prinzipien funktionieren ja überall auf dieselbe Weise Und anwenden kann sie, wer die sprachlichen Strukturen, auf denen sie basieren, erkennt Deshalb müssen auch Lerner/ innen nicht bei jedem Wort neu ansetzen Nun gilt aber auch: Ein Konzert besteht nicht nur aus einer Stimme Kinder, die lernen, dass wir „schreiben wie wir sprechen“ und das sei bereits das Ende vom Lied, können deshalb nicht zu kompetenten Schreibern/ innen werden . Wichtig ist es vielmehr, den Kindern von Beginn an die Möglichkeit zu geben, mit der Schrift zu experimentieren, damit sie die Strukturen entdecken, deren Kenntnis sich im Lauf der Lernkarriere zu einem systematischen Wissen über Schreibprinzipien verdichtet, so dass sie bald in der Lage sind, selbst den Taktstock zu führen In Kapitel 3 werden wir solche Lernprozesse genauer unter die Lupe nehmen . - Und in Kapitel 4 zeigen wir, was alles schiefgehen kann und welche Hilfen es gibt Punkt, Komma, Fragezeichen - Wie Sätze entstehen Was sich bis jetzt wie ein roter Faden durchgezogen hat, ist die Erkenntnis, dass die Schreibung der Wörter dem Leser/ der Leserin optimale Sprachverarbeitungseinheiten zur Verfügung stellt, weshalb auch der Lernprozess konsequent am Lesen, nicht am Schreiben ansetzen sollte Denn dort, wo die Schrift sich zeigt, kann man am besten von ihr lernen Ein wichtiges Merkmal des Schriftsystems haben wir bis jetzt noch vollständig vernachlässigt: die Interpunktion Auch sie ist eine Lesehilfe, was wir rasch 54 Wie funktioniert unsere Schrift? sehen können, wenn wir versuchen, unsere Fabel ohne Interpunktionszeichen und die dazugehörige satzinitiale Großschreibung zu lesen: einst stritten sich nordwind und sonne wer von ihnen beiden wohl der stärkere wäre als ein wanderer der in einen warmen Mantel gehüllt war des weges daherkam sie wurden einig dass derjenige für den stärkeren gelten sollte der den wanderer zwingen würde seinen Mantel abzunehmen der nordwind blies mit aller Macht aber je mehr er blies desto fester hüllte sich der wanderer in seinen Mantel ein endlich gab der nordwind den kampf auf nun erwärmte die sonne die luft mit ihren freundlichen strahlen und schon nach wenigen augenblicken zog der wanderer seinen Mantel aus da musste der nordwind zugeben dass die sonne von ihnen beiden der stärkere war In der sprachwissenschaftlichen Forschung stehen sich zwei unterschiedliche Methoden zur Beschreibung der Interpunktionszeichen gegenüber, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven auf den Gegenstand ergeben . Die übliche ist die sog „Offline-Perspektive“ der Interpunktionszeichen: Sie leitet sich aus der Überzeugung ab, dass man genau bestimmen kann, welche Einheiten nach einem bestimmten Interpunktionszeichen verlangen Dem steht die „Online- Perspektive“ gegenüber Sie fragt danach, was die Interpunktionszeichen im Leseprozess bewirken Die Offline-Perspektive denkt vom Schreiben her: Man muss die Einheiten beschreiben, die ein bestimmtes Satzzeichen verlangen Um zum Beispiel nach einem Satz einen Punkt setzen zu können, muss man genau wissen, was ein Satz ist - und das ist nicht so einfach, wie man vielleicht zunächst vermuten würde Die Online-Perspektive denkt vom Lesen her: Es wird die Lesart beschrieben, die ein Zeichen auslöst; die Beschaffenheit der Konstruktion, die dadurch entsteht - also zum Beispiel ein Satz - wird sekundär Wir werden die Offline-Sicht am Fragezeichen vorführen und zeigen, dass sie nicht wirklich zielführend ist Das Fragezeichen gilt gemeinhin als ein wenig fehleranfälliges Zeichen, es ist gut (und intuitiv) beherrschbar Wann aber steht ein Fragezeichen? Versuchen wir es mit einer Beschreibung vom Offline-Standpunkt aus Das Fragezeichen ist einfach, oder? Bei der Beantwortung der Frage, wo das Fragezeichen steht, wollen wir wie folgt vorgehen: Wir stellen jeweils eine zunächst plausible These auf und überprüfen dann, ob diese die sprachliche Wirklichkeit erfasst Wenn nicht, werden wir die These modifizieren Dieses Verfahren setzen wir so lange fort, bis wir eine gute Lösung gefunden haben - oder am Ende unseres Lateins sind . Punkt, Komma, Fragezeichen - Wie Sätze entstehen 55 Wir starten ganz allgemein mit der Überlegung, dass das Fragezeichen von Fragen verlangt wird Herausfinden müssen wir jetzt nur noch, was eine Frage ist . Viele Fragen beginnen mit einem Fragewort wie wann, warum, wer, wie, was usw Daraus machen wir • These 1: Wenn ein Satz/ eine Äußerung mit einem Fragewort beginnt, dann ist es eine Frage Sie erhält ein Fragezeichen wann kommst du? C er hat alles aufgegessen, was wir eingekauft haben. D was wir eingekauft haben, hat er schon alles aufgegessen. D Beobachtung: Die Anwesenheit eines bestimmten Wortes reicht nicht aus, da die sogenannten Fragewörter auch anders benutzt werden können . Wir formulieren: • These 1’: Damit ein Fragezeichen gesetzt werden kann, muss das Fragewort auch als Fragewort gemeint sein, darf also insbesondere kein Relativpronomen sein: wann kommst du? C er fragt, wann du kommst. D Beobachtung: Inhaltlich handelt es sich bei wann du kommst um eine Frage, aber offensichtlich wird sie nicht durch ein Fragezeichen gekennzeichnet Der entsprechende Teil unterscheidet sich von der oben genannten Frage in der Einbettung und in der Wortstellung Wir kommen zu: • These 1’’: Eingebettete Fragen werden nicht mit einem Fragezeichen gekennzeichnet . er fragt: „wann kommst du? “ D Beobachtung: Dass in Er fragt, wann du kommst. kein Fragezeichen steht, liegt offenbar nicht an der Einbettung allein Die beiden eingebetteten Sätze (wann du kommst und Wann kommst du? ) unterscheiden sich durch die Wortstellung . Ist das ein entscheidendes Kriterium? Wir formulieren: • These 1’’’: Sätze und Äußerungen, die mit einem Fragewort beginnen, das in dem konkreten Satz oder der konkreten Äußerung auch als Fragewort 56 Wie funktioniert unsere Schrift? gemeint ist, und die eine bestimmte Wortstellung haben (Verbzweitstellung), werden mit einem Fragezeichen gekennzeichnet Es ist ja schon eine relativ komplizierte Beschreibung für einen einfachen Sachverhalt, aber: Wir sind damit noch nicht am Ende kommst du? D Beobachtung: Auch Sätze, die kein Fragewort enthalten, können ein Fragezeichen verlangen • These 2: Wenn kein Fragewort involviert ist, deutet eine besondere Wortstellung (Verberststellung) auf eine Frage hin kommst du heute nicht, kommst du morgen. D Beobachtung: Auch das stimmt so nicht Hier haben wir Bedingungssätze, theoretisch wäre es möglich, wenn und dann einzusetzen: Wenn du heute nicht kommst, dann kommst du morgen. Wir könnten also mit Ersetzungsmöglichkeiten operieren • These 3: In einem Fragesatz könnte ein Fragepronomen eingesetzt werden, und dieses steht typischerweise direkt vor dem (finiten) Verb Fehlt das Fragepronomen, rutscht das Verb an die erste Stelle Sehr kompliziert, aber sind wir damit am Ende? Schauen wir auf ein anderes Beispiel: er hat eingekauft? D Beobachtung: In diesem Beispiel spricht vom ‚Satz‘ her alles gegen ein Fragezeichen; der Beispielsatz sieht aus wie ein ganz typischer Aussagesatz, und dennoch ist ein Fragezeichen möglich Wir sind am Ende unserer Möglichkeiten angelangt, das Fragezeichen aus der Offline-Perspektive heraus zu bestimmen, das heißt also von den Konstruktionen aus, die das Fragezeichen verlangen Das ist vor allem deshalb äußerst merkwürdig, weil wir beim Schreiben eigentlich ziemlich genau wissen, wann wir ein Fragezeichen setzen müssen . Wie machen wir das? Beschreiben wir das Fragezeichen aus der Online-Perspektive, fragen also danach, wie es den Leseprozess steuert Es wird nun alles ganz einfach: Wo immer der Leser/ die Leserin auf ein Fragezeichen trifft, wird er zum Wissenden Punkt, Komma, Fragezeichen - Wie Sätze entstehen 57 gemacht: Er ist aufgefordert, in seinem Kopf nach einem Wissenselement zu suchen, das die in der Frage gelassene Lücke schließt . Der Schreiber/ die Schreiberin entscheidet sich für das Setzen eines Fragezeichens genau dort, wo er diese Wissensprozessierung beim Leser/ bei der Leserin in Gang setzen will . Es ist deshalb vergleichsweise einfach und unabhängig von Konstruktionseigenschaften zu gebrauchen - und dieses Wissen ist auch leicht zu erwerben, wenn der Unterricht die richtigen Vorgaben macht Eine eher missglückte Lernkarriere in Sachen Fragezeichen können wir im Text des neunjährigen Jakob erkennen, der sich hier vorgestellt hat, einen Tag mit George Lucas, dem Regisseur von Star Wars, zu verbringen: ein tag mit george lucas ich würde gerne von im wiesen: wie viele filme er prodoziert hat? wie er als regisehor ist? (ich würde gerne mit ihm nach holywood fahren und dort mich über filme informieren.) dann würde ich in fragen: wie er zu den ideen für die drehbücher kam? Wir können vermuten, dass Jakob unsere These 1 im Kopf hat: Wenn ein Satz/ eine Äußerung mit einem Fragewort beginnt, dann ist es eine Frage. Sie erhält ein Fragezeichen. Wahrscheinlich hat Jakob einen solchen Merksatz in der Schule gelernt und ihn hier angewendet Wird er auf seinen Fehler aufmerksam gemacht, finden wir ihn wahrscheinlich ratlos Denn er ist ja eigentlich der Regel aus der Schule gefolgt Wir haben hier bewusst ein eigentlich einfaches Zeichen gewählt, um uns mit dem erworbenen Vorwissen dem vermeintlich schwierigen, nämlich dem Komma, zuzuwenden Das Komma ist einfacher, als man denkt Wann steht ein Komma? Das ist genau genommen sehr viel einfacher, als es in der Schule gelehrt wird, zumindest aus Sicht des Lesers / der Leserin - Kommas zu schreiben ist oft schwer, Kommas zu lesen ist sehr einfach Dass auch Kommas eine Lesehilfe sind, wird sofort klar, wenn man sie weglässt Einige Sätze lassen sich sehr viel schlechter lesen (Beispiel 1), bei anderen weiß man nicht genau, wie sie verstanden werden sollen (Beispiel 2), und falsche Kommas können zu völlig falschen Lesarten führen (Beispiel 3); auch bei völlig unproblematischen Sätzen (Beispiel 4) sucht man die Struktur, wenn die Kommas fehlen: beispiel (1): Peter hört den Schrei der Frau auf dem Bahnhof entgleitet die Tasche. (lohnstein 1993). 58 Wie funktioniert unsere Schrift? beispiel (2): Die Kanzlerin veranlasste den Minister noch vor dem Gipfel seinen Rücktritt zu erklären. (wir wissen nicht, ob die veranlassung vor dem gipfel lag, oder ob die rücktrittserklärung davor liegen soll.) beispiel (3): Voran ging der Bürgermeister auf dem Kopfe, den glänzenden Zylinder an den Füßen, die Lackschuhe in der Hand, den unvermeidlichen Spazierstock hinter dem Ohr, das Kneiferschnürchen in eisernes Schweigen gehüllt. (zollinger 1940) beispiel (4): ‚vorstadtkrokodile‘: Die acht Krokodiler standen in einem Halbkreis am Ende der Leiter die senkrecht zehn Meter hoch zum Dach führte und sahen gespannt zu wie Hannes den sie Milchstraße nannten weil er so viele Sommersprossen im Gesicht hatte langsam die Sprossen hochkletterte um seine Mutprobe abzulegen. Mit kommas ist er einfacher zu lesen: Die acht Krokodiler standen in einem Halbkreis am Ende der Leiter, die senkrecht zehn Meter hoch zum Dach führte, und sahen gespannt zu, wie Hannes, den sie Milchstraße nannten, weil er so viele Sommersprossen im Gesicht hatte, langsam die Sprossen hochkletterte, um seine Mutprobe abzulegen. Das Komma zeigt dem Leser/ der Leserin einen (vorübergehenden) Bruch im syntaktischen Strukturaufbau Ein solcher Bruch im Strukturaufbau kann zum Beispiel darin bestehen, dass ein Nebensatz eingeführt wird (die senkrecht zehn Meter hoch zum Dach führte); um diesen Nebensatz zu verarbeiten, muss dieser selbst zunächst in seiner eigenen Struktur erfasst werden, um ihn dann im Gesamtsatz weiter zu verarbeiten (im Bezug auf Leiter) Nach neueren Erkenntnissen (Primus 1993; 1997) zeigt das Komma drei typische Arten von Unterbrechungen des Strukturaufbaus Grundlegende Beispiele sind: 1 Er hat Äpfel, Birnen und Bananen gekauft (Koordination) 2 Er hat gesagt, dass er Hunger hat (Satz im Satz) 3 Hast Du das gesehen, Peter? (Herausstellung) Übrigens sind die Amtlichen Regeln genauso zu lesen: Es gibt neun offizielle Kommaregeln, von denen die ersten drei die Koordination regeln, die zweiten drei eingebettete Satzstrukturen, die letzten drei die Parenthesen und Herausstellungen (Amtliche Regelung 2006) Äpfel, Birnen und Tomaten: Koordination Fangen wir mit der Koordination an Ein Komma wird gesetzt, wenn der normale Strukturaufbau, die Unterordnung, unterbrochen ist Der Leser/ die Leserin muss die Elemente, die aufeinanderfolgen, als gleichrangig verarbeiten Punkt, Komma, Fragezeichen - Wie Sätze entstehen 59 Er isst Äpfel, Birnen und Tomaten. Er isst Äpfel, Birnen oder Tomaten. Wir haben noch Vollkornbrot, Graubrot, Toastbrot. Dass es einen riesigen Unterschied macht, ob man Strukturen unterordnet oder nebenordnet, zeigt folgendes Beispielpaar: Er will sie nicht. - Er will, sie nicht. Wie wir an den beiden ersten Beispielen aber auch sehen, ist das Komma in koordinativen Strukturen nicht immer verlangt: Die Koordinatoren und und oder haben es überflüssig gemacht Nicht alle Koordinatoren können das: Sie gehen zur Schule und lernen dort nichts. Sie gehen zur Schule, aber lernen dort nichts. Wie wir erkennen, kann aber das Komma nicht ablösen Die Regel, die Sie dazu wahrscheinlich im Kopf haben, ist, dass der Koordinator, der trotzdem das Komma verlangt, eine entgegenstellende Bedeutung haben muss So jedenfalls steht es in den Amtlichen Regeln 2006: „Bei entgegenstellenden Konjunktionen wie aber, doch, jedoch, sondern steht […] ein Komma, wenn sie zwischen gleichrangigen Wörtern oder Wortgruppen stehen“ (§ 72, E2) Aber hilft uns dieses Kriterium wirklich weiter? Ist nicht auch oder entgegenstellend? Und was ist mit weder … noch oder mit entweder … oder? Das Kriterium, das uns eine unzweideutige Auskunft gibt, ist das der Wiederholbarkeit (Behrens 1989): Kann ein Koordinator in einer Konstruktion mehrfach hintereinander verwendet werden, steht kein Komma . Kann er es nicht, ist das Komma erforderlich: sie ärgerte sich nicht über ihren Mann und über ihre Kinder und über die Hausbewohner. *sie ärgerte sich nicht über ihren Mann, sondern über ihre Kinder, sondern über die Hausbewohner. Ein wichtiger Punkt muss hier noch angesprochen werden: Denn viele, auch kompetente Schreiber/ innen, sind der Ansicht, vor und stehe nie ein Komma Sehen wir uns dafür die folgenden zwei Sätze an: 60 Wie funktioniert unsere Schrift? Müller sagt, sein Nachbar hat Totschlag begangen und wird sich vor Gericht dafür verantworten müssen. Müller sagt, sein Nachbar hat Totschlag begangen, und wird sich vor Gericht dafür verantworten müssen. Im ersten Satz muss sich der Nachbar vor Gericht verantworten, im zweiten Müller . Der Satz im Satz Die zweite Struktur, in der ein Komma interveniert, ist der Aufbau einer neuen (möglicherweise eingebetteten) Satzstruktur Wie lesen wir folgenden Satz? Peter hängt das Bild an die Wand ist weiß. Zunächst haben Sie wahrscheinlich an die Wand für zusammengehörig gehalten, also zuerst gelesen: Peter hängt das Bild an die Wand. Erst bei ist haben Sie bemerkt, dass Sie einem Holzweg gefolgt sind (diese Sätze heißen deshalb in der Sprachwissenschaft ‚Holzwegsätze‘) Mit Komma hätten Sie alles gleich richtig gemacht: Peter hängt das Bild an, die Wand ist weiß. Die Gesetzmäßigkeit, die dieser Kommasetzung zugrundeliegt, ist einfach: Jeder Satz bildet eine eigene Verrechnungseinheit Das Komma (manchmal auch der Punkt) zeigt dem Leser/ der Leserin Anfang und Ende dieser Einheit Weil das Zentrum der Einheit ein finites Verb ist, hat diese allgemeine Gesetzmäßigkeit ganz praktische Folgen, die wir auch für den Unterricht gut nutzen können: Wenn in einer Wortkette mehr als ein finites Verb auftritt, befindet sich zwischen den Verben ein Komma Wo genau das Komma steht, hängt dann davon ab, welche Einheiten jeweils zu welchem Verb gehören In unserem Ausgangssatz bilden hängt an und ist die Satzkerne Peter und das Bild gehören zu hängt an, die Wand und weiß gehören zu ist Also muss das Komma zwischen an und die stehen . Sehen wir uns einen etwas komplizierteren Fall aus unserem Nordwindtext an Wir notieren ihn zuerst ohne Kommas: Sie einigten sich dass derjenige für den Stärkeren gelten sollte der den Wanderer zwingen würde seinen Mantel abzunehmen. Punkt, Komma, Fragezeichen - Wie Sätze entstehen 61 Für unsere kommarelevanten Stellen suchen wir zuerst einmal die finiten Verben: einigten, sollte und würde Danach sortieren wir die Mitspieler der Verben: sie und sich gehören zu einigten; derjenige, für den Stärkeren und gelten gehören zu sollte; der, den Wanderer und zwingen gehören zu würde Wir können jetzt also wie folgt kommatieren: Sie einigten sich, dass derjenige für den Stärkeren gelten sollte, der den Wanderer zwingen würde seinen Mantel abzunehmen. Einige von Ihnen werden ein Komma vor seinen Mantel abzunehmen vermissen Bei dieser Konstruktion handelt es sich um einen sogenannten erweiterten Infinitiv, der vor 1996 regelhaft kommatiert werden musste Dass hier tatsächlich ein Komma stehen sollte, kann man mit der bereits genannten Regel begründen Wir müssen sie nur ein bisschen erweitern: Denn im Zentrum von Sätzen können nicht nur finite Verben stehen, sondern auch zu-Infinitive, die dann vom Komma erfasst werden können, wenn sie mindestens einen Mitspieler haben, also erweitert sind . In der Grammatik werden zu-Infinitivgruppen daher häufig als ‚satzwertig‘ beschrieben Sie werden auch beim Lesen wie Sätze mit finiten Formen ausgewertet: Das Komma sorgt dafür, dass zunächst das Verb mit seinen Ergänzungen eine eigene Struktur aufbaut, die dann im Gesamtsatz weiter eingegliedert wird Sie glaubt den Kindern - sie glaubt, den Kindern zu helfen. Mit der Rechtschreibreform von 1996 wurde das Komma an solchen Stellen freigestellt, was den Reformern (zu Recht) viel Kritik eingebracht hat Hintergrund der Abschaffung war, dass gerade hier sehr viele Fehler gemacht werden Besser wäre es gewesen, sich die Lern-, vor allem aber auch die Lehrkonzepte genauer anzusehen, denen es nicht gelingt, die Kinder zu befähigen, das Komma richtig zu setzen Denn die meisten Schulen arbeiten nicht am Konzept des Verbs als Satzzentrum, sondern an den einleitenden Konjunktionen wie weil, als, während, die, wie wir in unserem Beispielsatz aus dem Nordwindtext und an den zu-Infinitiven sehen können, überhaupt kein sicheres Mittel zur Identifikation einer Kommastelle bilden Denn sie sind manchmal da, manchmal nicht Eine gute Kommadidaktik, die am Verb ansetzt und das Satzkomma spielerisch und zugleich zielführend bearbeitet, liegt zum Beispiel mit Bredel/ Hlebec 2015 (Praxis Deutsch 254) vor 62 Wie funktioniert unsere Schrift? Herausstellungen, Einfügungen verschiedener Art Kommen wir zum dritten Fall für Kommas, den Herausstellungen und Einfügungen Im Allgemeinen sind die Herausstellungen nicht grammatisch in den Gesamtsatz integriert; sehr typisch ist, dass in dem Satz ein Verweiswort auf das Herausgestellte vorkommt: Eine leckere Pizza, die haben wir schon lange nicht mehr gebacken Meer mit Wind und Wellen, darauf freut Maria sich. Immer zu spät dran, so kann man nie zur Ruhe kommen. Hast du die gebacken, die leckere Pizza? Er hat schon lange darauf gewartet, auf die Meisterschaft. In den ersten drei Beispielen handelt es sich um Herausstellungen nach links (die Nominalgruppe eine leckere Pizza steht links vom vollständigen Satz), im vierten und fünften um Herausstellungen nach rechts . Sie unterscheiden sich aber ansonsten nicht Die Herausstellungen haben gemeinsam, dass sie syntaktisch nicht in den Satz integriert werden können . In den genannten Beispielen wird das deutlich durch die Verweiswörter: eine leckere Pizza und die würden im ersten Beispiel die gleiche Funktion einnehmen, verglichen mit dem Satz eine leckere Pizza haben wir schon lange nicht mehr gebacken wird dies deutlich . Das Komma zeigt diese Struktur, die ist ein Vertreter für eine leckere Pizza, was herausgestellt wird, um es besonders hervorzuheben Auch Anreden sind hier zu behandeln: Hast du die leckere Pizza gebacken, Erwin? Hört doch mal zu, Kinder. Dass Erwin (die Anrede) nicht in den Satz passt, ist schon daran zu erkennen, dass ein Subjekt Erwin die Verbform hat und nicht hast (wie in dem vorliegenden Satz) verlangen würde Der Satz Hört doch mal zu hat zwar kein Subjekt, weil es sich bei dem Verb um eine Befehlsform handelt (Lauf weg, Lauft weg); durch das herausgestellte Kinder wird aber doch deutlich, wer mit der Befehlsform angesprochen wird Neben den Herausstellungen finden wir auch Einschübe, also solche Einheiten, die mitten im Satz stehen, ohne zu ihm zu gehören Sie sind grammatisch relativ schwer zu fassen, und es wird hier auch immer eine gewisse Freiheit fürs Komma geben So ist auch § 78 der Amtlichen Regelung zu verstehen: „Oft liegt es im Ermessen der Schreibenden, ob er etwas mit Komma als Zusatz oder Nachtrag kennzeichnen will oder nicht “ Das hat damit zu tun, dass Einschübe grammatisch mehr oder weniger eng integriert sein können . Punkt, Komma, Fragezeichen - Wie Sätze entstehen 63 Er hat eine Begabung, eine ganz außergewöhnliche Begabung, fürs Toreschießen. Die Köchin der Frau Grubach, seiner Zimmervermieterin, die ihm jeden Tag gegen acht Uhr früh das Frühstück brachte, kam diesmal nicht. (Franz Kafka, Der Prozess) K. wartete noch ein Weilchen, sah von seinem Kopfkissen aus die alte Frau, die ihm gegenüber wohnte und die ihn mit einer an ihr ganz ungewöhnlichen Neugierde beobachtete, dann aber, gleichzeitig befremdet und hungrig, läutete er. (Franz Kafka, Der Prozess) In dieser Funktion können häufig auch alternativ Klammern oder Gedankenstriche gesetzt werden Irgendwelche Zeichen müssen in den genannten Beispielen aber stehen Wir haben uns für die Kommasetzung entschieden, also dafür, die Unterbrechung des syntaktischen Strukturaufbaus anzuzeigen, die Klammer hätte auf die Informationseigenschaften des Einschubs verwiesen (Nebeninformation), der Gedankenstrich global auf den Abbruch des Leseprozesses, s . auch Fuhrhop/ Schreiber (2015, Praxis Deutsch 254) . Das verzwickte <das(s)> Die meisten Lehrer/ innen sind überrascht, wenn ihre Schüler/ innen das und dass nicht unterscheiden können Die Regel, meinen sie, sei doch sehr einfach: Dort wo man das durch jenes, welches oder dieses ersetzen kann, wird ein s geschrieben, überall, wo das nicht möglich ist, stehen zwei Machen wir also die Probe aufs Exempel: Das Buch, das du mir gestern gegeben hast, … *Das Buch, jenes du mir gestern gegeben hast, … Das Buch, welches du mir gestern gegeben hast, … *Das Buch, dieses du mir gestern gegeben hast. Was wir hier sehen, lässt sich verallgemeinern: jenes und dieses sind keine Ersatzformen für das Relativpronomen das Nur die welches-Probe hat hier zum Erfolg geführt . Die Frage ist, ob das immer der Fall ist Sehen wir uns dafür ein Beispiel an, in dem mehrere das-Sätze verkettet sind: Das Buch, das er gestern ausgeliehen hat, das er gerade liest und das er morgen zurückgeben will, ? Das Buch, welches er gestern ausgeliehen hat, welches er gerade liest und welches er morgen zurückgeben will, 64 Wie funktioniert unsere Schrift? Die welches-Probe wirft uns zwar keinen ungrammatischen Satz aus, allerdings ist der Satz kaum akzeptabel - ob Schüler/ innen ihn akzeptieren, ist die Frage: Neben der reinen Grammatikalität ist für sie nämlich immer auch die Akzeptabilität (der das-Satz erscheint deutlich realistischer als der welches-Satz) von Probeergebnissen bedeutsam Wir wollen nun aber weiter prüfen, ob uns die welches-Probe wenigstens unmissverständlich nur Relativpronomen ersetzt, oder ob auch dass-Sätze anfällig sind Sie informierten das Gremium, dass sie gewählt hatten. Sie sehen schon, was geschieht: Wenn man hier die welches-Probe anwendet, erhält man eine grammatische und völlig akzeptable Konstruktion, allerdings mit einer anderen Bedeutung: Sie informierten das Gremium, welches sie gewählt hatten. Wie wir feststellen mussten, hat also der schulische dieses-jenes-welches-Merksatz schon auf der Sachebene einige Tücken Nur welches ist übriggeblieben, und auch das funktioniert nicht so gut wie gedacht Die Sprachdidaktiker Reinold Funke (1987) und Helmuth Feilke ( 2 2015) haben aber noch auf ganz andere Probleme aufmerksam gemacht Um zu verdeutlichen, was gemeint ist, sollen Sie entscheiden, ob Sie im folgenden Satz (aus Freywald 2008: 269) „das“ mit einem oder mit zwei s schreiben würden: Ich weiß das Lamas spucken. Sie haben wahrscheinlich festgestellt, dass beides möglich ist: Ich weiß das: Lamas spucken. Ich weiß, dass Lamas spucken. Konstruktionen wie im zweiten Beispiel sind gegenüber dem ersten historisch jünger: Schon 1928 hat der berühmte Sprachwissenschaftler Otto Behaghel herausgefunden, dass die Verschiebung der Satzgrenze vor den Ausdruck „das“ und damit die Veränderung seiner grammatischen Funktion sich erst in der frühen Neuzeit herausbildete Es ist also kein Zufall, dass das und dass gleich klingen: Sie waren historisch einmal eins Den Umbruch, den diese Konstruk- Punkt, Komma, Fragezeichen - Wie Sätze entstehen 65 tion in der frühen Neuzeit durchgemacht hat, können wir sehr schön an den Beispielen aus der Lutherbibel nachvollziehen, die wir am Ende des Kapitels zeigen werden: Die Fassung von 1534 enthält den Satz und Gott sahe das liecht für gut an, 1545 heißt es Und Gott sahe, das das Liecht gut war Helmuth Feilke hat nun gezeigt, dass Kinder bei der Entdeckung der grammatischen Struktur von dass-Sätzen einen ganz ähnlichen Weg einschlagen Sie beginnen zunächst in Sätzen mit Einstellungsverben (finden, meinen, denken), bei denen beide Anschlüsse möglich sind (ich finde das gut vs ich finde, dass das gut ist), mit das-Konstruktionen zu experimentieren Zu Beginn schreiben sie „das“ mit einem s Beim weiteren Experimentieren mit diesen Satztypen gelangen sie zu „Schemakonflikten“ zwischen Konjunktion und Demonstrativ (Feilke 2 2015) Sie beginnen, die Fälle zu unterscheiden, und zwar mithilfe der Schreibung: Sie unterscheiden in diesen Konstruktionen (ich finde das die Schule schön ist) zunehmend sicherer das und dass und beginnen zugleich, bei der dass-Verschriftung auch das Komma zu setzen, ein deutlicher Hinweis darauf, dass sie die gesamte Struktur verstanden haben, nicht nur ein Einzelwort Die folgende Graphik (Feilke 2 2015) zeigt den engen Zusammenhang zwischen der das/ dass- Schreibung und dem Kommagebrauch: Abb. 2-10: Zusammenhang zwischen das/ dass-Schreibung und Kommagebrauch (aus: H. Feilke, Der Erwerb der das/ dass-Schreibung. In: U. Bredel/ T. Reißig (Hrsg.), Weiterführender Orthographieerwerb, Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren 2 2015) Feilke ( 2 2015) zieht aus seinen Untersuchungen den Schluss, dass die „Hypothese einer Verwechslung von Relativum und Konjunktion als Fehlerursache“ weder sachlich noch mit Blick auf die Erwerbsdaten haltbar sei Die ohnehin nicht immer sichere welcher-Probe geht danach ganz grundsätzlich an den Pro- 66 Wie funktioniert unsere Schrift? blemen der Schüler/ innen vorbei „[D]as entscheidende Argument ist, dass die Schüler/ innen offenkundig vor ‚das‘ keinerlei syntaktische Grenze erkennen und deshalb konzeptionell schriftlich gar keinen Nebensatz produzieren .“ (Ebd ) Der Punkt Der Punkt steht dann, wenn die syntaktische Verknüpfung abgebrochen werden und die eingelesene Einheit abschließend verarbeitet werden soll Sehr häufig sind diese Einheiten vollständige Sätze Es kann aber auch deutlich weniger Material für die abschließende Verarbeitung zur Verfügung stehen In den Amtlichen Regeln (S 73) kommen folgende Beispielsätze vor Niemand kannte ihn. Auch der Gärtner nicht. Bitte die Türen schließen und Vorsicht bei der Abfahrt des Zuges! Ob er heute kommt? Nein, morgen. Wir sehen hier den Vorzug der Online-Perspektive vor der Offline-Perspektive: Während es nicht ganz einfach ist, Fälle wie Nein, morgen in einem bekannten Satzbegriff zu unterzubringen, spielt diese Frage bei der Online-Perspektive keine Rolle: Der Punkt zeigt dem Leser/ der Leserin, dass die Einheiten rechts von ihm syntaktisch nicht mehr mit der Vorgängerkonstruktion verrechnet werden können Er muss seinen syntaktischen Arbeitsspeicher leeren und auswerten, was da ist Nun beenden wir die Einführung in das Schriftsystem des Deutschen . Wir sind bis zum Satz gekommen, haben also den Bereich bearbeitet, der typischerweise unter ‚Rechtschreibung‘ fällt Die Beschreibung von satzübergreifenden Strukturen würde nun zu weit führen, auch wenn es hier natürlich - auch für die Didaktik - ganz wichtige Einsichten gibt In den folgenden Kapiteln, in denen es um Lernprozesse geht, werden einige dieser Fragen berührt Die Entstehung des Schriftsystems - ein Rückblick Abschließen wollen wir das Kapitel mit einer historischen Betrachtung Dies, um deutlich zu machen, dass - auch wenn wir heute ein normiertes System haben - der größte Teil unserer Schreibung historisch gewachsen ist und daher ein ähnlich natürliches System darstellt wie die gesprochene Sprache Um die enormen Entwicklungsleistungen zu dokumentieren, eignet sich das 16 Jahrhundert besonders gut, weil nicht nur der Buchdruck so weit professionalisiert war, dass es zu einer immer rascheren Verbreitung von Schrifterzeugnissen kam, sondern auch weil die Übersetzung der Bibel durch Luther der Verschriftung des Deutschen einen neuen und so noch nicht dagewesenen Schub gegeben hatte Die Entstehung des Schriftsystems - ein Rückblick 67 1534 am anfang schuff gott hi= mel und erden/ und die erde war wüst und leer/ und es war finster auff der tief= fe/ und der geist gottes schwebet auff dem wasser. und gott sprach/ es werde liecht/ und es ward liecht/ und gott sahe das liecht für gut an/ da scheidet gott das liecht vom finsternis/ und nennet das liecht/ tag/ und die finsternis / nacht/ da ward aus abend und morgen der erste tag. 1545 am anfang schuff gott hi mel und erden. und die erde war wüst und leer/ und es war finster auff der tieffe/ und der geist gottes schwebet auf dem wasser. und gott sprach/ es werde liecht/ und es ward liecht. und gott sahe/ das das liecht gut war/ da scheidet gott das liecht vom finsternis/ und nennet das liecht/ tag/ und die finternis/ nacht. da ward aus abend und morgen der erste tag. Abb. 2-11: Anfang der Schöpfungsgeschichte in der Übersetzung Martin Luthers 1534 und 1545 Die Beispiele zeigen besonders anschaulich die Entstehung der satzinternen Großschreibung, die auch in anderen Schriften des 16 . Jahrhunderts zu entdecken ist . Im Prinzip findet sich 1534 ausschließlich die Großschreibung von Satzanfängen und sakralen Begriffen, die Version von 1545 erinnert schon sehr an unsere heutige Großschreibung; ganz stabil, im Sinne der modernen Schreibung, ist die Großschreibung aber noch nicht Liecht wird in einem Fall kleingeschrieben, nämlich bei der ‚Benennung‘ (und nennet das liecht / Tag/ ), genau die Umgebung, in der Tag bereits 1534 großgeschrieben wird . Man kann das so interpretieren, dass das Bedürfnis, an dieser Stelle einen Unterschied zwischen Benennung und dem ‚normalen‘ Substantiv zu machen, größer ist als die konsequente Anwendung der satzinternen Großschreibung 1545 wird auch morgen und abend noch kleingeschrieben, was an die vor der Rechtschreibreform übliche Schreibung heute abend erinnert Die beiden Versionen der Bibelübersetzung können zur Illustration dienen, wie schnell und wie relativ systematisch sich eine satzinterne Großschreibung herausgebildet hat Im Übrigen sind im 16 Jahrhundert sehr ähnliche Tendenzen auch für das Englische, 68 Wie funktioniert unsere Schrift? das Französische und andere Sprachen festzustellen Die Ausnahmeposition, die das Deutsche heute mit der satzinternen Großschreibung hat, ist relativ neu (in Norwegen und Dänemark beispielsweise wurde die satzinterne Großschreibung 1948 per Rechtschreibreform abgeschafft) Bewegung sehen wir aber nicht nur bei der Großschreibung, sondern auch bei der Interpunktion: 1534 fungiert der Punkt als Absatzzeichen, die dem Komma verwandte Virgel muss alle satzbezogenen Gliederungsaufgaben übernehmen 1545 hat sich der Punkt zu einem Satzzeichen gemausert, die Virgel steht nun ganz für die satzinterne Gliederung zur Verfügung Historische Überlegungen haben für uns aber auch noch eine weitere Bedeutung Denn viele geschichtliche Entwicklungen ähneln den Individualentwicklungen Mit der das/ dass-Schreibung, die sowohl in der Sprachgeschichte als auch beim lernenden Individuum eine kleine Sprachrevolution auslöst, haben wir schon einen dieser Fälle beschrieben Aber auch schon bei der Betrachtung weit vor der frühen Neuzeit liegender Schriftstufen erkennen wir eine Menge Gemeinsamkeiten: Sowohl unsere Vorfahren als auch die Schreibnovizen schreiben zunächst in Großbuchstaben, ohne Leerzeichen, „ohne Punkt und Komma“ und gehen viel stärker als die moderne Orthographie lautorientiert vor So ist zum Beispiel die Morphemkonstanzschreibung ein Schreibprinzip, das erst in der frühen Neuzeit entwickelt wird: Im Mittelalter schreibt man für <Tag> und <Tage> <tac> und <tage>; in den Luther’schen Bibeldrucken heißt es 1534 <tag>, und 1545 ist mit der Großschreibung von <Tag> das vorläufige Ende der Entwicklung erreicht Ähnliche Schreibentscheidungen können wir auch bei Schreibnovizen erkennen, die sich aber wegen der veränderten Rolle von <c> im heutigen Schriftsystem zu Beginn ihrer Schreibentwicklung nicht für <tac>, sondern für <tak> entscheiden Die historische Entwicklung der satzinternen Großschreibung beginnt ungefähr im 15 ./ 16 Jahrhundert und durchläuft bis zu einer Stabilisierung eine Entwicklungsgeschichte von ca 400 Jahren Mit den gezeigten Ausschnitten haben wir eine besonders innovative Epoche in diesem Zeitraum betrachtet . Auch bei Kindern können wir immer wieder Lernspitzen beobachten, das heißt Zeiten, in denen sie an der Großschreibung, aber auch an anderen Phänomenen, besonders intensiv arbeiten Und auch bei Kindern dauert der Erwerb der Großschreibung sehr lange - und zwar umso länger, je weniger gut der Unterricht ist, den unsere Vorfahren ja noch gar nicht hatten Und hier liegt der bedeutsame Unterschied: Während unsere Vorfahren die Schrift und die Prinzipien der Schreibung erfinden mussten, können Schreibnovizen sie entdecken, denn das Zielsystem steht ja bereits vollständig zur Verfügung . Was auf den ersten Blick wie eine große Erleichterung aussieht, kann jedoch in vieler Hinsicht Schwierigkeiten bereiten - dann nämlich, wenn wir als Lehrer und Lehrerinnen nicht mehr den Weg, sondern nur noch das Ziel vor Augen haben und wenn wir - das ein zweites Problem - dieses Ziel als Beherrschen einer Norm missverstehen, die eigentlich nicht wirklich verstanden werden kann Die Entstehung des Schriftsystems - ein Rückblick 69 Mit dieser Perspektive wird den Kindern nicht nur die Entdeckerfreude genommen - mit den richtigen Anregungen werden sie zu wahren Goldgräbern, wenn es um das Aufdecken sprachlicher Gesetzmäßigkeiten geht -, sondern vielen von ihnen überhaupt die Motivation zu lesen und zu schreiben, weil sie die Schriftsprache als Mysterium erleben, das nicht durchschaubar ist Die Orthographiereform von 1996, die ja ursprünglich einmal das Ziel hatte, den Erwerb der Rechtschreibung durch Regelvereinfachung zu erleichtern, hat der normorientierten Auffassung, wie sie in Schulen durchgängig vorzufinden ist, - wenn auch unbeabsichtigt - Vorschub geleistet Um das zu verstehen, gehen wir an den Anfang der Normierungsgeschichte zurück: Eine für alle verbindliche Einheitsschreibung liegt überhaupt erst seit gut 100 Jahren vor . Die sog 1 Orthographische Konferenz, in der zum ersten Mal der Versuch gemacht wurde, eine solche verbindliche Schreibung zu verabreden, scheiterte im Jahr 1876 Erst 1901, mit der 2 Orthographischen Konferenz, konnten einheitliche Schreibregeln verabschiedet werden . Sie beziehen sich überwiegend auf die Wortschreibung, syntaktische Schreibungen waren nur in Ansätzen festgelegt, ein Passus zur Interpunktion fehlte ganz Das Regelwerk von 1901 hat es aber trotzdem geschafft, die gesamte Reflexion über die Orthographie umzuorganisieren Denn ab jetzt wurde nicht mehr gefragt: „Wie soll(te) man schreiben? “ (etwa, damit es ein Leser/ eine Leserin versteht oder damit sich ein Buch besonders gut verkauft), sondern gefragt wurde „Wie muss man schreiben? “ . Das Nachdenken über die Schrift geriet durch das Vorliegen einer Norm, an die man sich zu halten hatte, praktisch in Vergessenheit . Neue Nahrung bekam diese Debatte 1996, mit der Verabschiedung der Orthographiereform Gestritten wurde vor allem über die kritischen Fälle der Reform, also über alles, was geändert worden war Über das Schriftsystem sprach niemand Nicht selten waren die Kritiker über Einzelfälle wie <Stängel> oder <Leid tun> erbost Das System geriet weiter aus dem Blick Und in den Schulen reagierte man entweder gar nicht auf die orthographischen Änderungen - verschiedene Lehrer/ innen berichteten sogar davon, dass man in ihrer Schule das Komma für abgeschafft erklärt hatte - oder sie nahmen die reformkritischen Fälle auf, sodass bereits in der Grundschule die <Sauerstoffflasche> zu einem zentralen Lernwort wurde - und dies, obwohl den Kindern verborgen bleiben musste, was das Besondere daran ist Denn sie kannten die frühere Schreibung ja gar nicht In dieser verfahrenen Situation ein Buch darüber zu verfassen, wie Kinder lesen und schreiben lernen, ist keine ganz leichte Aufgabe . Die Grundlagen haben wir mit diesem Kapitel gelegt Für diejenigen, die sich noch weiter in die Materie einarbeiten wollen, möchten wir hier noch einige Literaturanregungen geben Denn gerade in diesem Bereich der Sprachwissenschaft gibt es eine Fülle von Angeboten, so dass eine Orientierung oft schwerfällt: Mit Eisenberg ( 4 2013) liegt eine komplette Wortgrammatik des Deutschen vor, die auch die Wortschreibung enthält Primus (2010) bietet eine Beschreibung des Gesamtsystems 70 Wie funktioniert unsere Schrift? im Überblick auf 37 Seiten, und zwar als Einleitung zu einem Band (Bredel/ Müller/ Hinney 2010) mit mehreren hier angrenzenden Themen (Bredel zum Ausrufezeichen und zur Großschreibung, Fuhrhop zur Getrennt- und Zusammenschreibung, Noack zur Lesersicht) Einen umfassenden Überblick über die Schreibung - auch über die Geschichte der Regelung - gibt Nerius u a ( 4 2007) Dürscheid ( 4 2012) zeichnet sich insbesondere durch die Darstellung verschiedener theoretischer Zugänge aus Mit Fuhrhop ( 4 2015) liegt eine Einführung in das Schriftsystem des Deutschen vor aus einer ‚Schreibperspektive‘ . Bredel (2011) führt in den aktuellen Stand der Forschung zur Interpunktion des Deutschen ein, und zwar erstens sowohl in das Gesamtsystem als auch zweitens in die erwähnte Online-Perspektive Mit Noack ( 2 2016a) liegt in derselben Reihe eine Einführung in die Phonologie des Deutschen vor, in der es auch um Silbenstrukturen und um den Laut-Schrift-Bezug geht Fuhrhop/ Peters (2013) ist eine Einführung sowohl in die Lautals auch in die Schriftstruktur des Deutschen Mit Praxis Deutsch 170, 191, 198, 221 und 254 sowie Deutschunterricht 5/ 2015 liegen Unterrichtsvorschläge vor, die sich an den neueren Erkenntnissen über Rechtschreibung orientieren Kapitel 3 - Wie funktioniert der Schriftspracherwerb? Lernen oder erwerben? Warum wünschen sich die meisten Vorschulkinder nichts sehnlicher, als endlich in die Schule zu gehen? Unter anderem sicherlich deshalb, um lesen und schreiben zu lernen Aber lernen Kinder eigentlich die Schriftsprache oder erwerben sie sie? Der Unterschied wird schnell deutlich, wenn wir den muttersprachlichen Erwerb eines kleinen Kindes mit dem Lernen einer Fremdsprache im Unterricht vergleichen Während der Erwerb überwiegend ohne eine direkte Steuerung durch eine Lehrperson abläuft, handelt es sich beim Lernen um einen gesteuerten Prozess des Wissensaufbaus, indem etwa das Lernmaterial gezielt ausgewählt und durch bestimmte Übungsformen und Methoden vermittelt wird (Edmondson/ House 4 2011: 315 ff ) Dadurch läuft der Lernprozess auch bewusst ab, denn anders als beim Erwerb wissen die Lerner/ innen, womit sie sich beschäftigen Genau dies ist die Lernsituation in der Schule, wenn Grundschüler/ innen ab der ersten Klasse mit schriftsprachlichen Strukturen und mit Fibeln und anderen Übungsmaterialien zu bewusst ausgesuchten Themen (wie Buchstaben oder bestimmten orthographischen Schreibungen) konfrontiert werden Der Unterricht gibt beispielsweise die Reihenfolge vor, in der die Buchstaben gelernt werden, je nach Vermittlungsansatz entweder aufeinanderfolgend (im fibelgesteuerten Unterricht) oder alle gleichzeitig mithilfe einer Buchstabentabelle . Auch orthographische Themenfelder wie die Großschreibung, die Schreibung von Wörtern mit doppelten Konsonantenbuchstaben und die Dehnungsschreibung oder die Interpunktion werden in der Institution Schule in vorgegebenen Zeiträumen gelehrt und sind entsprechend als Lernziele formuliert Gleichzeitig gibt es aber auch gute Gründe, im Hinblick auf die Schrift von einem Erwerbsprozess auszugehen Dies begründet sich zum einen aus der Tatsache, dass viele Kinder bereits vor der Schule - mit individuellen Unterschieden - lesen und schreiben können, ohne entsprechende Anweisungen erhalten zu haben; zum anderen wenden Schüler/ innen häufig Strategien an, die ihnen der Unterricht (noch) gar nicht vermittelt hat, wie die Markierung von Wortgrenzen, das Schreiben in Zeilen oder Punkte und Ausrufezeichen am Ende einer Sinneinheit Heute wird sogar davon ausgegangen, dass die unterrichtlichen Instruktionen gar nicht ausreichen, und die Schüler/ innen allein mit dem dort vermittelten Wissen nicht zu kompetenten Leser/ innen und Schreiber/ innen werden könnten Dass die meisten von ihnen trotzdem 72 Wie funktioniert der Schriftspracherwerb? irgendwann gut lesen und schreiben, zeigt, dass sie in der Lage sind, eigene Hypothesen und Regeln zu entwickeln (Wolfgang Eichler 1976 und 1991 hat in diesem Zusammenhang den Begriff der „inneren Regelbildung“ geprägt) Hier besteht übrigens eine Parallele zum Fremdsprachenlernen, welches dem amerikanischen Sprachwissenschaftler Stephen Krashen (1982) zufolge dann erfolgreich verläuft, wenn die Lerner/ innen mit Input versorgt werden, der verständlich ist und von seiner Komplexität her nur leicht über dem liegt, was die Sprecher/ innen zum gegenwärtigen Zeitpunkt bereits können Auch die innere Regelbildung beim Schrifterwerb setzt zunächst einmal einen entsprechenden Input voraus . Das bedeutet, die Schüler/ innen müssen mit verständlichen schriftlichen Daten versorgt werden, die ihnen neue Strukturen aufzeigen, aus denen sie Hypothesen bilden und Regeln ableiten können . Der Ansatz Krashens ist von dem russischen Psychologen Lem S Wygotski inspiriert, der in diesem Zusammenhang von der „Zone der nächsten Entwicklung“ spricht Diese wird uns in diesem und den folgenden Kapiteln noch einige Male begegnen Bei den Abläufen, die wir gemeinhin als Schriftspracherwerb bezeichnen, haben wir es also mit zwei verschiedenen Prozessen der Wissensaneignung bzw des Kompetenzaufbaus zu tun: • einerseits mit einem weitgehend ungesteuerten Erwerb mithilfe innerer Hypothesen- und Regelbildungen, • andererseits mit einem Lernprozess, der einem vorgegebenen Curriculum unterliegt, wodurch die Abfolge des Wissensaufbaus von außen gelenkt wird (vgl unten in diesem Kapitel zur „Rolle des Unterrichts“) . In der schulischen Praxis wird man wohl beide Prozesse vorfinden, und es dürfte im Falle der erfolgreichen Aneignung schwierig sein, sie auseinanderzuhalten Lediglich dort, wo trotz intensiven Lernens keine Veränderung im Gebrauch der Schriftsprache stattfindet, ist davon auszugehen, dass kein Erwerbsprozess, also keine Aneignung der betreffenden Inhalte stattgefunden hat Wenn in der modernen Forschung häufiger vom Erwerb als vom Lernen gesprochen wird, bezieht man sich stärker auf die eigenaktiven Anteile des Gesamtprozesses Diese Redeweise darf uns aber nicht zu der Annahme verführen, der Unterricht, also der Einfluss von außen, spiele keine Rolle . Wie wir in diesem Buch immer wieder zeigen werden, ist erfolgreicher Schriftspracherwerb die optimale Kombination aus eigenaktiver Verarbeitung und dem Angebot von außen, das das Wissen der Kinder aufgreift und sie mit herausforderndem Input in die „Zone der nächsten Entwicklung“ führt Lernen oder erwerben? 73 Schrifterwerb und Schriftspracherwerb - ein Unterschied? Die Kinder erwerben mit der Schrift ein System, das sich mindestens in der Art seiner Repräsentation durch geschriebene Zeichen von der gesprochenen Sprache unterscheidet; dies wurde im ersten Kapitel intensiv dargestellt . Aber erwerben die Kinder Schrift oder Schriftsprache? Schriftspracherwerb ist in der Literatur der häufigere Begriff, der aber mit Schrifterwerb synonym verwendet wird Nimmt man die beiden Begriffe wörtlich, zeigt sich folgender Bedeutungsunterschied: Der Ausdruck Schrifterwerb bezieht sich eher auf den technischen Aspekt des Lesens und Schreibens Er bezeichnet im Allgemeinen die Aneignung des Mediums Schrift, also eines schriftlichen Zeicheninventars, der Schreib- und Lesetechnik, des Alphabets, der Buchstabenformen, des motorischen Schreibens und der Fähigkeit, beim Lesen geschriebene Zeichen in gesprochene Sprache zu übertragen Demgegenüber impliziert der Ausdruck Schriftspracherwerb einen sehr viel weiteren Gegenstand, nämlich den Erwerb eines von der gesprochenen Sprache unterschiedlichen Codes: Was die Kinder auf dem Weg zu kompetenten Lesern und Schreibern lernen müssen, ist ja nicht nur ein besonderes Zeichensystem, sondern zusätzlich die Beherrschung besonderer Strukturmerkmale, die es im Gesprochenen so nicht gibt, wie bestimmte graphische Gesetzmäßigkeiten, satz- und textstrukturierende Mittel und ein besonderer - eben schriftsprachlicher - Stil Wygotski hat diesen Unterschied folgendermaßen beschrieben: „Die schriftliche Sprache ist […] keine einfache Übersetzung der mündlichen Sprache in Schriftzeichen, und das Erlernen der schriftlichen Sprache ist auch nicht einfach eine Aneignung der Technik des Schreibens Dann müßten wir erwarten, daß mit der Aneignung dieser Technik die schriftliche Sprache ebenso reich und entwickelt ist wie die mündliche und ihr ebenso ähnelt wie die Übersetzung dem Original […] Die schriftliche Sprache ist eine besondere sprachliche Funktion [… Sie] setzt […] für ihre wenn auch nur minimale Entwicklung einen hohen Grad der Abstraktion voraus “ (1964[1934]: 224) Anders als heute ist der Schreib-Lese-Unterricht früherer Zeiten übrigens tatsächlich eher als Schrifterwerb zu bezeichnen: Das Handschreiben, insbesondere auch das Schönschreiben, sowie das Lesen sinnfreier Silbenfolgen und anspruchsloser Texte standen lange im Vordergrund . Aber spätestens seit den 1980er Jahren hat sich dieser Vermittlungsansatz grundlegend gewandelt: Lesen und schreiben lernen gelten seit dieser Zeit mehr und mehr als aktive Aneignungsprozesse, die das Kind durch die Auseinandersetzung mit den dargebotenen Strukturen selbst steuert Das motorische Schreiben gilt deshalb nur noch als eine von vielen Teilfähigkeiten auf dem Weg zum kompetenten Schreiber 74 Wie funktioniert der Schriftspracherwerb? Das zeigen auch die aktuell geltenden Bildungsstandards, die 2004 - u a . in Reaktion auf die Ergebnisse der PISA-Studie - von der Kultusministerkonferenz (KMK) verabschiedet wurden Im Überblick der Bildungsstandards Deutsch für die Primarstufe finden wir sowohl im Kompetenzbereich Schreiben als auch im Kompetenzbereich Lesen einen deutlichen Schwerpunkt auf dem Text: Schreiben Lesen - mit Texten und Medien umgehen • über Schreibfertigkeiten verfügen • über Lesefähigkeiten verfügen • richtig schreiben • über Leseerfahrungen verfügen • Texte planen • Texte erschließen • Texte schreiben • Texte präsentieren • Texte überarbeiten Die Teilfertigkeiten Motorik und Rechtschreibung/ Orthographie gelten als Voraussetzung für das Texteschreiben und -lesen Denn das Schreiben eines Textes kann nur gelingen, wenn sowohl das motorische Schreiben als auch das orthographische Schreiben so weit automatisiert sind, dass sich das Kind mit dem Inhalt und Aufbau von Texten beschäftigen kann Beim Lesen sind entsprechend das Entschlüsseln der schriftlichen Zeichen und das Erkennen von grammatischen Strukturen von Bedeutung Dabei muss der Leser/ die Leserin ständig Rückbezüge auf bereits gelesene Passagen herstellen, um die Informationen aufzunehmen und zu verarbeiten Für diesen Verstehensprozess wird bereits vorhandenes sachliches und sprachliches Wissen aktiv genutzt und dieses gleichzeitig durch die neuen Informationen weiter ausgebaut oder verändert (wie wichtig Wissensgrundlagen für das Verstehen eines Textes sind, weiß jeder, der schon einmal versucht hat, einen fremden Fachtext zu lesen) Diese kurze Zusammenfassung entspricht grob dem, was bei kompetenten und routinierten Leser/ innen im Umgang mit einem unbekannten Text abläuft Allerdings verläuft natürlich der Leseprozess auch bei ihnen nicht immer störungsfrei Sie verfügen jedoch über Strategien, um sich schwierige oder zunächst unverständliche Passagen dennoch zu erschließen Solche Strategien sind beispielsweise wiederholte und eingehendere Analysen des grammatischen Satzaufbaus oder auch der phonologischen Struktur des einzelnen Wortes, vgl typische Stolpersteine wie „Blumento-pferde/ Blumentopf-erde“ . Schwache Leser/ innen hingegen verfügen typischerweise nicht über ausreichende Strategien, um Störungen beim Lesen zu reparieren, s . Kapitel 4 Fassen wir noch einmal zusammen: Schreiben können erschöpft sich keineswegs in der motorischen Bewegung der Hand, die mit dem Stift Buchstaben auf das Papier bringt, ebenso wenig, wie lesen können auf die Übertragung von Buchstaben in Lautfolgen zu reduzieren ist . Der Sinn des orthographisch richtigen und textgliedernden Schreibens ist es, neben der Wann beginnt und wann endet der Schriftspracherwerb? 75 lautlichen Repräsentation für den Leser grammatische Strukturen zu verschriftlichen, die in der gesprochenen Sprache zum Teil nicht direkt wahrnehmbar sind Wann beginnt und wann endet der Schriftspracherwerb? Im vorigen Abschnitt haben wir ausgeführt, dass der Erwerbsprozess der Schriftsprache häufig bereits vor Schuleintritt beginnt Tatsächlich können wir schon bei kleinen Kindern Erstaunliches beobachten: So können viele schon früh ihren Namen sowie einige bekannte Wörter wie Oma oder Papa „schreiben“, ohne dass sie schon bewusst die Lautstruktur analysieren; sie geben vielmehr das bekannte Wortbild wieder (logographisches Schreiben, vgl S 95) Umgekehrt werden charakteristisch dargestellte Wörter, v a Markenlogos, wiedererkannt und „erlesen“, was darauf schließen lässt, dass die Symbolfunktion der Schrift grundsätzlich verstanden ist Bereits im Alter von 3 Jahren imitieren Kinder den Schreib- und Leseprozess, indem sie etwa ein bekanntes Bilderbuch auswendig „vorlesen“ und sogenannte Kritzelbriefe verfassen, wie im Beispiel von Tim (Abb 3-1) In dieser vorschriftlichen Phase haben Kinder bereits eine recht genaue Vorstellung von der Funktion der Schrift: Ihnen ist bewusst, dass dadurch sprachliche Inhalte in konstanter Form festgehalten und wieder reproduziert werden können Frühe Schreibversuche werden oft schon in kommunikativer Absicht unternommen, Abb. 3-1: Kritzelbriefe und Buchstabenmalen von Tim im Alter von 2; 4 (2 Jahren und 4 Monaten) und 5; 3 (5 Jahren und 3 Monaten) 76 Wie funktioniert der Schriftspracherwerb? indem die Kinder etwa „Briefe“ mit einer bestimmten Botschaft an einen Adressaten verfassen Was sie in dieser frühen Phase freilich noch nicht beherrschen, ist, einen regelhaften Bezug zwischen den schriftlichen Zeichen und der gesprochenen Sprache herzustellen Oft wissen sie noch nicht einmal, dass Schreiben und Lesen aufeinander bezogene Aktivitäten sind: Der vierjährige Johannes hatte im Kindergarten einen Brief an seine Großeltern verfasst Als sein Großvater ihn bat, den Brief vorzulesen, war er empört: „Opa, du weißt doch genau, dass ich noch nicht lesen kann! “ Der Brief war selbst die Botschaft Ein weiterer zu beobachtender Effekt ist die frühe Wiedergabe schriftlicher Erzählstrukturen, die recht eindrucksvoll zeigt, dass Kinder bereits im Kindergartenalter typische Merkmale geschriebener Sprache verinnerlichen Folgender Text ist die Verschriftlichung einer mündlich erzählten Geschichte, die sich Renée mit 5 Jahren ausgedacht hat: „es waren einmal ein blatt, ein kürbis und eine Peperoni und die gingen auf schatzsuche. da haben sie schon einen schatz gefunden, nämlich eine goldmünze. [...] da kamen sie an ein schloss, das schloss war ganz gefährlich, denn darin wohnte die böse hexe von oz. [...]“ Wir erkennen hier viele Merkmale wieder, die wir schon in Luises Krankenhaustext gefunden haben: • Auffallend ist etwa der beinahe ausschließliche Gebrauch des Präteritums (gingen, kamen, wohnte), das in der mündlichen Alltagssprache fast nicht verwendet wird, wo Vergangenes überwiegend durch das Perfekt ausgedrückt wird (sie sind gegangen; ich bin gekommen; sie hat gewohnt) • Ebenfalls entgegen dem mündlichen Sprachgebrauch verwendet die Erzählerin die Konjunktion denn statt weil. • Weitere Merkmale schriftlich-erzählender Texte sind die Einleitungsformel „es war einmal“ (Märchen) sowie das satzeinleitende Adverb da (da kamen sie, da haben sie) Die Beobachtung, dass Renée diese Merkmale in ihrer Textproduktion scheinbar absichtsvoll verwendet, deutet darauf hin, dass sich Kinder bereits vor dem eigentlichen Schriftspracherwerb über sprachliche Registerunterschiede - also über spezifische sprachliche Ausdrucksformen - bewusst sind Wir können also mit einiger Berechtigung sagen, dass der Schriftspracherwerb schon lange vor Schuleintritt und bevor Kinder die ersten angeleiteten Schreib- und Leseversuche unternehmen, beginnt Und diese vorschriftliche Phase setzt sich noch weiter fort: Im späten Vorschulalter beschäftigen sich die Kinder dann ganz bewusst mit schriftlichen Mikrostrukturen wie Buchstaben, ersten Satzzeichen oder Leerstellen: Viele Kinder entdecken in dieser Zeit den i-Punkt oder setzen Punkte oder Striche Wann beginnt und wann endet der Schriftspracherwerb? 77 zwischen die Wörter In Bezug auf die alphabetische Funktion der Schrift stellen sie bereits aufschlussreiche Hypothesen auf, die sie im Gespräch mit Erwachsenen auch mitteilen, wie die folgenden Spontanäußerungen zeigen: „lili fängt mit <l> an, genau wie lisa“ (lisa, 5; 4 jahre) „Papa fängt mit <P> an. Piet fängt auch mit <P> an“. (Piet 5; 9 jahre) „da sind ja lauter <o>s! “ (renée 4; 6 jahre über ein Plakat, auf dem nullen dargestellt sind. Manche dieser Äußerungen sind für Erwachsene rätselhaft, weil sie aufgrund ihrer Schriftkenntnis einen anderen Blick auf sprachliche Strukturen haben und daher oft den sprichwörtlichen Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehen So leuchtet die folgende Äußerung von Friederike (5; 10) beim Lesen des Wortes Mango auf den ersten Blick nicht unbedingt ein: „Mama, steht dort <Mango>? dann fehlt da aber noch ein <g>! “ Friederike hat bereits beobachtet, dass in Wörtern wie <Engel> oder <Ring> der [N]-Laut <ng> geschrieben wird Die entsprechende Buchstabenfolge in <Mango> wird demnach von ihr als [ ŋ ] rekodiert, und das Wort hieße so, wie es geschrieben wird, [ma ŋ o] Der darauf folgende Verschlusslaut [g] müsste also in der Logik des Kindes durch ein eigenes Graphem <g> repräsentiert werden, wird jedoch in der Orthographie nicht berücksichtigt . Denn was Friederike noch nicht weiß, ist, dass die Buchstabenfolge <ng> lautlich als [ ŋ g] zu realisieren ist, wenn ihr ein Vollvokal (/ a, e, i, o, u, y, P/ ) anstelle eines reduzierten Vokals (Schwalaut) folgt, vgl Ingo [/ INgo] aber Inge [/ IN] → [m a ŋ g o] <M a ng g o> → Manggo Wer solch beeindruckende Erfahrungen mit Kindern macht und sieht, mit wie viel Interesse und Verstand sie sich schon vor Schulbeginn mit der Schrift und der Schriftsprache beschäftigen, kommt leicht zu dem Fehlschluss, der Lese- und Schreiberwerb sei vorgezeichnet und Kinder würden ihren Weg schon machen - auch ohne die Hilfe von außen Die Kinder, von denen wir hier berichtet haben, sind jedoch nicht einfach von sich aus auf all diese Ideen gekommen Renée konnte nur deshalb ein Märchen „diktieren“, weil ihr schon 78 Wie funktioniert der Schriftspracherwerb? viele vorgelesen worden sind; Lisa und Piet haben gezeigt bekommen, wie ihre Namen geschrieben werden; Friederike hat sich zusammen mit ihren Eltern bereits sehr intensiv mit der Schrift beschäftigt und Tim hat Handschreibprozesse beobachtet, die er in seinen Kritzelbriefen nachahmt . Auch hier zeigt sich also wieder der enge Zusammenhang zwischen dem Angebot, das von außen kommt, und der eigenständigen Verarbeitung dieses Angebots durch die Kinder Das alles klingt großartig: Versetzen wir die Kinder also einfach in eine lesende und schreibende Umgebung und geben wir ihnen viel anregendes schriftsprachliches Material an die Hand, dann klappt es aufgrund ihrer Veranlagung mit dem Schriftspracherwerb wie von selbst Leider zu schön, um wahr zu sein: Obwohl viele Kinder wie gezeigt ein frühes Verständnis für die Funktionsweise der Schrift entwickeln, muss man sich gleichzeitig davor hüten, die Ontogenese (die individuelle Entwicklung) des Lesens und Schreibens als biologisch vorgezeichneten Prozess zu werten Anders als etwa die von äußeren Faktoren weitgehend unbeeinflusste körperliche Entwicklung unterliegt die Aneignung der Schriftsprache der sozialen Umgebung (Gesellschaft, Familie), der Motivation oder den momentanen Lebensumständen sowie ganz wesentlich auch dem Lese- und Schreibunterricht Dieser letzte Faktor ist letztlich als einziger durch die Institution Schule kontrollierbar . Wenn einem Kind in der frühen Kindheit nicht vorgelesen wurde, ist das zwar für den Schriftspracherwerb nicht unbedingt förderlich, aber eben auch nicht mehr umkehrbar . Ganz falsch wäre es deshalb, die fehlende Vorerfahrung des Kindes als Ursache für mögliche Schwierigkeiten beim Schriftspracherwerb zu verabsolutieren und deshalb die Segel zu streichen Die Schule hat genau hier, bei der Unterstützung der Kinder, die keine förderlichen vorschulischen Erfahrungen machen durften, ihre vornehmste Aufgabe, der sie bis jetzt leider nicht in der erforderlichen Weise nachkommt: Wie in den PISA-Studien ermittelt wurde, sind die Bildungschancen nirgends so stark von der sozialen Herkunft der Kinder abhängig wie in Deutschland Auch die wertvollen Bildungsangebote der Kindergärten unter dem Stichwort „Early Literacy“ (vgl auch Kap 6) sind als Prävention für Lese- Rechtschreibschwäche nur bedingt nützlich, solange der Kindergarten-Besuch in Deutschland nicht verpflichtend ist Wir haben uns hier mit der Frage befasst, wann der Schriftspracherwerb beginnt, jedoch nichts dazu gesagt, wann er endet . Hierzu möchten wir jemanden zu Wort kommen lassen, der es wissen muss: „Die guten Leutchen wissen gar nicht, was es einen für Zeit und Mühe kostet, um lesen zu lernen und von dem Gelesenen Nutzen zu haben Ich habe achtzig Jahre dazu gebraucht und kann noch nicht sagen, dass ich am Ziel wäre “ (Johann Wolfgang v Goethe) Schriftspracherwerb auf allen Ebenen 79 Schriftspracherwerb auf allen Ebenen Ebene des motorischen Schreibens Im ersten Abschnitt haben wir Unterschiede zwischen dem früheren, eher auf die technischen Fertigkeiten ausgerichteten Lese- und Schreibunterricht und dem heutigen auf Textkompetenz ausgerichteten Erwerbskonzept aufgezeigt Vielleicht erinnern Sie sich noch an die ausgedehnten Schreibbewegungsübungen, die viele von uns im Schulunterricht absolvieren mussten, bevor es richtig losging und die ersten Wörter und Sätze geschrieben wurden Bis in die 1970er Jahre herrschte ein Unterrichtskonzept vor, bei dem mithilfe von motorischen Vorübungen zunächst die Form der Buchstaben und die Schreibbewegungen eingeübt und so handschriftliche Sicherheit und gleichzeitig ein formal-ästhetisches Schriftbild („Schönschreiben“) gefördert werden sollte Diese Vorbereitung auf das eigentliche Handschreiben fand sich ebenso wie das Schönschreiben in sämtlichen Ansätzen und Methoden, selbst in den reformpädagogisch ausgerichteten Arbeiten des 20 Jahrhunderts Die Fokussierung auf die Schreibmotorik führte in den 1970er Jahren zu der heute nicht mehr zeitgemäßen Überbetonung der Bewegungsübungen, die (wie in einem Lehrgang von Pelikan) schließlich das gesamte erste Schulhalbjahr beanspruchten, bevor dann in der 26 Schulwoche mit ersten Buchstaben begonnen wurde (vgl Schorch 2006) . Erst mit der Mitte der 1970er Jahre einsetzenden „kommunikativen Wende“, als Lesen und Schreiben neben den mündlichen Fertigkeiten als Formen des sozialen Austauschs in den Mittelpunkt rückten, wurde das Handschreiben zu einer Teilkomponente der schriftsprachlichen Handlungsfähigkeit der Schüler/ innen erklärt Heute ist dieser Teilprozess in seiner Gewichtung gegenüber den übrigen Prozessen stark zurückgenommen worden: Obgleich die KMK-Bildungsstandards für die Grundschule, wie wir oben gezeigt haben, das motorische Schreiben als eine Teilfertigkeit des Kompetenzbereichs „Schreiben“ vorgeben, spielt es in der Unterrichtspraxis eine eher untergeordnete Rolle Nichtsdestotrotz ist das motorische Schreiben die erste Hürde, die die Kinder auf dem Weg zu kompetenten Schreiber/ innen nehmen müssen Und gerade zu Beginn des Schreiberwerbs zieht die motorische Ausführung viel Energie von den kognitiven und kommunikativen Funktionen des Schreibens ab . Auch deshalb dachte man lange, dass die motorische Flüssigkeit die Voraussetzung für das Schreiben als kognitive und kommunikative Aktivität sei Was macht der Kopf mit der Hand? - Handschreiben und Kognition Heute geht man davon aus, dass die große Herausforderung beim Aufbau der Schreibmotorik darin besteht, neue Beziehungen zwischen Kopf und Hand aufzubauen Deshalb wird eine einseitige Ausbildung der Motorik ohne kontrollierte Beteiligung der Kognition („Was will ich schreiben? “) in modernen Schriftspracherwerbskonzepten für sinnlos gehalten 80 Wie funktioniert der Schriftspracherwerb? Die Schreibmotorik sollte so gelernt werden, dass motorische Ausführungsprogramme mit kognitiven Aktivitäten verknüpft werden bzw umgekehrt dass kognitive Aktivitäten bestimmte motorische Ausführungsprogramme auslösen Der enge Zusammenhang zwischen Schreibmotorik und Kognition konnte in verschiedenen Studien belegt werden: So hat der Handschreibexperte Jürgen Hasert die Schreibbewegungsmuster von 10-jährigen Kindern beobachtet, die unterschiedlich gute Rechtschreiberinnen waren: Die gute Rechtschreiberin, wir nennen sie Maria, zeigte ein eher ruhiges, gleichmäßiges, nicht innerhalb von Wörtern, sondern an Wort-, Phrasen- und Satzgrenzen pausierendes Schreibbewegungsmuster . Die schwache Rechtschreiberin, wie nennen sie Beate, schrieb rasch und unregelmäßig, pausierte auch innerhalb von Wörtern, verschrieb sich häufiger und nahm den Schreibfluss unterbrechende Korrekturen vor Sie fragen sich jetzt womöglich: Was ist Henne, was ist Ei? Ist die Rechtschreibleistung von Beate deshalb schlecht, weil sie die motorischen Bewegungsabläufe noch nicht verinnerlicht hat oder sind die motorischen Bewegungsprobleme eine Folge der noch fehlenden kognitiven Strukturen? Müssen wir Beate also zeigen, wie man flüssig schreibt, oder müssen wir ihr zeigen, wie man richtig schreibt? Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten . Denn Beate braucht beides: Sie muss lernen, Bewegungsabläufe mit kognitiven Aktivitäten zu verknüpfen Ihr Gehirn muss Signale an die Hand senden, und die Hand muss diese Signale in angemessener Geschwindigkeit und Schreibflüssigkeit zu Papier bringen, auch um es dem Kopf zu ermöglichen, neue Impulse zu senden Der Kopf hilft der Hand und umgekehrt Aber wie kann der Kopf der Hand am besten helfen? Und wie die Hand dem Kopf? Sehen wir uns dafür weitere Studien an, die den Zusammenhang zwischen Schreibmotorik und Kognition untersucht haben In einer umfangreichen und sehr detaillierten Auswertung von Schreibbewegungsmustern von kompetenten Schreiber/ innen konnte Guido Nottbusch (2008) nachweisen, dass Schreiber/ innen den Stift beim Wortschreiben bevorzugt an Silbenund/ oder an Morphemgrenzen absetzen; viel seltener wird innerhalb einer Silbe pausiert Die am wenigsten bevorzugte Schreibpause ist die innerhalb eines Buchstabens Die enge Verknüpfung motorischer und kognitiver Aktivitäten gilt auch für das Schreiben auf der Tastatur: Will, Nottbusch & Weingarten (2006) fanden heraus, dass der Tastenanschlag mit Strukturgrenzen harmonisiert ist: Pausen und/ oder Geschwindigkeitsintervalle traten bevorzugt an Silben- und an Morphemgrenzen auf, wobei Morphempausen länger waren als Silbenpausen . Die Autoren schließen auf eine enge Koordination von kognitiven Strukturen und motorischer Ausführung, wobei sich auch hier Silben und Wortbausteine als die wichtigsten kognitiven Einheiten erwiesen haben, nicht einzelne Buchstaben Dieser Befund bestätigt die Überlegenheit des Morphems und der Silbe gegenüber dem einzelnen Buchstaben als kognitives Raster für die Verarbeitung Schriftspracherwerb auf allen Ebenen 81 schriftlicher Einheiten im Schreibprozess Bemerkenswert ist dieses Ergebnis auch deshalb, weil die Versuchspersonen im Unterricht die Silbe als schriftrelevante Einheit nicht kennengelernt hatten, sie aber dennoch zur Rhythmisierung ihres Schreibprozesses nutzten Wir haben nun also eine erste Antwort auf die Frage gefunden, mit welchen kognitiven Impulsen die Hand am besten gesteuert wird: Es sind Silben, Morpheme (bedeutungstragende Einheiten) und Wörter, die ein flüssiges Schreibbewegungsmuster initiieren Was macht die Hand mit dem Kopf? - Schulausgangsschriften Nun ist es umgekehrt so, dass die Hand dem Kopf am besten helfen kann, wenn sie dem Schreiber/ der Schreiberin erlaubt, die wichtigen kognitiven Einheiten sicher und flüssig zu produzieren Mit der Unterscheidung zwischen strukturstützenden und strukturhemmenden motorischen Abläufen befinden wir uns mitten in der Diskussion um die passenden Schulausgangsschriften Ein Rückblick auf die vergangenen 100 Jahre zeigt die wechselhafte Geschichte dieser Diskussion: Zu Beginn des 20 Jahrhunderts erhielt Ludwig Sütterlin vom preußischen Bildungs- und Schulministerium den Auftrag, eine Schulschrift zu entwickeln, die gegenüber der damals gebräuchlichen Kurrentschrift einfacher zu lernen war 1911 legte er die nach ihm benannte Sütterlinschrift vor, bei der die Formen der Einzelbuchstaben vereinfacht und Ober- und Unterlängen reduziert worden waren . Die Sütterlinschrift wurde 1915 als Schulschrift eingeführt und blieb bestimmend, bis die Nationalsozialisten sie 1941 verboten und die Deutsche Normalschrift an ihre Stelle setzten, die über den Nationalsozialismus hinaus verbindlich blieb Anfang der 1950er Jahre legte der Iserlohner Schreibkreis eine neue Schulschrift vor, die sogenannte Lateinische Ausgangsschrift (LA), deren Verwendung 1953 von der Kultusministerkonferenz für alle Bundesländer vorgeschrieben wurde Die angeblichen Nachteile dieser Schrift führten den Lehrer Heinrich Grünewald gegen Ende der 1960er Jahre zur Entwicklung der Vereinfachten Ausgangsschrift (VA), die nach mehreren Testversuchen ab 1972 als Alternative zur LA erlaubt wurde Sie funktioniert mit ihren formstabilen Buchstaben (alle Anschlussstellen liegen im Mittelband) ohne Deckstriche, also übereinanderliegende Linien durch Hin- und Zurückführung der Schreibbewegung, und mit reduzierten Anzahlen an Drehrichtungswechseln wie ein Setzkasten und sollte so die Automatisierung von Schreibbewegungen erleichtern bei gleichzeitigem Bemühen um eine Ähnlichkeit zwischen Druck- und Schreibbuchstaben . Parallel dazu wurde in der DDR - aus ähnlichen Gründen und mit ähnlichem Ergebnis - die Schulausgangsschrift (SAS) eingeführt . 82 Wie funktioniert der Schriftspracherwerb? Wie der kurze Überblick gezeigt hat, gab es für die Einführung neuer Schriften unterschiedliche Motive Der Wechsel von der Sütterlinschrift hin zur Deutschen Normalschrift war ein politischer Akt: Der „Hitlererlass“ von 1941 denunzierte gebrochene Schriften als „Judenlettern“ und verbot deshalb deren Verwendung und Verbreitung Der Wechsel von der Kurrentschrift zur Sütterlinschrift, derjenige von der Deutschen Normalschrift zur Lateinischen Ausgangsschrift sowie die Erfindung der VA und der SAS waren demgegenüber pädagogisch motiviert - sie sollten die Bewegungsabläufe vereinfachen und die Entwicklung einer individuellen Handschrift erleichtern Die folgende Übersicht zeigt die Gestalt der Kurrentschrift und der pädagogisch motivierten Anpassungen Kritik an Normschriften insgesamt wurde von einer Münchner Forschergruppe um Christina Mahrhofer geäußert (Mahrhofer 2002) Gestützt auf empirische Befunde, die zeigen, dass die Buchstabenformen der gängigen Schulschriften das flüssige Schreiben nicht unterstützen, weil sie zu strikte Vorgaben machen und so den individuellen Schreibausgangslagen und Entwicklungspotenzialen nicht gerecht werden, wurde in dem Projekt LufT (Lockere und flüssige Textproduktion) versucht, die Handschriftenentwicklung durch flexiblere und einfachere Schreibvorgaben zu erleichtern Das Verfahren basiert auf drei Prinzipien: 1 Dem Prinzip von Richtvorgaben anstelle von Normvorgaben . Die stärker an die Druckschrift angepassten Buchstaben sollen den Kindern nur eine Orientierung vorgeben, von der sie beim Schreiben flexibel Gebrauch machen können . 2 Dem Prinzip der Freigabe von Wahlmöglichkeiten Die Kinder haben die Wahl zwischen verschiedenen Buchstabenverknüpfungen 3 Dem Prinzip der Selbsteinschätzung und der Reflexion des eigenen Schreibprozesses Das Handschreiben wird von einer Reflexion über die Ergebnisse begleitet . Vergleichende Studien zur Arbeit mit LufT, LA und VA konnten keine eindeutigen Ergebnisse erzielen, die die Überlegenheit einer der Ausgangsschriften hätte Schriftspracherwerb auf allen Ebenen 83 nachweisen können Bis heute stehen deshalb die LA, die VA und die SAS als alternative Ausgangsschriften zur Wahl, wobei die Regelungen der einzelnen Bundesländer nicht einheitlich sind Das Verhältnis von Druckschrift und Schreibschrift Eine ganz andere Ebene der Schriftendiskussion ist der Streit um das Verhältnis zwischen Druck- und Schreibschrift Grob kann man sagen, dass die Druckschrift eher den Leseprozess, die Schreibschrift eher den Schreibprozess unterstützt Verantwortlich dafür sind die folgenden Eigenschaften, die bei Druck- und bei Schreibschriften komplementär verteilt sind: • Druckschriften sind diskret: Die Buchstaben sehen immer gleich aus und bleiben auch in Buchstabenfolgen problemlos einzeln erkennbar • Schreibschriften sind nicht diskret: Die Buchstabenformen weisen in Abhängigkeit vom Schreiber große Varianz auf und sind durch die Verbindungen zwischen den Buchstaben (die Ligaturen) viel weniger deutlich voneinander abgrenzbar: <gut sichtbare Buchstabengrenzen> < schlecht sichtbare Buchstabengrenzen > Was zur schlechteren Lesbarkeit führt, hilft dem Schreiber: Die Formvarianz gestattet die Anpassung der Buchstabenformen an die individuelle Schreibmotorik, die Verbindungen erlauben die Ausführung zusammenhängender motorischer Bewegungsabläufe, die das Schreiben von Silben, Wörtern und Sätzen begünstigen Wegen der Diskretion und deutlicheren Wahrnehmbarkeit, vor allem aber wegen der Schrifterfahrung der Kinder, die durch Texte in Druckbuchstaben (Kinderbücher, Zeitungen, Straßenschilder etc ) geprägt ist, beginnt der Schriftspracherwerb in allen heute üblichen Lehrgängen mit der Druckschrift Gewählt werden serifenlose Schriften wie zum Beispiel die Schriftart Calibri oder Arial , anstelle von serifenhaltigen, also Schriften, bei denen die Buchstaben mit Stützlinien abgeschlossen werden, wie es etwa bei der Schriftart Times New Roman oder bei der hier verwendeten Schrift Meridien der Fall ist . Meist ab dem zweiten Schuljahr, wenn die Kinder bereits alle Buchstaben kennen und lernen, Texte zu verfassen, kommt die Schreibschrift hinzu Um den Kindern den Übergang zwischen der Druck- und der Schreibschrift zu erleichtern, wird bisweilen der Versuch unternommen, die ersten Druckbuchstaben schreibschriftnah zu gestalten Die Schriftart Comic Sans ist bei Arbeitsblättern für die Grundschule auch deshalb besonders häufig anzutreffen . Umgekehrt haben sich verschiedene Reformer von Schreibschriften eine Anpassung an Druckschriften zur Aufgabe gemacht Mit LufT wurde bereits eines dieser Projekte angesprochen; auch die SAS und die VA haben die Großbuchstaben in Abgrenzung zur eher verschnörkelten LA stark an der Druckschrift orientiert Ein hierzulande nicht erprobtes, gleichwohl attraktives Verfahren zur Modellierung des Übergangs von der Druckzur Schreibschrift stammt von dem 84 Wie funktioniert der Schriftspracherwerb? amerikanischen Pädagogen Christopher Jarman In den nach ihm benannten Jarman-Stufen wird ein sanfter Übergang zwischen Druck- und Schreibschrift angestrebt: Bereits die Druckbuchstaben der ersten Stufe weisen eine Neigung auf, haben aber noch keine Verbindungslinien, diese kommen in der zweiten Schriftstufe als Verbindungshaken dazu, ohne dass sich die Form der Buchstaben ändert In der dritten Stufe werden die Verbindungshaken dann zu Verbindungen erweitert . Abb. 3-2: Jarman-Stufen 1-3, aus: Hasert (2003: 312) Die Forschungslage ist noch insgesamt zu dünn, als dass bereits sicher gesagt werden könnte, ob mit einem gleitenden Übergang von der Druckzur Schreibschrift bessere Schreibergebnisse erzielt werden können als mit der Gegenüberstellung von zwei Systemen und ob sich bei einer solchen Gegenüberstellung ein größerer oder ein kleinerer Kontrast günstiger auf das Lernen auswirkt; die Frage nach der optimalen Modellierung des Verhältnisses von Druck- und Schreibschrift im Anfangsunterricht muss also unentschieden bleiben Auf grundsätzlicherer Ebene ist zu klären, ob die Schreibschrift neben der Druckschrift überhaupt zum Zug kommen sollte In jüngerer Zeit wird darüber wieder verstärkt diskutiert (SPIEGEL 1/ 2011, 126) Für die Abschaffung der Schreibschrift werden vor allem zwei Argumente genannt: Sie verzögere die Schreibentwicklung bei einmal begonnener Druckschriftschreibung, weil das Einüben neuer Formen viel Zeit und Energie abziehe; außerdem, so das zweite Argument, sei Schreiben nicht der Vorgang der Verbindung von Buchstaben, zu fördern sei vielmehr das kommunikative Mitteilungsbedürfnis Als Argumente für die Beibehaltung der Schreibschrift werden die folgenden angeführt: Schreiben sei nicht Buchstabieren; die Verbindungen der Schreibschrift begünstigten die Ausführung größerer Bewegungsabläufe und damit die Verknüpfung der Motorik mit relevanten kognitiven Einheiten (Silben und Morphemen); zudem fördere die Einführung der Schreibschrift die Entwicklung der individuellen Handschrift Schriftspracherwerb auf allen Ebenen 85 Noch liegen zu wenige empirische Befunde vor, um beurteilen zu können, ob die Abschaffung oder die Beibehaltung der Schreibschrift zu besseren Ergebnissen führt Folgt man aber den oben erwähnten Untersuchungen von Hasert und Nottbusch, sollten die Schreibschriften nicht ohne gründliche und breit angelegte Studien über die Wirksamkeit verschiedener Schriftlehrgänge verworfen werden Exkurs: Linkshändigkeit Bis in die 1970er Jahre hinein war das Schreiben mit der rechten Hand auch für linkshändige Kinder fast durchgängig verbindlich Sie wurden gezwungen, die rechte Hand zum Schreiben zu benutzen Neben einer allgemeinen Normvorstellung waren für diese Vorgehensweise auch Überlegungen zur Schreibrichtung verantwortlich: Man nahm an, dass das Arbeiten mit der linken Hand dem flüssigen Schreiben rechtsläufiger Schriften zuwiderläuft: „Die Schule hat mit dieser Tatsache [der Linkshändigkeit von Schulanfänger/ innen; UB, NF, CN] zu rechnen Auch für sie gilt es, den Kindern für alle Fertigkeiten, bei denen es nicht besonders darauf ankommt (Zeichnen, Handarbeiten, Ball werfen usw ), die Wahl der Hand frei zu überlassen Eine Ausnahme macht die Fertigkeit des Schreibens, die eine ausgesprochene rechtsläufige/ rechtshändige Tätigkeit ist Es ist als erwünschtes Ziel der Schulung zu betrachten, daß auch der Linkshänder sich eine rechtshändige Schrift aneignet […]“ (Braun 1960: 246) Dass die Auffassung, das Schreiben sei eine ‚ausgesprochen rechtsläufige/ rechtshändige Tätigkeit‘, falsch ist, lässt sich erkennen, wenn man in den arabisch- und in den hebräischsprachigen Raum blickt: Arabisch und Hebräisch haben linksläufige Schriften ausgebildet Die Anzahl der Linkshänder/ innen ist dort so groß wie überall sonst (weltweit liegt sie bei etwa 10-15 %) Damit hätten 85-90 % aller Arabisch- und Hebräisch-Schreibenden mit der Gegenläufigkeit von Schreibrichtung und Händigkeit zu kämpfen Heute wissen wir, dass es nicht auf die Schreibrichtung der zu erwerbenden Schrift ankommt, sondern auf die Handhaltung beim Schreiben: Ahmen Linkshänder/ innen mit der linken Hand die Schreibhaltung von Rechtshänder/ innen nach, kommt es tatsächlich zu Konflikten Sie verdecken bereits Geschriebenes mit der Schreibhand; je nach Schreibstift wird die Schrift verwischt Linkshändige Kinder, die keine Hilfen bekommen, neigen deshalb zur sogenannten Hakenhaltung: Die Hand biegt sich über das bereits Geschriebene und bildet so die Form eines Hakens; das Stiftende weist vom Körper weg; die Bewegung wird aus dem Handgelenk geholt Die durch die Hakenhaltung erzwungenen Muskelanspannungen führen zu schneller Ermüdung beim Handschreiben Eine zweite Möglichkeit ist es, die Hand unter dem Geschriebenen zu bewegen; das Stiftende weist zum Körper hin; die Bewegungen werden überwiegend 86 Wie funktioniert der Schriftspracherwerb? aus den Fingern, mit teilweiser Unterstützung des Handgelenks, geholt Diese Haltung wird von der Linkshänderforschung empfohlen (Sattler 2006) Ein sehr einfacher und anschaulicher Trick kann den Kindern helfen, die Stifthaltung zu kontrollieren: Sie sollen sich vorstellen, das Ende des Stiftes sei ein Auge Dieses Auge blickt beim Schreiben nicht in die Welt, sondern auf die Schulter des bzw der Schreibenden Glücklicherweise ganz aufgegeben hat man die Umschulung von der linken auf die rechte Hand Bei Linkshänder/ innen sitzt das Sprachzentrum häufig in der rechten Hirnhälfte, die mit der linken Hand verbunden ist . Bei Rechtshänder/ innen ist das umgekehrt Das Schreiben mit der jeweils dominanten Hand garantiert eine optimale Hirn-Hand-Koordination; das Schreiben mit der nicht dominanten Hand kann demgegenüber zu erheblichen Störungen beim Schreiberwerb führen Als primäre Folgen der Umschulung von Linkshänder/ innen führt Sattler (2006: 338) die folgenden an: „Gedächtnisstörungen (besonders beim Abrufen von Lerninhalten), Konzentrationsstörungen (schnelle Ermüdbarkeit), legasthenische Probleme (Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten), Raum-Lage-Labilität (Links- Rechts-Unsicherheit), feinmotorische Störungen (die sich etwa im Schriftbild äußern) und Sprachstörungen (Stammeln bis hin zum Stottern) “ Bis in die Anfänge des 20 Jahrhunderts hinein wurden diese Störungen auf die Linkshändigkeit selbst zurückgeführt, Linkshändigkeit wurde mit minderer Intelligenz assoziiert Zur Kompensation schlug man genau die Umschulung vor, die die Störungen erst verursacht hatte Eltern und Lehrer/ innen sollten die Händigkeit der Kinder anerkennen und die jeweils bevorzugte Verwendung einer Hand bei der Ausführung einer Tätigkeit unterstützen Oft ist es so, dass keine reine Rechts- oder Linkshändigkeit vorliegt, sondern unterschiedliche Tätigkeiten auf verschiedene Hände verteilt sind So hat jede Person - ähnlich einem Fingerabdruck - ihr eigenes Händigkeitsprofil Es auszubilden und optimal zu nutzen gehört zu einem störungsfreien motorischen und kognitiven Entwicklungsprozess Fazit Obwohl die Forschung die Rolle der Schreibmotorik beim Schriftspracherwerb noch nicht vollständig durchdrungen hat, lassen sich aus den vorliegenden Erkenntnissen einige wichtige Einsichten für die Praxis gewinnen: • Motorische „Trockenübungen“ ohne eine Verknüpfung mit kognitiven Aktivitäten stützen die Entwicklung des Handschreibens insgesamt nur unzureichend • Weil Silben und Morpheme diejenigen kognitiven Einheiten sind, die die schreibmotorischen Bewegungsabläufe steuern, ist es sinnvoll, den Schriftspracherwerb auf allen Ebenen 87 Handschreibübungen diese Einheiten zugrundezulegen, die dann als ganze Bewegungsmuster trainiert werden • Weil jede einzelne Ausgangsschrift ein in sich geschlossenes System mit je eigenen graphomotorischen und/ oder pädagogischen Grundprinzipien bildet, sollte es im Unterricht nicht zur Schriftmischung kommen; die Entscheidung für eine der drei erlaubten Ausgangsschriften, LA, VA und SAS, sollte also rechtzeitig getroffen und dann durchgehalten werden • Als Vorteil hat sich das Sprechen über die Handschrift erwiesen (vgl. das dritte Prinzip von LufT) Es erlaubt einen bewussteren Zugang zur eigenen Schreibpraxis und sollte unabhängig von der gewählten Ausgangsschrift gefördert werden, um den Kindern ein höheres Maß an Selbstkontrolle zu ermöglichen • Weil die Wahl der Hand beim Schreiben von der Zugänglichkeit zum Sprachzentrum abhängt, führt die Umschulung von Linkshänder/ innen zu Störungen beim Schriftspracherwerb und sollte in jedem Fall unterbleiben Ebene des orthographischen Schreibens Ein wichtiger Teilbereich sowohl des Lesenlernens als auch des Schreibenlernens ist der Orthographieerwerb, bei dem es insbesondere darum geht, grammatische Aspekte zu berücksichtigen Was dies bedeutet, machen wir uns am besten anhand einer frühen, noch ausschließlich lautlich basierten Schreibung klar: Das folgende Beispiel zeigt den Versuch der fünfjährigen Renée, mithilfe des bereits gelernten Buchstabeninventars eine Geschichte zu schreiben Abb. 3-3: Hasengeschichte von Renée (Alter 5; 7) 88 Wie funktioniert der Schriftspracherwerb? Wenn Sie versuchen, diesen Text zu lesen, wird es Ihnen zunächst nicht leicht fallen Wenn wir uns jedoch vom gewohnten orthographischen Schriftbild lösen und den Text als eine Art Lautschrift lesen, wird er verständlich: dea kleine has wol te osdaeija anMa ln dor di osdaei ja wan so sÖn das ea das eine gane ch hea geben wollte füa oMa der kleine hase wollte ostereier anmalen, doch die ostereier waren so schön, dass er das eine gar nicht hergeben wollte. für oma Bei Renées Text handelt es sich um eine überwiegend phonographische Verschriftung, wobei die bekannten Buchstaben für die wahrgenommene Lautstruktur verwendet werden Dies gibt uns Hinweise auf den Kenntnisstand, den das Kind in Bezug auf die Schriftsprache bereits erlangt hat: • Das Kind schreibt nichts auf, was es nicht auch lautlich wahrnimmt, es begreift die Buchstaben also als Symbole, die für einzelne Laute stehen • Es ist offenbar in der Lage, so etwas wie Lautsegmente aus dem Schallstrom herauszuisolieren, eine Fähigkeit, die bei Schriftanfängern keineswegs selbstverständlich ist, sondern sich erst in der Auseinandersetzung mit der Schrift entwickelt • Darüber hinaus finden sich bereits orthographische Schreibungen, die auf ein entsprechendes Regelwissen hindeuten, und zwar <ei> statt dem sonst bei frühen Schreibern üblichen *<ai> Wenn wir den Text nun mit der orthographischen Norm vergleichen, so fällt Folgendes auf (wir erinnern uns dabei an die ersten Schritte aus Kapitel 2, die gesprochene Version vom Nordwind und der Sonne in die Schrift zu übersetzen): • <r> im Silbenendrand wird von dem Kind durchgängig mit <a> verschriftet. Im gesprochenen Deutsch wird dort ein reduzierter Vokal realisiert, der als [a] wahrgenommen wird: *<dea>, *<hea> wegen [de], [he] • Laute, die in der (norddeutschen) Umgangssprache nicht realisiert werden, sind in den Schreibungen nicht repräsentiert, wie der Reduktionsvokal Schriftspracherwerb auf allen Ebenen 89 Schwa in der zweiten Silbe von malen ([maln] → *<maln>), waren ([van] → *<wan>), gar ([ga] → *<ga>) • Entgegen den Schreibkonventionen werden dagegen Gleitlaute zwischen aufeinandertreffenden Silbenkernen verschriftet: *<osdaeija> wegen [/ osd/ aI j ] • Es zeigt sich außerdem eine sehr exakte Wahrnehmung für Merkmale der gesprochenen Sprache, die in der Schrift nicht wiedergegeben sind (und daher von schriftkundigen Erwachsenen meist nicht mehr bemerkt werden), wie die schwächere Aussprache des [t] in Oster (*<osda>), ungespannte Vokale (*<nech>) oder die phonetische Ähnlichkeit von unterschiedlichen Reibelauten (doch → *<dor>) • Schreibungen, die sich der auditiven Wahrnehmung entziehen, wie Groß-/ Kleinschreibung, Wortzwischenräume, Worttrennung am Zeilenende oder Interpunktion werden nicht realisiert Exkurs: Wie nehmen Vorschulkinder Laute, Silben, Wörter wahr? Um lesen und schreiben zu lernen, das dürfte aus den Darstellungen zum Schriftsystem in Kap 2 deutlich geworden sein, müssen wir uns mit bestimmten sprachlichen Kategorien wie Lauten und Wörtern befassen Aber verfügen Kinder bei der Einschulung bereits über ein formalsprachliches Wissen? Sind sie kognitiv überhaupt fähig, Fragen wie „Mit welchem Laut beginnt das Wort Hase“ zu verstehen? Bernhard Bosch (2003[1937]) hat schon vor etwa 80 Jahren in umfangreichen Befragungen herausgefunden, dass es Kindern im Einschulungsalter in der Regel noch nicht möglich ist, sich von den Inhalten zu lösen und sich stattdessen auf die formalen Aspekte der Sprache zu beziehen Auf die Frage „Was hörst du in dem Wort Schuh zuallererst? “ gaben seine Versuchspersonen Antworten wie „Bei Schuh fängt man mit Schuhriemen an beim Anziehen“ Nach der Anzahl der Wörter in „Willi malt“ gefragt: „Das sag ich nicht Der Willi ist noch viel zu klein “ (18 ff ) „Das Kind diesen Alters (= Schuleingangsphase, UB, NF, CN) ist ohne weiteres noch sehr wenig in der Lage, die konstitutiven Einzellaute des Wortes isoliert herauszuhören und zu nennen “ (Bosch 2003[1937]: 34) „Zusammenfassend stellen wir fest, dass dem sechsjährigen Kind die Absetzung der einzelnen Redeteile (= Wörter, UB, NF, CN) noch nicht geläufig ist, vielmehr erst allmählich anhebt “ (ebd .: 30) Kleine Kinder haben also nach Bosch normalerweise weder einen Laut-, noch einen Wortbegriff Frühe Schreibversuche belegen dies auch eindrucksvoll Die Annahme Boschs aber, dass Vorschulkinder grundsätzlich nicht über Sprache nachdenken können, muss heute als widerlegt gelten So konnte Helga Andresen in ihren Arbeiten zur frühkindlichen Sprachbewusstheit nachweisen, dass Kinder bereits im Kindergartenalter zu unterschiedlichen formalen Sprachspielen in der Lage sind: „,Jürgensby, Papasby, Mamasby‘ (Lasse, 4 Jahre alt; ausgehend von 90 Wie funktioniert der Schriftspracherwerb? dem Flensburger Stadtteil Jürgensby“ (Andresen 2010: 17) Gleichzeitig scheinen die metasprachlichen Fähigkeiten der Kinder bei der Einschulung stark von den vorschulischen Erfahrungen abzuhängen Mit anderen Worten: Kinder, die wie in der Bosch-Studie vollkommen unbedarft auf die entsprechenden Fragen reagieren, haben sich wahrscheinlich vorher kaum mit schriftlichen Strukturen beschäftigt Oben haben wir ja an den Beispielen von Friederike, Renée und Piet gesehen, was Kinder im Kindergartenalter schon alles leisten können, wenn sie die richtigen Anregungen bekommen haben Andresen/ Funke (2006) weisen im Übrigen darauf hin, dass 3bis 6-jährige Kinder „vornehmlich handlungs-, inhalts- und sprecherbezogene Aspekte von Sprache statt Aspekte sprachlicher Form“ thematisieren (ebd : 438) Typische metasprachliche Äußerungen sind beispielsweise „Ist in Braunschweig alles braun? “ oder „Immer sagst du ‚nein‘ “ Was jedoch den Schriftspracherwerb betrifft, so müssen viele Kinder bereits vor der Schule mindestens eine diffuse Vorstellung von Sprachlauten haben, anders wären Schreibversuche wie in Abb 3-1 und auch die Kritzelbriefe und das Mango-Beispiel nicht zu erklären Dieses Lautwissen zeigt sich im Übrigen auch in Singspielen wie dem Lied von den „Drei Chinesen mit dem Kontrabass“, das von allen Vorschulkindern meist mühelos gesungen wird Ein weiterer Beleg stammt aus dem privaten Umfeld der Autorinnen: Ein fünfjähriges Kind saß verträumt in der Küche und sprach vor sich hin: „Tisch - nein Stuhl - ja Herd - nein Kühlschrank - ja Milch - ja “ Auf die Frage, was es da mache, kam die Antwort: „Ich überlege, in welchen Wörtern ein [l] vorkommt “ Die Forschung hat übrigens seit etwa 25 Jahren einen Begriff für diese Art von sprachlicher Reflexion: Phonologische Bewusstheit Worum es sich dabei handelt und welche Bedeutung ihr für den Schriftspracherwerb beigemessen wird, haben wir unten ausgeführt (s Kasten) Was wir an den Sprachspielen von Vorschulkindern immer wieder beobachten können, ist ihre Silbenbasiertheit: Bei den „Drei Chinesen mit dem Kontrabass“ werden Silbenkerne ausgetauscht, in dem Spiel mit den Küchenwörtern werden Silbenränder analysiert und bei Klatsch- und Singspielen wird der Sprachrhythmus durch körperliche Bewegung unterstützt Dabei kommt es auch immer wieder vor, dass Kinder nur die betonte Silbe klatschen, weil sie sie als viel prominenter wahrnehmen; bei den „drei Chinesen“ tauschen Kinder mitunter nur die Vokale der betonbaren Silben aus, wohl deshalb, weil ihr Sprachgefühl sich dagegen sträubt, die Kerne der Reduktionssilben (Schwa oder silbischer Konsonant) durch Vollvokale zu ersetzen Diese und viele weitere Beobachtungen zeigen eindrucksvoll, dass Kinder bereits vor dem Schriftspracherwerb in der Lage sind, silbische und prosodische (die Wortbetonung betreffende) Strukturen zu analysieren Andererseits deuten Studien darauf hin, dass Sprachentwicklungsstörungen sich bereits im Säuglingsalter an prosodischen Auffälligkeiten diagnostizieren lassen (vgl Penner/ Fischer/ Krügel 2006) Schriftspracherwerb auf allen Ebenen 91 Die sogenannte „Phonologische Bewusstheit“ Als wohl wichtigste Voraussetzung für den erfolgreichen Einstieg in das Lesen und Schreiben gilt seit etwa 20 Jahren die sogenannte Phonologische Bewusstheit (zur Geschichte des Begriffs vgl Nicholson 1997) Der Ausdruck bezeichnet die Fähigkeit, ein lautliches Wort mit seiner Silben- und Betonungsstruktur in untergeordnete Einheiten - im engeren Sinn Laute, im weiteren Sinn Silben bzw Silbenkonstituenten - zu gliedern Bis heute konnte allerdings nicht hinreichend beantwortet werden, ob die Phonologische Bewusstheit im engeren Sinn eine Voraussetzung oder eher eine Folge des Schriftspracherwerbs darstellt, da die zu segmentierenden Einheiten genau den Einheiten der Schrift entsprechen, nämlich den Graphemen Da die gesprochene Sprache ein lautliches Kontinuum darstellt, wie wir in unserem Oszillogramm in Kapitel 2 sehen konnten, und Kinder zu Beginn des Schriftspracherwerbs meist noch keine Kenntnis von der Struktur der Buchstabenschrift besitzen, stellt die Segmentierung einzelner Phoneme hohe kognitive Anforderungen, im Gegensatz zur Aufgliederung eines Wortes in Silben, also der Phonologischen Bewusstheit im weiteren Sinn . So gelingt es amerikanischen Untersuchungen zufolge vorschulischen Kindern sowie Schriftanfängern kaum, die einzelnen Phoneme in komplexen Silbenanfangsrändern zu identifizieren (wie [b] und [l] in blau), während sie fast immer ohne Mühe ganze Anfangsränder oder Reime ersetzen können (bl au - t au; bl au - bl ei) Gleichzeitig fällt ihnen die graphische Repräsentierung komplexer Ränder (bl au) sehr viel schwerer als die von einfachen (B au) Darüber hinaus scheint die Wahrnehmung einzelner Segmente von ihrer Silben- und Wortposition abhängig zu sein, da Konsonanten im Wortanlaut leichter wahrgenommen werden als im Wortauslaut (ein guter Überblick über das Konzept der Phonologischen Bewusstheit findet sich in Birk/ Häffner 2005: 53-72) Leider legen Kinder ihre unvoreingenommene, häufig aus spielerischen Kontexten gewonnene und in spielerischen Kontexten praktizierte Sprachwahrnehmung sehr schnell ab, sobald sie in die Schule kommen und dort mit den Weisheiten der Fibellehrgänge konfrontiert werden Anstatt die kindlichen Fähigkeiten zu nutzen und über die wahrgenommenen Lauteigenschaften ins Gespräch zu kommen, gewöhnt der Unterricht sie den Schüler/ innen regelrecht ab Die folgenden Gesprächsausschnitte stammen aus einer Untersuchung zur Entwicklung der Sprachwahrnehmung im ersten Grundschuljahr: studentin: und das [ o ]? findest du das auch? wenn du jetzt vergleichst: [ von ] und [ vOn ]. denk mal nur an das [ o ]. andreas: die hören sich beide gleich an. 92 Wie funktioniert der Schriftspracherwerb? studentin: okay. gut. dann fragen wir mal lara. bei dir haben wir es auch schon gefunden. [ von ], [ vOn ] und [ volk ]. du hast auch alle drei wörter mit einem <o> geschrieben. lara: ja, weil ich das so gehört hab. [ ’ vo: ne: ], [ ’ vo: lke: ] und [ ’ v nə ]. studentin: [ vOn ]. genau. findest du denn, dass die [ o ] auch alle gleich klingen? wenn du sagst [ von ] und [ vOn ]. lara: joa. Die fettgedruckte Passage zeigt etwas ganz Erstaunliches: Bereits nach einem dreiviertel Schuljahr haben die Kinder ihre natürliche Sprachwahrnehmung abgelegt und reproduzieren eine künstliche Schriftaussprache, wie sie ihnen im Unterricht gezeigt wurde, nämlich [ volke ] statt [ vOlk ] Schulanfänger/ innen bzw Vorschulkinder verändern dagegen selten ungespannte Vokale in ihr gespanntes Pendant Das Fatale daran ist, dass zahlreiche Kinder immense Probleme damit haben, die Lautfolge [ volke ] in die orthographische Schreibung <Wolke> zu überführen, oder das entsprechend gelesene Wort als Wolke zu erkennen (vgl auch Kap 4) Ebene des Textschreibens Haben Sie gemerkt, dass Renées Hasentext noch eine weitere Auffälligkeit gegenüber Texten geübter Schreiber/ innen zeigt, die das Lesen deutlich erschwert? Die Augen müssen sich sehr anstrengen, die Zeilen zu finden, da Renée noch nicht gelernt hat, diese jeweils parallel untereinander zu setzen Das bedeutet jedoch nicht, dass gar keine Zeilenschreibung vorkommt: Renée hat dieses textgestalterische Mittel bereits verstanden und versucht, es konsequent einzusetzen Nur motorisch gelingt dies noch nicht so ganz Ein Jahr vor Entstehung der Hasengeschichte hatte sie sich einmal Schreiblinien auf ein leeres Blatt gemalt, nachdem sie beobachtet hatte, dass ältere Kinder in linierte Schulhefte schreiben (Abb 3-4) Entgegen der Erwartungen vieler Kinder beginnt der fibelgestützte Schriftunterricht zunächst mit Wortschreibungen, während sie selbst in ihren frühen Schreibversuchen schon häufig Texte produzieren, wie wir an den Kritzelbriefen gesehen haben (vgl Abb 3-1), in denen oft auch eine kommunikative Handlung steckt, etwa wenn sie an die Eltern „adressiert“ sind („Liebe Mama …“) Dieses frühe Bedürfnis der Schulanfänger, ganze Texte zu schreiben, greift der Ansatz des „Freien Schreibens“ auf, bei dem die Motivation der Kinder zu freier Textgestaltung im Vordergrund steht; hierbei ist das einzige gestattete Unterrichtsmittel die Buchstabenbzw Anlauttabelle . Und weil damit alle Buchstaben gleichzeitig zur Verfügung stehen, können die Kinder von der ersten Unterrichtsstunde an eigene Texte verfassen Das ist aus den oben genannten Gründen auch unbedingt unterstützenswert . Problematisch ist der Ansatz Schriftspracherwerb auf allen Ebenen 93 Abb. 3-4: Blatt mit Schreiblinien von Renée (Alter: 4; 6 Jahre) aber dennoch, da nämlich die Orthographie bis zum Ende des zweiten Schuljahres ausgeklammert bleibt - mit teilweise nachhaltigen Folgen für die Schüler/ innen Vielen gelingt es nach zwei regellosen ersten Schuljahren nicht, die „Kurve“ zum orthographisch richtigen Schreiben zu nehmen, weshalb diese Methode stark in der Kritik steht und auch bei Lehrer/ innen immer wieder Fragen und Zweifel aufwirft Zusätzlich zum Unterricht in der Textproduktion muss es in jedem Fall einen systematischen Orthographieunterricht geben, in dem der Schriftspracherwerb von Beginn an aufgebaut wird Wie wir an der Hasengeschichte auch sehen können, fehlt frühen Texten neben der Orthographie zumeist noch mehr: nämlich formale textgliedernde 94 Wie funktioniert der Schriftspracherwerb? Strukturen, wie Überschrift und Absatzgestaltung, stilistische Merkmale und die Antizipation der Lesererwartung, die sich beispielsweise in einem Spannungsbogen äußern kann Dem Entwicklungsmodell von Carl Bereiter (1980; dt von Baurmann 1996) zufolge wird die Textproduktionsfähigkeit in fünf aufeinanderfolgenden Phasen erworben, in denen jeweils eine andere Schreibstrategie führend ist: • Danach beginnt der Entwicklungsprozess mit dem assoziativen Schreiben; hier schreiben die Kinder alles auf, was ihnen einfällt Die Textteile folgen dabei meist schon einem roten Faden, es fehlt aber ein „typischer“ Textaufbau, mit Einleitung, Hauptteil und Schluss Renées Märchen „Paprika, Kürbis und Blatt“ von S 6 ist ein Beispiel für diese Phase • Die zweite Phase ist das performative Schreiben, bei dem die Normeinhaltung bestimmend ist; das Kind verwendet bestimmte Schemata und hält Gliederungsebenen ein, die der Unterricht ihm vorgegeben hat oder die es aufgrund seiner Erfahrung als Leser für maßgeblich hält • Die dritte Phase, das kommunikative Schreiben, ist auf die Lesererwartung ausgerichtet; der Schreiber/ die Schreiberin orientiert sich an der angenommenen Wirkung seines Textes auf den Leser/ die Leserin und an der Verständlichkeit Diese Strategie wird im Unterricht in sogenannten Schreibkonferenzen geübt, bei denen die Mitschüler/ innen ihre Texte gegenseitig bewerten . • Beim authentischen Schreiben, der vierten Phase, stehen das Reflektieren und Überarbeiten im Vordergrund, aber auch die Entwicklung eines eigenen Schreibstils • Die fünfte Phase schließlich, das epistemische Schreiben, ist als Expertenschreiben zu bezeichnen Hier geht es insbesondere um die Erkenntnisbildung durch den eigenen Schreibprozess, wie wir sie etwa beim wissenschaftlichen Schreiben finden Die Besonderheit des Modells besteht u a darin, dass es abwechselnd den Schreibprozess, das Produkt und den Leser als bestimmenden Faktor herausstellt: Das Produkt ist bestimmend für Phase 1 und Phase 5, der Prozess für Phase 2 und Phase 4, der Leser für Phase 3 In der Schreibdidaktik ist dieses Modell immer noch populär, es gibt aber auch Kritik: Sie bezieht sich v a darauf, dass eine solche Abfolge weder entwicklungspsychologisch vorgegeben, noch innerhalb bestimmter Altersstufen verortbar sei; vielmehr seien die jeweiligen Strategien stark durch die Vermittlungsweise und das Schriftlichkeitskonzept beeinflussbar (vgl Feilke 2006: 181 ff ., Feilke & Augst 1989) Entsprechend führt Böttcher (2012: 19) ein Beispiel für einen Grundschultext an, der durchaus schon Züge authentischen Schreibens zeigt, also nicht primär performativ oder kommunikativ ist: Wie natürlich kann unser Schriftsystem erworben werden? 95 Abb. 3-5: Grundschultext von Jan (aus: Böttcher (2012: 19)) Wie natürlich kann unser Schriftsystem erworben werden? Der pädagogischen Schriftlichkeitsforschung zufolge läuft der Schriftspracherwerb bei allen Kindern in bestimmten Stufen ab Hintergrund ist die Beobachtung, dass Kinder im Erwerbsverlauf nacheinander unterschiedliche Strategien herausbilden, die offenbar unabhängig vom Kontext des Erwerbs bzw von der individuellen Disposition des Kindes zu bestehen scheinen Bekannte Stufenmodelle des Schriftspracherwerbs wurden im englischsprachigen Raum von Uta Frith (1985), in Deutschland v a von Klaus B Günther (1984) und Gerheid Scheerer-Neumann (1987) entwickelt Alle neueren Modelle zum Schriftspracherwerb stimmen hinsichtlich der Phasenabfolge weitgehend überein So wird eine vorschriftlichen Phase angenommen, weil schriftsprachliche Praktiken nicht erst mit dem angeleiteten Schreiben in der Schule beginnen, sondern schon früher in Kindergarten, Elternhaus und gesellschaftlichem Umfeld, wie wir oben ausgeführt haben Die darauffolgende Phase wird als logographisch bezeichnet, in der die Kinder gespeicherte Wortbilder „schreiben“ und wiedererkennen können In der alphabetischen Phase ordnen sie den wahrgenommenen Sprachlauten Buchstaben zu bzw lesen Wörter buchstabenweise In der orthographischen Phase schließlich werden beim Schreiben Rechtschreibregeln angewandt und Texte zunehmend automatisiert gelesen (vgl auch Valtin 1997) Stufenmodelle stammen ursprünglich aus der Entwicklungspsychologie, insbesondere der Kognitionsentwicklung nach Piaget, und sind später auf den 96 Wie funktioniert der Schriftspracherwerb? Schriftspracherwerb übertragen worden Hier werden aber Äpfel mit Birnen verglichen: 1 In den ursprünglichen entwicklungspsychologischen Modellen muss ein Stadium abgeschlossen sein, bevor ein neues beginnen kann; in der schriftsprachlichen Entwicklung greifen die Strategien sehr stark ineinander bzw sind überhaupt nicht voneinander abgrenzbar 2 Die entwicklungspsychologischen Stadien sind universell und kulturunabhängig, während der Schriftspracherwerb eindeutig methodenabhängig und institutionell gesteuert verläuft Außerdem hängt der Erwerb der Schriftsprache insgesamt von dem jeweiligen Schriftsystem ab Aus diesen Gründen halten wir die Modellierung des Schriftspracherwerbs als Stufenabfolge für einen Zirkelschluss, da die Didaktik damit etwas erklärt, was sie methodisch selbst verursacht hat Stattdessen gehen wir davon aus, dass Kinder bei einem entsprechenden Unterricht ebenso von Beginn an orthographische Strukturen lernen können Aber wie ist es nun mit den erwähnten Gemeinsamkeiten der Kinder und den angeblichen Strategien? Schauen wir uns zunächst einige charakteristische Wortschreibungen von Schreibanfänger/ innen an Die folgenden Schreibungen stammen von Mirco, einem Erstklässler zu Beginn des 2 Halbjahres, der nach der Anlautmethode gelernt hat (für die Bereitstellung der Abbildungen 3-6 und 3-7 (links) danken wir herzlich Helen Schmalhofer): Abb. 3-6: Schreibungen von Mirco (1. Schulj., Anlautmethode) Wie natürlich kann unser Schriftsystem erworben werden? 97 Auffällig sind die zahlreichen Falschschreibungen bei eigentlich einfachen Wörtern; für schriftkundige Laien ist es nicht unbedingt einsehbar, warum der Schüler etwa *<HAMA> statt <Hammer> oder *<KUREN> für <Kuchen> schreibt Andererseits sind viele Buchstaben richtig wiedergegeben, die Wörter grundsätzlich lesbar Bei dem Vergleich dieser Schreibungen mit denen weiterer Kinder finden sich viele Übereinstimmungen: Abb. 3-7: Schreibungen von Pia (Anlautmethode, 1. Schuljahr) und Sina (Vorschulkind) Bei allen drei Kindern zeigen sich übereinstimmende Auffälligkeiten, die wir teilweise auch schon in Renées Hasengeschichte beobachten konnten, wie die falsche Schreibung auslautender Konsonanten, die Schreibung des reduzierten []-Vokals mit <a>, oder <r> für den [x]-Laut Interessant sind diese Übereinstimmungen vor allem aus zwei Gründen: 1 Die Kinder stammen aus unterschiedlichen sprachlichen Regionen (Mirco und Pia aus Baden-Württemberg, Sina aus Niedersachsen) Das bedeutet, dass Dialektmerkmale der jeweiligen städtischen Umgangssprache als Ursache für die Schreibauffälligkeiten ausscheiden (einzig die unterschiedlichen Schreibungen für die ungespannten Vokale in *<Winta>/ *<Wenta> bzw *<Hunt>/ *<Hont> lassen sich auf regionale Einflüsse zurückführen) 2 Während Mirco und Pia seit einem halben Jahr in die Schule gehen, handelt es sich bei Sina um ein Vorschulkind, welches bereits über Schreibkenntnisse verfügt Obwohl die Kinder altersmäßig etwa ein Jahr auseinander liegen und der Schriftspracherwerb des jüngeren Kindes noch nicht institutionell 98 Wie funktioniert der Schriftspracherwerb? gesteuert ist, zeigen die Schreibungen teilweise dieselben Merkmale Dies deutet daraufhin, dass der Schriftspracherwerb nicht zwingend an die Institution Schule gebunden ist, sondern auch außerbzw . vorschulisch stattfinden kann . An diese Beobachtung schließt sich die Frage an, welche Rolle der Unterricht beim Erwerb der Schriftsprache genau spielt (vgl S 100 ff .) Die Übereinstimmungen zwischen den verschiedenen Schreiber/ innen sprechen stark für die Annahme entwicklungsbedingter Phasen des Schriftspracherwerbs Andererseits liegt es auch auf der Hand, dass der Schriftunterricht in Deutschland im Großen und Ganzen überall denselben Prämissen folgt; selbst vermeintlich konkurrierende Konzepte stellen die Funktion der Schrift und ihr Verhältnis zur gesprochenen Sprache - mit methodischen Unterschieden - auf dieselbe Weise dar: Die meisten Fibelkonzepte und Anlauttabellen folgen dem Grundsatz, dass geschriebene Sprache aus Zeichenketten besteht, deren einzelne Elemente als Abbilder auf Elemente der gesprochenen Sprache bezogen werden können . Betonungsmuster bleiben ebenso ausgeblendet wie grammatische Bezüge Wenn Unterricht die Schrift also stets in dieser lautlichen Beziehung vermittelt, ist es dann verwunderlich, dass alle Kinder mit der sogenannten alphabetischen Stufe beginnen? Nach den Stufenmodellen wäre das Stadium, in dem sich diese Kinder in ihrer Schreibentwicklung befinden, als „alphabetisch“ zu bezeichnen, mit Anfängen orthographischen Schreibens bei Sina (<ei>) Diese Einstufung verdeckt aber die tatsächlichen Erwerbsabläufe: Obwohl wir in der Schrifttheorie von unterschiedlichen Prinzipien ausgehen, sind diese nicht auf die Erwerbsreihenfolge übertragbar Wenn ein Kind lernt, die Zeichen des Schriftsystems zu gebrauchen, lernt es gleichzeitig Regeln über ihre Funktion und Kombinatorik und damit ein Stück Orthographie, anders gesprochen: Schriftspracherwerb ist immer zugleich Orthographieerwerb Wie erlernen nun Kinder das orthographisch richtige Schreiben? Gibt es bestimmte Abläufe? Wenn man die Schreibentwicklung von Grundschüler/ innen verfolgt, kann man - sofern die Entwicklung ungestört verläuft - bestimmte Abläufe erkennen: • Buchstabenkombinatorische Besonderheiten des Deutschen werden normalerweise sehr schnell beherrscht, insbesondere die Diphthongschreibungen <ei> und <eu> statt *<ai> und *<oi>, die Schärfungsschreibung <ck> für *<kk>, die Schreibung <er> für den Reduktionsvokal [] oder die Anlautschreibungen <st> und <sp> • Bei den silbisch und morphologisch begründeten Schreibungen wie der Schärfungs- und Dehnungsschreibung, dem silbeninitialen h und der Morphemkonstanz ist der Erwerb ohne explizite Anleitung äußerst störanfällig Zwar entdecken alle Kinder irgendwann die doppelten Konsonantenbuchstaben in Wörtern wie <Mutter> und <Roller> von selbst, aber nur wenige schaffen es, sie eigenständig auf die silbische Wortstruktur zurückzuführen Wie natürlich kann unser Schriftsystem erworben werden? 99 Bei den schwächeren Kindern verfestigt sich oft sogar ein nicht regelkonformer Gebrauch der Schreibung, obwohl die den Schreibungen zugrundeliegenden phonologischen Unterschiede sogar hörbar sind: *<sie wonnten> statt <wohnten>, *<Kiender> statt <Kinder> Aber auch bei den guten Lerner/ innen dauert es eine Zeit, bis die orthographischen Schreibungen gefestigt sind . • Die Auslautschreibung mit den für stimmhafte Konsonanten stehenden Buchstaben (<Hund>, <Lob> statt *<Hunt>, *<Lop>) verursacht weniger Probleme als die Stammschreibung der Doppelkonsonanten (kannte, wollte) Im ersten Fall sind die Bedingungen für die Schreibung einfacher, die Schüler/ innen müssen weniger Strukturwissen verarbeiten: Wenn es eine verlängerte Form mit stimmhaftem Konsonanten gibt, schreibe ich denselben Buchstaben in der einsilbigen Form auch als d, b usw Um aber wollte korrekt zu verschriften, müssen sie komplexer denken: Wenn es eine verwandte zweisilbige Form mit Silbengelenk gibt (wollen), muss ich den Stamm in dem abgeleiteten Wort auch mit Doppelkonsonant schreiben . Dafür müssen die Kinder anders als bei der Auslautschreibung eine morphologische Analyse des Wortes in Stamm und Flexionsendung vornehmen und gleichzeitig die Schärfungsschreibung bei den zweisilbigen Wörtern beherrschen, was ohne unterrichtliche Anleitung zumindest sehr schwierig sein dürfte • Noch etwas zur Besonderheit der v/ f-Schreibung: Die v-Schreibung wird oft recht früh von den Kindern als Besonderheit entdeckt und dann zunächst fast immer übergeneralisiert, oft bei semantischer Verwandtschaft zu v-Wörtern (<Vogel>, aber auch *<Vlugzeug>, *<vliegen>) oder bei vermeintlich gleichen Strukturen (<verlieren> aber auch *<Verien>) . Mit Fehlschreibungen wie diesen werden wir uns in Kapitel 4 noch intensiv beschäftigen Ein interessanter Aufsatz zur grammatisch basierten Vermittlung der v-Schreibung liegt von Röber (2006) vor Bei sämtlichen orthographischen Schreibweisen, ob sie nun durch eigene Beobachtung und innere Regelbildung erworben oder angeleitet erlernt werden, lässt sich übrigens zunächst eine Phase der Übergeneralisierung beobachten: Haben die Kinder etwa das Dehnungs-h für sich entdeckt, schreiben sie es meist in allen möglichen Kontexten, auch dort, wo es nicht hingehört Im nächsten Schritt müssen sie die Systematik dahinter lernen und verinnerlichen Ansonsten kommt es in aller Regel zu Schreibunsicherheiten und im schlimmsten Fall zu einer Rechtschreibstörung Letztlich - auch das sei hier erwähnt - können wir von einer Wechselwirkung zwischen dem bereits vorhandenen vorschulischen Wissen in der Muttersprache und den beobachteten schriftsprachlichen Strukturen ausgehen Die Kinder lernen nicht nur, die Grammatik ihrer Sprache zu verschriften, sie lernen durch die Schrift auch viel über Stämme und Endungen (vgl hierzu Röber 2006; Fuhrhop 2011, sowie Kap 5 dieses Bandes) 100 Wie funktioniert der Schriftspracherwerb? Lesen Bis hierher haben wir uns vor allem mit der produktiven Seite des Schriftspracherwerbs befasst, dem Schreibenlernen Dabei gibt es auch beim Leseerwerb Hinweise darauf, dass sich diese Fertigkeit in Ansätzen vorschulisch herausbildet, vorausgesetzt, die Kinder wachsen in einem lesenden Umfeld auf . So wie vor dem eigentlichen Schreibenkönnen motorische Schreibprozesse nachgeahmt und Kritzelbriefe verfasst werden, tun viele Kinder bereits früh so, als ob sie einen Text vorlesen Einige setzen sich mit einem aufgeschlagenen Buch in einen großen Sessel, blicken interessiert auf die Seiten, blättern ab und zu um . Wir sprechen dabei von figuralen Lesekonzepten: Die Kinder imitieren die körperlichen Aktivitäten eines Lesers - und sind überzeugt davon, dass sie jetzt lesen . Andere können häufig vorgelesene Texte im genauen Wortlaut wiedergeben (jeder, der Kinder hat, weiß, wie aussichtslos es ist, beim abendlichen Vorlesen nur einen Satz zu verändern, geschweige denn ganze Seiten zu überschlagen) Dieser Umstand führt übrigens nicht selten dazu, dass schwach lesende Kinder bis zum Ende des ersten Schuljahres der Lehrerin/ dem Lehrer nicht auffallen, da sie ja vermeintlich alles lesen können Aus der Psychologie wissen wir, dass sie sich dabei bestimmter Gedächtnisstützen bedienen, etwa der Buchstabenformen oder einzelner Zeichen im Wort Die Methode „Lesen durch Schreiben“ des Schweizer Pädagogen Jürgen Reichen setzt vollständig auf einen natürlichen Leseerwerb Jegliche Unterweisung im Lesen wird in diesem Lehrgang, der in den ersten zwei Schuljahren ausschließlich zum freien Schreiben mithilfe einer Buchstabentabelle anleitet, vermieden Allein durch die eigenen Schreibprozesse entwickle sich bei den Schüler/ innen die Lesefertigkeit - quasi als Nebenprodukt Ein für viele Schüler/ innen fataler Irrglaube! Denn was bei einem Teil der Schülerschaft tatsächlich zu funktionieren scheint - eignen sie sich das Lesen doch scheinbar mühelos an, meist schon im Kindergarten, weshalb man sie als „Frühleser“ bezeichnet -, ist für viele andere leider eine kaum zu überwindende Hürde 18,5 % PISA-Verlierer sprechen da eine deutliche Sprache, ebenso wie 14,5 % erwachsene Analphabeten Die Rolle des Unterrichts Stellen wir uns kurz folgendes Szenario vor: Kurz nach der Einschulungswoche sitzen 21 Erstklässler/ innen in ihren Bänken und schauen auf das Arbeitsblatt, das ihnen die Lehrerin/ der Lehrer ausgeteilt hat Auf dem Blatt sind kleine Bilder dargestellt, mit Tieren und Gegenständen, die die Kinder kennen: ein Fisch, eine Ente, ein Ranzen, ein Elefant, ein Pinsel, ein Dinosaurier . Die Arbeitsanweisung lautet: Finde durch deutliches Sprechen heraus, welche der Wörter ein e enthalten . Aus Erwachsenensicht denken wir: Nichts leichter als das; in den Wörtern Ente und Elefant sind die e-Laute deutlich wahrnehmbar, die Wörter Die Rolle des Unterrichts 101 Ranzen, Pinsel und Dinosaurier muss man dagegen besonders deutlich sprechen, aber dann sollte es auch dort kein Problem sein (was, wie wir aus Kap 2 wissen, nicht stimmt) Umso erstaunter stellen die Erwachsenen dann fest, dass einige Kinder den Fisch angekreuzt haben! Haben sie die Aufgabe falsch verstanden? Machen wir einen Schnitt und reflektieren die Situation einmal genauer: An dieser Stelle werden für das weitere Lernen der Kinder ganz entscheidende Weichen gestellt Der Lehrer/ die Lehrerin könnte das Ergebnis der Kinder schlicht als falsch abtun, sie vielleicht auffordern, noch einmal genau auf die Aussprache zu achten Dies ist gängige Praxis und führt wahrscheinlich zu dem Ergebnis, dass einige Kinder bereits jetzt das Gefühl bekommen, der Sache mit der Schrift nicht gewachsen zu sein Wenn der Lehrer/ die Lehrerin den Schriftspracherwerb als kognitiven Prozess versteht, wird er oder sie die Kinder (hoffentlich) fragen, weshalb sie in dem Fisch ein e vermuten Ein Kind könnte das Wort dann - wie es ihm im Unterricht gezeigt worden ist - gedehnt sprechen, also [fIS] - und siehe da: Das ungespannte [I] klingt gedehnt wie das gespannte [e] Der Regelfall sieht allerdings so aus, dass das Kind einen roten Strich ins Heft bekommt, obwohl es doch eine fabelhafte Sprachanalyse gezeigt hat Die überwiegende Anzahl der derzeit eingesetzten Fibeln arbeitet nach dem sogenannten synthetisch-analytischen Ansatz, wobei einerseits von realen Wörtern und Sätzen ausgegangen wird, andererseits primär und mehr oder weniger systematisch Verbindungen zwischen lautlichen und schriftlichen Einheiten (Phonem-Graphem-Korrespondenzen) vermittelt werden Das in den Lehrwerken für den frühen Schriftunterricht verwendete sprachliche Material unterliegt starken Einschränkungen, da keine als zu schwierig erachteten orthographischen Themen, wie Dehnung oder Schärfung, vorweggenommen werden dürfen . Ein weiteres verbreitetes Unterrichtsmittel im Erstunterricht neben der Fibel ist bekanntlich die Buchstabentabelle, die in unterschiedlicher Gestaltung den Fibeln beiliegt und die ebenfalls die Prämisse der segmentalen Zuordnung von Lauten zu schriftlichen Zeichen bedient Fibeln vermitteln graphematische Strukturen als reine Aneinanderreihung einzelner Buchstaben, als deren einzige Funktion der Lautbezug gilt Rhythmisch-prosodische Merkmale (also die für die deutsche Orthographie so wichtigen Akzentmuster) bleiben ausgeblendet Auch die Buchstabentabellen fokussieren den Laut-Buchstaben-Bezug, indem sie jeden einzelnen Buchstaben durch ein Beispielwort illustrieren, das mit diesem Buchstaben beginnt: (Tür) - (Ofen) - (Nashorn) - (Nashorn) - (Elefant) = <Tonne> Nach allem, was wir im zweiten und in diesem Kapitel über die Strukturen gesprochener und geschriebener Sprache ausgeführt haben (und im folgenden Kapitel noch ausführen werden), werden die Missstände einer solchen Schriftvermittlung deutlich: Der o-Vokal in Tonne ist ein anderer als der in Ofen; in 102 Wie funktioniert der Schriftspracherwerb? Tonne sind keine zwei [n] hörbar, sondern nur eins; der auslautende Vokal ist kein Vollvokal wie in Elefant, sondern ein Reduktionsvokal ([]) Ähnlich wie in dem Beispiel Tonne lassen sich auch für andere scheinbar „lautgetreue“ Wörter Unstimmigkeiten erkennen Der Nutzen von Buchstabentabellen und Fibellehrgängen ist also begrenzt, weil - wie wir in Kapitel 2 herausgearbeitet haben - die Beziehungen zwischen gesprochener und geschriebener Sprache weitaus komplexer sind, als sie durch solch eine lineare und kontextfreie Zuordnung darstellbar wären Wir erinnern hier noch einmal an einige wichtige Aspekte: • Wörter sind keine bloße Aneinanderreihung einzelner Phoneme, sondern weisen rhythmisch-prosodische Strukturmerkmale auf, also Silbenstrukturen einschließlich der Anschlussverhältnisse und Betonungsmuster • Die Phoneme des Deutschen dürfen nicht nur in der Anlautposition dargestellt werden, wie Fibeln es häufig tun; es gibt Phoneme, die im Wortanlaut gar nicht vorkommen, etwa der Nasallaut [N] (Ring) oder der Reibelaut [x] (Dach) . Auch Vokale stehen nie im absoluten Anlaut; wenn kein anderer Konsonant die Anlautposition besetzt, steht grundsätzlich ein Knacklaut („Glottisverschluss“) • Die lautliche Entsprechung von Graphemen ist abhängig von der Silbenposition . Dem Graphem <e> entspricht nur in Vollsilben ein Vollvokal ([e] oder [E], wie in Besen oder besten), in Reduktionssilben jedoch Schwa [] (Gabe) <r> wird nur als Konsonant gesprochen, wenn es im Silbenanfangsrand steht (Rad) Im Endrand (nach dem Vokal) entspricht ihm der Reduktionsvokal [] (Wirt) • Viele graphematische Strukturen, auch das war im zweiten Kapitel ausführlich Thema, sind mithilfe der Phonem-Graphem-Korrespondenz nicht beschreibbar, da sie andere, nämlich prosodische, aber auch morphologische Strukturen abbilden; so kennzeichnet die Doppelkonsonantenschreibung (Schärfungsschreibung) keinesfalls ein verdoppeltes Phonem, sondern einen scharfen Silbenschnitt Weder dem Dehnungs-h noch dem silbeninitialen h entspricht das Phonem [h] usw • Stimmhafte Plosiv- und Reibelaute wie [b, d, g, v, z] kommen in der deutschen Sprache im Silbenauslaut wegen der Auslautverhärtung nicht vor, in der Schrift werden sie aber aufgrund der Morphemkonstanz trotzdem mit dem entsprechenden Zeichen geschrieben (Lob, Rad, brav) Wie komplex das Verhältnis zwischen Phonologie und Graphematik tatsächlich ist, lässt sich auch an den Schwierigkeiten und Äußerungen ablesen, die Kinder zu Beginn des Schriftspracherwerbs zeigen, wie aus dem Praxisbericht einer Lehrerin hervorgeht: „Florian ( ) bemühte sich, allein mit einer Anlauttabelle seine Wörter zu schreiben, brauchte aber meine Hilfe, als er das [] suchte, weil er Leiter schreiben wollte Ich erklärte ihm, das könnte er dort auch nicht finden, er müsse dafür <er> schreiben Er legte die Tabelle zur Seite und sagte, ‚Dann kann ich die nicht gebrauchen‘“ (Winkler 2004: 22 f ) Die Rolle des Unterrichts 103 Die Autorin dieses Berichts - eine erfahrene Grundschullehrerin - verwendet eine Methode, die als „Silbenanalytisch“ bezeichnet wird (s unten) Die Buchstaben der deutschen Schrift werden in ihrer graphematischen Funktion eingeführt unter Anknüpfung an das vorschulische Wissen und die kognitiven Entwicklungen der Kinder Der Unterschied zu den Fibellehrgängen besteht insbesondere darin, dass in diesem Modell zunächst ausschließlich der systematische Bereich der Wortschreibung thematisiert wird, nämlich die im Deutschen trochäischen Worttypen, die im zweiten Kapitel bereits Thema waren und mit denen wir uns im Folgenden noch einmal kurz befassen werden; mit Ausnahmen wird sich in diesem Unterrichtsansatz erst dann beschäftigt, wenn der Kernbereich von den Schüler/ innen sicher beherrscht wird Das Silbenanalytische Modell Ein Modell zur Vermittlung der Wortschreibung, das sich von den lautbezogenen durch seine silbenphonologische Ausrichtung unterscheidet, ist die Silbenanalytische Methode nach Röber ( 3 2013) Dem Modell liegt die Prämisse zugrunde, dass die deutsche Wortschreibung silbische Strukturen repräsentiert, wie wir sie im zweiten Kapitel ausführlich dargestellt haben Es basiert auf dem Erkennen des jeweiligen Silbenschnitts (der entweder sanft ist, wie in dem Wort beten, oder scharf, wie in Betten) in Kombination mit der Belegung des Silbenendrands (konsonantisch geschlossen/ nicht konsonantisch geschlossen) Voraussetzung ist, dass die Schüler/ innen betonte und unbetonte Silben unterscheiden können, gespannte und ungespannte Vokale sowie geschlossene und offene Silben Dies wird in einem ersten Unterrichtsschritt geübt Im Zentrum des Modells steht die Darstellung der Silbentypen (betont, unbetont, unbetonbar/ reduziert) durch unterschiedliche Häuser Ein Haus symbolisiert die betonte Silbe, eine Garage die Reduktionssilbe, ein Bungalow die unbetonte Vollsilbe Jedes Haus ist in Zimmer aufgeteilt, wobei das linke Zimmer für den Anfangsrand steht und das rechte für den Reim (Kern und Endrand der Silbe) Die Kinder lernen, die Buchstaben als Repräsentanten dieser Silbenbestandteile in die Häuser einzutragen und dadurch die Wortschreibung als prosodisch fundiert zu verstehen . σ' σ ° [h y : t ə ] Abb. 3-8: ‚Häusermodell‘ nach Röber ( 3 2013) und Silbenstruktur des trochäischen Zweisilbers mit gespanntem Vokal in offener Silbe (Bsp. hüte) 104 Wie funktioniert der Schriftspracherwerb? Solche Modelle, die den Kindern den Zugang zur Schrift über die sprachstrukturellen Besonderheiten bieten, stehen mitunter in der Kritik, für den grundschulischen Unterricht zu anspruchsvoll zu sein Wie wir bereits mehrfach gezeigt haben, sind Kinder aber grundsätzlich sehr gut in der Lage, Sprache in Silben aufzugliedern oder auch zu verändern, indem beispielsweise die Vokale ausgetauscht werden (man denke an die „Drei Chinesen mit dem Kontrabass“) oder mit sich reimenden Wörtern gespielt wird Dagegen können sie nicht ohne weiteres bestimmen, aus welchen Einzellauten ein Wort zusammengesetzt ist Insofern schließt der Zugang über die Silbenstruktur an die Sprachwahrnehmung der Kinder an Außerdem hat sich das Modell in der Unterrichtspraxis als geeignet erwiesen, Kinder über schriftsprachliche Strukturen nachdenken und das, was sie entdecken, auch in Worte fassen zu lassen: „st(udentin): guck mal <vogel> an („vogl“ geschrieben). k(ind, 2. schuljahr): ach, [ gl ] ist ja die garagensilbe und da muss ja immer <e> rein“ (röber 2009: 186) Was das Kind in diesem Beispiel nicht nur erkannt hat, sondern auch mitteilen kann, ist genau die Regelmäßigkeit, die wir im 2 Kapitel (s S 34) beschrieben haben: „Die Reduktionssilbe wird mit e als Silbenkern verschriftet, unabhängig davon, ob lautlich überhaupt ein Vokal auszumachen ist “ Für den Leseprozess liegt ebenfalls von Röber ( 3 2013) das sogenannte „Lassomodell“ vor Wie bei den Häusern geht es darum, den Blick und die Wahrnehmung für die prosodische Struktur der Wörter zu schärfen Die Kinder beginnen nicht von links nach rechts, Buchstaben zu synthetisieren, sondern erfassen das gesamte Wort Dazu lernen sie zunächst, dass jede Schreibsilbe einen Vokalbuchstaben hat Ausgangsmaterial für die Übungen sind zweisilbige, nicht komplexe Wörter wie Wolke, Mantel, Amsel (ungespannter Vokal in geschlossener Silbe) und Bude, Löwe, Wagen (gespannter Vokal in offener Silbe) Als erstes markieren die Kinder die Vokalbuchstaben: Vollvokalbuchstaben in der betonten Silbe, e in der Reduktionssilbe Da Silben im Deutschen möglichst einen Konsonanten im Anfangsrand haben, aber nicht unbedingt einen auslautenden Konsonanten (vgl le sen: das s gehört an den Anfang der zweiten Silbe), wird das Lesen mit der zweiten Silbe begonnen Für die kindgerechte Veranschaulichung verwendet Röber das Bild eines Cowboys, der mit seinem Lasso die Wörter von ihrem Ende her einfängt Dafür umkreist er zunächst den e-Buchstaben der Reduktionssilbe und nimmt den links davor stehenden Konsonantenbuchstaben hinzu - damit sind Anfangsrand und Kern der Reduktionssilbe erfasst: Die Rolle des Unterrichts 105 Im zweiten Schritt wird auf die gleiche Weise die betonte Silbe eingefangen: Bei geschlossenen Silben läuft das Verfahren ebenso ab, allerdings wird hier zusammen mit dem Vokalbuchstaben der Endrand eingekreist: Dieses Modell ist ein weiteres Beispiel dafür, wie Kindern die Analyse der Schriftsprache von Anfang an so ermöglicht werden kann, wie es kompetente Leser/ innen automatisch tun Wenn wir lesen, erfassen wir mit einem Blick neben der morphologischen auch die Silbenstruktur der Wörter Das hilft uns beispielsweise auch, unbekannte Wörter schnell richtig zu rekodieren (auch wenn wir ihre Bedeutung nicht verstehen) Das Lassomodell ist wie vieles, was wir hier vorstellen, in seiner Vermittlung wesentlich differenzierter, als wir es aus Platzgründen darstellen können Ausgiebig beschrieben ist es, wie erwähnt, in Röber ( 3 2013) Morphemkonstanz Ein grundsätzliches Problem des schulischen Schreibenlernens ist, dass grammatische Schreibungen, die ja nicht „hörbar“ sind, wie die Schreibung stimmhafter Plosiv- und Reibelaute am Wortende (Hund) oder die Schärfungsschreibung in einsilbigen Formen (fällt), in den Lehrwerken nur sehr verkürzt dargestellt werden Ohne eine verständliche Vermittlung jedoch müssen die Kinder sie sich eigenständig erschließen, was nicht allen gleichermaßen gut gelingt Bei den schwächeren Lernern sind mit hoher Wahrscheinlichkeit Schreibschwierigkeiten zu erwarten Machen wir uns das zunächst an einem Beispiel deutlich: Abb. 3-9: Schreibung von Simone (11 J.) mit deutlichen Schwierigkeiten im Bereich der nicht-phonographischen grammatischen Schreibungen 106 Wie funktioniert der Schriftspracherwerb? Der Text in Abb 3-9 stammt von der 11-jährigen Simone aus Baden-Württemberg; von ihrer Lehrerin wurde sie als schwache Rechtschreiberin eingestuft . Wenn wir den Text genauer betrachten, fallen uns vor allem folgende Punkte auf: • Fehler im Bereich der Morphemkonstanz: *<schleft>, *<nechste>, *<felt>; • Auslassung von Flexionsendungen: *<ein> statt <einen>, *<zerbrichts> statt <zerbricht das>, (*<nechste> statt <nächsten> ist dialektbedingt, gehört aber ebenfalls in diese Kategorie); • partielle Fehler bei der satzinternen Großschreibung (*<glas>, *<hund>); • Auslassung der Interpunktion bis auf den Punkt. Simone schreibt auffallend lautorientiert, oder anders gesprochen: Was keine lautliche Basis hat, wird überwiegend nicht geschrieben (Ausnahme: partiell Großschreibung, Getrennt-/ Zusammenschreibung, Punkte) . Dieses Beispiel bestätigt einmal mehr, was wir in der Praxis immer wieder feststellen können: Ein Kennzeichen schwacher Rechtschreiber/ innen ist eine starke Lautorientierung; verläuft der Schriftspracherwerb ungestört, setzen sich die Kinder schnell über diese Art des Schreibens hinweg und schaffen es, bis zu Beginn der Sekundarstufe das orthographische Schreiben zu stabilisieren In Kapitel 2 ging es ausführlich um das morphologische Prinzip und darum, dass es die Wortstämme sind, die im Deutschen möglichst konstant verschriftet werden In Sprachbüchern sind deutliche Regelformulierungen zu diesen Themen eher die Ausnahme Zwar wird die Morphemkonstanz in der dritten Klasse im Rechtschreibunterricht eingeführt, jedoch bis in die Sekundarstufe hinein nicht systematisch erklärt Stattdessen wird mit zumeist wenig hilfreichen Merksätzen gearbeitet, etwa „Achte auf die verwandten Wörter“ Bei der Doppelkonsonantenschreibung zeigt sich ein ähnliches Bild: Hier lautet die Merkregel meist „Nach einem kurzen Vokal (Selbstlaut) stehen zwei Konsonanten Hörst du nur einen Konsonanten, musst du ihn doppelt schreiben “ Eine solche „Regel“ ist schlichtweg falsch Zum einen erzeugt sie Falschschreibungen, wie *<ann> und *<wolte>; zum anderen kann sie nicht erklären, wieso dann die Wörter Kante und kannte bei gleicher Lautstruktur unterschiedlich geschrieben werden Die Regel ist falsch, weil sie nichts darüber aussagt, auf welcher Ebene sie anzuwenden ist Sie gilt nämlich nur innerhalb des Wortstamms; bei Kante lautet er Kant- (zwei Konsonanten = keine Verdoppelung), bei kannte ist dagegen kannder Stamm (ein Konsonant = Verdoppelung) . Generell lässt sich sagen, dass orthographische Regularitäten in Schulbüchern nur fragmentarisch und meist auf den Einzelfall bezogen in Form von Eselsbrücken vermittelt werden (vgl Noack 2011; Noack/ Teuber 2014) Das Problem mit den Merksätzen der Sprachbücher ist, dass die dahinterstehenden Regeln für die schwächeren Rechtschreiber/ innen i d R diffus bleiben Häufig genug ist den Schüler/ innen gar nicht bewusst, welche Wörter verwandt sind und welche nicht; so schreiben einige von ihnen das Wort gerne Die Rolle des Unterrichts 107 mit ä: *<gärne>, und erst auf Nachfragen stellt sich heraus, dass sie es von dem Wort Garn hergeleitet haben Eckert/ Stein (2004: 135) berichten von einem Schüler, der *<höfflich> schrieb, weil er es von dem Wort hoffen abgeleitet hat Die Schwierigkeit mit den verwandten Wörtern steckt also im Konzept der „Verwandtschaft“ selbst: Sind Vogel und *Vlugzeug verwandt, weil sie *vliegen können? Dass es uns als kompetenten Schreiber/ innen schon gar nicht mehr in den Sinn kommt, das Konzept der Verwandtschaft zu befragen, haben wir der Schrift zu verdanken, die uns dieses Konzept serviert hat Die Umkehrung nun, von den Kindern zu erwarten, von der Verwandtschaft auf die Schrift zu schließen, macht wie so oft das Resultat des Lernprozesses zu seiner Voraussetzung Darüber hinaus wird durch die Sprachbuchansätze die Chance vertan, produktiv über sprachliche Strukturen nachzudenken, Gesetzmäßigkeiten zu finden und so die Rechtschreibung als etwas Regelhaftes zu entdecken Tatsächlich bleibt durch diese verkürzte Art der Regelvermittlung vielen Schüler/ innen bis in die Sekundarstufe hinein die Rechtschreibung unergründlich In ihrer bereits erwähnten Arbeit veröffentlichten Eckert/ Stein (ebd ) eine Reihe von Interviews, in denen schwache Rechtschreiber/ innen der 5 . und 7 . Jahrgangsstufe gebeten wurden, ihre falschen wie richtigen Wortschreibungen zu erläutern - mit frappierenden Ergebnissen: Eine Vielzahl der gegebenen Antworten bezog sich auf die Lautstruktur der Wörter, selbst dort, wo die Schreibung aufgrund der Lautung gar nicht erklärbar ist, wie in folgenden Beispielen: „interviewer: <bestimmtes> mit zwei <m>. schüler: ja, das hört man [ b.StIm.ts ]. (dehnt den konsonanten) i: sagst du es noch mal? s: [ b.StIm.m.ts ]. (artikuliert gelängten und verdoppelten laut, aufgeteilt auf zwei silben; ub, nf, cn) i: noch mal. s: [ b.StIm.ts ]. (artikuliert gedehnten laut; ub, nf, cn) i: Man hört es? s: ja.“ (eckert/ stein 2004: 147 f.) Der Schüler verfügt nicht über das notwendige Regelwissen, seine ja richtige Wortschreibung anders zu begründen als über die Lautung Dazu generiert er eine zusätzliche Silbe, in der ein zweites, überflüssiges [m] gesprochen wird Ein ähnlich gelagerter Fall ist der folgende, wo ein Schüler dasselbe Wort falsch mit einfachem m geschrieben hat und dann phonetisch richtig argumentiert, man höre auch nur einen Konsonanten Falsch ist diese Erklärung aber natürlich dennoch, da die doppelten Konsonantengrapheme nirgends doppelt artikuliert werden: 108 Wie funktioniert der Schriftspracherwerb? i: (weshalb hast du *<bestimtes> mit einem <m> geschrieben? ) s: [ b.'StIm.m.ts ], das würde sich ja scheiße anhören. […] das geht ja auch schlecht. (ebd.: 145) Auch in Fällen der Schärfungsschreibung ist der einzige verfügbare Erklärungsansatz für die schwachen Rechtschreiber die Aussprache, wobei hier wie im Unterricht gelernt, das Silbenschwingen (bzw . -klatschen) nicht nur als Hilfestellung, sondern sogar als Begründung angeführt wird, „wegen dem Schwingen“: „i: <klassen> hast du richtig mit zwei <s> geschrieben. warum? s: auch wieder wegen dem schwingen. weil halt klas-sen-zim-mer. das merkt man halt, das hört man, dass es zwei <s> sind. i: bei treppen, da hast du zwei <p> geschrieben. weshalb? s: weil man das hört, trep-pen.“ (ebd.: 134) Man könnte hier zunächst annehmen, dass die Methode des Silbenschwingens bzw . -klatschens doch zielführend ist; schließlich kann durch die schriftorientierte Aussprache der Wörter die Doppelkonsonantenschreibung unterstützt werden Das Problem besteht jedoch darin, dass die gutgemeinte Stütze des grundschulischen Unterrichts zu einer Aussprachekorrektur führt und sich hinterrücks gegen die Lerner wenden kann, wie das nächste Beispiel zeigt: „i: <stufe> hast du mit zwei <f>. s: (überlegt 6 sekunden) stuf-fe. stu-fe, aber wenn man es spricht, hört man es dann auch wieder nicht. i: und wenn du es trennst? s: wenn man es trennt, hört man es: stuf-fe.“ (ebd.: 146) Wenn die Schüler/ innen gelernt haben, in Wörtern mit Doppelkonsonantenschreibung einen zweiten Konsonanten auszusprechen, tun sie dies u U auch dort, wo es von den Lehrer/ innen nicht intendiert war, nämlich bei Wörtern mit gespanntem Vokal wie Stufe Was wir an diesen Beispielen zeigen möchten, ist die Gefahr, die für Schüler/ innen von an sich gutgemeinten Hilfestellungen ausgehen kann: 1 Ihnen wird die Möglichkeit genommen, die Strukturen der Schrift auf Basis ihrer Umgangssprache zu reflektieren; durch Hilfsaussprachen verlieren sie diese Basis und geraten auf unkalkulierbares Terrain Die Rolle des Unterrichts 109 2 Ihnen wird fälschlich vermittelt, Wortschreibungen seien grundsätzlich lautlich motiviert; die grammatische Ebene der Schriftsprache bleibt dadurch kognitiv unterentwickelt Dass eine kognitive Durchdringung auch in den Folgejahren nicht in der erforderlichen Form geleistet wird, zeigt eine Untersuchung der Sprachdidaktikerin Gerheid Scheerer-Neumann von 2004 Sie befragte Fünft- und Sechstklässer/ innen zu ihren Umgehensweisen mit Schreibproblemen Dabei stellte sie fest, dass nur 25 % aller Befragten bei Schreibentscheidungen wissentlich auf sprachliche Strukturen (Syntax, Wortstämme, andere Wortbausteine) zurückgreifen 20 % orientieren sich an der Phonographie, also den lautlich wahrnehmbaren Schreibungen, nach dem Grundsatz „Wie man’s spricht“, der Rest behilft sich mit Eselsbrücken, Einprägen oder Analogiebildungen Eckert und Stein fanden in ihrer bereits erwähnten Untersuchung von 2004 heraus, dass die von ihnen untersuchten schwachen Rechtschreiber/ innen sogar zu 45-65 % lautlich argumentieren (ebd : 137 f ) Nur zur Klärung: Solche Befragungen geben grundsätzlich Auskunft darüber, was explizit gedacht wird, aber nicht was implizit gemacht wird, bezogen auf die Schreibung geben sie also Auskunft über die ‚bewusste‘ Korrektur und nicht über die Korrektur des Typs ‚so sieht es besser aus‘ Die Gefahr, dass sich aus unausgewogenen Lernkonzepten schwache Lernerprofile entwickeln, ist groß Die Verführung, mit den alten Konzepten weiterzumachen, ist aber ebenso groß Denn wie wir auch gesehen haben, gibt es erstaunlich viele Kinder, die das Schreiben und Lesen trotzdem lernen, was viele Lehrer/ innen an ihrer alten Praxis festhalten lässt Welche Alternativen gibt es? Wie ist der Kernbereich der Wortschreibung, der vor allem silbische und morphologische Strukturen repräsentiert, Grundschüler/ innen so zu vermitteln, dass auch die schwächeren auf den Zug aufspringen? Aus den beiden oben genannten Punkten ergeben sich zwei Ansprüche an den Orthographieunterricht: 1 Die Schüler/ innen müssen die Wortschreibung als Repräsentation prosodischer Muster begreifen 2 Sie müssen die grammatischen Markierungen der Schriftsprache verstehen lernen Dem ersten Anspruch versucht das bereits vorgestellte Häusermodell von Röber zu entsprechen In Anlehnung an das Häusermodell wurde von Bredel (2010b) ein weiteres Modell entwickelt, in dem Prosodie und Morphologie integrativ dargestellt werden 110 Wie funktioniert der Schriftspracherwerb? Das Modell zeigt zum einen die Silbenstruktur unseres trochäischen Basismusters mit einer Vollsilbe (Haus) und einer Reduktionssilbe (Garage), wobei das letzte Zimmer im Haus bei Wörtern mit langem, gespanntem Vokal frei bleibt (ge-ben), bei Wörten mit kurzem, ungespanntem Vokal belegt ist (gel-ben) Zum anderen zeigt das Modell die morphologische Struktur des Wortes (die Einfärbung macht den Morphemschnitt sichtbar, den wir in Kapitel 2 dargestellt haben) Was lernen die Kinder mit dieser Methode, was sie mit den herkömmlichen Methoden so nicht lernen? Wie bereits weiter oben beschrieben wurde, ist die morphologische Wortanalyse einer der schwierigeren Bereiche des Schriftspracherwerbs, ohne den jedoch das Prinzip der Morphemkonstanz nicht zu lernen ist Das Konzept der Verwandtschaft, das uns Erwachsenen so einleuchtend ist und das im Unterricht so häufig genutzt wird, hilft den Kindern, wie wir gesehen haben, hier nicht weiter Tragen sie dagegen trochäische Basismuster von Beginn an in das hier vorgestellte Haus-Garagen-Modell ein, wird die morphologische Analyse automatisch durch die Einfärbung geleistet und für die Kinder sichtbar: Was am Beispiel legen noch recht einfach aussieht, wird hochattraktiv bei schwierigeren Wörtern mit Sondermarkierungen Wir dokumentieren das am Die Rolle des Unterrichts 111 silbeninitialen h, wollen also zeigen, wie das Kind (sehen) lernen kann, dass geht, gehst, Gehhilfe, Gehstock etc mit h geschrieben werden Wenn die Kinder „normale“ Trochäen schreiben, wird die morphologische Analyse, die ja durch die Einfärbung stets sichtbar ist, quasi beiläufig mitgelernt Wenn sie dann in der Klasse thematisiert wird, kann sie mit dem „Trick mit dem Knick“ noch einmal anschaulich gemacht werden: Alles was links vom Knick steht, gehört zum Stammmorphem, was rechts vom Knick steht, ist grammatische Information Das gilt auch für Wörter wie Tante, die morphologisch einfach aussehen, tatsächlich aber in einen Stamm Tant (wie in Tantchen) und einen substantivischen Femininmarker e (wie auch in Brühe, Wiese, Blume) zerlegt werden können Beim Eintragen von Tante in das Haus-Garagen-Modell wird den Kindern diese Struktur deutlich Das hilft auch Kindern mit Migrationshintergrund, die das grammatische Geschlecht von Substantiven ja mühsam lernen müssen: Die Lernhilfe, die hier abgeleitet werden kann, ist: Substantive, die auf e enden, sind zu ca 90 % Feminina; die nicht femininen Wörter auf e (z B Junge, Auge, Hase) kommen so häufig vor, dass sie als Merkwörter leicht zu lernen sind Der Trick mit dem Knick 112 Wie funktioniert der Schriftspracherwerb? Die Ansätze von Röber und Bredel sollen die Schüler/ innen zu einer aktiven Auseinandersetzung mit den Strukturen der deutschen Wortschreibung als Repräsentation trochäischer Wortmuster anregen und sie von einer rein sequentiellen Schriftauffassung abbringen bzw . eine solche gar nicht erst entstehen lassen . Es ist nämlich, wie wir in Kap 4 noch ausführlich zeigen werden, davon auszugehen, dass viele Lese-Rechtschreibprobleme auch älterer Schüler/ innen auf dieses falsche Verständnis vom geschriebenen Wort als Abbild einer Lautkette zurückzuführen sind Satzinterne Großschreibung Wir möchten diesen Abschnitt mit einem kleinen Test beginnen Schreiben Sie doch einmal folgende Phrasen richtig auf: a. ein neues h/ haus bauen b. das r/ runde muss in das e/ eckige c. in großer h/ höhe d. aufs Ä/ äußerste gefasst sein e. über k/ kurz oder l/ lang Alles gewusst? Die Lösung steht auf S 117 Der folgende Textausschnitt stammt aus einem Diktat des 13-jährigen Hauptschülers Christian Er gehört zu den schwächeren Rechtschreibern in seiner Klasse, insbesondere hat er Schwierigkeiten mit der satzinternen Großschreibung: „(...) Manche führten freitags nicht zu dem gewohnten. Manche hatten auf halber höhe eine stufe die ganz Plötzlich verschwand und man durfte nicht vergessen diese(s) unforhersehbare nichts zu überspringen. (...)“ Als Christian später zu seinen - falschen wie richtigen - Schreibungen befragt wurde, stellte sich heraus, dass er im Hinblick auf die Groß- und Kleinschreibung oft unsicher ist und sich häufig einfach „aus dem Bauch heraus“ für eine Möglichkeit entscheidet Die Schwierigkeiten dieses Siebtklässlers sind äußerst typisch Gerade die satzinterne Großschreibung ist ein Bereich, in dem Unsicherheiten nicht nur bei schwachen Rechtschreiber/ innen an der Tagesordnung sind Ein weiterer interessanter Fall ist der Schüler Claus, ein Gymnasiast im achten Schuljahr, dessen Unsicherheiten Röber-Siekmeyer in ihrem Buch „Ein anderer Weg zur Groß- und Kleinschreibung“ (1999) wiedergegeben hat (C = Claus, S = Studentin): Die Rolle des Unterrichts 113 „s: warte, ich zeig dir mal eine stelle ... hier <munteres treiben>. <treiben> hast du großgeschrieben. warum? c: weil, ... <das treiben>. darum. s: du guckst also, ob du einen artikel davorschreiben kannst? c: ja, so kann man es auch sagen. s: ah ja. aber warum hast du *<das tun> dann nicht auch großgeschrieben? c: ... weil man das ja macht. das ist ein tunwort, das haben wir in der schule gelernt, und die schreibt man immer klein. s: auch wenn du da einen artikel vor schreiben kannst? c: das ist ein tunwort. das bleibt auch mit einem artikel davor eins. s: was ist dann mit <treiben>? ist das nicht auch ein tunwort? c: nein. s: warum nicht? c: das ist ein nomen. ist halt so.“ (ebd.: 6 f.) Obwohl Claus aufs Gymnasium geht, hat er erhebliche Probleme, die Groß- und Kleinschreibung sicher anzuwenden Man kann an diesem Interviewausschnitt deutlich erkennen, dass ihn sein gelerntes Wissen in einen nicht aufzulösenden Konflikt führt: Einerseits „weiß“ er, dass die Großschreibung eine Eigenschaft der Wortart Nomen ist und andere Wortarten nicht großgeschrieben werden, andererseits, so meint er, werden Wörter großgeschrieben, vor denen ein Artikel steht Man kann Claus übrigens gar keinen Vorwurf machen, denn er wendet genau die Regeln an, die ihm der grundschulische Rechtschreibunterricht einst vermittelt hat: In allen einschlägigen Lehrmaterialien wird die satzinterne Großschreibung nach demselben wortartbezogenen Schema gelehrt, das Claus hier anwendet, und das sich im Prinzip auf die folgenden zwei Regeln zurückführen lässt: 1 Nomen werden großgeschrieben 2 Andere Wortarten können nominalisiert werden und sind dann ebenfalls groß zu schreiben (ab Klasse 5) Wenn Sie das zweite Kapitel dieses Buches aufmerksam gelesen haben, wissen Sie an dieser Stelle bereits, warum solche Regeln - so verbreitet sie auch sein mögen - ihre Tücken haben: • Zum einen beziehen sich die Regeln auf unterschiedliche sprachliche Ebenen Regel 1 beschreibt die Großschreibung als Eigenschaft einer Wortart, also einer morphologisch-lexikalischen Kategorie, die zweite thematisiert Wortbildungsprozesse („Nominalisierung“, also einen morphologisch-syntaktischen Prozess) und formuliert zudem eine Ausnahme zu Regel 1, insofern als die Großschreibung auch auf Wörter anzuwenden ist, die gerade keine Nomen sind 114 Wie funktioniert der Schriftspracherwerb? Dies führt zu einem ganz grundsätzlichen Problem, nämlich der Frage, was ein Nomen ist Zur Identifizierung der Kategorie „Nomen“ (bzw „Namenwort“ in der grundschulüblicheren Terminologie, im zweiten Kapitel in der grammatischen Tradition als ‚Substantive‘ bezeichnet) werden den Schüler/ innen i d R die folgenden Hilfestellungen an die Hand gegeben, wobei Satz a) auf die Wortfolge im Satz abhebt und Satz b) und c) auf semantische Eigenschaften: a Nomen haben einen Begleiter (ab Klasse 2) b Nomen bezeichnen Dinge und Lebewesen (ab Klasse 2) c Nomen bezeichnen neben Dingen und Lebewesen auch Vorstellungen (ab Klasse 4) Dieser heterogene Regelkomplex stellt schließlich die Wissensbasis dar, mit deren Hilfe Schüler/ innen im Zweifelsfall darüber entscheiden sollen, ob ein Wort groß zu schreiben ist oder nicht • Das zweite Problem besteht darin, dass in der unterrichtlichen Vermittlung nach dem wortartbezogenen Ansatz nicht zwischen der Form und der Funktion sprachlicher Einheiten unterschieden wird . So ist ein Nomen zunächst einmal eine grammatische Kategorie mit der Eigenschaft, ein festes Genus zu besitzen Demgegenüber haben wir es in der konkreten Äußerung - mündlich wie schriftlich - mit funktionalen Einheiten zu tun . Hier - im Satzzusammenhang - werden Nomen als Elemente von Satzgliedern nach Kasus und Numerus dekliniert Zwar ist es häufig der Fall, dass einzelne Satzglieder prototypisch mit bestimmten Wortarten besetzt werden, aber eben nicht zwangsläufig Grundsätzlich ist es etwa möglich, das Subjekt durch ein Verb zu besetzen, vgl „Üben macht Spaß“ . Durch den einseitigen Blick auf Wortarten unter Ausklammerung ihrer syntaktischen Funktionen lässt sich die satzinterne Großschreibung nicht hinreichend erklären So kommt trotz großgeschriebener Wörter in dem Satz „Das Schöne am Faulenzen ist das Nichtstun“ kein einziges Nomen vor, wohl aber nominale Satzglieder: Das Wort „Faulenzen“ ist isoliert betrachtet zwar ein Verb, steht hier als Kern einer Nominalgruppe jedoch im Dativ Singular und wird natürlich großgeschrieben Um diese Zusammenhänge den Schüler/ innen verständlich zu machen, ist es also notwendig, ihnen zunächst den Unterschied zwischen einer Form - der Wortart - und einer Funktion - wie dem Kern einer Nominalgruppe - zu vermitteln Vermittlung der Großschreibung nach dem syntaxorientierten Ansatz In einigen neueren sprachdidaktischen Arbeiten (vgl den Überblick in Dürscheid 4 2012) wird anstelle des traditionellen wortartbezogenen Ansatzes zur Großschreibung ein aus linguistischer Sicht angemessenerer, syntaxorientierter Ansatz entwickelt, wie wir es in diesem Buch ebenfalls tun: Großgeschrieben Die Rolle des Unterrichts 115 wird im Deutschen der Kern einer Nominalgruppe Semantisch-lexikalische Eigenschaften bleiben dabei vollkommen ausgeklammert, es ist also gleichgültig, ob „man das tut“ oder ob es sich um ein „Namenwort“ handelt Um nach diesem Ansatz die Großschreibung sicher anwenden zu können, müssen die Schüler/ innen über syntaktisches Strukturwissen verfügen Während dies in der Sekundarstufe ein durchaus realistisches Ziel darstellt - sind doch satzanalytische Themen in den Bildungsstandards und Lehrplänen, und dementsprechend auch in den Unterrichtsmaterialien, vorgesehen - scheint dies in der Grundschule auf den ersten Blick problematisch zu sein Die Einführung der Großschreibung erfolgt normalerweise im zweiten Schuljahr, wohingegen satzgrammatische Übungen erst später, im dritten bzw vierten Schuljahr, beginnen So gesehen liegen gemäß den Lehrplänen bei den Schüler/ innen in Klasse 2 die notwendigen Voraussetzungen für einen syntaktischen Zugang zur Großschreibung also noch gar nicht vor Allerdings besteht dieser Widerspruch nur scheinbar Entscheidend ist nämlich, was im Einzelnen unter „grammatischer Analyse“ verstanden wird So ist es in der Primarstufe durchaus möglich, die Kinder durch geeignete Verfahren bestimmte Regelmäßigkeiten und Auffälligkeiten entdecken zu lassen Welche Terminologie dabei verwendet wird, ist nachrangig Gerade jüngere Kinder sind grundsätzlich bereit, mit sprachlichen Strukturen umzugehen und dabei das Wesentliche zu entdecken . Wie dies im Bereich der satzinternen Großschreibung gehen kann, stellen wir hier an einem Unterrichtsmodell vor (Noack 2011) Unterrichtsmodell für die syntaxbezogene Vermittlung der Großschreibung (ab Klasse 2/ 3) das Modell gliedert sich in seinem ablauf in mehrere schritte, in denen sich die schüler/ innen sukzessive mit den syntaktischen besonderheiten vertraut machen, die die großschreibung im deutschen begründen. 1. Schritt: satzglieder ermitteln durch die umstellprobe von röber-siekmeyer (1999) stammt die Methode der sogenannten „treppengedichte“. die grundlage bilden sätze aus nominal- (bzw. Präpositional-)gruppen und dem finiten verb in zweitstellung; die nominalgruppen bestehen aus artikelwort und substantiv: Die Kröte spielt ein Lied auf der Flöte. Die Katze fängt die Maus mit der Tatze. für die ermittlung der satzglieder bietet sich die umstellprobe an: Die Kröte spielt ein Lied auf der Flöte. - Auf der Flöte spielt die Kröte ein Lied. nachdem die kinder auf diese weise die sätze strukturiert haben, werden diese der besseren übersichtlichkeit halber untereinander geschrieben: 116 Wie funktioniert der Schriftspracherwerb? Die Kröte spielt ein Lied auf der Flöte Mithilfe ähnlich strukturierter übungssätze nach dem Muster „nominalgruppe - finites verb - nominalgruppe (bzw. Präpositionalgruppe)“ sollen die schüler/ innen entdecken, dass das großgeschriebene wort immer an einer bestimmten Position steht, nämlich am ende der nominalgruppe. auch wenn die nominalgruppe in eine Präpositionalgruppe eingebettet ist (auf der Flöte), ist es das letzte wort, das großzuschreiben ist. die großgeschriebenen wörter können durch einkreisen oder unterstreichen markiert werden, um das erkennen der endposition zu unterstützen. 2. Schritt: erweiterung der nominalgruppen durch adjektivattribute als nächstes werden die nominalgruppen durch adjektivattribute erweitert, wobei zeilenweise immer ein adjektiv hinzukommt: Die Kröte die grüne Kröte die grüne, glitschige Kröte die grüne, glitschige, nasse Kröte spielt ein Lied ein leises Lied … usw. hierbei wird mit den kindern die kategorie adjektivattribut erarbeitet. sie lernen, dass das erweiterungswort eine der endungen -e, -er, -en, oder -es haben muss. dieses Merkmal allein reicht jedoch nicht aus, da es auch andere wörter gibt, die so enden, was zu verwechslungen führen kann, vgl. Das leckere Essen vs. Ich möchte das gerne essen. zur übung sollte hier mit Paraphrasierungen und flexionsveränderungen gearbeitet werden, um die schüler/ innen entdecken zu lassen, welche strukturen möglich bzw. nicht möglich sind und welche funktion die endung jeweils hat (ob sie flexionsendung ist oder zum stamm gehört): a. das leckere Essen - dem leckeren Essen - ein leckeres Essen → -e = flexionsendung (lecker + e) b. Ich möchte das gerne essen - *dem gernen essen - *ein gernes essen → -e gehört zum stamm (gerne) in a. ist die endung je nach flexionsform veränderbar, das -e also eine flexionsendung. in b. ist hingegen keine flexion möglich, das -e bleibt immer bestehen und muss daher zum stamm gehören. da das wort gerne nicht flektierbar ist - es handelt sich um ein adverb - kommt es als attribut nicht infrage und bildet mit dem dahinterstehenden wort keine nominalgruppe. als weitere übung bietet es sich an, für eine nominalgruppe möglichst viele attribute finden zu lassen. hierdurch lernen die kinder, dass das wort im gruppen- Die Rolle des Unterrichts 117 kern stets am ende steht, unabhängig davon, wie viele erweiterungswörter davor treten. 3. Schritt: ausweitung auf beispiele mit anderen wortarten als kern der nominalgruppe um die besondere funktion der großschreibung als Markierung syntaktischer einheiten zu verdeutlichen, ist es notwendig, dass die kinder nun dieselben operationen an sätzen durchführen, in denen der gruppenkern kein nomen ist: Das Blau passt zu dem Weiß. Die Kinder gehen zum Schwimmen. Das Brüllen erschreckt die Zebras. günther/ nünke (2005: 18 ff.) schlagen in ihrem unterrichtsmodell für das zweite schuljahr vor, einen entsprechenden satz zunächst in kleinschreibung vorzugeben und ihn die kinder in treppenform aufschreiben zu lassen. hierdurch werden sie auf die fehlende großschreibung der endwörter aufmerksam, die sie korrigierend vornehmen, und zwar aufgrund ihrer syntaktischen Position und unabhängig von der lexikalischen wortart. das hier vorgestellte Modell ist im vergleich zum wortartbezogenen ansatz komplex: die kinder lernen, sich mit satzstrukturen zu befassen, und entdecken, dass nominalgruppen als ganze umstellbar sind und dass das großgeschriebene wort am gruppenende steht. zusätzlich sind die gruppen durch flektierte attribute erweiterbar, die immer links vor dem kern stehen. durch mehrfache attribuierung derselben nominalgruppe erkennen die kinder die feste Position des kernwortes am gruppenende, das immer weiter nach rechts rückt. bei der ausweitung des schemas auf andere wortarten wird ihnen schließlich bewusst, dass es sich bei der großschreibung um die Markierung einer syntaktischen funktion handelt und nicht um die feststehende eigenschaft einer wortart. Zum „Rechtschreibtest“ Wenn Sie mit dem kleinen Rechtschreibtest auf Seite 37 die eine oder andere Schwierigkeit hatten, sind Sie in bester Gesellschaft . Selbst Angehörige schreibender Berufe wie Journalist/ innen und Schriftsteller/ innen geraten bei der satzinternen Großschreibung mitunter ins Zweifeln Richtig geschrieben wird folgendermaßen: a ein neues Haus bauen b das Runde muss in das Eckige c in großer Höhe d aufs Äußerste/ äußerste gefasst sein e über kurz oder lang 118 Wie funktioniert der Schriftspracherwerb? Sie ahnen es vielleicht: Diese Ausdrücke wurden ausgewählt, um die Bandbreite der Großschreibung von leichteren bis zu schwierigen Fällen zu demonstrieren . Über die Großschreibung eines konkreten Substantivs wie in Beispiel a . dürfte es wohl keinen Zweifel geben, auch Substantivierungen wie in b sind für erwachsene Schreiber/ innen normalerweise kein Problem, jedenfalls dann nicht, wenn sie durch die syntaktische Umgebung eindeutig als substantivisch gekennzeichnet sind Auch mit Abstrakta wie in c . haben kundige Schreiber/ innen i d R . keine Schwierigkeiten, anders als die Schüler/ innen, wie oben bereits erwähnt Schwieriger wird es dann bei Beispiel d , sogenannten substantivisch gebrauchten Ausdrücken, die wir als feste Wendungen gebrauchen Das Problem bei aufs Ä/ äußerste ist nämlich, dass zwei Regeln konkurrieren: Der Artikel deutet auf eine Substantivierung, deshalb Großschreibung; andererseits zeigt uns die Endung -ste einen Superlativ an, und der ist normalerweise klein zu schreiben Sie sehen also, dass der Schreiber/ die Schreiberin hier aufgefordert ist, sich zu entscheiden, das System verhält sich unentschieden Beispiel e . ist als nicht dekliniertes Adjektiv wieder eindeutig geregelt: Es wird immer kleingeschrieben Warum wir diesen Test durchgeführt haben? Er zeigt recht eindrucksvoll, dass man bei der Groß- und Kleinschreibung mit Wortartenbezogenheit („Substantive schreibt man groß“) nicht weiterkommt . Wenn man den Schüler/ innen stattdessen einen systematischen Zugang anbietet, zeigt man ihnen einen Weg durch das Dickicht . Zweifeln geht nämlich in der Orthographie keineswegs immer auf individuelle Unsicherheiten zurück; vielfach lässt das orthographische System aufgrund mehrerer richtiger Schreibweisen Zweifel sogar zu: Das Beispiel d . in unserem kleinen Test fällt quasi durch die Attribuierungsprobe durch und wird dennoch großgeschrieben . Wir sprechen daher mit Bredel (2006) von einem „systeminternen Zweifel“ Wenn unser orthographisches Regelwerk für eine bestimmte Schreibung keine Regeln vorsieht, ein Bereich der Sprache also ungeregelt ist, spricht Bredel von einem „norminternen“ Zweifel“ (ebd .) . Bei den Schüler/ innen die Einsicht zu wecken, dass die Ursache für ihre Unsicherheiten nicht bei ihnen, sondern im System liegt, kann ein erster Schritt hin zu mehr Rechtschreibsicherheit sein Denn genau das zeichnet kompetente Schreiber/ innen aus: Sie zweifeln nur dort, wo das System selbst zweifelhaft ist Getrennt-/ Zusammenschreibung Auch das Thema der Getrennt-/ Zusammenschreibung wird im Unterricht meist nicht explizit behandelt Vielmehr wird es als selbstverständlich betrachtet, dass Kinder in der Lage sind, zu sagen, was als ein Wort und somit zwischen zwei Leerstellen zu schreiben ist Dabei sprechen zahlreiche Schreibfehler in diesem Bereich eine ganz andere Sprache: Gerade abstrakte Wörter und feste Wendungen werden häufig fälschlich zusammen, Komposita werden nicht selten getrennt geschrieben, wie in den folgenden Beispielen: Die Rolle des Unterrichts 119 „Manche hatten auf halberhöhe eine stufe …“ „an den straßen namen kannman es erkennen.“ „Manchem schüler fällt zweimal im jahr das heim kommen nicht leicht“. Ein Vorteil der Getrennt-/ Zusammenschreibung ist es, dass dem Leser/ der Leserin dadurch deutlich gemacht wird, ob eine Einheit als Wortbestandteil oder als Satzbestandteil interpretiert werden soll Aus dem gleichen Grund entscheidet sich der Schreiber für die eine oder andere Variante (vgl . das Unterrichtsmodell zur Getrennt-/ Zusammenschreibung in Praxis Deutsch 198/ 2006) . Im unten vorgestellten Modell geht es darum, diese Entscheidung zu treffen Es beginnt mit einer einfachen Sequenz, in der die Schüler/ innen zunächst die Leerstellen in Fußballweltmeister einfügen sollen, um grammatisch korrekte Sätze zu erhalten: a. Sie sind Fußballweltmeister. b. Sie sind mit dem Fußballweltmeister. c. Sie sind im Fußballweltmeister. d. Sie sind in der Fußballweltmeister. Die Lösungen werden anschließend verglichen und diskutiert Zur Ergebnissicherung werden die strukturellen Unterschiede benannt: • b. unterscheidet sich von a. durch … (eine zusätzliche Präposition (mit) und einen dazu passenden Artikel (dem)) • c. unterscheidet sich von b. durch … (eine andere Präposition (in), die mit dem dazu passenden Artikel (dem) verschmolzen ist) • d. unterscheidet sich von c. durch … (die Form des Artikels (der) . Die Präposition (in) bleibt erhalten) Abschließend versuchen die Schüler/ innen, selbst Gründe dafür zu finden, warum die unterschiedlichen Präpositionen und Artikel zu Getrennt- oder Zusammenschreibung führen Dabei kann es hilfreich sein, sich jeweils zu überlegen, warum andere Schreibungen nicht möglich sind - also sie sind im Fußball Weltmeister, aber nicht *sie sind im Fußballwelt Meister. Die Lösung liegt natürlich in der Struktur der Satzglieder, genauer in der Struktur der Ergänzungen des Prädikats mit einem Prädikatsnomen . In a . ist Fußballweltmeister das Prädikatsnomen, in b Ballweltmeister oder Weltmeister, in c Weltmeister und in d Meister Die Präpositionalgruppen in b , c . und d sind 120 Wie funktioniert der Schriftspracherwerb? adverbiale Bestimmungen Die Arbeit mit den Schüler/ innen erfolgt durch die Weglassprobe Dafür werden alle vier Sätze auf Pappbänder geschrieben, die an der Tafel befestigt werden In einem ersten Schritt isolieren die Schüler/ innen die Satzglieder . Die Pappbänder werden an den kritischen Stellen zerschnitten a. Sie / sind / Fußballweltmeister. b. Sie / sind / mit dem Fuß / Ballweltmeister. b’. Sie / sind / mit dem Fußball / Weltmeister. c. Sie / sind / im Fußball / Weltmeister. d. Sie / sind / in der Fußballwelt / Meister. Die Schüler/ innen ermitteln auf der Grundlage der Zerlegung die Weglassbarkeit von Satzgliedern; mit diesem Verfahren werden die adverbialen Bestimmungen isoliert Die Schüler/ innen erkennen nun, dass die zunächst nur oberflächlich beobachteten Unterschiede (b unterscheidet sich von d durch …) grammatische Auswirkungen haben: Präpositionen binden Substantive und verlangen von diesen einen bestimmten Kasus Außerdem stimmen Numerus und Genus von Artikel und Substantiv überein . Je nach Präposition-Artikel- Vorgabe müssen deshalb verschiedene Teile der Gruppe Fuß-Ball-Welt-Meister abgespalten und als Teil der Präpositionalgruppe interpretiert werden, damit der Satz grammatisch ist In einer weiteren Übung sollen die Schüler/ innen dann nicht mehr vorgegebene Sätze umstellen, sondern eigene Kontexte finden, wie die folgenden: süß - sauer (Die Suppe ist süßsauer. Die Suppe ist süß, sauer und salzig.) voll - schlank (Maria ist vollschlank (‚dick‘) - Maria ist voll schlank (‚sehr schlank‘)) Haus - Tür(en) (Der Tischler liefert an jedes Haus Türen. Der Tischler liefert Haustüren) Möglicherweise sind Sie überrascht, dass Getrennt- und Zusammenschreibung nicht an den Zweifelsfällen wie Rad_fahren und eislaufen erklärt wird Eben gerade, weil es Zweifelsfälle sind, nicht Der Kernbereich der Getrennt- und Zusammenschreibung ist es, der thematisiert werden muss, wie wir es in den anderen orthographischen Bereichen auch tun, s Kapitel 2 Im Kernbereich müssen die Schüler/ innen Sicherheit gewinnen, um dann den Zweifelsfällen als solchen begegnen zu können Die andere Seite der Medaille: Leseunterricht Eines der wichtigsten Lernziele der Schule ist es, die Schüler/ innen dazu zu befähigen, einem Text Informationen zu entnehmen und diese kognitiv zu verarbeiten . Wie wichtig das in einer schriftbasierten Gesellschaft ist, haben wir im Die Rolle des Unterrichts 121 ersten Kapitel gesehen Und dass dies längst nicht allen Schüler/ innen gelingt, wissen wir spätestens seit der PISA-Studie, bei der auch in der Erhebung von 2010 immer noch 18,5 % der deutschen 15-Jährigen nicht über die unterste Niveaustufe hinauskamen Auch die in der Einleitung erwähnten 14,5 % erwachsenen Analphabeten in Deutschland zeigen eine dramatische Schieflage unserer schulischen Praxis Die Leseforschung unterscheidet zwischen sogenanntem „basalen“ und „automatisierten“ Lesen (vgl Scheerer-Neumann 2006) Erst der automatisierte Leseprozess ermöglicht das sinnkonstruierende, verstehende und interpretierende Lesen; die basalen Teilprozesse, also die Entschlüsselung der schriftsprachlichen Zeichen, sind dabei Voraussetzung Automatisiertes Lesen ist ein überaus komplexer Vorgang, und die Forschung hat bis heute erst teilweise verstanden, was da eigentlich im Kopf passiert Das macht es wiederum schwer, geeignete Lernverfahren zu entwickeln, die alle Kinder zu Expertenlesern werden lässt Konsens besteht in der Leseforschung weitgehend darüber, dass der Unterricht mit der Ausbildung der basalen Lesefähigkeiten beginnen muss Die Kinder müssen zunächst lernen, die Funktion der Schriftzeichen zu verstehen Beobachten wir den Erstklässer Noah nun bei seinen ersten Leseversuchen Wir entdecken sofort erhebliche Unterschiede zu unserem eigenen Leseverhalten Noah liest nicht nur sehr viel langsamer als ein kompetenter Leser, er liest auch anders Mindestens drei Merkmale fallen uns auf: 1 Noah nimmt beim Lesen die Hand zu Hilfe: Mit seinem Finger markiert er die Stelle, die er gerade zu lesen versucht Wir sprechen hier der Einfachheit halber von „Handing“ Bei kompetenten Leser/ innen kommt die Hand nur noch beim überfliegend-suchenden Lesen zum Einsatz, also dann wenn ein bestimmter Ausdruck auf einer Seite gesucht wird Bei Noah können wir also ein lokales Handing, bei kompetenten Lesern ein globales Handing erkennen . 2 Noah begleitet den Leseprozess zusätzlich mit dem Mund: Manchmal spricht er tatsächlich laut mit, was er liest, manchmal vollzieht er mehr oder weniger stumme Lippenbewegungen, die wir „Mouthing“ nennen Oft hören wir flüsternde Wiederholungen einer gerade gelesenen Einheit . Bei kompetenten Leser/ innen kommt das Mouthing, wenn überhaupt, nur noch dann vor, wenn ein besonders schwieriges Wort gelesen werden muss: Die artikulatorische Begleitgeste hilft dann bei der Erfassung der Wortstruktur . 3 Noah liest Buchstabe für Buchstabe, wobei er jedem Buchstaben einen Lautwert zuweist und jedem Laut dasselbe Gewicht gibt Die Verknüpfung zwischen den Einzellauten kann er nur ansatzweise, häufig erst nach mehreren Versuchen leisten Das Leseergebnis ist mit dem Zielwort oft nur entfernt verwandt . Wir sprechen von „Wortvorformen“ (Scheerer-Neumann 2006) oder „Kunstwörtern“ (Röber 3 2013) 122 Wie funktioniert der Schriftspracherwerb? Nun beginnen wir langsam zu verstehen, warum Noah seine Leseergebnisse nach dem Lesen noch einmal flüsternd wiederholt: Er sucht im Kopf nach einem ähnlich klingenden Wort Und wenn wir genau hinhören, wiederholt Noah nicht immer dasselbe, sondern variiert sein jeweils erreichtes Leseergebnis so lange, bis er in seinem Kopf auf ein Wort stößt, das ähnlich genug ist Hat er ein passendes Wort gefunden, wiederholt er es ein weiteres Mal, nun in korrekter Aussprache, was meistens mit einem Aha-Effekt einhergeht (vgl . dazu auch Scheerer-Neumann 2006): „G-E-H-E-N … Ach so! gehen “ Noah benötigt also zwei Leseschritte: Den ersten nennen wir Rekodieren (das Entschlüsseln von Schriftzeichen), den zweiten Dekodieren (das Zuweisen von Bedeutungen) Dieses zweistufige Erlesen von Wörtern ist bei kompetenten Lesern überhaupt nicht mehr zu beobachten Sie haben gelernt, dass Buchstaben nicht Lautwerten entsprechen, sondern dass Buchstabenkombinationen für Silben, Morpheme und Wörter stehen, und können die Bedeutung und die Funktion, die ein Wort im Satz hat, unmittelbar entnehmen Wir wollen nun der Frage nachgehen, ob wir mit Noah einen typischen Erstklässer beobachtet haben Damit verknüpft ist auch die Frage, ob die beobachtete Form des Erstlesens der Ausdruck eines natürlichen Erwerbsprogramms ist, das von allen Kindern in derselben Weise ausgeführt wird, oder ob Noahs Vorgehensweise von anderen Faktoren abhängt Und um einen Teil der Antwort gleich vorwegzunehmen: Zwei der drei Merkmale können wir - wenigstens im Prinzip - bei allen Lesenovizen beobachten, sie sind natürliche Komponenten des Leseerwerbsprozesses, eines der Merkmale jedoch nicht Die beiden Merkmale, die wir bei allen Lesenovizen beobachten können, sind das Handing und das Mouthing Weil die Kinder ihre gesamte optische Konzentration auf die Ermittlung der gegebenen Informationen richten (um welchen Buchstaben, um welche Buchstabenkombination handelt es sich), stützen sie mit dem Finger die räumliche Ordnung (wo steht die Information, die ich gerade entschlüssele) ab Das Handing unterstützt so die Fixation, also das Scharfstellen der Augen auf einen bestimmten Punkt (s u ) Das Mouthing ist deshalb wichtig, weil die Kinder zu Beginn des Leseerwerbs lernen müssen, Buchstabenfolgen mit Lautfolgen zu assoziieren; sie bringen die Buchstabenfolgen zum Klingen, um das neue Medium (Schrift) mit ihren bereits aufgebauten Ressourcen (gesprochene Sprache) zu verknüpfen Es ist deshalb ganz besonders wichtig, dass von Beginn an Schrifteinheiten mit solchen artikulatorischen Einheiten verknüpft werden, die dem natürlichen Rhythmus der Sprache entsprechen Bei Noah war das allerdings nicht der Fall Er hat ja erst einmal Wortvorformen produziert und musste das, was er gelesen hatte, deshalb durch wiederholende Reformulierungen erschließen Und hier kommen wir zu dem Punkt, an dem das von Noah gezeigte Leseverhalten nicht mehr einem natürlichen Erwerbsprogramm entspricht, sondern deutliche Spuren des Unterrichts zeigt, den er besucht: Noah hat gelernt, dass jeder Buchstabe angeblich einem Laut entspreche, und dass die Verbindung dieser Laute, Die Rolle des Unterrichts 123 die in der Grundschuldidaktik auch „Synthetisieren“ genannt wird, zu einem Wort führe Wie wir aber gesehen haben, führt das Synthetisieren Noah nicht zu einem Wort, sondern zu den beschriebenen Wortvorformen Das eigentliche Wort hat er durch die reformulierende Durcharbeitung erreicht Noah macht hier also eine seltsame Erfahrung: Das Wort, das dort (wohl) steht, wird ihm nicht unmittelbar über das Lesen zugänglich, sondern nur mittelbar über eine nachträgliche Anpassung des Leseergebnisses an eine Artikulationsform, die dem Wort entspricht Das, was im basalen Leseerwerb eigentlich erreicht werden soll - die unmittelbare Verknüpfung zwischen Buchstabenfolgen, lautlichen Repräsentationen und Wortinformationen - kann sich bei Noah so nicht einstellen Wir sehen also deutlich, dass Lesenlernen schon von Beginn an etwas anderes bedeuten muss, als Buchstaben zu „lautieren“ und sie anschließend zu „synthetisieren“ Genau auf diesem Prinzip baut der Erstleseunterricht jedoch, wie wir oben in diesem Kapitel gesehen haben, fast überall auf . Deshalb haben Sie das Leseverhalten Noahs wahrscheinlich auch in diesem dritten Merkmal für typisch gehalten Es ist aber durch den Unterricht geformt, der sich darauf verlässt, dass die Kinder alle weiteren Schritte zu kompetenten Wortlesern nach der ersten Festigung von Laut-Buchstaben-Beziehungen und mehreren Synthetisierungsversuchen eigenständig meistern Es ist aber nicht die Aufgabe des Unterrichts, den Kindern das Lernen selbst zu überlassen Alternative Vermittlungsansätze zum Wortlesen, die von Beginn an so arbeiten, dass die Kinder in der Lage sind, das geschriebene Wort, das gesprochene Wort und den Eintrag in ihrem mentalen Lexikon unmittelbar miteinander zu verknüpfen, haben wir weiter oben mit den Häusern, Garagen und Lassos bereits beschrieben An dieser Stelle möchten wir noch einmal zusammenfassen, was Kinder auf Wortebene sehen lernen müssen: • prosodische Wortmuster, Unterscheidung der betonten und reduzierten Silbe, Silbenschnitt; • Struktur der betonten Silbe: gespannter oder ungespannter Vokal, geschlossene oder offene Silbe; • morphologische Struktur: Stamm und Flexionsendungen, Morphemschnitt Hätte Noah an einem Unterricht teilgenommen, der ihm diese Systemeinsichten von Beginn an verfügbar macht, hätten wir folgendes Verhalten beobachten können: 1 Handing: Noah würde auch jetzt seinen Finger unter die zu lesende Wortstelle legen, um die Fixation zu stützen Er würde aber nicht Buchstabe für Buchstabe vorgehen, sondern den Finger gezielt in den Wörtern bewegen, 124 Wie funktioniert der Schriftspracherwerb? um ihre Struktur zu erfassen Wenn er gelernt hätte, Lassos zu werfen, würde er manchmal vielleicht sogar hinten anfangen, also zuerst die Reduktionssilbe abtasten, um dann zur Hauptsilbe zu kommen 2 Mouthing: Noah würde auch jetzt noch mitartikulieren Jedoch wäre das Mouthing gegenüber dem Handing leicht verzögert Denn Noah würde sich mit dem Finger zunächst im Wort orientieren, um aus den gefundenen Strukturen die Aussprache abzuleiten Deshalb würden wir weniger Wiederholungen während des Lesens, aber auch kaum noch Wiederholungen nach dem Lesen hören 3 Leseprozess und Leseergebnis: Die Leseergebnisse wären keine Wortvorformen mehr, sondern zielnahe silbisch-prosodische Einheiten, weshalb reformulierende Wiederholungen kaum nötig wären Der Aha-Effekt würde bereits beim ersten Zugriff auf ein Wort entstehen, die erste Leseaussprache würde direkt ins mentale Lexikon führen Exkurs: Was tun wir, wenn wir lesen? Wie wir bei Noah gesehen haben, unterstützt er seinen Leseprozess manuell Er fixiert die Stelle, die er gerade liest oder lesen will, mit dem Finger Kompetente Leser/ innen leisten dies allein mit dem Auge Und im Unterschied zu Noah fixiert der kompetente Leser auch nicht Buchstabe für Buchstabe Aufgrund von sogenannten Augenbewegungsstudien weiß man, dass kompetente erwachsene Leser/ innen noch nicht einmal alle Wörter eines Textes mit dem Auge fixieren, sondern teilweise weite Augensprünge (= Sakkaden) ausführen Die folgende Abbildung gibt Ihnen eine ungefähre Vorstellung davon, welche Bewegungen das Auge beim Lesen ausführt (aus Günther 1988; die Fixationen erkennt man an den kleinen Knötchen): Abb. 3-10: Aufzeichnung der Augenbewegungen beim Lesen eines Textes vom Bildschirm (Rohdaten, aus: H. Günther, Schriftliche Sprache. Strukturen geschriebener Wörter und ihre Verarbeitung beim Lesen. Tübingen: Niemeyer 1988) Die Rolle des Unterrichts 125 Ein kompetenter Leser/ eine kompetente Leserin ist also imstande, einen Teil der Zeichen überfliegend zu erfassen oder auch einzelne Wörter zu ergänzen, die er gar nicht angeschaut hat, insbesondere die grammatischen Wörter, wie Präpositionen und Artikel Sie können dies selbst ausprobieren, indem Sie versuchen, einmal bewusst auf Ihre Augenbewegung beim Lesen zu achten Wenn Sie dies gleich bei dem vorliegenden Text tun, werden Sie eventuell eher kurze Sprünge und längere Fixationen beobachten, als wenn Sie etwa einen Bilderbuchtext lesen Der Grund hierfür ist, dass die Art der Augenbewegungen beim Lesen von Variablen wie der Komplexität des Textes bzw seiner inhaltlichen Dichte und sprachlichen Struktur abhängig ist Bei komplizierteren Texten muss das Auge genauer hinsehen, um keine Detailinformation zu verpassen Weitere Variablen sind u a die individuelle Lesegeübtheit und die Leseeinstellung (habe ich Lust, diesen Text zu lesen oder nicht? ), Müdigkeit, Konzentration u ä Interessant ist auch, was mit den Augen passiert, wenn wir uns verlesen oder etwas nicht verstanden haben; dann springen sie nämlich auch mal zurück, es gibt eine Rückwärtssakkade (= Regression), die über wenige Buchstaben oder Wörter oder auch ganze Sätze gehen kann Erinnern Sie sich noch an unseren Abschnitt im 2 Kapitel „Leerzeichen - Ein Komfort fürs Auge“? texteohneleerzeichenführenzuverringerterlesegeschwindigkeitauchnachlängererübung.dieseverlangsamungistaufkürzeresakkadenzurückzuführenundnichtauflängerefixationen (vgl. günther 1988). Und noch etwas haben Sie bei der Beobachtung Ihrer eigenen Augenbewegungen eventuell beobachtet: Die Stellen, die das Auge kurz fixiert hat, waren eher die mittleren Teile der Wörter Dies nützt uns beim schnellen Verstehen, da in der Mitte, nämlich in den lexikalischen Stämmen, normalerweise die Informationen zur Wortbedeutung stecken Die Endungen sind für das Verstehen ebenso wichtig, lassen sich aber zumeist aus dem Kontext erschließen Nur wenn das nicht funktioniert, werden auch weitere Wortteile fixiert Wie Sie sehen, geben uns Augenbewegungsstudien sehr viel Aufschluss über die Art, wie wir lesen Heutzutage werden diese Untersuchungen natürlich mithilfe modernster Technik durchgeführt, bei der die Pupille gefilmt wird Die Anfänge gehen jedoch ans Ende des 19 Jahrhunderts zurück: In seinem Buch über die Psychologie und Pädagogik des Lesens von 1908 beschreibt Edmund B Huey, wie europäische Forscher ihren Testpersonen kleine Hütchen auf das Auge klebten, an denen eine Apparatur befestigt wurde, die die Augenbewegung auf ein Blatt Papier übertrug Die Ergebnisse sind den heutigen computergestützten Studien gar nicht so unähnlich Damit die Prozedur für die Personen schmerzfrei blieb, wurde das Auge übrigens betäubt - mit dem damals üblichen Narkosemittel Kokain! 126 Wie funktioniert der Schriftspracherwerb? Ebene des Satzlesens Zu Beginn ihres Lese-Erwerbs lesen die Kinder noch wortweise Die Aufmerksamkeit ist auf einzelne Buchstaben gerichtet; die Fixationszeiten, die Zeiträume, in denen das Auge auf einem bestimmten Punkt ruht, bevor es zum nächsten weiterspringt, sind relativ lang Erwartungsgemäß fällt es den Kindern dabei noch schwer, dem Gelesenen eine Bedeutung zu entnehmen Das ist nicht weiter verwunderlich, steckt doch die Bedeutung nicht in den einzelnen Wörtern, sondern im Satz, zu dem sich die Wörter zusammensetzen, bzw im Text Die Psychologen Barbara Hemforth und Gerd Strube fassen dies folgendermaßen zusammen: „Wenn wir Sätze einer Sprache verstehen wollen, müssen wir in der Lage sein, die Wortketten, die wir hören oder lesen, in sinnvoller Weise zu strukturieren Erst wenn wir wissen, welche Adjektive welchen Nomen zugeordnet werden müssen, welches Nomen Subjekt, welches Objekt eines Verbs ist, können wir die Bedeutung einer Äußerung, wer wann und wo was mit wem gemacht hat, extrahieren“ (1999: 243) Leider schaffen es viele Kinder auch nach dem ersten Schuljahr nicht, sich von dem Wort-für-Wort-Lesen zu verabschieden und ganze Sätze zu verarbeiten Im zweiten Kapitel haben wir die besondere Rolle der satzinternen Großschreibung für das Lesen betont und u a eine Studie genannt, nach der sogar niederländische Leser/ innen Texte in ihrer Muttersprache schneller lesen konnten, wenn sie in der deutschen Großschreibung geschrieben waren Grund dafür ist wohl die Markierung der Kerne nominaler Gruppen: Das schnelle Erkennen der Nominalgruppen hilft, die Struktur des Satzes zu erfassen . Diese Eigenschaft der deutschen Orthographie wird im Leseunterricht leider kaum genutzt Dabei gäbe es dafür gute Möglichkeiten Schauen wir uns beispielsweise folgenden Satz an: Ein Wiesel saß auf einem Kiesel inmitten Bachgeriesel. (chr. Morgenstern) Man kann den Satz als Sequenz von acht Wörtern lesen . Kompetente Leser/ innen werden aber gerade das nicht tun, sondern erfassen beim Lesen gleichzeitig die syntaktische Struktur Um diese hier sichtbar zu machen, schreiben wir die Satzglieder wie in der Übung zur Großschreibung wieder untereinander Ein Wiesel saß auf einem Kiesel inmitten Bachgeriesel. Die Rolle des Unterrichts 127 Eine Möglichkeit, das Satzlesen zu fördern, ist die Sichtbarmachung der Strukturen durch das zeilenweise Untereinanderschreiben der Satzglieder, mit denen durch weitere Operationen gespielt werden kann, beispielsweise mit der Umstell- und Erweiterungsprobe: Ein braunes Wiesel Inmitten Bachgeriesel saß saß auf einem blauen Kiesel ein Wiesel inmitten leisem Bachgeriesel. auf einem Kiesel. Dadurch bekommen die Schüler/ innen ein Gefühl für sprachliche Strukturen . Gleichzeitig müssen sie lernen, Satzmelodie und Betonung angemessen zu realisieren, da sich ihnen bzw den Zuhörern ansonsten der Sinn des Gelesenen nicht ausreichend erschließt Hierfür bietet es sich an, die Nominalgruppen mit einem durchgehenden Intonationsbogen zu lesen: Ein Wiesel saß auf einem Kiesel inmitten Bachgeriesel. Dabei geht es weniger darum, festzulegen, ob eine steigende oder fallende Intonation gewählt werden sollte Denn der Reiz kann ja durchaus darin bestehen, mit unterschiedlichen Intonationskurven unterschiedliche Interpretationen zu erzeugen Vielmehr geht es darum, die einzelnen Wortgruppen „in einem Zug“ zu lesen, so dass sie im Kopf als „Gesamtpaket“ ankommen Neben der syntaktischen Strukturierung muss es in einem gezielten Lesetraining um den Inhalt des Gelesenen gehen, schließlich wollen wir in erster Linie das sinnverstehende Lesen fördern Hierzu ist wichtig, dass den Kindern der Aufbau eines Satzes in Satzgegenstand und Satzaussage deutlich wird Sätze sind inhaltlich meist so aufgebaut, dass eine Person, ein Gegenstand etc genannt wird, über die bzw den etwas ausgesagt wird In unserem Beispielsatz oben ist das Wiesel der Satzgegenstand, über den ausgesagt wird, dass er auf einem Kiesel saß und zwar inmitten Bachgeriesel Auf diese Weise gewöhnen sich die Kinder an Strukturen und Zusammenhänge und lösen sich gleichzeitig von der Fixierung des einzelnen Wortes Übrigens zeichnen sich gute Leser/ innen dadurch aus, dass sie die Satzstruktur 128 Wie funktioniert der Schriftspracherwerb? blitzschnell analysieren und bei Verlesungen anpassen können, um den Sinn zu erhalten Leider können wir an dieser Stelle nicht ausführlicher auf die Möglichkeiten der Leseförderung eingehen, der Leser sei aber verwiesen auf entsprechende Themenhefte fachdidaktischer Zeitschriften, wie Praxis Deutsch 176 zum Thema „Leseleistung - Lesekompetenz“ Texte lesen Wie wir schon mehrfach erwähnt haben, ist das Textlesen ein hochkomplexer und kognitiv überaus anspruchsvoller Vorgang Während man lange Zeit die Informationsentnahme als eher passiven Prozess verstanden hat, weiß man heute, dass es sich beim Lesen um eine aktive Konstruktionsleistung des Gehirns handelt; das lesende Gehirn konstruiert die Bedeutung des Textes mithilfe der sprachlichen Inhalte nämlich überwiegend selbst, sie wird ihm nicht einfach eingegeben Hieraus folgt theoretisch, dass zehn Personen ein und denselben Text auf zehn unterschiedliche Weisen verstehen müssten Das ist zumindest teilweise auch richtig Lesen Sie doch einmal folgenden kurzen Text: „nach einer woche erholung in einem haus am Meer standen wir frühmorgens auf, um mit dem taxi abgeholt zu werden. die fahrt ging ins achtzig kilometer entfernte tunis. auf der linken seite war eine hügelkette zu sehen und rechts standen olivenbäume.“ Haben Sie wirklich nur die nackten Informationen verarbeitet oder vielleicht noch mehr? Und wer hat Ihrer Meinung nach den Text verfasst, ein Tourist, eine Journalistin, ein Einheimischer? Zu der Zeit, in der das vorliegende Buch geschrieben wurde, hatte sich Tunesien gerade ein wenig von den Wirren des politischen Umsturzes erholt, und viele Leser/ innen würden diese Ereignisse wohl automatisch mit verarbeiten Jemand, der bereits in Tunesien gewesen ist und dem es dort gefallen hat, liest den Text anders als jemand, der das Land nicht kennt, oder gar als jemand, der keinerlei Affinitäten zum nordafrikanischen Kulturkreis hegt Man weiß heute, dass das Lesen von Texten vielfältig und vielschichtig ist Auch geht es nicht nur um bloße Informationsentnahme und -verarbeitung, sondern natürlich auch um Freude am Lesen, Lesemotivation, Lesekultur Aus der Lesesozialisationsforschung wissen wir, dass Kinder diese Freude und diese Motivation aufbauen, lange bevor sie selbst lesen können Die Literaturdidaktikerin Bettina Hurrelmann hat in vielen Studien zeigen können, dass die vielfältige Begegnung mit Texten in der Familie, die häufig sogar ganz beiläufig geschieht, eine wichtige Voraussetzung für eine glückende Lesesozialisation ist Kinder, die schon früh an einer alltäglichen häuslichen Lesekultur teilnehmen, haben die besten Chancen, motivierte Vielleser zu werden Die Rolle des Unterrichts 129 Von allen lesekulturellen Ereignissen ist eines besonders prägend: Das Vorlesen Jedoch ist Vorlesen nicht gleich Vorlesen, wie Petra Wieler (1997) gezeigt hat Kinder verlieren schnell das Interesse, wenn die Vorlesesituation zu einer Einbahnstraße wird, wenn also die erwachsenen Vorleser/ innen die gesamte Interaktion kontrollieren und dem Kind kein Raum für eine eigene Beteiligung gegeben wird . Kinder, die aktiv in den Vorleseprozess mit einbezogen werden, die zu eigenen Interpretationen oder zum Weiterfabulieren angeregt werden, sind dagegen mit Freude bei der Sache und gewinnen zunehmend Erfahrung mit der aktiven und konstruktiven Auseinandersetzung mit Texten Sie sind auf dem besten Weg, gute und motivierte Leser/ innen zu werden, die Texte auch künftig nicht nur zur rein passiven Entnahme von Informationen, sondern zur aktiven Konstruktion von Bedeutungen nutzen Bei der Einschulung wünschen sich Kinder mit reicher und konstruktiver (Vor-)Leseerfahrung nichts sehnlicher, als Texte, die ihnen früher vorgelesen wurden, nun auch selbst lesen zu können Doch wie groß ist die Enttäuschung, wenn sie auch nach einem ganzen Schuljahr noch immer nicht in der Lage sind, Texte oder gar ganze Bücher zu lesen Was sie als Lesen von ihren Eltern vor Augen geführt bekommen haben, ist ein automatisierter Prozess, dessen Erwerb einige Jahre in Anspruch nimmt Weil die eigenen Lesekompetenzen noch immer weit hinter den Möglichkeiten des literarischen Verstehens zurückstehen, kommt es häufig etwa am Ende des ersten Schuljahres zur sogenannten „ersten Lesekrise“, die erst dann überwunden wird, wenn die Kinder in der Lage sind, kleinere Texte nun auch eigenständig zu lesen, und wenn sie durch weitere konstruktive Vorleseaktivitäten im literarischen Gespräch bleiben Jedoch können nicht alle Kinder ihre Leselust erhalten: In einer von der Bertelsmann- Stiftung durchgeführten Befragung gaben fast 60 % der Grundschulkinder an, gerne zu lesen, bei Jugendlichen waren es keine 30 % mehr Die Förderung der Lesekultur, aber auch ein Unterricht, der den Kindern zu einem zügigen und störungsfreien Leseerwerb verhilft, ist auch deshalb eine zentrale Aufgabe der Grundschule und der weiterführenden Schule Praktisch erprobte Konzepte für eine schulische Leseförderung sind in Rosebrock & Nix ( 7 2014) dargestellt Stolpersteine auf dem Weg zum Textlesen Kommen wir von den großen Fragen der Lesekultur weg und hin zu fast mikroskopischen Aspekten des Textlesens, um daran exemplarisch zu zeigen, welche Herausforderungen es jenseits der Textinterpretation zu bewältigen gilt . Wir richten unsere Konzentration also auf das Innere von Texten und dort konkret auf sprachliche Mittel, mit denen (Teil-)Sätze syntaktisch und semantisch zusammengehalten werden Es geht um Pronomina und um Konjunktionen - das „Mondamin“ von Texten Die falsche Interpretation von Pronomina und Konjunktionen kann das gesamte Textverständnis erschweren Wir gehen hier auch deshalb genau auf 130 Wie funktioniert der Schriftspracherwerb? diese Mittel ein, weil sie in der Schule oft übersehen werden: Lehrer/ innen wie Schüler/ innen konzentrieren sich im Leseunterricht oft auf die Inhaltswörter, also auf diejenigen Wörter, die Bedeutungen transportieren; bei Missverständnissen oder Fehlinterpretationen vermutet man die Schwierigkeiten viel häufiger dort als im Bereich der Verknüpfung von Textinformationen Pronomina Pronomina übernehmen die wichtige Aufgabe, Personen, Gegenstände oder Sachverhalte, kurz: Textreferenten aufzugreifen, die entweder schon benannt waren (Beispiel 1) oder die im Folgesatz eingeführt werden (Beispiel 2) . (beispiel 1) Anne sagt, sie mag Eis. (beispiel 2) Sie mag Eis, sagt Anne. Dass dieser Art des Textverweises nur auf den ersten Blick trivial ist, zeigt Beispiel (3) (beispiel 3): Sie sagt, Anne mag Eis. Wir können sie und Anne hier nicht mehr aufeinander beziehen Woran liegt das? Unsere beiden Teilsätze stehen in einem Einbettungsverhältnis zueinander: In den Beispielen 1 und 2 steht unser Textreferent (Anne) im Hauptsatz, das Pronomen (sie) in dem davon abhängigen Nebensatz In Beispiel 3 ist es umgekehrt: das Pronomen steht im Hauptsatz, der Textreferent im Nebensatz . Der Weg von einem Referenten zu einem Pronomen funktioniert also nur nach unten, nicht nach oben Das gilt auch für satzinterne Verweise . Wir können sagen: Anne hat ihr erstes eigenes Geld verdient, aber nicht: Sie hat Annes erstes eigenes Geld verdient. Wir können die Syntax aber austricksen, wenn wir die Reihenfolge der Teilsätze umdrehen: (beispiel 4): Anne mag Eis, sagt sie. Wir halten also zunächst fest, dass syntaktische Strukturen und pronominale Verweise miteinander interagieren Sehen wir uns an, was geschieht, wenn wir zwei voneinander unabhängige Sätze vor uns haben: Anne kaufte sich eine neue Jacke. Sie hatte soeben ihr erstes eigenes Geld verdient. Sie kaufte sich eine neue Jacke. Anne hatte soeben ihr erstes eigenes Geld verdient. Die Rolle des Unterrichts 131 Die unterschiedliche Stellung des Pronomens hat nicht so starke Auswirkungen wie in Beispiel 3 . Beide Strukturen sind so interpretierbar, dass Anne und sie aufeinander bezogen sind Wir sehen aber auch hier einen deutlichen Reihenfolgeeffekt: Das Pronomen mag es lieber, wenn bereits ein Referent vorhanden ist, auf den es sich beziehen kann Konstruktionen, bei denen zuerst das Pronomen genannt ist und dann der Referent, sind deshalb insgesamt schwieriger zu interpretieren Einige weitere Effekte spielen bei der Interpretation von Pronomina eine Rolle: Anne kaufte sich eine neue Jacke. Sie hatte soeben ihr erstes eigenes Geld verdient. Anne hat ihre neue Jacke noch nie getragen. Sie hängt im Schrank. Im ersten Satz kann sie vernünftiger Weise nur auf Anne bezogen werden, im zweiten Satz - wenn wir nicht eine völlig verrückte Lesart riskieren wollen - nur auf ihre neue Jacke Die Zuweisung von Pronomina zu Textreferenten geschieht also nicht mechanisch, sondern auch in Abhängigkeit von inhaltlichen Plausibilitäten Die Interpretation pronominaler Wiederaufnahmen verlangt insgesamt mehr und anderes Wissen als eine rein oberflächliche Zuordnung . Neben den schon genannten Kriterien (Hauptsatz-/ Nebensatzstrukturen; Reihenfolge; inhaltliche Plausibilität) sind beispielsweise auch Funktionstreue (Subjekt zu Subjekt), Belebtheit (belebte Referenten gelten als bevorzugte Kandidaten) oder räumliche Nähe (der zuletzt genannte Referent wird bevorzugt) wirksam Zuletzt müssen wir uns noch eine besondere Pronomenverwendung vergegenwärtigen: Das Buch liegt seit Jahren auf dem Dachboden. Es wird Zeit, dass ich dort mal aufräume. Das Pronomen es darf hier nicht als Verweiswort interpretiert werden, im folgenden Satz muss es das Das Buch liegt seit Jahren auf dem Dachboden. Es ist schon ganz eingestaubt. Wenn Kinder mit solchen Zuordnungen Schwierigkeiten haben, sollten zunächst Texte mit eindeutigen Verweisstrukturen ausgewählt werden An solchen Basismustern kann eine erste Textsicherheit erworben werden . Ein kontrastives Arbeiten mit Beispielsätzen, bei denen ein und derselbe pronominale Ausdruck einmal auf den einen, einmal auf den anderen Referenten verweist, 132 Wie funktioniert der Schriftspracherwerb? hilft den Kindern zu erkennen, dass eine mechanische Zuordnungspraxis nicht weiterhilft Das Pronomen es verdient wegen der Möglichkeit, als semantisch leeres Element zu fungieren (wie in es wird Zeit), eine eigene Betrachtung Insgesamt sollte der Schwierigkeitsgrad der Texte in Bezug auf die pronominale Verweisstruktur mit zunehmender Leseerfahrung gesteigert werden Denn zu einer ausgebauten Lesefähigkeit, zu der die Kinder ja geführt werden sollen, gehört der kompetente Umgang mit beliebigen Texten Und die Texte der Umgebung tun einem ja nur selten den Gefallen, keine Pronomina aufzuweisen Keinen Sinn hat es, den Kindern Texte anzubieten, in denen die Verweisstruktur vermieden wird Erstens entstehen daraus schlechte Texte, zweitens sollen die Kinder ja gerade befähigt werden, die Verweisstrukturen in Texten zu interpretieren Und wenn sie fehlen, können sie nicht gelernt werden Das Wichtigste ist, dass Lehrer/ innen wissen, dass die pronominale Verweisstruktur zu einem Stolperstein beim Lesen werden kann Die Arbeit an solchen Strukturen hilft vor allem Kindern mit Migrationshintergrund, die mit Pronomina häufig mehr Probleme haben als Kinder mit Deutsch als Erstsprache . Dies auch deshalb, weil bei der Zuordnung von Pronomina zu Textreferenten zusätzlich das Genus (Geschlecht) eines Ausdrucks berücksichtigt werden muss Dabei stecken manchmal sogar zwei Genusinformationen in nur einem Wort (hier ihre, der Baustein ihrhat dasselbe Genus wie Anna, der Baustein -e übernimmt das Genus von Jacke): Anna geht zur Kasse. Sie muss ihre Jacke noch bezahlen. Kinder mit Türkisch als erster Sprache haben hier besondere Probleme . Denn erstens verfügt das Türkische nicht über die grammatische Kategorie Genus und zweitens geht es sehr sparsam mit Pronomen um: Wie im Lateinischen oder Spanischen ist die Person am Verb markiert (lat .: amo, span : quiero, türk : seviyorum = ich liebe), das Pronomen wird nur dann genannt, wenn etwas besonders betont werden soll Die Wiederaufnahme von Textreferenten sollte also auch deshalb im Unterricht eine eigene Übungseinheit beim Textlesen darstellen Konjunktionale Verknüpfungen Der zweite Stolperstein, der genannt wurde, waren konjunktionale Verknüpfungen Wir unterscheiden zum Beispiel temporale Verknüpfungen (während, als, nachdem, bevor), kausale Verknüpfungen (weil, da, denn, deshalb) oder konzessive Verknüpfungen (obwohl, trotzdem) . Die temporalen Verknüpfungen, die die Sätze zeitlich aufeinander beziehen, sind vor allem in frühen Lernjahren wichtig, in denen die Erzählung, bei der es primär um chronologische Beziehungen zwischen den Einzelereignissen geht, die wichtigste Textsorte darstellt Kausale, also begründende und konzessive, also Gegensätze ausdrückende Verknüpfer werden vor allem dann bedeutsam, wenn es um argumentierende Texte geht . Die Rolle des Unterrichts 133 Auch hier wollen wir an zwei Beispielen deutlich machen, wo Fallen lauern: Die Konjunktion während wurde oben als temporaler Verknüpfer genannt Wer das behauptet, hat Sätze wie den folgenden im Sinn: Während sie faul in der Sonne lag, schuftete er im Garten. Gemeint ist, dass ihr In-der-Sonne-Liegen und sein Im-Garten-Schuften zur gleichen Zeit geschehen Aber ist das die einzige Lesart? Wir könnten den Satz auch adversativ, also im Sinne von wohingegen interpretieren . Manchmal ist die Konjunktion während nur adversativ zu verstehen: Aspirin hilft, während Yoga versagt. Einen Fall, in dem nur die temporale Lesart möglich ist, gibt es dagegen nicht Eine rein temporale Lesart weist während aber als Präposition auf: Während der Sommerspiele trat Bowie gleich zwei Mal auf. Das Schwanken von während zwischen zwei Lesarten und zwei Wortarten macht die Interpretation schwierig Wir werden in Kapitel 6 einen Fall kennenlernen, wo die Verwendung von adversativem während in einer Textaufgabe tatsächlich zu Problemen führt Die zweite Stolperfalle, die wir aufführen wollen, ist ein Reihenfolgekonflikt, den wir vor allem bei schwachen Leser/ innen beobachten können Sie interpretieren beispielsweise den Satz Bevor Marie kam, ging Jana so, dass Maries Kommen vor Janas Gehen liegt Die Reihenfolge, in der die Ereignisse benannt sind, wird als Reihenfolge der Ereignisse selbst interpretiert . Weil es konjunktionale Verknüpfungen erlauben, Ereignisreihenfolgen nicht-chronologisch darzustellen, ist auf ihre korrekte Interpretation große Sorgfalt zu verwenden Um unseren Ausflug in die Textverknüpfung zusammenzufassen: Lerner/ -innen, die Schwierigkeiten haben, konjunktionale und pronominale Einheiten zu interpretieren, kommen nicht zu einem befriedigenden Textverständnis, auch wenn sie jeden einzelnen Satz für sich genommen verstehen Eingeschränkt sind damit auch alle weiteren Textinterpretationsmöglichkeiten, wie das Ziehen von Schlussfolgerungen aus gegebenem Textwissen, die Verknüpfung des gegebenen Wissens mit dem eigenen Weltwissen, kurz alles das, was uns die Bildungsstandards ins Stammbuch geschrieben haben Eine gezielte Behandlung dieser Verknüpfer ist deshalb ein wichtiger Baustein des Leseunterrichts Zu Beginn dieses Abschnitts über den Leseunterricht haben wir festgestellt, dass vor dem Textlesen das Lesen der kleinsten Schriftzeichen steht Der Leseunterricht muss jedoch nicht zwangsläufig in diese Richtung ablaufen Tatsächlich gab und gibt es Ansätze, die Schüler/ innen zunächst mit ganzen Texten zu konfrontieren, an denen das Lesen dann quasi „von oben“ erarbeitet wird (bis in 134 Wie funktioniert der Schriftspracherwerb? die 1970er Jahre unter dem Begriff „analytischer Leseunterricht“ bekannt, vgl etwa die Westermannfibel von Kurt Warwel) Auch die Didaktik des Textlesens unterscheidet zwischen zwei Verarbeitungsrichtungen: dem „Bottom-Up-“ und dem „Top-Down-Prozess“ Der Unterschied besteht in der Verarbeitungsrichtung vom Kleinen zum Großen, also vom Buchstaben über die Wort- und Satzebene zum Text, oder aber umgekehrt vom Betrachten des Textganzen hin zu den kleinsten Einheiten, aus denen er sich zusammensetzt . Die Fibeldidaktik geht i d R . den Weg vom Einfachen zum Komplexen, also bottom-up, obwohl es auch Ansätze gibt, mit den Kindern zuerst das Textganze zu betrachten, bevor man ins Detail der Wörter und Buchstaben hinabsteigt . Ein Vorteil der Top-Down- Methode ist es, dass die Kinder erstens in ihrer Umgebung ohnehin bereits mit einer Fülle von Textmaterial konfrontiert worden sind und sich auch kognitiv damit auseinandersetzen, vgl das „Märchen“ von Renée oder die Kritzelbriefe, die wir oben vorgestellt haben; zudem hilft es ihnen ganz sicher beim Schriftspracherwerb, wenn sie von Beginn an wissen, wohin die Reise gehen wird Noch ein Wort zu den Unterrichtsmaterialien Sie haben gemerkt, dass wir in unseren Darstellungen die einschlägigen Unterrichtsmaterialien und -konzepte kritisiert haben, da sie den Kindern die Schriftsprache in einer nicht adäquaten Weise vermitteln . Was aber macht gute Materialien aus? Wir fassen hier noch einmal zusammen, was wir in diesem Kapitel ausgeführt haben (vgl auch Tophinke 6 2014) Um allen Kindern einen kognitiven Zugang zu den Strukturen der deutschen Orthographie zu ermöglichen, sollten Unterrichtsmaterialien • die Strukturen des Kernbereichs thematisieren, nicht die Ausnahmen; • einzelne Bereiche fokussieren (beispielsweise die satzinterne Großschreibung), indem den Kindern bestimmte Muster präsentiert werden - keine unsystematische Sammlung unterschiedlicher Fälle; • das Nachdenken über Schrift fördern, indem die Strukturen reflektiert werden; • die Kinder die Funktionen graphematischer Strukturen entdecken lassen. Eine Datenbank, mit der Sie gute Wörter für den Unterricht und für Übungen auswählen können, finden Sie unter http: / / dora hosting .uni-hildesheim de/ Schlechte Materialien zeichnen sich dagegen aus durch • den Auf- und Abbau von Wörtern: B - Ba - Bal - Ball und • die Verfremdung der graphischen Wortgestalt: Fahrrad - drarfah, weil dadurch Schrift als unstrukturierte Kette einzelner Buchstaben präsentiert wird; • Einschleifen bzw. Auswendiglernen ohne Vermittlung der Systematik; fehlende Reflexion über die Schriftstruktur; • „Schriftaussprache“, „Dehnsprache“, weil sie den Kindern lediglich als Krücke dient und jede Reflexion im Keim erstickt Kapitel 4 - Fehler und Störungen Jeder Fehler erzählt eine eigene Geschichte Die Erstklässerin Sonja hat die Geschichte von der kleinen Meerjungfrau aufgeschrieben (Weinhold 2000: 269) Diese endet mit dem Satz Eines Tages verliebt sie sich verliebt schreibt Sonja wie folgt: Abb. 4-1: Sonjas Schreibung von „verliebt“ Betrachtet man diese Schreibung aus der Sicht der Norm, weist sie gleich drei Fehler auf Sonja schreibt <f> statt <v>, <i> statt <ie> und trennt zwischen <fer> und <libt> Wir könnten uns nun fragen, ob das schlimme Fehler sind oder weniger schlimme, ob diese Fehler für Sonjas Lernalter normal sind oder nicht, ob sie sich „auswachsen“ oder ob Sonja gezielte Hilfe braucht Lehrer/ innen könnten sich fragen, ob sie einen, zwei oder drei Fehler zählen sollen, ob sie einen, zwei oder alle drei Fehler verbessern (lassen) sollen und wenn ja, wie eine Verbesserung aussehen könnte Man kann aber auch ganz anders an diese Schreibung herangehen Und dies unter zwei Perspektiven: Erstens könnten wir uns ansehen, was Sonja nicht falsch gemacht hat, zweitens könnten wir uns die Falschschreibungen selbst genauer ansehen und uns fragen, ob in den Fehlern eine eigene Logik steckt Wer so fragt, sieht sich also an, was Sonja kann, nicht, was sie nicht kann - er urteilt nicht defizitorientiert, sondern ressourcenorientiert Sehen wir uns also an, was Sonja nicht falsch gemacht hat Zunächst hat sie regulär Kleinbuchstaben benutzt und alle lautlichen Aspekte des Wortes erfasst Dennoch ist sie weit davon entfernt zu schreiben, wie sie spricht: Obwohl bei ver weder ein [e] noch ein [], sondern ein [] zu hören ist, schreibt sie regelgerecht <er> Dass das nicht selbstverständlich ist, zeigt uns die Verschriftung des Bausteins ver des Erstklässers Alexander, der „aus Versehen“ wie folgt schreibt (aus Bredel 2006): Abb. 4-2: Alexanders Schreibung von „aus Versehen“ 136 Fehler und Störungen liebt schreibt Sonja mit <b>, obwohl ein [p] zu hören ist und diese Auslautverhärtung von vielen Erstklässern verschriftet wird Sonja verfügt also bereits über sehr differenziertes Wissen über Wortbausteine und ihre Verschriftung Das zeigt auch die irreguläre Getrenntschreibung Die Trennstelle ist nicht willkürlich, sondern befindet sich zwischen zwei Wortbausteinen Würde man von diesem einen Wort auf das aktuelle orthographische Wissen von Sonja insgesamt schließen, könnte man vermuten, dass sie Wortbausteine als Verschriftungsgrößen kennengelernt hat und gerade intensiv mit diesen Bausteinen experimentiert Fehler als Hinweise auf das aktuelle Wissen der Lerner/ innen zu betrachten, ist eine recht neue Entwicklung in der Schreiberwerbsforschung Frühe Fehleranalysen waren noch ganz an der defizitorientierten Perspektive ausgerichtet . Zunächst ging man davon aus, dass Fehler hauptsächlich psychologische Ursachen haben Man spricht in diesem Zusammenhang von subjektiven Fehlertypologien, weil sie Fehler als Folge eines individuellen „Fehlverhaltens“ der Lerner/ innen bezeichnen So unterschied die erste bekannte Fehlertypologie von Weimer aus dem Jahr 1925 zum Beispiel Konzentrationsfehler, Flüchtigkeitsfehler, Wahrnehmungsfehler, Geläufigkeitsfehler oder Merkfehler Sonjas Fehler wäre dann vielleicht als Konzentrationsfehler oder als Merkfehler gewertet worden Diesem Bewertungsschema stehen die objektiven Fehlertypologien gegenüber: Als Richtgröße für die Einschätzungen von Fehlerschreibungen gilt hier nicht der/ die Schreiber/ in, sondern die Norm Je nach der zugrundeliegenden Orthographietheorie werden dann zum Beispiel folgende Fehlertypen unterschieden: Fehler in der Laut-Buchstaben-Zuordnung, Fehler in der Schreibung von Wortbausteinen, Fehler in der syntaktischen Schreibung (Groß-/ Kleinschreibung, Getrennt-/ Zusammenschreibung, Interpunktion) Sonja hätte dann in der ersten Kategorie (Laut-Buchstaben-Zuordnung) zwei Fehler gemacht, in der zweiten (Schreibung von Wortbausteinen) keinen, in der Kategorie syntaktische Schreibung einen Wir werden später in diesem Kapitel einen Rechtschreibtest kennenlernen, in dem objektive Fehlertypologien eine Rolle spielen In der jüngeren Forschung wird nun immer deutlicher erkannt, dass Fehler Hinweise auf das Rechtschreibwissen eines Kindes sein können Man konzentriert sich daher auf die Strategien und Hypothesen der Lerner/ innen, die sich hinter Fehlern verbergen, sucht die Ursachen also in der Erwerbslogik, die immer auch im Zusammenhang mit dem Lernalter und mit dem Unterrichtsangebot steht Um zu zeigen, wie solche Analysen genau aussehen könnten, konzentrieren wir uns nun auf die f-/ v-Schreibung im Wortbaustein ver, den Sonja ja mit f geschrieben hat Die f-/ v-Schreibung hat es im Deutschen in sich, wie ein Vergleich zum Englischen zeigt: Dort steht am Anfang von Wörtern <v> für [v], wird also wie w in Wolke ausgesprochen, <f> steht für [f] - deshalb wird im Eng- Jeder Fehler erzählt eine eigene Geschichte 137 lischen ganz regulär <father>, <four> und <full> geschrieben Ob im Deutschen <Vater> oder <Fater>, <vier> oder <fier>, <voll> oder <foll> geschrieben wird, kann dagegen von der Lautstruktur des Wortes her nicht entschieden werden: Sowohl <f> als auch <v> werden für [f] verwendet; im Normalfall schreiben wir <f> Englische Kinder können sich die Schreibung <father> also aus der Lautstruktur herleiten, deutsche die Schreibung <Vater> nicht Wörter wie <Vater>, <vier> oder <voll> müssen als ganze gelernt werden Es sind Merkwörter Für Kinder ist es von Beginn an nicht ganz einfach, sich aus der Existenz von <f> und <v> einen Reim zu machen Einige verwenden <v> gar nicht, andere setzen es überall Die Schreibung von Jakob (aus Weinhold 2000: Klappentext) illustriert dieses zweite Verfahren: Abb. 4-3: „Rotkäppchen“ - Text von Jakob; aus: Weinhold (2000: Klappentext) Dabei ist die f-/ v-Schreibung im Deutschen nicht ganz willkürlich Wenn wir im folgenden vier verschiedene Szenarien von f-/ v-Verwendungen von Schulkindern, darunter auch Sonja, genauer unter die Lupe nehmen, unterscheiden wir zwischen lexikalischen Schreibungen - das sind solche, die in einzelnen Wörtern wie Vater, vier, voll oder viel vorkommen und einzeln auswendiggelernt werden müssen - und morphologischen Schreibungen von Bausteinen wie vor- oder ver- Im Unterschied zu den Wörtern mit lexikalischen Schreibungen stehen diese morphologischen Bausteine nicht alleine Um den Baustein versicher schreiben zu können, muss ein Kind also nicht nur über Wissen über ganze Wörter verfügen, sondern muss zugleich wissen, dass Wörter aus Bausteinen bestehen und für jeden Baustein eigene Schreibungen gelten Für die Schreibung *<fer libt> könnte es dann die folgenden Erklärungen geben: 1 Dem Kind, das *<fer libt> geschrieben hat, ist der Buchstabe <v> noch nicht bekannt Es verwendet also standardmäßig dort das <f>, wo es eine entsprechende Lautung wahrnimmt (= <f> als Standard) Wenn wir uns den Text von Sonja vollständig ansehen, können wir vermuten, dass dies auf sie zutrifft: 138 Fehler und Störungen Abb. 4-4: Sonjas „Kleine Meerjungfrau“; aus: Weinhold (2000: 269) 2 Das Kind kennt die Buchstaben <f> und <v> und verwendet <v> für bestimmte lexikalische Ausdrücke, schreibt zum Beispiel <Vater> und <Vogel> korrekt; es kann den Buchstaben <v> aber noch nicht für die Markierung des Morphems vernutzen (= <v> als lexikalischer Marker) 3 Das Kind kennt <v> als Verschriftungsmuster für ver-, wendet dieses aber nur bei einigen ver-Wörtern an, schreibt also <vergessen>, <verteilen>, aber *<ferlibt>, *<ferfolgen> und dies konsequent Außerdem schreibt es bereits <Vater> und <Vogel> korrekt (= <v> als lexikalischer und als inkonsistenter morphologischer Marker) 4 Das Kind hat in dieser Situation *<fer libt> geschrieben, in anderen Situationen schreibt es *<ver libt>; ebenso verfährt es mit anderen ver-Wörtern und mit Wörtern wie Vater und Vogel, aber auch mit Wörtern wie folgen und Fenster, schreibt also mal *<volgen> mal <folgen>, mal <Fenster>, mal *<Venster> (= <v> als inkonsistenter lexikalischer und morphologischer Marker) Um zu ermitteln, was sich hinter einer einzelnen abweichenden f-/ v-Schreibung verbirgt, muss man sich also mehrere Verschriftungen eines Kindes ansehen Erst dann kann man einigermaßen verlässliche Aussagen über zugrundeliegende Fehlermuster machen Um dann zu entscheiden, ob es sich bei dem ermittelten Muster um eine intelligente, weiterführende Leistung handelt oder ob Abklärungs- und ggf Förderbedarf besteht, müssen zusätzlich das Lernalter sowie die Lerngelegenheiten berücksichtigt werden Was im ersten Schuljahr normal ist, kann im zweiten schon besorgniserregend sein - denken Sie an die Arbeitsblätter von Pia, Mirco und Sina aus dem 3 Kapitel Und was in der Schule nicht oder nicht zielführend vermittelt worden ist, muss anders bewertet werden als ein hinreichend behandeltes Thema, welches ein Kind selbst nicht hinreichend verarbeitet Sehen wir uns also an, welche Aussagen wir über die vier Szenarien machen können, wenn wir sie in konkrete, allerdings ein wenig idealisierte Lernkonstellationen einbetten zu 1 Ein Kind im ersten Lernjahr, bei dem die Schreibung mehrerer f-/ v- Wörter ergibt, dass es <f> als Standard nutzt, <v> also nicht kennt, weist Jeder Fehler erzählt eine eigene Geschichte 139 ein völlig reguläres Verschriftungsmuster auf Im Fall von Sonja haben wir aber zugleich gesehen, dass sie bereits intensiv mit der morphologischen Struktur von Wörtern experimentiert (Schreibung <er> für []; liebt mit <b>, Trennung an der morphologischen Fuge) Wenn ihr im Unterricht nun Gelegenheit gegeben wird, die Verschriftung von ver kennenzulernen, ist erwartbar, dass sie diese Schreibung rasch in ihr orthographisches Wissen eingliedert zu 2 Ein Kind im zweiten Schuljahr, das <v> ausschließlich als lexikalischen Marker verwendet, zeigt dann ein normales Entwicklungsbild, wenn man voraussetzt, dass die ver-Schreibung im Unterricht noch nicht thematisiert worden ist zu 3 Ein Kind im dritten Schuljahr, das einige ver-Wörter mit <f>, andere mit <v> schreibt, also <v> als inkonsistenten morphologischen Marker nutzt, zeigt ein nicht ganz reguläres Verschriftungsmuster Die Fehler, die es macht, sind wahrscheinlich durch den Unterricht verursacht, an dem es teilgenommen hat: Es ist anzunehmen, dass im Rechtschreibunterricht Sichtwörter, also Wörter zum Auswendiglernen angeboten werden Das führt dazu, dass bekannte Wörter richtig geschrieben werden können, unbekannte nicht Das heißt aber zugleich, dass dieses Kind in Bezug auf die v-Schreibung bei ver-Wörtern noch nicht in eine Phase der produktiven Aneignung eingetreten ist: Denn es hat die korrekt verschrifteten ver-Wörter eben nur als eine Art von Kopie im Kopf Bei diesem Kind wäre die Richtigschreibung von vergessen und verteilen nicht als produktiver Lernfortschritt aufzufassen Dagegen weist unser Zweitklässer, der <v> strikt als Marker für bestimmte lexikalische Ausdrücke verwendet und die ver-Wörter einheitlich mit <f> verschriftet, ein sehr viel klareres Kompetenzprofil auf Obwohl also unser Drittklässer weniger Fehler macht, ist er doch auffälliger als unser Zweitklässer Zur Weiterentwicklung benötigt er einen Unterricht, der sich deutlich auf morphologische Verschriftungsmuster konzentriert und diese regelgeleitet erarbeitet zu 4 Ein Viertklässer, der verliebt manchmal mit <f>, manchmal mit <v> schreibt, kann sich weder, wie unser Drittklässer, auf lexikalisch gesicherte Wortbilder verlassen, noch kennt er die morphologische Grundlage der Schreibung von ver-Wörtern Der Unterricht, an dem er teilnimmt, hat ihm also weder stabile lexikalische Muster noch eine stabile morphologische Strategie (Wörter in ihre Bausteine zerlegen) vermitteln können Hier ist dringend eine systematische Gesamtförderung angezeigt Wie wir gesehen haben, haben Sonja, die ganz konsequent alle Wörter mit <f> verschriftet, und unser Zweitklässer, der bereits Vater und Vogel schreibt, ver- Wörter aber noch mit <f>, das stabilste Lernerprofil gezeigt . Ob sie aufbauend auf ihren bisherigen Kenntnissen auch dazu kommen, das Verschriftungsmus- 140 Fehler und Störungen ter von verzu entdecken und entsprechend umzusetzen, ist ganz entscheidend abhängig vom Unterricht: Wird den Kindern die morphologische Komponente der Schrift (vgl Kap 2) als Analyseeinheit verfügbar gemacht? Wenn ja, haben sie gute Chancen, ihre Verschriftungsfähigkeiten auch in Bezug auf die ver- Verschriftung systematisch fortzuentwickeln Die Analyse der f-/ v-Schreibungen hat uns schon sehr tiefen Einblick in die Fehleranalyse gegeben Allerdings haben wir uns ganz auf die Fälle konzentriert, bei denen wir f/ v-Fehler erwarten: an Wortanfangsrändern, und zwar an solchen, die mit nur einem Konsonanten beginnen Sehr viel seltener machen Kinder bei der f-/ v-Verschriftung im Innern oder am Ende von Wörtern Fehler; auch in Wörtern mit komplexem Anfangsrand (also mehreren Konsonanten am Wortanfang) kommen kaum Fehler vor Häufig finden wir also *<ferliebt>, *<Fogel>, *<foll> oder *<vertig>, fast gar nicht finden wir *<vreuen> für <freuen>, *<Vlamme> für <Flamme>, *<Haver> für <Hafer>, *<elv> für <elf>, *<Hevt> für <Heft> oder *<Schav> für <Schaf> Warum ist das so? Die meisten Kinder, auch die, die größere Schwierigkeiten mit dem Schreiben haben, reagieren sehr sensibel auf orthographische Wahrscheinlichkeiten: Weil es (mit Ausnahme von Vlies) kein deutsches Wort gibt, das in komplexen Anfangsrändern, im Wortinnern oder (sieht man von brav ab, das in Wahrheit ein Fremdwort ist) am Wortende mit <v> geschrieben wird, kommen die Kinder nur in „begründeten“ Fällen auf die Idee, solche Schreibungen auszuprobieren . So hatten wir in Kapitel 3 den Fall besprochen, in dem die V-Schreibung von <Vogel> auf alle „Vlugobjekte“ übertragen wird . Das ist nur bei Jakob anders (s o ), der *<wolv> für <Wolf> und *<vrüa> für <früher> schreibt Ihm steht der Buchstabe <f> offensichtlich noch nicht zur Verfügung Seine insgesamt an der Lautsprache ausgerichtete Verschriftung und seine abweichende v-Schreibung zeigen sehr deutlich, dass ihm der Unterricht bislang in keiner Weise geholfen hat, eine systematische Zugriffsweise auf die Schrift zu gewinnen Seine Leistung ist daher umso bemerkenswerter Fehler als Hinweise auf Lernfortschritte Nehmen wir uns nun die i-Schreibung aus *<fer libt> vor, die uns noch deutlicher als die ohnehin schwierige v-Schreibung zeigt, welche Fehler auftreten und was sie uns über den Lernfortschritt der Lerner/ innen sagen Das lange, gespannte [i], wie es in Wörtern wie Fliege, wiegen, lieben oder Sieb vorkommt, wird im Deutschen mit <ie> verschriftet Daneben gibt es aber Wörter, die dieser Regel widersprechen: Wir schreiben Tiger, Fibel, Bibel, Biber, aber auch wir und mir sowie Maschine, Lawine, Vitamin, Kamin, Krokodil, stabil etc Sehen wir uns in diesem Zusammenhang zwei Lernerprofile der Zweitklässer Kolja und Gustav und ein Lernerprofil aus Klasse 4 (Maria) an . Im Diktat Fehler als Hinweise auf Lernfortschritte 141 sollen die Kinder die folgenden Wörter schreiben: lieben, wiegen, Sieb, finden, Liste, Finger, Tiger, Fibel, Bibel, Maschine, Lawine, Krokodil, mir und wir . Wir nehmen hier an, dass es sich um ein Lückendiktat handelt, in dem die Kinder nur die i-Schreibung einfügen sollten, so dass alle anderen Wortstellen fehlerfrei bleiben . kolja gustav Maria lieben <lieben> <liben> <lieben> wiegen <wiegen> <wigen> <wiegen> sieben <sieben> <siben> <sieben> finden <finden> <finden> <finden> Liste <liste> <liste> <liste> Finger <finger> <finger> <finger> Tiger <tieger> <tiger> <tiger> Fibel <fiebel> <fibel> <fibel> Bibel <biebel> <bibel> <bibel> Maschine <Maschiene> <Maschine> <Maschine> Lawine <lawiene> <lawine> <lawine> Krokodil <krokodiel> <krokodil> <krokodil> Papier <Papier> <Papir> <Papir> mir <mier> <mir> <mir> wir <wier> <wir> <wir> Die wenigsten Fehler hat Maria gemacht Sie schreibt nur das Wort Papier irregulär Was es damit auf sich hat, wird weiter unten geklärt . Vergleichen wir hier zunächst die Leistungen von Gustav und Kolja: Gustav hat erheblich weniger Fehler gemacht, nämlich nur vier, und wird im Diktat besser beurteilt werden als Kolja, der acht, also fast die Hälfte aller Wörter falsch geschrieben hat . Dennoch ist Kolja aus erwerbstheoretischer Sicht sehr viel weiter fortgeschritten als Gustav Denn Kolja hat die Grundregel der i-Verschriftung im Deutschen bereits erworben (für langes [i] steht <ie>, für kurzes [I] steht <i>) und wendet dieses Wissen auf alle Diktatwörter an Gustav hingegen kennt nur eine Schreibvariante für den i-Laut, das einfache <i>, und setzt diese Variante überall ein Und weil im Diktat mehr Ausnahmeals Regelwörter vorgekommen sind, schneidet er besser ab als Kolja, der sich bei seinen Schreibungen etwas gedacht hat Zählt man bei der Beurteilung von Diktaten also nur die Fehleranzahl, können Lernfortschritte und aktive Aneignungsmuster der Kinder leicht übersehen werden Besonders problematisch wäre es, wenn die Notenfindung auf der 142 Fehler und Störungen Grundlage dieses Diktats zur Ermittlung des Förderbedarfs genommen würde: Kolja würde dann in die Lernförderung geschickt werden, Gustav nicht Sieht man sich die Fehler, die Gustav und Kolja gemacht haben, dagegen unter qualitativen Gesichtspunkten an, können für beide je individuelle Weiterentwicklungen geplant werden Denn sie brauchen unterschiedliche Hilfestellungen Beginnen wir mit Gustav Er braucht zunächst den Kontrast zwischen <i> und <ie> Wie wir an Koljas Fehlern sehen können, genügt es dabei aber nicht, das einfache <i> mit dem kurzen, ungespannten Vokal und das <ie> mit dem langen, gespannten zu assoziieren Was Gustav zusätzlich braucht, ist eine Information darüber, wo <i> und <ie> tatsächlich kontrastieren Das ist der Fall in unseren trochäischen Grundformen wie Bie-ne, spie-len, Zie-ge, lie-ben, sie-ben auf der einen und Kin-der, Lin-se, Win-del, Pin-sel, fin-den auf der anderen Seite (vgl Kap 2) Werden diese Wörter in unser Haus-Garagen-Muster (vgl Kap 3) eingetragen, erhalten wir, was wir für die Analyse brauchen: Ein bewohntes drittes Zimmer im Haus (zwei Konsonantenbuchstaben zwischen den Vokalbuchstaben wie in Pinsel) weist auf einen kurzen, ungespannten Vokal, der mit <i> verschriftet wird, ein unbewohntes drittes Zimmer (nur ein Konsonantenbuchstabe zwischen den Vokalbuchstaben wie in Liebe) auf einen langen, gespannten, der mit <ie> angezeigt wird Erst wenn Gustav diesen Unterschied herausgefunden hat, wird er - um es einmal so zu formulieren - in der Lage sein, ebenso viele Fehler zu machen wie Kolja Dessen Fehlschreibungen lassen sich auf drei unterschiedliche Phänomene zurückführen: • Historische Unfälle - ein Fall für die Lernkartei: Tiger, Fibel, Bibel und Biber sind Ausnahmewörter, denn eigentlich spräche alles dafür, sie mit <ie> zu schreiben, also Tiger wie Sieger, Fibel und Bibel wie Zwiebel und Biber wie Fieber zu behandeln Es handelt sich bei diesen Schreibungen um historische Zu- oder Unfälle Kolja könnte diese Wörter - falls sie für ihn bedeutsam sind - also zum Beispiel in einen persönlichen Karteikasten einsortieren, in den ausschließlich diejenigen Wörter kommen, die man nicht herleiten kann, die also echte orthographische Ausnahmen sind (In diesen Kasten kämen dann auch Vater, Vogel und vier, nicht aber verlieben, das, wie wir oben gesehen haben, sowohl in Bezug auf die v-Verschriftung als auch in Bezug auf die i-Verschriftung ganz regulär ist ) Fehler als Hinweise auf Lernfortschritte 143 In einen systematischen Orthographieunterricht gehören Merkwörter genauso wenig wie in ein Diktat, mit dem man den orthographischen Erwerbsfortschritt der Kinder ermitteln will • Funktionswörter - ein Fall für die Klassenwand: Die Wörter mir, dir oder wir gehören derselben Wortklasse an: Als Personalpronomen gehören sie in die Klasse der Funktionswörter; diese tragen keine lexikalische Bedeutung im engeren Sinn, sondern übernehmen grammatische Funktion Und obwohl sie weniger als 1 % des Gesamtwortschatzes ausmachen, belegen sie praktisch alleine die Ränge 1-50 der häufigsten Wörter in Texten (Duden 26 2014: 158) In ihrer Schreibung sind sie manchmal regulär, manchmal nicht Die Personalpronomina mir, dir und wir gehören zu einer Klasse mit besonders auffälligen Schreibungen, vor allem i-Schreibungen: Bei ihr, ihm, ihnen, ihn wird das [i] mit <ih> verschriftet; diese Schreibung gibt es sonst - außer bei einigen Eigennamen wie <Ihle> oder <Sihlsee>, die ohnehin eigenen Gesetzmäßigkeiten folgen - nirgends Wir, dir und mir stehen ohne Dehnung; auch das ist bei einheimischen Wörtern, wie wir gesehen haben, die Ausnahme Mit der <ie>-Schreibung scheint sie das einzig „normale“ Personalpronomen zu sein Insgesamt ergibt sich daraus zwar ein klares Bild (im Anlaut <ih>, im Inlaut <i>, im Auslaut <ie>), das Paradigma ist aber wahrscheinlich zu klein für eine systematische Erarbeitung im Unterricht Die - häufig vorkommenden - Personalpronomina sind daher ein Fall für die Klassenwand, an der sich Kolja bei Bedarf orientieren kann Eine solche Klassenwand wäre auch für Sonja eine gute Lernhilfe: Denn sie schreibt nicht nur *<fer libt> für <verliebt>, sondern auch <si> für <sie> (s o .) Je häufiger Kolja und Sonja mit diesen Wörtern arbeiten, desto besser wird es ihnen gelingen, die besonderen Schreibungen als Hinweis auf ihre Wortartenzugehörigkeit zu interpretieren, was vor allem beim Lesen einen großen Vorteil darstellt Das wussten bereits unsere Vorfahren, die mit diesen Wörtern viele Schreibexperimente durchgeführt haben, bis die unverwechselbare Systematik gefunden war: Für die Formen von ihr finden wir in historischen Texten mindestens die folgenden Schreibungen: <ir>, <iren>, <ier>, <yren>, <yeren>, <jren>, <jrn>, <jhrer> Und sogar innerhalb eines Textes können verschiedene Schreibweisen vorkommen: „da scherz ich dann mit jhr, […] und schlaf […] an jren schneeweiszen armen“ (Fischart, 16 . Jh in: Grimm 10: 2054) • Fremdwörter - ein Fall für das aktive Lernen: Wörter wie Maschine, Kabine und Krokodil weisen sehr regelhaft kein <ie> auf . Es handelt sich um Fremdwörter, die an ihrer Auftaktstruktur erkennbar sind: Reduziert man diese Wörter um die Auftaktsilbe(n) (also um alles, was vor der betonten Silbe steht), erhält man einen Trochäus (Maschine, Kabine), das Muster also, an dem die Kinder, wenn ihnen der Unterricht die 144 Fehler und Störungen richtigen Hilfen bereitstellt, ihr primäres orthographisches Wissen ausprägen Wer also einmal gelernt hat Biene und Schiene mit <ie> zu schreiben, sieht zunächst keinen Anlass, Kabine und Maschine nicht ebenso zu verschriften Dieser Strategie ist Kolja wahrscheinlich gefolgt Denn dass hier kein <ie> geschrieben werden muss, erkennt man nicht an der lautlichen Qualität von [i], sondern am Auftakt: Auftaktwörter, in denen der Auftakt fest zum Wort dazugehört, haben keine Dehnungszeichen Lernen kann Kolja das mithilfe des Haus-Garagen-Musters, das hier einen Vorbau erhält: Sehen wir uns die Leistungen von Maria, Kolja und Gustav noch einmal an und ordnen sie danach, welche Hypothesen die Kinder über die herleitbaren i-Schreibungen jeweils ausgebildet haben Nehmen wir dafür noch einen kompetenten Schreiber (Mustermann) hinzu, der an keiner dieser Stellen mehr Fehler macht Die Leistungen der Schreiber/ innen können vom schwächsten aufsteigend zum stärksten wie folgt sortiert werden: Hypothesen zur i-Schreibung Gustav <bine> <kabine> <Papir> [I] <i> [i] <i> Kolja <biene> <kabiene> <Papier> [I] <i> [i] <ie> Maria <biene> <kabine> <Papir> [I] <i> [i] trochäus: <ie> auftaktwort: <i> Mustermann <biene> <kabine> <Papier> [I] <i> [i] trochäus: <ie> auftaktwort: <i>, aber <ier> Der Unterschied zwischen Gustav und Kolja einerseits gegenüber Maria und Mustermann andererseits ist für uns von allergrößter Bedeutung: Gustav und Kolja sind bei ihrer Entscheidung ausschließlich am einzelnen Segment orientiert, sie schauen bei der Verschriftung von i also nur auf das i selbst Maria und Mustermann gehen anders vor: Sie achten zusätzlich auf die Umgebung, in der diese Segmente auftreten Zur Lösung der gestellten Schreibaufgaben nutzen sie also systematisches Wissen, während Gustav und Kolja lediglich mit isolierten Wissensbeständen arbeiten Nehmen wir einmal an, dass die Schreibungen von Gustav, Kolja, Maria und Mustermann Erwerbsfolgen abbilden Wir sehen dann etwas für Erwerbspro- Fehler als Hinweise auf Lernfortschritte 145 zesse sehr Typisches: Beim Übergang zu neuen Möglichkeiten kann es zu teilweisen Rückschritten kommen Während Kolja Papier korrekt schreibt, macht die im Erwerbsprozess weiter vorangeschrittene Maria hier einen Fehler Erst Mustermann schreibt Papier (wieder) korrekt, aber seine <ie>-Schreibung hat andere Gründe als die von Kolja (Warum Papier überhaupt mit <ier> geschrieben wird, werden wir weiter unten klären ) Treten solche vorübergehenden Inkonsistenzen auf, ist das ein Zeichen dafür, dass sich das gesamte Lernersystem im Umbruch befindet Wir sprechen von u-kurvenförmigen Lernverläufen: Sicher geglaubtes Wissen wird beim Eintreffen neuer Strukturen in Frage gestellt und destabilisiert Es wird dann zusammen mit dem neuen Wissen zu neuen Wissensformen verarbeitet und kehrt stabiler als zuvor wieder zurück: Abb. 4-5: U-kurvenförmiger Lernverlauf Diese U-Kurven treten nicht nur in individuellen Lernbiographien auf, sondern auch bei Querschnittuntersuchungen zu bestimmten Schreibungen Die Ermittlung der Schreibungen von Maschine, Vitamine, Lawine in dritten, vierten, fünften und achten Klassen ergab folgendes Bild (Angaben in Prozent; vgl Bredel 2 2015); angezeigt ist die Häufigkeit der korrekten Schreibung mit <i>“ Abb. 4-6: Häufigkeit der korrekten Schreibung von Maschine, vitamine, lawine in den Klassen 3, 4, 5 und 8; aus: Bredel ( 2 2015: 362) Wir sehen, dass der Höhepunkt der Falschschreibungen mit <ie> in der fünften Klasse liegt Von da ab werden i-Schreibungen konsequenter danach sortiert, 146 Fehler und Störungen ob es sich um Auftaktwörter handelt, die dann mit einfachem <i> verschriftet werden Im Orthographieunterricht werden die Schüler/ innen bei solchen Lernprozessen häufig nicht hinreichend unterstützt Denn das Wissen über die silbengebundene Schreibung hat sich in den Schulen noch kaum durchgesetzt . Kaum ein Lehrer, kaum eine Lehrerin und kaum ein Schulbuch klärt die Kinder über die Differenzierung von Wörtern mit und ohne Auftakt auf sowie über die Konsequenzen, die der Auftakt für die Schreibung hat Um die Schüler/ innen bei Umstrukturierungsprozessen innerhalb des Lernverlaufs optimal begleiten zu können, ist es wichtig, den Kindern Lerngelegenheiten zu geben, die zwei Bedingungen erfüllen: • Zum einen müssen die Lernwörter typische Strukturen aufweisen, damit an ihnen entsprechende Entdeckungen gemacht werden können; • Zum anderen muss das Lernangebot auf das Entwicklungsprofil der Lerngruppe abgestimmt sein (Wie in Kap . 3 dargestellt, sprechen wir mit Wygotski von der „Zone der nächsten Entwicklung“, in der die passenden Lerngelegenheiten die größte Wirksamkeit zeigen .) So benötigt Gustav aus unserem Beispiel, wie besprochen, für den Übergang zu Phase 2 zunächst einfache Trochäen, in denen der Kontrast zwischen der i- und der ie-Schreibung sichtbar wird, also fin-den, Kin-der, Rin-de, Pin-sel einerseits und Flie-ger, Tie-re, schie-ben andererseits Ihm in dieser Phase zugleich Wörter wie Maschine, Lawine oder Kabine anzubieten, hilft ihm nicht Dagegen sind dies genau die Wörter, die Kolja braucht, damit er seine Hypothese, jedes Wort mit [i] werde mit <ie> verschriftet, überprüfen und anpassen und damit in Phase 3 eintreten kann, in der sich Maria bereits befindet Sie benötigt zur Weiterentwicklung den Kontrast zwischen Auftaktwörtern des Typs Kabine, Maschine, stabile und solchen des Typs Papier, Klavier, regieren, blamieren. Die Analyse der Unterschiede (r oder nicht) ermöglicht dann die Entdeckung der entsprechenden Gesetzmäßigkeit Im letzten Schritt können dann auch die (wenigen) Ausnahmen zu den <ier>-Wörtern (Fakir, Kefir, Kaschmir, Vampir, Saphir) erarbeitet werden, wobei sich an ihnen die Entdeckung machen lässt, dass sie nicht, wie die bereits bekannten <ier>-Wörter, aus dem Französischen, sondern aus anderen Sprachen stammen (Fakir: arab faq ī r, Kefir: türk köpürmek = schäumen, Kaschmir: devangari Ka ś m ī r, Vampir: serb vampir, Saphir: gr . sappheiros) Nur das aus dem Französischen übernommene Souvenir macht hier eine Ausnahme . Solche Entdeckungen zu machen ist übrigens für Schüler/ innen an weiterführenden Schulen immer wieder hochmotivierend Und das Internet stellt eine sehr gute Plattform dafür bereit Fehler als Hinweise auf Lernfortschritte 147 Warum der Tiger in die Lernkartei gehört, das Krokodil aber nicht Bis hierher haben wir gesehen, dass die meisten Wörter mit [i] klaren Gesetzmäßigkeiten folgen, die die Kinder als solche entdecken und sich aneignen können, vorausgesetzt der Unterricht macht zur jeweils richtigen Zeit die richtigen Lernangebote Wir haben aber auch einige i-Wörter gefunden, die den Gesetzmäßigkeiten zuwiderlaufen: Das sind die trochäischen Formen Tiger, Bibel, Fibel oder ein Ausdruck wie Souvenir Diese Wörter müssen als Ausnahmen gelernt werden Für diese Ausnahmen und nur für diese brauchen die Kinder eine Lernkartei Das Krokodil bleibt draußen: Es handelt sich um ein Auftaktwort; die Schreibung folgt Gesetzmäßigkeiten, die gelernt werden können und nicht auswendiggelernt werden müssen Wir möchten Sie hier einladen, als Lehrer/ in tätig zu sein, und bei folgenden i- und f-/ v-Wörtern zu entscheiden, ob sie in eine Lernkartei gehören oder in den regelorientierten Unterricht: Lawine, verloben, Riese, sieben, Ruine, Vogel, Faden, Kabine, Gardine, Biber, vier, fliegen, Tafel, Ofen, versuchen, Volk Ausgewählt für die Lernkartei haben Sie wahrscheinlich: Vogel, Biber, vier und Volk; denn das sind diejenigen Wörter, die sich die Kinder tatsächlich als Merkwörter einprägen müssen Alle anderen lassen sich herleiten . Wenn Sie nun überlegen, wie Sie Ihre Lernkartei sortieren würden, denken Sie wahrscheinlich zuerst an eine alphabetische Ordnung . Aber diese führt hier nicht weiter: Denn ein Kind, das das Wort vier oder Vogel nachschlagen will, weiß dann eben nicht, wo es den Eintrag findet . Die Probleme der alphabetischen Sortierung gehen noch viel weiter, wie der Schriftforscher Hartmut Günther (2010) nachgewiesen hat: Das Nachschlagen setzt insgesamt voraus, dass man schon vorher - zumindest ungefähr - weiß, wie ein Wort geschrieben wird Das Nachschlagen als Lernhilfe bei Nichtwissen erweist sich also beim zweiten Hinsehen häufig als zusätzliche Lernhürde Welche Möglichkeiten stünden noch für die Sortierung unserer Lernkartei zur Verfügung? Vorstellbar sind zum Beispiel thematische Sortiersysteme (Tiere, Möbel, Freizeit …) oder auch Sortiersysteme, die dem individuellen Bedarf angepasst sind (Welches sind meine Lieblingswörter? Welches sind die Wörter, die ich am häufigsten brauche? Welches sind die Wörter, bei denen ich mich besonders häufig verschreibe und die ich deshalb besonders oft üben muss? ) . Wichtig bleibt, dass diese Form des Lernens denjenigen Wörtern vorbehalten bleibt, die echte Ausnahmen sind 148 Fehler und Störungen Fehler als Hinweise auf Probleme Bis hierher haben wir gesehen, dass ein systematischer Sprach- und Orthographieunterricht von Beginn an Voraussetzung für einen optimalen Lernfortschritt ist Wenn die Weichen einmal falsch gestellt sind, kann es statt der produktiven U-Kurven auch zu unproduktiven L-Kurven kommen Von einer L-Kurve sprechen wir, wenn das Kind einmal Gewusstes/ Gekonntes verlernt und auf diesem Niveau verharrt Wir wollen dies am Beispiel der Großschreibung illustrieren, die ja weit über die Grundschulzeit hinaus eine der fehleranfälligsten Schreibungen überhaupt ist (vgl Kap 3) Bereits im ersten Schuljahr experimentieren Kinder mit Groß- und Kleinbuchstaben - und sie machen das gar nicht so schlecht Nachdem sie entdeckt haben, dass das duale Buchstabensystem eine Funktion hat und Großbuchstaben nur ausnahmsweise und nur am Anfang von Wörtern verwendet werden, beginnen sie, auch ohne gezielten Unterricht, zum Beispiel Satzanfänge, aber auch schon andere Wörter großzuschreiben Besonders sensibel reagieren sie auf Eigennamen, wie der folgende Text von Jonas (aus Weinhold 2000: 274) zeigt, der alle Eigennamen, also Karibik sowie Tiger und Bär, die hier wie Eigennamen gebraucht sind, großschreibt: Abb. 4-7: Jonas’ Text; aus: Weinhold (2000: 274) Folgen wir Jonas in seiner Entwicklung Die meisten Eigennamen schreibt er bereits ziemlich zuverlässig groß Mit zunehmender Schrifterfahrung beginnt er noch im ersten Schuljahr damit, auch Wörter wie Baum oder Haus mit Großbuchstaben zu versehen, andere großzuschreibende Ausdrücke schreibt er auch am Ende der ersten Klasse noch klein Im Unterricht der zweiten Klasse erfährt er dann, dass Wörter, die auf einen Artikel folgen, großgeschrieben werden Er schreibt weiter der Baum, das Haus Fehler als Hinweise auf Probleme 149 regelgerecht, aber auch *der Große baum, *das Kleine haus Er hat die Information aus dem Unterricht als eine lineare Anweisung verstanden, nicht als Anweisung, den Artikel als Indiz für das Vorhandensein eines Wortes zu verstehen, das großgeschrieben werden muss Verfestigt sich diese Hypothese bei Jonas, wird er über längere Zeit auf solchen Fehlschreibungen verharren Es entsteht eine L-Kurve: Abb. 4-8: L-förmiger Verlauf der Lernkurve L-Kurven deuten sehr häufig darauf hin, dass die Kinder aus den Angeboten des Unterrichts falsche, aber - wie wir sehen werden - naheliegende Fehlschlüsse gezogen haben Es ist deshalb allergrößte Sorgfalt auf die Lerngelegenheiten zu verwenden, die den Kindern zur Verfügung gestellt werden: Mit dem Beispiel der Artikelprobe, die den Kindern für die Prüfung der Großschreibung verfügbar gemacht wird, liegt ein klassischer und gut untersuchter Fall von Fehlinstruktion vor, wie wir bereits in Kapitel 3 (S 112 f ) gezeigt haben Dasselbe gilt für den Merksatz „Substantive schreiben wir groß“ Aufgrund dieser „Regel“ sollen Grundschüler/ innen neben der der/ die/ das- Probe Substantive auch daran erkennen, dass sie Dinge bezeichnen, die wir sehen und anfassen können (vgl auch Kap 3) Für andere Wortarten soll dann Entsprechendes gelten: So werden Verben als „Tuwörter“ eingeführt; zusätzlich erhalten die Kinder die Information, dass diese kleingeschrieben würden jonas ist inzwischen in der vierten klasse. die sätze, die er schreiben will und schreiben soll, sind komplexer geworden. wie soll er zum beispiel im satz Das Üben macht mir großen Spaß ü/ Üben und s/ Spaß schreiben? jonas überlegt: vor Üben steht ein artikel, also Üben groß. aber üben kann man nicht anfassen, sondern tun, also üben doch klein? und Spaß? es steht kein artikel davor, und anfassen kann man es auch nicht, also klein …, aber tun kann man es auch nicht, also doch groß? Wir wissen nicht genau, wie Jonas sich entscheidet Wahrscheinlich einmal so, einmal so Wir erhalten jenes widersprüchliche Bild, das wir bereits bei der f-/ v-Schreibung kennengelernt haben Solche Inkonsistenzen sind häufig nicht nur vorübergehend, sondern verdichten sich zu einem insgesamt unstabilen orthographischen Profil Löffler & Meyer-Schepers (2005: 99) sprechen in diesem Zusammenhang von einer Fehler-Spirale Im schlimmsten Fall erhalten wir Erwerbsprofile, wie wir sie bei Christian und Claus in Kapitel 3 gesehen haben 150 Fehler und Störungen Eine Großschreibungsdidaktik, die von Beginn an zum Ziel führt, wurde von Röber-Siekmeyer (1999) entwickelt und von Günther/ Nünke (2005) ergänzt In unserem Buch ist sie auf S 114 dargestellt Lesefehler Bis hierher haben wir uns nur mit Problemen beim Schreibenlernen befasst . Wir haben gesehen, wie sie entstehen, wie sie interpretiert und wie sie bearbeitet werden können Aber auch beim Lesenlernen können Schwierigkeiten auftreten Und auch hier wollen wir einigen der Ursachen auf den Grund gehen und zeigen, was getan werden kann Dabei konzentrieren wir uns auf solche Probleme, die entstehen, wenn Kinder Schwierigkeiten damit haben, Strukturen auszuwerten Was wir hier nicht behandeln können, sind die großen Fragen des Textverstehens, wie sie zum Beispiel in der PISA-Studie, aber auch in der Literaturwissenschaft und in der Literaturdidaktik diskutiert werden Wortlesen In Kapitel 3 haben wir gezeigt, dass die meisten Leselehrgänge die Buchstaben- Laut-Beziehung zum Ausgangspunkt für den Leseprozess machen Die Kinder werden angeleitet, jeweils einen Buchstaben mit einem Lautwert zu versehen, entsprechend zu ‚lautieren‘ und Buchstabenketten zu ‚synthetisieren‘ Als Leseergebnisse erhalten wir, wie wir gesehen haben, Wortvorformen, die in einem zweiten Schritt mit einem Eintrag im mentalen Lexikon des Lesers/ der Leserin verknüpft werden müssen Der Schritt vom buchstabenweisen Erlesen zum silben-, morphem- und lexikongesteuerten Lesen von Wörtern wird häufig vom Unterricht nicht mehr aktiv unterstützt Man geht davon aus, dass sich diese Fähigkeiten durch zunehmende Leseerfahrungen von selbst ergeben Und tatsächlich bewältigen viele Kinder diesen zweiten Schritt, meist beginnend im zweiten Schuljahr, ohne zusätzliche Hilfe Sie holen sich das Wissen, das sie dafür brauchen, aus der Schrift Wir beobachten aber auch immer wieder Kinder, die das nicht schaffen Sie bleiben der Abbildtheorie treu Aus dem Verharren auf den anfänglichen Instruktionen wird zunehmend ein handfestes Problem Das folgende Leseprotokoll stammt von der Fünftklässerin Mara (aus Noack 2004: 112): geschrieben: sie horten auch nüsse, bucheckern, gelesen: zi .. hO.tEn / aUx .. nYs .. bu.xn .kE.ne .. geschrieben: eicheln, Pilze und knospen gelesen: / aI.  ln .. pil.tse / Unt knos.p  m Lesefehler 151 Beachten wir vor allem die Lesungen der Wörter Pilze und Knospen und machen uns auf dieser Grundlage die Lesestrategie von Mara klar: Pilze und Knospen sind trochäische Wortformen; sie weisen regelhaft eine Haupt- und eine Reduktionssilbe auf In beiden Wörtern ist die Hauptsilbe geschlossen (Pilbzw . Knos-), was eine kurze, ungespannte Vokalartikulation nach sich zieht (vgl . Kap 2) Mara jedoch behandelt die Hauptsilben von Pilze und Knospen wie offene, liest also jeweils einen langen, gespannten Vokal [pil] und [knos] . Die Reduktionssilbe -ze von Pilze wird von Mara betont [tse], also wie eine Hauptsilbe behandelt, und erhält statt dem geforderten Schwa-Vokal den gespannten, langen Vollvokal [e] Nur die Reduktionssilbe -pen von Knospen liest sie regelgerecht Mit diesen Merkmalen ähneln die von Mara produzierten Formen den Wortvorformen unseres Erstklässers Noah aus Kapitel 3, die durch die 1: 1-Zuordnung von Buchstaben zu Lauten zustandegekommen waren Während die meisten Laien, aber auch Lehrer/ innen diese Lesestrategie bei Lesenovizen für unbedenklich halten, ja sie sogar fördern, sind sich alle darüber einig, dass ein Kind wie Mara Leseförderung benötigt Und dies, obwohl sie eigentlich nur das umsetzt, was sie in und seit der ersten Klasse gelernt hat . Aber genau deshalb steckt ihre Leseentwicklung ja fest Wie schwer Mara in der Krise steckt, sieht man auch daran, dass sie, im Gegensatz zu Noah, keine Versuche unternimmt, aus den erlesenen Wortvorformen zu echten Wortformen zu kommen und damit einen passenden Lexikoneintrag zu finden Das heißt: Mara hat nicht verstanden, was sie gelesen hat, und sie will es auch nicht verstehen - sie hat sich längst aufgegeben Das Fehlen von Korrekturhandlungen ist insgesamt ein sehr typisches Zeichen für schwache Leser/ innen Das Fehlen von Korrekturen bestimmt den Gesamthöreindruck solcher Leseproben Aber auch wenn sie sich korrigieren, gehen schwache Leser/ innen häufig anders vor als starke Leser/ innen: Sie wiederholen innerhalb eines Wortes häufig nur den oder die Buchstaben, bei denen sie eine Verlesung festgestellt haben Starke Leser/ innen lesen das gesamte Wort noch einmal Was Mara braucht, um in ihrer Entwicklung voranzukommen, ist eine neue Schrifttheorie Sie muss lernen, dass einzelne Buchstaben nicht Lautwerte abbilden, sondern dass Buchstabenfolgen Silben-, Morphem- und Wortstrukturen sichtbar machen Eine systematische Arbeit an trochäischen Basisformen (vgl Kap 2), die Unterscheidung zwischen geschlossenen und offenen Silben, die Unterscheidung zwischen Haupt- und Reduktionssilben ist dafür ein guter Anfang . Besser noch wäre es für Mara gewesen, wenn ihr von Beginn an die Möglichkeit gegeben worden wäre, sich strukturiertes Wissen über die Orthographie in diesem Sinn anzueignen 152 Fehler und Störungen Satzlesen Auch wenn Mara diesen Schritt bewältigt und zu einer guten Wortleserin geworden sein sollte, ist sie noch nicht aus dem Schneider Denn wenn die Hürde des Wortlesens genommen ist, wartet eine neue Herausforderung auf sie: das Satzlesen, also die Verknüpfung von Wörtern zu Wortgruppen und Sätzen, wie wir es in Kapitel 3 dargestellt haben Kompetente Leser/ innen zeichnen sich dadurch aus, dass sie solche Wortgruppen während des Lesens automatisch erfassen und sie zu einem Satz verknüpfen Beim Vorlesen von Sätzen sind sie deshalb auch in der Lage, jede einzelne Wortgruppe klanglich zu strukturieren und dem gesamten Satz seinen eigenen Klang zu geben Kinder, die beim Satzlesen Schwierigkeiten haben, schaffen genau diese Bündelungen nicht Beim Vorlesen setzen sie häufig mitten in den Wortgruppen ab Sie können Wortfolgen häufig nicht zu Wortgruppen zusammenfassen und kommen so weder zu einer korrekten Intonation einzelner Wortgruppen noch zu einer korrekten Intonation des Gesamtsatzes . Ob ein Kind Probleme mit dem Satzlesen, also der Auswertung der syntaktischen Struktur von Sätzen hat, können wir ebenso wie beim Wortlesen auch an seinem Korrekturverhalten erkennen: Kompetente Leser/ innen springen bei Verlesungen innerhalb einer syntaktischen Wortgruppe an deren Beginn zurück und bauen sie noch einmal von vorn auf - auch um die Intonationskontur neu über die gesamte Wortgruppe legen zu können . Lerner/ innen, die die syntaktischen Strukturen beim Lesen nicht beachten, gehen auch bei ihrem Korrekturverhalten viel weniger strukturiert vor Sie gehen nicht weiter als ein oder zwei Wörter zurück, suchen also nicht nach dem Anfang der Wortgruppe Die folgenden zwei Beispiele zeigen das Korrekturverfahren der starken Leserin Marianne und des schwachen Lesers Lars Gelesen werden sollte Mollys Rache von Cornelia Funke Wir sehen uns folgenden Ausschnitt an: Aber der fiese Freddy zog sie heraus. An den Haaren schleppte er sie zu Knitterbart. (Materialien von Sabine Zepnik) korrekturverfahren der starken leserin Marianne: An den Haaren ↓…/ An den Haaren → schleppte er sie zu Knitterbart. … Bei ihrem ersten Leseversuch liest Marianne die Wortgruppe An den Haaren mit fallender Intonation Sie hatte dieses Satzglied irrtümlich als adverbiale Bestimmung des Vorgängersatzes aufgefasst Als sie das Wort schleppte liest, bemerkt sie ihren Irrtum und liest die Gesamtsequenz An den Haaren erneut, dieses Mal mit schwebender Intonation, also passend zur Gesamtstruktur des Satzes, zu dem die Wortgruppe An den Haaren gehört Lesefehler 153 korrekturverfahren des schwachen lesers lars: Aber der fiese…/ fiese Fer…/ Freddy zog sie heraus. Die Wortgruppe, die hier wichtig ist, ist der fiese Freddy . Offensichtlich fällt es Lars schwer, den Namen Freddy zu lesen Schon nach fiese gerät er ins Stocken, setzt aber bei seinem Neustart nicht am Beginn der Wortgruppe an, sondern wiederholt nach einer Denkpause nur das Wort fiese Auch im zweiten Anlauf schafft Lars es nicht, Freddy zu lesen Nach einer weiteren Denkpause gelingt die Dekodierung Die gesamte Wortgruppe ist aber im Arbeitsgedächtnis längst zerfallen, Lars hat der fiese Freddy also zu diesem Zeitpunkt nicht als Satzglied präsent Er versucht auch gar nicht, die Wortgruppe noch einmal neu aufzubauen, sondern liest einfach weiter Neben solchen, nur wenig zielführenden Korrekturhandlungen können wir bei schwachen Leser/ innen wie schon bei Mara auch das völlige Fehlen von Korrekturen erkennen, wie im folgenden Ausschnitt aus dem Leseprotokoll der schwachen Leserin Sabine: fehlende korrektur bei der schwachen leserin sabine: Aber…den…fies…Freddy zog… sie…heraus. Wie die Sprachdidaktiker Reinold Funke und Jasmin Sieger (2009) ermittelt haben, ist die Beachtung der Strukturen des Satzbaus für das Lesen zentral Sie konnten zeigen, dass dies nicht nur in dem Moment bedeutsam ist, in dem eine einzelne Wortgruppe gelesen wird, sondern dass es genauso wichtig ist, die syntaktischen Informationen jeder einzelnen Wortgruppe so lange im Arbeitsgedächtnis verfügbar zu halten, bis der gesamte Satz syntaktisch verarbeitet ist Lars und Sabine brauchen also eine doppelte Unterstützung: Sie müssen lernen, einzelne Wortgruppen wahrzunehmen und als ganze zu verarbeiten Und sie müssen lernen, die verarbeiteten Wortgruppen während des Satzlesens präsent zu halten Für den ersten Schritt wurden in Kapitel 3 bereits Vorschläge gemacht: Zunächst geht es darum, den Kindern zu ermöglichen, Wortgruppen überhaupt als solche zu identifizieren Dafür bietet es sich an, sie zunächst untereinander zu notieren und sie als Einheiten lesen zu lassen (vgl . S 126 f ) In einem nächsten Schritt können die Wortgruppen mit senkrechten Strichen markiert werden In all diesen Übungsphasen sollte aber zusätzlich die Großschreibung als Grenzmarkierung besprochen werden Denn die großgeschriebenen Ausdrücke markieren zugleich die rechten Ränder von für das Lesen so wichtigen Nominalgruppen und Präpositionalgruppen (Kapitel 2 und 3) und helfen auch in unmarkierten Texten bei der Identifizierung der syntaktischen Struk- 154 Fehler und Störungen tur An unserem Beispieltext kann die Wirksamkeit der Großschreibungsausdrücke als rechte Grenzen von Nominal- und Präpositionalgruppen aufgezeigt werden: aber | der fiese Freddy | zog | sie | heraus. | An den Haaren | schleppte | er | sie | zu Knitterbart | Wer die Großschreibung beim Lesen richtig interpretieren gelernt hat, hat einen großen Schritt in Richtung syntaktischer Lesesicherheit gemacht Hinzu kommt dann noch die Beobachtung, dass Personalpronomen (hier: sie, er, sie) und Verben (hier: zog, schleppte) Einheiten mit eigener syntaktischer Funktion darstellen Werden diese Strukturmerkmale berücksichtigt, kann fast jeder Satz „geknackt“ werden Wie kann man nun Lars und Sabine weiter helfen, nicht nur die einzelnen Wortgruppen zu erkennen, sondern zugleich die erkannten Gruppen während des Lesens präsent zu halten? Ein wichtiges Hilfsmittel ist hier die Geschwindigkeit: Je langsamer und zäher der Leseprozess erfolgt, desto schwieriger wird es, das, was man gelesen hat, im Arbeitsgedächtnis aufzubewahren . Ein neueres Leseförderkonzept setzt genau hier an Es geht um die Förderung der fluency, also der Leseflüssigkeit In verschiedenen Untersuchungen konnte gezeigt werden, dass Kinder, deren Leseflüssigkeit trainiert wurde, sehr gute Fortschritte beim Lesen machten Einige fluency-Trainingseinheiten wurden von Rosebrock & Nix 2006 vorgestellt Die wichtigste Rolle spielt bei all diesen Übungsformen ein sogenanntes Lesemodell: Das ist ein/ e kompetente/ r Leser/ in, der/ die den Lerner/ innen in unterschiedlichen Formen assistierend zur Seite steht: • assisted reading (Lesen mithilfe eines Lesemodells, das heißt eines kompetenten Lesers/ einer kompetenten Leserin, der/ die bei Schwierigkeiten eingreift und schwierige Teile vorliest) • choral reading (simultanes Lesen von einem/ einer kompetenten Leser/ in und einem/ einer Lerner/ in) • echo reading (Wiederholung einer von einem/ einer kompetenten Leser/ in zuvor korrekt intonierten Einheit durch den/ die Lerner/ in) • assisted cloze reading (Fortführen einer von einem/ einer kompetenten Leser/ in begonnenen Passage durch den/ die Lerner/ in) • reading while listening (stilles Mitlesen als Vorform der Eigenartikulation durch den/ die Lerner/ in) • Lesen in verteilten Rollen Fehlerkonzepte in Rechtschreib- und in Lesetests 155 Fehlerkonzepte in Rechtschreib- und in Lesetests Wenn man wissen will, ob ein Kind insgesamt über Rechtschreib- und Lesesicherheit verfügt, sieht man sich normalerweise seine Schulnote an: Eine 1 oder eine 2 in der Rechtschreibung sagt uns dann, dass ein Kind ein guter Rechtschreiber ist, eine 3 verweist auf einen durchschnittlichen, eine 4 auf einen schlechten Rechtschreiber, bei einer 5 oder einer 6 verständigt man sich möglicherweise auf eine besondere Förderung Nun sind Schulnoten jedoch nur bedingt geeignet, die tatsächliche Leistung eines Kindes in einem bestimmten Kompetenzbereich zu beschreiben . Das hat mehrere Gründe, von denen wir einige wenige nennen wollen: Noten werden normalerweise für Prüfungsleistungen vergeben, die den Unterrichtsstoff der vergangenen Tage oder Wochen abfragen, nicht aber übergreifende Fähigkeiten in einem Lernbereich Dazu kommt, dass mit Noten häufig nicht einfach eine absolute Leistung ausgedrückt, sondern zugleich auch der individuelle Lernforschritt bewertet wird: Wenn sich ein Kind also von einer mangelhaften Leistung aus gesteigert hat, erhält es vielleicht beim nächsten Diktat eine 4, obwohl die Leistung absolut gesehen möglicherweise noch immer mangelhaft ist Hinzu kommt, dass in der Grundschule häufig sogenannte pädagogische Zensuren vergeben werden: Denn Grundschullehrer/ innen haben einen Spielraum, selbst schwächere Schüler/ innen etwas besser zu benoten, etwa um eine Zurückstellung und damit auch sozial negative Folgen zu vermeiden, die bei einem Wechsel des Klassenverbandes häufig zu befürchten sind . Vergleicht man also Schulnoten mit Leistungswerten aus standardisierten Tests, erhält man zwar keine völlig abweichenden Ergebnisse, aber eben auch keine Übereinstimmung: „Tests und Schulnoten messen […] zwar einige gemeinsame, aber mindestens genau so viele unterschiedliche Aspekte der Lese- und Rechtschreibleistungen .“ (Scheib u a 2005: 40) Es gibt aber noch einen ganz anderen Grund, warum uns Schulnoten nur wenig über die tatsächlichen Leistungen der Schüler/ innen verraten Er lässt sich in folgendem Zitat zusammenfassen: „Sag mir, in welche Schule oder Klasse du gehst, und ich sage Dir, wie gut du bist! “ (Scheib u a 2005: 44) Ein Leistungsvergleich zwischen Kindern, die in unterschiedlichen Klassen unterrichtet wurden, zeigte nämlich, dass die untersuchten Erst- und Zweitklässer trotz ähnlicher Lernvoraussetzungen ganz unterschiedliche Lernfortschritte machten Die Autoren der Studie stellten fest, dass die objektiven, mit Rechtschreib- und Lesetests erhobenen Leistungen zwischen den Klassen so weit voneinander abwichen, dass die besten Kinder der schlechtesten Klasse ebenso gut waren wie die schlechtesten Kinder der besten Klasse In den Schulnoten drückte sich das jedoch nicht aus, so dass es möglich ist, dass „ein Kind in der einen Klasse bei gleicher Leistung eine sehr gute Note erhält, bei einem Umzug oder sogar 156 Fehler und Störungen nur einem Wechsel in eine Parallelklasse auf einmal zu den Schlusslichtern zählen würde “ (Scheib u a 2005: 46) Die Abhängigkeit der Noten von denen, die sie verteilen, ist seit den 1960er Jahren bekannt In seiner 1965 durchgeführten Studie bat der Pädagoge Rudolf Weiss verschiedene Lehrer, dieselben Aufsätze zu benoten Bei einigen Texten waren die Einschätzungen so verschieden, dass die Noten fast über die ganze Notenskala streuten Wie Birkel & Birkel im Jahr 2002 gezeigt haben, hat sich die Situation auch 40 Jahre später noch nicht geändert Abbildung 4-9 zeigt die Verteilung der Noten bei der Beurteilung desselben Aufsatzes eines Viertklässers durch 88 Grundschullehrer/ innen: Abbildung 4-9: 88 Grundschullehrer/ innen benoten denselben Schulaufsatz (nach Birkel & Birkel 2002: 222); die Ziffern auf der x-Achse bilden die Schulnoten ab; 1 bedeutet 1,0-1,7; 2: 2,0-2,7 usw. Bei Rechtschreib- und Leseleistungen dürften die Unterschiede insgesamt zwar geringer ausfallen; wir sehen aber deutlich, dass uns Schulnoten nur eine ungefähre Orientierung geben können Um tatsächlich objektive Auskunft über die Rechtschreib- und Leseleistungen von Lerner/ innen zu erhalten, benötigen wir also verlässlichere Instrumente Zu diesem Zweck wurden Rechtschreib- und Lesetests entwickelt Die meisten von ihnen setzen einen doppelten Leistungsbegriff an: 1 Leistung im Verhältnis zu Gleichaltrigen: Standardisierte Tests stellen dafür Altersnormen bereit, die auf der Basis großer Stichproben errechnet sind Eine wichtige Rolle spielt dabei der sog Prozentrang (PR), der auch für Laien gut verständlich ist: Weist ein Kind zum Beispiel PR 45 auf, besagt dies, dass 45 % der Gleichaltrigen gleich gut oder schlechter abgeschnitten haben, 55 % der Gleichaltrigen besser Der Wert 15 gilt normalerweise als kritische Grenze: Die Leistung von Kindern, die einen Prozentrang von unter 15 aufweisen, gilt nicht nur als unterdurchschnittlich; es besteht der Verdacht auf eine umschriebene Lese-/ Rechtschreibschwäche (s u ) 2 Leistung im Verhältnis zur Lernaufgabe: Bei vielen Verfahren ist neben einem Leistungsvergleich zwischen den Lerner/ innen auch die Erstellung Fehlerkonzepte in Rechtschreib- und in Lesetests 157 eines individuellen Leistungsprofils für den einzelnen Lerner vorgesehen; so können die Aufgaben z B nach Schwierigkeitsgraden gestaffelt sein oder nach angenommenen Strategien Je nach dem, welche Aufgaben von einem Kind bewältigt werden, kann dann festgestellt werden, welchen Schwierigkeitsgrad es bereits bewältigt bzw . welche Strategien es anwendet . Die Erstellung von individuellen Leistungsprofilen ist besonders dann wichtig, wenn Diagnosen nicht für eine Selektion, also etwa für die Entscheidung der Schullaufbahn o ä . durchgeführt werden, sondern zur Einschätzung des Förderbedarfs . Im Optimalfall zeigt ein Testergebnis also an, wo ein Kind Stärken und wo es Schwächen hat und wo Fördermaßnahmen ansetzen müssen Damit individuelle und vergleichende Leistungsprofile zuverlässig erstellt werden können, müssen Tests bestimmte Kriterien erfüllen: • Das erste Kriterium ist die Objektivität. Darunter versteht man, dass die Ergebnisse unabhängig von demjenigen sind, der sie erhebt . Im Optimalfall ist ein Test also mit einem Lineal vergleichbar: Wer auch immer die Länge eines Stockes mit einem Lineal misst, wird auf dasselbe Ergebnis kommen Bittet man Versuchspersonen dagegen, die Länge eines Stockes, der vor ihnen liegt, durch Zeigen oder den Vergleich mit einem ähnlich großen Stock zu bestimmen, fallen die Ergebnisse unterschiedlich aus: Sie sind nicht objektiv Wie wir gesehen haben, erfüllt das Kriterium der Schulnoten das Kriterium der Objektivität nicht: Die Notenskala bietet kein Maß, das bei der Anwendung durch verschiedene Personen zu denselben Ergebnissen führen würde • Wenn unser Instrument außerdem so gut ist, dass es bei gleichen Fällen zum selben Ergebnis kommt - in unserem Fall also so gut, dass bei allen gleich langen Stöcken dieselbe Länge gemessen wird -, spricht man von der Reliabilität oder Zuverlässigkeit eines Tests . Auch hier haben wir gesehen: Noten sind nicht reliabel - die Lehrer/ innen, die die Aufgabe hatten, dieselben Schulaufsätze zu beurteilen, kamen zu verschiedenen Ergebnissen • Das dritte Kriterium, das Tests erfüllen müssen, ist das der Validität. Es geht um die Frage, ob ein Test tatsächlich das misst, was er zu messen vorgibt . Legen wir unser Lineal also an ein Glas und sagen dann, darin befänden sich 4 cm Flüssigkeit, ist diese Aussage zwar objektiv (vom Versuchsleiter unbeeinflusst) und reliabel (man kommt immer auf dasselbe Ergebnis), wir haben aber ein für Flüssigkeitsmengen verkehrtes Maß angelegt Und auch hier gilt: Schulnoten sind schon deshalb nicht valide, weil sie an ganz verschiedene Konstrukte angelegt werden: Einmal geht es um absolute Leistungen, einmal um individuelle Leistungsfortschritte, 158 Fehler und Störungen einmal um pädagogische Erwägungen Aber auch dann, wenn man diese Vielfältigkeit eingrenzt und sich ganz strikt auf ein Merkmal konzentriert, steckt in dem Kriterium der Validität Zündstoff . Denn dahinter verbirgt sich die Frage, was denn unter dem Merkmal, das erfasst werden soll, überhaupt verstanden wird Das ist bei Längenmaßen noch vergleichsweise simpel Die Antwort auf die Frage, was Lesekompetenz oder Rechtschreibkompetenz ist, ist dagegen viel schwieriger zu geben Ans Messen kann man sich aber erst dann machen, wenn diese Fragen befriedigend beantwortet sind Und weil es sehr verschiedene Antworten gibt, sind in den vergangen gut 50 Jahren auch sehr verschiedene Messinstrumente entwickelt worden, hinter denen sich jeweils ganz unterschiedliche Vorstellungen darüber verbergen, was unter Lesen, unter Rechtschreiben und schließlich unter Lernprozessen zu verstehen ist Wenn wir uns im folgenden zwei Rechtschreibtests und drei Lesetests genauer ansehen, müssen wir also besondere Sorgfalt auf die Ermittlung der jeweiligen Gegenstandsbestimmungen verwenden Rechtschreibtests Was soll und kann ein Rechtschreibtest erfassen? Soll er zwischen „guten“ Fehlern wie <fer libt> und „schlechten“ Fehlern wie <der Große baum> unterscheiden? Soll er einem Zweitklässer durchgehen lassen, was er einem Drittklässer ankreidet? Soll er nur die Schreibung von Regelwörtern wie <Zwiebel> und <Falter> abprüfen oder auch die Schreibung von Ausnahmewörtern wie <Fibel> und <Vater>? Und wenn er beide aufnimmt: Sollen sie gleich stark gewichtet werden? Soll der Test einfache und zusammengesetzte Wörter aufnehmen und wenn ja, soll er sie gleich stark gewichten? Geht es um die Abfrage eines Grundwortschatzes oder um die Abfrage von Regelkönnen? Welches Fehlerkonzept soll zugrundegelegt werden? Wie wir sehen werden, gehen die beiden im folgenden vorgestellten Verfahren sehr unterschiedlich mit solchen Fragen um Das hängt damit zusammen, dass sie verschiedene Auffassungen darüber vertreten, was Rechtschreibung ist und wie sie gelernt wird Näher betrachten wollen wir die Aachener Förderdiagnostische Rechtschreibanalyse (AFRA) und die Hamburger Schreibprobe (HSP), zwei Verfahren, die beide häufig eingesetzt werden und eine relativ große Erwerbsspanne abdecken (AFRA: 6 bis 16 Lebensjahr; HSP: 1 -9 . Schuljahr) Die Aachener Förderdiagnostische Rechtschreibanalyse (AFRA) Für die Vorstellung von AFRA haben wir uns auch deshalb entschieden, weil dieses Verfahren in jüngerer Zeit neue Bedeutung gewonnen hat: In der Folge von PISA hat die Kultusministerkonferenz nämlich beschlossen, dass in allen Fehlerkonzepte in Rechtschreib- und in Lesetests 159 Bundesländern regelmäßig Leistungstests durchgeführt werden müssen Die in den dritten Klassen durchgeführten Vergleichsarbeiten (VERA-3) in Deutsch/ Rechtschreibung greifen auf die Fehlerkategorien von AFRA zurück (Bremerich-Vos u a 2010) Wenn Sie also ein Kind kennen, das die dritte Klasse besucht und an VERA teilnimmt, erfahren Sie hier auch etwas über den Hintergrund dieser Testung AFRA wurde zu Beginn der 1990er Jahre von den Sprachwissenschaftlern Karl L Herné und Carl L Naumann konstruiert und in der Folgezeit weiterentwickelt . Es handelt sich um ein sog testunabhängiges Diagnoseverfahren, das heißt, dass das Verfahren selbst keine Testwörter vorgibt, sondern dass verschiedene Schreibproben (zum Beispiel Diktate) für die Diagnose genutzt werden können Klar ist, dass solche testunabhängigen Verfahren mit ganz anderen statistischen Verfahren arbeiten müssen als solche mit vorgegebenen Wörtern Mit technischen Details werden wir uns jedoch im Folgenden nicht befassen Was uns interessiert, ist der Fehlerbegriff in AFRA, das Modell der Orthographie und das Modell des Orthographieerwerbs AFRA basiert auf einer eher defizitorientierten, objektiven Fehlertypologie, das heißt, dass die Schreibungen unter Absehung von subjektiven Faktoren des Schreibers/ der Schreiberin und unter Absehung von Fehlerursachen ausgewertet werden Die Grundlage für die Fehlerbestimmung ist allein die Norm Geprüft werden die folgenden orthographischen Bereiche, auf die im folgenden jeweils im einzelnen eingegangen wird: • Phonem-Graphem-Korrespondenz • Vokalquantität • Morphologie • Syntax Die hinter dieser Auswahl stehende Theorie der Orthographie und ihres Erwerbs wurde von Carl L Naumann (2008: 149) im Modell des „Hauses der Orthographie“ dargestellt: Dort bildet die Phonem-Graphem-Korrespondenz das Erdgeschoss . Im 1 . Obergeschoss finden wir die Vokalquantität und Wortbausteine (Morphologie), im 2 . Obergeschoss sind die satzbezogenen Schreibungen (Syntax) angesiedelt . Die vier Bereiche bilden eine bestimmte Annahme über Erwerbsreihenfolgen ab: EG: Phonem-Graphem-Korrespondenz → 1 . OG: Vokalquantität/ Morphologie → 2 OG: Syntax Das heißt, dass in dem Bereich Phonem-Graphem-Korrespondenz Fehler eher bei den sehr jungen Lerner/ innen erwartbar sind, während die Fehler der höherrangigen orthographischen Schreibungen auch in späteren Lernjahren noch erwartbar sein sollten Bei der Ausarbeitung der vier großen Bereiche unterscheiden Herné und Naumann jeweils, ob eine Schreibweise speziell oder nicht speziell ist und ob sie zur Mehrheits- oder Minderheitsschreibung zu rechnen ist Unter einer Mehrheitsschreibung verstehen die Autoren eine Schreibvariante, die die häufigere ist (zum Beispiel <ie> für [i], <f> für [f]) . Minderheiten- 160 Fehler und Störungen schreibungen sind entsprechend seltene oder seltenere Varianten (zum Beispiel <i> für [i] in <Tiger> oder <v> für [f] wie in <Vater>) Wird ein Minderheitsgraphem gesetzt, wo das Mehrheitsgraphem erforderlich ist, sprechen die Autoren von „speziellem Graphem (Mehrheit)“ (z B <vertig> statt <fertig>); wird ein Mehrheitsgraphem gesetzt, wo ein Minderheitsgraphem erforderlich ist, von „speziellem Graphem (Minderheit)“ (z B <fielleicht> für <vielleicht>) Bei der Auswertung soll so der Grad des orthographischen Regelwissens eines Kindes erfasst werden: Fehler bei Minderheitsgraphemen können anders gewichtet werden als Fehler bei Mehrheitsgraphemen Wenn wir hier die einzelnen Unterkategorien erklären, tragen wir wenn möglich zur Veranschaulichung in die Beispielspalte Schreibungen aus Texten ein, die uns bereits begegnet sind Weil dort nicht alle Fälle abgedeckt sind, werden die restlichen Lücken mit Schreibungen anderer Kinder gefüllt Phonem-Graphem-Korrespondenz Beispiele bf buchstaben-form; z. b. Karidek für Karibik (vgl. jonas) ga graphem-auswahl (keine lauttreue verschriftung); z. b. <z> für <ß> wie in Grozmta (vgl. jakob) gf graphem-folge (auslassung/ hinzufügung von graphemen oder vertauschung der reihenfolge); z. b. it für ist (vgl. jonas) sg+ spezielle grapheme (Mehrheit) fehler bei <ch>, <f>, <k>, <ng>, <r>, <s> oder <sch> z. b. Gag für ging (vgl. jakob) sgspezielle grapheme (Minderheit) fehler bei <v> oder <ß> z. b. wolv für Wolf (vgl. jakob) sv+ spezielle verbindung (Mehrheit) fehler bei <au>, <ei>, <nk>, <sp> <st>, <x> oder <z> z. b. urleub für Urlaub (vgl. jonas) svspezielle verbindung (Minderheit) <ai>, <chs>, <pf> oder <qu> z. b. negste für nächste fw fremdwort-grapheme: nichtbeachtung der besonderheiten von fremdsprachlichen Phonem-graphem-korrespondenzen Fehlerkonzepte in Rechtschreib- und in Lesetests 161 Vokalquantität Beispiele li+ langes i (Mehrheit) fehler bei der schreibung von [i] als <ie>; z. b. ver libt für verliebt (vgl. sonja) lilanges i (Minderheit) fehler bei der schreibung von [i] als <i>; z. b. Karibie für Karibik (vgl. jonas) lv+ lange vokale (Mehrheit) fehler bei der schreibung unmarkierter langvokale (außer [i]), z. b. Wahse für Vase lvlange vokale (Minderheit) fehler bei der schreibung eines durch dehnungs-h oder doppelvokal gekennzeichneten langen vokals; z. b. mer für Meer (vgl. jonas) kvo+ kurzvokale ohne kennzeichnung (Mehrheit) fehler bei der schreibung eines ungekennzeichneten kurzen oder unbetonten vokals; z. b. Fammillie für Familie kvd+ kurzvokale mit kennzeichnung (Mehrheit) fehler bei der schärfungsschreibung; z. b. mitel (mer) für Mittelmeer (vgl. jonas) kvkurzvokale (Minderheit) nichtbeachtung einer irregulären schreibung eines kurz gesprochenen oder unbetonten vokals; z. b. dan für dann Morphologie Beispiele Ms Morphologie segmentierung fehlerhafte morphologische analyse; z. b. gfan für gefahr-en (vgl. jonas) Md Morphem-differenzierung korrekte schreibung eines gleich oder ähnlich lautenden Morphems, das aber nicht der schreibung des zielmorphems entspricht; z. b. höfflich wg. hoffen uM unselbstständige Morpheme; z. b. fer in fer libt (sonja) ka+ konsonantische ableitung (Mehrheit). nichtbeachtung der auslautverhärtung; z. b. Walt für Wald (vgl. jakob) 162 Fehler und Störungen Morphologie Beispiele kakonsonantische ableitung (Minderheit) nichtbeachtung der irregulären schreibung eines konsonanten im endrand eines Morphems; z. b. unt für und va+ vokalische ableitung (Mehrheit) nichtbeachtung der schreibung von <e/ ä> bzw. <eu/ äu>; z. b. rotkepchen für Rotkäppchen (vgl. jonas) vavokalische ableitung (Minderheit) nichtbeachtung einer irregulären <e>- oder <ä>-schreibung; z. b. ber für Bär Syntax Beispiele gk+ groß- und kleinschreibung (Mehrheit) falsche großschreibung eines wortes; z. b. Die Kleine Merjungfrau für Die kleine Meerjungfrau (vgl. sonja) gkgroß- und kleinschreibung (Minderheit) falsche kleinschreibung eines wortes; z. b. urleub für Urlaub (vgl. jonas) zg zusammen- und getrenntschreibung falsche getrennt- oder zusammenschreibung; z. b. mittel mer für Mittelmeer (vgl. jonas), abunzu für ab und zu (vgl. sonja), ver libt für verliebt (vgl. sonja) Um zu einem vollständigen Bild zu kommen, wird in AFRA jeder Fehler einzeln gezählt <ver libt> haben wir deshalb gleich dreimal eingetragen: bei UM (für die Falschschreibung des unselbstständigen Morphems ver), bei LI+ (für die falsche i-Schreibung) und bei ZG (für die falsche Getrenntschreibung) Sehen wir uns nun an, wie Kolja, Gustav und Maria abgeschnitten hätten, wenn das i-Diktat mit AFRA ausgewertet worden wäre Weil nur die i-Schreibung überprüft werden sollte und weil keiner der Schüler/ innen ein Graphem gewählt hat, das nicht mit [i] oder [I] korrespondiert, interessieren uns lediglich die Analyseeinheiten LI+ und LI- Die Fehlschreibungen würden nach AFRA wie folgt sortiert: Fehlerkonzepte in Rechtschreib- und in Lesetests 163 Gustav Kolja Maria li+ langes i (Mehrheit) fehler bei der schreibung von [i] als <ie> liben wigen siben Papir Papir lilanges i (Minderheit) fehler bei der schreibung von [i] als <i> tieger fiebel biebel Maschiene lawiene krokodiel mier wier Durch die Unterscheidung von Mehrheits- und Minderheitsschreibung wird es möglich, die verschiedenen Profile von Gustav, Kolja und Maria einigermaßen realistisch einzuschätzen: Zwar hat Kolja die meisten Fehler gemacht, sie liegen aber im Bereich der Minderheitsschreibung und werden anders gezählt als Gustavs Fehler, die die Mehrheitsschreibung betreffen Was AFRA ebenso wie andere Rechtschreibtests nicht erfassen kann, ist das den Fehlern von Gustav, Maria und Kolja zugrundeliegende rechtschriftliche Wissen, das wir auf S 140 f dargestellt haben Ebenfalls problematisch ist, dass in der Kategorie LInicht differenziert wird zwischen echten Ausnahmewörtern wie <Tiger> und <Bibel> und Regelwörtern wie <Maschine> und <Lawine> und speziellen grammatischen Schreibungen wie <mir> und <wir> Außerdem mussten wir das Wort Papier als Mehrheitsschreibung einsortieren, obwohl die ier-Schreibung eine Ausnahme darstellt, wie wir oben gezeigt haben Wir sehen, dass die rein quantitative Unterscheidung von Mehrheit und Minderheit die Orthographie nicht hinreichend abbildet, um die Schichtungen des Erwerbs zu erfassen Die Hamburger Schreibprobe Die Hamburger Schreibprobe (HSP) wurde in den 1990er Jahren von dem Psychologen Peter May entwickelt und hat rasch Verbreitung gefunden Ursprünglich für die Grundschule konzipiert, wurde die HSP später für die Klassen 5 bis 9 weiterentwickelt . Hier stehen zwei Versionen zur Verfügung: Die HSP 5-9 B erfasst Basisanforderungen, die HSP 5-9 EK erweiterte Kompetenzen Im Gegensatz zu AFRA ist die HSP testbasiert: Die Rechtschreibleistung der Lerner/ innen wird also auf der Grundlage vorgegebener Wörter getestet Ein weiterer Unterschied zu AFRA ist, dass die Auswertung der Schreibungen nicht auf der Grundlage eines orthographischen Modells, sondern auf der Grundlage eines Erwerbsmodells vorgenommen wird Es liegt eine eher am Können des einzelnen Lerners/ der einzelnen Lernerin, also eine ressourcenorientierte, subjektive Fehlertypologie zugrunde 164 Fehler und Störungen Neben der Erhebung des globalen rechtschriftlichen Könnens, das durch den Wert Graphemtreffer, also die Anzahl der korrekt geschriebenen Grapheme, ermittelt wird, geht es in der HSP nämlich um die Ermittlung der Rechtschreibstrategien, die (Fehl-)Schreibungen zugrundeliegen sollen, Die folgenden vier Strategien gelten als grundlegend: • alphabetische Strategie (Fähigkeit, „den Lautstrom der Wörter aufzuschließen und mithilfe von Buchstaben bzw Buchstabenkombinationen schriftlich festzuhalten “ (May 2009: 77)) • orthographische Strategie (Fähigkeit, „die einfache Laut-Buchstaben- Zuordnung unter Beachtung bestimmter orthographischer Prinzipien und Regeln zu modifizieren “ (Ebd : 78)) • morphematische Strategie (Fähigkeit, „bei der Herleitung der Schreibungen die morphematische Struktur der Wörter zu beachten “ (Ebd .)) • wortübergreifende Strategie (Fähigkeit, „beim Schreiben von Sätzen und Texten weitere sprachliche Aspekte zu beachten […] z B . für die Kommasetzung “ (Ebd )) Schließlich werden noch überflüssige orthographische Elemente erfasst: Diese gelten in der HSP als Hinweis darauf, dass ein Kind eine Strategie zwar bereits anwendet, sie aber nicht zielführend überträgt (es geht um Fehler wie Lehrerrin oder gehben) Die letzte Fehlerkategorie ist der sog Oberzeichenfehler, also das Setzen von i-Punkten und t-Strichen Oberzeichenfehler gelten als Maß für die Sorgfalt und die Konzentration beim Schreiben Die einzelnen Aufgaben der Tests sind so ausgewählt, dass sie eine besondere „Fehlerverlockung“ enthalten An einigen Beispielen aus der HSP 4/ 5 soll gezeigt werden, was damit gemeint ist: testwörter: Handtuch, Briefträger, Schmetterling, Fahrradschloss, Verkäuferin, Gießkanne. testsätze: Der Torwart schimpft mit dem Schiedsrichter. Max bekommt zwei Päckchen zum Geburtstag. Wir wollen nun am Beispiel der Testwörter zeigen, worin die wichtigsten Fehlerverlockungen bestehen: alphabetisch orthographisch morphologisch Handtuch Hant Hantuch Briefträger Brif treger Schmetterling Schmeter Fahrradschloss Farrad, Farrat, schlos Fahrad Verkäuferin keuferin Fer Gießkanne Giß, Gies kane Fehlerkonzepte in Rechtschreib- und in Lesetests 165 Hinter der Fehlermodellierung der HSP steht die Annahme, dass Kinder sich stufenweise, unter Zuhilfenahme der angegebenen Strategien an die Rechtschreibung annähern (siehe auch Kapitel 3); konkrete (Fehl-)Schreibungen werden deshalb als Ergebnis der Anwendung unterschiedlicher Strategien interpretiert Aus den Ergebnissen der Auswertung werden sogenannte Strategieprofile erstellt, die der Lehrkraft Hinweise darauf geben sollen, auf welcher Erwerbsstufe sich ein Kind befindet und welche Lernhilfen aktuell sinnvoll und nötig sind Zu dem Modell der stufenweisen Annäherung an die Rechtschreibung gehört auch die Annahme, dass die Kinder die Stufen nacheinander durchlaufen, dass also Fehlschreibungen wie *Farrat nicht auftreten, weil in diesem Fall die Morphologie beachtet würde, nicht aber die Orthographie (t-Auslaut und fehlende h-Schreibung), die May zufolge früher erworben wird . Eine idealisierte Lernabfolge sieht May (2002: 20) zufolge deshalb so aus: Schreibung richtig/ falsch Realisiertes Rechtschreibwissen Graphemtreffer FT falsch alphabetisches schreiben: verkürzte lautfolge 1 Fart falsch alphabetisches schreiben entfaltet 2 Farat falsch vollständiges alphabetisches schreiben 3 Farad falsch orthographisches regelelement bezeichnet 4 Fahrad falsch orthographisches Merkelement bezeichnet 5 Fahrrad richtig kompositum morphematisch durchdrungen 6 Wie allerdings Gabriele Hinney (2010) zeigen konnte, kommen im Lernprozess tatsächlich alle möglichen Fehlschreibungen vor Hinney dokumentiert u a die Schreibentwicklungen von Kindern, denen sie die Namenskürzel Gin, Ner, Tab und Met gegeben hat: Gin Ner Tab Met 1. klasse farrab farrat farrad farrad 2. klasse farat farad farrat fahrrad 3. klasse fahrraht fahrrad fahrrad fahrrad Wie wir sehen, schreiben alle vier Kinder in der 1 Klasse zwei r . Das kann zwei Gründe haben: Entweder sie haben das Wort Fahrrad bereits morphologisch durchdrungen (May zufolge die morphematische Strategie angewendet) Oder sie haben das Wort schon häufiger gesehen und sich gemerkt, dass darin zwei r vorkommen Die Doppel-r-Schreibung würde dann auf der Merkfähigkeit eines Kindes beruhen und nicht auf einer morphologischen Analyse . Wahrscheinlich ist, dass für Tab und Met die erste, für Gin und Ner die zweite Erklärung zutrifft Wie kommen wir zu dieser Annahme? Gin und Ner schreiben die zwei 166 Fehler und Störungen r in Klasse 1, in Klasse 2 ist die Doppel-r-Schreibung verschwunden, um in Klasse 3 wieder aufzutreten Wir erhalten die typische U-Kurve, die wir oben (vgl S 145) besprochen haben Tab und Met zeigen demgegenüber eine stetige r-Verschriftung Was allen von Hinney untersuchten Kindern in der ersten Klasse fehlt, liegt auf der Ebene der orthographischen Verschriftung der einzelnen Wortbausteine <fahr> und <rad> Bei Met kommt die Einsicht in die korrekte Schreibung recht früh Die Schreibungen von Gin zeigen dagegen, dass er auch in der dritten Klasse noch große Probleme mit der Dehnungsschreibung und mit der regelgerechten Verschriftung der Auslautverhärtung hat (<raht>) Sehen wir uns nun auch hier an, was die Analyse der i-Schreibungen von Gustav, Kolja und Maria erbringen würde, wobei wir auf die Auszählung der Graphemtreffer verzichten; denn die Kinder sollten ja nur die i-Schreibungen einfügen (Natürlich behalten wir im Auge, dass die HSP testbasiert ist und eine Übertragung eigener Daten in die Analyse der HSP nicht statistisch ausgewertet werden kann . Um eine solche Auswertung soll es aber auch gar nicht gehen: Wir wollen nur sehen, wie genau die Analysekriterien arbeiten ) Kolja S Gustav S Maria S lieben <lieben> o <liben> a- <lieben> o wiegen <wiegen> o <wigen> a- <wiegen> o sieben <sieben> o <siben> a- <sieben> o finden <finden> a <finden> a <finden> a Liste <liste> a <liste> a <liste> a Finger <finger> a <finger> a <finger> a Tiger <tieger> o- <tiger> a <tiger> a Fibel <fiebel> o- <fibel> a <fibel> a Bibel <biebel> o- <bibel> a <bibel> a Maschine <Maschiene> o- <Maschine> a <Maschine> o Lawine <lawiene> o- <lawine> a <lawine> o Krokodil <krokodiel> o- <krokodil> a <krokodil> o Papier <Papier> o <Papir> a- <Papir> omir <mier> o- <mir> a <mir> a wir <wier> o- <wir> a <wir> a Gar nicht betroffen sind in unseren Beispielen die morphematische Strategie, die nur bei morphologisch komplexen Wörtern gebraucht wird, und die wortübergreifende Strategie, die beim Schreiben von Sätzen bedeutsam ist . Möglich sind Fehler im Bereich der alphabetischen Strategie (a) und der orthographischen Strategie (o) Dabei stellen wir hier sowohl die korrekten Anwendungen von Strategien, die zu Richtigschreibungen führen, als auch die falschen Fehlerkonzepte in Rechtschreib- und in Lesetests 167 Anwendungen von Strategien, die zu überflüssigen (vgl . *<Tieger>) oder zu fehlenden Markierungen (vgl *<Papir>) führen, in einer Tabelle dar Zur Unterscheidung setzen wir dann, wenn die Anwendung einer Strategie nicht zum Erfolg führt, ein Minuszeichen Wie wir sehen, finden wir bei Kolja acht falsche Anwendungen der orthographischen Strategie, bei Gustav finden wir vier falsche Anwendungen der alphabetischen Strategie, bei Maria eine falsche Anwendung der orthographischen Strategie Im Gegensatz zu AFRA können wir mit dieser Analyse also besser auf das rechtschriftliche Wissen der Kinder schließen, das den Schreibungen zugrundeliegt: Während Gustav noch gar nicht orthographisch schreibt, wendet Kolja sowohl die alphabetische als auch die orthographische Strategie an, wobei er noch nicht überall erfolgreich ist . Worin genau sein Misserfolg besteht und welche Hilfen er braucht, lässt sich mit der HSP nicht ermitteln Erforderlich dafür wäre eine Analyse der rechtschriftlichen Gesetzmäßigkeiten für trochäische i-/ ie-Wörter, für Auftaktwörter und für Personalpronomen, die in der HSP nicht geleistet wird Wir bekommen im Gegenteil sogar ein schiefes Bild vom Schriftsystem und damit vom Erwerbsprozess: Denn es scheint so, als führe die alphabetische Strategie bei Auftaktwörtern und bei Personalpronomen zum Erfolg Wie wir bei unserer Analyse der i-Schreibung aber gesehen haben, sind die Schreibungen mit einfachem <i> hier nur dann zu verstehen, wenn sie als orthographische Markierungen für bestimmte Wortstrukturen wahrgenommen werden Weder AFRA noch die HSP konnten uns also befriedigen Eines der Probleme liegt sicherlich darin, dass beide Verfahren, wenn auch in unterschiedlicher Weise, die Orientierung am Einzellaut als wichtigste Eintrittskarte in die Schrift verstehen: bei AFRA in Gestalt der Graphem-Phonem-Korrespondenz, bei der HSP in Form der alphabetischen Strategie sowie in der Orientierung an den Graphemtreffern Wie wir in Kapitel 2 aber gezeigt haben, kommt man mit der Orientierung an Einzellauten nicht sehr weit Die Silbe als die Ebene, auf der man die Funktionsweise der Buchstaben erkennen kann, taucht weder bei AFRA noch bei der HSP als Analysekategorie auf Zwar kommt bei der Erläuterung der Vokalquantität im „Haus der Orthographie“ von Naumann der Silbenbegriff vor, eine Systematik will sich aber nicht einstellen Betonungsmuster, vor allem der Trochäus als Basismuster der Orthographie, erhalten weder in AFRA noch in der HSP Gewicht Was beide Tests zusätzlich nicht berücksichtigen, ist die sog Fehlersensibilität: Weiß oder bemerkt ein Kind, wenn es etwas falsch geschrieben hat? Hat es vielleicht an einigen Stellen Zweifel? Kann es eigene Fehler oder Fehler anderer verbessern? In Luises Krankenhausgeschichte im 1 Kapitel haben wir ein sehr deutliches Bild davon bekommen, dass Kinder ihre Schreibungen während des Schreibprozesses überwachen und Fehlschreibungen gegebenenfalls korrigieren . Was wir an Luises Text nicht gesehen haben, ist, wie genau sie sich geholfen hat, 168 Fehler und Störungen wenn sie einen Schreibfehler bemerkt hat: Hat sie ein Wörterbuch zurate gezogen? Hat sie den Löschblatttest gemacht, also mögliche Varianten auf einem Extrablatt notiert und sich dann für eine davon entschieden? Hat sie sich orthographische Regeln vergegenwärtigt? Hat sie eine Probe durchgeführt? Hat sie sich ein ähnliches Wort, das sie schon schreiben kann, vor Augen geführt? Die Fähigkeit von Kindern, Fehler zu bemerken, und die Art und Weise, wie sie die bemerkten Fehler bearbeiten, stellen wichtige Teilressourcen der Rechtschreibkompetenz dar: In AFRA, in der HSP und in vielen anderen Tests erfahren wir darüber aber nichts Eine Ausnahme macht hier VERA-3: Über Korrekturaufgaben wird die rechtschriftliche Fehlersensibilität, durch Sortieraufgaben die Grundlage für eine kompetente Wörterbuchnutzung miterfasst Die vielleicht wichtigste Kritik, die sich nicht nur AFRA und die HSP, sondern auch alle anderen Rechtschreibtests, inklusive VERA, gefallen lassen müssen, ist, dass sie die Lerngelegenheiten, die die Schüler/ innen hatten, nicht in ihre Auswertung einbeziehen Eltern und Lehrer/ innen müssen so annehmen, der Schriftspracherwerb ereigne sich unabhängig vom Unterricht Wie wir in Kapitel 3 gesehen haben, ist dies eine der gravierendsten Fehleinschätzungen der Schriftspracherwerbsforschung der vergangenen Jahrzehnte, die sich in die Rechtschreibtests hinein fortsetzt Lesetests Die Kritik, mit der wir die Darstellung der Rechtschreibtests abgeschlossen haben, muss leider auch auf Lesetests übertragen werden Denn auch dort bleibt der Unterricht und seine Qualität als Komponente des Leseerwerbs außen vor Traditionell werden Fehlentwicklungen beim Lesen insgesamt noch stärker als solche des Schreibens auf individuelle Merkmale des Kindes bezogen Insgesamt hat die Abklärung der Ursachen in der Leseerwerbsforschung eine lange und wechselhafte Geschichte, die auch die Konzeption von Lesetests beeinflusst hat: 1951 leitete Maria Linder mit ihrem Aufsatz „Über die Legasthenie (spezielle Leseschwäche)“ in der Zeitschrift für Kinderpsychiatrie eine neue Epoche in der Leseerwerbsforschung ein Sie definierte dort die Legasthenie, die bis dahin als Symptom für allgemeine Lern- oder Entwicklungsprobleme galt, als sogenannte Teilleistungsschwäche Ermittelt hatte sie, dass es Kinder und Jugendliche gibt, die trotz normaler oder sogar überdurchschnittlicher Intelligenz Schwierigkeiten beim Lesen (und beim Schreiben) haben Damit kam die Legasthenie als eine isolierte, im Kind liegende Störung in den Blick Linder ging davon aus, dass diese isolierte Störung mit ganz bestimmten Lesefehlern einhergeht, die bei Kindern ohne diese Störung nicht auftreten Als wichtigste Symptome identifizierte sie Buchstaben- oder Wortauslassungen und -vertauschungen Die ersten Lesetests, die überhaupt erst nach dieser Zeit in nennenswertem Umfang entstanden, stehen noch ganz im Bann dieser Legastheniedefinition So geht zum Beispiel der 1963 von Linder mitentwickelte Zürcher Lesetest (ZLT) Fehlerkonzepte in Rechtschreib- und in Lesetests 169 sog legastheniespezifischen Fehlleistungen nach Das ist bis in die Wortauswahl zu erkennen (Baumann 2006) Die Kinder sollten Wörter lesen, die sich strukturell ähneln (z B oben, droben, Boden, Borsten, Oberst) Man vermutete, dass sich die speziellen Schwächen der legasthenen Kinder (also das Vertauschen und Auslassen) hier besonders deutlich abbilden Neueren Lesetests, die nicht mehr so sehr die Ermittlung eines vereinzelten Störungsprofils, sondern die allgemeine Erfassung der Lesekompetenz zum Ziel haben, liegen erweiterte Lesekonzepte zugrunde Man kann grob zwischen Lesefertigkeits- und Leseverständnistests unterscheiden (Baumann 2006): Lesefertigkeitstests prüfen die grundlegenden Fertigkeiten der Wort- oder Satzerkennung Leseverständnistests interessieren sich für die Fähigkeit zum sinnentnehmenden Lesen Beides ist für das Lesen wichtig Wir wollen drei Tests herausgreifen: ELFE 1-6, der die Lesefertigkeit und das Leseverständnis in den Klassen 1-6 testet, den Stolperwörtertest, der sich auf eine Teilfertigkeit des Lesens, nämlich das Erfassen syntaktischer Strukturen, von Erstbis Viertklässern bezieht, und den LTB -3 , der das Leseverständnis von Berufsschülern und Berufsschülerinnen erfasst Wichtig ist uns auch hier zu zeigen, wie viel theoretische Vorannahmen in solchen Testkonstruktionen stecken ELFE (Ein Leseverständnistest für Erstbis Sechstklässer) Der ELFE-Test wurde 2006 von den Psychologen Wolfgang Lenhard und Wolfgang Schneider entwickelt Erfasst werden sollen die Wort-, die Satz- und die Textlesekompetenz In drei Untertests wird die Lesegenauigkeit bei der Verarbeitung von Wörtern, Sätzen und Texten gemessen: 1 Wortlesetest: Die Aufgabe der Kinder besteht darin, einem Bild das korrekte Wort zuzuordnen Dafür werden zu einem gegebenen Bild vier Wortalternativen angeboten Die Kinder sollen entscheiden, welches Wort passt Abb. 4-10: Wortlesetest Mit der Papierform des Tests soll die Lesegenauigkeit erfasst werden, für die Erhebung der Lesegeschwindigkeit steht eine Online-Version zur Verfügung 170 Fehler und Störungen 2 Satzlesetest: Auch beim Satzlesetest entscheiden die Kinder über Alternativen Gegeben werden Sätze in folgender Form: Abb. 4-11: Satzlesetext 3 Textlesetest: Für den Textlesetest werden den Kindern Sätze angeboten, zu denen sie inhaltliche Fragen beantworten sollen: Abb. 4-12: Textlesetest Der Test wurde an einer Stichprobe von 4 893 Schüler/ innen aus 12 Bundesländern normiert Es stehen Prozentranglisten zur Verfügung, an denen abgelesen werden kann, wo ein Kind im Vergleich zu anderen Kindern steht Was uns hier besonders interessiert, ist die Auswahl der Beispiele: • Beim Wortlesen müssen sowohl einfache als auch zusammengesetzte Wörter gelesen werden Es kommen deutsche Wörter und Fremdwörter (zum Beispiel Auto) vor Was mit solchen Beispielen gemessen werden kann, ist Fehlerkonzepte in Rechtschreib- und in Lesetests 171 sehr grob Ob ein Kind zum Beispiel gelernt hat, orthographische Markierungen an Wörtern als Hinweise auf die Akzentvergabe und als Anzeichen für die morphologische Struktur zu erkennen, kann nur indirekt geprüft werden: Bei einem Kind mit hohen Prozentrangwerten können wir davon ausgehen, dass es alle Informationen, die ein geschriebenes Wort transportiert, optimal auswertet Bei den schwachen Leser/ innen, also den Kindern mit niedrigen Prozentrangwerten, wissen wir aber nicht, wo genau die Probleme liegen Um konkrete Fördermaßnahmen einleiten zu können, müsste hier eine Differenzialdiagnose durchgeführt werden • Wenden wir uns den Beispielen zum Satzlesen zu: Prüfen sie tatsächlich die Fähigkeit, Strukturen des Satzbaus zu erkennen? Um das jeweils richtige Wort bei den hier gezeigten Beispielsätzen auszuwählen, braucht man kein syntaktisches Wissen Man muss die Bedeutung der Wörter kennen, also wissen, womit man schreibt (mit dem Füller) und was Hunde fressen (Wurst) Es handelt sich also eher um einen Wortbedeutungstest als um einen Syntaxtest • Dem Textlesetest liegt ein Lesebegriff zugrunde, der so in der modernen Leseforschung nicht mehr vertreten wird Er prüft, ob die Kinder in der Lage sind, dem Text Informationen zu entnehmen . Die zweite wichtige Komponente des Textlesens, nämlich die Konstruktion von (Eigen-)Sinn, also die Anreicherung des Gelesenen mit Weltwissen, über die wir in Kapitel 3 berichtet haben, wird hingegen nicht geprüft Dabei kann es genau hier zu Fehlentscheidungen kommen: Wenn von einem Pferd die Rede ist, ist die Antwortalternative … frisst Gras im Sinne einer konstruktiven Leseleistung gar nicht so schlecht Der Stolperwörterlesetest Bevor wir den Stolperwörtertest vorstellen, möchten wir Sie bitten, sich einem Teil dieses Tests selbst zu unterziehen Streichen Sie in den folgenden Sätzen dasjenige Wort (= Stolperwort), das nicht in den Satz passt Die Beispiele stammen aus der Online-Präsentation des Stolperwörterlesetests Wegen missbräuchlicher Verwendung ist er jedoch nicht mehr frei zugänglich 1 die ist kinder lernen in der schule. 2 in dem buch geschichten sind bilder. 3 das fenster steht kalt offen. 4 lieb meine oma ist schon sehr alt. 5 der hund bellt wut. 6 Mir gefällt dein schön bild gut. 7 Möchtest du ein bonbon süß? 8 das wasser ist schmutzig tafel. 9 Meine küche Mutter kocht sehr gut. 172 Fehler und Störungen 10 im winter eisig ist es oft kalt. 11 auf opas nase sitzt eine summt fliege. 12 ich buch kann sehr gut lesen. 13 Magst schokolade du gern nudeln? 14 die kinder laut rennen schreiend auf den hof. 15 Mein heft ist schreiben voll. 16 gruselig vor spinnen ekle ich mich. 17 Mein bleistift anspitzen ist abgebrochen. 18 es regnet den ganzen nass tag. 19 Mein bruder ist gestern acht jahre alt. 20 die aufgaben liest sind schwer. Wir nehmen natürlich an, dass Sie diesen Test „bestanden“, das heißt, dass sie folgende Wörter ausgestrichen haben: 1 ist, 2 Geschichten, 3 kalt, 4 Lieb, 5 Wut, 6 schön, 7 süß, 8 Tafel, 9 Küche, 10 eisig, 11 summt, 12 Buch, 13 Schokolade, 14 laut, 15 schreiben, 16 Gruselig, 17 anspitzen, 18 nass, 19 gestern, 20 liest Was ist zum Lösen der Aufgabe erforderlich? Die meisten Sätze sind so konstruiert, dass die Bedeutung des überflüssigen Wortes zum Satz passt (vgl zum Beispiel das Wort Geschichten in Satz 2 oder das Wort eisig in Satz 10) Zur Streichung des richtigen Wortes muss also die Form der Wörter und der syntaktische Kontext berücksichtigt werden Der Erfolg/ Misserfolg beim Stolperwörtertest gibt tatsächlich Auskunft darüber, ob die Schüler/ innen grammatische Informationen unter Absehung von Inhalten nutzen können Diese Fähigkeit entwickelt sich im Spracherwerb nur allmählich (Klicpera/ Gasteiger-Klicpera 1995: 135) und stabilisiert sich in engem Zusammenhang mit dem Schriftspracherwerb . Denn für die selbstständige Auswertung grammatischer Informationen ist es nötig, von den Inhalten zu abstrahieren und sich auf die Struktur zu konzentrieren, die uns die Schrift vor Augen führt Der Stolperwörterlesetest prüft also sehr viel genauer als ELFE, wie weit die Kinder beim Satzlesen, verstanden als Auswertung der syntaktisch gegebenen Strukturen, bereits vorangekommen sind Zu Problemen kann es aber auch hier kommen . Denn zuweilen sind Kinder klüger, als es der Test vorsieht . So hat die Drittklässerin Lea in einigen Sätzen nicht etwa Stolperwörter gestrichen, sondern ergänzt: Aus Beispielsatz 19 wurde Mein Bruder ist gestern acht Jahre alt geworden Neben der richtigen Auswahl wird im Stolperwörterlesetest zusätzlich die Lesegeschwindigkeit geprüft Zweitklässer erhalten 6 Minuten Zeit, Drittklässer 5 Minuten, Viertklässer 4 Minuten Getestet wird, wie viele Sätze die Kinder in dieser Zeit bewältigen Backhaus (2005) hat den Test mit Schüler/ innen und mit kompetenten Leser/ innen durchgeführt und folgende Ergebnisse ermittelt: Fehlerkonzepte in Rechtschreib- und in Lesetests 173 Richtige Sätze pro Minute (Mittelwerte der gruppen): 2. klasse: 4,1 3. klasse: 6,1 4. klasse: 8,1 ihk-auszubildende 11,1 berufsschule 14,8 lehramtstudierende 17,5 lehrerinnen 19 Professorinnen 21,5 Bemerkenswert ist das Ergebnis der IHK-Auszubildenden Sie schneiden nur unwesentlich besser ab als die Viertklässer Während sich die Lesegeschwindigkeit zwischen Klasse 2 und 4 praktisch verdoppelt, erhöht sie sich in der weiterführenden Schule für diese Schüler/ innen gerade einmal um den Faktor 1,3, während sich die Lesegeschwindigkeit bei Schüler/ innen, die später studieren, von Klasse 4 aus gerechnet noch einmal mehr als verdoppelt . Angesichts der Ergebnisse der PISA-Studien sollten uns solche Ergebnisse zwar nicht überraschen . Sie sollten uns aber dazu anspornen, den Unterricht zu verbessern LTB -3 Ein Lesetest, der 2006 speziell für Berufsschüler/ innen entwickelt wurde, ist der LTB -3 (Lesetest für Berufsschüler/ innen) Beteiligt an der Entwicklung und Erprobung war eine ganze Forscherguppe an der Universität zu Köln: Rebecca Drommler, Markus Linnemann, Michael Becker-Mrotzek, Hilde Haider, Tobias Stevens und Judith Wahlers Anders als beim Stolperwörterlesetest, der das Satzlesen und nur dieses erfasst, wird mit dem LTB -3 allein das Leseverständnis geprüft Zugrundegelegt wird ein Kompetenzmodell mit drei Kompetenzstufen: • Stufe 1: Einzelne Informationen entnehmen • Stufe 2: Mehrere Informationen verknüpfen • Stufe 3: Informationen mit Weltwissen verknüpfen (= Transfer) Das Testdesign besteht aus drei Texten, zu denen Informationsfragen beantwortet werden müssen Dabei kommen nicht nur Fließtexte zum Einsatz, sondern auch Tabellen und Grafiken, die noch einmal andere Lesefähigkeiten erfordern Fiktionale Texte finden keine Berücksichtigung Geprüft wird also die Kompetenz des Lesens von Sachtexten Die Fragen zu den Texten sind so ausgewählt, dass sie die unterschiedlichen Kompetenzstufen abbilden Bei der Auswertung kann sich ein Lehrer/ eine Lehrerin also einen raschen Überblick darüber verschaffen, welche Stufe seine Schüler/ innen bereits erreicht haben Durch das Zusammenzählen aller erreichten Punkte wird die Lesekompetenz als globales Maß erfasst . 174 Fehler und Störungen Bei der Normierung des Tests machten die Testentwickler/ innen nun folgende Entdeckung: Den Berufsschüler gibt es nicht Die Ergebnisse der Probanden wichen in Abhängigkeit von ihrem Schulabschluss so weit voneinander ab, dass die Normentabelle mehrere Spalten umfasst: eine Spalte für Hauptschulabsolvent/ innen, eine für Absolvent/ innen der Mittleren Reife, eine für Fachhochschulabsolvent/ innen und eine für Abiturient/ innen Ein Vergleich der Prozentränge zwischen Hauptschüler/ innen und Abiturient/ innen ergab folgende Ergebnisse (Drommler et al 2006: 33 f , gegenüber dem Original verkürzte Darstellung, UB, NF, CN): Punkte Gesamt HS AB 44 99,80 100,00 39 90,53 100,00 68,27 35 66,31 92,41 25,96 30 38,48 77,22 8,65 27 24,71 58,86 - 26 21,00 51,90 - 25 18,07 48,10 - hs = hauptschüler/ innen; ab = abiturient/ innen Wie wir sehen können, ist ein/ e Hauptschüler/ in, der/ die 39 Punkte erreicht hat, der beste seiner/ ihrer Gruppe: 100 % aller Mitschüler/ innen haben das gleiche oder ein schlechteres Ergebnis erreicht . Als Abiturient/ in braucht man, um zur Spitze zu gehören, 44 Punkte . Die für uns wichtigen und zugleich alarmierenden Daten finden sich bei 30 und bei 25 Punkten: Während ca . 77 % aller Hauptschüler/ innen 30 oder weniger Punkte erreichen, sind es bei den Abiturient/ innen nur ca . 9 % . Und: Die Hälfte der Hauptschüler/ innen erreicht 25 Punkte oder weniger, die Abiturient/ innen liegen alle oberhalb dieses Wertes . Auch dieses Ergebnis sollte uns angesichts der PISA-Befunde nicht überraschen: Wenn man davon ausgeht, dass die Hauptschule vor allem von Schüler/ innen mit schwierigem soziokulturellem Hintergrund besucht wird, zeigt es einmal mehr, wie sehr die Bildungschancen in Deutschland von den Voraussetzungen der Schüler/ innen abhängen - und wie wenig die Schulen dabei helfen, einen Ausgleich zu schaffen Lese- und Rechtschreibstörungen Wer sich in den Medien über Lese- und Rechtschreibstörungen informieren will, muss zunächst begriffliche Ungenauigkeiten in Kauf nehmen Die Begriffe Störung, Schwierigkeit, Problem und auch der Begriff Legasthenie werden Lese- und Rechtschreibstörungen 175 oft nicht trennscharf gebraucht Und auch über das Phänomen selbst erhält man äußerst unterschiedliche Informationen In der Winnender Zeitung vom 25 1 2001 steht zum Beispiel: „Rund 15 bis 20 Prozent der Kinder leiden unter einer Lese-Rechtschreibschwäche “ Der Focus 51 von 1994 meint, „daß diese Schwierigkeiten […] immerhin etwa jeden siebten Grundschüler plagen“ - das wären um die 14 % Der Verband legasthenie brandenburg schreibt auf seiner Homepage: „Wissenschaftler schätzen, dass ca 10 bis 15 Prozent der Kinder eines Schuljahrgangs von Legasthenie betroffen sind .“ Und schließlich liest man in der ZEIT-online 2003/ 42: „Von Legasthenie sind in Deutschland je nach Schätzung zwischen drei und fünf Prozent der Kinder und Jugendlichen betroffen “ Die große Schwankungsbreite der Angaben (bei 3 % wäre jedes dreißigste, bei 20 % jedes fünfte Kind betroffen) hat verschiedene Ursachen Die wichtigste ist die Definition des Phänomens selbst: Legt man einen weiten Begriff zugrunde und spricht immer dann von Lese-/ Rechtschreibstörung, wenn ein Kind in der Schule mit dem Schriftspracherwerb nicht zurechtkommt, sind die Werte entsprechend hoch Wir sprechen von allgemeinen Lese-/ Rechtschreibstörungen Betroffen sind um die 20 % eines Jahrgangs Dieses Ergebnis wiesen auch die ersten PISA-Studien auf, die bei der Prüfung der Lesefähigkeit von 15-Jährigen 20-25 % Risikoschüler/ innen ermittelt hatten Legt man nach Linder (1951) eine enge Definition zugrunde, nach der von Lese-/ Rechtschreibstörung nur dann gesprochen wird, wenn ansonsten keine weiteren Lernbeeinträchtigungen vorliegen, wenn also die Lese-/ Rechtschreibleistung im Vergleich zu anderen Leistungen und zur Intelligenz des Kindes unerwartet schlecht sind, gelten niedrigere Werte Wir sprechen von umschriebenen Lese-/ Rechtschreibstörungen Betroffen sind ca 3-5 % eines Jahrgangs Auf die Unterscheidung zwischen allgemeinen und umschriebenen Störungen muss allergrößte Sorgfalt verwendet werden Bei Kindern mit umschriebenen Lese-/ Rechtschreibstörungen liegen Beeinträchtigungen der Werkzeuge für die Sprachverarbeitung vor Wir werden weiter unten genauer darauf eingehen Allgemeine Lese-/ Rechtschreibstörungen Kinder mit allgemeinen Lese-/ Rechtschreibstörungen weisen keine Beeinträchtigungen der Sprachverarbeitungswerkzeuge auf . Dass sie dennoch Probleme beim Lese-/ Schreiberwerb haben, muss also andere Gründe haben . Wie schon häufiger erwähnt, kann als ein Faktor die fehlende Schriftanregung aus dem Elternhaus genannt werden: Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern, die vor Schuleintritt nicht mit der Schriftkultur in Berührung gekommen sind und auch während ihrer Schulzeit auf ihrem Bildungsweg nicht unterstützt werden, gelten häufig als Risikokinder . Bei Kindern mit reicher vor- und außerschulischer Schrifterfahrung sind kaum Probleme im Schriftspracherwerb zu erwarten . Das gilt zunächst unabhängig von der sprachlichen Ausgangssituation der Kinder: 176 Fehler und Störungen Ein Kind, das Deutsch nicht als Muttersprache spricht, aber in einem bildungsnahen Haushalt aufwächst, hat erheblich bessere Bildungsvoraussetzungen als ein deutschsprechendes Kind mit bildungsfernem Hintergrund Es kann seine Mehrsprachigkeit als Ressource nutzen Als riskanteste Konstellation gilt die Kombination aus Bildungsferne und Migrationshintergrund; bei Kindern, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, und die ohne Bildungsangebote aufwachsen, besteht ein erhebliches Bildungsrisiko . Wir werden auf diese Konstellationen in Kap 5 noch ausführlich eingehen In einer sehr vergröberten Perspektive stellt sich das Gesamtbild wie folgt dar: deutsch als Muttersprache deutsch als zweitsprache bildungsnah + + + bildungsfern - - - chancen auf einen gelingenden schriftspracherwerb Wie wir auch gesehen haben, gleicht die Schule die bestehenden Unterschiede nicht aus . Wir müssen also in den Unterricht hineinblicken und ermitteln, wie sich die Situation durch verbesserte Lehr-/ Lernprogramme verändern lässt Denn in Kapitel 3 konnten wir feststellen, dass der Lese-Schreib-Unterricht, wie er aktuell an den Schulen angeboten wird, die Lernpotenziale der Schüler/ innen noch nicht hinreichend nutzt Zentraler Innovationsbedarf besteht in zwei Punkten, die miteinander zusammenhängen • Zum einen geht es um die Modellierung der Schrift: Viele Fehlentwicklungen sind darauf zurückzuführen, dass die Kinder im herkömmlichen Unterricht keine Gelegenheit erhalten, die Schrift als System kennenzulernen In den ersten beiden Lernjahren, dem sogenannten Anfangsunterricht, wird die Schrift auf ihre lautlichen Eigenschaften reduziert . Der Übergang zum orthographischen Schreiben wird nur vereinzelt und sehr häufig mit Konzepten gestaltet, die keine Einsichten in das System ermöglichen Erforderlich wäre es, das haben wir in Kapitel 3 auch gezeigt, den Kindern von Beginn an die Möglichkeit zu geben, neben den phonographischen, auch die silbisch-prosodischen, die morphologischen und die syntaktischen Prinzipien zu durchschauen, die wir in Kapitel 2 ausführlich erläutert haben • Der zweite Punkt betrifft die Modellierung der Lerngelegenheiten: Orthographische Gesetzmäßigkeiten gelten in der Schule als Norm, die beherrscht werden muss Entsprechend wenig Möglichkeiten räumt der Unterricht Lese- und Rechtschreibstörungen 177 den Kindern ein, auf Entdeckungsreise zu gehen und selbst herauszufinden, welchen Gesetzen die Schrift folgt Mit dem Auswendiglernen und Anwenden von Merksätzen wird die aktive Organisation des Lernprozesses erheblich erschwert Aus der Lerntheorie wissen wir, dass Kinder Entdecker sind Und wir wissen, dass sie Systematiker sind . Wenn wir ihnen, jeweils in der „Zone der nächsten Entwicklung“, anregende und herausfordernde Aufgaben stellen, wachsen sie über sich hinaus Der Unterricht sollte diese Potenziale nutzen Umschriebene Lese-/ Rechtschreibstörungen Wir wollen dieses Kapitel mit der Geschichte von Nicole beginnen nicole ist in der dritten klasse. die schule macht ihr keinen spaß. sie ist oft müde und abgelenkt. bei den hausaufgaben gibt sie sich viel Mühe, aber häufig versteht sie gar nicht richtig, was sie machen soll. am schwersten fallen ihr schreiben und lesen. in diktaten schreibt sie fünfen, manchmal sogar sechsen und nur selten mal eine 4. wenn in der schule laut gelesen wird, würde sie sich am liebsten verstecken. wird sie doch aufgerufen, versucht sie, ein paar wörter, die sie kennt, zu lesen. aber es geht stockend, und oft muss sie raten, was dort steht. auch ihr lehrer und ihre eltern machen sich sorgen. jetzt ist sogar die versetzung gefährdet. gehen wir ein paar jahre zurück: nicole ist ein halbes jahr alt. die meisten kinder experimentieren in dieser zeit mit der sprache. sie probieren rhythmische strukturen aus, manchmal hat man den eindruck, dass sie schon etwas erzählen wollen. etwa mit einem jahr fangen sie an, ihre ersten wörter zu gebrauchen, die zwar noch nicht immer echte wörter sind, aber häufig einen ganz ähnlichen rhythmus und eine ganz ähnliche struktur haben wie die wörter, die sie sehr bald lernen werden. die sechs Monate alte nicole ist merkwürdig stumm. wenn sie sich äußert, sind ihre Äußerungen eher unrhythmisch und wenig strukturiert. als nicole um das erste lebensjahr herum mit ersten wörtern experimentiert, sind diese so schwer zu verstehen, dass die eltern oft raten müssen, was sie meint. auch als nicole älter wird, hat sie große schwierigkeiten mit den strukturen der wörter und sätze ihrer Muttersprache. sie braucht manchmal auch unterstützung beim verstehen von Äußerungen. die eltern haben sich schon daran gewöhnt, besonders langsam und deutlich zu sprechen - und sie haben sich daran gewöhnt, die Äußerungen von nicole für andere zu übersetzen. denn sie wissen ja, was nicole meint. und das ist schließlich das wichtigste. im kindergarten, nicole ist jetzt drei jahre alt, ist sie fast unauffällig geworden. die erzieherinnen haben sich schnell daran gewöhnt, dass sie langsamer mit ihr sprechen müssen und dass nicole, wenn viele kinder durcheinander sprechen, kaum mitkommt, aber sie ist kooperativ und freundlich. und weil sie nur selten ein 178 Fehler und Störungen echtes Mitteilungsbedürfnis zu haben scheint, können sie sich intensiver mit den kindern beschäftigen, die sie mehr fordern. eigentlich hat sich nicole auf die schule gefreut - ja, ein schulkind sein, das wäre etwas. nun ist es endlich so weit. aber mit der zeit wächst die enttäuschung. es klappt nicht so, wie sich nicole und ihre eltern das gewünscht hätten. die anderen kinder in der klasse haben schon damit angefangen, wörter und sätze zu lesen und zu schreiben; einige können das sogar schon ziemlich gut. sie brauchen die buchstabentabelle fast nicht mehr, die die klasse seit dem ersten schultag verwendet. wenn nicole ein wort lesen soll, nimmt sie sich jeden einzelnen buchstaben vor, aber noch bevor sie den dritten gelesen hat, hat sie die ersten beiden schon wieder vergessen, und das ganze beginnt von vorn. kurze wörter hat sie auswendig gelernt, aber bei längeren und bei neuen wörtern stößt sie immer wieder auf dieselben schwierigkeiten. beim schreiben versucht sie, besonders genau zu sprechen und alles aufzuschreiben, was sie wahrnimmt: für Mund schreibt sie mt, für Auge schreibt sie einmal Ag, einmal g, für Gurke schreibt sie gak. die lehrer und lehrerinnen mögen nicole: sie ist ordentlich, stört den unterricht nicht, und sie kommt gut mit ihren klassenkamerad/ innen zurecht. sie hat sogar schon erste freundschaften geknüpft. dass sie noch nicht lesen kann und sehr viele fehler beim schreiben macht, halten sie zunächst nicht für besorgniserregend. denn sie haben die erfahrung gemacht, dass viele kinder am anfang noch sehr langsam lautieren und es einigen nicht gelingt, die lautfolgen zu synthetisieren. gut, vielleicht ist nicole noch ein bisschen schwächer als andere kinder. aber einen handlungsbedarf sehen sie nicht. das ändert sich in der dritten klasse. die kinder sind nun gefordert, nicht nur laute und buchstaben zu erkennen und zu verknüpfen. sie sollen auch texte sinnverstehend lesen und orthographisch korrekt schreiben. für nicole eine herausforderung, an der sie scheitert. nun sieht alles danach aus, als müsse sie die klasse wiederholen. Die Geschichte von Nicole ist typisch für die Entwicklung von Kindern mit umschriebenen Lese-/ Rechtschreibstörungen, die lange vor Schuleintritt beginnen . Auch in der offiziellen Definition der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD, F81 0) liest man, dass bei umschriebenen Lese-/ Rechtschreibstörungen „Entwicklungsstörungen des Sprechens oder der Sprache vorausgehen“ Was wir an Nicoles Geschichte auch gesehen haben, ist, dass frühe Sprachentwicklungsstörungen von Eltern häufig nicht erkannt werden, wenn die soziale und emotionale Entwicklung des Kindes normal verläuft Nicoles Eltern haben sich an die Sprachentwicklung ihrer Tochter angepasst Das ist keineswegs ungewöhnlich, sondern sogar ein ziemlich normales Verhalten von Eltern . In Nicoles Fall hat es allerdings dazu geführt, dass ihre Schwierigkeiten nicht frühzeitig erkannt und nicht rechtzeitig bearbeitet werden konnten Lese- und Rechtschreibstörungen 179 Auch die Erzieherinnen haben Nicoles Schwierigkeiten nicht wahrgenommen Weil in Kindertagesstätten häufig zu viele Kinder von einer Erzieherin betreut werden müssen und weil einige Kinder mit massiven sozialen Schwierigkeiten viel Energie vom Alltagsgeschäft abziehen, waren sie für die kommunikative Anspruchslosigkeit von Nicole fast dankbar Nach der Einschulung nahm die Krise von Nicole ihren Lauf: Im Unterricht wurde ein Leselehrverfahren gewählt, das auch für Kinder ohne Risiko problematisch ist, wie wir in Kapitel 3 dargestellt haben, mit dem aber Kinder mit umschriebener Lese-/ Rechtschreibstörung praktisch nicht zurechtkommen: das buchstabenweise Lesen Wir werden weiter unten sehen, warum das für diese Kinder noch schwieriger ist als für Kinder ohne Störung Dem Lehrer ist zwar aufgefallen, dass Nicole noch mehr Probleme hat als andere Kinder; er hat aber den qualitativen Unterschied zwischen Nicole und den Kindern ohne umschriebene Lese-/ Rechtschreibstörung nicht wahrgenommen Erst in dem Moment, in dem die schulischen Anforderungen zu Leistungsanforderungen geworden sind, ist die Problematik nicht mehr zu übersehen Wir können aber davon ausgehen, dass eine Wiederholung der Klasse, wie sie der Lehrer vorschlägt, Nicole nicht helfen wird Ursachen für umschriebene Lese-/ Rechtschreibstörungen Oben hatten wir die umschriebenen Lese-/ Rechtschreibstörungen vorläufig als Störungen gekennzeichnet, die nur den Schriftspracherwerb, nicht aber andere Leistungsbereiche betreffen Damit haben wir uns zunächst Linders Diskrepanzdefinition zu eigen gemacht Nun hilft uns das Diskrepanzkriterium aber nicht zu erkennen, warum es gerade im Schriftspracherwerb zu Problemen kommt Im Falle Nicoles haben wir ein Kriterium gefunden, das uns die richtige Richtung weist und uns hilft, allgemeine von umschriebenen Lese-/ Rechtschreibstörungen abzugrenzen: Nicoles schulischen Problemen ging eine spezifische Sprachentwicklungsstörung voran Damit können auch die Kinder erfasst werden, bei denen sich hinter einer allgemeinen Lernschwäche eine Lese-/ Rechtschreibstörung verbirgt In Linders Diskrepanzdefinition fallen sie durchs Raster Wie aber kommt es zu Sprachentwicklungsstörungen, die eine Lese-/ Rechtschreibstörung nach sich ziehen? In der Forschung der vergangenen ca 50 Jahre haben sich vor allem zwei Ursachen herauskristallisiert: 1 . eine Schwäche des (phonologischen) Arbeitsgedächtnisses und 2 . eine Schwäche des Langzeitgedächtnisses . Diese beiden Werkzeuge wollen wir uns genauer ansehen 1. Das Arbeitsgedächtnis Als Arbeitsgedächtnis wird eine Funktion des menschlichen Gehirns beschrieben, die für die Ausführung einer Aktivität erforderlichen Informationen, auszuwählen, zu speichern und zu koordinieren Es besteht nach Baddeley (1986, 180 Fehler und Störungen 2000) aus drei Komponenten: dem Visuell-räumlichen Notizblock, in dem räumliche Anordnungen von Objekten gespeichert werden, der Phonologischen Schleife, in der sprachliche Information gespeichert wird, und der Zentralen Exekutive, die alle wichtigen Informationen koordiniert Abb. 4-13: Aufbau des Arbeitsgedächtnisses Bei umschriebenen Lese-/ Rechtschreibstörungen spielt die Funktionsweise der Phonologischen Schleife eine bedeutende Rolle Sie besteht aus zwei Komponenten: dem phonetischen Speicher und dem artikulatorischen Kontrollprozess Im phonetischen Speicher werden phonologische Informationen für kurze Zeit (1-2 Sekunden) abgelegt Der artikulatorische Kontrollprozess wiederholt diese Informationen in einer Art inneren Sprechens und ermöglicht so, dass der phonetische Speicher immer wieder aufgefrischt und die Informationen länger aufrechterhalten werden Der Begriff der Schleife bezieht sich auf die Wechselwirkung zwischen phonetischem Speicher und artikulatorischem Kontrollprozess: Der artikulatorische Kontrollprozess entnimmt dem phonetischen Speicher Informationen, wiederholt sie und gibt sie an den phonetischen Speicher zurück . Abb. 4-14: Funktionsweise der Phonologischen Schleife Läuft der Austausch zwischen phonetischem Speicher und artikulatorischer Kontrolle zu langsam ab, kommt es bereits im Erstspracherwerb zu Schwierigkeiten, weil gehörte Informationen nicht schnell genug (das heißt entsprechend der Sprechgeschwindigkeit des Sprechers) verarbeitet werden können Kinder, deren phonologischer Arbeitsspeicher beeinträchtigt ist, weisen daher häufig Lese- und Rechtschreibstörungen 181 bereits im Erstspracherwerb Entwicklungsverzögerungen auf, die aber oft durch Ausgleichsprozesse (z B eigenständiges Hinzufügen von plausiblen Informationen, Nachfragen) kompensiert werden können oder die von den Bezugspersonen durch langsames Sprechen abgefedert werden Beim Schriftspracherwerb wird der phonologische Arbeitsspeicher jedoch in besonderer Weise in Anspruch genommen: Denn für die Übersetzung von graphematischen in lautliche Repräsentationen, die viel genauer sein muss als die Rezeptionsprozesse beim Hören, wird insgesamt mehr Speicherkapazität und eine längere Behaltensleistung erforderlich Je träger und je weniger zuverlässig die phonologische Schleife ist, desto schwieriger ist der Schriftspracherwerb Jedoch gibt es auch hier Ausgleichsprozesse Die Pädagogen Erika Brinkmann und Hans Brügelmann sprechen von drei Typen: „Wortbildjäger“, „Buchstabensammler“ und „Kontextspekulanten“ Nicole gehörte zu den „Wortbildjägern“, sie hat sich mit dem Auswendiglernen von Wörtern beholfen Manche Kinder sind bei der Anwendung dieser Ausgleichsstrategien so geschickt, dass ihre Lese-/ Rechtschreibstörung lange verborgen bleibt Ob und wie gut der Schriftspracherwerb jenseits dieser Ausgleichsstrategien vonstatten gehen kann, hängt auch davon ab, wie gut ein Lese-Schreiblehrgang geeignet ist Wir erinnern uns noch einmal an Nicole: Sie hat gelernt, Buchstaben mit Lautwerten zu versehen und diese zu synthetisieren Wenn sie ein Wort in dieser Weise lesen sollte, hatte sie schon nach dem dritten Buchstaben die ersten beiden vergessen Ihr Arbeitsgedächtnis war nicht in der Lage, die gelesenen Informationen für eine Weiterverarbeitung aufrechtzuerhalten . Der artikulatorische Kontrollprozess war mit den Einheiten auch deshalb überfordert, weil Einzellaute dem natürlichen Sprechprogramm nicht entsprechen . Mit einem silbenbasierten Leselehrgang wäre ihr der Leseerwerb möglicherweise besser geglückt, weil die Leseeinheiten dort den natürlichen Artikulations- und Wahrnehmungseinheiten entsprechen Allerdings gibt es dafür keine Garantie: Denn der Erfolg beim Lesenlernen hängt bei Kindern mit Lese-/ Rechtschreibstörungen auch von der Schwere der Beeinträchtigung ab Um abschließend zu illustrieren, dass ein silbenbasierter Lehrgang größere Erfolgschancen bietet, und gleichzeitig zum Kapitel Gedächtnis überzuleiten, wollen wir Sie für ein kleines Experiment gewinnen: Versuchen Sie zuerst, sich die Ausdrücke in der linken Spalte zu merken (nehmen Sie sich zum Einprägen eine Minute Zeit) und wiederholen Sie dasselbe mit den Ausdrücken der rechten Spalte legumin ktrfen kaledei ortzfi hutika nnsass genepo eghkvrt 182 Fehler und Störungen Wir sind uns sicher, dass Sie bei den Ausdrücken in der linken Spalte erfolgreicher waren als bei denen in der rechten Spalte Der Grund dafür ist leicht zu sehen: Links wurde Ihr Arbeitsgedächtnis mit artikulierbaren Einheiten versorgt, rechts nicht Die links stehenden Einheiten waren also nicht nur leichter zu lesen, sondern auch leichter zu speichern 2. Das Langzeitgedächtnis Im Gegensatz zum Arbeitsspeicher, der Informationen nur so lange aufrechterhält, wie es zur Ausführung einer konkreten Aktivität nötig ist, werden im Langzeitgedächtnis Informationen dauerhaft abgelegt . Die Wörter unseres Experiments werden in Ihrem Langzeitgedächtnis wohl keinen Platz finden - sie waren nur für einen Augenblick im Kurzzeitgedächtnis abgelegt und konnten wieder vergessen werden, weil sie nicht weiter gebraucht werden Beim Schriftspracherwerb geht es nun darum, Informationen langfristig, also im Langzeitgedächtnis, zu speichern Ziel muss es dabei sein, das Langzeitgedächtnis mit Mustern auszustatten, die beim Lesen abgerufen werden können . Die Zentrale Exekutive (s o ) muss sich dann immer weniger auf Informationen von außen verlassen, sondern kann immer häufiger und immer sicherer auf gespeicherte Muster zugreifen Die Zeitspanne, in der der Abgleich der Informationen, die gelesen werden sollen, mit den schon gespeicherten orthographischen Informationen erfolgt, liegt im unbeeinträchtigten Fall im Millisekundenbereich . Bei Kindern mit umschriebenen Lese-/ Rechtschreibstörungen ist der Zugriff auf das Langzeitgedächtnis verlangsamt Und wie wir in einer Rumpelkammer länger nach einem Gegenstand suchen müssen als in einem aufgeräumten Zimmer, so verlängert sich die Suche im Langzeitgedächtnis, je schlechter die Einheiten dort sortiert sind Bei Kindern mit umschriebenen Lese-/ Rechtschreibproblemen stellt die Sortierung einen Faktor dar, der den Lernprozess erschwert Ihr orthographisches Gedächtnis ist ja von Beginn an lückenhaft und häufig unsystematisch Die Probleme verstärken sich im Lauf der Lerngeschichte also gegenseitig, die Schwierigkeiten werden immer größer und dauern meist ein Leben lang an, wie in verschiedenen Studien nachgewiesen werden konnte (Klicpera & Schabmann 1993, Kemmler 1976, Bruck 1990, Strehlow et al 1992) Die Geschwindigkeit, in der Informationen aus dem Langzeitgedächtnis abgerufen werden können, ist angeboren und kann nach heutigem Kenntnisstand nicht therapiert werden Demgegenüber sind der Aufbau und die Sortierung der im Langzeitgedächtnis gespeicherten Informationen durch Lerngelegenheiten beeinflussbar: Je systematischer der Lese-/ Schreibunterricht erfolgt, desto größer ist die Chance, dass die Lernenden sich einen gut strukturierten Langzeitspeicher aufbauen Bis hierher haben wir ein recht einheitliches Bild der umschriebenen Lese-/ Rechtschreibstörungen gezeichnet Wir müssen aber nicht nur zwischen unter- Lese- und Rechtschreibstörungen 183 schiedlichen Schweregraden unterscheiden, sondern auch danach, ob in einem konkreten Fall die Funktion des Arbeits- und des Langzeitgedächtnisses gleich stark beeinträchtigt sind oder ob es sich um ein eher einseitiges Störungsbild handelt . Folgt man den Ergebnissen der Forschung, führt die Beeinträchtigung des Langzeitgedächtnisses eher zu Schwierigkeiten beim Lesen, die Beeinträchtigung des phonetischen Arbeitsspeichers eher zu Problemen beim Schreiben . Klar geworden sein dürfte auch folgendes: Ob ein Kind eine umschriebene Lese-/ Rechtschreibstörung aufweist oder nicht, lässt sich nicht allein an seinen Lese-/ Rechtschreibfähigkeiten feststellen Die Diagnose muss neben einem Rechtschreib- und einem Lesetest weitere Instrumente einbeziehen, die die Funktion des phonologischen Arbeitsspeichers und die Funktion des Langzeitgedächtnisses testen Präventions- und Fördermaßnahmen bei umschriebenen Lese-/ Rechtschreibstörungen Einen Überblick über mögliche Präventions- und Fördermaßnahmen kann man sich verschaffen, indem man zunächst sehr grob zwei Konzeptfamilien unterscheidet: • Zur Konzeptfamilie 1 gehören alle Angebote, die an Symptomen, an bedingenden Faktoren oder an Folgeerscheinungen von Lese-/ Rechtschreibstörungen ansetzen (zum Beispiel Aufbau der Konzentrationsfähigkeit, Motivationstraining, Training zur Steigerung der Leistungsfähigkeit des Langzeitgedächtnisses, Training der phonologischen Informationsverarbeitung, Kontrolle der Augenbewegungen) • Zur Konzeptfamilie 2 gehören diejenigen, die am schriftsprachlichen Lernprozess selbst orientiert sind Viele Untersuchungen weisen darauf hin, dass nur Konzepte aus der Konzeptfamilie 2 erfolgversprechend sind (Mannhaupt 1994, 2002, 2003) . Konzepte aus der Konzeptfamilie 1 können die Kinder als begleitende Maßnahmen innerhalb eines umfangreichen Therapieplans unterstützen, die Lese-/ Rechtschreibschwierigkeiten selbst aber nicht kurieren Deshalb steht auch der Bundesverband Legasthenie den Programmen der Konzeptfamilie 1 kritisch gegenüber Aber auch die Programme, die der Konzeptfamilie 2 angehören, sind nicht alle gleich erfolgversprechend Es kommt darauf an, ob es gelingt, den Kindern einen selbstständigen Zugriff auf die Strukturen der Schrift zu ermöglichen Förderpläne, die an einzelnen Fehlschreibungen der Kinder ansetzen und diese fallweise zu korrigieren versuchen, können keine Wirkung zeigen . Stattdessen ist bei Lese-/ Schreibstörungen eine Grundrenovierung erforderlich Denn es muss davon ausgegangen werden, dass sich Fehlentwicklungen aufgeschichtet haben, was durch Einzelfall-Korrekturen nicht behoben werden kann 184 Fehler und Störungen Die wichtigste Hürde, die Kinder mit Lese-/ Rechtschreibstörungen nehmen müssen, ist die Überwindung der Vorstellung, dass ein Buchstabe für einen Laut steht und umgekehrt jeder Laut durch einen Buchstaben wiedergegeben wird Es ist oft genau diese Vorstellung, die den Kindern das Eingangstor zur Schrift verstellt Das auffälligste an ihrem Leseverhalten ist nämlich, dass sie versuchen, das Lesen von Wörtern nicht durch eine Strukturanalyse zu erreichen, sondern durch eine lineare 1: 1-Zuordnung von Buchstaben zu Lauten Ziegler u a . 2002 sprechen vom „seriellen Leseverhalten“ . Scheerer-Neumann führt die Lesefehler von Kindern mit Lese-/ Rechtschreibschwierigkeiten zu Recht darauf zurück, dass es ihnen „nicht gelingt, Wörter in ökonomische Segmente zu gliedern“ (Scheerer-Neumann 1977: 133) Deshalb müssen Programme, die, wie Denzinger/ Sehner „an erster Stelle [die] Sicherung der alphabetischen Strategie mithilfe von lauttreuen Wortübungen“ sehen, sehr kritisch eingeschätzt werden . Modernere Programme der Konzeptfamilie 2 gehen davon aus, dass nicht Einzelbuchstaben/ Einzellaute die Basiseinheiten bei der Förderung bilden, sondern Silben und Akzentmuster Denn phonologisch entsprechen Silben und Akzente dem natürlichen sprechmotorischen Programm und der akustischauditiven Wahrnehmung von Kindern (z B Pompino-Marschall 3 2009, Grümmer & Welling 2002) Orthographisch sind Silben und Akzentmuster diejenigen Einheiten, die die Wortschreibung begründen Gerade Kinder mit einer Beeinträchtigung des phonologischen Arbeitsgedächtnisses werden durch eine silben- und akzentbasierte Form des Wortlesens gegenüber dem zeit- und speicheraufwendigen Laut-für-Laut-Lesen erheblich entlastet (vgl hierzu zum Beispiel Ritter 2006) Zum einen werden beim artikulatorischen Kontrollprozess sprechmotorisch routinierte Abläufe aktiviert, zum anderen wird die Verarbeitungsgenauigkeit im phonetischen Speicher erhöht Denn mit Silben liegen gut wahrnehmbare Einheiten vor Zugleich dient eine an Silben und Akzentmustern orientierte Förderung dem organisierten Aufbau des Langzeitgedächtnisses Denn mit der Speicherung von rhythmisch-prosodischen Mustern werden genau diejenigen Einheiten ins Langzeitgedächtnis eingespeist, die schriftsprachlich bedeutsame Strukturen darstellen Wir können also mit einer silben- und akzentbasierten Förderung zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Zum einen gestatten wir den Kindern auch bei beeinträchtigtem phonologischen Arbeitsgedächtnis eine an ihrem natürlichen Sprechprogramm ausgerichtete artikulatorische Kontrolle, zum anderen erlauben wir ihnen den strukturierten Aufbau ihres Langzeitspeichers Abschließend noch ein wichtiger Hinweis: Je früher die Probleme der Kinder mit umschriebenen Lese-/ Rechtschreibstörungen, die ja schon vor Schuleintritt Sprachentwicklungsverzögerungen aufweisen, erkannt werden, desto erfolgversprechender sind therapeutische Interventionen . Bei bereits weit fort- Lese- und Rechtschreibstörungen 185 geschrittenen oder sehr schweren Beeinträchtigungen ist die Schule überfordert Erforderlich ist dann eine professionelle logopädische Behandlung Kapitel 5 - Zweitschrifterwerb Herausforderung Schriftsprache In der schulischen Praxis bekommen Lehrer/ innen oftmals gar nicht mit, wenn Kinder anderer Herkunftssprachen Probleme mit dem Schreiben und Lesen haben (vgl Belke 2006) Häufig sind diese Kinder im Kindergarten und in den Sprachtests der Schuleingangsuntersuchungen nicht als förderwürdig aufgefallen, da sie Deutsch ausreichend sprechen und auch verstehen . Doch in dem Moment, in dem Sprache nicht mehr ausschließlich mündlich verwendet wird, kommt es zu Problemen: Grammatik- und Aussprachefehler werden erst jetzt offenbar, die Schüler/ innen haben Schwierigkeiten, sich auszudrücken oder Geschriebenes zu verstehen; dies übrigens nicht nur im Fach Deutsch, sondern auch in den anderen Fächern Was ist die Ursache? Gedankenexperiment Dazu ein kleines Gedankenexperiment: Stellen Sie sich vor, ein fremdes Kind, das nicht Ihre Sprache spricht, und dessen Sprache Sie ebenfalls nicht beherrschen, zieht bei Ihnen ein Es gibt auch keine gemeinsame Fremdsprache, die Sie beide verstehen Sie haben also keine Möglichkeit, sich sprachlich mit dem Kind zu verständigen Trotzdem würden Sie es schaffen, miteinander zu kommunizieren - auf einer konkreten und basalen Ebene Sie könnten dem Kind durch nonverbale Kommunikationsmittel, etwa durch Vormachen, zeigen, wo es seine Jacke aufhängen und seine Schuhe abstellen soll, wo es am Tisch Platz nehmen darf, auch Ihre Namen könnten Sie sich gegenseitig nennen Das Kind würde an Ihrem Ausdruck verstehen, wenn Sie ärgerlich sind oder es loben Nach einiger Zeit würde das Kind - vorausgesetzt, Sie kommunizieren verbal mit ihm - auch Ihre Sprache lernen und sich trotz Fehlern immer besser verständigen können Dies entspricht in etwa der Situation, der Erzieher/ innen mit Kindern anderer Muttersprache und ohne Deutschkenntnisse in der Kindertagesstätte begegnen Stellen Sie sich nun vor, Sie reisen im Urlaub in ein fernes Land und lernen im Flugzeug rasch noch einige Wörter und Phrasen der Landessprache, um etwa im Restaurant stilsicher die Rechnung zu verlangen oder auf der Straße nach dem Weg zu fragen . Dies würde Ihnen mit etwas Übung und einem guten Sprachführer sicher gelingen, aber könnten Sie sich mit Ihrem einheimischen Gegenüber auch über tagespolitische Fragen austauschen? Sicher nicht Hier geht es um abstrakte Zusammenhänge, um Inhalte, die mit der direkten Umgebung der Gesprächspartner nichts zu tun haben, sich nicht auf die sichtbaren Objekte der Umwelt beziehen Die Sprecher können daher nicht einfach auf Dinge zeigen oder Zeichensprache verwenden, wie in der oben geschilderten Situation Dieses Szenario beschreibt Mehmet spricht türkisch und soll deutsch schreiben 187 in etwa die sprachliche Situation, mit der Kinder in der Schule konfrontiert sind, wo eine schriftsprachliche Ausdrucksweise vorherrschend ist, und wo es um abstrakte Inhalte wie Zahlen, Daten, Regeln und Operationen geht Es gibt also Situationen, in denen es möglich ist, mit sehr begrenzten sprachlichen Mitteln zu kommunizieren Voraussetzung ist dabei, dass die Kommunikationspartner sich sehen - so kann man an der Reaktion des Hörers/ der Hörerin erkennen, ob und wie er/ sie die Äußerung des Sprechers/ der Sprecherin verstanden hat Zeichensprache ist ein wichtiges nonverbales Kommunikationsmittel, das ebenfalls die direkte Interaktion voraussetzt . Diese Art des sprachlichen Handelns hat der Sprachwissenschaftler Jim Cummins (1980) als „Basale interpersonale Kommunikationsfähigkeit“ bezeichnet Auch Kinder anderer Muttersprachen beherrschen diese in der Regel sehr schnell . Sie lernen, die unterschiedlichen parasprachlichen Kommunikationsmittel, wie Gestik und Mimik, Lautstärke oder Betonung, zu deuten, und bilden daran ihre sprachlichen Kompetenzen aus, so dass sie meist nach relativ kurzer Zeit sprachhandlungsfähig sind - aber eben auf einer elementaren Ebene . Diese sprachliche Form ist charakteristisch für den mündlichen Sprachgebrauch, wenn das, was sprachlich ausgedrückt ist, sich in unmittelbarer Umgebung der Sprechpartner befindet (man also auch auf die Dinge zeigen kann); was den Satzbau und den Wortschatz betrifft, ist die sprachliche Ausdrucksform recht einfach, die Äußerungen müssen grammatisch auch nicht unbedingt korrekt sein Was im Kindergarten und außerhalb der Schule gut funktioniert, reicht jedoch nicht aus, um die schulischen Anforderungen zu erfüllen Hier geht es von Anfang an um eine Sprache, die anders aufgebaut ist als die mündliche Alltagssprache Cummins (1980) hat das erforderliche sprachliche Niveau im Vergleich zur basalen Kommunikationsfähigkeit „Kognitiv-akademische Sprachfähigkeit“ genannt In der Schule herrscht der Code des schriftlichen Sprachgebrauchs vor, dessen Beherrschung somit Voraussetzung für einen erfolgreichen Bildungsweg ist Mittlerweile geht man davon aus, dass sich eine hohe Sprachkompetenz in der Muttersprache förderlich auf den Ausbau der kognitiv-akademischen Sprachfähigkeit insgesamt - also auch in der Zweitbzw Fremdsprache - auswirkt Aus diesem Grund sollte an allen Grundschulen mindestens für die am stärksten vertretenen Sprachen (meist Türkisch und Russisch) muttersprachlicher Unterricht angeboten werden . Mehmet spricht türkisch und soll deutsch schreiben Irgendwo in Deutschland, Anfang Februar: Der sechsjährige Mehmet geht seit einem halben Jahr in die erste Klasse einer staatlichen Grundschule Er ist in Deutschland geboren, ebenso sein Vater Ahmet Seine Mutter Aishe stammt 188 Zweitschrifterwerb aus Istanbul und spricht fast ausschließlich türkisch, daher ist Türkisch auch die Familiensprache Da Mehmet nicht im Kindergarten war, spricht er nicht so gut deutsch, wie es für Schulanfänger/ innen eigentlich zu erwarten ist, er hat v a einen wenig ausgebauten Wortschatz und zeigt einige grammatische Auffälligkeiten Seit gut fünf Monaten nun lernt er Buchstaben, die er mithilfe seiner Fibel und einer Anlauttabelle zu Wörtern und Sätzen zusammenfügen soll Anlaute, Wörter, Sätze - sind dies im Türkischen und im Deutschen vergleichbare Einheiten? Mehmet tut sich jedenfalls sehr schwer Statt <Kran> schreibt er *<Geran>, für Flugzeug *<Fulukzoeuk> (s Abb 5-1) Oft schreibt er mehrere Wörter zusammen: *<iwelsebiln> für <ich will spielen> oder *<diSul> für <die Schule> . Abb. 5-1: Mehmets Schreibung von „Flugzeug“ Obwohl seine Lehrerin sich sehr bemüht, die Kinder beispielsweise immer wieder auffordert, deutlich zu sprechen, die Wörter mithilfe von Lautgebärden vorgibt sowie Übungsmaterial bereithält, bleiben die Probleme von Mehmet bestehen Am Ende der zweiten Klasse wird den Eltern mitgeteilt, dass es Mehmet helfen würde, wenn er die Klasse wiederholt Zu massiv seien die sprachlichen Probleme, v a beim Lesen und Schreiben, um dem Unterricht in allen Fächern angemessen folgen zu können Da auch das Wiederholungsjahr Mehmets sprachliche Leistungen nicht wesentlich verbessert, wird er nach einem weiteren Elterngespräch schließlich auf die Sonderschule überwiesen Wie es mit Mehmet weitergeht, kann man sich ausmalen: als Sonderschulabsolvent keine Lehrstelle, Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit Wir könnten jedoch auch eine andere Schulkarriere konstruieren: Wenn Mehmet nämlich nicht in Deutschland, sondern beispielsweise in Kanada zur Schule ginge, stünden seine Chancen auf eine erfolgreiche Schullaufbahn weitaus besser (so die Analysen der OECD auf Grundlage der PISA-Ergebnisse von 2000, 2003 und 2006) Als einer der Gründe hierfür wird das sprachpädagogische Konzept in Kanada genannt, das ganz anders als in Deutschland von Beginn an auf Mehrsprachigkeit setzt und den anderssprachigen Hintergrund der Schüler/ innen in den Unterricht mit einbezieht Das dort vorherrschende Sprachkonzept wird als Immersion bezeichnet Immersion meint das „Eintauchen“ in die Sprachumgebung; hierbei wird an die herkunftssprachliche Ausgangssituation von Zuwandererkindern angeknüpft, indem sie zum Beispiel ihre Erstsprache im Unterricht neben der Zweitsprache benutzen und weiter ausbauen können Demgegenüber wird in Deutschland, abgesehen vom Fremdsprachenunterricht, noch immer an der Einsprachigkeit festgehalten Gudrun Belke (2006: 840) fasst die deutsche Situation wie folgt zusammen: Mehmet spricht türkisch und soll deutsch schreiben 189 „Kinder mit anderen Muttersprachen als Deutsch werden fast ohne Ausnahme in Regelklassen unterrichtet, unabhängig davon, ob und in welchem Grade sie ihre Zweitsprache Deutsch beherrschen Damit sind sie meist einem Unterricht ausgesetzt, der nicht für sie konzipiert worden ist: Sie werden nach Richtlinien für einsprachige deutsche Kinder unterrichtet, mit Lehrmaterialien, die das Deutsche als Muttersprache voraussetzen, von Lehrkräften, die für den muttersprachlichen Deutschunterricht ausgebildet sind “ Das Konzept, das Belke hier beschreibt - wenn es denn eines ist - wird im Kontrast zum Immersionsprogramm als Submersion bezeichnet; übersetzt bedeutet es so viel wie „Untertauchen“; Nehr u a (1988) bezeichnen es pointiert als „Unterbuttern“ Selbstverständlich beziehen sich die Nachteile eines solchen Unterrichts, der andere Herkunftssprachen weitgehend ignoriert, nicht ausschließlich auf den Schrifterwerb In ihm werden die Folgen jedoch besonders sichtbar . Dass der schriftsprachlichen Kompetenz innerhalb schriftbasierter Gesellschaften wie der unseren eine besondere Bedeutung zukommt, haben wir im ersten Kapitel dargelegt Die Fähigkeit zur konzeptionellen Schriftlichkeit - und zu einer der jeweiligen Situation angemessenen Ausdrucksweise - ist quasi die „Eintrittskarte“ in bestimmte soziale Bereiche, die denen verschlossen bleiben, die nicht über sie verfügen (vgl auch Röber-Siekmeyer 2006: 392) Noch stärker eingebettet in die sprachkulturellen Verwendungsweisen der mündlichen und schriftlichen Sprache versteht sich das Begriffspaar orat/ literat von Maas (2010), das wir bereits im ersten Kapitel vorgestellt haben; der Ausdruck „literat“ bezieht sich auf das gesamte soziokulturelle und geschichtliche Spektrum der Schriftlichkeit, in dem wir uns tagtäglich befinden, von den Wurzeln unserer Schriftsprache bis zu ihrem Erwerb und Gebrauch durch das Individuum Demgegenüber bezeichnet „orat“ die mündliche Dimension unserer Sprachkultur In einem Aufsatz von 1986 belegt Maas, dass türkisch-deutsche Schüler/ innen trotz orthographischer, grammatischer und lexikalischer Fehler bei der Textproduktion recht genau zwischen oraten und den normativ geforderten schriftlich-literaten Strukturen differenzieren, wie es auch die Textprobe der einsprachig deutsch aufwachsenden Luise im Einleitungskapitel gezeigt hat Unzureichende Lese- und Schreibfertigkeiten ziehen negative gesellschaftliche Folgen nach sich Wer nicht lesen kann oder nicht den orthographischen Regeln entsprechend schreibt, ist stigmatisiert Mangelnde Sprachkompetenz - ganz gleich auf welcher Ebene - wird häufig mit geringer Intelligenz oder zumindest mit geringer Kommunikationsfähigkeit gleichgesetzt . Fast immer wirken Schriftprobleme sozial ausgrenzend Dagegen ermöglichen profunde Lese- und Schreibkompetenzen einen umfassenden Zugriff auf die weltweit zur Verfügung stehenden Informationsquellen und eine Teilnahme des Einzelnen an dem globalen Wissensaustausch Die UNESCO bezeichnet Bildung, worunter sie in Hinblick auf die Situation in der dritten Welt in erster Linie die Alphabe- 190 Zweitschrifterwerb tisierung versteht, als den „Schlüssel für nachhaltige menschliche Entwicklung und für die Überwindung von Armut“ Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass wir Kindern anderer Herkunftssprachen jede nur denkbare Unterstützung geben müssen, damit sie die gleichen Chancen haben, wie ihre deutschen Klassenkamerad/ innen Wenden wir uns nach diesem Exkurs wieder Mehmet zu, der nicht in Kanada, sondern in Deutschland zur Schule geht Wie könnte eine angemessene Unterstützung für ihn aussehen? Zunächst einmal ist zu berücksichtigen, dass er bereits eine Sprache entsprechend seinem Alter perfekt beherrscht, nämlich das Türkische Vermutlich hätte er keine Probleme, wenn er auf Türkisch schreiben und lesen lernte Denn ein Grund für Mehmets Anfangsschwierigkeiten in der Schule sind vermutlich sprachstrukturelle Unterschiede zwischen den beiden Sprachen, die dazu führen können, dass das Deutsche, insbesondere die Beziehung zwischen gesprochener und geschriebener Sprache, nicht richtig beurteilt wird Fremd- und Zweitsprachlerner/ innen neigen nämlich dazu, Strukturen, die ihnen aus der Muttersprache bekannt sind, auf die neue Sprache zu übertragen Das Resultat sind häufig sogenannte Interferenzfehler, also Übertragungsfehler von der einen in die andere Sprache Interferenzen stellen selbst keine Fehler dar, sondern sind im Gegenteil normale Begleiterscheinungen des Sprachenlernens; sie finden sich überall dort, wo ein Sprecher/ eine Sprecherin nach seiner/ ihrer Muttersprache eine weitere Sprache sprechen oder schreiben lernt Auch dialektale Färbungen beim Gebrauch der Hochsprache werden als Interferenzen bezeichnet Weiter unten in diesem Kapitel werden wir auch zeigen, dass Mehmet wohl auch keine Probleme hätte, könnte er bereits Türkisch schreiben und lesen Der Erstschrifterwerb und auch der gleichzeitige Erwerb zweier Schriften können nämlich durchaus einen positiven Effekt auf das Lernen der deutschen Schriftsprache haben Welche Rolle spielt die Erstsprache beim Zweit- und Fremdschrifterwerb? Nachdem die Schriftsprache in der Zweitspracherwerbsforschung gegenüber der gesprochenen Sprache lange nahezu ausgeklammert blieb, ist in den vergangenen Jahren eine zunehmende Anzahl von Arbeiten zum Zweitschrifterwerb erschienen . Dieser wird dabei aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet, so dass wir heute über Erkenntnisse zu verschiedenen sprachlichen Konstellationen verfügen: • Da sind zum einen diejenigen Kinder, die Deutsch als Zweitsprache lernen, da sie in Deutschland leben und deren Familiensprache nicht das Deutsche ist Durch die deutschsprachige Umgebung im Alltag und in der Schule spielt Deutsch eine zentrale Rolle im Leben dieser Kinder . Wie die Erstsprache den deutschen Schriftspracherwerb beeinflusst, wird erst seit relativ kurzer Zeit empirisch untersucht (vgl Maas 1986, Belke 2007, Jeuk 2007) Welche Rolle spielt die Erstsprache beim Zweit- und Fremdschrifterwerb? 191 • Die zweite Gruppe sind deutsche Schüler/ innen, die im Fremdsprachenunterricht eine weitere Sprache lernen, in der Regel schriftbasiert . Die Schrift hat hierdurch einen anderen Stellenwert als im Zweitspracherwerb, weil ein gesprochen-sprachliches Korrektiv fehlt • Drittens gibt es Kinder, die an einer bilingualen Schule gleichzeitig Deutsch und eine weitere Sprache (in Deutschland meist Englisch) schreiben und lesen lernen • Schließlich gibt es die sogenannten Quereinsteiger: Kinder, die bereits in ihrer Muttersprache literalisiert sind und nun das Deutsche als zweite Schriftsprache erlernen Die gegenseitige Beeinflussung zweier zugleich gelernter Schriftsprachen ist ein in der Zweit- und Fremdsprachendidaktik umstrittenes Thema . Schadet es beispielsweise dem deutschen Schriftspracherwerb, wenn Kinder im frühen Fremdsprachenunterricht - in einer Zeit also, wo der deutsche Schriftspracherwerb noch nicht abgeschlossen ist - bereits mit der fremden Schriftsprache konfrontiert werden? Leidet der Erwerb des Deutschen bei Zweitsprachlernern, wenn diese gleichzeitig in ihrer Muttersprache lesen und schreiben lernen? Überfordert die Auseinandersetzung mit zwei unterschiedlichen Schriftsystemen die Kinder kognitiv, was dann zu mangelnder Beherrschung beider Schriftsprachen führt? Tatsächlich scheinen diese Befürchtungen in der Regel unbegründet zu sein Die Englischdidaktikerin Jutta Rymarczyk (2008) führt zahlreiche Praxisbelege dafür an, dass Kinder im grundschulischen Englischunterricht erstens eher unbefangen an die zweite Schriftsprache herangehen; im Bewusstsein darüber, dass die englische Schriftsprache anders funktioniert als die Deutsche, setzen sie sich nicht dem Druck aus, das Englische orthographisch korrekt zu verschriften, sondern versuchen es irgendwie Zweitens, so Rymarczyk weiter, schadet die frühe Thematisierung der Schriftsprache im Fremdsprachenunterricht weder der bereits erworbenen Schriftsprachkompetenz im Deutschen noch der englischen Aussprache . Für den frühen Französischunterricht hat Constanze Weth (2010) ganz ähnliche Belege gefunden Die Schüler/ innen verhalten sich bei spontanen Versuchen, französische Wörter zu verschriften, erstaunlich kreativ und nutzen dafür teilweise bereits bekannte Schreibmuster aus dem Deutschen Im Abschnitt „Verblüffende Strategien“ werden wir darauf zurückkommen Was Lehrer/ innen über andere Herkunftssprachen wissen sollten (eine Auswahl) Leider wird in der Öffentlichkeit - direkt oder indirekt - immer wieder behauptet, ein Kind mit einer anderen Familiensprache als Deutsch tue sich automatisch schwer beim Erwerb der deutschen Schriftsprache Hier muss allerdings deutlich zwischen den Bedingungen unterschieden werden, unter denen der zweite Schriftspracherwerb erfolgt: 192 Zweitschrifterwerb • Mit Problemen durch anhaltende Interferenzen ist vor allem dann zu rechnen, wenn der Zweitschriftspracherwerb unsystematisch verläuft, indem von Seiten der Lehrperson weder die Sprachverschiedenheit noch die Gemeinsamkeiten, die es in alphabetischen Schriftsystemen immer gibt, thematisiert werden • Ebenso „gefährdet“ ist die Gruppe der in Deutschland geborenen Kinder, deren Deutschkenntnisse bei Schulbeginn für den Schriftspracherwerb noch nicht ausreichend sind Belke (2007: 29 f ) führt die Schwierigkeiten dieser Kinder - zu denen auch unser Mehmet gehört - darauf zurück, dass „Probleme der auditiven Wahrnehmung der Zweitsprache den Zugang zu lexikalischen und grammatischen Erschließungsprozessen beim Schriftspracherwerb erschweren“ . • Dagegen haben mehrere Studien (beispielsweise Nehr u. a. 1988, Nehr 1990, Berkemeier 1997) gezeigt, dass der Schriftspracherwerb in der Zweitsprache Deutsch bzw (bei bilingualen Kindern) in der nicht-dominanten Sprache erfolgreich verlaufen kann, wenn die Erstsprache oder ein bereits gelerntes Schriftsystem diesen Erwerb kognitiv stützt . Um nun aber schwächeren Kindern wie Mehmet bei ihren Anfangsproblemen eine sinnvolle Unterstützung zu bieten, ist es wichtig, dass Lehrer/ innen und auch Erzieher/ innen sich dessen bewusst sind, dass die Schüler/ innen immer bereits über ein ausgebautes Sprachsystem, nämlich das ihrer Erstsprache, verfügen Dort, wo Merkmale dieses Systems beim Erwerb der deutschen Schriftsprache durchschimmern, werden sie jedoch oft nicht als sprachliche Interferenzen verstanden, sondern schlichtweg als Fehler angestrichen Fehler von Deutschlerner/ innen - ob Kinder oder Erwachsene - fallen Lehrkräften in der mündlichen Sprache häufig gar nicht auf . Typisch für erwachsene Lerner/ innen sind beispielsweise falsche Flexionsendungen (wie einen statt einem), die aufgrund der phonetischen Nähe trotzdem verständlich sind Erst in der Schreibung werden solche Fehler sichtbar Mit zunehmender Sicherheit im Deutschen treten diese Fehler in der Schreibung immer seltener auf, was sich wiederum positiv auf den mündlichen Sprachgebrauch auswirkt: Erst durch das Schriftbild werden den Lernenden grammatische Zusammenhänge, wie eben die korrekte Flexion deutscher Wörter deutlich In der satzinternen Großschreibung machen erwachsene Deutschlerner/ innen sogar weniger Fehler als Muttersprachler/ innen (Hirschmann 2007) Aber kehren wir zurück zu unserer eigentlichen Lernergruppe, den Kindern . Für Kinder mit anderer Muttersprache ist das deutsche Schriftsystem mitunter tatsächlich schwieriger als für deutsche Muttersprachler/ innen, weil sie mit zwei (oder mehr) Lautsystemen operieren Daher werden wir hier einige Besonderheiten aus den Lautsystemen anderer Sprachen benennen, die zu Fehlern beim Schreiben führen können Je mehr die Lehrenden von den Lautsystemen anderer Sprachen wissen, desto eher können sie erkennen, welche ‚Schreib- Welche Rolle spielt die Erstsprache beim Zweit- und Fremdschrifterwerb? 193 fehler‘ lautbedingt sein können und vor allem: wie sie die Kinder unterstützen können Lautliche Unterschiede Jede Sprache besitzt ein individuelles Inventar von Lauten Für den Schriftspracherwerb ist es wichtig zu wissen, welche Laute in einer Sprache bedeutungsunterscheidend sind und welche nicht, da nicht bedeutungsunterscheidende Varianten eines Lautes normalerweise auch in der Schrift nicht unterschieden werden So wird zum Beispiel das t in Tür stark behaucht, in trügen sehr viel weniger Das sind im Deutschen zwei Varianten eines Lautes; in der Schreibung werden sie nicht unterschieden Im Hindi beispielsweise sind dies zwei verschiedene Laute; sie sind bedeutungsunterscheidend und werden dementsprechend durch zwei unterschiedliche Grapheme repräsentiert: त für das unaspirierte [t], थ für das aspirierte [t h ] Das müssen wir verstehen, wenn wir Hindi lernen wollen Beim Englischlernen ist den meisten von uns Folgendes deutlich geworden: Die Laute, die zu der Schreibung <th> gehören, sind im Deutschen nicht bedeutungsunterscheidend, wir hören das th als ‚gelispeltes s‘, erkennen darin also s-Laute oder auch f-Laute Im Englischen sind die s- und f-Laute von den th-Lauten zu unterscheiden (think - sink - fink) Im Englischunterricht werden wir extra darauf aufmerksam gemacht; wir müssen das th-Hören erst lernen Stellen Sie sich vor, Sie hätten Englisch ohne konkreten Unterricht gelernt, also in einem sogenannten ungesteuerten Zweitspracherwerb, und Sie könnten Englisch noch nicht lesen: Wahrscheinlich hätten Sie erst spät gemerkt, dass es sich um verschiedene, bedeutungsunterscheidende Laute handelt Die Probleme, die wir im Folgenden erläutern werden, liegen eigentlich auf der lautlichen Ebene, sie werden aber auf der schriftlichen Ebene sichtbar Die türkischen Beispiele stammen allesamt aus der Untersuchung von Meyer-Ingwersen u a . (1977: 40 ff ) Deren Bestandsaufnahme ist insgesamt auch heute noch zu empfehlen • Im Deutschen gibt es die Vokale / y/ und / P/ , die es beispielsweise im Englischen nicht gibt . Der typische englische Muttersprachler wird diese Laute gar nicht als solche hören, sondern eher / i/ bzw / u/ und / e/ bzw / o/ produzieren, wenn er Wörter mit diesen Lauten spricht oder liest: [gun] statt [gyn] für grün . Das ist Teil des englischsprachigen Akzents und fällt in der gesprochenen Sprache meistens gar nicht so auf Dass das englischsprachige Kind diesen Unterschied nicht hört, wird aber dann sichtbar, wenn es schreiben lernt Der lautliche Unterschied zwischen kennen und können ist eher klein, ebenso bei Münze/ Minze, brüllen/ Brillen. Die Vokale, die im Deutschen mit ü und ö geschrieben werden, sind in den Sprachen der Welt relativ selten; der Unterschied muss also nicht nur mit englischsprachigen Kindern geübt werden, sondern auch Kinder mit russischem und polnischem Hintergrund 194 Zweitschrifterwerb können hier Probleme haben Das Deutsche hat - verglichen mit den Sprachen der Welt - ein sehr ausgebautes Vokalsystem Wir nehmen 17 Vokale an, 8 gespannte, lange, 7 ungespannte, kurze und die Reduktionsvokale Schwa und [] Die meisten Sprachen der Welt haben ein System von 5 bis 7 Vokalen . Entsprechend ist es für viele Deutschlerner/ innen wichtig zu lernen, überhaupt Unterschiede in Wortpaaren wie Miete - Mitte, Bahn - Bann, Hüte - Hütte usw zu hören Um das ausgeklügelte System der Schreibung an dieser Stelle (s Kapitel 2) im Deutschen zu verstehen, ist es Voraussetzung, die Unterschiede zu hören • Französisch und Italienisch besitzen keinen h-Laut; französische und italienische Muttersprachler/ innen müssen den ersten Laut in Haus, Hose usw erst hören lernen, bevor sie ihn auch schreiben können • Das Russische hat den Laut [x] auch im Anlaut, aber wie das Französische und Italienische hat es kein [h] So ist es typisch für eine russisch geprägte Aussprache des Deutschen, dass [xalt] statt [halt] gesagt und entsprechend auch <chalt> geschrieben wird (ebenso zum Beispiel im Bulgarischen) • Diese Gruppe von Lauten stellt auch für türkische Muttersprachler/ innen ein Problem dar Weil [h], [], [x], [S] im Türkischen nicht bedeutungsunterscheidend sind, gibt es hier in der Schreibung verschiedene Varianten: mahen, Büher (für machen, Bücher), Lämpschen für Lämpchen und falch für falsch (Meyer-Ingwersen u a 1977: 55) • Viele regionale Varianten des Arabischen haben kein [p]; früher gab es hierzu folgenden Witz: In welches Bombay fliegst Du? In Indien (heute Mumbai) oder in Italien (Pompei)? Es wäre hier also hilfreich, den Unterschied zwischen <b> und <p> zu thematisieren • Das Türkische hat keine komplexen Silbenanfangsränder, das heißt vor dem Vokal steht nicht mehr als ein Konsonant So tendieren türkische Deutschlerner/ innen dazu, [b u lum] (mit einem sogenannten Sprossvokal) statt [blum] zu sagen, um die Konsonantenhäufung aufzubrechen . Dieses Aussprachephänomen, das eher als Akzent denn als Fehler auffällt, führt dann nicht selten zu einer inakzeptablen Verschriftung: *<Bulume> statt <Blume>, *<Birif> statt <Brief>, *<filigt> statt <fliegt>, *<siraibt> statt <schreibt> und *<firagin> statt <fragen> (Meyer-Ingwersen u a 1977: 49) Das ist übrigens bei Mehmet passiert, als er *<fulukzoeuk> schrieb Weil diese Unsicherheit besteht, gibt es auch die ‚umgekehrten‘ Fehler, dass also Vokale in der Schreibung weggelassen werden: *<Bsuch>, *<Bsalin>, *<grafee>, *<schle>, *<schn>, *<Blieg>, *<schkin> für Besuch, bezahlen, Giraffe, Schule, schön, billig, schicken (ebd ) • Im Türkischen gibt es keine Affrikaten wie [pf] und [ts] . Im Falle von [pf] zu Beginn eines Wortes (Pfanne, Pfau) stellt dies zumindest für die Aussprache deutscher Wörter kein Problem dar, da der Plosiv [p] in der Umgangssprache überwiegend nicht gesprochen wird Hier sind türkische Schüler/ innen also in derselben Situation wie deutsche Muttersprachler/ innen: Beide müssen Welche Rolle spielt die Erstsprache beim Zweit- und Fremdschrifterwerb? 195 wissen, wann ein Wort entgegen der Aussprache mit <pf> geschrieben wird [ts] dagegen wird auch am Wortanfang gesprochen (Zoo, Zahn, zwei, Zahl usw .) Eine typische Auffälligkeit bei türkischen Muttersprachler/ innen ist die Aussprache mit [s], entsprechend wird dann auch <s> geschrieben Meyer-Ingwersen u a (1977: 45 ff ) finden denn auch Schreibungen wie *<Sayton> und *<som> für <Zeitung> und <zum> Zur Lautlehre gehört neben dem Lautbestand die Silbenphonologie, die im Deutschen gegenüber anderen Sprachen ebenfalls Besonderheiten aufweist Hier haben wir es häufig mit Interferenzen zu tun, die das Lesen beeinflussen . • Das Russische kennt verschiedene Grade der Vokalreduktion, je nachdem, wie weit der Vokal in einem Wort von der betonten Silbe entfernt ist . Der kyrillische Buchstabe, der unserem <o> entspricht, wird nur als [o] realisiert, wenn er in einer betonten Silbe steht In der Silbe direkt vor der betonten lautet die Aussprache [] (wie im engl but); liegt die Betonung zwei Silben vor dem o, wird der Vokal zu Schwa reduziert ([], wie in dt Vater) Bspe : golova > [g. l. va] „Kopf“; Kollege = [kleg] Eine mögliche Interferenz sind Wortlesefehler wie [kr.k.d j il] für Krokodil • Bei sämtlichen Deutschlerner/ innen finden wir falsche Annahmen über die lautliche Entsprechung von Buchstaben, etwa die Annahme, der Buchstabe <r> repräsentiere immer einen Konsonanten [] . Besonders im fibelgestützten Anfangsunterricht und bei Einsatz sogenannter „Anlauttabellen“ wird diese konstante Zuordnung suggeriert: Als einzige lautliche Entsprechung wird den Kindern der Konsonant, wie wir ihn zu Beginn von Wörtern wie Rad oder Radio haben, vermittelt Die Kinder speichern daraufhin die Zuordnung <r> → [] als einzig mögliche ab; um diesen Vermittlungsfehler selbsttätig zu korrigieren, wie es ihre deutschsprachigen Mitschüler/ innen tun, fehlt ihnen das nötige Sprachwissen Die falsche Regel führt dann zu folgender Umsetzung: korrekte aussprache falsche aussprache <reite> [ aIt ] <werte> [ vet ] *[ vEtE ] <reiter> [ aIt ] *[ aItE ] • Das Türkische und das Deutsche weisen unterschiedliche Sprachrhythmen auf . Im Deutschen werden Akzente gezählt: Hauptakzente treten in ziemlich regelmäßigen Abständen auf Im Türkischen werden Silben gezählt: Diese sind alle ungefähr gleich lang Das ist auch ein Grund, warum es hier keine Reduktionssilben gibt Türkische Kinder müssen also die Betonungsverhältnisse des Deutschen erst hören lernen, um dann z B . auch die Verschriftungsgesetze für die Reduktionssilben sicher umsetzen und grammatische Informationen sicher lokalisieren zu können 196 Zweitschrifterwerb • Ein weiterer Unterschied zwischen dem deutschen und dem türkischen Rhythmus kann für türkischsprechende Kinder zum Stolperstein werden: Im Deutschen werden i d R die Wortstämme betont, im Türkischen das Wortende Deutsche Wörter sind also tendenziell erstbetont, türkische letztbetont . Wie wir in Kapitel 2 gesehen haben, hilft der Akzent, Wortgrenzen zu identifizieren Sie sehen im Türkischen aber anders aus als im Deutschen Man könnte diese Beispiele hier noch weiter fortsetzen Wir möchten Sie aber auch ermuntern, sich bei bestimmten Fehlern Ihrer Schüler/ innen zu fragen, ob eine Ursache in der Ausgangssprache liegen könnte, und entsprechend nachzusehen, ob das Phonemsystem der jeweiligen Muttersprache Hinweise gibt . Diese Phonemsysteme sind leicht im Internet zu finden (beispielsweise in Wikipedia) und auch einigermaßen leicht zu lesen Meist wird dort auch über silbische Strukturen informiert, etwa ob eine Sprache Konsonantenhäufungen zulässt Grammatische Unterschiede Ohne Bewusstsein für die Betonungs- und Silbenstruktur deutscher Wörter gehen die im vorangegangenen Abschnitt beschriebenen Strukturen im mündlichen Sprachgebrauch möglicherweise unter, wodurch die grammatischen Details nicht richtig erfasst und auch nicht produziert werden Die Schrift bietet hier eine wichtige Möglichkeit, die Aufmerksamkeit auf die Grammatik zu lenken; mit anderen Worten: Durch die Beschäftigung mit der Schriftsprache werden Kinder aufmerksam für die grammatischen Informationen Dies gilt übrigens nicht nur für Zweitsprachlerner/ innen, sondern auch für Muttersprachler/ innen; auch ihnen werden morphologische Wortstrukturen oft erst durch die Rechtschreibung durchsichtig, beispielsweise was im Deutschen ein Wort ist (Wir kochen Erbsensuppe) und was nicht (Wir kochen aus Erbsen Suppe) . Oben haben wir die Zusammenschreibung von Wörtern erwähnt: *<ihwilsebiln> für <Ich will spielen> (dies Phänomen findet sich ebenso bei muttersprachlich deutschen Kindern, wird von diesen allerdings meistens früh abgelegt) Wie im Deutschen werden Wörter in der türkischen Schrift durch Leerzeichen (Spatien) voneinander abgegrenzt Insofern sollte es für türkische Kinder, die bereits türkisch schreiben können, keine Schwierigkeit darstellen, diese Konvention zu übertragen Dagegen unterscheiden sich Wörter auf der phonologischen und grammatischen Ebene im Türkischen und Deutschen teilweise erheblich voneinander, so dass sich hierdurch tatsächlich Probleme ergeben können An folgendem Beispiel wird dies deutlich: a. dt.: Sie ist zu Hause. türk.: Evdedir. (wörtl.: haus-im-ist) b. dt.: Die Blumen sind schön. türk.: Çiçekler güzeldir. (wörtl.: blumen schön-sind) Welche Rolle spielt die Erstsprache beim Zweit- und Fremdschrifterwerb? 197 Während das Deutsche in Beispiel a vier Wörter hat, benötigt das Türkische nur eines Grund ist die Eigenschaft der türkischen Sprache, grammatische Informationen nicht in Form eigenständiger Wörter, sondern als an den Wortstamm angehängte Endungen auszudrücken (wir hatten dieses Phänomen bereits oben bei den Pronomina erwähnt) Der türkische Stamm in a lautet „ev-“ (Haus), an den die Postposition „-de“ (Lokativ) und das Hilfsverb „-dir“ ((er/ sie/ es) ist) angehängt werden; die wörtliche Übersetzung wäre also „Haus-im-ist“ . Auffallend ist hier nicht nur der Unterschied in der Anzahl der Wörter, sondern auch die Tatsache, dass das Türkische die Information „lokal“ nicht vor dem Substantiv positioniert (im/ am Haus), sondern dahinter (evde) . Daraus folgt, dass es für türkische Deutschlerner/ innen häufig gar nicht so sehr das Problem ist, welche Präposition zu verwenden ist (in oder an oder bei usw ), sondern zunächst einmal zu verstehen, dass wir die entsprechende Information generell durch ein eigenes Wort vor der Nominalgruppe positionieren An Beispiel b sieht man, dass das Türkische - außer bei besonderer Hervorhebung - kein Artikelwort verwendet . Das Hilfsverb erscheint wie in Satz a nicht eigenständig, sondern angehängt, dieses Mal an das Adjektiv (schön) Schon an diesen einfachen Beispielen sollte deutlich werden, welcher kognitive Anspruch an die Kinder türkischer Muttersprache (und nicht nur an sie) gestellt wird, wenn sie in der Schule mit deutschen Wörtern und Sätzen arbeiten sollen, die vollkommen anders strukturiert sind als im Türkischen . Natürlich gibt es auch das umgekehrte Phänomen: die Beeinflussung des türkischen Schriftsprachgebrauchs durch deutsches Strukturwissen bei türkischen Schüler/ innen, die erst spät ihre Muttersprache schreiben lernen Inci Dirim (2010: 77) konnte beobachten, dass die Wortgrenzen in türkischen Texten teilweise ähnlich wie im Deutschen vorgenommen werden: Statt <ku ş lara> (Vögel [Dativ]) schrieb ein Grundschüler *<ku ş lara>, trennte also den Stamm (Vogel) von den grammatischen Endungen, die den Plural (-lar) und den Dativ (-a) anzeigen Halten wir also fest, dass einige Anfangsschwierigkeiten beim Schreiben und Lesen bei Kindern anderer Herkunftssprachen dadurch entstehen, dass sie aus ihrer Muttersprache ganz andere Strukturen kennen, als sie ihnen nun im Deutschen begegnen Wir können aber auch festhalten, dass die meisten typischen Fehler, die von nicht-muttersprachlichen Kindern in der geschriebenen deutschen Sprache gemacht werden, mehr mit dem allgemeinen Sprachstand zu tun haben als mit einem speziellen Schriftsprachstand Je besser die Kinder Deutsch sprechen und verstehen können und je mehr Einblicke sie in die grammatischen Strukturen haben (denken Sie an die Flexionsendungen), desto besser werden sie auch Deutsch schreiben Grundsätzlich sollte von Beginn an und so oft wie möglich über Sprache reflektiert werden Dies setzt die Berücksichtigung der Muttersprachen 198 Zweitschrifterwerb voraus, denn kontrastive Sprachreflexionen über Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Erst- und Zweitsprache fördern das metasprachliche Wissen, das für den weiteren Ausbau sprachlicher Kompetenzen notwendig ist Dabei darf der Schwerpunkt nicht einseitig auf Mündlichkeit oder Schriftlichkeit gelegt werden Beide Sprachregister beeinflussen sich gegenseitig und damit die gesamte Sprachkompetenz . Nach offiziellen Richtlinien besonders im Bereich des Zweitsprachunterrichts sollte zwar der Ausbau der mündlichen Sprachkompetenz Vorrang vor dem der schriftlichen haben; eine Unterbewertung der Schrift führt jedoch nach Expertenmeinung zu mangelnder Sprachkompetenz in allen Bereichen und somit langfristig zu einer sozialen Diskriminierung der betroffenen Gruppen (vgl Röber-Siekmeyer 2003) Zwei Schriften zugleich lernen - geht das? Vielleicht haben Sie irgendwann in Ihrem Leben eine andere als die uns vertraute lateinische Schrift gelernt? Zum Beispiel die griechische, die nur für diese eine Sprache verwendet wird; oder haben Sie sich an kyrillischen Buchstaben versucht, mit denen unter anderem das Russische geschrieben wird? Dann haben Sie wahrscheinlich gemerkt, dass es zwar schwierig, aber keineswegs unmöglich ist, eine andere alphabetische Schrift zu lernen Ein Vorteil sämtlicher alphabetischer Schriften ist, dass sie mit einer relativ kleinen Anzahl unterschiedlicher Zeichen auskommen, deren lautliche Entsprechungen und Kombinationsmöglichkeiten ebenfalls begrenzt sind . Wesentlich schwieriger für uns zu lernen sind Schriftsysteme, deren kleinste Einheiten nicht die Lautstruktur, sondern Morpheme oder Wörter repräsentieren, wie etwa im Chinesischen . Hier muss eine große Anzahl unterschiedlicher Zeichen gelernt werden, um schon einfache Texte lesen und schreiben zu können Für das Chinesische etwa wird gesagt, dass Kinder in den ersten sechs Schuljahren ca 3000 Zeichen lernen; um ein Buch oder eine Tageszeitung lesen zu können, benötigt man über 4000 Zeichen Demgegenüber stellen die 26 + 4 Zeichen unseres Alphabets, ebenso wie die 24 des griechischen oder 33 des russischen, eine vergleichsweise kleine Anzahl dar Nun ist es aber ein Unterschied, ob eine Person bereits in einer Schrift alphabetisiert ist, bevor sie eine zweite lernt, oder ob zwei Schriften mehr oder weniger simultan gelernt werden Wenn Kinder gleichzeitig in zwei Schriften alphabetisiert werden, kommt es ziemlich sicher zu Interferenzen der Schriftsysteme Besonders deutlich wird dies natürlich, wenn Grapheme, die es im Deutschen gar nicht gibt (wie <> im Türkischen), auf das Deutsche übertragen werden Häufig werden diese ‚Sonderzeichen‘ dann aber auch weggelassen und im vorliegenden Fall wird einfach der Buchstabe c verwendet Ebenso gibt es im Türkischen einen Buchstaben i Zwei Schriften zugleich lernen - geht das? 199 ohne Punkt, der häufig für einen dem Schwa vergleichbaren Laut steht Als Beispiel möchten wir die Schreibung <bugocn> nennen . Hier ist Brötchen gemeint: ğ / g steht für einen schwachen r-ähnlichen Laut, / c für <ch>, das <> wie gesagt für das Schwa, der komplexe Anfangsrand der Silbe Brötist aufgelöst, wie oben erwähnt Genau genommen fehlen nur die ö-Pünktchen . Eine solche Schreibung ist bei genauem Hinsehen also ziemlich systematisch Diese Interferenzen zeigen sich aber nur dann, wenn die Kinder mit den sprachlichen Unterschieden allein gelassen werden Dass es auch systematisch geht, zeigt die Studie von Nehr u a (1988) Hier wird ein Schulversuch beschrieben, in dem türkische Kinder an einer deutschen Grundschule von Anfang auf Deutsch und auf Türkisch lesen lernten . Das zugrundeliegende Konzept berücksichtigte die Unterschiede und Gemeinsamkeiten beider Sprachen, die explizit mit den Kindern besprochen wurden, um Interferenzen möglichst gering zu halten So wurden beispielsweise zunächst nur Buchstaben eingeführt, die in beiden Sprachen annähernd den gleichen Lautwert besitzen Auf diese Weise wurde die basale Lesefertigkeit gesichert Anschließend wurden dann die Buchstabenabweichungen unter die Lupe genommen, mit dem Ergebnis, dass sich die Kinder zu den Auffälligkeiten überwiegend reflektiert und kreativ verhielten: Als die Schüler/ innen in der Druckerei einen türkischen Text setzen wollten, es aber keine türkischen Buchstaben gab, meinte ein Kind, „Na dann nehmen wir eben die deutschen und machen dann unter das s einen Haken Dann heißt es ja auf türkisch sch“ (ebd : 92) Ähnliche Äußerungen finden sich in der Untersuchung von Berkemeier zu griechisch-deutschen Kindern: Als die Lehrerin ein P an die Tafel schreibt, äußert ein Kind „R auf Griechisch“ (1997: 66) Weitere Themen des Schulversuchs in Nehr u a waren der unterschiedliche Satzbau in beiden Sprachen, den wir oben kurz angesprochen haben, Wortschatzvergleich und Flexion Das Ergebnis: Nach einem Jahr zweisprachigem Leseunterricht konnten die meisten Kinder in beiden Sprachen etwa gleich gut lesen Die Autorinnen führen dies darauf zurück, dass „dem zweisprachigen Lesenlernen ein einheitlicher kognitiver Prozeß entspricht, der auf das Engste mit der Entwicklung der kognitiv-akademischen Sprachfähigkeit verknüpft ist“ (ebd : 89) Das Unbegreifliche an diesem Ergebnis, das bereits vor über 20 Jahren veröffentlicht wurde, ist vor allem, dass es kaum Auswirkungen auf die deutschen Lehrpläne gehabt hat Für zweisprachige Alphabetisierung gilt - von wenigen bilingualen Schulen abgesehen - in Deutschland: Fehlanzeige Übrigens sei noch erwähnt, dass sämtliche der 35 an dem Schulversuch teilnehmenden Kinder aus den untersten Bildungsschichten stammten und bis auf vier Kinder keinen Kindergarten besucht hatten In der bereits erwähnten Untersuchung von Berkemeier (1997) zu einem Schulversuch an einer griechisch-deutschen Schule in Griechenland lernten die zweisprachig aufgewachsenen Kinder kurz nacheinander erst die griechische und dann die deutsche Schriftsprache Der Unterricht verlief v a . deshalb erfolgreich, weil die Kinder die Möglichkeit hatten, über die Strukturunterschiede 200 Zweitschrifterwerb und Spezifika beider Systeme zu kommunizieren und diese daher zu reflektieren . Weltweit gibt es neben den hier erwähnten weitere Beispiele für einen koordinierten zweisprachigen Schrifterwerb In Marokko entstehen in den Städten immer mehr private Vorschulen, die den Kindern zwei unterschiedliche Schriften, Arabisch und Französisch, nahebringen Die Kinder selbst berichten über diese Erfahrung überaus positiv (vgl Mehlem 2010) In Neuseeland lernen Kinder in bestimmten Schulen neben Englisch die zweite Amtssprache Maori lesen und schreiben Und auch in Japan ist der bilinguale Schrifterwerb mittlerweile an der Tagesordnung Verblüffende Strategien Wir haben bisher viel über die Schwierigkeiten mehrsprachiger Kinder gesagt, obgleich wir auch bereits angedeutet haben, dass der Zweitschriftspracherwerb sehr erfolgreich verlaufen kann, wenn denn die Bedingungen optimal sind Im Folgenden möchten wir die Chancen des mehrsprachigen Schriftspracherwerbs beschreiben Wir werden sehen, über welch verblüffende Strategien Kinder verfügen, wenn man sie dabei angemessen begleitet 1 Fall: Wenn die Kinder bereits in ihrer Erstsprache alphabetisiert sind, zeigen sie in der Auseinandersetzung mit der deutschen Orthographie mitunter verblüffende Strategien, die auf ein tiefgehendes metasprachliches Bewusstsein hindeuten So konnte Berkemeier (1997) in ihrer oben bereits erwähnten Studie bei griechisch-deutschen Kindern beobachten, dass sie aufgrund ihrer Erfahrung mit einem tiefen Schriftsystem, das v a silbische und grammatische Strukturen repräsentiert, für die Besonderheiten der deutschen Schriftsprache besonders sensibel sind: „k: ich versteh das nicht. warum mach‘ ma immer zwei n, zwei m? “ (der schüler hat die schärfungsschreibung entdeckt und fordert eine regel ein). „P: (soll bälle schreiben) Mit zwei oder mit eins? “ (auch diese Äußerung bezieht sich auf die schärfungsschreibung). Berkemeier interpretiert die Kinderäußerungen dahingehend, dass ihr Strukturbewusstsein auf die Erstalphabetisierung zurückzuführen ist . Offenbar schärft der bereits erfolgte Erwerb einer anderen Schriftsprache den Blick der Kinder für die deutschen Strukturen Gleichzeitig haben diese Kinder gar nicht die Erwartung an die Schrift, eindeutige Laut-Buchstaben-Beziehungen abzubilden 2 Fall: Kinder, die nach der Zweitsprache Deutsch ihre Muttersprache verschriften lernen (wie es im sogenannten „muttersprachlichen Unterricht“ an Verblüffende Strategien 201 deutschen Schulen angeboten wird), verhalten sich im Prinzip wie deutsche Kinder im Fremdsprachenunterricht: Teilweise kommt es zu Interferenzen, die durch strukturierte Anleitungen jedoch in den Griff zu bekommen sind Voraussetzung ist allerdings, dass das Deutsche mündlich und schriftlich sicher beherrscht wird Hier können zahlreiche Arbeiten der vergangenen Jahre mit entsprechenden Belegen aufwarten (Dirim 2010; Maas/ Mehlem 2003; Mehlem 2010; Weth 2008) 3 Fall: Der koordinierte bilinguale Schriftspracherwerb Die bedauerlich wenigen Studien, die es derzeit zum koordinierten bilingualen Schriftspracherwerb gibt, deuten darauf hin, dass es sich hierbei um die günstigste Form der Entwicklung von Zweischriftlichkeit handelt In der Regel sind diese Kinder zweisprachig aufgewachsen, beherrschen also beide Sprachen, wobei eine von beiden meist besser ausgebaut ist Zusätzlich wird in dieser Form des Unterrichts sehr explizit auf die jeweiligen Besonderheiten der Schrift und der Schriftsprache eingegangen, ebenso auf die Entdeckungen und Äußerungen der Kinder Belke (2007: 29) zufolge hat das koordinierte Lernen einen Mehrwert gegenüber dem einsprachigen oder aufeinanderfolgenden (sukzessiven) Schriftspracherwerb: Es „fördert den bewussten Umgang mit beiden Sprachen durch den allgegenwärtigen Sprachvergleich“, hat also positive Auswirkungen auch auf die anderen sprachlichen Bereiche wie das Lexikon und die Grammatik (vgl auch Nehr 1990) Lukas (6 Jahre) geht in die Vorschule einer amerikanischen deutsch-englischen Grundschule Bereits jetzt machen die Kinder dort erste Schreib- und Leseversuche in beiden Sprachen Weil Lukas in einem Elternhaus aufgewachsen ist, in dem die beiden Muttersprachen deutlich getrennt worden sind (der Vater spricht mit Lukas ausschließlich englisch, die Mutter nur deutsch), überträgt er diese Trennung jetzt auf die Schriftsprache: Er weiß, dass es für beide Sprachen jeweils ein eigenes System gibt Hin und wieder kommt es aber dennoch zu Interferenzen, zuweilen auch „um zwei Ecken“, wie diese Schreibung von Lukas zeigt: Abb. 5-2: Lukas’ Schreibung von „Wo ist Mama? “ Lukas wollte hier „Wo ist Mama? “ schreiben Für das Fragepronomen „wo“ verwendet er allerdings das englische „where“, welches er wiederum deutsch schreibt! 4 Fall: Kinder, die ohne unterrichtliche Anweisung spontan versuchen, in einer Fremdsprache zu schreiben, zeigen typische Verschriftungsweisen der muttersprachlichen Orthographie, aber auch schon spezifische Schreibweisen 202 Zweitschrifterwerb der Fremdsprache, die sie bei der Beschäftigung mit schriftlichem Unterrichtsmaterial beobachten Rymarczyk (2008) hat im grundschulischen Englischunterricht beispielsweise folgende Spontanschreibungen beobachtet: <ein fein fenk ju> (I’m fine, thank you); <tüstei> (Tuesday); <sannday> (Sunday); <bluh> (blue) Die Schreibweise <f> für das englische <th> ist besonders schön, bestätigt sie doch, worauf wir schon beim Sprachenvergleich hingewiesen haben: Man muss das th erst hören lernen Ebenso interessant sind die anderen Schreibungen: In Sannday und bluh wird die Vokal(un)gespanntheit durch die im Deutschen dafür üblichen Zeichen Schärfungs- und Dehnungsschreibung gekennzeichnet, woraus man umgekehrt schließen kann, dass sie für die deutsche Schriftsprache sicher erworben sind Und die Vokalschreibungen in Tüstei sind Belege dafür, dass Kinder das deutsche System kreativ dafür einsetzen können, um lautsprachliche Strukturen zu verschriften, die es im Deutschen nicht gibt In ihrer Untersuchung zu Französisch lernenden Kindern hat Weth (2010) teilweise größere Unsicherheiten im Umgang mit der französischen Schriftsprache entdeckt Auch hier sind die Kinder zwar bereits mit französischer Schriftsprache in Kontakt gekommen, haben aber noch keinen systematischen Unterricht erfahren Dabei stieß die Autorin bei den zunächst unverständlichen Schreibweisen auf interessante Transferleistungen aus dem Deutschen: Ella schrieb das frz Wort pantalon zweimal *<portalon> . Wie kam sie zu der r-Schreibung? Im Deutschen entspricht dem r - wie in den vergangenen Kapiteln mehrfach gezeigt - im Silbenendrand kein Konsonant, sondern ein []-Vokal Nach a führt dies zu einer gelängten Artikulation des Vollvokals, vgl Arbeit [/ A.baIt] Ella hat das r also als Längenzeichen geschrieben Zusätzlich hat sie bei dem nasalierten ersten Vokal in pantalon einen Unterschied zum nicht-nasalierten Vokal [a] wahrgenommen und ihn deshalb auch anders schreiben wollen Weth zieht aus diesem und anderen Beispielen das Fazit, dass „Lernerschreibungen Lösungen für die Verschriftung einer gesprochenen Sprache dar[stellen] Bei Schulanfängern zeigen diese Lösungen, welche Vorstellung von Schrift sie haben und welche Strategien sie entwickeln […]“ (ebd : 126) Zum Schluss müssen wir auch hier noch einmal auf Mehmet zurückkommen und eine Lanze für diejenigen Kinder brechen, die submersiv, also ohne Berücksichtigung ihres Sprachstandes und ihrer Erstsprache, auf Deutsch lesen und schreiben lernen Es ist nämlich keinesfalls so, dass sie ihren deutschen Mitschüler/ innen in allen sprachlichen Fragen unterlegen sind Nicht selten kann man beobachten, dass gerade sie aufgrund der größeren Distanz zur deutschen Sprache Merkmale oder Strukturen entdecken, die den Muttersprachler/ Verblüffende Strategien 203 innen verborgen bleiben So berichtet die Grundschullehrerin Karin Winkler (2004: 26) aus einer ihrer Unterrichtsstunden, in der die Kinder an Wörtern wie Mantel, Kabel etc entdecken sollten, dass der Buchstabe e in Reduktionssilben manchmal nicht hörbar ist Ghaffa, ein afghanischer Junge, fragte als einziger, was denn ein ka ml (mit Betonung auf der ersten Silbe) sei? Das Wort Kamel war der Lehrerin aufgrund der graphematischen Ähnlichkeit zu den anderen Wörtern versehentlich in die Liste geraten Auch in manchen Bereichen der grammatischen Schreibung blicken diese Kinder häufig besser durch, als wir es ihnen zutrauen, wie der folgende Text von Karim zeigt: Abb. 5-3: Diktat von Karim, 4. Schuljahr Obwohl Karim massive Schwierigkeiten bei der Wortschreibung hat, die auf mangelndes Regelwissen und evtl abweichende Aussprache zurückzuführen sind, ist seine satzinterne Großschreibung (fast) einwandfrei Evtl hat er hier einen Bereich entdeckt, den er kognitiv durchdringen konnte 204 Zweitschrifterwerb Zusammenfassung Wie zu Beginn dieses Kapitels bereits angedeutet, hat es mit Mehmets Bildungsweg kein gutes Ende genommen Weil er die institutionellen Barrieren nicht überwinden konnte, wurde er früh zurückgelassen; nach der Sonderschule und ohne Hauptschulabschluss ist er heute funktionaler Analphabet und arbeitslos Als Sprecher einer wenig prestigeträchtigen Sprache wie dem Türkischen und dazu noch als Angehöriger der unteren sozialen Schicht hat er damit kaum Chancen auf dem Arbeitsmarkt Ganz anders sein früherer Sandkastenfreund Ümit: Dessen Familie hat eine vergleichbare Biographie wie die von Mehmet, schickte Ümit jedoch in einen Kindergarten mit gutem Sprachförderprogramm Auch kam Ümit in eine andere Grundschule, in der Mehrsprachigkeit nicht als Problem, sondern als Chance gesehen wurde . Im Bewusstsein der möglichen Startschwierigkeiten kam Ümit in eine Klasse, in der sich die Lehrer/ innen insbesondere mit sprachlichen Strukturen befassten, die Schüler/ innen vieles entdecken ließen und auch auf die Unterschiede zu ihrer Muttersprache aufmerksam machten Bereits in der vierten Grundschulklasse unterschied Ümit sich sprachlich nicht mehr wesentlich von seinen Mitschüler/ innen In der Rechtschreibung und im Lesen zeigt er ebenso wie in der gesprochenen Sprache gute Leistungen Ümit hat gelernt, worauf es in der deutschen Schriftsprache ankommt Seine anfänglichen Grammatikprobleme etwa hat er mithilfe der Schrift in den Griff bekommen; so hat er erkannt, dass die unbetonten Endungen der Wörter grammatisch bedeutsam sind Ebenfalls durch die Schriftstruktur hat er gelernt, dass es im Deutschen und im Türkischen einen unterschiedlichen Wortbegriff gibt Die anfänglichen Schwierigkeiten bei der Wortgrenzenerkennung (<ihwilsebiln>) hat er lange überwunden, ebenso hat er phonologische Strukturen, die ihm in der ersten Klasse große Probleme bereitet hatten, wie die Unterscheidung gespannter und ungespannter Vokale (Ofen/ offen) und Konsonantenhäufungen (Blume, Kran, Angst), mithilfe eines Unterrichts, der sprachliche Strukturen thematisierte, in den Griff bekommen Ein Wort zum Schluss Als am 7 12 2010 die PISA-Kommission erneut ihre Ergebnisse über die Leseleistungen deutscher Neuntklässler/ innen der Öffentlichkeit präsentierte, lautete die gute Nachricht, dass die Gruppe der Zuwandererkinder gegenüber der Studie von 2000 deutlich aufgeholt habe . Allerdings bewegt sich Deutschland international weiter im Mittelfeld, und Kinder aus anderen Herkunftsländern müssen im deutschen Schulsystem immer noch als benachteiligt gelten - in den durch PISA festgestellten Leseleistungen liegen sie durchschnittlich ein Lernjahr zurück Es liegt nahe, die Mehrsprachigkeit als alleinige Ursache für diese Probleme verantwortlich zu machen, wie Zusammenfassung 205 es seit etwa 30 Jahren unter anderem mit dem Begriff der doppelten Halbsprachigkeit kolportiert wird Neueste Forschungsarbeiten, von denen wir einige hier vorgestellt haben, vermitteln jedoch ein anderes Bild: Danach nutzen Kinder in erstaunlichem Maße ihre mehrsprachigen Kompetenzen auch beim Erwerb der deutschen Schriftsprache Die Schwierigkeiten in den schulischen Leistungen werden dagegen auch von den PISA-Autoren nicht primär auf die sprachlichen Hintergründe zurückgeführt, sondern auf soziale Schwierigkeiten, wie mangelnde Unterstützung durch die Eltern, finanzielle Probleme, institutionelle Diskriminierung Der letztgenannte Begriff bezeichnet nach einer Studie von Gomolla und Radtke (2002) schulische Mechanismen, die dafür sorgen, dass Kinder aus Zuwandererfamilien im Bildungssystem benachteiligt werden; so werden laut PISA qualitativ gleichwertige Leistungen von Schüler/ innen mit Migrationshintergrund durchschnittlich schlechter bewertet als solche von deutschstämmigen Schüler/ innen Allerdings wirken sich soziale Schwierigkeiten in einem Unterricht, der die Schüler/ innen nicht fördert, in jedem Fall nachteilig auf die Leistungen aus, während sie in einem fördernden Unterricht ganz oder teilweise kompensiert werden können Und gerade weil diejenigen Schüler/ innen, bei denen die privaten Verhältnisse ungünstige Voraussetzungen bieten, die Institutionen Kindergarten und Schule am meisten brauchen, muss der Bildungsauftrag von diesen alleine erfüllt werden (können) Kapitel 6 - Schriftsprachförderung über das Fach Deutsch hinaus Literacy als Schlüsselkompetenz im Bildungskanon Der Begriff „Literacy“ ist ein Phänomen: Noch vor wenigen Jahren weitgehend unbekannt, ist er aus den Informationsmedien nicht mehr wegzudenken Wenn wir eine überregionale Tages- oder Wochenzeitung aufschlagen, können wir beinahe sicher sein, dass uns der Ausdruck begegnet Interessant ist er aber vor allem auch deshalb, weil er in seiner Bedeutung schwer einzugrenzen ist Legen Sie dieses Buch einmal kurz zur Seite und versuchen Sie bitte, den Begriff Literacy so präzise wie möglich zu definieren Geschafft? Falls nicht, sind Sie in guter Gesellschaft; die wenigsten unserer Studenten können auf Nachfrage spontan sagen, was sie sich unter dem Begriff vorstellen Das mag unter anderem daran liegen, dass er als kaum übersetzbar gilt Das deutsche Wort Lesekompetenz trifft es nur annähernd, was sich zum Beispiel an der sehr weiten Verwendungsweise des englischen Ausdrucks zeigt: Längst wird er nämlich nicht mehr nur auf die Lesefähigkeit eingeschränkt verwendet Gibt man ihn in einer Internetsuchmaschine ein, erhält man Begriffskombinationen wie die folgenden: • information literacy • media literacy • scientific literacy • visual literacy • food literacy • financial literacy • mathematical literacy Bei Information und Medien ist die Verbindung zum Lesen noch deutlich gegeben, aber Nahrung und Lesen (food literacy), Mathematik und Lesen lösen zunächst einmal Verwunderung aus Die Lösung liegt in der Definition des Literacy-Begriffs, der viel mehr bedeutet, als gedruckte Zeichen in gesprochene Sprache zu rekodieren . Die UNESCO beispielsweise vertritt im Rahmen ihrer Alphabetisierungskampagne folgende Definition: „Literacy ist die Fähigkeit, gedrucktes und geschriebenes Material aus unterschiedlichen Kontexten zu identifizieren, verstehen, interpretieren, schaf- Literacy als Schlüsselkompetenz im Bildungskanon 207 fen, kommunizieren und berechnen Literacy ermöglicht es einer Person, sich kontinuierlich weiterzubilden, um ihre Ziele zu erreichen, ihr Wissen und Potential zu entwickeln und voll an der Gesellschaft teilzuhaben “ 1 (Positionspapier der UNESCO 2004: 13) Sie sehen: Es geht um die kognitive Nutzung schriftlicher Informationen, und das ist weitaus mehr, als der traditionelle Lesebegriff umfasst . Ebenso versteht es auch das deutsche Konsortium der PISA-Studie Hier wird Literacy folgendermaßen beschrieben: „Lesekompetenz ist mehr als einfach nur lesen zu können Unter Lesekompetenz versteht PISA die Fähigkeit, geschriebene Texte unterschiedlicher Art in ihren Aussagen, ihren Absichten und ihrer formalen Struktur zu verstehen und in einen größeren Zusammenhang einordnen zu können, sowie in der Lage zu sein, Text für verschiedene Zwecke sachgerecht zu nutzen Nach diesem Verständnis ist Lesekompetenz nicht nur ein wichtiges Hilfsmittel für das Erreichen persönlicher Ziele, sondern eine Bedingung für die Weiterentwicklung des eigenen Wissens und der eigenen Fähigkeiten - also jeder Art selbstständigen Lernens - und eine Voraussetzung für die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben “ (PISA 2000: 10) Über die Tragweite dieser Fähigkeit ist man sich in der Bildungspolitik heute weitgehend einig Als die Kultusministerkonferenz (KMK) im Jahre 2004 die länderverbindlichen Bildungsstandards für die Fächer Deutsch und Mathematik einführte, wurde der Gedanke der Schlüsselkompetenz direkt im Einleitungstext festgeschrieben: „Texte verstehen, ihnen weiterführende, sachgerechte Informationen entnehmen, sich mündlich und schriftlich in unterschiedlichen Situationen verständigen, verschiedene Schreibformen beherrschen, Medien fachbezogen nutzen und vor allem interessiert und verständig lesen und auch Kreativität entfalten, das sind Voraussetzungen, die für die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, für die eigenverantwortliche Bewältigung der Anforderungen von Schule, Alltag, Gesellschaft und Arbeitswelt und für die Fortsetzung der Schullaufbahn notwendig sind “ (KMK BS D HS, 2004: 6) In den Bildungsstandards taucht der Ausdruck „Literacy“ übrigens nicht auf - es handelt sich um eine Art Fernziel oder übergeordnete Kompetenzdefinition, die in den Bildungsstandards in einzelne Teilkompetenzen aufgeteilt ist 1 „Literacy is the ability to identify, understand, interpret, create, communicate and compute, using printed and written materials associated with varying contexts . Literacy involves a continuum of learning to enable an individual to achieve his or her goals, to develop his or her knowledge and potential, and to participate fully in the wider society “ 208 Schriftsprachförderung über das Fach Deutsch hinaus Werfen wir an dieser Stelle einen Blick auf die Geschichte des Ausdrucks: Etymologisch geht er auf das lateinische Wort litera (= „Buchstabe“) zurück Verwandt ist das Adjektiv lit(t)eratus, „gebildet“ Jemand, der in der Antike als gebildet galt, war also in erster Linie schriftkundig Dieser Zusammenhang bestand im europäischen Mittelalter weiter; so lautet der Eingangsvers im „Armen Heinrich“ von Hartmann von Aue: „Ein Ritter so gelehrt war, dass er aus Büchern las“ (Sprache und Orthographie angepasst UB, NF, CN) Bei dem Begriff Literacy handelt es sich um ein englisches Wortbildungsprodukt; der früheste Beleg stammt aus dem Jahr 1883 Dagegen ist das Antonym Illiteracy bereits um 1660 belegt In seiner ursprünglichen Bedeutung stand der Ausdruck für die Fähigkeit, lesen und schreiben zu können (“Ability to read and write” vgl Concise Oxford Dictionary von 1926) . Lange Zeit wurde unter Literacy im englischen Sprachraum in erster Linie die Lesefähigkeit als solche verstanden, entsprechend gab und gibt es Literacy-Kampagnen zur Alphabetisierungsarbeit Erst seit etwa 20 Jahren, im Rahmen der kognitionswissenschaftlichen Forschung, wird der Ausdruck in der modernen Bedeutung verwendet, nämlich im Sinne von „sich durch die Nutzung geschriebener Daten Wissen anzueignen und Informationen zu beschaffen, gleich in welchem Kontext“ Aktuell ist er einer der ganz zentralen Begriffe der Schriftlichkeitsforschung . Eine aktuelle Definition stammt aus dem Buch „Literacy - An Introduction“ des Linguisten Randal Holme; dieser definiert Literacy ebenso wie die UNESCO vor allem unter sozio-ökonomischen Aspekten, d h als Fähigkeit, in einer schriftbasierten Gesellschaft Zugang zu den unterschiedlichen Institutionen zu haben und das eigene Leben optimal und autonom zu gestalten: „Lesen und Schreiben bedeutet nicht einfach, ein Thema oder einen Gegenstand zu haben; es bedeutet, etwas mit diesem Gegenstand zu tun, sich mit ihm zu beschäftigen und anschließend die Ergebnisse dieser Beschäftigung jemand anderem mitzuteilen, vielleicht auch eine bestimmte Handlung zu provozieren Bei Literacy geht es natürlicherweise darum, was wir mit bestimmten Textsorten tun Es geht um die Absicht und Vielfalt dieser Texte und um die Handlungen, zu denen sie veranlassen “ 2 (Holme 2004: 64; Übersetzung UB, NF, CN) Holme fragt in diesem Kontext, ob es ausreicht, dass ein Lehrer seinem Schüler beibringt, wie man eine Anweisung zu lesen hat, oder ob es nicht darüber hinaus darum gehen sollte, zu verstehen, warum die Anweisung überhaupt verfasst wurde 2 „‚Reading‘ and ‚writing‘, as the core components of literacy, suggest that one ‚reads‘ and ‚writes‘ about something (…) This is not simply a question of having a topic or subject It is a matter of doing something with that topic, or treating it in a particular way then transmitting the facts of that treatment to someone else, perhaps to provoke some kind of action . Literacy by its nature is about what we do with certain types of text It is about the purpose and variety of these texts and the activities to which they give rise “ Worin bestand noch gleich der PISA-Schock? 209 In diesem Buch haben wir viel über die Chancen und Möglichkeiten der Kinder in Abhängigkeit vom sozialen Umfeld einerseits und dem schulischen Unterricht andererseits geschrieben Da die Forschung der vergangenen Jahrzehnte den Zusammenhang zwischen diesen Bedingungen und der Schriftkompetenz immer wieder herausgearbeitet hat, haben die Regierungen unterschiedlicher Staaten zahlreiche Programme ins Leben gerufen Die meisten davon betreffen die vorschulische Förderung Entsprechende Konzepte werden meist unter dem Begriff „Early Literacy“ gefasst Das ist eine durchaus positive Entwicklung der letzten zehn Jahre, denn erst im Zuge der Literacy-Debatten wurde der Elementarbereich zunehmend als wegbereitende Bildungseinrichtung entdeckt Dies schließt die Frühförderung bzw die Curricularisierung der Vorschularbeit im Hinblick auf die Schriftvorbereitung ein, zwei Bereiche, in denen die einzelnen Bundesländer teilweise noch weit auseinanderliegen (vgl Huneke 2006) . Wie jedoch in Kapitel 3 bereits dargestellt, nützen solche Programme zu wenig, wenn sie aufgrund fehlender Kindergartenpflicht einen Großteil derjenigen nicht erreichen, die dieser Förderung bedürfen Ein zweites Problem ist die fehlende Anbindung der Elementaran die Grundschulpädagogik und die nicht immer ausreichende Zusammenarbeit der Grund- und weiterführenden Schulen Ein entscheidender Punkt ist hier, dass das Lesen- und Schreibenlehren und damit der schulische Auftrag der Unterstützung aller Schüler bei schriftsprachlichen Problemen nicht mit der 4 Klasse enden Wie wir wiederholt dargelegt haben, und wie auch aktuelle Studien belegen, sollte ein struktureller Schriftunterricht möglichst früh ansetzen, da eine spätere Förderung nach der Grundschulzeit in der Regel nicht mehr den erwünschten Effekt erzielt (vgl . Blatt/ Müller/ Voss 2010) Ebenso fatal wäre es jedoch für viele Kinder, wenn es nach der Grundschulzeit keine Anknüpfungspunkte an das bereits Gelernte gäbe Worin bestand noch gleich der PISA-Schock? „Nach PISA-Schock boomen die Privatschulen“; „Der PISA-Schock scheint überwunden“; „Nach PISA-Schock rätseln Unternehmensberater“; „PISA- Schock: In der Region fehlen Lehrer“ Erinnern Sie sich an Zeitungsschlagzeilen wie diese nach der Veröffentlichung der ersten PISA-Studie am 10 12 2001? Die nachfolgenden PISA-Veröffentlichungen haben zwar keine Schockwellen mehr ausgelöst, aber zurücklehnen können wir uns noch immer nicht Nach wie vor hängt der Bildungserfolg junger Menschen in inakzeptabler Größenordnung von ihrer sozialen Herkunft ab Noch immer gibt es eine große Gruppe junger Menschen, die des Schreibens und Lesens nahezu nicht mächtig sind Und die Meldung, dass die Migrantenkinder zu den Gewinnern der letzten PISA-Studie von 2010 gerechnet werden, darf uns auch nicht zufrieden stimmen, denn noch immer liegen diese Schüler durchschnittlich ein Lernjahr hinter ihren deutschen Klassenkameraden Und im internationalen Vergleich befindet sich die 210 Schriftsprachförderung über das Fach Deutsch hinaus deutsche Schülerschaft innerhalb der Gruppe der 15-Jährigen nach wie vor im Mittelfeld Nicht nur die Medien und die Gesellschaft, auch die Politik war von den Ergebnissen der PISA-Studie überrascht worden . Bis zu Beginn unseres Jahrhunderts waren keine international vergleichenden Schulleistungstests durchgeführt worden Man war ohne weitere Überprüfung davon überzeugt, die hohe Leistungsfähigkeit Deutschlands spiegele sich auch in einer hohen Leistungsfähigkeit der hier beschulten Kinder und Jugendlichen Als man 2001 feststellen musste, dass ca 25 % der 15-Jährigen nicht über hinreichende Lesekompetenzen verfügten und Deutschland sich in Bezug auf die Leseleistungen im unteren Mittelfeld bewegte, war akuter Handlungsbedarf angezeigt Man verständigte sich darauf, die Ziele deutlicher als bisher festzulegen Sie sollten so formuliert sein, dass jederzeit messbar wäre, ob bzw . in welchem Umfang sie erreicht wären Das Ergebnis kann als curriculare Revolution bezeichnet werden: Es wurden die oben erwähnten Bildungsstandards entwickelt, die die alten Lehrpläne flächendeckend ablösten . In Bildungsstandards wird nicht, wie noch in Lehrplänen, festgelegt, was Lehrer in den Unterricht hineingeben sollen (Input-Orientierung), sondern das, was die Schüler im Anschluss an den Unterricht können sollen (Output-Orientierung) . Dieser Output wird mit dem Begriff der Kompetenz erfasst, der seit PISA einen ebenso atemberaubenden Aufstieg erlebt hat wie der der Literacy und der ebenso viele Unschärfen aufweist wie dieser Die gängigste und meist verwendete Definition von Kompetenz stammt von dem 2001 verstorbenen Psychologen Franz Emanuel Weinert Danach sind Kompetenzen „die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können “ (Weinert 2001: 27 f ) Wir sehen neben der Verschiebung von der Inputzur Output-Orientierung mindestens zwei inhaltliche Veränderungen gegenüber den alten Lernzielen: Zum einen wird das Individuum stärker betont, zum anderen die Funktion von Gelerntem Großgeschrieben werden: Bereitschaft, Verantwortung und Problemorientierung Mit dieser Umorientierung werden auch die Fächergrenzen fraglich Denn es geht nicht mehr um den Aufbau von fächerspezifischem Spezialwissen, sondern darum, Erworbenes und Gelerntes nutzen zu können, um Probleme zu lösen, die sich ja nur selten an Fächergrenzen halten Und in diesem Zusammenhang gewinnt auch das, was mit Literacy beschrieben wird, eine immer stärkere Bedeutung: Denn die Voraussetzung für eine selbstverantwortliche Problemlösekompetenz ist die erfolgreiche Verarbeitung von Informationen Deren wichtigste Voraussetzung sind Lesen und Schreiben Was Mathematik mit Lesen- und Schreibenkönnen zu tun hat 211 So gewinnt der Erwerb der Schriftsprache in der aktuellen Bildungsdiskussion eine weit über den Deutschunterricht hinausgreifende Bedeutung Immer deutlicher wird gesehen, dass auch das Lösen von mathematischen Aufgaben oder das Erfassen biologischer oder physikalischer Zusammenhänge sprachlich, zumeist schriftsprachlich erfolgt und dass das Erfassen der Sachlogik eines Gegenstandes und die Kommunikation darüber entscheidend davon abhängen, ob es gelingt, die Versprachlichungsstrategien eines Faches zu durchschauen Ganz zu Recht schreiben Vollmer & Thürmann (2010) deshalb: „Sprache und Sprachverhalten sind ganz ohne Zweifel das geheime und entscheidende schulische Curriculum“ Damit dieses Curriculum nicht geheim bleibt, sondern sowohl für Kinder und Jugendliche als auch für Lehrer sichtbar wird, ist es wichtig, die einzelnen Fächertraditionen und deren sprachliche Muster zu kennen . Am Beispiel der Mathematik wollen wir den Zusammenhang zwischen Fach- und Sprachkompetenz untersuchen Was Mathematik mit Lesen- und Schreibenkönnen zu tun hat Um der Frage nachzugehen, was Mathematik mit Lesen- und Schreibenkönnen zu tun hat, möchten wir Sie zunächst zu einem Experiment einladen: Rufen Sie das Stichwort „Lineare Algebra“ in Wikipedia auf und lesen Sie sich die Definition durch . Versuchen Sie dann, das Gelesene in eigenen Worten wiederzugeben Wenn Sie nicht gerade Mathematiker oder Mathematikerin sind, wird Ihnen das Lösen dieser Aufgabe sehr schwergefallen sein . Das hat mehrere Gründe: Zum einen nehmen wir an, dass Sie die Definition nicht vollständig verarbeiten konnten . Ihnen fehlt wahrscheinlich das Wissen darüber, was Vektorräume oder lineare Abbildungen sind Und wenn Sie den Links auf diese Begriffe gefolgt sind, verbergen sich wie bei einer russischen Puppe hinter jedem dieser Fachausdrücke weitere Dass Sie die Fachbegriffe nicht mit Inhalt füllen können, liegt nicht daran, dass Ihnen die Ausdrücke selbst ganz unbekannt wären . Wörter wie „Raum“ und „Abbildung“ kommen ja auch in der Alltagssprache vor . Sie werden aber in der Fachsprache nicht in ihrer herkömmlichen, alltäglichen Verwendung gebraucht, sondern eben in einer fachspezifischen Bedeutung Ihr Wissen darüber, was Räume und Abbildungen sind, hilft Ihnen also nicht weiter Es kann im Gegenteil sogar störend wirken Dann nämlich, wenn Ihnen der mathematische Raum- oder Abbildungsbegriff erklärt wird und sich Ihre alltäglichen Vorstellungen dazwischendrängen Jeder, der sich auf das Abenteuer von Fachsprachen einlässt, muss seine bisherigen Sprach- und Denkgewohnheiten auf den Prüfstand stellen, herkömmliche, an den Alltag gebundene Wissensbestände hinter sich lassen und sich auf neue Füllungen längst vertraut geglaubter Begriffe einlassen 212 Schriftsprachförderung über das Fach Deutsch hinaus Es ist aber nicht nur der Wortschatz, der wissenschaftliche Definitionen schwer verständlich und schwer reproduzierbar macht Es ist häufig auch ihre Form Das können wir mit einem einfachen Umwandlungsexperiment deutlich machen das original: die Lineare Algebra (auch Vektoralgebra) ist ein teilgebiet der Mathematik, das sich mit vektorräumen und linearen abbildungen zwischen diesen beschäftigt. dies schließt insbesondere auch die betrachtung von linearen gleichungssystemen und Matrizen mit ein. die umwandlung: die lineare algebra ist ein teilgebiet der Mathematik. sie beschäftigt sich mit vektorräumen und linearen abbildungen zwischen vektorräumen. dazu gehört insbesondere die betrachtung von linearen gleichungssystemen und Matrizen. Was haben wir verändert? Erstens haben wir alle Sondermarkierungen (Links, Fettdruck) entfernt, so dass der Text sich eher wie ein Fließtext und weniger wie eine Sammlung von Fachbegriffen liest Demselben Zweck diente auch die Entfernung des Klammerzusatzes . Insgesamt können so die Zusammenhänge besser wahrgenommen und verarbeitet werden In einem zweiten Schritt haben wir alle Sätze in Hauptsätze umgewandelt und damit die syntaktische Komplexität reduziert . Drittens haben wir die Bezüge zwischen Sätzen und Wörtern vereindeutigt: Statt „zwischen diesen“ haben wir „zwischen Vektorräumen“ geschrieben Und statt „Dies schließt […] ein“, wo „dies“ keine ganz klare Bezugsgröße hat, haben wir „Dazu gehört“ gesetzt, um herauszuarbeiten, dass hier noch zusätzlich auf besonders wichtige Gegenstandsfelder der Linearen Algebra verwiesen wird In einem weiteren Schritt könnten wir den Text noch lesefreundlicher gestalten, indem wir ihn personalisieren, das heißt ein konkretes Subjekt einführen, hier Mathematiker, die Lineare Algebra betreiben: umwandlung 2: die lineare algebra ist ein teil der Mathematik. Mathematiker, die auf diesem gebiet arbeiten, beschäftigen sich mit vektorräumen und linearen abbildungen zwischen vektorräumen. besonders genau betrachten sie lineare gleichungssysteme und Matrizen. Vermutlich hätten Sie auch mit dieser Definition noch nicht wirklich etwas anfangen können und hätten immer noch Schwierigkeiten gehabt, sie sich zu Was Mathematik mit Lesen- und Schreibenkönnen zu tun hat 213 merken und sie mit eigenen Worten wiederzugeben . Allerdings nicht mehr so große; denn die Form, in der die Fachinhalte verpackt sind, wurden der Alltagssprache angenähert Sehen wir uns die Verpackung von Fachsprachen genauer an und berücksichtigen dabei drei Dimensionen: • die kommunikative Dimension, bei der es um das Verhältnis zwischen Sendern und Empfängern geht, • die formale Dimension, worunter diejenigen Eigenschaften zusammengefasst sind, die die Grammatik betreffen, und • die lexikalische Dimension, die auf Eigenschaften des Wortschatzes verweist. alltagssprache fachsprache kommunikative dimension personale kommunikation: ich & du depersonalisierte kommunikation: Man & abstrakte hörerschaft formale dimension eher chronologische verknüpfung von sachverhalten aktivformen kaum nominalisierungen einfache wörter einfache sätze eher logische verknüpfungen von sachverhalten Passivformen nominalisierungen kompositionen komplexe sätze (einbettungen) lexikalische dimension wörter aus dem kernwortschatz einer sprache; wenig fremdwortgebrauch • flexible Gebrauchskontexte • „weiche“ Definitionen • aushandelbare Bedeutungen häufige verwendung von „jokern“ (machen, tun, sein) wörter aus dem fachwortschatz; häufig entlehnungen aus anderen sprachen • feste Gebrauchskontexte • „harte“ Definitionen • nur unter bestimmten Bedingungen aushandelbare bedeutungen hochspezialisierte ausdrucksformen Alle drei Dimensionen, die kommunikative, die formale und die lexikalische, können Stolpersteine auf dem Weg zum zielführenden Gebrauch von Fachsprachen sein . Das gilt vor allem für Kinder, die noch wenig Erfahrung mit der Schriftsprache haben Denn viele Eigenschaften, die hier speziell für die Fachsprache ausgewiesen worden sind, gelten für die Schriftsprache als ganze Nun könnte man sagen: Die Mathematik, zumindest ihr Kern, ist davon nicht betroffen Sie hat es mit nicht-sprachlichen Gegenständen (zum Beispiel Zahlen und Figuren) zu tun und hat ihre eigenen, nicht-sprachlichen Zeichen (z B + - : ) Der Mathematikdidaktiker Hermann Maier behauptet das Gegenteil: Er meint, die Mathematik stelle besonders hohe Anforderung an die Versprach- 214 Schriftsprachförderung über das Fach Deutsch hinaus lichung . Denn ihre Objekte sind „… nicht realer Natur und damit den Sinnen nicht zugänglich …“ (2006: 137) Pimm (1987) geht sogar so weit anzunehmen, dass die Sprache der Mathematik im Prinzip wie eine Fremdsprache erlernt werden müsste Der Lehrer nehme dabei die Rolle des „native speaker“ ein, der die Schüler zur Sprache der Mathematik anleiten und sie dazu bewegen müsse, diese Fremdsprache aktiv zu erproben und schrittweise zu verbessern Wer diese Sprache nicht lerne, wer also „nur“ rechne, bliebe, so Pimm, letztlich ein mathematischer Analphabet Wie wir sehen, ist also die Sprache - verstanden als Fachsprache mit den Merkmalen der Schriftlichkeit - die Leitwährung für eine glückende mathematische Sozialisation Wenn Sie sich an Ihren eigenen Mathematikunterricht erinnern, fallen Ihnen wahrscheinlich nur wenige Szenen ein, in denen Sie Gelegenheit hatten, die „Fremdsprache Mathematik“ aktiv zu erproben Sie sind wahrscheinlich nur selten vor ein echtes mathematisches Problem gestellt und aufgefordert worden, auch zusammen mit Ihren Mitschülern nach eigenen Lösungen zu suchen und diese Lösungen mit dem Lehrer zu diskutieren Über lange Zeit war der Mathematikunterricht stark lehrerseitig gesteuert, die Schüler/ innen erhielten Aufgaben und vorgeformte Lösungswege und mussten diese an einer Reihe von Aufgaben einüben Die Sprache spielte da kaum eine Rolle . In dem folgenden mathematischen Gespräch zwischen Lea (15 Jahre, Gesamtschülerin) und einer Förderlehrerin (Prediger 2009: 218) ist eine wahrscheinlich nicht untypische Sequenz eingefangen, die zeigt, dass auch heute noch Schüler und Schülerinnen in der „Fremdsprache Mathematik“ ungeübt sind: lea hatte den term 10n + 3 wie folgt umgewandelt: 10n + 3 = 13n. sie sollte mithilfe der förderlehrerin selbst auf den denkfehler, der dieser umwandlung zugrundeliegt, kommen (sP = susanne Prediger): sP: guck noch mal auf deine rechnung, 10n + 3 = 13n, stimmt das wirklich? lea: ja, wieso? sP: setz doch für n mal eine zahl ein und überprüfe das. lea: wie meinen sie das? sP: na ja, nimm doch statt n mal die 4 und schreibe das auf. lea: [Schreibt 10 4 + 3, stockt] nee, wär’ ja dann mal, [schreibt 10 · 4 + 3 = 43] sP: und die 13n? lea: die wären dann, mhh, 52. sP: und, fällt dir was auf? lea: nö, was? [guckt auf die Zahlen, zögert] ist das wohl falsch? sP: da kommt gar nicht das gleiche raus lea: nö. aber … das ist ja auch mit 4, nicht mit n. Was Mathematik mit Lesen- und Schreibenkönnen zu tun hat 215 Lea kann rechnen Sie vermag es auch, den Anweisungen der Förderlehrerin zu folgen . Allerdings nicht in allen Dimensionen: Sie ist dort am besten, wo die Anweisungen der Förderlehrerin direkt in Rechenoperationen münden (Einsetzen von 4 für n in die Formel; Ausrechnen von 10 mal 4 + 3; Ausrechnen von 13 mal 4) . Das ist es, was sie gelernt hat Nicht geläufig ist ihr das von der Förderlehrerin intendierte Testverfahren Sie kann die Hilfe, die Termumwandlung durch Einsetzen einer konkreten Größe zu überprüfen, nicht nutzen, auch dann nicht, als durch den Widerspruch zwischen den Ergebnissen der Fehler in ihrer ersten Lösung offensichtlich wird Auch als die Förderlehrerin auf diesen Widerspruch hinweist (da kommt gar nicht das Gleiche raus), rechtfertigt Lea ihre Lösung mit Verweis darauf, dass der Ausgangsterm ein n enthält, sie aber eine 4 einsetzen musste Das ist für sie offensichtlich weder das gleiche noch ist es miteinander vergleichbar Die Bedeutung einer Gleichung (das Auftreten gleicher Werte auf beiden Seiten) kann sie zwar beim Rechnen nutzen (sie rechnet 10 mal 4 + 3 korrekt aus und notiert die Aufgabe mit einem Gleichheitszeichen korrekt); sie hat aber kein Bewusstsein darüber - wir könnten auch sagen: keine Worte dafür - und kann ihr Können so nicht für die Überprüfung von mathematischen Zusammenhängen fruchtbar machen An solchen Beispielen wird deutlich, was Pimm meint, wenn er sagt, dass Rechnen ohne Versprachlichung mathematischen Analphabetismus erzeugt Von Salzbergwerken, Supermärkten und Umzügen - die Textaufgabe Sprach- und textintensiv ist der Mathematikunterricht traditionell vor allem beim Stellen und Bearbeiten von Textaufgaben Mit ihnen wird das Ziel verfolgt, mathematische Sachverhalte, die, wie Maier es formuliert hat, „nicht realer Natur und damit den Sinnen nicht zugänglich“ sind (s o ), an Lebenssituationen anschlussfähig zu machen So sollen Kinder in der Grundschule nicht einfach 3 + 5 rechnen, sondern die Frage beantworten, wie viele Äpfel im Korb liegen, wenn Hans drei und Nora fünf hineingelegt hat Durch den handelnden oder wenigstens geistigen Nachvollzug einer Realsituation soll die Mathematik lebensweltlich verankert, mathematische Operationen inhaltlich mit sogenannten Grundvorstellungen verknüpft werden Nun bereiten aber vielen Schülern und Schülerinnen gerade solche Aufgaben große Schwierigkeiten Was in der Mathematikdidaktik als Hilfe für den Aufbau von mathematischen Vorstellungen dient, wird im Unterricht zum Hemmschuh Warum ist das so? Sehen wir uns dafür ein Beispiel an Die Mathematikdidaktikerin Susanne Prediger (2009: 213) legte Schüler/ innen einer 7 Gesamtschulklasse die folgende Textaufgabe aus dem Schulbuch mathe live 7 (2000: 19) vor: 216 Schriftsprachförderung über das Fach Deutsch hinaus Im Salzbergwerk Bad Friedrichshall wird Steinsalz abgebaut. Das Salz lagert 40 m unter Meereshöhe, während Bad Friedrichshall 155 m über Meereshöhe liegt. Welche Strecke legt der Förderkorb bis zur Erdoberfläche zurück? In rein mathematischer Hinsicht ist die Aufgabe anspruchslos; es geht um eine einfache Addition: 40 m (unter dem Meeresspiegel) + 155 m (über dem Meeresspiegel) = 195 m (Strecke für den Förderkorb) Beobachten wir nun Lilly und Jacob, denen Prediger beim Lösen der Aufgabe zugeschaut hat: jacob: 40 Meter und 155 Meter, soll ich da plus oder minus oder mal rechnen? lilly: na ja, mal macht wohl keinen sinn. jacob: okay, meinetwegen. was von beidem nehmen wir dann? lilly: hm, das salzbergwerk ist ja ganz tief unten, also muss doch die zahl groß sein, nehmen wir plus. jacob: aber noch größer wäre es bei mal? 40 mal 115, das sind ja über 4 km? lilly: nee, echt, besser plus. (Prediger 2009: 215) Die Aufgabe konnte Lilly und Jacob offensichtlich nicht inspirieren, genauer zu lesen und auf der Grundlage der in der Aufgabe genannten Situation eine Lösung zu finden Das inhaltliche Genre (Salzbergwerk) ist nicht sehr schülernah und der Problemgehalt der Frage, die beantwortet werden soll, ist offenbar nicht besonders herausfordernd Prediger (ebd ) deutet das Lösungsverhalten von Lilly und Jacob in einem ersten Schritt unter Rückgriff auf die in der Mathematikdidaktik berühmt gewordene Kapitänsaufgabe: „Auf einem Schiff befinden sich 26 Schafe und 10 Ziegen Wie alt ist der Kapitän? “ Viele Schüler/ innen weisen diese Aufgabe nicht als unsinnig zurück, sondern beginnen mit dem Rechnen, um irgendeine Lösung präsentieren zu können; der Kapitän ist dann zum Beispiel 36, seltener 16 Jahre alt Ähnlich scheint das Löseverhalten von Lilly und Jacob zu sein: Sie wissen, dass sie eine Rechenoperation anwenden sollen, machen sich aber nicht wirklich klar, welche sie nehmen sollen Deshalb ähnelt die Lösungsfindung dem Rätselraten Allerdings sind die Überlegungen von Lilly und Jacob nicht völlig von der Aufgabe losgelöst: Die Zahl, da sind sich beide einig, muss hoch sein, weil das Salzbergwerk unter der Erde liegt und der Weg deshalb weit sein muss Und hier zeigt sich auch das mathematische Gespür der beiden: Lilly und Jacob wissen, dass die Multiplikation höhere Werte erbringt als die Addition und diese wiederum höhere als die Subtraktion Dieses Wissen kann jedoch nur bedingt mit der in der Aufgabe beschriebenen Situation in Beziehung gesetzt werden Es scheint, dass Lilly und Jacob rechnen können, dass sie aber nicht Was Mathematik mit Lesen- und Schreibenkönnen zu tun hat 217 gelernt haben, ihr mathematisches Können in Kontexte einzubetten, so dass ihnen die verständige Lektüre von Textaufgaben selbstverständlich wäre Sehen wir uns die Lösung von Paul und Tom an: Vor einer Berechnung legten sie eine Skizze an (vgl Prediger 2009: 215 f ), mit der sie das Problem veranschaulichten Auf dieser Grundlage diskutierten sie über Lösungen: Abb. 6-1: Skizze von Paul und Tom Paul: okay, dann 40 und 155, macht 195 Meter. tom: ja, und nun hängt es davon ab, wie groß der förderkorb ist, denn der obere rand erreicht ja früher die erdoberfläche. vielleicht 195 minus 1 Meter 50? Während Lilly und Jacob zu wenig in die sachliche Materie eingestiegen sind, haben Paul und Tom sich zu weit in die Aufgabenstellung vertieft Die naturwissenschaftliche Exaktheit, mit der sie an die Aufgabe herangehen, wird ihnen zur Hürde bei der Erarbeitung der vom Aufgabensteller intendierten Lösung Wir sehen also, dass es Textaufgaben in sich haben: Zwischen die Mathematik und die Welt tritt die Sprache Die Texte müssen (wie wir an Lilly und Jacob gesehen haben) genau, dürfen aber (das haben wir von Paul und Tom gelernt) nicht zu genau gelesen werden Die Arbeit am verständigen Lesen von Textaufgaben, aber auch die Arbeit an der Konstruktion verständlicher Textaufgaben stellt eine eigene Herausforderung an den Mathematikunterricht dar Noch einmal andere Probleme beim Lösen solcher Aufgaben wurden bei Kindern beobachtet, die Deutsch als zweite Sprache lernen Mit welchen Schwierigkeiten haben sie zu kämpfen? Wie Kaiser & Schwarz (2008) gezeigt haben, besteht das Hauptproblem im Erfassen der Fachsprachlichkeit von Textaufgaben Am Beispiel der Salzbergwerkaufgabe ergibt sich für die formale und für die lexikalische Dimension (s o ) folgender Befund: • Fachbegriffe: „Salzbergwerk“, „Steinsalz“, „Meereshöhe“, „Förderkorb“, „Erdoberfläche“, „abbauen“, „lagern“, „zurücklegen“, die häufig zugleich zusammengesetzte Ausdrücke (Komposita) sind • Passiv: „… wird abgebaut“ • syntaktische Komplexität: „Das Salz lagert …, während Bad Friedrichshall …“ • gegenläufiger statt zeitlicher Gebrauch der Konjunktion „während“ 218 Schriftsprachförderung über das Fach Deutsch hinaus Kinder, die Deutsch als zweite Sprache lernen, sind beim Lösen solcher Aufgaben zunächst daran interessiert, die Fachbegriffe zu klären Welche Schwierigkeiten sie dabei haben, zeigen folgende Dialoge zwischen Ümit und seiner Lehrerin (aus Kaiser & Schwarz 2008: 2; Namen hinzugefügt): „salzbergwerk“ ü: (4 sek.) in einem berg wird salz abgebaut l: hm [bestätigend] … ü: und und dies/ dieses berg ist hundertfünfundfünfzig Meter über dem/ der Meereshöhe „Meereshöhe“ l: hm (4 sek.) […] Meereshöhe - was kannst du dir drunter vorstellen … ü: ist eine linie [lacht] so na ja l: ja ü: das wasser bleibt ja stehen sie hat ja keine - hügel l: aha ü: Meereshöhe - na wie hoch das wasser ist Wir können folgende Lösungsstrategien entdecken: Ümit zerlegt die Ausdrücke „Salzbergwerk“ und „Meereshöhe“ in ihre Teile und versucht die Beziehung zwischen den Bestandteilen in eigenen Worten auszudrücken: „Salzbergwerk“ zerlegt Ümit in die für ihn verständlichen Teilausdrücke „Salz“ und „Berg“, die er mit dem Satz „in einem Berg wird Salz abgebaut“ aufeinander bezieht . Bei „Meereshöhe“ verfolgt er einen ähnlichen Ansatz Seine Erklärung mündet in den Teilsatz „wie hoch das Wasser ist“ Diese Strategie, eine Bedeutung durch die „Verflüssigung“ komplexer Ausdrücke in Sätze und Teilsätze zu klären, ist sehr typisch für DaZ-Lerner/ innen Ein Mathematiklehrer, der diese Strategie kennt, könnte den Schüler/ innen zur Erleichterung Textaufgaben vorlegen, die bereits „verflüssigte“ Konstruktionen und damit einfache Ausdrücke enthalten Solche Texte würden dann natürlich zwangläufig länger Die Kompaktheit von Textaufgaben könnte man jedoch erhalten, wenn alle für die Aufgabe irrelevanten Informationen ausgespart würden . Damit könnte auch verhindert werden, dass die Lerner/ innen sich an Ausdrücken wie „Steinsalz“ oder „Förderkorb“ abarbeiten, deren Bedeutung für die Lösung des Problems nicht benötigt wird Wie Kaiser & Schwarz (2008) berichten, bereiten aber auch die sichere Interpretation des gegenläufig gebrauchten „während“ und die Deutung der Präpositionen „unter“ und „über“ sowie die Passivstruktur Schüler/ innen, die Deutsch als zweite Sprache lernen, Schwierigkeiten . Bei einem ersten Zugriff auf Aufgaben wie diese sind sie jedoch so intensiv mit der Erschließung von Inhaltswörtern beschäftigt, dass sie sich nur wenig mit den logischen Verhältnis- Was Mathematik mit Lesen- und Schreibenkönnen zu tun hat 219 sen, die zwischen den einzelnen inhaltlichen Aussagen bestehen, beschäftigen (können) . Weniger komplexe Inhaltswörter und syntaktische Strukturen könnten den Kindern also zusätzlich helfen, die Konzentration stärker auf die Funktionswörter zu lenken, deren korrekte Interpretation für das Lösen der Aufgabe unverzichtbar ist Wir möchten Sie nun für eine Übung gewinnen, in der Sie sich als Mathematiklehrer betätigen: Versuchen Sie, die Bergwerksaufgabe so umzuformulieren, dass sie für Schüler/ innen, die Deutsch als zweite Sprache lernen, besser verständlich ist Sie sollten eine Lösung wie die folgende gefunden haben: In Bad Friedrichshall wird Salz abgebaut. Das Salz lagert 40 m unter Meereshöhe. Bad Friedrichshall liegt 155 m über Meereshöhe. Wie weit ist der Weg des Salzes bis zur Erdoberfläche? Beziehen wir die Schwierigkeiten von Lilly und Jacob mit ein, die von der Aufgabenstellung offenbar nicht zum genauen Lesen verführt worden sind Die beiden hätten wahrscheinlich ein weitaus größeres Interesse entwickelt, wenn die Aufgabe problemorientiert gestellt und im Sinne eines „episodischen Erzählens“ (Malle 1993) personell eingebettet worden wäre Im Bergwerk Bad Friedrichshall musste der Abbau von Salz heute unterbrochen werden: Ein Seil ist gerissen. Der Lehrling Kurt soll ein neues bestellen. Als er wissen will, wie lang das Seil sein soll, überlegt der Meister: „Das Salz lagert 40 m unter Meereshöhe, Bad Friedrichshall liegt 155 m über Meereshöhe.“ Kurt setzt sich an den Computer und will die Bestellung aufgeben, aber er weiß nicht weiter. Kannst Du ihm helfen? Kommen wir zu einem Aufgabentyp, der von Schüler/ innen nur selten verlangt wird: das Umformen von mathematischen Aufgaben in eine Textaufgabe Erfahrungsgemäß sind Kinder und Jugendliche an solchen Formen der Verweltlichung mathematischer Operationen sehr interessiert; zugleich können die Ergebnisse dem Lehrer zeigen, wie weit die Schüler/ innen in ihrem mathematischen Wissen und ihrem sprachlichen Können fortgeschritten sind . Dieses Aufgabenformat wird jedoch leider nur selten genutzt, so dass sich die Schüler/ innen trotz großer Motivation davon auch schnell überfordert fühlen Prediger berichtet von einer von Bronzel & Schmerder durchgeführten Studie, in der Schüler/ innen einer 9 Realschulklasse folgende Aufgabe gestellt wurde: Denke dir zum Funktionsterm y = 0,2x + 5 eine passende Textaufgabe Von den 57 teilnehmenden Schüler/ innen haben 28 die Aufgabe gar nicht bearbeitet, 220 Schriftsprachförderung über das Fach Deutsch hinaus von den 29 Lösungen war genau eine korrekt Sehen wir uns zwei der falschen Lösungen genauer an (Texte aus Prediger 2009) Annika schreibt folgende Textaufgabe: Abb. 6-2: Textaufgabe von Annika Wie wir sehen, hat Annika den Tonfall und die Struktur von Textaufgaben recht gut getroffen: Zuerst wird eine Ausgangssituation geschildert (Gang in den Supermarkt), die den Kontext festlegt Darauffolgend wird das (mathematisch zu lösende) Problem entfaltet (Kauf einer gewissen Anzahl von Gläsern mit spezifischem Inhalt; Hinzukaufen weiterer fünf Gläser) Daraufhin wird eine Frage gestellt (Wie viele hast du dann? ), die auf die Problemlöseoperation verweist Auf den ersten Blick ist Annikas Lösung also gar nicht so schlecht Beim zweiten Hinsehen zeigt sich aber, dass die von ihr gestellte Aufgabe überhaupt nicht geeignet ist, den gewünschten oder überhaupt einen Funktionsterm zu rekonstruieren: Annika hat eine Kapitänsaufgabe verfasst Clara liefert folgende Lösung ab: Abb. 6-3: Textaufgabe von Clara Auch diese Lösung ist nicht geeignet, den infragestehenden Funktionsterm zu rekonstruieren Im Gegensatz zu Annikas Aufgabe lässt sie sich aber in eine Gleichung umwandeln Wir gelangen also tatsächlich zu einer Rechenaufgabe, wenn auch nicht zur gewünschten: y = Gesamtzahl der Minuten, die benötigt werden y = (5 m : 0,2 m) · 5 Minuten y = 125 Minuten Was Mathematik mit Lesen- und Schreibenkönnen zu tun hat 221 Wahrscheinlich sind Sie unseren Überlegungen bis hierher erst einmal gefolgt: Möglicherweise haben Sie auch, ähnlich wie wir, versucht, die mathematische Operation aus dem Text zu extrahieren Das lag nahe, zumal ja auch dieser Text bei flüchtiger Lektüre zunächst wie eine normale Textaufgabe wirkt (Konstruieren einer Ausgangssituation, Problembenennung, Lösungsfrage) Bei näherem Hinsehen aber erweist sich die Episode, die Clara in ihrer Aufgabe konstruiert, als völlig sinnlos: Ein Freund benötigt Umzugshilfe Der Hilfesuchende bringt dem angefragten Helfer ein Brett und zersägt es in rhythmischen Abständen in gleich große Teile . Clara hat also lediglich eine Kulisse aufgestellt: Sie hat Gegenstände und Handlungen, die bei Umzügen eine Rolle spielen können (Hilfe von anderen benötigen, Bretter, Sägen), in ihre Rechengeschichte integriert, diese aber nicht in einen logischen Zusammenhang gebracht Die Alltagslogik ist der mathematischen Logik zum Opfer gefallen Der Kapitän ist von Bord gegangen Noch einmal wollen wir Sie zu einem Experiment einladen, das nun auch mathematische Kenntnisse erfordert: Sehen Sie sich die vorliegende Aufgabe an und prüfen Sie, ob sie mathematisch und sachlich zum Funktionsterm y = 0,2x + 5 passt und ob sie der Alltagslogik entspricht Wie ließe sie sich sprachlich, ggf . auch alltagslogisch, sachlich und rechnerisch verbessern? Peter geht in den Supermarkt um die Ecke und will Saftgläser kaufen. Weil gerade Woche des Sonderangebots ist, kostet ein Saftglas statt 30 nur 20 Cent. Von seiner Mutter hat Peter 4, von seinem Vater 6 Euro für den Einkauf bekommen. 5 Euro braucht er aber noch für die Busfahrt zurück nach Hause. Wie viele Gläser kann Peter kaufen? lösung: x = anzahl der gläser y = verfügbare gesamtsumme (10 euro) 10 = x · 0,2 + 5 5 = x · 0,2 x = 25 Die Aufgabe passt mathematisch und sachlich zum gesuchten Funktionsterm . Sprachlich und alltagslogisch ist sie jedoch noch nicht optimal: • Unter alltagslogischer Perspektive passt folgendes nicht zusammen: Wenn der Supermarkt um die Ecke ist, ist es unwahrscheinlich, dass Peter mit dem Bus zurückfährt Und selbst dann, wenn er den Bus nehmen würde, scheinen 5 Euro ein zu hoher Fahrpreis zu sein Unwahrscheinlich an dieser Aufgabe ist auch der niedrige Preis für Saftgläser • Sprachlich enthält die Aufgabe einige Informationen, die für die Lösung nicht gebraucht werden, so zum Beispiel, dass der Gesamtbetrag, den Peter zur Verfügung hat, zu einem Teil von der Mutter, zum anderen Teil vom Vater stammt, dass die Gläser sonst 30 Cent kosten etc 222 Schriftsprachförderung über das Fach Deutsch hinaus Mathematisch, sachlich, alltagslogisch und sprachlich angemessen könnte die Aufgabe wie folgt formuliert werden: Peter fährt in den Supermarkt. Er will Lollies kaufen. Ein Lolly kostet 20 Cent. 10 Euro hat er dabei. Für die Hin- und Rückfahrt mit dem Bus braucht er 5 Euro. Wie viele Lollies kann er kaufen? Im Sinn einer „episodischen Erzählung“, die einen stärken Anreiz bietet, sich mit der Aufgabe zu beschäftigen, könnte die Rechengeschichte wie folgt aussehen: Peter feiert Geburtstag. Er will jeden seiner 26 Klassenkameraden mit einem Lolly überraschen. 10 Euro hat er gespart. Ein Lolly kostet 20 Cent, 5 Euro braucht er für die Hin- und Rückfahrt mit dem Bus. Kann er jedem Klassenkameraden einen Lolly mitbringen? Die Sprache der Mathematik in Lehrplänen Auch angesichts der unbefriedigenden Verbalisierungskompetenzen der Schüler im Bereich der Mathematik haben die Bildungsstandards dem sprachlichen Lernen eigenes Gewicht gegeben Im Lehrplan für Mathematik für die Grundschule von NRW werden zwei übergeordnete Kompetenztypen unterschieden: prozessbezogene und inhaltsbezogene Während die inhaltsbezogenen mathematische Sachverhalte betreffen, sind mit den vier prozessbezogenen Kompetenzen solche angesprochen, die sich auf die aktive Verarbeitung mathematischer Sachverhalte beziehen: 1) Problemlösen/ kreativ sein 2) Modellieren 3) Argumentieren 4) Darstellen/ Kommunizieren Mit den beiden ersten Bereichen sind überwiegend innermathematische Kompetenzen angesprochen 3) und 4) berühren zentral die sprachliche Dimension auf dem Weg zum mathematischen Könner Sehen wir uns deshalb etwas genauer an, was dort steht: Argumentieren „Die Schülerinnen und Schüler stellen begründete Vermutungen über mathematische Zusammenhänge verschiedener Komplexität an und erklären aufgedeckte Beziehungen und Gesetzmäßigkeiten (sprachlich, handelnd oder zeichnerisch) “ (LP Mathematik NRW 2008: 10) Was Mathematik mit Lesen- und Schreibenkönnen zu tun hat 223 Darstellen/ Kommunizieren „Die Schülerinnen und Schüler stellen eigene Denkprozesse oder Vorgehensweisen angemessen und nachvollziehbar dar und tauschen sich darüber mit anderen aus Dies kann sowohl verbal in mündlicher oder schriftlicher Form als auch durch den Einsatz von anderen Darstellungsformen wie Skizzen, Tabellen, etc geschehen Sie kommunizieren im Unterricht über mathematische Gegenstände und Beziehungen in der Umgangssprache und nutzen dabei zunehmend auch Fachbegriffe “ Mit dem Aufbau dieser Kompetenzen wäre ein wesentlicher Schritt in Richtung einer mathematischen Alphabetisierung geleistet Dass dies nötig ist, haben uns die Beispiele von Lea, Lilly, Jakob, Tom, Paul, Ümit, Annika und Clara vor Augen geführt Was wir hier am Beispiel des Faches Mathematik aufgezeigt haben, steht repräsentativ für sämtliche Fächer Nirgendwo im Gesamtcurriculum der Bundesländer wird daran gezweifelt, dass Lesen- (und Schreiben-)können über das Fach Deutsch hinaus von Bedeutung ist Dem Fach Deutsch kommt jedoch die eingangs genannte Schlüsselrolle zu, unter anderem weil hier die Fachleute unterrichten, die wissen, welche Unterstützung die Kinder brauchen . Glossar Akzent Hervorhebung von Silben (= Wortakzent) oder Wörtern (= Satzakzent), etwa durch Veränderung der Lautstärke oder der Tonhöhe Allgemeine Lese-/ Rechtschreibstörungen Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben, die nicht durch Beeinträchtigungen der Werkzeuge für die Sprachverarbeitung (Arbeitsgedächtnis, Langzeitgedächtnis) bedingt sind Arbeitsgedächtnis Funktion des menschlichen Gehirns, die Informationen, die für die Ausführung einer Aktivität erforderlich sind, auszuwählen, zu speichern und zu koordinieren Für die Sprachverarbeitung ist eine Komponente des Arbeitsgedächtnisses, die Phonologische Schleife (s dort), besonders wichtig Artikulatorischer Kontrollprozess Komponente der Phonologischen Schleife (s dort), die die Aufgabe hat, im phonetischen Speicher (s . dort) abgelegtes Material bis zu seiner Weiterverarbeitung aufrechtzuerhalten Attribut Modifikator eines Nomens Im Zusammenhang mit der Schreibung sind Attribute insbesondere wichtig, um herauszufinden, was Kern der Nominalgruppe (s dort) ist, denn Attribute können die Kerne erweitern . So ist zum Beispiel der Ausdruck FLIEGEN in die Fliegen stören erweiterbar (z B die schwarzen Fliegen stören) und deshalb Kern, nicht aber in die fliegen morgen nach Rom. Auftakt Unbetonter Teil eines Wortes, der vor einer betonten Silbe steht (Beispiel: Melone, Krokodil) Unterschieden werden Auftakte, die fest zu einem Wort dazugehören (Melone, Krokodil, Schokolade), und solche, die durch morphologische Bildungsprozesse zustandegekommen sind (behalten, entwöhnen, gereizt) Auslautverhärtung Phonologische Regel im Deutschen, derzufolge alle stimmhaften Plosive (s dort) und Frikative (s dort) in Silben- oder Wortauslautposition entstimmt werden (Magd → [mAkt]) Basale interpersonelle Kommunikationsfähigkeit (BICS) Begriff aus der Sprachlernforschung, der die grundlegende Fähigkeit eines Menschen bezeichnet, sich im direkten persönlichen Kontakt sprachlich auszutauschen Diese Form der Sprachfähigkeit wird mit einfachem Wortschatz/ Satzbau und mündlicher Sprechsituation gleichgesetzt . Der entgegengesetzte Begriff ist die kognitiv-akademische Sprachfähigkeit (s dort) Bildungsstandards Beschreibungen von Kompetenzen, über die Schüler/ innen nach erfolgreicher Beschulung in unterschiedlichen Lernaltern ver- Glossar 225 fügen sollen (Output-Orientierung, s dort) Die Bildungsstandards haben nach dem sog PISA-Schock die Lehrpläne abgelöst, in denen festgelegt war, welche Inhalte im Unterricht angeboten werden müssen (Input-Orientierung, s dort) Für den Lernbereich Deutsch liegen für die Grundschule seit 2004 bundesweit geltende Bildungsstandards vor Bilingual zweisprachig Personen mit zwei Erstsprachen werden als bilingual bezeichnet, aber auch zweisprachige Unterrichtskonzepte Bottom-up Prozess, der von unten nach oben, das heißt von den kleinsten zu den größeren Einheiten verläuft; im Leseprozess zum Beispiel vom Buchstaben über die Silbe und das Wort zum Satz und schließlich zum Text Der entgegengesetzte Prozess wird top-down genannt (s dort) Defizitorientierung Perspektive auf Rechtschreib- und Leseleistungen, die sich darauf konzentriert, was ein Kind noch nicht kann Der Gegenbegriff ist Ressourcenorientierung (s dort) Dehnungsschreibung Kennzeichnung eines gespannten Vokals (s dort), im Deutschen durch Dehnungs-h vor l, m, n, r (z B . sehnen), ie (regelhaft bei gespanntem [i] in betonter Silbe, z B Lied) oder Doppelvokalschreibung (z B Moor) Dekodieren Prozess des verstehenden Lesens, Bedeutungsentnahme aus geschriebenen Wörtern, Sätzen und Texten Diphthong Folge von zwei zur selben Silbe gehörenden Vokalen Unterschieden werden schließende Diphthonge (der zweite Vokal wird geschlossener artikuliert als der erste) und öffnende Diphthonge (der zweite Vokal wird offener artikuliert als der erste) Das Deutsche verfügt im Kernbereich über 3 schließende und über 4 öffnende Diphthonge Schließende Diphthonge: [aI] <klein>, [aU] <laut>, [OI] <Heu> Öffnende Diphthonge: [O] <Nord>, [U] <Gurt>, [I] <Tier>, [E] <Herd> Im Unterricht werden die schließenden Diphthonge auch Zwielaute genannt Erstsprache die nach der Geburt meist von den Eltern erworbene erste Sprache eines Menschen Werden zwei Sprachen gleichzeitig erworben (z B . bei verschiedensprachigen Elternteilen), spricht man von bilingualem (s dort) Erstspracherwerb Fachsprache Von Experten verschiedener Sachgebiete gebrauchte Sondersprache, mit der eine möglichst präzise Verständigung über die Gegenstände des jeweiligen Sachgebiets erzielt werden kann Fachsprachen sind konzeptionell schriftlich (s Konzeptionelle Mündlichkeit/ konzeptionelle Schriftlichkeit) Sie unterscheiden sich von Alltagssprachen mindestens durch eine abstrakte Kommunikationskonstellation, durch einen eigenen Wortschatz und durch den Gebrauch einer komplexen Grammatik 226 Glossar Fehler-Spirale Form der Aufschichtung von Fehlern, bei der aus fehlerhaftem Wissen zurückliegender Lernprozesse neue Fehler aufgebaut werden Flexion die Beugung von Wörtern nach Geschlecht, Person, Zeitform etc (s auch Morphologie) Fluency Leseflüssigkeit Von fluency spricht man, wenn ein Text ohne Stockungen und weitgehend ohne Korrekturerfordernisse mit zielnaher Intonation vorgelesen werden kann Freies Schreiben Unterrichtsmethode, in der die Kinder von Anfang an alle Buchstaben zur Verfügung haben, meist in Form einer Buchstabentabelle, damit sie eigene Texte verfassen können . Bei diesem Ansatz wird jegliche orthographische Unterweisung bewusst ausgeblendet, und zwar häufig bis zu Beginn des dritten Schuljahres Insofern wird das freie Schreiben aus sprachdidaktischer Sicht sehr kritisch gesehen Fremdsprache Sprache, die im meist schulischen Fremdsprachunterricht außerhalb des Landes, in dem sie gesprochen wird, gelernt wird Frikativ Reibelaut Laut, der entsteht, wenn zwei Artikulationsorgane eine Enge und damit ein Hindernis für den Luftstrom bilden Bilden z B . Unterlippe und Zähne eine Enge, entsteht ein [f] oder ein [v] Frikative sind Konsonanten (s dort) Sie können stimmhaft [v] oder stimmlos [f] sein Als stimmlose Varianten sind sie akustisch gesehen reine Geräusche, als stimmhafte Varianten sind sie Geräusche mit Ton (siehe stimmhaft/ stimmlos) Funktionswort Lexikalischer Ausdruck mit überwiegend grammatischer Funktion Die wichtigsten Funktionswörter des Deutschen sind Artikel, Pronomen, Konjunktionen, Präpositionen und Hilfsverben (s . auch Inhaltswort) Fuß prosodisch-rhythmische Worteinheit (s prosodisch), die sich aus der Abfolge einer betonten und einer oder mehreren unbetonten Silben ergibt . Gespannter Vokal phonetisches Merkmal, bei dem ein Vollvokal mit einer hohen Muskelspannung artikuliert wird . In betonten Silben sind gespannte Vokale im Deutschen lang Beispiele: [hun] (Huhn), [ve.zn] (Wesen), [/ o.fn] (Ofen) (s auch ungespannter Vokal) Graphem Kleinste Einheit des Schriftsystems mit bedeutungsunterscheidender Funktion Grapheme können aus einem oder mehreren Buchstaben bestehen (<m>, <ch>) Graphematik Die Lehre vom Schriftsystem des Deutschen Kapitel 2 enthält eine kleine Graphematik Immersion Bildungskonzept, bei dem an die herkunftssprachliche Ausgangssituation von Zuwandererkindern angeknüpft wird, indem sie z B ihre Erstsprache im Unterricht neben der Zweitsprache benutzen und weiter ausbauen können Der Gegenbegriff ist Submersion (s dort) Glossar 227 Inhaltswort Lexikalischer Ausdruck mit reicher Semantik . Zu den Inhaltswörtern im Deutschen gehören Substantive, Vollverben und Adjektive (s auch Funktionswort) Input-Orientierung Ausrichtung von Bildungsprozessen an dem, was Lerner/ -innen für den Lernprozess verfügbar gemacht wird Bis 2004 waren Lehrpläne inputorientiert Festgelegt wurde, welche Inhalte unterrichtet werden sollten Seit 2004 gelten Bildungsstandards (s . dort); deren Ausrichtung ist die Output-Orientierung (s . dort) Interferenz Beeinflussung einer Sprache durch Strukturen einer anderen Sprache bei mehrsprachigen Personen bzw in der Sprachlernsituation Internationales Phonetisches Alphabet (IPA) Das Internationale Phonetische Alphabet ist eine Lautschrift, die in der Sprachwissenschaft, im Fremdsprachenunterricht und in der Wörterbuchschreibung weit verbreitet ist . Sie wird von der Internationalen Phonetischen Gesellschaft festgelegt und weiterentwickelt Die IPA-Tabellen sind im Internet und vielen Lehrbüchern (hier zitiert Eisenberg 2006: 77, Pompino-Marschall 1995 zum Ausklappen) zu finden Intonation Sprechmelodie von Wortgruppen und Sätzen Knacklaut [ ʔ ] Spezielle Bezeichnung für den glottalen Plosiv (s . Plosiv) Glottal meint, dass der Verschluss im Kehlkopf gebildet wird . Der Knacklaut kommt nicht in allen Sprachen vor, im Deutschen ist er verantwortlich für den ‚harten‘ Anlaut von Wörtern wie alt [/ alt], Öl [/ Pl] . Kognitiv-akademische Sprachfähigkeit (CALP) Begriff aus der Sprachlernforschung, der die Fähigkeit bezeichnet, außerhalb des konkreten Kontextes über abstrakte Themen mündlich oder schriftlich zu kommunizieren Da hierbei keine nonverbalen Hilfen (wie Zeigen oder Darstellen) möglich sind, erfordert diese Fähigkeit ein sehr ausgebautes sprachliches Wissen Der entgegengesetzte Begriff ist die basale interpersonelle Kommunikationsfähigkeit (s dort) Konsonant Laut, bei dem der Luftstrom ein Hindernis überwinden muss . Im Schulunterricht werden Konsonanten auch Mitlaute genannt Konzeptionelle Mündlichkeit/ konzeptionelle Schriftlichkeit Die Unterscheidung zwischen ‚konzeptioneller Mündlichkeit‘ und ‚konzeptioneller Schriftlichkeit‘ beruht auf der Beobachtung, dass gesprochene und geschriebene Texte sich nicht nur medial voneinander unterscheiden, sondern auch in bestimmten sprachlichen Strukturen; ein aufgeschriebenes Gespräch bleibt konzeptionell mündlich, ein vorgelesener Roman bleibt konzeptionell schriftlich Langzeitgedächtnis Speicher, in dem Wissenselemente dauerhaft aufbewahrt werden Während des Schriftspracherwerbs wird im Langzeitgedächtnis ein orthographisches Lexikon angelegt, auf das beim Schreiben und 228 Glossar Lesen zugegriffen werden kann Bei Kindern und Jugendlichen mit einer umschriebenen Lese-/ Rechtschreibstörung (s . dort) sind Zugriffsgeschwindigkeit und Zugriffsgenauigkeit auf die Inhalte des Langzeitgedächtnisses beeinträchtigt Legasthenie (s umschriebene Lese-/ Rechtschreibstörungen) Lesefähigkeit Die Kompetenz, Geschriebenes zu dekodieren (s dort), d h Bedeutung zuzuweisen Lesefertigkeit Die Kompetenz, Geschriebenes zu rekodieren (s dort), d h es in phonologische Repräsentationen umzuwandeln, s auch fluency Lesekompetenz Fähigkeit, geschriebene Wörter, Sätze und Texte zu erfassen . PISA (s dort) liegt ein weiterer Begriff von Lesekompetenz zugrunde Er entspricht etwa dem Begriff der literacy (s dort) Lesetest Instrument, mit dem die Leseleistung gemessen wird Festgestellt wird i d R die Leistung in Relation zu einer Vergleichsgruppe (Altersnorm), manchmal auch die Leistung in Relation zum Schwierigkeitsgrad der Testaufgaben (individuelles Fehlerprofil) Lexik Wortschatz einer Sprache Literacy Fähigkeit, Geschriebenes umfassend für die eigene Lebensgestaltung und die aktive Partizipation an der Gesellschaft zu nutzen Literat Eigenschaft, die die Bandbreite der schriftkulturellen Durchdringung einer Sprache, von der individuellen Aneignung eines Schriftsystems bis zur kulturellen und sozialen Teilhabe an einer schriftbasierten Gesellschaft beschreibt Der entgegengesetzte Begriff, der die mündliche Dimension der Sprachgemeinschaft betrifft, ist orat L-Kurve Modell für die Dynamik von Lernverläufen, bei denen bereits Erreichtes verschwindet und nicht wieder auftritt . Typisch sind L-Kurven in Lernprozessen, bei denen die Kinder in ihrem Entdeckungsprozess durch fehlerhafte Anweisungen von außen gestört werden Logographie Schriftsystem, bei dem einzelne Zeichen für ein ganzes Wort stehen Im Schrifterwerb wird eine Erwerbsphase als logographisch bezeichnet, in der die Kinder die Schriftbilder einzelner bekannter Wörter gespeichert haben und aufschreiben bzw erkennen können, bevor sie über alphabetische Schreibstrategien verfügen Mehrsprachigkeit Die Eigenschaft, über mehr als eine Sprache zu verfügen Der Begriff wird sowohl auf Personen als auf Gesellschaften bezogen . Dabei sind nicht nur Nationalsprachen (Deutsch, Englisch, Japanisch) gemeint, sondern auch Dialekte (z B Schweizerdeutsch, Hochdeutsch) Durch unser Bildungssystem, in der mindestens eine Fremdsprache verpflichtend ist, sind heutzutage die meisten Menschen in Deutschland mehrsprachig, auch wenn die Fremdsprachenkenntnisse nur wenig ausgebaut sind Mehrsprachigkeit ist weltweit gegenüber der Einsprachigkeit der Regelfall Glossar 229 Mentales Lexikon Wortschatz im Kopf Das mentale Lexikon umfasst alle lexikalischen Einheiten, über die ein Sprecher aktiv und passiv verfügt Merkwort Wort, dessen Schreibung nicht durch Regeln/ Prinzipien abgeleitet werden kann Es muss als ganzes eingeprägt werden Morphem Kleinste bedeutungstragende Einheit; die Sprachwissenschaft unterscheidet dabei lexikalische Morpheme (tisch, blau, trag-) mit einer lexikalischen Bedeutung und grammatische Morpheme mit einer grammatischen Bedeutung, wie etwa t in sag-t-e, das die Vergangenheit des Verbs anzeigt, und e, das hier 1 / 3 Person Singular anzeigt Morphemkonstanz s morphologisches Prinzip Morphologie Die Morphologie ist die Lehre von der Struktur der Wörter Typischerweise unterscheidet man zwischen der Flexionsmorphologie, traditionell die Deklination und die Konjugation, und der Wortbildungsmorphologie, also die Bildung neuer Wörter zum Beispiel durch die Kombination von selbstständigen mit unselbstständigen Elementen wie schaft, ler, in in Wissen-schaft-ler-in oder durch die Kombination selbstständiger Wörter wie Haus-tür, Fenster-bank, Reihen-end-haus usw . Morphologisches Prinzip Gesetzmäßigkeit, die die Beziehung zwischen Wortbausteinen und der Schreibung organisiert . Das morphologische Prinzip sorgt dafür, dass Wortbausteine in allen Umgebungen so ähnlich wie möglich geschrieben werden Wir schreiben <Tag> und nicht <Tak> wegen <Tage>, <hält> und nicht <helt> wegen <halten> Nominalgruppe Eine klassische Nominalgruppe besteht aus wenigstens zwei nach Kasus flektierten Ausdrücken, also zum Beispiel aus einem Artikel und einem Substantiv (die Fliegen) oder aus einem Artikel und einem als Kern fungierenden Adjektiv (das Schwarze) Der Kern der Nominalgruppe ist besonders gut daran erkennbar, dass er selbst durch ein Attribut (s dort) erweiterbar ist (die schwarzen Fliegen, das kleine Schwarze) Objektive Fehlertypologie Klassifikation von Fehlern auf der Basis der Zielgröße, die erreicht werden soll Der Gegenbegriff ist subjektive Fehlertypologie (s dort) Objektivität (Testtheorie) Qualitätskriterium für standardisierte Tests, demzufolge die Ergebnisse unabhängig vom Beobachter erbracht sein müssen Ontogenetisch auf die Entwicklung eines Lebewesens bzw einer Person bezogen im Unterschied z B zur soziogenetischen Entwicklung einer Gesellschaft Orat s literat Output-Orientierung Ausrichtung von Bildungsprozessen an dem, was Lerner/ -innen nach dem Lernprozess können sollen Die seit 2004 geltenden Bildungsstandards (s dort) arbeiten outputorientiert Festgelegt sind die 230 Glossar nach der Beschulung erwarteten Kompetenzen der Schüler/ innen . Der Gegenbegriff zur Output-Orientierung ist Input-Orientierung (s . dort) Phonem Kleinste bedeutungsunterscheidende Einheit in der Lautung (s auch Graphem) Man operiert hier mit sogenannten Minimalpaaren: [halt] - [kalt] sind zwei unterschiedliche Wörter im Deutschen, sie unterscheiden sich nur im Anlaut voneinander Daher sind / h/ und / k/ unterschiedliche Phoneme im heutigen Deutsch Phoneme kennzeichnet man mit Schrägstrichen; wenn man sich für den reinen Laut interessiert, schreibt man eckige Klammern Phonetischer Speicher Komponente der Phonologischen Schleife (s dort), die die Aufgabe hat, Material bis zu seiner Weiterverarbeitung zu speichern Gestützt wird die phonetische Speicherkapazität vom artikulatorischen Kontrollprozess (s dort) Phonographisches Prinzip Gesetzmäßigkeit, die die Beziehung zwischen der Lautung und Buchstaben organisiert Die Anwendung des phonographischen Prinzips führt nicht zur Zielschreibung, sondern zu einer rein lautbasierten Schreibung Phonologie Lautlehre Es werden verschiedene Ebenen unterschieden, die auch in dem vorliegenden Buch sichtbar werden: die segmentale Phonologie (die Laute und Phoneme), die suprasegmentale Phonologie (Akzente und Füße wie zum Beispiel der Trochäus (s . dort)), die Silbenphonologie (der Zusammenschluss von Lauten zu größeren Einheiten) und die Intonation Phonologische Schleife Komponente des Arbeitsgedächtnisses (s dort), die aus zwei Subkomponenten besteht: dem phonetischen Speicher (s . dort) und dem artikulatorischen Kontrollprozess (s dort) PISA (Programme for International Student Assessment) Seit 2000 in dreijährigem Abstand durchgeführte, internationale Schulleistungsuntersuchungen zur Feststellung der Kompetenzen 15-Jähriger Plosiv Verschlusslaut Laut, bei dem ein Verschluss gebildet wird, der dann hörbar gesprengt wird; werden die Lippen verschlossen und hörbar gesprengt, erhält man die Plosive [b] oder [p] Verschlusslaute sind Konsonanten (s dort) Sie können stimmhaft [b] oder stimmlos [p] sein Als stimmlose Varianten sind sie akustisch gesehen reine Geräusche, als stimmhafte Varianten sind sie Geräusche mit Ton Prosodisch phonologische Eigenschaften, die sich auf größere lautliche Einheiten wie die Silbe oder das Wort beziehen, v a Silbenstruktur, Silbenschnitt (s dort), Intonation (s dort) und Akzent (s dort) Prozentrang (Testtheorie) Der Prozentrang gibt die Position an, die eine Testperson in einer skalierten Stichprobe einnimmt . Erreicht jemand z B bei der Körpergröße den Prozentrang 40, sind 60 % größer und 40 % ebenso groß oder kleiner als er Glossar 231 Rechtschreibstrategie Auf bestimmten Annahmen über die Rechtschreibung basierende Schreibpraxis Ein Schüler/ eine Schülerin, der/ die der Annahme folgt, jedem Laut entspreche ein Buchstabe und umgekehrt, folgt beim Schreiben der alphabetischen Strategie Manche seiner/ ihrer Schreibungen entsprechen der Zielstruktur (bunt, lila), die meisten nicht (unt, liba (für lieber)) Um zur Zielschreibung zu gelangen, müssen neue Annahmen entwickelt werden, die zu neuen Strategien beim Schreiben führen Rechtschreibtest Instrument, mit dem die Rechtschreibleistung gemessen wird . Festgestellt wird i d R die Leistung in Relation zu einer Vergleichsgruppe (Altersnorm), manchmal auch die Leistung in Relation zum Schwierigkeitsgrad der Testaufgaben (individuelles Fehlerprofil) Reduktionssilbe Silbe mit einem Reduktionsvokal (s dort) als Kern (z B [oz], [leb]) In manchen Fällen können Konsonanten silbisch werden, typischerweise n, l, m (Beispiel: [Studl]) . Reduktionssilben prägen den Rhythmus und die Informationsstruktur mehrsilbiger Wörter Die wichtigste rhythmische Wortform des Deutschen ist der Trochäus (s . dort), bestehend aus einer Voll-/ Hauptsilbe und einer Reduktionssilbe (s . dort) Die Vollsilbe trägt die lexikalische Information, die Reduktionssilbe die grammatische Information Reduktionsvokal Grundsätzlich unbetonbarer Vokal . Im Deutschen kommen das Schwa [] (s dort) wie in Wiese und das [] wie in Butter vor Regelwort Wort, dessen Schreibung durch die regelgerechte Anwendung der phonographischen, silbischen, morphologischen und syntaktischen Prinzipien (s dort) herleitbar ist Die Schreibung von Regelwörtern kann durch Regelwissen und -anwendung erworben werden; sie gehören deshalb nicht in eine Lernkartei, die den Merkwörtern (s dort) vorbehalten sein sollte Rekodieren Umsetzung geschriebener Sprache in gesprochene Sprache Reliabilität (Testtheorie) Qualitätskriterium für standardisierte Tests, demzufolge die Ergebnisse bei Testwiederholung gleich sein müssen Repräsentation Verhältnis der Schriftstruktur zur gesprochenen Sprache; die gesprochene und geschriebene Sprache folgen zwar jeweils eigenen Gesetzmäßigkeiten, sind aber regelhaft aufeinander bezogen Z B repräsentiert das <e> in einer Vollsilbe den Vollvokal [e] oder [E], in einer offenen Reduktionssilbe den Schwavokal [] (s . dort) . Das <h> in Huhn repräsentiert dagegen keinen Laut, sondern die Gespanntheit des vorausgehenden Vokals (s auch gespannter Vokal) Ressourcenorientierung Perspektive auf Rechtschreib- und Leseleistungen, die sich darauf konzentriert, was ein Kind bereits kann Der Gegenbegriff ist Defizitorientierung (s dort) 232 Glossar Satzinterne Großschreibung Satzintern werden im Deutschen Kerne von Nominalgruppen großgeschrieben (s Kapitel 2) Davon zu unterscheiden ist die satzinitiale Großschreibung, das Setzen eines Großbuchstabens am Satzanfang Schärfungsschreibung Doppelkonsonantenschreibung zur Kennzeichnung des scharfen Silbenschnitts (s dort) in trochäischen (s dort) Wörtern, wenn phonologisch ein Silbengelenk zugrundeliegt, z B Roller, Puppe Schriftsystem Summe der Einheiten einer Schrift und der Regeln, wie diese Einheiten verwendet werden können . Zum deutschen Schriftsystem gehören beispielsweise die Buchstaben ebenso wie ihre Interpretation als Grapheme, die Satzschreibung und die Interpunktion . Das deutsche Schriftsystem gehört wie z B das türkische, russische oder griechische zu den Alphabetschriften Das Japanische dagegen ist eine Silbenschrift: die kleinsten Einheiten repräsentieren Silben . Das Chinesische hat ein überwiegend logographisches Schriftsystem (s dort) ausgebildet: Die kleinsten Einheiten repräsentieren ganze Wörter Jede Sprache besitzt ein eigenes Schriftsystem, daneben gibt es aber auch solche, die sprachenunabhängig verwendet werden wie das in diesem Band verwendete IPA (s dort) oder die internationale Blindenschrift Schwa [ ə ] Einer der beiden Reduktionsvokale (s . dort) Semantik Bedeutungslehre Sichtwort Wort, das sich Schüler/ innen durch mehrfache Draufsicht aneignen sollen . Gut geeignet ist diese Methode für Merkwörter (s . dort), nicht geeignet ist sie für Regelwörter (s dort) Silbe Die Silbe ist eine Einheit zwischen dem Phonem/ dem Graphem und dem Wort Als solche ist sie medienunabhängig, es ist also möglich, sowohl von einer Sprechsilbe als auch von einer Schreibsilbe zu sprechen Das wichtigste an einer Silbe ist ihr Kern In Schreibsilben steht im Kern immer ein Vokalbuchstabe <Mantel> . In Sprechsilben kann der Kern ein Vokal sein [man.tl]; ist - wie häufig in Reduktionssilben - kein Vokal vorhanden, bildet das stimmhafteste Element den Kern [man.tl] Silbengelenk, auch ambisilbischer Konsonant Verbindung von Silben, bei denen sich nur ein Konsonant (s dort) zwischen einem ungespannten, kurzen Vollvokal (s dort) und einem Reduktionsvokal (s dort) befindet Der zwischen den Vokalen stehende Konsonant bildet dann ein Gelenk zwischen der Vollsilbe (s dort) und der Reduktionssilbe (s . dort) . Die Schrift repräsentiert Silbengelenke mit der Verdopplung des Konsonantenbuchstabens (Puppe, Betten) (s auch Silbenschnitt, Schärfungsschreibung) Silbeninitiales h stummes h zu Kennzeichnung der Silbenfuge bei zwei aufeinandertreffenden Silbenkernen, z B sehen Silbenschnitt (sanft vs scharf) Prosodische Eigenschaft mehrsilbiger Wörter; beim sanften Schnitt (beten) ist der auf den Vollvokal (s dort) folgende Konsonant (s dort) lose angeschlossen . Der Vokal kann zu Ende artiku- Glossar 233 liert werden und ist deshalb lang und gespannt Beim scharfen Schnitt (Betten, Rente) wird der Vollvokal dagegen durch den Folgekonsonanten scharf abgeschnitten Er wird kurz und ungespannt artikuliert In der Schrift wird der scharfe Silbenschnitt mit mindestens zwei Konsonantenbuchstaben zwischen den Vokalen angezeigt . Ist nur ein Konsonant hörbar, muss der korrespondierende Konsonantenbuchstabe doppelt repräsentiert werden (s auch Silbengelenk, Schärfungsschreibung) Silbisches Prinzip Gesetzmäßigkeit, die die Beziehung zwischen den Silbenstrukturen und der Schreibung organisiert Das silbische Prinzip sorgt dafür, dass Silbenkerne identifiziert werden können So weist z B . jede Reduktionssilbe ein <e> im Kern auf Auch die Schärfungsschreibung (s . dort) und das silbeninitiale h (s dort) sind ausschließlich silbisch zu verstehen Sonorant Laut, bei dessen Bildung kein Geräusch entsteht und der deshalb mit Stimmanteil produziert werden muss Sonoranten sind alle Vokale und die folgenden Konsonanten: [l], [m], [n], [] und [N] Stimmhaft/ stimmlos Konsonanten (s dort) werden danach unterschieden, ob sie stimmhafte und stimmlose Varianten aufweisen Bei der stimmhaften Variante ist die Stimme bei der Artikulation beteiligt, bei der stimmlosen nicht Die Sonoranten (s dort) weisen nur eine stimmhafte Variante auf Frikative und Plosive (s dort) können wegen ihres Geräuschanteils auch stimmlos produziert werden . So ist zum Beispiel [p] stimmlos, ein [b] stimmhaft Subjektive Fehlertypologie Klassifikation von Fehlern auf der Basis angenommener Ursachen, die zu einem Fehler geführt haben Der Gegenbegriff ist objektive Fehlertypologie (s dort) Submersion Bildungskonzept, bei dem die Herkunftssprache von Zuwandererkindern weitgehend ignoriert und nicht weiter gefördert wird . Die Kinder müssen sich in einsprachigen Lernumgebungen an die fremde Unterrichtssprache anpassen In Deutschland ist diese Form der Regelfall Der Gegenbegriff ist Immersion (s dort) Syntaktisches Prinzip Gesetzmäßigkeit, die dafür sorgt, dass die syntaktische Funktion von geschriebenen Wörtern erkennbar ist Ein wichtiges syntaktisches Prinzip ist die Kennzeichnung von Kernen von Nominalgruppen (s dort) mit Großbuchstaben Außerdem gehören die Regeln der Getrennt- und Zusammenschreibung sowie große Teile der Interpunktion zum syntaktischen Prinzip Syntax Satzlehre Top-down Prozess, der von oben nach unten, d h vom Ganzen hin zu den kleineren Bestandteilen verläuft; im Leseprozess z B vom Text oder Satz zu den Wörtern oder Buchstaben Der entgegengesetzte Prozess wird bottom-up genannt (s dort) 234 Glossar Trochäus Zweihebiger Fuß (s dort), bei dem die erste Silbe betont und die zweite unbetont, im Deutschen sogar typischerweise unbetonbar ist, also einen Reduktionsvokal (s dort) enthält Typische Trochäen sind einen, schönen, Himmel, über, einer, bunten, Wiese . U-Kurve Modell für die Dynamik von Lernverläufen, bei denen bereits Erreichtes verschwindet, um zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufzutreten Typisch sind U-Kurven in Lernprozessen, in denen in der ersten Stufe das Auswendiglernen zu korrekten Formen führt, die in der zweiten Stufe durch Regelanwendung irregulär werden . So kann ein Kind z B das Wort <Hund> zu Beginn seines Schreiberwerbs korrekt schreiben (es hat sich die Buchstabenfolge eingeprägt) Wenn es lernt, dass jedem Buchstaben ein Laut zugeordnet werden muss, schreibt es <hunt> . In einem dritten Schritt lernt es, die Auslautverhärtung (s . dort) nicht zu verschriften, und schreibt <hund> Die Ermittlung der Großschreibung ist dann ein weiterer Lernprozess Umschriebene Lese-/ Rechtschreibstörungen Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben, die durch Beeinträchtigungen der Werkzeuge für die Sprachverarbeitung (Arbeitsgedächtnis, Langzeitgedächtnis, s dort) bedingt sind Bei umschriebenen Lese-/ Rechtschreibstörungen spricht man auch von Legasthenie Ungespannter Vokal phonetisches Merkmal, bei dem ein Vollvokal mit einer geringen Muskelspannung artikuliert wird . In betonten Silben sind ungespannte Vokale im Deutschen kurz . Beispiele: [hUnt] (Hund), [vEs.tn] (Westen), [/ Ofn] (offen) (s auch gespannter Vokal) Validität (Testtheorie) Qualitätskriterium für standardisierte Tests, demzufolge die Testung garantieren muss, dass der Test tatsächlich das misst, was er zu messen vorgibt Vokal Laut, bei dem der Luftstrom ungehindert ausströmen kann . Im Schulunterricht werden Vokale auch Selbstlaute genannt Vollsilbe Betonte Silbe in einem Wort (Kante, geben) Vollvokal betonbarer Vokal (s dort) in Vollsilben (s . dort) Unterschieden werden gespannte und ungespannte Vollvokale Das Deutsche weist 7 gespannte und 7 ungespannte Vollvokale auf: Gespannte Vollvokale: [A] <Saat>, [e] <Hefe>, [i] <Flieder>, [o] <Mode>, [u] <klug>, [P] <Pöbel>, [y] <Düse> Ungespannte Vollvokale: [a] <Mandel>, [E] <Hefte>, [I] <Flinte>, [O] <Sonde>, [U] <Lunte>, [{] <Plörre>, [Y] <fünf> Wortstamm der Teil eines Inhaltswortes (s dort), an den Flexionsendungen angehängt werden Der Wortstamm kann im Deutschen auch durch Umlautung verändert werden In den Wörtern Haus, Hauses, Häusern Glossar 235 ist Hausbzw Häusjeweils der Wortstamm . Wortstämme können auch aus mehreren Morphemen (s dort) bestehen, z B himmelblau. Wortvorform Beim buchstabenweisen Lesen von Wörtern entstehende Lautfolgen, die erst durch eine gezielte Umwandlung in eine phonologische Zielstruktur zu einer Wortform werden Eine typische Wortvorform des Ausdrucks gehen ist [g/ eh/ en], die Zielform ist [ge.n] oder [gen] Ob Kinder beim Lesen Wortvorformen produzieren, ist wesentlich vom Unterricht abhängig Zone der nächsten Entwicklung Von Wygotski eingeführtes Modell der Lernprogression, demzufolge Kinder Wissen am nachhaltigsten aufbauen, wenn das Lernangebot den Entwicklungsschritt ansteuert, der als nächstes erreicht werden kann Zweitsprache eine mit zeitlichem Abstand zur Erstsprache gelernte, weitere Sprache Der Begriff wird im Unterschied zu Fremdsprache (s dort) meist für außerschulisch erworbene Sprachen in authentischen Sprachumgebungen verwendet Bibliographie Aitchison, Jean (1997): Wörter im Kopf Eine Einführung in das mentale Lexikon Aus dem Englischen von Martina Wiese . 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Deutlich wird dabei: Mit den richtigen Lernangeboten erwerben Kinder die Schriftsprache ähnlich wie die Muttersprache - das Lesen- und Schreibenlernen ähnelt dann dem Sprachen lernen. Dass der Schrifterwerb nicht immer problemlos verläuft, wissen wir nicht erst seit PISA. Viele Lehrer/ innen und Eltern sind unsicher, wie sie mit Fehlern umgehen sollen. Das Buch zeigt Methoden und Wege, wie wir die Kinder beim Schriftspracherwerb beobachten und fördern können und welche typischen Stolperfallen auftauchen. Eine besondere Herausforderung stellt der Schriftspracherwerb für die Kinder dar, für die Deutsch nicht die Muttersprache ist. In einem eigenen Kapitel erklären die Autorinnen, was Lehrer/ innen über andere Sprachen wissen sollten, um diesen Schüler/ innen beim Lesen- und Schreibenlernen des Deutschen helfen zu können. www.francke.de Bredel · Fuhrhop · Noack Wie Kinder lesen und schreiben lernen Wie Kinder lesen und schreiben lernen Ursula Bredel · Nanna Fuhrhop · Christina Noack