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Psychiatrie im Ersten Weltkrieg

2021
978-3-7398-8174-4
UVK Verlag 
Thomas Becker
Heiner Fangerau
Peter Fassl
Hans-Georg Hofer
Markwart Herzog

Die Heimatpflege des Bezirks Schwaben, die Schwabenakademie Irsee und das Bildungswerk des Bayerischen Bezirketags führten zusammen mit der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie II der Universität Ulm im Jahr 2016 eine Tagung zum Thema »Psychiatrie im Ersten Weltkrieg« durch. Der Bezirk Schwaben errichtete im Jahr 1849 im ehemaligen Kloster Irsee eine psychiatrische Heil- und Pflegeanstalt. Sie wurde später erweitert, ihre Patientenakten sind erhalten. Aus der Zeit des Ersten Weltkriegs sind dort über 100 psychisch kranke Soldaten nachgewiesen. Die internationale Tagung untersuchte, wie in der psychiatrischen Praxis mit den psychisch traumatisierten Soldaten in Deutschland, Österreich, Frankreich, England und Italien umgegangen wurde. Nach dem deutschen Heeressanitätsbericht wurden 613.047 Soldaten wegen Nervenleiden behandelt, davon 313.000 neurologisch Traumatisierte. Die neue Waffentechnik und der Stellungskrieg hatten die Soldaten vorher nicht bekannten, lang andauernden Belastungen ausgesetzt, die ihre Opfer forderten. Zum Gesamtkomplex der Kriegspsychiatrie gehört auch das Hungersterben in den Heil- und Pflegeanstalten. Die Tagung fragte auch nach dem heutigen Stand der Forschung bezüglich psychischer Krankheitssymptome in Folge von Kriegsereignissen.

Thomas Becker, Heiner Fangerau, Peter Fassl, Hans-Georg Hofer (Hg.) Psychiatrie im Ersten Weltkrieg 2. Auflage IRSEER SCHRIFTEN Studien zur Wirtschafts-, Kultur- und Mentalitätsgeschichte N.F. Band 12 Herausgegeben von Markwart Herzog und Sylvia Heudecker Schwabenakademie Irsee Thomas Becker, Heiner Fangerau, Peter Fassl, Hans-Georg Hofer (Hg.) Psychiatrie im Ersten Weltkrieg 2., korrigierte Auflage UVK Verlag München Einbandmotiv: „Die durch Granatfeuer verwüstete Straße bei Fort Souville im Süden des Forts Douamont (26. Juli 1916)“, aus: Deutsches Reich/ Kriegs-, Bild- und Filmamt (Hrsg.), Der Weltkrieg im Bild. Bd. 2. Frontaufnahmen aus den Archiven der Entente, München 1928, 163. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. 1. Auflage 2018 2., korrigierte Auflage 2021 © UVK Verlag 2021 - ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Einbandgestaltung: Susanne Fuellhaas, Konstanz Satz: Textwerkstatt Werner Veith & Ines Mergenhagen, München CPI books GmbH, Leck Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de ISSN 1619-3113 ISBN 978-3-7398-3174-9 (Print) ISBN 978-3-7398-8174-4 (ePDF) Inhalt Zur Einführung ....................................................................................................13 Ideengeschichte der Kriegspsychiatrie im Ersten Weltkrieg Ralf Seidel Weltkrieg und Moderne. Die nervenärztliche Praxis und der Anspruch der Psychiatrie ...................................................................................................21 1. Schwache Nerven ..............................................................................................22 2. Regime der Seelen .............................................................................................24 3. Experten im Krieg .............................................................................................25 4. Vom Sachverständigen zum Erzieher .................................................................30 Philipp Rauh Der Münchener Kriegskongress der Psychiater und Neurologen vom September 1916 - Ränkespiele, Inszenierungen und Kontroversen........43 1. Einleitung .........................................................................................................43 2. Hermann Oppenheims Konzept der traumatischen Neurose und seine Gegner ..............................................................................................................45 3. Die gemeinsame Kriegstagung des „Deutschen Vereins für Psychiatrie“ und der „Gesellschaft Deutscher Nervenärzte“ ..........................................................48 4. Resümee............................................................................................................60 Inhalt 6 Julia B. Köhne Ästhetisierung des Unbewussten. Camillo Negros neuropathologische Kinematographie des Kriegsreenactments (1918).......................................67 1. (Kriegs-)Hysterie und Kinematographie ............................................................68 2. Phänomen Kriegsreenactment - den Krieg im Symptom speichern und verlängern .........................................................................................................72 3. War in Loops: Negros Kinematographie des Kriegsreenactments - Grabenkämpfe und arc de cercle auf dem Matratzenlager ..................................76 4. Schuldgefühle und Tätersymptome? ..................................................................95 5. Resümee............................................................................................................98 Psychiatrische Behandlung in Theorie und Praxis in den Anstalten der Mittelmächte im Krieg Gundula Gahlen Zwei-Klassen-Medizin? Die ärztliche Sicht auf psychisch versehrte Offiziere in Deutschland im Ersten Weltkrieg .............................................107 1. Einleitung .......................................................................................................108 2. Zahl der Kriegsneurotiker................................................................................109 3. Diagnosen .......................................................................................................111 4. Behandlungsalltag und Therapien ...................................................................115 5. Resümee..........................................................................................................120 Maria Hermes-Wladarsch Wie der Krieg die Menschen verändert. Notizen zur Psychiatrie zwischen 1914 und 1918 ...............................................................................127 1. Prolegomena: Das Bremer St. Jürgen-Asyl im Ersten Weltkrieg .......................128 2. Krank sein im Krieg ........................................................................................129 3. Der Krieg verändert die Psychiatrie .................................................................135 4. Deutungen des Krieges ....................................................................................139 5. Der Krieg verändert die Menschen ..................................................................140 Inhalt 7 Christoph Bartz-Hisgen Die kriegswirtschaftliche Bedeutung soldatischer Psychiatriepatienten im Ersten Weltkrieg. Die militärärztliche Begutachtung am Beobachtungslazarett an der Universitätsklinik Heidelberg .....................145 1. Einleitung .......................................................................................................146 2. Das badische Lazarettwesen .............................................................................148 3. Auswertung der Krankenakten ........................................................................150 4. Resümee..........................................................................................................159 Felicitas Söhner Arbeit in der Psychiatrie im Ersten Weltkrieg - zwischen Therapie und Ökonomie .................................................................................................163 1. Arbeit und Institution Psychiatrie....................................................................164 2. Historische Entwicklungslinien .......................................................................166 3. Bayerisch-schwäbische Psychiatrie im Vorfeld des Ersten Weltkrieges ..............169 4. Arbeit im Anstaltsalltag ...................................................................................170 5. Arbeit, Lohn und Selbstwert............................................................................178 6. Arbeitstherapie als moralische und physische Behandlung ...............................179 Psychiatrische Behandlung in Theorie und Praxis in den Anstalten der Entente-Staaten im Krieg Marie Derrien A New Role for Asylums? Soldiers’ experiences of institutionalization during World War I in France ........................................................................187 1. Introduction....................................................................................................188 2. Asylums, a relegation place for soldiers with incurable diseases? .......................188 3. Measuring the impact of war on institutionalization ........................................190 4. Did the context of war make society more tolerant towards madness? ..............192 Inhalt 8 Christine Van Everbroeck Army, Society and War Neuroses in First World War Belgium ................197 1. Introduction....................................................................................................198 2. The army ........................................................................................................198 3. Belgium at war ................................................................................................200 4. Facing war neuroses and coming to terms with them .......................................200 5. How did military authorities consider war neuroses? ........................................201 6. How did Belgian doctors consider war neuroses? .............................................202 7. How did Belgian doctors treat war neuroses? ...................................................204 8. The network of Belgian psychiatric institutions ...............................................204 9. The return to Belgium after the war ................................................................205 10. No public debate...........................................................................................207 Vinzia Fiorino First World War Neuroses in Italy. Emergency Management, Therapies and Some Reflections on Male Hysteria...................................211 1. Introduction....................................................................................................212 2. Dealing with the soldiers traumatized at the front............................................213 3. The theoretical models of war psychiatry .........................................................215 4. Therapies in use ..............................................................................................218 5. A case study: the hysterical traumatized soldier ................................................220 Stefano Orazi Marinesoldaten in der Irrenanstalt von Ancona im Ersten Weltkrieg ......227 1. Geisteskrankheiten in Italien zu Beginn des Ersten Weltkriegs.........................227 2. Geisteskrankheit in den Militärkrankenhäusern...............................................229 3. Geisteskrankheit in der italienischen Gesetzgebung Anfang des 20. Jahrhunderts..............................................................................................232 4. Krieg und Geisteskrankheit .............................................................................233 5. Und die Heilungsdauer? ..................................................................................237 6. Resümee..........................................................................................................241 Inhalt 9 Paolo Francesco Peloso/ Gabriella Molino Der Erste Weltkrieg und die Kriegsneurosen in der italienischen psychiatrischen Fachpresse 1914-1919 .....................................................245 1. Prolog .............................................................................................................247 2. Der Krieg vor dem Krieg .................................................................................247 3. „Die Pflichten der italienischen Ärzte in der Gegenwart“ .................................252 4. Psychopathologie des Krieges...........................................................................254 5. Die Debatte über die Ätiopathogenese psychiatrischer Erkrankungen ..............257 Psychiatrische Praxis in Deutschland und Großbritannien - ein Vergleich Andrea Gräfin von Hohenthal Psychologen in der Kriegspsychiatrie und die Aussagekraft von Krankenakten...................................................................................................267 1. Vergleich der britischen und deutschen Psychologie ........................................267 2. Zum Aussagewert von Krankenakten...............................................................275 3. Resümee..........................................................................................................281 Stefanie Linden “Terror psychoses”. The other face of war trauma.....................................287 1. Introduction....................................................................................................288 2. Kleist’s concept of “terror psychoses” (Schreckpsychosen)................................290 3. From trauma to psychosis - Kleist’s mechanistic account.................................290 4. Kleist’s classification of terror psychoses...........................................................291 5. Dissociation and psychosis: a coping strategy? .................................................299 6. Psychotic reactions to adversity: paranoid and hypochondriacal states..............300 7. Terror psychosis in context - Other (historical) concepts of acute reactions to trauma ........................................................................................................301 8. The historical and modern understanding of reactive psychosis .......................303 Inhalt 10 Anstalten im Krieg - Mikrostudien Dave Bandke Zwischen Finden und Erfinden. Eine Analyse der Kriegsneurosen an der Nervenheilanstalt am Rosenhügel in Wien.....................................309 1. Einleitung und Fragestellung ...........................................................................310 2. Kurzer Überblick zur Geschichte der Nervenheilanstalt am Rosenhügel 1900-1918......................................................................................................311 3. Die Krankenakten ...........................................................................................312 4. Darstellung der Diagnosen anhand von Patientenbeispielen ............................313 5. Statistische Auswertungen ...............................................................................321 6. Resümee..........................................................................................................326 Uta Kanis-Seyfried Vom „Kriegshelden“ zum „Kriegszitterer“. Traumatisierte Soldaten des Ersten Weltkriegs in den ehemaligen Heil- und Pflegeanstalten Ravensburg-Weissenau (Württemberg) und Reichenau (Baden) ...........331 1. Prolog .............................................................................................................332 2. Kriegspropaganda und Männlichkeitsbild in den „Schallwellen“......................334 3. Württemberg: Die „Weissenau“ und das Reservelazarett ..................................336 4. Baden: Die „Reichenau“ und das Lazarett........................................................339 Petra Schweizer-Martinschek Die Behandlung von psychisch erkrankten Soldaten in der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee während des Ersten Weltkriegs ............351 1. Einleitung .......................................................................................................352 2. Zur Quellenlage ..............................................................................................352 3. Die Behandlung von psychisch erkrankten Soldaten in der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee während des Ersten Weltkriegs ........................353 4. Datenerhebung zu den behandelten Soldaten ..................................................354 5. Das Vereinslazarett Kaufbeuren II im Männerpavillon II der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren (1918/ 19) ................................................................359 6. Resümee..........................................................................................................362 Inhalt 11 Corinna Malek Die Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee und die Frage des Hungersterbens im Ersten Weltkrieg ...........................................................365 1. Einleitung .......................................................................................................366 2. Eine schwäbische Kleinstadt im Ersten Weltkrieg - Die städtische Lebensmittelversorgung ...................................................................................367 3. Versorgung der Vereinslazarette in Kaufbeuren ...............................................369 4. Hungersterben in der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee? .....................375 5. Ausgangslage vor dem Krieg ............................................................................375 6. Die Anstalt im Krieg - Versorgung der Patienten ............................................376 7. Ärztliche und pflegerische Betreuung...............................................................377 8. Nahrungsmittelversorgung ..............................................................................378 9. Resümee..........................................................................................................381 Erkenntnisse aus dem Krieg Stephanie Neuner Die Rückkehr in den Alltag. Zur sozioökonomischen und gesundheitlichen Situation psychisch Kriegsbeschädigter in der Zwischenkriegszeit..........................................................................................387 1. Prolog .............................................................................................................387 2. Die „Neurosenfrage“: Psychische Kriegsbeschädigung im politischen und fachwissenschaftlichen Diskurs nach 1918.......................................................389 3. Zur Arbeits- und Gesundheitssituation psychisch Kriegsbeschädigter ..............396 4. Resümee..........................................................................................................402 Maike Rotzoll Neue Taktik an der therapeutischen Front? Einige Anmerkungen zur Bedeutung des Ersten Weltkriegs für Behandlungskonzepte in der zivilen Psychiatrie.....................................................................................409 1. „Es lohnt sich immer noch, vom Kriege zu reden.“ - Einleitung ......................410 2. „Heroische Therapien“ im „Schlachtfeld des Lebens“ - vor dem Krieg, im Krieg, nach dem Krieg................................................................................411 Inhalt 12 3. „…wir Ärzte sind zum Helfen“. Therapien in psychiatrischen Lehrbüchern der 1920er Jahre ..............................................................................................414 4. Vom Dauerbad zur Arbeit. Ein Blick auf die therapeutische Praxis in Heidelberg nach dem Krieg .............................................................................418 Peter Steinkamp „Zweimal eingezogen“. Zum Schicksal psychisch kranker Teilnehmer des Ersten Weltkriegs bei der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg ............425 1. Das Schicksal von Gustav Z. ...........................................................................425 2. Der Einsatz psychisch versehrter Soldaten im Zweiten Weltkrieg.....................426 3. Quellenlage und Forschungsstand ...................................................................428 4. Entlassung aus dem Dienst ..............................................................................429 5. Suizid als letzter Ausweg ..................................................................................433 6. Psychisch kranke Soldaten ...............................................................................438 Autoren und Herausgeber..............................................................................445 Ortsregister ......................................................................................................447 Personenregister .............................................................................................453 Zur Einführung Thomas Becker, Heiner Fangerau, Peter Fassl, Hans-Georg Hofer 100 Jahre nach dem Ersten Weltkrieg blicken wir zurück auf ein Jahrhundert, das gekennzeichnet ist durch verschiedene, sich zum Teil scheinbar widersprechende soziale Prozesse. Nicht nur Medikalisierung und Demedikalisierung in verschiedensten Lebensbereichen gehören zu den Erscheinungsformen dieser Entwicklungen, die auch die Medizin betreffen. Neben der Individualisierung, Technisierung und der Entstehung einer so genannten „Risikogesellschaft“, die in der Medizin vor allem auf das „präventive Selbst“ zu setzen scheint (Lengwiler/ Madarasz 1 ), stehen auch eine Sozialisation und Kollektivierung in anderen Bereichen. Für diese hier nicht weiter zu konkretisierende Gemengelage aus konkurrierenden und konvergierenden Prozessen scheint der Erste Weltkrieg ein früher Kristallisationskeim gewesen zu sein. Bezogen auf den Phänomenbereich des Psychischen ist hier die Frage angelegt, wie „Psychisches aus Psychischem oder Erlebtem“ hervorgeht, welches individuelle Risiko für Alteration erblich prädisponiert ist oder wie materielles Erleben in das Gehirn eingreifen kann. Die Frage der posttraumatischen psychischen Veränderungen durchzieht das 20. Jahrhundert von der Nervosität bis zum Burnout, aber ohne dass eine direkte Linie zwischen so bezeichneten nosologischen Einheiten gezogen werden könnte. Mit der Auseinandersetzung um die Posttraumatische Belastungsstörung, die als so benannte Entität nach dem Vietnamkrieg eine erste Konjunktur hatte, verbinden sich zentrale kulturelle Debatten des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts. Es ist klar, dass bei einer solchen Zeitdiagnose das gesamte 20. Jahrhundert, vor allem auch mit dem Zweiten Weltkrieg und der Psychiatrie im Nationalsozialismus nicht nur in die Beschreibung einbezogen werden müssen, sondern als zentral für die weitere Entwicklung des Erlebens, Verstehens und des Umgangs mit psychischem Anderssein betrachtet werden muss. Die Literatur und die Debatten über die psychischen und Krankheitsfolgen des Holocaust schärfen beispielsweise auch das Krankheitsverstehen des Traumas in der Psychiatrie. Die Debatte ist zentral für die Konzeptgeschichte der Psychiatrie und reflektiert eine stärkere narrativ-diskursive Ausrichtung der Psychiatrie als Praxis und als Wissenschaft. Die historische Forschung zur Psychiatrie im Ersten Weltkrieg hat sich in den vergangenen Jahren diversifiziert. Zu Ansätzen, die rigorose Therapien in den Blick nahmen und Kontinuitäten zur nationalsozialistischen Militärpsychiatrie betonten (Riedesser/ Verderber 2 ), traten solche, die psychiatrisches Handeln unter den Bedingungen des modernen, industrialisierten Krieges charakterisierten und für eine stärkere Berücksichtigung von vergleichenden, transnationalen Perspektiven eintraten (Lerner/ Micale, 3 Winter, 4 Crouthamel/ Leese 5 ). Parallel dazu entstanden Arbeiten, 1 L ENGWILER / M ADARASZ , Präventionsgeschichte. 2 R IEDESSER / V ERDERBER , Maschinengewehre. 3 L ERNER / M ICALE , Traumatic pasts. Thomas Becker, Heiner Fangerau, Peter Fassl, Hans-Georg Hofer 14 die unter Einbezug von bislang nur wenig beachteten Quellencorpora wie Feldpostbriefen, Krankenakten und Gutachten das entstandene Bild weiter zu differenzieren suchten (Ulrich, 6 Neuner, 7 Prüll/ Rauh 8 ). Vor diesem Hintergrund ist für diesen Band eine Herangehensweise gewählt worden, die konkrete Exemplifizierung mit übergeordneten Fragestellungen, regionale Tiefenschärfe mit transnational-vergleichenden Perspektiven zu verbinden sucht: Unterschiede von Ort zu Ort, von Lazaretten zu bestehenden Heil- und Pflegeanstalten, in der Terminologie und zwischen veröffentlichter Expertise und der Praxis. Die Beiträge differenzieren und vertiefen neuere Forschungsergebnisse zur Psychiatrie im Umfeld des Ersten Weltkriegs. Sie gewähren neue Einblicke in die organisatorischen Strukturen, die für die Versorgung und Behandlung nervenkranker Soldaten bereitgehalten oder neu geschaffen wurden, arbeiten regionale und länderspezifische Besonderheiten psychiatrischer Einrichtungen heraus, zeichnen aber auch individuelle Schicksale von Soldaten zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg nach. Dabei stützen sich die Beiträge auf ein breites Spektrum von Quellen. Eine besondere Bedeutung kommt hierbei Krankenakten und Registerbüchern aus den untersuchten Einrichtungen zu, die, auch wenn sie an die spezifische Sicht des Arztes gebunden bleiben, patientengeschichtliche Perspektivierungen ermöglichen und die Situation in den Lazaretten und Anstalten in praxi schildern. Der Band versammelt Beiträge aus sechs Ländern (Deutschland, Frankreich, Österreich, Belgien, Großbritannien, Italien). Er möchte zu einer genaueren Kartierung psychiatrischer Versorgung im Ersten Weltkrieg beitragen, bekannte Themenfelder erneut aufsuchen, aber auch neue Forschungsfelder erschließen. Mit seinen Beiträgen zu Anstalten und Lazaretten in Baden-Baden, Günzburg, Heidelberg, Hornberg, Kaufbeuren-Irsee, Ravensburg-Weissenau und Reichenau hat der Band eine klare regionale Schwerpunktsetzung im südwestdeutschen Raum. Zugleich sucht er Bezugspunkte im europäischen Raum und bezieht dezentrale psychiatrische Einrichtungen in Ancona, Berlin, Bremen, Edinburgh (Craiglockhart), Dijon, Köln, Lyon, Grenoble und Marseille mit ein. Eine Besonderheit des Bandes besteht in seiner interdisziplinären Herangehensweise, die psychiatrische, medizinhistorische und geschichtswissenschaftliche Expertise zusammenführt. „Shell Shock is a Bridge where Historians and Psychiatrists can meet“, so hat es Sir Simon Wessely, Autor vielbeachteter Studien zur psychiatrischen Traumaforschung, 9 in seinem Abendvortrag pointiert zum Ausdruck gebracht. Einhundert Jahre nach Ende eines Krieges, der wie kein anderer den Gang des 20. Jahrhunderts und der modernen Psychiatrie geprägt hat, erwies sich diese Brücke als tragfähig, um Psychiatrie und Geschichtswissenschaft miteinander zu verbinden. 4 W INTER , Shell-Shock. 5 C ROUTHAMEL / L EESE , Psychological trauma. 6 U LRICH , Augenzeugen. 7 N EUNER , Politik und Psychiatrie. 8 P RÜLL / R AUH , Krieg und medikale Kultur. 9 Z.B. W ESSELY / J ONES , Shell Shock. Zur Einführung 15 Im Ersten Weltkrieg, der als erster „totaler Krieg“ die Mobilisierung aller Kräfte zum Zwecke des Kriegserfolges bündelte, wurden auch Medizin und Psychiatrie von militärischen Zweckrationalen erfasst. Dies führte zu einem effizienzgeleiteten, an den Interessen des kriegführenden Staates ausgerichteten Handeln. Die Beiträge zeigen jedoch, dass der Umgang mit psychisch Verwundeten oder Erkrankten von Ort zu Ort sehr verschieden sein konnte und in hohem Maße von den Möglichkeiten und Intentionen der aufnehmenden Einrichtung bestimmt war. Die Etablierung rationalisierter Behandlungsregime war jedoch weniger weit verbreitet als angenommen und blieb ausgewählten Lazaretten und Nervenabteilungen großer Krankenhäuser vorbehalten. Selbst diese setzten nicht allein die berüchtigten „aktiven Therapien“ ein, sondern brachten ein breiteres Spektrum therapeutischer Verfahren zur Anwendung. Ebenso spiegelte sich die ständische Struktur der Gesellschaft im ärztlichen Verständnis der Krankheiten wieder: Offiziere waren nervös, Soldaten hingegen hysterisch. Das der Universitätsklinik in Heidelberg angeschlossene Beobachtungslazarett war ein Netzknoten im System der badischen Militärpsychiatrie (Bartz-Hisgen, Rotzoll). Im Sinne kriegswirtschaftlicher Erwägungen wurde eine Strategie der Nichtentlassung verfolgt, um staatliche Entschädigungszahlungen und Kriegsrenten zu vermeiden. Demgegenüber stellte sich die Situation in den Heil- und Pflegeanstalten anders dar. Zwar nahmen auch dort der Krieg und die konzertierten Mobilisierungsbemühungen von Militär und Medizin Einfluss auf den Alltag. Doch zugleich bewahrten die Anstalten intra muros ihren herkömmlichen Charakter und ihre etablierten Versorgungsstrukturen (Derrien, Söhner, Malek, Kanis-Seyfried). Unterschiede zeigen sich auch in der konkreten Ausgestaltung und Anwendung der Therapien. Die „aktiven“ Therapien, insbesondere die notorischen elektrischen Zwangsverfahren („Kaufmann-Methode“), mochten in den neu eingerichteten oder adaptierten Front- und Reservelazaretten häufig zum Einsatz gekommen sein. Sie verweisen auf eine Selbstermächtigung der Ärzte und einen tendenziellen Wandel der ärztlichen Orientierung, nämlich vom Wohl der Patienten zum Wohl des Volkes. In den bestehenden Heil- und Pflegeanstalten spielten diese jedoch nur eine untergeordnete Rolle. Im Vordergrund standen alle Formen der Arbeitstherapie, die von Mitarbeit in den diversen Werkstätten der Anstalt über landwirtschaftliche Tätigkeit extra muros bis hin zum Einsatz in nahegelegenen Betrieben der Rüstungsindustrie reichen konnten. Die Ausgestaltung der therapeutischen Maßnahmen stand den jeweiligen Direktoren der Anstalt frei und folgte bisherigen Handlungsroutinen, so dass sie häufig nicht eigens erwähnt werden musste. Die Beiträge eröffnen nicht nur neue Einblicke in psychiatrische Handlungsroutinen (Diagnosen, Therapien), sondern zeichnen auch ein genaues Bild von den Lebensumständen von Soldaten und Patienten im Alltag der Anstalten. Das Hungersterben in den psychiatrischen Anstalten des Hinterlandes war im Ersten Weltkrieg weit verbreitet. Nachdem die Lebensmittelversorgung zentral organisiert wurde, waren die organisatorischen Möglichkeiten der Anstaltsleitungen begrenzt. Anstalten ohne Lebensmittelproduktion waren auf die Zuteilungen angewiesen. Anstalten mit eigener Produktion konnten Engpässe eher ausgleichen. Wie etwa das Beispiel der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee zeigt, wurde zwischen zivilen Thomas Becker, Heiner Fangerau, Peter Fassl, Hans-Georg Hofer 16 und militärischen Patienten nicht unterschieden. Beide Patientengruppen waren in den ihnen zugeteilten Rationen nicht schlechter gestellt als die Bevölkerung in den umgebenden Orten (Malek, Kanis-Seyfried). Der Erste Weltkrieg brachte eine Vielzahl an psychiatrischen Erklärungskonzepten hervor, die sich oftmals überlagerten und in Konkurrenz zueinander standen. Die Diagnosen waren unterschiedlich und veränderten sich im Laufe einer Behandlung, so dass es schwer fällt, ein Modell zu erstellen. Während zu Kriegsbeginn das Konzept von der traumatischen Neurose favorisiert wurde, das die Ursache des Leidens in kleinsten Schädigungen von Gehirn und Rückenmark sah, gewannen mit Fortdauer des Kriegs psychogene Erklärungskonzepte die Oberhand. Mit dieser Verschiebung einher ging die Auffassung, wonach nicht der Krieg selbst als Ursache psychischer Leiden anzusehen sei, sondern individuelle, schon vor dem Krieg bestehende (und durch diesen nur ausgelöste oder verschärfte) Persönlichkeitsdefizite der Soldaten für die auftretenden Symptome verantwortlich seien. Krankheit und Krieg standen damit in einem unmittelbaren, nicht aber kausalen Zusammenhang. Diese Verschiebung war kein Spezifikum der deutschen Situation, sondern vollzog sich grosso modo auch in der österreichischen, italienischen, französischen und britischen Kriegsmedizin (Fiorino, Peloso, Orazi, Linden). Der vergleichende Blick zeigt weiterhin, dass in allen europäischen Kriegsgesellschaften ähnliche Behandlungssysteme bestanden (elektrische Zwangsverfahren, Arbeitstherapie, suggestiv-hypnotische Therapien), die sich aber von Ort zu Ort erheblich unterscheiden konnten und deren Einsatz in hohem Maße von Entscheidungen der jeweils vor Ort verantwortlichen Anstaltsleiter abhängig war. Der komparative Blick auf psychiatrische Einrichtungen des Ersten Weltkriegs verdeutlicht damit sowohl Gemeinsamkeiten als auch Besonderheiten. Gleichzeitig mahnt er zur Vorsicht gegenüber generalisierenden Etikettierungen und nationalkategorialen Zuschreibungen (die „deutsche“, „französische“ oder „britische“ Kriegspsychiatrie). Die Auswertung von Krankenakten differenziert die These, wonach der militärische und soziale Status von Patienten Einfluss auf die ärztliche Diagnosestellung und die Wahl der Behandlungsverfahren hatte (Bandke, Gahlen, Hermes- Wladarsch). Der Gegensatz von „neurasthenischen“ Offizieren und „hysterischen“ Soldaten mochte 1914 noch weit verbreitet gewesen und in Veröffentlichungen betont worden sein. Mit Fortdauer des Krieges, die zur Durchsetzung psychogener Erklärungsansätze - und damit auch zu einer Neubewertung des Hysterie-Konzepts - führte, schwächten sich diese Vorstellungen allerdings erheblich ab. Die Rückkehr von psychisch Kriegsbeschädigten in die Nachkriegsgesellschaft gestaltete sich als schwierig. Zu den gesundheitlichen kamen wirtschaftliche und soziale Nachteile, die trotz Zuerkennung von Versorgungsansprüchen die gesellschaftliche Teilhabe erschwerten. Seitens der universitären Psychiatrie wurden in vielen Fällen staatliche und ökonomische Erfordernisse höher gewichtet als individuelles Leid. Dabei bestanden fortwährende diagnostische Unsicherheiten, die in ähnlich gelagerten Fällen zu konträren Urteilen und Entscheidungen führen konnten (Neuner). Der vorliegende Band veröffentlicht die für den Druck überarbeiteten Vorträge, die am 4. und 5. Februar 2016 im Kloster Irsee im Rahmen der Tagung „Psychi- Zur Einführung 17 atrie im Ersten Weltkrieg“ gehalten wurden. Einige weitere Beiträge wurden eingeworben. Die Auswahl der Themen und Autor/ -innen zeigt, dass bei Fokussierung auf den räumlichen und zeitlichen Bezugspunkt des Ersten Weltkriegs in Europa nicht nur thematische Vielfalt angestrebt wurde, sondern auch interdisziplinäre Perspektiven auf das Psychische in diesem Krieg eröffnet werden sollten. Historische, auf Medien und Kulturproduktion bezogene und psychiatrische Sichtweisen, die auf der Tagung eine fruchtbare Diskussion untereinander eröffneten, sollen nun hier in ihrer Heterogenität und gleichzeitigen Kommunikation miteinander einem breiteren Lesepublikum angeboten werden. Den Texten ist zu wünschen, dass sie sowohl im historischen als auch im psychiatrischen Diskurs zur Kenntnis genommen werden. Die Herausgeber des Bandes danken der Schwabenakademie Irsee für die Organisation der Tagung. Dem Bezirk Schwaben, dem Bildungswerk des Bayerischen Bezirketags und der Schwabenakademie danken die Herausgeber sehr herzlich für die großzügige finanzielle Unterstützung der Konferenz. Des Weiteren sind die Bandherausgeber der Schwabenakademie Irsee sowie der UVK Verlagsgesellschaft, Konstanz und München, für die Aufnahme des Bandes in die „Irseer Schriften: Studien zur Wirtschafts-, Kultur- und Mentalitätsgeschichte“ zu Dank verpflichtet. Literatur C ROUTHAMEL , J ASON / L EESE , P ETER J. (Hrsg.): Psychological trauma and the legacies of the First World War, Basingstoke/ Hampshire 2017. L ENGWILER , M ARTIN / M ADARASZ , J EANETTE : Präventionsgeschichte als Kulturgeschichte der Gesundheitspolitik, in: M ARTIN L ENGWILER (Hrsg.), Das präventive Selbst: Eine Kulturgeschichte moderner Gesundheitspolitik, Bielefeld 2010, 11-30. L ERNER , P AUL F REDERICK / M ICALE , M ARK S. (Hrsg.): Traumatic pasts. History, psychiatry and trauma in the modern age 1870-1930, Cambridge 2001. N EUNER , S TEFANIE : Politik und Psychiatrie. Die staatliche Versorgung psychisch Kriegsbeschädigter in Deutschland 1920-1939, Göttingen 2011. P RÜLL , L IVIA / R AUH , P HILIPP (Hrsg.): Krieg und medikale Kultur. Patientenschicksale und ärztliches Handeln in der Zeit der Weltkriege 1914-1945, Göttingen 2014. R IEDESSER , P ETER / V ERDERBER A XEL : „Maschinengewehre hinter der Front“. Zur Geschichte der deutschen Militärpsychiatrie, Frankfurt am Main 1996. U LRICH , B ERND : Die Augenzeugen. Deutsche Feldpostbriefe in Kriegs- und Nachkriegszeit 1914-1933, Essen 1997. W ESSELY , S IMON / J ONES E DGAR : Shell Shock to PTSD. Military Psychiatry from 1900 to the Gulf War, New York 2005. W INTER , J AY (Hrsg.): Journal of Contemporary History 35/ 1 (2000), Special Issue: Shell-Shock. Ideengeschichte der Kriegspsychiatrie im Ersten Weltkrieg Weltkrieg und Moderne 1 Die nervenärztliche Praxis und der Anspruch der Psychiatrie Ralf Seidel Abstract At the end of the 19 th century “Neurasthenia” or “American Nervousness” seemed to be the discovery of a modern illness of civilization. Nervousness at that time was often linked positively with sensitivity, creativity and skills of art. This changed abruptly with the beginning of the First World War. It became crucial to combat fear and nervousness. The war would only be won by those with the strongest nerves. Military doctors were confronted and challenged by the epidemical appearance of psychiatric disorders. There was the theory of “War Neurosis”, and the frightening diagnosis of “war tremblers”. Military doctors were faced with a new dimension of illness and their treatment became much more drastic under the constraint of warfare. At the beginning of the 20 th century neurologists/ psychiatrists had achieved the status of experts. Their expertise was consulted at court, especially regarding compulsory restraint in hospitals, later even regarding political questions. Finally the question will be discussed how the unsecured status of a “general expert” of former psychiatrists could be maintained even after the disaster of the First World War and if their claims of interpretation could be affirmed. Zusammenfassung Im Zentrum des Textes stehen das praktische Handeln und die damit verbundenen theoretischen Überlegungen der Nervenärzte im Ersten Weltkrieg. Bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts war die Neurasthenie oder „American Nervousness“ als moderne Zivilisationskrankheit „entdeckt“, beschrieben und behandelt worden. Die Wilhelminische Ära galt als „Zeitalter der Nervosität“. Die Nervosität wurde zunächst jedoch noch häufig mit Empfindsamkeit, Kreativität und künstlerischem Vermögen in Verbindung gesehen. Dies änderte sich schlagartig mit Beginn des Weltkrieges. Nun ging es darum, der Nervosität den Kampf anzusagen. „Den Krieg gewinnt“, so hieß es, „wer die stärkeren Nerven hat“. Durch das geradezu epidemische Auftreten psychischer Störungen - man sprach nun von Kriegsneurosen - vor allem in der erschreckenden Form der Kriegszitterer, sahen sich die 1 Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Klartext Verlags, erstmals dort erschienen unter folgendem Titel: S EIDEL , R ALF : Von der Nervosität zur Kriegsneusore, in: R ENATE G OLD- MANN / E RHARD K NAUER / E USEBIUS W IRDEIER (Hrsg.), Moderne. Weltkrieg. Irrenhaus. 1900-1930: Brüche in der Psychiatrie. Kunst und Psychiatrie, Essen 2014, 45 55. Ralf Seidel 22 Militärärzte vor eine völlig neuartige Herausforderung gestellt. Ihre Behandlungsformen wurden drastischer und dienten immer weitgehender den angenommenen Sachzwängen der Kriegsführung. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren Nervenärzte zunehmend als „Experten“ aufgetreten. Sie waren Gutachter bei Gericht; ihr Urteil zählte, wenn es um zwangsweise Unterbringungen ging; nicht selten maß man ihrer Stimme auch bei politischen Entscheidungen Gewicht bei. So stellt sich zuletzt die Frage, wie und ob sich dieser gerade zuvor gewonnene, noch kaum gesicherte Deutungsanspruch der Psychiater auch nach den Ereignissen des Weltkrieges behaupten oder gar festigen konnte. „Der Psychiater wird […] vielleicht der berufenste Führer werden auf dem Wege zu Deutschlands Erneuerung, er wird zum Wegweiser werden nicht nur für Ärzte, sondern auch für Geschichts- und Gesellschaftsforscher und darüber hinaus für alle die Staats- und Volksmänner, denen ernstlich um Deutschlands Wohl zu tun ist; er wird ihnen Wege zeigen, auf denen der Geist des Volkes wieder gesunden, seiner Wiedererkrankung vorgebeugt werden kann; […] und aus der Schule der einst so gemiedenen Narrendoktoren werden die hervorkommen, die zu Deutschlands Gambettas emporwachsen werden. Sie werden, in vielfachem Sinne, Deutschland und durch Deutschland die Welt emporführen aus Wahn zur Wahrheit.“ Erwin Stransky, 1920 2 1. Schwache Nerven Das Kaiserreich war einerseits zweifellos ein autoritärer, vom Militär dominierter Nationalstaat, auf der anderen Seite jedoch befand es sich in einem unaufhaltsamen Aufbruch in die Moderne. So verwundert es nicht, dass man die wilhelminische Ära auch als das „Zeitalter der Nervosität“ bezeichnete. 3 Dampfende Eisenbahnen rückten die wachsenden Städte näher zueinander und erschütterten zugleich die Menschen durch ihren tosenden Lärm, das Telefon beschleunigte die Kommunikation, die Elektrizität hielt Einzug in die Häuser. „Wohin wir hören, tritt uns die Klage entgegen, man sei nervös; […] Nervös nennt man unser ganzes öffentliches Leben, unsere Literatur und Kunst, das politische Treiben der Völker, das Gebaren der 2 S TRANKSY , Seelischer Wiederaufbau, 280. 3 G AUPP , Wachsende Nervosität, 154. Weltkrieg und Moderne 23 immer rascher arbeitenden Presse.“ 4 Die Schriftsteller nannten sich selbst Naturalisten. Sie brachten in minutiöser Sachlichkeit vor allem die Schicksale meist unterdrückter Menschen zu Papier. In den Naturwissenschaften sah man das Erklärungsmodell beinahe allen kulturellen und sozialen Geschehens. Ein Beispiel stellt Gerhart Hauptmanns Sozialdrama „Vor Sonnenaufgang“ (1889) dar. Der Psychiater und spätere Politiker Willy Hellpach hat versucht anhand der Hauptfigur dieses Stückes die Konflikte offenzulegen, die sich zwischen ererbter Bestimmung, sozialem Umfeld und Erziehung ergeben und an deren Ende das steht, was er als die häufigste und „im Durchschnitt der Fälle […] leichteste“ 5 Krankheit im Kreise unserer Kultur bezeichnet: die Nervosität. Sie zu besiegen kann nur gelingen in „sozialen Kämpfen bald gegen diese, bald gegen jene Schicht der Gesellschaft, die an der Erhaltung der gegenwärtigen Übelstände interessiert zu sein glaubt […] sicherlich aber gebührt den Nervenärzten, dabei in erster Schlachtreihe zu stehen“. 6 Schriftsteller wie Henrik Ibsen oder Emile Zola übernahmen die Idee von der Vererbung moralischen und körperlichen Übels durch „Entartung“ als eine Ursache der Entstehung der Nervenschwäche und glaubten im Wirken der Degeneration eine unausweichliche naturwissenschaftliche Gesetzlichkeit erkennen zu können. 7 Etwa zur gleichen Zeit als der Neurologe Jean Martin Charcot 8 im Pariser Hôpital de la Salpêtrière bühnenreif das Entstehen hysterischer Anfälle unter Hypnose demonstrierte, erschien im deutschen Sprachraum das Werk des amerikanischen Arztes George Miller Beard „Neurasthenie“ oder „American Nervousness“. Er hatte darin bereits 1880 die „moderne“ Krankheit Neurasthenie als unausweichliche Folge des zivilisatorischen Fortschritts beschrieben. Die Neurasthenie sollte zur prototypischen Nerven- und Modekrankheit der Zeit avancieren, in der sich bereits der Durchbruch zur Kollektivierung und Politisierung individuellen Leidens abzeichnete (Volker Roelcke). Müdigkeit, undefinierte Schmerzen, Schwindel, Ängste oder sexuelle Funktionsstörungen waren ihre wesentlichen Symptome. „Wenn wir die Hysterie als erhöhte Suggestibilität, die Neurasthenie als abnorme Ermüdbarkeit bezeichnen, dann bleiben“, so schreibt der Internist Wilhelm His 1908, „immer noch zahlreiche Fälle übrig, die sich diesen beiden Begriffen nicht fügen […] dies soll ganz allgemein als Nervosität bezeichnet werden“. 9 4 Ebd. 5 H ELLPACH , Ursachen und Wirkungen, 43. 6 Ebd., 133. 7 L EIBBRAND -W ETTLEY , Gestalt des Arztes, 641-646. 8 Der 29-jährige Sigmund Freud zählte 1895/ 96 zu seinen Schülern. Er hat Charcots „Neue Vorlesungen über die Krankheiten des Nervensystems, insbesondere über Hysterie“ ins Deutsche übersetzt. 9 H IS , Medizin und Überkultur, 626. E CKART , Nervosität, 220 nennt den Berliner Ordinarius „einen naturwissenschaftlich geprägten Internist reinsten Wassers“, der „die erschlaffenden Wirkungen allzu gesicherter Existenz, den Mangel starker Empfindungen durch einen Krieg im Frieden auszugleichen“ hoffe. „Vor allem“, so His, „ist der Heeresdienst eine wahre Gesundschule“. Ralf Seidel 24 2. Regime der Seelen Bereits Wilhelm Griesinger hatte sich vorgenommen von der bisherigen Anstaltspsychiatrie zunächst kaum beachtete bürgerliche Patientengruppe - Künstler, Beamte, Ärzte - mit ihren oft geringfügigeren seelischen Störungen für eine Behandlung durch die Psychiatrie zu gewinnen. Sein Ziel war, damit die Schwelle zwischen Klinik und Außenwelt abzubauen. 10 Hier deutet sich bereits an, was die Psychiatrie der wilhelminischen Epoche kennzeichnen sollte: die Erweiterung der eigenen professionellen Handlungsmacht durch die Aneignung von ihren Gegenstandsbereich ausweitenden psychologischen und sozialpädagogischen Verfahrensweisen. 11 Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts begannen Medizin und Psychiatrie auch kontrollierende und erzieherische Aufgaben zu übernehmen, die bis dahin im familiären Bereich geregelt worden waren. 12 Nervenärzten wurde dabei zunehmend die Rolle zuteil von der Norm abweichendes Verhalten, etwa im Bereich der kindlichen Entwicklung oder der Sexualität, zu deuten und gegebenenfalls zu behandeln. Sie wurden Sachverständige im Rahmen der zwangsweisen Unterbringung und der Zurechnungsfähigkeit vor Gericht und begannen darüber hinaus auch vermehrt zu allgemeineren Problemen, etwa der Gefährdung der öffentlichen Ordnung, der Belastung der Bevölkerung durch die moderne Zivilisation, bis hin zu Fragen der Führung des privaten Lebens, Stellung zu nehmen. 13 Gleichzeitig hatte der Andrang in die Anstalten weiter erheblich zugenommen. Es entstanden vielerorts nach differenzierten architektonischen Plänen gestaltete Neubauten sowie, in Abgrenzung zur Anstaltspsychiatrie, Sanatorien für „heilbar Kranke“. Die Psychiatrie, zumindest die Hochschulpsychiatrie, hatte als medizinisches Spezialgebiet Anerkennung gefunden. Dies war sicher auch Emil Kraepelins (1856-1926) erstmals handhabbar erscheinender, klaren Konzeptualisierung seelischer Krankheiten zu verdanken. Das gab der wissenschaftlich noch wenig gefestigten Disziplin Psychiatrie einen ersten Rückhalt. Und der war bitter nötig, da sie sich gerade gegen heftigste Vorwürfe wegen - so der Vorwurf - unberechtigter Zwangsunterbringungen zu erwehren hatte. 14 Wobei ein Teil der Presse dafür sorgte, dass erstmals auch die Anstaltserfahrungen psychiatrischer Patienten den Weg zu einem interessierten Publikum fanden. 15 Aus all dem war schließlich eine „Irrenrechtsbewegung“ hervorgegangen, 10 B RINK , Grenzen der Anstalt, 76. 11 E NGSTROM , Clinical Psychiatry, 203. 12 L ABISCH , Gesundheitskonzepte und Medizin, 29. 13 R OELCKE , Verwissenschaftlichungen, 134. 14 Besonderes Aufsehen erregten damals die Skandale um die langwierige Unterbringung eines schottischen Geistlichen im Alexianer-Krankenhaus Aachen (dazu S CHAFFER , Pflegeanstalt Mariaberg, 155-192) und des Juristen und Sohnes des Vorsitzenden der Kölner jüdischen Gemeinde Morris de Jonge in einer Berliner Privatklinik sowie die Entmündigung und Unterbringung des begütert aus Amerika zurückgekehrten Kaufmanns Hermann Feldmann durch seine Frau und ihren Liebhaber; dazu G OLDBERG , The Mellage Trial, 1-32; S EIDEL , Bürger, Richter und Psychiater, 4. 15 B LASIUS , Psychiatrische Versorgung, 124f. Weltkrieg und Moderne 25 die ein Mitspracherecht der Betroffenen in Fragen der psychiatrischen Versorgung, insbesondere der nicht-freiwilligen Unterbringung und Behandlung forderte. 16 Ein Verlangen, dass die etablierte Vereinigung der Irrenärzte als Angriff auf ihre Fachkompetenz wertete und empört zurückwies. In der Zeit zwischen 1890 und dem Beginn des Ersten Weltkriegs hatte sich das Hauptgewicht der öffentlichen Gesundheitsversorgung von der Bekämpfung der Epidemien zur Eindämmung chronischer Krankheiten hin verlagert. Man begann die teilweise äußerst schlechten Wohnverhältnisse, sowie die oft enormen Belastungen am Arbeitsplatz in ihrer Wirkung auch auf die seelische Gesundheit einer wissenschaftlichen Untersuchung zu unterziehen. 17 Der Historiker Lutz Raphael bezeichnete den Prozess des ordnenden Zusammenwirkens von Sozial- und Humanwissenschaft und Politik als „Verwissenschaftlichung des Sozialen“. „Die handgreiflichste Form der „Verwissenschaftlichung des Sozialen war und ist“, so Raphael, „das machtgeschützte, mit rechtlicher Sanktionsgewalt verbundene Eingreifen von „Experten“, denen unsere modernen Gesellschaften auf Grund ihres Fachwissens Entscheidungsbefugnis bzw. eine gutachterliche Urteilskompetenz über andere zubilligen, manchmal sogar zuweisen.“ 18 Dass sich hier Kompetenz- und Abgrenzungsstreitigkeiten zwischen einzelnen Disziplinen - vor allem zwischen Juristen und Medizinern - ergeben mussten, kann nicht verwundern. Doch ist die Entwicklung von der kustodialen Anstaltspsychiatrie zur therapeutisch, auf Wiedereingliederung in die Gesellschaft orientierten Psychiatrie, auch aus der Perspektive dieses Verwissenschaftlichungsprozesses zu verstehen. 3. Experten im Krieg Nach der Jahrhundertwende wurde Nervosität häufig mit Empfindsamkeit, Kreativität und künstlerischen Vermögen in Verbindung gesehen. Der Jugendstil breitete sich aus in Europa, Edvard Munch forderte in seinen Bildern die konformistische Gesellschaft heraus, die Expressionisten begaben sich auf die Suche nach dem „Ursprünglichen“, „Wilden“, „Irren“. 19 Seelische Verletzlichkeit war ein gesellschaftlich weithin anerkanntes Phänomen geworden. - Doch mit dem Kriegsbeginn sollte sich dies bald radikal ändern. Jetzt ging es darum der Nervosität den Kampf an zu sagen. Den Krieg gewinnt, so hieß es, „wer die stärkeren Nerven hat“. „Die Wahrscheinlichkeit, im Felde psychisch zu erkranken“, schrieb der Psychiater Hoche, „muss im Interesse der Leistungsfähigkeit der Truppen mit allen Mitteln möglichst niedrig gehalten werden.“ 20 Die Begriffe Neurasthenie und Nervosität traten in den Hinter- 16 B RINK , Grenzen der Anstalt, 150-152; dazu auch J ULIUSBURGER , Psychiatrische Fragen, 122f. 17 W EINDLING , Hygienepolitik, 37, 55. 18 R APHAEL , Verwissenschaftlichung, 167. 19 Auch Psychiater setzen sich mit der modernen Kunst auseinander (vgl. R ÉJA , L’Art) oder - problematisch - H ELLPACH , Das Pathologische; zu Munch S EIDEL , Wunden, 51-56. 20 H OCHE , Krieg und Seelenleben, 21. Ralf Seidel 26 grund, nun ist von „Kriegsneurose“ oder „Kriegshysterie“ die Rede. 21 Die Vielfalt ihrer Symptome - Blindheit, Taubheit, Sitz-, Geh- und Sprachstörungen, Zittern, Herz- und Kreislaufkrisen - war kaum mehr zu überschauen. 22 Vor 1914 sah man in den traumatischen Neurosen noch eine durch Erschütterungen der Mikrostrukturen des zentralen Nervensystems bedingte somatische Erkrankung. Nach Kriegsbeginn wurde die Entstehung des Krankheitsbildes Kriegsneurose bald jedoch nicht mehr einem zu Grunde liegenden Trauma, sondern vielmehr der mangelnden konstitutionellen Ausstattung des Erkrankten zugerechnet. 23 Und dies ergänzt um den unterstellten „fehlenden Willen“ des Einzelnen, seiner Symptome Herr zu werden. Dies sollte dazu führen, dass sich die Soldaten bald zunehmend auf ihren materiellen Nutzen als kriegsdienliches Material reduziert fühlten mussten. 24 Doch sollte man nicht übersehen, dass auch die Ärzte, insbesondere die Psychiater, im Krieg mit dem „massenhaften“ 25 Auftreten von psychischen Erkrankungen - vor allem etwa im erschreckenden Bild der „Kriegszitterer“ - einer völlig neuartigen Herausforderung gegenüberstanden. 26 Die Behandlung war zunächst noch ganz dem Zufall überlassen. „Erst als ihr Anschwellen sie immer stärker zur Sensation des Publikums und zur Last der Lazarette machte, die allmählich auch 21 Einerseits wurde zwar diagnostisch weiterhin zwischen hysterischen und „bloß“ neurasthenischen Zustandsbildern unterschieden, auf der anderen Seite war die Behandlung in den spezialisierten Stationen ganz auf das Vorliegen einer hysterischen Störung ausgerichtet. Zur Schwierigkeit der begrifflichen Differenzierung: B UMKE , Kriegsneurosen, 59. 22 O PPENHEIM , Traumatische Neurose, 1568, spricht von der „Mannigfaltigkeit der Symptombilder“. Dazu ausführlicher K ÖHNE , Kriegshysteriker, 44f. 23 In ihrer Publikation „Maschinengewehre hinter der Front“. Den Titel hatten sie dem Freud- Zitat „ [...] und den Ärzten ist etwas wie die Rolle von Maschinengewehren hinter der Front zugefallen, die Rolle, die Flüchtigen zurückzutreiben“, in: E ISSLER , Freud und Wagner- Jauregg, 53. Hans Georg Hofer macht darauf aufmerksam, dass dieser Topos eigentlich auf ein Zitat Alfred Adlers zurückgeht. H OFER , Beyond Freud and Wagner-Jauregg, 57; R IEDES- SER / V ERDERBER , Maschinengewehre, 31. 24 So hieß es in einer Unterweisung für Militärärzte: „Fassen wir den Beruf des Militärarztes als ökonomischen Verwalters des militärischen Menschenmaterials ins Auge, so ergeben sich nach der Analogie anderer Materialverwaltungen leicht die einzelnen Richtungen seiner Tätigkeit [...] 1. Erhaltung des Bestandes, 2. Reparatur des Schadhaften, 3. Ausrangierung des Unbrauchbaren, 4. Ersatz des Ausrangierten, 5. Rechnungslegung“. Vgl. R IEDESSER / V ER - DERBER , Maschinengewehre, 18. 25 Zur Verbindung von Kriegshysterie und „Masse“ K ÖHNE , Kriegshysteriker, 31-58. So schreibt Elias Canetti: „Solange der Krieg dauert, muss man Masse bleiben; und er ist eigentlich zu Ende, sobald man es nicht mehr ist. Die Aussicht auf eine gewisse Lebensdauer, die er der Masse als solche bietet, hat zur Beliebtheit der Kriege sehr beigetragen“ (C ANETTI , Masse und Macht, 79). 26 N EUNER , Politik und Psychiatrie, 14, 48f. - „Nach dem offiziellen Heeressanitätsbericht wurden zwischen 1914 und 1918 in der deutschen Armee insgesamt 613.047 Männer aufgrund von ‚Nervenkrankheiten‘ behandelt“ (ebd.). In diesen Akten wurde weder der Terminus Kriegsneurose noch der der Kriegshysterie gebraucht. Die diagnostischen Begrifflichkeiten wurden hier auf unterschiedlichste und wechselnde Weise zur Sprache gebracht. Weltkrieg und Moderne 27 von ihrer psychischen Infektiosität sich überzeugen durften, wurde die Frage ihrer geordneten Versorgung unaufschiebbar“. 27 Die dagegen entwickelten Therapien waren drastisch. Sie bestanden aus: Isolierung, Zwangsexerzieren 28 und vor allem der Anwendung elektrischer Schläge. Von den milderen, eher beruhigend wirkenden Methoden der Vorkriegszeit war man, zumindest in universitär geleiteten Einrichtungen, abgerückt. Ihr Wirkungseintritt schien zu unsicher und zeitaufwendig. Auf der Münchner Kriegstagung von 1916 hatte sich die Vorstellung von einer rein psychogenen Entstehung der Kriegsneurosen, gegenüber der von Hermann Oppenheim vertretenen Betrachtungsweise, die diese motorischen Störungen auf kleinste Verletzungen im Nervensystem zurückführte, durchgesetzt. Diese von maßgeblichen Neurologen und Psychiatern 29 herbeigeführte Entscheidung hatte zur Folge, dass von nun an zunehmend die unterschiedlichsten Schreck- und Angstzustände unter dem weitgefassten Begriff eines „hysterischen“ Symptomenbildes erfasst werden konnten. Als Therapie der Wahl setzte sich, neben zeitweilig geübten hypnotischen Verfahren, vor allem die so genannte „Kaufmannsche Methode“ durch. Technisch betrachtet kann man in ihr eine an die Kriegssituation angepasste, durch Suggestion wirksam gemachte, rigorose Weiterentwicklung der Erbschen Elektrotherapie sehen. 30 Die Methode bestand aus strikten, im Befehlston ausgesprochenen Direktiven, einer suggestiven, das militärische Unterwerfungsverhältnis unterstreichenden Vorbereitungsphase, 31 der Anwendung kräftiger, schmerzhafter Wechselströme, sowie „der Erzwingung der Heilung in einer Sitzung“. Das Ziel dieses im Kern psychotherapeutischen Verfahrens war es, die gelähmten Muskeln überrumpelungsartig so anzuregen, „dass die aktive Innervationsmöglichkeit dem Leidenden schlagartig deutlich wird“. Das heißt, der Kranke muss fühlen „etwa beim unwillkürlichen Mitgehen bei raschen passiven Bewegungen des gelähmten Gliedes durch den Arzt […]: es bewegt sich wieder, ich bekomme es wieder in meine Gewalt“. 32 Im Hintergrund stand jedoch die, jedem Mitgefühl zuwiderlaufende Vorstellung, die erschütternden Kriegserlebnisse der Soldaten durch eine beinahe ebenso traumatisierende Behandlung beseitigen zu können. 33 27 H ELLPACH , Differenzierung, 1259. 28 Ein besonders von Ferdinand Kehrer im Reservelazarett Hornberg geübtes und auch filmisch dokumentiertes Verfahren. Dazu K ÖHNE , Kriegshysteriker, 200-214; M AMMALI , Ideal, 252-255. 29 Unter ihnen Karl Bonhoeffer, Robert Gaupp, Alfred Hoche, Max Nonne in: Anonym, 8. Jahresversammlung, 1434-1436, 166f. Dazu L ERNER , Hysterical Men, 61-85. 30 Wilhelm Erb hatte bereits in den sechziger Jahren in der Heidelberger Universitätsklinik eine Station eingerichtet, in der er Nervenkranke mit faradischem Strom behandelte. Man sah jedoch bald die gelegentlich eingetretenen Heilungserfolge als Ergebnis suggestiver Wirkung an. Vgl. R OELCKE , Krankheit und Kulturkritik, 110. 31 Kaufmann selbst nennt das „militärische Willensüberwältigung“, in: Anonym, Kriegstagung, 205. 32 K RONFELD , Psychotherapie, 254. 33 Goldstein spricht von der Kaufmannschen Methode als einem Vorgehen, „das durch den Einfluss starker elektrischer Ströme und die Macht des rücksichtslosen militärischen Kommandos“ Wirkung gewinnt und nur auf eine beschränkte Zahl von Betroffenen anwendbar Ralf Seidel 28 Dennoch konnte ein Großteil der Betroffenen zunächst von den quälenden Symptomen befreit werden. 34 Die Rückfallquote war allerdings wohl ebenfalls hoch. 35 Therapie war nun ganz den Sachzwängen des Krieges untergeordnet. Dabei hatte sich „aktive Psychotherapie“, wenngleich „in ihrer rohesten und äußerlichsten Form“ 36 in dafür spezialisierten Krankenabteilungen fortan zum vorherrschenden Verfahren kriegsbedingter psychischer Leiden entwickelt. Erste Auswertungen von Krankenakten zeigen, dass an anderer Stelle, vor allem in „normalen“ universitätsfernen Lazaretten wie bisher, eher soziotherapeutisch orientierte, empathischer geübte kurähnliche Verfahren, verbunden mit Arbeits- und Beschäftigungstherapie, zum Tragen kamen. 37 Darüber hinaus muss die Frage gestellt werden, inwieweit die Ärzte durch das gewaltige Kriegsgeschehen nicht überfordert waren und sich zur Behebung der sie bedrängenden seelischen Verletzungen gezwungen sahen jeden Weg zu beschreiten, der Hoffnung versprach. Im Prozess gegen den renommierten Psychiater und späteren Nobelpreisträger Wagner-Jauregg war Sigmund Freud als Zeuge geladen. Robert Eissler meinte später, dass sich hier in überzeugender Weise die Überlegenheit der Psychoanalyse gegenüber dem Vorge- ist. Er gibt daher der Behandlung nach Rothmann (Königsberg) den Vorzug, bei der in Äthernarkose eine Einspritzung mit Kochsalzlösung vorgenommen wird, die - unter Vorspiegelung eines Eingriffs - zur Heilung der hysterischen Störungen führen kann (G OLD- STEIN , Behandlung, 1916; DERS ., Behandlung, 1917). Kurt Goldstein (1878-1965) war ein an der Gestaltpsychologie (Adhémar Gelb) orientierter, vom lokalistischen Denken abgerückter, ganzheitlich denkender Neurologe, dem es um ein Verstehen des „Zusammenwirkens“ der Funktionen des menschlichen Organismus ging. Seine wissenschaftlichen Arbeiten können als eine Synthese der Disziplinen Neurologie, Neuropsychiatrie und Psychologie angesehen werden. So war er auch ein früher Verfechter der Psychotherapie und Mitglied der Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie (AÄGP). Goldstein floh 1933 über die Schweiz in die Niederlande und konnte schließlich 1935 in die USA emigrieren. 34 Es wurden Raten von über 90 Prozent angegeben. Vgl. L ERNER , Hysterical Men, 110. 35 Uwe Zeller schildert in seiner Dissertation, in welchen Punkten das Kaufmannsche Verfahren sich von den schon früher geübten therapeutischen Anwendungen elektrischer Ströme abhebt: 1. durch den Effekt der Sanktionierung in der Art der Überrumpelung, die die Heilung in einer Sitzung erzwingen soll. 2. durch die im militärischen Befehlston durchgeführte reichliche Wortsuggestion. 3. in der exakten Ausarbeitung des Verfahrens. 4. durch die ausdrückliche Aufforderung das militärische Subordinationsverhältnis als wichtigstes Behandlungsprinzip zu benutzen. Vgl. Z ELLER , Psychotherapie, 18f. - Aufgrund einiger eingetretener Todesfälle hatte das preußische Kriegsministerium die Anwendung „starken“ Sinusstromes 1917 verboten. 36 K RONFELD , Perspektiven, 454. 37 Dazu vor allem: P ECKL , Patient records, 150f. Vgl. W OLLENBERG , Erinnerungen, 138: In seinem Lazarett hätte von Anfang an die „Aktivbehandlung“ kaum eine, die Beschäftigung in Werkstätten und landwirtschaftlichen Betrieben dagegen eine wichtige Rolle gespielt. „Darum schickte ich Fälle, die mir dafür geeignet schienen, in eines der rückwärtigen Lazarette, am liebsten nach Hornberg, wo Prof. Kehrer ein kleines militärisches Lourdes sich geschaffen hatte und Wunderheilungen in großer Menge vollzog. Für uns erwies sich diese Beschränkung später insofern als günstig, als wir nach Ausbruch der Revolution von Seiten der gegen ihren Willen Geheilten keine Angriffe zu erleiden hatten.“ Weltkrieg und Moderne 29 hen der allgemeinen Psychiatrie deutlich geworden wäre. 38 Doch Psychoanalytiker hatten sich mit den dramatischen, zu Hunderttausenden auftretenden Erkrankungen 39 der einfachen Soldaten kaum zu befassen. Eine Ausnahme bildete der Psychiater Ernst Simmel. Ihm war der Alltag des Umgangs mit seelisch verletzten Soldaten vor Ort vertraut. Die von ihm entwickelte kathartische Therapie kann als ein der Kriegssituation angepasstes, verkürztes psychoanalytisches Behandlungsverfahren angesehen werden. 40 Die Frontärzte wussten durchaus um den Zusammenhang von Kriegserlebnis und psychischem Ausnahmezustand. Sie hatten erlebt, was geschah. 41 Doch das Interpretationsmonopol über die psychischen Störungen im Krieg hatte „eine kleine Gruppe von Universitätsprofessoren inne“ (Philipp Rauh). 42 Sie waren es, die darüber publiziert haben. Ihre Stimme wurde wahrgenommen. Und ihre ersten Erfolge und ihr anfänglicher therapeutischer Optimismus hatten dem Fach zunächst auch neue Anerkennung verschafft. Die Hinwendung zur psychogenen Erklärung seelischer Störungen eröffnete darüber hinaus die Möglichkeit, die wissenschaftlich unterlegt erscheinende Deutungsmacht der Psychiatrie auf jegliche Form krisenhafter gesellschaftlicher Entwicklungen auszudehnen. 43 „Der Arzt soll in erster Linie der Anwalt der Kranken sein, nicht der eines anderen“ meinte Sigmund Freud bei seiner Einvernahme als Gutachter im Fall „Wagner-Jauregg“, „wie der Arzt in den Dienst eines anderen tritt, ist seine Funktion gestört“. 44 Die auf die Person des jeweiligen Patienten bezogene „ärztliche Ethik“ hatte so im Verlauf des Krieges einer Moral Platz gemacht, die zunehmend nur noch „an den Interessen der ‚Gemeinschaft‘“ orientiert war. Da zählte das Schicksal des Einzelnen nicht mehr viel. Ein eindrückliches Zeichen dafür sind die Äußerungen Karl Bonhoeffers auf der Jahresversammlung des Deutschen Vereins für Psychiatrie von 1920: 38 E ISSLER , Freud und Wagner-Jauregg, 125. 39 M ICHL / P LAMPER , Soldatische Angst, geben an, dass man in Frankreich und Deutschland während des gesamten Kriegsverlaufes jeweils ca. 200.000 - in Österreich-Ungarn müsse man von einer noch größeren Zahl ausgehen - Kriegsneurosen diagnostiziert habe. Insgesamt könne von 800.000 bis zu mehr als einer Million Soldaten mit einer Traumadiagnose in den Krieg führenden Nationen gesprochen werden. 40 In seiner von Sigmund Freud hoch geschätzten Studie von 1918 „Kriegsneurosen und psychisches Trauma“ schreibt S IMMEL , Kriegsneurosen, 83: „Was im Erleben eines Menschen zu gewaltig und grässlich ist, als dass sein bewußter Geist es fassen und verarbeiten kann, das sinkt auf den unterbewußten Grund seiner Psyche. Hier liegt es wie eine Mine, bereit, das ganze Seelengefüge über sich zu sprengen.“. Dazu F REUD , Einleitung, 4; S IMMEL , Zweites Koreferat, 42-43. Vgl. L ERNER , Hysterical Men, 183-185. 41 H ERMES , Krankheit, 454; R AUH , Therapiemethoden, 45. 42 Ebd., 44. 43 S CHMUHL / R OELCKE , Heroische Therapien, Einleitung, 19. Man denke an Kraepelins „Psychiatrische Randbemerkungen zur Zeitgeschichte“ (1919) und Eugen Kahns Begutachtung der führenden Vertreter der Münchner Räterepublik (1919). 44 E ISSLER , Freud und Wagner-Jauregg, 53. Ralf Seidel 30 „Fast könnte es scheinen, als ob wir in einer Zeit der Wandlung des Humanitätsbegriffes stünden. Ich meine nur das, dass wir unter den schweren Erlebnissen des Krieges das einzelne Menschenleben anders zu bewerten genötigt wurden als vordem, und dass wir in den Hungerjahren des Krieges uns damit abfinden mussten, zuzusehen, dass unsere Kranken in den Anstalten in Massen an Unterernährung dahin starben, und dies fast gutzuheißen in dem Gedanken, dass durch diese Opfer vielleicht Gesunden das Leben erhalten bleiben könnte“. 45 4. Vom Sachverständigen zum Erzieher Das Bild vom heroischen „neuen Menschen“ war in den Schützengräben verschüttet worden. In den Städten bestimmten nun Hungernde, Verkrüppelte, Zitterer das Bild. Der Dichter Ernst Toller, auch er zunächst Kriegsfreiwilliger, dann einer der führenden Köpfe der Münchner Räterepublik, forderte in seinem Drama „Die Wandlung“ eine Revolution der Herzen, durch die den Versehrten und Ausgegrenzten ein geschützter Ort zugewiesen werden sollte. Kriegsbeschädigte pochten auf die Anerkennung und Entschädigung ihrer Leiden. Sie klagten ihre behandelnden Psychiater als ihre einstigen Peiniger an. Ein sozialdemokratisch orientierter „Bund für Irrenrecht und Irrenfürsorge“ forderte den Staat auf in Militärkrankenhäusern festgehaltene psychisch Kranke sofort zu entlassen. 46 Sie bezeichneten sie als politische Häftlinge. Der Neurologe Max Nonne schrieb 1922: „Der Neurotiker wird aufgrund seiner seelischen Konstitution stets erklären, dass er zu hart behandelt wurde“, doch „diese Neurotiker […] konnten während der Revolution Erstaunliches leisten in Reden, Agitieren, Herumlaufen, Schreiben und Organisieren“. 47 Der Berliner Nervenarzt Kurt Singer 48 sah im revolutionären Handeln ein oft heilsames Therapeutikum. Er verglich es in seiner Wirksamkeit mit der Kaufmannschen Methode. 49 Im Gegensatz hierzu sahen die meisten seiner Kollegen im Agieren der Revolutionäre lediglich eine Folgeerscheinung ihrer psychopathischen Veranlagung. 50 Manche Psychiater begannen wieder für sich in Anspruch zu nehmen ein umfassendes Deutungsangebot jeglicher gesellschaftlicher Ereignisse bereit halten zu 45 Bonhoeffer schreibt weiter: „In der Betonung dieses Rechts der Gesunden auf Selbsterhaltung, wie sie eine Zeit der Not mit sich bringt, liegt die Gefahr der Überspannung, die Gefahr, daß der Gedanke der opfermütigen Unterordnung der Gesunden unter die Bedürfnisse der Hilflosen und Kranken, wie er der wahren Krankenpflege zugrunde liegt, gegenüber den Lebensansprüchen der Gesunden an lebendiger Kraft verliert.“ B ONHOEFFER , Jahresbericht, 598. 46 C ROUTHAMEL , Visions, 76. 47 N ONNE , Therapeutische Erfahrungen, 116. 48 Kurt Singer war neben seiner Tätigkeit als Nervenarzt ein anerkannter Musikwissenschaftler und später Leiter des jüdischen Kulturbundes. Er starb 1944 im KZ Theresienstadt. 49 L ERNER , Hysterical Men, 211. 50 K RAEPELIN , Randbemerkungen, 177f.; G AUPP , Zusammenbruch, 45; K AHN , Psychopathen, 90. Weltkrieg und Moderne 31 können. 51 Sie sahen sich dann als „berufenste Führer auf dem Wege zu Deutschlands Erneuerung“ und als „Wegweiser [...] nicht nur für Ärzte, sondern auch für Geschichts- und Gesellschaftsforscher und darüber hinaus für alle die Staats- und Volksmänner, denen ernstlich um Deutschlands Wohl zu tun ist“, so der Wiener Psychiater Erwin Stransky, der weiter darlegt: „Wer sollte aber berufener sein, denen, welchen die Erziehung und Leitung des Volkes obliegt, und vor allem dem Volke selbst diese Wahrheiten […] zu sagen, als die Seelenärzte“. 52 Stransky erhob die Forderung nach einer am praktischen Alltag geschulten Psychiatrie, die sich für alle Lebensbereiche sachkundig und damit für jedwede - rechtliche, pädagogische und politische - Fragen der Lebensgestaltung zuständig erklärt. Auf diese Weise würde der Psychiater „weltlicher Beichtvater“, sowie „Lehrer [...] für Staatsmänner und Diplomaten der Zukunft“. 53 Heute, in einer Zeit in der die mediale Macht Gegenwärtiges zu erklären und Künftiges wenn nicht vorauszusagen so doch eindrücklich zu vermuten, im Wesentlichen Historikern und Politologen zugeordnet erscheint, mag dieser Anspruch der Psychiater erstaunen. Doch was hat diese junge Berufsgruppe damals veranlasst sich diese Rolle anzumaßen? Auf welches überprüfbare Fundament glaubten die Psychiater ihr Expertentum bauen zu können? Über welches methodische Inventar meinten sie zu verfügen, um diesen Anspruch zu rechtfertigen? Das „Experimentierfeld Krieg“ hat den Nervenärzten die Möglichkeit eröffnet die unterschiedlichsten und auch ungewöhnlichsten Formen der Behandlung mit Menschen in extremen Lebenslagen zu erproben. Trotz aller fortbestehender Meinungsverschiedenheiten untereinander haben die Auseinandersetzungen um die psychischen Folgen der Kriegsgeschehnisse sicherlich zur Präzisierung der Kenntnisse ereignisbedingter psychischer Störungen - und deren Behandlungsmöglichkeiten - beigetragen. 54 So bot sich an im Psychiater auch den Sachkundigen bei der Frage der Entschädigung kriegsbedingter psychischer Störungen zu sehen. Als Gutachter waren sie bald die Herren über die Entscheidung des Kampfes der Soldaten um die Anerkennung ihrer fortbestehenden seelischen Leiden. Bereits zu Beginn der Zwanzigerjahre hatte der 1917 gegründete „Bund der Kriegsteilnehmer und Kriegsbeschädigten“ 55 51 F REIS , Psychopathen, 56f. 52 S TRANSKY , Wiederaufbau, 277, 280. „Gerade der Psychiater, wenn er sich mit dem Historiker verbindet, ist er wie kaum ein anderer berufen, die Wege zu weisen, auf denen wandelnd die Menschen endlich einmal wirklich etwas aus der politischen, kulturellen und ökonomischen Geschichte lernen werden.“ (Ebd., 280). 53 S TRANSKY , Angewandte Psychiatrie, 37, 44 (im Original kursiv). 54 Vgl. B ONHOEFFER , Erfahrungen, 85; W EYGANDT , Gutachtertätigkeit, 35f. Ernst Simmel gab dazu eine eindrucksvolle Beobachtung wider: Er sah in den Kriegsneurosen „im wesentlichen eingeschaltete Sicherungen, die den Soldaten vor der Psychose bewahren sollen. Wer ein so großes Krankenmaterial seit eineinhalb Jahren mit analytisch geschärftem Blick mustert, muss zu der Erkenntnis kommen, dass die verhältnismäßig geringe Anzahl von Kriegspsychosen nur durch die verhältnismäßig große Anzahl von Kriegsneurosen zu erklären ist“. S IMMEL , Psychoanalyse, 23. 55 Später „Reichsbund der Kriegsbeschädigten“. Ralf Seidel 32 eine Entschädigung für Kriegsversehrte gefordert und dabei ehemalige Soldaten mit psychischen Leiden, da sich in ihnen das Kriegstrauma aller am bedrängendsten spiegelte, gezielt mit einbezogen. Bei einem nicht geringen Teil der „Kriegshysteriker“ waren die Symptome nach Kriegsende jedoch wieder abgeklungen. Gerade Psychiater, die sich auf die Objektivität ihrer naturwissenschaftlichen Methodik beriefen, 56 sahen sich dadurch veranlasst dauerhafte Berentungen abzulehnen. Sie erkannten im Krieg aufgetretene seelische Störungen zwar als im zeitlichen Zusammenhang mit dem Kriegsgeschehen stehend an, hielten sie jedoch „nicht für dadurch verursacht“, sondern für „zweckgerichtet“ - zur Erlangung einer Rente - und damit für geeignet die Symptome weiter zu verfestigen. 57 Damit musste auch ihre Behandlung unangebracht erscheinen. Deutlich mehr Verständnis für die Leiden der kriegsgeschädigten Soldaten legten Psychiater an den Tag, die der „existenziellen Wirkung“ des erlebten Traumas entscheidendes Gewicht bei der Entstehung erlebnisbedingter psychischer Störungen beimaßen. Sie konnten durchaus überzeugend darlegen, dass bei einem Teil der Antragsteller das an sich selbst erfahrene Trauma eine anhaltende Veränderung des Selbsterlebens verursachen kann. 58 Erwin Straus 59 etwa hebt die Bedeutung der historischen Modalität und der affektiven Wucht im Zusammenhang mit dem Erlebten hervor und macht deutlich, dass, so unterschiedlich das jeweilige Geschehen auch gewesen sein mag, eine vollständige Rückkehr zum Zustand vorher oft nicht mehr möglich ist. Ähnlich hatte Arthur Kronfeld argumentiert, 60 der ebenfalls die 56 Hierzu zählen, nach N EUNER , Politik und Psychiatrie, 97f., u.a. die „Vertreter der herrschenden Lehre“, politisch meist deutsch-national eingestellte, fachlich „streng empirisch“ argumentierende Hochschullehrer wie Karl Bonhoeffer, Martin Reichardt, Ewald Stier u.a. 57 H AUPTMANN , Krieg der Unfalls-Hysterie! , 193. Hier heißt es: „Einem Hysteriker aber eine Unfallrente geben, heißt nicht ihn entschädigen, sondern ihn schädigen“. 58 Hierzu zählen die „philosophischen“ Psychiater K RONFELD , Unfallneurose, 627f.; S TRAUS , Geschehnis und Erlebnis, 18-21, 97f., und E LIASBERG , Therapie der Unfallneurosen, 235f. Eine fundierte Rückschau bieten S CHOTT / T ÖLLE , Geschichte der Psychiatrie, 368-377; H OFER , Kriegsneurosen, 312; N EUNER , Politik und Psychiatrie. 59 S TRAUS , Geschehnis und Erlebnis. Erwin Straus (1891-1975) hatte sich als Psychiater und Neurologe zunächst kritisch mit den erkenntnistheoretischen Grundlagen seines Faches auseinandergesetzt. 1935 erschien seine Publikation „Vom Sinn der Sinne“. Er war einer der Gründer und ersten Mitherausgeber der Zeitschrift „Der Nervenarzt“. Als begabter Cellist spielte er mit Max Planck in einem Berliner Kammerorchester. 1938 konnte er noch in die USA entkommen. 60 K RONFELD , Psychotherapie, 627. Der Schriftsteller, Philosoph und Arzt Arthur Kronfeld (1886-1941) kann sicherlich als eine der faszinierendsten Psychiaterpersönlichkeiten seiner Zeit angesehen werden. Im Ersten Weltkrieg war er u.a. Frontarzt bei Verdun, wurde schwer verletzt, nahm an der Novemberrevolution teil und habilitierte sich schließlich bei Bonhoeffer mit einer grundlegenden Arbeit über die Bedeutung der Psychologie in der Psychiatrie. Philosophisch war er u.a. vom Neukantianismus, Wilhelm Dilthey, Ernst Cassirer sowie - von der Psychologie und Neuropathologie her - von Kurt Lewin und Kurt Goldstein mitbeeinflusst. Nachdem man in der Schweiz seine Aufenthaltserlaubnis nicht verlängern wollte, war er Anfang der Dreißigerjahre in die Sowjetunion emigriert, wo er sich, als die deutschen Truppen vor Moskau standen, gemeinsam mit seiner Frau das Leben genommen hat. Der Weltkrieg und Moderne 33 Bedeutung der „erlebten Eindruckswirkungen der Vergangenheit“, wie der unmittelbaren „Erlebniswirkung“ des traumatischen Geschehens beim Zustandekommen neurotischer Störungen, unterstrichen hatte. Beide Autoren gehen über die gängige Beschreibung und Verknüpfung aufgefundener „pathologischer“ Symptome hinaus und suchen nach einem verbindenden funktionalen Grund des Wahrgenommen. An dieser Stelle war es Kronfelds vorrangiges Ziel zu einer sich selbst begründenden - nicht aus Nachbardisziplinen, wie der Soziologie oder der Neuropathologie abgeleiteten - „autologischen“ wissenschaftlichen Fundierung von Psychiatrie, Psychologie und Psychopathologie zu gelangen. Damit sollte der Raum, in dem therapeutisches Handeln zur Entfaltung gelangt, zunächst fundiert und dann erst um die Zugangsweisen der Psychologie und der Sozialwissenschaften erweitert werden. 61 So schreibt Kronfeld zu der das Verstehen erschließenden Bedeutung der Kriegs- und Rentenneurosen: „gleichviel, ob man der Nägeli-Bonhoeffer-His’schen Lehre von den sie fundierenden Begehrungstendenzen zustimmt, oder ob man tiefer schürft und die Emotionalität der praemorbiden Persönlichkeiten analysiert und Lebensangst, Sicherungstendenzen, Minderwertigkeitsgefühle [...] heranzieht: die Rentenneurosen wären ohne die soziale Gesetzgebung unmöglich gewesen. Sie sind nichts anderes als der individuell variierte Begriff seelischer Reaktion auf die sozialen Forderungen, Ordnungen und Bestimmungen, auf Schwierigkeiten des Lebenskampfes, der Arbeitsbedingungen [...] Sie sind ein psychologischer Ausweg aus der sozialen Härte in den Hafen der Befürsorgung. Ähnliches gilt von den Kriegsneurosen. [...] Sie haben jedenfalls Janets und Freuds Wort von der „Flucht in die Krankheit“ tausendfältig illustriert mit einer Evidenz, der sich selbst Oppenheim [...] beugen musste, als Kliniker, wie Nonne und Gaupp, die rein psychische Natur und die rein psychologische Verstehbarkeit der Neurosen verfochten. Von damals her, von den Kriegsneurosen her, rührt ja noch der äußere psychotherapeutische Aufschwung“. 62 Psychiater und Medizinhistoriker Werner Leibbrand, der bei ihm seine psychotherapeutische Ausbildung gemacht hatte, beschrieb ihn einmal so: „Wie Oscar Wilde sah er aus; seine Bücher waren schwer lesbar, aber genial. [...] Kronfeld bedeutete in den zwanziger Jahren bis nahe an die Katastrophe von 1933, das moderne Einfallstor der psychotherapeutischen Methodik. [...] von der dogmatischen Länge der Analysen hielt er nichts; er „stekelte“, wie man das in Berlin nannte, will sagen, er unterbrach und lenkte“, L EIBBRAND , Über 30 Jahre Arzt, 238. 61 So schreibt er: „die restlose Determination gerade dieses einen Menschen in seinem gesamten seelischen Sosein ist ein unvollendbarer Prozess. Das liegt im Wesen der Perspektive, die mit generalisierenden Linien gleichsam auf einen punktuellen Aspekt ausgeht. Die Seelenkunde ist keine Geometrie. Daher bedarf es immer des methodologischen Präludiums, um sich wissenschaftlicher Einwandfreiheit zu versichern.“ K RONFELD , Perspektiven, 2. - Kronfeld „bedient“ sich durchaus der „Nachbardisziplinen“, wie Neurologie, Neuropathologie, Physiologie, Philosophie und Soziologie usw. und nutzt sie für sein sozio-, wie vor allem psychotherapeutisches Tun, meint jedoch die Psychiatrie müsse zuvor die Methodenfrage grundlegend geklärt haben. 62 D ERS ., Psychotherapeutische Gedanke, 733. Ralf Seidel 34 Aus der hier skizzierten Position folgte, dass sich diese Psychiater von der bisher weit gehend verfochtenen therapeutischen Abstinenz gerade im Umgang mit den „Kriegsneurotikern“ befreien konnten. Der Zugriffsort ihrer ärztlichen Begleitung und Behandlung war sehr viel mehr die „Persönlichkeit“ der Betroffenen mit ihren Absichten und symbolischen Interaktionen, als deren körperlich beeinflussbare Funktionalität. Sie dachten darüber hinaus über präventiv wirksame, kommunal verankerte psychohygienische Maßnahmen nach, gründeten die „Allgemeine Ärztliche Gesellschaft für Psychotherapie“ (AÄGP) als Plattform für die Professionalisierung der Psychotherapie und waren überwiegend als niedergelassene Fachärzte tätig. Ihr Anliegen war es - wesentlich beeinflusst durch die Psychoanalyse, jedoch auch oft in überlegter Abgrenzung von ihr - psychotherapeutische Verfahren zu entwickeln und zur Anwendung zu bringen, die möglichst allen Bevölkerungsschichten zugute kommen würden. Wladimir Eliasberg, der Hauptinitiator des ersten Kongresses der Gesellschaft, schrieb 1927: „Es besteht ein allgemeines Bedürfnis nach Psychotherapie. Das moderne Leben erzeugt [...] ein Bedürfnis nach Aussprache und Erlösung […] Eine Sozialisierung der Psychotherapie ist darum dringend notwendig. Die Psychotherapie darf nicht, wie bisher, ein Vorrecht der begüterten Volksschichten sein“. 63 Sowohl Kronfeld, wie auch Eliasberg waren umfassend - vor allem auch philosophisch - gebildete und politisch motivierte Psychiater. Sie nahmen auf vielfältige Weise zu sozial bedrängenden Fragen Stellung, engagierten sich theoretisch wie praktisch in der Fürsorgearbeit 64 und fühlten sich dem „Verein sozialistischer Ärzte“ verbunden. Ihnen war, wie dem Pionier der Sexualforschung Magnus Hirschfeld, 65 63 E LIASBERG , Rückblick, 9. Eliasberg war 1927 mit Kronfeld einer der Gründer der „Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie“ (AÄGP). Wladimir Eliasberg (1887-1969) war - wie Kronfeld, mit dem er eng zusammengearbeitet hatte - promovierter Arzt und Philosoph. Er arbeitete in München als Nervenarzt, emigrierte nach der „Machtergreifung“ nach Wien, hielt dort bis 1938 eine Professur für Psychologie und wanderte schließlich mit seiner Frau in die USA aus, wo er zunächst am Mount Sinai Hospital tätig war. - Zum „existenziellen“ Verständnis traumatischer Störungen führte er kritisch zustimmend aus: „Man hat auch daran gedacht, durch phänomenologische Besinnung und Analyse, durch Wesensschau im Sinne von Husserl über diese Schwierigkeit [des ‚Darüber-hinaus-Weisenden‘ einer Persönlichkeit] hinwegzukommen. Zweifellos haben uns die von dieser Schule (Storch, Kronfeld, E. Straus, v. Gebsattel, Binswanger) gegebenen außerordentlich feinen psychologischen Analysen sehr gefördert; wenn auch andererseits die Transponierung ins Existenzial-Philosophische, namentlich bei Straus und Binswanger, viele methodische Unklarheit geschaffen hat.“ E LIASBERG , Einheitspsychotherapie oder Indikationsstellung, 35. 64 So veröffentlichte Kronfeld 1932, gemeinsam mit der ebenfalls jüdischen, später nach Palästina emigrierten Sozialarbeiterin Sidonie „Siddy“ Wronsky (1883-1947), der Leiterin der Zentrale für private Fürsorge, sowie des Archivs für Wohlfahrtspflege und Herausgeberin der Deutschen Zeitschrift für Wohlfahrtspflege, eine Publikation über sozial- und psychotherapeutische Methoden in der Fürsorge. 65 Magnus Hirschfeld (1868-1935) gilt als einer der Begründer der Sexualwissenschaft. Er war ein wirkungsmächtiger Kämpfer gegen den § 175 (Homosexuellen-Paragraphen) und der Stifter und umtriebige Leiter des weltweit ersten „Instituts für Sexualwissenschaft“. Auch Weltkrieg und Moderne 35 dem Sozialpsychiater Otto Juliusburger 66 oder den Psychoanalytikern Ernst Simmel 67 und Max Levy-Suhl 68 der Anspruch gemeinsam, durchaus auch „erzieherisch“ und „wegleitend“ (E. Stransky) auf ihre Mitmenschen einzuwirken. Ihr Reden und Wirken stand dabei jedoch in entschiedenem Widerspruch zum gängigen Selbstverständnis des Großteils ihrer etablierten Fachkollegen. - Sie alle haben Deutschland nach 1933 verlassen müssen. hier hatte Arthur Kronfeld eine wesentliche Rolle gespielt. Er arbeitete von 1919-1926 am Institut als Leiter der Abteilung für „seelische Sexualleiden“ und veröffentlichte in dieser Zeit in Aschaffenburgs renommiertem „Handbuch der Psychiatrie“ die Monographie „Sexualpsychopathologie“ (1923). Die wissenschaftliche Reputation des Instituts ist vor allem ihm zu verdanken, während es Hirschfeld hervorragend verstand, die Anliegen des jungen, randständigen Faches Sexualwissenschaft populär zu machen und Betroffenen praktische Hilfe anzubieten. 66 Otto Juliusburger (1867-1952) war gemeinsam mit Magnus Hirschfeld und Werner Leibbrand Initiator und Leiter eines psychiatrischen Fürsorgezentrums für Alkohol- und Drogenabhängige in Berlin sowie Mitarbeiter an Hirschfelds Institut. Als Psychotherapeut entwickelte er ein an der Willensphilosophie Schopenhauers orientiertes „biozentrisches“ Behandlungsverfahren. Er war ein enger Freund Albert Einsteins. Dieser hatte ihm 1941 die späte Emigration in die USA ermöglicht. 67 Ernst Simmel (1882-1947) war, gemeinsam mit Ignaz Zadek und Karl Kollwitz, Gründer des sozialdemokratischen Ärztevereins. 1914 hatte er sich, wie viele seiner ebenfalls „linken“ Kollegen, freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet. Seine Fronterfahrungen mit „Kriegsneurotikern“ hatten ihn nachhaltig geprägt. Er absolvierte schließlich auf Anraten Freuds, der ihn sehr schätzte, eine psychoanalytische Ausbildung bei Karl Abraham, war jedoch stets bemüht, Wege zu finden, die es möglich machten, die Psychoanalyse für weitgehend alle Schichten der Bevölkerung offen zuhalten. Simmel nahm - obwohl Vorsitzender der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft - als einer der ganz wenigen Analytiker fast regelmäßig an den Tagungen der „Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie“ (AÄGP) teil. Er wurde Mitglied im Verein sozialistischer Ärzte, konnte rechtzeitig Anfang der Dreißigerjahre mit seiner Familie in die USA emigrieren und lebte dort als angesehener Psychoanalytiker und Antisemitismusforscher. 68 Max Levy-Suhl (1876-1947) der aus Suhl in Thüringen stammte, war zwischen 1904 und 1933 als psychotherapeutisch tätiger und sozial engagierter Nervenarzt in Berlin niedergelassen. Hier war er Mitglied des Vereins sozialistischer Ärzte und der AÄGP, sowie später der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft (DPG). 1933 emigrierte er, als Jude verfolgt, in die Niederlande, wo er mit seiner Frau, der Kinderärztin Levy-Suhl zunächst in Amersfoort ein Kinderheim leitete und später in Amsterdam eine psychoanalytische Praxis betrieb. Er beging 1947 Selbstmord. Vgl. N EUNER , Politik und Psychiatrie, 140. Ralf Seidel 36 Quellen und Literatur Quellen Anonym: Kriegstagung des Deutschen Vereins für Psychiatrie zu München am 21./ 22. September 1916, in: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie und psychisch-gerichtliche Medizin 73 (1917), 163-233. Anonym: 8. Jahresversammlung (Kriegstagung der Gesellschaft deutscher Nervenärzte, München 22. und 23. September 1916), in: Deutsche Medizinische Wochenschrift 42 (1916), 1434-1436, 1466-1467. A DLER , A LFRED : Über den nervösen Charakter: Studienausgabe, Bd. 2, 2. korrigierte Auflage, Göttingen 2008. 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This paper wants to give an insight into the discussions and decisions of the conference. Furthermore it deals with the impact of this congress. In which way was the daily routine treatment of war neurotics during World War One influenced by the decisions made in Munich. Zusammenfassung Bereits kurz nach Beginn des Ersten Weltkrieges sahen sich Militärpsychiater und -neurologen mit einer unerwarteten Vielzahl an Soldaten konfrontiert, die vom Kriegsgeschehen vollkommen überfordert waren und seelisch zusammenbrachen. Die Frage nach den Ursachen der so genannten Kriegsneurose führte unter den deutschen Militärmedizinern zu einer Kontroverse, die im Jahre 1916 auf dem kriegspsychiatrischen und -neurologischen Fachkongress in München entschieden wurde. Der Beitrag möchte einen Einblick in die Diskussionen und Entschlussbildungen während dieser Fachtagung geben. Zudem fragt er nach dem Einfluss des Münchner Kongresses auf den Behandlungsalltag von Kriegsneurotikern im Ersten Weltkrieg. 1. Einleitung „Mögen deshalb die Herren, die auf mein Wort bisher einiges Gewicht gelegt haben, insbesondere meine Schüler, es nicht aus der Erinnerung verlieren, dass ich gegen einen grossen Teil der Anschauungen, welche auf dieser Jahresversammlung vertreten worden sind, zwar in aller Bescheidenheit, aber auch mit der ganzen Bestimmtheit der innersten Überzeugung Einspruch erhoben habe.“ 1 1 Hermann Oppenheim, Schlusswort, zit. nach Deutsche Zeitschrift für Nervenheilkunde 56 (1917), 209. Philipp Rauh 44 Dem Berliner Neurologen Hermann Oppenheim oblag es, auf dem gemeinsamen Fachkongress des „Deutschen Vereins für Psychiatrie“ und der „Gesellschaft Deutscher Nervenärzte“ ein Schlusswort zu halten. Die Tagung, die am 22. und 23. September 1916 in München stattfand, hatte für Oppenheim einen desaströsen Verlauf genommen. Ziel des Kriegskongresses war es gewesen, eine gemeinsame Linie zur Lösung eines dringlichen Problems zu entwickeln. Seit Beginn des Ersten Weltkriegs kehrte eine unerwartet hohe Zahl an Soldaten psychisch krank von den Schlachtfeldern zurück. Sie reagierten auf das Erlebte mit Lähmungen einzelner oder mehrerer Gliedmaßen, sie wurden blind oder taub, zuckten, zitterten oder verstummten. Mit der Zeit ersannen Psychiater und Neurologen Konzepte zu Ursache, Diagnostik und Therapie der so genannten Kriegsneurotiker. Die unterschiedlichen Theorien wurden dann auf der Münchener Kriegstagung präsentiert und kontrovers diskutiert. Im Blickpunkt stand vor allem das bis dato vorherrschende Erklärungsmodell der traumatischen Neurose Hermann Oppenheims, das sich harscher Kritik ausgesetzt sah. 2 Für die Geschichte der Militärpsychiatrie im Ersten Weltkrieg stellt die Münchener Tagung einen bedeutenden Bezugspunkt dar. Immer wieder wird auf die entscheidenden Weichenstellungen hingewiesen, die dort beschlossen wurden. 3 Die psychiatrisch-neurologische Kriegstagung von 1916 gilt als die Geburtsstunde der herrschenden Lehre im Umgang mit psychisch kranken Soldaten - einer Lehrmeinung, deren Wirkungsmacht in Deutschland deutlich über die Zeit des Ersten Weltkriegs hinauswies und weit in die bundesrepublikanischen Jahre hineinreichte. 4 Auffällig ist allerdings, dass zwar häufig von den Münchener Beschlüssen und Diskussionen die Rede ist, die Überlieferung des Fachkongresses dabei aber nur selten ausführlich oder gar systematisch zu Rate gezogen wird. 5 Dies ist insofern erstaunlich, da in verschiedenen medizinischen, allen voran psychiatrischen und neurologischen Fachzeitschriften ausführliche Kongressberichte abgedruckt sind. In der „Deutschen Zeitschrift für Nervenheilkunde“ (DZfN) befindet sich beispielsweise eine äußerst umfangreiche Dokumentation des Kriegskongresses. 6 Vornehmlich anhand dieser Quelle soll im Folgenden der Verlauf der Tagung eingehend analysiert und kontextualisiert werden. Begonnen wird jedoch mit einem Blick auf die Entwicklung vor 1914. Besieht man sich nämlich, wie vehement Oppenheims Theorie der traumatischen Neurose bereits weit vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges von weiten Teilen der Ärzte- 2 Zur Militärpsychiatrie im Ersten Weltkrieg liegt mittlerweile reichhaltige Forschungsliteratur vor. An grundlegenden Arbeiten seien genannt: R IEDESSER / V ERDERBER , „Maschinengewehre“; L ERNER , Hysterical Men; H OFER , Nervenschwäche; M ICHL , Dienste; P ECKL , Krank. 3 Vgl. etwa K AUFMANN , Gehirne, 221. 4 Dazu ausführlich R AUH / P RÜLL , Krank. 5 Den bisher ausführlichsten Einblick in den Tagungsverlauf bietet L ERNER , Hysterical Men, 74-79. 6 Deutsche Zeitschrift für Nervenheilkunde 56 (1917), 1-216. Eine ausführliche Zusammenfassung des Kongresses, insbesondere von psychiatrischer Seite, findet sich wiederum in: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie und psychisch-gerichtliche Medizin 73 (1917), 163-233. Der Münchener Kriegskongress der Psychiater und Neurologen 1916 45 schaft bekämpft wurde, so überrascht die Stoßrichtung der Münchener Tagung in keiner Weise. 7 2. Hermann Oppenheims Konzept der traumatischen Neurose und seine Gegner Untrennbar mit der wechselvollen Geschichte der traumatischen Neurose ist der Werdegang des Berliner Neurologen Hermann Oppenheim verbunden. 8 Der aus einer westfälischen Rabbinerfamilie stammende Oppenheim schloss 1881 sein Medizinstudium in Bonn mit einer preisgekrönten pathophysiologischen Dissertation ab. Im darauffolgenden Jahr zog er nach Berlin, wo er zunächst an der privaten Nervenheilanstalt „Maison de Sante“ psychiatrisch ausgebildet wurde. 1883 wechselte er dann als Assistenzarzt an die von Carl Westphal geleitete Klinik für Psychiatrie und Nervenkrankheiten der Charité, wo er sich insbesondere neurologisch betätigte. Hier kam Oppenheim zunehmend mit Patienten in Berührung, die infolge von Eisenbahn- und Fabrikunfällen an Schüttelzuständen, Aphasie, Desorientiertheit, Angstzuständen oder Schlafstörungen litten. 9 Durch eingehende klinische Beobachtungen dieser zumeist der Arbeiterschicht zugehörigen Patientenschaft gelangte Oppenheim zu der Überzeugung, ihre nervösen Symptome seien eine kausale Folge der Unfallerfahrung und würden eine eigene, abgrenzbare diagnostische Krankheitseinheit darstellen, die er 1889 in einer wegweisenden Publikation als traumatische Neurose bezeichnete. 10 Seine Theorie der traumatischen Neurose basierte auf einem mechanisch-physikalischen Erklärungsansatz. 11 Er verortete den Kern der Erkrankung in nicht sichtbaren (und mikroskopisch nicht nachweisbaren) molekularen Veränderungen des zentralen Nervensystems, Gehirns und Rückenmarks; diese seien durch die mechanische Erschütterung des Unfalls entstanden und würden die nervösen Störungen verursachen. 12 Die Genese der traumatischen Neurose wie auch die oftmals erbittert geführten Diskussionen um das Konzept Oppenheims werden nur im Kontext des vom damaligen Reichskanzlers Otto von Bismarck initiierten Aufbaus des Sozialversicherungssystems hinreichend verständlich. Das politische Kalkül Bismarcks war es, durch die Sozialversicherung den aufstrebenden Sozialdemokraten sowie sozialistischen Gewerkschaften „das Wasser abzugraben und die Arbeiter von ihren politischen Führern zu trennen.“ 13 Weite Teile der Ärzteschaft lehnten die sozialpolitischen Initiati- 7 Zur Geschichte der traumatischen Neurose wegweisend: F ISCHER -H OMBERGER , Neurose. 8 Zu Oppenheim ist in den letzten Jahren eine bemerkenswerte Fülle an Forschungsliteratur entstanden: B EWERMEYER , Oppenheim; P ECH , Oppenheim; W EBER , Nerven. 9 Vgl. L ERNER , Nieder, 17; W EBER , Nerven, 210. 10 O PPENHEIM , Neurosen. 11 H OFER , Nervenschwäche, 231. 12 L ERNER , Nieder, 17. 13 Zit. nach R ITTER , Frage, 51. Philipp Rauh 46 ven hingegen ab. 14 In der 1884 eingeführten Unfallversicherung sahen viele Ärzte beispielsweise die Gefahr, dass durch die in Aussicht gestellte Rente der Gesundungswille des verletzten oder erkrankten Arbeiters gehemmt würde. Die Folge sei eine nachhaltige Verweichlichung der Arbeiterschaft und die Züchtung einer Vielzahl so genannter Rentenneurotiker. 15 Und genau aus dieser Entwicklungslinie heraus erklärt sich die Abneigung vieler Psychiater gegenüber dem Erklärungsansatz Oppenheims, wurde doch 1889 die Ausweitung des Unfallversicherungsgesetzes auf traumatische Arbeitsunfälle beschlossen. Arbeiter konnten von da an einen Rentenanspruch geltend machen, wenn ein Unfall sie nervlich oder geistig arbeitsunfähig gemacht hatte. 16 Das Berufsprofil vieler Psychiater und Neurologen sollte sich mit dem Inkrafttreten des Gesetzes ändern, waren sie doch fortan als Gutachter für staatliche Stellen gefragt. Sich als Hüter der Staatsfinanzen gerierend warnten sie eindringlich vor den horrenden Kosten, die die Gesetzesausweitung nach sich ziehen würde. Die Gegner Oppenheims gingen von einem dramatischen Anstieg von Rentenanträgen infolge traumatischer Neurosen aus. Derartige Hochrechnungen erwiesen sich in der Berentungspraxis zwar als stark übertrieben, doch brachten solcherlei Horrorszenarien Oppenheims traumatische Neurose nachhaltig in Misskredit. 17 Unter den führenden Fachvertretern der Neurologie und Psychiatrie ließ sich eine weitverbreitende Berentungsskepsis ausmachen. Neben volkswirtschaftlichen Befürchtungen basierte diese allerdings auch auf grundsätzlichen wissenschaftlichen Bedenken. Oppenheims Widersacher zweifelten an der Legitimität der traumatischen Neurose als eigenständige diagnostische Entität. Und in der Tat hatte die auf ausführlicher Kasuistik beruhende Theorie eine entscheidende Schwachstelle. Oppenheim gelang es nicht, den Beweis für seine Behauptung einer durch das Unfalltrauma ausgelösten molekularen Veränderung des zentralen Nervensystems zu erbringen. 18 Die fehlende Beweiskraft der traumatischen Neurose erwies sich als stetes Wasser auf den Mühlen der Widersacher, die einen kausalen Zusammenhang zwischen dem Arbeitsunfall und den posttraumatisch auftretenden nervösen Störungen des Rentenantragstellers weitgehend ausschlossen. Vielmehr schrieben sie die Beschwerden der vermeintlich schwächlichen Konstitution oder dem unsteten Lebenswandel des Lohnempfängers zu, bereits früh flankiert von rassenhygienisch motivierten Mutmaßungen über seine „minderwertige Erbanlage“. 19 Einige Opponenten der traumatischen Neurose rekurrierten bei ihrer Kritik auf das Hysterie-Konzept des bedeutenden französischen Neurologen Jean-Martin Charcot. Nach Charcots Dafürhalten konnten nicht nur Frauen, sondern auch Männer infolge traumatischer Ereignisse an Hysterie erkranken. Anders als Oppenheim seine traumatische Neurose verortete der Pariser Nervenarzt die Hysterie zu- 14 K ATER , Lage. 15 M OSER , Arzt. 16 L ERNER , Nieder, 18. 17 S CHMIEDEBACH , „Neurose“. 18 Zur Theoriebildung bei Oppenheims traumatischer Neurose W EBER , Nerven, 209. 19 M ILLES / M ÜLLER , Auftrag, 46. Der Münchener Kriegskongress der Psychiater und Neurologen 1916 47 vorderst in der Psyche des Erkrankten; nicht das Trauma selbst, sondern die fixierten Vorstellungen des Betroffenen an das traumatische Geschehen würden die nervösen Störungen hervorrufen. 20 Die psychiatrischen und neurologischen Kritiker der deutschen Unfallgesetzgebung adaptierten diesen Teil der Lehre Charcots. Sie deuteten die nervösen Symptome der Lohnempfänger als Rentenbegehrungsvorstellungen. 21 Durch den Unfall habe sich, so der Tübinger Psychiater Robert Gaupp, der Seelenzustand des Arbeiters verändert. Seine Psyche werde ab diesem Zeitpunkt von Vorstellungen und Gefühlen dominiert, die ihn glauben lassen, nicht mehr arbeiten zu können. 22 Von diesem Standpunkt aus war es dann zu pauschalen Simulationsvorwürfen nicht mehr weit. Und in der Tat gingen namhafte Neurologen und Psychiater vermehrt dazu über, den unfallgeschädigten Arbeitern starke Übertreibung oder gar Simulation zu unterstellen. 23 Von der massiven Kritik an seiner Theorie zermürbt zog sich Oppenheim mehr und mehr aus den Diskussionen um die traumatische Neurose zurück. Als er jedoch nach Beginn des Ersten Weltkriegs die Leitung eines Berliner Reservelazaretts für Nervenerkrankungen übernahm, fühlte sich Oppenheim nach anfänglichen Zweifeln in seinen früheren Ansichten bestätigt. 24 Die nervösen Symptome der von ihm behandelten Soldaten interpretierte er als direkte Folge traumatischer Kriegserfahrungen, wie zum Beispiel Artilleriedetonationen in nächster Nähe, die zu molekularen Schädigungen des Zentralnervensystems führten. 25 In seinen Publikationen verkündete er selbstbewusst, die massenhaft zitternden, zuckenden oder verstummenden Soldaten würden mehrheitlich an einer traumatischen Neurose leiden und er, Oppenheim, habe im Hinblick auf sein Krankheitskonzept nichts zurückzunehmen. 26 Daraufhin brach ein wahrer publizistischer Sturmlauf gegen die traumatische Neurose los. Bis zum Beginn der Münchener Kriegstagung im September 1916 hatten sich wohl sämtliche namhafte Neurologen oder Psychiater zum Phänomen der Kriegsneurose geäußert. Dabei mochte kaum einer der Argumentation Oppenheims folgen. 27 20 H OLDORFF , Oppenheims, 108f.; P ECH , Oppenheim, 88; W EBER , Nerven, 209. 21 Bereits 1895 führte der Erlanger Neurologe Adolf von Strümpell in diesem Zusammenhang den Begriff der „Begehrungs-Vorstellung“ ein. Dazu F ISCHER -H OMBERGER , Neurose, 131f. 22 G AUPP , Einfluss, 234. 23 F ISCHER -H OMBERGER , Neurose, 56-73. 24 L ERNER , Nieder, 19; H OLDORFF , Oppenheims, 111f. 25 H OFER , Nervenschwäche, 242. 26 Vgl. beispielsweise O PPENHEIM , Neurose. 27 H OLDORFF , Oppenheims, 112. Einen profunden zeitgenössischen Überblick über die Debatten um die Kriegsneurose liefern die halbjährigen Literaturberichte des Berliner Psychiaters und Neurologen Karl Birnbaum, die er zwischen 1915 und 1917 in der „Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie“ veröffentlichte. Vgl. etwa B IRNBAUM , Kriegsneurosen. Philipp Rauh 48 3. Die gemeinsame Kriegstagung des „Deutschen Vereins für Psychiatrie“ und der „Gesellschaft Deutscher Nervenärzte“ 1916 war für die deutsche Medizin das Jahr der Kriegstagungen. Neben dem Fachkongress der Militärpsychiater und -neurologen fanden in diesem Jahr noch die Kriegstagungen der Internisten, Pathologen und Chirurgen statt. Wurden für gewöhnlich in den Jahren 1914 und 1915 wegen des Krieges keine Versammlungen der Fachgesellschaften abgehalten, sollten auf den Kongressen des Jahres 1916 die entscheidenden Weichenstellungen für die Ausrichtung der jeweiligen medizinischen Disziplinen im Krieg vorgenommen werden. 28 In den Debatten war nicht zwangsläufig die Frage nach dem Wohl bzw. der Heilung der Soldaten erkenntnisleitend. Die tagenden Mediziner zogen stattdessen in beträchtlichem Maß militärische, ökonomische oder sozialpolitische Erfordernisse in Betracht. Der Umgang mit den Patienten sollte, so die übereinstimmenden Forderungen von Staat, Militär und medizinischem Establishment, in erster Linie von den zum Erreichen der Kriegsziele notwendigen Maßnahmen diktiert werden. 29 Darüber hinaus boten die Kriegskongresse der anwesenden Ärzteschaft einen willkommenen Anlass, auf die herausragende Bedeutung der eigenen Fachdisziplin aufmerksam zu machen. In dieser Hinsicht war der Grundtenor aller Tagungen gleich: Führende Fachvertreter betonten unisono die kriegsentscheidende Bedeutung ihrer Profession. 30 Die eben skizzierten Begleitumstände lassen sich bei der gemeinsamen Kriegstagung des „Deutschen Vereins für Psychiatrie“ und der „Gesellschaft Deutscher Nervenärzte“ wie unter einem Brennglas betrachten. Dazu waren die Diskussionen der Neurologen stark personalisiert. Zwar sind interne Ränkespiele und Machtkämpfe innerhalb medizinischer Fachgesellschaften sicherlich keine Seltenheit, doch kam es in München unter den Nervenärzten zu einem regelrechten Showdown. Die fachliche Kontroverse um die traumatische Neurose ging bei den Neurologen einher mit einem Machtkampf um Deutungshoheit bzw. Vormachtstellung und mündete schließlich in einer Demontage Hermann Oppenheims, der als Mitbegründer und langjähriger Vorsitzender die Geschicke der Fachgesellschaft bis dahin maßgeblich geprägt hatte. 31 Die gemeinsame Kriegstagung stieß unter den Psychiatern und Neurologen auf große Resonanz. Mehr als 240 Kongressteilnehmer fanden sich in München ein. 32 Neben renommierten Neurologen und Psychiatern waren auch Vertreter aus der Medizinabteilung des Kriegsministeriums zugegen. Während am 22. und 23. Sep- 28 Zum Kongress der Militärinternisten R AUH , „Sieg“. Die Pathologen im Ersten Weltkrieg beleuchtet P RÜLL , Sektion. Eine zeitgenössische Dokumentation der Chirurgentagung findet sich in: Zeitschrift Medizinische Klinik 12 (1916), 550f. 29 L ERNER , Rationalizing. 30 R AUH , „Sieg“, 390. 31 Zur Rolle Oppenheims bei der Gründung und Entwicklung der „Gesellschaft Deutscher Nervenärzte“ K ARENBERG , Erfolg. 32 H OFER , Nervenschwäche, 242. Der Münchener Kriegskongress der Psychiater und Neurologen 1916 49 tember 1916 gemeinsam in der von Ernst von Romberg geleiteten Medizinischen Klinik konferiert wurde, hatte am Tag zuvor bereits eine interne Versammlung des „Deutschen Vereins für Psychiatrie“ stattgefunden. 33 Sie fand im Hörsaal von Emil Kraepelins psychiatrischer Klinik statt. Zwar sollten mit Rücksicht auf die im Rahmen der gemeinsamen Tagung geplanten großen Aussprache Stellungnahmen zur Kriegsneurose ausgeklammert werden, 34 dennoch war in den Vorträgen und Aussprachen der Psychiater das Thema allgegenwärtig. Ohne ihn beim Namen zu nennen, distanzierte sich der Berliner Psychiater Karl Bonhoeffer in seiner Eröffnungsrede von Oppenheims Lehre der traumatischen Neurose. Stattdessen betonte er den psychogenen Charakter seelischer Erkrankungen bei Soldaten im Feld. 35 Auch die daran anschließenden Diskussionsbeiträge weisen auf ein recht einheitliches Bild innerhalb der psychiatrischen Fachgesellschaft hin: Man verfocht im Hinblick auf die Kriegsneurose einen psychogenen Erklärungsansatz, die Theorie der traumatischen Neurose hingegen wurde mit großer Mehrheit abgelehnt. Im Gegensatz zu Oppenheims primär somatischem Erklärungsmodell, das einen kausalen Zusammenhang zwischen Kriegserlebnis und Ausbruch der seelischen Erkrankung durchaus anerkannte, sahen seine Kontrahenten in den nervösen Symptomen der Soldaten eine hysterische Reaktion. Sie unterstellten den „Kriegshysterikern“ einen unzureichenden Willen, den Frontalltag auszuhalten, und attestierten ihnen eine oftmals unbewusste Flucht in die Krankheit. Eine Verbindung zwischen anhaltendem seelischen Leiden und konkretem Kriegserleben schlossen sie aus. Frappierend ist, wie eng die Diskussionen sich an die Vorkriegsdebatten um die traumatische Neurose anlehnten. Im Prinzip wurden von allen Seiten die auf dem zivilen Sektor entwickelten Theorien und Anschauungen eins zu eins auf den militärischen Bereich übertragen. 3.1. Auf verlorenem Posten - Oppenheims Ringen um Deutungshoheit Ob Hermann Oppenheim von den vorangegangenen Beratungen der Psychiater detailliert Kenntnis erlangt hatte, als er am 22. September 1916 den neurologischpsychiatrischen Kriegskongress in München mit einer ausführlichen Rede über die traumatische Neurose eröffnete, ist ungewiss. Als gesichert kann jedoch gelten, dass er sich über die kritische Haltung vieler seiner Kollegen keine Illusionen machte. Insbesondere die Position Bonhoeffers war ihm hinlänglich bekannt, waren die beiden doch seit Kriegsbeginn in dieser Frage bereits mehrfach innerhalb der „Berliner Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie“ aneinander geraten. 36 Nicht zuletzt der Verlauf der Berliner Tagungen hatte Oppenheim vor Augen geführt, dass er mit seinen Anschauungen eine Minderheitenposition vertrat. Dementsprechend resigna- 33 Die Versammlung der Psychiater wird ausführlich beleuchtet in: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie und psychisch-gerichtliche Medizin 73 (1917), 163-233. 34 Ebd., 181. 35 Ebd., 166-168. 36 H OLDORFF / D ENING , Fight, 468-470. Philipp Rauh 50 tiv war auch die Tonlage seines Münchener Vortrags. 37 An mehreren Stellen seines Referates wurde zudem deutlich, wie sehr er die harsche, mitunter auch höhnische Kritik an seiner Theorie persönlich nahm. Nichtsdestotrotz unternahm er den Versuch, seine Theorie der traumatischen Neurose zu verteidigen. Für Oppenheim stand es nach wie vor außer Zweifel, dass neben dem psychischen Trauma auch „der Schreck und die rohe Gewalt der körperlichen Verletzung […] Funktionsstörungen im zentralen Nervensystem hervorrufen können“, die bei den Soldaten zu Gangstörungen, Zittern oder Stummheit führen würden. Es sei für ihn unfassbar, „wie neurologisch-psychiatrisch geschulte Ärzte den Effekt der gewaltigen psychischen Traumata des Krieges (von den mechanischen gar nicht zu sprechen) so gering schätzen können, dass sie annehmen, er bestehe nur in einem flüchtigen Eindruck auf das Nervensystem“. Seinen Kritikern, die das Entstehen von Kriegsneurosen weder auf das physische noch auf das psychische Trauma, sondern auf „sekundäre psychische Vorgänge“, sprich: auf Begehrungsvorstellungen zurückführten, hielt er die unmittelbare und damit unverfälschte Reaktion von erfolgreich therapierten Soldaten entgegen. Im Augenblick der Heilung würden diese ein derartiges Glücksgefühl und eine solch große Erleichterung verspüren, sodass „Begehrungs- oder Befürchtungsvorstellungen“ auszuschließen seien. Doch so eindrucksvoll er an dieser Stelle die Begehrungsvorstellungen des psychisch kranken Soldaten negierte, sein Vortrag war in dieser Hinsicht nicht frei von Widersprüchen. Am Ende seiner Ausführungen warf Hermann Oppenheim die Frage der Berentung von Kriegsneurotikern auf. Er gab zu, in den letzten Jahren seine grundsätzlich rentenbejahende Haltung ein Stück weit modifiziert zu haben. Er räumte ein, dass in manchen Fällen die Sicherheit einer Rente den Willen zur Gesundung tatsächlich hemme. Dementsprechend machte er sich in München die Forderung vieler Fachkollegen zueigen, anstelle einer kontinuierlichen Kriegsrente dem psychisch kranken Soldaten lediglich mit einer einmaligen Kapitalabfindung zu entschädigen. Zwar halte er „es gewiss für wahrscheinlich, dass wir mit diesen Grundsätzen in manchen Fällen den Verletzten unrecht tun werden, aber im Interesse des Grossen und Ganzen müssen diese Unbilligkeiten in Kauf genommen werden“. An dieser Stelle stimmte Oppenheim in den großen und lauten Chor jener Ärzte mit ein, die im Angesicht des Krieges bereit waren, die individuellen Bedürfnisse der eigenen Patientenschaft zumindest partiell den Interessen des Staates unterzuordnen. 38 Mit diesem Zugeständnis kam Oppenheim seinen Widersachern erstaunlich weit entgegen. Die Kritik an seiner traumatischen Neurose hatte sich seit je her sehr stark auf die ökonomischen Verwerfungen konzentriert, die ihre Aufnahme in das Unfallversicherungsgesetz angeblich mit sich gebracht habe. In diesem Zusammenhang wurde Oppenheim ausdauernd als Naivling verunglimpft, der durch seine Lehre von der traumatischen Neurose noch jedem Arbeiter sein Rentenbegehren ermöglicht und damit dem Staat ein Millionengrab geschaufelt habe. Offenkundig 37 Der Vortrag Oppenheims findet sich in: Deutsche Zeitschrift für Nervenheilkunde 56 (1917), 4-37. Sofern nicht anders vermerkt basieren die folgenden Ausführungen und Zitate auf ebd. 38 Vgl. etwa P ECKL , Krank, 34-36. Der Münchener Kriegskongress der Psychiater und Neurologen 1916 51 sah er sich in der nationalistisch aufgeladenen Atmosphäre der Kriegsjahre (wie auch der Kriegstagung) nicht dazu im Stande, seinen Kurs auch auf die Belange der seelisch kranken Soldaten zu übertragen. Sollte Hermann Oppenheim indes gehofft haben, durch das Eingeständnis in der Berentungsfrage zumindest Teile seiner traumatischen Neurose über die Münchener Tagung hinweg zu retten, so machte der darauffolgende Vortrag von Max Nonne etwaige Hoffnungen zunichte. 3.2. „Jetzt oder nie“ - Max Nonne als (selbsternannter) Don Carlos der Münchener Tagung Der Hamburger Neurologe Max Nonne hielt in München nicht nur den ausführlichsten, sondern sicherlich auch den eindringlichsten und überzeugendsten Vortrag. 39 Er zeigte sich bestens vorbereitet, rhetorisch versiert und fest entschlossen, in München einen grundlegenden Wandel herbeizuführen. Denn für ihn, darin ließ er in seiner Rede keinen Zweifel aufkommen, hatte die traumatische Neurose von Beginn an keine eigenständige Krankheitseinheit dargestellt. Vielmehr seien die von Oppenheim erwähnten nervösen Störungen als „eine Reaktion des Verletzten auf die durch den entschädigungspflichtigen Unfall für ihn neu geschaffene Situation anzusehen“. An seinem Urteil hätten auch die Erkenntnisse des Krieges nicht das Geringste geändert. Ganz im Gegenteil würden doch gerade die Erfahrungen der Kampfhandlungen eindeutig zeigen, dass Kriegsneurosen auch ohne somatische Traumen und somit auch ohne organische Veränderungen im Nervensystem auftreten könnten. Nonne stufte das Zittern, Zucken, die Gangstörungen oder das Verstummen von Soldaten vielmehr als hysterische Reaktionen ein. Nonnes Bekenntnis zur Krankheitsbezeichnung der Kriegshysterie ist insofern von Bedeutung, da er zu eben jenen Neurologen und Psychiatern gehörte, die bei aller Skepsis gegenüber der traumatischen Neurose sich lange Zeit ausgesprochen schwer damit taten, die ursprünglich als reine „Frauenkrankheit“ eingestufte Hysterie auch bei deutschen Männern bzw. Soldaten zu diagnostizieren. 40 Entsprechend ambivalent sind auch seine weiteren Ausführungen zum Hysterie-Begriff. Auf der einen Seite gab er zu verstehen, dass nahezu jeder Soldat aufgrund seiner Kriegserlebnisse zumindest kurzzeitig hysterisch werden könne. In diesem Zusammenhang appellierte er auch an seine Kollegen, diese Kriegsteilnehmer keinesfalls zu stigmatisieren. Andererseits nahm er an der einen oder anderen Stelle seines Referats selbst Verunglimpfungen vor, in dem er den Kriegshysterikern pauschal ein „defektes Gesundheitsgewissen“ oder „Rentenbegehren“ attestierte. Um auch noch die letzten Zweifler von der Richtigkeit seines psychogenen Erklärungsansatzes zu überzeugen, hatte sich Max Nonne für seinen Auftritt in München eine besondere Darbietung ausgedacht. Er hatte aus seiner Hamburger Klinik mehrere Soldaten mitgebracht, die als Kriegsneurotiker eingeliefert und von ihm 39 Auch Nonnes Referat ist abgedruckt in: Deutsche Zeitschrift für Nervenheilkunde 56 (1917), 37-115. Sofern nicht anders vermerkt, basieren die folgenden Ausführungen und Zitate aus ebd. 40 H OFER , Nervenschwäche, 226-231. Philipp Rauh 52 symptomfrei gemacht worden waren. Vor den Augen der Kongressteilnehmer gelang es Nonne, bei diesen Männern mittels Hypnose Zittererscheinungen, Aphonie und spastisches Stottern erneut hervorzurufen und auch wieder zum Verschwinden zu bringen. Auf sein Publikum machte er mit dieser spektakulären Vorführung großen Eindruck. 41 Offensichtlich gefiel sich Nonne in der Schauspielrolle eines omnipotenten Heilers, der über magische therapeutische Fähigkeiten zu verfügen schien. 1918 sollte er seine Behandlungsmethoden auch in Form eines Stummfilms präsentieren. Unter dem Titel: „Funktionell-motorische Reiz- und Lähmungszustände bei Kriegsteilnehmern und deren Heilung durch Suggestion in Hypnose“ wurden insgesamt 14 Fälle von „Kriegsneurose“ vorgeführt. 42 Während seiner Rede in München drang Max Nonne wiederholt auf eine Entscheidung in der Kriegsneurotiker-Frage. Der Hamburger Neurologe beschwor die anwesenden Psychiater und Neurologen regelrecht, sich einhellig den Befürwortern einer psychologischen Betrachtungsweise anzuschließen. Dem Auditorium präsentierte er sich dabei als ausgewiesener Kenner der Werke Friedrich Schillers: „Ein dringendes praktisches Bedürfnis nach einer einheitlichen Nomenklatur liegt vor, das fühlen wir alle. Wir sollten in diesem Kreise möglichst zu einer Übereinstimmung kommen, denn unser Kreis ist der gegebene Vertreter der hierin Sachverständigen, und mit Don Carlos möchte ich rufen: ‚Jetzt oder nie‘.“ Die eingeforderte Grundsatzentscheidung sollte jedoch, wenn es nach dem Hamburger Neurologen und beflissenen Bildungsbürger Nonne ginge, 43 über den militärischen Sektor hinausreichen. Die nach dem Krieg zu erwartenden Rentenforderungen psychisch kranker Soldaten boten ihm Anlass genug, zu einem Rundumschlag gegen die Missstände des Unfallversicherungsgesetzes auszuholen. Selbst wenn man um die Aversionen vieler Ärzte dieser sozialpolitischen Maßnahme gegenüber weiß, überrascht es einen doch, welch einen dominanten Raum das Thema in Nonnes Vortrag einnahm. Über ganze Seiten hinweg nahm er sich die Fehlentwicklungen der Unfallversicherung vor, wobei er inständig hoffte, die Erfahrungen des Krieges würden zu einer Revision des Gesetzes führen. In seinem Furor gegen die Unfallversicherung verkam die Kriegsneurotiker-Frage teilweise zum Nebenkriegsschauplatz bzw. erschien mitunter als bloßes Mittel zum Zweck, um damit endlich die verhasste Gesetzgebung aushebeln zu können. Generell erzeugte Max Nonne bei seinen Zuhörern wohl ein Wechselbad der Gefühle. Zuweilen argumentierte er sehr differenziert und nachdenklich, etwa bei den Aussichten, Soldaten wieder kriegsdienstfähig zu therapieren. Weiterhin gab er durchaus selbstkritisch zu Bedenken, dass den Meinungsmachern in der Debatte um die Kriegsneurose weitestgehend die Fronterfahrung fehle, um die Wirkung der Kriegserlebnisse auf den Soldaten auch adäquat einschätzen zu können. Darüber hinaus zollte er auch wiederholt dem „Altmeister“ Oppenheim seinen großen Re- 41 Ebd., 242. 42 Zu derartigen filmischen Aktivitäten im Ersten Weltkrieg K ÖHNE , Kriegshysteriker, 202- 214. 43 Neben Schiller brachte Nonne an späterer Stelle seiner Ausführungen auch noch Goethe ins Spiel, den er als vorausahnenden Gegner der Unfallversicherung zu vereinnahmen versuchte. Der Münchener Kriegskongress der Psychiater und Neurologen 1916 53 spekt. Trat er hier und da gewissermaßen mit dem verbalen Florett für seine Überzeugungen ein, konnte er schon im nächsten Absatz - allen voran wenn es um die traumatische Neurose im Rahmen des Unfallversicherungsgesetzes ging - mit der argumentativen Abrissbirne unterwegs sein. Der als Referent auf Nonne folgende Robert Gaupp hatte allem Anschein nach das Florett gleich ganz zu Hause gelassen. 3.3. Tabula rasa durch Robert Gaupp Während Max Nonne in seinem Vortrag Hermann Oppenheim gegenüber - sei es aus aufrichtiger Ehrfurcht vor einem der Nestoren der Neurologie in Deutschland, sei es aus taktischer Vorsicht vor dem aktuellen Vorsitzenden der Fachgesellschaft - bei aller inhaltlichen Kritik respektvoll auftrat, hielt sich der Tübinger Psychiater Gaupp mit derlei Etikette nicht lange auf. 44 Mühte er sich zu Beginn seines Referates noch um exakte wissenschaftliche Definitionen der im Zuge der Diskussionen um die Kriegsneurose beständig wiederkehrenden Begriffe wie „Neurasthenie“, „Neurose“, „organisch“, „funktionell“ oder „psychogen“, so ging er danach zum rhetorischen Angriff über. 45 Auch Gaupp ließ keinen Zweifel daran, dass er die Lehre von der traumatischen Neurose für eine historische Fehlentwicklung halte, der es nun endlich Einhalt zu gebieten gelte. In diesem Zusammenhang ging er Oppenheim auch frontal an und warf ihm unverhohlen Dogmatismus vor. Die Haltung Gaupps überrascht nicht, zählte er doch, wie erwähnt, bereits vor Beginn des Ersten Weltkriegs zu Oppenheims schärfsten Kritikern. Folgerichtig deutete er auch die Ätiologie der Kriegsneurose grundlegend anders als der Berliner Neurologe. Für Robert Gaupp handelte es sich bei den „weitaus [...] meisten Kriegsneurosen um psychopathische Reaktionen auf eine relativ zu starke Belastung der seelischen Gesundheit“. Seines Erachtens spiele bei der hysterischen Erkrankung die schwache „psychische Struktur“ eine herausragende Rolle; diese wiederum sei erblich disponiert. Gaupp sah somit im „minderwertigen Erbgut“ den zentralen Erklärungsansatz, warum manche Soldaten während ihres Kriegsdienstes seelisch zusammenbrechen - und andere Kriegsteilnehmer, die Vergleichbares erlebt hätten, eben nicht. Mochten die Strapazen an der Front Auslöser nervöser Störungen sein, für Psychiater wie den Tübinger Ordinarius waren sie keinesfalls die Ursache für eine anhaltende Kriegsneurose. 46 Zwar könne auch ein erbgesunder Soldat auf extreme Kriegserlebnisse mit Zittern, Heulkrämpfen oder Schwäche in den Beinen reagieren. Nach einer ruhigen Nacht wären die Symptome für gewöhnlich jedoch wieder verschwunden. Indem er psychisch kranke Soldaten als erbkranke Psychopathen charakterisierte, schob Gaupp die Verantwortung für das Problem auf die Betroffenen selbst ab. Kriegsneurosen entstünden, so seine Logik, nicht durch den Krieg, sondern durch 44 Zum Tübinger Psychiater siehe ausführlich L EINS , Gaupp. 45 Gaupps Referat ist ebenfalls abgedruckt in: Deutsche Zeitschrift für Nervenheilkunde 56 (1917), 115-150. Sofern nicht anders vermerkt, stammen auch hier die folgenden Ausführungen und Zitate aus ebd. 46 H OFER , Nervenschwäche, 351. Philipp Rauh 54 das vermeintlich „minderwertige Menschenmaterial“. 47 Seine Ausführungen zeigen, wie stark rassenhygienische Motive bereits während des Ersten Weltkriegs den psychiatrischen Diskurs bestimmten. 48 Befeuert wurde der Rekurs auf rassenhygienische Theorien durch bevölkerungspolitische Untergangsszenarien. 49 Denn anders als noch zu Beginn auch von vielen Ärzten erhofft, bewirkte das „Stahlbad des Krieges“ mitnichten eine entscheidende Verbesserung des nationalen Genpools. 50 Ganz im Gegenteil sahen Robert Gaupp und mit ihm viele seiner Kollegen in dem millionenfachen Sterben (erb)gesunder junger Männer auf den Schlachtfeldern eine „negative Auslese dieses Krieges“. Angesichts einer fortschreitenden Degeneration des „Volkskörpers“ sollte umso härter und kompromissloser mit jenen „erbschwachen“ Soldaten umgegangen werden, die an der Front versagten bzw. sich dem Kriegsdienst entziehen wollten. Aus dieser Haltung heraus erklärt sich auch Gaupps latente Geringschätzung der Kriegsneurotiker. Eine Geringschätzung freilich, die im Laufe seiner Münchener Rede auch in regelrechte Verachtung umschlagen konnte, so zum Beispiel, wenn er sich über den auf „ethischen Defekten“, „Selbstsucht und Rücksichtslosigkeit“ gründenden fehlenden Gesundungswillen dieser „Psychopathen“ echauffierte. Ungeachtet aller schrillen Töne, die während der Kriegstagung von mehreren Psychiatern und Neurologen zu vernehmen waren, wäre es jedoch verkürzt, die Gegenspieler Oppenheims lediglich als Rassenhygieniker und reaktionäre Kritiker des Sozialstaates abzustempeln. Auch wenn er dies in München hinter nationalistischer Aufwallung, ätzender Kollegenschelte und radikaler Verunglimpfung psychisch kranker Soldaten weitgehend zu verbergen wusste, so zählte doch gerade Robert Gaupp zu den innovativsten Vertretern seiner Zunft. 51 Gaupp sah sich durch die Betonung der seelischen Faktoren bei Entstehung und Verlauf der Kriegsneurose in seiner Ansicht bestärkt, dass die Psychiatrie „nicht nur ein Zweig der naturwissenschaftlichen Medizin“ sei, sondern sie darüber hinaus auch mit der „Erforschung der psychischen Zusammenhänge zu tun“ habe. 52 Er erhoffte sich somit von den Beschlüssen der Münchener Tagung eben auch ein Aufweichen des naturwissenschaftlichen Dogmatismus innerhalb der Psychiatrie. Die Stärke des psychogenen Erklärungsansatzes - nicht zuletzt auch der Theorie Oppenheims gegenüber - 47 K AUFMANN , Gehirne, 220. 48 Bei ihrer Hinwendung zu rassenhygienischen Erklärungsansätzen stellten die Psychiater und Neurologen keine Ausnahmen dar. Ein Blick auf den Kriegskongress der Internisten zeigt eine vergleichbare Entwicklung. Auch hier erklärten führende Militärinternisten das massenhafte Auftreten von Herz- und sonstigen Erschöpfungskrankheiten mit den schlechten Erbanlagen der Soldaten (vgl. ausführlich R AUH , „Sieg“). Dies deutet darauf hin, dass während des Ersten Weltkriegs rassenhygienische Denkmuster zu einer der Leitvorstellungen innerhalb der gesamten Militärmedizin aufstiegen (vgl. P RÜLL , Bedeutung, 366). 49 Zur Geschichte der Rassenhygiene in Deutschland grundlegend W EINGART / K ROLL / B AYERTZ , Rasse. 50 Vgl. auch H OFER , Nervenschwäche, 350-358. 51 S CHOTT / T ÖLLE , Geschichte, 141-146. 52 Generell zum psychiatrischen Konzept Gaupps L EONHARDT , Psychiatrie, 370f., zit. nach ebd. Der Münchener Kriegskongress der Psychiater und Neurologen 1916 55 war die integrative Kraft, die von ihm ausging: Ganz gleich ob rassenhygienisch, konstitutionsbiologisch, mehrdimensional oder psychotherapeutisch orientierte Psychiater und Neurologen - die Repräsentanten ganz verschiedener Strömungen konnten sich in diesem Konzept wiederfinden. 53 Insofern überrascht auch der Ausgang der Diskussion nicht. 3.4. „Der Begriff ‚traumatische Neurose‘ sollte als eine interessante und dankeswerte wissenschaftliche Episode der Vergangenheit überliefert werden“ 54 - Die Diskussion Die Aussprache der Kongressteilnehmer begann unmittelbar im Anschluss an die drei Referate und wurde am nächsten Morgen fortgesetzt. Die Diskussion verlief eindeutig. Eine überwältigende Mehrheit bezog Position gegen die traumatische Neurose und plädierte für den psychologischen Erklärungsansatz bei der Kriegsneurose. 55 Oppenheim selbst gab sich im Anschluss an die Diskussion überrascht und regelrecht schockiert von der massiven Ablehnung, auf die er mit seinen Ansichten gestoßen war. Von den rund 30 Teilnehmern, die sich zu Wort meldeten, stellten sich mit Ludwig Mann (Breslau), Georg Voss (Düsseldorf) und Arthur von Sarbó (Budapest) lediglich drei Mediziner mehr oder minder vorbehaltlos hinter sein Konzept der traumatischen Neurose. 56 Kein Zufall war es indes, dass es sich hierbei allesamt um Neurologen handelte. Aus ihrem Kreis rekrutierten sich nicht nur die letzten treuen Unterstützer Oppenheims, sondern man ging hier - im Vergleich zu den Diskussionsbeiträgen von psychiatrischer Seite - wesentlich moderater mit Oppenheim um. Wenn auch die in München anwesenden Neurologen mehrheitlich seine Theorie ablehnten, bekundeten sie doch beinahe unisono ihren Respekt vor dem Nestor ihres Faches. Wiederholt hob man die Verdienste Oppenheims hervor, dazu gab es pflichtschuldige Versuche, ihm Brücken zu bauen, um ihm auf diese Weise - ohne vollständigen Gesichtsverlust - doch noch den Wechsel in das gegnerische Lager zu ermöglichen. 57 Allerdings wird Oppenheim die eine oder andere Respektsbekundung sehr wahrscheinlich als das empfunden haben, was sie im Endeffekt wohl auch war, nämlich ein vergiftetes Lob. Wenn beispielsweise der Hamburger Neurologe Arnold Lienau dazu aufrief, die traumatische Neurose „als eine interessante und dankeswerte wissenschaftliche Episode der Vergangenheit“ zu überliefern, dann war die Grenze zwischen Lobhudelei und Verhöhnung doch recht fließend. 58 Auffällig ist, dass 53 R AUH , Therapiemethoden, 34 bzw. 46. 54 Zit. nach Arnold Lienau, in: Deutsche Zeitschrift für Nervenheilkunde 56 (1917), 198. Die einzelnen Wortmeldungen der Kongressaussprache sind überliefert in: ebd., 150-205. 55 L ERNER , Hysterical Men, 76. 56 Von Sarbó gehörte zur Gefolgschaft österreich-ungarischer Psychiater und Neurologen, die an der Münchener Tagung teilnahmen. H OFER , Nervenschwäche, 243f. 57 Vgl. etwa den Diskussionsbeitrag des Bonner Neurologen Theodor Rumpf, in: Deutsche Zeitschrift für Nervenheilkunde 56 (1917), 171-173. 58 Zit. nach Lienau, in ebd. 198. Philipp Rauh 56 sich neben Lienau mit Alfred Böttiger, Alfons Jakob, Ernst Trömner und Alfred Saenger vier weitere Hamburger Neurologen mit Wortmeldungen in die Diskussion einmischten, wobei sie sich argumentativ ausnahmslos hinter Max Nonne versammelten. 59 Ob es im Vorfeld Absprachen gegeben hatte, lässt sich zwar nicht mit Bestimmtheit sagen, kann aber als äußerst wahrscheinlich gelten. In jedem Fall würde eine konzertierte Aktion der Hamburger Neurologen perfekt in das Bild einer von Max Nonne generalstabsmäßig vorbereiteten Münchener Inszenierung passen, in der nichts dem Zufall überlassen wurde. Und an deren Ende nicht nur die Ablösung der traumatischen Neurose, sondern auch ein Machtwechsel innerhalb der „Gesellschaft Deutscher Nervenärzte“ als unausweichlich erscheinen würde. Beide Ziele sollte Nonne erreichen. Nachdem Oppenheim in München gewahr wurde, wie isoliert er mit seinen Ansichten war, legte er nur wenige Tage nach dem Ende des Kriegskongresses den Vorsitz der Fachgesellschaft nieder. 60 Sein Nachfolger wurde Max Nonne. 61 In München wurde neben der bereits bekannten Kritik an der fehlenden Beweisbarkeit der Theorie Oppenheims von mehreren Diskutanten noch ein weiteres Argument aufgeführt. Für den psychogenen Charakter der Kriegsneurose würde auch sprechen, dass es in den Kriegsgefangenenlagern nur eine verschwindend geringe Anzahl an Soldaten gebe, die über derartig nervöse Symptome klagten. 62 Der Psychiater Friedrich Mörchen, während des Ersten Weltkriegs als Arzt in einem französischen Kriegsgefangenenlager in Darmstadt tätig, gab an, er hätte unter den 60.000 gefangenen Soldaten lediglich acht Kriegsneurotiker gesehen. 63 Karl Wilmanns unterbot Mörchens Zahlen sogar noch. Er wollte unter 80.000 Kriegsgefangenen, die sich in den Lagern seines Armeekorps befänden, ganze fünf Kriegshysteriker entdeckt haben. 64 Diese Soldaten, so die übereinstimmende Schlussfolgerung, lebten in dem Wissen, dass der Krieg für sie zu Ende sei, weshalb sie keine unbewusste Flucht weg von der Front hinein in die Krankheit entwickelten. 65 In der Diskussionsrunde kamen mehrfach die unzureichenden Therapiemöglichkeiten in unmittelbarer Nähe der Kampfhandlungen zur Sprache. In einer schnellen und fachgerechten Erstversorgung sahen die Psychiater und Neurologen jedoch beinahe die einzige Möglichkeit, den Kriegsneurotiker wieder fronttauglich zu therapieren. Wäre der Soldat erst einmal in die Heimat gelangt, sei es ungleich schwerer, ihn erfolgreich zu behandeln, da er es sich bereits in seiner Erkrankung eingerichtet habe. Aus diesem Grunde verabschiedeten die beiden Fachgesellschaften 59 Aus keiner anderen Stadt meldeten sich mehr Teilnehmer zu Wort. 60 P ECH , Oppenheim, 89. 61 Nonne wurde auf der nächsten Jahrestagung, die 1917 in Bonn stattfand, zum neuen Vorsitzenden gewählt. Oppenheim wiederum wurde in seiner Abwesenheit zum Ehrenvorsitzenden ernannt, ein untrügliches Zeichen, dass man auf seine Expertise keinen gesteigerten Wert mehr legte. Vgl. Deutsche Zeitschrift für Nervenheilkunde 57 (1918), 190. 62 Auch die drei Hauptredner Oppenheim, Nonne und Gaupp hatten bereits auf dieses Phänomen hingewiesen. 63 Deutsche Zeitschrift für Nervenheilkunde 56 (1917), 162f. 64 Ebd., 199. 65 L ERNER , Nieder, 19. Der Münchener Kriegskongress der Psychiater und Neurologen 1916 57 einen gemeinsamen Antrag, der die Militärbehörden dazu aufforderte, die frontnahe Psychiatrie und Neurologie auszubauen. Während bei dieser Initiative weitgehende Übereinstimmung herrschte, traten an einem anderen Punkt durchaus Meinungsverschiedenheiten zu Tage. 66 3.5. Die Diskussionen um die „aktive Kriegsneurotikertherapie“ - und die Frage nach ihrer Umsetzung im Behandlungsalltag des Ersten Weltkriegs Der psychogene Erklärungsansatz war noch aus einem weiteren Grund attraktiv. Ging Oppenheim bei der traumatischen Neurose noch von einem determinierten, kaum zu beeinflussenden Krankheitsprozess aus, so gaben sich Gaupp und seine Unterstützer von einem psychologisch beeinflussbaren Verlauf und guten Heilungschancen überzeugt. Ein Höhepunkt auf dem Kongress der Militärpsychiater und -neurologen war denn auch die Präsentation der so genannten „Kaufmann-Kur“. Das oberste Prinzip des Psychiaters Fritz Kaufmann war die „Heilung“ des „Kriegsneurotikers“ in einer Sitzung. 67 Die Behandlung begann mit einer suggestiven Vorbereitung, in der dem Patienten unmissverständlich die Entschlossenheit des Therapeuten signalisiert wurde. Daraufhin verabreichte Kaufmann dem Soldaten „kräftige Wechselströme“ in dreibis fünfminütigen Intervallen. Sie wurden durch Suggestion in scharfem militärischen Befehlston begleitet. „Der gewaltige Schmerzeindruck“, so gab sich Kaufmann überzeugt, würde den Patienten „in die Gesundung hinein zwingen“. 68 Darüber hinaus wurden in München auch noch weitere brachiale Therapiemethoden diskutiert. Beispielsweise hatte der Psychiater Ferdinand Kehrer im badischen Hornberg die Methode des „Zwangsexerzierens“ entwickelt, wohinter sich militärischer Drill, verstärkt durch elektrische „Hilfen“, verbarg. 69 Soldaten wiederum, denen das Kriegserleben buchstäblich die Sprache verschlagen hatte, erwartete die so genannte Mucksche Kehlkopftherapie, benannt nach dem Essener Neurologen Otto Muck. Hierbei wurde den verstummten Kriegsteilnehmern eine metallische Kugel in den Kehlkopf eingeführt. Durch die dadurch verursachte Erstickungsangst sollte der Patient seine Sprachfähigkeit wiedererlangen. 70 Den drakonischen Behandlungsmethoden war gemein, dass sie allesamt - neben physischen Interventionen - auf die Kraft der Suggestion setzten. Somit handelte es sich im Kern um Psychotherapie - „wenn auch in ihrer rohesten und äußerlichsten Form“. 71 Nachdem Fritz Kaufmann seine Überrumpelungsmethode in München vorgestellt hatte, war das Interesse im Kollegenkreis geweckt. Viele Ärzte, die während des 66 Vgl. L ILIENSTEIN in: Deutsche Zeitschrift für Nervenheilkunde 56 (1917), 178. 67 Zum Werdegang Fritz Kaufmanns H OFER , Nervenschwäche, 295-302. 68 In publizistischer Form stellte Kaufmann seine Therapie dar in: K AUFMANN , Heilung zit. nach ebd. 69 Kehrer als Militärpsychiater im Ersten Weltkrieg beleuchtet M AMALI , „Ideal“, 252-255. 70 M UCK , Heilung. 71 Zit. nach K RONFELD , Psychotherapie, 454f. Philipp Rauh 58 Krieges die „Kaufmann-Kur“ angewandt hatten, sprachen von Heilungsquoten von bis zu 95 Prozent. 72 Tatsächlich scheint sich in Anbetracht einer riesigen, letztlich jedoch unrealistischen Heilungseuphorie die in München geführte Debatte verselbständigt zu haben. Denn ganz so einmütig und euphorisch, wie in der Folgezeit kolportiert wurde, war die Stimmung während des Kriegskongresses nicht gewesen. Es entwickelte sich vielmehr eine kontroverse Diskussion, in der überaus kritische Stimmen zu den drakonischen Therapien zu vernehmen waren. Und selbst ihre Befürworter, wie zum Beispiel Max Nonne, betonten in München, dass es bei der Elektro-Suggestivbehandlung primär um die Wiedererlangung der Symptomfreiheit ginge und dies eben nicht mit einer vollständigen Heilung gleichzusetzen sei. Sowohl Kaufmann als auch Nonne beurteilten zudem die Chancen, die symptomfreien Soldaten wieder zurück an die Front zu schicken, skeptisch. Überaus prononciert bezog der Kölner Psychiater Gustav Aschaffenburg gegen die „aktive Kriegsneurotikertherapie“ und dem zugrundeliegenden Blick auf die Soldaten Stellung. 73 Zu Beginn seiner Wortmeldung betonte er, kein Anhänger der traumatischen Neurose zu sein. Aber auch an den Ausführungen der Oppenheim- Gegner hatte er einiges auszusetzten. Ihm wolle „es nicht in den Kopf“, so seine deutliche Kritik vor allem an Gaupps Adresse, „weshalb wir den Menschen, deren Nervensystem durch eine unglückliche Veranlagung gegenüber den unerhörten Anforderungen des Krieges nicht die nötige Widerstandsfähigkeit besitzt, von vorneherein solche Vorwürfe machen sollen, die sich [...] in Worten wie: Begehrungsvorstellungen, Rentensucht, Defekt des Gesundheitsgewissens usw. verdichteten“. Interessant ist, dass auch Aschaffenburg bei den Kriegsneurotikern von einer erblichen Disposition ausging, er jedoch anders als Gaupp seine Kollegen zu einem respektvolleren Umgang mit der eigenen Patientenschaft ermahnte. 74 In dieses Bild passt auch Aschaffenburgs Skepsis gegenüber den brachialen Therapiemethoden. Durch deren Anwendung, die „hier so warm empfohlen worden ist“, laufe man Gefahr, „die Grenzen dessen aus dem Auge zu verlieren, was bisher zulässig erschien“. Eindringlich fragte er die Kongressteilnehmer, was denn erreicht sei, „wenn das äußere Symptom verschwindet? [...] Bisher galt es doch als die wichtigste Aufgabe des Arztes, die Krankheit zu heilen, nicht die Krankheitserscheinungen zu beseitigen“. Auch wenn die ablehnende Haltung Aschaffenburgs in München keine Ausnahme darstellte, 75 so bejahte eine Mehrheit der anwesenden Neurologen und Psychiater die „aktive Kriegsneurotikertherapie“. Robert Gaupp hatte auch hierfür in seinem Vortrag bereits den Rahmen abgesteckt, in dem er die „moralische Verurtei- 72 M ICHL , Dienste, 219. 73 Aschaffenburgs Wortmeldung findet sich ebenfalls in: Deutsche Zeitschrift für Nervenheilkunde 56 (1917), 180f. Sofern nicht anders vermerkt, basieren die folgenden Ausführungen und Zitate auf ebd. 74 Auch auf seinem Spezialgebiet, der forensischen Psychiatrie, zeigte sich Aschaffenburg gegenüber Erbpsychiatrie und negativer Eugenik durchaus aufgeschlossen. Vgl. S IMON , Kriminalbiologie, 39. 75 Ebenfalls sehr kritisch äußerten sich u.a. Ludwig Mann sowie der Frankfurter Neurologe Kurt Goldstein. Der Münchener Kriegskongress der Psychiater und Neurologen 1916 59 lung einzelner brüsker Methoden“ zurückwies. Denn sei die „Moral des Arztes bei seinem Vorgehen unanfechtbar, ist er nur vom Willen zu heilen erfüllt, so ist auch jede Methode erlaubt, sofern sie wirklich hilft“. 76 Bemerkenswert ist, wie die Propagandisten der „aktiven Kriegsneurotikertherapie“ dem Vorwurf begegneten, die Methoden seien zu schmerzhaft für die Soldaten. Sich der populären „Volkskörper“- Rhetorik bedienend wies der Koblenzer Oberstabsarzt Dr. Rieder darauf hin, dass der Arzt im Kriege nicht nur dem einzelnen Kranken, sondern der Allgemeinheit gegenüber verpflichtet sei. Dieser Paradigmenwechsel rechtfertige auch derart schmerzhafte Behandlungsmethoden. 77 Der Tübinger Internist und Neurologe Otto Naegeli wiederum unterstellte den Kriegshysterikern übermäßige Wehleidigkeit und riet, „sich dadurch von der energischen Durchführung seiner ärztlichen Absicht keineswegs beeinflussen [zu] lassen.“ 78 In der bisherigen Forschungsliteratur über die Militärpsychiatrie im Ersten Weltkrieg wurde lange Zeit eine Dominanz der in München propagierten drakonischen kriegspsychiatrischen Konzepte für den Behandlungsalltag unterstellt. 79 Diese These konnte allerdings in den letzten Jahren anhand empirischer, zumeist auf Krankenakten basierender Forschungen erheblich modifiziert werden. 80 Die Lazarettakten weisen auf eine differenzierte Behandlungspraxis hin, in der lediglich ein Viertel der Kriegsneurotiker mit Hilfe einer kombinierten Suggestiv- und Elektrotherapie behandelt wurden. Stattdessen ging es in der alltäglichen Arbeit primär um eine Wiederherstellung der psychischen wie auch physischen Kräfte mit einfachen roborierenden Maßnahmen. Den Soldaten wurden in diesen Fällen vor allem Bettruhe, kräftigende Kost sowie Beruhigungsmittel wie Brom oder Baldrian verordnet. Darüber hinaus gestand man ihnen mit durchschnittlich zwei Monaten durchaus Zeit zur Regeneration zu. Für die meisten Truppenärzte stand es dabei außer Frage, dass die seelischen Erschütterungen des Soldaten einzig und allein auf seinen nervenaufreibenden und strapaziösen Kriegsdienst zurückzuführen seien. 81 Das Deutungsmonopol über die Kriegsneurose hatte jedoch eine kleine Gruppe von Universitätsprofessoren inne. Diese hielten sich während des Krieges zum größten Teil in der Heimat auf und erlebten das Kriegsgeschehen nur in gefilterter Form. In dieser Diskrepanz bzw. fehlenden Praxisnähe ist sicherlich ein wichtiger Grund zu sehen, warum die in München erhobenen Forderungen nach konsequenterem und schnellerem Durchgreifen keinen entscheidenden Einfluss auf den thera- 76 Zit. nach Gaupp, in: Deutsche Zeitschrift für Nervenheilkunde 56 (1917), 148. 77 Ebd., 199f. 78 Zit. nach Naegeli, in: ebd., 203. 79 Vgl. etwa bei K AUFMANN , Gehirne; R IEDESSER / V ERDERBER , „Maschinengewehre“. 80 So wurden beispielsweise im Zuge des Forschungsprojektes „Krieg und medikale Kultur. Patientenschicksale im Zeitalter der Weltkriege“ knapp 500 Lazarettakten psychisch kranker Soldaten des Ersten Weltkriegs ausgewertet. Die Ergebnisse dieses Projektes sind zusammengefasst in: P RÜLL / R AUH , Krieg, hier bes. P ECKL , Krank. Die folgenden Angaben aus ebd., 60-80. 81 Neue Lokalstudien machen überdies deutlich, dass auch in den Heimatlazaretten oftmals an den herkömmlichen Therapien festgehalten wurde. Vgl. H ERMES , Krankheit; F ANGERAU , Sanatorium. Philipp Rauh 60 peutischen Alltag an der Front hatten. In der fehlenden Härte im Kampf gegen die Kriegsneurotiker sah die militärpsychiatrische Elite retrospektiv auch den Grund, warum man das Phänomen im Ersten Weltkrieg letztlich nicht in den Griff bekommen hatte. Aus dieser Logik heraus entwickelten sie auch die Forderung an Kollegen, Militär und Politik, ihre Lehrmeinung in Zukunft konsequenter umzusetzen. 82 Doch bis es soweit war, vergingen noch einige Jahre. Während die Vertreter der „herrschenden Lehre“ in der Weimarer Republik im Zuge der Versorgungsfragen psychisch kranker Soldaten noch vergeblich für eine umfassende Umsetzung ihrer Vorstellungen fochten, avancierte ihr Erklärungsansatz im Nationalsozialismus zur unumstößlichen Lehrmeinung. An dem Konzept sollte bis in die 1960er Jahre hinein auch in der Bundesrepublik festgehalten werden. 83 4. Resümee Der Münchener Kongress vom September 1916 muss als Kulminationspunkt für die psychiatrischen und neurologischen Debatten um die Kriegsneurose gelten. Überraschend waren die dort gefassten Beschlüsse jedoch nicht. Dafür waren die Vorbehalte gegenüber Oppenheims Theorie bereits weit vor dem Ersten Weltkrieg zu groß gewesen. Die Geschichte der traumatischen Neurose wie auch der Verlauf der Münchener Tagung zeigen eindrücklich, dass medizinische, insbesondere psychiatrisch-neurologische Wissensgenerierung äußerst selten im wissenschaftlichen Elfenbeinturm stattfindet. Derartige Grundsatzentscheidungen werden vielmehr immer auch von sozial-, gesellschafts- und gesundheitspolitischen Fragestellungen und spezifischen Machtkonstellationen beeinflusst. 84 Beeindruckend, wenn auch keineswegs durchgängig in positiver Hinsicht, war Max Nonnes Auftritt in München. Hier kann man sicherlich von einer perfekten Choreographie sprechen. Nonne hielt nicht nur einen fesselnden Vortrag, sondern sorgte mit seiner Hypnose-Inszenierung bei den Tagungsteilnehmern für ehrfürchtiges Erstaunen. Zudem warteten allem Anschein nach seine Hamburger Kollegen nur darauf, in der Diskussion für ihn Partei zu ergreifen. Ob der Dynamik im Vorfeld hätte es diesen beeindruckenden Auftritt wahrscheinlich gar nicht gebraucht. Im Prinzip war den Gegnern der traumatischen Neurose bereits zu Beginn der Tagung eine Mehrheit sicher. Durch seine überzeugende Darbietung zog Nonne aber wohl noch den einen oder anderen Unentschlossenen auf seine Seite, sodass der Sieg viel deutlicher ausfiel als erwartet. Und zwar auch von Oppenheim erwartet. Der Vortrag des Berliner Neurologen war hingegen defensiv, kleinteilig und in verstimmter Tonlage gehalten. Zur unglücklichen Rolle Oppenheims in München gehört eben auch, dass er erst viel zu spät zu großer rhetorischer Form auflief. 82 P RÜLL , Bedeutung, 378. 83 Zur „herrschenden Lehre“ in Weimarer Republik und Nationalsozialismus N EUNER , Politik. Die Beharrungskraft dieses psychiatrischen Konzeptes für die Zeit nach 1945 belegt G OL- TERMANN , Gesellschaft. 84 Wegweisend hierzu R APHAEL , Verwissenschaftlichung. Der Münchener Kriegskongress der Psychiater und Neurologen 1916 61 In dem eingangs erwähnten Schlusswort machte Oppenheim zwar aus seiner Enttäuschung über den Tagungsverlauf keinen Hehl. 85 Gleichzeitig redete er jedoch seinen Kollegen mutig ins Gewissen. Im Hinblick auf die Ätiologie der Kriegsneurose griff er vor allem Gaupp scharf an. Die Frage nach der Erblichkeit sei für Oppenheim „eine rein theoretische“. Denn man habe als Arzt „kein Recht […] einen anderen Maßstab anzulegen“, nur weil „irgendein Grossonkel des Patienten ein schrullenhafter Mann gewesen ist oder einen Hohlfuss gehabt hat. Ich möchte wissen, wieviel Menschen vor dem Urteil dieser gestrengen Herren als Nichtpsychopathen übrig blieben“. Zudem warnte er vor einem inflationären Gebrauch der Hysterie-Diagnose und dem dieser Krankheitsbezeichnung zugrundeliegenden, häufig abschätzigen Blick auf den Patienten: „Hysterie - Begehrungsvorstellungen - Simulation, das ist jetzt die bequeme Fahrstrasse für jeden Praktiker. […] Wenn ich so sehe, was jetzt mit dem Namen Hysterie gedeckt wird, drängt sich mir immer der Vergleich mit dem Knabenhemd auf dem Körper eines ausgewachsenen Mannes auf. Zwei Drittel der Körperoberfläche bleibt unbedeckt. Die Hysterie ist jetzt über alle Ufer getreten, und nichts ist vor ihr sicher.“ Mit seinem wohlwollenden Blick auf den Soldaten, dessen seelische Erkrankung er eben nicht als Begehrungsvorstellung, Simulation oder erblich bedingt abtat, sondern als kausale Folge seiner Kriegserlebnisse ansah, hob sich Hermann Oppenheim in München positiv vom psychiatrischen und neurologischen Mainstream ab. Auch wenn seine Theorie der traumatischen Neurose in Teilen spekulativ blieb und als widerlegt gilt, waren viele seiner Betrachtungen zu Ätiologie, Therapie und finanzieller Absicherung psychisch kranker Soldaten überaus modern. 86 Es sollte lange dauern, bis Militärpsychiater und -neurologen in Deutschland bereit waren, daran wieder anzuknüpfen. 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Köhne Abstract During the First World War a special form of “war hysteria” in soldiers and officers emerged in various European belligerent nations: psychopathological war reenactments, in which affected neuropsychiatric patients relived overwhelming war situations in trance-like dissociative states and mimicked them, sometimes with and sometimes without voice. The essay focuses on this phenomenon of symptomatically restaged war experiences, which was described and filmed by contemporary military doctors and in later medical history sources. In particular, this essay will analyze the narration, dramaturgy, aesthetics and interpretation of a cinematographic recording of the Italian neurologist Camillo Negro from 1918, in which the war is stored, communicated, and prolonged in the symptom. The research question is: to what extent does Negro‘s film exceed the interpretative framework of contemporary war-hysteria theory, and can it be opened up for contemporary and anachronistic patterns of interpretation? In synchronic and diachronic perspective, his eightminute medical film is analyzed via nosological, diagnostic and theoretical terms such as “dissociation,” “trigger,” “shock psychosis” (Sigmund Freud, Pierre Janet, Karl Kleist) and “flashback,” “reenactment,” “perpetrator symptoms,” “partisan hysteria” (Hugo Klajn, Anna Freud, Bessel van der Kolk). In addition to an investigation of the power-knowledge-relationformation and the physician-patient relationship, here I will ask what additional meaning the medium of film contributed to the concept “war hysteria” on a symbolic level. Zusammenfassung Während des Ersten Weltkriegs tauchte in verschiedenen europäischen Kriegsnationen eine besondere Form soldatischer „Kriegshysterie“ auf: psychopathologische Kriegsreenactments, bei denen betroffene Neuropsychiatriepatienten in tranceähnlichen dissoziativen Zuständen überwältigende Kriegssituationen wiedererlebten und teils pantomimisch, teils mit Stimme nachspielten. Der Aufsatz widmet sich diesem Phänomen symptomatisch reinszenierter Kriegserlebnisse, das von zeitgenössischen Militärmedizinern in späteren medizinhistorischen Quellen beschrieben respektive verfilmt wurde. Im Besonderen geht es um die Narration, Dramaturgie, Ästhetik und Deutung einer kinematographischen Aufnahme des italienischen Neurologen Camillo Negro aus dem Jahr 1918, die den Krieg im Symptom speichert, kommuniziert und verlängert. Die Forschungsfrage ist, inwiefern Negros Film den Interpretationsrahmen damaliger Kriegshysterietheorie überschritt und sich neben zeitgenös- Julia B. Köhne 68 sischen auch für anachronistische Deutungsmuster öffnet. In synchroner und diachroner Perspektive wird sein achtminütiger Medizinfilm entlang nosologischer, diagnostischer und theoretischer Termini wie „Dissoziation“, „Trigger“, „Schreckpsychose“ (Sigmund Freud, Pierre Janet, Karl Kleist) beziehungsweise „Flashback“, „Reenactment“, „Schuldgefühl“, „Tätersymptome“, „Partisanenhysterie“ (Hugo Klajn, Anna Freud, Bessel van der Kolk) ausgeleuchtet. Neben einer Untersuchung der Macht-Wissen-Relation und des Arzt-Patienten-Verhältnisses wird nach dem Surplus gefragt, das das Medium Film der Wissensfiguration „Kriegshysterie“ hier auf symbolischer Ebene hinzufügte. 1. (Kriegs-)Hysterie und Kinematographie Etwa zeitgleich mit Erfindung des Films begann auch der Einsatz von Kinematographie in Medizin und Neuropsychiatrie. Film fungierte in mehreren europäischen Nationen als Medium, um neuropsychiatrische Störungen in Form von Bewegungsanomalien abzubilden, zu rekonstruieren, zu inszenieren und teilweise auch hervorzurufen oder zum Verschwinden zu bringen - unter anderem in Belgien, Deutschland, Finnland, Frankreich, Großbritannien, Italien, den Niederlanden und in Rumänien. 1 Das neue technische Medium wurde verwendet, um Diagnosen zu spezifizieren, Typisierungen vorzunehmen, Vergleiche anzustellen, Wissen an Fachkollegen oder ein fachexternes Publikum zu verbreiten, oder als Therapie eingesetzt, um Patient/ innen vorab von einer möglichen Heilung zu überzeugen. Es galt als detektivisches Instrument, um Simulation aufzudecken 2 und konnte Symptome via bestimmter Erzähllogiken und Schnitt- und Montagetechniken auf wundersame Weise binnen weniger Minuten oder Sekunden in Nichts auflösen. Film galt als exzellentes Mittel im Kampf gegen die „Hysterisierung“ von Soldaten und Offizieren, da er in der Lage war, die „Krankheit“ mittels einfacher Filmtricks zu beseitigen. 3 Ein prominentes ‚Störungsbild‘ der Zeit um 1900, das durch seine theatrale und simulationsverdächtige Erscheinungsform auf besondere Weise mit der Geschichte des Mediums Film verbunden ist, war die weibliche und männliche „Hysterie“. Was im zivilen Großstadtleben, ab den 1880er Jahren im Umfeld der Pariser Salpêtrière, als gleichsam bestürzender wie faszinierender Symptomkomplex auftrat - sich wild und unzähmbar gebärdende „Hysterikerinnen“, die von Jean-Martin Charcot, Albert Londe, Paul Richer und anderen visuell aussagekräftig in Szene 1 K OEHLER , Early Neurological Films, 1, 11. Zu deutschen, britischen und französischen Filmen K ÖHNE , Medizinische Kinematographie, 178-242; DIES ., Militärpsychiatrisches Theater, 29-56. 2 P OLIMANTI , Der Kinematograph, 770: „Der Betrüger, der Simulant, wird mit Hilfe des Kinematographen sicher entdeckt und entlarvt“. 3 Dazu meine Untersuchungen zum Transfer von „hysterischen“ Symptomatiken in kinematographische Sprache, hinsichtlich symbolischer Implikationen, dem Herstellen von Bedeutung und mitproduzierten Heilungsvisionen: K ÖHNE , Medizinische Kinematographie. Ästhetisierung des Unbewussten 69 gesetzt wurden (schematisch, photographisch, zeichnerisch oder als Relief und Statue) 4 -, wurde im Ersten Weltkrieg zu einem Massenphänomen. Hunderttausende Kriegsteilnehmer aus unterschiedlichen nationalen Kontexten waren von der sogenannten „Kriegshysterie“, „Kriegsneurose“, „Neurasthenie“ oder von „Schüttelkrämpfen“, „Lähmungserscheinungen“, „Kriegszittern“ und „reaktiven Störungen“ betroffen, um nur einige der multiplen Fachvokabeln zur Umschreibung dieser rätselhaften „Störfälle“ und Dysfunktionalitäten militärischer Ordnung zu nennen. Weder die Militärnoch die Sanitätsamtsführung hatten zu Beginn des Kriegs mit derartig massenhaften Zeichen für angebliche männliche Schwäche und Unordnung gerechnet. Diese schienen sich in ‚degenerativer‘ Weise und ‚epidemieartig‘ auf beachtliche Teile des militärischen Kollektivkörpers auszudehnen. In ihrer Wahrnehmung untergrub der „Kriegshysteriker“ die Rationalitäts- und Männlichkeitsstandards des Heers, indem er dessen Effizienz, Stärke, Schlagkraft und Strukturiertheit aushöhlte und die Wehrkraft ‚zersetzte‘. 5 Dies schlug sich in Vokabeln wie „Drückeberger“, „Simulant“ oder „innerer Deserteur“ nieder, die die „hysterischen“ Soldaten und Offiziere stigmatisierten. Vor dem Ersten Weltkrieg galt die „Hysterie“ aufgrund des altgriechischen Wortstamms hystera (Gebärmutter) als typische Frauenkrankheit. Die Übertragung des Begriffs auf das männliche Geschlecht effeminierte die erkrankten Soldaten. Ihre Bedrohlichkeit wurde unterstrichen, indem oftmals von einem ‚Rollentausch‘ zwischen Frauen und Männern im Betroffensein von „hysterischen“ Erkrankungen die Rede war. 6 Diese Auffassung wurde jedoch auch wieder eingeschränkt, so schrieb der Psychiater J. Bresler 1919: „Es wird jetzt viel von Hysterie bei Männern gesprochen, weniger bei Frauen, als ob die Rolle vertauscht wäre. […] Diese Verschiebung ist aber nur eine scheinbare, bewirkt dadurch, daß man - leider - einen großen Teil der Ermüdungs- und Erschöpfungszeichen […] als hysterisch ansieht, sobald sie sich als schwer erklärbar oder als schwer heilbar oder unheilbar erweisen und grobe anatomische Grundlagen nicht gefunden werden. […] Es ist schon oft der Vorschlag gemacht worden, den Ausdruck Hysterie endlich ganz auszumerzen, da er nur Mangel ärztlichen Wissens bei vielen Krankheitsfällen verrät.“ 7 Vielfach enthielten die Umschreibungen auch Bedeutungselemente, die die Patienten zusätzlich als krankhaft bewerteten und öffentlich bloßstellten, etwa „verweichlichter Schwächling“, „bazillusartiger Störfaktor“ oder „degenerativer Psychopath“. Die Militärmediziner, die bei der Kinematographie der „Kriegshysterie“ auch als Filmregisseure auftraten, suchten die „hysterischen“ Soldaten einerseits so schnell wie möglich wieder „felddienstfähig“ zu machen. Andererseits schickten sie die in vielen Fällen nur scheinbar rekonvaleszenten „Kriegshysteriker“ in die Situation zurück, die als Auslöser oder Ursache im Zentrum der psychopathologischen ‚Störung‘ stand: die hochtechnisierte, industrialisierte moderne Schlacht. 4 Vgl. z.B. VON B RAUN , Nicht ich; D IDI -H UBERMAN , Erfindung der Hysterie. 5 E CKART / G RADMANN , Medizin im Ersten Weltkrieg, 203-215. 6 Vgl. auch T OEPEL , Geistige Erkrankungen, 337f.; W EICKMANN , Rebellion der Sinne, 92. 7 B RESLER , Seelenkundliches, 262. Julia B. Köhne 70 Mehr noch als das Schriftmedium, als Fachzeitschriftenartikel, Monographien und Patientenakten, als Schaudemonstrationen oder die wissenschaftliche Photographie 8 galt der Film als wirkungsvolles Mittel, um das „hysterische“ Symptom einzufangen. Denn er vermochte es, gemäß den Kriterien mechanischer Objektivität und Authentizität sowie automatisierter Beobachtung detailgenau und zudem in „lebendiger Bewegtheit“ zu dokumentieren. Zugleich konnte der Film auch das Gegenteil dieser Ideale inszenieren: die subjektivistische Beobachtung und nosologische Interpretation des filmenden Mediziner-Regisseurs, sein Expertenwissen und fachliches Profil sowie seine Fähigkeiten als Heiler. Anlässlich der Projektion verfilmter neuropathologischer ‚Krankheitsbilder‘ durch den Turiner Professor Camillo Negro - um dessen Aufnahmen es im Vorliegenden ausführlicher gehen wird - schrieb die New York Times am 23. Februar 1908 enthusiastisch: „Prof. Camillo Negro of the University of Turin has succeeded in using the cinematograph for clinical purposes. The attempts hitherto made in Paris and New York to apply this system of photography to the demonstration of nervous crises have not so far been successful in clinical application, but Prof. Negro’s demonstrations admirably illustrate the characteristic forms of neuropathy in a human subject. While the professor is explaining each case the cinematograph is at the same time reproducing all the peculiar movements of which it is impossible to give an idea by a simple photographic plate. Particularly striking have been his demonstrations of cases of organic hysterical hemiplegia, epileptic seizures, and attacks of chorea. Prof. Negro’s films will shortly be shown in London.“ 9 Der kinematographische Apparat wird in dem Zitat als erfolgreiche Reproduktionsmaschine adressiert, die die jeweilige neuropathologische Bewegungsstörung, „von der man sich unmöglich durch eine einfache photographische Platte ein Bild machen“ könne, zu „reproduzieren“ vermochte. Der Film war ein wesentlicher Faktor in der Gesamtproduktion des ‚Krankheitsbilds‘ „Hysterie“, in das von militärmedizinischer Seite aus fiktive und visionäre Anteile eingebracht wurden, die in den meisten Fällen jedoch nicht als Teil der eigenen Forschungsmethodik reflektiert wurden. Letztere fußte auf einem Zusammenspiel verschiedenster Faktoren: dem Patientendisplay und seiner Wahrnehmung, den Vorstellungen, Voreinstellungen und dem Vorwissen der Mediziner, dem jeweiligen ärztlichen Selbstverständnis, den Rollenverständnissen des „Weiblichen“ oder „Männlichen“, kulturellen Deutungsmustern des Heldischen und Soldatischen sowie von medizinischer Fachsprache, Sprachbildern und Referenzen zu anderen Krankheitsbildern und Mythisierungen. Der vorliegende Aufsatz kombiniert Fragen der Kultur-, Film- und Medienwissenschaft sowie der Visual Culture und Gender Studies mit Aspekten der Neuropsy- 8 Die genannten Medienformate erzeugten untereinander Konflikte, vor allem bezüglich der Ätiologie und Heilbarkeit der „Kriegshysterie“. So kündeten beispielsweise die Patientenakten von einer anderen Ursachenlehre und Art der Symptomatik als die wissenschaftlichen Photographien. In Journalartikeln wurde eine andere Rückfallquote bei männlichen „Hysterikern“ angegeben, als die wissenschaftlichen Filme nahelegten. 9 Anonym, Moving Pictures of Clinics. Ästhetisierung des Unbewussten 71 chiatrie- und Militärmedizingeschichte. Er widmet sich dem Phänomen psychopathologischer Kriegsreenactments, die von zeitgenössischen Militärmedizinern Ende des Ersten Weltkriegs und in späteren medizinhistorischen Quellen beschrieben respektive verfilmt wurden. Im Besonderen wird es um die Narration, Dramaturgie, Ästhetik und Deutung einer speziellen experimentellen kinematographischen Aufnahme von Camillo Negro aus dem Jahr 1918 gehen, die das kriegerische Kämpfen im Symptom ins Bild setzte und dabei ambivalente Botschaften und Symbolsysteme kreierte. Sie ist Teil eines feinen intermedialen Gespinstes innerhalb der damals weit verzweigten Kriegshysterieforschung. Zum einen kreist die folgende Untersuchung darum, den Negro-Film in synchroner Perspektive in die Militärneuropsychiatrie der Zeit einzuordnen, indem sie ihn mit vorgängigen und kontemporären nosologischen, diagnostischen und theoretischen Termini wie „Dissoziation“, „Trigger“, „psychisches Trauma“, „Schreckpsychose“, „weibliche Hysterie“ von Sigmund Freud, Pierre Janet, Karl Kleist und Negro selbst in Korrespondenz bringt. Fragen, die diese Textebene strukturieren, lauten: Wie wird männliche „Hysterie“ kodiert? Wie die narrative Rahmung und dramaturgische Präsentation der filmischen Fallgeschichte? Welche Subtopoi, Bildelemente und -sprachen, symbolische Aufladungen und Bedeutungsfacetten werden in dem Film aufgerufen? Wie wird die Arzt- Patienten-Interaktion gezeichnet und die damit einhergehende Macht-Wissen- Formation (M. Foucault)? Warum wird in diesem Fall, anders als in anderen zeitgleich entstehenden europäischen Medizinfilmen über „Kriegshysterie“, keine Heilung per Montage suggeriert? (Realiter war vielfach ohnehin keine finale oder umfassende Genesung in Sicht.) Es wird zudem gefragt, welche strategischen Wissensbilder sich in der filmhistorischen Figur des „Kriegshysterikers“ bündelten. Wie wurde deren Repräsentation technisch geformt, wie medizinisches Wissen via Film produziert und vermittelt? Welches Surplus fügte das Medium Film der Wissensfiguration soldatisches „Kriegsreenactment“ auf symbolischer Ebene hinzu? Wie war die Ebene der Medialisierung mit der militärneuropsychiatrischen Forschung des Ersten Weltkriegs verzahnt? 10 Zum anderen wird auf einer zweiten Analyseebene eine diachrone Lesart des Filmmaterials vorgeschlagen, indem es mit späteren psychotraumatologischen und medienwissenschaftlichen Konzepten von Ana Anti , Robin George Collingwood, Hans-Georg Hofer, Hugo Klajn, Anna Freud, Bessel van der Kolk, Michaela Krützen, Wolfgang Schäffner, Gottfried Fischer und Peter Riedesser konfrontiert wird. Hier steht in Frage, inwiefern sich die Bilder des Kriegsreenactments von 1918 für eine Deutung im Rahmen anderer ‚Krankheitsbilder‘, Symptombeschreibungen und Interpretationsmuster wie „Flashback“, „Intrusion“, „Reenactment“, „Schuldgefühl“, „Tätersymptome“, „Täter-Opfer-Inversion“, „Partisanenhysterie“, „Verschuldungsangst“ etc. öffnen? 10 In diesem Aufsatz steht die Ebene der Personen-, Institutionen- und Therapiegeschichte eher im Hintergrund. Julia B. Köhne 72 2. Phänomen Kriegsreenactment - den Krieg im Symptom speichern und verlängern Während und infolge des Ersten Weltkriegs führten Neuropsychiatriepatienten verschiedener Kriegsnationen „Nachhallerinnerungen“ an überwältigende Kriegserfahrungen, die sie im Feld und in Schützengräben gemacht hatten, in Lazaretten, Anstalten und Kliniken auf. Diese Fälle von intrusivem Wiedererleben und Kriegsreenactment, 11 die in vielerlei Hinsicht eher untypisch für die Phänomenologie und Ikonographie des „Kriegshysterikers“ waren, tauchten nachweislich in Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Italien auf. Sie bestanden aus unbewusst und vornehmlich pantomimisch nachgespielten detaillierten Kriegsszenen, wie von Karl Kleist, Frederick Walker Mott, William Aldren Turner und anderen beschrieben. 12 Im Jahr 1918 beschrieb der deutsche Neuropsychiater Karl Kleist, der sich 1908 über psychomotorische Störungen bei Geisteskranken habilitiert und im Ersten Weltkrieg zunächst als Militärarzt und ab 1916 als Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik Rostock-Gehlsheim gearbeitet hatte, in einem Artikel über „Schreckpsychosen“ jenen traum- und tranceähnlichen Bewusstseinszustand ausagierender Soldaten-Patienten, die „bei aufgehobener zeitlicher und örtlicher Orientierung“ „Kampfsituationen unter Beteiligung von Sinnestäuschungen wiedererleb[ten]“. 13 Kleist erklärte: „Plötzliche Geräusche, Flieger, Kanonenschüsse lassen sie angsterfüllt aufspringen und unter den Betten Schutz suchen“. 14 Des Nachts führen „die Kranken aus leichtem Schlaf mit lebhaften Träumen [hoch und lebten] dann in den traumhaften aufgetauchten angstvollen Situationen weiter“. 15 In einer Passage, die mit „Ängstliche Delirien“ übertitelt ist, schilderte Kleist im Frühjahr 1916 den Zustand des Kaufmanns und Infanteristen Heinrich K. (geb. 22.4.1888): 11 Mit dem interdisziplinär verwendeten Terminus „Reenactment“, der diskursgeschichtlich mit Geschichts-, Kunst- und Spieltheorie, Erinnerungskultur und Psychoanalyse gekoppelt ist, verweise ich auf den von dem Philosophen Robin George Collingwood geprägten Begriff, der in „The Idea of History“ (posthum 1946) entfaltet wird. Wortgeschichtlich umfasst er neben der Wiederholung die drei Ebenen: 1. Schauspielen, 2. Ausagieren, 3. Nachstellen/ Reinszenieren. Collingwood verstand ein Reenactment als bewussten Akt eines Historikers, der beim Rekonstruieren und Verstehen einer vergangenen Situation neben Faktenwissen auch Empathie, Sympathie, Affinität und Phantasie („historical imagination“ - „imaginary picture of the past“) investieren sowie Interpolation und Hinterfragen anwenden müsse. C OLLINGWOOD , The Historical Imagination, 241, 245. - Im vorliegenden Kontext des frühen Medizinfilms hingegen haben wir es mit weitgehend unbewussten Reenactments zu tun, die jedoch ebenfalls die drei genannten Ebenen berühren und eine reinszenatorische Umschrift beinhalten, auf Seiten des Darstellers, des Mediziner-Regisseurs und des Filmenden. 12 Vgl. z.B. L INDEN / H ESS / J ONES , The neurological manifestations of trauma, 253, 257, 260; L INDEN / J ONES , ‚Shell shock‘ revisited, 451. 13 K LEIST , Schreckpsychosen, 447. Für den Hinweis auf Kleist danke ich Stefanie Linden (Cardiff University). 14 Ebd., 448. 15 Ebd. Ästhetisierung des Unbewussten 73 „Der Kranke ist benommen und in lebhafter Unruhe, andauerndes Zittern des ganzen Körpers, besonders des rechten Armes und des rechten Beines, stoßweise Zuckungen am Kopf und den Armen, Steigerung der Zuckungen durch zufällige Geräusche (Zuschlagen einer Tür, Kanonenschüsse). Dazwischen springt der Kranke plötzlich auf, tut, als ob er das Gewehr anlegen oder als ob er sich eingraben wolle, nach dem Feind ausspähe, Deckung suche, herannahenden Geschossen ausweiche, alles ohne zu sprechen. Der Kranke halluziniert offenbar lebhaft und durchlebt immer wieder die aufregenden Kampfereignisse. Keine äußeren Verletzungen, keine Veränderungen an den inneren Organen. Aufgehobene Schmerzempfindung am ganzen Körper. Keine Reaktion auf Anrufe, Fragen, Gesichtseindrücke.“ 16 Ein anderer Kriegsteilnehmer, der Unteroffizier Karl A. (geb. 11.6.1891), gibt in seinen Erzählungen von der Front Aufschluss über mögliche Ursachen seiner Kriegsreenactments in der Klinik: „Allmählich sei ihm das Sterben der Kameraden nahe gegangen“; nach zwei Tagen „ununterbrochenem Trommelfeuer“, einem permanenten Überschüttet-Werden mit Granaten, einer Reihe von Kameraden, die einer nach dem anderen gefallen seien, sei er bewusstlos geworden. 17 Kleist nannte die „Schreckpsychosen“ die „häufigsten Geistesstörungen des Kriegsschauplatzes“ und ging von autosuggestiven Fixierungen, verdrängten Erinnerungen und einer Latenzzeit zwischen „Schreckerlebnis“ und „Schreckpsychose“ aus. Einen kleineren Teil der Betroffenen habe er im Anschluss an die Therapie zurück ins Feld schicken können. 18 Wofür standen die unbewussten psychopathologischen „Kriegsspiele“, wie von Kleist beschrieben, in denen offenbar „kriegshysterische“ Symptome wie Zittern und Zucken gepaart mit Kriegsreenactments auftraten? — Zunächst fällt eine Zweiwertigkeit der geschilderten reinszenierten Inhalte auf: In den dissoziativen Stadien durchlebten betroffene Soldaten-Patienten phasenweise Szenen der Erschöpfung und des Leids, Kleist spricht im Zitat von andauernden „Zuckungen“ und „Zittern“. Oder sie führten sich wie aggressive Krieger auf, die tapfer fürs Vaterland kämpfen und ihre Soldatenrolle perfekt erfüllen. Neben auch vorhandenen Fluchtimpulsen (z.B. „Geschossen ausweichen“) imaginierte sich der Soldat-Patient im obigen Beispiel offenbar als Kämpfer. Solcherlei kriegerische Elemente im Symptomdisplay unterschieden sich vom Großteil der psychopathologischen Symptome, die mental verwundete Soldaten und Offiziere mit „hysterischen“ Sprach- und Bewegungsstörungen zeigten. Letztere können als defensive Faktoren gelten; sie ‚behinderten‘ das Individuum eher, als dass sie es - wie beim Krieg-Nachspielen - symbolisch ermächtigten. Widersprach das pathologische Display des zitternden „hysterischen“ Soldaten gemeinhin dem Heroenimage, so schienen dissoziative Kriegsreenactment-Patienten in ihren hypnoseähnlichen Zuständen nicht nur den Heldenkampf zu imitieren. Sie verkörperten geradezu die Kontinuität des Kriegs jenseits des Feldes. Was die Geschlechterkategorie angeht, symbolisierten sie auf 16 Ebd., 443. 17 Ebd., 445. 18 Ebd., 510. Julia B. Köhne 74 Dauer gestellte (wenn auch gebrochene) Hypermaskulinität, eine Männlichkeit, die - anders als bei den „Kriegszitterern“ - nie verloren gegangen war. Hinzu kommt, dass die pantomimische dissoziative Kampfimitation während der „hysterischen“ Attacke den Krieg in ein therapeutisches Setting verlagerte, in dessen Zentrum der militärärztliche ‚Kampf‘ gegen die „kriegshysterischen“ Symptome stand. In Kontrast zu anderen Kriegshysteriesymptomen enthielt das symptomatologische Display der Reenactments der Schlacht eine direkte semiotische Verbindung zum Krieg selbst. Strukturell ähnelten sie zeitgleich verfilmten Symptomen, die ebenfalls eine direkte Referenz zum Krieg beinhalteten. So zeigt etwa der deutsche Lehrfilm des ehemals kriegsverwundeten und Neuropsychiaters Ferdinand Adalbert Kehrer, „Reserve-Lazarett Hornberg (und Triberg) im Schwarzwald. Behandlung der Kriegs-Neurotiker“ (1917), sowohl militärische Übungen im Anschluss an die Therapie per faradischer Bürste als auch Übungen im Neurotikerkollektiv. Dieses übte militärische Bewegungsformationen (wieder) ein, um eine Rehabilitation oder Heilung der Gemeinschaft mental Versehrter zu suggerieren. 19 Die französische Filmsammlung beherbergt einen Filmausschnitt aus dem Militärkrankenhaus in Val-de-Grâce, „Troubles nerveux chez les commotionnés“, der einen unter einem auto-suggestiven „pithiatisme“ leidenden „Hysteriker“ zeigt - heute würde vermutlich von einer ausgeprägten „Angststörung“ die Rede sein. Seine Augen sind zu Beginn der Szene unter einer Barett-Mütze versteckt. Auf Signal des im Kader anwesenden Mediziners wird die Sicht raubende Augenbedeckung entfernt und dem Patienten eine militärische Kopfbedeckung, ein Offiziersképi, vors Gesicht gehalten. Sofort beginnt der „Kriegshysteriker“, seine Hände einzukrallen und vor den Mund zu pressen; er springt auf und weicht, in Rückwärtsrichtung, vor diesem Zeichen militärischer Autorität zurück. 20 Gleichfalls um die Kraft eines Triggerelements geht es in dem britischen Lehrfilm „War Neuroses“ von A. F. Hurst (geborener Hertz) and J. L. M. Symns, 1917 gefilmt im Royal Victoria Hospital in Netley sowie 1918 im Seale Hayne Military Hospital. Passend zum oben beschriebenen Kleist’schen Beispiel wird hier ein Patient vorgeführt, der auf den plötzlich fallengelassenen Begriff „bomb“ wie folgt reagiert: Eben noch neben dem Anstaltsbett, versteckt er sich blitzschnell unter dem Bettgestell; augenscheinlich, um schützenden Unterschlupf vor einem in seiner Vorstellung bevorstehenden Bombenfall zu suchen. Als eineinhalbminütiges Ende ebendieses Films fungiert die mit „The Battle of Seale Hayne“ übertitelte Sequenz. Sie gehört eher in die Kategorie kurzer Spielfilm, denn in ihr spielen angeblich rekonvaleszente Kriegsneurosepatienten Szenen ihrer psychischen Verwundung nach. Die Ex-Hysteriker, die schauspielern, filmen und selbst Regie führen, imaginieren ihre Rehabilitation als tapfere Krieger auf besonders phantasievolle Weise. Elisabeth Cowie zufolge ist der „Battle of Seale Hayne“ als Versuch der Ex-Patienten zu verstehen, ihre traumatischen Erfahrungen auf spielerische Weise durchzuarbeiten. 21 Im Gegensatz zum weiter unten analysierten Negro-Film, der einen Fall unbewuss- 19 K ÖHNE , Medizinische Kinematographie, 203f. 20 D IES ., Militärpsychiatrisches Theater, 42. 21 C OWIE , Identifizierung mit dem Realen, 174. Ästhetisierung des Unbewussten 75 ten Ausagierens vorführt, handelt es sich hier um ein bewusstes Reenactment, das minutiös geplant und als Remilitarisierungsaktion in der Gruppe stattfindet. Neben dem Element des Schauspielens umfasst es das der Reinszenierung: Indem ein Happy-End eingebaut wird, erzählt der Film von dem Traum, die Vergangenheit der Verwundung ändern zu können, indem man sie ‚überspielt‘, Unheil abwehrend umarbeitet und dadurch abmildert oder löscht. 22 Wie kann die Spannung zwischen dem Krieg als Referenzpunkt und der Semiotik des Kriegsreenactment-Symptoms und seiner spezifischen Körpersprache ferner beschrieben werden? Um diese Frage weiterzuführen, gehe ich kurz auf den „Kriegshysteriker“ als Speichermedium ein: In den 1990er Jahren thematisierten Kulturwissenschaftler und Medizinhistoriker die im zeitgenössischen Kontext weitestgehend unentzifferbaren Zeichen der „Hysteriker“ als Aufzeichnungen visueller und auditiver Kriegsimpressionen. Sie interpretierten die vom Patienten vorgeführten Kriegsszenen als im Körper gespeicherte und wieder abgespielte Erlebnisse. Hans-Georg Hofer schrieb über Fälle im deutschen Kriegshysterieforschungskontext: „Zu den verstörendsten Figuren der Nachkriegsöffentlichkeit gehörten jene Veteranen, die - äußerlich meist unverletzt - das Kriegserlebnis über ihre Körpersprache unaufhörlich zu reproduzieren schienen“. 23 Hier wird der Erste-Weltkriegs-Soldat als Speichermedium aufgefasst, das den Krieg mit seinen eigenen medialen Mitteln - seinem Körper, seiner Seele - immer wieder ab- und durchspielt. Der Kulturwissenschaftler Wolfgang Schäffner beschrieb eine ähnliche Szene: „Die Traumen der Kriegsneurotiker […] liefern präzise phono- und photographische Effekte von Kriegssituationen und machen die Frage nach ihrer Realität überflüssig. […] Der Kriegsneurotiker trägt die durch Detonationsblitz und -knall verstärkte traumatische Szene in sich und wird auf ein entsprechendes Stichwort hin als ‚Gelegenheitsapparat‘ [Bleuler] anspringen und die Szene wieder und wieder originalgetreu abspielen“. 24 Es ist keineswegs sicher, ob die beiden Zitate tatsächlich die dissoziativen Kriegsreenactments von Patienten meinen - mitunter handeln sie auch von anderen Kriegshysterieformen, die in den Augen ihrer Interpreten als Speichermedien des Krieges gelten können. Jedenfalls aber ignoriert das Schäffner’sche Zitat, dass es weder bei dissoziativen noch nicht-dissoziativen Symptomkomplexen um „präzise“ und „originalgetreue“ Wiederaufführungen der erfahrenen Kriegssituationen geht. Vielmehr muss in einer kulturwissenschaftlichen Retrospektive von verstellten, verfremdeten Umschriften, komplizierten Verschiebungen und komplexen Translationen des Erlebten ausgegangen werden. 22 K ÖHNE , Screening Silent Resistance, 68-73. 23 Vgl. H OFER , Nerven-Korrekturen, 252. 24 S CHÄFFNER , Ordnung des Wahns, 361-367. Julia B. Köhne 76 3. War in Loops: Negros Kinematographie des Kriegsreenactments - Grabenkämpfe und arc de cercle auf dem Matratzenlager Die von Kleist und anderen Medizinern schriftlich nacherzählten „hysterischen“ Attacken der Patienten, die in traumatischer Trance Kriegssituationen wiedererlebten und wiederaufführten, müssen im Zusammenspiel mit der filmischen Falldemonstration eines dissoziativen Kriegsreenactments in einem medizinischen Kurzfilm gesehen werden, der von dem italienischen Neurologen Camillo Negro (1861- 1927) 25 und seinem Assistenten Giuseppe Roasenda 26 stammt. Negro bekleidete an der Universität in Turin einen Lehrstuhl für klinische und experimentelle Neurologie und mitbegründete 1907 die italienische Gesellschaft für Neurologie, als deren Vizepräsident er von 1909 bis 1911 firmierte. 27 Seine vor einigen Jahren wiederentdeckte Filmanthologie „La Neuropatologia“ (1908) 28 wurde zwischen 1906 und 1908 aufgezeichnet und datiert früher als der Kriegsreenactment-Film, auf den es mir hier ankommt. Die gesamte Anthologie präsentiert exemplarische Fallgeschichten neuropsychiatrischer Patienten des Turiner Hospitals Cottolengo - Piccola Casa della Divina Provvidenza und der Abteilung für Nervenleiden der Allgemeinen Poliklinik (Policlinico Generale). 29 Sie entstand in Zusammenarbeit mit Roberto Omegna (1876-1948), dem (Natur-)Filmdokumentaristen und Pionier italienischer wissenschaftlicher Kinematographie, 30 der 1906 neben Arturo Ambrosio und Alfredo Gandolfi an der Gründung der späteren Ambrosio Film Gesellschaft beteiligt war und für Negro als Aufnahmeoperateur und „Metteur en scène“ arbeitete. Das entstandene Werk mit insgesamt 24 Fallgeschichten (Hysterie, Halbseitenlähmung, Tics, Epilepsie etc.) und einer Gesamtlänge von 108 Minuten feierte am 17. Februar 1908 am Turiner Ambrosio Biograph Theater vor einem größeren Fachpublikum Premiere - in Gegenwart von Cesare Lombroso. Darauf folgte eine Tournee durch mehrere Orte, Kinos und Konferenzen. Das akademische Fachpublikum in Mailand, Rom, Neapel und an der Pariser Salpêtrière begrüßte diese Form des Wissensaustauschs und visuellen Studiums von Nervenkrankheiten und nahm die Vor- 25 N EGRO , Patologia e clinica del sistema nervoso. 26 Roasenda (geb. 1871) veröffentlichte Studien zu Suggestions- und Überredungskuren, zur Anwendung von elektrischen Strömen auf das Kleinhirn, zu Muskelatrophie und -dystrophie, zu Augenlidbewegungsstörungen sowie Dysfunktionen der Stimmgabel. Vgl. z.B. R OASENDA , Suggestione e persuasione; DERS ., La neuropatologia e la psichiatria. 27 S CHETTINI , Negro. 28 Meiner Analyse liegt eine Version der Filmkompilation „La Neuropatologia“ (1908) aus dem Jahr 2011, basierend auf der 1997 restaurierten Version, zugrunde, die mir freundlicherweise das Museo Nazionale del Cinema in Turin zur Verfügung gestellt hat, das diese in Kooperation mit den Neurowissenschaften der Universität Turin (Università degli Studi di Torino) herausgebracht hat. Angekündigt ist eine kritische Neuauflage der Filmkompilation auf DVD; vgl. auch D AGNA / G IANETTO , The neuropathological films. 29 Ebd. 30 D E C EGLIA , From the laboratory to the factory, 953. Ästhetisierung des Unbewussten 77 Abb. 1: Filmtitel mit Stabangabe in La Neuropatologia (1908), mit freundlicher Genehmigung des Museo Nazionale del Cinema, Turin. Abb. 2: Wild agierende weibliche „Hysterikerin“ in La Neuropatologia (1908), mit freundlicher Genehmigung des Museo Nazionale del Cinema, Turin. Julia B. Köhne 78 führung begeistert auf. 31 Ein viereinhalbminütiger Ausschnitt aus der insgesamt ca. 49-minütigen restaurierten Fassung zeigt auf didaktisch-theatrale Weise, wie Negro, sekundiert von seinem Kollegen Roasenda, bei einer Frau mittleren Alters einen großen „hysterischen“ Anfall künstlich hervorruft und sie während der verschiedenen Phasen der Hysterieattacke begleitet (Abb. 1, 2). 32 Die Sammlung der Negro’schen Lehrfilme des Museo Nazionale del Cinema in Turin enthält auch Material aus der Zeit des Ersten Weltkriegs, in der Negro das Neuropathologische Institut an der Universität Turin leitete und als wissenschaftlicher Berater im dortigen Militärkrankenhaus arbeitete. 33 Die Aufnahmen entstanden ebenfalls in Kooperation mit Omegna und zeigen verschiedene Fälle männlicher „Kriegshysterie“. Der vorliegende Aufsatz fokussiert sich auf ein Fallbeispiel, das dafür zeugt, dass das Medium Film die zeitgenössische Kriegshysterietheorie überschritt und sich für synchrone und diachrone Interpretationen öffnete. Filmisch wurde hier ‚avant la lettre‘ etwas verhandelt, das ohne eine Affirmation der Psychoanalyse, die während des Ersten Weltkriegs therapeutisch keine nennenswerte Rolle spielte und in der damaligen Scientific Community noch keine allzu große Lobby besaß, und ohne spätere Psychotraumatologietheoreme nicht tiefergehend entschlüsselt werden kann. Anders als der Großteil der Filmaufnahmen von Kriegshysteriefällen aus Deutschland oder Großbritannien, die dem argumentativen Dreischritt Symptomdarstellung - Therapie - Heilung folgten, 34 ist das italienische Beispiel auf eine Darstellung des „hysterischen“ Anfalls beschränkt. Wie in zahlreichen französischen Filmen dieser Zeit auch wird keine Heilung in Aussicht gestellt. Es handelt sich um eine knapp achtminütige filmische Fallgeschichte über eine psychische Kriegstraumatisierung, die sowohl hinsichtlich des demonstrierten Symptomkomplexes als auch filmisch einige Besonderheiten aufweist. Das Filmstück setzt einen mental traumatisierten Kriegsteilnehmer dramatisch in Szene, der unter der Zeugenschaft des Kameraauges und vermutlich den Augen Negros sowie des medizinischen Fachpersonals einen ausgeprägten „Flashback“ erleidet. 35 Die fragmentarischen traumatischen Erinnerungsbilder, in denen offensichtlich (verdrängte) Erlebnisse des Grabenkriegs widerhallen, scheinen vor dem „inneren Auge“ des Patienten aufzu- 31 T OSI , Il pioniere Roberto Omegna, 3. 32 K ÖHNE , Neuropsychiatrische Kinematographien. 33 Vgl. N EGRO , Annotazioni di neurologia di guerra. Die beiden Texte kreisen weniger um hysterisch-traumatische Muskelkontraktionsstörungen denn um durch physiologische Verwundung bedingte (378). Negro legt hier dar, wie er ausführlich mit der Anwendung elektrischer Ströme zur Nervenstimulation experimentierte („applicazioni di correnti“), vor allem mit einpoligem faradischen Strom (470). 34 K ÖHNE , Medizinische Kinematographie, 179-241. 35 Ob für die Verfilmung dieses Falls verschiedene Flashbacksequenzen zusammengefasst wurden oder es sich um eine lange Wiedererlebenssequenz handelt, bei der immer wieder geschnitten oder neu angesetzt wurde, ist aus dem Material nicht ersichtlich. Es enthält weder eine Überschrift noch Untertitel oder eine sonstige narrative Rahmung. Ästhetisierung des Unbewussten 79 Abb. 3: Start eines hysteriformen Reenactment-Spektakels, mit freundlicher Genehmigung des Museo Nazionale del Cinema, Turin. tauchen. Er ist unvermittelt in die vergangene Situation zurückversetzt, die gemäß späterer Überlegungen des Psychiaters Bessel van der Kolk eine Überdosis an sensorischen Eindrücken enthalten haben muss, sodass sie nicht ins bewusste Erinnern integriert werden konnte. 36 Traumatisches Erinnern („traumatic memory“) funktioniert laut van der Kolk nicht-linear, fragmentarisch und hat seinen Ursprung „in dissociated mental imprints of sensory and affective elements of the traumatic experience“: wie „visual, olfactory, affective, auditory, and kinesthetic experiences“. 37 Intensive „Intrusionen“ drängen sich dem Patienten auf, 38 ohne dass den Zuschauenden der genaue Referenzpunkt im Krieg, in Michaela Krützens Worten die „Backstorywound“, 39 bekannt wäre. Im Negro’schen Kriegsreenactment-Film überdeckt die Intensität der Wiedererlebenssequenz augenscheinlich die aktuelle Wahrneh- 36 V AN DER K OLK , Trauma und Gedächtnis, 221-240, 229. 37 V AN DER K OLK / F ISLER , Dissociation and the fragmentary nature of traumatic memories; V AN D ER K OLK , The Body Keeps the Score. 38 Späteres psychotraumatologisches Theoriewissen erklärt Inhalte von Intrusionen und Flashbacks als vom Alltagsbewusstsein abgekoppelt. Diesem Mechanismus gingen Selbstschutzmaßnahmen voraus, die bei der psychischen Traumatisierung selbst einsetzten, um ‚den Schaden zu begrenzen‘ bzw. um traumakompensatorische Vorkehrungen zu treffen, damit der/ die Traumatisierte mit einer Erfahrung leben kann, mit der sich nicht leben lässt. Vgl. z.B. F ISCHER / R IEDESSER , Lehrbuch der Psychotraumatologie, 352; F IEDLER , Dissoziative Störungen, 1. 39 K RÜTZEN , Dramaturgie des Films, 35. Julia B. Köhne 80 mung des Patienten, und es kommt zum vollständigen „Wegtreten in der Erinnerung“. 40 In der Anfallsdramaturgie wirken einzelne Erlebnisfragmente wie summarisch zusammengesetzt. Der Patient ist offensichtlich in einem Stadium erhöhter Entfremdung („aliénation“), des Benommen-Seins, in dem er derealisiert und depersonalisiert; genau wie bei der Traumatisierung hört sein kognitiver Apparat auf, das Erlebte zu integrieren. Er hat die Kontrolle über seine physischen Bewegungen verloren. Die Matratze wird zum transitiven Ort, von dem aus die unbewusste Zeitreise und damit die Demonstration eines komplexen Syndroms starten. Was ist konkret zu sehen? — Zu Beginn des Films sitzt der Soldat-Patient mit geradem Rücken und angewinkelten Beinen bewegungslos auf einer der ausgelegten Matratzen, er atmet schwer. Er ist mit einem weißen Oberhemd und einer Leinenhose bekleidet, die im Genital- und Analbereich einen offenen Schlitz aufweist. Plötzlich geht ein Ruck durch seinen Oberkörper (Abb. 3). Vergangene Erlebnisse scheinen, gefühlsmäßig und was seine Tätigkeiten angeht, wiederzukehren. Ob das traumatische Wiedererleben unwillkürlich einsetzt, ob unter Hypnose oder ob es einen Schlüsselreiz gab, den Negro kannte und für die Aufnahme bewusst nutzte, ist aus der retrospektiven Distanz schwer zu entscheiden. Der Soldat-Patient ist im Weiteren offensichtlich in einer Schleife intensiven Durchlebens und Ausagierens von Handlungen in Kriegssituationen gefangen. Hervorzuheben ist seine allererste Bewegung nach Einsetzen der Trance, die darin besteht, dass er blitzschnell einen eingebildeten Karabiner zum Schießen ansetzt. Mit diesem zielt er genau in Richtung Kamera und damit des ihn objektivierenden Aufnahmemediums (Abb. 4, 5). Das ‚Luftgewehr‘ lädt er dutzende Male neu durch und drückt ab. (Diese Szene kann als Sinnbild für versteckte Bedeutungsdimensionen des Films gelesen werden und weist in der kontrollierten Umgebung des Medizinfilmens auf eine subtile [hier unbewusste] ‚Agency‘ des traumatisierten Soldaten hin: Der Auslöser, „Trigger“ für die „hysterische“ Attacke, der kinematographische Apparat und das involvierte Blickregime veranlassen den Patienten, den Trigger seines Gewehrs zu betätigen. Ein Schuss-Gegenschuss-Verfahren, das das passive Objektiviert-Werden konterkariert. 41 ) Sodann wirft er sich bäuchlings zu Boden und macht Bewegungen, als ob er jemanden erstechen würde. In Seitenlage beginnen seine Beine und Füße, in der Luft zu marschieren. Schnitt. Zu Anfang der nächsten Szene sieht man eine Person im weißen Kittel aus dem rechten Bildrand eilen. (Der Kaderausschnitt soll offenbar allein dem ausagierenden Patienten vorbehalten sein.) 40 H UBER , Trauma und die Folgen, 74. 41 Hier wird der Begriff Trigger an seine früheren Bedeutungskontexte geknüpft: Der Hebel, der etwas auslöst, in der Kampftechnik ein Schuss oder in der Photographietechnik die Aufnahme (Auslöseknopf). Um 1900 wurde mit „Trigger“ auch der Stimulus bei der Mechanik einer Springfeder oder Pudermasse bezeichnet. Mitte der 1920er Jahre finden sich Nachweise, dass der Begriff aus dem Technologisch-Mechanisch-Physiologischen mehr und mehr in Neurologie und Psychologie Eingang gefunden hatte. Der Begriff Trigger stand nunmehr für eine bestimmte „psychosomatische“ Reaktion. Ästhetisierung des Unbewussten 81 Abb. 4 und 5: Schuss-Gegenschuss-Verfahren -„Kriegshysteriker“ schießt mit imaginiertem Gewehr auf Kamera, mit freundlicher Genehmigung des Museo Nazionale del Cinema, Turin. Julia B. Köhne 82 Abb. 6: „Kriegshysteriker“ formt einen hohen „arc de cercle“, mit freundlicher Genehmigung des Museo Nazionale del Cinema, Turin. Der Patient liegt noch immer - für die Kamera neu ausgerichtet - auf der hinteren Matratze. Er schießt erneut und hängt sich das imaginierte Gewehr wieder um den Hals. Sein Körper bäumt sich für Sekundenbruchteile ruckartig auf, mit der Beckengegend nach oben - ein „arc de cercle“, ein „hysterischer Kreisbogen“ (Abb. 6). Daraufhin dreht er sich erschöpft auf die Seite. Schnitt. Im nächsten Filmsegment verlassen zwei Männer fluchtartig das Setting, zum linken und rechten Bildrand hinaus. Der Patient drückt seine rechte Leistengegend mit beiden Händen, bis sein Körper sich erneut ruckartig halbkreisförmig aufbäumt und danach in Embryonalstellung zur Ruhe kommt - von der Kamera abgewandt. Seine Hände greifen ins Leere. Schnitt. Für die nächste Szene hat sich die Kamera näher an den Patienten heranbewegt. Er marschiert und raucht eine unsichtbare Zigarette. Schnitt. In der nächsten Szene sind seine Handinnenflächen zu sehen; sie erscheinen zum Teil geschwärzt (von seinem eigenen getrockneten Blut? ). Zwischenzeitlich macht es den Anschein, als drücke der Patient seine Fingernägel so tief in seine Handballen, dass diese bluten (Oder sind es Bissstellen? ). 42 Lippenbewegungen sind zu sehen; der Patient scheint etwas zu schreien und sich mittels seiner Hände gestikulierend zu verständigen. Wieder schießt er in Bauchlage, lädt durch und feuert erneut. In einer Endlosschleife - ‚war in loops‘. Schnitt. Der Patient liegt auf dem Rücken, sein 42 K LAJN , The War Neurosis of the Yugoslavs, 51. Klajn interpretiert hier das sich selbst In-die- Hände-Beißen als Akt der Selbstbestrafung für die von dem „Kriegshysteriker“ reinszenierten Gewalthandlungen am feindlichen Gegenüber. Ästhetisierung des Unbewussten 83 Abb. 7: „Kriegshysteriker“, von Juckreiz geplagt, mit freundlicher Genehmigung des Museo Nazionale del Cinema, Turin. Oberkörper bewegt sich unruhig von der einen zur anderen Seite. Er atmet schnell. Schnitt. Die Augen sind geschlossen. Schnitt. Seine Hände greifen in die Luft. Er öffnet und schließt seine linke Hand, rollt einen Finger nach dem anderen ab. Er fährt sich mit der linken Hand in den Schritt und riecht an seiner Hand. Dann kratzt er sich am Kreuzbein, an der linken Körperflanke, am Bauch, an der rechten Oberschenkelunterseite, dann am Unterschenkel - als habe er Läuse oder Flöhe, die ihn mit Juckreiz plagen (Abb. 7). Schnitt. Liegend macht er schnelle Laufbewegungen, indem er mit seinen Fußsohlen die Matratze streift. Schnitt. Dann greift er sich pantomimisch eine Feldflasche, trinkt gierig und schraubt sie wieder zu. Schnitt. Dito. Schnitt. Er wirft seinen Körper herum und zielt mit seinem Karabiner wieder auf die Kamera, die sein Trauma-Drama abfilmt - ein erneuter Gegenschussversuch (siehe Abb. 5)? Schnitt. Der Patient spricht mit einem imaginierten Gegenüber und unterstreicht seine Artikulation mit den Händen. Schnitt. Er zündet sich eine Zigarette an, wirft das Streichholz weg und nimmt einige Züge. Schnitt. Der Patient öffnet sein Hemd und holt etwas Nicht-Identifizierbares aus seiner Brusttasche (eine Handgranate oder den eingebildeten Brotbeutel, der den Soldaten auch zum Transport persönlicher Gegenstände oder Handgranaten diente? ). Schnitt. Danach wieder ein hoher Kreisbogen mit anschließendem Wurf zur kameraabgewandten Seite. Der Patient nestelt etwas aus seinem Patronengürtel hervor oder drückt wiederum einen hysterogenen Punkt in der Leistengegend. Er marschiert und macht Handbewegungen, als wolle er seine Patronentasche wieder auffüllen. Dann lädt und schießt er und Julia B. Köhne 84 Abb. 8: „Kriegshysteriker“ ersticht eingebildeten Gegner, mit freundlicher Genehmigung des Museo Nazionale del Cinema, Turin. hängt sich das Gewehr um. Er marschiert. Schnitt. Er zieht sein Bajonett (zur italienischen bewaffneten Uniform gehörte ein an das Gewehr anmontiertes Klappbajonett) und ersticht ein unsichtbares Gegenüber, nimmt sodann die Stichwaffe zwischen die Zähne. Er scheint sich hektisch an etwas entlang zu hangeln, wirft sich in Bauchlage und schießt wiederum. Als er sich aus dem rechten Bildrand hinauszubewegen droht, zieht ihn aus dem Szenenoff kommend plötzlich die Hand eines ansonsten nicht sichtbaren medizinischen Assistenten wieder zurück in den Mittelpunkt des Bildausschnitts. Wieder robbt der Patient nach vorne, erneut greift die fremde Hand zu. Dann wiederholt sich die Episode mit dem Erstechen, er nimmt sein Bajonett aus dem Mund und sticht zweimal zu. Ein Assistent eilt zu ihm, versucht, ihn wieder für die Kamera auszurichten, ordnet das Matratzenlager, damit er sich nicht selbst verletzt. Der Patient ersticht vor ihm auf der Matratze wieder einen imaginierten Feind. Schnitt. Erneutes Marschieren, die Kamera ist noch näher herangerückt. Der Patient schlägt auf jemanden ein und schreit ihn (unhörbar) an, er entsichert seinen Karabiner, hängt ihn sich um. Schnitt. Der Patient wird wieder von einer Seite zur anderen geschleudert. Die Kamera justiert ihre Position mehrfach nach, hält weiter drauf. Kurze Phase der Ermattung. Er zückt sein Messer und setzt sein Gewehr an, lädt durch, schießt. Er zieht das zwischenzeitlich zwischen die Zähne geklemmte Messer, sticht zweimal kräftig zu, wischt das nicht sichtbare Blut an seiner Hose ab und steckt es wieder zurück zwischen die Zähne (Abb. 8). Er hangelt sich an etwas entlang, wirft sich nieder und schießt. Wieder wird er von einer körperlosen Hand auf die Matratze zurückbugsiert. Er verharrt kurzzeitig, wie Ästhetisierung des Unbewussten 85 in einer Siegerpose, mit ausgestrecktem linken Arm. Der Soldat-Patient sticht mit seinem Bajonett, schlägt mit dem Gewehrkolben zu und sticht wieder zu. - Der mitgefilmte Matratzennahkampf ist zu Ende, ungezählte Tote später. 3.1. Synchrone Deutung: Der Kader als Käfig - Handgreiflichkeiten eines Abwesenden In insgesamt circa 17 Einstellungen und 18 sichtbaren Schnitten entfaltet der Film das Drama der „Kriegshysterie“; welche Szenen hierbei (bewusst) ausgelassen wurden, ist unklar. Indem die Schnitte mit einer sich dem Patientenkörper sukzessiv annähernden Kamera kombiniert sind, werden die Zuschauenden immer stärker in die Wiedererlebenssituation hineingezogen. Durch den Distanzverlust werden eine verbindliche Identifizierung mit dem „Hysteriker“ und eine sich steigernde Emotionalisierung des Publikums möglich. Aus dem Drama scheint es kein Entkommen zu geben, weder für den Patienten noch für die Zuschauenden. Der Patient wird immer wieder ohne Vorwarnung in den Bildkader zurückgezogen, wenn ihn sein Symptom herauszudrängen, er also „aus dem Rahmen zu fallen“ droht. 43 Funktional betrachtet sollte dies wohl dazu dienen, Patienten vor Selbstverletzung zu schützen und eine reibungslose Aufnahme zu gewährleisten. Tatsächlich sind die Haltungen und Bewegungen des Patienten im filmischen Endprodukt zu etwa 80 Prozent kameraaffin - dies kündet entweder von einem zu Bruchteilen doch vorhandenen Bewusstsein fürs Gefilmtwerden (bzw. einem Hang zu Theatralität vor Publikum, der „Hysteriker/ innen“ schon seit Jahrzehnten unterstellt wurde) oder zahlreichen Drehversuchen und einer dementsprechend selektiven Schnittpraxis. Auf einer übergeordneten Ebene symbolisieren die immer wieder zugreifenden, körperlosen Hände des medizinischen Personals den machtvollen, kontrollierenden Zugriff auf das Forschungsobjekt. Die Hände vergegenwärtigen die Unerbittlichkeit und Gewaltförmigkeit dieser Versuchsanlage (Abb. 9, 10). Wird der Kader hier zum Käfig, dessen Gitterstäbe magische Hände symbolisieren? In diesem Kriegshysteriefilm werden zur Domestizierung und Reglementierung des Patienten nicht nur Blicke eingesetzt. Vielmehr wird das medizinische System handgreiflich, ungeachtet der Frage, inwiefern dies den ‚innerlich weggetretenen‘ Patienten zusätzlich irritieren konnte. Der Patient kann dem „hysterischen“ Drama, das die Neuropathologie mit ihm betreibt, auch insofern nicht entkommen, als er wiederholt dazu angehalten wird, hysterogene Punkte seines Körpers zu stimulieren (Abb. 11). Einer Live- Schaudemonstration vergleichbar muss er ‚abliefern‘, allein schon wegen der kostspieligen Filmmeter. Vermutlich fordert Negro ihn hierzu aus dem Off auf, sodass sein Flashback nicht enden möge - der Mediziner-Regisseur suggeriert auf diese Weise Kontrolle über das Hysteriespektakel: Er schafft ein ‚perpetuum mobile‘, bei dem die „Hysterie“ sich selbst zu reproduzieren scheint. Oder hält der Patient das Symptom selbst am Laufen? Hat der Patient die ärztliche Macht auf eine Weise 43 Vgl. auch B ERTON , La dialectique entre image, 10f. Julia B. Köhne 86 Abb. 9 und 10: Eine körperlose Hand bewacht den Kaderausschnitt, mit freundlicher Genehmigung des Museo Nazionale del Cinema, Turin. Ästhetisierung des Unbewussten 87 Abb. 11: „Kriegshysteriker“ stimuliert hysterogene Punkte in der Beckengegend, mit freundlicher Genehmigung des Museo Nazionale del Cinema, Turin. Abb. 12: Negro in rundem Objektivausschnitt, mit freundlicher Genehmigung des Museo Nazionale del Cinema, Turin. Julia B. Köhne 88 internalisiert, dass die Mediziner gar nicht mehr als äußere Autoritäten auftreten müssen? Ähnlich wie die ihn traumatisierende Kriegssituation hat er sie womöglich internalisiert. So wirkt es im Verlauf des Films immer naheliegender, dass der Patient nicht nur den Krieg in feinmotorisch exakten Bewegungsabläufen in sich rekonstruiert - beispielweise Marschieren und Schießen in Liegeposition, Nahkampf und Erstechen eines Kriegsgegners durch ein Luft-Bajonett, Lausbefall oder Trinken aus einer eingebildeten Feldflasche, sondern mit seinem „hysterischen“ Kriegsspiel auch die kriegerischen Angriffe der Bilder schießenden Kamera und Mediziner abzuwehren sucht. Hierbei vermag der Patient zu obsiegen, denn abgesehen von ihren Armen halten sich die medizinischen Assistenten nie länger als wenige Sekunden im Bild auf; sie ‚fliehen‘ oder sind abwesend. 44 Die Arzt-Patienten-Beziehung zeichnet sich in diesem Kriegshysteriefilm also einerseits durch Internalisierung, Automatisierung und Selbstläufigkeit aus, andererseits durch vollständige Abwesenheit Negros, dessen medizinische Autorität jedoch von seinen handgreiflichen Assistenten beziehungsweise seiner (unhörbaren) Stimme verkörpert wird. Warum entschied der Neurologe, sich selbst in diesem Kurzfilm nicht abbilden zu lassen? Etwa weil seine Deutungs- und Heilkunst angesichts der traumatischen Trancesequenz an ein Ende kam? — Negros siegreiches Konterfei erscheint, jedenfalls in der jetzigen Schnittversion, an einem ganz anderen Punkt der Filmkompilation (Abb. 12). Exkurs: Der menschliche Film im Film Filmhistorisch ist Negros Kriegshysteriefilm bedeutsam, da er belegt, bis zu welchem Grad das Medium Film in der Lage war, traumatische Erinnerungsflashbacks und tranceartige Tagträume nachzubilden. Die historische Quelle bezeugt eine Wiedererlebensepisode, die entweder spontan und ohne Zutun oder aber durch punktuelle Stimulation oder unter Hypnose ausgelöst eintritt. Der Soldat reinszeniert hier vermutlich seine eigene (seelische Verwundungs-)Geschichte - Handlungen, Wahrnehmungen, Gefühle -, ohne dabei jedoch Kontrolle über den Verlauf des Reenactments ausüben oder intervenieren zu können - es sei denn über Eigenstimulation hysterogener Punkte. Das plötzliche Wiedererleben der Traumatisierungssituation eröffnet eine Erzählung, deren ‚reales‘ Gegenstück weder der die Szene verfilmende Mediziner Negro noch die Zuschauenden, geschweige denn der amnestische Patient selbst kennen (Vielleicht ist es auch die Geschichte eines anderen? ). Der Soldat-Patient wird stattdessen selbst zum filmisch-erzählerischen Medium, durch das eine Geschichte Gestalt gewinnt. Einem Filmprojektor vergleichbar wird sie auf seinen Körper projiziert und dieser bezeugt sie hierdurch - wie ein Film-im-Film. In den Bewegungen seiner auf diese Weise ‚erzählenden‘ Glieder und in seiner im Stummfilm unhörbaren Sprache spielt sich etwas ab, das entweder ein Amalgam aus verschiedenen traumatisierenden Situationen des Kriegs ist oder nur eine einzige 44 Die Assistenten tauchen mehrere Male von den Rändern des Kaders her auf. Manchmal ist auch nur ihr ausgestreckter Arm zu sehen, ihre Hand zieht den Körper des „hysterischen“ Soldaten wieder auf das Matratzenlager zurück, damit die vollständige Phänomenologie des ausagierenden „hysterischen“ Männerkörpers sichtbar wird. Ästhetisierung des Unbewussten 89 Szene in Variation wiederholt. Anders als beim fiktionalen Film und bei Backstorywound-Erinnerungsrückblenden erhalten die Zuschauenden jedoch kein Gegenstück, nicht die ‚wahre‘ Geschichte, mit der das Gesehene abgeglichen werden könnte. Außerdem gibt es hier keine Rahmung in Form von Zwischentiteln oder eines auflösenden Endes, etwa durch ärztliches Aufheben der Hypnose, wie im Hypnosefilm des deutschen Neurologen Max Nonne von 1917 zu sehen ist. 45 Zusammen mit dem Patienten werden die Zuschauenden im Moment der (Re-)Traumatisierung, zu der das Schauspiel des Patienten hin-/ verführt, zurückgelassen. Eine weitere Auffälligkeit ist, dass der Negro-Film im Vergleich mit anderen Filmbeispielen, etwa dem Film über weibliche „Hysterie“ aus dem bereits erwähnten „La Neuropatologia“ von 1908, einige Facetten ‚erbt‘, wie etwa die Verfilmung der Hysterogene-Punkte-Stimulation oder des ‚arc de cercle‘. Dieser galt Ende des 19. Jahrhunderts als typisch für die Ikonographie von „Hysterikerinnen“ Charcot’scher Provenienz. Er trat jedoch auch bei kriegerischen Männern in der Krise auf, wie deutschen und britischen Patientenakten zu entnehmen ist. 46 Indem er die ‚feminine‘ Kreisformation prominent vorführt, ignoriert der Film das ungeschriebene Gesetz, demzufolge die männlichen „Hysteriker“ im Kontext der Kriegshysterieforschung und -verfilmung zwischen 1914 und 1918 immer nur bis zu einem bestimmten Grad pathologisiert, maladisiert und stigmatisiert werden durften. Ihre Symptomatik wurde nur insofern als abweichend gezeichnet, als parallel noch eine vollständige Heilung und Remilitarisierung in Aussicht gestellt werden konnte. Das vorliegende Beispiel dagegen ist insgesamt durch Überwältigt-Sein gekennzeichnet, wobei der Soldat die umgebende Situation beinahe vollständig ausblendet; es zeichnet sich durch einen wilden, passionierten und überbordenden Charakter der Bewegungsanomalie aus, der eigentlich der weiblichen Hysterie-Codierung um die 1880er Jahre und dem großen „hysterischen“ Anfall („grande attaque hystérique“) eignete. Im Gegensatz zu deutschem, französischem und britischem Filmmaterial zu „Kriegshysterie“, in Filmen von Ferdinand Kehrer, Max Nonne und Clovis Vincent, in denen der Wildheit immer Grenzen gesetzt waren, erscheint das italienische Filmmaterial mäandernd und unbeschränkt. Der Eindruck des Unbegrenzten kommt vor allem über den „dissoziativen“ Zustand des Patienten zustande. Bestimmte psychopathologische Verfassungen, als „somnambul“, quasi-hypnotisch und später auch als „unbewusst“ bezeichnet, wurden bereits mehrere Dekaden vor dem Ersten Weltkrieg unter dem Stichwort „Dissoziation“, von Lateinisch „dissociare“ = trennen, spalten, auflösen, entzweien, verhandelt. 1812 von Benjamin Rush geprägt wurde der Begriff 1845 von Moreau de Tours in seinen experimentellen Studien zu psychologischen Effekten von Haschischkonsum weiterentwickelt. 47 Er verstand Dissoziation als Zustand geschwächter mentaler Kräfte, der zu einer Abspaltung von Ideen und einer Dominanz von Erinnerung und Imagination führe. Hippolyte Taine sprach 1878 im Rahmen sei- 45 K ÖHNE , Screening Silent Resistance, 59-62. 46 Vgl. D IES ., Medizinische Kinematographie, 111f., 132-334; L INDEN / H ESS / J ONES , The neurological manifestations of trauma, 259. 47 Ausführlicher dazu H ANTKE , Trauma und Dissoziation, 57f. Julia B. Köhne 90 ner Studien zum automatischen Schreiben von einer Spaltung des Ego („dédoublement“), der simultanen Existenz zweier konfligierender Gedanken-, Willens- und Handlungselemente, wobei der betreffenden Person jeweils nur eine Seite bekannt sei. Ganz ähnlich konstatierte Charles Richer im Jahr 1884, dass bei Individuen in somnambulem psychologischen Stadium drei Elemente dissoziiert würden: Gefühle, Denken und Handeln. 48 Onno van der Hart und Rutger Horst fassen die Position des Psychiaters Pierre Janet von 1889, der „Dissoziation“ mit einer psychischen Dynamik assoziierte, die mit überwältigenden Emotionen zusammenhing und als Abwehr funktionierte, wie folgt: „[T]he ideas which emerge in them [in dissoziativen Zuständen] are very intense but are cut off from the associative communication with the rest of the content of consciousness“. 49 Janets Hysterieforschung ging davon aus, dass es sich bei dissoziativen Stadien um einen direkten psychologischen Abwehrmechanismus gegenüber überwältigenden Erfahrungen handle, durch den unbewusste und bewusste Prozesse komplett voneinander getrennt würden. 50 Dies verstand er als Reaktion auf eine extreme unkontrollierbare Wut- oder Angsterregung („émotion véhémente“), die die Integration des Erlebten und adäquate Handlungen verhindere, das Bewusstseinsfeld verenge und teilweise zu Amnesie führe. In dissoziativen Bewusstseinszuständen co-existierten zweifache oder multiple Nuclei des Bewusstseins wie bei einer gespaltenen Persönlichkeit. 51 Unverarbeitbare Erlebnisse wirkten in unbewussten Ebenen weiter und würden jenseits des zentralen Bewusstseins zu fixen Ideen, die sich letztlich im Hysteriesymptom zeigten. Janet zufolge seien sie dem menschlichen Willen unzugänglich und führten in späteren somnambulen Stadien ein Eigenleben; dies werde vom Individuum im Nachhinein ebenfalls nicht erinnert. 52 Wenige Jahre darauf, 1892, unterstrichen Sigmund Freud und Josef Breuer dieses Konzept von „Dissoziation“, „Spaltung des Bewusstseinsinhaltes“, das ihrer Ansicht nach „unentbehrliche“ Vorbedingung für „hysterische“ Phänomene sei. Lebensgefährliche Erlebnisse und sie begleitende Gedankengänge, Sinneseindrücke, Handlungen, die das Nervensystem momentan überforderten und durch die Unmöglichkeit einer „adäquaten Abfuhr“ ein „psychisches Trauma“ verursachten, kehrten hier als „halluzinatorische Reproduktion“ wieder, also in verstellter Form: „Wenn der Hysterische ein Erlebnis mit Absicht vergessen will, einen Vorsatz, eine Vorstellung gewaltsam von sich weist, hemmt und unterdrückt, so geraten dadurch diese psychischen Akte in den zweiten Bewusstseinszustand, äussern von dort aus ihre permanenten Wirkungen, und die Erinnerung an sie kommt als hysterischer Anfall wieder. […] In den zweiten Bewusstseinszustand geraten auch jene Eindrücke, welche während eines ungewöhnlichen psychischen Zustandes (Affekt, Ekstase, Autohypnose) empfangen worden sind“. 53 48 Vgl. V AN DER H ART / H ORST , The Dissociation Theory of Pierre Janet, 1f. 49 Ebd., 9. 50 J ANET , L’automatisme psychologique. 51 V AN DER H ART / H ORST , The Dissociation Theory of Pierre Janet, 5f. 52 Ebd., 7. 53 F REUD / B REUER , Zur Theorie des hysterischen Anfalles, 12. Ästhetisierung des Unbewussten 91 Auf den vorliegenden Zusammenhang übertragen bedeutet dies, dass der Soldat-Patient bei Negro zum Medium einer Heimsuchung wird, bei der er auf einem Matratzen- und Kissenlager liegend gefahrvolle, gewaltsame Kriegssituationen im Schützengraben oder auf freiem Feld dissoziativ-imaginativ wiedererlebt. Wie bereits erwähnt, bleibt es unklar, ob er sie selbst erlebt, beobachtet oder anderen zugefügt hat - in heutige Termini gefasst, ob es sich um eine primäre oder sekundäre Traumatisierung oder um ein „Tätersymptom“ handelt. Auch wenn, anders als bei den oben genannten Kleist’schen Beispielen, Negros Hysteriepatient weniger stark ausgeprägte Phasen des Leidens zeigt - mit Ausnahme eines nachempfundenen Juckreizanfalls wegen Läusen und eines Sich-zur-Seite-Werfens wegen unsichtbarer Granatexplosionen - und kein Zittern, so kann weder damals noch heute ermessen werden, mit welchen Enttäuschungs- und Kränkungs-, Schreck-, Scham- oder Schuldgefühlen das Überwältigende des Erlebten zusammenhing. 54 In jedem Fall aber affirmiert Negros Kriegshysterikerfilm die ätiologisch, wissenspolitisch und militärstrategisch relevante Annahme, dass der Krieg Vorbedingung für das Entstehen von soldatischer „Hysterie“ war, indem das Filmstück die Verbindung zum Krieg, die sich in den zeichenhaften Bewegungen des Patienten spiegelt, ausgestaltet und nicht verbirgt. In zahlreichen zeitgleich entstandenen Schriften und Medizinfilmen aus anderen Nationen (z.B. der Mehrzahl der Quellen aus Deutschland) sollte der Konnex Krieg/ Hysterie dagegen stets verleugnet werden - zugunsten anlagebedingter und prädispositioneller Faktoren. 55 Insgesamt zeugt der Film Negros von einer paradigmatischen epistemologischen Wende, die nicht zuletzt durch die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs befördert wurde und hier visuell gestützt wird: von einer Abkehr von hereditären und konstitutionellen Faktoren, die meist physische Ursachen der Krankheit betonten, hin zu Erklärungsmodellen, die psychische Ursprünge („Psychogenie“) in den Vordergrund stellen. Wie sich hier zeigt, setzt eine tiefergehende Analyse des Filmstücks psychologisches, teilweise psychoanalytisches Wissen voraus. Dies koinzidiert mit der historischen Szene, in der das Phänomen massenhaft auftretender „Kriegshysteriker“ einen Konsens in neuropsychiatrischen Fachkreisen darüber bewirkte, dass im Krieg eine psychologische Deutung und Betreuung der seelisch Verwundeten nötig gewesen wäre, wie dies auch Freud in seiner Rede von 1920 unterstrich. 56 54 Die Folgen einer unerträglichen seelischen Angst, die für den Patienten in vollem Bewusstsein vielleicht gar nicht zugänglich gewesen wären, scheinen sich hier in repetitiven Kampfhandlungen zu manifestieren. Mitunter leidet der Patient auch an Erinnerungsverlust oder -lücken, dissoziativen Störungen, Depersonalisation, Derealisation und episodischem Identitätswechsel - es sieht so aus, als erkenne er die ihn umgebenden Personen und seine Umwelt nicht mehr. Laut der jüngeren Psychotraumatologie wird dies durch besonders belastende Erlebnisse hervorgerufen. Befindet sich der Patient während der Filmprozedur in einem „situativ ausgelösten Abwesenheits- oder Trancezustand“ oder einem extremen Tagtraum, wie es heutige Psychotraumatologen formulieren würden? Dazu B AUER , Gewalt. 55 K ÖHNE , Kriegshysteriker, 11f., 21, 72, 78, 81, 97, 112. 56 F REUD , Gutachten über die elektrische Behandlung der Kriegsneurotiker. Julia B. Köhne 92 3.2. Diachrone Deutung Wie bereits angedeutet, ist es nicht einfach zu beschreiben, was in Negros Hysterie- Film genau zu sehen ist. Das Medium Film enthält und jongliert hier symptomatologische Zeichen, ästhetische Verfahren und theoretische Begriffe, die teilweise ihrer Zeit voraus waren. Es bebildert bestimmte traumatologische Fachtermini ‚avant la lettre‘, die die nosologische und epistemologische Rahmung ihrer zeitgenössischen Interpretation überschritten. Mithilfe von zeitgenössischen Begriffen und Konzepten späterer Perioden neuropsychiatrischer oder psychotraumatologischer Theoriebildung, etwa in Anschluss an den Zweiten Weltkrieg, können in diachroner Lesart weitere Bedeutungsebenen des Achtminüters aufgeschlossen werden. Nach Eruieren vorgängiger und zeitgenössischer Fachtermini werden daher im Weiteren auch anachronistische, spätere Begriffe wie „Flashback“, 57 „Kriegsattacke“, „Tätersymptome“, „Täter-Opfer-Inversion“, „Trauma“, „Partisanenhysterie“ im Hinblick auf ihre Deutungskraft abgeklopft. Exkurs: Traumabegriff und Kinderkriegsspiel Eine Besonderheit des Negro-Films ist, dass seine Spezifik mit der an die weibliche „Hysterie“ erinnernden Vokabel „Kriegshysterie“ nicht zu fassen ist. Die neuropsychiatrische Perspektive kam hier an ihre Grenzen und es ist nötig, den Traumabegriff hinzuzuziehen, der damals noch nicht sehr ausgeprägt und konsensuell verankert war (wie Jahrzehnte später, etwa ab den 1980er Jahren infolge der Politisierung der Vietnamkriegsveteranen). 58 Der Traumabegriff bezieht sich mit Einschränkung auf eine tatsächlich vorhandene traumatisierende Situation oder Vielfachtraumatisierung. Freud nahm an, wie dies in Negros Kriegshysteriefilm mustergültig zu sehen ist, es könne nach einer unterschiedlich ausfallenden Latenzzeit nachträglich zu Phasen unfreiwilligen Wiedererlebens des traumatisierenden Ereignisses und zum wiederholten Ausagieren des Verdrängten in traumatischen Symptomen kommen. Bereits in „Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten“ von 1914 betonte Freud die Momente des Einbruchs und der Wiederholung, die für spätere (Psycho-) Traumatologietheoriephasen leitend waren. 59 Aber welche traumatischen Inhalte, 57 Wie Maureen Turim und Joshua Hirsch gezeigt haben, wurde der Begriff „Flashback“ erst ab den 1960er bzw. 1970er Jahren auf drogeninduzierte Halluzinationen und psychopathologische Erinnerungen, z.B. von Vietnamkriegsveteranen, angewandt. Das von Negro 1918 verfilmte Kriegsreenactment entspricht bereits dieser Vorstellung von „Flashback“, indem es eine traumatische Geschichte signifiziert, die der Film auch als solche ausgestaltet. T URIM , Flashbacks in Film, 3f.; H IRSCH , Afterimages, 415f. 58 Der Traumabegriff wurde während des Ersten Weltkriegs vor allem mit Hermann Oppenheim in Verbindung gebracht, der an eine organische Veränderung im Körper glaubte und im Gegensatz zu vielen seiner Fachkollegen meinte, die Pathogenese sei abhängig von einem konkret erlebten Trauma wie etwa Verschüttung, Granatschock. O PPENHEIM , Stand der Lehre von den Kriegs- und Unfallneurosen. 59 Im vorliegenden Film weist nichts auf ein bewusstes, etwa vom Therapeuten angeleitetes „Durcharbeiten“ oder kognitiv gesteuertes Erinnern hin, das sich etwa in Sprache übersetzen Ästhetisierung des Unbewussten 93 Konflikte und Erlebnisse werden in Negros Kriegshysteriefilm genau adressiert? Worin bestand das Traumatisierende? Und wie thematisiert er das Verhältnis des Nachspielenden zu den zahlreichen, von ihm getöteten imaginären Gegenübern („body counts“)? Wie bereits gesagt, muss aus retrospektiver Sicht offen bleiben, auf welche und wessen Erlebnisse der Patient mittels seiner Körpersprache verweist - mit Lauten und Sprache, die wegen des Stummfilmcharakters nicht zu verstehen sind. Abgesehen von dem körperlichen Leiden unter Lausbefall ist das, was der Patient hier fragmentarisch mittels seines Körpers ‚erinnert‘, interessanterweise nicht seine Opferrolle, sein Verwundet-Werden. Er spielt vielmehr Kampfhandlungen nach, die er womöglich selbst ausführte: Er erschießt en masse imaginäre Feinde, ersticht sie oder befeuert sie mit Handgranaten. Diese Art des Kriegsreenactments weist Ähnlichkeiten mit dem Kriegsspiel von Kindern auf, bei dem sich diese als unverwundbar imaginieren und wie in einem Kampf ohne Gegenwehr von Seiten des Feindes durch einen traum- und märchenhaften Raum wandeln. Wie in einem virtuellen Kriegsspiel wird das Gegenüber schlichtweg ausgeschaltet und kommt lediglich als potenzielles Opfer vor. In diesem gespielten Kampf scheint alles zu gelingen. Dabei verbleiben die Spielenden stets in der subjektiven Position desjenigen/ derjenigen, der/ die schießt, sich duckt, wieder angreift. Wie beim gespielten Schießen der Rückschlag auf ihren Körper fehlt, so fehlt in Negros Lehrfilm jede Spur von Anstrengung oder eben Mitgefühl mit dem Gegenüber. Dass es bei den von Medizinern historisch bezeugten Kriegsreenactments auch andere Versionen gab, bei denen die Perspektive sich mit einem Mal zum kriegsgegnerischen Opfer wenden mochte, belegt eine spätere Schrift des jugoslawischen Psychoanalytikers und Psychiaters Hugo Klajn (1894-1981) aus dem Jahr 1945, die erst 1955 veröffentlicht wurde. Klajn, der Schriften Sigmund Freuds ins Serbokroatische übersetzte, interpretierte von ihm bezeugte „Kriegsneurosen“ mental verletzter Soldaten in psychoanalytischen Parametern, obwohl diese Bezeichnung selbst in seiner Monographie „The War Neurosis of the Yugoslavs [Ratna neuroza Jugoslovena]“ aufgrund von Klajns sozialistisch ideologischer Ausrichtung nur randständig auftaucht. 1945 arbeitete Klajn am Militärinstitut für Kriegsneurosen in Kovin (Belgrad). Der Psychoanalytiker nannte die bei traumatisierten Partisanenkämpfern beobachteten aggressiven Kriegsreenactments „Partisanenhysterie“ oder „-neurose“. Die Ursachen dieser kriegerischen Attacken machte er zum einen an spezifischen ethnisch-kulturellen und soziopolitischen Bedingungen, zum anderen am besonde- ließe. Sigmund Freud entwickelte eingehende Traumatheoriemodelle, die sich unter dem Einfluss des Ersten Weltkriegs wandelten: Von „Zur Ätiologie der Hysterie“ von 1896 und „Aus der Geschichte einer infantilen Neurose“ von 1918 zu „Jenseits des Lustprinzips“ von 1920. Ging Freud zunächst - vor allem bei Fällen weiblicher „Hysterie“ - von einer Verletzung im frühkindlichen sexuellen Erleben aus, so änderte er seine Auffassung durch die massive Präsenz der Kriegshysterikerfälle des Ersten Weltkriegs; seine Thesen gewannen erst durch die kollektive Kriegserfahrung an hermeneutischer und wissenschaftspolitischer Relevanz. Freud stellte nunmehr den durch eine traumatisierende Situation ausgelösten unmittelbaren Schock- oder Überreizungszustand, der ein Ungleichgewicht in der Ökonomie des seelischen Apparats hervorrufe, ins Zentrum seiner Überlegungen. Julia B. Köhne 94 ren Charakter der (Guerilla-)Kriegsführung der Partisanen fest. Besonders jene kommunistisch orientierten Widerstandskämpfer seien betroffen, die eine martialische Prädisposition, einen verstärkten Hang zu Selbstdisziplin, Stolz und Selbstaufopferung sowie für Unreife sprechenden Egozentrismus und Selbstbewunderung aufwiesen. Die „Kriegsattacken“, eine Unterart der jugoslawischen „Kriegsneurosen“, seien von pathoplastischer Besonderheit und geprägt von hysterisch-epileptoiden Krämpfen, bei denen (zum Teil stundenlang, mehrmals täglich) Angriffe auf den Feind zur Schau gestellt würden: 60 „In any case, the Yugoslav neurotic, with his combativeness and desire for recognition, is significantly different from the Western neurotic and his apathy and anxiety“. 61 Die „Partisanenhysterie“ sei strikt zu unterscheiden von der „Kriegshysterie“ des Ersten Weltkriegs sowie Angstzuständen anderer Kriegsteilnehmer des Zweiten Weltkriegs - augenscheinlich kannte Klajn die oben besprochenen Beispiele von verfilmten Kriegsreenactments aus dem Ersten Weltkrieg nicht. Erstmalig sei die ‚Störung‘ im Frühjahr 1943 in der Kozararegion aufgetreten („Kozarahysterie“), in der es zu zahlreichen Massentötungen und Deportationen von Serben, Juden und Roma durch die „Ustaša“-Faschisten gekommen war und die Partisanen selbst eine schwere Niederlage verbuchen mussten. Im Oktober 1945 wurde die Zahl der von „Hysterie“ betroffenen Soldaten der jugoslawischen Armee auf über 3.000 Patienten geschätzt. Die Vorboten der in jeder Lebenslage unerwartet, vor allem aber vor Publikum, auftretenden Anfälle waren Klajn zufolge Verwirrtheit, Engegefühle im Brustkorb, Bauchkribbeln, ein Zittern am ganzen Körper und unwillkürliches Augenschließen. Darauf fielen die Betroffenen in einen tranceartigen Zustand, legten sich häufig auf den Boden und erlebten intensive aufs Kämpfen bezogene Gefühle aus der subjektiven Perspektive. Ana Anti , 62 die hervorhebt, dass die den Krieg simulierenden Attacken im historischen Kontext von Klajn als Demonstrationen einer erhöhten Kampfbereitschaft interpretiert wurden (oder auch, im Umkehrschluss, als Zeichen für Feigheit), übersetzt eine Textpassage Klajns wie folgt: „[T]he neurotic lays down […] screaming: ‚Assault! Ahead, proletarians, brothers, fighters, comrades! ‘ or some similar combative outcry. His eyes are closed, breathing fast with loud expiration he raises his legs and hits the floor strongly, he hits himself in the chest, hits his head against the floor, raising fists. He imitates the position, moves and sounds of shooting from a rifle or some other weapon, throw- 60 K LAJN , The War Neurosis of the Yugoslavs, 8, 37, 40f. Dem Historiker Mirza Redzic (Sarajevo) möchte ich für die Übersetzung der Monographie Klajns danken. 61 Ebd., 24. 62 A NTI , Heroes and Hysterics. Anti sieht eine enge Verbindung zwischen sozialer Klassenzugehörigkeit und der von Kriegsattacken (nach Klajn) betroffenen Soldaten und Offiziere, die so in Klajns Buch nicht anzutreffen ist. Ihre These ist, dass die Neuropsychiater die Verletzlichkeit der Partisanenkämpfer, die aus ihren psychologischen Schwierigkeiten erwuchs, nutzten, um die sozialen, ökonomischen und politischen Transformationen zu kritisieren, die von der sozialistischen Revolution herrührten. Ästhetisierung des Unbewussten 95 ing bombs. […] Some, having calmed down a bit, give a speech to their comrades, reminding them of their sacrifices and achievements, complaining of those who have not treated them in a proper way“. 63 Der jüngsten Übersetzung der Monographie Klajns ist zu entnehmen, dass ebendieser „Hysteriker“ auch einen ‚arc de cercle‘ mit seinem Körper formte. Im Anschluss an den Anfall könnten die ausagierenden Soldaten sich nicht mehr an ihr Reenactment erinnern. Nicht selten verletzten sie sich während der Attacken selbst und/ oder Beobachtende und wurden als militärdienstuntauglich eingestuft. Wegen ihres theatralen Charakters wurden die „hysterischen“ Attacken, laut Anti , von einigen Militärärzten als bewusst gespielt und im Voraus geplant eingeschätzt. 4. Schuldgefühle und Tätersymptome? Bei Klajn gibt es Passagen, in denen er das überhöhte Pflichtgefühl der Partisanen in Kontrast zu deren Wunsch beschreibt, zu überleben und außer Gefahr zu sein. Zudem hätten die Partisanen zum Teil auch nach in ihren Augen gerechtfertigten Tötungen, zum Beispiel von Angehörigen der „Ustascha“, geheime Schuldgefühle entwickelt; viele von ihnen, darunter auch gottesfürchtige Fromme, wollten eigentlich keine Mörder sein. Obwohl sie solche Taten ausübten, akzeptierten sie ihre Rolle als Tötende nicht. Aus diesem Grund hätten ihre „Kriegsattacken“ auch Phasen aufgewiesen, in denen sie - im Rahmen des gegebenen schlafwandlerischen Zustands - über die Konsequenzen ihres kriegerischen Handelns, ihren nicht gestoppten Killerinstinkt „reflektiert“ beziehungsweise die Resultate von ihnen zugefügten Verwundungen, wie Kehle-Durchschneiden, nachgespielt hätten. Es war darüber hinaus möglich, dass sie spielerisch imitierten, selbst verwundet zu werden: „While the edge of the hand goes over his own neck, like he is cutting his throat, he simultaneously imitates groans and the wheezing of his victim, and gets angry“. 64 Klajn beschreibt dies als „ethical conflict of avengers“, die ihre Teilhabe an bestimmten Gräueltaten und Hinrichtungen im Nachhinein bereuten. Er ging davon aus, dass die „Partisanenhysterie“ in solch einem unbewussten Konflikt begründet sei. An einer Stelle nennt er zwei nationale Befreiungskämpfer, den 21jährigen Rodoljub B. und den 18-jährigen Lieutenant Živadin P., deren Erfahrungen und Patientengeschichten Klajn in seinem Buch in verkürzter Fassung wiedergibt. Beide werden nach ihren durch Gehorsam beziehungsweise Rache motivierten Taten von unbewussten schlafwandlerischen Phasen und Träumen heimgesucht, in denen sie ihre Taten durchspielen und Rechtfertigungen hervorbringen, wie beispielsweise: „I was tortured so much, they deserved it! “ 65 - gemeint ist die selbst angeordnete Exekution von Kriegsgegnern. Anti paraphrasiert den inneren Konflikt, den die Soldaten nach Klajn in sich spürten: 63 Ebd., 350, übersetzt von K LAJN , Ratna neuroza Jugoslovena, 65f. 64 K LAJN , The War Neurosis of the Yugoslavs, 41. 65 Ebd., 51. Julia B. Köhne 96 „between the soldiers’ honest commitment to their military (or ideological) duty and their subconscious wish to save their lives or accrue rewards, that is between selflessness and more self-centred motivations. According to Betlheim, there is no doubt that there are in him [partisan neurotic] unconscious strivings for safety, for protecting his own ego, but those wishes cannot be experienced consciously, because his entire morality - a result of his upbringing, and especially of the earlier military camaraderie - would militate against such tendencies“. 66 Bereits im Jahr 1918 wurden von Karl Kleist Formen von Schuld, Überlebensschuld, „Verschuldungsangst“ 67 als Movens für die Kriegsreenactment-Symptomatik angenommen. Bei dem oben beschriebenen Fall des Heinrich K. erzählt der Patient mit zeitlicher Verzögerung von der Schocksituation, die seinen dissoziativen Phasen zugrundliege. Bei einem Überfall der Engländer, als er Nachtwache hielt, habe er kurzerhand einen ihm vorgesetzten Leutnant Huckepack genommen, nachdem dieser seine Hand verloren hatte. In dieser Position wurde der Leutnant dann enthauptet, indem sein Kopf durch eine explodierende Granate abgerissen wurde. Daraufhin sei alles durch eine Minensprengung „in die Luft“ gegangen. Der Patient fiel in Ohnmacht und litt seitdem unter „Gedächtnisausfall“. 68 Kleist behandelte seine Patienten mit „Bettruhe und Schlaferzeugung“, Morphiumgaben, in seltenen Fällen mit „Skopolaminmorphium“ („Wahrheitsserum“), das in hohen Dosen Apathie und Willenlosigkeit hervorruft. Zu den Nebenwirkungen zählen bekanntermaßen Koordinationsstörungen, Sehstörungen, Halluzinationen, delirante Zustände, Juckreiz, Gedächtnisstörungen - alles künstlich herbeigeführte Symptome, die im historischen Fall dem Symptombild der zu therapierenden „hysterischen“ Kriegsreenactments nahekamen und es mitunter (ungewollt? ) schlimmer darstellten. Laut Kleist wurde ein Teil der nach wenigen Tagen Behandlung durchweg symptomfreien Patienten „bald mit dem Lazarettzug zurückbefördert“. 69 Das bedeutet in der Summe: Teile der Symptomatik, der Therapie und auch der Rücktransport an die Front dienten dazu, den Krieg als (Nach-)Spiel oder Realität zu perpetuieren. Zurück zu Negros Kriegsreenactment-Film: Die Vergegenwärtigung der Beispiele bei Kleist und Klajn ermöglicht es, retrospektiv nach noch mehr Facetten zu fragen, wie das Unbewusste des namenlosen Kriegsnachspielenden im Negro-Film strukturiert sein mochte. Psychoanalytischen Parametern folgend kann diesbezüglich gefragt werden: Erlebt der Patient sich hier in der Rolle eines kriegerischen Täters beziehungsweise - je nach Perspektive - Mörders wieder oder aber, der geläufigen Soldatenmentalität entsprechend, als in Selbstverteidigung begriffen? Handelt es sich mitunter um einen früh dokumentierten Fall von Tätersymptomen? 70 Hierfür 66 Ebd. - Anti zitiert auf 355: B ETLHEIM , „O ratnim neurozama“, 92. 67 K LEIST , Schreckpsychosen, 475f. Kleist verweist auf den Fall eines 52-jährigen Kriegsfreiwilligen, der „zusehen mußte, wie ein junger Kriegsfreiwilliger an einem Bach von einem Volltreffer getötet wurde, nachdem er ihn selbst zu der betreffenden Stelle hingewiesen hatte“. 68 Ebd., 444. 69 Ebd., 508. 70 Zu späteren mehr oder weniger stark fiktionalisierten Verfilmungen von „Täter-Trauma“ in der israelischen Spielfilmkultur: M ORAG , Waltzing with Bashir. Ästhetisierung des Unbewussten 97 spricht, dass sich der Inhalt des „hysterischen Anfalls“ weniger auf subjektives Leiden bezieht, als darauf, ein effizienter Killer zu sein. Ein Großteil des Gespielten umfasst gelingende Tötungen von Feinden. Ist die psychische Kriegsverwundung des Soldaten, der das Trauma entspringt, dementsprechend verbunden mit verdrängten Schuldkomplexen? Oder mit ungelösten Ich-Konflikten zwischen dem alten „Friedens-Ich“ und dem neuen „kriegerischen Ich“ des Soldaten - dem „neugebildeten parasitären Doppelgänger“, wie Sigmund Freud Ende des Ersten Weltkriegs vermutete? 71 Oder handelt es sich, noch komplexer, um eine Täter-Opfer- Inversion, um eine „Identifizierung mit dem Aggressor“, wie sie dessen Tochter, Anna Freud, 1936 beschrieben hat. 72 Bei diesem unbewussten Abwehrmechanismus macht sich das Opfer entweder selbst für die erlebten Angriffe verantwortlich, in dem unbewussten Versuch, das passiv Erlebte aktiv zu kontrollieren. Oder die gefürchtete Person (hier der kriegsgegnerische Soldat) wird physisch oder moralisch imitiert, „Angst in lustbetonte Sicherheit“ verwandelt - Agieren statt Reagieren. 73 Die Machtsymbole, die den Angreifer kennzeichnen, werden angeeignet, dessen Aggressivität, Stärke und Männlichkeit, so Anna Freud, nachgeahmt und wieder abgespielt. Dies lasse das schwache, hilflose Ich mächtig und omnipotent erscheinen, 74 das Opfer verschmelze mit dem Aggressor, sodass es sich als aktiv statt passiv, sicher statt orientierungslos, bedrohlich statt bedroht erlebe. 75 Dies könnte eine versteckte intrapsychische Referenz und Matrix hinter der analysierten Kriegsreenactment-Szene im Negro-Film sein - Angst wird in hypermaskulines Handeln verkehrt. Genau genommen trifft dies auf alle Kriege zu, in denen die symbolischen Positionen von Aggressor-Sein und Opfer-Sein ständig wechseln und ununterscheidbar werden. 71 Freud zufolge durchzieht das Individuum im Krieg, das später eine traumatische Neurose ausbildet, ein „Ichkonflikt“ „zwischen dem alten friedlichen und dem neuen kriegerischen Ich des Soldaten“. Akut werde der Konflikt, „sobald dem Friedens-Ich vor Augen gerückt wird, wie sehr es Gefahr läuft, durch die Wagnisse seines neugebildeten parasitären Doppelgängers ums Leben gebracht zu werden“. Das „alte Ich schütze sich durch die Flucht in die traumatische Neurose gegen die Lebensgefahr […]. Das Volksheer wäre also die Bedingung, der Nährboden der Kriegsneurosen“. Die Furcht vor dieser Schädigung sei der „innere Feind“ des Kriegsneurotikers. F REUD , Einleitung, 323. 72 Hierbei handelt es sich um einen unbewussten Abwehrmechanismus, bei dem sich ein Individuum in andauernder Todesangst mit dem Angreifer - übertragen auf den vorliegenden Kontext, dem Kriegsgegner - identifiziert. Vgl. F REUD , Die Identifizierung mit dem Angreifer. 73 Ebd., 86. 74 L APLANCHE / P ONTALIS , Identifizierung mit dem Angreifer; A UCHTER / S TRAUSS , Kleines Wörterbuch der Psychoanalyse, 83f. 75 F REUD , Die Identifizierung mit dem Angreifer, 87f. Julia B. Köhne 98 5. Resümee Negros Lehrfilm über ein Kriegsreenactment aus dem Jahr 1918 ist in seiner historischen Validität mehr als ein seltenes Dokument der Militärmedizingeschichte, das ein besonderes neuropsychiatrisches bzw. psychopathologisches Phänomen über die Zeit hinweg transportiert oder schlicht eine Krankenallegorie darstellt. Er erweist sich bei genauerer Analyse vielmehr als komplexes medizinisches, filmisches und (unbewusst) schauspielerisches Spektakel. Dabei trugen drei Positionen zum Reenactment des Kriegs bei: der sein Symptom ausagierende „Hysteriker“, der ganzkörperlich und stimmlich kriegerische Handlungen nachbildete, der filmische Apparat, der denselben dramatisierend abfilmte, und der Mediziner, der sein Untersuchungsobjekt im Kader zu halten versuchte und im Kampf gegen die soldatische Hysterisierung begriffen war. Neben seinem Authentizitätsbegehren lieferte Negros Film durch seine spezifische Filmsprache neue phantasievolle Zeichensysteme zur Bedeutungszuschreibung der Pathologie männliche „Kriegshysterie“, wie zum Beispiel eine schnelle Schnitttechnik, das Sujet ‚entkörperte Hände‘, das Schuss- Gegenschussverfahren/ Zurückschießen auf die Filmkamera. Er beeinflusste auf diese Weise die visuelle Produktion dieses „Krankheitsbildes“, bei dem vermeintlich anomale Körperbewegungen für unsichtbare Nervenleiden zeugten. Hierbei machte er zum einen Anleihen bei vorherigen ‚Krankheitsbildern‘ wie „weibliche Hysterie“ („hysterischer“ Kreisbogen) oder „psychisches Trauma“ und wies zum anderen futurologisch über seinen Entstehungskontext hinaus. Für die erkenntnistheoretische Ebene bedeutet dies: Die Obsession, mittels filmtechnischem Apparat mechanisch sehen zu können, die positivistischen Strömungen dieser Zeit inhärent war, wird von dem vorliegenden Film gestört. Die wild-theatrale Art des in Szene gesetzten Kriegshysteriepatienten torpedierte das Konzept mechanischen Sehens. Der Film war mehr als ein neutrales Instrument der Wissenserzeugung und -präsentation: Er war vielmehr ein codierungsreicher und symbolträchtiger Teil der Wissenskommunikation über Kriegsreenactments infolge von Kriegstraumatisierungen, der einen Überschuss an Wissen mitlieferte. Die markanten ästhetischen Expressionen des Lehrfilms, bedingt durch das Setting und das sich in ihm abspielende Kriegsschauspiel, brachten ihn in die Nähe des Spielfilmgenres (traumhaftes Matratzenlager, sukzessives Annähern der Kamera, die Topik ‚war in loops‘). Verfilmte Psychopathologie wird hier als Gemenge aus medizinischen Fakten und Fiktionen ausgestellt. Darüber hinaus eröffnet der Lehrfilm Einblicke in das von Macht charakterisierte Verhältnis zwischen Arzt und Patient. (In Anschluss an Foucault können die angesprochenen Filme als Dokumente aufgefasst werden, die weniger über den Zustand des jeweiligen Patienten bzw. der Patientin als über die Regie führenden Mediziner selbst und das medizinische System, in dem sie standen, Auskunft geben.) Dass Therapieverständnisse kontextabhängig und instabil sind, zeigten nicht zuletzt die zahlreichen zeitenüberschreitenden Theorievokabeln wie „Dissoziation“, „Flashback“, „Intrusion“, „Trigger“, „Tätersymptome“ etc., mittels derer jeweils verschiedene Ebenen des Films aufzuschlüsseln sind. Anders als verfilmte Fallgeschichten, wie etwa der weibliche Hysteriefall in „La Neuropatologia“ (1908), der Ästhetisierung des Unbewussten 99 auf finale Heilung abzielte, zeugt der spätere Negro-Film davon, dass die Symptome die Lauf- und Aufnahmezeit des Films überdauerten und wiederkehrten und die Wissenschaft kein ‚Allheilmittel‘ gegen die soldatische „Hysterie“ parat hatte. Negros Film über den mit einem imaginären Gegner kämpfenden „Kriegshysteriker“ fehlen alle Elemente, die Heilung versprechen. Es sind - jenseits der Ebene des Schnitts und der Montage - auch kaum Elemente zu erkennen, die eine narrative Rahmung darstellen - es gibt weder eine Kapiteleinteilung noch Überschriften, kein Ein- und Abblenden oder eine Dreiteilung in die konsekutiven Phasen: Symptomschau - Therapie oder Platzhalter für die Therapie - Heilung. Die medizinische Macht, die hinter dieser Aufnahme stand, bleibt in den Filmszenen weitgehend unsichtbar. Tauchte Negro bei früheren Kriegshysterie-Fallgeschichten, die die „Neuropatologia“-Kompilation zeigt, prominent als potente Arztfigur auf, die das Symptom hervorruft oder übertrieben darstellte und sich am Ende durch eine die erfolgreiche Therapie krönende Abschlusseinstellung in den Vordergrund stellt (siehe Abb. 12), so blieb er dem en detail besprochenen Kriegsreenactmentfilm als heroisierte charismatische Arztfigur fern. (War hier in seinen Augen keine Heilung in Sicht, stieß die Neuropsychiatrie an ihre Grenzen und wären die Symptome nur mittels Psychologie und Psychoanalyse lesbar und adressierbar gewesen? ) Trotz seiner Absenz verdeutlicht der Film die gewaltförmigen Anteile der Arzt-Patienten- Beziehung: Position und Haltung des Soldaten-Patienten werden im Film durch ‚körperlose Hände‘ mehrfach vehement korrigiert. Der Patient wird an Armen und Beinen regelrecht in den Kaderausschnitt zurückgezerrt, nachdem die ruckartigen, impulsiven, zum Teil dramatischen Körperbewegungen, die durch den „Flashback“ ausgelöst wurden, ihn immer wieder aus dem Darstellungsrahmen hinauszutreiben schienen. Dieser Kriegshysteriefilm widerlegt die Vermutung, dass die die „Kriegshysterie“ verfilmenden Mediziner einem ungeschriebenen Gesetz folgten, das besagte, dass die (ex-)soldatischen Patienten - anders als ihre weiblichen Vorgängerinnen, die die „Hysterie“ in Zeichnung, Photographie und Film verkörperten, - immer nur so wild gezeigt werden durften, dass eine Genesung und militärische Re-Integration noch möglich erschienen. Der Film mit dem in die Luft schießenden Soldaten- Patienten durchbricht diese stille Zensur und das unmittelbare Heilungsprimat. Er legt offen, dass die damalige Militärmedizin den Kampf gegen die massenhaft hysterisierten Männer nicht gewinnen konnte. Oder wenn doch, dann, wie in anderen Kriegshysteriefilmen, nur durch filmische Kniffe. Er steht stellvertretend für die zahlreichen verbliebenen Spuren traumatischer Verletzung infolge des Ersten Weltkriegs, für die Spätfolgen, Rückfälle und therapeutischen und menschlichen Grenzen. Zudem macht Negros Film deutlich, dass aus der Warte einer kulturwissenschaftlich-evaluierenden Rückschau in einem unbewussten Reenactment von kriegerisch-aggressiven Taten, wie in diesem Fall, nicht nur die Opferposition angesprochen ist, sondern immer auch eine Perspektive als Täter von mehr oder weniger rechtfertigbaren Gewalttaten. Julia B. Köhne 100 Quellen und Literatur Quellen Anonym: Moving Pictures of Clinics. Prof. Negro Successfully Uses Them in Demonstrating Nervous Diseases. By Marconi Transatlantic Wireless Telegraph to The New York Times, February 23, 1908, Section The Marconi Transatlantic Wireless Dispatches, Page C1, Column. B ETLHEIM , S TJEPAN : „O ratnim neurozama“, in: Glas Udarnika: List V korpusa Jugoslavenske Armije 3 (1945), 92. B RESLER , J OHANNES : Seelenkundliches. [Fortsetzung] Hysterie ohne Ende, in: Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 20 (1919), 262-267. 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In terms of diagnoses and therapy methods, however, the differences between the treatment of officers and rank and file were not significant. There were often no consistent opinions in the various military hospitals as well as in the psychiatric specialist discourse, and there were doctors who did not avoid any diagnosis and form of therapy on the grounds of officer status. Due to the heightened self-awareness of psychiatrists during the First World War, more and more of them took medical expertise and military efficiency more seriously than the customs of social class. Zusammenfassung Der Beitrag geht der Frage nach, inwieweit sich in Bezug auf die psychisch versehrten Offiziere und Mannschaftssoldaten in Deutschland im Ersten Weltkrieg eine Zwei-Klassen-Medizin zeigt und welche Bedeutung der militärische Rang und die soziale Stellung der Offiziere für die psychiatrischen Urteile, Diagnosen und Behandlungen hatten. Untersucht werden die zeitgenössischen Veröffentlichungen der Psychiater, aber auch Krankenbücher, Krankenakten und Personalakten von Offizieren. Es zeigt sich, dass den Offizieren im Lazarett eine Sonderbehandlung hinsichtlich der Form der Unterbringung, Verpflegung und der sozialen Umgangsformen zugestanden wurde. Was aber die Diagnosen und Therapieformen anbelangte, ist festzuhalten, dass hier die Unterschiede zwischen Offizieren und Mannschaften nur tendenziell ausfielen, in den einzelnen Lazaretten wie auch im psychiatrischen Diskurs oft keine einheitlichen Auffassungen bestanden und manche Ärzte keine Diagnose und Therapieform aufgrund des Offiziersstatus vermieden. Das wachsende Selbstbewusstsein der Psychiater im Ersten Weltkrieg führte dazu, dass sie auch im Umgang mit Offizieren zunehmend ihre medizinische Expertise und militärische Effizienz-Gesichtspunkte über das soziale Klassendenken stellten. Gundula Gahlen 108 1. Einleitung Bis vor kurzem war die Forschungsmeinung dominant, dass im Ersten Weltkrieg in Deutschland eine klare Zwei-Klassen-Medizin bei psychischen Erkrankungen existiert hätte und Diagnosen und Behandlungen patientengruppenspezifisch vergeben worden seien. Bei Mannschaftssoldaten hätten die Nervenärzte vorrangig Hysterie, bei Offizieren hingegen Neurasthenie, eine nervöse Erschöpfung, diagnostiziert. Während Mannschaftssoldaten mit aktiven Behandlungsmethoden mit elektrischem Strom und militärischem Drill traktiert worden seien, hätten die Nervenärzte diese bei Offizieren für nicht geeignet gehalten. Entsprechend hätten sie bei ihnen vermehrt auf sanfte Behandlungsmethoden zurückgegriffen und Erholungsurlaub und Badekuren verordnet. 1 Die neuere Forschung, die Patientenakten auswertete, - genannt seien unter anderen Petra Peckl, Maria Hermes, Edgar Jones und Stefanie Linden 2 - hat zu Recht kritisiert, dass dieses homogene Bild vom „neurasthenischen Offizier“ und dem „hysterischen Mannschaftssoldaten“ und der unterschiedlichen Behandlungsweise, die zwischen beiden Gruppen angewandt wurde, einer Differenzierung bedarf. Die Ergebnisse der Auswertung der Patientenakten, die sich vorrangig auf Mannschaftssoldaten beschränkten, relativierte sowohl das Bild einer rangspezifischen Diagnostik wie auch einer rangspezifischen Behandlung. Die Diagnose „Neurasthenie“ oder „Nervöse Erschöpfung“ wurde mitnichten exklusiv an Offiziere vergeben, sondern auch an einen großen Teil der psychisch versehrten einfachen Soldaten. Auch Mannschaftssoldaten wurden vorrangig mit sanften Behandlungsmethoden behandelt und auch ihnen wurde Zeit zur Regeneration gegeben. Die Auswertung der Patientenakten von Mannschaftssoldaten hat deutlich gemacht, dass sich die aktiven Behandlungsmethoden im Ersten Weltkrieg nicht flächendeckend durchsetzten, sondern die Einführung von Lazarett zu Lazarett, ja bisweilen sogar von Arzt zu Arzt, unterschiedlich war. 3 Im Folgenden wird das Bild vom „neurasthenischen Offizier“ und dem „hysterischen Mannschaftssoldaten“ und der unterschiedlichen Behandlungsweise, die zwischen beiden Gruppen angewandt wurde, nicht mit Blick auf die psychisch versehrten Mannschaftssoldaten, sondern mit Blick auf die psychisch versehrten Offiziere, die bisher in der Forschung sehr wenig behandelt wurden, 4 einer Überprüfung 1 R IEDESSER / V ERDERBER , Maschinengewehre hinter der Front, 36; M ICHL , Im Dienste des „Volkskörpers“, 209, 252; H OFER , Nervenschwäche und Krieg, 220-226; L ERNER , Rationalizing the Therapeutic Arsenal, 133. 2 P RÜLL , The Exhausted Nation, 32f.; P ECKL , What the Patient Records Reveal, 149-159; DIES ., Psychische Erkrankungen der Soldaten, 72f.; H ERMES , Krankheit: Krieg, 430; L IN- DEN / J ONES , German Battle Casualties, 635. 3 P ECKL , Psychische Erkrankungen der Soldaten, 88; H ERMES , Krankheit: Krieg, 428-454. 4 Auch die Forschungsprojekte, die durch die Auswertung von Patientenakten den Behandlungsalltag analysieren, hatten nur eine Handvoll Offiziere in ihrer Auswahl. Vgl. insbesondere das DFG-Projekt „Krieg und medikale Kultur. Patientenschicksale und ärztliches Handeln im Zeitalter der Weltkriege (1914-1945)“, das 700 Krankenakten von Soldaten des Ersten Weltkrieges analysierte. Die Untersuchungsauswahl erhielt allerdings nur fünf Offi- Zwei-Klassen-Medizin? 109 unterzogen. Untersucht werden die zeitgenössischen Veröffentlichungen der Psychiater, 5 aber auch Krankenbücher, Krankenakten und Personalakten von Offizieren, um die Frage zu klären, welche Bedeutung der militärische Rang und die soziale Stellung der Offiziere für die psychiatrischen Urteile, Diagnosen und Behandlungen hatten. Hierfür analysiert der erste Teil des Beitrags die Einschätzungen der Psychiater zum zahlenmäßigen Verhältnis von Offizieren und Mannschaften, die von Kriegsneurosen betroffen waren. Nachfolgend blickt der zweite Teil auf die Diagnosen, welche die Nervenärzte vergaben. Der dritte Teil geht schließlich auf den Behandlungsalltag und die Methoden ein, mit denen die Psychiater Offiziere therapierten. Insgesamt zeigt sich, dass sich bei einem gezielten Blick auf die Offiziere viele Thesen der jüngsten Forschung bestätigen lassen. Zudem führt eine solche Vorgehensweise aber auch zu einem differenzierteren Bild von der ärztlichen Sicht auf psychisch versehrte Offiziere im Ersten Weltkrieg, als die Forschung bisher herausgearbeitet hat. 2. Zahl der Kriegsneurotiker Blickt man darauf, wie die Psychiater das Verhältnis von psychisch versehrten Offizieren und Mannschaften größenmäßig einschätzten, ist auffällig, dass sich nur wenige zusammenfassende konkrete Aussagen finden lassen. Hier spielte eine große Rolle, dass in der wilhelminischen Armee Geisteskrankheiten von Offizieren generell nicht rapportiert wurden. Die Daten aus den Lazaretten wurden nicht weitergegeben, im statistischen Sanitätsbericht über das Deutsche Heer im Weltkriege von 1934 fehlen jegliche Angaben zum Offizierskorps. 6 ziere. P ECKL , What the Patient Records Reveal, 157; P RÜLL / R AUH (Hrsg.), Krieg und medikale Kultur. Vgl. daneben die Studie von Hermes, die erstmals systematisch den Behandlungsalltag in einem Reservelazarett untersucht. Auch sie hatte allerdings nur acht Offiziere in ihrer Untersuchungsauswahl. H ERMES , Krankheit: Krieg. Vgl. Fallbeispiele zu Offizieren bei N EUNER , Politik und Psychiatrie, 58. Und Stefanie Caroline Linden und Edgar Jones analysierten ein Sample von 200 Soldaten mit Kriegsneurosen in zwei führenden psychiatrischen Kliniken in Berlin und Jena, das allerdings auch keine Offiziere enthielt. L IN- DEN / J ONES , German Battle Casualties, 635; L INDEN / H ESS / J ONES , Neurological Manifestations of Trauma. 5 Dazu ausführlich G AHLEN , The significance of social class and military rank. 6 Sanitätsbericht über das Deutsche Heer im Weltkriege; ferner L ENGWILER , Geschichte der Militärpsychiatrie, 29. Auch für England im Ersten Weltkrieg ist bekannt, dass diverse Sanitätsoffiziere bei Offizieren die Diagnose nicht nach oben weitergaben und aktenkundig machten. Hinzu kam, dass manche Offiziere Ärzte insgesamt vermieden und über die Hilfe von hochrangigen Kameraden von der Front nach Hause gelangten, sodass von vielen nichtregistrierten Fällen auszugehen ist. Allgemein ist zu berücksichtigen, dass Statistiken über Kriegsneurosen mit Vorsicht behandelt werden sollten. Schließlich fehlte es an standardisierten Diagnosetechniken. Die Definition der Kriegsneurose war uneinheitlich, sodass Häufigkeitsangaben oftmals nicht miteinander verglichen werden können. Zudem wurden Zahlen über das Ausmaß psychischer Störungen im Krieg bewusst niedrig gehalten, um negative Re- Gundula Gahlen 110 In der Forschungsliteratur wird hierzu vorrangig der 1917 in der Deutschen Medizinischen Wochenschrift veröffentlichte Artikel „Zur Kriegsneurose bei Offizieren“ des Rostocker Professors Hans Curschmann zitiert. 7 Es handelt sich um dessen verschriftlichten Vortrag, den Curschmann auf dem Münchner Fachkongress von 1916 gehalten hatte, und mit dem dieser für die These von der psychogenen Natur der Kriegsneurose und gegen die Auffassung von Hermann Oppenheim argumentierte. Curschmann stellte in Bezug auf die Besonderheiten zwischen Offiziers- und Mannschaftsneurosen fest, „daß Offiziere auf die gleichen psychischen und körperlichen Insulte weit seltener und mit wesentlich leichteren, viel weniger groben und auch prognostisch viel günstigeren Neurosen reagieren, als das Gros der Mannschaft“. 8 Er führte als Beleg die Fälle in seinem eigenen Vereinslazarett an, zusätzlich gab er noch die Ergebnisse einer Befragung seiner Kollegen zu Offiziersneurosen wieder. 9 Curschmann erklärte diese Besonderheiten vor allem durch das hohe Maß an Pflicht- und Verantwortungsbewusstsein sowie patriotischer Gesinnung der Offiziere. Auffällig ist allerdings, dass er sich bei seinen weiteren Ausführungen auf sog. „grobe“ hysterische Syndrome (vor allem dauernde Zuckungen oder Lähmungen bestimmter Körperbereiche) begrenzte. Die bisherige Forschung zur psychiatrischen Praxis, die vorrangig psychiatrische Lazarette in den Blick genommen hat, hat übereinstimmend mit Curschmann festgestellt, dass in Deutschland Offiziere nur einen kleinen Teil der eingewiesenen Soldaten darstellten. 10 Doch machen die im Berliner Krankenbuchlager 11 erhaltenen Krankenbücher des Ersten Weltkriegs deutlich, dass der Großteil der psychisch versehrten Offiziere nicht in psychiatrischen Lazaretten, sondern in Offizierslazaretten und in Offiziersgenesungsheimen behandelt wurde. Und hier stellten des Öfteren Offiziere mit psychischen Leiden die Mehrheit der Patienten. Insgesamt sind im Krankenbuchlager die Krankenbücher von 102 Offizierslazaretten bzw. -genesungs- aktionen bei der Bevölkerung, beim Feind und bei der eigenen Truppe gering zu halten. Zu den Schwierigkeiten der statistischen Erhebung von Kriegsneurosen allgemein und zu England speziell L EESE , Shell Shock, 9; ferner L ENGWILER , Geschichte der Militärpsychiatrie, 29; R IEDESSER / V ERDERBER , Maschinengewehre hinter der Front, 125; B LASSNECK , Militärpsychiatrie im Nationalsozialismus, 34. 7 C URSCHMANN , Zur Kriegsneurose bei Offizieren. 8 Aufgrund dieser Unterschiede sprach er sich für das „Vorwiegen der Psychogenie (im weitesten Sinne) solcher nervösen Störungen“ aus. C URSCHMANN , Zur Kriegsneurose bei Offizieren, 291. 9 Ebd., 292. 10 Zum Beispiel führte Stephanie Neuner als Beleg das Neurotiker-Lazarett Würzburg an. Dieses hatte am 31. Mai 1918 einen Gesamtkrankenbestand von 1.212 Personen, unter diesen waren lediglich 17 Offiziere. BayHStA Abt. IV KA St. Gen Kdo. II. AK., SanA, Bd. 11; N EUNER , Politik und Psychiatrie, 58. 11 Das Krankenbuchlager Berlin wurde Ende 2013 geschlossen. Es ist geplant, die Unterlagen der Deutschen Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen der ehemaligen deutschen Wehrmacht (WASt) zu übergeben. Zwei-Klassen-Medizin? 111 heimen aus dem Bereich Feldlazarette und 50 aus dem Bereich Heimatlazarette überliefert. Auch im psychiatrischen Fachdiskurs gibt es Hinweise darauf, dass Offiziere nicht weniger als Mannschaftssoldaten von Kriegsneurosen betroffen waren. 12 Hier ist insgesamt festzustellen, dass keine eindeutige Meinung vorherrschte. Sehr auffällig ist, wie die Psychiater in ihren Fachartikeln mit den verschiedenen Befunden umgingen. So stellten Autoren mit Nachdruck ihre Befunde heraus, die dafür sprachen, dass Offiziere bei bestimmten Ausprägungen der Kriegsneurose unterrepräsentiert waren, und sahen dies als Beweis für die moralische Überlegenheit des Offizierskorps. 13 Hingegen finden sich Einschätzungen, dass Offiziere in gleicher Weise wie Mannschaftssoldaten von Kriegsneurosen betroffen waren, meist in Nebensätzen, wurden nur indirekt oder vereinzelt in Fallgeschichten wiedergegeben. 14 Bei der gesamten Thematik zeigt sich ein Bemühen der Ärzte, keinen Makel auf das Offizierskorps zu werfen. 3. Diagnosen Die Untersuchung, welche Diagnosen für psychisch versehrte Offiziere aufgestellt wurden, ergibt, dass sich im Krieg die in der Vorkriegszeit bestehende starre Zuteilung der Diagnosen auf die militärischen Ränge aufzuweichen begann. Ging es um psychische Leiden im Militär vor 1914, diagnostizierten die Psychiater - wie Martin Lengwiler herausgearbeitet hat - bei Offizieren und Unteroffizieren exklusiv Neurasthenie, bei einfachen Soldaten vorrangig Hysterie. 15 Im Ersten Weltkrieg hingegen fächerten sich die Diagnosen auf. Neben Hysterie und Neurasthenie wurden Nervenschock, Schreckneurose, Kriegsneurose, Nervosität, Nervenschwäche, nervöse Erschöpfung o.ä. diagnostiziert. Gleichzeitig muss betont werden, dass auch die Definitionen dieser Diagnosen uneinheitlich waren und sich die Symptome der verschiedenen Diagnosen vielfach nur graduell unterschieden. 16 Dass sich bei den Offizieren eine ganze Bandbreite an Diagnosen findet, zeigt zum Beispiel der Blick auf die Verteilung der Diagnosen im Offiziersgenesungsheim Joeuf, der Nervenstation des Kriegslazaretts in Bukarest sowie dem Offiziers-Lazarett Darmstädter Hof in Baden-Baden. 12 Vgl. z.B. explizit J OLOWICZ , Statistik, 150-152. 13 Vgl. C URSCHMANN , Zur Kriegsneurose bei Offizieren, 292f.; S TEINAU -S TEINRÜCK , Zur Kenntnis der Psychosen, 336. 14 Beispiele z.B. in: G AUPP , Schreckneurosen und Neurasthenie, 89; H ELLPACH , Kriegsneurasthenie, 178-181. 15 Der Grund lag darin, dass sich nach der damaligen Ansicht der Psychiater die Neurasthenie von der Hysterie vorrangig in der Ätiologie und in der Prognose unterschieden, aber die Symptome als ähnlich angesehen wurden. L ENGWILER , Geschichte der Militärpsychiatrie, 98f.; vgl. auch R ADKAU , Die wilhelminische Ära als nervöses Zeitalter, 221. 16 P ECKL , What the Patient Records Reveal, 140-147; H OFER , Was waren „Kriegsneurosen“. Gundula Gahlen 112 Grafik: Offiziersdiagnosen psychischer Leiden im Offiziersgenesungsheim Joeuf, der Nervenstation des Kriegslazaretts in Bukarest sowie dem Offiziers-Lazarett Darmstädter Hof in Baden-Baden im Ersten Weltkrieg. 17 Nervöse Erschöpfung, Neurasthenie bzw. Nervenschwäche, Nervosität und nervöse Störungen innerer Organe, wie nervöse Herz- oder Darmstörungen, gehörten zur Gruppe der neurasthenischen Erschöpfungsneurosen. In den Krankenbüchern der ausgewählten Lazarette war bei weitem der Großteil der Offiziere mit diesen Diagnosen versehen. Die eigentliche Kriegsneurose war hingegen eine sehr wenig verbreitete Diagnose. Das Gleiche gilt für die Diagnose Nervenschock, obwohl Letztere neben organischen Leiden die am meisten akzeptierte Diagnose unter den Offizieren war. 18 17 Krankenbuchlager Berlin: F 35578 Bukarest, 35579 Bukarest, F 39441 Joeuf, H 11039 Baden-Baden, H 11040 Baden-Baden. Bei den Offizieren mit psychischen Leiden wurden aktive und Reserveoffiziere ab dem Leutnantsrang aufgenommen. 18 Die einzige psychische Diagnose der Krankenbücher und Krankenakten, die durchgehend in den Offizierspersonalakten übernommen wurde, war „Nervenschock durch Verschüttung“. Und hier wiederum zeigt sich bei einem Vergleich der Personalakten und Krankenakten, dass Ärzte wiederum die Diagnose Nervenschock häufig in „Hysterie“, „Neurasthenie“ oder „Nervenschwäche“ umänderten, die Offizierspatienten aber weiterhin auf die Diagnose „Nervenschock“ beharrten. Dies spricht dafür, dass die Diagnose Nervenschock eine weit akzeptablere Diagnose für das Selbstbild des Offiziers war als die anderen Krankheitszu- 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% Bukarest (77 Offiziere) in % Joeuf (618 Offiziere) in % Baden Baden (80 Offiziere) in % andere Diagnosen Hysterie Psychopathie Kriegsneurose (Schreckneurose) Schock (nervöse Erschütterung) Nervöse Störungen innerer Organe Nervosität Neurasthenie (Nervenschwäche) Nervöse Erschöpfung Zwei-Klassen-Medizin? 113 Die Auswertung ergibt daneben, dass immerhin sieben Prozent der in Joeuf und zwölf Prozent der in Bukarest eingelieferten Offiziere mit psychischen Leiden Diagnosen erhielten, die mit einem moralischen und erblichen Stigma belastet waren. 23 Offiziere erhielten in Joeuf die Diagnose Hysterie, 22 die Diagnose Psychopathie. In Bukarest fanden sich zwei Offiziere mit der Diagnose Hysterie, sieben mit der Diagnose Psychopathie. 19 Hingegen scheinen in Baden-Baden Diagnosen wie Hysterie und Psychopathie ein Tabu gewesen zu sein. Manche Ärzte taten sich auch in Joeuf und Bukarest mit der Diagnose Hysterie bei Offizieren offensichtlich schwer. So wurde in einigen Fällen in den Krankenbüchern das Wort Hysterie durchgestrichen und durch die Diagnose „konstitutionelle Neurasthenie“ ersetzt. Sicherlich war hier die Diagnose vor allem dem Offiziersrang geschuldet. Auch sieht man dies an den Krankenakten. Bei Offizieren, die mehrere Lazarette durchliefen, wurden die Begriffe Hysterie und Neurasthenie des Öfteren ausgetauscht. Dies wurde teilweise in Fachartikeln sehr offen thematisiert. Mathilde von Kemnitz 20 , die leitende Ärztin des Offiziers-Genesungsheims Schöneck- Garmisch, stellte in einem Artikel von 1917 fest, dass „funktionelle Erkrankung bei Offizieren weit häufiger ist, als dies auf den ersten Blick scheint.“ 21 Kein Offizier wolle hysterisch sein und viele Ärzte würden aus Wohlwollen die Hysterie-Diagnose vermeiden. 22 Insgesamt ist beim Blick auf den psychiatrischen Diskurs festzustellen, dass die Nervenärzte im Ersten Weltkrieg der Gestaltung der Symptome bei der Vergabe der Diagnose bei Offizieren eine unterschiedliche Bedeutung einräumten. Für eine Fraktion an Ärzten war die Gestalt der Symptome nur eine Richtlinie bei der Vergabe der Diagnose, hinzu kamen der allgemeine Eindruck des Patienten, dessen soziale Herkunft und sein militärischer Rang. 23 Der Tübinger Psychiater Robert Gaupp war einer der prominentesten Vertreter dieser Richtung. Er bemerkte hierzu im Rückblick nach dem Ersten Weltkrieg: „Ob ein Tremor, eine Reflexsteigerung schreibungen. Ein Grund dafür, dass viele Offiziere auf der Diagnose Nervenschock bestanden, lag sicherlich auch darin, dass die Ärzte bei Mannschaftssoldaten vorrangig konkreten Kriegsereignissen, die auf den Körper einwirkten, einen Einfluss auf ihre seelische Gesundheit zustanden, insbesondere Granatexplosionen in nächster Nähe oder Verschüttungen u.a. Mit dem Erhalt dieser Diagnose hatten die Mannschaftssoldaten die beste Möglichkeit, um eine Dienstbeschädigung anerkennen zu lassen. Vgl. H ERMES , Psychiatrie im Krieg, 105f. 19 Hierbei ist zu betonen, zeitgenössisch die Bezeichnung „Psychopath“ damals nicht wie heute eine schwere Persönlichkeitsstörung bedeutete, die bei den Betroffenen mit dem weitgehenden oder völligen Fehlen von Empathie, sozialer Verantwortung und Gewissen einhergeht. Vielmehr verstanden sie hierunter allgemein eine pathologische Veranlagung, die die Gesamtperson, ihr soziales Verhalten, ihr Denken und ihr Fühlen betraf. 20 Zu der Ärztin, Frauenrechtlerin und antisemitischen Theoretikerin Mathilde von Kemnitz- Ludendorff: S PILKER , Geschlecht, Religion und völkischer Nationalismus. 21 K EMNITZ , Funktionelle Erkrankungen, 230. 22 Sie selber habe keinen einzigen Offizierspatienten gehabt, der mit der Diagnose „Hysterie“ in ihr Genesungsheim kam, vielmehr habe die Diagnose meistens „Neurasthenie“ oder „nervöse Erschöpfung“ gelautet. K EMNITZ , Funktionelle Erkrankungen, 230-233. 23 H OFER , Nervenschwäche und Krieg, 226. Gundula Gahlen 114 oder ein Kopfschmerz neurasthenisch, endogen-psychopathisch oder hysterisch ist, kann nicht durch die klinischen Erscheinungsformen des Symptombildes, sondern muß aus dem Gesamttatbestand geschlossen werden.“ 24 Das subjektive Urteil des behandelnden Psychiaters war für ihn das einzig wirksame Kriterium. 25 Dafür, dass der militärische Rang und der Zivilberuf allgemein als wesentlich für die Art der Erkrankung und das Bild vom Kranken angesehen wurden, spricht auch, dass diese Informationen zentral auf dem Deckblatt der Krankenblätter verzeichnet wurden. 26 Für manche Psychiater hingegen waren die Symptome die vorrangige Richtlinie und sie vermieden keine Diagnose aufgrund der sozialen Herkunft oder des militärischen Ranges der Patienten. Zum Beispiel bemerkte Willy Hellpach zum Dissens: „Ich habe Diagnosen ernsthafter Fachgenossen gelesen, die auch bei einem chronischen Wackelzittern des Kopfes oder eines Armes oder einer Körperhälfte, verbunden mit einem Komplex neurasthenischer Symptome, noch auf „Neurasthenie“ lauteten. Dahin kann ich nicht mit.“ 27 Bei der Diagnose Psychopathie zeigt der Blick auf die Krankenakten der betroffenen Offiziere, dass hier Begriffe wie „minderwertig“ und „degenerativ“ zur Beschreibung der sog. „psychopathischen Veranlagung“ benutzt wurden. Sie wurden aber vorrangig als medizinische Kategorien gebraucht, ohne dass die Ärzte damit der Person von vornherein die Kompetenz absprachen, als Offizier zu genügen. Hier existiert ein klarer Unterschied zur Sicht der Psychiater auf Mannschaftssoldaten. Der Großteil der deutschen Militärpsychiater sah Soldaten mit einer „psychopathischen Konstitution“ nicht als geeignet für den aktiven Militärdienst an und schlug vor, diese aus dem Militär in ihre zivilen Vorkriegsberufe zu entlassen. 28 Auch in der psychiatrischen Zeitschriftenliteratur wurden sog. „psychopathische“ Offiziere in den dort publizierten Fallgeschichten während des Weltkriegs behandelt. Und hier wurde diesen Offizieren gleichfalls eine „nicht vollwertige“ und „degenerierte“ seelische Konstitution bescheinigt. 29 Ein Beispiel für die entsprechende Wortwahl ist die Fallbeschreibung eines „psychopathischen“ Offiziers des Stabsarztes Max Rohde, der 1915 über seine Erfahrungen als Feldarzt publizierte. Er schrieb: „Als einen der typischsten Fälle dieser Art, wo neben all diesen Komponenten eine sehr weitgehende degenerative Komponente hinzutrat, führe ich folgenden Fall an: Fall 6. Etwa 25jähriger Offizier. Von jeher ausgesprochen psychopathisch veranlagt.“ 30 Zusammenfassend betonte er, „daß hier ein nicht ganz vollwertiges Gehirn schon tangiert wurde, dessen Nichtvollwertigkeit durch Energie noch eine Zeit verdeckt werden konnte, bis die Erschöpfung das Maß von Energie brachlegte.“ 31 24 Zit. nach B UMKE , Kriegsneurosen, 59. 25 Vgl. H OFER , Nervenschwäche und Krieg, 226. 26 So findet sich das Feld „Dienstgrad“ oben links, das Feld „Bürgerlicher Beruf“ unten links auf dem Deckblatt. 27 H ELLPACH , Kriegsneurasthenie, 188. 28 L INDEN / J ONES , German Battle Casualties, 628f. 29 Den Begriff „psychopathische Minderwertigkeit“ hatte Julius Ludwig August Koch bereits im Jahr 1888 geprägt. R IEDESSER / V ERDERBER , Maschinengewehre hinter der Front, 213. 30 R OHDE , Neurologische Betrachtungen eines Truppenarztes, 386. 31 Ebd. Zwei-Klassen-Medizin? 115 Allgemein ist bei diesen Fallgeschichten über psychopathische Offiziere auffällig, dass die Psychiater auch diesen Offizieren Bildung, Ehr- und Pflichtgefühl attestierten. Gleichwohl ist auch das Plädoyer zu finden, in Zukunft der Konstitution der Offiziere bei der Rekrutierung wegen ihrem persönlichen Wohl und aus militärischen Effizienzgründen mehr Beachtung entgegenzubringen. 32 Mit Blick auf die Offiziere ist hier zu betonen, dass gerade durch den Aufschwung, den der junge Zweig der Massenpsychologie im Ersten Weltkrieg erhielt, 33 die Ärzte erkrankte Offiziere nicht nur nach sozialen Kriterien (ähnliche soziale Stellung, Bildung) und dem individuellen Wohl des Offiziers beurteilten, sondern auch militärische Effizienz-Aspekte im Blick hatten. 34 In die gleiche Richtung zielte die Kritik vieler Psychiater nach dem Krieg, dass viele psychisch erkrankte Offiziere zum Schaden der Truppen die Krankmeldung herausgezögert hätten. Hier seien zukünftig die Militärärzte noch stärker in der Pflicht, psychisch erkrankte Offiziere rasch krank zu melden. 35 4. Behandlungsalltag und Therapien Bei der Unterbringung, der Verpflegung, der Alltagsgestaltung und der Aufmerksamkeit, die Ärzte ihren Patienten widmeten, lassen sich klare Unterschiede zwischen Offizieren und Mannschaften feststellen. Hier wird deutlich, wie sehr der alltägliche Umgang im Lazarett von der militärischen Rangordnung und dem dahinter stehenden hierarchischen Menschenbild bestimmt war. In gemischten Lazaretten stand Offizieren der doppelte tägliche Verpflegungssatz der Mannschaftssoldaten zu. Vorhandene Einzelzimmer wurden an diese vergeben. 36 Die für Offiziere reservierten Lazarette und Genesungsheime waren im Regelfall sehr viel luxuriöser als gemischte Lazarette. Die Lazarettbehandlung von psychisch versehrten Offizieren unterschied sich von jener der Mannschaftssoldaten 32 Ebd., 414; vgl. auch P RÜLL , The Exhausted Nation, 30-48; H OFER / P RÜLL , Reassessing War, Trauma, and Medicine, 14. 33 K ÖHNE , Militärpsychiatrie und Kriegspsychologie. 34 So schrieb z.B. Dr. Steinau-Steinrück, der 1919 über die „Psychosen des Schützengrabens“ publizierte und hierbei auf seine dreijährige Erfahrung als Truppenarzt Bezug nahm: „[...] nicht nur die Wirkung der Masse auf den einzelnen ist zu berücksichtigen, sondern ebenso die des einzelnen auf die Masse. Wie der Führer vor einer entschlossenen Truppe über sich selbst hinauswächst, so kann man aus ein und demselben Soldatenmaterial buchstäblich von heute auf morgen - ich habe es wiederholt beobachten können - eine gute oder schlechte Kompagnie machen, je nach der Persönlichkeit, die man an ihre Spitze setzt.“ S TEINAU - S TEINRÜCK , Zur Kenntnis der Psychosen, 369. 35 Vgl. z.B. G AUPP , Schreckneurosen und Neurasthenie, 90f. 36 Zur exklusiven Einzelzimmervergabe an Offiziere: N ONNE , Über erfolgreiche Suggestivbehandlung, 203; ferner H ERMES , Krankheit: Krieg, 371, 400. Gundula Gahlen 116 auch klar darin, dass hier die Ärzte selbst bei Offizieren mit der Diagnose Hysterie eine komfortable Unterbringung nie kritisierten. Hingegen sahen sie es bei hysterischen Mannschaftssoldaten als heilungsfördernd an, wenn die Lazarettausstattung nur ein Minimum an Annehmlichkeiten hatte. 37 Eine Besonderheit bei psychisch versehrten Offizieren war hier zudem, dass der gesellige Umgang unter den Kameraden als therapeutische Maßnahme propagiert wurde. Das Standesbewusstsein und der Kampfeswille des einzelnen Offiziers sollten so gestärkt werden. 38 Hingegen wurde in den Nervenstationen der Kriegslazarette oft die Gefahr der „psychischen Infektion“ bei einer zu engen Zusammenlegung der Patienten betont. 39 Die Offiziere genossen sehr viel mehr Freiheit, was ihre Wünsche nach Urlaub und zur Gestaltung ihres Alltags im Lazarett betraf. Oft wurde in gemischten Lazaretten bei den Hausordnungen zwischen Offizieren und einfachen Soldaten unterschieden, wobei die Ordnung für Letztere sehr viel umfangreicher und restriktiver war. 40 Dass Offizieren mehr Freiheit im Hinblick auf Urlaub und Alltagsaktivitäten eingeräumt wurde als Mannschaftssoldaten, wurde von manchen fachpsychiatrischen Experten durchaus kritisch gesehen, die eine strenge ärztliche Aufsicht als unabwendbar für den Genesungserfolg ansahen und zu viel Müßiggang als schädlich ansahen. 41 Der militärische Rang hatte daneben einen deutlichen Einfluss auf die Krankenakten. Die Krankenakten wurden bei Offizieren ausführlicher und sorgfältiger als bei Mannschaftssoldaten geführt, wenngleich leider auch in Bezug auf die Offiziere der für die Patientenakten herausgearbeitete Befund bestehen bleibt, dass der Erwähnung von Behandlungsmethoden in den Krankenakten während des Ersten Weltkriegs eine untergeordnete Bedeutung zukam. Krankenakten dienten auch bei 37 A DLER , Kriegsneurose. 38 Dies zeigt zum Beispiel die ärztliche Empfehlung für einen psychisch versehrten Offizier eines Aufenthalts im Offiziersgenesungsheim, die auf seinem Krankenblatt des Offizierslazarett Stenay vermerkt wurde: „Da Patient erst im Februar d. J. Erholungsurlaub gehabt hat, und sein Vorschlag, ihn ins Res. Laz. seines Vaters in Ludwigshafen zu überweisen, aus Milit. Gründen nicht eingängig zu sein scheint, wird ihm ein Aufenthalt im Offiz.-Gen.-Heim Joeuf vorgeschlagen, da eine Ablenkung durch den Verkehr mit gleichaltrigen Kameraden günstig wirken dürfte.“ KA OP 24270 Hermann B.; vgl. auch S PILKER , Geschlecht, Religion und völkischer Nationalismus, 142. 39 Siehe zum Beispiel H ELLPACH , Kriegsneurasthenie, 212. 40 Dies zeigt zum Beispiel die Hausordnung des Reserve-Lazaretts Offenburg, die zwischen der Hausordnung für die in den Lazaretten verpflegten Offizieren und die Hausordnung für die in den Lazaretten verpflegten kranken und verwundeten Mannschaften trennt. Die Hausordnung für die Mannschaften war deutlich umfangreicher und restriktiver. GLAK, 456 F 113/ 86 Reserve-Lazarett Offenburg: Hausordnung. Vgl. hierzu auch P ECKL , Psychische Erkrankungen der Soldaten, 73. 41 Vgl. z.B. die Fallgeschichte über einen Offizier im Offiziersgenesungsheim bei S TEINAU - S TEINRÜCK , Zur Kenntnis der Psychosen, 334f. Siehe die Kritik bei H ELLPACH , Kriegsneurasthenie, 211-213; G AUPP , Schreckneurosen und Neurasthenie, 99; W EBER , Zur Behandlung der Kriegsneurosen, 1234. Zwei-Klassen-Medizin? 117 Offizieren dazu, vorrangig den Zustand eines Patienten und weniger seine Behandlung zu dokumentieren. 42 Als Besonderheit für die Krankenakten der Offiziere zeigt sich, dass die Ärzte hier häufig direkte oder indirekte Zitate des Offiziers wiedergaben, um die Befindlichkeit, die Bedürfnisse und Wünsche des Patienten während der Behandlungszeit im Lazarett zu beschreiben. Die Krankenakte erweist sich bei den Offizieren oft als Produkt eines Aushandlungsprozesses zwischen Arzt und Patienten, in der beide Sichtweisen wiedergegeben wurden, wenn auch nicht zu vergessen ist, dass die letztliche Deutungshoheit beim Arzt lag. 43 Ein Beleg, dass die Ärzte ihren Offizierspatienten einen deutlichen Vertrauensvorschuss gewährten, ist, dass sie kaum einen Verdacht auf Simulation äußerten. 44 Hier zeigt sich ein deutlicher Unterschied zur Sicht auf die einfachen Soldaten, wo der Simulationsverdacht stets eine Rolle spielte, wenn dieser auch von Arzt zu Arzt eine unterschiedliche Bedeutung hatte. 45 Dies spricht dafür, dass sich die Ärzte, anders als bei Mannschaftssoldaten, nicht in einer Richterrolle sahen und ein Bild von den Offizieren hatten, welches durch Pflichttreue und den Wunsch zu gesunden geprägt war. Misstrauen der Ärzte gegenüber den Angaben der Offiziere findet sich lediglich in drei Punkten: Erstens, äußerten sich einige Psychiater dahingehend, dass manche Offizieren ihnen anlagebedingte Leiden verschwiegen hätten, da sie um ihre Dienstbeschädigungsansprüche gefürchtet hätten. 46 Zweitens misstrauten die Ärzte auch bei Offizieren des Öfteren der Diagnose Nervenschock und änderten diese in Hysterie, Neurasthenie oder Nervenschwäche um, während die Offizierspatienten in ihren 42 H ERMES , Krankheit: Krieg, 418. 43 Ein Beispiel hierfür ist die Krankenakte des bayerischen Offiziers Hermann B., welche 1916 im Kriegslazarett in der lothringischen Gemeinde Stenay ausgefüllt wurde und in seiner Personalakte überliefert ist. In der Befundaufnahme im Krankenblatt ist notiert, dass „weder hysterische noch nervöse Störungen nachweisbar“ seien. Der Patient habe allerdings „Klagen, über die er sich dem Arzt unter 4 Augen ausführlich äussert: Er könne mit der stärksten psychischen Anstrengung, Aufgebot neben Willens, die Tätigkeit in der Feuerzone nicht durchführen. Es sei keine Ängstlichkeit, sondern ein bald einsetzendes, unüberwindliches Unterliegen der Willensimpulse.“ Aufgestellt wurde die Diagnose „Konstitutionelle Neurasthenie bzw. Psychasthenie“. BayHStA Abt. IV KA OP 24270 Hermann B. Vgl. den gleichen Befund von Hermes zu Krankenakten von Offizieren H ERMES , Krankheit: Krieg, 398, 401, 409. 44 So stellt auch Hermes fest, dass bei keinem Offizier ihrer Auswahl, aber bei zehn Prozent der einfachen Soldaten, die im St.-Joseph-Asyl in Bremen behandelt wurden, von einer Simulation anfänglich ausgegangen wurde - der Verdacht bestätigte sich bei zwei Prozent der Patienten. H ERMES , Krankheit: Krieg, 223. 45 Vgl. R APHAEL , Die Verwissenschaftlichung des Sozialen, 167-169. Siehe daneben M I- CHL / P LAMPER , Soldatische Angst im Ersten Weltkrieg, 221; Q UINKERT / R AUH / W INKLER , Einleitung, 11f.; L ERNER , An Economy of Memory, 175f. 46 Siehe u.a. H ELLPACH , Kriegsneurasthenie, 197. Gundula Gahlen 118 Selbstzeugnissen weiterhin auf die Diagnose Nervenschock beharrten. 47 Und drittens beklagten sich viele Militärpsychiater darüber, dass sich gerade bei Offizierspatienten oft die Vorstellung eines organischen Leidens in ihren Köpfen festgesetzt hätte, wodurch die Behandlung dieser Offiziere deutlich erschwert würde und ihre Heilungschancen deutlich gesunken seien. 48 Weniger klare Unterschiede zwischen Offizieren und Mannschaften ergeben sich bei den therapeutischen Maßnahmen. Im Hinblick auf die Anwendbarkeit von aktiven Behandlungsmethoden bei Offizieren war die Ärzteschaft geteilter Meinung. Dies zeigt sich in den Fachartikeln und in den Krankenakten. Es gab eine Fraktion, welche diese als nicht geeignet bei Offizieren ansah. Die Vertreter dieser Position brachten vor allem zwei Argumente vor. Zum einen betonten sie, dass eine Voraussetzung für die Wirksamkeit dieser Methoden sei, dass der Arzt militärischer Vorgesetzter des Patienten sei. 49 Und dieses Subordinationsverhältnis war bei Offizieren häufig nicht gegeben. Auch die Militärärzte standen zum Großteil als Sanitätsoffiziere im Ersten Weltkrieg im Offiziersrang, sodass eine Begegnung auf Augenhöhe stattfand, bei ranghohen Offizieren sich vielfach die Subordinationsverhältnisse umkehrten. 50 Als zweites Argument gegen aktive Behandlungsmethoden bei Offizieren führten sie auf, dass diese Methoden den Patienten ihres Willens und ihrer Würde berauben würden und mit der sozialen Stellung eines Offiziers nicht vereinbar seien. 51 Hingegen existierte eine andere Gruppierung, welche die allgemeine Wirksamkeit dieser Methoden auch bei Offizieren mit Hysterie betonte. Aus den Fachartikeln und den Aufzeichnungen in den Krankenakten wird deutlich, dass Psychiater, die aktive Behandlungsmethoden bei Offizieren anwandten, dies in dem Glauben 47 Robert Gaupp schrieb im „Handbuch der Ärztlichen Erfahrungen im Weltkriege 1914/ 18“, dass eine Schreckneurose bei Offizieren weniger häufig und auffällig aufgetreten sei als bei Mannschaftssoldaten. Gleichzeitig betonte er, dass die Bezeichnungen „Nervenschock“ oder „Verschüttung“ sehr gerne von Offizieren und Mannschaften als Selbstdiagnosen bei der ärztlichen Untersuchung hervorgebracht wurden, ohne dass diese Diagnose nach Ansicht Gaupps in allen Fällen gerechtfertigt worden sei. Oft stecke Hysterie hinter dieser Bezeichnung, die sich erst hinter der Front ausgebildet habe. Trotzdem hätten die Frontärzte die Diagnose Nervenschock dann aufgestellt. G AUPP , Schreckneurosen und Neurasthenie, 70. 48 Vgl. K EMNITZ , Funktionelle Erkrankungen, 232f. 49 Vgl. die von Sarbò und Lewandowski referierte Kritik bei N ONNE , Über erfolgreiche Suggestivbehandlung, 195f. 50 Die für die erfolgreiche Kriegsneurotikerbehandlung bekannten Lazarette waren aus diesem Grund häufig Mannschaften und Unteroffizieren vorbehalten. Diese kategorische Trennung wird beispielsweise im nach Kriegsende eingeforderten Sanitätsbericht des Reservelazaretts Hornberg als selbstverständliche Tatsache beschrieben: „Offiziere konnten aus ärztlichen Gründen (Neurotikerlazarett) nie aufgenommen werden.“ GLAK, 456 F 113/ 225, Kriegssanitätsbericht des Reservelazaretts „Schloß“ Hornberg des XIV. A.K. Vgl. auch P ECKL , Psychische Erkrankungen der Soldaten, 73. 51 Vgl. z.B. die Kritik bei B ÖTTIGER , Diskussion zum Vortrag Nonne, 261f.; C URSCHMANN , Zur Kriegsneurose bei Offizieren, 291; siehe auch R IEDESSER / V ERDERBER , Maschinengewehre hinter der Front, 36. Zwei-Klassen-Medizin? 119 machten, dass sie hier die einzig wirkungsvolle Therapie bei Hysterie anwandten. 52 Max Nonne war einer der prominentesten Vertreter. Er sah die Kaufmann-Kur in modifizierter Form, bei der nur schwache und mittelstarke Ströme zum Einsatz kamen, wie auch die suggestive Hypnose als geeignet für Offiziere an. Über die Kaufmann-Kur urteilte er: „Für Offiziere eignet sich die Methode wohl auch, das ist Sache des ‚Taktes‘.“ 53 Allerdings ist feststellbar, dass sie bei den Offizieren dabei nicht auf Strafe setzten, sondern sich um eine respektvolle Beziehung zwischen Arzt und Patienten bemühten. Sie sprachen die einzelnen Behandlungsmethoden mit ihren Patienten ab und akzeptierten ihre Ablehnung, wenn diese nicht hypnotisiert oder mit Strom behandelt werden wollten. Auch versuchten sie, die Offiziere über die psychogene Ursache ihrer Erkrankung aufzuklären. Gleichzeitig vermieden sie aber im Gespräch mit den Offizieren in einer camouflierenden Weise Ausdrücke wie Hysterie und Neurotiker, die das Ehrgefühl der Offiziere verletzen konnten. 54 Während sich so bei den Offizieren mit der Diagnose Hysterie trotz aller Heterogenität Besonderheiten gegenüber den Mannschaftssoldaten feststellen lassen, zeigt sich hingegen im Hinblick auf die Neurasthenie, dass hier vorrangig die Diagnose die Behandlung des Militärs bestimmte. Weniger war hier von Bedeutung, ob dieser Offizier oder Mannschaftssoldat war. Als erfolgversprechende Behandlung der Neurasthenie galt im Ersten Weltkrieg eine mehrmonatige „Kur“ in einem Lazarett oder Genesungsheim fern der Front, bei der vor allem Ruhe und ein Arzt, der sich in den Neurastheniker hereinversetze, mit ihm mitfühle und durch die Krankheit leite, als entscheidend angesehen wurde. 55 Allerdings ist auch hier eine Einschränkung zu machen. Gerade im Hinblick auf die Offiziere wurde im psychiatrischen Diskurs Kritik darüber laut, dass Ärzte bei Neurasthenie-Patienten vor allem auf deren Selbstheilungskräfte vertrauen würden und ihnen lang andauernde Badekuren und Urlaubsbewilligungen verschreiben würden. Indem Offizieren so eine kontinuierliche psychiatrische Betreuung vorenthalten würde, seien viele dieser Patienten - wie es hieß - „verpfuscht“ worden. Dies geschah einerseits, indem Symptome ohne ärztliche Betreuung leicht chronisch würden, andererseits habe die Gefahr bestanden, dass der Genesungswillen abnahm. 56 Zusätzlich wurde kritisiert, dass sie durch das Alleingelassen werden in 52 P ECKL , Psychische Erkrankungen der Soldaten, 75f. 53 Nonne sah die Kaufmann-Kur selbst bei Offizieren mit einem höheren militärischen Rang als machbar an und betonte, dass diese nicht „brutal“ sein müsse. Eine Uniform oder äußerst schmerzhafte Stromstöße seien nicht notwendig. Vielmehr komme es auf die Persönlichkeit des Arztes an, der dem Kranken das Gefühl vermittle, dass er ihn heilen könne und heilen werde. F RIEDLÄNDER , Achte Jahresversammlung der Gesellschaft Deutscher Nervenärzte, 209f.; N ONNE , Über erfolgreiche Suggestivbehandlung, 195. 54 K EMNITZ , Funktionelle Erkrankungen, 233; vgl. auch P ECKL , Psychische Erkrankungen der Soldaten, 74-76. 55 G AUPP , Schreckneurosen und Neurasthenie, 98. 56 H ELLPACH , Kriegsneurasthenie, 211f. Gundula Gahlen 120 ihrem psychischen Leiden auch ernstlich gefährdet werden konnten, was mitunter zum Selbstmord geführt habe. 57 5. Resümee Wie sind die Ausführungen in Bezug auf die Eingangsfrage zu bewerten, inwieweit sich beim Blick auf die psychisch versehrten Offiziere und Mannschaftssoldaten in Deutschland im Ersten Weltkrieg eine Zwei-Klassen-Medizin zeigt und welche Bedeutung der militärische Rang und die soziale Stellung der Offiziere für die psychiatrischen Urteile, Diagnosen und Behandlungen hatte? Hier ist festzuhalten, dass es nur wenige Bereiche gab, in denen die Psychiater Offizieren durchgängig eine exklusive Sonderrolle in der Gruppe der Kriegsneurotiker zustanden. Dies betraf die distinguierte Unterbringung und die bessere Verpflegung der Offiziere, die Privilegien im Umgang zwischen Arzt und Patienten sowie im Anstaltsalltag. Auch in Bezug auf die psychiatrischen Schätzungen zum Verhältnis von traumatisierten Offizieren und Mannschaften ist zu konstatieren, dass sich die Ärzte allgemein bemühten, keinen Schatten auf das Offizierskorps zu werfen, wenngleich die Meinungen geteilt waren. Dass Offiziere de facto sehr viel weniger als einfache Soldaten von psychischen Versehrungen im Ersten Weltkrieg betroffen waren, wie einige Psychiater behaupteten, ist aufgrund der Einträge in den Krankenbüchern hingegen zu bezweifeln. Vieles spricht dafür, wenn Autoren entsprechende Urteile fällten, dass sie unter den Kriegsneurosen lediglich die Kriegshysterie verstanden. Was aber die Diagnosen und Therapieformen anbelangte, ist festzuhalten, dass hier die Unterschiede zwischen Offizieren und Mannschaften nur tendenziell ausfielen und in den einzelnen Lazaretten wie auch im psychiatrischen Diskurs während des Ersten Weltkriegs oft keine einheitlichen Auffassungen bestanden. Bei der Diagnosevergabe spielten bei manchen Ärzten, denen es beim Stellen der Diagnose darum ging, ein Gesamtbild vom Patienten zu ermitteln, der militärische Rang und die soziale Stellung der Offiziere die hauptsächliche Rolle, sodass sie stigmatisierende Diagnosen gänzlich vermieden. Daneben gab es Ärzte, die sich sehr stark an den Krankheitssymptomen orientierten und keine Diagnose aufgrund der Offizierszugehörigkeit vermieden. Sie vergaben entsprechend auch an Offiziere die Hysterie- oder Psychopathie-Diagnose. Was die therapeutische Behandlung der Neurasthenie anging, zeigt sich, dass hier vorrangig die Diagnose die Behandlung bestimmte, die dann bei Mannschaftssoldaten und Offizieren weitgehend gleich ausfiel - wenngleich den Offizieren im Regelfall mehr Komfort und mehr Entscheidungsfreiräume während der Behandlung eingeräumt wurden. Bei der Therapie der Hysterie ist für Offiziere und Mannschaftssoldaten festzuhalten, dass sich die aktiven Behandlungsmethoden im Ersten Weltkrieg nicht flächendeckend durchsetzten, sondern die Einführung von Lazarett zu Lazarett unterschiedlich war. Und innerhalb derjenigen Ärzteschaft, die aktive Methoden bei der Hysterie anwandte, räumte lediglich ein Teil den Offizieren eine 57 R ITTERSHAUS , Abteilung, 276. Zwei-Klassen-Medizin? 121 Sonderstellung ein, indem er die aktiven Behandlungsmethoden hier als nicht geeignet ansah. Daneben existierten Fachvertreter, die von der Wirksamkeit der aktiven Behandlungsmethoden zur Behandlung der Hysterie dermaßen überzeugt waren, dass sie auch für die Therapie von Offizieren plädierten. Allerdings ist feststellbar, dass sie bei den Offizieren dabei nicht auf Zwang und Strafe setzten. 58 Insgesamt zeigt die Zeit des Ersten Weltkriegs gegenüber der Vorkriegszeit, dass sich das erhöhte Selbstbewusstsein der Psychiater auf die Sagbarkeitsregeln, die im Umgang mit psychisch versehrten Offizieren galten, auswirkte. Während vor 1914 Hysterie bei Offizieren aus Gründen der Etikette nicht als Diagnose diskutiert wurde und keine entsprechenden Fallgeschichten veröffentlicht wurden, war dies im Weltkrieg kein Tabuthema mehr. Die massenhaften psychischen Zusammenbrüche an der Front und die Erfolge bei deren Behandlung hatten einen Pioniergeist und ein erhöhtes Selbstbewusstsein unter den Psychiatern bewirkt. Viele Psychiater sahen sich in Bezug auf die Offiziersneurosen während des Ersten Weltkriegs als die medizinischen Experten an. Sie pochten darauf, dass die im Weltkrieg gewonnenen medizinischen Erkenntnisse auch mit Blick auf die Offiziere angewandt würden und führten drei Punkte an, mit denen viele ihrer Kollegen aus falscher „Gutmütigkeit“ den Offizieren geschadet hätten: Die erste Schädigung sei dadurch erfolgt, dass viele Ärzte ihnen häufiger als den Mannschaftssoldaten ein organisches statt eines psychogenen Leidens attestierten. Sobald sich die Vorstellung eines organischen Leidens in den Köpfen der Offiziere festgesetzt hätte, seien die Heilungschancen deutlich vermindert worden. 59 Ein zweites Argument war, dass viele Ärzte hysterischen Offizieren oft aktive Behandlungsmethoden vorenthalten würden, obwohl diese die besten Heilungschancen versprechen würden - einerseits, indem sie bei Offizieren die Diagnose Hysterie vermieden oder trotz der Diagnose vor aktiven Behandlungsmethoden zurückschreckten. Ein dritter und letzter Kritikpunkt war, dass Offizieren häufig keine kontinuierliche psychiatrische Betreuung zugute käme, und sie durch lang andauernde Badekuren und Urlaubsbewilligungen in ihrer Heilung gefährdet worden seien. 58 Blickt man auf die Beziehung zwischen den Militärpsychiatern und der Gruppe der Kriegsneurotiker, ist auffällig, dass der militärische Rang und die soziale Stellung der Patienten das Maß an struktureller Gewalt in dieser Beziehung entscheidend beeinflussten. Gerade bei der Behandlung von Offizierspatienten orientierten sich die Psychiater in starkem Maße an deren Wünschen. Die Offiziere hatten vielfache Möglichkeiten, um sich der strukturellen Gewalt, die von der Militärpsychiatrie gegenüber den einfachen Soldaten ausgeübt wurde, zu entziehen. Auch hatten sie sehr viel größere Spielräume, um sich dem Frontdienst zu entziehen. Diese Zweiteilung hat auch Bestand, wenn man die Ergebnisse der neueren Forschung beachtet, dass die Psychiater auch bei Mannschaftssoldaten vielfach das Individualinteresse in den Vordergrund rückten und nicht das militärische Interesse. 59 Zusätzlich wurde hier angeführt, dass die Ärzte bei Offizieren die sog. organischen Leiden oft mit einer unrichtigen Alkoholtherapie behandelt hätten, welche den Offizieren zusätzlich geschadet hätten und mitunter Alkoholpsychosen ausgelöst hätten. G AUPP , Schreckneurosen und Neurasthenie, 99; B LEULER , Das Autistisch-Undisziplinierte Denken, 31. Gundula Gahlen 122 Ein letzter Faktor, der zu einer Zäsur im Vergleich zur Friedenszeit vor 1914 führte, 60 war, dass sich manche Psychiater im Umgang mit psychisch versehrten Offizieren nicht nur als medizinische Experten, sondern auch als Führungspersönlichkeiten ansahen, welche zum Ziel hatten, die nationale Kampfkraft anzuheben. 61 Entsprechend spielten bei diesen militärische Effizienz-Gesichtspunkte beim Blick auf psychisch versehrte Offiziere eine gewichtige Rolle und führten dazu, dass bei ihnen das Klassendenken in den Hintergrund trat. Quellen und Literatur Archive Bayerisches Hauptstaatsarchiv München (BayHStA) - Abt. IV KA OP 24270 Hermann B. - Abt. IV KA St. Gen Kdo. II. AK., SanA, Bd. 11. Generallandesarchiv Karlsruhe (GLAK) - 456 F 113/ 225, Kriegssanitätsbericht des Reservelazaretts „Schloß“ Hornberg des XIV. 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L INDEN / J ONES , German Battle Casualties, 658. 61 Vgl. zu dieser neuen Entwicklung, dass sich deutsche Psychiater als Hüter des Schicksals der Nation ansahen, P RÜLL , The Exhausted Nation, 30-48; H OFER / P RÜLL , Reassessing War, Trauma, and Medicine, 14. Zwei-Klassen-Medizin? 123 B ÖTTIGER , K URT : Diskussion zum Vortrag Nonne: Zur therapeutischen Verwendung der Hypnose bei Fällen der Kriegshysterie, in: Neurologisches Zentralblatt 35 (1916), 26 262. B UMKE , O SWALD : Kriegsneurosen, in: O SWALD B UMKE (Hrsg.), Handbuch der Neurologie: Ergänzungsband 1, Berlin 1924, 54-71. C URSCHMANN , H ANS : Zur Kriegsneurose bei Offizieren, in: Deutsche Medizinische Wochenschrift 43 (1917), 291-293. F RIEDLÄNDER , A DOLF : Achte Jahresversammlung der Gesellschaft Deutscher Nervenärzte in München am 22. und 23. September 1916, in: Deutsche Zeitschrift für Nervenheilkunde 56 (1917), 1-214. 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The following article shows this changing of psychiatry and its patients between 1914 and 1918. Zusammenfassung Der Erste Weltkrieg ist als erster industrialisierter Massenkrieg in die Geschichtsschreibung eingegangen. Unter seinen Bedingungen erkrankten allein beim deutschen Heer mehrere hunderttausend Soldaten an sogenannten Krankheiten des Nervengebiets. Der erste „totale Krieg“ führte an der „Heimatfront“ zu unzähligen und tiefen seelischen Verletzungen und brachte tiefgreifende auch gesellschaftliche Veränderungen mit sich. Die zahlreichen seelischen Verletzungen waren für die Heeres- und Sanitätsführung unerwartet, wurde doch vor 1914 stets die „Nervenstärke“ des deutschen Volkes propagiert. Unter diesem Eindruck veränderte sich auch die ursprünglich zivile Psychiatrie: Institutionelle Rahmenbedingungen, Behandlungsmethoden und der Umgang mit den Patienten änderten sich ebenso wie die Menschen selbst. Der folgende Beitrag thematisiert anhand von vier Krankengeschichten diesen Wandel von Psychiatrie und ihren Patienten zwischen 1914 und 1918. Im August 1914, so ist manches Mal zu lesen, brach in Deutschland der Krieg aus. Doch der Krieg „brach nicht aus“: Weder kam er für die beteiligten Nationen und ihre politischen Führungen vollständig überraschend, noch brach er von einem Tag auf den anderen in das Leben der einzelnen, ganz normalen Menschen auch in Deutschland ein und stellte es auf den Kopf. Die Veränderungen, die der Krieg (neben den offensichtlichen) mit sich brachte, waren schleichend, dafür aber grundlegend. Veränderungen werden am ehesten deutlich bei den Verletzlichsten der Gesellschaft: In der Psychiatrie. Im Folgenden werden die Krankengeschichten von vier psychiatrischen Patienten vorgestellt, deren Krankheits- und Lebensläufe eng mit Maria Hermes-Wladarsch 128 dem Krieg verknüpft sind, da die Betroffenen für das Militär tätig waren und zumeist Kampfhandlungen unmittelbar erlebten. Diese Herangehensweise ist streng genommen nicht richtig, denn der „erste totale Krieg“ 1 veränderte das Leben aller Menschen, auch derjenigen an der „Heimatfront“. Auch werden im Folgenden Biographien von Personen vorgestellt, deren Verhalten unter den Bedingungen des Krieges offensichtlich und stark vom (militärisch) Gewünschten abwich: Spezifisch soldatischer Devianz kam eine hohe Bedeutung für die Psychiatrisierung von Menschen zwischen 1914 und 1918 zu. Auch diese Herangehensweise stellt nur eine Sicht dar, werden so doch all diejenigen Psychiatriepatienten nicht berücksichtigt, deren Krankenakten „normale“, unauffällige Krankheitsverläufe offenbaren. Die getroffene Auswahl von Krankenakten wird der Autorin dieses Beitrags hoffentlich dennoch verziehen werden, dient sie doch dem Ziel, über das Explizite, Offensichtliche dem Impliziten unter der Oberfläche auf die Spur zu kommen, ohne dass damit ein Anspruch auf Vollständigkeit gegeben wäre: Veränderungen in der Institution Psychiatrie, Deutungen des Krieges und Veränderungen der Individuen spürt dieser Beitrag nach. 2 Im Folgenden wird zunächst das Bremer St. Jürgen-Asyl mit seinen institutionellen Veränderungen im „Großen Krieg“ vorgestellt, bevor anhand von vier Krankengeschichten wesentliche Aspekte der (ursprünglich zivilen) Psychiatrie im Ersten Weltkrieg angesprochen werden. Die anschließenden Kapitel thematisieren, wie der Krieg die Psychiatrie veränderte, und explizieren psychiatrische Deutungen des Krieges, die mittels Krankheitsauffassungen generiert wurden. Im letzten Abschnitt werden Annäherungen daran getroffen, wie der Krieg die Menschen veränderte. 1. Prolegomena: Das Bremer St. Jürgen-Asyl im Ersten Weltkrieg Im Folgenden werden die Krankengeschichten von vier Patienten des bremischen St. Jürgen-Asyls aus dem Ersten Weltkrieg vorgestellt. Das St. Jürgen-Asyl war das städtische psychiatrische Krankenhaus der Freien Hansestadt Bremen. 1904 mit reformpsychiatrischem Hintergrund vor den ehemaligen Toren der Stadt errichtet, kann es als Beispiel für ein psychiatrisches Krankenhaus von vielen gelten. Das Krankenhaus wurde als wirtschaftlich autonomer Komplex mit Landwirtschaftseinrichtungen, Obstanbau und Feldern sowie Handwerksbetrieben errichtet. Auf seinem Gelände wurde 1916 ein Reservelazarett eröffnet, doch bereits wenige Tage nach Kriegsbeginn wurden hier die ersten Soldaten aufgenommen. 3 Nun lebten, 1 C HICKERING , Totaler Krieg, 250. 2 Der folgende Beitrag beruht auf der Auswertung von 396 psychiatrischen Krankenakten des St. Jürgen-Asyls in meiner Dissertation: H ERMES , Krankheit: Krieg. 3 Seelisch erkrankte Soldaten wurden ebenso wie physisch Versehrte nicht unmittelbar an der Front therapiert. Entsprechend der Schwere ihrer Krankheit wurden sie mit Lazarettzügen in das Hinterland der Front und oftmals in Krankenhäuser an der „Heimatfront“ gebracht, wobei hiermit nur selten die Heimat gemeint war, aus der die Soldaten ursprünglich stamm- Wie der Krieg die Menschen verändert 129 wenn auch in unterschiedlichen Pavillonbauten auf dem 72 ha großen Gelände untergebracht und auf einer Männer- und einer Frauenseite, männliche und weibliche, zivile und militärische Patienten in einem Krankenhaus neben- und miteinander. Alle Patienten wurden von den gleichen Ärzten und dem gleichen Pflegepersonal versorgt. Neben dem Direktor Anton Delbrück, seit 1897 mit dem Aufbau des Krankenhauses und seit seiner Eröffnung 1904 mit seiner Leitung beauftragt, arbeiteten bis zu vier Assistenzärzte bzw. -ärztinnen bei der Versorgung der Patienten mit. Mit soldatischen Patienten kamen nicht nur Patienten in das bremische psychiatrische Krankenhaus, denen bei Musterungen im Vorfeld ihrer Felderfahrungen - so wirklichkeitsfern und gerichtet diese gewesen sein mögen - physische und psychische Gesundheit attestiert worden war. Auch kam eine große Gruppe von Patienten mit einem spezifischen Erfahrungshintergrund - dem des ersten industrialisierten Massenkrieges an der Front/ in Frontnähe bzw. in Vorbereitung der Front - in die Krankenhäuser. Gerade für die zivilen Krankenhäuser an der - ab 1916 - „Heimatfront“ bedeutete dies eine enorme Umstellung für alle Beteiligten. 2. Krank sein im Krieg Über 2.000 Patienten wurden zwischen 1914 und 1918 im St. Jürgen-Asyl aufgenommen. Die folgenden vier Krankengeschichten seien als Beispiele vorgestellt. 2.1. Krankengeschichte des Willi Sch. Im Oktober des Jahres 1916 kam Willi Sch. in das neu eröffnete Reservelazarett am St. Jürgen-Asyl. 4 Der 25jährige war im zivilen Leben Schreiber von Beruf und wurde im November 1915 zum Militär eingezogen. Als Reservist war er an der Westfront in Frankreich. Im Mai 1916 erlebte er einen Gasangriff mit anschließendem Trommelfeuer; am 15. Juli wurde er verschüttet. Im St. Jürgen-Asyl beschrieb er diese Erlebnisse bei der klinischen Untersuchung durch den Direktor Anton Delbrück. Das folgende Zitat aus seiner Krankengeschichte zeigt, welche Fragen ihm von den Bremer Ärzten gestellt wurden - aber auch, in welch knapper Form diese Fragen notiert wurden: „Vor 8 Tagen wurden wir angegriffen von Franzosen und unsere Kompanie wurde aufgerieben. ich [sic] wurde verschüttet. Verletzung? Nein. Warum hier? Ich weiss nicht. Krank gemeldet? Ich bin herunter gekommen. Ins Lazarett? Ich weiss nicht wann. Angriff? Am 15. Nach dem Angriff kam die Verschüttung. Wann wie- ten. Vgl. S CHWALM , Sanitätskorps im Felde, 296; zum Krankentransportwesen R OSEN- BAUM , Krankentransportwesen; zur Ordnung des Sanitätswesens im Ersten Weltkrieg Anonym, Kriegssanitätsordnung, zur Geschichte des St. Jürgen-Asyls vor 1914 E NGEL- BRACHT / T ISCHER , Das St. Jürgen-Asyl in Bremen. 4 Zu den folgenden Angaben Krankenakte Willi Sch., AA-KBO, A 100-13. Hervorhebungen im Original werden nicht wiedergegeben. Maria Hermes-Wladarsch 130 der heraus? Ein paar Minuten. Wir liefen alle hin und her. ich [sic] versuchte über die Deckung nach vorn wegzulaufen unterwegs traf ich einen Verwundeten den hab ich mitgenommen. Die Granaten schlugen ein und nahm [sic] den Kopf des Kameraden mitnahm [sic]. ich kam dann in einen Graben hinein, wo alle tote lagen auch Schwarze. Ich lief immer wieder hin und her und ein Kamerad kam dann dort [sic] und hat mich mitgenommen. dann [sic] habe ich die Erinnerung verloren. Nicht vor Sonnabend Sonntag. Dann bin ich die Nacht auf den Hauptverbandsplatz und dann eine Einspritzung bekommen und dann mit dem Wagen. Dann auf einen Sammelplatz am Sonntag, erst habe ich mich beruhigt, und dann wieder mit dem Wagen nach St. Quentin.“ Hiernach kam er in ein Lazarett in St. Quentin, mit einem Lazarettzug gelangte er schließlich in das bremische psychiatrische Krankenhaus. Seine Kriegserlebnisse wurden von den Bremer Ärzten bei der Auflistung der Symptome eingeordnet: „2 Schwestern nervös begabt aber körperlich schwächlich, deshalb militärfrei. Mit 25 Jahren vor 8 Monaten Soldat. Vor 4 Monaten ins Feld. Vor 2 Monaten Gasangriff, darnach [sic] Gedächtnisschwäche und Kopfweh. Vor 10 Tagen nach 5tägigem Trommelfeuer bei eiserner Portion in sehr schwerem Kampf nicht verletzt aber etwas kopflos geworden. Für die folgende [sic] etwa 48 Stunden etwas traumhaftes unzuverlässiges Gedächtnis, darnach [sic] allmählich klarer. Hier Klopfempfindlichkeit Trem. Palp. Herabgesetzt Würgreflex. Dermalgraph., Costalgie, und Ovarie [sic]. Hyperasthesie [sic]. Gute Orientierung und Kenntnisse.“ Somit erlebte Willi Sch. Vieles, was für den Ersten Weltkrieg typisch war: Trommelfeuer, Gasangriffe, Verschüttung, Nahrungsknappheit an der Front (er bekam eine „eiserne Portion“ zu essen, den letzten Nahrungsvorrat, den jeder Soldat für Notfälle mit sich führen musste); auch Verwundete und Leichen sowie unmittelbar neben ihm sterbende „Kameraden“ erlebte er. Doch all dies wurde nicht als Ursache seiner Erkrankung verstanden, die sich insbesondere in einem „traumhafte[n] unzuverlässige[n] Gedächtnis“ äußerte. Grund der Einweisung des Patienten in die Psychiatrie war sein abnormes Verhalten auf dem Schlachtfeld. Ein Soldat, dessen Gedächtnis aussetzt, der womöglich ganz unter dem Eindruck seines ermordeten Kollegen steht, war für den Kampf nicht zu gebrauchen. Dass Willi Sch. bis nach Bremen gebracht wurde, offenbart eine Einschätzung seiner Erkrankung: Mit einer baldigen Rückkehr an die Front wurde nicht mehr gerechnet. Willi Sch. betätigte sich im Folgenden in der Arbeitstherapie und wurde mit Bettbehandlung therapiert; weitere Gespräche über seine Kriegserlebnisse sind in der Krankenakte nicht dokumentiert. 2.2. Krankengeschichte des Stanislaus J. Grundlegend andere Erlebnisse hatte der Soldat Stanislaus J. bei seiner Einlieferung in das bremische psychiatrische Krankenhaus. 5 J. wurde am 7. August 1914 als Wehrmann zum Militär eingezogen. Der damals 35jährige war die folgenden knapp zwei Jahre, mit nur neun Tagen Urlaub, ununterbrochen im Schützengraben an der 5 Zu den folgenden Angaben Krankenakte Stanislaus J., AA-KBO, A 112/ 14. Wie der Krieg die Menschen verändert 131 Westfront. Im Juli 1916 kam er infolge eines Oberschenkelschusses ins Lazarett und wurde von dort aus zum Ersatzbataillon nach Bremen entlassen. Nun erhielt er wenige Wochen Urlaub. Danach durfte er zuhause wohnen und von dort zum Dienst gehen. Während dieser Zeit kam es zu einem schweren Streit mit seiner Ehefrau: Nachdem J. eines Morgens die Wohnung zum Dienst verlassen hatte, kam ein Gefreiter vorbei und fragte nach ihm. Später stellte sich zwar heraus, dass es sich hierbei um ein Versehen der Schreibstube gehandelt hatte. J.s Ehefrau beschuldigte ihn jedoch, wie der Krankenakte zu entnehmen ist, „dass er sich offenbar herumtreibe und nicht zum Dienst gehe“. Es kam zu einem Streit zwischen den Eheleuten, bei denen weitere Probleme ihrer noch jungen Ehe hochkochten. „J. verbiss in seiner Art den Groll in sich hinein und verliess [sic] am andern Morgen, 28.X., sehr niedergeschlagen seine Wohnung. Er soll früher seiner Frau gesagt haben, dass er nicht wieder ins Feld an die Somme gehen werde; und beim Fortgehen soll er geäussert [sic] haben, wenn ihm noch in der eigenen Familie Vorwürfe gemacht würden, werde ihm die Lust am Leben vollständig genommen.“ Und weiter heißt es: „An diesem Morgen [ging er] nicht zum Dienst, sondern trieb sich in der Stadt und der Umgebung herum, bis er sich am Abend des 1.XI. freiwillig wieder meldete“. Damit galt er als fahnenflüchtig, denn er war ohne Erlaubnis dem Heere fortgeblieben; einer jener wahrscheinlich 130.000 bis 150.000 Soldaten, die wahrscheinlich zwischen 1914 und 1918 desertierten. 6 Stanislaus J. kam in das St. Jürgen-Asyl, damit die Bremer Ärzte beurteilen konnten, ob er aufgrund eines entsprechenden Geisteszustands für seine Fahnenflucht zur Verantwortung gezogen werden könne, d. h. zurechnungs- und damit verurteilungsfähig sei. Im psychiatrischen Gutachten hob der unterzeichnende Direktor Delbrück hervor, J. habe, kaum sei er im St. Jürgen-Asyl angekommen, bestritten, jemals vorgehabt zu haben, nicht wieder an die Front zurückzukehren. Stattdessen wurden ausführlich J.s private Motive für sein Fortbleiben vom Dienst erörtert: Nicht die politische Einstellung des Betroffenen, sondern seine familiären Verhältnisse, so ist dies zu verstehen, hätten ihn dazu getrieben, vom Dienst fort zu bleiben. Die Angabe von Motiven ausschließlich privater Natur für die Fahnenflucht des Stanislaus J. erfüllte für den Patienten eine Schutzfunktion. Denn Fahnenflüchtige wurden, wie Christoph Jahr erarbeitet hat, umso eher wegen ihrer Desertion gerichtlich verurteilt und hatten mit umso höheren Strafen zu rechnen, je eher ihre Motive politischer Natur waren. Bei einem privaten Motiv hatten Deserteure hingegen gute Chancen, lediglich milde Strafen zu bekommen. 7 Delbrück ging jedoch noch weiter: Mit der Angabe privater Motive des Patienten für sein Fortbleiben vom Dienst begründete er, dass es sich beim Verhalten des Stanislaus J. höchstens, wenn überhaupt, um die (mit geringeren Strafen versehene) unerlaubte Entfernung gehandelt haben könne. Denn dass J. die Absicht hatte, „sich 6 130.000 bis 150.000 Deserteure machen bei 13,5 Millionen im Deutschen Reich mobilisierten Soldaten ein bis zwei Prozent aus. Vgl. J AHR , Desertion und Militärgerichtsbarkeit, 199; D ERS ., Gewöhnliche Soldaten, 145. 7 D ERS ., Desertion und Militärgerichtsbarkeit, 196. Maria Hermes-Wladarsch 132 dauernd seiner Dienstpflicht zu entziehen“, sei „an und für sich im höchsten Maße unwahrscheinlich, schon darum, weil die Veranlassung zum Fortlaufen garnicht [sic] eine dienstliche war. Vielmehr war diese eine rein familiäre. [...] So ist doch ohne Frage die tiefere Ursache [des Fortbleibens vom Dienst, M. H.] eben in dem ehelichen Konflikte zu suchen, dem er in einer tiefen Verstimmung entfliehen wollte. Vom ärztlich psychologischen Standpunkte aus angesehen handelt es sich hier also nicht um ein Sichentfernen vom Heere, sondern um ein Weglaufen vom Ehegatten“. Weiter heißt es: „Würde das Militärgesetzbuch den Begriff der mildernden Umstände kennen, so würde man sie im Hinblick auf obige Sachlage in diesem Falle wohl annehmen“. Diese Äußerungen Delbrücks sind bemerkenswert. Sie zeigen, wie die Bremer Ärzte durch die Betonung der privaten Motive eines Deserteurs dem zuständigen Militärgericht nahe legen konnten, einen Patienten nicht oder nur milde zu verurteilen. Verstärkt wurde diese Empfehlung durch den Hinweis, würde das Militärstrafgesetzbuch mildernde Umstände kennen, seien diese hier anzuwenden. In seinem Gutachten beschränkte sich Delbrück damit nicht auf eine psychiatrische Einschätzung des Geisteszustandes seines Patienten, sondern bemühte sich zudem um eine Einordnung des vorliegenden Straftatbestandes. Die Beurteilung des „Sichentfernens vom Heere“ vom „ärztlich psychologischen Standpunkte aus angesehen“ verweist darauf, dass er sich hier in einer Grauzone zwischen psychiatrischer und juristischer Einschätzung bewegte: Ein zentrales Thema des Umgangs mit Deserteuren in der Psychiatrie des St. Jürgen-Asyls. Stanislaus J. wurde mit Bettbehandlung und Arbeitstherapie behandelt und schließlich als gebessert entlassen. 2.3. Krankengeschichte des Michael R. Michael R. war gelernter Maurer. 8 Als Landwirt arbeitete er, 25 Jahre alt und unverheiratet, auf dem Bauernhof seiner Eltern. Am vierten Mobilmachungstag wurde er zum Krieg eingezogen. Bald kam er an die Westfront nach Frankreich, wo er wochenlang im Schützengraben lag, unterbrochen von einzelnen Gefechten. Am 6. Juli 1915 wurde er zum ersten Mal verwundet und war in der Folge drei Monate krank. Er hatte einen Granatsplitter durch den Oberkiefer, die Nase und die linke Wange bekommen. Exakt ein Jahr nach seiner ersten Verwundung, am 6. Juli 1916, kam er wieder ins Feld. An der Somme wurde er am 16. September des Jahres erneut verwundet: An der rechten Hand verlor er bei zwei Fingern das vorderste Glied, auch zog er sich eine Granatsplitterwunde an der rechten Wade zu. Doch das war nicht das am meisten einschneidende Erlebnis für ihn. Dieses hatte er am 15. Juli 1916: „Beim Sturmangriff im Priesterwald vor 1 Jahr, traf ich in einer Sappe [Laufgraben, M. H.] einen verwundeten Franzosen, der sass [sic] auf einem Stein. In der Aufregung habe ich den tot gemacht.“ Michael R. kam nun in das St. Jürgen-Asyl. Das Reservelazarett im Krankenhaus in der St. Jürgen-Straße, wohin er aufgrund einer Verwundung gekommen war, hatte ihn hierher überwiesen. 8 Zu den folgenden Angaben Krankenakte Michael R., AA-KBO, A 87/ 2. Wie der Krieg die Menschen verändert 133 R. war einer von nur zwei Soldaten des bremischen psychiatrischen Krankenhauses, in deren Krankenakte die eigentliche Tätigkeit - und auch Aufgabe! - von Soldaten im Krieg erwähnt wurde, das Töten von Menschen; jene Tätigkeit, mit der jeder Soldat konfrontiert war. „Wird aus Res. Laz. II gebracht. Ruhig; gibt auf Befragen an, dass er immer einen „Franzosen sehe, den er umgebracht habe“, notierten die Ärzte zu Beginn seiner Krankenakte. Immer wieder kam Michael R. im Folgenden auf dieses Erlebnis zu sprechen. Gefragt: „Haben Sie mal Krämpfe gehabt? “ antwortete er: „Ja seit einem Jahr seitdem es passierte bei dem Sturmangriff: da sitzt ein Franzose verwundet auf dem Stein und ich habe ihn erschossen.“ Auf die Frage „Sind Sie traurig oder vergnügt? “ sagte er: „Grosstenteils traurig, ich sehe traurige Bilder“; als er gefragt wurde, ob er Angst habe, antwortete er: „Bloss vor dem Franzosen“, ob er krank sei? „Nein, ich sehe immer die Franzosen“. Ausführlicher wurde seine Antwort bei der Frage, ob er spukhafte Gestalten sehe: „Ich sehe immer diesen Franzosen der verwundet war und ich habe ihn tot gemacht ich dachte ich müsste mich [sic] das Leben nehmen.“ Durch die Wiedergabe dieses Erlebnisses in indirekter Rede distanzierten sich die Bremer Ärzte im Verlaufe der Untersuchungen zunehmend von der Aussage des Patienten, Ursache seiner Erkrankung sei das Erlebnis des Tötens des verwundeten Soldaten. Wie in der ganzen Krankenakte wurde auch hier das Töten von Menschen im Krieg als singulärer Fall eingeordnet: Nicht dass das Töten von Menschen im Krieg prinzipielle Tätigkeit eines Soldaten war fand Erwähnung, sondern das Töten eines speziellen (französischen) Soldaten. Die unzähligen anderen Soldaten, die R. wahrscheinlich zuvor getötet hatte, wurden nicht erwähnt. Bedeutendstes Krankheitssymptom war die Unruhe von Michael R. Gegen diese Unruhe wurde R. im Folgenden mit Adalin behandelt, weiterhin wurde die Arbeitstherapie angewandt. In seiner Krankenakte finden sich keine Hinweise, dass die seelische Verarbeitung des einschneidenden Kriegserlebnisses durch Michael R. Ziel seiner Behandlung gewesen wäre. R. galt als gesund, als er gut arbeitete, seine körperlichen Verwundungen geheilt waren, sein Schlaf und seine Stimmung sich gebessert hatten. Er wurde als geheilt entlassen. Knapp drei Monate hatte er im Ellener Krankenhaus verbracht. Seine Diagnose lautete dennoch „psychogene Depression“. 2.4. Krankengeschichte der Weerdine L. Ab der zweiten Kriegshälfte wurden auch Frauen für das Militär tätig: Als Krankenschwestern oder Etappenhelferinnen kümmerten sie sich um die Versorgung der Männer im Felde und an der Front. 9 Eine dieser Frauen war Weerdine L., ihres Zeichens „Militärkrankenpflegerin“. 10 Schon am Tag nach ihrer Einlieferung in das St. Jürgen-Asyl kam Weerdine L. auf ihre „Tätigkeit im Felde“ zu sprechen. Im Laufe ihres ersten, zweimonatigen 9 H AGEMANN , Militäreinsatz von Frauen; P ANKE -K OCHINKE / S CHAIDHAMMER -P ACKE , Frontschwestern und Friedensengel, 28-31. 10 Zu den folgenden Angaben Krankenakte Weerdine L., AA-KBO, Jahrgang 1918. Maria Hermes-Wladarsch 134 Aufenthalts im psychiatrischen Krankenhaus Bremens sowie während des folgenden siebenmonatigen Aufenthalts war dies ein Thema, das sie immer wieder ansprach. L. war während des Krieges als ausgebildete Diakonissin im Etappenlazarett Lodz tätig. Sie arbeitete in einem für die Versorgung von seuchenkranken Soldaten zuständigen Lazarett, in einem Bereich somit, der hermetisch abgeriegelt war. Dort versorgte sie alleine 30 Kranke. Unter diesen Umständen erkrankte sie selbst seelisch und wurde „reizbar, streit süchtig [sic], sogar gewalttätig“. Über Umwege kam sie in das bremische psychiatrische Krankenhaus. Im Anschluss an ihre klinische Untersuchung wurden hier ihre Symptome notiert, aus denen die Diagnose resultierte: Manie. Aus der klinischen Untersuchung ergaben sich die Krankheitssymptome Weerdine L.s: „Nicht belastet. Mit 17 u. 27 Jahren schon einmal je 6 Monate psychisch krank in Kaiserswerth; vom 20. - 27. Jahr Kaiserswerther Schwester 6 Monate nach der 2. Erkrankung Bremer Diakonissin; als solche im Felde. Dort (Etappen Lazarett Lodz) vor etwa 2 Monaten reizbar, streit süchtig [sic], sogar gewalttätig. Auf Rückreise wegen heftiger Erregung einige Tage in Charite [sic], dann als zuständig hierher: Furunkulose, Trem. palp., et ling. et man., Costalgie, Ovarie. Abnorm heitere u. labile Stimmung, sehr redselig, weitschweifig, leicht abschweifend, aber noch ziemlich geordnet.“ Für L. wurde ebenfalls ein Formblatt ausgefüllt, das Angehörigen des Militärs vorbehalten war. Hier musste auch eine etwaige Dienstbeschädigung dargestellt werden: „Schwester W. L[...] hat den III. Anfall einer Manie überstanden u. ist von dem letzten Krankheitsanfall geheilt. Für die zweifellos seit langer Zeit bestehenden [sic] Disposition kann aber jeder Zeit eine neue Erkrankung wieder auftreten. Schwester Weerdine ist für kr. u. [...] [kriegsunfähig, M. H.] zu erklären. [...] Doch ist Dienstbeschädigung nach meiner Ansicht nicht anzunehmen, weil es sich um eine endogene Erkrankung handelt, die auch früher schon, anscheinend ohne äussere Anlässe, 2 mal zum Ausbruch kam. - Schw. W. ist zur Zeit wieder 100% erwerbsfähig und bedarf keiner Anstaltspflege mehr“. Weerdine L. wurde aus dem St. Jürgen-Asyl entlassen - um einige Monate später wieder aufgenommen zu werden. Denn „nach der Entlassung zu Hause fühlte sich [sic] wohl, dann nach Bremen ins Diakonissenhaus überwiesen (ca. 8 Tg. vor der Aufnahme). War schon da etwas deprimiert; allmähliche Verschlimmerung, deshalb hierher“, hieß es im Dezember 1917. Mit der Diagnose Melancholie blieb L. bis Juli 1918 im St. Jürgen-Asyl. Am 12. Juli wurde sie nach Hause entlassen. Ihr endgültiger Entlassungsbefund lautete: „In jeder Weise geordnet, fühlt sich gesund, schläft gut, arbeitet fleissig [sic]. Nur das Lächeln erscheint noch etwas krampfhaft. Soll am 10. d.Mts. [...] aus d. Heeresdienst entlassen werden ohne Versorgung.“ Ihr Militärdienst ist in der Krankenakte Weerdine L.s damit allgegenwärtig: Sei es, dass Beurteilungen hinsichtlich ihrer zukünftigen Einsetzbarkeit als Militärkrankenschwester im Krieg geschrieben werden mussten, dass L.s Entlassung aus dem Heeresdienst zur Debatte stand oder dass sie selbst immer wieder auf ihre Tätigkeit im Felde zu sprechen kam, wenn sie beispielsweise „in ideenflüchtiger Weise von ihrer Tätigkeit im Felde“ erzählte. Doch im Vordergrund der klinischen Untersu- Wie der Krieg die Menschen verändert 135 chung L.s durch Anstaltsdirektor Delbrück standen ihre Tätigkeit als Krankenschwester bzw. Diakonissin sowie ihre früheren Aufenthalte als Patientin in der Psychiatrie. Während die einzelnen Stationen des Militärdienstes in den Krankenakten männlicher Militärangehöriger meist detailliert aufgelistet wurden, während prinzipiell der Zeitpunkt des Eintritts in das Militär Erwähnung fand, gibt es damit keine entsprechenden Angaben in der Krankenakte Weerdine L.s. Die Tätigkeit der Patientin für das Militär fand nur als ein untergeordneter Punkt bei den Krankheitssymptomen Erwähnung, den inhaltlichen Bezugsrahmen für ihre berufliche Tätigkeit im Krieg bildete ihre vorherige Tätigkeit als Krankenschwester bzw. Diakonissin sowie ihre frühere Erkrankung. Zunächst auf dem Aktendeckel als Militärkrankenpflegerin bezeichnet, wurde später immer nur noch L.s Tätigkeit einer Diakonissin erwähnt. Die Verwendung des Ausdrucks „Diakonissin“ entzog sie dem militärischen Bezugsrahmen einer „Militärkrankenpflegerin“. Damit wurde die Tätigkeit Weerdine L.s in einem Lazarett nicht vordergründig als Tätigkeit im Krieg aufgefasst, sondern als helfende und unterstützende und somit - im traditionellen Geschlechterrollenverständnis - spezifisch weibliche Tätigkeit. Im Gegensatz zu ihren männlichen Mitpatienten, die Militärangehörige waren, wurde Weerdine L.s Erkrankung nicht in den militärischen Kontext ihrer aktuellen Entstehung eingeordnet. L. wurde ohne Versorgung entlassen, sie galt als nicht kriegsdienstbeschädigt. 3. Der Krieg verändert die Psychiatrie Vier Krankengeschichten wurden hier vorgestellt, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Gemeinsam sind ihnen die unmittelbaren Berührungspunkte nicht nur zum Krieg, sondern zum Kampfgeschehen. Sie geben Hinweise zum Zusammenspiel von Individuum, Gesellschaft und der Institution Psychiatrie im Krieg und erlauben Schlüsse über die Veränderungen der Psychiatrie in einem ursprünglich zivilen Krankenhaus zwischen 1914 und 1918. Das Offensichtliche zuerst: Im Krieg änderte sich die Patientenstruktur. Die Aufnahme von Soldaten hatte weitreichende Folgen für die Beschaffenheit der zivilen Psychiatrie. Im bremischen St. Jürgen-Asyl waren nun neben zivilen männlichen und weiblichen Patienten auch soldatische Patienten untergebracht. Nur wenige Kriegsgefangene wurden bis in die Hansestadt, weit im Hinterland der Front gelegen, gebracht. Gegen Ende des Krieges waren einige wenige Frauen hier untergebracht, die sich für das Militär betätigten. Mit der Aufnahme von Soldaten in die psychiatrischen Krankenhäuser änderten sich Betreuungsschlüssel und Qualität der ärztlichen und pflegerischen Versorgung von Patienten: Immer mehr Patienten (mit einer bei Soldaten im Vergleich zu zivilen Patienten kürzeren Aufenthaltsdauer) mussten von immer weniger Ärzten und Pflegepersonal versorgt werden. Im Jahr 1915 wurden im Bremer St. Jürgen- Asyl durchschnittlich 597,34 Patienten von vier Ärzten versorgt, auf einen Arzt kamen damit 149 Kranke. Zwei Jahre später, 1917, wurden durchschnittlich 582,16 Maria Hermes-Wladarsch 136 Patienten von fünf Ärzten versorgt, hier kamen 116,4 Kranke auf einen Arzt. Allerdings war der Verwaltungsaufwand im Jahr 1917 gegenüber 1915 für die verbliebenen Ärzte mit der Einrichtung eines Reservelazaretts deutlich erhöht. Eine intensive ärztliche Betreuung jedes individuellen Patienten war unter diesen Umständen kaum möglich. Die Rahmenbedingungen psychiatrischen Handelns hatten sich gravierend geändert. Da auch die meisten soldatischen Patienten aus unteren gesellschaftlichen Schichten kamen und niedere militärische Ränge einnahmen, wurde das bestehende hierarchische Arzt-Patienten-Verhältnis mit der Aufnahme soldatischer Patienten nun um ein militärisches Subordinationsverhältnis ergänzt: So war gegenüber Sanitätsoffizieren (Direktor Delbrück und der neu hinzu gekommene Stabsarzt a.D. Dr. Lindner hatten den Rang eines solchen) die Grußpflicht von Mannschaftsrängen verbunden. 11 Das militärische Subordinationsprinzip hatte Einzug in die ursprünglich zivile Psychiatrie gehalten. Doch das Konzept einer individuellen Betreuung eines Patienten war zu diesem Zeitpunkt in der praktischen Psychiatrie noch wenig vertreten, mehr noch: Seelische Krankheit wurde, ähnlich wie körperliche Krankheit, als eine Disposition wahrgenommen, auf dessen Entwicklung die Arzt-Patient-Beziehung keinen Einfluss habe. Schaut man sich die oben vorgestellten Krankenakten an, so wird dies nur allzu deutlich: In jeder Krankenakte ist die Handschrift von mindestens zwei, wenn nicht gar vier Ärzten enthalten. In der Vorkriegszeit verhielt es sich entsprechend: An dieser Sichtweise änderten die Umstände des Ersten Weltkriegs nichts. Welche Inhalte jedoch wurden dokumentiert? Der Schwerpunkt in den Akten liegt eindeutig auf der Ermittlung der Diagnose sowie der Beschreibung des Verlaufs einer Krankheit. Diese beiden Teile nehmen den umfangreichsten Teil jeder Krankenakte ein. Auch wenn mit den Patienten nicht alle zeitgenössisch verfügbaren Untersuchungen durchgeführt wurden, gab es ein festes Set an Untersuchungen: Die Anamnese wurde erhoben, körperlicher und seelischer Zustand sowie Orientiertheit wurden begutachtet. Nur wenig Aufmerksamkeit wurde hingegen den Behandlungsmethoden geschenkt, die bestenfalls erwähnt wurden. Diese Schwerpunktsetzung bei der Diagnose gegenüber den Behandlungsmethoden war zeitgenössisch typisch und lässt sich im Kontext des therapeutischen Pessimismus der Vorkriegszeit verorten: Zwar war vor 1914 das theoretische Wissen in der Psychiatrie stark angestiegen, insbesondere durch die herrschende Lehre Wilhelm Griesingers, die oft auf die Formel „Geisteskrankheit ist Gehirnkrankheit“ gebracht wird. Doch fehlten in gleichem Maße Wissen und Fähigkeiten zur effektiven Behandlung von Kranken. 12 Peter Riedesser und Axel Verderber sahen diesen therapeutischen Pessimismus in ihrer wegweisenden Studie zur Militärpsychiatrie im Ersten Weltkrieg 13 als 11 K OMO , Militärpsychiatrie, 57. 12 Infolge des therapeutischen Pessimismus in der Psychiatrie um 1900 verstanden viele Psychiater den Ersten Weltkrieg als Möglichkeit, ihre Nützlichkeit für die Gemeinschaft zu demonstrieren. L ERNER , Hysterical Men, 6. 13 R IEDESSER / V ERDERBER , Maschinengewehre hinter der Front. Wie der Krieg die Menschen verändert 137 Grund, dass (Militär)Psychiater sogenannte aktive psychiatrische Behandlungsmethoden entwickelten und anwandten. 14 Diese sollten durch aktives Eingreifen in ihren Verlauf die Krankheit notfalls auch mit radikalen Mitteln beseitigen. Paul Lerner zufolge können die im Krieg entwickelten „aktiven“ Behandlungsmethoden unterteilt werden in solche Methoden, die dem Kranken suggerieren sollten, seine Krankheit sei nicht real, und solche, die ihn aus der Krankheit hinaus zwingen sollten, indem sie ihm die unangenehmen Folgen des Krankseins vor Augen hielten. 15 Als ein (besonders grausames) Beispiel sei das nach seinem Erfinder die „Kaufmann- Methode“ genannte Verfahren erwähnt, bei dem elektrische Ströme über mehrere Minuten angewandt wurden, unterbrochen von Übungen wie Zwangsexerzieren. 16 Die „aktiven Behandlungsmethoden“ waren sehr aufwändig, ein Arzt behandelte einen Patienten teils mehrere Stunden am Stück. Solcherlei aufwändige Methoden kamen in Bremen nicht vor. Hier wurden passive Behandlungsmethoden angewandt, bei denen der Patient ohne aktive ärztliche Unterstützung gesunden sollte: Die Patienten wurden mit Arbeitstherapie und Bettbehandlung therapiert, den beiden schon in der Vorkriegszeit beliebtesten Verfahren. Nichts weist darauf hin, dass eine Verarbeitung der Kriegserlebnisse aktives Ziel der Therapiemethoden gewesen wäre. Die psychiatrische Behandlung basiert wie in der Vorkriegszeit auf primär körperlich wirksamen Methoden. Ein Grund für die fehlende Anwendung der aktiven Verfahren im bremischen psychiatrischen Krankenhaus ist im hohen Aufwand zu verorten, der mit ihnen einherging - und der mit den gesunkenen personellen Ressourcen im Krieg nicht vereinbar war: Wie hätte ein Arzt mehrere Sitzungen mit mehreren Stunden aufwenden können, um einen Patienten zu behandeln, wenn er für über 100 Patienten zuständig war? Es ist fragwürdig, ob, wie manches Mal in der Literatur zum Thema angenommen, aktive Behandlungsmethoden in ursprünglich zivilen Krankenhäusern zwischen 1914 und 1918 flächendeckend angewandt wurden. Oftmals nicht berücksichtigt bei der Untersuchung der Militärpsychiatrie im Ersten Weltkrieg ist eine zentrale Problemlage dieses Krieges, die erst in der Nachkriegszeit des Zweiten Weltkrieges mit dieser Heftigkeit erneut auftreten sollte: Die Nahrungsmittelknappheit und das sogenannte Hungersterben. Spätestens mit dem sogenannten Steckrübenwinter 1916/ 17 setzte in ganz Deutschland eine Nahrungsknappheit ein, die auch und gerade vor den psychiatrischen Anstalten nicht Halt machte. 17 Während das „Hungersterben“ in anderen Krankenhäusern als „totalen Institutionen“ schon früher ausgebrochen war, setzte es im St. Jürgen-Asyl erst im Hungerwinter 1916/ 17 ein, da man Nahrungsmittel im als wirtschaftlich autonomen Komplex konzipierten Krankenhaus auch selbst anbaute und so die Patienten mit versorgen konnte. 14 L ANGE , Die Behandlung der Kriegsneurosen, 394. 15 Zu dieser Unterscheidung L ERNER , Therapeutic Arsenal, 131-133. 16 K AUFMANN , Psychogene Bewegungsstörungen. 17 F AULSTICH , Hungersterben, 42. Maria Hermes-Wladarsch 138 Aus den Jahren 1910 bis einschließlich 1913 ergibt sich für das Bremer Krankenhaus eine Friedenssterblichkeit 18 von 6,85 Prozent. Bereits 1915, im ersten Berichtsjahr während des Krieges, kam es zu einer um 3,3 Prozent erhöhten Sterblichkeit gegenüber der in Friedenszeiten. Ihren Höchststand erreichte die Kriegssterblichkeit im bremischen Krankenhaus im Jahre 1917, als 212 Patienten starben. Dies waren 19,5 Prozent der Patienten und damit 12,65 Prozent mehr als durchschnittlich in den Friedensjahren. Jahr Bestand Jahresbeginn Anzahl aufgenommene Patienten Gesamtbestand Todesfälle Todesfälle in Prozent Kriegssterblichkeit in Prozent 1910 548 468 1016 71 6,9 - 1911 554 495 1049 85 8,1 - 1912 600 450 1050 62 5,9 - 1913 608 509 1117 73 6,5 - 1914 - - - - - - 1915 607 525 1132 115 10,15 3,3 1916 582 490 1072 114 10,6 3,75 1917 643 444 1087 212 19,5 12,65 1918 519 341 860 130 15,1 7,25 1919 477 372 849 92 10,8 3,95 Tabelle: „Kriegssterblichkeit“ und „Friedenssterblichkeit“ im St. Jürgen-Asyl während des Ersten Weltkrieges. Die Problemlage der Nahrungsknappheit und des „Hungersterbens“ wird aus den vorgestellten Krankenakten jedoch nicht ersichtlich. Der Grund ist einfach, wenn auch erschreckend: Die Nahrungsknappheit traf vorwiegend die Zivilpersonen, unter denen (insbesondere bei den Langzeitpatienten, die über fünf Jahre im Krankenhaus blieben) die Kriegssterblichkeit deutlich höher war als unter den soldatischen Patienten. Letztere wurden nachweislich besser versorgt als zivile Patienten. Die Verhältnisse des Krieges führten somit zu einer Hierarchisierung von Patienten entsprechend gängiger Wertmaßstäbe einer militarisierten Gesellschaft: Den soldatischen Patienten kam über die bessere Versorgung mit Nahrungsmitteln faktisch ein höherer Wert zu als den zivilen. 18 Mit „Friedenssterblichkeit“ ist die durchschnittliche Sterblichkeitsrate der Vorkriegsjahre gemeint. Wie der Krieg die Menschen verändert 139 Mitnichten änderte sich im bremischen St. Jürgen-Asyl somit die Einschätzung der Patienten grundlegend durch den Krieg. Vielmehr wurden Einstellungen und Therapiemethoden aus der Vorkriegszeit übernommen; nicht unbedingt, denkt man an jene aktiven Behandlungsmethoden, zum Nachteil der Patienten. Die Aufnahme von Soldaten in die ursprünglich zivile Psychiatrie änderte etwas in Bezug auf die Rahmenbedingungen. Verhältnismäßig wenig änderte sie in Bezug auf die Diagnosen und die Behandlungsmethoden. 4. Deutungen des Krieges Über das individuelle Verhalten der Einzelnen hinausgehend erfahren wir aus den vier obigen Krankengeschichten einiges über die ärztliche Wahrnehmung des Krieges: Psychiatrische Krankenakten lassen Deutungen des Ersten Weltkrieges zum Vorschein kommen. Der Soldat Willi Sch. erlebte den Krieg wahrscheinlich so, wie er in die Geschichtsschreibung eingegangen ist: Als industrialisierten Massenkrieg. Doch zwischen seinen Erlebnissen und seiner seelischen Erkrankung wurde kein kausaler Zusammenhang angenommen. Ähnlich verhielt es sich in anderen Fällen, auch wenn in einigen anderen Krankenakten des bremischen psychiatrischen Krankenhauses von den „Strapazen des Krieges“ die Rede war. 19 Die Erwähnung von Strapazen an der Front lässt auf die ärztliche Annahme schließen, an der Front habe es auch einen Zustand ohne Strapazen gegeben, einen Normalzustand. Der „Alltag“ an der Front und in den Schützengräben wurde so zur Normalsituation umdefiniert. Auch deshalb wurden psychische Erkrankungen im Krieg stets auf besondere Ereignisse zurückgeführt. Der Krieg an der Front wurde zur Normalität, ihn nicht aushalten zu können, zum Symptom einer „Geisteskrankheit“. „Sonderverhältnisse des Krieges“ gab es trotz ihrer vereinzelten Erwähnung in den Krankenakten für die Bremer Ärzte nicht. Stanislaus J. desertierte, wenngleich in der Heimat. In seiner Krankenakte begegnet uns immer wieder das Bemühen der Bremer Ärzte, eine geringe Strafe bzw. die Anerkennung von Unzurechnungsfähigkeit des Patienten vor Gericht zu erreichen. Die Desertion wurde primär als medizinisches, nicht als militärisches Phänomen interpretiert; als solches fühlten sich die Bremer Ärzte für dieses Phänomen zuständig. Das bedeutet aber auch: Der Erste Weltkrieg umfasste in ihren Augen nicht alle Bereiche menschlichen Lebens. Unter den Bedingungen des Krieges war beispielsweise eine unpolitische Medizin weiterhin möglich, die in keinem Zusammenhang mit dem Krieg stand und in deren Kontext selbst ein militärisch stark abweichendes Verhalten wie Fahnenflucht rein medizinisch beurteilt werden konnte. Ihrem Selbstverständnis entsprechend handelten die Bremer Ärzte damit keinesfalls politisch. Für die Deserteure hatte diese Wahrnehmung positive Konsequenzen: Desertion wurde psychiatrisiert, wurde zu einem psychisch abweichenden Verhalten, das „zufällig“ unter den Vorzeichen des Krieges stattfand. Die Psychiatrie wurde 19 Vgl. Krankenakte August M., AA-KBO, A 111/ 16. Maria Hermes-Wladarsch 140 zu einem Schutzraum für ihre erkrankten Soldaten. Dennoch hätte so manch einer es sicher lieber gehabt, wenn sein politisch motiviertes Verhalten als solches und nicht als Ausdruck seiner vermeintlich kranken Persönlichkeit wahrgenommen worden wäre. Michael R. ließ sein Erlebnis nicht mehr los, dass er einen verwundeten Franzosen getötet und damit gegen jeglichen soldatischen Ehrenkodex im Krieg verstoßen hatte. Dieses Erlebnis, wiewohl vom Patienten immer wieder zur Sprache gebracht, wurde von den Bremer Ärzten nach kürzester Zeit nur noch abstrahiert wiedergegeben: Die Deutschen, so lässt sich verallgemeinern, töteten nicht aktiv im Krieg, sie verteidigten lediglich sich selbst und ihr Vaterland. Die Bremer Ärzte wiederholten hier den Mythos eines Verteidigungskrieges auf der individuellen Ebene. Es war nicht primäre Tätigkeit der deutschen Soldaten im Krieg, ihre Gegner im Angriff zu töten. Entsprechend war ein Sieg oder eine Niederlage des deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg tendenziell unabhängig von der geistigen Verfasstheit der in ihm tätigen Individuen, eine psychiatrische Variante der Dolchstoßlegende wurde in den Krankenakten nicht formuliert. Weerdine L. war zwar für den Krieg tätig, doch wurde ihre Tätigkeit als Militärkrankenpflegerin in ihrer Krankenakte auf den spezifisch weiblichen Kontext des Helfens und Heilens fokussiert. Auch andere Krankengeschichten zeigen: Die Bremer Ärzte nahmen eine fundamentale Diskrepanz zwischen Front und Heimat im Ersten Weltkrieg an. Der Krieg fand an der Front statt, nicht in der Heimat. Damit wurde dieser Krieg im St. Jürgen-Asyl nicht als totaler Krieg perzipiert. Die Heimat war in diesem Zusammenhang der Bereich der Frauen. Dementsprechend lebten Frauen nicht im Krieg und konnten auch nicht durch den Krieg erkranken. Heute gilt der Erste Weltkrieg als Zeitenwende, als Bruch, an dem sich alles änderte; er beendete das lange 19. Jahrhundert, er erzeugte auch in Europa eine „lost generation“. Nach 1914 sollte nichts mehr so sein wie vorher. Die psychiatrischen Krankenakten des bremischen St. Jürgen-Asyls machen jedoch deutlich, wie sehr es sich hierbei um eine Interpretation ex post handelt: In den Krankenakten wird deutlich, dass die Bremer Ärzte während des Krieges diesen nicht als fundamentalen Bruch begriffen. Im Selbstverständnis der Bremer Ärzte fand die Psychiatrie in Kriegszeiten zu prinzipiell gleichen Bedingungen statt wie in der Vorkriegszeit. 5. Der Krieg verändert die Menschen Der Krieg veränderte nicht nur das Staatengefüge grundlegend. Er veränderte die Menschen in ihren Grundzügen, ihren Erfahrungen, ihren Überzeugungen, ihrer Persönlichkeit. An den psychiatrischen Patienten wird dies offensichtlich: Auch wenn die Ärzte in den seltensten Fällen einen Kausalzusammenhang zwischen Kriegsgeschehnissen und ihrer seelischen Erkrankung sahen, hatten doch alle einschneidende, unvergessliche Erlebnisse durchgemacht. Diese Erfahrungen waren umso einschneidender, als die Soldaten meist zu Kriegsbeginn sehr jung waren, den Kriegserfahrungen wenig eigene positive Lebenserfahrungen entgegenzusetzen hatten und lange Zeit isoliert waren, so zumindest die gegenwärtige medizinische Ein- Wie der Krieg die Menschen verändert 141 schätzung. 20 Selbst die Psychiatrie bot keinen Raum zur seelischen Verarbeitung von Kriegserfahrungen, da dies nicht primäres Anliegen einer körperlich orientierten Wissenschaft war. Seelische Krankheit wurde vorwiegend als körperliche Krankheit wahrgenommen. Dabei dürften die seelischen Kriegsverletzungen so vielfältig und allgegenwärtig an der Front und an der „Heimatfront“ gewesen sein wie die Menschen selbst. So verschieden die Erlebnisse der Individuen waren, eines ist hervorzuheben: Sowohl Patienten als auch Ärzte waren zwischen 1914 und 1918 in einem bislang ungekannten Maß und Umfang mit Gewalt und Tod konfrontiert, sei es über eigene Erfahrungen an der Front, über Verletzungen und Tod von Angehörigen und Bekannten oder über die stark erhöhten Sterbeziffern in den psychiatrischen Anstalten. So entstand eine „lost generation“, die nicht nur ihre Jugend in diesem Krieg verloren hatte: Eine Generation vielmehr, die Gewalt als Normalität kennengerlernt hatte, als Überlebenselixier; eine traumatisierte Generation, die ihre Erfahrungen weder an der Front noch in der Heimat verarbeiten konnte. Die psychiatrischen Krankenhäuser spielten hier ihren Part. Zwar ermöglichten sie ihren Patienten wenn nicht eine institutionelle, so zumindest eine individuelle Kriegsverarbeitung in relativer Abgeschiedenheit und Ruhe von der Front. Doch ließen sie Gewalt und Töten in Gestalt der Kriegserfahrungen der soldatischen Patienten ebenso wie in Gestalt des „Hungersterbens“ in den Anstalten zur Normalität werden und bagatellisierten es. So trugen sie zwischen 1914 und 1918 dazu bei, die Voraussetzungen für die menschenverachtende Psychiatrie des Nationalsozialismus zu schaffen. Der Krieg veränderte die Menschen; wie tiefgreifend, das können wir heute mehr als einhundert Jahre nach seinem Beginn nur erahnen. Quellen und Literatur Archive Alt-Archiv am Klinikum Bremen-Ost (AA-KBO) - A 111/ 16, Krankenakte August M. - A 87/ 2, Krankenakte Michael R. - A 112/ 14, Krankenakte Stanislaus J. - Jahrgang 1918, Krankenakte Weerdine L. - A 100-13, Krankenakte Willi Sch. Gedruckte Quellen Anonym: Kriegssanitätsordnung vom 28. September 1907, München 1914. 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Die kriegswirtschaftliche Bedeutung soldatischer Psychiatriepatienten im Ersten Weltkrieg Die militärärztliche Begutachtung am Beobachtungslazarett an der Universitätsklinik Heidelberg Christoph Bartz-Hisgen Abstract The Baden system was to be a militarily effectively organized distribution system of psychologically and physically impaired soldiers. Restructuring measures began shortly after the beginning of the war in 1914. The article at hand firstly focuses on the development of the Baden hospital system and the possible reasons for its reorganization, which has not gone unnoticed by other German army corps divisions, since not only work-therapeutic considerations played a role, but also the poor staffing situation of military important enterprises (was of central significance). The second part of the article is a statistical evaluation of medical records from the Reservelazarett XVI “Psychiatrische Universitätsklinik Heidelberg” (Psychiatric University Clinic of Heidelberg), which served as an observation hospital. The psychologically impaired soldiers were diagnosed after approximately one month of observation and were subsequently transferred to a therapy hospital or used elsewhere. In this regard, the questions are investigated with what diagnoses were the soldiers discharged from the hospital, where were they discharged to and what role did the professional qualification of their civilian life play. In addition, the social status of the examined soldiers is examined. Furthermore, consideration is given to the following: their subsequent use, usability, and questions of war service damages and/ or pensions or employment restrictions are considered. Zusammenfassung Das badische Lazarettwesen sollte ein militärisch effektiv organisiertes Verteilsystem psychisch und physisch versehrter Soldaten sein. Die Umstrukturierungsmaßnahmen begannen bereits kurz nach Kriegsbeginn 1914. Der vorliegende Artikel wirft zunächst einen Blick auf den Aufbau des badischen Lazarettwesens und auf die möglichen Gründe der Neugestaltung, die auch in anderen deutschen Armeekorpsbereichen nicht unbemerkt blieb. Denn es spielten nicht nur arbeitstherapeutische Überlegungen eine Rolle, auch die schlechte Personalsituation kriegswichtiger Betriebe war von zentraler Bedeutung. Den zweiten Teil des Artikels bildet die statistische Auswertung von Krankenakten aus dem Reservelazarett XVI „Psychiatrische Universitätsklinik Heidelberg“, welches als Beobachtungslazarett fungierte. Die psychisch versehrten Soldaten erhielten nach circa einmonatiger Beobachtung eine Diagnose Christoph Bartz-Hisgen 146 und wurden anschließend in ein Behandlungslazarett überwiesen oder fanden anderweitig Verwendung. In diesem Zusammenhang wird den Fragen nachgegangen, mit welchen Diagnosen wurden die Soldaten aus dem Lazarett entlassen, wohin wurden sie entlassen und welche Rolle spielte dabei die berufliche Qualifikation aus dem zivilen Leben. Darüber hinaus wurde untersucht, welcher sozialen Schicht die begutachteten Soldaten angehörten. Zudem wurden die weitere Verwendung, die Verwendungsfähigkeit sowie die Fragen nach einer Kriegsdienstbeschädigung bzw. einer Rentengewährung oder Erwerbsbeschränkung in den Blick genommen. 1. Einleitung „[…] bei D. [hat sich] eine schwere Neurasthenie entwickelt. Er bietet jetzt das Bild eines ausgesprochenen schweren Hypochonders. In letzter Zeit sind auch hysterische Störungen, wie Zittern und dergl., aufgetreten. […] Dauernd nur a.[rbeits]v.[erwendungsfähig] Heimat. Er leistet zweifellos kriegswirtschaftlich das Beste, wenn er in seiner jetzigen Stellung bei der Eisenbahn belassen wird. Die Schwerhörigkeit ist objektiv wesentlich geringer, als sie erscheint; es liess [sic] sich feststellen, dass er Konversationssprache auf 2 m Entfernung gut versteht.“ 1 Dieses „Schlussurteil“ verfasste Dr. Wetzel, behandelnder Psychiater des Reservelazaretts XVI „Psychiatrische Universitätsklinik Heidelberg“ vor der Entlassung am 22. Juni 1917. Hierbei soll vor allem der Passus „kriegswirtschaftlich das Beste“ hervorgehoben werden, da im Zentrum dieses Beitrags die kriegswirtschaftliche Bedeutung soldatischer Psychiatriepatienten im Ersten Weltkrieg stehen soll. Das Eingangszitat stammt aus einer Patientenakte im Bestand der Lazarettakten Erster Weltkrieg im Historischen Archiv der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg. Der Aktenbestand - insgesamt ca. 3.800 Akten - ist noch nicht in Gänze erfasst und bislang nicht historisch bearbeitet worden. Eine repräsentative Stichprobe von 179 Akten ist Grundlage dieses Beitrags. Es soll ein erster Versuch unternommen werden, die Verteilpraxis psychisch versehrter Soldaten in Baden nachzuzeichnen, da das Heidelberger Lazarett, neben der Begutachtung und Diagnosestellung, mit seiner Beobachtungsfunktion als zweite große Aufgabe, die Umverteilung der Patienten auf verfügbare Plätze in Behandlungslazaretten zu leisten hatte. So fand im Heidelberger Lazarett in der Regel keine eingehende Behandlung der Patienten statt, sondern die Begutachtung stand im Fokus. Die Soldaten blieben höchstens für die Dauer von einem Monat im Lazarett, bevor sie anschließend, nach gestellter Diagnose, weitergeschickt wurden. Dies soll die Arbeit der Arbeitsgruppe von Petra Peckl und Philipp Rauh ergänzen, die sich bereits auf Grundlage der Lazarettakten aus dem Militärarchiv Freiburg - also Akten aus dem Reichsgebiet, frontnahen wie frontfernen Lazaretten - mit 1 Historisches Archiv der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg (HAPUH), Landsturm Ernst D., Nr. 2640. Die kriegswirtschaftliche Bedeutung soldatischer Psychiatriepatienten 147 dieser Frage auseinandergesetzt hat. 2 Peckl kommt zu dem Schluss, dass die Diagnosestellung nicht zu der zu erwartenden Kategorisierung führt, dass Offiziere überwiegend neurasthenische Leiden und Mannschaften und Unteroffiziere fast ausschließlich hysterische und neurotische Erkrankungen diagnostiziert bekamen. Und dass die Behandlungsmethoden in den Lazaretten sehr viel weniger menschenverachtend waren, als es die Forschungsliteratur der Zeit bzw. Arbeiten wie von Peter Riedesser oder Axel Verderber vermuten lassen. 3 So waren die behandelnden Ärzte in den Lazaretten an der Front oder auch in ländlicheren Regionen nachsichtiger und wohlwollender mit den Soldaten als ihre universitären Kollegen in ihren Schriften. Insofern könnte die Analyse der Akten und somit der Praxis eines universitären Beobachtungslazaretts eine interessante Ergänzung in Bezug auf Diagnose und Verteilpraxis darstellen. Darüber hinaus soll es eine Ergänzung zu Paul Lerners „Hysterical Men“ darstellen, der bereits anhand der publizierten Fachaufsätze des Ersten Weltkrieges und der „Berichte des Badischen Landesausschusses der Kriegsbeschädigtenvorsorge“ aufgezeigt hat, dass es nicht nur eine enge Verflechtung zwischen der Psychiatrie und der Industrie während des Krieges gab, sondern dass die Industrie, aber auch die Landwirtschaft ein gesteigertes Interesse daran hatten, die Soldaten aus den Lazaretten als potentielle Arbeiter zu gewinnen. 4 Beobachtungslazarette, wie sie der Heidelberger Psychiater Karl Wilmanns (1873-1945) als Mitglied der badischen Sanitätskommission als stellvertretender Korpsarzt des Sanitätsamts in Karlsruhe und späterer Direktor der psychiatrischneurologischen Universitätsklinik Heidelberg im Krieg einführte, stellten einen „badischen Modellversuch“ dar, 5 der ab 1917 auch in Bayern erstmalig umgesetzt wurde. 6 Dass zumindest die Arbeit des Sanitätsamtes auch außerhalb Badens bekannt war, davon zeugt neben Wilmanns Publikationen und den Hinweisen aus dem Münchener Archiv auch ein weiterer Aufsatz. In diesem wird von einer „starken Zunahme der Fälle“ im Bereich des XIV. Armeekorps berichtet, da man Soldaten mit Hysterieerkrankungen, die in anderen Reichsteilen erfolglos behandelt wurden, nach Baden überwies. 7 2 P ECKL , Krank durch die „seelische Einwirkungen des Feldzuges“? , 30-89; R AUH , Die Behandlung der erschöpften Soldaten im Ersten Weltkrieg, 90-125; DERS ., Die militärischen Therapiemethoden im Ersten Weltkrieg, 29-46. 3 R IEDESSER / V ERDERBER , Aufrüstung der Seelen, und DIES ., „Maschinengewehre hinter der Front“. 4 L ERNER , Hysterical Men, 150-177. 5 W ILMANNS , Die badischen Lazarette, 5. 6 BayHStA München: Abt. IV KA, Stv. GenKdo. I. AK SanA 176: Krankenbehandlung, Nr. 8108 M. Kriegsministerium. Medizinal-Abteilung. Beurteilung und Verwendung der sogenannten Psychopathen und Kriegshysteriker (10.2.1917): Alle Psychopathen und Kriegshysteriker sollten von nun an ins Reservelazarett München L oder in das Reservelazarett Augsburg A (Nervenabteilung) zur fachärztlichen Beobachtung, Behandlung und Begutachtung verlegt werden (Dies ergab sich Dank der Hinweise Gundula Gahlens, die mir dankenswerterweise die Veröffentlichung gestattet hat.). 7 H OFFMANN , Über die Behandlung der Kriegshysterie in den badischen Nervenlazaretten, 130. Christoph Bartz-Hisgen 148 Der vorliegende Beitrag zeigt zum einen eine erste statistische Auswertung der Heidelberger Lazarettakten, in denen die gestellte Diagnose, der Beruf, die weitere Verwendung, die Verwendungsfähigkeit sowie die Fragen nach einer Kriegsdienstbeschädigung bzw. einer Rentengewährung oder Erwerbsbeschränkung erhoben wurden. Aus dem angegebenen bürgerlichen Beruf wurde wiederum versucht, eine mögliche Schichtzugehörigkeit zu rekonstruieren. Darüber hinaus soll der soldatische Werdegang nach dem Verlassen des Heidelberger Beobachtungslazaretts aufgezeigt und überprüft werden, denn Wilmanns‘ verfolgter Grundgedanke bei der Umstrukturierung des badischen Lazarettwesens war: „Jeden Kranken und Verwundeten möglichst schnell der ihm zustehenden Behandlung zuzuführen.“ 8 Der Fokus soll auf dem ökonomischen Aspekt liegen. So waren Kriegsneurotiker für die Arbeit in Munitionsfabriken und völlig Genesende für den Einsatz in der Kriegsindustrie oder der Landwirtschaft vorgesehen. Um die Auswertung der Akten daher besser verorten zu können, muss ein erster Blick nach Baden und zum dortigen Lazarettwesen gehen. 2. Das badische Lazarettwesen Bereits im September 1914 veranlasste das Badische Sanitätsamt die Inspektion der „Lazarettabteilungen, Vereinslazarette und Genesungsheime des badischen Landes“, da man es nicht dem Zufall überlassen wollte, wo der verwundete Soldat untergebracht wurde. Das Sanitätsamt wollte die Kontrolle und das Wissen über die Verteilung der Verwundeten sicherstellen. Das Ergebnis der Untersuchung förderte zutage, dass die Verhältnisse in den großen Krankenhäusern und Universitätskliniken als „befriedend“ eingestuft wurden. Man befand dagegen, dass die übrigen Einrichtungen nur unzureichend genutzt würden. 9 Zudem wurden Klagen an Wilmanns herangetragen, dass „die mangelnde Auslese der Kranken, die ihnen neben Hysterikern und Neurasthenikern auch Epileptiker, Alkoholiker und sonstige schwierige Persönlichkeiten zuführten, die die Manneszucht erheblich erschwerten.“ 10 Karl Wilmanns stellte fest, dass von einer sachgemäßen Verteilung der verwundeten und erkrankten Soldaten keine Rede sein konnte. Er veranlasste daher die Einrichtung von Beobachtungs- und Behandlungslazaretten. Dabei kam den Beobachtungslazaretten die Aufgabe zu, die eingewiesenen Soldaten zu begutachten und über ihre Dienstfähigkeit bzw. über die weitere Behandlung zu entscheiden. Somit bestand die Möglichkeit, dass der betroffene Soldat einem Behandlungslazarett zugeführt wurde, welches, als Sonderlazarett deklariert, auf eine Krankheitsgruppe spezialisiert war (Rheumatismuslazarette, Neurotikerlazarette). Er konnte aber auch direkt der Industrie oder seinem bürgerlichen Beruf zugewiesen werden oder aus dem Militärdienst entlassen werden und ggf. eine Rente erhalten. All dies 8 W ILMANNS , Die badischen Lazarette, 7. 9 Ebd., 5f. 10 W ILMANNS , Die Wiederertüchtigung der an funktionellen Neurosen leidenden Kriegsbeschädigten, 135. Die kriegswirtschaftliche Bedeutung soldatischer Psychiatriepatienten 149 war möglich, ohne dafür Betten in Behandlungseinrichtungen zu belegen. 11 Wilmanns urteilte über sein entwickeltes System wie folgt: „Sie [die Beobachtungslazarette] gewährleisteten die größtmögliche Sicherheit in der wissenschaftlichen und militärischen Bewertung aller unklaren Fälle, bewirkten eine starke Abkürzung der Lazarettbehandlung, arbeiteten der Verschleppung von Erkrankungen in kleinen Vereinslazaretten und Genesungsheimen entgegen und bekämpften dadurch den Lazarettbummel und die Drückebergerei.“ Auch für das Beobachtungslazarett in der Psychiatrischen Klinik Heidelberg galt, was Wilmanns für seinen Zuständigkeitsbereich lobte, dass die „militärärztlichen Zeugnisse und das Versorgungswesen im XIV. A[rmee]K[orps] auf einer ganz besonderen wissenschaftlichen Höhe standen“. 12 Darüber hinaus setzte Wilmanns auf ein erweitertes arbeitstherapeutisches Behandlungskonzept. Ende 1916 richtete man in Hornberg ein Neurotikerlazarett in unmittelbarer Nachbarschaft zu einer Munitionsfabrik ein. Kurze Zeit später folgten weitere Einrichtungen in Triberg, Villingen, Überlingen und St. Georgen. 13 Hier sollten die Erkrankten für „vaterländisch wichtige Aufgaben“ in der Kriegswirtschaft tätig sein und gleichzeitig unter ärztlicher Beobachtung sowie militärischer Kontrolle stehen. Ob und inwiefern Vertreter von Landwirtschaftsverbänden und der Rüstungsindustrie bei der Ausarbeitung dieses Konzepts beteiligt waren, muss zum jetzigen Zeitpunkt offenbleiben. Es gibt jedoch Hinweise, dass es seitens der Industrie- und Agrarverbände zumindest ein begründetes Interesse an diesem Thema gegeben haben könnte: So berichtete R. A. E. Hoffmann über einen Artikel der südwestdeutschen Industriezeitung über die erfolgreiche Verwendung von Kriegsneurotikern in einer Munitionsfabrik. 14 Es finden sich jedoch auch Hinweise darauf, dass das Sanitätsamt auf die Betriebe und Handelskammern zuging. So berichtete Ferdinand Kehrer (1883-1966), Chefarzt im Reservelazarett Hornberg, dass man die Beschäftigung der erkrankten Soldaten in den Betrieben bevorzugte, um sie „vor der Langeweile des Herumsitzens in den Kranksälen zu schützen.“ 15 Auch Wilmanns verweist in einem Bericht vor dem Badischen Landesausschuss für Kriegsbeschädigtenfürsorge darauf, dass „das Sanitätsamt, [und das] Kriegsamt […] die Kriegsindustriellen unter Hinweis auf ihre vaterländische Pflicht […] dienstunbrauchbare Neurotiker einzustellen, um Frauen und Kinder für die Landwirtschaft freizuma- 11 W ILMANNS , Die badischen Lazarette, 8. 12 Ebd., 12. 13 Ebd., 30. 14 Hoffmann gibt leider keine Auskunft über Ausgabe, Erscheinungsjahr oder Band, sodass es bis zum jetzigen Zeitpunkt ein Indiz bleibt. Dazu H OFFMANN , Behandlung der Kriegshysterie, 141. Es wird jedoch darüber berichtet, dass die Industrie die Ausbildung der versehrten Soldaten in den eigenen Betriebshallen durchführen will und nicht in den Lazaretten, da ihnen so die zur Produktion benötigten Maschinen erhalten bleiben und nicht an ein Lazarett ausgehändigt werden müssen: Südwestdeutsche Industriezeitung 43 (13) vom 14. Oktober 1916. 15 K EHRER , Behandlung und ärztliche Fürsorge bei Kriegsneurosen, 11. Christoph Bartz-Hisgen 150 chen, vielfach auf Widerstand [stoßen].“ 16 An anderer Stelle schreibt er: „Diese Erwägungen [der negative Einfluss der Stadt] gaben dem Sanitätsamt den Anstoß, mit einem Fabrikanten in Hornberg in Verbindung zu treten und die Einstellung geheilter Neurotiker, […] in Zündfabriken anzuregen.“ 17 Und Dreetz legt dar, dass es auch den Agrarverbänden an qualifiziertem Personal mangelte. 18 Eine Einflussnahme erscheint vorstellbar, da der Krieg in ungeahnter Weise Fachkräfte und Arbeiter band, die nun in den Fabriken, aber auch auf den Feldern fehlten. Die Wahrscheinlichkeit ist jedoch höher, dass die Initiative alleine vom Sanitätsamt ausging. Christian Stachelbeck stellt fest, dass es während des Krieges zu einer stetigen Konkurrenz zwischen den Streitkräften und der Rüstungsindustrie kam, 19 die Wilmanns lokal so zumindest etwas abgemildert hat. 20 3. Auswertung der Krankenakten Für die statistische Erhebung wurden die Akten der Soldaten ausgewertet, deren Nachnamen mit den Buchstaben D, O und T beginnen, insgesamt 179 Akten. 21 Erhoben wurden die gestellte Diagnose, der Beruf, die weitere Verwendung, die Verwendungsfähigkeit sowie die Fragen nach einer Kriegsdienstbeschädigung bzw. einer Rentengewährung oder Erwerbsbeschränkung. Aus dem angegebenen bürgerlichen Beruf wurde wiederum versucht, eine mögliche Schichtzugehörigkeit zu rekonstruieren. Doch zunächst zu den Diagnosen: Die große Unsicherheit der behandelnden Psychiater im diagnostischen Umgang sowohl mit den soldatischen Patienten als auch mit den Patienten der zivilen Psychiatrie 22 zeigt sich in der Mannigfaltigkeit diagnostischer Begriffe und Begriffskombinationen während des Krieges. Die Anwendung eines diagnostischen Systems für die statistische Erhebung erschien dadurch als wenig gewinnbringend. Der Würzburger Schlüssel wurde erst am 21. April 1933 auf der Jahrestagung des „Vereins für Psychiatrie“ verabschiedet und liegt somit deutlich hinter dem Untersuchungszeitraum. 23 Dagegen geben die Kate- 16 W ILMANNS , Die Wiederertüchtigung der an funktionellen Neurosen leidenden Kriegsbeschädigten, 140. 17 Ebd., 138. 18 D REETZ , Ersatzgewinnung, 703. 19 S TACHELBECK , Deutschlands Heer und Marine im Ersten Weltkrieg, 161. 20 L ERNER , Hysterical Men, 153. 21 Die Erhebung der Akten orientiert sich am Vorschlag von Martin Dinges und Michael Wischnath zur Aufbewahrung medizin-historisch relevanten Quellenmaterials. Bei der Aufbewahrung von Krankenakten sprechen sie sich dafür aus, die Buchstaben D-O-T (ca. sechs Prozent des Konvoluts) oder D-O-R-T (ca. zehn Prozent des Konvoluts) zu archivieren, um zu einer repräsentativen Stichprobe zu gelangen. Dazu D INGES / W ISCHNATH , Empfehlungen, 59, Anm. 30; W ISCHNATH , Empfehlungen. 22 R OELCKE , Unterwegs zur Psychiatrie als Wissenschaft, 169-188; D ERS ., Konzepte, Institutionen und Kontexte, 287-313. 23 B EDDIES / D ÖRRIES , Die Patienten der Wittenauer Heilstätten, 188-205. Die kriegswirtschaftliche Bedeutung soldatischer Psychiatriepatienten 151 gorien der Reichsirrenstatistik, selbst von 1916, nicht das diagnostische System der Kriegszeit wieder. 24 Daher wurden für diese Studie Kategorien gebildet, die die Diagnosen in ihrer Gesamtheit widerspiegeln. „Psychopathie“ war mit 17 Prozent die am häufigsten gestellte Diagnose, gefolgt von „Hysterie“ mit 15 Prozent, „Neurosen“ und „neurasthenischen Erkrankungen“ jeweils mit elf Prozent. „Schwachsinn“ wurde in neun Prozent und „Epilepsie“ in acht Prozent der Fälle diagnostiziert. Die Diagnose „Paralyse“ fand sich in den erhobenen Akten nur bei einem Patienten. Es ist davon auszugehen, dass die syphilitische Erkrankung bei dem betroffenen Soldaten schon im Vorfeld des Krieges bestand. Die größte Gruppe bilden 54 Prozent der Soldaten, die als hysterisch, neurotisch oder psychopathisch diagnostiziert worden waren, aufgrund von Symptomen, die sich vermutlich im Krieg manifestiert hatten, gefolgt von als organisch-anlagebedingt eingestuften Zuständen („Epilepsie“, „Schwachsinn“) mit 17 Prozent sowie „klassischen Geisteskrankheiten“ mit sechs Prozent. Des Weiteren zeigt die Auswertung, dass 88 Prozent der behandelten Patienten aufgrund psychischer Leiden in das Beobachtungslazarett eingewiesen wurden. Somit kann auf das Gelingen der Umstrukturierung Wilmanns‘ geschlossen werden. Zudem zeigte sich bei der Durchsicht des zentralen Aufnahmebuchs, welches von 1914 bis 1918 geführt wurde, dass in den ersten bei- 24 Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, 447. Neurosen 11% Hysterie 15% Neurasthenische Erkrankungen 11% Psychopathie 17% Schwachsinn 9% Epilepsie 8% Depression 3% Dementia Praecox 3% weitere Diagnosen 7% Simulation 1% Alkoholismus 4% körperliche Erkrankung 7% Ohne Befund 4% Diagnosen Christoph Bartz-Hisgen 152 den Kriegsjahren noch Soldaten mit Schussverletzungen, Lungenentzündung, tuberkulösen Leiden oder anderen physischen Erkrankungen in das Reservelazarett XVI eingeliefert wurden. Diese Akten sind jedoch, wie bereits eingangs erwähnt, nicht mehr vorhanden und können somit für eine Analyse nicht mehr herangezogen werden. Die Kategorisierung der Berufe erfolgte auf Grundlage der Arbeit von Rüdiger Hohls und Hartmut Kaelble, die die Erwerbsstruktur im Deutschen Reich nachzeichneten. 25 Hierbei ergab sich, dass Beschäftigte der Landwirtschaft mit 19 Prozent die größte Berufsgruppe derer ausmachten, die im Lazarett behandelt wurden, gefolgt von Beschäftigten der Industrie mit zwölf Prozent und des Handwerks mit zehn Prozent. Die übrigen Berufsgruppen sind jeweils mit sieben oder acht Prozent annährend gleich stark vertreten. Die Zuteilung zu den jeweiligen Schichten orientiert sich an einer modifizierten Form des Modells bei Hohls und Kaelble, auf die auch die Arbeiten von Thomas Beddies und Andrea Dörries: Patienten der Wittenauer Heilstätten sowie Maike Rotzoll in ihrer Habilitationsschrift zurückgreifen. 26 77 Prozent der Soldaten gehörten der Mittelschicht an, wie beispielsweise Handwerker, Angestellte und Beamte, Bauern, Kaufleute und mittlere Unternehmer. 15 Prozent zählten zu der oberen Unterschicht, wie gelernte Arbeiter und Hausangestellte. Fünf Prozent gehörten zur unteren Unterschicht, wie Tagelöhner und ungelernte Arbeiter, und nur drei Prozent könnte man zur Oberschicht zählen. Hier spiegelt sich die Tatsache wider, dass das Beobachtungslazarett für Mannschafts- und Unteroffiziersdienstgrade ein- 25 H OHLS / K AELBLE , Die regionale Erwerbsstruktur, 33-43. 26 B EDDIES / D ÖRRIES , Patienten der Wittenauer Heilstätten, 328-334; R OTZOLL , Gefährdetes Leben, 91, 399f. Landwirtschaft 19% Nahrungs mittelindustrie 7% Bekleidungs industrie 7% Metallver arbeitung 8% Soziale Dienste 4% Öffentlicher Dienst 7% Baugewerbe 7% Handwerk 10% Industrie 12% Handel 9% Bergbau 3% Büroangestellte 3% Sonstige 4% Berufe Die kriegswirtschaftliche Bedeutung soldatischer Psychiatriepatienten 153 untere Unterschicht 5% oberer Unterschicht 15% Mittelschicht 77% Oberschicht 3% Schichtzugehörigkeit k.A. 24% arbeitsverwen dungsfähig (Heimat) 21% arbeitsverwen dungsfähig (Front) 5% kriegsverwen dungsfähig 5% garnisonsver wendungsfähig 15% arbeitsverwen dungsunfähig 11% dauernd kriegsdienstun tauglich 16% vorübergend (zeitig) dienstuntauglich 3% Verwendungsfähigkeit Christoph Bartz-Hisgen 154 gerichtet worden war. Einen Offiziersrang findet man nicht. Diese waren in Heidelberg am Schloss untergebracht, im Hotel Bellevue. 27 Es stellt sich die Frage, wie die Heidelberger Ärzte die Diensttauglichkeit ihrer soldatischen Patienten beurteilten. Obwohl es schon im Februar 1915 einen kriegsministeriellen Erlass gab, der die bis dahin gültige Zweitteilung der Tauglichkeitsbestimmung (feld- und garnisonsdienstfähig) aufhob 28 und durch die Dreiteilung kriegsdienstverwendungsfähig, garnisonsdienstverwendungsfähig und arbeitsdienstverwendungsfähig ersetzte, 29 gab es deutlich mehr Kategorien als die drei genannten. Dies ist alleine schon der Tatsache geschuldet, dass es kriegsverwendungsfähige und kriegsverwendungsunfähige Soldaten gab, Soldaten, die nur zeitig nicht mehr dienstfähig waren und Soldaten die generell nicht mehr zum Kriegs- und Arbeitsdienst herangezogen wurden. Hinzu kommt, dass häufig eine Doppelbenennung vorhanden ist und verschiedene Kombinationen der Kriterien vorliegen können. Beispielsweise konnte ein Soldat dauerhaft kriegsdienstuntauglich sein, aber gleichzeitig - und dies ist häufig - als arbeitsverwendungsfähig erklärt werden. So ergibt sich folgendes Bild: In 24 Prozent der Fälle wurde keine Angabe zur letztendlichen Verwendungsfähigkeit gemacht, da man die Soldaten in ein Behandlungslazarett überwies. Dort musste dann je nach „Therapie“-Erfolg entschieden werden. 21 Prozent der Soldaten waren für den Arbeitsdienst in der Heimat vorgesehen, sollten also in bürgerlichen Berufen oder in der Rüstungsindustrie arbeiten. 16 Prozent erklärten die Heidelberger Lazarett-Ärzte für dauerhaft kriegsdienstuntauglich, sie wurden also nicht mehr an der Front eingesetzt. 15 Prozent der Soldaten galten als garnisonsverwendungsfähig, übten dort z.B. ihren bürgerlichen Beruf aus. Bei elf Prozent der Patienten entschieden die Heidelberger Ärzte, dass sie gar nicht mehr arbeitsfähig waren. Zehn Prozent der Soldaten wurden direkt wieder an die Front geschickt. Fünf Prozent davon wurden als kriegsverwendungsfähig entlassen, wohingegen fünf Prozent als arbeitsfähig an die Front entlassen wurden, z.B. zu einem Armierungsbataillon oder als Militärkrankenträger. Drei Prozent der Soldaten wurden vorübergehend als dienstuntauglich eingestuft, 27 O STEN , Großklinikum mit Bahnanschluss, 108. 28 S TACHELBECK , Militärische Effektivität im Ersten Weltkrieg, 330, Anm. 367; D REETZ , Ersatzgewinnung, 702. 29 Hierzu heißt es im Erlass: „Neben der neuen Präzisierung waren jene Wehrpflichtigen kriegsverwendungsfähig, ‚von denen unter Berücksichtigung des gesamten Körperzustandes […] anzunehmen ist, daß sie den Anforderungen beim Feldheer nach Ausdauer, Marschfähigkeit und Widerstandsfähigkeit gegen Witterungseinflüsse gewachsen sein werden.‘ Als garnisonsverwendungsfähig galten solche Wehrpflichtigen, die den Anforderungen der Kriegsverwendungsfähigkeit nicht entsprachen, ‚aber zur Ausübung des militärischen Dienstes in der Garnison oder in ihr ähnlichen Verhältnissen, z. B. des Wach-, Bewachungs-, Ausbildungs-, Schreiber-, Handwerker-, des Büro- und Sanitäts-Dienstes, fähig sind.‘ Als arbeitsverwendungsfähig bezeichnete man die Wehrpflichtigen, die infolge körperlicher Fehler, die eine militärische Ausbildung nicht zulassen, zum eigentlichen militärischen Dienst ungeeignet sind, aber nach Maßgabe ihrer Kräfte oder ihrer erlernten Fähigkeiten entweder zum Dienst als Armierungssoldaten (Schanzarbeiten) oder zu einer ihrem bürgerlichen Beruf […] entsprechenden Beschäftigung verwendbar erscheinen.“ Zit. nach D REETZ , Ersatzgewinnung, 702. Die kriegswirtschaftliche Bedeutung soldatischer Psychiatriepatienten 155 z.B. für sechs Monate oder für zwei Jahre. Für diese Zeit wurden sie in der Regel in die Heimat entlassen, gingen ihrem Beruf nach und mussten sich anschließend wieder einer Untersuchung stellen. Aus dem Militärdienst wurden sie nicht entlassen, sie blieben somit für den militärischen Apparat ständig abrufbar. Der überwiegende Teil der Ergebnisse unterscheidet sich von denen Philipp Rauhs in der Arbeit über „militärpsychiatrische Therapiemethoden“. Die Entlassung als „dienstunbrauchbar“ bleibt mit 15,1 Prozent annähernd gleich. Die Zahlen der Frontrückkehrer (22 Prozent) und der Soldaten, die in die Garnison zurückkehrten (30,8 Prozent), unterscheiden sich jedoch deutlich. 30 Ein Grund dürften die unterschiedlichen Lazarettarten sein, aus denen die Patientenakten stammen. Auf der einen Seite das Beobachtungslazarett, mit spezialisiertem Aufgabenbereich, das neben der Diagnosestellung die Verteilung der soldatischen Patienten auf die Behandlungslazarette vorsah oder sie wieder in das Berufsleben zu entlassen. Auf der anderen Seite „normale“ Behandlungslazarette, die die Soldaten nach dem Therapieerfolg häufiger wieder an die Front entließen. Somit zeigt sich auch hier, ebenso wie im Vergleich mit der Arbeit Petra Peckls, eine Diskrepanz bei Schlussbeurteilung auf Reichs- und Lokalebene bzw. zwischen Beobachtungs- und Behandlungslazarett. Vielleicht spiegelt es auch die unterschiedlichen Einstellungen der Ärzte wider, die einen, die sehr konservativ und zurückhaltend agierten, gegenüber den am wissenschaftlichen Erfolg und Prestige interessierten Heidelberger Psychiatern als Universitätsdozenten. Gegen Letzteres spricht jedoch die geringe Publikationsdichte der behandelnden Psychiater am Universitätsklinikum während der Kriegszeit. 31 Daraus ergibt sich folgendes Bild für die „weitere Verwendung“, bei dem der Erholungsurlaub, Lazarette für körperliche Erkrankungen sowie Rentenempfänger, die schon zuvor eine Rente erhielten, und Verstorbene ausgeklammert wurden. 31 Prozent der Soldaten wurden in ein Behandlungslazarett überwiesen, wie der Musketier Friedrich D., der am 18. Dezember 1917 mit der Diagnose „Commotionsneurose“ in das Heidelberger Lazarett eingewiesen wurde. Der Arzt hielt im „Schlussurteil“ fest: „D. leidet an einer Neurose, welche zum Teil Folge einer leichten Gehirnerschütterung ist […]. Ein beträchtlicher Teil seiner Beschwerden aber ist hysterischer Art, und es unterliegt keinem Zweifel, dass durch eine fachärztliche Behandlung noch eine wesentliche Hebung der Arbeitsfähigkeit und Besserung des Gesamtzustandes zu erzielen wäre. Für die Vornahme einer derartigen Therapie […] erscheint [es] daher notwendig, […] D. in das Res.[erve] Laz.[arett] Triberg im Schwarzwald einzuweisen.“ 32 D. wurde damit in ein einschlägiges Lazarett für Elektrotherapie überwiesen 33 und könnte nach erfolgter Therapie der Kriegsindustrie zugeführt worden sein. 34 30 R AUH , Die militärischen Therapiemethoden im Ersten Weltkrieg, 43. 31 Siehe hierzu die geringe Anzahl der Veröffentlichungen z.B. in der Münchener Medizinischen Wochenschrift oder in der Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie. Vergleichend kann man auch die Einträge im World Biographical Information System heranziehen. 32 H APUH , Musketier Friedrich D., Nr. 3277. 33 K ÖHNE , Behandlung im Schatten des Krieges, 72. - Hoffmann teilt die Methoden der Behandlung in drei Phasen, wobei die zweite, bis Mitte 1917 die der Elektrotherapie darstel- Christoph Bartz-Hisgen 156 27 Prozent der Soldaten wurden wieder in ihren bürgerlichen Beruf entlassen, wie der Kanonier und Landwirt Karl D., der am 30. Mai 1917 mit der Diagnose angeborener Schwachsinn im Reservelazarett XVI aufgenommen wurde. Zudem äußerte der behandelnde Arzt Dr. Dreyfus den Verdacht der Hebephrenie, wofür aber nicht so viel spräche, „vielmehr fanden sich […] Zeichen d. Schwachsinns, der allerdings beträchtlich genug ist, um jeden Dienst mit der Waffe auszuschliessen. Auch zur Verwendung bei einem Armierungsbataillon eignet er sich nicht, dagegen ist er a.[rbeits] v.[erwendungsfähig] für einfache körperliche Arbeiten, die kein grosses Nachdenken, keine eigene Initiative und keine Verantwortung erfordern. Durch seinen Kräftezustand ist er zweifellos dazu befähigt. Am besten eignet er sich zur Verwendung im landwirtschaftl. Betrieb, wo er sicher am meisten Dienste leisten wird, weshalb es sich empfehlen würde, ihn eventuell in d. landwirtschaftl. Betrieb d. Vaters zu beurlauben.“ Damit wird D. aber nicht aus dem Militärdienst entlassen, sondern lediglich „beurlaubt“, muss also verfügbar bleiben. 35 Das dahinter liegende Kalkül: „ward er [der Patient] nicht wie früher aus dem Militärverhältnis entlassen, sondern zur Arbeit beurlaubt. Unter der Form kurzfristiger Beurlaubung, die sich beliebig verlängern ließen, war es möglich, ihn dauernd unter der Kontrolle des Lazaretts zu halten; er konnte jeden Augenblick, wenn er versagte, ohne besondere Formalitäten wiederaufgenommen werden. […] Zugleich wurde hierdurch die le, von der man aber wieder abgekommen sei, da die überraschende Wirkung verpufft sei. Stattdessen habe man das Zwangsexerzieren verstärkt. H OFFMANN , Behandlung der Kriegshysterie, 126-130. 34 W ILMANNS , Der Ausbau der badischen Lazarette während der Kriegsjahre 1916 und 1917, 44; P ILZECKER , Der Lazarettarbeitsnachweis im Reservelazarett Triberg (Schwarzwald), 165; L ERNER , Hysterical Men, 152. 35 H APUH , Kanonier Karl D., Nr. 2573. Lazarett 31% Beruf 27% Garnison 17% Rüstungsin dustrie 3% Front 9% Entlassung aus dem Militär 3% Haft 1% Geschlossene Abteilung 2% Bürgerlicher Beruf in Garnison 7% weitere Verwendung Die kriegswirtschaftliche Bedeutung soldatischer Psychiatriepatienten 157 Erledigung der Rentenfrage in zweckmäßiger Weise bis zum Kriegsende hinausgeschoben.“ 36 Allerdings wurde auch jede Hilfe in der Landwirtschaft benötigt. 37 17 Prozent der soldatischen Patienten wurden nach der Beobachtung in Heidelberg wieder zurück in ihre Kasernen geschickt, wo sie normalen Dienst verrichteten und in der Regel darauf warteten, wieder an die Front kommandiert zu werden. Bei Landsturm Hermann von O., der zwar auch zum Garnisonsdienst entlassen wurde, zeigt sich eine sehr nachsichtige Begutachtung der Heidelberger Ärzte. Der als „debiler Psychopath“ diagnostizierte von O. wurde am 17. August 1918 in eine Kaserne nach Freiburg mit folgender Begründung entlassen: „Er ist ein debiler, weichlicher, empfindsamer Mensch mit feineren Zügen, der offenbar unter dem Eindruck von ängstlichen Vorstellungen oder gar von schreckhaften Vorgängen jede Selbstbeherrschung verliert und willenlos sich von seinen Gefühlen leiten lässt. […] Wenn die Angaben des von O., dass seine Frau in Freiburg sehr leidend ist, 4mal in kurzer Zeit wegen Gallenstein operiert wurde und mit 2 Kindern hilflos dasteht, richtig sind, so möchten Verlegung des von O. nach Freiburg zwecks Verwendung in militärischem Arbeitsdienst befürworten.“ 38 Neun Prozent der Soldaten wurden direkt wieder von Heidelberg an die Front, meist mit Zwischenstation in ihrer Heimatkaserne oder dem Ersatztruppenteil, geschickt. So auch Kanonier Wilhelm D., der am 1. November 1918 in Heidelberg aufgenommen und am 5. November 1918 bereits wieder mit der Diagnose „mässige Neurasthenie“ entlassen wurde. Stabsarzt Dr. Wetzel hielt abschließend fest: „Soweit bei dem Manne nervöse Erscheinungen in Betracht kommen, ist alles so unbedeutend, dass er als k.[riegsdienst] v.[erwendungsfähig] anzusehen ist.“ 39 In sieben Prozent der Fälle wurden die Soldaten in ihrem bürgerlichen Beruf in der Kaserne verwendet. Dies erschien in manchen Fällen „als kriegswirtschaftlich das Beste“. Bei Kanonier Gustav D., der mit „neurasthenische[n] Beschwerden bei beginnender Arteriosklerose“ am 23. September 1918 zum Feldartillerieregiment 14 nach Karlsruhe entlassen wurde, trat dies ein. Über den gelernten Fleischermeister hielt der behandelnde Arzt folgendes fest: „Bei D. bestehen Anzeichen einer beginnenden Arteriosklerose. Daß diese gewisse Beschwerden verursachen, ist durchaus wahrscheinlich. Die Beschwerden werden aber von dem Mann in neurasthenischer Weise aufgefasst und verarbeitet und setzen so seine Leistungsfähigkeit mehr herab, als es in der Natur der Sache begründet liegt. Bei dieser Sachlage erscheint D., nur beschränkt g.[arnisons] v.[erwendungsfähig] H.[eimat], und zwar wird er am zweckmäßigsten in seinem Beruf als Metzger in einer Garnisonsschlachterei verwendet“. 40 36 H OFFMANN , Behandlung der Kriegshysteriker, 142. 37 „[…] die Möglichkeit gegeben, daß gegebenenfalls jeder Landwirt wenigstens innerhalb der Jahreszeiten von März bis November auf die Dauer von zwei bis drei Monaten ohne Gebührnisse in seine Landwirtschaft beurlaubt werden soll […].“ K EHRER , Behandlung und ärztliche Fürsorge, 162. 38 H APUH , Landsturm Hermann von O., Nr. 4095. 39 Ebd., Kanonier Wilhelm D., Nr. 4455. 40 Ebd., Kanonier Gustav D., Nr. 4306. Christoph Bartz-Hisgen 158 Was bei der Auswertung der Akten überrascht hat, sind die lediglich drei Prozent der Soldaten, die im Anschluss an die Beobachtung in Heidelberg direkt in der Rüstungsindustrie untergebracht wurden. Aufgrund der Umstrukturierung des badischen Lazarettwesens, die explizit darauf ausgerichtet war, mehr Soldaten in die kriegswichtigen Industriezweige zu überführen, fällt die Zahl sehr gering aus. Andererseits zielte die Umstrukturierung darauf ab, erkrankten Soldaten zunächst einer suggestiven Therapie zuzuführen und sie anschließend arbeitstherapeutisch in einer Fabrik zu betreuen. 41 Einer der wenigen, der in der Rüstungsbranche untergebracht wurde, war Johann O., der in der Pulverfabrik in Ettlingen arbeitete und der gleichzeitig angab, Stimmen zu hören, die ihn riefen, und „er sehe Vögel und Blumen; und nachts erscheinen Raben und picken ihn in den Kopf hinein“. 42 Vielleicht kann dieses Zitat auch stellvertretend für das Risiko gewertet werden, welches hinter der Beschäftigung eines psychisch erkrankten Soldaten stehen konnte, der beispielsweise durch einen „Rückfall in die Krankheit“ die Produktionsabläufe gefährden konnte. Es ist nicht auszuschließen, dass die Psychiater deshalb häufig von einer direkten Überführung des Soldaten in die Rüstungsindustrie absahen, sondern ihn zunächst einer Suggestionstherapie unterzogen. Möglicherweise erkannten auch die Rüstungsbetriebe, dass von den psychisch Erkrankten eben kein ökonomischer Mehrwert ausging, sondern diese im Gegenteil einen Unsicherheitsfaktor darstellten und man sie permanent im Auge behalten musste. 43 Dagegen sprechen wiederum die positiven Erfahrungen des Südwestdeutschen Industrieverbandes. 44 Es wäre auch denkbar, dass deutlich mehr Soldaten in den Rüstungsbetrieben zum Einsatz kamen, nachdem sie in ein Behandlungslazarett überwiesen worden waren, welches in unmittelbarer Nachbarschaft zu einem Rüstungsbetrieb lag, wie in Villingen, Überlingen und St. Georgen, die diese Art der Kooperationen unterstützten. So berichtet Hoffmann über „Arbeitshäuser“, in denen Soldaten lebten, die von ihren Symptomen befreit gewesen seien, in einer Fabrik arbeiteten, aber gleichzeitig in der Nähe des Lazaretts waren, mit einer Art therapeutischen Doppelfunktion: Zum einen waren sie „[…] nicht mehr unter dem strengen militärischen Zwang wie vorher [im Lazarett] […], sondern [konnten] ungezwungener und freier lebe[n]“, was als Belohnung für ihre Genesung oder Symptomfreiheit verstanden werden sollte. Auf der anderen Seite befand sich der soldatische Patient „[…] dauernd unter der Aufsicht des Lazaretts, das in ständiger Fühlung mit der Fabrikleitung oder den sonstigen Arbeitgebern stand und seine Arbeitsleistung kontrollierte.“ 45 Unter Umständen gab es auch weitere Lazarettstandorte mit dieser Art der arbeitstherapeutischen Ausrichtung, die uns noch nicht bekannt sind. So könnte beispielsweise Albert D. im Hornberger Rüstungsbetrieb beschäftigt worden sein, nachdem er von Stabsarzt Dr. Wetzel zur „Behandlung im Res.[erve] Laz.[arett] 41 W ILMANNS , Ausbau der badischen Lazarette, 42f. 42 H APUH , Rentenempfänger Johann O., Nr. 4128. 43 W ILMANNS , Die Wiederertüchtigung der an funktionellen Neurosen leidenden Kriegsbeschädigten, 140. 44 H OFFMANN , Behandlung der Kriegshysterie, 141. 45 Ebd., 142. Die kriegswirtschaftliche Bedeutung soldatischer Psychiatriepatienten 159 Hornberg empfohlen“ worden war. 46 Zumal an diesem Standort das arbeitstherapeutische Konzept zwischen Lazarett und Rüstungsbetrieb initiiert wurde. 47 Eine Rente bzw. Erwerbsbeschränkung wurde 31 Prozent der Soldaten nicht zugesprochen, z.B. aufgrund von angenommener Heredität der „Erkrankung“ oder der Einschätzung fehlender Kriegsdienstbeschädigung. In 26 Prozent der Fälle wurde dagegen eine Erwerbsbeschränkung festgestellt, die zwischen „weniger als 10%“ und 100 Prozent schwankt, wobei das Urteil „weniger als 10%“ zur Folge hatte, dass keinerlei Rentenansprüche bestanden. In 33 Prozent der Fälle wurde von den behandelnden Ärzten in Heidelberg keine Angabe gemacht. Diese Zahlen korrelieren in etwa mit der Frage der Dienstbeschädigung. 40 Prozent der Soldaten bekamen keine Dienstbeschädigung zugesprochen, 27 Prozent wurde sie hingegen gewährt und in 30 Prozent der Fälle gab es keine Angabe. 4. Resümee Der Beitrag hat versucht aufzuzeigen, was mit den Soldaten nach der abgeschlossenen Diagnosestellung in einem Beobachtungslazarett geschah. Im Wesentlichen wurden die versehrten Soldaten in ein einschlägiges Behandlungslazarett überwiesen oder ihrem bürgerlichen Beruf zugeführt bzw. wieder in die Kaserne beordert. Unerwartet wenige wurden direkt in die Rüstungsindustrie abkommandiert. Doch kann man davon ausgehen, dass bei der Überführung in den bürgerlichen Beruf die kriegswirtschaftlich wichtigen Berufe wie Landwirtschaft, Maschinenindustrie oder verarbeitendes Gewerbe bevorzugt besetzt wurden, da dies Wilmanns Ausführungen nahe legen. Welche Diagnosen wurden statistisch am meisten gestellt? Bei den Diagnosen überwiegen erwartungsgemäß die „Kriegsneurosen“, „Kriegshysterien“ und „Psychopathien“ mit ihren Reaktionen auf das Kriegsgeschehen. Die Ergebnisse decken sich weitgehend mit denen Petra Peckls. Neurasthenie wurde allerdings nicht so häufig diagnostiziert wie in der Freiburger Stichprobe. Trotzdem liegt die Zahl immer noch höher als zu erwarten war, da Neurasthenie, wenn man der Forschungsliteratur der Zeit folgt, vor allem als Offizierskrankheit galt. Bei den „klassischen Geisteskrankheiten“, als Beispiel sei hier die Epilepsie angeführt, lässt sich als erste Tendenz erkennen, dass diese Patienten in der Regel als arbeitsverwendungsfähig in die Heimat entlassen wurden und eine Erwerbsbeschränkung in unterschiedlicher Höhe zugesprochen bekamen. Des Weiteren ist anzunehmen, dass der Großteil der Soldaten nicht aus dem militärischen Dienstverhältnis entlassen wurde, sondern weiterhin für die arbeitsund/ oder militärdienstliche Verwendung zur Verfügung stehen musste. Dies legen die Aufsätze von Karl Wilmanns und R. A. E. Hoffmann nahe. Darüber hinaus fällt die Gewährung einer Rente bzw. einer Dienstbeschädigung ebenfalls gering aus. Dies wird in erster Linie der Funktion des Beobachtungslazaretts geschuldet sein. 46 H APUH , ehemaliger Pionier Albert D., Nr. 3231. 47 W ILMANNS , Wiederertüchtigung, 138. Christoph Bartz-Hisgen 160 Die behandelnden Ärzte sprachen nur bei der Entlassung des Patienten eine Rentenempfehlung aus. Aber auch hier gibt Hoffmann einen entscheidenden Hinweis: Durch die Nichtentlassung aus dem Militär war eine Verschleppung der Rentenanerkennung durch den Staat möglich. 48 So zeigen die Heidelberger Ergebnisse jedoch vorläufig, dass die Funktion eines Beobachtungslazaretts Auswirkungen auf das diagnostische Spektrum hat und dass sich in dieser Hinsicht ein Lazarett an einer universitären Einrichtung von den ländlicheren, außeruniversitären Lazaretten unterschied. Paul Lerner fasst das Ziel des badischen Systems sehr treffend zusammen: „The therapeutic principle behind the Baden system was that the patients were (medically) well served by spending their time productively engaged in useful work.“ 49 Alle Beispiele zeigen aber vor allem einen kriegswirtschaftlich-militärisch fokussierten Blick der Heidelberger Ärzte bei der Festlegung bzw. bei dem Vorschlag zur weiteren Verwendung des Soldaten. So blieben alle vorgestellten Fälle Teil des militärischen Apparats. Keiner von ihnen wurde aus dem Militärdienst entlassen. Sie durften zwar z.T. ihren bürgerlichen Berufen nachgehen, sollten aber für das Militär abrufbar bleiben, ob für einen eventuell erneuten Fronteinsatz oder die Rüstungsindustrie muss offen bleiben. Quellen und Literatur Quellen Historisches Archiv der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg (HAPUH), Kanonier Karl D., Nr. 2573, Landsturm Ernst D., Nr. 2640, Musketier Friedrich D., Nr. 3277, ehemaliger Pionier Albert D., Nr. 3231, Landsturm Hermann von O., Nr. 4095, Rentenempfänger Johann O., Nr. 4128, Kanonier Gustav D., Nr. 4306, Kanonier Wilhelm D., Nr. 4455. H OFFMANN , R. A. E.: Über die Behandlung der Kriegshysterie in den badischen Nervenlazaretten, in: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 55 (1920), 114-147. B AYERISCHES H AUPTSTAATSARCHIV M ÜNCHEN , Abt. IV, Stv. GenKdo. I. AK SanA 176, Krankenbehandlung, Nr. 8108 M. Kriegsministerium. Medizinal- Abteilung. 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Die kriegswirtschaftliche Bedeutung soldatischer Psychiatriepatienten 161 W ILMANNS , K ARL : Die badischen Lazarette während des Krieges, in: Veröffentlichungen auf dem Gebiete des Heeres-Sanitätswesens, (1932) Heft 88, 5-41. -: Die Wiederertüchtigung der an funktionellen Neurosen leidenden Kriegsbeschädigten, in: Die Kriegsbeschädigtenfürsorge 2 (1917), 129-150. -: Der Ausbau der badischen Lazarette während der Kriegsjahre 1916 und 1917, in: Bericht über die Sitzung des Badischen Landesauschusses der Kriegsbeschädigtenfürsorge am Freitag, 26. Oktober 1917, 32-47. Literatur B EDDIES , T HOMAS / D ÖRRIES , A NDREA : Die Patienten der Wittenauer Heilstätten in Berlin 1919-1960, Husum 1999. D INGES , M ARTIN / W ISCHNATH , M ICHAEL : Empfehlungen für die Bewertung und Erschließung von Krankenakten, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 21 (1998), 49-59. D REETZ , D IETER : Methoden der Ersatzgewinnung für das deutsche Heer 1914 bis 1918, in: Militärgeschichte 16 (1977), 700-707. 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Im Zuge der Reformulierung wurde auch die Textstelle „Am Aspekt der Arbeit in der Psychiatrie lassen sich exemplarisch die Zusammenhänge ...“ neu formuliert, da hier ein Beleg nicht eindeutig gesetzt war. Abstract Against the background of socio-political change and the challenges of the First World War, the preservation of labour power was considered a good to be protected by the constitution of the German Reich (August 11, 1919, art. 34). These attributions are reflected in reform-oriented psychiatric care concepts such as “family care”, “open care” or “work therapy”. 1 This article analyses the framework conditions and significance of occupational therapy in psychiatric care using the example of the facilities in Günzburg and Kaufbeuren at the time. The study focuses on the motivation, design and classification of occupational therapy measures before, during and after the First World War. The following study is based on the evaluation of literature and patient and administrative files of Bavarian-Swabian sanatoria and nursing homes as well as on annual reports of the institutions from the years 1910 to 1925. In view of the economic and social conditions of the Great War, occupational therapy measures took on a new quality. It becomes clear that psychiatric care in the study area was largely oriented towards socio-political and economic interests in its therapeutic actions. It also shows that often the work performed by patients ensured the supply of psychiatric institutions during the period of shortage and beyond, and that the actual therapeutic benefit was regarded as rather secondary. The sources paint a picture of a psychiatric care landscape in which the boundary between therapeutically useful work therapy and economic exploitation of mentally ill patients was fluid. 1 A NKELE , Ausdrucksbewegungen. Felicitas Söhner 164 Zusammenfassung Vor dem Hintergrund gesellschaftspolitischen Wandels und den Herausforderungen des Ersten Weltkrieges galt der Erhalt der Arbeitskraft als ein von der Verfassung zu schützendes Gut (Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919, Art. 34). Diese Zuschreibungen spiegeln sich wider in reformorientierten psychiatrischen Versorgungskonzepten wie der „Familienpflege“, der „offenen Fürsorge“ oder der „Arbeitstherapie“. 2 Vorliegender Beitrag analysiert Rahmenbedingungen und Stellenwert der Arbeitstherapie in der psychiatrischen Versorgung am Beispiel der seinerzeitigen Einrichtungen in Günzburg und Kaufbeuren. Das Untersuchungsinteresse richtet sich auf die Motivation, Gestaltung und Einordnung arbeitstherapeutischer Maßnahmen vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg. Die folgende Untersuchung basiert auf der Auswertung von Literatur und von Patienten- und Verwaltungsakten bayerisch-schwäbischer Heil- und Pflegeanstalten sowie auf Jahresberichten der Einrichtungen aus den Jahren 1910 bis 1925. In Anbetracht der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse des Großen Krieges erhielten arbeitstherapeutische Maßnahmen eine neue Qualität. Es wird deutlich, dass sich die psychiatrische Versorgung im Untersuchungsraum in ihrem therapeutischen Handeln weitgehend an gesellschaftspolitischen und ökonomischen Interessen orientierte. Auch zeigt sich, dass oft die geleistete Arbeit von Patienten die Versorgung der psychiatrischen Einrichtungen während der Zeit des Mangels und darüber hinaus gewährleistete und der tatsächliche therapeutische Nutzen als eher nachrangig betrachtet wurde. Die Quellen zeichnen das Bild einer psychiatrischen Versorgungslandschaft, in der die Grenze zwischen therapeutisch sinnvoller Arbeitstherapie und wirtschaftlicher Ausnutzung psychisch Erkrankter fließend war. 1. Arbeit und Institution Psychiatrie Arbeit (im psychiatrischen Kontext) spielt in vielerlei Hinsicht für das Verständnis von Psychiatrie und deren Geschichte eine zentrale Rolle. Neben Musik ist Arbeit wahrscheinlich die älteste Therapieform in der psychiatrischen Versorgung. Die Geschichte der Arbeitstherapie ist durchzogen von Phasen großer Wertschätzung und Phasen von Desinteresse oder Ablehnung. 3 Am Aspekt der Arbeit in der Psychiatrie lassen sich exemplarisch die Zusammenhänge ökonomischer und sozialpolitischer Gegebenheiten, therapeutischem Vorgehen und kultureller Deutungsmuster erkennen und herausarbeiten. 4 2 Ebd. 3 R EKER , Arbeitsrehabilitation, 5f. 4 A NKELE , CfP H-Soz-Kult. Arbeit in der Psychiatrie im Ersten Weltkrieg - zwischen Therapie und Ökonomie 165 Bereits in den ersten, häufig ländlich gelegenen psychiatrischen Einrichtungen wurden Patientinnen und Patienten im landwirtschaftlichen, handwerklichen oder hauswirtschaftlichen Bereich beschäftigt. 5 Als therapeutische Maßnahme ist Arbeit seit dem Ende des 19. Jahrhunderts diskutiert und praktiziert worden. Dabei war neben dem Gedanken der Heilung auch die Notwendigkeit handlungsweisend, Pflegeaufwand zu reduzieren und Patienten ergänzend zum Modell „Anstalt“ unterzubringen. 6 Ab dem beginnenden 20. Jahrhundert näherten sich Fachzeitschriften der Arbeit als Behandlungsform unter unterschiedlichen Bezeichnungen wie „Arbeitstherapie“, „Beschäftigungsbehandlung“, „aktivere Krankenbehandlung“. Gleichzeitig zeigte sich an den wissenschaftlichen Debatten wie die Arbeitstherapie gegenüber Behandlungsmethoden wie Bäder- oder Bettenbehandlung um Bedeutung konkurrierte. 7 Zum ausgehenden 19. Jahrhundert wurden psychisch Kranke zumeist aus ihrem sozialen Umfeld herausgenommen und in häufig abgelegenen psychiatrischen Einrichtungen untergebracht, was Teil der therapeutischen Vorstellung einer Kur war. Dies bedeutete für die Menschen nicht nur Veränderungen im sozialen Bezugssystem und der Wohnsituation, sondern auch in der Arbeitssituation. Oft fanden sich Patienten in Beschäftigungen wieder, die ungewohnt waren und vorwiegend im Interesse der Institution „Psychiatrie“ lagen. 8 Die sozioökonomischen Umbrüche jener Phase der Industrialisierung bedeuteten gesellschaftliche Veränderungen, veränderte Lebensformen und einen Wandel von Lebens- und Arbeitsrhythmen. Durch die Modernisierung, neue Technologien, Urbanisierung und Industrialisierung veränderten sich Alltags- und Arbeitswelt rasch. 9 Den damit zusammenhängenden Diskurs spiegelte der publizistische Bestseller von Karl Bücher „Arbeit und Rhythmus“, der allein zwischen 1896 und 1924 in sechs Neuauflagen erschien. 10 Die psychiatrische Fachwelt näherte sich dem Wandel der sozialen und politischen Verhältnisse über den Begriff der „Arbeit“ und dessen Bedeutungswandel 11 als Konstituens des Menschen, als wirtschaftlicher Faktor und/ oder als Heilmittel. 12 Im Anstaltsalltag waren die Verflechtungen jener Rollen offenkundig und von Leitung und Personal, sowohl intern, wie extern kommuniziert. Auch in der Wahrnehmung, Gedankenwelt und im Handeln der Patientinnen und Patienten 5 Ebd. 6 B EDDIES , Aktivere Krankenbehandlung, 283. 7 A NKELE / B RINKSCHULTE , Arbeitsrhythmus und Anstaltsalltag, 10. 8 B EDDIES , Aktivere Krankenbehandlung, 268f. 9 A NKELE , Alltag und Aneignung, 115. 10 B AXMANN / G ÖSCHEL / G RUSS / L AUF , Arbeit und Rhythmus, 16. 11 S CHOTT / T ÖLLE , Geschichte der Psychiatrie, 435. 12 A NKELE / B RINKSCHULTE , Arbeitsrhythmus und Anstaltsalltag, 182. Felicitas Söhner 166 lässt sich deren Reflexion der Rolle der zu Behandelnden erkennen. 13 Als therapeutisches Konzept nahm die Arbeitstherapie einen einflussreichen Platz im Angebot psychiatrischer Behandlung ein. 14 Motivierend waren insbesondere therapeutische und ökonomische Interessen. Dabei lässt sich nicht jede Patientenarbeit als Arbeitstherapie einordnen. Häufig war die Einführung von Arbeitsmaßnahmen unterschiedlich motiviert: aus der Not der Belegungssituation heraus (Familienpflege), aus therapeutischer Überzeugung, zur Disziplinierung oder aus ökonomischen Gewinninteressen. 15 In der Schweiz nahm insbesondere Eugen Bleuler positiv Bezug auf die Bestrebungen, Patientenarbeit in der eidgenössischen Psychiatrie vermehrt zu etablieren. In seinem Buch „Dementia praecox oder die Gruppe der Schizophrenien“ (1911) und seinem „Lehrbuch der Psychiatrie“ (1916), das in der Schweiz für Jahrzehnte die maßgebliche Referenz blieb, 16 führte er dies aus. Bleuler nannte als Therapieziel neben einer temporären „Nacherziehung“ die „Herstellung des Kontakts mit der Realität“. 17 Georg Christian Schwarz fasste 1903 Argumente und Stellungnahmen führender Psychiater seiner Zeit zusammen. Dessen Band zeigt, dass Vertreter der Fachwelt um die Jahrhundertwende über den therapeutischen und prophylaktischen Nutzen der Arbeitstherapie weitgehend Einigkeit zeigten. 18 Akteure der Psychiatrie gingen davon aus, dass sich die Tätigkeit des Kranken positiv auf dessen Motorik, die Aufmerksamkeit und das Selbstwertgefühl auswirke. 19 Darüber hinaus wurde in erster Linie der soziale wie kommunikative und weniger der wirtschaftliche Sinn von Patientenarbeit betont. 20 Der Fokus der hier vorgestellten Untersuchung konzentriert sich auf die Zeitspanne zwischen 1914 und 1918. Die Analyse betrachtet Aspekte zur Arbeit in der Psychiatrie. Dabei ist zu unterscheiden zwischen Patientenarbeit innerhalb der psychiatrischen Institution (beispielsweise in agrikolen Kolonien oder anstaltsinternen Handwerken) und außerhalb der Einrichtung (wie Familienpflege oder andere Formen der Mitarbeit in extramuralen Werkstätten und Landwirtschaften). Der Beitrag blickt dazu exemplarisch auf Aspekte der Gestaltung von Patientenarbeit in der bayerisch-schwäbischen Psychiatrie. 13 Ebd., 9. 14 M ERGUET Psychiatrische Anstaltsorganisation, 88. 15 R EKER , Arbeitsrehabilitation, 4f. 16 G ERMANN , Arbeit, Ruhe und Ordnung, 290. 17 Ebd., 303, 391. 18 S CHWARZ , Über Nervenheilstätten; vgl. S CHOTT / T ÖLLE , Geschichte der Psychiatrie, 440. 19 T RAMER , Arbeitstherapie, 124f. 20 G ERMANN , Arbeit, Ruhe und Ordnung, 303. Arbeit in der Psychiatrie im Ersten Weltkrieg - zwischen Therapie und Ökonomie 167 2. Historische Entwicklungslinien Die Psychiatrie der Jahre 1890 bis 1910 war stark beeinflusst durch das Aufkommen neuer wirtschaftlicher und industrieller Modelle und einer zunehmenden Bedeutung der Werte „Effizienz“ und „Geschwindigkeit“. Damit verbundene Rationalisierung, Zentralisierung und Standardisierung machte sich auch in psychiatrischen Einrichtungen durch eine zunehmende Betonung der therapeutischen Geschwindigkeit und Effizienz bemerkbar. 21 Zugleich stand zu jener Zeit weniger das Wohl des Einzelnen sondern stärker das Wohl der Gemeinschaft im Vordergrund. Der Einzelne wurde nach dem Schaden oder Nutzen kategorisiert, den er in Bezug auf die Volksgemeinschaft einbrachte. 22 Schon vor Kriegsbeginn zielte die Versorgung von psychisch Kranken und Kriegsversehrten unter anderem auf die Wiederherstellung der Arbeitskraft. 23 Für die Psychiatrie bedeutete der Erste Weltkrieg insofern eine Zäsur, als die scheinbaren therapeutischen Erfolge in der Behandlung von „Kriegsneurotikern“ förmlich eine Aufbruchsstimmung erzeugten 24 und damit auch Selbstverständnis und Selbstbewusstsein der deutschen Psychiatrie stärkten. 25 Daneben bedeutete der Ausbruch des Krieges für die Psychiatrie einen starken, wenn auch kurzfristigen Zuwachs gesellschaftspolitischer Relevanz. 26 Psychiater entschieden als Gutachter über die Anerkennung von Kriegstraumata und fortbestehender kriegsbedingter Leiden. 27 Mit Beginn des Ersten Weltkriegs veränderten sich die Bedingungen zur Versorgung in den psychiatrischen Anstalten. Auch in Bayerisch-Schwaben machte sich dies bemerkbar. Bei der Lebensmittelversorgung der Bevölkerung traten mit fortdauerndem Kriegsverlauf zunehmend Engpässe auf. 28 Die militärische Mobilmachung ab August 1914 bedingte dramatische Personalengpässe in den Einrichtungen. Müller und andere beschreiben für die württembergische Anstalt Zwiefalten innerhalb weniger Tage das Fehlen von „3/ 4 aller Wärter [...] wodurch der Dienst besonders auf den Abteilungen für unruhige Kranke im höchsten Grad er- 21 L ERNER , Hysterical Men, 125f. 22 A NKELE , Alltag und Aneignung, 113. 23 Anonym, Aus der praktischen Arbeit, 139-146, hier 139, zit. nach O STEN , Die Modellanstalt, 88. 24 S CHMUHL / R OELCKE , Heroische Therapien, 18. 25 Ebd., 19: „Selbstbewusster als zuvor forderten sie jetzt [...] für sich eine gesamtgesellschaftliche Deutungsmacht und die Rolle eines ‚Führers‘ und ‚Generaloberstsachverständigen für alle Lebensformen und Lebensgestaltungen des Einzelnen und der Gesellschaft‘ ein.“ 26 H ALLING , Arbeits- und Erwerbsfähigkeit, III. 27 S EIDEL , Von der Nervosität, 52. 28 G RAF / K NAUER / O RTH , Leben in der Anstalt, 94. Felicitas Söhner 168 schwert wurde“. 29 Auch der Jahresbericht für 1915 aus Kaufbeuren erwähnt eine „kriegsbedingte Leutenot“. 30 Gehörten um 1900 die Bettbehandlung und das Dauerbad zu den zentralen Behandlungsmethoden in psychiatrischen Einrichtungen, 31 wurden in den Jahren des Krieges Behandlungsformen zunehmend populärer, die den Patienten zur Arbeit aufforderten. Im Südwesten Deutschlands wurden um 1915 in der Beschäftigungstherapie „Kriegsneurotiker“ in land- und forstwirtschaftlicher Arbeit eingesetzt - neben dem ökonomischen Nutzen und den Autarkisierungsbestrebungen der Anstalten - dies auch in der Hoffnung, diese Tätigkeiten würden den Symptomen entgegenwirken und die Rekonvaleszenz und damit Wiedererlangung der militärischen Tauglichkeit auf natürlichem Weg erreichen. 32 Die psychiatrische Versorgung diente in den Jahren des Ersten Weltkriegs zwar den Bedürfnissen der Wiederherstellung von Arbeitskräften für Kriegsindustrie und Militär, doch regten sich in der fachlichen Diskussion auch Widerstände gegen Rationalisierung und richtete die psychiatrische Aufmerksamkeit auf Persönlichkeit und Verhalten des Patienten. 33 Im Verlauf des Krieges verschärfte die zunehmende Zahl an Gefallenen den Personalmangel der Krankenhäuser. Die Planung der Industrie und die anfängliche Erwartung einer kurzen Kriegsdauer erhöhten zudem den zivilen Arbeitskräftebedarf. Vor dem Hintergrund einer auf maximale Produktivität ausgerichteten Kriegswirtschaft sollte auch die Arbeitskraft psychisch Erkrankter und Kriegsversehrter zunehmend „nutzbar gemacht werden.“ 34 Nach einem Rundschreiben des Sanitätsamtes Kempten konnten Heeresangehörige in der Kaufbeurer Anstalt aufgenommen werden und sofern es sich um „harmlose, willige Kranke“ handle und sie in Land-, Forstwirtschaft oder ihren erlernten Berufen eingesetzt werden konnten. 35 Die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit bzw. die Herstellung der Kriegsdiensttauglichkeit 36 wurden wesentlicher Aspekt eines Therapiekonzeptes, das den Betroffenen „zur vollen Ausnützung ihrer meist psychisch gehemmten Arbeitskraft“ verhelfen sollte. 37 Damit zielte die psychiatrische Therapie weniger auf eine nachhaltige Rehabilitation der Patienten, sondern vielmehr auf eine kurzfristige Restauration der Einsatzfähigkeit im Dienste der militärischen Strategie. 38 Vor 29 M ÜLLER , Patientenarbeit, 64. 30 HistA BKH KF, BKH-A III/ 50; Aufzeichnungen Erich Resch 2015 zu Kaufbeuren 1915. 31 A NKELE , Begrenzter Raum, 21. 32 L ERNER , Hysterical Men, 57. 33 Ebd., 126. 34 BayHStA, Erlass des Bayer. Kriegsministeriums am 14. Mai 1917, Erlass des Preuß. Kriegsministeriums am 18. April 1917, zit. nach N EUNER , Politik und Psychiatrie, 60f. 35 HistA BKH KF, Auszug Erich Resch aus der Akte „Lazarettwesen“ III/ 46a. 36 H ALLING , Arbeits- und Erwerbsfähigkeit, III. 37 BayHStA, Erlass des Bay. Kriegsministeriums am 14. Mai 1917, Erlass des Preuß. Kriegsministeriums am 18. April 1917 zit. nach N EUNER , Politik und Psychiatrie, 60f. 38 Ebd. Arbeit in der Psychiatrie im Ersten Weltkrieg - zwischen Therapie und Ökonomie 169 dem Hintergrund der schwierigen ökonomischen Lage versprach der Einsatz der Arbeitstherapie Einsparungen im Gesundheitswesen. 39 Auch in den Jahren der Nachkriegszeit stand der Gedanke der Rehabilitation der Arbeitskraft als „höchstes Gut der Nation“ 40 im Fokus medizinischer Therapie und wurde in der Weimarer Reichsverfassung unter besonderen Schutz gestellt. Dort wurde es als „sittliche Pflicht“ jedes Bürgers formuliert, die „geistigen und körperlichen Kräfte so zu betätigen, wie es das Wohl der Gesamtheit erfordert.“ 41 Dieser Passus drückt klar aus, dass die Arbeitsfähigkeit des Einzelnen als Grundlage der Produktivität der Gesamtgesellschaft gesehen wurde. 42 Eine vermeintlich „arbeitsscheue“ Haltung des Patienten wurde zunehmend mit „Asozialität“ in Verbindung gebracht. 43 Die Prämisse der Gleichsetzung von Arbeitsfähigkeit mit der Wertschätzung einer Person hatte verheerende Auswirkungen für diejenigen Patienten, die nicht arbeiteten. Als durch Blockaden und Verteilungsschwierigkeiten die deutsche Bevölkerung an Hunger litt, richtete sich der Nahrungsmangel insbesondere auf die schwächsten und vermeintlich am wenigsten „nutzbringendsten“ Mitglieder der Gesellschaft. 44 3. Bayerisch-schwäbische Psychiatrie im Vorfeld des Ersten Weltkrieges Bereits 1876 wurden in Kaufbeuren 150 Kranke mit psychiatrischer Diagnose aufgenommen. Da in der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee trotz Gebäudeerweiterung bereits im Jahr 1890 der Raum knapp war, wurde bald der Gedanke einer weiteren psychiatrischen Einrichtung in Schwaben diskutiert. Der Beschluss zum Bau der Heil- und Pflegeanstalt in Günzburg als zweite psychiatrische Versorgungsanstalt in Bayerisch-Schwaben erfolgte 1908. Der Bau des Schwesternhauses reichte bis in die Jahre des Ersten Weltkrieges. 1915 wurde die Einrichtung eröffnet. Die ersten Patienten, die ab September 1915 in Günzburg aufgenommen wurden, stammten aus dem näheren Umkreis. Es wurde bei der 39 R OTZOLL , Rhythmus des Lebens, 191. 40 N EUNER , Politik und Psychiatrie, 60f., Anm. 186. 41 Ebd., 60f. Vgl. Weimarer Reichsverfassung: „§ 163: (1) Jeder Deutsche hat unbeschadet seiner persönlichen Freiheit die sittliche Pflicht, seine geistigen und körperlichen Kräfte so zu betätigen, wie es das Wohl der Gesamtheit erfordert. (2) Jedem Deutschen soll die Möglichkeit gegeben werden, durch wirtschaftliche Arbeit seinen Unterhalt zu erwerben. Soweit ihm angemessene Arbeitsgelegenheit nicht nachgewiesen werden kann, wird für seinen notwendigen Unterhalt gesorgt. Das Nähere wird durch besondere Reichsgesetze bestimmt.“ 42 N EUNER , Politik und Psychiatrie, 77. 43 Ebd., 294. 44 L ERNER , Hysterical Men, 129. Felicitas Söhner 170 Erstbelegung darauf Wert gelegt, dass es sich um arbeitsfähige Personen handelte, deren Tatkraft sich für den Aufbau des Gutshof, der Gärtnerei, Bäckerei, Metzgerei, der Werkstätten und damit dem Betrieb der Heil- und Pflegeanstalt einsetzen ließ. 45 Das Ausstattungsmaterial und Mobiliar des Erstbezugs der Häuser stammte aus den Werkstätten der Kaufbeurer Psychiatrie. Anhand von Jahresberichten und Korrespondenzen lassen sich die Entwicklungen der psychiatrischen Versorgungseinrichtungen und die mit Arbeit verbundenen Aspekte, wie Arbeitszeit, -bedingungen oder -entlohnung nachzeichnen. In den Heil- und Pflegeanstalten waren insgesamt sehr unterschiedliche Gruppen von Patienten untergebracht, für die auch sehr verschiedene Bedingungen galten. 46 4. Arbeit im Anstaltsalltag Die Legitimation von Patientenarbeit zeigte bereits im 19. Jahrhundert durchaus therapeutischen Anspruch, obgleich der Gedanke der Kostensenkung ebenfalls eine Rolle spielte. Albrecht Paetz bemerkte positive Einflüsse auf die Kranken „durch den Zauber und Reiz, welchen der Feldbau durch den natürlichen Instinkt einflößt, der den Menschen antreibt, die Erde fruchtbar zu machen“ 47 und äußerte, dass Patienten ohne Arbeit „verblödeten“. Gleichzeitig distanzierte Paetz sich von ökonomischem Kalkül und betonte, dass der Patient „nicht der Arbeit wegen, sondern diese für ihn da“ 48 sei. Dieses Argument griff Hans Roemer 1927 auf, der bemerkte: „Die Beschäftigungsbehandlung [...] darf niemals zum Selbstzweck entarten; sie soll immer Mittel zum Zweck der möglichst frühzeitigen Zurückführung in das Familien- und Erwerbsleben, am besten unter dem Schutz der offenen Fürsorge, bleiben; denn die Anstalt ist für die Kranken und nicht der Kranke für die Anstalt da“. 49 Roemer betonte, dass die Kranken, die in der Hauswirtschaft, den Handwerksbetrieben und landwirtschaftlichen Kolonien arbeiten würden, niemals unersetzlich sein dürften. Für die Psychiater des frühen 20. Jahrhunderts bedeuteten Arbeitsverhalten und -gewohnheiten des Patienten in mehrerlei Hinsicht Hinweis auf dessen Verfassung. So konnten in auffälligen Veränderungen im Arbeitsverhalten Frühzeichen einer psychischen Erkrankung wahrgenommen werden. 50 Arbeit kam im psychiatrischen Alltag nicht nur ein diagnostischer Wert zu. Patientenarbeit wurde auch als therapeutisches Hilfsmittel eingesetzt - der seinerzeitige Direktor der bayerischen Anstalt Gabersee, Karl Otto Dees, bezeichnete 45 S ÖHNER , 100 Jahre, 52. 46 S CHMIEDEBACH / A NKELE , Die Irrenanstalt Langenhorn, 259. 47 P AETZ , Die Beschäftigung der Geisteskranken. 48 S AMMET , Neutralisierung ‚sozialer‘ Folgen, 40. 49 R OEMER , Die offene Geisteskrankenfürsorge, 351f. 50 A NKELE , Alltag und Aneignung, 113. Arbeit in der Psychiatrie im Ersten Weltkrieg - zwischen Therapie und Ökonomie 171 Arbeit als „Erziehungsmittel“. 51 Die Beschäftigung sollte Geist und Körper des Kranken ermüden, von Krankheit und Wahn ablenken und dem Patienten eine sinnvolle Beschäftigung geben. 52 Im Jahrbuch 1901/ 02 der südwestdeutschen Anstalt Emmendingen wurde festgehalten, dass „Arbeit hier in der Anstalt nur ein Heilmittel und unter den Heilmitteln das beste ist.“ Dies solle man „den Kranken, wie dem Pflegepersonal unablässig ein[prägen].“ 53 Dabei sollte darauf geachtet werden, dass es sich stets um nützliche Arbeit und nicht um bloße Beschäftigungstherapien handele. Die Einsicht auf die Bedeutung der Arbeitsleistung für das gemeinschaftliche Gefüge müsse den Patienten bewusst gemacht werden: „Die Kranken müssen sehen und erkennen, was von ihnen geleistet wird, sie müssen begreifen, daß ihre Arbeit Kaufbeuren Patientenzahl Arbeitende Patienten 1910 652 1911 672 1912 698 250 - 260 1913 698 260 1921 220 Günzburg Patientenzahl Arbeitende Patienten 1915 108 1916 327 40% ♂ 37% ♀ 1917 258 1919 269 50% ♂ 40% ♀ 1922 300 eine Notwendigkeit ist und einem nützlichen Zwecke dient.“ 54 Diese Erkenntnis würde sich wiederum positiv auf ihren Gesundheitszustand auswirken. 55 Ungeachtet des therapeutischen Nutzens der Arbeit bestand auch die ökonomische Notwendigkeit, die Arbeitskraft der Bewohner einzusetzen, insbesondere in den landwirtschaftlichen Gutshöfen der Anstalten. 56 Die durch Patienten er- 51 Karl O. Dees, zit. nach A NKELE , Alltag und Aneignung, 116. 52 A NKELE / B RINKSCHULTE , Arbeitsrhythmus und Anstaltsalltag, 10. 53 Karl Haardt, zit. in: Jahresbericht Emmendingen 1901/ 02 12f., zit. nach A NKELE , Alltag und Aneignung, 118. 54 Ebd. 55 A NKELE , Alltag und Aneignung, 118. 56 N EUNER , Politik und Psychiatrie, 295. Felicitas Söhner 172 brachten Leistungen beispielsweise im Bereich der Nahrungsmittelherstellung oder Produktion von Gebrauchsgütern sollten von staatlicher Unterstützung unabhängiger machen und eine selbständige Versorgung ermöglichen. 57 Hin und wieder gelang sogar die Produktion von Überschüssen, so dass landwirtschaftlich produzierte Güter verkauft werden konnten. Dies wird auch durch einen Eintrag in einem Günzburger Jahresbericht bestätigt: „stellten [...] die Kranken eine nennenswerte Arbeitskraft für Garten und Gutshofbetrieb dar, die besonders bei dem Mangel an Arbeitskräften im allgemeinen nicht zu unterschätzen ist.“ 58 Nicht zuletzt wurde Arbeit in der Anstalt vom ärztlichen und pflegerischen Personal auch zur Disziplinierung eingesetzt. In diesem Zusammenhang spielten Belohnung und Bestrafung eine wesentliche Rolle. 59 Der Alltag in der Anstalt als „totale Institution“ 60 entfernte den Kranken aus seinen bisherigen Lebenszusammenhängen und -abläufen. Dabei konnte Arbeit als Mittel der Vergemeinschaftung in dem institutionalisierten Alltag Struktur geben und damit dem Patienten die Möglichkeit sozialer Identifizierung wie auch Vorbereitung auf eine Wiedereingliederung nach der Entlassung. 61 Nach Roemer bestand die ärztliche Kunst unter anderem darin, „beschäftigungsunlustige Kranke [...] an die Beschäftigung heranzubringen, um sie so sozial zu machen und nach Möglichkeit bis zur Entlassungsfähigkeit zu fördern.“ 62 Je größer die psychiatrische Einrichtung war, umso breiter und vielfältiger war das Arbeitsangebot, das den Bewohnern zur Verfügung stand. Die Zuordnung der Beschäftigungsbereiche orientierte sich neben bisheriger Tätigkeit auch an der bürgerlichen Geschlechterorientierung. Rotzoll und andere zeigen, dass in der Hauswirtschaft und den Schälküchen die Patienten geschlechtergleich beschäftigt waren. Die Bereiche Außenarbeiten und Handwerken lagen eindeutig in der Zuständigkeit der männlichen, die Wäscherei und Nähstube größtenteils in der der weiblichen Patienten. 63 Im Günzburger Jahresbericht zu 1915/ 16 war vermerkt: „Für die weiblichen Kranken ergibt sich reichlich Gelegenheit in der Kochküche, in der Gemüseküche, Waschküche, Bügelsaal, Nähsaal, sodann auch im Garten und in der Landwirtschaft.“ 64 Daneben hatte auch die Zugehörigkeit zu sozialen Klassen Auswirkungen auf die Patientenarbeit. Ankele stellt fest, dass es durchweg schwierig war Bewohner der oberen Klassen für die Arbeitstherapie zu gewinnen. 65 Frauen aus bürgerlichen Kreisen wurden in der Regel Handarbeiten als Beschäftigung angeboten. 57 A NKELE / B RINKSCHULTE , Arbeitsrhythmus und Anstaltsalltag, 10. 58 HistA BKH GZ, Jahresbericht der Heil- und Pflegeanstalt Günzburg 1915/ 16, 26. 59 A NKELE , Alltag und Aneignung, 116. 60 G OFFMAN , Asyle, 13-123. 61 A NKELE , Alltag und Aneignung, 116. 62 R OEMER , Die offene Geisteskrankenfürsorge, 382. 63 R OTZOLL / F UCHS / H INZ -W ESSELS / H OHENDORF , Frauenbild und Frauenschicksal, 45-52. 64 HistA BKH GZ, Jahresbericht der Heil- und Pflegeanstalt Günzburg 1915/ 16, 27. 65 A NKELE , Alltag und Aneignung, 126. Arbeit in der Psychiatrie im Ersten Weltkrieg - zwischen Therapie und Ökonomie 173 Beschäftigungsgrad in Prozent in Kaufbeuren und Günzburg im Vergleich zum Burghölzli und der Rheinau. 66 In den betrachteten Anstalten Kaufbeuren und Günzburg wurden alle Patienten, die nicht bettlägerig waren und arbeiten konnten, zu Arbeiten herangezogen. Der Günzburger Direktor Wilhelm Damköhler bemerkte hierzu im Jahresbericht zu 1918: „Besonderen Wert wird auf die Beschäftigung der Kranken gelegt, wofür reichliche Gelegenheit in der Landwirtschaft, Gärtnerei, den grossen Zieranlagen, Werkstätten, in Holzstadel, Kohlenkeller, Küche, Wäscherei, Nähzimmer vorhanden ist. 40 - 50% der Kranken sind beschäftigt.“ 67 Weiter waren die Patienten als Schweizer, 68 Sattler, Tischler, Korbmacher, Heizer oder Dienstbote tätig, Patientinnen fanden Arbeit als Näherin, Dienstmagd, Küchenhilfe oder auf dem Feld. In den Kaufbeurer Jahresberichten findet man in den Jahren vor Beginn des Ersten Weltkriegs Hinweise, dass stets reichlich Arbeit für Kranke bestand. Im Jahr 1912 wohnten und arbeiteten im bäuerlichen Gutshof ständig sechs Kranke mit einem Pfleger. In der Hauptanstalt Kaufbeuren waren durchschnittlich 130 bis 140 Patienten und 120 Patientinnen beschäftigt. In der Nebenanstalt Irsee gingen im selben Jahr 36 Männer und 44 Frauen einer Beschäftigung nach. 69 Auch im folgenden Jahr waren in Kaufbeuren 140 Patienten und 120 Patientinnen arbeitend tätig. In Irsee werden 36 Männer und 44 Frauen mit Anstaltsarbeiten beschäftigt. 70 Für das Jahr des Kriegsbeginns finden sich keine Angaben zur Krankenbeschäfti- 66 Daten CH: M EIER / B ERNET / D UBACH / G ERMANN , Zwang zur Ordnung, 205, Daten BY: S ÖH- NER , Familiäre psychiatrische Versorgung. 67 HistA BKH GZ, Jahresbericht der Heil- und Pflegeanstalt Günzburg 1918, 6. 68 Schweizer = alternative Berufsbezeichnung für Stallknecht, Melker. 69 Ebd., 1912. 70 Ebd., 1913. Felicitas Söhner 174 gung. 71 In den Jahrbüchern zu Günzburg wird festgehalten, dass 1915/ 16 37 Prozent der weiblichen und 40 Prozent der männlichen Bewohner ihre Arbeitskraft einbrachten. Zu 1919 findet man die Angabe, dass 40 Prozent der weiblichen und 50 Prozent der männlichen Patienten beschäftigt waren. 72 Ein breites Arbeitsspektrum der Kaufbeurer Werkstätten im Untersuchungszeitraum umfassten Arbeiten für die neue Schwesteranstalt, auch Arbeiten in Verbindung mit der Kriegswirtschaft gehen aus Hinweisen hervor. 73 Den Arbeitsbüchern der Tapeziererei und Sattlerei der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren zu den Jahren 1913 bis 1916 lässt sich entnehmen, dass für den Neubau in Günzburg zahlreiche Gebrauchswaren und Werkzeug hergestellt wurden. Das Arbeitsbuch, das handschriftlich vom Werkstattführer, Sattlermeister Ludwig Karl, geführt wurde, wurde während seiner Abwesenheit wegen Kriegseinsatzes von einem Patienten weitergeführt. 74 So liest man im Eintrag zum 28. Juli 1914: „Für Anstalt Günzburg 2 Teile fertig gemacht. Zwangsjacke für Sanitätskolonne, Riemenzeug angenäht, Für Kolonie eine Ochsenhalfter Repariert. Maschinenhaus einen Riemen gut repariert. Eßkasten neu mit Gobelin bespannt. 2 Sessel Bezug abgeschlagen, Polsterung ausgebessert neu bezogen und fertig gemacht bis zu den Borten.“ 75 Die Kaufbeurer Werkstätten produzierten für die neue Günzburger Einrichtung Möbel, Matratzenteile, Keilkissen, Bettenschoner, Wolldecken und Einrichtungsgegenstände. Der Abschlussbericht der Werkstatt zum 17. Februar 1916 resümiert: „Die Lieferung der Betten nach Günzburg abgeschlossen mit 902 Matratzenteilen das sind 300 Betten und 2 Teile, 302 Keilkissen, 300 Bettenschoner, 30 Strohsäcke, 10 unzerreißbare Segeltuchstoffjacken.“ 76 Auch der Jahresbericht zu 1915/ 16 vermerkt, dass für die Günzburger Psychiatrie neben Rosshaarmatratzen Bettwäsche, Tischwäsche und Arbeitskleidung gefertigt wurde: „121 Kopfkissenbezüge für 2. Klasse, 475 Kopfkissenbezüge für 3. Klasse, 57 Kopfkissenbezüge bunt [...] 150 Tischtücher, 3 Dutzend Servietten, 33 Herrenhemden, 30 Frauenhemden, 20 Feste Hemden, 7 Frauenkleider, 119 Pflegerschürzen, 70 Pflegerinnenschürzen, 54 Küchenschürzen, 20 Häubchen für Küchenmädchen, 161 Arbeitsschürzen, 23 Schürzen fürs Leichenhaus“. 77 Diese Schilderungen dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Folgen des Ersten Weltkrieges auch in Bayerisch-Schwaben zu spüren waren. Der Personalmangel machte sich sowohl in der Ärzteschaft, der Pflegerschaft, wie auch in den Werkstätten bemerkbar. Dies machen auch Abschnitte im Jahrbuch der Günzburger Anstalt deutlich: „Zum Heere eingezogen war von den zwei einzigen geübteren Pflegern mit längerer Erfahrung einer, sodann der Maschinenmeister und 71 Ebd., 1914. 72 HistA BKH GZ, Jahresberichte der Heil- und Pflegeanstalt Günzburg 1915/ 16 und 1919. 73 HistA BKH KF, Aufzeichnungen Erich Resch 2015 zu Kaufbeuren 1919. 74 HistA BKH KF, BKH-A IX/ 10. 75 HistA BKH KF, Auszug aus den Arbeitsbüchern 1913-1916 der Tapeziererei und Sattlerei der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren. 76 Ebd. 77 HistA BKH KF, Erich Resch 2015 Auszug aus Jahrbuch Kaufbeuren 1915/ 16. Arbeit in der Psychiatrie im Ersten Weltkrieg - zwischen Therapie und Ökonomie 175 Ökonomiebaumeister. [...] Ein geeigneter Vertreter [...] war nicht zu bekommen und es musste der sehr wichtige und verantwortungsvolle Posten [...] teils von einem Pflegling [...], einem kriegsbeschädigten Soldaten [...] versehen werden.“ 78 Der Günzburger Direktor Damköhler hielt zur schwierigen Personalsituation 1915/ 16 fest: „Beim Betriebe der Werkstätten erwies es sich als ungemein schwierig, fachgeübte Personen zu bekommen, die das betreffende Handwerk ausführen können. Schreiner, Schneider waren nicht zu bekommen, sodass teils Kriegsinvalide, teils Kranke ohne Fachaufsicht arbeiten mussten. Trotzdem wurde ordentlich gearbeitet und etwas geleistet. Die Schuhmacherei wurde von einem beurlaubten garnisondienstfähigen Soldaten versehen.“ 79 Im Kaufbeurer Jahrbuch zu 1915 findet man ebenfalls Hinweise zu kriegsbedingtem Arbeitskräftemangel, was den unabdingbaren Arbeitseinsatz von Patienten bedeutete. Der Abzug von 70 Kräften wirkte sich einschneidend auf die Personalsituation der psychiatrischen Einrichtungen aus. 80 Auf Anfrage teilte die Anstalt dem Regierungsreferenten mit, dass zur Aushilfe bei landwirtschaftlichen Arbeiten in Gemeinden 18 bis 20 arbeitsfähige Pfleglinge beiderlei Geschlechts zur Verfügung gestellt werden könnten, doch solle auf die nicht volle Belastbarkeit der Kranken Rücksicht genommen werden sowie auf deren krankheitsbedingten Besonderheiten. Auch dürfe bei scheinbar harmlosen Patienten die nötige Aufsicht nicht vernachlässigt werden. 81 Direktor Alfred Prinzing wies darauf hin, dass man mit den Familien, die Kranke als Arbeitskräfte aufnehmen wollten, einen Vertrag schließen müsste, in dem unentgeltliche Kost und Wohnung und die gewissenhafte Aufsichts- und Beschäftigungspflicht zu regeln. Dieses Schriftstück zeigt, dass neben der Familienpflege weitere extramurale Verpflegungsformen in der Psychiatrie Kaufbeuren existierten. Die Familienpflege gab es in Kaufbeuren schon mindestens seit 1881. 82 Die auf diese Weise versorgten Patienten wohnten in Familien, waren jedoch nicht aus der Anstalt entlassen. Das Arbeits- und Wohnverhältnis wurde von der Anstalt aus kontrolliert. Die Patienten erhielten in dieser Versorgungsform freie Kost und Logis sowie ein Taschengeld. Die Pflegefamilien übernahmen die Versorgungskosten sowie eine Aufwandsentschädigung für die Aufnahme eines Pfleglings. Die Nachfrage nach Familienpfleglingen kam in jenen Jahren vorwiegend von Bauernhöfen und orientierte sich vor allem an der Arbeitsfähigkeit der Kranken. Die zunehmende wirtschaftliche Verschlechterung während des Ersten Weltkrieges führte in Bayerisch-Schwaben, wie in anderen Regionen auch, dazu, dass die ge- 78 HistA BKH GZ, Jahresbericht der Heil- und Pflegeanstalt Günzburg 1915/ 16, 35. 79 Ebd., 28. 80 C RANACH / S IEMEN , Psychiatrie im Nationalsozialismus, 267. 81 HistA BKH KF, BKH-A III/ 50; BKH-A VI/ 30 (G.v.31.8.1914 [GVBl. 551] u. Vollz.Bek.v.10.8.1915 [GVBl. 613]); Aufzeichnungen Erich Resch 2015 zu Kaufbeuren 1915. 82 Vgl. S ÖHNER , Familiäre psychiatrische Versorgung. Felicitas Söhner 176 sellschaftliche Bereitschaft Familienpfleglinge aufzunehmen schwand, jedoch nicht vollständig zum Erliegen kam. 83 Nachdem zu Jahresbeginn 1916 eine neue Armengesetzgebung in Kraft getreten war, stand den Armenverbänden das Recht zu, Unterstützte zu Arbeitsleistung anzuhalten. Diese musste allerdings den Kräften des Hilfsbedürftigen angemessen sein. Hierzu wurde die Beschäftigung mit landwirtschaftlichen Arbeiten als besonders geeignet erachtet, da „kaum ein anderer Betrieb so viele Möglichkeiten der Verwendung menschlicher Arbeitskraft biete [...] und die Rücksichtnahme auf die Leistungsfähigkeit in dem Maße gestatte [...] wie die Landwirtschaft.“ 84 Sollte jedoch durch die Arbeitstherapie ein wirtschaftlicher Erfolg für die Anstalt zu verzeichnen sein, stehe dies durchaus im Einklang mit dem Armenrecht. Mit einer neuen Dienstanweisung wurden 1916 dem Pflegepersonal neue Richtlinien zur Beschäftigung der Kranken an die Hand gegeben. Nach dieser wurde Arbeit verstanden als „Heil- und Hilfsmittel zur Erhaltung noch vorhandener Geisteskräfte und Mittel zur Beruhigung und wohltätigen Ablenkung von krankhaften Gedanken und Trieben“. 85 Als Beschäftigungsfelder für die Patienten wurden die Werkstätten und die landwirtschaftliche Kolonie empfohlen. Unberechenbare bzw. fluchtgefährdete Patienten sollten eher im hauswirtschaftlichen Bereich eingesetzt werden. Gleichzeitig wurde das Pflegepersonal auf den therapeutischen Aspekt von Arbeit hingewiesen: So komme es nicht auf das Maß der erbrachten Arbeit an. Wichtig sei vielmehr die Beschäftigung an sich. Auf keinen Fall sei dem Kranken Arbeit wegzunehmen, weil sie vielleicht zu langsam oder nicht mustergültig erledigt würde. Gleichzeitig sollten die Pflegekräfte „nicht kommandieren, sondern die Arbeitskräfte ruhig verteilen, Unerfahrene anlernen, Gleichgültige aufmuntern und selbst in der Arbeit mit gutem Beispiel vorangehen.“ 86 Im Kaufbeurer Jahresbericht zu 1916 wurde dargestellt, dass kriegsbedingt geschulte Arbeitskräfte fehlten. Daher sei man sowohl in der Gärtnerei, als auch in der Bewirtschaftung des landwirtschaftlichen Guts mehr als in den sonstigen Jahren auf die Hilfe der Kranken angewiesen gewesen. Dennoch sei es gelungen, „wie auch in den zwei vorangegangenen Jahren die Ernte rechtzeitig hereinzubringen.“ 87 Der Jahresbericht Kaufbeurens zu 1917 bemerkte, dass der Schlosserei- und der Heizungsbetrieb aufgrund Personalmangels nur mit einem 65-jährigen Aushilfsmaschinisten, einem älteren Schlossergehilfen und einem Patienten als gelernten Heizer aufrechterhalten werden konnte. Es wurde festgehalten, dass auch die 83 HistA BKH GZ, Dennoch wurde bereits 1916 in der neueröffneten Heil- und Pflegeanstalt Günzburg der erste Patient in Familienpflege genommen (Jahresbericht der Heil- und Pflegeanstalt Günzburg zu 1915/ 16). Auch im Jahresbericht zu 1924 finden sich Hinweise, dass Günzburger Patienten in Familienpflege untergebracht wurden. (Jahresbericht der Heil- und Pflegeanstalt Günzburg zu 1924). 84 HistA BKH KF, Aufzeichnungen Erich Resch 2015 zu Kaufbeuren 1916. 85 Ebd. 86 Ebd. 87 Ebd. Arbeit in der Psychiatrie im Ersten Weltkrieg - zwischen Therapie und Ökonomie 177 Sattlerei bereits seit dem ersten Kriegsjahr wegen Militärdienstes ohne Werkführer auskommen musste und auch diese Stelle mit einem Patienten besetzt wurde. 88 Weiter wurde vermerkt, dass ein forensisch untergebrachter Patient, der sich meistens mit seiner Umgebung vertrage und ein „fleißiger und brauchbarer Arbeiter“ 89 sei, tagsüber bei verschiedenen Landwirten arbeitete, jedoch wegen Eigenbedarf in die Gärtnerei der Anstalt zurückgenommen wurde. 90 Die Mitarbeit des beaufsichtigenden Personals im handwerklichen, haus- und landwirtschaftlichen Bereich war mittlerweile obligatorisch. Die Hausordnung verwies ausdrücklich darauf hin, dass die „Verwendung von Kranken für Anstaltsbeamte“ zu privaten Zwecken ohne ausdrückliche Gestattung des Direktors untersagt sei. 91 In einem Schreiben an die Regierung äußerte der Direktor 1917 seine deutliche Befürwortung für den Kauf eines landwirtschaftlichen Guts aus medizinischen und wirtschaftlichen Gründen. Dieses biete eine vermehrte und ansprechende Arbeitsgelegenheit für einen Teil der 230 Kranken. Zudem könne die bislang ungenutzte Arbeitskraft zu deren und der Anstalt Besten nutzbringend eingesetzt werden. Direktor Prinzing unterstrich: „Die Feldarbeit als wertvoller therapeutischer Faktor in der Irrenbehandlung ist längst allgemein anerkannt. [...] Die in Irsee vorhandenen Arbeitsgelegenheiten (Gemüsegarten, Kohlentragen, Holzlege) reichen nicht aus, um alle zu beschäftigen. [...] Auch hat sich in Kriegszeiten deutlich herausgestellt, daß Anstalten, welche über hinreichenden Grundbesitz mit Ökonomie verfügen, über die Schwierigkeiten der Lebensmittelversorgung viel besser hinweg gekommen sind und weniger Kreiszuschuß beanspruchten.“ 92 Mit Hilfe des bäuerlichen Guts konnte der Versorgungsmangel an Lebensmitteln zumindest gemildert werden, trotzdem erreichten 1917 die Todesfälle aufgrund des allgemeinen Mangelzustandes in Kaufbeuren eine bislang ungekannte Höhe von 10,4 Prozent. 93 Erst Mitte 1919 stabilisierte sich die Ernährungssituation wieder. Auch in Günzburg zeigte sich, dass durch die Selbstversorgung über eigenes landwirtschaftliche Gut und Gärtnerei die prekäre Versorgungssituation bis zu einem gewissen Grad gemildert werden konnte: „Die Ernährungsfrage war ja immer bei der beherrschenden Knappheit der Nahrungsmittel schwierig und wird sich noch schwieriger gestalten. [...] Gemüse haben wir wohl reichlich, während die Kartoffelvorräte voraussichtlich knapp werden. [...] Fleisch war infolge unserer Anstaltsschlachtungen genügend vorhanden... Unsere Milchproduktion reichte nicht aus. [...] Wenn auch in vielen Fällen Gewichtsabnahmen der Kranken festgestellt wurden, so kamen irgendwie bedenkliche Zustände nicht vor.“ 94 88 Ebd., 1917. 89 HistA BKH KF, BKH-A PersA 3065. 90 HistA BKH KF, Aufzeichnungen Erich Resch 2015 zu Kaufbeuren 1917. 91 Ebd. 92 HistA BKH KF, BKH-A XII/ 4; Aufzeichnungen Erich Resch 2015 zu Kaufbeuren 1917. 93 C RANACH / S IEMEN , Psychiatrie im Nationalsozialismus, 267. 94 HistA BKH GZ, Jahresbericht der Heil- und Pflegeanstalt Günzburg 1915/ 16, 31. Felicitas Söhner 178 5. Arbeit, Lohn und Selbstwert Neben der Verbesserung der eigenen Versorgungssituation hatte die Arbeit auch für die Patienten mehr als nur rein wirtschaftliche Bedeutung. Der Einzelne war mehr in die ‚Anstaltsgemeinschaft‘ eingebunden und war ein notwendiger und nützlicher Teil der Institution. Dies wirkte sich sicherlich stärkend auf das soziale Selbstverständnis in der Gruppe aber auch disziplinierend aus. 95 Daneben bedeutete die Mitarbeit in der Gärtnerei, in Landwirtschaften und handwerklichen Betrieben außerhalb des Anstaltsgebäudes für die Patienten die Möglichkeit zu erweiterten sozialen Kontakten und bis zu einem gewissen Grad auch ihrer räumlichen Freizügigkeit. Durch Arbeit erhielten die Anstaltsbewohner eine gewisse Handlungsautonomie und Unabhängigkeit. Damit kommt der Patientenarbeit auch emanzipatorisches Potential zu. 96 Wie aus Ankeles Untersuchung hervorgeht, führten Patienten bei Entlassgesuchen als zentrales Argument den Verweis auf ihre Arbeitsfähigkeit an, welche sie in der Anstalt jeden Tag unter Beweis stellten. Jenem Begründungsmuster folgend rechtfertigte Arbeitswilligkeit und -fähigkeit auch den Anspruch auf Entlassung aus der Anstalt. 97 Mit der Einführung der Patientenarbeit stellte sich auch die Frage der Entlohnung. Nach August Hegar existierten seinerzeit in deutschen Anstalten zwei Formen der Entlohnung für Patienten: 98 Zum einen sogenannte „Kostzulagen“ (wie beispielsweise Zigarren, Tabak, Kleidung, Uhren, Instrumente) und zum anderen Geld, das die Bewohner mehr oder weniger kontrolliert ausgeben durften. Der Günzburger Jahresbericht zu 1915/ 16 erwähnt, dass „die regelmässigen tüchtigeren Arbeiter [...] neben Kostzulagen eine Geldentlohnung innerhalb der uns gesteckten Grenzen, wöchentlich 1.- - 3.-M[ark erhielten].“ 99 Diese Entlohnung sollte den Patienten einen gewissen Anreiz zur Arbeit bieten. Karl Wilmanns wertete die Einführung der Arbeitstherapie positiv, auch wenn er bemerkt, dass deren Einführung wohl weniger allgemeine Anerkennung und Verbreitung gefunden hätte, wenn nicht finanzpolitische Erwägungen dafür gesprochen hätten. 100 Er konstatierte, dass die landwirtschaftlichen Eigenleistungen der Anstalten der seinerzeit grassierenden Tuberkulose entgegenwirkten und die Rentabilität der landwirtschaftlichen Güter der Anstalt hoben. Gleichzeitig hätte die Arbeitstherapie den Anstalten um die Jahrhundertwende „einen ganz neuen Charakter [gegeben]. Die Irrenzellen wurden entvölkert, die Tagesräume lichteten 95 A NKELE , Alltag und Aneignung, 118f. 96 Ebd., 120. 97 Ebd., 124. 98 H EGAR , Über Arbeitsentlohnung. 99 HistA BKH GZ, Jahresbericht der Heil- und Pflegeanstalt Günzburg 1915/ 16. 100 W ILMANNS , Die Behandlung, 140. Arbeit in der Psychiatrie im Ersten Weltkrieg - zwischen Therapie und Ökonomie 179 sich und unter den Anstaltsleitern entwickelte sich ein Wettstreit, die höchste vH- Ziffer an arbeitenden Kranken unter den Insassen zu erreichen.“ 101 6. Arbeitstherapie als moralische und physische Behandlung Die psychiatrische Versorgung während des Ersten Weltkriegs orientierte sich in ihrem therapeutischen Handeln weitgehend an den Erfordernissen der Welt außerhalb der Anstalt. 102 Ein Fokus der sich etablierenden Leistungsgesellschaft auf die Arbeitsfähigkeit des Individuums beeinflusste das Ziel therapeutischer Bemühungen. Nach Bleulers Postulat diente die Arbeitstherapie der Assoziationsfähigkeit des Einzelnen an die Gesellschaft. Der Patient sollte über die Arbeit durch Ablenkung und „Gewöhnung an ein geordnetes Leben“ wieder in sein soziales Umfeld eingegliedert werden. Damit sollte die Arbeitstherapie als „Scharnierstelle“ zwischen institutioneller und sozialer Integration fungieren. 103 In Günzburg wie in Kaufbeuren waren ungefähr vierzig Prozent der Patienten in und außerhalb der Anstalt arbeitend. Die Tätigkeitsfelder lagen insbesondere in den anstaltseigenen Werkstätten, der Hauswirtschaft und Landwirtschaft. Neben der Patientenarbeit innerhalb der Anstalten fanden die Patienten auch extramurale Betätigungsfelder bei umliegenden Landwirtschaften oder in der Familienpflege. Durch den kriegsbedingten Personalmangel konnte die technische wie materielle Versorgung nur durch die Unterstützung oder den kompletten Ersatz durch eigene Bewohner aufrechterhalten werden. Die Mitarbeit der Patienten und deren Notwendigkeit wurden in den Jahresberichten des Untersuchungszeitraums der Heil- und Pflegeanstalten dokumentiert. Auch liefern Hausordnungen, personelle Dienstanweisungen sowie Arbeitsbücher der jeweiligen Werkstätten Belege für die Arbeitsleistungen, die von den Bewohnern erbracht wurden. Insbesondere für die Ausstattung der 1915 neu gegründeten Schwesteranstalt Günzburg wurden in den Kaufbeurer Betrieben umfangreiche Leistungen erbracht. Der breite Einsatz psychisch Kranker in den landwirtschaftlichen Gütern und Werkstätten der Anstalten wirft die Frage auf nach dem tatsächlich vorhandenen therapeutischen Nutzen für den Einzelnen und dem ökonomischen Vorteil der Patientenarbeit für die Einrichtung. 104 Das Argument einer „freiwilligen“ Beschäftigung ist hier kritisch zu sehen, wenn man reflektiert, dass die Verweigerung von Arbeit zumeist den Verlust von Entlohnung und Privilegien zur Folge hatte. Auch ist vorstellbar, dass ein gewisser Zwang zur Arbeit für den einzelnen Kranken existierte durch moralischen oder sozialen Druck von Mitpatienten und Personal. 105 101 Ebd. 102 A NKELE / B RINKSCHULTE , Arbeitsrhythmus und Anstaltsalltag, 11. 103 B ERNET , Assoziationsstörung, 188. 104 M ÜLLER , Between therapeutic instrument, 225. 105 M ÜLLER , Patientenarbeit, 58. Felicitas Söhner 180 Wahrscheinlich hing der Aspekt der „Freiwilligkeit“ stark ab von den Entscheidungen und Direktiven, therapeutischen und ökonomischen Zielvorstellungen des Anstaltsdirektors, und nicht zuletzt von denen des Pflegepersonals sowie der Verwaltung. Es lässt sich annehmen, dass die Grenze zwischen therapeutisch sinnvoller Arbeitstherapie und wirtschaftlicher Ausnutzung psychisch Kranker fließend war. Quellen und Literatur Archive Historisches Archiv Bezirkskrankenhaus Kaufbeuren (HistA BKH KF) - BKH-A I/ 27. - BKH-A III/ 50. - BKH-A VI/ 30 (G.v.31.8.1914 [GVBl. S. 551] u. Vollz.Bek.v.10.8.1915 [GVBl. 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Due to pressure from several psychiatrists, a new system was gradually deployed based on the creation of psychiatric services both close to the front and in the interior of the country. As part of this organization, asylums were relegated to the end of the evacuation chain instead of being the only facility dedicated to mentally ill soldiers. As a consequence, their role seemed limited to the care of chronic cases offering no hope of recovery. This perception is reinforced by the analysis of medical literature since psychiatrists scarcely mention asylums in their publications. Yet a careful analysis of archives shows that the asylum’s role during World War I is much more complex. Based on the study of medical files and admission registers, this article defends the idea that war contributed towards changing the perception of asylums and the practices of psychiatrists. Zusammenfassung Als der Krieg 1914 ausbrach, lag die Versorgung psychisch kranker Soldaten in Frankreich alleinig in der Hand öffentlicher psychiatrischer Anstalten. Auf Druck verschiedener Psychiater wurde allmählich ein neues Betreuungssystem eingeführt, das auf einer Mischung der Behandlung in Front- und Heimatnähe basierte. Innerhalb dieses Systems standen die psychiatrischen Anstalten am Ende der Betreuungshierarchie anstatt als erste Anlaufstation für die Behandlung psychisch kranker Soldaten zu fungieren. Aufgrund dessen war ihre Rolle auf die Behandlung und Pflege chronischer Kranker - ohne Hoffnung auf Besserung - reduziert. Verstärkt wird diese Annahme durch die Analyse zeitgenössischer medizinischer Fachliteratur, da die Autoren in ihren Veröffentlichungen kaum oder gar nicht die Anstalten und ihre Rolle erwähnten. Dennoch kann durch eine tiefergehende Quellenarbeit in den Archiven gezeigt werden, dass die Rolle der psychiatrischen Anstalten während des Ersten Weltkriegs eine viel komplexere war. Auf der Basis der Auswertung medizinischer Quellen und Aufnahmelisten versucht der Artikel die These zu verteidigen, dass der Krieg zum Wandel der Wahrnehmung der psychiatrischen Anstalten und der psychiatrischen Behandlungspraxis beitrug. Marie Derrien 188 1. Introduction In the past ten years, historians have begun to explore the cases of the French men mobilized on the front who suffered from mental disorders during the Great War. 1 Their attention immediately focused on the new psychiatric facilities which were opened by the Military Medical Service in order to take care of these men close to the trenches or in the interior of the country but outside asylums. Several studies have shown how these new psychiatric centres were created and were functioning. 2 Thanks to those medical wards, institutionalization was no longer the compulsory procedure and only solution for people with mental illnesses, which constituted an innovation. 3 Due to the interest generated by this organization based on the “opendoor” method, the role played by asylums in the military medical system has been largely neglected, and we know little about the destiny of institutionalized soldiers. Is it right to conclude, as some scholars have done, that they were generally abandoned? 4 Questioning this assumption requires to learn more about asylums’ patients, doctors and organization during the war. This article is thus based on the analysis of the admission registers and medical files from four psychiatric hospitals with various profiles. The asylum of Bron, located in the suburb of Lyon, was among the largest ones in France. The asylum of Saint-Robert, much smaller, was established in a rural area near Grenoble. The asylum of Charenton, in the south of Paris, was specially chosen by the Military Medical Service for the institutionalization of officers, whereas the asylum of Marseille was appointed to receive the soldiers from the French Empire. Those asylums’ archives contain information on four thousand soldiers, from different origins, social backgrounds or experiences of the war. In view of those data, this paper addresses the three following questions: were asylums only a relegation place for soldiers suffering from incurable diseases? Is it possible to measure the impact of war on the modalities and outcomes of institutionalization? And did the context of war modify the social perception of madness and asylums? 2. Asylums, a relegation place for soldiers with incurable diseases? When the war broke out, the French Military Medical Service was supposed to follow the same procedure for every case of mental disease among the troops. Indeed, it had been decided in 1897 that a soldier suffering from a psychiatric con- 1 D ELAPORTE , Le discours médical sur les blessures et les maladies; R OUDEBUSH , A Battle of Nerves; T HOMAS , Treating the Trauma of the Great War; L E N AOUR , Les soldats de la honte; B OGOUSSLAVSKY / T ATU , La folie au front; G UILLEMAIN / T ISON , Du front à l’asile. 2 See references in the note above. 3 A few “open-door” services were created in France at the beginning of the twentieth century, but they remained exceptions. See, for example, R ÉGIS , Les délirants des hôpitaux, 645-648. 4 T HOMAS , Treating the Trauma of the Great War, 15. A New Role for Asylums? 189 dition had to be institutionalized and discharged from the army. Moreover, a man who had suffered from mental troubles in the past was not to be incorporated into the army, even in the case of recovery. 5 These provisions were meant to avoid recruiting and keeping in the army individuals with diseases considered incurable or, at least, presenting a great risk of relapse. The army had indeed no interest in taking care of men who might never recover. Furthermore, there were no military hospitals dedicated to treating them. The ministry of war had instead to send these soldiers to public asylums and had to pay fees. Consequently, keeping them in the army was seen as a waste of both time and money. The procedures were clear, yet they were poorly applied. Military doctors focused their examination on physical aspects and, due to their lack of training, were not able to recognize psychiatric diseases unless presented with serious cases of delirium. 6 Since the 1870s, a small group of psychiatrists led by Doctor Emmanuel Régis had obstinately denounced this situation and tried to draw it to the attention of public authorities, claiming that each military physician should receive better psychiatric training. 7 It is important to note that they did not stand against the idea that a man suffering from a mental disease should be excluded from the army, even after receiving successful treatment. Given the constant increase in institutionalized people, 8 most psychiatrists knew they could not gain legitimacy and acknowledgment by saying that mental diseases were curable. Their strategy was to appear as the only specialists able to deal with these illnesses and to protect society against them. By putting forward their involvement in a prophylactic mission, they tried to extend the field of their actions and began to be called as experts in schools, courts and army barracks. Once the war broke out, the significant influx of soldiers suffering from mental disorders gave these psychiatrists the opportunity to demonstrate their capabilities. Indeed, the ministry of war had waited until 1913 before agreeing that some military doctors should be trained as experts in psychiatry - which did not allow enough time to implement that decision before the beginning of the war. 9 Most civilian psychiatrists therefore hoped to be chosen to lead one of the new psychiatric military services which were gradually opened. There was strong competition for these jobs, and many psychiatrists working in asylums considered that joining the army services was the best way to leave a criticized institution for a new strategic and rewarding position. The case of Jean Lépine is a good example: head of the asylum in Bron, he also held the chair of psychiatry and neurology at the faculty of medicine in Lyon. Nevertheless, he was not immediately chosen to run the psychiatry centre opened in Lyon in 1915. The ministry of war preferred to appoint a young neurologist named Paul Sollier. Neurology was clearly more highly regarded than psychiatry, thanks to 5 A NTHEAUME , Les maladies mentales dans l’armée française, 29. 6 Ebd. 7 At the Val-de-Grâce, where military doctors completed their education, the Neuropsychiatric Chair was inaugurated only in 1920. 8 The number of institutionalized people increased from 65,505 to 77,013 between 1900 and 1913. 9 Ministère de la guerre, Instruction ministérielle du 5 avril 1913, 373. Marie Derrien 190 the work of the French Society of Neurology, which had succeeded in building close relations with the Military Medical Service, as opposed to the Société médicopsychologique, its equivalent for psychiatry. Psychiatry and neurology had indeed become both complementary and rival disciplines. Like Jean Lépine, several psychiatrists felt that there was a serious risk of being confined to asylums, where only the desperate cases would be sent. Far from resigning himself to this situation, Lépine strongly protested. In a letter addressed to the ministry, he insisted on his academic positions and all the awards he had won for his research in both the psychiatric and neurologic fields. 10 The ministry finally decided to separate psychiatric and neurologic patients and entrusted Jean Lépine with the former while Paul Sollier continued to take care of the latter. In 1916, Lépine published a book called “Troubles mentaux de guerre” in order to present his ideas and relate his everyday practice. 11 For Jean Lépine, as well as for other psychiatrists running a military hospital, such a position allowed them to prove their medical skills outside asylums and was also a way to show their active participation in the war effort. It is therefore no surprise that they focused their articles and books during the war on these facilities and scarcely mentioned the role played by asylums. Preparing for the future, their goal was to show that asylums were not the appropriate solution for most mental disorders, which could be cured without institutionalization. That is why today, when reading the medical literature from the war years, we are under the impression that the asylums were a place of relegation for soldiers with incurable diseases. However, asylums’ admission registers give a different picture of the institutionalized military population. 3. Measuring the impact of war on institutionalization How long did the soldiers stay in asylums during the war and how did their institutionalization end? The archives show that, between 1914 and 1918, 32 to 47 per cent of the soldiers left the four hospitals where I carried out my investigations. Moreover, they spent on average less time at the hospital than usual: between 1910 and 1913, the average duration of stay for men in French asylums was around eight months, whereas for soldiers of the Great War, it was only around five months. 12 Several reports addressed to the ministry of justice following regulatory inspections mentioned this phenomenon. On 24 th June 1916, the general prosecutor of Dijon visited the asylum of Saint-Dizier and observed: “Among the men there are 10 Val-de-Grâce, A 230: Letter from Jean Lépine to the Chief of the Military Medical Service from the 14 e région militaire, 10 th December 1914. 11 L ÉPINE , Troubles mentaux de guerre. 12 This figure was calculated using the data produced by the “Statistique annuelle des institutions d’assistance” between 1910 and 1913 and by four asylums’ admission registers during the war. For 1914, the soldiers’ length of stay is not representative since the war began in August. A New Role for Asylums? 191 80 soldiers […] these kinds of patients are always coming and going because they are quickly healed.” 13 However, soldiers were not receiving new kinds of treatment in asylums. Doctors were using balneotherapy, prolonged bed rests and well-known sedating or tonic drugs whose main effect was to mask disruptive symptoms. Neither hypnosis nor electrotherapy was employed. 14 Moreover, according to the official statistics established during the war, recovery rates did not increase, 15 meaning that the soldiers who were discharged from the asylums were not declared cured. In fact, according to their medical files, psychiatrists only considered that their condition had improved. This category of improved patients did exist before the war, but it took a new importance between 1914 and 1918. For the first time, psychiatrists were encouraged to let their patients leave asylums even if they were not completely cured. One may think that the primary explanation for this is that the army needed as many soldiers as possible and was ready to keep, and readmit, people with mental disorders into its ranks, while doctors were convinced that some of their institutionalized patients could provide services in spite of their pathological issues. This is not completely wrong. During the war, the rules of 1897 were officially revised by the French military service. 16 The exemption rate due to mental troubles dropped to 30 per cent. 17 This was not simply a consequence of the military doctors’ incompetence in the psychiatric field, no more than the result of their extreme severity in a time of war. In fact, several psychiatrists considered that individuals with mental retardation, for instance, should be recruited and maintained among the troops and were able to be good soldiers if well supervised. 18 A few of them also suggested forming special units composed of mentally disturbed men who would not fear to meet danger face to face. 19 Nevertheless, if we look at the medical archives, we find that most soldiers were not sent back to the trenches. The most common choice made by doctors was to discharge the soldiers, and a significant part of them was given a recovery leave of one to three months. Once this leave was over, they would be examined by military doctors and either sent back to the front, discharged or reintegrated into asylums, depending on their mental state. This solution met psychiatrists’ expectations. Indeed, they had continuously been asking for the introduction 13 National Archives (Pierrefitte) BB/ 18/ 2578/ 1: Ministry of Justice, Report from the general prosecutor of Dijon, 24 th June 1916. 14 Electrotherapy was certainly employed in some military neuropsychiatric services, most notably the one led by Doctor Clovis Vincent, but it was not the case in asylums during the war. 15 Statistique annuelle des institutions d’assistance, années 1914 à 1919, Paris, Imprimerie nationale, 1921. 16 Val-de-Grâce, A 299: Letter from the Under-Secretary of State for the Military Medical Service, 11 th October 1917. 17 This figure was calculated using the data provided by “Compte rendu sur le recrutement de l’armée” between 1906 and 1919. 18 P RUVOST , Les débiles mentaux à la guerre. 19 N ORDMAN / B ONHOMME , De l’utilisation des indisciplinés. Marie Derrien 192 of test releases since the end of the nineteenth century. 20 Their request had not been granted because it would have implied the creation of a legal status allowing doctors to let out a patient who would not regain his full freedom, so that it would be possible to reinstitutionalize him without starting the legal procedure all over again. During the war, such a solution became possible for soldiers. Although treatments did not change in asylums, psychiatrists now had the possibility of using recovery leave as a therapeutic means. Moreover, the decision to give such a leave to a soldier was not taken by the psychiatrist alone, but with the consent of a military doctor who had to visit the patient at the asylum: in this way, the responsibility was shared. 21 Another reason that may explain why many soldiers left asylums is that these hospitals were crowded: psychiatrists could have been tempted to let them go in order to make more beds available. This must be taken into account as an additional factor, but we have to keep in mind that asylums were already overpopulated before the war. This problem was not new and was closely related to the difficulties faced by former asylum patients when they tried to regain their place in society. In peacetime, psychiatrists hesitated before discharging patients because they knew that most of them would find themselves alone, with no job, no help and even no home when they were abandoned by their families. Contrary to what one might think, the context of war often made reintegration easier. 4. Did the context of war make society more tolerant towards madness? When deciding that a patient should be authorized to leave the asylum, psychiatrists had to consider what would happen to them outside the hospitals. In most cases, those men were not able to live alone: they had to be taken care of by a member of their family or a friend. If not, the risk of relapse was very high. Consequently, one requirement for obtaining recovery leave was that the soldier’s family committed itself to looking after him and providing for his needs. The financial issue was of real importance. Former patients needed time to find a job, especially since potential employers were often suspicious on being confronted with someone who had been institutionalized. Yet their attitude changed during the war due to labour shortages, as noted by the psychiatrist Paul Courbon. According to him, war gave men and women suffering from mental troubles the opportunity to take part in social life. 22 Indeed, medical archives show that some institutionalized patients discharged from the army received employment offers while at the asylum. This is what happened to Maurice T.: 23 in 1918, although doctors considered that he was still very sick, the 20 See the report of Doctor Maurice Legrain on this question. L EGRAIN , La convalescence des aliénés. 21 Ministère de la Guerre, Permissions et congés de convalescence, 1917. 22 C OURBON , De l’influence de la guerre. 23 For confidentiality reasons, patients are referred to using their first names and the initial letter of their family names. A New Role for Asylums? 193 mayor of his village proposed to hire him as a cooper because he needed one. 24 Old parents and young wives also needed support at a time when most men of working age were in the trenches or had died in battle. That is one reason why families were urging doctors to let their sons or husbands come back home. Family involvement was important, as shown by the many letters kept in the soldiers’ medical files. Not only did family members repeatedly ask for news; they also gave the doctors their opinion, trying to influence their decisions instead of resigning themselves to impotence. The war circumstances gave the doctors the impression that they could explain the onset of the mental disorders. Madness could be attributed to a blow to the head, a bombing, fatigue, fear or to the separation from their loved ones. To some extent, psychiatric illnesses ceased to be a question of fate, mysterious and thus frightening. Moreover, in the context of war, the line between normal and abnormal shifted and became blurred since most soldiers, although not all of them, were confronted with the fragility of their psychological balance. In a famous war diary, Corporal Louis Barthas asked himself: “Living such a nightmare, will we all sink into madness? ” 25 In the letters he sent to his family, the young soldier Etienne Tanty said that the experience of war was giving him plenty of reasons to go mad. 26 In 1915, the doctor Jules Renaux had already noticed how common these kinds of remark were among soldiers and concluded that “being institutionalized is far less stigmatizing in times of war when all the values have changed dramatically”. 27 Indeed, mad people are not seen as special beings when everybody feels they could be one of them. Nevertheless, tolerance obviously often found its limits. Not every soldier who left the asylum at the request of his family succeeded in reintegrating himself into society. Jean T., for instance, had to return to the asylum when his mother realized that, as the doctor had foreseen, he was not able to help her as she expected. His sister explained to the psychiatrist: “My poor brother is in such a state that it is impossible to keep him at home. Since he arrived, he has been wearing his uniform, refusing to change; he sleeps in the barn, there is no way to make him work. My mother hoped to have his support but he is an embarrassment, so she asks you to take him back. As you said, he can’t live outside the asylum”. 28 Likewise, several soldiers who were sent back to the trenches did not remain in the army for a long time and psychiatrists recognized failures. Antoine Porot, who was the head of a military psychiatric centre located in Algeria, strongly supported the idea that even men with mental disorders should be kept in the army as long as it was possible to draw something out of them. Still, he admitted in 1918 that “the asylums’ doors had sometimes been too open”. 29 The military archives also show that some field commanders protested when soldiers with mental troubles re-joined the troops, such 24 Departmental Archives of Rhône-Alpes, Q 572: Asylum of Bron, medical file of Maurice T. 25 B ARTHAS , Carnets de guerre de Louis Barthas, 124. 26 T ANTY , Les Violettes des tranchées, 438. 27 R ENAUX , États confusionnels consécutifs aux commotions des batailles, 5. 28 Asylum of Saint-Robert: unnumbered document, Medical file of Jean N. 29 P OROT , Les bases de l’expertise médicale, 25. Marie Derrien 194 as this captain who refused to keep Gilbert E. among his men: “Gilbert E. has no value from a military point of view, he has no understanding, he can only be employed to sweep. He is of good character but he has a big flaw: he has lost his mind.” 30 It is impossible to know how many soldiers faced the same situation as Jean T. or Gilbert E. because we can’t know what became of each of them after leaving the asylum. In the four hospitals on which my study is based, very few patients came back (less than two per cent). Yet they could have had a relapse and been institutionalized again in a different asylum, depending on where they were fighting or where they were living. We know that recovery rates did not suddenly increase during the war. Nevertheless, in a context of crisis, the representation of madness and the perception and functioning of asylums evolved. Asylums were certainly old and criticized institutions, yet doctors did not remain blocked in some kind of therapeutic denial but developed new practices, especially such measures as recovery leave. It means that psychiatric military services were not the only field for experimentation. The example of soldiers showed that asylum was not always a synonym for long stay and chronicity. Letting patients out, even when they were not completely cured, became possible from a legal, medical and social perspective because, to some extent, they had a chance to find a place in society where they were needed in spite of their illnesses. The role of the asylum was not only to protect the country from dangerous people who needed to be locked up but also to help them reintegrate into the community in order to participate in the war effort. This proved to be a short-lived episode: the end of the war saw a return to conditions as they were before 1914 in asylums. Even though the principle of recovery leave had proved to be effective, no similar system was created for civilian patients. Consequently, they stayed in asylums until psychiatrists were sure that they were cured. While they were institutionalized, family links tended to erode. As social isolation reduces the possibility of future reintegration, institutionalized patients found themselves in a vicious circle. At the asylum of Bron, in 1937 the average duration of stay for men was two years and four months. Sources and Bibliography Archive Sources National Archives (Pierrefitte) - BB/ 18/ 2578/ 1, Ministry of Justice, Report from the general prosecutor of Dijon, 24 th June 1916. Val-de-Grâce - A 230, Letter from Jean Lépine to the Chief of Military Medical Service from the 14 e région militaire, 10 th December 1914. 30 Service Historique de la Défense, 11 J 1096: War Council, 27 th Division, file of Gilbert E. A New Role for Asylums? 195 - A 299, Letter from the Under-Secretary of State for the Military Medical Service, 11 th October 1917. Service Historique de la Défense - 11 J 1096, War Council, 27 th Division, file of Gilbert E. Centre Hospitalier Alpes-Isère - unnumbered document, Asylum of Saint-Robert, Medical file of Jean N. 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When the war broke out, Belgium had to react to the violation of its territory and was forcibly drawn into a war it had not chosen to wage. Belgian psychiatrists very quickly understood that the war did indeed have an impact on the mental and nervous equilibrium of the fighters and they approached the matter accordingly. Even if the Belgian alienists (i. e. the Entente countries France, the United Kingdom and Russia) insisted on predisposition in people already weakened by alcoholism, substance abuse or heredity, they nevertheless recognized that healthy soldiers could also be affected by mental and nervous breakdowns. The Belgian doctors, far from being hostile or indifferent, were quite sympathetic when faced with mental anguish. The methods used were moral rather than coercive: rest, bathing, isolation, diet, occupational therapy, placement in families living in the neighbourhood. The Belgian case shows doctors concerned with the mental and physical health of soldiers. They are both humane and sympathetic and act within the limits of the knowledge available at that time. Zusammenfassung Die belgische Armee war, wie auch andere Armeen, mit dem weit verbreiteten Ausbruch von nervösen und psychischen Krankheiten in ihren Reihen konfrontiert. Nach Kriegsausbruch musste Belgien auf die Verletzung seiner Territorialhoheit reagieren und wurde damit in einen Krieg getrieben, den es nicht führen wollte. Recht schnell hatten belgische Psychiater erkannt, dass der Krieg sich tatsächlich auf den psychischen und mentalen Zustand der Kämpfenden auswirkte und näherten sich dieser Erkenntnis dementsprechend an. Auch wenn die belgischen Irrenärzte auf eine Vorbelastung der Betroffen, beispielsweise durch Alkoholismus, Drogenmissbrauch oder durch erbliche Veranlagung, pochten, erkannten sie doch an, dass auch gesunde Soldaten von nervösen oder mentalen Zusammenbrüchen betroffen sein konnten. Die belgischen Ärzte zeigten sich durchaus wohlwollend, wenn sie mit Fällen psychischer Qualen konfrontiert waren, anstatt sich diesen gegenüber feindlich oder desinteressiert zu geben. Ihre Behandlungsmethoden waren eher integer als zwingend: Ruhe, Bäder, Isolation, Diät, Arbeitstherapie, Familienpflege in der näheren Umgebung. Das belgische Beispiel zeigt die ärztliche Besorgnis um die psychische und physische Gesundheit der Soldaten. Sie waren beides, menschlich und Christine Van Everbroeck 198 mitfühlend und handelten innerhalb der Grenzen des damals verfügbaren Wissensstandes. 1. Introduction Just like other armed forces, the Belgian Army had to come to terms with widespread nervous and mental disorders in its ranks. However, the return of shellshocked soldiers was never a matter for public discussion in Belgium, and the number of soldiers treated for war neuroses is still unknown. Belgian military psychiatrists were conscious of the effects of violence and modern warfare technology on the soldiers’ mental state even before the outbreak of the war and had vented their fears in specialized literature, 1 but after the war society seemed eager to forget about the link between mental disorder and war. Like so many other nations, Belgium overinvested in the glorification of heroes, soldiers fallen on the battlefield, shot resistance fighters or deported civilians. 2 In Belgium, stories of soldiers suffering from war neuroses did not capture public opinion or attract the interest of politicians, and consequently there are few popular or historical studies of Belgian shell shock. Benoît Amez and Bruno Benvindo briefly mention the subject but it is neglected in all recent literature on European military mental medicine. 3 This might also be partly due to the difficulty of obtaining sources. Belgian military medical archives were lost when the military hospitals were closed down and the authorities decided to destroy archives they deemed to be superfluous. Moreover, very few Belgian psychiatrists published their experiences, unlike those in France or Great Britain. 4 However, several potential sources can be utilized: these include the archives of the Belgian court-martial proceedings; the reports of the psychiatric experts who assessed some of the soldiers affected by nervous or mental troubles; and the records of the medical registers of the civil psychiatric wards where a lot of returning soldiers were interned after the war. Considerable information can also be collected from personal military records. Based on these sources, this article wishes to focus on the interactions between psychiatry, army and society with regard to war neuroses. 2. The army Belgium was a young country (it had acquired its independence in 1830) without any military tradition (its army had not participated in any campaign, with the ex- 1 D EBUSSCHERE , De militaire psychiatrie. 2 B ECKER , Guerre totale. 3 A MEZ , Guerre 1914-1918; B ENVINDO , Des hommes en guerre. 4 B ROUSSEAU , Essai sur la peur aux armées; H UOT / V OIVENEL , La psychologie du soldat; Y EALLAND , Hysterical Disorders of Warfare. Army, Society and War Neuroses in First World War Belgium 199 ception of the volunteers sent out to Mexico and the Congo) or patriotic feelings to speak of. Conscription was long applied through a lottery system in which the wealthy could be replaced by the poor they paid to perform their military duties (lasting one or two years according to the weapon). The army was therefore largely constituted of soldiers coming from the lower classes, whereas the officers mostly belonged to the aristocracy or the higher classes, thus creating quite a chasm between officers and soldiers. This gap was even further highlighted by language: French was the language of the leading classes, as well as of the military hierarchy, administration and command, whereas Flemish and Walloon (with numerous regional dialects) were spoken by the lower classes. 5 To even all this out and make military service more egalitarian, some politicians wished to extend conscription to all young men. However, the Catholic Party, in power almost exclusively since 1884, was opposed to the idea as it considered that the army was demeaning and encouraged the loss of the soul, morals and mores. 6 However, in spite of this opposition, military service was extended. The Belgian military introduced compulsory military service in two stages; first in 1909 for one son per family, then in 1913 for all men fit to carry arms. This had arguably generated a change in the institution’s purpose: the army now strove to become a forger of robust character, a training school for duty and bravery, an institution which cemented patriotism. 7 The army’s mandate was to educate and fashion soldiers both physically and morally and to produce citizens conscious of their duties with regard to family and society in a world in which more and more men had the vote. 8 Military doctors had to monitor the physical and moral aptitudes of both recruits and draftees. Military physicians were therefore mobilized to fight alcoholism and venereal diseases, which were thought to engender mental diseases and degeneracy. 9 This approach reflected the widespread importance of the pre-war fear of degeneracy, a fear present in all modern or modernizing European nations, and one which had preoccupied the army before the outbreak of war. That was the reason why several psychiatrists thoroughly deplored the absence of robust psychological selection processes at the recruitment stage, as they argued that men inherently unfit for service (because of weak minds or a negative predisposition) were nonetheless enrolled. 10 In spite of this wind of change blowing on the eve of war, the Belgian army had a bad reputation. Neighbouring countries mocked this army of a neutral country, an army that had never been called upon to fight and in which officers seemed more preoccupied with honour than with efficiency. 11 Not a single soul felt the Belgian army was capable of opposing an enemy, whoever that could be. Some Belgian of- 5 B OEVA , ‘Pour les Flamands la même chose’; B OIJEN , De taalwetgeving. 6 S TENGERS / G UBIN , Sentiment national, 27-29. 7 H OEGAERTS , Manly People. 8 R IBAUCOURT , La préparation de la jeunesse; M EEUS , Invalidité mentale; H OEGAERTS , Benevolent Fathers. 9 N YS , School van de natie, 79-118. 10 W ILMAERS , Méthode de sélection, 228-229. 11 S TENGERS / G UBIN , Sentiment national, 143-147. Christine Van Everbroeck 200 ficers also regretted the lack of patriotism and national feeling in soldiers, which, if present, could push men to surpass themselves in the defence of their country. 12 3. Belgium at war When the war broke out, Belgium had to react to the violation of its territory and was forcibly drawn into a war it had not chosen to wage. The Belgian army, in the process of reorganization, was not prepared to face war. Generalized conscription had swelled the ranks, but staff (officers and NCOs) had not grown in the same proportions and neither had armament. The draftees (young men aged 18 to 35) were joined by volunteers carried along by the surprising wave of patriotic enthusiasm that washed over the country. The Belgian army totalled between 75,000 and 150,000 men during the war, the first true conflict the Belgian military had to face. The Germans invaded Belgium on August 4, 1914. Taken quite by surprise and therefore unprepared, the Belgian army was forced to retreat. Belgian troops nevertheless resisted better than expected and managed to delay the Germans’ progress and invasion plans. Civilians also had to endure the violence of war: they were subjected to bombing, arson, looting and the massacre of hostages. Over 5,500 Belgian civilians lost their lives during the first months of invasion. 1.5 million Belgians (out of a population of seven million) fled the country and went into exile in France, The Netherlands, Great Britain or Switzerland. 13 The army came to a standstill along the river Yser in November 1914, after the inundation of the flatlands. The German advance was stopped; 9/ 10ths of Belgium were occupied, with a mere triangle defined by Nieuwpoort, De Panne and Ypres, between the river Yser and the sea, remaining free. The Belgian army was in for a four-year stretch of trench warfare. 4. Facing war neuroses and coming to terms with them The Belgian army, cut off from its rear base and exiled on the tiny piece of the country that was still free, quickly deployed its medical facilities within the immediate vicinity of the front. Little by little, as the Belgian army settled down along the Yser River, the military medical services opened hospitals near the front and created a health network that was situated partly in Britain but mainly in France, in Normandy, Brittany and the Côte d’Azur. In October 1914, after the retreat, the Belgian army hastily improvised health facilities at the port of Calais in northern France, establishing facilities in hospitals, monasteries, places of worship, schools and private homes. About 18,000 wounded Belgians found refuge and care there, among them nervous and psychiatric patients, who were taken care of at the St 12 K EUCKER , Conférence sur l’éducation, 78; F ASTREZ , Ce que l’armée peut être pour la nation, 175. 13 H ORNE / K RAMER , Atrocities; A MARA , Des Belges à l’épreuve de l’exil. Army, Society and War Neuroses in First World War Belgium 201 Pierre Boarding School. 14 One month later, in November, a military centre for neuropsychiatry opened in the small St Emile school. It was directed by Dr Leon Spaas (1880-1946), an alienist and manager of a women’s asylum before the war. 15 By the end of 1914, it was serving as a neuropsychiatric observation centre for military “delinquents” who were being monitored for their psychiatric conditions, but by the end of 1916, it functioned more like a clinical neurology service. This centre evaluated combatants’ degrees of incapacitation, penal responsibility and aptitude for military service. 16 Spaas was also the head of the medical service for “neuropathic or insane officers” who were being treated in various hospitals across the base of Calais. The small St Emile school was expanded in June 1916 with a second military neuropsychiatric centre, one that also dealt with examining soldiers who had been court-martialled. Those who had been temporarily declared unfit were also examined here by a “Contre-Commission de Controle”. Based in Le Havre military hospital in France, this second centre was run by the neuropsychiatrist Dr Michel- Joseph Van den Weghe (born in 1880). 17 These centres were the first step towards the recognition of the need for treatment centres for psychiatric casualties, although military discipline clearly was a central part of this system. Civil psychiatrists and neurologists had been recruited to the military medical services since mobilization, and they were therefore in place to head these specialized institutions. Through their pre-war experience they were used to traumatic neuroses triggered by accidents in factories or on railroads. 18 They recognized the symptoms displayed by soldiers. However, the psychiatrists in these centres then faced a myriad of problems and challenges: the difficulty of establishing a diagnosis; whether predisposition played a part in the development of war neuroses; what kind of consideration they should give to soldiers and officers suffering from the harrowing symptoms; what response was to be expected from military authorities. 5. How did military authorities consider war neuroses? In Belgium the attitudes adopted by military authorities varied. Some were sympathetic and tried to spare the afflicted soldiers, others were much harsher and strove to keep what they saw as deplorable examples away from the regiment. Also, the attitudes of those meting out military justice evolved during the war. In the first few months of the war (from August to October 1914) the army needed to impose discipline on inexperienced men, and justice was therefore often hard. Military authorities clearly did execute men who suffered from psychological complaints, often poor frightened men, unaware of the rigours of military discipline. It was not possi- 14 R MM , superior commander of the base at Calais, file 6, Report on the organization of sanitary services at Calais. 9/ 3/ 1916. 15 R MM , File DO 2778. 16 L EROY , Troubles mentaux, 40-41. 17 M ÉLIS , Contribution, 226-229; V ERHAEGHEN , Proeve, 10-35. 18 D EBUSSCHERE , De militaire psychiatrie. Christine Van Everbroeck 202 ble for men to appeal their verdicts until 1916; but later, as the war progressed, Belgian military justice became more lenient, and if men with war neuroses incurred prison sentences, they were often able to leave prison relatively quickly and return to the front. 19 During the war there were no scandals about men condemned for suffering from war neuroses, but definite tensions existed between military authorities and alienists. The visions on how to manage cases of shell shock varied: military authorities accused doctors of discharging soldiers on medical grounds all too easily, and alienists often did not hesitate to exempt the most fragile patients from combat duty and to place them in rear-line services (for example ammunition factories). Overall, the actions and reactions of Belgian psychiatrists were meant to be preventive and curative rather than punitive. While military high command expected all servicemen to do their duty without flinching and without fear, psychiatrists did not hesitate, throughout the war, to exempt from frontline duty those they deemed “unable”. Military authorities generally followed medical experts in their diagnoses. However, because of the occupation of Belgium, the renewal of the army proved very difficult, and sometimes unfit soldiers simply had to be enrolled. More often than not, these men would end up as psychiatric cases. 20 6. How did Belgian doctors consider war neuroses? Belgian psychiatrists responded in various ways when it came to explaining war neuroses. Some saw a “real” pathological condition while others suspected “simulation” and thus weakness of character. They could not agree on whether the cases of shell shock were caused by the horrors of war or whether factors of predestination and heredity played a key role. Attuned to the idea that a traumatic event could trigger symptoms of neuroses, they were therefore disposed to the view that conditions of war could cause nervous breakdowns. Spaas, for instance, was for the most part sympathetic to the soldiers suffering from neuroses. Through his medical reports, he comes across as an attentive and understanding man, who was acutely mindful of the circumstances his patients had had to endure before arriving at the centre. In a report of March 1916, Dr Spaas squarely placed the responsibility for mental and neurological disorders on the war itself: “War, with its external and internal emotions, especially the effects of heavy artillery projectiles, has contributed to a large extent - for many military men - to the outbreak of nervous and mental diseases or particularly upsurges in latent lesions. Heredity and personal history were sought after in each particular case. Among mental illnesses, the one that was found most frequently was mental confusion. The extension of the duration of the campaign has seen an ever-growing increase in the 19 H ORVAT , Vervolging, 374-377; R MM , Archives CHD, box n° 28, section 7: condemned servicemen shot during the war. 20 State archives, archives of the Conseils de guerre de l’armée en campagne 1914-1918: Numerous expert reports drawn up by Spaas. Army, Society and War Neuroses in First World War Belgium 203 number of soldiers suffering from mental disorders, neurasthenia, nervous breakdowns, etc.” 21 Spaas and his colleagues were not the only ones to be thoroughly aware of the pathological impact of the war on the mental and nervous equilibrium of the soldiers and officers concerned. As early as July 1915, the physician of the 1st Infantry Regiment of the 5th Army Corps made the same observation. 22 Furthermore, when the “Archives Médicales Belges” resumed publication in January 1917, an article entitled “After Two Years of War” also emphasized the destructive effects of artillery on the human nervous system. The article suggested that because artillery was becoming more and more powerful, it inflicted “unprecedented” suffering on the nervous system and caused serious injuries which, while not external (although it sometimes caused internal or brain bleeding), were internally very damaging, hence the appearance of psychical and neuropsychological disorders. 23 Yet other alienists were not so convinced and placed greater emphasis on the importance of predisposition and heredity. For these medics the war often only revealed latent disorders. Similarly, Dr Henri Hoven (born in 1887), who had been an assistant physician at the “Colonie d’aliénés de Lierneux” before the war, was also convinced that predisposition explained the cases of traumatic psychoses. 24 While he was aware that the great fatigue and intense emotional shocks of war induced a decline of the mental faculties, he emphasized the importance of predisposing factors in the development of mental and nervous disorders. 25 Yet even if psychiatrists did favour theories based on predisposition and did attribute psychiatric ailments to hereditary tendencies, the discourse on degeneracy was never applied specifically to soldiers suffering from war neuroses and psychiatrists did not label mentally wounded men as “degenerate”. The same can be said of the language of cowardice. In none of the psychiatrists’ reports, nor in any of the (admittedly few) articles that they penned on this subject, was the question of cowardice mentioned. Belgian psychiatrists acknowledged fear and were aware of bad examples, namely men who balked at fear, but they did not label them as cowards. Dr Modeste Molhant (born in 1886), a physician in the reserve battalion, had lived on the front with soldiers and recognized their value and heroism. He roundly castigated those who readily dismissed shell-shocked soldiers as simulators: “This was the time when the neurological centres at the rear of all the allied armies were crowded with what later would be called people with ‘reflex disorders of the nervous system’. They were considered recalcitrant hysterical persons or simulators. Repressive psychotherapy was predominant. Convinced - for having seen it with my own eyes - about the obstinate and heroic tenacity of our men, it never entered my mind that a jass (a soldier), wounded or injured on the battlefield, would 21 R MM , superior commander of the base at Calais (CSBC), file 6, Report on the organization of sanitary services at Calais. Report by Dr Spaas, 1/ 3/ 1916. 22 R MM , Box 5465 , file 185-14-7027. 23 Anonym, ‘Après deux ans de guerre’, 8f. 24 L EROY , Troubles mentaux, 40-61; H OVEN , Psychoses traumatiques, 972-974. 25 D ERS ., Maladies mentales, 402. Christine Van Everbroeck 204 voluntarily create or even carry on ‘preserving’ a mental trouble with the only purpose of escaping from duty. So I started to observe more closely, and soon I had the distinct and accurate conviction of their sincerity.” 26 7. How did Belgian doctors treat war neuroses? Belgian psychiatrists were much like their colleagues in other armies and favoured quick, accessible treatment, as close to the battlefield as possible, so as not to reinforce the symptoms and to maintain the soldier’s morale. 27 With their counterparts across Europe, Belgian alienists considered both “soft” and “harsh” therapies and, in general, Belgian psychiatrists seemed to favour softer methods. These embraced traditional treatment for symptoms of neuroses, like rest, a good diet, relaxing baths, hypnoses (to help memories resurface), agricultural therapy and various workshops. Belgian psychiatrists also placed mentally wounded troops in “foster families” or “host families” to promote recovery in a safe and comfortable environment. 28 Yet other Belgian psychiatrists preferred more forceful methods, most notably the use of electrical therapy in order to stimulate wounded soldiers out of their apparent apathy. Dr René Marchal (1891-1957), a neurologist in charge of the electrotherapy service at the hospital of Beveren on the Yser River, encouraged a harsh therapy which consisted of persuasion along with electric treatment. From his point of view, treatment needed “to hurt a little in order to shake up the apathy of the patient”. If the patient was refractory, Dr Marchal believed that doctors should not hesitate to use ‘galvanic current therapy’ in a fairly intensive way, a method that had also been promoted by the French neurologist Dr Clovis Vincent (1879-1947) and which was widely known as “faradic treatment” or “torpillage”. 29 Yet, whether they favoured the soft or the harsh end of this spectrum, Belgian medics were all required to maintain the military framework and to promote military discipline. Treatments therefore consisted of physical exercise and military marches in order to remind patients that they were still soldiers. 30 8. The network of Belgian psychiatric institutions Therefore, it was mainly in a foreign country, in temporary facilities (albeit under Belgian direction) that the health service supported mental and nervous cases. Arguably then, the Belgian soldiers, completely isolated from their loved ones, were suf- 26 M OHLANT , War souvenirs. 27 M ARCHAL , Hystérie, 186. 28 V ERHAEGHEN , Proeve, 10-35; M ICHEL , Hôpitaux militaires. 29 M ARCHAL , Hystérie, 186. 30 V AN B ERGEN , Na de behandeling; B INNEVELD , Om de geest, 140-156; M ARCHAL , Névroses traumatiques, 513-522; L EESE , Traumatic Neuroses, 64-84; R OUSSEAU , L’électrothérapie, 13-27. Army, Society and War Neuroses in First World War Belgium 205 fering a double alienation, both mental and geographical. Belgian soldiers suffering from war neuroses did not have the luxury of going home. It was almost impossible to send discharged Belgian soldiers back to civilian life, as this would have meant exile in foreign parts rather than a return to home and family. Being discharged from the army would only leave them impoverished and isolated in a country where they were unlikely to have either family or friends. As a result, soldiers had to be kept within the military community in order to recuperate; men categorized as unfit for military service were sent to armament factories controlled by the Belgian army behind the frontline or to auxiliary services in the rear lines (bakeries, laundries, transport services, etc.). Others were sent to work in hospitals, but all of them remained on duty under the control and discipline of the Belgian army. Unfortunately, those declared to be incurable had to leave military treatment and recovery facilities and were sent to French asylums, where they were cut off from their compatriots and all that was familiar to them such as eating habits, shared culture and sometimes even their language because the majority of Belgian soldiers were Flemish and did not speak or understand French. 31 9. The return to Belgium after the war After the war, soldiers returning home posed great challenges for all combatant nations. In the case of Belgium, the post-war population had suffered a wide diversity of war experiences. Some returned home after four years of fighting, many returned from exile and those who had stayed in Belgium had endured four years of occupation: there was no homogenous war experience. Many found that they could not share their experiences and could not understand one another’s suffering. While the post-war commemorations “officially” strove to convey a sense of shared wartime experiences for both soldiers and civilians, in the privacy of the familial reunion, it was often a different story. So for instance, a woman who had suffered four years of starvation and extreme poverty may not have always been sympathetic to a husband traumatized by war. Belgians had been separated both physically and morally and had been out of touch for four years. Families that had a relative suffering from psychiatric troubles would often only learn about the condition in October 1919 and find a husband or son interned in a psychiatric asylum. As the sick and wounded soldiers were repatriated to hospitals in Belgium, those with mental and nervous complaints were grouped in the new military neuropsychiatric centre that had moved to the civil psychiatric ward in Zelzate, north of Ghent, in March 1919. This military centre was hosted by the congregation of the Brothers of Charity, who headed the majority of psychiatric wards in Belgium. Between October and December 1919, soldiers were demobilized and sent to psychiatric institutions all over Belgium to live among the other patients, who included 31 V ERHAEGHEN , Proeve; M ICHEL , Les hôpitaux militaires; M ARCHAL , Les névroses traumatiques, 513-522. Christine Van Everbroeck 206 criminals, those in poverty and those deemed incurable. 32 The ex-servicemen were thus not housed in a special military psychiatric ward and were not allocated specific treatment. However, both at international conferences and in press articles, some did argue the case for gathering all soldiers suffering from mental and nervous illnesses in one single institution, so that ex-servicemen could receive specific treatments and be among their comrades. This never occurred though, as the aim of the treatment was the rehabilitation and reintegration of patients into their families and into society as soon as possible. 33 As time went on, neuroses became a subject matter for war pension committees and lawyers in Belgium. On November 23, 1919 a law was passed recognizing illness or invalidity caused or enhanced by war. To be recognized as such, each sick or wounded person (either mentally or physically challenged) had to draw up a personal file. One can easily imagine how difficult it must have been for soldiers not in their right minds, suffering from memory loss, to recall all the stages in their military careers and all their medical developments. Or, in Pierre C’s words: “mais dire les dates ça m’est impossible vu que la tête était malade” (I cannot tell the dates as the head was sick). 34 Family, often a father or a wife, then had to piece together the past. 35 However, the amnesic soldier sometimes could not even give his name; his family therefore could not be located and he could not submit his military file. In that case the verdict was hard: he would not be recognized as a war invalid. 36 The other problem the administration had to deal with was the evaluation of the injuries incurred by the examined soldier. Some wounds were indeed difficult to assess: internal injuries, nervous troubles, alienation, cranial trauma, etc. For these unlucky men the degree of incapacitation could only be established by comparison. The later consequences, more or less severe, also varied very much. 37 The legislator particularly considered the cases of psychiatric troubles and first and foremost wished to detect simulation. 38 According to the severity of symptoms, frequency of outbreaks and troubles displayed (e.g. impaired movement or paralysis of the limbs), the invalidity percentage ranged from five to 80 per cent. When internment was required, this percentage reached 100 for the duration of internment. 39 The amount of the pension was determined by the percentage of invalidity recognized, without considering the wounded person’s pre-war social status or salary. The minimum amount could be increased if the patient had a wife and according to the number of children. 32 T ALLON , Historique, 43-45; W ARNER , Psychiatrisch Instituut, 19f. 33 Invalide belge, May 1, 1923; February 1, 1928; February 2, 1933; B ORGERS -S ERGENT , Waarom. 34 R MM , File Pierre C. 35 L E C LERCQ , Quelques mots. 36 L’Invalide belge, 15/ 1/ 1928, 2, Titre: Situation présente des Invalides atteints d’aliénation mentale. 37 De Belgische Gebrekkelijke, n°1, 1/ 9/ 1917, n°2, 15/ 9/ 1917. 38 Anonym, Barèmes des invalidités, 87-91. 39 Ebd. Army, Society and War Neuroses in First World War Belgium 207 During the inter-war period veterans fought for the recognition of their sacrifices. However, the biggest and most troublesome worry the invalids had to face was the allocation of a pension on which they and their families could live decently. Belgium came out of the war quite devoid of strength and was severely hit by the financial crisis of the 1930s. The allocation of pensions, the amounts of which were never deemed sufficient, constituted an enormous problem. 10. No public debate As stated earlier, the alienated were absent from the public war commemorations. Their dramas were played out in the privacy of their homes or in institutions where some unfortunate veterans were to stay until after the Second World War. Some were helped by former brothers-in-arms, in the name of trench fraternity. These comrades visited them, voiced their requests and tried to make life less unbearable. 40 Yet, strikingly, hardly any mention was made, neither in specialized publications nor in registers of psychiatric wards, of the war and its consequences on the mental state of the Belgian population. It was as if the war had only been a parenthesis with specific circumstances, and that once the war and its devastations were over, the troubles would probably vanish as well. Overall, Belgian psychiatrists did not believe that the war had created new conditions. They thought traumatic neuroses - already present in peacetime - only reappeared in wartime, and while cases certainly intensified, that they were basically identical to previous cases of neuroses in their symptoms. They therefore did not see the need to innovate new ways of managing these conditions. 41 Belgium was in a shambles and had to rise from its ashes. The country wished to project the image of a small country that had been unjustly attacked and that had defended itself heroically. Neuroses did not fit this image. Sources and Bibliography Archive Sources Royal Military Museum (RMM) - Superior commander of the base at Calais, file 6, Report on the organisation of sanitary services at Calais. 9/ 3/ 1916. - Archives Centre for Historic Documentation (CHD), box n°28, section 7: condemned servicemen shot during the war. - File Leon Spaas, DO 2778. State Archives in Anderlecht - Fund court-martial campaign army 1914-1918. 40 C OSTALES , L’invalide belge, 15/ 9/ 1927, 3; Titre: Selzaete. 41 Bulletin de la société de médecine mentale de Belgique, 1914-1922. Christine Van Everbroeck 208 Printed Sources Anonym: Barèmes des invalidités, in: Le Moniteur Belge 97 (1927), 87-91. Anonym: Shell Explosions and the Special Senses, in: Lancet (27 March 1915), 663. -: Nervous Injury due to Shell Shock Explosions, in: Lancet (2 October 1915), 766. -: Après deux ans de guerre, in: Archives médicales belges (January, 1917), 8-9. -: Amounts for invalidity, joined to the Royal Decree of 4 May 1920, law of 23 November 1919 on military pensions, Le Moniteur belge, Bruxelles 1927. B ORGERS -S ERGENT , L.: Waarom wij, in België, sociale psychiatrie moeten doorvoeren, Brussels 1937. B ROUSSEAU A LBERT : Essai sur la peur aux armées. 1914-1918, Paris 1920. Bulletin de la société de médecine mentale de Belgique, 1919-1940. 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Following Ian Hacking’s suggestions and theoretical reflections, the essay focuses on the concept of the “historicity” of mental illness and on the diagnosis of hysteria, a very widespread syndrome among the many soldiers traumatized by the violence of the war. But what meaning was acquired by the category of hysteria in this particular context? The essay tries to answer the question by analyzing different collections of clinical records stored in many archives, among others in Rome, Volterra (Tuscany), Naples and Reggio Emilia. Zusammenfassung In Italien, wie auch im restlichen Europa, erkrankten während des Ersten Weltkriegs rund 40.000 Soldaten an nervösen Krankheiten. Der Aufsatz untersucht die spezielle Notfallversorgung, die wichtige Rolle der italienischen Psychiater in diesem Zusammenhang und deren theoretische Reflexion der kriegsspezifischen Symptomatik. Sie führten keine neuen Therapieformen ein, aber, dennoch war die am weitesten verbreitete Therapieform die Behandlung der Patienten mit elektrischem Strom sowie die Kaufmann-Methode. Angelehnt an Ian Hackings Thesen konzentriert sich der Aufsatz auf das Konzept der „Historizität“ von Geisteskrankheiten, wie auch auf die Diagnose „Hysterie“, ein unter den Soldaten weit verbreitetes Krankheitsbild. Aber was verstand man in diesem speziellen Kontext genau unter dieser Diagnosekategorie? Der Aufsatz versucht mittels einer Analyse verschiedener medizinischer Quellen bzw. Krankenakten aus mehreren Archiven in Rom, Volterra (Toskana), Neapel und Reggio Emiliea diese Frage zu beantworten. Vinzia Fiorino 212 1. Introduction In Italy, many soldiers - about 40,000 but possibly more - succumbed to nervous forms of illness and began “a downward course” from the frontline to the asylum nearest to their area or city of origin. As in the rest of Europe, it was a real emergency which politicians, the military and above all psychiatrists had to face. Italian historiography has investigated some aspects of this important event, first of all the important role that Italian psychiatrists played in this context: 1 they tried to legitimize the war and the nationalist culture, and they played a very important political role in order to send sick soldiers, after a brief recovery “now cured”, back to the front. During the war, the number of traumatized soldiers increased significantly: for the first time, cases of mental illness were on a mass scale, and it became necessary to organize a widely distributed neuropsychiatric service in the areas near the front. Many psychiatric hospitals organized a specific ward within their pre-existing structure for the soldiers who had fallen ill at the front. The role of Italian psychiatry acquired a great public importance, but there was no original theoretical reflection about the specific war pathologies. Italian psychiatrists continued to use traditional categories such as predisposition, heredity or degeneration. That is, they had essentially excluded (or greatly restricted) the pathogenic impact of the war: the war was not considered a real cause of nervous disease because it was thought that men who fell ill would in any case have done so, even in the absence of conflict, even without life in the trenches. But then, subsequently, the war became a contributory cause of the disease. Were new therapies put into practice? On the whole, I would say no. There were no specific therapies for soldiers who had gone mad because that period was a long intermediate phase in the history of Italian asylums - an intermezzo - between a first model based on 19 th century moral and physical treatment (hot and cold baths/ showers, infusions) - which had only been abandoned a short time earlier - and later the electroshock of the 1930s. In any case, the most widely followed therapy was undoubtedly the application of electricity on the patients’ bodies (even on private parts) and the Kaufmann method. Making life in an asylum harder than life in the trenches was a possible objective. This paper tries to reconstruct the way in which Italian psychiatry dealt with the very large number of soldiers who had fallen prey to nervous illnesses at the front: which theoretical models prevailed, which therapies were applied? But it also wants to reconstruct - through the testimony of some fragments of the medical records - the meanings acquired by the nosographic labels used in this context. For example, what meaning was acquired by the category of hysteria, a very widespread syndrome among the many soldiers traumatized by the violence of the war? It is obvious that in this case the meaning of hysteria was very different from classical hysteria, mainly applied to women in the 19 th century. 1 G IBELLI , L’officina della guerra; B IANCHI , La follia e la fuga; S CARTABELLATI , Dalle trincee al manicomio; B ABINI , Liberi tutti; L A F ATA , Follie di guerra; V ALERIANO , Ammalò di testa. First World War Neuroses in Italy 213 Therefore, I feel that it would be useful to clarify some of the choices of historical methodology: I work on the historicity of mental illness, the different forms it has taken in relation to changing historical contexts. In this regard, I always find Ian Hacking’s suggestions and theoretical reflections very useful: his concept of the “ecological niche” - as a set of contradictory factors that explain the manifestation, the emergence of specific forms of mental illnesses, strongly anchored to a particular historical context - is therefore markedly present in this essay. 2 In my opinion, as a historian, it is important to correlate the psychiatrists’ explanatory models and reflections about war neuroses with the specific cultural representations that emerge from the medical records. However, these two strata, obviously highly interwoven, are not exactly the same thing (or do not match perfectly), but it is very important to study both together or as a whole. The sources I have used are the soldiers’ clinical records stored in different psychiatric hospitals: Rome, Volterra (in Tuscany, which received more than five hundred sick soldiers during the Great War), Naples and Reggio Emilia. 2. Dealing with the soldiers traumatized at the front Near the front, pavilions, similar to those of mental hospitals, were soon erected. They were often single-storey structures which also had sections containing isolation rooms. In some war zones small psychiatric villages were even created: bounded by barbed wire and wire mesh, closed by steel bars, often near military police garrisons, they constituted a traditional protected area, out of sight of the other soldiers. 3 Soon, however, the inadequacy of the field psychiatric service became apparent: it was clear that all the mental hospitals would have to make their contribution within the context of total mobilization. In fact, between the end of 1915 and the beginning of 1916, despite the precarious economic situation, new pavilions and special sections for “mad soldiers” were quickly opened within the major Italian public mental hospitals, in this way being able to cope with the progressive increase in the demand for hospitalization. The whole process, however, caused congestion in the civilian mental hospitals, clinics and psychiatric observation departments: the crowding in all the institutions and the diagnostic difficulties worried the authorities, essentially interested in rapid and dynamic therapy capable of making the soldiers fit to return to the front. Short stays in hospitals, rapid legal procedures, diligent therapies were the objectives, even though difficult to achieve. Since 1915, the military High Command had set in motion a neuropsychiatric service entrusted to important Italian psychiatrists of the time: Arturo Morselli, Vincenzo Bianchi, Angelo Alberti, Giacomo Pighini. The main aims of the service included overseeing all the existing structures and checking the demands of hospitals, classifying and distinguishing between neuropathy and psychopathy, setting up 2 H ACKING , Mad travelers; cf. also L OUGHRAN , Shell Shock, Trauma, and the First World War. 3 M ANENTE / S CARTABELLATI , Gli psichiatri alla guerra, 106f. Vinzia Fiorino 214 - following the French model - the specialist service for neuropathology and entrusting it to psychiatrists. In this way, the State would save on pensions since simulators or those only suffering from passing ailments would not have benefitted. 4 This led to a significant decision: after the Italian defeat at Caporetto in 1917, a “Preliminary Collection Centre” in Reggio Emilia (a city near Bologna) was founded in January 1918, thanks to the initiative of an important Italian psychiatrist, Placido Consiglio. 5 This meant that there was a deeper awareness of having to deal with an emergency, a really big problem. The foundation of this centre constituted a turning point in the whole affair to a certain extent. The real goal of the “Preliminary Collection Centre” with its 800 beds was to limit and contain the evergreater exodus from the front. Over 50 soldiers per day, up to a maximum of 100 admissions per day, were arriving. About 40 per cent of them returned to the front. As Emilio Riva, a psychiatrist at the Preliminary Collection Centre, explained: “The Army Neuropsychiatric Departments, too few in number and with limited beds, were forced to make too hasty observations, to discharge patients too soon, and so many simulators or exaggerators managed to get away from the war zone.” 6 The Preliminary Collection Centre had to be at the dividing line between the war zone and the country and had to work as an hourglass: collecting the sick from the whole of the war zone and separating the healthy ones from those who were really ill. Albeit independent from the important Centre of San Lazzaro in Reggio Emilia, it re-proposed some cornerstones of mental hospital techniques: first of all, the separation of patients into neuropathic, psychopathic, epileptic and calm categories. Moreover, in the nearby mental hospital - even though the main purpose of the Primary Collection Centre tended more towards observation and the formulation of diagnoses than the implementation of therapeutic practices - there was a reprise of the ancient tradition of limiting the use of restraints and using limited forms of ergotherapy as a therapeutic response and a way of running the centre. 7 Whatever the case, the real aim was still to contain the exodus of soldiers from the front; here, in fact, the soldiers were subjected to strict observation and, after the formulation of a diagnosis, declared fit and returned to the front or were transferred to other institutions. Actually, they began real odysseys: before reaching the mental hospital closest to their hometowns, the soldiers were often sent back and forth from a military hospital to a psychiatric one or vice versa - or took even more chaotic and improvised paths dictated by the constant emergencies. The person in charge of the Centre was Placido Consiglio, a military psychiatrist who had already set in motion, in the army, a very widespread medical- 4 T AMBURINI , L’organizzazione; see also A LBERTI , I servizi psichiatrici di guerra. 5 P AOLELLA , Un laboratorio di medicina politica. 6 R IVA , Il centro psichiatrico militare. 7 P AOLELLA , Un laboratorio di medicina politica, cit. The same therapeutic approach based on ergotherapy was followed in the Volterra mental hospital, where there was already an important tradition in this regard; see F IORINO , Le Officine della follia. Ergotherapy and rural environments were also the solutions proposed for disabled ex-sevicemen; see M ODENA , Per l’assistenza dei mutilati nelle Marche. First World War Neuroses in Italy 215 psychiatric service between 1906 and 1911, in order to visit recruits and identify those who were ill. He had already been in charge of a field hospital in Tripoli during the Italian colonial adventure and the Italo-Turkish war. The Preliminary Collection Centre would be permanently closed in March 1919. Regarding the administrative and management aspects of dealing with this new “mad population”, I would like to emphasize two aspects. Firstly, there was an apparent paradox: on the one hand, the questions posed by the traumas of the soldiers at the front fully involved the scientific authority of the psychiatric body, giving it renewed prestige and a new social role; on the other hand, it was immediately relegated to a secondary level. In fact, not only did dealing with the patients remain in the hands of the military; in the many court cases that followed (especially for desertion, lack of discipline, self-harm, surrendering), the military judiciary also paid scant attention to the medical reports, and even when it did so, they were not considered important. Military justice displayed, in this context, its hardest and most perfunctory side, preferring exemplary punishments to ascertaining the cause of the disease through the psychiatric reports. Secondly, the high number of soldiers hospitalized in the many Italian mental hospitals and the continuous transfers increased the bureaucratic approach to the management of the admissions at the expense of the quality of care. In this situation, and for this specific category of patients, there was a large-scale sequential logic in dealing with them: they were categorized, sent home, transferred, given leave - all of which increased bureaucracy and, once again, downgraded the therapeutic aspects. 3. The theoretical models of war psychiatry The increase in bureaucratic procedures at the expense of more strictly medical investigations explains why the medical records of traumatized soldiers are often superficial, vague and devoid of any socio-cultural comments - the most interesting in the eyes of historians. These records essentially summarize the previous hospitalization notes. The doctors confined themselves to recording a patient’s condition on his arrival, paying special attention to looking for hereditary diseases, physical defects and organic deficiencies which could explain the symptoms. The war is almost ignored in the brief accounts of the illnesses and, in any case, the fact that there might be a casual link with the onset of the mental syndromes was virtually denied; that was in line with what the psychiatric literature had suggested. What were, in fact, the theoretical reflections on war traumas? Imbued with 19 th century paradigms, most of the Italian psychiatrists tried in every way to diminish the impact of the violence of war on the explanatory models of mental suffering, at least in the first phase. In this respect, what happened to Giovanni Mingazzini, the director of the mental hospital in Rome, is very emblematic: because of his willingness to recognize specific war neuroses, he was subjected to a very marked smear campaign by the Vinzia Fiorino 216 “Rivista popolare di politica, lettere, e scienze sociali”, directed by Napoleone Colajanni, a prominent figure of democratic interventionism, in November 1916. 8 He was accused of supporting neutralist positions and favouring the exemptions from military service through exaggerated certificates. This is the vital point: recognizing war as a pathological factor meant not agreeing with the nationalist culture and therefore opting for the defeatist positions. However, a completely different point of view was espoused by the psychiatrists whose aim was to cure the patients quickly in order to get them back to the front. The impact of the nationalist culture on this point, as well as on the subject of hysteria, which I will consider later, is of pivotal importance. It is noteworthy that a former director of this mental hospital in Rome, Augusto Giannelli, confirmed twenty years after the First World War what he had maintained with great certainty during this conflict: “The examination of the diseases during the period of the 1915-18 war, observed both in our hospital and in others, led the rapporteur to reaffirm what he had maintained in a Red Cross conference at the beginning of the 1914-18 war and had already been established in the Russo-Japanese war, namely: a) the non-existence of a war-induced psychosis; b) the common mental illnesses which arise during a war do not have special distinctive clinical features; only the hallucinations, the delusions, may be coloured by the environmental circumstances of the period during which they appeared to the superiors.” 9 Placido Consiglio and Vito Buscaino were also among those who agreed with this approach, based on the idea that the traumatized soldiers would sooner or later have manifested their mental disorders regardless of the war. This was coupled with the assumption that the simulations themselves were evidence of neuropsychological abnormalities or of a degenerative constitution - or even of a deficient and disharmonious development that had affected the most important mental functions, functions that governed social and ethical feelings. The inability to endure the demands of war was another proof of the absence of moral virtues. 10 In this vein, Emilio Riva considered, not by chance, that the illnesses linked with the war were purely transient. 11 In any case, the theoretical reference models were still the traditional ones: 12 with regard to war psychoses, Placido Consiglio argued with those who spoke in terms of a “new entity”: “[...] it is a question”, he explained “of the usual forms of depression, with a semi-stuporous psychic arrest as in cases of psychosis terror.” 13 Finally, Placido Consiglio’s analytical framework also included the figure of the anomalous individual (who deviates from the normal type) who, because of his 8 R OSCIONI / D ES D ORIDES , Il manicomio e la grande guerra. 9 G IANNELLI , Il nuovo ospedale provinciale S. Maria della Pietà. 10 C ONSIGLIO , Le anomalie. 11 R IVA , Un anno di servizio, 444. 12 S CARTABELLATI , L’esplorazione castrense. 13 C ONSIGLIO , Le anomalie, 134. First World War Neuroses in Italy 217 incomplete development, hereditary defects or pathological degeneration, presents an imperfect, irregular personality and is therefore more prone to criminality, an aspect exacerbated by the disciplinary constraints during the war. 14 On this basis, as Bruna Bianchi has effectively pointed out, some sectors of psychiatry did not hesitate to invoke eugenic measures: the elimination of those who were inept, abnormal and asocial emerged as a new form of eugenic interventionism. 15 The same point of view was expressed by Vito Buscaino, a Sicilian army psychiatrist, with the rank of lieutenant, who subsequently worked in various mental hospitals in Northern and Central Italy. He wrote: “The majority of the soldiers sent for medical observation consists of degenerates, children of alcoholics, epileptics, psychopaths, neurotics, endocrinopaths [...] primarily, then psychopaths and neurotics in general”. He concluded that the “individual constitution” that is, “the individuality of the person” is crucial in order to grasp the mental pathologies that developed during the conflict. 16 It is important to stress in this respect that the symptoms of traumatized soldiers were placed within the already known theoretical models: as Lattes and Goria wrote, one could not speak of war psychoneuroses since the symptoms that appeared were the same as those already known in cases of trauma from earthquakes, sudden explosions and other similar shocks. 17 Furthermore, two other authors included all the soldier’s pathological manifestations in the blast trauma: De Lisi and Foscarini wrote: ”Not really ill [...] but traumatized and emotionally disturbed by war, individuals in whom the real war, life in the trenches, the very particular world of toil and hardships, of terror and death determined the appearance not of real psychopathies but of nonspecific nervous or mental disorders, especially transient ones [...] different because linked to the individual factor.” 18 The Italian debate, which took place in the context of the major specialist periodicals of the time (“Rivista sperimentale di freniatria”, “Quaderni di psichiatria”, “Archivio di antropologia criminale, psichiatria e medicina legale” to cite only the most important), was, of course, part of a wider European reflection on this subject: the hypothesis, as supported by Joseph Babinski, Fritz Kaufmann and Ernst Kretschmer focusing on the dissemination of hysterical symptoms as an expression of the desire to escape from the war, had a significant impact. The emotional and psychic weakness of this type of soldier was thus, once again, widely restated. Caution, as well as dissatisfaction regarding the conclusions still far from the certainties that the positive spirit of science should have reached, transpired - instead - in a text by Giulia Bonarelli Modena, a psychiatrist from Ancona, one of the few women to pursue this profession in Italy at that time. Although she did not arrive at a comprehensive proposal, she examined the thinking and conclusions of 14 Ebd., 162. 15 B IANCHI , La fuga e la follia. 16 B USCAINO , Esperienza psichiatrica di guerra. 17 L ATTES / G ORIA , Alcune considerazioni. 18 D E L ISI / F OSCARINI , Psiconevrosi di guerra; in line with these ideas P IGHINI , Contributo. Vinzia Fiorino 218 contemporary French neurology, calling for balance, avoiding jumping to conclusions and further scientific investigation. 19 Above all, at the end of the conflict, what had been timid minority positions carried more weight. It would be worth considering those of Ferdinando Cazzamalli, a Lombard psychiatrist and a socialist deputy, whose reflections are those that best summarize the general conclusions of Italian psychiatry regarding war neuroses. He remained firmly anchored to a 19 th century paradigm based on the concept of degeneration, which can be transmitted by heredity from generation to generation; the biological heritage was mainly entrusted to the higher nervous centres; therefore, a deficit in the nervous heritage would cause a clear predisposition to nervous diseases in the heirs. In this context, the “war environment”, a pathogenic factor in itself, would be capable of causing brain damage, which could even be transmitted by heredity to healthy men and aggravate the psychophysical balance in those who were already weak. Basically, war inherently contains traumatic causes, which are so intense as to disturb, albeit temporarily, the nervous equilibrium of a constitutionally non-predisposed soldier; but inasmuch as it is a factor that causes degeneration, it can trigger a negative hereditary chain. Therefore, war can make men ill; these men, in turn, become a degenerating influence on their descendants. 20 4. Therapies in use In general terms, it would be useful to highlight two fundamental characteristics of the therapeutic approach that was pursued for traumatized soldiers in the various mental hospitals. The first point is that, in line with the revival of traditional and already well-tested psychiatric theoretical models, there were no new, specific treatment protocols. 21 The second feature concerns the vital importance, already highlighted, of the management of this huge mass of sick soldiers and their constant and rapid transfer from one hospital to another. Consequently, in the medical records there is often no link between the identified diagnosis and the applied therapy. The logic of the emergency seems to have been by far the dominant note. It is no coincidence that the medical records tell us very little of the treatments used for this type of patient. Introduced, more or less, to the tradition of the particular asylum to which they had been sent, some soldiers, as I mentioned earlier, found themselves subjected to ergotherapy while others had the oldest hydrotherapy (actually already called into question in that context), together with the oldest pharmacopoeia: bromide, chloral hydrate, purgatives, soothing infusions. In addition, use was made of force-feeding, straight jackets and being bound to beds in the very frequent cases of nervous agitation or refusal to eat. 19 B ONARELLI M ODENA , Neurologia di guerra in Francia. 20 C AZZAMALLI , La guerra come avvenimento storico-degenerogeno. 21 L EESE , Shell Shock. First World War Neuroses in Italy 219 More specifically, however, I would like to stress the fact that, as there was a tendency to deny the existence of a real mental illness, therapeutic responses focused on using persuasion with the soldiers: many of them would, in fact, be subjected to several series of impositions, others to hypnosis, and yet others to electric shocks to the whole body. The therapies varied: in order to re-educate the soldier whose consciousness had been dimmed, the psychiatrist Emilio Riva was among the few to insist on psychotherapy and, although aware of the length of this treatment, he emphasized the validity of the results. 22 As these soldiers were regarded as being more emotional, weaker, more prone to run away from the front, 23 many psychiatrists - following in the wake of the debate, mainly French, that saw hysteria as a pithiatic syndrome - wanted at all costs to force the soldiers to do their duty. With what methods? Through persuasion, also implemented using very severe methods. In the end, the application of electricity represented the most common therapy, even for categories of soldiers who manifested very different pathologies. Generally, this meant giving progressively stronger electric shocks, alternating with traditional military commands, known as the Kaufmann method. 24 The aim of such brutal practices was also to make the treatment worse than participating in the war in order to flush out the simulators, a real obsession during the conflict. Deeply embedded within the European debate, Italian psychiatry took up from French studies (and specifically from Joseph Babinski) the not solely psychiatric nature of hysteria, 25 while from Germany and Austria it took up Fritz Kaufmann’s faradic treatment. By different routes, the same conclusion was arrived at: to convince traumatized soldiers to return to the front - either by persuasive methods or by violent ones. The application of electricity on the bodies of the patients was also included in various so-called galvanic experiments, which were already in use in mental hospitals well before the First World War for different types of diseases. If in Austria and Germany electrical therapy resulted in brutal applications - there was the well-known court case in Vienna concerning Julius Wagner Jauregg, the doctor interrogated and acquitted after the war for the mistreatment of soldiers, as well as Sigmund Freud’s clear opposition to “electric treatment” - Agostino Gemelli, the author of an important work in the Italian debate on the issue, believed that, in addition to psychotherapy, “innocuous” electrical treatment would restore normal muscle tone. This was his experience especially in cases of mutism: following psychotherapy and some electric current applications, the result was precisely the recovery of speech by soldiers. 26 Strong faradic current shocks applied to the larynx 22 R IVA , Il Centro psichiatrico militare. 23 For decades, fleeing had been considered a neurotic symptom linked with hysteria. Regarding the very frequent cases of running away from the frontline, see the study by S ENISE , Origini e Forme. 24 R OUSSEAU , Électrothérapie des névroses de guerre; B IANCHI , Predisposizione, commozione o emozione? , 391. 25 See, for example, P IGHINI , Considerazioni patogenetiche. 26 G EMELLI , Il nostro soldato. Vinzia Fiorino 220 or the limbs, by causing involuntary movements or sounds, could end mutism or hysterical paralysis: this was the widely held idea and practice. The most interesting aspect of the therapeutic model based on electrical applications and forms of coercive persuasion - specifically in this context - is that the incitements and the commands were fully in line with the model used in the barracks: the soldiers were already trained to accept the rigid observance of military discipline, the uncritical subordination to orders, as well as respect for hierarchies. This would facilitate the full realization of the therapeutic model, and hence the achievement of mental health. This continuum between the brutality of military discipline and the therapies used in hospitals, in addition to wanting to punish the inability to adapt to military life and the discipline of war, confirms an idea rooted in the psychiatric paradigm: the period of stay in the mental hospitals and the therapies should not diverge from the patient’s lifestyle and social role in civilian life before his illness: this would facilitate his reintegration into exactly his social bracket. 27 In this case, however, there is more to be said: psychiatry had already certainly acquired, following in the wake of Charcot and Janet, the idea that there were various layers of consciousness: in the trenches and in battle, despite the mental weakening and psychic torpor, the functions of mental automatism were not affected; therefore, the lower states of consciousness continued to dictate certain actions and specific behaviours. This would explain the primitive model of hysterical behaviour, basically overwhelmed by a lower will, a will characterized by both blind obedience and stubborn resistance. The hysterical person was therefore particularly sensitive to primitive stimuli such as pain and anger; and above all, as soon as he received a word of command, it stimulated the lower will by predisposing him to immediate obedience. Essentially, a soldier’s weakness and dependence, namely the symptoms that he displayed, became the tools of his recovery. 5. A case study: the hysterical traumatized soldier At the beginning of this paper I posed a question: what is the specific meaning, in this context, of the label of hysteria? Which traditional elements were included in the category of hysteria? What did it summarize and propose? All diagnoses are historical constructions, and so I am investigating male hysteria applied to soldiers as a specific cultural framework rooted in a particular aspect of modern society. Nevertheless, the most widespread cases exhibit the most common disease, hysteria, which was, following Charcot’s reflection, also obviously a male disease, but which in practice in mental hospitals in Italy was predominantly female. Hysteria had then become significantly male and was applied to a type, such as that of the military that should match the stereotype of strong masculinity. As is known, hysteria was the most common syndrome among hospitalized soldiers. According to the medical records, there were cases of mutism, deafness, con- 27 F OUCAULT , Il potere psichiatrico. First World War Neuroses in Italy 221 tractures, paralysis, confusional states, tremors, tics and so on. Even though hysteria was already fully (or in effect) a male disease, cultural codes about the female gender continued to embody the soldier’s hysteria. I do not think that Italian psychiatrists feared a sort of dangerous feminization of the soldiers; I think, on the contrary, that the set of negative characters - essentially misogynistic - that over time had been used to build the categories of male/ female constituted the cultural background for identifying an equally negative model: that of the soldier who fell into the abyss of mental illness. There was, in fact, a kind of “gender dilemma” in the cultural construction of the hysterical soldier: the soldier distanced himself from the representation of traditional masculinity in different ways. 28 I have structured my reflections on four levels: 1. The hysterical soldier is suggestible and selfish; he gives greater importance to his own safety than committing himself completely to the collective cause. These were all elements which had clearly characterized the syndromes and the representations of women at least since the early 19 th century. Italian psychiatrists gave full vent to their disdain for the soldiers who were mentally ill: Placido Consiglio defined them as “human debris”; Vito Buscaino, following in the wake of Enrico Morselli, put forward a geographical distribution of the totally psychodegenerate with violent and excitable temperaments: the majority of degenerates with an “angry temperament” were to be found among the “hot blooded”, that is the Southerners (particularly the Sicilians) and the people of Romagna; 29 Sante De Sanctis, considered the father of infantile neuropsychiatry in Italy, wrote: “We psychiatrists do not train ‘cardboard men’ (this is a real danger for society); we are preparing ‘a strong generation, without nerves’.” 30 2. Hysterical soldiers do not have the theatrical seizures of female hysteria (such as the arc), but - as in classic hysteria - there is a resistance, an antagonism, a refusal which, in this case, is an act of will against war. They no longer walk because they do not want to march any more, they do not hear any more because they do not want to obey any more orders and so on. Too many emotions, just as in the paradigm of feminine weakness/ resistance. Not knowing how to defend the homeland means not being manly: Italian psychiatrists stress this aspect very strongly. 3. Psychiatric thinking strongly emphasized elements such as sensitivity, suggestibility, emotion, fear - all typically feminine traits - that effectively fuse the hysteria syndrome with the processes of massification, at that moment in history still at the centre of a great theoretical debate. From this point of view, the gender dilemma was accompanied by another contradiction that had a strong impact on the cultural construction of the figure of the soldier: his becoming a “mass-man”. The myth of the soldier was imbued with the values of heroism, the affirmation of the ego, the exaltation of physical strength; but in fact the soldier ended up being one of the most subjugated figures, oppressed by the rules of the most-blind obedience. The soldier hero, paradoxically, in order to achieve fully his objective, had to lose his 28 On the masculinity-nationalism relationship cf. M OSSE , Nationalism and sexuality. 29 B USCAINO , Esperienza psichiatrica di guerra, 224f. 30 S ANTE DE S ANCTIS , L’isterismo di guerra. Vinzia Fiorino 222 own identity and become part of the collective military body, obedient to the higher ranks. All this was part of a specific theory: the virtues of the military consisted in the full, blind obedience to orders; the best soldier was therefore rough, stupid only able to understand the discipline imposed solely through “the beat of the drum”. Following on from these accepted facts, Father Agostino Gemelli, in his important essay on the subject, takes up the concept of the “narrowing of the field of consciousness” that infuses the soldier, who during his life in the trenches arrives at the point of not seeing or hearing any more. Apart from the known ambiguities of Gemelli’s reflection, it is interesting to stress one point: the author considers the long process of depersonalization the soldier went through as also being a result of the officers’ authority; the soldier gradually abandoned his ideas, his life and created a new identity. He abandoned the perception of being an autonomous individual in order to acquire that of a member of a larger organization: the army as a collective body. Gemelli, also on the basis of Gustav Le Bon’s views, 31 considers the army to be akin to the masses and therefore like a manoeuvrable and suggestible human organism; but the masses are feminine and preferably hysterical (Gemelli, Scipio Sighele and other Italian political scientists agreed on this point). 32 The transition from soldier-hero to mass-soldier in fact implies the acquisition of certain traits - the crushing of the ego, psychic fragility, manoeuvrability - fully consistent with, and within, the gender problem that I mentioned. The cultural context of the hysterical syndrome envisages, encapsulates, summarizes the two processes considered: on the one hand, the soldier hero who becomes the mass-man; on the other hand, the manly soldier who loses his virility, his gender identity. 33 From this point of view, I find a particular psychoanalytic approach consistent, but as it was not taken into account in Italy until the Second World War, I will not be considering it. 4. Another manifestation of war neuroses would tend to confirm the “gender dilemma” that affected traumatized soldiers: namely, the revival of the ancient topos that makes mentally ill people feel possessed by the devil. It is the ancient manifestation of the “devil in the body”, an element strongly related to the 19 th century experience of female hysteria. According to 19 th century medical records, men spoke of devils, but were rarely possessed by them, also because of the obvious connection with the sexual symbolism. The sufferings of war call for the personification of a generic enemy, whose appearance can be assumed by the devil. This had not escaped the attention of psychiatrists: Ferdinando Cazzamalli, for example, speaks of the content of soldiers’ hallucinations in these terms: “The sick see the enemy advancing menacingly, often dressed in red like ‘devils’, or with monstrous heads and limbs; 31 The reference is obviously to his classic work, Psychologie des Foules, published in 1895. 32 B ABINI , Un altro genere, 483-485. 33 G OLDSTEIN , War and Gender; L ERNER , Hysterical Men; M ICALE , Hysterical Men. Regarding the decisive contribution of the studies on the conceptualization of male hysteria, cf. G OLDSTEIN , The Uses of Male Hysteria. First World War Neuroses in Italy 223 the thunder of the cannons, the echo of wild screams, the sound of a machine gun.” 34 Devils return in the fears of a hospitalized soldier, L. G., for example, whose “visual and auditory hallucinations” are described as follows: “he writhes in bed shouting continuously, ‘Devils, devils. But devils! ’.” And then after a few days: “Restless, anxious, agitated. He has to be kept secured to the bed because he tries to cut his abdomen, as he is dominated by the delusional idea of having devils in his body. He continuously writhes in bed and will not let anyone approach him [...]. The very marked mental decline is obvious.” 35 The long 19 th century tradition that had, albeit with some exceptions, electively seen sick women talking of having the ‘Devil in the Flesh’ expanded to express also the discomfort of traumatized soldiers. In both cases - for 19 th century women and later for World War I soldiers - their subjectivity was at stake. Once again, from the point of view of the genealogy of cultural models, we see the reprise of old cultural codes to express meanings adapted to a new historical context. Just as women were traditionally considered inferior, I would like to stress that no officer (I have never found a single case regarding an officer) but only ordinary soldiers - also inferior figures - were classified as suffering from the hysterical syndrome. Here is yet another example of a soldier admitted to the mental hospital of Volterra and then to the one in Rome: A. R. believed that he was possessed by the devil and in his medical records the doctors wrote: “He became mentally obtuse, torpid, taciturn, with behavioural disorders, disorientated.” Rejected by the army, in Volterra his psychological examination states: “He has always shown himself to be diffident, depressed, dominated by delusional ideas of a persecutory and mystical nature [...]. He believes his body is possessed by the Devil, who makes him a parasite and incapable of doing useful work, while on the other hand he sees angels who suggest that he should do some good and help those who cannot work. He feels able to do so, but the demonic influence paralyzes him, forcing him to commit actions contrary to his tendencies […].” As I have already highlighted, demonic possession is a metaphor to express an inner conflict about one’s own will or one’s own ability to choose between good and evil: A. R. continued with his inner dilemmas, thus giving us a general view of many of the elements of the hysteria of the World War I soldiers in Italy: “Even now it is not true that he carries out acts against his will; however, he cannot tell us whether he is a demon or an angel, a man or a woman, a friar or a priest. He is subject to an influence: he does not know how it is exercised, nor does he know whether he will be able to free himself from it. Regarding the things he said here, renouncing his country, the obscene words, he says that they were due to the bad treatments he received.” 36 34 C AZZAMALLI , La guerra come avvenimento storico degenerogeno. 35 Health Archives of the former psychiatric hospital of Volterra, the Medical Records of L. G., admitted to hospital on 28 June 1917 and discharged on 26 February 1918. 36 Health Archives of the former psychiatric hospital of Rome, the Medical Records of A. R., admitted to hospital on 31 Jannuary 1919 and discharged on 13 August 1919. Vinzia Fiorino 224 Conflicts of conscience and will are interwoven with an inherent weakness, which makes him suggestible; renouncing his love for his country clarifies even more the approach of the psychiatric discourse in this context. I would like to conclude by emphasizing that the cultural construction of the processes of personality disintegration experienced by the military was deeply rooted in the past, but also a great heritage that 20 th century society has been bequeathed. It is a complex and interesting legacy that presents a new anthropology of the 20 th century: that of the man defeated by emotions which are too intense and a nervous system which is too weak. Emotions which are too intense cause nervous disturbances and muscular rigidity. The automaton had entered the new 20 th century cultural landscape. Sources and Bibliography Archive Sources Health Archives of the former psychiatric hospital of Rome and Volterra - Medical Records of L. G., admitted to hospital on 28 June 1917 and discharged on 26 February 1918. - Medical Records of A. R., admitted to hospital on 31 Jannuary 1919 and discharged on 13 August 1919. 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V ALERIANO , A NNACARLA : Ammalò di testa. Storie dal manicomio di Teramo (1880-1931), Roma 2014. Marinesoldaten in der Irrenanstalt von Ancona im Ersten Weltkrieg Stefano Orazi Abstract The present article is the result of an investigation carried out for the first time on the medical records of the military Royal Navy, sheltered in the mental hospital of Ancona during the Great War. The documents kept in the local State Archives made it possible for us to reconstruct the medical experience of the 15 marines who, suffering from mental alienation, were sent from the hospital of the Military Defence of Ancona to the mental hospital of this region that was considered to be one of the best in Italy in those years. The author wants to show the difficulty met by the military circles and medical science of that time to understand generally defined pathologies although they were serious and very often incompatible with military life. Zusammenfassung Der vorliegende Aufsatz analysiert Krankenakten von italienischen Marinesoldaten, die während des Ersten Weltkriegs in der psychiatrischen Anstalt von Ancona aufgenommen wurden. Diese Krankenakten, hier erstmals Gegenstand einer historischen Untersuchung, befinden sich im örtlichen Staatsarchiv. Sie bilden die Grundlage für die Rekonstruktion der medizinischen Geschichte von 15 als „geisteskrank“ diagnostizierten Marinesoldaten, die vom Krankenhaus der militärischen Verteidigung Ancona in die psychiatrische Anstalt der Hauptstadt der Region Marken überwiesen wurden, damals eine der besten Einrichtungen in Italien. Der Autor zielt darauf ab, die Schwierigkeiten aufzuzeigen, die sowohl im militärischen als auch im medizinischen Umfeld beim Verständnis von Pathologien auftraten, die relativ vage definiert wurden, wenn man sie auch als schwerwiegend und häufig unvereinbar mit dem militärischen Leben einstufte. 1. Geisteskrankheiten in Italien zu Beginn des Ersten Weltkriegs Die historischen Betrachtungen zum Ersten Weltkrieg bewegen sich seit längerem zwischen einem extrem heroischen Mythisieren und dem entgegengesetzten heldenlosen Entmythisieren. Je nach Standpunkt des Betrachters findet man auf der einen Seite die Offiziersstäbe und auf der anderen die einfachen Soldaten. Das erlaubt uns, dieselben Tatsachen ganz unterschiedlich zu sehen. In dieser Studie betrachten wir Stefano Orazi 228 die aus dem Krieg stammenden seelischen Verletzungen, die meistens als lästige Störung für die Schlagkraft des Heeres angesehen wurden: Für die Offiziere waren sie ein unverständliches Drama, für die Soldaten dagegen ein Kampf mit Todesangst, Fluchtgedanken und Fahnenflucht. 1 Zur damaligen Zeit zwischen 1915 und 1918 machten es militärischer Stolz, Planungsfehler im militärischen Sanitätsbereich 2 und mangelnde psychiatrische Kenntnisse schwierig, die psychiatrischen Pathologien im militärischen Bereich richtig einzuschätzen. Das erklärt auch, warum in der heroischen Rhetorik von den Helden des Vaterlandes kein Platz für die dunkle Figur des „Geistesgestörten“ war, der zur damaligen Zeit sogar von der Psychiatrie selbst als ein minderes und anormales Wesen angesehen wurde, das in seiner natürlichen psychischen Entwicklung gescheitert war und aufgrund erblicher oder erlittener Gebrechen zu asozialem Verhalten und unmoralischem Charakter degenerierte: Gebrechen, die der Krieg mit seinen schwierigen Lebensumständen noch verstärkte und aus ihrem bisher latenten Status ans Tageslicht holte. Man könnte auch von „Kriegsneurosen“ sprechen, krankhafte, akut verlaufende Formen, die sich vor allem auf die Angstgefühle in der Schlacht beziehen und von einem Erschöpfungszustand begleitet werden. Diese kriegsbedingten psychischen Zustände seien fast alle in kurzer Zeit heilbar, wenn man sie in Kriegsgebieten rechtzeitig diagnostiziere und entsprechend behandle, so eine zeitgenössische Auffassung. 3 So wurden diese psychischen Störungen als spezifische Krankheiten und mögliche Konsequenzen des Krieges völlig missachtet, was noch durch die positivistische Auffassung der Organmedizin Ende des 19. Jahrhunderts unterstützt wurde, die Geisteskrankheit eher für eine organische Veränderung oder Verletzung des Gehirns hielt als für eine primär psychische Veränderung. So wurde ein wissenschaftlicher Hintergrund des Phänomens geschaffen, zu dem ätiologische Betrachtungen, die sich auf Kampfanstrengung und Stressbelastung im Krieg beriefen, nicht passten. Die italienische Medizin hatte sich bisher wenig mit diesem Phänomen beschäftigt - trotz einiger Erfahrungen im vorangegangenen Krieg gegen Libyen - und noch weniger „hatte sie sich ein Beispiel an der Verbesserung psychiatrischer Techniken der neuen angelsächsischen Psychiatrie, die zum Teil von der deutschen Psychiatrie unterstützt wurde, genom- 1 Obwohl es sich um ein medizinisches Thema handelt, soll dieser Artikel keine historischwissenschaftliche Abhandlung der italienischen Psychiatrie in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts sein. Es handelt sich vielmehr um einen sozialhistorischen Beitrag, der die schwierigen menschlichen Umstände von geisteskranken Soldaten aufzeigt, die mit ihren bösen Geistern kämpfen, und die fehlenden medizinischen Kenntnisse, die Engpässe der medizinischen Versorgung und die Unduldsamkeit der Armeeführung beschreibt, die um die Schlagkraft ihrer Streitkräfte besorgt war. Ich danke Maike Rotzoll und Axel Karenberg für ihre wertvollen Ratschläge. 2 Zur militärischen Marine O RAZI , Mobilization, 249-259. 3 Anonym, Rezension des Aufsatzes „Psichiatria di guerra“ von Arturo Morselli in den „Annali di medicina navale e coloniale“ 1916, 142. In derselben Zeitschrift findet sich ein Aufsatz von Augusto Giannelli mit dem Titel „Le malattie mentali e nervose in guerra“ mit der Behauptung, dass es keine besondere Psychose des Krieges gebe, es existierten die gleichen Psychosen und Psychopathologien wie in Friedenszeiten, nur häufig mit einigen Besonderheiten“ (ebd., 143). Marinesoldaten in der Irrenanstalt von Ancona im Ersten Weltkrieg 229 men. Schließlich, um die Situation noch zu verschlechtern, wurden 1916 in den Schnellkursen des Bildungsministeriums für Medizinstudenten die für psychische Krankheiten vorgesehenen Unterrichtsstunden um die Hälfte gekürzt, zu einer Zeit, als in Europa auf höchster Ebene über das Auftauchen von neuen Kriegspathologien wie Kriegszittern, hysterischer Blindheit oder Taubheit, Verlust der Sprache, panischen Reaktionen und partieller Lähmung debattiert wurde.“ 4 Kein Wunder also, dass „das typische Resultat des neuen Krieges genau die psychischen Störungen waren, vor denen die italienischen Psychiater ohne therapeutische Lösungen“ 5 angesichts dieser ungewöhnlichen Notfälle von Geisteskrankheiten standen. 2. Geisteskrankheit in den Militärkrankenhäusern Unangemessener Militärdienst und gleichzeitige Unzulänglichkeit der italienischen Psychiatrie spiegeln sich auch in den Dokumenten der Marine-Abwehr und der psychiatrischen Klinik von Ancona, die damals einen guten Ruf hatte, wider. 6 So findet man heute die Unterlagen zu 15 Fällen von Marinesoldaten, die als „geistes- 4 S ALONNA , Gli „scemi di guerra“, 43. Zu einer anderen Sichtweise bezüglich Geisteskrankheiten aus Kriegsgründen (ganz oder teilweise) in Frankreich L ARCAN / F ERRANDIS , Le service de santé, 482-500 (siehe auch das Kapitel „Psichiatrie de guerre“). 5 S ALONNA , Gli „scemi di guerra“, 65. 6 Für meine Untersuchung habe ich die psychiatrische Institution in Ancona gewählt, weil sie Anfang des 20. Jahrhunderts als vorbildlich für diesen Sektor galt und sogar zu den „ersten in Italien“ zählte (Brief von Guido Blasi Savini an Guido Modena, Macerata 5 Juli 1914, im Staatsarchiv von Ancona (im folgenden A SAN ), OP [Ospedale Psichiatrico], anno 1914, b. 50 (ex 66/ A), Fasz. 4419). Sogar die Redaktionen der damaligen Spezialzeitschriften betonen seit 1914, dass man in der Hauptstadt der Marken über eine fortgeschrittene Technik und Organisation verfügte, die die Institution auf eine Stufe mit vielen in der Schweiz, Österreich und in Deutschland stellte, noch dazu, wenn man berücksichtigt, dass Institutionen im Ausland über wesentlich größere finanzielle Mittel verfügten als in Italien (R UATA , Rezension, 542). Die Einrichtung in Ancona wurde zudem von 1913 bis 1939 von Gustavo Modena, „einem der angesehensten Psychiater in Europa“ (ebd.), geleitet, der eine Studienreise zu psychiatrischen Kliniken und Anstalten in Deutschland unternommen hatte. Über ihn schreibt B OYER P ELIZZA , La città degli altri, 69: „Die Leitung Modenas zeichnete sich durch großen Eifer in der wissenschaftlichen Forschung und ethisches Verantwortungsgefühl aus, das den Kampf gegen die psychische Entfremdung zu ihrem zentralen Ziel machte. Er wollte das Irrenhaus von einer Aufnahmestelle für ‚Demente‘ verwandeln in ein psychiatrisches Krankenhaus für psychisch Kranke.“ Aus diesem Grund wurden 1928 das Gesundheitsministerium und andere entsprechende Einrichtungen auf die Psychiatrie von Ancona „mit ihren Hygiene- und Prophylaxe-Maßnahmen von psychischen Krankheiten“ aufmerksam (A SAN , Ospedale neuropsichiatrico provinciale di Ancona [1901-1999]. F ORANI , Inventario dell'archivio, 1 (2015). Stefano Orazi 230 gestört“ oder als „nicht dement“ diagnostiziert worden waren, im Staatsarchiv. 7 Auf die Krankenakten dieser Patienten stützt sich die vorliegende Studie. Die darin enthaltenen anamnesischen Aufzeichnungen und, noch wichtiger, Behandlungsmethoden sind oft lückenhafte, hastige (häufig nur in Bleistift geschriebene) Notizen, sehr allgemein und kurz gehalten. Von den in das psychiatrische Krankenhaus eingelieferten Patienten wurde regelmäßig der Einlieferungstag, das Datum der Entlassung, der Grund für die Einlieferung und die ärztliche Krankengeschichte, die Anamnese und Diagnose, Untersuchungsergebnisse, Anmerkungen zum psychischen Zustand, Krankheitsverlauf und Heilung in vorgefertigten Formularen registriert. Es fehlen Aufzeichnungen von Erzählungen über Erfahrungen, die die Patienten im Krieg gemacht haben, und vor allem fehlt eine Gesamtübersicht über die Symptome der verschiedenen Pathologien der Patienten, die das verantwortliche Klinikpersonal sicher beobachten konnte. Man erkennt aus den Unterlagen, dass die Marine-Abwehr von Ancona eine eigene Krankenstation besaß, in der die verwundeten Soldaten aufgenommen wurden und in der es auch eine Abteilung für psychisch kranke Soldaten gab, die man den damaligen medizinischen Standards entsprechend für leichtere, schnell heilbare Fälle hielt, und die man nach kurzer Zeit wieder zu ihren Einheiten zurückschickte. Die schwereren Fälle dagegen wurden aus dieser Abteilung nach Ancona in das militärische Hauptkrankenhaus verlegt, die schwersten Fälle kamen dann von dort nach der Erstaufnahme und einer kurzen Untersuchung in die örtliche zivile Irrenanstalt unter der Leitung von Professor Gustavo Modena. Diesen Weg nahmen auch die 15 „geisteskranken“ Fälle, mit denen wir uns hier beschäftigen, im Zuge einer Synergie zwischen militärischen und zivilen Kräften, die Salonna folgendermaßen rechtfertigt: „Im Juni 1915 wurde [gleich nach dem Kriegseintritt Italiens gegen Österreich- Ungarn], auf Bewilligung der Provinz [von Ancona] und auf Anfrage des Kriegsministeriums, in der psychiatrischen Anstalt das Reservelazarett ‚Piazza d’Armi‘ eingerichtet. Es handelt sich um eine Beobachtungsstation für psychische Krankheiten von neuropsychopathischen Soldaten mit einer Abteilung für Allgemeinmedizin. Nachdem sich Probleme mit zahlreichen Fällen von nervösen Krankheiten bei Soldaten ergaben, schlug Prof. Modena im Mai 1917 vor, das Reservelazarett ‚Piazza d’Armi‘ als Neurologisches Zentrum des Korps von Ancona einzurichten, das sofort mit seiner Arbeit begann.“ 8 Eine unerwartete Synergie, die zwar gelegentlich vorstellbar (und auch wünschenswert) sein mochte, 9 in diesem Fall aber wenig verständlich erscheint, obwohl sie, wie in unserem Fall, praktisch üblich war. Was an der vorliegenden Dokumentation sofort auffällt, ist nicht nur das völlige Fehlen von militärischen psychiatri- 7 Dies sind alle Fälle von „geisteskranken“ Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg, die sich dort finden. Es ist jedoch nicht sicher, dass der Bestand vollständig erhalten ist. 8 S ALONNA , Gli „scemi di guerra“, 56-59. 9 Diese Zusammenarbeit zwischen allgemeinen Militärärzten und zivilen Psychiatern war in den Kriegslazaretten in der Nähe der Front und in den größeren Einrichtungen hinter der Front üblich. In Bezug auf den Sanitätsdienst der Streitkräfte verweise ich auf V AGNINI , Il Servizio neuro-psichiatrico, 226. Marinesoldaten in der Irrenanstalt von Ancona im Ersten Weltkrieg 231 schen Krankenhäusern - was an sich schon auf die geringe Bedeutung und die wenigen Spezialkenntnisse von psychischen Störungen bei den Streitkräften verweist -, sondern die Ersatzfunktion, die die Irrenanstalt von Ancona für das militärische Hauptkrankenhaus einnimmt, auch wenn die als besonders schwer klassifizierten Pathologien der Marinesoldaten sich als etwas anderes herausstellen. Es handelt sich also nicht so sehr um eine Interaktion von verschiedenen Spezialärzten, sondern vielmehr um ein Abschieben schwer psychisch Kranker in medizinische Einrichtungen, die nichts mit dem Militär zu tun haben. Die Patienten werden in „kompetenten“ Einrichtungen für ihre Krankheiten - in unserem Fall neuropsychiatrische - verbracht, für die sich die militärischen Einrichtungen damit als „inkompetent“ erklärten: ein Ergebnis der in der Geschichtsschreibung wohlbekannten, schwierigen Rekrutierung von Militärärzten, die quantitativ und qualitativ vor allem auf psychische Krankheiten spezialisiert sind. Symptomatisch für diesen Mangel an solchen militärischen Einrichtungen ist der Fall von Michele Petto aus Torre del Greco bei Neapel, mit Wohnsitz in Livorno, ein 25 Jahre alter Marinesoldat des Panzerzugs Nr. 3 der Marine von Senigallia. Dessen vorgesetzter Militärarzt beschließt, ihn am 19. Juli 1917 in die psychiatrische Abteilung nach Ancona zu überweisen, wegen „psychischer Störungen? “, wie er mit einem Fragezeichen notiert. Was hat ihn zu dieser Bemerkung veranlasst? Der Offizier schreibt: „Keine besonderen Vorkommnisse in der familiären und persönlichen Anamnese. Petto ist bei vollem Bewusstsein und hat ein unversehrtes Erinnerungsvermögen. Er wiederholt unaufhörlich den Satz ‚Bel giovane! ‘ (Hübscher Bursche)“. 10 Nicht viel, oder zumindest nicht besonders viel, schreibt der Arzt über die Symptomatologie des Marine-Infanteristen, aber das Wenige genügt, um ihn unverzüglich und erst einmal vorläufig in die Irrenanstalt einweisen zu lassen. Am folgenden Tag (20. Juli) ist Michele Petto bereits wegen „schwerer psychischer Verwirrung“, wie Professor Modena diagnostiziert, in die psychiatrische Anstalt von Ancona eingewiesen. Eine Diagnose, die ebenfalls überrascht, wenn man dem Glauben schenkt, was der Leiter (vielleicht an das Marine-Krankenhaus von Venedig, wohin auf Anfrage des Panzerkommandos Petto überwiesen werden sollte) schreibt: „Als er in dieser Anstalt ankam, war er ruhig, aber verwirrt, ein wenig desorientiert und benommen. Nach einigen Tagen hat sich sein Zustand leicht gebessert, er antwortet auf Fragen, ist aber weiterhin benommen.“ 11 Genügte es wirklich, ein „wenig“ benommen zu sein, um als schwer geistesgestört zu gelten, noch dazu, wenn der Kommandant der Carabinieri Reali von Livorno der Anstalt gegenüber schriftlich erklärt, dass „nicht bekannt sei, dass der Marinesoldat Petta [sic] Michele an psychischen oder nervösen Krankheiten leide oder gelitten habe? “ 12 Es handelt sich nicht um einen Einzelfall: Mit der gleichen Eile werden in vielen anderen Fällen „Geistes- 10 Relazione del Tenente di Vascello Comandante del Treno Militare n. 3 di Senigallia, Senigallia, 19. Juli 1917 in: A SAN , OP, Jahr 1917, b. 62 (ex 56 bis) Fasz. 3708, Krankenakte von Petto Michele. 11 Diagnosi del prof. Augusto Modena, in: A SAN , OP, a. 1917, b. 62, Fasz. 3708. 12 Lettera del Comandante la Compagnia dei Carabinieri Reali di Livorno alla Direzione del Manicomio Provinciale di Ancona, Livorno 4 agosto 1917 in: A SAN , OP, anno 1917, b. 62, Fasz. 3708. Stefano Orazi 232 gestörte“ kurz entschlossen von dem militärischen Hauptkrankenhaus an die Irrenanstalt von Ancona überwiesen und einfach dorthin verbracht. 13 3. Geisteskrankheit in der italienischen Gesetzgebung Anfang des 20. Jahrhunderts Zur Kontextualisierung muss man daran erinnern, dass das erste Gesetz zu Irrenanstalten in Italien von der Regierung Giolitti verabschiedet wurde. Das Gesetz vom 14. Februar 1904, Nr. 36 „Disposizioni sui manicomi e sugli alienati. Custodia e cura degli alienati“ berücksichtigt eher Kriterien der öffentlichen Ordnung - zum Schutz der Gesellschaft und des Lebens des Kranken - als sich mit den medizinischen und behandlungstechnischen Aspekten zu befassen. Es tendiert vor allem dazu (wenn nicht sogar ausschließlich, zumindest in der Praxis), die „Geistesgestörten“ aus der Gesellschaft der „normalen“ Bürger zu entfernen, da sie als gefährlich - für sich und für die anderen - angesehen wurden, aufgrund ihrer psychischen und moralischen Störungen. In Paragraph eins des Gesetzes heißt es dazu: „In den Irrenhäusern müssen Personen, die willkürlich als „geistesgestört“ eingestuft werden, bewacht und behandelt werden, wenn sie für sich oder andere gefährlich sind oder öffentliches Aufsehen erregen. […] Zu den bezeichneten Instituten zählen all jene, in denen Geistesgestörte jeglicher Art aufgenommen werden.“ 14 Wenn das die öffentliche Funktion der Irrenanstalten war, dann ist es verständlich, dass man die Geistesgestörten „einsperrte“, weil sie das normale Soldatenleben störten und weil sie durch den Wunsch nach Flucht aus dem Kriegsdienst andere Soldaten zur Nachahmung animierten. Deshalb wurden sie von den gesunden Soldaten im Dienst ferngehalten. Der Geisteskranke war jemand, für den sich das Militär nicht interessierte, es sei denn, er wurde geheilt und konnte schnell wieder in das Heer integriert werden, nachdem er eine Zeitlang behandelt worden war. Die Eile, mit der man sich dieser Kranken entledigte, zeigt, dass die Verantwortlichen des militärischen Sanitätsdienstes der Marine nur eine ungefähre Vorstellung von Bandbreite, Schwere und Ätiologie der psychischen Störungen und ihrer möglichen Bezüge zum Krieg hatten. In der Tat überwiesen sie sofort ihre eigenen „schweren“ Fälle an das örtliche zivile Irrenhaus - häufig sogar noch am selben Tag, an dem diese in das militärische Krankenhaus eingewiesen wurden, und ohne sie genauer zu untersuchen - und begründeten die Überweisung fast immer mit der stereotypen Floskel „geistesgestört“. Sie verwendeten diesen Begriff gleichermaßen für „echten Irrsinn“, für „Zustände der Verwirrtheit und Psychosen“, für „leicht Verwirrtheit“, „psychische Schwäche“, „Melancholie“, „Neurasthenie“, „Psychasthenie“, „manisch-depressive Psychose“, „depressive Störungen“, „manische Erregung“, „progressive Paralyse“ und „Epilepsie“: verschiedene Zustände, die mit einer identi- 13 Vgl. z.B. die Krankenakte von Pollastrini Girolamo in: A SAN , OP, a. 1918, b. 69 (ex 62), Fasz. 4108. 14 Disposizioni sui manicomi e sugli alienati. Custodia e cura degli alienati (legge 14 febbraio 1904, n. 36). Veröffentlicht in: Gazzetta Ufficiale, Nr. 43, 22. Februar 1904. Marinesoldaten in der Irrenanstalt von Ancona im Ersten Weltkrieg 233 schen Formel als „psychische Verwirrung“ der betroffenen Patienten bezeichnet wurden, die „aus irgendeinem Grund“ unter psychischen Störungen litten, die für sich selbst oder andere gefährlich erschienen, wie es im Gesetz hieß. Diese allgemeine Klassifizierung der psychischen Störungen ermöglichte es den Militärärzten der Marine, die eigenen „Geisteskranken“ auf schnellstem Weg „vorläufig“ in die Irrenanstalt zu überweisen und den dortigen Ärzten die Definition der spezifischen Pathologie und vor allem die weitere Behandlung anzuvertrauen: Genesungsurlaub, für den weiteren Militärdienst geeignet oder nicht geeignet, ob sozial gefährlich oder - bei den „Unheilbaren“ und „Gefährlichen“ - endgültige Einlieferung in eine psychiatrische Anstalt. Es kam vor, dass die aufgrund eines richterlichen Erlasses 15 in die Irrenanstalt eingewiesenen Patienten nach einigen Tagen der Beobachtung als „nicht geistesgestört“ oder mit „kein nachweisbarer Irrsinn“ und den im ursprünglichen Krankenhaus gestellten Diagnosen vollkommen widersprechenden Urteilen wieder in das militärische Hauptkrankenhaus zurückkamen. Das war nicht allein die Schuld der Streitkräfte, da auch die Gesetzesvorlagen bei der Definition von „Geisteskrankheit“ sehr vage geblieben waren. Wer war von Artikel eins betroffen? Genauer betrachtet waren dort die „Irren“ gemeint, die unter einer schweren psychischen Störung litten und sich deshalb unverantwortlich verhielten. Aber sowohl das Gesetz vom 14. Februar 1904, Nr. 36 „sui manicomi e sugli alienati“ als auch die Vorschrift vom 16. August 1909, Nr. 615 „Per la esecuzione della legge 14 febbraio 1904, n. 36“ 16 sind nicht ausreichend: Die Vorschriften definieren nicht die Bandbreite, die allgemeine Symptomatologie und die Grenzen der Pathologie. Daher beschränkten sich die „Irrenhäuser“ trotz der minimalen Gesetzesvorlagen, die sie als „Heilanstalten“ beschrieben, weitgehend auf die einfache Funktion, die Kranken im Interesse der sozialen Sicherheit zu bewachen. 4. Krieg und Geisteskrankheit War es möglich, einen Bezug zwischen den psychischen Störungen und dem Kriegsdienst zu finden? Auch unter diesem Gesichtspunkt sind die Krankenakten der Irrenanstalt von Ancona nur bedingt nützlich: Nicht nur der militärische Apparat, sondern auch die damalige Psychiatrie zögerten sehr, eine Beziehung zwischen den traumatischen Kriegserlebnissen und dem Auftreten von psychiatrischen Phänomenen anzuerkennen. „Hat nichts mit dem Dienst zu tun“ findet man manchmal in den Notizen der Krankenakten und auf diese Weise wird die „Geisteskrankheit“ in 15 Das legte der Artikel Nummer zwei des zitierten Gesetzes vom 14. Februar 1904 fest: „Die Einlieferung der Geistesgestörten in die Irrenanstalten […] wird vom Richter durch Vorlage eines ärztlichen Attests und einer eidesstattlichen Erklärung vorläufig veranlasst und endgültig vom Gericht im Sitzungssaal auf Anfrage des Staatsanwaltes auf Grundlage des Berichts vom Direktor der Irrenanstalt und nach einer Beobachtungszeit, die einen Monat nicht überschreiten darf, genehmigt“. 16 Erschienen in: Gazzetta Ufficiale, Nr. 217, 16. September 1909. Stefano Orazi 234 keinerlei Verbindung zu dem Marinekorps gesehen und der Kranke seinem Schicksal überlassen. Es ist tatsächlich so, dass kein an die Irrenanstalt von Ancona überwiesener „geistesgestörter“ Marinesoldat für untauglich erklärt wird, weil der Dienst ihn krank gemacht hat. Diese oberflächliche Militärethik verstärkt die Überzeugung, dass der Krieg keinen großen Einfluss auf die psychischen Störungen haben konnte. Das schrieb beispielsweise der Hygieniker Prof. Giuseppe Sanarelli, der in einem 1915 in Frankreich erstellten Sanitätsbericht bestätigt: „Unter den vielen Gerüchten um den Krieg gibt es ein besonders trauriges, weil es behauptet, dass, sobald ein bewaffneter Konflikt zwischen zwei Völkern ausbricht, die Zahl der Geisteskranken erschreckend zunehme.“ 17 Und der Historiker Alessandro Vagnini bemerkt heute: „Die Untersuchung der von der Gesundheitsbehörde gesammelten Daten [die sich zum Kriegseintritt Italiens um die Funktion der Sanitätseinrichtungen für die Truppen an der Front kümmern sollte] scheint auszuschließen, dass der Krieg ein Grund für die besonderen psychotischen Syndrome sein könnte.“ 18 Das Phänomen wird heruntergespielt und verhindert, dass viele Formen von Geisteskrankheiten als echte Krankheiten (mit allen Ansprüchen) anerkannt werden. Fast immer ist der besondere Stress der Militäreinsätze ein Auslöser oder die Ursache (zumindest gemeinsam mit den hypothetischen angeborenen Dispositionen oder vorbestehenden Leiden, wie es beispielsweise die Syphilis war). Ein Vorgehen, das aus Sicht einer von der „modernen Antipsychiatrie“ vertretenen Idee absurd erscheint, die die Geisteskrankheit eher als Ergebnis einer „gestörten“ Beziehung zu Umwelt sieht denn als eine Eigenschaft des Subjekts in einer Krise. Damals jedoch herrschte die positivistische Ansicht in der Psychiatrie, die „den einzelnen Menschen als Träger von individuellen Symptomen körperlicher Ursache versteht, die zuerst festgestellt und dann, wenn möglich, geheilt werden“, 19 dort, wo man eine direkte Verbindung von Ursache und Wirkung zu erkennen glaubte. Auch die Akten der hier untersuchten 15 Marinesoldaten der Anstalt von Ancona spiegeln diese Grundauffassung wider. Ersilia Ezia Fattori, die Schwester des Marinesoldaten Roberto Fattori, schreibt aus Castiglione delle Stiviere in der Provinz von Mantova an den Direktor der Irrenanstalt von Ancona, Gustavo Modena, in die der Bruder zwei Jahre zuvor vorläufig (wie es in seiner Akte steht) am 18. Oktober 1918 wegen „progressiver Lähmung“ eingeliefert und am 13. November des gleichen Jahres entlassen worden war, um gleich darauf für immer in die Irrenanstalt von Mombello bei Mailand eingeliefert zu werden, wo er kurz darauf starb. Frau Fattori bittet Direktor Modena um ein Zertifikat, dass „die Psychose ihres Bruders zweifellos durch die Anstrengungen und Erlebnisse in den vier Kriegsjahren als Korporal bei der Artillerie an der Front, wo er 17 Relazione del professore Giuseppe Sanarelli intorno alla sua missione sanitaria in Francia, Jahr 1915, in Archivio Centrale dello Stato, MI, DGSP, b.154 (1910-20), siehe Paragraph X mit dem Titel „Le malattie mentali e la guerra“. 18 V AGNINI , Il Servizio neuro-psichiatrico, 234. Als Kommentar fügt Vagnini hinzu: „Trotzdem ist es deutlich, wie die Umstände der Kämpfer, die Anstrengung und der außerordentliche Stress Auslöser für die verschiedenen Pathologien der emotionalen Zustände gelegentlich mit den Kriegserfahrungen verbunden sind.“ (ebd.). Von Vagnini siehe auch den Artikel V AGNINI , Inside the Soldiers’ Minds, 337-354. 19 G ASTON , Genealogia, 88; vgl. DERS ., Psichiatria. Marinesoldaten in der Irrenanstalt von Ancona im Ersten Weltkrieg 235 auch verletzt wurde, und dann bei der Marine ausgelöst und verschlimmert wurde“. 20 Das Zertifikat hatte ausschließlich einen humanitären Zweck: Die Gemeinde von Castiglione delle Stiviere - Geburtsort des Marinesoldaten - hatte beschlossen, eine Gedächtniskapelle in Marmor mit den Namen der für die Heimat Gefallenen aufzustellen. Auf dem Denkmal sollte der in der Schlacht Gestorbenen gemeinsam mit jenen, „die den Tod nicht auf dem Schlachtfeld, sondern durch eine erlittene Krankheit oder durch Strapazen fanden, gemeinsam gedacht werden“, schreibt Frau Fattori in ihrem Brief. 21 Es ist ziemlich offensichtlich, dass man den verstorbenen Roberto zu Letzteren hätte zählen können, aber das geschah nicht. Wie war der Diagnoseverlauf des eingelieferten Soldaten? Der Offiziersarzt, Leiter der Krankenabteilung der Marine- Abwehr von Ancona, hatte dem eigenen Reservelazarett folgendes geschrieben: „Fattori ist im Büro des Kommandanten aufgetaucht und hat in einem aufgeregten Ton und mit wilden Gesten unzusammenhängend über die politischen Ereignisse gesprochen. An diesem Verhalten von Fattori ließ sich eine starke seelische Erregung erkennen. Trotz unterschiedlicher Bemühungen ihn wieder zu Verstand zu bringen, hat sich das Verhalten von Fattori nicht geändert, auch nicht auf der Krankenstation, deshalb wurde es nötig den Schwachsinnigen in eine sichere Zelle zu schließen.“ 22 Dann wurde er in die Irrenanstalt nach Ancona überführt, deren Krankengeschichte folgende „Anamnese“ verzeichnet: „[Übermittelt vom] militärischen Hauptkrankenhaus Ancona wegen manischer Erregung. Erzählt, dass er Sohn eines Arztes ist, der an einem Leberleiden gestorben ist; dass der Bruder gesund und Ingenieur ist; dass eine Schwester Sprachlehrerin ist. Seit 19 Jahren Soldat. Er ist gealtert. Er ist an der Front gewesen und bei San Michele [del Carso] am Knöchel des rechten Beins verwundet worden. Er hat Syphilis gehabt und Injektionen von Hormonen und Salvarsan bekommen.“ 23 In seinem Antwortbrief an Fattoris Schwester erklärt Gustavo Modena, dass während des Krankenhausaufenthaltes die folgenden Phänomene festgestellt worden seien: „eine große Erregung mit beträchtlicher Euphorie, Größenwahn und Sprechstörungen“ und eine „generelle progressive Paralyse“ 24 die, wie der Direktor der Anstalt dem Staatsanwalt mitteilte, schon „von Anfang an […] unheilbar […] und 20 Lettera della sig. Ersilia Ezia Fattori al prof. Gustavo Modena, Castiglione delle Stiviere 15. Oktober 1920, in: A SAN , OP, a. 1918, b. 71 (ex 64), Fasz. 4301, Krankenakte von Fattori Roberto. 21 Ebd. 22 Lettera del tenente medico alla Direzione dell’Ospedale militare Principale di Ancona, Ancona 20. Oktober 1918, in: A SAN , OP, a. 1918, b. 71 (ex 64), Fasz. 4301. 23 Krankengeschichte, Abschnitt „Anamnese“, in: A SAN , OP, a. 1918, b. 71 (ex 64), Fasz. 4301. 24 Lettera del direttore [del Manicomio di Ancona] alla sig.ra Ersilia Ezia Fattori, in: A SAN , OP, a. 1918, b. 71 (ex 64), Fasz. 4301 zit. In dem Brief überweist der Leiter der Psychiatrie den Marinesoldaten auf Wunsch der Familie an die Irrenanstalt von Mombello. Stefano Orazi 236 chronisch“ 25 war, weshalb Fattori für „absolut dienstuntauglich“ 26 erklärt wurde. Allerdings gibt es in der Krankenakte keine Hinweise auf den geistigen Gesundheitszustand von Roberto in den vorangegangenen vier Kriegsjahren, der aller Wahrscheinlichkeit nach „normal“ gewesen sein müsste, wenn wirklich nichts in der Anamnese auftauchte und wenn die Schwester sogar von einer „plötzlichen und schweren Psychose“ 27 des Bruders berichtet. Modena führt die progressive Paralyse wegen der auf ihn typisch wirkenden Symptome auf die Syphilis zurück (auf die er nicht näher eingeht) und antwortet auf die Frage von Ersilia Ezia Fattori einfach nur: „Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Strapazen des Militärs für den schnellen Verlauf und das Auftreten der schweren Krankheitsform Einfluss gehabt haben.“ 28 Direkter noch ist übrigens seine Antwort auf die Anfrage der Irrenanstalt von Mombello bei Mailand. Auf deren Frage, ob „die Geisteskrankheit, wegen der der Marinesoldat Roberto Fattori eingeliefert wurde, ihre Ursache im Militärdienst habe oder nicht“, 29 antwortet er nur kurz: „Progressive Paralyse. Kein Zusammenhang mit dem Militärdienst vermutet“. 30 Eine Antwort, die dem Staat jedoch genügt - der finanzielle Ansprüche fürchtet - und vom Militär begrüßt wird, das sich damit aus der Verantwortung zieht. Etwas anders ist der Fall des Marinesoldaten Vastorella Antonio aus Neapel, 23 Jahre, am 25. März 1918 wegen „Geistesstörung“ in das militärische Hauptkrankenhaus von Ancona eingeliefert und sofort an das Irrenhaus der Provinz weiter überwiesen, wo er noch am selben Tag aufgenommen und eine „psychische Schwäche (Zyklothymie)“ 31 diagnostiziert wurde. In der Krankenakte findet man unter „Anamnese“: „Er wurde in der Abteilung [nicht genannt] mit einer Quecksilbervergiftung eingeliefert. Während seines Krankenhausaufenthaltes musste er überwacht werden, da er mit einem erneuten Selbstmordversuch drohte. Nachdem er wegen der Vergiftung nicht mehr behandelt werden muss, wird er in die Irrenanstalt eingeliefert. Er scheint vor neun Jahren an Syphilis erkrankt zu sein“. 32 Weiterhin steht in seiner Krankenakte unter „psychischer Zustand, Verlauf, Behandlung“ am 26. März die Bemerkung „Verwirrt. Antwortet nicht auf unsere Fragen. Wiederholt immer 25 Relazione al Procuratore del Re di Ancona, Ancona 21. Oktober 1918, in: A SAN , OP, a. 1918, b. 71 (ex 64), Fasz. 4301. 26 Ebd. 27 Lettera della sig. Ersilia Ezia Fattori al prof. Gustavo Modena, Castiglione delle Stiviere 15. Oktober 1920, in: A SAN , OP, a. 1918, b. 71 (ex 64), Fasz. 4301. 28 Lettera del direttore [del manicomio di Ancona] alla sig.ra Ersilia Ezia Fattori, in: A SAN , OP, a. 1918, b. 71 (ex 64), Fasz. 4301. 29 Il direttore del Manicomio provinciale di Milano in Mombello alla Direzione del Manicomio di Ancona, Mombello 12. Mai 1919, in: A SAN , OP, a. 1918, b. 71 (ex 64), Fasz. 4301. 30 Handgeschriebene Antwort von Gustavo Modena am 15. Mai 1919 in der „Lettera del direttore del Manicomio Provinciale di Milano in Mombello alla Direzione del Manicomio di Ancona“. 31 Nosographische Tabelle, in: A SAN , OP, a. 1918, b. 69 (ex 62), Fasz. 4098, Krankenakte von Vastorella Antonio. 32 Ebd., Abschnitt „Anamnese“. Marinesoldaten in der Irrenanstalt von Ancona im Ersten Weltkrieg 237 wieder, dass ihm der Kopf weh täte und keiner etwas dagegen tue“. 33 Offensichtlich wurde er kurz nach seiner Überweisung aus der Krankenstation in die „Irrenanstalt“ vom Direktor als geheilt erklärt. Am 11. April 1918 schreibt dieser an das Marine- Kommando: „Vastorella Antonio hat mit Quecksilber einen Selbstmordversuch unternommen. Während der ersten Tage seines Krankenhausaufenthaltes war er stark verwirrt, und sein Zustand hat sich nach und nach gebessert. Doch die Untersuchungen und Beobachtungen zeigen eine schwache psychische Konstitution, und er ist sich nicht immer seiner Handlungen bewusst. Er gilt als untauglich für den Militärdienst. Er zeigt im Moment kein Krankheitssyndrom, das seine Aufnahme in eine Irrenanstalt rechtfertigt.“ 34 In der Tat bestätigt die Staatsanwaltschaft von Ancona drei Tage später „die unverzügliche Entlassung“ 35 von Vastorella aus der Anstalt, aus der er am 20. April offiziell entlassen wurde. Der Fall ist abgeschlossen. In der Psychiatrie war offenbar eine Quecksilbervergiftung diagnostiziert worden und nach dem Abklingen der Symptome konnte der Patient in gewisser Weise als „geheilt“ gelten. Gleichwohl stellt sich die Frage nach der Ursache der Suizidalität: War sie durch die Kriegserlebnisse ausgelöst worden? War sie abgeklungen, hatte man einen Behandlungsversuch unternommen? Hier schließt sich eine andere Frage an: Welche Behandlung konnten die Anstalten bieten? Aus den Krankenakten aller 15 betroffenen Fälle geht keinerlei psychologische oder pharmakologische Therapie hervor, außer der gelegentlichen Gabe eines Beruhigungsmittels, angemessenen Ruhezeiten, ausreichender Nahrungsaufnahme und menschlicher Zuwendung für die Kranken. Das war im Grunde genommen vielleicht genau die Behandlung, die auch ihre Vorteile hatte: In den Krankenakten erscheinen niemals gewalttätige oder schmerzhafte Behandlungen sowie Stimulierung der Kranken mit Elektrizität und das lässt vermuten, dass diese nicht angewendet wurden. 5. Und die Heilungsdauer? Waren wirklich 15 bis 30 Tage - wie vom Gesetz vorgeschrieben - lang genug, um gesund zu werden oder die „Geisteskrankheit“ wesentlich zu verbessern? Ein geradezu paradigmatischer Fall scheint der von Ansevini Aldo zu sein, einem gerade 21jährigen Marinesoldaten aus Ancona, der von der Accademia Navale in Livorno kam und den Kurs für Leutnant-Maschinisten an der Spezialschule in La Spezia besuchte 36 und der offensichtlich leichte psychische Störungen zeigte und deshalb für 15 Tage in Erholungsurlaub geschickt wurde. Als sich die Zeitspanne für eine Heilung 33 Ebd., Abschnitt „Psychischer Zustand, Verlauf, Behandlung“. 34 Ebd., Relazione sul soldato Vastorella Antonio, Ancona 11. April 1918. 35 Ebd., Comunicato del Procuratore del Re, Ancona 14. April 1918. 36 Lettera del Capitano di Fregata Direttore ad Ansevini Aldo, Livorno 11. Juni 1918, in: A SAN , OP, a. 1918, b. 71 (ex 64), Fasz. 4249, Krankenakte von Ansevini Aldo. Stefano Orazi 238 als ungenügend erwies, wurde er zur Marine-Abwehr nach Ancona vermittelt, von wo am 29. Mai 1918 der Offiziersarzt Andrenulli an seinen Vorgesetzten folgenden Bericht schrieb: „Der Marinesoldat Ansevini ist seit circa 15 Tagen auf Genesungsurlaub bei seiner Familie, weil er unter Psychasthenie leidet. In dieser Zeit hat sich sein Zustand verschlechtert: Er ist in einem klassischen depressiven Zustand, von Angst und Selbstzweifeln geplagt. Diese Form ist heilbar, aber er muss in eine entsprechende Anstalt überwiesen werden. Wir schlagen die Einweisung in die örtliche Irrenanstalt vor.“ 37 Einige Tage darauf, am 4. Juni 1918, wurde Ansevini, wie üblich zu einer genaueren Untersuchung in das militärische Hauptkrankenhaus eingeliefert und dort als „geistesgestört“ diagnostiziert. Von dort wurde er noch am selben Tag in die zivile Irrenanstalt von Ancona überwiesen, während der Quästor noch am selben Tag eine rechtliche Genehmigung erließ. Eine schnelle Entscheidung: Der Fall musste offensichtlich von den Militärärzten als besonders schwer beurteilt worden sein. Aber wie ging die Geschichte Ansevinis weiter? Die Irrenanstalt von Ancona erklärt 15 Tage nach seiner Aufnahme den Kranken ohne weiteres „in einigen Wochen für heilbar“, 38 auch wenn er für die vollständige psychische Wiederherstellung einen „mindestens sechsmonatigen“ 39 Genesungsurlaub benötigte. Eine völlig falsche Prognose, wenn es zutrifft, dass er nach zwei Monaten immer noch in der Anstalt war. Am 10. August desselben Jahres bittet der Institutsleiter Modena in einem Schreiben an das Marineministerium um einen weiteren sechsmonatigen Genesungsurlaub für den Kranken, weil er immer noch sehr depressiv sei. Er beschreibt die Situation mit den folgenden Worten: „Ansevini Aldo befindet sich in einem schweren depressiven Zustand mit Angstzuständen, Selbstzweifeln und Suizidgedanken. Die Psychose, die selbstverständlich heilbar ist, ist leider rekurrent und der Soldat Ansevini kann aufgrund seiner labilen neuropsychischen Konstitution nicht zum Militärdienst zugelassen werden. Er wird hiermit für untauglich erklärt. Sein Zustand hat sich seit einigen Tagen leicht gebessert, und es werden die nötigen Maßnahmen getroffen, um ihn zur Familie zu schicken, die ihn für die Genesung aufs Land bringen möchte.“ 40 Das psychische Problem war also auch von der psychiatrischen Abteilung im Krankenhaus weit unterschätzt worden, wenn der Direktor zugeben musste, dass der Marinesoldat nach „einigen Wochen“ nicht genesen war, sondern nach zwei Monaten und sogar erst in den letzten Tagen nur eine ganz leichte Verbesserung seines Zustandes eingetreten war. Es ist hier offensichtlich, dass die Krankheit, die vom militärischen Hauptkrankenhaus als „psychische Störung“ und von der Anstalt als 37 Lettera del Capitano Medico Andrenulli alla [direzione della Difesa Mitlitare Marittima di Ancona], Ancona 29. Mai 1918, in: A SAN , OP, a. 1918, b. 71 (ex 64), Fasz. 4249. 38 Lettera (non firmata) del direttore del Manicomio di Ancona al Comando della Regia Accademia Navale di Livorno, Corsi di complemento, Ancona 18. Juni, in: A SAN , OP, a. 1918, b. 71 (ex 64), Fasz. 4249. 39 Ebd. 40 Lettera (non firmata) del direttore del Manicomio di Ancona all’Ispettorato di Sanità, Ministero della Marina, Ancona 10. August 1918. Marinesoldaten in der Irrenanstalt von Ancona im Ersten Weltkrieg 239 „Psychasthenie oder depressive Psychose“ beschrieben wird, nur ungenau diagnostiziert und die Behandlungszeit falsch eingeschätzt wurden. Noch mehr verwundert allerdings die vollkommen unüberlegte Haltung des Marineministeriums gegenüber der Krankheit Ansevinis. Es antwortet, nachdem es den Bericht aus der Irrenanstalt von Ancona erhalten hat, sofort mit folgenden Zeilen: „Nach Zustimmung des Sanitäts-Inspektorates der Marineeinheit erhält der Heizer in Ausbildung Ansevini Aldo […] aus der Marineabteilung von Ancona, ehemaliger Unteroffizier und Maschinist in Ausbildung einen zweimonatigen Genesungsurlaub, weil er an einer schweren Form depressiver Psychasthenie leidet. Am Ende des Genesungsurlaubs wird sein Gesundheitszustand erneut ärztlich untersucht, um ihn eventuell wieder in einen Ausbildungskurs für Unteroffizier- Maschinisten zu schicken.“ 41 Ganz offensichtlich hatte das Marineministerium von dem Bericht aus der Irrenanstalt von Ancona, in dem von der Unfähigkeit Ansevinis, weiter oder wieder an der Waffe Dienst zu tun aufgrund seiner starken „psychischen Labilität“, überhaupt nichts verstanden und war überzeugt davon, dass die in der Psychiatrie behandelte Krankheit nichts mit dem Krieg zu tun habe. Deshalb schickt sie den Marinesoldaten wieder an die Marineakademie von Livorno, damit er den Kurs als Unteroffizier- Maschinist beenden kann. Die Verantwortlichen in der Marine konnten dem Ausdruck „psychische Labilität“ keinen echten nosologischen Sinn geben und interpretierten ihn als einen Moment leichten Unwohlseins und konnten keinesfalls die Auswirkung des Krieges auf den Gesundheitszustand abschätzen. Nicht einmal die Spezialisten aus der Irrenanstalt von Ancona waren sich der wahren Ausmaße des Phänomens und des Leidensdrucks der Kranken bewusst. Ansevini wurde nicht innerhalb „weniger Wochen“ wieder gesund, sondern musste ganze vier Monate in der Anstalt bleiben und konnte erst am 5. Oktober 1918 mit der vorläufigen Diagnose „geheilt“ 42 entlassen werden. So konnte er seinen sechsmonatigen Genesungsurlaub zu Hause antreten. Aber war er wirklich genesen? Offensichtlich war der Leiter der Anstalt sich nicht sicher, wenn er im Entlassungsschein seines Patienten schrieb: „Am 5. Oktober 1918 ‚zur Probe entlassen und an den Vater übergeben, der ihn nach Hause begleitet“. 43 Aber das war auch kein Einzelfall. Der venezianische Marinesoldat Dardulin Giuseppe, 41 Jahre, Soldat des Marinekorps Genio della Marina wird - nach mehreren Psychiatrieaufenthalten - am 22. Februar wegen „Depressionen“ (in Verbindung mit Selbstmordgedanken) in Ancona eingeliefert, aber schon nach nur drei Wochen, am 15. März, als „geheilt“ angesehen und am 22. des folgenden Monats mit einem endgültigen Bescheid des Staatsanwalts entlassen. Der Bericht von Modena lautet: „Dardulin Giuseppe hatte eine Depression mit Selbstmordgedanken. Er hatte bereits mehrere depressive Phasen, die er zu Hause behandelt hat. Aufenthalt 41 F. De Grossi i. A. des Ministers, Estratto ordine del giorno Direzione Generale del C.R.E., n. 189 del giorno 10 agosto 1918, art. 12, in: A SAN , OP, a. 1918, b. 71 (ex 64), Fasz. 4249 . 42 Krankenakte von Ansevini Aldo, in: A SAN , OP, a. 1918, b. 71 (ex 64), Fasz. 4249. 43 Direzione Manicomio di Ancona - Foglio di dimissione di Ansevini Aldo, in: A SAN , OP, a. 1918, b. 71 (ex 64), Fasz. 4249. Stefano Orazi 240 in der Psychiatrie. Nach wenigen Wochen hat sich sein Zustand gebessert und er ist geheilt“. 44 So vollständig geheilt - musste der Leiter der Anstalt denken - dass er abschloss: „Er ist wieder für den vorherigen Dienst als Soldat des Korps Genio della Marina geeignet! “ 45 Dies erscheint als eine erstaunlich optimistische Prognose für jemanden, der bereits mehrfach depressive Phasen durchgemacht hat. Dann gibt es noch Ferrando Luigi, einen 22-jährigen Marinesoldaten aus Genua, „der bereits viele Male eingeliefert worden ist“. 46 Er wurde am 23. Juli mit „Halluzinationen“, 47 so lautet die Diagnose des Offiziersarztes aus dem militärischen Hauptkrankenhaus, in die Irrenanstalt von Ancona eingeliefert. Er beschreibt seinen Zustand folgendermaßen: „Er ist in einem sehr erregten psychischen Zustand, orientierungslos, mit weit aufgerissenen Augen und kann keinerlei Auskunft über sich geben. Er befindet sich in einem akuten Stadium geistiger Verwirrung“ 48 und fügt als eigene Hypothese und zweifelnd „Epilepsie? “ 49 in dem Einlieferungsschreiben in der Krankenakte der Irrenanstalt von Ancona hinzu. Ferrando wird am 25. Juli 1918 in der Psychiatrieabteilung eingeliefert und am 20. September entlassen, weil „es ihm im Moment gut gehe“ 50 - wie der Leiter Gustavo Modena schon am 14. desselben Monats an das Kommando der Marine schreibt. Schon am 2. August 1918 hatte der Direktor der Anstalt dem Staatsanwalt dargelegt: „Im Marinekorps zeigte der Kranke psychische Symptome, die ihrer Beschreibung nach auf einen symptomatischen Dämmerzustand schließen lassen“. 51 Und er fährt fort: „Auch hier zeigt sich der Patient verwirrt, düster, oftmals ungeordnet und verzagt“. 52 Offenbar wurden die bei Aufnahme bestehenden Symptome als epileptischer Dämmerzustand gedeutet. Nach deren Abklingen ging es dem Patienten vermutlich „gut“, wenn er auch kaum als von der angenommenen Epilepsie geheilt gelten konnte. Erstaunlicherweise wird er im Gegensatz zu Dardulin als für den Militärdienst geeignet erachtet. Aber ein noch schwerwiegenderer Fall ist, aufgrund seiner familiären Vorgeschichte, der Marinesoldat Antonio Musumeci aus Genua, 25 Jahre alt und seit fünf 44 Relazione del direttore del Manicomio di Ancona al Procuratore del Re di Ancona, Ancona 16. März 1918, in: A SAN , OP, a. 1918, b. 68 (ex 61), Fasz. 4073, Krankenakte von Dardulin Giuseppe. 45 Ebd. 46 Relazione del direttore del Manicomio di Ancona al Procuratore del Re di Ancona, Ancona 2. August 1918, in: A SAN , OP, a. 1918, b. 72 (ex 65), Fasz. 4394, Krankenakte von Ferrando Luigi. 47 Relazione del Tenente Colonnello medico dell’Ospedale Militare Principale di Ancona alla Direzione del manicomio, Ancona 23. Juli 1918, in: A SAN , OP, a. 1918, b. 72 (ex 65), Fasz. 4394. 48 Ebd. 49 A SAN , OP, a. 1918, b. 72 (ex 65), Fasz. 4394, Krankenakte von di Ferrando Luigi, 1. 50 Relazione del direttore del Manicomio di Ancona al Comando della Regia Marina, Ancona 14. September 1918, in: A SAN , OP, a. 1918, b. 72 (ex 65), Fasz. 4394. 51 Relazione del direttore del Manicomio di Ancona al Procuratore del Re di Ancona, Ancona 2. August 1918. 52 Ebd. Marinesoldaten in der Irrenanstalt von Ancona im Ersten Weltkrieg 241 Jahren Soldat. Er wird wegen „Melancholie“ 53 oder „leichter Psychasthenie“ am 22. August 1918 in die Irrenanstalt von Ancona eingewiesen und am 20. September entlassen wegen „nicht erwiesenem Wahnsinn“ 54 oder auch weil er „nicht verrückt“ 55 ist und deshalb nicht unter den Artikel eins des Gesetzes von 1904 fällt (entgegen dem Urteil des militärischen Hauptkrankenhauses). Bereits am 14. September schien er ganz geheilt: „Es geht ihm gut“ 56 schreibt Direktor Modena an das Kommando der Marine-Abwehr von Ancona. In der Anamnese wird Folgendes aufgeführt: „Er berichtet von Schwindel und Schlaflosigkeit, ist besessen davon an einer schweren Krankheit zu sterben. Er weint. Er isst tagelang nicht“. 57 Noch interessanter ist sein familiäres Umfeld: „Der Vater an Zwangsvorstellungen gestorben. Er war in der Irrenanstalt von Cogoleto. Die Mutter durch eine brennende Kerze zu Tode gekommen. Sie litt an Epilepsie. Die drei Brüder von einer anderen Mutter. Die drei Schwestern von einer anderen Mutter. Er hat eine Frau, aber keine Kinder. Als Jugendlicher hatte er eine Augenkrankheit. Als Soldat Tripper. Er war im Kriegsgebiet, ist nicht verletzt worden. Wurde im Militärkrankenhaus von Genua, Siracusa und Chiusi wegen Malaria behandelt.“ 58 Was folgt daraus? Man hält es für angebracht, ihn für einige Wochen auf Urlaub zu schicken, bevor er den Dienst bedingungslos wieder aufnimmt! 59 6. Resümee Aus dem bisher gesagten geht deutlich hervor, dass den Verantwortlichen im Militärkrankenhaus und in der Psychiatrie die gnoseologische Tragweite der schweren „Psychastenien“ nicht bewusst war, weshalb die unterschiedlichsten mentalen Störungen der Kranken, die weit schwerwiegender als vermutet waren, und ihre entsprechende Heilungsperiode nur grob klassifiziert wurden. Besonders auffällig ist, dass eine wissenschaftliche Bewertung der Wirkung verschiedener durch den Krieg hervorgerufener Stressarten auf die Persönlichkeitsstörungen völlig fehlt. Allerdings sollte diese Schlussfolgerung noch durch zwei grundsätzliche Beobachtungen ergänzt werden: 53 Krankengeschichte, Abschnitt „Anamnese“, in: A SAN , OP, a. 1918, b. 72 (ex 65), Fasz. 4395, Krankenakte von Musumeci Antonio. 54 Direzione Manicomio di Ancona Foglio di dimissione di Musumeci Antonio, in: A SAN , OP, a. 1918, b. 72 (ex 65), Fasz. 4395. 55 Relazione del direttore del Manicomio di Ancona al Procuratore del Re di Ancona, Ancona 30. August 1918 in: A SAN , OP, a. 1918, b. 72 (ex 65), Fasz. 4395. 56 Relazione del direttore del Manicomio di Ancona al Comando della Difesa Marittima di Ancona, Ancona 14. September 1918, in: A SAN , OP, a. 1918, b. 72 (ex 65), Fasz. 4395. 57 Krankengeschichte, Abschnitt „Anamnese“, in: A SAN , OP, a. 1918, b. 72 (ex 65), Fasz. 4395. 58 Ebd. 59 Relazione del direttore del Manicomio di Ancona al Comando della Difesa Marittima di Ancona, Ancona 14. September 1918. Stefano Orazi 242 1. Trotz der festgestellten Mängel waren die medizinischen Vorgaben und die psychiatrische Praxis mit existierenden „verhaltensstörenden“ Gründen in gewisser Weise vertraut, weil sie in dem Anmeldeformular „Modula informativa per l’ammissione dei mentecatti nel manicomio provinciale in Ancona“ zu den Persönlichkeitsstörungen der Patienten, wozu auch der anerkannte „Irrsinn“ zählt, aufgeführt werden. Das sieht man in den Akten des in Senigallia geborenen Eugenio Rognini, Seemann von Beruf, aber in diesem Fall kein Angehöriger der Marine. Er wird am 9. Juni 1870 als 25-jähriger wegen „gewalttätiger Wahnvorstellungen“ eingeliefert und in seiner Anmeldung wird folgendes festgestellt: „Alkoholmissbrauch als physischer Grund und ist verhaltensgestört, weil er seit einem jahrelangen Aufenthalt auf einem englischen Schiff an starken Angstzuständen leidet“. 60 Er hatte seine Mutter und seine Schwester mehrmals grundlos geschlagen und ihnen gedroht sie zu töten. Das gleiche aggressive Verhalten zeigte er auch gegenüber einem Unbekannten auf der Straße. 1909, während seines Aufenthaltes in Ancona, litt er so stark an Unterernährung, dass er in die Krankenstation verlegt wurde. 1914 steht in der Krankenakte verwundert: „Er lebt immer noch! ! “ 61 Ein paar Jahre später, am 4. März 1917, stirbt er an einem Kreislaufkollaps in einem Stadium von „völliger geistiger Umnachtung“. 62 2. Die Fälle der in die Psychatrie von Ancona eingelieferten Marinesoldaten aus den dreieinhalb Kriegsjahren zwischen 1915 und 1918 sind nicht zahlreich genug, um diese Fragestellung erschöpfend behandeln zu können oder auf die für die italienische Medizingeschichte insbesondere wichtige Frage zu antworten, ob und in welcher Form es in der italienischen Psychiatrie im Lauf der Zeit und mit wachsender Anzahl der Fälle eine Entwicklung der Nosologie der „Psychastenie“ sowohl im diagnostischen Bereich als auch während des Heilungsprozesses gegeben hatte? Auf diese Frage kann die vorliegende Untersuchung nicht antworten; dazu wäre eine umfassendere Studie nötig, in die auch die anderen psychiatrischen Anstalten des Militärs in Italien mit einbezogen werden müssten, und es müssten die Krankenfälle von Soldaten zu Land und zur See untersucht werden. Dennoch ist diese als Sozialgeschichte angelegte Untersuchung über die psychiatrische Anstalt von Ancona ein Ausgangspunkt, um sich in die Schicksale der armen „verrückten“ Soldaten, deren Krankheiten weder erkannt noch verstanden wurden, einzufühlen und zu verstehen, wie sie zwischen einem gefühllosen Militärkörper, der sie der Simulation verdächtigte, und einer psychiatrischen Medizin, die von einem wissenschaftlichen Statut noch weit entfernt war, aufgerieben wurden. 60 Municipio di Senigallia. Modula informativa per l’ammissione dei mentecatti nel manicomio provinciale in Ancona, Senigallia 7 Juni 1870 in: A SAN , OP, anni 1916-1917, b. 59 (ex 58), Fasz. 3844, Krankenakte von Rognini Eugenio. 61 Sezione „Decorso e cura“, 29 gennaio 1914 in: A SAN , OP, anni 1916-1917, b. 59 (ex 58), Fasz. 3844. 62 Ebd., tabella nosologica. Marinesoldaten in der Irrenanstalt von Ancona im Ersten Weltkrieg 243 Quellen und Literatur Archive Staatsarchiv Ancona (ASAN) - Akten des Ospedale Psichiatrico di Ancona (OP) Gedruckte Quellen Anonym: Rezension zu Morselli A, Psichiatria di guerra, in: Annali di medicina navale e coloniale 22 (1916), 142. Gazzetta Ufficiale - Nr. 43, 22. Februar 1904. - Nr. 217, 16. September 1909. R UATA , G.: Rezension des Bandes von Modena G, L’assistenza dei malati di mente nella provincia di Ancona. Note e riviste di psichiatria 7 (1914), 542-543. Literatur B ARHAM , P ETER : Forgotten lunatics of the Great War, New Haven/ London 2004. 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In particular, the military psychiatrist Placido Consiglio devoted from 1912 to this issue four papers on the main Italian psychiatric journal of those years, the Rivista Sperimentale di Freniatria (Experimental Journal of Freniatria), based on international literature and the experience gained from Italy during the 1911 Libyan war. The first paper is devoted to the problem of the presence of “degenerate” in the army, which, according to him, must be avoided if possible. The second one dealt with the different forms psychiatric illnesses occured during the war. The third paper focussed on the issue of the fugue in all its forms. The fourth one painted out the army's possible role in the prophylaxis and treatment of mental disorders. The outbreak of war involved directly or indirectly the leaders of the golden age of Italian positivist psychiatry, as Augusto Tamburini, Enrico Morselli, Leonardo Bianchi. At a conference held in 1917, during the most difficult time following the defeat of Caporetto, Enrico Morselli reminded doctors of their patriotic duties, which consisted in the direct commitment in the selection and care of the soldiers (about 40,000 of them were treated by the war psychiatric service) and of the use of their prestige among the general population to collaborate in the war propaganda. With few interesting exceptions, many of them became hostile against the German and Austrian emperors, people and psychiatry too. During the war, many mobilized young psychiatrists made important observations and were constantly confronted with what was published on other fronts. They debated the issue of the relation between the psychopathological symptoms of the soldiers, the traumatic accidents and the stress created by the war. The organization of war psychiatric care gave Italian psychiatrists the chance to experiment new methods of treatment different from that implemented in the asylum. These were based on an immediate, intensive and strong intervention realized as close as possible to the place where the problem occurred. For that suggestive psychotherapy, hypnosis and painful electric stimulation were used. Although the predominant opinion among Italian psychiatrists that the origin of war mental illness had to be related to organic factors or to a predisposing constitution, a minority among them believed that emotional factors could be a sufficent condition to cause those psychiatric disorders. Paolo Francesco Peloso/ Gabriella Molino 246 Zusammenfassung Die Diskussion über die Armee und den Krieg in Bezug auf psychische Erkrankungen setze unter italienischen Psychiatern bereits einige Jahre vor dem Kriegseintritt Italiens ein. Insbesondere widmete sich diesem Thema der Militärpsychiater Placido Consiglio in einer Serie von vier aufeinanderfolgenden Aufsätzen, die er im führenden psychiatrischen Fachjournal Italiens, dem Rivista Sperimentale die Freniatria, ab 1912 veröffentlicht hatte. Seine Erkenntnisse basierten auf den italienischen Erfahrungen im Krieg gegen Libyen 1911 sowie den verschiedenen Erkenntnissen aus der internationalen psychiatrischen Fachpresse. Der erste Aufsatz befasste sich mit dem Problem des Vorhandenseins von sogenannten degenerierten Soldaten in der Armee, deren Aufnahme, laut ihm, möglichst verhindert werden sollte. Der zweite Aufsatz befasste sich mit den verschiedenen Formen psychiatrischer Erkrankungen, die während eines Krieges auftreten konnten. Der Dritte konzentrierte sich auf die Thematik der Fuge in all ihren Variationen, während der vierte Aufsatz die Rolle der Armee herausstellte, die dieser bei der Vorsorge gegen psychische Krankheiten sowie deren Behandlung zukam. Mit dem Kriegsausbruch wurden die führenden Köpfe der positivistischen Psychiatrie in Italien, wie Augusto Tamburini, Enrico Morselli oder Leonardo Bianchi, direkt oder indirekt in die Diskussion involviert. Auf einer Konferenz, die 1917 während den schwierigen Zeiten nach der Niederlage bei Caporetto stattfand, erinnerte Enrico Morselli seine Kollegen an ihre patriotischen Pflichten als Ärzte. Sie sollten dieser durch Mitarbeit an der Auswahl und Behandlung der Soldaten (ca. 40.000 Soldaten wurden durch den Kriegspsychiatrischen Dienst betreut) nachkommen und ihr öffentliches Ansehen in der Bevölkerung dazu nutzen, um die offizielle Kriegspropaganda zu unterstützen. Bis auf ein paar wenigen interessanten Ausnahmen, war ein Großteil der Bevölkerung und der Psychiater dem deutschen und dem österreichischen Kaiser feindlich gesinnt. Während des Krieges machten einige junge eingezogene Psychiater wichtige Beobachtungen und waren ständig damit konfrontiert, was an anderen Fronten publiziert wurde. Sie diskutierten die Zusammenhänge zwischen den psychopathologischen Symptomen der Soldaten, den traumatischen Zwischenfällen und den durch die Kriegshandlungen ausgelösten Stress. Der Kriegspsychiatrische Dienst gab den italienischen Psychiatern die Möglichkeit neue Behandlungsmethoden auszuprobieren, die sich von denen unterschieden, die man in den psychiatrischen Anstalten anwandte. Diese basierten auf sofortigen, intensiven und starken Maßnahmen, die so nah wie möglich dort angewendet wurden, wo sie auftraten. Anwendet wurden suggestive Psychotherapien, Hynose und schmerzhafte elektrische Impulse. Obwohl die Meinung unter italienischen Psychiatern vorherrschte, dass der Ursprung der Kriegsneurosen zwangsläuft mit organischen Faktoren oder einer vorbelasteten Verfassung zusammenhing, gab es doch eine Minderheit, die nicht auschloss, dass auch emotionale Faktoren eine mögliche Voraussetzung für das Ausbrechen einiger psychiatrischer Auffälligkeiten sein konnte. Der Erste Weltkrieg und die Kriegsneurosen in der Fachpresse 1914-1919 247 1. Prolog Mitte des 18. Jahrhunderts erschienen in Italien die ersten Fachzeitschriften für Psychiatrie. Die begleitende Dokumentation der Tätigkeiten und der Reflexionen der Psychiater begann jedoch erst im ausgehenden 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In dem Zeitraum, auf den wir uns hier beziehen, gab es in Italien zahlreiche psychiatrische Fachzeitschriften. Diese wurden üblicherweise von psychiatrischen Kliniken herausgegeben. Sie beherbergten Debatten, die in besonders interessanter und lebhafter Weise Zeitgeschehen dokumentierten. Im Gegensatz zur Dokumentation der Arbeit der Militärpsychiater im Zweiten Weltkrieg 1 begleiteten die Zeitschriften im Ersten Weltkrieg die Arbeit der Psychiater an der Front Schritt für Schritt. Sie stellen somit eine wichtige dokumentarische Quelle dar, sei es für die Sammlung klinischer Kasuistiken, sei es für die Dokumentation von mit diesen zusammenhängenden Debatten. Die italienische Fachpresse begann bereits vor dem Kriegseintritt Italiens in den Ersten Weltkrieg den Zusammenhang zwischen Krieg und psychischen Störungen zu beschreiben. Dies mag mit den ersten Beobachtungen italienischer Militärpsychiater während des italienisch-türkischen Krieges um Libyen (1911) zusammenhängen oder damit, dass den italienischen Militärpsychiatern die französischen, russischen und vor allem auch die deutschen Beobachtungen während des russisch-japanischen Krieges (1904-1905) besonders präsent waren - eines Krieges, der heute als der erste moderne Krieg gilt. 2 2. Der Krieg vor dem Krieg Die „Rivista sperimentale di Freniatria“ wurde 1875 von Carlo Livi (1823-1877), Augusto Tamburini (1848-1919) und Enrico Morselli (1852-1929) an der psychiatrischen Klinik von Reggio Emilia gegründet. Sie wurde später die offizielle Fachzeitschrift der „Società Freniatrica Italiana“ (ab 1932 „Società Italiana di Psichiatria“) und war zu Beginn des 20. Jahrhunderts die wichtigste psychiatrische Fachzeitschrift Italiens. 1912 erschienen in dieser vier lange Artikel, 3 die der Militärpsychiatrie von Placido Consiglio (1877-1959) gewidmet waren. Consiglio war einer von zu diesem Zeitpunkt nur zwei italienischen Psychiatern mit einem militärischen Werdegang. In diesen Artikeln trat bereits der Großteil jener Fragen zutage, die später im Verlauf des Krieges diskutiert und vertieft wurden. 1 P ELOSO , La guerra dentro. 2 Diese Datierung scheint sinnvoll zu sein, auch wenn die Beobachtung der pathogenen Wirkung des Krieges bis in das 17. Jahrhundert zurückreicht. Es gibt sporadische Aufzeichnungen hierzu aus den napoleonischen Feldzügen, aus dem amerikanischen Sezessionskrieg, aus dem französisch-preussischen Krieg 1870, aus dem spanisch-amerikanischen Krieg um Kuba sowie aus dem englisch-burischen Krieg in Südafrika (vgl. G IBELLI , L’officina della guerra, 17-42). 3 C ONSIGLIO , Studi di psichiatria militare. Paolo Francesco Peloso/ Gabriella Molino 248 Der erste Artikel setzte sich mit sogenannten Degenerierten in der italienischen Armee auseinander. Diese seien zu identifizieren und präventiv von der Armee auszuschließen. Wörtlich hieß es bei Consiglio: „Das militärische Leben stellt keine Gefährdung für die seelische Gesundheit dar, außer für diejenigen, deren Gehirn keine Widerstandskraft gegen krankhafte Aggressionen aufweist.“ 4 Es sei folglich besser, die „Degenerierten“ vor Kriegsbeginn von der Armee auszuschließen, um unangenehme Überraschungen zu vermeiden. Hiermit nahm Consiglio Abstand von der Position Cesare Lombrosos, dessen Schüler er war. Denn Lombroso zufolge konnten einige Formen von Psychopathologie mit besonderer Verwegenheit einhergehen und sich die Betroffenen damit für einen Angriffskrieg als besonders geeignet erweisen. Allerdings waren Versuche Frankreichs, sogenannte Degenerierte in den Kolonialkriegen einzusetzen, gescheitert. 5 Der zweite Artikel befasste sich mit den verschiedenen Formen psychischer Krankheiten im militärischen Kontext, insbesondere mit Hysterie und Neurasthenie. Die Neurasthenie war laut Consiglio das häufigste Krankheitsbild, vor allem unter den Offizieren. Sie war durch Sorgen, Reizbarkeit, Unruhe, Verdauungsstörungen und andere Somatisierungsstörungen charakterisiert. Insbesondere wurde der Befund der „umherirrenden Neurasthenie” beschrieben. Dieser Befund sei durch den Drang, häufig die Garnison zu wechseln, gekennzeichnet. Außerdem beschrieb Consiglio die Hysterie als häufiges Phänomen bei „undisziplinierten“, „instabilen“ und „arbeitsscheuen“ Soldaten, die diese Krankheit häufig bloß simulierten: „Der Hysteriker ist in seiner Entwicklung retardiert und durch übertriebene Emotionalität gekennzeichnet.“ 6 Andere häufige Krankheitsbilder waren Epilepsie, Dementia praecox, Alkoholsucht, Tic-Störungen, Chorea, geistige Debilität, Psychosen, Syphilis, Psychopathien mit oder ohne Selbstverstümmelung, Paranoia, krankhafte Schüchternheit, Hitzschlag, Sonnenstich und Phrenastenie, die einer leichten bis mittleren intellektuellen Einschränkung entsprach. Besonders interessant erscheint folgende Passage, die beschreibt, wie schwierig es war, frühe Symptome der Dementia praecox von einem fehlenden Willen des Soldaten zu unterscheiden: „Bei diesen Soldaten manifestiert sich die geistige Krankheit in Faulheit, Arbeitsunfähigkeit und einer Unbeständigkeit, die als Trägheit, Unlust, Apathie oder Gleichgültigkeit in Erscheinung treten und die häufig […] durch Bestrafungen verstärkt werden […]. Diese psychischen Hürden können zu Unentschlossenheit und zu verzögertem Gehorsam führen, wenn nicht sogar zur Verweigerung des Gehorsams aufgrund der mentalen Blockade […]. Grundloses und unwillkürliches Lachen, das auch in Anwesenheit eines sie zurechtweisenden Vorgesetzten auftritt, kann als Provokation und Frechheit aufgefasst werden […]. Impulsivität, die bisweilen plötzlich auftritt, kann zu Gewalttaten und Rebellion führen […]. Von allen Geistesgestörten wird den hiervon Betroffenen am häufigsten vorgeworfen, zu simulieren, weil das geistige Defizit noch geringfügig ausgeprägt ist und sie noch nicht krank wirken […]. Das befremdende Verhalten, die Inkohärenz der Sprache, die 4 Ebd., 374. 5 Ebd., 380. 6 Ebd., 798. Der Erste Weltkrieg und die Kriegsneurosen in der Fachpresse 1914-1919 249 Neologismen und das gekünstelte Benehmen können zu diesem Fehlschluss beitragen, auch bei Medizinern. Andererseits können sie auch einen hysterischen Zustand vortäuschen, indem sie einzelne Aspekte und Erscheinungsformen übernehmen.“ 7 Consiglio machte außerdem folgende Beobachtung: „Heimweh tritt bei psychisch geschwächten Rekruten häufig auf und führt manchmal bis zu Suizid oder Desertion“. 8 Er zitierte in diesem Zusammenhang Ilberg, der 400 Suizide in der deutschen Armee innerhalb eines Jahres untersucht hatte. Ilbergs Forschungen hatten ergeben, dass der größte Teil dieser Suizide im ersten Trimester nach der Einberufung stattfand. In 30 Prozent der Fälle waren die Suizide, so Ilberg, mit Geisteskrankheiten assoziiert, von denen die Mehrheit auf „unzureichende psychische Ressourcen im Umgang mit Heimweh oder mit einer unreflektierten Abneigung gegen das militärische Leben“ 9 zurückzuführen war. Am Ende dieses Abschnitts setzte sich Consiglio mit einem Text des Psychiaters José Ingegneros (1877-1925) auseinander. Ingegneros hatte 1903 die Abhandlung „Simulazione de la locura“ (Simulation des Wahnsinns) veröffentlicht. Er schrieb, dass die Simulation einer Geisteskrankheit bei Soldaten „legitim und heilig“ 10 sei, da sie von natürlich auftretenden biologischen und sozialen Gründen motiviert sei. Für Consiglio hingegen war die Simulation einer Krankheit von „niederem Egoismus […] und einem Mangel an sozialer Solidarität und Patriotismus“ 11 motiviert. Consiglios Schlussfolgerung lautete: „Wenn es sich um eine Krankheit handelt, so muss sie behandelt werden; wenn es sich um einen Betrug und eine Täuschung handelt, so müssen sie bestraft werden“. 12 Im dritten Teil des Textes wurden Wehrdienstverweigerung, Desertion und Fahnenflucht untersucht. Consiglio führte diese Formen militärischer Verweigerung auf eine „wahrhaft konstitutionelle Tendenz [zurück], die oft erblich ist, frühzeitig auftritt, lang anhält und anfallsweise verläuft“. 13 Consiglio nahm eine genaue semiotische Analyse der Fahnenflucht und ihres Zusammenhangs mit verschiedenen psychiatrischen Erkrankungen vor. Er nahm hierbei in weiten Teilen auf französische Texte zu diesem Thema Bezug, außerdem auf literarische Figuren, wie den Vagabund in den Romanen von Maxim Gorki sowie Figuren aus der Geschichte der Psychiatrie, wie die wandernden Geistesgestörten bei Foville. Consiglio führte diese lange Kasuistik an, um die Nützlichkeit der Militärpsychiatrie in Friedens- und Kriegszeiten zu betonen: „Geistes- und Nervenkrankheiten werden sich multiplizieren, weil sich dieselben Ursachen, die in Friedenszeiten wirken, in ihren Effekten intensivieren (Müdigkeit, Hitze, Disziplin, Beschwerden unterschiedlicher Art); außerdem treten andere Aspekte hinzu, so der schlechte Trainingszustand alter Menschen, die Furcht vor dem Tod, der Schmerz durch die Trennung von der Familie, und vor allem die moderne Kriegsführung, bei der Schlachten, ob zu Land oder zu See, als Katastro- 7 Ebd., 803. 8 Ebd., 814. 9 Ebd. 10 Ebd. 11 Ebd., 840. 12 Ebd. 13 Ebd. Paolo Francesco Peloso/ Gabriella Molino 250 phen über die Menschheit hereinbrechen mit dem lauten Dröhnen der verschiedenen großen Artillerien, die hunderte von Menschen gleichzeitig vernichten, oder mit der Explosion mächtiger Minen, die die Erde sprengen oder ganze Kompanien verschlingen, oder mit dem schnellen Versinken eines torpedierten Panzerkreuzers mit seiner gesamten Besatzung […]. All diese Umstände bewirken Neurosen und Psychosen, die durch den starken moralischen und physischen Schock verursacht werden.“ 14 Der letzte Teil des Artikels befasste sich mit der Vorbeugung und der Behandlung psychischer Erkrankungen in der Armee. Hierbei lag ein Schwerpunkt auf dem Typus des psychisch Kranken, den Consiglio als den Anomalen („l’anomalo“) bezeichnete. Diese Kategorie war sehr weit gefasst. Der Psychiater schlug vier Unterkategorien vor: „Geistesgestörte“, „Neurotiker“, „Degenerierte“ und „Verbrecher“. Seiner Auffassung nach konnte die Armee in der Prävention der Anomalien eine doppelte Rolle spielen: Auf der einen Seite könne ihre strenge Disziplin im Falle leichter Anomalien eine Tendenz zu „asozialem“ Verhalten korrigieren. Damit die Armee diese vorbeugende Funktion erfüllen könne, sei es besser, die leichtgradig Anomalen gleichmäßig auf verschiedenen Abteilungen der Armee zu verteilen. Auf diese Weise könne man eine zu starke Störung der militärischen Abläufe verhindern. Spezialisierte Strafabteilungen für Soldaten, die sich geringfügiger Disziplinmängel schuldig gemacht hatten, sollten, so Consiglio, wie Erziehungsanstalten strukturiert werden. Sie sollten also wie Arbeitsabteilungen organisiert sein und auf die Erfahrungen aufbauen, die man in jenen Jahren in Psychiatrien und Gefängnissen mit der Ergotherapie gesammelt hatte. Andererseits war Consiglio bewusst, dass die Rekrutierung mit Risiken für die psychische Gesundheit verbunden war, nämlich der Trennung von der Familie, der Unterbrechung des gewohnten Lebensrhythmus sowie dem Phänomen der Schikane durch Dienstältere. Bei vielen Personen, die eine latente Anlage zu psychischer Krankheit trügen, könne dies zur Manifestation von Symptomen führen. Consiglio zog aus diesen Beobachtungen folgende Schlußfolgerungen: „Die aktive Früherkennung neuropsychiatrischer Anomalien […] ist in der Vergangenheit von großem Nutzen gewesen und wird in der Zukunft von noch größerem Nutzen sein, sowohl für das Individuum als auch für die Armee und das Vaterland, das seine gesunden und normalen Söhne dann nicht der Gefahr, die von den Anomalen ausgeht, ausgesetzt sieht. Erneute Bemühungen [in diesem psychiatrischen Arbeitsgebiet] werden noch deutlicher darüber aufklären, wie der meisterhafte Weg, den die Lombrosianische Schule für die Sozialmedizin vorgezeichnet hat, seine Wirkung für den Schutz des normalen zivilen Lebens und für einen unendlichen Fortschritt der Evolution, der Wissenschaft und vor allem der Moral des großen Kollektivs der Menschheit entfalten wird! “ 15 Dieser lange Artikel von Consiglio stellt den bedeutendsten Beitrag dar, der vor Beginn des Ersten Weltkriegs zu diesem Thema in der italienischen Fachpresse erschien. 14 Ebd., 890. 15 Ebd., 56. Der Erste Weltkrieg und die Kriegsneurosen in der Fachpresse 1914-1919 251 Außerdem verdient ein kürzerer Artikel von Luigi Daneo Erwähnung. Daneo beschrieb darin den Konflikt, der seiner Ansicht nach dem Phänomen der Kriegsneurosen zugrunde lag. Er antizipierte damit Freuds Theorie der Kriegsneurose, so wie sie 1918 auf dem Budapester Kongress der Psychoanalytiker deutlich wurde. 16 Das Gefühl der Angst hänge mit dem Selbsterhaltungstrieb zusammen. Die Angst sei eine der ältesten Errungenschaften der Evolution und der Ursprung der natürlichsten motorischen Reaktion, der Flucht. Dies würde mit Werten und Pflichten in Konflikt geraten, denn „höher entwickelte moralische Werte überzeugen das Individuum von der Pflicht, diese ist das absolute Ideal, sie lenkt und formt das Leben.“ Dies führe dazu, dass die natürliche Reaktion der Flucht unter der Herrschaft der Moral unterdrückt werde; am Ende „kehrt die Emotion zurück und ist noch schädlicher.“ 17 Andere Schriften sind deshalb bedeutend, weil sie 1914 geschrieben wurden, als der Krieg in Europa bereits begonnen hatte. In Italien hingegen diskutierte man noch, ob man in den Krieg eintreten und auf welche Seite man sich im Falle eines Kriegseintritts schlagen solle. Moissey Kobylinsky, Psychiater der Universität Genua, blickte bereits im November 1914, noch bevor die Hölle des Krieges auch über Italien hereinbrach, über den Konflikt hinaus. Nachdem er eine beeindruckende Beschreibung des Lebens der Soldaten im modernen Krieg abgegeben hatte schrieb er: „Aber der dunkle Schatten, der sich jetzt über Europa erstreckt, wird schließlich vorüberziehen, und zwischen den Erdschollen und in den Furchen, die jetzt von menschlichem Blut getränkt werden, wird schließlich das Korn des Lebens wieder zu pulsieren beginnen.“ Als Nachtrag führte er an: „Während ich diese Zeilen schreibe, breitet sich das Schauspiel des Krieges immer mehr aus und weitere Völker werden vom Blutstrom fortgerissen. Wir wissen nicht, welches Schicksal Italien erwartet“. 18 Von den letzten Momenten des Friedens in Europa ist uns eine Erinnerung von Ascanio Aretini überliefert. Er war einer der vielen italienischen Psychiater, die in den Jahren vor dem Krieg zu Ausbildungszwecken deutsche psychiatrische Kliniken aufsuchten. Noch 1916 schrieb Aretini in Erinnerung an Alois Alzheimer: „Wir stiegen zum Fort von Salzburg auf und der Anlass, über unsere Völker zu reden, war eine scherzhafte Unterstellung von Kraepelin über die Präsenz verdächtiger Personen innerhalb dieser österreichischen Mauern. Es waren in der Tat Ruota und ich, die dieses Volk repräsentierten, das - so sagte Kraepelin - das „große Italien bis zum Brenner und über ihn hinaus errichten wollte.“ Damals - und gestern - konnte man darüber noch scherzen! “ 19 16 F REUD , Einleitung. 17 D ANEO , Sulla psicopatologia delle emozioni. 18 K OBYLINSKY , La psichiatria e la guerra, 340f. 19 A RETINI , Alois Alzheimer. Paolo Francesco Peloso/ Gabriella Molino 252 3. „Die Pflichten der italienischen Ärzte in der Gegenwart“ Bei Kriegsausbruch waren die Vertreter der positivistischen Psychiatrie, die zu diesem Zeitpunkt ihre goldene Ära hatte, besonders aktiv. Sie waren direkt und mittels ihrer Schüler die Protagonisten der Militärpsychiatrie dieser Zeit. Erst zehn Jahre zuvor hatte die Psychiatrie eine gesetzliche Anerkennung erlangt. Augusto Tamburini (1848-1919), Enrico Morselli (1852-1929) und Leonardo Bianchi (1848-1927) waren nicht nur berühmte und anerkannte Psychiater, sondern auch bedeutende Akteure in Kultur und Politik. Tamburini war persönlich an der Organisation der Militärpsychiatrie beteiligt, Morselli nahm in leitender Funktion an der Entwicklung militärischer Interventionen teil und Bianchi war für die Koordination des militärischen Sanitätsdienstes verantwortlich. Diese Psychiater wurden gemeinsam mit der übrigen Nation für den Krieg mobilisiert. Motor dieser Mobilisation war eine intellektuellen Elite, der sich die Psychiater zugehörig fühlten. So schrieb Enrico Morselli am Folgetag der Niederlage von Caporetto über die italienischen Ärzte, dass „unsere Voraussetzungen und die Kultur uns zu einem Teil der führenden Schicht des Landes machen.“ 20 Die italienischen Psychiater ergriffen einerseits Partei für die patriotische Propaganda, einige von ihnen ließen sich in diesem Zusammenhang zu wahrhaft peinlichen Übertreibungen hinreißen. Andererseits setzten sie sich für die Unterstützung der Soldaten an der Front ein. Wir werden uns aus Platzgründen auf diesen zweiten Aspekt ihrer Arbeit konzentrieren. 21 Die Organisation der Militärpsychiatrie hatte Augusto Tamburini an ihrer Spitze, Professor für Psychiatrie an der Universität Rom und Präsident der „Società Freniatrica Italiana“. Er war leitender Berater der Direktion für den Sanitätsdienst im Rang eines Generals und Inspektor des neuro-psychiatrischen Dienstes. Zu Beginn des Jahres 1916 waren an der Front mindestens 40 italienische Psychiater eingesetzt, etwa 100 weitere dienten hinter den Linien. 22 Bereits im September 1915 hatte jedes der vier Armeekorps einen psychiatrischen Berater. Für das erste war Arturo Morselli verantwortlich und in Verona stationiert, für das zweite Vincenzo Bianchi in Udine, für das dritte Angelo Alberti in San Giorgio di Nogaro, für das vierte Giacomo Pighini in Belluno. Ähnlich, aber davon separat, war die Versorgung für neurologische Patienten organisiert. 23 Nach der Niederlage von Caporetto mussten zahlreiche psychiatrische Kliniken der Region Veneto evakuiert werden. Damit 20 M ORSELLI , Il dovere dei medici italiani. 21 Vgl. S CARTABELLATI , Il dovere dei medici italiani. 22 Notiz in: Quaderni di psichiatria 3 (1916), 36. Im Anschluss an den militärischen Konflikt erhielten folgende Psychiater militärische Auszeichnungen: Cesare Agostini aus Perugia, Ario Ariaghi aus Mombello, Leonardo Bianchi, Ugo Cerletti, Giovanni Gatti aus Venedig, Moyssey Kobylinsky aus Genua, Domenico Isola, Milani aus Imola, Giacomo Pighini, Francesco Prigione aus Genua, Ottorino Rossi, Mario Zalla aus Florenz, und Gaetano Perusini ad memoriam. Perusini (1879-1915) wurde vor allem durch seine Studien zu Demenz, aber auch zu psychiatrischer Epistemologie und Psychopathologie bekannt (P ASSIONE , Epistemological issues). Perusini wurde 2015 in Italien zu seinem 100. Todestag eine Gedenkbriefmarke gewidmet. 23 T AMBURINI , L’organizzazione. Der Erste Weltkrieg und die Kriegsneurosen in der Fachpresse 1914-1919 253 bot sich die Gelegenheit, alle Erstaufnahmen in einem Zentrum in Reggio Emilia durchzuführen. 24 Zur psychiatrischen Versorgung der Soldaten hinter den Linien liegt heute eine Vielzahl von Untersuchungen vor, die Krankenakten und, sofern erhalten, Briefwechsel mit den Familien der Kranken umfassen. Unter den Archiven zur psychiatrischen Versorgung im Ersten Weltkrieg ist an erster Stelle Cogoleto bei Genua zu nennen. 25 Weitere relevante Archive sind den psychiatrischen Kliniken in Veneto angegliedert. Von den näher an der Front gelegenen Kliniken ist kürzlich archivalisches Material von Scartabellati gesichtet worden; 26 es existieren weiterhin Studien über psychiatrische Lazarette und Kliniken in Como, 27 Reggio Emilia, 28 Colorno bei Parma, 29 Rom, 30 Volterra, 31 Teramo 32 und Pesaro. 33 Auch die ersten italienischen Experten für Psychologie, vor allem Agostino Gemelli, Berater für Massenpsychologie des Kriegsministeriums, aber auch Ugo Cerletti, 34 untersuchten den modernen Krieg aus einer spezifischen Perspektive. Sie lieferten den Befehlshabern Hinweise darauf, wie sie eine maximale Effektivität der Truppen erzielen und am besten den Widerstand des Feindes schwächen konnten. 24 Zu diesem Zentrum und seiner Organisation P AOLELLA , Un laboratorio di medicina politica. 25 G IBELLI , Guerra e follia; vgl. B ROGI , Eroi e poveri diavoli, 181-187. 26 B IANCHI , La follia e la fuga; A DAMI , L’esercito di San Giacomo; B ETTIOL , Feriti nell’anima; S CARTABELLATI , Dalle trincee al manicomio. 27 V ANINI , Ricoveri di soldati impazziti. 28 Die Krankenakten der Soldaten, die im Ersten Weltkrieg in die Psychiatrie eingewiesen wurden, sind von Chiara Bombardieri im Archiv S. Lazzaro gesammelt worden: A ZZOLINI , Donne tra guerra e follia; P AOLELLA , Un’altra Guerra; DERS ., La neuropsichiatria in Emilia Romagna. 29 L A F ATA , Follie di guerra. 30 R OSCIONI / D ES D ORIDES , Il manicomio e la grande guerra, 135-144. 31 F IORINO , Le officine della follia, 127-166. 32 V ALERIANO , Ammalò di testa, 151-208. 33 G IOVANNINI , Soldati. 34 Wir erwähnen hier kurz den Beitrag des jungen Psychiaters Ugo Cerletti (1877-1963), dessen Erfindungsgeist und Forschungsliebe zu seiner berühmten Erfindung, die Elektrokrampftherapie, führen. Als Arzt an der Front befasste er sich mit militärischer Logistik und studierte die Stellung der Truppen im Bezug auf die Orographie; er bot die Verwendung weißer Anzüge für die Alpenjäger; auf seinen Psychologiekenntnissen beruhend ahnte er die Nützlichkeit eines Zünders mit verzogenem Platzen, der die Anpassungsfähigkeit des Feindes zerstören sollte. Darauf arbeitete er zwei Jahre lang mit der Unterstützung des Kommandos und bekam die Zustimmung Tamburinis (T AMBURINI , Benemerenze di guerra) und die Kritik derjenigen, die diese Forschung als nicht deontologisch ansahen (vgl. P ASSIONE , Ugo Cerletti, 36-41). Paolo Francesco Peloso/ Gabriella Molino 254 4. Psychopathologie des Krieges Die psychiatrischen Krankheitsbilder, die im Krieg auftraten, manifestierten sich in zwei unterschiedlichen zeitlichen Beziehungen („relazione temporale“) zu den auslösenden Ereignissen. Die erste Art des zeitlichen Zusammenhangs war dadurch gekennzeichnet, dass ein einzelnes traumatisches Ereignis - direkt oder nach einer Latenzzeit - eine traumatische Neurose auslöste. Sie ähnelte damit dem zeitlichen Zusammenhang zwischen Trauma und Symptombeginn, der auch für traumatisch bedingte psychiatrische Krankheitsbilder zu Friedenszeiten typisch war. In diesem Zusammenhang wurden wiederholt Metaphern verwendet, die die erschütternden Ereignisse des Krieges mit Naturkatastrophen verglichen. Die zweite Art der zeitlichen Beziehung war hingegen durch die zermürbende Wirkung des Krieges charakterisiert, die sich über einen langen Zeitraum hinweg entwickelte. Sie wurde durch das lang anhaltende belastende Leben im Schützengraben ausgelöst. In diesem Zusammenhang schrieb Vincenzo Bianchi: „Zeitweise sind die Entbehrungen und Gefahren, die vielen Ängste, die Sorgen, die Erschütterungen so stark ausgeprägt, dass ihr euch fühlt, als werde eure Seele zerrissen. Der ganze Organismus spannt sich an und zittert, als werde er von den Krämpfen eines quälenden Todeskampfes geschüttelt: die Ruhepausen sind von einer fortwährenden Anspannung in den Ohren, den Augen, allen Sinnen und allen Poren geprägt, bis zu dem Punkt an dem im Nebel, in der Dunkelheit, im Ungewissen eine Bedrohung lauert; der kurze Schlaf wird von einem ständiger Wechsel von Albträumen und plötzlichem Erwachen gestört: immer ist in allen Ohren und Köpfen ein unaufhörliches Brummen, eine verstörende Musik, bestehend aus Kanonenschüssen, Büchsenschüssen, Pfeifen, Wehklagen, Schreien, Röcheln. Und dann erklingen Freudenschreie angesichts des ersehnten Sieges. Aber damit nicht genug. Die Nahrung, die man den Soldaten gibt, ist im Allgemeinen gut, ausreichend und auch schmackhaft, aber die Verpflegung kann nicht immer zu den vordersten Linien vordringen; das Wasser ist vielerorts knapp oder fehlt ganz; man kann wochenlang nicht die Kleidung wechseln; man hat die Pflicht, auf seinem Platz zu verharren, auch wenn dieser durch feindlichen Beschuss zur Hölle wird oder sich durch unaufhörlichen Regen in einen schlammigen Kanal verwandelt; es ist noch nicht einmal möglich, sich für einen Moment zu entfernen, um seine Bedürfnisse zu verrichten; die völlige Unbeweglichkeit, in der man stehend, sitzend oder liegend verharren muss, oft ohne über Tage und Nächte, die niemals enden, hinweg die Möglichkeit zu haben, zu rauchen, und vor allem die nervöse Anspannung, die die Kämpfenden an der Front immerzu spüren, weil jeder Klang einer Stimme, jedes Geräusch, jede Unbedachtheit, und sei sie noch so harmlos, den eigenen Tod oder den Tod eines Kameraden verursachen kann; das Donnern der Kanonen und das Knallen von Geschossen, die mitten in der Nacht die müden, schlummernden Seelen aufrütteln, die ständigen Entladungen von Gewehrschüssen, die einen zusammenfahren lassen; die häufige Verpflichtung, die Nacht nach einem Tag voller Anstrengungen, Aufregungen und Ängste zu durchwachen und im Falle der Offiziere die ihnen obliegende Verantwortung; all dies bereitet nach einer kürzeren oder längeren Zeitspanne einen Der Erste Weltkrieg und die Kriegsneurosen in der Fachpresse 1914-1919 255 günstigen Nährboden für Krankheitsbilder, für Psychosen, Neurosen oder Psychoneurosen.“ 35 Ein Phänomen überraschte die Psychiater: Die Soldaten an der Front fanden sich auf eine bestimmte Weise mit dem Krieg ab. Sie hatten an einer allgemeinen Stimmung der Tatkraft und der Agitation teil, die ihnen dabei half, die Opfer, die sie bringen mussten, zu ertragen. In Zeiten eines Heimaturlaubs oder Krankenhausaufenthalts hingegen waren sie besonders vulnerabel und verletzlich. Komplizierter war es, die Symptomatologie zu beschreiben, mit der sich psychiatrische Krankheiten im Umfeld eines Krieges präsentierten. Hierfür gab es verschiedene Gründe: Zum einen die Heterogenität der verwendeten Bezeichnungen, zum anderen der Umstand, dass dieselben Ausdrücke (unter anderem Geisteskrankheit, Psychose, Psychoneurose und Neurose) verwendet wurden, um unterschiedliche Dinge zu benennen. Ein wichtiger Versuch, hier eine Systematisierung und Simplifizierung vorzunehmen, wurde von Arturo Morselli 36 unternommen - auch wegen seiner Beschränkung auf eine deskriptive Herangehensweise. Von dieser Systematisierung ausgehend werden wir im Folgenden vier Krankheitsbilder vorstellen. Das erste dieser Krankheitsbilder entsprach im Wesentlichen dem, was wir heute als „Depression“ bezeichnen. Dieses Phänomen war bereits seit mehreren Jahrhunderten in den Untersuchungen der militärischen Psychopathologie beschrieben worden, man denke an die Beschreibung des Heimwehs von Johannes Hofer im 16. Jahrhundert. 37 Es war durch das Überwiegen eines Gefühls der Traurigkeit angesichts der Härte des militärischen Lebens charakterisiert. Dieses Krankheitsbild äußerte sich in Weinen, Tremor, Willensschwäche, Unruhe oder psychomotorische Verlangsamung bis hin zu den Extremen Mutismus oder depressiver Stupor. Es konnten aber auch Fahnenflucht, Suizid oder einem Suizid ähnlichen Verhaltensweisen auftreten (z.B. setzten sich Soldaten in unvorsichtiger Weise feindlichem Beschuss aus) sowie ein Übergang zu depressiven Psychosen oder psychisch bedingter Verwirrung. Als zu diesem Formenkreis zugehörig könnte man auch den depressiven Stupor betrachten und die Fälle, in denen die Depression in einen „manischen Erregungszustand“ umschlug, weiterhin auch die Fälle eines psychopathologischen Zustands, den Zanon del Bò als „gemischten Status“ 38 bezeichnete. Das zweite von ihm beschriebene Krankheitsbild waren die „neurotischen Zustände“, die Morselli in „Zustände akuter nervöser Asthenie“ und „hysterische Zustände“ 39 einteilte. Die mannigfaltigen Ausprägungen, die dieses Krankheitsbild annehmen konnte, beinhalteten die sogenannten neurasthenischen Symptome. 35 B IANCHI , Le nevrosi, 2f. 36 Die sechs Krankheitsbilder, die Morselli unterschied lauteten: akute neurasthenische Zustände, hysterische Zustände, depressive Zustände, stuporöse Zustände (die man heute vielleicht eher als eine mögliche klinische Erscheinung der anderen Krankheitsbilder betrachtet), Zustände, die von Halluzinationen geprägt sind, Verwirrungszustände und andere, seltener auftretende Krankheitsbilder (vgl. M ORSELLI , Psichiatria di guerra). 37 F UENTENEBRO DE D IEGO / O TS , Nostalgia, 404-411. 38 Z ANON DEL B Ò , Se esistono particolari forme di psicosi in dipendenza della guerra, 53. 39 M ORSELLI , Psichiatria di guerra, 67f. Paolo Francesco Peloso/ Gabriella Molino 256 Diese bestanden in einer allgemeinen Schwäche, häufigem Weinen, starker Angst, einer Phobie vor Waffen, Stichflammen oder Explosionen, Klaustrophobie, Schlaflosigkeit, schreckenerregende Alpträume, deren Inhalt Kriegsereignisse waren, Somatisierungsstörungen, Schwindel, Herzrasen aber auch komplexere und heterogenere Symptome von Hysterie. Hierzu zählten Symptome einer Konversion, darunter Anzeichen für eine Lähmung oder eine Unfähigkeit, still zu halten, unwillkürliche Bewegungen, Tics und Tremor, Krampfanfälle, Blindheit, Mutismus, dissoziative Störungen, darunter Amnesie, Bewusstseinsverlust oder hysterisch bedingte Fahnenflucht. Die hysterisch bedingte Fahnenflucht unterschied sich in ihrem Mechanismus von der depressiv bedingten Fahnenflucht, die durch einen zwanghaften aber bewussten Drang hervorgerufen wurde. Bei der hysterisch bedingten Fahnenflucht hingegen wurde der Konflikt zwischen Gehen und Bleiben von unbewussten Anteilen der Persönlichkeit in einer Weise gelöst, die in einer Dissoziation von Bewegung und dem Bewusstsein über die Bewegung resultierte. Sie war meistens eine unbewusste Flucht in Richtung Heimat, eine pathologisch bedingte Desertion. Sie konnte aber auch eine Flucht nach vorne, in Richtung des Feindes sein, mit dem Ziel, sich in irgendeiner Weise der hoffnungslosen und festgefahrenen Situation zu entziehen. In ihrer Gesamtheit konnte man diese Phänomene auf den Versuch zurückführen, einen Konflikt zwischen starker Angst und Pflichterfüllung aufzulösen. In Italien, wie auch in anderen Ländern, hatten bereits einige Mediziner die Möglichkeit eines solchen Pathomechanismus erkannt und darauf aufmerksam gemacht, dass das Modell Freuds, das Neurosen in Friedenszeiten beschrieb, für einige dieser Fälle inadäquat war. Außer an Daneo denken wir hierbei an Arturo Morselli. Für ihn manifestierte sich in der Neurose ein Konflikt zwischen dem Selbsterhaltungstrieb und den intensiven Bemühungen, diesen zu unterdrücken - die zugleich notwendig waren, um die Beherrschung zu bewahren: „Es scheint, dass in ihnen [den betroffenen Soldaten] zwei Persönlichkeiten nebeneinander existieren, die aneinandergeraten.“ 40 Auch der Psychiater Nando Bennati erkannte zunächst Freuds Verdienst an, die Aufmerksamkeit auf die psychopathogene Regel der unterdrückten emotionalen Stimuli gelenkt zu haben. 1916 fand er jedoch deutliche Worte der Zurückweisung: „Das Unterbewusste wird eingeführt, um auf beharrliche Weise die kluge Idee seiner pathogenen Kraft auf das in spezifischer Weise sensibilisierte Individuum aufrechtzuerhalten. Das Konzept des Unterbewusstseins bringt uns keine diagnostischen oder therapeutischen Vorteile: Die intensiven Bemühungen Freuds, das Unterbewusstsein mit der psychoanalytischen Methode zu enthüllen, haben unsere Bestrebungen, positives Wissen zu erlangen nicht erfüllt; sie haben hingegen bekräftigt, dass man, wenn man in die entlegenen Tiefen der Psyche hinabsteigt eher Dunkelheit finden wird als die Aufklärung der Ursache eines Problems.“ 41 40 M ORSELLI , Sui fenomeni fisio-patologici, 208, 213. 41 B OSCHI / B ENNATI , L’anafilassi neuropsicologica, 217. Der Erste Weltkrieg und die Kriegsneurosen in der Fachpresse 1914-1919 257 Für Vincenzo Bianchi schließlich war die Existenz unbewusster Phänomene in der Psychotraumatologie des Krieges, die sich nicht auf den sexuellen Bereich zurückführen ließen, die offensichtlichste Widerlegung der Freudschen Theorien. 42 Die dritte Gruppe von Krankheitsbildern waren „psychotische Zustände“. Sie waren durch einen psychotischen Bruch mit der Realität gekennzeichnet: Im psychopathologischen Befund konnte das traumatische Ereignis das Bewusstsein beherrschen und Halluzinationen sowie Wahnvorstellungen auslösen. Zu diesen zählte insbesondere der Verfolgungswahn, die Überzeugung, von Seiten der Vorgesetzten und des Feindes einer Verfolgung ausgesetzt zu sein, so dass weder eine Flucht rückwärts noch vorwärts möglich erschien. Alternativ konnte das traumatische Ereignis die mentale Flucht aus einer Welt, die unerträglich geworden war, in eine andere und lebenswertere Wirklichkeit bewirken (zum Beispiel durch eine Regression in die Kindheit). 43 Die vierte Gruppe von Krankheitsbildern waren „Verwirrtheitszustände“ unterschiedlichen Ausmaßes. Sie waren ein charakteristischer Bestandteil der Psychopathologie des Traumas sowohl in Friedensals auch in Kriegszeiten. Die geistige Aktivität präsentierte sich hier als vollkommen unstrukturiert, Sprache und Verhalten wirkten ungeordnet, unwillkürlich und wahllos. Den Betroffenen war eine Orientierung bezüglich Ort, Zeit und Realität unmöglich. Auch dieses Krankheitsbild war meist von kurzer Dauer. Die Diskussion wurde dadurch verkompliziert, dass stets auch andere Erkrankungen in Betracht gezogen werden mussten, die bereits vor Kriegsbeginn vorlagen. Diese Erkrankungen waren bei der Musterung zum Teil nicht erkannt worden. Nach dem Krieg führte dafür Zanon del Bò vor allem Fälle von Epilepsie und von geistiger Retardierung an. Ein zweiter Diskussionsstrang richtete sich auf die Verwirrtheit von „konstitutionellen Verbrechern, Schwachsinnigen, Degenerierten und Anormalen“; 44 an der unscharfen Grenze zwischen klinischem Wissen und moralischem Urteil gelegen, bildete diese Gruppe eine anhaltend große Herausforderung für die Psychiatrie. 5. Die Debatte über die Ätiopathogenese psychiatrischer Erkrankungen Der Erste Weltkrieg war für die italienische Psychiatrie wie ein Versuchsfeld, in dem sich ein möglicherweise transformativer gegenseitiger Einfluss zwischen den Soldaten und Psychiatern beobachten ließ. Die Soldaten wiesen unterschiedliche traumatisch bedingte Gefühlsäußerungen auf: Verwirrung oder Schweigen, Konversion oder Dissoziation. Die Psychiater waren hingegen in wissenschaftlichen Modellen gefangen, die sich als ungeeignet erwiesen, diese Gefühle und Reaktionen zu erklären. 45 42 B IANCHI , Le nevrosi nell’esercito in rapporto alla guerra, 17. 43 C ONSIGLIO , Sulle anomalie del carattere dei militari in guerra, 541. 44 Z ANON DEL B Ò , Se esistono particolari forme di psicosi in dipendenza della guerra, 55. 45 Vgl. G IBELLI , L’officina della guerra; B ABINI Liberi tutti, 49-58. Paolo Francesco Peloso/ Gabriella Molino 258 Eine Reihe von italienischen Psychiatern begleiteten die Soldaten unmittelbar an der Front. Es gelang ihnen, den Soldaten nahe zu sein und deren Schrecken, Angst und geistige Zusammenbrüche zu beschreiben. Aber es erwies sich als schwierig, diese Gefühlsäußerungen zu verstehen. Denn sie waren angehalten, eine Erklärung innerhalb medizinischer und somatischer Kategorien zu suchen, die sie jedoch nicht fanden. Die Nosologie war pedantisch, unübersichtlich und wenig systematisch. Dies führte dazu, dass man sich in Teufelskreise begab und die zugrunde liegenden Fragen verschleiert wurden. Die Psychiater beobachteten menschliche Dramen, von denen sie zuweilen sehr berührende Zeugnisse hinterließen. Diese Dramen wurden jedoch auf dem Prokrustesbett ätiologischer oder diagnostischer Modelle geopfert, die sie in ihrer Arbeit behinderten und die der Realität fern waren. Luigi Zanon del Bò, damaliger Leiter der Psychiatrie von Treviso, bezeichnete dieses Phänomen ironisch als „psychophobische […] Neuropathologie“ 46 der Psychiater. Als Ursache dieses Phänomens können verschiedene Faktoren identifiziert werden, die mit den Kriegsereignissen im allgemeinen sowie auch mit spezifischen Momenten in der Entwicklung der italienischen Psychiatrie 47 zusammenhängen. Wir haben vier solcher Faktoren identifiziert. 48 Der erste Faktor ist „psychiatriehistorisch“ anzusprechen. Er verweist auf das zentrale Problem in der Geschichte der Psychiatrie: die Beziehung zwischen Leib und Seele. Vorauszusetzen, dass die Interaktion zwischen emotionalen Stressfaktoren und individueller Resilienz rein psychologischer Natur sei, wäre von der Mehrheit der damaligen italienischen Psychiater als Rückschritt aufgefasst worden. Dieser beinhaltete das Risiko, erneut „nur“ eine Medizin der Leidenschaften und der Seele zu werden. Dies hätte bedeutet, auf den Standpunkt einer organischen Einheit zu verzichten, der in der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts konstruiert worden war. Sicherlich musste die enge Beziehung zwischen einem biographischen Ereignis und der posttraumatischen Symptomatologie den Psychiatern auffallen - und damit die Unzulänglichkeit eines theoretischen Modells, das als positivistische Psychiatrie von der Degenerationslehre und vom Alienismus („alienismo“) abgeleitet worden war. Aber die zeitgenössische Psychiatrie war zu stark in der Hoffnung verhaftet, dass es der physische Körper war, auf den es in der Forschung ankam - und der allein Antworten auf viele Fragen bereithielt, so auf die Frage nach dem Pathomechanismus der traumatischen Neurose. Unter Bezugnahme auf das wissenschaftstheoretische Modell, das Wilhelm Dilthey entwickelte und das von Karl Jaspers 49 auf die Psychopathologie angewendet wurde, lässt sich also Folgendes beobachten: Die Psychiatrie hätte ihren Schwerpunkt von der erklärenden Perspektive, die Naturwissenschaften charakterisiert, auf die verstehende Perspektive, die Geisteswissenschaften charakterisiert, verlagern müssen. Man glaubte hingegen zu jener Zeit, dass 46 Z ANON DEL B Ò , Guerra e psichiatria. 47 Vgl. S CARTABELLATI , L’esplorazione castrense. 48 P ELOSO , La strana malattia. 49 J ASPERS , Allgemeine Psychopathologie. Der Erste Weltkrieg und die Kriegsneurosen in der Fachpresse 1914-1919 259 eine Disziplin, um Wissenschaft zu sein, eine naturwissenschaftliche Perspektive einnehmen müsse. Neben diesem Einflussfaktor lag ein zweites Hindernis vor, das die Psychiater davon abhielt, geistigen Vorgängen eine pathogenetische Rolle zuzugestehen. Dieses charakterisieren wir als ein „klinisches“ Problem. Es war in einer Debatte verbreitet, die bereits zu Beginn des militärischen Konflikts zu traumatisch bedingte Neurosen in Friedenszeiten geführt worden war: Sie betraf die Suche nach einer Erklärung für das Phänomen, dass von vielen Menschen, die derselben Gewalteinwirkung ausgesetzt waren, nur wenige eine Neurose erlitten hatten. 50 Außerdem beschrieb Bennati ein weiteres Problem, das mit der Beobachtung verbunden war, dass eine Person viele traumatische Ereignisse erlebt haben konnte, ohne Schaden zu nehmen, schließlich aber unter dem Einfluss des letzterfahrenen Traumas doch erkrankte. Dies konnte Bennati zufolge von der Quantität oder Qualität dieses Traumas abhängen, oder aber von der spezifischen Sensibilität der Person, die dazu führte, dass in diesem entscheidenden Moment die Schwelle ihrer Resilienz überschritten worden war. Hieraus ergab sich für ihn die folgende Frage: Welcher Faktor führt dazu, dass von zwei Personen, die dem gleichen traumatischen Ereignis ausgesetzt sind, eine von beiden erkrankt und die andere nicht? Und daran anschließend: Welcher Faktor bewirkt, dass eine Person, die wiederholt traumatischen Ereignissen ausgesetzt ist, nur unter einem dieser Ereignisse zusammenbricht (und nicht unter den anderen)? Das Modell des menschlichen Geistes, das dieser Psychiatrie zugrunde lag, führte dazu, dass man diesen Faktor in einer Anomalie des Nervensystems suchte oder auf ein Konzept Bezug nahm, das unbestimmter, aber im Aufkommen war, nämlich die „Konstitution“. Man muss hier ehrlicherweise anmerken, dass auch die gegenwärtige Psychiatrie diese Fragen immer noch nicht erschöpfend beantworten kann. Aber wir verfügen über ein offeneres Modell des Geistes und ebenso über ein anschaulicheres und sehr differenziert entwickeltes Modell des Gehirns. Dies ermöglicht uns eine Antwort, die ebenso vage wie tautologisch ist. Sie ist jedoch offener gegenüber der Möglichkeit, dass diese unbekannten Faktoren nicht als unausweichliches Schicksal im Körper festgeschrieben sind, sondern sich in der persönlichen Lebensgeschichte und im inneren Erleben der betreffenden Person entwickeln. Vincenzo Bianchi und Sante De Sanctis vertraten bereits damals einen ähnlichen Standpunkt. So bezeichnete Bianchi die Kombination von „kriegsbezogenen Faktoren“ und „schwacher Widerstandsfähigkeit“ 51 als den Ursprung hysterischer Krankheitsbilder beim Soldaten. De Sanctis identifizierte unter den Ursachen verminderter Resilienz auch die körperlichen Anstrengungen, den Schlafentzug und die emotionale Anspannung im Schützengraben. 52 Ein dritter Grund, der dagegen sprach, emotionale Faktoren als Ursprung psychischer Erkrankungen im Krieg anzuerkennen, hatte „politisch-ideologischen“ Charakter: Wenn man dem Krieg eine pathogene Wirkung zugeschrieben hätte, so 50 B ENNATI , La etiologia determinante nella nevrosi traumatica di guerra, 49-86. 51 B IANCHI , Le nevrosi nell’esercito in rapporto alla guerra, 18. 52 S ANTE DE S ANCTIS , L’isterismo di guerra. Paolo Francesco Peloso/ Gabriella Molino 260 wäre eben zugegeben gewesen, dass der Krieg „per se“ der psychischen Gesundheit schadete. Aber wie hätte man dies mit der kriegerischen und patriotischen Stimmung in Einklang bringen können, die 1915 die Mehrheit der Psychiater erfasst hatte? Der patriotisch motivierte Krieg für das Vaterland galt als eine heilige Pflicht. Man erwartete, dass die erwachsenen Männer ihre Angst kontrollierten, es sei denn, eine Krankheit oder ein bedauerlicher und krimineller Mangel an patriotischer Einstellung hielt sie davon ab. Der gesunde Soldat hatte kein Anrecht auf ein Gefühlsleben, auf ein Unterbewusstsein, auf Angst. Er musste sich, wie es der Psychiater Gemelli empfahl, 53 in eine „Maschine im Dienst des Vaterlandes“ verwandeln, sich in einen tauben, indifferenten, psychisch verlangsamten Zustand versetzen, zu absolutem Gehorsam bereit sein. Er sollte, wie Giulio Cesare Ferrari schrieb, im Schützengraben eine „verzweifelte Kraft“ unter Beweis stellen können. Er sollte sich an Momente der Untätigkeit gewöhnen und im Moment des Angriffs gefühllos und gleichgültig gegenüber Leben und Tod sein. Er musste zu „aktiver Resignation“ fähig sein und ein Leben im Angesicht des Todes führen, diesem aber gleichzeitig fremd bleiben. 54 Sante De Sanctis schrieb 1917: „Es ist klar, dass unser Interesse als Psychiater darin liegt, keine Papiermaché-Menschen zu formen, sondern eine starke Generation, die keine Schwäche der Nerven kennt.“ In seinen Worten klang bereits die Idee vom „guten Italiener“ („[il] buon italiano”) an, auf die sich später die faschistische Ideologie stützte. Dies überrascht allerdings nicht, da er ein enthusiastischer Anhänger dieser Ideologie wurde. 55 Der vierte Grund für den Widerwillen, emotionale Ursachen psychiatrischer Krankheiten zu akzeptieren, hing mit der „forensischen Psychiatrie“ zusammen. Die gutachterliche Arbeit, die die Psychiater leisten mussten, war anspruchsvoll und schwierig. Einer möglichen Todesstrafe als Deserteur standen die Konsequenzen einer Krankschreibung gegenüber, die wie das Paradies erscheinen musste: Erholung, Stille, Rekonvaleszenz, die Rückkehr in die Heimat. Dies war eine sehr anspruchsvolle Differentialdiagnose, die von sehr jungen und schlecht vorbereiteten Psychiatern unter großem Zeitdruck vorgenommen werden musste. Außerdem betraf sie eine große Anzahl von Soldaten. Im Verlauf des Krieges wurden in der italienischen Armee etwa 40.000 militärpsychiatrische Untersuchungen durchgeführt. 56 Des Weiteren waren die Krankheitsbilder oft besonders vielschichtig und schwer zu fassen. Es war ungemein schwierig, die Vulnerabilität gegenüber der Angst zu gewichten und zu beurteilen, zumal letztere zur schwerwiegenden Reaktion der Fahnenflucht führen konnte, die mit der Todesstrafe geahndet wurde. Wie konnte die Basis für ein so schwerwiegendes Urteil nicht im physischen Körper verankert sein, sondern sich in einem so zufälligen, kaum wahrnehmbaren und umstrittenen Bereich wie dem Geist abspielen? Zugleich Ärzte und Soldaten, Psychiater und Patrioten, befanden sich die psychiatrischen Akteure selbst in einer schwierigen Situation, sei es in Bezug auf die Kontrolle der eigenen Emotionen, sei es in Bezug 53 G EMELLI , Il nostro soldato. 54 F ERRARI , Il morale, 95-97. 55 Vgl. B IANCHI , La follia e la fuga, 81. 56 Vgl. DERS ., Predisposizione, commozione o emozione? , 406. Der Erste Weltkrieg und die Kriegsneurosen in der Fachpresse 1914-1919 261 auf das ethische Feingefühl gegenüber dem betreffenden Soldaten, der sich aus sehr verständlichen Gründen immer weniger kampfbereit zeigte. Dieser Rollenkonflikt und die Vermischung klinischer und moralischer Kriterien betraf nicht nur die diagnostische Tätigkeit, sondern letztlich alle Ebenen psychiatrischen Handelns im Krieg, auch die therapeutische. Wie die Allusion bezüglich der Alternative zwischen „strengem Durchgreifen und psychotherapeutischen Maßstäben“ 57 verdeutlicht, kam es zum Teil zu brutalen Behandlungsverfahren, die das erklärte Ziel hatten, Simulanten zu entlarven und zu bestrafen sowie an Kriegsneurosen Erkrankte schnell wieder in einen kampfbereiten Zustand zu versetzen. - Aus dem Italienischen übersetzt von Laura Münker - Quellen und Literatur Quellen A RETINI , A SCANIO : Alois Alzheimer, in: Rassegna di studi psichiatrici 6 (1916), 271-274. B OSCHI , G AETANO / B ENNATI , N ANDO : L’anafilassi neuropsicologica, in: Quaderni di psichiatria 3 (1916), 214-220. 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British and German psychologists differed in the areas they worked in (near the front versus at home) as well as in the methods of psychotherapy they used (using psychoanalytical technics versus psychological tests, electric therapy). In both countries, they were cautious with an exact diagnosis and did not diagnose regarding to the patient’s social class. The patient’s view, especially the one of personal war experiences from soldier-patients are rarely to be found; nevertheless, working with patient files gives an insight into the daily life of the medical psychologists’ work during the war. Zusammenfassung Die Analyse von Krankenakten britischer und deutscher Psychologen während des Ersten Weltkriegs gibt einen Einblick in die Diagnosestellung und Therapie dieser neuen Experten für psychische Störungen. Britische und deutsche Psychologen unterschieden sich in ihren Tätigkeitsbereichen (frontnah versus frontfern) und Therapiemethoden (psychoanalytische Verfahren versus psychologische Tests, Elektrotherapie). In beiden Ländern zeigte sich eine offene Diagnosestellung ohne soziale Zuordnung zu bestimmten Krankheitsbildern. Die Sicht der Patienten, insbesondere persönliche Kriegserlebnisse von Soldaten lassen sich nur vereinzelt in Krankenakten finden; diese bieten jedoch einen zusätzlichen Einblick in die psychologisch/ ärztliche Praxis der Kriegszeit. 1. Vergleich der britischen und deutschen Psychologie Die Nervenstärke sei ausschlaggebend für den Kriegserfolg, darin waren sich die beteiligten Staaten einig. Dennoch war man sowohl in Großbritannien als auch in Deutschland nicht auf die große Anzahl psychisch verletzter Soldaten vorbereitet gewesen. 1 Für die Versorgung dieser verstörten Kriegsteilnehmer reichten die bisherigen Militärpsychiater nicht aus und die neu auftretenden Symptome waren ihnen anfangs auch unerklärlich. So griff man auf die vorhandenen Experten für psychische Störungen zurück, auf Anstaltspsychiater, niedergelassene Nervenärzte, Univer- 1 W ILSON , Notes, 807; H IS , Krankheiten, 1485-1490. Andrea Gräfin von Hohenthal 268 sitätsprofessoren und auch Psychologen. Wer waren nun diese Psychologen und warum interessieren sie hier? Psychologie war vor dem Ersten Weltkrieg noch kein eigenständiges, universitär geprüftes Fach, psychologische Professoren arbeiteten an philosophischen Lehrstühlen und es gab noch keine angewandte Psychologie als Beruf. Aber in einigen europäischen Ländern und in Amerika hatten sich psychologische Vereine gegründet, die eben diese Entwicklung zu einer eigenständigen Wissenschaft aktiv fördern wollten. Als Ausdruck des Professionalisierungsprozesses dieser jungen Wissenschaft gilt die Gründung von wissenschaftlichen Gesellschaften, Zeitungen und experimentellen Laboratorien. Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich in Westeuropa und auch in Amerika, beschrieben von Historikern und Zeitgenossen, eine neue Sicht auf den Menschen etabliert: Wichtige soziale Probleme und Fragen über die Natur des Menschen sollten aufgrund wissenschaftlich gewonnener Erkenntnisse einer neuen Diskursgemeinschaft, der Psychologie, erklärt und gelöst werden. Neu war, dass diese Psychologen experimentell arbeiteten, das Individuum als psychologisch interessantes und zu untersuchendes Objekt entdeckten und alternative Vorschläge zu den herkömmlichen Lösungen sozialer Probleme anboten. So hatte man in Großbritannien z.B. einen Test entwickelt, um lernschwache Kinder im Schulsystem identifizieren zu können, 2 und in der deutschen Rekrutenauslese wurden Intelligenztests angewandt. 3 Auch fortschrittliche Psychiater waren an den Methoden der neuen Wissenschaft interessiert, einmal, um die Vorgänge in der menschlichen Psyche wissenschaftlich erfassen und erklären zu können, und dann auch, um therapeutische Maßnahmen für psychische Erkrankungen zu entwickeln. 4 Die Psychologische Gesellschaft Englands wurde am 24. Oktober 1901 gegründet (ab 1906 British Psychological Society BSP). 5 Die zehn Gründungsmitglieder zeigten die Heterogenität der Gesellschaft: fünf waren psychologische Forscher, 6 die einzige Frau war eine Schuldirektorin, 7 zwei Ärzte 8 und zwei Studenten aus Cambridge mit Interesse für psychologische Forschung. 9 Auch weil die Aufnahmekriterien sehr restriktiv waren, blieb die Gesellschaft relativ klein und umfasste 1914 weniger als 100 Mitglieder. 10 Ähnlich heterogen, aber deutlich größer war die 1904 in Deutschland gegründete „Gesellschaft für experimentelle Psychologie“, die alle deutschsprachigen Län- 2 S PEARMAN , General Intelligence. 3 S CHULZE / R ÜHS , Intelligenztests. 4 Z IEHEN , Psychiatrie; S OMMER , Diagnostik; S HEPHARD , War of Nerves. 5 L OVIE , Three steps; E DGELL , Society. 6 William Ralph Boyce-Gibson, William McDougall, William Halse Rivers, George Smith, James Sully, Lovie, Three steps; Edgell Society. 7 Sophie Bryant, Lovie, Three steps; Edgell Society. 8 Robert Armstrong-Jones, Frederick Mott, Lovie, Three steps; Edgell Society. 9 Frank Noel Hales, Alexander Shand, Lovie, Three steps; Edgell Society. 10 Lovie, Three steps; Edgell Society. Psychologen in der Kriegspsychiatrie und die Aussagekraft von Krankenakten 269 der umfasste, also auch das Habsburger-Reich und die Schweiz. 11 Auf dem ersten Kongress in Gießen 1904 waren 104 Gründungsmitglieder anwesend, bis 1914 wuchs die Mitgliederzahl auf 193 an. Alle zwei Jahre wurde ein Kongress abgehalten, dessen Ergebnisse veröffentlicht wurden und an dem die neuesten psychologischen Apparate ausgestellt wurden. Obwohl national gegründet waren beide Gesellschaften auch international angelegt und die Mitgliedschaften überschnitten sich. 12 Persönliche Kontakte, 13 internationale Kongresse 14 und Studienaufenthalte erzeugten eine wechselseitige Verflechtung. 15 Aus heuristischen Gründen sind im folgenden Artikel mit Psychologen diejenigen Forscher oder Ärzte gemeint, die Mitglieder in den psychologischen Vereinen und in der Militärpsychiatrie beschäftigt waren. Vor dem Ersten Weltkrieg lag der Schwerpunkt der psychologischen Tätigkeit in der Erforschung psychischer Phänomene wie Wahrnehmung, Gedächtnis und Intelligenz, in Gutachtertätigkeiten bei juristischen Fragen und in der Erfassung von Leistungs- und Intelligenzfähigkeiten. 16 Der Erste Weltkrieg war eine Chance und ein Katalysator für die Entwicklung der Psychologie. Dies zeigte sich in den neuen Lehrstühlen und Professuren und den Berufs- und Arbeitsmöglichkeiten in der Nachkriegszeit. 17 Interessant dabei ist, dass in der Kriegszeit neue psychologische Grundkategorien, Untersuchungseinheiten und Testverfahren nicht top-down aus der Theorie abgeleitet wurden, sondern sich aus den neuen Praxisfeldern heraus ergaben. Diese neuen Praxisfelder waren: die Diagnostik von militärischen Experten, die Arbeitsverbesserung und Effizienzsteigerung in der Kriegsindustrie und die Versorgung psychisch verletzter Soldaten. Im Folgenden geht es nur um diesen letzten Aspekt, nämlich um die Arbeit der Psychologen mit traumatisierten Soldaten. Dies war das umfangreichste Einsatzgebiet der Psychologen, in dem sie deutliche Erfolge nachweisen konnten. Dies zeigt sich an der Menge der rezipierten Veröffentlichungen und der vom Militär und Staat geschaffenen Arbeitsstellen. Besonders in Großbritannien waren an den Nachkriegs- 11 S CHUMANN , I. Kongress; A SH / G EUTER , Geschichte, 81, 109. Die österreichische psychologische Gesellschaft wurde 1953, die Schweizer psychologische Gesellschaft 1943 gegründet. B AKER , Oxford Handbook, 15. 12 Charles Myers war Mitglied in der Gesellschaft für experimentelle Psychologie; Georg Elias Müller, Carl Stumpf (1905), Oswald Külpe (1911), Franz Brentano (1912) wurden Ehrenmitglieder in der Britischen Psychologischen Gesellschaft. 13 Der Psychologe Frederick Mott hatte z.B. vor dem Krieg die Klinik von dem Psychiater Emil Kraepelin in München besucht und versucht, das Krankenhaus Maudsley nach seinem Modell auszurichten. J ONES , Atmosphere, 419. 14 B AKER , Oxford Handbook, 17. 15 In der Britischen Psychologischen Zeitung veröffentlichten auch deutsche Psychologen wie Wilhelm Wundt und Herrmann von Helmholz und amerikanische Psychologen wie James McKeen Cattell und William James. 16 M ARBE , Die Bedeutung. 17 G UNDLACH , Germany, 275; C OLLINS , England, 195. Andrea Gräfin von Hohenthal 270 debatten und den militärischen Sanitätsberichten überproportional viele Psychologen beteiligt. 18 Im Folgenden soll daher in drei Schritten vorgegangen werden: Nach der Darstellung der Situation zu Kriegsanfang vergleiche ich die Einbeziehung der Psychologen Deutschlands und Großbritanniens in die Militärpsychiatrie und versuche Unterschiede und Gemeinsamkeiten aufzuzeigen und zu erklären. Aus einer quellenzentrierten Sicht möchte ich in einem zweiten Schritt britische und deutsche Krankenakten und -daten aus der Kriegszeit analysieren, einmal um herauszufinden, ob sich Unterschiede in Diagnostik und Therapie der psychisch kranken Kriegsteilnehmer ausmachen lassen und ob sich die Psychologen in den beiden Ländern differenzierter äußerten als ihre Kollegen. Dabei möchte ich herausfinden, ob die Krankenakten eine andere Art der Berichterstattung als die zu diesen Themen veröffentlichten Artikel in Fachzeitschriften ermöglichen. Abschließend möchte ich fragen, ob man in den Krankenakten etwas über das Erleben der Kriegsteilnehmer erfahren kann. Natürlich ist diese Stichprobe an erfassten Daten nicht repräsentativ, ein Vergleich mit Ergebnissen aus zeitgenössischen Veröffentlichungen und aus der Sekundärliteratur kann jedoch durch Widerspruch oder Bestätigung den Erkenntnishorizont erweitern. Mit der Geschichte der Psychologie im Ersten Weltkrieg befassten sich vornehmlich anglo-amerikanische Forscher, speziell in der Untersuchung des Phänomens „shell shock“. 19 In diesen Ausführungen werden häufig, anders als in Deutschland, die Begriffe Psychiatrist und Psychologist synonym verwendet, 20 dies könnte darauf hinweisen, dass die Gruppe der Psychologen im angloamerikanischen Raum deutlich präsenter war. Einzelne Aspekte psychologischer Tätigkeit im Krieg wurden bereits bearbeitet, aber noch nicht zusammenfassend; vergleichende Arbeiten zu Frankreich und Großbritannien liegen vor, allerdings noch nicht zu der Entwicklung der Psychologie. 21 Stephanie Linden arbeitete mit einem Vergleich von psychiatrischen Akten mehrerer Krankenkollektive in Deutschland und Großbritannien; die Untersuchung hier soll aber den Schwerpunkt auf der kritischen Darstellung der Tätigkeit der Psychologen in Großbritannien und Deutschland in der Versorgung psychisch versehrter Kriegsteilnehmer sowie der Analyse der entsprechenden Krankenakten haben. 22 1.1. Die Situation der Psychologie zu Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 hatte die Britische Psychologische Gesellschaft 98 Mitglieder, davon waren 26 Ärzte. Die meisten anderen (67 Prozent) waren Forscher an Universitäten und mit 18 M ACPHERSON , History; S OUTHBOROUGH , Enquiry into Shell-Shock. 19 Exemplarisch: L ERNER , Hysterical men; M ICHL , Im Dienste; M ICHL / P LAMPER , Soldatische Angst; S HEPHARD , War of Nerves; J ONES / W ESSELY , Shell Shock to PTSD; L INDEN / H ESS / J ONES , Manifestations; L INDEN / J ONES , An Examination. 20 S TONE , Shell Shock; S HEPHARD , Pitiless Psychology. 21 P ETRI , Eignungsprüfung; M ICHL , Im Dienste. 22 L INDEN / J ONES , An Examination. Psychologen in der Kriegspsychiatrie und die Aussagekraft von Krankenakten 271 eher abstrakten Themen beschäftigt, einige wenige in der Erziehung tätig. Ausländer waren keine aktiven Vereinsmitglieder, sondern Ehrenmitglieder im Verein; einige davon deutsche Professoren, meist Lehrer britischer Psychologen. 23 1914 waren zwölf Frauen Mitglieder, acht weitere traten in der Kriegszeit ein. 24 Der Verein hatte den Charakter einer „learned society“, verließ sich in großem Maße auf persönliche Kontakte und eine Oxbridgeausbildung als Qualifikationsmerkmal für die unterschiedlichsten Aufgaben. So waren einzelne Mitglieder mit Politikern gut vernetzt und speziell eine Schlüsselfigur, Charles Myers, nutzte diese Verbindungen sehr erfolgreich. 25 Auffällig ist auch, dass einzelne Psychologen während des Krieges in sehr unterschiedlichen Fachgebieten eingesetzt wurden (z.B. William Rivers als behandelnder Arzt für psychische Krankheiten, aber auch als Diagnostiker von militärischen Experten). Anders als in Deutschland hatten sich Mitglieder des Psychologenvereins mit der Lehre der Psychoanalyse beschäftigt, mit der von Sigmund Freud und Carl Gustav Jung, und deren Gedanken mit ihren psychologischen Vorstellungen in Einklang gebracht. 26 Die Psychologen Großbritanniens waren vor allem in der Forschung tätig und dabei in engem Kontakt mit ihren deutschen Kollegen; noch im April 1914 auf dem Kongress in Gießen waren als Mitglieder vier britische Psychologen anwesend. 27 Die Gesellschaft für Experimentelle Psychologie in Deutschland umfasste 1914 193 Mitglieder, davon waren 42 (22 Prozent) Mediziner, 133 (70 Prozent) arbeiteten an Universitäten und 14 (sieben Prozent) waren in der Erziehung tätig, z.B. als Lehrer oder Schulinspektoren. 57 Mitglieder (30 Prozent) kamen nicht aus dem Deutschen Reich, sondern aus 13 verschiedenen Ländern, 28 fast alle hatten einen Doktortitel und nur wenige (sieben) Frauen waren dabei. In Deutschland erwartete man von den Psychologen, so äußerte sich ein Politiker 1912 auf einem Kongress, vor allem praktische Erkenntnisse in der Beurteilung von Zeugenaussagen vor Gericht oder der Zurechnungsfähigkeit von Geisteskranken. 29 Die Einbeziehung in das Kriegsgeschehen änderte das Aufgabenfeld der Psychologen in beiden Ländern in unvorhergesehener Weise. 23 Oswald Külpe, Wilhelm Wundt, Georg Elias Müller, Carl Stumpf und Franz Brentano. E DGELL , Society, 6. 24 V ALENTINE , To Care. 25 M YERS , Shell Shock, 4. 26 E DER , Position. 27 Charles Myers, William McDougall, Charles Spearman, Alexander Wohlgemuth in: S CHU- MANN , VI. Kongress, 114-120. 28 1914 waren fünf Engländer Mitglieder der Gesellschaft für experimentelle Psychologie, nämlich Charles Spearman, Charles Myers, Alexander Wohlgemuth, Henry Watt und William McDougall; auch Ernest Jones, der zu dieser Zeit in Kanada arbeitete und zur gleichen Zeit Mitglied im BPS war. S CHUMANN , Bericht 1914. 29 G OLDSCHMIDT , Bericht, 96. Andrea Gräfin von Hohenthal 272 1.2. Die Psychologen in der Militärpsychiatrie Die Psychologen beider Länder beteiligten sich an der Versorgung der psychisch verletzten Kriegsteilnehmer, aber in unterschiedlicher Weise. Da zu Beginn des Krieges in Großbritannien keine allgemeine Wehrpflicht bestand, lief die militärpsychiatrische Versorgung eher schleppend an und nur durch Zufall und über erfolgreiches Networking gelangte der Universitätspsychologe Charles Myers in die Position des „Consulting Psychologist to the British Army“. 30 Diese Entwicklung war auch dadurch zu erklären, dass es in der britischen Armee (anders als in der deutschen) die Möglichkeit gab, unabhängig vom Rang in Friedenszeiten schnell zu einem „temporary officer“ aufzusteigen und damit einige militärische Macht zu erreichen; psychiatrische oder militärpsychiatrische Vorkenntnisse spielten dabei keine ausschlaggebende Rolle. Auch britische Psychologinnen konnten sich, anders als ihre deutschen Kolleginnen, an der militärmedizinischen Arbeit beteiligen. Trotz anfänglicher Schwierigkeiten arbeiteten sie nahe der Front und konnten im Kriegsverlauf eine Klinik für verletzte Soldaten in London eröffnen. In der Anfangszeit des Krieges organisierten Frauen die freiwillige Krankenversorgung der britischen Armee und es war auch den Aktivitäten einer Frau, der Duchess of Westminster, zu verdanken, dass der Psychologe Charles Myers eine Möglichkeit fand, an der französischen Front zu arbeiten. Auch war die Stellung der Frauen eine andere; zwar hatte die Suffragettenbewegung zu Kriegsbeginn in den Burgfrieden eingestimmt, aber einzelne Politiker wie Lloyd George respektierten die starke Stellung der Frauen auch in der Kriegszeit. 31 Einschneidend für die Militärpsychiatrie waren die Ereignisse des Jahres 1916: In diesem Jahr wurde in Großbritannien die allgemeine Wehrpflicht eingeführt und die Folge der Schlacht an der Somme war ein dramatischer Anstieg der Zahl der psychisch verletzten Soldaten. Daher konnte Charles Myers in seiner Position als beratender Psychologe der britischen Armee seine Pläne einer frontnahen Versorgung psychisch verletzter Kriegsteilnehmer verwirklichen. Vier frontnahe Nervenlazarette wurden eingerichtet, zwei davon von Psychologen (William Brown und Francis Dillon) geleitet, die als Experten für Shell Shock dorthin berufen worden waren. 32 Diesem Terminus hatte Myers durch einen Artikel Anfang 1915 zu öffentlicher Verbreitung verholfen. 33 Die Psychologen aus den frontnahen Einrichtungen, die psychotherapeutische Maßnahmen wie Suggestion und Hypnose in einer militärisch geprägten Atmosphäre durchführten, berichteten über hohe Heilungsraten und konnten viele Patienten wieder an die Front zurückschicken. 34 Die meisten Patienten kehrten schon nach kurzer Erholungsphase wieder zu ihren Einheiten zurück; die Therapie der anderen Patienten bestand meist in den Bemühungen, verdrängte Kriegserlebnisse wieder bewusst werden zu lassen, in der Annahme, dass danach die 30 M YERS , Shell Shock, 18. 31 M ARTINDALE , Against all Hushing. 32 B ROWN , The Treatment; D ILLON , The Analysis; J ONES / W ESSELY , Shell Shock to PTSD, 26. 33 M YERS , A Contribution. 34 B ROWN , The Treatment, 197. Psychologen in der Kriegspsychiatrie und die Aussagekraft von Krankenakten 273 körperlichen Symptome verschwinden würden. 35 Psychoanalytische Ideen, besonders die von Carl Gustav Jung, hatten nämlich Aufnahme in die theoretischen Überlegungen der britischen Psychologen gefunden und wurden den Ansprüchen der Kriegssituation entsprechend angepasst. 36 Obwohl Sigmund Freud Bürger einer feindlichen Macht war, wurde er während der ganzen Kriegszeit gelesen und rezipiert; eine klar definierte psychoanalytische Lehre oder Therapie war zu dieser Zeit aber noch nicht etabliert. Die strikte Ablehnung organischer Ursachen der kriegsneurotischen Störungen wurde in Großbritannien, ähnlich wie in Frankreich, nicht so streng vertreten wie im Deutschen Reich. 37 Ende 1917, nach den verlustreichen Flandernschlachten (Passchendaele), änderte sich jedoch die Situation: Charles Myers und seine Kollegen mussten sich aus der frontnahen Versorgung zurückziehen. 38 Ersetzt wurden diese psychologischen Experten durch Militärärzte, die ein energisches und restriktives Verfahren anwendeten und keine psychologische Erklärung der Symptome zuließen. 39 In Großbritannien entstanden aber an verschiedenen Orten Zentren für psychologische Therapien und einige dieser Krankenhäuser wurden gegen Ende Lehrkrankenhäuser zur Ausbildung junger Kriegspsychiater. 40 Die Therapie in diesen Krankenhäusern war ähnlich wie die an der Front: Im Krankenhaus Maghull z.B. wurden eklektische Therapien mit psychoanalytischen Annahmen angewandt, aber die „Heilungsrate“ war deutlich geringer als an der Front. 41 Im Lehrkrankenhaus Maudsley dagegen wurde eher konservativ behandelt, mit warmen Bädern, Massagen und Beschäftigungstherapie. Mott, der Psychologe, der dort Chefarzt war, fand die Anwendung von Hypnose oder Psychoanalyse weder nötig noch erstrebenswert. 42 Die Anwendung von elektrischen Strömen, wie in Deutschland propagiert, wurde in Großbritannien nur selten angewandt, aber auch der Psychologe Frederick Mott behandelte einfache Soldaten mit milden faradaischen Stromstößen. 43 Im Deutschen Reich lief nicht nur die allgemeine Wehrpflicht, sondern auch die militärpsychiatrische Versorgung schnell an, zwar anfangs etwas ungeordnet, aber schon 1915 mit ausgearbeiteten Strategien. 44 Einige Universitätspsychologen versuchten sich zu Kriegsanfang nützlich zu machen und entwarfen beispielsweise einen Fragebogen zur Erfassung der Situation des einfachen Soldaten im Krieg 45 und befragten Kinder nach ihren Kriegserlebnissen. 46 Diese Vorgehensweisen wur- 35 Ebd. 36 D ILLON , The Analysis. 37 M OTT , Lettsomian Lectures. 38 M YERS , Shell Shock, 109. 39 J ONES , War-Neurasthenia; H ERRINGHAM , Medicine. 40 Anonym, Shell Shock. 41 S HEPHARD , Early Treatment, 445. 42 M OTT , Lettsomian Lectures, 553. 43 D ERS ., War Neuroses, 442. 44 H OFFMANN , Kriegshysterie. 45 P LAUT , Psychographie, 1-123. 46 S TERN , Seelenleben. Andrea Gräfin von Hohenthal 274 den aber nicht weiter verfolgt, auch weil eine rigide Zensur eingriff und weitere Erhebungen dieser Art verboten wurden. 47 Andere Psychologen wie die renommierten Lehrstuhlinhaber Robert Sommer, Wilhelm Weygandt, Herrmann Gutzmann, wurden schnell in die militärpsychiatrische Versorgung einbezogen. Die dezentrale Organisation der Militärmedizin führte zu unterschiedlichen Zentren mit psychologischen Aktivitäten, so z.B. in Berlin, München und Gießen; die deutschen Psychologen waren aber eher Einzelkämpfer, nicht so stark vernetzt wie die britischen und gut integriert in die allgemeine psychiatrische Versorgung. 48 Auch war die Militärpsychiatrie schon zu Beginn des Krieges so straff organisiert, dass die Handlungsspielräume für Neulinge oder Außenseiter relativ gering waren. 49 Mitglieder des psychologischen Vereins wandten keine psychoanalytischen Methoden an wie ihre britischen Kollegen; 50 sie setzten bei ihrer therapeutischen Arbeit experimentalpsychologische Apparate und psychologische Tests ein, so z.B. Robert Sommer in Gießen und Walther Poppelreuter in Köln; Wilhelm Weygandt verfasste psychiatrische Gutachten und Korbinian Brodmann benutzte psychologische Verfahren in der Hirnforschung. 51 Aggressive Therapieverfahren, wie Scheinoperationen, wurden z.B. auch von Kurt Goldstein eingesetzt und nur wenige Psychologen kritisierten die ab 1916 häufig eingesetzte Therapie von schmerzhaften elektrischen Stromschlägen. 52 Ähnlich wie ihre britischen Kollegen berichteten die deutschen Psychologen über hohe Heilungsraten, anders als in Großbritannien wurden geheilte Patienten meist aber nicht wieder ins Feld, sondern zur Arbeit in die Kriegsindustrie entlassen. 53 Eine frontnahe militärpsychiatrische Versorgung wie in Großbritannien und Frankreich gab es in Deutschland nicht; erst gegen Kriegsende dachte man darüber nach, aber entsprechende Pläne wurden nur rudimentär umgesetzt. 54 An der richtungsweisenden Münchner Konferenz für Kriegspsychiatrie 1916 waren Psychologen anwesend; 55 diskutiert und propagiert wurden hier aggressive, schmerzhafte Therapiemethoden und eine organische Ursache der Kriegsneurosen wurde einhellig abgelehnt. 56 Anders als ihre britischen Kollegen sahen sich die deut- 47 K ÖHNE , Kriegshysteriker. 48 W EYGANDT , Geisteskrankheiten; S OMMER , Krieg; G UTZMANN , Bericht. 49 H ELLPACH , Wirken, 31. 50 E LLIGER , Freud; N ITZSCHKE , Freud. 51 S OMMER , Taubheit; P OPPELREUTER , Ausfallerscheinungen; W EYGANDT , Begutachtungen; B RODMANN , Lebenslauf. 52 G OLDSTEIN , Behandlung; G UTZMANN , Sprache, 77f.: „Das sind Erfahrungen [mit sprachgestörten Soldaten], die dazu geführt haben, solche Schreckwirkung absichtlich herbeizuführen, indem man äußerst schmerzhafte starke elektrische Ströme an den Patienten brachte, ein Verfahren, das aber abgesehen von der in einer Reihe von Fällen tödlichen Wirkung nicht den Anspruch erheben kann, ein ärztliches genannt zu werden.“ Diese Äußerungen wurden allerdings nach dem Krieg gemacht. 53 L ERNER , Hysterical Men, 126-129. 54 Ebd, 157. 55 Wilhelm Weygandt und Willi Hellpach, in: Neurologisches Centralblatt 1916, 790f. 56 R AUH , Therapiemethoden, 31-35. Psychologen in der Kriegspsychiatrie und die Aussagekraft von Krankenakten 275 schen Mitglieder des psychologischen Vereines nicht als organisierte Gruppe von Experten zur Behandlung von Kriegsneurosen, obwohl auch sie in verschiedenen Arbeitsgruppen kooperierten. 57 2. Zum Aussagewert von Krankenakten 2.1. Patientenakten als Quellen Die Auswertung von Krankenakten wurde besonders in der anglo-amerikanischen Forschungsliteratur propagiert, als eine Möglichkeit, „eine Patientengeschichte von unten“ zu schreiben und so die Perspektive des Soldaten-Patienten und vor allem auch sein Erleben des Krieges anhand der Quelle Krankenakte neu zu beleuchten. 58 Dieses Verfahren wurde von Verfechtern diskursanalytischer Ansätze abgelehnt, da ihrer Ansicht nach der Blick des Patienten immer durch die spezifische Sicht des Arztes und den ihn bestimmenden medizinischen Diskurs gefiltert sei. 59 Im Folgenden liegt der Akzent auf einer anderen Ebene: Patientenakten als Quellenmaterial geben vor allem einen Einblick in die Arzt-Patient Kommunikation und sind ein Medium, das im Gegensatz zu Zeitungsartikeln und Veröffentlichungen nicht bzw. weniger der Zensur unterlag. Ein Vergleich der in den Akten geschilderten ärztlichen Praxis mit den Schilderungen zeitgenössischer Veröffentlichungen und Ergebnissen der Sekundärliteratur soll aufzeigen, wie im Krankenhausalltag mit den psychisch verletzten Soldaten umgegangen wurde und ob sich Äußerungen über die Erfahrungen und Gefühle der verletzten Soldaten finden lassen. Dabei steht die Leitfrage im Mittelpunkt, ob sich Unterschiede zwischen den Psychologen und anderen Ärzten im Umgang mit den Kranken finden lassen. Dies soll anhand von drei Kriterien untersucht werden: Der Diagnose, die zu dieser Zeit immer auch eine soziale Unterscheidung bedeutete, da die psychischen Erkrankungen auch implizit Wertungen transportierten. Daher, so die zeitgenössische Fachpresse, wurde die Diagnose Neurasthenie eher bei Offizieren, die der Hysterie bei einfachen Soldaten gestellt. 60 Dann soll der Frage nachgegangen werden, ob man etwas über die durchgeführten Therapien erfahren kann. Abschließend soll der Schilderung und Verarbeitung der Kriegserlebnisse der verletzten Soldaten in den Krankenakten nachgegangen werden. Das Quellenmaterial besteht aus zwei Teilen: Aus zwei Registerbüchern und einer Anzahl von ausgewählten Krankenakten. Ein Registerbuch stammt aus dem Offizierskrankenhaus Craiglockhart in Schottland; das andere aus einem Kriegslaza- 57 P OPPELREUTER , Schädigungen, 19. 58 P ORTER , Patient’s View. 59 H OFER , Kriegsneurosen, 314; kritisch auch: S HEPHARD , War of Nerves, XXIII; P ECKL , Patient Records, 148. 60 Zu Deutschland: H ELLPACH , Kriegsneurasthenie, 180; C URSCHMANN , Kriegsneurose, 291; zusammenfassend siehe: H OFER , Nervenschwäche, 220-226; P ECKL , Krank, 72-76. Zu Großbritannien: M OTT , Neuroses and Shell Shock, 131; M YERS , Shell Shock, 40; zusammenfassend siehe, R EID , Broken Men, 16-23. Andrea Gräfin von Hohenthal 276 rett in Köln, in dem nach der Kaufmannschen Methode, d.h. mit Elektroschocks therapiert wurde. 61 Der Korpus der britischen Krankenakten umfasst solche von psychisch verletzten Soldaten, meist aus der Anfangszeit des Krieges. Von etwa 700 Akten (nach der angegebenen Nummerierung) konnten 201 Akten verwertet werden. 62 Aus etwa 1.000 Krankenblättern von Offizieren aus der zweiten Hälfte des Krieges konnten 76 von psychisch Verletzten identifiziert werden. 63 Deutsche Quellen bestehen aus Krankenakten des Festungslazaretts Köln, das von dem Psychologen Walter Poppelreuter geleitet wurde, 64 und des Militärarchivs Freiburg. 65 2.2.1. Großbritannien Die britischen Akten sind meist recht kurz gehalten, 66 die Aufzeichnungen sind knapp, ein standardisiertes Vorgehen (mit Tests) ist nicht ersichtlich. In der Diagnosestellung zeigen sich deutliche Differenzen zu den Berichten in den Fachzeitschriften. Dort wurde nämlich festgestellt, dass die Diagnose „Neurasthenie“, die einen Erschöpfungszustand beschrieb, vorwiegend bei Offizieren nachzuweisen wäre. 67 Die Akten der psychisch verletzten Soldaten zeigten jedoch ein anderes Bild: Hier überwog mit 44 Prozent ebenfalls die Diagnose „Neurasthenie“, gefolgt von einer fehlenden Diagnosestellung (41 Prozent), d.h. in einem Drittel der untersuchten Akten wurde nur eine Symptombeschreibung vorgenommen. Hysterie wurde, anders als in Deutschland, nur sehr wenig (3,4 Prozent) festgestellt, ebenso wie die populäre Diagnose „Shell Shock“ (5,4 Prozent). Natürlich kann man einwenden, dass der Artikel von Charles Myers, der die Diagnoseeinheit Shell Shock populär machte, erst im Januar 1915 erschien, trotzdem zeigt die häufige Diagnose Neurasthenie die Unschärfe dieser Krankheitsbezeichnung und die häufig ausbleibende Diagnose die Hilflosigkeit der behandelnden Ärzte dem Krankheitsbild gegenüber. 68 Mehrere, auch körperliche Symptome wurden benannt und zum Teil auch in Be- 61 Admission and Dischargebook Craiglockhart: Nationalarchiv London (NA), MH 106/ 1187 -MH 106/ 1193. Köln: Kriegsneurotiker, Reservelazarett II. Abteilung 8 (unveröffentlichtes Registerbuch). 62 NA, MH 106/ 2102 und MH 106/ 2101. 63 NA, MH 106/ 2202-MH 106/ 2206. 64 Festungslazarett Cöln Lindenthal (CL) (unveröffentlichter Bestand): Aus etwa 400 Akten wurden 45 bearbeitet, in denen Walter Poppelreuter selber Untersucher und/ oder Gutachter war. Archiv der LVR Klinik Bonn. 65 Im Militärarchiv Freiburg liegen Akten der Geburtsjahrgänge 1802-1899. Die Überlieferung ist nicht vollständig. Für die Geburtsjahrgänge 1881-1899 sind nur die Krankenblätter für die im Januar und Juli Geborenen überliefert. Befund und Behandlung sind teilweise vermerkt. Bundesarchiv-Militärarchiv (BA-MA) Pers 9. Hier wurden 100 Akten vom Januar 1890 durchgesehen. 66 Armyform I 1237. 67 M OTT , Neuroses and Shell Shock, 131; M YERS , Shell Shock, 40; R EID , Broken Men, 16-23. 68 M YERS , A Contribution. Psychologen in der Kriegspsychiatrie und die Aussagekraft von Krankenakten 277 ziehung zu Gas-Einwirkungen gebracht. 69 Manche Patienten mit psychischen Symptomen wurden einer anderen Krankheitsgruppe zugeordnet. 70 Den kursorischen Bemerkungen der Patientenakten nach, waren es meist die Soldaten-Patienten selbst, die die Beziehungen zwischen den Krankheitssymptomen und den Kriegsereignissen herstellten. 71 Ähnliche Ergebnisse zeigen die Offiziersakten: Sie widersprechen ebenfalls den Angaben des medizinischen Fachdiskurses, indem sie zeigen, dass in den Krankenakten neben der Diagnose Neurasthenie (64 Prozent) auch andere Diagnosen wie Shellshock (zehn Prozent), debility, shock, nervous collaps gestellt oder von einer Diagnosestellung abgesehen wurde. Manche dieser Symptombeschreibungen hätten auch eine andere (zeitgenössische) Diagnose nahegelegt: so z.B. Zittern, funktionale Störungen der Muskeln oder Sinnesorgane, die sonst meist die Diagnose Shellshock oder Hysterie nach sich zogen, hier aber mit Neurasthenie bezeichnet wurden. 72 In dem Aufnahme- und Entlass-Buch des Offizierskrankenhauses Craiglockhart, in dem von Oktober 1916 bis März 1919 1.736 Patienten behandelt wurden, wurde aber fast nur die Diagnose Neurasthenie gestellt. 73 Diese Krankheit galt als die Krankheit der Offiziere, sie war mit Ermüdung und Erschöpfung konnotiert und nicht mit der eher stigmatisierenden Diagnose Hysterie verbunden. Die Diagnose Neurasthenie wurde also routinemäßig bei Eintritt in das Krankenhaus gestellt. Deutlich wird anhand dieser Ergebnisse, dass sich der Diskurs in den Fachzeitschriften und die in den Registerbüchern geschilderte Praxis von den Aufzeichnungen in den Krankenakten unterscheiden. Die Krankenakten folgen nicht der These, dass Offiziere meist an Neurasthenie und Soldaten an anderen psychischen Störungen leiden würden, sondern geben ein differenzierteres Bild wieder. 74 Die Diagnosestellung in den offizielleren Verlautbarungen (Registerbuch) folgte eher der sozialen Praxis, nach der Offiziere anders gesehen und auch in anderen Krankenhäusern therapiert wurden. Über die Therapie der psychisch gestörten Soldaten ist in den britischen Krankenakten nicht viel zu erfahren, außer gelegentlichen Hinweisen auf konservative Maßnahmen, wie Beschäftigung im Haus, Massagen oder Brom; nur einmal wird eine elektrische Therapie erwähnt. 75 Auch in den Offiziersakten wird kaum etwas über die Therapie ausgesagt. 69 Beispiel: NA, MH 106/ 2102, Akte Soldat H., Robert; 16.12.15: „Was buried by shell explosions in a dug out: Great nervous shock: Complains of “Heart”, “Dreams a lot”, easily excited; gas poisoned 6.1.16.” 70 NA, MH 106/ 2102. Die Hälfte der Krankenakten dieser Sammlung haben die Diagnose einer Muskel- oder Rückenerkrankung, viele Patienten leiden aber auch unter psychischen Störungen. 71 Beispiel: NA, MH 106/ 2101, Akte Soldat M., Ernest, 15.2.1915. 72 . NA, MH 106/ 2202 Leutnant A., A.,13.12.1917; Leutnant. B., F. P., 12.2.1918. 73 W EBB , Dottyville, 344. 74 Ähnliche Ergebnisse: P ECKL , Patient Records, 158; H UMPHRIES / K URCHINSKI , Rest, 95. 75 Z.B: NA, MH 106/ 2102, Akte Soldat G. 12.7.1915. Andrea Gräfin von Hohenthal 278 2.2.2. Deutschland Die deutschen Militärkrankenakten sind deutlich länger, standardisierter und sorgfältiger ausgefüllt. Es zeigt sich hier ein ähnliches Bild wie in den britischen Akten, auch wenn der entsprechende Aktenkorpus erheblich kleiner ist. Obwohl die häufigste Diagnose der psychisch gestörten Soldaten Hysterie (aufgrund psychopathischer Veranlagung) war, wurde fast genauso häufig die Diagnose Neurasthenie bei den einfachen Soldaten, also nicht nur bei Offizieren, gestellt. 76 Behandelt wurde mit konservativen Maßnahmen wie z.B. Kur- und Sprudelbädern und nicht mit aggressiven Therapiemethoden. 77 Andere Angaben findet man in dem Registerbuch des Kölner Kriegslazaretts; in diesem Lazarett wurde ausnahmslos nach der „Kaufmann Methode“, das heißt mit schmerzhaften elektrischen Stromschlägen behandelt. 78 Der renommierte Psychiater Fritz Kaufmann hatte seine Behandlungsmethode, die zur Heilung hysterischer Symptome schmerzhafte elektrische Stromstöße einsetzte, bei der bedeutenden medizinischen Konferenz in München im September 1916 vorgestellt und ihr zu allgemeiner Akzeptanz verholfen. Seine Methode bestand darin, schmerzhafte Stromstöße mit militärischen Befehlen zu kombinieren und dem Patienten klarzumachen, dass diese Behandlung erst nach Beseitigung der Symptome beendet würde. 79 Behandelt wurden nach dieser Methode in Köln 370 Patienten im Zeitraum vom 24. August 1916 bis zum 31. März 1918. Im Unterschied zu Kaufmann wurde hier aber in fast allen Fällen eine kurze Behandlungsdauer (eine Viertelstunde, eine halbe Stunde) angegeben, aber meist über eine vollständige Heilung berichtet. Möglicherweise genügte in dieser Klinik eine kürzere Anwendung bzw. nur die Drohung damit. Auch sind die Diagnosestellungen in dem Registerbuch interessant: Anfangs wurde sehr häufig die Bezeichnung: „hysterisch“ in der Diagnose verwendet, beispielsweise hysterische Aphonie, hysterische Abasie, hysterische Schüttellähmung etc. Später überwog eine Beschreibung der Symptome, wie z.B. allgemeines Zittern, Zittern des linken Beines etc. Die Diagnose Neurasthenie wurde nie gestellt, obwohl dort auch Offiziere behandelt wurden. Dies kann daran liegen, dass in diesem Krankenhaus nur nach der Kaufmannschen Methode therapiert wurde, die man bei Neurasthenie nicht anwandte. Die Akten des Psychologen Poppelreuter im Festungslazarett Köln sind sehr ausführlich und standardisiert. Poppelreuter selbst hatte im Verlaufe des Krieges zusätzlich ein eigenes psychologisches Messverfahren entwickelt. Sein Ziel war es, hirnverletzte Soldaten wieder in das Berufsleben einzugliedern, und entsprach somit der allgemeinen Intention der deutschen Militärpsychiatrie. 80 Auch bei seinen Patienten nahm er öfter eine hysterische Veranlagung bzw. den fehlenden Willen zur 76 BA-MA, Pers 9/ 2.1.1890 (A-H) Lazarettakte Fritz H.; dies unterstützt die Ergebnisse von Petra Peckl und Philipp Rauh in: R AUH , Therapiemethoden, 47; auch H ERMES , Krankheit. 77 BA-MA, Pers 9/ 1.1.1890 (A-H) Lazarettakte Kaspar M. 78 In dem Krankenregister wurden Name, Rang, Erkrankung, Behandlungsdauer und -erfolg und die Dauer des Krankenhausaufenthalts angegeben, leider nicht der Name des behandelnden Arztes. 79 K AUFMANN , Heilung. 80 P OPPELREUTER , Schädigungen, Vorwort, 2. Psychologen in der Kriegspsychiatrie und die Aussagekraft von Krankenakten 279 Arbeit als pathologische Komponente an. Eine größere Menge an Akten von Offizieren lag nicht vor. Walter Poppelreuter arbeitete in seinem Krankenhaus mit einem ausgefeiltem Therapie- und Rehabilitationsprogramm. Eine Berufsschule sollte spezielle Ausfälle korrigieren, dann aber auch eine Berufseingliederung möglich machen. Über die individuellen Therapiemaßnahmen wird in den Krankenakten genau berichtet. Poppelreuter versuchte dabei, den Arbeitsprozess zu messen und in einzelne Bestandteile, wie körperliche und geistige Leistungsfähigkeit, aber auch persönlichen Arbeitswillen, zu untergliedern und diese einzelnen Bestandteile in die Therapie einzubeziehen. Dabei sah er es als seine Aufgabe an, den rehabilitierten Patienten wieder für die Kriegsanstrengung nutzbar zu machen. 2.3. Psychologen in Krankenakten In den britischen Quellen finden sich in den Akten von psychisch verletzten Soldaten und Offizieren auch die Namen der behandelnden Psychologen. Besonders interessant sind die Akten von Ronald Rows, einem bekannten Psychiater, der auch an dem Nachkriegsbericht des britischen Heeres mitarbeitete, und die von William Rivers, der vom Kriegsministerium an verschiedenen Stellen eingesetzt wurde, so 1916 als Leiter des Offizierskrankenhauses Craiglockhart. 81 Die Akten von Ronald Rows (der einfache Soldaten eher am Kriegsanfang behandelte) und William Rivers (der Offiziere eher gegen Kriegsende behandelte) sind schon äußerlich durch den größeren Umfang und die sorgfältigere Bearbeitung auszumachen. Auffällig ist, dass beide Psychologen keine Diagnose eintragen, sondern nur Symptome beschreiben. 82 In Sprache und Vorgehensweise zeigt sich die unterschiedliche Aus- und Vorbildung der beiden Psychologen: Ronald Rows untersucht und formuliert wie ein Psychiater, hat es aber auch mit einem Klientel mit teilweise psychiatrischen Vorerkrankungen zu tun. 83 Auf der anderen Seite berichten Patienten über eine Vielzahl von funktionellen Symptomen, die Rows nicht einordnet, die aber zu einem späteren Zeitpunkt (oder in Deutschland) wohl zu der Diagnose Shell Shock bzw. Hysterie geführt hätten. 84 Über Therapie (nur einmal wird über Arbeit im Haus als Therapie berichtet) ist nichts zu erfahren und die meisten Patienten wurden in einen Erholungsurlaub geschickt. William Rivers schildert die Symptome und die Krankengeschichte seiner Patienten beobachtend und einfühlsam, in ethnologisch beschreibender Art. Seinen Patienten, oft sehr junge und vorher gesunde Offiziere, unterstellt er keine psychische Erkrankung, sondern sieht ihren Zustand als Folge der anstrengenden 81 J OHNSON / R OWS , Neurasthenia; R IVERS , An Address. 82 Patient von Ronald Rows, in: NA, MH 106/ 2102, Akte Soldat R., Henry, 15.2.1915. Patient von William Rivers: in: NA, MH 106/ 2205 Akte Leutnant R., N.F.W., 14.3.1917. 83 Z.B. NA, MH 106/ 2102: Akte Soldat C., William, 15.2.1915; Akte Soldat M., Ernest, 15.2.1915; Akte Soldat K., Frank, 5.4.1915. 84 “States that he went out to France at the end of January. Has been in the trenches a states that he became broken up by the strain a that his feet became bad. Was slightly deaf in his right ear with some dischange. Had dizziness a headache while in France.” In: NA, MH 106/ 2102, Akte C. John, 27.3.1915. Andrea Gräfin von Hohenthal 280 und belastenden Kriegsereignisse. 85 Beide Ärzte stellen jedoch meist keine Diagnose. Auch unterscheiden sich die dann doch eher kurzen Berichte in den Krankenblättern, ohne therapeutische Angaben, von den ausführlichen Patientendarstellungen in den Zeitungsartikeln dieser beiden Psychologen. 86 Der deutsche Psychologe Walter Poppelreuter verwandte im Gegensatz zu seinen britischen Kollegen standardisierte psychologische Testverfahren und Verhaltensbeobachtungen in seiner Diagnostik hirnverletzter Soldaten. 87 Die detailliert ausgeführten Akten geben Auskunft über die Ergebnisse der psychologischen Tests und der Arbeitsversuche; eine sorgfältige Beobachtung des Patienten mündet in einer Einschätzung der Arbeitsfähigkeit und des Willens. 88 Aufschlussreich sind auch die Aufsätze zu wichtigen Ereignissen ihres Lebens, die die Patienten verfassen mussten. Hier kommen persönliche Kriegs-, aber auch Krankheitserlebnisse zum Ausdruck. 89 Oft wird neben den körperlichen und intellektuellen Leistungsminderungen eine psychogene Störung diagnostiziert. 90 Trotz Hirnverletzung werden diese psychogene Störung mit herabsetzenden Worten beschrieben: „B. zeigt in seinem ganzen psychischen Verhalten die verdrossene ablehnende Stellungnahme einer traumatischen Neurose, die auch an mangelnden guten Willen denken lässt.“ 91 Körperliche Verletzung und psychische Störung werden hier also als unabhängige Ursachen angenommen; eine eindeutige psychische Diagnose wird aber nicht festgelegt. 2.4. Die Stimme der Patienten In den Krankenakten liest man nur in bestimmter Weise etwas über das Kriegserleben der psychisch verletzten Soldaten. Einmal über das Ereignis, das nach Meinung der Patienten die Störung ausgelöst hat, meist jedoch werden nur der Anlass (z.B. Tod eines Kameraden) und nicht die dazugehörigen Gefühle, zum Beispiel Entset- 85 Beispiel: NA, MH 106/ 2204, Akte Leutnant L., Stanley, 25.1.1917. 86 R OWS , Mental Conditions; R IVERS , An Address. 87 Teile dieser Tests waren Bestandteile standardisierter Verfahren z.B. von Ebbinghaus, Binet oder Trömner. Siehe, W EYGANDT , Geisteskrankheiten. 88 Cöln-Lindenthal, Akte B., Adam, 19.6.1918. 89 Cöln-Lindenthal, Akte B., Leonhard, 9.1.1915: „wir lagen kaum 1 Stunde auf dem Bauch, da schlug gerade zwei Meter neben uns eine Granate ein wovon den zwei meiner Kameraden sofort Tod waren und der andere hat den noch eine halbe Stunde gelebt er hat den Kopf halb gespalten gehabt und dieses alles habe ich über 3 volle Stunden zusehen müssen weil wir waren die Zeit verschüttet ich selbst bin taub geworden durch den Luftdruck der Granate […] bin freiwillig 9 Wochen auf Schleichpatroullie gegangen woran ich meine Freude hatte die fremden Hasen fort zu schießen; wir sind ja alle Menschen aber hätten sie nicht geschossen so hätten sie uns nieder geschossen.“ 90 Beispiele sind: Eine psychogene Aphonie, eine nervöse Schwerhörigkeit (Cöln-Lindenthal, Akte B., Franz, 20.6.1916), eine nervöse Schwerhörigkeit (Cöln-Lindenthal, Akte B., Hans, 9.1.1915), bei einem weiteren Patienten wird eine psychogene Ursache der Beschwerden mit „male voluntas“ angenommen (Cöln-Lindenthal, Akte B., Ludwig, 28.1.1918). 91 Cöln-Lindenthal, Akte B., Heinrich, 28.1.1915. Psychologen in der Kriegspsychiatrie und die Aussagekraft von Krankenakten 281 zen, Ekel, Verzweiflung etc., geschildert; darüber berichten die Psychologen in ihren Veröffentlichungen und die Patienten in ihren Briefen. 92 In den meisten Fällen (britischen und deutschen) ist anzunehmen, dass die Patienten die Verbindung zwischen auslösendem Ereignis und Erkrankung sahen und nicht die Ärzte. 93 Die in den Artikeln in den Fachzeitschriften geschilderten emotionalen Kriegserlebnisse, die in den psychotherapeutischen Sitzungen z.B. von William Rivers zur Sprache gekommen waren, finden sich nicht in den Notizen der Krankenakten. Deutlicher kamen persönliche Gefühle der Patienten zu Tage, wenn sie, wie bei dem Psychologen Poppelreuter, einen kurzen Aufsatz über ihr Leben schreiben sollten. Meist jedoch schilderten diese Patienten dabei die Erfahrungen ihrer Verletzungen und deren Behandlung, da zu diesem Zeitpunkt die Krankheit und nicht das Kriegsgeschehen im Mittelpunkt ihres Erlebens stand. Im Einzelfall kamen jedoch dabei persönliche Kriegserfahrungen, auch die „Freude am Töten“, zur Sprache. 94 3. Resümee Die britischen und deutschen Psychologen unterschieden sich in ihren Arbeitsgebieten und Methoden zur Behandlung psychisch verletzter Soldaten. Britische Psychologen therapierten nicht nur in Krankenhäusern in Großbritannien, sondern zeitweise auch an der Front und benutzten adaptierte psychoanalytische Verfahren. Deutsche Psychologen waren nicht so stark untereinander vernetzt, gut integriert in die Militärpsychiatrie im Heimatland und wenig aufgeschlossen für psychoanalytische Ansätze. Sie arbeiteten mit psychologischen Tests und experimentalpsychologischen Verfahren (auch mit hirnverletzten Soldaten). In der Diagnosestellung in den Krankenakten unterschieden sich die britischen und deutschen Psychologen von den anderen Ärzten: Meist nahmen sie keine genaue Diagnosestellung vor, sondern blieben bei einer differenzierten Symptombeschreibung. Eine soziale Zuordnung von Diagnosen, d.h. die Tendenz, Offizieren die Diagnose Neurasthenie, Soldaten Hysterie zuzuordnen, ließ sich (im Gegensatz zu dem Registerbuch des britischen Offizierskrankenhauses Craiglockhart) in den Krankenakten nicht nachweisen; auch wurde nur wenig über die Therapie vermerkt, außer in den Akten von Walter Pop- 92 B ROWN , The Treatment; D ILLON , The Analysis. 93 “Patient’s mental condition seems quite normal. He answers questions promptly. Says he only had one fit at the front and thinks it was due to shock because his mate’s head was blown off by a shell near him.” In: NA, MH 106/ 2102; Akte M., Ernest. „Torpedo Obermatrose B., seit dem 17.5.1916 in Behandlung im Festungslazarett Kiel-Wik leidet an Hysterie und führt sein Leiden auf den Dienst zurück [….] verunglückte bei Rigaoperation, lief auf eine Mine (20-30 Tote) wurde bewusstlos durch Detonation, war hochgeschleudert worden, später, als er wieder zu sich kam, von dem erhaltenen Ruck enormen Kopfschmerz, besonders brennend und stechend in den Augen, konnte nicht deutlich sehen, war benommen.“ In: BA-MA, Pers 9/ 9.1.1890 (A-H) Lazarettakte B., Johann. 94 Patient von Ronald Rows, in: NA, MH 106/ 2102, Akte Soldat R., Henry, 15.2.1915. Patient von William Rivers: in: NA, MH 106/ 2205 Akte Leutnant R., N.F.W., 14.3.1917. Andrea Gräfin von Hohenthal 282 pelreuter. Nach den Unterlagen in dem Kölner Registerbuch wurde dort jedoch nur mit schmerzhaften elektrischen Stromschlägen behandelt, und zwar sowohl Soldaten als auch Offiziere. Es handelte sich hier wohl um ein spezialisiertes Krankenhaus, in dem nur diese Therapiemethode angewandt wurde. Über persönliche Kriegserlebnisse von Soldaten liest man wenig in den Krankenakten, es sei denn, es wurden kurze Aufsätze von den Patienten verfasst. Obwohl die Auswertung von Krankenakten zeitaufwändig und mühsam ist, kann dadurch ein zusätzlicher Aspekt der ärztlichen Praxis verdeutlicht werden, der sich so nicht in dem zeitgenössisch medizinisch-psychologischen Diskurs wiederfindet. Quellen und Literatur Quellen Anonym: Shell Shock and War Neuroses, in: British Medical Journal 78 (1918), 260. B RODMANN , K ORBINIAN : Lebenslauf, URL: www.korbinian-brodmann.de (Zugriff am 28.4.2015). 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This chapter focuses on the less well known presentations of war trauma, psychotic and dissociative states. Although single cases were described by British and German physicians during the war years, German psychiatrist and neurologist Karl Kleist was the first to attempt a systematic description and classification of these striking post-traumatic reactions. His concept of “terror psychosis” integrated psychotic and dissociative phenomena. Soldiers typically suffered from clouding of consciousness, memory problems, confusion, restlessness, frequently recurring images of the trauma, extreme fear, inappropriate elation as well as a complete detachment from their surroundings. At the core of this concept was the reliving of traumatic experiences in dreams, in states of reduced responsiveness (“twilight states”) or even in the fully awake individual. Some soldiers re-enacted battle scenes. Terror psychoses with their fluctuating course, distinctive psychopathology and generally benign outcome challenged prevailing ideas about the chronicity and generally poor prognosis of psychotic symptoms. Starting from Kleist’s classification and the cases reported in his 1918 paper, this chapter reviews case records from neurological and psychiatric hospitals in Germany and Britain. The analysis of 660 medical case records from British and German soldiers with so-called functional disorders admitted to the National Hospital at Queen Square in London, the Charité Psychiatric University department in Berlin and the Military Hospital at Jena University shows that approximately seven per cent of patients suffered from a type of terror psychosis. - This chapter will also discuss contemporary theories of psychological trauma and review the concept of reactive psychosis. Zusammenfassung Soldaten des Ersten Weltkriegs entwickelten eine große Bandbreite von Stressreaktionen. Funktionelle neurologische Störungen wie Paralysen, Gangstörungen, unkontrollierte Bewegungen und Anfälle wurden weitläufig beobachtet und in der zeitgenössischen medizinischen Presse beschrieben. Sie sind zum Symbol für das Trauma des Ersten Weltkriegs geworden. Dieses Kapitel wendet sich den weniger bekannten psychotischen und dissoziativen Reaktionen auf das Kriegstrauma zu. Obwohl in Stefanie Linden 288 der britischen und deutschen Literatur der Kriegsjahre derartige Reaktionen vereinzelt beschrieben wurden, ist dem deutschen Psychiater und Neurologen Karl Kleist die erste systematische Beschreibung und Klassifikation dieser auffälligen posttraumatischen Störungen zu verdanken. Kleists Konzept der Schreckpsychosen vereinigt psychotische und dissoziative Phänomene. Soldaten zeigten typischerweise Bewusstseinstrübungen, Gedächtnisstörungen, Verwirrtheit, Unruhe, intensive Angst, aber auch gehobene Stimmung und halluzinatorische Erlebnisse. Das Kernstück der Schreckpsychosen war das Wiedererleben von Kampferlebnissen in Dämmerzuständen oder Träumen, aber auch bei vollem Bewusstsein. Oft wurden auch Kampfszenen in eindrucksvoller Weise re-inszeniert. Mit ihrem fluktuierenden Verlauf, ihrer distinkten Psychopathologie und guten Prognose mit vollständiger Remission der Symptome stellten sie zeitgenössiche Vorstellungen von der Chronizität psychotischer Störungen in Frage. Ausgehend von Kleists Schreckpsychosen-Konzept werden in diesem Kapitel medizinische Fallberichte aus neurologischen und psychiatrischen Krankenhäusern in England und Deutschland diskutiert. Die Analyse von 660 medizinischen Krankenakten britischer und deutscher Soldaten mit sogenannten funktionellen Störungen, die am National Hospital in London, der Psychiatrischen Klinik an der Charité in Berlin und dem Jenaer Militärkrankenhaus behandelt wurden, zeigte, dass ungefähr sieben Prozent der traumatisierten Soldaten an einer Form der Schreckpsychose litten. - Dieses Kapitel diskutiert auch aktuelle Traumakonzepte und gibt einen Überblick des Konzepts der reaktiven Psychosen. 1. Introduction The trauma of the First World War resulted in a wide range of stress reactions in soldiers of all combatant countries. Soldiers commonly developed functional neurological symptoms such as paralyses, gait disorders, involuntary movements and seizures. These reactions have been extensively described in contemporary medical journals and are still inextricably linked to the trauma of the Great War. It is less well known that neurologists and psychiatrists also had ample opportunity to observe psychotic and dissociative states in reaction to combat stress. Several presentations at the Conference “Psychiatry in the First World War” in Irsee/ Germany, discussed cases of traumatised soldiers who had developed psychotic symptoms in reaction to combat stress, regressed into childlike behaviour, were unresponsive to their surroundings, and relived or even re-enacted battle scenes. The German psychiatrist and neurologist Karl Kleist (1879-1960) described these striking posttraumatic reactions and developed the concept of “terror psychosis” which integrated psychotic and dissociative phenomena. Starting from Kleist’s classification and the cases reported in his 1918 paper, this chapter reviews case records from neurological and psychiatric hospitals in Germany and Britain. This chapter will also discuss contemporary theories of psychological trauma and review the concept of reactive psychosis. “Terror psychoses” 289 Abb. 1: Shell shocked soldier; A RTHUR H URST , Medical Diseases of the War, London 1918, whose legend describes this as “Fig. II, 1: Pte E., severe hyperadrenalism and hyperthyroidism with exophthalmos, resulting from prolonged terror”. This example illustrates the debate on physiological factors that might be at play in the genesis of shell shock symptoms. Stefanie Linden 290 2. Kleist’s concept of “terror psychoses” (Schreckpsychosen) Towards the end of the First World War, Karl Kleist published a paper on the emotional, physiological and cognitive consequences of traumatic experiences in the “Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie und psychisch-gerichtliche Medizin”, one of the leading psychiatric journals of the time. 1 Kleist had considerable experience with traumatised soldiers because he had been head of the neurology section of a German field hospital in Lille and later was in charge of a military hospital in Rostock where he was chair of psychiatry from 1916-1920. In his seminal paper he reported several cases of acute and transient psychological disorders in soldiers exposed to front-line fighting. He called these distinctive reactions “terror psychoses” and provided a first classification of their different presentations. His patients suffered from clouding of consciousness, memory problems, confusion, restlessness, frequently recurring images of the trauma, extreme fear, inappropriate elation as well as a complete detachment from their surroundings. In all cases the terror psychosis had been preceded by a major psychological trauma. Symptoms very much depended on the nature, severity and duration of the traumatising event. According to Kleist terror psychoses were the result of a subconscious persistence of the traumatic experience (autosuggestive Fixation). Kleist considered terror psychoses to be the most common mental disorders of the theatre of war, which may come as a surprise to modern readers who are more familiar with the characteristic neurological presentations of shell shock. Because terror psychoses commonly broke out in the combat zone and were short-lived, these disorders were mainly treated by doctors working in field hospitals. Kleist contrasted terror psychoses with war neuroses, which tended to develop into more chronic disorders and were therefore frequently seen in hospitals at home. This dichotomy was not complete, though. Terror psychoses could usher into prolonged states of fatigue or exacerbations of the typical functional neurological symptoms such as tremor or paralysis. 2 Thus, transitions from terror psychosis to war neuroses were possible. Kleist believed that soldiers of lower educational status and lower military rank were more likely to develop terror psychosis. He had never seen terror psychosis in officers. 3. From trauma to psychosis - Kleist’s mechanistic account Kleist also developed one of the first models to explain how psychological trauma could cause both somatic and enduring mental symptoms. He thought that psychological shock triggered an instantaneous physiological reaction. Today it is, in fact, widely recognised that the experience of immediate danger (but also its anticipation 1 K LEIST , Schreckpsychosen, 432-510. 2 Functional means without detectable organic origin. “Terror psychoses” 291 or recollection) can lead to profound physiological changes, including increased heart rate, and tremor, but also behavioural changes such as increased irritability and excitability. 3 Kleist also recognised another typical feature of this early threatresponse, the numbing of general responsiveness (for example lack of emotional reactivity). Such an “emotional paralysis” immediately following a traumatising event had already been described in a widely cited paper by Erwin Bälz at the beginning of the twentieth century. 4 In Kleist’s model these acute physiological reactions gradually transformed into long-term reactions, which included the reliving of the trauma as well as a long-term numbing of emotional reactivity. Traumatic events could be re-experienced in dreams, in states of reduced responsiveness (“twilight states”) or even in the fully awake individual. Some soldiers re-enacted battle scenes. They would, for example, imitate the firing of a gun or try to hide in an imaginary dug-out, while experiencing vivid imagery and misinterpreting the environment. Soldiers often showed dramatic reactions to cues reminding them of the traumatic event. One of the soldier patients described by Kleist suffered a recurrence of symptoms during a thunderstorm; another soldier relapsed while witnessing a battle scene during a theatre performance. 5 Others would hide under their beds whenever they heard a loud noise because they mistook the sound for that of a shell explosion. 4. Kleist’s classification of terror psychoses Kleist divided terror psychoses into two main categories: “twilight states” (Dämmerzustände) and stupor. “Twilight states” were characterised by impaired consciousness and cognitive functioning with reduced ability to focus attention, disorientation and memory problems. Within this group, Kleist also identified different emotional states ranging from elation to anxiety and irritability. Stupor in the most extreme form presented with cessation of any movement and emotional expression and inability to communicate. Transition from one syndrome into another, however, was fluid and symptoms would typically fluctuate over time. Although acute psychotic symptoms (such as delusions and hallucinations) were often part of the clinical picture, their presence was not essential for a diagnosis of terror psychosis. 4.1. The journey home Kleist considered terror psychosis to be an acute and transient phenomenon that almost exclusively occurred in the combat zone and was confined to military hospitals in its proximity. However, his classification is also a useful guide to the varied mental symptoms encountered in specialist units at home. My analysis of 660 original case records from British and German soldiers with so-called functional disor- 3 Also conceptualised by Karl Bonhoeffer as “vasomotor symptom complex”: B ONHOEFFER , Zur Frage der Schreckpsychosen, 144-156. 4 B ÄLZ , Die Emotionslähumg, 717. 5 K LEIST , Schreckpsychosen, 505. Stefanie Linden 292 Abb. 2: Kleist’s classification system or terror psychosis. ders admitted to the National Hospital at Queen Square in London, the Charité Psychiatric University department in Berlin and the Military Hospital at Jena University 6 shows that approximately seven per cent of patients suffered from a type of terror psychosis. Although these patients were admitted to general psychiatric wards in Berlin and Jena, it is remarkable that in Britain their disposal was different from that of ordinary “mental cases”. Whereas the latter would have been sent to the asylum system, many traumatised soldiers with psychotic symptoms were sent to elite neurological hospitals such as the National Hospital, possibly because they also presented with functional neurological symptoms. Even so, the implicit distinction between terror psychosis and more general psychotic cases by the British medical system indicates that doctors were aware of their different causation and prognosis already then. 4.2. Twilight states Kleist’s “simple twilight states” were characterised by clouding of consciousness, disorientation to time and place, impairment of short-time memory, attention and imagination as well as anterograde amnesia (loss of memory for a period of time after the traumatic event). In some twilight states patients also exhibited aggressive behaviour, anxiety and agitation. Kleist called these presentations “agitated twilight states” (dämmrige Erregungszustände) and considered them to be phenomenologi- 6 For an analysis of the Berlin case records L INDEN / H ESS / J ONES , The Neurological Manifestations of Trauma, 253-264; for an analysis of the London case records L INDEN / J ONES , Shell Shock’ Revisited, 519-545. In Berlin, 16 per cent of soldiers presented with symptoms of terror psychosis. “Terror psychoses” 293 cally similar to states of intoxication. Agitated twilight states could be accompanied by functional somatic symptoms (seizures, shaking etc.) and hallucinations. The case history of 25-year old Gerald D., Private of the 20 th Anti-Gas Staff of the Royal Fusiliers, who was admitted to the National Hospital at Queen Square on 15 June 1918, illustrates this type of twilight state: “Was in the trenches at High Wood, September 1916. Sitting in an old trench he received a slight wound about 2 cm directly above the right angular process (the remaining scar is hardly perceptible). He did not lose consciousness. After he was hit waited in the trenches to go over the top. He was there about 20 minutes. They were again shelled badly and several men in the trench were killed. Patient became hysterical, was sent to the communication trenches. When there began biting himself, kicking and screaming. Had his revolver in his hand and wanted to shoot the people in the trench. He remained in the communication trench until about 4 p.m. and was sent to the dressing Station at Death’s Valley about 8 o’clock that night. He does not remember being taken there. After he got there he soon came round, but talked incoherently, felt very weak, had difficulty in walking. Was taken to the Field Ambulance where he remained a fortnight. He had no more fits, but there was a feeling as though a tight cap filled with pins and needles was pressing on his head, more particularly in the frontal and occipital region. He was marked unfit and put into a labour Battalion. He remained there about a fortnight, and then asked to go on gas service. He was looking after gas material at the Divisional Head Quarters, took the samples of gas shells before the advance (33 rd Division Kennet). He kept on with his work until a month ago. During that time he had two fits - all similar, biting, kicking and screaming - one in September 1917 when out in the fighting during shelling and the next April 16 1918 after some excitement in the street. On the 12 th May he returned home on leave. One Sunday had a fit on Ealing Common, and was attended to by the St. John’s Ambulance and sent home.” 7 This case shows recurrent twilight states with agitation and aggression, triggered by witnessing the violent death of comrades in the trenches. Gerald D. continued having similar episodes and was eventually declared unfit for military service. The most common twilight states (and the most common form of terror psychosis) were “anxious delirious states” (ängstliche Delirien). The main feature of this syndrome was a dreamlike state of consciousness with disorientation to time and place in which combat scenes were relived, often amounting to vivid imagery and sometimes hallucinations. During these episodes, patients were highly anxious and aroused. Conversely, clouding of consciousness was often less severe than during the agitated twilight states. Memories of combat scenes appeared as dreams, hallucinations and intrusive pictures. Aggressive outbursts, ideas of reference and persecution (without taking the form of real delusions), as well as “paralogia” (Vorbeireden, giving approximate answers to simple questions, see discussion of the Ganser syndrome below) were also common. Some of these symptoms, particularly anxiety, misjudgements of the situation and hallucinations were more pronounced at night. 7 Queen Square Archives, Queen Square Records, Dr Taylor, 1918: Case record Private Gerald D. Stefanie Linden 294 Patients often startled from their dreams and continued experiencing the dream situation in a subconscious state. After remission of symptoms, irritability and amnesia for the traumatic experience remained, and often functional somatic symptoms (such as tremor and shaking) developed on top of these neuropsychological problems. Eighteen-year old infantryman Ernst R., a joiner in civilian life, who was admitted to the Jena Military Hospital on 23 December 1915 suffered from this form of terror psychosis: “Fought in Belgium, Russia and France. On Nov 1 st 1915, a shell exploded close to him, he felt a stabbing pain in his right ear and realised that he could not hear on this side, also had buzzing sound in his head. The pain became intolerable so that he was referred to a field hospital. There he received a message that his mother was dying. He was granted leave but had to be admitted to a military hospital after 5 days because he had had several fits. It was observed that out of deep sleep he left his bed and acted as if he was in the trenches, firing a rifle etc. He was sent to Jena for observation. In Jena, the patient regularly left his bed in the middle of the night in a dreamlike (trance-like) state, bundling up his bedding and talking to himself. He then behaved as if he was involved in front-line fighting, hiding under his bed, imitating the firing of a machine gun etc. The next morning he could not remember any of it, he only reported that he had dreamt of the war. During the day he felt exhausted and complained about headaches.” 8 44-year old British Gunner Frederick J. W. from the Royal Field Artillery who was admitted to the National Hospital in 1915 in a confused and restless state suffered similar episodes: “On the 8 th Dec 1915 admitted from Sick Convoy complaining of noises in the head, sleeplessness at night, fancies he hears shouting - no physical signs of disease. […] On the 9 th December 1915 - Had a good night, gives a good account of himself. Says he does not remember the incident prior to his coming down but he saw last week - one of our own snipers shot through the head. The sight upset him very much and he went to get the enemy who had fired the shot and remembers nothing until he found himself in hospital. […] Accompanying the certificate from headquarters there is a story of his delusions. He was in the 134 th Battery Gun Position Camp - left it with two dogs and took a rifle with him. He discharged rifle without apparent cause. He was told to stop by a sergeant but did not seem to understand and was made to do so by the Sergeant who disarmed him after a struggle. After this he was violent for some time. He soon quieted down and regretted what he had done and made rash promises. It was thought that he was drunk. He has been a game keeper, passionately attached to his dogs, fears people will rob him of them.” 9 A few days later, this soldier was assessed as “a perfectly normal individual, memory perfect, physically powerful”. He was discharged from hospital after three weeks. 8 Universitätsarchiv Jena, Bestand S/ III Abt. IX, Kriegsarchiv, Nr. 316, translated by S.L. 9 Queen Square Archives, Queen Square Records, Dr Tooth, 1916: Case record Gunner Frederick J. W. “Terror psychoses” 295 Kleist also described vivid hallucinations triggered by combat stress. In some twilight states the mood was lifted, but this could range from cheerfulness to irritability. Main characteristic of so-called “cheerful twilight states” (heitere Dämmerzustände) was an elated mood, sometimes also a “flight of ideas”, when patients jumped from one idea to another, losing the focus of conversation. Another similar presentation of terror psychosis were “frivolous twilight states” (läppische Dämmerzustände) in which the mood fluctuated between elatedness, anxiety, aggression and irritability. “These patients seem to be playing a comical character. They make funny faces, bleat, snort, bark etc. Their behaviour seems to be grossly exaggerated and theatrical; they boast, demonstrate a childish immature behaviour, and answer questions in a pseudo demented way.” 10 Patients behaving like that were often suspected of malingering or at least exaggerating their symptoms, as in the case of 19-year old Musketeer Walter S., waiter in civilian life, who had fought at the Eastern and Western fronts, where he suffered an injury to his left foot. He was admitted to several military hospitals before he was transferred to the Jena Military Hospital where he was diagnosed as a “psychopath" with “moral inferiority”. He “often starts to bark, crow, meow etc. Sometimes whenever a cock is heard or a dog passes by. When speaking to him it is as if he was just waking up. Is then quite alert. Also has episodes of agitation, jumps out of his bed, dances in front of the mirror etc. Amnesia afterwards. ‘When I see a dog or a cock, sometimes when I only think about, I have to imitate them. I disturbed a theatre performance by barking. I can’t help it. It was like that in the trenches.’ [...] Before he went to bed, dancing, starts laughing when in bed, then lashes about, then starts crying. Cries and laughs alternately. In the same night several soldiers in the same dormitory started having hysterical seizures.” 11 Whereas cheerful and frivolous twilight states were characterised by an elated mood, Kleist’s patients with so-called “expansive twilight states” (expansive Dämmerzustände) expressed grandiose ideas but “the mood [was] not, as one could expect, elated, but rather anxious, irritable and tearful”, 12 as in the case of Nikolaus K., 38-year old militia man, painter in civilian life, who was admitted to the Jena Military Hospital on 23 October 1915. On admission he was “extremely agitated. Lashing about with his hands and feet so that he had to be taken into the observation room by several attendants. Letting out piercing unarticulated shrieks. Patient hits everybody who comes near his bed, blind with rage, screaming: I am a Catholic, I want a priest, I want to tell everyone, is this a priest? Does not reply to any question, does not know his name. Disoriented to time and place. ‘I am the Pope, I want to tell the world’ […] Very aggressive, has to be tied to the bed. Sings, shouts mindless stuff. Religious ideas. […] After 2 weeks, following the visit of his wife and sister, patient became progressively more alert, suddenly talking in a rational way. Complains about a ‘misty’ 10 K LEIST , Schreckpsychosen, 461. 11 Universitätsarchiv Jena, Bestand S/ III Abt. IX, Kriegsarchiv, Nr. 1758, translated by S.L. 12 K LEIST , Schreckpsychosen, 465. Stefanie Linden 296 feeling in his head. […] Can’t remember anything from the past 3 weeks. Mentions an argument with his sergeant, which had left him in a confused state. Everybody around him had had abnormally big heads and mask-like faces. He had been very anxious. Now he felt as if the mist was lifting in front of his eyes. Complains of fatigue.” 13 Nikolaus K. had a brief relapse of symptoms a few days later, but was finally discharged in a completely remitted state. Among the 100 Berlin case records which I analysed in detail, 16 cases met Kleist’s criteria for terror psychosis. Most patients in this group experienced twilight states, among them five patients who frequently relived combat experiences. In nine out of these 16 patients symptoms lasted for longer than a month. These accounts of twilight states show that patients with terror psychosis also populated the psychiatric hospitals at home and that these disorders could take a chronic course. 4.3. Stupor According to Kleist, cases of stupor were less common than twilight states among his military patients. Apart from the classical signs of stupor such as lack of movement and emotional expression, Kleist’s patients often showed repetitive movements or utterances, functional somatic symptoms and fluctuations between agitation and stupor. Recovery from these conditions was often slow. 14 Like twilight states, stuporous terror psychoses also occurred on the Allied side, as in 21-year old John N., private from the 2 nd Irish Guards who was admitted to Queen Square on 23 December 1916. He had lost consciousness after a shell explosion and remembered nothing from that time until he was admitted to the 12 th General Hospital in Rouen: “On admission he was in state of complete stupor and did not answer or pay attention to anything said to him. His expression was very startled and vacant. After a few hours he was again examined. He looked less frightened but only said ‘I don’t know’ occasionally. A letter in his kit was read to him and the name Belfast (his city) was repeated until he showed signs of recognising it. Next morning (16 th ) he showed more intelligence and began to speak a little. On the 17 th he has brightened up almost completely and can give a clear account of himself, save the circumstances under which his present state arose. He remembers part of the shelling in the trenches and then nothing more till being here. He states that he was a patient in this hospital in October 1915 for the same condition and that he suffered from the effects for about 6 months and when he went back to the front he felt that if he was subject to the effects of close bursting shells it was very likely he would have concussion again, though he intended to stick it so long as he possibly could. He presumes he was again blown up. […] He complains of headache left side, mostly frontal region. Dull heavy pain. Mental condition is somewhat poor. Emotionally he is quite depressed, does not talk unless spoken to. Association of thought markedly 13 Universitätsarchiv Jena, Bestand S/ III Abt. IX, Kriegsarchiv, Nr. 194, translated by S.L. 14 K LEIST , Schreckpsychosen, 473. “Terror psychoses” 297 retarded. Memory: complete amnesia for period of time following accident. He remembers previous to this. He is fairly well oriented.” 15 This case from Queen Square further demonstrates that stuporous states, too, were not confined to field hospitals but could persist in soldiers who had been sent home. These examples contradict Kleist’s suggestion that terror psychoses were confined to the proximity of the front line. 4.4. Ganser syndrome - “strange hysterical twilight states” Some of Kleist’s twilight cases share features with a syndrome described by German psychiatrist Sigbert Josef Maria Ganser (1853-1931) in 1898. 16 Paralogia, giving approximate answers to familiar, straightforward questions, was at the heart of this syndrome. Because patients’ statements were not random but close to the correct answer, it was obvious that they had understood the question. 17 In addition to this striking symptom, all cases showed clouding of consciousness and sensory deficits such as loss or disturbance of touch or pain sensation. Hallucinations were also common. The disorder usually completely resolved within a few days (but could recur), leaving patients with amnesia for the episode. Several of the London, Berlin and Jena patients presented with Ganser syndrome. 40-year old Grenadier Hermann G. was admitted to the Charité after a shell injury which had resulted in rather unusual mental symptoms: “On admission the patient demonstrates an emotionally cold behaviour, does not look at doctor. Answers questions slowly, hesitantly, often only after repetition: ‘I don’t know.’ Makes tic-like movements with his brow muscles, wrikles his forehead, opening his eyes widely, makes shaking movements with his head. On physical examination staring into space, asks: ‘Shall I now do the same thing with you, you lie down on the sofa, I can also tap you with the hammer’, at the same time trying to take the doctor’s reflex hammer out of his pocket. […] Asked for the number of his siblings, he says: ‘4 sisters and 9 brothers, all together 6.’ Cannot do the simplest calculations (e.g. 7+5, says 14; 3x3, says 11). […] How many legs has a horse? - calculates with his fingers, then says: ‘2 in front and 2 at the back, together this is 6 legs’; What colour is the grass? - ‘Yellow as a tree’; What colour is blood? - ‘Pink’. Does not know when Christmas and New Year is. Says it is March 1819. […] The next day the patient cannot recall any of this.” 18 Another soldier, 36-year old militia man Jakob B., inpatient at the Charité in early 1918, who had left his sentry without permission: “gave wrong answers to the simplest questions. He stated that he was 46 years old (correct is 36), that he was born in 1975 (correct is 1872); he did not know the present year and said that he had to consult his wife. He did not know the Kaiser’s name either and claimed that there was no Kaiser. […] How many marks has a 15 Queen Square Archives, Queen Square Records, Dr Turner, 1917: Case record John N. 16 G ANSER , Über einen eigenartigen hysterischen Dämmerzustand, 633-640. 17 D ERS ., Zur Lehre vom hysterischen Dämmerzustande, 34-46. 18 Historisches Psychiatriearchiv Charité, M9424/ 1918: Krankenakten. Stefanie Linden 298 thaler [ancient German currency unit]? - ‘I don’t have a thaler.’ - After two days he was completely back to normal, answering all questions correctly.” 19 Many German psychiatrists described Ganser-like syndromes in traumatised soldiers. 20 Jena psychiatrist Hans Berger noted that “one always gains the impression of the mannered and contrived when the patient behaves like that”. 21 The genuineness of these presentations was indeed often doubted by the medical profession, leading to harsh disciplinary measures such as confinement to locked psychiatric wards or strict isolation in the Berlin and Jena patients. British doctors, too, were aware of the Ganser syndrome, which is not surprising considering their pre-war admiration for German psychiatry and psychiatric literature. One of their Ganser cases was 26-year old Private Harry D., a married miner from Newcastle, who was admitted to the National Hospital at Queen Square with “shell shock” on 1 July 1916. 22 “On admission to the National Hospital it was impossible to obtain any history as to his illness or his past life on account of great mental confusion. When asked a question he looks blank and usually repeats the last word of the sentence, for instance when asked when he went to France he looked vacant, handled his identification disc and repeated the word ‘France’. When asked where he lived he was able to say Newcastle but went on repeating it in an aimless way. Cerebration is very slow, when asked if he had any children, he repeated children and after a few seconds said ‘Yes’. When asked if he had a headache, he put his hand across his forehead but said nothing. He called a watch a clock; a canary a mouse, and a pen a pick. When left alone he is quite quiet but has a rather strained expression. He looks between 35 and 40 years of age and is going bald. On the day after admission he was depressed, not emotional but asked the sister of the Ward to be kind to him. […] [Two weeks later the patient was] much improved. Knows his regiment - remembers he was in France in the Albert district. Says when he became ill, there was ‘a lot of shells’ and many killed almost 12 - lot of them ran away further back. Then went into trench higher up line thinks it was March - and his pal was killed ‘Isaac’ by a sniper - This was ‘a long time’ before he came away. After this he was always frightened. Could not get used to it. Later ‘a big thing’ came over. Killed many of his men. One man cut right in two. Had to pick the bits up and bury them. Remembers ‘a chap’ telling him he was ‘daft’ and should not ‘speak tongues’. Told him he was ‘frightened’ - he remembers no more - he found this morning he was getting his memory back. Is afraid of his ‘head’. Never wants to go back to France again. Has always worked hard. ‘Everyone liked me the Captain and all’. Was in charge of the sanitary arrangements. Now remembers coming home on leave in May. His wife told him he 19 Ebd., M8993/ 1918. 20 For example: B ERGER , Trauma und Psychose, 143; W ETZEL ‚ Über Schockpsychosen, 288- 330; J ASPERS , Allgemeine Psychopathologie, 325f.; S CHIOLDANN , Classic Text No. 87, 347- 367. 21 B ERGER , Trauma und Psychose, 143. 22 Queen Square Archives, Queen Square Records, Dr Russell, 1917: Case record Private Harry D. “Terror psychoses” 299 was ‘funny’ and would not speak to people - remembers going back and hearing the guns and feeling frightened. He keeps on repeating ‘I was frightened’.” Harry’s approximate answers (paralogia) marked him out as suffering from Ganser syndrome. However, Harry was also affected by a more deeply entrenched condition, catatonia. He kept repeating the last word of any question addressed to him, a phenomenon called “echolalia”. His movements seemed to be frozen and his facial expression was “blank” and “vacant”. The cessation of all movement and the automatic repetition of another person’s words were typical of the syndrome of catatonia, which had first been described by German psychiatrist Karl Ludwig Kahlbaum in 1874 and could be part of various psychiatric disorders. 23 In addition to this striking symptom, all cases showed clouding of consciousness and sensory deficits such as loss or disturbance of touch or pain sensation. Hallucinations were also common. Ganser was stunned by these “strange hysterical twilight states”, which resolved within a few days and left patients with a memory gap for the whole episode. In the analysed German case records, Ganser syndrome was also fairly common, occurring in about five percent of the Berlin patients with functional disorders. 5. Dissociation and psychosis: a coping strategy? Kleist’s concept of terror psychosis embraces psychotic and dissociative reactions to traumatic experiences. Yet, Kleist was by no means the only psychiatrist to observe the proximity between psychosis and dissociative/ hysterical states. For example, Kurt Schneider, who later developed the concept of first-rank symptoms of schizophrenia, argued that dissociation during unbearable or traumatising circumstances served to protect the individual from intense emotional states such as fear and helplessness. “Because you cannot get away physically, you escape into a different mental space.” 24 According to Schneider, soldiers brought themselves into a state between sleep and wakefulness, a twilight state that enabled them to step away from reality and retreat into an inner world (Sich-in-sich-Verkriechen). Drifting into a different mental state to escape long-lasting adversity (partly in an active conscious process) was also described by Charles Samuel Myers (1873-1946), Consultant Psychologist to the British Armies in France from 1916: “Nature’s purpose in repressing the patient’s painful experiences is obvious. They demand temporary relief like any painful region or overworked organ of the body.” 25 Sir Frederick Walker Mott (1853-1926), consultant neurologist and neuropathologist to the London County Council and an acknowledged specialist on shell shock also described dissociative states as a defence mechanism and natural response to trench experience. 26 23 K AHLBAUM , Klinische Abhandlungen über Psychische Krankheiten. 24 S CHNEIDER , Einige psychiatrische Erfahrungen als Truppenarzt, 307-314. 25 M YERS , Shell Shock in France, 70. 26 M OTT , War Neuroses and Shell Shock, 71. Stefanie Linden 300 Although dissociation can be an adaptive mechanism in response to unbearable experiences and a way of coping with subsequent stress, 27 it often ushers into a chronic maladaptive process. Psychotic symptoms could be part of dissociative states and in some mechanistic accounts of the time served the same - partly adaptive - purpose. For example, Freud regarded psychotic symptoms as a defence against unbearable images, ideas and emotions. 28 The “flight” from a disturbing life situation could take the form of wish-fulfilling delusions and hallucinations. In accordance with Freud’s conceptualisation, Bornstein, 29 Jaspers, 30 and later Brody 31 described psychotic reactions as a form of “waking dream”, which could have a temporary problem solving and wish-fulfilling function and serve as an escape from a disturbing life situation. Jaspers provided the classical account of this phenomenon in his General Psychopathology: “Through delusions and hallucinations the individual’s fears, needs, hopes and wishes seem to become alive and real. […] Reactive psychosis serves as a defence, a refuge, an escape as well as wish fulfilment. It derives from a conflict with reality which has become intolerable.” 32 6. Psychotic reactions to adversity: paranoid and hypochondriacal states Many soldiers reported temporary dissociative states as a survival or coping strategy, but permanent stresses of trench warfare could also lead to what was called “exhaustion psychosis” (Erschöpfungspsychose). Unlike terror psychoses, which were triggered by a major shock, exhaustion psychoses developed after long-lasting hardship and were frequently characterised by paranoid symptoms (which, according to Kleist - and also others, for example August Wimmer - were not part of the classical terror psychoses). Indeed, Kleist did not identify cases with predominantly depressive, manic or paranoid symptoms among his cases of terror psychosis. The following case, diagnosed as “exhaustion psychosis in a constitutional psychopath”, was dominated by a system of paranoid delusions and delusions of reference. 20-year old student Wilhelm H. who was admitted to the Jena Military Hospital on 2 nd April 1916‚ had been exposed to “long marches, shortage of food, lack of sleep, cold and wet conditions. Physical and mental strain.” His clinical problems started with a “bout of diarrhoea. One evening comrades advised him to have 3 glasses of tea with rum. Afterwards he heard that his comrades were talking about him, complaining about him. During the night he was convinced that they were standing below his window with the intention of throwing 27 V AN D ER K OLK / V AN D ER H ART , Pierre Janet, 1530-1540. 28 F REUD , Die Abwehr-Neuropsychosen, 362-364. 29 B ORNSTEIN , Über einen eigenartigen Typus der psychischen Spaltung, 86-145. 30 J ASPERS , Allgemeine Psychopathologie, 323f. 31 B RODY , Freud’s theory of psychosis, 36-45. 32 J ASPERS , Allgemeine Psychopathologie, 323f. “Terror psychoses” 301 stones at him. He had developed a state of extreme anxiety and agitation, required an injection to calm him down. The next day he was wondering why his comrades were plotting against him. He came to the conclusion that he was punished for a crime. Convinced that people were trying to kill him. The next night he saw an ape being pulled up to his window, trying to throw stones at him. He had been very agitated and loud, so that he needed another injection. He had had the constant feeling that people were plotting against him, that something was going on. Some of his clothes were missing, somebody had smeared faeces into his trousers etc. Although superiors whom he had asked for support had tried to calm him down, he was convinced that this was only a comedy; he knew that they wanted to declare him insane in order to blemish his family’s reputation and put him into jail. He could not give a clear account of things happening at that time, only remembered parts of it. On admission to Jena the patient was still convinced that people were plotting against him. However, following a visit of his family, he improved considerably. Questions his previous ideas. Admitted that he had believed that the doctors were judges who tried to spy on him. Is cheerful, approachable, talkative. Eats everything given to him (before: ideas of poisoning). Complete remission of symptoms after 4 days.” 33 Wilhelm’s case illustrates the strong resemblance between exhaustion psychosis and other paranoid psychoses. This resemblance also posed a particular challenge to the medical system. In the tradition of pre-war asylum psychiatry psychotic symptoms were generally considered to be signs of severe mental illness, yet, most of these war-induced psychoses proved to be self-limiting and generally resulted in full recovery. We will see in section eight that some forward-looking psychiatrists, most notably Karl Jaspers, had already foreshadowed this expanded understanding of psychosis briefly before the war. 7. Terror psychosis in context - Other (historical) concepts of acute reactions to trauma Kleist was not the only one who described acute reactions to traumatic experiences that were characterised by clouding of consciousness, confusion, stupor and reexperiencing of the triggering event. Similar concepts were developed by Albrecht Wetzel and August Wimmer. Wetzel, a Heidelberg psychiatrist who worked at the front line from late 1914 to the end of 1915, described cases of “shock psychosis” which showed the same characteristic symptoms as Kleist’s terror psychoses. 34 August Wimmer (1872-1937), Professor of Psychiatry at the University of Copenhagen from 1921 to 1937 and author of the first comprehensive monograph on reac- 33 Universitätsarchiv Jena, Bestand S/ III Abt. IX, Kriegsarchiv, Nr. 405, translated by S.L. 34 W ETZEL , Über Schockpsychosen, 288-330. Wetzel refers to Kleist’s concept in his article. However, he did not believe that reactions as described by Kleist could be caused by a singular shock experience, but resulted from a combination of long-lasting adversity, organic factors and also constitutional weakness. Stefanie Linden 302 tive (“psychogenic”) psychoses, described “emotion shocks” which could lead to states of inhibition (e.g. stupor) and twilight states. 35 Indeed, the similarity between Kleist’s “anxious delirious states” (his most common reaction to shock) and one form of “affective psychogenic psychosis” described by Wimmer where patients repeatedly relived the traumatic experience is striking. Another historical concept closely corresponds with Kleist’s account of posttraumatic reactions. “Hysterical psychosis” which was well known and thoroughly studied during the second half of the 19 th century (particularly by French psychiatrists and neurologists, e.g. Moreau de Tours and Pierre Janet), but fell into disuse in the early 20 th century was preceded by a traumatising life event and had a benign course. 36 Most modern scholars refer to the definition and criteria established by Hollender and Hirsch half a century ago: “From a descriptive standpoint, the hysterical psychosis begins suddenly and dramatically. The onset is temporally related to an event or circumstance which has been profoundly upsetting. In this sense, it is reactive, much as some depressions are referred to as reactive. The manifestations may take the form of hallucinations, delusions, depersonalization or grossly unusual behavior. Affectivity is not usually altered. If it is, it is in the direction of volatility and not flatness. Thought disorders, when they do occur, are generally circumscribed and very transient. […] The acute episode in hysterical psychosis seldom lasts longer than one to 3 weeks. The process recedes as suddenly and dramatically as it began, leaving practically no residue. Generally, the outlook for the future and the possibility of treatability in psychotherapy is favourable. Second or even third episodes may, and do, occur.” 37 In Britain, psychiatrists and neurologists observed similar psychopathological presentations after combat trauma in the First World War although they did not provide a systematic account of these post-traumatic reactions. Sir Frederick Walker Mott, who treated soldiers at the Neurological Section of the fourth London General Hospital and later at the Maudsley Neurological Clearing Hospital, described clinical pictures resembling those of Kleist’s terror psychoses in his monograph “War Neuroses and Shell Shock”. 38 Although Mott focused on functional motor and sensory disorders, most psychiatric syndromes described by Kleist can also be found in his monograph. Mott described delusions and hallucinations, fugue states (“He may be dazed and behave like an automaton and wander away from his post”), confusional states (“powers of recognition and comprehension are greatly impaired”), stupor, pseudodementia and regressive, child-like behaviour. 39 He emphasized the good prognosis of these disorders, which were “discharged as cured or as sufficiently recovered to be given over to the care of their friends.” 40 35 S CHIOLDANN , Classic Text No. 87, 347-367. 36 W ITZTUM / V AN D ER H ART , Hysterical Psychosis, 21-33. 37 H OLLENDER / H IRSCH , Hysterical Psychosis, 1066-1074. 38 M OTT , War Neuroses and Shell Shock, 2. 39 Ebd., 46-50. 40 Ebd., 119. “Terror psychoses” 303 Major Arthur Hurst (1879-1944), a general physician who was in charge of the shell shock cases at the Royal Victoria Hospital in Netley, the British Army’s principal medical facility since 1863, described how a “single horrible incident” (such as witnessing a friend being killed whilst talking to him) could be sufficient to cause symptoms like confusion, stupor and amnesia. However, a “culmination of a long series of emotional storms” was more likely to lead to these “purely mental symptoms”. 41 8. The historical and modern understanding of reactive psychosis Psychological reactions to life events and traumatic experiences have fascinated psychiatrists long before the outbreak of the First World War. Most scholars of reactive psychoses agree that the theoretical framework to this concept was provided by Karl Jaspers in his “Allgemeine Psychopathologie” in 1913. According to Jaspers, “genuine reactions” (“echte Reaktionen”) were closely linked to a specific experience. 42 They would not have developed without this experience and their content and course were closely related to it. August Wimmer who wrote his comprehensive monograph on psychogenic psychosis in the year of Jaspers’s seminal publication, based his work on the same concept. “Mental traumata” not only determined the start, course and cessation of the psychosis but also shaped its form and content. 43 Jaspers went one step further. In contrast to Wimmer, he believed that the reaction also had a purpose. “Instead of suffering, working through and adapting to an experience, it [was] replaced by physical illness, or by a wishfullfilling psychosis.” 44 Both Jaspers and Wimmer emphasized that the course of reactive psychosis was typically self-limiting, with complete remission of symptoms. The concepts of reactive disorders have been manifold and multifaceted, as regards the relevance and nature of the trigger, psychopathology and aetiological models. Although some authors emphasize that “reactive”, “psychogenic”, “transient” and “hysterical psychosis” by and large express the same concept, 45 the term reactive psychosis has undergone a change of meaning over the past century. The original concept of reactive psychosis as described by Jaspers, differs considerably from the modern ICD-10 category of “acute and transient psychotic disorder” (ATPD) or its DSM-5 equivalent “Brief Psychotic Disorder” (BPD). 46 First of all, neither ICD-10 41 H URST , Medical Diseases of the War, 12f. 42 J ASPERS , Allgemeine Psychopathologie, 320. 43 S TRÖMGREN , The Development of the Concept of Reactive Psychoses, 47. 44 J ASPERS , Allgemeine Psychopathologie, 324. 45 W ITZTUM / V AN D ER H ART , Hysterical psychosis, 28f. 46 Historical concepts that influenced the ICD/ DSM categories of ATPD and BPD are the “cyloid psychoses” and the “bouffee delirantes”; these disorders have a sudden onset, benign course and a characteristic psychopatholgy; for a review of concepts M ARNEROS / P ILLMANN , Concepts and synonyma, 18-28. Stefanie Linden 304 nor DSM-5 require the presence of stress prior to the onset of symptoms. The modern concepts of ATPD and BPD, where reactivity is optional rather than obligatory, are in keeping with the observations of Pillmann and colleagues who found that only a minority of their ATPD cases were associated with acute stress. 47 Other authors, however, found an association between the onset of ATPD and acute stress in most of their cases. 48 Secondly, the concept of reactive psychosis is much broader than that of ATPD/ BPD. Unlike the modern ICDand DSM-categories of transient psychotic episodes, the traditional concept of reactive psychosis - as it is still used in Scandinavia - includes depressive, dissociative and delirious (“with disturbance of consciousness”) states in addition to the classical psychotic presentations. 49 Kleist’s terror psychoses, which are at the heart of this paper, cover a similarly broad range of reactions. Their fluctuating course, distinctive psychopathology and generally benign outcome singled them out from the classical presentations of asylum psychiatry. Although reactive psychoses had been described before, it was the lesson of the Great War that reminded the medical community of the wide range of psychological reactions that could be triggered by an intense trauma. Sources and Bibliography Archive Sources Historisches Psychiatriearchiv Charité/ Berlin - Krankenakten. Universitätsarchiv Jena - Bestand S/ III Abt. IX, Kriegsarchiv. Queen Square Archives - Queen Square Records. National Hospital, London. Printed Sources B ÄLZ , E RWIN : Die Emotionslähmung, in: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie 58 (1901), 717. B ERGER , H ANS : Trauma und Psychose: mit besonderer Berücksichtigung der Unfallbegutachtung, Berlin 1915. 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Anstalten im Krieg - Mikrostudien Zwischen Finden und Erfinden Eine Analyse der Kriegsneurosen an der Nervenheilanstalt am Rosenhügel in Wien Dave Bandke Abstract In World War I the “war trembler” was a widespread phenomenon in all belligerent nations, but during wartime psychiatrists did not reach an agreement on a consistent disease pattern. This lack of distinction led to diagnoses on the base of already established concepts, whose definitions overlapped each other in such ways that it rises the question if the psychiatric diagnosis did not only depend on the patient’s symptoms, but also on his military rank and ethnical or social background. To answer this question I have examined 917 medical files of the Nervenheilanstalt am Rosenhügel (1915-1918), a distinguished Viennese sanatorium, and performed a statistical as well as a medico-historical analysis of 397 of these files. I focused on patient files with one of the following diagnoses: hysteria, hypochondria, neurasthenia, traumatic neurosis or nervous exhaustion. Highly significant results suggest that hysteria was a diagnosis given to lower ranked and underclass patients, whereas upperclass and higher ranked patients were diagnosed with neurasthenia or - even more obvious - with nervous exhaustion. Comparing the time periods 1915/ 1916 and 1917/ 1918, there was no change evident in the median length of stay or overall cure rate (20 per cent cured, 54 per cent improved, 26 per cent not improved). Among 917 medical files there was not a single patient diagnosed with traumatic neurosis, although in 12 per cent of all cases the referring physician sent the patient with this diagnosis to Rosenhügel. Generally, the statistics show that over 60 per cent of the diagnoses between Rosenhügel and the hospitals patients were transferred from were not consistent. A 28-year old Austrian officer, for example, was transferred to three different hospitals and left each of them with a different diagnosis (neurasthenia in Budweis in October 1914, traumatic neurosis in Reservespital No. 2 in Vienna in August 1915, hysteria in Rosenhügel in September 1915). Zusammenfassung Während des Ersten Weltkriegs war der „Kriegszitterer“ ein weit verbreitetes Phänomen in allen kriegführenden Nationen, doch konnten sich zeitgenössische Psychiater während des Kriegs auf kein einheitlich definiertes Krankheitsbild einigen. Diese fehlende Festlegung führte zu Diagnosen, die auf der Basis etablierter Konzepte gestellt wurden, deren Definitionen sich aber gegenseitig so überlappten, dass sich die Frage aufdrängt, ob die psychiatrische Diagnose nur allein von den Symptomen, die ein Patient zeigte, abhing oder ob nicht auch der militärische Rang und die Dave Bandke 310 soziale Stellung Einfluss darauf nahmen. Um eine Antwort auf die Frage zu finden, hat der Autor 917 Patientenakten der Nervenheilanstalt am Rosenhügel (Untersuchungszeitraum 1915-1918), einer namhaften Wiener Heilanstalt, untersucht und aus einem Korpus von 397 Akten eine statistische wie medizingeschichtliche Studie erarbeitet. Der Fokus des Autors lag auf denjenigen Patientenakten, die die folgenden Diagnosen aufwiesen: Hysterie, Hypochondrie, Neurasthenie, traumatische Neurose oder nervöse Erschöpfung. Höchst signifikante Ergebnisse zeigen, dass vor allem bei militärisch und sozial niederen Patienten das Krankheitsbild der Hysterie festgestellt, wohingegen bei militärisch und sozial höher gestellten Patienten eine Neurasthenie oder - noch offensichtlicher - eine nervöse Erschöpfung diagnostiziert wurde. Vergleicht man den Zeitraum von 1915/ 1916 mit demjenigen von 1917/ 1918, so lässt sich keine offensichtliche Veränderungen beim durchschnittlichen Aufenthalt in der Anstalt sowie auch bei der Gesamtheilungsquote feststellen. (20 Prozent geheilt, 54 Prozent gebessert, 26 Prozent ohne Veränderung). Unter den 917 Akten befand sich kein einziger Patient, bei dem eine traumatischen Neurose diagnostiziert wurde, obwohl in zwölf Prozent aller Fälle die Patienten mit dieser Diagnose von den behandelnden Psychiatern an die Nervenheilanstalt Rosenhügel überwiesen wurden. Im Allgemeinen zeigt die Statistik, dass sich in über 60 Prozent der Fälle die Diagnose zwischen der Nervenheilanstalt Rosenhügel und den überweisenden Krankenhäusern unterschied. Beispielsweise wurde ein 28jähriger österreichischer Offizier in drei verschiedene Krankenhäuser eingewiesen und verließ jedes der drei mit einer anderen Diagnose (in Budweis wurde ihm im Oktober 1914 eine Neurasthenie diagnostiziert, während man bei ihm im August 1915 im Reservistenspital Nr. 2 in Wien eine traumatische Neurose feststellte und im Rosenhügel im September 1915 eine Hysterie attestierte). 1. Einleitung und Fragestellung Das Wort „Diagnose“ stammt aus dem Altgriechischen und setzt sich aus „día“ (durch) und „gnosis“ (Erkenntnis) zusammen, also etwas, das durch Erkenntnis gewonnen wird. Doch wie sieht es aus, wenn plötzlich neue klinische Syndrome oder Symptomenkomplexe auftreten, die es zuvor entweder nicht gegeben hat oder die zu selten waren, als dass sie systematisch untersucht worden wären? Was geschieht also im Moment der Entstehung einer neuen Krankheit? Welche Beobachtung wird zur Erkenntnis? Wird diese Erkenntnis, die sich später Diagnose nennen darf, gefunden oder mehr erfunden? Und welche nicht-wissenschaftlichen (z.B. politischen, finanziellen, kulturellen) Einflüsse gestalten diesen Prozess entscheidend mit? Der Begriff der Kriegsneurose geht dabei auf den deutschen Arzt Dr. Honigmann zurück, der ihn erstmals 1907 in einem Artikel im Lancet verwendet hat. 1 In der Wiener Medizinischen Wochenschrift finden sich jedoch erst ab 1919 vermehrt Berichte über die Kriegsneurose; ein einziger Artikel aus dem Jahr 1917 spricht von 1 J ONES / W ESSELY , Shell Shock, 17; Anonym, Dr. Honigmann, 1437. Zwischen Finden und Erfinden 311 „sogenannten Kriegsneurosen“ - dabei ist der Autor, zu dem Zeitpunkt Privatdozent am k.k. Garnisonsspital I in Wien, der Meinung, dass sich die Kriegsneurosen als eigene Krankheitsentität durchsetzen werden, obgleich sich hier viel Widerstand rege, auch weil „diese Neurosen nach Kriegsschädigungen prinzipiell nichts Neues“ 2 bieten würden. Es lässt sich hieraus jedoch ableiten, dass sich die Kriegsneurose in Wien zur Zeit des Ersten Weltkriegs nicht als feststehende Entität und damit als Diagnose hat durchsetzen können. Bei den nun vermehrt auftretenden psychiatrischen und neurologischen Symptomen der Patienten griffen die praktisch tätigen Ärzte demnach auf schon etablierte Krankheitskonzepte zurück. Da diese jedoch aus klinischer Sicht oftmals schwierig voneinander zu unterscheiden waren, da sie nicht streng genug oder je nach Schule unterschiedlich definiert worden waren, konnten weitere Einflüsse auf die Diagnosestellung einwirken. Somit wären, zumindest im klinischen Alltag, die Herkunft und der soziale Stand des Patienten maßgebliche Elemente der Diagnosestellung - und in weiterer Folge auch der Therapie gewesen. Dazu ist es hilfreich, sich vor Augen zu führen, dass viele der Begriffe wie „nervös“, „hysterisch“ und „hypochondrisch“ schon eine lange Begriffsgeschichte besaßen, im alltäglichen Sprachgebrauch der Zeit eingebettet waren und somit auch eine gesellschaftliche Bedeutung erhalten hatten. Zudem schreibt man, heute wie damals, „unangenehme“ Diagnosen gerne dem Anderen zu. Aus dem Zusammenspiel zwischen der anfänglichen Literaturrecherche und weiteren Einsichten in die Akten von der Nervenheilanstalt am Rosenhügel haben sich für mich vor allem die folgenden fünf Diagnosen für eine weitere Analyse herauskristallisiert: Hysterie, Hypochondrie, Neurasthenie, traumatische Neurose und nervöse Erschöpfung. Insgesamt habe ich dabei 917 Akten durchgesehen und für eine statistische Auswertung 397 Akten aufgenommen. Neben der Diagnose war das Aufnahmedatum ein zweites Einschlusskriterium. In der statistischen Auswertung finden sich daher alle Patienten, die zwischen dem 1. Juli 1915 und dem 31. März 1916 (n = 165) und zwischen dem 1. Juli 1917 und dem 31. März 1918 (n = 232) aufgenommen wurden und dabei eine der oben genannten fünf Diagnosen erhalten haben. 2. Kurzer Überblick zur Geschichte der Nervenheilanstalt am Rosenhügel 1900-1918 Nathaniel von Rothschild (1836-1905) hatte in einem Kodizill aus dem Jahr 1900 bestimmt, dass aus seinem Nachlass 20 Millionen Kronen für die Stiftung einer Nervenheilanstalt bereitgestellt werden müssten. Diese sollte mehr als 50 Betten umfassen und auf modernstem Stand ausgerüstet sein; so hatte er unter den therapeutischen Apparaten explizit die Elektrotherapie erwähnt sowie einen Turnplatz, einen Garten zur Arbeitstherapie und eine adäquat eingerichtete Bibliothek. Aufgenommen werden sollten alle „mittellosen Nervenleidenden; […] ausgeschlossen 2 B IACH , Sogenannte Kriegsneurosen, 2061-2064. Dave Bandke 312 [waren] jedoch Geisteskranke, unheilbare Epileptiker und Personen mit anatomischen Erkrankungen des Gehirnes und Rückenmarks“. 3 1905 verstarb Nathaniel von Rothschild und sein Bruder Albert nahm daraufhin seine Aufgabe als Testamentexekutor wahr. Im Mai 1908 wurde ein Grundstück in Hietzing gekauft, auf dem im 19. Jahrhundert Rosenzucht betrieben worden war und aus dem sich der Name der Anstalt ableitet. 4 Am 1. August 1908 wurde dann Friedrich von Sölder zum ersten Direktor der Anstalt ernannt und schon am 15. Juli 1912 waren die Bauarbeiten abgeschlossen und die Anstalt betriebsbereit. Am 31. Juli 1914, also etwa einen Monat nach dem Attentat in Sarajevo und gerade einmal drei Tage nach der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien, wurde per Kuratoriumsbeschluss die Nervenheilanstalt am Rosenhügel dem Kaiser- Jubiläums-Spital angegliedert und somit dem Roten Kreuz unterstellt. Es sollte von nun an zur Pflege leicht erkrankter und rekonvaleszenter Soldaten Verwendung finden. Die ersten Kriegsverletzten wurden am 2. September 1914 aufgenommen. Bezeichnend für alle kriegsteilnehmenden Nationen war aber die fatale Unterschätzung der Länge und Härte des aufkommenden Krieges, sodass auch die Anzahl benötigter Spitalsbetten zu Kriegsbeginn maßlos unterschätzt wurde. Im November 1914 wurde daher die Bettenanzahl von 92 auf 300 erhöht. Ab dem 22. Februar 1915 fungierte der Rosenhügel dann „als selbstständiges Spezial-Spital vom Roten Kreuze für Nervenkranke und Nervenverletzte“. Die ursprüngliche Idee und Organisationsstruktur der Heilanstalt, so wie es Nathaniel von Rothschild im Sinn gehabt hatte, wurde damit jedoch endgültig verworfen. 3. Die Krankenakten Die Krankenakten bestehen aus einem oder mehreren Doppelblättern, auf deren Innenseiten die Anamnese, der Status praesens und eventuell der Verlauf mit therapeutischen Notizen handschriftlich verfasst wurde. Auf dem Deckblatt findet sich ein größeres Feld für den Namen des Patienten sowie etwaige militärische, akademische oder adlige Titel. Hiernach folgte eine vierzeilige und zweispaltige Tabelle, in welche Alter, Familienstand, Beruf, Geburtsort, Eintritts- und Abgangstag sowie die Abgangsart (verstorben, ungebessert, gebessert oder geheilt) eingetragen wurden. In einem zweiten, ab 1916 vermehrt verwendeten Vordruck wurde die Abgangsart weiter in „wesentlich gebessert“ und „unwesentlich gebessert“ differenziert. Die Ausführlichkeit der Anamnese schwankt erheblich, von einer Viertel Seite bis zu fünf oder sechs handgeschriebenen Seiten, und umfasste meistens etwa eine Seite. Diese Ungleichheit resultiert auch daraus, dass bei einigen Patienten Besonderheiten in der Kindheit und der Entwicklung fixiert wurden, während bei anderen lediglich auf den zeitnahen Auslöser, beispielsweise der Verwundung im Feld, fokussiert wurde. Dies ist natürlich wesentlich mit der Diagnose verknüpft. So sind lange 3 K OBLIZEK / S CHNABERTH , 90 Jahre Rothschild-Stiftung, 78-81. 4 Ebd., 28; W AGNER -J AUREGG , Rothschild-Stiftung, 114. Zwischen Finden und Erfinden 313 zurückreichende Ereignisse bei Neurasthenien und konstitutionellen Störungen per definitionem von Belang für den Krankheitsprozess. Anschließend folgte der Status praesens - im Sinne eines kurzen internen und neurologischen Status - der manchmal in den Fließtext der Anamnese eingewoben, andere Male nach der Anamnese gesondert beschrieben wurde. Am Ende folgte der Verlauf. Dabei muss erwähnt werden, dass eine Dokumentation der Therapien häufig fehlte oder nur sehr fragmentarisch festgehalten wurde. Das Fehlen war offensichtlich, da im Verlauf einzelner Akten notiert wurde, dass sich zum Beispiel die hysterischen Kontrakturen eines Patienten mithilfe der Therapie gebessert hatten, sich jedoch keine Auflistung irgendeiner Therapie hat finden lassen. Fast nie wurden Medikamente mit Datum, Applikationsart und Dosierung angegeben, wenn überhaupt, finden sich Stichwörter wie „Natrium-Bromat“, „Herzkühler“ oder „Zellbäder“, die gelegentlich mit einem Hinweis wie „zweimal täglich“ versehen wurden. Die Krankenakten eignen sich daher nicht für eine systematische Untersuchung der Therapien. Jeder verwundete Soldat bekam vom behandelnden Spital, häufig einem Feldspital, ein Vormerkblatt, welches am Rosenhügel oftmals in der Mitte der Akte eingeklebt oder lose eingelegt wurde. Hier wurde zum einen immer der genaue militärische Rang des Patienten und zum zweiten auch die Diagnose des einweisenden Spitals festgehalten. 4. Darstellung der Diagnosen anhand von Patientenbeispielen In der Wiener Medizinischen Wochenschrift, die einzige Zeitschrift, die ich systematisch in meiner Arbeit untersucht habe, konnte ich keine einheitlichen, definitorischen Beschreibungen zu den nun folgenden fünf Diagnosen finden; dennoch werde ich versuchen verschiedene mehr oder weniger typische Muster anhand der Darstellungen in den Krankenakten zu beschreiben. Unter Angabe der Patienten- Nummer, die sich oben auf jedem Deckblatt findet, folgen hiernach kurze exemplarische Ausschnitte aus den Anamnesen sowie am Ende eine einfache Übersichtstabelle, die die geläufigsten Ansichten zu den Diagnosen zusammenfasst. 4.1. Hysterie Die Hysterie hatte im Allgemeinen eine gesellschaftlich negative Konnotation, vor allem wenn sie beim Mann diagnostiziert wurde. 5 Als Ursache wurde häufig eine schwache oder geschwächte Psyche angenommen, weshalb diese häufig mit Zwangsmaßnahmen, wie beispielsweise einer Kombination von Elektrotherapie und militärischem Drill, zu kurieren versucht wurde. 6 Dies muss nicht zwangsläufig als 5 L OUGHRAN , Hysteria and Neurasthenia 26f.; H OFER , Nervenschwäche und Krieg, 226-231. 6 Ebd., 26. Dave Bandke 314 Bestrafung aufgefasst werden, sondern kann auch als eine konsequente und kausallogische Fortsetzung des wissenschaftlichen Krankheitsmodells der Zeit verstanden werden, den schwachen Willen und damit den Patienten ernsthaft heilen zu wollen, obgleich hier nicht selten persönliche, politische und auch rassenhygienische Motive vermengt wurden. Die Hysterie ist dabei die mit Abstand am häufigsten vergebene Diagnose am Rosenhügel. In der Anamnese wird typischerweise ein Tremor irgendeiner Art geschildert; manchmal ist dieser auf ein Körperteil beschränkt, manchmal wird ein Zittern des ganzen Körpers beschrieben. Dazu die folgenden drei Beispiele: Nr. 971: „Damals platzte in unmittelbarer Nähe eine Granate, tötete 2 seiner Nachbarn, verschüttete ihn und einen anderen. Er verspürte noch einen Schlag gegen das rechte Hinterhaupt, wurde bewusstlos, erwachte erst nach einigen Stunden am Verbandsplatz. Seither Schmerzen in der rechten Körperhälfte, besonders Stirngegend, zeitweilig Schwindelgefühl, Flimmern vor den Augen und Tränen der Augen […], leichte Erregbarkeit, Anfälle von Bewusstlosigkeit mit Zittern am ganzen Körper nach Aufregungen. Dauer solcher Anfälle 15-20 Minuten, nachher Mattigkeit […].“ Anbei liegt eine Tabelle, mit welcher die hysterischen Anfälle gezählt wurden, dabei wird ersichtlich, dass der Patient fast jede Woche einen Anfall erlitten hat, genauer gesagt 19 Anfälle zwischen dem 19. August 1915 und dem 2. Februar 1916. Nr. 1155: „Anfallsweise auftretende Steifheit im Nacken von Minuten bis zwölf Stunden anhaltend. Schmerzen im Halse - Herzklopfen. Nach geringen Aufregungen Zittern des Körpers und der unteren Extremitäten. Krampfhaftes Zusammenziehen der Muskulatur ohne Bewusstseinsstörung. Dauer derartiger Anfälle bis zu 1 Std.“ Nr. 1160: „Am 23. Mai wurde er von einer Granate verschüttet, ohne äußere Verletzungen zu erleiden, verlor nicht das Bewusstsein. Seitdem fühlte er sich stets schwach. Am 1. August fiel er bei einem Sturmangriff aus Schwäche zu Boden, verlor nicht das Bewusstsein, nach circa vier Stunden erhob er sich, konnte aber wieder nicht weiter. Der Arzt schickte ihn wegen Neurasthenie zurück. Er lag fünf Wochen im Barackenspital in Leipunik in Mähren, wo er an Aufregungszuständen und Schlaflosigkeit litt. Er wurde dann nach Wien gebracht, in einem Spitalzuge […]. Knapp vor der Abfahrt des Zuges trat Zittern der Beine auf, des linken mehr als des rechten, das bis zum heutigen Tag fortbesteht, eher an Intensität zugenommen hat. Im Stephaniespital traten 6-7 Anfälle von Bewusstseinsstörung, Zittern auf, die eine viertel Stunde dauerten. Bei Aufforderungen zu Bewegungen des Beines wird dasselbe zu einem hochgradigen Schütteltremor. Bis zu 120 Kontraktionen in der Minute.“ Dieser Fall ist deshalb interessant, weil der Patient zuvor eine Neurasthenie diagnostiziert bekam, wenn auch von einem anderen Spital. Am Rosenhügel wird die Diagnose revidiert und beim Durchlesen erhebt sich sogleich der Verdacht, dass das entscheidende Symptom, das zur Änderung der Diagnose beigetragen hat, der Tremor war; schließlich trat das Zittern der Beine erst nach Vergabe der Erstdiagnose Neurasthenie auf. Zwischen Finden und Erfinden 315 4.2. Neurasthenie Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Neurasthenie als Mode-Erkrankung, eine Art „positives Burn-Out-Syndrom“, mit der zumindest Teile der amerikanischen Gesellschaft hausieren gingen, auch in Europa gutheißend angenommen, war sie doch ein Zeichen des viel, insbesondere geistig, arbeitenden Menschen. 7 Erstmals wurde sie 1869 von George Miller Beard als ein Erschöpfungszustand beschrieben, der seinen Ursprung im neuen nervösen Zeitalter (technischer und wissenschaftlicher Fortschritt wie Bahnverkehr und Industrialisierung, die das Leben allgemein beschleunigten) und der geistigen Überanstrengung eines prinzipiell gesunden Nervensystems hatte. 8 Dies unterschied die Neurasthenie in der Ansicht der meisten Ärzte von der Hysterie, da bei letzterer eine angeborene Anfälligkeit bestand. Am Beginn stehe also die geistige Erschöpfung, die sich dann erst körperlich niederschlage. 9 Dem widersprechend liest sich jedoch ein Bericht von Graul über die Neurasthenia cordis, einer neurasthenischen Form, welche ausschließlich das Herz beträfe. Sie erwachse „auf dem Boden […] einer funktionellen Minderwertigkeit des vegetativen Nervensystems“, welche konstitutionell bedingt sei. 10 Generell findet sich auch in den Akten vom Rosenhügel häufig eine „konstitutionelle Neurasthenie“. Die Therapie von Neurasthenikern sah kausallogisch eher Rede-Kuren im Sinne der Psychoanalyse oder Beurlaubungen zur Erholung und Stärkung der überreizten und überarbeiteten Nerven vor. Sie ist zwar die zweithäufigste Diagnose am Rosenhügel, aber nur noch halb so häufig anzutreffen wie die Hysterie. Zudem wird sie im Verlauf des Krieges etwas seltener diagnostiziert (1915/ 16 noch 29,6 Prozent zu 1917/ 18 nur mehr 21,9 Prozent unter den vier aufgenommen Diagnosen). Weiterhin muss erwähnt werden, dass es teilweise auch mehrere Diagnosen bei einem Patienten gab; dabei ist erwähnenswert, dass eine Neurasthenie und eine Hysterie 1915/ 16 niemals zugleich bei einem Patienten diagnostiziert wurden, während diese Kombination 1917/ 18 zwar am Rosenhügel immer noch nicht vergeben wurde, hingegen aber acht Patienten mit einer solchen Kombination überwiesen wurden. Dies ließe sich vielleicht mit einer Erweichung der Neurasthenie-Diagnose erklären. War es zu Beginn des Krieges noch üblich, Hysteriker und Neurastheniker gegenüberzustellen, wurde es durch neu entfachte Diskurse im Laufe des Krieges immer mehr denkbar, dass beide Krankheiten gleichzeitig bei einem Patienten auftreten konnten. Dies könnte damit zusammenhängen, dass die ursprüngliche soziale Konnotation der Neurasthenie (Krankheit der geistig arbeitenden Menschen) immer mehr an Bedeutung verlor. In der Anamnese ist für gewöhnlich nie die Rede von einem Schütteltremor; zudem fällt auf, dass viele Akten eine längere Anamnese aufweisen, auch weil häufig weit in die Vergangenheit zurückreichende Ereignisse geschildert werden. Es folgen wieder drei Beispiele: 7 K LOOCKE / S CHMIEDEBACH / P RIEBE , Changing Concepts and Terms, 52; P ORTER , Wahnsinn, 194. 8 H OHENLOHE , Gesichter des Wahns, 23. 9 Anonym, Kriegstagung München Teil 2, 1816. 10 G RAUL , Neurasthenia cordis, 1872. Dave Bandke 316 Nr. 1214: Der Patient, von Rang Feldwebel, sei vor dem Krieg völlig gesund gewesen und wurde im Feld weder verletzt noch war er bewusstlos. Spannend ist der Fall, weil die Symptome gerade innerhalb eines Kurzurlaubs auftraten - ein Zeitpunkt, der in der zeitgenössischen Fachliteratur als Auslöser der Kriegsneurosen vielfach Erwähnung findet. 11 „Im Mai war Patient eineinhalb Tage und eine Nacht zu Hause, weil er gerade in der Nähe seiner Heimat beauftragt war. Seither krank, musste bis Juli Dienst machen. Klagt über Brennen, Nervenzeichen, Ameisenlaufen im ganzen Körper, am meisten in der Leistengegend und Kreuzgegend.“ Zudem verspürte er ein „Schlagen und Klopfen im Körper, als ob überall ein Puls wäre“, sowie ein „Kältegefühl bei Aufenthalt im Freien, dabei Schwitzen in den Händen und Schmerzen im ganzen Körper.“ Nr. 3028: „Im 11. Lebensjahr traten bereits Zuckungen im Gesicht und Zittern des Kopfes auf, hielten bis zum 15. Lebensjahr an, setzten dann 10 Jahre bis auf ganz unbedeutendes Augenzwinkern aus, und traten während der aktiven Militärdienstleistung im Oktober 1915 wieder auf. Eingerückt im Juli 1915, machte Patient die Abrichtung mit, dann die Offiziersschule bis Anfang November 1915, und ging Ende November 1915 ins Feld ab. Bis Ende Feber machte er Dienst im Etappenraum. […] Infolge Explosion einer Granate aus nächster Nähe und Tötung eines Kameraden erschrak Patient sehr, er wurde durch den Luftdruck weggeschleudert, war nicht bewusstlos, erlitt keine Verletzungen, hatte aber Aufstoßen, Ohrensausen und war benommen. […] Fiel am 1. November 1917 bei einem Marsch wieder in Ohnmacht. Gegenwärtige Beschwerden: Zuckungen im Gesicht, erschwertes Einschlafen, Kopfschmerzen, leichte Reizbarkeit, Magenschmerzen morgens, leichtes Sodbrennen, zeitweilige Appetitlosigkeit, Unfähigkeit zur Konzentration, leichte Ermüdbarkeit, zeitweise Ohrensausen, beim Aufstehen Schwarzwerden vor den Augen.“ Dem 27-jährigen Doktor aus Wien wird eine „konstitutionelle Neurasthenie“ attestiert; dies ist insofern interessant, als die Zuckungen im Gesicht, auch weil sie schon im elften Lebensjahr erstmals auftraten, hier nicht als hysterischer Tremor gedeutet wurden. 4.3. Nervöse Erschöpfung Im Allgemeinen versuchte man die nervöse Erschöpfung von einer Ermüdung abzugrenzen. Hier scheint in erster Linie zwar nur ein gradueller Unterschied vorzuliegen, in der Ansicht einiger Ärzte jedoch auch ein organischer, da eine Ermüdung zwar mit einer geringeren Funktionsfähigkeit des Nervensystems, jedoch nicht mit einer organisch-morphologischen Veränderung einherginge, eine nervöse Erschöpfung hingegen schon. Mayerhofer und Bonhoeffer führen an, dass sich diese Unterscheidung klinisch nur schwer treffen ließe, bei den Erschöpften jedoch eine „Erhö- 11 M ALLEIER , Männliche Hysterie, 27; B ERGL , Dämmerzustände, 1192. Zwischen Finden und Erfinden 317 hung der mechanischen Muskelerregbarkeit“ zu konstatieren sei. 12 Grundsätzlich besteht eine Übereinkunft darin, dass bei nervösen Erschöpfungszuständen die Ruhe das probate Heilmittel darstellt. Dies kann jedoch sowohl durch Barbiturate oder Bromverbindungen, also medikamentös erfolgen, als auch mittels Kuraufenthalten oder Heimaturlauben. 13 Die nervöse Erschöpfung ist die einzige Erkrankung, bei der man eine deutliche Zunahme erkennen kann: Im Vergleich zu 1915/ 16 wird sie 1917/ 18 verhältnismäßig doppelt so häufig diagnostiziert (7,7 Prozent zu 16,9 Prozent unter den aufgenommen Akten). In den Anamnesen werden vor allem vegetativ-körperliche Symptome beschrieben wie Schlaflosigkeit, Kopf- und Magenschmerzen etc. wie auch die Schilderung geistiger Erschöpfungszustände, häufig mit einer gedrücktdepressiven Stimmungslage; es fehlt hingegen sowohl der Vorwurf der Simulation, wie bei der Hypochondrie, als auch die Beschreibung einer motorischen Symptomatik, die bei der Hysterie im Vordergrund steht. Rein vom Duktus liest sich die Anamnese eines Patienten mit nervöser Erschöpfung wie die Anamnese eines Neurasthenikers. Es folgen abermals drei kurze Beispiele: Nr. 957: Die Krankenakte des 41-jährigen Leutnants unterscheidet sich im Aufbau von den vorherigen, da ein vier Seiten langes, in sauberer Handschrift verfasstes ärztliches Zeugnis des Chefarztes Dr. Langer beiliegt. Die Anstalt, von der der Patient zuvor überwiesen wurde, war jedoch nicht zu eruieren. Hier ein kleiner Ausschnitt: „Der Patient befindet sich in der letzten Zeit in leicht erregbarem Zustande. Jede Kleinigkeit, die er früher überhaupt nicht beachtet hat, regt ihn auf. Erwacht vielmals in der Nacht, hat unangenehme, schwere Träume. […] Zu jeder Arbeit, ob körperlicher oder geistiger, die er früher leicht geleistet hat, bräuchte er jetzt seine ganzen Kräfte anstrengen, sodass er sich nach jeder Arbeit vollständig erschöpft und kraftlos fühlt, und längere Zeit zu gar nichts fähig ist. […] Diagnose: Neurasthenie (Antrag: Entsprechende Behandlung in einer womöglich unter spezialärztlicher Leitung stehenden Heilanstalt).“ Nr. 1412: Es handelt sich um einen Fregattenkapitän, der laut der ärztlichen Ordination der Marinesektion einen Erholungsaufenthalt gewährt bekommt. Die nervöse Erschöpfung wird vor allem mit den körperlichen, aber auch den moralischen Strapazen während seiner Kriegsgefangenschaft begründet: „Am 16. August 1914 geriet Patient nach einem Seekampf in der Adria in montenegrischer Gefangenschaft, indem er vom sinkenden Schiffe schwimmend die Küste erreichte. Er befand sich im guten Zustande, sodass er drei Tage später den 13stündigen Fußmarsch nach Cetinje ohne die geringste Ermüdung zurücklegen konnte. In der Gefangenschaft litt Patient moralisch außerordentlich. Leidet auch jetzt noch unter dem Scheitern gewisser privater Pläne. War stets eine sehr sensible Natur, litt unter Hässlichkeiten. Seit dem 25. Lebensjahr mangelnder Frohsinn, Neigung zu Schwermut, Gefühl etwas versäumt zu haben. Derzeit „rheumatische“ Schmerzen im Rücken, in den Händen und in den Fußsohlen. Empfindlichkeit des Darmes. 12 Anonym, Kriegstagung München Teil 3, 1689. 13 R ICHTER , Erfahrung Kriegsneurosen, 2098f. Dave Bandke 318 Öfters Herzklopfen. Unbehagliches vom Magen ausgehendes Gefühl in den Nachmittagsstunden.“ Nr. 2979: Der 43-jährige Oberleutnant mit nervösem Erschöpfungszustand hatte schon mehrfach Kur-Urlaube genehmigt bekommen. „Seit der Spitalsbehandlung im Jänner 1915 treten in wechselnder Intensität Druck und Schmerz im Hinterhaupt auf, der bis zu den Schläfen ausstrahlt, manchmal Schwindelanfälle, Druck auf der Brust, Gefühl der Atemnot, besonders in der Nacht, der Schlaf ist zeitweise gestört. Patient verließ die Anstalt in sehr gebessertem Zustand. Die Besserung dauerte ca. ein Jahr. Seit dem Sommer sind die Beschwerden wieder aufgetreten. Patient führt die Verschlimmerung auf die größere Arbeitsbelastung zurück und Ärger im Dienst.“ 4.4. Hypochondrie Im Gegensatz zu heute wurde der Begriff im Ersten Weltkrieg häufig mit der Simulation gleichgesetzt. Im Unterschied zu allen anderen beschriebenen Erkrankungen steht der Erkrankungsbeginn damit unter willentlicher Kontrolle. Typischerweise gebe der Patient daher mehr Symptomatik an, als letztlich gefunden werden könne. Dabei gibt es häufig den Vorwurf, dass der Patient nur simuliere, um dem Fronteinsatz zu entgehen und Renten- oder Krankengelder zu kassieren. In dem von mir untersuchten Zeitraum finden sich lediglich sieben Patienten mit einer Hypochondrie. Alle Patienten gehörten der Mannschaft an, übten einen nicht-akademischen Beruf aus und waren überwiegend in einem nichtdeutschsprachigen Ort geboren worden (letzteres betraf fünf der sieben Patienten). Hier ein Beispiel: Nr. 843: Der Patient fiel im September 1914 über einen Baumstamm und drückte sich die Patronentasche heftig in die Magengegend, „seither stets brennende [Schmerzen], die nach Nahrungsaufnahme steigen. Patient isst deshalb so wenig, nur Milch und Milchspeisen, hat seit September [innerhalb von neun Monaten] 26 kg abgenommen. Patient erzählt alles in weinerlichem Ton, stößt bei der Berührung seines Bauches jämmerliches Stöhnen aus, spannt dabei die Bauchdecken maximal, so dass sie gar nicht für die Palpation durchgängig sind. Alles offenbar Aggravation oder Simulation. […] Hat angeblich seit 3 Tagen keinen Stuhl. […] Glaubt, dass er nicht mehr gesund werde. Er werde sterben. Patient steht nur gezwungen auf; liegt teilnahmslos den ganzen Tag zu Bette. Angesprochen zeigt er tief schmerzliche Miene; gebückte Haltung. Patient glaubt, dass in seinem Inneren etwas geplatzt sei. Medicinen werden ihm auch nicht helfen. Er hat Medikamente und Umschläge und Bäder aller Art bekommen. Er möchte gerne sterben, umbringen werde er sich nicht, weil das die Religion verbietet. […] 13. September: Verfolgungsideen. Alle Bosnier seien gegen ihn, ein deutscher Soldat habe ihn beim Oberleutnant verklagt, dass er seine Krankheit nur markiere. Wegen Freundschaftlichkeit wären Namen unmöglich. Sein Zimmergenosse gibt an, sich vor ihm zu fürchten. Er sei bei Nacht so unruhig, scheine ihn töten zu wollen. Dieser Zimmergenosse ist ebenfalls aus Bosnien.“ Zwischen Finden und Erfinden 319 Im Parere vom AKH Wien findet sich folgendes abschließendes Urteil: „S.P. klagt über verschiedene Beschwerden, denen objektiv kein klinischer Befund entspricht. Er verweigert konstant die Nahrung, erscheint suizidverdächtig.“ Es fällt schon an der Formulierung auf, dass der Patient nicht seit drei Tagen keinen Stuhl mehr hatte, sondern diesen nur angeblich nicht mehr gehabt habe. Wie auch bei allen anderen Fällen lässt sich rückblickend keine Diagnose mehr stellen, da schon der Blick des Arztes und der des Patienten schon gar nicht zu rekonstruieren ist. Ob der Patient alles nur vorgespielt hat, einen schizophrenen Schub erlitten hat oder doch eine internistische Erkrankung vorlag, kann anhand der gegebenen Informationen also nicht mehr geklärt werden. 4.5. Traumatische Neurose Der Begriff geht auf Hermann von Oppenheim zurück, welcher in seinem 1892 erschienen Werk „Die traumatischen Neurosen“ 42 Fälle beschrieb, bei welchen infolge von Kopfverletzungen, häufig nach Eisenbahnunfällen, neurologische Symptome auftraten. Dabei musste immer ein ursächliches Trauma zu eruieren sein. Oppenheim vertrat die Ansicht, dass die Ursachen mechanisch zu erklären wären, sich jedoch auf einer mikroskopischen, subzellulären Ebene abspielten und dadurch weder augenscheinlich mit der Verletzung einhergingen noch autoptisch nachweisbar wären. Er lehnte eine psychologische Ätiologie somit strikt ab. 14 Damit steht die Diagnose im Kontrast zu allen anderen, denen sich dieser Aufsatz widmet. Die Debatte spitzte sich im September 1916 auf einer Kriegstagung des Deutschen Vereins für Psychiatrie in München zu. 15 Das Resultat dieser Konferenz war die Ablehnung der traumatischen Neurose als Krankheitskonzept. 16 Auch in den Akten vom Rosenhügel geht eindeutig hervor, dass die traumatische Neurose im Ersten Weltkrieg an ein physisches Trauma jedweder Art und nicht notwendigerweise an Granatenexplosionen und unmittelbaren Kriegsgefechten geknüpft war. So wird bei dem Patienten mit der Patienten-Nummer 1128 vom k.k. Kronprinzessin-Stefanie-Spital die Diagnose „traumatische Neurose nach Schädelverletzung durch Hufschlag“ vermerkt. Es gilt aber ausdrücklich zu erwähnen, dass die Anstalt am Rosenhügel im von mir untersuchten Zeitraum selbst kein einziges Mal die Diagnose „traumatische Neurose“ vergeben hat. Umgekehrt wurden jedoch in beiden Zeitabschnitten etwa zwölf Prozent der Patienten mit dieser Diagnose überwiesen. Dies ist ein eindeutiges Zeichen, dass sich die Klinik und ihr Direktor, Friedrich von Sölder, von Oppenheims Idee abgegrenzt haben, und zwar schon lange vor dem häufig erwähnten September 1916. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Akte Nr. 984: Der 32jährige österreichische k.k. Hauptmann kam mit der Diagnose „traumatische Neurose“ zum Rosenhügel und verließ sie mit einer „Neurasthenie (hysterioforme Anfäl- 14 H OLDORFF / D ENING , Oppenheim, 467f. 15 Anonym, Kriegstagung München Teil 1-3. 16 M ALLEIER , Männliche Hysterie, 14. Dave Bandke 320 le)“. Dies ist eine bemerkenswerte Diagnose über die sich nur spekulieren lässt. Da Anfälle wohl nicht von epileptischer Genese waren, bei einer Neurasthenie jedoch eigentlich keine Anfälle auftreten, hysterische Anfälle für einen Hauptmann zu diesem Zeitpunkt (August 1915) aber vielleicht noch nicht denkbar gewesen waren, erhielt der Patient die Diagnose „Neurasthenie mit hysterioformen Anfällen“, also keine hysterischen Anfälle, sondern nur welche, die denen bei einer Hysterie ähneln. 4.6. Abweichende Diagnosen Nach einigen Patientenbeispielen, in denen die Darstellung der Anamnese mit der Diagnose des Patienten gut übereinstimmten, das heißt, dass sich diese Beispiele sehr gut wie die typische Beschreibung eines Neurasthenikers oder Hysterikers lesen lassen, möchte ich erwähnen, dass es auch viele Schilderungen gibt, von denen man von der Darstellung der Patientengeschichte ausgehend nicht auf die vergebene Diagnose schließen kann. Eine weitere Auffälligkeit bestand in der Anzahl abweichender Diagnosen. Es war eher der Regelfall, dass die Diagnose des einweisenden Spitals nochmals verändert wurde (siehe Abschnitt 5.5). Nr. 1030 (drei Spitäler - drei Diagnosen): Der Patient ist nach einer Schussverletzung am 8. September 1914 mehrere Stunden bewusstlos gewesen, erwachte dann mit heftigen Kopfschmerzen und Erbrechen. Er wurde daraufhin über mehrere Feldspitäler nach Budapest gebracht. Er hatte sowohl Sehstörungen (Doppelsehen) als auch Hörstörungen angegeben, welche zwar seit 1904 bestanden haben, nun aber schlechter geworden seien. Aus den zwei Vormerkblättern geht hervor, dass man dem Patienten in Budweis eine Neurasthenie (Oktober 1914), im Reservespital No. 2 in Wien eine traumatische Neurose (August 1915) und dann am Rosenhügel eine Hysterie (September 1915) diagnostiziert hat. Während dieser Zeit ist der Patient nicht nochmal ausgerückt, sondern nur von Spital zu Spital transferiert worden. Nr. 2824 (vier Spitäler - drei Diagnosen): Der Patient bekam vom Feldspital 1600 eine „hochgradige Neurasthenie“ attestiert, während das Reservespital Nr. 6 von einer Hysterie ausging, ebenso wie die Anstalt am Rosenhügel. Das Reservespital Nr.1 in Brünn vergibt hingegen eine in den Akten einzigartige Diagnose: eine Hysteroneurasthenie. Zwischen Finden und Erfinden 321 Diagnose Ursächliches System Mechanismus Kontrolle Hysterie Psyche Körper Nachahmung (unbewusst) unwillentlich Neurasthenie Körper Psyche Chronische Ermüdung der Nerven durch (geistige) Arbeit; aber auch konstitutionelle Typen unwillentlich Nervöse Erschöpfung Körper/ Psyche Psyche Chronische Ermüdung der Nerven durch (geistige + körperliche) Arbeit, bzw. Kriegserlebnisse unwillentlich Hypochondrie rein Psyche Nachahmung (bewusst) willentlich Traumatische Neurose rein Körper (Trauma) Trauma = mechanische Erschütterung der Nerven(zellen) Störungen im subzellulären Bereich unwillentlich Tab.1: Zusammenfassung geläufiger Ansichten über die Diagnosen. 5. Statistische Auswertungen 5.1. Einleitung zu den statistischen Tests Der p-Wert gibt an, wie wahrscheinlich ein eingetretenes Ereignis ist, falls nur der reine Zufall am Werk gewesen wäre. 17 Betrachten wir dafür die folgende Tabelle: Nerv. Erschöpfung Andere Diagnose Offiziere 16 29 45 Nicht-Offiziere 26 306 332 42 335 377 Tab. 2: Beispiel Offiziere und nervöse Erschöpfung. 17 G OODMAN , p-Value, 135-140. Goodman stellt zwölf häufig anzutreffende Fehlinterpretationen des p-Wertes prägnant dar. Dave Bandke 322 Angenommen wir hätten ein Kartendeck mit 377 Spielkarten vor uns liegen, darunter 42 Joker und 335 gewöhnliche Karten. Das Deck muss nun lange und gründlich durchgemischt werden. Hiernach sollen aus den 377 Spielkarten zwei Stapel erstellt werden, einer umfasst 45 Karten und der andere 332. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass mindestens 16 der 42 Joker in den kleinen Kartenstapel gelangen, wenn keine Manipulation vorliegt? Der p-Wert auf zweiseitige Signifikanz getestet ergibt hier den Wert 0,00002; dies entspricht einer Wahrscheinlichkeit von 0,002 Prozent. Das heißt, wenn wir vom statistischen Durchschnitt ausgehen, müssten wir die Partie etwa 50.000-mal spielen, um einmal mindestens 16 Joker in den kleinen Stapel zu bekommen. Das Ergebnis überrascht, auch weil man während des Durchblätterns der Akten eher die 26 Patienten im Sinn hat, die eine nervöse Erschöpfung diagnostiziert bekommen haben, jedoch der Mannschaft zugehörig waren. Für gewöhnlich wird ein p-Wert von 0,05 als statistisch signifikant gewertet, das heißt, dass das vorliegende Ergebnis bei einem reinen Zufall mit einer Wahrscheinlichkeit von fünf Prozent oder geringer eingetreten ist. Diese Grenze ist reine Definition und muss bei Analysen mit mehreren Variablen verändert werden, denn alleine bei 14 unterschiedlichen Variablen liegt die Wahrscheinlichkeit dafür, dass per Zufall ein p-Wert 0,05 erreicht wird bei über fünfzig Prozent. 18 Die später folgenden Ergebnisse in den Unterpunkten 5.2 bis 5.4 beruhen auf einer ANOVA- Analyse. Des Weiteren muss angemerkt werden, dass die Stichprobengröße groß genug sein muss, was jedoch bei historischen Analysen nur unwesentlich beeinflussbar ist und weshalb in dieser Arbeit ein statistischer Test mit Patienten mit einer Hypochondrie (n = sieben) nicht als sinnvoll erachtet wurde, da der -Fehler für einen statistischen Test zu hoch ist. Bei einer Vierfelder-Tabelle (Tab. 2) kann mit einem Chi-Quadrat-Test die Signifikanz überprüft werden. Der Test kann jedoch nur klären, ob ein statistischer Zusammenhang zwischen den zwei nominalen Merkmalen besteht. Er kann jedoch nichts über die Richtung der Kausalität aussagen, das heißt zum Beispiel, dass nur anhand eines statistisch signifikanten Ergebnisses nicht beurteilt werden kann, ob eine bestimmte berufliche Tätigkeit eine entsprechende Krankheit auslöse oder ob allein durch die Definition der Erkrankung bestimmte Berufe stärker eingeschlossen wurden. Dieser Aufsatz argumentiert, dass zum Beispiel Patienten slawischer Herkunft nicht aufgrund ihrer Herkunft an einer bestimmten Krankheit (z.B. Hysterie) litten, sondern aufgrund der definitorischen Bestimmung jener Krankheit und der Sichtweise der Ärzte (z.B. Ressentiments) dieser Erkrankung zugewiesen wurden. Da nie ein Datum angegeben wurde, aus dem ersichtlich werden würde, wann die Diagnose am Rosenhügel verteilt wurde, bleibt es auch unklar, ob es sich hier um eine endgültige Diagnose handelt. Hin und wieder beschleicht einen das Gefühl, dass hier auch nur Verdachts- oder Arbeitsdiagnosen vom Tag der Aufnahme festgehalten wurden und um hier möglichst wenig interpretativ, d.h. möglichst vorurteilsfrei, und vor allem einheitlich vorgehen zu können, wurde bei der statistischen 18 B ENESCH / R AAB -S TEINER , Klinische Studien, 37. Zwischen Finden und Erfinden 323 Auswertung nur die Diagnose auf dem Deckblatt berücksichtigt und eventuell widersprüchliche Angaben oder Befunde nur qualitativ erfasst (siehe Abschnitt 4). 5.2. Gibt es einen signifikanten Zusammenhang zwischen dem militärischen Rang des Patienten und seiner Diagnose? Der militärische Rang des Patienten wurde dem Vormerkblatt entnommen und zudem klassifiziert in Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaft. 19 Hysterie: Zwischen den Mannschaftssoldaten und den Unteroffizieren/ Offizieren liegen jeweils signifikante Ergebnisse vor (p = 0,002 / p < 0,000), nicht jedoch zwischen Offizieren und Unteroffizieren. Neurasthenie: Zwischen den Offizieren/ Unteroffizieren und den Mannschaftssoldaten liegen jeweils signifikante Ergebnisse vor (p = 0,020 / p = 0,022), nicht jedoch zwischen Offizieren und Unteroffizieren. Nervöse Erschöpfung: Zwischen den Offizieren/ Unteroffizieren und den Mannschaftssoldaten liegen jeweils signifikante Ergebnisse vor (p < 0,000 / p = 0,002), wie auch zwischen Offizieren und Unteroffizieren (p = 0,001). Interpretation: Man könnte die Resultate auch so formulieren, dass der Offiziersgrad die Patienten vor einer Hysterie-Diagnose „schützte“, beziehungsweise eine über den Zufall hinausgehende Wahrscheinlichkeit bestand, dass der Patient eine nervöse Erschöpfung oder Neurasthenie diagnostiziert bekam, wenn er (Unter)Offizier war. 5.3. Gibt es einen signifikanten Zusammenhang zwischen der sozialen Schicht des Patienten und seiner Diagnose? Der Beruf des Patienten diente mir als Surrogat für die soziale Schicht, die ich dann in folgende drei Klassen aufgeteilt habe: Obere Schicht (Akademiker und Berufsoffiziere), Mittlere Schicht (Nicht-Akademiker wie Handwerker, Lehrlinge, Schüler/ Gymnasiasten) und Bauern. Es wurden Studenten und Gymnasiasten zu den mittleren sozialen Schichten gerechnet, auch wenn davon ausgegangen wird, dass Patienten, die zur damaligen Zeit ein Studium absolvieren konnten, eher aus höheren Bildungsschichten stammten. Die Schicht darf nur als Näherungswert begriffen werden; so werden sich natürlich auch in der Mittleren Schicht einige Patienten finden lassen, die im realen Leben eher der Unteren Schicht angehörten. Ebenso wurde nicht jeder Bauer zwangsläufig als Angehöriger der Unteren und jeder Akademiker als Angehöriger der Oberen Schicht angesehen. Der Beruf war jedoch das einzige Merkmal, das sich für eine soziale Klassifizierung und systematische Auswertung angeboten hat. Hysterie: Zwischen Bauern und der Mittleren/ Oberen Schicht liegen jeweils signifikante Ergebnisse vor (p = 0,005 / p < 0,000), wie auch zwischen der Mittleren und der Oberen Schicht (p = 0,001). 19 Eine Tabelle für die Offiziers- und Beamten-Ränge für Österreich-Ungarn zum Ersten Weltkrieg findet sich z.B. in: R EST , Emperor’s Coat, 40-45. Dave Bandke 324 Neurasthenie: Weder zwischen der Oberen Schicht und der Mittleren Schicht noch zwischen der Mittleren Schicht und den Bauern liegen signifikante Ergebnisse vor; signifikant werden die Ergebnisse hingegen, wenn man nur die Obere Schicht und die Bauern miteinander vergleicht (p = 0,020). Nervöse Erschöpfung: Zwischen der Oberen Schicht und der Mittleren Schicht/ Bauern liegen jeweils hoch signifikante Ergebnisse vor (p < 0,000 / p < 0,000), jedoch nicht zwischen Bauern und der Mittleren Schicht. Interpretation: Nicht-Akademiker, ausschließlich Berufssoldaten, sind signifikant häufiger mit einer Hysterie diagnostiziert worden als Akademiker, einschließlich Berufssoldaten. Letztere verließen die Anstalt häufiger mit einer Neurasthenie oder nervösen Erschöpfung. Dabei fungiert die nervöse Erschöpfung als stärkste soziale Trennwand, da sie sowohl die soziale Oberschicht (Akademiker, Berufssoldaten) von der Mittelschicht (Nicht-Akademiker) als auch diese wiederum von den Bauern stark voneinander trennt, denn in allen Fällen liegen Ergebnisse vor, die nur mit hoher Unwahrscheinlichkeit auf den reinen Zufall zurückzuführen sind. 5.4. Gibt es einen signifikanten Zusammenhang zwischen der nationalen Herkunft des Patienten und seiner Diagnose? Die ethnische Herkunft des Patienten habe ich versucht aus der Geburtsstadt abzuleiten. Hier wird aber die Unsicherheit größer als noch im Vergleich zur sozialen Schicht. Dafür genügt ein Blick in die Gegenwart, denn auch im 21. Jahrhundert wird nicht jeder Deutsche, also beispielsweise ein in Deutschland geborener Mensch, dessen Eltern aber aus der Türkei stammen, von der Gesellschaft als Deutscher wahrgenommen. Dennoch habe ich versucht, anhand der Geburtsstadt die Herkunft des Patienten abzuleiten. Dabei habe ich eine Landkarte verwendet, die die sprachlich-kulturellen Gebiete Österreich-Ungarns kennzeichnet - und zwar aus der zweiten Auflage von Andrees Allgemeinen Handatlas aus dem Jahr 1890. Hiernach zählen beispielsweise Budweis (Böhmen), Iglau (Böhmen), Brünn (Mähren), Görz (Küstenland), Pressburg (Ungarn) und Buda (westlicher Teil Budapests) zum Gebiet, das überwiegend als deutschsprachig beschrieben wurde. Mithilfe der Karte habe ich dann eine Einteilung nach deutschsprachigem und nicht-deutschsprachigem Geburtsort vorgenommen. Hysterie: Zwischen Patienten mit nicht-deutschsprachigem und deutschsprachigem Geburtsort liegt ein signifikantes Ergebnis vor (p = 0,009). Neurasthenie: Zwischen Patienten mit deutschsprachigem und nichtdeutschsprachigem Geburtsort liegt kein signifikantes Ergebnis vor. Nervöse Erschöpfung: Zwischen Patienten mit deutschsprachigem und nichtdeutschsprachigem Geburtsort liegt ein signifikantes Ergebnis vor (p = 0,011). Interpretation: Patienten, die in einem nicht-deutschsprachigen Ort geboren wurden, sind signifikant häufiger mit einer Hysterie und umgekehrt Patienten, die in einem deutschsprachigen Ort geboren wurden, sind signifikant häufiger mit einer nervösen Erschöpfung diagnostiziert worden. Zwischen Finden und Erfinden 325 5.5. Vergleich zwischen den Diagnosen am Rosenhügel und den Diagnosen der zuweisenden Spitäler Einige Patienten sind über mehrere Spitäler zum Rosenhügel transferiert worden, weshalb es vorkommen konnte, dass die Diagnosen mit der Diagnose des Rosenhügels sowohl übereinstimmend als auch nicht übereinstimmend sein konnten: Übereinstimmend waren insgesamt 37,6 Prozent (bzw. 33,9 Prozent), nichtübereinstimmend 61,5 Prozent (bzw. 61,8 Prozent) und sowohl übereinstimmend als auch abweichend waren 0,9 Prozent (bzw. 4,3 Prozent). 20 Das heißt auch, dass über 60 Prozent der Diagnosen voneinander abwichen. Zudem tauchen Diagnosen auf, die am Rosenhügel niemals vergeben wurden; hierzu zählen die Zitterneurose, Schockneurose, Nervenschwäche, Nervenschock, die nicht näher bestimmte Neurose oder die traumatische Neurose. Dabei gilt zu erwähnen, dass viele der Diagnosen von Feldspitälern vergeben wurden, deren Zweck primär in der richtigen Adressierung und schnellen Weiterleitung des Patienten lag. Welche Form einer neurotischen Störung vorhanden war, musste nicht eruiert werden, denn sobald in der Diagnose das Wort „Neurose“ fiel, war der Weg für die Aufnahme an einer Nervenanstalt geebnet und die Aufgabe des Feldspitals damit erledigt. Hingegen war der diagnostische Anspruch an einer psychiatrischen Klinik freilich höher einzuschätzen; eine „einfache Neurose“ genügte hier nicht. Dennoch reicht diese Erklärung nicht aus, um 60 Prozent der Diagnosen zu erklären, denn ich glaube nicht, dass die Abweichung bei internistischen oder unfallchirurgischen Diagnosen im selben Maße ausfallen würde; anhand der Zahlen kann man daher auch erkennen, dass die psychiatrischen Krankheiten nicht stark genug voneinander abgegrenzt werden konnten, da sie zu weiche, fließende Definitionen besaßen. Im Vergleich zum Rosenhügel fällt auf, dass die am häufigsten vergebene Diagnose nicht mehr die Hysterie, sondern die Neurasthenie war: 38,5 Prozent (Neurasthenie) bzw. 18,8 Prozent (Hysterie) der Patienten im Zeitabschnitt 1915/ 1916 und 37,1 Prozent (Neurasthenie) bzw. 18,2 Prozent (Hysterie) der Patienten von 1917/ 1918. 5.6. Wurden Patienten in der zweiten Hälfte des Krieges früher und eher als geheilt entlassen? Die Heilungsraten und die Aufenthaltsdauer sind aufgrund einiger Aspekte von Interesse: So hatte man unter dem Schlagwort der „aktiven Therapie“ stellenweise versucht die Patienten schnellstmöglich wieder in das Arbeitsleben zu integrieren, weshalb auch Nervenlazarette in der Nähe von Fabriken oder in ländlicher, bäuerlicher Gegend errichtet wurden. So war es einerseits das Ziel, die Verwundeten zumindest soweit zu therapieren, dass sie für das Vaterland wieder einsatzfähig waren, um im besten Fall als Soldaten an der Front, im ungünstigeren Fall als Arbeiter in 20 Außerhalb der Klammern finden sich die Daten für 1915/ 1916, in den Klammern stehen die Daten für 1917/ 1918. Dave Bandke 326 der staatlichen Kriegsmaschinerie eingesetzt werden zu können. 21 Für amerikanische Einheiten ist bekannt, dass zwei von drei Patienten wieder an die Front zurückgeschickt wurden. 22 Andererseits wurde 1912 in Paragraph neun des Statuts der Nervenheilanstalt am Rosenhügel die Aufenthaltsdauer an bestimmte Bedingungen geknüpft: „Die Dauer des Aufenthaltes eines Kranken in der Anstalt ist im Allgemeinen auf 2 Monate beschränkt; eine Verlängerung bis auf 4 Monate kann der Direktor, eine weitere Verlängerung nur das Kuratorium bewilligen.“ Der Krieg und damit die Umwandlung in ein Militärspital hatte die Struktur der jungen Heilanstalt jedoch komplett umgekrempelt. Fast zwei Drittel der in die Statistik aufgenommen Patienten blieb länger als zwei Monate (257 von 397 Patienten); länger als vier Monate, eine im Statut von 1912 als Ausnahme angedachte Regelung und somit von der Bewilligung des Kuratoriums abhängig, betraf immer noch mehr als ein Drittel der Patienten (145 von 397). Die längste Aufenthaltsdauer belief sich auf 673 Tage. Die Aufenthaltsdauer kann jedoch zwischen den beiden Zeitabschnitten als äußerst konstant angesehen werden: Die Zehner-Pezentile liegt bei 12,3 Tagen zu 12,0 Tagen, der Median bei 87,0 Tagen zu 90,5 Tagen, die 90er- Perzentile bei 245,8 Tagen zu 219,2 Tagen. Die Ergebnisse entschärfen daher das Argument, dass Patienten im späteren Verlauf des Krieges eine kurzweiligere Behandlung erhalten hätten, damit sie schneller wieder in den Front- oder Kriegsdienst integriert werden konnten. Dies spricht zudem gegen die teilweise in der Literatur angepriesenen Wunderheilungen, die zudem mit einer Heilungsrate von knapp 100 Prozent einhergegangen sein sollten. 23 Auch die Abgangsarten entschärfen das obige Argument, da sie sich innerhalb der zwei Kriegsjahre nicht verändert haben. So sind etwa drei von vier Patienten als geheilt oder gebessert entlassen worden: 72,84 Prozent (1915/ 1916) zu 72,87 Prozent (1917/ 1918). Was jedoch „geheilt“ oder „gebessert“ für den Patienten bedeutete, lässt sich mit den Zahlen nicht zeigen. In der qualitativen Analyse konnte mehrmals der Eindruck gewonnen werden, dass auch Patienten, die immer noch unter einigen Symptomen litten, teilweise als geheilt oder wesentlich gebessert entlassen wurden. 6. Resümee An der Nervenheilanstalt am Rosenhügel wurden mit der Hysterie und der nervösen Erschöpfung starke gesellschaftliche Grenze gezogen. Die Hysterie ist hierbei eine Erkrankung der Unteren Schicht und des einfachen Soldaten, die nervöse Erschöpfung kann als ihr Gegenspieler betrachtet werden. 21 K LOOCKE / S CHMIEDEBACH / P RIEBE , Changing Concepts and Terms, 47. 22 M EYER , Abnorme Erlebnisreaktionen, 593. 23 Dazu die Versprechen von Dr. Böttiger aus Hamburg in: Anonym, Kriegstagung München Teil 3, 1865. Zwischen Finden und Erfinden 327 Die Neurasthenie manifestiert sich hingegen mehr als eine typische Offiziers- und Unteroffizierskrankheit, die jedoch schwächere soziale Schranken aufweist als die nervöse Erschöpfung und auch schwächere soziale Implikationen besitzt als vor der statistischen Analyse angenommen wurde. Auch die Hypochondrie weist sehr starke Tendenzen auf, eine Erkrankung der nicht-deutschsprachigen, einfachen Soldaten bäuerlicher Herkunft gewesen zu sein. Die Anzahl der Patienten war jedoch so klein (n = sieben), dass die klassischen statistischen Tests nur sehr geringe Aussagekraft besitzen würden; jedoch waren alle sieben Patienten Mannschaftsoldaten, die keinen akademischen Beruf ausübten und überwiegend in einem nicht-deutschsprachigen Geburtsort geboren wurden (letzteres betrifft fünf von sieben Patienten). Weiterhin zeigt sich, dass sich der Rosenhügel bewusst von der traumatischen Neurose abgegrenzt hat; schließlich wurde diese Diagnose in meinem Untersuchungszeitraum nicht einmal vergeben, während mehr als jeder zehnte Patient mit einer solchen überwiesen wurde. Die Aufenthaltsdauer und die Heilungsrate blieben über die Kriegsjahre konstant und lassen in keiner Weise erkennen, dass Patienten systematisch früher und eher als geheilt entlassen worden sind, um wieder in das Arbeitsleben integriert oder an die Front geschickt zu werden. Über 60 Prozent der Diagnosen zwischen dem einweisenden Spital und dem Rosenhügel weichen voneinander ab, was zum Teil daran liegt, dass viele Patienten ihre Erstdiagnose in einem Feldspital erhalten haben. Dennoch spricht diese große Differenz dafür, dass die Krankheiten im klinischen Alltag nicht stark genug voneinander abgegrenzt werden konnten. Quellen und Literatur Archive Österreichisches Staatsarchiv (ÖStA) / Kriegsarchiv / Krankenakten der Nervenheilanstalt am Rosenhügel - Karton 01: 79-899. - Karton 02: 900-1299. - Karton 03: 1300-1499. - Karton 12: 2940-3169. Gedruckte Quellen Anonym: Dr. Honigmann: Kriegsneurose, in: Wiener Medizinische Wochenschrift 29 (1907), 1437. -: Kriegstagung des Deutschen Vereines für Psychiatrie in München: Tagungsbericht: Teil 1: 21.-22. September 1916, in: Wiener Medizinische Wochenschrift 66 (1916), 1689-1693. Dave Bandke 328 -: Kriegstagung des Deutschen Vereines für Psychiatrie in München: Tagungsbericht: Teil 2: 22.-23. September 1916, in: Wiener Medizinische Wochenschrift 66 (1916), 1813-1816. -: Kriegstagung des Deutschen Vereines für Psychiatrie in München. Tagungsbericht. Teil 3: 23.-24. September 1916, in: Wiener Medizinische Wochenschrift 66 (1916), 1863-1865. B ERGL , K LEMENS : Hysterische Dämmerzustände, in: Wiener Medizinische Wochenschrift 68 (1918), 1191-1193. B IACH , P AUL : Einige Beiträge zum Wesen der sogenannten Kriegsneurosen: Teil 1, in: Wiener Medizinische Wochenschrift 67 (1917), 2061-2064. -: Einige Beiträge zum Wesen der sogenannten Kriegsneurosen: Teil 2, in: Wiener Medizinische Wochenschrift 67 (1917), 2108-2112. G RAUL , G ASTON : Neurasthenia cordis, in: Wiener Medizinische Wochenschrift 66 (1916), 1872. R ICHTER , A UGUST : Die Erfahrungen über Behandlung der Kriegsneurosen, angewendet auf die Unfallsneurosen des Friedens, in: Wiener Medizinische Wochenschrift 68 (1918), 597-600. W AGNER -J AUREGG , J ULIUS : Die Anfänge der Nathaniel Freiherrn v. 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More detail is provided on accommodation, nutrition, treatment and care of ill war participants as well as the assessment of their war suitability in military hospitals connected to the psychiatric institutions Weissenau and Reichenau. Influenced by economical and political war-requirements, medical debates - neurosis versus hysteria and the suspicion of simulation - are reflected on therapy forms, diagnostic notations and medical reports. Furthermore, examples of textual contents in the asylum newspaper of Schussenried called “Schallwellen” illustrate the contemporary militarily shaped image of masculinity and how this affected dealing with the traumatized military personnel. Aim of this multi perspective approach is a critical examination of the subject and era using selected topics, and at the same time, matching the subjective, the individual and the small-scale with superior political and social continuities and discontinuities. Zusammenfassung Auf der Grundlage historischer Quellenbestände wie Kranken- und Verwaltungsakten, Ärztlichen Jahresberichten, Briefwechseln und zeitgenössischen Gesetzesvorlagen aus den ehemaligen südwestdeutschen Heil- und Pflegeanstalten Ravensburg- Weissenau, Schussenried (Württemberg) und Reichenau (Baden) hat diese mikrohistorische Studie die psychische Traumatisierung deutscher Soldaten während des Ersten Weltkrieges unter verschiedenen Aspekten in den Blick genommen. Näher eingegangen wird unter anderem auf die Unterbringung, die Ernährung, Behandlung und Pflege der kranken Kriegsteilnehmer sowie auf die Begutachtung ihrer Kriegstauglichkeit in den Lazaretten der psychiatrischen Anstalten Weissenau und Reichenau. Die vor dem Hintergrund kriegswirtschaftlicher und politischer Anforderungen geführten ärztlichen Fachdebatten - Neurose versus Hysterie und der Verdacht der Simulation - werden an Therapieformen, diagnostischen Bezeichnungen und Gutachten gespiegelt. Des Weiteren wird an Textbeispielen der Schussen- Uta Kanis-Seyfried 332 rieder Anstaltszeitung „Schallwellen“ das zeitgenössische militärisch geprägte Männlichkeitsbild veranschaulicht und gezeigt, wie dieses auch den Umgang mit traumatisierten Militärangehörigen beeinflusste. Ziel der multiperspektivischen Herangehensweise ist es, das Sujet und die Epoche am Beispiel ausgewählter Themen quellenkritisch zu beleuchten und dabei das Subjektive, Individuelle und Kleinräumige mit übergeordneten politischen und gesellschaftlichen Brüchen und/ oder Kontinuitäten abzugleichen. 1. Prolog Gemessen an Millionen von Toten und körperlich schwer Verwundeten war die Anzahl der psychisch traumatisierten Opfer des Ersten Weltkriegs in Deutschland eher gering. Nach dem „Sanitätsbericht über das Deutsche Heer im Weltkriege 1914/ 1918“ sollen 600.000 Soldaten von Erkrankungen des Nervengebietes betroffen gewesen sein, 1 der Anteil von an sogenannten Kriegsneurosen Erkrankten wird auf etwa 200.000 geschätzt. 2 Doch die vergleichsweise wenigen, von bizarren Symptomen gepeinigten Kämpfer bargen eine Gefahr, die von den verantwortlichen Militärs mindestens ebenso gefürchtet wurde wie die neuartigen feindlichen Waffensysteme dieses ersten industrialisierten Massenkrieges: die Zersetzung der Wehrkraft von innen heraus, die Schwächung von Kampfeswillen und Moral aus den eigenen Reihen. Abhilfe tat Not und diese zu schaffen, versprach man sich von der Psychiatrie bzw. Neurologie. Deren Vertreter stießen angesichts der breit gefächerten Symptomatik der nervenkranken Soldaten mit ihrem Wissen jedoch bald an eine Grenze. Für die neuartige und zudem gehäuft aufgetretene Erkrankung fand sich im Erfahrungsschatz der Ärzte kein wirklich passendes Pendant, so dass die Behandlung dieser seelisch verwundeten Menschen schließlich in Therapieversuchen mit Foltercharakter mündete. In der hier vorliegenden mikrohistorischen Studie zu den ehemaligen südwestdeutschen Heil- und Pflegeanstalten Ravensburg-Weissenau, Schussenried (Württemberg) und Reichenau (Baden) 3 soll im Folgenden anhand verschiedener ausgewählter Themenbereiche näher auf diese spezifische (kriegsbedingte) psychische 1 Deutsches Reich, Sanitätsbericht 1914/ 1918, 145. Peckl hat darauf aufmerksam gemacht, dass es sich hier um einen Oberbegriff verschiedener psychiatrischer und neurologischer Erkrankungen und nicht nur Kriegsneurosen handelt. P ECKL , Krank, 53. 2 U LRICH , Kriegsneurosen, 654-656. 3 Die Einrichtungen sind heute Teil des Zentrums für Psychiatrie (ZfP) Südwürttemberg bzw. Baden, die psychiatrische Klinik in Weissenau ist darüber hinaus Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie I der Universität Ulm. Die Geschichte dieser und anderer ehemaligen Anstalten umfassend wissenschaftlich zu erforschen, ist einer der Arbeitsschwerpunkte des am ZfP angesiedelten Forschungsbereiches Geschichte und Ethik in der Medizin. Aufgaben, Selbstverständnis und Ziele des Forschungsbereiches Geschichte und Ethik in der Medizin am Zentrum für Psychiatrie (ZfP), Standort Ravensburg-Weissenau sind beschrieben in M ÜLLER / K ANIS -S EYFRIED , Forschung, 11-18. Vom „Kriegshelden“ zum „Kriegszitterer“ 333 Erkrankung der Soldaten und ihre Aufenthalte in den genannten Anstalten bzw. den angeschlossenen Nervenlazaretten zur Zeit des Ersten Weltkrieges eingegangen werden. Dargestellt werden Unterbringung, Ernährungslage, Behandlung und Pflege der Patienten sowie die Begutachtung ihrer Kriegstauglichkeit in den Lazaretten Weissenau und Reichenau. Die vor dem Hintergrund kriegswirtschaftlicher und politischer Anforderungen geführten ärztlichen Fachdebatten - Neurose versus Hysterie und der Verdacht der Simulation 4 - werden an Therapieformen, diagnostischen Bezeichnungen und Gutachten gespiegelt. Darüber hinaus wird an mehreren Textbeispielen aus der Schussenrieder Anstaltszeitung „Schallwellen“ 5 das zeitgenössische militärisch geprägte Männlichkeitsbild 6 veranschaulicht und gezeigt, wie dadurch der Umgang mit psychisch traumatisierten Militärangehörigen beeinflusst wurde. Ziel dieser multiperspektivischen Herangehensweise ist es, das Sujet und die Epoche möglichst ganzheitlich zu erfassen. Übergeordneten politischen und gesellschaftlichen Brüchen beziehungsweise Kontinuitäten wird in diesem Zusammenhang derselbe Stellenwert zugestanden wie dem Subjektiven, Individuellen und Kleinräumigen. Die quellenkritische Darstellung der Kriegswirklichkeit auf der Basis von Krankenakten, 7 Jahresberichten und Dokumenten wie Briefen, statistischen Aufzeichnungen und ministerialen Anordnungen wird kontrastiert durch den journalistischpublizistischen Blick auf das Alltagsgeschehen in den „Schallwellen“. Die darin zum Ausdruck kommenden vordergründig subjektiven Denkweisen, Überzeugungen, Einstellungen und Mentalitäten erweisen sich als individueller Ausdruck allgemeiner kollektiver Normen und Wertesysteme, die das deutsche Kaiserreich prägten. 8 4 B RETTHAUER / H ESS , Verdacht, 415-445; E CKART , Medizin. 5 Die Anstaltszeitung erschien einmal im Monat mit einer Auflage zwischen 300 und 700 Stück. Sie enthielt unter anderem Reisebeschreibungen, Artikel zu Heimatkunde, Landwirtschaft und regionaler Flora und Fauna sowie Gedichte, Witze, biographische und autobiographische Erzählungen, Silben- und Kreuzworträtsel, historische, kulturelle und politische Erörterungen sowie die Jahresberichte der Anstalt. Diese inhaltliche Vielfalt sollte alle Bildungsgrade gleichermaßen ansprechen. Der intellektuelle Anspruch und die Blickrichtung auf das gehobene Bürgertum waren jedoch unverkennbar. 6 P ECKL , Krank, 31; H ERMES , Krankheit, 304-329; G OLTERMANN , Figuren, 149-168. 7 Zum Themenbereich Krankenakten als historische Dokumente F ICHTNER , Krankenunterlagen, 549-558; H ESS , Herausforderung, 43-52; H OFFMANN -R ICHTER / F INZEN , Quelle, 280- 297; L EDEBUR , Schreiben, 102-124; N OLTE , Laienperspektive, 33-61; O STEN , Patientendokumente, 7-20. 8 In der Frage nach der Repräsentativität mikrohistorischer Untersuchungen hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass zeitgenössische soziale, politische, kulturelle und kommunikative Paradigmen einer Gesellschaft auf ein Subjekt einwirken und es in seinen Sichtweisen, Einstellungen und Handlungsweisen nachhaltig prägen . Vgl. G INZBURG / P ONI , Mikrogeschichte, 48-52; S CHLUMBOHM , Debatte, 7-32; S CHULZE , Ego-Dokumente, 1-20; U L- BRICHT , Vorstellung, 347-367; G RÜNDLER , Armut, 22-25; G INZBURG , Mikro-Historie, 169-192; M ICHALCZYK , Heimat; C HARLE , Micro-histoire, 45-57; M EIER , Notizen, 111- Uta Kanis-Seyfried 334 Durch die sozial- und kulturwissenschaftlich orientierte Forschungsperspektive dieses Beitrags und den mikroskopischen Blick auf kleine, in komplexe historische Zusammenhänge eingebettete Einheiten, wird eine differenzierte Analyse der Materie angestrebt. 2. Kriegspropaganda und Männlichkeitsbild in den „Schallwellen“ „Durchhauen und aushalten! […] ‚Todesverachtung‘ haben unsere tapfer’n Söhne auf ihr gezücktes Schwert geschrieben. Opfermut und Opferfreudigkeit steht an des Reiches Pforte.“ 9 Diese enthusiastische Aufforderung 10 war am 1. Januar 1915 in den „Schallwellen“ zu lesen, einer Zeitung, die zwischen 1897 und 1936 an der Heil- und Pflegeanstalt Schussenried herausgegeben wurde. Derartige Durchhalteparolen, verbunden mit der Intention, die Leserschaft politisch zu bilden und zu belehren, waren bis zum Tod Albert Uhls (1916), 11 des für die Zeitung verantwortlichen Redakteurs, in jeder Ausgabe zu lesen. Die kaisertreue, deutsch-nationale und konservative Haltung dieses hoch gebildeten Mannes zeigt sich besonders deutlich in jenen Kommentaren, Gedichten und Essays, in denen er den Krieg als reinen Verteidigungskrieg interpretiert, als „notwendige Abwehr“ eines „gemeinen Überfalles“ 12 durch „böswillige, neidische und eroberungsgierige Erbfeinde“. 13 Uhls bittere Enttäuschung darüber, dass die erste Kriegsweihnacht nicht - wie erhofft - die letzte gewesen war und die siegreiche Heimkehr der mit „gutem Recht“ 114; S CHULZE , Mikrohistorie, 319-341; B RÜGGEMEIER / K OCKA , Geschichte 61-69; zum Aspekt „Geschichte von unten“ P ORTER , Wahnsinn; DERS ., Geschröpft. 9 Schallwellen, 1. Januar 1915, 2. 10 Dazu Schallwellen (1898, 1911, 1912, 1913); K ANIS -S EYFRIED , Anstaltszeitung, 25-41. Wie neuere Studien gezeigt haben, war die angebliche Kriegsbegeisterung der deutschen Bevölkerung in erster Linie im akademisch gebildeten Bürgertum vertreten. In den unteren Schichten und vor allem in der Arbeiterschaft war der Kriegs-Enthusiasmus deutlich verhaltener bzw. gar nicht vorhanden. Vgl. als grundlegende Lektüre S TÖCKER , Augusterlebnis; B RUEN- DEL , Volksgemeinschaft; R AITHEL , Wunder; V ERHEY , Geist; K RUSE , Krieg; DERS ., Kriegsbegeisterung, 73-88; B ENDIKOWSKI , Sommer; Z IEMANN , Augusterlebnis, 193-204; G EI - NITZ / H INZ , Augusterlebnis, 20-35; L ATZEL , Schlachtbank, 76-92. 11 K ANIS -S EYFRIED , Anstaltszeitung, 27-32; M UELLER / K UHN , Asylum, 182-199. 12 Schallwellen 1915. 13 Ebd.; vgl. K ANIS -S EYFRIED , Anstaltszeitung, 25-42; DIES ., Hurrageschrei, 31-33. Zur Konstruktion von Feindbildern und der „Erbfeindschaft“ zwischen Deutschland und Frankreich, J EISMANN , Vaterland, 207-240; J OHLER / R APHAËL / S CHLAGER / S CHMOLL , Feind, 9-26; H INTERMEYER , Polemologie, 37-68; D EUTSCH -F RANZÖSISCHES I NSTITUT L UDWIGSBURG , Erbfeinde - Erbfreunde, 1-49; V OGEL , Lernen, 93-110; D IENEL , Sozialdarwinismus, 451- 470; S CHNEIDER , Barbar, 577-596. Vom „Kriegshelden“ zum „Kriegszitterer“ 335 und „guten Gewissen“ in den „heißen Kampf“ 14 ausgezogenen deutschen Soldaten noch auf sich warten ließ, mündete in kämpferischen Trotz. 15 In einem Essay über die männliche deutsche Jugend setzte Albert Uhl große Hoffnungen auf die in Jugendwehren durch „theoretische Belehrungsstunden im Kartenlesen und Skizzenanfertigen“ 16 geschulten jungen Männer. Da diese von klein auf mittels „Marsch- und Exerzierübungen“ körperlich und geistig gestählt worden seien, könnten sie nun „dem Vaterlande“ ihre „volle Kraft leihen“. 17 „Schläfrige, schwerfällige, eckige, breimaulige, oft recht einfältige Dorfrangen“ hätten sich zu „aufgeweckten, hell in die Welt sehenden, schlagkräftigen und charmanten Jungens“ 18 entwickelt. „Mit Vertrauen in die schöne Sache“ 19 mit „Zucht und Gesittung, Opfersinn und Pflichttreue, Wahrheit und Besonnenheit, Glaube und Gottesfurcht“ 20 würden sie in den Krieg ziehen, um „rachesüchtigen Franzosen, neidischen Engländern und japanischen Limonadenmenschen“ 21 Respekt vor dem deutschen Michel 22 beizubringen. „Kein schönerer Tod ist der Welt, als wer fürn Feind erschlagen“, 23 schrieb Uhl 1915, als der anfängliche Bewegungskrieg bereits in einem mörderischen Stellungskrieg erstarrt war. 24 Dieses Bild vom kernigen Recken, 25 der sich furchtlos der „Sache der Notwendigkeit“ 26 stellt und voller Stolz sein Leben zu opfern bereit ist, war in der wilhelminischen Gesellschaft weit verbreitet. 27 „Tapferkeit“, „Tüchtigkeit“, „Pflichteifer“, „Zuverlässigkeit“, „Fleiß“ sowie „Bescheidenheit“ bzw. „Anspruchslosigkeit“ waren herausragende Eigenschaften, die mit dem männlichen Selbstverständnis eng in Verbindung gebracht wurden. 28 Der „deutsche Mann“, „der wacker fechten und beten kann“ 29 und jederzeit bereit ist, „für Freiheit, Ehr und Vaterland“ in den „Heldentod“ zu gehen, war eine idealtypische Vorstellung, die in den zeitgenössischen Wertvorstellungen fest verankert war. 30 Sie hielt selbst dann noch stand, als die Realität des Krieges Männer 14 Schallwellen, 1. Januar 1915, 2. 15 Vgl. die Beschreibungen gefallener Anstaltsmitarbeiter in den Schallwellen: 1914, Oktober; 1919, Juni, Oktober; 1920, Februar. K ANIS -S EYFRIED , Anstaltszeitung, 35-37. 16 Schallwellen, 1. Dezember 1914. 17 Ebd. 18 Ebd. 19 Ebd., 2. 20 Schallwellen, 1. Dezember 1914. 21 Schallwellen, September 1914, 4; Schallwellen, 1. Dezember 1914, 4; 1. Januar 1915, 1f. 22 Schallwellen, September 1914, 4. 23 Schallwellen 1915. 24 Ebd. 25 Schallwellen, 1. Dezember 1914, 2. 26 Schallwellen, 1. Januar 1915, 3; 1. Mai 1914, 2f. 27 Als grundlegende Lektüre V ERHEY , Geist; H ETTLING / H OFFMANN , Wertehimmel; K OCKA , Klassengesellschaft; R ADKAU , Nervosität. 28 Schallwellen 1919; vgl. K ANIS -S EYFRIED , Anstaltszeitung, 38. 29 Schallwellen 1915; K ANIS -S EYFRIED , Anstaltszeitung, 31. 30 Als grundlegende Lektüre z.B. H ETTLING / H OFFMANN , Historisierung, 7-22. Uta Kanis-Seyfried 336 hervorbrachte, die statt, „süß und ehrenvoll für das Vaterland zu sterben“ 31 in psychiatrische Anstalten eingeliefert werden mussten, weil sie Krankheitssymptome zeigten, die die Ärzte in Form und Ausmaß noch nie gesehen hatten. Statt unerschrockener Kämpfer, die stolz von sich sagen konnten, „daß ich so zäh und stark bin, habe ich erst jetzt gewußt“, 32 kamen immer häufiger am ganzen Körper zitternde, ertaubte, erblindete, psychisch gebrochene Gestalten zurück in die Heimat. 3. Württemberg: Die „Weissenau“ und das Reservelazarett Im Herbst 1914 verzeichnete die Heil- und Pflegeanstalt Weissenau die Aufnahme von 31 psychisch erkrankten Soldaten. Ein Jahr später waren es bereits 203, 1916 dann 433. 1917 zählte man 447 Kranke, 1918 war mit 531 Patienten der Höchststand erreicht. 33 Den Ausführungen des Anstaltsdirektors Emil Krimmel 1916 zufolge, handelte es sich um eine „große Zahl von an depressiven Erregungszuständen mit hartnäckigem Selbstbeschädigungstrieb leidende Soldaten“. 34 Der dramatisch zunehmende Platzmangel in der ohnehin schon überfüllten Anstalt machte 1917 die Einrichtung eines Königlich-Württembergischen Reservelazaretts für Kriegsneurotiker notwendig, in dem erkrankte Soldaten in erster Linie auf ihre Kriegstauglichkeit bzw. Berentung begutachtet wurden. Ein Beispiel: Karl A., Jahrgang 1875 und Fahrer der 2. Ersatz-Abteilung des Feldartillerie-Regiments 3, war am 24. Oktober 1917 in das Nervenlazarett aufgenommen worden. Zu diesem Zeitpunkt war ihm bei Aufenthalten in anderen Lazaretten schon „psychopathische Minderwertigkeit, Schwachsinn, Dementia Praecox und ein psychischer Erschöpfungszustand“ bescheinigt worden. 35 Auch in Weissenau machte er auf den begutachtenden Arzt einen „recht schwachsinnigen Eindruck […].“ Auf Station zeigte er sich „oft gewalttätig und aggressiv, viele Verschrobenheiten, bittet dauernd um Arbeit, ist jedoch zu keiner Arbeit zu gebrauchen, mit Vorliebe bittet er den Abort putzen zu dürfen, was er oft spontan tut, sich auch in demselben wäscht. Ausgesprochen negativistisch, schwachsinniges Verhalten, Zerfahrenheit, monotone Sprechweise, vollständig affektive Stumpfheit in hohem Grade auffallend, Dementia praecox bei einem von Hause aus schwachsinnigen Menschen, bei dem bereits die Verblödung einen beträchtlichen Grad erreicht hat.“ Karl A. wurde als „dauernd anstaltsbedürftig und kriegsuntauglich“ eingestuft, eine „Dienstbeschädigung“ wurde jedoch nicht angenommen. Das „Königlich-Württembergische Reservelazarett“ in Weissenau war eine Einrichtung, in der entsprechende Gutachten erstellt wurden. Das hier erhaltene Kon- 31 Schallwellen, 1. April 1915, 3. 32 Ebd. 33 S TEINERT , Weissenau, 110; K RIMMEL , Jahresbericht 1914-1918. Vgl. auch K ANIS - S EYFRIED , Hurrageschrei, 33-36. 34 S TEINERT , Weissenau, 110; K RIMMEL , Jahresbericht 1917. 35 Karl A., Patientenakte Weissenau. Vom „Kriegshelden“ zum „Kriegszitterer“ 337 volut aus 725 Akten besteht überwiegend aus Verwaltungsakten, d.h. Korrespondenzen zwischen Militärdienststellen, militärärztlichen Zeugnissen, Versorgungszeugnissen sowie gutachterlichen Berichten. Da die nur in Einzelfällen beiliegenden Anamnesen keine Auskunft über therapeutische Maßnahmen in Weissenau geben, 36 ist nach derzeitigem Kenntnisstand davon auszugehen, dass das Lazarett eine Beobachtungsstation war, in der die „Dienstfähigkeit, Erwerbsbeschränkung und Dienstbeschädigung“ 37 von militärischen Patienten festgestellt wurde und etwaige Behandlungen nicht über den herkömmlichen Rahmen (Bäder-, Bett- und Freiluftkuren, Medikamente, Arbeitseinsätze) hinausgingen. Für diese Hypothese spricht, dass in den Jahresberichten der Anstalt sowie im Lazarettbericht der Jahre 1914 bis 1918 lediglich von einer „Behandlung nach bisherigen Grundsätzen“ 38 die Rede ist. Diese Formulierung wird, ohne dass die Methoden näher spezifiziert werden, schon in den Vorkriegsjahren verwendet und bezieht sich auf traditionelle Bäder und Bettbehandlungen sowie die Gabe von beruhigenden, schlaffördernden Medikamenten. Mit schmerzhaften und gefährlichen Gegenschockversuchen scheinen die kranken Soldaten in Weissenau nicht in Berührung gekommen zu sein. Zum Ende des Jahres 1917 standen 220 Betten für militärische Patienten zur Verfügung, 39 weitere Plätze wurden in zwei Döcker-Unmak’schen Baracken sowie in anderen Gebäuden geschaffen. 40 Bis Ende 1918 waren insgesamt 1.292 Soldaten aufgenommen worden. 41 Chefarzt war der zum Heeresdienst eingezogene Anstaltsdirektor. Als das Lazarett 1920 aufgelöst wurde, blieben 69 Patienten als Zivilpfleglinge in der Anstalt, darunter 26 russische Kriegsgefangene. Unter ihnen befand sich Alexej W. vom 161. russischen Infanterieregiment, der nach einer „21tägigen Arreststrafe wegen Fluchtversuchs in Schwäbisch Hall am 6. Tage geistig gestört“ war. Schon während seines Aufenthalts im Reservelazarett III in Heilbronn war er „örtlich und zeitlich unorientiert“, er nahm eine „betende Stellung ein, reagierte nicht auf Anreden, sprach in singendem Tone unverständlich vor sich hin“. Am 27. Mai 1917 nach Weissenau verlegt, beantwortete er Fragen stereotyp mit „ich weiß nicht“. „Auffällig“ war sein „ständiges Hin- und Herwiegen des Oberkörpers“. „Nachts“ war er „erregt, fing an zu schreien und griff seine Umgebung tätlich an, im Bett nahm er katatone Haltung an“. Er zeigte sich „ausgesprochen negativistisch“ und hatte einen „starren Gesichtsausdruck“ mit „visionär aufgerissene Augen“. Zudem verweigerte er die Nahrung, „legte sich stundenlang nackt auf den Boden“, 36 Vorausgegangene Behandlungen eines Patienten in anderen Einrichtungen wie z.B. in Hirsau oder Hornberg sind jedoch dokumentiert. In diesem Zusammenhang ist von Sitzungen mit „elektrifizierenden Strömen“ und „stundenlangem Exercieren“ die Rede, z.B. Alfred H., Paul P.; Gottlob Hermann G.; Julius G., Patientenakten Weisenau. Vgl. K ANIS - S EYFRIED , Hurrageschrei, 37. 37 K RIMMEL , Jahresbericht 1914-1918. 38 Ebd. 39 K RIMMEL , Jahresbericht 1917. 40 K RETSCHMER , Reservelazarett, 1f. 41 K RIMMEL , Jahresbericht 1918. Uta Kanis-Seyfried 338 hatte „religiöse asketische Vorstellungen“ und „bat mehrfach, man solle ihm seine Geschlechtsteile abschneiden […]“. 42 Mit der Diagnose „katatone Form der Dementia praecox“ galt er als „gemeingefährlich“ und „dringend anstaltspflegebedürftig“. Zusammen mit den anderen Kriegsgefangenen wurde Alexej W. am 16. Juni 1921 in einem Lazarettzug in seine Heimat abtransportiert. 43 Eine spürbare Entlastung brachten die Auflösung des Lazaretts und die Entlassung der Gefangenen für die Anstalt jedoch nicht. Personalmangel, verheerende bauliche Zustände und materielle Not verursachten in den Jahren nach dem Krieg „unerträgliche Zustände“, die „Leib und Leben der Kranken gefährdeten“. „Beruhigungsmittel müssen mehr verabreicht werden, als für die Kranken gut ist“, 44 notierte Krimmel in seinem Bericht 1922. Der Mangel an Personal war schon seit der Mobilmachung eines der größten Probleme. Innerhalb weniger Tage hatte die Anstalt 75 Prozent ihrer Belegschaft verloren. 45 In dieser Notsituation wurden neun Wärterinnen von der Frauenauf die Männerabteilung versetzt, was zum allgemeinen Erstaunen so gut funktionierte, 46 dass ihre Zahl 1915 auf 16 und 1916 schließlich auf 20 weibliche Pflegekräfte erhöht wurde: 47 „Der Einsatz von Wärterinnen auf der Männerabteilung hat sich aufs beste bewährt. Die Sauberkeit der Abteilungen, der Ton unter den Kranken und Personal, sowie die Pflege der Kranken haben in gleicher Weise gewonnen. Es zeigte sich, dass sonst ungute Kranke den Pflegerinnen gegenüber sich zumeist viel gefügiger erweisen, als gegen Pfleger“, schrieb Krimmel. 48 Diese Praxis wurde auch nach Kriegsende beibehalten, da es nach wie vor an männlichen Pflegern fehlte. Ende 1916 waren insgesamt 54 Pflegepersonen in der Anstalt beschäftigt, 49 viel zu wenig, um mehr als Überwachung 50 leisten zu können: „War ein Bediensteter halbwegs eingearbeitet, so wurde er eingezogen. Vielfach mußten wegen ihrer Jugendlichkeit oder sonstiger Mängel nur sehr bedingt taugliche Leute eingestellt werden. Der Betrieb mit solch unzulänglichen und unzuverlässigen, dabei oft wechselnden Kräften aber stellte an das Aufsichtspersonal wie an die leitenden und verantwortlichen Beamten recht hohe Anforderungen“. 51 Als besonders problematisch erwies sich die Überwachung gefährlicher Kranker, zu denen die Mehrzahl der militärischen Patienten gehörte. 52 Konflikte zwi- 42 Alexej W., Patientenakte Weissenau. 43 K RETSCHMER , Reservelazarett, 1. 44 K RIMMEL , Jahresbericht 1922. 45 D ERS ., Jahresbericht 1914. 46 S TEINERT , Weissenau, 115. 47 Ebd., 116. 48 K RIMMEL , Jahresbericht 1919. 49 1913 waren es noch 83 Mitarbeiter gewesen. 50 Ein Indiz dafür ist der erhöhte Verbrauch von Schlaf- und Beruhigungsmitteln, „weit über das Gewöhnliche hinaus“. Erst 1919 ist ein allerdings vorübergehender Rückgang verzeichnet. Vgl. K RIMMEL , Jahresbericht 1914-1918. 51 Ebd. 52 K RIMMEL , Lazarettakten, 16. August 1917. Vom „Kriegshelden“ zum „Kriegszitterer“ 339 schen Anstaltspersonal und den militärischen Sanitätsmannschaften erschwerten zusätzlich den Alltag. Während die Anstaltsleitung unzufrieden mit den pflegerischen Qualitäten des auswärtigen Personals war - ihm fehlte es „vielfach sehr an Dienstfreudigkeit und Diensteifer“ 53 - beklagte sich dieses über „schlechte Kost“, „zu wenig Lohn“, „unzureichende Ausgänge“ und „zu wenig Freiheit und Zerstreuung“. 54 Der Schriftwechsel zwischen Krimmel und verschiedenen Ministerien zeugt von vielen Versuchen, die aufgetretenen Schwierigkeiten zu regeln. Um die mangelnde Erfahrung des militärischen Pflegepersonals mit nervenkranken Patienten auszugleichen, forderte er längere Schulungen, ausführlichere Unterweisungen am Krankenbett, theoretische Unterrichtskurse sowie Einführungen und Anleitungen durch das Oberwartpersonal der Anstalt. 55 Neben den personellen Querelen war der „allmählich eintretende Mangel an Seife, Soda, Bürsten, Stahlspänen, Bodenwichse, Scheuerlappen, Webstoffen, Schuhwerk, Bekleidungsstücken und Brennstoffen in hohem Grade“ eine weitere Belastung. 56 Allerdings scheint man sehr bemüht gewesen zu sein, die Gesundheitspflege der Patienten nicht zu vernachlässigen. 57 Während in anderen Anstalten schon in den Kriegsjahren viele Kranke Hungerkrankheiten zum Opfer fielen, 58 führte die Nahrungsmittelknappheit in Weissenau zwar zur „allgemeinen Abnahme des Körpergewichts“, hielt sich aber „im Großen und Ganzen in mäßigen Grenzen“. 59 4. Baden: Die „Reichenau“ und das Lazarett In der Großherzoglich-badischen Heil- und Pflegeanstalt bei Konstanz (Reichenau), die 1913 erst eröffnet worden war, waren „schwerere Symptome von Unterernährung“ 60 zumindest in den ersten drei Kriegsjahren ebenfalls nicht beobachtet worden, obwohl an Brotzuteilungen gespart und das Gewicht von Wecken und Fleischportionen verringert wurde. Des Weiteren führte man einen zweiten fleischlosen Tag pro Woche ein und kürzte die Verköstigung von Erste-Klasse-Patienten und des Beamtenkosttisches um einen Gang. 61 53 Ebd. 54 Ebd., 1. August 1917. 55 Ebd., Brief, 10. September 1915. 56 D ERS ., Jahresbericht 1916. 57 S TEINERT , Weissenau, 118. 58 Vgl. F AULSTICH , Hungersterben, 25-99. 59 K RIMMEL , Jahresberichte 1915/ 1916/ 1917; DERS ., Jahresbericht 1914-1918; S TEINERT , Weissenau, 76; K ANIS -S EYFRIED , Hurrageschrei, 34-36. 60 Jahresberichte der Großherzoglich Badischen Irren-Anstalt 1915/ 1916, 10. 61 Ebd., 1913/ 1914, 104. Wie Heinz Faulstich jedoch gezeigt hat, war das Hungersterben in Baden und Württemberg während und auch noch lange nach dem Ersten Weltkrieg beträchtlich. (F AULSTICH , Hungersterben, 25-28). In Weissenau erhielten Militärangehörige „bessere Kost“ als die Anstaltspfleglinge, obwohl für sie nur die herkömmliche Anstaltsver- Uta Kanis-Seyfried 340 Große Probleme verursachte auch hier der kriegsbedingte Abzug männlicher Pflegekräfte. Unzureichend arbeitende Aushilfswärter vernachlässigten die Aufsicht der Patienten auf dem Gelände, so dass nach mehreren Fluchtversuchen die Außenarbeiten und die personalintensive Dauerbadtherapie eingestellt wurden. 62 Ein Kriegslazarett, in dem anscheinend auch körperlich verwundete Patienten aufgenommen wurden, 63 war bereits am 31. August 1914 in einem Werkstattgebäude der Reichenauer Anstalt eingerichtet worden. Es handelte sich um einen zweistöckigen, massiven Steinbau, in dem zwölf Räume im Obergeschoss für Kranke zur Verfügung gestellt wurden. Dort gab es eine Niederdruckdampfheizung, fließend kaltes und warmes Wasser sowie elektrische Beleuchtung. Zur Verfügung standen drei Wannen, drei Brausebäder, sechs Aborte, zwei Freiluftliegehallen mit Glasdächern. Im Erdgeschoss wurden Räume von zusammen 114 Quadratmetern als Aufenthaltsraum und Speisesaal genutzt. Des Weiteren waren ein Operations- und Verbandszimmer, ein Wärter- und Schwesternzimmer, eine Teeküche und ein Geräteraum eingerichtet worden. 64 Sämtliche Gerätschaften, Möbel, Geschirr und Pflegeartikel hatte die Anstalt zur Verfügung zu stellen. 65 Zu Beginn waren 47 Kranke hier untergebracht, später nur noch 43. Leitender Arzt war auch hier der Anstaltsdirektor. Leopold Oster wurde von zwei Anstaltsärzten in seiner Tätigkeit unterstützt. Außerdem arbeiteten unter der Leitung der Anstaltsoberpflegerin die Tochter des Direktors sowie eine Schwester vom Roten Kreuz mit. Im Oktober 1917 übernahm Karl Wilmanns, der spätere Leiter der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg, neben seiner Funktion als einer der leitenden Militärärzte (im Sanitätsamt des XIV. Armeecorps) im Badischen Kriegssanitätsamt in Karlsruhe kurzfristig die Leitung der Reichenauer Anstalt. Zu dieser Zeit hatte er sich auf dem Gebiet der Nutzbarmachung und Verwendbarkeit frontuntauglicher Soldaten schon besondere Verdienste erworben. 66 Auf seine Initiative hin hatte man in Baden 67 seit 1916 Lazarette für Kriegsneurotiker in der Nähe kriegswichtiger Fabrikationsstätten eingerichtet. Die erste Kooperation einer Munitionsfabrik mit einer Neurotikerstation gab es in Hornberg im Schwarzwald. 68 Weitere folgten in Triberg, Villingen, Überlingen und St. Georgen. 69 Damit war gewährleistet, dass die soldatischen Patienten unter „militärischer Aufsicht“ blieben und gleichzeitig für „vaterländisch wichtige Dienste“ 70 von Nutzen waren. In einem Brief an das Sanitätsamt Durlach vom 15. April 1919 schrieb pflegung vorgesehen war. K RIMMEL , Lazarettakten, 16. August 1917; F AULSTICH , Hungersterben, 29. Für Reichenau fehlen diesbezüglich die Belege. 62 Jahresberichte der Großherzoglich Badischen Irren-Anstalt 1915/ 1916, 95. 63 Dafür spricht die Einrichtung eines Operationssaales. Vgl. Kriegssanitätsbericht, 31. August 1914 - 3. April 1915. 64 Ebd. 65 Ebd. 66 W ILMANNS , Lazarette, 5-41; DERS ., Unfall-(Kriegs-)Neurose, 72-81. 67 L ERNER , Hysterical Men, 150-155. 68 S CHMIEDEBACH , Medizinethik, 68. 69 W ILMANNS , Lazarette, 30. 70 Ebd. Vom „Kriegshelden“ zum „Kriegszitterer“ 341 Wilmanns, dass „die Heranziehung zur Arbeit lediglich den Grund hatte, sie [die Patienten] unter ärztlicher Beobachtung zu halten und zu verhindern, daß sie sich von neuem in die Wunschneurose flüchteten“. Unter den Patienten sei ein „nicht unerheblicher Teil […] grobe Simulanten, die durch Vortäuschung von körperlichen Störungen sich dem Heeresdienst zu entziehen oder eine Rente zu erjagen suchten.“ „Ein anderer Teil der Insassen“ sei „von jeher wirtschaftlich minderwertig und verbrecherisch veranlagt“ gewesen. „Daß diese Personen ihre ‚Heilung‘ zumal sie mit einem Fortfall eines erheblichen Einkommens für sie verknüpft sein mußte, und sie bisweilen wieder militärisch brauchbar machte, nicht mit Freuden begrüßten, liegt auf der Hand“. 71 Ganz reibungslos scheinen die Arbeitseinsätze der Patienten jedoch nicht verlaufen zu sein. In einem Brief berichtet Wilmanns von den Beschwerden der Hornberger Firma Schiele und Bruchsaler, der „von widerspenstigen Kranken absichtlich Material verdorben [worden] sei“. 72 Wilmanns Strategie war dennoch so erfolgreich, dass das Kriegsministerium zusätzliche Kranke in die badischen Einrichtungen schickte. Allerdings kamen vor allem „hartnäckige Fälle“ und „schwierige Persönlichkeiten“ aus „norddeutschen Großstädten“, die die „Zucht und Ordnung“ in den badischen Lazaretten gefährdeten. 73 Dieses „von Haus aus minderwertige Menschenmaterial“ hätte, so Wilmanns, von „jeher ein antisoziales Leben geführt“, 50 Prozent von ihnen sei gerichtlich vorbestraft gewesen, 74 weshalb deren Heranziehung zur Kriegsindustrie schwierig gewesen sei. 75 In Reichenau hatte man von vornherein gezielt Patienten aus landwirtschaftlichen Berufen aufgenommen, die bereits andernorts von „ihren Störungen befreit“ worden waren. Unter der „Aufsicht erfahrener Unteroffiziere wurden sie mit Erd- und landwirtschaftlichen Arbeiten beschäftigt und nach erfolgter Gewöhnung in ihre heimatliche Landwirtschaft beurlaubt.“ 76 Nach Wilmanns habe sich „völlige Heilung“ mittels „[…] zweckmäßig gewählter Behandlungsweisen […] je nach Lage des Falles [durch] Hypnose […], Scheinoperationen (bei beidseitig Ertaubten) […] und Freiübungen auf militärisches Kommando […]“ erreichen lassen. „In allen hartnäckigen Fällen wurde seit 1916 der faradische Strom zur Beseitigung der hysterischen Störungen verwendet“. 77 Dass diese Praktiken jedoch in Reichenau zur Anwendung gekommen sind, ist aufgrund des speziellen Rehabilitationsauftrags des Lazaretts unwahrscheinlich. Wie Wilmanns weiter ausführte, hatte man in Baden Neurotiker grundsätzlich „der zwangsweisen Heilung“ zugeführt, so dass im Juni 1917 „die Zahl der unbehandelten Neurotiker in Baden 3,7%“ betrug, „während sie in anderen Gebieten des Reichs 10% und mehr der entlassenen Kriegsbeschädigten ausmachte“. 78 71 D ERS ., Brief, 25. April 1919. 72 D ERS ., Brief, 15. April 1919. 73 D ERS ., Lazarette, 33. 74 Ebd. 75 Ebd. 76 Ebd., 34. 77 Ebd., 31. 78 Ebd., 36. Uta Kanis-Seyfried 342 Dass sich die Nervenlazarette „trotz des unendlichen Segens, der von ihnen ausging, nicht ungeteilten Beifalls bei den Kranken erfreuten“, 79 wurde nach Kriegsende deutlich: Der Straf- und Foltercharakter der grausamen, in einigen Fällen auch tödlichen Behandlungen hatte das Verhältnis zwischen behandelnden Ärzten und nervenkranken Patienten nachhaltig gestört. 80 Auch in der Öffentlichkeit zeichneten sich ab 1918 „Anzeichen einer schweren Verstimmung ab“, 81 es kam zu Klagen bei Sanitätsämtern 82 und Debatten in Land- und Reichstag. 83 Im württembergischen Weissenau zeigten sich die Lazarettpatienten ebenfalls renitent: Gleich „im Anschluss an die Staatsumwälzung revoltierten am 11. November 1918 im Reservelazarett untergebrachte Psychopathen, Straf- und Untersuchungsgefangene, die durch Besuche von Stuttgart aufgewiegelt worden waren, und brachen aus der Abteilung aus. Zur Wiederherstellung der Ruhe musste ein militärisches Kommando von 45 Mann zu Hilfe gerufen werden. Eine militärische Sicherheitswache von 12 Mann konnte nach 5 Tagen wieder aufgehoben werden. Entwichen ist nur 1 Mann, er kehrte jedoch nach 2 Tagen von selbst wieder zurück. Sachbeschädigungen oder schwere Tätlichkeiten kamen dabei merkwürdigerweise nicht vor. Die ausgesprochen Geisteskranken, wie die Zivilkranken überhaupt, verhielten sich durchaus ruhig“, berichtete Krimmel. 84 An der grundsätzlichen, abschätzigen Haltung vieler Nervenärzte 85 gegenüber den nicht nur im Volksmund despektierlich als „Kriegszitterer“ bezeichneten Kranken änderte sich in den darauf folgenden Jahren kaum etwas. 86 Auch Karl Wilmanns äußerte noch 1929 in einem Vortrag, dass die „Kriegsneurose nichts anderes als eine zweckmäßige Reaktion des Kriegsmüden gegen seine militärische Verwendung“ gewesen sei. 87 Und 1931 klagte er über die „außerordentlich große Zahl von krankhaft veranlagten Quenglern, ethisch minderwertigen und rentensüchtigen 79 Ebd., 35. 80 H OFER , Zitterer, 81. 81 Ebd. 82 W ILMANNS , Brief 25. April 1919; DERS ., Lazarette, 33. 83 Ebd., 35; DERS ., Brief, 25. April 1919. 84 D ERS ., Lazarette, 35; Jahresbericht 1914/ 1921 . 85 Vgl. P RÜLL , Fortsetzung, 129. Während der Zeit des Nationalsozialismus ab 1933 wurden die psychisch kranken Veteranen aus dem Ersten Weltkrieg ebenso Opfer von Zwangssterilisation und Euthanasie wie die übrigen Anstaltspatienten. Als ein Beispiel sei hier Karl Rueff genannt, Kaufmannssohn aus Ulm und Kriegsfreiwilliger im Ersten Weltkrieg. Er kehrte körperlich und seelisch schwer verwundet von der Front zurück. Trotz der jahrelangen Fürsorge seiner Familie musste er schließlich in die damalige Heil- und Pflegeanstalt Schussenried eingewiesen werden. Am 18. Juni 1940 wurde er von dort in die Tötungsanstalt Grafeneck transportiert und ermordet. Die Biografie Karl Rueffs ist nachzulesen auf der Website der Stolpersteininitiative Ulm, http: / / stolpersteine-fuer-ulm.de/ . 86 Vgl. R OTH , Modernisierung, 8-75. 87 W ILMANNS , Unfall-(Kriegs-)Neurose, 76. Vom „Kriegshelden“ zum „Kriegszitterer“ 343 Insassen dieser Lazarette“, 88 die „die Ärzte verjagt“ hätten und „eifrige Mitarbeiter der Soldatenräte“ geworden seien. 89 Quellen und Literatur Archive Patientenakten des Reservelazaretts Weissenau. Archiv ZfP Südwürttemberg, Standort Ravensburg-Weissenau. Gedruckte Quellen F REUD , S IGMUND : Zur Psychologie der Kriegsneurosen, https: / / archive.org/ stream/ ZurPsychoanalyseDerKriegsneurosen/ IPB_I_Kriegsneurosen_djvu.txt (Zugriff am 19.4.2016). Jahresberichte der Heil- und Pflegeanstalt Schussenried, Archiv ZfP Südwürttemberg, Standort Weissenau. Jahresberichte der Großherzoglich Badischen Irren-Anstalt bei Reichenau. Nachlass Heinz Faulstich, Archiv ZfP, Standort Reichenau. K RETSCHMER , M ANFRED : Das Königlich-Württembergische Reservelazarett Weissenau im Ersten Weltkrieg. Broschüre, Archiv ZfP Südwürttemberg, Ravensburg 1991. Kriegssanitätsbericht, 31. August 1914 - 3. April 1915, Archiv ZfP, Standort Reichenau. 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Die Behandlung von psychisch erkrankten Soldaten in der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee während des Ersten Weltkriegs Petra Schweizer-Martinschek Abstract Soldiers with war-related injury were looked after in Kaufbeuren in a military hospital, which had been established shortly after the beginning of World War I. Its capacity was determined to 50 beds that were distributed among three different town buildings: the town hall and two local hospitals, one run by the town and one run by the council. The soldiers were treated by women of the local Red Cross section. In contrast to the soldiers with a physical injury, the ones suffering from mental illnesses were sent to the mental hospital Heil- und Pflegeanstalten Kaufbeuren-Irsee (1914-1918). There they were treated in the same way as the civilian patients. Between the outbreak of the war and the summer of 1918, a total number of 144 soldiers were treated in Kaufbeuren-Irsee. The files of these men can be found in the archive of the “Bezirkskrankenhaus Kaufbeuren”. 1 From the end of September 1918 until autumn 1919, another military hospital was located in a special building (a former building for men only, the so-called “Männerpavillon II am Kaiserweiher”), belonging to the mental hospital. The former military hospital had been closed in February 1919 due to a shortage of patients. The second one offered enough place for 50 soldiers, who had been injured, traumatized, or who were sent there due to stress-related disorders. They were treated by doctors from the mental hospital and by women of the Red Cross, too. 2 Zusammenfassung In der Stadt Kaufbeuren wurden während des Ersten Weltkriegs verwundete Soldaten in einem Vereinslazarett des Roten Kreuzes versorgt (Vereinslazarett I). Hingegen wurden die Soldaten mit psychischen Erkrankungen in der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee untergebracht und behandelt. Die Krankenakten der insgesamt 144 Heeresangehörigen sind im Archiv des Bezirkskrankenhauses Kaufbeuren erhalten und konnten zu ersten Studien herangezogen werden. 1 Their names could be found as they were registered as soldiers by the administration office of the mental hospital. 2 So far, the registration process of the two military hospitals could not be traced back. Therefore, the total number of soldiers, the different forms of illnesses, the exact treatment of the patient etc. could not be identified. Petra Schweizer-Martinschek 352 In den Jahren 1918 und 1919 war im ehemaligen Männerpavillion II der Anstalt ein Lazarett für Soldaten eingerichtet worden (Vereinslazarett II, 50 Betten), die zur weiteren Behandlung bzw. zur Erholung aus Neurotiker-Behandlungslazaretten nach Kaufbeuren überwiesen werden konnten. Die ärztliche Betreuung übernahm die Anstaltsleitung, die Pflege der Zweigverein des Roten Kreuzes. Während einige Informationen über den Aufbau und den verwaltungsmäßigen Ablauf gewonnen werden konnten, fehlen aufgrund der schlechten Aktenlagen Daten über die dort behandelten Heeresangehörigen gänzlich. 1. Einleitung Die im vorliegenden Aufsatz erarbeiteten Fakten sind als eine Vorstudie anzusehen, denn das behandelte Thema ist bislang ein Forschungsdesiderat. In der Stadt Kaufbeuren wurden während des Ersten Weltkrieges sowohl Soldaten mit somatischen als auch mit psychischen Erkrankungen behandelt. 3 Für die verwundeten und somatisch-kranken Männer wurde unmittelbar nach Kriegsausbruch ein Vereinslazarett durch den Zweigverein des Roten Kreuzes gegründet, wodurch der Stadtmagistrat seiner Pflicht nach dem Mobilmachungsplan genügte. Das sogenannte Vereinslazarett I wurde auf drei Standorte verteilt: Das Stadtkrankenhaus verfügte über acht Betten, das Distriktkrankenhaus (Kreiskrankenhaus) über zehn Betten; die größte Bettenzahl von insgesamt 39 wurde allerdings im Stadtsaal aufgestellt - von dort erfolgte auch die militärärztliche Betreuung. Der Frauenzweigverein des Roten Kreuzes übernahm die Pflege der Soldaten. Das Vereinslazarett I im Stadtsaal war bis Februar 1919 in Betrieb, bevor es wegen Unwirtschaftlichkeit aufgelöst wurde. 4 Hingegen wurden die Soldaten mit psychischen Erkrankungen in der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee behandelt, worauf im Folgenden näher eingegangen werden soll. 2. Zur Quellenlage Das Historische Archiv des Bezirkskrankenhauses (BKH) Kaufbeuren, der Nachfolgeinstitution der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee, verfügt fast lückenlos über sämtliche Krankenakten der Patienten seit Gründung der Anstalten (Irsee 1849, Kaufbeuren 1876). 5 Auf diesen umfangreichen Bestand kann zurückgegriffen werden, wenn man die Frage nach der Behandlung von Soldaten während des Ers- 3 Zu Kaufbeuren im Ersten Weltkrieg S TROBEL , Kriegswirtschaft; W EIRICH , Zeitenwende, 128-143. 4 Datum aus: W EISSFLOCH , Geschichte des städtischen Krankenhauses, 76. HistA BKH KF, Allg. VA III 46a: Schreiben vom 4.4.1918 vom Stadtmagistrat Kaufbeuren an die Direktion der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren, Blatt 54. 5 Für die Zeit zwischen 1849 und 1945 sind ca. 25.000 Krankenakten erhalten. Die Behandlung von psychisch erkrankten Soldaten in Kaufbeuren-Irsee 353 ten Weltkriegs in den Blick nehmen will. Nachdem die Krankenakten allerdings numerisch abgelegt sind (nach Abgang des Patienten durch Entlassung oder Tod erhielten die Akten eine Nummer), sind zur Recherche die ebenfalls vollständig erhaltenen Standbücher für die entsprechenden Jahre (1914-1918) heranzuziehen. Eine weitere Quelle stellen die Jahresberichte aus dieser Zeit dar. Außerdem findet sich im Bestand der Verwaltungsakten auch eine Dokumentensammlung zum Thema Lazarettwesen, die unter anderem eine namentliche Liste der zwischen 1914 und 1916 aufgenommenen Soldaten enthält. 6 Ergänzend zu den Archivalien im BKH Kaufbeuren gibt es relevante Akten im Bayerischen Hauptstaatsarchiv, Abteilung Kriegsarchiv. Hierbei sind die Bestände aus dem Kriegsministerium sowie aus dem Stellvertretenden Generalkommando des I. Armeekorps, Bereich Sanitätsamt zu nennen. 3. Die Behandlung von psychisch erkrankten Soldaten in der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee während des Ersten Weltkriegs Aus den zur Verfügung stehenden Quellen kann entnommen werden, dass das Sanitätsamt München in verschiedenen Heil- und Pflegeanstalten psychisch erkrankte - im damaligen Jargon „geisteskranke“ - Heeresangehörige unterbrachte: neben Kaufbeuren-Irsee waren dies Mainkofen, Eglfing, Haar und Gabersee. 7 Die psychisch erkrankten Soldaten wurden zwischen 1914 und 1918 in der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren mit ihrer Nebenstelle Irsee entsprechend ihrer Erkrankung auf bestimmten Stationen untergebracht - und nicht etwa in Räumlichkeiten bzw. Abteilungen, die getrennt von den anderen Patienten waren. 8 Die Heeresangehörigen erhielten somit dieselbe Unterbringung und Behandlung wie Zivilpersonen. 9 Im August 1914 teilte der königliche Direktor Dr. Alfred Prinzing der Regierung von Schwaben und Neuburg mit, die Anstalt sei „trotz der bestehenden Ueberfüllung [sic] in der Lage“ zehn bis 12 „geisteskranke“ Heeresangehörige aufzunehmen, wenn das zur Pflege notwendige Personal in ausreichender Menge eingestellt werden dürfe - woraufhin die Einstellung eines weiteren Pflegers gestattet wurde. 10 6 HistA BKH KF, Allg. VA III 46a. 7 BayHStA Abt. IV, Stellv. Gen.Kdo. I. AK. 2307, Blatt 12. 8 HistA BKH KF, Allg. VA III 46a: Schreiben vom 28.7.1916 von Direktor Prinzing an das Reservelazarett Kempten, Blatt 34. 9 Zur Geschichte der Heil- und Pflegeanstalten Kaufbeuren-Irsee: Bezirk Schwaben (Hrsg.), Hundert Jahre Nervenkrankenhaus Kaufbeuren; S CHMIDT / K UHLMANN / VON C RANACH , Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren; R ESCH , Zur Geschichte des Kaufbeurer Bezirkskrankenhauses, 242-249. 10 HistA BKH KF, Allg. VA III 46a: Schreiben vom 12.8.1914 von Direktor Prinzing an die Kgl. Regierung von Schwaben und Neuburg, Kammer des Innern in Augsburg, Blatt 8; vgl. BayHStA Abt. IV, Stellv. Gen.Kdo. I. AK. San A. 185, Blatt 43. Petra Schweizer-Martinschek 354 Im Oktober 1915 erfolgte eine Erhöhung der Bettenzahl von 12 auf 20. 11 Ob auch die Anzahl der Pflegekräfte vergrößert wurde, konnte nicht festgestellt werden. Der Bericht des Königlichen Anstaltverwalters Josef Sack zu den wirtschaftlichen Verhältnissen der Anstalten während der Kriegsjahre 1914 bis 1917 liefert wenig Hinweise auf die Tatsache, dass während dieser Zeit auch Soldaten als Patienten untergebracht waren. Es ist lediglich ersichtlich, dass die Kriegsjahre v.a. hinsichtlich der Beschaffung der Lebensmittel eine harte Zeit bedeutete. Außerdem wurde ein Großteil des Pfleger- und Ärztebestandes eingezogen, so dass die Lücken mit „Laien“ verschiedenster Berufsstände besetzt werden mussten. Als besonders erwähnenswert befand der Verwalter, dass sich die Anstalt in den Dienst des Roten Kreuzes stellte, etwa durch die Desinfektion der Lumpen und Kleiderabfälle anlässlich der Sammlung in der Reichswollwoche oder durch die unentgeltliche Übernahme der Reinigung der gesamten Uniformen und der Leib- und Bettwäsche für die hiesigen Soldaten durch die Anstaltswäscherei. Desweiteren wurden defekte Uniformen durch Arbeiter und Patienten der Schneiderei repariert und aufgebügelt. 4. Datenerhebung zu den behandelten Soldaten Hinsichtlich der Frage nach der Gesamtzahl der in der Heil- und Pflegeanstalt untergebrachten Soldaten liefern die verschiedenen Quellen unterschiedliche Zahlen, so dass keine validierte Endzahl eruiert werden konnte: 11 HistA BKH KF, Allg. VA III 46a: Schreiben vom 12.10.1915 und vom 29.10.1915 von Direktor Prinzing an die Kgl. Regierung von Schwaben und Neuburg, Kammer des Innern in Augsburg, Blatt 19 und Blatt 21. Vgl. auch BayHStA Abt. IV, Stellv. Gen.Kdo. I. AK. San A. 185, Blatt 18f. Die Behandlung von psychisch erkrankten Soldaten in Kaufbeuren-Irsee 355 Quellen aus dem Historischen Archiv des BKH Kaufbeuren Inhalt der Archivalie Anzahl der in der Archivalie genannten „geisteskranken“ Heeresangehörigen Jahresbericht 1914-1916 Kurze Beschreibung der bis dato aufgenommenen „geisteskranken“ Heeresangehörigen, ihrer Diagnosen und Behandlungsergebnisse 107 Allg. Verwaltungsakte Lazarettwesen (III 46a) Handschriftlich geführte Liste, die chronologisch geordnet ist: Aufnahmezeit 27.8.1914 bis 27.1.1917 111 maschinenschriftliche Liste „Militärische Aufnahmen bis Ende 1916“, die chronologisch geführt ist: Entlassungszeit 8.9.1914 bis 10.7.1917 108 Standbücher Suche in den Zu- und Abgangsbüchern nach Männern mit dem Beruf „Soldat“, anschließend Abgleich mit der Liste aus der Allg. VA Lazarettwesen 144 Quellen aus dem BayHStA Abt. IV: Kriegsarchiv Inhalt der Archivalie Anzahl der in der Archivalie genannten „geisteskranken“ Heeresangehörigen Gen.Kom I. AK Sanitätsamt 188 Liste der eingewiesenen „geisteskranken“ Heeresangehörigen in Heil- und Pflegeanstalten ab 1.1.1916 mit 31.10.1918. Insgesamt wurden 376 Soldaten in bayer. Heilanstalten eingewiesen, die Liste wurde nach dem Ort Kaufbeuren analysiert 79 Von diesen 79 Soldaten konnten 59 auch im Zugangsbuch mit dem Vermerk „Soldat“ identifiziert werden, bei den anderen steht entweder kein Vermerk „Soldat“ oder sie konnten gar nicht gefunden werden Petra Schweizer-Martinschek 356 Die Recherche wurde ebenfalls erschwert durch die teilweise schwer nachvollziehbare Buchführung: beispielsweise erhielten die Patienten bei einer Wiederaufnahme eine zweite Nummer, so dass diese doppelt gezählt wurden; des Weiteren wurde nicht lückenlos bei den Heeresangehörigen als „Beruf“ Soldat vermerkt, was die Suche deutlich leichter machen würde. Außerdem kommt die Tatsache hinzu, dass in einigen Fällen zwar eine Karteikarte, allerdings keine Krankenakte gefunden werden konnte. Auch kam es vor, dass überhaupt keine Karteikarte und somit keine Krankenakte auf zu finden war. Um eine validierte Anzahl der behandelten Soldaten gewinnen zu können, müssten die oben genannten Listen einer genauen Analyse, das heißt einem umfangreichen Vergleich unterzogen werden. Zur Lösung des Problems, dass in einigen Fällen im Standbuch der „Beruf“ Soldat nicht vermerkt wurde, bleibt nach Ansicht der Verfasserin keine andere Möglichkeit, als im Archiv direkt in den Regalen die nach Entlassungsdatum abgelegten Krankenakten für die relevanten Jahre nach Soldaten zu suchen. Im Jahresbericht, der die Jahre 1914, 1915 und 1916 umfasste, listete der ärztliche Direktor Dr. Alfred Prinzing die Anzahl der aufgenommenen Heeresangehörigen gesondert auf. Allerdings fällt hier schon eine gravierende Unstimmigkeit auf - wenn man jedem Patienten eine Diagnose zuordnet, ergibt sich die Zahl 116 und nicht 107! 12 Nachdem in den Jahresberichten keine Namen von Patienten aufgelistet waren, wurde auf die beiden Listen aus der allgemeinen Verwaltungsakte Lazarettwesen zurückgegriffen, um mehr Informationen über die eingewiesenen Heeresangehörigen zu erhalten: Handschriftlich geführte Liste, Aufnahmezeit 27. August 1914 bis 27. Januar 1917. Maschinenschriftliche Liste „Militärische Aufnahmen bis Ende 1916“ (Entlassungszeit 8. September 1914 bis 10. Juli 1917). Anhand dieser beiden Listen wurden von der Verfasserin die Namen von 107 Soldaten ermittelt und mit den Standbüchern abgeglichen. 13 Über die Namen konnten Karteikarten und Krankenakten gefunden werden - in 19 Fällen sind keine Karteikarten bzw. Krankenakten erhalten. Aus diesen zur Verfügung stehenden Informationen konnte die Verfasserin eine Statistik erstellen, die die Grundlage der nachfolgenden Ausführungen ist. Die zu behandelnden Soldaten wurden aus Reservelazaretten - in vielen Fällen Augsburg und Kempten - in die Heil- und Pflegeanstalt überwiesen. Im besten Fall enthält die im Historischen Archiv des BKH Kaufbeuren befindliche Krankenakte neben den vor Ort erstellten Unterlagen auch Dokumente über die Behandlung des Patienten im Feldlazarett bzw. Reservelazarett oder einer psychiatrischen Abteilung eines Krankenhauses. Gerade das Gutachten, in dem der Patienten als psychisch 12 HistA BKH KF, Jahresbericht über die Jahre 1914, 1915 und 1916. 13 Auf der maschinenschriftlichen Liste werden 108 Soldaten aufgeführt; ein Heeresangehöriger wurde ein zweites Mal eingewiesen und somit doppelt aufgelistet; Listen Nr. 11 und 39 (Xaver F., Krankenakten Nr. 4971). Die Behandlung von psychisch erkrankten Soldaten in Kaufbeuren-Irsee 357 erkrankt eingestuft wurde, gibt einen guten Einblick in die Krankengeschichte des einzelnen Soldaten. Innerhalb der drei Berichtsjahre wurden 107 Soldaten mit folgenden psychischen Erkrankungen aufgenommen: Die Aufnahmen der 107 Soldaten verteilten sich auf die Jahre wie folgt: Jahr Anzahl der aufgenommenen Soldaten 1914 11 1915 56 1916 40 Auffallend ist, dass in den Unterlagen, die in der Kaufbeurer Anstalt verfasst wurden, so gut wie keine Art der Behandlung oder Verabreichung von Medikamenten vermerkt wurde. 36 12 8 7 7 4 4 4 4 4 4 3 3 3 2 1 1 0 5 10 15 20 25 30 35 40 Diagnosen der behandelten Soldaten Petra Schweizer-Martinschek 358 Von diesen 107 Soldaten befanden sich 1917 noch fünf in der Anstalt, abgegangen waren 102 und zwar: ungeheilt 28 (davon 12 in andere Heil- und Pflegeanstalten) gestorben 2 gebessert 58 entflohen 2 14 geheilt 11 nicht geisteskrank 115 15 Der Großteil konnte als gebessert (58) oder gar geheilt (elf) entlassen werden und wurde entweder nach Hause entlassen oder einem Truppenteil- oder einem Reservelazarett zugeführt. Die 28 ungeheilten Patienten wurden in andere Anstalten überwiesen - fünf von ihnen nach Günzburg, in die zweite, 1915 eröffnete schwäbische Heil- und Pflegeanstalt - oder schieden nach Feststellung der Dienstuntauglichkeit aus dem Heer aus und wurden in ihren Heimatort entlassen. In mehreren Fällen kam es zu wiederholten Aufnahmen dieser Patienten (während bzw. nach dem Ersten Weltkrieg). Ein Patient wurde am selben Tag wieder entlassen. 16 Ein anderer wurde zwar als „psychopathisch veranlagt, aber nicht geisteskrank“ eingestuft und deshalb nach fünf Wochen wieder entlassen und in ein Garnisionsgefängnis eingewiesen. 17 Zwei Soldaten verstarben in der Kaufbeurer Anstalt an progressiver Paralyse. 18 Unter diesen 107 Patienten finden sich auch vier Männer, die sich in der folgenden Zeit wiederholt in psychiatrischer Behandlung befanden und während des Zweiten Weltkrieges Opfer der NS-„Euthanasie“-Aktionen wurden. 19 14 HistA BKH KF: Andreas Sch. (Krankenakten Nr. 5133) und Karl L. (Krankenakten Nr. 5334). 15 HistA BKH KF: Krankenakte von Georg R. (Krankenakten Nr. 5128). 16 HistA BKH KF: Krankenakte von Jakob K. (Akten Nr. 4744). Der Patient war zwischen 1906 und 1914 insgesamt 14-mal in der Anstalt, davon zweimal offiziell entlassen und die anderen 12-mal entflohen und wieder eingewiesen worden. In der Akte wird über die 15. Einweisung am 13.10.1916 nichts Weiteres vermerkt. 17 HistA BKH KF: Krankenakte von Georg R. (Akten Nr. 5128). 18 HistA BKH KF: Krankenakte von Michael Schm. (Akten Nr. 4819) und Xaver St. (Akten Nr. 5448). 19 Jakob P. und Max G. wurden im Herbst 1940 in das Tötungszentrum Grafeneck „verlegt“ und durch Gas ermordet. Jakob O. und Sebastian P. wurden im Rahmen der „dezentralen“ Euthanasie in der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee durch eine Überdosis Medikamente getötet. HistA BKH KF: Krankenakte von Jakob P. (Akten Nr. 10248), Max G. (Akten Nr. unbekannt), Jakob O. (Akten Nr. 5689) sowie Sebastian P. (Akten Nr. 5398). Die Behandlung von psychisch erkrankten Soldaten in Kaufbeuren-Irsee 359 5. Das Vereinslazarett Kaufbeuren II im Männerpavillon II der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren (1918/ 1919) Anfang des Jahres 1918 wurde die im Stadtsaal untergebrachte Abteilung des Kaufbeurer Vereinslazarettes I wegen Unwirtschaftlichkeit aufgelöst. Im April 1918 trafen in Kaufbeuren allerdings 32 Verwundete von den westlichen Kriegsschauplätzen ein; diese konnten gerade noch im Stadt- und Distriktskrankenhaus untergebracht werden. Wäre eine noch größere Zahl an Verwundeten angekommen, wäre die Lage prekär geworden, da der Zivilkrankenstand in den beiden Krankenhäusern besonders hoch war. Deshalb fragte der Stadtmagistrat Kaufbeuren bei der Anstaltsleitung an, ob in einem solchen außergewöhnlichen Notfall auch Verwundete in der Heilanstalt untergebracht werden könnten. 20 In Erwiderung teilte Direktor Dr. Prinzing dem Bürgermeister Dr. Georg Volkhardt mit, dass die Unterbringung Verwundeter nur möglich wäre, wenn ganze Abteilungen frei gemacht werden könnten und somit die Soldaten nicht mit den anderen Patienten in Berührung kämen. Allerdings würde der niedrige Krankenstand es erlauben, den Männerpavillon II 21 am Kaiserweiher für 50 Verwundete zu räumen. Weil eine solche Maßnahme große Vorbereitungen erfordere und einschneidende Bedeutung für den Anstaltsbetrieb habe, könne ein solches Vorhaben nur bei längerer Nutzung für militärische Zwecke und bei Vollbetrieb vertreten werden. Bedingung wäre außerdem, die Behandlung der Verwundeten den Anstaltsärzten zu übertragen. 22 Vorausschauend wurde auch die Regierung unter Schilderung des gesamten Sachverhaltes schon Ende Mai 1918 von Direktor Dr. Prinzing darüber in Kenntnis gesetzt, dass der derzeit niedrige Krankenstand der Männerabteilungen gestatten würde, 50 Betten für verwundete oder erholungsbedürftige Soldaten frei zu machen. 23 Nach einer Besichtigung der Örtlichkeiten durch den Korpsarzt des Sanitätsamtes München (Juni 1918) genehmigte die Regierung im Juli 1918, basierend auf der Zustimmung des ständigen Landratsausschusses, die Überlassung des Männerpavillons II an den Kaufbeurer Zweigverein des Roten Kreuzes „in stets widerruflicher Weise“ 24 bei späterer Rückgabe im Übernahmezustand. Die Zustimmung der 20 HistA BKH KF, Allg. VA III 46a: Schreiben vom 4.4.1918 vom Stadtmagistrat Kaufbeuren an die Direktion der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren, Blatt 54. 21 Der Männerpavillon II (für männliche Kranke) wurde 1910 im weiteren Vollzug der Open- Door-Idee mit freierer Behandlung oberhalb des Kaiserweihers erstellt. 22 HistA BKH KF, Allg. VA III 46a: Schreiben vom 11.4.1918 vom Stadtmagistrat Kaufbeuren an die Direktion der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren, Blatt 56 Rückseite. 23 HistA BKH KF, Allg. VA III 46a: Schreiben vom 27.5.1918 von Direktor Prinzing an die die Kgl. Regierung von Schwaben und Neuburg, Kammer des Innern in Augsburg, Blatt 55. 24 HistA BKH KF, Allg. VA III 46a: Vertrag vom 30.9.1918 zwischen dem Männer- und Frauenzweigverein vom Roten Kreuz (Vorstandschaft Bürgermeister Dr. Georg Volkhardt und Babette Stumpf) und der Direktion der Heil- und Pflegeanstalten bei Kaufbeuren (Leitender Direktor Dr. Alfred Prinzing) über Errichtung eines Vereinslazarettes, Blatt 75f. Petra Schweizer-Martinschek 360 Regierung wurde sowohl dem Sanitätsamt I in München als auch der Stadt Kaufbeuren übermittelt. Am 30. September 1918 wurde zwischen dem Männer- und Frauenzweigverein des Roten Kreuzes in Kaufbeuren und der Heilanstalt Kaufbeuren-Irsee die Errichtung und der Betrieb des Vereinslazarettes II im Männerpavillon II vereinbart. 25 Das Vereinslazarett wurde vom Anstaltsdirektor, unterstützt durch zwei Anstaltsärzte (Dr. Fuchs und Dr. Caselmann), geleitet. Die jeweiligen Dienstverträge mit dem Pflegepersonal konnte Dr. Prinzing im Auftrag der Heeresverwaltung abschließen. 26 Die Verwaltungsgeschäfte wurden dem Anstaltsverwalter Sack übertragen, dem auch die Finanzwirtschaft (Einnahmen, Ausgaben, Rechnungslegung) oblag. Das Vereinslazarett II wurde dem Reservelazarett Kempten zugeteilt; die Belegung erfolgte „ausschließlich unmittelbar durch das Sanitätsamt.“ 27 Des Weiteren stellte das Stellv. Generalkommando München im September 1918 einen Sanitätsunteroffizier vom Reservelazarett München als Aufsichtsunteroffizier zum Kaufbeurer Vereinslazarett II ab. Nach einem Rundschreiben des Sanitätsamtes München vom 29. Juli 1918 an die Reservelazarette, Garnisonsärzte und auch Kriegsgefangenenlager konnten kranke Soldaten aus Neurotiker-Behandlungslazaretten zur Einweisung ins neu errichtete Vereinslazarett Kaufbeuren II im Männerpavillon II der Anstalt vorgeschlagen werden - sofern es sich um „harmlose, willige Kranke handelte“. 28 Weitere Bedingungen waren, dass die „hysterieformen Störungen“ der Patienten bereits beseitigt waren und (nur) „noch der Erholung und Ertüchtigung durch Arbeit in der Land- und Forstwirtschaft oder sonstigen Betrieben entsprechend ihrer erlernten Berufe“ bedurften. Einzelfälle von „leichten psychischen Erschöpfungszuständen und psychogenen Depressionen, bei denen keine besondere Beaufsichtigung erforderlich war“, konnten ebenfalls zur Einweisung vorgeschlagen werden. Nicht in Betracht kamen Fälle mit Erregungszuständen, Anfällen, Neigung zu Rezidiven oder bei Selbstmordgefahr und Kranke mit Disziplinlosigkeit oder strafbarem Verhalten. 29 In diesem Rundschreiben wurde darauf hingewiesen, dass das Vereinslazarett II in keinem direkten Zusammenhang mit den Heil- und Pflegeanstalten bei Kaufbeuren stehe: die Belegung geschehe unmittelbar durch das Sanitätsamt München nach vorheriger fachärztlicher Untersuchung, sofern der „Antrag nicht von einer Abteilung für nervös oder psychisch Erkrankte unmittelbar gestellt“ wurde. 30 Ergänzend zu diesen Festlegungen verfügte das Kriegsministerium als geheime Dienstsache über weitere Anweisungen betreffend des Ausgangsrechts bzw. Aus- 25 Ebd. 26 HistA BKH KF, Allg. VA III 46a: Dienst-Verträge mit Pflegerinnen, Blätter 118f. 27 BayHStA Abt. IV, Stellv. Gen.Kdo. I. AK. San A. 901, Blatt 26. 28 HistA BKH KF, Allg. VA III 46a: Rundschreiben des Sanitätsamtes München vom 29.7.1918 betr. der Behandlung von Neurotikern, Blatt 68. Alle folgenden direkten Zitate sind derselben Quelle entnommen. 29 Vgl. ebd. 30 Ebd. Die Behandlung von psychisch erkrankten Soldaten in Kaufbeuren-Irsee 361 gangsverbotes von Neurotikern. 31 Auch eine Lazarett-Ordnung für die Insassen wurde erlassen. 32 Im August 1919 berichtete die Heilanstalt der Sanitätsabteilung des I. Armeekorps in München, dass seit Bestehen des Vereinslazarettes II dessen Beheizung aus Anstaltsbeständen vorgenommen werde. Wegen spärlicher Kohlen- und Kokszuweisungen sei es unmöglich, das Lazarett noch mit zu beheizen, denn deren Niederdruckheizung erfordere zehn Zentner Grobkoks täglich. Die Belieferung des Lazarettes mit Grobkoks wäre äußerst dringend. 33 Eine Reaktion der Sanitätsabteilung ist nicht erhalten. Ein paar Wochen später, Mitte Oktober 1919, stellte der Direktor der Heilanstalt fest, dass die Kohlenvorräte vollständig erschöpft seien und das Vereinslazarett II nicht mehr beheizt werden könne. Nachdem weder die Kaufbeurer Kohlenstelle, die Kohlenausgleichsstelle Mannheim noch die Intendantur-Abteilung des Sanitätsamtes München für Abhilfe des Kohleproblems sorgen konnte, bat der Anstaltsdirektor Dr. Prinzing um Auflösung des Vereinslazaretts II. 34 Die wenigen noch vorhandenen Patienten sollten - nach Vorschlag Prinzings - an die zuständigen Reservelazarette in München überwiesen werden. 35 Am 31. Oktober 1919 teilte der Anstaltsdirektor dem Sanitätsamt München mit, dass das Vereinslazarett II nach Rücksprache mit dem fachärztlichen Beirat vom Sanitätsamt München, Dr. Weiler, wegen Kohlenmangel seinen Betrieb bis auf weiteres einstellen müsse. 36 Am 21. Januar 1920 berichtete der Männer- und Frauenzweigverein des Roten Kreuzes Kaufbeuren dem Sanitätsamt in München die Beschlussfassung, dass - trotz der Bereitwilligkeit der Heilanstalt - von der Wiederinbetriebnahme des Vereinslazarettes II Abstand genommen werden sollte. 37 Als Gründe wurden die oft ungenügende Belegung und die daraus resultierende Unwirtschaftlichkeit angeführt. Auch waren die Lazarettinsassen mit ihrem „skrupellosen Hamstern geradezu eine Plage“ 38 31 HistA BKH KF, Allg. VA III 46a: Schreiben des Bayer. Kriegsministerium an die Sanitätsämter I, II und III A.K. vom 21.8.1918, Abschrift an das VL Kaufbeuren II, Blatt 76. 32 HistA BKH KF, Allg. VA III 46a: Lazarett-Ordnung vom 10.4.1919, Blatt 98. 33 HistA BKH KF, Allg. VA III 46a: Schreiben der Kgl. Direktion der Heil- und Pflegeanstalten bei Kaufbeuren an die Intendantur, Sanitätsabteilung in München vom 17.8.1919 betr. Kohlenversorgung für das VL II Kaufbeuren, Blatt 114. 34 HistA BKH KF, Allg. VA III 46a: Schreiben des Vereins-Lazarett Kaufbeuren II bei der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren vom 13.10.1919, Blatt 129. 35 Ebd. 36 HistA BKH KF, Allg. VA III 46a: Schreiben des Vereins-Lazarett Kaufbeuren II bei der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren vom 31.10.1919 an das Sanitätsamt in München, Blatt 144. 37 HistA BKH KF, Allg. VA III 46a: Schreiben des Männer- und Frauenvereins vom Roten Kreuz (Vorstände Herr Dr. Volkhardt und Frau Bausenwein) an das Sanitätsamt München vom 21.1.1920, Blatt 158 Abschrift; vgl. ebd, Blatt 167: Brief mehr oder weniger gleichen Inhalts an die Direktion der Heil- und Pflegeanstalten bei Kaufbeuren. 38 Ebd. Petra Schweizer-Martinschek 362 für die Umgebung. Als weiteres Argument wurde auf den Brennstoffmangel hingewiesen, außerdem seien anderweitig genügend militärische Lazarette vorhanden. Am 4. Februar 1920 nahm auf Veranlassung des Sanitätsamtes München der fachärztliche Beirat Dr. Weiler hierzu Stellung. 39 Er war der Meinung, dass „dieses einzig für die Behandlung von wirklich nervenkranken insbesondere erschöpften Kriegsteilnehmern geeignete Lazarett“ noch zur Verfügung gehalten werden müsse, bis Klarheit darüber bestehe, „in welchem Zustand deutsche Kriegsgefangene aus Frankreich heimkehren.“ 40 Trotz der Stellungnahme von Dr. Weiler für eine Weiterführung des Vereinslazaretts Kaufbeuren II beschloss das Sanitätsamt München dessen Auflösung zum 1. März 1920. 41 6. Resümee Die Vorstudie belegt, dass während des Ersten Weltkriegs auch in der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee Soldaten mit psychischen Erkrankungen untergebracht und behandelt wurden. Erste Forschungsergebnisse konnten erarbeitet werden. Wie die oben gemachten Ausführungen zeigen, kann die allgemeine Verwaltungsakte „Lazarettwesen“ durchaus detaillierte Informationen über das Vereinslazarett II liefern. Leider finden sich im Historischen Archiv des Bezirkskrankenhauses Kaufbeuren keine Einträge in den Standbüchern und somit keine Krankenakten zu den dort behandelten Soldaten. Die Gründe sind vermutlich darin zu suchen, dass die Soldaten durch das Sanitätsamt Kempten eingewiesen wurden und es sich um ein Vereinslazarett des Roten Kreuzes handelte und nicht, wie zwischen 1914 und 1918, um Soldaten, die in der Kaufbeurer Anstalt als zivile Patienten untergebracht und therapiert wurden. Auch im Militärarchiv Freiburg existieren keine weiteren Unterlagen zum Kaufbeurer Vereinslazarett II, so dass keine Datenerhebung bezüglich der Anzahl und der Behandlung der Soldaten vorgenommen werden konnten. In einem weiteren Schritt könnte die genaue Anzahl der aufgenommenen Soldaten für die gesamte Zeit des Kriegs (1914 bis 1918) eruiert werden sowie bestimmte Informationen aus den Krankenakten der Heeresangehörigen herausgearbeitet werden. In den Jahren 1918 und 1919 war im ehemaligen Männerpavillion II der Anstalt ein Lazarett für Soldaten eingerichtet worden, die zur weiteren Behandlung 39 HistA BKH KF, Allg. VA III 46a: Abschrift eines Schreiben des Sanitätsamt München an Dr. Weiler, Reservelazarett München P vom 30.1.1920, Blatt 158 Rückseite, und die Antwort von Dr. Weiler vom 4.2.1920, Blatt 158 Rückseite. 40 HistA BKH KF, Allg. VA III 46a: Abschrift einer Antwort von Dr. Weiler an das Sanitätsamt München vom 4.2.1920, Blatt 158 Rückseite. 41 HistA BKH KF, Allg. VA III 46a: Abschrift der Verfügung des Sanitätsamtes München vom 12.2.1920, Blatt 159. - Das Reservelazarett Landsberg am Lech wurde mit der Auflösung beauftragt. Vgl. HistA BKH KF, Allg. VA III 46a, Blatt 160. Die Behandlung von psychisch erkrankten Soldaten in Kaufbeuren-Irsee 363 bzw. zur Erholung aus Neurotiker-Behandlungslazaretten nach Kaufbeuren überwiesen werden konnten. Während einige Informationen über den Aufbau und den verwaltungsmäßigen Ablauf gewonnen werden konnten, fehlen aufgrund der schlechten Aktenlagen Daten über die dort behandelten Heeresangehörigen gänzlich. Quellen und Literatur Archive Historisches Archiv des Bezirkskrankenhauses Kaufbeuren (HistA BKH KF) - Allgemeine Verwaltungsakte III 46a. - Jahresberichte 1914 bis 1920. - Karteikarte Max. G., Aktennummer unbekannt. - Krankenakte 4744 Jakob K. - Krankenakte 4819 Michael Schm. - Krankenakte 4971 Xaver F. - Krankenakte 5128 Georg R. - Krankenakte 5133 Andreas Sch. - Krankenakte 5334 Karl L. - Krankenakte 5398 Sebastian P. - Krankenakte 5448 Xaver St. - Krankenakte 5689 Jakob O. - Krankenakte 10248 Jakob P. Bayerisches Hauptstaatsarchiv München (BayHStA) - Abteilung IV Kriegsarchiv, Stellvertretendes Generalkommando I. Armeekorps 2307. - Abteilung IV Kriegsarchiv, Stellvertretendes Generalkommando I. Armeekorps Sanitätsamt 185. - Abteilung IV Kriegsarchiv, Stellvertretendes Generalkommando I. Armeekorps Sanitätsamt 188. - Abteilung IV Kriegsarchiv, Stellvertretendes Generalkommando I. Armeekorps Sanitätsamt 901. Literatur Bezirk Schwaben (Hrsg.): Hundert Jahre Nervenkrankenhaus Kaufbeuren, Kaufbeuren 1976. R ESCH , E RICH : Zur Geschichte des Kaufbeurer Bezirkskrankenhauses, in: J ÜRGEN K RAUS / S TEFAN D IETER / J ÖRG W ESTERBURG (Hrsg.), Die Stadt Kaufbeuren: Bd. 3: Sozialgeschichte, Wirtschaftsentwicklung und Bevölkerungsstruktur: Thalhofen 2006, 242-249. S CHMIDT , M ARTIN / K UHLMANN , R OBERT / VON C RANACH , M ICHAEL : Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren, in: M ICHAEL VON C RANACH / H ANS -L UDWIG S IE- Petra Schweizer-Martinschek 364 MEN (Hrsg.), Psychiatrie im Nationalsozialismus: Die Bayerischen Heil- und Pflegeanstalten zwischen 1933 und 1945, München 1999, 265-325. S TROBEL , C HRISTIAN : Kriegswirtschaft. Kaufbeuren während des Ersten Weltkrieges, unveröffentlichte Magisterarbeit, Augsburg 1989. W EIRICH , W ERNER : Zeitenwende: Erster Weltkrieg und Revolution (1914 bis 1919) in: J ÜRGEN K RAUS / S TEFAN F ISCHER (Hrsg.), Die Stadt Kaufbeuren: Bd. 1: Politische Geschichte und Gegenwart einer Stadt, Thalhofen 1999, 128-143. W EISSFLOCH , L EONHARD : Geschichte des städtischen Krankenhauses in Kaufbeuren, in: Kaufbeurer Geschichtsblätter 5 (1966/ 1970), 75-80. Die Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee und die Frage des Hungersterbens im Ersten Weltkrieg Corinna Malek Abstract The following paper is a microstudy of the „Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren- Irsee“ during the First World War. It focuses on two things, firstly on the reconstruction of the conditions and impacts of the war on the asylum’s daily life as well as on its inhabitants, especially on the military patients. Those were sent to Kaufbeuren, although not being a military institution, to be cured from mental disorders forced by war. A key question will be, how soldiers were cared and if there were differences to the civil patient’s care. It is intended to contribute new findings to the psychiatric history during World War I and to add a new perspective on the life within asylums. Secondly, the study tries to give an answer to Heinz Faulstich’s thesis of the planned starving in asylums during World War I. On the basis of medical and administrative files it is examined if the situation in Kaufbeuren can be taken as a proof or disproof for Faulstich’s thesis. Zusammenfassung Der Aufsatz verfolgt zweierlei Ziele. Zum einen wird im Rahmen einer Mikrostudie die Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee in der Zeit des Ersten Weltkriegs untersucht. Der Schwerpunkt liegt hier auf der Frage, wie sich der Betrieb und das Leben in der Anstalt während des Ersten Weltkriegs gestalteten und welche direkten Auswirkungen das Kriegsgeschehen auf die Anstalt hatte. Damit verknüpft ist auch das zweite Ziel, nämlich den Aufenthalt, die Behandlung und den Umgang mit soldatischen Patienten, die ab September 1914 in Kaufbeuren-Irsee aufgenommen wurden, zu untersuchen, obwohl die Heil- und Pflegeanstalt nicht unter militärischer Kontrolle stand. Dieser Aspekt ist bisher wenig erforscht. In den aktuellen Forschungen zur Psychiatriegeschichte im Ersten Weltkrieg stehen insbesondere die Diagnostik und Therapie psychisch erkrankter Soldaten im Fokus, wohingegen kaum Einzeluntersuchungen zu den Zuständen während des Krieges und ihrer Auswirkungen auf die Patienten vorliegen. Daher soll die hier durchgeführte Mikrostudie einen Beitrag zum bisher wenig beachteten Teil der Versorgung in den Anstalten leisten. Für die Untersuchung der Versorgungslage ist die Hungersterben-These von Heinz Faulstich erkenntnisleitend. Es soll anhand der Mikrostudie aufgezeigt werden, dass die These Faulstichs nicht allgemeingültig auf alle psychiatrischen Einrichtungen zur damaligen Zeit angewendet werden kann. Anhand der Verhältnisse in Kaufbeuren soll gezeigt werden, dass dort die Versorgung der Soldaten gesichert war und ein Hungersterben in der von Faulstich festgestellten Art nicht stattfand. Corinna Malek 366 1. Einleitung Fast einhundert Jahre sind seit dem Ende der weltweit einschneidenden Zäsur des Ersten Weltkriegs vergangen, ohne dass die Aufarbeitung seiner Auswirkungen als abgeschlossen betrachtet werden kann. Zum hundertjährigen Gedenken erfährt die Forschung rund um den Ersten Weltkrieg eine neue Hochphase, durch die bisher nur wenig bearbeitete Themenbereiche in den Fokus der Wissenschaft rücken, wie beispielsweise das Schicksal der an der Front traumatisierten Soldaten, die als sogenannte Kriegszitterer in psychiatrischen Kliniken und Lazaretten therapiert wurden. Grundlagenarbeit hierfür leistete einerseits das DFG-Forschungsprojekt „Krieg und medikale Kultur. Patientenschicksale und ärztliches Handeln im Zeitalter der Weltkriege (1914-1945)“, welches zwischen 2006 und 2011 an der Universität Freiburg bearbeitet wurde. Andererseits trugen weitere Einzelarbeiten, die seit den 1990er Jahren entstanden, zur Aufarbeitung dieses Kapitels der Psychiatriegeschichte bei. 1 Trotz deren umfangreichen Forschungen und Ergebnissen bestehen immer noch Lücken, insbesondere bei der Frage nach dem Aufenthalt und der Behandlung traumatisierter Soldaten in kleineren Anstalten, die nicht direkt dem Militär unterstanden. Auch stehen bei Untersuchungen, die sich mit dem Aufenthalt der Soldaten in entsprechenden psychiatrischen Lazaretten und Einrichtungen befassen, meist die Diagnosefindung und Behandlung im Mittelpunkt, wohingegen die Unterbringungsmodalitäten wie auch die Versorgung der Soldaten kaum eine Rolle spielen. Heinz Faulstich und Hans-Ludwig Siemen gehörten zu den Ersten, die die Unterbringungsmodalitäten und Versorgung innerhalb der Anstalten in den Blick nahmen. Ihre Forschungen zum Hungersterben in der Psychiatrie konzentrierten sich zwar schwerpunktmäßig auf die Zeit des Nationalsozialismus, jedoch nahm vor allem Faulstich auch die Zeit des Ersten Weltkriegs in den Blick. Seinen Erkenntnissen nach setzte bereits in dieser Zeit in einigen Anstalten das Hungersterben ein, da die Patienten nachteilig bei der Versorgung mit den knappen Lebensmitteln bedacht wurden. Faulstich konstatierte aufgrund seiner Forschungen die These, dass das gezielte Hungersterben keine Neuerfindung der Nationalsozialisten war, sondern bereits auf Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg beruhte. Somit sei das Hungersterben zwar nicht gezielt als Lösung des Problems zu vieler Esser ab 1915 in den Anstalten zur Anwendung gekommen, jedoch von den Anstaltsleitern billigend in Kauf genommen worden, da mögliche Maßnahmen gegen die Mangelversorgung der Anstalten nicht mit letzter Konsequenz unternommen wurden. 2 Angelehnt an die These Faulstichs soll mit dem Beispiel der in Bayerisch- Schwaben gelegenen Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee 3 aufgezeigt werden, dass Faulstichs Erkenntnisse des Hungersterbens nicht auf alle Anstalten im Deutschen Reich zutrafen. Ausgewählt wurde das Beispiel aus mehreren Gründen: Zum einen liegen im Historischen Archiv des Bezirkskrankenhauses sämtliche Akten seit der Eröffnung der ersten schwäbischen psychiatrischen Einrichtung in Irsee 1849 1 Anonymus, DFG-Projekt; P RÜLL / R AUH , Krieg und medikale Kultur (Einleitung), 7f., 20. 2 F AULSTICH , Hungersterben, 16-18; S IEMEN , Menschen, 27. 3 Die Einrichtung besteht noch heute unter dem Namen „Bezirkskrankenhaus Kaufbeuren“. Die Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee 367 vor. Der Stamm der Patientenakten ist somit seit der ersten Akte fast komplett erhalten, ebenso ist der Korpus der Verwaltungsakten vollständig vorhanden, woraus sich eine breite Arbeitsbasis ergibt. 4 Zum anderen wurde das vorliegende Aktenmaterial für die Zeit des Ersten Weltkrieges bisher noch nicht ausgewertet, so dass die hier vorgelegte Arbeit, zusammen mit dem Aufsatz von Frau Dr. Schweizer- Martinschek in diesem Band, einen weiteren Grundstein für die weitere Aufarbeitung der Anstaltsgeschichte legen soll. Ziel soll sein, aufzuzeigen, dass Faulstichs These nicht auf die Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee angewendet werden kann, da die Soldaten, wie auch andere Patienten, keine Schlechterstellung bei der Versorgung mit Lebensmitteln erfuhren und somit von keinem gezielten Hungersterben in der Anstalt gesprochen werden kann. Der Fokus der Untersuchung liegt auf der Versorgung der Patienten, so dass Diagnosen und Behandlungsmethoden nur soweit Eingang in die Untersuchung finden, soweit sie mit der Versorgung in Zusammenhang standen. 2. Eine schwäbische Kleinstadt im Ersten Weltkrieg - Die städtische Lebensmittelversorgung Der Untersuchungsraum umfasst neben der Anstalt auch ihre nähere Umgebung. Die Heil- und Pflegeanstalt lag seit 1876 im Stadtgebiet Kaufbeurens, einer ehemaligen Reichsstadt. Zum Zeitpunkt der Anstaltsumsiedelung lebten rund 5.560 Bewohner in der Stadt, wobei deren Zahl sich bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs auf rund 10.000 erhöhte. Die Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee wurde ursprünglich 1849 in dem ehemaligen Klosterkomplex des Reichsstifts Irsee errichtet, der im Zuge der Säkularisation an das bayerische Königreich gefallen war. Nachdem die erste bayerisch-schwäbische „Kreis-Irrenanstalt“ am 1. September 1849 in Irsee ihre Pforten geöffnet hatte, siedelte sie bereits 1876 in die nahegelegene bayerischschwäbischen Kleinstadt Kaufbeuren um. In Irsee hatte bereits nach kurzer Zeit ein akuter Platzmangel geherrscht, weswegen das Bettenangebot mit einem Neubau nahe der bayerisch-schwäbischen Kleinstadt Kaufbeuren 1876 erweitert wurde. Die städtische Wirtschaft war hauptsächlich durch Handel und Gewerbe geprägt sowie durch das landwirtschaftliche Umland und die damit verbundene Milchwirtschaft. Dennoch besaß die Stadt zwei größere Industriebetriebe, die Mechanische Baumwollspinnerei und Weberei und die Vereinigten Kunstanstalten, die ebenfalls einen großen Teil der Bevölkerung in Lohn und Brot stellten. Insgesamt kann die Stadt am Vorabend des Ersten Weltkriegs als eine Kleinstadt mittelständischer Prägung beschrieben werden, die vom landwirtschaftlichen Umland gut versorgt wurde. 5 Die Verhängung des Kriegszustandes durch den deutschen Kaiser und den bayerischen König am 31. Juli bzw. am 1. August 1914 wurde in Kaufbeuren euphorisch aufgenommen, bejubelt und mit einer spontanen Kundgebung am Krieger- 4 Zur archivalischen Überlieferung S CHWEIZER -M ARTINSCHEK in diesem Band. 5 Bayerisches Statistisches Landesamt, Gemeindeverzeichnis, 218f.; M ALEK , Entnazifizierung, 27; W EIRICH , Räterepublik, 29f. Corinna Malek 368 denkmal gefeiert. In den darauffolgenden Tagen sorgte die Kriegsbegeisterung in der Bevölkerung für Freiwilligenmeldungen zum Kriegsdienst und die städtische Verwaltung leitete Maßnahmen zur Erfüllung der Vorgaben des Mobilmachungsplans sowie zur Bewältigung der neuen Herausforderungen, die der Krieg mit sich brachte, in die Wege. Der Mobilmachungsplan sah vor, dass bis zum zehnten Mobilmachungstag ein Vereinslazarett eingerichtet werden musste. Ebenso musste die finanzielle Unterstützung derjenigen Familien organisiert werden, deren Ernährer durch ihre Einberufung ins Feld ziehen mussten. Hierfür wurde Mitte August 1914 ein beratender Ausschuss für Familienfürsorge gegründet. Bis zum Jahresende beschäftigte die Stadtregierung neben der Fürsorge die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, die sich aber erst auf den Winter zu verstärkte. 6 Die massivste Auswirkung des Krieges auf die Zivilbevölkerung war nicht das unmittelbare Kriegsgeschehen, das an Kriegsschauplätzen im Westen und Osten fernab der Heimat tobte, sondern die zunehmende Verknappung von Rohstoffen, Lebensmitteln und Gütern des täglichen Bedarfs. Mit zunehmender Kriegsdauer verschärfte sich durch das Wegbrechen von Handelsbeziehungen und der ab 1916 bestehenden englischen Seeblockade die Versorgung mit Nahrungsmitteln und Rohstoffen im gesamten Deutschen Reich; auch der hier gewählte Untersuchungsraum war betroffen. Da das Land wirtschaftlich unvorbereitet in den Krieg geschlittert war, stellte sich ab dem zweiten Kriegsjahr 1915 eine sich immer weiter verschärfende Verknappung ein. Reaktion darauf war zunächst die Beschlagnahme von Brotgetreide im Januar 1915 und die Einführung von Höchstpreisen für einzelne Güter, woraus sich mit zunehmender Kriegsdauer ein staatliches Verwaltungssystem für die Vergabe von Nahrungsmitteln und Gütern entwickelte. Mit der Verhängung des Kriegszustandes war zudem die exekutive Verwaltung in Bayern an die obersten bayerischen Militärbehörden, die drei Generalkommandos, übergegangen. Da diese ins Feld zogen, übernahmen deren Stellvertretende Generalkommandos die Organisationsaufgaben in der Heimat. Sie richteten sogenannte Kriegsstellen als Verwaltungsgesellschaften ein. Die unterste Stufe dieser neu eingerichteten Zwangsverwaltung bildeten die Kommunalverbände, die die Verteilung und Zuteilung von Waren und Gütern in den kreisunmittelbaren Städten und den Bezirksämtern regelten. 7 Von den zunehmenden Einschränkungen der täglichen Versorgung blieb auch Kaufbeuren nicht verschont. Dennoch fielen die Folgen dieser nicht so verheerend aus, wie in den urbanen Zentren Berlin, München oder auch Nürnberg, da sich die ländlichen Stadtbewohner über den Tausch- und Schwarzhandel mit Bauern des Umlandes selbst zusätzlich zu den offiziellen Zuteilungen versorgten. Für Kaufbeuren bestanden zwei Kommunalverbände, einerseits derjenige für den Bereich des Bezirksamts Kaufbeuren 8 und andererseits derjenige für die Stadt Kaufbeuren. Der 6 S TROBEL , Kriegswirtschaft, 19f.; W EIRICH , Zeitenwende, 128f. 7 S PERL , Wirtschaft, 26f.; V OLKERT , Handbuch, 278f.; F UCHS , Bayerische Armee, 102, 104. 8 Das Bezirksamt Kaufbeuren umfasste den Altlandkreis Kaufbeuren. Das Bezirksamt wurde 1862 durch die Verwaltungsreform der Landgerichte älterer Ordnung geschaffen und 1939 in Landkreis umbenannt. Durch die Gebietsreform 1972 wurde es aufgelöst und ging in dem neu gebildeten Landkreis Ostallgäu auf, vgl. V OLKERT , Handbuch, 96f., 492. Die Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee 369 Letztgenannte war auch für die Versorgung der Heil- und Pflegeanstalt zuständig wie auch für die der Lazarette der Stadt. Kernaufgaben des Kommunalverbandes waren das Festsetzen von Pro-Kopf-Höchstmengen einzelner Lebensmittel, die Ausgabe von Lebensmittelkarten zur Kontrolle von Handel und Verbrauch sowie die Organisation der Vorratshaltung. Über die Versorgungslage innerhalb der Stadt wurden ab 1915 regelmäßige Monatsberichte an die Regierung von Schwaben erstattet. Insgesamt war diese in Kaufbeuren nicht so verheerend wie in größeren Städten, auch bedingt durch das landwirtschaftliche Umland und dessen Produktion. Die zu verteilenden Güter erhielt der Kommunalverband von der Bayerischen Lebensmittelstelle, bei der er seinen jeweiligen Bedarf im Vorfeld anzumelden hatte. Ab August 1917 rief die Stadtregierung zusätzlich zum Kommunalverband Kaufbeuren-Stadt einen städtischen Lebensmittelausschuss ins Leben, der bis ins Jahr 1923 Bestand hatte. Ebenso wurden die Zwangsbewirtschaftungsmaßnahmen, die das Kriegsgeschehen auslöste, bis 1923 aufrecht erhalten, bevor die letzten Bewirtschaftungsmaßnahmen für Getreide und Brot gänzlich aufgehoben wurden. 9 3. Versorgung der Vereinslazarette in Kaufbeuren Der Erlass des Mobilmachungsbefehls für das Deutsche Heer am 1. August setzte neben der Armee auch weitere Kriegsvorbereitungen in Gang. Dazu gehörte auch die Einrichtung von Lazaretten, die zwar dem Militär unterstanden, aber nicht von diesem selbst eingerichtet und betreut wurden. Die Einrichtung und Betreuung dieser sogenannten Vereinslazarette wurde von Seiten der örtlichen Vereine des Bayerischen Landes-Komitees für freiwillige Krankenpflege übernommen. Die neu einzurichtenden Vereinslazarette mussten nach den Statuten des Mobilmachungsplanes bis zum zehnten Mobilmachungstag, das heißt dem 11. August 1914, ihre Arbeit aufnehmen. Die Bedingungen und Vorgaben für die Errichtung, Ausstattung und den Betrieb eines Vereinslazaretts waren in Verträgen zwischen dem zuständigen Generalkommando, seinen zugehörigen Sanitätsbehörden und den Vereinen für freiwillige Krankenpflege vor Ort festgelegt. 10 Kaufbeuren besaß insgesamt zwei Vereinslazarette: das Vereinslazarett I, aufgeteilt auf Lagerstellen im Stadtsaal, dem städtischen Krankenhaus und dem Distriktskrankenhaus, und das Vereinslazarett II im Männerpavillion II in der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee. 11 Das Vereinslazarett I wurde umgehend nach der Mobilmachung bis zum 11. August 1914 errichtet und in Betrieb genommen, bevor es im März 1919 offiziell aufgelöst wurde. Bereits im September 1917 war die Auflösung einer seiner Abtei- 9 S TROBEL , Kriegswirtschaft, 28f.; W EIRICH , Zeitenwende, 130f.; StadtA KF A 2708; StadtA KF A 4776; StadtA KF FA 49/ 3; Stadt Kaufbeuren, Verwaltungsbericht 1921, 21. 10 H OSPES , Lazarettwesen, 12, 29; F UCHS , Bayerische Armee, 102f.; R UISINGER , Kriegsmedizin, 34; Bayerisches Landeskomitee, Anleitung, 1f. 11 Dazu Beitrag S CHWEIZER -M ARTINSCHEK in diesem Band; W EISSFLOCH , Städtisches Krankenhaus, 76f.; Stadt Kaufbeuren, Verwaltungsbericht 1921, 47. Corinna Malek 370 lungen, derjenigen im Stadtsaal, vom Sanitätsamt beschlossen worden. Die noch untergebrachten dreizehn Patienten wurden auf andere Lazarette in Illertissen und Obergünzburg verteilt. Die anderen Bettstellen in den Krankenhäusern bestanden fort. Verwaltungsrechtlich war es bis zum Juli 1918 dem Reservelazarett Landsberg unterstellt, bevor es ab Juli 1918 bis zu seiner Auflösung dem Reservelazarett Kempten untergeordnet wurde. Aufgestellt wurde es mit 57 Betten, die auf drei Versorgungsorte aufgeteilt waren. Als ärztliches Personal standen dem Lazarett zwei Ärzte zur Verfügung, was der vorgeschriebenen Anzahl an ärztlichem Personal bei einer Belegungsstärke von 20 bis 100 Betten entsprach. Dabei handelte es sich um den Bezirksarzt Dr. August Lüst und den Sanitätsrat Dr. Josef Englhardt. Für die Pflege wurden für die Abteilung im Stadtsaal zunächst drei Pfleger und drei Krankenschwestern angestellt, die vom örtlichen Verein für freiwillige Krankenpflege bezahlt wurden, während in den Abteilungen in den Krankenhäusern das dortige Pflegepersonal die Versorgung übernahm. In den offiziellen Vorgaben von Seiten des Bayerischen Landeskomitees für freiwillige Krankenpflege im Kriege waren ein Pfleger und eine Pflegerin für die Versorgung von jeweils zehn Patienten vorgegeben. Später wurde das Personal für den Stadtsaal auf eine Krankenschwester und einen Pfleger gekürzt, weil zwei der drei ursprünglichen Pfleger sowie eine Schwester ins Feld zogen. Der erste Verwundete wurde am 27. August 1914 mit dem Kaufbeurer Landwehrmann Josef W. aufgenommen. Zwischen 1915 und 1916 war das Lazarett durchschnittlich mit 29 Verwundeten belegt, während bis 1917 insgesamt 753 verwundete Soldaten aufgenommen und verpflegt worden waren. Den Transport der Verwundeten vom Bahnhof ins Lazarett übernahm die freiwillige Sanitätskolonne. 12 Die Versorgung mit Nahrungsmitteln für das Vereinslazarett I war, aufgrund seiner Zersplitterung auf drei separate Abteilungen in verschiedenen Lokalitäten, geteilt. Diejenigen Kranken, die in den Abteilungen der Krankenhäuser untergebracht waren, wurden dort vor Ort vom örtlichen Pflegepersonal versorgt. Für die Versorgung der Abteilung im Stadtsaal wurde hingegen ein eigener Vertrag mit dem Kaufbeurer Gastwirt Eduard Erdmannsdorfer geschlossen. Dieser „[…] verpflichtet sich zur Lieferung der Kost für die Kranken und das Aufsichtspersonal […]“, 13 de- 12 StadtA KF FA 49/ 3 „Schreiben Sanitätsamt I. B. A. K. an den Stadtmagistrat Kaufbeuren, 5.9.1917“; StadtA KF A 4030 „Schriftverkehr Sanitätsamt I. b. A. K. mit Reservelazarett Kempten und Stadtmagistrat Kaufbeuren, 12.3.1918, 15.3.1919, 23.3.1919, 25.3.1919“; StadtA KF FA 49/ 3 „Verzeichnis der Reservelazarette […] 1. Januar 1915, 36“; StadtA KF FA 49/ 3 „Schreiben Ortskomitee für freiwillige Lazarettangelegenheiten im Kriege an Verein freiw. Krankenpflege im Kriege, 11.8.1914“; Stadt Kaufbeuren, Verwaltungsbericht 1921, 65; StadtA KF FA 49/ 3 „Schreiben Kaufbeurer Stadtmagistrat an Reservelazarett Landsberg, 10.7.1918“; StadtA KF FA 49/ 3 „Zeitungsartikel „Das Vereinslazarett in den drei Kriegsjahren 1914/ 17“, undatiert“; StadtA KF FA 49/ 3 „Vertrag zwischen Ortskomitee für Lazarettangelegenheiten in Kaufbeuren und Krankenpfleger Hans Moosreiner, 21.8.1914“; StadtA KF FA 49/ 3 „Statistische Tabelle Vereinslazarett, undatiert“; Bayerisches Landeskomitee, Anleitung, 15; ebd., 17. 13 StadtA KF FA 49/ 3 „Vertrag zwischen Kaufbeurer Ortskomitee für Lazarettangelegenheiten und dem Gastwirt Eduard Erdmannsdorfer, 5.8.1914“. Die Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee 371 ren „[…] Verköstigung in Frühstück, Mittagessen und Abendkost […]“ 14 aufgeteilt und zu festen Zeiten ausgegeben wurde. Kranke und Pflegepersonal erhielten die gleiche Kost. Für die Lieferung des Essens wurde Erdmannsdorfer „[…] eine Vergütung von 1,30 M m. W. [= mit Worten] Eine Mark Dreißig Pfennig pro Kopf und Tag […]“ 15 bezahlt. 1917 kündigte Erdmannsdorfer den Vertrag, woraufhin die Verpflegung durch den Kaufbeurer Speisemeister Hacker übernommen wurde. Der tägliche Pro-Kopf-Kostensatz 16 für die Verpflegung, worin die Unterbringung, Verköstigung sowie die ärztliche und pflegerische Behandlung enthalten waren, betrug zu Beginn des Krieges 2,20 Mark und wurde im Verlauf des Krieges bis auf 3,20 Mark erhöht. Die Zubereitung der Speisen sowie die Organisation der Küche übernahm der Frauenzweigverein des Roten Kreuzes in Kaufbeuren. 17 Die Lieferung der Nahrungsmittel erfolgte hauptsächlich über die Reservelazarette Landsberg und Kempten, durch Einzelpersonen sowie durch einzelne Mitglieder des Ortsvereins. Außerdem erhielt das Lazarett Lieferungen von verschiedenen Kriegsstellen, beispielsweise Butter und Feintalg von der Bayerischen Landesfettstelle. Die Güter der Lieferungen, deren Lieferanten, der jeweilige Warenwert sowie der Ort der Abgabe können durch zwei Lagerbücher, die aus den Jahren 1916 bis 1919 stammen, nachvollzogen werden. Sie sind in den Akten des Stadtarchivs Kaufbeuren erhalten. Aus deren Analyse ergibt sich, dass die Versorgung der Kranken im Vereinslazarett I, auch aufgrund ihrer geringen Anzahl, wohl stets mehr als ausreichend war, so dass kein Hunger gelitten werden musste. Da keine Egodokumente der behandelten Soldaten vorliegen, kann dieses Urteil lediglich aus dem vorhandenen amtlichen Aktenmaterial gezogen werden. 18 Obwohl bereits während des Krieges psychisch versehrte Soldaten in der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee versorgt wurden, richtete das zuständige stellvertretende Generalkommando hier kein militärisches Lazarett ein. Erst das dort im Sommer 1918 in Betrieb genommene Vereinslazarett II 19 im Männerlandhaus II der Heilanstalt wurde als Behandlungseinrichtung für Neurotiker deklariert. Der Betrieb des Lazaretts wurde von Seiten des Ortsvereins für freiwillige Krankenpflege und der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee getragen, die jeweiligen Zuständigkeiten wurden vertraglich niedergeschrieben. Es wurde vereinbart, dass die Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee „dem Vereinslazarett überwiesenen kranken Soldaten und dem Pflege- und Aufsichtspersonal […] Kost, Wohnung, Beheizung, 14 Ebd. 15 Ebd. 16 Bezahlt wurde der Satz von Seiten der bayerischen Armee, vgl. Historisches Archiv BKH Kaufbeuren III/ 46a „Schreiben Direktion Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee an die stellvertretende Intendantur I. A. K., 7.10.1915“. 17 StadtA KF FA 49/ 3 „Zeitungsartikel „Das Vereinslazarett in den drei Kriegsjahren 1914/ 17“, undatiert“; StadtA KF FA 49/ 3 „Vertrag zwischen Kaufbeurer Ortskomitee für Lazarettangelegenheiten und dem Gastwirt Eduard Erdmannsdorfer, 5.8.1914“. 18 StadtA KF FA 49/ 3 „Lagerbuch Vereins-Lazarett Kaufbeuren Lebensmittel vom Reserve- Lazarett Landsberg, 1917-1919“; StadtA KF FA 49/ 3 „Lagerbuch ohne Titel, 1916-1918“. 19 Zur Entstehungsgeschichte und Behandlung Beitrag S CHWEIZER -M ARTINSCHEK in diesem Band. Corinna Malek 372 Beleuchtung, Bett, Wäschereinigung und Desinfektion, Ärztliche Behandlung und Medikamente, sowie Pflege“ 20 stellte, während der Ortsverein die Einrichtungsgegenstände für das Lazarett zur Verfügung stellte. Insgesamt sollten bis zu 50 Kranke im Lazarett Aufnahme finden. 21 Das ärztliche Personal zur Versorgung der Patienten umfasste drei Ärzte und war deckungsgleich mit dem ärztlichen Personal der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee. Als Chefarzt des Lazaretts wurde der Direktor der Anstalt, Dr. Alfred Prinzing, bestimmt, ihm zur Seite standen die beiden Ärzte Dr. Adolf Fuchs und Dr. Wilhelm Caselmann. Über das Pflegepersonal wird innerhalb der Vertragsvereinbarungen nichts erwähnt. 22 Da die Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee sich verpflichtete, auch für die Kost der Lazarettinsassen zu sorgen, wurden diese im Rahmen der normalen Anstaltsversorgung verpflegt. Hierfür erhielt die Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren- Irsee für jeden Insassen einen Pro-Kopf-Verpflegungssatz von vier Mark. Der Satz wird im August 1919 auf sechs Mark angehoben, aufgrund der allgemein gestiegenen Verpflegungskosten. Die Nahrungsmittel dazu bezog die Heil- und Pflegeanstalt einmal von Seiten des Kommunalverbandes Kaufbeuren-Stadt, auf Anforderung beim Reservelazarett Landsberg, wie auch durch die Erzeugnisse ihrer eigenen landwirtschaftlichen Betriebe. Außerdem wurde schriftlich fixiert, dass die Patienten des Vereinslazaretts II „die gleichen Mengen [an Fleisch] wie die Zivilbevölkerung“ 23 erhalten sollten, wie auch „275gr [Mehl] für den Tag und Kopf“ 24 . Sofern „diese Menge nicht ausreichen“ 25 sollte, konnte die Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee „bei den Kommunalverbänden den Mehr-Bedarf anfordern“ 26 . Außerdem sollten die Insassen auch „Butter […] Reis, Tee, Teigwaren, Gries, Suppeneinlagen usw.“ erhalten. Alles war über das Reservelazarett Landsberg als zuständiger militärischer Träger zu ordern. 27 Obwohl der Krieg im November 1918 endete, bestand das Vereinslazarett II bis zum Februar 1920 fort und war weiter mit Patienten belegt. Im Frühjahr und Sommer 1919 kam es zu mehreren Problemen mit den Insassen des Lazaretts auf- 20 StadtA KF A 4030 „Vertrag zwischen Männer- und Frauenzweigverein vom Roten Kreuz und der K. Direktion der Heil- und Pflegeanstalten bei Kaufbeuren, undatierter Abdruck“. 21 StadtA KF A 4030 „Schreiben Stadtmagistrat Kaufbeuren an Kgl. Bezirksamt Kaufbeuren, 18.7.1918“; StadtA KF A 4030 „Vertrag zwischen Männer- und Frauenzweigverein vom Roten Kreuz und der K. Direktion der Heil- und Pflegeanstalten bei Kaufbeuren, undatierter Abdruck“. 22 StadtA KF A 4030 „Schreiben Stadtmagistrat Kaufbeuren an das Bayerische Landeskomitee für freiwillige Krankenpflege, 4.10.1918“; StadtA KF A 4030 „Vertrag zwischen Männer- und Frauenzweigverein vom Roten Kreuz und der K. Direktion der Heil- und Pflegeanstalten bei Kaufbeuren, undatierter Abdruck“. 23 StadtA KF A 4030 „Versorgung der Lazarettinsassen, undatiert“. 24 Ebd. 25 Ebd. 26 Ebd. 27 Ebd.; StadtA KF A 4030 „Schreiben Sanistätsamt I. b. A. K. an Reservelazarett Kempten, 30.6.1918“. Die Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee 373 grund von Disziplinmangel und Beschwerden über die Versorgung. Bürgermeister Dr. Volkhardt beschwerte sich beim Reservelazarett Kempten darüber, dass sich „ein Teil der Insassen auf das gewerbsmässige Hamstern verlegt [hatte], ja geradezu Schleichhandel“ 28 betrieb. Die Anschuldigungen wurden untersucht, wobei die Insassen den Vorwurf bestritten, dennoch wurden sie vom Leiter der Untersuchung, Dr. Weiler, „verwarnt und ihnen in Aussicht gestellt, dass derartige Verfehlungen sofortige Entlassung […] in Gefolge haben werden“ 29 . Damit war die Angelegenheit erledigt. 30 Eine weitere Klage, die mit der Versorgung im Lazarett zusammen hing, wurde im Mai 1919 von Seiten des Vertrauensmannes der Lazarettinsassen in deren Namen an das zuständige Sanitätsamt in München gerichtet. In dem Schreiben beklagten die Insassen zu geringe Lieferungen an Milch und Kartoffeln von Seiten des Kommunalverbandes Kaufbeuren-Stadt. Sie forderten vom Sanitätsamt, dass der „Komm. Verb. Kaufbeuren zur Zuweisung von Kartoffeln veranlaßt wird“ 31 . Auch wird die fehlende Möglichkeit des Kaufs von Luxusgütern, wie Wein oder Zigaretten, bemängelt, was in anderen Lazaretten in München hingegen möglich sei. Das Schreiben wird von Seiten des Sanitätsamts an das zuständige Reservelazarett Kempten mit der Order einer Untersuchung weitergeleitet. Das Reservelazarett übersendet seinerseits die Beschwerde an den Stadtmagistrat in Kaufbeuren, der daraufhin bei der Heil- und Pflegeanstalt um eine Untersuchung und Stellungnahme bittet. Am 18. Juni antwortete die Heil- und Pflegeanstalt dem Magistrat und stellt fest, dass die erhobenen Vorwürfe „hins. der Kartoffel allerdings richtig sind“, 32 die Patienten sich jedoch mit einer Zuweisung aus den Anstaltsbeständen nicht zufrieden gaben. Auch stellte die Anstaltsleitung fest, dass „für die Lazarettinsassen hinsichtlich der Verpflegung nicht der geringste Anlaß zu einer Klage“ 33 bestand, da zur Kostverbesserung zusätzlich „von Irsee noch Fleisch und Milch“ bezogen wurden. Zur Untermauerung ihrer Ausführungen legte die Anstaltsleitung zwei Speisepläne vom 4. bis 8. Mai 1919 und vom 8. bis 14. Juni 1919 bei. Nach diesen erhielten die Insassen drei Mahlzeiten pro Tag mit täglich wechselnden Gerichten, wobei mehrere dieser Gerichte mit Fleisch zubereitet waren. Ebenso nahm der Stadtma- 28 StadtA KF A 4030 „Schreiben Bürgermeister Dr. Volkhardt an das Reservelazarett Kempten, 29.3.1919“. 29 StadtA KF A 4030 „Schreiben Sanitätsamt I. b. A. K. an die Regierung Schwaben und Neuburg Kammer des Inneren, 17.4.1919“. 30 StadtA KF A 4030 „Schreiben Bürgermeister Dr. Volkhardt an das Reservelazarett Kempten, 29.3.1919“; StadtA KF A 4030 „Schreiben Sanitätsamt I. b. A. K. an die Regierung Schwaben und Neuburg Kammer des Inneren, 17.4.1919“. 31 BayHStA Abt. IV Stellv. Gen.Kdo. I. AK. San A. 901 „Schreiben Vertrauensmann Graf Jentau des Vereinslazaretts II Kaufbeuren an das Sanitätsamt I. b. A. K. München, 11.5.1919“. 32 BayHStA Abt. IV Stellv. Gen.Kdo. I. AK. San A. 901 „Schreiben der Leitung des Vereinslazaretts II an den Stadtmagistrat Kaufbeuren, 18.6.1919“. 33 Ebd. Corinna Malek 374 gistrat in seiner Antwort vom 27. Juni 1919 an das Reservelazarett Kempten Stellung zu den Vorwürfen. 34 Noch während der Untersuchung des Falles sandten die Insassen des Vereinslazaretts einen zweiten Beschwerdebrief, der diesmal an das Reservelazarett Kempten gerichtet war. Darin beklagten sie sich erneut „wegen überaus schlechter und ungenügender Verpflegung seit längerer Zeit“, 35 die „weder gut, ausreichend noch genießbar“ 36 sei. Da trotz des Versprechens der Verbesserung bis zum Zeitpunkt des Briefes diese noch nicht erfolgte, waren die Insassen gezwungen, „sich anderweitig noch zu verpflegen“. 37 Daraufhin prüfte das Reservelazarett selbst die Vorwürfe und besuchte am 28. Juni 1919 das Lazarett. Nach Rücksprache mit den Insassen wurde festgestellt, dass diese Vorwürfe berechtigt gewesen seien, allerdings habe sich die Situation seitdem verbessert, was auch von Seiten der Patienten bestätigt wurde. Das Essen war „seit einigen Tagen […] gut und reichlich“, 38 da ab dem 25. Juni 1919 eine Küchenkommission neu eingeführt wurde, die die Ausgabe des Mittag- und Abendessens überwachte und bewertete. Zudem fungierte sie als Anlaufstelle für Kritik und Wünsche bezüglich des Essens. Dennoch war der gesamte Sachverhalt nicht ausgestanden, da sich die Insassen mit einem Artikel über die ihrer Ansicht nach miserablen Verpflegungszustände innerhalb des Vereinslazaretts in der Zeitung „Allgäuer Volkswacht“ zu Wort meldeten. Welche Folgen der Artikel für die Zustände in der Anstalt hatte, geht aus den Akten nicht hervor. Dennoch kann aus den vorhandenen Berichten und dem Vorgehen der zuständigen Stellen geschlossen werden, dass die Versorgung der Insassen bei weitem nicht so schlecht gewesen sein kann, wie es die Insassen selbst empfanden und in diesem Artikel schilderten. Ebenso scheinen keine weiteren Schritte mehr unternommen worden zu sein. 39 34 BayHStA Abt. IV Stellv. Gen.Kdo. I. AK. San A. 901 „Schreiben Vertrauensmann Graf Jentau des Vereinslazaretts II Kaufbeuren an das Sanitätsamt I. b. A. K. München, 11.5.1919“; BayHStA Abt. IV Stellv. Gen.Kdo. I. AK. San A. 901 „Schreiben der Leitung des Vereinslazaretts II an den Stadtmagistrat Kaufbeuren, 18.6.1919“; BayHStA Abt. IV Stellv. Gen.Kdo. I. AK. San A. 901 „ Schreiben Stadtmagistrat Kaufbeuren an Reservelazarett Kempten, 27.6.1919“; BayHStA Abt. IV Stellv. Gen.Kdo. I. AK. San A. 901 „Wochenspeisezettel der Heil- und Pflegeanstalten bei Kaufbeuren für die Zeit vom 8. Juni bis 14. Juni 1919“; BayHStA Abt. IV Stellv. Gen.Kdo. I. AK. San A. 901 „Wochenspeisezettel für das Vereinslazarett II Heil- und Pflegeanstalten bei Kaufbeuren für die Zeit 4. Mai bis 10. Mai 1919“. 35 BayHStA Abt. IV Stellv. Gen.Kdo. I AK. San A. 901 „Schreiben Patienten des Vereinslazaretts II Kaufbeuren an das Reservelazarett Kempten, 21.6.1919“. 36 Ebd. 37 Ebd. 38 BayHStA Abt. IV Stellv. Gen.Kdo I. AK. San A. 901 „Schreiben Reservelazarett Kempten an den Chefarzt Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren, 1.7.1919“. 39 BayHStA Abt. IV Stellv. Gen.Kdo. I AK. San A. 901 „Schreiben Patienten des Vereinslazaretts II Kaufbeuren an das Reservelazarett Kempten, 21.6.1919“; BayHStA Abt. IV Stellv. Gen.Kdo I. AK. San A. 901 „Schreiben Reservelazarett Kempten an den Chefarzt Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren, 1.7.1919“; BayHStA Abt. IV Stellv. Gen.Kdo. I. AK. San A. 901 „Befugnisse und Pflichten der Küchenkommission des Vereinslazarett Kaufbeuren, unda- Die Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee 375 Letztlich lässt sich feststellen, dass die behandelten Soldaten in beiden Lazaretten wohl ausreichend und teilweise gut versorgt wurden. Es scheint, soweit dies aus dem vorhandenen Material bewertet werden kann, zu keiner Unterversorgung gekommen zu sein, da durch die ländliche Lage Kaufbeurens, das Engagement einzelner Bürger sowie die Eigenversorgung der Anstalt etwaige Engpässe bei einzelnen Gütern aufgefangen werden konnten. Letztlich scheinen die Soldaten, bis auf das etwaige Fehlen von Luxusgütern, besser versorgt worden zu sein als in größeren Städten. 4. Hungersterben in der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee? Wie eingangs erwähnt, beschäftigten sich bisher nur wenige Historiker mit der Frage des Hungersterbens in psychiatrischen Anstalten vor der Zeit des Nationalsozialismus. Für die Zeit vor dem Nationalsozialismus haben sich bisher kaum Arbeiten mit der Unterbringung von Patienten beschäftigt, lediglich diejenige von Heinz Faulstich greift das Thema auf. Er leitete aus den Ergebnissen seiner Untersuchung die These ab, dass das Hungersterben in den Anstalten zwar Teil eines weit verbreiteten Phänomens im ganzen Deutschen Reich war, das sich von Nord nach Süd unterschiedlich stark darstellte, jedoch letztlich von den Anstaltsdirektoren billigend in Kauf genommen wurde, da diese entsprechende Maßnahmen zur Bekämpfung der Mangelsituationen in ihren Anstalten unterließen. 40 In Anlehnung an die Erkenntnisse Faulstichs soll die These am Beispiel der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee erprobt werden. Im Zentrum der Untersuchung steht dabei die Frage, ob Patienten in der Anstalt schlechter versorgt wurden als die ortsansässige Zivilbevölkerung und wie sich die Versorgung der Anstalt generell gestaltete. Bei den Patienten steht besonders die Gruppe der Soldaten im Mittelpunkt, die ab 1914 zur Behandlung ihrer im Krieg erlittenen Traumata in der Einrichtung untergebracht wurden. Ebenso soll, soweit aus dem vorhandenen Quellenmaterial erschließbar, die Rolle des Anstaltsdirektors in Kaufbeuren in den Blick genommen werden. 5. Ausgangslage vor dem Krieg Wichtig für die Frage der Versorgung der Anstalt während des Kriegs sind ihre regionale Einbettung und ihr Umfeld. Die ländliche Umgebung in Irsee, wie auch später in Kaufbeuren, kam der Anstaltsentwicklung insofern zu Gute und beeinflusste auch ihren Betrieb, da eine autonome Versorgung durch eigene landwirt- tiert“; BayHStA Abt. IV Stellv. Gen.Kdo. I. AK. San A. 901 „Zeitungsartikel „Sprechsaal. Stimmen aus Kaufbeuren. Der Dank des Vaterlandes, undatiert“. 40 F AULSTICH , Hungersterben, 18f., 67f. Corinna Malek 376 schaftliche und handwerkliche Wirtschaftsbetriebe, in denen die Kranken aus therapeutischen Erwägungen mitarbeiteten, aufgebaut werden konnte. Beide Orte waren sehr ländlich geprägt, so dass die Einrichtung eigener landwirtschaftlicher Betriebe nahezu eine Selbstverständlichkeit darstellte. 41 Seit 1905 wurde die Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee von Dr. Alfred Prinzing geleitet. Unter seiner Führung wurde die Anstalt bis zum Kriegsausbruch kontinuierlich ausgebaut und erweitert, bevor durch den Krieg ein jähes Ende dieses Ausbaus eintrat. Bis zum Ausbruch des Krieges wurde die Bettenzahl der Kaufbeurer Anstalt auf knapp 700 erhöht. Mit der Verhängung des Kriegszustandes am 31. Juli 1914 begann auch in der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee die Kriegszeit. Die damit verbundenen zukünftigen Entbehrungen bei der Versorgung der Anstalt und ihrer Patienten konnten bei Kriegsausbruch noch nicht abgeschätzt werden. 42 6. Die Anstalt im Krieg - Versorgung der Patienten Die Umstellung auf den Kriegszustand brachte für die Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee bereits im August 1914 große Veränderungen mit sich, die sich in der Folgezeit gravierend auf die Versorgung der Anstalt selbst, des dortigen Personals und insbesondere der untergebrachten Kranken auswirkte. Direktor Prinzing beschrieb dies im Jahresbericht für die Jahre 1914 bis 1916 mit folgenden Worten: „Der Ausbruch des Krieges verursachte auch in unserer Anstalt große Umwälzungen“. 43 Dennoch gelang es der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee, trotz der sich stetig verschlechternden Lage mit zunehmender Dauer des Krieges, all ihren Patienten eine ausreichende pflegerische und ernährungswirtschaftliche Versorgung zukommen zu lassen. Probleme verursachten aber nicht nur die beiden genannten Bereiche; auch die Verknappung anderer Roh- und Betriebsstoffe, wie Heiz- und Leuchtmittel, und die sich stetig verschlechternden hygienischen Zustände schränkten den Anstaltsbetrieb zunehmend ein. Am schwersten wog dabei die Verknappung der Heizmaterialien, die die Hygiene wie die Anzahl an Therapiemethoden einschränkten. Ebenso wurde durch fehlende Rohstoffe, beispielsweise die Beschlagnahme von Metallen aller Art, die Bereitung von Speisen in der Küche erschwert, da sämtliches metallenes Kochgeschirr durch gusseisernen Ersatz und das komplette Aluminiumgeschirr durch Emailgeschirr ersetzt werden musste. 44 Trotz aller Erschwernisse konnte dennoch ein relativ normaler Anstaltsbetrieb aufrecht erhalten werden, in dem die behandelten Soldaten keine Schlechter- oder 41 F REI , Irsee, 16; R ESCH , Kaufbeurer Bezirkskrankenhaus, 242f.; Z ASCHE / S ALM , Nervenkrankenhaus, 23f.; StadtA KF A 4030 „Schreiben der vom Sanitätsamt München an den Stadtmagistrat Kaufbeuren, 18.8.1919“. 42 S ALM , Kreisirrenanstalt Irsee, 45; Z ASCHE / S ALM , Nervenkrankenhaus, 24f.; R ESCH , Kaufbeurer Bezirkskrankenhaus, 243f. 43 Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren, Jahresbericht 1914-1916, 6. 44 HistA BKH KF I/ 33 „Bericht Heinrich Salm, Februar 1918, Beschlagnahmen“. Die Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee 377 Besserstellung, sondern dieselbe Behandlung bzw. Betreuung wie die zivilen Patienten erfuhren. Im Folgenden soll exemplarisch anhand der ärztlichen und pflegerischen Betreuung sowie der Versorgung mit Nahrungsmitteln aufgezeigt werden, dass die Versorgung der Soldaten wie auch der zivilen Patienten in der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee stets ausreichend erfolgte. Somit steht das Beispiel der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee Faulstichs These vom Hungersterben entgegen. 7. Ärztliche und pflegerische Betreuung Erste große Veränderungen, die auf die Anstalt hereinbrachen, war der Einzug des männlichen Personals für den Heeresdienst. In den ersten Kriegswochen wurden sechs der acht Ärzte zum Dienst eingezogen, ebenso wurden 44 Pfleger in Dienst gestellt sowie zehn Personen des Dienstpersonals. Auch die Verwaltung der Anstalt war von der Einberufung betroffen, so dass die gesamte Anstaltskanzlei nur mehr von einem Beamten geleitet wurde. Somit war die Anstalt innerhalb von kurzer Zeit vor das Problem gestellt, die pflegerische Versorgung, vor allem auf den Stationen der männlichen Kranken, mit einem stark dezimierten Personalstand aufrechterhalten zu müssen. Ein weiteres Problem stellte die ärztliche Versorgung dar, da nur zwei der eigentlichen acht Ärzte noch zur Verfügung standen und eine adäquate medizinische Versorgung von rund 830 Kranken nicht alleine bewältigen konnte. Abhilfe schaffte hier zunächst die Einstellung eines Arztes als Volontärsarzt im August 1914 sowie die Rückstellung eines weiteren Hilfsarztes im März 1915, der bereits vor Kriegsausbruch in der Heil- und Pflegeanstalt angestellt gewesen war. Einen weiteren ärztlichen Engpass musste die Anstalt im März 1916 überstehen, als erneut zwei Ärzte abberufen wurden und die verbliebenen zwei Ärzte „[…] einen vollen Monat lang zur Versorgung von 600 Kranken“ 45 allein verantwortlich waren. 46 Dieser Mangel an Ärzten besserte sich auch über den weiteren Kriegsverlauf nicht, auch dem Ausfall des gelernten Pflegepersonals konnte nur durch die Einstellung ungelernter Kräfte entgegen gewirkt werden, die aber zumeist nur kurz den Dienst versahen, so dass es eine große Fluktuation an Pflegepersonal gab. Auffangen konnte man den Mangel an männlichen Pflegern erst, als weibliche Kräfte auch auf den Männerstationen eingesetzt wurden. Ebenso brachte die Überführung von Patienten in die 1915 neu eröffnete Heil- und Pflegeanstalt Günzburg eine gewisse Erleichterung für die Betreuung der Patienten. 47 Für die Soldaten wurden ab August 1914 zehn bis zwölf Bettstellen offeriert, die bei der zuständigen Militärbehörde in München zu melden waren. Da die An- 45 Ebd., 6. 46 HistA BKH KF I/ 19 „Festrede Direktor Prinzing, S. 10f.“; Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren, Jahresbericht 1914-1916, 6f. 47 HistA BKH KF I/ 33 „Bericht Heinrich Salm, Februar 1918, Personalverhältnisse“; Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren, Jahresbericht 1914-1916, 7f.; S ALM , Kreisirrenanstalt Irsee, 46. Corinna Malek 378 stalt in Kaufbeuren nicht als Reservelazarett vom Militär betrieben wurde und auch die Ersteinrichtung eines Vereinslazaretts in Kaufbeuren nicht in den Räumlichkeiten der Heil- und Pflegeanstalt untergebracht wurde, galten für die soldatischen Patienten keine besonderen Unterbringungsrichtlinien. Sie wurden auf den normalen Stationen untergebracht und erfuhren die gleiche Pflege wie die anderen Patienten auch. Pro Person wurde ein fester Kostensatz von zwei Mark pro Tag von Seiten des Militärs bezahlt. Unterzubringen waren die Soldaten in der Verpflegungsklasse III. Später wurde die Anzahl der soldatischen Lagerstellen erhöht. 48 Da die aufgenommenen Soldaten unter den anderen Patienten auf den normalen Stationen untergebracht wurden, erhielten sie im ärztlichen und pflegerischen Bereich keine Sonderbehandlung. Auch wurden von Seiten des Militärs keine eigenen Ärzte und Pfleger an die Anstalt abgestellt, um die dort behandelten Soldaten zu versorgen. Stattdessen wurden die Soldaten ebenso behandelt und betreut, wie es die jeweilig bezahlte Versorgungsklasse auch bei zivilen Patienten vorsah. Erst mit der Errichtung des Vereinslazaretts II wurde ein eigenes Pflegepersonal für die soldatischen Patienten angestellt, wobei die ärztliche Behandlung weiterhin dem Personal der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee oblag. 8. Nahrungsmittelversorgung Anders als die von Faulstich untersuchten Anstalten verfügte die Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee über einen gut funktionierenden landwirtschaftlichen Betrieb, der nicht nur therapeutische Zwecke hatte, sondern auch zur Versorgung der Anstalt beitrug. 49 Diese begünstigten auch in der Kriegszeit, dass die Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee nicht komplett von den Zuteilungen an Nahrungsmitteln abhängig war. Stattdessen konnte ein Teil der eigenen Versorgung durch die Eigenproduktion, beispielsweise die Milchversorgung, gewährleistet werden. Erste Engpässe stellten sich erst im dritten Kriegsjahr 1916 ein, da die ersten beiden Kriegsjahre durch den Zukauf und das Anlegen von Vorräten gut überbrückt werden konnten. Zwar wurde seit 1915 die Zuteilung von Brot und Mehl von Seiten des Kommunalverbandes übernommen, jedoch führte dies zu keinen großen Einschränkung bei der Versorgung. Nach Einführung der Brotkarte im März 1915 in Kaufbeuren wurden jedem männlichen und weiblichen Patienten im Durchschnitt 220 Gramm Brot pro Tag zugesprochen. Vor dem Krieg waren männliche Patienten mit 500 Gramm Brot pro Tag und weibliche Patienten mit 375 Gramm Brot pro Tag verpflegt worden, so dass die gekürzte Brotration die Patienten doch empfindlich traf. Allerdings sorgten laut Aussage des Verwalters erst die Auswirkungen der engli- 48 BayHStA Abt. IV Stellv. Gen.Kdo. I. AK. Sanitätsamt 185 „Schreiben Kriegsministerium an K. stellv. Korpsarzt I. II. III. A. K. und K. stellv. Intendantur I. II. III. A. K., 3.9.1914“; BayHStA Abt. IV MKr 10264 „Übersicht über die freien Lagerstellen für Geisteskranken, 1916“; HistA BKH KF III/ 46a „Schreiben Direktion Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren- Irsee an die stellvertretende Intendantur I. A. K., 7.10.1915“. 49 Dazu Beitrag F ELICITAS S ÖHNER in diesem Band. Die Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee 379 schen Seeblockade und die schlechte Ernte 1916 für Probleme bei der Nahrungsmittelversorgung, da weitere Pro-Kopf-Rationen, beispielsweise von Fleisch- und Wurstwaren, Eiern, Milch und Fett, stetig vermindert wurden. 50 Nahrungsmittel 1914 1915 1916 1917 Fleisch 55,3 kg 61,6 kg 29,5 kg 19 kg Würste 107 St. 133 St. 72 St. 9 St. Wurstwaren 9 kg 13,6 kg 7,3 kg 7,8 kg Semmeln 552 St. 487 St. 504 St. 485 St. Kartoffeln 70,5 kg 85 kg 154 kg 177,5 kg Fett 7,3 kg 5 kg 5,2 kg 5,7 kg Milch 169 l 170 l 145 l 141,5 l Tabelle 1: Durchschnittlicher jährlicher Pro-Kopf-Verbrauch ausgewählter Nahrungsmittel in der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren- Irsee. 51 Dies zeigt sich auch in der Aufstellung des Pro-Kopf-Verbrauchs in den Jahren 1914 bis 1917, aus der deutlich die massive Kürzung der Nahrungsmittelportionen abgelesen werden kann. Von der Zuteilungsmenge der einzelnen Rationen nach Belegziffer waren die Patienten der Anstalt „mit den anderen Bevölkerungsschichten“ 52 gleichgestellt, was von Seiten der Anstaltsleitung als „große Härte empfunden“ 53 wurde. Denn die Bevölkerung hatte, anders als die Patienten der Heilanstalt, oft die Gelegenheit zum Ausgleich, durch den freihändigen Aufkauf oder das Hamstern von Lebensmitteln auf dem Lande. Besser war die Situation hingegen für diejenigen Patienten, die als arbeitsfähig galten. Sie konnten sich aufgrund des kriegsbedingten Arbeitskräftemangels bei Handwerkern der Umgebung in einer abgewandelten Form der Familienpflege verdingen und damit die Kostbeschränkungen der Anstalt umgehen. Obwohl permanente Kürzungen der Rationen in Kauf genommen werden mussten, konnte dennoch bei fast allen Verpflegungsklassen die geforderte Kalorienzahl von 2.000 Kalorien pro Tag gewährleistet werden. Lediglich in der III. Verpflegungsklasse blieb man mit einem durchschnittlichen Tageskalorienwert von 1.937 unter den geforderten 2.000. Auch geht aus den dem Bericht beigelegten 50 HistA BKH KF I/ 33 „Bericht Heinrich Salm, Februar 1918, Ernährung“; HistA BKH KF I/ 33 „Bericht Heinrich Salm, Februar 1918, Beilage 5“; S TROBEL , Kriegswirtschaft, 32f.; StadtA KF A 2708. 51 Daten entnommen aus HistA BKH KF I/ 33 „Bericht Heinrich Salm, Februar 1918, Beilage 5“. 52 HistA BKH KF I/ 33 „Bericht Heinrich Salm, Februar 1918, Ernährung“. 53 Ebd. Corinna Malek 380 Speiseplänen der verschiedenen Versorgungsklassen hervor, dass trotz der Einschränkungen pro Tag drei wechselnde Mahlzeiten gewährleistet werden konnten, die die gewünschte Kalorienmenge erfüllten. Ebenso konnte der Verwalter feststellen, dass „Trotz der ausserordentlichen Schwierigkeiten in der Beschaffung der Lebens- und Genussmittel […] bei unseren Patienten eine Unterernährung nicht zu konstatierten“ 54 war. 55 Obwohl die Ernährung durch die sich verschlechternden äußeren Bedingungen stetig weiter eingeschränkt wurde, konnte jedoch „eine Unterernährung und eine dadurch eintretende höhere Sterblichkeit, wie sie in verschiedenen anderen Anstalten festgestellt wurde, vermieden werden“. 56 Ebenso bemerkte Verwalter Sack, dass dieser Umstand auch „1917 durch die K. Regierungsvisitations Kommission ausdrücklich festgestellt wurde“. 57 Glaubt man dieser Aussage des damaligen Verwalters, so kann von einem Hungersterben in Kaufbeuren nicht gesprochen werden, da durch eine vorausschauende Vorratshaltung sowie des eigenen landwirtschaftlichen Betriebs die größte Not doch abgemildert werden konnte. Dennoch „stieg [im Hungerjahr 1917] die Zahl der Todesfälle in der Anstalt auf die nie bisher erreichte Höhe von 95 = 10,4% 58 des Gesamtbestandes“, 59 was allerdings über das Fehlen von Brenn- und Heizmaterial erklärt werden kann. Dadurch konnten nicht nur therapeutische Maßnahmen, wie Dauerbäder, nicht mehr zur Anwendung kommen, sondern es mussten auch die Krankenstationen auf engsten Raum zusammengelegt werden. Dies verschlechterte die hygienischen Bedingungen auf den Stationen immens und erhöhte gleichzeitig deutlich die Ansteckungsgefahr, insbesondere für die Grippe. Ebenso darf die ländliche Lage der Anstalt nicht vergessen werden, da die Versorgungsmöglichkeiten im ländlichen Raum bessere waren als in den Großstädten. Für die Versorgung der Soldaten der Anstalt wurde von militärischer Seite die Unterbringung in der Verpflegungsklasse III bezahlt. Wenn ein Soldat nach der nächsthöheren Klasse, also in der Verpflegungsklasse II, versorgt werden wollte, musste er den Aufpreis aus eigener Tasche finanzieren. Generell wurden für die untergebrachten Soldaten aber kein Sonderspeiseplan bzw. keine Sonderrationen veranschlagt, sondern sie wurden nach den üblichen Verpflegungssätzen der jeweiligen Klassen versorgt. Für die dritte Versorgungsklasse bedeutete dies, dass drei Mahlzeiten am Tag, nämlich Frühstück, Mittagessen und Abendessen, 60 für deren 54 Ebd. 55 Ebd., Ernährung, Beilagen 6, 7, 8, 9. 56 Ebd., Ernährung. 57 Ebd. 58 Das gleiche Ergebnis erzielte die Auswertung des Totenbuchs der Anstalt durch die Verfasserin. Es verstarben im Jahr 1917 58 Männer und 37 Frauen, wobei die Todesursachen nicht zusätzlich vermerkt wurden, vgl. HistA BKH KF Leichenschauregister 1909-1929. 59 HistA BKH KF I/ 19 „Festrede Direktor Prinzing, 11“. 60 Folgende Versorgung wurde im Oktober 1915 an die Patienten der dritten Versorgungsklasse ausgegeben: Frühstück: eine Semmel à 45 Gramm, dazu Kaffee; Mittagessen (werktags): Suppe, 185 Gramm rohes Rindfleisch mit Gemüse, an Sonntagen wurde entweder 250 Gramm Kalbsbraten oder 200 Gramm Schweinebraten aufgetischt; Abendessen: Suppe mit Die Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee 381 Bereitung der Direktor einen pro-Kopf-Tagessatz von 72 Pfennig errechnete, von Seiten des Militärs bezahlt wurden. Unentgeltlich wurden die Heeresangehörigen außerdem mit dem zweiten Frühstück 61 versorgt, welches üblicherweise an die zivilen Patienten der dritten Versorgungsklasse ausgegeben wurde. Demnach erhielten zivile und militärische Patienten die gleiche Versorgung, ohne dass eine Gruppe gegenüber der anderen besser oder schlechter gestellt wurde. Zudem wurde keine der zustehenden Rationen unterschlagen, sondern jeder Patient erhielt die für ihn vom Kommunalverband vorgesehene Menge. Auch fand keine Unterscheidung zur gesunden Bevölkerung statt, da die errechneten Rationen für die Patienten der Heilanstalt dieselben waren wie für die restlichen Bewohner der Stadt Kaufbeuren. Demnach greift die These Faulstichs für das Beispiel Kaufbeuren nicht. 62 9. Resümee Obwohl der Erste Weltkrieg mit der Unterzeichnung des Versailler Vertrags am 11. November 1918 sein offizielles Ende fand, blieben seine Auswirkungen noch lange danach spürbar. Für die Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee beispielsweise blieben die Bewirtschaftungsmaßnahmen für Getreide und Nahrungsmittel bis zum Jahr 1923 bestehen, während einzelne ehemalige soldatische Patienten bis in die NS-Zeit dort weiter behandelt wurden. Dennoch überstand die Anstalt den Krieg besser als andere Vergleichsinstitutionen in Deutschland, deren Patientenzahlen rapide durch den Krieg zurückgingen. 63 Mit der Analyse des vorhandenen Aktenmaterials rund um die Versorgung und Verwaltung in der Kriegszeit konnte gezeigt werden, dass die Insassen der Einrichtungen, ganz gleich ob militärisch oder zivil, nicht schlechter gestellt wurden in den ihnen zugeteilten Rationen als die gesunde Bevölkerung der Kleinstadt im Allgäu. Obwohl die zugeteilten Mengen sehr knapp bemessen waren, bemühte sich die Anstaltsleitung um eine adäquate Versorgung ihrer Insassen, in dem auch versucht wurde, eine Mindestkalorienanzahl von 2.000 Kalorien pro Tag nicht zu unterschreiten. Ihr zugute kamen dabei die vorausschauende Vorratshaltung der Anstaltsleitung sowie die eigenen landwirtschaftlichen Betriebe. Auch die personellen Engpässe, die durch die Einberufung des männlichen Personalstands ausgelöst wurden, konnten mit einer großen Fluktuation an Hilfspersonal sowie dem Einsatz weiblicher Pflegerinnen soweit kompensiert werden, dass die Versorgung der Kranken 125 Gramm Wurst oder Kartoffeln mit 35 Gramm Butter oder Summe mit 100 Gramm Käse, HistA BKH KF III/ 46a „Schreiben Direktion Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren- Irsee an die stellvertretende Intendantur I. A. K., 7.10.1915“. 61 Das zweite Frühstück bestand aus einem Viertelliter Milch oder 50 Gramm Butter, HistA BKH KF III/ 46a „Schreiben Direktion Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee an die stellvertretende Intendantur I. A. K., 7.10.1915“. 62 StadtA KF A 2708; HistA BKH KF I/ 33 „Bericht Heinrich Salm, Februar 1918, Ernährung“. 63 StadtA KF A 2708. Corinna Malek 382 grundsätzlich aufrecht erhalten werden konnte. Ebenso wurde gezeigt, dass die Soldaten dieselbe Behandlung und Kost wie die regulären Patienten der Anstalt erhielten und somit auch hier keine Besserstellung erfolgte. Dies war allerdings auch bedingt durch das Fehlen einer speziellen Abteilung für psychisch kranke Heeresangehörige. Dennoch kann eine Unterscheidung zwischen zivilen und militärischen Patienten ausgeschlossen werden, beide erhielten die gleiche Behandlung, die im Rahmen der Möglichkeiten des Krieges auf bestmöglichste Weise zu leisten versucht wurde. Auch konnte dargelegt werden, dass die Insassen der Vereinslazarette den zeitlichen Umständen entsprechen gut versorgt wurden, wenn auch dies nicht immer konfliktfrei ablief. Letztlich zeigt sich, dass die Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren- Irsee nicht in die Reihe derjenigen Anstalten gestellt werden kann, in denen es zu einem massenhaften Hungersterben der Patienten kam, wie es Faulstich für seine Beispiele herausgearbeitet hat. Quellen und Literatur Archive Bayerisches Hauptstaatsarchiv München (BayHStA) - Abt. IV Kriegsministerium 10264. - Abt. IV Stellvertretendes Generalkommando I. Armeekorps Sanitätsamt 185. - Abt. IV Stellvertretendes Generalkommando I. Armeekorps Sanitätsamt 901. Historisches Archiv Bezirkskrankenhaus Kaufbeuren (HistA BKH KF) - I/ 19. - I/ 33. - III/ 46a. - III/ 50. Stadtarchiv Kaufbeuren (StadtA KF) - A 2707. - A 2708. - A 4030. - A 4776. - FA 49/ 3. Gedruckte Quellen Bayerisches Landeskomitee für freiwillige Krankenpflege im Kriege (Hrsg.): Anleitung für die Aufstellung und den Betrieb der Vereins- (Ordens-) Lazarette der freiwilligen Krankenpflege im Kriege für das Königreich Bayern, München 1914. Bayerisches Statistisches Landesamt (Hrsg.): Historisches Gemeindeverzeichnis: Die Einwohnerzahlen der Gemeinden Bayerns in der Zeit von 1840 bis 1952, München 1953. 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Based on the empirical analysis of individual pension proceedings a deeper insight will then be given on the re-integration into the workforce and on the health status of psychically-disabled veterans. In addition to scientific and political standpoints this article aims at involving also the veterans’ perspectives on their condition and their opportunity of participation. Finally it will be underlined how dramatically the situation of psychically-injured veterans of WW I worsened after 1933 - not only in regard to pension policies but also in regard to their self-perception. Zusammenfassung Die Reintegration psychisch versehrter Soldaten in die Zivilgesellschaft nach 1918 war selbstverständlich mit immensen Herausforderungen verbunden - auf politischer wie individueller Ebene. Der Beitrag möchte vor dem Hintergrund des Diskurses um die Rentenberechtigung psychisch Versehrter die Rahmenbedingungen verdeutlichen, die den Lebens- und Arbeitsalltag der Betroffenen und ihrer Familien in der Zwischenkriegszeit weithin prägten. Es werden sodann konkrete, aus der empirischen Auswertung von Rentenakten gewonnene, Erkenntnisse zur beruflichen und gesundheitlichen Entwicklung psychisch Kriegsbeschädigter geschildert. Weiterhin möchte der Artikel neben dem fachwissenschaftlichen und politischen Diskurs über psychisch Versehrte gleichermaßen auch die Perspektiven der Betroffenen auf ihre sozioökonomische Situation und Versehrtheit einbinden und außerdem verdeutlichen, wie drastisch sich ihre Versorgungssituation sowie ihre Selbstwahrnehmung nach 1933 negativ veränderten. 1. Prolog Die hohe Zahl von mehr als 600.000 während des Ersten Weltkrieges aufgrund von „Nervenkrankheiten“ behandelten Soldaten provoziert geradezu die Frage nach ihrem Verbleib nach Kriegsende, ihrem weiteren beruflichen Werdegang und per- Stephanie Neuner 388 sönlichen Lebensweg. 1 Gelang es psychisch Versehrten dort anzuknüpfen, wo sie vor dem Kriegseinsatz gestanden hatten - privat wie beruflich? Wie war es um ihre Reintegration in den Arbeitsmarkt bestellt und inwiefern tangierte sie dabei ihr psychisches Kriegsleiden? Welchen Platz nahmen sie als Weltkriegsveteranen innerhalb der Weimarer Kriegsbeschädigtenversorgung ein und wie sahen sie selbst ihre Chancen auf Anerkennung und gesellschaftliche Teilhabe? Um sich den Nachkriegsbiographien psychisch Versehrter anzunähern, erweist sich die Untersuchung individueller Berentungsvorgänge im Kontext der staatlichen Kriegsbeschädigtenversorgung als äußerst gewinnbringend. Dank der in Rentenakten enthaltenen Verwaltungsdokumente, ärztlichen Zeugnisse und Eingaben psychisch Kriegsbeschädigter lassen sich Berentungsprozesse über viele Jahre hinweg, auch über den politischen Systemwechsel 1933 hinaus, beobachten. 2 Rentenakten stellen gerade deswegen einen so reichhaltigen Quellenfundus dar, weil sie detaillierte Auskünfte über die wirtschaftlichen und gesundheitlichen, teilweise auch über die persönlichen Verhältnisse enthalten. Setzt man diese Informationen in Zusammenhang mit dem zeitgenössischen versorgungspolitischen, psychiatrisch-psychotherapeutischen und rechtswissenschaftlichen Diskurs um die Rentenberechtigung bei psychischen Störungen, so ergibt sich ein vielschichtiges Bild vom Lebens- und Arbeitsalltag psychisch Versehrter nach 1918. Es geht in den folgenden Ausführungen nicht nur darum, aus den Rentenakten gewonnene Informationen zur wirtschaftlichen, sozialen und gesundheitlichen Situation der Betroffenen in ihrem zeitgenössischen Kontext darzustellen. Es sollte darüber hinaus deutlich werden, dass die Reintegration psychisch Kriegsbeschädigter in die Nachkriegsgesellschaft einen komplexen Vorgang bedeutete, in welchem die Bemühungen, im Erwerbsleben zu bestehen, die gesundheitliche Entwicklung sowie die stetige Auseinandersetzung mit Versorgungsbehörden und Ärzten sich kontinuierlich und wechselseitig beeinflussten. Um die Rahmenbedingungen der gesellschaftlichen Reintegration und gesundheitlichen Rehabilitation zu verdeutlichen, wird zunächst dargestellt, wie sich die faktische Berentungspraxis bei psychischen Störungen im Kontext der staatlichen Versorgungspolitik sowie die Diskussion um die Legitimität dieser Berentungen vor und nach 1933 entwickelten. Dies ist für das Verständnis der im folgenden Teil ausgeführten Lebens- und Arbeitssituation psychisch Beschädigter unabdingbar, da 1 Vgl. Deutsches Reich (Hrsg.), Sanitätsbericht, 145. Die Gesamtzahl psychisch Kriegsversehrter zu ermitteln ist äußerst schwierig. Zum einen erfassten die Statistiken freilich nur behandelte Soldaten, zum anderen wurden die vielfältigen psychophysischen Zustände unterschiedlichen Krankheitskategorien zugerechnet. Vgl. W ATSON , Self Deception, 248; N EU - NER , Politik, 29f. 2 Dieser Artikel fußt auf den Ergebnissen meiner 2011 unter dem Titel „Politik und Psychiatrie. Die Entschädigung psychisch Versehrter Soldaten in Deutschland, 1920-1939“ veröffentlichten Dissertation. Es wurden insgesamt ca. 1.600 Versorgungsfälle psychisch Versehrter qualitativ und quantitativ ausgewertet, die im Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde in den Beständen des Reichsarbeitsministeriums dokumentiert sind. Selbstverständlich erfasst die Auswertung nur jene Kriegsteilnehmer, die eine Rente (zumindest einmalig) erfolgreich beantragten hatten. Ausführlich zum Quellenbestand N EUNER , Politik, 38f. Die Rückkehr in den Alltag 389 die Entschädigungspolitik zum einen ganz unmittelbar die wirtschaftliche Situation psychisch Kriegsbeschädigter und ihrer Familien bestimmte. Zum zweiten produzierte und verfestigte der Diskurs um die Entschädigungsberechtigung stereotype Rollenbilder von „Kriegs“- oder „Rentenneurotikern“, die den alltäglichen Umgang mit den Betroffenen nachhaltig beeinflussten und nicht zuletzt auch das Selbstbild der psychisch Versehrten prägten. Soweit dies auf der Grundlage von „Egodokumenten“ 3 psychisch Kriegsversehrter möglich ist, wird auch deren persönliche Einschätzung ihrer Rollen als Kriegsveteranen, Arbeitstätige und chronisch Kranke mit dargestellt. Hierbei wird deutlich werden, wie psychisch Kriegsbeschädigte selbst ihre Chance auf gesellschaftliche Teilhabe einschätzten und wie hochproblematisch sie ihren Status als psychisch versehrte Weltkriegsveteranen im Kontext der nationalsozialistischen Versorgungs- und Gesundheitspolitik erlebten. 2. Die „Neurosenfrage“: Psychische Kriegsbeschädigung im politischen und fachwissenschaftlichen Diskurs nach 1918 2.1. Die Berentung psychischer Kriegsversehrtheit nach dem Reichsversorgungsgesetz Das neu konzipierte Reichsversorgungsgesetz (RVG) von 1920, das die Versorgung kriegsbeschädigter Soldaten regelte, erkannte psychische Versehrtheit grundsätzlich als versorgungsberechtigte Gesundheitsstörung an. 4 Der Staat zahlte entsprechend der durch die Versehrtheit bedingten prozentualen Minderung der Erwerbsfähigkeit und den hieraus resultierenden wirtschaftlichen und gesundheitlichen Schäden Renten an die Betroffenen - sofern ein ursächlicher Zusammenhang mit dem Kriegsdienst nachweisbar war. Das in vielerlei Hinsicht innovative Gesetz unterschied sich damit etwa ganz wesentlich vom Wehrmachtsfürsorge- und Versorgungsgesetz aus dem Jahr 1938, welches psychische Leiden aus der Versorgung kategorisch ausschloss. 5 Obwohl die Weimarer Gesetzgeber die Möglichkeit der Rentenanerkennnung bei psychischen Störungen im RVG festgeschrieben hatten, verstummte die Grundsatzdebatte zur Legitimität des potenziellen Rentenanspruchs bei psychischen Störungen über die gesamten Weimarer Jahre hinweg nicht. Der Diskurs zur „Neurosenfrage“ - wie die Frage nach der Rentenberechtigung bei psychischer Versehrtheit schlagwortartig zusammengefasst wurde - war ein fortwährender Bestandteil der sozialpolitischen Debatte der Republik. Der Grund, warum die „Neurosenfrage“ so hitzig und oftmals polemisch auf dem politischen Parkett diskutiert wurde, lag in ihrer sozialrechtlichen Breitenwirkung begründet. Denn die Frage nach der An- 3 Zum Begriff des Ego-Dokuments über den autobiographischen Text hinaus S CHULZE , Ego- Dokumente. 4 Vgl. Reichsarbeitsministerium, R.V.G., § 2. 5 Wehrmachtsfürsorge- und -versorgungsgesetz vom 26. August 1938, in: Reichsgesetzblatt (RGBl.) I, S. 1293, § 4 Abs. 1-2. Stephanie Neuner 390 spruchsberechtigung bei kriegsbedingten psychischen Störungen war mit der Debatte zur Kompensation psychischer Leiden nach Arbeitsunfällen innerhalb der staatlichen Invaliden- und Unfallversicherung verknüpft. Die sozialpolitische Brisanz der „Neurosenfrage“ verschärfte sich ungemein angesichts der Vorstellung, die gesetzliche Regelung kriegsbedingter psychischer Versehrtheit durch das RVG könnte Vorbildcharakter für die Behandlung ziviler Arbeitsunfälle bekommen. 6 Argumentativ unterstützte die Elite der Universitätspsychiatrie das von rechtskonservativen Politikern inszenierte Schreckensbild von tausenden neurotischen Rentenempfängern, die nicht nur die Kriegsbeschädigtenversorgung, sondern auch die zivile Unfall- und Invalidenversicherung zu Unrecht und auf Kosten der Allgemeinheit belasteten. 7 Die Angriffe zielten jedoch über die Legitimität des individuellen Rentenanspruchs hinaus auf den einen vermeintlichen „parasitismus socialis“ 8 nährenden liberalen Weimarer Sozialstaat, der zu „lasch“ gegenüber Arbeitsunwilligen agiere, die „Begehrungsvorstellungen“ von „Kriegs“-, „Unfall“- und „Rentenneurotikern“ in Bezug auf eine Rente regelrecht hervorriefe und deren „Willensschwäche“ nichts entgegen setzen könne. 9 Während auf der konservativen Seite des politischen Spektrums vor einer Art „proletarischen Schmarotzertums“ gewarnt wurde, entwarf die politische Linke im Verbund mit sozialistisch und kommunistisch engagierten Ärzten das Krisenszenario heftigster Einschnitte im sozialen Entschädigungsrecht zuungunsten der Arbeiterschaft und in letzter Konsequenz die Demontage des Wohlfahrtsstaates. Als Gradmesser für die Zukunft des Sozialstaates diente ihr - ebenso wie dem rechtskonservativen Lager - die Entschädigungspolitik gegenüber psychisch versehrten Weltkriegsteilnehmern. 10 Die Debatte um die Anspruchsberechtigung auf Rente bei kriegsbedingter psychischer Versehrtheit wurde also insgesamt als Grundsatzdiskussion über gesamtgesellschaftliche Solidarität und die Leistungsgrenze des sozialen Sicherungssystems verstanden, was die Aushandlung individueller Rentenansprüche auf unterschiedlichen Ebenen höchstwahrscheinlich erheblich belastete. Neben der sozialpolitischen Debatte zur „Neurosenfrage“ stand die Beurteilung des Rentenanspruchs im Falle psychischer Versehrtheit außerdem im Mittelpunkt eines erbitterten Kompetenzstreits zwischen Medizin und Rechtswissenschaft. Den Nukleus der Entschädigungsfrage bildete dem RVG nach die Frage der Kausalität zwischen dem Kriegsgeschehen und der psychischen Versehrtheit. Im Rahmen der Verwaltungs- und Spruchtätigkeit an Versorgungsämtern und vor Versorgungsgerichten stand diese Frage des ursächlichen Zusammenhangs tagtäglich im Zentrum der Aushandlungsprozesse um den Rentenanspruch. Beide Berufsgruppen, die in- 6 Vgl. M IKEŠI , Sozialrecht, 173; F ISCHER -H OMBERGER , Neurose, 11-169; T HOMANN / R AUSCHMANN , Belastungsstörung; S CHMIEDEBACH , Neurosis. 7 Vgl. z.B. W EILER , „Renten-neurose“, 1841; DERS ., Kriegsbeschädigte, 5-7; UA HU Nachlass Karl Bonhoeffer, Aufzeichnungen für die Sitzung der Statistischen Kommission am 14. Dezember 1929, 10. 8 S IMON , Parasitismus Socialis, 247. 9 Vgl. z.B. K RETSCHMER , Psychologie, 197; P ANSE , Schicksal, 83; L ERNER , Hysterical Men, 2; F ISCHER -H OMBERGER , Neurose, 4f. 10 Vgl. L EVY -S UHL , Kriegsneurosen, 39; E LIASBERG , Rechtspflege, 27. Die Rückkehr in den Alltag 391 nerhalb des Berentungsverfahrens eng zusammen arbeiten mussten, beharrten jeweils auf einem absoluten Deutungsanspruch, wie das Kausalitätsproblem anhand wissenschaftlicher Normen zu „objektivieren“ sei. 11 Sie verhandelten die Kausalität, den Krankheitswert sowie die Behandlungswürdigkeit in unterschiedlichen Denkmodellen, eine jeweils spezifische Fachsprache benutzend und Termini gebrauchend, die vom anderen nicht verstanden oder leicht missverstanden werden konnten, und gelangten häufig zu stark divergierenden Urteilen, was den Entschädigungsanspruch anging. 12 Der Reichsarbeitsminister ebenso wie viele an der Umsetzung der Versorgungspolitik beteiligten Stellen, Verwaltungsbeamte wie Ärzte, bemängelten stetig die hieraus entstehende Uneinheitlichkeit in der Entscheidungspraxis, die wiederum Anlass zu Rekursen, Neu- und Änderungsanträgen gab und damit der bereits stark überlasteten Weimarer Versorgungsbürokratie wiederum zusätzliche Arbeit „aufbürdete“. 2.2. Kursänderungen? Die Versorgungspolitik in der Zwischenkriegszeit Trotz der heftigen Angriffe auf politischer Ebene hielt das Reichsarbeitsministerium bis Ende der Weimarer Republik an seinem Grundsatz fest, psychisch Kriegsbeschädigte zu berenten, sofern eine Dienstbeschädigung im Sinne eines kausalen Zusammenhanges zwischen psychischer Störung und Kriegsdienst glaubhaft gemacht werden konnte. 13 Die Anerkennung von Rentenansprüchen in tausenden von Fällen erfolgte gegen den hartnäckigen Widerstand der Elite der zeitgenössischen Universitätspsychiatrie um den Berliner Psychiater und Direktor der Nervenklinik der Charité Karl Bonhoeffer (1868-1948). Psychiater wie Bonhoeffer, Ewald Stier (1874- 1962) oder Martin Reichardt (1874-1966), die zu den wichtigsten, die Politik in der „Neurosenfrage“ beratenden Experten zählten, argumentierten vehement gegen Krankheitswert und Behandlungswürdigkeit der Leiden psychisch Versehrter und lehnten dementsprechend auch Berentungen rigoros ab. 14 Es wirkt daher zunächst umso erstaunlicher, dass sich auf der Ebene der Politikformulierung und -implementierung diese einflussreiche, gegen die Berentung gerichtete Expertenmeinung 11 Hierzu ausführlich N EUNER , Politik, 176-181. 12 So z.B. BArch R 89/ 15113, Schreiben der Psychiatrischen Universitätsklinik Würzburg an das RVA am 16. März 1921; zur Kritik des Reichsarbeitsministers nach 1933: NRWStADT L 80.06, Schreiben des Reichsarbeitsministers an die preußischen Finanzminister und Landesregierungen am 29. August 1936. 13 Als einschlägiges Dokument für die Weimarer Versorgungspolitik in diesem Sinn kann der „Neurotikererlass“ aus dem Jahr 1929 gelten. Vgl. Reichsversorgungsblatt. Amtliche Nachrichten über die Versorgungs- und Fürsorgeangelegenheiten der Kriegsbeschädigten und Kriegshinterbliebenen 5 (1929), 191f. 14 Vgl. exemplarisch BArch R 89/ 15114, „Die Beurteilung, Begutachtung und Rechtsprechung bei den sog. Unfallneurosen“. Vortrag von Karl Bonhoeffer an der Charité, Berlin am 7. Dezember 1925; Vortrag Ewald Stiers im Reichsversicherungsamt am 3. Juni 1926; S TIER , Neurosen; R EICHARDT , Unfall- und Invaliditätsbegutachtung; B ONHOEFFER / J OSSMANN , Obergutachten; W EILER , „Renten-neurose“. Stephanie Neuner 392 nicht durchsetzen konnte. So wie sich der tatsächliche Begutachtungsalltag in den Rentenakten widerspiegelt, diktierte die zeitgenössisch so genannte „herrschende“ psychiatrische Lehre zur „Neurosenfrage“ entgegen ihrem Deutungsanspruch tatsächlich keineswegs die fachärztlichen Begutachtungen. Die Berentungsakten führen deutlich vor Augen, dass Gutachter den Krankheitswert der psychischen Störungen nicht kategorisch verneinten, eine Heilbehandlung oftmals für erforderlich hielten und die verbliebene Arbeitskraft aufgrund der psychischen Versehrtheit teilweise auch als erheblich gemindert ansahen. 15 Das recht abstrakte Konzept der „Kriegs“-, „Unfall“- und „Rentenneurose“ mit seiner starren Terminologie erwies sich im Alltag der ärztlichen Begutachtungen wohl als zu praxisfern, als dass es flächendeckend hätte Anwendung finden können. Die gutachtenden Ärzte sprachen, so belegen die Rentenakten, vielmehr weiterhin von - in ihrer Schwere und Symptomatik sehr unterschiedlich ausgeprägten - „hysterischen“, „funktionellen“, „psychogenen“ oder „nervösen“ Erscheinungen, die sich teilweise mit schizophrenen oder epileptischen Zuständen und vielfach mit körperlichen Einschränkungen verbanden. 16 Die von der Doktrin der „herrschenden“ Lehre abweichende Begutachtungspraxis in der Weimarer Republik kann außerdem auch als Ausdruck eines wissenschaftlichen Meinungspluralismus in der „Neurosenfrage“ gelten. Insbesondere psychotherapeutisch orientierte Ärzte wie Arthur Kronfeld (1886-1941), 17 Wladimir Eliasberg (1887-1969) oder Max Levy-Suhl (1876-1947) traten vehement für eine differenziertere und auf den Krankheitswert der psychischen Störungen der Kriegsteilnehmer fokussierende ärztliche Betrachtungsweise ein. 18 Die Psychotherapeuten, die im Gegensatz zur psychiatrischen Elite die „Kriegsneurose“ als Lazarettärzte selbst miterlebt hatten und sich selbstbewusst als die „Gegner der herrschenden Lehre“ präsentierten, standen machtpolitisch zwar hinter Ordinarien wie Bonhoeffer zurück, ihre Auffassung von der „Kriegs“-, „Unfall“- und „Rentenneurose“ als behandlungswürdige Krankheit scheint sich im Begutachtungsalltag im Rahmen des Rentenprozesses dennoch faktisch niedergeschlagen zu haben. Dies verwundert an sich nicht, denn ihre Publikationen waren ab Mitte der 1920er Jahre integraler Bestandteil des psychiatrischen Diskurses zur „Neurosenfrage“ und wurden innerhalb der Fachöffentlichkeit breit rezipiert. 19 Ebenso wenig wie die vermeintlich „herrschende“ Lehre in der Lage war, die medizinische Begutachtungspraxis zu diktieren, war sie dazu im Stande, die rechtlich-medizinische Auseinandersetzung um die Rentenberechtigung im Rahmen der Verwaltungs- und Spruchtätigkeit der Reichsversorgung zu dominieren. Zwar wurde der psychiatrischen Expertise großes und teils wohl auch entscheidendes Gewicht bei der Verhandlung des Rentenanspruchs eingeräumt, das medizinische Gutachten hatte formal jedoch nur den Stellenwert eines Beweismittels. Der Arzt, der als Gut- 15 N EUNER , Politik, 175f. 16 Dazu ausführlich ebd., 168-174. 17 Zu Kronfeld K ITTEL , Arthur Kronfeld. Zum psychotherapeutischen Ansatz Kronfelds K RONFELD , Gedanke. 18 Vgl. den Diskussionsbeitrag Levy-Suhls zu W EIZSÄCKER , Rechtsneurosen, 646; E LIASBERG , Unfallneurosen; DERS . Unfallneurotiker. 19 Vgl. H ASENPATT , Beurteilung. Die Rückkehr in den Alltag 393 achter zwar großes Machtpotenzial innerhalb des Berentungsprozesses zugeschrieben bekommen hatte, war tatsächlich in ein von Justiz und Verwaltung kontrolliertes Entscheidungssystem eingebunden. Die letztendliche Entscheidung über den individuellen Rechtsanspruch auf Versorgung oblag Verwaltungsbeamten sowie den Richtern der Versorgungsgerichte. Das ärztliche Streben nach „Führung“ innerhalb der Versorgungspolitik lief bis 1933 machtpolitisch ins Leere. 20 Der politische Systemwechsel 1933 wirkte sich umgehend auf die Versorgungspolitik gegenüber psychisch Kriegsbeschädigten aus. Im Zuge der ideologischen Neukonzeption der Kriegsbeschädigtenversorgung und Änderungen des Versorgungsrechts kassierte der NS-Staat sukzessive sämtliche Rentenansprüche psychisch Kriegsbeschädigter. 21 Den Kriegsversehrten wurden ab 1935 mit einer medizinischen Begründung die Renten entzogen, nämlich, es handele sich bei den bislang berenteten psychischen Störungen um die Reaktion psychopathisch veranlagter Menschen auf ihre Umwelt und nicht um die Folge exogener Ereignisse während des Krieges. 22 Die NS-Versorgungspolitik stellte in ihrer Logik durch den Rentenentzug wieder Recht her und tilgte bestehendes, durch die Weimarer Versorgungsbehörden verhängtes Unrecht, indem sie den ihrem Empfinden nach unrechtmäßigen Rentenbezug von Personen „asozialen“ Charakters stoppte. Nach Auffassung der NS-Versorgungsbehörden handelte es sich bei psychisch versehrten Veteranen um Menschen, deren vermeintlich fehlende Selbstverantwortung und „Willensschwäche“ zu einer Gefahr für die Allgemeinheit zu werden drohte. Von „Drückebergern“ im Krieg wurden sie nun zu „Arbeitsscheuen“ erklärt, die keinerlei Gemeinsinn besäßen und sich ihrer Verantwortung für die Gesellschaft entzögen - im Felde wie im Erwerbsleben. 23 Im Gegensatz zu ihrer konfliktreichen Zusammen- 20 N EUNER , Politik, 82-86, 133f. 21 Den Rentenentzug ermöglichte eine Änderung des Verfahrensgesetzes zum RVG. Vgl. Fünftes Gesetz zur Änderung des Gesetzes über das Verfahren in Versorgungssachen vom 3. Juli 1934, in: RGBl. I (1934), S. 547f. Das RVG blieb in seiner alten Form überwiegend erhalten, was half, den Schein von Normalität und Legalität in der nationalsozialistischen Versorgungsrechtsprechung aufrechtzuerhalten. Vgl. S TOLLEIS , Recht, 10f.; M ÜLLER -D IETZ , Recht, 12. 22 Vgl. exemplarisch BArch R 3901/ 10182, Versorgungssache des Johannes J., VA Frankfurt/ Oder am [? ]. September 1936: „Die bestehende […] Hysterie-Neurasthenie (funktionelle Störung der Nerven) ist rein anlagemäßig bedingt und beruht auf inneren Ursachen. Äußere Umstände haben an dem Zustandekommen bezw. der Fortentwicklung dieser Krankheit keinen Anteil. Kriegseinflüsse irgendwelcher Art scheiden als Ursache für die Entstehung des Leidens aus. Die Anerkennung als Dienstbeschädigung war zu Unrecht erfolgt.“ Vgl. zum Rentenentzug außerdem N EUNER , Politik, 235-242. 23 Vgl. B ONHOEFFER / H IS , Unfallneurosen, 127f.; V ERSCHUER , Sozialpolitik, 17; N EUNER , Politik, 220. Die Argumentationslinie, die zwischen dem persönlichen „Versagen“ im Krieg und der defizitären Reintegration in die Weimarer Erwerbsgesellschaft gezogen wurde, empfanden psychisch Kriegsversehrte als besonders bedrückend und fürchteten insbesondere nach dem Rentenentzug ab Mitte der 1930er Jahre - wie zu Kriegszeiten - als „Drückeberger“ und „Schwächling“ und darüber hinaus nun auch als „Volksschädling“ zu gelten. Vgl. Stephanie Neuner 394 arbeit während der Weimarer Zeit zogen Mediziner und Juristen nun - zumindest programmatisch - an einem Strang, um im Versorgungswesen breite Front gegen „Volksschädlinge“ wie „Kriegs“- und „Rentenneurotiker“ zu machen. 24 2.3. Rentenverfahren im Spiegel der Erfahrungen psychisch Kriegsbeschädigter Berentungsverfahren waren selten ein für alle Mal abgeschlossen, nachdem der erste Bescheid über den anerkannten Versorgungsanspruch die ehemaligen Kriegsteilnehmer erreichte. Wie die Rentenakten zeigen, waren stattdessen häufige Änderungen im Versorgungsanspruch hinsichtlich der Diagnose des „Versorgungsleidens“, der Kalkulation der Erwerbsminderung und dementsprechend der Rentenhöhe im Versorgungswesen an der Tagesordnung. Mit den äußerst langwierigen Verfahren, die häufig auch vom Versorgungsberechtigten angestrengt wurden, um eine Besserstellung zu erreichen, verbanden sich freilich auch immer wieder neue medizinische Begutachtungen. Auf die Entscheidungen der Weimarer Versorgungsbürokratie warteten Kriegsbeschädigte etwa bis zu 24 Monate. Im Laufe der Weimarer Republik wurden persönliche Anhörungen immer seltener, zudem wurden die Einspruchsmöglichkeiten gegen erteilte Bescheide zunehmend eingeschränkt und Rekurse waren ganz überwiegend erfolglos. 25 Die Auseinandersetzungen mit den Versorgungsbehörden dauerten für etliche Kriegsbeschädigte und ihre Familien Jahre lang, sie begleiteten sie ihr ganzes Erwachsenenleben hindurch und gehörten gewissermaßen mit zum Alltag. Die in den Rentenakten erhaltenen Selbstzeugnisse psychisch Kriegsbeschädigter, die Schreiben ihrer Angehörigen und Freunde offenbaren, dass dieser Berentungsprozess, der oftmals kein Ende zu haben schien, eine schwere Belastung darstellte - insbesondere dann, wenn der „Rentenkampf“ von verzweifelten Versuchen geprägt war, dem eigenen Rentenanspruch über Jahre hinweg Glaubwürdigkeit zu verleihen und ihn durch die Instanzen durchzufechten. Suizide und Suizidversuche nach abgelehnten Anträgen finden sich vielfach nicht nur in der reißerischen Tagespresse der Zeit, sondern auch in den Spruch- und Verwaltungsakten der Versorgungsbehörden. 26 Besondere Verbitterung riefen die medizinischen Begutachtungen hervor, die vielfach als beschämend und erniedrigend erfahren wurden. 27 Das Arzt-Patienten- z.B. BArch R 3901/ 10196, Schreiben des Franz S. an den Reichsarbeitsminister am 7. Oktober 1938, 3. 24 Dazu S CHELLWORTH , Rechtsprechung, 39; Q UENSEL , Unfallneurose, 38f.; C ARL , Neurosenfrage, 70f. 25 BArch R 116/ 261, Begleitschreiben zum Entwurf eines sechsten Gesetzes zur Änderung des Reichsversorgungsgesetzes am 10. Juni 1930, Begründung, 20. Vgl. N EUNER , Politik, 80f. 26 Ebd., 261-264. 27 Der Kriegsbeschädigte Karl R. schilderte seine Untersuchung beispielsweise folgendermaßen: „Der mich untersuchende Arzt war Dr. M., die Untersuchung hat keine 10 Minuten gedauert. Der Arzt selbst vertrat noch [einen] rein militärischen Standpunkt, indem er mich mit den folgenden Worten anschnauzte: ‘Stehen Sie doch ein Bischen [sic] still und zappeln Sie Die Rückkehr in den Alltag 395 Gespräch im Kontext der Begutachtung war ganz offenbar nicht dazu geeignet, die eigene Sichtweise auf das psychische Kriegsleiden zur Sprache zu bringen und darüber in ein therapeutisches Gespräch einzutreten. Kriegsbeschädigte hatten in der Situation der Begutachtung ebenso wie innerhalb des gesamten Prozesses der Rentenfeststellung, auch aufgrund der stetigen Arbeitsüberlastung der Versorgungsbehörden, kaum die Möglichkeit, ihren Fall persönlich mitzuteilen oder gar mit zu verhandeln. Vielleicht beschrieben psychisch Kriegsbeschädigte gerade deswegen ihre Kriegserlebnisse und deren Folgen teils so ausführlich und akribisch in ihren Briefen an die Versorgungsbehörden, die Reichskanzlei und Adolf Hitler persönlich, eben weil ihre subjektiven Sichtweisen ansonsten kaum gehört wurden. 28 Sie taten das selbstverständlich primär, um ihren Rentenansprüchen Nachdruck zu verleihen - denn: für sie stand die kausale Verbindung zwischen den Kriegserlebnissen und ihren psychischen Leiden unverrückbar fest. Dementsprechend heftig waren die Reaktionen auf die Begründung des Rentenentzuges, es handele sich bei den psychischen Störungen der Kriegsversehrten um Manifestationen ihrer vermeintlich psychopathologischen Konstitution denn um die Wirkung äußerer Kriegsgeschehnisse. So äußerte sich beispielsweise der Kriegsbeschädigte Arnold H. in einem Schreiben an Adolf Hitler am 20. Mai 1938: „Es ist da für mich nicht alleine um die Rentenfrage zu tun, sondern, hauptsächlich darum, das [sic! ] meine Krankheit nur auf die Folgen meiner nachweissbaren im Felde erlittenen Verschüttung und Nervenschocks zurückgeführt wird. Eine andere Entscheidung werde ich nie anerkennen und bitte Sie, mein Führer, auf die Versorgungsbehörden einwirken zu wollen, das [sic] wenigstens mein Leiden als Kriegsleiden anerkannt bleibt.“ 29 Diese scharfe Zurückweisung der Psychopathie-Diagnose ist vielen Briefen gemeinsam. Selbstverständlich muss die Abwehrreaktion im Kontext der Angst vor Erbgesundheitsverfahren verstanden werden. Von besonderer Härte war die amtliche Feststellung einer psychopathologischen Anlage auch insbesondere für jene Männer, welche die NS-Erbgesundheitspolitik ideell unterstützten. Bei ihnen saß der Schock tief, vom „Frontkämpfer“ nun zum „Volksschädling“ degradiert worden zu sein, den sie selbst doch als „unwert“ und „minderwertig“ betrachteten. 30 Die Aberkennungsbescheide, welche die Kriegsbeschädigten ab Mitte der 1930er Jahre erreichten, lösten eben nicht nur heftigste Proteste auf Seiten der Betroffenen selbst, ihrer Familien und Freunde aus. Vielmehr als das, führten sie zu einer tiefgreifenden nicht so, na benehmen Sie sich doch ein Bischen wie es sein soll! ‘“ Vgl. BArch R 3901/ 8720, Brief des Karl R. an das Reichsarbeitsministerium am 8. Dezember 1921. 28 Vgl. exemplarisch BArch R 3901/ 10209, Schreiben des Wilhelm K. an den Reichsarbeitsminister am 23. Mai 1938. 29 BArch R 3901/ 10209, Brief des Arnold H. an den „Führer und Reichskanzler Adolf Hitler“ am 20. Mai 1938. 30 Dazu die Briefe der Brüder K. an das Reichsarbeitsministerium. Mit dem Rentenentzug habe die Versorgungsverwaltung „kaltblütig den Stab über eine bisher alteingesessene achtbare Bauernfamilie gebrochen“, die bis dahin zweifelsfrei als „erbgesund“ hätte gelten können. BArch R 3901/ 10197, Schreiben des Gerhard K. in der Sache seines Bruders August K. an Rudolf Heß am 4. März 1939, 2. Stephanie Neuner 396 Verunsicherung in Bezug auf das Selbstbild als verdienter Weltkriegsteilnehmer und anerkannter Kriegsversehrter. 31 Aus den Schreiben der Betroffenen wird deutlich, dass es in erster Linie der Ausschluss aus der „Frontkämpfergemeinschaft“ war, der mit dem Rentenentzug ab Mitte der 1930er Jahre einherging, der ihr Selbstwertgefühl nachhaltig schädigte und sie in persönliche Krisen stürzte. 3. Zur Arbeits- und Gesundheitssituation psychisch Kriegsbeschädigter 3.1. Die Rückkehr in das Erwerbsleben Die Reintegration der Kriegsbeschädigten in den Arbeitsmarkt stellte das primäre Ziel der Versorgungspolitik dar. Die Mehrheit der psychisch Versehrten war den Rentenakten zufolge bei Kriegsende zwischen 25 und 30 Jahre alt. 32 Für sie hatte es drastische Folgen, wenn die Rückkehr ins Berufsleben scheiterte, denn sie gingen erst in den 1960er Jahren in Rente und mussten auch deswegen zwingend arbeiten, um Rentenansprüche zu erwerben. Außerdem waren psychisch Kriegsbeschädigte größtenteils als „Leichtbeschädigte“ eingestuft und bezogen lediglich kleine Renten, waren also wirtschaftlich auf Erwerbsarbeit angewiesen. 33 Nach der Auswertung der Rentenakten arbeiteten Anfang der 1930er Jahre etwa 60 Prozent der psychisch Kriegsbeschädigten - für die Versorgungs- und Fürsorgeabteilungen der Reichsversorgung wie für die Arbeitsvermittlungsstellen war das ein Zeichen, dass trotz der psychischen Versehrtheit Arbeit gefunden werden konnte, sofern der Beschädigte dazu bereit war. Das positive Bild von der erfolgreichen wirtschaftlichen Reintegration psychisch Kriegsbeschädigter erhält tiefe Risse, sobald man differenzierter nach Art, Dauer und Umfang der beruflichen Tätigkeit fragt. Lediglich 40 Prozent der psychisch Kriegsbeschädigten kehrte wieder in den Beruf zurück, den sie vor 1914 ausgeübt hatten; ihrer eigentlichen beruflichen Qualifikation nicht angemessen, übten sie vielfach weit schlechter bezahlte und unqualifizierte (Gelegenheits-)Tätigkeiten aus, etwa als Hilfsarbeiter im Kino oder Museum oder verdingten sich als „ältere Laufburschen“. 34 Die Stellen der Kriegsbeschädigtenbzw. Arbeitsfürsorge sahen sich vielfach außer Stande, psychisch Versehrte in Arbeit 31 Die Bescheide stellten klar, dass ein Anspruch auf staatliche Versorgung aufgrund des „angeblichen“ Kriegsleidens niemals existiert hätte und sämtliche vor 1933 ergangenen Verwaltungsbescheide, die ein solches psychisches Leiden fälschlicherweise als Kriegsleiden anerkannt hatten, „unrechtmäßig“ erfolgt wären. Psychisch Kriegsbeschädigten wurde damit mitgeteilt, dass sie ihre Renten angeblich seit dem Zeitpunkt ihrer erstmaligen Bewilligung zu Unrecht empfangen hätten. 32 N EUNER , Politik, 267f. 33 Zur sozialpolitischen Diskussion zu den „Leichtbeschädigten“ sowie zur Beurteilung der prozentualen Erwerbsminderung bei psychischer Versehrtheit siehe ebd., 33, 67, 74, 281f. 34 Vgl. exemplarisch BArch R 3901/ 10208, Schreiben des [Wilh]elm F. an den Reichsarbeitsminister am 28. November 1937, 2. BArch R 3901/ 10186, Schreiben des Paul P. an Hermann Göring am 27. November 1939, 3. Die Rückkehr in den Alltag 397 zu bringen. Sie galten ihnen als „hoffnungslose Fälle“. Als Gründe hierfür stellten sie deren psychische Labilität, ihre fehlende Belastbarkeit, die auffällige Symptomatik wie Zittern und Stottern, insbesondere aber auch den vermeintlich fehlenden Arbeitswillen der Beschädigten heraus. 35 Von gesetzlichen Hilfsinstrumenten wie etwa dem so genannten Beamtenschein, der ähnlich wie das Schwerbeschädigtengesetz Kriegsbeschädigte dauerhaft unterbringen sollte, wurde bei psychisch Kriegsversehrten nur unzureichend Gebrauch gemacht. Das Bayerische Landesversorgungsgericht begründete dies in einem Urteil aus dem Jahr 1926 damit, psychisch Versehrte könnten die persönlichen Voraussetzungen für die besondere Gehorsams-, Treue- und Arbeitspflicht eines Staatsbeamten aufgrund ihrer charakterlichen „Defekte“ nicht erfüllen. 36 Psychisch Kriegsbeschädigte kritisierten hingegen scharf den Vorwurf, nicht arbeiten zu wollen. Sie verwiesen im Gegenteil auf ihre „Willenskraft“ und „ausdauernde Energie“ bei der schwierigen Suche nach Erwerbsarbeit. 37 Sie berichteten vielfach, erst aufgrund ihres Stigmas als „Kriegs- und Rentenneurotiker“ von Arbeitgebern zurückgewiesen oder sogar entlassen worden zu sein, weil sie als unseriös und unglaubwürdig eingeschätzt wurden. 38 Die hier thematisierte Außenwahrnehmung psychisch Versehrter entsprach ihrer Repräsentation in der Weimarer Tagespresse als „falsche Kriegszitterer“, die als Bettler oder Straßenverkäufer unterwegs waren und versuchten, aus ihrem vorgetäuschten Kriegsleiden Kapital zu schlagen. 39 Aus den sowohl in psychiatrischen Expertenkreisen wie auch in der breiten Öffentlichkeit virulenten stereotypen Annahmen eines fehlenden Arbeitswillens, schwerer charakterlicher Defizite und deutlich krimineller Tendenzen psychisch Kriegsbeschädigter entwickelte sich nach 1933 der Vorwurf des „parasitären Eigennutzes“. Psychisch Versehrte galten neben „asozialen“ und „arbeitsscheuen Psychopathen“, „Bummlern“ und „Landstreichern“ als „soziale Defekttypen“. 40 Insbesondere nach dem Rentenentzug 1934 erhöhte sich der Druck, trotz gesundheitlicher Einschränkungen zu arbeiten, immens. 41 Wie die Rentenunterlagen zeigen, waren psychisch Kriegsbeschädigte auch aufgrund ihres inzwischen vorgerückten Alters dazu jedoch faktisch oft nicht mehr imstande. War die wirtschaftliche Situation psychisch Kriegsbeschädigter und ihrer Familien bereits zu Zeiten der Weimarer Republik häufig äußert prekär, so drohte der Rentenentzug nach 1934 die wirtschaftliche Existenz in vielen Fällen völlig zu vernichten. 42 35 Vgl. Landesarchiv Berlin (LAB) B Rep 142-04/ 500, Schreiben der Kriegsbeschädigtenfürsorgestelle Anklam an den Verband der deutschen Landkreise Berlin am 6. Oktober 1922. 36 Vgl. A RENDTS , Reichsversorgungsgesetz, 150. 37 BArch R 3901/ 10196, Brief des Friedrich B. an Adolf Hitler am 26. Februar 1939, 4. 38 BArch R 3901/ 10200, Schreiben des Gustav T. an den Reichsarbeitsminister am 11. Juli 1939, 3. 39 N EUNER , Politik, 302f. 40 L EHMANN , Wertigkeit, 418. 41 Zur „Erfassung jeglicher potenzieller Arbeitskraft“ unter den Kriegsbeschädigten nach 1933 N EUNER , Politik, 204f. 42 Vgl. z.B. BArch R 3901/ 10209, Schreiben der Paula H., Ehefrau des Kriegsbeschädigten Paul H., an Joseph Goebbels, 1. Stephanie Neuner 398 3.2. Entwicklung der gesundheitlichen Situation und Behandlungsmöglichkeiten Wie die problematische Arbeitssituation psychisch Kriegsbeschädigter deutlich macht, stellte ihre Versehrtheit in vielen Fällen ein großes Hindernis dafür dar, nach dem Krieg in den gewohnten wirtschaftlichen und sozialen Alltag der Vorkriegszeit zurückzufinden. Die gesundheitlichen Schädigungen, die in ihrer psychischen und physischen Ausformung mannigfaltig und nach Schweregrad höchst unterschiedlich waren, dauerten lange über den Krieg hinaus an oder kehrten zyklisch wieder. 43 Nach den Rentenakten zu urteilen, waren viele psychisch Kriegsversehrte dauerhaft auf fremde Hilfe angewiesen, wurden entweder zu Hause von Familienangehörigen gepflegt, standen unter Vormundschaft oder lebten in psychiatrischen Heil- und Pflegeanstalten. 44 Es lässt sich demnach konstatieren, dass sich der Gesundheitszustand der berenteten psychisch Kriegsbeschädigten häufig, eben anders als innerhalb der psychiatrischen Fachwissenschaft mehrheitlich erwartet, nicht besserte und sich mit der Zeit in vielen Fällen sogar verschlechterte. Das Zusammenwirken von Faktoren wie problematischer Arbeitssuche, dem Versuch, trotz der gesundheitlichen Einschränkung im Berufsleben zu bestehen, sowie die Auseinandersetzung mit der Versorgungsbürokratie, verschlechterten die Chancen der gesundheitlichen Rehabilitation wohl erheblich. In der Rückschau auf sein Leben resümierte der Kriegsversehrte Alfred R., seine psychischen Störungen, die seit dem Krieg bestünden, hätten zusammen mit dem ständigen „Kampf“ um die Rente bei ihm zu einer erheblichen „Einbuße der Lebenslust“ geführt, so dass er sich als 46-Jähriger bereits als „vergreister, vorgealteter und verbrauchter Mensch“ fühle. 45 Wie sich aus etlichen inhaltlich ähnlich gelagerten Schriftzeugnissen ergibt, ist diese persönliche Bilanz für sehr viele psychisch Kriegsbeschädigte typisch. Die Möglichkeiten fachärztlicher Hilfe waren für die Mehrheit der psychisch Kriegsbeschädigten ganz offenbar begrenzt. Wie aus der Korrespondenz zwischen Versorgungsbehörden und Kriegsbeschädigten hervorgeht, waren es oftmals die Hausärzte, die psychisch Kriegsbeschädigte therapeutisch begleiteten, denn innerhalb der nach dem Reichsversorgungsgesetz kostenfrei gewährten Heilbehandlung existierten keine spezifischen Gruppen- oder Einzeltherapieangebote für psychisch Kriegsbeschädigte, etwa wie für Hirnverletzte oder Blinde. 46 Nur etwa fünf Prozent der psychisch Versehrten befand sich aufgrund der Schwere ihrer Leiden dauerhaft 43 Dies belegen sowohl die Berichte der Versorgungsbehörden als auch die Erzählungen der psychisch Kriegsbeschädigten, so z.B. BArch R 3901/ 10188, Brief des Peter B. an Adolf Hitler am 27. Dezember 1938, 2; R 3901/ 10183, Schreiben des Siegfried M. an Adolf Hitler am 17. März 1938; R 3901/ 10196, Brief des Franz S. an den Reichsarbeitsminister am 7. Oktober 1938, 2. 44 N EUNER , Politik, 245f. Unterlagen zum Rentenentzug nach 1933 belegen, dass vielfach Zahlungen auf dem Weg eines „Härteausgleichs“ wieder gewährt wurden, weil die Kriegsversehrten nicht mehr in der Lage waren, für ihren Lebensunterhalt aufzukommen, und außerdem als völlig mittellos galten. 45 UA HU Nervenklinik 34, Psychiatrisches Gutachten zu Alfred R. am 11. März 1938, 4. 46 N EUNER , Politik, 121, 307. Die Rückkehr in den Alltag 399 in Heil- und Pflegeanstalten. 47 Ohnehin sprachen sich Ärzte aus dem Kontext der klinischen Psychiatrie scharf gegen eine stationäre Behandlung von Kriegs- und Rentenneurotikern aus. Neurotiker aufzunehmen wäre hochgradig „sinnlos“ und führe lediglich zu „wochenlanger Faulenzerei“ - so das Schreiben eines Arztes der psychiatrischen Klinik Köln an das Gesundheitsfürsorgeamt der Stadt im Jahr 1921. 48 In derartigen Aussagen spiegelte sich deutlich das Diktum der „herrschenden“ Lehre wider, die nicht nur den Krankheitswert, sondern folglich auch die Behandlungswürdigkeit der psychischen Leiden Kriegsbeschädigter negierte. Dennoch gab es auch innerhalb der klinischen Psychiatrie Versuche, neue Therapieangebote für psychisch Kriegsbeschädigte zu entwickeln. So entwarf beispielsweise Viktor von Weizsäcker (1886-1957), der die „Kriegs“- und „Rentenneurose“ als „Rechtsneurose“ konzeptionalisierte, einen spezifischen Therapieablauf, der auf der Grundlage einer konstruktiven Arzt-Patienten-Interaktion nicht nur der Heilung des neurotischen Zustandes, sondern explizit auch der Mediation zwischen Beschädigtem und Versorgungsbehörde dienen sollte. 49 Auch schlug beispielsweise der am Klinikum rechts der Isar in München tätige Max Isserlin (1879-1941) 50 vor, in seiner „Neurologischen Abteilung für Kriegsnervenkranke“ neben Hirnverletzen auch Neurotiker zu behandeln. Sein Vorstoß erntete nicht nur fachintern heftige Kritik, auch von Seiten der Hirnverletzen-Organisationen wurde sein Vorstoß recht brüsk zurechtgewiesen - man wolle nicht mit „blöden“ „Kriegs- und Rentenneurotikern“ quasi in einen Topf geworfen, geschweige denn gemeinsam behandelt werden. 51 Möglichkeiten, sich kostenfrei psychiatrisch bzw. psychotherapeutisch behandeln bzw. beraten zu lassen, stellten für psychisch Kriegsbeschädigte grundsätzlich die Angebote der offenen psychiatrischen Fürsorge dar, so beispielsweise die so genannten „Fürsorgestellen für Nervöse“. Insbesondere psychotherapeutisch arbeitende Mediziner, etwa wie Walter Cimbal, der auch zur „Neurosenfrage“ publizierte, waren innerhalb der offenen psychiatrischen Fürsorge während der Weimarer Republik aktiv und hätten hier im Einzelfall auch auf psychisch Versehrte therapeutisch einwirken können. 52 Außerdem standen psychisch Kriegsversehrten in Großstädten wie Berlin oder Wien potenziell psychoanalytische Ambulatorien offen. Diese Angebote waren freilich nicht zuletzt örtlich stark begrenzt und boten somit 47 Ebd., 308. 48 Vgl. J OLLY , Erfahrungen, 1335; StadtAK 690 Nr. 453, fol. 87, Schreiben der Psychiatrischen Klinik der Universität Köln an das Gesundheitsfürsorgeamt Köln am 31. Dezember 1921. 49 W EIZSÄCKER , Rechtsneurosen, 574. 50 Knappe biographische Angaben finden sich bei A PPEL , Personalbibliographie. Zu Isserlin N EUNER , Politik, 142f. 51 BArch R 3901/ 9572, Auszug aus „Rentenversorgung der Kriegshirnverletzten“ von Dr. Erich Feuchtwanger, nach einem Vortrag, gehalten auf der zweiten Tagung des bayerischen Landesverbandes des Bundes Deutscher hirnverletzter Krieger im bayerischen Sozialministerium München am 25. März 1928. 52 Walter Cimbal leitete das „Beratungsamt für seelisch Erkrankte und Nervöse“ in Altona. StAHH 352-10 Gesundheitsverwaltung, Personalakten Nr. 364, Dr. med. Walter Cimbal. Zur offenen Fürsorge die zeitgenössischen Ausführungen bei B RATZ , Fürsorge. Stephanie Neuner 400 nur sehr eingeschränkte Beratungs- und Behandlungsmöglichkeiten für psychisch Kriegsbeschädigte. 53 Mediziner, wie etwa die genannten Viktor von Weizsäcker und Max Isserlin, brachten zur „herrschenden“ Lehre alternative therapeutische Konzepte in den Behandlungsalltag ein. Leider wissen wir wenig über die Durchführung und wissenschaftliche Auswertung dieser Behandlungen in fachbzw. hausärztlichen Privat- oder Kassenpraxen fernab der versorgungsmedizinischen Begutachtungen. Diesbezügliche Forschungsarbeiten wären ungemein erkenntnisversprechend. Die psychotherapeutisch arbeitenden und in der „Neurosenfrage“ prominent vertretenen Ärzte Max Levy-Suhl (1876-1947) 54 und Wladimir Eliasberg (1887-1969) 55 betrieben beispielsweise Praxen in Berlin und München. Es wäre denkbar, dass sich hier Kassenpatienten oder Selbstzahler wegen ihrer psychischen Kriegsbeschädigung hinwandten. Auch wenn psychotherapeutisch orientierte Ärzte keinesfalls einhellig für eine Berentung psychisch Versehrter nach dem RVG argumentierten, 56 so setzten sie sich doch nachdrücklich für die Anerkennung des Krankheitswerts des psychischen Leidens und der Therapiewürdigkeit der betreffenden Personen ein. Die psychotherapeutische Herangehensweise an die Problematik der „Kriegs-“, „Unfall-“ und „Rentenneurosen“ entwickelte sich in starker Abgrenzung zur „herrschenden“ Lehre der psychiatrischen Kliniker einerseits sowie dem Alltag der medizinischen Begutachtungspraxis innerhalb des Berentungsprozesses andererseits. Im Gegensatz hierzu wollten Psychotherapeuten auf der Grundlage eines vertrauensvollen Arzt-Patienten- Verhältnisses eine konstruktive Behandlungssituation schaffen, um zu einem Austausch über das individuelle Erleben des seelischen Leidens zu gelangen. 57 Subjektive Angaben des Patienten sollten ernst genommen und nicht wie in der klinischen Praxis üblich durch den „objektiven“ ärztlichen Befund überschrieben werden. 58 Es ging vornehmlich darum zu erreichen, dass das ärztliche Gespräch nicht als verlängerter Arm einer als „Rentenquetsche“ empfundenen, übermächtigen staatlichen Bürokratie wahrgenommen wurde - was sich nach Ansicht der Psychotherapeuten immer negativ auf den Heilungsprozess auswirken musste. 59 Diese inhaltlichen und ethischen Ansprüche an das Arzt-Patienten-Verhältnis in der psychotherapeutischen 53 Dazu die einschlägige Monographie von D ANTO , Free Clinics. 54 Nach dem Berliner Adressbuch von 1927 betrieb der „Facharzt für Nerven- und Gemütsleiden“ zusammen mit seiner Frau, der Kinderärztin Hilde Levy-Suhl, eine gemeinsame Praxis in Berlin-Wilmersdorf. Zu Levy-Suhl G AST , Fluchtlinien, 143f. 55 Wladimir Gottlieb Eliasberg eröffnete 1924 eine Privatpraxis in München, ab 1928 leitete er eine Privatklinik für Sprachstörungen, Heilpädagogik und Übungsbehandlung in München- Thalkirchen. Zur Vita Eliasbergs R ÖNZ , Eliasberg. 56 L EVY -S UHL , Ausrottungskampf, 1729. 57 D ERS ., Krankheitsgewinn, 131; vgl. S CHOMERUS , Ideal, 14f. 58 Für Psychotherapeuten definierte sich Krankheit nicht als objektiver diagnostischer Befund des Arztes, sondern als subjektive Befindlichkeitsstörung ihrer Patienten. Vgl. S CHIPPERGES , Homo patients, 242. 59 L ANDAUER , Unfallneurose, 79; E LIASBERG , Unfallneurosen, 253; R IESE / R OTHBARTH , Beurteilung. Die Rückkehr in den Alltag 401 Behandlung waren höchstwahrscheinlich weit entfernt von der tatsächlichen Arzt- Patienten-Interaktion bei versorgungsmedizinischen Begutachtungen. Anhand geeigneter Quellenbestände den psychotherapeutischen Behandlungsalltag vor dem Hintergrund dieses Behandlungsethos zu analysieren, würde in ein eklatantes Forschungsdesiderat vorstoßen und sicherlich wertvolle Ergebnisse zu Tage fördern. 60 3.3. Psychisch Kriegsbeschädigte im Kontext der „Euthanasie“-T4- Aktionen Mit der Feststellung der NS-Versorgungsbehörden, dass es sich bei ihrem psychisches Leiden primär um den Ausdruck einer minderwertigen Erbanlage handelte, rückten psychisch Versehrte nach 1933 in den Fokus der Erbgesundheitsgerichte. In psychiatrischen „Erbgesundheitsgutachten“ zu Weltkriegsteilnehmern kollidierten geradezu sämtliche divergierenden ärztlichen Urteile über Art und Ursächlichkeit des psychischen Leidens seit dem Krieg. Die differenzialdiagnostischen Unsicherheiten bei der psychiatrischen Diagnosestellung, die sich in wechselnden Bezeichnungen ein und desselben „Versorgungsleidens“ manifestierten, hatten freilich bereits vor 1933 schwerwiegende Implikationen für den Betroffenen, etwa weil von der Diagnose auch die prozentuale Erwerbsminderung und damit die Rentenhöhe abhing oder mit ihr die Unterbringung in eine geschlossene Anstalt verbunden war. 61 In den Verfahren vor Erbgesundheitsgerichten hingegen erlangte die ärztliche Diagnose nun noch weit existenziellere Bedeutung für den einzelnen Kriegsversehrten. Bei der Analyse von „Erbgesundheitsgutachten“ zu Weltkriegsteilnehmern, deren psychisches Leiden bis zum Rentenentzug als Kriegsleiden anerkannt war, fällt auf, dass sehr ähnlich gelagerte Fälle äußerst konträr entschieden wurden. So lehnten Gutachter wie beispielsweise an der Nervenklinik der Berliner Charité Unfruchtbarmachungen psychisch Kriegsbeschädigter mit der Begründung ab, es handele sich bei der erbbedingten Schizophrenie oder Epilepsie tatsächlich um einen Diagnoseirrtum der Versorgungsbehörden. 62 Stattdessen attestierten sie den Beschädigten „Hysterien“ oder „Nervenschwächen“ - kehrten also häufig zu den erstmals während des Krieges gestellten Diagnosen zurück. 63 Allerdings befürworteten Gutachter vielfach auch Unfruchtbarmachungen bei Schizophrenie und Epilepsie, auch wenn sich in der Diagnosekarriere der Kriegsbeschädigten vornehmlich die Bezeichnungen „Kriegsneurose“, „Hysterie“ oder „Nervenzerrüttung“ fanden und frühere Gutachter 60 W EIZSÄCKER , Krankheit, 18. 61 Dazu etwa die Beispiele bei N EUNER , Politik, 173f. 62 UA HU Nervenklinik 36, Auszug aus den Akten des Erbgesundheitsgerichtes Frankfurt/ Oder sowie des Erbgesundheitsobergerichtes Berlin in der Sache des Gustav J. vom […] 1936, 1-3. 63 Vgl. exemplarisch UA HU Nervenklinik 49, Psychiatrisches Gutachten zu Ernst Sch. am 4. März 1936, 11; Nervenklinik 61/ 1, Psychiatrisches Gutachten zu Erich R. am 5. Dezember 1938, 7f.; Nervenklinik 64, Psychiatrisches Gutachten zu Walter C. am 17. Dezember 1934, 13. Stephanie Neuner 402 die psychischen Störungen als durch „Schreck“ oder „Nervenschock“ während des Krieges verursacht betrachtet hatten. 64 In Fällen, in denen Psychiater Unfruchtbarmachungen ablehnten und dies damit begründeten, dass das angebliche Erbleiden tatsächlich eine Fehldiagnose sei, wandten sich die ehemals anerkannten Kriegsversehrten nun abermals an die Versorgungsbehörden mit der Forderung, die Rente wieder zu gewähren. Sie argumentierten nun, die Renten sei ihnen schließlich aufgrund einer erbbedingten Störung entzogen worden - einer falschen Diagnose, wie das Erbgesundheitsgericht eindeutig festgestellt hätte. 65 Neben Sterilisierungen infolge von Erbgesundheitsverfahren lassen sich auch Tötungen von psychisch versehrten Weltkriegsteilnehmern im Rahmen der „Euthanasie“-T4-Aktionen nachweisen. Betroffen waren primär Schizophrenie-Patienten, die in geschlossenen psychiatrischen Heil- und Pflegeanstalten untergebracht waren. Ihre Krankengeschichten dokumentieren, dass ihre psychischen Leiden erstmals während des Kriegseinsatzes oder kurze Zeit später aufgetreten und von früheren ärztlichen Gutachtern unter anderem auch als „Hysterien“ bezeichnet und mit dem Kriegsdienst ursächlich in Verbindung gebracht worden waren. 66 4. Resümee Ob eine sozioökomonomische Reintegration glückte und psychisch Kriegsbeschädigte zudem auch Chancen auf gesundheitliche Rehabilitation besaßen, hing sicherlich von vielen, sehr individuellen Faktoren ab. Hierzu zählten etwa das familiäre Umfeld, die materiellen Ausgangsverhältnisse und natürlich der Grad der Beeinträchtigung durch die psychische Versehrtheit selbst. Grundsätzlich schuf der Weimarer Staat nach 1918 jedoch durch seine versorgungspolitischen Regelungen entscheidende Voraussetzungen für eine potenziell erfolgreiche Rückkehr in die Zivilgesellschaft. Trotz der Berentungspraxis zugunsten der Versorgungsansprüche psychisch Kriegsbeschädigter nach dem Reichsversorgungsgesetz fehlte es innerhalb der kommunalen Kriegsbeschädigtenfürsorge aber an spezifischen therapeutischen Angeboten sowie effektiven Hilfestellungen bei der Arbeitssuche. Die Negierung des Krankheitswertes und der Behandlungswürdigkeit der Leiden psychisch Versehrter in weiten Teilen der konservativen Universitätspsychiatrie hemmte nicht nur die Entwicklung derartiger Programme, sondern sorgte in Verbindung mit bereits vorhandenen gesellschaftlichen Ressentiments zudem dafür, dass psychisch Kriegsbe- 64 Vgl. exemplarisch UA HU Nervenklinik 47, Psychiatrisches Gutachten zu Rudolf T. am 26. November 1936, 3; Nervenklinik 50, Psychiatrisches Gutachten zu Willi B. am 15. Dezember 1934, 2; dazu auch BArch R 3901/ 10173, Versorgungssache des August P., VA Gelsenkirchen am 11. Januar 1937; R 3901/ 10220, Schreiben des Walter B. an Adolf Hitler am 22. August 1938, 4. 65 UA HU Nervenklinik 34, Auszug aus den Akten des Erbgesundheitsgerichtes Berlin sowie des Erbgesundheitsobergerichtes Berlin in der Sache des Max G. vom […] 1937, 8. 66 Vgl. hierzu den ausführlich erläuterten Fall bei N EUNER , Politik, 322f. Die Rückkehr in den Alltag 403 schädigte im Alltag mit Negativstereotypisierungen ihrer Versehrtheit zu kämpfen hatten. Die sich während der Weimarer Zeit etablierenden Psychotherapeuten schufen mit ihrer Konzeptionalisierung der „Kriegs“- und „Rentenneurose“ ein wichtiges Gegengewicht zur psychiatrisch „herrschenden“ Lehre um Karl Bonhoeffer. Sie brachten entscheidende, innovative Impulse in die Debatte zur Behandlungswürdigkeit der entsprechenden psychischen Störungen ein, die auch innerhalb der psychiatrischen Klinik teilweise Widerhall fanden. Mit dem politischen Systemwechsel schied die psychotherapeutische Sichtweise auf die „Neurosenfrage“, ebenso wie damit verbundene Therapieansätze, aus dem wissenschaftlichen Diskurs und der medizinischen Praxis aus, da die mehrheitlich jüdischen Ärzte gezwungen waren, ihre Tätigkeiten aufzugeben und Deutschland zu verlassen. 67 Wie bereits weiter oben angemerkt, wäre eine vertiefende Auseinandersetzung mit der Geschichte der psychotherapeutischen Praxis der Weimarer Zeit an dieser Stelle äußerst wünschenswert. Im Fokus derartiger Studien könnten, soweit erhalten, zum einen Quellenbestände zu Privat- und Kassenpraxen stehen; zum zweiten ließe sich anhand geeigneter, historischer Klinikakten ermitteln, wie und inwieweit sich der psychotherapeutische Gedanke innerhalb der psychiatrischen Klinik in der Zwischenkriegszeit (und darüber hinaus) verankerte. In Bezug auf die Ausgangsfrage nach der Reintegration psychisch Kriegsbeschädigter in die Nachkriegsgesellschaft lässt sich aufgrund der Quellen schlussfolgern, dass eine Rückkehr zum Vorkriegsstatus im Hinblick auf die Berufstätigkeit häufig äußerst schwierig war. Dabei gilt zu bedenken, dass die Tatsache, ob psychisch versehrte Männer wieder angemessene Arbeit fanden, sich auch auf die familiäre Situation und persönliche Lebensplanung auswirkte. Die Reintegration in das Erwerbsleben sowie Möglichkeiten der gesundheitlichen Rehabilitation besaßen insofern eine enorme, über das individuelle Schicksal hinaus gehende Tragweite. Die psychische Kriegsbeschädigung und die damit verbundenen gesundheitlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Nachteile konnten sich ganz konkret, beispielsweise auch auf die Arbeitstätigkeit der Ehefrau oder die Ausbildungschancen der Kinder, auswirken. 68 Bemerkenswert ist, dass sich psychisch Beschädigte, auch wenn sie sich als „krank“ bezeichneten, zumindest in der Zeit der Weimarer Republik als legitime Kriegsversehrte und verdiente Soldaten wahrnahmen. Ihr Erlebnis des industrialisierten Krieges und die damit verbundenen Erinnerungen waren für sie - so lassen sich ihre Selbstzeugnisse interpretieren - als Erklärungen ihrer psychischen Störungen weit wirkmächtiger als etwa psychiatrische Deutungen der Ätiologie bzw. Kausalität der „Kriegs“- oder „Rentenneurose“. Erst die Verschärfung der versorgungsrechtlichen Regelungen nach 1933 und das rigorose Vorgehen gegen sie im Rahmen der NS-Versorgungspolitik scheint offenbar bewirkt zu haben, dass sich psychisch Kriegsbeschädigte selbst zunehmend als „unwert“ und ihre Störung als „abnorm“ wahrnahmen und sich in ihrer gesellschaftlichen Rolle zuletzt total delegitimiert sahen. 67 Dazu N EUNER , Politik, 299f. 68 Vgl. ebd., 212-214. Stephanie Neuner 404 Quellen und Literatur Archive Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde (BArch) - R 89 Reichsversicherungsamt 15113, 15114. - R 116 Reichsversorgungsgericht 261. - R 3901 Reichsarbeitsministerium 8720, 8721, 9572, 10173, 10182, 10186, 10188, 10196, 10197, 10200, 10208, 10209. Landesarchiv Berlin (LAB) - B Rep 142-04, 500 Kriegsbeschädigtenfürsorge. Archiv der Humboldt-Universität Berlin (UA HU) - Nachlass Karl Bonhoeffer 9, 10. - Nervenklinik (Gutachten) 34, 36, 47, 49. Staats- und Personenstandarchiv Detmold (NRWStADT) - L 80.06 Versorgungsgericht. 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Did a direct way lead from an „active treatment“ of the so-called war neurotics to an „active treatment“ within mental hospitals? What has been new in therapies of institutions and clinics in the interwar period apart from the determination of activeness, absolute success in times of growing scarcity of resources, perhaps even in order to compensate the national defeat? This essay will give first and preliminary answers to these questions on the basis of primary literature and selected case histories belonging to the mental hospital in Heidelberg. Zusammenfassung „Es lohnt sich immer noch, vom Kriege zu reden.“ Mit diesen Worten begann Joachim von Steinau-Steinrück, Arzt in der Heil- und Pflegeanstalt Konstanz, im Jahr 1921 einen Aufsatz über die Verwertung militärpsychiatrischer Therapieerfahrungen für die „Friedenspraxis“. Zwar war der Krieg verloren, doch für den wissenschaftlichen und therapeutischen Fortschritt sollte er nicht umsonst gewesen sein - mit dieser Haltung stand von Steinau-Steinrück nicht allein. Doch inwiefern profitierte die zivile Psychiatrie in ihren therapeutischen Optionen tatsächlich von den Erfahrungen der Militärpsychiater im Ersten Weltkrieg? Führte ein direkter Weg von der „aktiven Behandlung“ der so genannten Kriegsneurotiker zur „aktiveren Behandlung“ in den Heil- und Pflegeanstalten? Was war neu an der Therapie von Anstalten und Kliniken in der Zwischenkriegszeit abgesehen von der Entschlossenheit zur Aktivität, zum unbedingten Erfolg in Zeiten immer knapper werdender Ressourcen, vielleicht auch als Ausgleich zur nationalen Niederlage? Auf diese Fragen gibt der Aufsatz erste, vorläufige Antworten auf der Basis von Primärliteratur und ausgewählter Krankengeschichten der Heidelberger Psychiatrischen Klinik. Maike Rotzoll 410 1. „Es lohnt sich immer noch, vom Kriege zu reden.“ - Einleitung Mit diesen Worten begann Joachim von Steinau-Steinrück (1885-1951), Arzt in der Heil- und Pflegeanstalt Konstanz, im Jahr 1921 seinen Aufsatz über die Verwertung von militärpsychiatrischen Therapieerfahrungen aus dem Krieg für die „Friedenspraxis“. Gemeint war damit vor allem eine psychotherapeutisch eingesetzte Hypnose, denn der Autor schloss „die elektro-suggestiven Verfahren“ aus: Sie seien ganz auf die Kriegsverhältnisse zugeschnitten gewesen und kämen daher im Frieden nicht in Betracht. 1 Zwar war der Krieg verloren, doch für den wissenschaftlichen und therapeutischen Fortschritt sollte er nicht umsonst gewesen sein - mit dieser Haltung stand von Steinau-Steinrück nicht allein. Nicht zuletzt das mehrbändige „Handbuch der ärztlichen Erfahrungen im Weltkriege 1914/ 1918“ von 1922 dokumentiert, dass auch für viele seiner Kollegen der Krieg sozusagen nicht mit Kriegsende abgeschlossen war, sondern dass sie auf die in dieser Zeit gewonnenen medizinischen Erkenntnisse und ihre Bedeutung für die Zukunft pochten. 2 Profitierten aber die zivile Psychiatrie und ihre therapeutischen Optionen nach dem Krieg direkt von den Erfahrungen der Militärpsychiater im Ersten Weltkrieg, von der „aktiven Therapie“? 3 Es ist vielfach konstatiert worden, dass der vermeintliche Erfolg in der Behandlung der „Kriegshysteriker“ (die körpermedizinische, militärisch-disziplinierende und psychotherapeutische Elemente enthielt) zu einer Aufbruchsstimmung in der Psychiatrie geführt habe, zu der Hoffnung, mittels neuartiger, teils „heroischer“ Therapien den Stillstand, den so genannten „therapeutischen Nihilismus“ überwinden zu können - zumindest ließ sich rhetorisch an diesen „Durchbruch“ anknüpfen. 4 Dabei gingen die meisten im Krieg oder nach dem Krieg propagierten Therapieoptionen auf Überlegungen, Konzepte oder Forschungsansätze aus der Zeit vor dem Krieg zurück. Dies gilt nicht nur für die Arbeitstherapie und die offene Fürsorge, sondern auch für das Experimentieren mit Fiebertherapien und bekanntlich für die Elektrotherapie „hysterischer“ Störungen selbst. 5 Nicht von Ungefähr bezeichnet 1 S TEINAU -S TEINRÜCK , Verwertung psychotherapeutischer Kriegserfahrungen, 210. 2 P RÜLL , Die Fortsetzung des Krieges nach dem Krieg, 128. 3 Der Begriff „aktive Behandlung“ der Soldaten als Gegensatz zu Schonung, Ruhe und Isolierung, in der Sekundärliteratur auch als „aktive Kriegsneurotikertherapie“ bezeichnet, wurde bereits während des Krieges verwendet, so beispielsweise 1916 auf der Kriegstagung der deutschen Psychiater. Vgl. den protokollierten Redebeitrag von Jakob (Hamburg) in: Verhandlungen psychiatrischer Vereine: Kriegstagung des Deutschen Vereins für Psychiatrie, 191; vgl. R AUH , Die militärpsychiatrischen Therapiemethoden im Ersten Weltkrieg, 35. 4 S CHMUHL / R OELCKE , Einleitung, 18; vgl. S EIDEL , Von der Nervosität zur Kriegsneurose, 53, der der „aktiven Therapie“ einen fortschrittlichen Impuls zuschreibt. 5 Julius Wagner von Jauregg (1857-1940) erfand zwar die später nobelpreisträchtige Malariatherapie der progressiven Paralyse im Jahr 1917, seine Versuche mit Tuberkulin und anderen fiebererzeugenden Substanzen gehen aber auf die späten 1880er und 1890er Jahre zu- Neue Taktik an der therapeutischen Front? 411 der Heidelberger Psychiater Karl Wilmanns (1873-1945) den elektrischen Apparat als das „Rüstzeug des alten Nervenarztes“, auf den ein „Facharzt aus Ludwigshafen“ im Krieg mit Erfolg zurückgegriffen habe. Hier bezieht er sich auf Fritz Kaufmann (1865-1941) aus Mannheim, der sich in Heidelberg auf der Nervenabteilung bei Wilhelm Erb (1840-1921) mit der elektrotherapeutischen Praxis befasst hatte. 6 Neu war wohl am ehesten die Entschlossenheit zur Aktivität, zum unbedingten Erfolg, nach dem Krieg vielleicht auch als Ausgleich zur nationalen Niederlage. Hatte die Rolle der Militärpsychiatrie im Krieg die gesellschaftliche Bedeutung der psychiatrischen Disziplin gesteigert, so galt es nun, diesen Status durch „heroisch“ erzielte Heilerfolge zu verteidigen. 7 In welchem Ausmaß dieser „aktive“ Ansatz in der Zwischenkriegszeit tatsächlich psychiatrische Universitätskliniken einerseits und das Anstaltswesen andererseits erfasste, ob er sich dann auch auf alle dort lebenden Gruppen von Insassen auswirkte, ist dagegen eine offene Frage. Fachdiskurs und Umsetzung in der Praxis können bekanntlich weit voneinander entfernt sein. Dies konnte nicht zuletzt für die Therapie der „Kriegsneurotiker“ gezeigt werden, wo die strengen Forderungen frontferner Fachvertreter längst nicht in dem Maß umgesetzt wurden, wie lange Zeit angenommen. 8 2. „Heroische Therapien“ im „Schlachtfeld des Lebens“ - vor dem Krieg, im Krieg, nach dem Krieg „Der Arzt. Durch des Lebens riesiges Schlachtfeld Reitet stumm der Tod, die tägl. Opfer heischend, Unter seines Pferdes Tritten erzittert rück. Vgl. V ACZY K RAGH , „Fumbling in the Dark“, 101. Eine Ausnahme bildet Klaesis Schlaftherapie in der Schweiz, insofern als sie in der frühen Nachkriegszeit eingeführt wurde, zunächst in der Schweiz, bald aber auch in anderen europäischen Ländern. 6 W ILMANNS , Die badischen Lazarette während des Krieges, 29. K AUFMANN , Die planmässige Heilung, 803, legt dar, dass er diese Therapie 1903 in der Erb’schen Klinik angewandt habe. Zur Elektrotherapie bei Neurasthenie, Hypochondrie und Hysterie E RB , Handbuch der Elektrotherapie, 569-580. Noch während des Krieges veröffentlichte Wilmanns kurze Beiträge zum Thema der „Kriegsneurotiker“: W ILMANNS , Behandlung der Kranken, 427f.; DERS ., Dienstbrauchbarkeit der Psychopathen, 173-181. Auch 1929 kam er auf dieses Thema zurück: DERS ., Vortrag. 7 S IEMEN , Menschen blieben auf der Strecke, 27. Siemen vertritt hier die Auffassung, der Erste Weltkrieg habe das psychiatrische Anstaltswesen und die psychiatrische Therapie nachhaltig verändert. Statt Verwahrung habe nun das Herstellen von Arbeits- oder Kriegsverwendungsfähigkeit im Vordergrund gestanden. Dies habe eine neuartige Entschlossenheit hervorgerufen, mit allen (notfalls auch grausamen) Mitteln zu heilen, unabhängig von ätiologischen Betrachtungen. 8 P ECKL , Krank durch die ‚seelischen Einwirkungen des Feldzuges‘, 87-89; vgl. R AUH , Die militärpsychiatrischen Therapiemethoden im Ersten Weltkrieg, 40, 46f. Maike Rotzoll 412 Alles gewordene. Nur der Arzt, der einzig Staubgeborene, Schaudert nicht vor Ihm geblendeten Auges, Sondern schreitet kühn entgegen dem grimmen, großen Vernichter. Seiner unerbittl[ichen] Faust entreißt er Manch verloren geglaubte Leute wieder, Und an vielen drängt er des blinden Rosses Hufe vorüber.“ 9 Bei diesem Gedicht-Portrait des Arztes als Heros könnte man leicht vermuten, dass es aus Kriegszeiten stammt, als Ärzte an der Front in vielfältiger Weise mit dem Tod konfrontiert waren. Doch geschrieben hat es bereits 1911 Alois Dallmayr (1883- 1940) in der Münchener Psychiatrie, wo er die Diagnose „Dementia praecox“ erhielt. Vielleicht heroisiert der Patient sich hier durchaus selbst, denn er bezeichnete sich bei anderer Gelegenheit, mehrere ambivalente Rollen in sich vereinend, als „Dr. Dallmayr. Spezialarzt für Psychiatrie. Dr. Kraepelinsches System durchgearbeitet. Weibl. Ärztin“. 10 Jedenfalls zeigt das Beispiel die Präsenz des Bildes vom heldenhaften Arzt bereits in der Vorkriegszeit auch im Kontext der Psychiatrie. Wo Ärzte heroisch sind, könnten es ihre Maßnahmen ebenso sein. Gemeint sind mit dieser Bezeichnung in der Psychiatrie bekanntlich vor allem vom Ersten bis zum Zweiten Weltkrieg eingeführte gefährliche Somatotherapien, von der Malariatherapie der progressiven Paralyse über die Dauerschlafbehandlung und die Insulinkomatherapie bis hin zu den Schocktherapien. Dass man sich der gefährlichen Nebenwirkungen bewusst war und diese zumindest von ärztlicher Seite „heroisch“ in Kauf nahm, ist belegt durch Zitate wie das von Gottfried Ewald (1888-1963) von 1937: „Wo es um die geistige Gesundheit geht, lohnt sich schon einmal der Einsatz des Lebens“, oder von Otto Pölzl (1877-1962), ebenfalls 1937, der die Insulinkomatherapie mit einer „Operation auf Leben und Tod“ verglich. 11 Der Begriff „heroisch“ scheint einen Zusammenhang mit dem Krieg nahe zu legen, mit einer Zeit, in der ein einzelnes Menschenleben weniger zu zählen schien und leichter aufs Spiel gesetzt wurde. Dies erscheint durchaus plausibel, und so mag es auch nicht zufällig sein, dass Julius Wagner von Jauregg (1857-1940) mitten im Krieg (1917) und mit dem Blut eines Malaria-tertiana-infizierten Soldaten die ersten Paralyse-Patienten in Wien behandelte, nachdem er diese Idee bereits in einer Publikation von 1887 geäußert hatte. 12 Der ersten Malariatherapie von 1917 waren andere durchaus ebenfalls „heroisch“ anmutende Heilversuche der progressiven Paralyse vorausgegangen oder gleichzeitig umgesetzt worden. In den Kriegskontext kann man wohl die Technik eines Arztes namens Knauer einordnen. 13 Der „ord. Arzt der Korpsnervenstation II. 9 Gedicht von Alois Dallmayr aus der Münchener Krankenakte, 1911: BArch R 179/ 26331. Das Gedicht endet: „Bis auch sie ihn fassen und ihn niedertreten,/ Ihn, den der Geretteten keiner rettet,/ denn wer anderen weiht sein Leben/ weiht sich selber dem Tode.“ 10 B RAND -C LAUSSEN / R OTZOLL , Alois Dallmayr, 59. 11 S CHMUHL / R OELCKE , Einführung, 23. 12 V ACZY K RAGH , „Fumbling in the Dark“, 101f. 13 K NAUER , Ueber die Behandlung der Paralyse. Neue Taktik an der therapeutischen Front? 413 bayer. Armeekorps zu Würzburg“ spritzte seit 1917 Neosalvarsan unmittelbar in die Arteria Carotis seiner Patienten ein, „ein Verfahren, daß sich als verhältnismäßig leicht ausführbar und ungefährlich erwiesen hat“. 14 Er tat das unter der Vorstellung, den Wirkstoff so näher an den Ort des Geschehens, das Gehirn zu bringen, als mit normalen Injektionen. Schon 1914 aber berichtete Wilhelm Gennerich über ein Verfahren, bei dem er mittels Lumbalpunktion Liquor ausfließen ließ, ihn mit Salvarsan mischte und wieder zurückfließen ließ. 15 Seit September 1913 nahm der Marine-Oberstabsarzt diese „endolumbale Salvarsanbehandlung“ an einer „größeren Anzahl von Fällen“ vor. Bereits seit 1909 machte man an verschiedenen Orten Versuche mit „nukleinsaurem Natrium“, das die Eigenwärme des Körpers und die Leukozytenzahl steigerte; 16 Tuberkulin wurde schon seit 1896 eingesetzt. 17 Einen Überblick über die Entwicklung der zahlreichen Heilversuche über einen längeren Zeitraum geben Emil Kraepelin (1856-1926) und Johannes Lange (1891-1938) in der neunten und letzten Auflage von Kraepelins Lehrbuch 1927. 18 Auch zeigt sich, dass Wagner von Jaureggs neue Malaria-Therapie auch in Ländern rasch aufgegriffen wurden, die nicht direkt in den Krieg einbezogen gewesen waren, wenn sie auch seine Konsequenzen zu spüren bekamen. So wurde in Dänemark 1922 eine Malaria-Studie durchgeführt 19 und seit 1924 eine eigene Fiebertherapie mit Sulfosin entwickelt, die ihren Erfinder Knud Schroeder (1877-1955) ab 1927 international bekannt machte. 20 Auch in den Niederlanden wurde die Malaria-Therapie bereits 1921 angewandt, ebenso die Dauernarkose nach Jakob Klaesi (1883-1980) bereits kurz nach ihrer Beschreibung. Dies hat Jost Vijselaar dargestellt, der hervorhebt, dass die Niederlande damals seit mehr als einem Jahrhundert keinen Krieg im eigenen Land erlebt hatten, der als Katalysator für den Einsatz riskanter Therapien gewirkt haben könnte. Er sieht einen solchen Katalysator eher in der Einführung der Malaria-Therapie als solcher, als Paradefall in der damaligen Sichtweise für die effektive biologische Behandlung einer tödlichen Krankheit in der Psychiatrie, die damit und mit dem Einsatz körperbezogenen Monitorings in die Nähe anderer medizinischer Disziplinen rückte. Er hebt den Pragmatismus und das eklektische Verhalten niederländischer Psychiater gegenüber neuen Therapien hervor, in einer Zeit, der Zwischenkriegszeit, die er als Periode einer „psychiatry in multiplicity“ kennzeichnet. 21 14 K RAEPELIN / L ANGE , Psychiatrie Bd. 2, 1289. 15 G ENNERICH , Zur Technik der endolumbalen Salvarsanbehandlung; vgl. DERS ., Syphilis, 119-127; K RAEPELIN / L ANGE , Psychiatrie Bd. 2, 1286f. 16 Vgl. K RAEPELIN / L ANGE , Psychiatrie Bd. 2, 1294f. 17 Vgl. ebd., 1292. 18 Ebd. 1279-1308. 19 Die Malaria-Therapie wurde am St. Hans Hospital von Hans-Jacob Schou (1886-1952) unter Direktor Axel Bisgaard (1875-1939) eingeführt: V ACZY K RAGH , „Fumbling in the Dark“, 102f. 20 Ebd., 104f. 21 V IJSELAAR , A Hole in the Armour of Dementia Praecox, 172-177. Maike Rotzoll 414 Die Dauerschlafbehandlung führte Klaesi 1920 in der von 1914-1918 neutralen, wenn auch kriegsbereiten Schweiz ein, genauer am Züricher Burghölzli, auf dessen Offenheit gegenüber unterschiedlichen Ansätzen man ebenfalls den Begriff „psychiatry in multiplicity“ anwenden könnte. Mit ihr verfügte man nun über eine Möglichkeit heroischen Vorgehens gegenüber der zwar nicht tödlich verlaufenden, aber häufig zur kostspieligen Langzeithospitalisierung führenden „Schizophrenie“, so dass durchaus auch ökonomische Motive für die Forcierung dieser Option vermutet werden können, die ebenfalls internationale Beachtung fand. Diese beiden „großen“ somatischen Therapien konnten den Weg bahnen für die Einführung der Schocktherapien (unter die häufig auch die Insulinkomatherapie gezählt wird) in den 1930er Jahren, deren rasche internationale Verbreitung in die verschiedensten Länder man wohl kaum noch auf das unmittelbare Erlebnis des Ersten Weltkriegs und der „aktiven Therapie“ zurückführen kann. 3. „…wir Ärzte sind zum Helfen“. Therapien in psychiatrischen Lehrbüchern der 1920er Jahre Doch welche Therapien setzte man in deutschen Kliniken und Anstalten in den Nachkriegsjahren ein? Entwickelte sich auch hier eine (poly)pragmatische, eklektische, jedenfalls aktive Haltung unter Einschluss psychotherapeutischer Herangehensweisen? Veröffentlichte Schriften von Psychiatern, hier ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit dargestellt, weisen durchaus darauf hin und eine zumindest rhetorische Bezugnahme auf den Krieg ist nicht selten. Der Frankfurter Psychiater und Neurologe Karl Kleist (1879-1960) wirkt zwar eher etwas distanziert und befremdet, wenn er in seiner kleinen Schrift „Die gegenwärtigen Strömungen in der Psychiatrie“ von 1926 festhält: „War bis dahin die philosophische Strömung für die Psychiatrie unfruchtbar und hemmend, so muss ihr doch ein Vorzug gutgeschrieben werden. Es ist kein Zufall, daß in unserer Zeit die Behandlung der seelisch Abnormen einen neuen Aufschwung nimmt. Ein Hauptvertreter der philosophischen Richtung, Kronfeld, schreibt ein treffliches Buch über Psychotherapie und in dem vornehmlich auf psychologischer Grundlage ruhenden neuen Lehrbuch Bumkes spielt die Behandlung und besonders die seelische Behandlung eine Rolle wie nie zuvor in seinem psychiatrischen Lebenswerk. Man hält es der Mühe wert, verschrobene Katatoniker seelisch zu behandeln, und man hat - wenn man ein Klaesi ist - Erfolge. Dazu die Entwicklung der psychiatrischen Polikliniken, der sozialen Psychiatrie, die Psychopathenfürsorge, die neu entwickelte Familienpflege […]. Der Zwang, Kriegshysteriker zu behandeln, wurde zum Segen nicht nur für den Kranken, sondern auch für den Arzt. Die Heilbarkeit der Paralyse steht dank der Malaria- und der Rekurrensbehandlung in Aussicht. Neue Wege der Arzneibehandlung akuter Psychosen weisen Weichbrodts Versuche mit Salizylpräparaten. So wirken in der Neubelebung der Behandlung zwar manche Antriebe zusammen, aber vernehmlich spricht aus ihr Neue Taktik an der therapeutischen Front? 415 auch die veränderte Stimme des Zeitgeistes. Wir sind nicht nur zum Erkennen da, sondern auch zum Handeln, und da wir Ärzte sind zum Helfen.“ 22 Mehr hielt Kleist allerdings auf den 41 Seiten seines Buches zum Thema Therapie nicht fest. Auch in Lehrbüchern ist stellenweise vom Krieg die Rede, so zum Beispiel in der 1920 herausgegebenen fünften Auflage des von Otto Binswanger (1852-1929) und Ernst Siemerling (1857-1931) herausgegebenen „Lehrbuch der Psychiatrie“. Während im Abschnitt „Allgemeine Therapie“ 23 ganz klassisch die Anstalt selbst als Heilmittel (Loslösung des Kranken aus den gewohnten, ihn schädigenden Verhältnissen) thematisiert wird, nebst Bettruhe, Isolierung, Arbeit, Ernährungstherapie, hydratischen Behandlungsmitteln und den damals üblichen Medikamenten, werden in den speziellen Kapiteln zu einzelnen diagnostischen Gruppen genauere Angaben gemacht. Elektrotherapie wird erwartungsgemäß bei den Diagnosen „Neurasthenie“ und „Hysterie“ erwähnt. 24 Zur Behandlung der „Hysterie“ heißt es unter anderem, die Persönlichkeit des Arztes helfe und die Hypnose, „deren Heilwert früher sehr verschieden beurteilt wurde“, habe „im Kriege die größten Erfolge erzielt“. Doch wird dazu einschränkend ausgeführt: „Nachdem während des Krieges einige beherzte Therapeuten eine zielbewußte und energische Therapie vorgeschlagen haben, wurden mit ihr ganz erstaunliche, für den Fernerstehenden fast unfaßliche Heilerfolge (bis zu 100%) erzielt […]. So erfreulich diese Ergebnisse auch sind, so darf doch nicht übersehen werden, daß es sich im wesentlichen um körperliche Störungen handelt. Wenngleich das Kaufmann’sche Verfahren sich auch gegenüber psychischen Störungen bewährt hat, so handelt es sich hierbei doch immer um vereinzelte Beobachtungen. Eine vorsichtige Stellungnahme bei Übertragung der Kriegserfahrungen auf die Friedensverhältnisse ist umso mehr geboten, weil zu den Heilergebnissen im Kriege sicher auch der militärische Drill und das Vorgesetztenverhältnis des Arztes zum Kranken beitragen. Mit Ausbruch der Revolution wurden die Resultate in den Lazaretten, sofern überhaupt noch Störungen vorlagen, schlechter. Wie dem auch sei, die Kriegserfahrungen haben die Berechtigung und Verpflichtung zu einer aktiven Therapie gegenüber hysterischen Störungen dargetan.“ 25 22 K LEIST , Die gegenwärtigen Strömungen in der Psychiatrie, 13f., mit Verweis auf Vorträge Klaesis auf Psychiaterversammlungen in Heidelberg 1921 und Frankfurt 1924. 23 B INSWANGER / S IEMERLING , Lehrbuch der Psychiatrie, 82-87. 24 W ESTPHAL , Die Neurasthenie, 150: „Die Hydro- und Elektrotherapie stellen wichtige Faktoren bei der Behandlung des Leidens dar.“ 25 S CHULTZE , Hysterie, 347-367, hier 364f. Kurt Schneider (1887-1967) nimmt 1927 bezogen auf „hysterische“ Dämmerzustände ähnlich Stellung: „Was endlich die Behandlung dieser Zustände anbelangt, so ist eine elektrische Suggestivbehandlung, wie sie K.E. Mayer auch für die Friedenspraxis empfiehlt, kaum möglich und auch nur in ganz primitiven Fällen angezeigt, die der Vortäuschung nahestehen. Eine besondere Behandlung ist bei der guten Prognose auch selten erforderlich und in den Fällen der Zweckreaktion oft ohne Erfolg, solange der Zweck besteht. Akutes „Gesundwerden“ von Soldaten mit derartigen Zuständen bei Kriegesende wurde vielfach gesehen (E. Meyer).“ Bei „kultivierten Menschen“ empfiehlt Schneider eine Psychotherapie: S CHNEIDER , Die abnormen seelischen Reaktionen, 34. Kurt Maike Rotzoll 416 Was von der Kriegstherapie-Erfahrung übrig blieb, war offenbar die Hypnose - und das Prinzip der Aktivität. Keine Rede ist von solcher Einwirkung bei den unter „Schizophrenische Prozesse (Dementia praecox)“ eingeordneten Krankheitsbildern. 26 So heißt es bei Binswanger/ Siemerling zu den „hebephrenischen Formen“: „Von einer eigentlichen Behandlung der Hebephrenie kann, da wir die Ursache noch nicht kennen, kaum die Rede sein.“ Ähnlich heißt es bei „Katatonie“, eine eigentliche Behandlung gebe es in „kausaler Indikationserfüllung nicht“. Für die Mehrzahl der Fälle komme nur „möglichst frühzeitige Verbringung in eine Anstalt in Betracht“. 27 Auch bei der Dementia paralytica ist der Pessimismus noch kaum gebrochen. Die künstliche Erzeugung von Fieber und „Hyperleukozytose“ wird zwar erwähnt, aber gefordert: „Eine Nachprüfung an einem möglichst großen Krankenmaterial ist sehr wünschenswert.“ 28 Für wie viele der Patient(inn)en von Anstalten und Kliniken aber war dann die Aufbruchsstimmung relevant? 1926 erschien die Reichsirrenstatistik wieder, mit Zahlen seit 1911, in ihrer damals zwölf diagnostische Kategorien umfassenden Übersicht. Es wurde zunächst in Dreijahresintervallen gezählt und für die Jahre 1920 bis 1923 eine Gesamtzahl von 359.649 „Kranken“ angegeben. Davon hatte man bei 156.934 (43,6 Prozent) eine „einfache Seelenstörung“ diagnostiziert. Paralyse sah man bei 19.965 (5,6 Prozent), Imbezillität/ Idiotie bei 51.788 (14,4 Prozent), Epilepsie bei 29.482 (8,2 Prozent), Hysterie diagnostizierte man bei 21.371 (5,9 Prozent) und Neurasthenie bei 17.772 (4,9 Prozent), der Rest entfiel auf Chorea, Tabes dorsalis, Alkoholismus, Morphinismus und andere Krankheiten. 29 „Hysterie“ und „Neurasthenie“, die nun im Sinne eines neuen therapeutischen Optimismus „aktiv“ behandelbar erscheinen mochten, machten also in diesem Zeitraum elf Prozent aus, zählt man die gut fünf Prozent „Paralyse“-Patienten hinzu, kommt man auf 16 Prozent, bei denen ärztliches Handeln Anlass zur Hoffnung auf Genesung gab. „Es gibt nicht die geringste Möglichkeit, auf das Leiden selbst einzuwirken. Weder irgendwelche Medizinen noch Lebensweisen noch Prozeduren können am Krankheitsverlauf selbst irgend etwas ändern. Aber gerade weil man dies weiß, verhindere man, daß eine nicht allzu reich begüterte Familie relativ große Summen an „Kuren“ bei schizophren Erkrankten hängt.“ 30 Schneider bezieht sich hier auf eine Publikation von Ernst Meyer (1871-1939), „Elektrosuggestive Behandlung hysterischer Stupor- und Dämmerzustände“, erschienen in der Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 1919. 26 K RAEPELIN / L ANGE , Psychiatrie Bd. 1, 878, liefern die Begründung dafür: „Geisteskranke erwiesen sich für dieses Heilmittel zumeist wenig zugänglich. So sei es beispielsweise nicht möglich, „eingewurzelte Wahnideen“ per Hypnose „auszureden, die wir ja gewissermaßen als dauernde Eigensuggestion auffassen können“. Kraepelin verweist die Hypnose in den Bereich von Hysterie und Nervosität. 27 H OCHE , Schizophrenische Prozesse, 275, 284. 28 W OLLENBERG , Dementia paralytica, 414. 29 Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich (1926), 392. 30 G RUHLE , Psychiatrie für Ärzte, 227. Neue Taktik an der therapeutischen Front? 417 So drastisch äußert sich Hans Walter Gruhle (1880-1958) im Jahr 1922 zu der größten diagnostischen Gruppe in der Kategorie „einfache Seelenstörung“, der Dementia praecox oder Schizophrenie. Dies lag nicht daran, dass er eine „Aufbruchsstimmung“ verpasst hätte, denn er geht in seinem Abschnitt über Therapie ausführlich auf die Psychotherapie, die Psychoanalyse und die Hypnose ein und er äußert sich auch zu den suggestiven elektrischen „Wunderkuren“ des Krieges, die allerdings nicht „jedermanns Sache“ und auch für den Arzt außerordentlich anstrengend seien. „Derartige Kuren“, fügt er an, „waren freilich nur in der Kriegszeit möglich, als die Strenge der militärischen Disziplin, die Unterordnung des einzelnen unter die Gesamtstimmung und die Geringfügigkeit der kleinen Leiden gegenüber den großen Verlusten die gewalttätig heilsame Durchführung der geschilderten Technik erlaubten. Heute, da alle diese Faktoren weggefallen sind, würde ich niemandem zu solchen Prozeduren raten. In vielen Fällen wären sie heute notwendiger denn je. Aber der Arzt, der in der besten und richtigsten Tendenz solche Gewaltkuren ausführte, würde der übelsten Presseverleumdungen und gröbsten Bedrohungen seitens der Kriegsbeschädigtenverbände und anderer Organisationen gewiß sein, ohne vom Staate geschützt zu werden.“ 31 Bis Ende der 1920er Jahre scheint sich an der Gesamttendenz wenig geändert zu haben. 1929 äußert Johannes Lange über die „Schizophrenie“, der „Krankheitsprozeß als solcher“ laufe ohne jede entscheidende Beeinflussbarkeit ab. 32 Allerdings sei es manchmal möglich, die Betroffenen „späterhin draußen einem geordneten Berufsleben bei bescheidensten Ansprüchen zuzuführen“. 33 Dagegen hat sich bis 1929 die Indikationsstellung bei progressiver Paralyse offenbar stabilisiert: „Ist die Diagnose Paralyse gestellt, so muss der Kranke behandelt werden. Die Methode der Wahl ist heute die Infektionsbehandlung mit Malaria oder Recurrens.“ 34 Vielleicht kann man es so zuspitzen, dass die Psychoanalyse in ihrer Anerkennung durch Psychiater den meisten Gewinn aus einer „Aufbruchsstimmung“ nach dem Krieg ziehen konnte, im Fahrwasser der Hypnose als Teil der „aktiven Therapie“. Sogar der skeptische Kraepelin behandelte sie ausführlich in der letzten Auflage seines Lehrbuchs. Während ihn die Dauernarkose offenbar weniger überzeugt hat („Kann man vielleicht gelegentlich durch eine Dauernarkose einen sehr erregten Kranken seelischen Einflüssen zugänglicher machen“ 35 ), und er auch dem Einsatz von Hypnose bei „Geisteskranken“ einen weit beschränkteren Wirkungskreis zu- 31 G RUHLE , Psychiatrie für Ärzte, 255f. Auch Jolly gibt in der zweiten Auflage seines „Kurzen Leitfadens der Psychiatrie“ von 1921 im Vorwort an, er habe „die Kriegserfahrungen möglichst berücksichtigt“. Er ist ähnlich pessimistisch bezüglich der Schizophrenien, erwähnt aber bei der Dementia paralytica Tuberkulin und nukleinsauere Natrium. Im Abschnitt über Hysterie berichtet er, besonders der Krieg habe gezeigt, dass sie auch bei Männern vorkomme (G RUHLE , Psychiatrie für Ärzte, 229). Sie sei in dieser Zeit häufig mit Hypnose geheilt worden. Auch der Psychoanalyse ist ein Abschnitt gewidmet. 32 L ANGE , Psychiatrie des praktischen Arztes, 59. 33 Ebd., 56. 34 Ebd., 40. Gelegentlich müsse man beide kombinieren oder auch ein drittes anwenden. Dann käme am ehesten das Rattenbißfieber (Sodoku) in Frage. 35 K RAEPELIN / L ANGE , Psychiatrie Bd. 1, 873. Maike Rotzoll 418 schreibt, „als zunächst erwartet werden konnte“, 36 schreibt er Freud „sehr wertvolle Anregungen“ zu. Auf Seitenhiebe verzichtet er dennoch nicht. So seien die Behandlungserfolge schwer zu übersehen. Und: „Die Klinik und Anstaltspsychiatrie sieht wohl fast nur abschreckende Beispiele, vor allem Schizophrene und Manischdepressive, nicht selten auch Psychopathen, die nicht genug von den Qualen endloser vergeblicher psycho-analytischer Maßnahmen zu berichten wissen.“ 37 In der Tendenz ähnlich äußert sich 1928 der Rostocker Psychiater Max Rosenfeld (1871- 1956). „Jeder Arzt“, schrieb er, „ist verpflichtet, Psychotherapie zu treiben und alle Methoden zu versuchen. Für die Hypnose und die Psychoanalyse trifft dies aber nur mit einer gewissen Einschränkung zu, insofern, als ihr Anwendungsgebiet doch begrenzt ist“. 38 Weiter vorne in seiner Liste der „Psychotherapien“ rangiert die Arbeitstherapie. 4. Vom Dauerbad zur Arbeit. Ein Blick auf die therapeutische Praxis in Heidelberg nach dem Krieg Schon im 19. Jahrhundert spielte die Arbeit in den psychiatrischen Anstalten eine große Rolle und darin änderte sich wohl auch im Ersten Weltkrieg nichts. So hat Maria Hermes in ihrer Arbeit über das St.-Jürgen-Asyl in Bremen dargestellt, dass dort im Krieg kaum „aktive Therapien“ im militärischen Sinne angewandt wurden, dagegen primär die aus der Vorkriegszeit bekannte Trias von Bettbehandlung, Arbeit und Dauerbad und dies sowohl bei militärischen als auch bei zivilen Patient(inn)en. 39 Es wäre sinnvoll, psychiatrische Krankengeschichten weiterer Anstalten und Kliniken vergleichend für einen längeren Zeitraum zu untersuchen, um ein klares Bild über die therapeutischen Entwicklungen unter der rhetorischen Oberfläche zu 36 Ebd., 879. 37 Ebd., 883. 38 R OSENFELD , Repetitorium der praktischen Psychiatrie, 1301. Er benennt folgende Bereiche: Chirurgische Eingriffe: am Schädel bei Geistesstörungen nicht indiziert („Man ist von Versuchen in dieser Richtung ganz zurückgekommen“); Fiebertherapie: Malariabehandlung bei Geistesstörungen syphilitischen Ursprungs, bei endogenen Geistesstörungen keine sicheren Ergebnisse („man kann aber in geeigneten subakuten Fällen von Schizophrenie einen Versuch machen“, mit Einwilligung der Angehörigen); Medikamentöse Therapie: Skopolamin bei motorischer Unruhe. Luminal bei Epilepsie, Opium bei Angst und Depression, verschiedene Schlafmittel; Dauernarkose: bei endogenen Geistesstörungen; Bäder- und Bettbehandlung: Bei Erregten eher Dauerbad, bei Ängstlichen und Depressiven eher Bettbehandlung; Psychotherapie: Belehrungs- oder Persuasionsmethode, Isolierungstherapie (Entfernung aus der bisherigen Umgebung und von den Angehörigen), Arbeits- und Beschäftigungstherapie, Willenstherapie (Übungen bei Tics), Wachsuggestion, Überrumpelungstherapie (Schreck), hypnotische Suggestion, psychoanalytische Methoden. Alle psychotherapeutischen Methoden im Grunde suggestiv, keine kausale, sondern „Erziehungstherapie“, „aktive Therapie“ als Sonderform. 39 H ERMES , Krankheit: Krieg, 413-454. Neue Taktik an der therapeutischen Front? 419 gewinnen. Hier kann nur ein knapper Einblick in die Praxis der Heidelberger Klinik im Jahr 1919 gegeben werden. Dort war seit 1918 Karl Wilmanns Ordinarius, der während des Krieges im badischen Sanitätsamt Möglichkeiten für die „aktive Therapie“ geschaffen hatte, der also allen Grund haben mochte, therapeutische Errungenschaften des verlorenen Krieges zu bewahren. 40 Insgesamt kann man feststellen, dass die Kriegs- und Lazarettpraxis in Heidelberg nicht schlagartig endete. Das Beobachtungslazarett wurde am 13. März 1919 aufgelöst; Gutachten wurden in der folgenden Zeit aber in gleicher Weise von der nun wieder zivilen Klinik erstattet. Es kamen weiterhin viele (ehemalige) Soldaten in die Klinik und auch in die Geschichten der übrigen Probanden und der „echten“ Patienten warf der Krieg seine Schatten. Von 60 Männerakten aus Frühjahr und Sommer 1919 waren über die Hälfte Gutachtenfälle, bei zwölf diagnostizierte man eine Schizophrenie oder ein manisch-depressives Irresein, bei fünf eine Paralyse, einige kamen wegen Suchterkrankungen oder Altersdemenz. Die Gutachtenprobanden blieben meist nur wenige Tage und nicht einer Therapie wegen. Nur selten werden in diesen Akten also therapeutische Initiativen vermerkt. Beispielsweise heißt es über einen Mann mit der Diagnose „Imbezillität“, der wegen kleinerer Straftaten aus der Militärarrestanstalt zur Begutachtung kam: „Soll von morgen ab zur Gartenarbeit verwendet werden, als er davon hört, bittet er um Kostzulage“. Angeblich stahl er dann bei der Gartenarbeit Pfeife und Tabak eines Mitpatienten und wurde alsbald „auf die Straße“ entlassen. 41 Bei einem Gutachtenpatienten mit „Rentenbegehren“, der eine Hysteriediagnose erhielt, versuchte man es mit Suggestion: Er wurde aus „therapeutischen Gründen“ (also zur Abschreckung) auf die geschlossene Station verlegt, „ihm selbst wird mitgeteilt, daß er dort mit ausgedehnter Badebehandlung geheilt werden solle.“ 42 Allerdings blieb Friedrich A. unbeeinflusst und so entließ man ihn, wie die meisten anderen, mit der Empfehlung, nicht durch höhere Rente die Symptomatik zu fixieren. Auch in den teils sehr ausführlichen Akten „typischer“ Psychiatriepatienten, die meist einige Monate blieben, finden sich wenige Hinweise auf therapeutische Maßnahmen, was nicht ungewöhnlich für Psychiatrieakten bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ist. Ein manischer Romancier erhielt Schlafmittel, 43 ebenso ein weiterer „Manischdepressiver“, der später fleißig arbeitete. 44 Ein Paralytiker von insgesamt fünf erhielt eine intralumbale Salvarsanbehandlung, 45 bei den anderen ist keine Therapie vermerkt. Ein unruhiger Katatoner kam ins Dauerbad, 46 ebenso ein frisch erkrankter Patient mit Dementia praecox, der zudem Hyoscin erhielt. 47 Ein früherer Fremden- 40 Zu Karl Wilmanns und seinen Interessen an der Heidelberger Psychiatrischen Klinik nach dem Ersten Weltkrieg R ÖSKE / R OTZOLL , Karl Wilmanns. 41 UAH, L III, 19/ 235. 42 UAH, L III, 19/ 106. 43 UAH, L III, 19/ 101. 44 UAH, L III, 19/ 71. 45 UAH, L III, 19/ 110. 46 UAH, L III, 19/ 113. 47 UAH, L III, 19/ 229. Maike Rotzoll 420 legionär mit Schizophreniediagnose arbeitete „gewissenhaft und mechanisch“ und kam nur deshalb in die Anstalt Wiesloch, weil er keine Familie hatte. 48 Und ein weiterer „Katatonischer Endzustand“, dessen zuvor latente Psychose sich in Kriegsgefangenschaft manifestiert hatte und der sich dann als Gärtner des psychiatrischen Sanatoriums Neckargmünd durchgeschlagen hatte, arbeitete auch in der Heidelberger Klinik im Garten, nun aber als Patient. Soweit war es nur gekommen, weil das Kurhaus Neckargmünd - wie viele andere private Einrichtungen - in der Nachkriegskrise der Psychiatrie schließen musste. Eines Tages stellte Moritz R. die Arbeit ein, blieb im Bett, magerte ab und wurde ebenfalls nach Wiesloch verlegt, wie alle anderen Behandlungsfälle, die man nicht entlassen zu können meinte. 49 Ein Patient suizidierte sich bei der Gartenarbeit, noch bevor man überhaupt eine Diagnose gestellt hatte. Das ist schon alles; eher schemenhaft lassen sich hier wie für Bremen auch die typischen, auch in der Vorkriegszeit üblichen Therapien finden, mit Ausnahme der endolumbalen Salvarsanbehandlung (von 1914) in einem Fall. Wenn es in Heidelberg zu einer therapeutischen Nachkriegs-Aufbruchsstimmung kommen sollte, dann stand sie 1919 noch bevor, soweit es sich aus diesen 60 Akten ersehen lässt. Für die nahegelegene Anstalt Wiesloch wie für viele weitere Anstalten lässt sich Mitte der 1920er Jahre tatsächlich der Eindruck einer „neuen Zeit“ für die Behandlung festhalten und dabei spielte die Erinnerung an den Krieg möglicherweise eine nicht zu unterschätzende Rolle. In diesem Fall blieb es jedenfalls nicht bei der Rhetorik; in vielen Anstalten änderte sich das Regime tatsächlich, zumindest für einige Jahre. So schwärmte ein Wieslocher Anstaltsarzt von der „aktiveren Therapie“ als neuer Form der Arbeitstherapie und von deren Initiator Hermann Simon (1867- 1947): Der Direktor in Gütersloh sei „eine elastische Erscheinung mit den rassigen Zügen eines Kavallerieoffiziers“. Simons „aktiverer Krankenbehandlung“ mit ihren „Kolonnen“ haftete prinzipiell etwas Militärisches an. 50 Arbeitstherapie hatte im Übrigen auch im Krieg bei der Behandlung der Kriegsneurotiker eine große Rolle gespielt. 51 Mit der Autorität eines Offiziers, mit Überwachen und Strafen, scheint Simon sein therapeutisches Konzept durchgesetzt zu haben. Zumindest beschrieb ein weiterer badischer Gütersloh-Besucher unter diesem Aspekt die dort bei Widerstand gegen die Arbeitstherapie ergriffenen Maßnahmen: Sie umfassten als ultima ratio den kriegserprobten „schwachen faradischen Strom“ (unter „schwachem faradischen Strom“ wird Elektrisieren der Extremitäten verstanden, „bis Muskelzuckung eintritt“). „Ob diese Behandlung trotz des offenbar guten Erfolges und der thera- 48 UAH, L III, 19/ 100. 49 UAH, L III, 19/ 219. 50 S IMON , Aktivere Krankenbehandlung, 28-30. Vor seinen Ausführungen zu den zwölf verschiedenen „Außenkolonnen“ legt Simon die für die ganze Anstalt einheitliche und klare Organisation des „Beschäftigungsbetriebes“ dar. Zentral erscheint dabei ein Treffen „zu einer genau bestimmten Zeit“ aller Ärzte einer Geschlechterseite mit dem Oberpflegepersonal vor der großen Arbeitsverteilungstafel, auf der täglich die genaue Einteilung - sozusagen generalstabsmäßig - vorgenommen wird. Vgl. R OTZOLL , Kasernenwahnsinn und Wahnsinnskasernen. 51 Vgl. beispielsweise W ILMANNS , Die badischen Lazarette während des Krieges, 32-34. Neue Taktik an der therapeutischen Front? 421 peutischen Erklärungen des Arztes“, so fügte dieser Beobachter skeptisch hinzu, „nicht doch vom Personal und von anderen Leuten als Strafe aufgefasst wird, wie dies ja auch in den Nervenlazaretten im Kriege der Fall war, ist fraglich.“ 52 „Aktiv“ aber war diese therapeutische Maßnahme in jedem Fall und Einsparungen versprach sie auch. Im Anstaltsalltag der Weimarer Zeit dominierte insgesamt wohl über weite Strecken der tägliche Kampf um die Verbesserung der im Krieg äußerst prekär gewordenen Lebensbedingungen, so dass nur solche Reformvorschläge eine Chance haben konnten, die auch ökonomisch argumentierten. Nach dem Krieg und dem Hungersterben in den Anstalten „lagen“ manche von ihnen „verödet“, viele kleinere Privatanstalten mussten schließen, Anstaltspsychiater befürchteten das Ende ihres Versorgungsmodells. 53 So waren die Psychiatrie und ihre Institutionen mit dem Ende des „großen Kriegs“ zweifellos in eine tiefe Krise geraten, aller Rhetorik zum Trotz. Kein Wunder, dass sie sich in der Zwischenkriegszeit, dem friedlichen Anblick der Pavillonbauten zum Trotz, an neuen ökonomischen und therapeutischen Fronten beweisen zu müssen meinte. Quellen und Literatur Archive Bundesarchiv Berlin (BArch) - R 179/ 26331. Universitätsarchiv Heidelberg (UAH) - Bestand L III, Krankenakten der Psychiatrischen Universitätsklinik. Generallandesarchiv Karlsruhe (GLAK) - 463 Zug. 1983/ 9 Nr. 106, Besichtigung fremder Anstalten und Abfassung von Reiseberichten. Gedruckte Quellen Anonym: Verhandlungen psychiatrischer Vereine: Kriegstagung des Deutschen Vereins für Psychiatrie am 21. und 22. September 1916, in: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie und psychisch-gerichtliche Medizin 73 (1917), 163-233. B INSWANGER , O TTO / S IEMERLING , E RNST (Hrsg.): Lehrbuch der Psychiatrie, 5. Aufl., Jena 1920. 52 GLAK, 463 Zug. 1983/ 9 Nr. 106 Besichtigung fremder Anstalten und Abfassung von Reiseberichten: Reiseberichte über Reisen nach Gütersloh Walter Fuchs (1868-1941), Wiesloch 28.10.1926, Ernst Thoma (gest. 1940, Direktor der Illenau 1917-1928) von Januar 1926, Adolf Gross (Emmendingen) vom 17.2.1926 und Johann Gerhard Klewe-Nebenius (Wiesloch) vom 11.2.1926. K RAEPELIN / L ANGE , Psychiatrie Bd. 1, 875, äußern sich ähnlich, sehen den von Simon gebrauchten elektrischen Strom als strafende Maßnahme an, die sie bei Arbeitstherapie ablehnen. 53 F AULSTICH , Hungersterben, 57. Maike Rotzoll 422 E RB , W ILHELM : Handbuch der Elektrotherapie, Leipzig 1882. G ENNERICH , W ILHELM : Zur Technik der endolumbalen Salvarsanbehandlung, in: Münchener Medizinisch Wochenschrift 61 (1914), 823-824. -: Die Syphilis des Zentralnervensystems. Ihre Ursachen und Behandlung, Berlin/ Heidelberg 1921. G RUHLE , H ANS W ALTER : Psychiatrie für Ärzte, Berlin 1922. H OCHE , A LFRED : Schizophrenische Prozesse (Dementia praecox), in: O TTO B INS- WANGER / E RNST S IEMERLING (Hrsg.), Lehrbuch der Psychiatrie, 5. Aufl., Jena 1920, 265-289. J OLLY , P HILIPP : Kurzer Leitfadens der Psychiatrie für Studierende und Ärzte, 2. Aufl., Bonn 1922. K AUFMANN , F RITZ : Die planmässige Heilung komplizierter psychogener Bewegungsstörungen bei Soldaten in einer Sitzung, in: Münchener Medizinische Wochenschrift 63 (1916), 802-804. K LEIST , K ARL : Die gegenwärtigen Strömungen in der Psychiatrie, Berlin/ Leipzig 1925. 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Zusammenfassung Wenig bekannt ist bislang, dass zahlreiche Teilnehmer des Ersten Weltkrieges auch im Zweiten Weltkrieg bei der Wehrmacht wieder als Soldaten dienten; nicht nur als Offiziere und Generale, sondern meist auch als erneut Wehrpflichtige. Unter ihnen befanden sich auch psychisch Erkrankte. Der Beitrag stellt einige Einzelschicksale solcher Männer vor. Gezeigt wird, wie manche von ihnen auf Grund einer Suchtentwicklung entlassen wurden oder an deren Folgen verstarben, aber auch, dass andere Erkrankte ihre Lebensumstände und Kriegserfahrungen als Soldaten nunmehr nur noch mit Suizid zu beantworten wussten. 1. Das Schicksal von Gustav Z. Ende Mai 1943, knapp zwei Monate nach seinem 53. Geburtstag, schnitt sich der Oberbootsmannsmaat Gustav Z. der 17. Schiffsstammabteilung, einer Reserveeinheit für Angehörige Schwimmender Verbände der Reichskriegsmarine, mit seinem Rasiermesser am frühen Morgen im Marinelazarett im ostpreußischen Memel die Kehle durch. Die schwere Verletzung der Luftröhre mit vollständiger Durchtrennung und die Eröffnung der Halsschlagadern führten zum Tod durch Verbluten. Bei der Obduktion, die angeordnet worden war, um ein Fremdverschulden an diesem Todesfall ausschließen zu können und um Suizid festzustellen, bemerkte der ausführende Wehrmachtpathologe Oberarzt Vosswinckel im Pathologischen Institut der Universität Königsberg zur Anamnese des Verstorbenen: „Angebl.[ich] 1915 Lukendeckel auf den Kopf bekommen. Ob durch diesen Unfall eine anerkannte W.D.B. [Wehrdienstbeschädigung] bestanden hat, war bei der Sektion nicht festzustellen. In den letzten Wochen Verfolgungsideen. Im Zivil- Peter Steinkamp 426 beruf bei der Reichsbahn als untauglich entlassen.“ 1 - Zur Epikrise wurde im selben Bericht eher vage festgehalten: „Nach den Angaben der Vorgeschichte kann es sich um einen akuten Schub einer Schizophrenie handeln, in der die Tat begangen wurde.“ 2 Dieser mit großem Selbstvernichtungswillen durchgeführte Suizid eines psychisch kranken Teilnehmers des Ersten Weltkriegs, der, obwohl schon jenseits der Fünfzig, im Zweiten Weltkrieg erneut zum Kriegsdienst verpflichtet worden war, als Unteroffizier der Reichskriegsmarine, wirft in all seiner Tragik ein grelles Schlaglicht auf das Schicksal eines zweimal, in beiden Weltkriegen, Eingezogenen. Bereits im zweiten Kriegsjahr seines ersten Einsatzes, mit Mitte zwanzig, hatte er, offensichtlich damals bereits schon zur Marine gehörig, was sich aus der Erwähnung des Lukendeckels erschließt, eine so schwere Schädel- oder sogar Hirnverletzung erlitten, dass diese wohl sein gesamtes weiteres Leben beeinträchtigte und schließlich wohl auch zu seinem frühen, gewaltsamen Tod durch eigene Hand führte. Zwar stellte der Obduzent keine pathologischen Veränderungen in dieser Hinsicht mehr fest, indem er in seinem Bericht hierzu bemerkte: „Irgendwelche Merkmale einer Kopfverletzung aus der Zeit des Weltkrieges waren bei der Sektion nicht mehr nachweisbar.“ 3 Auch muss mangels weiterer klinischer Angaben im Sektionsbericht offen bleiben, ob die erwähnten Verfolgungsideen, an denen Z. zuletzt litt, unmittelbare Folge seines Einsatzes im Ersten Weltkrieg waren oder sich diese Angstpsychose erst später entwickelte. Fest steht jedoch, dass es um die psychische und wahrscheinlich auch körperliche Gesundheit von Gustav Z. wohl schon lange schlimm gestanden hatte. Die erwähnte Entlassung aus seinem Zivilberuf ist hier ein überdeutlicher Hinweis. Umso weniger nachvollziehbar ist daher der Umstand, einen offensichtlich berufsunfähigen Mittfünfziger zum zweiten Mal in seinem Leben zum Kriegsdienst einzuziehen, denn um einen Berufssoldaten scheint es sich bei Z. offensichtlich nicht gehandelt zu haben, hätte er doch ansonsten nicht bei der Reichsbahn gearbeitet. Allerdings drängt sich angesichts dieser Vorgeschichte die Frage auf, wie sorgfältig wohl die vorgeschriebene ärztliche Einstellungsuntersuchung Z.s von statten gegangen sein mag. Eine Frage, die sich bei vergleichbaren Fällen von offensichtlichen Fehleinstellungen bei der Wehrmacht, wie weiter unten noch an weiteren Einzelschicksalen gezeigt wird, immer wieder stellt, auch wenn sie nicht wie hier zwangsläufig tödliche Folgen nach sich zogen. 2. Der Einsatz psychisch versehrter Soldaten im Zweiten Weltkrieg Indes ist dieser Suizid eines psychisch kranken Teilnehmers des Ersten Weltkriegs kein tragischer Einzelfall, wie auch die Einberufung und Kriegsdienstleistung von 1 BA-MA, RH 12-23/ 3906. Dort auch die weiteren hier erwähnten Angaben zu diesem Todesfall. 2 Ebd. 3 Ebd. „Zweimal eingezogen“ 427 Weltkriegsveteranen im Zweiten Weltkrieg beileibe kein Einzelfall war. Vielmehr dienten in den Jahren 1939-1945 zahlreiche Männer, die bereits schon einmal in den Jahren 1914 bis 1918 Soldaten gewesen waren, bei Heer, Luftwaffe und Reichskriegsmarine der Wehrmacht, teilweise auch bei der Waffen-SS, insbesondere bei deren aus Angehörigen der verschiedenen Polizeiformationen bestehenden Einheiten. Sie dienten als Berufssoldaten, als Reserveoffiziere (als Offiziere z.V., „zur Verfügung“, oder als Offiziere d. B., „des Beurlaubtenstandes“), aber in der Mehrzahl, und je länger der Zweite Weltkrieg andauerte, in um so größerer Zahl als Wehrpflichtige. Vor allem der Umstand, dass tatsächlich viele Männer, die bereits im Ersten Weltkrieg einberufen worden waren - oder auch als Kriegsfreiwillige Uniform getragen hatten - im Zweiten Weltkrieg erneut als Wehrpflichtige, nun bereits mindestens schon in ihren Vierzigern, Uniform tragen mussten, ist allgemein wenig bekannt und bei weitem noch nicht hinreichend erforscht. Ja, es gibt über grobe Schätzungen hinaus noch nicht einmal verlässliche Zahlen darüber, wie viele Weltkriegsteilnehmer überhaupt später in der Wehrmacht wieder Dienst taten. Betrachtet man die wenigen hierzu überlieferten Zahlen, so ist davon auszugehen, dass nach der Mobilmachung 1939 im Herbst des Jahres geschätzt rund 1,7 Millionen Angehörige der im Ersten Weltkrieg militärisch Ausgebildeten der Geburtsjahrgänge 1894 bis 1900 zu den Reservisten der so genannten Landwehr I des Heeres gehört hatten, jeweils 210.000 der Jahrgänge 1894 bis 1898 sowie jeweils rund 330.000 der Jahrgänge 1899 und 1900. 4 Zu berücksichtigen ist hierbei, dass sich diese Zahl eben nur auf das Heer, also auf die Landstreitkräfte der Wehrmacht, bezieht, nicht aber auf die Luftwaffe und die Reichskriegsmarine. Die Zahl sämtlicher Reservisten dieser Geburtsjahrgänge 1894-1900 dürfte also nochmals höher gewesen sein und 1939 möglicherweise die Gesamtzahl von zwei Millionen überschritten haben. Wie viele dieser Männer dann in den Jahren ab 1939 tatsächlich auch zum aktiven Kriegsdienst einberufen wurden, ist indes ebenfalls noch nicht erforscht. Gewiss jedoch dürfte auch wiederum nur eine Minderheit dieser aktiven Dienst leistenden Männer infolge des Ersten Weltkriegs oder danach psychisch erkrankt sein. Doch auch über deren zahlenmäßigen Anteil an der gesamten Gruppe der Veteranen mit dem Hakenkreuzadler auf Uniformbrust oder Uniformärmel gibt es bislang keinerlei überprüfbare Zahlen, ja, noch nicht einmal brauchbare Schätzungen. Es kann hier also nur versucht werden, anhand von Einzelschicksalen das Los psychisch erkrankter Weltkriegsveteranen des Ersten Weltkriegs im Zweiten Weltkrieg nachzuzeichnen. Ebenso kann hier nicht detailliert auf die Rolle der deutschen Militärpsychiatrie im Zweiten Weltkrieg im allgemeinen 5 und ihre Vertreter 4 Hochrechnung Peter Steinkamp nach VON L OSSBERG , Im Wehrmachtführungsstab, Skizze 4, Die personelle Lage Deutschlands im Herbst 1939: Zahl der für das Heer verfügbaren Wehrfähigen (Kartenanhang). - Diese Skizze ergänzt auch in F ÖRSTER , Die Wehrmacht im NS-Staat, 38. Weitere Angaben in M ÜLLER -H ILLEBRAND , Das Heer 1933-1945, 141. 5 Vgl. allgemein zum deutschen Sanitätswesen im Zweiten Weltkrieg N EUMANN , „Arzttum ist immer Kämpfertum“. - Zur deutschen Militärpsychiatrie dieser Zeit R IEDESSER / V ERDER - BER , Aufrüstung der Seelen; DIES ., „Maschinengewehre hinter der Front.“ Zur Geschichte der deutschen Militärpsychiatrie. - Lokale Studien bieten u.a. W AGENBLAST , Die Tübinger Militärpsychiatrie; M ÜLLER , Wege zum Ruhm. Peter Steinkamp 428 und Akteure 6 eingegangen werden; sie dient hier gewissermaßen nur als der formalmedizinische Rahmen, 7 innerhalb dessen sich das Schicksal der hier vorgestellten Weltkriegsveteranen in Diensten der Wehrmacht abspielte. 3. Quellenlage und Forschungsstand Diese Einzelschicksale lassen sich zudem nur mit hohem archivalischen Rechercheaufwand vor allem im Bundesarchiv-Militärarchiv Freiburg überhaupt ermitteln; gelegentlich handelt es sich beim Aufspüren diesbezüglicher Aktenvorgänge sogar um reine Zufallsfunde während anderweitiger Recherchen. Ein irgendwie geschlossener Aktenbestand zur Thematik von Weltkriegsveteranen bei der Wehrmacht findet sich an keiner Stelle der Überlieferung von Archivalien der Wehrmacht in Deutschland. Am ehesten fündig wird man bezüglich der oben bereits erwähnten Offiziere zur Verwendung und des Beurlaubtenstandes, die bereits im Ersten Weltkrieg gedient hatte. In den überlieferten Aktenbeständen des Wehrkreises VII (München) 8 und in geringerem Maße denen des Wehrkreises XVII (Wien) 9 finden sich entsprechende Personalvorgänge zur Entlassung nicht mehr als dienstfähig bewerteter älterer Reserveoffiziere dieser Kategorien. 10 Fälle von im Zweiten Weltkrieg als Wehrpflichtige erneut eingezogenen psychisch erkrankten Weltkriegsveteranen finden sich in nennenswerter Anzahl in der eingangs bereits erwähnten Sammlung von Obduktionsberichten der Kategorie „V“, Gerichtlich-medizinische Befunde. Unter den rund 5.300 in dieser Sammlung enthaltenen Berichten betreffen 43 Todesfälle von psychisch erkrankten Veteranen bei der Wehrmacht, überwiegend Suizide, wie den oben einleitend ausführlich vorgestellten von Gustav Z., aber auch Todesfälle infolge Alkoholismus oder Rauschmittelabhängigkeit sowie vereinzelt Fälle, bei denen auf Grund einer bestehenden psychischen Erkrankung eine dann letztlich letale anderweitige organische oder Infektionserkrankung nicht rechtzeitig erkannt wurde, darunter in einer weiteren Berichtskategorie der Obduktionen, „L“, Ernährungsstörungen und Erschöpfungsschäden, schließlich auch vier Fälle von Verhungern. Damit sind insgesamt 47 Todesfälle psychisch erkrankter Weltkriegsveteranen bei der Wehrmacht anhand ihrer Obduktionsberichte dokumentiert. Weitere Einzelschicksale psychisch kranker Weltkriegsteilnehmer finden sich in Verfahrensakten verschiedenster Wehrmachtgerichte, wobei es sich hier häufig nur um die überlieferten Gerichtsurteile handelt und entsprechende Aktenfunde zudem zumeist den oben erwähnten Zufallsfunden zu verdanken sind. Bedauerlicherweise gibt es nur eine kaum nennenswerte Aktenüberlieferung derjenigen militärischen Stellen, die 1939 bis 1945 mit den Entlassungsvorgängen der als „dienst- 6 B ERGER , Die Beratenden Psychiater. 7 Zu diesem „Rahmen“ S TEINKAMP , Patientenschicksale und ärztliches Handeln, 196-227. 8 BA-MA, RH 53-7. 9 BA-MA, RH 53-17. 10 Zur Beschreibung dieser Personalvorgänge in den beiden erwähnten Aktenbeständen S TEIN- KAMP , Zur Devianzproblematik in der Wehrmacht, 11-50. „Zweimal eingezogen“ 429 untauglich“ bewerteten Wehrpflichtigen betraut waren: die so genannten Heeresentlassungsstellen der einzelnen Wehrkreise. Hier hätten sich, bei befriedigender Aktenlage, sicherlich zahlreiche Entlassungsvorgänge auch von psychisch erkrankten Weltkriegsveteranen aus der Wehrmacht finden lassen. Leider ebenfalls wenig hilfreich für die hier behandelte Thematik ist der Bestand der Krankenakten deutscher Militärangehöriger seit den 1870er Geburtsjahrgängen, 11 da der allergrößte Teil dieser Krankenakten von Teilnehmern des Zweiten Weltkriegs als bei Kriegsende 1945 in Osteuropa verschollen gelten muss. Dies trifft entsprechend auch auf die Krankenakten von Weltkriegsveteranen bei der Wehrmacht zu, da diese Akten als Verwaltungsakten fortlaufend geführt wurden, das heißt, dass im Ersten Weltkrieg erstmals angelegte Krankenakten bei erneuter Einberufung der Betreffenden ab 1939 von der Wehrmacht weiter fortgeführt wurden. Entsprechend müssen auch diese Krankenakten von betroffenen Angehörigen der 1890er Geburtsjahrgänge nach Auslagerungen aus dem Berliner Archiv für Wehrmedizin Richtung Osten im weiteren Verlauf des Zweiten Weltkriegs als spätestens bei Kriegsende verschollen gelten. 4. Entlassung aus dem Dienst Die Entlassungsvorgänge älterer Reserveoffiziere zur Verfügung und des Beurlaubtenstandes, die anhand der Aktenüberlieferungen der beiden Wehrkreise VII (München) und XVII (Wien) nachgezeichnet werden können, betreffen vor allem Entlassungen wegen mangelnder körperlicher Eignung, also zumeist wegen organischen und infektiösen Erkrankungen und deren Spätfolgen oder wegen als mit Krankheitswert bewerteten Alterserscheinungen oder wegen psychischer Verhaltensauffälligkeiten sowie wegen mangelnder dienstlicher Verwendungsmöglichkeiten. Eine gewisse Rolle spielte auch das Vorliegen einer Suchterkrankung, namentlich von Alkoholismus. Wieder andere wurden wegen persönlicher Verfehlungen entlassen, die entweder als so genannte Ehrenverstöße (zumeist noch erschwerend mit „Schädigung des Ansehens der Wehrmacht“ verbunden) bezeichnet wurden oder gar zu disziplinarer oder gerichtlicher Bestrafung der Betreffenden geführt hatten, wobei dann häufig auch die Aberkennung der Vorgesetzteneignung als Grund für die Entlassung herangezogen wurde. Auch diese zuvor wegen Straftaten abgeurteilten und deshalb entlassenen Offiziere dürften in Einzelfällen, angesichts der Besonderheiten der jeweiligen Tatumstände, hier unter die nicht ausdrücklich als solche erwähnten, aber als zeitgenössisch zumindest psychisch von der Norm abweichend bewerteten Fälle einzureihen sein. So wurde beispielsweise im Wehrkreis München nach einer Verurteilung zu drei Monaten Wehrmachtgefängnis wegen einfacher Körperverletzung in zwei Fällen der 62-jährige Oberleutnant d.R.z.V. Udo H. vom Landesschützen-Bataillon 436 zum 20. Dezember 1942 entlassen. Zwar war seine Gefängnisstrafe zuvor in sechs Wochen geschärften Stubenarrestes abgemildert worden, doch waren es die auch seinen Untergebenen bekannt gewordenen besonderen 11 BA-MA, Pers 9. Peter Steinkamp 430 Tatumstände dieser Körperverletzungen, die auf einem als deviant empfundenen Sexualverhalten des Delinquenten beruhten und damit durchaus in die zeitgenössische Zuständigkeit auch der Militärpsychiatrie fielen, die das Wehrkreiskommando VII schließlich zur Entlassung von H. bewogen: „Wie aus den Feststellungen des Gerichts zu entnehmen ist, hat H. im Juni 1942 aus sexuellen Motiven 2 Frauen, die er für einen unerlaubten Besuch der Wachmannschaften seines Kriegsgefangenenlagers bestrafen wollte, in deren Wohnung mit einer Lederpeitsche wiederholt auf das entblößte Gesäß geschlagen. Durch seine Handlungsweise, die bei den Mannschaften des Kriegsgefangenenlagers bekannt geworden [ist], hat H. das Ansehen des Offizierskorps schwer geschädigt. Sein Verhalten, das einen außerordentlichen Mangel an Selbstzucht und Beherrschung aufweist, ist eines deutschen Offiziers unwürdig.“ 12 Erheblich öfter als solche Fälle als psychisch auffällig bewerteten devianten Verhaltens finden sich in den Entlassungsvorgängen jedoch solche Offiziere, deren Suchterkrankung zur Entlassung aus der Wehrmacht führte, wobei sie nicht selten zuvor ausführlich psychiatrisch begutachtet wurden, wie in folgendem, besonders gut dokumentiertem Fall bereits aus dem Jahr 1940, wiederum im Wehrkreis München, den Leutnant d.R.z.V. Bertin H. 13 betreffend. Angesichts seiner alkoholbedingten Ausfälle war gegen diesen älteren Reserveoffizier sogar ein militärgerichtliches Verfahren wegen unerlaubter Entfernung eingeleitet worden, das jedoch unter Zubilligung des Paragraphen 51, Absatz eins des Reichsstrafgesetzbuches eingestellt wurde, das bedeutete, wegen Unzurechnungsfähigkeit. Über die Gründe, die zunächst zur Einleitung des Strafverfahrens führten, heißt es im Entlassungsvorgang: „Ltn. [Leutnant] H. wurde Ende September 1940 als Dolmetscher-Offz. [Offizier] bei der Ortskommandantur II/ 747 [damals Charleville] eingeteilt und meldete sich am 30.9.40 beim 1. WBO. [Wehrbezirksoffizier] des WBK. [Wehrbezirkskommando] München II, Herrn Major von Bechtoldsheim. Er wurde als stellv.[ertretender] Führer der Ergänzungs-Mannschaften für diese Ortskommandantur aufgestellt, es wurden ihm verschiedene Weisungen erteilt, auch wurden ihm einige Schriftstücke übergeben, die er dem Führer der Ergänzungsmannschaften überreichen sollte. Ltn. H. liess sich am 1.10.40 noch einmal in der Unterkunft der Ergänzungsmannschaften sehen, von diesem Augenblick an kümmerte er sich um nichts mehr. Sein Aufenthalt war unbekannt, bis er mit Schreiben vom 21.10.40 dem Major von Bechtoldsheim mitteilte, dass er sich wegen eines Kniegelenkschadens im Res.Laz. [Reservelazarett] München III, Hohenzollernstr. 140, befindet.“ Am 24. Oktober 1940 wurde daraufhin nach Einleitung des Strafverfahrens Haftbefehl gegen den noch immer im Lazarett behandelten Leutnant H. erlassen. Am 3. Dezember 1940 schließlich wurde ein wehrmachtfachärztliches psychiatrisches Gutachten über ihn erstellt, dessen ausführliche Schlussbeurteilung ebenfalls im Entlassungsvorgang enthalten ist und hier vollständig zitiert wird: 12 BA-MA, RH 53-7/ 1238. - Zu diesem Fall S TEINKAMP , Zur Devianzproblematik, 14. 13 BA-MA, RH 53-7/ 1121. Dort auch die weiteren Zitate zu diesem Entlassungsvorgang. - Zu diesem Fall S TEINKAMP , Zur Devianzproblematik, 15-17. „Zweimal eingezogen“ 431 „Es kann nicht bezweifelt werden, dass Ltn. H. seit vielen Jahren dem Trunke ergeben ist. Dies bestätigen seine eigenen Angaben, wenn er sich auch bemüht, seinen Alkoholismus zu beschönigen. Von seinen Bekannten wird er ebenfalls für einen schweren Alkoholiker gehalten. Abgesehen davon, dass einige körperliche Symptome auf den Alkoholismus hinweisen, bietet seine Persönlichkeit die ausgesprochenen Züge des Trinkers. Das im psychischen Befund geschilderte Bild wird ergänzt durch seinen sozialen Abstieg, durch die Unsauberkeit seiner Kleidung. Sehr wahrscheinlich ist die heutige Persönlichkeit des Ltn. H. nicht nur durch eine alkoholische Wesensveränderung, sondern auch durch senile und arteriosklerotische Hirnveränderungen gekennzeichnet. Beide Faktoren spielen bei der Gestaltung des heutigen seelischen Bildes eine Rolle. - Das Verhalten des Ltn. H. während [d]er Zeit der unerlaubten Entfernung lässt nicht nur die eben genannten seelischen Veränderungen erkennen, sondern macht es sehr wahrscheinlich, dass Ltn. H. in diesen Tagen in noch grösserem Umfange als früher dem Alkohol zusprach und chronisch betrunken war. An viele Einzelheiten von Vorgängen während der Zeit seiner unerlaubten Entfernung kann er sich nicht mehr erinnern. Er wurde zu verschiedenen Tages-Zeiten betrunken gesehen. Alle aufgezählten Umstände machen es im höchsten Grade wahrscheinlich, dass Ltn. H. sich während der Zeit seiner unerlaubten Entfernung in einem Zustand der Zurechnungsfähigkeit [gemeint: Unzurechnungsfähigkeit] befunden hat. Hinsichtlich seiner unerlaubten Entfernung muss ihm daher der Schutz des § 51 Abs. 1 RStGB. zugesprochen werden. - Hiernach muss das Verfahren gegen Ltn. H. auf Grund des § 51, Abs. 1 RStGB. eingestellt werden. Die Unterbringung des Beschuldigten in einer Heil- und Pflegeanstalt kommt nach Lage des Falles nicht in Betracht. - Das Verfahren hat jedoch ergeben, dass der Beschuldigte für eine weitere Dienstleistung in der Wehrmacht völlig ungeeignet ist. Es wird daher seine Entlassung zu beantragen sein.“ Das zuständige Militärgericht folgte dem Tenor dieses Gutachtens bereits am 12. Dezember 1940 in vollem Umfang, stellte das Verfahren ein, hob den Haftbefehl auf und, in diesem Fall wohl von weitestreichender Konsequenz, folgte auch der in der Schlussbeurteilung des Gutachtens erwähnten, letztlich aber nicht weiter begründeten Ablehnung einer Unterbringung in einer Heil- und Pflegeanstalt, indem sie Leutnant H. über seine Einheit zusätzlich bekannt geben ließ: „Zur Anordnung eines Sicherungsverfahrens besteht kein Anlass.“ Es waren also wohl die vom Gutachter behaupteten „senile[n] und arteriosklerotische[n] Hirnveränderungen“, die H. als Offizier, anders als viele Wehrpflichte der Wehrmacht, trotz festgestellten Alkoholismus vor einer (unbefristeten) Unterbringung in einer Anstalt, dazu womöglich noch als so genannter Sicherungsverwahrter, also als psychisch kranker Straftäter mit Rückfallprognose, mit allen möglichen schlimmen Weiterungen (erbgesundheitliche Begutachtung, Sterilisation, Euthanasie) bewahrten. Er wurde mit Wirkung zum 31. Dezember 1940 aus dem aktiven Wehrdienst entlassen. Sein weiteres Schicksal ließ sich nicht ermitteln. Noch mehr Ungereimtheiten weist der Fall des entlassenen chargierten Leutnant d.L. [der Landwehr] (ein Rang noch aus der Zeit des Ersten Weltkrieges) z.V. Peter Steinkamp 432 Hans S. 14 von der 4. Kompanie des Landesschützen-Bataillons 540, Jahrgang 1890, auf. Diesem bescheinigte der Bataillonsarzt Ende Februar 1942 mittels eines ärztlichen Befundscheines, Leutnant S. „leidet an Arteriosklerose (L 49), Psychopathie sowie schwerem Alkoholismus (L 15/ 1)“. Dieser Befund führte jedoch zunächst nicht zur Entlassung des knapp über Vierzigjährigen, vielmehr wurde er zu einem Ersatztruppenteil, dem Landesschützen-Ersatz-Bataillon 7 Traunstein, versetzt. Dort wurde er von der Heeressanitätsstaffel Berchtesgaden erneut ärztlich untersucht und am 19. März 1942 in völligem Widerspruch zu den schwerwiegenden, vom Truppenarzt erhobenen Befunden mit dem Tauglichkeitsgrad g.v.F., garnisonsverwendungsfähig Feld, beurteilt. Ein Tauglichkeitsgrad also, nur wenig vom höchsten Tauglichkeitsgrad k.v., kriegsverwendungsfähig, entfernt. Eine Entlassung des Leutnants war damit bis auf weiteres unmöglich gemacht worden. Das Landesschützen- Ersatz-Bataillon, das den als untauglich betrachteten Reserveoffizier wohl gerne als entlassen gesehen hätte, teilte den Umstand der abweichenden Tauglichkeitsbeurteilung schon am 21. März 1942 seinem vorgesetzten Divisionskommando z.b.V. [zur besonderen Verwendung] 407 mit, wo man sogar noch schneller handelte, zunächst umgehend zum Telefonhörer griff und das Wehrbezirkskommando VII informierte sowie bereits am nächsten Tag unter Bezug „auf die fernm.[ündliche] Rücksprache“ „2 Anlagen“ (wohl den ärztlichen Befund des Bataillonsarztes sowie die Tauglichkeitsbeurteilung durch die Heeressanitätsstaffel) an dasselbe verschickte. Von dort erhielt die Division am 27. März 1942 die Nachricht, dass Leutnant S. mit Wirkung zum 31. März 1942 nun doch zu entlassen sei, und zwar „wegen mangelnder Eignung“! Um keine weiteren Missverständnisse mehr aufkommen zu lassen, vermerkte das Schreiben ausdrücklich: „Von einer Wiederverwendung ist abzusehen.“ Doch damit nicht genug, versah der dieses Schreiben beim Wehrkreis VII unterzeichnende Bearbeiter dasselbe links unten mit dem handschriftlichen Bleistiftvermerk „Trunkenbold! “. Damit hatte man trotz der Nachuntersuchung durch die Heeressanitätsstaffel Berchtesgaden doch noch binnen Monatsfrist die offensichtlich durch die Truppe erstrebte Entlassung von S. erreicht. Doch diese Entlassung sollte noch ein Nachspiel haben. Am 8. September 1942 überreichte das Heerespersonalamt beim Oberkommando des Heeres dem Wehrkreiskommando VII „ein Gesuch [fehlt in der Akte] des char. Leutnant d.L. a.D. [außer Dienst] S. an den Führer [Adolf Hitler] vom 10.8.1942“ „mit der Bitte um Stellungnahme und Mitteilung, auf Grund welcher Vorkommnisse die Aufhebung der z.V.-Stellung erfolgte“. Daraufhin, am 15. September 1942, überreichte das Wehrkreiskommando dem Heerespersonalamt „1 Vorgang geheftet [fehlt in der Akte]“, verwies auf den bataillonsärztlichen Befundschein vom 26. Februar 1941 unter Angabe der Diagnose und schloss: „Stellv. Generalkommando VII. A.K. [Stellvertretendes Generalkommando VII. Armeekorps = Wehrkreiskommando VII] hält eine Wiederverwendung nicht für wünschenswert.“ Damit endet der Vorgang der Entlassung des Leutnant S., den man so offensichtlich so dringend loswerden wollte, der sich aber mit diesem Umstand nicht abfinden wollte und sich deswegen sogar an Hitler wandte. Das weitere 14 BA-MA, RH 53-7/ 1121. Dort auch die weiteren Zitate zu diesem Entlassungsvorgang. - Zu diesem Fall S TEINKAMP , Zur Devianzproblematik, 17f. „Zweimal eingezogen“ 433 Schicksal des Offiziers außer Dienst S. muss hier mangels weiterer Aktenüberlieferung ebenfalls offen bleiben. 5. Suizid als letzter Ausweg Andere alkoholabhängige Weltkriegsveteranen im Dienst der Wehrmacht indes taten dort weit länger Dienst als diese schon in der ersten Hälfte des Zweiten Weltkriegs deswegen entlassenen Reserveoffiziere. Entsprechend entwickelte sich bei manchen von ihnen ein Schweregrad der Alkoholabhängigkeit, bei dem der offensichtlich jahrelange chronische Abusus zu massiven psychischen Ausnahmezuständen bis hin zu Alkoholpsychosen und Delirien und schließlich sogar zum Tode führte, sei es durch Suizid, sei es durch zentrales Herz-Kreislaufversagen. Ein Beispiel eines Suizids infolge einer Alkoholpsychose stellt das Schicksal eines österreichischen Weltkriegsveterans in Diensten der Wehrmacht dar, des gebürtigen Wieners Georg M., 15 als Unteroffizier in Budapest bei der dortigen Hygienisch-bakteriologischen Untersuchungsstelle des Heeres im Zweiten Weltkrieg Dienst tuend. Der Sechsundvierzigjährige, im Zivilberuf Malergeselle, stürzte sich Mitte Juni 1944 während eines Lazerettaufenthaltes unter dem Bild einer vom Obduzenten als Grundleiden beurteilten akuten Alkoholpsychose aus dem Fenster. Der Unteroffizier hatte außerdem, wie sich bei der Sektion herausstellte, in der Zeit vor seinem Tod auch Fremdkörper verschluckt; im Dünndarm fand sich noch eine vernickelte Uhrenkette. 16 Diesen Umstand wertete der Obduzent klinisch zusätzlich als Vorliegen einer Depression. Zur Vorgeschichte seines Suizides wurde ausgeführt: „Nie körperlich krank gewesen. Nikotin: 20-25 Zigaretten. Alkohol: Tägl. 1 Liter Wein, einige Glas Bier und Schnäpse. Bis März April 44 keine Beschwerden. Seit Mitte April auf dem Transport nach Budapest sei ihm aufgefallen, daß die Kameraden ihn gefoppt und gehänselt hätten. Aufnahme im Kriegslaz.[arett] 2/ 605 am 10.6.44[.] Kameraden hätten seine Uniform mit stinkender Flüssigkeit begossen, Suppen und Getränke versalzen. Weitere ähnliche Angaben. Im Körper sei es ihm oft so heiß und kalt, daß es manchmal schmerze. Jetzt oft Kopfschmerzen und Schwindelgefühl. Besonders abends große Angstzustände. […] Auf der Abteilung unterhält er sich kaum mit anderen Kameraden, liegt meist grübelnd im Bett. Nahrungsaufnahme gering, Schlaf unruhig. Die Kameraden der Stube werden angewiesen den Patienten im Auge zu behalten und zu überwachen. Keine Temperaturen. Erhält Bromunal. Am 12.6. unverändert. Suicidideen werden strikte abgelehnt. Beobachtung auf geschlossener Abteilung wird für erforderlich gehalten. Am 13.6. 15 BA-MA, RH 12-23/ 3923. Dort auch die weiteren Angaben und Zitate zu diesem Todesfall. - Zu diesem Fall S TEINKAMP , Zur Devianzproblematik, 176f. 16 Zum Verschlucken von Fremdkörpern aus zeitgenössischer medizinischer Sicht D ÖR- SCHLAG , Selbstmordversuch durch Verschlucken von Fremdkörpern, 1074f.; K ERN , Viermaliges Verschlucken einer Metallgabel, 1567; DERS ., Verschlucken eines Löffelstils und anderer Metallstücke, Laparotomie, 1388; P AULINO , Behandlung verschluckter Fremdkörper, 1555f. Peter Steinkamp 434 etwas freier und aufgeschlossener. Nimmt einen gewissen Abstand von seinen früheren Wahnideen. Will in die Heimat verlegt werden. In einem kurzen unbewachten Augenblick plötzlicher Sturz aus einem Flurfenster vom 1. Stock am 13.6. 14,00 Uhr mit gleichzeitigem Exitus.“ Eine weitere Kommentierung dieses Todesfalles ist kaum möglich, jedoch ergab die Obduktion anatomisch als organische Veränderung das Bild einer alten abgelaufenen Herzklappenentzündung, die den psychotischen, depressiven Zustand M.s nach Ansicht des Obduzenten hätte verschlimmern, wenn auch nicht restlos erklären können. Einen schließlich direkt zum Tode führenden massiven chronischen Alkoholmissbrauch betrieb bis Mitte September 1942 im sowjetischen Konotop, einem Ort nordöstlich von Kiew, auf halber Strecke nach Kursk, der zweiundvierzigjährige Hauptmann Rudolf H. 17 Dieser war im Zivilberuf Steuerinspektor und fungierte zuletzt als Kompaniechef der Genesendenkompanie 24 Konotop. Angesichts seines permanenten, massiven Alkoholmissbrauchs und dessen Folgen verwundert es, dass ein Offizier in einem solch fortgeschrittenen Stadium der Alkoholabhängigkeit sich weder in stationärer Lazarettbehandlung befand, noch seine Entlassung aus der Wehrmacht als dienstunfähig betrieben wurde, sondern dass dieser vielmehr in der verantwortungsvollen Stellung eines Kompaniechefs Dienst tat, mit Verantwortung für und Befehlsgewalt über mehr als einhundert Mann. Entsprechend wurde wohl auch sein Verhalten weder jemals disziplinar noch gerichtlich geahndet, denn das Heerespersonalamt im fernen Berlin als oberste Heeresinstanz in Personalfragen erfuhr wohl nichts von H.s alkoholbedingten Verfehlungen; ein Eintrag in der dortig damals geführten so genannten Beanstandungskartei 18 lässt sich jedenfalls nicht nachweisen. Vermutlich lag der Grund für diese Zurückhaltung der Vorgesetzten von Hauptmann H. in dessen Parteimitgliedschaft bei der NSDAP. Eine Überprüfung der NSDAP-Mitgliederkarteien des ehemaligen Berlin Document Center im Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde ergab, dass der gebürtige Offenbacher, zuletzt wohnhaft in Worms, nicht nur einfacher Parteigenosse, sondern sogar so genannter Alter Kämpfer gewesen war, am 1. Februar 1932 war er mit der Mitgliedsnummer 935532 der NSDAP beigetreten. 19 Für diese in der besonderen Stellung seiner Person begründet liegenden Behandlung spricht auch der erhebliche Aufwand, der von den beteiligten Sanitätsoffizieren zur Anfertigung des Obduktionsberichtes bei diesem eigentlich recht eindeutigen Todesfall betrieben wurde. Als Begründung wurde dem epikritischen Gutachten zwar vorangestellt: „Da der makroskopische Befund der am 17.9.42 vorgenommenen Leichenöffnung allein noch keine sicheren Unter- 17 BA-MA, RH 12-23/ 3897. Dort auch die weiteren Angaben und Zitate zu diesem Todesfall. - Zu diesem Fall S TEINKAMP , Zur Devianzproblematik, 161-164. 18 BA-MA, RW 59/ 2076. Dort sind auf namentlichen Karteikarten in alphebetischer Ordnung in zwei Stahlschränken sämtliche jemals wegen Ehrenverstößen, unehrenhaften Entlassungsvorgängen sowie wegen disziplinarer oder militärgerichtlicher Ermittlungen oder Bestrafungen aktenkundig gewordene Offiziere der Wehrmacht verzeichnet. 19 BA-Lichterfelde, BDC-Reichskartei, H 126, Rudolf H. - Für die Überprüfung der Mitgliederkarteien auf Rudolf H. Anfang 2008 danke ich Philipp Rauh, Freiburg im Breisgau/ Erlangen. „Zweimal eingezogen“ 435 lagen für eine Klärung der Todesursache bot, wurden zahlreiche ergänzende Untersuchungen vorgenommen.“ Auch drängt sich bei gründlicher Lektüre des Obduktionsberichts über Rudolf H. der Eindruck auf, dass man versuchte, den für einen Wehrmachtsoffizier nach damaligen Ehrbegriffen als besonders schändlich betrachteten Tod im alkoholischen Delirium anderweitig erklären zu können. Doch auch der vergeblich geführte Nachweis eines - versehentlichen - Methylalkoholkonsums und einer entsprechenden tödlichen Vergiftung führte letztlich nicht zu einem anderen Ergebnis. Schließlich mussten die mit diesem heiklen Todesfall befassten Wehrmachtärzte doch noch, allerdings durch gründliche Untersuchungen in vielerlei Richtungen abgesichert, als Todesursache „Tod im alkoholischen Delirium (Delirium tremens)“ vermerken. Zur Vorgeschichte hielt man im Obduktionsbericht ausführlich fest: „Am 21. u.[nd] 22.8.42 konnte Hauptmann H. einige Tage nicht aufstehen wegen Schwindel und Sehstörungen. Hauptmann H. soll auch früher in Deutschland schon viel getrunken haben, er war jetzt Chef einer Genesenden-Komp.[anie] in Konotop und hat während dieser Zeit starken Alkoholmissbrauch getrieben mit Sprit, Fusel in Konzentrationen von 50 bis 70%. Bezugsquelle unbekannt. Hauptmann H. soll selten nüchtern gewesen sein. Er trank ganze Nächte durch, schlug die Türen ein, am nächsten Tag entsann er sich dieser Dinge nicht mehr. In den letzten 6 bis 8 Wochen stand H. in Konotop mit zeitweiligen Abständen im Alkoholdusel. Andere Kameraden haben von den gleichen alkoholischen Getränken genossen ohne Erkrankung. Vor etwa 14 Tagen lief H. unter Alkoholwirkung planlos im Freien herum, wobei er geschossen haben soll und auch im Scherz mit dem Revolver auf Kameraden angelegt. Er schien unter Halluzinationen zu leiden, machte Angaben, die der Wirklichkeit nicht entsprachen. Nach dem Eindruck des behandelnden Arztes handelt es sich um eine Alkoholpsychose. H. war im Rauschzustand sehr brutal, misshandelte Tiere, war masslos in seinen Ausdrücken.“ Angesichts dieser Selbstgefährdung und auch der erheblichen Fremdgefährdung durch mutwilligen Schusswaffengebrauch infolge von H.s Alkoholexzessen müssen tatsächlich besondere Gründe, wahrscheinlich seine prominente Parteigenossenschaft, vorgelegen haben, das Treiben des inzwischen völlig unberechenbaren Kompaniechefs nicht durch eine Lazaretteinweisung, womöglich auf einer geschlossenen Abteilung, zu unterbinden, obwohl er sich doch in zumindest ambulanter ärztlicher Behandlung befand. Einem Zivilisten, der sich ähnlichem alkoholbedingten Schusswaffenmissbrauchs schuldig machte, drohte indes zur selben Zeit durchaus Unterbringung als so genannter Sicherungsverwahrter im Maßregelvollzug in eine psychiatrische Einrichtung, wie dies etwa in einem der prominentesten Fälle, dem alkohol- und morphiumabhängigen Schriftsteller Rudolf Ditzen (1893-1947), bekannt unter dem Künstlernamen Hans Fallada, widerfuhr, der im Rausch mit der Schusswaffe auf seine frisch von ihm geschiedene Ehefrau angelegt hatte. 20 Stattdessen hielt man aber im militärischen Umfeld der Genesendenkompanie des Hauptmanns H. in Konotop auch weiterhin an den dienstlichen und auch privatdienstlichen Gepflogenheiten fest, lud schließlich sogar zu einem so genannten 20 Vgl. W ILLIAMS , Mehr Leben als eins. Peter Steinkamp 436 Kameradschaftsabend im Beisein H.s ein, dessen Folgen dieser aber nicht mehr überleben sollte: „Am 14.9.42 soll bei dem Kameradschaftsabend ein mit der Verpflegung empfangener Wodka getrunken [worden] sein, auch von anderen Kameraden, bei diesen jedoch ohne jede Störung. Hauptmann H. soll angeblich versucht haben, von der Spritfabrik Szoschka Sprit zu bekommen.“ „Am Abend des 14.9.42 hat Hauptmann H. bei einem kameradschaftlichen Zusammensein sehr viel getrunken. Bis Mitternacht hochgradige Trunkenheit mit verschiedenen absonderlichen Handlungen, z.B. Revolveranlegen. 2 Kameraden blieben bei ihm in seiner Wohnung. Als am folgenden Tag[,] den 15.9.42[,] der behandelnde Arzt dorthin gerufen wurde, fand er Hauptmann H. in hochgradigstem Erregungszustand mit dem Eindruck einer Vergiftung. Nach einiger Zeit traten verworrene Träume auf. Pat.[ient] blieb zunächst in seinem Quartier bis zur Einwirkung einer Luminalgabe. Am Abend des 15.9.42 gegen 19 Uhr wurde er dann in das Kriegslazarett eingeliefert, in sehr grosser Unruhe, Gesicht gerötet und gedunsen, tiefer Schlaf mit verlangsamter, schnarchender Atmung, Atemluft zeigt starken Geruch nach Alkohol, starke Spannung der Arme- und Beinmuskel[n]. Beurteilung: Pathologischer Rauschzustand. Wegen der Unruhe Anlage einer Arm- und Beingelenkhülse. Um Mitternacht Verschlechterung der Atmung. Pat. desorientiert, spricht unverständliche Worte. Um 7 Uhr früh des folgenden Tages, 16.9.42[,] Tod durch Atemlähmung.“ Im Blut der Leiche wurde eine Alkoholkonzentration von 2,38 Promille gemessen. Was zunächst angesichts des vorangegangenen Alkoholexzesses nach nicht allzu hohem Blutalkoholgehalt erscheint, relativiert sich jedoch, wenn man berücksichtigt, dass dies den Alkoholisierungsgrad im Augenblick des Todes darstellt, rund dreißig Stunden nach dem Ende der Alkoholzufuhr, so dass die maximale Blutalkoholkonzentration erheblich höher gewesen sein muss. Zwar verzichtete man im entsprechenden Gutachten der Blutalkohol-Untersuchungsstelle der Militärärztlichen Akademie Berlin auf eine Hochrechnung des Maximalwertes, der jedoch eine Alkoholabbaukapazität von stündlich 0,1-0,2 Promille bei Männern üblich ist, bei über fünf Promille gelegen haben. Selbst die anatomischen Befunde waren in dieser Richtung eindeutig gewesen: „Die Piafibrose wird zusammen mit der Fettleber, der beginnenden Lebercirrhose und der allgemeinen Adipostitas als Zeichen eines bestehenden chronischen Alkoholismus gewertet werden können.“ Dennoch war auch die abschließende Stellungnahme und Bewertung höchst vorsichtig formuliert: „Die epikritische Beurteilung des vorliegenden Falles kann nur erfolgen unter eingehender Berücksichtigung der Vorgeschichte. Im Zusammenhang mit dieser und auf der Grundlage aller Untersuchungsergebnisse, insonderheit auch durch den Ausschluss anderer Todesursachen, kann gesagt werden, dass im Falle Hauptmann H. der Tod eingetreten ist im Verlaufe einer akuten Alkoholpsychose unter dem Bilde des Delirium tremens bei bestehendem chronischen Alkoholismus, mit Lähmung des nachweisbar geschädigten Zentralorgans.“ Der Eiertanz um die Benennung der als unehrenhaft empfundenen Todesursache eines von seinem chronischen Alkoholmissbrauch psychisch und physisch völlig ruinierten Offiziers hatte damit schließlich doch noch ein Ende gefunden. „Zweimal eingezogen“ 437 Dass es bei den Suchterkrankungen solcherart psychisch erkrankter Weltkriegsveteranen nicht immer um eine Alkoholabhängigkeit handeln musste, zeigt das wiederum ebenfalls tragisch durch Suizid endende Schicksal eines opioidabhängigen Sanitätsoffiziers. Dieser, der dreiundfünfzigjährige Oberarzt der Wehrmacht Dr. med. Tugendhold R., 21 hatte eine langjährige, in diesem Fall wohl über ein Jahrzehnt bestehende Rauschmittelabhängigkeit entwickelt, wie sie bei Teilnehmern des Ersten Weltkriegs auftrat, die auf Grund ihrer beruflichen Tätigkeit als Ärzte oder als Angehörige sonstiger Gesundheitsberufe erheblich leichteren Zugang zu Opioiden und anderen suchterzeugenden Mitteln hatten als Nichtmediziner. In diesem Fall hatte der promovierte Mediziner auf Grund eines wohl in der Zeit des Ersten Weltkriegs sich entwickelnden, möglicherweise gar psychosomatisch zumindest mitbedingten Gallenleidens infolge Dauergebrauchs als Schmerzmittel eine Eukodalabhängigkeit 22 entwickelt. Diese wird in der Vorgeschichte des Obduktionsberichtes über R. beschrieben: „Nach dem Weltkrieg häufig Gallenkoliken. Seit etwa 10 Jahren Herz- und Gefässleiden. Häufig Kuren. Seit 1934 Eukodal genommen. 1939 freiwillige Entziehungskur anlässlich einer Gallenerkrankung. Coronaesklerose, Hypertonie (220). Verschlechterung des Myocardschadens in den letzten Jahren. Ab 1.4.42 g.v.h. [garnisonsverwendungsfähig Heimat] als Truppenarzt. Bei Nachuntersuchung nur a.v. [arbeitsverwendungsfähig]. 29.12.43 Aufnahme auf Abt. IV [Innere Abteilung] des Res.[erve-]Laz.[arett] III. Kbg. [Königsberg]. Weitere Angaben: total [b]ombengeschädigt in Wuppertal, trotzdem immer behaglich heiter. Nach Mitteilung der Kriminalpolizeileitstelle auffallende Verschreibung von Eukodalampullen für sich selbst. Nachträglich wurde bekannt, dass 1938 eine gerichtliche Bestrafung wegen Eukodalmissbrauch erfolgt war. Bei der Aufnahme im Lazarett wird der Eukodalmissbrauch in vollem Umfange zugegeben und durch Luftmangel und Angina pectoris begründet. Auf Abteilung völlig unauffällig. Ambulante interne Untersuchung EKG. ohne Besonderheiten. Verbreiterung und starke Krümmung der Aorta.“ Der hier geschilderte äußere Verlauf einer Opiodabhängigkeit entsprach im Übrigen auch in etwa jenen, wie sie auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs noch bis etwa Mitte der 1950er Jahre beobachtet werden konnten. 23 Der Oberarzt, dessen letzter Truppenteil bzw. dessen letzte Dienststelle im Obduktionsbericht nicht angegeben ist, war also, nachdem er wegen seiner Abhängigkeit und wegen mit dieser in Zusammenhang stehender Gesetzesverstöße bereits vor Beginn des Krieges polizeibekannt geworden war, kurz vor seiner Lazaretteinweisung wiederum kriminalpolizeilich wegen verdächtiger Selbstverschreibungen von Opiaten auffällig geworden. Wohl auf Grund dieser Tatsache, dazu noch in Verbindung mit dem Verlust seiner persönlichen Habe, möglicherweise auch von nahen Angehörigen 21 BA-MA, RH 12-23/ 3921. Dort auch die weiteren Angaben und Zitate zu diesem Todesfall. - Zu diesem Fall S TEINKAMP , Zur Devianzproblematik, 368f. 22 Zu Eukodalabhängigkeiten dieser Zeit im Deutschen Reich, auch mutmaßlich der Adolf Hitlers, O HLER , Der Tausendjährige Rausch, 183-196. 23 Hierzu mit einigen exemplarische Fällen aus dieser Zeit B RIESEN , Drogenkonsum und Drogenpolitik, 227-236. Peter Steinkamp 438 durch einen Luftangriff, und die Tatsache einer Lazaretteinweisung zwei Tage zuvor, zog Dr. R. am Silvestertag, wohl als Folge von Überlegungen in einer Art persönlichen Jahresabschlussbilanz, die zur Lebensbilanz werden sollte, einen Suizid weiterer gesundheitlicher Verschlechterung, die Obduktion ergab „zahlreiche Gallensteine“, als auch durch Fortführung seines Opiodmissbrauchs, vor: „31.12.43 Selbstmord durch Schädelschuss mit entwendeter Pistole.“ Zwar scheinen die behandelnden Lazarettärzte die Suizidgefährdung ihres Berufskollegen trotz dessen Verhalten „[a]uf Station völlig unauffällig“ zumindest erahnt zu haben, hatte man doch zuvor seine eigene Waffe abgenommen. Deshalb bedurfte er schließlich zur Ausführung seines Suizids einer solchen „entwendeter“ Herkunft. 6. Psychisch kranke Soldaten Einen weiteren Todesfall mit ebenfalls mutmaßlich suizidalem Hintergrund eines nachweislich auf Grund seines Einsatzes im Ersten Weltkrieg mit anschließenden langjährigen Anstaltsaufenthalten psychisch Erkrankten stellt der des vierundvierzigjährigen Obergefreiten Albert H. 24 dar, der sich während eines Heimaturlaubs in Berlin Ende Mai 1944 mittels eines Gewehrs in die Brust schoss. Dieser Fall ist deshalb hier von besonderem Interesse, weil sich neben den Angaben in der Vorgeschichte des Obduktionsberichts, die die schwere psychische Erkrankung und deren ebenso schwerwiegende Folgen für den Patienten beschreiben, weitere biographische Details ergänzen ließen, indem die Umstände des militärischen Einsatzes des Betreffenden im Zweiten Weltkrieg durch, allerdings, größere Rechercheanstrengungen ermittelt werden konnten. Über die Krankheitsgeschichte des Verstorbenen wurde im Obduktionsbericht festgehalten: „Wurde 1918 verschüttet und kam danach in Lazarettbehandlung. Im selben Jahr wurde er auch an der Stirne verwundet? Vom 9.11.35 bis 15.12.37 Heil- und Pflegeanstalt Buch. Vom 15.12.37 bis 2.5.39 in Fürsorgebehandlung der Heil- und Pflegeanstalt (A.Z.H. 5563). 1935 entmündigt, 1936 sterilisiert, Sept. 43 eingezogen beim Ldschtz.Btl. [Landesschützenbataillon]. Am 7.5.44 ausgebombt, bekam deswegen Urlaub. Der Umgebung fiel auf, dass er sehr vergesslich gewesen wäre und sich oft an einem Vormittag zweimal rasiert habe, da er inzwischen wieder vergessen hatte, dass er sich bereits beim Aufstehen rasierte. Am 27.5.44 habe er wahrscheinlich seinen Kindern gezeigt, wie ein Gewehr geladen würde und dieses Gewehr dann geladen beiseite gestellt. Wurde am 27.5.44 gegen 11.30 Uhr erschossen in seiner Wohnung gefunden.“ Demnach war also der Verstorbene zumindest im letzten Jahr des Ersten Weltkriegs Soldat gewesen, dabei einmal verschüttet worden und, was sich anatomisch bei der äußeren Besichtigung vor der Sektion durch den Obduzenten anhand einer alten Narbe an der Stirn belegen ließ, auch tatsächlich, wie angegeben, noch am 24 BA-MA, RH 12-23/ 3921. Dort auch die weiteren Angaben und Zitate zu diesem Todesfall. - Zu diesem Fall S TEINKAMP , Sektionsberichte über Soldaten der deutschen Wehrmacht, 123-125. „Zweimal eingezogen“ 439 Kopf verletzt worden. Die psychischen Folgen des Erlebnisses der Verschüttung und der späteren Kopfverletzung führten 1935 zunächst zur Entmündigung und zu über zweijähriger stationärer Behandlung in einer Heil- und Pflegeanstalt, während der der mittlerweile mehrfache Vater 1936 schließlich sogar sterilisiert wurde. Dass Albert H. wohl tatsächlich Vater gewesen war, geht aus der Erwähnung seiner Kinder hervor, denen er kurz vor seinem gewaltsamen Tod noch das Gewehr gezeigt haben soll. Obwohl er im Anschluss an die stationäre Behandlung noch weitere eineinhalb Jahre in ambulanter Behandlung der Anstalt gestanden hatte, wurde er 1943 zur Wehrmacht eingezogen, im übrigen als eugenisch Sterilisierter entgegen den militärischen Einstellungsvorschriften, zu einer Einheit für ältere und mindertaugliche Wehrpflichtige, einem Landesschützenbataillon. Im Obduktionsprotokoll wird seine letzte militärische Einheit, die ihn in den erwähnten Heimaturlaub im Mai 1944 geschickt hatte, nur mit der zu Geheimhaltungszwecken verwendeten Feldpostnummer erwähnt: 46871 E. Die Feldpostnummer 46871 lässt sich für den Zeitpunkt des Todes von H. dem Stab und der ersten bis vierten Kompanie des Sicherungsbataillons 955 25 zuordnen, einer Kategorie von militärischer Einheit, in der ebenso wie in den Landesschützenbataillonen vor allem mindertaugliche Soldaten Dienst taten. H. selbst dürfte wahrscheinlich zur vierten Kompanie dieser mit so genannten Sicherungsaufgaben betrauten Einheit gehört haben. Er hatte also nicht der kämpfenden Fronttruppe angehört, sondern einem mit Bewachungsaufgaben betrautem Bataillon - Aufgaben, die allerdings bis hin zu aktiven Einsätzen bei der Partisanenbekämpfung ausgedehnt werden konnten. Unterstellt war das Sicherungsbataillon dem Sicherungsregiment 65, 26 fester Stationierungsort war Skarzysko-Kamienna im so genannten Generalgouvernement, dem deutsch besetzten und verwalteten Polen. In dieser Stadt im Verwaltungsbezirk Kielce, ungefähr auf halber Strecke zwischen Krakau und Warschau gelegen, befand sich damals eine wichtige Munitionsfabrik des Leipziger HASAG-Konzerns (Hugo Schneider AG), in deren insgesamt drei Werkslagern seit August 1942 jüdische Zwangsarbeiter unter mörderischen Bedingungen Munition und Unterwasserminen produzieren mussten: „Die Gesamtzahl der Juden, die dorthin deportiert wurden, wird auf 25.000 bis 30.000 geschätzt, die Zahl der dortigen Todesfälle auf 18.000 bis 23.000.“ 27 Auch wenn die Lager formal dem SS- und Polizeiführer Radom unterstanden und im wesentlichen von ukrainischen Werkschutzleuten bewacht wurden, dürfte auch das Sicherungsbataillon 955 mit Aufgaben rund um das Lager und dessen Angelegenheiten betraut gewesen sein. Gerade während des Aufenthaltes von H. in Kamienna, der ja seit 25 Im einschlägigen Aktenbestand BA-MA, RH 38, ist leider keine eigenständige Aktenüberlieferung für das Sicherungsbataillon 955 enthalten. Es findet sich unter BA-MA, RH 38/ 62, lediglich die so genannte Stammtafel des Bataillons, die aber über dürrste organisatorische Angaben hinaus keinerlei Sachinformationen, insbesondere nicht zu Einsätzen und sonstigen Tätigkeiten, bietet. 26 Auch für dieses vorgesetzte Regiment ist im wiederum einschlägigen Aktenbestand BA-MA, RH 38, keinerlei eigenständige Aktenüberlieferung enthalten. 27 J ÄCKEL / L ONGERICH / S CHOEPS , Enzyklopädie des Holocaust, 1318. Dort (1318-1320) auch die weiteren Angaben zu den Lagern. Umfassend zur Geschichte der Lager in Skarzysko- Kamienna K AREY , Death Comes in Yellow. Peter Steinkamp 440 September 1943 bei der Wehrmacht eingezogen war und nach dem 7. Mai 1944 Urlaub nach Berlin erhalten hatte, eskalierte der Terror in den dortigen Lagern: „Ende 1943 und Anfang 1944 fanden im Werkslager C Massenhinrichtungen statt. Die Opfer waren Häftlinge unterschiedlicher Nationalität, die aus den Gefängnissen der Gestapo im Distrikt Radom kamen. Kurz vor der Auflösung des Lagers im Sommer 1944 [am 1. August] holte eine Sondereinheit jüdischer Häftlinge die Leichen dieser Opfer aus dem Massengrab auf dem Gelände von Werk C, um sie zu verbrennen.“ 28 Auch wenn H.s persönlicher Anteil an diesem Geschehen nicht belegt werden kann, ja, überhaupt nicht vorgelegen haben muss, so kann doch mit großer Wahrscheinlichkeit angenommen werden, dass ihm, ebenso wie seinen Kameraden vom Sicherungsbataillon 955, das Geschehen an seinem Stationierungsort bekannt gewesen sein dürfte. Ob der entmündigte und zwangssterilisierte Mittvierziger das nahende Ende seines Heimaturlaubs und die damit verbundene zwangsweise Rückkehr an den Ort des Grauens als solch bedrohlich erachtete, das er Ende Mai 1944 sein Gewehr schließlich gegen sich selbst richtete, muss offen bleiben. Indes, um seine allgemeine Verfassung hatte es zuletzt schlecht gestanden: Albert H.s angebliche Vergesslichkeit, seine Zwangshandlungen des häufigen, mehrfachen Rasierens, machen dies wahrscheinlich. Wenn auch im Fall von Albert H. offen bleiben muss, ob sein Suizid der letzte verzweifelte Ausweg war, um nicht mehr in der Wehrmacht Dienst tun zu müssen, ist dieses Motiv im Fall des vierundfünfzigjährigen Fliegers Anton B. 29 wahrscheinlich sogar der eigentliche Grund seiner Psychiatrisierung durch Instanzen der Wehrmacht gewesen. Anton B., im Zivilberuf Landwirt, bewirtschaftete mit einigen seiner sieben Geschwister ein wohl in Ostpreußen gelegenes Landgut, „wo eine ausgesprochen wehrdienstfeindliche Einstellung zuhause war.“ Ende April 1943 wurde Anton B. zur Wehrmacht einberufen. Bereits nach rund drei Monaten militärischer Ausbildung wurde er für eine knappe Woche erstmals auf die neurologischpsychiatrische Abteilung eines Lazaretts eingewiesen; drei Wochen später verstarb er während eines zweiten Aufenthaltes dort mit der Todesursache „Allgemeine Kachexie“. Er war verhungert oder, wie es der Obduzent formulierte: „Im Verlaufe der [zweiten] psychiatrischen Behandlung verweigerte der Pat.[ient] die Nahrungsaufnahme. Es entwickelte sich ein schweres kachektisches Zustandsbild mit, wie der Sektionsbefund ergab, schwerer Anämie der Organe.“ Zur weiteren Vorgeschichte seit B.s Einberufung vermerkte der Obduzent, Oberarzt Menne von der Pathologisch-anatomischen Untersuchungsstelle des Wehrkreises I Königsberg: „Der Flieger Anton B[.] wurde vom 25.7. bis 29.7.43 im Res.Laz. [Reserve- Lazerett] III. Kbg. [Königsberg] Abt.[eilung] Vi. [gemeint: VI - Neurologischpsychiatrische Abteilung] untersucht u.[nd] beobachtet. Er bot eine schwere pathogene Gangstörung und ein freches Wiedersetzliches[! ] Verhalten. Er war frisch eingezogen und äusserst wehrdienstunlustig. Ausserdem versuchte er den Geisteskranken zu spielen. Ein einmaliges Behandeln mit der elektrischen Rolle behob die 28 Ebd., 1319. 29 BA-MA, RH 12-23/ 3325. Dort auch die weiteren Angaben und Zitate zu diesem Todesfall. „Zweimal eingezogen“ 441 Gangstörung. Es sollte ein Kriegsgerichtsverfahren gegen B. eingeleitet werden. Er ging k.v. [kriegsverwendungsfähig] alleine zur Truppe zurück. Dort gab er aber die mitgegebenen Berichte für den Truppenarzt in verschlossenem Umschlag nicht ab, sondern behauptete, sie auf der Toilette bei der Reinigung mit herausgezogen zu haben. - Am 2.8.43 wurde der Pat. von der Truppe erneut eingewiesen, weil er dort erneut den Geisteskranken gespielt hatte. Hier bot er bei seiner Wiederaufnahme ein ähnliches Bild wie früher. Eine echte Geistesstörung konnte nicht nachgewiesen werden, auf [gemeint: auch] neurol.[ogisch] war der Befund völlig normal.“ Anschließend wurde auch hier nochmals eine Nahrungsverweigerung als zum Tode führend dargestellt, wobei der Obduzent an dieser Stelle sogar ausdrücklich von einem Hungerstreik glaubte sprechen zu können: „Pat. trat in einen hartnäckigen Hungerstreik ein[,] an dem er infolge Entkräftung relativ rasch zu Grunde ging.“ Es muss hier offen bleiben, ob der als „wehrdienstunlustig“ geltende Anton B. tatsächlich angesichts der neuerlichen Einberufung eine „schwere pathogene Gangstörung“ entwickelt hatte, an der er vielleicht möglicherweise schon im oder nach dem Ersten Weltkrieg gelitten hatte, worüber sich allerdings die Vorgeschichte im Obduktionsbericht ausschweigt, oder ob er diese tatsächlich, wie unterstellt, nur simulierte, dies vielleicht sogar recht eindrucksvoll eben auf Grund eines möglichen früheren Leidens. Allerdings findet sich in den Angaben zu Anton B. im Obduktionsbericht der, allerdings hier abwertend gemeinte, Hinweis, dass er sich auch auf dem mit seinen Geschwistern betriebenen Landgut „ebenfalls immer vor schwerer Arbeit gedrückt hatte“, was aber auch als mögliches Indiz auf eine eben doch vorhandene gesundheitliche Beeinträchtigung gedeutet werden könnte. Ebenso muss offen bleiben, ob es sich bei der „Nahrungsverweigerung“ tatsächlich um eine solche gehandelt hat und vor allem, ob es sich um eine willentliche Nahrungsverweigerung, also um einen behaupteten „Hungerstreik“ handelte. Nicht völlig auszuschließen ist jedenfalls auch eine Vorenthaltung von Nahrung, etwa aus Strafgründen auf Grund seines als „freches Wiedersetzlichen[! ] Verhalten“ bezeichneten, als „wehrdienstunlustig“ empfundenen unmilitärischen Auftretens. Zudem ist angesichts von einigen im Obduktionsbericht erwähnten äußerlichen Auffälligkeiten an der Leiche nicht auszuschließen, dass Anton B. vor seinem Hungertod, abgesehen von der erwähnten Elektroschockbehandlung während der ersten Lazarettaufnahme, auch noch körperlich misshandelt wurde: „Oberflächliche Hautverschorfung über dem Dornfortsatz des 6. Brustwirbels. Über dem re.[chten] Wadenbeinköpfchen und über der re. Kniescheibe, über beiden Ellenbogen, Handrücken, auch über dem li.[nken] Wadenbeinköpfchen, auf beiden Fussrücken und über dem li. Oberarm ebenfalls zahlreiche oberflächliche etwa markstückgrosse Hautverschorfungen. […] Gebiss defekt[,] aber frei von cariösen Herden.“ Festzuhalten bleibt jedenfalls angesichts solcher Einzelschicksale von psychisch erkrankten Teilnehmern des Ersten Weltkriegs, von denen viele, wie gezeigt werden konnte, vor allem eine Suchterkrankung entwickelt hatten, während andere in eine Suizidalität abglitten, die dann häufig tödlich endete, dass man vor allem unter den Bedingungen des „Totalen Krieges“ seit 1943 zunehmend aus formalen, letztlich aber mit den totalitären Ansprüchen des NS-Regimes über Leib und Leben der Peter Steinkamp 442 „Volksgenossen“ basierenden Gründen, namentlich der als häufig lediglich auf Grund ihrer Zugehörigkeit eines Geburtsjahrganges zu „wehrfähig“ erklärten Männer, deren Gesundheitszustand dieser Zuschreibung jedoch entgegenstand, umstandslos und meist ohne jegliche Berücksichtigung des Einzelfalls diese in Uniformen steckte und zum zweiten Mal in ihrem Leben Kriegsdienst tun ließ. Männer wie den Berliner Albert H. oder den Ostpreußen Albert B., deren militärischer Wert als Soldaten eher gering, wie bei H., oder nahezu gar nicht vorhanden, wie bei B., war, die man vor ihrem gewaltsamen Tod aber noch Zeugen des Grauens, wie Anton H., oder Misshandelte der Militärpsychiatrie der Wehrmacht, wie Anton B., werden ließ. Der eine hinterließ Frau und Kinder, der andere, Junggeselle, seine Geschwister. Quellen und Literatur Archive Bundesarchiv-Militärarchiv Freiburg (BA-MA) - RH 12-23/ 3906 (Sammlung Obduktionsberichte, V, Gerichtlich-medizinische Befunde, Mappe 1400, V 3945, Gustav Z). - RH 12-23/ 3325 (Sammlung Obduktionsberichte, L, Ernährungsstörungen und Erschöpfungsschäden, Mappe 819, L 1785, Anton B., 1943). - RH 12-23/ 3897 (Sammlung Obduktionsberichte, V, Gerichtlich-medizinische Befunde, Mappe 1391, V 3173, Rudolf H., 1942). - RH 12-23/ 3921 (Sammlung Obduktionsberichte, V, Gerichtlich-medizinische Befunde, Mappe 1415, V 5051, Tugenhold R., 1943). - RH 12-23/ 3921 (Sammlung Obduktionsberichte, V, Gerichtlich-medizinische Befunde, Mappe 1415, V 5138, Albert H., 1944). - RH 12-23/ 3923 (Sammlung Obduktionsberichte, V, Gerichtlich-medizinische Befunde, Mappe 1417, V 5287, Georg M., 1944). - RH 38 (Stäbe, Verbände und Einheiten der Landesschützen und Sicherungstruppen). - RH 38/ 62. - RH 53-7. - RH 53-17. - RW 59/ 2076. - Pers 9. Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde (BArch) - BDC-Reichskartei, H 126, Rudolf H. Gedruckte Quellen D ÖRSCHLAG : Selbstmordversuch durch Verschlucken von Fremdkörpern, in: Deutsche Medizinische Wochenschrift 42 (1916), 1074-1075. „Zweimal eingezogen“ 443 K ERN , M AX : Viermaliges Verschlucken einer Metallgabel, in: Deutsche Medizinische Wochenschrift 43 (1917), 1567. -: Verschlucken eines Löffelstils und anderer Metallstücke, Laparotomie, in: Deutsche Medizinische Wochenschrift 48 (1922), 1388. P AULINO : Behandlung verschluckter Fremdkörper, in: Deutsche Medizinische Wochenschrift 52 (1926), 1555-1556. Literatur B ERGER , G EORG : Die Beratenden Psychiater des deutschen Heeres 1939 bis 1945, Frankfurt am Main 1998. B RIESEN , D ETLEF : Drogenkonsum und Drogenpolitik in Deutschland und in den USA. Ein historischer Vergleich, Frankfurt am Main/ New York 2005. F ÖRSTER , J ÜRGEN : Die Wehrmacht im NS-Staat. Eine strukturgeschichtliche Analyse, München, 2007. 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Biographie, Berlin 2011. Autoren und Herausgeber Dr. med. univ. Dave Bandke, BA: Studium der Humanmedizin in Wien (2007- 2013), Studium der Philosophie in Wien (2009-2014); seit 2015 Facharzt in Ausbildung zum Neuropathologen am Universitätsklinikum Linz, Österreich. Christoph Bartz-Hisgen: Studienrat an der Friedrich-List-Schule Mannheim, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin der Universität Heidelberg und Stipendiat der VolkswagenStiftung. Prof. Dr. Thomas Becker, ärztlicher Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie II der Universität Ulm. Dr. Marie Derrien, University Lumière Lyon 2, Rhône-Alpes Laboratory of Historical Research, Frankreich. Prof. Dr. Heiner Fangerau, Leiter und Lehrstuhlinhaber des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin an der Universität Düsseldorf. Dr. Peter Fassl, Bezirksheimatpfleger Heimatpflege Bezirk Schwaben, Augsburg. Dr. Vinzia Fiorino, University of Pisa, Italien. Dr. Gundula Gahlen, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Friedrich-Meinecke- Institut der Freien Universität Berlin. Dr. Maria Hermes-Wladarsch, freiberufliche Kulturwissenschaftlerin, Bremen. Prof. Dr. Hans-Georg Hofer, Professur für Geschichte und Theorie der Medizin am Institut für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin der Universität Münster. Andrea von Hohenthal, Doktorandin am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte Westeuropas der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau. Dr. Uta Kanis-Seyfried, akademische Mitarbeiterin im Forschungsbereich Geschichte und Ethik der Medizin, am Zentrum für Psychiatrie Südwürttemberg/ Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie I der Universität Ulm am Standort Ravensburg. Prof. Dr. Julia Barbara Köhne, Gastprofessorin für Kulturgeschichte am Institut für Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. Dr. Stefanie Linden, Clinical Lecturer, Neurosciences and Mental Health Research Institute der School of Medicine an der Cardiff University, Wales, Großbritannien. Corinna Malek M.A., wissenschaftliche Mitarbeiterin Heimatpflege Bezirk Schwaben, Augsburg. Gabriella Molino, Klinik für psychische Gesundheit und Suchtkrankheiten, Savona, Italien. Thomas Becker, Heiner Fangerau, Peter Fassl, Hans-Georg Hofer 446 Dr. Stephanie Neuner, wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Projekt „Ambulante ärztliche Krankenversorgung um 1800 - „Krankenbesuchs-Anstalten“ der Universitäten Würzburg und Göttingen“ am Institut für Geschichte der Medizin der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Dr. Stefano Orazi, PhD in European History, Sapienza, Università di Roma; Presidente Comitato di Pesaro e Urbino, Istituto per la storia del Risorgimento italiano, Italien. Paolo Francesco Peloso, Klinik für psychische Gesundheit und Suchtkrankheiten, Genua, Italien. Dr. Philipp Rauh, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Prof. (apl.) Dr. Maike Rotzoll, Kommissarische Institutsdirektorin des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin der Universität Heidelberg. Dr. Petra Schweizer-Martinschek, Leiterin des Historischen Archivs des Bezirkskrankenhauses Kaufbeuren. Dr. Ralf Seidel, ehemaliger Chefarzt der Rheinischen Landesklinik in Rheydt. Dr. Felicitas Söhner, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Insitut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und Leiterin des Stadtarchivs Dillingen. Dr. Peter Steinkamp, freiberuflicher Medizinhistoriker. Dr. Christine van Everbroeck, ehemalige Leiterin des Royal Museum of the Armed Forces and Military History in Brüssel, Belgien. Ortsregister - A - Aachen 24 Adria 317 Albert (Somme) 298 Algerien 193 Allgäu 381 Altona 399 Amerika siehe USA Amersfoort 35 Amsterdam 35 Ancona 14, 217, 227, 229-242 Augsburg 147, 356 - B - Baden 15, 145-149, 158, 160, 331f., 339-341 Baden-Baden 14, 111-113 Bayerisch-Schwaben 164, 166f., 169, 174f., 366 Bayern 147, 163, 368 Belfast 296 Belgien 14, 68, 197f., 200-202, 205-207, 294 Belgrad 93 Belluno 252 Berchtesgaden 432f. Berlin 14, 23f., 30, 32f., 35, 44f., 47, 49, 53, 60, 109f., 112, 167, 274, 287f., 292, 296-299, 368, 388, 391, 399-402, 429, 434, 436, 438f., 442 Beveren 204 Böhmen 324 Bologna 214 Bonn 45, 55f. Bosnien 318 Brandenburg 167 Bremen 14, 117, 128-135, 137-140, 418, 420 Brenner 251 Breslau 55 Bretagne 200 Bron 188f., 194 Brünn 320, 324 Buch 438 Buda 324 Budapest 55, 251, 320, 324, 433f. Budweis 309f., 320, 324 Bukarest 111-113 Burghölzli siehe Zürich - C - Calais 200f. Caporetto 214, 245f., 252 Cardiff 72 Castiglione delle Stiviere 234f. Charleville 430 Cetinje 317 Charenton 188 Chiusi 241 Cogoleto 241, 253 Colorno 253 Como 253 Côte d’Azur 200 Craiglockhart 14, 275, 277, 279, 281 - D - Dänemark 413 Darmstadt 56 De Panne 200 Deutsches Reich, siehe Deutschland Ortsregister 448 Deutschland 14, 22, 29, 31, 35, 44, 53f., 61, 68, 72, 74, 78, 89, 91, 107f., 110, 114, 120, 122, 127, 131, 137, 140, 145, 152, 168, 200, 219, 229, 267f., 270f., 273- 276, 278f., 287f., 324, 332, 334, 366, 368, 375, 381, 388, 403, 427f., 435, 437 Dijon 14, 190 Düsseldorf 55 Durlach 340 - E - Edinburgh 14 Eglfing 353 Emmendingen 170, 421 England 96, 109f., 268, 271, 288, 335 Erlangen 47, 434 Essen 57 Ettlingen 158 Europa 17, 25, 67f., 71, 140, 199, 204, 211f., 229, 251, 268, 315, 429 - F - Finnland 68 Florenz 252 Foville 249 Frankfurt am Main 58, 414f., Frankfurt an der Oder 401 Frankreich 14, 29, 68, 72, 74, 78, 89, 129, 132, 187f., 190f., 197f., 200f., 229, 234, 248, 270, 273f., 279, 294, 298f., 334, 362 Freiburg im Breisgau 146, 157, 159, 276, 362, 366, 428, 434 - G - Gabersee 170, 353 Garmisch 113 Gent 206 Genua 240f., 251-253 Gießen 269, 271, 274 Görz 324 Grafeneck 342, 358 Grenoble 14, 188 Großbritannien 14, 68, 72, 74, 78, 89, 197f., 200, 267-276, 281, 287f., 292, 302 Günzburg 14, 163f., 169, 171-179, 358, 377 Gütersloh 420f. - H - Haar 353 Habsburger-Reich 269 Hamburg 51f., 55f., 60, 326, 410 Heidelberg 14f., 27, 145-149, 154f., 157-160, 301, 340, 409, 411, 415, 418-420 Heilbronn 337 Hietzing 312 High Wood 293 Hirsau 337 Hornberg 14, 27f., 57, 74, 118, 149f., 158f., 337, 340f. - I - Illenau 421 Illertissen 370 Imola 252 Irsee 16f., 173, 177, 288, 352f., 366f., 373, 375 Israel 96 Italien 14, 67f., 72, 76, 78, 84, 89, 211f., 217, 220-223, 227, 229f., 232, 234, 242, 245-247, 251f., 256 Ortsregister 449 - J - Jena 109, 287f., 292, 294f., 297f., 300f. Joeuf 111-113, 116 Jugoslawien 93f. - K - Kaiserswerth 134 Kanada 271 Karlsruhe 147, 157, 340 Kaufbeuren 14f., 163f., 167-169, 171-177, 179, 351-353, 355- 363, 365-373, 375-382 Kaufbeuren-Irsee siehe Kaufbeuren Kempten 168, 356, 360, 362, 370f., 373f. Kiel 281 Kielce 439 Kiew 434 Koblenz 59 Köln 14, 24, 58, 274, 276, 278, 282, 399 Königsberg 28, 425, 437, 440 Kongo 199 Konotop 434f. Konstanz 17, 339, 409f. Kopenhagen 301 Kovin siehe Belgrad Kozara 94 Krakau 439 Kuba 247 Küstenland (Österreich) 324 Kursk 434 - L - Landsberg am Lech 362, 370-372 Le Havre 201 Leipunik 314 Leipzig 439 Libyen 228, 245-247 Lierneux 203 Lille 290 Livorno 231, 237, 239 Lodz 134 London 70, 272, 287-289, 292, 297, 299, 302 Lourdes 28 Ludwigshafen 116, 411 Lyon 14, 188f. - M - Mähren 314, 324 Maghull 273 Mailand 76, 234, 236 Mainkofen 353 Mannheim 361, 411 Mantova 234 Marken (Region) 227, 229 Marseille 14, 188 Maudsley 269, 273, 302 Memel 425 Mexiko 199 Mombello 234-236, 252 Moskau 32 München 17, 27, 29f., 34, 43-45, 47-52, 54-61, 110, 147, 269, 274, 278, 319, 353, 359-362, 368, 373, 377, 399f., 412, 428- 431 - N - Neapel 76, 211, 213, 231, 236 Neckargmünd 420 Netley 74, 303 Neuburg 353 Newcastle 298 New York 70 Niederlande 28, 35, 68, 200, 413 Nieuwpoort 200 Ortsregister 450 Normandie 200 Nürnberg 368 - O - Obergünzburg 370 Österreich 14, 29, 55, 219, 229f., 269, 312, 323f. Österreich-Ungarn siehe Österreich Offenbach 434 Offenburg 116 Ostallgäu 368 Ostpreußen 440, 442 - P - Paris 23, 46, 68, 70, 76, 188 Parma 253 Passchendaele 273 Perugia 252 Pesaro 253 Polen 439 Pressburg 324 - R - Radom 439f. Ravensburg-Weissenau 14, 331f. Reggio Emilia 211, 213f., 247, 253 Reichenau 14, 331-333, 339-341 Rheinau 173 Riga 281 Rom 76, 211, 213, 215f., 223, 253 Rosenhügel 309-315, 319f., 322, 325-327 Rostock 72, 110, 290, 418 Rouen 296 Rumänien 68 Russland 197, 294 - S - Saint-Dizier 190 Salzburg 251 San Giorgio di Nogaro 252 San Lazzaro 214, 253 San Michele del Carso 235 St. Georgen 149, 158, 340 St. Quentin 130 Sarajevo 94, 312 Schottland 275 Schussenried 331-334, 342 Schwaben 17, 169, 353, 369 Schwäbisch Hall 337 Schwarzwald 74, 155, 340 Schweiz 28, 32, 166, 200, 229, 269, 411, 414 Seale Hayne 74 Senigallia 231, 242 Serbien 312 Siracusa 241 Skandinavien 304 Skarzysko-Kamienna 439 Somme 131f., 272 Sowjetunion 32 Stenay 116f. Stuttgart 342 Südafrika 247 Suhl 35 - T - Teramo 253 Theresienstadt 30 Thüringen 35 Torre del Greco 231 Toskana 211, 213 Traunstein 432 Treviso 258 Triberg 74, 149, 155, 340 Tripoli 215 Tübingen 47, 53, 59, 113 Ortsregister 451 Türkei 324 Turin 70, 76-79, 81-84, 86f. - U - Überlingen 149, 158, 340 Udine 252 Ulm 332, 342 Ungarn 324 USA 24, 28, 32, 34f., 268 - V - Val-de-Grâce 74, 189 Venedig 231, 252 Veneto 252f. Verdun 32 Vereinigtes Königreich siehe Großbritannien Verona 252 Versaille 381 Villingen 149, 158, 340 Volterra 211, 213f., 223, 253 - W - Warschau 439 Weimar 388-394, 397, 399, 402f., 421 Weissenau 331-333, 336f., 339, 342 Westminster 272 Wien 31, 34, 219, 309-311, 314, 316, 319f., 399, 412, 428f., 433 Wiesloch 420f. Wittenau 152 Worms 434 Württemberg 331f., 336, 339 Würzburg 110, 150, 413 Wuppertal 437 - Y - Ypres 200 - Z - Zelzate 205 Zürich 173, 414 Zwiefalten 167 Personenregister - A - Abraham, Karl 35 Adler, Alfred 26 Agostini, Cesare 252 Alberti, Angelo 213, 252 Alzheimer, Alois 251 Ambrosio, Arturo 76 Amez, Benoît 198 Ankele, Monika 172, 178 Anti , Anna 71, 94-96 Aretini, Ascanio 251 Ariaghi, Ario 252 Armstrong-Jones, Robert 268 Aschaffenburg, Gustav 35, 58 - B - Babinski, Joseph 217, 219 Bälz. Erwin 291 Bandke, Dave 16 Barthas, Louis 193 Bartz-Hisgen, Christoph 15 Beard, George Miller 23, 315 Beddies, Thomas 152 Bennati, Nando 256, 259 Benvindo, Bruno 198 Berger, Hans 298 Betlheim, Stjepan 96 Bianchi, Bruna 217 Bianchi, Leonardo 245f., 252 Bianchi, Vincenzo 213, 252, 254, 257, 259 Binet, Alfred 280 Binswanger, Otto 34, 415f. Birnbaum, Karl 47 Bisgaard, Axel 413 von Bismarck, Otto 45 Bleuler, Eugen 75, 166, 179 Böttiger, Alfred 56, 326 Bombardieri, Chiara 253 Le Bon, Gustav 222 Bonhoeffer, Karl 27, 29f., 32f., 49, 291, 316, 391f., 403 Bornstein, Maurycy 300 Boyce-Gibson, William Ralph 268 Brentano, Franz 269, 271 Bresler, Johannes 69 Breuer, Josef 90 Brodmann, Korbinian 274 Brody, Eugene Bloor 300 Brown, William 272 Bryant, Sophie 268 Bücher, Karl 165 Bumke, Oswald 414 Buscaino, Vito 216f., 221 - C - Canetti, Elias 26 Caselmann, Wilhelm 360, 372 Cassirer, Ernst 32 Cattell McKeen, James 269 Cazzamalli, Ferdinando 218, 222 Cerletti, Ugo 252f. Charcot, Jean Martin 23, 46f., 68, 89, 220 Cimbal, Walter 399 Colajanni, Napoleone 216 Collingwood, Robin George 71f. Consiglio, Placido 214, 216, 221, 245-250 Courbon, Paul 192 Cowie, Elisabeth 74 Crouthamel, Jason 13 Curschmann, Hans 110 Personenregister 454 - D - Dallmayr, Alois 412 Damköhler, Wilhelm 172, 175 Daneo, Luigi 251, 256 Dees, Karl Otto 170 Delbrück, Anton 129, 131f., 135f. De Lisi, Lionello 217 Derrien, Marie 15 Dillon, Francis 272 Dilthey, Wilhelm 32, 258 Dinges, Martin 150 Ditzen, Rudolf 435 Dörries, Andrea 152 Dreetz, Dieter 150 Dreyfus, Georg Ludwig 156 Duchess of Westminster 272 - E - Ebbinghaus, Hermann 280 Einstein, Albert 35 Eissler, Robert 28 Eliasberg, Wladimir Gottlieb 34, 392, 400 Englhardt, Josef 370 Erb, Wilhelm 27, 411 Ewald, Gottfried 412 - F - Fallada, Hans 435 Faulstich, Heinz 339, 365-367, 375, 377f., 381f. Feldmann, Hermann 24 Ferrari, Giulio Cesare 260 Feuchtwanger, Erich 399 Fiorino, Vinzia 16 Fischer, Gottfried 71 Foscarini, Ezio 217 Foucault, Michel 71, 98 Freud, Anna 67f., 71, 97 Freud, Sigmund 23, 26, 28f., 33, 35, 67f., 71, 90-93, 97, 219, 251, 256f., 271, 273, 300, 418 Fuchs, Adolf 360, 372 Fuchs, Walter 421 - G - Gahlen, Gundula 16, 147 Gandolfi, Alfredo 76 Ganser, Sigbert Josef Maria 293, 297-299 Gatti, Giovanni 252 Gaupp, Robert 27, 33, 47, 53f., 56- 58, 61, 113, 118 von Gebsattel, Viktor Emil 34 Gelb, Adhémar 28 Gemelli, Agostino 219, 222, 253, 260 Gennerich, Wilhelm 413 Giannelli, Augusto 216, 228 Giolitti, Giovanni 232 Goethe, Johann Wolfgang 52 Goldstein, Kurt 27f., 32, 58, 274 Goodman, Steven, 321 Goria, Carlo 217 Gorki, Maxim 249 Graul, Gaston 315 Griesinger, Wilhelm 24, 136 Gross, Adolf 421 Gruhle, Hans Walter 417 Gutzmann, Herrmann 274 - H - Hacking, Ian 211, 213 Hales, Frank Noel 268 Hauptmann, Gerhart 23 Hegar, August 178 Hellpach, Willi 23, 114, 274 von Helmholz, Herrmann 269 Personenregister 455 Hermes-Wladarsch, Maria 16, 108f., 117, 418 Hirsch, Joshua 92 Hirsch, Steven J. 302 Hirschfeld, Magnus 34f. His, Wilhelm 23, 33 Hitler, Adolf 395, 432, 437 Hoche, Alfred 25, 27 Hofer, Hans Georg 26, 71, 75 Hofer, Johannes 255 Hoffmann, R. A. E. 149, 155, 158- 160 Hohls, Rüdiger 152 Hollender, Marc Hale 302 Honigmann, Georg 310 Horst, Rutger 90 Hoven, Henri 203 Hurst, Arthur Frederick 74, 289, 303 Husserl, Edmund 34 - I - Ibsen, Henrik 23 Ilberg, Georg 249 Ingegneros, José 249 Isola, Domenico 252 Isserlin, Max 399f. - J - Jahr, Christoph 131 Jakob, Alfons 56, 410 James, William 269 Janet, Pierre 33, 67f., 71, 90, 220, 302 Jaspers, Karl 258, 300f., 303 Jolly, Philipp 417 Jones, Edgar 108f., 122 Jones, Ernest 271 de Jonge, Morris 24 Juliusburger, Otto 35 Jung, Carl Gustav 271, 273 - K - Kaelble, Hartmut 152 Kahlbaum, Karl Ludwig 299 Kahn, Eugen 29 Kanis-Seyfried, Uta 15f. Karenberg, Axel 228 Kaufmann, Fritz (Kaufmann Methode) 15, 27f., 30, 57f., 119, 137, 211f., 217, 219, 276, 278, 411, 415 Kehrer, Ferdinand Albert 27f., 57, 74, 89, 149 von Kemnitz-Ludendorff, Mathilde 113 Klaesi, Jakob 411, 413-415 Klajn, Hugo 67f., 71, 82, 93-96 Kleist, Karl 67f., 71-74, 76, 91, 96, 287f., 290-292, 295-297, 299- 302, 304, 414f. Klewe-Nebenius, Johann Gerhard 421 Knauer, Alwin 412 Kobylinsky, Moissey 251f. Koch, Julius Ludwig August 114 Kollwitz, Karl 35 Kraepelin, Emil 24, 29, 49, 251, 269, 412f., 416f. Kretschmer, Ernst 217 Krimmel, Emil 336, 338f., 342 Kronfeld, Arthur 32-35, 392, 414 Krützen, Michaela 71, 79 Külpe, Oswald 269, 271 - L - Lange, Johannes 413, 417 Lattes, Leone 217 Leese, Peter J. 13 Legrain, Maurice 192 Leibbrand, Werner 33, 35 Lengwiler, Martin 13, 111 Personenregister 456 Lépine, Jean 189f. Lerner, Paul Frederick 13, 137, 147, 160 Levy-Suhl, Hilde 35, 400 Levy-Suhl, Max 35, 392, 400 Lewandowski, Max 118 Lewin, Kurt 32 Lienau, Arnold 55f. Linden, Stefanie 16, 72, 108f., 122, 270 Lindner (Stabsarzt a. D.) 136 Livi, Carlo 247 Lloyd George, David 272 Lombroso, Cesare 76, 248 Londe, Albert 68 Lüst, August 370 - M - Madarasz, Jeanette 13 Malek, Corinna 15f. Mann, Ludwig 55, 58 Marchal, René 204 Mayerhofer, Ernst 316 McDougall, William 268, 271 Meyer, Ernst 415f. Micale, Mark S. 13 Milani 252 Mingazzini, Giovanni 215 Modena, Giulia Bonarelli 217 Modena, Gustavo 229-231, 234- 236, 238-241 Mörchen, Friedrich 56 Molhant, Modeste 203 Moreau de Tours, Jaques-Joseph 89, 302 Morselli, Arturo 213, 228, 252, 255f. Morselli, Enrico 221, 245-247, 252 Mott, Frederick Walker 72, 268f., 273, 299, 302 Muck, Otto 57 Müller, Georg Elias 167, 269, 271 Munch, Edvard 25 Myers, Charles Samuel 269, 271- 273, 276, 299 - N - Naegeli, Otto 33, 59 Negro, Camillo 67, 70f., 74, 76, 78- 80, 85, 87-89, 91-93, 96, 98f. Neuner, Stefanie 14, 16, 110 Nonne, Max 27, 30, 33, 51-53, 56, 58, 60, 89, 119 - O - Omegna, Roberto 76, 78 Oppenheim, Hermann 27, 33, 44- 58, 60f., 92, 110, 319 Orazi, Stefano 16 Oster, Leopold 340 - P - Paetz, Albrecht 170 Peckl, Petra 108, 146f., 155, 159, 278, 332 Peloso, Paolo Francesco 16 Perusini, Gaetano 252 Pighini, Giacomo 213, 252 Pillmann, Frank 304 Planck, Max 32 Pölzl, Otto 412 Poppelreuter, Walter 274, 276, 278- 282 Porot, Antoine 193 Prigione, Francesco 252 Prinzing, Alfred 175, 177, 353, 356, 359-361, 372, 376 Prüll, Livia 14 Personenregister 457 - R - Raphael, Lutz 25 Rauh, Philipp 14, 29, 146, 155, 278, 434 Redzic, Mirza 94 Régis, Emmanuel 189 Reichardt, Martin 32, 391 Renaux, Jules 193 Richer, Charles 90 Richer, Paul 68 Rieder, Julius 59 Riedesser, Peter 13, 71, 136, 147 Riva, Emilio 214, 216, 219 Rivers, William Halse 268, 271, 279, 281 Roasenda, Giuseppe 76, 78 Roelcke, Volker 23 Roemer, Hans 170, 172 Rohde, Max 114 von Romberg, Ernst 49 Rosenfeld, Max 418 Rossi, Ottorino 252 Rothmann, Max 28 von Rothschild, Albert 312 von Rothschild, Nathaniel 311f. Rotzoll, Maike 15, 152, 172, 228 Rows, Ronald 279, 281 Rumpf, Theodor 55 Rush, Benjamin 89 - S - Sack, Josef 354, 360, 380 Saenger, Alfred 56 Salonna, Maria Grazia 230 Sanarelli, Guiseppe 234 Sante de Sanctis, Camillo 221, 259f. von Sarbó, Arthur 55, 118 Scartabellati, Andrea 253 Schäffner, Wolfgang 71, 75 Schiller, Friedrich 52 Schneider, Kurt 299, 415f. Schopenhauer, Arthur 35 Schou, Hans-Jacob 413 Schroeder, Knud 413 Schwarz, Georg Christian 166 Schweizer-Martinscheck, Petra 367, 369, 371 Shand, Alexander 268 Siemen, Hans-Ludwig 366, 411 Siemerling, Ernst 415f. Sighele, Scipio 222 Simmel, Ernst 29, 31, 35 Simon, Herrmann 420f. Singer, Kurt 30 Smith, George 268 Söhner, Felicitas 15, 378 von Sölder, Friedrich 312, 319 Sollier, Paul 189f. Sommer, Robert 274 Spaas, Leon 201-203 Spearman, Charles 271 Stachelbeck, Christian 150 von Steinau-Steinrück, Joachim 115, 409f. Steinkamp, Peter, 427 Stier, Ewald 32, 391 Storch, Alfred 34 Stransky, Erwin 22, 31, 35 Straus, Erwin 32, 34 von Strümpell, Adolf 47 Stumpf, Carl (Psychiater) 269, 271 Sully, James 268 Symns, J. L. M. 74 - T - Taine, Hippolyte 89 Tanty, Etienne 193 Tamburini, Augusto 245-247, 252f. Thoma, Ernst 421 Toller, Ernst 30 Personenregister 458 Trömner, Ernst 56, 280 Turim, Maureen 92 Turner, William Aldren 72 - U - Uhl, Albert 334f. Ulrich, Bernd 14 - V - Vagnini, Alessandro 234 Van den Weghe, Joseph 201 Van der Hart, Onno 90 Van der Kolk, Bessel 67f., 71, 79 Verderber, Axel 13, 136, 147 Vijselaar, Jost 413 Vincent, Clovis 89, 191, 204 Volkhardt, Georg 359, 373 Voss, Georg 55 - W - Wagner-Jauregg, Julius 28f., 219, 410, 412f. Watt, Henry 271 Weichbrodt, Raphael 414 Weiler, 361f., 373 von Weizsäcker, Viktor 399f. Wessely, Simon 14 Westphal, Carl 45 Wetzel, Albrecht 146, 157f., 301 Weygandt, Wilhelm 274 Wilde, Oscar 33 Wilmanns, Karl 56, 147-151, 159, 178, 340-342, 411, 419 Wimmer, August 300-303 Winter, Jay 13 Wischnath, Michael 150 Wohlgemuth, Alexander 271 Wronsky, Sidonie 34 Wundt, Wilhelm 269, 271 - Z - Zadek, Ignatz 35 Zalla, Mario 252 Zanon Del Bò, Luigi 255, 257f. Zeller, Uwe 28 Zola, Emile 23 Irseer Schriften Studien zur Wirtschafts-, Kultur- und Mentalitätsgeschichte Hrsg. von Markwart Herzog und Sylvia Heudecker Schwabenakademie Irsee Neue Waffentechniken und der Stellungskrieg forderten große Opfer unter den Soldaten im Ersten Weltkrieg. Neben der permanenten Todesgefahr waren sie vorher nicht gekannten, lang andauernden physischen und psychischen Belastungen ausgesetzt. Die aus einer wissenschaftlichen Tagung hervorgegangenen Beiträge dieses Bandes stellen die psychiatrische Behandlung von Soldaten dar, die im Ersten Weltkrieg psychisch traumatisiert wurden. Der Untersuchungsraum erstreckt sich über Deutschland hinaus auch auf Österreich, Frankreich, Belgien, Italien und England. Prof. Dr. Thomas Becker ist Leiter der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie II der Universität Ulm am Bezirkskrankenhaus Günzburg. Prof. Dr. Heiner Fangerau ist Leiter des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Dr. Peter Fassl ist Heimatpfleger des Bezirks Schwaben. Prof. Dr. Hans- Georg Hofer lehrt Geschichte und Theorie der Medizin an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. ISBN 978-3-7398-3174-9 www.uvk.de