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Humanismus und Philosophie

2023
978-3-8233-9597-3
Gunter Narr Verlag 
Manuel Huth
10.24053/9783823395973

Joachim Camerarius (1500-1574) war einer der einflussreichsten und literarisch produktivsten Gelehrten seiner Zeit. Zu seinen zahlreichen Werken gehören auch medizinische Schriften, die in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts und damit in einer Zeit entstanden sind, in der die zeitgenössische Medizin eine spannende Umbruchphase erlebte: Die wiederentdeckten griechischen Originaltexte von Galen und Hippokrates standen zum ersten Mal einem breiten Leserkreis zur Verfügung, der bis dahin vorherrschende Aristotelismus wurde um weitere philosophische Systeme ergänzt und Gelehrte wie Philipp Melanchthon versuchten, die Medizin dem neuen protestantischen Glauben anzupassen. Dieses Buch wirft einen Blick auf diese Umbruchphase und zeigt, wie Camerarius sie aktiv mitgestaltete, indem er mit seinen Werken die programmatischen und philosophischen Grundlagen dieser Disziplin vermittelte..

Giessener Beiträge ISBN 978-3-8233-8597-4 Joachim Camerarius (1500-1574) war einer der einflussreichsten und literarisch produktivsten Gelehrten seiner Zeit. Zu seinen zahlreichen Werken gehören auch medizinische Schriften, die in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts und damit in einer Zeit entstanden sind, in der die zeitgenössische Medizin eine spannende Umbruchphase erlebte: Die wiederentdeckten griechischen Originaltexte von Galen und Hippokrates standen zum ersten Mal einem breiten Leserkreis zur Verfügung, der bis dahin vorherrschende Aristotelismus wurde um weitere philosophische Systeme ergänzt und Gelehrte wie Philipp Melanchthon versuchten, die Medizin dem neuen protestantischen Glauben anzupassen. Dieses Buch wirft einen Blick auf diese Umbruchphase und zeigt, wie Camerarius sie aktiv mitgestaltete, indem er mit seinen Werken die programmatischen und philosophischen Grundlagen dieser Disziplin vermittelte. Huth Humanismus und Philosophie Humanismus und Philosophie Die medizinischen Schriften des Humanisten Joachim Camerarius (1500-1574) von Manuel Huth Humanismus und Philosophie Herausgegeben von Thomas Baier, Wolfgang Kofler, Eckard Lefèvre und Stefan Tilg 38 Manuel Huth Humanismus und Philosophie Die medizinischen Schriften des Humanisten Joachim Camerarius (1500-1574) Würzburg, Univ., Diss., 2021 Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein. DOI: https: / / doi.org/ 10.24053/ 9783823395973 © 2023 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 1615-7133 ISBN 978-3-8233-8597-4 (Print) ISBN 978-3-8233-9597-3 (ePDF) ISBN 978-3-8233-0486-9 (ePub) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® Meinen Eltern 13 A. 15 1 17 2 25 3 29 3.1 29 3.2 30 4 39 B. 41 1 42 1.1 42 1.1.1 43 1.1.2 44 1.1.3 45 1.2 48 1.3 52 1.3.1 53 1.3.2 58 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung: Camerarius als Verfasser medizinischer Schriften . . . . . . Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Corpus der medizinischen Schriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Methodische Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Terminologie als Schlüssel zum Verständnis philosophischer Konzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Paratexte als Zugangswege zu den Werken des Camerarius . Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die medizinischen Schriften der 1530er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Astrologica (1532) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entstehungsbedingungen und Werkgenese . . . . . . . . . . . . . . . Medizin und Astrologie im 16.-Jahrhundert . . . . . . . . . . Der Diskurs über die Wissenschaftlichkeit der Astrologie in Italien (Beispiel Pico) . . . . . . . . . . . . . . . . . Camerarius’ Zugang zu und Umgang mit dem Nachlass Regiomontans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Widmung und Aufbau des Drucks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Analyse der Paratexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konstruktion einer astrologischen Tradition: Der Widmungsbrief an Jakob Milich (Griechischer Teil des Drucks) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der fachwissenschaftliche Aspekt der Astrologie: Der Widmungsbrief an Andreas Perlach (Lateinischer Teil des Drucks) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 62 1.5 65 2 67 2.1 68 2.1.1 68 2.1.2 70 2.2 72 2.3 77 2.3.1 77 2.3.2 80 2.4 83 2.5 86 3 89 3.1 89 3.1.1 89 3.1.2 90 3.1.3 91 3.2 92 3.2.1 92 3.2.2 95 3.3 97 3.4 101 3.5 102 4 104 4.1 104 Zusammenfassung und Zweck: Konstruktion einer astrologischen Tradition und ihre Renaissance . . . . . . . . . . . . Einordnung in das Corpus des Camerarius und Rezeption . . . Der De Theriacis et mithridateis Commentariolus 1533 . . . . . . . . . . . . Entstehungsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Herkunft und Verwendung von Mithridateion und Theriak . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Camerarius in Nürnberg: Herstellung von Theriak, Ausbruch der Pest und Erwerb der Aldina . . . . . . . . . . . Widmung und Aufbau des Drucks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Analyse der Paratexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der medizinische Experte: Die Widmung an Magenbuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der literarisch gebildete Arzt: Die Widmung an Johann Schütz von Weyll . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung und Zweck: Verbindung von Humanismus und Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einordnung in das Corpus des Camerarius und Rezeption . . . Kleinere diätetische Gedichte (1535 und 1536) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entstehungsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Diätetik im 16.-Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Verbreitung diätetischen Wissens unter Laien . . . Camerarius’ Auseinandersetzung mit Erasmus . . . . . . . Aufbau der Drucke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufbau des Drucks Erratum, Aeolia […] . . . . . . . . . . . . Diätetische Gedichte im Druck Opuscula aliquot elegantissima . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Analyse des programmatischen Gedichts De ratione victus salutaris: Selbststilisierung als kompetenter medizinischer Laie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung und Zweck: nugae und seria . . . . . . . . . . . Einordnung in das Corpus des Camerarius und Rezeption . . . Die Galen-Ausgabe (1538) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entstehungsbedingungen: Von der Aldina (1525) zur Basler Galenedition (1538) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Inhalt 4.2 106 4.3 109 4.4 115 4.5 116 5 118 C. 125 1 127 1.1 127 1.2 131 1.3 140 2 143 2.1 146 2.2 150 2.2.1 150 2.2.2 172 2.2.3 184 2.3 185 2.3.1 186 2.3.2 192 2.4 194 3 196 D. 201 E. 205 Aufbau des Drucks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Analyse des Briefs an den Leser: Das Erbe der Aldina . . . . . . Zusammenfassung und Zweck: Imitatio und aemulatio . . . . . Einordnung in das Corpus des Camerarius und Rezeption . . . Zusammenfassung: Synthese aus Humanismus und Fachdisziplin als pädagogischer Anspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Philosophische Prinzipien in den medizinischen Schriften des Camerarius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das aristotelische Wissensmodell im De Theriacis et mithridateis commentariolus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Wissensmodell des Aristoteles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Übernahme des Modells im De Theriacis et mithridateis commentariolus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Übernahme des Wissensmodells vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Kritik an Empirikern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Übernahme des Prinzips der Analogie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Voraussetzungen: Die Analogie als mathematisches Prinzip . Die Rezeption durch Camerarius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rezeption im Bereich der Naturphilosophie / Naturkunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rezeption im Bereich der Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rezeption im Bereich der Dialektik . . . . . . . . . . . . . . . . Camerarius’ Analogiekonzept vor dem Hintergrund seiner Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Neuplatonismus der Renaissance (Beispiel Ficino) Protestantische Naturkunde (Beispiel Melanchthon) . . Ausblick: Möglichkeiten und Grenzen der Analogie . . . . . . . . Zusammenfassung: Die Sicherstellung wissenschaftlicher Grundlagen als pädagogischer Anspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung: Grundlagen einer humanistischen Medizin . . . . Anhang: Edition und Übersetzung zentraler Passagen . . . . . . . . . . . . Inhalt 9 1 206 1.1 206 1.2 213 2 218 2.1 218 2.2 225 2.3 228 3 233 4 235 5 240 5.1 240 5.2 247 5.3 262 5.4 273 6 279 Die Astrologica (= Camerarius 1532a) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der an Jakob Milich gerichtete Widmungsbrief aus dem griechischen Teil der Astrologica (= Camerarius 1532a, Bl. *IIr- *IIIr) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der an Andreas Perlach gerichtete Widmungsbrief aus dem lateinischen Teil der Astrologica (= Camerarius 1532a, 1-3; = Bl. a1r-a2r) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der De theriacis et mihridateis Commentariolus -(= Camerarius 1533) Auszug aus dem De theriacis et mihridateis Commentariolus (=-Camerarius 1533, Bl. a2r-a5r) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Widmung des De Theriacis et Mithridateis Commentariolus an den Arzt Johannes Magenbuch -(= Camerarius 1533, Bl. a5v-a6r) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Widmung der lateinischen Version des Werks De Theriaca ad Pamphilianum an den Arzt Johann Schütz von Weyll (=-Camerarius 1533, Bl. b6v-b8r) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Epigramm De ratione victus salutaris- (= Camerarius 1535b, Bl. 47v / Camerarius 1536, -Bl. 41v) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Epistola ad lectorem der Galenausgabe (= Gemusaeus et al. 1538, Bd. IV, Bl. *2r/ v) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Versus senarii de analogiis (= Camerarius 1554) . . . . . . . . . . . . . . . Der Widmungsbrief der Versus senarii de analogiis, gerichtet an Wolfgang Meurer (= Camerarius 1554, Bl. A2r-A5v) . . . . . Das Gedicht Versus senarii de analogiis (= Camerarius 1554, Bl. A6v-B2v) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Explicatiuncula zu den Versus senarii de analogiis -(=-Camerarius 1554, Bl. B3r-B6r) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Gedicht Σκευασία μέλανος γραφικοῦ- (= Camerarius 1554, Bl. E2v-E3v) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Kapitel De proportionibus aus dem Kommentar zur Einführung in die Arithmetik des Nikomachos von Gerasa (= Camerarius 1569, Bl. O5v- P4v) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Inhalt 7 299 7.1 299 7.2 307 319 319 319 322 324 Die Decuriae XXI συμμικτ ῶν προβλημάτων -(= Camerarius 1594) . . . Auszug aus den Decuriae XXI συμμικτ ῶν προβλημάτων über die im Timaios beschriebene Schöpfung der Welt aus den vier Elementen (= Camerarius 1594, -30-35) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auszug aus den Decuriae XXI συμμικτῶν προβλημάτων über die pythagoreischen Harmonien (= Camerarius 1594, -42-51) . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Handschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frühneuzeitliche Drucke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Moderne Textausgaben, Kommentare und Übersetzungen . . . . . . . . Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 11 Vorwort Dieses Buch ist die überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die ich der Philosophischen Fakultät der Universität Würzburg im Wintersemester 2021/ 22 vorgelegt habe. Mit diesem Vorwort möchte ich mich bei den Personen und Institutionen bedanken, die die Fertigstellung ermöglicht haben: An erster Stelle ist hier mein Doktorvater Herr Prof. Dr. Thomas Baier zu nennen, der die Arbeit hervorragend betreut und gefördert hat. Gleiches gilt für meinen Zweitbetreuer Prof. Dr. med. Dr. phil. Michael Stolberg. PD Dr. Sabine Schlegelmilch und Dr. Ulrich Schlegelmilch haben meine Dissertation während des ganzen Entstehungsprozesses begleitet, jede Fassung gelesen und oft stundenlang kritisch mit mir diskutiert. Dafür gilt ihnen mein größter Dank. Hilfreich und spannend waren auch Diskussionen über Camerarius’ Verhältnis zur Medizin, Astrologie und seinen Zeitgenossen, die ich mit Prof. Dr. Marion Gindhart und anderen Mitarbeitern des Projektes Opera Camerarii / Camerarius Digital führte. Ein wesentlicher Teil der Arbeit entstand in Innsbruck, wo ich im Rahmen eines Fellowships der Ludwig Boltzmann Institut für Neulateinische Studien drei sehr schöne Monate verbringen durfte und wichtige Anregungen erhielt. Ebenso hilfreich und willkommen waren die Korrekturvorschläge der Verfasser der Peer-Reviews, PD Dr. Dominik Berrens und Dr. Christian Kaiser, sowie die Anmerkungen und Hinweise von Anna Rodenbusch, die die letzte Fassung dieser Arbeit Korrektur gelesen hat. Für die finanzielle Unterstützung der Drucklegung möchte ich mich bei der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften bedanken. Der größte Dank gebührt jedoch meinen Eltern, die mich mein ganzes Leben lang großartig unterstützt haben. Ihnen widme ich diese Arbeit. A. Einleitung: Camerarius als Verfasser medizinischer Schriften Hic vobis alter Varro est, alter Theocritus, alter Polybius, orator grandis, gravis et copiosus, tum poeta comodus. Dieser Mann ist euch ein zweiter Varro, ein zweiter Theokrit, ein zweiter Polybios ein großer, erhabener und gedankenreicher Redner, ferner ein würdiger Dichter. Diese Verse schrieb Nicodemus Frischlin (1547-1590) 1585 in seiner Komödie Julius redivivus (1265 ff.) über den Bamberger Humanisten Joachim Camerarius d. Ä. (1500-1574) und charakterisierte damit das Werk eines überaus produk‐ tiven Gelehrten, der ein erstaunlich umfangreiches und selbst für humanistische Verhältnisse thematisch sehr breitgefächertes Œuvre hinterlassen hat. Neben zahlreichen Übersetzungen und kritischen Ausgaben lateinischer und vor allem griechischer Werke stammen von ihm Biographien bedeutender Männer, histo‐ riographische Schriften, bukolische Gedichte sowie Arbeiten zu verschiedenen naturkundlichen Themen. Obwohl er sich bei seinen Zeitgenossen im Heiligen Römischen Reich großer Bekanntheit und Wertschätzung erfreute, ist er heute gegenüber anderen protestantischen Gelehrten wie etwa Melanchthon weitge‐ hend in Vergessenheit geraten. Dabei sind beispielsweise seine textkritischen Arbeiten noch immer von Relevanz, verdanken wir ihm doch etwa den von Fehlern gereinigten Text der plautinischen Komödien. Bei seinem Lobpreis hat Frischlin einen Aspekt vergessen. Camerarius publi‐ zierte nämlich auch Schriften im Bereich der Medizin. Er selbst war kein Arzt und hatte das Fach nicht einmal studiert, aber in der Frühen Neuzeit verliefen die Grenzen zwischen den einzelnen Fachdisziplinen weniger strikt, wie etwa die medizinischen Schriften Philipp Melanchthons (1497-1560) zeigen. Zudem hatte die humanistische Philologie große Relevanz für die Medizin, da die zentralen Lehrtexte für dieses Gebiet aus der Antike stammten und im Studium mit philologischen Mitteln erschlossen wurden. Zugespitzt formuliert: Man lernte Medizin durch das Lesen von Galen und Hippokrates. Ihre wiederentdeckten griechischen Originaltexte waren zur Zeit des Camerarius zum ersten Mal durch Editionen einem breiteren Publikum zugänglich gemacht worden. Aber nicht nur diese starke Verbindung von Humanismus und Medizin wirkt auf den modernen Betrachter fremdartig. Denn die zeitgenössische Me‐ dizin weist viele andere Eigenheiten und aus heutiger Perspektive schwer nachvollziehbare Absonderlichkeiten auf. Hierzu zählt etwa die weit verbreitete Akzeptanz der Astrologie, ihr Gebrauch für medizinische Zwecke oder der Glaube an die Prinzipien der Humoralpathologie mit der Konsequenz, dass man mit Aderlässen, Abführmitteln und anderen Medikamenten das Gleichgewicht der Körpersäfte wiederherzustellen suchte. Diesen Praktiken liegt eine gänzlich andere Sicht auf den Kosmos zugrunde. Nur schwer kann man sich vorstellen, wie frühneuzeitliche Individuen ihre Welt wahrnahmen und sich erklärten. Hierfür spielten antike Philosophen und ihre Rezeption eine wichtige Rolle, insbesondere Aristoteles. Aber auch Platon und die Neuplatoniker übten großen Einfluss aus, vor allem nachdem sie durch den einflussreichen italienischen Philosophen Marsilio Ficino (1433-1499) rezipiert worden waren. Unter den Zeitgenossen und Freunden von Camerarius war es beispielsweise Philipp Melanchthon, der ausgehend von antiken Quellen versuchte, eine an den Protestantismus angepasste Naturphilosophie zu entwickeln. Die zeitgenössische Medizin war also einerseits stark mit humanistischer Philologie verbunden und ging andererseits von einer ganz anderen Sicht auf die Natur aus. Dies gilt selbstverständlich auch für das Werk des Camerarius. Da er einer der ersten Humanisten war, die griechische medizinische und philosophische Texte im Originaltext lasen, edierten sowie übersetzten und damit einem größeren Publikum zugänglich machten, hatte er die Möglichkeit, großen Einfluss auf seine Zeitgenossen auszuüben. Es ist daher von besonderer Bedeutung für die Humanismusforschung, wie humanistische Philologie und Medizin für ihn miteinander verbunden waren und mit welchen Methoden er die Natur erklären und erschließen wollte. Doch trotz der Bedeutung dieses Gelehrten ist sein medizinisches Schriftencorpus bisher kaum erschlossen. 1 Forschungsüberblicke zu speziellen Themen erfolgen bei der Besprechung der ein‐ zelnen Schriften, d. h. am Anfang der Kapitel B.1-B.4. 2 Zur Debatte und Problematik im Zusammenhang mit diesem Begriff und dem Auf‐ kommen der modernen Naturwissenschaft vgl. Cohen 2019. 3 Zum Unterschied zwischen Physica (= aristotelischer ‚Physik‘) und Physik vgl. Hooy‐ kaas 1980. 4 Maßgeblich zur Naturkunde der Frühen Neuzeit: Ogilvie 2006. Geeignete Einführungen sind Findlen 2006, Jardine 2018 und Curry 2018. 1 Forschungsstand Die Analyse dieser beiden für die Werkinterpretation des Camerarius wichtigen Aspekte - einerseits die naturphilosophisch geprägte Perspektive auf die Welt (I), andererseits die Verbindung von humanistischer Philologie und Medizin (II) - vertieft autorbezogen zentrale Diskussionsfelder der Humanismusforschung. 1 (I) Wenden wir uns zunächst der Naturphilosophie zu. Der Terminus muss von dem Begriff ‚Naturwissenschaft‘ unterschieden werden, welcher für diese Arbeit ungeeignet wäre, da er beim Leser unzeitgemäße Implikationen hervorruft, die durch unsere moderne Sichtweise bedingt sind. Man muss sich bewusstmachen, dass, vereinfacht gesprochen, erst mit der im 17. Jahrhundert einsetzenden so‐ genannten scientific revolution  2 das Experiment innerhalb der Physik wirkliche Beweisevidenz gewann und die Formulierung von Beobachtungen von Naturge‐ setzen zu einem entscheidenden Prinzip wurde. Für die Zeit vor dem Einsetzen dieser Wende wird der Terminus Naturphilosophie verwendet. Er bezeichnet das Bestreben, den Aufbau und die Funktion des Gesamtkosmos in größeren Zusammenhängen systematisch zu beschreiben, wofür man sich vor allem deduktiver Verfahren bediente. Maßgeblich war hierfür im 16. Jahrhundert vor allem die aristotelische Physik (physica). 3 Von diesem Beschreibungssystem geht die Naturkunde aus, die sich auf konkrete Phänomene oder Beobachtungen innerhalb der Natur bezieht, ohne sie jedoch abstrakt zu erläutern. Typische naturkundliche Schriften des 16. Jahrhunderts sind etwa die von Conrad Gessner (1516-1565) verfassten Universal- und Überblickswerke, in denen er das zeitge‐ nössische Wissen sammeln und systematisieren wollte. 4 Renaissance und Humanismus waren von der Wiederentdeckung und Ver‐ breitung zahlreicher Schriften geprägt, die den Aristotelismus des Mittelalters beeinflussten und veränderten. Aristoteles musste nun nicht mehr in lateini‐ schen Übersetzungen gelesen werden, sondern konnte im griechischen Original oder in lateinischen Übersetzungen studiert werden, die auf den griechischen 5 Vgl. Wallace 1988, 201-206. 6 Vgl. Kessler 1990. 7 Vgl. Kessler 1990, Wallace 1998, 201-206 sowie Bihlmaier 2017, 469. 8 Vgl. Kusukawa 2006 (es handelt sich um einen Nachdruck der 1995 veröffentlichten Dissertation) und Frank 1995. 9 Vgl. Kusukawa 2006. Originalen beruhten und nicht auf einer arabischen Zwischenstufe. Außerdem traten neben seine Werke nun auch die anderer Autoren, die vorher nicht zugänglich waren. Beispielsweise lag nun der griechische Platon vollständig vor, und man hatte Zugang z. B. zu neuplatonischen oder stoischen Texten. Damit traten neben den Aristotelismus weitere philosophische Schriften und Systeme, die die Sichtweise auf die Natur veränderten oder erweiterten. Die Naturphilosophie dieser Zeit war also alles andere als homogen. 5 Dies bedeutete jedoch nicht, dass der Aristotelismus verdrängt wurde. Vielmehr wurde er, so Eckhard Kessler, nicht zuletzt aufgrund seiner Kohärenz und Systematik geschätzt. Nur stellte man die absolute Gewissheit seiner Philosophie in Frage. 6 Seine Offenheit und Flexibilität erlaubten sozusagen die dynamische Anpassung andere philosophische Systeme. 7 Diese Sichtweise auf den Aristotelismus war maßgeblich für die Studien Sachiko Kusukawas und Günter Franks, die sich mit der Naturphilosophie Philipp Melanchthons beschäftigen. 8 Seine Schriften bieten sich zu einem Vergleich mit Camerarius an, da sie gut erforscht sind, zumal beide Humanisten Zeitgenossen, Protestanten und eng miteinander befreundet waren sowie teilweise sogar an denselben Orten studiert hatten. In ihrem Werk „The transformation of natural philosophy“ hat Sachiko Kusu‐ kawa die Frage erläutert, inwiefern Melanchthon durch Auswahl, Präsentation und Adaption tradiertes Wissen den Erfordernissen des protestantischen Glau‐ bens anpasste. 9 Eine wichtige Anpassung betrifft die Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium: Die Begriffe bezogen sich ursprünglich auf das Alte bzw. Neue Testament, die in der protestantischen Theologie eine besondere Bedeutung hatten. Die Lektüre des Alten Testaments sollte dem Leser seine eigene Unzulänglichkeit bei der Erfüllung der Gesetze Gottes vor Augen führen. Voller Demut wendet er sich dann dem Neuen Testament zu, wo er Rettung findet. Dieses Prinzip wurde auf die Naturphilosophie übertragen: Auch durch die Betrachtung der vollkommen geschaffenen Natur erkennt der Mensch seine eigene Unzulänglichkeit und wendet sich dem Neuen Testament zu, um dort Er‐ lösung zu finden. Jegliches Wissen, das durch Betrachtung der Natur gewonnen wird, gehört vor diesem Hintergrund in den Bereich des Gesetzes (nicht in 18 1 Forschungsstand 10 Vgl. Kusukawa 2006, 160-167. 11 Vgl. Frank 1995. 12 Vgl. Frank 2012. 13 Vgl. Frank 1995, insbesondere 1-8 und 334-339 sowie Frank 2012. Das Zitat S. 338. An dieser Stelle sei auch auf einen Beitrag Sandra Bihlmaiers verwiesen, der die Forschungsergebnisse zur protestantischen Naturkunde zusammenfasst, vgl. Bihlmaier 2017. den des Evangeliums) und ist zur Erkenntnis Gottes letztlich insuffizient. 10 Auch Günter Frank untersuchte, inwiefern protestantische und humanistische Vorstellungen die Naturphilosophie Melanchthons beeinflussten. 11 1995 (im selben Jahr wie Kusukawa) veröffentlichte er eine Monographie über die philosophische Theologie Melanchthons, deren Ergebnisse die Grundlage für einen 2012 veröffentlichten Aufsatz bildeten. 12 Er betonte die Relevanz plato‐ nisch-neuplatonischer Vorstellungen für die Naturphilosophie Melanchthons. Zwar sind, nach Frank, aristotelische Einflüsse unbestreitbar, aber Melanchthon hat die pythagoreische Weltsicht des platonischen Timaios mit weitreichenden Konsequenzen übernommen. Aufgrund der dort vertretenen quasi mechani‐ schen Vorstellung der Welt (machina mundi) ist die Wirklichkeit grundsätzlich intelligibel. Der Mensch ist prinzipiell gottesähnlich geschaffen. Er kann und soll die Natur verstehen, und obwohl seine Erkenntnisfähigkeit seit dem Sündenfall getrübt wurde und in soteriologischer Hinsicht insuffizient ist, so verfügt er noch über Spuren derselben, sogenannte notitiae naturales, womit Melanchthon den Erkenntnisrealismus des Aristoteles preisgegeben habe. Das Weltbild Me‐ lanchthons ist damit prinzipiell optimistisch-metaphysisch. An die Stelle der aristotelischen Naturphilosophie ist bei Melanchthon eine natürliche Theologie getreten, welche sich - so Frank - auch generell an der Schwelle zur Frühen Neuzeit etablierte. Gleichwohl sind den Erkenntnissen aus der Beobachtung der Natur feste Grenzen gesetzt, da diese in den Bereich des Gesetzes gehören und im Vergleich zu den Erkenntnissen aus der Offenbarung lediglich dienende Funktion haben. 13 Im Bereich der Medizin veröffentlichte Jürgen Helm, von den Monographien Kusukawas und Franks ausgehend, 1999 einen Aufsatz, in dem er Wechselwir‐ kungen zwischen der an der Universität Wittenberg gelehrten Medizin mit dem protestantischen Wissenschaftssystem Melanchthons aufzeigte. Er stellt dabei fest, dass es in Wittenberg zu einer Aufwertung der Naturphilosophie gekommen war, die er darauf zurückführt, dass für Melanchthon die Betrach‐ tung der Natur eine zweite (wenn auch in ihren Möglichkeiten begrenzte) Offenbarungsquelle neben der Bibel darstellte. Deshalb sei es insbesondere zu einer Aufwertung der Anatomie gekommen, die zugleich auch den Zustand des 1 Forschungsstand 19 14 Vgl. Helm 1999. 15 Vgl. Nutton 1993. 16 Grundlegend dazu: Schmitz 1984, Wear 1985, Nutton 1988, Jaumann 2011, Cook 2006, Siraisi 2007 und Hirai 2011. 17 Zu Leoniceno und Manardo vgl. Nutton 1997. 18 Vgl. Hasse 2001, 65 f. 19 Vgl. Hasse 2001. Menschen erklären sollte, in dessen Kenntnissen, Willen und Affekten seit dem Sündenfall keine Harmonie mehr herrsche. Nur durch das Wort Gottes könnten Affekte bewirkt werden, die wieder mit seinem Willen übereinstimmten. 14 Grundlage für Helms Beitrag war neben Kusukawa und Frank auch ein Aufsatz Vivian Nuttons, der 1993 gezeigt hatte, dass in Wittenberg eine Form von Anatomie gelehrt wurde, die eng mit der Theologie verbunden war. 15 (II) Die Wiederentdeckung und zunehmende Verbreitung gedruckter antiker Texte hatte aber nicht nur einen Einfluss auf die Naturphilosophie, sondern ver‐ änderte auch das Verhältnis zwischen Humanismus und Medizin - nicht zuletzt aufgrund der Bedeutung, die man philologischen Mitteln zur Rekonstruktion antiker Werke beimaß. 16 Mit Hilfe von Textkritik wollte man die Originaltexte der griechischen Ärzte wiederherstellen, und durch diesen Reinigungsprozess gleichsam auch das unverfälschte Wissen der Antike. Dieser Anspruch konnte an eine Abwer‐ tung der arabisch-mittelalterlichen Tradition gekoppelt sein, welche angeblich die Lehre verfälscht hatte. Bisweilen wurden sogar Autoren der lateinischen Antike, wie Plinius, miteinbezogen. Der Beginn dieser Auseinandersetzung mit der arabischen Medizin ist in der von Niccolò Leoniceno (1428-1524) verfassten Schrift De Plinii et plurium aliorum medicorum in medicina erroribus zu suchen. Diesen Trend greifen die Epistolae medicinales seines Schülers Giovanni Manardo (1462-1536) auf, 17 später andere Autoren wie Symphorien Champier (1471-1539) und Leonhart Fuchs (1501-1566). 18 Dag Nikolaus Hasse verfasste 2001 einen Beitrag über die Polemik gegen arabische Autoritäten und kam zu dem Schluss, dass trotz der humanistischen Polemik arabische Schriftsteller weiterhin eine wichtige Rolle in der Medizin spielten. Trotzdem war diese Art von Propaganda so erfolgreich, dass sie die Forschungsmeinungen bis in unsere Zeit hinein prägte. 19 Im 16. Jahrhundert konnte sie sich auch gegen andere Gruppen richten, allen voran „empirische“ Ärzte. Hiermit sind nichtakedemische Heilkundige aus dem einfachen Volk gemeint. Diese Gruppe umfasste heilkundige Nonnen, Kräuterfrauen, Bader, Apotheker usw., denen allen gemein war, dass sich ihre Praxis auf Erfahrungswissen gründete. Sie standen in direkter Konkurrenz zu den akademischen Ärzten. Eine Polemik 20 1 Forschungsstand 20 Vgl. Helm 2017, 509 und die Rede Contra empiricos medicos Melanchthons (= CR 11, Nr.-25, Sp. 202-209) sowie Stolberg 2021, 486-501 und Nutton 2022, 151-179. 21 Vgl. Nutton 2022, 112. 22 Vgl. Galen 1525, Bd. II, Bl. **v. Dort schreibt Andreas Asulanus (1451-1529) über Galen: „viri eloquentia simul, et varia literarum cognitione omnium pene praestantissimi, ac aetatis suae, suique generis scriptorum facile princeps“. In Band 5 derselben Ausgabe erklärt Asulanus es als sein Ziel, die Medizin zu ihrem alten Glanz und ihrer alten (sprachlichen) Eleganz zurückzuführen und die barbaries zu überwinden (Vgl. Galen 1525, Bd. V, Bl. Ir und 2r), was in einem Brief an den Leser der 1538 erschienen Ausgabe aufgegriffen wird (Vgl. Gemusaeus et al. 1538, Bd. III, Bl. a2r). 23 Vgl. Philipp Melanchthon an Franz I. von Frankreich, vor dem 13.02.1538 (MBW 1996, 5-6), Vgl. Galen 1525, Bd. I, Bl. Ir. 24 Vgl. Galen 1525, Bd. I, Bl. Ir; Bd. II, Bl. **v. Vgl. ferner Gemusaeus et al. 1538, Bd. III, Bl. a2r. 25 Vgl. Baader 1984, 51-52; vgl. auch Philipp Melanchthon an Franz I. von Frankreich, vor dem 13.02.1538 (MBW 1996, 5). 26 Vgl. Bergdolt 2001, 47 und Philipp Melanchthon an Franz I. von Frankreich, vor dem 13.02.1538 (MBW 1996, 5). gegen diese Gruppe findet sich etwa bei Philipp Melanchthon, bei dem, wie Helm feststellt, die Kritik an Empirikern eine Stärkung der akademischen Medizin bezweckt. 20 In den 20er- und 30er Jahren des 16. Jahrhunderts hatten sich die humanisti‐ schen Methoden und ihre positive Bewertung weitgehend durchgesetzt. Man erforschte nun die vermeintlich wahre Medizin der Autoritäten Galen und Hippokrates, nachdem man in der Textkritik einen Weg gefunden hatte, zu einer reinen unverdorbenen Sprache und über diese zu dem unverfälschten Wissen der Antike zurückzukehren. Zahlreiche Vorreden beklagten zudem die mangelnde Eloquenz der mittelalterlichen Ärzte, ihren Mangel an adäquaten lateinischen Ausdrücken. 21 Stattdessen betonte man nun die Beredsamkeit und die elegante Sprache der antiken Ärzte, 22 hob ihre wahre Weisheit bzw. Philosophie hervor 23 und wies auf ihre umfassende Sachkenntnis hin. 24 Sie galten nun geradezu als Norm für die rechte Lebensführung wie auch als Stilmuster. Man hatte sie sozusagen als historische Persönlichkeiten entdeckt, als Vorbilder, denen es nachzueifern galt - und zwar in jeder Hinsicht, d. h. sprachlich wie wissenschaftlich. 25 Bergdolt verweist aber auch darauf, dass es nach wie vor einige Gelehrte gab, welchen die Übernahme humanistischer Prinzipien noch problematisch er‐ schien. 26 Dies ist zweifellos richtig, so demonstriert etwa Helius Eobanus Hessus (1488-1540), dass ein Humanist, der die Grenzen seiner professio zur Medizin übertritt, weil er ein diätetisches Gedicht in Versform verfasste, durchaus mit 1 Forschungsstand 21 27 Hessus hatte 1524 ein diätetisches Lehrgedicht verfasst und etwas großsprecherisch erklärt, gleichsam unter der Ägide Apolls Dichtkunst und Medizin vereinen zu wollen (vgl. Hessus 1524 und Krause 1879, 386-395). Erst unmittelbar vor Veröffentlichung des Buches hatte er, nachdem er vorher jahrelang als Dichter und Universitätsdozent gelehrt hatte, ein Medizinstudium aufgenommen. Sieben Jahre später, das Studium hatte er längst wieder abgebrochen, legte er das Werk neu auf, um, wie er selbst schreibt, mehrere Fehler zu korrigieren. Er fügte dem Werk auch einen neuen Widmungsbrief hinzu, in dem er seiner Befürchtung Ausdruck verleiht, es werde nicht wenige Leser geben, die der Meinung seien, mit der Veröffentlichung des Werkes habe er die Grenzen seiner professio (also der des humanistischen Dichters) überschritten. Polemisch fügt er hinzu, solche Leute würden allzu engstirnig auf der Einhaltung von Fachgrenzen beharren. Er selbst habe sogar einen Mann kennengelernt, der behauptet hatte, die Dichtkunst habe schon die Theologie besudelt und werde sich anschicken, dasselbe mit der Medizin zu tun (Vgl. Hessus 1531, Bl. A ij v-A iij r (Helius Eobanus Hessus an Georg Sturtz, 01.11.1531; = ÄB 26540). 28 Vgl. Caspar Peucer an Johannes Crato von Krafftheim, 01.10.1568 (Breslau, UB, Akc 1949/ 611, Bl. 53r; ediert in: Gillet 1861, 497 f., Nr. 33 (= ÄB 19231): „Neque ad me haec pertinent, qui scholasticis et medicis laboribus occupatus abstineo ab iis, quae sunt professionis alienae.“ 29 Vgl. Nutton 112. Zu Übersetzungsmethoden in der Frühen Neuzeit vgl. Copenhaver 1988 und Botley 2004. 30 Vgl. Copenhaver 1988, 86 f. 31 Vgl. Copenhaven 87 und Fortuna 2019, 438. 32 Vgl. Fortuna 2019, 438. Ressentiments engstirniger Mediziner zu rechnen hatte. 27 Auch Caspar Peucer schreibt in einem Brief aus dem Jahr 1568, dass die Dichtkunst nichts mit seiner professio zu tun hatte. 28 Und so muss man vielleicht auch hier - ähnlich wie beim Antiarabismus - zwischen dem Anspruch unterscheiden, der in den gedruckten Werken und ihren Widmungsbriefen propagiert wird und den tatsächlichen Gegebenheiten, soweit sie rekonstruierbar sind. Die Übernahme humanistischer Ideen im Bereich der Medizin ging tendenziell mit einer Abkehr von Wort-für-Wort-Übersetzungen einher. 29 Bei dieser Me‐ thode in früheren Jahrhunderten weit verbreiteten Methode behielt man die Wortreihenfolge strikt bei und versuchte den griechischen Text sozusagen 1: 1 ins Lateinische zu übertragen, was aufgrund der Ähnlichkeit der Sprachen weitgehend möglich war. Allerdings musste der Leser den „Code“ verstehen können, den der Übersetzer verwendet hatte, d. h. er musste wissen, welches griechische Wort welchem lateinischen entsprach. Der Vorteil dieser Methode war eine sehr genaue Übersetzung, die es gräzistischen Gelehrten sogar erlaubte, den Originaltext zu rekonstruieren, 30 der Nachteil war, dass die Texte für Leser, die des Griechischen nicht mächtig waren, hölzern wirkten und unverständlich waren. 31 Dies gilt beispielsweise für die Übersetzungen Niccolò da Reggios. 32 22 1 Forschungsstand 33 Vgl. Fortuna 442 und Nutton 2022, 112. 34 Vgl. Barozzi 1560, Bl. **2r. 35 Vgl. Cornarius 1537, Bl. a3v. 36 Vgl. Copenhaver 1988. 37 Vgl. Hamm 2011. 38 Vgl. Baier 2017a. 39 Vgl. http: / / kallimachos.de/ camerarius/ index.php/ Einführung 40 Vgl. Huber-Rebenich 2001, Kramarczyk 2003, Woitkowitz 2003, Dall’Asta 2017, Schle‐ gelmilch 2017. 41 Vgl. Kunkler 1998 (bzw. Kunkler 2000), Woitkowitz 2003 und Hamm 2011. 42 Vgl. Kramarczyk 2003, Berrens 2017, Gindhart 2017 und Huth 2017. 43 Vgl. Stannard / Dilg 1978. Auch Kunkler besprach die Schrift De Theriacis in der ursprünglichen Form seiner Dissertation (= Kunkler 1998, 149-151), die entsprechende Passage fand jedoch keinen Eingang in die 2000 gedruckte Fassung (= Kunkler 2000). Seine Untersuchungen stützen sich im Wesentlichen auf die Ergebnisse Dilgs. 44 Vgl. Kramarczyk 2003. Stattdessen strebte man nun, auch in den Übersetzungen, ein elegantes Latein an. 33 Viele, aber nicht alle Gelehrten folgten diesem Trend und wandten sich von Wort-für-Wort-Übersetzungen ab. Ausnahmen sind etwa Francesco Barozzi 34 oder Janus Cornarius. 35 Auch gab es keine einheitliche Übersetzungstheorie unter Humanisten. 36 Nachdem nun der allgemeine Forschungsstand erläutert wurde, wenden wir uns der Camerariusforschung zu. In den letzten Jahren fand im Wesentlichen Grund‐ lagenforschung statt. Hier ist zunächst ein biographischer Artikel zu nennen, der von Joachim Hamm 2011 im Literaturwissenschaftlichen Verfasserlexikon publiziert wurde. 37 2017 erschien ein von Thomas Baier edierter Sammelband mit Aufsätzen zu verschiedenen Themen, 38 ein weiterer von Marion Gindhardt herausgegebener Band ist in Vorbereitung. Zudem wurden die Werke und Briefe des Camerarius in der Datenbank Opera Camerarii Online erschlossen. 39 Erkennbare Schwerpunkte der Forschung lagen auf seinem Briefwechsel, 40 seiner Biographie 41 und naturkundlichen Themen. 42 Doch wie gut sind seine medizinischen Schriften erschlossen? Im Jahr 1978 veröffentlichten Stannard und Dilg zwei aufeinander bezogene und aus rein medizinhistorischer Perspek‐ tive verfasste Aufsätze über den De Theriacis et Mithridateis Commentariolus, einen Kommentar zu den Heilmitteln Theriak und Mithridateion. Darin spre‐ chen sie Camerarius einen Beitrag zur Naturkunde seiner Zeit ab. 43 Erst 2003 erschien der nächste Beitrag, verfasst von Andrea Kramarczyk, in dem sie den Briefwechsel zwischen Camerarius und dem Arzt Johannes Neefe untersuchte und feststellte, dass es zu keinem wesentlichen wissenschaftlichen Austausch über medizinische Themen gekommen war. 44 2017 erschien ein Aufsatz von Thomas Baier, in dem er ausgehend von dem 1552 erschienen Commentarius 1 Forschungsstand 23 45 Vgl. Baier 2017b. 46 Vgl. Berrens [im Druck]. utriusque linguae, einem zweisprachigen medizinischen Glossar, die Bedeutung der Sprache für das pädagogische Konzept des Camerarius erörtert. 45 Im Druck befindet sich zudem ein Beitrag von Dominik Berrens, der die Terminologie des Camerarius in den Blick nimmt und ins 16.-Jahrhundert einordnet. 46 Bisher fehlt es an einer vergleichenden Zusammenschau der medizinischen Schriften des Camerarius, welche seine Texte in die zeitgenössische Naturphi‐ losophie einordnet und sie im Spannungsfeld Humanismus-Medizin kontextu‐ alisiert. Doch wie sieht das Corpus seiner medizinischen Schriften eigentlich aus? 24 1 Forschungsstand 47 Vgl. Kapitel B.1. Andere astrologische Schriften (etwa die Norica, ein 1532 erschienenes Werk über Kometen) wurden nicht berücksichtigt, da die Verbindung zur Medizin in ihnen eher marginal ist. 2 Das Corpus der medizinischen Schriften Im Folgenden findet sich eine Übersicht, in der alle Erstdrucke der medizinischen Werke aufgelistet und mit knappen Inhaltsangaben versehen sind. Nachdrucke wurden nur berücksichtigt, wenn sie Erweiterungen gegenüber dem Erstdruck aufweisen. Die Schriften sind chronologisch und nach den Wirkungsorten des Camerarius geordnet. Zu den medizinischen Werken wurde auch ein Werk über Horoskope gerechnet, das man heutzutage eher dem Bereich der Astrologie zuweisen würde. In der Frühen Neuzeit waren beide Bereiche aber eng miteinander verbunden, denn Horoskope konnten von Ärzten insbesondere zu diagnostischen Zwecken genutzt werden. 47 Nürnberger und Tübinger Zeit (1526-1541) • 1532: Astrologica Die Astrologica zerfallen in einen griechischen Teil, in dem astrologische Textauszüge und -zusammenstellungen zur Horoskopie aus dem Nachlass des Astronomen und Mathematikers Johannes Regiomontan (1436-1476) ediert sind, und einen lateinischen Teil mit Übersetzungen. Dem ersten Abschnitt geht ein Widmungsbrief an Jakob Milich (1501-1559) voraus, dem zweiten einer an Andreas Perlach (1490-1551). • [1533]: De Theriacis et mithridateis Commentariolus Der Druck enthält: a. Den eigentlichen Commentariolus, in dem Camerarius Erkenntnisse Galens über das Heilmittel Theriak zusammenfasst. Er ist dem Nürn‐ berger Arzt Johannes Magenbuch (1487-1546) gewidmet, wie aus einem paratextuellen Abschnitt innerhalb des Werkes hervorgeht. b. Die von Camerarius vorgenommene Übersetzung von Galens Libellus ad Pamphilianum de Theriaca, welchem ein Widmungsbrief an den Nürnberger Arzt Johann Schütz von Weyll (gest. 1547) vorangestellt ist. c. Griechische Rezepte und metrische lateinische Übersetzungen von Rezepten. • 1535: Erratum […] Aeolia […] Phaenomena […] Prognostica […] Der Druck enthält: 1. Das Erratum: Anlässlich der Tatsache, dass ihm zwei Fehler in seinen Gedichten vorgeworfen wurden, reflektiert Camerarius über die Feh‐ lerhaftigkeit des Menschen. 2. Lehrgedichte über den Kosmos: Aeolia (über die Winde), Phaenomena (über Himmelserscheinungen), Prognostica (Vorzeichen) sowie ein Epi‐ gramm über die sieben Planeten und ihre Wirkung auf den Menschen. 3. Diätetische Lehrgedichte. • 1536: Opuscula aliquot elegantissima Erweiterte Neuauflage der Schrift Erratum […], die um einige kleinere Gedichte erweitert wurde. • 1538: Γαλενοῦ δ. Galeni librorum pars quarta Im Rahmen der Basler Gesamtedition von Camerarius besorgter vierter Teil der Werke Galens. Vorangestellt ist ein Brief an den Leser. Leipziger Zeit (1541-1574) • 1551: Commentarii utriusque linguae Zweisprachiges Glossar zu den menschlichen Körperteilen mit einem an Wolfgang von Werthern adressierten Proöm. Postum veröffentlichte Werke • 1594: Decuriae XXI συμμικτῶν προβλημάτων, seu variarum et diver‐ sarum quaestionum de natura, moribus, sermone In diesem Werk werden verschiedene ethische, sprachliche, naturkundliche und medizinische Fragen gestellt und diskutiert. Vorangestellt ist ein Widmungsbrief der Herausgeber Philipp und Joachim Camerarius II. an Reichard von Starhemberg. • 1596: Appendix problematum Appendix zu den 1594 erschienenen Decuriae XXI συμμικτῶν προβλημάτων. Herausgeber sind (wohl) ebenfalls Philipp und Joachim Camerarius II. Unveröffentlichte und unvollendete Werke: Die Titel der folgenden nicht erhaltenen Werke stammen aus einer von Georg Summer zusammengestellten Liste. Sie geht vermutlich auf Familienaufzeich‐ 26 2 Das Corpus der medizinischen Schriften 48 Vgl. Summer 1646, Bl. D4r-D6r (hier: Bl. D4v-D5v) sowie München, BSB, Clm 10376, Nr.-10, Bl. 124r-130r. 49 Der Begriff ‚Paratext‘ ist insofern problematisch, als er der Tatsache eigentlich nicht gerecht wird, dass in der Frühen Neuzeit die Trennlinie zwischen Text und Paratext recht unscharf verläuft. Der Terminus soll unter Beibehaltung dieses Vorbehaltes trotzdem verwendet werden, weil er allgemein gebräuchlich und verständlich ist (so nach Enenkel 2015, 9-10). nungen zurück, die sich heute in der Münchner Staatsbibliothek befinden. 48 Es handelt sich um zwei Werke zu medizinischer Terminologie. • Commentarii de nominibus morborum (unvollendet) Terminologischer Kommentar zu Krankheitsbezeichnungen. • Commentarii de partium internarum humani corporis nominibus (unvollendet) Terminologischer Kommentar zu den menschlichen Körperteilen. In dieser Arbeit wurden nur die Schriften untersucht, die Camerarius in den Jahren 1532 bis 1538 publizierte, wobei spätere Werke zu Vergleichszwecken herangezogen wurden. Diese Beschränkung ergibt sich aus dem Umstand, dass der thematisch einschlägige Publikationsschwerpunkt des Camerarius in dieser Zeit lag, bevor eine 13-jährige Pause einsetzte. Erst 1551 erschien das nächste medizinische Werk, die Commentarii utriusque linguae. Die Zeit dieser intensiven Auseinandersetzung mit medizinischen Themen ist zugleich mit den Wirkungsorten Nürnberg und Tübingen verknüpft, in denen Camerarius von 1526 bis 1541 wirkte, bevor er im Jahr 1541 seine Stelle in Leipzig antrat. Formal und inhaltlich gesehen ist das Corpus der medizinischen Schriften der 1530er Jahre äußerst inhomogen. Es enthält Editionen, Übersetzungen, Gedichte, Rezepte sowie eine Sammlung und Zusammenfassung galenischer Schriften über das Heilmittel Theriak, ein vermeintliches Heilmittel gegen alle Krankheiten und Gifte. Bei einem Großteil dieser Schriften werden fast nur fremde Schriften dem Leser präsentiert, keine von Camerarius selbstständig verfassten Werke. Dementsprechend erhalten Widmungsbriefe und verwandte Paratexte (wie der Brief an den Leser in der Galen-Ausgabe von 1538) eine umso größere Bedeutung. Sie sind in fast allen Drucken enthalten und selbst bei Werken, die nicht durch entsprechende Schreiben begleitet werden, finden sich Abschnitte, die Paratextcharakter aufweisen. So enthält beispielsweise der De Theriacis […] Commentariolus einen längeren Abschnitt mit einer Widmung und Informationen zur Werkgenese. 49 Dedikationsepisteln und verwandte Paratexte sind auch deswegen besonders relevant, weil sie der einzige Ort sind, an dem 2 Das Corpus der medizinischen Schriften 27 der Autor über sich selbst, seine Motive, sein Verhältnis zur Medizin sowie über die Werkentstehung äußern kann. Der Großteil des Corpus ist schon formal so geartet, dass eine intensive theoretische Auseinandersetzung mit medizinisch-naturkundlichen Themen über mehrere Seiten hinweg gar nicht stattfinden kann. Eine Ausnahme bildet der De Theriacis et Mithridateis Commentariolus, der längere philosophisch-me‐ dizinische Reflexionen enthält. Er nimmt damit eine gewisse Sonderrolle ein - immerhin handelt es sich hierbei um das einzige größere selbst verfasste Werk. Die in ihm enthaltenen theoretischen Äußerungen sind daher, neben den Paratexten, zur Erschließung des Corpus besonders wichtig. Gleichwohl wird der Zugang zu diesem Text durch den Umstand erschwert, dass er nicht als systematisches Werk verfasst wurde. Was aber macht dieses Corpus aus heutiger wissenschaftlicher Perspektive so relevant? Camerarius war einer der ersten deutschen Humanisten, der zentrale medizinische Texte Galens im griechischen Original las, edierte sowie übersetze, und sie damit einem größeren Publikum zugänglich machte, auf das er insbesondere durch seine Paratexte gut einwirken konnte. Aufgrund dieses potentiellen Einflusses sind die Fragen umso relevanter, wie und ob er selbst die aristotelische Naturphilosophie aufnahm und adaptierte bzw. wie er sich selbst im Spannungsfeld Humanismus-Medizin kontextualisierte. 28 2 Das Corpus der medizinischen Schriften 50 Für Beispiele vgl. Kapitel A.3.2. Die moderne Toposforschung geht auf Ernst Robert Curtius zurück (vgl. Curtius 1961). Vgl. hierzu Obermayer 1973 und Toepfer 2007, 87-96. 3 Methodische Überlegungen Jede dieser beiden Fragen erfordert eigene Methoden. Will man herausfinden, welche naturphilosophischen Vorstellungen für Camerarius maßgeblich waren, ist man mit spezifischen Problemen konfrontiert. Er verfasste nämlich keine systematischen Werke, sondern schrieb oft nur kurz über bestimmte Konzepte, deutete sie ggf. nur an oder setzte sie gar als bekannt voraus. Es besteht daher die Gefahr, sie falsch zu verstehen. Ein möglicher Ausweg bietet hier die von ihm verwendete Terminologie. Die Frage nach der Verbindung zwischen Humanismus und Medizin zeigt sich am besten in Widmungsbriefen und Paratexten, da, wie gesagt, Camerarius i. d. R. nur dort über sich selbst reden und seinen Bezug zum Humanismus und zur Medizin inszenieren kann. Allerdings sind Dedikationsepisteln immer mit bestimmten Absichten verfasst und von zahlreichen Topoi durchzogen, also All‐ gemeinplätzen 50 , die man in frühneuzeitlichen Widmungsbriefen immer wieder vorfindet. Diese Faktoren muss man berücksichtigen, wenn man Dedikationse‐ pisteln liest, und dafür bedarf es bestimmter methodischer Vorüberlegungen. 3.1 Terminologie als Schlüssel zum Verständnis philosophischer Konzepte Camerarius gibt an keiner Stelle einen umfassenden Überblick über seine Naturphilosophie. Und selbst die Stellen, an denen er ausführlicher über seine Konzepte schreibt, wie im De Theriacis et Mithridateis Commentariolus, sind äußerst knapp gehalten und sehr voraussetzungsreich. Ein nützlicher Ansatzpunkt bietet hier die Terminologie, die Camerarius in zentralen Passagen gebraucht, in denen er über sein Verständnis zeitgenössi‐ scher Wissenschaft spricht. Die hier verwendeten Schlüsselwörter erleichtern die Identifikation relevanter antiker oder zeitgenössischer Texte, die ihm mögli‐ cherweise als Vorbild dienten und seine philosophischen Vorstellungen prägten. Weiterhin gestatten sie das Auffinden wichtiger Parallelstellen innerhalb des Corpus seiner Schriften. Man kann zudem davon ausgehen, dass diese Schlüssel‐ begriffe von den zeitgenössischen humanistisch gebildeten Lesern verstanden 51 Vgl. Kapitel C.2. 52 Janus Cornarius an Stephan Roth, 15.05.1527 (München, BSB, Clm 2106, Bl. 11v-12v; = ÄB 2469) 53 Vgl. auch: Hessus an Camerarius, 1526-08.1528 (Camerarius 1553, Bl. G6r/ v; = OCEp 0052). und mit den richtigen Konzepten assoziiert wurden. Man rekonstruiert also gewissermaßen den Prozess, den die Zielgruppe des Camerarius vollzog, wenn man ausgehend von seiner Terminologie Texte betrachtet, die ihm als Vorlage dienten. Diese Vorgehensweise erlaubt es, die knappen und zum Teil über mehrere Werke verstreuten Aussagen zu bündeln und so auf ein konsistenes Ge‐ dankengebäude zu schließen (dies betrifft vor allem sein Analogiekonzept). 51 Die im Anhang vorgenommene Übersetzung und Kommentierung der relevanten Passagen dient ebenfalls der Herausarbeitung dieses Gedankengebäudes. Zentraler Referenzpunkt dieser terminologischen Arbeiten sind die Schriften des Aristoteles, da durch den Vergleich mit ihnen deutlich wird, ob auch bei Camerarius eine Weitung hin zu anderen philosophischen Systemen oder gar eine Transformation des Aristotelismus stattgefunden hat. 3.2 Paratexte als Zugangswege zu den Werken des Camerarius Am 15.05.1527 schrieb der spätere Arzt Janus Cornarius an Stephan Roth einen Brief, in dem er eine Reihe von Fehlern auflistete, die beim Druck eines von ihm verfassten Widmungsbriefes aufgetreten waren. Wenn er doch nur, so schreibt er, seine Jugendzeit guten Studien ohne derartige praecentiones widmen könnte, durch welche er zu wenig vorankomme! 52 Er beschreibt das Verfassen von epistolae dedicatoriae also als (lästiges) Beiwerk, wobei das Wort praecentio eigentlich ‚Vorspielen‘ (mit Instrumenten) bedeutet. Diese Stimme aus dem frühen 16. Jahrhundert legt nahe, dass bereits Zeitgenossen diese Gattung als etwas empfanden, das Eigenschaften einer literarischen Inszenierung aufweist. 53 Dies wirft umgehend die Frage auf, wie genau diese Briefe gelesen werden müssen und welche Regeln für sie gelten. Diese Frage ist umso relevanter, weil sich Dedikationsepisteln in der Frühen Neuzeit ungeheurer Beliebtheit und Verbreitung erfreuten und von den Verfassern verwendet wurden, um sich zur Genese ihrer Werke und ihren theoretischen Grundlagen zu äußern. Auch für diese Arbeit sind sie von großer Relevanz. Allerdings ist die Interpretation dieser Literaturgattung aufgrund ihrer Eigenheiten und der vielen topischen Elemente nicht unproblematisch. Sie dürfen keinesfalls unkritisch betrachtet werden (etwa als historische Quelle für die Biographie des Camerarius), wenn man 30 3 Methodische Überlegungen 54 Schottenloher 1953, 1. 55 Vgl. Vermeer 2000, 572. 56 Vgl. Toepfer 2007, 83. 57 Vgl. Toepfer 2007, 82-109. 58 Vgl. Enenkel 2015. 59 Vgl. Enenkel 2015, 1-53, hier insbesondere 16-17; 50-53. 60 Zur Selbstinszenierung in Vorreden zu antiker Wissensliteratur vgl. Fuhrer 2012. Sie untersuchte, inwiefern in Vorreden die persona des Autors Kompetenz vermittelt. Das Autor-Ich positioniere sich in einem weiteren Kontext, von Fuhrer als „communities“ bezeichnet (z. B. der „scientific community“ oder „social community“), wo er sich gleichsam auf einem Ringplatz behaupte und so seine Fähigkeiten unter Beweis stelle. keinen Fehlschlüssen erliegen will. Da einige dieser Schwierigkeiten zugleich auch typisch für das Gesamtwerk des Camerarius sind, bedürfen sie einer ausführlicheren Erläuterung. 1953 widmete Karl Schottenloher den Widmungsbriefen eine Studie, in der er diese „als selbständige literarische Erscheinung des 16. Jahrhunderts mit eigenen Lebensgesetzen“ 54 bezeichnete. Die in den Widmungsvorreden häufig zu findenden Topoi warfen in den folgenden Jahren die Frage auf, inwieweit ihnen lediglich stereotype Bedeutung zukomme. 55 2007 stellte Regina Toepfer im Rahmen einer Arbeit über die Rezeption des Basilius Magnus fest, dass trotz der Erkenntnisse Schottenlohers bisher keine systematische Erschließung der Gattungscharakteristika stattgefunden hatte und es immer noch an wei‐ terführenden Untersuchungen fehlte. 56 Auf wenigen Seiten nahm sie eine Auswertung und Darstellung zentraler Gattungsmerkmale vor, auf die noch zurückzukommen sein wird. 57 2015 widmete Enenkel den epistolae dedicatoriae ein umfangreiches Buch. 58 Er erkannte in den Widmungsvorreden ein gestei‐ gertes Bedürfnis des Verfassers, sich als Autor zu legitimieren. Frühneuzeitliche Widmende konstruierten sich selbst als Autor, indem sie sich mit ihrem Namen, in ihren sozialen Bedingungen, ihrer Bildung, ihrem Lebenslauf darstellten und als greifbare Person dem Leser vor Augen träten und sich sozusagen persönlich für ihren Text verbürgten. 59 Doch so nützlich die Beobachtungen Enenkels darunter seine ausführliche Darstellung verschiedener Topoi auch sein mögen, so untersucht er doch nur einen Teilaspekt von Widmungsbriefen; und so gilt noch immer, was Regina Toepfer schrieb, dass eine umfassende Gattungsuntersuchung ein Desiderat darstellt. 60 Betrachten wir die Widmungsbriefe erst einmal mit der Perspektive des Phi‐ lologen und wenden uns dem formalen Aspekt zu. Das bedeutet, dass wir sie mit ihrer Alternative, nämlich dem Proömium vergleichen, um so die gattungsspezifischen Eigenheiten sichtbarer zutage treten zu lassen. Nur da‐ 3.2 Paratexte als Zugangswege zu den Werken des Camerarius 31 61 Vgl. die Edition von Smolak 1980, 8-11. 62 Vgl. Camerarius 1541, 180-217, hier 197: „Itaque illae disputationes de natura et moribus, et tota philosophia non sunt epistolae putandae, quanquam salus praescripta fuerit, sed libri. Nec magis Senecae scripta epistolae possunt videri, quod ad Lucilium missa sint cum praefatione amoris, quam Ciceronis De Officiis liber similiter ad filium datus et Plutarchi multa aliquibus inscripta opuscula. Quamvis et haec interdum incidunt, ut epistolis includantur, sed aliena tamen res est a toto genere, itaque caute et prudenter tractabitur, etiam tum, cum necesse fuerit.“ 63 So z. B. im De Theriacis et Mithridateis Commentariolus, vgl. Kapitel B.2. durch fällt nämlich in aller Deutlichkeit auf, dass Widmungsbriefe nicht an die gattungsspezifischen Vorgaben und Grenzen eines Proömiums gebunden sind (obwohl im 16. Jahrhundert der Übergang der beiden Gattungen fließend ist): Dedikationsepisteln sind bezüglich der Themen viel offener, erlauben das Sprechen über sich selbst und sogar die Stilebene kann in gewissem Maße angepasst werden, wobei diese Freiheiten freilich durch den Adressaten limitiert sind, also von dessen Wahl abhängen. Zudem muss natürlich die sprachliche Form dem Inhalt angemessen sein. Diese thematische (und bis zu einem gewissen Grad auch stilistische) Offenheit von Briefen postuliert etwa Erasmus. 61 Camerarius ist etwas restriktiver, wenn er im Kapitel De Epistolis der Elementa Rhetoricae schreibt, naturkundliche und philosophische Fragen seien der Gattung prinzipiell fremd, könnten aber, falls nötig, vorsichtig und mit der nötigen Umsicht (caute et prudenter) behandelt werden. Die Briefe Senecas an Lucilius seien nicht weniger ein philosophisches Werk als Ciceros De officiis.  62 Camerarius orientiert sich also eher an den familiares Ciceros als an dem (vor allem im Mittelalter populären) philosophischen Lehrbrief Senecas. Die theoretischen Aussagen des Camerarius dürften auch für seine epistolae dedicatoriae Geltung haben, denn auch dort lässt er sich nur selten zu philosophischen oder naturkundlichen Erörterungen hinreißen, die dann auch immer vorsichtig und knapp formuliert sowie eigens als Digressionen gekennzeichnet sind. Trotzdem gilt insgesamt auch für Camerarius, dass Briefe (und Widmungsbriefe) für ihn thematisch und formal relativ offen sind. Es ist diese Offenheit, die es erst möglich macht, sie an aktuelle Gegebenheiten anzupassen und als Instrument zur Erreichung verschiedenster Ziele zu ge‐ brauchen. Widmungsbriefe mögen heutzutage wegen der förmlichen Sprache und der verwendeten Topoi starr wirken, für die zeitgenössischen Verfasser müssen sie aber flexible Medien gewesen sein. Dies ist mit Sicherheit auch einer der Gründe, warum Dedikationsepisteln derart beliebt waren. Für Camerarius dienten sie z. B. der Selbststilisierung als Gelehrter in seinem Umfeld 63 oder 32 3 Methodische Überlegungen 64 Vgl. etwa den Widmungsbrief des griechischen Teils der Tetrabiblos (Camerarius an Albrecht von Preußen, 01.08.1535; = Camerarius 1535a, Bl. A2r-A5r). 65 Dies ergab eine Durchsicht der Datenbank Opera Camerarii (Stand: 17.06.2021). Ver‐ mutlich war sogar eher das Gegenteil der Fall. Seine Familie verfügte über Besitz in Bamberg und, in der Nähe von Nürnberg, über das Gut Eschenau. Hinzu kam ein relativ großzügiges Gehalt von 150 Gulden (vgl. Kunkler 1998, 110), sowie die Möglichkeit, Schüler privat zu unterrichten und zur Miete im eigenen Haus wohnen zu lassen. 66 Zum Begriff self-fashioning vgl. Stolberg 2015, 39-40. der Propagierung der Astrologie. 64 Finanzielle Aspekte dürften (zumindest bei der Wahl des Adressaten) für die medizinischen Schriften des Camerarius eher eine geringe Rolle gespielt haben, zumindest befindet sich kein Fürst unter den Widmungsempfängern der medizinischen Schriften und in seinen Briefen lassen sich keine Hinweise finden, dass Camerarius in den 1530er-Jahren unter finanzieller Not litt. 65 Die thematische Offenheit der Dedikationsepisteln hängt mit einer weiteren Eigenschaft von Widmungsbriefen zusammen, die uns zum eingangs zitierten Brief des Cornarius zurückführt, in denen sie als praecentiones bezeichnet wurden. Es geht um (Selbst-)Inszenierung bzw. self-fashioning des Verfassers. Dieser Begriff wird auch in der Geschichtswissenschaft verwendet 66 und scheint für die Interpretation der medizinischen Schriften des Camerarius nützlicher als der von Enenkel gebrauchte Terminus „Konstruierung von Autorschaft“, da er allgemeiner gefasst werden kann und inhaltlich und funktional nicht auf die Betrachtung eines Aspektes oder den Autor beschränkt ist. Vielmehr lässt er die Frage zu, ob auch die Medizin durch Camerarius in stilisierter Weise dargestellt wird. Zugleich ermöglicht er die Gegenüberstellung mit vergleichbaren Phänomenen innerhalb des Briefcorpus und anderen Werken, in denen sich Camerarius über sein Umfeld (d. h. in Bezug auf ein Gegenüber) inszeniert. Doch wie funktioniert diese Selbststilisierung und worin ist sie begründet? Um diese Frage zu beantworten, soll zunächst der Blick auf wichtige Eigenschaften von frühneuzeitlichen Briefen geworfen werden. Die Formel Ciceros über den Brief als Gespräch mit einem Abwesenden (amicorum colloquia absentium, Cic. Phil. 2, 4) hatte in der Renaissance weithin Verbreitung gefunden. Verfasser und Adressat treten dem Leser der gedruckten Briefe also gleichsam bildlich vor Augen. Doch auch ohne dieses Zitat zu kennen, ist leicht ersichtlich, dass Widmungsbriefe durch den scheinbaren Dialog mit dem Adressaten künstlich eine Art Unmittelbarkeit schaffen, in der der Verfasser scheinbar mit dem Empfänger kommuniziert, über diesen aber vor allem zum Leser spricht. Zwischen Schreiber und Leser tritt sozusagen 3.2 Paratexte als Zugangswege zu den Werken des Camerarius 33 67 Vgl. Toepfer 2007, 85. 68 Vgl. Camerarius 1541, 188: „Est autem cum omnis sermo animi index, tum vero epistolae scriptura quasi tabulam proponit, in qua depictum cuiusque ingenium omnibus colo‐ ribus, ut dicitur, suis conspiciatur. Cumque animadverti natura de quocumque sermone facile posse videatur, tum hoc de nullo ita certo itaque liquido perspicitur atque de epistolae elocutione.“ 69 Harth 1983, 92. 70 Vgl. Enenkel 2015, 46. der Dedikationsempfänger. 67 Es ist leicht ersichtlich, dass diese Unmittelbarkeit einerseits zur (Selbst-)Stilisierung genutzt werden konnte und andererseits beim Autor ein größeres Maß an Vorsicht beim Sprechen über sich voraussetzte. Für Camerarius gilt dies in besonderem Maße, da er wie Erasmus davon ausging, dass die Sprache das ingenium des Schreibers verrät und dies umso deutlicher bei Briefen der Fall ist. 68 Das Bemühen um einen gemäßigten und korrekten Stil ist für Camerarius also vollkommen unabdingbar und bewirkte an sich schon eine gewisse Selbstinszenierung als Humanist. Der Eindruck der Unmittelbarkeit wird dadurch noch verstärkt, dass Wid‐ mungsbriefe immer auf eine konkrete Situation und einen Anlass bezogen sind. Mit ihnen verfügt der Verfasser über ein Medium, mit dessen Hilfe er gleichsam praxisbezogen demonstrieren kann, wie er antikes Wissen und Eloquenz ver‐ bindet und anwendet. Widmungsbriefe erfüllen damit eine Funktion, die Helene Harth bereits als typische Eigenschaften italienischer Renaissancebriefe des 15.-Jahrhunderts beschrieben hat: Die Forschung hat immer wieder darauf hingewiesen, daß die Stärke der humanistischen Bewegung im Italien des 15. Jahrhunderts weniger in der Schaffung einer eigenständigen Philosophie oder Wissenschaftssystematik zu suchen ist als in der Reinterpretation der Traditionen der Dichtung und der praktischen Philosophie sowie in einem neuen Verhältnis zur Sprache. Dem humanistischen Ideal einer Verbindung von Wissen und Eloquenz in lebenspraktischer Absicht mußte daher der Brief als literarische Form in besonderer Weise entsprechen. Bietet doch gerade er durch seinen Bezug auf einen konkreten Adressaten und einen bestimmten Anlaß des Schreibens die Möglichkeit, Traditionswissen in sprachlich wirkungsvoller Form auf individuelle Fälle anzuwenden.  69 Es lässt sich festhalten, dass der Widmungsbrief ein Medium darstellt, das als eine Art Kunstwerk begriffen werden muss und auch daher eine gewisse Selbststilisierung als Humanist geradezu voraussetzt - Enenkel schreibt, man könne ein gesteigertes Legitimationsbedürfnis feststellen -, 70 und zugleich in einzigartiger Weise dazu geeignet war, vielfältige weitere Ziele zu erreichen. 34 3 Methodische Überlegungen 71 Vgl. Knape 2000, 754 (der sich allerdings entschieden dagegen ausspricht) und Vermeer 2000, 136 und 139. 72 Vgl. Enenkel 2015, 25-31 und Toepfer 2007, 95. 73 Vgl. Toepfer 2007, 95 und (ähnlich) Knape 2000, 754-757. Es kommt hinzu, dass Topoi wie selbstverständlich zur Lebenswelt und Gedankenwelt des 16. Jahrhunderts gehörten. Es wäre ahistorisch, künstlich zwischen Individualität und dem Gebrauch von Topoi zu trennen ( Vgl. Toepfer 2007, 95). 74 Vgl. Knape 2000, 752-755. 75 Vgl. Knape 2000, 748. Doch wie steht es um die Grenzen und Schwierigkeiten dieser Gattung? In der Tat sind Widmungsbriefe in der Regel von zahlreichen topischen For‐ mulierungen durchzogen, die auf den modernen Leser stereotyp und starr wirken können. Diese Konventionen haben die Frage aufgeworfen, inwieweit überhaupt Kreativität, Freiheit und Individualität bei der Abfassung einer Dedikationsepistel möglich ist. 71 Tatsächlich scheinen Topoi recht frei gestaltet werden zu können. 72 Das kreative Potential eines Autors zeigt sich, so Toepfer, am souveränen Umgang mit den überkommenen sprachlichen Konventionen. 73 Dies scheint vor dem Hintergrund der oben gemachten Beobachtungen durchaus plausibel: Eloquenz und Traditionswissen werden in praktischer Weise anhand eines konkreten Anlasses demonstriert und dazu gehört eben auch der rechte Gebrauch der Topoi. Durch sie präsentiert sich der Verfasser als Teil der humanistischen Welt. Wären die Gattungskonventionen als allzu starr empfunden worden, hätten die Widmungsbriefe sicherlich nicht diese Bedeutung und Verbreitung erlangt. Diese Ausführungen bedürfen der Präzisierung: Gerade weil Topoi Allge‐ meinplätze sind, also durch die Gesellschaft legitimierte Ansichten, Verhaltens‐ weisen und Normen widerspiegeln, sind sie in besonderer Weise dazu geeignet, als rhetorische Mittel für das Erreichen verschiedener Zwecke zu dienen. 74 Zugleich verdeutlicht ein Verfasser durch ihren Gebrauch anschaulich, dass er sich zu den herrschenden Normen und Erwartungen bekennt - also in unserem Fall etwa zu denen des Humanismus. Schließlich können Topoi noch als Hilfsmittel bei der Textkonstitution einer Dedikationsepistel dienen, gleichsam in der Funktion von Bausteinen. 75 Analoge Beobachtungen machte Sabine Schlegelmilch in einem Aufsatz über frühneuzeitliche Bewerbungsschreiben für die Stellen von Stadtärzten, in dem sie die These aufstellt, dass Bewerber, indem sie die Regeln und Konventionen bei der Abfassung solcher Schreiben beachteten, demonstrierten, dass sie über für die Stelle eines Stadtarztes geeig‐ 3.2 Paratexte als Zugangswege zu den Werken des Camerarius 35 76 Vgl. Schlegelmilch 2019. In diesem Aufsatz wird auch deutlich, inwiefern Kreativität möglich war, wenn man zugleich auf Konventionen achtete. 77 Vgl. Jancke 2002, 10-14, das Zitat befindet sich auf 14. 78 Vgl. Amelang 1998, 123. 79 Vgl. Jancke 2002, 13. 80 Vgl. Daston / Sibum 2003, 1-2. nete Fähigkeiten verfügten, denn i. d. R. mussten Stadtärzte oft viel Zeit auf das Kopieren und das Erstellen von Dokumenten verwenden. 76 Viele Topoi in Widmungsbriefen porträtieren den Verfasser in seinem Umfeld. So scheint es etwa geradezu unabdingbar, dass der Schreiber behauptet, seine Freunde hätten ihn zur Veröffentlichung des Werkes gedrängt. Ein weiterer häufiger Topos ist die Selbstdarstellung des Autors im Kreis seiner Freunde, wie er mit ihnen über naturkundliche oder philosophische Themen spricht. Aber auch die Wahl des Adressaten und die ihm gegenüber geäußerte Bitte, er möge das Werk gutheißen, dient der Selbstporträtierung im eigenen Umfeld. Diese und viele andere Eigenheiten von Widmungsbriefen lassen sich m. E. besser verstehen, wenn man bedenkt, dass die Frühe Neuzeit über ein anderes Ver‐ ständnis von Individualität verfügte, das sich von unseren durch die Aufklärung geprägten Vorstellungen wesentlich unterscheidet: Man definierte sich selbst über Andere. Gabriele Jancke formulierte diese Beobachtung als methodischen Ansatz in ihrem Buch „Autobiographie als soziale Praxis“. Sie weist darauf hin, dass man sich in der Frühen Neuzeit nicht als von der Gesellschaft abgegrenztes Individuum begriff. Zur Ausformung der eigenen Identität bedurfte es keiner unabhängigen Handlungen, Denkweisen, Gefühle oder gesellschaftlichen Posi‐ tionen. Vielmehr, so Jancke, „werden frühneuzeitliche Menschen als Individuum erst dann fassbar, wenn sie im Gegenüber zum Anderen und in ihren sozialen Beziehungen wahrgenommen werden.“ 77 Zu ähnlichen Beobachtungen kommt Amelang, der biographische Texte frühneuzeitlicher Handwerker analysiert. 78 Dabei werden dem Individuum, so Jahncke, innerhalb der Gesellschaft gewisse soziale Rollen unausgesprochen zugeschrieben. 79 Für die Analyse von Widmungsbriefen muss man sich bewusstmachen, dass Humanisten des 16. Jahrhunderts in ihren Werken als persona vor den Leser treten. Dieser Begriff wird für diese Arbeit gewinnbringend von Daston und Sibum erläutert. Sie weisen auf die Möglichkeit hin, den lateinischen Begriff persona vor dem Hintergrund der christlichen Tradition zu betrachten, und darunter sowohl das gleichsam nackte Individuum zu verstehen, wie auch seine ‚Maske‘, also die Rolle dies es in der Gesellschaft spielt. Dieses Konzept begreift den Menschen zugleich als individuell und als Teil seiner (sozialen) Umwelt. 80 Man darf dabei ‚Maske‘ (oder ‚Rolle‘) aber keineswegs im heutigen 36 3 Methodische Überlegungen 81 Vgl. Daston / Sibum 2003, 3-4. 82 Michael Stolberg, der 2015 den gelehrten Habitus frühneuzeitlicher Ärzte untersuchte, kam zu ähnlichen Schlüssen, nämlich, dass Selbstinszenierung mit Selbstbildung verbunden ist. Selbstbildung werde vor allem über Praktiken vermittelt, d. h. man inszeniert sich über Praktiken, die zugleich das eigene Selbstverständnis prägen. Stolberg spricht von dem gelehrten Habitus als „Ergebnis und Spiegel einer jahrelangen Sozialisation und der damit verbundenen Einübung einschlägiger gelehrter Praktiken“, wobei für den Arzt auch die jahrelange Schulung der lateinischen Sprache eine wesentliche Rolle spielte ( vgl. Stolberg 2015, 39-40). 83 Zur imitatio vgl. Gerl 1978, sowie die Kapitel B.5 und C.3 dieser Arbeit. Sinne verstehen, als etwas gekünsteltes Fremdes, das man nach Belieben tragen, wechseln oder wieder ablegen kann, um sein eigenes Selbst zu verschleiern. Vielmehr muss man das Anlegen derselben als transformativen Akt verstehen, der dazu dient, das eigene Selbst überhaupt erst auszubilden, und nicht dazu, es zu unterdrücken. Durch die Übernahme einer persona kann man Geist, Körper und Seele auf bestimmte mit der Übernahme der Rolle verbundene Weisen schulen. 81 Die soziale Rolle und Position mit all ihren von der Gesellschaft vorgegebenen Verhaltensweisen eines frühneuzeitlichen Menschen wurde also als Teil seiner Identität empfunden, über sein Verhalten formte er sein Wesen. 82 Im Folgenden werden die Begriffe ‚Rolle‘ und persona als Synonyme im oben erläuterten Sinn verwendet. Wie wir bereits gesehen haben, sind die Eigenschaften eines Widmungs‐ briefes in idealer Weise dafür geeignet, die eigene persona (vornehmlich als Humanist) zu inszenieren. Man kann so leicht verstehen, warum in einer Ge‐ sellschaft, in der sich Individualität in sozialen Netzwerken und der Übernahme von Rollen zeigt, gerade Topoi eine so wichtige Rolle spielen, da sie Ausdruck allgemeingültiger Normen sind. Aber ist eine Übertragung der Erläuterungen von Daston und Sibum auf Camerarius überhaupt gerechtfertigt? Das ist sehr wahrscheinlich, denn tat‐ sächlich lassen sie sich sogar mit seinen Aussagen in Zusammenhang bringen. In seinen Tuskulanenkommentar des Jahres 1538 hat Camerarius einen langen Ex‐ kurs über die literarische Imitation von Cicero eingefügt, 83 äußert sich aber auch (insbesondere am Anfang des Exkurses) ganz allgemein über die Bedeutung von Nachahmung für das menschliche Leben. Für jede Lebensweise, ja sogar für jede Handlung, Sitte, jede ars, jedes Wort und jede Handlung gibt es ein Vorbild (d. h. eine konkrete Person), an dem man sich notwendigerweise orientiert und nach dem man sich selbst formt. Auch Camerarius geht dabei davon aus, dass man zum Eigenen durch Fremdes kommt und streitet ab, dass dieses Verfahren 3.2 Paratexte als Zugangswege zu den Werken des Camerarius 37 84 Vgl. Camerarius 1538, 20 f. und Gerl 1978, 189-192. Zudem rezipiert Camerarius in seinen 1554 erschienenen Versus senarii de analogiis das aristotelische Freundschafts‐ modell, das ebenfalls davon ausgeht, dass der Mensch durch andere Menschen (hier seine Freunde) seinen eigenen Charakter entwickelt (vgl. Kapitel C.2.2.2). 85 Vgl. Camerarius 1538, 82 f. Camerarius spricht in diesem Zusammenhang - es geht um die literarische Nachahmung von Cicero, an der man nicht nur die lateinische Sprache lerne, sondern klug zu reden (prudenter loqui). Es ist sehr wahrscheinlich, dass mit prudenter auf die aristotelische φρόνησις (‚Klugheit‘) angespielt wird, da Camerarius auch andernorts das Wort prudentia in diesem Sinn verwendet. Die aristotelische Klugheit ist handlungsorientiert, d. h. praktisch und beschäftigt sich sich mit dem Kontingenten, d. h. mit Dingen, die so oder so sein können. Prudenter loqui ist also ein flexibles, den Gegebenheiten entsprechendes Reden. Vgl. dazu Kapitel C.2.2.2 dieser Arbeit sowie Camerarius 1554, Bl. A2v (= Kapitel E.5.1, Abschnitt 1) sowie Bl. B4v (= Kapitel E.5.3, Abschnitt 5). etwas nicht Authentisches hat. 84 Die Nachahmung erfolgt dabei nicht blindlings, sondern angepasst an die jeweiligen Gegebenheiten. 85 Die imitatio ist dabei so umfassend gedacht wie das persona-Konzept Dastons und Sibums und hat dasselbe Ziel, nämlich durch die Übernahme von Rollen zu seinem Selbst zu finden. Der Vergleich dieser beiden Modelle ist auch deswegen naheliegend, weil die ganze humanistische Gesellschaft und insbesondere die Rolle des Humanisten ja entscheidend durch die Imitation (vor allem antiker) Vorbilder geprägt war. Es ist zudem plausibel anzunehmen, dass in einer ständischen Gesellschaft, in der die persönlichen Beziehungen so wichtig für die Definition des Selbst waren, auch die Rollenbilder selbst relational, d. h. in Bezug auf ein konkretes Vorbild gedacht wurden, an dem man sich orientierte und das man in der Praxis nachahmte. Will man die bisherigen Ergebnisse zusammenfassen, kann man als Arbeits‐ hypothese Folgendes festhalten: Ein Widmungsbrief ist ein polyfunktionales Medium, mit dem sich der Verfasser in einer konkreten Situation (i. d. R. über sein Umfeld) in seiner sozialen Rolle inszeniert und anwendungsbezogen demonstriert, wie er antikes Wissen und Eloquenz anwendet. 38 3 Methodische Überlegungen 86 Der Begriff wurde gewählt, weil sich Camerarius im De Theriacis et Mithridateis Commentariolus selbst so bezeichnet (vgl. Camerarius 1533, Bl. a5v; = Kapitel E.2.2, Abschnitt 1). 4 Fragestellung Ausgehend von den grundsätzlichen Überlegungen, die in den vorigen Kapiteln zum Forschungsstand, zum Corpus und zur Methodik gemacht wuren, lassen sich die Fragen, die an die medizinischen Schriften des Camerarius gestellt werden sollen, in zwei Gebiete unterteilen: Solche zu den naturphilosophischen Grundlagen und solche zum Verhältnis zwischen Humanismus und Medizin. Der erste Fragenkomplex betrifft das Verhältnis des Camerarius zur Natur‐ philosophie. Wie erklärte er sich die Natur? Welche philosophischen und naturphilosophischen Konzepte spielten für ihn eine Rolle? Wie, glaubte er, kann man valide Erkenntnisse über die Natur gewinnen? Welche Rolle spielte der Aristotelismus für ihn? Verband er ihn mit weiteren philosophischen Konzepten? Spielten seine religiösen Vorstellungen, i.e. der Protestantismus, eine Rolle bei der Übernahme und Adaptation antiker Konzepte? Diese Fragen werden in Kapitel III und anhand der Methodik für philosophische Schriften erörtert, d. h. ausgehend von terminologischen Untersuchungen. Der zweite Fragenkomplex betrifft das Spannungsfeld Humanismus-Medizin. Als Humanist war Camerarius um die Wiederherstellung und Bewahrung antiker Texte bemüht. Was schreibt er zur Rekonstruktion antiker Texte und antiken medizinischen Wissens in seinen Widmungsbriefen? Wie präsentierte er seine Übersetzungen und Editionen? Wie beschreibt er das Verhältnis zwi‐ schen Humanismus und Medizin? Wie inszeniert er in diesem Zusammenhang seine persona? Was schreibt er über seine medizinischen Ambitionen? Diese Fragen sollen in Kapitel II erörtert werden. Dabei ist es nötig, die Eigenheiten von Widmungsbriefen zu berücksichtigen. Will man all diese Fragen nun bündeln, lassen sie sich im Wesentlichen auf eine einzige reduzieren: Was bezweckte der Humanist und studiosus rerum naturalium  86 mit der Publikation seiner medizinischen Schriften? B. Die medizinischen Schriften der 1530er Jahre 87 Vgl. Schöner 1529, Bl. A2r. 1 Die Astrologica (1532) „… ist ein Arzt on die Astrologey gleich wie ein blinder on ein fuerer.“  87 Diese Worte schrieb Johann Schöner (1477-1547) in einem 1529 veröffentlichten Arzneibuch für Laien. Sie verdeutlichen nicht nur die immense Bedeutung der Astrologie für die medizinische Diagnostik in der Frühen Neuzeit, sondern führen auch direkt zum ersten medizinischen Werk des Camerarius über, nämlich den Astrologica. Sie stammen aus dem Jahr 1532 und sind genau an dieser Grenze zwischen Astrologie und Medizin entstanden. Genauer gesagt, handelt es sich um die Edition griechischer Schriften zu astrologischen Themen (insbesondere zur Horoskopie), die er mit eigenen Übersetzungen und zwei Widmungsbriefen versah. Es ist das erste naturkundliche Werk, das Camerarius publizierte. Es stellt sich die Frage, was der Humanist und medizinische Laie Camerarius mit der Veröffentlichung dieses Drucks bezweckte. Mit dieser zentralen Frage sind weitere, untergeordnete Fragen verbunden: Warum wählte er gerade diese Texte zur Veröffentlichung aus? Wie stellt er sich selbst und die Astrologie dem Leser dar? Wie entstand das Werk? Wie reagiert Camerarius auf zeitgenössische Diskurse? 1.1 Entstehungsbedingungen und Werkgenese Bevor diese Fragen anhand des Textes beantwortet werden können, sollen zunächst wichtige Diskurse und andere relevante Bedingungen, Entwicklungen und Ereignisse beschrieben werden, die die Voraussetzungen für die Entstehung der Astrologica bilden. Dazu gehören die enge Verflechtung von Medizin und Astrologie im 16. Jahrhundert sowie die zeitgenössischen Diskurse um die Wissenschaftlichkeit der Astrologie und die Rolle des Griechischen. Zu diesen eher allgemeinen Entstehungsbedingungen kommt eine sehr spezifische hinzu, nämlich der Zugang des Camerarius zu Exzerpten aus dem Nachlass von Johannes Regiomontan (1436-1476). 88 Vgl. Schlegelmilch 2021b, 250. 89 Allgemein zur Iatromathematik vgl. Müller-Jahncke 2007, Sp. 753-757. 90 Vgl. hierzu Schlegelmilch 2021a und Schlegelmilch 2021b. Ausführlicher zur Diätetik in Kapitel B.3. 1.1.1 Medizin und Astrologie im 16.-Jahrhundert Nun hat die oben zitierte Aussage Schöners bereits angedeutet, dass Medizin und Astrologie im 16. Jahrhundert eng miteinander verbunden waren. Aber wie muss man sich das genau vorstellen? Beide Lehren gingen von denselben Prinzipien aus, die der Lehre der Hu‐ moralpathologie zugrunde lagen. Man glaubte nämlich, dass im menschlichen Körper vier Säfte (Blut, schwarze Galle, gelbe Galle und Schleim) wirken, die jeweils bestimmte Qualitäten (trocken/ feucht; warm/ kalt) aufweisen und durch ihr Mischungsverhältnis das Temperament eines jeden Menschen be‐ stimmen (temperare = mischen, in ein Verhältnis setzen). So galt z. B. die gelbe Galle als trocken und warm, und machte, wenn sie bei einem Menschen vorherrschte, diesen zum Choleriker. Beim Phlegmatiker hingegen war z. B. ein Übermaß an Schleim vorhanden, der als kalt und feucht galt. Außerdem glaubte man, die Natur sei analog zum Menschen strukturiert und wirke daher ständig auf sein Temperament ein. So entsprachen den vier Jahreszeiten die vier Säfte des menschlichen Körpers. Aber auch die Planeten wurden nach der Humoralpathologie eingeteilt 88 (Saturn ist etwa kalt und trocken und entspricht der schwarzen Galle / dem Temperament des Melancholikers). Die Astrologie versuchte, diese Wirkungsweisen der Natur zu bestimmen (z. B. durch Geburtshoroskope) und war auf diese Weise mit der Medizin verbunden. Die Anwendung solcher astrologischer Praktiken in der Medizin wird auch als Iatromathematik oder Iatroastrologie bezeichnet. 89 Konkret gab es mehrere Berührungspunkte zwischen den beiden Disziplinen. So nutzten Ärzte z. B. astrologische Kalender (Ephemeriden), um günstige Zeitpunkte für Aderlässe, Badekuren oder bestimmte diätetische Maßnahmen auszuwählen. 90 Von beson‐ derer Bedeutung war auch die Konstellation der Gestirne zum Zeitpunkt der Geburt, da man glaubte, dass in diesem Moment die Seele in den Körper eintritt und das Temperament eines Menschen entscheidend durch die Stellung der Sterne geprägt wird. Den Geburtshoroskopen (auch Nativitäten genannt) kam daher eine große Bedeutung zu. Nachdem man die Konstellation der Gestirne zum Zeitpunkt der Geburt bestimmt und ihren Einfluss analysiert hatte, war es relativ einfach, die vermeintliche Zukunft vorherzusagen. Man brauchte nur die Position der Himmelskörper zu einem beliebigen Zeitpunkt in der Zukunft zu 1.1 Entstehungsbedingungen und Werkgenese 43 91 Zur Rezeption von Picos Disputationes adversus astrologiam divinatricem vgl. Akopyan 2020, 127-215. Akopyan zeigt, wie Picos Argumente etwa von Girolama Savonarola (1452-1498), Gianfrancesco Pico (1469-1533) und Maxim dem Griechen (um 1470-1556) aufgegriffen wurden, und wie Lucio Bellanti (verst. 1499), Giovanni Pontano (1428/ 9- 1503) und Francesco Zorzi (1466-1540) Schriften gegen die Disputationes verfassten. 92 Allgemein zu den Disputationes und zur zeitgenössischen Debatte um die Astrologie vgl. Westman 2016, S. 28-35, Westman 2011, 82-93 und Akopyan 2020 (mit weiterführender Literatur), insbesondere 31-123. 93 Vgl. Pico, Disputationes adversus astrologiam divinatricem 1 [= Pico 1557, 414-428, hier: 414-416]. 94 Vgl. Pico, Disputationes adversus astrologiam divinatricem 1 [= Pico 1557, 421]. 95 Vgl. Akopyan 2020, 72-75. 96 Vgl. Westmann 2016, 29 und Akopyan 2020, 62-64 berechnen und mit der Position bei der Geburt zu vergleichen. So konnte man ihren Einfluss auf das Temperament des Menschen vorhersagen. 1.1.2 Der Diskurs über die Wissenschaftlichkeit der Astrologie in Italien (Beispiel Pico) Trotz ihrer großen Bedeutung in der Frühen Neuzeit war die Astrologie keines‐ wegs unumstritten. In diesem Zusammenhang sind vor allem die Disputationes adversus astrologiam divinatricem des einflussreichen und anerkannten Philo‐ sophen Giovanni Pico della Mirandola (1463-1494) zu nennen. In diesem zwölf Bücher umfassenden Werk hatte Pico einen entschiedenen Angriff auf die Astrologie unternommen und den Diskurs über die Wissenschaftlichkeit der Astrologie für die kommenden Jahre wesentlich bestimmt und befeuert. In der Folgezeit verfassten auch viele andere Gelehrte Schriften für oder gegen die Astrologie, 91 aber Pico blieb der zentrale Bezugspunkt, auch für Camerarius, wie wir noch sehen werden. Picos Disputationes adversus astrologiam divinatricem erschienen erst 1496, mehr als eineinhalb Jahre nach seinem Tod (1494). 92 In seiner Schrift verfolgte er verschiedene Strategien, um die Astrologie zu diskreditieren. Im Mittelpunkt steht der Versuch, die astrologische Tradition zu dekonstruieren. Das gesamte erste Buch der Schrift soll zeigen, dass kein bedeutender Philosoph jemals Astrologe war, insbesondere nicht Platon und Aristoteles. 93 Die gesamte astrolo‐ gische Tradition beruhe auf Missverständnissen der aristotelischen Philosophie, wobei Ptolemaios noch der Beste unter den Schlechten (optimus malorum) 94 gewesen sei. Alle Astrologen nach ihm hätten ihn missverstanden und noch schlimmer gemacht. 95 Andere Strategien Picos zielten darauf ab, Widersprüche zwischen den Astrologen aufzuzeigen 96 - oder zu beweisen, dass die Astrologie 44 1 Die Astrologica (1532) 97 Vgl. Westman 2011, 85-87, Westmann 2016, 29 und Akopyan 2020, 83-87. 98 Vgl. z. B. Akopyan 2020, 64-67. 99 Vgl. Maruska 2008, 77-80 sowie den folgenden Link: https: / / www.astronomie-nuernberg.de/ index.php? category= regiomontanus&page= n achlass (25.05.2021). 100 Vgl. Gindhart 2017, 200 f., Anm. 8. 101 Vgl. Maruska 2008, 78 f. 102 Vgl. Maruska 2008, 117. 103 Vgl. Keunecke 1982, 120 und 129, sowie Maruska 2008, 78 f. und 116. 104 Vgl. die ausführliche Handschriftenbeschreibung bei Thurn 1980, 24-28 sowie Gindhart 2017, 200 f., Anm. 8. 105 Vgl. Camerarius 1532a, Bl. a1r (= S. 1 des lateinischen Teils) sowie die auf den nächsten Seiten folgende Edition und Übersetzung dieser Dedikationsepistel. auf reiner Willkür beruhe. 97 Außerdem wollte er zeigen, dass die Astrologie mit der Religion unvereinbar sei. 98 1.1.3 Camerarius’ Zugang zu und Umgang mit dem Nachlass Regiomontans Johannes Regiomontan (1436-1476), einer der bedeutendsten Astronomen und Astrologen seiner Zeit, hinterließ in der Stadt Nürnberg eine umfangreiche Privatbibliothek. Sie enthielt unter anderem zahlreiche Abschriften antiker und mittelalterlicher Texte aus den Bereichen Mathematik, Astronomie und Astrologie. 99 Camerarius, der von 1526 bis 1536 in Nürnberg lebte, erhielt durch Johannes Schöner (1477-1547), mit dem er gemeinsam am Egidiengym‐ nasium unterrichtete, Zugang zu einigen handschriftlichen Exzerpten aus dem genannten Nachlass. 100 Schöner hatte nämlich einen Teil des Nachlasses von Regiomontan erworben. 101 Camerarius edierte und übersetzte diese Exzerpte dann in den Astrologica, die 1532 von Johann Petreius (um 1497-1550) gedruckt wurden, der bereits seit 1531 mit Schöner zusammenarbeitete 102 und, selbst Akademiker, den Druck astronomisch-astrologischer Werke wohl bewusst förderte, wenn nicht forcierte - eine Freiheit, die er hatte, weil er zugleich Drucker und Verleger war. 103 Die gedruckten Texte stammen aus einem handschriftlichen Band mit verschie‐ denen griechischen Werken und Exzerpten, der sich heute in der UB Erlangen befindet (Signatur: Ms 1227). 104 Dass Camerarius gerade dieses Manuskript aus dem Nachlass und nicht ein lateinisches publizierte, ist wohl seiner gräzistischen Kompetenz zuzuschreiben. Dies deutet er auch selbst im ersten der beiden Widmungsbriefe des Druckes an, wo er schreibt, dass es sich um das einzige griechische Manuskript handele, das fast vollständig von der Hand Regiomon‐ tans geschrieben sei. 105 1.1 Entstehungsbedingungen und Werkgenese 45 106 Zu modernen Editionen dieser Texte vgl. Thurn 1980, 25 f. Die Handschrift der UB Erlangen lässt sich in drei Teile gliedern: 1. Bl. 1r-102v: Werke des Aristoteles sowie der Simplikioskommentar zum ersten Buch der Physik des Aristoteles 2. Bl. 103-208r: Astrologische Werke und Exzerpte 3. Bl. 209r-283v: Verschiedene Werke Platons sowie die Werke und Tage Hesiods Camerarius publizierte in seinen Astrologica nur Texte aus dem zweiten Teil und auch hier nur eine Auswahl. Die Kriterien können der folgenden Tabelle ent‐ nommen werden, in der die einzelnen Werke des zweiten Teils der Handschrift aufgeführt sind. Die fett gedruckten Titel wurden von Camerarius in den Druck übernommen (vgl. Tab. 1). Nr. Bl. Titel 106 1 103r-146v Proklos Diadochos: Hypotyposis 2 147r-148v Διάγνωσις τῆς ἡλιακῆς σφαίρας τῶν ιβ’ εἰδώλων… 3 148v-159r Ἐκ τῶν Ἡφαιστίωνος τοῦ Θηβαίου Ἀποτελεσματικῶν καὶ ἑτέρων παλαιῶν περὶ τῆς τῶν μορίων ὀνομασίας καὶ δυνάμεως 4 159r-175r Ἑρμοῦ τοῦ τρισμεγίστου περὶ τῆς τῶν ιβ’ τόπων ὀνομασίας καὶ δυνάμεως 5 175v Ἑρμοῦ τοῦ τρισμεγίστου περὶ βοτανῶν τῶν ιβ’ ζῳδίων 6 175v-177v Περὶ βοτανῶν τῶν ἑπτὰ πλανήτων 7 177v-183r Ἑρμοῦ τοῦ τρισμεγίστου Ἰατρομαθηματικά, πρὸς Ἄμωνα Αἰγύπτιον 8 183r-189r Ὅσα οἱ πλανώμενοι ἀστέρες ἐν ἑκάστῳ τῶν ζῳδίων σημαίνοισιν 9 189r-192r Ἡ σελήνη τί δηλοῖ ἐφ’ ἑνὶ ἑκάστῳ ζῳδίῳ τὴν πάροδον ποιουμένη 10 192v-196v Προγνωστικὸν ἀπὸ τῶν ἐν τῇ παλάμῃ γραμμῶν 11 196v Ἀλοιφὴ σιδήρου, δι’ ἧς ἐλατόμουν οἱ παλαιοί τὰς μαρμάρους 12 197r-208r Ἀστραμψύχου Αἰγυπτίου πρὸς τὸν βασιλέα Πτολεμαῖον περὶ προρρήσεως διαφόρων ζητημάτων… Tab. 1: Astrologische Werke und Exzerpte 46 1 Die Astrologica (1532) 107 Bei diesem Text mag auch die Befürchtung eine Rolle gespielt haben, sich durch eine Veröffentlichung von Texten über diese besonders umstrittene Form der Divination Spott zuzuziehen. Dies ist deswegen nicht unwahrscheinlich, weil Camerarius in vergleichbaren Fällen ähnlich agierte. In den Briefausgaben und in der Melanchthonvita hatte er Passagen, in denen es um Melanchthons Glauben an die Chiromantie ging, be‐ wusst abgeschwächt und als bloß scherzhafte Beschäftigung dargestellt (Vgl. Dall’Asta 2017, 314-316). 108 Etwaige Pläne, die Hypotyposis später gesondert zu publizieren, sind nicht belegt. Sie hätten sich ohnehin spätestens 1540 erübrigt, als Simon Grynäus (1493-1541) eine Edition dieser Schrift besorgte (vgl. Grynäus 1540). Eine von Camerarius in Angriff genommene unvollendete Übersetzung und Kommentierung derselben Schrift geht nicht auf Eigeninitiative zurück, sondern wurde von Melanchthon in einem Schreiben an Camerarius, datiert auf den 10.10.[1552] angeregt (Vgl. MBW 6597 sowie den folgenden Datenbankeintrag: Conversio & explicatio Hypothesium Procli, bearbeitet von Marion Gindhart (08.12.2019). In: Opera Camerarii Online, http: / / wiki.camerarius .de/ Camerarius,_Conversio_et_explicatio_Hypothesium_Procli,_(unvollendet) (Stand: 29.08.2022). Ob sich die genannte Handschrift zu dieser Zeit überhaupt noch im Besitz des Camerarius befand, ist unklar (Vgl. dazu Thurn 1980, 27). Betrachten wir zunächst die Gemeinsamkeiten der von Camerarius ausge‐ wählten Schriften. Mit Ausnahme der Iatromathematika (Nr. 7), auf die noch einzugehen sein wird, handelt es sich jeweils um kurze Schriften mit ausschließ‐ lich astrologischem Inhalt, die einen Bezug zum Tierkreis aufweisen und somit für die Erstellung von Horoskopen nützlich sind. Es handelt sich, und dies ist ein wichtiges Zwischenfazit, um kurze prägnante Texte, die auch von Anfängern gut verstanden werden konnten. Vor diesem Hintergrund ist es leicht nachvollziehbar, dass Camerarius z. B. die Schrift über Vorhersagen durch Handlesen (Nr. 10) wegen ihres unpassenden Inhaltes ausschloss. 107 Gleiches gilt für die beiden Texte über die Zuordnung bestimmter Pflanzen zu den zwölf Zodiakalzeichen bzw. den sieben Planeten (Nr. 5. und 6) sowie für den Text über das Öl zum Behauen von Marmor (Nr. 11), oder die Abhandlung über die sortes Astrampsychi, eine Art Zahlenorakel mit bestimmten vorgegebenen Fragen, aus denen man auswählen konnte (Nr. 12). Die Hypotyposis (Nr. 1) des Proklos ist eine rein astronomische Schrift, in der es um die Umlaufbahnen von Sonne, Mond und Planeten und deren Berechnung geht. 108 Die Ausführungen über die Namen und Kräfte der Zodiakalzeichen (Nr. 4) fallen insofern aus dem Rahmen, als sie thematisch gut zu den anderen in den Druck aufgenommenen Schriften gepasst hätten. Sie behandeln jedoch dasselbe Thema wie Nr. 3. Offenbar wollte Camerarius Doppelungen vermeiden und wählte das Exzerpt, welches ihm für den Leser geeigneter erschien. Zusam‐ menfassend lässt sich sagen, dass die ausgewählten Texte dem Leser einen kurzen Überblick über grundlegende Aspekte der Astrologie geben sollten. 1.1 Entstehungsbedingungen und Werkgenese 47 109 Zu Hermes Trismegistos und den ihm zugeschriebenen Schriften vgl. z. B. Stuckrad 2003, 75-77. 110 Vgl. Camerarius 1532a, Bl. *IIIr (= Kapitel E.1.1, Abschnitt 7): „Πρὸς δὲ τέλει, ὡς ἰδεῖν ἔξεστι, οἷον ἐν προσθήκης μέρει ἐκτυπωθῆναι ἐποιήσαμεν ξυγγραμμάτιον τι τῶν ἰατρομαθηματικῶν, οὐ μόνον ὅτι ὠφέλιμον καὶ χαριὲν ἔδοξεν, ἀλλ‘ ὅτι καὶ ὑπὸ Πτολεμαίου μνήμη περὶ τοιαύτης τινὸς τέχνης παρ’ Αἰγυπτίοις ἐποιήθη οὕτω μὲν, ὡς ἐξέθημεν κατὰ λέξιν·“ 111 Vgl. Kapitel B.1.3.1 dieser Arbeit. Es stellt sich natürlich die Frage, warum Camerarius die hermetischen Iatroma‐ thematika (Nr. 7) 109 aufgenommen hat. Sie behandeln - ausgehend von der Annahme, dass der Mikrokosmos des menschlichen Körpers dem Makrokosmos des Universums entspricht - den Einfluss der Sterne und Planeten bei der Geburt des Menschen sowie bei der Entstehung von Krankheiten. Unter Berücksichti‐ gung dieser Faktoren werden dann Behandlungsvorschläge für verschiedene Krankheiten gegeben, wie z. B. die Gabe von wärmenden oder kühlenden Mit‐ teln oder das Aderlassen des Patienten. Auch wenn in diesem Text Horoskope zu diagnostischen Zwecken eine Rolle spielen, ist der Fokus im Vergleich zu den anderen Schriften, die Camerarius für den Druck auswählte, ein anderer, da es in den anderen Texten mehr um die Aneignung einfachen astrologischen Wissens geht (wobei zum Teil auch diätetische Ratschläge gegeben werden), während sich die Iatromathematika eher an ein gelehrtes Fachpublikum zu richten scheinen. Dies scheint auch Camerarius so empfunden zu haben, da er die Iatromathematika in einem Widmungsbrief gleichsam als Addendum bezeichnete und ihren Druck mit der Behauptung rechtfertigte, sie könnten nützlich sein, und Ptolemaios habe von einer solchen Praktik bei den Ägyptern geschrieben. 110 Was es mit dieser Aussage auf sich hat und wie sie zu erklären ist, werden wir bei der Betrachtung der gedruckten Texte sehen. 111 1.2 Widmung und Aufbau des Drucks Die in zwei Teile gegliederten Astrologica sind zwei verschiedenen Dedikations‐ empfängern gewidmet. Dies entspricht dem Aufbau des Druckes, der sich in eine griechische und eine lateinische Hälfte unterteilen lässt. Der erste Abschnitt enthält die griechischen Originaltexte und ist dem Wittenberger Professor Jakob Milich (1501-1559) gewidmet. Der zweite lateinische Teil, der aus den zugehörigen Übersetzungen besteht, ist dem Arzt und Astrologen Andreas Perlach (1490-1551) dediziert. 48 1 Die Astrologica (1532) 112 Vgl. MBW 1210 (Melanchthon an Camerarius, 13.01.[1532]; MBW T5, 239-241, hier 240 f.): „De Milichio valde te oro, ut aliquid tuorum librorum dedices. Unus est, qui cum συμφιλοσοφεῖν consuevi, et vir constans est. Nec rei familiaris causa abducitur a philosophia, ut plerique alii solent.“ 113 Vgl. Hofheinz 2001, 310. 114 Vgl. Camerarius 1532a, 1 / Bl. a1r (= Kapitel E.1.2). 115 Perlach wirkte auch als Hofastrologe von Erzherzog Ferdinand. Da nicht eruiert werden konnte, wann er diese Stelle antrat, ist unklar, ob Camerarius weitere Hoffnungen mit seinem Widmungsbrief verband. Dagegen spricht allerdings die Tatsache, dass Perlach in der Überschrift des Briefes schlichtweg als praestans astrologus angesprochen wird. Es gibt also keine Hinweise auf eine Anstellung bei Hofe. Es ist kaum denkbar, dass Camerarius bei einem Widmungsbrief diesen Titel schlichtweg weggelassen hätte (vgl. Camerarius 1532a, 1 / Bl. a1r (= Kapitel E.1.2). Der Grund für die Widmung geht auf eine briefliche Bitte Melanchthons zurück, Milich ein Buch zu dedizieren. 112 Es gibt aber noch einen weiteren Grund, warum Camerarius ihm gerade diese Schrift widmete: Milich war Mediziner und Professor für niedere Mathematik in Wittenberg. 113 Indem Camerarius einen Fachmann zum Adressaten machte, verlieh er dem Druck einen profes‐ sionellen Anstrich. Ähnliches gilt für den Astrologen Perlach: Auch mit ihm war Camerarius durch einen gemeinsamen Bekannten verbunden, nämlich Johann Schöner. Camerarius nahm die Freundschaft zu seinem Nürnberger Kollegen zum Anlass, sich im Widmungsbrief mit einer Freundschaftsanfrage an Perlach zu wenden. Natürlich verfügte er als praestans astrologus wie Camerarius ihn in der Widmung nannte, 114 über umfangreiche astronomisch-astrologische Kennt‐ nisse. 115 Camerarius konnte also in jedem Fall davon ausgehen, dass die beiden Widmungsadressaten auf die zeitgenössischen Leser wie Aushängeschilder für die hohe Qualität der Astrologica wirkten. Aber nicht nur die Auswahl der Dedikationsempfänger, sondern auch der Aufbau ist bereits sehr aufschlussreich, wie gleich gezeigt werden wird. Die Astrologica gliedern sich in zwei Hauptteile: Einen griechischen Teil mit der Edition der Texte, eingeleitet durch eine griechische Dedikationsepistel, und einen lateinischen Teil mit den Übersetzungen, ebenfalls mit einem eigenen lateinischen Widmungsbrief. Die folgende Tabelle (vgl. Tab. 2) veranschaulicht den parallelen Aufbau. Auffallend ist, dass die Iatromathematika nicht übersetzt wurden. Stattdessen findet sich im lateinischen Teil eine Übersetzung des ersten Abschnitts des ersten Buches der Anthologie des Vettius Valens. Dies widerspricht sowohl dem Inhaltsverzeichnis, das eine lateinische Übersetzung der Iatromathematika ankündigt, als auch der Begründung in der Dedikation an 1.2 Widmung und Aufbau des Drucks 49 116 Vgl. Camerarius 1532a, Bl. IIIr (= Kapitel E.1.1, Abschnitt 7): „Πρὸς δὲ τέλει, ὡς ἰδεῖν ἔξεστι, οἷον ἐν προσθήκης μέρει ἐκτυπωθῆναι ἐποιήσαμεν ξυγγραμμάτιόν τι τῶν ἰατρομαθηματικῶν, οὐ μόνον ὅτι ὠφέλιμον καὶ χαριὲν ἔδοξεν […].“ Milich, die Schrift könne nützlich sein 116 (was für viele zeitgenössische Gelehrte nur dann der Fall sein konnte, wenn das Werk, wie geplant, auch übersetzt worden wäre). Aufbauschema der Astrologica 1: Geleitepigramm und Inhaltsverzeichnis 1.1. Bl. A1r: Titelblatt mit Geleitepigramm des Helius Eobanus Hessus 1.2. Bl. A1v: Inhaltsverzeichnis 2. Edition der griechischen Texte mit zugehörigem Widmungsbrief (Bl. A2r-A6r, S.-1-46) - 3. Übersetzung der Texte mit zuge‐ hörigem Widmungsbrief (S.-1-55) 2.1. Bl.-A2r-A3r: Widmungsbrief an Jakob Milich - 3.1. Widmungsbrief an Andreas Perlach 2.2. Astrologische Tabellen mit Erläute‐ rungen - keine Entsprechung 2.3. S.-1-3: Διάγνωσις τῆς ἡλιακῆς σφαίρας τῶν ιβ‘ (est: δώδεκα) εἰδώλων, ὅπως ἐν ἑκάστῳ μηνὶ ἀκριβῶς χρὴ διαιτᾶσθαι - 3.2. S.-5-8: Ratio orbis solaris, qui cir‐ culus est ductus per duodecim simu‐ lacra caeli. Quemque victum usurpare singulis mensibus conveniat 2.4. S.-4-20: Ἐκ τῶν Ἡφαιστίωνος τοῦ Θηβαίου Ἀποτελεσματικῶν καὶ ἑτέρων παλαιῶν Περὶ τῆς τῶν δωδεκα(τη)μορίων ὀνομασίας καὶ δυνάμεως - 3.3. S.-9-28: Excerpta ex Hephaestionis Thebani Iudiciis, eque aliis veteribus scriptoribus, De duodecim caeli locorum appellationibus & effectionib(us) 2.5. S. 21-36: Ὅσα οἱ πλανώμενοι ἀστέρες ἐν ἑκάστῳ τῶν ζωδίων σημαίνοισιν, darin auf S.-31-36: Ἡ σελήνη τί δηλοῖ ἐφ‘ ἑνὶ ἑκάστῳ ζῳδίῳ τὴν πάροδον ποιουμένη - 3.4. S.-29-47: Decreta quinque erran‐ tium stellarum per signa zodiaci 2.6. S.-37-46: Ἑρμοῦ τοῦ Τρισμεγίστου Ἰατρομαθηματικά, πρὸς Ἄμωνα Αἰγύπτιον - keine Entsprechung keine Entsprechung - 3.5. S.-48-53: Vestii Valentis Antiochei ex primo libro Floridorum 4. S.-54-55: Errata Tab. 2: Aufbauschema der Astrologica 50 1 Die Astrologica (1532) 117 Text, Übersetzung und Interpretation des in humoristischem Tonfall gehaltenen Ge‐ dichtes bei Ludwig 2003a, 127-129. 118 Vgl. Camerarius 1532a, Bl. *iiiv, Überschrift von Tabelle 1: „Τῶν φώτων καὶ ε. ἀστέρων συνοικειώσεις πρὸς τὰ δωδεκατημόρια κατα Πτολεμαῖον“ (Üs: „Die Relationen der Himmelslichter [von Sonne und Mond] und der fünf Planeten zu den Tierkreiszeichen, nach Ptolemaios“), sowie auf Bl. iiiiv die Erläuterungen zu Tabelle 2, wo es heißt: „Ἵνα δὲ ταῦτα μᾶλλον φανερὰ γένηται, ἵστεον τὸν Πτολεμαῖον τὰ ἀποτελέσματα … ἐκ τῶν συνόδων καὶ πανσελήνων λαμβάνειν, ὡς εἶναι τὸ προγνώστικον ἐνταῦθα ἀσφαλέσταττον“ (Üs: „Damit das deutlicher wird, muss man wissen, dass Ptolemaios [nur] aufgrund von Konjunktionen und Vollmonden auf die Wirkungen von Konstel‐ lationen geschlossen hat, damit die Vorhersage in dieser Hinsicht ganz genau ist.“). Vgl. ferner Bl. *iiiir (= Überschrift von Tabelle 3): „Μετὰ δὲ ταῦτα καὶ τὰ τοῦ ζωδιακοῦ δωδεκατημόρια πινακικῶς ἐκθώμεθα κατακολουθησάμενοι ὡς ἐν τοῖς πρότερον τῇ τοῦ Πτολεμαίου παραδόσει ὡς ἀκριβεστάτῃ οὔσῃ“ (Üs: „Danach will ich die Tierkreiszei‐ chen des Zodiaks in einer Tabelle darstellen und dabei, wie bei den vorigen Tabellen, der Darstellung des Ptolemaios folgen, weil sie am Genauesten ist.“), sowie S. 54 des lateinischen Teils (= Errata): „In tabella nostra secuti sumus Graecum exemplum τετραβίβλου συντάξεως.“ 119 Vgl. Camerarius 1535a. 120 Vgl. Camerarius 1532a, Bl. *iiv (= Kapitel E.1.1, Abschnitt 7): „Εἰδ‘ ὅπερ ἐννοοῦμεν, ἀποβαίη ὡς καὶ ἐθέλομεν, μετ’ οὐ πολὺ καὶ τὴν τετράβιβλον ὡσαύτως ἐκπονηθεῖσαν ἀφ‘ ἡμῶν οἱ φιλόλογοι ἕξονται.“ 121 Vgl. Camerarius 1535a, Bl. A5v-A6v. Eröffnet werden die Astrologica mit einem von Helius Eobanus Hessus in fünf Distichen verfassten Geleitgedicht. Formal ist Camerarius der Adressat, aber es richtet sich auch an den Leser. Für unsere Zwecke ist nur relevant, dass Hessus unter anderem damit wirbt, dass die Schriften niemals zuvor gedruckt wurden. 117 Es folgt die griechische Widmungsepistel an Jakob Milich (2.1), die später gesondert besprochen wird. Darauf folgen drei Tabellen (2.2) mit Erläuterungen zu den Planeten und ihren Beziehungen zum Tierkreis (Tabelle 1), den Kräften und Schwächen der Planeten (Tabelle 2), sowie den Eigenschaften der Tierkreis‐ zeichen (Tabelle 3). Sie finden sich nicht in der Handschrift, sondern wurden von Camerarius selbst erstellt. Aus ihren Überschriften sowie den dazugehörigen Erläuterungen geht immer wieder hervor, dass sich Camerarius bei der Erstel‐ lung an Ptolemaios orientierte und dessen Angaben für sehr genau hielt. 118 D. h.. Camerarius stellt Ptolemaios als wichtige und für ihn maßgebliche Autorität dar. Zugleich stehen die Tabellen sehr wahrscheinlich im Zusammenhang mit bereits unternommenen Arbeiten an einer Edition und Teilübersetzung der Tetrabiblos, die Camerarius zwar erst im Jahr 1535 publizierte, 119 aber bereits im ersten Widmungsbrief der Astrologica ankündigte.  120 Camerarius ließ die Tabellen in dieser Publikation erneut abdrucken. 121 Ihnen folgt ein Text (2.3), der den Lauf der Sonne durch die einzelnen Zeichen des Zodiak beschreibt und diätetische Hinweise gibt. Die folgende Abhandlung (2.4) befasst sich mit 1.2 Widmung und Aufbau des Drucks 51 122 Es ist unklar, von wem die in den Astrologica stammende Übersetzung der Anthologie des Vettius Valens stammt. 123 Vgl. Kapitel E.1.1 / E.1.2. den Namen und Kräften der einzelnen signa des Tierkreises. Daran schließt sich ein Text (2.5) an, der die Wirkung der fünf Planeten (Saturn, Jupiter, Mars, Venus, Merkur) in den Zodiakalzeichen beschreibt, wobei dem Mond ein längerer Abschnitt gewidmet ist. Insgesamt handelt es sich hierbei und bei den lateinischen Übersetzungen um relativ leicht verständliche Texte, die keine besonderen astrologischen Kenntnisse voraussetzen und für die Erstellung von Horoskopen von Nutzen sind. Es folgen die Iatromathematika (2.6), deren Inhalt bereits im vorigen Kapitel erläutert wurde. Der zweite, lateinische Teil der Astrologica wird durch einen Widmungsbrief an Andreas Perlach eingeleitet (3.1) und enthält die Übersetzungen der griechi‐ schen Texte (3.2-3.4). Dass hier - anstelle der Übersetzung der Iatromathema‐ tika und entgegen der Ankündigung auf dem Titelblatt - eine Übersetzung 122 des ersten Kapitels der Anthologie des Vettius Valens steht (3.5), könnte auf Eile beim Druck hindeuten. Möglicherweise wurde die Übersetzung der Iatro‐ mathematika also schlichtweg nicht rechtzeitig fertiggestellt, und der Text des Vettius Valens erschien als thematisch passender Ersatz, da es sich auch hierbei um ein handbuchartiges Exzerpt handelt, das die Eigenschaften der Planeten beschreibt und somit für die Horoskoperstellung relevant ist. 1.3 Analyse der Paratexte Was aber schreibt Camerarius selbst über die Drucklegung und seine Motive? Wenden wir uns also den Widmungsbriefen zu und beginnen mit der (auch im Druck an erster Stelle stehenden) Dedikation an Jakob Milich. Die im Folgenden verwendete Abschnittszählung orientiert sich an den Editionen der Widmungsbriefe im Anhang, um dem Leser das Auffinden von Zitaten zu erleichtern. 123 52 1 Die Astrologica (1532) 124 Zur folgenden Interpretation vgl. die Edition und kommentierte Übersetzung im Anhang (= Camerarius 1532a, B. *IIr-*IIIr; = Kapitel E.1.1) 125 Vgl. Camerarius 1532a, Bl. *IIr/ v (= Kapitel E.1.1, Abschnitt 1-3). 126 Vgl. Camerarius 1532a, Bl. *IIr (= Kapitel E.1.1, Abschnitt 2): „Ὃ δὴ τῆς ἐπιστήμης ὣς ἔφην μέρος τὸ β. οὐ χθὲς ἢ πρώην, φασὶν, ἐπιπολάζον εἰς τὰς μαθήσεις παρελήφθη, ἀλλὰ καὶ εὕρημά ἐστιν τῶν παλαιοτάτων καὶ τοῖς σοφωτάτοις ἀνδράσι γνωστόν τε καὶ ἐν τιμῇ γενόμενον.“ 127 Vgl. Camerarius 1532a, Bl. *IIr (= Kapitel E.1.1, Abschnitt 3): „Οὐ μικρὸν τοίνυν ἀφροντίστως τινες, ὧν καὶ ὁ Πίκος ἐστὶ, διισχυρίσαντες καταλαμβάνονται, διὰ τὴν φαυλότητα τούτου τοῦ μέρους καὶ μεμνῆσθαι αὐτοῦ τὸν τε Πλάτωνα καὶ τὸν Ἀριστοτέλη ἐν τοσούτῳ βιβλίων ἀριθμῷ ἀπαξιώσασθαι.“ 128 Vgl. Camerarius 1532a, Bl. *IIv (= Kapitel E.1.1, Abschnitt 3): „Περὶ γὰρ τοῦ Πλάτωνος οὐδὲ οἶμαι λόγου δεῖται τὸ πρᾶγμα, ὡς τῇ τῶν Αἰγυπτίων ἀστρονομίᾳ προσέχοντος, καὶ τῆς ἀκριβῆς ἐξετάσεως τῶν σφαιρικῶν μετεορολογιῶν μεμνημένου καὶ ἐν Τιμαίῳ καὶ ἐν τοῖς περὶ Νόμων. Ἀλλὰ μὴν καὶ μάλα δόξειεν ἂν ἀπρεπὲς ὡς φαύλης οὔσης ταύτης τῆς ἐπιστήμης μνήμην αὐτῆς οὐ ποιῆσαι τὸν Πλάτωνα, ὃς δὴ ἐν τῷ Χαρμίδῃ διαῤῥήδην περὶ ἐπῳδῆς τινὸς διαβεβαιοῦντα τὸν Σωκράτη εἰσάγει, δῆλον καὶ τυφλῷ ἂν ὅτι φαυλότερας πραγματείας.“ 1.3.1 Konstruktion einer astrologischen Tradition: Der Widmungsbrief an Jakob Milich (Griechischer Teil des Drucks) 124 Wie bereits erwähnt, hatten Picos Disputationes adversus astrologiam divinat‐ ricem großen Einfluss auf den zeitgenössischen Astrologiediskurs. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Camerarius als Herausgeber und Übersetzer astrolo‐ gischer Schriften seinen Widmungsbrief mit einer Verteidigung dieser Tätigkeit beginnt. Die ersten drei Abschnitte sind eine Art Apologie der Astrologie. 125 Camerarius bedient sich verschiedener Argumentationsstrategien. Die wich‐ tigste ist die Berufung auf eine lange astrologische Tradition bzw. die Kon‐ struktion einer solchen. Camerarius schreibt, die Astrologie sei eine uralte Wissenschaft, die auch von den weisesten Menschen betrieben worden sei. 126 Wir haben gesehen, dass Pico genau das Gegenteil versucht hat, nämlich zu zeigen, dass alle großen Philosophen, einschließlich Platon und Aristoteles, keine Astrologen waren. Sie hätten, so Pico, diese Tätigkeit nicht einmal für erwähnenswert gehalten. 127 Camerarius versucht nun diese Behauptungen Picos mit philologischen Mitteln zu entkräften, indem er auf konkrete Textstellen in den Werken der beiden Autoren verweist. Man mag darüber streiten, inwieweit die Argumente des Camerarius aus heutiger Sicht überzeugend sind, etwa die Behauptung, wenn Sokrates sich positiv über etwas so Verwerfliches wie einen Zauberspruch äußere, könne er gar nichts gegen die weniger verwerfliche Astrologie haben. 128 Aber das ist nicht der zentrale Punkt. Tradition war in der Frühen Neuzeit und insbesondere im Humanismus etwas sehr Wichtiges, da man ja eine Wiederbelebung der Antike anstrebte. Aussagen von Autori‐ 1.3 Analyse der Paratexte 53 129 Vgl. Camerarius 1532a, Bl. *IIr (= Kapitel E.1.1, Abschnitt 1): „Τὴν μὲν ἀστρονομίαν οὐδὲ ἐν τῷ νῦν εὐλογεῖν καιρὸς οὐδὲ αὐτὴ ἡ οὕτω εὐφημηθεῖσα ἐπιστήμη παλαιῶν τε ἅμα καὶ νεωτέρων σπουδῇ, τοὺς ἀφ‘ ἡμῶν ἐπαίνους προσδέξεσθαι ἀσμενῶς ἔμοιγε δοκεῖ.“ 130 Vgl. Camerarius 1532a, Bl. *IIr (= Kapitel E.1.1, Abschnitt 1). 131 Vgl. Pico, Disputationes 1, 1, 70. 132 Vgl. Camerarius 1532a, Bl. *IIr (= Kapitel E.1.1, Abschnitt 1-2). täten, insbesondere wenn es sich um die bedeutenden Philosophen Platon und Aristoteles handelte, konnte nicht einfach ignoriert werden. Es muss also ein besonders wirkungsvoller Angriff gewesen sein, als Pico Widersprüche in der astrologischen Tradition aufzeigte und nachzuweisen versuchte, dass diese auf missverstandenen Textstellen der genannten Philosophen beruhten. Camerarius musste sich mit diesem Angriff auseinandersetzen. Während Pico gleichsam eine Dekonstruktion der astrologischen Tradition unternommen hatte, versuchte er sich an ihrer Rettung bzw. Konstruktion. Er kehrt also Picos Behauptungen gewissermaßen um: Gerade bedeutende Gelehrte, wie Platon und Aristoteles, befürworteten die Astrologie. Es ist wichtig, dass das Wort ‚Konstruktion‘ in diesem Zusammenhang richtig verstanden wird: Natürlich gab es eine astrologische Tradition, insofern musste er sie nicht erfinden, aber die Tradition, die Camerarius beschreibt, ist dennoch konstruiert, insofern sie Platon und Aristoteles zu integrieren sucht. Camerarius legitimiert die Astrologie in den ersten drei Abschnitten seines Widmungsbriefes aber auch auf andere, zum Teil subtile Weise. Dies beginnt bereits im ersten Satz, wo Camerarius in Form einer Präteritio ankündigt, die As‐ trologie nicht verteidigen zu wollen, 129 um dann genau dies zu tun. Unmittelbar danach erwähnt er scheinbar beiläufig die mühsam ausgearbeiteten Apologien anderer Astrologen und beruft sich insbesondere auf die des Ptolemaios. Came‐ rarius führt ihn hier eindeutig als Autorität an und bezeichnet ihn als den besten Astronomen (ὁ ἀστρονομικώτατος) 130 - übrigens auch hier ganz im Gegensatz zu Pico, der ihn als den Besten der Schlechten (optimus malorum) bezeichnet hatte. 131 Teilweise parallel dazu, teilweise erst im zweiten Abschnitt verwendet Camerarius immer wieder Begriffe wie ἐπιστήμη, μάθημα oder μάθησις, die den Zweck haben, die Astrologie als Wissenschaft zu legitimieren. 132 Demselben Zweck dient die Zusammenführung der (unumstrittenen) Astronomie mit der (umstrittenen) Astrologie unter dem gemeinsamen Oberbegriff astronomia, womit impliziert wird, sie gehörten untrennbar zusammen und jeder Angriff auf die Astrologie sei zugleich einer auf die Astronomie. Die ersten drei Abschnitte sind, so lässt sich zusammenfassen, nichts anderes als eine Apologie der Astrologie. Besonderer Fokus liegt dabei, in Auseinander‐ setzung mit Pico, auf der Konstruktion einer astrologischen Tradition. 54 1 Die Astrologica (1532) 133 Vgl. Camerarius 1532a, Bl. *IIv (= Kapitel E.1.1, Abschnitt 4). 134 Vgl. Camerarius 1532a, Bl. *IIv (= Kapitel E.1.1, Abschnitt 4): „Καὶ σε μὲν οὖν, ὦ φίλτατε Μειλίχιε, ἀμφότερον τὸ μέρος παντὶ τρόπῳ ἀσκούμενον εἴδομεν […].“ 135 So heißt es im Text über Ptolemaios: „παρὰ Πτολεμαίῳ τῷ ἀστρονομικωτάτῳ“, über Milich: „καὶ άστρονομικωτάτῳ ὄντι“. 136 Weder im KVK noch im VD16 konnten Hinweise auf Publikationen Milichs vor dem Jahr 1535 gefunden werden (Stand: 16.06.2020). 137 Vgl. Camerarius 1532a, Bl. *IIv (= Kapitel E.1.1, Abschnitt 4): „Καὶ σε μὲν οὖν, ὦ φίλτατε Μειλίχιε, ἀμφότερον τὸ μέρος παντὶ τρόπῳ ἀσκούμενον εἴδομεν, οὐ μόνον αὐτόν σε τὰ ἐνόντα καλὰ ἐρευνῶντα, ἀλλὰ καὶ ἐξευρηθέντα κοινωνήσαντα τοῖς μετέχειν ἐθέλουσι, κάλλιστον ὑφιστῶντα πόνον τοῦ γενέσθαι καὶ ἄλλους διά σου, ὡς ἔπος εἰπεῖν θεοεικέλους ἄνδρας καὶ μὴ φθονοῦντα οὐδενὶ τῆς σῆς πολυμόχθου καὶ παγχρήστου διδαχῆς.“ 138 Vgl. Camerarius 1532, Bl. *IIv (= Kapitel E.1.1, Abschnitt 4) und [Homer, Ilias 8, 282: „βάλλ‘ οὕτως, αἴ κέν τι φόως Δαναοῖσι γένηαι“ (Übersetzung von Voß 2001, 248: „Triff so fort und werde der Danaer Licht“). Mit dem vierten Abschnitt 133 verlagert sich der Fokus auf den Dedikations‐ empfänger Jakob Milich, aber auch hier spielt die Tradition eine besondere Rolle. Camerarius stilisiert ihn nämlich zu einem vorbildlichen Vertreter der Astrologie, der sich perfekt in die Tradition einzureihen scheint. Im zweiten Abschnitt hatte Camerarius von den zwei Bereichen der astronomia (also der Astronomie und der Astrologie) gesprochen, und davon, wie wichtig es sei, beide Bereiche zu vereinen. Von Milich schreibt er nun, dass er genau dies tue. 134 Implizit (und auf sehr subtile Art und Weise) stellt Camerarius ihn damit in eine Reihe mit astrologischen Autoritäten, wie dem oben explizit erwähnten Ptolemaios, was im siebten Abschnitt umso deutlicher wird, wo Milich dasselbe Attribut (ὁ ἀστρονομικώτατος: „der beste Astronom“) erhält wie Ptolemaios. 135 Doch zurück zum vierten Abschnitt: Milich wird hier nicht nur in eine Reihe mit anderen bedeutenden Astrologen gestellt, sondern auch dafür gelobt, dass er sein astrologisches Wissen bereitwillig mit anderen teilt, d. h. die uralte antike Tradition fortführt. Da er zu diesem Zeitpunkt noch keine eigenen Werke veröffentlicht hatte, 136 ist hier offensichtlich seine Professur für (niedere) Mathematik gemeint, die er seit 1529 innehatte. Camerarius stellt ihn als einen Hoffnungsträger der Astrologie dar, der durch seine Lehren gleichsam gottgleiche Männer schaffe. 137 Er vergleicht seine Leistungen mit den kriegerischen Erfolgen des homerischen Helden Teukros und wünscht, dass er das „Licht“ dieser Wissenschaft werde. 138 Implizit deutet Camerarius mit all diesen Äußerungen eine Renaissance der Astrologie an, die von Milich mitgetragen wird. 1.3 Analyse der Paratexte 55 139 Vgl. Camerarius 1532a, Bl. *IIv (= Kapitel E.1.1, Abschnitt 4-5). 140 Vgl. Camerarius 1532a, Bl. *IIv (= Kapitel E.1.1, Abschnitt 5): „Kαὶ τούτου ἂν οὐκ ἀσθενῆς ἔλεγχος εἴη τὸ πάσας τὰς ἐπιστήμας καὶ πᾶν, ὡς καθόλου εἰπεῖν, τὸ καλὸν τῆς σοφίας καὶ τῆς ἀρετῆς, ἅμα τῇ Ἑλληνικῇ παιδείᾳ ὥσπερ δὴ κατασκαφθείσῇ, συνδιαφθαρῆναι, καὶ ἀναβλαστῆσαι πως ἐπὶ τῶν προγόνων ἡμῶν, ἐκείνης ἐκ θεοῦ, θεὸς γὰρ τοσούτου ἀγαθοῦ αἴτιος, ἀναδοθείσης.“ Dies ist auch deshalb wahrscheinlich, weil Camerarius anschließend, d. h. im vierten und fünften Abschnitt, 139 die Verrohung der Astrologie in den vorange‐ henden Jahrhunderten zur Sprache bringt, die in dieser Zeit weitgehend auf Aberglauben beruht habe. Die Schwächen der Astrologie liegen für Camerarius dabei im Niedergang der griechischen παιδεία begründet. Zur Zeit der Grie‐ chen hätten Wissenschaften, Philosophie, Rhetorik und Tugenden eine Blüte entfaltet, die allein Gott zu verdanken sei. Erst zur Zeit ihrer Vorfahren sei es zu einer neuen Blüte gekommen. 140 Mit dieser kurzen Kulturgeschichte verfolgt Camerarius mehrere rhetorische Ziele. Erstens entkräftet er Gegenargumente, die Astrologie sei unzuverlässig und von Aberglauben geprägt. Für ihn besteht das Problem schlichtweg in einer Abkehr von der griechischen Tradition. Nicht die Astrologie an sich ist also das Problem, sondern die Personen, die sie ausüben. Zweitens vergleicht er die Astrologie nicht, wie es zu erwarten wäre, mit ihren antiken Formen, sondern mit der gesamten griechischen Wis‐ senschaft. Damit wird die Astrologie stillschweigend in den Kanon der anderen Fächer integriert. Drittens erweckt er beim Leser den Eindruck, dass lediglich nur einer Reinigung des tradierten Wissens bedürfe, um eine vermeintlich in der Antike praktizierte „reine“ Form der Astrologie wiederherzustellen, die jedoch in den letzten Jahrhunderten stark durch Aberglauben verunreinigt worden sei. In diesem Zusammenhang ist es sicher auch kein Zufall, dass er schreibt, die Blüte der griechischen παιδεία sei von Gott bewirkt worden und Milich solle durch die Weitergabe seines Wissens weiterhin gottgleiche Männer schaffen. Damit impliziert er, dass der Dedikationsempfänger gleichsam ein Werkzeug Gottes beim Wiederaufblühen der παιδεία ist (weshalb durch ihn auch gottgleiche Männer geschaffen werden können). Camerarius parallelisiert damit die griechische Antike und die Renaissance und wertet die dazwischen‐ liegende Zeit der [lateinisch-arabischen] Tradition ab. Damit positioniert er sich im zeitgenössischen Diskurs über die Rolle des Griechischen in Medizin und Astrologie eindeutig zugunsten dieser Sprache. Zusammenfassend kann man sagen, dass Camerarius in den ersten drei Ab‐ schnitten des griechischen Widmungsbriefes der Astrologica eine astrologische Tradition konstruiert. In den Abschnitten vier und fünf beschreibt er dann die Entwicklung dieser Tradition (griechische Astrologie - Niedergang - neue 56 1 Die Astrologica (1532) 141 Vgl. Camerarius 1532a, Bl. IIv-IIIr (= Kapitel E.1.1, Abschnitt 6-7). 142 Vgl. Kapitel B.1.2. Blüte) und ihre Idealform, die zur Zeit des Camerarius von Milich verkörpert wird. In den Abschnitten sechs und sieben 141 wird deutlich, in welcher Beziehung Camerarius und seine Edition der Astrologica zu dieser Tradition stehen. Er schreibt, dass er von dem bisher Gesagten überzeugt sei, da er auf einige astrologische Abhandlungen sowie die vollständige Tetrabiblos des Ptolemaios gestoßen sei. Anschließend erklärt er umständlich unter Berufung auf Ana‐ xandrides, dass er beschlossen habe, dieses „Geheimwissen“ nicht verborgen zu halten, sondern mit seinen Mitmenschen zu teilen. An dieser Stelle ist ein Rückblick auf die Stilisierung Milichs notwendig: Camerarius hatte ihn in die Tradition der antiken Astrologie gestellt und seine Bereitschaft hervorgehoben, sein Wissen mit anderen zu teilen. Indem Camerarius nun dasselbe von sich selbst behauptet, stellt auch er sich in diese Tradition. Das Bild, das er von Milich zeichnet, wirkt wie eine Folie, da Camerarius dieselben Dinge für sich in Anspruch nimmt: Die Publikation der Texte hat denselben Zweck wie Milichs Lehrtätigkeit: Wissen großzügig zu teilen und die Astrologie zu reinigen und zu neuer Blüte zu führen. Die Aussage dieser Selbststilisierung lässt sich noch weiter zuspitzen: Camerarius steht auf einer Stufe mit dem Mann, der laut seiner Aussage „der beste Astrologe“ ist und „zum Licht dieser Wissenschaft“ (sc. der Astrologie) werden, d. h. ihre Renaissance befördern soll. Camerarius stellt sich selbst damit an das Ende einer griechischen astrologischen Tradition, die er selbst im Widmungsbrief als die einzig richtige konstruiert hat! Und da er den Niedergang der Astrologie mit dem Niedergang der griechischen παιδεία parallelisiert hatte, impliziert er, dass beide eng miteinander verbunden sind und gemeinsam wieder erstarken werden. An dieser Stelle ist es notwendig, ein paar Worte über Ptolemaios zu verlieren. Camerarius inszeniert ihn in den Astrologica immer wieder an verschiedenen Stellen als die wichtigste Autorität auf dem Gebiet der Astrologie. Er bezeichnet ihn nicht nur als den größten Astrologen und beginnt den Widmungsbrief mit einem Verweis auf ihn, sondern er er nutzt ihn auch als Referenz für die in den Astrologica gedruckten Tabellen und betont auch an anderen Stellen seine wissenschaftliche Genauigkeit. 142 Man gewinnt den Eindruck, dass Camerarius gerade im Abweichen von der spezifisch-ptolemäischen Astrologie die Ursache für den Niedergangs der Astrologie als ganzer sieht. Und so schließt der Widmungsbrief mit der Ankündigung einer weiteren Schrift, nämlich der Tetrabiblos, eines vierbändigen von Ptolemaios verfassten 1.3 Analyse der Paratexte 57 143 Vgl. Camerarius 1535. 144 Zur folgenden Interpretation vgl. die Edition und kommentierte Übersetzung im Anhang (= Camerarius 1532a, 1-3 (= Bl. a1r-a2r); = Kapitel E.1.2) 145 Vgl. Camerarius 1532a, 1 (= Kapitel E.1.2, Abschnitt 1): „Accedebat huc, quod occa‐ sionem essem habiturus declarandae voluntatis erga te meae et amicitiae iungendae.“ 146 Vgl. Camerarius 1532a, 1 (= Kapitel E.1.2, Abschnitt 1). Werks über Astrologie, das Camerarius 1535 edierte und teilweise übersetzte. 143 In diesem Zusammenhang erklärt Camerarius auch, warum die nicht so recht zu den anderen Schriften passenden Iatromathematika Eingang in die Astrologica fanden. Ihr Druck scheine nützlich und willkommen, außerdem habe Ptolemaios eine solche Kunst bei den Ägyptern erwähnt. Dies belegt Camerarius mit einem Exzerpt aus eben jener Tetrabiblos, deren Edition er plant. Camerarius macht also schlichtweg Werbung für einen seiner nächsten Drucke. 1.3.2 Der fachwissenschaftliche Aspekt der Astrologie: Der Widmungsbrief an Andreas Perlach (Lateinischer Teil des Drucks) 144 Der Widmungsbrief an Perlach, der dem lateinischen Teil vorangestellt ist, beschäftigt sich ebenfalls mit der Astrologie als Wissenschaft. Hier nähert sich Camerarius allerdings aus einer anderen und dennoch vergleichbaren Perspektive an: Es geht mehr um das Verhältnis der griechischen Sprache zur Wissenschaft sowie um sein persönliches Verhältnis zur Astrologie. Doch betrachten wir zunächst den ersten Abschnitt. Camerarius eröffnet das Dedikationsschreiben ganz topisch mit dem Wunsch, durch die Widmung Freundschaft mit Perlach zu schließen, 145 den er bereits über ihren gemeinsamen Freund Schöner kannte. 146 Dabei mögen neben der Absicht, durch die Dedikation diesen neuen potentiell wertvollen Kontakt herzustellen, auch andere Motive eine Rolle gespielt haben, etwa das Bestreben, sich durch die Adressierung an einen Fachmann vor der Gelehrten‐ welt zusätzlich zu legitimieren, oder dem mit Perlach befreundeten Schöner einen Gefallen zu tun. Wie der Widmungsbrief an Milich den griechischen Teil einleitet, so steht die Dedikationsepistel an Perlach dem lateinischen Teil voran. Und ebenso wie Milich ist auch Perlach in gewisser Weise stilisiert und dient gleichsam als Folie für die Selbstdarstellung des Camerarius. Doch während Milich der gebildete, des Griechischen kundige Universitätsdozent ist, erscheint Perlach als der astrologische Fachmann, der zwar ebenfalls einen akademischen Hin‐ tergrund hat, aber im Bereich des Griechischen gleichsam ein lernwilliger 58 1 Die Astrologica (1532) 147 Vgl. Camerarius 1532a, 1 (= Kapitel E.1.2, Abschnitt 1): „[Schonerus] praedicavit etiam studium erga literas Graecas tuum, quod te, quamvis sero, tamen animi promptitu‐ dine ac cupiditate discendi summa aggressum nuper narravit mihi. Magnam ea res voluptatum mihi attulit, gaudebam enim te doctissimum hominem eruditionem non negligere, quod multi faciunt. Et videbam fore, ut Graeca literatura adiutus maiore cum laude et quadam quasi excellentia in professione artis tuae versareris.“ 148 Vgl. Camerarius 1532a, 1 (= Kapitel E.1.2, Abschnitt 1): „[…] gratum tibi facturum me credidi, si addidissem Graecis versionem nostram et tironi in hac militia et in re non valde usitata.“ 149 Vgl. Camerarius 1532a, 1 (= Kapitel E.1.2, Abschnitt 1). 150 Vgl. Camerarius 1532a, 1-2 (= Kapitel E.1.2, Abschnitt 2). Schüler ist. 147 Ihm gegenüber inszeniert sich Camerarius jovial als kompetenter Gräzist, der die komplizierten griechischen Texte für den tiro (‚Rekrut‘, ‚An‐ fänger‘) übersetzt. 148 Zwischen Absender und Adressat besteht also fast ein Lehrer-Schüler-Verhältnis. Auch an anderer Stelle betont er seine Kenntnis des Griechischen, etwa, wenn er hervorhebt, dass er sich bei der Durchsicht der Bibliothek Regiomontans bewusst für den einzigen griechischen Kodex entschieden habe, der von der Hand Regiomontans geschrieben worden sei. Die Rolle des Griechischlehrers, die Camerarius hier einnimmt, harmoniert jedoch mit der, die Milich und er im ersten Widmungsbrief eingenommen hatten. Dort waren sie es, die um die Bedeutung der griechischen Tradition wussten und ihr Wissen bereitwillig mit anderen teilten. Die Bedeutung des Griechischen demonstriert Camerarius mit dem zentralen Satz, er sehe schon kommen, dass Perlach mit Hilfe der griechischen Literatur eine gewisse Vorrangstellung einnehmen werde. 149 Im zweiten Abschnitt 150 geht Camerarius auf konkreten Probleme bei der Übersetzung ein, zeigt aber auch konkret den Nutzen der griechischen Literatur bzw. der Lektüre des Ptolemaios auf. Der Abschnitt beginnt mit Reflexionen über die richtige Übersetzung des Begriffs ‚Tierkreiszeichen‘ (δωδεκατημόριον). Indem Camerarius die Probleme und Möglichkeiten bei der Version thematisiert, demonstriert er seine Sorgfalt und Umsicht bei der Übersetzung, nutzt diese Erläuterungen aber auch, um auf ein wichtiges Problem hinzuweisen: Aufgrund der Präzession verschiebt sich der Tierkreis in Relation zum Zeitpunkt des Frühlingsbeginns. Dies habe zur Folge, dass bei Nichtbeachtung dieser Tatsache viele Annahmen über die Eigenschaften der einzelnen Sternzeichen ihrer Grundlage entbehrten. Ptolemaios hatte dieses Problem erkannt und entspre‐ chende Anpassungen vorgenommen. Die Ausführungen des Camerarius gipfeln in dem Resümee, dass Genauigkeit für die Ausübung der Astrologie, wie auch für 1.3 Analyse der Paratexte 59 151 Vgl. Camerarius 1532a, 2 (= Kapitel E.1.2, Abschnitt 2). „Ptolemaeus, facile princeps omnium, qui istam artem tractarunt, non mirabitur, qui eximiam diligentiam obser‐ vationum illius cognoverit, quae cum aliis in artibus, tum in hac plurimum potest vel potius omnia.“ Camerarius zog daraus übrigens selbst Konsequenzen und nahm, analog zu Ptolemaios, Anpassungen an die Gegenwart vor, wie ein von ihm erstelltes Horoskop für Marquard Rosenberger zeigt (München, BSB, Clm 10376, Bl. 131r-136v). Er scheint damit allerdings einen Sonderweg gegangen zu sein, dem seine Zeitgenossen nicht folgten (Zu diesem Ergebnis kam David Juste bei einem Arbeitsgespräch über „Camerarius und die Astrologie“ in Würzburg am 24.04.2018). 152 Vgl. Camerarius 1532a, 2 (= Kapitel E.1.2, Abschnitt 2): „[…] quae diu iam neglecta et pulcherrimam scientiam calumniis malevolorum obiecit et replevit superstitionum ineptiis. Sed revocabitur et haec, sic ut confido, tua tuisque similium opera.“ 153 Vgl. Camerarius 1532a, 2-3 (= Kapitel E.1.2, Abschnitt 3). alle anderen Wissenschaften, unerlässlich ist. 151 Auf dem Gebiet der Astrologie habe es aber lange an der nötigen Sorgfalt gemangelt, sie sei mit Aberglauben überfrachtet und in der Folge auch von vielen Leuten geschmäht worden. Durch Perlach und andere zeitgenössische Fachleute, so stellt Camerarius in Aussicht, könne sie aber wiederhergestellt werden. 152 Er entwirft hier ein ähnliches Modell wie im ersten Widmungsbrief: Blüte der griechischen Astrologie (Ptolemaios) - Niedergang durch Sorglosigkeit - Renaissance durch Griechischstudien und Sorgfalt von Fachleuten wie Perlach. Im Gegensatz zur Epistel an Milich liegt hier der Fokus jedoch stärker auf der Rolle von Sorgfalt bzw. Sorglosigkeit. Dadurch ergeben sich viele Implikationen. Einerseits handelt es sich hier um eine Apologie der Astrologie. Für Camerarius ist sie eine echte Wissenschaft, die in den letzten Jahrhunderten nur falsch praktiziert wurde. Andererseits weist er auf die Notwendigkeit hin, Fachwissen und Gräzistik miteinander zu verbinden, wobei der eine Bereich hauptsächlich durch Perlach verkörpert wird und der andere hauptsächlich durch Camerarius. Beide Personen sind aber - und auch hierin sind sie vorbildlich - offen für den jeweils anderen Bereich, ja sie streben (so, wie Camerarius sie darstellt) eine Symbiose von astrologischer Fachwissenschaft und Griechischstudien an, also sozusagen das camerarische Ideal dieser Wissenschaft. Hier deutet sich bereits ein Rollenwechsel an, bei dem Camerarius nicht mehr nur der Lehrer ist. Und tatsächlich kommt Camerarius, der sich im ersten Abschnitt jovial als gräzistischer Fachmann gegenüber dem ‚tiro‘ Perlach geriert hatte, im dritten Abschnitt auf sich selbst zu sprechen und kehrt das Verhältnis um. Wie ein kleines Kind hofft er nun von den großen Astrologen akzeptiert zu werden und an ihren Lehren teilzuhaben. Camerarius spricht anschließend im dritten Abschnitt 153 von seinem persönli‐ chen Verhältnis zur Astrologie und von einer weiblichen Person, wohl aus 60 1 Die Astrologica (1532) 154 Vgl. Camerarius 1532a, 2-3 (= Kapitel E.1.2, Abschnitt 3): „Sed me educatum in bonis literis aliquantisper ab illius quasi congressu exclusit barbaries obsidens domum nobilissimae scientiae, improba et contumeliosa ianitrix.“ 155 In der Antike wurde der Begriff ‚Barbar‘ zunächst für alle gebraucht, die Griechisch nicht sprachen, später auch alle, die keinen Anteil an der griechischen Bildung hatten. In der Frühen Neuzeit wurde die Barbarei zum ultimativen Feindbild der Humanisten. Großen Einfluss hatten dabei die Werke des Erasmus, der etwa einen Dialog gegen die Verachter von Dichtkunst und Rhetorik sowie Antibarbari verfasst hatte, die die Not‐ wendigkeit von Dichtkunst, Rhetorik sowie Bildung betonten, vgl. Grünberger / Walter 2019. 156 Vgl. Kapitel A.1. seinem familiären Umfeld, die ihn zur Astrologie gebracht hatte. Persönlich habe er jedoch Schwierigkeiten mit der barbaries gehabt, die die Astrologie in Beschlag genommen hatte und die er als unvereinbar mit seiner humanistischen Bildung angesehen habe. 154 Deshalb habe er sich von ihr abgewandt und erst in jüngster Zeit wieder zu ihr hin gewandt, was durch Vorbilder wie [Giovanni] Pontano (1426-1503) ermöglicht worden sei, der die edlen Wissenschaften mit der Astrologie verband (hierbei dürfte sich Camerarius auf dessen Lehrgedicht Urania, vielleicht auch auf die Meteora beziehen). ‚Barbarei‘ ist ein Begriff, der sowohl die Abkehr von der traditionellen griechisch-lateinischen Bildung (wie im Widmungsbrief an Milich) als auch die Vernachlässigung korrekter Sprache meint (d. h. auch von Rhetorik und Dichtkunst, die Teil des antiken Bildungsideals sind). 155 Camerarius koppelt also den Niedergang der Astrologie an das Aufkommen von barbaries, die erst zu seiner Zeit überwunden wird. Wie aber konnte es überhaupt zu einer solchen Behauptung kommen? Vermutlich haftete der Astrologie ein ähnliches Stigma an wie der mittelalterlichen Medizin, die in vielen Vorreden des 16. Jahrhunderts nicht nur wegen des Fehlens adäquater Textkritik, sondern auch der wegen der mangelnden Eloquenz der mittelalterlichen Editoren und Übersetzer sowie wegen des Fehlens adäquater lateinischer Ausdrücke herabgewürdigt wurde, während die humanistischen Ärzte die stilistische Eleganz der Originaltexte und der von ihnen angefertigen Versionen betonten. 156 Vor diesem Hintergrund ist es durchaus vorstellbar, dass ein humanistischer Gelehrter und Dichter wie Camerarius das Bedürfnis verspürte, Skrupel gegenüber der Astrologie auszuräumen, und gerade durch die dichterischen Werke Pontanos die Vereinbarkeit von Humanismus und Astrologie erkannt hatte. Dies wirft vielleicht auch ein neues Licht auf sein Entwicklungsmodell der Astrologie. Es wird nun sehr wahrscheinlich, dass Camerarius auch die zu restituierende griechische Astrologie als frei von Barbarei betrachtet. Immerhin hatte er sie im ersten Widmungsbrief stillschweigend und implizit unter die 1.3 Analyse der Paratexte 61 157 Vgl. Camerarius 1532a, 3 (= Kapitel E.1.2, Abschnitt 4). anderen griechischen Künste gerechnet, sowie die Bedeutung von griechischer Philosophie und Rhetorik hervorgehoben. Außerdem ist die Barbarei, wie sie im Widmungsbrief beschrieben wird, etwas, das erst im Laufe zur Astrologie hinzugekommen ist. Camerarius’ Entwicklungsmodell der Astrologie lässt sich also wie folgt erweitern: • Griechische Astrologie (inklusive Blüte der Philosophie und Rhetorik, Genauigkeit bei der Ausübung der Astrologie) • Niedergang der Astrologie (Sorglosigkeit, Aufkommen von barbaries und Aberglauben) • Renaissance der Astrologie (Überwindung von barbaries, Sorglosigkeit und Aberglaube; Rückbesinnung auf die griechische, insbesondere von Ptolemaios geprägte Astrologie) Im vierten Abschnitt 157 wendet sich Camerarius wieder dem Adressaten zu. Das ist kein ungewöhnliches Verfahren, da Widmungsbriefe häufig mit einer (erneuten) Hinwendung an den Dedikationsempfänger enden. Er bittet Perlach um eine gute Aufnahme des Druckes und stellt weitere Werke in Aussicht. Der Leser mag sofort an die Tetrabiblos denken, die Camerarius im Widmungsbrief an Milich angekündigt hatte. 1.4 Zusammenfassung und Zweck: Konstruktion einer astrologischen Tradition und ihre Renaissance Kommen wir abschließend noch einmal auf die in der Einleitung dieses Kapitels gestellte zentrale Frage zurück: Was bezweckte der Humanist und medizini‐ sche Laie Camerarius mit der Publikation dieses Druckes? Es wurde deutlich, dass Camerarius mehrere Ziele verfolgt: Zunächst einmal verteidigt er die Astrologie als Wissenschaft. Fehlerhafte Ergebnisse bei Voraussagen liegen am fehlerhaften Umgang mit ihr, also an den Ausübenden und nicht der Wissenschaft selbst. Mit diesem Ziel hängen weitere zusammen, nämlich das Bestreben, das Bild einer idealen Astrologie zu entwerfen und - im Gegensatz zu Pico - eine astrologische Tradition zu konstruieren. Camerarius will zeigen, dass hochgelehrte Philosophen, wie Platon und Aristoteles, der Astrologie gegenüber aufgeschlossen waren. So will er das Bild einer vermeintlichen griechischen antiken Astrologie zeichnen, die in den Kanon der anderen Fächer eingebettet undeng mit antiker Philosophie und Rhetorik verbunden war. Dann 62 1 Die Astrologica (1532) 158 Vgl. MBW 6787 und Gindhart 2023. 159 Vgl. Gindhart 2023. 160 Vgl. Hasse 2016, 249-292 und Gindhart 2023. kam es zum Niedergang der griechischen Kultur; und sorgloser Umgang mit der Tradition führte zum Aufkommen sprachlicher barbaries und abergläubischer Praktiken. Die Fehler der Astrologie sind also in der Logik des Camerarius in der lateinisch-arabischen Tradition zu suchen, die von Ptolemaios abweicht. Erst zu seiner Zeit kommt es zu einer Renaissance dieser griechischen Astrologie. Diese Zeit der Erneuerung ist von bestimmten Leitgedanken geprägt, die wir auch in anderen Werken des Camerarius wiederfinden werden: • Die Verpflichtung zur Nachahmung, insbesondere der griechischen Astro‐ logie / Medizin; damit verbunden der Versuch, Fehler in der Tradition zu purgieren • Die Notwendigkeit von Genauigkeit, da Sorglosigkeit zum Niedergang der Wissenschaft geführt hat und führen wird • Die Verbindung von sprachlicher Eleganz (insbesondere Dichtung) und Wissenschaft Die Art von Astrologie, die Camerarius propagiert, ist eine purgierte, von Feh‐ lern gereinigte Astrologie, die auch oder gerade von humanistischen Gelehrten betrieben werden soll. Es geht also im Wesentlichen darum, die Astrologie durch die Verbindung mit humanistischen Prinzipien zu legitimieren, also sozusagen eine spezifisch humanistische Form dieser Tätigkeit zu begründen. Problematisch an Camerarius’ Bild der antiken Astrologie ist, dass es sehr stark auf Ptolemaios fokussiert ist und den Eindruck erweckt, die Tetrabiblos des Ptolemaios sei repräsentativ für die gesamte antike griechische Astrologie. Die gleiche Sichtweise findet sich bei Melanchthon, der in der Vorrede zu seiner 1553 erschienenen zweisprachigen Ausgabe der Tetrabiblos schreibt, Gott habe Ptolemaios erwählt und durch ihn die Astronomie und Astrologie der Antike vor dem Untergang bewahrt. 158 Tatsächlich kann das Werk des Ptolemaios diesem Anspruch nicht gerecht werden, da es natürlich nur einen ausschnitthaften Überblick bietet. 159 Problematisch ist auch, dass Camerarius, wie viele andere Humanisten seiner Zeit, eine purgierte Astrologie fordert, die von vermeintlichen Zusätzen und Fehlern der arabischen Tradition gereinigt ist. Dag Nikolaus Hasse konnte nämlich nachweisen, dass viele dieser arabischen Addenda in Wirklichkeit auf griechische Konzepte zurückgehen. 160 Allen Bildern und Vorstellungen, die Camerarius entwirft, ist ein missiona‐ risch-pädagogischer Anspruch gemeinsam. Und so ist es mit Sicherheit kein 1.4 Zusammenfassung und Zweck: Konstruktion einer astrologischen Tradition 63 Zufall, dass Camerarius die Astrologie implizit in die griechische παιδεία einreiht und sich in den Widmungsbriefen als Lehrer geriert. Doch wie genau funktioniert diese Selbststilisierung? In der Dedikationsepistel an Milich hatte Camerarius diesen als Hoffnungsträger einer Renaissance der Astrologie inszeniert und in eine Reihe mit bedeutenden Gestalten einer von ihm konstruierten astrologischen Tradition gestellt: Von Platon und Aristoteles über Ptolemaios führt die Kette zu Milich. Indem Came‐ rarius letzteren ähnlich wie sich selbst darstellt, reiht auch er sich in diese Tradition ein. Milich und Camerarius werden so zu idealen Vertretern der Astrologie. Weil sie Teil dieser Tradition sind, aber auch weil sie ihr Wissen weitergeben, also die Tradition fortführen, erfüllen sie vorbildlich ihre Rolle in der Gesellschaft. Camerarius demonstriert also in einer konkreten Situation und an konkreten Personen, wie man als humanistischer Gelehrter einen Beitrag zur Förderung der Astrologie leisten kann. Ihm und Milich können und sollen andere Gelehrte nacheifern. Die Dedikationsepistel an Perlach ist komplementär zum Widmungsbrief an Milich gestaltet: Während Milich in erster Linie Humanist und Gräzist ist, ist Perlach in erster Linie Fachmann auf dem Gebiet der Astrologie, hat aber auch Ambitionen im Bereich der griechischen Sprache. Im ersten Brief geht es mehr um die griechische Tradition, im zweiten lateinischen Brief mehr um die Astrologie als Wissenschaft. Auf einer übergeordneten formalen Ebene erfüllen Perlach und Milich dieselbe Funktion: Sie werden so beschrieben, dass sie als Konstrastfolien für den Vergleich mit der Rolle des Camerarius dienen. Doch während er Milich ähnlich wie sich selbst darstellt, stilisiert er Perlach komplementär. Camerarius ist der Gräzist und Humanist, der sich der Astrologie annähert, während der Astrologe Perlach sich um das Erlernen der griechischen Sprache bemüht. Zusammen verkörpern sie die ideale Astrologie: die Verbin‐ dung von Fachwissen und Wiederentdeckung der griechischen Tradition. Camerarius und Milich auf der einen und Perlach auf der anderen Seite symbolisieren aber nicht nur diese perfekte Verbindung, sondern sind auf einer ganz konkreten Ebene mögliche Identifikationsfiguren und Vorbilder für den Leser. Sie zeigen anschaulich, wie man als astrologischer Fachmann bzw. als Humanist einen Beitrag zur Förderung der Astrologie leisten kann. Insgesamt will Camerarius in den Astrologica den Eindruck erwecken, dass die Astrologie kurz vor einer Renaissance stehe und man nur richtig vorgehen müsse. Dem trägt das Werk Rechnung, indem es den Schwerpunkt auf die Pädagogik legt: In den Widmungsbriefen zeigt Camerarius dem Leser anschau‐ lich und anhand von konkreten Personen, wie man richtig mit der Astrologie 64 1 Die Astrologica (1532) 161 Vgl. Nutton 2022, 108. 162 Diese Aussagen basieren auf der Sichtung des Briefkorpus innerhalb der Datenbank Opera Camerarii (Stand: 16.06.2020). 163 Vgl. Kapitel B.2 dieser Arbeit. 164 Vgl. Kapitel B.3 dieser Arbeit. umgeht. Er will also die Fundamente für diese Fachdisziplin legen und demons‐ trieren, wie nötig Humanismus, Philologie und das Studium der griechischen Originaltexte für die Astrologie sind. Die ausgewählten Texte sind wenig voraussetzungsreich und bieten dem Leser eine gute Grundlage für weitere Studien. Mit seinen Übersetzungen macht er die Texte einem breiteren Publikum zugänglich - zu einer Zeit, als die meisten Ärzte ihr Wissen über antike grie‐ chische Medizin noch überwigend aus lateinischen Übersetzungen bezogen. 161 Camerarius überschreitet dabei keine Fachgrenzen, d. h. er beschreibt keine eigenen Entdeckungen, sondern stilisiert sich in der Rolle des Neulings dieses Faches, wie es potentiell auch der Leser ist. 1.5 Einordnung in das Corpus des Camerarius und Rezeption Innerhalb des Corpus der Schriften des Camerarius stehen die Astrologica am Anfang einer Reihe von astrologischen Werken. Dazu gehören in den 1530er-Jahren die Norica (1532), De solis defectu (1539), vor allem aber die 1535 veröffentlichte Tetrabiblos, für die er bereits in den Astrologica geworben hatte. Beide Drucke enthalten die gleichen astrologischen Tabellen. Davon abgesehen wurden die Astrologica nicht wieder aufgelegt und auch im Briefwechsel des Camerarius nicht erwähnt. 162 Vielleicht liegt es daran, dass die Exzerpte zwar kaum Vorkenntnisse beim Leser voraussetzen, aber nur einen Teilbereich behandeln (es geht ja im Wesentlichen nur um Horoskope) und diesen auch eher ausschnitthaft als systematisch erläutern. Vergleicht man die Astrologica mit den in dieser Arbeit behandelten medizi‐ nischen Werken, so lassen sich mehrere Gemeinsamkeiten feststellen, die für Camerarius’ Vorgehensweise beim Verfassen naturkundlicher Schriften typisch zu sein scheinen, wie wir in den folgenden Kapiteln sehen werden: So sind auch im De Theriacis et Mithridateis Commentariolus die Widmungsschreiben komplementär gestaltet, die Bedeutung der griechischen Tradition wird betont, die Notwendigkeit von Genauigkeit bei wissenschaftlichem Arbeiten wird hervorgehoben und eine Verbindung von sprachlicher Eleganz und wissen‐ schaftlichem Nutzen wird angestrebt. 163 Letzteres findet sich auch in einem Gedicht über den Aderlass. 164 Camerarius‘ Brief an den Leser, den er dem vierten 1.5 Einordnung in das Corpus des Camerarius und Rezeption 65 165 Vgl. Kapitel B.4 dieser Arbeit. Band der Werke Galens voranstellte, weist ebenfalls Gemeinsamkeiten mit den Astrologica auf: 165 In beiden Drucken wird die Notwendigkeit von sprachlicher Genauigkeit bis auf die Wortebene betont und die Bedeutung der griechischen Tradition hervorgehoben. 66 1 Die Astrologica (1532) 166 Hessus an Camerarius, 06.07.1534 (Camerarius 1553, Bl. L4r; = OCEp 0109). 167 Vgl. Hessus 1524. 168 Vgl. Hessus 1531. 2 Der De Theriacis et mithridateis Commentariolus 1533 Am 06.07.1534 schickte der Dichter Helius Eobanus Hessus (1488-1540) Came‐ rarius, seinem Freund und ehemaligen Kollegen am Nürnberger Egidiengym‐ nasium, einen in lockerem Tonfall gehaltenen Brief, der sich sicherlich auf Camerarius‘ erstes rein medizinisches Werk, den De Theriacis et Mithridateis Commentariolus bezieht, einen Kommentar über legendäre Heilmittel gegen alle Gifte und Krankheiten: 166 Tuus libellus unice me delectavit, quem in consessu publico ostendi omnibus, etiam quibusdam doctis uiris Lypsensibus. Quid uero tu ad ista? Vis fieri Medicus? Vide, ne idem eueniat, quod mihi, et ne nimium sero Camelus saltet, sed mi Ioachime isto studio, studium dico non χειρίξεις secundum Hippocratem, nullum aliud est nec utilius nec amoenius, quo ego pro mea mediocritate delector vehementer. Dein Büchlein hat mir ausnehmend gut gefallen. Bei einer öffentlichen Versammlung habe ich es allen gezeigt, sogar einigen Gelehrten aus Leipzig. Warum beschäftigst du dich damit? Willst du etwa Arzt werden? Sieh zu, dass dir nicht dasselbe widerfährt wie mir, und dass „das Kamel nicht zu spät tanzt“. Mein lieber Joachim, es gibt nichts Nützlicheres und Angenehmeres als dieses Studium - wobei ich damit, in Übereinstimmung mit Hippokrates, nicht die Wundarznei meine. Ich habe, mäßig begabt wie ich bin, (trotzdem) große Freude daran. Der Brief suggeriert, dass das Werk großen Anklang fand, zeigt aber auch, wie überrascht Hessus war, dass Camerarius Werke über medizinischen Themen verfasste. Anscheinend hatte Camerarius also bis dahin keine derartigen Ambi‐ tionen gezeigt. Hessus selbst hatte bereits im Jahr 1524 einen ähnlichen Versuch gemacht und als Humanist und Nichtmediziner - genauer gesagt, hatte er gerade erst ein Medizinstudium aufgenommen - ein Werk über die Heilkunst verfasst, nämlich ein Lehrgedicht über Diätetik, die Bonae valetudinis conservandae praecepta. 167 1531, sein Studium hatte er längst wieder abgebrochen, publizierte er eine Neuauflage. 168 Ihr Widmungsbrief zeigt, dass das Überschreiten der eigenen professio durchaus Ressentiments bei eher konservativen Gelehrten 169 Vgl. Hessus 1531, Bl. Aiiv. nach sich ziehen konnte, 169 ein Umstand, dessen sich Camerarius bewusst sein musste. Der Brief lässt es erstaunlich erscheinen, dass Camerarius den Commentariolus verfasst hat. Was bezweckte er mit der Publikation? Zur Klärung dieser Hauptfrage sollen auch die folgenden untergeordneten Fragen untersucht werden: Wie intensiv befasst sich Camerarius mit der Medizin? Wie geht er mit seiner Rolle als Humanist und medizinischer Laie um? Wie inszeniert er sich selbst, wie die Adressaten der Widmungsschreiben? Welches Bild von der Medizin zeichnet er? 2.1 Entstehungsbedingungen Wenden wir uns nun den Entstehungsbedingungen zu. Zunächst soll erläutert werden, worum es sich bei den zeitgenössischen Medikamenten ‚Theriak‘ und ‚Mithridateion‘ handelt und wie sie eingesetzt wurden. Anschließend sollen konkretere lokale Entstehungsbedingungen erläutert werden, nämlich die Herstellung von Theriak in Nürnberg sowie Camerarius’ Flucht vor der Pest des Jahres 1533/ 34, die er in einem der Paratexte als Anlass für die Abfassung des Werkes beschreibt. 2.1.1 Herkunft und Verwendung von Mithridateion und Theriak Mithridateion und Theriak sind legendäre antike Medikamente, deren Ge‐ schichte recht komplex ist. Insbesondere mit dem Begriff Theriak werden mehrere Medikamente bezeichnet, deren Rezepturen im Laufe der Zeit starken Veränderungen unterworfen waren. Der Einfachheit halber soll hier nur auf die zwei für Camerarius besonders relevanten Medikamente / Rezepte einge‐ gangen werden: Mithridateion ist ein nach dem König Mithridates VI. Eupator (132-63 v. Chr.) benanntes Gegengift, das aus 54 Zutaten besteht und eine Weiterentwicklung eines älteren Rezeptes darstellt. Andromachos, der Leibarzt Kaiser des Kaisers Nero, verfeinerte die Rezeptur dann weiter, indem er u. a. Vipernfleisch hinzufügte, im Glauben so die Wirkung gegen die Gifte verstärken zu können. Man schrieb diesen Mitteln die Kraft zu, gegen alle Gifte und Krankheiten wirken zu können. Der Theriak des Andromachos (im Folgenden einfach ‚Theriak‘ genannt) galt als das wirksamere der beiden Mittel und wurde in der Frühen Neuzeit zur Bekämpfung der Pest eingesetzt - i. d. R. vergeblich, denn vermutlich entfaltete nur das darin enthaltene Opium eine 68 2 Der De Theriacis et mithridateis Commentariolus 1533 170 Vgl. Hudson 2017, Keil 2005, Parojcic / Stupar / Mirica 2003, Dilg 1997 sowie Stan‐ nard / Dilg 1978, 160-162. 171 Vgl.-Stannard / Dilg 1978, 160-162. 172 Vgl. Parojcic / Stupar / Mirica 2003, 31 (Zu Fälschungen). Die Zubereitung von Theriak scheint im ganzen 16. Jahrhundert problematisch gewesen zu sein, so entwickelte sich beispielsweise in Bologna im Jahr ein heftiger Disput über die richtige Herstellung dieser Arznei, vgl. Olmi 1977. Vgl. auch Raj / Pękacka-Falkowska / Wlodarczyk / Węg‐ lorz 2021, 4 (Zur Höhe der Kosten von Theriak). 173 Gemeint sind Ärzte aus dem einfachen Volk, die keine Universität besucht haben (vgl. auch Kapitel A.1). 174 Vgl. Cordus 1532b, Bl. AIIIr/ v, das Zitat auf Bl. AIIIv. 175 Vgl. Cordus 1532b, Bl. AIIIv-AIIIIr. 176 Vgl. Cordus 1532b, Bl. AIIIIr. nützliche Wirkung. 170 Problematisch waren aber noch andere Faktoren: Einige der Inhaltsstoffe wuchsen gar nicht in Deutschland und mussten erst auf langen Reisen aus dem Orient herbeigeschafft werden. Wenn sie in den Apotheken ankamen, waren sie oft schon verdorben. Außerdem hatte man gar nicht alle Zutaten der antiken Heilmittel identifizieren können. 171 Zudem kann man sich gut vorstellen, dass manch skrupelloser Händler, Heilkundiger oder Apotheker in der Herstellung und dem Verkauf von Allheilmitteln wie Theriak ein lukra‐ tives Geschäft sah. 172 Der mit Camerarius befreundete Euricius Cordus (1486-1535) nahm diese Missstände zum Anlass, 1532, d. h. ein Jahr vor der Veröffentlichung des Com‐ mentariolus, eine Theriakschrift zu veröffentlichen, in der er die schlechten und gepanschten Arzneien kritisierte und sich gegen die sich aufspielenden und be‐ trügenden Apotheker und empirische Ärzte 173 aus dem einfachen Volk wandte: „Wer solt odder wolt ynn solcher grossen verachtung aller guten kunste hinfurt studiren: Wer wolt nit lieber eyn kesselflicker/ ja eyn hundeschleger denn eyn gelerter man werden“. 174 Cordus gesteht nur den Akademikern die Kenntnis der Wahrheit zu. 175 Den Niedergang der Medizin sieht er in der Vernachlässigung der Medikamentenzubereitung begründet und fordert die universitären Ärzte auf, sich diesem Gebiet erneut zuzuwenden, was, wie wir sehen werden, derselbe Ansatz ist, den Camerarius verfolgt. 176 Diese humanistische Propaganda gegen empirici verbindet sich hier also mit einer Aufforderung an die Akademiker, der Praxis mehr Bedeutung beizumessen. Beides bezweckt eine Aufwertung des akademisch gebildeten Arztes. 2.1 Entstehungsbedingungen 69 177 Vgl. Hudson 2017, Keil 2005, 1393, Griffin 2004, Parojcic / Stupar / Mirica 2003, 30 f. sowie Dilg 1997, Sp. 278 f. 178 Zu den Nürnberger Apotheken des 16.-Jahrhunderts vgl. Murphy 2019, 21-44. 179 Vgl. Philipp 1962, 33-35 (Zu den Hintergründen der Verordnung) und 111 f. (Wortlaut der Verordnung). 180 Vgl. Philipp 1962, 35 und 112. 2.1.2 Camerarius in Nürnberg: Herstellung von Theriak, Ausbruch der Pest und Erwerb der Aldina Den genannten Problemen bei der Herstellung und dem Verkauf von Theriak standen gezielte Bestrebungen gegenüber, die beides zu regulieren. Als vorbild‐ haft galt hier die Stadt Venedig, die bereits 1258 Vorschriften erlassen hatte, die das dort hergestellte Theriak bis ins 18. Jahrhundert hinein zu einem beliebten und wichtigen Exportgut machten. Zu diesen Vorschriften gehörte es, dass das Allheilmittel öffentlich in einer Art Zeremonie gebraut werden musste - eine Maßnahme, die die Qualität sichern und Vertrauen in die Marke „Venezianischer Theriak“ schaffen sollte. Außerdem wurden die so hergestellten Medikamente von Fachleuten geprüft und mit einem Siegel versehen. Bekannt war auch der Theriak der Stadt Nürnberg, die durch die Übernahme vergleichbarer Regulierungen gezielt versucht hatte, am Erfolg teilzuhaben. 177 Camerarius fand somit in Nürnberg Bedingungen vor, die eine Auseinandersetzung mit der Herstellung des Antidots Theriak begünstigten. Dies gilt umso mehr, als das Nürnberger Apothekenwesen 178 gegen Ende der 1520er Jahre einer Neuordnung unterzogen wurde. So wurde 1529 wurde eine Apothekerordnung eingeführt, welche bestehende Mängel beheben sollte. 179 Zwei Punkte dieser Verfügung betrafen die Zubereitung und den Verkauf von Theriak: Erstens musste das Alter dieses Medikaments beim Verkauf angegeben werden, da es mit der Zeit seine Eigenschaften veränderte. Zweitens war es verboten, diese Arznei mit dem Siegel der Stadt Nürnberg zu versehen, wenn sie nicht vorher durch einen Arzt geprüft worden war. Diese Regelungen legen nahe, dass man den Nürnberger Theriak als einen wichtigen Handelsartikel betrachtete, den es entsprechend zu schützen galt, 180 und dass es bei der Zubereitung zu einigen Missständen gekommen war. Zugleich bedeutete dies - und dies ist für die Untersuchung der Schrift De Theriacis von Bedeutung - dass Nürnberger Ärzte über profunde Kenntnisse in der Herstellung von Medikamenten verfügen oder sich diese aneignen mussten, wenn sie den Anforderungen ihrer Aufsichtspflicht über den Brauprozess gerecht werden wollten. Als dann im Juli 1533 die Pest über Nürnberg hereinbrach, wuchs die Bedeutung von und der Bedarf an Theriak sicherlich schlagartig an. In dieser Zeit (die Pest dauerte bis Februar 1534 an) zog sich Camerarius mit seiner Familie 70 2 Der De Theriacis et mithridateis Commentariolus 1533 181 Vgl. Woitkowitz 2003, 40. 182 Vgl. Camerarius an Georg Sturtz, 27.04.1527 (Camerarius 1561, Bl. T4v; = OCEp 0343 / ÄB 5427). 183 Vgl. Camerarius 1533, Bl. b6r (= Kapitel E.2.3, Abschnitt 1). 184 Vgl. Melanchthon an Camerarius, 07.12.15333 (= MBW 1384 / OCEp 1659), Melanchthon an Camerarius, 24.01.1534 (= MBW 1400 / OCEp 1660) und Melanchthon an Camerarius, 22.05.1535 (MBW 1575 / OCEp 1683). auf das seiner Frau gehörende Gut Eschenau zurück, das sich in der Nähe von Nürnberg befindet. 181 Dort verfasste er den Commentariolus. Doch selbst wenn Camerarius konkrete Anlässe hatte, über die Herstellung von Theriak zu schreiben, stellt sich dennoch die Frage, was ihn zur Abfassung eines solchen Werkes befähigte. Tatsächlich spricht einiges dafür, dass sich Camerarius - und anders als der eingangs zitierte Brief des Hessus andeutet - zuvor zumindest theoretisch intensiv mit medizinischen Themen beschäftigt hatte. Ein Interesse an antiker Medizin ist bereits im Jahr 1527 greifbar, denn aus einem am 27. April an den Arzt Georg Sturtz verfassten Brief geht hervor, dass Camerarius zu diesem Zeitpunkt nicht nur die 1525 erschienene lateinische Version der Werke des Hippokrates besaß, sondern auch die ein Jahr später erschienene Aldina, d. h. die erste nach ihrem venezianischen Druckhaus benannte griechische Gesamtausgabe. Ein Vergleich der beiden Drucke habe gezeigt, so Camerarius, dass die Übersetzung schlecht sei. 182 Zudem muss er irgendwann in den Jahren vor 1533 auch die 1525 erschienene Galen-Aldina erworben und vollständig durchgearbeitet haben (es handelt sich um 5 Bände mit jeweils über 400 Seiten), wie aus dem in De Theriacis enthaltenen Widmungs‐ brief an Johann Schütz von Weyll (gest. 1547) hervorgeht. 183 Diese in Venedig erschienenen Drucke waren auf dem neuesten Stand der Forschung und es kann als sicher gelten, dass Camerarius sich intensiv mit ihnen auseinandergesetzt hat, denn Melanchthon bat ihn 1534 darum, Galenstellen für die geplanten Initia Doctrinae Physicae herauszusuchen, und wandte sich 1535 mit weiteren Fragen an Camerarius. 184 Es ging Melanchthon dabei vor allem um die Körpersäfte und andere eher naturkundliche (d. h. physiologische) Fragen. Zu diesem eher theoretischen Wissen, das sich Camerarius über medizinische Themen wie Theriak angeeignet hatte, kam die persönliche Bekanntschaft mit Nürnberger Ärzten, die sein Wissen zusätzlich bereichern konnten, darunter die beiden in Nürnberg wirkenden Dedikationsempfänger, auf die im nächsten Kapitel eingegangen werden soll. 2.1 Entstehungsbedingungen 71 185 Vgl. Assion / Telle 1972. 186 Vgl. Assion / Telle 1972, 364-365. 187 Vgl. Assion / Telle 1972, 378 und Stannard / Dilg 1978, 181, Anm. 18. 188 Vgl. Erastus 1572-1573, Bd. II, 3 und Assion / Telle 1972, 387. 189 Vgl. Magenbuch 1532 (VD16 ZV 10242). 2.2 Widmung und Aufbau des Drucks Der Druck enthält eine ganze Reihe von Werken und hat zwei Widmungsadres‐ saten. Das Hauptwerk ist eine Zusammenfassung dessen, was Camerarius in den Schriften Galens über das Heilmittel Theriak gelesen hat, es handelt sich hierbei um den eigentlichen Commentariolus, der dem Druck seinen Namen gab. Er ist zusammen mit einigen griechischen Rezepten und deren lateinischen Übersetzungen Johannes Magenbuch (um 1500-1546) gewidmet. In der zeit‐ lichen Entwicklung stellen sie die erste Abfassungsstufe dar. Anschließend fügte Camerarius diesen Schriften eine Übersetzung des kurzen Libellus ad Pamphilianum de Theriaca bei, die er mit einem eigenen Widmungsbrief an Johann Schütz von Weyll (gest. 1547) versah. Über Johannes Magenbuch (um 1500-1546) haben Peter Assion und Joachim Telle einen umfangreichen Aufsatz verfasst. 185 Er war 1524 als Stadtarzt nach Nürnberg berufen worden, dürfte aber Camerarius schon vorher kennengelernt haben, da er sich 1518 in Wittenberg immatrikuliert hatte, dort 1522 Magister wurde und - nach einer kurzen Tätigkeit als Hauslehrer in Ulm - 1523 in Wittenberg zum Dr. med. promovierte. Außerdem war er ein Bekannter des mit Camerarius eng befreundeten Melanchthon. 186 Aus Magenbuchs Praxistagebuch geht hervor, dass er einen Sohn des Camerarius behandelte. 187 Pharmazeutische Forschungen bildeten offenbar einen seiner Arbeitsschwerpunkte, wobei er sich relativ unabhängig von traditionellen Rezepturen zeigte. Thomas Erastus schreibt in seinen 1572/ 73 in Basel erschienenen Disputationes de medicina nova Philippi Paracelsi, Paracelsus verdanke seine Fertigkeiten im Bereich der Destillation und der Herstellung alchemischer Medikamente unter anderem Magenbuch. 188 1532 verfasste er ein Pestregimen, in dem er, wie es zu dieser Zeit vermutlich üblich war, die Anwendung von Theriak empfahl. 189 Magenbuch scheint also ein sehr erfahrener Arzt gewesen zu sein, der auch über praktische Fähigkeiten auf dem Gebiet der Herstellung von Medikamenten verfügte. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass er sich mit Camerarius über medizinische Themen austauschte. Anlass für die Widmung war, wie Camerarius im Com‐ mentariolus schreibt, die Behandlung seiner Familie durch Magenbuch. 72 2 Der De Theriacis et mithridateis Commentariolus 1533 190 Vgl. Philipp 1962, 36 und Stannard / Dilg 1978, 178, Anm. 3. Den zweiten in De Theriacis auftauchenden Widmungsempfänger, Johann Schütz von Weyll (gest. 1547), dürfte Camerarius erst in Nürnberg kennen‐ gelernt haben. Er war seit 1523 als Arzt in Nürnberg tätig. Über ihn ist wenig bekannt, außer, dass er 1536 vom Nürnberger Rat mit der Visitation von Apotheken beauftragt wurde. 190 Es ist unklar, ob er bereits vorher mit entsprechenden administrativen Aufgaben betraut war und vielleicht deshalb von Camerarius als Dedikationsempfänger gewählt wurde. Es folgt ein Schema des kleinteiligen Aufbaus des Druckes, der vom Verfasser dieser Arbeit aus Gründen der Übersichtlichkeit in vier Teile untergliedert wurde. Dedikationsempfänger des Druckes ist Magenbuch, nur die Überset‐ zung des Libellus ad Pamphilianum de Theriaca ist Johann Schütz von Weyll gewidmet. Aufbauschema 1. Der eigentliche Commentariolus Bl. a2r-b6r: De Theriacis antidotis ad Iohannem Magenbuchium Medicum Noricum […] Commentariolus Der Commentariolus lässt sich wie folgt untergliedern: • Reflexionen über die zeitgenössische Medizin (Bl.-a2r-a5r). • Angaben zur Entstehung des Werkes, Widmung an Magenbuch (Bl. a5v-a6r). Die Widmung ist komplementär zur Dedikationsepistel an Weyll angelegt. Sie wird im Folgenden als Paratext behandelt. • Sammlung von „Lesefrüchten“ über Theriak (Bl.-a6r-b6r). 2. Übersetzung von Galens Libellus ad Pamphilianum de Theriaca mit zugehörigem Widmungsbrief 2.1 Bl.-b6v-b8r: Widmungsbrief an Johann Schütz von Weyll 2.2 Bl. b8v-c7v: Lateinische Übersetzung von Galens Libellus ad Pamphilianum de Theriaca (= Kühn XIV, 3, 295-310; Fichtner 2019, Nr.-85, 66 f.) 3. Lateinische Übersetzungen griechischer Antidot-Rezepte 3.1 Bl. c8r-d3r: Medicamentum Theriacae Andromacho autore, cui ille Galenes nomen imposuit Metrische Übersetzung eines von Galen in den De Antidotis libri duo 1, 6 (= Kühn XIV, 1, 32-42) überlieferten und von Andromachos d. Ä. in Gedichtform verfassten Rezeptes „Galene“ zur Herstellung von Theriak. Versmaß: Distichen. 2.2 Widmung und Aufbau des Drucks 73 3.2 Bl.-d3v: Antidotus Antiochi Metrische Übersetzung eines von Galen in De antidotis libri duo 2, 13 (= Kühn XIV, 1, 185-186) überlieferten und von Eudemos verfassten Rezeptes für Theriak. Die Übersetzung ist um ein Distichon kürzer als das Original (7 gegenüber 8 elegischen Distichen). 3.3 Bl.-d4r/ v: Theriaca Antidotus Hexametrische Übersetzung eines von Galen in De Antidotis libri duo 1, 16 (= Kühn XIV, 1, 100-102) überlieferten Rezepts zur Herstellung von Theriak. Das Rezept stammt von Servilius Damokrates. 3.4 Bl. d4v-5r: Philonis Antidotus, cuius est haec descriptio expli‐ cante Galeno Übersetzung eines von Galen in De compositione medicamentorum secundum locos 9, 4 (= Kühn XIII, 2, 267-269) überlieferten und von Philon von Tarsos in metrischer Form verfassten Rezeptes für ein nach ihm benanntes Gegengift (φιλώνειον). Es besteht aus 14 elegischen Distichen. 4. Es folgen griechische Rezepte (zum Teil handelt es sich dabei um die Originaltexte zu den obigen Übersetzungen) 4.1 Bl. d5v-d8v: Ἀνδρομάχου Νέρωνος Ἀρχιατροῦ θηριακὴ δι‘ ἐχιδνῶν ἡ καλουμένη Γαλήνη Originaltext zu 3.1. (s. dort) 4.2 Bl.-e1r/ v: Θηριακή Originaltext zu 3.3. (s. dort) 4.3 Bl.-e2r-e5r: Δαμοκράτους θηριακὴ ἀντίδοτος Edition eines von Galen in De Antidotis libri Duo 1, 15 (= Kühn XIV, 1, 90-99) überlieferten und von Servilius Damocrates in metrischer Form verfassten Rezeptes zur Herstellung von Theriak. 4.4 Bl.-e5v: Ἐκ τῶν Εὐδήμου Ἀντιόχειος ἀντίδοτος Originaltext zu 3.2. (s. dort) 4.5 Bl.-e5v-e6r: ἀντίδοτος προγνωστικὴ Δαμοκράτους Edition eines von Galen in De Antidotis libri duo 2, 5 (= Kühn XIV, 1, 134-135) überlieferten und von Servilius Damocrates in metrischer Form verfassten Rezeptes zur Herstellung von Theriak. 4.6 Bl. e6r-e7r: Τοῦ αὐτοῦ τὸ διὰ βοτάνης πάγχρηστον ἣν ἰβηρίδα καλεῖ Edition eines von Galen in De compositione medicamentorum se‐ cundum locos 9, 2 (= Kühn XIII, 2, 350-353) überlieferten und von Servilius Damocrates in metrischer Form verfassten Gedichtes über die Form und Anwendung der Pflanze Iberis. 74 2 Der De Theriacis et mithridateis Commentariolus 1533 191 Das Rezept Medicamentum Theriacae Andromacho autore (Bl. c8r-d3r) enthält eine kurze Anmerkung: Die in diesem Rezept des Andromachos d. Ä. überlieferte Zutat sei schon Galen unbekannt gewesen, der darauf verweist, dass sie sich auch nicht bei Andromachos d. J. finde. Nun gebe es aber, so Camerarius, bei Letzterem eine weitere Zutat, Acorum, die heutzutage unbekannt sei. Man könne also darüber nachdenken, ob die Zutaten nicht identisch seien. Camerarius arbeitet hier mit dem philologischen Vergleich, geht aber nicht weiter auf die Zutaten ein. Bei dem „Antidotus Antiochi“ betitelten Rezept (Bl. 3v) verweist er darauf, dass diese Verse, die auf einem Stein an der Schwelle eines Aeskulaptempels gestanden hätten, von Plinius d. Ä. am Ende seines 20. Buches anders wiedergegeben wurden (vgl. Plinius, naturalis historia 20, 264). 192 Vgl. Stannard / Dilg 1978, 177. 193 Vgl. Cordus 1532b, Bl. AIIIIr und Stannard / Dilg 1978, 179 f., Anm. 8 und 180, Anm. 10. 4.7 Bl.-e7r-e8r: Ἡ τοῦ χάρμιδος πολυτελής (Inc.) Edition eines von Galen in De antidotis libri duo 2, 4 (= Kühn XIV, 1, 126-129) überlieferten und von Servilius Damocrates in metrischer Form verfassten Gedichtes über das Gegengift Χάρ(μ)ην“. Formal gesehen zeichnet sich der Druck durch seine methodische Vielfalt aus: Die für einen Mediziner zentralen Texte, d. h. die Rezepte, werden nicht nur im Original, sondern auch in Übersetzungen abgedruckt. Hinzu kommen die Übersetzungen des Libellus ad Pamphilianum, eines kurzen und prägnanten Textes über Theriak, sowie der von Camerarius verfasste Commentariolus. Durch die Zweisprachigkeit, Knappheit und Prägnanz der Texte eignet sich der Druck sowohl für Ärzte mit geringen Griechischkenntnissen als auch für medizinische Laien oder Medizinstudenten, die sich einen Überblick über Theriak und Mithridateion verschaffen wollen. Die Editionen und Übersetzungen sind weitgehend unkommentiert, an nur zwei Stellen finden sich philologische Kommentare zu den Inhaltsstoffen. 191 Eigene medizinische Beobachtungen oder Anmerkungen gibt es nicht. Camerarius lie‐ fert damit, wie schon Peter Dilg feststellte, der Medizin keine neuen fachlichen Impulse. 192 Dies gilt in ähnlicher Weise für den eigentlichen Commentariolus (= Teil 1), der sich in drei Abschnitte gliedern lässt. Im ersten Abschnitt (Bl. a2r-a5r; = Kapitel E.2.1) kritisiert Camerarius die zeitgenössische Herstellung von Medikamenten. Das Problem sei, dass die Mediziner gleichsam eher Buchwissenschaftler seien und sich nur theoretisch mit der Herstellung von Arzneimitteln befassten, (ein Standpunkt, den Cordus bereits ein Jahr zuvor vertreten hatte). 193 Es fehle ihnen an Praxis und wertvoller Erfahrung, ohne die die Rekonstruktion antiker Medi‐ kamente zum Scheitern verurteilt sei. Camerarius rekurriert hierbei auf antike 2.2 Widmung und Aufbau des Drucks 75 194 Vgl. Camerarius 1533, Bl. a3r (= Kapitel E.2.1, Abschnitt 3): „Iam vero constat, quam sit necesse apud istos apothecarios, ut recentia sint omnia, quod secus fere esse solet, corrupta tamen et confusa inveniri exotica plurima.“ Vgl. auch Camerarius 1533, Bl. a5r (= Kapitel E.2.1, Abschnitt 7): „Haec mihi consideranti reprehendendi profecto videntur, si qui acceleratione compositionum gloriam et famam captant, quales me scio non vidisse nullos.“ 195 Vgl. Kapitel B.2.1. 196 Vgl. Nutton 2019, 482 und Nutton 2022, 113. wissenschaftliche Konzepte, wie das Wissensmodell des Aristoteles und die Analogie, die in Kapitel C dieser Arbeit ausführlich behandelt werden. Wichtig ist, dass er seine Botschaft, usus und experientia (d. h. Übung und praktische Erfahrung) seien notwendig, unablässig wiederholt und durch Selbstaussagen Galens untermauert. Dieser antike Arzt wird zum perfekten, gottgleichen Vorbild stilisiert, dem der Mediziner nicht nur methodisch, sondern in jeder Hinsicht nacheifern soll: In seinem Fleiß, seinem Bemühen um Autopsie, seinen philosophischen Kenntnissen, seinen fachübergreifenden Ambitionen sowie seinen zahlreichen Reisen, um sich mit den Inhaltsstoffen von Medikamenten vertraut zu machen. Die Kritik an den Ärzten ist gepaart mit einer Polemik gegen die Habgier und Schlampigkeit der zeitgenössischen Apotheker 194 - eine Kritik, die wie gezeigt, durchaus in der Lebenswelt verankert war, wenn man an die Missstände bei der Zubereitung von Theriak denkt. 195 Der gesamte Abschnitt besteht, so kann man es zusammenfassen, aus philosophischen Reflexionen über die Notwendigkeit der Praxis in der Medizin, Aspekte, die eingehender in Kapitel C dieser Arbeit analysiert werden sollen. Relevant ist an dieser Stelle nur, dass die Betonung der Praxis und der eigenen Erfahrung einem zeitgenössischen Trend entsprach. Die wiederentdeckten griechischen Texte zeichneten ein neues Bild von Galen. Sein System war, wie man feststellte, viel weniger geschlossen als angenommen, und er legte viel mehr Wert auf eigene Erfahrung, Autopsie und Ausprobieren. 196 Abschnitt 2 besteht aus der Widmung an Johannes Magenbuch (Bl. a5v- a6r; = Kapitel E.2.2). Der letzte Abschnitt (Bl. a6r-b6r) stellt eine mit zahlrei‐ chen Anekdoten und Exkursen gesprickte Zusammenfassung verschiedener Schriften Galens. Camerarius schreibt hier über Gegengifte, die Pest sowie den Unterschied, die Erfindung und die Eigenschaften der Gegengifte Theriak und Mithridateion. Breiten Raum nehmen auch Erläuterungen zu der Zutat ‚Vipernfleisch‘ ein. 76 2 Der De Theriacis et mithridateis Commentariolus 1533 197 Vgl. Kapitel E.2.2 / E.2.3. 198 Vgl. für die folgenden Ausführungen die Edition und kommentierte Übersetzung im Anhang dieser Arbeit (= Kapitel E.2.2). 199 Vgl. Camerarius 1533, Bl. a5v (= Kapitel E.2.2, Abschnitt 1). 200 Vgl. Camerarius 1533, Bl. a5v (= Kapitel E.2.2, Abschnitt 1): „De quibus rebus quoties sermones cum amicis et familiaribus meis habui, quod studiosus rerum naturalium perfacere libenter consuevi. Exempli loco proposui illis Theriacas et Mithridaticas antidotos […].“ 201 Vgl. Camerarius 1538, 1 und 5 f. 202 Vgl. Kapitel A.3.2. 2.3 Analyse der Paratexte Die beiden Widmungsschreiben hat Camerarius komplementär zueinander verfasst. Wie die folgenden Analysen zeigen werden, wird Magenbuch als medizinischer Fachmann stilisiert, Weyll hingegen als literarisch interessierter Arzt. Die im Folgenden verwendeten Abschnittszählungen orientieren sich an den Editionen der Widmungsbriefe im Anhang, um das Auffinden von Zitaten zu erleichtern. 197 2.3.1 Der medizinische Experte: Die Widmung an Magenbuch 198 Camerarius eröffnet sein Widmungsschreiben mit einer topischen Selbstinsze‐ nierung: 199 Er porträtiert sich selbst, wie er im Kreis seiner Freunde über naturkundliche Themen referiert, die ihm zuhören, wie er von seiner Lektüre griechischer Ärzte berichtet. 200 Mit dieser Bemerkung dürfte Camerarius bei seinen humanistisch gebildeten Lesern sofort den Gedanken an die Dialoge Platons oder Ciceros evoziert haben. Damit verleiht er seinen philosophischen Reflexionen im Commentariolus zusätzliches Gewicht und legitimiert sich selbst als Autor. Camerarius verwendete einige Jahre später das gleiche Motiv, als er 1538 einen Kommentar zu den Tuskulanen Ciceros als philosophisches Gespräch mit Daniel Stiebar von Rabeneck (1503-1555) inszenierte. Auch diese fingierte Unterredung fand statt, nachdem er vor der Pest in Nürnberg aufs Land geflohen war. 201 Aber Camerarius hebt nicht nur seine philosophischen Kenntnisse hervor. Mindestens ebenso wichtig ist die Erwähnung seiner Lektüre griechischer Ärzte. Sie soll Camerarius’ gräzistische Kompetenz und seinen exklusiven Zugang zu Textausgaben wie der Aldina unterstreichen - Faktoren, die ihm Zugang zu einer Art Geheimwissen verschafft haben. Auf das Drängen seiner Zuhörer hin - auch dies ist topisch für Widmungsbriefe - 202 lässt er sich davon überzeugen, seine neu erworbenen Erkenntnisse in lateinischer Sprache 2.3 Analyse der Paratexte 77 203 Vgl. Camerarius 1533, Bl. a5v (= Kapitel E.2.2, Abschnitt 1): „Petiere igitur aliqui a me, ut quae de his in Graecis scriptoribus invenissem, studerem aliquando latine exponere, non quidem interpretans unum aliquem autorem, sed meo iudicio illorum scripta et inventa percensens.“ 204 Vgl. Camerarius 1533, Bl. a5v-a6r (= Kapitel E.2.2, Abschnitt 2). 205 Vgl. Camerarius 1533, Bl. a5v-a6r (= Kapitel E.2.2, Abschnitt 2): „Quod ut facerem, ipsa me haec tempora admonere visa sunt, quibus, cum metu pestilentiae perculsa civitate nostra functio nostra in fuga et trepidatione omnium et ipsa quasi suspenderetur, secessi cum familia in propinquum urbi rus, ibique et otio suppetente et hortante cupiditate amicorum in manus hoc opus sumpsi […].“ 206 Zur Rezeption des otium-Gedankens in der Frühen Neuzeit vgl. Enenkel 2015, 521-537. darzustellen und damit einem größeren Leserkreis zugänglich zu machen. 203 Der Zweck dieser Selbstinszenierung liegt auf der Hand: Zum einen demonstriert er seine Bescheidenheit und seine Zugehörigkeit zum Kreis der humanistischen Gelehrten, zum anderen will er dem Leser demonstrieren, dass er aufgrund seiner Griechischkenntnisse Zugang zu antikem Spezialwissen hat, das bisher allenfalls indirekt über die arabisch-lateinische Tradition zugänglich war. In Abschnitt 2 204 kommt Camerarius auf den Anlass für die Genese des Com‐ mentariolus zu sprechen, nämlich den Hereinbruch der Pest über Nürnberg, der ihn zur Flucht aufs Land veranlasste, wo er in Ruhe (otio suppetente) durch die Schriften Galens streifte und den Commentariolus verfasste. Dabei legitimiert er das Verlassen der Stadt mit dem Hinweis, dass er der Gesellschaft gar nicht mehr dienlich sein konnte, da ganz Nürnberg im Chaos versunken war. 205 Mit diesen Äußerungen trägt Camerarius sein Pflichtbewusstsein zur Schau und bedient zugleich zwei Topoi, die von den zeitgenössischen Lesern leicht erkannt werden konnten, nämlich den otium-topos und die spätestens seit Bocaccio topische Beschreibung einer Flucht vor der Pest auf das Land. Antike Autoren hatten das Pflicht- und otium-Verständnis der römischen Oberschicht durch ihre Werke der Nachwelt tradiert. Das Ideal dieser sozialen Gruppe war es, sich ständig politisch zu engagieren und dem Staat von Nutzen zu sein. Weil literarische Tätigkeit erst einmal im Gegensatz dazu stand, musste sie erst legitimiert werden, in der Regel dadurch, dass der Autor sich zur Abfassungszeit gar nicht politisch engagieren kann und daher über freie Zeit (otium) verfügt. Aber auch in diesem Fall soll die freie Zeit noch dem Nutzen des Staates dienen. Man denke etwa an Cicero zu denken, der in Phasen erzwun‐ gener politischer Untätigkeit Werke schuf, die ihrerseits wieder politischen Charakter hatten. 206 Camerarius überträgt dieses Ideal auf seine Tätigkeit als humanistischer Pädagoge am Egidiengymnasium. Mit dem Hinweis auf die Pest und das in der Stadt herrschende Chaos legitimiert er, dass er überhaupt über freie Zeit / otium verfügt, denn er schreibt ja explizit, dass er seinen Pflichten 78 2 Der De Theriacis et mithridateis Commentariolus 1533 207 Vgl. Bertelsmeier-Kirst 2015 (insb. 81), zum Decamerone auch Bergdolt 2015. 208 Vgl. Camerarius 1533, Bl. a6r (= Kapitel E.2.2, Abschnitt 3). 209 Aus Magenbuchs Praxistagebuch geht hervor, dass Camerarius’ Sohn tatsächlich von ihm behandelt wurde, vgl. Assion / Telle 1972, 378 und Stannard / Dilg 1978, 181, Anm. 18. 210 Vgl. Camerarius 1533, Bl. a6r (= Kapitel E.2.2, Abschnitt 3); „Hanc nostram lucubrati‐ unculam ad matutinam lucernam exaratam tibi dicamus Magenbuchi, quem ut semper ohnehin nicht mehr nachkommen konnte. Und in gewisser Weise setzt er mit der Publikation des Commentariolus seine Tätigkeit als Pädagoge und seinen Einsatz für das Gemeinwohl fort, da er Studenten und anderen Gelehrten den Inhalt antiker Schriften sowie die Texte selbst vermitteln möchte. Dabei wird deutlich, dass sich Camerarius vor allem als Pädagoge und Vermittler sieht, denn er schreibt, dass er durch die Publikation seiner Schriften den jungen Gelehrten keinen unnützen Dienst erweisen werde, aber an einem konkreten Nutzen für die Gegenwart zweifle. Fluchtbeschreibungen vor der Pest auf das Land waren seit Bocaccio nicht ungewöhnlich. In der Rahmenhandlung des Decamerone schildert er, wie sieben Frauen und drei Männer vor der Seuche aus Florenz auf das Land fliehen. Dort unterhalten sie sich in bukolischer Idylle zehn Tage lang gegenseitig mit Geschichten. Dabei kreieren sie eine Art harmonische Gegenwelt, die dem Chaos der pestverseuchten Stadt eine neue, eigene Ordnung entgegensetzt. Sie suchen nach zerstörten moralischen Werten bzw. wollen sie neu definieren. 207 Etwas Ähnliches impliziert in gewisser Weise auch Camerarius. Bei ihm ist es die Medizin, die ins Chaos geraten ist. Ihren Niedergang hat er gleich zu Beginn des Drucks ausführlich geschildert und auf falsche Werte und Vorstellungen von Ärzten und Apothekern zurückgeführt. Die einen legten zu wenig Wert auf Autopsie und experientia, die anderen sieht er als geldgierig und schlampig an. Auf dem Land, in ländlicher Idylle und Ruhe, denkt er darüber nach, wie sie wiederhergestellt werden kann, und versucht, Werte wie experientia und Autopsie neu zu bewerten. Durch die Übertragung dieser beiden Topoi auf eine konkrete Situation möchte Camerarius seinen souveränen Umgang mit literarischen Motiven demonstrieren, sein Pflichtbewusstsein zur Schau stellen und nicht zuletzt die Bedeutung seiner eigenen Reflexionen über die Medizin für die Gesellschaft hervorheben. Schließlich wendet sich Camerarius im dritten und letzten Abschnitt 208 an den Dedikationsempfänger Magenbuch, dessen bereitwillige Unterstützung für seine Familie er hervorhebt 209 und den er als fachlich äußerst kompetenten Arzt beschreibt. Durch die Widmung an ihn könne er sicher sein, dass ein qualifizierter Mann seine Schriften beurteilen werde. 210 Camerarius stilisiert 2.3 Analyse der Paratexte 79 cognovi promptissima erga me meosque voluntate et opera fuisse, ita confido libenter admissurum hanc significationem gratitudinis et memoriae nostrae. Misi autem tibi potissimum, ut etiam intelligere posses et vestram a me professionem probari ac coli, et ut de hac foetura ingenii et studii nostri iudicium tuum esset hominis in his artibus doctissimi.“ 211 Vgl. für die folgenden Ausführungen die Edition und kommentierte Übersetzung im Anhang dieser Arbeit (= Kapitel E.2.3). 212 Camerarius 1533, Bl. B6v (= Kapitel E.2.3, Abschnitt 1). Magenbuch also als medizinischen Experten und legitimiert auf diese Weise die Veröffentlichung des Commentariolus. 2.3.2 Der literarisch gebildete Arzt: Die Widmung an Johann Schütz von Weyll 211 Camerarius eröffnet seinen Widmungsbrief an Schütz mit einer Schilderung seiner Flucht auf das Land. Er beschreibt, wie er seine Familie und einige Bücher Galens mit sich nahm und dort - medizinisch interessiert war er schon immer - durcharbeitete: Cum hoc tempore metus ingruentis pestilentie in civitate nostra me quoque ut alios complures familia nostra secum abstraxisset, etsi multa animo meo tristia obiecta sunt, constanter tamen retinui quasi possessionem quandam studiorum nostrorum qua etiam in hac solitudine inter rusticos uterer. Sed ex urbe eo sum facilius me passus educi, quod in hac fuga et terrore hominum, quid facere istic possem, viderem nihil. 212 Mit der Schilderung seiner Flucht stilisiert sich Camerarius in einer konkreten Siutation als äußerst pflichtbewusster Gelehrter: Die Flucht erscheint fast schon unfreiwillig - denn es ist die Familie, die ihn mit sich nimmt, - und die Mitnahme einiger Bücher stellt er als geradezu als hartnäckig erkämpfte Frucht seiner constantia dar. Dort, so fährt er fort, habe er Galens Schriften über Medikamente durchgearbeitet. Dieser Teil des Corpus sei der einzige Teil gewesen, den er vorher noch nicht gelesen habe. Dieser „Zufall“ sowie all die anderen Aussagen des Abschnittes sind stark stilisiert und evozieren sollen das Bild eines vorbildhaften Humanisten evozieren, der selbst in Notzeiten noch an das Allgemeinwohl denkt und ihm mit den Mitteln, die ihm zur Verfügung stehen, dienen will. Um dies zu erreichen, verwendet Camerarius gleichen Topoi wie bei der Widmung an Magenbuch, nämlich die an Boccaccios Il Decamerone erinnernde Beschreibung seiner Flucht vor der Pest sowie den otium-Topos (s. o.). 80 2 Der De Theriacis et mithridateis Commentariolus 1533 213 Vgl. Camerarius 1533, Bl. B6v-b7r (= Kapitel E.2.3, Abschnitt 2). 214 Vgl. Camerarius 1533, Bl. B6v-b7r (= Kapitel E.2.3, Abschnitt 2): „Quid vero de his tibi narrem, quae placuerint, autorisve ingenium, curam, diligentiam praedicem, qui ad haec elegantia et literata, quibus detrimentosissime hactenus apud nos caruit professio vestra, ipse inter primos respexeris.“ 215 Vgl. Camerarius 1533, Bl. b7r/ v (= Kapitel E.2.3, Abschnitt 3). 216 Vgl. Camerarius 1533, Bl. b7r (= Kapitel E.2.3, Abschnitt 3). 217 Vgl. Camerarius 1533, Bl. b7r (= Kapitel E.2.3, Abschnitt 3): „In quibus ut diutius studiosiusque versarer, eo factum est, quia vel plurimum habere momenti usum horum credebam vel praesens pestilentiae malum erigebat ad hanc curam animum meum.“ 218 Vgl. Camerarius 1533, Bl. b7r/ v (= Kapitel E.2.3, Abschnitt 3): „Cum autem inter legendum nonnihil retentum memoria fuisset de antidotis maxime quibus venena restingueretur, placuit id per otium [Bl. b7v] postea scriptione et stilo exequi, et quasi ita periclitari illorum non solum recordationem, sed etiam intellectum.“ Nach dieser Eröffnung spricht Camerarius im zweiten Abschnitt 213 kurz über Galen: Wozu sollte er sein Talent, seine Sorgfalt und Umsicht loben, wo doch Weyll als einer der ersten Ärzte einen Sinn für die literarische Eleganz entwickelt hatte, die seine professio so lange Zeit nicht hatte. 214 Tatsächlich propagierten, wie in der Einleitung (A.1) gezeigt, wichtige medizinische Schriften zu Beginn des 16. Jahrhunderts eine Verbindung von literarischer Eleganz (insbesondere Dichtung) und Medizin und würdigten in zahlreichen Vorworten die Medizin der vergangenen Jahrhunderte herab, weil es den mittelalterlichen Ärzten an Eloquenz und adäquaten lateinischen Fachbegriffen gefehlt habe. Camerarius stilisiert hier Schütz von Weyll als einen der ersten Ärzte, die diesen Trend aufgreifen und die mittelalterliche Medizin überwinden. Insofern ist er gewis‐ sermaßen ein Vorbild und eine Art Identifikationsfigur für den Leser. Ebenso wie im zweiten Abschnitt der Arzt Schütz von Weyll einen Sinn für Literatur gezeigt und Humanismus und Medizin miteinander verbunden hat, so demonstriert Camerarius in Abschnitt drei seine medizinischen Kenntnisse und verknüpft ebenfalls beide Bereiche. 215 Unter Verwendung medizinischer Terminologie spricht er, der Humanist, nämlich über die Thematik der Werke, die er für den Druck gelesen hat. Es geht um Gegengifte. 216 Er erklärt, dass er gerade dieses Thema gewählt habe, weil er sich einen Nutzen davon erhofft habe und die Pest ihn dazu ermutigt habe. 217 Anschließend schreibt er, er habe nach der Lektüre sein Gedächtnis und sein Verständnis derselben prüfen wollen, und dann den Commentariolus verfasst. 218 Man darf diese Aussage nicht zu wörtlich nehmen und daraus auf eine nachlässige Abfassungsweise schließen. Die Behauptung lässt sich schlicht aus Gattungskonventionen erklären: Com‐ 2.3 Analyse der Paratexte 81 219 Zur Gattung des Commentarius in der Renaissance vgl. Ramminger 2008. Auch in der Widmung an Magenbuch finden sich vergleichbare Aussagen, die durch Gattungskon‐ ventionen zu erklären sind: Dort schreibt Camerarius, er habe gleichsam durch die Schriften Galens streifend (vagans) Einiges über die Theriak-Gegengifte aufgezeichnet, einige griechische Rezepte dieser Gegengifte hinzugefügt sowie einige eigene [lateini‐ sche] Übersetzungen. 220 Vgl. Camerarius 1533, Bl. b7v-b8r (= Kapitel E.2.3, Abschnitt 4). 221 Vgl. Camerarius 1533, Bl. b7v (= Kapitel E.2.3, Abschnitt 4): „Sed et Galeni quidem de his omnia per mihi placuere, imprimis autem ad Pisonem et Pamphilianum libelli. Quorum hic cum esset ob brevitatem accuratam quandam tanquam epitome ante dictorum valde utilis visus, transtuli illum in latinam linguam […].“ 222 Gemeint ist hier das Werk, das dem gleichnamigen Druck den Namen gab (= Bl. a2r-b6r im Druck). 223 Vgl. Camerarius 1533, Bl. b7v (= Kapitel E.2.3, Abschnitt 4): „Hoc scriptum misimus amico nostro Ioanni Magebuchio benevolentia, conditione, arte coniunctissimo tibi, ut et cognosceret, et si probasset, typis excudi curaret. His addidimus aliquot descriptiones medicamentorum comprehensas versibus, quo genere orationis nullum esset his aptius. Apollinem enim inventorem artis vestrae, ut Graeci perhibent, scis et poetis quasi proprium numen attribui.“ Auf einer rein praktischen Ebene haben Rezepte in Versform zwei Vorteile: Der Text ist vor versehentlichen Veränderungen geschützt und leichter memorierbar, vgl. Hautala 2014. 224 Vgl. Camerarius 1533, Bl. b7v (= Kapitel E.2.3, Abschnitt 4): „Neque mihi obstare passus sum, quod haec ut grata futura studiosis bonarum literarum et artis vestrae, mentarii waren ausgefeilte Werke, die den Anschein von lässig verfassten Gelegenheitswerken erwecken sollten. 219 Anschließend kommt Camerarius im vierten Abschnitt auf die Genese des Drucks zu sprechen. 220 Er erklärt, dass er den Libellus ad Pamphilianum de Theriaca wegen seiner Kürze und Prägnanz für eine Übersetzung ausgewählt habe. 221 Die Entscheidung, gerade ein solches Werk zu übersetzen, lässt darauf schließen, dass Camerarius den Druck bewusst zugänglich gestalten und alle grundlegenden Informationen darstellen wollte, die bei Galen zum Thema „Gegengifte“ zu finden sind. Weiter beschreibt er, wie er für Magenbuch den eigentlichen Commenta‐ riolus  222 verfasste und einige metrische Übersetzungen griechischer Rezepte anfertigte. Es gebe keine bessere Darstellungsform für Rezepte, denn die Ver‐ bindung von Dichtung und Medizin habe bereits der Gründer beider Disziplinen, nämlich Apoll, vorgemacht. 223 Camerarius propagiert hier, wie schon zuvor, das Ideal einer neuen Medizin, die mit einem literarischen Anspruch einhergeht. Er habe damit die Texte ansprechender für die Gelehrten gestalten wollen. Gleichzeitig kritisiert er die aus seiner Sicht konservativen Mediziner, die dies als anstößig empfinden werden. 224 In diesem Zusammenhang ist wohl auch die Bemerkung zu sehen, Camerarius habe den Text des Libellus ad 82 2 Der De Theriacis et mithridateis Commentariolus 1533 ita quibusdam huius professoribus nova et insolentia visum iri arbitrarer. Melius enim rectiusque putavi illorum servire commodis, quam horum imperitiam revereri.“ 225 Vgl. Camerarius 1533, Bl. b7v-b8r (= Kapitel E.2.3, Abschnitt 4): „[…] transtuli illum [sc. librum] in latinam linguam, nostro quidem more custodita autoris sententia, ordine et verbis accomodatis pro eo ac collibuisset.“ 226 Vgl. Kapitel A.1. 227 Vgl. Galen 1490, Bl. 122v-123v. Zum Werk selbst vgl. auch Fichtner 2019, 59 (Nr.-86). 228 Vgl. Camerarius 1533, Bl. b8r (= Kapitel E.2.3, Abschnitt 5): „Huncque volui ad te vir doctissime mittere, ut ipsum si probasses, curares ad ea, quorum supra mentionem fecimus, adiungi, quod si factum fuerit, cum de iudicio tuo, tum de societate testimonii vestri magnam cepero voluptatem.“ Pamphilianum de Theriaca sinngemäß übersetzt. 225 In früheren Jahrhunderten wurden medizinische Texte i. d. R. Wort für Wort übersetzt, was sie gerade für Leser, die des Griechischen nicht mächtig waren, schwer verständlich machte. 226 Dies gilt auch für den genannten Libellus, der bereits 1490 von Nicollò da Reggio übersetzt wurde. 227 Camerarius wendet sich damit nicht nur von dieser Über‐ setzungsmethode ab, sondern impliziert auch, dass er die behauptete literarische Eleganz Galens in seiner Version nachahmt, womit er seine übersetzerische Leistung demonstrativ hervorhebt. Zugleich will er damit zeigen, dass er - möglicherweise im Gegensatz zu den Wort-für-Wort-Übersetzungen da Reggios - gut lesbare Versionen erstellt hat, die auch von Lesern verstanden werden können, die kaum über Griechischkenntnisse verfügen. Im fünften und letzen Abschnitt bittet Camerarius schließlich um gute Auf‐ nahme des Druckes. Wenn Schütz von Weyll dies tut, wird er sich freuen, dass Magenbuch und er durch ihre positive Beurteilung des Drucks miteinander verbunden sind. 228 Was bezweckt Camerarius mit dieser Aussage? Einerseits legitimiert er durch das zustimmende Urteil zweier Ärzte zu seinen Werken die Tatsache, dass er als medizinischer Laie über Medizin schreibt. Andererseits zeigt er dem Leser durch die Verbindung der Adressaten, dass Fachkenntnisse und ein Sinn für literarische Ästhetik im Bereich der Medizin erstrebenswert sind, denn Magenbuch wurde als medizinischer Experte stilisiert, während bei Schütz von Weyll der literarische Aspekt im Vordergrund steht. 2.4 Zusammenfassung und Zweck: Verbindung von Humanismus und Medizin Kommen wir abschließend zur zentralen Frage des Kapitels zurück: Was be‐ zweckte der Humanist und medizinische Laie Camerarius mit der Publikation dieses Drucks? Neben der Zugänglichmachung der Texte scheint sein Hauptan‐ 2.4 Zusammenfassung und Zweck: Verbindung von Humanismus und Medizin 83 229 Vgl. Kapitel A.1. 230 Vgl. Camerarius 1533, Bl. a2r-a5r (= Kapitel E.2.1, Abschnitt 1-7). 231 Vgl. Kapitel A.1. liegen darin bestanden zu haben, Grundlagen einer als zeitgemäß empfundenen humanistischen Medizin zu vermitteln, und damit verbunden, Fehler bei der Adaption antiker Medikamente aufzuzeigen. Um dies zu verdeutlichen sollen die Widmungsbriefe (I) und der Rest des Commentariolus (II) getrennt besprochen werden. (I) Es wurde deutlich, dass Camerarius die beiden Widmungsadressaten kom‐ plementär zueinander beschreibt: Magenbuch als medizinischen Experten und Schütz von Weyll als einen Arzt mit Sinn für literarische Ästhetik. Zusammen drücken sie aus, was Camerarius anstrebt: Eine Verbindung von Humanismus und Medizin. Diesem Zweck dienen seine metrischen Übersetzungen von Rezepten, mit denen er, wie Apoll, Dichtung und Medizin vereinigen will, oder die Tatsache, dass er von den Schriften Galens als illa pulcherrima monimenta spricht. Er bekennt sich damit zu einer neuen, humanistisch geprägten Medizin und befördert sie. Denn ebenso wie Camerarius betonen seit den 20er Jahren des 16. Jahrhunderts viele andere Ärzte immer wieder die Verbindung von Medizin und Philologie, heben die Eleganz der Sprache Galens hervor, unterstreichen ihren wahrhaft philosophischen Nutzen und übersetzen die Texte nicht mehr Wort für Wort ins Lateinische. 229 (II) Im Gegensatz zu den Widmungen stehen in den ersten Kapiteln des Commentariolus  230 philosophische Reflexionen über die Notwendigkeit von Erfahrung im Vordergrund, wobei Camerarius immer wieder auf Galen und auch dessen philosophisches Wissen zu sprechen kommt. Damit führt er dem Leser anschaulich vor Augen, wie vorbildlich dieser antike Arzt Medizin und Philosophie miteinander verband und wie schädlich es für diese Disziplin ist, wenn die frühneuzeitlichen Ärzte von seiner Vorgehensweise abweichen. Auch insofern entspricht der Commentariolus der zeitgenössischen humanistisch geprägten Medizin, die Philosophie und Medizin nicht mehr als Gegensätze betrachtete und sich stark an den antiken griechischen Autoritäten orientierte. Überhaupt beschreibt Camerarius Galen als Vorbild, das man in jedweder Hin‐ sicht nachahmen soll. Nicht nur seine wissenschaftlichen Methoden, sondern auch charakterliche Dispositionen wie Fleiß sollen nachgeahmt werden - auch dies ein Merkmal der neuen Medizin. 231 Der Aufwertung dieser humanistisch-akademischen Medizin entspricht eine propagandistische Abwertung der Apotheker, die Camerarius als geldgierig und schlampig beschreibt. Vergleichbare Polemiken gegen andere Empiriker 84 2 Der De Theriacis et mithridateis Commentariolus 1533 232 Vgl. Camerarius 1533, Bl. A3r/ v (= Kapitel E.2.1, Abschnitt 3): „Quid ego dicam de conficiendi ratione, quam, cum praescribatur illis ex novitiis Arabum fere libris, a veteri Graeca dissidere multum necesse est, a quibus tamen, ut aliae artes, ita hanc quoque quasi provulgatam orbi terrarum constat. […] Illa autem simplex distillatio subiecto igne herbarum liquiditatis, cui Graecorum nota fuit? Quo magis ignotas illis in hoc genere admirabiles [Bl. a3v] exquisitiones fuisse putandum? “ 233 Vgl. Murphy 2019, 33. 234 Vgl. Camerarius 1533, Bl. A4r/ v (= Kapitel E.2.1, Abschnitt 5): „Mihi autem subit nunc admiratio veterum medicorum ingenii et sapientiae, qua illi diversissimas res ita in unum corpus congessere, ut unaquaeque cum altera conveniret […] [Bl. a4v] Ceterum in hoc est sapientiae illorum verae divinitas quaedam ita potuisse illa componere, ut […] recte et debite coalescerent […].“. Vgl. auch Camerarius 1533, Bl. A5r (= Kapitel E.2.1, Abschnitt 7): „[…] ita mirum neutiquam puto tam bene et exacte inventis tamque accurate administratis usque eo effectionum illos progressos, ut iam non homines, sed Dii haberentur aut Deorum filii vel discipuli saltem.“ 235 Vgl. Galen 1525, Bd. V, Bl. Ir/ v: „Nam et Graecus ille vates deorum antiquissimam sanitatem vocat et eam prae ceteris a Diis immortalibus petenda esse perpetuo admonet, et tantum semper diginitatis et splendoris optimis medicis est quaesitum, ut tamquam numina terrestria a mortalibus colerentur.“ 236 Vgl. Melanchthon an Franz I. von Frankreich, vor 13.02.1538 (= MBW 1996, 5). finden sich, wie bereits gezeigt, etwa bei Melanchthon und Cordus, wo sie auf eine Stärkung der akademischen Medizin abzielen. Ähnliches dürfte auch für Camerarius gelten. Gegenüber der arabischen Tradition äußert sich Camerarius gemäßigt. Er gesteht den Arabern einerseits zu, dass sie die antike Medizin über die ganze Welt verbreitet haben und über Methoden verfügten, die den Griechen unbekannt waren. Andererseits weist er darauf hin, dass die Unterschiede zwischen der zeitgenössischen und der antiken Medizin - hier ist insbesondere die Verwendung der Destillation zu nennen - eine Rekonstruktion antiker Heilmittel fast unmöglich machen. 232 Tatsächlich spricht Camerarius hier ein Problem an, das auch anderen Gelehrten schmerzlich bewusst war. Die Destillation, die von den Arabern vorangetrieben worden war, verbesserte zwar die Methode zur Herstellung von Medikamenten, erschwerte aber den Versuch von Medizinern wie Leonhart Fuchs, die zeitgenössische Medizin zu reinigen und zurück zur antiken Medizin zu führen. 233 Es wird deutlich, dass für ihn Galen und die antiken Ärzte als wahre, fast schon gottgleiche Vorbild fungieren, die nachgeahmt werden sollen. 234 Diese Sichtweise war nicht unbedingt ungewöhn‐ lich, denn Ähnliches schreibt etwa der Drucker Andreas Asulanus (1451-1529) im Vorwort zum fünften Buch der einflussreichen Aldina. 235 Die Behauptung, die Araber hätten ihrerseits Erfindungen gemacht, die den Griechen unbekannt gewesen seien, findet sich auch bei Melanchthon in seinem nicht gedruckten Vorwort zur Galenausgabe des Jahres 1538. 236 2.4 Zusammenfassung und Zweck: Verbindung von Humanismus und Medizin 85 237 Vgl. Mani 1956, 31 und 50. 238 Vgl. Stannard / Dilg 1978, 153 und 176. Nur einmal schlägt Camerarius vorsichtig vor, was unter einem bestimmten Inhaltsstoff des Theriak zu verstehen sei, vgl. Bl. d3r. Insgesamt lässt sich festhalten, dass eine der wesentlichen Stärken des Com‐ mentariolus seine methodische Vielfalt ist: Der Leser erhält die griechischen Originalrezepte mit lateinischen Übersetzungen, welche dem Sinn nach übersetzt und somit auch für Leser verständlich sind, die des Griechischen nicht mächtig sind. Hinzu kommt die Übersetzung des Libellus ad Pamphilianum de Theriaca, der Galens Erkenntnisse über Theriak knapp und präzise zusammenfasst. Ergänzt wird der Druck durch eine von Camerarius selbst erstellte zeitgenössische Zu‐ sammenfassung mit philosophischen Reflexionen über die Rolle von Erfahrung für eine erfolgreiche Therapie bzw. zur gelungenen Nachahmung antiker Vor‐ bilder. Das Werk richtete sich an Studenten und Gelehrte der Medizin, hatte einführenden Charakter und sollte Freude (durch ästhetische Übersetzungen) mit Nutzen verbinden. Mit seiner Übersetzung des Libellus griff er einerseits einen Trend innerhalb der Medizin auf, insofern es nach der Veröffentlichung der Aldina zu einer wahren Übersetzungsflut gekommen war, andererseits erfüllte er damit ein Desiderat, da die meisten Ärzte des Griechischen noch nicht mächtig waren. 237 Im Commentariolus bekennt er sich zu den Idealen einer humanistisch geprägten Medizin, d. h. zu den griechischen Originaltexten, zu sprachlicher Eleganz und zu einer umfassenden Nachahmung der antiken Vorbilder. Medizinisch bleibt Camerarius eher im Allgemeinen und Anekdotischen. Er äußert sich kaum zu den Inhaltsstoffen und der Anwendung des Theriak. Er entwickelt keine eigenen Theorien und führt eigene Beobachtungen an. Es lässt sich auch nicht nachweisen, dass er zeitgenössische Pesttraktate verwendete. 238 2.5 Einordnung in das Corpus des Camerarius und Rezeption Der De Theriacis et Mithridateis Commentariolus weist viele Gemeinsamkeiten mit den Astrologica auf. Zum einen sind die Widmungen komplementär zueinander gestaltet. Denn jeweils einer der Adressaten ist in erster Linie Fachmann für seine Disziplin (Medizin bzw. Astrologie), während der jeweils andere stärker als Humanist porträtiert wird. Es wird also eine Verbindung von Humanismus und Fachdisziplin propagiert. Zum anderen wird in beiden Schriften der Niedergang der jeweiligen Disziplin auf einen Mangel an Sorgfalt zurückgeführt, und als Gegenbeispiel auf zentrale Autoritäten (Ptolemaios, Galen) verwiesen, die sich durch ihre Genauigkeit und Sorgfalt auszeichnen. 86 2 Der De Theriacis et mithridateis Commentariolus 1533 239 Dies ergab eine Durchsicht des gedruckten Briefwechsels, der in der Datenbank Opera Camerarii erschlossen ist (Stand 20.06.2021). 240 Vgl. Camerarius an Ludwig Carinus, 15XX (Camerarius 1583, 442; = OCEp 0802). 241 Vgl. Stannard / Dilg 1978, 176 und 186, Anm. 44. 242 Vgl. Durling 1961, 257, 259, 266, 273, 280, 292 sowie OC 0127. Sie werden aber nicht nur wegen dieser Eigenschaft und ihres hervorragenden Fachwissens gerühmt, sondern auch wegen ihrer philosophischen Kenntnisse, die Camerarius auch in seiner Galenedition (Kapitel B.4) hervorhebt. Außerdem scheinen der Commentariolus und die Astrologica dem Leser einen einfachen, überblicksartigen Zugang zu der in ihnen behandelten Thematik bieten zu wollen. In ihnen sind nämlich leicht verständliche prägnante Werke ediert und übersetzt. Schließlich wird in beiden Drucken noch eine Verbindung von literarischer Ästhetik mit der Medizin bzw. Astrologie angestrebt. Auch im Gedicht über den Aderlass (Kapitel B.3) strebt Camerarius etwas Ähnliches an: Vermittlung von Freude über die dichterische Gestaltung auf der einen und von Fachwissen auf der anderen Seite. Wie wirkte das Werk auf die Zeitgenossen des Camerarius? Neben dem eingangs zitierten Brief des Helius Eobanus Hessus gibt es lediglich eine weitere Epistel, die das Werk erwähnt. 239 Es handelt sich um einen Brief, den Camerarius an Ludwig Carinus (1496-1569) geschrieben hat. Dem Schreiben lässt sich entnehmen, dass der Adressat offenbar seine medica gelobt hatte. Camerarius klagt in diesem Zusammenhang über schlechte Übersetzungen auf diesem Gebiet, welche ohne die nötige Sorgfalt angefertigt worden seien. Sie bereiteten ihm keine Freude. Ja, welchen Nutzen hätten sie schon, wenn sie nicht perfekt seien? 240 Camerarius betont also die Notwendigkeit genauer Übersetzungen auf dem Gebiet der Medizin und zeigt damit auch in dem Brief, wie notwendig aus seiner Sicht der Humanismus für die Medizin ist. Das Werk wurde nicht nachgedruckt und scheint keinen nennenswerten Einfluss gehabt zu haben. 241 Lediglich die Übersetzung des Libellus ad Pam‐ philianum de Theriaca fand Eingang in insgesamt vier spätere Drucke der Werke Galens. 242 Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Medizinische Fragen werden im Commentariolus kaum erläutert. Auch die Tatsache, dass Camerarius 2.5 Einordnung in das Corpus des Camerarius und Rezeption 87 243 Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, dass im Jahre 1576 der gleichnamige Sohn des Camerarius die Übersetzung einer Theriakschrift des Italieners Bartholomeo Maranta veröffentlichte (vgl. Camerarius, II. 1576). In ihr sprach er sich, ganz im Gegensatz zu seinem Vater, explizit für die Rekonstruktion des Heilmittels aus, da nun fast alle Inhaltsstoffe bekannt seien. Dabei ging er auch auf Argumente ein, die bereits sein Vater verwendet hatte: Früher seien die Medikamente oft von unerfahrenen, geld‐ gierigen Menschen ohne ausreichende naturkundliche Kenntnis angefertigt worden, heute aber sei dies ganz anders: die Menschen seien erfahrener, verfügten über mehr Kenntnisse und seien nicht mehr bloß auf das Geld aus (weswegen sie die Medikamente nicht mehr übereilt herstellen müssten). Mochte die Rekonstruktion des Medikaments einst noch unmöglich erschienen sein, nun gelte dies nicht mehr (vgl. Camerarius, II. 1576, Bl. )(4v-)(6r). Und auch Joachim Camerarius II. betont die Notwendigkeit der Beaufsichtigung des Brauprozesses durch Ärzte (vgl. Camerarius, II. 1576, Bl. )(7r). die Rekonstruierbarkeit des antiken Antidots Theriak grundsätzlich in Frage gestellt hatte, mag ein Grund für die geringe Rezeption gewesen sein. 243 88 2 Der De Theriacis et mithridateis Commentariolus 1533 244 Vgl. Camerarius 1535b sowie Kapitel E.3 für Edition und kommentierte Übersetzung des Gedichts De ratione victus salutaris post incisam venam. 245 Vgl. Camerarius 1536. 246 Zur frühneuzeitlichen Diätetik vgl. Krause 1879, 386-399 (Kapitel 10: „Der Poet als Me‐ diziner“), Engelhardt 1999, (hier insbesondere 23-70 und 139-149), Gadebusch-Bondio 2005 sowie Stolberg 2021, 205-213. 3 Kleinere diätetische Gedichte (1535 und 1536) Etwa zwei Jahre nach der Veröffentlichung des De Theriacis et Mithridateis Commentariolus publizierte Camerarius weitere medizinische Werke, nämlich zwei diätetische Gedichte, in denen er Ratschläge gibt, wie man sich nach dem Aderlass bzw. im Laufe des Jahres verhalten soll, um seine Gesundheit zu erhalten. Sie sind in dem 1535 erschienenen Druck Erratum, Aeolia […] 244 enthalten und wurden bereits ein Jahr später, in den Opuscula aliquot elegantis‐ sima, 245 nachgedruckt und u. a. um ein drittes diätetisches Gedicht erweitert, das Verhaltensratschläge für die einzelnen Monaten des Jahres gibt. Wie aber kam Camerarius dazu, diese carmina zu verfassen? Was wollte er mit ihnen erreichen? Welches Bild zeichnet er von sich selbst und von der Medizin? 3.1 Entstehungsbedingungen Wenden wir uns zunächst den Entstehungsbedingungen zu. Zunächst ist die Frage zu klären, was Diätetik im 16. Jahrhundert bedeutete und wie üblich die Beschäftigung mit ihr für gelehrte Nichtmediziner wie Camerarius war. Darüber hinaus ist ein ganz konkreter Anlass in den Blick zu nehmen, und zwar kritische Äußerungen von Erasmus von Rotterdam über die Dichtkunst des Camerarius. Sie bilden eine wichtige Voraussetzung für das Verständnis seiner poetischen Werke. 3.1.1 Zur Diätetik im 16.-Jahrhundert In der Frühen Neuzeit ging die Diätetik von teilweise ganz anderen Voraus‐ setzungen aus als heute. 246 Ausgehend von der antiken Humoralpathologie versuchte sie, Einfluss auf die Konsistenz der menschlichen Säfte zu nehmen. Gesundheit und Krankheit wurden dabei zugleich kosmologisch und anthropo‐ 247 Vgl. Engelhardt 1999, 23. 248 Die Bezeichnung non naturales, also „nicht natürlich“ ist in der Vorstellung begründet, dass diese sechs Bereiche Handlungen und Einwirkungen umfassen, die zwar Teil der Natur sind, jedoch nicht von selbst ablaufen, wie die menschliche Atmung. Die nicht natürlichen Dinge stehen somit gleichsam in der Mitte zwischen natürlichen, i.e. physiologischen (res naturales) und widernatürlichen, i. e. pathologischen Dingen (res contra naturam); vgl. Engelhardt 1999, 141. Hippokrates unterscheidet, davon abwei‐ chend, 5 Bereiche: Essen, Trinken, Schlaf, Bewegung und Sexualität. Im 16. Jahrhundert war jedoch das Galenische Modell vorherrschend (vgl. Stolberg 2021, 205). 249 Gadebusch-Bondio 2005, Sp. 991 f. 250 Zur Entstehung des Konzeptes der sex res non naturales sowie zur Autorfrage der Ars medica vgl. García-Ballester 1993. 251 Vgl. Krause 1879, 390. logisch gedacht. 247 So glaubte man etwa, die Jahreszeiten wirkten auf Körper und Geist des Menschen ebenso wie auf die Natur, und Krankheiten wären in der Macht der Gestirne begründet, welche durch ihre Qualitäten das Temperament des Menschen beeinflussten. Die frühneuzeitliche Diätetik umfasste sechs Bereiche, die sogenannten sex res non naturales („sechs nicht natürliche Dinge“): 248 „(1) Licht und Luft, (2) Essen und Trinken, (3) Bewegung und Ruhe, (4) Schlaf und Wachen, (5) Füllung und Entleerung und (6) Gemütsbewegungen.“ 249 Diese Einteilung lässt sich bis auf die unter dem Namen Galens überlieferte Ars medica, 23 (= Kühn I, 367) zurückverfolgen. 250 Wenn man bestimmte Vorschriften in diesen sechs Bereichen befolgte (wie zu bestimmten Jahreszeiten bestimmte Mahlzeiten zu meiden), so glaubte man, könne Krankheiten vorgebeugt werden. Dabei mussten auch andere Faktoren, wie die vier Jahreszeiten berücksichtigt werden, da auch sie den vier Elementen und ihren Qualitäten entsprechen. 251 3.1.2 Zur Verbreitung diätetischen Wissens unter Laien Diätetische Maßnahmen konnten auch von medizinischen Laien durchgeführt werden und waren unter ihnen weit verbreitet. Man kann sogar noch einen Schritt weitergehen: Die Diätetik bildete neben der Astrologie vielleicht die einzige Möglichkeit für den frühneuzeitlichen Nicht-Mediziner, seinen Körper (und auch sein Gemüt) angesichts übermächtiger kosmischer Kräfte zu kontrol‐ lieren und Krankheiten vermeintlich vorzubeugen. Beide Systeme gehen ja auch von der Humoralpathologie als Voraussetzung aus und berücksichtigen externe Einflüsse auf die Konsistenz der Körpersäfte. Marsilio Ficino (1433-1499) dürfte nicht unwesentlich zur Popularität und Verbreitung des Themas, insbesondere unter den Humanisten, beigetragen haben. In seinen De vita libri tres gab er ausführliche diätetische Ratschläge, 90 3 Kleinere diätetische Gedichte (1535 und 1536) 252 Vgl. Ficino 1576, Bd.-1, 493-572. 253 Vgl. Erasmus 1529, 173-196, hier: 189-190. 254 Vgl. Surgant 1502 und Kümmel 1984, 74-75. 255 Vgl. Krause 1879, 389. Auch Reinhold Glei spricht von einem intensiven Nachleben der Lehrdichtung, das viele Themenbereiche umfasst (vgl. Glei 2006). Zur Lehrdichtung im Allgemeinen vgl. Korenjak 2019. 256 Vgl. Erasmus von Rotterdam an Helius Eobanus Hessus, 17.05.1531 (= Allen 1938, 270): „Ioachimus plus habere videtur curae quam naturae. Non omnia possumus omnes.“ Vgl. auch Schäfer 2003, 133 und Heerwagen 1868, 18. 257 Vgl. Erasmus von Rotterdam an Helius Eobanus Hessus, 17.05.1531 (= Allen 1938, 270): „In scazonte novam usurpavit libertatem, hauc scio quem secutus auctorem. Nam quos ego legi, semper finiunt versum cretico et spondaeo.“ Vgl. auch Ludwig 2003a, 105 f. und Schäfer 2003, 133. 258 Vgl. Schäfer 2003, 133 f. insbesondere für den Typus des Gelehrten, dessen Lebensweise in besonderer Weise von Melancholie bedroht sei. 252 Das Werk erfreute sich in den kommenden zwei Jahrhunderten großer Beliebtheit, wurde in verschiedene Sprachen über‐ setzt und oft nachgedruckt. Erasmus von Rotterdam bezeichnete die Diätetik als den Bereich der Medizin, über den auch jeder Nichtmediziner Bescheid wissen müsse. 253 Ein prominentes Beispiel für ein von einem Laien verfasstes diätetisches Werk ist das im Jahr 1502 veröffentlichte Regimen studiosorum Ulrich Surgants.  254 Diese Beispiele zeigen deutlich, dass die Beschäftigung mit Diätetik für Laien durchaus üblich war, und wenn man bedenkt, dass Lehrgedichte in der Frühen Neuzeit durchaus beliebt waren, 255 dürfte es nicht allzu ungewöhnlich sein, dass Camerarius als medizinischer Laie diätetische Gedichte verfasste. 3.1.3 Camerarius’ Auseinandersetzung mit Erasmus Ein anderer, streitbarer Gelehrter spielte jedoch eine noch wichtigere Rolle bei der Veröffentlichung der beiden Drucke mit den diätetischen Gedichten. Kein Geringerer als Erasmus hatte sich in einem Brief an Hessus abfällig über Camerarius’ poetische Fähigkeiten geäußert: Camerarius habe mehr cura als natura. Es könne eben nicht jeder alles. 256 Hintergrund dieses Vorwurfs war die Entdeckung eines vermeintlichen metrischen Fehlers, den Camerarius beim Dichten von Hinkjamben gemacht hatte, 257 sowie eines geographischen Irrtums. 258 Erasmus genoss unter zeitgenössischen Gelehrten höchstes Ansehen und verfügte auch an Fürstenhöfen über großen Einfluss. Entsprechend ver‐ nichtend und besorgniserregend muss Camerarius dieses Urteil empfunden haben. Das Verhältnis der beiden war zuvor schon getrübt, als Erasmus in einem öffentlichen Brief das Egidiengymnasium kritisiert hatte. Die Lehrer dieser 3.1 Entstehungsbedingungen 91 259 Der Brief, datiert auf den 1.8.1530, trägt den Titel Epistola ad fratres inferioris Germaniae (= Augustijn 1982, 311-424). Die oben paraphrasierte Stelle findet sich in Augustijn 1982, 344, Z. 396-401. Vgl. dazu Heerwagen 1867, 16-20. 260 Vgl. Joachim Camerarius an Helius Eobanus Hessus, 01.10.1534 (Camerarius 1557, Bl. E4v; = OCEp 0178). 261 Vgl. Heerwagen 1868, 18 f. (mit Verweis auf Heerwagen 1867, 19). 262 Vgl. Camerarius 1535b. Schule bekämen hohe Gehälter, hätten aber kaum Zuhörer. Außerdem seien sie genauso faul wie ihre Schüler. 259 1534 sprach Camerarius in einem Brief an Hessus erneut von einem Ge‐ lehrten, der seine Dichtkunst ständig herabwürdige, was umso unverständlicher sei, weil Camerarius ihn niemals beleidigt, sondern sogar positiv erwähnt habe. Der Mann habe zu Hessus gesagt, an seiner Stelle würde er seinem Freund empfehlen, lieber gar nichts zu schreiben, oder wenigstens etwas, das einen tatsächlichen Nutzen (praesens usus) habe. 260 Dass es sich bei diesem Gelehrten mit großer Wahrscheinlichkeit ebenfalls um Erasmus handelt, wurde bereits von Heinrich Wilhelm Heerwagen gezeigt. 261 Die Kritik des Erasmus veranlasste Camerarius schließlich zur Abfassung des Werks Erratum, das er in denselben beiden Drucken veröffentlichte wie seine diätetischen Gedichte. Wie wir sehen werden, können auch diese poetischen Werke als Reaktion auf die Vorwürfe des streitbaren alternden Humanisten verstanden werden. 3.2 Aufbau der Drucke Die beiden Drucke, in denen die diätetischen Gedichte des Camerarius enthalten sind, sind nahezu gleich aufgebaut. Zunächst erschien 1535 eine Werksammlung mit dem Titel Erratum, Aeolia […] 262 . In den ein Jahr später erschienenen Opuscula aliquot elegantissima wurden lediglich einige Gedichte am Ende hinzugefügt. 3.2.1 Aufbau des Drucks Erratum, Aeolia […] Der 1535 erschienene Druck enthält eine Reihe zunächst unverbunden schei‐ nender Werke. In der folgenden Gliederung sind die diätetischen Gedichte fett hervorgehoben. Sie sollen hier nur kurz zusammengefasst werden. 92 3 Kleinere diätetische Gedichte (1535 und 1536) 263 Zum Gedicht vgl. Ludwig 2003a, 129 (Erwähnung). • Bl. 1r: Paratext: Brief an den Leser • Bl. 2r-23r: Werk: Erratum sive ὑπὲρ πταίσματος (einem nicht genannten Freund gewidmet) • Bl. 23v-30r: Werk: Aeolia (Moritz von Hutten gewidmet) • Bl. 30v-36v: Werk: Phaenomena (Daniel Stiebar gewidmet) • Bl. 37r-45r: Werk: Prognostica (Daniel Stiebar gewidmet) • Bl. 46r: Werk: Nomina, res, effectiones, solis ac lunae & quinque errantium, epigramma traductum e Graeca lingua in Latinam • Bl. 46v-47r: Werk De ratione victus et quae dieta dicitur, servanda, per totum annum in cura valetudinis • Bl. 47v: Werk De ratione victus salutaris post incisam venam & emissum sanguinem, ad Armatum epigramma • Bl. 48r: Errataverzeichnis Zunächst soll der Aufbau kurz erläutert werden: Auf dem Titelblatt befindet sich ein Brief an den Leser, in dem um wohlwollende Annahme der Werke gebeten wird. Beim Erratum handelt es sich um ein in Prosa verfasstes Werk, das an einen nicht genannten Freund gerichtet ist. Camerarius reflektiert darin über die menschliche Fehlerhaftigkeit. Er verfasste es aufgrund des vermeintlichen metrischen Fehlers, der ihm 1531 von Erasmus vorgeworfen worden war, sowie wegen des angeblichen geographischen Irrtums. Anschließend folgen die Aeolia, ein Lehrgedicht über die Winde, die Phaenomena, ein in Anlehnung an Arat verfasstes Lehrgedicht über die Sterne, die Prognostica, ein Lehrgedicht über zukunftsverkündende Zeichen (auch hier diente Arat als Vorbild) sowie die Nomina res […], ein Epigramm über die sieben Planeten und ihre Wirkungen auf den Menschen. Es folgen zwei diätetische Gedichte, die wegen ihres Bezuges zur Medizin etwas ausführlicher beschrieben werden sollen. Das erste der beiden Gedichte, De ratione victus et quae dieta dicitur, servanda, per totum annum in cura valetudinis, umfasst 17 elegische Distichen. 263 Es gibt diätetische Ratschläge zur Vermeidung von Krankheiten im Jahreslauf, enthält aber keine Reflexionen über das Verhältnis des Camerarius zur Naturkunde und soll deswegen auch hier nur kurz untersucht werden. Die ersten und letzten vier Verse umrahmen das Gedicht und betonen die prophylaktische Wirkung der Regeln. Wer sie befolge, müsse die Medizin des Apothekers nicht fürchten. Spätestens mit dem letzten Vers wird deutlich, dass das Gedicht heiter gehalten ist, wie aus dem Ausdruck ne te despoliet Pharmacopola („damit dich der Apotheker nicht ausplündert“) hervorgeht. Der die Ratschläge umfassende 3.2 Aufbau der Drucke 93 264 Vgl., Camerarius 1535b, Bl. 47v 265 Vgl. Camerarius 1536, Bl. 41v. Zum Gedicht vgl. auch Ludwig 2003a, S.-129. 266 Vgl. L. 1806. Es handelt sich um einen Aufsatz zum Namen ‚Anastasius‘. 267 Vgl. Kapitel B.3.3 dieser Arbeit. mittlere Teil des Gedichts ist grob an den vier Jahreszeiten orientiert. Vers 5-8 behandelt die Zeit von der Wintersonnenwende bis zum Frühjahr, also den Winter, Vers 9-12 die Zeit vom Frühjahrsbeginn bis [Ende] Mai, also den Früh‐ ling. Es folgen, ohne Angabe genauer Zeitpunkte, Ratschläge für den Sommer, bevor mit Vers 25-30 der Herbst umschrieben wird, der wiederum unterteilt wird in die Zeit bis zum 13. November und die Zeit bis zur Wintersonnenwende. Die gegebenen Ratschläge sind sichtlich an der Humoralpathologie orientiert, aber Camerarius äußert sich weder zu den Hintergründen des Systems noch zu denen seiner Ratschläge. Auch die sex res naturales werden nicht systematisch abgehandelt, Camerarius beschränkt sich meist auf die Bereiche Essen und Trinken sowie Bewegung und Ruhe. Das Gedicht wurde - zumindest soweit sich bisher erkennen lässt - nicht rezipiert. Der einzige Nachdruck findet sich, wie oben bereits erwähnt, in den Opuscula aliquot elegantissima von 1536. Sicherlich nicht zufällig am Ende des Druckes Erratum steht das Epigramm De ratione victus salutaris post incisam venam et emissum sanguinem, ad Armatum Epigramma Anastasii („Epigramm des Anastasius über die gesunde Lebensfüh‐ rung nach einem Aderlass und dem [dadurch bedingten] Blutverlust“). 264 Mit gleichem Wortlaut und leicht veränderter Interpunktion wurde es ein Jahr später erneut in den Opuscula aliquot elegantissima gedruckt. 265 Den Namen ‚Anasta‐ sius‘ gab Camerarius sich selbst, er ist als Metonomasie seines Vornamens Joachim zu verstehen. 266 Das Epigramm ist in heiterem Ton gehalten und weist einige der für Camerarius typischen Selbststilisierungen auf, so dass die Frage berechtigt erscheint, ob Camerarius die Gedichtsammlung noch einmal bewusst mit einem Selbstporträt abschließen wollte, ob dem Epigramm also program‐ matischer Charakter zukommt. Aufgrund dieser Merkmale (Camerarius spricht über sich selbst, programmatischer Charakter des Werks) soll dieses Werk im Folgenden 267 mit der in der Einleitung für Paratexte beschriebenen Methode untersucht werden. Für den modernen Leser ist der Aufbau dieses Druckes erstaunlich, da Camera‐ rius scheinbar willkürlich Reflexionen über die menschliche Fehlerhaftigkeit mit Lehrgedichten über Winde, Sterne und Himmelszeichen sowie mit diä‐ tetischen Gedichten verbindet. Was ist das gemeinsame Element all dieser Werke? Wie lässt sich der Aufbau des Drucks erklären? Die Antwort ist relativ einfach, wenn man bedenkt, dass Krankheiten, wie wir bereits gesehen haben, 94 3 Kleinere diätetische Gedichte (1535 und 1536) ganzheitlich anthropologisch und kosmologisch gesehen werden müssen. Di‐ ätetische Lebensregeln zeigen, wie man angesichts der Macht des Kosmos Kontrolle über den eigenen Körper ausüben kann. Lehrgedichte über Winde, Gestirne, zukunftsverkündende Zeichen und die Wirkungen von Planeten erklären hingegen den Kosmos und seinen Einfluss auf den Menschen. In beiden Fällen steht der Mensch im Mittelpunkt, der einerseits den Kräften der Natur ausgeliefert ist, sie andererseits aber auch verstehen und das daraus gewonnene Wissen nutzen kann. Die Verbindung der einzelnen Gedichte ist dabei eher assoziativ. Ähnliches gilt für das Verhältnis zum Werk Erratum sive ὑπὲρ πταίσματος. Auch dieses Werk ist anthropologisch, insofern es um den Menschen geht, der einerseits begreifen muss, dass er seiner Fehlerhaftigkeit ausgeliefert ist, und andererseits lernen muss, mit ihr richtig umzugehen und sie zu kontrollieren (was Camerarius tut, indem zwischen verzeihlichen und unverzeihlichen Fehlern unterscheidet). Die Werke sind jedoch nicht nur durch diese gemeinsame Thematik ver‐ bunden, sondern können auch als Antworten auf die Vorwürfe des Erasmus verstanden werden: Im Erratum verteidigt sich Camerarius argumentativ gegen dessen Kritik. Mit seinen Gedichten will er demonstrieren, dass er sich durchaus auf die Poesie versteht (immerhin dürfte er der erste deutsche Humanist sein, der Lehrgedichte über Winde verfasst hat! ). Und mit der Wahl seiner Themen zeigt er, dass er durchaus den tatsächlichen Nutzen für den Leser im Auge hat. 3.2.2 Diätetische Gedichte im Druck Opuscula aliquot elegantissima Gegenüber dem Druck Erratum, Aolia […] sind die Opuscula aliquot elegantis‐ sima lediglich um einige Gedichte erweitert, die in der folgenden Übersicht fett hervorgehoben sind: • Bl. 1v: Paratext: Brief an den Leser • Bl. 2r-17r: Werk: Erratum sive ὑπὲρ πταίσματος (einem nicht genannten Freund gewidmet) • Bl. 17v-24v: Werk: Aeolia (Moritz von Hutten gewidmet) • Bl. 25r-31r: Werk: Phaenomena (Daniel Stiebar gewidmet) • Bl. 31v-39v: Werk: Prognostica (Daniel Stiebar gewidmet) • Bl. 40r/ v: Werk: Nomina, res, effectiones, solis ac lunae & quinque errantium, epigramma traductum e Graeca lingua in Latinam • Bl. 40v-41r: Werk De ratione victus et quae dieta dicitur, servanda, per totum annum in cura valetudinis • Bl. 41v: Werk De ratione victus salutaris post incisam venam & emissum sanguinem, ad Armatum epigramma 3.2 Aufbau der Drucke 95 268 Zum Gedicht vgl. Ludwig 2003a, 129. 269 Martius humores et terrae et corporis auget. | Tunc ratio est puri magna tenenda cibi. | Dulcia tum prosunt acri condita sapore, | pharmaca non prosunt, venam aperire nocet. • Bl. 42r-43r: Werk: Victus et cultus ratio, expositis quaternis in singulos menses versibus • Bl. 43r-44v: Werk: Quid fieri singulis mensibus soleat • Bl. 44v-48r: Werk: Disticha • Bl. 48r: Errataverzeichnis Von den drei Werken hat nur das erste einen medizinischen Bezug. Es gibt diätetische Ratschläge für die einzelnen Monate des Jahres. Da es aber keine Re‐ flexionen über das Verhältnis des Camerarius zur Naturkunde enthält, soll es wie die folgenden Gedichte nur skizzenhaft umrissen werden. Diesem Epigramm folgen eine Art Bauernkalender („Quid fieri singulis mensibus soleat? “) und Dis‐ tichen zu verschiedenen Themen, vor allem zu menschlichen Handlungsweisen, Situationen oder Zuständen. Das Gedicht Victus et cultus ratio, expositis quaternis in singulos menses ver‐ sibus  268 gibt in jeweils vier Versen diätetische Ratschläge für die einzelnen Monate des Jahres. Im Gegensatz zu den anderen Gedichten werden hier diese Ratschläge manchmal mit Veränderungen in der Natur begründet. Am deut‐ lichsten wird dies in den Versen zum März der laut Camerarius die Säfte sowohl der Erde als auch des Körpers vermehrt, weshalb man auf die Einnahme reiner Speisen achten solle (Vers 9-12) 269 - eine Passage, die noch einmal deutlich vor Augen führt, dass der Mensch denselben Kräften wie die Natur unterworfen ist, und weshalb diätetische Gedichte zu astronomisch-astrologischen Gedichten passen: In beiden Fällen geht es um die Ordnung des Kosmos, von der der Mensch als Teil betroffen ist. Die Frage nach der richtigen Nahrung und dem korrekten Zeitpunkt für die Einnahme von Medikamenten, für Badbesuche, Geschlechtsverkehr oder den Aderlass scheint im Vordergrund zu stehen. Wie in den anderen diätetischen Gedichten bringt Camerarius nicht explizit zum Ausdruck, dass er vom System der sex res non naturales ausgeht. Von diesen sechs Bereichen stehen dabei das „Essen und Trinken“ sowie die „Füllung und Entleerung“ im Vordergrund. Sie werden aber nicht systematisch bei jedem Monat abgehandelt. Die anderen Bereiche kommen nur gelegentlich zur Sprache. Insgesamt steht also auch hier aufgrund des unsystematischen Aufbaus und des weitgehenden Verzichts auf Erläuterungen der lehrhafte Charakter des Gedichts nicht im Vordergrund. Es wurde wohl deshalb in den Druck aufgenommen, weil es den Menschen und seinen Bezug zum Kosmos thema‐ 96 3 Kleinere diätetische Gedichte (1535 und 1536) 270 Vgl. OC 1076. 271 Vgl. Ludwig 2003a, 129-130. Auch Ludwig hält Hesiod für ein mögliches Vorbild. 272 Vgl. Ludwig 2003a, 129. Vgl. allgemein zu den Disticha auch OC 0174. 273 Vgl. Kapitel E.3. tisiert. Er ist den gleichen Kräften wie die Natur ausgeliefert, kann sie aber auch bis zu einem gewissem Grad kontrollieren. Das Werk wurde mehrfach nachgedruckt. 270 Das Werk Quid fieri singulis mensibus soleat […] enthält keine diätetischen Ratschläge, sondern ist eine Art Bauernkalender mit verschiedenen Metren. Vorbild könnten im weitesten Sinne Hesiods „Werke und Tage“ sein: Auch dort folgt nämlich auf ein kosmologisches Lehrgedicht eine Art Bauernkalender. Es handelt sich hierbei nicht um ein medizinisches Werk und soll daher nicht weiter besprochen werden. Es sei auf den Beitrag Walther Ludwigs zu den Opuscula aliquot elegantissima verwiesen, der auch ihren heiteren Charakter herausstellt. 271 Bei den nun folgenden Disticha handelt es sich um lateinische Einzeldistichen, die wie Walter Ludwig gezeigt hat, überwiegend Übersetzungen aus der Antho‐ logia Planudea sind. 272 Mit den vorhergehenden Gedichten verbindet sie der heitere Charakter, der hier am stärksten ausgeprägt ist. Sie handeln von den verschiedensten Themen, hauptsächlich jedoch von Typen und menschlichen Handlungsweisen, Situationen oder Zuständen. Es geht also auch hier im weitesten Sinne um die Situation des Menschen, die auf mannigfache Weise beschrieben und veranschaulicht wird. Es ist kein medizinisches Werk und wird daher im Folgenden auch nicht Gegenstand der Betrachtung sein. 3.3 Analyse des programmatischen Gedichts De ratione victus salutaris: Selbststilisierung als kompetenter medizinischer Laie Von den diätetischen Gedichten des Camerarius soll hier nur eines näher untersucht werden, nämlich das Epigramm De ratione victus salutaris. Es nimmt eine gewisse Sonderstellung ein, da Camerarius hier von sich in der ersten Person spricht und das Gedicht an das Ende des 1535 erschienenen Druckes Erratum gestellt hat. Allein diese Tatsachen werfen schon die Frage auf, ob es nicht möglicherweise programmatischen Charakter haben könnte. Das Gedicht ist kurz genug, um hier vollständig abgedruckt zu werden, eine Übersetzung mit knappen Anmerkungen findet sich im Anhang. 273 3.3 Selbststilisierung im Gedicht De ratione victus salutaris 97 274 Alternativ könnte der Name einen Bezug zum vorigen Gedicht herstellen, das ebenfalls diätetische Ratschläge für den Jahreslauf enthielt. Man müsste ihn dann so verstehen, dass der Adressat (i.e. der Leser) bereits durch dieses Wissen gerüstet ist und nun nur noch Informationen zum Verhalten nach einem Aderlass benötigt. 275 Dies ergab eine am 30.06.2021 vorgenommene Durchsuchung der Datenbank Opera Camerarii. Venam Armate tibi medici incidere timenti - nescio venturi qualia damna mali. - Nunc quo vita modo fuso peragenda cruore - - sitque diaeta tibi qualis habenda rogas. - Illi morborum dicant Armate periti. 5 - Haec non est nostra falce metenda seges. - Non missum facis et „Cupio ex te audire diserti - - atque aliquid tua quod Pieris ornet“ ais. - Accipe, quandoquidem nugas ad seria ducis, - - quae facias, octo versibus, octo dies. 10 Prima caena die sit misso sanguine parca. - - Lux abeat laetis aucta secunda modi, - tertia sed placidae debetur tota quieti. - - Quarta et quinta sibi mollius esse volunt. - Balnea sexta petit. Mox septima colligit auras 15 - fertque vagos circum rura nemusque pedes. - Octava amplexus dilectae coniugis, et quae - - ante fuit vitam restituisse solet. - Das Gedicht beginnt heiter und in einem für Epigramme nicht untypischen, lockeren Tonfall. Der im Epigramm mit „Du“ angesprochene Armatus ist zur Ader gelassen worden, hat Angst vor negativen Folgen und bittet Camerarius um diätetische Ratschläge (V. 1-2). Der Name des Adressaten („der Gerüstete“), ist vermutlich schlichtweg als Anrede für denjenigen gedacht, der die prophy‐ laktischen Ratschläge des Camerarius befolgt und dadurch vorbereitet ist, d. h. der Leser wird (auch aufgrund der Anrede in der zweiten Person) unmittelbar mit einbezogen. Zugleich steht dieser „sprechende“ Name möglicherweise in bewusstem Gegensatz zur Furcht des Adressaten, um den heiteren Ton des Epigramms zu verstärken. 274 Theoretisch bliebe noch die Möglichkeit, hinter Armatus eine historische Persönlichkeit zu vermuten. Aber weder findet sich der Name im Personenverzeichnis der Opera Camerarii, 275 noch gehört er zu den bisher identifizierten Decknamen, die Camerarius in seinen Briefen 98 3 Kleinere diätetische Gedichte (1535 und 1536) 276 Camerarius verwendete aus Gründen der Diskretion bei der Erstellung der Edition der Melanchthonbriefe zahlreiche Decknamen. Eine Sammlung der Namen, die „Clavis allegoricorum nominum“, findet sich in: CR 10 (1842), Sp. 317-324. 277 Vgl. für die folgenden Ausführungen Kapitel A.3.2. 278 Vgl. Toepfer 2007, 90 f. 279 Z.B. in den Astrologica, vgl. Camerarius an Perlach, 12.04.1532 (Camerarius 1532a, Teil B, 1-3): Camerarius inszeniert sich hier als fachfremder, aber interessierter Laie, der gerade durch seine humanistische Perspektive (insbesondere Kenntnis der griechischen Sprache) einen Beitrag zur Wissenschaft der Astrologie leisten kann. Man findet eine verwendet. 276 Zudem haben „sprechende“ Namen in der Epigrammatik durchaus eine gewisse Tradition, man denke etwa an die Gedichte Martials. Man kann das Gedicht in drei Abschnitte unterteilen: Vers 1-8: Schilderung der Ausgangssituation. Der Adressat ‚Armatus‘ bittet Camerarius wiederholt um Rat, wie er sich nach dem Aderlass verhalten solle, doch Camerarius lehnt mit der Begründung ab, er sei kein Arzt. Vers 9-10: Mitte des Gedichts: Camerarius geht auf die Bitten des Armatus ein. Das Gedicht wechselt damit vom Bereich der nugae (poetische Spielereien) in den der seria (ernsthafte Theme); Vers 11-18: Es folgen konkrete diätetische Ratschläge. Das Epigramm weist gleich mehrere Eigenschaften auf, die es mit Widmungs‐ briefen vergleichbar machen: 277 Es simuliert durch die Frage des Armatus anläss‐ lich seines Aderlasses eine konkrete Situation, auf die Camerarius sein Wissen gleichsam praxisbezogen und in sprachlich ansprechender Form anwenden kann. Wie bei einem Brief ist die Sprache des Epigramms der Alltagssprache angenähert, und die fingierte Gesprächssituation findet sich in ähnlicher Weise auch in der Beziehung eines Briefschreibers zu seinem Adressaten wieder. All diese Eigenschaften, die auch Dedikationsepisteln aufweisen, erleichtern, bedingen oder bezwecken eine gewisse (Selbst-)Stilisierung, die in anderen Gattungen nicht so leicht möglich wäre. So ist es nicht verwunderlich, dass wir auch in diesem Epigramm einige der typischen Widmungsbrieftopoi finden, die hier freilich ins Spielerische transponiert sind: Die Freunde (bzw. hier ein Freund) müssen Camerarius zur Abfassung des Werkes / zur Preisgabe seines Wissens drängen. Er präsen‐ tiert sich somit als Gelehrter in einem sozialen Umfeld. Nur gegen innere Widerstände (auch dies ist topisch) 278 gibt Camerarius dann nach, nachdem er zunächst auf die Grenzen seiner professio verwiesen hat. Dieses Vorgehen dient aber nicht nur der Betonung humanistischer Bescheidenheit, sondern zielt auf eine Selbststilisierung als fachfremder Gelehrter ab, der dann aber durchaus in der Lage ist, in den ihm eigentlich fremden Gebieten seria zu verfassen. Dieses Selbstbild entwirft Camerarius auch in anderen Widmungsbriefen und Werken. 279 Aber wie und in welcher Weise konnte Camerarius als Fachfremder 3.3 Selbststilisierung im Gedicht De ratione victus salutaris 99 ähnliche Selbststilisierung aber auch am Anfang des zweiten Buchs der Norica (Vgl. Ca‐ merarius 1532b, Bl. d6v). Auch dort betont Camerarius, er sei kein Astrologe. Trotzdem leistet auch er als „reiner“ Humanist (d. h. durch philosophische Erörterungen und einen Katalog historischer Kometenerscheinungen) einen Beitrag zum Gespräch. In beiden Werken spielt außerdem (ebenso wie bei dem Gedicht über den Aderlass) die ansprechende literarische Gestaltung eine sehr wichtige Rolle: In den Astrologica spricht Camerarius davon, dass ihn lange Zeit die barbaries von einer intensiveren Beschäftigung mit der Astrologie abgehalten hätte, bis er die Gedichte Pontanos entdeckte (Camerarius 1532a, Teil B, 3). Und die Norica sind ein literarisch ausgefeilter Dialog zwischen verschiedenen Teilnehmern, der nicht nur auf das Belehren, sondern auch auf das Unterhalten des Lesers ausgerichtet ist. So hat jeder der Gesprächspartner einen eigenen Gesprächsstil, der dem Werk Lebendigkeit verleiht; Hessus etwa zeichnet sich dadurch aus, dass er die anderen durch Zwischenfragen unterbricht (vgl. Gindhart 2017, 204-208) und rezitiert seine eigene metrische Übersetzung eines griechischen Epigramms über ägyptische Monatsnamen (Bl. Biiv-Biir). 280 Vgl. Camerarius 1595, Bl. (: )2r-): (6v , hier Bl. (: )2v. 281 Vgl. Camerarius 1533, Bl. b6v-b8r (= Kapitel E.2.3, Abschnitt). 282 Für eine vollständige Übersicht zur Rezeption vgl. OC 0161. überhaupt legitimieren, dass er über Naturkunde schrieb? Auch darauf gibt das Gedicht eine Antwort, die sich in ähnlicher Weise in vielen Widmungsbriefen findet: Es ist die sprachliche Eleganz, mit der Camerarius sein Wissen präsen‐ tiert. Auch seine Söhne bezeichneten später die Verbindung von Nutzen und Freude an sprachlicher Eleganz als ein wesentliches Ziel ihres Vaters bei der Abfassung seiner Werke. 280 Im Widmungsbrief zur Übersetzung des Libellus ad Pamphilianum stellt Camerarius sein Bemühen um sprachliche Eleganz bei der Übersetzung antiker Rezepte in Verse geradezu als Novum dar! 281 Im Gedicht über den Aderlass demonstriert Camerarius anschaulich, dass er sogar in nugae, wie in einem Epigramm, als seria darstellen, also die Brücke zwischen voluptas und utilitas schlagen kann. Und so wollte Camerarius auch, dass man seine Rolle als Naturkundler verstand - als Fachfremder, der trotz oder gerade aufgrund seines anderen, philologischen Blickwinkels bereichern kann. Die Ärzte Johannes Curio (ca. 1512-1561) und Jakob Krell (fl. 1544-1559) druckten das Gedicht in ihrem 1545 edierten Werk De conservanda bona valetu‐ dine opusculum Scholae Salernitanae und seinen zahlreichen Nachdrucken ab - zum Teil vollständig, zum Teil nur die letzten acht Verse (sozusagen die seria). Das Gedicht eignete sich wohl wegen seines heiteren Tons, seiner Prägnanz und Kürze dazu. Dass in einigen Fällen nur die eigentlichen Vorschriften abgedruckt wurden, zeigt, dass die Editoren andere Maßstäbe anlegten als Camerarius, denn für sie standen die diätetischen Regeln im Vorderdergund. 282 Wenn wir das Gedicht auf die Vorwürfe des Erasmus beziehen, Camerarius könne nicht dichten oder solle zumindest etwas schreiben, das einen wirklichen 100 3 Kleinere diätetische Gedichte (1535 und 1536) 283 Vgl. dazu den Überblick in Kapitel A.1. Nutzen habe, dann ist das Gedicht als spielerische und zugleich selbstbewusste Demonstration intendiert, dass Camerarius beides (Nutzen und Dichtung) zu vereinen vermag. 3.4 Zusammenfassung und Zweck: nugae und seria Fasst man die Beobachtungen zu allen diätetischen Gedichten des Camerarius zusammen, so lässt sich Folgendes festhalten: Die gegebenen Ratschläge werden nicht begründet oder ausgeführt, d. h. die didaktische Funktion tritt in den Hin‐ tergrund. Die beiden Epigramme sind vielmehr in einem heiteren Ton gehalten und die gegebenen diätetischen Regeln sind nicht nach strengen, unmittelbar nachvollziehbaren Ordnungsprinzipien abgefasst. Vielmehr scheint Camerarius eher spielerisch und bewusst variierend mit den Inhalten umgegangen zu sein, so dass die Gedichte den Eindruck von Gelegenheitswerken erwecken. Was aber bezweckte Camerarius mit dieser Selbststilisierung als fachfremder Gelehrter, der dennoch Gedichte zu medizinischen Themen zu verfassen wusste? Die Gedichte haben aufgrund ihres heiteren Charakters eine eher pädagogisch-protreptische Wirkung. Entgegen Erasmus’ Vorwurf, er besitze mehr cura als natura, scheint er gerade durch das Mittel neoterischer lima (er nennt seine Verse nugae) den Eindruck spielerischer Leichtigkeit erwecken zu wollen. Auch die anderen Lehrgedichte sollten diese Kritik offenbar entkräften - man denke daran, dass Camerarius vermutlich als erster Deutscher Aeolia verfasst hatte. Aber auch die sprachliche Eleganz, die Camerarius als Besonderheit seiner medi‐ zinischen Werke herausstellt, ist durch sein zeitgenössisches Umfeld vorgeprägt. Schließlich ist es ein Charakteristikum der neuen humanistischen Medizin, dass sie gerade dies für sich in Anspruch nimmt. 283 Camerarius‘ Ziel dürfte es also gewesen sein, eine Medizin zu fördern, die er als humanistisch und zeitgemäß empfand, ohne dabei die Grenzen seiner eigenen professio zu überschreiten. Auf diese Weise konnte er eben jenen Ressentiments entgehen, die medizinisch interessierte Humanisten wie Hessus fürchten mussten. Das Ziel, so lässt sich zusammenfassen, ist also die Beförderung einer spezi‐ fisch humanistischen Herangehensweise an die Medizin, die Nützlichkeit und literarische Schönheit durch Poesie verbindet. All dies demonstriert Camerarius anschaulich am Sprecher-Ich des Gedichts und all dies geschieht implizit in Auseinandersetzung mit den Vorwürfen des Erasmus. 3.4 Zusammenfassung und Zweck: nugae und seria 101 284 Vgl. Kapitel B.2. 285 Vgl. hierzu das Inhaltsverzeichnis des Galen-Bandes, den Camerarius edierte (Kapitel B.4). 3.5 Einordnung in das Corpus des Camerarius und Rezeption Das Bestreben, nugae und seria miteinander zu verbinden und damit eine Brücke zwischen voluptas und utilitas zu schlagen, findet sich in ähnlicher Weise im De Theriacis et Mithridateis Commentariolus, in dem Camerarius die Darstellung von Rezepten in poetischer Form als Novum darstellt. 284 Und auch in den Astrologica betont er, dass ihn die Barbarei, mit der er die Astrologie assoziierte, zunächst davon abgehalten habe, sich mit ihr zu befassen. Erst die Dichtungen Pontanos hätten bei ihm zu einem Umdenken geführt. So strebt Camerarius in der Mehrzahl seiner medizinischen Werke, nicht nur in seinen diätetischen Gedichten, eine Synthese von literarisch ansprechender Gestaltung und Fachwissenschaft an. Dieses Wissenschaftsbild ist mit der Art und Weise verknüpft, wie Camerarius sich selbst stilisiert. Sowohl im De Theriacis et Mithridateis Commentariolus und in den Astrologica als auch in den diätetischen Gedichten inszeniert er sich als fachfremder Gelehrter. In keinem der drei Drucke stellt er eigene medizinische oder astrologische Theorien auf. Im Gegenteil, er inszeniert sich gerade in dieser Außenseiterperspektive und demonstriert aus dieser heraus, dass sich ansprechende literarische Gestaltung und Fachwissenschaft nicht ausschließen müssen. Die Tatsache, dass Camerarius denselben Druck noch einmal auflegen konnte, spricht für die Popularität der darin enthaltenen Werke. Und wie wir gesehen haben, fanden einige seiner diätetischen Gedichte Eingang in andere zeitgenös‐ sische Schriften. Dafür sind mehrere Gründe denkbar: ihr heiterer Charakter, die einfache Memorierbarkeit von in Versen präsentierten Regeln sowie ihre Kürze und Prägnanz. Es wurde bereits gezeigt, dass die Kenntnis und die Beschäftigung mit Diätetik für einen Gelehrten wie Camerarius nichts Ungewöhnliches war. Für die Abfassung der Gedichte könnte jedoch noch ein weiterer Faktor von Bedeutung gewesen sein. Camerarius sollte nämlich drei Jahre später (im Jahr 1538) zusammen mit anderen Gelehrten eine neue Edition der Schriften Galens herausgeben. 285 Der vierte, von Camerarius bearbeitete Band, enthält auch diätetische Schriften Galens. Falls er also bereits 1535 mit den Vorbereitungen 102 3 Kleinere diätetische Gedichte (1535 und 1536) dieser Edition befasst war, könnte dies die Entstehung der beschriebenen Gedichte mit beeinflusst haben. 3.5 Einordnung in das Corpus des Camerarius und Rezeption 103 286 Vgl. Kapitel A.1. 287 Vgl. Galen 1525, Bd.-I, Bl.-Ir. 288 Vgl. Mani 1956, 31 und 50-52, Fortuna 2012, Fortuna 2019 sowie Nutton 2022, 105-117. 289 Vgl. Fortuna 2019, 443 und Nutton 2022, 105. 4 Die Galen-Ausgabe (1538) 1538 erschien in Basel eine fünfbändige Gesamtausgabe der Werke Galens, deren vierter Teil von Camerarius besorgt worden war und zahlreiche kleinere Schriften Galens zu verschiedenen medizinischen Themen enthielt. Es handelt sich um die zweite vollständige Edition der Schriften Galens, nachdem erst einige Jahre zuvor (1525) die Aldina erschienen war. Auch bei diesem Druck stellen sich nun einige zentrale Fragen: Was be‐ zweckte Camerarius mit seiner Mitarbeit an der Edition? Wie stilisiert er seine Editionsarbeit, insbesondere in Bezug auf die 1525 publizierte Aldina? Welches Bild von der Medizin entwirft er? 4.1 Entstehungsbedingungen: Von der Aldina (1525) zur Basler Galenedition (1538) Die enorme Bedeutung, welche die Veröffentlichung der Aldina für die zeitge‐ nössische Medizin besaß, wurde bereits in Kapitel B.2 beschrieben, deshalb sollen hier nur einige zentrale Punkte in Erinnerung gerufen werden. Durch die Publikation der griechischen Originaltexte an, die bisher nicht gedruckt vorlagen, strebte die Aldina eine Vermittlung reinen medizinischen Wissens an, das nicht durch die barbaries der mittelalterlichen arabisch-lateinischen Tradition getrübt worden war. Es wurde also durch die Reinigung der tradierten Texte eine Reinigung der Medizin angestrebt. 286 Dies geht einher mit einer Aufwertung Galens, der nicht nur wegen seiner medizinischen Kenntnisse, sondern auch wegen seines philosophischen Wissens gepriesen wird. 287 Der Nachhall der Ausgabe war gewaltig, bildete doch die Verfügbarkeit einer gedruckten Edition der Originaltexte in vielen Fällen die Vorraussetzung für die Entstehung von lateinischen Übersetzungen und zweisprachigen Ausgaben, die in den kommenden Jahren in großer Zahl erschienen. 288 Gleichwohl waren Druckkosten, ebenso wie Verkaufspreise sehr hoch - und so wurde die Produk‐ tion bald gestoppt und der Druck nicht neu aufgelegt. 289 Hinzu kommt, dass die 290 Vgl. Nutton 2008, 370 f., Fortuna 2019, 445 und Nutton 2022, 107 f.. 291 Vgl. GG 337. Bd. 1 wurde von Cratander gedruckt, Bd. 2 von Bebel, Bd. 3 und 4 von Herwagen und Froben und Bd.-5 von Michael Isingrin für Cratander und Bebel. 292 Vgl. GG 337. 293 Vgl. z. B. Gemusaeus et al. 1538, Bd. I, Deckblatt und Bl. a8r, Bd. II, Bl. A2r und Bd. IV, Bl. *2r. 294 Vgl. Gemusaeus et al. 1538, Bd. III, Bl. α2v und Gemusaeus et al. 1538, Bd. I, Bl. α8r. 295 Vgl. die Seite „Basel“ in der Datenbank Opera Camerarii (aufgerufen am 16.04.2020). 296 Vgl. Galen 1536, 437-440. Ausgabe übereilt erstellt und alles andere als fehlerfrei war. Einige Gelehrte, wie Erasmus von Rotterdam, kritisierten sie heftig. 290 Angesichts dieser Faktoren überrascht es nicht, dass man bereits wenige Jahre später in Basel die Aldina neu auflegte und im Jahr 1538 veröffentlichte. Es handelt sich hierbei um ein monumentales Gemeinschaftsprojekt der Drucker Andreas Cratander (ca. 1485-ca. 1540), Johann Bebel (verst. 1550), Johann Her‐ wagen (1497-1558) und Johann Erasmius Froben (1519-1549), was auch durch ihr gemeinschaftliches Druckersignet deutlich wird. 291 Fast zeitgleich wurden bei Hieronymus Froben (1501-1563) und Nikolaus Episcopius (1501-1564) der gesamte Hippokrates veröffentlicht und bei Cratander die Schriften des Paulus von Aigina. 292 All diese medizinischen Werke waren zuvor schon bei Manutius in Venedig gedruckt worden, was nahelegt, dass man in Basel gezielt versuchte, die venezianische Druckerei nachzuahmen und zu übertreffen. Sicherlich erhoffte man sich mit der Publikation der Ausgabe großen Gewinn und Prestige. Zudem stand man in direkter Konkurrenz zu den Druckern der Aldina. Dies spiegelt sich schon auf dem Deckblatt, aber auch in den Paratexten wider, wo die Herausgeber immer wieder die Fehlerhaftigkeit der ersten Edition betonen und so das eigene Unterfangen legitimieren: 293 Zugespitzt könnte man sagen, dass, so wie die Aldina die Fehler der arabisch-lateinischen Tradition des Mittelalters beseitigen wollte, die Herausgeber der Basler Ausgabe eine Reinigung der Fehler der ersten Edition anstrebten, also eine noch größere Annäherung an die „wahre“ Medizin Galens. Für die Edition der Texte hatten die Drucker den Basler Mediziner und Professor Hieronymus Gemusaeus (1506-1544) beigezogen, welcher die Hauptlast des Unter‐ nehmens trug, sowie Leonhart Fuchs (1501-1566) und Camerarius, die den zweiten bzw. vierten Teil bearbeiteten. 294 Der von Camerarius besorgte vierte Band wurde von Herwagen und Froben gedruckt. Wie genau es dazu kam, dass Camerarius an dem Unternehmen teilhatte, ist unklar. Zumindest war er der Druckergemeinschaft nicht unbekannt, immerhin hatten ihre Mitglieder bereits vorher einige Werke von ihm veröffentlicht, 295 darunter Cratander 1536 die (früher als Teil der Theriakschrift gedruckte) Übersetzung des Libellus ad Pamphilianum de Theriaca. 296 Zudem war 4.1 Entstehungsbedingungen: Von der Aldina (1525) zur Basler Galenedition (1538) 105 297 Vgl. Philipp Melanchthon an Franz I. von Frankreich, [vor 13.02.1538] (MBW 1996). Es ist unklar, wie genau Melanchthon mit dem Druck in Zusammenhang steht. Die Vorrede an Franz I. von Frankreich fand anscheinend erst Einzug in die Nachdrucke. Sie sollte wohl von Veit Dietrich nach Erhalt an Cratander weitergeleitet werden (Melanchthon an Veit Dietrich, 13.02.1538; MBW 1997). Melanchthon scheint die praefatio aber erst sehr spät vollendet zu haben, die er anscheinend als Freundschaftsleistung verfasst hatte (vgl. Philipp Melanchthon an Veit Dietrich, 13.02.1538; MBW 1997). 298 Vgl. GG 337. 299 Vgl. Franz I. von Frankreich an Philipp Melanchthon, 28.06.1535 (MBW 1579). 300 Ich danke Matthias Dall’Asta für diesen Hinweis. 301 Vgl. Gemusaeus et al. 1538, Bd. I, Bl. α8r. Leonhart Fuchs, der den zweiten Teilband edierte, ein Kollege von Camerarius (beide unterrichteten an der Universität Tübingen). Es gab wohl Pläne, der Gesamtausgabe einen Widmungsbrief Melanchthons an König Franz I. von Frankreich voranzustellen, das Schreiben wurde allerdings nicht in die Edition aufgenommen. 297 Stattdessen widmete Gemusaeus die Edition dem königlichen Rat Guillaume du Bellay (1491-1543), einem Diplo‐ maten des französischen Königs. 298 Er stand den Protestanten nicht abgeneigt gegenüber und ihm ist wohl auch die Tatsache zu verdanken, dass Melanchthon 1535 von Franz I. eine offizielle Einladung erhielt (Das Treffen fand jedoch nicht statt). 299 Anscheinend bemühte man sich also in Basel um die Gunst des französischen Königshauses, wandte sich dann aber nicht an den König selbst, sondern gleichsam indirekt an ihn über du Bellay, 300 dem man auf diese Weise zugleich dafür danken konnte, dass er den Arzt Jean Ruel beauftragt hatte, den Druckern Galen-Handschriften für ihre Edition bereitzustellen. 301 4.2 Aufbau des Drucks Der Aufbau des von Camerarius bearbeiteten vierten Bandes lässt sich durch folgendes Schema beschreiben: Aufbau des Drucks: • Bl. *2r/ v: Brief an den Leser • Bl. *3r: Hippokratischer Eid • Bl. *4v: Inhaltsverzeichnis • 1-480: Edition Eine Untersuchung der Editionskriterien gehört nicht in den Aufgabenbereich dieser Arbeit. Eine Auflistung der edierten Werke Galens, sc. das Inhaltsver‐ 106 4 Die Galen-Ausgabe (1538) 302 Vgl. die untenstehende Tabelle. zeichnis des Bandes, findet sich am Ende dieses Unterkapitels. Es handelt sich um thematisch sehr verschiedene Schriften, darunter diätetische und solche über den Aderlass, die möglicherweise den Anlass für die im vorigen Kapitel besprochenen diätetischen Gedichte bildeten. 302 Die Auswahl erweckt insgesamt den Eindruck, auch für Laien relevant zu sein. Im Inhaltsverzeichnis sind die Schriften in solche unterteilt, die von Galen selbst stammen, und solche, die ihm zugeschrieben wurden. Eingeleitet wird die Sammlung von einem Brief an den Leser. Dass Camerarius keinen Widmungsbrief verfasste, liegt vermutlich an formalen Gründen: Nur Band eins und fünf, also der erste und der letzte Band der Ausgabe, weisen ein Widmungsschreiben auf. Dem ersten Band ist, wie schon gesagt, eine Widmung an Guillaume du Bellay vorangestellt (ihm ist zugleich die ganze Ausgabe gewidmet), der fünfte Band wird durch eine Dedikation an Philippe de Cossé (gest. 1548), den Bischof von Coutances eingeleitet, während die drei mittleren Bände lediglich epistolae ad lectorem beinhalten. Vermutlich wollte man die einleitenden Paratexte des ersten und letzten Bandes gegenüber den anderen Vorreden hervorheben und so eine Art Rahmen schaffen. Für Camerarius bedeutete das, dass er sich nicht so sehr über sein soziales Umfeld, d. h. das Verhältnis zum Adressaten, stilisieren konnte. Dennoch inszeniert er sich auch hier gezielt in der Rolle des Humanisten, wie aus der folgenden Untersuchung deutlich werden soll (vgl. Tab. 3). Inhaltsverzeichnis des vierten, von Camerarius besorgten Bandes der Basler Galenedition Titel lt. Inhaltsverzeichnis Nr. bei Fichtner 2019 De venae sectione adversus Erasistratum 71 De venae sectione adversus sequaces Erasistrati Romae agentes 72 De curatione per venae sectionem 73 De hirudinibus, revulsione, cucurbitula et concisione cutis sive scarificatione 74 Consilium puero morbo comitiali laboranti scriptum 77 De captionibus quae in dictione consistent 87 Curandi ratio 69 4.2 Aufbau des Drucks 107 De curatione ad Glauconem 70 De tuenda valetudine libri VI 37 Ad Thrasibulum, utrum medicinae an gymnastice sit tueri valetudinem 34 De ea, quae parva pila fit exercitatione 35 De facultate alimentorum libri III 38 De boni et mali succi cibis 39 De libris suis 114 De ordine librorum suorum 115 - - Die folgenden Titel bezeichnet Camerarius im Inhaltsverzeichnis als pseudo‐ galenisch (Libri Galeno adscripti) Titel lt. Inhaltsverzeichnis Nr. bei Fichtner 2019 Introductio, vel medicus 89 Definitiones medicae 120 Quod qualitates sine corpore sint 121 An animal sit, quod in corpore continetur 117 De urinis 127 Dignotio passionum, quae in renibus sunt ac eorum curatio 131 De philosophi narratione 119 De facile parabilibus medicamentis ad Solonem 86 De facile parabilibus medicamentis 86 De mensuris et ponderibus 134 De atra bile ex libris Galeni, Ruphi et Aëtii Sicamii excerpta 132 De medicamentis quae inter se commutantur 133 De decubitu praenotiones ex mathematica scientia 126 Tab. 3: Inhaltsverzeichnis 108 4 Die Galen-Ausgabe (1538) 303 Vgl. für die folgenden Ausführungen Kapitel E.4 (Edition und kommentierte Übersetzung). Die dort vorgenommene Abschnittszählung wird auch in diesem Kapitel verwendet. Auf diese Weise soll die Auffindung von Zitaten erleichtert werden. 304 Vgl. Gemusaeus et al. 1538, Bd. IV, Bl. *2r (= Kapitel E.4, Abschnitt 1). 305 Vgl. Gemusaeus et al. 1538, Bd. IV, Bl. *2r (= Kapitel E.4, Abschnitt 2): „Atque utinam possem, ut Diomedes Vlyssem, sic ego hoc nostrum opus atque studium vere meritoque laudare.“ 306 Vgl. Gemusaeus et al. 1538, Bd. IV, Bl. *2r (= Kapitel E.4, Abschnitt 2): „In quo quidem non quid praestiterit diligentia et industria nostra, sed quanta, ut aliquid praestaretur, cura et assiduitas fuerit, possem sane, si vellem, verbose commemmorare.“ 307 Vgl. Gemusaeus et al. 1538, Bd. IV, Bl. *2r (= Kapitel E.4, Abschnitt 3): „Nec enim velut eminere hoc opus alterius quasi supplantatione, sed per se volumus […]“ 4.3 Analyse des Briefs an den Leser: Das Erbe der Aldina 303 Ne laudes Tydida meas neve ingere probra, Omnia nam coram memorabis nota Pelasgis.  304 „Tydeussohn, lobe mich nicht und schmähe mich auch nicht. Denn alles, was du sagst, wissen die Pelasger bereits.“ Mit diesem Iliaszitat eröffnet Camerarius recht unvermittelt die Epistola ad lectorem. Bei Homer werden diese Worte im zehnten Buch (V. 249 f.) von Odysseus gesprochen, nachdem Diomedes ihn überschwänglich gelobt und vorgeschlagen hat, ihn mit auf eine Erkundungsmission zu nehmen. Camerarius fährt fort, indem er seine Situation mit der des Odysseus vergleicht: Könnte er doch nur sein Editionsvorhaben - es liegt ihm sehr am Herzen - zurecht so loben wie Diomedes den Odysseus. 305 Was soll dieser Vergleich? Zunächst einmal stellt man fest, dass er einen logischen Bruch zu enthalten scheint, weil Camerarius die Perspektive wechselt: Einerseits will er die Worte verwenden, die Odysseus zu Diomedes sagt, andererseits möchte er so, wie Diomedes den Odysseus rühmt, seine Edition loben. Vermutlich will Camerarius Folgendes zum Aus‐ druck bringen: Seine Edition verdient nicht denselben Ruhm wie Odysseus, deshalb will er sie nicht selbst loben, trotzdem will er die bescheidenen Worte des Odysseus verwenden. Es handelt sich hierbei um einen Bescheidenheitstopos: Natürlich soll der Leser nicht denken, dass das Editionsvorhaben nicht gelungen ist, sondern dass Camerarius bewusst auf Eigenlob verzichtet. Denselben Zweck hat die Praeteritio in Abschnitt 2, mit der er wortreich erklärt, wie mühevoll und genau er gearbeitet hat (possem sane, si vellem, verbose commemorare…),  306 oder in Abschnitt 3 die Behauptung, er wolle darauf verzichten, die Edition durch einen Vergleich mit der Aldina in den Himmel zu rühmen. 307 4.3 Analyse des Briefs an den Leser: Das Erbe der Aldina 109 308 Vgl. Galen 1525, Bd. V, Bl Ir. 309 Vgl. Galen 1525, Bd. V, Bl Ir: „Quare cum tibi in hac vehementer elaborandum una maxime duceres, occurebat, ut opinor, illud quod te maxime permoveret, bararos tantum extare scriptores, qui rem sacratissimam et vitae imprimis necessariam attingerent et, quod maiore tibi molestiae foret, multa in hisce partim obscura propter linguae insolentiam, multa et propter eorum inscitia, qui in nostrum verterant linguam, false esse tradita. Qua sane re gravies aut perniciosius accidere nobis poterat nihil.“ 310 Vgl. Galen 1525, Bd. V, Bl. Ir/ v. 311 Vgl. Galen 1525, Bd. V, Bl. IIr. 312 Vgl. Galen 1525, Bd. V, Bl. IIr. In dieser Eröffnung steckt aber viel mehr, denn Camerarius hat sie in bewusster Nachahmung zur von Andreas Asulanus verfassten Vorrede des fünften Teils der Galen-Aldina konzipiert. In beiden Texten folgen nämlich auf ein Homerzitat nahezu die gleichen Worte (vgl. Tab. 4): 308 Camerarius (1538) Asulanus (1525) Ne laudes Tydida meas neve ingere probra, Omnia nam coram memorabis nota Pe‐ lasgis. Ἰατρὸς γὰρ ἀνὴρ πολλῶν ἀντάξιος ἄλλων. Liceat enim mihi iis versibus nunc uti, quibus affatur Diomedem prudentissimus vir Ulysses […] Liceat enim mihi te eisdem affari verbis, Vir excellentissime, quibus opinor Idome‐ neus apud Homerum adhortatus est Nes‐ torem […] Tab. 4: Camerarius und Asulanus Durch die Anspielung macht Camerarius deutlich, dass er sich in die Tradition der Aldina stellt und bewusst mit ihr in Konkurrenz tritt. Dazu soll kurz auf die Widmungsvorrede des Asulanus eingegangen werden: Dieser hatte erklärt, dass die griechischen Texte Galens bisher fast nur in barbarischen - d. h. uneleganten und aufgrund des Unwissens der Übersetzer fehlerhaften - lateinischen Versionen bekannt gewesen seien. 309 Der Text enthält einen kurzen Abriss über zentrale Rezeptionsstadien der Medizin Galens: Nach dem Fall des römischen Reiches hätten in Italien die Künste brach gelegen. Und auch wenn Asulanus arabisch-lateinische Übersetzungen abwertet, billigt er dennoch die Bemühungen der Araber um die Erhaltung der antiken Medizin. Schließlich hätten die Italiener aber die Autorität der Araber gebrochen. Neuere humanistische Übersetzungen lobt der Drucker explizit. 310 Der Abriss gipfelt in einer Anrede an den Adressaten, die mit einem Lob der Aldina verknüpft wird. 311 Ziel des Asulanus ist die Vertreibung der barbaries aus der Medizin. 312 Die 110 4 Die Galen-Ausgabe (1538) 313 Vgl. Galen 1525, Bd. V, Bl. Ir. 314 Vgl. hierzu auch Kapitel A.1 und die Interpretation der Widmungsbriefe der Astrologica (Kapitel B.2.3). 315 Vgl. Camerarius 1538, Bl. *2r (= Kapitel E.4, Abschnitt 1). 316 Camerarius 1538, Bl. *2r (= Kapitel E.4, Abschnitt 3). 317 Galen 1525, Bd. I, Bl. Ir. Vgl.auch Galen 1525, Bd. II, Bl. **v. Dort schreibt Andreas Asulanus (1451-1529) über Galen: „viri eloquentia simul, et varia literarum cognitione omnium pene praestantissimi, ac aetatis suae, suique generis scriptorum facile princeps“. 318 Vgl. Gemusaeus et al. Bd. IV, Bl. *2r (= Kapitel E.4, Abschnitt 2). Medizin habe nun durch die Bestrebungen gelehrter Männer und des Adressaten (der die Edition beförderte) ihren alten Glanz zurückerhalten. 313 Camerarius bekennt sich durch die Anspielung auf die Vorrede des Asulanus zu denselben Idealen: Die Medizin soll von der barbaries befreit werden und in neuem Glanz erstrahlen. 314 Zugleich reiht er sich und die Neuausgabe der Werke Galens in die von Asulanus beschriebenen Rezeptionsstadien ein und deutet an, dass die Edition des Jahres 1538 den neuen Höhepunkt der Galen-Rezeption darstellt: Die Aldina mag die Fehler der mittelalterlich-arabischen Tradition beseitigt haben, aber die Basler Ausgabe reinigt sogar noch deren Fehler. Sie verkörpert also das Neueste der zeitgenössischen Forschung. Dies ist ein sehr selbstbewusster Anspruch, den Camerarius durch die Bescheidenheitstopoi und die Wahl des Eröffnungszitats etwas unprätentiöser wirken lassen möchte. 315 Aber nicht nur im bisher besprochenen Abschnitt 1, sondern auch in Abschnitt 3 reiht sich Camerarius vermutlich in die Tradition der Aldina ein, wenn er die herausragende Bildung Galens sowie die Tatsache hervorhebt, dass seine Werke nicht nur medizinische Themen behandeln, sondern auch philosophischen Gehalt besitzen und somit für alle Gelehrten relevant sind: Cum autem hanc editionem possem, si non alio pacto, at comparatione cum priore in coelum propemodum effere, tum vero pulcherrimos et divinos conatus atque voluntatem eorum, qui nunc haec commoda facultatibus et laboribus suis comparata afferunt studiosis Medicinae vel potius philosophiae, cuius ita scripta praeceptis et doctrina referta sunt, debita celebratione ornare, sed mihi in utroque temperandum.  316 Ähnliches schreibt Andreas Asulanus im ersten Band der Aldina über die Schriften Galens: „[…] praecipue Galeni illius Geometrae filii, qui […] totque non medica solum ac philosophica, sed etiam grammatica simul atque rhetorica conscripsit.”  317 In Abschnitt 2 318 wird Camerarius konkreter und beschreibt seine Editionsarbeit. Zunächst ist hier die unbedingte, fast schon religiöse Treue (fidelitas; timiditas; 4.3 Analyse des Briefs an den Leser: Das Erbe der Aldina 111 319 Vgl. Gemusaeus et al. 1538, Bd. II, Bl. A2v: „Quamquam vero divinatrices interdum coniecture non parum arriderent, summa tamen nobis religio fuit in hoc scriptore quicquam temere immutare. Quare coniecturas has nostras qualescumque signo notatas margini potius asscribere, quam contextui verborum inserere placuit.“ 320 Vgl. Gemusaeus et al. Bd. IV, Bl. *2r (= Kapitel E.4, Abschnitt 2): „Sed nos hanc praecipitem vel potius sceleratam viam ingrediendam non putavimus.“ 321 Vgl. Jaumann 2001. 322 Vgl. Gemusaeus et al. 1538, Bd. II, Bl. A2r: “[…] reperti sunt tandem privati quidam viri Basilienses, qui humanam sortem miserati tam insignem medicinae scriptorem diutius neglectum iacere non passi sunt, sed vulnera, quae sane multa et horrenda illi inflicta esse animadvertebant, sanare quacumque id potuere ratione voluerunt, utque deinceps emendatiores multisque locis auctiores Galeni libros haberemus, summo sutdio conati sunt.“ 323 Gemusaeus et al. 1538, Bd. IV, Bl. *2r (= Kapitel E.4, Abschnitt 2). 324 Vgl. Gemusaeus et al. Bd. IV, Bl. *3r: „Διαιτήμασί τε χρήσομαι ἐπ‘ ὠφελείῃ καμνόντων κατὰ δύναμιν καὶ κρίσιν ἐμὴν, ἐπὶ δηλήσει δὲ καὶ ἀδικίῃ εἴρξειν.“ religio) zum Originaltext zu nennen, die Camerarius für sich in Anspruch nimmt - übrigens ein Ideal, das sein Kollege Fuchs, der Herausgeber des zweiten Bandes auch für sich in Anspruch nimmt. 319 Demgegenüber hält er es für einen geradezu frevelhaften Weg, leichtfertig Korrekturen am Text vorzunehmen. 320 Camerarius geht aber noch einen Schritt weiter, da er die Editionsarbeit mit der Arbeit eines Arztes vergleicht. Obwohl dies ein im 16. Jahrhundert nicht unbekannter Topos 321 ist (den beispielsweise auch Fuchs in seinem Widmungs‐ brief zum zweiten Teil der Basler Edition aufgreift), 322 wird der Vergleich von Camerarius dennoch in besonderer Weise ausgeführt: Die „Wunden“ des Textes müssten kuriert werden und dabei dürfe nicht um den Preis der Heilung eine neue schlimmere Wunde entstehen, wie dies der Fall sei, wenn unerfahrene Ärzte Therapieversuche unternähmen: Laesis autem et sauciis atque vitiosis ea est medicina adhibita, non quae praesens quidem malum tolleret, sed aliud non minus vel etiam grandius instigeret, id quod de imperitorum curationibus usu venire solet, qui saepenumero non sanitate morbum, sed alio difficiliori morbo commutant, nonnunquam etiam extinctione vitae illum tollunt.  323 Man mag bei diesen Äußerungen an den Eid des Hippokrates denken (mit seiner Formel, der Arzt solle heilen und Schaden vom Patienten fernhalten) 324 und diese Assoziation hatte Camerarius mit Sicherheit auch beabsichtigt, denn auf den Brief an den Leser folgt unmittelbar auf der nächsten Seite der hippo‐ kratische Eid. In der Vorgänger-Edition taucht er in keinem der fünf Bände auf. Das heißt, er wurde bewusst von Camerarius hinzugefügt. Man kann also sagen, dass Camerarius gleichsam den hippokratischen Eid auf die Textkritik 112 4 Die Galen-Ausgabe (1538) 325 Beides (Medizin und Textkritik) ist für Camerarius fast schon religiös aufgeladen: Die Treue zum Text und Heilung desselben bezeichnet er als religio, während der Arzt einen feierlichen Eid bei den Göttern leisten muss. 326 S.o. 327 Vgl. hierzu die Aussagen in der Einleitung. 328 Vgl. Kapitel A.1. 329 Vgl. Gemusaeus et al. 1538, Bd. IV, Bl. *2r (= Kapitel E.4, Abschnitt 3). 330 Vgl. Gemusaeus et al. 1538, Bd. II, Bl. A2r: „[…] satis infeliciter excusum, medisque innumeris refertum […]“. 331 Vgl. Gemusaeus et al. 1538, Bd. IV, Bl. *2r (= Kapitel E.4, Abschnitt 3): „Cum autem hanc editionem possem, si non alio pacto, at comparatione cum priore in coelum propemodum effere, tum vero pulcherrimos et divinos conatus atque voluntatem eorum, qui nunc haec commoda facultatibus et laboribus suis comparata afferunt studiosis Medicinae vel potius philosophiae, cuius ita scripta praeceptis et doctrina referta sunt, debita celebratione ornare, sed mihi in utroque temperandum. Nec enim velut eminere hoc opus alterius quasi supplantatione, sed per se volumus […].“ überträgt. 325 Doch warum war es ihm offenbar so wichtig, den philologischen Charakter der Medizin derart zu betonen? Nun mag man zunächst denken, dass Camerarius als Laie, der Schriften zur Medizin edierte, vielleicht unter besonderem Legitimierungsdruck stand und deshalb die Parallelen zwischen Medizin und Editionsarbeit besonders hervorheben wollte. Dies mag schon so sein, aber einerseits verliefen die Grenzen zwischen den artes nicht so strikt, andererseits verwendete beispielsweise Leonhart Fuchs das gleiche Motiv, wenn auch nicht in derselben Ausprägung wie Camerarius. 326 Wahrscheinlicher ist, dass Camerarius nicht nur, gleichsam defensiv, sich selbst legitimieren wollte, sondern sich gezielt zum Ideal der neuen humanistischen Medizin bekennen wollte, die Heilkunst und humanistische Philologie miteinander verband: 327 Die alte barbarische Medizin sollte abgelöst, ihre Fehlerhaftigkeit und ihre mangelnde sprachliche Eleganz durch Textkritik überwunden werden - so die implizite Aussage. Zur bewussten Übernahme dieses Bildes einer humanis‐ tischen Medizin gehört dann auch noch die Betonung des philosophischen Gehalts der Schriften Galens, die Camerarius in Abschnitt 3 vornimmt. 328 In Abschnitt 3 329 vergleicht Camerarius seine Edition mit der Aldina. Anders als etwa Fuchs, der die Fehlerhaftigkeit der Aldina ganz offen thematisiert, 330 wird sie hier in rhetorisch geschickterer Form lediglich angedeutet: Er wolle die Leistung der Edition nicht durch den Vergleich mit einer anderen hervor‐ heben. 331 Natürlich suggeriert er dem Leser dasselbe wie Fuchs, nämlich dass die Aldina fehlerhaft ist und nun durch eine bessere Ausgabe ersetzt wird. Dies passt zum ganzen Duktus der Epistola, in der Camerarius zwischen Selbstbewusstsein und prätentiöser Bescheidenheit wechselt. In diesem Zusammenhang stellt er auch knapp den Nutzen des Unterfangens für die Gesellschaft heraus, wenn er 4.3 Analyse des Briefs an den Leser: Das Erbe der Aldina 113 332 Vgl. Galen 1525, Bd. I, Bl. Ir. Diese Stelle wurde bereits im Fließtext zitiert. 333 Vgl. Camerarius 1538, Bl. *2r/ v (= Kapitel E.4, Abschnitt 4). 334 Vgl. Camerarius 1538, Bl. *2r/ v (= Kapitel E.4, Abschnitt 4): „Redeo igitur ad rem, et de nostra opera dicam adhuc paulula. Quam profecto fideliter me et attente et caute gessisse quisquis haec leges, et facile perspicies et probare debebis acceptamque habere hanc timiditatem nostram magis quam audaciam requirere.“ 335 Vgl. Camerarius 1538, Bl. *2r (= Kapitel E.4, Abschnitt 4): „In ipsis quibus ἀναμφισβήτως Galeni scriptis quibusdam notis sumus adiuti Britannicis, ut opinor […]“ 336 Leonhart Fuchs erwähnt in seinem Brief an den Leser ein exemplar ex Anglia trans‐ missum […] priori multo castigatius (Vgl. Gemusaeus et al. 1538, Bd. II, Bl. A2r), das von Beate Gundert in einem Aufsatz aus dem Jahr 2006 mit einem Aldinenexemplar aus dem Besitz John Clements (ca. 1495-1572) identifiziert wurde (Leiden, UB, 1366 A 9-11). Dieser Engländer war 1525 an der Erstellung der Edition des Manutius beteiligt gewesen und hatte später in einem, heutzutage in Leiden befindlichen, Exemplar die Edition (vor allem) mit ihren handschriftlichen Vorlagen kollationiert (vg. Gundert 2006). 337 Vgl. Camerarius 1538, Bl. *2r/ v (= Kapitel E.4, Abschnitt 4): „In uno autem et altero libello τῶν νόθων scriptis adiuti sumus eiusdem argumenti aliorum nonnulo cum fructu, ut in Dogmaticis et Astrologicis. Huius omnino partis quaedam ita fuere misere depravata, ut si maxime corrigi possent, ille tamen qui corrigeret non alienum scriptum emendasse, sed composuisse suum videretur […]“ 338 Vgl. Camerarius 1538, Bl. *2v (= Kapitel E.4, Abschnitt 4): „In quibus et diligentius per‐ censendis et quasi articulate fingendis libenter inservivimus publico usui studiosorum […] Hanc autem partem seu tomum, in quo accuratius versaremur, non tam propter eximios curationum libros quam varietatem quandam scriptorum nobis proposuimus, cuius lectio si nunc ulli ullo in loco melior, expeditior, iucundior visa fuerit, debet is ob id gratiam habere studio nostro.“ den Nutzen der Schriften Galens nicht nur für die Gelehrten der Medizin, sowie der Philosophie herausstellt. Auch mit dieser Aussage steht er in der Tradition der Aldina. 332 Im vierten und letzten Abschnitt 333 kommt Camerarius noch einmal genauer auf seine Arbeitsweise zu sprechen. Er betont erneut seine Genauigkeit und Treue zum Originaltext. Im Zweifelsfall hat er von allzu kühnen Eingriffen abgesehen. 334 Er erklärt, dass er als Hilfsmittel notae Britannicae verwendete. 335 Möglicherweise ist damit ein mit Anmerkungen versehenes Aldinenexemplar aus dem Besitz John Clements (ca. 1495-1572) gemeint, der 1525 an der Erstellung der Edition des Manutius beteiligt gewesen war. 336 Zudem las er andere medizinische und philosophische Schriften zu den Werken, die Galen (bloß) zugeschrieben sind. Leider waren einige von ihnen derart verderbt, dass der Korrektor gleichsam ein neues Werk geschaffen hat. 337 Sein Ziel, dies stellt er noch einmal heraus, ist es, die Texte zugänglich und verständlich zu machen, und damit dem Nutzen der Gelehrten zu dienen. Den vierten Band hat er sich vor allem deshalb ausgesucht, weil ihm die Vielfalt der in ihm enthaltenen Schriften gefallen hat. 338 Zudem nennt er noch einen persönlichen Bezug: Seine 114 4 Die Galen-Ausgabe (1538) 339 Vgl. Camerarius 1538, Bl. *2v (= Kapitel E.4, Abschnitt 4): „In quibus et diligentius per‐ censendis et quasi articulate fingendis libenter inservivimus publico usui studiosorum, cum elaborari in hac editione comperissemus, quod nos multorum sane annorum valetudinis afflictione vexati eo tempore cupide faceremus […].“ 340 Vgl. Woitkowitz 2003, 39. 341 Vgl. Camerarius 1538, Bl. *2r (= Kapitel E.4, Abschnitt 3). Die Stelle wurde bereits im Fließtext zitiert. angeschlagene Gesundheit, 339 die wegen eines Geschwüres in Mitleidenschaft gezogen war, das sich bei ihm im Jahre 1528/ 29 entwickelt hatte. 340 Deswegen hat er gern die Schriften des hochgelehrten und gewissenhaften Galens und anderer Ärzte gelesen. 4.4 Zusammenfassung und Zweck: Imitatio und aemulatio Es ist deutlich geworden, dass die Epistola ad lectorem im Wesentlichen mit Blick auf die 1525 erschienene Aldina gelesen werden muss. Dabei verfolgt Camerarius eine doppelte Strategie: Einerseits stellt er sich in ihre Tradition, etwa indem er den Brief ähnlich wie Asulanus beginnt und wie dieser Galen preist und als Philosophen und Mediziner würdigt. Auch die Art und Weise, wie Camerarius mit der mittelalterlich-arabischen Tradition umgeht, passt zu Asulanus’ Ansichten. Er erwähnt sie nämlich überhaupt nicht und so vermittelt er den Eindruck, dass die Galenrezeption im Wesentlichen die folgenden Stufen umfasst: die reinen Texte Galens - die Verunreinigung der Texte im Mittelalter - die Aldina und der Versuch die Texte zu reinigen - die Basler Edition mit noch reineren Texten. Andererseits wertet Camerarius die Aldina ab, um die eigene Edition in besserem Licht erstrahlen zu lassen. Er tut dies mit betonter Bescheidenheit. 341 Und indem er seine Treue zum Urtext, seine Genauigkeit und Sorgfalt bei der Edition betont, will er den Eindruck verstärken, dass die Basler Edition den neuen Höhepunkt der Galenrezeption darstellt. Insgesamt bewegt sich Camerarius damit zwischen den zwei Polen imitatio und aemulatio: Denn einerseits ahmt er die Aldina nach, andererseits deutet er an, dass er sie übertrifft. Das Wissenschaftsbild, das er entwirft, ist wesentlich auf Galen bezogen, der als vorbildlicher Wissenschaftler und Arzt geschildert und zentrale Autorität inszeniert wird. Für eine möglichst getreue Rekonstruktion seiner Texte sind humanistisch-philologische Methoden, wie Camerarius sie gebraucht, unerläss‐ lich. Wie eng für ihn Medizin und Humanismus miteinander verbunden sind, 4.4 Zusammenfassung und Zweck: Imitatio und aemulatio 115 d. h. wie nötig für die Medizin die humanistische Philologie ist, zeigt er durch die oben gezeigte Übertragung des hippokratischen Eids auf Texte. Auch ihre Wunden müssen geheilt werden und man darf nicht um den Preis der Heilung ein anderes, unter Umständen noch größeres Übel in Kauf nehmen. Man muss also von allzu gewagten Konjekturen oder Korrekturen Abstand nehmen. Zugleich impliziert Camerarius mit seinem Vergleich, dass Ärzte, die den hippokratischen Eid geleistet haben, auch den Texten gegenüber verpflichtet sind. Kurzum: Ohne humanistische Philologie geht es nicht. Gegenüber den bisher besprochenen Paratexten bietet ein Brief an den Leser geringere Möglichkeiten zur Selbstinszenierung, da der Adressat wegfällt, den Camerarius üblicherweise als Folie zur Selbstinszenierung nutzt. Trotzdem stilisiert er sich natürlich auch hier in Bezug auf andere: Als fleißiger und gewissenhafter Gelehrter, dem es um den Nutzen für die Gemeinschaft geht, und der alle ihm zugänglichen Mittel nutzt, um die originalen Texte wiederherzu‐ stellen zu können und den Gelehrten verständlicher zu machen. Dies verbindet er mit einer zur Schau getragenen Bescheidenheit. Wenn man nun all diese Punkte zusammennimmt und nach dem Zweck der Edition fragt, so ergeben sich mehrere Möglichkeiten. Zuallererst war eine Neuauflage der Aldina natürlich ein prestigeträchtiges Projekt, das, davon konnte Camerarius ausgehen, seinem Ruf äußerst dienlich sein dürfte. Ferner sagt er, er wollte die Schriften den Gelehrten der Medizin und Philosophie zugänglich machen - für einen hervorragenden Gräzisten wie Camerarius ein verständliches Motiv, zumal wenn man die Umstände bedenkt. Denn die Texte Galens waren nicht nur teilweise recht komplex und / oder verderbt, sondern die Griechischkenntnisse einiger Zeitgenossen dürften noch nicht allzu ausgeprägt sein angesichts der Tatsache, dass sich das Studium dieser Sprache erst in diesem Jahrhundert an deutschen Universitäten etablierte. Schließlich propagiert Camerarius noch die in seinen Augen richtige Medizin. Es handelt sich um eine aus Sicht der Zeitgenossen moderne Wissenschaft, die wesentlich von der humanistischen Philologie abhängig ist, auf sie aufbaut und erfahrener Philologen wie Camerarius bedarf. 4.5 Einordnung in das Corpus des Camerarius und Rezeption Innerhalb der Werke des Camerarius nimmt der Brief an den Leser eine gewisse Sonderstellung ein. Aufgrund der Limitierungen dieser Gattung kann sich Camerarius nicht so gut wie bei anderen Paratexten durch andere Personen in 116 4 Die Galen-Ausgabe (1538) 342 Vgl. GG 337. 343 Vgl. Nutton 2008, 371. 344 Vgl. Fortuna 2019, 449 und Nutton 2019, 472. einer konkreten Situation inszenieren. Trotzdem gibt es Gemeinsamkeiten, allen voran das Bekenntnis zur griechischen Tradition, zu einer antiken Autorität und ihren Texten. Hier und im De Theriacis et Mithridateis Commentariolus ist es Galen, im Falle der Astrologica Ptolemaios, die als Vorbilder für die jeweilige Wissenschaft geschildert werden. Vor allem aber strebt Camerarius in all seinen Schriften eine Verbindung von Humanismus und Medizin an, sei es, indem er auf die zentrale Rolle der griechischen Sprache für die Fachdisziplinen verweist (dies tut er vor allem in den Astrologica sowie, weniger direkt, hier und im De Theriacis et Mithridateis Commentariolus), auf die Bedeutung philologischer Arbeit (hier) oder auf die Verbindung von literarischer Schönheit und Nutzen. Dies entspricht einem Trend in der zeitgenössischen Medizin und ermöglicht Camerarius zugleich, sich selbst als Verfasser, Übersetzer oder Herausgeber medizinischer Schriften zu legitimieren. Angesichts der begrenzten Auflage der Aldina sollte man annehmen, dass der Einfluss der Basler Galenedition gewaltig war, zumal die nächste griechische Gesamtausgabe erst im Jahr 1679 in Paris erschien. 342 Tatsächlich aber wies die Basler Edition nicht wenige Fehler auf, und i. d. R. diente bis ins 19. Jh. hinein nicht sie, sondern die Aldina als Textgrundlage künftiger Editionen. 343 Hinzu kommt, dass Galen nach dem Jahr 1543, als Vesal ihm anatomische Fehler nachgewiesen hatte, immer mehr zugunsten von Hippokrates zurückgedrängt wurde. 344 Und so blieb der Einfluss der Basler Edition kleiner als er hätte sein können. 4.5 Einordnung in das Corpus des Camerarius und Rezeption 117 5 Zusammenfassung: Synthese aus Humanismus und Fachdisziplin als pädagogischer Anspruch Nachdem nun die verschiedenen Paratexte besprochen wurden, müssen zentrale Fragen beantwortet werden: Was verbindet die Paratexte miteinander? Gibt es eine zentrale Botschaft und einen übergeordneten Zweck? Und wenn dies der Fall sein sollte, worin liegt er und wie will Camerarius ihn erreichen? Tatsächlich kann man erkennen, dass die Texte von einem ausgeprägten, ja sogar bewusst zur Schau getragenen pädagogischen Anspruch durchzogen sind. Die Botschaft, die Camerarius dabei teilweise explizit, teilweise implizit zu ver‐ mitteln sucht, ist einfach und wiederkehrend: Die Fachdisziplinen und der Hu‐ manismus müssen eine Verbindung eingehen. Wie ist das genau zu verstehen? Für Camerarius kann nur die humanistische Philologie garantieren, dass antike Texte möglichst rein überliefert werden. Sie schafft damit die Grundlage für die sich auf die Tradition stützende Fachdisziplin der Medizin bzw. Astrologie. Denn mit fehlerhaften Texten geht potentiell immer auch ein Verlust antiken Wissens einher. Ein weiterer Aspekt kommt hinzu: Der Humanismus erweitert medizinisch-astrologische Texte um eine literarisch-ästhetische Dimension: Antike Texte von Galen können nun auch wegen ihrer Schönheit gewürdigt werden, und auch Camerarius stellt seine Fachtexte in ansprechender Form (Lehrgedichte, metrische Übersetzungen von Rezepten) dar und macht sie auf diese Weise für den Leser attraktiv. Zugleich wird die Medizin von Camerarius aber auch in ihrem philosophischen Kontext betrachtet, sie ist aufs engste mit der Philosophie verbunden. Camerarius propagiert damit genau dieselben Dinge, die die zu seiner Zeit moderne Medizin ausmachten. All diese Thesen müssen erläutert werden. Die Herstellung einer Synthese aus Humanismus und den Fachdisziplinen ist Camerarius’ pädagogischer Hauptanspruch in den Paratexten. Er benutzt dabei eine vielschichtige Strategie, die für den heutigen Leser erst dann nachvoll‐ ziehbar wird, wenn er die spezifischen Eigenschaften von Widmungsbriefen berücksichtigt, die in der Einleitung dieser Arbeit dargestellt wurden. Dedika‐ tionsepisteln zeigen auf, wie Personen in konkreten Situationen handeln, und wie die Schreiber ihre eigene Rolle in Relation auf andere / die Gesellschaft stilisieren. Die Rolle, die Camerarius immer wieder einnimmt, ist die eines humanistischen Lehrers / Pädadogen. In den Astrologica inszeniert er sich als der kompetente Griechischlehrer gegenüber dem Anfänger Perlach, im Gedicht über den Aderlass unterrichtet er das hartnäckig um Rat fragende „Du“ und im De Theriacis et Mithridateis Commentariolus inszeniert er sich als an Naturkunde interessierter Gelehrter, der im Kreise seiner Freunde über seine Galenlektüre referiert. Nicht weniger pädagogisch ist sein Gebaren, wenn er als medizinischer Laie unter Verweis auf das Leben Galens repetitiv, geradezu „oberlehrerhaft“ erklärt, welche Fehler bei der Nachahmung antiker Rezepte gemacht werden, Perlach gegenüber erläutert, was für einen Nutzen die Lektüre von Ptolemaios mit sich bringt, oder in der Epistola ad lectorem darstellt, wie wichtig Sorg‐ falt bei der Edition von Texten ist. Das Wichtige ist nun, dass diese Rolle relational ist, d. h. er inszeniert sich selbst durch die Art und Weise, wie er das Gegenüber (i. d. R. den Dedikationsempfänger) darstellt. Der Gesprächspartner wirkt dadurch wie eine Folie zur Selbstinszenierung - entweder, indem er komplementär zu Camerarius dargestellt wird, oder auf eine ähnliche Art und Weise. So ist Camerarius beispielsweise gegenüber Perlach zwar der kompetente Gräzist, aber ein Anfänger auf dem Gebiet der Astrologie, während Perlach die entgegengesetzten Qualifikationen besitzt. Beide sind aber am Gebiet des anderen interessiert und wollen das Gebiet des Anderen kennenlernen, d. h. sie zusammen symbolisieren sie gleichsam eine Verbindung Humanismus und Astrologie. Im selben Druck ist auch der Widmungsbrief an Jakob Milich enthalten. Camerarius stilisiert ihn auf ähnliche Weise wie sich selbst: Beide sind sie in erster Linie humanistische Gelehrte, die die antike Astrologie studieren und ihr Wissen an die Zeitgenossen weitergeben. Vergleicht man die beiden Dedikationsempfänger miteinander, dann ist Perlach in erster Linie der astro‐ logische Fachmann, Milich der Humanist. Zusammengenommen drücken auch sie den Anspruch des Camerarius aus, eine Synthese zwischen Fachdisziplin und Humanismus herzustellen. Was anhand der Astrologica für die Astrologie gezeigt wird, gilt auch für den medizinischen Bereich. Denn auch die beiden Mediziner im De Theriacis et Mithridateis Commentariolus (d. h. Johannes Magenbuch und Johann Schütz von Weyll) werden auf eine vergleichbare Weise darstellt: Magenbuch ist in erster Linie der medizinische Experte, Johann Schütz von Weyll der Literat, der auch Arzt ist. Camerarius inszeniert sich in Relation zu ihnen, nämlich als Nutznießer und Würdiger der medizinischen Fähigkeiten Magenbuchs (und zugleich als Vermittler antiken Wissens), bzw. gegenüber Schütz von Weyll als Humanist, der jovial dessen Sinn für literarische Ästhetik lobt. Werden beide Widmungen zusammengenommen, zeigen sie den Wunsch, die Fachdisziplin Medizin mit dem Humanismus zu verbinden. Warum das alles? Indem Camerarius Personen, ihre Handlungen und Eigen‐ schaften inszeniert, kann er anhand von konkreten Situationen anschaulich, 5 Synthese aus Humanismus und Fachdisziplin als pädagogischer Anspruch 119 345 Vgl. Kapitel A.3.1 dieser Arbeit. 346 Vgl. Camerarius 1538, 20: „Quaecumque sunt genera vitae, quae aliquis umquam ingredienda sibi putavit, in his viae ducem circumspicit.“ 347 Vgl. auch hierzu Kapitel A.3.1 dieser Arbeit sowie Camerarius 1538, 20 f. pädagogisch wirkungsvoll und unterhaltsam demonstrieren, worauf es ihm ankommt. Die dargestellten Personen, bzw. Camerarius’ selbstinszeniertes Ich führen dem Leser deutlich vor Augen, wie man sich in der Rolle als Humanist bzw. Fachmann seines Gebietes verhalten kann. Er stilisiert also sich selbst bzw. die Widmungsempfänger als konkrete Vorbilder für den Leser, wobei er je nach Widmungsempfänger bestimmte Aspekte seiner Rolle in den Vordergrund stellen kann (also z. B. eher den Sinn für Literatur oder das Bemühen um die Fachdisziplin). Er demonstiert dadurch also dem zeitgenössischen Mediziner, wie er durch humanistisch-philologische Studien ein besserer Arzt werden kann, und dem humanistischen Gelehrten, welchen Beitrag man für die Medizin leisten kann. Camerarius will also gar keine Individuen porträtieren, nicht einmal er selbst wird als Individuum dargestellt, sondern er möchte sozusagen Identifikationsangebote schaffen. All das ist für ihn nicht nur eine pädagogische oder rhetorische Strategie, sondern tief mit dem Rollenverständnis verknüpft, das er hatte. Wie sah dieses Rollenverständnis aus? In der Einleitung dieser Arbeit 345 wurde bereits auf Forschungsarbeiten verwiesen, die zeigten, dass sich frühneu‐ zeitliche Gelehrte stark über ihr Umfeld definieren, um die eigene persona aus‐ zubilden. Camerarius schreibt selbst in seinem Kommentar zu den Tuskulanen Ciceros, dass es für jede Lebensweise ein Vorbild gibt, an dem man sich orien‐ tiert. 346 Die Nachahmung und Übernahme von Fremdem ist dabei ein ganz na‐ türlicher Prozess und dient der Ausprägung des eigenen Selbst. Dabei findet die Nachahmung nicht mechanisch statt, sondern soll eine flexible Anpassung an die Gegenwart ermöglichen. 347 Der an Jakob Milich gerichtete Widmungsbrief der Astrologica zeigt vermutlich am besten, wie Camerarius sich das konkret vorgestellt haben mag. Dort verweist er auf die astrologischen Interessen der Philosophen Platon und Aristoteles und verdeutlicht mehrfach, dass Ptolemaios für ihn die entscheidende Autorität auf dem Gebiet der Astrologie ist. Er lobt ihn an zahlreichen Stellen und bezeichnet ihn sogar unter Verwendung des Attributs ὁ ἀστρονομικώτατος als den besten Astronomen / Astrologen. Anschließend spricht er von einer Renaissance der Astrologie in seinem Zeitalter und stilisiert den Gräzisten Milich implizit durch die Verwendung desselben Beinamens (ὁ ἀστρονομικώτατος) als zeitgenössischen Ptolemaios, der überdies in seiner Funktion als Universitätslehrer sein Wissen bereitwillig mit anderen teilt, d. h. es wird eine Tradition konstruiert, die von Plato über Ptolemaios bis 120 5 Synthese aus Humanismus und Fachdisziplin als pädagogischer Anspruch 348 Vgl. hierzu die Ausführungen in Kapitel B.1. 349 An dieser Stelle stellt sich die Frage, ob Camerarius, wenn er Texte wie den Libellus ad Pamphilianum de Theriaca dem Sinn nach übersetzt, seinem eigenen Anspruch gerecht wird. Problematisch bei Übersetzungen ad sententiam ist nämlich, dass der Ausgangs‐ text von der Interpretationsleistung (und der Intention) des Übersetzers abhängig ist und stärker verändert wird als bei Wort-für-Wort-Übersetzungen (Vgl. Kapitel A.1), so dass sich die Frage nach der Authentizität stellt. Um diese Frage beantworten zu können, erscheint es notwendig, die Übersetzung des Libellus eingehend zu untersuchen und mit der 1490 von Nicollò da Reggio angefertigten Fassung zu vergleichen. Der Verfasser dieser Arbeit beabsichtigt, dies in einem Beitrag zu tun. zu Milich und seinen Schülern reicht, bzw. auch über Camerarius zu seinen Schülern / Lesern, da er sich ganz ähnlich wie Milich als jemand inszeniert, der sein Wissen um die antike griechische Astrologie teilt. 348 Beide Humanisten demonstrieren dadurch dem Leser in der Gegenwart, wie man die Tradition richtig fortsetzt, nämlich durch humanistische Philologie, Griechischstudien und Weitergabe des Gelernten. Sie verkörpern vorbildhaft die Rollen des hu‐ manistisch gebildeten Arztes bzw. des medizinisch interessierten Humanisten. Camerarius will dadurch deutlich machen, wie wichtig ausreichende Kenntnisse der griechischen Sprache sind, denn nur sie können gewährleisten, dass beim Edieren und Übersetzen kein Wissen verfälscht wird. 349 Humanistische Philo‐ logie bildet also die Grundlagen für die anderen Fachdisziplinen. Insofern ist sie gewissermaßen mit der modernen Philologie vergleichbar, aber anders als diese strebt sie eine Nachahmung antiker Autoritäten an, die ganz umfassend gedacht ist. Der Ptolemaios der Astrologica ist nämlich auf vielen Gebieten gebildet, ein genau arbeitender Wissenschaftler, und vor allem verbindet er Philosophie mit Fachwissenschaft. Genau das Gleiche gilt für den Galen des De Theriacis et Mithridateis Commentariolus bzw. der Basler Galenedition. Camerarius hebt all diese Eigenschaften von ihnen entweder explizit oder implizit als vorbildlich heraus. Die bisher gemachten Beobachtungen lassen sich so zusammenfassen: Tradition ist für Camerarius gleichsam ein überzeitliches, zwischen einzelnen Personen bestehendes Netzwerk, das auf eine einzige, als absolutes Vorbild gedachte, Person hin (Galen bzw. Ptolemaios) ausgerichtet ist. Dabei können aber auch frühneuzeitliche Gelehrte (d. h. Camerarius und die Widmungsempfänger) eine Vorbildfunktion erfüllen, insofern sie Wissen vermitteln und aufzeigen, wie die Tradition am Besten in die Gegenwart integriert werden kann. Vielleicht kann man sogar einen Schritt weitergehen: Anhand der als Vorbild inszenierten eigenen persona bzw. der personae der Widmungsempfänger propagiert Came‐ 5 Synthese aus Humanismus und Fachdisziplin als pädagogischer Anspruch 121 350 Vgl. in diesem Zusammenhang Kapitel A.1, wo diese zeitgenössischen Tendenzen beschrieben werden. 351 Zum Unterschied der zeitgenössischen Wissenschaft zur aristotelischen physica vgl. Kapitel A.1. rarius die aus seiner Sicht richtige Medizin und will zum Nachmachen anregen, also gleichsam Normen etablieren. Mit dem Bestreben, Humanismus und Fachdisziplin miteinander zu verbinden, greift Camerarius aktuelle Tendenzen in der Medizin auf. In zentralen Schriften wie der Galenaldina war der Anspruch vertreten worden, zurück zu den griechischen Texten zu gehen und diese in möglichst reiner Form durch humanistisch-philologische Methoden zu rekonstruieren. Dasselbe gilt für die Verbindung von von Medizin auf der einen und Dichtung bzw. Philosophie auf der anderen Seite, die man nun anstrebte. 350 Camerarius propagiert damit die zu seiner Zeit moderne Art der Medizin und konnte als Vorreiter daran mitarbeiten, sie und ihre Prinzipien zu verbreiten. Nicht umsonst stilisiert er sich und seine Widmungsadressaten als Vorbilder und macht ihr Verhalten gleichsam normativ. Auch sonst scheint es Camerarius immer wieder um Prinzipien und Grundlagen zu gehen, weil er immer wieder die Notwendigkeit von Genauigkeit, Sorgfalt und Übung betont. Auch die Auswahl der edierten Texte - es handelt sich um verständliche, prägnante und grundlegende Werke - sowie die Tatsache, dass er sie übersetzt, legen nahe, dass er grundlegendes Wissen vermitteln und leicht zugänglich machen möchte. Mit seinem Ansatz, Humanismus und Medizin zu verbinden, zielt Camera‐ rius auf ein akademisches Publikum ab. Empiriker werden entweder kaum berücksichtigt, oder wie im Falle des De Theriacis et Mithridateis Commentari‐ olus sogar geradezu propagandistisch herabgewürdigt (dort kritisiert er die geldgierigen und schlampigen Apotheker). Auf der einen Seite stärkt und reformiert er also die akademische Medizin von innen heraus durch Vermittlung humanistisch-philologischer Methoden und die Orientierung an der Tradition, andererseits schwächt er deren empirische Konkurrenz durch offene Kritik. Beide Aspekte lassen sich besser verstehen, wenn man den zeitgenössischen Hintergrund berücksichtigt: Camerarius formuliert ein methodisches Konzept für die Medizin, die zu dieser Zeit außer Textstudium und Ausprobieren (experientia) noch keine systematisch das Fach weiterentwickelnde Methodik kennt und sich erheblich von der modernen Medizin unterscheidet (so haben im 16. Jahrhundert etwa naturwissenschaftliche Experimente keine Beweisevidenz im heutigen Sinn). 351 Er füllt also gewissermaßen eine Lücke. Ein weiteres Problem der zeitgenössischen universitären Medizin geht er mit seiner Kritik 122 5 Synthese aus Humanismus und Fachdisziplin als pädagogischer Anspruch 352 Vgl. etwa Melanchthons Rede Contra empiricos medicos (CR 11, Nr. 25, Sp. 202-209 (Edition); übersetzt in Hofheinz 2001, 117-125) und Kapitel A.1. Zu Cordus vgl. Kapitel B.2.1.1. 353 Vgl. Kapitel A.1 und Schlegelmilch 2018, 104. an Empirikern an. Diese Laienärzte stellten eine so große Konkurrenz für die akademischen Medizinern dar, dass Kritik an ihnen unter frühneuzeitlichen Gelehrten sehr verbreitet war, man denke etwa an Melanchthon und Cordus. 352 Auch Camerarius befördert also das Professionalisierungsbestreben vieler hu‐ manistischer Ärzte. 353 Ein letzter Aspekt muss noch besprochen werden und zwar, wie weit Camera‐ rius’ medizinische Ambitionen genau gehen. Zwar demonstriert er dem Leser die Notwendigkeit, Humanismus und Medizin bzw. Astrologie miteinander zu verbinden, sich selbst ordnet er aber eher auf der Seite des Humanismus ein. Er entwickelt keine eigenen medizinischen Theorien oder vermittelt eigene medizinische Erkenntnisse. Vielmehr ist es gerade seine Rolle als Humanist und medizinischer Laie, die es ihm ermöglicht, die Medizin zu bereichern. So kann er dem Leser seiner Paratexte die Programmatik einer spezifisch humanistischen Medizin vermitteln, die einen literarisch-ästhetischen Anspruch hat, mit Hilfe von Editionen und Übersetzungen zurück zu den griechischen Originaltexten strebt, Fehler in der Tradition aufzeigen will und eine enge Verbindung zwischen Medizin und Philosophie anstrebt. 5 Synthese aus Humanismus und Fachdisziplin als pädagogischer Anspruch 123 354 Man ging in der Frühen Neuzeit davon aus, dass sich die Stoffe der Welt, ebenso wie der Mensch, aus den vier Qualitäten (warm, kalt, trocken, feucht) zusammensetzten. 355 Vgl. auch das Kapitel zur Schrift De Theriacis (= B.2) sowie Kapitel C.2.2.1.3 (zur Anwendung der Analogie auf Medikamente). C. Philosophische Prinzipien in den medizinischen Schriften des Camerarius Die in Teil B besprochenen Schriften zeichnen das Bild eines Mannes, der sich als Gelehrter mit dem pädagogischen Anspruch inszeniert, Humanismus und Medizin miteinander zu verbinden, und damit die Grundlagen einer von ihm als zeitgemäß empfundenen Medizin zu propagieren. Er bleibt dabei aber innerhalb der Grenzen seiner professio, stellt keine eigenen medizinischen Beobachtungen an und nur selten theoretische, fachübergreifende Reflexionen. Zumindest in Bezug auf den zweiten Punkt gibt es unter den Werken des Ca‐ merarius allerdings eine bedeutende Ausnahme: Der De Theriacis et Mithridateis commentariolus, ein Werk über das sagenhafte Heilmittel Theriak, enthält einige interessante Passagen, die bisher noch nicht ausführlich besprochen wurden. In ihnen deutet Camerarius zwei Prinzipien an, die für ihn allgemeingültig sind und nicht bloß Geltung für das Fach der Medizin besitzen: • Die Adaption des aristotelischen Wissensmodells, • Die Übernahme des mathematischen Prinzips der analogia. Im aristotelischen Wissensmodell ist Erkenntnis als Prozess in vier Stufen gedacht, wobei alle Stufen ihren Wert haben und nicht vernachlässigt werden dürfen. Das Ziel ist die Gewinnung gesicherten Wissens, auch im Bereich der Naturkunde und Naturphilosophie. Die analogia ist, ganz abstrakt und verein‐ facht gesagt, ein mathematisches Prinzip, das der Vereinigung von einander wesensfremden Dingen dient, indem sie zueinander in das rechte Verhältnis gesetzt werden. So lassen sich etwa bei der Herstellung eines Medikaments die vier verschiedenen Qualitäten der Inhaltsstoffe 354 miteinander in das richtige Verhältnis bringen, indem warm und kalt, feucht und trocken in der richtigen Menge aufeinander abgestimmt werden. 355 Das Prinzip wird auch in anderen Bereichen der Naturkunde verwendet sowie in Bereichen, die erstmal keinen unmittelbaren Bezug zu Naturkunde oder Mathematik zu haben scheinen. Bei der Analyse dieser Prinzipien werden in den nächsten Kapiteln neben dem Commentariolus noch andere Schriften des Camerarius berücksichtigt, die 356 Zur Terminologie vgl. Kapitel A.3.1. Reflexionen zu medizinischen, mathematischen und theoretischen Aspekten beinhalten. Denn nur so lässt sich ein möglichst objektives und vollständiges Bild von seinen wissenschaftlichen Vorstellungen gewinnen, was das Ziel dieses ganzen dritten Abschnittes ist. Dabei wird auch deutlich werden, dass diese Prinzipien nicht zufällig gewählt wurden, sondern jeweils eine charakteristische Terminologie aufweisen, die herausgearbeitet werden soll. 356 Die folgenden Kapitel beziehen sich auf Texte von Camerarius, die nur im Anhang ediert, übersetzt und kommentiert wurden. Nur dann, wenn der Wortlaut für das Verständnis relevant war, wurden kurze lateinische oder griechische Passagen zusätzlich in den jeweiligen Kapiteln abgedruckt. 357 Vgl. Kessler 1990, Bihlmaier 2017, 469 sowie Kapitel A.1 dieser Arbeit. 358 Vgl. Grynäus 1538 und Camerarius 1564. 359 Vgl. Camerarius 1564 und Camerarius 1578. 360 Vgl. Kapitel C.2.2.2 dieser Arbeit. 361 Vgl. Lurje 2004, S. 94-99. Lurje beschreibt allerdings auch, wie Camerarius später seine Tragödientheorie an Vorstellungen Melanchthons anpasste. 362 Grundlegend zu diesem Wissensmodell Schneider 1994, insbesondere S. 172-180. Beispielhaft wird es für die frühneuzeitliche Medizin erläutert bei Schlegelmilch 2018, S.-234-240. 363 Das 6. Buch gilt bei vielen Forschern als knapp und verworren, vgl. Wolf 2002, S.-140. 1 Das aristotelische Wissensmodell im De Theriacis et mithridateis commentariolus Im 16. Jahrhundert war der Aristotelismus nach wie vor eine sehr einfluss‐ reiche philosophische Strömung. Insbesondere seine Offenheit, Anpassbarkeit an andere philosophische Systeme und seine kohärente Systematik wurden besonders geschätzt. 357 Auch für Camerarius spielte Aristoteles eine wichtige Rolle, so übersetzte er etwa die Eudemische Ethik und die Oeconomica  358 sowie diverse kleinere Schriften und kommentierte die Oeconomica und Nikomachi‐ sche Ethik. 359 Zudem übernahm er etwa sein Gerechtigkeitskonzept 360 und seine Tragödientheorie. 361 1.1 Das Wissensmodell des Aristoteles Auch im De Theriacis et Mithridateis Commentariolus rezipiert Camerarius Aristoteles, genauer gesagt dessen Wissensmodell, in dem Erkenntnis als vierstufiger Prozess (Erfahrung - Kunst - Wissenschaft - Weisheit) gedacht wurde. 362 In diesem baut jede Ebene auf der vorherigen auf und setzt sie voraus. Es wird hauptsächlich in den prominenten ersten beiden Kapiteln der Metaphysik erläutert, wobei Aristoteles für die vierte Stufe der Weisheit auch auf das dritte und vierte Kapitel des komplexen sechsten Buches der Nikomachischen Ethik verweist. 363 Das folgende Schema (vgl. Tab. 5) dient der Verdeutlichung der folgenden Erläuterungen: 364 Vgl. Arist. Metaph. 1, 1, 980a27-981a1: „φύσει μὲν οὖν αἴσθησιν ἔχοντα γίγνεται τὰ ζῷα, ἐκ δὲ ταύτης τοῖς μὲν αὐτῶν οὐκ ἐγγίγνεται μνήμη, τοῖς δ‘ ἐγγίγνεται. […] γίγνεται δ’ ἐκ τῆς μνήμης ἐμπειρία τοῖς ἀνθρώποις· αἱ γὰρ πολλαὶ μνῆμαι τοῦ αὐτοῦ πράγματος μιᾶς ἐμπειρίας δύναμιν ἀποτελοῦσιν.“ (Übersetzung von Hermann Bonitz (in Wolf 2019, S. 37 f.): „Von Natur nun haben die Tiere sinnliche Wahrnehmung, aus der sinnlichen Wahrnehmung entsteht bei einigen Erinnerung, bei anderen nicht […] Aus der Erinnerung nämlich entsteht für die Menschen Erfahrung; denn die Vielheit der Erinnerungen an denselben Gegenstand erlangt die Bedeutung einer einzigen Erfahrung.“ 365 In der Antike und zur Zeit des Camerarius wurde noch nicht so stark wie heute zwischen Kunst und Handwerk unterschieden, vgl. Kristeller 1972, S.-287. 366 Vgl. Arist. Metaph. 1, 1, 981a5-7: „γίγνεται δὲ τέχνη ὅταν ἐκ πολλῶν τῆς ἐμπειρίας ἐννοημάτων μία καθόλου γένηται περὶ τῶν ὁμοίων ὑπόληψις.“ (Übersetzung von Hermann Bonitz (in Wolf 2019, S. 38): „Die Kunst entsteht dann, wenn sich aus vielen durch die Erfahrung gegebenen Gedanken eine allgemeine Annahme über das Ähnliche bildet.“). Dt. Begriff Griech. Begriff Lat. Begriff 4. (= höchste) Stufe: Weisheit σοφία Sapientia 3. Stufe: Wissenschaft ἐπιστήμη Scientia 2. Stufe: Kunst τέχνη Ars 1. (= niedrigste) Stufe: Erfahrung ἐμπειρία Experientia Tab. 5: Wissensmodell des Aristoteles Auf der untersten Ebene steht für Aristoteles die Erfahrung (ἐμπειρία/ experi‐ entia). Sie entsteht durch mehrfache Erinnerung (μνήμη) an denselben Gegen‐ stand, wobei eine Erinnerung wiederum auf Sinneswahrnehmungen (αἴσθησις) beruht. 364 Konkret heißt das: Aus sinnlichen Wahrnehmungen entstehen Erin‐ nerungen und aus mehreren Erinnerungen an denselben Sachverhalt erwächst dann eine einzige Erfahrung. Auf der nächsthöheren Stufe ist die Kunst (τέχνη/ ars) angesiedelt, wobei der Begriff ‚Kunst‘ hier auch handwerkliche Arbeiten umfasst. 365 Aristoteles definiert ihn als allgemeine Annahme über das Ähnliche, das mehreren Erfah‐ rungsgedanken zugrunde liegt. 366 Man schließt also aus Einzelfällen auf etwas Allgemeines. Den Unterschied zwischen Erfahrung und Kunst erläutert Aristoteles am Beispiel des Handwerkers und des ‚Architekten‘ (= leitender Künstler): Wenn es um die bloße Anwendung / Praxis geht, steht die Erfahrung der Kunst nicht nach, d. h. der Handwerker verrichtet sein Handwerk nicht weniger schlecht, obwohl er die Kunst nicht kennt, aber der ‚Architekt‘ ist weiser, weil er über 128 1 Das aristotelische Wissensmodell im De Theriacis et mithridateis commentariolus 367 Vgl. Arist. Metaph. 1, 1, 981a30-981b6: „διὸ καὶ τοὺς ἀρχιτέκτονας περὶ ἕκαστον τιμιωτέρους καὶ μᾶλλον εἰδέναι νομίζομεν τῶν χειροτεχνῶν καὶ σοφωτέρους, ὅτι τὰς αἰτίας τῶν ποιουμένων ἴσασιν […] ὡς οὐ κατὰ τὸ πρακτικοὺς εἶναι σοφωτέρους ὄντας ἀλλὰ κατὰ τὸ λόγον ἔχειν αὐτοὺς καὶ τὰς αἰτίας γνωρίζειν.“ Übersetzung von Hermann Bonitz (in Wolf 2019, S. 39): „Deshalb stehen auch die leitenden Künstler in jedem einzelnen Gebiete bei uns in höherer Achtung, und wir meinen, daß sie mehr wissen und weiser sind als die Handwerker, weil sie die Ursachen dessen, was hervorgebracht wird, wissen […] Nicht nach der größeren Geschicklichkeit zum Handeln schätzen wir die Weisheit ab, sondern darum bezeichnen wir die leitenden Künstler als weiser, weil sie im Besitz des Begriffes sind und die Ursachen kennen.“). Vgl. auch Arist. Metaph. 981a13-16: […] „πρὸς μὲν οὖν τὸ πράττειν ἐμπειρία τέχνης οὐδὲν δοκεῖ διαφέρειν, ἀλλὰ καὶ μᾶλλον ἐπιτυγχάνουσιν οἱ ἔμπειροι τῶν ἄνευ τῆς ἐμπειρίας λόγον ἐχόντων ( αἴτιον δ‘ ὅτι ἡ μὲν ἐμπειρία τῶν καθ’ ἕκαστόν ἐστι γνῶσις ἡ δὲ τέχνη τῶν καθόλου […]“ (Übersetzung von Hermann Bonitz (in Wolf 2019, S. 38): „Zum Zweck des Handelns steht die Erfahrung der Kunst an Wert nicht nach, vielmehr sehen wir, daß die Erfahrenen mehr das Richtige treffen als diejenigen, die ohne Erfahrung nur den allgemeinen Begriff (λόγος) besitzen. Die Ursache davon liegt darin, daß die Erfahrung Erkenntnis des Einzelnen ist, die Kunst des Allgemeinen […]“). 368 Vgl. Schneider 1994, S.-173. 369 Vgl. Arist. Metaph. 1, 1, 981b25-27: „εἴρηται μὲν οὖν ἐν τοῖς ἠθικοῖς τίς διαφορὰ τέχνης καὶ ἐπιστήμης καὶ τῶν ἄλλων τῶν ὁμογενῶν.“ (Übersetzung von Hermann Bonitz (in Wolf 2019, S. 38): „Welcher Unterschied nun zwischen Kunst und Wissenschaft und dem übrigen Gleichartigen besteht, ist in der Ethik erklärt.“). den λόγος verfügt und die Ursachen kennt, also die Frage nach dem „Warum“ beantworten kann. 367 Λόγος ist hier als Begriff zu verstehen, der es erlaubt, ähnliche Fälle zu subsumieren. 368 Erfahrung bezieht sich auf Einzelfälle (τῶν καθ‘ ἕκαστον), Kunst auf das Allgemeine (τῶν καθόλου). Diese Aussagen sollen durch ein Beispiel aus dem Bereich der Medizin verdeutlicht werden. Was die Herstellung von Medikamenten betrifft, steht der Apotheker auf der Stufe der experientia, während der Arzt die ars besitzt. Ersterer kennt z. B. spezifische Gerüche von Inhaltsstoffen und hat ein Medikament schon mehrfach selbst hergestellt. Er weiß, wie er es herstellen muss, damit es wirkt. Der Mediziner hingegen kennt nicht nur die Inhaltsstoffe des Medikaments, sondern weiß auch, warum die einzelnen Inhaltsstoffe wirken. Hier kommt nämlich der λόγος ins Spiel, der es erlaubt Muster und Gemeinsamkeiten zu erkennen. Er erlaubt es dem Arzt, Annahmen über die Wirkung des Medikaments zu treffen, weil er es mit verschiedenen anderen Medikamenten und Inhaltsstoffen vergleichen kann. Bezüglich des Unterschiedes zwischen Kunst und der nächsthöheren Ebene des Wissens (ἐπιστήμη/ scientia) verweist Aristoteles auf die Nikomachische Ethik, 369 wo er ausführt, dass Kunst sich weder auf das Notwendige noch auf das von Natur Seiende bezieht, sondern das Kontingente in den Blick nimmt. Sie ist 1.1 Das Wissensmodell des Aristoteles 129 370 Vgl. Schneider 1994, S. 175 und Arist. EN 6, 4, 1140a 14-21: „οὔτε γὰρ τῶν ἐξ ἀνάγκης ὄντων ἢ γινομένων ἡ τέχνη ἐστίν, οὔτε τῶν κατὰ φύσιν·[…] ἡ μὲν οὖν τέχνη, ὥσπερ εἴρηται, ἕξις τις μετὰ λόγου ἀληθοῦς ποιητική ἐστιν.“ (ÜS von Wolf 2006, S.-198 f. (sie übersetzt τέχνη mit ‚Herstellungwissen‘): „Denn das Herstellungswissen bezieht sich weder auf das, was mit Notwendigkeit ist oder entsteht, noch auf das, was von Natur aus entsteht… Das Herstellungswissen ist also, wie gesagt, eine bestimmte mit wahrer Überlegung verbundene Disposition des Herstellens.“). 371 Vgl. Schneider 1994, S.-175 und Arist. EN 6, 3, 1139b18-32: „ἐπιστήμη μὲν οὖν τί ἐστιν, ἐντεῦθεν φανερόν, εἰ δεῖ ἀκριβολογεῖσθαι καὶ μὴ ἀκολουθεῖν ταῖς ὁμοιότησιν. πάντες γὰρ ὑπολαμβάνομεν, ὃ ἐπιστάμεθα, μηδ‘ ἐνδέχεσθαι ἄλλως ἔχειν· τὰ δ‘ ἐνδεχόμενα ἄλλως, ὅταν ἔξω τοῦ θεωρεῖν γένηται, λανθάνει εἰ ἔστιν ἢ μή. ἐξ ἀνάγκης ἄρα ἐστὶ τὸ ἐπιστητόν. ἀίδιον ἄρα· τὰ γὰρ ἐξ ἀνάγκης ὄντα ἁπλῶς πάντα ἀίδια, τὰ δ‘ ἀίδια ἀγένητα καὶ ἄφθαρτα. […] ἡ μὲν ἄρα ἐπιστήμη ἐστὶν ἕξις ἀποδεικτική […]“ (Übersetzung von Wolf 2006, S. 197 (sie übersetzt ἐπιστήμη mit ‚Wissenschaft‘: „Was die Wissenschaft ist, wird, wenn man genau reden muss und sich nicht durch Analogien leiten lassen darf, aus dem Folgenden deutlich. Wir alle nehmen an, dass das, was wir wissen, unmöglich anders sein kann. Von dem, was anders sein kann, wissen wir, wenn es außerhalb unserer Beobachtung geschieht, nicht, ob es der Fall ist oder nicht. Was Gegenstand des Wissens ist, ist also mit Notwendigkeit. Daher ist es ewig; denn alles, was im absoluten Sinn mit Notwendigkeit ist, ist ewig, und was ewig ist, unterliegt nicht dem Entstehen und Vergehen. […] Die Wissenschaft ist folglich eine Disposition, die sich im Beweisen betätigt.“). Vgl. hierzu Schneider 1994, 174-175. 372 Vgl. Wolf 2002, S.-145. 373 Zum Problem, dass Aristoteles die Kunst in der Metaphysik als Vermögen (δύναμις) und nicht als Habitus (ἕξις) bezeichnet, vgl. Wolf 2002, S. 143 und Engbert-Pedersen 1983, S. 213, der demonstriert, dass von Aristoteles beide Begriffe nicht immer streng voneinander unterschieden werden. 374 Vgl. Kapitel C.2. ein mit richtiger Vernunft (λόγος) verbundener Habitus des Hervorbringens. 370 Wissen hingegen bezieht sich auf Ursachen, die aus Notwendigkeit sind, also ewig, ungeworden und unvergänglich. Es handelt sich um einen Habitus des Beweisens. 371 Kunst bezieht sich also auf Dinge, die so oder anders sein können, d. h. sie bezieht sich auf konkrete Phänomene in der Welt, Wissen hingegen auf deren unveränderliche Ursachen. Während Kunst das Allgemeine aus Ein‐ zelfällen ableitet, arbeitet das Wissen i. d. R. mit deduktiven Methoden, d. h. man schließt vom Allgemeinen auf das Besondere (ἕξις ἀποδεικτική). 372 Gemeinsam ist der Kunst und dem Wissen, dass sie - im Gegensatz zur Erfahrung - Habitus (ἕξεις) sind, also lehr- und lernbar. 373 Im Bereich der Herstellung von Medikamenten wäre ἐπιστήμη etwa die konkrete Anwendung des Prinzips der analogia  374 oder der aristotelischen Elementenlehre auf den Brauvorgang. So verändert etwa die Zugabe eines Inhaltsstoffes die Substanz (und somit auch die Wirkung) eines Medikaments nach festen, unabänderlichen Prinzipien, die berücksichtigt werden müssen. 130 1 Das aristotelische Wissensmodell im De Theriacis et mithridateis commentariolus 375 Vgl. die Ausführungen bei Schneider 1994, 176-180. 376 Zur Abschnittseinteilung vgl. Kapitel E.2.1. 377 Zu Inhalt und Aufbau des Commentariolus sowie einer Interpretation der Widmungsbrife vgl. Kapitel B.2 dieser Arbeit. 378 Cic. de orat. 1, 6-21. 379 Der Bezug auf De oratore ist auch deswegen wahrscheinlich, weil Camerarius auch die Komposition einer Rede als Vergleichsbeispiel anführt. Weisheit (σοφία/ sapientia) hat eine Art Doppelnatur, denn einerseits ist sie Teil aller Stufen, insofern diese nach ihrem Bezug auf die ersten Ursachen und Prinzipien unterschieden werden und angeordnet sind. Scientia hat also einen größeren Anteil an sapientia als die ars, welche wiederum mehr davon besitzt als die experientia. Andererseits bildet die Weisheit die vierte und höchste Stufe. Für Aristoteles ist Weisheit dabei eine scientia/ ἐπιστήμη, die sozusagen einen Sonderfall oder eine Spezifikation darstellt, weil sie sich auf die ersten Ursachen und Prinzipien bezieht. Die vierte Stufe ist also gleichsam ein Spezialfall der dritten Stufe. 375 Im Bereich der Herstellung von Medikamenten besteht die vierte Stufe aus den zugrundeliegenden Prinzipien, etwa der aristotelischen Naturkunde an sich oder dem Prinzip der analogia als solchem. Wir werden im Folgenden sehen, wie Camerarius in seinem De Theriacis et Mithridateis Commentariolus auf das aristotelische Wissensmodell rekurrierte, wobei der Text abschnittsweise 376 besprochen werden soll. Wenn dabei die Wörter ‚Erfahrung‘, ‚Kunst‘ und ‚Wissen‘ gebraucht werden, dann geschieht dies - soweit nicht anders erläutert - im aristotelischen Sinne. 1.2 Die Übernahme des Modells im De Theriacis et mithridateis commentariolus  377 Camerarius eröffnet seinen Commentariolus mit Reflexionen über den oft ausbleibenden Erfolg bei der Therapie von Kranken: Das formale Vorbild für diese ersten Zeilen dürfte das Proöm von De oratore gewesen sein, 378 in dem Cicero darüber sinniert, warum es zu seiner Zeit so wenig gute Redner gibt, obwohl die Redekunst doch so geschätzt werde. Ähnliches schreibt Camerarius über die Medizin: 379 Saepe multumque cogitavi causamque requisivi animo meo, cum tot tamque excellentes rerum naturalium scientia viros nostra tempora tulissent, qui medicandi morbos curam complecterentur, qua fieret re, ut vix e singulis aetatibus unum aliquem proferre possemus, cui in sanandis aegrotis successus fortuna aspirasset. Neque vero placuit mihi in casus haec eventa utraque a parte referre, ut, quibus boni in curationibus aliquid 1.2 Die Übernahme des Modells im De Theriacis et mithridateis commentariolus  131 380 Vgl. die kommentierte Übersetzung im Kapitel E.2.1, Abschnitt 1. 381 Vgl. Camerarius 1533, Bl. A4r (= Kapitel E.2.1, Abschnitt 4). saepenumero processisset, illos doctos, quibus secus, indoctos fuisse iudicarem, cum in omnibus artibus fortuna soleat professorum dexteritati et gnavitati respondere. Nam et ab architecto perito institui aedificium feliciter, et fabro exercitato exstrui similiter possit, cum infoeliciter imperiti et inexercitati in utroque versati fuissent. Neque certe casu factum aut fortuito, si studiosus veterum scriptorum laudabilem orationem illa imitatus composuerit, neque, qui neglexerit, non ipsius culpa aut inertia magis quam fortuna infantem dixerim.  380 Camerarius fragt sich, so kann man den ersten Abschnitt des Commentariolus zusammenfassen, warum zeitgenössischen Medizinern so selten Erfolg bei der Heilung beschieden ist, obwohl sie über ein ausgeprägtes naturkundliches Wissen (rerum naturaliam scientia) verfügen. Er führt den Misserfolg dieser ars auf fehlende Erfahrung zurück. Dabei bezieht er sich hier auf die ersten drei Stufen des aristotelischen Modells. Für die Begriffe ἐπιστήμη und τέχνη verwendet er die Begriffe scientia und ars, den Terminus ἐμπειρία gibt er durch Wörter wie peritus / imperitus / exercitatus wieder, später auch mit expe‐ rientia. 381 In Bezug auf die Terminologie stimmt Camerarius also mit Aristoteles überein, aber wie sieht es inhaltlich aus? Bei Camerarius krankt die ars der Medizin nicht an einem Mangel an scientia, sondern an fehlender experientia, der er den Zufall (fortuna) gegenüberstellt. Gerade die unterste Stufe der experientia ist also ein entscheidender Faktor. In dieser Hinsicht stimmt er mit Aristoteles überein, der erklärt, eine jede ars müsse auf experientia gegründet sein, sonst herrsche Zufall: καὶ δοκεῖ σχεδὸν ἐπιστήμῃ καὶ τέχνῃ ὅμοιον εἶναι καὶ ἐμπειρία, ἀποβαίνει δ’ ἐπιστήμη καὶ τέχνη διὰ τῆς ἐμπειρίας τοῖς ἀνθρώποις· ἡ μὲν γὰρ ἐμπειρία τέχνην ἐποίησεν, ὡς φησὶ Πῶλος, ἡ δ‘ ἀπειρία τύχην. γίγνεται δὲ τέχνη ὅταν ἐκ πολλῶν τῆς ἐμπειρίας ἐννοημάτων μία καθόλου γένηται περὶ τῶν ὁμοίων ὑπόληψις. Und die Erfahrung scheint dem Wissen und der Kunst ähnlich zu sein. Wissen und Kunst gehen für die Menschen aus der Erfahrung hervor, „denn die Erfahrung brachte“, wie Polos sagt, „Kunst hervor, die Unerfahrenheit aber Zufall“. Die Kunst entsteht, wenn aus vielen Betrachtungen einer Erfahrung eine einzige allgemeine Annahme über das Ähnliche entstanden ist. Aristoteles und Camerarius stellen also der Erfahrung den Zufall gegenüber. Die Ähnlichkeiten gehen aber noch weiter, denn Aristoteles verwendet in 132 1 Das aristotelische Wissensmodell im De Theriacis et mithridateis commentariolus 382 Vgl. Arist. Metaph. 1, 1, 981a30-33: „διὸ καὶ τοὺς ἀρχιτέκτονας περὶ ἕκαστον τιμιωτέρους καὶ μᾶλλον εἰδέναι νομίζομεν τῶν χειροτεχνῶν καὶ σοφωτέρους, ὅτι τὰς αἰτίας τῶν ποιουμένων ἴσασιν.“ (Übersetzung von Hermann Bonitz (in Wolf 2019, 39): „Deshalb stehen auch die leitenden Künstler in jedem einzelnen Gebiete bei uns in höherer Achtung, und wir meinen, daß sie mehr wissen und weiser sind als die Handwerker, weil sie die Ursachen dessen, was hervorgebracht wird, wissen.“) 383 Vgl. Arist. Metaph. 981a13-16: „πρὸς μὲν οὖν τὸ πράττειν ἐμπειρία τέχνης οὐδὲν δοκεῖ διαφέρειν, ἀλλὰ καὶ μᾶλλον ἐπιτυγχάνουσιν οἱ ἔμπειροι τῶν ἄνευ τῆς ἐμπειρίας λόγον ἐχόντων (αἴτιον δ‘ ὅτι ἡ μὲν ἐμπειρία τῶν καθ’ ἕκαστόν ἐστι γνῶσις ἡ δὲ τέχνη τῶν καθόλου […]“ (Übersetzung von Hermann Bonitz (in Wolf 2019, 38): „Zum Zweck des Handelns steht die Erfahrung der Kunst an Wert nicht nach, vielmehr sehen wir, daß die Erfahrenen mehr das Richtige treffen als diejenigen, die ohne Erfahrung nur den allgemeinen Begriff (λόγος) besitzen. Die Ursache davon liegt darin, daß die Erfahrung Erkenntnis des Einzelnen ist, die Kunst des Allgemeinen […]“). 384 Vgl. Arist. Metaph. 981a23-24: „θεραπευτὸν γὰρ τὸ καθ‘ ἕκαστον.“ (Übersetzung von Hermann Bonitz (in Wolf 2019, 38): „Denn Gegenstand des Heilens ist vielmehr das Einzelne.“). seiner Metaphysik das Beispiel des ‚Architekten‘ und des Handwerkers, 382 um zu zeigen, wie die Erfahrung der Kunst im Hinblick auf die Wirksamkeit nicht nachsteht. 383 Erinnern wir uns: Auch Camerarius führt im obigen Zitat einen ‚Architekten‘ und Handwerker als Beispiel an und schreibt, dass beide genauso gut ein Haus errichten können. Auch in dieser Hinsicht stimmt er also mit Aristoteles überein. Es gibt weitere Gemeinsamkeiten. Den Anlass, bei einer Schrift über Medizin gerade auf den Anfang der Metaphysik Bezug zu nehmen, hat nämlich vielleicht sogar Aristoteles selbst geliefert, der dort die Therapie von Kranken explizit als Beispiel anführt. Dort ordnet er sie dem Bereich des καθ’ ἕκαστον zu, dem er auch die Erfahrung zugeordnet hatte. Beide beziehen sich also auf Einzelfälle. Zudem schreibt er auch ganz explizit, dass ein Arzt, der den λόγος und das Allgemeine (καθόλου) kennt (sc. um die Kunst weiß), aber keine Erfahrung hat, bei seinen Heilversuchen oft fehlgehen wird. 384 Camerarius stimmt also im ersten Abschnitt seines Commentariolus nicht nur inhaltlich und terminologisch mit Aristoteles überein, sondern verwendet sogar dieselben Beispiele. Nimmt man die Tatsache hinzu, dass die Philosophie des Aristoteles im 16. Jahrhundert nach wie vor stark verbreitet war und das Proöm der Metaphysik ein sehr prominenter Text, kann der Bezug auf Aristoteles als gesichert gelten. Insgesamt scheint Camerarius also durch die Anspielung auf den Anfang der Metaphysik zeigen zu wollen, dass die ars der Medizin daran krankt, dass ihre Grundlage - die eigene Erfahrung - vernachlässigt wurde, welche für Camerarius wiederum nur durch Fleiß erworben werden kann. Indem sich Camerarius bei seinen Ausführungen auf die Autorität des 1.2 Die Übernahme des Modells im De Theriacis et mithridateis commentariolus  133 385 Zum Zweck und zeitgenössischen Hintergrund der Schrift vgl. das Kapitel über den De Theriacis et Mithridateis Commentariolus (= B.2). 386 Vgl. Camerarius 1533, Bl. a2v-a3v (= Kapitel E.2.1, Abschnitt 2-3). 387 Vgl. Camerarius 1533, Bl. a2v-a3r (= Kapitel E.2.1, Abschnitt 4): „Hunc [sc. medicum] igitur talem quo minus, quod proposuit, consequatur, videre visus sum nulla alia re perverti quam studio et assiduitate lectionis veterum scriptorum eorum, in quibus medicinarum naturae et compositiones perscriptae sunt. In quibus ille multum operae ponens soleret similiter ea ad nostrorum hominum et horum temporum rationem accomodare, nec sibi [Bl. a3r] hoc saltem sumere, quod illius certe erat, ut de bonitate praesertim externorum pharmacorum diiudicaret, sed hanc partem relinquere illis, quos nunc apothecarios vocant, qui fuere olim custodes medicinarum et coci apud illos Hippocrates et Erasistratos. Itaque in potestate medici non multum pharmacorum nunc videas, quin ne laborant quidem admodum plerique cognoscere vel illa ipsa vel materiam eorum.“ 388 Dazu ausführlich in Kapitel B.2. 389 Camerarius gesteht den Arabern zu, dass sie für den Fortbestand der griechischen Medizin gesorgt und Erkenntnisse gewonnen haben, die den Griechen nicht bekannt Aristoteles (und in der formalen Anlage des Proöms auf die Autorität Ciceros) bezieht, konnte er bei seinen zeitgenössischen Lesern davon ausgehen, dass sie seine Ausführungen erstens ohne größere Erläuterungen verstanden und bereitwillig akzeptierten. Zudem bezog er zu einem aktuellen Problem Stellung, da wie bereits gezeigt, die Zubereitung von Theriak im 16. Jahrhundert heikel war. 385 Nach diesen allgemeinen Reflexionen wird Camerarius in den Abschnitt 2 und 3 konkreter. 386 Er stellt die Frage, warum selbst hochgebildete Ärzte unter besten Bedingungen scheitern. Seiner Meinung liegt die Ursache in der rein buch‐ wissenschaftlichen Ausrichtung zeitgenössischer Mediziner und der daraus resultierenden Vernachlässigung der Praxis, insbesondere was die Aufsicht über die Herstellung von Medikamenten betrifft. Diese falsche Schwerpunktsetzung erklärt, warum die Adaption antiker Medikamente an die zeitgenössischen Umstände so oft zum Scheitern verurteilt ist. 387 Hierzu scheint er insbesondere in Nürnberg auch allen Grund gehabt zu haben, wo in mehreren Erlassen geregelt wurde, inwiefern Ärzte das Brauen von Theriak beobachten mussten. 388 Aber auch die in der Frühen Neuzeit übliche Anpassung antiker Heilmittel an die Gegenwart bezieht er in seinen Tadel mit ein: Es scheint für Camerarius nicht zielführend, dass die Ärzte antike Rezepte adaptieren wollten, solange sie ihrer Aufsichtspflicht über die Apotheker nicht vollauf nachkommen und die Inhaltsstoffe gar nicht genau kennen, die oft sogar (aufgrund der langen Transportwege) verdorben sind, und wenn die Apotheker auch noch ganz andere (sc. arabische) Methoden bei der Herstellung der Heilmittel verwenden als die antiken Ärzte. 389 Wenn also die Adaption antiker Rezepte überhaupt 134 1 Das aristotelische Wissensmodell im De Theriacis et mithridateis commentariolus waren. Er schließt damit Fortschritt nicht aus. Andererseits impliziert er auch, dass sie antikes Wissen verloren und / oder verfälscht haben. 390 Vgl. Helm 2010 und Nutton 2022, 102. 391 Dazu ausführlich in Kapitel B.2. möglich sein soll, müssten diese Faktoren eigentlich berücksichtigt werden - Leistungen, die von den abwertend geschilderten Apothekern nicht erbracht werden/ werden können, da sie in den Aufgabenbereich des Arztes gehören. Denn nur dieser verfügt (was Camerarius nicht explizit schreibt, aber man kann es aus dem Umstand erschließen, dass er Aristoteles rezipiert) über den λόγος und naturkundliches Wissen (scientia rerum naturalium), während der Apotheker nur experientia hat. Nur Mediziner können also beide Perspektiven miteinander verbinden, aber solange viele von ihnen zu wenig auf die erfah‐ rungswissenschaftlichen Grundlagen achten, ist für Camerarius die Adaption antiker Medikamente wie Theriak wenig sinnvoll. Hierzu muss man wissen, dass im 16. Jahrhundert antike medizinische Schriften nicht wie historische Quellen behandelt wurden. Vielmehr nutzte man sie als Mittel zur Gewinnung wissenschaftlicher Erkenntnisse. 390 Es war dabei nicht unüblich, dass antike Medikamente z.T. ohne genaue Kenntnisse der Inhaltsstoffe nachgeahmt wurden. Dies traf insbesondere auf Theriak zu. Er bestand aus mehreren Dutzend Inhaltsstoffe, von denen gar nicht alle bekannt waren. 391 Jedoch stellt Camerarius diese Adaption antiken Wissens hier nicht prinzipiell in Frage, vielmehr geht es ihm um die falsche, blinde Form der Nachahmung. Er geht dabei vom Vorbild Galens aus, und referiert dabei immer wieder implizit insbesondere das zweite Kapitel des ersten Buches der Schrift De Antidotis (= Kühn XIV, 1, 5-13), in welchem Galen die Bedeutung der durch Autopsie gewonnen experientia herausstellt und auch explizit schreibt, dass allein der λόγος keinen adäquaten Ersatz darstellt. Es ist also auch hier die unterste Ebene im Wissensmodell des Aristoteles, die für Camerarius zu wenig beachtet wird, wenn er schreibt, die mangelnde praktische Erfahrung im Umgang mit Medikamenten sei das Problem. Auch die Kritik an mangelnder Autopsie lässt sich als Referenz auf das o. g. Kapitel auffassen (= Kühn XIV, 1, S. 11), in dem Galen betont, wie wichtig es sei, die einzelnen Inhaltsstoffe nach Geschmack und Geruch unterscheiden zu können. Aber auch vor dem Wissensmodell des Aristoteles lässt sich das Beharren auf der Autopsie erklären: 1.2 Die Übernahme des Modells im De Theriacis et mithridateis commentariolus  135 392 Vgl. Arist. Metaph. 1, 1, 980a27-981a1: „φύσει μὲν οὖν αἴσθησιν ἔχοντα γίγνεται τὰ ζῷα, ἐκ δὲ ταύτης τοῖς μὲν αὐτῶν οὐκ ἐγγίγνεται μνήμη, τοῖς δ‘ ἐγγίγνεται. […] γίγνεται δ’ ἐκ τῆς μνήμης ἐμπειρία τοῖς ἀνθρώποις· αἱ γὰρ πολλαὶ μνῆμαι τοῦ αὐτοῦ πράγματος μιᾶς ἐμπειρίας δύναμιν ἀποτελοῦσιν.“ (Übersetzung von Hermann Bonitz (in Wolf 2019, 37 f.): „Von Natur nun haben die Tiere sinnliche Wahrnehmung, aus der sinnlichen Wahrnehmung entsteht bei einigen Erinnerung, bei anderen nicht […] Aus der Erinnerung nämlich entsteht für die Menschen Erfahrung; denn die Vielheit der Erinnerungen an denselben Gegenstand erlangt die Bedeutung einer einzigen Erfahrung.“ 393 Vgl. Camerarius 1533, Bl. a3v-a4r (= Kapitel E.2.1, Abschnitt 4). 394 Vgl. Camerarius 1533, Bl. a3v-a4r (= Kapitel E.2.1, Abschnitt 4). Es ist u. A. wieder das zweite Kapitel des ersten Buches der Schrift De Antidotis (= Kühn XIV, 1, 5-13), auf die sich Camerarius bezieht. Galen betont dort, wie wichtig es ist, sich häufig mit den Inhaltsstoffen vertraut zu machen und wie schwer es ist, die Qualität eines Heilmittels zu garantieren, wenn man die Einzelstoffe nicht gut genug kennt. Auch die von Camerarius erwähnten Reisen finden sich hier. Vgl. auch De theriaca ad Pisonem wo er darauf hinweist, dass reine Erfahrung ohne λόγος nicht ausreichend ist (= Kühn XIV, 2, 220) bzw. dass rein empirische Ärzte die Ursachen der Dinge nicht kennten (= Kühn XIV, 2, 245-246). Auch dass schon ein kleiner Fehler das ganze Medikament ruinieren kann, schreibt Galen dort (= Kühn XIV, 2, 259). 395 Das Wort usus scheint im Zusammenhang mit der Textstelle den wiederholten Gebrauch, die regelmäßige Praxis zu bezeichnen, was durch den Kontext und die Verwendung des Wortes uti in dem Ausdruck quo se multum usum scribit nahegelegt wird. Die bei Camerarius auftauchende Verbindung von usus und experientia finden sich auch in Lukrezens Kulturentstehungstheorie, wo der usus neben der impigrae [..] experientia mentis (Lucr. 5, 1452) als die kulturtreibende Kraft erwähnt wird. Der Verlust des usus ist ein Motiv, das Camerarius im Commentarius utriusque linguae für den Niedergang der Wissenschaften und Künste im Mittelalter verantwortlich macht, denn auch dort schreibt er dem usus kulturschaffende Funktion zu (vgl. Camerarius 1551, Bl. a2v). Erfahrung entsteht, wie bereits erläutert, durch mehrfache Erinnerung an den‐ selben Sachverhalt, wobei sich die Erinnerung auf Sinneseindrücke gründet. 392 In Abschnitt vier 393 spricht Camerarius ausführlicher über vorbildliche Na‐ turkundler, insbesondere Galen und verdeutlicht an seinem Beispiel, welche Eigenschaften für einen guten Arzt nötig sind: 394 Hierzu gehören naturkundli‐ ches Wissen (naturalium rerum scientia), Sorgfalt, praktische Erfahrung (usus et experientia), 395 fächerübergreifende Interessen sowie Autopsie. Dabei haben diese vorbildlichen Ärzte, so Camerarius, die Herstellung von Medikamenten nicht einfach Apothekern überlassen, sondern sich selbst praktisch damit beschäftigt und großen Wert auf eigene Erfahrungen gelegt, die erst durch Autopsie und Gebrauch entstehen. Auch das passt zum Konzept von Aristoteles, bei dem ars und scientia lehr- und lernbar sind, die auf Autopsie gegründete experientia hingegen nicht. 136 1 Das aristotelische Wissensmodell im De Theriacis et mithridateis commentariolus 396 Vgl. Nutton 2019, 482 und Nutton 2022, 113. 397 Vgl. das Kapitel über den De Theriacis et Mithridateis Commentariolus (= Kapitel B.2). 398 Vgl. Camerarius 1533, Bl. a4r-a5r (= Kapitel E.2.1, Abschnitt 5-7). Fassen wir die bisherigen Ergebnisse zusammen: Camerarius zeigt also recht deutlich die Grenzen bei der Nachahmung antiker Heilmittel auf. Natürlich ist sein Anliegen nicht, die Nachahmung der Antike grundsätzlich in Frage zu stellen, sondern die Form der Imitation zu korrigieren. Nur das sozusagen blinde Nachahmen einzelner Rezepte ist in der Regel zum Scheitern verurteilt. Der neuzeitliche Arzt muss vielmehr gleichsam die Methodik und Disposition des antiken Arztes übernehmen, um auch unter den veränderten Bedingungen einer frühneuzeitlichen Medizin erfolgreich praktizieren zu können. Man muss den ganzen bisherigen Abschnitt, welche die Tätigkeiten und Eigenschaften des antiken Arztes beschreiben, als Anleitung zu richtiger Nachahmung lesen. Es handelt sich hierbei um einen Aufruf zu Autopsie, Gewissenhaftigkeit, Fleiß und eigenen Erfahrungen, den Camerarius einerseits mit rein philologi‐ schen Mitteln, d. h. aus der Lektüre Galens, begründet, andererseits mit rein philosophischen Argumentationen, indem er die Ausübung der Medizin an die Anwendung des aristotelischen Wissensmodells koppelt. Dadurch, dass er Galen als Autorität und Vorbild heranzieht, impliziert er, dass dieser das Wissensmodell anwandte. Auf diese Weise wird es aufs Engste mit der Frage nach richtiger Nachahmung von Autoritäten verbunden. Die Bedeutung von Praxis und eigener Erfahrung für Galen herauszustellen, entspricht dabei einem zeitgenössischen Trend. Anfang des 16. Jahrhunderts zeichneten die wiederentdeckten griechischen Texte nämlich ein neues Bild von Galen, dessen System weit weniger geschlossen war als angenommen und der viel mehr Wert auf eigene Erfahrungen, Autopsie und Ausprobieren legte. 396 Um Missverständnissen vorzubeugen: Camerarius scheint es bisher (und diese Annahme bestätigt sich, wenn man den Druck als Ganzes betrachtet) 397 weniger um die Rekonstruktion der Inhaltsstoffe und des Medikamentes The‐ riak, d. h. das Medizinische an sich, zu gehen, als vielmehr allgemein um die korrekte Ausübung der ars. Darüber kann er auch als Nichtmediziner schreiben (der selbst nicht über experientia in der Medizin verfügt), weil es hier um grundsätzliche Fragen geht, die alle Künste betreffen. Dies erklärt auch den am Anfang des Commentariolus vorgenommenen Vergleich mit der Redekunst. Nachdem also Camerarius die Rolle von scientia und experientia für die Medizin betont hat, kommt er in den Abschnitten 5-7 auf die 4. Stufe des aristotelischen Wissensmodells, die Weisheit (sapientia) zu sprechen: 398 Er vergleicht hier die Erfindung von Medikamenten durch die antiken Ärzte mit der Schöpfung des Menschen. Dabei billigt er den antiken Ärzten aufgrund 1.2 Die Übernahme des Modells im De Theriacis et mithridateis commentariolus  137 399 Vgl. Erasmus 1518, Bl. c4r: „Verum medicinae quondam tam admirabilis fuit humano generi inventio, tam dulcis experientia, ut eius autores aut plane pro diis habiti sint […] aut certe divinis honoribus digni sint existimati […]. Non equidem probo, quod fecit antiquitas, affectum sane ac iudicium laudo, quippe quae recte et senserit et declararit docto fidoque medico nullum satis dignum praemium persolvi posse.“ 400 Vgl. Gemusaeus et al. (Hrsg.) 1538, Bd. III, Bl. a2r: „Quem [sc. Galenum] etsi ab ineunte aetate omnis ars et doctrina liberalis oblectarit, ut non solum ad hoc studium medicinae natura ipsa vitae dux optima ipsum induceret, deorum tamen consilio singulari ad hanc artem solam factus esse videtur, quorum oraculis pater Nicho in somnis admonitus in medicinam eum induxit, ac si miserta esset divina clementia mortalium infelicem sortem […] Nam sive in nobis deus est, quo sane agitante calescimus, sive suopte ingenio homines ad praeclara omnia et ardua inflammantur, sic plane contigisse videmus, ut Galeni unius maxime opera in suum nitorem et elegantiam certitudinemque consurgeret medicina. Magis tamen credi par est, deorum id ope et consilio factum esse. Qui iidem per oraculum id praecepere atque multo ante per prudentissimum atque omni aetate clarissimum vatem praedici iusserunt. Neque sane mirum est maiorem curam illis fuisse huius artis quam ceterarum omnium, ut hanc divinitus etiam excultam atque auctam fuisse credamus.“ Verfasser dieses Briefes an den Leser ist Hieronymus Gemusaeus (1506-1544). 401 Vgl. Arist. Metaph. 1, 2 983a5-8: „ἡ γὰρ θειοτάτη καὶ τιμιωτάτη· τοιαύτη δὲ διχῶς ἂν εἴη μόνη· ἥν τε γὰρ μάλιστ‘ ἂν ὁ θεὸς ἔχοι, θεία τῶν ἐπιστημῶν ἐστί, κἂν εἴ τις τῶν θείων εἴη. μόνη δ’ αὕτη τού των ἀμφοτέρων τετύχηκεν·“ (Übersetzung von Hermann Bonitz (in Wolf 2019, 42): „Denn die göttlichste ist zugleich die ehrwürdigste. Göttlich aber kann sie nur im zwiefachen Sinne sein; denn einmal ist die Wissenschaft göttlich, welche der Gott am meisten haben mag, und dann die, welche das Göttliche zum Gegenstand hat. Bei dieser Wissenschaft allein trifft beides zugleich ein.“) der Weisheit, mit der sie vorgegangen sind, gleichsam Göttlichkeit zu, wie im Folgenden ausgeführt wird. Camerarius folgt auch in dieser Passage Galen, der in De Theriaca ad Pisonem (= Kühn XIV, 2, S. 220) überschwänglich die Erfinder von Gegengiften lobt, welche die verschiedenen Inhaltsstoffe mit ihren verschiedenen Wirkungen erstmals zu einem Antidot verbinden konnten. Im Gegensatz zu Galen be‐ zeichnet er die Erfinder jedoch als göttlich, was zur Zeit von Camerarius nicht unbedingt ungewöhnlich war, man vgl. etwa das Encomium medicinae des Erasmus 399 oder den Brief an den Leser des dritten Bandes der Galen-Ausgabe des Jahres 1538. 400 Aber auch aristotelisch gesehen ist die sapientia (dieser Begriff wurde von Galen nicht in diesem Zusammenhang verwendet) göttlich, denn sie wird einerseits von Gott besessen und hat andererseits das Göttliche zum Gegenstand. 401 Das zuletzt genannte Argument dürfte hier zutreffend sein. Der arzneikundige, mathematisch begabte Arzt nähert sich also der Göttlichkeit an, weil erstens der als Demiurg beschriebene Gott bei der Schöpfung eine vergleichbare Verfahrensweise verwendet wie der Mediziner bei der Herstel‐ lung von Medikamenten und weil zweitens die hier erwähnte mathematische 138 1 Das aristotelische Wissensmodell im De Theriacis et mithridateis commentariolus 402 Vgl. Camerarius 1533, Bl. a4r/ v (= Kapitel E.2.1, Abschnitt 5): „Mihi autem subit nunc admiratio veterum medicorum ingenii et sapientiae, qua illi diversissimas res ita in unum corpus congessere, ut unaquaeque cum altera conveniret, et quia ipsae essent diversae, similiter diversas efficacias et vires suas ostenderent. Nam omnium natura rerum similia sibi appetit, et ad se trahit, ut haec ille deus Homericus videri possit ὅσγ‘ αἰεὶ τὸν ὅμοιον ἄγει θεὸς ὡς τὸν ὅμοιον. Ceterum in hoc est sapientiae illorum verae divinitas quaedam ita potuisse illa componere, ut in id, quod animo et cogitatione sua corpus constituissent, recte et debite coalescerent, quod efficiendis his rebus, quas ad res factum esset, sufficeret. Hoc est vere admirabile et divinum, ut nostrorum corporum compositionem ex illis diversissimis naturis, tamen eo, quod magis admirari quam intelligere possumus, artificio fabricatus est Deus, ut convenirent ad ea, quae videmus quibusque defungimur vitae munera.“ 403 Zu weiteren Deutungsmöglichkeiten dieser Stelle vgl. Kapitel C.2. Methode der analogia das Verständnis der Natur, mithin der Schöpfung zum Ziel hat (auch wenn sie dabei letztlich insuffizient sein mag). Eine derartige Überhöhung der Arzneikunde ist etwas durchaus Ungewöhnliches, zumal sich Camerarius auch auf sprachlicher Ebene bemüht, die Parallelen zwischen der Schöpfung und der Herstellung eines Medikaments überdeutlich zu machen: Dem corpus des Menschen entspricht das corpus des Medikaments, in welchem unterschiedliche Stoffe mit verschiedenen Naturen zusammengeführt (und richtig temperiert) werden müssen, damit Menschen bzw. Heilmittel ihren Zweck erfüllen können. 402 Das übereilte Zusammenstellen von Medikamenten erscheint vor diesem Hintergrund fast als Frevel. Dem Arzt, der über sapientia verfügt und dadurch eine andere Perspektive auf das Göttliche hat, wird der geldgierige Apotheker gegenübergestellt, dem dieses Wissen abgeht. Sapientia hat hier für Camerarius auch eine ethische Komponente: Wer auch nur ansatz‐ weise um das Göttliche weiß und darüber nachdenkt, wird geradezu zum richtigen Handeln angespornt. 403 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Camerarius das Wissensmodell des Aristoteles rezipiert, um zu demonstrieren, wie wichtig und notwendig Erfah‐ rung, Autopsie und Beobachtung von Details sind, d. h. die unterste Stufe. Dabei rekurriert er immer wieder auf das Vorbild Galen und geht davon aus, dass die Stufen einander beeinflussen, das Modell also nicht nur in eine Richtung funktioniert. Denn für ihn kann Kunst nur dann funktionieren, wenn sie mit Erfahrung und Wissen kombiniert wird. Und das ist auch vollkommen folgerichtig, wenn man die Texte des Aristoteles zugrunde legt: Auf den zwei unteren Ebenen (Erfahrung und Kunst) findet sich dort nämlich ein Verfahren, das von Einzelfällen auf das Allgemeine schließt, und auf den oberen beiden Ebenen (Wissen und Weisheit) ein Verfahren, das Schlussfolgerungen vom Allgemeinen auf das Besondere anstellt. Die Stärke des Modells liegt also in 1.2 Die Übernahme des Modells im De Theriacis et mithridateis commentariolus  139 404 Vgl. Kapitel B.2.2. 405 Es handelt sich um nichtakademische Ärzte. Zum Begriff und zum zeitgenössischen Diskurs vgl. auch Kapitel A.1 dieser Arbeit. 406 Vgl. CR 11, Nr.-25, Sp. 202-209 (Edition) und Hofheinz 2001, 117-125 (Übersetzung). 407 Es ist allerdings fraglich, ob Melanchthon die Rede selbst gehalten hat, vgl. Hofheinz 2001, 117. der Verbindung von induktiven und deduktiven Methoden, die natürlich nur dann glücken kann, wenn die Erkenntnisse benachbarter Stufen miteinander abgeglichen werden. Schauen wir uns nun etwas konkreter die Beziehung zwischen Kunst und Erfahrung an, da sie für Camerarius das Kernproblem darstellt. Kunst ist für Aristoteles eine Annahme über das Allgemeine, das einzelnen Erfahrungen zugrunde liegt. In gewisser Weise wird Kunst also aus all den Erfahrungen gewonnen, die die bedeutendsten Ärzte gemacht haben. Kunst ist lehrbar, Erfahrung hingegen nicht. Würde man das Lernen der Kunst vernachlässigen, würde man auf diese Essenz der gesammelten Erfahrungen verzichten, macht man aber keine eigenen Erfahrungen, dann merkt man vielleicht nicht, inwie‐ fern die Grundlagen zur Ausübung der Kunst gar nicht mehr gegeben sind, weil sich zum Beispiel das Brauverfahren durch Erfindung der Destillation gegenüber der Antike verändert hat. Erfahrung ist somit die Voraussetzung für notwendige Anpassungen an veränderte Gegebenheiten. Sie erlaubt eine ständige Überprüfung und ggf. auch eine Aktualisierung der Kunst. Ohne Erfahrung ist Kunst nur inhaltslose und ineffiziente Nachahmung. 1.3 Die Übernahme des Wissensmodells vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Kritik an Empirikern Indem Camerarius die Notwendigkeit von Erfahrung für die akademische Medizin betont und dabei gleichzeitig Apotheker wegen ihrer Schlampigkeit, Nachlässigkeit und Ruhmsucht abwertet, 404 greift er in einen zeitgenössischen Disput ein, der von der Kritik an Empirikern 405 bestimmt war. So finden sich beispielsweise in der von Melanchthon verfassten Rede Contra empiricos medicos, 406 die 1531 gehalten wurde, 407 Aussagen, die vergleichbar mit denen des Camerarius sind. Melanchthon kritisiert hier nämlich nicht nur empirische Ärzte, die sich allein auf experientia stützen, sondern stellt auch explizit heraus, wie wichtig Erfahrung auch für die akademischen Ärzte ist. Erfahrung sei einerseits wichtig, da aus ihr allmählich die Kunst entstanden sei, andererseits sei es gefährlich (sc. für die Behandlung von Patienten), wenn man auf die Kunst 140 1 Das aristotelische Wissensmodell im De Theriacis et mithridateis commentariolus 408 Vgl. CR 11, Nr. 25, Sp. 205: „Sed obiciat hic aliquis, plerosque illiteratos magnam experientiam habere, quae non minus valet, quam ars, quam doctrina. Assentior multum pollere experientiam; ex hac enim ars paulatim nata est. Sed postquam ars reperta est, ideo traditur, ne quid temere, cum periculo aliorum experiamur, sed priorum experimenta imitantes, certam medendi rationem teneamus.“ 409 Vgl. CR 11, Nr. 25, Sp. 205: „Ars gubernat et imitatur experientiam non indoctorem, sed praestantissimorum.“ 410 Vgl. CR 11, Nr. 25, Sp. 206: „Prudens Medicus coniunget utrumque, artem et experien‐ tiam.“ 411 Vgl. Roebel 2012, 299 f. und 317-320. 412 So z. B. im Tractatus contra praestigias et imposituras Alchymistarum (Berlin, Staatsbi‐ bliothek, theol. Lat. 230, Bl. 552-559, hier: Bl. 552r), zitiert nach Roebel 2012, 343-352, hier 343: „[…] experientia magistra ac ratione duce […]“. Vgl. auch den Brief Peucers an Christian von Anhalt vom 28.11.1589 (Beckman, Johann Christoff: Accessiones historiae Anhaltinae, Zerbst 1716, 139 f., Nr. 11, hier: 139 [fälschlich auf das Jahr 1579 datiert]): „Immota sunt principia naturae et κριτήρια seu fundamenta ac probationes omnis certitudinis in rebus creatis, invicta ista duo: ratio et experientia.“ 413 Vgl. Kapitel C.1.1. 414 Auch andere Zeitgenossen Peucers wie Georg Joachim Rheticus (1514-1574) und Andreas Dudith (1533-1589) kritisierten die Paracelsisten als reine Empiriker, vgl. Roebel 2012, 299 f. verzichte. 408 Die Kunst steuere und ahme die Erfahrungen nach, und zwar nicht die Erfahrungen von ungelehrten, sondern von herausragenden Menschen. 409 Für Melanchthon ist also, wie für Camerarius und Aristoteles Kunst gleichsam eine Essenz von Erfahrungen. Ein kluger Arzt solle beides verbinden: Kunst (ars) und Erfahrung (experientia). 410 Insgesamt wertet Melanchthon, ebenso wie Camerarius, die Empiriker ab und strebt dabei gleichzeitig eine Stärkung der akademischen Medizin an, indem er den Wert von Erfahrung betont, wenn diese einer wissensgestützten Reflexion unterzogen wird. Bei dem Arzt Caspar Peucer (1525-1602) verbindet sich die Kritik an Empi‐ rikern mit einer Polemik gegen die Paracelsisten. 411 Hierbei handelt es sich um die Anhänger und Nachahmer Theophrasts von Hohenheim (1493/ 4-1541), der sich gegen die galenisch-hippokratische Medizin seiner Zeit ausgesprochen und stattdessen alchemistische Verfahren eingeführt hatte. Anders als Camerarius strebt Peucer nicht eine Verbindung von experientia und ars, sondern ein (vielleicht eher hierarchisch gedachtes) Verhältnis von experientia und ratio an. 412 Dies ist allerdings nur ein scheinbarer Unterschied, denn, wie bereits gezeigt, ist es der λόγος (lateinisch ratio), der es erlaubt, mehrere Erfahrungen unter einem Begriff zu vereinen. Τέχνη wurde von Aristoteles als mit rechter Vernunft (λόγος) verbundener Habitus des Hervorbringens definiert. 413 Λόγος oder ratio ist also ebenso für Aristoteles wie für Peucer der entscheidende Faktor für die erfolgreiche Ausübung einer ars. 414 Die Adaption des aristotelischen 1.3 Die Übernahme des Modells und die zeitgenössische Kritik an Empirikern 141 Wissensmodells scheint also diese Generation von Arzt-Philologen in ihrem Verständnis richtiger Ausübung von Medizin geprägt zu haben. 142 1 Das aristotelische Wissensmodell im De Theriacis et mithridateis commentariolus 415 Camerarius 1554, Bl. A4r (s. Kapitel E.5.1, Abschnitt 7). 416 Vgl. Platon, Timaeus 7 (= 31b-32b). 2 Die Übernahme des Prinzips der Analogie „Das ist, wie Platon sagt, die Analogie. Es handelt sich dabei gewissermaßen um ein Band zwischen allen Dingen, ohne das notwendigerweise alles in seine Teile aufgeht, zerfällt und zugrunde geht. Ohne die Analogie kann es kein festes und sicheres Wissen oder Erkennen geben, kein vernünftiges und dauerhaftes Handeln. Was sie nicht umbindet, das wird von der Wechselhaftigkeit irriger Ansichten und dem Chaos unsinniger Unterfangen bestimmt. Sie begründet und befördert die Wahrheit des Wissens, die Erhabenheit der Künste und die Schönheit von allem, was man sagt und tut.“  415 Mit diesen Worten preist Camerarius hymnisch das Konzept der analogia. Es durchdringt für ihn die ganze Welt und bildet die Grundlage jeder Erkenntnis. Welch große Bedeutung er ihm beimaß, zeigt die Tatsache, dass er es über meh‐ rere Jahrzehnte hinweg immer wieder in verschiedenen Schriften thematisiert. Er widmet ihm sogar einen ganzen Druck, nämlich die 1554 erschienenen Versus senarii de analogiis, aus denen auch das oben angeführte Zitat stammt. Was also hat es mit diesem Prinzip auf sich, dass er es so wichtig fand? Welche Bedeutung besaß es für die Naturkunde, für die Medizin und die anderen Wissenschaften? Warum rezipierte es gerade der protestantische Humanist Joachim Camerarius? Im eigentlichen Sinne handelt es sich bei der analogia (von „ἀνὰ τὸν αὐτὸν λόγον“ = „im selben Verhältnis“) um ein mathematisches Konzept, nämlich um die Gleichheit zweier (oder auch mehrerer) Verhältnisse (wobei es auch andere Formen der Analogie gibt, bei denen die Verhältnisse einander nur ähneln müssen, worauf später noch ausführlich eingegangen wird). Das Prinzip spielte bereits in der Antike eine wichtige Rolle und hat wohl pythagoreischen Ursprung. Es wurde u. a. von Platon, Aristoteles, den Neuplatonikern und zahlreichen anderen antiken, aber auch vielen mittelalterlichen und frühneu‐ zeitlichen Autoren (wie Ficino) rezipiert. Nicht nur für die Mathematik, sondern insbesondere auch für die Naturphilosophie spielte es eine große Rolle. So verwendet es z. B. Platon für die Beschreibung der Schöpfung der Welt aus den vier Elementen. 416 Es diente zur Bestimmung von Intervallen in der Musik. Galen beschreibt, wie die Analogie den Verhältnissen der einzelnen Körperteile 417 Vgl. z. B. Galen, De usu partium, 3, 159, 8-10. 418 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik 5 1129 a-1138 b, insbesondere Kapitel 6-8 1131 a 10-1133 b 28. 419 Vgl. Camerarius 1594, 46; 50 f. (= Kapitel E.7.2, Abschnitt 9). 420 Vgl. Edition, Übersetzung und Anmerkungen der Texte in Kapitel 2.1, 5.1-4, 6, 7.1 und 7.2. 421 Vgl. Camerarius 1594, 46; 50 (= Kapitel E.7.2, Abschnitt 9). zugrunde liegt 417 und Aristoteles erklärt mit ihm die Tugend der Gerechtigkeit. 418 Dies sind nur einige Beispiele. Diese kaum zu überschauende Tradition sowie die vielfältigen Einsatzgebiete der Analogie machen es schwer, Camerarius’ Analogiekonzept auf ein einziges konkretes Vorbild zurückzuführen und werfen die Frage auf, ob man es nicht vielmehr als ein allgemeines oder zumindest synkretistisches Prinzip betrachten sollte. Diese Vermutung wird auch durch Camerarius‘ eigene Worte bestätigt. Allgemein zu den Quellen schreibt er nämlich, die analogia werde von zahlrei‐ chen antiken Autoren beschrieben, Platon und Aristoteles hätten allerdings die größte Bedeutung. 419 Zudem beruft er sich an anderen Stellen explizit auf die Pythagoreer und zitiert Proklos (sehr oft), Euklid, erwähnt Okellos, Ptolemaios, Cicero sowie (implizit) Galen. 420 Für die Analyse seines Analogiekonzeptes müssen also vor allem diese Autoren berücksichtigt werden. Der Vergleich mit ihren Ansätzen wird das Prinzip des Camerarius klarer vor Augen treten lassen. Camerarius äußert sich auch ganz allgemein zu den Einsatzgebieten der Analogie. Sie werde in der Naturkunde, der Dialektik und Ethik verwendet. 421 Beispielhaft erläutert er ihren Nutzen für die Medizin (Herstellung von Me‐ dikamenten), die Herstellung von Tinte, die Astrologie (Legitimierung der Aspekte als besonders relevante Konstellationen) sowie die Ethik (Bedeutung der Analogie für die Gerechtigkeit). Die von Camerarius vorgenommene Ein‐ teilung in die Bereiche Naturkunde, Dialektik und Ethik soll die Grundlage für die Besprechung seines Analogieverständnisses bilden. Die im folgenden vorgenommene Kapiteleinteilung orientiert sich also nicht an von außen heran‐ getragenen Konzepten, sondern an der von Camerarius‘ selbst vorgenommenen Kategorisierung. Ungleich schwieriger gestaltet es sich, wenn man Ordnung in die von Camerarius verfassten Werke zu diesem Thema bringen will. Sie wurden im Laufe mehrerer Jahrzehnte zum Teil von ihm selbst veröffentlicht, zum Teil postum von seinen Söhnen. Sie sollen im Folgenden kurz beschrieben werden. Zunächst ist hier der schon mehrfach genannte und 1533 veröffentlichte De Theriacis et Mithridateis Commentariolus (= Kapitel E.1) zu nennen, in dem Camerarius die Analogie als Mittel zur Herstellung von Medikamenten 144 2 Die Übernahme des Prinzips der Analogie 422 Die Handschrift befindet sich in der Nürnberger Stadtbibliothek Cent. V, App. 36. Ausführliche Informationen finden sich in den Vorbemerkungen zu Text 6 im Anhang (= Kapitel E.6). beschreibt, die auf eine entsprechende Mitte hin temperiert werden müssen. Er parallelisiert diesen Prozess mit der Schöpfung des Menschen durch Gott. Bei den 1554 erschienenen Versus senarii de analogiis handelt es sich um einen Druck, der eigens der Analogie gewidmet ist und gleich mehrere für die Fragestellung relevante Werke enthält: Einen Widmungsbrief an den Medi‐ ziner Wolfgang Meurer (= Kapitel E.5.1), ein Gedicht über die Analogie (die eigentlichen Versus senarii; = Kapitel E.5.2) sowie eine dazugehörige ausführ‐ liche Explicatiuncula (= Kapitel E.5.3). In all diesen Texten äußert Camerarius sich überschwänglich zu den theoretischen Hintergründen der Analogie und (teilweise) auch zu ihrer Anwendung. Hinzu kommt ein Gedicht über die Herstellung von Tinte (= Kapitel E.5.4), in der er die praktische Umsetzung der Analogie veranschaulicht. 1569 erschienen die zweite Auflage des Drucks De notis numerorum. In ihr gab Camerarius Scholien eines unbekannten Autors heraus, die die Einführung in die Arithmetik des Nikomachos von Gerasa kommentierten. Auch die Edition dieses nicht selbst verfassten Textes ist für das Analogieverständnis des Camerarius relevant, denn erstens waren ihm die Anmerkungen offensichtlich wichtig genug, um sie zu publizieren, zweitens hat er Scholien oft durch längere eigene Erläuterungen ergänzt, wie ein Vergleich mit der in Nürnberg erhaltenen handschriftlichen Vorlage zeigt. 422 Thematisch gesehen werden in diesem Werk insbesondere die mathematischen Hintergründe und Spezialfälle der Analogie erläutert (Kapitel E.6). 1594, zwei Jahrzehnte nach dem Tod des Camerarius, erschienen die Decuriae XXI συμμικτῶν προβλημάτων, eine Sammlung von Fragen zu verschiedensten Themen und Problemen. Sie enthalten gleich zwei relevante Passagen. In der ersten äußert er sich zur Bedeutung der Analogie für die Schöpfung der Welt, so wie sie im platonischen Timaios beschrieben wird, in der zweiten bespricht er recht ausführlich die Eigenschaften der arithmetischen, geometrischen und harmonischen Mitte (Kapitel E.7.1 und E.7.2). Das Konzept der Analogie wird also in recht vielen Werken des Camera‐ rius erwähnt. Dies ist einerseits ein großer Vorteil, da gewisse Nuancen in bestimmten Passagen erst durch den Vergleich mit den anderen Texten für den Leser nachvollziehbar werden. Andererseits sind einige der Textabschnitte sehr kurz, voraussetzungsreich und weisen Fehler auf. Es war daher unerlässlich, sorgfältige Editionen und Übersetzungen anzufertigen, bei denen die zentralen 2 Die Übernahme des Prinzips der Analogie 145 423 Die in diesem und den folgenden Abschnitten gebrauchte Terminologie orientiert sich an Bärthlein 1996. Sie liegt auch den Übersetzungen zugrunde. Allgemein zur Analogie vgl. auch Kluxen / Remane 1971. Die weiter unten besprochenen drei Formen der Analogie (arithmetische A., geometrische A. und harmonische A.) entsprechen heutzutage dem arithmetischen, geometrischen und harmonischen Mittel. Fachbegriffe einheitlich übersetzt wurden, denn nur ein solches Vorgehen gewährleistet die Vergleichbarkeit der Texte. Sie finden sich im Anhang. Nach diesen einleitenden Bemerkungen zum Corpus und zur Vorgehensweise ist es zunächst nötig, die mathematischen Hintergründe des Konzeptes der Analogie zu erläutern. Erst dann kann Camerarius’ Verständnis, gegliedert nach den von ihm vorgegebenen Anwendungsbereichen, besprochen werden. 2.1 Voraussetzungen: Die Analogie als mathematisches Prinzip 423 Ganz allgemein handelt es sich bei der Analogie (lat. proportio) um ein Konzept, bei dem i. d. R. vier Zahlen in einer Reihe angeordnet und über gleiche Verhält‐ nisse miteinander verbunden werden. Die folgenden Erläuterungen gründen sich auf die im Anhang gedruckten Texte 5.1-3., 6., 7.1 und 7.2 und sollen die mathematischen Grundlagen der Analogie so wiedergeben, wie sie Camerarius verstand: Bei einer Analogie von vier Zahlen entspricht das Verhältnis der ersten Zahl zur zweiten dem Verhältnis der dritten zur vierten Zahl. So gleicht z. B. in der Reihe 2 - 4 - 8 - 16 das Verhältnis von 2 zu 4 dem Verhältnis von 8 zu 16, da der Unterschied jeweils dem Faktor 2 entspricht. Will man den Begriff ‚Analogie‘ auf den Punkt bringen, kann man also sagen, dass es sich um die Gleichheit von (zwei) Verhältnissen handelt (hier 2 : 4 und 8 : 16). Nun gibt es eine wichtige Sonderform der Analogie, bei der die beiden inneren Glieder gleich sind, z. B. bei den Zahlen 2 - 4 - 4 - 8. Auch hier entspricht das Verhältnis der ersten Zahl zur zweiten Zahl dem Verhältnis der dritten zur vierten Zahl, da zwischen den Zahlen jeweils dasselbe Verhältnis herrscht, nämlich ein doppeltes. Diese Sonderform wird auch als kontinuierliche Analogie bezeichnet (da sich die mittleren Glieder wiederholen), während es sich bei der ersten Form um die sogenannte diskrete Analogie handelt (die beiden mittleren Glieder sind unterschiedlich bzw. getrennt). Für Camerarius war, wie sich zeigen wird, insbesondere die kontinuierliche Analogie von zentraler Bedeutung. Obwohl man auch hier ursprünglich von vier Gliedern ausgeht, wird das mittlere Glied i. d. R. nur einmal geschrieben (also „2 - 4 - 8“ statt „2 - 4 - 4 - 8“). Es wird 146 2 Die Übernahme des Prinzips der Analogie 424 Aus diesem Grund entspricht das Verhältnis der Differenzen der Außenglieder zur Mitte dem Verhältnis der Außenglieder zueinander, d. h. b − a : c − b = a: c. D. h.. in der Reihe 3 - 4 - 6 entspricht das Verhältnis 1 : 2 dem Verhältnis von 3 : 6. Oben wurde eine leicht verständliche Erklärung für die harmonische Analogie gewählt, wohingegen Camerarius i. d. R. das folgende kompliziertere Modell verwendet: a + c − a * a a + c = b. 425 Für Unterschiede in der Auffassung des Begriffs ‚Mitte‘ bei Nikomachos, Jamblich und Pappos gegenüber Theon vgl. Bärthlein 1996, 68. 426 Vgl. Nikomachos von Gerasa, Introductio Arithmetica 2, 24, 6-11 und Proklos In Timaeum 2, 30-36. 427 Vgl. Camerarius 1569, Bl. O8r/ v (= Kapitel E.6, Abschnitt 6). Camerarius lehnt hier diese Theorie zwar ab, glaubt allerdings fälschlich, sie bezöge sich nicht auf Platon Timaeus 32A-B (wo die Schöpfung der Welt aus den vier Elementen erläutert wird), sondern auf die Politeia (8, 546A-D), wo der Kreislauf von Fruchtbarkeit und Unfruchtbarkeit für alle Dinge und Wesen beschrieben wird. D. h. er spricht sich ganz klar gegen diese Theorie aus, zumindest, wenn man sie auf die Schöpfung anwenden will. Ob er sie generell und insbesondere in Bezug auf die Schöpfung der Welt ablehnt, wird leider nicht deutlich. dabei auch als Mitte oder Mittel bezeichnet, da es die Außenglieder miteinander verbindet. Ferner gibt es drei Arten von Analogien, nämlich die arithmetische Analogie, die geometrische Analogie und die harmonische Analogie. Bei der arithmetischen Analogie ist der Abstand der Zahlen zueinander gleich, d. h. man addiert oder subtrahiert jeweils denselben Wert (z. B. in der Reihe 2 - 4 - 6 mit der Zahl 2). Bei der geometrischen Analogie, die den obigen Beispielen zugrunde liegt, multipliziert oder dividiert man jeweils durch denselben Wert (z. B. in der Reihe 2 - 4 - 8 mit dem Faktor 2). Die komplizierteste Form der Analogie ist die harmonische Analogie, wo man zu einer Zahl jeweils den gleichen Anteil von sich selbst addiert bzw. subtrahiert. Hier ist das Beispiel 3 - 4 - 6. Dabei geht man von den Außengliedern (hier also 3 bzw. 6) aus und addiert bzw. subtrahiert jeweils denselben Anteil von den Zahlen selbst (1/ 3 von 3= 1 bzw. 1/ 3 von 6= 2) und erhält so die Mitte 4. 424 Werden diese drei Arten der Analogie in der kontinuierlichen Form verwendet, dann heißen die jeweiligen mittleren Glieder auch arithmetische Mitte / arithmetisches Mittel (2 - 4 - 6), geometrische Mitte / geometrisches Mittel (2 - 4 - 8), und harmonische Mitte / harmonisches Mittel (3 - 4 - 6). Schließlich muss man noch beachten, dass diese Mitten / Mittel auch als Synonyme für die jeweiligen Analogieformen verwendet werden können, d. h. das arithmetische Mittel kann zugleich eine Bezeichnung für die arithmetische Analogie sein, das geometrische Mittel für die geometrische Analogie usw. 425 An dieser Stelle ist es wichtig, auf bei Proklos und Nikomachos überlieferte mathematische Erläuterungen einzugehen, 426 gegenüber denen die Haltung des Camerarius skeptisch zu sein scheint, 427 die allerdings wichtig für das 2.1 Voraussetzungen: Die Analogie als mathematisches Prinzip 147 Allerdings erklärt er abweichend in den 1594 publizierten Decuriae (= Kapitel E.7.1, Abschnitt 1), dass man feste (= dreidimensionale) Körper durch zwei Linien verbinden könne (s. u.). Er scheint hier also tatsächlich eine andere Auffassung als Proklos und Nikomachos zu vertreten. Vgl. hierzu auch Text, Übersetzung und Anmerkungen zu Camerarius 1569, Bl. O8r/ v (= Kapitel E.6, Abschnitt 6). 428 Voraussetzung dürfte weiterhin sein, dass die kleinere Zahl natürlich und von 1 verschieden ist. 429 Bei der Berechnung scheint die Regel zu gelten, dass die zu multiplizierenden Zahlen natürlich und von 0 und 1 verschieden sind. Außerdem können Zahlen zugleich zwei- und dreidimensional gedacht werden (z. B. 12 als Produkt aus 3 und 4 oder als Produkt aus 2, 2 und 3). Für die Berechnung der Anzahl der Mitten (s. u.) gilt dann die Regel, dass man von der flachen Zahl ausgeht. Verständnis des nächsten Kapitels sind. Es geht um die Möglichkeit, die Analogie auf geometrisch gedachte Zahlen zu übertragen. Hierzu muss man wissen, dass in der Antike Zahlen geometrisch interpretiert werden konnten. Neben den normalen, auch ‚linear‘ genannten, Zahlen gibt es sogenannte ‚flache‘ (d. h. zweidimensional gedachte) Zahlen und ‚feste‘ (d. h. dreidimensional gedachte) Zahlen. Was ist damit genau gemeint? Flache Zahlen sind Zahlen, die sich als Fläche darstellen lassen. Hierunter fallen Quadratzahlen (z. B. 4 als 2 2 oder 9 als 3 2 ) und solche Zahlen, die aus dem Produkt zweier kleinerer Zahlen gebildet werden (wie 12 aus dem Produkt von 3 und 4). Geometrisch gedacht sind Quadratzahlen dann Quadrate mit einer Seitenlänge, die ihrer Quadratwurzel entspricht, und Zahlen, die sich aus dem Produkt zweier kleinerer Zahlen bilden lassen, sind Rechtecke (12 wäre dann ein Rechteck mit Seitenlängen von 3 und 4). 428 „Feste“ Zahlen sind hingegen das Produkt dreier Zahlen. So kann man 24 als Produkt der Zahlen 2, 3 und 4 auffassen, 8 hingegen als Würfel / Kubikzahl mit der Seitenlänge 2 bzw. 27 als Würfel / Kubikzahl mit der Seitenlänge 3. 429 Will man nun zwei flache Zahlen verbinden, braucht man mindestens eine gemeinsame Mitte: Angenommen man hat eine Quadratzahl „A“ mit der Seitenlänge 3 (Fläche von 3x3= 9) und eine weitere „C“ mit einer Seitenlänge von 4 (Fläche von 4x4= 16), dann erhält man die Mitte, indem man die Seitenlänge des einen mit der Seitenlänge des anderen multipliziert (3x4= 12). Bei dreidi‐ mensional gedachten Zahlen hingegen gibt es mindestens zwei verbindende Mitten: Wenn man eine Kubikzahl 27 (A) mit der Kantenlänge 3 und eine andere Kubikzahl 125 (D) mit der Kantenlänge 5 hat, werden die Mitten gebildet, indem man die Grundfläche der einen Zahl (A) mit der Kantenlänge der anderen Kubikzahl (D) als Höhe multipliziert und umgekehrt (d. h. Grundfläche von Kubikzahl D mit Höhe von Kubikzahl A). Man erzeugt also eine neue feste Zahl „B“ mit der Grundfläche 3x3 (= Grundfläche des Würfels A) und der Höhe 5 (Kantenlänge der Kubikzahl D) und eine feste Zahl „C“ mit der Grundfläche 5x5 148 2 Die Übernahme des Prinzips der Analogie 430 Dies entspricht heutzutage der mittleren Proportionalen. 431 Vgl. Platon, Timaeus, 32a7-b3. 432 Vgl. Camerarius 1594, 30 und 33 (= Kapitel E.7.1, Abschnitt 1). 433 Das wird umso deutlicher, wenn man bedenkt, dass jede der beiden mittleren Zahlen in jeweils einer Analogie als Mitte und in der anderen als Außenglied fungieren kann. Beispiel: Die Punkte A und D sollen verbunden werden, dazu werden die folgenden zwei Analogien gebildet: A - B - C und B - C - D. Die Punkte B und C fungieren jeweils einmal die Mitte und einmal als Außenglied. und der Höhe 3. Die Körper A und D lassen sich nun über zwei Analogien von jeweils drei Gliedern miteinander verbinden: 430 1. Analogie mit B als Mitte: Kubikzahl A (3x3x3= 27) - feste Zahl B (3x3x5= 45) - feste Zahl C (5x5x3= 75) 2. Analogie mit C als Mitte: Feste Zahl B (3x3x5= 45) - feste Zahl C (5x5x3= 75) - Kubikzahl D (5x5x5= 125) Diese mathematische Theorie hat, wie noch gezeigt werden wird, Relevanz für die Interpretation des platonischen Schöpfungsberichtes, da auch im Timaios (ohne genauere Begründung) ausgesagt wird, dass feste Körper über zwei Mitten miteinander in Verbindung gebracht werden müssen. 431 Die Art und Weise, wie diese Aussage mathematisch begründet wird, kann unterschiedliche Auffassungen über die Eigenschaften und den Zusammenhalt der vier Elemente erklären. Im Unterschied zu Proklos und Nikomachos schreibt Camerarius zwar auch, dass es zwischen zwei festen Körpern zwei Mitten gibt. Er glaubt allerdings, dass diese Mitten Linien und keine dreidimensional gedachten Zahlen sind (weicht also von den beiden genannten Autoren ab). 432 Wie er auf diese Idee kam und wie er sich das konkret vorstellte, ist unklar; ebenso, wie die mathematische Begründung für diese Theorie aussehen soll. Überhaupt könnte Camerarius hier ein logischer Fehler unterlaufen sein, da die Mitten eigentlich dieselben Eigenschaften aufweisen müssen wie die Außenglieder. 433 Dies funktioniert aber nicht, wenn es sich bei den zu verbindenden Dingen um dreidimensional ge‐ dachte Zahlen oder Körper, bei den Mitten aber um Linien handelt. Hierzu muss man wissen, dass für Camerarius (ebenso wie für Proklos und Nikomachos) die zwei Mitten zwei Analogien nach folgendem Muster bewirken (A und D sind die zu verbindenden Körper): 1. Analogie: A - B - C 2. Analogie: B - C - D Die Entstehung dieses Irrtums lässt sich vielleicht auf die Rezeption des 5. Buches der Nikomachischen Ethik von Aristoteles zurückführen. Dort wird die 2.1 Voraussetzungen: Die Analogie als mathematisches Prinzip 149 434 Vgl. Aristoteles Nikomachische Ethik 5, 6-8 1131 a 10-1133 b 28. Bei der diskreten Analogie mit vier Gliedern wird hier zwar nicht explizit von ‚Linien‘ gesprochen, der Zusammenhang macht es allerdings sehr wahrscheinlich, dass Aristoteles - ebenso wie er es bei der kontinuierlichen Analogie mit drei Gliedern getan hatte - davon ausging, dass sie durch vier Linien dargestellt werden kann (vgl. Nikomachische Ethik 5, 6 1131 a 29-1131 b 8). 435 Vgl. Camerarius 1594, 30 und 33 (= Kapitel E.7.1, Abschnitt 1). 436 Vgl. Platon, Timaeus 32a5-b5. Analogie nämlich anhand der Länge von Linien beschrieben. Dieses Modell ist allerdings nicht auf dreidimensionale Zahlen oder Körper ausgelegt, sondern es handelt sich um kontinuierliche Analogien mit drei Gliedern und diskreten Analogien mit vier Gliedern (jeweils nicht dreidimensional gedacht). 434 Viel‐ leicht hatte Camerarius also einfach das System des Aristoteles übernommen und die diskrete Analogie mit vier Gliedern mit der Analogie zwischen drei‐ dimensionalen Zahlen gleichgesetzt. Oder könnte es sein, dass Camerarius auch die Außenglieder als zwei Linien interpretierte, die durch zwei andere mittlere Linien verbunden werden? Dagegen spricht auf sprachlicher Ebene die Tatsache, dass Camerarius explizit von flachen (= zweidimensionalen) und festen (= dreidimensionalen) Körpern spricht. 435 Und auch in der Platonstelle, auf die sich Camerarius bezieht, ist explizit von flachen und festen [Körpern bzw. Zahlen] die Rede. 436 2.2 Die Rezeption durch Camerarius Diese mathematischen Vorstellungen bilden die Voraussetzung für die eigent‐ liche Analyse des Analogieverständnisses des Camerarius. Da er in den Texten über die Analogie oft dieselben antiken Autoren erwähnt, ist es zudem un‐ erlässlich, deren Systeme und Vorstellungen eingehend zu erläutern. Dabei soll in den folgenden Unterkapiteln Camerarius’ Aufteilung in Naturkunde, Ethik und Dialektik beibehalten werden. Erst später soll in einem eigenen Kapitel der Vergleich mit nicht genannten, aber möglicherweise relevanten zeitgenössischen Autoren erfolgen, um der Genese seines Analogiekonzeptes und der Perspektive seines Lesepublikums möglichst vollständig Rechnung zu tragen. 2.2.1 Rezeption im Bereich der Naturphilosophie / Naturkunde Es ist nicht erstaunlich, dass die Analogie als ursprünglich mathematisches Kon‐ zept besondere Relevanz für den Bereich der Naturkunde und Naturphilosophie 150 2 Die Übernahme des Prinzips der Analogie 437 Vgl. Camerarius 1594, 46; 50 f. (= Kapitel E.7.2, Abschnitt 9). 438 Vgl. Platon, Timaeus 31b4-32c4. besaß. Bereits in der Antike wurde sie von verschiedensten Naturphilosophen und Medizinern verwendet. Seine Verbreitung verdankt dieses Konzept den Pythagoreern und insbesondere dem Timaios Platons. - 2.2.1.1 Antike Modelle Von den Autoren, die Camerarius im Zusammenhang mit der Analogie erwähnt, sind die Folgenden für das theoretische Analogiekonzept im Bereich der Naturphilosophie und -kunde relevant: Platon, Okellos, Proklos und Galen. Andere Autoren, wie Euklid und Nikomachos von Gerasa sind nur für die mathematischen Hintergründe von Bedeutung und können hier ausgeklammert werden. Ähnliches gilt weitgehend auch für Aristoteles, da Camerarius dessen Analogiekonzept fast nur im Bereich der Ethik rezipiert, wie wir sehen werden. Beginnen wir mit Platon. a) Platon Camerarius bezeichnet Platon als wichtige Quelle für das Konzept der Ana‐ logie. 437 Dieser hatte im Timaios die Analogie als wichtiges Prinzip bei der Schöpfung des Weltkörpers beschrieben. 438 Der Demiurg habe, so Platon, die Welt aus den Elementen Feuer (A) und Erde (D) schaffen. Der erste der beiden Stoffe sollte garantieren, dass sie sichtbar ist, der zweite, dass sie fest ist. Die beiden Grundstoffe sind völlig verschieden, ja sogar gegensätzlich, wenn man sie in Bezug auf ihre Festigkeit betrachtet. Damit diese einander aufgrund ihrer Natur widerstrebenden Dinge verbunden werden konnten, musste es nun eine Verbindung geben, die beide Elemente miteinander vereinigen konnte. Das schönste Band aber sei das, welches sich selbst und das Verbundene, soweit möglich, vereine. Am Wirkungsvollsten könne dies die Analogie. Da es sich bei diesen Elementen allerdings um dreidimensionale Körper handelt, konnten sie nicht (wie im Kapitel über die mathematischen Grundlagen bereits erklärt) durch eine einzige Mitte miteinander verbunden werde, sondern brauchten zwei gemeinsame Mitten. So mussten also die Elemente Luft (B) und Wasser (C) dazwischentreten und es bildeten sich zwei Analogien mit jeweils drei Gliedern, geordnet nach dem Grad ihrer Festigkeit: 1. Analogie: Feuer - Luft - Wasser 2. Analogie: Luft - Wasser - Erde 2.2 Die Rezeption durch Camerarius 151 439 Vgl. Platon, Timaeus 34a9-d7 und Baltzly 2007, 8. 440 Vgl. Baltzly 2007, 84, Anm. 137. 441 Vgl. Frede 2006 sowie die Edition von Harder 1926 (insbesondere 16-20). 442 Vgl. Okellos 2, 4-22 (= 22-36), Aristoteles, De generatione et corruptione 329a 32-b 2; b 16-20; 330b 25-34; b-3-5 (bezieht sich auf die Abschnitte 24-29 des Okellos). So wie sich also Feuer zur Luft verhält, so verhält sich die Luft zum Wasser, und wie sich die Luft zum Wasser verhält, so verhält sich das Wasser zur Erde. Das Ergebnis ist eine unauflösliche Einheit, die nur durch den Schöpfer selbst wieder aufgelöst werden kann. Man könnte zusammenfassend sagen, dass der Zweck der platonischen Analogie die Verbindung von Gegensätzen zu einer stabilen Einheit ist, die zugleich eine Annäherung an das göttliche Eine darstellt. Diese Ausführungen betreffen nur die materielle Seite, den platonischen Weltkörper. Die diesem übergeordnete und ihn durchdringende Weltseele ist jedoch ebenfalls nach dem Prinzip der Analogie geschaffen und ebenfalls durch Zahlenverhältnisse beschreibbar. Während die Elemente jedoch durch die geometrische Mitte verbunden wurden, sind in der Seele die arithmetische und die harmonische Mitte wirksam. 439 Bei Platon sind also alle drei Analogien bereits angelegt. Nun gab es in der Antike verschiedene Interpretationen dieser Timaiospassage. Sie schrieben den vier für die Schöpfung relevanten Elementen mehr als eine Qualität zu. Hierzu gehören Okellos aus Lukanien (und Aristoteles) sowie Proklos. b) Okellos und Aristoteles Kommen wir zunächst zu Okellos. Er galt in der Antike als Altpythagoreer, tatsächlich aber stammt das ihm zugeschriebene Werk Περὶ τῆς τοῦ παντὸς φύσεως wohl aus hellenistischer Zeit und ist schätzungsweise auf die Zeit zwischen 200 und 150 v. Chr. zu datieren. 440 Einige Passagen des Werkes Περὶ φύσεως sind wörtlich aus Aristoteles‘ De generatione et corruptione übernommen worden. 441 Okellos schreibt darin (ebenso wie Aristoteles) den Elementen zwei Eigenschaften zu. Ausschlaggebend für diesen Schritt war die Annahme, dass die völlig unterschiedlichen Elemente Feuer und Erde nur dann über Mitten verbunden werden können, wenn die Mitten auch gemeinsame Eigenschaften mit den Außengliedern teilten. Dies lässt sich besser anhand des folgenden Schemas (vgl. Tab. 6) verstehen, wo benachbarte Elemente immer eine gemein‐ same und eine unterschiedliche Qualität besitzen: 442 152 2 Die Übernahme des Prinzips der Analogie 443 Vgl. Proklos In Timaeum, 2, 38, 1-16. 444 Vgl. Proklos In Timaeum, 2, 38, 16-31. 445 Vgl. Proklos In Timaeum, 2, 39, 19-2, 41, 14. 1. Analogie Feuer Luft Wasser Wärme / Trockenheit Wärme / Feuchtigkeit Kälte / Feuchtigkeit - 2. Analogie Luft Wasser Erde Wärme / Feuchtigkeit Kälte / Feuchtigkeit Kälte / Trockenheit Tab. 6: Okellos und Aristoteles c) Proklos Der Neuplatoniker Proklos spricht sich hingegen für einen Ansatz mit drei Ei‐ genschaften aus. Seiner Meinung nach weist ein auf zwei Qualitäten beruhendes Modell das Problem auf, dass die Anziehung und die abstoßende Kraft zwischen zwei benachbarten Elementen gleich groß sei. 443 Es gebe für diese Elemente also keinen Grund, eine Bindung einzugehen. Außerdem, so Proklos, weisen die Eigenschaften der beiden äußersten Elemente Feuer und Erde eine gemeinsame Qualität auf, obwohl sie doch eigentlich einander diametral entgegengesetzt sein sollten, während andere in der Reihe näher beieinander stehende Elemente (z. B. Wasser und Feuer) zwei unterschiedliche Eigenschaften und keine Gemeinsam‐ keit haben. 444 Das Modell weist ihm zufolge also Widersprüchlichkeiten auf und erklärt nicht hinreichend, warum die Elemente gerade in der Reihenfolge Feuer-Luft-Wasser bzw. Luft-Wasser-Erde angeordnet sind. Die Annahme dreier Qualitäten, so Proklos, löst dieses Problem, da benach‐ barte Elemente zwei gemeinsame Qualitäten und nur eine unterschiedliche haben. Auf diese Weise überwiegen die anziehenden Kräfte. Es ergibt sich folgendes Schema (vgl. Tab. 7): 445 2.2 Die Rezeption durch Camerarius 153 446 Vgl. Nikomachos von Gerasa, Introductio Arithmetica 2, 24, 6-11 und Proklos In Timaeum 2, 30-36. 447 Vgl. Proklos, In Timaeum, 2, 39, 24-26. 448 Vgl. Proklos, In Timaeum, 2, 9, 7-10, 16 und Baltzly 2007, 7-8. 1. Analogie Feuer Luft Wasser aus leichten Teilchen scharf gut beweglich aus leichten Teilchen stumpf gut beweglich aus dichten Teilchen stumpf gut beweglich - 2. Analogie Luft Wasser Erde aus leichten Teilchen stumpf gut beweglich aus dichten Teilchen stumpf gut beweglich aus dichten Teilchen stumpf unbeweglich Tab. 7: Proklos Proklos’ Ansatz legitimiert seinen Ansatz weiter, indem er eine mathematische Theorie anführt, die bereits von dem Mathematiker Nikomachos von Gerasa be‐ schrieben wurde und erklären soll, warum ‚feste‘ (d. h. dreidimensionale) Zahlen durch zwei Mitten verbunden werden müssen. 446 Dieses im vorangehenden Kapitel bereits beschriebene Verfahren geht davon aus, dass zwischen zwei feste Zahlen zwei mittlere Zahlen treten, so dass benachbarte Zahlen jeweils in zwei ihrer gedachten drei Außenlinien (also einer Fläche) übereinstimmen und sich in einer Außenlinie (also der Höhe) unterschieden. Dies lässt sich auf die vier Elemente übertragen, nur dass dort den Außenlinien Qualitäten entsprechen. Zwei in einer Analogiereihe benachbarte Elemente weisen dort zwei gleiche Qualitäten auf und unterscheiden sich nur in einer Qualität. 447 Proklos löst damit also das Problem des Ansatzes von Okellos und Aristoteles. Das von Aristoteles angenommene 5. Element, das die Sterne und Planeten bildet, erklärt Proklos als reinere Form von irdischem Feuer. 448 Proklos äußert sich aber in seinem Timaioskommentar auch ganz grundsätzlich zu den theoretischen Hintergründen der Analogie und ordnet sie in sein philo‐ sophisches System ein. Wir werden diese Aussagen ausführlicher betrachten, da sie für das Analogieverständnis des Camerarius von großer Relevanz sind. 154 2 Die Übernahme des Prinzips der Analogie 449 Vgl. Baltzly 2007, 1-6. 450 Vgl. Baltzly 2007, 23-27. 451 Vgl. Proklos, In Timaeum, 2, 13, 15-2, 14, 2, sowie 2, 16, 29-31. 452 Vgl. Proklos, In Timaeum, 2, 18, 29-2, 19, 3. 453 Vgl. Proklos, In Timaeum, 2, 18, 20-2, 20, 9. Proklos nimmt an, dass das göttliche Eine stufenweise Hypostasen ausbildet, d. h. Abbilder von sich selbst, die einen immer geringeren Grad an Einheit aufweisen bzw. Anteil am Einen haben und denen wiederum Hypostasen untergeordnet sind. Alles, auch das Viele, ist dabei letztlich auf das Eine zurückzuführen und geht von ihm aus. 449 Dies gilt auch für den sichtbaren Kosmos. Die Welt ist für Proklos ein perfekt geschaffenes göttliches Objekt, dessen Schönheit Bewunderung hervorrufen muss. 450 Doch auch wenn letztlich alles am Einen partizipiert, so sind keine positiven Aussagen über das Eine möglich, da jede Aussage über das Eine immer schon etwas ist, das man dem Einen hinzufügt. Anstatt also behaupten zu können, das Eine sei „xyz“, kann man nur negative Aussagen über es treffen („Das eine ist nicht xyz“). Es handelt sich um eine negative Theologie. Das Eine ist für Proklos also zugleich ein in der Welt immanentes, wie transzendentes Prinzip: Man kann es nicht begreifen oder (positive) Aussagen über es treffen, aber es durchdringt alles und ist die Grundlage einer Welt, die über die einzelnen Hypostasen letztlich ein Abbild des perfekten Einen ist. Wie passt nun die Analogie in das System des Proklos? Damit Veränderung, Werden und Entstehen in der Welt möglich sind, braucht es Dualität / Zweiheit: Denn nur zwei gänzlich entgegengesetzte Dinge (wie Feuer und Erde, s. o.) können diese Dinge bewirken. Gäbe es aber nur Zweiheit, gäbe es auch keine Stabilität und Konstanz in der Welt. Dafür ist Einheit nötig und hier kommt die Analogie ins Spiel: Indem sie zwischen die in der Welt bestehenden Gegensätze tritt, schafft sie Einheit, verbindet das Verschiedene harmonisch miteinander und bewirkt Stabilität. 451 Doch sie schafft nicht nur Einheit, sondern leitet sich auch vom Einen selbst ab. So wie jede Zahl letztlich auf das Eine zurückzuführen ist, da sie aus mehreren Einheiten besteht, so lässt sich jedes Verhältnis als Erweiterung des Verhältnisses verstehen, das im Einen selbst herrscht. Dort gibt es nämlich ein Verhältnis absoluter Gleichheit, das Eine steht sozusagen in einem Verhältnis von 1 zu 1 zu sich selbst. 452 Diese Gleichheit, bzw. dieses Verhältnis von 1 zu 1 findet sich auch in der Analogie wieder, die im eigentlichen Sinn ja die Gleichheit von Verhältnissen ist. 453 Dies trifft streng genommen nur auf die geometrische Analogie zu. Aber auch in der arithmetischen und harmonischen Analogie sind die Verhältnisse 2.2 Die Rezeption durch Camerarius 155 454 Vgl. Proklos, In Timaeum, 2, 22, 29-2, 23, 5. 455 D. h.. (1*1)+(1*1) = 2. 456 D. h.. (1*1)+(2*1)+(1*1) = 4. 457 Vgl. Proklos, In Timaeum, 2, 19, 10-2, 19, 30. 458 Vgl. Proklos, In primum Euclidis librum, 4, 11-14: „διεξοδεύει μὲν γὰρ καὶ ἀναπλοῖ τοῦ νοῦ τὴν ἀμετρίαν καὶ ἀνελίσσει τὸ συνεσπειραμένον τῆς νοερᾶς ἐπιβολῆς, συνάγει δὲ αὖ πάλιν τὰ διῃρημένα καὶ ἀναφέρει πρὸς τὸν νοῦν.“ (Übersetzung von Schönberger 1945, 164: „Es [sc. das mathematische Denken] entwickelt nämlich und zergliedert die Unermeßlichkeit des Nus und entfaltet, was im intellektuellen Denkprozeß zusam‐ mengefasst war, verbindet dann aber hinwiederum das Gesonderte und führt es zurück auf den Nus.“). 459 Vgl. Baltzly 2007, 19. vergleichbar, da in der arithmetischen Analogie die Abstände gleich sind und in der harmonischen Analogie das Verhältnis der Außenglieder zur Mitte. Für Proklos sind sie drei Arten von Einheit: die arithmetische Analogie nennt er ἰσότης, die geometrische ταὐτότης und die harmonische ὁμοιότης. 454 Proklos demonstriert, wie sich die drei Formen der Analogie herleiten lassen, was hier kurz beispielhaft für die geometrische Analogie erklärt werden soll: Man geht von drei Einheiten aus, die Verhältnisse von 1 : 1 : 1 haben (so wie sie im Einen selbst herrschen). Nun erhält man die drei Zahlen der geometrischen Analogie, indem man die erste Zahl der ersten Einheit gleichsetzt, die zweite Zahl der Summe der ersten und zweiten Einheit 455 und die dritte Zahl einmal der ersten, zweimal der zweiten und einmal der dritten Einheit. 456 Auf diese Weise erhält man die Zahlen 1 - 2 - 4. 457 Dieses Beispiel mag aus moderner Sicht etwas umständlich wirken, zeigt aber gut Proklos‘ Versuch, die Zahlen auf Einheiten zurückzuführen und die Verhältnisse auf ein Verhältnis der Gleichheit. Letztlich will er demonstrieren, wie alles vom Einen aus- und auf es zurückgeht. Die Analogie erfüllt vor diesem Hintergrund eine Funktion, die Proklos ganz grundsätzlich der Mathematik im Proöm seines Euklidkommentars zuschreibt: Sie geht entweder vom Einen aus oder führt alles auf das Eine zurück. 458 Denn sie leitet sich, wie gezeigt wurde, zugleich vom Einen ab und kann verschiedene Stoffe zu einer Einheit zusammenfügen. Dabei hat sie eine Doppelnatur: Auch wenn sie in den Dingen selbst manifest ist, ist sie wegen ihres Bezugs zu einer übergeordneten Seinsstufe von den Dingen qualitativ verschieden und transzendent. 459 Überhaupt nimmt für Proklos die Mathematik eine Art mittlere Position zwischen der stofflichen Welt und dem Einen ein. Zahlen stehen dem Einen näher als das Materielle, insofern sie immateriell, unwiderlegbar, beständig, exakt und unveränderlich sind. Aufgrund der Eigenschaften der Zahlen kann die Mathematik auf das ungeteilte Eine aufmerksam machen. Dennoch sind auch 156 2 Die Übernahme des Prinzips der Analogie 460 Vgl. Proklos, In primum Euclidis librum, 3, 2-7, 12, sowie 11, 16-12, 2. 461 Vgl. Platon, Politeia, 6, 509c-511e und 7, 533a-534a. 462 Vgl. Proklos, In primum Euclidis librum, 20, 15-17. 463 Vgl. Proklos, In primum Euclidis librum, 13, 6-13. 464 Vgl. Proklos, In primum Euclidis librum, 16, 16-22. 465 Vgl. Proklos, In primum Euclidis librum, 22, 17-23, 11. 466 Vgl. Proklos, In primum Euclidis librum, 34, 1-7. 467 Eine Suche nach dem Wort ἀναλογία im Thesaurus Linguae Graecae ergab 234 Treffer. Auch wenn das Wort verschieden gebraucht werden kann, belegt allein schon die schiere Treffermenge, dass Galen in Analogien dachte. Zahlen nur Abbilder der einheitlichen Urbilder und zudem sind sie vielfach, also vom Einen verschieden - was allerdings den Vorteil hat, dass sie dadurch der materiellen Welt näher stehen und sie besser beschreiben können. 460 Proklos beruft sich bei seinen Ausführungen auf das Liniengleichnis Platons 461 und ordnet die Zahlen, wie Platon, unterhalb der Vernunft (νοῦς) ein, da nur sie zum Einen vordringe, während die in den Bereich des Verstandes (διάνοια) ge‐ hörende Mathematik von immer neuen Voraussetzungen ausgehend zu immer neuen Folgerungen kommt. Zugleich steht sie über dem Glauben (πίστις) und dem Mutmaßen (εἰκασία). Für Proklos, wie für Platon, ist sie damit ein ideales Propädeutikum für die Dialektik. 462 Aber nicht nur das: Die mathematischen Kenntnisse erhalten die Menschen direkt von der Seele, die das Wesen der Urbilder begreift und ihnen in der Mathematik Ausdruck und Dasein verleiht. 463 Für Platon ist ja auch die Seele selbst, wie oben bereits gezeigt, nach Zahlen und Verhältnissen geordnet 464 und gibt dann sozusagen ihre eigene mathematische Ordnung weiter. Was aber bedeutet das für das Verständnis der Welt? Insgesamt ist die Mathematik für Proklos ein äußerst genaues, aber im Hinblick auf das Eine dennoch insuffizientes Erkenntnisinstrument. Im Hinblick auf die Naturkunde hat die Mathematik, insbesondere wegen des Aufbaus der Welt aus den drei Analogieformen, natürlich großen Nutzen und ist ein äußerst exaktes Erkennt‐ nismittel. 465 Andererseits betonen Proklos und Platon, dass jede Wissenschaft sich nach den betrachteten Objekten richten muss. Im Fall der Naturkunde bedeutet dies, dass der Forscher mit Wahrscheinlichkeiten arbeiten muss. 466 Dies dürfte daran liegen, dass Dinge in der sinnlichen Welt trügerisch, nicht notwendigerweise gleich und auch nicht wirklich beständig sind. d) Galen Schließlich ist noch die Verwendungsweise der Analogie durch Galen relevant. Auch für ihn stellt sie ein zentrales Konzept dar, was allein schon die zahllosen Erwähnungen des Wortes in seinen Schriften nahelegen. 467 Beispielsweise ist die 2.2 Die Rezeption durch Camerarius 157 468 Vgl. z. B. Kühn XIII, 445, 14-16; 595, 10-13 und 793, 13-17. 469 Vgl. z. B. Kühn III, 76, 16-77, 11; 157, 12-158, 17; 217, 1-16; 859, 12-860, 8; 891, 11-892, 17. 470 Camerarius 1554, Bl. A4r (s. Kapitel E.5.1, Abschnitt 7). 471 Vgl. Platon, Timaeus 31b5-32c4. 472 Vgl. Camerarius [ca. 1565], Bl. A5r. 473 Vgl. z. B. Harder 1926, S. XIV-XVIII. Wahrung der Analogie wichtig für das Mischungsverhältnis der Inhaltsstoffe von Medikamenten. 468 Vor allem aber rühmt Galen an mehreren Stellen die planvolle Schöpfung des menschlichen Körpers und seiner Teile, die nach dem Prinzip der Analogie geschaffen wurden. Nur da, wo es absolut notwendig war, sei die Natur geringfügig von diesem Prinzip abgewichen, so dass alle Glieder ihren Zweck auf die bestmögliche Weise erfüllen können und verdeutlichen, dass der Körper nicht nach zufälligen Prinzipien geschaffen wurde. 469 Doch auch wenn die Analogie bei Galen eine wichtige Rolle spielt, finden sich in seinen Schriften keine längeren theoretischen Erörterungen zu seinem Analogieverständnis. - 2.2.1.2 Die Rezeption des Analogiekonzeptes durch Camerarius Kommen wir nun zu Camerarius: Der Widmungsbrief des für die Analogie zentralen Gedichtes Versus Senarii de analogiis beginnt mit bewundernden Worten über den Versuch der Pythagoreer, die ganze Welt mit Zahlen zu beschreiben, was natürlich überhaupt erst die Voraussetzung für das Wirken mathematischer Prinzipien wie das der Analogie darstellt. Einige Seiten später definiert Camerarius sie dann unter Nennung Platons als ein gewisses „Band zwischen allen Dingen, ohne das notwendigerweise alles in seine Teile aufgeht, zerfällt und zugrunde geht.“  470 Die Stelle selbst verweist auf die im Timaios beschriebene Schöpfung der Welt, 471 aber auch der Lobpreis der pythagorei‐ schen Philosophie weist auf dieses Werk, denn natürlich ist der Erzähler des platonischen Schöpfungsberichtes selbst Pythagoreer. Allein schon diese ersten Seiten legen also nahe, dass im Bereich der Naturkunde und Naturphilosophie platonisch-pythagoreische Vorstellungen für Camerarius, der sich etwa in der Schrift De natura et effectionibus daemonum als Anhänger der platonischen Lehre bezeichnet, 472 leitend waren und zwar insbesondere jene, die im Timaios beschrieben werden. Das freudige Aufgreifen pythagoreischer Lehren kenn‐ zeichnet aber auch den Neuplatonismus, 473 worauf noch zurückzukommen ist. Generell lässt sich leicht zeigen, dass Camerarius den Aufbau der Welt platonisch-pythagoreisch dachte, denn er diskutiert die im Timaios beschriebene Schöpfung der Welt mit Hilfe der Analogie in einem eigenen Abschnitt der 158 2 Die Übernahme des Prinzips der Analogie 474 Vgl. Platon, Timaeus 31b4-32c4 und Camerarius 1594, 30 f. bzw. 32 f. (= Kapitel E.7.1, Abschnitt 1). 475 Vgl. Camerarius 1594, 30-32 bzw. 32-35 (= Kapitel E.7.1). 476 Vgl. Proklos, In Timaeum, 2, 37, 15-2, 41, 14. 477 Vgl. Camerarius 1594, 31 bzw. 33 f. (= Kapitel E.7.1, Abschnitt 2). Dieser Irrtum lässt sich vielleicht auch auf Proklos‘ Timaioskommentar zurückführen, wo es heißt „Ὄκκελον, τὸν τοῦ Τιμαίου πρόοδον“ („Okellos, den Vorgänger des Timaios“; Proklos, In Timaeum, 2, 38, 1). Falls in der Camerarius vorliegenden Proklosausgabe oder -handschrift das Wort πρόοδος fehlte, wird aus dem „Vorgänger des Timaios“, der „Sohn des Timaios“. 478 Vgl. Camerarius 1594, 31 f. bzw. 32-35 (= Kapitel E.7.1, Abschnitt 1-2). Decuriae XXI συμμικτῶν προβλημάτων. Zunächst referiert er die Erschaffung der Welt, so wie sie im Timaios geschildert wird. 474 Anschließend bespricht er zwei Interpretationen, die den vier Elementen mehr als eine Qualität zuschrieben, nämlich die schon beschriebenen Ansätze des Okellos aus Lukanien und des Proklos. Camerarius diskutiert ihre Theorien, ohne sich gegen eine von ihnen direkt auszusprechen, hält aber den einfachsten Ansatz für den plausibelsten und meint damit das nicht erweiterte Konzept Platons. 475 Anlass und Vorbild für die Auseinandersetzung mit diesen Theorien war mit Sicherheit Proklos‘ Timaioskommentar (2, 37-41), in dem die verschiedenen Ansätze bereits disku‐ tiert worden waren. 476 Kommen wir zunächst zu Okellos, den Camerarius für den Sohn des Timaios hielt, also wohl einen echten Pythagoreer. 477 Sein System, das dem des Aris‐ toteles entspricht und den Elementen zwei Eigenschaften zuschreibt (denn Elemente hätten nur dann einen Grund, eine Verbindung miteinander ein‐ zugehen, wenn sie gemeinsame Eigenschaften aufwiesen), hält Camerarius prinzipiell auch für möglich, allerdings bevorzugt er die einfachere, sozusagen reinere Erklärung Platons. 478 Die Argumente des Proklos, der den Elementen drei Eigenschaften zuschrieb, teilt Camerarius nicht. Proklos ging, wie bereits erläutert, davon aus, dass in der Reihe der vier Elemente jeweils benachbarte Elemente stärker angezogen werden müssten, als sie sich abstießen. Deshalb nahm er drei Eigenschaften an. Für Camerarius ergibt sich allerdings keine Notwendigkeit einer dritten Qualität, da das Zusammengefügte nicht aus sich heraus die Festigkeit erhalte, sondern hauptsächlich durch den Willen Gottes. Dies legitimiert er, indem er nicht philosophisch argumentiert, sondern huma‐ nistisch-philologisch durch einen Verweis auf eine Stelle im Timaios Platons, wo der Demiurg zu den Göttern spricht: „Was von mir geschaffen wurde, wird nach meinem Willen unauflöslich sein. Denn alles, was zusammengebunden und verbunden ist, kann wieder aufgelöst werden. Aber es ist verwerflich, etwas auflösen zu wollen, was richtig zusammengefügt wurde und sich gut 2.2 Die Rezeption durch Camerarius 159 479 Vgl. Camerarius 1594, 31 f. bzw. 34 (= Kapitel E.7.1, Abschnitt 2) bzw. Platon, Timaeus 41a7-b6. 480 Vgl. Proklos, In Timaeum, 2, 39, 24-26. 481 Vgl. Kapitel C.2.2.1. 482 Vgl. Camerarius 1533, Bl. A4r-A5r (= Kapitel E.2.1, Abschnitt 5-6). 483 Streng genommen sind es im Timaios die Götter der Götter, die den Menschen erschaffen und nicht der Demiurg. Durch die christliche Sichtweise des Camerarius lässt sich diese Anpassung erklären. verhält. Deswegen seid ihr, die ihr erzeugt wurdet, nicht unsterblich und auch nicht unauflöslich; dennoch werdet ihr niemals aufgelöst, noch jemals das Schicksal des Todes erleiden müssen, da mein Wille für euch ein größeres und besseres Band sein wird, als die Bänder mit denen ihr zusammengebunden wurdet, als ihr geboren wurdet.“  479 Es gibt aber vielleicht noch einen weiteren Grund, warum er sich nicht für das komplexere Modell aussprach, und dies ist ein mathematischer. Proklos’ Ansatz ergibt nämlich Sinn, wenn man seine Begründung für die Existenz zweier Mitten zwischen ‚festen‘, d. h. dreidimensionalen Körpern / Zahlen auf die Elemente anwendet. Bei diesem oben bereits geschilderten Verfahren werden die beiden mittleren Körper so gewählt, dass sie jeweils die Grundfläche eines Außengliedes und die Höhe des anderen aufweisen. Dies entspricht den zwei gleichen Qualitäten und der einen unterschiedlichen Qualität zwischen benachbarten Elementen im Modell des Proklos. 480 Für Camerarius gab es aber keinen Grund, dieses Modell zu rezipieren, wenn er diesen mathematischen Grundlagen skeptisch gegenüberstand. Denn, wie bereits gezeigt, verband Camerarius dreidimensionale Zahlen über Linien, nicht über dreidimensionale Zahlen. 481 Fassen wir zusammen: Camerarius spricht sich für die einfache, also un‐ mittelbare Interpretation des platonischen Timaios aus. Das bei Okellos und Aristoteles überlieferte Modell hält er prinzipiell auch für möglich. Proklos’ Einwand, die beiden genannten Interpretationen seien insuffizient und ein eigenes Modell sei nötig, versucht Camerarius mit einem Verweis auf den Timaiostext zu entkräften. Auch an anderer Stelle beschreibt Camerarius die Schöpfung platonisch und bezieht sich auf die Analogie, nämlich im 1533 publizierten De Theriacis et Mith‐ ridateis Commentariolus. 482 Er stellt dort die Schöpfung des Menschen als quasi handwerklichen Prozess dar (fabricari / artificium), was an den Demiurgen Platons erinnert. 483 Zudem hebt er hervor, wie bewundernswert es sei, dass Gott ihrer Natur nach gegensätzliche Naturen perfekt miteinander verbinden konnte. Eben diese Funktion wird von Proklos und Camerarius (an verschie‐ 160 2 Die Übernahme des Prinzips der Analogie 484 Vgl. Proklos, In Timaeum, 2, 17, 20-2, 18, 8 sowie Camerarius 1554, Bl. A3v (= Kapitel E.5.1, Abschnitt 6), Camerarius 1554, Bl. A8v (= Kapitel E.5.2, Vers 87-92), Camerarius 1594, 30 bzw. 33 (= Kapitel E.7.1, Abschnitt 1). 485 Vgl. Camerarius 1533, Bl. A4r-A5r (= Kapitel E.2.1, Abschnitt 6). 486 Platon, Timaeus, 31c1-2. 487 Vgl. Camerarius 1554, Bl. A2r-A4r (= Kapitel E.5.1, Abschnitt 1-7). denen Stellen) als das wesentliche Merkmal der Analogie beschrieben. 484 Wenig später bezieht sich Camerarius dann auch wieder auf die Zahlenlehre antiker Philosophen (hier nennt er die Pythagoreer bzw. Platon also nur nicht beim Namen) und explizit auch auf das Konzept der Analogie. 485 Nun ergeben sich aus der Wirksamkeit der Analogie in der Welt bestimmte Implikationen für die Sicht auf die Welt und auf Gott. Man erwartet, dass sie für Camerarius doch ein hervorragendes Mittel sein müsste, um Wissen zu generieren, Phänomene innerhalb der Natur zu erklären, ja sogar die Schöpfung selbst zu verstehen. Einerseits ist das auch richtig, andererseits aber stößt die Analogie an ihre Grenzen, wenn es um Aussagen über die Schöpfung oder Gott geht. Warum das so ist, lässt sich nachvollziehen, wenn man Camerarius’ Aussagen über die wissensgenerierende Funktion der Analogie ordnet und vor dem Hintergrund des Platonismus zu verstehen sucht. Grundlegend für Camerarius ist die Vorstellung, dass die Welt aus unterschied‐ lichen Dingen und Elementen besteht. Normalerweise streben diese Dinge aufgrund ihrer gegensätzlichen Natur auseinander, da sich nur Gleichartiges verbinden lässt. Aber auch das Unterschiedliche kann eine Einheit eingehen, wenn es nur durch das richtige Band verbunden wird. Die Analogie, die genau das bewirkt, ist dabei eine so starke Mitte, dass sie eine geradezu perfekte Einheit schafft - nicht umsonst heißt es im Timaios Platons: „das schönste Band, das sich selbst und die verbundenen Dinge so gut wie möglich zu einem macht.“ 486 Voraussetzung für diese Perfektion und überhaupt für die Anwendung der Analogie durch den Menschen ist die Möglichkeit, die Welt mit Zahlen zu beschreiben, so wie es die Pythagoreer versuchten. Die Mathematik macht dabei die Welt überhaupt erst für den menschlichen Verstand erfassbar, da sie Stabilität in einer aus Unterschiedlichem bestehenden Welt schafft und Orientierung bietet. Nur durch sie kann der Mensch sicheres Wissen erwerben und muss nicht mehr haltlosen, irrigen Meinungen erliegen. Für Camerarius ist in diesem Zusammenhang die Analogie ein ganz zentrales Prinzip zur Gewinnung von Erkenntnissen jeglicher Art, da sie den Gegebenheiten eines aus Gegensätzen konstituierten Kosmos gerecht wird: Nur sie erlaubt es, die unterschiedlichen Elemente zu verbinden, und zwar zu einer harmonischen, perfekten Einheit. 487 2.2 Die Rezeption durch Camerarius 161 488 Vgl. Camerarius 1554, Bl. A2v (= Kapitel E.5.1, Abschnitt 2): „Quae quidem ut et Deo aeterno placere scimus, quippe edictione et legibus illius sancita, utque beatam in terris vitam his perfici manifestum est, ita cum ad favorem et certam gratiam Dei tum nostram salutem et veram felicitatem aliam viam ingrediendam esse ipsius aeterni Dei sermone docemur, magistro quidem et interprete filio Dei, unico Domino nostro Iesu Christo,-cuius qui servos sese perhiberi cupiunt, coelestem doctrinam non debent confundere cum humana.“ 489 Vgl. Camerarius 1554, Bl. A3r-A4r (= Kapitel E.5.1, Abschnitt 5-7). 490 Camerarius 1554, Bl. A3r/ v (= Kapitel E.5.1, Abschnitt 5.; dort mit Übersetzung und Anmerkungen). Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass allem, was perfekt ist, die Analogie zugrunde liegt und man, um sie zu verstehen, nur die einzelnen Bestandteile eines perfekten Etwas kennen und in das rechte Verhältnis bringen muss. Insofern stellt die Analogie einen Königsweg zur Erkenntnis der Natur dar, hat zugleich aber auch zentrale Bedeutung für andere Bereiche. Da die Analogie den Zusammenhalt der Welt garantiert und ihr Wirken vom Menschen erkannt werden kann, könnte man vermuten, dass sie Rückschlüsse über das Wirken Gottes zulässt. Dies ist allerdings nicht der Fall: Für Camerarius ist ganz deutlich die göttliche Ordnung in der Welt erkennbar - und die Analogie ist selbstverständlich ein wirksames Mittel, um auf sie aufmerksam zu machen -, aber diese Ordnung kann man nur erkennen und bewundern. Die Analogie lässt keine Rückschlüsse auf das Göttliche selbst zu. Dass sie sich hier letztlich insuffizient zeigt, ist einerseits sicherlich christlich begründet. Camerarius unterscheidet in diesem Zusammenhang explizit zwischen der himmlischen und menschlichen Lehre 488 und weist die Analogie der zweiten zu. 489 Andererseits erklärt er diesen Umstand auch mathematisch durch das Wesen dieses Prinzips selbst. Dazu müssen wir eine zentrale, aber ohne Kontext missverständliche Passage aus den Versus senarii de analogiis betrachten: Sola igitur divina iam excluduntur, quae simplicia sunt et unius modi et aeterna et immensa, quibusque congruit, quicquid de aequalitate, paritate, similitudine, quam ad unum recidere necesse est, cogitari dicive potest. Sicut enim unum ad unum, ita proportione rursum unum ad unum sese habere reperitur. Hoc autem quid sit nisi unum? Idque ipsum unum quid sit, explicari et constitui nequit, vel enarrando vel cogitando. Itaque de Deo quid non sit magis quam quid sit possumus suspicari. Haec igitur iam captum humanum effugiunt et supra coelum evolant et sequentium oculorum aciem destituunt, Nominis inquam divini et aeternitatis, et huiuscemodi notiones. 490 162 2 Die Übernahme des Prinzips der Analogie 491 Vgl. Camerarius 1594, S. 46 und 50 (= Kapitel E.7.2, Abschnitt 8) und Proklos, In Timaeum 2, 20, 1-9. Camerarius schreibt in diesen Zeilen, dass man mithilfe der Analogie das Gött‐ liche nicht beschreiben könne. Das Göttliche sei einfach, von einer Art, ewig und unermesslich und mit ihm stimme überein, was man über die aequalitas, paritas und similitudo sagen könne. Was sollen diese drei Begriffe bedeuten? Tatsächlich sind sie hier nicht nur einfach Synonyme, sondern lateinische Übersetzungen für die Termini, die Proklos den drei Formen der Analogie gibt, nämlich ἰσότης (für die arithmetische Analogie), ταὐτότης (für die geometrische Analogie) und ὁμοιότης (für die harmonische Analogie). Dies kann deshalb als sicher gelten, weil Camerarius in den Decuriae XXI συμμικτῶν προβλημάτων die drei Formen der Analogie, genauso wie Proklos, als drei Arten von Gleichheit bezeichnet und dabei dieselbe griechische Terminologie benutzt. Die arithmetische Analogie bezeichnet er als ἰσότης, die harmonische als ὁμοιότης und die geometrische als ταὐτότης. Die ersten beiden übersetzt er dann auch passenderweise mit aequalitas und similitudo. Der Begriff paritas für die geometrische fällt zwar nicht, Camerarius gebraucht hier eine Umschreibung mit dem Ausdruck eadem ratio.  491 Aber es ist gut vorstellbar, dass er in den Versus senarii eine griffigere Übersetzung gebrauchen wollte und daher ταὐτότης mit paritas wiedergab. Welche Konsequenzen ergeben sich nun aus diesen Annahmen für die Interpretation des oben angeführten Textausschnittes des Camerarius? Der Nebensatz quam ad unum recidere necesse est bedeutet, dass letztlich alle Formen der Analogie auf Eins heruntergekürzt werden können, da sie Formen von Gleichheit sind. Camerarius vergleicht in diesem und dem folgenden Satz jeweils das Eine mit der Analogie: So wie im Einen eine Relation von 1 zu 1 herrscht (da es sich selbst gleich ist), die man auf Eins herunterkürzen kann, so hat man auch in der Analogie zwei Relationen, die zueinander in einem Verhältnis von 1 zu 1 stehen und letztlich auf Eins heruntergekürzt werden können: Bei der geometrischen Mitte stehen zwei Verhältnisse in einer Relation von 1 zu 1, bei der arithmetischen Analogie die numerischen Abstände und bei harmonischen die gleichen Verhältnisse der Außenglieder im Abstand zur Mitte. Dies hat weitreichende Folgen für die Erkenntnismöglichkeiten der Analogie, denn tatsächlich erklärt Camerarius in diesem Absatz aus der mathematischen Natur der Analogie heraus, warum sie auf das Eine zurückführt, aber zugleich bei dem Hinweis auf das Eine endet und keine weiteren Erkenntnisse darüber hinaus ermöglicht: Weil in der Analogie, die alles in der Welt zusammenhält, eine Form der Gleichheit herrscht, kann man sie letztlich auf eins / das Eine zurückführen, aber mehr Erkenntnisse kann man nicht gewinnen, denn was 2.2 Die Rezeption durch Camerarius 163 492 Vgl. Proklos, In primum Euclidis librum, 4, 11-14 sowie das in dieser Arbeit enthaltene Kapitel über Proklos. 493 Vgl. Camerarius 1554, Bl. A8r (= Kapitel E.5.2, Vers 65-79), Camerarius 1554, Bl. B4r/ v (= Kapitel E.5.3, Abschnitt 4) und Camerarius 1594, 45 f. bzw. 49 f. (= Kapitel E.7.2, Abschnitt 6), sowie Proklos, In Timaeum, 2, 18, 20-2, 20, 9. wollte man schon über die Zahl eins / das Eine aussagen können? Es zeigt sich deutlich, dass Camerarius die Analogie als zugleich in der Welt immanentes, wie transzendentes Prinzip dachte. Er erklärt also zugleich ihren quasi göttlichen Charakter wie auch ihre Insuffizienz für die Klärung von Fragen über das Göttliche. Die Analogie erfüllt damit für Camerarius dieselbe Funktion, die Proklos im Speziellen ihr, aber auch der Mathematik als Ganzer zuschreibt: Sie führt alles auf das Eine zurück bzw. geht vom Einen aus, wie er im Vorwort seines Euklidkommentars erklärt. 492 Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass Camerarius, wie er selbst schreibt, von Proklos die etwas umständlich wirkende Herleitung der einzelnen Analogieformen von Einheiten übernommen hat. Diese Begründungen funktionieren nach dem folgenden Muster für alle drei Analogien, wobei es genügen soll, das Vorgehen anhand der arithmetischen Analogie zu verdeutlichen: Man nimmt drei Einheiten 1, 1, 1 und setzt dann die erste Zahl der ersten Einheit gleich, die zweite zweimal der zweiten Einheit, und die dritte Zahl dreimal der dritten Einheit: 493 1 : 1 : 1 1 : 2 : 3 Diese Argumentationsweise ist nun einerseits dem Versuch geschuldet, jede der drei Zahlen als das Vielfache einer Einheit zu beschreiben, also vom göttlichen Einen herzuleiten, anderseits soll so gezeigt werden, dass ebenso, wie zwischen den Zahlen 1, 1, 1 jeweils Verhältnisse von 1 : 1 herrschen, die sich auf 1 zurückkürzen lassen, zwischen drei korrekt abgeleiteten anderen Zahlen ebenfalls zwei Verhältnisse herrschen, die miteinander vergleichbar sind. Ausschlaggebend ist die Vorstellung, dass das göttliche Eine homogen ist und in ihm eine Proportion von 1 : 1 herrscht, die letztlich auf 1, also das Eine zurückgekürzt werden kann. Die Natur der Analogie bedingt also, wie gezeigt, ihre Insuffizienz im Hinblick auf die letzten Fragen und das Göttliche. Nun müsste man annehmen, dass sie wenigstens im weltlichen Bereich als das Erkenntnismittel par excellence gelten müsste. Sehen wir also, was Camerarius dazu schreibt. Sowohl im De Theriacis et Mithridateis Commentariolus als auch in den Versus senarii de analogiis sind 164 2 Die Übernahme des Prinzips der Analogie 494 Vgl. Camerarius 1533, Bl. A4v (= Kapitel E.2.1, Abschnitt 6). 495 Vgl. Camerarius 1554, Bl. A2r-A3r (= Kapitel E.5.1, Abschnitt 1-4). hier die grundsätzlichen Aussagen ähnlich: Die Analogie bzw. die Mathematik überhaupt gerät an ihre Grenzen, wenn sie die Schöpfung beschreiben soll. Folgerichtig wird in beiden Schriften auch das Bestreben der Pythagoreer, alles mit Hilfe von Zahlen und Verhältnissen darzustellen, ausdrücklich als Versuch bezeichnet. Allerdings gehören die Arithmetik und Geometrie zu den zuverlässigsten Künsten und ihre Ergebnisse sind für jeden augenscheinlich (De Theriacis). 494 In den Versus senarii de analogiis geht Camerarius sogar noch weiter: Ohne die Mathematik, die allein die Zuverlässigkeit von Erkenntnissen gewährleistet, gehen alle Wissenschaften und Erkenntnismethoden unter. Wie bei Platon und Proklos nimmt die Mathematik dabei eine Art Zwischenstellung zwischen der Materie und dem Einen ein, wie man aus der Aussage schließen kann, dass ihnen eine einfachere Natur (simplicior natura) eignet. Die Zahlen wurden laut Camerarius von der Philosophie auf die Materie übertragen, um zu möglichst direkten und anschaulichen Erkenntnisse zu gelangen: Insbesondere in der Geometrie werden dann diese Zahlen und Zahlenverhältnisse für den In‐ tellekt sicht- und nutzbar gemacht. Der Mensch kann gar nicht mehr anders, als staunend zu erkennen, dass die Welt nach einer perfekten Ordnung geschaffen wurde. 495 Prinzipiell ist dieses Verständnis der Mathematik kompatibel mit dem pla‐ tonischen Ansatz, der die Mathematik dem Verstand (διάνοια) zuordnet und über dem Mutmaßen (εἰκασία) und Glauben (πίστις) anordnet, insofern ja auch bei Camerarius die Mathematik eine einfachere Natur hat, also dem Einen nähersteht als andere Erkenntnisformen. Der Umstand, dass Camerarius behauptet, die Philosophie habe die Mathematik auf die Materie übertragen, legt nahe, dass sie eine gewisse Vorrangstellung gegenüber der Rechenkunst hat. Zudem gestattet die Mathematik, so Camerarius, keine Aussagen über das Eine / Gott. Dies entspricht in gewisser Weise dem platonischen Modell, in dem die Dialektik bzw. die Vernunft (νοῦς) an höchster Stelle steht. Dennoch lässt sich Platons Modell sicherlich nicht 1 zu 1 auf Camerarius übertragen, da für diesen Erkenntnisse über Gott nur durch das Evangelium ermöglicht werden. Seine dürftigen und verstreuten Aussagen zu diesem Thema erlauben hier keine weiteren Spekulationen, dennoch ist seine Einordnung bzw. Wertung der Mathematik derjenigen Platons sehr ähnlich. Eng verknüpft mit der Frage nach den Erkenntnismöglichkeiten und -grenzen ist die Frage nach dem Aufbau und der Ordnung der Natur. Für Camerarius herrscht in der Natur Unähnlichkeit, Ungleichheit und Unbeständigkeit. Ein‐ 2.2 Die Rezeption durch Camerarius 165 496 Vgl. Camerarius 1554, Bl. A2r-A4r (= Kapitel E.5.1, Abschnitt 1-6). 497 Vgl. Proklos, In Timaeum, 2, 13, 15-2, 14, 2; 2, 16, 29-31; 2, 18, 29-2, 19, 3. Vgl. Auch Kapitel C.2.2.1.1. 498 Vgl. Camerarius 1554, Bl. A2r (= Kapitel E.5.1, Abschnitt 1). ander verschiedene Dinge sind nun allerdings quantifizierbar, insofern sie mehrere Einheiten sind, sich also vom Einen wie von einem festen Bezugspunkt herleiten lassen. Dies erst ermöglicht es, sie einander in Bezug zu setzen und sie durch die Analogie miteinander zu verbinden, die sie wie ein Band miteinander zu einer neuen Einheit verknüpft. Dadurch entsteht Beständigkeit und Stabilität in der Welt. Dies ist dann wiederum Voraussetzung für dauerhafte und zuverlässige Erkenntnisse. All dies geschieht nach dem Willen und der Vorherbestimmung (praefinitio) des Demiurgen. 496 Auch diese Sichtweise ist vereinbar mit den Vorstellungen des Proklos und wird vor dem Hintergrund seiner Aussagen vielleicht etwas deutlicher. In seinem Timaioskommentar erklärt er nämlich, warum in der Welt sowohl Unterschiedliches als auch das Eine existieren muss und warum nur die Ana‐ logie Stabilität garantieren und Orientierung bieten kann. Für Proklos ist die Zweiheit, die aus einander gänzlich entgegengesetzten Dingen besteht, Voraus‐ setzung jeglicher Veränderung und Entstehung in der Welt. Es gibt allerdings auch keine Verbundenheit und nichts Dauerhaftes. Durch die zwischen die Zweiheit tretende Analogie wird Einheit bewirkt, das Verschiedene verbunden und Stabilität geschaffen. Beides, Zweiheit und Einheit, ist also nötig für das Funktionieren der Welt. 497 Es ist interessant und, wie wir sehen werden, für das Kunstverständnis des Ca‐ merarius relevant, dass die Ordnung der Welt in gewisser Weise mit dem Denken des Menschen korreliert. Wie in der Welt Bewegung und Unruhe ohne Bezug auf das Eine herrschen, so ist das Denken (animus / mens et cogitatio) des Menschen unruhig und schwankt hin und her. Erst durch die Mathematik, (die, so wird man ergänzen können, es ermöglicht, alles auf das Eine zu beziehen) erreicht der Verstand sichere Erkenntnis. Camerarius drückt dies durch das Wort ἐπιστήμη aus, das er von στάσις (‚Stehen‘) herleitet, während er unsichere Erkenntnis mit Verben der Bewegung und Unruhe beschreibt (vagari / titubare / alucinari). 498 Das Denken des Menschen kommt also zur Ruhe, wenn er feste Erkenntnis erlangt, weil sich der Betrachter dem Betrachteten, das einen Bezug zum Einen aufweist, angleicht. Auch dieser Prozess der Angleichung des Denkens an die Natur ist prinzipiell schon im Platonismus angelegt, was angesichts der Tatsache, dass dort der Aufbau von Weltseele und Weltkörper dem der Seele und des Körpers des 166 2 Die Übernahme des Prinzips der Analogie 499 Übersetzung von Hieronymus Müller, vgl. Eigler 2011, 205. Menschen entspricht, nicht allzu sehr überraschen dürfte. So hat für Platon etwa der Sternenhimmel wegen der in ihm sichtbaren göttlichen Ordnung eine ganz besondere Bedeutung, wie aus Timaios 90c8-7d hervorgeht: ἡμῖν θείῳ συγγενεῖς εἰσιν κινήσεις αἱ τοῦ παντὸς διανοήσεις καὶ περιφοραί· ταύταις δὴ συνεπόμενον ἕκαστον δεῖ, τὰς περὶ τὴν γένεσιν ἐν τῇ κεφαλῇ διεφθαρμένας ἡμῶν περιόδους ἐξορθοῦντα διὰ τὸ καταμανθάνειν τὰς τοῦ παντὸς ἁρμονίας τε καὶ περιφοράς, τῷ κατανοουμένῳ τὸ κατανοοῦν ἐξομοιῶσαι κατὰ τὴν ἀρχαίαν φύσιν, ὁμοιώσαντα δὲ τέλος ἔχειν τοῦ προτεθέντος ἀνθρώποις ὑπὸ θεῶν ἀρίστου βίου πρός τε τὸν παρόντα καὶ τὸν ἔπειτα χρόνον. „Nun sind die Gedanken und Umläufe des Alls dem Göttlichen in uns verwandte Bewegungen. Diesen muß jeder folgen, die bei unserem Entstehen in unserem Kopfe verdorbenen Umläufe dadurch wieder in Ordnung bringen, daß er Harmonien und Umläufe des Alls erkennen lernt, und muß so dem Wahrgenommenen das Wahrnehmende seiner ursprünglichen Natur gemäß ähnlich machen, durch diese Verähnlichung aber das Ziel jenes Lebens erreicht haben, welches den Menschen von den Göttern als bestes für die gegenwärtige und die künftige Zeit ausgesetzt wurde.“ 499 Wie im Fall der Mathematik die geistige oder geometrisch-visuelle Betrachtung eine Angleichung an das Betrachtete ermöglichte, ist es hier die visuelle Betrach‐ tung des Sternenhimmels. Zwar fehlt der Aspekt der Ruhe, aber Platon zeigt doch etwas auf, das auch für Camerarius gelten könnte: Durch das visuelle oder geistige Betrachten vollkommen harmonischer Dinge nähert sich das Denken im Rahmen des Assimiliationsprozesses gleichsam seiner ursprünglichen Natur an. Fassen wir also zusammen: Auch wenn Camerarius viel über die Analogie ge‐ schrieben hat und sie ein geeignetes Mittel zur Beschreibung und Erschließung vieler Dinge ist, darf man nicht übersehen, dass er an keiner Stelle anstrebt, ein System darzustellen. Teilweise will er nur Einzelphänomene beschreiben, teilweise kommentiert er lediglich eine Passage aus Platons Timaios. Dennoch wurde Folgendes deutlich: Das Analogiekonzept ist im Bereich der Naturkunde stark von platonischen Vorstellungen geprägt. Proklos spielt eine große Rolle, wenn es um die onto‐ logische Begründung der Analogie geht, was allerdings auch der Tatsache geschuldet sein mag, dass kaum ein anderer antiker Platoniker so ausführlich über dieses Thema schrieb. Bei der Interpretation des platonischen Schöpfungs‐ berichtes im Timaios hingegen scheint Camerarius eher bestrebt gewesen zu 2.2 Die Rezeption durch Camerarius 167 500 Vgl. Camerarius 1533, Bl. A4r-A5r. 501 Vgl. Kapitel C.2.2.1.1, sowie Kühn 3, 76, 16-77, 11; 157, 12-158, 17; 217, 1-16; 859, 12-860, 8; 891, 11-892, 17. sein, zu einer möglichst reinen Lehre zurückzukehren. Die Analogie hat für Camerarius eine ganz zentrale Bedeutung, da sie es erlaubt, den Aufbau der Welt nachzuvollziehen. Wie eine Kette oder ein Band verbindet sie nämlich die verschiedensten Dinge zu einer Einheit und schafft Ordnung und Stabilität in der Welt. Als in der Welt immanentes Prinzip ist sie sozusagen der Königsweg zur Erkenntnis derselben, da sie es erlaubt, alles auf Gleichheit und Einheit zurückzuführen. Dort endet allerdings die Erkenntnis: Sie gestattet keine Er‐ kenntnis des Einen selbst. Das Eine bleibt transzendent. - 2.2.1.3 Die Anwendung der Analogie im Bereich der Naturkunde Auch wenn, wie gezeigt, die Analogie in Bezug auf das Eine insuffizient sein mag, so versteht Camerarius dennoch ihre göttliche Natur gleichsam als Impe‐ rativ, sie zu beachten und bei der Anwendung größte Sorgfalt walten zu lassen. Dies wird deutlich, wenn man den De Theriacis et Mithridateis Commentariolus betrachtet, in dem Camerarius bewusst die Schöpfung des Menschen durch den Demiurgen mit der Herstellung von Medikamenten parallelisiert, indem er beide Akte nebeneinanderstellt und für sie sogar dieselben Wörter verwendet (corpus, convenire, componere usw.). Zudem bezeichnet er die Erfinder dieser Medika‐ mente als quasi göttlich. Wenn er anschließend Apotheker tadelt, die diese Medikamente aus Raffgier schlampig herstellen, werden diese somit implizit als Frevler getadelt, während demgegenüber die Beachtung der Analogie - auch bei der Herstellung von Medikamenten - schon regelrecht etwas Religiöses ist. Die Herstellung von Medikamenten und die Schöpfung des Menschen gleichen sich dabei insofern, als in beiden Fällen gänzlich verschiedene Naturen miteinander durch die Analogie verbunden werden müssen. Während der Demiurg (wie in Platons Timaios) Feuer und Erde miteinander vereint, verbindet der Apotheker z. B. warme und kalte Ingredienzien - also einander widerstrebende Stoffe - zu einem harmonischen Ganzen, das perfekt seinen Zweck erfüllt. Die Analogie gibt dabei ihr Mischungsverhältnis an, indem sie deren verschiedene Qualitäten auf ein Mittleres hin ausgleicht. 500 Prinzipiell ist die Verwendung der Analogie bei der Medikamentenherstel‐ lung bereits bei Galen angelegt. Auch die Schöpfung des menschlichen Körpers mithilfe dieses Konzepts wird an mehreren Stellen von Galen hymnisch ge‐ priesen. 501 Allerdings vergleicht Galen in diesen Passagen nicht die Schöpfung des Menschen mit der Herstellung von Medikamenten. Wenn Camerarius diesen Vergleich nicht von Galen hat, könnte man vielleicht denken, dass Camerarius 168 2 Die Übernahme des Prinzips der Analogie 502 Vgl. Camerarius 1554, Bl. E2v-E3v sowie Bl. E5r (= Kapitel E.5.4). 503 Vgl. Camerarius 1554, Bl. E3v und Bl. E5r (= Kapitel E.5.4, Vers 46-52 (zur arithmetischen Analogie) und Vers 53-61 (zur geometrischen Analogie)). 504 Vgl. Camerarius 1554, Bl. B1v-B3r und B4v-B5v (= Kapitel E.5.2, V. 135-192 und E.5.3, Abschnitt 5). 505 Aspekte sind in der Astrologie bestimmte als Winkel darstellbare Konstellationen zwischen Planeten und der Erde. Ihnen schrieb man einen besonderen Einfluss auf die sublunaren Dinge und das Schicksal der Menschen zu. hier neue, eigene Gedanken darstellt. Dagegen spricht aber die Tatsache, dass er diese durchaus gewagte Nebeneinanderstellung mit einer gewissen Selbstver‐ ständlichkeit und ohne längeres Beweisverfahren oder Erörterungen anstellt. Vor diesem Hintergrund ist nicht unwahrscheinlich, dass dieser Vergleich bereits vorher von anderen gezogen und dem gebildeten Leser bekannt war. Wir werden darauf bei der Besprechung des Konzeptes von Ficino zurückkommen. Der Zubereitung von Medikamenten kommt die Herstellung von Tinte sehr nahe, die Camerarius in einem eigenen Gedicht mit dem Titel Σκευασία μέλανος γραφικοῦ κατὰ διαφόρους τρόπους (Herstellung von Schreibtinte auf verschiedene Art und Weisen) beschreibt, das im Druck Versus senarii de analogiis enthalten ist. 502 Auch dort verweist er auf die Bedeutung passender Verhältnisse und bezieht sich auf die arithmetische und geometrische Analogie, die sich etwa im Mischungsverhältnis der enthaltenen festen Stoffe zeigt: In Form der arithmetischen Analogie angeordnet sind (zwei Teile Gummi zu vier Teilen Vitriol zu sechs Teilen Eichengalle) oder in Form der geometrischen Analogie (z. B. acht Teile Eichengalle zu vier Teilen Gummi zu zwei Teilen Vitriol). 503 Ein weiterer, komplexerer Anwendungsfall ergibt sich im Bereich der As‐ trologie: In dem Gedicht Versus senarii de analogiis und der dazugehörigen Explicatiuncula  504 erklärt Camerarius, warum den Aspekten 505 im Vergleich zu anderen Konstellationen besondere Bedeutung zukommt. Ihnen liegt die arithmetische, geometrische und harmonische Analogie zugrunde. Camerarius veranschaulicht dies anhand eines Modells, in dem er den Himmel als Kreis mit der Erde als Mittelpunkt denkt, wobei die einzelnen Planeten bzw. Sonne / Mond als auf diesem Kreis liegende Punkte gedacht werden. Die Verbindungslinien dieser Punkte mit dem Mittelpunkt bilden Winkel, die zueinander in Bezug ge‐ setzt werden können. Als im Aspekt stehend gelten nun zwei Punkte / Planeten, wenn sie einen Winkel von 180°, 120°, 90° oder 60° bilden. Wenn der Winkel 180° beträgt, liegen die Punkte auf dem Durchmesser und man spricht von Opposition. Bei einem Winkel von 120° bildet die Verbindungslinie der beiden Punkte die Außenseite eines Dreiecks, wozu man gedanklich einen dritten Punkt auf dem Kreis im gleichen Winkel zu den anderen beiden ergänzt. Man spricht 2.2 Die Rezeption durch Camerarius 169 folglich vom Trigon. Zwei Punkte, die zueinander in einem 90° Winkel stehen, bilden die Außenseite eines Vierecks, wenn man zwei weitere Punkte hinzufügt, die jeweils in einem Winkel von 90° zu jeweils einem der anderen beiden Winkel stehen. Dieser Aspekt wird auch als Quadrat bezeichnet. Entsprechendes gilt für den 60°-Winkel, der die Außenseite eines Sechsecks bildet. Man spricht vom Sextil. Die folgenden Zeichnungen sollen dies veranschaulichen (vgl. Abb. 1): Abb. 1: Aspekte Die besondere Bedeutung dieser Aspekte legitimiert Camerarius umständlich unter Zuhilfenahme der drei Analogiearten. Über die arithmetische Analogie lassen sich Sextil (60°), Quadrat (90°) und Trigon (120°) in Einklang bringen, da der arithmetische Unterschied der Winkel jeweils 30° beträgt (vgl. Abb. 2). Abb. 2: Arithmetische Analogie Über die geometrische Analogie ist das Quadrat (90°) mit der Opposition (180°) und dem ganzen Kreis (360°) verbunden, wenn man die Gradzahl der Winkel jeweils mit dem Faktor zwei multipliziert bzw. dividiert. Ebenso lassen sich 170 2 Die Übernahme des Prinzips der Analogie Trigon (120°) und Sextil (60°) miteinander in Einklang bringen, wenn sie in Bezug zu dem Teil des Kreises gedacht werden, der vom Trigon nicht eingenommen wird (240°). Auch hier werden die Winkel durch zwei multipliziert oder dividiert (vgl. Abb. 3). Abb. 3: Geometrische Analogie In harmonischer Analogie steht die Zahl der Außenseiten des Trigons, des Quadrats und des Sextils, im Verhältnis 3 zu 4 zu 6 (vgl. Abbildung 4). Abb. 4: Harmonische Analogie Camerarius begründet durch die Verwendung der drei Arten der Analogie, warum es sich gerade bei den Aspekten um besonders wirkungsvolle Konstel‐ lationen handelt. Für Camerarius sind dieselben Aspekte wichtig wie für Ptolemaios. Er schreibt jedoch, er verwende eine eigene, einfacher zu verstehende Methode. Ptolemäus hatte nämlich die Aspekte ebenfalls anhand des Verfahrens der 2.2 Die Rezeption durch Camerarius 171 506 Vgl. Ptolemaios, Apotelesmatica (= Tetrabiblos), 1, 14). 507 Vgl. Platon, Timaeus 90d und die Erörterungen zum theoretischen Analogiekonzept im letzten Kapitel. 508 Vgl. Baltzly 2007, 27. 509 Vgl. Platon, Timaeus 90d und die Erörterungen zum theoretischen Analogiekonzept im letzten Kapitel. 510 Vgl. Camerarius 1554, Bl. A6v-B3r (= Kapitel E.5.2). harmonischen Analogie erklärt, dabei aber auf Tonverhältnisse (wie Quart und Quinte) verwiesen. 506 Aus heutiger Sicht wirken die mathematischen Beweisverfahren des Came‐ rarius einigermaßen willkürlich. Man kann sie allerdings besser nachvollziehen, wenn man bedenkt, dass für Camerarius alle drei Formen der Analogie in der Welt immanente Prinzipien sind, d. h. alle drei Formen müssen in der Welt wirken und zumindest rudimentär erkennbar sein. Dies gilt umso mehr für den Sternenhimmel, der ja, wie bereits gezeigt, eine besondere Bedeutung für die Platoniker hatte, da in diesem wunderschönen Objekt die göttliche Ordnung besonders gut sichtbar ist. 507 Vor diesem Hintergrund lässt sich gut verstehen, warum seine mathematischen Legitimierungsversuche auf alle drei Analogien abzielen. Im Platonismus bewirken die Beobachtung und das Studium des Himmels eine Angleichung des Betrachters an die göttliche Ordnung des Betrachteten. Da‐ durch wird der Mensch seinem ursprünglichen göttlichen Selbst ähnlicher (und zwar in psychischer wie auch in physischer Hinsicht) 508 und führt das bestmög‐ liche Leben, das ihm von den Göttern vorgesehen wurde. 509 Der Beobachtung des Himmels eignet damit gewissermaßen eine transformativ-assimilierende Wirkung, aber indirekt auch eine ethische Komponente, und dies leitet zum nächsten Kapitel über. 2.2.2 Rezeption im Bereich der Ethik Wenn schon im Bereich der Naturkunde die Analogie zu einem bestimmten Verhalten verpflichtet, dann gilt dies umso mehr für den Bereich der Ethik. In seinem Gedicht Versus senarii de analogiis  510 preist Camerarius sie nämlich nicht nur in höchsten Tönen, sondern schildert auch, wie durch sie Gerechtigkeit und Freundschaft in der Gesellschaft herrscht, ohne sie aber Ungerechtigkeit, Verbrechen, Unvernunft und Unwahrheit, also allgemein Chaos und die Verkeh‐ rung alles Guten ins Gegenteil. Wie aber kommt Camerarius auf diese Idee? Was hat ein mathematisches Prinzip, das man zur Beschreibung von Verhältnissen in der Natur nutzen kann, mit Gerechtigkeit und Freundschaft zu tun? 172 2 Die Übernahme des Prinzips der Analogie 511 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik 5 1129 a-1138 b, insbesondere Kapitel 6-8 1131 a 10-1133 b 28. Zur Gerechtigkeit bei Aristoteles vgl. z. B. Bien 1995. Die Bücher 5-7 der Nikomachischen Ethik sind identisch mit Buch 4-6 der Eudemischen Ethik. Es ist unklar, zu welchem der beiden Werke die Bücher ursprünglich gehörten (Vgl. Wolf 2018, S. 10). Im Folgenden wird der Einfachheit halber nur von Büchern der Nikomachischen Ethik gesprochen. 512 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik 5, 1, 2 1129 a 6-11: „ὁρῶμεν δὴ πάντας τὴν τοιαύτην ἕξιν βουλομένους λέγειν δικαιοσύνην, ἀφ‘ ἧς πρακτικοὶ τῶν δικαίων εἰσὶ καὶ ἀφ’ ἧς δικαιοπραγοῦσι καὶ βούλονται τὰ δίκαια· τὸν αὐτὸν δὲ τρόπον καὶ περὶ ἀδικίας, ἀφ‘ ἧς ἀδικοῦσι καὶ βούλονται τὰ ἄδικα. διὸ καὶ ἡμῖν πρῶτον ὡς ἐν τύπῳ ὑποκείσθω ταῦτα.“ (Übersetzung von Wolf 2016, 159: „Nun sehen wir, dass alle mit Gerechtigkeit diejenige Disposition meinen, die Menschen so beschaffen macht, dass sie das Gerechte tun, das heißt auf gerechte Weise handeln und Gerechtes wünschen. Auf dieselbe Weise versteht man unter Ungerechtigkeit diejenige Disposition, die Menschen Unrecht tun und Ungerechtes wünschen lässt. Das soll daher auch für uns als grob umrissener Ausgangspunkt zugrunde gelegt werden.“). 513 Dass eine gute Erziehung dazu geeignet ist, die Gutheit des Charakters als dauerhafte Disposition auszubilden, erläutert Aristoteles in Buch 2 der Nikomachischen Ethik. Vgl. aber z. B. auch die folgende Aussage, die sich auf die Erziehung der Gemeinschaft als ganzer bezieht (Nikomachische Ethik 5, 5, 4 1130 b 25): „τὰ δὲ ποιητικὰ τῆς ὅλης ἀρετῆς ἐστὶ τῶν νομίμων ὅσα νενομοθέτηται περὶ παιδείαν τὴν πρὸς τὸ κοινόν.“ (Übersetzung von Wolf 2006, 166: „Was aber diese ganze Gutheit des Charakters hervorbringt, sind diejenigen Gesetzesvorschriften, die im Hinblick auf die Erziehung für die Gemeinschaft erlassen sind.“). 514 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik 5, 2 1129 a 26-1129 b 1, insbesondere 5, 2, 1 b 1129 a 34-1129 b 1: „τὸ μὲν δίκαιον ἄρα τὸ νόμιμον καὶ τὸ ἴσον, τὸ δ‘ ἄδικον τὸ παράνομον καὶ τὸ ἄνισον.“ (Übersetzung von Wolf 2006, 161: „Das Gerechte ist also das Gesetzliche und das Gleiche, das Ungerechte das Gesetzwidrige und Ungleiche.“). 515 Aristoteles, Nikomachische Ethik 5, 3, 1 1129 b 25-27: „αὕτη μὲν οὖν ἡ δικαιοσύνη ἀρετὴ μέν ἐστι τελεία, ἀλλ‘ οὐχ ἁπλῶς ἀλλὰ πρὸς ἕτερον.“ (Übersetzung von Wolf 2006, 162). 2.2.2.1 Gerechtigkeit und Freundschaft bei Aristoteles Zur Beantwortung dieser Fragen ist es zunächst nötig, die Analogie aus einer anderen Perspektive zu betrachten, nämlich aus der des Aristoteles, der im fünften Buch seiner Nikomachischen Ethik die Gerechtigkeit erörtert. 511 In seinen einleitenden Worten beschreibt er diese Tugend als eine charakterliche Disposition (ἕξις), 512 die man durch entsprechende Erziehung ausbildet. Man lernt also durch die entsprechende παιδεία das Gerechte zu lieben und zu wollen. 513 Dabei unterscheidet er zwischen zwei Formen der Gerechtigkeit, nämlich zwischen dem Gesetzmäßigen und dem Gleichen. 514 Ersteres ist durch die Beachtung der Gesetze gekennzeichnet. Es hat eine zentrale Bedeutung, da es alle anderen Tugenden umfasst. Es sei „die vollkommene Gutheit des Charakters, jedoch nicht absolut gesehen, sondern in Bezug auf den anderen Menschen.“ 515 , d. h. es ist anwendungsbezogen und relational. 2.2 Die Rezeption durch Camerarius 173 516 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik 5, 2 1129 a 26-1129 b 11. Πλεονεξία kann aber auch bedeuten, dass man weniger viel von schlechten Dingen haben möchte als andere. Zur Bedeutungsvielfalt des Wortes vgl. auch Bien 1995, 146-148. 517 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik 5, 3, 2 1129 b 25-5, 5, 4 1130 b 29 und Bien 1995, 138 f. 518 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik 5, 5, 5 1130 b 30-1131 a 9. Dies ist auch die Position des Camerarius, zu den Positionen der modernen Forschung s. u. 519 Vgl. etwa Bien 1995, 150. 520 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik 5, 6 1131 a 10-1131 b 9. Die zweite Erscheinungsform, also das Gleiche, soll verschiedenen Parteien den gleichen Anteil zuteilen. Man verstößt gegen sie, wenn man mehr haben will, als einem eigentlich zusteht oder andere übervorteilen will (der Zuwiderhandelnde wird daher auch als πλεονέκτης bezeichnet). 516 Während das Gesetzmäßige universal gedacht war (also Gerechtigkeit, die auf die ganze Tugend bezogen ist), so ist das Gleiche partikular (also Gerechtigkeit, insofern sie ein Teil der Tugend ist). 517 In dieser Funktion ist das Gleiche ein Mittleres, das sicherstellt, dass man sich nur seinen Teil nimmt und nicht mehr. Hier lassen sich nun wiederum verschiedene Anwendungsformen unterscheiden, die durch verschiedene Arten der Analogie beschrieben werden können: Die Gerechtigkeit im Verteilen (ἐν ταῖς διανομαῖς) kommt zum Einsatz, wenn es um die Verteilung von öffentlichen Gütern, Geld und Ehrungen geht. Sie wird mithilfe der geometrischen Analogie beschrieben. Die ausgleichende Gerechtigkeit (διορθωτικόν) hingegen soll im Nachhinein Ausgleich bei freiwilligen Transaktionen (wie bei Kaufverträgen) oder unfreiwilligen (wie bei Diebstahl) gewährleisten. Sie wirkt also gleichsam als Korrektiv und regelt den vertraglichen Verkehr. Sie ist als arithmetische Ana‐ logie gedacht. 518 Die genaue Abgrenzung der einzelnen Arten der Gerechtigkeit gestaltet sich schwierig und stellt (nicht zuletzt aufgrund von tatsächlichen oder scheinbaren Widersprüchlichkeiten im Text des Aristoteles) auch noch moderne Forscher vor Herausforderungen, worauf noch zurückgekommen wird. 519 Wenn öffentliche Güter, Geld oder Ehrungen zugewiesen werden sollen, ist die Gerechtigkeit im Verteilen relevant. Sie berücksichtigt die Würdigkeit (ἀξία) der beteiligten Personen und weist ihnen dementsprechend eine passende Summe oder Menge zu. Wird sie missachtet, kommt es zu Streit und Anklagen. 520 Mathematisch gesehen berücksichtigt sie zugleich die Personen sowie die zu verteilenden Güter: Das Verhältnis, das zwischen den Rängen zweier Personen (A : B) besteht, muss dabei dem Verhältnis der erhaltenen Güter / Ehrungen entsprechen (C : D). Dies soll durch ein Beispiel des Verfassers verdeutlicht werden: Ein römischer Prätor (A) verfügte über sechs Liktoren (C), ein Konsul (B) aber über zwölf (D). In der Zahl der Liktoren zeigt sich ein doppeltes 174 2 Die Übernahme des Prinzips der Analogie 521 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik 5, 7, 2b-3a 1131 b 9-32. 522 Sie heißen unfreiwillige Transaktionen, weil vom Täter i. d. R. durch ein Verbrechen ein Ungleichgewicht geschaffen wird, das ausgeglichen werden muss. 523 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik 5, 7, 3a-4e 1131 b 25-1132 b 20. 524 Vgl. Scaltsas 1995 und Aristoteles, Nikomachische Ethik 5, 7, 3b 1131 b 33-1132 a 6: „τὸ δ‘ ἐν τοῖς συναλλάγμασι δίκαιον ἐστὶ μὲν ἴσον τι, καὶ τὸ ἄδικον ἄνισον, ἀλλ’ οὐ κατὰ τὴν ἀναλογίαν ἐκείνην ἀλλὰ κατὰ τὴν ἀριθμητικήν. οὐδὲν γὰρ διαφέρει, εἰ ἐπιεικὴς φαῦλον ἀπεστέρησεν ἢ φαῦλος ἐπιεικῆ, οὐδ‘ εἰ ἐμοίχευσεν ἐπιεικὴς ἢ φαῦλος· ἀλλὰ πρὸς τοῦ βλάβους τὴν διαφορὰν μόνον βλέπει ὁ νόμος, καὶ χρῆται ὡς ἴσοις, εἰ ὃ μὲν Verhältnis, das Ausdruck ihres Rangunterschiedes ist (der Konsul sollte also doppelt so hoch angesehen sein, wie der Prätor). Vgl. hierzu Tabelle 8. A : B C : D Prätor Konsul 6 Liktoren 12 Liktoren Tab. 8: Gerechtigkeit im Verteilen Diese Verhältnisse, die Aristoteles durch vier Linien beschreibt, lassen sich auch vertauschen: So wie sich A zu C verhält, verhält sich B zu D. Dies ist eine diskrete geometrische Analogie. 521 Die ausgleichende Gerechtigkeit hingegen, kommt, wie bereits gezeigt, bei freiwilligen und unfreiwilligen Transaktionen zwischen Bürgern zum Einsatz. Wenden wir uns zunächst den unfreiwilligen Transaktionen zu (wie Diebstahl, Ehebruch, Giftmischerei). 522 Hier ist der Rangunterschied der beteiligten Per‐ sonen irrelevant, im Gegenteil: der Ausgleich soll exakt den verursachten Schaden aufwiegen, wobei ein Richter als ausgleichende, vermittelnde Instanz wirkt. Es kommt hier eine kontinuierliche arithmetische Analogie zum Einsatz. Aristoteles erklärt dies anhand dreier ursprünglich gleich langer Linien, die den Schädigenden, den Richter und den Geschädigten repräsentieren und aneinander angeglichen werden müssen. Der Richter muss dem Schädigenden, der einen „Gewinn“ gemacht hat - dessen Linie also angewachsen ist -, so viel nehmen, dass er den Verlust des anderen ausgleicht (dessen Linie verkürzt wurde), damit wieder alle drei Linien gleich lang sind und Gerechtigkeit herrscht. 523 Es gibt unterschiedliche Interpretationen, wie genau die ausglei‐ chende Gerechtigkeit bei freiwilligen Transaktionen wirkt, was in scheinbaren oder tatsächlichen Widersprüchlichkeiten im Text des Aristoteles begründet ist. Man kann den Text so verstehen, dass die Form der Gerechtigkeit ebenfalls nach den Prinzipien der arithmetischen Analogie verläuft (was, wie wir sehen werden, dem Verständnis des Camerarius entspricht). 524 Günther Bien geht 2.2 Die Rezeption durch Camerarius 175 ἀδικεῖ ὃ δ‘ ἀδικεῖται, καὶ εἰ ἔβλαψεν ὃ δὲ βέβλαπται.“ (Übersetzung von Wolf 2018, 170: „Dagegen ist das Gerechte in Transaktionen zwar in gewisser Weise ein Gleiches - und das Ungerechte ein Ungleiches -, aber nicht nach der genannten Proportion, sondern nach der arithmetischen. Denn es ist gleichgültig, ob ein guter Mensch einen schlechten betrogen hat oder ein schlechter Mensch einen guten, und ebenso, ob ein guter oder ein schlechter Mensch Ehebruch begangen hat. Vielmehr sieht das Gesetz nur auf den Unterschied, der durch den zugefügten Schaden entstanden ist, und behandelt die Personen als gleiche und fragt nur, ob der eine Unrecht tut, der andere Unrecht erleidet und ob der eine einen Schaden zugefügt, der andere Schaden erlitten hat.“). 525 Vgl. Bien 1995, insbesondere 158-160. Allerdings legt seine Übersicht auf S. 163 nahe, dass Bien auch im Reziproken die arithmetische Proportion / Analogie wirken sieht, was allerdings der Definition des Aristoteles widerspricht, dass in der arithmetischen Analogie keine Unterschiede zwischen den beteiligten Personen berücksichtigt werden (s. die vorige Fußnote). Überhaupt legt Aristoteles, Nikomachische Ethik 5, 8 1132 b 21 -1133 b 28 nahe, dass die Reziprozität für Aristoteles die Form einer diskreten geometrischen Analogie hat. Vor diesem Hintergrund scheint der Ansatz von Scaltsas 1995 überzeugender (s. u.). 526 Vgl. Scaltsas 1995. 527 S. u. 528 Generell zur Klugheit vgl. Ebert 1995. Die Übersetzung des Begriffs ist umstritten, vgl. Ebert 1995, 172 f. hingegen davon aus, dass sie nach dem von Aristoteles in Kapitel 8 des 5. Buches beschriebenen Prinzip der sogenannten Reziprozität (Austausch von Gütern entsprechend ihrem Wert) funktioniert, auf die hier nicht näher eingegangen werden muss. 525 Theodore Scaltsas andererseits sieht in dem Reziproken eine ei‐ gene Form von Gerechtigkeit, die sich von der ausgleichenden und verteilenden Gerechtigkeit unterscheidet. Auch er argumentiert, dass es sich bei der ausglei‐ chenden Gerechtigkeit um eine arithmetische Analogie handelt. 526 Diese zwei Beispiele moderner Interpretationen sollen genügen, um die Schwierigkeiten demonstrieren, die mit der Interpretation des Textes verbunden sind. Wichtig ist ferner auch, dass Aristoteles die harmonische Mitte an keiner Stelle erwähnt. Denn, wie wir später sehen werden, weicht Camerarius in diesem Punkt von ihm ab und verwendet sie, um die Freundschaft zu Höherstehenden zu beschreiben. 527 Für das Entstehen von Gerechtigkeit ist noch eine weitere Tugend relevant, die von Aristoteles als φρόνησις bezeichnet und die hier mit ‚Klugheit‘ übersetzt werden soll. 528 Es genügt, nur kurz auf sie einzugehen. Aristoteles beschreibt sie im sechsten Buch der Nikomachischen Ethik. Sie ist die zentrale Tugend für das Ideal der politischen Lebensform, während für das Ideal der theoretischen 176 2 Die Übernahme des Prinzips der Analogie 529 Zum Unterschied zwischen der theoretischen und politischen Lebensform vgl. Aristo‐ teles, Nikomachische Ethik 1, 3 1094 a 26-1094 b 11 und 10, 6-9 1176 a 30-1179 a 32 sowie Kullmann 1995. 530 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik 6, 5-9 1140 a 24-1142 a 30 sowie Ebert 1995, insbesondere 165. 531 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik 6, 7, 1 1141 a 16-20. Zur Weisheit vgl. auch Kapitel C.1.1 dieser Arbeit. 532 Vgl. Kullmann 1995, 256 533 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik 6, 8, 2 a 1141 b 23-25 und Ebert 1995, 169-171. 534 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik 6, 8, 2 a 1141 b 23-33 und Ebert 1995, 176 f. 535 Allgemein zur Freundschaft bei Aristoteles vgl. Price 1995. 536 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik 8, 1, 2 1155 a 22-28 und 8, 11, 1 a 1159 b 25-27. Lebensweise die Weisheit (σοφία) entscheidend ist. 529 Klugheit bezieht sich auf das Kontingente, also auf Dinge, die so oder auch anders sein können, ist handlungsbezogen und kommt durch Gewöhnung und Erziehung zustande. Sie ist einerseits eine Form von Wissen, andererseits gibt sie dem eigenen und fremden Handeln Orientierung. 530 Weisheit (σοφία) hingegen ist einerseits νοῦς (intuitive Vernunft) und hat als solche eine wahre Auffassung von den unveränderlichen Prinzipien, ande‐ rerseits ist sie die höchste Form von ἐπιστήμη (Wissen), also die höchste Form gesicherten Wissens. 531 Man wird ihr die drei theoretischen Wissenschaften zuordnen können: die Erste Philosophie, die Naturwissenschaft sowie die mathematischen Disziplinen. 532 Nun gibt es neben der eigentlichen Klugheit noch das politische Wissen (πολιτική), bei dem es sich zwar um dieselbe Disposition wie bei der Klugheit handelt, das jedoch seinem Wesen nach anders ist. 533 Es steht neben der Haus‐ verwaltung (οἰκονομία) und der Gesetzgebung (νομοθετική). Letztere gehört zwar auch zur mit dem Staat befassten Klugheit, unterscheidet sich aber von dem politischen Wissen (πολιτική) dadurch, dass sich dieses mit dem Einzelnen befasst. Es lässt sich untergliedern in einen beratenden Teil (βουλευτική) und einen richterlichen (δικαστική). 534 Nun rezipiert Camerarius allerdings, wie zu zeigen sein wird, nicht nur das Gerechtigkeitskonzept des Aristoteles, sondern auch dessen Freundschaftskon‐ zept. Es wird in den Büchern 8 und 9 der Nikomachischen Ethik dargestellt. 535 Freundschaft stellt eine gesteigerte Form von Gerechtigkeit dar, denn beide Tugenden beziehen sich auf dieselben Dinge. Zwischen Freunden herrscht daher Gerechtigkeit und Freundschaft. 536 Für Aristoteles gibt es drei Ursachen bzw. Arten von Freundschaft: Sie kann aufgrund von Lust entstehen, aufgrund des für beide Nützlichen und schließlich aufgrund eines Strebens nach dem Guten, wobei in diesem Fall beide gleich an Tugend sind. Den dritten Typ bezeichnet 2.2 Die Rezeption durch Camerarius 177 537 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik 8, 3-5 1156 a 6-1157 a 36; 8, 7, 1 1157 b 25-1158 a 1; 8, 8, 1 1158 b 1-3. 538 Vgl. z. B. Aristoteles, Nikomachische Ethik 8, 8, 1 1158 b 1-11 und 8, 15, 1 a 1162 a 34-1162 b 4. 539 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik 8, 8, 2 1158 b 11-28 sowie 8, 7, 5 1158 a 34-36. Vgl. auch 8, 12, 2 1160 b 22-8, 14 1162 a 33. 540 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 9, 1, 1a 1163 b 32-1164 a 2. Aristoteles auch als die vollkommene Freundschaft. Alle drei Arten beruhen auf Gleichheit, da man gemeinsam das Gleiche will oder austauscht, also Lust, Nutzen oder das Gute, wobei der Grad an Ähnlichkeit oder Gleichheit bei der vollkommenen Freundschaft am Größten ist. 537 Aristoteles beschreibt diese Form der Freundschaft zwar nicht explizit als arithmetische Analogie. Man kann aber annehmen, dass dies von ihm intendiert ist, denn erstens hatte er ja die Freundschaft als gesteigerte Form von Gerechtigkeit beschrieben und zweitens betont er an mehreren Stellen, dass gleiche (i.e. gleichrangige) Freunde das Gleiche erhalten sollen, 538 was dem Wesen der arithmetischen Mitte entspricht. Von dieser Art von Freundschaft unterscheidet er jene, die auf Überlegenheit beruht, d. h. Freundschaft zwischen Eltern und Kindern, Mann und Frau bzw. zwischen Herrscher und Beherrschtem. Sie hat dieselben drei Untertypen (also Streben nach Lust, Nutzen oder dem Guten) und muss dem Verhältnis (λόγος) entsprechen, das zwischen den Freunden herrscht, d. h. sie berücksichtigt ihren Wert (ἀξία), wobei der Mächtigere mehr geliebt werden soll als er selbst liebt. 539 Diese heterogene Freundschaft beruht auf dem Proportionalen. 540 Auch wenn Aristoteles hier nicht explizit von der geometrischen Analogie spricht, ist es sehr wahrscheinlich, dass er an sie dachte. Denn auch sie strebt ja die Gleichheit von Verhältnissen (λόγοι) an und kam schon bei der verteilenden Gerechtigkeit zum Einsatz, bei der ebenfalls der Wert (ἀξία) der Beteiligten berücksichtigt werden musste. Die harmonische Analogie wendet Aristoteles im Bereich der Freundschaft nicht an. Der Ansatz des Aristoteles hat einen besonderen Vorteil: Da Freundschaft immer eine Form von Gleichheit ist, verhält man sich in Bezug auf das Angestrebte ebenso wie der Freund. Die Selbstbeziehung gleicht also der Beziehung zum Freund. Dieser wird dadurch gleichsam zu einem anderen selbst (ἄλλος αὐτός) und das, was man sich selbst wünscht, wünscht man auch ihm. Auf diese Weise wird insbesondere die vollkommene Freundschaft einer Selbstbeziehung 178 2 Die Übernahme des Prinzips der Analogie 541 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik 9, 4 1166 a 1-1166 b 29. Vgl. hierzu auch Price 1995. 542 Vgl. Camerarius 1554, Bl. A6v-B3r (= Kapitel E.5.2, V. 80-134). 543 Vgl. Camerarius 1594, 46; 50 f. (= Kapitel E.7.2, Abschnitt 9). 544 Camerarius 1554, Bl. A2r/ v (= Kapitel E.5.1, Abschnitt 1; ganzer Text, Übersetzung und Anmerkungen). 545 Camerarius 1554, Bl. B4v (= Kapitel E.5.3, Abschnitt 5; ganzer Text, Übersetzung und Anmerkungen). angenähert und letztlich als eine Form von Eigenliebe und Eigennutz erklärt. Egoismus und Altruismus verschmelzen also miteinander. 541 - 2.2.2.2 Gerechtigkeit und Freundschaft bei Camerarius Wenden wir uns nun Camerarius zu. Er rezipiert diese aristotelischen Vorstel‐ lungen in den Versus senarii de analogiis.  542 Formal gesehen handelt es sich hierbei um ein Lehrgedicht, das aufgeteilt ist in vier Abschnitte, welche nach einem einführenden Teil (V. 1-34) 1. die Natur (φύσις, V. 35-49), 2. die Auffin‐ dung (εὕρεσις, V. 50-64), 3. die Entstehung (γένεσις, V. 65-79) und 4. den Nutzen (χρῆσις, V. 80-192) der Analogie behandeln. Die letzte Passage ist zweigeteilt: Die Verse 80-134 rezipieren die Gerechtigkeitsvorstellung des Aristoteles und beziehen sich dabei auf das Konzept der Analogie, während die Verse 135- 192 ein Beispiel aus dem Bereich der Astrologie enthalten (Legitimierung der Aspekte). Nun ist es so, dass Camerarius in den für dieses Kapitel relevanten Versen 80-134 zwar Aristoteles nicht explizit nennt, allerdings hebt er die grundle‐ gende Bedeutung dieses antiken Philosophen für sein Analogiekonzept an anderer Stelle hervor. 543 Hinzu kommen Hinweise, dass er die aristotelische Unterscheidung zwischen Klugheit und Weisheit übernommen hat. So heißt es etwa im zugehörigen Widmungsbrief: „[…] ut cum sapientia absolvatur tum prudentia consummetur tam causis naturaque pervestigata quam orationis vi et actionum honestate et communis vitae usu explicato atque disposito.“ 544 Sapientia und prudentia sind hier Übersetzungen der aristotelischen Begriffe φρόνησις und σοφία, wobei sich die mit tam eingeleiteten Dinge (Bezug auf die Prinzipien und Naturkunde) der Weisheit und dem theoretischen Leben zuordnen lassen, und die mit quam eingeleiteten Dinge der Klugheit und der politischen Lebensform, da sie handlungsbezogen und kontingent sind. Auch in der Explicatiuncula zu seinen Versus senarii de analogiis schreibt Camerarius, die Analogien hätten Einfluss auf alle Tätigkeitsfelder der Klugheit (prudentia) und Weisheit (sapientia). 545 Unmittelbar darauf folgt dieser Satz: Exempla autem prudentiae ad sapientiae considerationem applicata retulimus et adiecimus astro‐ 2.2 Die Rezeption durch Camerarius 179 546 Vgl. Camerarius 1554, Bl. B4v (= Kapitel E.5.3, Abschnitt 5). logicae scientiae alterum. 546 Dieser schwer verständliche Satz bezieht sich auf das Gedicht und zeigt Wichtiges auf: Das astrologische Beispiel findet sich in Vers 135-192 des Gedichts und widmet sich der Beschreibung der Aspekte. Ihm stellt er exempla prudentiae gegenüber: Hierbei handelt es sich um einen Bezug auf die Versen 80-134, in dem Camerarius die Gerechtigkeitsvorstellung des Aristoteles rezipiert. Der Ausdruck applicata ad sapientiae considerationem bedeutet, dass diese Beispiele dem Abschnitt hinzugefügt wurden, in dem die Theorie (consideratio = θεωρία) der Weisheit dargestellt wurde, was sich nur auf den ganzen ersten Teil des Gedichtes beziehen kann (Vers 1-79), denn dort werden tatsächlich die philosophischen und mathematischen Hintergründe erklärt. Aus dem Gesagten wird also deutlich, dass Camerarius seine Beispiele dem Bereich der aristotelischen Klugheit zuordnet. Kommen wir nun zum Gedicht selbst. Der Abschnitt mit den exempla prudentiae lässt sich noch einmal in drei Abschnitte unterteilen: Der erste (V. 80-107) zeigt, welchen Nutzen die arithmetische Analogie für die Gesellschaft hat, der zweite (V. 108-120) widmet sich der geometrischen und der dritte (V. 121-134) der harmonischen Analogie. Insgesamt basieren diese drei Passagen auf der Vor‐ stellung, dass die Verhältnisse zwischen Menschen durch Zahlenverhältnisse ausgedrückt werden können. Dies betrifft einerseits die relative Wertigkeit, also den Rang der Personen, andererseits die Güter, die zwischen ihnen ausgetauscht werden. Wie bei Aristoteles herrscht Gerechtigkeit, wenn die Verhältnisse analog sind. Im ersten Abschnitt (V. 80-107) erklärt Camerarius, dass die arithmetische Analogie Anwendung bei Verträgen zwischen Bürgern und bei Freundschaften findet (V. 83-86). Sie sei wichtig für alle Beschlüsse und Verträge zwischen unterschiedlichen Menschen (V. 87-92). Zugleich betont er, dass die Beteiligten trotz ihrer Verschiedenheit in der arithmetischen Analogie gleichbehandelt werden (V. 91 f., 95, 102-107). Ein Richter mache keinen Unterschied in der Behandlung (V. 95). Somit entspricht der Ansatz des Camerarius einerseits dem aristotelischen Konzept der Freundschaft zwischen Gleichen und andererseits dem der ausgleichenden Gerechtigkeit. Wie Aristoteles unterscheidet er zwischen freiwilligen Transaktionen, die gerecht gestaltet sind (V. 96-99), und unfreiwil‐ ligen Transaktionen, bei denen ein Täter im Nachhinein Strafe zahlen muss (V. 100-101). Im Bereich der arithmetischen Analogie übernimmt Camerarius also exakt die Modelle des Aristoteles für Gerechtigkeit und Freundschaft zwischen Gleichen. Dass er nur die Freundschaft zwischen Gleichen meint, 180 2 Die Übernahme des Prinzips der Analogie 547 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik 9, 2, 1 a 1164 b 22-25. 548 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik 5, 14 1137 a 31-1138 a 3 und Bien 1995, 160-162. schreibt Camerarius nicht, aber man kann es sich erschließen, wenn man die Nikomachische Ethik gelesen hat, das Wesen der arithmetischen Analogie berücksichtigt, und die unmittelbar folgenden Verse betrachtet (s. u.). Diese widmet Camerarius der geometrischen Analogie (V. 108-120). Als ihre Einsatzgebiete nennt er die Verteilung von Geldern und Ehren, bei denen die Würde (ἀξία) der beteiligten Personen berücksichtigt werden muss (V. 108 f.). Im Gegensatz zur arithmetischen Analogie sei hier nicht der Abstand gleich, sondern die Verhältnisse (V. 114-118). Dies entspricht exakt dem Wesen der Gerechtigkeit im Verteilen des Aristoteles. Als weitere Beispiele führt er die Medizin (ἰατρικά), Hausverwaltung (οἰκονομικά), Erziehung (παιδαγογικά), Gymnasiarchie (γυμνασιαρχικά) an, bei denen jedem ebenfalls das Seine nach seinem Wert zugeteilt werde. Hier scheint sich Camerarius auf den ersten Blick von Aristoteles zu unterscheiden, der nämlich nur die Hausverwaltung als eine Freundschaft zwischen Ungleichen beschrieben hatte, da z. B. der Vater eine höhere Stellung gegenüber seiner Frau und seinen Kindern habe und es verdiene, mehr geliebt zu werden als selbst zu lieben. Allerdings lässt sich das von Aristoteles Gesagte leicht auch auf die Erziehung übertragen, wo der Lehrer gegenüber seinen Schülern eine ähnliche Rolle einnimmt wie der Vater gegenüber seinen Kindern. Es kann auch für das Amt des Gymnasiarchen gegenüber Untergebenen gelten. Soweit ist Camerarius also mit Aristoteles kompatibel. Zu untersuchen bleibt noch das Beispiel der ἰατρικά, aber auch hier lässt sich ein möglicher Bezug zu Aristoteles herstellen. Analog zur Frage, inwieweit man dem Vater in allen Dingen gehorchen muss, stellt dieser nämlich die Frage, ob ein Kranker seinem Arzt vertrauen muss. 547 Es herrscht also ein vergleichbares Verhältnis zwischen Vater und Sohn wie zwischen Arzt und Patient. Schließlich ordnet Camerarius noch die Billigkeit (ἐπιεικές) der geometrischen Analogie zu. Aristoteles hatte diese Tugend als Korrektur (ἐπανόρθημα) des Gesetzes für Fälle gesehen, die nicht von ihm abgedeckt wurden. Im Gegensatz zum allgemein gehaltenen Gesetz könne sie nämlich Einzelfälle berücksichtigen. Aristoteles erklärt nicht, dass und ob sie durch die arithmetische oder geometrische Analogie darstellbar ist. 548 Vermutlich dachte Camerarius, dass vom Gesetz nicht abgedeckte Einzelfälle sich auf Unterschiede in der Würdigkeit zurückführen lassen, da das Gesetz kaum all diese Fälle genau abdecken kann - anders als in den Bereichen, in denen es eine Gleichbehandlung der Bürger anstrebt. 2.2 Die Rezeption durch Camerarius 181 549 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik 5, 6, 2 1131 a 29-1131 b 9. 550 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik 8, 9, 1 b 1158 b 29-1159 a 5. Insgesamt gewinnt man den Eindruck, dass Camerarius im Bereich der geometrischen Analogie das Konzept des Aristoteles übernommen hat. Er fügt ihm zwar noch eigene Beispiele hinzu, diese sind allerdings kompatibel mit dessen Lehre. Eine kleine Abweichung findet sich dann aber doch noch, und zwar bei dem mathematischen Beispiel, anhand dessen Camerarius die geometrische Analogie erklärt: Bei Aristoteles ist es eine viergliedrige diskrete geometrische Analogie, bei Camerarius eine dreigliedrige kontinuierliche. 549 Vermutlich wollte Camerarius dem Leser damit das Verständnis erleichtern - ein Vorgehen, das vielleicht seiner Zielgruppe geschuldet war (s. u.). Den dritten Abschnitt des Gedichtes (V. 121-134) widmet Camerarius der harmonischen Analogie. Sie komme im Verhältnis des Untertanen zum Be‐ herrschten vor. Hier weicht Camerarius von Aristoteles ab, der dieses Verhältnis, wie oben bereits gezeigt, mit dem des Vaters verglichen und damit implizit der geometrischen Analogie zugeordnet hatte. Allerdings gibt es eine Stelle in der Nikomachischen Ethik, die einen Grund für das Vorgehen des Camerarius liefert. Aristoteles schreibt nämlich, dass bei sehr großen Rangunterschieden Freundschaft nicht mehr möglich sei. Als Beispiele führt er das Verhältnis zwischen Göttern und Menschen und auch das zwischen Königen und Unter‐ tanen an. Es sei jedoch schwer möglich, eine exakte Grenze anzugeben, bis zu der sie möglich sei. 550 Man kann annehmen, dass Ähnliches für die Gerechtig‐ keit (im Verteilen) gilt, da die Freundschaft ja für Aristoteles eine gesteigerte Form von Gerechtigkeit bedeutete. Vielleicht bewogen diese Zeilen Camerarius dazu, einen qualitativen Unterschied im Verhältnis zwischen Herrscher und Untertan gegenüber dem des Vaters zu seinem Sohn zu sehen. Dies ist nicht unwahrscheinlich, wenn man bedenkt, dass der protestantische Landesfürst eine besondere Vorrangstellung innehatte und zugleich weltlicher Herrscher wie durch Luther legitimierter oberster Kirchenherr war. Entscheidend dürfte aber ein anderer Grund gewesen sein. Denn im Platonismus bildet die Beobach‐ tung der Natur auch die Grundlage für die Gestaltung eines guten Lebens, d. h. die göttliche und letztlich auf das Eine zurückgehende Ordnung der Natur soll nachgeahmt werden. Platon fordert dies in Timaios 90D, wie in Kapitel C.2.2.1 bereits gezeigt, und schreibt dabei der Beobachtung des Himmels besondere Bedeutung zu. Vor allem er, in seiner Schönheit, zeigt den Menschen, wie sie ihr Leben zu gestalten haben, indem das Wahrnehmende dem Wahrgenommenen gleich gemacht wird. Für Camerarius sind im Himmel aber alle drei Analogien 182 2 Die Übernahme des Prinzips der Analogie 551 Vgl. Camerarius 1554, Bl. B1v-B2v (= Kapitel E.5.2, V. 135-167) und das Kapitel C.2.2.1 dieser Arbeit. 552 Vgl. Baltzly 2007, 30 und Monsafani 2002, 181. Im 15. und 16. Jahrhundert gab es eine Kontroverse über die Unterschiede und die Vereinbarkeit von Platonismus und Aristotelismus, wobei verschiedene prominente Humanisten wie Georg von Trapezunt oder Kardinal Bessarion entweder die Überlegenheit Platons oder die des Aristoteles proklamierten. Ausführlich dazu Hankins 1990, 165-263 und Monsafani 2002, 179- 202. Camerarius bezieht in diesem Streit keine Position, d. h. er spielt Platon und Aristoteles nicht gegeneinander aus. Andererseits greift er aber - und darin ähnelt er Bessarion (vgl. Hankins 245-263) - neuplatonische Vorstellungen auf und harmonisiert so gewissermaßen die beiden Philosophen und macht Aristoteles von Platon abhängig. 553 Dafür spricht auch die Anrede ὦ φιλόλογε (‚Gelehrter‘) in Vers 1 der Versus senarii (= Camerarius 1554, Bl. A6v; = Kapitel E.5.2). am Wirken. 551 Es ist also in gewisser Weise folgerichtig, wenn er annimmt, ein ethisch gutes Leben und die Interaktion mit anderen Menschen sei ebenfalls durch diese drei Analogien bestimmt. Warum aber stellt es für Camerarius offensichtlich kein Problem dar, zwei verschiedene philosophische Systeme zu verschmelzen und Aristoteles an den Platonismus anzupassen? Eine Antwort könnte sein, dass wir heutzutage dazu neigen, streng zwischen beiden Systemen zu unterscheiden. Im Neuplatonismus aber galt auch Aristoteles als Platoniker und es wurde versucht, die Gemein‐ samkeiten und Kompatibilität beider Philosophien herauszustellen. 552 Fassen wir zusammen: Der Einfluss des Aristoteles ist unverkennbar, auch wenn Camerarius Anpassungen insbesondere im Verhältnis zwischen Herrscher und Untertan vornimmt. Dass er, im Gegensatz zu dem antiken Philosophen, alle drei Formen der Analogie (arithmetische, geometrische und harmonische) gebraucht, lässt sich am Plausibelsten vor dem Hintergrund der platonischen Philosophie erklären. Camerarius’ Vorgehen ist anwendungsbezogener als das des Aristoteles, da er lediglich erklärt, welche Anwendungsbereiche die drei Arten der Analogie in Bezug auf die Gerechtigkeit haben. Das mag allerdings der Zielgruppe ge‐ schuldet sein, scheint doch der ganze Druck, in dem die Versus senarii enthalten sind, einen pädagogischen Fokus zu haben, da er mehrere Lehrgedichte mit einem möglichen Bezug zum Unterricht enthält (über die Analogien, Tinte, Papier und die Schreibfeder), die zum Teil lateinisch kommentiert wurden, sowie nicht zuletzt die mit einer lateinischen Übersetzung versehenen Διαιρέσεις διδασκαλικαί („Hinweise zum Unterricht“). Konkret richtete sich der Druck vermutlich an Lehrer, die die Inhalte pädagogisch aufbereiten und ihren Schü‐ lern vermitteln sollten. 553 2.2 Die Rezeption durch Camerarius 183 554 Vgl. Kapitel C.2.2.1. 555 Ganz entfernt erinnert der ganze Gedichtabschnitt über die Gerechtigkeit an die Eunomie Solons: Die Analogie ist für Camerarius ein in der Welt immanentes göttliches Prinzip, das die Grundlage von Gerechtigkeit in der Gemeinschaft bildet. Bei Solon sind die Prinzipien Dike und Eunomia auch göttlich, wenn auch viel personifizierter gedacht. Sie sorgen wie die Gerechtigkeit des Camerarius für Frieden und Harmonie in der Polis. Solon beschreibt jedoch auch, wie ohne sie Streit, Chaos usw. herrscht. Das tut Camerarius zwar nicht in dem Gedichtabschnitt über die Gerechtigkeit, jedoch am Ende des Gedichtes, wo er beschreibt, wie ohne die Analogie Streit aufkommt und die Gerechtigkeit und andere Werte ins Gegenteil verkehrt werden (Vers 179-192). 556 Vgl. Camerarius 1554, Bl. B3r (= Kapitel E.5.2, V. 168-193). 557 Vgl. Camerarius 1594, 46; 50 f. (= Kapitel E.7.2, Abschnitt 9). Wenn Camerarius die Gerechtigkeit wie Aristoteles als Disposition (ἕξις) ansah, die durch die richtige Erziehung befördert wird, dann wird auch klar, warum er die Versus senarii an Lehrer richtete: Letztlich dienten das Gedicht und die zugehörigen Erläuterungen der Ausbildung der richtigen Disposition auf Seiten der Schüler. Camerarius hatte dann also diesen Druck verfasst, weil auch er der Gesellschaft einen Nutzen erweisen wollte. Die Analogie hat dabei für ihn ganz generelle Bedeutung: Sie hilft nicht nur bei der Ausprägung wis‐ senschaftlicher Genauigkeit und naturkundlicher Erkenntnis, 554 sondern auch bei der Erkenntnis der Gerechtigkeit und ihrer Ausprägung als Disposition. 555 Dazu passt auch die Tatsache, dass die Versus Senarii de Analogiis mit einem Appell zur Beachtung der Analogie in Wissenschaft und Gesellschaft enden. 556 Sollte Camerarius tatsächlich wie Aristoteles die Gerechtigkeit als Disposition betrachtet haben, dann gilt dies mit der Einschränkung, dass sie sich auf den weltlichen Bereich beschränkt- ähnlich wie die Analogie auch nur weltliche Erkenntnisse erlaubt -, weil dies sonst dem protestantischen Prinzip des sola gratia widersprechen würde. Alternativ / zusätzlich lässt sich die Adressierung an Lehrer auch vor dem Hintergrund des Platonismus erklären, da dort das Studium der Mathematik propädeutische Funktion hat und auf die Philosophie vorbereiten soll. 2.2.3 Rezeption im Bereich der Dialektik Camerarius schreibt zwar, dass die Analogie Relevanz für den Bereich der Dialektik (λογικαὶ διδισκαλίαι / ars disserendi) hat, 557 führt dies aber an keiner Stelle aus oder nennt konkrete Beispiele. Wie könnte diese Aussage gemeint sein? Aufgrund der Tatsache, dass sich Camerarius nicht näher zur Bedeutung der Analogie für die Dialektik äußert und der Fokus dieser Arbeit auf der Naturphilosophie liegt, soll nur ein kurzer Blick auf Aristoteles geworfen 184 2 Die Übernahme des Prinzips der Analogie 558 Vgl. Camerarius 1594, 46; 50 f. (= Kapitel E.7.2, Abschnitt 9). 559 Vgl. Kluxen / Remane 1971, Sp. 216, sowie Theophrast, Fragmente 63e, 1-10 (= Alex‐ ander Aphrodisiensis, in Aristotelis Analyticorum Priorum librum I commentarium, 178 b Bk.). 560 Vgl. Aristoteles, Analytica priora 2, 24, 68 b 38-69 a 19, sowie Kluxen / Remane 1971, Sp. 216 561 Vgl. Kluxen / Remane 1971, Sp. 216-218. werden. Er schreibt ja ausführlich über Dialektik und Logik und wird von Camerarius als zentraler Autor für das Verständnis der Analogie bezeichnet. 558 Des Weiteren soll sein Schüler Theophrast hinzugezogen werden. Theophrast hat als erster explizit den eigentlichen συλλογισμὸς κατ’ ἀναλογίαν, den Syllogismus aufgrund der Analogie, erwähnt. Dieser ermöglicht es, bei den zwei Verhältnissen einer Analogie entweder auf ein nicht bekanntes Glied des zweiten Verhältnisses zu schließen (falls man beide Verhältnisse kennt) oder auf das zweite Verhältnis selbst (falls man dessen Glieder kennt). 559 Diese Verwendungsweise des Syllogismus kennt Aristoteles zwar prinzipiell auch, 560 sie findet bei ihm allerdings kaum Verwendung. Er verwendet die Analogie eher als logisches Hilfsmittel im Bereich der Biologie, Physik und Metaphysik, um gattungs- und kategorienübergreifend Einheit herzustellen. 561 Generell dürfte bei der Anwendung des Prinzips der Analogie auf den Bereich der Dialektik Ähnliches gelten wie bei der Anwendung auf den der Ethik, wenn man die platonischen Grundlagen bedenkt: Für Camerarius lässt sich alles auf das Eine zurückführen. Die vom Schöpfer verwendete Analogie ist dabei in der Welt immanent: Der Gebrauch der Analogie in der Dialektik entspricht also nur den irdischen Gegebenheiten und ist vor diesem Hintergrund ein valides Erkenntnismittel, und nicht nur dies: In dem korrekten Gebrauch derselben nähert man sich dem göttlichen Einen an, wozu der Anhänger des Platonismus auch verpflichtet ist. 2.3 Camerarius’ Analogiekonzept vor dem Hintergrund seiner Zeit In den vorigen Kapiteln wurde deutlich, inwiefern das Analogiekonzept des Ca‐ merarius durch (neu-)platonisch-aristotelische Vorstellungen bestimmt wurde. Hier sollte man aber nicht davon ausgehen, dass Camerarius allein antike philosophische Konzepte rezipierte, sondern auch prominente Vorstellungen seiner eigenen Zeit berücksichtigen. Hier wäre vor allem an das Erstarken des 2.3 Camerarius’ Analogiekonzept vor dem Hintergrund seiner Zeit 185 562 Vgl. Leinkauf 2017, Bd.-2, 1165. 563 Generell zu Ficino vgl. Allen 1998 sowie Leinkauf 2017, Bd. 2, 1165-1246 (= Kapitel „Marsilio Ficino (1433-1499)“). Zur Rezeption, insbesondere seiner Harmonielehre, innerhalb des deutschsprachigen Raums vgl. McDonald 2018. 564 Vgl. Allen 1998, 78 f. 565 Vgl. Leinkauf 2017, Bd.-2, 1166 f. Neuplatonismus zur Zeit der Renaissance zu denken, das wesentlich auf die Schriften und Übersetzungen Ficinos zurückgeht. 562 Eine mindestens ebenso wichtige Strömung ist der Protestantismus, der im Bereich des naturkundlichen Humanismus stark durch einen sehr engen Freund des Camerarius geprägt wurde, nämlich Philipp Melanchthon und seine maßgeblichen Werke De anima (1540) sowie die Initia doctrinae physicae (1549). Anhand eines Vergleiches des camerarischen Analogiekonzeptes mit den philosophischen Systemen dieser beiden bedeutenden Humanisten soll deutlicher werden, ob und ggf. welchen Einfluss sie auf das Analogiekonzept des Camerarius hatten. 2.3.1 Der Neuplatonismus der Renaissance (Beispiel Ficino) Die Bedeutung Marsilio Ficinos für die Wiederbelebung des Platonismus sowie für seine Auslegung kann nicht überschätzt werden. 563 Camerarius durfte davon ausgehen, dass die zeitgenössischen humanistischen Leser seiner Werke gut mit den Schriften dieses italienischen Humanisten vertraut waren und etwaige Ge‐ meinsamkeiten sofort erkennen würden. Trotzdem gestaltet sich ein Vergleich des camerarischen Analogiekonzeptes mit dem philosophischen System Ficinos schwierig, da Camerarius all seine relevanten Äußerungen zur Analogie über mehrere Schriften verteilt und niemals den Versuch unternommen hat, ein geschlossenes System (zumal im Bereich der Ontologie) darzustellen. Mit einiger Vorsicht lassen sich aber doch gewichtige Gemeinsamkeiten und Unterschiede erkennen und analysieren. Betrachten wir zunächst Ficinos System für sich. Der Platonismus Ficinos war vor allem durch die Rezeption Plotins geprägt, aber auch Proklos spielte eine wichtige Rolle, nicht zuletzt deshalb, weil seine Ausdeutungen Plotins erheblichen Einfluss auf Ficinos Interpretationen hatten. 564 Im Bereich der Analogie ist sein Einfluss besonders relevant, insofern sich Proklos viel ausführlicher zu diesem Prinzip äußert. Ficino nimmt ein Stufenmodell mehrerer Hypostasen des Einen / Gottes an, die jeweils geringere Seinsstufen von sich selbst ausprägen: 1. deus, 2. mens / intellectus, 3. anima, 4. natura, 5. materia, 565 wobei die dritte Stufe der (Welt-)Seele eine gewisse Mittel- und Sonderstellung innehat, da sie die Stufen 4 und 5 durchdringt und bestimmt, die gegenüber den anderen Stufen keinen wirklich ontologischen 186 2 Die Übernahme des Prinzips der Analogie 566 Vgl. Leinkauf 2017, Bd.-2, 1168 f. und 1204. 567 Vgl. Leinkauf 2017, 1174-1181. 568 Zur prisca theologia vgl. Allen 1998, 1-92 (= Chapter I+II; ausführliche Abhandlung zur prisca theologia), sowie 145-147 (zur Figur des Sokrates als christlicher Philosoph) sowie Leinkauf 2017, 1226-1240. 569 Vgl. Ficino, Timaeus 18-24 und 28-35. 570 Vgl. Ficino, Timaeus 18-24. In diesem Zusammenhang auch relevant: Ficino, Timaeus 40 (zum Bewirken unauflösbarer Bindungen durch Gott). 571 Vgl. Platon, Timaeus 34a9-d7 und Baltzly 2007, 8. Charakter mehr besitzen. 566 Das Eine ist auch für Ficino Ausgangs- und Ziel‐ punkt von allem. Es ist zugleich transzendent und in der Welt immanent: Es übersteigt den menschlichen Verstand und man kann eigentlich nur negative Aussagen über es treffen. Wegen des abbildhaften Charakters der einzelnen Hypostasen sind im gewissem Rahmen allerdings doch bestimmte affirmative Aussagen über das Eine möglich. 567 Ficino verwischt bewusst die Grenzen hin zur Theologie, indem er den Begriff und das Konzept der prisca theologia einführt. Demnach stünden gewisse vorchristliche Gelehrte, wie die Pythagoreer, Platon und Hermes Trismegistos in einer Reihe mit den Propheten und christlichen Weisen. Sie alle hätten eigentlich nur dieselbe und einzige Wahrheit ergründen wollen und aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten versucht. 568 Wie aber sieht es nun mit dem Konzept der analogia bei Ficino aus? Ficino bespricht es ausführlich in mehreren Kapiteln seines Timaioskommentars. 569 Für diese Arbeit ist relevant, dass die analogia auf zwei Seinsstufen wirken kann: In den Elementen des Weltkörpers (und aller anderen physischen Körper) sowie innerhalb der Welt- und Einzelseele. Die Erschaffung des Weltkörpers aus den vier Elementen hat Ficino offen‐ sichtlich von Proklos übernommen: Auch bei ihm haben die Elemente dieselben drei Eigenschaften wie bei seinem griechischen Vorbild, und die äußeren Elemente sind wegen derselben geometrischen Eigenschaft durch zwei mittlere Elemente verbunden, d. h. auch die Begründung stammt von Proklos. Ficino sieht hier (ebenso wie Platon und Proklos) die geometrische Analogie am Wirken. 570 Ein wenig anders ist es im Bereich der Seele. Platon beschreibt, dass sie durch die arithmetische und harmonische Analogie verbunden ist. 571 Für Ficino tritt aber die arithmetische Mitte hinter der harmonischen zurück. Diese bestimmt hauptsächlich den Aufbau der Seele und vereint die einzelnen Seelenteile miteinander. Dabei durchdringt die Seele den Körper, ist über das Medium des spiritus mit ihm verbunden, und verbindet in ihm alles harmonisch miteinander. 2.3 Camerarius’ Analogiekonzept vor dem Hintergrund seiner Zeit 187 572 Vgl. Ficino, Timaeus 29 und McDonald 2018, insbesondere 160-168. 573 Vgl. Ficino, Timaeus 46. 574 Vgl. z. B. Ficino, Timaeus 34, 36, 38 und 39. 575 Vgl. McDonald 2018, 160. 576 Vgl. McDonald 2018, 160. Kristeller verweist darauf, dass Ficino Konsonanz auf die Analogie zurückführt (vgl. Kristeller, 290). 577 Zur Zeit des Camerarius wurde noch nicht so stark wie heute zwischen Kunst und Handwerk unterschieden, vgl. Kristeller 1972, 287. Die harmonische Analogie funktioniert in der Seele nach denselben Prinzipien wie die in der Musik, wo sie verschiedene Töne harmonisch miteinander verbindet. Wegen dieser Parallele zwischen Musik und Seele können Töne eine ganz besondere Wirkung auf den Hörer haben: Sie wirken auf Körper und Seele zugleich, da sie durch das Medium des spiritus miteinander verbunden sind. Sie wirken ordnend und ausgleichend auf die einzelnen Teile von Seele und Körper (insbesondere die Körpersäfte) und stärken auf diese Weise die Gesundheit des Menschen. 572 Perfekte menschliche Gesundheit definiert Ficino mit Platon als Harmonie zwischen Seele und Körper. Sie werde bewirkt, wenn beide jeweils in sich selbst gut geordnet sind. 573 Ähnlich verhält es sich auch mit der Betrachtung der Himmelskörper. Auch sie haben eine ordnende Wirkung auf Seele und Körper des Menschen, weil auch sie als Sphärenklänge erzeugende Körper nach dem Prinzip der harmonischen Analogie geordnet und eng mit der Weltseele verbunden sind. 574 Zweck ist in diesem Fall eine Angleichung des Betrachters über die betrachteten Himmels‐ körper an die Weltseele und eine Nachahmung der Natur, wie sie ja generell im Platonismus angestrebt wird. 575 Ähnliches gilt für das Hören. Auch hierbei kann es zu einer Nachahmung der Sphärenharmonie und einer Angleichung an sie kommen, auch wenn wir Menschen sie gar nicht hören können. 576 Eine Annäherung des Selbst an die Natur gibt es für Ficino auch im künstle‐ rischen und handwerklichen Bereich. 577 Hier sind die Kräfte der menschlichen Seele wirksam, die beweglich und dynamisch sind und das kreative Potential haben, etwas zu erschaffen. Die Schaffung eines Kunstwerks bzw. der hand‐ werkliche Prozess verläuft dabei nach ähnlichen Prozessen wie in der Natur: Die menschliche Seele verbindet verschiedene Stoffe geistig anhand des Prinzips der Analogie/ Proportion miteinander und schafft ein Substrat dieses Denkaktes in der Welt, in dem sich dieser Prozess widerspiegelt, d. h. Seele und Substrat gleichen sich aneinander an. Die menschliche Seele steht damit in einer Art Selbstverhältnis bzw. einer Art Selbstreflexivität zum erschaffenen Kunstwerk, und wie in den erzeugten Kunstwerken verschiedene Stoffe miteinander zu einer Einheit verbunden wurden, so hat die Seele geistig vergleichbare Prozesse vollzogen. Allerdings hat nicht nur die Seele einen Einfluss auf das Kunstwerk, 188 2 Die Übernahme des Prinzips der Analogie 578 Vgl. Leinkauf 2017, 1189-1193, 1208, 1214 f., 1221-1225 und Kristeller 1972, 287-293. Kristeller verweist auf die Bedeutung der Begriffe proportio und aequalitas für das Kunstverständnis Ficinos. Der erste der beiden Begriffe ist die lateinische Übersetzung des griechischen Begriffes ἀναλογία, während der zweite Begriff ihr Ziel beschreibt: die Herstellung von Gleichheit, ähnlich wie Gleichheit im Einen selbst herrscht (vgl. hierzu die Anmerkungen zu Proklos in Kapitel C.2.2.1 dieser Arbeit). 579 Vgl. Ficino, Timaeus 46. 580 Vgl. Ficino, Timaeus 31. 581 Dies ergab eine am 04.01.2021 vorgenommene Durchsicht. sondern auch die Natur wirkt auf die Seele. Kunst ist für Ficino nämlich Nachahmung der Natur (die auch als ars dei beschrieben wird): Beim Ausüben einer Kunst transformiert sich die dynamisch-adaptive Seele gleichsam proteus‐ haft selbst, ohne sich jedoch in ihrem Wesen zu verändern. In dem fertigen Produkt spiegelt sich das Natürliche selbst wider, das durch das Kunstwerk nachgeahmt werden sollte, wobei die Kunst allerdings auch in der Natur verborgene Dinge ans Licht bringen kann. Bei der Schaffung eines Kunstwerkes geht also das Natürliche gewissermaßen durch die Seele hindurch und wird dort transformiert. Insofern spiegelt es, wenn es fertig ist, die Natur wider. Außerdem stärkt es (aufgrund seines Aufbaus, der nach dem Prinzip der Analogie gestaltet ist) das Temperament des Künstlers und hilft ihm, seine eigenen Schwächen, insbesondere die seiner Körpersäfte, zu überwinden. 578 Auch hier gilt wieder, dass eine gute Ordnung der einzelnen Teile des Körpers und der Seele angestrebt werden, so dass sie in einem harmonischen Verhältnis zueinanderstehen. 579 Diese Ausführungen zur Kunst und zur Musik dürften bei Ficino auch für die Herstellung von Theriak gelten. In seinem Timaioskommentar, in dem das platonische Schöpfungsverständnis anhand der Analogie besprochen wird, bespricht er auch die Herstellung von Medikamenten und vergleicht sie mit der Musik. Beide hätten eine therapeutisch-ordnende Wirkung auf Körper und Seele, der Unterschied sei allerdings, dass in einem Fall die Seele durch den Körper geheilt werde und im anderen Fall der Körper durch die Seele. 580 Bei der Herstellung von Theriak würden verschiedene einander völlig entgegengesetzte Inhaltsstoffe miteinander harmonisch verbunden, so dass etwas vollkommen Neues herauskomme. Kommen wir nun zu Camerarius. Er zitiert Ficino an keiner Stelle, an der er über die Analogie spricht und auch die bisherige Auswertung seines OEuvres in der Datenbank Opera Camerarii weist keine erkennbare Beschäftigung mit Ficino aus. 581 Wie Ficino, aber auch wie Proklos, sieht er das Eine als zugleich in der Welt immanent und transzendent an. Im Gegensatz zu Ficino betont er aber stärker die Grenzen zwischen Philosophie und Theologie. Ganz explizit trennt 2.3 Camerarius’ Analogiekonzept vor dem Hintergrund seiner Zeit 189 582 Vgl. Camerarius 1554, Bl. A3r (= Kapitel E.5.1, Abschnitt 5). 583 Vgl. Camerarius 1594, 42-51 (= Kapitel E.7.2). er den weltlichen vom göttlichen Bereich ab, den man nicht erfassen könne. Überhaupt könne man über das Göttliche eher sagen, was es nicht sei, als was es sei. 582 Das Konzept einer prisca theologia sucht man bei Camerarius vergeblich - wobei diese starke Trennung vielleicht (auch? ) theologische Gründe haben mag, wie wir im nächsten Kapitel sehen werden. Wie aber sieht es im Bereich der Analogie aus? Die Erschaffung der Welt aus den vier Elementen interpretiert Camerarius eher nach dem einfachen Modell Platons und nicht nach dem des Proklos, dessen mathematische Begründung er anscheinend auch nicht teilt. Es ist schwierig zu sagen, wie genau für Camerarius die Analogie innerhalb der Seele wirkte. Jedenfalls unterscheidet ihn von Ficino, dass er die harmonische Analogie nicht stärker betont als die arithmetische. Er rezipiert auch nicht Ficinos Lehre über den harmonischen Aufbau der Seele und die Rolle des spiritus, obwohl sich ein Eingehen auf diese Lehre beispielsweise bei der Erläuterung der Harmonien in den Decuriae  583 angeboten hätte. Soweit gewinnt man den Eindruck, dass es keine spezifischen Gemeinsam‐ keiten und Unterschiede zwischen Camerarius und Ficino gibt. Dies liegt daran, dass Camerarius keine zusammenhängende Lehre darstellt und auch gar nicht auf Ficino explizit eingeht. Er beabsichtigte wohl vielmehr, antike Lehren dar‐ zustellen und zu rekonstruieren, was Platon bzw. die Pythagoreer ursprünglich über die Analogie dachten. Und fast könnte man es bei dieser Feststellung belassen, hätte Camerarius nicht seinen De Theriacis et Mithridateis Commenta‐ riolus geschrieben, in dem eine mögliche Rezeption des Kunstverständnisses von Ficino zu erkennen ist. Camerarius vergleicht in dieser Schrift die Herstellung des menschlichen Körpers aus seinen Einzelnaturen mit der Herstellung von Theriak aus seinen vielen Einzelstoffen. Dabei geht die Parallelisierung beider Vorgänge bis auf die Wortebene, wie an den Markierungen im folgenden Text gut zu erkennen ist. Mihi autem subit nunc admiratio veterum medicorum ingenii et sapientiae, qua illi diversissimas res ita in unum corpus congessere, ut unaquaeque cum altera conveniret, et quia ipsae essent diversae, similiter diversas efficacias et vires suas ostenderent. Nam omnium natura rerum similia sibi appetit, et ad se trahit, ut haec ille deus Homericus videri possit ὅσγ’ αἰεὶ τὸν ὅμοιον ἄγει θεὸς ὡς τὸν ὅμοιον. [Bl. a4v] Ceterum in hoc est sapientiae illorum verae divinitas quaedam, ita potuisse illa componere, ut in id, quod animo et cogitatione sua corpus constituissent, recte et debite coalescerent, quod efficiendis his rebus, quas ad res factum esset, sufficeret. Hoc est vere admirabile et 190 2 Die Übernahme des Prinzips der Analogie 584 Camerarius 1533, Bl. A4r/ v (= Kapitel E.2.1, Abschnitt 5 (mit Übersetzung und Anmer‐ kungen)). 585 Vgl. Leinkauf 2017, 1221. divinum, ut nostrorum corporum compositionem ex illis diversissimis naturis, tamen eo, quod magis admirari quam intelligere possumus, artificio fabricatus est Deus, ut convenirent ad ea quae videmus, quibusque defungimur vitae munera.  584 Die Schöpfung des menschlichen Körpers verläuft im Timaios auf die gleiche Weise wie die Schöpfung des Weltkörpers, d. h. mit Hilfe der Analogie. Deren Hauptfunktion ist, wie bereits gezeigt, die Verbindung gänzlich gegensätzlicher Naturen zu etwas Neuem, stabilen Einen. Hierauf nimmt Camerarius durch seine Beschreibung der Schöpfung bzw. Medikamentenherstellung Bezug. Ei‐ nige Zeilen später fällt dann auch der Begriff ἀναλογία. Auch wenn in der Renaissance der Vergleich eines artifex mit Gott nicht unüblich war, 585 spricht dennoch Einiges dafür, diesen Abschnitt vor dem Hintergrund der Philosophie Ficinos zu lesen. Erstens stehen im Zentrum dieses Vergleiches nicht die Ak‐ teure, also Gott bzw. die antiken Ärzte, sondern die gleiche Vorgehensweise, was durch die parallel verwendeten Begriffe unterstrichen wird. Das Gemeinsame ist für Camerarius das Prinzip der Analogie. Und auf deren Bedeutung für die Herstellung von Medikamenten hatte der einflussreiche Ficino bereits in seinem prominenten Timaioskommentar verwiesen. Zweitens schreibt Camerarius nur wenig über die konkrete Wirkungsweise der Analogie und begründet seine Ausführungen kaum. Auch daher scheint es plausibel, von einen dem Leser bekannten Vergleich auszugehen, was es plausibel erscheinen lässt, dass Camerarius einen prominenten Autor (wie Ficino) rezipierte. Drittens würde eine Rezeption Ficinos durch Camerarius den Umstand erklären, dass für diesen gerade die wirkungsvolle Anwendung der Analogie die Hersteller von Theriak göttlich macht: Es ist die transformative Wirkung der Kunst, die die Natur nachahmt und ordnenden Einfluss auf die Seele des artifex hat, weil in dieser derselbe einheitsstiftende Prozess vollzogen wird wie in der nachgeahmten Natur. Dadurch nähert sich der Künstler selbst der Natur und dem göttlichen Einen an. Insofern wird er in gewissem Sinne wirklich göttlich, wirklich zu einer Art platonischem Demiurg. Dazu passt dann auch die Tatsache, dass die schlampige Herstellung von Medikamenten durch gierige Apotheker in die Nähe eines Frevels gerückt wird, da im Platonismus Ficinos die Nachahmung der Natur und Angleichung des Menschen an sie gefordert wird. Insgesamt scheint sich Camerarius eher damit zufrieden zu geben, antike Theorien zu rekonstruieren, als eigene Theorien zu entwickeln. Wenn man seine Ausführungen zu den verschiedenen Interpretationen des platonischen 2.3 Camerarius’ Analogiekonzept vor dem Hintergrund seiner Zeit 191 586 Vgl. Helm 1999. 587 Vgl. hierzu Frank 1995, Kusukawa 2006 sowie Bihlmaier 2017, 473-475. Schöpfungsberichtes betrachtet, scheint für ihn wohl eher die Frage zentral gewesen zu sein, was Platon bzw. der Pythagoreer Timaios ursprünglich gemeint hatte: Es ging ihm um ein Zurück zur platonisch-pythagoreischen Lehre, also die Sicherung einer möglichst alten, reinen Lehre. Doch obwohl bei Camerarius Ficino nicht direkt genannt wird, gibt es Gemeinsamkeiten, die über die Rezeption von Platon und Proklos hinausgehen. Diese reichen jedoch nicht aus, um von einem gesicherten Einfluss sprechen zu können. 2.3.2 Protestantische Naturkunde (Beispiel Melanchthon) Bei einem Humanisten, der zu den ersten und einflussreichsten protestantischen Gelehrten seiner Zeit gehörte, fragt man sich selbstverständlich, ob und wel‐ chen Einfluss religiöse Vorstellungen auf seine philosophischen Vorstellungen hatten. An dieser Stelle bietet sich ein Vergleich mit dem System seines Freundes Philipp Melanchthon eher an als ein Vergleich mit der Theologie Luthers, weil sich Melanchthon ausführlicher zu naturkundlichen Themen äußerte und in diesem Gebiet großen Einfluss auf andere Gelehrte ausübte, eng mit Camerarius befreundet und wie dieser kein Geistlicher, sondern in erster Linie humanistischer Gelehrter war. Ausschlaggebend für Melanchthon war die strenge Trennung zwischen Gesetz und Evangelium, auch auf dem Gebiet der Naturkunde. Die beiden Begriffe beziehen sich ursprünglich auf das Alte bzw. Neue Testament und deren Funktionen in der protestantischen Theologie. Das Alte Testament soll den Leser auf seine eigene Unzulänglichkeit aufmerksam machen, weil er merkt, dass er die Gebote Gottes nicht erfüllen kann. Schließlich wendet er sich dann demütig dem Neuen Testament zu und findet dort Rettung. Für Melanchthon erfüllt die Natur dieselbe Funktion wie das Alte Testament. Der Mensch bemerkt, dass eine perfekte göttliche Ordnung in ihr herrscht, wird sich seiner eigenen Unzulänglichkeit bewusst und wendet sich schließlich dem Neuen Testament zu. Doch das Verständnis der Natur bleibt in den letzten Fragen insuffizient - die Möglichkeit, Gott wirklich durch die Natur zu erkennen, würde ja auch dem Prinzip sola scriptura widersprechen. Die Natur hat also eine dienende Funktion, insofern sie die Menschen zum Glauben führt. 586 Diese Grundüberlegungen bilden die Voraussetzung für die Ausprägung einer spezifisch protestantischen Naturphilosophie, d. h. die Naturphilosophie wurde an die protestantische Theologie angepasst. 587 Melanchthons Physik entwirft 192 2 Die Übernahme des Prinzips der Analogie 588 Vgl. Helm 1999, 26 f., Bihlmaier 2017, 470 und Helm 2017, 510 f. 589 Vgl. Bihlmaier 2017, 471. 590 Vgl. Helm 1999, 30. 591 Vgl. Helm 1999 und Helm 2017, 510 f. 592 Vgl. Helm 2017, 510. 593 Vgl. Helm 1999, 33-37 und Helm 2017, 511. 594 Vgl. Melanchthon 1540 und Melanchthon 1550. 595 Vgl. Bihlmaier 2018, 478. in Abgrenzung von der epikureischen Philosophie eine Kosmologie, die durch die providentia Gottes und einen ordo naturae gekennzeichnet ist, den der Mensch schlichtweg bestaunen muss (Melanchthon bezeichnet die Natur als ein wunderschönes theatrum, das die Güte und Weisheit Gottes zeige). Die platonische Kosmologie des Timaios, aber auch Galen und Cicero spielen hier eine große Rolle, die neben die Naturphilosophie des Aristoteles treten. 588 Er erweitert sie aber um spezifisch protestantische Elemente. So spricht er dem Menschen etwa bestimmte Kenntnisse, sog. notitiae naturales zu, die ihm von Gott mitgegeben wurden, etwa die Unterscheidung von Gut und Böse oder die Möglichkeit einer natürlichen Gotteserkenntnis. 589 Nach dem Sündenfall wurden diese Fertigkeiten allerdings getrübt und ebenso die Möglichkeit, Gott durch die Natur zu erkennen. 590 Die Auswirkungen sind auf dem Gebiet der Anatomie besonders deutlich zu erkennen. 591 Melanchthon schreibt, indem er Galen zitiert, diese Lehre sei der Anfang der Theologie und ermögliche einen Zugang zur Erkenntnis Gottes. Auch hier ist die Idee ausschlaggebend, dass in ihr die perfekte Schöpfung Gottes erkennbar sei. 592 Aber nicht nur das, Melanchthon begründet durch die Übernahme des platonisch-galenischen Seelenmodells, das die Seele in drei Teile untergliedert, sowie durch die Übernahme galenischer Vorstellungen über die Wirkungsweise der spiritus, dass die notitiae naturales Gottes verdunkelt seien und durch den Heiligen Geist wieder gereinigt werden könnten. Die Anatomie vertieft so das Wissen des Menschen um seinen Zustand nach dem Sündenfall, dient der Selbsterkenntnis und der Zuwendung zum Glauben. 593 Von den vielen Schriften Melanchthons, sind zwei besonders relevant, da er in ihnen den Versuch unternommen hat, eine spezifisch protestantische Naturkunde zu begründen: Die Initia doctrinae physicae und den Commentarius de anima. In beiden spielt das Prinzip der Analogie keine besonders wichtige Rolle, es gibt nur wenige, unspezifische Erwähnungen. 594 Allerdings hat für Me‐ lanchthon die Mathematik eine ganz zentrale und der Anatomie vergleichbare Rolle: Sie hilft dem Menschen dabei, die Ordnung im Kosmos zu erkennen. 595 Wie aber sieht es bei Camerarius aus? Tatsächlich ist sein Analogiekonzept kompatibel mit der protestantischen Trennung von Gesetz und Evangelium, 2.3 Camerarius’ Analogiekonzept vor dem Hintergrund seiner Zeit 193 596 Vgl. Metzler 2008, 22. Zu Analogien in den modernen Naturwissenschaften vgl. Hentschel 2010. denn auch er betont die Unzulänglichkeit von naturkundlichen Erkenntnissen im Hinblick auf die letzten Fragen. Es beruht auf platonischen und neuplatoni‐ schen Vorstellungen und ist daher ein zugleich in der Welt immanentes wie transzendentes Prinzip: Es macht den Menschen auf die göttliche Ordnung aufmerksam, die dieser aber eher bewundern als nachvollziehen kann. Die Rolle, die bei Melanchthon die Naturkunde und Anatomie einnehmen, nämlich den Menschen zum Evangelium zu führen, übernimmt bei Camerarius die Ana‐ logie, aber nicht nur diese, sondern die Mathematik im Allgemeinen. Insofern entspricht sein Mathematikverständnis dem Melanchthons. Im Vergleich zu seinem Freund verwendet Camerarius aber keine spezifisch protestantische Terminologie (wie notitiae naturales) oder deutet antike Lehren auf spezifisch protestantische Weisen. Zusammengefasst kann man vielleicht sagen, dass der Platonismus des Camerarius nicht zwingend durch den Protestantismus bedingt ist, aber deswegen von Camerarius rezipiert werden konnte, weil er gut mit dem Protestantismus kompatibel ist. 2.4 Ausblick: Möglichkeiten und Grenzen der Analogie Vergleicht man die Analogie mit anderen wichtigen Methoden zur Schlussfol‐ gerung wie der Deduktion und Induktion, dann schließt man bei der Deduktion vom Allgemeinen auf das Besondere, bei der Induktion vom Besonderen auf das Allgemeine und bei der Analogie von einem Einzelfall auf einen anderen Einzelfall. Eine Analogie hat daher keine Beweiskraft. Dennoch ist sie ein äu‐ ßerst flexibles und nützliches Mittel, das auch in unserer Zeit noch Anwendung findet, etwa im Bereich der Biologie. Dort ist etwa das Phänomen der konver‐ genten Entwicklung eine Form von Analogie. Gemeint ist damit, dass gleiche Umweltbedingungen dazu führen können, dass sich unterschiedliche, stammes‐ geschichtlich nicht verwandte Lebewesen gleich entwickeln. So ist etwa die Körperform von Haien und Delphinen ähnlich, obwohl sie als Fische bzw. Säugetiere nicht miteinander verwandt sind. In der Physik war das Bohrsche Atommodell der Versuch, den Aufbau von Atomen analog zum Sonnensystem zu beschreiben. Die Analogie ist aber auch für viele weitere Fachdisziplinen relevant, etwa die Informatik, Sprachwissenschaft und Theologie. 596 Wie nützlich aber ist das Modell des Camerarius aus heutiger Sicht? Die Antwort ist, dass die aus zeitgenössischer Sicht große Stärke gleichzeitig 194 2 Die Übernahme des Prinzips der Analogie 597 Dies betrifft zumindest die Bereiche, die von Camerarius und Aristoteles der Weisheit (σοφία) zugerechnet werden, also die Erste Philosophie, Naturwissenschaften und Mathematik (vgl. dazu Kapitel C.2.2.1). 598 Vgl. Kapitel C.2.2.1. eine Schwäche darstellt, nämlich die Anbindung an das platonische göttliche Eine. Sie macht das Konzept einerseits kompatibel mit protestantischen Vor‐ stellungen, bewirkt andererseits aber auch, dass für Camerarius durch die Analogie festes Wissen (scientia) gewonnen werden kann. Sie gewinnt also irrtümlicherweise Beweiskraft. 597 Man denke nur an die aus heutiger Sicht arbiträr wirkende Legitimierung astrologischer Aspekte. 598 Zugleich sind die Möglichkeiten der Analogie wegen der Transzendenz des göttlichen Einen beschränkt. Etwas überspitzt könnte man sagen, die Analogie ist für Camerarius eher eine Methode die Welt zu beschreiben, Muster zu entdecken und vor allem ihre Schönheit zu sehen, als sie wirklich zu verstehen. Für Camerarius ist aber gerade das der Vorteil des Konzepts. Es ist kompatibel mit dem protestantischen (bzw. überhaupt christlichen) Prinzip der Unerforschlichkeit Gottes. 2.4 Ausblick: Möglichkeiten und Grenzen der Analogie 195 3 Zusammenfassung: Die Sicherstellung wissenschaftlicher Grundlagen als pädagogischer Anspruch In der ersten Hälfte der Dissertation wurde gezeigt, inwiefern sich der fach‐ fremde Camerarius in seinen Schriften zur Medizin als Humanist stilisiert, der einerseits eine Synthese zwischen Humanismus und Medizin propagiert, sich aber andererseits gegenüber Ärzten abgrenzt und nicht wirklich auf ihr Gebiet vordringt. Die Erkenntnisse der zweiten Hälfte passen zu diesem Bild und erweitern es zugleich: Die philosophischen Konzepte, die seine Auffassung zeitgenössischer Wissenschaft prägen, nämlich das aristotelische Wissensmo‐ dell und das Prinzip der Analogie, sind fächerübergreifend und nicht spezifisch für die Medizin. Bei ihrer Besprechung verbleibt Camerarius eher auf einer allgemeinen, übergeordneten Ebene, d. h. er überschreitet auch hier nicht die Grenzen seiner professio und dringt nicht wirklich tief in den Fachbereich der Medizin vor. Doch gerade dies ist der Vorteil dieser Vorgehensweise: Aus der relativen Sicherheit dieser universalen Prinzipien heraus kann er selbstbewusst Medizinern erklären, wie sie ihren Verpflichtungen nachzukommen haben. Des Weiteren haben die letzten Kapitel deutlich gezeigt, wie der Wissen‐ schaftsbegriff des Camerarius, genauso wie seine Ethik, stark durch Aristoteles geprägt ist. In seinem Welt- und Naturbild sind hingegen starke platonische Einflüsse deutlich zu erkennen, die eine durch Gott wohlgeordnete, aber in den letzten Fragen den menschlichen Verstand transzendierende Welt erklären. Die Mathematik und insbesondere die Analogie kann ihn auf diese Ordnung aufmerksam machen und lässt ihn staunend zurück. Sie dient damit letztlich der Zuwendung zum Evangelium und erfüllt somit eine Rolle, die mit den theologischen Vorstellungen Melanchthons kompatibel ist. Der Mensch muss sich in diese Ordnung einfinden und sie nachahmen, sei es, wenn er als Apotheker Medikamente braut, oder wenn er mit anderen Menschen umgeht: In allem wirken mathematische Analogieverhältnisse und ein Verstoß gegen dieses, nicht zuletzt ästhetisch gedachte, Prinzip ist gleichsam schon ein Frevel. Aus der Analogie wird also auch eine Art Ethik abgeleitet, die nicht mehr nur platonisch ist, sondern aristotelisch. Die Analogie fungiert also sozusagen auch hier als ein Bindeglied, nämlich zwischen diesen beiden Philosophien. 599 Vgl. hierzu die Ausführungen im Kapitel „Forschungsstand“ der Einleitung (= Kapitel A.1). 600 Möglicherweise kann man sogar von einer geringfügigen Transformation des Aristote‐ lismus sprechen. Während Aristoteles nämlich nur die arithmetische und geometrische Analogie zur Beschreibung der Gerechtigkeit innerhalb der Gesellschaft nutzt, fügt Camerarius die harmonische Analogie hinzu. Auf diese Art und Weise kommt es zu einer gewissen Angleichung an den Neuplatonismus des Proklos, der alle drei Arten der Analogie verwendet. 601 Vgl. z. B. Camerarius 1553, Bl. B4r (= Kapitel E.2.1, Abschnitt 4): „Galenus sane gloriosus homo, sed a levitatis et vanitatis crimine, ut opinor, remotus scribit se cognoscendi Iu‐ daici bituminis gratia in Coelosyriam profectum, propter metalla navigasse in Cyprum, propter terram Lemniam in eam insulam quae huic nomen dedisset. Qua cura verisimile est fuisse in aliis maioribus, qui haec parva per tot terrarum et pelagi intervalla affectatus sit.“ Vgl. auch die Kapitel B.2, C.1 und C.2.2.1 dieser Arbeit. 602 Vgl. Camerarius 1538, 19-151. 603 Dass die Ausführungen des Camerarius zu seinem Imitatiokonzept von vornherein breiter angelegt sind und einen Vergleich mit anderen Bereichen erlauben, zeigt die Tatsache, dass der Exkurs über die imitatio mit allgemeinen Reflexionen über das Wesen menschlicher Nachahmung beginnt, vgl. Camerarius 1538, 20 f. In dieser Passage findet sich, genau wie bei der Schrift De Theriacis et Mithridateis Commentariolus ein Handwerkervergleich, der deutlich macht, dass die Ausführungen Allgemeingültigkeit für alle Künste haben. 604 Vgl. Camerarius 1538, 20 f., Gerl 1978, 189-192 sowie Kapitel A.1 dieser Arbeit. Dass Camerarius von einer generellen Formbarkeit des Menschen ausgeht, ist auch deswegen Camerarius geht also ganz ähnlich wie seine Zeitgenossen vor 599 und nutzt die Flexibilität und Anpassbarkeit des Aristotelismus aus, um ihn mit einer anderen Philosophie zu verbinden. 600 Doch was bezweckt Camerarius konkret in seinen Schriften zur Medizin, wenn er auf das aristotelische Wissensmodell und das Prinzip der Analogie verweist? Beiden ist gemeinsam, dass sie die Beachtung selbst kleinster Details begründen. Im aristotelischen Wissensmodell ist es das durch Üben und Wieder‐ holen gewonnene Erfahrungswissen, das die Grundlage bildet, in der Analogie die Beachtung exakter Zahlenverhältnisse. In seinem De Theriacis et Mithridateis Commentariolus begründet er die Relevanz von Genauigkeit allerdings nicht nur anhand dieser beiden Konzepte, sondern er illustriert sie konkret am Beispiel des Autors Galen. 601 Die Art und Weise, wie er die Nachahmung Galens beschreibt, weist gewisse Parallelen zu dem Imitatiokonzept auf, das Camerarius in seinem Tuskulanenkommentar 602 ausführlich beschreibt. Sie sollen hier kurz geschildert werden, da sie grundlegende Denkmuster des Camerarius aufzeigen. 603 Für Camerarius ist die Natur des Menschen als solche erst einmal unbestimmt und formbar. Nicht nur für alle Künste, sondern für alle Lebensweisen gibt es schon Vorbilder, an denen man sich notwendigerweise orientiert und nach denen man sich selbst formt. 604 Im Bereich der Sprache solle man Cicero für sich 3 Die Sicherstellung wissenschaftlicher Grundlagen als pädagogischer Anspruch 197 wahrscheinlich, weil er das aristotelische Freundschaftskonzept rezipierte, das davon ausgeht, dass der Mensch durch seine Freunde seinen eigenen Charakter entwickelt (vgl. Kapitel C.2.2.2) 605 Vgl. z. B. Camerarius 1538, 20, 22, 83 sowie Gerl 1978, 193-197. 606 Vgl. z. B. Camerarius 1538, 20. 607 Vgl. Camerarius 1538, 82 f., Gerl 1978, 193 f. sowie Kapitel A.1 dieser Arbeit. als Vorbild wählen, denn nur die Orientierung am bestmöglichen Vorbild ergebe Sinn und müsse angestrebt werden. Jegliches Abweichen davon sei hingegen schlecht und schädlich. Für Camerarius ist er sozusagen das überzeitliche Optimum und gleichsam gottgleich. 605 Für eine korrekte imitatio, sind dabei drei Dinge nötig: studium, cogitatio und usus (gemeint sind wohl: Lernen, Reflektieren des Gelernten und häufige Anwendung / Einüben desselben). 606 Das Ziel dieser pedantischen und ausschließlichen imitatio Ciceros ist allerdings nicht Selbstzweck, ganz im Gegenteil: Am Vorbild Ciceros lernt man, aus der Klugheit heraus zu sprechen, d. h. angepasst an die Gegenwart und ihre verschiedenen Herausforderungen. 607 Auch in der Schrift De Theriacis gibt es ein einzelnes herausragendes Vorbild, an dem Camerarius die zeitgenössischen Ärzte misst, und das ist Galen. Ge‐ ordnet nach dem vierstufigen Wissensmodell des Aristoteles betrachtet Camera‐ rius systematisch sein Vorgehen und versucht ihn in seinem historischen Umfeld zu verstehen. Dabei ist auch für Camerarius die Nachahmung antiker Heilmittel kein starrer und blinder Prozess, kein Selbstzweck. Vielmehr kritisiert er gerade, dass die Ärzte die zeitgenössischen Begebenheiten ignorierten, indem sie etwa außer Acht ließen, dass sich die Herstellungsweisen geändert oder Inhaltsstoffe wegen langer Lieferzeiten verdorben seien. Stattdessen demonstriert er die Methodik Galens, aber nicht nur diese, sondern vielmehr auch gleichsam dessen Entscheidungen und Disposition. Wie im Fall der Sprache strebt er auch hier eine Angleichung der ganzen Person an. Galen muss in jeder Hinsicht imitiert werden, damit die Nachahmung antiker Medikamente überhaupt fruchtbar sein und auf die jeweils wechselnden Erfordernisse der Gegenwart eingehen kann. Damit dies gelingen kann, sind für Camerarius usus et exercitatio maßgeblich, also unaufhörliches Üben sowie Autopsie, kurz: die sorgfältige Beachtung der Grundlagen. Und genau dies trifft für ihn natürlich auch im Bereich der Sprache zu. Hiermit kommen wir zu einer wichtigen Grundkonstante im Denken des Ca‐ merarius, die sich durch viele seiner Schriften wie ein roter Faden zieht und mit dem sich viele seiner Zeitgenossen ebenfalls konfrontiert sahen, nämlich dem Verlust antiken Wissens und der Frage, wie es am Besten wiederzugewinnen sei. Für Camerarius liegt das Problem in der Vernachlässigung der Grundlagen. 198 3 Die Sicherstellung wissenschaftlicher Grundlagen als pädagogischer Anspruch 608 Vgl. Camerarius 1535a, Bl. A2v. 609 Vgl. in diesem Zusammenhang auch folgende Aussage: Fieri enim aliter nequit, quam ut in vocabulorum et nominum usu perverso et malo de rebus etiam sententia ac iudicium labefiat atque vacillet. (= Camerarius 1551, Bl. A2v). 610 Vgl. Camerarius 1576 und Huth 2017. 611 Vgl. Camerarius 1532b. 612 Vgl. Camerarius 1558. Im De Theriacis et Mithridateis Commentariolus zeigte er dies anhand des aristotelischen Wissensmodells auf, anhand der Analogie und eines Vergleiches mit Galen. In den Astrologica kritisiert er die Erstellung von Horoskopen, wenn sich die Grundlagen für die Erstellung geändert hätten. In der lateinischen Widmungsepistel der 1535 edierten Tetrabiblos  608 und der 1538 erschienenen Galenausgabe ist es die Kritik an Fehlern in den tradierten Texten. Seine zahlreichen terminologischen Schriften, darunter das 1551 erschienene zwei‐ sprachige Glossar (Commentarii utriusque linguae) 609 oder das postum erschie‐ nene De generibus divinationum (1576), 610 dienen dem Zweck, diese Grundlagen wiederherzustellen bzw. zu festigen. In eine ähnliche Richtung zielen auch die Kataloge von Zeichen- und Kometensichtungen in den 1532 erschienenen Norica  611 und der 1558 publizierten Schrift De cometis  612 sowie seine zahlreichen Übersetzungen, Editionen und Kommentare. Insgesamt spricht vieles dafür, dass Camerarius die Sicherstellung und Ordnung vor allem grundlegenden antiken Wissens als seine Hauptaufgabe sah. Dies erklärt die Seltenheit längerer eigenständiger philosophischer und theologischer Passagen und damit das weit‐ gehende Ausbleiben von Einmischungen in zeitgenössische Diskurse. Es erklärt auch, warum er gerade in der Frage der imitatio eine Ausnahme von dieser Praxis machte, da es hier um die Sicherstellung eben dieser Grundlagen ging. Man darf nicht den Fehler machen, Camerarius deswegen als bloß akribisch und detailverliebt zu sehen. Vielmehr dient das immer neue Verweisen auf die glei‐ chen Prinizipien in den unterschiedlichsten Disziplinen und Zusammenhängen dazu, ebendiese Disziplinen weiter auszugestalten und methodisch abzusichern - und damit auch die Haltung und Denkweise des Lesers, der so flexibel auf die jeweils verschiedenen Herausforderungen seiner Zeit reagieren kann. Schon Camerarius’ Zeitgenossen sahen in der sorgfältigen Beachtung von Details und Grundlagen seine große Stärke, wie etwa aus der Autobiographie seines Schülers Hieronymus Wolf hervorgeht. Das folgende Zitat bezieht sich auf seinen Entschluss, als Jugendlicher nach einer längeren Unterbrechung an das Egidiengymnasium in Nürnberg zurückzukehren, nur um festzustellen, dass alle guten Lehrer bereits abgereist waren: 3 Die Sicherstellung wissenschaftlicher Grundlagen als pädagogischer Anspruch 199 613 Zäh 2013 a, XI, 2, 32. 614 Zäh 2013 b, XI, 2, 36. Eas igitur erroris mei poenas dedi, vt maiore et sumptu et molestia, Tubingam, quo praecesserat Camerarius, cuius inprimis (ut qui et Graecarum et Latinarum literarum doctrinam e solidis quasi fundamentis exstrueret, nihilque parvum duceret, sine quo magna constare non possent) audiendi cupidus eram, me conferrem.  613 „Ich bezahlte also meinen Irrtum damit, dass ich mich unter höheren Kosten und größeren Beschwerlichkeiten nach Tübingen begeben musste, wohin Camerarius vorausgegangen war, den ich vor allem zu hören begehrte - gründete er doch den Unterricht in der griechischen und der lateinischen Sprache sozusagen auf feste Fundamente und sah nichts als gering an, ohne das Großes nicht Bestand haben könne.“ 614 200 3 Die Sicherstellung wissenschaftlicher Grundlagen als pädagogischer Anspruch D. Zusammenfassung: Grundlagen einer humanistischen Medizin Die zentrale, in der Einleitung formulierte Frage dieser Arbeit lautete: Was bezweckte der Humanist und studiosus rerum naturalium Joachim Camerarius mit der Publikation seiner Schriften zur Medizin? Sie kann nun beantwortet werden. Camerarius strebte die Vermittlung und Progagierung der Grundlagen einer spezifisch humanistischen Medizin an. Um diese These zu erläutern, sollen zunächst noch einmal kurz die Ergebnisse der beiden Hauptteile dieser Arbeit (= Kapitel II und Kapitel III) zusammengefasst werden. Im ersten Hauptteil dieser Arbeit wurde festgestellt, dass die medizinischen Schriften des Camerarius von einem pädagogischen Anspruch durchzogen sind, der auf eine Verbindung von Humanismus und Medizin abzielt. Camerarius propagiert damit die zu seiner Zeit modernste Form von Medizin, die bei ihm durch drei Merkmale gekennzeichnet ist: • Die Verbindung von Medizin und Philologie: Durch sorgfältige Editionen und Übersetzungen der wiederentdeckten griechischen Originaltexte sollte die antike Medizin wiederhergestellt werden, die durch jahrhundertelange Vernachlässigung ihrer Verständnisgrundlagen beraubt worden sei. • Die Verbindung von Medizin und Literatur bzw. Dichtung: Die medizi‐ nischen Texte Galens sind für Camerarius auch wegen ihrer Schönheit bedeutend. Aber auch er selbst möchte seinen Lesern Freude an der Lektüre medizinischer Texte machen, indem er etwa Rezepte übersetzt. • Die Verbindung von Medizin und Philosophie: Camerarius demonstriert dem Leser anhand der Vorbilder Galen und Ptolemaios, wie sie Fachdisziplin und Philosophie miteinander verknüpften. Durch die Stilisierung seiner Widmungsempfänger und seiner eigenen persona zu Vorbildern zeigt Camerarius in den Paratexten konkret auf, wie diese Verbin‐ dung von Humanismus und Medizin gelingen kann. Selbst bleibt er aber eher auf der Seite des Humanisten. Er entwickelt keine eigenen medizinischen Theorien und macht keinen Hehl daraus, dass er ein fachfremder Laie ist. Aber genau dies ist seine Stärke: Er macht sich nicht angreifbar und kann gerade durch seinen humanistischen Hintergrund die zeitgenössische Medizin bereichern. Er hat einen Sinn für literarische Ästhetik und kann daher den Nutzen (utilitas) mit der Freude an der literarischen Gestaltung (voluptas) verbinden. Und durch seine philologischen Kenntnisse und gräzistische Kompetenz kann er dem Leser Einblick in Originaltexte geben, die bisher vornehmlich durch die arabische Tradition bekannt waren, ihren Inhalt vermitteln und Fehler in der Tradition aufzeigen. Zu einem Satz zusammengefasst: Camerarius vermittelt dem Leser seiner Paratexte die programmatischen Grundlagen der zeitgenössischen hu‐ manistischen Medizin. Im zweiten Hauptteil dieser Arbeit wurden philosophische Reflexionen des Camerarius im De Theriacis et Mithridateis Commentariolus in den Blick ge‐ nommen. Von Aristoteles hat er ein Wissensmodell übernommen, das die vier Stufen ἐμπειρία (Erfahrung), τέχνη (Kunst), ἐπιστήμη (Wissen) und σοφία (Weisheit) umfasst. Den zeitgenössischen Medizinern, so erklärt er, fehlt es an Erfahrung und Praxis, d. h. es mangelt an den Grundlagen. Ebenfalls durch die Rezeption von Aristoteles, aber auch von Platon und Proklos ist das Analogie‐ konzept des Camerarius geprägt. Für ihn stellt es eine Art universales Prinzip zur Beschreibung der Welt und Grundlage für alle Wissenschaften und Künste dar. Es ist kompatibel mit den protestantischen Vorstellungen Melanchthons. Anhand beider Modelle demonstriert er dem Leser wie wichtig Grundlagen wie Erfahrung und Sorgfalt sind, wobei er immer wieder auf Galen rekurriert. Indem er sich auf universale Prinzipien beruft, kann er auch als Laie einen Beitrag zur Medizin leisten, und dem Leser wichtige wissenschaftstheoretische Grundlagen vermitteln. Beide Hauptteile haben also gezeigt, dass es Camerarius um die Vermittlung und Propagierung von Grundlagen ging. Die wissenschaftstheoretischen Prin‐ zipien stehen dabei in Einklang mit den programmatischen, denn einerseits propagiert die humanistische Medizin des Camerarius die enge Verbindung von Medizin und Philosophie. Andererseits werden die wissenschaftstheoretischen Prinzipien anhand der Person Galens entwickelt, d. h. sie streben in Überein‐ stimmung mit den programmatischen Prinzipien eine Wiederherstellung der antiken Medizin an, indem Abweichungen von Autoritäten wie Galen korrigiert werden. Camerarius vermittelt diese programmatischen und wissenschaftstheoreti‐ schen Grundlagen zu einer Zeit, als Griechischkenntnisse im Heiligen Römi‐ schen Reich noch nicht allzu verbreitet und die Originaltexte Galens kaum bekannt waren. Er kann damit die Rezeption dieser Texte von Anfang an mitbe‐ stimmen und dafür Sorge tragen, dass die aus seiner Sicht richtige Medizin und ihre Grundlagen, die in Italien vielleicht schon etabliert waren, auch in Deutsch‐ land verbreitet werden. Dieses Bestreben mag Züge humanistischer Propaganda aufweisen, ist aber mit ernsthaften Bemühungen um eine Renaissance der Kunst der Medizin verbunden. Es erklärt in gewisser Weise auch, warum seine medizinischen Werke überwiegend in den 30er-Jahren verfasst wurden: Es ist die erste Phase der deutschen Galenrezeption nach der Veröffentlichung der Aldina, als viele Gelehrte an der Erschließung, Nutzbarmachung und Verbrei‐ tung seiner Werke, sei es in Kommentaren, Teileditionen oder Übersetzungen, arbeiten. Hierzu gehören etwa die mit Camerarius befreundeten Gelehrten und Mediziner Euricius Cordus, Hieronymus Gemusaeus, Leonhart Fuchs und nicht zuletzt Philipp Melanchthon, der die Werke Galens mit protestantischen Vorstellungen zu verbinden sucht. Auch Camerarius will an der Verbreitung der in seinen Augen richtigen Medizin mitwirken und diese Phase prägen. Er bringt sie auch selbst durch die Veröffentlichung der Basler Galenausgabe zu einem gewissen Abschluss. Und so dauert es etwa 13 Jahre, bis er im Jahr 1551 sein nächstes medizinisches Werk, den Commentarius utriusque linguae, veröffentlicht, ein zweisprachiges Lexikon zu den menschlichen Körperteilen. Auch hier vermittelt er wieder Grundlagen, aber der Fokus hat sich dort auf die Terminologie verschoben. E. Anhang: Edition und Übersetzung zentraler Passagen Eine sorgfältige Edition und Übersetzung zentraler Texte war für diese Dis‐ sertation unumgänglich, da die Drucke teilweise recht viele Druck- und im Bereich der mathematischen Schriften auch inhaltliche Fehler aufweisen, die den Leser leicht in die Irre führen können. Hinzu kommt die sprachliche Komplexität und stellenweise paradoxe Gedankenführung des Camerarius. Für das Verständnis zentraler Prinzipien seines Denkens ist es notwendig, einen möglichst umfassenden Überblick über seine Schriften sowie die von ihm verwendete Terminologie zu erhalten. Diese Vorgehensweise soll die Texte auch Forschern aus anderen Fachgebieten zugänglich machen. Es wurde bei der Übersetzung, soweit es möglich war, auf die Verwendung einer einheitlichen Terminologie geachtet (zum Teil mit Angabe der lateinischen Begriffe in den Übersetzungen), und in den Fußnoten wurden nicht nur wichtige Quellen und Parallelstellen angeführt, sondern auch komplexere Gedankengänge erläutert. Zudem erhielten die Prosatexte eine eigene Paragraphenzählung. In den grie‐ chischen Texten wurden kleinere Fehler (vor allem im Bereich der Akzente) stillschweigend korrigiert und an moderne Gepflogenheiten angepasst. Die Reihenfolge der hier edierten und übersetzten Texte richtet sich nach dem Datum des Drucks, in dem sie enthalten sind. 615 ὧν καὶ ὁ Πίκος ἐστὶ] ὧ καὶ ὁ Πίκος ἐστὶ im Druck, allerdings gesondert korrigiert auf Bl. *iiiir. 1 Die Astrologica (= Camerarius 1532a) 1.1 Der an Jakob Milich gerichtete Widmungsbrief aus dem griechischen Teil der Astrologica (= Camerarius 1532a, Bl. *IIr-*IIIr) Ἰωαχεῖμος Καμεράριος Ἰακωβῷ Μειλιχίῳ. (1) Τὴν μὲν ἀστρονομίαν οὐδὲ ἐν τῷ νῦν εὐλογεῖν καιρὸς οὐδὲ αὐτὴ ἡ οὕτω εὐφημηθεῖσα ἐπιστήμη παλαιῶν τε ἅμα καὶ νεωτέρων σπουδῇ, τοὺς ἀφ’ ἡμῶν ἐπαίνους προσδέξεσθαι ἀσμενῶς ἔμοιγε δοκεῖ. Τὰ γὰρ παρόντα τὸ μακρολογεῖν παραιτεῖ, ὡς ἡμῶν ἐπιστολὴν δηλαδὴ, οὐ ξύγγραμμα ἐκδιδόντων. Αἱ δὲ τῆς ἐπιστήμης πλεῖσται καὶ προθυμότατα ἐκπονηθεῖσαι εὐλογίαι τε καὶ ἀπολογίαι κατὰ τῶν ψεγόντων καὶ λοιδορούντων, κἂν ἄλλας μὴ λέγωμεν, αἱ γοῦν παρὰ Πτολεμαίῳ τῷ ἀστρονομικωτάτῳ, οὐδέ γε μὴν ἧττον τε λόγους καὶ φιλοσοφίαν ἐσπουδακότι, τοιαίδε εἰσὶν, ὥστε ῥᾷστα ἐπιστομίσαι τοὺς τὴνδε βλασφημοῦντας, εἰδὲ μὴ τοῦτο τὸ γένος ἀνθρώπων στωμυλώτερον εἴωθεν εἶναι, ἢ ὥστε σιωπᾶν καίπερ πάνυ τῇ ἀληθείᾳ νικώμενον. (2) Ὅμως δὲ συνιστάναι δύναται τοῖσγε φιλολόγοις τὸ τῆς καλλίστης ἐπιστήμης μάθημα, οὐ μόνον ἐφ’ ὅσον ἓν μὲν αὐτῆς μέρος οὐρανοῦ τε αὐτοῦ καὶ τῶν ἄστρων ἅπτεται, ᾧ τοὺς γινομένους σχηματισμοὺς ἡλίου τε καὶ σελήνης καὶ τῶν ε. ἀστέρων πρὸς ἀλλήλους τε καὶ τὴν γῆν καταλαμβανόμεθα, ἣ δὴ καὶ δι‘ ἑαυτὴν θεωρία αἱρετή ἐστιν, ἀλλὰ καὶ καθ’ ὃ, ὥσπερ τὸ δεύτερον αὐτῆς μέρος, διὰ τῆς φυσικῆς αὐτῶν τούτων ἰδιοτροπίας τὰς ἀποτελουμένας γενέσεις τε καὶ φθορὰς τῶν ἐντὸς τοῦ περιέχοντος ἐπισκεπτόμεθα. Ὃ δὴ τῆς ἐπιστήμης ὣς ἔφην μέρος τὸ β. οὐ χθὲς ἢ πρώην, φασὶν, ἐπιπολάζον εἰς τὰς μαθήσεις παρελήφθη, ἀλλὰ καὶ εὕρημά ἐστιν τῶν παλαιοτάτων καὶ τοῖς σοφωτάτοις ἀνδράσι γνωστόν τε καὶ ἐν τιμῇ γενόμενον. (3) Οὐ μικρὸν τοίνυν ἀφροντίστως τινες, ὧν καὶ ὁ Πίκος ἐστὶ, 615 διισχυρίσαντες καταλαμβάνονται, διὰ τὴν φαυλότητα τούτου τοῦ μέρους καὶ μεμνῆσθαι αὐτοῦ τὸν τε Πλάτωνα καὶ τὸν Ἀριστοτέλη ἐν τοσούτῳ βιβλίων ἀριθμῷ ἀπαξιώσασθαι. Περὶ γὰρ τοῦ Πλάτωνος οὐδὲ οἶμαι λόγου δεῖται τὸ πρᾶγμα, ὡς τῇ τῶν Αἰγυπτίων ἀστρονομίᾳ προσέχοντος, καὶ τῆς ἀκριβῆς ἐξετάσεως τῶν 616 φασιν] φησιν im Druck. 617 ἀναδοθείσης] ἀναδοδείσης im Druck. 618 μὴ] fehlt im Druck. σφαιρικῶν μετεορολογιῶν μεμνημένου καὶ ἐν Τιμαίῳ καὶ ἐν τοῖς περὶ Νόμων. Ἀλλὰ μὴν καὶ μάλα δόξειεν ἂν ἀπρεπὲς ὡς φαύλης [Bl. *IIv] οὔσης ταύτης τῆς ἐπιστήμης μνήμην αὐτῆς οὐ ποιῆσαι τὸν Πλάτωνα, ὃς δὴ ἐν τῷ Χαρμίδῃ διαῤῥήδην περὶ ἐπῳδῆς τινὸς διαβεβαιοῦντα τὸν Σωκράτη εἰσάγει, δῆλον καὶ τυφλῷ ἂν ὅτι φαυλότερας πραγματείας. Ὁ δὲ Ἀριστοτέλης περὶ Θάλεω γράφων τοῦτο τὸ μέρος καὶ τῇ φιλοσοφίᾳ προσέθηκεν· Ὀνειδίζοντων γ‘ αὐτῷ διὰ πενίαν ὡς ἀνωφελοῦς τῆς φιλοσοφίας οὔσης, κατανοήσαντά φασιν 616 αὐτὸν ἐλαιῶν φορὰν ἐσομένην ἐκ τῆς ἀστρολογίας ἔτι χειμῶνος ὄντος, καὶ τὰ λοιπὰ, διελθὼν ἐν πρώτῳ τῶν Πολιτικῶν. (4) Καὶ σε μὲν οὖν, ὦ φίλτατε Μειλίχιε, ἀμφότερον τὸ μέρος παντὶ τρόπῳ ἀσκούμενον εἴδομεν, οὐ μόνον αὐτόν σε τὰ ἐνόντα καλὰ ἐρευνῶντα, ἀλλὰ καὶ ἐξευρηθέντα κοινωνήσαντα τοῖς μετέχειν ἐθέλουσι, κάλλιστον ὑφιστῶντα πόνον τοῦ γενέσθαι καὶ ἄλλους διά σου, ὡς ἔπος εἰπεῖν θεοεικέλους ἄνδρας καὶ μὴ φθονοῦντα οὐδενὶ τῆς σῆς πολυμόχθου καὶ παγχρήστου διδαχῆς. Ταύτην μὲν τὴν προαίρεσίν σου θαυμάζειν ἔχομεν, ὡς ἄξιον, τὸ δὲ θρυλλούμενον καὶ ἐπιφωνεῖν πρέποι ἄν· Βαλλ‘ οὕτως, αἴ κέν τι φόως, ὦ Μειλίχιε, γένοιο, τῇδε τῇ ἐπιστήμῃ, οὕτω καταβεβαρβαρωμένῃ διὰ τοσοῦτον χρόνον. (5) Πρὸ γὰρ οὐ πάνυ πολλοῦ εἴ τις τὰς γοητείας οὐδὲ φύσιν οὐδὲ λόγον ἐχούσας ἐξέλοιτο, οὐδ’ ἂν μικρόν τι μέρος ὑπόλοιπον ἔμεινε. Ταῦτα ἀναλογισάμενον ὕπεισι πόλλακι τοὺς Ἕλληνας, οὐ μόνον διὰ τὴν τῶν λόγων θείαν δύναμιν μακαρίζειν, ἀλλὰ καὶ διὰ τὸ τῶν φρένων ἄρτιον καὶ φρόνιμον. Ἐμου γὰρ κρίνοντος, οὐδεπώποτε σοφώτεροι οὐδὲ περὶ τὸ λέγειν δεινότεροι ἐν τῇ γῇ ἄνθρωποι γεγόνασι τῶν ἐν τῇ Ἑλλάδι, καὶ τῶν τῆς ἐκείνων παιδείας μετειληχότων. Kαὶ τούτου ἂν οὐκ ἀσθενῆς ἔλεγχος εἴη τὸ πάσας τὰς ἐπιστήμας καὶ πᾶν, ὡς καθόλου εἰπεῖν, τὸ καλὸν τῆς σοφίας καὶ τῆς ἀρετῆς, ἅμα τῇ Ἑλληνικῇ παιδείᾳ ὥσπερ δὴ κατασκαφθείσῇ, συνδιαφθαρῆναι, καὶ ἀναβλαστῆσαι πως ἐπὶ τῶν προγόνων ἡμῶν, ἐκείνης ἐκ θεοῦ, θεὸς γὰρ τοσούτου ἀγαθοῦ αἴτιος, ἀναδοθείσης. 617 (6) Ταῦτα δὲ καὶ τούτοις τε καὶ ἄλλοις ἔτι οὕτως ὡς εἴρηται εἶναι, ἀναπέπεισμαι, καὶ δὴ καὶ ἐγχειρισθέντων ἐμοὶ πρώην τῶν ξυγγραμάτων τινῶν ἀστρολογικῶν καὶ ἐν τοῖς πρώτοις τῆς Τετραβίβλου συντάξεως τῶν ἀποτελεσμάτων Πτολεμαίου τοῦ πάνυ, ἀφ’ οἷς τὴν ἀστρονομίαν μᾶλλον ἢ εἰπεῖν δυνατὸν ὑπεραγάπησα, ἵνα [Bl. *IIIr] δὲ μὴ 618 μόνος ἐγῶ αὐτὰ καρποῖμι, τύποις 1.1 Der Widmungsbrief an Jakob Milich 207 619 τῆς] τοῖς im Druck. 620 ὅταν-δοκῇ] = Athenaios, Deipnosophistae 5, 65, 20-24. Bei den Versen handelt es sich um iambische Trimeter. 621 δευτέρᾳ χώρᾳ] δευτέρα χώρα im Druck. 622 Τούτοις-διατελοῦσιν] = Ptolemaios, Apotelesmata (= Tetrabiblos) 1, 3, 18 1-20 1. ἀναγραφῆναι καὶ ἐκδοθῆναι ἅπασιν ἐποίησα. Κατὰ γὰρ κωμικόν τινα, ἡδονὴν ἔχει, ὅταν τις εὕρῃ καινὸν ἐνθύμημά τι, δηλοῦν ἅπασιν. Οἱ δὲ γ’ αὑτοῖσιν σοφοί πρῶτον μὲν οὐκ ἔχουσιν τῆς 619 τέχνης κριτήν, εἶτα φθονοῦνται. Xρὴ γὰρ εἰς ὄχλον φέρειν ἅπανθ’ ὅσ‘ ἄν τις καινότητ’ ἔχειν δοκῇ. 620 (7) Εἰ γὰρ τοὶ οὐχ ἡμέτερον τὸ ἐνθύμημα, ἀλλ’ ὅμως ἡ ἔκδοσις καὶ ὡσανεὶ ἐκφορὰ ἡμετέρα ἐστίν ἐξὸν ἐν τοῖς ἀποκειμένοις καὶ ταῦτα φυλάττειν. Ἐπέμψαμεν δὲ, ὡς ὁρᾷς, σοι ἰδίως καὶ ἀστρονομικωτάτῳ ὄντι καὶ ἡμῖν φιλτάτῳ. Εἰδ‘ ὅπερ ἐννοοῦμεν, ἀποβαίη ὡς καὶ ἐθέλομεν, μετ’ οὐ πολὺ καὶ τὴν τετράβιβλον ὡσαύτως ἐκπονηθεῖσαν ἀφ‘ ἡμῶν οἱ φιλόλογοι ἕξονται. Πρὸς δὲ τέλει, ὡς ἰδεῖν ἔξεστι, οἷον ἐν προσθήκης μέρει ἐκτυπωθῆναι ἐποιήσαμεν ξυγγραμμάτιον τι τῶν ἰατρομαθηματικῶν, οὐ μόνον ὅτι ὠφέλιμον καὶ χαριὲν ἔδοξεν, ἀλλ’ ὅτι καὶ ὑπὸ Πτολεμαίου μνήμη περὶ τοιαύτης τινὸς τέχνης παρ‘ Αἰγυπτίοις ἐποιήθη οὕτω μὲν, ὡς ἐξέθημεν κατὰ λέξιν· Τούτοις δὲ, ὡς ἔοικε, συνεγνωκότες οὕτως ἔχουσι καὶ οἱ μάλιστα τὴν τοιαύτην δύναμιν τῆς τέχνης προαγαγόντες Αἰγύπτιοι συνῆψαν πανταχῆ τῷ δι’ ἀστρονομίας προγνωστικῷ τὴν ἰατρικὴν. Οὐ γὰρ ἄν ποτε ἀποτροπιασμούς τινας καὶ φυλακτήρια καὶ θεραπείας συνίσταντο πρὸς τὰς ἐκ τοῦ περιέχοντος ἐπιούσας καὶ παρούσας περιστάσεις καθολικὰς καὶ μερικὰς, εἴ τις αὐτοῖς ἀκινησίας καὶ ἀμετρεψίας τῶν ἐσομένων ὑπῆρχε δόξα. Νῦν δὲ καὶ τὸ κατὰ τὰς ἐφεξῆς φύσεις ἀντιπράξαι δύναμενον ἐν δευτέρᾳ χώρᾳ 621 τοῦ καθ‘ εἱμαρμένην λόγου τιθέμενοι συνέζευξαν τῇ τῆς προγνώσεως δυνάμει τὴν κατὰ τὸ χρήσιμον καὶ ὠφέλιμον διὰ τῶν καλουμένων παρ’ αὐτοῖς ἰάτρομαθηματικῶν συντάξεων μέθοδον, ὅπως διὰ μὲν ἀστρονομίας τὰς τε τῶν ὑποκειμένων συγκράσεων ἰδιότητας εἰδέναι συμβαίη καὶ τὰ διὰ τὸ περιέχον ἐσόμενα συμπτώματα καὶ τὰς ἰδίας αὐτῶν αἰτίας, ὡς ἄνευ τῆς τούτων γνώσεως καὶ τῶν βοηθημάτων κατὰ τὸ πλεῖστον διαπίπτειν ὀφειλόντων, ἅτε μὴ πᾶσι σώμασι ἢ πάθεσι τῶν αὐτῶν συμμέτρων ὄντων, διὰ δὲ τῆς ἰατρικῆς ἀπὸ τῶν ἑκάστης οἰκείως συμπαθούντων ἢ ἀντιπαθούντων τὰς τε τῶν μελλόντων παθῶν προφυλακὰς καὶ τὰς τῶν ἐνεστώτων θεραπεὶας ἀδιαπτώτους, ὡς ἐνὶ μάλιστα, ποιούμενοι διατελοῦσιν. 622 Ἔῤῥωσο. 208 1 Die Astrologica (= Camerarius 1532a) 623 Zur Interpretation des Widmungsbriefes vgl. Kapitel B.1 dieser Arbeit. Zur Person Jakob Milich: Er war Professor für Kosmologie in Wittenberg und lebte von 1501 bis 1559. 624 Mit dem Wort astronomia sind hier sowohl Astrologie als auch Astronomie gemeint, wie Camerarius wenig später selbst deutlich macht. 625 λόγοι könnte an dieser Stelle vielleicht auch mit Literatur übersetzt werden. Dafür, dass hier „Beredsamkeit“ gemeint ist, spricht die Tatsache, dass Camerarius weiter unten von den weisen und redegewaltigen Griechen sagt: „Ἐμου γὰρ κρίνοντος, οὐδεπώποτε σοφώτεροι οὐδὲ περὶ τὸ λέγειν δεινότεροι ἐν τῇ γῇ ἄνθρωποι γεγόνασι τῶν ἐν τῇ Ἑλλάδι.“ 626 Zu Zeiten von Camerarius galten neben Sonne und Mond die folgenden fünf Himmels‐ körper als Planeten: Merkur, Venus, Mars, Iupiter und Saturn. Joachim Camerarius grüßt Jakob Milich 623 (1) Es scheint mir hier nicht der rechte Ort zu sein, die astronomia [sc. Astro‐ nomie und Astrologie] 624 zu loben. Auch scheint sie meine Lobreden gar nicht gern anzunehmen, wo sich doch schon die Alten und Neueren so sehr um ihren Lobpreis bemüht haben. Meine gegenwärtige Situation verbietet lange Ausführungen, da ich ja nur einen Brief und kein Buch veröffentliche. Von den meisten und am entschlossensten ausgearbeiteten Lob- und Verteidigungsreden dieser Wissenschaft gegen ihre Tadler und Schmäher, will ich andere gar nicht erst nennen, nur die des Ptolemaios, des größten Astronomen, der sich ebensosehr um die Beredsamkeit (λόγοι) 625 und die Philosophie bemüht hatte [wie um die astronomia]. Seine Apologien könnten mit größter Leichtigkeit die Schmäher der Kunst zum Schweigen bringen, wenn diese Art von Menschen nicht, wie üblich, zu geschwätzig wäre, als dass sie sich zum Schweigen bringen ließe, selbst wenn sie gänzlich von der Wahrheit besiegt würde. (2) Und dennoch kann man den Gelehrten (φιλόλογοι) das Erlernen dieser schönsten Wissenschaft empfehlen, nicht nur soweit nur der eine Teilbereich von ihr über den Himmel selbst und die Planeten betroffen ist, der die sich ergebenden Konstellationen der Sonne, des Mondes und der fünf Planeten 626 zueinander und zur Erde umfasst - diese wissenschaftliche Betrachtungsweise (θεωρία) muss man natürlich schon um ihrer selbst willen wählen -, sondern auch soweit wir die aufgrund der natürlichen Eigenschaft dieser Einflüsse bewirkten Entstehungs- und Vergehensprozesse der Dinge innerhalb der Atmo‐ sphäre (περίεχον) betrachten, wie es bei ihrem zweiten Teilbereich der Fall ist. Er kam, wie schon gesagt, nicht erst gestern oder vorgestern auf und wurde in die Wissenschaften übernommen, sondern ist eine Erfindung der Ältesten und war bei den weisesten Männern bekannt und zu Ehren gekommen. (3) Einige, unter ihnen auch [Giovanni] Pico [della Mirandola], behaupten ziemlich unvernünftig, dass sowohl Platon als auch Aristoteles in ihren vielen 1.1 Der Widmungsbrief an Jakob Milich 209 627 Vgl. Pico, Disputationes adversus astrologiam divinatricem 1 [= Pico 1557, 414-428, hier: 414-416]. 628 Vgl. Platon, Timaios 16 47 a 1-c 4 und Platon, Nomoi 7, 3, 4, 4 817 e 5-818 d 7; 820 e 8-822 d 1 sowie 12, 4, 2 966 d 9-968 b 1. 629 Vgl. Platon, Charmides 1, 3 155 c-158 e. 630 Aristoteles, Politica 1, 11 1259 a 8-11. 631 Gemeint sind wohl die sublunaren Dinge. 632 Vgl. Homer, Ilias 8, 282: „βάλλ’ οὕτως, αἴ κέν τι φόως Δαναοῖσι γένηαι“ (Übersetzung von Voß 2001, 248: „Triff so fort und werde der Danaer Licht“). Büchern sogar die Erwähnung dieses Bereiches wegen seiner Schlechtigkeit für unwürdig hielten und ablehnten. 627 Bezüglich Platon bedarf die Sache meiner Ansicht nach keiner Erklärung, da er der Astronomie der Ägypter anhaftete, und sowohl im „Timaios“ als auch in den „Nomoi“ die genaue Prüfung der sphärischen Himmelslehren erwähnt. 628 Und doch dürfte es ziemlich ungebühr‐ lich scheinen, dass Platon diese Wissenschaft nicht erwähnt haben soll, weil sie seiner Meinung nach schlecht sei, wo er doch im Charmides ausdrücklich den Sokrates sich positiv über einen bestimmten Zauberspruch äußern lässt, 629 obwohl sogar für einen Blinden offensichtlich sein dürfte, dass es sich hierbei [sc. bei der Zauberei] um eine schlechtere Tätigkeit handelt. Aristoteles aber hat, als er über Thales schrieb, diesen Teilbereich an die Seite der Philosophie gestellt: „Als man ihm wegen seiner Armut vorgeworfen hatte, seine Philosophie sei nutzlos, hat er, wie es heißt, noch im Winter mit Hilfe der Astrologie die künftige Olivenernte vorausgesehen usw.“ 630 Dies berichtet er im ersten Buch der Politika. (4) Hoch geschätzter Milich, ich habe erkannt, dass auch du in beiden Bereichen umfassend geübt bist. Du erforschst nämlich nicht nur selbst die schönen im Inneren enthaltenen Dinge, 631 sondern teilst auch das, was du herausgefunden hast, mit allen, die es wollen. Dadurch nimmst du die herrliche Aufgabe auf dich, dass Andere durch dich gleichsam gottähnliche Männer werden, und verweigerst niemandem deine auf viel Arbeit gründende und umfassenden Nutzen bringende Lehre. Diese deine Absicht bewundere ich, so wie es ange‐ messen ist, und vielleicht ist es angemessen, das bekannte Sprichwort ertönen zu lassen: Milich, erziele [weiterhin] solche Treffer und werde das Licht 632 dieser Wissenschaft, die über eine so lange Zeit hinweg derart verroht ist. (5) Wenn jemand, selbst vor nicht allzu langer Zeit, die weder auf der Natur noch auf der Vernunft beruhende Zauberei [aus der astronomia] entfernt hätte, dürfte nicht einmal der kleinste Teil von ihr [sc. der astronomia] erhalten geblieben sein. Beim Gedanken daran muss ich oft die Griechen preisen, nicht nur wegen der göttlichen Kraft ihrer Worte, sondern auch wegen der Präzision und der Vernunft ihres Verstandes. Meiner Meinung nach gab es auf der Erde 210 1 Die Astrologica (= Camerarius 1532a) 633 Auch die der 1535 edierten Tetrabiblos (= Camerarius 1535) zugrundeliegende Hand‐ schrift stammt aus dem Nachlass Regiomontans (Nürnberg, StB, Cent. V, App. 8, Bl. 1r- 54v; vgl. dazu Neske 1997, 214 f. und Gindhart 2017, 200 f., Anm. 8.). Zur Genese dieses Druckes vgl. Melanchthon an Camerarius, 20.07.[1533] (MBW 1347), Melanchthon an Camerarius, 2. Hälfte Oktober 1534 (MBW 1505). 634 Athenaios, Deipnosophistae 5, 65, 20-24. niemals weisere und redegewaltigere Menschen als die Griechen und jene, die an ihrer Bildung teilhatten. Ein nicht geringer Beweis dafür dürfte sein, dass alle Wissenschaften und, verallgemeinert gesagt, alles Gute der Weisheit und der Tugend gemeinsam mit dem Niedergang der griechischen Erziehung (παιδεία) endete und erst zur Zeit unserer Vorfahren wieder erblühte. Dabei wurde diese Blüte durch Gott bewirkt, denn nur Gott konnte die Ursache eines solchen Guts sein. (6) Ich bin überzeugt, dass dies so ist, wie gesagt wurde, aufgrund dieser und weiterer Gründe, zumal mir vor Kurzem einige astrologische Abhandlungen in die Hände fielen und vor allem die ganze vierbändige Zusammenstellung der [Gestirns-]einflüsse des Ptolemaios [sc. die Tetrabiblos], 633 aufgrund deren ich die Astronomie stärker liebgewonnen habe, als ich sagen kann. Damit nicht nur ich selbst einen Nutzen von den Abhandlungen habe, habe ich sie für alle drucken und veröffentlichen lassen, denn nach einem Komödiendichter [sc. Anaxandrides] bringt es Freude, „wenn jemand eine Entdeckung gemacht hat, um sie allen zu zeigen. Diejenigen aber, die für sich selbst weise sind, haben zunächst niemanden, der ihre Entdeckung beurteilen könnte und werden dann noch beneidet. Denn wann immer jemand etwas Neues erfunden zu haben scheint, muss dies mit dem Volk geteilt werden.“ 634 (7) Auch wenn die Texte nicht meine Entdeckung sind, so gebe ich sie dennoch heraus und mache sie gleichsam bekannt, obwohl ich sie auch unter Verschluss hätte halten können. Wie du siehst, habe ich das Werk dir persönlich geschickt, weil du der größte Astronom bist und von mir besonders geschätzt wirst. Wenn alles nach Plan und Wunsch verläuft, werden die Gelehrten (φιλόλογοι) bald auch die von mir ausgearbeitete Tetrabiblos in Händen haben. Am Ende [der edierten Texte] habe ich, wie man sehen kann, gleichsam als Addendum noch eine iatromathematische Abhandlung drucken lassen, nicht nur, weil mir dies nützlich und willkommen schien, sondern auch weil Ptolemaios solch eine Kunst bei den Ägyptern erwähnt- und zwar so, wie ich es im Folgenden wortgetreu abgedruckt habe: Da die Ägypter, die diese Fähigkeit der [astronomischen] Kunst am meisten förderten, einsahen, dass dies der Fall ist, haben sie die Heilkunst in jeglicher Hinsicht mit der 1.1 Der Widmungsbrief an Jakob Milich 211 635 Es dürften Zusammenstellungen von Lehren gemeint sein. 636 Beim Wort ἑκάστης könnte entweder νόσου (Krankheit) oder αἰτίας (Ursache) zu ergänzen sein. Camerarius’ Text weicht hier von Robbins‘ moderner Edition ab, in der ἑκάστοις steht (vgl. Robbins 1940, 33). 637 Der ganze Absatz ist wörtlich übernommen aus: Ptolemaios, Apotelesmata (= Tetra‐ biblos) 1, 3, 18, 1-1, 3, 20, 1. astrologischen Prognostik verknüpft. Sie hätten wohl niemals (apotropäische) Sühne‐ opfer, Schutz- und Heilmittel für die sich aus der Atmosphäre [περίεχον] nähernden und schon anwesenden, generellen und spezifischen Einflüsse zusammengestellt, wenn sie an die Unbeweglichkeit und Unabwendbarkeit künftiger Übel geglaubt hätten. Nun aber wiesen sie der Möglichkeit, mit ordnungsgemäßen natürlichen Mitteln künftigen Übeln entgegenzuwirken, den zweiten Rang gegenüber der höheren Fügung zu und verbanden mit der Macht der Prognostik die nützliche und brauchbare Methode sogenannter iatromathematischer Zusammenstellungen, 635 um einerseits durch die Astronomie die Eigenheiten des zugrundeliegenden Temperaments [eines Menschen] und aus der Atmosphäre [περίεχον] entstehender künftiger Ereignisse erkennen zu können, sowie ihre spezifischen Ursachen, weil ohne ihre Kenntnis not‐ wendigerweise meistens auch die Hilfsmittel erfolglos sind, da sie nicht auf alle Körper oder Leiden abgestimmt sind, und um andererseits durch die Heilkunst aus den mit- und gegen eine Krankheit 636 wirkenden Mitteln unaufhörlich möglichst unfehlbare Schutzmittel für künftige und eine Heilung gegenwärtiger Übel zu erstellen. 637 Leb wohl. 212 1 Die Astrologica (= Camerarius 1532a) 1.2 Der an Andreas Perlach gerichtete Widmungsbrief aus dem lateinischen Teil der Astrologica (= Camerarius 1532a, 1-3; = Bl. a1r-a2r) [S. 1 / Bl. a1r] Ioachimus Camerarius Andreae Perlachio praestanti astrologo suo (1) Cum te iamdiu novi e scriptis tuis, Perlachi, tum mihi singularem admira‐ tionem tui excitarunt sermones amici nostri Schoneri, mathematicarum disci‐ plinarum professoris apud nos, qui, cum soleat nobis perlibenter audientibus de te saepe multa dicere, praedicavit etiam studium erga literas Graecas tuum, quod te, quamvis sero, tamen animi promptitudine ac cupiditate discendi summa ag‐ gressum nuper narravit mihi. Magnam ea res voluptatem mihi attulit, gaudebam enim te doctissimum hominem eruditionem non negligere, quod multi faciunt. Et videbam fore, ut Graeca literatura adiutus maiore cum laude et quadam quasi excellentia in professione artis tuae versareris. Accedebat huc, quod occasionem essem habiturus declarandae voluntatis erga te meae et amicitiae iungendae. Nam cum inter reliquias librorum Ioannis de Regiomonte reperissem unum codicem Graecum fere totum scriptum manu ipsius, dedissemque de iudiciis astronomicis aliquid typographo excudendum, gratum tibi facturum me credidi, si addidissem Graecis versionem nostram et tironi in hac militia et in re non valde usitata. Quid enim Graece in hac disciplina est a nobis visum typis evulgatum? In hac, inquam, quam nunc Astrologiam proprie dici volunt, quae est, ut Ptolemaeus ait, divinatio sive praedictio de Astronomia. (2) Converti autem omnia et libere et admodum brevi tempore, ita ratione editionis ferente. Neque parum gratum fuerit mihi, et a te et ab aliis commo‐ veri, sicubi erratum a me iudicabitur. Quod in Graecis est [S. 2 / Bl. a1v] δωδεκατημόριον, reddidi quomodo potui, nunc locum nunc signum. Non enim signum proprie est, cum e locis, in quibus fuerunt illis temporibus, quibus haec sunt scripta, signa, et quidem longissime, aliqua recesserint. Quod ipsum non parum incommodi afferre videtur in praedictionibus inobservatum aut neglectum. Supra tempora Ptolemaei annis circiter CC. aequinoctialis circulus transiit pedes Tauri, et Geminorum cervices in aestivo circulo iacuerunt. At nunc in suo loco Geminorum vix unus pes est, et Taurus ad aequinoctialem nusquam attingit, unde intelligi potest, quam nostro tempore caelum ab illo diversum sit. Sed duodecim caeli locis proprietates maxime ascriptae videntur pro natura earum stellarum, quae in illorum signis lucerent. Quod nunc non potest conve‐ nire. Nam quomodo vetustiorum praecepta - haec enim antiquissima disciplina est - ad sua tempora accomodarit Ptolemaeus, facile princeps omnium, qui 1.2 Der Widmungsbrief an Andreas Perlach 213 istam artem tractarunt, non mirabitur, qui eximiam diligentiam observationum illius cognoverit, quae cum aliis in artibus, tum in hac plurimum potest vel potius omnia, quae diu iam neglecta et pulcherrimam scientiam calumniis malevolorum obiecit et replevit superstitionum ineptiis. Sed revocabitur et haec, sic ut confido, tua tuisque similium opera. (3) Quos ego studiose assectans orabo, ut me quoque attollant, sicut pueri parentes aut notos homines consuevere. Semper enim hanc scientiam feci maximi, et ingenita animi promptitudine complexus sum, domesticis quoque exemplis ad huius culturam invitatus. E quibus ne viris solum quis concessum putet doctos esse, etiam foeminam ἀστρόλογον possim proferre. Sed me edu‐ catum in bonis literis aliquantisper ab illius quasi congressu exclusit barbaries obsidens domum nobilissimae scientiae, improba et contumeliosa ianitrix. Qua paululum remota et velut languida deposita succedentibus bonis et elegantibus [S. 3 / Bl. a2r] literis sumus nos quidem admissi in amplissimam domum, sed de congressu adhuc laboramus. Hanc gratiam et Pontano habere et fortunae debemus, quae aliquot Graecos libellos nobis obtulit, quibus illa, quam dixi, successio indicaretur. (4) Sed redeo ad te, cui si gratum fuisse cognovero studium erga te meum, istamque etiam opellam conversionis, valde laetabor, daboque operam, ut hoc in genere prolixius elaborem. Vale e Norico. Pr. Id. April. natali nostro. 214 1 Die Astrologica (= Camerarius 1532a) 638 Der Brief wird in Kapitel B.1 dieser Arbeit interpretiert. Johannes Perlach (1490-1551) war Arzt und Astrologie. 639 Johann Schöner (1477-1547) unterrichtete gemeinsam mit Camerarius am Egidiengym‐ nasium in Nürnberg. Er besaß einige Schriften aus dem Nachlass Regiomontans, vgl. Maruska 2008, 78 f. und Kapitel B.1 dieser Arbeit. 640 Zu Regiomontan (1436-1476), einem der größten Astronomen seines Zeitalters, und seinem Nachlass vgl. Maruska 2008, 77-80 sowie den folgenden Link: https: / / www.astronomie-nuernberg.de/ index.php? category= regiomontanus&page= n achlass (25.05.2021). 641 Erlangen, UB, Ms 1227. 642 Der Druck ist in einen griechischen und einen lateinischen Teil untergliedert, vgl. Kapitel B.1 dieser Arbeit. [S. 1 / Bl. a1r] Joachim Camerarius grüßt Andreas Perlach, seinen her‐ ausragenden Astrologen 638 (1) Mein lieber Perlach! Ich kenne dich schon lange aus deinen Schriften. Davon abgesehen haben auch vor allem die Gespräche mit unserem gemeinsamen Freund [ Johann] Schöner, 639 dem hiesigen Mathematikprofessor, meine Bewun‐ derung für dich entfacht. Er pflegt nämlich oft von dir zu reden und lobt dein Studium der griechischen Literatur, wobei ich ihm gern zuhöre. Neulich erzählte er mir, du seist es zwar spät, aber entschlossen und mit größtem Lernwillen angegangen. Das hat mir größtes Vergnügen bereitet, weil ich mich freute, dass ein hochgelehrter Mensch wie du die Bildung nicht vernachlässigt, wie es viele andere tun. Und ich sah schon voraus, dass du mit Hilfe der griechischen Literatur deine Kunst mit größerem Ruhm und gleichsam einer gewissen Vorrangstellung [gegenüber anderen Astrologen] ausüben würdest. Es kam hinzu, dass ich die Möglichkeit haben würde, dir mein Wohlwollen zu bekunden und Freundschaft mit dir zu schließen. Nachdem ich nämlich im Büchernachlass des Johannes Regiomontan 640 einen einzigen griechischen Kodex 641 entdeckt hatte, der fast ganz von seiner Hand [ab-]geschrieben worden war, und dem Drucker bereits [einige aus diesem Kodex stammende] Schriften über astrologische Horoskope zum Drucken übergeben hatte, glaubte ich, es werde dir willkommen sein, wenn ich dem griechischen Text eine von mir angefertigte Übersetzung beigebe. 642 Denn du bist ja noch ein Anfänger auf diesem Gebiet, das zudem noch nicht gerade verbreitet ist. Welche Drucke habe ich überhaupt schon gesehen, die auf diesem Fachbereich [der Astrologie] in griechischer Sprache veröffentlicht worden sind? Ich spreche von dem Fachgebiet, das man nun vorzugsweise als astrologia zu bezeichnen sucht, 1.2 Der Widmungsbrief an Andreas Perlach 215 643 Vgl. z. B. Ptolemaios, Apotelesmatica (= Tetrabiblos), 1, 1: „τὸ δι‘ ἀστρονομίας προγνωστικόν“. 644 Camerarius bezieht sich hier das Phänomen der astronomischen Präzession, das eine Verschiebung des Frühlingszeitpunktes entlang der Ekliptik bewirkt. welches Ptolemaios als Divination (divinatio) oder als Vorhersagen (praedictio) aufgrund der Astronomie bezeichnet. 643 (2) Ich habe alles frei und in ganz kurzer Zeit übersetzt, so wie es die Umstände der Edition mit sich brachten. Und es wird mir sehr willkommen sein, wenn du oder andere mich darauf hinweisen, wenn ihr einen Fehler entdeckt. Was im Griechischen δωδεκατημόριον [‚Tierkreiszeichen‘] ist [S. 2 / Bl. a1v], habe ich, so gut ich es vermochte, bald mit ‚Ort‘ [locus; im Sinne einer festen Position], bald mit „Zeichen“ (signum) wiedergegeben. Denn im eigentlichen Sinne ist es kein Zeichen, da sich die Zeichen irgendwie - und zwar sehr weit - von den Orten entfernt haben, an denen sie sich zu jenen Zeiten befanden, als diese Texte geschrieben wurden. 644 Es scheint sehr gefährlich zu sein, die Verschiebung nicht zu berücksichtigen oder für [gänzlich] unwichtig zu halten. Etwa 200 Jahre vor der Zeit des Ptolemaios passierte der Äquator die Füße des [Tierkreiszeichens] Stier und die Nacken [des Sternbildes] der Zwillinge lagen auf dem Sommersonnenwendkreis. Aber jetzt ist vom Sternbild der Zwillinge kaum noch ein einziger Fuß an seinem rechten Ort und [das Tierkreiszeichen] Stier berührt nirgendwo den Äquator, woran man erkennen kann, wie sehr sich der heutige Himmel vom damaligen Himmel unterscheidet. Aber den zwölf Orten des Himmels [= den Tierkreiszeichen] scheinen ihre Eigenschaften vor allem aufgrund der Natur eben jener Sterne zugeschrieben worden zu sein, die in den Sternzeichen (signa) jener Orte leuchteten. Die [damals vorgenommene] Zuschreibung kann also gar nicht mehr passen. Denn wie Ptolemaios die Lehren der Älteren, es handelt sich ja um eine uralte Kunst, an seine Zeitverhältnisse anpasste (und er ist zweifellos der Beste von allen, die jene Kunst ausübten), das wird man sich nicht fragen müssen, wenn man die herausragende Sorgfalt seiner Beobachtungen erkannt hat. Von ihr hängt sehr viel oder vielmehr alles ab und zwar sowohl in anderen Fachgebieten, als auch besonders in diesem. Durch die lange Vernachlässigung der Sorgfalt wurde eine wunderschöne Wissenschaft den Vorwürfen ihrer Schmäher preisgegeben und mit abergläubischen Albernheiten überfrachtet. Aber auch dieses Fachgebiet wird, da bin ich überzeugt, durch die Arbeit von dir und anderen Gelehrten deiner Art wiederhergestellt. (3) Eifrig versuche ich diese Gelehrten zu fassen zu kriegen und bitte sie, dass sie auch mich zu sich emporheben, so wie Kinder ihre Eltern oder Bekannten 216 1 Die Astrologica (= Camerarius 1532a) 645 Vermutlich ist eine Frau aus dem familiären Umfeld gemeint. 646 Zum Verhältnis des Camerarius zu Giovanni Pontano (1429-1503) vgl. Ludwig 2003b. darum bitten. Immer schon habe ich diese Wissenschaft hochgeachtet und mich ihr mit angeborenem Interesse gewidmet, wobei ich auch durch Vorbilder aus meinem eigenen Umfeld 645 zu ihrer Ausübung angehalten wurde. Man soll nicht glauben, dass sich darunter nur Männer befunden hätten, ich könnte auch eine weibliche Astrologin anführen. Von der Vereinigung mit der Astrologie aber hat mich, der ich in den schönen Künsten ausgebildet wurde, die Barbarei eine ganze Weile lang ferngehalten. Sie hielt nämlich das Haus dieser sehr edlen Wissenschaft besetzt - eine boshafte und schmachvolle Türhüterin. Nachdem sie sich aber ein wenig entfernt und gleichsam müde niederlegt hatte, wurde ich durch die guten und edlen Wissenschaften [S. 3 / Bl. a2r] in ihr geräumige Haus eingelassen. Denn sie hatten zwischenzeitlich ihren Platz übernommen. Aber die Vereinigung mit der Astrologie strebe ich noch an. Dafür schulde ich sowohl [Giovanni] Pontano 646 als auch dem Schicksal Dank, das mir einige griechische Büchlein bescherte, in denen jenes Nachrücken [der guten und edlen Wissenschaften auf die Stelle der Türhüterin], über das ich sprach, angekündigt wurde. (4) Aber zurück zu dir. Wenn ich erfahre, dass dir mein Bemühen um deine Freundschaft und auch mein kleines Übersetzungswerk willkommen waren, werde ich mich sehr freuen und mir Mühe geben, auf diesem Gebiet [künftig] noch mehr zu veröffentlichen. Leb wohl. Aus Nürnberg, am 12.04., meinem Geburtstag. 1.2 Der Widmungsbrief an Andreas Perlach 217 2 Der De theriacis et mihridateis Commentariolus (= Camerarius 1533) 2.1 Auszug aus dem De theriacis et mihridateis Commentariolus (=-Camerarius 1533, Bl. a2r-a5r) De Theriacis antidotis ad Ioannem Magebuchium medicum Noricum, amicum suum, Ioachimi Camerarii Commentariolus (1) Saepe multumque cogitavi causamque requisivi animo meo, cum tot tamque excellentes rerum naturalium scientia viros nostra tempora tulissent, qui medi‐ candi morbos curam complecterentur, qua fieret re, ut vix e singulis aetatibus unum aliquem proferre possemus, cui in sanandis aegrotis successus fortuna aspirasset. Neque vero placuit mihi in casus haec eventa utraque a parte referre, ut, quibus boni in curationibus aliquid saepenumero processisset, illos doctos, quibus secus, indoctos fuisse iudicarem, cum in omnibus artibus fortuna soleat professorum dexteritati et gnavitati respondere. Nam et ab architecto perito institui aedificium feliciter, et fabro exercitato exstrui similiter possit, cum infeliciter [Bl. a2v] imperiti et inexercitati in utroque versati fuissent. Neque certe casu factum aut fortuito, si studiosus veterum scriptorum laudabilem orationem illa imitatus composuerit, neque, qui neglexerit, non ipsius culpa aut inertia magis quam fortuna infantem dixerim. (2) Causam igitur huius quam aiebam rei aliam esse credidi, eamque videor nunc invenisse, ut veram et gravem si quis diligenter ponderet, ita absurdam et levem primo intuitu. Volo autem intelligi me omnino loqui de viro docto et scientia rerum naturalium maxima praedito, quem sequentem dicta et parentem praeceptis veterum medicorum quaerimus cur ad finem curationis rarissime perveniat. Ponimus et obsequentem aegrotum, ne ille doctus huius contumaciam sibi impedimento fuisse queri possit. Hunc igitur talem quo minus, quod proposuit, consequatur, videre visus sum nulla alia re perverti quam studio et assiduitate lectionis veterum scriptorum eorum, in quibus medicinarum naturae et compositiones perscriptae sunt. In quibus ille multum operae ponens soleret similiter ea ad nostrorum hominum et horum temporum rationem accomodare, nec sibi [Bl. a3r] hoc saltem sumere, quod illius certe erat, ut de bonitate praesertim externorum pharmacorum diiudicaret, sed hanc partem relinquere illis, quos nunc apothecarios vocant, qui fuere olim custodes medicinarum et coci apud illos Hippocrates et Erasistratos. Itaque in potestate medici non multum pharmacorum nunc videas, quin ne laborant quidem admodum plerique cognoscere vel illa ipsa vel materiam eorum. (3) Iam vero constat, quam sit necesse apud istos apothecarios, ut recentia sint omnia, quod secus fere esse solet, corrupta tamen et confusa inveniri exotica plurima. Quid ego dicam de conficiendi ratione, quam, cum praescribatur illis ex novitiis Arabum fere libris, a veteri Graeca dissidere multum necesse est, a quibus tamen, ut aliae artes, ita hanc quoque quasi provulgatam orbi terrarum constat. Quid de illis oleis, unguentis, liquoribus, quorum nihil prorsus sui nisi nomen retinet[ur]? Quis enim Rosaceum, quis omphacinum, quis Irinum vidit aut olphescit? Illa autem simplex distillatio subiecto igne herbarum liquiditatis cui Graecorum nota fuit? Quo magis ignotas illis in hoc genere admirabiles [Bl. a3v] exquisitiones fuisse putandum? (4) Quare mihi omnes, qui famam et nomen celebre curatione morborum meriti sunt, videntur, cum medicandi viam et rationem de naturalium rerum scientia cognovissent neque sane ignoratam hanc partem medicinarum praeteriissent, multum tamen ac nonnumquam prorsus ab illa digressi et quasi ex alienis terris in suas patrias revecti quandam singularem rationem inivisse conficiendarum medicinarum neque illis nunc fere superbis cocis commisisse rem totam, sed ipsi quoque attulisse attentionem et operam suam. Magni autem est haec res non solum laboris et industriae, sed longi etiam temporis ac usus. Galeni extat ἑκατονταμίγματος, ut scis, quo se multum usum scribit. Quid est facilius erudito medico, quam discere illius descriptionem, quam scire etiam de singulis migmatis disputare, quid possint, cuius naturae sint, sed cum erit medicina confecta, non efficiet quod ille voluit, nisi etiam fuerit in ipsa singulorum ea natura ac vis, quam esse debere scivit. Hoc igitur ipsum singulatim tractare, inspicere, cognoscere migmata, neque doctrinae neque ingenii neque eruditionis [Bl. a4r] tantum est, sed usus et experientiae eiusque paene infinitae, quare non mirandum, si paucis in sanationibus successus respondent conatibus, sique raro etiam cum recta via ingressi sunt ad curationem, quo voluere perveniunt. Galenus sane gloriosus homo, sed a levitatis et vanitatis crimine, ut opinor, re‐ motus scribit se cognoscendi Iudaici bituminis gratia in Coelosyriam profectum, propter metalla navigasse in Cyprum, propter terram Lemniam in eam insulam quae huic nomen dedisset. Qua cura verisimile est fuisse in aliis maioribus, qui haec parva per tot terrarum et pelagi intervalla assectatus sit. Non autem paucis haec, quae attigi, explicari possunt, et tamen eiusmodi sunt, ut aliquando exquirenda videantur. 2.1 Auszug aus dem De theriacis et mihridateis Commentariolus 219 647 mensuris] mensibus im Druck. (5) Mihi autem subit nunc admiratio veterum medicorum ingenii et sapientiae, qua illi diversissimas res ita in unum corpus congessere, ut unaquaeque cum altera conveniret, et quia ipsae essent diversae, similiter diversas efficacias et vires suas ostenderent. Nam omnium natura rerum similia sibi appetit, et ad se trahit, ut haec ille deus Homericus videri possit ὅσγ’ αἰεὶ τὸν ὅμοιον ἄγει θεὸς ὡς τὸν ὅμοιον. [Bl. a4v] Ceterum in hoc est sapientiae illorum verae divinitas quaedam ita potuisse illa componere, ut in id, quod animo et cogitatione sua corpus constituissent, recte et debite coalescerent, quod efficiendis his rebus, quas ad res factum esset, sufficeret. Hoc est vere admirabile et divinum, ut nostrorum corporum compositionem ex illis diversissimis naturis, tamen eo, quod magis admirari quam intelligere possumus, artificio fabricatus est Deus, ut convenirent ad ea, quae videmus quibusque defungimur vitae munera. (6) Atque illud quidem sapientes veteres numeris et mens[uris], 647 quale esset, docere conati sunt, quod certe ideo illis concedendum videtur, quod nullae sunt in omni doctrina artes vel certiores vel evidentiores. Neque quicquam in quo non est consensio et convenientia, quae ἀναλογία dicitur servata, non vitiosum esse potest, sed haec non aliis in rebus nisi numeris et descriptionibus spectari potest. Quae, quibus artibus artibus traduntur, eae Geometricae et Arithmeticae dicuntur. (7) Vis igitur in hoc est compositionum medicinalium universa, ut enim sive bis quattuor, sive tria et quinque, sive unum et septem coniungas, octo effeceris, ita pro [Bl. a5r] eo atque aliqua res natura sua certarum virium multum aut parum sortita fuerit, sic in mistione momenti plurimum minimumve habebit. Calidissimum est piper, opium frigidissimum. Ponamus medium, frigoris plus‐ culum, calidi non multum. Nonne videbuntur partes opii octonae binis piperis posse temperari? Myrra calida est, sed multo quam piper imbecillius. Si igitur huius sint partes forte in epithemate denae et octonae, opii autem quaternae, nonne satis temperata mistura fuerit, quae cruciatum membri sedet absque nocumento et enectione? Haec mihi consideranti reprehendendi profecto vi‐ dentur, si qui acceleratione compositionum gloriam et famam captant, quales me scio non vidisse nullos. […] Sicut enim admiratione maxima dignam existimo excellentiam ingeniorum, studii, industriae, usus, diligentiae eorum, qui illas compositiones excogitarunt, ita mirum neutiquam puto tam bene et exacte inventis tamque accurate administratis usque eo effectionum illos progressos, ut iam non homines, sed Dii haberentur aut Deorum filii vel discipuli saltem. 220 2 Der De theriacis et mihridateis Commentariolus (= Camerarius 1533) 648 Zu den im Text enthaltenen wissenschaftstheoretischen Reflexionen und der in diesem Zusammenhang verwendeten Fachsprache vgl. Kapitel C dieser Arbeit, zum Werk selbst Kapitel B.2. Das Wort theriaca wurde mit ‚theriakartig‘ übersetzt, da Camerarius damit Theriak und Mithridateion zu meinen scheint - legendäre antike Heilmittel, das angeblich gegen alle Krankheiten und Gifte wirken sollten. Theriak wurde in der Frühen Neuzeit auch als Mittel gegen die Pest eingesetzt, vgl. Kapitel B.2 dieser Arbeit. Kleiner Kommentar des Joachim Camerarius über die theriakartigen Gegengifte für den Arzt Johannes Magenbuch, seinen Freund 648 (1) Obwohl unsere Zeiten doch so viele herausragende Naturkundler hervorge‐ bracht haben, die sich der Heilung von Krankheiten verschrieben haben, habe ich mich oft und viel darüber wundern müssen und den Grund dafür gesucht, wie es denn sein kann, dass wir kaum einen einzigen Mann aus den verschiedenen Altersstufen hervorbringen können, dessen Heilungsversuche einen glücklichen Ausgang genommen hätten. Und es schien mir nicht gut, diese Ereignise Fall für Fall von beiden Seiten her zu schildern, so dass ich diejenigen, denen bei der Heilung oft irgendein Erfolg beschieden war, für gelehrt befinden würde und diejenigen für ungelehrt, denen kein Erfolg beschieden war, da doch gewöhnlich in allen Künsten der glückliche Ausgang vom Geschick und Fleiß des Ausübenden abhängt. Denn ein Gebäude sollte doch wohl von einem erfahrenen Baumeister erfolgreich geplant und von einem geübten Handwerker genauso erfolgreich errichtet werden können, während [Bl. a2v] Unerfahrene und Ungeübte bei beiden Aufgaben versagt hätten. Und es ist sicherlich nicht durch Zufall oder von unge‐ fähr geschehen, wenn ein Student der antiken Schriften eine lobenswerte Rede verfasst hat, weil er diese Schriften nachgeahmt hat; und ich dürfte denjeniegen, der sie ignoriert hat, eher aufgrund seiner eigenen Schuld und Trägheit als aufgrund von Pech als unfähigen Redner bezeichnen. (2) Ich war also überzeugt, dass es einen anderen Grund für das erwähnte Phänomen geben muss, und scheine ihn nun gefunden zu haben. Er ist zwar wahr und, wenn man genauer darüber nachdenkt, bedeutend, aber auf den ersten Blick scheint er abwegig und geringfügig zu sein. Man muss verstehen, dass ich überhaupt nur von einem gelehrten Mann spreche, der über größtes naturkundliches Wissen verfügt, den Lehren der alten Ärtzten folgt und ihren Vorschriften gehorcht. Von ihm fragen wir uns, warum seine Heilungsversuche nur so selten nach Plan verlaufen. Nehmen wir auch einen willfährigen Pati‐ enten an, damit sich der Arzt nicht [im Nachhinein] darüber beschweren kann, der Eigensinn des Patienten habe der Heilung im Weg gestanden. Davon, sein Ziel zu erreichen, wird ein solcher Arzt - so schien ich erkannt zu haben - von keiner anderen Sache abgebracht, als durch sein beständiges Studium 2.1 Auszug aus dem De theriacis et mihridateis Commentariolus 221 649 Zur Bedeutung von natura vgl. Bl. A4v-a5r: „pro eo atque aliqua res natura sua certarum virium multum aut parum sortita fuerit.“ Natura bestimmt also die Stärke der vier Primärqualitäten in den einzelnen Inhaltsstoffen. 650 Öl oder Saft aus unreifen Oliven oder Trauben, vgl. Plinius, Naturalis historia 12, 130. der alten Schriften, in denen die Eigenschaften 649 und die Zusammensetzung von Medikamenten beschrieben sind. Gewöhnlich dürfte er viel Mühe auf diese Schriften verwandt und sie an die Verhältnisse unserer Zeitgenossen und unserer Zeit angepasst, sich aber nicht [Bl. a3r] wenigstens das angeeignet haben, was zu seinen Aufgaben gehört, nämlich die Qualität vor allem auslän‐ discher Medikamente zu beurteilen. Vielmehr dürfte er diesen Aufgabenbereich denjenigen überlassen, die man jetzt Apotheker nennt, welche einst, zur Zeit der alten Ärzte wie Hippokrates und Erasistratos, Verwahrer von Arzneien und ihre Hersteller waren. Deshalb dürfte man jetzt im Besitz eines Arztes nicht viele Medikamente sehen, ja die meisten bemühen sich nicht einmal, die Medikamente selbst oder ihre Materie kennenzulernen. (3) Aber es ist bereits bekannt, dass man bei diesen Apothekern sehr viele gepanschte und verschnittene exotische Medikamente findet, falls die Medika‐ mente überhaupt noch frisch sind, was in der Regel nicht der Fall ist. Was soll ich zur Art der Herstellung sagen, die sich notwendigerweise erheblich von der alten griechischen Herstellungsweise stark unterscheidet? Sie wird den Apothekern nämlich durch die neuen Bücher der Araber vorgeschrieben. Dennoch waren es bekanntlich die Araber, die neben anderen Künsten auch diese Kunst gleichsam über den Erdkreis verbreiteten. Was soll ich von den Ölen, Salben, Flüssigkeiten reden, von denen sich überhaupt nichts außer ihrem Namen erhalten hat? Denn wer hat je Rosenöl, wer je Omphaci(n)um, 650 wer je die Irissalbe gesehen oder gerochen? Aber welchem Griechen war jene einfache Destillation einer Kräuterflüssigkeit über dem Feuer bekannt? Umso mehr muss man glauben, dass es in diesem Bereich erstaunliche [Bl. a3v] Erfindungen gab, die den Griechen unbekannt waren. (4) Alle, die sich einen guten Ruf durch die Heilung von Krankheiten erworben und einen Namen gemacht haben, scheinen mir, nachdem sie aufgrund ihres naturkundlichen Wissens eine systematische Heilmethode entwickelt und auch den nahezu unbekannten Bereich der Medikamente nicht übergangen haben, dennoch viel und manchmal geradezu von ihm abgewichen und gleichsam aus fremden Ländern in ihre Heimat zurückgekehrt zu sein und gewissermaßen eine einzigartige Methode der Herstellung von Medikamenten erfunden und den heutigen oft hochmütigen Köchen [= Apothekern] haben sie nicht alles einfach überlassen, sondern selbst Aufmerksamkeit und Mühe [in die Herstellung von 222 2 Der De theriacis et mihridateis Commentariolus (= Camerarius 1533) 651 Vgl. Galen, De Antidotis 1, 2 (= Kühn XIV (1827), 7-8) sowie Stannard / Dilg 1978, 180. 652 Homer, Odyssee 17, 218. Hier liegt die Vorstellung zugrunde, dass sich eigentlich nur gleichartige Stoffe verbinden können. Im Menschen und in Kompositdrogen aber werden ihrer Natur nach verschiedene Stoffe miteinander verbunden, die sich norma‐ lerweise abstoßen würden. Sie werden allerdings mithilfe des Prinzips der Analogie zusammengehalten (vgl. Abschnitt 6 und vor allem Kapitel C.2. dieser Arbeit). Medikamenten] investiert. Dies ist aber nicht nur eine Sache von großer Mühe und Fleiß [Bl. a4r], sondern auch von langer Zeit und [wiederholtem] Gebrauch. Es gibt den ἑκατονταμίγματος des Galen. Wie du weißt, schreibt er, dass er ihn oft verwendet hat. Was ist leichter für einen gebildeten Arzt als dieses Rezept auswendig zu lernern und über die einzelnen Mischungen disputieren zu können, was sie bewirken und welche Eigenschaften sie aufweisen. Aber wenn dann die Medizin zubereitet ist, wird sie den beabsichtigten Effekt erzielen, wenn in ihr dann nicht auch eben jene Eigenschaft und Kraft vorhanden ist, von der er wusste, dass sie darin enthalten sein soll. Dies einzeln zu untersuchen, zu verstehen und die Mischungen kennen zu lernen, ist nicht nur eine Frage der Bildung, des Verstandes oder der Erziehung, sondern des [wiederholten] Gebrauchs und der Erfahrung (usus et experientia) und zwar beinahe grenzenloser. Daher darf man sich nicht wundern, wenn nur wenige Heilungsversuche erfolgreich sind, und wenn sie nur selten ihr Ziel erreichen, selbst dann wenn die Heilung auf direktem Wege angestrebt wurde [d. h. ohne vorherige andere Therapien]. Galen war ein recht berühmter Mann, aber, wie ich glaube, nicht hochmütig. Er schreibt, dass er nach Coele Syria gereist sei, um jüdisches Erdpech kennenzulernen. Wegen Metallen sei er nach Zypern gesegelt und wegen lemnischer Erde auf eben jene Insel, nach der diese Erde benannt ist. 651 Es ist sehr wahrscheinlich, dass er in anderen wichtigeren Dingen genau so gewissenhaft gearbeitet hat, wenn er ja selbst für solch unbedeutende Dinge so weit über Land und Meer reiste. Aber mit wenigen Worten kann all das nicht erklärt werden, was ich angeschnitten habe, und dennoch scheint es so geartet, dass es irgendwann einmal erklärt werden sollte. (5) Ich gerate in Staunen über den Erfindungsgeist und die Weisheit der alten Ärzte, mit deren Hilfe sie unterschiedlichste Stoffe in einem Corpus verbanden, so dass ein jeder Stoff (jeweils) mit einem anderen harmonierte. Und weil die Inhaltsstoffe voneinander verschieden waren, entfalteten sie auch verschiedene Wirkungen und Kräfte. Denn die Natur aller Dinge strebt nach Ähnlichem für sich, so dass sie [sc. die Natur] jener homerische Gott zu sein scheint, der beständig Gleiches zu Gleichem gesellt. 652 [Bl. a4v] Darin liegt im Übrigen gleichsam die Göttlichkeit ihrer wahren Weisheit, dass sie diese Medikamente so zusammenstellen konnten, dass sie, ganz so wie es beabsichtigt war, richtig 2.1 Auszug aus dem De theriacis et mihridateis Commentariolus 223 653 Gemeint ist wohl, dass die Richtigkeit von Aussagen für den Betrachter sofort erkennbar ist. und erwartungsgemäß zusammenwuchsen, so dass das Corpus das bewirken konnte, wozu es geschaffen worden war. Dies ist wahrlich erstaunlich und göttlich, dass Gott unsere Körper aus verschiedensten Naturen derart kunstvoll zusammengefügt hat, aber dennoch in einer solchen Art und Weise, dass wir das Zusammengefügte mehr bewundern denn verstehen können, und unsere Körper zu den Dingen passen, die wir sehen, und durch die wir den Aufgaben unseres Lebens nachkommen. (6) Aber wie dieses Kunstwerk [der Schöpfung] beschaffen ist, haben die alten Weisen mit Zahlen [= Arithmetik] und Maßen [= Geometrie] zu lehren versucht, was man ihnen sicherlich deswegen zugestehen muss, weil es in keiner Disziplin zuverlässigere oder augenscheinlichere 653 Künste gibt. Und nichts, in dem keine völlige Harmonie herrscht, die man Wahrung der Analogie nennt, kann makellos sein. Diese Analogie aber kann nur in Zahlen [= Arithmetik] und geometrischen Darstellungen erkannt werden. Die Künste mit denen man sie lehrt, werden Geometrie und Arithmetik genannt. (7) Darin liegt eine universelle Kraft für die Zusammenstellung von Medika‐ menten. Denn so wie man 8 erhält, egal ob man 2 mit 4 multipliziert, oder 3 zu 5 addiert oder 1 zu 7, so [Bl. a5r] wird ein jeder Inhaltsstoff, wenn er vermischt wird, eine große oder geringe Wirkung entfalten, je nachdem er aufgrund seiner Natur viel oder wenig von bestimmten Kräften bekommen hat. Pfeffer ist sehr warm, Opium sehr kalt. Nehmen wir ein Mittleres an, ein bisschen kalt, nur wenig warm. Wird es dann nicht scheinen, dass je acht Teile Opium durch je zwei Teile Pfeffer temperiert werden können? Myrrhe ist warm, aber viel schwächer als Pfeffer. Wenn also gerade auf einem Umschlag 18 Teile von ihr sind, aber nur vier Teile Opium, wird die Mischung dann nicht trotzdem richtig genug erscheinen, um das Leid des (betroffenen) Körperteils zu lindern, und zwar ohne Schaden oder Qualen? Wenn ich dies bedenke, scheint es mir in der Tat tadelnswert, wenn Leute durch übereiltes Zusammenstellen von Medikamenten nach Ruhm und Ansehen streben. Ich weiß, dass ich schon einige dieser Leute gesehen habe. […] Denn da ich den herausragenden Erfindungsgeist, den Eifer, Fleiß, die Erfahrung und die Sorgfalt derjenigen für sehr bewundernswert halte, die diese Zusammenstellungen erfunden haben, scheint mir keineswegs erstaunlich, dass sie durch derart vollkomme Erfindungen und ein derart sorgfältiges Vorgehen solche Effekte erzielen konnten, dass sie nicht mehr nur für Menschen, sondern für Götter gehalten wurden, oder zumindest für deren Kinder oder Schüler. 224 2 Der De theriacis et mihridateis Commentariolus (= Camerarius 1533) 2.2 Die Widmung des De Theriacis et Mithridateis Commentariolus an den Arzt Johannes Magenbuch (= Camerarius 1533, Bl. a5v-a6r) (1) De quibus rebus quoties sermones cum amicis et familiaribus meis habui, quod studiosus rerum naturalium perfacere libenter consuevi. Exempli loco proposui illis Theriacas et Mithridaticas antidotos, quibus viderem antiquos tribuisse plurimum, et quarum vere admirabilis esset compositio. Petiere igitur aliqui a me, ut quae de his in Graecis scriptoribus invenissem, studerem aliquando latine exponere, non quidem interpretans unum aliquem autorem, sed meo iudicio illorum scripta et inventa percensens. (2) Quod ut facerem, ipsa me haec tempora admonere visa sunt, quibus, cum metu pestilentiae perculsa civitate nostra functio nostra in fuga et trepidatione omnium et ipsa quasi suspenderetur, secessi cum familia in propinquum urbi rus, ibique et otio suppetente et hortante cupiditate amicorum in manus hoc opus sumpsi, ut de Theriacis antidotis nonnihil quasi per Galeni scripta vagans annotarem subiiceremque quasdam illarum descriptiones Graecas, et conversas a nobis nonnullas, operamque non inutilem sperabam studiosis adolescentibus me navaturum, si illa pulcherrima veterum monimenta ipsis proposuissem [Bl. a6r] cognoscenda. Nam ut etiam elaborentur in praesentem usum, ut optare soleo, ita sperare vix ausim. (3) Hanc nostram lucubratiunculam ad matutinam lucernam exaratam tibi dicamus Magenbuchi, quem ut semper cognovi promptissima erga me meosque voluntate et opera fuisse, ita confido libenter admissurum hanc significationem gratitudinis et memoriae nostrae. Misi autem tibi potissimum, ut etiam intelli‐ gere posses et vestram a me professionem probari ac coli, et ut de hac foetura ingenii et studii nostri iudicium tuum esset hominis in his artibus doctissimi. Sed nunc deinceps propositam rem exequamur. 2.2 Die Widmung an Johannes Magenbuch 225 654 Zur Interpretation des Textes vgl. Kapitel B.2. 655 Nürnberg wurde vom Juli 1533 bis zum Februar 1534 von einer Pest heimgesucht, vgl. Kunkler 1998, 149. 656 Camerarius meint den eigentlichen Commentariolus (= Bl.-a2r-b6r des Drucks). 657 Die Rezepte befinden sich auf Bl. d5v-e8r. 658 Die lateinischen Übersetzungen befinden sich auf Bl. c8r-d5r. 659 Johannes Magenbuch (um 1500-1546) wirkte als Arzt in Nürnberg. Für ausführlichere Informationen vgl. Kapitel B.2. Übersetzung 654 (1) Wie oft habe ich mit meinen Freunden und Bekannten über solche Themen gesprochen? Als naturkundlicher Gelehrter pflege ich das nämlich gern zu tun. So habe ich ihnen zum Beispiel die Gegengifte Theriak und Mithridat vorgestellt, denen die Alten, wie ich gesehen habe, größte Wirkung zugeschrieben haben und deren Zusammenstellung wirklich bewundernswert ist. Einige haben mich also gebeten, den Versuch zu unternehmen, einmal in lateinischer Sprache darzustellen, was ich zu diesen Medikamenten bei den griechischen Autoren ge‐ funden habe. Dabei sollte ich nicht nur irgendeinen einzelnen Autor übersetzen, sondern die nach meinem Dafürhalten relevanten Schriften und Entdeckungen der Griechen durchgehen. (2) Zu diesem Vorhaben hat mich augenscheinlich die gegenwärtige Situation ermutigt, in der ich mit meiner Familie auf das Land [Gut Eschenau] geflüchtet bin, das sich in der Nähe der Stadt [Nürnberg] befindet. 655 Die ganze Stadt war nämlich von der Furcht vor der Pest erschüttert und dadurch auch mein Dienstverhältnis gleichsam aufgehoben, weil sich alle Menschen auf der Flucht befanden oder von panischer Unruhe ergriffen waren. Weil ich auf dem Land genug Zeit hatte und mich der Wunsch meiner Freunde ermutigt hatte, nahm ich dieses Werk in Angriff. Gleichsam durch die Schriften Galens streifend habe ich Einiges über die Theriak-Gegengifte aufgezeichnet, 656 einige griechische Rezepte dieser Gegengifte hinzugefügt 657 sowie einige eigene [lateinische] Übersetzungen. 658 Ich hoffe den jungen Studenten keinen unnützen Dienst zu erweisen, wenn ich ihnen die wunderschönen Zeugnisse der Alten zur Verfügung stelle [Bl. A6r], damit sie sie kennenlernen können. Denn obgleich ich zu wünschen pflege, dass sie für den Gebrauch in der Gegenwart nutzbar gemacht werden können, wage ich es kaum zu hoffen. (3) Dieses mein bei Nacht verfasstes Werklein (lucubratiuncula), das ich bis zum Licht des Morgens fertiggestellt hatte, widme ich dir, Magenbuch. 659 Ich habe dich nämlich immer als äußerst hilfsbereit und hilfreich mir und meinen 226 2 Der De theriacis et mihridateis Commentariolus (= Camerarius 1533) 660 Magenbuch behandelte nachweislich einen Sohn des Camerarius, wie aus seinem Praxistagebuch hervorgeht, vgl. Assion / Telle 1972, 378. Angehörigen gegenüber erfahren. 660 Und so bin ich sehr zuversichtlich, dass du dieses Zeichen meiner Dankbarkeit und meiner Erinnerung zulassen wirst. Ich habe ich es dir aber vor allem geschickt, damit du verstehst, dass auch euer Beruf von mir geschätzt und verehrt wird und damit über dieses Erzeugnis meines Geistes und meines Studiums das Urteil eines in diesen Künsten hochgelehrten Mannes ergeht. Aber im Folgenden will ich das Thema ausführen. 2.2 Die Widmung an Johannes Magenbuch 227 661 quandam] verdruckt zu quandem 2.3 Die Widmung der lateinischen Version des Werks De Theriaca ad Pamphilianum an den Arzt Johann Schütz von Weyll (=-Camerarius 1533, Bl. b6v-b8r) Ioachim Camerarius Ioanni Schutio, doctissimo medico, s. d. (1) Cum hoc tempore metus ingruentis pestilentie in civitate nostra me quoque ut alios complures familia nostra secum abstraxisset, etsi multa animo meo tristia obiecta sunt, constanter tamen retinui quasi possessionem quandam 661 studiorum nostrorum qua etiam in hac solitudine inter rusticos uterer. Sed ex urbe eo sum facilius me passus educi, quod in hac fuga et terrore hominum, quid facere istic possem, viderem nihil. Quia autem in vestra arte libenter semper essem versatus, incubui pene totus in hanc, et quae nunc quidem in hac penuria librorum, optimus autor Galenus de medicamentis tradidisset, percensui, quae pars post percursos eius libros, qui extarent omnes, restabat. (2) Quid vero de his tibi narrem, quae placuerint, autorisve ingenium, curam, diligentiam praedicem [Bl. b7r], qui ad haec elegantia et literata, quibus det‐ rimentosissime hactenus apud nos caruit professio vestra, ipse inter primos respexeris. Sed ut si tecum essem, quod saepe factitatum meminisse potes, et audirem te et dicerem aliquid vicissim, ita te libenter haec nostra scripta cogniturum spero. (3) Tenuit autem me potissimum materia remediorum eorum, quibus ἀντιδότων nomen Graeci indidere, quae, ut scis, intelliguntur, quibus intra corpus acceptis laborantes adiuventur, sive malum sit excitatum θανασίμοις et δηλητηρίοις φαρμάκοις, quae mala venena latini dixere, sive illis τῶν ἰοβόλων, id est virulen‐ torum infectionibus, sive etiam corruptione humorum, quae de intemperato aut non conveniente existit victu, deque illis nocumentis impuri venenatique aëris, ut ἐν ταῖς λοιμικαῖς καταστάσεσιν evenit. In quibus ut diutius studiosiusque versarer, eo factum est, quia vel plurimum habere momenti usum horum credebam vel praesens pestilentiae malum erigebat ad hanc curam animum meum. Cum autem inter legendum nonnihil retentum memoria fuisset de antidotis maxime quibus venena restingueretur, placuit id per otium [Bl. b7v] postea scriptione et stilo exequi, et quasi ita periclitari illorum non solum recordationem, sed etiam intellectum. (4) Hoc scriptum misimus amico nostro Ioanni Magebuchio benevolentia, conditione, arte coniunctissimo tibi, ut et cognosceret, et si probasset, typis 228 2 Der De theriacis et mihridateis Commentariolus (= Camerarius 1533) excudi curaret. His addidimus aliquot descriptiones medicamentorum compre‐ hensas versibus, quo genere orationis nullum esset his aptius. Apollinem enim inventorem artis vestrae, ut Graeci perhibent, scis et poetis quasi proprium numen attribui. Neque mihi obstare passus sum, quod haec ut grata futura studiosis bonarum literarum et artis vestrae, ita quibusdam huius professoribus nova et insolentia visum iri arbitrarer. Melius enim rectiusque putavi illorum servire commodis, quam horum imperitiam revereri. Sed et Galeni quidem de his omnia per mihi placuere, imprimis autem ad Pisonem et Pamphilianum libelli. Quorum hic cum esset ob brevitatem accuratam quandam tanquam epitome ante dictorum valde utilis visus, transtuli illum in latinam linguam, nostro quidem more custodita autoris sententia, [Bl. b8r] ordine et verbis accomodatis pro eo ac collibuisset. (5) Huncque volui ad te vir doctissime mittere, ut ipsum si probasses, curares ad ea, quorum supra mentionem fecimus, adiungi, quod si factum fuerit, cum de iudicio tuo, tum de societate testimonii vestri magnam cepero voluptatem. 2.3 Die Widmung an Johann Schütz von Weyll 229 662 Johann Schütz von Weyll (gest. 1547) wirkte als Arzt in Nürnberg. Zu ihm und zur Interpretation des Widmungsbriefs vgl. Kapitel B.2 dieser Arbeit. 663 Wegen einer Seuche, die Nürnberg vom Juli 1533 bis zum Februar 1534 heimgesucht hatte, war Camerarius mit seiner Familie auf das Gut Eschenau geflohen, vgl. Kunkler 1998, 149. 664 Diese Äußerung legt nahe, dass Camerarius die 1525 erschienene Galenaldina besaß. 665 Der Vergleich ist verkürzt. Gemeint sein dürfte, dass Schütz jetzt genauso gern den Brief lesen wird, wie er vorher bei gemeinsamen Gesprächen zugehört hat. 666 Hierzu zählen auch die Heilmittel Theriak und Mithridateion, die sozusagen das Hauptthema des Drucks sind. Joachim Camerarius grüßt den hochgelehrten Arzt Johann Schütz 662 (1) In dieser von der Angst vor dem Hereinbrechen der Pest geprägten Zeit hatte meine Familie auch mich, wie viele andere, mit sich [aufs Land nach Eschenau] fortgeführt. 663 Dabei konnte ich, obgleich ich mit viel Betrüblichem konfrontiert wurde, dennoch, beharrlich wir ich war, einen gewissen Teil meiner wissenschaftlichen Literatur behalten, um ihn sogar in dieser Einöde unter Bauern nutzen zu können. Ich habe mich aber umso bereitwilliger aus der Stadt führen lassen, weil ich nicht erkennen konnte, wie ich bei dieser Massenflucht und -panik hätte helfen sollen. Weil ich mich aber schon immer gern mit eurer Kunst [sc. der Medizin] beschäftigt habe, habe ich mich gleichsam ganz auf sie verlegt und aufmerksam gelesen, was Galen, ein hervorragender Gewährsmann, über die Medikamente tradiert hatte. Dieser Teil seiner Werke war noch übrig, nachdem ich all seine anderen noch erhaltenen Bücher durchgesehen hatte. 664 (2) Warum sollte ich dir aber etwas Gefälliges darüber berichten oder die Begabung des Verfassers, seine Sorgfalt und seine Umsicht preisen [Bl. b7r], da du doch selbst als einer der ersten einen Sinn für die literarische Eleganz entwickelt hast, derer dein Berufsstand bei uns bisher zum größten Nachteil entbehrte. Ganz so, wie wenn ich bei dir wäre - das war ja oft der Fall, wie du dich erinnern kannst - und ich dir im Wechsel zuhören und selbst etwas sagen würde, wirst du hoffentlich auch diese meine Werke gern lesen. 665 (3) Vor allem die Thematik der Gegengifte hat mich gefesselt. 666 Die Griechen bezeichneten sie als Gegengifte (ἀντίδοτα), wie du weißt. Sie helfen den Patienten, wenn sie in den Körper aufgenommen wurden, sei es, dass das Leid durch ein tödliches und schädliches Gift hervorgerufen wurde, was die Lateiner mala venena (Gifte) nannten, oder durch Giftabsonderungen [eines Tieres], d. h. durch Vergiftungen mit (Schlangen-)Gift, oder durch eine Verderbnis der Körpersäfte, die von einer unmäßigen oder unpassenden Lebensweise herrührt, und von den schädlichen Einflüssen einer unreinen und verpesteten Luft, wie 230 2 Der De theriacis et mihridateis Commentariolus (= Camerarius 1533) 667 Zu den verwendeten Fachbegriffen, ihrer Unterscheidung und Definition vgl. die Anmerkungen des Camerarius auf Bl. a6r/ v. 668 Gemeint ist das Werk De Theriacis … Commentariolus. Es ist das zentrale Werk des nahezu gleich benannten Drucks (Bl.-a2r-b6r im Druck). 669 Vgl. Bl.-c8r-e8r des Drucks. 670 Gemeint sind die Schriften De theriaca ad Pisonem (= Kühn XIV, 2, 210-294) und De theriaca ad Pamphilianum (= Kühn XIV, 3, 295-310). 671 Vgl. Bl.-b8v-c7v des Drucks. 672 Camerarius zeigt hier eine Abkehr von der in der Medizin in den vergangenen Jahrhunderten üblichen Wort-für-Wort-Übersetzungen (vgl. Kapitel A.1) und will seine eigenen Übersetzungsleistungen herausstellen, vgl. Kapitel B.2. es bei den pestilenzialischen Krankheitszuständen geschieht. 667 Ich habe mich deswegen länger und eifriger damit beschäftigt, weil ich glaubte, dass ihr [korrekter] Gebrauch größte Bedeutung hat oder weil mich das gegenwärtige Übel der Pest dazu gemahnte. Da ich mir beim Lesen Einiges vor allem über jene Gegengifte gemerkt hatte, durch die Gifte gehemmt werden, entschloss ich mich, es bei Gelegenheit [Bl. b7v] schriftlich festzuhalten und so gleichsam nicht nur die Erinnerung an das Gelesene zu erproben, sondern auch mein Verständnis. (4) Dieses Schriftstück [sc. den eigentlichen Commentariolus] 668 habe ich meinem Freund Johannes Magenbuch geschickt, mit dem du durch [gegensei‐ tiges] Wohlwollen, die gleiche Stellung und das Ausüben derselben Kunst eng verbunden bist, damit er die Schrift kennenlernt und, falls er sie für gut befindet, drucken lässt. Ich habe noch einige in Versform verfasste Rezepte hinzugefügt. 669 Für sie gibt es keine geeignetere Darstellungsform, da die Griechen, wie du weißt, berichten, dass Apoll, der Erfinder eurer Kunst, auch den Dichtern als eigene Gottheit zugewiesen wird. Auch habe ich mich nicht davon abhalten lassen, dass dieses Vorgehen meiner Meinung nach zwar den Studenten der schönen Künste und eurer Kunst [sc. der Medizin] willkommen sein wird, einigen Professoren derselben aber neu und unverschämt erscheinen wird. Denn ich hielt es für besser und gehöriger, dem Nutzen ersterer zu dienen als der Unerfahrenheit zweiterer Respekt zu erweisen. Aber natürlich haben mir auch alle Werke Galens über dieses Thema sehr gut gefallen, besonders aber die Bücher ad Pisonem und ad Pamphilianum. 670 Von den beiden Werken schien mir das Letztgenannte wegen einer gewissen prägnanten Kürze gleichsam als Zusammenfassung des vorher Gesagten sehr nützlich. Deswegen habe ich es in die lateinische Sprache übersetzt 671 und dabei, nach meiner Art, die Intention des Verfassers gewahrt, [Bl. b8r] die Wortstellung und Worte aber nach seinem Dafürhalten angepasst. 672 2.3 Die Widmung an Johann Schütz von Weyll 231 673 Schütz von Weyll ist also die Übersetzung des Libellus ad Pamphilianum de Theriaca gewidmet, der Rest des Drucks Johannes Magenbuch. 674 Er meint die beiden Widmungsempfänger Schütz und Magenbuch. (5) Ich habe dieses Buch an dich, hochgelehrter Herr, schicken wollen, damit du, falls du es für gut befindest, dafür Sorge trägst, dass es den oben erwähnten Schriften beigegeben wird. 673 Sollte dies geschehen, werde ich mich sehr über dein Urteil freuen, sowie über die Tatsache, dass dann ihr 674 durch euer gemein‐ sames Zeugnis [über mein Werk] verbunden seid. 232 2 Der De theriacis et mihridateis Commentariolus (= Camerarius 1533) 3 Das Epigramm De ratione victus salutaris (= Camerarius 1535b, Bl. 47v / Camerarius 1536, Bl. 41v) De ratione victus salutaris post incisam venam et emissum sanguinem ad Armatum Epigramma Anastasii - Venam Armate tibi medici incidere timenti - - nescio venturi qualia damna mali. - Nunc quo vita modo fuso peragenda cruore - - sitque diaeta tibi qualis habenda rogas. - Illi morborum dicant Armate periti. 5 - Haec non est nostra falce metenda seges. - Non missum facis et „Cupio ex te audire diserti - - atque aliquid tua quod Pieris ornet“ ais. - Accipe, quandoquidem nugas ad seria ducis, - - quae facias, octo versibus, octo dies. 10 Prima caena die sit misso sanguine parca. - - Lux abeat laetis aucta secunda modi, - tertia sed placidae debetur tota quieti. - - Quarta et quinta sibi mollius esse volunt. - Balnea sexta petit. Mox septima colligit auras 15 - fertque vagos circum rura nemusque pedes. - Octava amplexus dilectae coniugis, et quae - - ante fuit vitam restituisse solet. - 675 Mit ‚Anastasius‘ meint Camerarius sicht selbt. Es handelt sich um eine Metonomasie seines Vornamens ‚Joachim‘, vgl. L. 1806. 676 Zur Deutung und Einordnung des ganzen Gedichts vgl. Kapitel B.3. 677 Vermutlich ist ‚Armatus‘ ein sprechender Name („Der Gerüstete“) und keine historische Person. Gemeint sein dürfte derjenige, der die diätetischen Regeln des Camerarius befolgt. Vgl. hierzu die Deutung des Gedichts in Kapitel B.3.3. Epigramm des Anastasius 675 über die gesunde Lebensführung nach einem Aderlass und dem [dadurch bedingten] Blutverlust 676 Armatus, 677 die Ärzte haben dich zur Ader gelassen und du fürchtest irgendwel‐ chen Schaden durch ein künftiges Übel. Nun fragst du, wie deine Lebensführung nach diesem Blutverlust aussehen soll und welche Regeln du beachten sollst. Das sollen dir diejenigen sagen, die Erfahrung mit Krankheiten haben! Dieses Saatfeld ist nicht dazu bestimmt, von meiner Sichel geschnitten zu werden! Du gibst jedoch nicht auf und sagst: „Ich will von dir etwas Beredtes hören, das deiner Muse zur Zierde gereicht.“ Da du ja meine Spielereien ernsthaften Themen zuführen willst, höre also in acht Versen, was du acht Tage lang tun sollst: Am ersten Tag nach dem Aderlass soll das Mahl bescheiden sein. Das Licht des zweiten Tages soll durch heitere Melodien bereichert vergehen. Aber der ganze dritte Tag ist angenehmer Ruhe bestimmt. Der vierte und der fünfte Tag wollen recht behaglich verbracht werden. Der sechste Tag verlangt nach dem Bade. Bald bringt der siebte Tag frische Luft und einen Spaziergang durch Land und Hain. Der achte bringt [innige] Umarmungen mit der geliebten Gattin und stellt gewöhnlich das Leben wieder her, so wie es vorher war. 234 3 Das Epigramm De ratione victus salutaris 4 Die Epistola ad lectorem der Galenausgabe (= Gemusaeus et al. 1538, Bd. IV, Bl. *2r/ v) Ioachimus Camerarius ad Lectorem (1) Ne laudes Tydida meas neve ingere probra, omnia nam coram memorabis nota Pelasgis. Liceat enim mihi iis versibus nunc uti, quibus affatur Diomedem prudentissimus vir Ulysses, ille quidem magna in re, sed tamen et haec qualiacunque habenda dicendaque sint, nobis profecto cordi sunt. Atque utinam possem, ut Diomedes Vlyssem, sic ego hoc nostrum opus atque studium vere meritoque laudare. In quo si res non esset contraria votis meis, haud scio an non paterer me deterreri ulla ratione, quin praedicarem de hac ipsa vel iactantius et, ut ille apud Comicum loquitur, plenis faucibus. (2) Nunc ita se res habet, ut quicquid est hoc operae ac laboris nostri, quem‐ admodum in medium proponitur, ita relinquendum sit probandum improban‐ dumve omnibus. In quo quidem non quid praestiterit diligentia et industria nostra, sed quanta, ut aliquid praestaretur, cura et assiduitas fuerit, possem sane, si vellem, verbose commemmorare. Nihil enim certe neque cogitationum neque considerationum omisimus, nihil coniecturae, nihil exquisitionis. Verborum omnium respectus a nobis habitus. Sententiarum quasi rationes acceptae et relatae animo nostro. Laesis autem et sauciis atque vitiosis ea est medicina adhibita, non quae praesens quidem malum tolleret, sed aliud non minus vel etiam grandius instigeret, id quod de imperitorum curationibus usu venire solet, qui saepenumero non sanitate morbum, sed alio difficiliori morbo commutant, nonnunquam etiam extinctione vitae illum tollunt. Sed nos hanc praecipitem vel potius sceleratam viam ingrediendam non putavimus. Itaque et a quibusdam non nimis, ut arbitramur, difficilis correctionis tamen abstinuimus manus atque interdum demonstrato remedio, sicut nobis quidem videretur, usum reliquimus arbitrio aliorum. Quod igitur de nobis paulo inflatius commemorare fortasse non malo iure posse videamur, id est, quod maxima et singulari cum religione in hac emendatione nostra versati simus, hocque egerimus ut pauca potius et certa reponeremus, quam incerta multa supponeremus. Quae timiditas, vel magis fidelitas studiosis infinita castigatione gratior esse debet, certe multo utilior futura est. 678 me] se im Druck (wohl Druckfehler). (3) Cum autem hanc editionem possem, si non alio pacto, at comparatione cum priore in coelum propemodum effere, tum vero pulcherrimos et divinos conatus atque voluntatem eorum, qui nunc haec commoda facultatibus et laboribus suis comparata afferunt studiosis Medicinae vel potius philosophiae, cuius ita scripta praeceptis et doctrina referta sunt, debita celebratione ornare, sed mihi in utroque temperandum. Nec enim velut eminere hoc opus alterius quasi supplantatione, sed per se volumus, et eorum, qui hoc nunc proferunt atque edunt, cum aliae res innumerabiles praeconia laudum faciunt, tum haec occasio ad illas tanquam concinendas idonea non est. De ipso vero autore scriptorum quid dicam an ego ausim tentare? Ut ille gloria augeatur laudatione nostra, idque breviter, non enim certe a nobis liber nunc etiam alius inserendus hic libris fuit, ita ne ego desipiam, ut solis tantum iubar accensa lucernula illustrius me redditurum existimem. (4) Redeo igitur ad rem, et de nostra opera dicam adhuc paulula. Quam profecto fideliter me 678 et attente et caute gessisse quisquis haec leges, et facile perspicies et probare debebis acceptamque habere hanc timiditatem nostram magis quam audaciam requirere. In ipsis quibus ἀναμφισβήτως Galeni scriptis quibusdam notis sumus adiuti Britannicis, ut opinor, praeterea nullum extrinsecus auxilium affuit, nisi levissimum quoddam versionum ideo [Bl. *2v] quia ex hac ipsa Aldina descriptione essent elaboratae. In uno autem et altero libello τῶν νόθων scriptis adiuti sumus eiusdem argumenti aliorum nonnulo cum fructu, ut in Dogmaticis et Astrologicis. Huius omnino partis quaedam ita fuere misere depravata, ut si maxime corrigi possent, ille tamen qui corrigeret non alienum scriptum emen‐ dasse, sed composuisse suum videretur, ut exempli gratia libellus de elenchis et de qualitatibus, insignes ut calamitates indicem. In quibus et diligentius percensendis et quasi articulate fingendis libenter inservivimus publico usui studiosorum, cum elaborari in hac editione comperissemus, quod nos multorum sane annorum valetudinis afflictione vexati eo tempore cupide faceremus, quantum liceret quantumque suppeditaretur otii, cum ab aliis negotiis tum hoc maiore et magis ex nobis aegrotationum, ut medicorum scripta legeremus et imprimis Galeni doctissimi et diligentissimi Asclepiadum et interpretis et imitatoris. Hanc autem partem seu tomum, in quo accuratius versaremur, non tam propter eximios curationum libros quam varietatem quandam scriptorum nobis proposuimus, cuius lectio si nunc ulli ullo in loco melior, expeditior, iucundior visa fuerit, debet is ob id gratiam habere studio nostro. Sin hoc illam non merebitur, non improbare tamen neque spernere voluntatem. 236 4 Die Epistola ad lectorem der Galenausgabe 679 Zur Deutung und Einordnung des ganzen Briefs vgl. Kapitel B.4. 680 Nach Homer, Ilias 10, 249-250. Zum Hintergrund dieses Zitats vgl. ebenfalls Kapitel B.4. 681 Plautus, Curculio 128; Stichus 468. 682 Diese Aussagen erinnern an den hippokratischen Eid, der unmittelbar nach dem Widmungsbrief auf Bl. *3r abgedruckt ist. Joachim Camerarius an den Leser 679 (1) Tydeussohn, lobe mich nicht und schmähe mich auch nicht. Denn alles, was du sagst, wissen die Pelasger schon. 680 Es sei mir gestattet, diese Verse zu benutzen, die der listenreiche Odysseus zu Diomedes sprach. Er sprach sie natürlich in einer bedeutenden Angelegenheit, aber dennoch ist tatsächlich dieses [Editionsvorhaben] für mich auch eine Herzenssache, was auch immer man davon halten oder wie auch immer man es bezeichnen soll. Könnte ich doch so, wie Diomedes den Odysseus lobte, diese meine Arbeit und mein Bemühen richtig und zurecht loben! Würde der Erfolg dieses Unterfangens meinen Wünschen entsprechen, wüsste ich nicht, ob mich irgendwas davon abhalten könnte, es allzu überschwänglich und, wie jener Mann bei dem Komödiendichter [sc. Plautus] sagt, „aus vollstem Halse” 681 zu preisen. (2) Nun muss dieses wie auch immer geartete Erzeugnis meiner Arbeit und Anstrengung so belassen werden, wie es veröffentlicht wird. Jeder kann es also gutheißen oder missbilligen. Nicht, was dabei meine Sorgfalt und mein Fleiß erreichten, sondern vielmehr, mit welcher Umsicht und welcher Beharrlichkeit ich vorging, um etwas zu erreichen, könnte ich wortreich berichten, wenn ich es denn wollte. Mit Sicherheit habe ich keine Überlegungen und keine Erwägungen gescheut, keine Mutmaßungen (coniectura), keine Nachforschungen (exquisitio). Alle Worte habe ich berücksichtigt. Gleichsam den Sinn aller Sätze habe ich erkannt und geistig erfasst. Bei Verletzungen, Verwundungen und Fehlern [des Textes] habe ich eine solche Medizin angewandt, dass sie das gegenwärtige Übel nicht um den Preis eines weiteren nicht geringeren oder größeren Schadens beseitigte, so wie es bei den Heilversuchen Unerfahrener zu geschehen pflegt, die oft nicht eine Krankheit durch Gesundheit ersetzen, sondern durch eine andere gefährlichere Krankheit, ja manchmal sogar die Krankheit um den Preis des Lebens [des Patienten] beseitigen. 682 Ich glaubte, diesen voreiligen, vielmehr frevelhaften Weg nicht beschreiten zu dürfen. Deshalb habe ich selbst einige scheinbar einfach zu verbessernde Stellen unverändert belassen und bisweilen das Heilmittel lediglich aufgezeigt und die Entscheidung über seine Anwendung der freien Entscheidung der anderen [sc. dem Leser] überlassen. An meiner Arbeit könnte ich vermutlich nicht ganz zu Unrecht etwas überschwänglicher 4 Die Epistola ad lectorem der Galenausgabe 237 683 Zu den Herausgebern, es handelt sich um ein gewaltiges Gemeinschaftsprojekt, vgl. Kapitel B.4. 684 Auch Leonhart Fuchs erwähnt ein exemplar ex Anglia transmissum (vgl. Gemusaeus et al. 1538, Bd. II, Bl. A2r), das von Beate Gundert mit einem Aldinenexemplar aus dem Besitz John Clements (ca. 1495-1572) identifiziert wurde (Leiden, UB, 1366 A 9-11; vgl. Gundert 2006 sowie Kapitel B.4). Die „englischen Anmerkungen“ des Camerarius könnten damit identisch sein. hervorheben, dass ich mit größter und einzigartiger Gewissenhaftigkeit (religio) bei der Verbesserung verfahren bin und zwar so, dass ich lieber wenige und sichere Korrekturen vorgenommen habe, als viele unsichere unterzuschieben. Diese scheue Zurückhaltung oder vielmehr Treue muss den Gelehrten willkom‐ mener sein als grenzenlose Emendation, und sicherlich wird sie auch nützlicher sein. (3) Ich könnte diese Edition, wenn schon nicht auf andere Weise, so doch [sicher‐ lich] im Vergleich mit der vorigen beinahe in den Himmel emporheben. Auch könnte ich die wunderschönen und göttlichen Bestrebungen und die Absicht derjenigen gebührend hervorheben, die nun durch finanzielle Aufwendungen und ihre Arbeit diese nutzbringenden [Werke] herrichteten und den Gelehrten der Medizin zugänglich machten - oder vielmehr den Gelehrten der Philosophie (denn die so verfassten Schriften sind voll von Lehrsätzen und Gelehrsamkeit), aber ich muss mich in beiden Fällen zurücknehmen. Ich will nämlich nicht, dass dieses Unterfangen gleichsam durch Herabwürdigung des Anderen [sc. der Aldina] aufragt, sondern durch sich selbst. Und der Ruhm derjenigen, die die Edition nun veröffentlichen und herausgeben, 683 wird einerseits schon durch unzählige andere Dinge vermehrt. Andererseits ist diese Gelegenheit auch gar nicht dazu geeignet, diese Dinge gleichsam zu besingen. Was sollte ich über den Verfasser der Schriften sagen oder zu sagen wagen? So wenig wie sein Ruhm durch mein knappes Lob gemehrt werden könnte (denn ich konnte den anderen Büchern ja nicht noch ein weiteres beifügen), ebenso wenig dürfte ich so geschmacklos sein, dass ich glaubte, das gewaltige Licht der Sonne könne heller erstrahlen, wenn ich ein kleines Lämpchen dazustelle. (4) Ich kehre also zum Thema zurück und werde noch ein wenig über meine Arbeit sagen. Wer auch immer du bist, der dies hier liest, du wirst mit Leichtig‐ keit erkennen können, wie treu, sorgfältig und vorsichtig ich verfahren bin. Dies wirst du gutheißen müssen. Und du wirst eher meine Scheu [bei der Korrektur] willkommen heißen, als Kühnheit vermissen. Bei einigen Schriften, die zweifellos Galen verfasst hat, hatte ich Hilfe von einigen vermutlich engli‐ schen Anmerkungen. 684 Ansonsten habe ich keinerlei fremde Unterstützung 238 4 Die Epistola ad lectorem der Galenausgabe 685 Gemeint sein dürften die o. g. notae Britannicae („englische Anmerkungen“). 686 Vgl. hierzu die Abbildung des Inhaltsverzeichnisses in Kapitel B.4, wo unter der Zwischenüberschrift ΝΟΘΑ bzw. Libri Galeno adscripti als die ersten beiden Schriften die Εἰσαγωγὴ, ἢ ἰατρός (introductio, vel medicus) und die Ὅροι ἰατρικοί (definitiones medicae) angeführt werden. 687 Vermutlich meint er die Schrift Ὅτι αἱ ποιότητες ἀσώματοι (quod qualitates sine corpore sint). 688 Mit Asklepiaden sind Ärzte gemeint. Sie beriefen sich auf Asklepios als ihren Gott, vgl. Link 2002, 82 f. in Anspruch genommen, wenn man von der äußerst geringen Hilfe absieht, die mir Übersetzungen deswegen leisten konnten, weil sie auf der Grundlage [Bl. 2*v] des genannten Aldina-Exemplars 685 angefertigt worden waren. Im ersten und zweiten Buch der unechten Werke 686 hatte ich die Unterstützung durch [andere] Schriften zum selben Thema in Anspruch genommen - mit einigem Erfolg, ebenso bei Abschnitten, die [philosophische] Lehrsätze und die Astrologie betreffen. Überhaupt waren einige Schriften dieses [vierten] Teils [der Werke Galens] dermaßen stark verderbt, dass, selbst wenn sie noch so sehr verbessert werden könnten, man den Eindruck hätte, dass der Korrektor nicht ein fremdes Werk verbessert, sondern ein eigenes [neues] verfasst hat, wie etwa beim Libellus de elenchis et de qualitatibus, 687 um die auffälligsten Korruptelen zu nennen. Bei der sorgfältigen Durchsicht und gleichsam Verständlichmachung [des Textes] habe ich gern dem universellen Nutzen der Gelehrten gedient, nachdem ich erfahren hatte, dass an dieser Edition gearbeitet wurde. Weil meine Gesundheit schon seit recht vielen Jahren angeschlagen war, habe ich dies zu jener Zeit gern getan, dass ich - soweit ich es konnte und [die nötige] Ruhe hatte (sowohl vor anderen Verpflichtungen als auch vor meinem gesundheitlichen Problem, das mich stärker beinträchtigte) - die Schriften von Ärzten las und insbesondere die Galens, des gelehrtesten und gewissenhaftesten Mittlers und Nachahmers der Asklepiaden. 688 Diesen Teil oder Band habe ich mir nicht so sehr wegen seiner herausragenden Bücher über Therapieverfahren als wegen der Vielfalt seiner Schriften zur gründlicheren Bearbeitung vorgenommen. Wenn einem nun die Lektüre der Schrift an irgendeiner Stelle besser, leichter oder angenehmer erscheint, dann sollte er für mein Bemühen dankbar sein. Wenn es aber keinen Dank verdient, dann möge er meinen guten Willen trotzdem nicht missbilligen und verachten. 4 Die Epistola ad lectorem der Galenausgabe 239 5 Die Versus senarii de analogiis (= Camerarius 1554) 5.1 Der Widmungsbrief der Versus senarii de analogiis, gerichtet an Wolfgang Meurer (= Camerarius 1554, Bl. A2r-A5v) [Bl. A2r] Ioachimus Camerarius Pabepergensis eximio medicinae et phi‐ losophiae Doctori Bolgango Meurero, viro optimo et clarissimo amico suo carissimo s. d. (1) Saepenumero cogitans admiror et suspicio Pythagoreorum sapientiam, quae ratione numerorum omnia conata fuit ita demonstrando explicare, ut scientia et firma cognitione appraehendi possent. Nihil enim est, quod certam percep‐ tionem ullius rei praestet, nisi numerorum definitione consideratio stabilitatur, ut ita tandem mens et cogitatio consistat. Unde et ἐπιστήμην quibusdam appellatam fuisse placet, ἀπὸ τῆς στάσεως, cum non magis iam animus quasi titubans allucinetur et huc illuc circunspectans vagetur. Loquor autem et de humana sagacitate et iis rebus quae hominum intelligentiae expositae sunt, ut cum [Bl. A2v] sapientia absolvatur tum prudentia consummetur tam causis naturaque pervestigata quam orationis vi et actionum honestate et communis vitae usu explicato atque disposito. (2) Quae quidem ut et Deo aeterno placere scimus, quippe edictione et legibus illius sancita, utque beatam in terris vitam his perfici manifestum est, ita cum ad favorem et certam gratiam Dei tum nostram salutem et veram felicitatem aliam viam ingrediendam esse ipsius aeterni Dei sermone docemur, magistro quidem et interprete filio Dei, unico Domino nostro Iesu Christo, cuius qui servos sese perhiberi cupiunt, coelestem doctrinam non debent confundere cum humana. De qua quae instituimus, ea deinceps exequamur. (3) Numerorum igitur ea vis est ac potestas, ut his sublatis omnis cognitionis et scientiae interitum consequi necesse sit. Quia vero numerorum per se simplicior natura est, et ideo captum humanum in sensuum molem demersum effugit, etiam illi implicati in materiam fuerunt a doctrina sapientiae, quam maxime illam quidem sinceram, ut ita demonstratio itinere directo procederet omnium, quorum et [Bl. A3r] cognitionem indubitatam et firmam assensionem et certam scientiam quaereremus, quibus iam nemo sanus refragari amplius posset. Haec est Geometria figurarum descriptione et harum rationibus ac comparatione numeros implicatos usui intelligentiae exponens. (4) Cum autem universitas rerum omnesque partes huius et compositione perfectae et opere conformatae et specie exornatae sint, in his neque rationem spectari neque animadverti collocationem neque ordinem notari ab intelligente vi alienissimum fuerit. Vis autem intelligens est mentis, cogitationis, consilii, quam et ipsam rationem et intelligentiam nominamus, cuius, sicut et orationis, solum hoc animal particeps est, quem vocamus hominem. Huic ea subiecta sunt, quaecumque perspecta ac cognita et laudem habent et sunt iucunda et utilitatem ad alios proferunt, denique recta, vera, honesta, decora, pulchra expetenda inter homines universa. (5) Sola igitur divina iam excluduntur, quae simplicia sunt et unius modi et aeterna et immensa, quibusque congruit, quicquid de aequalitate, paritate, similitudine, quam ad unum reci-[Bl. A3v] dere necesse est, cogitari dicive potest. Sicut enim unum ad unum, ita proportione rursum unum ad unum sese habere reperitur. Hoc autem quid sit nisi unum? Idque ipsum unum quid sit, explicari et constitui nequit vel enarrando vel cogitando. Itaque de Deo quid non sit magis quam quid sit possumus suspicari. Haec igitur iam captum humanum effugiunt et supra coelum evolant et sequentium oculorum aciem destituunt, nominis inquam divini et aeternitatis, et huiuscemodi notiones. (6) Sed in his quae et concipi mente et disponi cogitatione et demonstrari verbis et agendo perfici possunt, versatur inaequalitatis dissimilitudinisque et imparitatis ratio et diversorum comparatio inter sese, quae etiam in occurente aequalitate absque dissimilitudinis animadversione indistinctam et confusam cogitationem relinquant necesse est. Quid enim est? Quae sunt aequalia uni alteri, sunt illa aequalia et inter sese. Nonne statim inaequalitatis quandam in diversitate considerationem subiiciunt, ut ad aequalitatis huius cognitionem inaequalitatis scientia assumenda sit? Iam [Bl. A4r] quae comparatio esse potest, duum, verbi causa, ad duo, nisi constet, unum ad duo quomodo sese habeat? Quod si inaequalitas esset perpetuo et sola in hoc mundo, non diu opus illius stare neque in eo durare res ullae possent. Nunc fit, ut ratione et comparatione exaequentur imparia et concilientur dissimilia et secundum conditoris atque artificis praefinitionem ita elaboratio conservetur. (7) Haec est, ut Plato ait, ἀναλογία, vinculum quoddam rerum omnium, absque quo diffluant et labent et corruant omnia, necesse est. Nulla sine hac firma ac certa scientia aut cognitio, nulla consentanea atque stabilis actio esse potest. Quae haec non devincit, ea opinionum errore fluctuant, et furore tractationis 5.1 Der Widmungsbrief der Versus senarii de analogiis, gerichtet an Wolfgang Meurer 241 conturbantur. Haec scientiae veritatem, artium gravitatem, omnium quae di‐ cuntur et fiunt, pulchritudinem constituit atque producit. Eadem unde abest, ibi falsitas, inertia, deformitas ac turpitudo praesens apparet. […] (8) Inter profectiones autem crebras et moras inquietas in patria descripsi versiculis Graecis expositos aliquando coram de analogiis, quas autore Cicerone proportiones vocare possumus, sermones meos, tribus quidem iis, quae in eo genere, quod rationes continuat et unum ad duo utrumque apposita medium consentaneum statuit, vel solae sapientiae et prudentiae lumen, ut ita dicam, accendunt vel ad hoc inferendum mentibus humanis prae caeteris viam aperiunt. Voco medium id, quod Graeci μέσον καὶ μεσότητα, quod inter duo collocatum utrumque abducitur, itaque illa iam et fiunt extrema, [Bl. A5v] id est ἄκρα, et particeps tamen habent medium. Abductio enim ista non fit temere neque fortuito, sed ad consentaneum modum in rationum comparatione. Vnde et illa tria ἀνάλογον, id est, proportione disponi dicuntur. Distinxerunt autem, ut scis, tres huiusmodi praecipuas proportiones tribus trium praestantiss[arum] disci‐ plinarum nominibus: arithmetices, quae est numerorum per se; geometrices, quae est numerorum in magnitudinis continuae implicationem, ita enim figurae, quae sunt σχήματα, gignuntur; tertio loco sunt eorundem rationes seu habitus, id est σχέσεις inter sese, de quibus omnis in sonis concinnitas perficitur, itaque harmonice fuit appellata. (9) Quod autem adiecimus astronomicum seu astrologicum exemplum, id eo fecimus, quod Platonem sequentes hanc scientiam magnifaceremus et admira‐ remur et in hac illi assentientes omnem humani ingenii vim et acrimoniam, id est cogitationes uniuersas sapientiae, terminari statueremus. […] 242 5 Die Versus senarii de analogiis (= Camerarius 1554) 689 Die Begriffe sapientia und prudentia sind vermutlich Übersetzungen der aristotelischen Begriffe φρόνησις und σόφια, was durch die im folgenden Nebensatz vorgenommene Unterscheidung zwischen „Ursachen der Natur“ und „Kraft der Rede, ehrenhafte Taten-…“ nahegelegt wird. Die Weisheit beschäftigt sich nämlich mit der Erforschung der Natur und des Göttlichen, während die aristotelische Klugheit handlungsorientiert, also praktisch ist und sich lediglich mit dem Kontingenten, d. h. mit Dingen beschäftigt, die so oder auch anders sein können. Vgl. dazu Kapitel C.2.2 dieser Arbeit sowie Camerarius 1554, Bl. B4v (= Kapitel E.5.3, Abschnitt 5). [Bl. A2r] Joachim Camerarius aus Bamberg grüßt den herausragenden Doktor der Medizin und Philosophie Wolfgang Meurer, einen hervorra‐ genden Mann, seinen sehr guten Freund. (1) Wenn ich nachdenke, bewundere ich oft staunend die Weisheit der Pytha‐ goreer, die mit Hilfe von Zahlen alles durch [mathematische] Darstellungen so zu erklären versuchte, dass es als sicheres Wissen und zuverlässige Erkenntnis greifbar wurde; denn die sichere Erkenntnis irgendeiner Sache ist nur dann gewährleistet, wenn sie sich durch die Angabe von Zahlen bestätigen lässt, so dass Geist und Verstand endlich zum Stillstand kommen. Daher beschlossen einige, diese Philosophie als sicheres Wissen (ἐπιστήμη) zu bezeichnen (vom Wort στάσις [= Feststehen]), da der Geist nicht länger gleichsam hin und her wankend vor sich hinträumt und bald hierhin, bald dorthin schauend umherirrt. Ich spreche sowohl von der menschlichen Schlauheit als auch von den Dingen, die dem Verständnis durch den Menschen zugänglich sind, so dass [Bl. A2v] sowohl die Philosophie zur Vollendung gelangt als auch die Klugheit, 689 wenn sowohl die Ursachen als auch die Natur erforscht wurden, als auch die Kraft der Rede, ehrenhafte Taten und der Gebrauch des täglichen Lebens entwickelt und gehörig eingerichtet wurde. (2) Ich weiß natürlich, dass dies dem ewigen Gott gefällt, da es ja durch seine Anweisungen und Gesetze genehmigt wurde. Und ebenso wie es offensichtlich ist, dass man dadurch [durch die pythagoreische Philosophie] ein glückliches Leben auf Erden führen kann, so lernen wir durch die Worte des ewigen Gottes selbst, dass wir einen anderen Weg gehen müssen, wenn wir sowohl seine Gunst und verlässliche Gnade erhalten wollen als auch insbesondere unser Seelenheil und die wahre Glückseligkeit. Gottes Sohn ist dabei freilich der Lehrer und Vermittler der Worte Gottes, unser einziger Herr, Jesus Christus. Wer sich als Diener Jesu bezeichnen will, darf die göttliche Lehre nicht mit der menschlichen durcheinanderbringen. Was ich über sie festgestellt habe, werde ich im Folgenden ausführen: 5.1 Der Widmungsbrief der Versus senarii de analogiis, gerichtet an Wolfgang Meurer 243 690 Gemeint ist, dass sie dem göttlichen Einen näher stehen (vgl. Kapitel C.2). 691 Comparatio eigentlich: „Herstellung des gleichen Verhältnisses“; von Cicero wird ἀναλογία mit proportio oder comparatio übersetzt (Vgl. Cicero, Timaeus 4, 13). 692 Aequalitas, paritas und similitudo könnten die drei Formen der Analogie sein, da auch sie verschiedene Stufen von Gleichheit / Einheit darstellen; vgl. Camerarius 1594, 50 (= Kapitel E.7.2, Abschnitt): „[…] ita se habet, ut Arithmeticum omnino sit aequalitas. Aequaliter enim primus numerus recessit a secundus et secundus a tertio. Geometricum autem versatur potius in iis quae semper eadem esse solent. In hoc enim continuo modo cum proceditur, eandem rationem in sequentibus servari necesse est. Harmonicum vero extremorum numerorum similem rationem cum intervallis excessuum perficit. Quamobrem similitudo proprie dici posset.“ Diese Unterteilung (3) Die Zahlen haben eine solche Kraft und Macht, dass ohne sie notwendiger‐ weise jede Erkenntnis (cognitio) und jedes (feste) Wissen (scientia) verlorengeht. Weil die Zahlen aber eine einfachere Natur (simplex) haben und deshalb dem Verstand des Menschen entgehen, 690 der unter der Masse seiner Sinneseindrücke versunken ist, wurden auch jene von der Philosophie (doctrina sapientiae) in die Materie - und zwar in die möglichst reine - eingebracht, damit die Veranschaulichung aller Dinge auf direktem Wege erfolgen könne, [Bl. A3r] über die wir unzweifelhafte Erkenntnis, sichere Zustimmung [zu den sinnlichen Erscheinungen, συγκατάθεσις] und sicheres Wissen suchen, und denen kein Mensch mehr widersprechen kann, der bei Verstand ist. Dies ist die Geometrie, die durch die Darstellung von Figuren und ihrer Verhältnisse (rationes) sowie ihren Vergleich (comparatio) 691 die (in die Materie) eingebrachten Zahlen dem Gebrauch durch den Verstand darbietet. (4) Da die Gesamtheit aller Dinge und all ihre Teile perfekt zusammengefügt, kunstvoll gestaltet und im Hinblick auf ihr Aussehen schmuckvoll angeordnet sind, dürfte es absolut unvereinbar mit der Kraft des Verstandes sein, darin keine Ordnung zu erkennen und nicht die [kunstvolle] Zusammenstellung zu bemerken und die [schmuckvolle] Ordnung zu beachten. Die Kraft des Verstandes ist die des Geistes, der Überlegung, des Planens, die wir auch selbst Vernunft und Verstehen nennen, an der - ebenso wie an der Sprache - nur jenes Tier Anteil hat, das wir Mensch nennen. Dieser Kraft unterliegt alles, was durchschau- und erkennbar ist, einen Wert hat, Freude und einen Nutzen für andere bringt, schließlich alles Richtige, Wahre, Ehrenhafte, Anständige und Schöne, was von den Menschen erstrebt werden muss. (5) Einzig noch die göttlichen Dinge sind davon ausgeschlossen, die einfach (simplex) sind, von einer einzigen Art, ewig und unermesslich. Ihnen entspricht alles, was man über die Gleichheit (aequalitas), Gleichartigkeit (paritas) und Ähnlichkeit (similitudo) 692 denken oder sagen kann, die [Bl. A3v] sich notwen‐ 244 5 Die Versus senarii de analogiis (= Camerarius 1554) der Mitten / Analogien nach dem Grad ihrer Einheit / Gleichheit dürfte zurückgehen auf Proklos, In Timaeum 2, 20, 1-9. Ausführlich dazu in Kapitel C.2.2.1 dieser Arbeit. 693 Proportio (lat. für ἀναλογία) dürfte die drei Begriffe aequalitas, paritas und similitudo aufgreifen, da sie verschiedene Formen von Analogien repräsentieren (s. vorige Fuß‐ note). Gemeint ist, dass es in jeder Analogie ein Verhältnis von 1 zu 1 gibt, das sich auf 1 zurückkürzen lässt. Das Gleiche trifft auf das Eine zu: Auch es ist zu sich selbst gleich, d. h. in ihm gibt es ein Verhältnis von 1 zu 1, das sich auf 1 zurückkürzen lässt. Ausführlich dazu in Kapitel C.2.2.1 dieser Arbeit. 694 Euklid, Elementa 1 Axiom 1: „τὰ τῷ αὐτῷ ἴσα καὶ ἀλλήλοις ἐστὶν ἴσα.“ digerweise auf eins zurückführen lässt. Wie sich nämlich eins zu eins verhält, so findet man ebenfalls in der Analogie (proportio) (dasselbe) Verhältnis von eins zu eins. 693 Was dürfte das schon sein, außer eins? Was dieses Eine selbst ist, lässt sich nicht erklären oder bestimmen, weder indem man davon spricht, noch indem man darüber nachdenkt. Deswegen kann man auch eher Vermutungen darüber anstellen, was Gott nicht ist, als darüber, was er ist. Dies übersteigt den menschlichen Verstand, geht selbst über den Himmel hinaus und täuscht den Blick der Augen, die ihm folgen wollen. Ich spreche vom göttlichen Wirken, der Ewigkeit und Erkenntnissen dieser Art. (6) Aber bei den Dingen, die mit dem Verstand erfasst, mit der Vernunft geordnet, mit Worten veranschaulicht und tatsächlich umgesetzt werden können, gibt es ein Verhältnis der Ungleichheit, Unähnlichkeit und Ungleichartigkeit, und es gibt einen Vergleich (comparatio) von Dingen, die verschieden voneinander sind. Notwendigerweise lassen sie selbst dann, wenn [tatsächlich einmal] Gleichartigkeit herrscht und sich keine Unähnlichkeit erkennen lässt, den Verstand in Unordnung und Verwirrung zurück. Warum ist das so? Zwei Dinge, die demselben gleich sind, sind auch einander gleich. 694 Lassen sie nicht sofort aufgrund ihrer Verschiedenheit gleichsam den Gedanken von Ungleichheit aufkommen, so dass man zur Erkenntnis ihrer Gleichheit ein Wissen um (ihre) Ungleichheit hinzunehmen muss? [Bl. A4r] Wie kann man ferner z. B. zwei mit zwei vergleichen (comparare), wenn gar nicht feststeht, wie sich eins zu zwei verhält. Gäbe es nämlich ewig und allein nur Ungleichheit in dieser Welt, könnte die Schöpfung nicht lange bestehen und nichts in ihr von Dauer sein. Nun kommt es aber, dass durch das Verhältnis (ratio) und den Vergleich (comparatio) Ungleiches gleichgemacht wird und Unähnliches verbunden wird und auf diese Weise gemäß der Vorherbestimmung des Schöpfers und Demiurgen (artifex) sein Werk (sc. die Welt; elaboratio) aufrechterhalten wird. (7) Dies ist, wie Platon sagt, die Analogie. Es handelt sich dabei gewissermaßen um ein Band zwischen allen Dingen, ohne das notwendigerweise alles in seine Teile aufgeht, zerfällt und zugrunde geht. Ohne sie kann es kein festes und si‐ 5.1 Der Widmungsbrief der Versus senarii de analogiis, gerichtet an Wolfgang Meurer 245 695 Vgl. Cicero, Timaeus 4, 13. 696 Vgl. hierzu Proklos, In Timaeum 2, 21, 18- 2, 22, 20 und Baltzly 2007, 14 f., sowie Ficino, Timaeus 19. cheres Wissen oder Erkennen geben, kein [den Gegebenheiten] entsprechendes und dauerhaftes Handeln. Was sie nicht umbindet, das wird von der Wechsel‐ haftigkeit irriger Ansichten und dem Chaos unsinniger Unterfangen bestimmt. Sie begründet und befördert die Wahrheit des Wissens, die Erhabenheit der Künste und die Schönheit von allem, was man sagt und tut. Wo sie nicht ist, dort herrscht offensichtlich Unwahrheit, Ungeschicktheit (inertia), Hässlichkeit und Schlechtigkeit. […] (8) Während häufiger Reisen und unruhiger Aufenthalte in meiner Heimat [Bamberg] habe ich mit griechischen Verslein das beschrieben, worüber ich mit dir schon einmal persönlich gesprochen habe, nämlich die Analogien, die man mit Cicero als proportiones [passende Verhältnisse] beschreiben kann. 695 Es gibt drei Formen, die zu der Art gehören, die Verhältnisse fortführt und als gemeinsame Mitte zu zwei weiteren Zahlen hinzutritt. Diese Analogien entzünden sozusagen das Licht der einzigen Weisheit und Klugheit oder zeigen vor allen anderen Dingen einen Weg auf, dieses Licht in den menschlichen Geist zu bringen. Als Mitte bezeichne ich das, was die Griechen μέσον und μεσότης nennen, was zwischen zwei Zahlen gestellt, in Bezug auf jedes von beiden erschlossen wird, und schon werden jene zu den Außengliedern, d. h. ἄκρα, und haben dennoch eine gemeinsame Mitte. Denn diese Ableitung (abductio) geschieht nicht aufs Geratewohl, sondern auf eine passende Weise, wenn man die Verhältnisse vergleicht. Daher sagt man auch, die drei seien analog zueinander, d. h. sie seien in passendem Verhältnis angeordnet. Man unterschied aber, wie du weißt, drei besondere Analogien, benannt nach den Namen der drei bedeutendsten Disziplinen: Die arithmetische Analogie, die eine Analogie von Zahlen an sich ist. Die geometrische Analogie, die eine Analogie von Zahlen ist, die auf eine Fläche übertragen werden. So entstehen geometrische Figuren, die [auf Griechisch] σχήματα sind. An dritter Stelle stehen Verhältnisse oder Beziehungen ebendieser Zahlen untereinander, d. h. σχέσεις, durch die jeder Gleichklang von Tönen bewirkt wird; und deshalb wurde sie harmonische Analogie genannt. 696 (9) Dass ich ein astronomisches oder astrologisches Beispiel hinzugefügt habe, habe ich deswegen getan, weil ich, Platon folgend, dieses Wissen schätze und bewundere, und weil ich glaube, dass die ganze Kraft des menschlichen Verstandes und aller Scharfsinn, d. h. alle philosophischen Gedanken, in ihr enden. 246 5 Die Versus senarii de analogiis (= Camerarius 1554) 697 ἀναλόγων] wohl verdruckt zu ἀνάλογον. 698 ἀλλήλους] wohl verdruckt zu ἀλλήλως. 5.2 Das Gedicht Versus senarii de analogiis (= Camerarius 1554, Bl. A6v-B2v) [Bl. A6v] Περὶ μεσοτήτων ἢ μέσων ἀναλόγων 697 τριῶν τῆς ἀριθμετικῆς καὶ γεωμετρικῆς καὶ ἁρμονικῆς σύνοψις ἔμμετρος διαλαμβάνουσα τὰ κατὰ φύσιν, εὕρεσιν, γένεσιν καὶ χρῆσιν ἐκείνων. - Τῶν μεσοτήτων, ᾠ φιλόλογ’ ἐντευθενί - φύσιν, εὕρεσιν, γένεσίν τε καὶ χρῆσιν μαθέ. - Πρῶτον δὲ λέξω μεσότητος τ’ ὄνομα - σημασίαν τίν’ ἐκδιδάσκειν βούλεται. - Ὅσα γὰρ ὁ κόσμος ἐγκατείληφ’ οὑτοσί, 5 ἐκεῖν’ ἅπαντα τῷ τ‘ ἀριθμῷ καὶ λόγῳ - αἰὲν διοικεῖτ’ εὐπρεπῶς μετρούμενα, - ἢ συν ἂν ἔπιπτε περιτραπέντ’ ἀκοσμίᾳ. - Ὂν σύνθετον δὲ τόδε τὸ πᾶν καλούμενον - κἀκ τῶν ἐναντίων ἔχον τὴν σύστασιν, 10 δῆλον ὅτι δεσμῶν τῷδε δεῖ, πρὸς ὧν καλῶς - κρατηθὲν ἀσφαλῶς περιγενεχθήσεται - καὶ τἀνδὸν αὐτοῦ κατὰ τρόπον σωθήσεται - εὖ καὶ πρὸς ἀλλήλους 698 συνοικειούμενα. - Τόδ’ οὐδέν ἐστιν οἷον οὐδεπώποτε 15 ἄλλο τελέσαι πλὴν τῆς καλῆς ἀναλογίας. - Αὕτη δὲ τῶν γεγενημένων, ὧν προστατεῖ, - δισσῇ κυβερνᾷ τέλος ὅλον μεταχειρίσει - [Bl. a7r] ἢ συνεχὲσ’ ἢ διαιρεθεῖσι χρωμένη. - Αἰὲν δὲ τὸ συνεχές ἐστιν εὐθενέστερον, 20 ὧς ὄν γ’ ὅμοιον αὐτὸ πρὸς ἕαυτ‘ ἁθρόως. - Ἕτερον δ’ ἐκεῖνο τῆς διαιρέσεως γένος - καὶ πρὸς ἕτερά τινα τὴν ὁμοιότητ’ ἔχει. - Ὁμοιότης λόγων δ’ ἐοῦσ‘ ἀναλογία - τέτταρσιν ἐπ’ ἐλάχιστον ἐκτελειθ‘ ὅροις. 25 Οὗτοι δ’ ὅταν πω συσταλῶσ‘ εἰς τρεῖς, ἵνα - λῆφθη δὶς εἷς ὁ κείμενος τότ’ ἐν μέσῳ, - οὕτω τε μεσότης καλεῖτ’ ἀναλογία, - καὶ γίνεται συνεχῆς ὁμοιότης λόγων, - 5.2 Das Gedicht Versus senarii de analogiis 247 τριπρόσωπον ὥσπερ ἄρτεμις πέμουσα φῶς 30 τῇ τῶν ὅλων γνώσει τε καὶ δυνάμει φρενῶν - λάμπον ἐν ἀριθμοῖς καὶ λόγοισι καὶ μέτροις. - Διόπερ καλεῖται τοῦθ’ ὅ νῦν φαμὲν μέσον - ἀριθμητικὸν, γεωμητρικὸν, ἁρμονικόν. - - - Φύσις. - Ἀριθμητικὴν μεσότητα τὴν δ’ ἐρεῖς, ἐν ᾗ 35 ἴσως ὑπερέχουσιν θ’ ὑπερέχονται θ‘ ὅροι. - Ἕξεις δὲ τοῦθ’ ὑπόδειγμα· ἕν, δύω, τρία. - - - α. β. γ. - Γεωμητρoῦν τι δὲ μεσότης ἔσται, καθ’ ἥν ὁ τῶν ὅρων λόγος αὐτος ὢν εὕρισκεται ἁπαξ ἁπάντων, ὥσπερ ἕν, δύο, τέσσαρα. 40 - - α. β. δ. - Λοιπῆς δ’ ἐθ‘ ἁρμονικῆς τόδ’ οἰκεῖον τίθει - τὸ τῶν ἀκρῶν τὸν αὐτὸν εὑρίσκειν λόγον, - [Bl. A7v] ὅς τῆς ὑπεροχῆς τῆς μεταξὺ γίνεται, - ὥς ἢν τιθῶμεν τρίαδα, τετράδ’ ἕξαδα. - - - γ. δ. ϛ. - Τούτων μέμνησο τῶν τριῶν, χρειώδεις 45 ὅτ’ εἰσὶ πᾶσαι πρὸς μαθήσεις πανταχοῦ. - Ὅσας δὲ περιεργαζόμενοι ἄλλοι τινές - πλείους τίθενται, τῶνδε μελέτω μηδενί, - εἰ μὴ σχολή τινι κἀμελήτων γ’ ὡς μέλειν. - - 248 5 Die Versus senarii de analogiis (= Camerarius 1554) 699 50-64 ἀριθμῶν-μέσον] wird wörtlich zitiert in Camerarius 1594, 45 f. (= Kapitel E.7.2, Abschnitt 7). Εὕρεσις τῶν μεσοτήτων. - Ἀριθμῶν δέ σοι δυοῖν τεθέντοιν, ὡς τύχοι, 699 50 ἀριθμητικῶς μεσότητα λήψεσθ’ ὡδέπως· - Κείνους δοθέντας τοὺς ἀριθμοὺς συντιθείς - ἔπειτα πλῆθος τέμνε τὸ ξυγκείμενον - καὶ θάτερον ποιοῦ μέσον τούτοιν μέρος. - - - α. γ. γίνεται δ. τὸ ἥμισυ β. - Εἰ δ αὖ γεωμετρεῖν προῄρῃς ἐνθαδί, 55 πολλαπλασιάσας τἆκρα τετραγωνικὴν - πλευρὰν παραβαλοῦ καὶ τόδ’ αὖ ἔσται μέσον. - - - α. δ. γίνεται δ. τούτων ἡ τετραγονικὴ πλευρὰ β. - Τὰδ ἅρμονικὰ σκευάζετ’ ἐργωδέστερον. - Συν γὰρ τίθεσθαι τἆκρα δεῖ καθάπερ πρῶτον, - ἔπειτα δ’ ὑπεροχὴν ὅταν τούτων λάβης 60 καὶ πολλαπλασιάσης ἐλάττονος μέτα, - τὰδε μέρισον παραβαλλόμενος αὐτὴν πάρα - τὴν ξύνθεσίν γ’, ἣν ἔλαβου. Εἶτα τοὐξίον - πρὸς τὸν γ’ ὅρον τὸν μείονα θὲς, ἵν‘ ἦ μέσον. [Bl. A8r] - - - Γ. ϛ. γίνεται θ. καὶ ὥσαυτως τρὶς τὰ γ. ἔστιν θ. ἡ παραβολή α. α δὲ καὶ γ. γίνεται. δ. - - Γένεσις. - Νυνὶ δὲ γένεσιν τῶν δ’ ἑκάστης μάνθανε. 65 Τῶν μεσοτήτων, μονάδος προϊὼν ἄπο - καὶ τὴν μὲν ὧδε τῶν ἀριθμῶν σκευάσεις. - Πρώτῳ τὸ πρῶτον ἴσον ἢν ποιούμενος - λήψῃ διπλοῦν τὸ δεύτερον, τριπλοῦν τρίτον - τῷ δευτέρῳ τε καὶ τρίτῳ προκειμένῳ. 70 - 5.2 Das Gedicht Versus senarii de analogiis 249 α. α. α. - α. β. γ. - Γεωμετρῶν δὲ πρῶτον ὡσαύτως ἴσον - πρώτῳ, διπλοῦν δὲ δεύτερον, τρίτον δὲ θές - πρώτῳ τ’ ἴσον καὶ δευτέρῳ, τρίτῳ τὲ δίς. - - - - α. α. α. - α. β. δ. - - Τὸ δ’ ἁρμονικὸν οὕτω μέσον γενήσεται· - Πρώτῳ τὲ δευτέρῳ τε καὶ τρίτῳ λαβέ 75 τὸ πρῶτον ἴσον, δεύτερον δ’ ἑξῆς τίθει - πρώτῳ τ’ ἴσον καὶ δευτέρῳ καὶ δὶς τρίτῳ, - τρίτον δ’ ἴσον πρώτῳ, διπλοῦν δὲ δευτέρῳ, - τρίτῳ δὲ τριπλοῦν, χ’ ἁρμογὴν ἕξεις μέσην. - - - - α. α. α. - γ. δ. ϛ. - - - Χρῆσις. - - [Bl. A8v] Χρείαν δ’ ἔχων κατὰ τὰς ἐπιστήμας ποτέ 80 τῶν ἀναλογιέων πρὸς τάδ’, ἄν τὸ μέσον λάβοις, - οὐ μὲν μόνον γε, πρὸς δὲ τἆλλα πλείονα. - Λάβοις δ’ ὅμως, ὅταν ἀποδεῖξαί που θέλης - τοὺς τῶν πολιτικῶν λόγους συναρμογῶν - αὐτῆς τε φιλικῆς τὴν φύσιν συμφωνίας, 85 τὴν τῶν ἀριθμῶν μεσοτήτ’ ἀριφραδῶς, - ὅπου γε πάντῃ γίνεται τὸ συμπαθές - τὸ θ’ ὁμολογοῦν καὶ κοινοβουλοῦν προφρόνως - ἐκ τῶν ἀνωμάλως τ’ ἔχοντων κἀνίσως. - Αὐτῶν καθ’ αὕθ‘ ὡς ἐνθαδ’ ἔκκεινθ‘ οἱ λόγοι 90 ἀπὸ τῆς διαφορᾶς τῶν ἀριθμῶν, ὡς ἔχει - τάξει προβαίνουσα κατ’ ἴσας διαστάσεις - χ’ οὕτω δικάστης, ὅστις αὖ ᾖ νουνεχῆς, - ὀρθὰς ἔθηκεν ἐν πόλει συναλλαγάς - γνώμην ἴσην πᾶσιν ἀποφαίνων ἐννόμως. 95 Οἷον, ὅ τι κατὰ τὰ συμβόλαι’ ἔχει καλῶς - 250 5 Die Versus senarii de analogiis (= Camerarius 1554) τὸν τ’ ἄλλον ἄλλῃ τοῦ βίου κοινὸν τρόπον, ὥστε κατέχειν θ’ αὕτου τιν‘ αὐτὸν ἐνδίκως - ἀνεμποδίστως θ’ οἷος ἄν περ ᾖ ποτε - ὅ τι τ’ ἀποτίνειν ἢ παθεῖν ῥέζοντα δεῖ, 100 οὐδὲν ἀλέγων τίς ἔσθ’ ὁ δράσας ἢ παθών. - Τοιοῦτο κἂν εἴη τὸ λεγόμενον ἀκριβές - ἐν τοῖς δικαίοις καὶ προηγουμένοις - κατὰ τῶν νόμων τὸ ῥητὸν ἀμετάβλητον ὄν. - Ὅπου γε τὸ διατεταγμένον μόνον ἄντικρυ 105 σκοποῦμεν αὐτὸ καθ’ αὑτὸ, κἆλλο μηδὲ ἕν - [Bl. B1r] ἐπίστης. Προχωρεῖ πρᾶγμα γὰρ τὸ τάξεως. - - - - α. α. - - - - α. β. γ. - - - - Τὰ β ἶσον ἀπέχει τῷ ἀριθμῷ τοῦ τε α. καὶ τῶν γ., ὥστε ἀδιάφορον τὸ τῶν β. πρόστε τὸ ά. ἔλασσον καὶ τὰ γ. πλείω ὄντα. - Τὰς χρημάτων δὲ τῶν τε τιμῶν διανομάς, - ὅτι τ’ εὔλογον κατ‘ ἀξίαν λαβεῖν τινά, 110 τούτοις θ’ ὅμοι‘ ἅπαντα, τάτε ἰατρικά - τάτ’ οἰκονομικά, καὶ τὰ παιδαγογικά - τὰ γυμνασιαρχικὰ τ’ αὐθ‘ ἔταξεν ἰσότης - γεωμετροῦσα καὶ νέμουσ’, ὥσπερ δέον, - ἕκασθ’ ἑκάστοις. Τῇ διαστάσει μὲν οὔ, 115 ἴσῳ δὲ διορίζουσα πάντ’ ἀεὶ λόγῳ, - ἵν’, ὅστις ἥττων ᾖ, λάβη τ‘ ἐλασσονα - καὶ πλείον’ αὖ διαπαντὸς ὁ κρείττων ἔχῃ. - Τοιοῦτ’ ἂν εἴη καὶ τὸ ἐπιεικὲς πάνυ - τὸ χρηστότητι τῶν λογισμῶν ἑπόμενον, 120 καὶ τὸ διάφορον ὁρίζον ἀναλόγον καλῶς. - - - - α. β. - - - - α. β. δ. - - - - Τὰ β. μέσον ἀναλόγον, οὐκ ἀριθμῷ ἶσον ἀπέχει τοῦ α. καὶ τῶν δ., ἀλλὰ λόγῳ, ὥστε οὐκ ἀδιάφορα μὲν τὰ β. πρόστε τὸ α. καὶ τὸ δ. ἀριθμῳ. Τὴν δὲ διαφορὰν ὁ λόγος ἐξισάζει ἀμφωθέρωθε διιπλάσιος ὤν, ὥστε εὖ ἔχειν τοῖς δ. β. προσνεῖμαι, ἢν τὸ α. λάβη α. 5.2 Das Gedicht Versus senarii de analogiis 251 [Bl. B1v] Τἀρμονικὰ δ’ ἶσα λήψεται πρὸς τἀρχικά 125 καὶ τὰς δυναστείας, ὅπου σύμφωνα δεῖ - τἄνω γενέσθαι τοῖς κάτω πως καίπερ ἐν - διαστάσει κεῖν’ ὄντα τόσῃ κείμενα. - Τοῦτ’ ἄλλο δ‘ οὐδὲν πλὴν λόγος πράξειεν ἄν - ὁ τὴν ὑπεροχὴν ἀρχικὴν τῶν ἐν τέλει 130 πρὸς τοῖς ὑπ’ αὐτοῖς ἐξισώσας ἐμμέτρως, - ἐν τοῖσί τ’ ἄρχουσιν καὶ ἀρχομένοις ἵνα - ἐναρμόνια γένοιτο πάντα κἀμμελῆ - ἐπὶ τὸ πρὸς ἀλλήλους δι’ ἀναλόγου μέσον - ξυνδούμεν’ ἀγαθὸν κὤφελος πολιτικόν. 135 Οὕτως ἄρα τὸ κρατοῦν τε καὶ κρατούμενον - μένει συναρτηθὲν νόμῳ πόλεως δια- - στὰν ἀξίᾳ μὲν, τῷ δὲ συστὰν ἐνδίκῳ. - - - - α. β. - - - - γ. δ. ϛ. - - - - Τὰ δ’ πρὸς γ. καὶ ϛ. διαφορὰν ἔχει καὶ ἀριθμῷ καὶ λόγῳ. Τῷ δὲ τῆς διαφορᾶς λόγῳ τὰ ἆκρα έξισοῦται, ὥστε διὰ μέσου ἁρμονικοῦ τῶν δ. τὴν τῶν ποῤῥωτάτῳ διαστάντων πραγματευθῆναι συμφωνίαν καὶ φιλίαν. - Εἰ δ’ αὖ‘ θέλεις ὑπόδειγμα κυριώτερον 140 τῆς τῶν ἐπιστημῶν λαβεῖν θεωρίας - διὰ τῶνδε τῶν ἀναλογιέων τῆς χρήσεως, - ἰδοὺ πρόκειτ’ ἐν ἀξιοσπούδῳ λαβεῖν - μάλισθ’ ἁπάντων οὐρανοσκοπτικῇ τόδε. - Πρῶτον γὰρ ὧδ’ ὅλος διῃρηται κύκλος, 145 [Bl. B2r] ὡς σχημάτων μορφὰς προβαίνειν τεσσάρων· - Ἕκτον παρὰ τέτταρτόν τε καὶ τρίτον πάλιν - ἐπ’ αὐτοῦ τοῦ κύκλου τε λοιπόν θ‘ ὥμισυ. - Τούτων μὲν οὖν μεταξὺ κοινὸν οὐδὲν ἄν - μέσον λαβεῖν γεωμετρῶν δύναιτό τις. 150 Οὐκ ἔστι γὰρ φιλάλληλ’ αὐτὰ παντελῶς. - Τὸ δ’ ἥμισυ κύκλου τὴν λέγουσι διάμετρον, - τετράδα φιλεῖ τε καὶ μεταξὺ γίνεται - κείνης τε καὶ κύκλου ἅπαντος ὡδέπως· - Τίθει γὰρ ἑξήκονθ’ ὁλόκληρον κύκλον 155 252 5 Die Versus senarii de analogiis (= Camerarius 1554) τοθ’ ἥμισυ τριάκοντα καὶ τὸ τέτταρτον τὰ πέντε καὶ δέκα, καὶ μέσον παρευρέθη. - (Εἰς γὰρ ὅλον ἑξήκοντα πάντα τὸν κύκλον - ὡς οἱ πάλαι χ’ ἡμεῖς τὸ νῦν μερίζομεν), - Φιλ’ ἔσθ‘ ὁμοίως ἑξάγωνα τρίγωνά τε, 160 ὡς τεσσαρήκοντ’ εἰκοσίντε καὶ δέκα. - Τὸ δ’ ἄνισον αὖθ‘ ἀριθμοῦ μὲν ἰσοδιαστάτως - ἀρὰ διεχ’ ἑώς τριγωνικῆς εἰκοστύος, - ὥσθ’ ὧδε κεῖνα προῦκπεφάνθαι σχήματα, - οἷον δέκ’ ἠδὲ πεντεκαίδεκ‘ εἴκοσιν. 165 Ἐχρῆν δὲ πάντως καὶ πρὸς ἄλληλ’ ἁρμογήν - ἔχειν τιν’, ὡς συνῳδὰ φαίνεσθαι τάδε - ἕκτ’ ἄλλα τἀνάρμοστα κλείειν σχήματα. - Διὰ τοῦτο καὶ τῶν γωνιῶν τὰς διαφοράς - ἐκθεὶς παραχρῆμ’ ὄψεαι τὸ ἀναλογοῦν, 170 καὶ δὴ προκύψει μέσον ἁρμονικὸν τότε, - οἷονπερ ἐν τῇ τριάδι, τετράδι, ἑξάδι. - [Bl. B2v] Κατὰ δὴ τάδ’ αὖθις ἕτερα πρὸς πλείω πάνυ - τούτων δύναιο μεσοτήτων τῶν τριῶν - χρείαν προσάπτειν τῆς σαφηνείας χάριν, 175 ἵνα τῆς ἐπιστήμης ὁδος τρανὴς ἔη - καὶ φῶς συνέσεως ἐκφαανθῆ τοῦ νοός, - ὡς ἐν σκότει πότε πῦρ ἔλαμψε ναυτίλοις. - Τὰς δὲ παρὰ ταύτας ἑπτὰ μὲν τινῶν ὕπο, - ὀκτὼ δ ὑπ ἄλλων εἰσέ τ’ ἠριθμημένας 180 σκοπεῖν μὲν ὅστις πολυπράγμων ἔστ’ ἔα, - ἡμεῖς δὲ τοῖσδε τοῖς ἀναγκαίοις καλῶς - ἀρκεισθ’ ἔχοιμεν, ἕτερα δὲ ἕτερος στεργέτω. - Τὰδ’ οὐτ‘ ἀριθμῷ σύνδετ’ οὐτ‘ ἴσ’ αὖ λόγῳ - ὡς πανπόνηρα καὶ διημαρτημένα 185 φεύγειν, μισεῖν, ἀποστρέφεσθ’ πανταχῆ. - Τὰδ’ ἔστ‘ ἐν οἷσι κρύπτεται πανουργία - καὶ τῶν δικαίων τἄδικ’ ἐντιμώτερα, - καὶ μεσὰ πάντα γἰνεται σοφίσμάτων - ψεῦδός τε νικᾶ τὴν ἀλήθειαν τὸ τε 190 παράλογον ἠδ’ ἀμφίλογον ἠδ‘ ἄλογον κρατεῖ. - Ἔξω τὸδ’ εὔλογον τὸ θ‘ ὁμόλογον μετὰ - καὶ παγκρατίστης ῥιπτόμενον ἀναλογίας - βίου πατεῖ τ’ ἐν συγχύσει κακοδαίμονος - 5.2 Das Gedicht Versus senarii de analogiis 253 καὶ μωρίᾳ διαβαλλετ’ ἀθλίων φρενῶν. 195 Δεῖ δὴ συνέσεως καὶ φρονήσεως πάνυ, - τὰ γὰρ κάκ’ ἔστι πλείον ἀεὶ τῶν καλῶν. - 254 5 Die Versus senarii de analogiis (= Camerarius 1554) 700 Zum Inhalt und zur Terminologie des Gedichts vgl. Kapitel C.2 dieser Arbeit. 701 Gemeint ist die kontinuierliche bzw. diskrete Analogie, vgl. Kapitel C.2.1 dieser Arbeit 702 Camerarius hat hier und im Folgenden vermutlich die Wörter ὅμοιος / ὅμοιότης (= Gleichheit im Sinne von Ähnlichkeit) statt ἴσος / ἰσότης (Gleichheit in restriktivem Sinn) verwendet, weil Verhältnisgleichheit streng genommen nur in der geometrischen Analogie herrscht, während die Verhältnisse in den anderen beiden Analogieformen der arithmetischen und harmonischen Analogie nur ähnlich / vergleichbar sind. Durch das Wort ὅμοιος möchte er also alle drei Analogieformen miteinbeziehen. 703 Camerarius bezieht sich hier auf die konkrete Mitte. Sie besteht aus vier Gliedern, die keine keine gemeinsame Mitte haben. D. h.. die kontinuierliche Analogie ist homogener und dem göttlichen Einen näher als die diskrete Analogie. Metrische Übersicht über die Mitten oder die drei mittleren Analogien, [nämlich] die arithmetische, geometrische und harmonische - unter‐ teilt nach ihrer Natur, Auffindung, Entstehung und ihrem Nutzen. 700 Gelehrter, lerne jetzt die Natur, die Auffindung, Entstehung und den Nutzen der Mitten kennen. Zuerst werde ich dir den Begriff μεσότης ‚Mitte‘ erklären, welche Bedeutung er uns lehren will. Denn alles, was dieser Kosmos in sich begreift, ist immer durch Zahl und Verhältnis passend bemessen und ange‐ ordnet, sonst würde es in Unordnung verkehrt zusammenstürzen. Wenn dieses sogenannte ‚All‘ etwas Zusammengesetztes ist und aus gegensätzlichen Dingen verbunden ist, braucht es dafür offensichtlich Bänder, aus denen sich zuverlässig etwas schön Gemischtes ergibt und die inneren Glieder gewissermaßen bewahrt und gut zueinander in Verbindung gebracht werden. Nichts anderes ist jemals in der Lage dazu, dies zu vollbringen, außer die schöne Analogie. Das ganze Ziel des Geschaffenen, über das sie herrscht, steuert sie mit einem doppelten Mittel, [Bl. A7r] indem sie zusammenhängende und getrennte Glieder verwendet. 701 Immer aber ist das Zusammenhängende [Mittel] stärker, da es schlichtweg in Bezug auf sich selbst ähnlich (ὅμοιος) ist. 702 Die zweite Art des Getrennten hat eine gewisse Ähnlichkeit gewissermaßen auch im Hinblick auf das Andersartige [ihrer Glieder]. 703 Da die Analogie eine Ähnlichkeit von Verhältnissen ist, wird sie durch mindestens vier Termen bewirkt. Wenn diese [vier] Terme zu drei Termen zusammengezogen werden, so dass der mittlere Term zweimal genommen wird, wird diese Mitte Analogie genannt und es entsteht eine zusammenhängende Ähnlichkeit von Verhältnissen, die, dreigesichtig wie Artemis, das Licht schickt, das für die Erkenntnis des Alls und die Macht der Gedanken in Zahlen, Verhältnissen und Maßen erstrahlt. Deswegen wird die Mitte, über die wir jetzt reden, arithmetische, geometrische und harmonische Mitte genannt. 5.2 Das Gedicht Versus senarii de analogiis 255 704 Als mathematische Formel (Annahme: a<c): a + c − a ⋅ a a + c = b. Die Natur (Vers 35-49) Als arithmetische Mitte wirst du die Mitte bezeichnen, bei der die Terme in gleichem Maß [die anderen] übertreffen, wie sie [von ihnen] übertroffen werden. Hier hast du das Beispiel 1, 2 und 3. 1 - 2 - 3 Etwas Geometrisches wird die Mitte sein, bei der man dasselbe Verhältnis zwischen allen Termen vorfindet, wie [bei den Zahlen] 1, 2 und 4. 1 - 2 - 4 Das Eigentümliche der noch verbleibenden harmonischen Analogie ist, dass man dasselbe Verhältnis der Außenglieder vorfindet, [Bl. A7v] das sich aus der Differenz zur Mitte ergibt, so wie wenn wir 3, 4 und 6 nehmen. 3 - 4 - 6 Merke dir diese drei Analogien gut, denn sie alle sind nützlich für sämtliche Erkenntnisse. Um jene Erkenntnisse aber, die von irgendwelchen Nichtsnutzen höher geschätzt werden, soll sich niemand scheren, es sei denn er hat Zeit, sich um Dinge zu kümmern, die ihn nicht angehen. Das Auffinden der Mitten (50-64) Wenn dir zwei beliebige Zahlen gegeben sind, wirst du die Mitte arithmetisch auf die folgende Art und Weise erhalten: Addiere die gegebenen Zahlen, dann teile die gebildete Summe [durch zwei] und nimm eine der beiden Hälften als Mittel. 1 + 3 = 4 42 = 2 Wenn du jetzt lieber die geometrische Mitte bilden willst, multipliziere die Außenglieder und bilde die Quadratwurzel. Das wird dann wiederum die Mitte sein. 1 ⋅ 4 = 4 4 = 2 Mühsamer wird die harmonische Mitte gebildet. Man muss zunächst die Au‐ ßenglieder addieren, und dann, wenn du die Differenz aus ihnen bildest und mit der kleineren Zahl multiplizierst, dividiere, indem du das [entstandene] Produkt durch die Summe vergleichst, die du erhalten hast. Addiere anschließend das Ergebnis zum kleineren Außenglied. Das ist dann die Mitte. 704 [Bl. A8r] 3 + 6 = 9; ebenso-3 ⋅ 3 = 9 99 = 1 1 + 3 = 4 256 5 Die Versus senarii de analogiis (= Camerarius 1554) 705 Camerarius geht in den folgenden Versen (V. 65-79) von Einheiten aus, um zu zeigen, dass die Analogieverhältnisse vom göttlichen Einen abgeleitet sind. Vorbild dürfte Proklos gewesen sein (vgl. Proklos, In Timaeum 2, 20, 1-9). Ausführlich dazu in Kapitel C.2.2.1 dieser Arbeit. 706 Die folgenden Verse (80-134) beziehen sich auf die Ausführungen des Aristoteles zur Gerechtigkeit und Freundschaft, die in den Büchern 5, 8 und 9 der Nikomachischen Ethik darsgestellt sind. Vgl. dazu die Ausführungen in Kapitel C.2.2.2 dieser Arbeit. 707 Camerarius bezieht sich im Folgenden auf das Freundschaftskonzept des Aristoteles sowie dessen Konzept der ausgleichenden Gerechtigkeit. Vgl. dazu die Ausführungen in Kapitel C.2.2.2 dieser Arbeit. Entstehung (V. 65-79) 705 Nun lerne die Entstehung einer jeden dieser Mitten kennen. Von der Einheit voranschreitend wirst du die arithmetische Mitte auf die folgende Art und Weise bilden: Wenn du die erste Zahl der ersten Einheit angeglichen hast, nimm für die zweite Zahl das Doppelte der gegebenen zweiten Einheit, und für die dritte das dreifache der gegebenen dritten Einheit. 1 : 1 : 1 1 : 2 : 3 Wenn du geometrisch die Mitte suchst, dann gleiche die erste Zahl der ersten Einheit an, verdopple [für die zweite Zahl] zweimal die zweite Einheit und setze die dritte Zahl der [Summe der] ersten und zweiten eins und der doppelten dritten Zahl gleich. 1 : 1 : 1 1 : 2 : 4 Die harmonische Mitte wird auf die folgende Weise entstehen: Setze die erste Zahl der [Summe aus der] ersten, zweiten und dritten Einheit gleich. Dann setze die zweite Zahl [der Summe aus] der ersten, zweiten und der doppelten dritten Einheit gleich, und die dritte Zahl [der Summe aus] der ersten Einheit, zweimal der zweiten und dreimal der dritten, und du hast die harmonische Mitte. 1 : 1 : 1 3 : 4 : 6 Nutzen (V. 80-192) 706 [Bl. A8v] Wenn du die Mitte nimmst, dürfte das - dem Wissen um die Analogien entsprechend - nicht nur für das schon Genannte nützlich sein, sondern auch für vieles andere. Ebenso dürftest du, wenn du irgendwie die Verhältnisse der bürgerlichen Gemeinschaften zeigen willst und die Natur der Harmonie einer Freundschaft selbst, 707 natürlich die arithmetische Mitte verwenden, nämlich dort, wo auch immer es zu einer Wechselwirkung, zu einem Vertrag und zu einem aufrichtigen gemeinsamen Beschluss über ungleiche und 5.2 Das Gedicht Versus senarii de analogiis 257 708 Gemeint ist, dass der soziale Stand nicht berücksichtigt wird. 709 Im Sinne von: „das durch die Analogie Zusammengefügte“. 710 Es geht in diesem Abschnitt um die aristotelische Gerechtigkeit im Verteilen. Vgl. dazu die Ausführungen in Kapitel C.2.2.2 dieser Arbeit. 711 Gemeint ist, dass die Billigkeit gegenüber der in diesem Abschnitt thematisierten Gerechtigkeit im Verteilen den Vorteil hat, dass sie passgenau und situationsbedingt unterschiedliche Dinge kommt. Ebenso wie die Verhältnisse dieser Dinge zu sich selbst durch ihre zahlenmäßige Differenz sichtbar werden, und ebenso wie sich diese Differenz verhält und dabei in einer Ordnung mit gleichem Abstand voranschreitet, hat immer jeder vernünftige Richter in einer Polis gerechte Versöhnung gestiftet, indem er rechtsgemäß alle gleich behandelt hat: Z. B. alles, was sich in Bezug auf die [geschlossenen] Verträge gut verhält und in Bezug auf die sonstigen Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, so dass es ein jeder rechtmäßig und ungehindert in Anspruch nehmen kann; und [ebenso] alles, was ein Täter bezahlen oder erleiden muss. Dabei achtet [der Richter] nicht darauf, wer derjenige war, der etwas zugefügt oder erlitten hat. 708 Gleichwohl dürfte diese Mitte genau sein - obwohl sie indifferent ist gegenüber den Gerechten und denen, die gegen die Rechte sprechen -, wo auch immer man schlichtweg nur das Angeordnete 709 für sich selbst betrachtet und nichts anderes [Bl. B1r] hinzustellt. Denn das Verfahren schreitet geordnet voran. - - - 1 1 - - - - - - 1 2 3 - - - Die Zahl 2 hat arithmetisch gesehen denselben Abstand zur 1 wie zur 3. Daher gibt es keinen Unterschied der Zahl 2 [im Abstand] zur kleineren Zahl 1 und zur größeren Zahl 3. Die Verteilungen von Vermögen und Ehren 710 - denn es ist vernünftig, dass jeder etwas erhält, das seiner Würde (ἀξία) entspricht - und alles, was diesen Dingen ähnlich ist, [nämlich] die Heilkunst, die Haushaltung, die Erziehung und die Gymnasiarchie, hat hingegen die geometrische Analogie geordnet, die auch, wie es sich gehört, jedem etwas anderes zuteilt. Nicht durch den [numerisch] gleichen Abstand, sondern durch das gleiche Verhältnis legt sie immer alles fest, damit der Geringere weniger erhält und der Bessere wiederum immer mehr hat. Eine solche Mitte dürfte auch ganz und gar die Billigkeit (ἐπιεικές) sein, die sich der Brauchbarkeit vernünftiger Überlegungen fügt und den Unterschied gut als etwas analoges [= „passendes Verhältnis“] bestimmt. 711 258 5 Die Versus senarii de analogiis (= Camerarius 1554) gerecht ist, vgl. das Kapitel C.2.2.2 dieser Arbeit. Zum Konzept der Billigkeit (ἐπιεικές) vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik 5, 14 1137 a 31-1138 a 3. 712 Mit dem Begriff ἐπιστήμη (lat. scientia) meint Camerarius festes, unumstößliches Wissen, das sich auf unveränderliche Dinge bezieht (vgl. Kapitel E.5.1, Abschnitt 1.; vgl. 1 2 - - - 1 2 4 - - - Die Zahl 2 ist die analoge Mitte. Sie ist nicht in Bezug auf den numerischen Abstand gleich zur 1 und zur 4, sondern in Bezug auf das Verhältnis zu ihnen. Daher ist sie in Bezug auf die numerische Differenz zur Zahl 1 und zur Zahl 4 nicht gleich. Den Unterschied gleicht aber das Verhältnis an, da es von beiden Seiten [zur Mitte] ein doppeltes ist. Daher verhält es sich gut, wenn man der Zahl 4 die Zahl 2 [= Differenz zur Mitte] zuordnet, und der Zahl 1 die Zahl 1 [= Differenz zur Mitte]. [Bl. B1v] Das harmonische Gleiche wird man bei Herrschaftsverhältnisse und Machstellungen verwenden, wo es nötig ist, dass das Höhere irgendwie zu dem niedriger Stehenden harmonisch wird, auch wenn sie einen sehr großen Abstand zueinander haben. Nichts anderes dürfte dies bewirken können außer ein Verhältnis, das den Rangunterschied der an der Spitze stehenden mit den ihnen Untergebenen angemessen angleicht, damit unter den Herrschenden und Beherrschten alles harmonisch und passend wird im Hinblick Mitte, die durch die Analogie unter ihnen bewirkte wird, und damit alles das Gute mit dem Nutzen für die Allgemeinheit verbindet. Auf diese Weise bleiben also das Herrschende und das Beherrschte nach dem Gesetz eines Staates miteinander verbunden, da sie zwar in Bezug auf die Würde getrennt, aber durch das Recht verbunden sind. - - - 1 2 - - - - - - 3 4 6 - - - Die Zahl 4 unterscheidet sich von den Zahlen 3 und 6 sowohl in Bezug auf den Abstand als auch in Bezug auf das Verhältnis zu ihnen. Durch das Verhältnis des Abstandes werden die Außenglieder angeglichen. Daher wird durch die harmoni‐ sche Mitte der Zahl 4 die Harmonie und Freundschaft der sehr weit entfernten Zahlen bewirkt. Wenn du hingegen ein besseres Beispiel willst, um zu sehen, wie man gesichertes Wissen 712 erwirbt, bei dem man diese Analogien nutzt, siehe da, das folgende 5.2 Das Gedicht Versus senarii de analogiis 259 auch Kapitel C.1.1). Die vorangegangenen Beispiele gehören für Camerarius hingegen in den Bereich der Klugheit (prudentia / φρόνησις), da sie handlungsorientiert sind und auf das Kontingente ausgerichtet sind, d. h. auf Dinge, die so oder anders sein können. Vgl. Kapitel C.2.2.2 dieser Arbeit sowie die Anmerkungen in Kapitel E.5.1, Abschnitt 1 und Kapitel E.5.3, Abschnitt 5 (ebenfalls im Anhang). 713 Es geht im Folgenden um die astrologischen Aspekte, vgl. dazu Kapitel C.2.2.1 dieser Arbeit. 714 Man muss das so verstehen: 10 Teile entsprechen dem Sextil, 20 dem Dreieck und 40 dem Bereich des Kreises, der vom Dreieck nicht eingenommen wird. Vgl. dazu die zugehörige Explicatiuncula (= Kapitel E.5.3, Abschnitt 5-11) und Kapitel C.2.2.1 dieser Arbeit. 715 Gemeint ist: die arithmetische Analogie der Aspekte zeigt sich in folgender Reihe: Sextil (10 Kreisteile / 60°), Trigon (15 Kreisteile / 90°), Quadrat (20 Kreisteile / 120°). Der arithmetische Unterschied beträgt 5 Kreisteile. Dies entspricht 30°. Beispiel liegt in der Himmelsbetrachtung, die vor allen anderen Dingen wert ist, dass man sie sich aneignet: 713 Zunächst soll der [Himmels-]kreis so unterteilt werden, [Bl. B2r] dass sich die Formen von vier geometrischen Figuren ergeben: Ein Sechstel [= Sextil], ein Viertel [= Quadrat] und auch ein Drittel [= Trigon] auf dem Kreis selbst, sowie schließlich noch die Hälfte [= Opposition]. Zwischen diesen Figuren dürfte nun ein ‚Geometer‘ keine gemeinsame Mitte finden, denn sie passen überhaupt nicht zueinander. Die Hälfte des Kreises bezeichnet man als Durchmesser, sie passt zum Viertel und tritt zwischen es und den ganzen Kreis auf die folgende Art und Weise: Unterteile den ganzen Kreis in 60 Teile, die Hälfte in 30, und das Viertel in 15, und schon hast du die Mitte gefunden. (Wie die alten, teile ich auch jetzt den ganzen Kreis in 60 Teile). Auch das Sextil und das Trigon passen zueinander, da es 40, 20 und 10 Teile sind. 714 Der Unterschied in der Zahl ist [in der arithmetischen Analogie] hingegen durch eine Trennung gleichen Abstands bewirkt, und zwar bis zum 20teiligen Trigon, 715 so dass auf diese Weise jene [genannten geometrischen] Figuren zum Vorschein kommen, d. h. 10, 15 und 20. Es war es absolut notwendig, dass sie zueinander auch eine Verbindung hatten, damit erkennbar wird, dass dieses harmonische Sextil die anderen [zu ihm] passenden [geometrischen] Figuren einschließt. Wenn du auch die Unterschiede der [Anzahl der] Winkel darstellst, wirst du deshalb augenblicklich das Analoge erkennen, und dann wird sich die harmonische Analogie zeigen, d. h. in den Zahlen 3, 4, und 6. [Bl. B2v] Dementsprechend könnte man zur Verdeutlichung noch für viele weitere Bereiche den Nutzen dieser drei Mitten anführen, damit die wissen‐ schaftliche Methode deutlich ist und das Licht des geistigen Verstehens so erstrahlt, wie das Feuer in der Dunkelheit für die Seeleuten leuchtet. Zu diesen [drei Analogien] sind von einigen sieben, von anderen 8 hinzugerechnet worden. Lass sie ruhig denjenigen beachten, der sich mit ungehörigen Dingen 260 5 Die Versus senarii de analogiis (= Camerarius 1554) 716 Gemeint ist die gleiche Differenz, wie bei der arithmetischen Analogie. beschäftigt, wir aber dürften uns mit diesen [drei wirklich nötigen] Analogien gut begnügen können, doch jeder soll ruhig seine eigenen Vorlieben haben. Das aber, was weder durch die gleiche Zahl 716 noch durch ein gleiches Verhältnis zusammengebunden ist, dies müssen wir überall als etwas Schändliches und Fehlerhaftes meiden, hassen und abwenden, d. h. all das, in dem sich das Verbrechen versteckt und das Ungerechte mehr angesehen ist als das Gerechte, alles voll von Sophismen wird, die Lüge die Wahrheit besiegt und das Unbe‐ rechenbare, das Zweifelhafte sowie das Unvernünftige herrscht. Außerdem wird das Vernünftige und Harmonische zusammen mit der allmächtigen Ana‐ logie hin- und hergeworfen, muss mit der Verwirrung eines unglücklichen Lebens einherwandeln und wird durch die Dummheit erbärmlicher Gedanken verleumdet. Überhaupt sind Verstand und Vernunft nötig, denn es gibt immer mehr Schlechtes als Gutes. 5.2 Das Gedicht Versus senarii de analogiis 261 5.3 Die Explicatiuncula zu den Versus senarii de analogiis (=-Camerarius 1554, Bl. B3r-B6r) Explicatiuncula expositorum versuum. (1) Visum fuit hoc loco adiicere designationes quasdam eorum, quae supra retulimus, ut a quovis facile intelligi possent. Quae quidem latine quoque exponi, illo quidem modo neque recte posse neque omnino debere existimavimus. Nam et harum praecipue disciplinarum tractatio peculiaris est Graecorum et interpretationum audacia atque perversitas depravasse atque corrupisse studia deprehenditur, quibusque certa cognitio cordi est, ii potius ad Graeci sermonis proprietatem animadvertendam, quam in dubium iter conversionum deducendi sunt. Sed de his alias. (2) Nunc id quod est propositum exsequamur, ἀνάλογον εἶναι ea dicuntur, quae consentanea ratione disposita sunt. Haec proportione collocari vel in propor‐ tione esse latine licet, ut opinor, dicere. Ἀναλογία est rationum comparatio seu similitudo. Ea est Ciceroni proportio. Rationem autem λόγον uocant Geometrae, duum inter se σχεσίν, id est, habitum [Bl. B3v] seu respectum, ut qualia sint appareat. Cum autem pauciora duobus, quae sub sensus cadunt, sensuum iudicio inter se non conferantur, sequitur necessario, ut proportio pauciora quam quatuor, inter quae ratio sit, non compraehendat, tum quidem, cum illa seorsim et distincte, id est διῃρημένως collocantur. Sed cum ita exponuntur illa quatuor, ut in medio idem iterum collocetur, fit, ut et continuetur proportio et in tribus numero tantum spectetur, cum consideratio tamen nihilo secius quatuor complectatur, quia in collatione medium bis sumitur. Et haec est ἀναλογία συνεχὴς et quae μεσότης dicitur. (3) Et quoniam hoc modo similitudine rationes comparantur, fit, ut etiam aequalitatis nomine, quae ἰσότης est, appelletur μεσότης illa, quoniam, quamvis inaequalium magnitudine ita fit respectu exaequatio quaedam, ut 1 : 2 : 4. Dupla enim ratio aequalitatem quandam in his numeris magnitudine discrepantibus constituit, vel quoniam de aequalitate omnis ducitur atque manat inaequalium comparatio et ad illam quodammodo recurrit et confluit, ut paulo post osten‐ detur, vel quod [Bl. B4r] medius numerus repetitur in proportione, ubi ratio iam est aequalitatis. (4) Sed quod ad naturam seu constitutionem harum μεσοτήτων attinet, arith‐ metica habet eadem magnitudine intervalla, ut 1 : 2 : 3, geometrica easdem rationes, 1 : 2 : 4, harmonica intervalli et extremorum similitudinem, ut 3 : 4 : 6. Sed reperire duobus propositis numeris medium arithmetice facile est, nam 262 5 Die Versus senarii de analogiis (= Camerarius 1554) coniuncti illi dimidiantur et medium iam inuentum est, ut 1 3 fiunt 4, dimidium sunt duo. Geometricum de multiplicatione propositorum latus est quadratum, ut semel 4 sunt 4, quadratum latus duo. Harmonicum componit seu iungit extrema, ut 3 et 6 fiunt 9. Postea quaeritur quanto unus numerus alterum superet, reperiuntur 3. Haec multiplicantur cum minore quae sunt 3, fiunt 9. Hic numerus dividatur per eum qui de extremis compositus fuerat, et exibit 1. 9 enim in 9 semel insunt. Vnum autem ad tria additum efficit 4. (5) Proclus autem procreari docuit ita, ut retulimus. Proponantur aequalia, ut 1 : 1 : 1. Arithmeticum medium ita nascetur: 1 1 1 1 2 3 [Bl. B4v] Geometricum ita: 1 1 1 1 2 4 Harmonicum ita: 1 1 1 3 4 6 Vsus autem harum proportionum sparsus est in omnem sapientiae et prudentiae effectionem. Exempla autem prudentiae ad sapientiae considerationem appli‐ cata retulimus et adiecimus astrologicae scientiae alterum. (6) Sunt autem συσχηματισμοὶ in orbe quem facimus iam partium 60, sicut Proclus et veteres Graeci, tantum quatuor: oppositorum, quae collocata ad diametrum (quae est circuli dimensio) orbem dimidiant, eorum, quae in lateris triquetri, eorum, quae in lateris quadrati, eorum, quae in lateris sexanguli terminum incidunt. Nam coniuncta συνοδικῶς non describunt σχῆμα. Nulla igitur esse potest lateris directio. 5.3 Die Explicatiuncula zu den Versus senarii de analogiis 263 717 4] 3 im Druck (7) Haec autem aequali intervallo arithmetica proportione distinguuntur. Quem‐ admodum enim 10 ad 15, ita 15 ad 20 aequalis scilicet intervalli spatio, id est sexangulum, quadratum, triangulum. (8) Sed conciliatio quadrati cum opposito ita se ostendit: Sit enim orbis totus 60, huius iam erit dimidium, quae est διάμετρος [Bl. B5r], quadrans 15. In his igitur similitudo manifesta sit 60 : 30 : 15 ratione dupla. Praeterea conciliantur triangula et sexangula hoc modo: Totus orbis est, ut diximus, 60, ergo latus triquetrum obit arcus 20. Ponatur ad hunc reliquus, qui est 40 et sexanguli arcus qui 10, et ostendit se ratio similiter dupla hoc modo: 40 : 20 : 10. (9) Convenientiam autem oportet inter universa etiam haec conspici, ut et solae istae figurae consentaneae esse demonstrentur et caeteras abhorrentes exclu‐ dant. Sunt enim innumerabiles aliae, sed inconsentaneae praeter memoratas uniuersae. Haec convenientia est proportionis harmonicae, de qua et Ptolemaeus et alii copiose disseruerunt, sed breviter res perspici poterit hoc modo. Omnis συσχηματισμοῦ consideratio est radii cum radio coniunctio vel radii in radium inclinatio. Hic iam fiat angulus oportet, et fieri intelligitur in centro orbis. Et quoniam hunc angulum arcus necessario obit de linea recta, quae subter arcum illum subtenditur, tota res aestimatur. Aut enim haec latus est figurae consentaneae aut inconsentaneae. Si inconsentaneae, reiicitur ut ἄλογος. [Bl. B5v] Consentaneae autem, quae sunt ἀνάλογον, reperiuntur hae: Sexangula, quadrata, triquetra, quae iam disponuntur harmonica proportione, ut 3 : 4 : 6. Διάμετρος autem nunc omittitur, quia dimidiatio orbis figuram εὐθύγραμμον et ἰσογώνιον in orbe non describit. (10) Haec etsi me non fugiebat aliquibus levia et anxie exquisita, aliquibus etiam nugacia visum iri, tamen quia mihi in mentem venerant descripsi et perscripta nolui delere ac cum caeteris edi in lucem passus sum ideo etiam, quod qualemcunque hanc industriolam vel curiositatem quoque ad alia meliora et magis scita acrioribus ingeniis tanquam Mercuriales statuae viam, ut ego arbitrabar, indicare possent. (11) Sit igitur iam hic finis, et quibus haec placent, illi his utantur, quibus displicent, ii cum repudiarint, tum communicent cum studiosis, inter quos et meum nomen profiteor, bonarum artium, praeclariora et magis utilia. Iam illud, quomodo diversa diverso modo quasi concinnari ostendimus, satis evidens esse arbitror. Manifestum enim est 1 : 2 : 3 spaciis aequalibus distantia, haec aequabili progressione [Bl. B6r] unius deuinciri, sed 1 : 2 : 4 717 similitudine rationis duplae, 264 5 Die Versus senarii de analogiis (= Camerarius 1554) ut si iam addi ad 1 placeat 1, aequum sit accedere ad 2 2, quo pacto iam minima et maxima conuenire animaduertuntur. At 3 : 4 : 6, cum discrepent tam numero quam ratione, fit tamen, ut intervalla et extrema similitudine rationis concilientur, sicut enim 1 ad 2 ita 3 ad 6, atque ita longiss[imorum] distantium per medium 4 concordia perficitur. Finis. 5.3 Die Explicatiuncula zu den Versus senarii de analogiis 265 718 Zum Konzept der hier besprochenen Analogie vgl. Kapitel C.2. 719 Vgl. Theon von Smyrna, Expositio rerum mathematicarum 82, 6f: „ἀναλογία δὲ ἐστι πλειόνων λόγων ὁμοιότης ἢ ταὐτότης“ (ÜS bei Bärthlein 1996, 54: „Analogie ist die Ähnlichkeit oder Gleichheit mehrerer Verhältnisse“). Denkbar ist auch, dass sich Camerarius auf eine vermeintliche Definition Euklids bezieht, die in der von ihm edierten Ausgabe in Buch 5 als Definition 8 abgedruckt ist ist: „Ἀναλογία δὲ ἐστὶν ἡ τῶν λόγων ὁμοιότης.“ Proportio est rationum comparatio (vgl. Camerarius 1549, 79). Sie fand keinen Eingang in die heute maßgebliche Ausgabe (vgl. Heiberg / Stamatis 1970 (= Bd.-2), 2). 720 Vgl. Cicero, Timaeus 4, 13. 721 Das Wort ist nicht im modernen Sinne zu verstehen und wurde daher in Anführungs‐ zeichen gesetzt. Gemeint ist der Geometrie (und Arithmetik) betreibende Mathematiker. 722 Dass mit duum inter se σχέσιν nicht duum [rationum] inter se σχέσιν gemeint sein kann, ergibt sich 1. aus dem Umstand, dass duum durch qualia aufgenommen wird, und 2. daraus, dass Camerarius hier auf den dritten Satz des 5. Buches von Euklid anspielt: „Λόγος ἐστὶ δύο μεγέθων ὁμογενῶν ἡ κατὰ πηλικότητα πρὸς ἄλληλα ποιὰ σχέσις.“ Camerarius hat diese Aussage in seiner 1549 erschienenen Euklidausgabe so ins Lateinische übersetzt: Ratio est duarum magnitudinum unius generis, inter se quidam, secundum quantitatem, respectus. (Vgl. Camerarius 1549, 77 f.). Deutsche Übersetzung des griechischen Textes: „Verhältnis ist das gewisse Verhalten zweier gleichartiger Größen der Abmessung nach.“ (Übersetzung nach Thaer 1962, 91). Kleine Erläuterung zu den gedruckten Versen 718 (1) Ich habe mich dazu entschlossen, an dieser Stelle einige Angaben zu dem, was ich oben mitgeteilt habe, hinzuzufügen, damit meine Verse leicht von jedem beliebigen Leser verstanden werden können. Sie auch noch auf Latein auf jene Weise [sc. als metrische Übersetzung Vers für Vers] zu veröffentlichen, wäre vermutlich weder so recht möglich noch überhaupt angebracht. Denn vor allem auch diese [d. h. die mathematischen] Disziplinen werden hauptsächlich von den Griechen behandelt; und man sieht, wie tollkühne und falsche Über‐ setzungen die Studien entstellen und zugrunde richten. Und wer zuverlässige Erkenntnisse gewinnen will, muss eher die Eigenheit der griechischen Sprache beachten, als sich dazu verleiten lassen, den zweifelhaften Weg von Überset‐ zungen einzuschlagen. Aber davon ein anderes Mal. (2) Nun will ich mein Vorhaben ausführen. Man bezeichnet das als analog, was in einem übereinstimmenden Verhältnis (consentanea ratio) angeordnet ist. Dass es in einem passenden Verhältnis zusammengestellt ist (proportione collocari) oder in einem passenden Verhältnis steht (in proportione esse), kann man vermutlich auf Latein sagen. Die Analogie ist die Gleichheit (comparatio rationum) oder die Ähnlichkeit von Verhältnissen (similitudo rationum). 719 Das ist, was Cicero als proportio [passendes Verhältnis] bezeichnet. 720 ‚Verhältnis‘ (ratio) bezeichnen die griechischen ‚Geometer‘ 721 als λόγος, d. h. als Bezug (σχέσις) zweier Dinge zueinander, 722 d. h. als Stellung [zueinander] [habitus; 266 5 Die Versus senarii de analogiis (= Camerarius 1554) 723 Zu den Fachgebriffen „diskrete Analogie“ bzw. „kontinuierliche Analogie“ (s. u.) vgl. Kapitel C.2.1. 724 Gemeint ist, dass sich jedes gleiche Verhältnis auf ein Verhältnis von 1 : 1 herunter‐ kürzen lässt, so wie es im göttlichen Einen vorhanden ist. Ausführlich dazu in Kapitel C.2.2.1 dieser Arbeit. 725 Vgl. Abschnitt 4 und 5. 726 Eine Erklärung dieser Aussage findet sich in Camerarius 1569, Bl. P2v/ P3r (= Kapitel E.6, Abschnitt 10-11). Bl. B3v] oder Relation (respectus), so dass deutlich erkennbar wird, wie sie geartet sind. Da aber weniger als zwei geistig erfassbare Dinge mit dem Urteil des Verstandes nicht miteinander verglichen werden können, folgt daraus notwendigerweise, dass eine Analogie (proportio) nicht weniger als vier Glieder umfasst, zwischen denen ein Verhältnis besteht - zumindest dann, wenn diese Glieder gesondert und für sich, d. h. getrennt zusammengestellt (collocare) sind [= diskrete Analogie]. 723 Aber wenn jene vier Glieder so angeordnet werden, dass dasselbe Glied nochmals in die Mitte gestellt wird, geschieht es, dass die Analogie sowohl fortgeführt wird als auch in nur drei Gliedern erkennbar wird, obwohl man theoretisch dennoch nicht weniger als vier Glieder annimmt, weil man beim Vergleich [der Verhältnisse] das mittlere Glied doppelt nimmt. Dies ist die zusammenhängende Analogie [= kontinuierliche Analogie], die man auch Mitte nennt. (3) Und weil man so Verhältnisse im Hinblick auf ihre Ähnlichkeit vergleicht, bezeichnet man jene Mitte auch mit dem Begriff der Gleichheit, die [griechisch] ἰσότης ist, da trotz unterschiedlich großer Zahlen eine gewisse Gleichmachung in Bezug auf das Verhältnis entsteht, wie [bei den Zahlen] 1 : 2 : 4. Denn das zweifache Verhältnis hat in den unterschiedlich großen Zahlen eine ge‐ wisse Gleichheit bewirkt, entweder weil sich von der Gleichheit jedes gleiche Verhältnis ungleicher Glieder herleiten lässt und von ihr her ausströmt und irgendwie auf sie zurückkommt und [wieder] bei ihr zusammenströmt, 724 wie gleich gezeigt werden wird, 725 oder weil [Bl. B4r] die mittlere Zahl bei der Analogie wiederholt wird, wo schon ein Verhältnis der Gleichheit besteht. (4) Aber was die Natur oder die Beschaffenheit dieser Mitten betrifft, so hat die arithmetische Mitte dieselben Abstände in Bezug auf die [zahlenmäßige] Größe, wie [bei den Zahlen] 1 : 2 : 3. Die geometrische Mitte hat dieselben Verhältnisse, wie [bei den Zahlen] 1 : 2 : 4. Die harmonische Mitte hat eine Ähnlichkeit des Abstandes und der äußeren Glieder, 726 wie [bei den Zahlen] 3 : 4 : 6. Aber für zwei gegebene Zahlen die arithmetische Mitte zu finden, ist leicht, denn man muss nur die Summe der Glieder halbieren und schon hat man die Mitte gefunden. Z. B. ergeben eins und drei vier; halbiert man diese Zahl, 5.3 Die Explicatiuncula zu den Versus senarii de analogiis 267 727 Die harmonische Analogie als Formel ausgedrückt (Annahme: a<c): a + c − a ⋅ a a + c = b. 728 Vgl. Proklos, In Timaeum 2, 20, 1-9. Ausführlich dazu in Kapitel C.2.2.1 dieser Arbeit. 729 Die Begriffe sapientia und prudentia sind vermutlich Übersetzungen der aristotelischen Begriffe φρόνησις und σόφια. Vgl. Kapitel C.2.2.2 dieser Arbeit sowie die Anmerkungen zu Camerarius 1554, Bl. A2v (= Kapitel E.5.1, Abschnitt 1 ). erhält man zwei. Die geometrische Mitte ergibt sich aus der Quadratwurzel des Produkts der gegebenen Zahlen. Man nimmt also einmal vier und erhält vier; davon ist zwei die Quadratwurzel. Die harmonische Mitte addiert die äußeren Glieder oder verbindet sie, so dass aus drei und sechs neun werden. Danach fragt man nach der Differenz der beiden Zahlen und erhält drei. Diese Zahl multipliziert man mit der kleineren Zahl drei, und erhält neun. Das Ergebnis muss man durch die Zahl teilen, die man erhalten hat, als man die Außenglieder addierte, und man erhält eins. Neun passt nämlich einmal in neun. Addiert man nun eins zu drei, erhält man vier. 727 (5) Proklos hat gelehrt, dass die Analogie so entsteht, wie ich es [im Folgenden] ausgeführt habe. 728 Gegeben seien gleiche Terme, wie 1 : 1 : 1. Die arithmetische Mitte entsteht so: 1 1 1 1 2 3 [Bl. B4v] Die geometrische so: 1 1 1 1 2 4 Die harmonische so: 1 1 1 3 4 6 Der Gebrauch dieser Analogien hat sich auf alle Bereiche [effectio] der Weisheit und Klugheit ausgedehnt. 729 Die Beispiele aus dem Bereich der Klugheit [= Vers 80-134] aber habe ich [dem Abschnitt] über die Theorie der Weisheit [= Vers 268 5 Die Versus senarii de analogiis (= Camerarius 1554) 730 Exempla prudentiae sind Beispiele aus dem Bereich der aristotelischen Klugheit. Vgl. hierzu die Anmerkungen in Kapitel C.2.2.2. 731 Es geht um die folgenden vier Aspekte (i. e. Winkelbeziehungen zweier Planeten zur Erde, denen man eine besondere Wirkung auf die Erde und das Schicksal zuschrieb): Opposition (180°), Trigon (120°), Quadrat (90°), Sextil (60°). Camerarius legitimiert dieselben vier Aspekte wie Ptolemaios, verwendet dafür jedoch eine andere Methode, vgl. Ptolemaios, Apotelesmatica (= Tetrabiblos), 1, 14. Vgl. dazu auch die ausführlichen Bemerkungen in Kapitel C.2.2.1 dieser Arbeit. 732 Der Konjunktion von Planeten schrieb man ebenfalls besondere Wirkung zu. Man kann sie daher auch den Aspekten zurechnen. 1-79] beigefügt, sowie noch ein Beispiel aus dem Bereich der astrologischen Wissenschaft [= Vers 135-192]: 730 (6) Es gibt beim Himmelskreis, den ich wie Proklos und die alten Griechen in 60 Teile [zu je 6°] unterteile, nur vier Aspekte: 731 [1.] Die Aspekte derjenigen [Himmelskörper], die in Opposition zueinander stehen, sie liegen auf dem Diameter [welcher der Kreisdurchmesser ist] und halbieren den Kreis [= Oppo‐ sition]; [2.] die Aspekte derjenigen [Himmelskörper], die auf den Seiten eines Dreiecks den Kreisumfang schneiden [= Trigon]; [3.] die Aspekte derjenigen [Himmelskörper], die den Seiten eines Vierecks den Kreisumfang schneiden [= Quadrat]; [4.] die Aspekte derjenigen [Himmelskörper], die auf den Seiten eines Sechsecks den Kreisumfang schneiden [= Sextil]. Miteinander in Konjunktion verbundene Himmelskörper beschreiben hingegen keine geometrische Figur. Und folglich kann bei man ihnen keine Richtung für die Seite [einer etwaigen geometrischen Figur] angeben. 732 [Die folgenden Zeichnungen stammen nicht aus dem Druck des Camerarius, sondern wurden zur Veranschaulichung erstellt: ] 5.3 Die Explicatiuncula zu den Versus senarii de analogiis 269 (7) Diese Figuren aber unterscheiden sich in der arithmetischen Analogie durch den gleichen Abstand. Wie sich nämlich 10 Kreisteile [60°] von 15 Kreisteilen [90°] unterscheiden, so unterscheiden sich 15 [90°] von 20 [120°] Kreisteilen durch den gleichen Abstand, d. h. das Sechseck, das Quadrat und das Dreieck. (8) Die Verbindung eines Quadrats mit der Opposition [also von in Opposition befindlichen Punkten] zeigt sich auf die folgende Art und Weise: Der ganze Kreis soll aus 60 Teilen [zu je 6°] bestehen, dann wird seine Hälfte, d. h. der Durchmesser [Bl. B5r], 30 Teile [180°] haben, das Viertel 15 Teile [90°]. Das ähnliche Verhältnis bei diesen Figuren ist offensichtlich, wegen des doppelten Verhältnisses von 60 zu 30 zu 15 Teilen. Außerdem lassen sich Dreiecke und Sechsecke auf die erwähnte Weise in Verbindung bringen. Der ganze Kreis besteht, wie ich schon gesagt habe, aus 60 Teilen [zu je 10°]. Also bildet die Dreiecksseite einen Winkel von 20 Teilen [120°]. Dazu soll der restliche Kreis‐ bogen genommen werden, der 40 Teile [240°] umfasst, sowie der Kreisbogen des Sechsecks, der 10 Teile [60°] umfasst. Und es zeigt sich auf ähnliche Weise ein doppeltes Verhältnis, und zwar 40 zu 20 zu 10 Teilen. 270 5 Die Versus senarii de analogiis (= Camerarius 1554) 733 Übersetzung des Satzes unsicher. 734 Vgl. Ptolemaios, Apotelesmatica (= Tetrabiblos), 1, 14. 735 Wörtlich: „keine geradlinige und [zugleich] gleichwinklige Figur“. Mit geradlinig ist eine gerade Linie unter dem Kreisbogen gemeint, wie aus den unmittelbar vorange‐ henden Anmerkungen deutlich wird. (9) Eine harmonische Übereinstimmung (convenientia) muss aber auch in all den folgenden Punkten erkennbar sein, so dass nur die [genannten] Figuren sich als übereinstimmend erwiesen und alle übrigen Figuren als unpassend ausschließen. 733 Es gibt nämlich unzählige weitere [geometrische] Figuren, aber all diese stehen - von den genannten Fällen abgesehen - in keinem passenden Verhältnis. Diese harmonische Übereinstimmung (convenientia) ist die Übereinstimmung der harmonischen Analogie, über die Ptolemaios 734 und andere reichlich geschrieben haben. Aber auf die folgende Art und Weise lässt sich die Sache schnell verstehen: Jede Betrachtung eines Aspekts ist die Verbindung eines Radius mit einem Radius [gemeint ist wohl der Durchmesser] oder die Neigung [sc. Winkelbil‐ dung] eines Radius zu einem anderen. Hier muss also notwendigerweise ein Winkel entstehen und zwar verständlicherweise im Mittelpunkt des Kreises. Und weil der Kreisbogen notwendigerweise auf den Winkel trifft, wird die ganze Sache anhand der geraden Linie bemessen, die sich unterhalb des Kreisbogens erstreckt. Entweder ist diese Linie die Seite einer verhältnismäßig passenden Figur oder unpassenden Figur. Wenn es sich um die Seite einer unpassenden Figur handelt, wird die Figur als unverhältnismäßig verworfen [Bl. B5v]. Es finden sich die folgenden zueinander passenden Figuren, die zueinander analog sind: Sechsecke [= Sextile], Quadrate und Dreiecke [= Trigona], die in der harmonischen Analogie angeordnet werden, wie [die Zahlen] 3 4 6. Der Durchmesser [des Kreises] wird hier weggelassen, weil die Halbierung des Kreises kein regelmäßiges Vieleck 735 beschreibt. 5.3 Die Explicatiuncula zu den Versus senarii de analogiis 271 736 Sc. die Versus senarii de analogiis (Bl. B6v-B3r). 737 Zur Wegweiserfunktion von Hermen, sogenannten ‚Hermaia‘ vgl. Baudy / Ley 2006. 738 Zum Wort „zahlenmäßig“: Gemeint ist: „in Bezug auf den arithmetischen Abstand“. (10) Auch wenn mir nicht entgangen ist, dass meine Ausführungen einigen unbedeutend und skrupulös (anxie exquisita), einigen vielleicht sogar als alberne Spielereien erscheinen werden, habe ich dennoch meine Verse 736 verfasst, da sie mir nun schon in den Sinn gekommen waren. Und nachdem ich sie niedergeschrieben hatte, habe sie ich sie nicht tilgen wollen; und so habe ich zugelassen, dass sie mit den übrigen Werken gedruckt wurden - auch deswegen, weil ich glaubte, dass diese wie auch immer geartete Fleißarbeit oder auch [dieses Ergebnis meiner] Neugier, wie Hermen, scharfsinnigeren Geistern den Weg zu Bedeutenderem und Tauglicherem weisen kann. 737 (11) Damit soll es genug sein, und wem diese Ausführungen gefallen, der möge sie nutzen. Diejenigen aber, denen sie nicht gefallen, sollen, wenn sie sie schon zurückweisen, [erst einmal selbst] bedeutende und nützlichere [eigene] Werke mit den Gelehrten teilen, zu denen auch ich mich rechne. Ich glaube, dass durch meine Demonstration nun deutlich genug wurde, wie sich verschiedene Dinge auf unterschiedliche Weise zusammenfügen lassen. Es ist augenscheinlich, dass [die Zahlen] 1 2 3 durch einen Abstand von gleicher Größe, und zwar das gleich‐ mäßige Voranschreiten [Bl. B6r] um 1, verbunden werden. Aber [die Zahlen] 1 2 4 werden durch die Ähnlichkeit eines doppelten Verhältnisses verbunden. Wenn man nämlich 1 zu 1 addieren will, dann ist es wohl angemessen, 2 um 2 zu erhöhen. Auf diese Weise stimmen erkennbar sogar kleinste mit größten Dingen überein. Aber auch wenn [die Zahlen] 3 4 6 sich nicht nur zahlenmäßig, 738 sondern auch in Bezug auf ihr Verhältnis unterscheiden, lassen sich die Abstände und Außenglieder durch ein ähnliches Verhältnis miteinander verbinden. Wie sich nämlich 1 zu 2 verhält, so verhält sich 3 zu 6 und, so erhält man eine Harmonie (concordia) zwischen den Außengliedern durch die Mitte 4. Ende 272 5 Die Versus senarii de analogiis (= Camerarius 1554) 5.4 Das Gedicht Σκευασία μέλανος γραφικοῦ (= Camerarius 1554, Bl. E2v-E3v) [Bl. E2v] Σκευασία μέλανος γραφικοῦ κατὰ διαφόρους τρόπους Σκευασίαν τὴν τοῦ μέλανος ἐπίστασο, - ὅστις ποτ εἰς κάλλος γράφειν πρόθυμος εἶ, - ὄξους λάβῃς πρῶτα κοτύλην οἰνώδεος. - Κρεῖττον γὰρ ἐστὶ τοῦτο τοῦ ζυθώδεος, - Ξύμμισγε δ’ ἐκ φρέατος ὕδωρ ἦκ‘ ὄμβριον, 5 ὅσοντ’ ἂν ἥμισυ κοτύλης εἴη μέτρον, - καὶ βακχίου πώματος τοσοῦτο, ὥσθ’ ὑγροῦ - [Bl. E3r] ξέστην γενέσθαι παντὸς ἔμπλεων ἕνα. - Δύναιο ποιῆσαι δ’ ἂν οἴνου καὶ διπλοῦν - πρὸς τοῖν δυοῖν λοιποῖν ὑγροῖν κοινὸν μέτρον 10 κυάθοις ἐπ’ ὀκτὼ ῥεῦμα ληναῖον χέας. - Κἐνταῦθα ταῦτ’ ἤδη προσέμβαλλ‘ ὧδέπως· - Κηκῖδος ἔστω μὲν βάρος διπλάσιον, - ἕν δ’ αὖτε χαλκάνθου, τόσον τε κόμμεως, - τοῦ κόμμεως δ’ αὖ πλείον ἢ μεῖον λάβοις, 15 kαθὼς ἔχειν λιπαρὸν τὸ μέλαν ἢ μὴ θέλεις. - Εἴη δ’ ὑγρῶν πρὸς μέτρα καὶ προκειμένων - τάδ’ ἀρθμίως ἔχοντα δὴ τὰ σταθμία, - κηκῖδος ὀκτὼ δράχμ’ ἅπασ‘, εἶτ’ ἀνάλογον - κείσθω τὸ τῆς χαλκάνθου ἠδὲ κόμμεως. 20 Ἤδη δὲ τοῦ μέλανος καλῶς κεκραμένου - πρὸς πῦρ πέλασας οὐχ ἁμάρτης, ἠρέμα - ἀποζέσαν γ’ εὐρῶτος ὡς ἄμοιρον ᾖ. - Ἕξεις δὲ κἀθέρμαντον εὔχρηστον μέλαν. - Ἄλλοι δὲ τὴν κηκίδα χάλκανθον τ’ ἴσα 25 λαβόντες εἰσβάλλουσι θώμισυ κόμμεως, - καὐτοὶ δοκοῦσ’ εὖ σκευάσαι τὸ φάρμακον. - Εἰσίντε λειωθέντα ταῦθ’ οἷς ἤρεσε - φύρειν σὺν ὑγροῖς οἷσπερ εἴπομεν πρῶτοι. - Τινὲς δὲ τὴν κηκῖδα κόψαντες μόνην 30 ἢ καὶ τετριμμένην λαβόντες τῷ θ’ ὑγρῷ - ἐναποτιθέντες ἡμέρας που τέσσαρας - οὕτω διήθουν, ἵν’ ἀθολώτερον μέλαν - γένοιτο. Πολλοὶ δ’ ἐνδεεῖς βοτρυοχόου - [Bl. E3v] προσήνεος γλυκεροῦ λυαίου νάματος 35 5.4 Das Gedicht Σκευασία μέλανος γραφικοῦ 273 739 διηθηθέντ’] διηθητέντ‘ im Druck 740 Der Rest des Gedichtes ist für diese Arbeit nicht relevant, da dort die Analogie nicht mehr aufgegriffen wird. ὕδωρ πρὸς ὄξος λαμβάνουσ’ ἴσῳ μέτρῳ ἢ τοὖξος ἄκρατον τὸ τοῦ ζύθου μόνον - μεταχειρισάμενοι δ’ ἐπιμελῶς καὶ τεχνικῶς - τὸ πρᾶγμ’ ἅπαντες εὐτυχῶς διήνυσαν. - Τινὲς δὲ πάντα τάδε συνεσκευασμένοι 40 ἕτοιμ’ ἔχουσ‘ εἴς τε χύτραν εὖ πεφραγμένην - πηλῷ τε πανταχόθε περιαληλιμμένην - ἔθεντ’, ἕως τ‘ ἀποζέσ’ ἰσχυρῶς πάνυ - χ’ οὕτω διηθηθέντ‘ 739 ἐτήρησαν, τόδε - μέλαν νομίζοντες ἀδιάφθορον μένειν. 45 Ἔστι δὲ τρόπος τις ἄλλος, ὃς δὴ λαμβάνων - τὰ τῶν ὑγρῶν μέτρ’, οἷα προὐξεθήκαμεν, - ἤχ’, ὡς ἔτυχε γε, συνεκέρασε μὲν αὐτόθι - ἄνισα τὰ τῶν εἰρημένων εἰδῶν τρία, - ἡγοῦμενον δὲ θεὶς τὸ κόμμι, καὶ μέσην 50 χάλκανθον, αὖθις ἐξίσωσ’ ἀριθμητικῶς - οὕτω προβαίνων, ὥσπερ ἕν, δύω, τρία. - Ἕτερος δέ τις τὴν τάξιν οὐ προσίεται - τὴν τῶν ἀριθμῶν, ἀλλὰ τὴν κηκῖδα θείς - πλείστην ἐν ἀρχῇ, δεύτερον ποιεῖ βάρος 55 τοῦ κόμμεως, πρόεισι θ’ ὡς γεωμέτραι, - τοῖς σταθμίοις τ’ ἀνάλογον αὐτὰ καθαρμόσας - ἰσότητα καλλίστην τε κ’ ὠφελιμωτάτην - τηρεῖ, καθ’ οἵαν δήποτ‘ οὖν δόξῃ σχέσιν, - Ἥ δ’ ἐστὶ μέντοι τοῦ διπλοῦ τρανωτάτη, 60 κ’ ἀμοὶ τ‘ ἀρέσκει τοῖσι τ’ ἄλλοις πλείοσι. - […] 740 - [Bl. E5r] […] 274 5 Die Versus senarii de analogiis (= Camerarius 1554) Μεσότης ἀριθμετική. - Τὰ ἐμβαλλόμενα. - Τὰ ὑγρά δραχμαί β. δ. ϛ. κύαθοι. γ. ϛ. γ. κόμμεως. χαλκάνθου. κηκῖδος. οἴνου. ὄξους. ὕδατος. Μεσότης γεωμετρική. - [Τὰ ἐμβαλλόμενα.] - [Τὰ ὑγρά.] Δραχμαί. η. δ. β. κύαθοι. β. η. β. κηκῖδος. κόμμεως. χαλκάνθου. ὄξους. οἴνου. ὕδατος. 5.4 Das Gedicht Σκευασία μέλανος γραφικοῦ 275 741 Zur Geschichte der Tinte vgl. Martell 1913. Zum Konzept der Analogie vgl. Kapitel C.2. 742 Zu den griechischen Maßen: 6 κύαθοι = 1 κοτύλη = 1/ 2 ξέστης. In der griechischen Antike fasste ein κύαθος etwa 0,045 l, eine κοτύλη etwa 0,27 l und ein ξέστης etwa 0,54 l. 743 Die Aussage ist irritierend, dass man doppelt so viel Wein nehmen könne, wie das gemeinsame Maß der anderen beiden Flüssigkeiten beträgt, und dass das 8 κύαθοι seien. Rechnet man nämlich die vorigen Angaben zusammen (sechs κύαθοι Weinessig und drei κύαθοι Gerstensaft) kommt man auf 9 κύαθοι, die mit zwei multipliziert 18 κύαθοι ergeben und nicht acht. Dieses scheinbare Problem lässt sich aber leicht lösen, wenn man einen Blick auf die Tabelle wirft. Dort sind tatsächlich acht κύαθοι Wein bei der geometrischen Analogie angegeben und jeweils zwei κύαθοι für Essig und Wasser, was den geforderten Mengenverhältnissen entspricht. Camerarius hat dem Leser also vorenthalten, dass bei dieser zweiten Methode auch die Mengen der anderen beiden Flüssigkeiten angepasst werden müssen. 744 Χάλκανθος bedeutet eigentlich ‚Kupfersulfat‘, aber das kann hier nicht gemeint sein, da nur Eisen- und nicht Kupfersulfat in Verbindung mit Gallapfel die Schwarzfärbung der Tinte bewirkt (vgl. Martell 1913, 198). Es muss also Eisensulfat gemeint sein. In der Übersetzung wurde der neutrale Begriff ‚Vitriol‘ verwendet. 745 Zur Wirkung von Gummi auf die Konsistenz von Tinte vgl. Martell 1913, 197. 746 Zur Gefahr des Schimmelns vgl. Martell 1913, 198. [Bl. E2v] Die Herstellung von Schreibtinte auf verschiedene Arten 741 Die Herstellung von Tinte sollst du kennen, wer auch immer du bist, der du schönschreiben willst. Zunächst nimm eine κοτύλη [≙ 6 κύαθοι] Weinessig. 742 Der ist nämlich besser als Essig aus Gerstensaft. Mische etwas Regenwasser aus einem Brunnen hinzu, soviel wie eine halbe κοτύλη [≙ 3 κύαθοι] ausmacht, und so viel vom bacchischen Trank [≙ 3 κύαθοι], dass von der ganzen Flüssigkeit [Bl. E3r] ein ξέστης [≙ 12 κύαθοι] voll wird. Du kannst wohl auch vom Wein doppelt so viel nehmen, wie das gemeinsame Maß der restlichen beiden Flüssigkeiten beträgt, indem du von der lenäische Flüssigkeit [sc. Wein] acht κύαθοι 743 dazu gießt. Und dann gieße folgende Stoffe sogleich auf die folgende Art und Weise zum Rest hinzu: Von der Eichengalle sollst du das doppelte Gewicht nehmen, vom Vitriol 744 das einfache und so viel Gummi - du magst davon mehr oder weniger hinzufügen -, je nachdem du willst, dass die Tinte Konsistenz hat oder nicht. 745 Es mögen sich aber zu den Mengen der Flüssigkeiten auch die Gewichte [der Feststoffe] passend verhalten. Acht Drachmen Eichengalle sollen es im Ganzen sein, dann soll das Gewicht des Vitriols und des Gummis analog dazu vorliegen [also 4 Drachmen Vitriol und 2 Drachmen Gummi; vgl. Tabelle]. Schon ist die Tinte also gut zusammengemischt, anschließend darfst du keinen Fehler machen, wenn du das Gemisch ans Feuer bringst und vorsichtig aufkochst, damit es keinen Schimmel gibt. 746 Du wirst aber auch ohne Erhitzen eine gut zu gebrauchende Tinte erhalten. Andere Leute, die ebenso viel Eichengalle wie Vitriol nehmen, geben halb so viel Gummi dazu, und auch sie lehren 276 5 Die Versus senarii de analogiis (= Camerarius 1554) 747 Gemeint ist in Form der arithmetischen Analogie, vgl. die Tabelle sowie Kapitel C.2. 748 Gemeint ist in Form der geometrischen Analogie, vgl. die Tabelle. Das Wort ‚Geometer‘ wurde in Anführungszeichen gesetzt, weil das Wort in unserer Zeit eigentlich eine andere Bedeutung hat. 749 Die Übersetzung „von den beiden“ für τοῦ διπλοῦ ist unsicher, scheint aber als einzige sinnvoll. eine gute Zubereitungsweise. Es gibt Leute, denen es gefällt, diese Stoffe zu zerreiben und zusammen mit den Flüssigkeiten zu vermischen, die ich am Anfang genannt habe. Einige zerschlagen nur die Eichengalle oder nehmen zerriebene Eichengalle, geben sie der Flüssigkeit etwa vier Tage lang zu und klären die Flüssigkeit auf diese Weise, damit die Tinte reiner wird. Viele aber, denen es am mildem traubentragenden [Bl. E3v] süßen Saft des Bacchus mangelt, nehmen genauso viel Wasser wie Essig oder nur unvermischten Essig aus Gerstensaft, und sie alle handhaben das Vorhaben sorgfältig und kunstfertig und haben es erfolgreich vollendet. Nachdem sie dies alles hergerichtet haben, halten sie es bereit und füllen es dann in einen gut verschlossenen und von allen Seiten ringsum mit Lehm bestrichenen Topf, bis sie bemerken, dass das Gemisch sehr stark zu kochen beginnt und auf diese Weise gereinigt wurde, im Glauben, dass diese [so hergestellte] Tinte unvergänglich bleibt. Es gibt noch eine weitere Möglichkeit, bei der man die schon genannten Maße der Flüssigkeiten nimmt, und, wie es sich ergibt, die drei genannten Stoffe ungleich zusammenmischt, wobei man zuerst Gummi und als zweites Vitriol [und zuletzt Eichengalle] nimmt; dabei gleicht man sie arithmetisch 747 [sc. in Form der arithmetischen Analogie; vgl. Tabelle] einander an und schreitet wie bei den Zahlen 1, 2 und 3 voran. Bei einer anderen Methode beachtet man nicht die arithmetische Ordnung, sondern nimmt am Anfang am meisten Eichengalle, dann kommt an zweiter Stelle das Gummi, und geht dabei wie die ‚Geometer‘ 748 vor, indem man die Stoffe analog zu ihren Gewichten anpasst und auf die schönste und nützlichste Gleichheit achtet, in welchem Verhältnis sie sich schließlich einstellt. Dieses Verhältnis ist natürlich das genauere der beiden, 749 und gefällt mir und den meisten anderen. Arithmetische Mitte - Zugegebene Stoffe - Flüssigkeiten Drachmen 2 4 6 Κύαθοι 3 6 3 Gummi Vitriol Eichen‐ galle Wein Essig Wasser 5.4 Das Gedicht Σκευασία μέλανος γραφικοῦ 277 750 Auf Bl. E5r befindet sich ein Gedicht von Helius Eobanus Hessus (1488-1540). Es behandelt ebenfalls die Herstellung von Tinte und berücksichtigt die geometrische Mitte: Integra sit Gallae, sit dimidia uncia Gummi, Quartaque Vitrioli, sint partes octo Falerni, Sextarii reliquum laticosum fundat Acetum. Man nehme eine Unze Eichengalle [≙8 Drachmen], eine halbe Unze Gummi [≙4 Drachmen] und eine viertel Unze Vitriol [≙2 Drachmen]. Es sollen 8 Teile Falernerwein sein, und den Rest des Sextarius [= ξέστης] soll mit Wasser versetzter Essig ausmachen. Geometrische Mitte 750 - [Zugegebene Stoffe] - [Flüssigkeiten] Drachmen 8 4 2 Κύαθοι 2 8 2 Eichen‐ galle Gummi Vitriol Essig Wein Wasser 278 5 Die Versus senarii de analogiis (= Camerarius 1554) 751 Camerarius 1569, Bl. A4r/ v. 752 Vgl. Neske 1997, 220 f. Dass Camerarius tatsächlich Scholien edierte, wird durch Aussagen im Werk selbst bestätigt, vgl. z. B. Camerarius 1569, Bl. O8v (= Kapitel E.6, Abschnitt 6): […] ea commemorabimus, sicut antea est factum, quae reperimus ascripta in libro, qui penes nos est. 6 Das Kapitel De proportionibus aus dem Kommentar zur Einführung in die Arithmetik des Nikomachos von Gerasa (= Camerarius 1569, Bl. O5v- P4v) Vorbemerkung zum Text und zur Übersetzung Beim folgenden Text handelt es sich um einen Auszug aus dem 1569 gedruckten Kommentar zur „Einführung in die Arithmetik“ des Nikomachos von Gerasa. Camerarius schreibt im dazu gehörigen Widmungsbrief, dass ihm für den Druck ein Buch aus dem Besitz Hieronymus Baumgartners (1498-1565) vorgelegen habe: Quae autem nonnihil illustrantia Nicomachea latine studuimus exponi, ea descripsimus ex libro accepto aliquando ab Hieronymo Pangertnero, interpretati omnia fideliter, sed oratione aliquantulum a vulgari forma abducta. Mein Versuch, die Schrift des Nikomachos [durch Anmerkungen] in lateinischer Sprache einigermaßen zu erhellen, basiert auf der Abschrift eines Buches, das ich einst von Hieronymus Baumgartner erhalten habe. Ich habe alles getreu übersetzt, bin aber sprachlich ein kleines Bisschen von der gewöhnlichen Ausdrucksweise abgewichen. 751 Diese Passage mag zunächst den Eindruck erwecken, bei der Veröffentlichung des Camerarius handle es sich um die Übersetzung eines Kommentars. Tatsäch‐ lich ist die Sache aber etwas komplizierter. Das Werk des Camerarius geht näm‐ lich auf Scholien zurück, die einer Nikomachoshandschrift hinzugefügt worden waren. Das Manuskript ist glücklicherweise erhalten geblieben, befindet sich heutzutage in der Stadtbibliothek Nürnberg unter der Signatur Cent. V, App. 36 und enthält einen Besitzvermerk des Patriziers Hieronymus Baumgartner. 752 Ein Vergleich der Edition mit den handschriftlichen Scholien beweist, dass Camerarius nicht nur diese übersetzt, sondern auch die zahlreichen mathema‐ tischen Illustrationen übernommen hat. Allerdings hat er nachweislich einige Abschnitte hinzugefügt, etwa eine für diese Arbeit besonders relevante Passage, 753 Vgl. Camerarius 1569, Bl. O8r-P1r (= Kapitel E.6, Abschnitt 6). Zum Begriff „dreidimen‐ sionale Zahlen“ vgl. Kapitel C.2.1. 754 Vgl. die Fußnoten zum lateinischen Text und zur deutschen Übersetzung. in der er sich von einer bestimmten Auffassung des Nikomachos und des Verfassers der Scholien distanziert, die sich auf die mathematische Bestimmung von Mitten zwischen dreidimensionalen Zahlen bezieht. 753 Der Text ist aus zwei Gründen für das Analogieverständnis des Camerarius relevant: Erstens bekundet er ja allein schon durch die Veröffentlichung der Scholien, dass er sie für wichtig hält. Zweitens enthält der Kommentar auch eigene Gedanken des Camerarius. Der im Folgenden edierte Ausschnitt „Über Analogien“ weist nicht wenige Fehler auf 754 und bezieht sich auf Buch 2, Kapitel 21-29 der „Einführung in die Arithmetik“. (1) [Bl. O5v] De Proportionibus Ἀναλογίαν interpretor proportionem et λόγον rationem neque caussam esse puto, cur aliena aliquis vocabula comminiscatur. Est autem proportionis nota definitio Euclidea esse hanc rationum similitudinem, quae est proprie geomet‐ rica proportio. Cum qua congruit priore loco exposita ab autore definitio. Posterior autem definitio generalior est esse proportionem duorum aut plurium respectuum, quamvis rationi eidem non subiiciantur, sed vel differentiae vel alteri cuipiam. Vbi primum notandum σχέσεως nomen (quem respectum inter‐ pretando vocamus) esse [Bl. O6r] generis. Et ideo in definitione attribui ad rationem, id est, τὸν λόγον. Hic enim definitur: δύο ὅρων ἡ πρὸς ἀλλήλους σχέσις, qui est respectus mutuus duorum terminorum. Est itaque omnis ratio respectus, non tamen etiam omnis respectus proprie ratio. Atque ideo fieri potest, ut proportio communiter appelletur, quamvis non sint in numeris eaedem rationes, modo sint respectus iidem, quemadmodum in arithmetica proportione. In qua respectus iidem tantummodo sunt incrementi, ut 1, 2, 3. In his enim, etsi qualitatis ratio, quae est geometrica, dissimilis est (cum sit 2 ad 1 ratio dupla, et 3 ad 2 ratio sesqui), ratio tamen differentiae in eo, quod quantum dicimus, quae est arithmetica, eadem reperitur. Quanto enim superior est numerus 3 numero 2, tanto numerus 2 superior est uno. Quod autem autor addidit vel alteri cuipiam, id propter harmonicam fecit proportionem. Quae neque differentiae tantummodo, sicut arithmetica, [Bl. O6v] neque rationi tantummodo (quae proprie ita vocatur) quemadmodum geometrica proportio subiicitur. 280 6 Das Kapitel De proportionibus aus dem Kommentar des Nikomachos von Gerasa 755 quinque] tria im Druck 756 dirimatur] derimatur im Druck 757 quaedam] quadam im Druck (2) Appellantur autem decem respectus, id est, δέκα σχέσεις ab autore, illae expositae inaequalitatis species, quinque principes, id est πρόλογοι, et quinque ὑπόλογοι numerorum subiectorum. (3) Quod ait autor proprium esse proportioni continuae, id est τῇ συνημμένῃ (quae et συνεχής) in uno medio (haec enim in tribus terminis μεσότης est), idem [Bl. O7r] in ea, quam διεζευγμένην et διεχῆ vocarunt, accidere in duobus terminis indicat, ut, quemadmodum in hac 1, 2, 3 unum et tria duplicant duo et in hac 2, 3, 4 duo et quatuor duplicant tria et in hac 2, 4, 6 duo et sex duplicant quatuor et in hac 4, 6, 8 quatuor et octo duplicant 6, ita in hac 2, 3, 4, 5 duo et quinque 755 duplicant media 3 et 4 et in hac 2, 4, 6, 8 duo et 8 duplicant 4 et 6. Et notandum appellari διεζευγμένην hoc loco eam proportionem, in qua sunt termini distincti quatuor, ut μεσότης manifesto dirimatur, 756 quemadmodum de hac ipsa divisione quaedam 757 etiam Aristoteles in V. Nicomachaeorum verba fecit, cum quidem in plane et vere disiuncta seu discreta idem evenire non animadvertatur, ut in hac 2, 4 : 8, 10. Duo enim et 10 non duplicant quatuor et octo, sed tantundem efficiunt, sicut 4, 6 : 12, 14 et 3, 5 : 7, 9. Et similiter in aliis. (4) Quod autor ait esse elegantissimum (sic enim γλαφυροτάτην interpretor) [Bl. O7v] et prioribus ignotum, id exemplo sic declaratur. Proponantur termini continue et disiuncte. Continue hoc modo 1, 2, 3, disiuncte 1, 2, 3, 4. Ecce, in continuis 2 numerus duplex 1 maior est ea ratione, quam habet numerus 3 ad 2, 6 Das Kapitel De proportionibus aus dem Kommentar des Nikomachos von Gerasa 281 758 ἀναμίξ] ἀναμήξ im Druck. quae est sesqui. In disiuncta idem accidit: 2 ad 1 ratio est duplex, sed 4 ad 3 ratio parte tertia aucti numeri. Est autem dupla ratio maior quam ratio tertia parte aucti numeri, idque in omnibus ita euenit. (5) Proportio Geometrica [Bl. O8r] Quod autor ait καὶ ἀναμὶξ διασώζει τὴν ὁμοίαν σχέσιν, de eo notatur, quod illud ἀναμίξ 758 (in quo est mistionis significatio) id, quod usitate ἐνάλλαξ dicitur, indicare videatur. Quod autem ἐνάλλαξ dicitur (quo vicissitudo et permutatio quaedam significatur), id in quattuor terminis cernitur. Et est ratio ista ἐνάλλαξ complexio praecedentis cum praecedente et sequentis cum sequente. Exempla hoc loco sic exponuntur: Disiuncte, ut numerus 2 ad numerum 4, sic 8 ad 16. In parte maioribus continue: ratio sesqui 9, 6, 4; disiuncte 27, 18, 12, 8. In iis qui sunt partibus maiores continue: 25, 15, 9; disiuncte: 125, 72, 45, 27. In multiplicibus et auctis parte continue: 25, 10, 4; disiuncte: 20, 8, 5, 2. In iis qui sunt multiplices et aucti partibus continue: 64, 24, 9; disiuncta: 32, 12, 16, 6. (6) Platonis locus, cuius facit modo autor mentionem, non est in κοσμοποιία [Bl. O8v], id est, Timaeo, sed in VIII. libro πολιτείων. Neque pertinet ad illam quasi aedificationem mundi, sed indicat quandam temporum fatalium conuersionem et huius causas. Est autem is, unde proverbium exstitit de maxima obscuritate, ut diceretur aliquid esse Platonicis numeris obscurius. Quid quidem significasse Plato generaliter voluerit, ostendit Aristoteles libro 282 6 Das Kapitel De proportionibus aus dem Kommentar des Nikomachos von Gerasa 759 Ratione-maiore] ratione tertia parte maiore fälschlicherweise im Druck V. Politicorum. Sed Platonica manent adhuc inexplicata. Quae Platonici aliqui interpretes ne attingere quidem ausi fuere, aliqui suis enarrationibus maiorem caliginem illis obduxerunt. Atque putat autor, si cum Platonicorum eo in libro expositorum lectione haec, quae ipse demonstrat, coniungantur, fore ut Platonis sententia Musarum verbis pronunciata fiat illustrior ac planior. Quam palaestram relinquentes ingenio et doctrina praestantibus ea commemorabimus, sicut antea est factum, quae reperimus ascripta in libro, qui penes nos est. Sic igitur illa sese habent [Bl. P1r], quemadmodum nos interpretati sumus. (7) Numeri quadrati, quos autor planos appellat, bini propositi omnino admittunt intra sese numerum tertium proportione geometrica, ut proponantur numeri 4 et 9, incidit intra hos numerus tertius 6. Et est omnium eadem ratio, nempe sesqui. Quemadmodum enim 9 ad 6, ita etiam 6 ad 4, et rursum intra 9 et 16 proportione medius numerus interponitur 12 ratione aucti numeri parte tertia. Ut enim sese habent 16 ad 12, sic quoque sese habent 12 ad 9, idque perpetuo in omnibus hoc modo euenit. Sciendum autem est non accedere istud solum propositis duobus quadratis continuis, ut 4 et 9 et 9 ac 16, sed etiam quicunque proponantur alii, ut 9 et 36 propositis intra hos incidit numerus medius 18 et intra 16 ac 100 incidunt 40. Generaliter enim duobus quadratis propositis unius latus multiplicans latus alterius medium tertium proportione efficit. (8) Si autem proponantur duo numeri cubici, intra hos incidunt [Bl. P1v] duo medii proportione numeri, ut apparet in 8 et 27. Intra hos enim proportione duo medii numeri incidunt 18 et 12 ratione sesqui, et 27 enim ut sese habent ad 18, sic etiam habent sese 18 ad 12 et 12 ad 8. Et rursum intra 27 et 125 duo incidunt proportione medii numeri 45 et 75 ratione duabus partibus maiore 759 . Et ut habent sese 125 ad 75, sic etiam 75 ad 45 et 45 ad 27. Generaliter numeris duobus propositis cubis unius latus alterius latus multiplicans et de multiplicatione procreatum numerum denuo multiplicans unum ita medium efficit. Et rursum alterius latus illud alterum multiplicans et procreatum numerum denuo multi‐ plicans ita efficit alterum medium, ut propositis 27 et 8 unius latus 3 multiplicans alterius latus 2 efficit 6 et hunc numerum denuo multiplicans efficit 18; rursum alterius latus 2 multiplicans latus alterius 3 efficit 6 et denuo hoc multiplicans efficit 12. Atque sic existunt quatuor proportione numeri 27, 18, 12, 8. (9) Cernitur autem hoc non solum in quadratis [Bl. P2r] et cubicis numeris euenire, sed in omnibus quoque similibus tam planis quam solidis. Similes enim plani dicuntur, qui proportione latera sortiti sunt. Hoc est, quorum, quam 6 Das Kapitel De proportionibus aus dem Kommentar des Nikomachos von Gerasa 283 rationem habet numeri unius latus unum ad suum alterum, eandem rationem habet et alterius numeri latus unum ad suum alterum, ut in his numeris 8 et 18. Horum enim utraque latera rationem habent inter se duplam. Sunt enim 8 latera 2 et 4. Latera autem 18 sunt 3 et 6. Intra hos igitur incidit numerus medius 12 maiore latere unius multiplicato cum alterius minore. Et ita fit, ut, quemadmodum sese habent 18 ad 12, sic se etiam habeant 12 ad 8. Et similes quoque solidi itidem dicuntur, qui proportione sua habent latera, ut in 6 et 48. Nam numeri 6 latera sunt 1, 2, 3. Semel enim duo sunt 2 et bis tria sunt 6. Numeri autem 48 latera sunt 2, 4, 6. Bis enim quatuor sunt 8 et octies sex sunt 48. Sunt autem latera numeri 48 ad latera numeri 6 in ratione duplice. [Bl. P2v] Horum itaque duorum solidorum 6 et 48 duo medii reperiuntur, nempe 12 et 24. Nam multiplicatis inter se minoribus lateribus et multiplicato hoc multiplicante maioris latus maius, ita vnus medius producitur 12. Nam semel duo sunt 2 et bis sex sunt 12. Rursum numerus exiens de multiplicatione maiorum laterum maioris et multiplicans minus latus minoris alterum medium efficit, sexies enim quatuor sunt 24. Et semel viginti quatuor sunt 24. (10) De harmonica proportione, seu medio harmonico In priore designatione 3, 4, 6 medius 4 minor est numero 6 dimidio sui, id est 2, numero autem 3 maior quarta [Bl. P3r] sui parte, id est 1. Duo autem tertia pars sunt de sex, et unum similiter instar tertiae partis de tribus. In secunda designatione 2, 3, 6 addita 2 ad 6 faciunt 8. Hic multiplicatus medio numero 3 efficit 24. Qui numerus duplex est ad extremos multiplicatos. Bis enim 6 sunt 12. (11) Habet autem geometrica analogia easdem rationes expositorum nume‐ rorum, id est, τῶν λόγων ταὐτότητα ἐν ὅροις. Arithmetica vero cernitur in differentiis iisdem, quae est ταὐτότης διαφορᾶς. Harmonica autem exhibet ταὐτότητα ὅρων πρὸς διαφορᾶς, id est easdem rationes et differentias. Quam 284 6 Das Kapitel De proportionibus aus dem Kommentar des Nikomachos von Gerasa enim in 2, 3, 6 maximus numerus 6 ad minimum 2 rationem habet, nimirum triplam, eam differentia habet maximi et medii, nimirum 3, ad differentiam medii et minimi, quae est 1. Nam et haec tripla ratio est. (12) Designatio μεσότητος ἁρμονικῆς indicio cubi [Bl. P3v] Nam in cubo omnino latera sunt 12, anguli 8, planitiae 6. Diagramma musicum 6 Das Kapitel De proportionibus aus dem Kommentar des Nikomachos von Gerasa 285 760 haec] hac im Druck [Bl. P4r] Designationes τῶν μεσοτήτων, primum trium propositis duobus paribus et deinde imparibus Arithmetica Geometrica Harmonica 10 25 40 10 20 40 10 16 40 15 15 10 20 6 24 -- In imparibus numeris - Arithmetica Geometrica Harmonica 5 25 45 5 15 45 5 9 45 20 20 10 30 4 36 (13) Alia inuentio medii harmonici diversa ab ea, quam tradit Nicomachus. Propositi numeri extremi multiplicentur, et qui ita extiterit numerus duplicetur et deinde dividatur de conpositis extremis. Et qui ita euenerit numerus (qui etiam πλάτος τῆς παραβολῆς dicitur) medius est. Ut sint propositi numeri extremi 10 et 40 multiplicatio exhibet 400, haec duplicata sunt 800. Dividantur haec 760 ipsa de 50, qui numerus est compositorum extremorum. Exibuit 16, qui iam medius est. [Bl. P4v] Designationes septem addititiarum analogiarum, quae apud antiquos non extant, quamvis quarta Pythagorica perhibeatur. Quarta Quinta Sexta 3 5 6 2 4 5 1 4 6 2 1 2 1 3 2 Septima Octava Nona Decima 6 8 9 6 7 9 4 6 7 3 5 8 2 - - 2 2 - - 3 3 3 3 5 286 6 Das Kapitel De proportionibus aus dem Kommentar des Nikomachos von Gerasa Designatio μεσότητος perfectissimae et triplicis extensionis, et compraehendentis caeteras omnes 6 Das Kapitel De proportionibus aus dem Kommentar des Nikomachos von Gerasa 287 761 Allgemein zum Konzept der Analogie sowie zur Terminologie vgl. Kapitel C.2. 762 Der Begriff ἀναλογία wurde schon von Cicero mit proportio oder comparatio übersetzt (Vgl. Cicero, Timaeus 4, 13). 763 In der von Camerarius erstellten Ausgabe Buch 5, Definition 8: „Ἀναλογία δὲ ἐστὶν ἡ τῶν λόγων ὁμοιότης.“ Proportio est rationum comparatio (vgl. Camerarius 1549, 79). Sie fand keinen Eingang in die heute maßgebliche Ausgabe (vgl. Heiberg / Stamatis 1970 (= Bd.-2), 2). 764 Vgl. Nikomachos von Gerasa, Introductio arithmetica, 2, 6, 3: „κατὰ ταυτὰ γὰρ ἐφαίνετο καὶ ἐπὶ τῆς ἰσότητος ἡμῖν ἐν ταῖς σχέσεσι, σώζεται μὲν γὰρ ἀναλογία, ὡς ὁ πρῶτος πρὸς τὸν δεύτερον, οὕτως ὁ δεύτερος πρὸς τὸν τρίτον, οὐ μὴν διάστημα γεννᾶταί τι τοῖς ἄκροις πρὸς ἀλλήλους, ὥσπερ ἐπὶ τῶν ἄλλων τῶν χωρὶς ἰσότητος σχέσεων πασῶν·“ 765 Nikomachos von Gerasa, Introductio arithmetica, 2, 21, 2 f.: „ἔστιν οὖν ἀναλογία κυρίως δυεῖν ἢ πλειόνων λόγων σύλληψις ἐς τὸ αὐτό, κοινότερον δὲ δυεῖν ἢ πλεόνων σχέσεων, κἂν μὴ λόγῳ τῷ αὐτῷ ὑποτάσσωνται, διαφορᾷ δὲ ἤ τινι ἑτέρῳ.“ 766 Nikomachos von Gerasa, Introductio arithmetica, 2, 21, 3: „λόγος μὲν οὖν ἐστι δύο ὅρων πρὸς ἀλλήλους σχέσις.“ (1) [Bl. O5v] Über Analogien 761 Ἀναλογία (Analogie) übersetze ich mit proportio [„passendes Verhältnis“], 762 λόγος mit ratio [‚Verhältnis‘] und meiner Meinung nach gibt es keinen Grund, warum jemand andere Wörter dafür erfinden sollte. Euklids Definition von Analogie ist bekannt, dass es sich um die Ähnlichkeit von Verhältnissen handelt. 763 Dies trifft vor allem auf die geometrische Analogie zu. Damit stimmt die vom Autor [sc. Nikomachos] früher abgegebene Definition überein. 764 Seine spätere Definition ist allgemeiner, dass sie ein passendes Verhältnis (proportio) von zweien oder mehreren Relationen (respectus) ist, obwohl sie nicht demselben Verhältnis (ratio) unterworfen werden [müssen], sondern [auch] einem Unter‐ schied oder irgendetwas Anderem [unterworfen sein können]. 765 Hier muss zunächst angemerkt werden, dass der Begriff σχέσις (den ich bei der Überset‐ zung mit ‚Relation‘ (respectus) wiedergebe) ein genereller [d. h. übergeordneter] Begriff ist [Bl. O6r] und daher bei der Definition dem Verhältnis (ratio) beigefügt wurde, d. h. dem λόγος. Hier wird ratio / λόγος nämlich so definiert: δύο ὅρων ἡ πρὸς ἀλληλους σχέσις, 766 d. h. als das Verhältnis (respectus) zweier Terme zueinander. Jedes Verhältnis ist also eine Relation, aber nicht jede Relation im eigentlichen Sinne ein Verhältnis. Und daher kann es geschehen, dass man etwas gemeinhin als Analogie bezeichnet, obwohl zwischen Zahlen nicht dieselben Verhältnisse herrschen, solange nur die Relationen dieselben sind, wie bei der arithmetischen Analogie. Bei ihr sind die Relationen lediglich Zunahmen um denselben Wert, wie bei den Zahlen 1 : 2 : 3. Auch wenn bei diesen Zahlen das qualitative Verhältnis, das ein geometrisches ist, unterschiedlich ist, (da zwei zu eins ein doppeltes Verhältnis ist und 3 zu 2 ein anderthalbfaches Verhältnis), 288 6 Das Kapitel De proportionibus aus dem Kommentar des Nikomachos von Gerasa 767 Die folgenden Skizzen illustrieren Aussagen aus Buch 2, Kapitel 21, 3-6 der Introductio Arithmetica. 768 Vgl. Nikomachos von Gerasa, Introductio arithmetica, 2, 22, 1 (wo für die 10 Verhält‐ nisse allerdings der Begriff ‚Mitten‘ bzw. ‚Analogien‘ gebraucht wird): „Εἰσὶν οὖν ἀναλογίαι αἱ μὲν πρῶται καὶ παρὰ πᾶσι τοῖς παλαιοῖς ὁμολογούμεναι, Πυθαγόρᾳ τε καὶ Πλάτωνι καὶ Ἀριστοτέλει, τρεῖς πρώτισται ἀριθμητική, γεωμετρική, ἁρμονική, αἱ δὲ ταύταις ὑπεναντίαι ἄλλαι τρεῖς, ἰδίων μὴ τετευχυῖαι ὀνομάτων, κοινότερον δὲ λεγόμεναι μεσότητες τετάρτη, πέμπτη, ἕκτη· μεθ‘ ἃς καὶ ἄλλας τέσσαρας οἱ νεώτεροι εὑρίσκουσι, συμπληροῦντες τὸν δέκατον ἀριθμὸν κατὰ τὸ τοῖς Πυθαγορικοῖς δοκοῦν ὡς τελειότατον.“ 769 Der folgende Text bezieht sich auf die Aussagen des Nikomachos zur arithmetischen Analogie (Vgl. Nikomachos von Gerasa, Introductio arithmetica, 2, 22-23.) so ist doch das Verhältnis in Bezug auf den Abstand gleich, also bezüglich der sogenannten Quantität. Das ist ein arithmetisches Verhältnis. Denn um wie viel die Zahl 3 größer ist als 2, um ebenso viel ist 2 größer als eins. Dass der Autor hinzufügt: „oder irgendetwas Anderem“, hat er wegen der harmonischen Analogie gemacht, die weder [der Gleichheit] des Abstandes unterworfen ist, wie die arithmetische Analogie [Bl. O6v], noch [der Gleichheit] dessen, was im eigentlichen Sinn Verhältnis (ratio) genannt wird, wie die geometrische Analogie. 767 (2) Die angeführten Erscheinungsformen von Ungleichheit werden vom Autor als 10 Relationen, d. h. als 10 σχέσεις bezeichnet. Es gibt 5 principes, d. h. πρόλογοι und fünf ὑπόλογοι, von untergeordneten Zahlen. 768 (3) Was laut Aussage des Autors der kontinuierlichen Analogie eigen ist, 769 d. h. für die durch eine einzige Mitte verbundene Analogie (συνημμένη proportio), die 6 Das Kapitel De proportionibus aus dem Kommentar des Nikomachos von Gerasa 289 770 Vgl. Nikomachos von Gerasa, Introductio arithmetica, 2, 22, 5. 771 Der Text ist hier offensichtlich falsch. Nikomachos scheint jedenfalls gemeint zu haben, dass die Außenglieder doppelt so groß sind wie die Mitte, wenn die Analogie kontinuierlich ist (Beispiel I.), oder dass die Außenglieder so groß sind wie die beiden mittleren Glieder, wenn die Analogie diskret ist (Beispiel II.). Beide Aussagen lassen sich dahingehend vereinfachen, dass die Summe der Außenglieder der Summe der mittleren Glieder entspricht: Wenn a - b = c - d, dann a + d = b + c Wenn a - b = b - c, dann a + c = 2b Diese Beispiele stammen aus D’Ooge 1926, 269, Anm. 1. 772 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik 5, 6, 1.b-7, 2.c. 1131 a 15-1131 b 24. 773 Das Wort γλαφυρώτατον verweist auf Nikomachos von Gerasa, Introductio Arithmetica 2, 23, 6: „ἔτι τὸ γλαφυρώτατον καὶ τοὺς πολλοὺς λεληθός, τὸ ὑπὸ τῶν ἄκρων γινόμενον συγκρινόμενον τῷ απὸ τοῦ μέσου ἔλαττον αὐτοῦ εὑρίσκεται τῷ ὑπὸ τῶν διαφορῶν, ἐάν τε μονάδες ὦσιν ἐάν τε δυάδες ἐάν τε τριάδες ἐάν τε τετράδες ἐάν τε ὁστισοῦν ἀριθμός·“ Inhaltlich scheint sich der Kommentar allerdings auf die unmittelbar folgende Passage zu beziehen, auch wenn dort steht, dass die dort gemachten Erkenntnisse allen Vorigen bereits bekannt waren: „τέταρτον δέ, ὃ καὶ οἱ πρόσθεν πάντες ἐσημειώσαντο, οἱ ἐν τοῖς ἐλάττοσιν ὅροις λόγοι συγκρινόμενοι πρὸς τοὺς ἐν τοῖς μείζοσι μείζονές εἰσι·“ man auch συνεχής nennt - wobei man die Mitte bei drei Termen als μεσότης bezeichnet -, [Bl. O7r] dasselbe geschieht bei der sogenannten getrennten oder diskreten Analogie in zwei Termen, wie der Autor zeigt. 770 Wie also bei der Analogie der Zahlen 1 : 2 : 3 die Summe von eins und drei zweimal zwei ergibt, und bei der Analogie der Zahlen 2 : 3 : 4 die Summe der Zahlen zwei und vier zweimal drei, und bei der Analogie der Zahlen 2 : 4 : 6 die Summe der Zahlen zwei und sechs zweimal vier, und bei der Analogie der Zahlen 4 : 6 : 8 die Summe der Zahlen 4 und 8 zweimal sechs, so sind bei der Analogie der Zahlen 2 : 3 : 4 : 5 die Terme zwei und 5 doppelt [sic] so groß die Terme drei und vier. Und bei der Analogie der Zahlen 2 : 4 : 6 : 8, sind 2 und 8 doppelt [sic] so groß wie die Zahlen 4 und 6. 771 Und man muss wissen, dass man jene Form der Analogie als diskret bezeichnet wird, bei der es 4 getrennte Glieder gibt, so dass die Mitte offensichtlich getrennt wird. Aristoteles verliert einige Worte über jene Trennung in Buch 5 der Nikomacheischen Ethik. 772 Freilich geschieht bei der wirklich getrennten oder diskreten Analogie offensichtlich nicht dasselbe, z. B. bei der Analogie der Zahlen 2, 4, 8, 10 - zwei und zehn sind nämlich nicht doppelt so viel wie 4 und 8, sondern genausoviel -, oder bei den Zahlen 4, 6, 12, 14 und 2, 5, 7, 9 und bei vergleichbaren anderen Fällen. (4) Was der Autor am Elegantesten findet (so übersetze ich nämlich γλαφυρότατον) [Bl. O7v] und seinen Vorgängern unbekannt war, das lässt sich durch folgendes Beispiel erklären: 773 Es seien kontinuierliche und getrennte 290 6 Das Kapitel De proportionibus aus dem Kommentar des Nikomachos von Gerasa 774 Das Kapitel über die geometrische Analogie bezieht sich auf Nikomachos von Gerasa, Introductio Arithmetica 2, 24. 775 Nikomachos von Gerasa, Introductio Arithmetica 2, 24, 2. 776 Vergleicht man die Introductio Arithmetica 2, 24, 1 f., so scheint gemeint zu sein, dass beispielsweise in einer Reihe der Zahlen 2 : 4 : 8 : 16 jeweils ein Verhältnis von x2 zwischen nebeneinander befindlichen Termen herrscht, dass sich aber z. B. auch ein gleiches Verhältnis findet, wenn man das Verhältnis der Zahlen 16 und 4 mit dem der Terme gegeben. Kontinuierlich auf die folgende Weise: 1, 2, 3. Getrennt auf die folgende: 1, 2, 3, 4. Schau, bei den kontinuierlichen Zahlen ist die Zahl 2 das doppelte von 1. Dieses Verhältnis ist größer als das Verhältnis der Zahl 3 zur Zahl 2, welches ein anderthalbfaches ist. Bei der diskreten Analogie passiert dasselbe. Zwischen den Zahlen 2 und 1 herrscht ein doppeltes Verhältnis, zwischen 4 und 3 aber ein eineindrittelfaches. Ein doppeltes Verhältnis ist größer ein ein eineindrittelfaches. Dies ist so bei allen [arithmetischen Analogien]. (5) Die geometrische Analogie 774 [Bl. O8r] Zu der Aussage des Autors „καὶ ἀναμὶξ διασώζει τὴν ὁμοίαν σχέσιν“ 775 („und im Wechsel bewahrt es dieselbe Relation“) ist anzumerken, dass jenes Wort „ἀναμίξ“ (in diesem Wort steckt die Bedeutung ‚Mischung‘) dasselbe zu bedeuten scheint, was man gewöhnlich durch das Wort ἐνάλλαξ ausdrückt. Was man aber mit dem Wort ἐνάλλαξ ausdrückt (mit dem ein gewisser Wechsel und eine gewisse Veränderung angezeigt wird), das wird in vier Gliedern deutlich. Und dieses Verhältnis ist wechselweise eine Verknüpfung der vorangehenden mit der ihr vorangehenden Zahl und der folgenden mit der ihr folgenden. 776 6 Das Kapitel De proportionibus aus dem Kommentar des Nikomachos von Gerasa 291 Zahlen 8 und 2 vergleicht. Zur Problematik, wie ἀναμίξ und ἐνάλλαξ aufzufassen sind, vgl. auch D’Ooge 1926, 285, Anm. 2. 777 Hier besteht ein Verhältnis von 1 12 . 778 Hier besteht ein Verhältnis von 1 23 . 779 Hier besteht ein Verhältnis von 2 12 . 780 Hier besteht ein Verhältnis von 2 23 . 781 Vgl. Nikomachos von Gerasa, Introductio Arithmetica 2, 24, 6: „εὐκαιρότατον δ’ ἂν εἴη ἐνταῦθα γενομένους ἐπιμνησθῆναι παρακολουθήματος χρησιμεύοντος ἡμῖν εἰς Πλατωνικόν τι θεώρημα· οἱ μὲν γὰρ ἐπίπεδοι μιᾷ μεσότητι συνέχονται πάντως, οἱ δὲ στερεοὶ δυσὶν ἀνάλογον κειμέναις·“. Tatsächlich scheint sich Nikomachos auf Platons Timaios 32 A-B zu beziehen, auch wenn er Platon nicht ganz korrekt wiedergibt (vgl. D’Ooge 1926, 272, Anm. 2). Camerarius hingegen denkt an Platon Politeia 8, 546A-D. In dieser Passage werden die Kreisläufe von Blühen und Verfall von Staaten, sowie für die Fruchtbarkeit und Unfruchtbarkeit aller Wesen und Dinge mathematisch ausgedrückt. Vermutlich kam Camerarius auf diese Idee, weil Nikomachos erstens unkorrekt zitierte und er zweitens in Kapitel 2, 24, 11 der Introductio Arithmetica behauptet, die im folgenden ausgeführte Theorie zu Mitten zwischen zwei- und dreimensionalen Zahlen habe (auch) Bedeutung für die o. g. Platonstelle in Buch 8 der Politeia. Zum Ganzen vgl. auch Kapitel C.2.1. 782 Vgl. Cicero, Ad Atticum 7, 13, 4: aenigma [Oppiorum ex Velia] plane non intellexi; est enim numero Platonis obscurius. Zu diesem Sprichwort und zur genannten Platonstelle vgl. auch Camerarius an Hier. Wolf, 11.05.1563 (Camerarius 1583, 478-479; = OCEp 0832). 783 Vgl. Aristoteles, Politika 5, 12 1316 a 1-1316 b 27. An dieser Stelle gibt es die folgenden Beispiele [für geometrische Analogien]: • Getrennt: Wie sich 2 zu 4 verhält, so verhält sich 8 zu 16. • Kontinuierlich bei Zahlen mit einem Zuwachs von einem Anteil [einer Zahl]: Mit anderthalbfachem Verhältnis: 9, 6, 4. Getrennt: 27, 18, 12, 8. 777 • Kontinuierlich bei Zahlen mit einem Zuwachs von mehreren Anteilen [einer Zahl]: 25, 15, 9. Getrennt: 125, 72, 45, 27. 778 • Kontinuierlich bei Zahlen mit einem Zuwachs, der aus einem Vielfachem und einem Anteil [einer Zahl] besteht: 25, 10, 4. Getrennt: 20, 8, 5, 2. 779 • Kontinuierlich bei Zahlen mit einem Zuwachs, der aus einem Vielfachem und mehreren Anteilen [einer Zahl] besteht: 64, 24, 9. Getrennte Ana‐ logie / Terme: 32, 12, 16, 6. 780 (6) Die Platonstelle, die der Autor erwähnt, findet sich nicht bei [der Beschreibung] der Erschaffung der Welt, [Bl. O8v] d. h. im Timaios, sondern im achten Buch der Politeia. 781 Und sie bezieht sich nicht auf gleichsam jene [dort beschriebene] Schöpfung der Welt, sondern zeigt einen gewissen Kreislauf schicksalhafter Zeiten an und dessen Ursachen. Es ist jene Stelle, von der das Sprichwort über etwas sehr Unklares herrührt, nämlich wenn man sagte, etwas sei unklarer als die platonischen Zahlen. 782 Was Platon damit grundsätzlich aussagen wollte, zeigt Aristoteles im fünften Buch der Politika. 783 Aber die platonischen Stellen wurden bisher nicht 292 6 Das Kapitel De proportionibus aus dem Kommentar des Nikomachos von Gerasa 784 Die folgenden Anmerkungen gehen davon aus, dass Zahlen auch geometrisch gedacht werden können. 785 Mit flachen oder zweidimensionalen Zahlen sind Zahlen gemeint, die sich als Produkt zweier Zahlen darstellen lassen. Geometrisch gedacht bildet ihr Produkt entweder ein Quadrat (= Quadratzahl; z. B. 4 = 2 ⋅ 2) oder ein Rechteck (z. B. 6 = 2 ⋅ 3). 786 Beispiele für [direkt] aufeinander folgende Quadratzahlen: 4, 9 und 16 usw. (4= 2 2 , 9= 3 2 , 16= 4 2 ). 787 Kubikzahlen entstehen, wenn man eine Zahl zweimal mit sich selbst multipliziert. Für das Verständnis des Textes ist wichtig, dass sie sich auch als Würfel mit drei gleich langen Seiten darstellen lassen. Beispiele sind 8 (= 2 3 ), 27 (= 3 3 ) und 64 (= 4 3 ). erklärt. Was einige platonische Kommentatoren nicht einmal anzufassen wagten, haben andere durch ihre Erklärungen sogar noch verdunkelt. Und der Autor glaubt, dass wenn man die Platonerklärungen in diesem Buch liest und mit dem verbindet, was der Autor selbst geschrieben hat, werde Platons durch die Musen geäußerte Meinung klarer und deutlicher. Ich will diesen Ringplatz gescheiteren und gebildeteren Menschen überlassen und, wie ich es bereits vorher getan habe, nur das berichten, was ich als Randbemerkung in dem Buch gefunden habe, das sich in meinem Besitz befindet. Diese Dinge verhalten sich also so [Bl. P1r], wie ich es übersetzt habe. (7) Zwischen je zwei gegebene Quadratzahlen, 784 die der Autor flach [zweidi‐ mensional] nennt, 785 kann durch die geometrische Analogie in jedem Fall eine dritte Zahl treten. Z. B. seien die Nummern 4 und 9 gegeben. Zwischen sie tritt die Zahl 6. Zwischen all diesen Zahlen herrscht dann dasselbe Verhältnis, nämlich ein anderthalbfaches. Wie sich nämlich 9 zu 6 verhält, so verhält sich 6 zu 4. Genauso kann zwischen 9 und 16 mit Hilfe der Analogie 12 als mittlere Zahl treten, wobei die Zahlen dann jeweils um ein Drittel wachsen. Wie sich nämlich 16 zu 12 verhält, so verhält sich auch 12 zu 9. Dies geschieht prinzipiell bei allen [quadratischen] Zahlen auf diese Weise. Man muss wissen, dass diese Mitte nicht nur zu zwei [direkt] aufeinander folgenden Quadratzahlen 786 hinzutritt, sondern auch zu beliebigen anderen [gegebenen] Quadratzahlen. Z. B. tritt zwischen die gegebenen Zahlen 9 und 36 als mittlere Zahl 18, und zwischen 16 und 100 die Zahl 40. Generell gilt: Wenn man bei zwei gegebenen Quadraten die Seite des einen mit der Seite des anderen multipliziert, erhält man durch die Analogie ein drittes mittleres Quadrat. (8) Wenn aber zwei Kubikzahlen 787 gegeben sind, treten zwischen sie [Bl. P1v] durch die Analogie zwei mittlere Zahlen. Dies kann man bei den Zahlen 8 und 27 erkennen. Zwischen diese Zahlen treten nämlich die beiden mittleren Zahlen 18 und 12 durch ein anderthalbfaches Verhältnis. Wie sich nämlich 27 zu 18 verhält, so verhält sich auch 18 zu 12 und 12 zu 8. Ebenso treten zwischen 27 6 Das Kapitel De proportionibus aus dem Kommentar des Nikomachos von Gerasa 293 788 Mathematische Formel: Es seien zwei Kubikzahlen a und d gegeben und die Mitten b und c gesucht. Sie lassen sich so ermitteln: a 3 ⋅ d 3 ⋅ a 3 = b und d 3 ⋅ a 3 ⋅ d 3 = c. und 125 durch die Analogie die zwei mittleren Zahlen 45 und 75, in einem um zwei Drittel größeren Verhältnis. Wie sich nämlich 125 zu 75 verhält, so verhält sich auch 75 zu 45 und 45 zu 27. Generell gilt: Wenn zwei Kubikzahlen gegeben sind und man das Produkt aus der Seite der ersten Kubikzahl mit der Seite der zweiten Kubikzahl bildet und dann das Ergebnis erneut [mit der Seite der ersten Zahl] multipliziert, erhält man eine [der beiden] Mitte[n]. Und wenn man im Gegenzug die Seite der zweiten Kubikzahl mit der anderen Seite [also einer Seite der ersten Kubikzahl] multipliziert und das Ergebnis erneut [mit der Seite der zweiten Kubikzahl] multipliziert, erhält man so die andere Mitte: 788 Wenn die Zahlen 27 und 8 gegeben sind, dann ist die Seite einer [= der ersten] Kubikzahl 3. Multipliziert man sie mit der Seite der anderen Kubikzahl, nämlich 2, erhält man 6. Und wenn man das Ergebis erneut mit der [Seite der ersten] Zahl multipliziert, erhält man 18. Die Seite der anderen Kubikzahl hingegen ist 2. Wenn man sie mit der Seite der anderen Kubikzahl multipliziert, nämlich mit 3, erhält man 6. Und wenn man das Ergebnis erneut [mit 2] multipliziert, erhält man 12. Und so hat man vier proportionale Zahlen: 27, 18, 12 und 8. (9) Man kann dieses Phänomen aber nicht nur bei Quadrat- [Bl. P2r] und Kubikzahlen erkennen, sondern in allen [zueinander] ähnlichen Zahlen, flachen [zweidimensionalen] wie festen [dreidimensionalen]. Als ähnlich werden flache Zahlen [zweidimensionale] bezeichnet, deren Seiten analog sind. D. h.. wie sich von [zwei gegebenen und zweidimensional gedachten] Zahlen die Seite der einen flachen [zweidimensionalen] Zahl zu ihrer anderen Seite verhält, so verhält sich auch die eine Seite der anderen flachen [zweidimensionalen] Zahl zu ihrer anderen Seite, wie z. B. bei den Zahlen 8 und 18. Von diesen beiden Zahlen haben beide Seitenlängen dasselbe Verhältnis zueinander: Die Zahl 8 hat nämlich Seitenlängen von 2 und 4. Die Seitenlängen der Zahl 18 sind 3 und 6. Zwischen sie tritt als Mitte die Zahl 12, wenn man die längere Seite einer Zahl mit der kürzeren Seite der anderen Zahl multipliziert. Und so kommt es, dass, so wie sich die Zahlen 18 und 12 zueinander verhalten, auch die Zahlen 12 und 8 zueinander verhalten. Und es lassen sich [zueinander] ähnliche feste [dreidimensionale] Zahlen nennen, deren Seiten in Analogie stehen, wie bei den Zahlen 6 und 48. Denn die Seitenlängen der Zahl 6 sind 1, 2 und 3. Einmal zwei ist zwei und dreimal 2 sind 6. Die Seiten der Zahl 48 sind 2, 4 und 6, denn zweimal 4 sind 8 und 8 mal 6 ist 48. Die Seiten der Zahl 48 stehen zu den Seiten der Zahl 6 in einem doppelten Verhältnis. [Bl. P2v] Für diese beiden festen [dreidimensionalen] Zahlen 6 und 48 findet man zwei Mitten, nämlich 12 und 24. Denn wenn man die kleineren Seiten [der ersten Zahl] 294 6 Das Kapitel De proportionibus aus dem Kommentar des Nikomachos von Gerasa 789 Das folgende Kapitel bezieht sich auf Nikomachos von Gerasa, Introductio Arithmetica 2, 25-27. Erklärung zu den Graphiken: Zwischen den Zahlen 3 : 4 gibt es eine Differenz von 1 und zwischen den Zahlen 4 : 6 eine Differenz von 2, die zueinander in einem Verhältnis von 2 : 1, also einem doppelten Verhältnis stehen. Zwischen den Zahlen 2 : 3 gibt es einen Unterschied von 1 und zwischen 3 und 6 einen Unterschied von 3. Die beiden Zahlen stehen in einem Verhältnis von 3 : 1, also einem dreifachen Verhältnis. miteinander multipliziert und das Ergebnis mit der längsten Seite der größeren Zahl multipliziert erhält man eine [der beiden] Mitte[n], nämlich 12, denn einmal 2 sind 2 und 2 mal 6 sind 12. Wenn man jetzt noch die aus dem Produkt der längeren Seiten der größeren Zahl gebildete Zahl nimmt und mit der kürzesten Seite der kleineren Zahl multipliziert, erhält man die zweite Mitte, denn 6 mal 4 sind 24 und einmal 24 sind 24. (10) Die harmonische Analogie oder harmonische Mitte 789 Bei der ersten Darstellung [sc. der Zahlen] 3 : 4 : 6 ist die mittlere Zahl 4 um ihre eigene Hälfte kleiner als die Zahl 6, d. h. um 2 kleiner und um ein Viertel [von sich selbst] größer [Bl. P3r] als die Zahl 3, d. h. um 1 größer. 2 aber ist ein Drittel von 6, und 1 ist ein Drittel von 3. Bei der zweiten Darstellung [sc. der Zahlen] 2 : 3 : 6 addiert man 2 zu 6 und erhält 8. Wenn man die gewonnene Zahl mit der mittleren Zahl 3 multipliziert, erhält man 24. Diese Zahl ist doppelt so groß wie das Produkt der beiden äußeren Zahlen, denn zweimal 6 sind 12. (11) Die geometrische Analogie hat dieselben Verhältnisse zwischen den gege‐ benen Zahlen, d. h. eine Gleichheit der Verhältnisse in den Außengliedern. Die arithmetische Analogie zeigt sich in denselben Unterschieden. Hierbei handelt es sich um eine Gleichheit des Abstandes. Die harmonische Analogie aber weist eine Gleichheit der Außenglieder im Hinblick auf die Abstände auf, d. h. dieselben Verhältnisse und Abstände. Das Verhältnis, das bei den Zahlen 2 : 3 : 6 die größte Zahl 6 zur kleinsten Zahl 2 hat, nämlich ein dreifaches, findet sich 6 Das Kapitel De proportionibus aus dem Kommentar des Nikomachos von Gerasa 295 790 Mathematisch ausgedrückt: c a = c − b b − a ; bzw. angewandt auf das im Kommentar gegebene Beispiel: 62 = 6 − 3 3 − 2 à 31 = 31 . 791 Vgl. Nikomachos von Gerasa, Introductio Arithmetica 2, 26. Die Abbildung zeigt die als harmonisch verstandenen Intervalle. Die ersten Wörter geben immer das Verhältnis an, die Wörter nach dem Punkt benennen die griechischen Intervalle: Beim Diatessaron handelt es um ein Verhältnis von 4 : 3, das unserer Quarte entspricht, bei der Diapente um ein Verhältnis von 3 : 2, das unserer Quinte entspricht, beim Diapason um ein Verhältnis von 1 : 2, das unserer Oktave entspricht. Ein Verhältnis von 1 : 3 findet sich bei der Verbindung von Diapason und Diapente (= Oktave + Quint), ein Verhältnis von 1 : 4 beim Disdiapason (= 2 Oktaven). Ziel dieser Graphik dürfte sein, die besondere Bedeutung dieser Intervalle gegenüber anderen zu legitimieren. Vgl. hierzu auch Camerarius 1594, 42-44 bzw. 46 f. (= Kapitel E.7.2, Abschnitt 1-3). auch, wenn man die Differenz der größten zur mittleren Zahl, nämlich 3, mit der Differenz der mittleren und kleinsten Zahl, nämlich 1, vergleicht, denn auch hier zeigt sich ein dreifaches Verhältnis. 790 (12) Illustration der harmonischen Mitte anhand eines Würfels. [Bl. P3v] Bei einem Würfel gibt es nämlich im Ganzen 12 Seitenlinien, 8 Winkel und 6 Seitenflächen. Musisches Schaubild 791 296 6 Das Kapitel De proportionibus aus dem Kommentar des Nikomachos von Gerasa 792 Vgl. Nikomachos von Gerasa, Introductio Arithmetica 2, 28. [Bl. P4r] Darstellung der drei Mitten, zunächst mit zwei gegebenen geraden Zahlen und dann mit zwei gegebenen ungeraden Zahlen. Arithmetische Mitte Geometrische Mitte Harmonische Mitte 10 25 40 10 20 40 10 16 40 15 15 10 20 6 24 - Mit ungeraden Zahlen - Arithmetische Mitte Geometrische Mitte Harmonische Mitte 5 25 45 5 15 45 5 9 45 20 20 10 30 4 36 (13) Eine andere Methode, die harmonische Mitte zu finden, die sich von der unterscheidet, die Nikomachus tradiert. Die gegebenen Außenglieder werden miteinander multipliziert und das Ergebnis verdoppelt und anschließend durch die Summe der Außenglieder geteilt. Die so erhaltene Zahl (die man auch πλάτος τῆς παραβολῆς nennt), ist die mittlere Zahl [bzw. harmonische Mitte]. Z. B. seien die Zahlen 10 und 40 gegeben. Ihr Produkt ergibt 400. Wenn man es verdoppelt, erhält man 800. Das Ergebnis soll man durch 50 teilen, d. h. die Summe der Außenglieder. Man hat die 16 erhalten. Schon hat man die mittlere Zahl [bzw. harmonische Mitte]. [Bl. P4v] Darstellung der sieben weiteren Analogien, die es bei den Alten nicht gab, obgleich die vierte pythagoreisch genannt wird. 792 Vierte Mitte Fünfte Mitte Sechste Mitte 3 5 6 2 4 5 1 4 6 2 1 2 1 3 2 6 Das Kapitel De proportionibus aus dem Kommentar des Nikomachos von Gerasa 297 793 „Dreifach“ wohl deshalb, weil sie die drei Analogien enthält: 6 : 9 : 12 ist eine arithme‐ tische Analogie (Differenz von 3), 6 : 8 : 12 ist eine harmonische Analogie (+/ - 1 13 der Außenglieder); die diskrete geometrische Analogie zeigt sich in den Verhältnissen 6 : 9 = 8 : 12 (Multiplikation mit dem Faktor 1,5). Zur vollkommen Proportion vgl. auch Nikomachos von Gerasa, Introductio Arithmetica 2, 29 und Camerarius 1594, 42-44 bzw. 46 f. (= Kapitel E.7.2, Abschnitt 1-3), wo Camerarius die o. g. Zahlenverhältnisse (also 6 : 8 : 9 : 12) zur Legitimierung von Intervallen in der Musik nutzt. Siebte Mitte Achte Mitte Neunte Mitte Zehnte Mitte 6 8 9 6 7 9 4 6 7 3 5 8 2 - - 2 2 - - 3 3 3 3 5 Darstellung der perfekten Mitte und dreifachen Dimension, die auch alle anderen Mitten enthält. 793 298 6 Das Kapitel De proportionibus aus dem Kommentar des Nikomachos von Gerasa 7 Die Decuriae XXI συμμικτ ῶν προβλημάτων (= Camerarius 1594) 7.1 Auszug aus den Decuriae XXI συμμικτ ῶν προβλημάτων über die im Timaios beschriebene Schöpfung der Welt aus den vier Elementen (= Camerarius 1594, 30-35) Β. (1) Ὁ Πλάτων λέγων, ὅτι τὸ τοῦ παντὸς σῶμα ἐκ πυρὸς καὶ γῆς ἀρχόμενος συνιστάναι ὁ θεὸς ἐποίει, καὶ ὅτι στέρεον προσῆκον εἶναι τὸ πᾶν, χρείαν ἔσχε πρὸς τὴν σύστασιν μεσοτητοῖν δυοῖν, πῶς λέγει τοῦτο; Τὸ μὲν ἁπλῶς νοούμενον καὶ μὴ πολλῶν δεόμενον ἄνδιχ’ ἑρμηνευμάτων ἀεὶ πως ἐμοὶ τὸ ἀληθέστατον δοκεῖν εἴωθεν. Ὅτι μὲν οὖν τὸ κόσμικον σῶμα ὤφειλεν εἶναι ὁρατὸν θ‘ ἅμα καὶ ἁπτὸν, ἐκ πυρὸς τε καὶ γῆς συνέστησεν ὁ δημιουργὸς αὐτό. Ὄντων δὲ τούτων παντάπασι κατὰ φύσιν καὶ δύναμιν ἐναντίων, ἵνα ἕν τι γένοιτο τὸ ποίημα, ξυνδέσμου δηλονότι ἐδέησεν. Πῶς γ’ ἂν ξυμβαίνειν καὶ κολλᾶσθαι δύναιντο, ὅσα διάφορα, ἄνευ τοῦ ξυμβιβάζοντος μέσου καὶ προσαρμόττοντος ἄλλως τε καὶ τελέως ἀντικείμενα ὄντα; Οἷον τὴν α πρὸς τὴν γ ἢ πάντως ἀνάρμοστον εἶναι ἀνάγκη, ἢ διὰ μέσην τὴν β ἀνάλογον συναρμοσθῆναι. Ὅτι δὲ τὰ ἐπίπεδα μία ξυνδῆσαι μεσότης ἀρκεῖ, ἐκ τούτου φανερόν, ὅτι ὁ δεσμὸς μονόγραμμος εὑρίσκεται, ὡς ἡ μέση, ἀνάλογον ὑπὸ γεωμέτρου. Ὁ δὲ στερεομέτρης πράγματα ἔχει ζητῶν τὰς δύο. Δυοῖν γ‘ δεῖ γραμμαῖν μέσαιν πρὸς τὰς τῶν στερεῶν ἀναλογίας. Οὕτω γοῦν λέγει ὁ Τίμαιος ἑρμηνεῖ τῷ Πλάτονι κεχρημένος [S. 31], ὅτι ἐν μέσῳ τῆς γῆς καὶ τοῦ πυρὸς παρενέθηκεν ὁ δημιουργὸς ὕδωρ καὶ ἀέρα, ὅσον ἦν δυνατόν, ἀνὰ τὸν αὐτὸν λόγον, ὥστε εἶναι οἷον τὸ α πῦρ πρὸς τὸ β ἀέρα, τοῖον τὸ β ἀέρα πρὸς τὸ γ ὕδωρ. Αὕτη ἡ πρότερα ἀναλογία. Ἡ δὲ δευτέρα· οἷον τὸ β ἀέρα πρὸς τὸ γ ὕδωρ, τοῖον τὸ γ ὕδωρ πρὸς τὸ δ γῆν, ὥστε διπλοῦσθαι τὴν ἀναλογίαν τῶν στοχείων κατὰ τὸ τοῦ ἀέρος καὶ τὸ τοῦ ὕδατος δίς λαμβανομένων τῶν ὅρων καὶ τοῦ α καὶ δ διαστάντων καθ‘ αὑτὰ παντελῶς. Εἰ μὲν οὖν οὕτως ἁπλοϊκῶς καὶ παχυλῶς ἐνεθυμήθη καὶ ὁ Πλάτων περὶ τούτων, θεὸς ἂν, φάσιν, εἰδείη. (2) Οἱ δὲ Λευκανοὶ κατακολουθήσαντες Ὠκέλλῳ τοῦ Τιμαίου τὴν τῶν στοιχείων πρόοδον διὰ διττῶν καθ ἕκαστον δυναμένων ἐξέλιξαν, περιθέμενοι τῷ μὲν πυρὶ θερμὸν καὶ ξηρόν, τῷ δὲ ἀέρὶ θερμὸν καὶ ὑγρόν, τῷ δὲ ὕδατι ψυχρὸν καὶ ὑγρόν, τῇ δὲ γῇ ψυχρὸν καὶ ξηρόν. Οὕτοι τοίνυν αὐτὰ τὰ στοιχεῖα συνοικειῶσαι μετ’ ἀλλήλων πειρώμενοι οὕτω μὲν ταῖς ἐναντιώσεσι τῶν δυνάμεων κοινωνίας τινὰς ἐπενόησαν πλημμελήσαντες κατὰ τὸν Πρόκλον, ὅτι τάξιν καθιστάναι βουλόμενοι, οὐδὲν ἧττον ἀταξίαν παρεισήγαγον ζεύξαντες τὰ στοιχεῖα οὕτως, ὥστ‘ ἐξ ἴσου φίλα καὶ πολέμια εἶναι. Τῶν δὲ ἴσῳ τῷ μέτρῳ μαχομένων καὶ εἰρήνην ἀγόντων, ἰσόῤῥοπος ἡ λύσις καὶ σύστασις. Οὐδὲν ἄρα οἷον διαλυθῆναι τὸ πᾶν καὶ διαμεῖναι ὁμοίως. Ἴσως μὲν οὖν τῇ τοῦ Πλάτωνος γνώμῃ μηδαμῶς ἐναντίον δόξειεν ἂν καὶ τοῦτο, σαφῶς ἐκείνου τὴν διαμονὴν συσταθέντων οὐκ ἐξ αὐτῶν, ἀλλ’ ἐκ τῆς τοῦ συνιστῶντος βουλήσεως γενησέσθαι ἐνδεικνῦντος, ἐν οἷς λέγει ὁ ἐκεὶ εἰσαγόμενος δημιουργὸς καὶ τὸδε τὸ πᾶν γεννησας πρὸς τοὺς ὑπ‘ αὐτοῦ θεοὺς θεῶν προσαγορευομένους· Τὰ δι’ ἐμοῦ γενόμενα ἄλυτα ἐμοῦ γε μὴ ἐθέλοντος. Τὸ μὲν οὖν δὴ δεθὲν πᾶν λυτόν, τό γε μὴν καλῶς ἁρμοσθὲν καὶ ἔχον εὖ λύειν ἐθέλειν κακοῦ· δι‘ ἃ καὶ ἐπείπερ γεγένησθε, ἀθάνατοι μὲν οὐκ ἐστὲ οὐδε ἄλυτοι τὸ πάμπαν, οὔτι μέντοι λυθήσεσθέ, οὐδὲ τεύξεσθε θανάτου μοίρας τῆς ἐμῆς [S. 32] βουλήσεως μείζονος ἔτι δεσμοῦ καὶ κυριωτέρου λαχόντες ἐκείνων οἷς ὅτ’ ἐγίνεσθε συνεδεῖσθε. Οὕτω μὲν οὐδ’ ὁ Τίμαιος ἑτέρως ἤπερ οἱ Λευκανοὶ ἐγνωκὼς εὑρίσκεται. (3) Αὐτὸς δὲ ὁ Πρόκλος τὰς δύο μεσότητας ταύτας εἶναι βούλεται, οἵας δι’ ἀλλήλων συνεχὼς συναρμόττειν τὰ στοιχεῖα, ὥστε ἀεὶ τὴν οἰκείωσιν πλεονάζειν τῆς ἐναντιώσεως λειπομένης. Ἐξέθηκε δὲ διαστείλας καὶ συναγαγὼν ταῖς δυνάμεσιν, ἃς πλευρῶν χώραν ἐπέχειν ἐθέλει, ὡδέπως· Τρεῖς νοηθῆναι δεῖν ἀρέσκει αὐτῷ καθ‘ ἕκαστον τῶν στοιχείων δυνάμεως, ἵνα ἡ μὲν συναρμογὴ διὰ δυοῖν, ἡ δὲ διαχώρησις διὰ μιᾶς γένοιτο. Πῦρ ἐστὶ λεπτομερὲς, ὀξὺ, εὐκίνητον, γῆ δὲ κατὰ πάντα ἔχουσα ἐναντίως παχυμερής, ἀμβλεία, δυσκίνητος, τὸ δ’ ὕδωρ τἆλλα μὲν ὡς γῆ, ἀντὶ δὲ τῆς δυσκινησίας τὸ εὐκίνητον εἴληφε. Καὶ ὁ ἀὴρ οἷον τὸ πῦρ κατὰ δύο, τό τε λεπτομερὲς καὶ τὸ εὐκίνητον, παρήλλαξε κατὰ τὴν ὀξύτητα ἀμβλὺς γενόμενος. Οὕτω γοῦν πρόεστιν ἡ ἁρμονία ἀπὸ πυρὸς διὰ δυοῖν ἀεὶ κατὰ ταὐτότητα, καὶ ἑνὸς ἐναντίου μέχρι τῆς γῆς. Καὶ τοῦτον τὸν διὰ δυοῖν μεσοτητοῖν κάλλιστον καὶ ἑνόποιον δεσμὸν τῆς κοσμικῆς ἀναλογίας ὁ Πρόκλος παρέδωκεν. Εἴη δὲ καὶ τὸ ἡμέτερον ἁπλοῦν καὶ ἰδιωτικὸν ὑπονόημα, οὐ παντάπασιν, ὡς οἶμαι, ἄμουσον οὐδὲ ἐκμελές. Ἀποφανοῦσι δὲ περὶ τοῦτο οἱ ἀναγνόντες. 300 7 Die Decuriae XXI συμμικτ ῶν προβλημάτων (= Camerarius 1594) II. (1) Cum Plato dicit deum universitatis huius corpus ex igne et terra initio constituisse, et quia hoc solidum esse conueniebat, ei opus fuisse duobus mediis, quomodo haec ab illo dicta esse intelligendum? Mihi quidem semper propemodum id, quod simpliciter consideratur nec multis in utramque partem indiget explicationibus, verissimum quoque esse videri solet. Cum itaque mundi hoc [S. 33] corpus tangi et cerni debuerit, ex igne et terra genitor et effector rerum omnium ipsum composuit. Haec autem et quoniam sua natura et facultate penitus contraria sunt, quo una quaedam fieret fabrica, vinculo nimirum aliquo opus fuit. Verum quanam ratione in unum coire et coalescere, quaecumque diversa sunt, sine medio quodam coagmentante et conglutinante illa possint, praesertim absolute inter se opposita? Ut exempli causa A lineam ab altera C prorsus discrepare necesse est aut per mediam B proportione respondentem apte coniungi. Ad plana autem corpora connectenda unum sufficere medium ex eo patet, quod vinculum unius lineae reperiatur tamquam mediae consentanea ratione respondentis a Geometra. Qui autem solidorum corporum spatia metitur, ei in duobus mediis pervestigandis est elaborandum, siquidem duabus lineis mediis ad solidorum proportiones indiget. Ita igitur loquitur Timaeus interprete usus Platone genitorem et effectorem illum inter ignem et terram interposuisse aquam et aërem aequali et eadem, quoad fieri potuit, ratione, ut quemadmodum se habeat A ignis ad B aërem, ita B aër ad C aquam. Et haec prima erit proportio, secunda autem ista: Quemadmodum B aër ad C aquam se habet, ita C aqua ad D terram, ut dupletur proportio elementorum in aëre et aqua bis repetitis terminis, A vero et D omnino inter se disiunctis. An autem ita simpliciter et crassa, ut dicitur, Minerva Plato de his quoque senserit, id scilicet Deus, ut aiunt, noverit. (2) Lucani quidem sequentes in hoc Ocellum [S. 34] Timaei filium elementorum progressum per duplices in singulis facultates complicarunt sic, ut attribue‐ rent igni calorem et siccitatem, aëri calorem et humorem, aquae frigidum et humidum, terrae frigidum et siccitatem. Hi igitur conantes mutuam inter se coniunctionem elementorum conficere hoc modo in contrariis facultatibus societatem quandam excogitarunt, non sine errore quidem secundum Procli sententiam, quod eo, quo in ordinem redigere ista studuerunt, non minorem confusionem introduxerint ita copulantes elementa, ut aeque inter se cum coniuncta tum pugnantia illa sint. Quae autem aequaliter et sibi adversantur et pacem servant, eorum etiam aeque pollens est dissolutio et constitutio. Nihil igitur prohibet, quin universitas rerum pariter dissolvatur et permaneat. Quod ipsum a sententia Platonis fortasse non abhorrere videbitur, cum ille clare demonstret stabilitatem et firmitatem composita non accepisse a sese, sed ex 7.1 Zur Schöpfung der Welt aus den vier Elementen 301 794 vinculum-δεσμόν] Im Druck nachträglich am Rand hinzugefügt. illius, quae illa composuit arbitrio, eo loco ista exponens, ubi auctor et creator ad deos deorum ab ipso appellatos inquit: Quae per me facta sunt me ita volente indissoluta erunt. Omne etenim, quod colligatum et connexum est, solvi rursum potest. At mali est cupere dissolvere id, quod recte compositum est et bene se habet. Ideo vos, qui generati estis immortales, non estis neque prorsus indissolubiles. Nunquam tamen dissolvemini nec mortis fatum ullo tempore experiemini, cum mea voluntas maius vinculum vobis sit et praestantius quam ea, quibus tum, cum nascebamini, vincti fuistis. Sic igitur nec Timaeus a Lucanis [S.-35] dissentire sentire reperitur. (3) Ipse autem Proclus eiusmodi duo esse media vult, ut per ea inter se continua ratione elementa convenire possent et copulari, ita quidem, ut conveniens augeatur et deficiat contrarium; et distrahendo atque coniungendo facultates, quas laterum regionem occupare vult, hoc modo exposuit: Placet illi animo concipi oportere tres secundum quodlibet elementum facultates, ut copulatio et coagmentatio fiat per duas, disiunctio vero et separatio per unam. Ignis est partium subtilium, acutus atque penetrans, et facillimi motus. Terra vero, quae huius in omnibus contrarium obtinet, est densarum partium, obtusa et iners, atque difficilis motus. Aqua in aliis ut terra se habet, pro difficili autem motu facilem sortita est. Aër item ad ignis naturam accedit in duobus, et, quod tenuium est partium, et facile mouetur. Mutatur vero acutum eius in obtusum. Sic itaque procedit intentio quaedam seu harmonia ab igne secundum duo semper similia et uno contrario usque ad terram, et hoc duorum mediorum pulcherrimum et maximum vinculum (graece δεσμόν) 794 uniens mundi concinnam proportionem esse Proclus tradit. Erunt autem nostrae cogitationes simplices illae quidem et rudes, non omnino tamen, ut existimo, ineruditae aut dissentaneae. Penes eos vero, qui ista legent, iudicium de his esto. 302 7 Die Decuriae XXI συμμικτ ῶν προβλημάτων (= Camerarius 1594) 795 Zur Interpretation des folgenden Textes vgl. Kapitel C.2.2.1. 796 Vgl. Platon Timaeus 7 (= 31b-32b). 797 Das All wurde aus Feuer geschaffen, damit es sichtbar war, und aus Erde, damit es Festigkeit hatte. 798 Mit dem Band meint Camerarius die Analogie, vgl. Kapitel C.2. 799 Gemeint ist, dass die Längen aller drei Linien in einem gleichen oder vergleichbaren Verhältnis angeordnet sind, d. h. nach dem Prinzip der geometrischen, arithmetischen oder harmonischen Analogie. 800 Zum Problem, wie Linien als Mitten geometrischer Körper aufzufassen sind, vgl. Kapitel C.2.1. 801 Camerarius scheint wohl, wie Ficino, zu glauben, dass De mundo (das wir heutzutage für eine Epitome des platonischen Timaios halten) das Werk des vorplatonischen Timaeus war und Platon als Quelle für seinen Timaeus diente (vgl. Allen 1998, 43). Die folgende Übersetzung geht vom lateinischen Text und dessen Seiten‐ zählung aus, berücksichtigt an relevanten Stellen aber auch den griechi‐ schen Text  795 2. (1) Wie muss man die Aussage Platons 796 verstehen, dass Gott am Anfang den Weltkörper aus Feuer und Erde geschaffen habe, und weil dieser Körper fest sein musste, habe er zwei Mitten (media) benötigt? Mir zumindest scheint beinahe immer der einfachste Gedanke, der zudem nicht vieler Erklärungen über das Für und Wider bedarf, auch der Richtige zu sein. Da der Weltkörper [S. 33] berühr- und wahrnehmbar sein musste, hat ihn der Schöpfer und ‚Baumeister‘ [sc. der Demiurg] aller Dinge aus Feuer und Erde geschaffen. 797 Da aber diese beiden Stoffe in Bezug auf ihre Natur und Kraft (facultas / δύναμις) vollkommen gegensätzlich sind, war natürlich irgendein Band nötig, damit sozusagen ein einziges Gebilde daraus wurde. 798 Wie aber können beliebige unterschiedliche Stoffe zu einer Einheit zusammengehen und zusammenwachsen, ohne dass es eine gewisse Mitte (medium) gibt, die sie zusammenfügt und aneinanderklebt, zumal wenn die beiden Stoffe vollkommen verschieden sind? Zum Beispiel muss eine Linie A entweder gänzlich unvereinbar sein mit einer Linie C oder die beiden können passgenau über eine mittlere Linie B, die in passendem Verhältnis [zu A und B steht], miteinander verbunden werden. Dass zur Verbindung flacher Körper eine Mitte (medium) ausreicht, kann man daraus ersehen, dass ein ‚Geometer‘ das Band einer einzigen Linie findet, die sich gleichsam als mittlere Linie in einem passenden Verhältnis [zu den beiden anderen] befindet. 799 Wer aber die Größe fester Körper misst, der muss sich darum bemühen, zwei Mitten zu finden, da er ja zweier mittlerer Linien dafür benötigt, dass die festen Körper in einem passenden Verhältnis stehen. 800 So sagt also Timaeus, wobei er Platon als Sprachrohr benutzt, 801 dass der Demiurg in die Mitte zwischen Feuer und 7.1 Zur Schöpfung der Welt aus den vier Elementen 303 802 Vgl. Platon Timaeus 7 (= 32b). 803 D. h.. es gibt eigentlich zwei Analogien: Feuer - Luft - Wasser und Luft - Wasser - Erde. Die mittleren Elemtente (Luft und Wasser) kommen also zweimal vor, die äußeren (Feuer und Erde) nur einmal. Sie sind über die inneren Elemente miteinander verbunden. 804 Vgl. Okellos 2, 4-22 (= 22-36), wobei Abschnitt 24-29 wörtliche Übereinstimmungen aufweist mit Aristoteles, De generatione et corruptione 329a 32-b 2; b 16-20; 330b 25-34; b 3-5. Der Inhalt des Okellos zugeschriebenen Werks Περὶ τῆς τῶν πάντων φύσεως wird allerdings auch zusammengefasst in Proklos In Timaeum 2, 38, 1-39, 19. 805 Vgl. Proklos In Timaeum 2, 38, 1-39, 19. Aristoteles bzw. Okellos glaubten, dass die unterschiedlichen Elemente Feuer - Luft - Wasser - Erde keinen Grund hätten, eine Bindung einzugehen, wenn sie keine gemeinsamen Eigenschaften aufwiesen. Deswegen wies man jedem Element zwei Eigenschaften zu (eine ausführliche Erklärung findet sich in Kapitel C.2.2.1 dieser Arbeit). Erde Wasser und Luft gestellt habe, im gleichen und selben Verhältnis, soweit es möglich war. 802 Wie sich also das Feuer (A) zur Luft (B) verhält, so verhält sich die Luft (B) zu dem Wasser (C) und das ist die erste Analogie (proportio). Die zweite ist die folgende: So wie sich die Luft (B) zu dem Wasser (C) verhält, so verhält sich das Wasser (C) zur Erde (D), so dass die Analogie (also die Gleichheit der Verhältnisse) der Elemente verdoppelt wird, wobei sich bei der Luft und dem Wasser zweimal die Terme [i.e. das mathematische Verhältnis dieser beiden Stoffe] wiederholen 803 und A und D gänzlich voneinander getrennt sind. Ob Plato auch so schlicht und pragmatisch über diese Dinge dachte, das weiß natürlich nur Gott, wie man sagt. (2) Die Lukaner [wohl Pythagoreer] folgen in dieser Hinsicht Okellos, 804 [S.-34] dem Sohn des Timaeus, und haben das Fortschreiten der Elemente [i.e. von einem zum anderen] durch doppelte Kräfte in den einzelnen Elementen ver‐ bunden, indem sie dem Feuer [die Eigenschaften] Wärme und Trockenheit zuschrieben, der Luft Wärme und Feuchtigkeit, dem Wasser Kälte und Feuch‐ tigkeit und der Erde Kälte und Trockenheit. Weil sie versuchten, die Elemente miteinander zu verbinden, haben sie sich eine gewisse Gemeinschaft für die gegenteiligen Kräfte ausgedacht - freilich nicht ohne dabei einen Fehler zu machen, wie Proklos meint: 805 Gerade durch ihr Bemühen, diese Elemente in eine Ordnung zu bringen, haben sie die Sache nur wirrer gemacht, weil sie die Elemente so miteinander verknüpften, dass sie ebenso stark miteinander verbunden sind, wie sie einander widerstreben. Dinge aber, die einander ebenso stark widerstreben, wie sie Frieden bewahren, deren Drang, [die Einheit] aufzulösen, ist ebenso stark wie ihr Drang, zusammenzustehen. Also könnten sich alle Dinge ebensogut aufzulösen wie fortdauern. Genau dies scheint nun der Ansicht Platons vielleicht nicht zu widersprechen, da er deutlich zeigt, dass 304 7 Die Decuriae XXI συμμικτ ῶν προβλημάτων (= Camerarius 1594) 806 Platon, Timaeus 41a7-b6: „Θεοὶ θεῶν, ὧν ἐγὼ δημιουργὸς πατήρ τε ἔργων, δι‘ ἐμοῦ γενόμενα ἄλυτα ἐμοῦ γε μὴ ἐθέλοντος. τὸ μὲν οὖν δὴ δεθὲν πᾶν λυτόν, τό γε μὴν καλῶς ἁρμοσθὲν καὶ ἔχον εὖ λύειν ἐθέλειν κακοῦ· δι‘ ἃ καὶ ἐπείπερ γεγένησθε, ἀθάνατοι μὲν οὐκ ἐστὲ οὐδ’ ἄλυτοι τὸ πάμπαν, οὔτι μὲν δὴ λυθήσεσθέ γε οὐδὲ τεύξεσθε θανάτου μοίρας, τῆς ἐμῆς βουλήσεως μείζονος ἔτι δεσμοῦ καὶ κυριωτέρου λαχόντες ἐκείνων οἷς ὅτ‘ ἐγίγνεσθε συνεδεῖσθε.“ 807 Vgl. Proklos In Timaeum 2, 39, 19-41, 14. 808 Proklos nahm an, dass jedes Element drei Eigenschaften hat, und dass ähnliche Elemente zwei gemeinsame Eigenschaften aufweisen, so dass sie stärker aneinander‐ gebunden sind als die anderen. Ausführlicher dazu in Kapitel C.2.2.1. zusammengefügte Dinge Konsistenz und Stabilität nicht aus sich selbst heraus erhalten, sondern vom Willen dessen, der sie zusammengefügt hat. Platon legt dies an jener Stelle dar, wo der Baumeister und Schöpfer zu denjenigen das Folgende sagt, die er als Götter der Götter angesprochen hat: „Was von mir geschaffen wurde, wird nach meinem Willen unauflöslich sein. Denn alles, was zusammengebunden und verbunden ist, kann wieder aufgelöst werden. Aber es ist verwerflich, etwas auflösen zu wollen, was richtig zusammengefügt wurde und sich gut verhält. Deswegen seid ihr, die ihr erzeugt wurdet, nicht unsterblich und auch nicht unauflöslich; dennoch werdet ihr niemals aufgelöst, noch jemals das Schicksal des Todes erleiden müssen, da mein Wille für euch ein größeres und besseres Band sein wird, als die Bänder mit denen ihr zusammengebunden wurdet, als ihr geboren wurdet.“  806 Es stellt sich also heraus, dass Timaios den Lukanern [S. 35] nicht widersprach. (3) Proklos 807 hingegen spricht sich für zwei Mitten (media) aus, die von solcher Art sind, dass durch sie die Elemente miteinander in einem fortlaufenden [gleichen] Verhältnis vereinigt und verbunden werden, freilich aber in der Art, dass das Gemeinsame gestärkt und das Trennende geschwächt wird; er erklärt es auf die folgende Art und Weise, wobei er die Kräfte (facultates) [zugleich] miteinander verbindet und voneinander trennt, die nach seinem Willen die [beiden] Seiten [= Außenglieder in der Analogie] einnehmen. Er beschloss, dass man sich drei Kräfte für jedes beliebige Element vorstellen muss, damit sie durch zwei [gemeinsame] Kräfte aneinandergebunden und aneinandergereiht werden, durch eine Kraft aber voneinander geschieden und getrennt werden. 808 Feuer gehört zu den leichten Teilchen, ist scharf und durchdringend sowie gut beweglich. Erde aber, die dem Feuer in allen Eigenschaften entgegengesetzt ist, gehört zu den dichten Teilchen, ist stumpf und wirkungslos sowie unbeweglich. Das Wasser verhält sich in den anderen Dingen wie die Erde, nur dass es anstatt der Unbeweglichkeit eine gute Beweglichkeit bekommen hat. Die Luft entspricht auch in zwei Kräften dem Feuer, denn sie gehört zu den leichten 7.1 Zur Schöpfung der Welt aus den vier Elementen 305 Teilchen und lässt sich leicht bewegen. Das Scharfe des Feuers wird durch das Stumpfe ersetzt. So schreitet also eine gewisse Spannung (intentio) oder eine gewisse Harmonie (harmonia) aufgrund der zwei Ähnlichkeiten und trotz des einen Gegensatzes [vom Feuer] bis zur Erde voran. Und dieses schönste und größte einigende Band zwischen zwei Mitten, ist, wie Proklos lehrt, die verbindende Analogie der Welt. Meine Gedanken, mögen sie freilich einfach und unausgegoren sein, werden, wie ich glaube, dennoch nicht gänzlich ungebildet und unpassend sein. Der Leser aber soll selbst darüber urteilen. 306 7 Die Decuriae XXI συμμικτ ῶν προβλημάτων (= Camerarius 1594) 7.2 Auszug aus den Decuriae XXI συμμικτῶν προβλημάτων über die pythagoreischen Harmonien (= Camerarius 1594, 42-51) Θ. (1) Πῶς ἔχει ὁ περὶ τῶν ἁρμονίων τοῖς Πυθαγορικοῖς λόγος καὶ τίνες εἰσιν αἱ κυρίως κληθεῖσαι μεσότητες; Ὅτι μὲν οἱ Πυθαγορικοὶ πρὸς τὰς συμφωνίας τὰ ἐπίτριτα, τὰ ἡμιόλια, τὰ διπλάσια, τὰ τριπλάσια, τὰ τετραπλάσια, τὸ ἐπόγδοον, τοῦτο οὐδενὶ σχεδὸν ἀγνώστον ἐστί. [S. 43] Γίνεται δὲ τῶν ἐπιτρίτων ἡ διὰ τεσσάρων καλουμένη συμφονία, τῶν δὲ ἡμιολίων ἡ διὰ πέντε, τῶν δὲ διαπλασίων ἡ διὰ πασῶν, τῶν δὲ τριπλασίων ἡ διὰ πασῶν καὶ διὰ πέντε μίκτη, τῶν δὲ τετραπλασίων ἡ δὶς διὰ πασῶν μίκτη καὶ αὐτή, τὸ δ’ ἐπόγδοον τονιαῖον ἐστίν. (2) Ὅτι δὲ μόνοι ἐκ πάντων ἐναρμόνιοι ἀριθμοὶ εὑρεθησαν οὗτοι, ἐπειράσαντο δεικνῦναι ἐκθέσει διαγράμματος τοιουδί τινος. Ἔστω παραλληλόγραμμον ὀρθογώνιον αβγδ ἔχον τὴν μὲν αβ τῶν πλευρῶν ἑπτά, τὴν δὲ αγ πέντε. Καὶ τμηθείσης τῆς μὲν ἐλάττονος εἰς δύο καὶ τρία κατὰ τὸ κ, τῆς δὲ μείζονος εἰς τρία καὶ τέσσαρα κατὰ τὸ λ. Διήχθησαν ἀπὸ τῶν τομῶν εὐθεῖαι τέμνουσαι ἀλληλας κατὰ τὸ κμν, καὶ κατὰ τὸ λμξ. Ἔσται τοίνυν τὸ μὲν αλμη ἕξ, τὸ δὲ κμξγ ἐννέα, τὸ δὲ λμνβ οκτώ, τὸ δὲ μξδν δώδεκα. (3) Τὸ μὲν οὖν διάγραμμα τοιοῦτο, τοῦ ὅλου παραλληλογράμμου τριάκοντα καὶ πέντε καὶ ἐν τοῖς τῶν χωρίων ἀριθμοῖς τοὺς τῶν συμφωνιῶν πρώτους λόγους περιέχοντος kαὶ ἐν ἀυτοῖς ἡ προσαγορευομένη μεσότης ἁρμονικὴ τῆς μουσικῆς λόγους συνείληφε, ὅθεν καὶ εἰκότως εὕρηκε τοὔνομα. [S. 44] Ὑπεναντία δέ ἐστι τῇ ἀριθμετικῇ καλουμένῃ, ἐν γὰρ ταύτῃ συμβέβηκε τὸ ἴσον ὑπερέχεσθαι καὶ ὑπερέχειν τῷ αὐτῷ μέρει, οἷον ϛ θ ιβ. Τοῦ γὰρ θ τρίτον μέρος τὰ γ. Ἐν δὲ τῇ ὑπεναντίᾳ ἐκείνῃ τῷ τῷ μέρει τῶν ἀκρῶν τοῦ μὲν ἀποδεῖν, τὸ δὲ ὑπερβάλλειν, 7.2 Zu den pythagoreischen Harmonien 307 οἷον ϛ η ιβ. Τὰ γὰρ η τῶν μὲν ϛ δύσι ὑπερέχει, τέτταρτι δὲ τῶν ιβ λείπεται, ὧν τὰ μὲν β τῶν ϛ, τὰ δὲ δ τῶν ιβ τριτημόριον. (4) Δεῖ δὲ καὶ τὰ τῶν συμφωνίων ἄκρα λόγον ἔχειν πρὸς αὑτὰ καὶ τὰ μεταξὺ οὺκ ἀλόγως ἐμβληθῆναι. Εἴη δ’ οὖν, ὥσπερ καὶ τὸ ὄνομα δείκνυσι τῆς συμφωνίας ἐναρμόνιον, τὸ τὰ ἐν μέσῳ ἐμπεριειλημμένα ἔχειν τὸν αὐτὸν λόγον τοῖς ἄκροις. Οὕτω τοίνυν καὶ ἡ ἁρμονικὴ ἀναλογία ἐκλήθη κυρίως μὲν μεσότης οὖσα, ὥσπερ καὶ ἡ ἀριθμετικὴ λεγομένη, δανειζομένη δὲ τοὔνομα ἀμφοτέρα τῆς ἀναλογίας παρὰ τὸ οἰκεῖον αὐτὸ λαχούσης γεωμετρικῆς, ὅπου ἡ τῶν λόγων πρόοδος τὴν ἀναλογίαν προφανῆ ἀποτελεῖν πέφυκεν. (5) Ὅτι μὲν δὴ μόναι αἱ τρεῖς μεσότητες αὐταὶ Πυθαγορικαί τε καὶ Πλατωνικαί εἰσι, τῶν οὐκ ἀδήλων ἐστίν. Οἱ δὲ νεώτεροι μέχρι δέκα που ἐπειργάσαντο ἐκείνας, ἀλλ’ ἡμῖν περὶ τῶν τριῶν μόνον λέγειν νυνὶ πρόκειται. Ζητεῖται δὲ περὶ τούτων τρία σχεδὸν τὰδε· α ἡ γένεσις, β ἡ φύσις, καὶ τὸ τρίτον ἡ χρῆσις. (6) Καὶ περὶ μὲν τῆς γενέσεως παραδέδοται τάδε τινά. Ὅτι κοινῆς οὔσης ἁπάσαις τῆς μονάδος, ἐπειδὴ ἐν ἀνίσοις θεωροῦνται τούτων τῶν μεσοτήτων οἱ λόγοι, δεῖται ἄρα ἡ γένεσις αὐτῶν αὐξήσεως. Τὸ γὰρ μοναδικὸν ἀμείωτον. Ἐκκειμένων τοίνυν μονάδων τριῶν ά ά ά, ἢν τις λάβη ἀριθμοὺς τρεῖς ἑτέρους οὕτως, ὥστε τὸν πρῶτον μὲν εἶναι τῷ πρότῳ μοναδικῷ ἴσον, τὸν δὲ δεύτερον τῷ πρώτῳ καὶ δευτέρῳ, τὸν δὲ τρίτον τῷ τε πρώτῳ καὶ δευτέρῳ καὶ τρίτῳ, ἕξει τὴν ἀριθμητικὴν ἤδη μεσότητα, οἷον ἐν τοῖς α β γ. Καὶ κατὰ τὸν αὐτὸν λόγον τῆς διαστάσεως ἤγουν παραλλαγῆς ἴσης διαμενούσης προχωρεῖν τοῖς ἀριθμοῖς δυνηθήσεται ἢ καὶ ἑτέρους ὡσαύτως ἐκτιθέναι, οἷον β δ ϛ ἢ γ ϛ θ. [S. 45] Τὴν δὲ κυρίως προσαγορευομένην ἀναλογίαν γεωμετρικὴν εἰς μεσότητα καθίστασθαι γεννωμένην τὸ πρῶτον ὀψόμεθα οὕτως. Ἔστωσαν μοναδικοὶ τρεῖς, ὥσπερ πρότερον, καὶ ληφθήτωσαν ἀριθμοὶ ἄνισοι τοσαῦτοι, πρῶτος μὲν ἴσος πρώτῳ, δεύτερος δὲ τῷ δευτέρῳ δὶς, τρίτος δὲ τῷ τε πρώτῳ καὶ δευτέρῳ δὶς, καὶ τρίτῳ ἅπαξ· Συμβήσεται γὰρ οὕτως τὸν μέσον ἀριθμὸν γενέσθαι ἀνάλογον τοῖς δύσιν ἄκροις, οἷον α β δ. Γεννᾶται δὲ ἡ τῆς πρώτης τῶν ἀνίσων ἰσότης κατ‘ ἀναλογίαν οὕτως ἀεὶ, ἥτις πρόεισιν ἐν λόγῳ διπλάσιονι. Συσταθήσονται δὲ ὡσαύτως καὶ ἑτέρων λόγων αἱ μεσότητες ἀνάλογον ἐκκειμένων τῶν ἀριθμῶν συνεχῶς· ἔστι δὲ τῆς ἀναλογίας ἴδιον τὸν αὐτὸν λόγον ἐν μεἰζοσι καὶ ἐλάττοσιν ὅροις διαφυλάττειν. Ἡ δὲ ἁρμονικὴ γεννᾶται λαμβανομένου ἀριθμοῦ ἴσου τοῦ μὲν πρώτου τῇ πρώτῃ μονάδι καὶ τῇ δευτέρᾳ δίς, τοῦ δὲ δευτέρου τῇ πρώτῃ δίς καὶ τῇ δευτέρᾳ δίς, τοῦ δὲ τρίτου ἅπαξ μὲν τῇ πρώτῃ, δίς δὲ τῇ δευτέρᾳ, καὶ τῇ τρίτῃ τρίς. Καὶ οὕτως ἕξομεν ἀριθμοὺς τούτους γ δ ϛ. Καὶ ἡ γένεσις μὲν αὕτη τῶν μεσοτήτων ἡ πρωτοφυὴς ἀπὸ μόναδος ἤγουν ἰσότητος καὶ ταὐτότητος κατὰ τὸ Πρόκλον. 308 7 Die Decuriae XXI συμμικτ ῶν προβλημάτων (= Camerarius 1594) 809 ἀριθμῶν-μέρος] Nachdruck aus Camerarius 1554, Bl. A7v (= Kapitel E.5.3, V. 50-54). 810 Εἰ-μέσον] Nachdruck aus Camerarius 1554, Bl. A7v (= Kapitel E.5.3, V. 55-57). 811 καθάπερ πρῶτον] καθάπερ προτοῦ im Druck; verbessert anhand der Vorlage (Camerarius 1554, Bl. A7v (= Kapitel E.5.3, V. 59)). 812 Τὰδ’-μέσον] Nachdruck aus Camerarius 1554, Bl. A7v (= Kapitel E.5.3, V. 58-64). 813 Ὑπερέχει δὲ θ τὰ γ τρίσιν] Ὑπερέχει δὲ ϛ τὰ ϛ τρίσιν im Druck (vgl. die Anmerkungen zur Übersetzung dieser Stelle). (7) Τῆς εὑρέσεως δὲ μέθοδον καθολικὴν ἐμμέτρως ποτε ἡμεῖς ἐξεθήκαμεν ὧδε· ἀριθμῶν δέ σοι δυοῖν τεθέντοιν, ὡς τύχοι, ἀριθμητικῶς μεσότητα λήψεσθ’ ὡδέπως· κείνους δοθέντας τοὺς ἀριθμοὺς συντιθείς ἔπειτα πλῆθος τέμνε τὸ ξυγκείμενον καὶ θάτερον ποιοῦ μέσον τούτοιν μέρος. 809 α. γ. γίνεται συντεθέντα δ, ὧν τὸ ἥμισυ β. Μέσον ἄρα τῶν α γ τὰ β ἀριθμητικῶς. Εἰ δ’ αὖ γεωμετρεῖν προήρης ἐνθαδί, πολλαπλασιάσας τἆκρα τετραγωνικὴν πλευρὰν παραβαλοῦ καὶ τόδ’ αὖ ἔσται μέσον. 810 α. δ. πολλαπλασιαθέντα γίνεται δ. τούτων ἡ τετραγονικὴ [S. 46] πλευρὰ β. Τῶν α. δ. τοίνυν μέσον τὰ β γεωμετρικῶς. τὰδ’ ἅρμονικὰ σκευάζετ‘ ἐργωδέστερον συν γὰρ τίθεσθαι τἆκρα δεῖ καθάπερ πρῶτον, 811 ἔπειτα δ’ ὑπεροχὴν ὅταν τούτων λάβης καὶ πολλαπλασιάσης ἐλάττονος μέτα, τὰδε μέρισον παραβαλλόμενος αὐτὴν πάρα τὴν ξύνθεσίν γ’ ἤν ἔλαβες. Εἶτα τοὐξίον πρὸς τὸν γ’ ὅρον τὸν μείονα θὲς, ἵν‘ ἦ μέσον. 812 Γ ζ συντεθέντα γίνεται θ. Ὑπερέχει δὲ θ τὰ γ τρίσιν, 813 καὶ τρὶς γ‘ ὁμοίως ἐστὶν θ, ἡ παραβολὴ α. Ἐννέα γὰρ ἐν τοῖς ἐννέα ἅπαξ. Συντεθέντα δὲ α καὶ γ γίνεται δ. καί ἐστι τὰ δ μέσον τῶν γ καὶ ϛ ἁρμονικῶς. (8) Φύσεως δὲ ταῖν μεσοτήσιν ταῖνδε ἑκάστη, παρὰ τὰ ἄλλοθι εἰρημένα, ἔχει καὶ οὕτως, ὥστε τὴν μὲν ἀριθμητικὴν εἶναι ἰσότητα διὰ πάντα. Ἐξ ἴσου γὰρ ὁ πρῶτος ὅρος ἀφέστηκε τοὺ δευτέρου καὶ ὁ δεύτερος τοὺ τρίτου. Ἡ δὲ γεωμετρικὴ ταὐτότης ἔστι μᾶλλον. Ἐν ταύτῃ γὰρ συνεχοῦς προβαινούσης τῆς ἀναλογίας, τὸν αὐτὸν ἐφεξῆς λόγον διαμεῖναι ἀναγκὴ. Ἡ δὲ ἁρμονικὴ τὰ ἄκρα τῶν ὅρων ἐν ὁμοίῳ λόγῳ παρέχεται τοῖς διαστήμασι ὑπεροχῶν. Διὸ καὶ ὁμοιότης κυρίως λέγοιτ’ ἄν. 7.2 Zu den pythagoreischen Harmonien 309 (9) Ἡ δὲ χρῆσις τούτων πρὸς τε τὰς φυσικὰς καὶ λογικὰς καὶ ἠθικὰς διδασκαλίας εὐθετος, ὡς ἐκ τε ἄλλων καὶ οὐχ ἥκιστα τῶν Ἀριστοτέλους καὶ Πλάτωνος φανερόν. 310 7 Die Decuriae XXI συμμικτ ῶν προβλημάτων (= Camerarius 1594) 814 AD] AC im Druck. IX. (1) Qualis est disputatio Pythagoricorum de harmoniis seu concinnitatibus, et quae sunt a Graecis proprie nominata media? Quod autem Pythagorici ad concentus musicos assumpserint numeros tertia parte maiores, sesquiduplas, triplas, quadruplas, et octava parte maiores, nemini prope est ignotum. Efficitur vero concentus, qui [S. 47] dicitur Diatessaron, per numerum tertia parte maiorem, per sesqui diapente, per duplum, qui diapason, per triplum, qui ex diapason et diapente mixtus oritur, per quadruplum, qui disdiapason et ipse mixtus, octava autem parte maior facit tonum, id est vocis intentionen. (2) Quodque hi tantum numeri apti ad concinnitatem inter alios omnes reperti sint, designatione quoque Geometrica ostendere studuerunt. Sit enim figura cum aequalibus lineis et angulis rectis ABCD, cuius latus AB contineat septem, latus vero AD 814 quinque. Et secetur minus in duo et tria in puncto K, maius autem in tria et quatuor in L; et ducantur a sectionibus rectae lineae secantes se invicem in KMN et LMO. Erit igitur ALMK sex et KMOD novem, LMNB vero octo et MOCN duodecim. (3) Haec igitur designatio geometrica est, in qua tota aequabilium linearum figura est triginta et quinque comprehendens in spatiorum numeris primas concentuum rationes atque in his medium, quod vocatur harmonicum, rationes musicae harmonicas seu concinnas complectitur, unde etiam iure accepit appel‐ lationem. Est autem hoc medium arithmetico contrarium, nam in hoc fit, ut aequale superetur et superet eadem parte, ut 6 : 9 : 12. Tertia enim pars de novem sunt 3. Contrarium vero illi solet eadem parte extremorum altero quidem deficere, alter vero exsuperare, ut 6 : 8 : 12. Octo enim sex duobus superant et quatuor ad duodecim deficiunt. Quorum duo in sex, quatuor in 12 pars erit tertia totius. (4) [S. 48] Oportet autem etiam in concentibus extrema rationem habere ad se nec media inter haec absque hac interseri. Obtinebunt itaque, quod et nomen symphoniae seu concentus consentaneum declarat, ea, quae in media conclusa sunt, simul cum extremis eandem rationem. Ita ergo harmonica proportio ap‐ pellata est, cum proprie medium sit, quemadmodum ea quoque, quae arithmetica vocatur, cum ambae nomen proportionis mutuatae sint a geometrica, cui hoc peculiare obtigit, quia in ea progressus rationum proportionem evidentem reddere solet. 7.2 Zu den pythagoreischen Harmonien 311 815 secundus-tertio semel] secundus vero secundo bis ac tertio semel im Druck: der lateinische Text war an dieser Stelle offensichtlich fehlerhaft und wurde anhand der griechischen Vorlage korrigiert. (5) Quare tantum haec tria esse media et Pythagorica et Platonica non est obscurum. Recentiores vero ea usque ad decem sua elaboratione deduxerunt. Verum nobis de his tribus tantum verba facere propositum est. Solent autem haec tria ferme de illis quaeri: Primum quae sit origo, secundum quae natura, et tertium quis usus. (6) De origine eorum talia quaedam tradita reperiuntur: Quoniam his omnibus communis est unitas, cum in imparibus horum mediorum rationes considerentur, requiritur videlicet ad originem eorum incrementum. Nam uni et singulari quicquam decedere nequit. Positis itaque unitatibus tribus 1 : 1 : 1, si quis accipiat alios tres numeros eo modo, ut primus sit primo unitatem continenti aequalis, secundus primo et secundo, tertius primo, secundo ac tertio, habebit iam medium arithmericum, ut in his 1 : 2 : 3, et eadem plane ratione intervallo, id est discrepantia, permanente aequali progredi in numeris poterit atque alios similiter [S.-49] quoque exponere, ut 2 : 4 : 6 aut 3 : 6 : 9. Geometrice autem, quae propria appellatione est proportio, ita primum conspiciemus originem medii constitui: Sint unitates tres, sicuti in superioribus, sumanturque numeri inaequales totidem, primus quidem aequalis primo, secundus vero secundo bis, tertius primo semel, secundo bis ac tertio semel. 815 Ita accidet, ut medius numerus duobus extremis certa proportione respondeat, ut 1 : 2 : 4, et si progressio fiat ratione dupla, semper hoc modo primae originis inaequalium existet aequalitas. Componentur autem similiter et aliarum rationum media expositis numeris consentanea proportione et continuata. Est autem proportionis propria natura, ut servet eandem rationem in maioribus et minoribus numeris. Harmonicum autem medium nascitur sumpto numero primo aequali primae unitati et secundae bis, secundo sumpto aequali primae bis et secundae quoque bis, tertio semel primae bisque secundae et tertiae ter, et ita habebimus hos numeros 3 : 4 : 6. Atque haec est prima natura et origo mediorum ab unitate sive ab aequali et eodem proficiscens secundum Proclum. (7) Inveniendi autem viam ac ordinem nos aliquando versibus ita complexi sumus: Numeris duobus fortuito tibi datis medium Arithmeticum fac accipias ita: Numeros datos illos ubi coniunxeris summam hanc deinde sic coactam scindito et alteram pone medium partem illius. 312 7 Die Decuriae XXI συμμικτ ῶν προβλημάτων (= Camerarius 1594) 816 Excedit-tribus] Excedit autem novem sex in tribus im Druck; zur Verbesserung vgl. die Übersetzung sowie die zugehörigen Anmerkungen. 1, 3, si addantur, fiunt quatuor. Quorum dimidia pars est 2. Medium igitur 1, 3, est 2 arithmetice. [S.-50] Quod si Geometram agere volueris modo, de multiplicibus extimis numeris latus excerpe quadratum hocque medium ponito. 1, 4, si multiplicata fuerint, erunt 4. Quorum latus quadratum 2. 1 et 4 igitur medium est 2 geometrice. Harmonica confiunt laboriosius, extrema componi ut prius quoniam solent, quo maius altero alterum est, posthac capi. Quod cum minore quando multiplicaveris, per id, quod ante composueras, divide. Quodque exierit, hoc ad minorem terminum adde, medium progressione hac ut habeas. 3, 6, si addantur, fiunt novem. Excedit autem sex tria in tribus, 816 et ter tria similiter sunt novem. Divisio seu collatio 1, nam 9 in 9 semel insunt. Unum autem et tria si addantur, fiunt 4. Et ita reperta sunt 4 medium inter 3 et 6 harmonice. (8) Natura autem horum singulorum mediorum praeter ea, quae alibi de his dicta sunt, ita se habet, ut Arithmeticum omnino sit aequalitas. Aequaliter enim primus numerus recessit a secundo et secundus a tertio. Geometricum autem versatur potius in iis, quae semper eadem esse solent. In hoc enim continuo modo cum proceditur, eandem rationem in sequentibus servari necesse est. Harmonicum vero extremorum numerorum similem rationem cum intervallis excessuum perficit, quamobrem similitudo proprie dici posset. (9) Usus autem horum ad disputationes de natura, de ratione disserendi, de moribus maxime conducere et recte ad eas adhiberi potest, idque cum ex aliorum, tum [S.-51] potissimum Aristotelis et Platonis scriptis patet. 7.2 Zu den pythagoreischen Harmonien 313 817 Zur Interpretation des folgenden Textes vgl. Kapitel C.2. Die folgende Übersetzung geht vom lateinischen Text und dessen Seiten‐ zählung aus, berücksichtigt an relevanten Stellen aber auch den griechi‐ schen Text  817 9. (1) Wie verhält es sich mit dem Disput der Pythagoreer über die Harmonien oder Gleichklänge, die von den Griechen vorzugsweise Mitten genannt wurden? Jeder weiß, dass die Pythagoreer für musikalische Harmonien Zahlen annahmen, die eineindrittel, anderthalb, dreifach, vierfach und eineinachtel so groß sind [wie der zugrundeliegende Ton / die zugrundeliegende Zahl]. Eine Harmonie, die [S. 47] man Diatessaron [4 : 3; ‚Quart‘] nennt, wird durch eine Zahl bewirkt, die um ein Drittel größer ist, eine Diapente [3 : 2; ‚Quint‘] durch eine eineinhalbfache Zahl, eine Diapason [1 : 2; ‚Oktave‘] durch eine doppelt so große Zahl, eine Mischung aus Diapason und Diapente durch eine dreifach so große Zahl [1 : 3; Oktave + Quint], eine doppelte Diapason - auch dies ist eine Kombination - durch eine vierfach so große Zahl [1 : 4; zwei Oktaven]. Eine um ein Achtel größere Zahl bewirkt einen Ganzton (τονιαῖος), d. h. die Zunahme um einen Ton. (2) Dass unter allen anderen Zahlen nur diese Zahlen als geeignet für Gleich‐ klänge befunden wurden, hat man versucht, auch durch einen geometrischen Beweis zu demonstrieren. Man nehme ein Parallelogramm mit rechten Winkeln ABCD, dessen eine Seite AB eine Länge von 7 Einheiten hat, die Seite AD fünf Einheiten. Und die kleinere Seite AD wird in zwei und drei Einheiten am Punkt K geteilt, die größere Seite in drei und vier Einheiten am Punkt L; und dann sollen von den Schnittpunkten [i.e. von K und L] senkrechte Linien gezogen werden, die sich gegenseitig am [Schnittpunkt] der Strecken KMN und LMO schneiden. Der Inhalt der Fläche ALMK wird also 6 sein und der Inhalt der Fläche KMOD neun, der Inhalt der Fläche LMNB aber 8 und der Inhalt der Fläche MOCN 12. 314 7 Die Decuriae XXI συμμικτ ῶν προβλημάτων (= Camerarius 1594) 818 Die Flächeninhalte 6 : 8 : 9 : 12 bilden die ersten der o. g. Intervalle ab: Zwischen den Zahlen 8 und 6 herrscht das Verhältnis der Diatessaron [4 : 3; „Quart“], zwischen 9 und 6 das der Diapente [3 : 2; „Quint“], zwischen 12 und 6 das der Diapason [1 : 2; „Oktave“]. Der Ganzton (τονιαῖος) zeigt sich zwischen den Zahlen 8 und 9. Zugleich handelt es sich bei den Zahlen 6 : 8 : 9 : 12 um die vollkommene Proportion (Camerarius 1569, Bl. P4v (= Kapitel E.6, Abschnitt 12). In diesem Zusammenhang ist auch das Diagramma musicum aus dem Kommentar zur Introductio Arithmetica des Nikomachos von Gerasa relevant, vgl. Camerarius 1569, Bl. P3v (= Kapitel E.6, Abschnitt 11). 819 Auch die arithmetische und harmonische Mitte werden als ‚Analogien‘ bezeichnet. Strenggenommen passt der Begriff ἀναλογία bzw. proportio („gleiches Verhältnis“) von seiner Etymologie her aber nur zur geometrischen Mitte, da nur dort zwischen den Zahlen das gleiche Verhältnis herrscht. (3) Dies also ist der geometrische Beweis, bei dem das ganze Parallelogramm einen Flächeninhalt von 35 Einheiten hat und in den Zahlen[verhältnissen] seiner Flächen die ersten Verhältnisse harmonischer Übereinstimmungen ent‐ hält. 818 Und die zwischen ihnen bestehende harmonische Mitte umfasst die harmonischen oder im Einklang stehenden Verhältnisse der Musik. Daher hat sie zurecht diesen Beinamen verdient. Sie ist das Gegenteil der arithmetischen Mitte. Denn bei dieser [der arithmetischen Mitte] geschieht es, dass eine Zahl [von den Außengliedern] um denselben Teil übertroffen wird wie sie [diese] übertrifft, z. B. 6 : 9 : 12. Ein Drittel von Neun sind nämlich 3. Die dazu gegenteilige [harmonische] Mitte ist gewöhnlich um denselben Teil kleiner als eines der Außenglieder wie es größer als das andere Außenglied ist, wie 6 : 8 : 12. Acht ist nämlich um zwei größer als sechs und um vier kleiner als zwölf. Unter diesen Zahlen herrscht zwischen zwei und sechs sowie zwischen vier und zwölf jeweils ein Verhältnis von einem Drittel zum Ganzen. (4) [S. 48] Es gehört sich aber, dass bei einer Harmonie auch die Außenglieder ein Verhältnis zueinander haben und dass die Mitten nicht ohne ein Verhältnis dazwischentreten. Wie der Name der harmonischen Konsonanz oder des har‐ monischen Gleichklangs schon sagt, wird das, was in den Mitten eingeschlossen ist, zugleich dasselbe Verhältnis zu den Außengliedern haben. Daher wurde sie harmonische Analogie genannt, obwohl sie eigentlich eine Mitte ist, ebenso wie auch die sogenannte arithmetische Analogie, die beide die Bezeichnung Ana‐ logie [gleiches Verhältnis] von der geometrischen Analogie geborgt haben, die eigentlich diesen Namen erhalten hatte, weil [nur] bei ihr das Voranschreiten der Verhältnisse offensichtlich eine Analogie (proportio; = ein gleiches Verhältnis) zu ergeben pflegt. 819 (5) Es ist ganz klar, warum nur diese drei Mitten die pythagoreischen und platonischen sind. Die Jüngeren haben durch eifrige Arbeiten die Mitten aber bis 7.2 Zu den pythagoreischen Harmonien 315 820 Vgl. z. B. Nikomachos von Gerasa, Introductio arithmetica, 2, 22, 1 sowie Camerarius 1569, Bl. O6v und P4v (= Kapitel E.6, Abschnitt 2; 13). 821 Im Lateinischen Text ist nicht zwischen „Eins“, „etwas Einzigem“ bzw. „Einheit“ unterschieden. All diese Bedeutungen schwingen in diesem Absatz mit, wenn von „Einheiten“ die Rede ist, was sich durch den platonischen Hintergrund erklären lässt (vgl. die Erläuterungen im Kapitel zur Analogie, = C.2.2.1). auf zehn erweitert. 820 Ich jedoch will nur über die drei Mitten reden. Gewöhnlich werden die folgenden Fragen zu den Mitten gestellt: 1. Was ist ihr Ursprung? 2. Was ist ihre Natur? Und 3. Welchen Nutzen haben sie? (6) Es finden sich die folgenden Lehren über den Ursprung der Mitten: Da ihnen allen die Einheit gemein ist, wenn man die Verhältnisse jener Mitten bei ungleichen Zahlen bedenkt, braucht man für ihre Entstehung freilich eine Zunahme, denn etwas Einzigem und Einzigartigem kann nichts fehlen. Es seien drei Einheiten gegeben 1 : 1 : 1. 821 Wenn dann jemand drei andere Zahlen auf die folgende Art und Weise annimmt, dass die erste Zahl gleich der ersten Einheit ist, die zweite Zahl gleich der ersten und der zweiten Einheit, und die dritte Zahl gleich der ersten, zweiten und dritten Einheit, wird man die arithmetische Mitte haben, z. B. in den Zahlen 1 : 2 : 3. Und auf dieselbe Weise kann man durch gleichbleibenden Unterschied, also Abstand, bei den Zahlen voranschreiten und auf ähnliche Weise [S. 49] auch andere Zahlen[-reihen] bilden wie 2 : 4 : 6 oder 3 : 6 : 9. Wir werden sehen, dass man geometrisch die Mitte, die man eigentlich als Analogie [proportio = „Gleiches Verhältnis“] bezeichnet, auf die folgende Art und Weise bildet: Es soll drei Einsen geben, so wie bei den obigen Beispielen, und es sollen ebenso viele verschiedene Zahlen genommen werden, wobei die erste Zahl der ersten Einheit gleichwertig sein soll, die zweite Zahl zweimal der zweiten Einheit und die dritte Zahl einmal der ersten Einheit, zweimal der zweiten Einheit und einmal der dritten Einheit. Und so wird die mittlere Zahl den beiden äußeren in einer bestimmten Analogie entsprechen, wie 1 : 2 : 4, und wenn das Voranschreiten in einem doppelten Verhältnis geschieht, wird auf diese Weise zwischen ungleichen Zahlen immer die Gleichheit des ersten Ursprungs herrschen. Auf ähnliche Weise wird man auch die Mitten anderer Verhältnisse durch eine passende und kontinuierliche Analogie der gegebenen Zahlen bilden können. Es ist die eigentümliche Natur der Analogie, dass sie dasselbe Verhältnis bei größeren und kleineren Zahlen bewahrt. Die harmonische Mitte aber entsteht, wenn man die erste Zahl der ersten Einheit und zweimal der zweiten Einheit gleichsetzt, die zweite Zahl der ersten Einheit zweimal und auch der zweiten Einheit, die dritte Zahl einmal der ersten Einheit, zweimal der zweiten und dreimal der dritten; und so werden wir die folgenden Zahlen erhalten: 3 : 4 : 6. Und das ist die erste Natur und der Ursprung der Mitten 316 7 Die Decuriae XXI συμμικτ ῶν προβλημάτων (= Camerarius 1594) 822 Vgl. Proklos, In Timaeum, 2, 18, 20-2, 20, 9. 823 Der griechische Text der folgenden Verse wurde vorher bereits abgedruckt in Camera‐ rius 1554, Bl. 7v (= Kapitel E.5.2, V. 50-64). 824 Als mathematische Formel: a + c 2 = b. 825 Als mathematische Formel: a ⋅ c = b. 826 Als mathematische Formel (Annahme: a<c): a + c − a ⋅ a a + c = b. 827 „6 aber ist um 3 größer als 3“] An dieser Stelle steht eigentlich im Text: „9 ist um 3 größer als 6“. Dies widerspricht der Anleitung im Gedicht. Bei dem Beispiel, das Camerarius durchrechnet, ist das Ergebnis aber dasselbe. Dass von den beiden sich widersprechenden Möglichkeiten aber trotzdem nur die in den Versen erläuterte richtig sein kann, wird schnell deutlich, wenn man andere Zahlen einsetzt, wie 12, 15, 20. Dies sollen die folgenden Rechnungen zeigen: Vorgehensweise anhand des Gedichtes (auf die Zahlen 12, 15, 20 übertragen): a + c − a * a a + c = b 12 + 20 − 12 ⋅ 12 12 + 20 = 15 (Richtiges Ergebnis) von der Einheit oder vom Gleichen und Demselben aus voranschreitend, gemäß Proklos. 822 (7) Den Weg und die Methode, die Mitten zu finden, habe ich einmal mit Versen auf die folgende Art und Weise beschrieben: 823 Wenn dir zwei beliebige Zahlen gegeben sind, wirst du - wohlan! - die arithmetische Mitte auf die folgende Art und Weise erhalten: Wenn du die gegebenen Zahlen miteinander addierst, dann teile die so erhaltene Summe [durch 2] und nimm die eine Hälfte als Mitte.  824 Wenn man 1 und 3 miteinander addiert, erhält man 4. Die Hälfte davon ist 2. Also ist 2 die arithmetische Mitte von 1 und 3. [S. 50] Wenn du jetzt aber die Rolle eines Geometers spielen willst, dann bilde von den multiplizierten Außengliedern die Quadratwurzel und nimm sie als Mitte.  825 Wenn man 1 und 4 miteinander multipliziert, erhält man 4. Die Quadratwurzel davon ist 2. Das geometrische Mittel zwischen 1 und 4 ist also 2. Harmonische Mitten zu bilden, ist mühsamer, da man gewöhnlich, wie zuvor [bei der arithmetischen Mitte], die Außenglieder miteinander addiert und dann die Differenz der beiden Zahlen herausfindet. Wenn du das Ergebnis dann mit der kleineren Zahl multipliziert hast, teile den Quotienten durch die vorher gebildete Summe. Addiere das Ergebnis zum kleineren Term, so dass du durch diese Zunahme die Mitte erhältst.  826 Wenn man 3 und 6 zueinander addiert, erhält man 9. 6 aber ist um 3 größer als 3 827 und 3x3 sind ebenfalls 9. Dividiert oder teilt man nun [diesen Wert durch 7.2 Zu den pythagoreischen Harmonien 317 Vorgehensweise anhand des Beispiels (auf die Zahlen 12, 15, 20 übertragen): a + (a + c) − c * a a + c = b Dieser Bruch lässt sich so zusammenfassen: a + a 2 a + c = b 12 + 12 2 12 + 20 = 16, 5 (Falsches Ergebnis) 828 Vgl. die anderen im Anhang abgedruckten Texte zur Analogie: Camerarius 1533, Βl. A4r-A5r (= Kapitel E.2.1, Abschnitt 4-6), Camerarius 1554, Bl. A2r-B6r; E2v-E3v (= Kapitel E.5.1-E.5.4), Camerarius 1569, Bl. O5v-P4v (= Kapitel E.6), Camerarius 1594, 30-35 (= Kapitel E.7.1, Abschnitt). 829 Diese Unterteilung der Mitten / Analogien nach dem Grad ihrer Einheit / Gleichheit dürfte zurückgehen auf Proklos, In Timaeum 2, 20, 1-9. 830 Vgl. Platon, Timaeus 31b4-32c4 und Aristoteles, Nikomachische Ethik 5; 8; 9. Vgl. auch Kapitel C.2.2.2 dieser Arbeit. die vorher gebildete Summe] erhält man 1, denn 9 durch 9 sind 1. Addiert man 1 und 3 miteinander, erhält man 4. Auf diese Weise ergibt sich 4 harmonisch als die Mitte zwischen 3 und 6. (8) Die Natur dieser Mitten verhält sich - wenn man davon absieht, was [von mir? ] an anderer Stelle dazu gesagt wurde 828 - so, dass es sich bei der arithmetischen Mitte um völlige Gleichheit handelt [ἰσότης διὰ πάντα]. Die erste Zahl ist nämlich von der zweiten genausoweit entfernt wie die zweite von der dritten. Die geometrische Mitte aber findet sich eher bei Dingen, die immer dasselbe zu sein pflegen. Da bei dieser Mitte immer auf kontinuierliche Weise vorangeschritten wird, muss notwendigerweise immer dasselbe Verhältnis bei den aufeinander folgenden Zahlen bewahrt werden. Die harmonische Mitte aber bewirkt ein ähnliches Verhältnis der Außenglieder im Hinblick auf ihren Abstand [zur Mitte]. Daher kann man sie im eigentlichen Sinne als Ähnlichkeit bezeichnen [ὁμοιότης]. 829 (9) Diese Mitten bei Untersuchungen über die Natur, bei der Dialektik (ratio disserendi / λογικαὶ διδασκαλίαι) und bei der Ethik zu gebrauchen, ist sehr nützlich und man kann sie zurecht auf diese Gebiete übertragen, wie zwar auch aus anderen Schriften, [S. 51] vor allem aber denen des Aristoteles und Platons deutlich wird. 830 318 7 Die Decuriae XXI συμμικτ ῶν προβλημάτων (= Camerarius 1594) Literaturverzeichnis Handschriften Erlangen, UB, Ms 1227. Nürnberg, StB, Cent. V, App. 8. Frühneuzeitliche Drucke Barozzi, Francesco (1560): Procli … in primum Euclidis elementorum librum commenta‐ riorum […] libri IIII. Padua. Perchacinus. Camerarius, Joachim (1532a). Astrologica. Nürnberg: Johann Petreius [VD16 ZV 2840]. Camerarius, Joachim (1532b). Ioachimi Camerarii Norica sive de ostentis libri duo. Cum praefatione Phil(ippi) Melan(chthonis). Wittenberg: Georg Rhau [VD16 C 483]. Camerarius, Joachim (1533). 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Die Reihe ist für Klassische Philologen, Neuphilologen, Historiker sowie alle auf dem Gebiet der Frühen Neuzeit Forschenden von Bedeutung. Seit 2017 werden alle Bände einem Single Blind Peer-Review-Verfahren mit zwei Gutachtern unterzogen. Bereits erschienen: Frühere Bände finden Sie unter: https: / / www.narr.de/ literaturwissenschaftkat/ literaturwissenschaft-reihen-kat/ neolatina 19 Marie-France Guipponi-Gineste / Wolfgang Kofler / Anna Novokhatko / Gilles Polizzi (Hrsg.) Die neulateinische Dichtung in Frankreich zur Zeit der Pléiade / La Poésie néo-latine en France au temps de la Pléiade 2015, 340 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-8233-6702-4 20 Wolfgang Kofler / Anna Novokhatko (Hrsg.) Cristoforo Landinos Xandra und die Transformationen römischer Liebesdichtung im Florenz des Quattrocento 2016, 297 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-8233-6785-7 21 Stefan Tilg / Isabella Walser (Hrsg.) Der neulateinische Roman als Medium seiner Zeit/ The Neo-Latin Novel in its Time 2013, 270 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-8233-6792-5 22 Iris Heckel (Hrsg.) Floris van Schoonhoven Lalage sive Amores Pastorales - Lalage oder Bukolische Liebesgedichte (1613) 2014, 468 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-8233-6897-7 23 Thomas Baier / Jochen Schultheiß (Hrsg.) Würzburger Humanismus 2015, 305 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-8233-6898-4 24 T. Baier / T. Dänzer / F. Stürner (Hrsg.) Angelo Poliziano Dichter und Gelehrter 2015, 288 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-8233-6977-6 25 Patrick Lucky Hadley Athens in Rome, Rome in Germany Nicodemus Frischlin and the Rehabilitation of Aristophanes in the 16th Century 2015, 185 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-8233-6923-3 26 Philipp Weiß (Hrsg.) Jacob Balde Epithalamion 2015, 195 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-8233-6993-6 27 Thomas Baier (Hrsg.) Camerarius Polyhistor Wissensvermittlung im deutschen Humanismus 2017, 364 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-8233-8109-9 28 Tobias Dänzer Poetik und Polemik Angelo Polizianos Dichtung im Kontext der Gelehrtenkultur der Renaissance 2018, 295 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-8233-8163-1 29 Werner Suerbaum Vergils Epos als Drama Die Gattungstransformation der Inclyta Aeneis in der Tragicocomoedia des Johannes Lucienberger, Frankfurt 1576 2018, 514 Seiten €[D] 118,- ISBN 978-3-8233-8225-6 30 Francesco Furlan / Gabriel Siemoneit / Hartmut Wulfram (Hrsg.) Exil und Heimatferne in der Literatur des Humanismus von Petrarca bis zum Anfang des 16. Jahrhunderts L’esilio e la lontananza dalla patria nella letteratura umanistica dal Petrarca all’inizio del Cinquecento 2019, 592 Seiten €[D] 118,- ISBN 978-3-8233-8199-0 31 Wolfgang Kofler / Simon Wirthensohn / Stefan Zathammer (Hrsg.) Joseph Resch als Bühnenautor Die Brixner Schuldramen und ihr Kontext in Vorbereitung, ca. 240 Seiten €[D] ca. 88,- ISBN 978-3-8233-8230-0 32 Carla Chiummo / Wolfgang Kofler / Valerio Sanzotta (Hrsg.) Pascoli Latinus Neue Beiträge zur Edition und Interpretation der neulateinischen Dichtung von Giovanni Pascoli / Nuovi contributi all’edizione e all’interpretazione della poesia latina di Giovanni Pascoli 332 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-8233-8237-9 33 Stefan Tilg / Benjamin Harter (Hrsg.) Neulateinische Metrik Formen und Kontexte zwischen Rezeption und Innovation 2019, 350 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-8233-8266-9 34 Thomas Baier / Tobias Dänzer (Hrsg.) Plautus in der Frühen Neuzeit 2020, 372 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-8233-8323-9 35 Caroline Dänzer Der Schlüssel zur Tragödie 2020, 252 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-8233-8383-3 36 Jennifer K. Nelson (ed.) Gian Vittorio Rossi’s Eudemiae libri decem Translated with an Introduction and Notes 2021, 621 Seiten €[D] 108,- ISBN 978-3-8233-8430-4 37 Marc Laureys, Virginie Leroux, Stefan Tilg, Florian Schaffenrath (Hrsg.) Carolus Quintus Kaiser Karl V. in der neulateinischen Literatur / L’empereur Charles Quint dans la littérature néo-latine 2022, 318 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-8233-8481-6 38 Manuel Huth Humanismus und Philosophie Die medizinischen Schriften des Humanisten Joachim Camerarius (1500-1574) 2024, 332 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-8233-8597-4 Giessener Beiträge ISBN 978-3-8233-8597-4 Joachim Camerarius (1500-1574) war einer der einflussreichsten und literarisch produktivsten Gelehrten seiner Zeit. Zu seinen zahlreichen Werken gehören auch medizinische Schriften, die in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts und damit in einer Zeit entstanden sind, in der die zeitgenössische Medizin eine spannende Umbruchphase erlebte: Die wiederentdeckten griechischen Originaltexte von Galen und Hippokrates standen zum ersten Mal einem breiten Leserkreis zur Verfügung, der bis dahin vorherrschende Aristotelismus wurde um weitere philosophische Systeme ergänzt und Gelehrte wie Philipp Melanchthon versuchten, die Medizin dem neuen protestantischen Glauben anzupassen. Dieses Buch wirft einen Blick auf diese Umbruchphase und zeigt, wie Camerarius sie aktiv mitgestaltete, indem er mit seinen Werken die programmatischen und philosophischen Grundlagen dieser Disziplin vermittelte. Huth Humanismus und Philosophie Humanismus und Philosophie Die medizinischen Schriften des Humanisten Joachim Camerarius (1500-1574) von Manuel Huth