eBooks

Bilderbücher im Grundschulunterricht

2022
978-3-7720-5768-7
A. Francke Verlag 
Claudia Müller-Brauers
Kerstin Bräuning
Claudia Schomaker
10.24053/9783772057687

Bilderbücher regen Kinder auf vielfältige Weise zum Lernen an. Allerdings fehlt es bislang an einer fachübergreifenden Perspektive auf die Arbeit mit Bilderbüchern in didaktischen und unterrichtlichen Zusammenhängen. Die interdisziplinären Beiträge dieses Bandes untersuchen, welches Potential Bilderbücher für die Förderung der kindlichen Lernentwicklung haben. Durch die Verbindung didaktischer Zugänge aus Sprach- und Mathematikdidaktik, Sachunterricht und Sonderpädagogik bietet der Band konkrete praktische Anregungen zum Einsatz von Bilderbüchern im inklusiven und fächerübergreifenden Unterricht an der Grundschule. Er wendet sich an Vertreter:innen unterschiedlicher Fachdidaktiken, Studierende des Grundschullehramts und der Sonderpädagogik sowie Praktiker:innen in Kitas und Grundschulen oder in der Weiterbildung.

Bilderbücher im Grundschulunterricht Claudia Müller-Brauers / Kerstin Bräuning / Claudia Schomaker (Hrsg.) Fachübergreifende Lernfelder und inklusive Potentiale Bilderbücher im Grundschulunterricht Claudia Müller-Brauers / Kerstin Bräuning / Claudia Schomaker (Hrsg.) Bilderbücher im Grundschulunterricht Fachübergreifende Lernfelder und inklusive Potentiale DOI: https: / / doi.org/ 10.24053/ 9783772057687 © 2022 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISBN 978-3-7720-8768-4 (Print) ISBN 978-3-7720-5768-7 (ePDF) ISBN 978-3-7720-0178-9 (ePub) Umschlagabbildung: Happy 3D Character with Books and an Idea. Lucian_3D © stock.adobe Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® 7 40 60 84 103 127 143 172 Inhalt Claudia Müller-Brauers, Kerstin Bräuning und Claudia Schomaker Lernfelder und -potentiale in und von Bilderbüchern - Fachübergreifende Ansatzpunkte für den inklusiven Deutsch-, Sach- und Mathematikunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Katrin Kreuznacht Leerstellen als ästhetisches Prinzip - Othering und sensible Inszenierungen von Differenz im Bilderbuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lisa König Gemeinsam…und doch verschieden - Potenziale unterschiedlicher Gestaltungsebenen von Bilderbüchern für einen inklusiven Literaturunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Linda Schomakers und Dorothee Meyer Bilderbücher in Einfacher oder Leichter Sprache im inklusiven Deutschunterricht - Kriterien zur Vereinfachung von Texten . . . . . . . . . . . Celina Diroll, Claudia Müller-Brauers und Friederike von Lehmden „Und dann erzählt Toni, wie alles wirklich gewesen ist.“ - Tempusförderung mit Bilderbüchern als Chance zur Medienbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Detta Sophie Schütz Gezielte Sprachförderung mit Bilderbüchern in der Grundschule - Das Zielorientierte Dialogische Lesen zur Förderung morpho-syntaktischer Fähigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Claudia Müller-Brauers und Christiane Miosga Bilderbuch-Apps im Vergleich - Geschichten verstehen und erzählen mit neuen Medien im Deutschunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christina Guedes Correia und Lisa Porps Bilderbücher und Health Literacy - Eine Analyse des Bilderbuchs „Drin-Bleib-Monster - Alma hat coronafrei“ mit Blick auf die Vermittlung coronabezogener Gesundheitsinformationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 219 244 260 279 302 326 350 371 Susanne Drogi und Raila Karst Mehr als Mutter, Vater, Kind(er) - Wer gehört dazu? Familienbilder im aktuellen Bilderbuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alice Junge, Denise Lüttgering, Floreana Schmidt und Claudia Schomaker Bilderbücher im Sachunterricht? - Potenziale eines Mediums für sachbezogenes Lernen in heterogenen Lerngruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eva Gläser Mit Bilderbüchern kulturelle Diversität, Migration und Ausgrenzung erkunden - sachunterrichtsdidaktische Begründungen im Kontext des gesellschaftlichen Lernens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Julia Menger „Opa Peers Schnitzeljagd“ - Anspruchsvolles Sachlernen und literarisches Lernen in heterogenen Lerngruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kerstin Bräuning und Caren Feskorn Eine (un-)geplante Überraschung - Explorative Erkundung eines textlosen Bilderbuches im Mathematikunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Katja Poser-Kempe und Caren Feskorn „Manche sind anders“ (Teckentrup 2014) - und beim Lernen sowieso alle: Bilderbücher und ihre Potenziale für die Arbeit mit heterogenen Lerngruppen in mathematischen Lernumgebungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Birgit Brandt Wohaar! Einer würde mir reichen! Das Bilderbuch „365 Pinguine“ im Mathematikunterricht der Grundschule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leandra Zirnstein und Kerstin Bräuning „Kopf hoch, Fledermaus! “ (Willis/ Ross 2008) - Fokussierende Interaktionen fördern die vertiefte Diskussion mathematischer Inhalte in einem Bilderbuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verzeichnis der Autor: innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt 1 Inhaltsbezogene Transkription nach Hoffmann-Riem (1998); E=Erwachsene, M=Milo, J=Jan 2 Eigenes Datenkorpus 3 Das Gespräch mit Milo und Jan wurde in der häuslichen Umgebung der Kinder durch‐ geführt. Im Rahmen der Gespräche entstanden auch die hier eingefügten Zeichnungen von Milo (Abb. 1-5) zu den hier vorgestellten Bilderbüchern. Lernfelder und -potentiale in und von Bilderbüchern Fachübergreifende Ansatzpunkte für den inklusiven Deutsch-, Sach- und Mathematikunterricht Claudia Müller-Brauers, Kerstin Bräuning und Claudia Schomaker Milo: Ich finde an Bilderbüchern toll, (.) dass man da (.) äh (.) coo (.) schöne Sachen entdecken kann, (.) schöne Wörter findet und schöne Bilder sieht. Jan: Ich finde es schön (.), dass man da etwas sieht beim Buch. …. Milo: ….. wenn mir langweilig wird, dann schaue ich mir immer ein Buch an. Von Bilderbüchern geht, wie die obigen Äußerungen der Kinder Milo (6 Jahre) und Jan (4 Jahre) auf unterhaltsame Weise zeigen, 1 für Kinder ein besonderer Reiz aus. Sie sind ein wichtiger medialer Ankerpunkt im Alltag, wenn es mal langweilig ist, Kinder ein Bedürfnis nach Nähe und Entspannung haben oder Kinder einfach mal in fiktive Welten abtauchen wollen. Dabei werden, wie folgender Ausschnitt aus einem Gespräch mit den beiden Kindern zur Frage ihres Lieblingsbuches zeigt (siehe Transkript 1, Abb. 1), 2 bereits frühe eigene Vorlieben und Interessen ausgebildet, die den ersten Grundstock für eine andauernde Lesemotivation bilden. 3 E: Und Jan was ist dein Lieblingsbuch? J: / Eh/ (…) das Olchi! M: Meins auch. E: Und warum ist das so toll, das Olchibuch? J: weil die Olchis da immer nur Müll essen. (.) E: Die essen da immer nur Müll, aha. ((lachend)) J: Das find ich witzig. E: Und was findste noch toll an dem Buch? J: dass dieses Buch (..) / ehm/ dass die Olchis da so witzige L i e der singen. E: Hm, (…) und was noch? J: und weil die Olchis immer nur stinken nach Müllessen (..) E: Okay. ((lachend)) J: und weil sie Schmuddelbrühe essen. E: Schmuddelbrühe, uah. Das ist ja verrückt. Und was noch? J: Dass die Olchis immer (..) so laut schn (.) so laut rülpsen, dass Fliegen ohnmächtig auf den Boden lie (.) fallen (…). Und mit ihren Hörnern können sie sogar Regenwürmer rülpsen hören. (…) E: Wahnsinn! J: Das finde ich toll, an Olchis! Transkript 1: Gesprächsausschnitt mit Milo und Jan zur Frage „Was ist dein Lieblings‐ buch? “ Abb. 1: Die Olchis und der Drache Feuerstuhl (Oetinger Verlag), gezeichnet von Milo 8 Claudia Müller-Brauers, Kerstin Bräuning und Claudia Schomaker Sprache, Bild, Text, Ästhetik im Bilderbuch bereiten Kindern Freude, machen Spaß, können Kinder für Geschichten begeistern und fungieren zugleich als Einstieg in den Literaturerwerb (Kümmerling-Meibauer/ Meibauer 2015: 13). „Bilderbücher sind Bücher mit einer besonderen ästhetischen Anmutung. Sie haben visuelle und (oft) haptische Wahrnehmungsqualitäten, die sie prädesti‐ nieren für diese Aufgabe, Buchliteratur würdigend zu lehren.“ (Abraham/ Knopf 2014a: 8). Zugleich ist das in Bilderbüchern angelegte Lernpotential vielfältig: „[…] children acquire knowledge on different levels, ranging from knowledge about their immediate surroundings, usually displayed in early-concept books and concepts books, to learning about different knowledge domains, such as vehicles and hygiene, not to mention more complex spheres such as moral knowledge” (Kümmerling-Meibauer/ Meibauer 2015: 29). Das spiegelt sich auch in einem weiteren Gesprächsausschnitt mit Jan und Milo zur Frage, was man in Bilder‐ büchern alles lernen kann, wider (siehe Transkript 2). E: Was kann man denn alles (.) lernen, wenn man sich Bilderbücher anguckt? M: Da kann man wichtige Dinge lernen. E: Was denn? Was alles? M: Zum Beispiel, da kann man lernen, dass man nicht (…) dass man nicht so viel Umweltverschmutzung machen d a r f. E: Aha. M: Man darf nicht so viel Müll v e r s c h w en d e n, man soll eher (..) aus dem Wasserhahn aus (.) dem Wasserhahn t r i n k e n, (…) man soll nicht so …. man sollte also nicht so viel (.) so viel Umweltverschmutzung m a c h e n, (..) / ehm/ man sollte auch nicht so viel aus Bechern ein Eis essen, weil da macht man auch Umweltverschmutzung, also besser aus der W a f f e l, (.) und es is auch immer besser, wenn man hilft. E: Ok, wem soll man denn helfen? M: Zum Beispiel Leute (..) Beispiel Leute, die Hilfe brauchen, denen kann man dann helfen. E: Hast du das auch aus einem Bilderbuch gelernt? M: Das habe ich von Natur aus gelernt. E: ((lacht)) Transkript 2: Gesprächsausschnitt mit Milo und Jan zur Frage „Was kann man alles aus Bilderbüchern lernen? “ 9 Lernfelder und -potentiale in und von Bilderbüchern 1 Fachübergreifende Bezüge und Lernfelder in Bilderbüchern Das vielfältige Lernpotential von Bilderbüchern ergibt sich aus mehreren Aspekten, die spezifisch für Bilderbücher sind. Dazu zählen etwa thematische Breite, künstlerischer, bildbezogener Facettenreichtum, Multimedialität und Gattungsvielfalt. So können in Bilderbüchern aufgrund der in ihnen wirkenden spezifischen, bedeutungsgenerierenden Korrespondenz von Text und Bild (Thiele 2000; Staiger 2019) nicht nur sämtliche literarische Gattungen enthalten und verschiedene künstlerische Stile umgesetzt, sondern auch Bezüge zu ver‐ schiedenen Genres (z. B. Sachbilderbuch oder Märchen) und Themenfeldern hergestellt sein (Abraham/ Knopf 2014b: 4); „[…] all these forms and genres are accommodated to the children`s developing cognitive, social, cultural, and pragmatic abilities“ (Meibauer 2017: 371). Aus didaktischer und unterrichtlicher Sicht tun sich damit unterschiedliche Lernfelder und Anschlussstellen für eine interdisziplinäre Betrachtung und Wertschätzung von Bilderbüchern auf, die wir in diesem Band durch die Zusammenführung von Beiträgen aus der Deutsch-, Mathematik- und Sach‐ unterrichtsdidaktik sowie Sonderpädagogik als Ausgangspunkt für eine inter‐ disziplinäre Bilderbuchforschung herausarbeiten wollen. Wie reichhaltig eine fachübergreifende Perspektive auf Bilderbücher für die Kernfächer Deutsch, Mathematik und Sachunterricht sein kann, wird bereits an folgenden Auszügen aus Bilderbüchern deutlich, die wir hier exemplarisch zusammengestellt haben. Das Bilderbuch Kopf hoch, Fledermaus von Jeanne Willis und Tony Ross (2008) handelt von einer Fledermaus und einer Gruppe junger Wildtiere (siehe Abb. 2). Diese erklären die Fledermaus für verrückt, weil sie verschiedene Äußerungen wie Ich hätte gern einen Regenschirm, damit meine Füße nicht nass werden (ebd.: 3), Unten am Himmel ist eine große schwarze Regenwolke (ebd.: 6; siehe auch Bönig et al. 2015: 66) und Ein Baum hat ganz oben einen Stamm und ganz unten Blätter (ebd.: 14) tätigt. Die Frage der weisen Eule, ob die jungen Wildtiere schon einmal versucht hätten, die Dinge wie die Fledermaus zu sehen, bringt sie dann jedoch dazu, sich in die Position der Fledermaus zu versetzen und lässt sie feststellen, dass die Fledermaus recht hat, wenn man die Dinge aus ihrer Perspektive betrachtet. 10 Claudia Müller-Brauers, Kerstin Bräuning und Claudia Schomaker Abb. 2: Kopf hoch, Fledermaus! (Willis/ Ross 2008), gezeichnet von Milo Das Bilderbuch handelt folglich von dem Verstehen des Andersseins und greift damit ein sachunterrichtliches Thema auf. Da die Fledermaus durch ihr Über-Kopf-Hängen die Welt anders sieht, wird mathematisch der Perspek‐ tivwechsel angesprochen. Deutlich wird dieser durch die Verwendung von Raum-Lage-Begriffen, wie z. B. oben, unten, auf, unter, rechts, links etc., deren Beherrschung für den Umgang mit Arbeitsmitteln im Mathematikunterricht (Lorenz 2012) eine wesentliche Voraussetzung bilden. Besonders Kinder mit geringen Sprachkenntnissen im Deutschen erweitern ihr Wissen mit Hilfe des Bilderbuchs, da die Illustrationen zum Teil die Aussage der Tiere verbildlichen oder wie bei den Aussagen der Fledermaus einen Widerspruch, einen kognitiven Konflikt, erzeugen, welcher als Lernanlass gemeinsam ausgehandelt werden kann. Insofern können mit Hilfe des Bilderbuches interdisziplinär verschiedene Blickwinkel gemeinsam thematisiert und verhandelt werden (siehe hierzu ausführlich Zirnstein/ Bräuning in diesem Band). Gleiches gilt auch für das textfreie Bilderbuch Fledereule, Eulenmaus von Marie-Louise Fitzpatrick (2017), das bei Bräuning et al. (2021) in einem Praxisar‐ tikel für den Mathematikunterricht im Zusammenhang zu Raum-Lage-Begriffen aufbereitet ist. Das textfreie Bilderbuch lässt sich auch für den Deutschunter‐ 11 Lernfelder und -potentiale in und von Bilderbüchern richt sowohl für das Erzählen einer Geschichte verwenden als auch mit einem fachübergreifenden Projekt Mathematik und Deutsch verbinden, in welchem es einerseits um die Erzählkompetenz, andererseits um den bewussten sowie reflektierten Einsatz von Raum-Lage-Begriffen eingebettet in eine Narration geht. Das Bilderbuch handelt von einer Eulenfamilie, die auf einem Ast schläft, bis eine Fledermausfamilie dazukommt und sich unten an den Ast hängt. Die beiden Familien beobachten sich. Die kleinste Eule gesellt sich zur kleinsten Fledermaus, bis ein Sturm aufkommt. Sowohl die Eulenals auch die Fleder‐ mausfamilie können sich nicht mehr am Ast festhalten. Die größte Eule sowie die größte Fledermaus holen alle kleineren Tiere zurück, egal ob es eine Eule oder eine Fledermaus ist. Sie haben ihre Bedenken vor dem Anderssein überwunden und sich gegenseitig unterstützt (siehe Abb. 3). Abb. 3: Fledereule, Eulenmaus (Fitzpatrick 2017), gezeichnet von Milo Die Anordnung der Figuren im Bild (die Eulenfamilie sitzt auf einem Ast, die Fledermausfamilie hat es sich unter dem Ast bequem gemacht) kann Kinder, wie folgender kurzer Gesprächsausschnitt aus einer Vorleseinteraktion mit Jan zum Buch Fledereule, Eulenmaus zeigt (siehe Transkript 3), bereits im Vorschulalter dazu anregen, sich im Vorlesegespräch im Gebrauch von 12 Claudia Müller-Brauers, Kerstin Bräuning und Claudia Schomaker 4 Transkription in Orientierung an Selting et al. (2009). Präpositionen zu erproben (fett markiert im Transkript). 4 Dabei kann zugleich auch die Raum-Lage-Wahrnehmung von Kindern geschult werden. 01 J: AL: so- (--) 02 ((… )) 03 J: die EU: len da oben schlafen; 04 ((… )) 05 E: okay (.) was passiert DANN? (-) 06 J: DANN haben sich (.) haben sich FLE: dermäuse angehängt: ; (-) 07 E: WO haben die sich angeHÄNGT? (-) 08 J: UNTER dem baum; = 09 =kopfÜ: ber; (-) 10 E: WO: W; (.) 11 un wo sitzen denn die ! EU! len? (-) 12 J: ! Ü: : ! ber ihnen; (-) 13 E: über ihnen? (.) 14 un auf was sitzen DIE: ? (-) 15 J: auf_n BÄUmen. Transkript 3: Auszug aus einem Vorlesegespräch zu dem Bilderbuch Fledereule, Eulen‐ maus (Willis/ Ross 2008) mit Jan Aus sprachdidaktischer Sicht sind Bilderbücher wie Fledereule, Eulenmaus für die Förderung des Grammatikerwerbs entsprechend wertvoll und können vor allem Kindern mit anderer Erstsprache in Bereichen wie dem Erwerb von Präpositionen unterstützen, die mit einer längeren Erwerbsphase einhergehen (siehe hierzu z. B. Wulff 2017). Im Sachunterricht bietet sich dieses Buch v. a. für das soziale Lernen an, etwa zur Frage, wie mit Besonderheiten in der Gemeinschaft umgegangen werden kann (siehe Junge et al. sowie Gläser in 13 Lernfelder und -potentiale in und von Bilderbüchern 5 Ein produktionsorientierter Blickwinkel im Zusammenhang zu „Raum und Form“ wird im vorliegenden Band beim Zeichnen von Plänen zu dem Bilderbuch Die Überraschung (van Ommen 2007) (siehe der Beitrag von Bräuning/ Feskorn) sowie zu „Muster und Strukturen“ zu dem Bilderbuch Manche sind anders (Teckentrup 2014) (siehe der Beitrag von Poser-Kempe/ Feskorn) aufgezeigt. Mehrere inhaltsbezogene Kompetenzen wie „Zahlen und Operationen“ sowie „Größen und Messen“, „Raum und Form“ und „Muster und Strukturen“ werden im Zusammenhang mit dem Sachrechnen in Verbindung mit dem Bilderbuch 365 Pinguine (Fromental/ Jolivet 2018) in diesem Band angesprochen (siehe der Beitrag von Brandt). diesem Band). Beide vorgestellten Bilderbücher beziehen sich zudem auf die inhaltsbezogene Kompetenz „Raum und Form“. 5 Entlang von kindgemäßen Fragen wie „Was passiert in deinem Körper mit dem Essen? Wie entsteht ein Pups? Wozu ist der Dünndarm so lang? Und warum ist Kacke eigentlich immer braun? “ stehen die Abläufe der menschlichen Ver‐ dauung und die Funktionen der beteiligten Organe im Mittelpunkt des Buches Die Kackwurstfabrik von Marja Baseler und Annemarie van den Brink (2018). In Analogie zu einer Fabrik werden die einzelnen Bereiche der menschlichen Verdauung (u. a. Mundwerk, Magen, Darm) anhand von Bildern und Text erklärt (siehe auch Abb. 4). Abb. 4: Die Kackwurstfabrik (Baseler/ Brink 2018), gezeichnet von Milo 14 Claudia Müller-Brauers, Kerstin Bräuning und Claudia Schomaker Diese Darstellungen sind in eine Rahmengeschichte eingebunden: Zwei Kinder wollen wissen, welchen Tätigkeiten ihr Vater in seinem Labor nachgeht. Dieser macht um seine Arbeit ein großes Geheimnis, so dass die Kinder Pim und Polly heimlich das Labor erkunden. Sie treffen einen Arbeiter, der ihnen die Abläufe in der „Kackwurstfabrik“ erklärt und ihnen von aktuellen Problemen berichtet, wie z. B., dass viele Abläufe in der Fabrik nicht mehr möglich sind, da alles hoffnungslos verstopft ist. Die Geschichte endet damit, dass die Kinder einen Plan entwickeln, wie die Fabrik umzugestalten ist, damit sie auch zukünftig ihre Arbeit verrichten kann. Auf unterhaltsame Weise wird das Thema der menschlichen Verdauung aufgegriffen, indem u. a. die zahlreichen Begrifflich‐ keiten und Umschreibungen des Alltags ebenso benannt werden wie Fragen und Informationen, die die Thematik aus ganz unterschiedlichen Perspektiven beleuchten. Da die Abläufe in der „Fabrik“ nicht rund laufen, wird zudem das Thema einer gesunden Ernährung aufgegriffen, die mit der richtigen Verdauung ihre Fortsetzung findet. Wenngleich die veranschaulichenden Bilder in Analogie zu einer Fabrik die Abläufe im Mund, Magen, Darm usw. erläutern, verdeutlicht der begleitende Text was hier jeweils im menschlichen Körper passiert und worauf in Bezug auf eine gute Ernährung und Verdauung zu achten ist. Auf diese Weise werden einem Thema, das in vielerlei Hinsicht auch mit Peinlichkeiten und Tabus belegt ist, Hemmschwellen genommen. Wenngleich im Hinblick auf eine naturwissenschaftlich bezogene Auseinandersetzung mit den Inhalten die Thematisierung der Reichweite der hier verwendeten Analogien notwendig sein wird, denn der Idee der Geschichte folgend, werden die Abläufe im Mund, Magen oder Darm jeweils wie das Innere einer Fabrik dargestellt, in der Arbeiter: innen tätig sind, um die Abläufe sicherzustellen. In Bezug auf eine na‐ turwissenschaftliche Perspektive ist es für den Unterricht wichtig, die Grenzen dieser Darstellungen zu thematisieren. Darüber hinaus ermöglicht es das Buch, auch Fragen jenseits eines naturwissenschaftlichen Interesses an diesem Thema aufzugreifen und den gesellschaftlichen Umgang damit zu fokussieren (siehe Menger sowie Gläser in diesem Band). Die sprachliche Auseinandersetzung mit den Fachbegriffen einerseits sowie den Alltagsbegrifflichkeiten andererseits zeigt Kindern Möglichkeiten auf, ihr individuelles Repertoire auszudifferen‐ zieren und den Gebrauch der je unterschiedlichen Benennungen zu reflektieren. In dem Bilderbuch Zu Besuch in der Roboterwelt (Müller-Brauers et al. 2022a; siehe auch Abb. 5) geht es hingegen um die Kinder Tara und Lio, denen es an einem Nachmittag im Sommer sehr langweilig ist. Sie machen sich zusammen mit ihrer kleinen Echse Spencer auf, Papas neues Bilderbuch-Spiel auf dem Tablet zu erkunden und landen dabei sprichwörtlich in einer anderen Welt, in einer Welt, in der es nur von Roboterwesen wimmelt. Bei all dem Gewimmel 15 Lernfelder und -potentiale in und von Bilderbüchern verlieren die Kinder Spencer aus dem Blick und machen sich auf die Suche nach der kleinen Echse. Gerade als sie Spencer wiederfinden, werden sie unvermittelt wieder in ihr Kinderzimmer zurückgeführt. Dort warten schon die Nachbarskinder, um mit ihnen rauszugehen und die reale Welt zu entdecken. Abb. 5: Zu Besuch in der Roboterwelt (Müller-Brauers et al. 2022a), gezeichnet von Milo Aus fachübergreifender Sicht tangiert das Bilderbuch zweierlei Lernbereiche: Mit der Opposition von fiktiver, medial kreierter Welt wird einerseits der Bereich der Medienbildung angesprochen und kann Kindern Anregungen dazu geben, über ihr eigenes Medienverhalten und ggf. das ihrer Familie zu reflektieren. Das Bilderbuch weist damit Bezüge zum Sachunterricht auf. Darüber hinaus bietet es die Möglichkeit, digitale Kinderliteratur auch praktisch in den Grund‐ schulunterricht einfließen zu lassen, beispielsweise durch das gemeinsame Konzipieren und Kreieren einer eigenen Bilderbuch-App (von Lehmden et al. 2022). Andererseits eignet sich dieses Bilderbuch insbesondere für die Gram‐ matikförderung von Kindern. Wie der folgende Textauszug zeigt, treten in diesem Buch gehäuft Relativsätze mit Verbletztstellung und unterschiedlichen erweiternden Adverbien und Objekten (kursiv) zum Verb auf (Müller-Brauers et al. 2022a: o.S.): 16 Claudia Müller-Brauers, Kerstin Bräuning und Claudia Schomaker 6 Abdruck der Abbildung aus Müller-Brauers et al. 2022a mit freundlicher Genehmigung des Schneider Verlags Hohengehren „Die Kinder sehen sich unter der Erde um. „Lio, siehst du die Robotermaus, die hüpft? Und siehst du die Roboterhummel, die hummelig fliegt? “, fragt Tara. „Nee, aber siehst du die Roboterspinne, die mit ihren Fäden spielt? ““ Zusätzlich fällt auf, dass Relativsätze mit Verbletztstellung auf den meisten Seiten (siehe auch Abb. 6) Hauptsätzen mit Verbzweitstellung gegenübergestellt sind. Diese werden als Alternativtext in farbig unterlegten Kreisen angeboten. Abb. 6: Auszug aus dem Bilderbuch Zu Besuch in der Roboterwelt (Müller-Brauers et al. 2022a) 6 Die Dopplung der sprachlichen Strukturen ist nicht zufällig und wurden von den Autorinnen gezielt im Bilderbuchtext vorgenommen, so dass die Kinder beiläufig während der Bilderbuchrezeption auf die syntaktischen Unterschiede aufmerksam werden, wenn beide Textvarianten beim wiederholten Lesen an‐ geboten werden (siehe hierzu Diroll et al. in diesem Band sowie von Lehmden et al. 2022). Die Textvarianten können allerdings ebenfalls dazu dienen, die grammatische Komplexität entweder zu verringern oder zu steigern. Im Gespräch über das Buch ergeben sich zugleich Anknüpfungsmöglich‐ keiten zur Förderung produktiver Erzählleistungen und zum Geschichtenver‐ ständnis, z. B. durch entsprechende Gesprächsimpulse zur Nacherzählung der Geschichte oder inhaltliche Fragen zu den Protagonist: innen und zum Hand‐ 17 Lernfelder und -potentiale in und von Bilderbüchern 7 Zum grammatischen Schwerpunkt und den Inhalten dieses Bilderbuchs sowie zu dessen fachübergreifenden Potential siehe ausführlich Diroll et al. in diesem Band. 8 Zusätzlich zu den Gesprächen wurden mit den beiden Kindern Milo und Jan auch verschiedene Nacherzählungen/ Vorlesegespräche zu den hier vorgestellten Bilderbü‐ chern erhoben. So wurden Milo und Jan ein Tag nach dem Gespräch zu ihrem Lieblingsbuch und zur Frage, was man alles aus Bilderbüchern lernen kann, das Bilderbuch Mensch, Oma! vorgelesen. Im Anschluss daran wurde Milo gebeten, das Bilderbuch nachzuerzählen. Das Bilderbuch war den Kindern bereits vorher bekannt und wurde bereits mehrmals mit den Kindern, allerdings mit größerem monatlichem Abstand, in der Familie gelesen. Im Anschluss an die Erzählung wurde Milo gebeten, die Geschichte nochmals nachzuerzählen, allerdings mit dem Hinweis, dass die Geschichte parallel dazu aufgeschrieben werden würde, um sie auch anderen Kindern später vorlesen zu können (siehe hierzu z. B. Maas 2008; Merklinger 2010; Müller 2012). Diese Methode der simultanen Verschriftung (oder auch Diktieren) beim Nacherzählen wird in der Erzähldidaktik als Möglichkeit angesehen, Kinder zusätzlich zu animieren, den Gebrauch sprachlicher Strukturen und narrativer Mittel zu kontrollieren und sich aufgrund der kommunikativen Anforderung des Diktierens und Verschriftens des Geäußerten an einem literaten Sprachgebrauch (Maas 2008) zu orientieren. 9 Abkürzungen im Transkript: BBT= Bilderbuchtext, E= Erwachsener, M= Milo 10 Die Geschichte ist im Präsens verfasst, der Zeitungsartikel, in dem die falschen Darstellungen von Tonis Oma veröffentlicht sind, im Präteritum, Tonis Nacherzählung zu den wahren Begebenheiten im Perfekt. 11 Siehe hierzu auch der Begriff der sprachlichen Einpassungen bei Müller-Brauers et al. (2017). lungsgeschehen, die im Deutschunterricht aufgegriffen und weitergeführt werden können. Dabei kann, wie folgendes Beispiel einer Nacherzählung von Milo zu dem ebenfalls „inputoptimierten“ Bilderbuch Mensch, Oma! von Claudia Müller-Brauers, Friederike von Lehmden und Bernd Lehmann (2022b) zeigt, 7 das Bilderbuch Ausgangspunkt sowohl für das Erproben grammatischer Strukturen wie auch narrativer Muster sein. 8 So fällt im folgenden Transkript (Transkript 4) auf, 9 dass sich Milo sehr eng an die Textvorlage hält und den Sprachinput des Bilderbuchs für die eigene Nacherzählung nutzt. Dabei greift er u. a. auf die in der Geschichte sich wiederholenden, zur Unterstützung des Tempuserwerbs durch Kontrastierung besonders hervorgehoben starken und schwachen Verben zurück 10 (siehe Z. 46, 49, 61-63, 65, 91, 93, 95, 97-98). 11 Zugleich nutzt Milo aber auch narrative Mittel, die im Bilderbuchtext integriert sind, und übernimmt diese. Dazu zählen z. B. die Figurenrede in Z. 53 oder die Markierung einer Wende in Bezug auf die intendierte und geplante Handlungsfolge (Hausendorf/ Quasthoff 2005; Quasthoff 1980) als wesentliches Element einer Erzählung in Zeile 49, 51: „Als sie gerade weiter schimpfe wollte, da is der Bürgermeister gekommen und hat ihn geknuddelt“. Des Weiteren markiert Milo auch losgelöst von der 18 Claudia Müller-Brauers, Kerstin Bräuning und Claudia Schomaker 12 Siehe hierzu Weinrich (2007: 813). 13 Zur Verwendung von narrativen Mitteln in verschiedenen Erzählgenres siehe ausführ‐ lich z. B. Becker/ Stude 2017. Textvorlage ein unerwartetes Ereignis mit dem Adversativ Junktor 12 „aber“ in Zeile 103-106: „Und die Fische, die wollte der essen, aber der Hund konnte nicht so schwimmen“. 13 BBT: „Was hast du dir dabei gedacht? “, schimpft Oma. 46 M: DANN hat die oma ge! SCHIMPFT! (.) ge! SCHIMPFT! (.) ge! SCHIMPFT! ; (--) 47 E: oKAY; = 48 =super; (-) BBT: Oma will gerade weiter schimpfen, 49 M: als sie ger! A: : ! de weiter SCHIMPfen wollte,= 50 E: =hm= BBT: da stürmt der Bürgermeister heran. 51 M: =dA: is der BÜRgermeister geKOMmen-= 52 =und hat ihn geKNUDdelt; (.) BBT: „Du hast meinen lieben Figo gerettet! 53 M: du hast meinen LIEben ! HUND! gerettet; = 54 E: =hm; (-) 55 M: und JETZT- (.) 56 jetzt erzählen die alles (.) vor der- (-) 57 un_draußen erzählten die Alles dem (.) beRICHter; (.) 58 E: hm; (-) 59 M: und die O: ma hat geSA: GT, °h (3.0) 60 E: oKAY,(-) BBT Einer spielte Basketball, ein zweiter klatschte ein Lied, ein dritter winkte vom Dreimeterbrett und ein vierter gab den Zuschauern Süßigkeiten. 61 M: ein HUND- (.) 19 Lernfelder und -potentiale in und von Bilderbüchern 62 EIN (.) SEEhund (.) hat einen- (-) 63 ein seehund hat ! SÜS! sigkeiten gegeben; (-) 64 E: hm, (-) 65 M: ein seehund hat BASketball gespielt; (-) 66 E: hm, (--) 67 M: ein SEE (.) hund hat MÄNNchen gemacht,= 68 E: =hm,= 69 M: =und EIN SEEhund (.) hat- (.) 70 hat mit_den flossen auf das WASser geschlagen; (-) 71 E: hm,(---) 72 M: das war ! AL! les A: ber ! ! VÖL! ! lig falsch. ((… )) 85 M: A: ber,= 86 E: =hm? (-) 87 M: er sagte,= 88 =es WAR ! A: L! (.) ! LES! ! FALSCH! ; = 89 =sagte sein (.) ihr (.) ihrer SOHN. (-) 90 E: oKAY; (---) BBT: Nemo hat Fußball gespielt 91 M: EI: ner (.) einer hat FUSSball gespielt,= 92 BBT: Wanda hat geklatscht. 93 M: =EIner hat geKLA: : TSCHT,= 94 E: =hm? (-) BBT: Moby Dick hat den Zuschauern Küsschen gegeben 95 M: EI: ner (.) einer hat dieser frau KÜSSchen gegeben; = 96 E: =okay; (--) BBT: Dori hat gewunken 97 M: un einer hat- (---) 20 Claudia Müller-Brauers, Kerstin Bräuning und Claudia Schomaker 98 einer hat ge! WUN! ken; = 99 E: =ja; (-) 100 M: und als der-(.) 101 der HUND hatte A: ppetit (.) wahrscheinlich auf ! FISCH! e; = 102 E: =hm: ; (-) 103 M: un die ! FISCH! e, (1.0) 104 DIE wollte der ! ES! sen; = 105 E: =hm: , (-) 106 M: aber der HUND konnte nicht so: ! SCHWIMM! _n; = 107 E: =hm: , (--) 108 M: ! Al! SO: : hat (.) ihrer von der oma ihrer SOHN ! NICH! gezögert-= 109 =un IS hinterher gesprungen. Transkript 2: Milos Nacherzählung zu dem Bilderbuch Mensch, Oma! Das Bilderbuch bietet dementsprechend das Potential, nicht nur die Grammatik‐ entwicklung der Kinder implizit während der Bilderbuchlektüre im Unterricht zu fördern (zu Grammatikförderung und Vorlesen siehe auch Schütz in diesem Band), sondern kann didaktisch im Zusammenhang mit Erzähl- oder Schreib‐ impulsen im Rahmen der sich an das Vorlesen anfügenden Kommunikation auch dazu genutzt werden, die narrativen Fähigkeiten und Textsortenkompetenzen der Kinder auszubauen. Das Bilderbuch kann somit einen reichhaltigen Sprach‐ input bereitstellen, aus dem Kinder vielfach sprachliches Wissen ziehen können (grammatisch, pragmatisch, lexikalisch etc.) (Müller-Brauers/ von Lehmden 2021; Müller-Brauers et al. 2017), „Children’s literature is a specific input in the process of language acquisition“ (Kümmerling-Meibauer/ Meibauer 2015: 13). 2 Zu den Potentialen und zur Wirksamkeit von Bilderbüchern im fachübergreifenden Grundschulunterricht Während Bilderbücher in der deutschsprachigen Forschung v. a. in der frühen Bildungsarbeit fest verankert sind und als Gegenstand des Grundschulunter‐ richts bislang vor allem deutschdidaktisch bearbeitet wurden (siehe z. B. Gress‐ nich 2014; Hering 2016; Knopf/ Abraham 2014; Thiele 2003), liegen deutsch‐ 21 Lernfelder und -potentiale in und von Bilderbüchern sprachige Studien und Forschungsarbeiten zum Einsatz von Bilderbüchern in fachübergreifenden Zusammenhängen des Grundschulunterrichts bislang noch nicht im umfänglichen Maße vor; obschon im internationalen Vergleich in der Sachunterrichts- und Mathematikdidaktik vielfältige Forschungsperspektiven vorhanden sind. Bilderbücher als Lerngelegenheit werden im englischen Sprachraum bereits lange genutzt und deren Potential im Rahmen von unterrichtsbezogenen Pro‐ jekten dargestellt sowie deren Wirksamkeit in Studien untersucht. So zeigen verschiedene Studien für den Bereich des naturwissenschaftlichen Lernens (,science‘), dass mit Hilfe von Bilderbüchern naturwissenschaftliche Konzepte veranschaulicht und von Kindern besser verstanden werden (siehe u. a. Hsiao/ Shih 2015; Yuliana et al. 2021) oder aber geschlechterbezogene Stereotype in Bezug auf den Umgang mit Technik in Frage gestellt werden können (siehe Axell/ Boström 2019). Bereits mit Kindern im Elementarbereich können mit Hilfe von Sachbilderbüchern zentrale Aspekte von nature of science (siehe Hansson et al. 2020) oder nature of engineering (siehe Deniz et al. 2017) thematisiert werden. Darüber hinaus wird in unterschiedlichsten Studien das Potential von Bilderbüchern für die Sensibilisierung von Themen wie den Umgang und die Thematisierung sexueller Vielfalt, Diskriminierung, Krankheit, Behinderung, Ökologie, Sterben und Tod, Familie etc. analysiert (siehe exemplarisch Martin et al. o. J.). Erzählungen über Phänomene der belebten und unbelebten Natur sowie Ereignisse menschlichen Zusammenlebens aus Vergangenheit und Gegenwart verweisen auf eine lange Tradition von Unterrichtsmethoden im Sachunterricht, die darauf abzielen, Sachverhalte für Schüler: innen anschaulich zu gestalten, um so Verstehensprozesse zu unterstützen. Für Fritz Gansberg und Heinrich Scharrelmann, führende Vertreter der Unterrichtserzählungen zu Zeiten der Reformpädagogik, war dies der Weg schlechthin, um Kindern ihre Welt mit ihren jeweiligen Problemstellungen und Phänomenen zu erschließen (siehe Kaiser 2004: 111): „Die Erzählungen zeigen, wie soziale Probleme, Normen oder Konflikte, aber auch vielfältige Sachinformationen implizit in derartigen spannenden Geschichten vermittelt wurden“ (ebd.). Diese methodische Heran‐ gehensweise verlor in den 1970er Jahren an Bedeutung, da sie in der Kritik stand, das aktive Handeln der Schüler: innen im Unterrichtsgeschehen zu vernachläs‐ sigen (siehe Schekatz-Schopmeier 2010: 21 f.) bzw. Inhalte nicht sachgemäß, sondern primitiv und ,kindertümelnd‘ darzustellen (siehe Kahlert 2005: 213). Kontrovers diskutiert wird dabei bis heute die Rolle von Analogien und Ani‐ mismen als u. a. Bestandteil von Sachunterrichtserzählungen. So verweisen Kahlert und Lück auf zahlreiche Darstellungen aus Sachunterrichtslehrwerken, 22 Claudia Müller-Brauers, Kerstin Bräuning und Claudia Schomaker in denen beispielsweise Wassertröpfchen als kleine Männchen mit Armen, Beinen sowie einem Gesicht dargestellt von Zwergen transportiert werden, um den Wasserkreislauf darzustellen (ebd.: 213) bzw. die Verbindung zwischen Molekülen durch kleine Kugeln mit Gesicht und Gliedmaßen veranschaulicht wird, die sich die Hände reichen (Lück 2006: 19). Eine aktuelle Studie zur fachlich korrekten Darstellung naturwissenschaftlicher Konzepte in Sachbilderbüchern zeigt auf, dass im Verhältnis zum Text die jeweiligen bildlichen Darstellungen häufiger Fehlkonzepte aufweisen (siehe Yilmaz et al. 2020). Gelingt es, eine Erzählung für den Sachunterricht so zu gestalten, dass Sachverhalte fachlich korrekt und dennoch anschaulich, auch durch den kritischen Einsatz von Animismen bzw. Anthropomorphisierungen, dargestellt werden, dann ist sie eine „methodische Form, die ästhetische Zugangsweisen mit differenzierter kognitiver Sachdurchdringung verbindet“ (Kaiser 2004: 114). An die Tradition der Unterrichtserzählungen u. a. der Reformpädagogik knüpft das aus dem angelsächsischen Raum stammende Konzept des Storytelling an. Dieses verfolgt das Ziel, zu vermittelnde Sachinhalte in Erzählkontexte einzubetten, die es den Schüler: innen ermöglichen, einen Bezug zwischen eigenen Vorstellungen und dem jeweiligen Unterrichtsinhalt herzustellen (siehe Martensen et al. 2007). Die Protagonist: innen dieser von der Lehrkraft erzählten Geschichte geraten oftmals in einen Konflikt bzw. stoßen auf ein Problem, in deren Verlauf die Schüler: innen aufgefordert werden, „Vorstellungen und Ideen zur Lösung der aufgeworfenen Fragestellungen“ (ebd.: 411) zu entwickeln, eigenständig zu erproben und miteinander zu diskutieren (siehe Schomaker 2018; Schomaker/ Friege 2020). Der narrative Charakter der Erzählung ermöglicht es, einen Sachverhalt nicht nur auf kognitiver Ebene zu durchdringen, sondern regt auch eine Auseinan‐ dersetzung auf einer sozial-emotionalen Ebene an. So soll es den Schüler: innen ermöglicht werden, Interesse am dargestellten Sachverhalt zu entwickeln, indem sie sich mit den Handlungsträgern der Geschichte identifizieren und durch den Bezug zu ihren individuellen Erfahrungen und Kenntnissen, ein Phänomen bzw. eine Fragestellung gedanklich und/ oder handelnd durchdringen (siehe Schekatz-Schopmeier 2010). Studien aus dem naturwissenschaftlichen Lernbereich verweisen auf das Potential eines solch erzählenden Zugangs zu Phänomenen. Diese ermöglichten einen effektiveren Lernprozess, erzielten eine bessere Lernleistung und Erinnerungsfähigkeit sowie ein nachhaltigeres Inter‐ esse an der Sache (siehe Kasper/ Mikelskis 2008; Kubli 2002, 2005; Martensen et al. 2007). In der Mathematikdidaktik liegen ebenfalls international mehrere for‐ schungsbezogene Publikationen zu Bilderbüchern im Elementarbereich vor, die 23 Lernfelder und -potentiale in und von Bilderbüchern das Lernpotential von Bilderbüchern hervorheben, indem sie zeigen, dass deren Einsatz sich positiv auf das Mathematiklernen auswirken kann (Elia et al. 2010; Heuvel-Panhuizen et al. 2009; Vogtländer 2020). In Bilderbüchern können z. B. mathematische Inhalte in einen fiktiven oder realen lebensweltlichen Kontext eingebettet sein. Somit können Kinder Erfahrungen sammeln, dass Mathematik auch außerhalb der Schule eine Rolle spielt, und außerdem können Bezüge zu subjektiven Erfahrungsbereichen (Bauersfeld 1983: 2) der Kinder entstehen. Dies kann dazu beitragen, dass das Fach Mathematik eine höhere Sinnhaftigkeit für die Kinder erfährt. Die Vermischung von fiktiven und realen Elementen in einem Bilderbuch können auf mathematischer Ebene zudem neue Lernanlässe schaffen, da die Kinder bewusst entscheiden müssen, ob sie sich auf fiktive oder reale Annahmen stützen (Bräuning et al. 2023 i. V.). Wie im Sachunterricht oder beim Lernen generell unterstützen auch im mathematischen Bereich narrative Zusammenhänge das erfolgreiche Lernen, wenn der Lerngegenstand für die Kinder in einem bedeutsamen Kontext eingebettet ist, wie dies bei vielen Bilderbüchern für Kinder der Fall ist. Dabei geht es nicht um eine Verkindlichung oder ein konstruiertes „didaktisches Mäntelchen” (Bönig et al. 2017: 102). Drei theoretische Perspektiven rechtfertigen den Einsatz von Bilderbüchern zum Mathematiklernen (Heuvel-Panhuizen et al. 2008: 343 f.; auch Elia et al. 2010: 127): 1. die konstruktivistische Auffassung vom Lernen, 2. die Bedeutung kontextualisierten Lernens und 3. die Rolle des Lernens durch Interaktion. Heuvel-Panhuizen et al. (2009) arbeiten heraus, dass Bilderbücher „provide an informal basis of experience with mathematical ideas that can be a springboard for more formal levels of understanding.“ (ebd.: 37). Für den Primarbereich bzw. inklusive Schule liegen in der mathematikdidaktischen Forschung bisher wenige Publikationen vor. Erste Beispiele finden sich im vorliegenden Band. Dabei werden folgende Thematiken betrachtet, welche durch den Einsatz eines Bilderbuchs im Mathematikunterricht Besonderheiten aufwerfen, die mit Hilfe der Forschung beleuchtet werden: ● Interaktionsmuster beim Aushandeln mathematischer Inhalte mit Bilderbü‐ chern (siehe Zirnstein/ Bräuning in diesem Band), ● zum Bilderbuch konzipierte Lernumgebung für eine vertiefte fachliche Auseinandersetzung (siehe Poser-Kempe/ Feskorn in diesem Band), ● veränderte Modellierungsprozesse durch Verbindung von naturwissen‐ schaftlichen und mathematischen Inhalten im Bilderbuch (siehe Brandt in diesem Band) ● sowie auf Grundlage des Bilderbuchs generierte neue Aufgabenstellungen zur Verknüpfung verschiedener fachlicher Inhalte (siehe Bräuning/ Feskorn in diesem Band). 24 Claudia Müller-Brauers, Kerstin Bräuning und Claudia Schomaker Unterrichtspraktische Arbeiten zum Einsatz von Bilderbüchern für das mathe‐ matische Lernen nutzen das Bilderbuch als Lernmedium auf unterschiedliche Weise (z. B. Bräuning/ Ritter 2016; Feskorn/ Grohmann 2021; Roos 2021). Zum Teil wird das Bilderbuch als Lernanlass verwendet, manchmal werden einzelne Seiten aus dem Bilderbuch genutzt oder das gesamte Bilderbuch mit seiner Nar‐ ration, welche Mathematik oder sozialbzw. naturwissenschaftliche Konzepte beinhaltet, als Lernmedium angesehen. In neueren Publikationen wird dieses Lernmedium in einer Lernumgebung (siehe Bräuning et al. 2023 i. V.) aufbereitet, wobei immer der Bezug zum Bilderbuch als auch der mathematisch-fachliche Fokus erhalten bleibt und vertieft wird. Als wichtige sprachliche Lerngelegenheiten werden in der internationalen Forschung zudem digitale Bilderbücher gesehen. So zeigen Studien das Potential von digitalen, animierten Geschichten für die kindliche Literalitätsentwicklung etwa im Bereich des Wortschatzes oder schriftaneignungsrelevanter Fähig‐ keiten (siehe Neumann 2016; Smeets/ Bus 2015; Zipke 2017). In der Deutschdi‐ daktik rücken Bilderbuch-Apps erst allmählich in das Betrachtungsfeld. Ihre besonderen Potentialen werden u. a. für die Leseförderung, das literarische Verstehen wie auch für rezeptive und produktive Erzählfähigkeiten diskutiert (siehe Müller-Brauers et al. 2021; Müller-Brauers/ Miosga in diesem Band; Ritter/ Ritter 2020). Auch aus fachübergreifender Perspektive ist die Ergänzung eines Sachbilderbuchs durch eine digitale Applikation für die vertiefte Ausein‐ andersetzung mit Sachthemen wertvoll. Um Schüler: innen die Arbeitsweise von Forscher: innen heute zu veranschaulichen, wird im Buch Alles kaputt? ! Eine Geschichte über das Reparieren das aktuelle Forschungsfeld einer Gruppe von Wissenschaftler: innen der Leibniz Universität Hannover dargestellt (Scho‐ maker/ Arps 2022). Die hier aufgeworfenen Fragen zur Regeneration komplexer Investitionsgüter wie Flugtriebwerke erkunden die Kinder im Rahmen einer Geschichte, die das Thema „Reparieren“ zunächst in verschiedenen Alltagskon‐ texten der Kinder fokussiert. Über die App haben die Kinder die Möglichkeit, die Fragen aus dem Alltag zur Reparatur anhand aktueller Forschungsfragen zu vertiefen. Mit Hilfe von fotografischen Darstellungen, Interviews mit Wissen‐ schaftler: innen der Universität sowie videografischen Einblicken in die konkrete Forschungsarbeit erhalten die Kinder einen authentischen Eindruck dieser Thematik aus der Perspektive der Wissenschaft von heute. Der fiktive Charakter der Bilderbuchgeschichte wird so um reale Einblicke in die Forschung ergänzt, die Kinder je nach individuellen Interessen und im eigenen Tempo erkunden können. Im Bereich der Mathematik verweisen Russo et al. (2021: 1) darauf, dass Erzählungen nicht nur auf Bilderbücher beschränkt sein, sondern auch Filme 25 Lernfelder und -potentiale in und von Bilderbüchern und Kurzfilme einbeziehen sollten. Die Erweiterung eines Bilderbuchs in Ver‐ bindung mit einer App wird zudem aktuell im Rahmen des forschenden Lehrens und Lernens gemeinsam mit Studierenden an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg erkundet. Es wird davon ausgegangen, dass der Einsatz des digitalen Mediums auch für die Mathematikdidaktik neue Potentiale bietet (siehe auch Poser-Kempe/ Feskorn in diesem Band). Insgesamt ist die deutschsprachige Forschungslage zu digitalen Bilderbüchern aber noch sehr lückenhaft, was fachdidaktische Implikationen erschwert und klarere Qualitätskriterien für Bilderbuch-Apps notwendig macht. So weisen etwa explorative Arbeiten in diesem Feld (siehe Miosga 2020; Müller-Brauers et al. 2020a, b), die das Geschichtenverständnis von Kindern im Wechselspiel mit der Rezeption von Bilderbuch-Apps in den Blick nehmen, auf die Bedeu‐ tung der materiellen Beschaffenheit von Bilderbuch-Apps hinsichtlich ihrer besonderen visuellen und auditiven Features hin, die es beim Einsatz von Apps im Grundschulunterricht zu beachten gilt (Müller-Brauers/ Miosga in diesem Band). Diese können, so ist anzunehmen, für die Literalitätsentwicklung sowohl hemmende als auch förderliche Bedingungen in der Vorlese- und Unterrichtsi‐ tuation schaffen (Miosga/ Müller-Brauers 2021 sowie Müller-Brauers/ Miosga in diesem Band). Ein Modell zur Analyse von Bilderbuch-Apps in Bezug auf ihr Potential für die Förderung von rezeptiven und produktiven Erzählfähigkeiten wird entsprechend in diesem Band vorgestellt (siehe ebenfalls Müller-Brauers/ Miosga in diesem Band) und lässt sich auch auf Sachbilderbuch-Apps ausweiten (Müller-Brauers/ Schomaker i. V.). 3 Zusammenfassung und Ausblick auf den Band Wie oben dargestellt, spielen Bilderbücher in der frühen Bildung und Fachdi‐ daktik Deutsch eine wichtige Rolle. Aufgrund ihrer Themen- und Genrevielfalt und der reziproken Beziehung von Bild und Text (Staiger 2014; Thiele 2000) liefern sie aber nicht nur zahlreiche Ansatzpunkte, um das sprachliche und literale Lernen von jungen Kindern zu fördern (Becker 2014; Müller/ Stark 2015), sondern bieten auch zahlreiche Lernimpulse für zentrale Bildungsbereiche wie das mathematische Denken oder das Sachwissen. So können Kinder mit Hilfe von Bilderbüchern bereits vorschulisch Einblicke in Raum-Lage-Beziehungen erhalten oder für Themen wie Umweltverschmutzung oder Naturschutz sen‐ sibilisiert werden (Bräuning et al. 2021), die in der Grundschule vertiefend weiterbearbeitet werden können. Explizit aus fachdidaktischer Perspektive lässt sich konkretisieren, dass Bilderbücher, ob nun sach- oder erzählbezogen, einen Kontext schaffen, der durch Vertrautheit und Bedeutsamkeit gekenn‐ 26 Claudia Müller-Brauers, Kerstin Bräuning und Claudia Schomaker zeichnet ist. Dinge bzw. Phänomene erscheinen nicht nur singulär, sondern eingebettet in Geschichten und/ oder den Kindern bekannte lebensweltliche Kontexte (siehe Vogtländer 2020: 24). Dadurch kann ein Alltagsbezug hergestellt werden, der insbesondere für die Didaktik des Sachunterrichts eine, wenn nicht die bedeutsamste Prämisse darstellt (siehe Gläser 2005). Das gilt insbe‐ sondere auch für schwierige, d. h. stärker tabuisierte Themen. So eignen sich „Sachbilderbücher […] in der Primarstufe zunächst zur Visualisierung von bestimmten Sachverhalten. Sie zeigen Wege, wie diese adressatenorientiert verpackt und ggf. vereinfacht werden können“ (Lieber 2019: 91). Der Umgang mit Bilderbüchern im Sachunterricht eröffnet darüber hinaus die Möglichkeit, Argumentationsfähigkeit zu fördern, Perspektivwechsel einzuüben, Meinungen anderer anzuhören, zu akzeptieren und sie aufzugreifen und bietet damit in besonderer Weise Potential für das Philosophieren mit Kindern (siehe Michalik 2019). Digitale Formen wie Apps oder eBooks liefern zusätzliche Möglichkeiten, Lernprozesse von Kindern anzuregen und dabei ihre individuellen Ressourcen und Interessen zu berücksichtigen. Insbesondere die Reflexion von und Auseinandersetzung mit unterschiedli‐ chen Differenzlinien im Kontext von Erfahrungen des Fremd- und Andersseins wird durch die unterschiedlichen Gestaltungsmöglichkeiten von Text und Bild in Bilderbüchern in konstruktiver Weise aufgegriffen. So können hier Leer‐ stellen aufgezeigt werden (siehe Kreuznacht in diesem Band), die Anlässe für unterschiedliche Reflexionsebenen bieten und damit Kindern sowohl über die Verwendung von Bildern (siehe König in diesem Band) als auch die Gestaltung der Sprache (siehe Schomakers/ Meyer in diesem Band) mit ihren je individuellen Voraussetzungen in besonderer Weise zu entsprechen suchen. Wenngleich der Einsatz von analogen und digitalen Bilderbüchern für das mathematische oder Sachlernen oder Sprachförderbereiche wie das Grammatiklernen wie auch für Differenzierungen im Unterricht vielfältige Anknüpfungspunkte bietet, gilt es dabei, „das Buch als Ganzes zu würdigen und es nicht abzuzwecken“ (Lieber 2019: 92). Trotz der Fülle von didaktischen Nutzungsmöglichkeiten von Bilderbüchern in vorschulischen und schulischen Bildungszusammenhängen fehlt es aller‐ dings bislang an einer systematischen Zusammenführung unterschiedlicher fachdidaktischer Ansätze und Perspektiven auf das Bilderbuch und damit an einer interdisziplinären Rahmung der Bilderbuchforschung. Der Band „Bilder‐ bücher im Grundschulunterricht - Fachübergreifende Lernfelder und inklusive Potentiale“ zielt entsprechend darauf ab, aus unterschiedlichen Fachrichtungen heraus Beiträge zur multiplen Nutzung von Bilderbüchern zu bündeln, fach‐ übergreifende Zusammenhänge aufzuzeigen und Potentiale des Bilderbuchs für 27 Lernfelder und -potentiale in und von Bilderbüchern die Arbeit mit heterogenen Lerngruppen herauszuarbeiten. Der Schwerpunkt liegt dabei exemplarisch auf Ansätzen aus der Deutsch- und Mathematikdi‐ daktik, der Didaktik des Sachunterrichts sowie der Sonderpädagogik. Damit soll der Band nicht nur zu einer stärkeren interdisziplinären Ausrichtung der Bilderbuchforschung beitragen, sondern eine weiterführende Diskussion des Gegenstands in den einzelnen Fächern anstoßen. Die in diesem Band zusammen getragenen Beiträge gehen diesen Desideraten nach und sind drei Schwerpunktbereichen zugeordnet: - Bilderbücher im Deutschunterricht - Bilderbücher im Sachunterricht - Bilderbücher im Mathematikunterricht Bilderbücher im Deutschunterricht Katrin Kreuznacht analysiert anhand des ästhetischen Prinzips der Leerstellen die Thematisierung und Inszenierung von Differenz bzw. Othering im Bilder‐ buch. An verschiedenen Beispielen verdeutlicht sie, wie die Konstruktion von Differenz im Bilderbuch so hergestellt wird, dass oftmals damit einhergehende Ansprüche von Macht nicht bzw. deutlich sensibler zum Ausdruck kommen. Indem die Erzählungen über Text und Bild einen multiperspektivischen Blick auf Differenz zulassen, werden vielfältige Deutungsweisen ermöglicht, die eine alleinige Fokussierung auf Macht überschreiten und Differenz damit sensibel und offen thematisieren. Lisa König stellt eine Studie zur „Fiktionswahrnehmung als Grundlage literarischen Verstehens“ vor, die evidenzbasiert die Potentiale des Bilderbuchs zur Förderung des literarischen Verstehens im Deutschunterricht am Beispiel des Bilderbuchs Prima Monster! Oder: Schafe zählen ist doof von Markus Heitz und Joelle Tourlonais“ (2012) herausarbeitet. Dabei zeigt sich, dass vor allem die Bildebene für Kinder mit besonderem Förderbedarf, hier der Förderschwerpunkt Lernen, als Hilfestellung innerhalb des literarischen Verstehensprozess fungiert, was wiederum das Bilderbuch aufgrund seiner engen Text-Bild-Verbindung als besonders geeignet für heterogene Lerngruppen erscheinen lässt und potentiell allen Schüler: innen Möglichkeiten zur Erschließung von Literatur gibt. Der Beitrag von Linda Schomakers und Dorothee Meyer fokussiert ebenfalls den Einsatz von Bilderbüchern im inklusiven Deutschunterricht und diskutiert, wie mit Bilderbüchern über Formen der Textvereinfachung allen Schüler: innen die Teilhabe an Kinderliteratur ermöglicht werden kann. Als Ausgangspunkt nutzen Schomakers und Meyer das Konzept der Einfachen Sprache und Leichten Sprache und entwickeln daraus einen für den Grundschul‐ 28 Claudia Müller-Brauers, Kerstin Bräuning und Claudia Schomaker unterricht vorgesehenen Kriterienkatalog für die Vertextung kinderliterarischer Vorlagen, der für Schüler: innen mit geringen Lesefähigkeiten Kinderliteratur zugänglich und Lernbarrieren verringern soll. Diesen wenden die Autorinnen exemplarisch auf das Bilderbuch Armer Pettersson von Sven Nordqvist (1988) an und zeigen, wie trotz Textmodifikation ästhetische Kriterien des Originaltextes beibehalten werden können. Der Beitrag von Celina Diroll, Claudia Müller-Brauers und Friederike von Lehmden fokussiert den vom Bilderbuch ausgehenden Sprachinput als besondere Ressource für das grammatische Lernen von Kindern unter beson‐ derer Berücksichtigung des Tempuserwerbs und stellt dar, wie mit einem inputoptimierten, nach grammatischen Kriterien sprachlich konzipierten Bil‐ derbuch (Mensch, Oma! , Müller-Brauers et al. 2022) im Grundschulunterricht grammatikfördernd gearbeitet werden kann. Dabei stellen die Autorinnen fachübergreifende Bezüge her, indem sie in einem Ausblick aufzeigen, wie neben der Grammatikförderung das Bilderbuch auch zur Förderung von Medienkom‐ petenz im Unterricht genutzt werden kann. Dettas Schützs Beitrag knüpft ebenfalls an dem Potential von Bilderbüchern für das Grammatiklernen an. Der Fokus der Autorin liegt dabei weniger auf dem vom Buch ausgehenden Sprachinput als vielmehr auf der Frage, wie der Sprachinput, den die Kinder in der Interaktion mit der pädagogischen Fachkraft oder Lehrer: in in Gesprächen über das Buch erfahren, gestaltet werden kann, damit die zu erlernende grammatische Struktur besonders gut für die Kinder wahrnehmbar ist („zielorientiertes Dialogisches Lesen“). Neben Kriterien zur Auswahl von Bilderbüchern für die Anwendung dieser Sprachfördermethode berichtet die Autorin Ergebnisse einer Studie, bei der das „zielorientierte Dialo‐ gische Lesen“ im Rahmen eines Forschungsprojekts in Kitas untersucht wurde. Ausgehend von den Ergebnissen werden Bezüge zum Potential dieser Methode für den Grundschulunterricht geschaffen. Der Beitrag von Claudia Müller-Brauers und Christiane Miosga behan‐ delt das Feld der digitalen Kinderliteratur und stellt ein Modell zur Analyse von Bilderbuch-Apps vor, das es ermöglicht, Bilderbuch-Apps systematisch danach einzuschätzen, inwieweit sie das Potential haben, die Entwicklung von rezeptiven und produktiven Erzählfähigkeiten von Kindern zu fördern. Die Autorinnen beziehen das Modell auf zwei ausgewählte Bilderbuch-Apps und ziehen daraus Schlussfolgerungen für den inklusiven Deutschunterricht. Dabei arbeiten die Autorinnen interaktive Bedingungen in der Anwendung sowie spezifische technischen Eigenschaften der Apps heraus, die einerseits als günstig für die Förderung der narrativen Fähigkeiten der Schüler: innen einzuschätzen sind, andererseits für Kinder mit geringen sprachlichen und 29 Lernfelder und -potentiale in und von Bilderbüchern kognitiven Fähigkeiten auch Barrieren in der Kommunikation evozieren und damit dem „Lernen am gemeinsamen Gegenstand“ (Feuser 1995: 174) entgegen stehen können. Bilderbücher im Sachunterricht Der Beitrag von Christina Correia Guedes und Lisa Porps beschäftigt sich in Zeiten der Corona-Pandemie mit einer hoch aktuellen Fragestellung und beleuchtet am Beispiel des Bilderbuchs Drin-Bleib-Monster - Alma hat coronafrei (2020) von Sophia Phildius das Potential von Bilderbüchern zur Förderung ge‐ sundheitsrelevanter Fähigkeiten (Health Literacy). Dabei zeigen sich Lernfelder im Bilderbuch, die für die Anbahnung der Health Literacy viele Anschlussstellen liefern und auch für die Bildungsarbeit in Kita und Grundschule Anregungen geben. Der Beitrag von Susanne Drogi und Raila Karst greift das Thema Familie auf der Folie gesellschaftlicher Vielfalt auf und diskutiert verschiedene Bilder‐ bücher auf der Basis von buchbezogenen Gesprächen mit Grundschüler: innen in Hinblick auf ihr Potential für den Einsatz im Grundschulunterricht. Dabei wird u. a. der spannenden Frage nachgegangen „Was ist eigentlich Familie? “ So zeigt die Analyse der fokussierten Bilderbücher, dass ein aktuelles Ver‐ ständnis von ,Familie‘ über die Bestimmung der (nicht) anwesenden Personen hinausgeht und somit vielfältige Perspektiven einbezieht, die im Kontext einer inklusiven Gesellschaft zu thematisieren sind. Ausgehend von dem Bildungsauftrag und der Sache des inklusiven Sachun‐ terrichts werden im Beitrag von Alice Junge, Denise Lüttgering, Floreana Schmidt und Claudia Schomaker die spezifischen Verknüpfungsformen von Narration und Illustration im (Sach-)Bilderbuch im Hinblick auf die Bil‐ dungs- und Fördermöglichkeiten für sachbezogenes Lernen in heterogenen Lerngruppen fokussiert, um mögliche Kriterien zur Auswahl von (Sach-)Bilder‐ büchern aufzuzeigen. Eine Analyse exemplarischer Sachbilderbücher zeigt auf, dass deren Einsatz im inklusiven Sachunterricht auf vielfältige Weise erfolgen kann, um sowohl die Interessen und Vorstellungen der Schüler: innen als auch die fachlichen Perspektiven auf die Sache zu thematisieren. Der Beitrag von Eva Gläser gibt einen Überblick zur sachunterrichtsdidakti‐ schen Diskussion von Bilderbüchern im Grundschulunterricht mit Bezügen zur Deutschdidaktik und analysiert ausgewählte Bilderbücher in Hinblick auf ihr sachunterrichtsbezogenes und fachübergreifendes Potential. Im Fokus stehen dabei die Themen „Anderssein“, „Selbstsein“, „Erfahrung von Ausgrenzungen“, „Flucht“, „Migration“, „Fremdsein“, „kulturelle Diversität“. Der Beitrag schließt 30 Claudia Müller-Brauers, Kerstin Bräuning und Claudia Schomaker mit einem Plädoyer für einen wertschätzenden, würdigenden und nicht vor‐ dergründig zweckgebundenen Umgang mit Bilderbüchern im Unterricht, der Offenheit für verschiedene Fachdidaktiken bietet. Im Beitrag von Julia Menger werden die Möglichkeiten zur Umsetzung technischen Lernens im Sachunterricht mit Hilfe der Vorlesegeschichte Opa Peers Schnitzeljagd aufgezeigt. Die Geschichte selbst verknüpft so Ziele eines naturwissenschaftsbezogenen-technischen Sachunterrichts mit den Zielen lite‐ rarischer Bildung und eröffnet Schüler: innen auf diese Weise vielfältige Lern‐ anlässe durch kreativ-problemlösende Zugänge für technische Sachverhalte in einem inklusiven Sachunterricht. Ausgehend von der gemeinsam erarbeiteten Geschichte können Schüler: innen sich individuelle Wege im Umgang mit den dargestellten Inhalten erarbeiten. Bilderbücher im Mathematikunterricht Der Beitrag von Kerstin Bräuning und Caren Feskorn beschäftigt sich mit einem textlosen Bilderbuch und einer besonderen Aufgabenstellung. In einer ex‐ plorativen Untersuchung mit einer 2. Klasse haben die Schüler: innen Pläne zum Bilderbuch Die Überraschung von Sylvia van Ommen (2007) gezeichnet. Dabei sind „subjektive Kartografien“ entstanden, welche im Bereich der Geographie- und Sachunterrichtsdidaktik bereits in der Forschung betrachtet werden. Im Artikel werden die Pläne interdisziplinär mit Bezug auf geographiedidaktische, kunstdidaktische und mathematikdidaktische Bezüge beleuchtet und analysiert. Dabei konnten Bräuning/ Feskorn für die „drawing-by-telling“-Forschung mit Hilfe der qualitativen Bildinhaltsanalyse aufzeigen, welches Potential in den unterschiedlichen Kategorien der subjektiven Karten der Schüler: innen stecken und welche wertvollen Momente zur Anregung fachlicher Lernprozesse diese hervorbringen. Der Beitrag von Katja Poser-Kempe und Caren Feskorn widmet sich eben‐ falls einem Bilderbuch im Mathematikunterricht. Im Mittelpunkt des Beitrags steht die Analyse des Bilderbuchs Manche sind anders von Britta Teckentrup (2014) für den Kompetenzbereich „Muster und Strukturen“. Die Konzeption einer mathematischen Lernumgebung dazu wird vorgestellt und im Rahmen des Grundschulunterrichts einer 1. und 2. Klasse explorativ erprobt. Anhand der Analyse der Schüler: innen-Lösungen wird deutlich, welche inhaltlichen Aspekte der Einsatz von Bilderbüchern im Grundschulunterricht eröffnet. Die Autorinnen kommen zu dem Schluss, dass sich Bilderbücher im Mathematik‐ unterricht für handlungs- und produktionsorientierte Unterrichtsformen in besonderer Weise eignen. 31 Lernfelder und -potentiale in und von Bilderbüchern Eine empirische Studie zu einem Bilderbuch im Mathematikunterricht mit dem Schwerpunkt auf mathematischem Modellieren wird in dem Beitrag von Birgit Brandt vorgestellt. In diesem Falle beschäftigt sich die Autorin mit dem Bilderbuch 365 Pinguine von Jean-Luc Fromental und Joëlle Jolivet (2018) und stellt basierend auf einer explorativen Studie in der 3. Klasse der Grundschule Lerngelegenheiten im Bereich des Sachrechnens, speziell dem Modellieren und Problemlösen auf der Basis dieses Bilderbuchs dar. Anhand der Betrachtung kollektiver Bearbeitungsprozesse zeigt die Autorin, wie sich diese im Model‐ lierungskreislauf verorten lassen und somit die Modellierungskompetenzen gefördert werden. Erste interdisziplinäre Anknüpfungen zwischen Mathematik‐ unterricht und Sachunterricht werden durch das im Bilderbuch angesprochene Sachthema Klimawandel und seine Folgen und im Bilderbuch aufgeworfene Fragen angesprochen. Der Beitrag von Leandra Zirnstein und Kerstin Bräuning beschäftigt sich mit einem Bilderbuch aus mathematikdidaktischer Perspektive und baut auf internationalen Studien auf, die der Rezeption von Bilderbüchern posi‐ tive Effekte für das mathematische Lernen nachweisen. Damit zielt der Bei‐ trag zugleich darauf ab, die noch sehr gering ausgebaute Forschungslage in der deutschsprachigen Mathematikdidaktik diesbezüglich auszuweiten. Dazu stellen Zirnstein/ Bräuning eine Untersuchung im Mathematikunterricht der 1. und 2. Klasse vor, bei der das Bilderbuch Kopf hoch, Fledermaus von Jeanne Willis und Tony Ross (2008) explorativ erprobt und dabei Interaktionsmuster im Klassenraum gesprächsanalytisch zur Erschließung des mathematischen Inhalts herausgearbeitet wurden. Dabei konnten Zirnstein und Bräuning für die bilderbuchbasierte Unterrichtskommunikation und die inhaltliche Durchdrin‐ gung des Lerngegenstandes förderliche wie auch hemmende Interaktionsmuster identifizieren. Zum Schluss wollen wir allen Fachkolleg: innen herzlich danken, die die Beiträge begutachtet, auf ihre fachliche Qualität hin geprüft und durch ihre konstruktiven und kritischen Rückmeldungen bereichert haben. Außerdem be‐ danken wir uns herzlich bei Isabell Gerken, Miriam Silbermann, Denise Haardt und Gerrit Arndt, die uns bei der formalen Prüfung der Beiträge unterstützt haben. Hannover und Halle im August 2022, Claudia Müller-Brauers, Kerstin Bräuning und Claudia Schomaker 32 Claudia Müller-Brauers, Kerstin Bräuning und Claudia Schomaker Literatur Primärliteratur Baseler, Marja/ Brink, Annemarie van den (2018). Die Kackwurstfabrik. Leipzig: Klett Kinderbuch. Fitzpatrick, Marie-Louise (2017). Fledereule Eulenmaus. Frankfurt: Sauerländer. Müller-Brauers, Claudia/ Lehmden, Friederike von/ Lehmann, Bernd (2022a). Zu Besuch in der Roboterwelt. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. Müller-Brauers, Claudia/ Lehmden, Friederike von/ Lehmann, Bernd (2022b). Mensch, Oma! Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. Schomaker, Claudia/ Arps, Larissa (2022). Alles kaputt? ! Eine Geschichte über das Repa‐ rieren. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. Willis, Jeanne/ Ross, Tony (2008). Kopf hoch, Fledermaus! Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag. Sekundärliteratur Abraham, Ulf/ Knopf, Julia (2014a). BilderBücher in den Bildungsstandards und im Deutschunterricht. In: Knopf, Julia/ Abraham, Ulf (Hrsg.). BilderBücher. Band 2 Praxis. Baltmansweiler: Schneider, 3-10. Abraham, Ulf/ Knopf, Julia (2014b). Genres des BilderBuchs. In: Knopf, Julia/ Abraham, Ulf (Hrsg.). BilderBücher. Band 1 Theorie. Baltmansweiler: Schneider, 3-11. Axell, Cecilia/ Boström, Johan (2019). Technology in children’s picture books as an agent for reinforcing or challenging traditional gender stereotypes. International Journal of Technology and Design Education (31), 27-39. https: / / doi.org/ 10.1007/ s10798-019-09 537-1 (last accessed: 18.05.2022) Bauersfeld, Heinrich (1983). Subjektive Erfahrungsbereiche als Grundlage einer Interak‐ tionstheorie des Mathematiklehrens und -lernens. In: Bauersfeld, Heinrich/ Bussmann, Hans/ Krummheuer, Götz/ Lorenz, Jens Holger/ Voigt, Jörg (Hrsg.). Lernen und Lehren von Mathematik. Analysen zum Unterrichtshandeln II (Band 6). Bielefeld: Aulis Verlag, 1-56. Becker, Tabea (2014). Sprachliches und literarisches Lernen an Bilderbüchern. In: Knopf, Julia/ Abraham, Ulf (Hrsg.). BilderBücher. Band 2 Praxis. Baltmansweiler: Schneider, 164-174. Becker, Tabea/ Stude, Juliane (2017). Erzählen. Heidelberg: Universitätsverlag Winter. Bönig, Dagmar/ Hering, Jochen/ Thöne, Bernadette (2015). Erzählabenteuer und Mather‐ eisen in der Kita. Frühe sprachliche und mathematische Förderung mit Bilderbüchern. Bremen: Die Senatorin für Soziales, Kinder, Jugend und Frauen. 33 Lernfelder und -potentiale in und von Bilderbüchern Bönig, Dagmar/ Hering, Jochen/ London, Monika/ Nührenbörger, Marcus/ Thöne, Berna‐ dette (2017). Erzähl mal Mathe! Mathematiklernen im Kindergartenalltag und am Schulanfang. Seelze: Kallmeyer, Klett. Bräuning, Kerstin/ Ritter, Michael (2016). Katzensprünge und Mäuseschritte. Die Grund‐ schulzeitschrift (298.299), 50-53. Bräuning, Kerstin/ Müller-Brauers, Claudia/ Schomaker, Claudia (2021) (Hrsg.). Bilderbü‐ cher im Unterricht. Wissen erweitern und Sprache fördern. Praxis Grundschule 1. Bräuning, Kerstin/ Zirnstein, Leandra/ Kretschmer, Nora (2021). „Also, da sind zwei Eulen oben auf dem Ast.“ Beschreibung von Raum-Lage-Beziehungen im sprachfördernden Mathematikunterricht. Praxis Grundschule 1, 10-13. Bräuning, Kerstin/ Poser-Kempe, Katja/ Feskorn, Caren (2023 i. V.). Bilderbücher im Ma‐ thematikunterricht. Berlin: Cornelsen. Bruner, Jerome (1972). Der Prozeß der Erziehung. Berlin: Berlin-Verlag. Deniz, Hasan/ Yesilyurt, Ezgi/ Kaya, Erdogan (2021). Teaching Nature of Engineering with Picture Books. Science and Children 1, 83-89. Elia, Iliada/ Heuvel-Panhuizen, Marja van den/ Georgiou, Alexia (2010). The role of pictures in picture books on children’s cognitive engagement with mathematics. European Early Childhood Education Research Journal 18 (3), 125-147. Feskorn, Caren/ Grohmann, Wolfgang (2021). One Is a Snail, Ten Is a Crab. Mathematik mit Kopf, Herz, Hand - und Fuß. Praxis Grundschule (1), 30-33. Feuser, Georg (1998). Gemeinsames Lernen am gemeinsamen Gegenstand. In: Hildeschmidt, Anne/ Schnell, Irmtraud (Hrsg.). Integrationspädagogik. Auf dem Weg zu einer Schule für alle. Weinheim: Juventa, 19-35. Gläser, Eva (2005). Von Außenseitern, Rittern und der ersten Liebe - didaktische Überle‐ gungen zum Umgang mit moderner Kinderliteratur im Sachunterricht. In: Gläser, Eva/ Franke-Zöllmer, Gitta (Hrsg.). Lesekompetenz fördern von Anfang an. Didaktische und methodische Anregungen zur Leseförderung. Baltmannsweiler: Schneider, 59-69. Gressnich, Eva (2014). Bilderbücher im Erstleseunterricht. In: Knopf, Julia/ Abraham, Ulf (Hrsg.). BilderBücher. Band 2 Praxis. Baltmansweiler: Schneider, 148-163. Hansson, Len/ Leden, Lotta/ Thulin, Susanne (2020). Book talks as an approach to nature of science teaching in early childhood education. International Journal of Science Education 42 (12), 2095-2111. DOI: 10.1080/ 09500693.2020.1812011 (last accessed 06.08.2022) Hausendorf, Heiko/ Quasthoff, Uta M. (2005). Sprachentwicklung und Interaktion: Eine linguistische Studie zum Erwerb von Diskursfähigkeiten. http: / / www.verlag-gesprae chsforschung.de/ 2005/ pdf/ spracherwerb.pdf (last accessed: 01.05.2022) Hering, Jochen (2016). Kinder brauchen Bilderbücher. Erzählförderung in Kita und Grundschule. Seelte: Klett Kallmeyer. 34 Claudia Müller-Brauers, Kerstin Bräuning und Claudia Schomaker Heuvel-Panhuizen, Marja van den/ Boogard, Sylvia van den (2008). Picture books as an impetus for kindergartners’ mathematical thinking. Mathematical Thinking and Learning 10 (4), 341-373. Heuvel-Panhuizen, Marja van den/ Boogard, Sylvia van den/ Doig, Brian (2009). Picture books stimulate the learning of mathematics. Australian Journal of Early Childhood 34 (3), 30-39. Hoffmann-Riem, Christa (1998). Das adoptierte Kind. Familienleben mit doppelter Elternschaft. 4. Aufl. München: Fink. Hsiao, Ching-Yuan/ Shih, Pei-Yu (2015). The Impact of Using Picture Books with Preschool Students in Taiwan on the Teaching of Environmental Concepts. International Education Studies 8 (3), 14-23, doi: 10.5539/ ies.v8n3p14 (last accessed: 18.05.2022) Kahlert, Joachim (2005). Story Telling im Sachunterricht - Lernpotentiale von Ge‐ schichten. In: Reinmann, Gabi (Hrsg.). Erfahrungswissen erzählbar machen. Narrative Ansätze für Wirtschaft und Schule. Lengerich: Pabst Science Publishers, 207-222. Kaiser, Astrid (2004). Sachunterrichtserzählungen - eine alte Methode für heutigen Sachunterricht. In: Kaiser, Astrid/ Pech, Detlef (Hrsg.). Basiswissen Sachunterricht, Band 5: Unterrichtsplanung und Methoden. Baltmannsweiler: Schneider, 111-114. Kasper, Lutz/ Mikelskis, Helmut (2008). Lernen aus Dialogen und Geschichten im Phy‐ sikunterricht - Ergebnisse einer Evaluationsstudie zum Thema Erdmagnetismus. Zeitschrift für Didaktik der Naturwissenschaften 14, 7-25. Knopf, Julia/ Abraham, Ulf (2014) (Hrsg.). BilderBücher. Band 2 Praxis. Baltmansweiler: Schneider. Kubli, Fritz (2002). Plädoyer für Erzählungen im Physikunterricht. Geschichte und Geschichten als Verstehenshilfen. Ergebnisse einer Untersuchung. Köln: Aulis-Verlag. Kubli, Fritz (2005). Mit Geschichten und Erzählungen motivieren. Beispiele für den mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterricht. Köln: Aulis-Verlag. Kümmerling-Meibauer, Bettina/ Meibauer, Jörg (2015). Picturebooks and early literacy. In: Kümmerling-Meibauer, Bettina/ Meibauer, Jörg/ Nachtigäller, Kerstin/ Rohlfing, Ka‐ tharina J. (Hrsg.). Learning from picturebooks. Perspectives from child development and literacy studies. London, New York: Routledge Taylor & Francis Group, 13-32. Lieber, Gabriele (2019). Wissen kindgerecht klein geschnitten, in Form gebracht und verpackt. Sachbilderbücher im Deutschunterricht. In: Knopf, Julia/ Abraham, Ulf (Hrsg.). BilderBücher. Band 1 Theorie. Baltmannsweiler: Schneider, 85-92. Lorenz, Jens Holger (2012). Kinder begreifen Mathematik. Frühe mathematische Bildung und Förderung. Stuttgart: W. Kohlhammer. Lück, Gisela (2006). Animismen und Storytelling - Nicht nur unterhaltsames Bei‐ werk bei der Vermittlung naturwissenschaftlicher Inhalte und Deutungen. In: Lück, Gisela/ Köster, Hilde (Hrsg.). Physik und Chemie im Sachunterricht. Bad Heil‐ brunn/ Braunschweig: Klinkhardt/ Westermann, 15-26. 35 Lernfelder und -potentiale in und von Bilderbüchern Maas, Utz (2008). Sprache und Sprachen in der Migrationsgesellschaft. Die schriftkultu‐ relle Dimension. Göttingen: V & R Unipress, Univ.-Verl. Osnabrück. Marston, Jennie (2014). Identifying and using picture books with quality mathematical content. Moving beyond Counting on Frank and The Very Hungry Caterpillar. APMC 19 (1), 14-23. Martensen, Maike/ Tietjens, Kai/ Parchmann, Ilka (2007). Storytelling - eine Methode zur Kontextualisierung am Beispiel ,Strom durch Chemie‘. MNU 60 (7), 410-415. Martín Martín, Natalia/ Hageman, Jennifer L./ Montgomery, Sarah E./ Rule Audrey C. (o. J.). A Content Analysis of Thirty Children’s Picture Books about Ecology. Journal of STEM Arts, Crafts, and Constructions 4 (1), 83-120. Meibauer, Jörg (2017). Pragmatics and children´s literature. In: Giora, Rachel/ Haugh, Michael (Hrsg.). Doing pragmatics interculturally: cognitive, philosophical, and soci‐ opragmatic perspectives. Berlin: De Gruyter, 371-387. Merklinger, Daniela (2010). Schreiben Lernen durch Diktieren: Zum Verhältnis von Können, Lehren und Lernen. In: Jantzen, Christoph/ Merklinger, Daniela (Hrsg.). Lesen und Schreiben: Lernerperspektiven und Könnenserfahrungen. Freiburg: Fillibach Verlag, 149-172. Michalik, Kerstin (2019). Philosophieren mit Kindern im inklusiven Sachunterricht. In: Pech, Detlef/ Schomaker, Claudia/ Simon, Toni (Hrsg.). Inklusion im Sachunterricht. Perspektiven der Forschung. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, 63-77. Miosga, Christiane (2020). Cognitively activating and emotionally attuning interactions. Their relevance for language and literacy learning and teaching with digital media. In: Rohlfing, Katharina J./ Müller-Brauers, Claudia (Hrsg.). International Perspectives on Digital Media and Early Literacy. The Impact of Digital Devices on Learning, Language Acquisition and Social Interaction. London: Routledge, 27-49. Miosga, Christiane, Müller-Brauers, Claudia (2021). Mit Bilderbuch-Apps in Geschichten eintauchen. Ideen für den inklusiven Deutschunterricht. Praxis Grundschule 1, 28-32. Müller, Claudia (2012). Kindliche Erzählfähigkeiten und (schrift-)sprachsozialisatorische Einflüsse in der Familie. Eine longitudinale Einzelfallstudie mit ein- und mehrspra‐ chigen (Vor-)Schulkindern. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. Müller, Claudia/ Stark, Linda (2015). Sprachdidaktische Anreize in der Kinderliteratur. Ein Typologisierungsversuch. In: Eder, Ulrike (Hrsg.). Sprache erleben und lernen mit Kinderliteratur I. Theorien, Modelle und Perspektiven für den Deutsch als Zweitsprachenunterricht. Wien: Praesens Verlag, 95-117. Müller-Brauers, Claudia/ Stark, Linda/ Lehmden, Friederike von (2017). Einpassung lite‐ rater Strukturen. Wie Kinder den Input aus Vorlesesituationen produktiv nutzen. Frühe Bildung 6 (4), 199-206. Müller-Brauers, Claudia/ Miosga, Christiane/ Fischer, Silke/ Maus, Alina/ Potthast, Ines (2020a). Narrative Potential of Picture-Book Apps: A Mediaand Interaction-Oriented 36 Claudia Müller-Brauers, Kerstin Bräuning und Claudia Schomaker Study. Frontiers in Psychology 11. DOI: doi.org/ 10.3389/ fpsyg.2020.593482 (last ac‐ cessed: 10.04.2022) Müller-Brauers, Claudia/ Boelmann, Jan/ Miosga, Christiane/ Potthast, Ines (2020b). Di‐ gital children’s literature in the interplay between visuality and animation. A model for analyzing picture book apps and their potential for children’s story compre‐ hension. In: Rohlfing, Katharina J. / Müller-Brauers, Claudia (Hrsg.). International Perspectives on Digital Media and Early Literacy. The Impact of Digital Devices on Learning, Language Acquisition and Social Interaction. London: Routledge, 161-179. Müller-Brauers, Claudia/ Lehmden, Friederike von (2021). GA: : NZ geMÜTlich - Bilder‐ buchinput und kindliche Geschichtenwiedergaben. In: Börjesson, Kristin/ Meibauer, Jörg (Hrsg.). Kinderliteratur und Pragmatikerwerb. Tübingen: Narr Francke Attempto, 207-232. Müller-Brauers, Claudia/ Miosga, Christiane/ Herz, Cornelius (2021). Animationen in Bilderbuch-Apps - Überlegungen zur Förderung des literarischen Verstehens und Handelns im inklusiven Deutschunterricht. MiDU - Medien im Deutschunterricht: Literarisches Verstehen im Kontext von Digitalisierung und Inklusion 3 (1), 1-19. doi.org/ 10.18716/ ojs/ midu/ 2021.1.5 (last accessed: 06.08.2022) Müller-Brauers, Claudia/ Schomaker, Claudia (i. V.). Zu den Potentialen digitaler Appli‐ kationen für die Rezeption von Bilderbüchern. Neumann, Michelle M. (2016). Young children's use of touch screen tablets for writing and reading at home: Relationships with emergent literacy. Computers & Education 97, 61-68. Quasthoff, Uta (1980). Erzählen in Gesprächen: Linguistische Untersuchungen zu Struk‐ turen und Funktionen am Beispiel einer Kommunikationsform des Alltags. Tübingen: Narr. Ritter, Alexandra/ Ritter, Michael (2020). Lesepraxen im Medienzeitalter. Vorlesege‐ spräche zu analogen und digitalen Bilderbüchern: ein Projektbericht. München: Kopaed. Roos, Sabrina (2021). „Ich weiß das nur im Kopf, nicht in der Hand“. Die Gewichtsvor‐ stellungen der Kinder nutzbar machen. Grundschule Mathematik (69), 16-19. Russo, James/ Russo, Toby/ Roche, Anne (2021). Using Rich Narratives to Engage Students in Worthwhile Mathematics: Children’s Literature, Movies and Short Films. Education Sciences 11, 1-19. Schekatz-Schopmeier, Sonja (2010). Storytelling. Eine narrative Methode zur Vermittlung naturwissenschaftlicher Inhalte im Sachunterricht der Grundschule. Göttingen: Cu‐ villier Verlag. Schomaker, Claudia (2018). Bauen und Konstruieren - Problemlösendes Lernen im technischen Sachunterricht. Grundschule Sachunterricht (78), 2-6. 37 Lernfelder und -potentiale in und von Bilderbüchern Schomaker, Claudia/ Friege, Gunnar (2020). Warten, reparieren, wegwerfen, erneuern… Wann ist was sinnvoll? Grundschule Sachunterricht (85), 6-13. Selting, Margret et al. (2009). Gesprächsanalytisches Transkriptionssystem 2 (GAT 2). Gesprächsforschung - Online-Zeitschrift zur verbalen Interaktion, 353-402. http: / / w ww.gespraechsforschung-ozs.de/ heft2009/ px-gat2.pdf (last accessed: 06.08.2022) Smeets, Daisy J.H./ Bus, Adriana G. (2015). The interactive animated e-book as a word learning device for kindergartners. Applied Psycholinguistics 36, 899-920. Staiger, Michael (2019). Erzählen mit Bild-Schrifttext-Kombinationen. Ein fünfdimensi‐ onales Modell der Bilderbuchanalyse In: Knopf, Julia/ Abraham, Ulf (Hrsg.). Bilderbü‐ cher. Deutschdidaktik für die Primarstufe, Band 2. 2. Aufl. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 12-23. Thiele, Jens (2000). Das Bilderbuch. In: Thiele, Jens (Hrsg.). Handbuch Kinderliteratur. Grundwissen für Ausbildung und Praxis. Freiburg im Breisgau/ Basel/ Wien: Herder, 70-98. Thiele, Jens (2003). Das Bilderbuch. Ästhetik - Theorie - Analyse - Didaktik - Rezeption. Bremen/ Oldenburg: Universitätsverlag Aschenbeck & Isensee. Vogtländer, Anna (2020). Bilderbücher im Kontext früher mathematischer Bildung: eine Untersuchung zum Einsatz von Bilderbüchern im Kindergarten. Wiesbaden: Springer-Verlag. von Lehmden, Friederike/ Müller-Brauers, Claudia/ Belke, Eva (2022). Grammatikförde‐ rung mit den Litkey-Bilderbüchern. Das Handbuch für Kita und Grundschule. Balt‐ mannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. Weinrich, Harald (2007). Textgrammatik der deutschen Sprache. 4. Aufl. Darmstadt: Wiss. Buchges. Wessel, Lena (2015). Fach- und sprachintegrierte Förderung durch Darstellungsvernet‐ zung und Scaffolding. Ein Entwicklungsforschungsprojekt zum Anteilbegriff. Wies‐ baden: Springer. Wulff, Nadja (2017). Sprachentwicklung vor der Schule. In: Hoffmann, Ludger/ Ka‐ meyama, Shinichi/ Riedel, Monika/ Şahiner, Pembe/ Wulff, Nadja (Hrsg.). Deutsch als Zweitsprache. Ein Handbuch für die Lehrerausbildung. Berlin: Erich Schmidt Verlag, 256-267. Yilmaz, Melek Merve/ Uyar, Rabia Özen/ Aslan, Durmuş (2020). Misrepresentation of science concepts in Turkish picture books. Issues in Educational Research 30 (3), 1183-1203. www.iier.org.au/ iier30/ yilmaz.pdf (last accessed: 18.05.2022). Yuliana, Ivo/ Cahyonoc, Muhamad Edi/ Widodo, Wahono/ Irwanto, Irwanto (2021). The Effect of Ethnoscience-Themed Picture Books Embedded Within Context-Based Learning on Students’ Scientific Literacy. Eurasian Journal of Educational Research 92, 317-334. DOI: 10.14689/ ejer.2021.92.16. 38 Claudia Müller-Brauers, Kerstin Bräuning und Claudia Schomaker Zipke, Marcy (2017). Preschoolers explore interactive storybook apps: The effect on word recognition and story comprehension. Education and Information Technologies 22 (4), 1695-1712. 39 Lernfelder und -potentiale in und von Bilderbüchern Leerstellen als ästhetisches Prinzip Othering und sensible Inszenierungen von Differenz im Bilderbuch Katrin Kreuznacht Abstract: Differenz wird kontinuierlich hergestellt. Dies geschieht in alltäglichen Praxen aber immer auch diskursiv - so (re-)produzieren auch Bilderbücher Differenz. In diesem Beitrag sollen insbesondere das ästhe‐ tische Prinzip der Leerstelle sowie Multiperspektivität (auch als Spielart der Text-Bild-Relation) als produktive Formen der Differenzinszenierung vorgestellt werden. Nach einer theoretischen Einführung in Differenz und ihre diskursive Hervorbringung wird insbesondere das Potential des Ambiguen, ästhetisch realisiert in Leerstellen, für eine differenzsensible Inszenierung des an‐ deren gezeigt werden. Dabei irritieren Leerstellen die Matrix sprachlicher Kategorien: In der Besetzbarkeit der Leerstellen kann Differenz ohne direkten Rückgriff auf symbolische Ordnungen inszeniert werden und erlaubt so auch in der Rezeption mehrdeutige und subjektiv angeeignete Deutungen des anderen. Diese Überlegungen werden anhand von Auszügen verschiedener Bilder‐ bücher illustriert, die das Thema Differenz in ihren ästhetischen Struktur‐ gebungen nachzeichnen und zum Inhalt machen. Inhaltlich kommt hier auch dem Raum des Fantastischen eine besondere Bedeutung zu. Der Beitrag schließt mit einer Conclusio, die Rückschlüsse für die inklusive Praxis in Grundschulen mit einbezieht. 1 Differenz Behinderung und Nichtbehinderung gehören als konzeptuelles Paar zusammen. Als Ausdruck dieser Relationalität schlägt unter anderem Lindmeier (siehe Lind‐ meier 2018: 15) den Begriff Nicht*Behinderung vor. Impliziert wird hier, dass Behinderung nicht ohne die Referenz auf Nichtbehinderung gedacht werden kann - und andersherum. Diese Verhältnismäßigkeit ist der Kern von Differenz. Im folgenden ersten Abschnitt soll versucht werden, die Struktur von Differenz theoretisch zu klären. Gleichzeitig wird bereits auf beispielhafte Inszenierung von Differenz im Bilderbuch zurückgegriffen, die das begrifflich-theoretische Prinzip illustriert und so verdeutlicht. Nach Ricken und Reh (2014: 28) sind Unterscheidungen zu treffen und Unter‐ schiede festzustellen zentrale Vorgänge, um Differenz herzustellen. Dabei geht es nicht nur um das Unterscheiden, sondern im Kern auch darum, keinen festen Ursprung zu identifizieren, keinen archimedischen Punkt einnehmen zu können und insofern sich permanent an Referenzen verwiesen zu sehen (siehe ebd.). Vorliegend ist also eine Art doppelte Bewegung: Auf der einen Seite impliziert Differenz eine radikale Dimension: Wer behindert ist, kann nicht nichtbehindert sein. Gleichzeitig ist diese radikale Unterscheidung immer auch ein sich in binären Oppositionen zeigendes Konstrukt. So entsteht eine gesellschaftlich-kulturelle Ordnung, die sich in permanenten (konstruierten) Unterscheidungen aufrechterhält. Für das Subjekt werden diese evaluativen Unterscheidungen als Norm verinnerlicht. Im Moment der Herstellung von Differenz wird die Passung (oder Nicht-Passung) zwischen den für das Subjekt normativ gewordenen Erwartungen und der vorgefundenen Realität verhan‐ delt. Das Aushandeln dieses Passungsverhältnisses wird in einem Bild-Text-Zitat aus dem Bilderbuch Peter, Kater auf zwei Beinen (Robert/ Juillet 2019, siehe Abb. 1) verdeutlicht. Zu sehen ist der auf den Hinterbeinen in einem Pappkarton stehende Kater Peter, der den sich auf Augenhöhe befindenden, hier knieenden Protagonisten Phil erblickt. Phil drückt seine Verwunderung aus und äußert fragend: „Na so was, Peter, du kannst ja stehen? “ (ebd.: 7). In der Visualität des stehenden Katers in Verbindung mit der schriftsprachlich zum Ausdruck ge‐ brachten Verwunderung wird deutlich, dass Differenz im Spannungsverhältnis zwischen Erwartungen und der Anpassungsleistung an diese Erwartungshal‐ tungen konstruiert wird. Genau dieses Spannungsverhältnis kann hier erzählt, also durch Bild- und Schrifttext narrativ inszeniert werden. Im Denken und Verstehen von Differenz steht folglich immer ein Verhältnis im Fokus. Das be‐ deutet, dass in der Auseinandersetzung mit Differenz analytische Rückschlüsse in Bezug auf gesellschaftliche und kulturelle Zusammenhänge gezogen werden können, die bestimmte Praxen, Entitäten oder Zusammenhänge normativ fest‐ legen und erwarten oder eben nicht erwarten. Das Bild der stehenden Katze auf den Hinterbeinen bricht an dieser Stelle mit Phils Erwartungshaltung einer auf vier Beinen laufenden Katze - in diesem Bruch entsteht Differenz. 41 Leerstellen als ästhetisches Prinzip Abb. 1: Na, so was, Peter … ©mairisch Verlag. Differenz an sich ist erst einmal kein problematisches Konzept. Es beschreibt das permanente Sich-Unterscheiden, das permanente Aufeinander-Verweisen. Es zeigt die Relationalität, Verhältnismäßigkeit, die sich interessanterweise oft in Bipolaritäten zeigt - Behinderung/ Nicht*Behinderung, männlich/ weib‐ lich, usw. Das Problem dahinter ist, auch in pädagogischen Kontexten, dass diese Kategorisierungen und diese polare Konstruiertheit mit einer Machtprob‐ lematik einhergehen. In dem Moment, in dem ich als different adressiert werde, zum Beispiel als behindert, werden mir damit bestimmte Räume, Rechte und Anerkennungsrahmen entzogen. Das heißt, das Problematische ist nicht Differenz an sich, sondern die damit einhergehende Zuteilung von Ressourcen von symbolischem und kulturellem Kapital (siehe Bourdieu 2007), die diese bestimmten Differenzlinien mit sich bringen. An dieser Stelle wird in Verweis auf Riegel auch deutlich, dass Differenz immer in einem Wechselspiel zwischen Geprägt-Sein, also zwischen Erwartungen, die sozio-kulturell vermittelt sind und aktiver Herstellung entsteht (siehe Riegel 2016: 178). Jede Handlung stellt also Differenz her. 42 Katrin Kreuznacht 1 Budde stellt „die Gefahr der Reifizierung, das heißt, dass die vorausgesetzten Kategorien im Forschungsprozess nicht nur rekonstruiert, sondern überhaupt erst konstruiert werden […]“ heraus (Budde 2014: 136). Es drohe so das Risiko, die feldeigenen Ordnungen zu verkennen, weil die Ordnungs‐ kategorien und damit die Vergleichsdimensionen bereits vorab festgelegt und so mit Bedeutungszuschreibungen aufgeladen sind.“ (ebd.). Dieses Problem der Reifizierung besteht nicht nur in Zusammenhängen der Feldforschung, sondern auch im diskursiven Rückgriff auf symbolische Kategorien. 2 Zu Inszenierungspotentialen von Differenz im Bilderbuch Auf der einen Seite beschreibt Differenz also eine Struktur, die Radikalität und Relativität nebeneinanderstellt. Auf der anderen Seite gehen aus dem Bestehen von Differenz bestimmte Kategorien hervor, die machtdurchzogen sind und Ungerechtigkeiten hervorbringen und stärken. In diesem Beitrag wird die These aufgestellt, dass Bilderbüchern eine gewisse Potentialität hinsichtlich einer sensiblen Inszenierung von Differenz innewohnt. Im Folgenden versuche ich zu zeigen, dass sich diese Potentialität aus dem für das Bilderbuch konstitutiven Merkmal der Polyphonie sowie in der durch die Bild-Text-Bezüge entstehenden Multiperspektivität bildet. Tzvetan Todorov führt die analytischen Kategorien von histoire und discours ein (siehe Todorov 1978: 35 f.). In Todorovs Unterschei‐ dung beschreibt die histoire das Was, den Plot einer Erzählung, während der discours das Wie, die Art und Weise der erzählerischen Gestaltung umschreibt. Polyphonie und Multiperspektivität sind formbezogene Merkmale des Bilder‐ buchs und können der Ebene des discours zugeordnet werden. Ein weiteres Potential des Bilderbuchs in Bezug auf Differenzsensibilität zeigt sich eher auf Ebene der histoire: So versuche ich ferner zu zeigen, dass der im Bilderbuch bespielbare Raum des (Halb-)Fantastischen die Inszenierung von Differenz ermöglicht, ohne machtdurchzogene Kategorien zu reifizieren. 1 Die folgenden Abschnitte sollen dafür genutzt werden, die aufgestellte These anhand verschie‐ dener Bilderbücher zu illustrieren, anschließend zu resümieren und mit einem inklusiven Literaturunterricht in der Grundschule zusammenzudenken. Auf Ebene des discours stützt sich die These auf das dem Bilderbuch inhärente Potential der Polyphonie, also der Mehrstimmigkeit. Dazu arbeitet u. a. Jens Thiele aus, dass „das Bilderbuch eine künstlerisch-literarische Besonderheit [darstellt], weil in diesem Medium gezeichnete, gemalte oder gedruckte Bilder, Illustrationen, mit einem narrativen Text zu einer Einheit zusammengefügt werden“ (Thiele 2001: 31). In einem Bilderbuch findet sich also eine konti‐ nuierlich vorhandene Polyphonie (mitunter auch Multiperspektivität), weil Bildebene und lautsprachlich gestaltete Textfläche qua Genre nebeneinander laufen. Oetken bezeichnet dieses Phänomen als „bimediale[s] Wechselspiel von 43 Leerstellen als ästhetisches Prinzip Bildtext und Sprachtext“ (Oetken 2017: 245). Dieses Wechselspiel ist dynamisch. Illustrationen und Sprachtext sind Elemente des Bilderbuchs, die sich „berühren, durchdringen, die sich wechselseitig ablösen und wieder zusammenkommen“ (Thiele 2005: 11). Durch diese konstitutive Mehrstimmigkeit ist es, so meine Annahme, mög‐ lich, die Relationalität, die den Kern von Differenz ausmacht, auf die Bühne zu bringen. Im Beispiel aus Peter, Kater auf zwei Beinen (siehe Abb. 1), in dem die Textfläche Phils Überraschung und damit auch die Abweichung von seiner Erwartung ausdrückt und in dem die Bildebene den im Pappkarton stehenden Kater Peter inszeniert, kann so das auszulotende Passungsverhältnis, das Differenz ausmacht, aufgeführt werden. In Bezug auf die histoire, den Plot der Bilderbucherzählungen, eignen sich Bilderbücher u. a. dann besonders, um Differenz sensibel zu inszenieren, wenn sie den Raum des (Halb-)Fantastischen nutzen. So wird in Peter, Kater auf zwei Beinen erzählt, dass ein Kind, Phil, einen Kater trifft, der auf zwei Beinen läuft. Die beiden können sich unterhalten und entwickeln im Fortgang des Bilderbuchs eine freundschaftliche Beziehung. Dabei gibt es in der Erzählung eine Anbindung an die Realität der Leser: innen. Leser: innen kennen Kinder, sie kennen Katzen und die dahinterliegenden Konzepte. Daran knüpft die histoire an. Gleichzeitig werden hier (halb-)fantastische Elemente inszeniert. Denn Peter ist eine Katze, die sprechen kann, die auf zwei Beinen rennen kann, die Skateboard fährt. In diesem inszenatorischen Spiel aus bekannten Konzepten und Abweichung verbirgt sich ein Potential: Hier wird die Struktur von Differenz auf die Bühne gebracht, ohne machtdurchzogene Kategorien zu reifizieren. Differenz wird inszeniert, indem über eine Skateboard fahrende Katze gesprochen wird. Es gibt die Erwartungshaltung ‚Katzenverhalten‘ und es gibt den im Bilderbuch inszenierten Bruch mit dieser Erwartungshaltung. Die hier gezeigte Katze liegt nicht schnurrend auf dem Sofa, sie fährt Skateboard und tanzt - das ist die Differenz. Im Kontext dieses Bilderbuchs kann daher über Differenz nachgedacht werden, ohne ein Machtgefälle zu (re-)produzieren. Wäre diese Erzählung nicht im halbfantastischen Raum inszeniert, wäre diese Konstellation anders: Würde das Bilderbuch beispielsweise erzählen, wie Phil ein Kind im Rollstuhl trifft, dann aktivieren Leser: innen in Transaktion mit dem Text bestimmte Bilder von Behinderung - das gesellschaftlich etablierte Machtgefälle Behinderung/ Nichtbehinderung, das mit einer bestimmten Wer‐ tung verbunden ist, würde reproduziert. Bilderbücher, die machtdurchzogene Kategorien reifizieren, existieren in nicht unerheblichen Mengen - und haben eine klare Berechtigung, beispiels‐ weise in Kontexten von Psychoedukation und Wissensvermittlung (u. a. Haag/ 44 Katrin Kreuznacht Moreno 2017). Nichtsdestotrotz folgen diese Bilderbücher den etablierten Dif‐ ferenzschemata. Eine etablierte Matrix der Differenz bedient beispielsweise das Bilderbuch Florian lässt sich Zeit (Samsone 2007). Wie der Titel bereits verheißen lässt, zeichnet sich die Figur Florian vor allen Dingen darin aus, dass er die Dinge, die der Alltag erfordert, in großer Langsamkeit vollzieht. Leser: innen sehen Florian, der sich beispielsweise langsam die Schuhe zubindet (siehe ebd.: 10). Der Protagonist und auch die Erzählinstanz begegnen Florian zwar mit großem Verständnis - gleichzeitig ist bekannt, dass Langsamkeit im Kontext einer neoliberalen Gesellschaft, in der Produktivität und Effizienz wichtige Werte bilden, ein Problem ist. Während auf einer manifesten Ebene also eine Akzeptanz von Florians Langsamkeit gezeigt wird (und diese Akzeptanz mögli‐ cherweise auch appellativ-moralisch von den Rezipierenden eingefordert wird), wird latent verhandelt, dass Florians Different-Sein in Bezug auf vorherrschende Produktivitätsfetischismen durchaus zu problematisieren sind. Das heißt, sobald eine Erzählung die Differenzkategorie Behinderung konkret auf die Bühne ruft, werden Machtgefälle reproduziert. Diese Prozesse können als Othering (Spivak 1985) beschrieben werden. Das entscheidende Moment von Othering liegt darin, dass in einer wirkmächtigen Verschränkung und im Zusammenspiel von hegemonialen alltäglichen, fachlichen, wissenschaftlichen und politischen Diskursen und Bildern, mit Mitteln der Zuschrei‐ bung, Essentialisierung und Repräsentation eine bestimmte Gruppe erst als solche, dann als Andere diskursiv hervorgebracht und identitär festgeschrieben wird. (Riegel 2016: 52). Für den analytischen Prozess der Rezipierenden des Bilderbuchs bedeutet das eine Einschränkung - hier kann die Struktur von Differenz nur im Kontext von machtgeformter Ungleichheit verstanden werden. Im Bilderbuch Peter, Kater auf zwei Beinen haben Leser: innen hingegen die Möglichkeit, Differenz als Ausdruck von Relationalität, als Moment der Nicht‐ passung zwischen Erwartung und vorgefundener Realität ohne hierarchisches Moment zu verstehen: Denn für Konzepte wie Produktivität, Effizienz und Leistung ist es völlig irrelevant, ob ein Kater schnurrt und schläft oder aber Skateboard fährt. 3 (Visuelle) Lektüren ausgewählter Bilderbücher Im Folgenden sollen Lektüren von fünf beispielhaften Bilderbüchern vorge‐ nommen werden, die das inszenatorische Potential von Differenz im Bilderbuch auf unterschiedliche Art und Weise zur Schau stellen. So können verschiedene 45 Leerstellen als ästhetisches Prinzip 2 „Leerstellen indes bezeichnen weniger eine Bestimmungslücke des intentionalen Ge‐ genstands bzw. der schematisierten Ansichten als vielmehr die Besetzbarkeiten einer bestimmten Systemstelle im Text durch die Vollendung des Lesers.“ (Iser 1994: 284). Modi der Differenzinszenierung illustriert werden, gleichzeitig werden ver‐ schiedene Texte vorgestellt, die im Kontext von Unterricht und pädagogischer Praxis relevant sind. In der Auswahl der Bilderbücher wird eine Bewegung von einer eher abstrakten Inszenierung von Differenzstrukturen hin zu einer eher an Kategorien orientierten Darstellung von Differenz vollzogen: In dem Bilderbuch Ausrufezeichen (Krouse Rosenthal/ Lichtenheld 2014) wird Differenz abstrakt und symbolisch verhandelt, das bisher bereits bemühte Peter, Kater auf zwei Beinen (Robert/ Juillet 2019) arbeitet mit der Inszenierung von Differenz im (halb-)fantastischen Raum und stützt sich daher weniger auf die klassischen Differenzkategorien Gender, Dis*ability, Class, Race und Age (siehe Walgenbach 2011: 114), sondern verhandelt Differenz eher auf einer in der Erzählung mitlaufenden Meta-Ebene. Anschließend wird am Beispiel von Constanze von Kitzings Ich bin wie du - ich bin anders als du (2019) eine andere discours-Form gezeigt - so funktioniert die sensible Inszenierung von Differenz hier über das ästhetische Prinzip der Leerstellen (siehe Iser 1994: 284). 2 Im Bilderbuch Von den Sternen am Himmel zu den Fischen am Meer (Thom et al. 2020) wird die Differenzkategorie Gender inszeniert und gleichsam qua Inszenierung im (halb-)fantastischen Raum ein Stück weit dekonstruiert. Der Analyseteil dieses Beitrags schließt mit der Auseinandersetzung mit Kirsten Boies Erzählung Juli und das Go-Kart (2005), in dem wiederum mit Leerstellen und verschiedenen Perspektiven auf das Phänomen Behinderung gearbeitet wird. 3.1 Ausrufezeichen! Abstraktion und (halb-)fantastische Räume Zentrale ästhetische Prinzipien für das 2014 erstveröffentlichte Bilderbuch Ausrufezeichen! der Autor: innen Amy Krouse Rosenthal und Tom Lichtenheld sind die Inszenierung im (halb-)fantastischen Raum und das damit verbundene Verhandeln von Differenz auf einer abstrakten Ebene. Ausrufezeichen! ist keine Erzählung über die einzige weiblich gelesene Person im Vorstand eines bör‐ sennotierten Unternehmens oder über ein blindes Kind in einer stark visuell orientierten Umgebung: Protagonist des Bilderbuchs ist ein Ausrufezeichen, das gemeinsam mit Punkten lebt und sich an verschiedenen Stellen different fühlt. Die erste Seite des Bilderbuchs zeigt ein schmales, in der Länge etwa die Hälfte der als vergilbtes, liniertes Notizheftblatt gestalteten Seite einnehmendes Ausrufezeichen. Der Punktteil des Ausrufezeichens ist kreisförmig gestaltet und zeigt eine zeichnerisch stark vereinfachte Mimik bestehend aus zwei Punkten und einem einseitig leicht nach unten zeigenden, den Mund symbolisierenden 46 Katrin Kreuznacht Strich. Als Schrifttext ist diese Notizheftseite in großer Schrift hinzugefügt: „Es fing schon damit an, dass er immer und überall auffiel“ (Krouse Rosen‐ thal/ Lichtenheld 2014: 1). Hier wird das Thema des Bilderbuchs eröffnet und verdeutlicht. Diese Narration des Auffallens und Nicht-Hineinpassens wird auf den darauffolgenden Seiten weiter ausgeführt. Dabei wird auch deutlich, dass das Ausrufezeichen sich unwohl mit dieser Situation unter lauter Punkten fühlt: „Er tat alles, um mehr wie die anderen zu sein.“ (ebd.: 6). Gleiches, Ähnliches und Anderes wird hier auch in der Graphik der Zeichen (Ausrufezeichen = Punkt + Strich) mitverhandelt. Im Fortgang des Bilderbuchs trifft das Ausrufezeichen auf ein Fragezeichen. Dieses aufgeschlossene Fragezeichen stellt viele Fragen. Es entsteht im Sinne einer Polyphonie von Schrift- und Bildsprache ein Spiel mit Raum und Bildhaften - das Fragezeichen nimmt den Raum symbolisch und im Konkret-Bildhaften förmlich mit all seinen Fragen ein- bis das Fragezeichen mit einem graphisch eine Doppelseite einnehmenden „Stopp! “, das entsprechend der Bildsprache als laut und einnehmend gedeutet werden darf, interveniert. Auf einer Wirkungsebene kann hier Thiele angeführt werden, der große Mög‐ lichkeiten der Fantasieproduktion beobachtet, „wenn Typografie und Bild ihre vertrauten Ordnungssysteme aufgeben“ (Thiele 2005: 24). Im Spiel mit der Ty‐ pografie wird hier eine Wahrnehmungskonvention gebrochen, die produktive Irritation hervorrufen. Die „verknoteten, erzählenden Symbolebenen“ (ebd.) inszenieren, was das Ausrufezeichen zu fühlen scheint: Das selbstwirksame (groß geschriebene, Bildraum einnehmende) „Stopp! “ wird für das Ausrufe‐ zeichen zu einer Art Evidenzerlebnis. Es fängt an sich auszuprobieren und findet, ausgelöst durch die Begegnung und der Anerkennungserfahrung mit dem Fragezeichen, in eine auf sich selbst bezogene differenzwertschätzende Rolle. In der Abstraktion der Figuren verbirgt sich ein großes Potential (auch beispielweise für die Anschlusskommunikation (Kepser/ Abraham 2016: 120) im Rahmen des Grundschulunterrichts): Im Sinne einer deutenden Transaktion mit dem Text können unterschiedliche Leser: innen mit unterschiedlichen Diffe‐ renzerfahrungen unterschiedliche Identifikationsmöglichkeiten im Bilderbuch Ausrufezeichen! ausgestalten. Der Situation des Ausrufezeichens kann sich aus unterschiedlichen Perspektiven identifikatorisch angenähert werden, gerade weil es als Figur abstrakt gestaltet ist. In der Auseinandersetzung mit dem Ausrufezeichen findet also eine Reflexion eigener Differenzerfahrungen statt - dass die Figur Ausrufezeichen weder Gender, noch Race, weder sozio-ökonomi‐ schen Status noch Familiensituation hat, erhöht das Identifikationspotential und rückt gleichzeitig die Struktur von Differenz in den Fokus der Verhandlungen: Die Struktur der Differenz, das Nebeneinander von Radikalität und Relativität, die Differenz erst hervorbringt, kann mithilfe des Verhältnisses von Punkt, 47 Leerstellen als ästhetisches Prinzip Ausrufezeichen und Fragezeichen verstanden und verhandelt werden. Durch den hohen Abstraktionsgrad kommt diese Differenzinszenierung weitgehend ohne die Reproduktion von Klischees und Machtgefällen aus. 3.2 Peter, Kater auf zwei Beinen als Spiel mit Relation und Norm Peter, Kater auf zwei Beinen, das von Nadine Robert geschrieben und durch Jean Juillet illustriert wurde, ist 2019 im mairisch Verlag erschienen und wurde bereits in Kapitel 2 vorgestellt. Herausgestellt wurde hier, dass das Bilderbuch auf einer discours-Ebene mit dem für das Bilderbuch konstitutiven Merkmal der Polyphonie arbeitet: Über die rezeptive Verbindung von Bild- und Textsprache kann verdeutlicht werden, dass Differenz relational ist und als eine Art Pas‐ sungsbewegung zwischen Erwartung und vorgefundener Realität strukturiert ist. In Peter, Kater auf zwei Beinen fügen sich die jeweiligen Doppelseiten zu einer Illustration zusammen. Der untenstehende Ausschnitt (siehe Abb. 2) verdeutlicht die Mehrstimmigkeit des Bilderbuchs. Als Textfläche ist die Frage von Pam, einer Freundin des Protagonisten Phil zu lesen: „Und spielt er gern mit Wollknäueln? “ (ebd.: 19). Visuell wahrnehmbar ist der Kater Peter, der die linke Bildseite einnimmt und lustlos, mit einem nahezu gequälten Ausdruck im Katzengesicht, die Pfote in Richtung eines ein Stück weit ausgerollten Wollknäuels hebt. Abb. 2: Cool. Und spielt er gern mit Wollknäulen? ©mairisch Verlag. 48 Katrin Kreuznacht Durch das Spiel aus Text- und Bildsprache wird das Passungsverhältnis aus Erwartung (‚Katzen spielen gerne mit Wolle‘) und vorgefundener Realität (‚Peter interessiert sich nicht für Wolle‘) symbolisiert und inszeniert so eines der Strukturelemente von Differenz. Diese Normabweichung wird inszenatorisch wiederholt: Pam fragt verschiedene katzentypische Verhaltensweisen ab - Peter negiert diese Konzepte, aber erläutert, Peter koche gerne Tee, fahre gerne Skateboard und gebe gute Massagen. Gleichzeitig wird die Beziehung zwischen Peter und Phil als ein starkes Annehmen und damit ein Stück weit auch Differenz überwindendes Prinzip dargestellt. So erklärt Phil Pam: „Er ist eben ein Kater auf zwei Beinen“ und erläutert später, am allerbesten finde er, dass Peter sein Freund sei (Robert/ Juillet 2019: 54). In dieser Anerkennung, die durch die freundschaftlich-annehmende Beziehung von Peter und Phil entsteht, setzt Peter ein Stück weit eine neue Normalität. Das normativ Allgemeine (Konzept Katze: schnurrt und spielt mit Wolle) wird in der Beziehungserfahrung mit Peter, dem stehenden Kater, weniger wichtig und verliert so auch an normierender Kraft. Gleichsam erlaubt die histoire im (halb-)fantastischen Raum eine Art Entkopplung des Realitätsprinzips: Wie bereits in Kapitel 2 erläutert, ist das an Leistung gebundene Fähigkeitskonzept von Dis*ability durch die Inszenierung eines Katers, der nicht im Sinne einer neoliberal organisierten Gesellschaft funktionieren muss, ausgehebelt. Das führt dazu, dass die Struktur von Differenz, die dem Phänomen Dis*ability vorgelagert ist, erst einmal verstanden werden kann, ohne dass machtvolle Kategorien reifiziert werden. In diesem Bilderbuch findet für erwachsene und kindliche Leser: innen eine Wahrnehmung von Differenz statt, die über ein rein kognitives Verstehen hinaus geht: Leser: innen sind affiziert, nehmen visuell wahr und haben so eine Art sinnlich-ästhetische Erfahrung von Differenz ohne Stereotype nachzuzeichnen. 3.3 Ich bin anders als du. Ich bin wie du - Leerstellen als Mittel der sensiblen Differenzinszenierung Im Sinne der Bewegung von einer recht abstrakten Inszenierung von Differenz (Ausrufezeichen! ) hin zu einer an Differenzkategorien orientierten Darstellung ist Constanze von Kitzings Ich bin anders als du (2019) in der Mitte zu verorten. Ich bin anders als du - Ich bin wie du ist ein Beispiel für ein Bilderbuch, dessen histoire weniger im fantastischen Raum denn in klarer Referenz auf Kinder konstituiert wird. In diesem Bilderbuch, das mit der sich stets wiederholenden Textfläche „Ich bin anders als du, weil…“ spielt, wird Differenz entsprechend deutlich markiert. Gleichzeitig arbeitet das Bilderbuch mit Leerstellen. Ähnlich wie in Peter, Kater auf zwei Beinen sind auch in diesem Bilderbuch die jeweiligen Doppelseiten als visuelle Einheit gestaltet. Als sich wiederholendes Prinzip ist 49 Leerstellen als ästhetisches Prinzip auf der ersten Doppelseite von 20 Doppelseitenpaaren eine Szene gestaltet, die mit der oben bereits beschriebenen Textfläche versehen ist. Leser: innen treffen hier auf eine Leerstelle, die durch das „…“ sogar markiert ist und beginnen unweigerlich zu imaginieren, welche Form der Differenz hier inszeniert wird. Die durch die drei Pünktchen repräsentierte Leerstelle des Textes wird also imaginativ (und dadurch auch durch die Erfahrungs- und Lebenswelt der jeweilig lesenden Person inspiriert) gefüllt. Dann blättern Lesende um und sind möglicherweise mit internalisierten Klischees konfrontiert. Das stereo‐ type Denken von Differenz, das sich weniger an die Struktur denn an die gesellschaftlich relevanten Kategorien heftet, wird so unaufgeregt und doch prägnant unterlaufen. Diese narrative Strategie, „wenn also die Bilder und Texte im Kopf mit den Bildern und Texten im Buch kollidieren“ (Bannasch 2007: 118) ist in meiner Perspektive immer auch ein mehrstimmige: Eine Zweitklässlerin füllt die Leerstelle imaginativ möglicherweise anders als ein dreijähriger Rezipient, der bestimmte gesellschaftliche Organisationsprinzipien erst gerade erlernt und vorrangig im Moment rezipiert. Lebe ich in einer vielfältigen Umgebung, lege ich die Leerstelle vielleicht anders aus als eine Person, die wenig unterschiedliche Eindrücke in ihrem direkten Lebensumfeld sammeln kann. Hier entsteht also auch Potential für Anschlusskommunikation im Unterricht, für ein gemeinsames „Sich-Wundern“ (Hering 2010: 12), für einen produktiven Austausch über unterschiedliche Lesarten und so auch ein Einüben von Umgang mit literarischen Texten, die immer auch mehrdeutig sind. Histoire und discours gehen in diesem Bilderbuch Hand in Hand: Auf der konkret dargestellten Handlungsebene wird Differenz inszeniert: „Ich bin anders als du, weil ich der Schlagzeuger in unserer Band bin und du bist die Gitarristin“ (Robert/ Juillet 2019: 7 f.). Gleichzeitig wird auf der Ebene des discours durch das ästhetische Mittel der Leerstelle ein Widerspruch zwischen Erwartung und vorgefundener Realität des Bilderbuchs inszeniert, der eine strukturelle Differenzerfahrung und damit ein Moment der Irritation in den Leser: innen hervorruft. Differenz wird in diesem Bilderbuch so doppelt reflektiert und erfahrbar gemacht. Als weitere ästhetische Spiegelung der Differenzstruktur ist das Pappbilderbuch als Wendebuch gestaltet. Die andere Leserichtung ist mit Ich bin wie du betitelt und funktioniert in der Konzeption der Doppelseitenpaare wie die bereits vorgestellte Leserichtung. In der Wende-Konzeption wird zum einen deutlich, dass sowohl Differenz als auch Gemeinsamkeit hergestellt werden (siehe Meyer 2019: 303). Zum anderen wird auch in dieser Anlage deutlich, dass Differenzherstellung zwischen Eigenem und Anderen oszilliert. Hier wird Gemeinsamkeit hergestellt, die gesellschaftlich konventionalisierte Differenzkategorien, im unten abgebildeten Beispiel Dis*ability, überwindet - 50 Katrin Kreuznacht hier wird also (so meine Lesart) ein „Undoing Difference“ (Hirschauer 2014: 183) illustriert, ohne den Vorgang in einem moralisch-didaktischen Impetus auszuerzählen. Auch an dieser Stelle arbeitet Constanze von Kitzing mit Leer‐ stellen, welche in den visuellen Elementen des Bilderbuchs eröffnet werden und von unterschiedlichen Rezipient: innen unterschiedlich gefüllt werden können. Die Differenzkategorien Gender, Dis*ability, Age und Race bleiben in diesem Bilderbuch eine unter vielen: In insgesamt 20 verschiedenen Doppel‐ seitenpaaren werden auch Komplexe wie Einzelkind sein/ Geschwister haben; Erzieher sein/ Kind der Kindergartengruppe sein usw. thematisiert. Wenngleich das Bilderbuch also den (halb-)fantastischen, eher abstrakten Raum verlässt und konkrete Differenzkategorien inszeniert, stehen die klassischen Differenzkate‐ gorien nicht ausschließlich im Vordergrund, sondern werden als Kategorien unter vielen bespielt. Kategoriale Reifikationen stehen weniger im Vordergrund als ein Verstehen von Differenzstrukturen - gleichzeitig werden sie durch das gestalterische Prinzip der Leerstellen auch nicht völlig dethematisiert und damit irrelevant gemacht. 3.4 Von den Sternen am Himmel zu Fischen am Meer (2020) - Märchenhaftes und ‚natürliche Differenzierungen‘ In diesem Bilderbuch wird konkret die Differenzkategorie Gender bedient - gleichzeitig findet eine Inszenierung im fantastischen Raum statt, die auf die Gattung des Märchens referiert. Die Erzählung beginnt mit dem Textausschnitt: „ES WAR EINMAL in einem kleinen blauen Haus auf einem Hügel am Rande der Stadt, dass ein Baby geboren wurde. Es wurde geboren als der Mond und die Sonne gemeinsam am Himmel standen. So konnte das Baby sich nicht entscheiden, was es sein sollte.“ (Thom et al. 2020: 1). Dabei nimmt die Textfläche das untere Drittel einer im Querformat gestal‐ teten, aquarellierten Illustration ein. Dieses untere Drittel ist grün und stellt vermutlich eine Grasfläche dar. Auf der rechten Seite der Grasfläche wachsen bunte, wundersam anmutende Blumen, der den Rest des Bildes einnehmende Himmel ist in Blau- und Violetttönen gehalten, zeigt Sterne und die Sonne. Im linken Bildrand sind die Häuser der Stadt abgebildet, eine Art Fantasievogel flattert auf Höhe der Sonne. Die Illustration wird auf der sich anschließenden Seite fortgeführt. Hier sind auch der Hügel, das blaue Häuschen und der Mond zu sehen. Der Schrifttext ist im unteren grünen Drittel gesetzt: „Junge oder Mädchen? Vogel oder Fisch? Katze oder Hase? Baum oder Stern? Also ähnelte das Baby allem ein bisschen. Es sah SEHR seltsam aus! “ (ebd.: 2). In der Verwendung des formelhaften „Es war einmal“ erinnert das Bilder‐ buch erzähldramaturgisch an die Tradition des Märchenerzählens. Durch die 51 Leerstellen als ästhetisches Prinzip 3 In der Übersetzung von Katja Anton Cronauer wechseln sich die Pronomen ‚sie‘ und ‚er‘ ab. 4 Inhaltlich ist hier sicherlich die Frage zu stellen, warum Miu Lan sich entscheiden soll. Verwendung der Großbuchstaben findet sich neben der Mehrstimmigkeit von Bild und Text eine weitere, typographisch hergestellte polyphone Ebene ein: Das Märchenmerkmal könnte also ein Wichtiges sein, wie typographisch markiert wird. Miu Lan wird geboren als der Mond und die Sonne gleichzeitig am Himmel standen - hier bedient das Bilderbuch in Referenz auf die griechische Mythologie, in der die Sonne männlich und der Mond weiblich gedeutet wird, eine starke Symbolik. Das Baby Miu Lan, das im Fortgang des Bilderbuchs als eine Art magisches Kind konzeptualisiert wird, ist nicht binär verortet. Das magische Kind Miu Lan hat eine liebende und anerkennende Figur an ihrer 3 Seite und das ist die Mutter, die ein immer wiederkehrendes Lied (auch hier wieder die starke Referenz auf das Märchen) für ihr Kind singt - „Und auch wenn das Baby sich immer noch nicht entscheiden konnte, fühlte es sich geliebt.“ (ebd.: 4). 4 In diesen Märchenreferenzen bietet das Bilderbuch in sich eine Art der ‚natürlichen Differenzierung‘ im Kontext inklusiven Unterrichts an: So können diese Referenzen, wenn sie erkannt werden, bearbeitet werden und auch in die Deutung mit aufgenommen werden. Die Erzählung funktioniert aber auch, ohne die Verweise auf die Gattung Märchen in die Deutungsbewegung mitaufzunehmen. Anders als die bisher vorgestellten Bilderbücher nimmt Von den Sternen am Himmel und den Fischen im Meer auch Diskriminierungserfahrungen in den Fokus. Nachdem Miu Lan zunächst als recht zufriedenes Kind heranwächst, wird es in der Schule mit gewissen Erwartungshaltungen konfrontiert. Gegen diese verstößt Miu Lan, wenn er in Glitzerkleidung in der Schule erscheint oder in Leopardenkleidung verkleidet kommt. Wenn Miu Lan sich tigerähnlich fühlt, scheint ihr (so suggeriert zumindest der Bildtext, siehe Abb. 3) ein Tigerfell zu wachsen - so spielt das Bilderbuch auch mit einem magischen, erweiterten Körperverständnis (siehe Haraway 2016: 6). Der Text stellt hier intertextuelle Bezüge zu zeitgenössischen feministischen Theorien her. 52 Katrin Kreuznacht Abb. 3: Was bist du denn? ©édition assemblage. Miu Lans Mutterfigur begleitet Miu Lan im Umgang mit ihren Diskriminie‐ rungserfahrungen. Die namenlose Mutterfigur zeigt sich verständig, aber nicht immer allwissend oder heilend: „Und Miu Lan fühlte sich geliebt, aber war auch traurig“ (Thom et al. 2020: 18). Ambivalente Gefühle werden hier ein Stück weit normalisiert. Gleichzeitig funktioniert das Ende des Bilderbuchs der Märchenreferenz entsprechend: Während Höhen und Tiefen die Erzählung begleiten, wird am Ende alles gut: „Und das Kind des Fells, der Federn, der Schuppen, der Blätter und des Glitzers, das weder ein Junge noch ein Mädchen war, sondern vieles zugleich und sich ständig veränderte, war glücklich“ (ebd.: 32). So findet sich in Von den Sternen am Himmel zu Fischen am Meer (2020) eine stark mit Bildsprache arbeitende, eher verspielte Inszenierung von Differenz, die durch die fantastischen Elemente emotional eingänglich vermitteln kann, wie es sein kann, nicht in binäre Matrizen hineinzupassen. 53 Leerstellen als ästhetisches Prinzip 3.5 Juli und das Go-Kart - Leerstellen, Polyphonie und das Spiel mit der Fokalisierung Kirsten Boies Juli-Geschichten sind keine klassischen Bilderbücher, sondern eher als bebilderte Vorlesebücher einzuordnen. Der Anteil der Textflächen ist entsprechend relativ groß. In dieser Erzählung ist der Protagonist Juli, ein Kind etwa im Vorschulalter, verpflichtet mit seiner Mutter einkaufen zu gehen („zum Bioladen“, Boie 2005: 52). Juli wartet vor dem Bioladen und sieht einen aus seiner Perspektive coolen Jugendlichen, der ein Go-Kart hat. Die Fokalisierung der Textfläche ist eine interne, das heißt Leser: innen sehen und erleben die erzählte Handlung in Julis Perspektive (Genette 2010: 112). Juli ist begeistert: „Geile Scheese! “ (ebd.: 67). Durch die Fokalisierung führt die Erzählung nah an Julis Wahrnehmung heran, die bestimmte Differenzkategorien noch nicht internali‐ siert hat, sondern stark im Hier und Jetzt wahrnimmt. Juli verbringt eine gute Zeit mit dem Jugendlichen und fragt ihn ehrfürchtig, ob er auch mal Go-Kart fahren darf. Der in der Erzählung namenlos bleibende Jugendliche gestattet das, erklärt aber, er könne leider nicht alleine fahren, das ginge nur gemeinsam. Juli fährt mit dem Jugendlichen ‚Go-Kart‘ und ist sehr glücklich - seine Mutter hingegen ist erbost als sie wiederkommt: „Das kannst du doch nicht machen! “ (ebd.: 70). Die Erzählung löst die Widersprüche zwischen Julis Wahrnehmung der Situation und der Reaktion der Mutter nicht auf. Dadurch bietet Juli und das Go-Kart Leser: innen unterschiedliche Lesarten an: Als vierjährige Leserin ist es durchaus möglich, in Julis Fokalisierung aufzugehen und zu denken: ‚Ja, das ist ne schweinegeile Schehse, was hat die Mutter denn? ‘. Gleichsam kann ich mich als Leser auch mit der Mutter identifizieren bzw. anhand der Bilder erkennen, dass dieses Go-Kart ein E-Rollstuhl und der Jugendliche gehbeeinträchtigt ist. Hier entsteht also ein Spiel in der Text-Bild-Relation, das wiederum Leerstellen lässt. Ähnlich wie in Beispiel 3.4 findet durch die verschiedenen Lesarten, die in der Erzählung angelegt sind, eine Art natürliche Differenzierung statt. Für die produktive literarische Anschlusskommunikation im Grundschulunterricht gibt es im besten Fall Schüler: innen, die der Fokalisierung Julis folgen, während andere Schüler: innen die Leerstellen entdecken und befüllen. Als inszenatori‐ sche Besonderheit auf discours-Ebene (Text-Bild-Relation) aber auch auf Ebene der histoire, in der der Konflikt zwischen Juli und seiner Mutter auserzählt wird, veranschaulicht die Mehrstimmigkeit innerhalb des Bilderbuchs also nicht nur Differenz als solche, sondern reflektiert auch, dass Differenz immer wieder hergestellt wird. In der Leseerfahrung wird deutlich, dass Subjekte bestimmte Kategorien anlegen und bestimmte Erfahrungsräume in sich tragen, die sie anlegen, um jemanden als different zu adressieren (so wie es Julis Mutter ganz 54 Katrin Kreuznacht automatisiert macht - während Juli ausschließlich die „schweinegeile Scheese“ sieht). 3.6 Vorerst Resümierendes Unter Rückgriff auf die in Kapitel 2 vorgestellte These - Bilderbücher eignen sich in ihrer konstitutiven Polyphonie (Multiperspektivität) und dem möglichen Raum des (Halb-)Fantastischen für eine Inszenierung von Differenz, die über die Reifizierung machtdurchzogener Kategorien hinausgeht - werden im Folgenden die in den unterschiedlichen Bilderbüchern vorzufindenden literarischen Spiel‐ arten und die damit verbundenen Potentiale zur Inszenierung und Reflexion von Differenz als Struktur resümiert. Tom Krouse Rosenthal und Tom Lichtenheld nutzen in Ausrufezeichen (2014) abstrakt konstruierte Figuren, um die Struktur von Differenz zu erzählen. Sie nutzen hier auch graphische Zeichen und symbolisieren Differenz unter quasi semiotischem Rückgriff auch in der Sphäre des Visuellen. Durch den hohen Abstraktionsgrad der Figuren wird die Reifizierung machtdurchzogener Kategorien unterlaufen: Differenz kann hier erzählt werden, ohne Stereotype zu reproduzieren. Deutungsbezogene Leerstellen können in der Rezeption daher durch unterschiedliche Erfahrungsräume unterschiedlicher Leser: innen gefüllt werden. In Peter, Kater auf zwei Beinen (2019) wird Differenz als Passung zwischen erwarteter Realität (normatives Konzept ‚Katze‘) und dem, was angetroffen wird (Peter), inszeniert. Auf Ebene der histoire steht die Beziehung zwischen Phil und Peter als Gemeinsamkeit herstellendes Element im Vordergrund. Die Beziehungsdimension wird inszenatorisch mit Differenz zusammengedacht. In Referenz auf das Konzept ‚Katze‘ kann Differenz hier inszeniert werden, ohne auf Leistung oder Macht Bezug zu nehmen. So wird ein spezifischer Blick auf Differenz als Struktur ermöglicht. Ich bin anders als du (2019) spielt mit der Text-Bild-Polyphonie sowie mit der Deutungsoffenheit der Illustrationen; Textflächen konterkarieren mögli‐ cherweise die impliziten Deutungen der Leser: innen. Auf diese Art und Weise erleben Leser: innen eine Konfrontation mit der Normativität, die mit der Herstellung von Differenz verbunden ist. Diese Normativität ist mindestens für diejenigen gewaltförmig, die gegen sie verstoßen und als different adressiert werden: Im Sinne Alkemeyers findet in Ich bin anders als du also im besten Falle eine „ästhetische Erkenntnis der stummen Mechanismen symbolischer Gewalt“ statt (Alkemeyer 2007: 20). Hier liege die Stärke literarischer Darstel‐ lungen darin, „die unaussprechlichen Unterschwelligkeiten literarischer Gewalt präsent zu machen und gewahr werden zu lassen“ (ebd.). In dieser Inszenierung 55 Leerstellen als ästhetisches Prinzip wird aber auch wahrnehmbar, dass Differenz konstruiert wird und damit auch: Was als different gilt, ist wandelbar. In Von den Sternen am Himmel zu den Fischen am Meer (2020) wird ein fantastischer Raum in Referenz auf die Gattung Märchen gestaltet. Auf einer discours-Ebene arbeitet das Bilderbuch mit einer hohen Symbolik, die wiederum eine Art natürliche Differenzierung in der Anschlusskommunikation im Grund‐ schulunterricht impliziert. Auf der Ebene der histoire werden gesellschaftlich und kulturell konstruierte Binaritäten und Differenzmatrizen unterlaufen, auch die Dimension Körper wird inszenatorisch bearbeitet. Kirsten Boies Juli und das Go-Kart (2005) nutzt das Spiel mit Fokalisierungen, um die Ambiguität und den Konstruktionscharakter von Differenzerleben zu gestalten. Auch zwischen den Erzählebenen Bild- und Schrifttext entsteht ein produktives Wechselspiel: Auf Ebene des Schrifttextes lernen Leser: innen in der Fokalisierung Julis das Gefährt als Go-Kart kennen - in der Bilderzählung identifizieren sie das Gefährt jedoch möglicherweise als E-Rollstuhl. Diese Spannungen werden nicht auserzählt, die entstehenden Leerstellen können unterschiedlich befüllt werden, was Raum für produktiven Austausch und Reflexion lässt. 4 Schluss Zweifelsohne haben Bilderbücher Bildungspotential. Gleichzeitig sind sie als literar-ästhetisches Phänomen in den allermeisten Fällen zunächst frei von einer konkret-didaktischen Intention: Bildung im Bilderbuch entsteht im Fragen und im Aushalten, dass Antworten nicht konkret präsentiert werden. Insbesondere ein Phänomen wie Differenz, das stets relational zu verstehen ist und in Praxis entsteht, kann durch den Modus des Fragens und der ästhetischen Arbeit mit Leerstellen - die immer auch sagt: mehrere Antworten sind möglich - aufgezeigt werden. Bilderbücher sind interdisziplinär angelegt und bieten Potentiale für den inklusiven Deutschunterricht der Grundschule, in dem das Lesen und Kennen‐ lernen verschiedener literarischer Genres fest im Kerncurriculum verankert sind (siehe Niedersächsisches Kultusministerium 2007a: 30). Das literarische Gespräch, das sich im Anschluss an die gemeinsame Bilderbuchrezeption anbietet, wird im Kerncurriculum als zentraler Bestandteil angeführt (ebd.: 32). Auch in anderen Fächern können Bilderbücher relevant sein. Im niedersächsi‐ schen Kerncurriculum Sachunterricht der Grundschule ist der „Einstieg über literarische Vorlage“ (siehe Niedersächsisches Kultusministerium 2007b: 34) als möglicher didaktischer Einstieg vermerkt. Am Ende der Klasse 2 beschreiben 56 Katrin Kreuznacht Schüler: innen „Vielfalt (kulturell, sozial, physisch) und diskutieren über die sich daraus ergebenden Chancen in einer Gemeinschaft.“ (ebd.: 24) - hier können Bilderbücher, die Differenz sensibel inszenieren, Impulsgeber sein. Im Deutschunterricht (und auch im Kunstunterricht) der Grundschule hingegen können auch ästhetische, fiktionale und narrative Besonderheiten des Bilder‐ buchs erarbeitet werden. „Text, Sprache und Bild sind je symbolische Artikulationsformen für Be‐ schreibungen, Ereignisse, Handlungen, für Gefühle oder Gedanken“ (Thiele 2005: 12) - im Bilderbuch überlagern sich diese unterschiedlichen symbolischen Artikulationsformen. Für ein inklusives literarisches Lernen bietet diese Be‐ schaffenheit ein großes Potential: Nicht jedes Kind muss den symbolischen Gehalt voll ausschöpfen, um eine Bildungserfahrung zu machen. Habe ich einen erschwerten Zugang zu Textsprache, so kann ich mir in Auseinandersetzung mit dem Bildtext vielleicht Welten erschließen und verstehen. Unterschiedliche Kinder können also mit demselben Material Bilderbuch arbeiten und auf unter‐ schiedliche Arten und Weisen erschließen und verstehen. Diese unterschied‐ lichen Arten können produktiv nebeneinanderstehen und sich wechselseitig befruchten, um die Interdependenz zwischen eher diskursiver und visueller Ebene des Bilderbuchs zu erschließen. Literatur Primärliteratur Boie, Kirsten (2005). Juli und das Go-Kart. Weinheim: Beltz & Gelberg. Haag, Alexandra/ Moreno, Carolina (2017). Paula und die Zauberschuhe. Ein Bilderbuch über ein Kind mit einer körperlichen Behinderung. Frankfurt am Main: Maburse Verlag. Kitzing, Constanze von (2019). Ich bin anders als du. Hamburg: Carlsen. Krouse Rosenthal, Amy/ Lichtenheld, Tom (2014). Ausrufezeichen! Hamburg: Dressler. Robert, Nadine/ Julliet, Jean (2019). Peter, Kater auf zwei Beinen. Hamburg: mairisch. Samsone, Adele (2017). Florian lässt sich Zeit. Innsbruck (AU): Tyrolia. Thom, Kai Chen/ Li, Wai-Yant/ Ching, Kai Jun (2020). Von den Sternen am Himmel zu den Fischen am Meer. Münster: édition assemblage. Sekundärliteratur Alkemeyer, Thomas (2007). Literatur als Ethnographie: Repräsentation und Präsenz der stummen Macht symbolischer Gewalt. Zeitschrift für Qualitative Forschung 8 (1), 11-31. 57 Leerstellen als ästhetisches Prinzip Bannasch, Bettina (2007). Offensive Gegenentwürfe und subversive Durchquerungen: Perspektiven der Geschlechterforschung auf das Bilderbuch der Gegenwart. In: Thiele, Jens (Hrsg.). Neue Impulse der Bilderbuchforschung: wissenschaftliche Tagung der Forschungsstelle Kinder- und Jugendliteratur der Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg. Baltmannsweiler: Schneider-Verlag, 107-128. Bourdieu, Pierre (2007). Die drei Formen des kulturellen Kapitals. In: Jurt, Joseph (Hrsg.). absolute Pierre Bourdieu. Freiburg: orange press, 95-102. Budde, Jürgen (2014). Differenz beobachten? In: Tervooren, Anja/ Engel, Nicolas/ Göhlich, Michael/ Miethe, Inge/ Reh, Sabine (Hrsg.). Ethnographie und Differenz in pädagogi‐ schen Feldern. Bielefeld: transcript, 133-148. Genette, Gérard (2010). Die Erzählung. 3. Aufl. Paderborn: Wilhelm Fink Verlag. Haraway, Donna (2016). A cyborg manifesto. Science, technology, and socialist-feminism in the late twentieth century. Minnesota (US): University of Minnesota Press. Hering, Jochen (2010). Leerstellen und das Denken in Möglichkeiten. Bilderbücher und Philosophieren mit Kindern. Grundschulunterricht Sachunterricht 1/ 2010, 11-15. Hirschauer, Stefan (2014). Un/ doing Differences. Die Kontingenz sozialer Zugehörig‐ keiten. In: Zeitschrift für Soziologie 43 (3), 170-191. Iser, Wolfgang (1994). Der Akt des Lesens. 4. Aufl. München: Fink Verlag. Kepser, Mathis/ Abraham, Ulf (2016). Literaturdidaktik Deutsch. 4. Aufl. Berlin: Erich Schmidt Verlag. Meyer, Dorothee (2019). Gemeinsamkeit herstellen, Differenz bearbeiten. Eine rekonst‐ ruktive Studie zu Gruppenprozessen in inklusiven Kleingruppen. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt. Niedersächsisches Kultusministerium (Hrsg.) (2007a). Kerncurriculum für die Grund‐ schule. Schuljahrgänge 1-4. Deutsch. www.cuvo.nibis.de (last accessed: 01.09.2021) Niedersächsisches Kultusministerium (Hrsg.) (2007b). Kerncurriculum für die Grund‐ schule. Schuljahrgänge 1-4. Deutsch. www.cuvo.nibis.de (last accessed: 01.09.2021) Lindmeier, Christian (2018). Differenz, Inklusion, Nicht/ Behinderung. Grundlinien einer diversitätsbewussten Pädagogik. Stuttgart: Kohlhammer. Oetken, Mareile (2017). Wie Bilderbücher erzählen. Analysen multimodaler Strukturen und bimedialen Erzählens im Bilderbuch. Carl von Ossietzky Universität: http: / / oops.uni-oldenburg.de/ 3204/ 1/ oetken_bilderbuecher_habil_2017.pdf. (last accessed: 24.04.2022) Ricken, Norbert/ Reh, Sabine (2014). Relative und radikale Differenz. In: Tervooren, Anja/ Engel, Nicolas/ Göhlich, Michael/ Miethe, Inge/ Reh, Sabine (Hrsg.). Ethnographie und Differenz in pädagogischen Feldern. Bielefeld: transcript, 25-47. Riegel, Christine (2016). Bildung, Intersektionalität, Othering. Pädagogisches Handeln in widersprüchlichen Verhältnissen. Bielefeld: transcript. 58 Katrin Kreuznacht Spivak, Gayatri (1985). The Rani of the Simur: An Essay in Reading the Archives. History and Theory 24 (3), 247-272. Thiele, Jens (2001). Kunst für Kinder? Zur Bedeutung des Bilderbuchs in der bildne‐ risch-literarischen Sozialisation des Kindes. In: Steitz-Kallenbach, Jörg (Hrsg.). Kinder- und Jugendliteraturforschung interdisziplinär. Oldenburg: BIS, 31-58. Thiele, Jens (2005). Im Bild sein…zwischen den Zeilen lesen. Zur Interdependenz von Bild und Text in der Kinderliteratur. In: Oetken, Mareile (Hrsg.). Texte lesen Bilder sehen. Beiträge zur Rezeption von Bilderbüchern. Schriftenreihe der Forschungsstelle Kinder- und Jugendliteratur der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Band 3. Oldenburg: BIS, 11-30. Todorov, Tzvetan (1978). Die Kategorien der literarischen Erzählung. In: Hillenbrand, Bruno (Hrsg.). Zur Struktur des Romans. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesell‐ schaft, 347-369. Walgenbach, Katharina (2011). Intersektionalität als Analyseparadigma kultureller und sozialer Ungleichheiten. In: Bilstein, Johannes/ Ecarius, Jutta/ Keiner, Edwin (Hrsg.). Kulturelle Differenzen und Globalisierung. Herausforderungen für Erziehung und Bildung. Wiesbaden: Springer, 113-132. 59 Leerstellen als ästhetisches Prinzip Gemeinsam… und doch verschieden Potenziale unterschiedlicher Gestaltungsebenen von Bilderbüchern für einen inklusiven Literaturunterricht Lisa König Abstract: Literatur verstehen zu lernen, stellt eines der zentralen Ziele des Deutschunterrichts dar - sowohl für Kinder mit als auch ohne son‐ derpädagogisch diagnostizierte Förderbedarfe. Vor dem Hintergrund der zunehmenden Notwendigkeit einer inklusiven Literaturvermittlung stellt sich jedoch die Frage, wie der gemeinsame Verstehensaufbau mit lern- und leistungsheterogenen Schüler: innen gelingen kann. Die literatur- und mediendidaktischen Konzeptionen erweisen sich dabei als vielfältig, eine konkrete Auseinandersetzung mit verstehensförderlichen Potenzialen li‐ terarischer Gegenstände stellt jedoch noch immer die Ausnahme dar. Dabei eignen sich aufgrund ihrer multidimensionalen Zugänglichkeit insbeson‐ dere Text-Bild-Verbünde für den Erwerb, Auf- und Ausbau literarischer Bildung und literarischer Kompetenzen bei allen Schüler: innen, da sie die in ihnen erzählten Geschichten auf vielfältige Art und Weise präsentieren. Im Rahmen des vorliegenden Beitrags soll ausgehend vom empirischen Forschungsprojekt „Fiktionswahrnehmung als Grundlage literarischen Verstehens“ skizziert werden, welche verstehensförderlichen Gestaltungs‐ strukturen sich innerhalb von Bilderbüchern finden lassen, und wie Kinder mit dem sonderpädagogischen Förderbedarf Lernen diese zur Erklärung ihres literarischen Verstehens insbesondere in der Primarstufe nutzen. 1 Einleitung Die Förderung literarischen Verstehen bildet eine der zentralen Aufgaben des Literaturunterrichts in allen Altersstufen - auch in der Primarstufe (siehe u. a. Abraham/ Kepser 2016: 112; Büker 2006: 123; Waldt 2003: 101). Bereits junge Schüler: innen sollen lernen, Handlungen zu entschlüsseln, sich mit literarischen 1 Zur Terminologie siehe die Förderschwerpunktbezeichnung des Landes Baden-Würt‐ temberg http: / / www.bildungsplaene-bw.de/ ,Lde/ 4554235 (last accessed: 29.06.2022). 2 Die Wahl fiel auf das Bilderbuch aus zwei Gründen: Zum einen zeichnet sich die Geschichte rund um Mia, ihren Vater und das Monster Prima durch eine Vielzahl unter‐ schiedlicher Fiktionsmarkern aus. Durch die Dichte und unterschiedliche Komplexität der Marker konnten auch verstehensschwächere Kinder leicht zu identifizierende, fiktionsanzeigende Signale identifizieren und in ihren Verstehensprozess integrieren. Zum anderen wird die Geschichte durch eine extra- und eine intradiegetische Erzähl‐ ebene erzählt, wobei letztere durch die Figuren selbst konstruiert und damit der Schaffensprozess von Geschichten nachgestellt wird. So konnten die Kinder nicht Figuren auseinanderzusetzen und Sinndeutungen vor dem Hintergrund anthro‐ pologisch bedeutsamer Grundfragen aus den Gegenständen zu entwickeln. Dies stellt Lernenden vor grundlegende Verstehensherausforderungen - individuelle Lern- und Leistungsdispositionen sind dabei maßgeblich. Angesichts dessen und der gegenwärtigen Diskussion rund um die Integration bzw. Inklusion von Kindern mit sonderpädagogisch diagnostizierten Förderbedarfen stellte sich im Rahmen des literatur- und mediendidaktischen Forschungsdiskurses in den letzten Jahren vermehrt die Frage, wie Literaturvermittlungsprozesse für nunmehr inklusive Lerngruppen im Rahmen des Regelschulunterrichts gestaltet werden könnten (siehe u. a. Frickel/ Kagelmann 2016; Hennies/ Ritter 2014; Pompe 2016) und welche Gegenstände sich hierfür eignen. Die Literaturdidaktik befindet sich jedoch noch immer in einer Suchbewegung zwischen individuell angepassten Lehr- und Lernzielen und gemeinsamen Unterrichtsmethoden für alle Kinder: Zum einen fehlen hierbei theoretische Konzepte zum Umgang mit lebensweltlich relevanten Narrationsträgern, zum anderen stellen empirische und in die Schulpraxis übertragbare Forschungsergebnisse zum Lernen von Kindern mit sonderpädagogisch diagnostizierten Förderbedarfen und ohne noch immer die Ausnahme dar (siehe Boelmann/ König 2020: 193; von Brand 2016: 89). Im Rahmen des vorliegenden Beitrags werden daher ausgehend von den Ergebnissen des Forschungsprojekts „Fiktionswahrnehmung als Grundlage literarischen Verstehens“ (König 2020a) die Potenziale von Bilderbüchern als multidimensional präsentierten Narrationen (siehe u. a. Staiger 2019; Thiele 2006) für den literarischen Verstehensprozess von Kindern sowohl mit als auch ohne sonderpädagogische diagnostizierte Förderbedarfe im Bereich Lernen skizziert. 1 Im Rahmen des Projekts wurden die literarischen Verstehensprozesse von Kindern mit sonderpädagogisch diagnostizierten Förderbedarfen und ohne im Bereich Lernen anhand des Bilderbuchs Prima Monster! Oder: Schafe zählen ist doof (Heitz/ Tourlonias 2012) in Gänze und mit besonderem Fokus auf ihren Umgang mit Phänomenen der Fiktion analysiert. 2 Hierbei zeigte sich, 61 Gemeinsam… und doch verschieden nur hinsichtlich der gegenstandsspezifischen Gestaltung auf Phänomene der Fiktion zurückgreifen, sondern direkt auch thematisch verorten. dass die Lernenden mit diagnostizierten Förderbedarfen zwar eine niedrigere Durchdringung erreichten, sich in ihren Äußerungen qualitativ jedoch kaum von anderen verstehensschwachen Schüler: innen ohne sonderpädagogische Förderbedarfe unterschieden. Vielmehr nutzten sie im Umgang mit dem litera‐ rischen Gegenstand Bilderbuch alternative und ergänzende Zugangsweisen, um ihr Verstehen argumentativ darzulegen. Um die Forschungsergebnisse im gegenwärtigen Forschungsdiskurs genauer zu verorten, werden im Folgenden aktuelle literaturdidaktische Konzeptionen zum Umgang mit inklusiven Lerngruppen im Literaturunterricht skizziert, bevor der Ablauf literarischer Verstehensprozesse unter besonderer Berück‐ sichtigung der Zugangsweisen im Bilderbuch beschrieben wird. Anschließend werden die Forschungsergebnisse vorgestellt und hinsichtlich der Zugänglich‐ keit von Text-Bild-Verbünden kontextualisiert. 2 Ein kurzer Überblick - Didaktische Ansätze inklusiven Literaturunterrichts Spätestens seit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention im Jahr 2006 rückte die Notwendigkeit von theoretisch fundierten und empirisch wie schulpraktisch erprobten Konzepten zur Gestaltung eines gemeinsamen, inklu‐ siven Unterrichts verstärkt in den Fokus der didaktischen Forschung. Für die Literatur- und Mediendidaktik bedeutete dies eine konkrete Auseinanderset‐ zung mit der Frage, wie ein die heterogenen Lern- und Leistungsdispositionen der Schüler: innen berücksichtigender Literaturunterricht der Zukunft aussehen könnte, welche Gegenstände hierbei verstehensförderlich eingesetzt werden könnten, welche Zielsetzungen fortan im Mittelpunkt stehen sollten und mit welchen Methoden ein gemeinsames Lernen ermöglicht werden könnte. Insbe‐ sondere in den Anfangsjahren reichten die Lösungsansätze nur selten über methodisch-technische Lösungen zur Integration von Schüler: innen mit körper‐ lichen Beeinträchtigungen hinaus (siehe hierzu die Diskussion in Frickel/ Kagel‐ mann 2016; Hennies/ Ritter 2014; Kruse 2016; Naugk et al. 2016; Pompe 2016; von Brand 2016; Glasenapp et al. 2020; Wiprächtiger-Geppert 2009). Vor dem Hin‐ tergrund der zunehmenden Forderungen und Notwendigkeiten eines inklusiv orientierten Literaturunterrichts wurden jedoch vor allem in den letzten Jahren vermehrt Konzepte entwickelt, die ausgehend von einzelnen Aspekten von Unterricht Ideen zum gemeinsamen literarischen Lernen entwickelten (siehe 62 Lisa König 3 Vor dem Hintergrund des Umfangs des Beitrags werden im Folgenden nur die Kern‐ aussagen der jeweiligen Positionen zusammengefasst und einander gegenüber gestellt. Hierdurch soll eine erste Orientierung im Feld ermöglicht werden; eine vertiefende Auseinandersetzung mit den skizzierten Positionen wird für weiterführende Konzep‐ tionen jedoch dringend empfohlen. Boelmann/ König 2021: 312 f.). Diese lassen sich unter Berücksichtigung des jeweils gewählten Fokus in zwei Strömungen systematisieren, die sich hinsicht‐ lich ihres Umgangs mit literarischen Gegenständen unterscheiden (siehe König 2021a; siehe Abb. 1): 3 Abb. 1: Didaktische Ansätze zum literarischen Lernen in inklusiven Lerngruppen 1. Fokus: Beschaffenheit literarischer Gegenstände als Ausgangspunkt Didaktische Ansätze, die sich mit der Beschaffenheit literarischer Gegenstände und ihrer damit verbundenen Eignung für die Anbahnung literarischen Ver‐ stehens beschäftigen, orientieren sich zumeist am Spannungsfeld des literari‐ schen Verstehens und Nicht-Verstehens: Hier steht der Gedanke im Zentrum, dass das Verstehen einer Narration nicht mit den Kategorien „erfolgreich“ oder „nicht erfolgreich“ gemessen werden sollte, sondern vielmehr die Aus‐ einandersetzung mit einer Geschichte zentral ist. Das Verstehen und das ästhetische Nicht-Verstehen stehen dabei gleichberechtigt nebeneinander und gehören zu einem ganzheitlichen Aushandlungsprozess dazu (siehe u. a. Hoch‐ stadt/ Olsen 2019; Mitterer 2016; Odendahl 2018). Das Nicht-Verstehen gilt nicht als defizitär, sondern als Teil des Umgangs mit Literatur, der aufzeigt, welche Gestaltungsstrukturen eine: r Rezipient: in noch verschlossen bleiben. Insbesondere in leistungsstarken heterogenen Lerngruppen eignet sich dieser 63 Gemeinsam… und doch verschieden Ansatz, um Verstehensprozesse gemeinsam mit den Lernenden zu thematisieren und die individuellen Vorstellungen zur Auseinandersetzung mit Literatur zu überdenken. Hinsichtlich der Auseinandersetzung mit Bilderbüchern bedeutet dies, dass nicht zwangsläufig alle Gestaltungsstrukturen kognitiv durchdrungen werden müssen, sondern auch Irritationen, Unverständnis oder ausbleibendes Verstehen zum Umgang gehören. 2. Fokus: Zugang zum literarischen Gegenstand als Ausgangspunkt Im Gegensatz hierzu fokussieren Ansätze zum Zugang zu literarischen Gegen‐ ständen vielfältige Wege der Auseinandersetzung mit Literatur. Insbesondere in den jüngeren Veröffentlichungen finden sich Ansätze, die die grundsätzliche Notwendigkeit der Zugänglichkeit von Literatur in inklusiven Lerngruppen be‐ tonen, da ihnen ansonsten eines der zentralsten anthropologischen Kulturgüter unserer Gesellschaft verwehrt bliebe (siehe Glasenapp et al. 2020: 15 f.). Im Sinne einer barrierefreien Gesellschaft gelte es daher, alternative Zugangsweisen zu eröffnen, um sich mit den erzählten Geschichten auseinandersetzen. Eine Möglichkeit der Zugänglichkeit wird in Ansätzen der ‚einfachen‘ oder ‚leichten‘ Sprache skizziert. Diese gehen davon aus, dass sprachlich reduzierte Varianten einer Geschichte deren Komplexität vereinfachen und damit auch von Lernenden mit geringer ausgeprägten Verstehensleistungen durchdrungen werden können. So würden ihnen zentrale Narrationen nicht verschlossen bleiben, sondern es könnte an die sprachlichen Dispositionen der Leser: innen angeknüpft und damit das Lektüreerlebnis begünstigt werden (siehe Becker 2020; Bock 2019; Bredel/ Maaß 2016). Im Gegensatz hierzu gehen medienübergreifende Ansätze davon aus, dass nicht die Komplexität der Geschichte verändert werden muss, sondern das mediale Zeichensystem, mithilfe dessen eine Narration erzählt wird. Ausgehend von der Medienverbunddidaktik (siehe Kruse 2014a; 2014b; Josting/ Maiwald 2007) ist die Annahme zentral, dass Geschichten nicht nur anhand von Buchsta‐ benkombinationen auf Druckseiten erzählt werden, sondern anhand vielfältiger medialer Gegenstände in unserer Gesellschaft und der kindlichen Lebenswelt zu finden sind. Werden diese in den Unterricht integriert, können Kinder auf ihre individuellen literarischen und medialen Vorerfahrungen zurückgreifen und diese für den Verstehensprozess nutzen. Zudem sind sie nicht ausschließlich auf die Dekodierung von Schriftsystemen angewiesen, sondern können auf mehrere Zeichensysteme zurückgreifen, um eine Geschichte zu entschlüsseln. Das im Folgenden skizzierte Forschungsprojekt „Fiktionswahrnehmung als Grundlage literarischen Verstehens“ orientiert sich an den Ansätzen der Zu‐ gänglichkeit eines literarischen Gegenstands (2. Fokus) und modelliert vor 64 Lisa König dem Hintergrund dessen den literarischen Verstehensprozess von Schüler: innen mit sonderpädagogisch diagnostizierten Förderbedarfen und ohne daher weit: Literarische Gegenstände präsentieren ihre Narrationen anhand unterschied‐ licher Zeichensysteme (Bezug zu medienübergreifenden Ansätzen), die von Rezipient: innen vor dem Hintergrund ihrer individuellen Lern- und Leistungs‐ dispositionen entschlüsselt und für den Verstehensprozess genutzt werden können (Bezug zu Ansätzen der grundlegenden Zugänglichkeit). Wie dieser konkret abläuft, soll im Folgenden skizziert werden. 3 Im Kopf der Kinder - Ablauf literarischer Verstehensprozesse Die Auseinandersetzung von Kindern mit einem literarischen Gegenstand lässt sich anhand von drei aufeinander aufbauenden Phasen der Rezeption, der Operation und der Produktion beschreiben (siehe hierzu Boelmann/ König 2021: 13 f.). In jeder Phase werden zentrale Verarbeitungsmechanismen für den literarischen Verstehensprozess aktiviert, die einander zwar bedingen, sich aber strukturell deutlich voneinander unterscheiden (siehe hierzu u. a. Abraham 2005: 15 f.; Abraham/ Kepser 2016: 104; Dawidowski 2016: 66 f.; Eggert/ Garbe 2003: 192; Husfeldt/ Lindauer 2009: 139; siehe Abb. 2): Abb. 2: Phasen des literarischen Verstehensprozesses (siehe Boelmann/ König 2021: 13 f.) Die erste Phase umfasst die Rezeption eines literarischen Gegenstandes. Bevor eine erzählte Geschichte verarbeitet werden kann, muss diese zunächst er‐ schlossen werden. In Abhängigkeit von der medialen Präsentation wird die Narration durch die Tätigkeiten des Lesens, Sehens, Hörens oder Spielens bereitgestellt, um sie anschließend weiterverarbeiten zu können. Die zweite Phase bildet die Verarbeitung des Erschlossenen in Form einer affektiven und/ oder kognitiven Operation ab. In dieser Phase findet der eigentliche Verstehens‐ prozess statt, da die Rezipient: innen hier ihre bereits erworbene literarische Bildung oder bereits aufgebauten literarischen Kompetenzen anwenden, um die zur Verfügung gestellten Informationen zu ordnen, mit Vorwissensbeständen zu verknüpfen oder auf gänzlich Neues zu stoßen. Im Anschluss daran wird das 65 Gemeinsam… und doch verschieden operativ Verstandene in der dritten Phase, der Produktion, sichtbar gemacht. Im Rahmen von schulischen Literaturvermittlungsprozessen findet beispielsweise ein mündlicher Austausch über eine gelesene Geschichte statt. Die Lernenden halten ihre Ideen und Gedanken zu einem literarischen Gegenstand schriftlich fest oder setzen sich innerhalb eines szenischen Spiels mit dem Verstandenen auseinander. Während des Aufbaus literarischer Verstehensprozesse wiederholen sich die Phasen stetig, beispielsweise, wenn die Schüler: innen eine Szene nochmals nachlesen, um Ungereimtheiten zu klären oder ihre Argumentation hinsichtlich einer literarischen Gestaltungsstruktur auszubauen. Sie verlaufen jedoch nicht immer gleichförmig oder störungsfrei, da die Phasen der Auseinandersetzung stark von den Dispositionen der Schüler: innen beeinflusst werden und die be‐ reits ausgebildeten oder noch fehlenden Fähigkeiten auf den Prozess einwirken: Störungsquelle 1 - mangelnde Rezeptionsfähigkeiten Die erste Störungsquelle, die während der Auseinandersetzung mit einem literarischen Gegenstand auftreten kann, liegt in den mangelnden Rezeptionsfä‐ higkeiten der Lernenden: Verfügen die Schüler: innen beispielsweise noch nicht über ausreichend ausgeprägte Lesekompetenzen, tun sich bei der Wort-Satz‐ identifikation schwer oder können den Text aufgrund fehlender Leseflüssigkeit noch nicht verstehend erschließen, beeinflusst dies den literarischen Verste‐ hensprozess. In solchen Fällen können noch nicht genug Informationen bereit‐ gestellt werden, um sich mit der Geschichte im Rahmen der Operation verste‐ hend auseinanderzusetzen oder innerhalb der Produktion plausible Thesen zu einem Gegenstand aufzustellen. Mangelnde Rezeptionsfähigkeiten können sich dabei nicht nur auf die Lesefertigkeiten beziehen, sondern genauso auf unausgeprägte Sehgewohnheiten bei Filmen und Serien oder auf ausbleibendes Zuhören bei der Erschließung eines Hörtextes. In Bezug auf das Medium Bilderbuch bedeutet dies, dass Schüler: innen in Abhängigkeit zur medialen Gestaltung der Text-Bild-Beziehung Rezeptionsfähigkeiten im Kontext von Schrift und Bild ausprägen müssen, um einen Zugang zur erzählten Geschichte zu finden. Störungsquelle 2 - mangelnde Operationsfähigkeiten Die zweite Störungsquelle bezieht sich auf die Phase der Operation, d. h. auf die Verarbeitung der zuvor erschlossenen Informationen. Auch wenn ein: e Schüler: in bereits in der Lage ist, einen literarischen Gegenstand zu erschließen, bedeutet dies noch nicht, dass der literarische Verstehensprozess ohne Wei‐ teres gelingt. Fehlt es beispielsweise an Verarbeitungsstrategien, literarischen 66 Lisa König Kompetenzen zur Entwirrung der Geschichte oder literarischer Bildung, um den Gegenstand einordnen zu können, gelingt es den Lernenden kaum, eine Geschichte zu verstehen. Folglich können die Schüler: innen in der Phase der Produktion keine plausiblen Gedanken zur Geschichte (mündlich, schriftlich etc.) äußern, da sie die Geschichte in der Phase der Operation nicht entschlüsseln konnten. Es gilt daher, literarische Bildung und literarische Kompetenzen auf- und auszubauen, damit die Lernenden mit einer erzählten Geschichte umgehen zu können. Störungsquelle 3 - mangelnde Produktionsfähigkeiten Die dritte Störungsquelle findet sich in der Phase der Produktion. Selbst wenn ein: e Schüler: in bis zur Phase der Operation in der Lage war, die erzählte Geschichte aufgrund ausgeprägter Rezeptionsfähigkeiten zu erschließen und vor dem Hintergrund bereits erworbener literarischer Bildung und Kompetenz zu verarbeiten, kann es dennoch vorkommen, dass keine plausible Darstellung des Verstandenen in der produktiven Umsetzung gelingt. Dies kann beispiels‐ weise auf unzureichend ausgeprägte schriftliche oder mündliche Fähigkeiten, Schüchternheit oder das Unwohlsein während einer szenischen Aufführung zu‐ rückgeführt werden. Hierbei liegt das Problem dann nicht im Verstehensprozess, sondern in der konkreten Produktionsform, mit welcher sich das individuelle Kind schwertut. Durch eine Änderung der Produktionsform kann herausge‐ funden werden, ob die Problematik an den der Produktion vorangehenden Rezeptions- oder Verarbeitungsfähigkeiten liegt und ob das Verstehen durch eine andere Produktionsleistung sichtbar gemacht werden kann. Vor dem Hintergrund der vielfältigen Störungsquellen im literarischen Verstehensprozess muss im Rahmen schulischer Literaturvermittlung genau diagnostiziert werden, auf welche Ursache eine ausbleibende oder nur schwer zugängliche Auseinandersetzung mit einem literarischen Gegenstand zurück‐ zuführen ist. Anderenfalls kann keine genaue Einschätzung dazu vorgenommen werden, ob ein Kind zu einer konkreten Geschichte literarisches Verstehen erwerben, aufbauen oder erweitern konnte. Insbesondere in inklusiven Lern‐ gruppen ist dies von großer Bedeutung, da die Lern- und Leistungsdispositionen der Schüler: innen noch stärker variieren: So werden beispielsweise Kinder mit einer ausgeprägten Lese-Rechtschreibschwäche kaum einen Zugang zu einem literarischen Gegenstand über eine ausschließlich schriftliche Ebene finden; Schüler: innen mit Förderbedarfen im Bereich Lernen werden sich vermutlich von zu umfangreichen Textmengen überfordert sehen; Lernenden mit Entwick‐ lungsdefiziten im emotionalen oder sprachlichen Bereich werden sich mit stark expressiven Produktionsformen schwer tun, auch wenn sie möglicherweise 67 Gemeinsam… und doch verschieden in der Lage waren, eine Geschichte zu verarbeiten. Um den individuellen Fähigkeiten der Schüler: innen in ihren individuellen Fähigkeiten gerecht zu werden und dennoch ein gemeinsames Lernen zu ermöglich, gilt es folglich, die Formen innerhalb der einzelnen Phasen so zu variieren, dass alle Lernenden ihre Vorerfahrungen, -kenntnisse und -fähigkeiten anbringen können und ihre Fertigkeiten im Bereich des literarischen Verstehens weiterentwickeln und sichtbar machen können. 4 Zugänge im Bilderbuch - Informationen auf unterschiedlichen Ebenen nutzen Als narrative, literarische Gegenstände der Lebenswelt der Schüler: innen können Bilderbücher aufgrund ihrer multidimensionalen Zugänglichkeit einen solchen Weg zum literarischen Verstehen in inklusiven Lerngruppen eröffnen: Wenngleich sie sich in ihrer konkreten Umsetzung unterscheiden - man denke an das Spektrum zwischen schrift- und sprachlosen Graphic Novels wie Shaun Tans Ein neues Land (2008; siehe Abb. 3) über klassische Text-Bild-Kombina‐ tionen wie in Julia Donaldsons und Axel Schefflers Der Grüffelo (1999; siehe Abb. 4) bis hin zu orthographisch variierenden Hervorhebungen wie in Rachel Brights und Jim Fields Die Streithörnchen (2017; siehe Abb. 5) - so zeichnen sich Bilderbücher durch das Erzählen ihrer Geschichten über Text bzw. Schrift und Bild aus (siehe u. a. Dolle-Weinkauff 2007: 227; Kurwinkel 2020: 16; Thiele 2006: 77 ff.). Im Gegensatz zu ausschließlich schriftbasierten Geschichten stehen den Schüler: innen in der Phase der Rezeption somit zwei Zugänge zur erzählten Narration zur Verfügung: Entweder sie erschließen die Geschichte a) ausschließ‐ lich über die Schriftebene, b) nur unter Verwendung der visualisierten Bildebene oder aber c) durch die Kombination beider Ebenen. Durch die Verbindung von Bild und Text zu einer „Sehfläche“ (siehe Schmitz 2011: 23) wird das Bilderbuch im Gegensatz zum schriftlichen Ganzwerk nicht nur additiv angereichert, sondern entwickelt durch das Zusammenspiel von Bild und Text einen semiotischen Mehrwert, der vielfältige Deutungshorizonte bzw. -kontexte eröffnet und damit eine multidimensionale Lektüre ermöglicht (siehe u. a. Staiger 2019: 14; Thiele 2003: 42 f.). Je nach Darstellungsstrategie kann es demnach vorkommen, dass den Rezipient: innen Übereinstimmungen zwischen Bild und Text auffallen oder aber Unterschiede zwischen den erzählten Fragmenten bemerkt und anschließend für den literarischen Verstehensprozess herangezogen werden - man denke beispielsweise an Darstellungen in Form eines geflochtenen Zopfes. 68 Lisa König Abb. 3: Genauso wie der sprachlose Protagonist in Ein neues Land können die Rezipient: innen nur auf die Bildebene zugreifen Abb. 4: Im Grüffelo ver‐ laufen Bild- und Textebene parallel; das Beschriebene wird illustriert, was die Re‐ zipient: innen bei der Imagi‐ nation unterstützt Abb. 5: In Die Streithörn‐ chen ergänzen sich Bild- und Textebene; Geräusche oder wichtige Intonationen werden zusätzlich hervor‐ gehoben Insbesondere für Lernende mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf bietet der literarische Gegenstand Bilderbuch eine alternative Zugangsmöglichkeit zur literarischen Welt: Schüler: innen sind bei der Lektüre nicht auf ausreichend ausgeprägte Lesekompetenzen angewiesen, um einen Weg über die Re- und Dekodierung und das verstehende Verarbeiten von Graphemen zur Narration zu finden. Vielmehr können sie auftretende Verstehenslücken durch die Kom‐ bination von Schrift und Bild schließen bzw. bei auftretenden Diskrepanzen zwischen Text- und Bildelementen überhaupt erst wahrnehmen: Das Sehen auf Bildebene unterstützt bzw. ermöglicht die Imaginationsbildung der Rezi‐ pient: innen und hilft ihnen im Sinne eines erweiterten Stützsystems, sich die beschriebene literarische Welt genauer vorzustellen und damit die Tür in die Erzählung zu öffnen (siehe u. a. Dehn 2019: 122). Selbst wenn Lernende zu einem bestimmten Zeitpunkt noch nicht über ausreichende Lesefähigkeit verfügen, finden sie so einen Zugang zur Geschichte und der literarischen Welt. Um die Erzählung mit den Informationen der Textebene zu verbinden, eignet sich bei Schüler: innen mit sonderpädagogischen Förderbedarfen das unterstützende Vorlesen, da kognitive Kapazitäten hierbei für den Verstehens‐ prozess verwendet und nicht für den Vorgang der Dekodierung genutzt werden müssen. Im Anschluss können die Informationen aus der Text- und Bildebene zusammengebracht, miteinander verglichen und zur Anbahnung von literari‐ 69 Gemeinsam… und doch verschieden schen Verstehensprozessen im Rahmen der Operationsphase genutzt werden. Für verstehensstärkere Schüler: innen eignet sich das Zusammenspiel von Bild- und Textebene - unabhängig von ihren Förderbedarfen - insbesondere für den Vergleich der Einzelinformationen untereinander bzw. den Abgleich mit ihren eigenen Vorstellungen, wodurch sie ihren Deutungshorizont erweitern oder überhaupt erst alternative Deutungsweisen in den Blick nehmen. Vor allem für inklusive Lerngruppen mit äußerst heterogenen Lern- und Leistungs‐ voraussetzungen bietet der flexible Umgang mit Text- und Bildebenen folglich Lernpotenziale für den Erwerb, Auf- und Ausbau literarischen Verstehens: Die Schüler: innen können die unterschiedlichen Erzählebenen in Abhängigkeit von ihren Rezeptions- und Operationsfähigkeiten individuell nutzen und zur Erwei‐ terung ihres Verstehens heranziehen. Wie diese Nutzung konkret aussehen könnte, soll im Folgenden anhand von Teilergebnissen des Forschungsprojekts „Fiktionswahrnehmung als Grundlage literarischen Verstehens“ (König 2020a) gezeigt werden. 5 Verstehen konkret - Empirische Forschungsergebnisse Im Rahmen des empirischen Forschungsprojekts „Fiktionswahrnehmung als Grundlage literarischen Verstehens“ (König 2020a) wurden Primarstufenler‐ nende mit sonderpädagogisch diagnostizierten Förderbedarfen und ohne im Bereich Lernen (N = 60; drei Klassen im Stuttgarter Brennpunkt und Umfeld) zu ihren literarischen Verstehensprozessen anhand des Bilderbuchs Prima Monster! Oder: Schafe zählen ist doof! (Heitz/ Tourlonias 2012) befragt. Hierbei standen die Erhebung des ganzheitlichen literarischen Verstehensvorgangs anhand zen‐ traler literarischer Grundkompetenzen (siehe u. a. Boelmann/ König 2021) sowie die Wahrnehmung von Phänomenen der Fiktion im Mittelpunkt (siehe u. a. König 2020b; König 2021b). Anhand der Kombination beider Erhebungsschwer‐ punkte konnte ein empirisch-formaler Überblick darüber gewonnen werden, wie bereits junge Schüler: innen (hier Drittklässler: innen) mit literarischen Gegenständen umgehen und inwiefern einzelnen Gestaltungsmerkmale von Narrationen durchdrungen werden können. a) Die Forschungsmethodik - Leitfadeninterviews, Vorleserunden, qualitative Inhaltsanalyse Die Erfassung der literarischen Grundkompetenzen und des Fiktionsverstehens der Kinder fand anhand von leitfadengestützten Interviews statt (siehe Häder 2010; Misoch 2015; Nohl 2012). Um den Rezeptionsprozess der Kinder zu entlasten und die mögliche Störvariable „Lesefähigkeit“ auszuschließen, wurde 70 Lisa König 4 Bei der Erhebung wurde ein besonderer Schwerpunkt auf die grundlegenden literari‐ schen Kompetenzen gelegt, die zum Verstehen der Handlungs- (Handlungssowie Figurenverstehen) und Metaebene (Verstehen sprachlicher Mittel sowie Symbol- und Metaphernverstehen) einer Narration beitragen und daher für das Verstehen aller geschichtentragenden Medien von Bedeutung sind. Hierdurch sollte der grundlegende Umgang der Schüler: innen mit literarischen Gegenständen fokussiert und hinsichtlich qualitativer Unterschiede analysiert werden. den Kindern der Erhebungsgegenstand „Prima Monster“ (siehe nächster Punkt) in Kleingruppen vor den Interviews vorgelesen. Im Anschluss wurden die Drittklässler: innen einzeln von erwachsenen Versuchsleiter: innen interviewt. Hierbei wurden ihnen zehn Fragen zu ihren literarischen Grundkompetenzen gestellt, elf zu ihrem Fiktionsverstehen. Während des gesamten Interviews konnten die Kinder auf das Erhebungsbilderbuch zurückgreifen, um ihre Aus‐ sagen anhand von Text- oder Bildbeispielen zu belegen oder weiterführende Schlüsselstellen heranzuziehen. Die entstandenen Gesprächsdaten wurden an‐ schließend qualitativ inhaltsanalytisch (siehe Kuckartz 2012; Mayring 2016) aus‐ gewertet. Zentrale, deduktive Kategorien bildeten dabei die primarstufenspezifi‐ schen Durchdringungsstufen des BOLIVE-Modells (siehe u. a. Boelmann/ König 2021; König 2020a). Diese ermöglichen es als Entwicklungsstufenmodelle em‐ pirisch valide Aussagen über die literarische Kompetenzausprägung im Rahmen von Durchdringungsstufen zu treffen und anhand von Plausibilitäts- und nicht Richtig- und Falsch-Kategorien Aussagen über Literatur zu beurteilen. 4 Weiter‐ führende Äußerungen der Kinder - u. a. im Interviewteil zum Fiktionsverstehen - wurden in ein induktives Kategoriensystem übertrage, um sich dem Verstehen anzunähern. 71 Gemeinsam… und doch verschieden Abb. 6: exemplarisch - primarstufenspezifische Durchdringungsstufen des Figurenvers‐ tehens (Niveau: Figurenanalyse) b) Das Bilderbuch der Erhebung - Fiktion als Gestaltungsstruktur und Thema Für die Erhebung wurde das Bilderbuch Prima Monster! Oder Schafe zählen ist doof! (Heitz/ Tourlonias 2012) ausgewählt. 72 Lisa König Abb. 7: Cover von Prima Monster (Heitz/ Tourlonias 2012) Wie bereits einleitend skizziert, eignete sich die Geschichte rund um das Monster Prima und das Mädchen Mia - insbesondere aufgrund der Vielzahl unterschiedlicher Fiktionsmarker der doppelten Erzählstruktur aus Intra- und 73 Gemeinsam… und doch verschieden Extradiegese. Hierdurch konnten die Lernenden auf vielfältige Art und Weise auf fiktionsanzeigende Signale zurückgreifen und gleichzeitig das Thema für ihre Argumentation nutzen. Inhaltlich erzählt das Bilderbuch die Geschichte des Mädchens Mia und ihrem Vater, der versucht, seine Tochter abends ins Bett zu bringen. Mia ist jedoch noch gar nicht müde, woraufhin ihr Vater vorschlägt, gemeinsam mit dem Plüschschaf Mortimer Schafe zu zählen. Das ist Mia jedoch viel zu langweilig; sie will lieber Monster zählen. Nach kurzer Verwirrung beginnt ihr Vater mit Monster Eins, wird von Mia und ihren Nachfragen zum Monster jedoch sofort unterbrochen. Wie sieht das Monster aus? Was macht es gerne? Wo wohnt es? Ausgehend von Mias Fragen konstruiert ihr Vater daraufhin Prima Monster, die Mia in ihre Welt einlädt und ihr zeigt, wie es sich als Monster so lebt. Die intradiegetische Erzählung zu Prima und ihrer Monsterstadt wird dabei von der extradiegetischen Geschichte von Mia und ihrem Vater gerahmt, bis Mia - vom Erzählen ihres Vaters müde geworden - doch noch einschläft und sich wünscht, morgen mit Monster Zwei fortzufahren Um einen Einblick in die Verstehensäußerungen der Kinder mit und ohne sonderpädagogische Förderbedarfe zu erhalten, werden im Folgenden zwei zentrale Ergebnisse des Forschungsprojekts vorgestellt und anhand von exem‐ plarischen Transkriptauszügen verdeutlicht. Aufgrund der Probandenanzahl stellen die Ergebnisse lediglich Hinweise auf bestehende Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Kindern mit als auch ohne sonderpädagogisch diagnostizierte Förderbedarfe in ihrem literarischen Verstehensprozess dar, welche es in fol‐ genden Forschungsprojekten näher zu untersuchen gilt. 5.1 Ergebnis: Durchdringungstiefe der Bilderbuchgeschichte Die Ergebnisse der Interviewauswertung der Drittklässler: innen zeigen, dass die Durchdringungstiefe der einzelnen am Verstehensprozess beteiligten litera‐ rischen Grundkompetenzen deutlich variiert: Der Vergleich der Mittelwerte der erreichten Durchdringungsstufen ergab, dass den Primarstufenschüler: innen - unabhängig von ihren sonderpädago‐ gischen Förderbedarfen - das Verstehen der Handlungsebene, konkret im Bereich Handlung und Figuren, deutlich leichter fiel, als die Durchdringung der gestalterischen Metaebene (siehe König 2020a: 277). Insbesondere kognitiv weniger anspruchsvollere Operationen - wie die Identifikation der Handlung oder von literarischen Figuren - wiesen dabei die höchsten Mittelwerte auf; die abstraktionsreicheren Verstehensprozesse waren deutlich geringer ausgeprägt (siehe Tab. 1): 74 Lisa König Handlungsidentifikation Handlungsanalyse Figurenidentifikation Figurenanalyse Mittelwerte der Gesamt‐ stichprobe 4,35 von 9 2,67 von 7 M: 4,98 von 8 2,63 bzw. 2,72 von 8 Tab. 1: Übersicht über die erreichten Mittelwerte (orientiert an den jeweiligen Durch‐ dringungsstufen des BOLIVE-Modells) bezüglich der literarischen Grundkompetenzen; ein Wert von 4,3 entspricht bspw. der vierten Stufde im BOLIVE-Modell Während sich diese Ausprägungstendenz bei den Lernenden ohne wie mit Förderbedarfe(n)feststellen lässt, fällt auf, dass die Schüler: innen mit sonderpäd‐ agogischen Förderbedarf signifikant geringere Durchdringungswerte hinsicht‐ lich der einzelnen Grundkompetenzen erreichen als ihre Mitschüler: innen ohne speziellen Förderbedarf. Auf den hierarchieniedrigen Operationen gelingen noch komplexe Äußerungen; im Bereich der Figurenidentifikation können alle Kinder (N = 5) bspw. die Figuren im Bilderbuch differenziert benennen sowie voneinander abgrenzen und erste Begründung hinsichtlich der Unterteilung in Haupt- und Nebenfiguren anstellen (entspricht der Durchdringungsstufe 4 im BOLIVE Modell). Ähnliches zeigt sich bei der Handlungsidentifikation: Die Schüler: innen können hier mindestens eine textnahe Nacherzählung anstellen (entspricht der Durchdringungsstufe 3 im BOLIVE-Modell). Ein Drittklässler schafft es sogar, sich auf den ganzen Text zu beziehen. Mit fortschreitender Komplexität gelingt es den befragten Schüler: innen jedoch lediglich, einzelne Figurenmerkmale der äußeren Beschreibung aufzugreifen und mit ersten We‐ senszügen in Beziehung zu setzen (entspricht der Durchdringungsstufe 2 im BOLIVE-Modell); ein Transfer zu Handlungsmotivationen der Figuren wird von nur einer Probandin vorgenommen. Ähnliches zeigt sich beim Handlungs‐ verstehen im Bereich der Handlungsanalyse: Einfache Zusammenhänge der Handlung können noch benannt werden (entspricht der Durchdringungsstufe 2 im BOLIVE-Modell), zwei Kinder schaffen es auch, diese kausal zu verbinden (entspricht der Durchdringungsstufe 3 im BOLIVE-Modell); doch diese an die Geschichte des Bilderbuches linear-narrativ anzubinden, scheint eine zu große Herausforderung zu sein. Äußerungen zur Metaebene können die Kinder mit sonderpädagogisch diagnostizierten Förderbedarfen im Bereich Lernen während der Interviews nicht vornehmen. Wenngleich daher die Durchdringungstiefe der inklusiv beschulten Ler‐ nenden als weniger ausgeprägt bezeichnet werden muss, zeigt eine tieferge‐ hende qualitative Analyse der Äußerungen, dass sie sich in ihrer Durchdringung qualitativ kaum von anderen verstehensschwachen Schüler: innen ohne För‐ 75 Gemeinsam… und doch verschieden derbedarfe unterscheiden. Exemplarisch sei dies an der Figurenbeschreibung zweier Proband: innen verdeutlicht: Der Proband R1-S1, nennen wir ihn im Folgenden Serkay, verfügt über einen sonderpädagogischen Förderbedarf im Bereich Lernen, ist zum Zeitpunkt der Erhebung acht Jahre alt und besucht eine dritte Klasse im Stuttgarter Brennpunkt. Proband K2-S1, hier Max genannt, ist ebenfalls acht Jahre alt, geht jedoch in eine dritte Klasse des ländlichen Stuttgarter Umlands und gilt als aufmerksames Regelschulkind ohne diagnostizierte Förderbedarfe. Beide antworten auf die Frage nach der Beschreibung des Monsters Prima (Bezug zur Figurenbeschreibung im Rahmen des Figurenverstehens) ähnlich (siehe Tab. 2 und Tab. 3): V 30 Das reicht sonst auch schon. Wenn du einem anderen Kind Prima beschreiben müsstest, wie würdest du sie beschreiben? Also wie ist die Prima so, welche Eigenschaften hat sie. S 32 (3.0) Also das Monster (2.0) ist nett. (1.0) Hat scharfe Zähne. (1.0) Ist so groß wie ein Baum (3.0) die V 34 Mhm. Ja. Mhm. S 35 Arme sind so lang wie ein (0.5) Ast. (lacht) ja. (2.0) und mehr weiß ich nicht. Tab. 2: Serkay bezieht sich vor allem auf äußere Eigenschaften und erste Wesenszüge von Prima V 48 Mhm genau, die kommt einfach am meisten vor. Wie würdest du denn einem anderen Kind Prima beschreiben? Welche Eigenschaften hat sie? S 50 (4.0) Mh (3.0) also V 51 Also wie ist das Monster. S 52 Also es ist so groß wie ein Baum, es ist so stark wie (0.5) 100 Pferde V 53 (lacht) Ja, genau. (2.0) Und wie sieht es nochmal aus? S 55 Ähm (3.0) und es ist weiß wie ein Eisbär, hat Ohren wie ein Wolf. Hat so spitze Zähne wie ein Hai oder so was. Tab. 3: Max antwortet auf die Frage vor allem über das Aussehen und die körperliche Stärke von Prima Sowohl Serkay als auch Max beziehen sich vornehmlich auf die äußeren Merkmale Primas und übernehmen sogar die im Bilderbuch verwendeten 76 Lisa König sprachlichen Vergleichsstrukturen („ist so groß wie…“, „ist so lang wie…“). Die Größe Primas benennen beide Jungen, Max ergänzt die Ohren, Zähne und die Fellfarbe; Serkay führt noch die langen Arme an. Hinzu tritt bei beiden ein Merkmal, das sich nicht nur auf äußere Beschreibungskategorien beziehen lässt, sondern weiterführende Eigenschaften aufgreift: Max bezieht sich auf die Stärke Primas, Serkay auf ihr „nettes“ Wesen (Durchdringungsstufe 2). Beiden gelingt damit ein erster Abstraktionschritt weg von der äußeren Erscheinung; eine Loslösung von den schriftlich formulierten Aussagen im Bilderbuch oder eine weiterführende Abstraktion hin zu den Hintergründen des netten Wesens des Monsters oder den mit der Stärke Primas verbundenen Handlungen, bleibt jedoch noch aus (Durchdringungsstufe 3). 5.2 Ergebnis: Argumentation des Verstehens anhand unterschiedlicher Ebenen des Bilderbuchs Zusätzlich zu allgemeinen Durchdringungstiefe der Bilderbuchgeschichte in den grundlegenden Kompetenzbereichen des literarischen Verstehens zeigte die Analyse der von den Kindern verwendeten Argumentationslinien in Bezug auf die unterschiedlichen Darstellungsebenen des Bilderbuchs deutliche Unter‐ schiede zwischen den Schüler: innen mit sonderpädagogisch diagnostizierten Förderbedarfen und ohne: Alle Schüler: innen der Stichprobe mit einem son‐ derpädagogischen Förderbedarf im Bereich Lernen bezogen sich während der Interviews zum ganzheitlichen literarischen Verstehensprozess sowie zu ihren individuellen Fiktionswahrnehmungen vornehmlich auf visuelle Elemente, die sie innerhalb der Bilderbuchgeschichte wahrnehmen konnten. Lediglich ein Kind bezog sich ergänzend auch auf schriftliche Informationen, die sich im Bilderbuch fanden. Im Gegensatz hierzu orientierte sich die Mehrheit der Schüler: innen ohne diagnostizierte Förderbedarfe ausschließlich an Elementen des Erzähltextes (72,67 %), weniger als ein Viertel (23,67 % der Gesamtstichprobe) nutze Informationen aus beiden Ebenen. Besonders auffällig war hierbei, dass insbesondere Schüler: innen mit einer ausgeprägteren Verstehenstiefe der Hand‐ lungs- und Metaebene der Erzählung sowohl visuelle als auch schriftlich vermit‐ telte Erzählelemente mit in ihre Argumentationen einbezogen und miteinander in Beziehung setzten. Besonders deutlich werden die Argumentationsunter‐ schiede bei der Frage nach der Covergestaltung und inwiefern die Lernenden hier bereits erkennen können, ob die Geschichte von Prima Monster erfunden wurde (siehe Tab. 4 und Tab. 5): 77 Gemeinsam… und doch verschieden V 159 Ok. (1.0) Und schau mal, wenn du jetzt das nicht weißt, worum es im Buch geht, und du das Buch nur von außen, also das Cover, anguckst. Kannst du dann auch schon merken, dass die Geschichte erfunden wurde? S 162 Ja, weil da ist der Kopf von Prima. V 163 Da ist der Kopf von Prima Monster, natürlich. Und gibt es sonst noch etwas außen drauf, wo dir auffällt, wo man merken könnte, dass jemand die Geschichte erfunden hat? S 165 (0.5) Mh die Monsteraugen da. V 166 Oh ja stimmt. Da [im Titelschriftzug] sind Monsteraugen. S 167 Und Monsterzähne […] die gibt es auch nicht. Tab. 4: Serkay bezieht sich auf vielfältige Elemente der visuellen Ebene des Covers V 101 (2.0) Ok und kann man auch schon merken, dass die Geschichte erfunden ist, wenn man sich nur das Buch anschaut? S 103 (1.0) Ja. V 104 Woran merkst du das? S 105 Weil da Monster steht und Monster gibt es nicht. Tab. 5: Max fokussiert sich in seiner Antwort direkt auf die schriftlichen Elemente Serkay bezieht sich zur Beantwortung der Frage vornehmlich auf visuelle Ele‐ mente, die auf dem Cover zu sehen sind. Dabei nennt er zum einen Primas Kopf, der prominent über die linke Seite des Covers ragt und auf Mia hinabblickt. Auf Nachfrage geht er auch auf den Titel ein, nimmt dabei jedoch nicht die textuelle Information „Monster“ in den Blick, sondern benennt verschiedene darstelleri‐ sche Elemente, wie die hineingezeichneten Monsteraugen und -zähne, die die Buchstaben illustrieren. Max orientiert sich ebenfalls am Titel, bezieht sich hierbei jedoch nicht auf die Bild-, sondern auf die Textebene. Er gibt an, dass man die Fiktionalität der Geschichte direkt daran erkennen könnte, dass im Titel „Monster“ stehen würde. Seine generelle Wahrnehmung von der Fiktionalität der literarischen Figur „Monster“ überträgt er damit direkt auf den Titel, verortet das fiktionsanzeigende Signal jedoch ausschließlich schriftlich. Wenngleich sich somit beide Probanden an der Kategorie „Monster sind erfunden“ orientieren, erläutern sie ihr Erkennen jedoch auf unterschiedliche Art und Weise anhand der Bildbzw. Textebene des Bilderbuchs. 78 Lisa König 6 Diskussion Sowohl die übergreifenden Ergebnisse des empirischen Forschungsprojekts „Fiktionswahrnehmung als Grundlage literarischen Verstehens“ als auch die exemplarischen Einzelanalysen der Aussagen von Serkay und Max zeigen: Lernende mit sonderpädagogische diagnostizierten Förderbedarfen und ohne im Bereich Lernen sind in der Lage, sich einen literarischen Gegenstand zu erschließen - ihr Verstehensprozess variiert vor dem Hintergrund ihrer indivi‐ duellen Lern- und Leistungsdispositionen lediglich in der Durchdringungstiefe. Betrachtet man letztere jedoch genauer, fällt auf, dass sich die qualitative Ausprägung des literarischen Verstehensprozesses bei Lernenden mit sonder‐ pädagogischen Förderbedarf und ohne kaum voneinander unterscheidet. Viel‐ mehr zeichnen sich die Äußerungen durch ähnliche Gestaltungsstrukturen aus, die von Rezipient: innen unabhängig von ihren Förderbedarfen herange‐ zogen werden. Im Umgang mit dem literarischen Gegenstand Bilderbuch zeigte sich jedoch, dass Schüler: innen mit diagnostizierten Förderbedarfen andere Darstellungsebenen für die Erklärung ihrer Verstehensprozesse nutzen: Sie scheinen sich deutlich stärker an der Bildebene zu orientieren als Kinder ohne Förderbedarfe, die vornehmlich auf textuelle Elemente zurückgreifen und erst mit zunehmendem Verstehensprozess auch Text-Bild-Kombinationen in ihre Überlegungen einbeziehen. Die Multidimensionalität des Mediums Bilderbuch scheint folglich durch die Kombination von Text- und Bild-Elementen den Zugang zum Verstehen einer Geschichte zu erleichtern, da entsprechende Schüler: innen nicht auf eine narrative Codierung zurückgeworfen werden, sondern durch die Präsentation einer - wie zuvor ausgeführt - komplexen „Seh‐ fläche“ vielfältige Gestaltungselemente einer Geschichte nutzen können. Hier‐ durch ermöglichen Bilderbücher im Sinne eines inklusiven Literaturunterrichts der Zugänglichkeit für alle Schüler: innen einen Weg in literarische Welten, die ihnen anderenfalls bei monodimensional vermittelten Narrationen möglicher‐ weise verwehrt bleiben würden. Die konkrete Nutzung in Abhängigkeit zum individuellen Förderbedarf - u. a. auch in medialen Text-Bild-Verbünden - gilt es in weiterführenden Forschungsprojekten auch interdisziplinär zu erforschen, da insbesondere die unterschiedliche Kodierung von Text- und Bildinformationen auch für fächerübergreifende oder -verbindende Lernprozesse ertragreich sein könnte. 79 Gemeinsam… und doch verschieden Literatur Primärliteratur Bright, Rachel/ Field, Jim (2017). Die Streithörnchen. Bamberg: Magellan. Donaldson, Julia/ Scheffler, Axel (1999). Der Grüffelo. Weinheim/ Basel: Beltz & Gelberg. Heitz, Markus/ Tourlonias, Joelle (2012). Prima Monster! Oder Schafe zählen ist doof. Köln: Baumhaus. Tan, Shaun (2008). Ein neues Land. Hamburg: Carlsen. Sekundärliteratur Abraham, Ulf (2005). Lesekompetenz, literarische Kompetenz, poetische Kompetenz. Fachdidaktische Aufgabe einer Medienkultur. In: Rösch, Heidi (Hrsg.). Kompetenzen im Deutschunterricht. Beiträge zur Literatur-, Sprach- und Mediendidaktik. Frankfurt a.M.: Peter Lang Verlag, 13-26. Abraham, Ulf/ Kepser, Matthis (2016). Literaturdidaktik Deutsch. Eine Einführung. Berlin: Erich Schmidt Verlag. Becker, Maria (2020). LieS! Literatur in einfacher Sprache für Kinder und Jugendliche. In: Glasenapp, Gabriele von/ Frickel, Daniela A./ Kagelmann, Andre/ Seidler, Andreas (Hrsg.). Kinder- und Jugendmedien im inklusiven Blick. Analytische und didaktische Perspektiven. Frankfurt a. M.: Peter Lang Verlag, 279-298. Bock, Bettina (2019). „Leichte Sprache“ - kein Regelwerk. Sprachwissenschaftliche Ergebnisse und Praxisempfehlungen aus dem LeiSA-Projekt. Berlin: Frank & Timme. Boelmann, Jan M./ König, Lisa (2020). Die Wolkenvölker im Deutschunterricht. Einsatz‐ möglichkeiten intermedialen literarischen Lernens im inklusiven Unterricht. In: Glasenapp, Gabriele von/ Frickel, Daniela A./ Kagelmann, Andre/ Seidler, Andreas (Hrsg.). Kinder- und Jugendmedien im inklusiven Blick. Analytische und didaktische Perspektiven. Frankfurt a.M.: Peter Lang Verlag, 183-200. Boelmann, Jan M./ König, Lisa (2021). Literarische Kompetenz messen, literarische Bil‐ dung fördern. Das Bochumer Modell literarischen Verstehens. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren. Brand, Tilman von (2016). Literarisches Lernen in inklusiven Lerngruppen. Eckpunkte einer inklusiven Literaturdidaktik. In: Frickel, Daniela/ Kagelmann, Andre (Hrsg.). Der inklusive Blick. Die Literaturdidaktik und ein neues Paradigma. Frankfurt: Peter Lang, 89-102. Bredel, Ursula/ Maaß, Christiane (2016). Leichte Sprache. Theoretische Grundlagen, Orientierung für die Praxis. Berlin: Duden-Verlag. Büker, Petra (2006). Literarisches Lernen in der Primar- und Orientierungsstufe. In: Bogdal, Klaus-Michael/ Korte, Hermann (Hrsg.). Grundzüge der Literaturdidaktik. München: dtv, 120-133. 80 Lisa König Dawidowski, Christian (2016). Literaturdidaktik Deutsch. Paderborn: Ferdinand Schön‐ ingh. Dehn, Mechthild (2019). Visual Literacy, Imagination und Sprachbildung. In: Knopf, Julia/ Abraham, Ulf (Hrsg.). BilderBücher. Band 1. Theorie. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren, 121-130. Dolle-Weinkauff, Bernd (2007). Bildgeschichte, Bildergeschichte. In: Weimar, Klaus/ Fricke, Harald/ Müller, Jan-Dirk/ Grubmüller, Klaus (Hrsg.). Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Band 1: A-G. Berlin: de Gruyter, 227-229. Eggert, Hartmut/ Garbe, Christine (2003). Literarische Sozialisation. Stuttgart: Metzler. Frickel, Daniela/ Kagelmann, Andre (Hrsg.) (2016). Der inklusive Blick. Die Literaturdi‐ daktik und ein neues Paradigma. Frankfurt a.M.: Peter Lang Verlag. Glasenapp, Gabriele von/ Frickel, Daniela A./ Kagelmann, Andre/ Seidler, Andreas (Hrsg.) (2020). Kinder- und Jugendmedien im inklusiven Blick. Analytische und didaktische Perspektiven. Frankfurt a.M.: Peter Lang Verlag. Häder, Michael (2010). Empirische Sozialforschung. Eine Einführung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Hennies, Johannes/ Ritter, Michael (2014). Deutschunterricht in der Inklusion. Auf dem Weg zu einer inklusiven Deutschdidaktik. Stuttgart: Fillibach. Hochstadt, Christiane/ Olsen, Ralph (2019) (Hrsg.). Handbuch Deutschunterricht und Inklusion. Weinheim/ Basel: Beltz. Husfeldt, Vera/ Lindauer, Thomas (2009). Kompetenzen beschreiben und messen. Eine Problematisierung selbstverständlicher Begriffe. In: Bertschi-Kaufmann, Andrea/ Ro‐ sebrock, Cornelia (Hrsg.). Literalität. Bildungsaufgabe und Forschungsfeld. Weinheim: Juventa, 137-150. Josting, Petra/ Maiwald, Klaus (Hrsg.) (2007). Kinder- und Jugendliteratur im Medien‐ verbund. Grundlagen, Beispiele und Ansätze für den Deutschunterricht. München: kopaed. König, Lisa (2020a). Fiktionswahrnehmung als Grundlage literarischen Verstehens. Eine empirische Studie über den Zusammenhang von Fiktionsverstehen und literarischer Grundkompetenz. Baltmannsweiler: Schneider Verlag. König, Lisa (2020b). Von Monstern, Drachen und Autoren - Kindliche Fiktionsvor‐ stellungen als Einflussgröße gelingender literarischer Verstehensprozesse. In: Dawi‐ dowski, Christian/ Hoffmann, Anna/ Stolle, Angelika/ Wolff, Jennifer (Hrsg.). Schuli‐ sche Literaturvermittlungsprozesse im Fokus empirischer Forschung. Frankfurt a.M.: Peter Lang Verlag, 53-72. König, Lisa (2021a). Geschichten sind für alle da - Digital Storytelling als Zugang eines inklusiven Literaturunterrichts. In: Dannecker, Wiebke/ Konja-Jobs, Nathalie (Hrsg.). Literarisches Verstehen im Kontext von Inklusion und Digitalisierung. Köln: MiDu 81 Gemeinsam… und doch verschieden - Medien im Deutschunterricht. 1/ 2021, 1-20. journals.ub.uni-koeln.de/ index.php/ mi du/ article/ view/ 1178 (last accessed: 22.12.2021) König, Lisa (2021b). Mit Wirklichkeit umgehen lernen - Wie Primarstufenschülerinnen und -schüler Fiktion wahrnehmen. In: Maiwald, Klaus/ Emmersberger, Stefan (Hrsg.). MiDu: Mit Wirklichkeitskonstruktionen im Deutschunterricht umgehen. Köln: MiDu - Medien im Deutschunterricht. 2/ 2021, 1-20. https: / / journals.ub.uni-koeln.de/ index. php/ midu/ article/ view/ 1356/ 1336 (last accessed: 22.12.2021) Kruse, Iris (2014a). Intermediale Lektüre(n). Ein Konzept für Zu- und Übergänge in in‐ termedialen Lehr- und Lernarrangements. In: Weinkauff, Gina/ Dettmar, Ute/ Möbius, Thomas/ Tomkowiak, Ingrid (Hrsg.). Kinder- und Jugendliteratur in Medienkontexten: Adaption - Hybridisierung - Intermedialität - Konvergenz. Frankfurt a.M.: Peter Lang Verlag, 179-198. Kruse, Iris (2014b). Brauchen wir eine Medienverbunddidaktik? Zur Funktion kinderlite‐ rarischer Medienverbünde im Literaturunterricht der Primar- und frühen Sekundar‐ stufe. Leseräume 1 (1) 1-30. https: / / leseräume.de/ wp-content/ uploads/ 2015/ 10/ lr-201 4-1-kruse.pdf (last accessed: 22.12.2021) Kruse, Iris (2016). Kinderliterarische Medienverbünde im inklusiven Literaturunterricht der Grundschule - Mediale Darstellungsvielfalt als Chance für gemeinsame literästhe‐ tische Erfahrungen. In: Frickel, Daniela A./ Kagelmann, Andre (Hrsg.). Der inklusive Blick. Die Literaturdidaktik und ein neues Paradigma. Frankfurt a.M.: Peter Lang Verlag, 171-192. Kuckartz, Udo (2012). Qualitative Inhaltsanalyse: Methoden, Praxis, Computerunterstüt‐ zung. Weinheim/ Basel: Beltz. Kurwinkel, Tobias (2020). Bilderbuchanalyse. Narrativik - Ästhetik - Didaktik. Tü‐ bingen: Narr Francke Attempo Verlag. Mayring, Philipp (2016). Qualitative Inhaltsanalyse: Grundlagen und Techniken. Wein‐ heim/ Basel: Beltz. Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg (2016). SBBZ Förder‐ schwerpunkt Lernen. http: / / www.bildungsplaene-bw.de/ ,Lde/ 4554235 (last accessed: 29.06.2022) Misoch, Sabina (2015). Qualitative Interviews. Berlin: De Gruyter. Mitterer, Nicola (2016). Das Fremde in der Literatur. Zur Grundlegung einer responsiven Literaturdidaktik. Bielefeld: transcript. Naugk, Nadine/ Ritter, Alexandra/ Ritter, Michael/ Zielinski, Sascha (2016). Deutschunter‐ richt in der inklusiven Grundschule. Perspektiven und Beispiele. Weinheim/ Basel: Beltz. Nohl, Arnd-Michael (2012). Interview und dokumentarische Methode: Anleitungen für die Forschungspraxis. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. 82 Lisa König Odendahl, Johannes (2018). Literarisches Verstehen. Grundlagen und didaktische Per‐ spektiven. Berlin: Peter Lang Verlag. Pompe, Anja (2016). Literarisches Lernen im Anfangsunterricht. Theoretische Re‐ flexionen, empirische Befunde, unterrichtspraktische Entwürfe. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren. Schmitz, Ulrich (2011). Sehflächenforschung. Eine Einführung. In: Diekmannsthenke, Hans-Joachim/ Klemm, Michael/ Stöckl, Hartmut (Hrsg.). Bildlinguistik. Theorien, Methoden, Fallbeispiele. Berlin: Erich Schmidt, 23-42. Staiger, Michael (2019). Erzählen mit Bild-Schrifttext-Kombinationen. Ein fünfdimensio‐ nales Modell der Bilderbuchanalyse. In: Knopf, Julia/ Abraham, Ulf (Hrsg.). BilderBü‐ cher. Band 1. Theorie. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren, 14-25. Thiele, Jens (2003). Das Bilderbuch. Ästhetik, Theorie, Analyse, Didaktik, Rezeption. Oldenburg: Aschenbeck & Isensee. Thiele, Jens (2006). Das Bilderbuch. In: Thiele, Jens/ Steitz-Kallenbach, Jörg (Hrsg.). Handbuch Kinderliteratur. Grundwissen für Ausbildung und Praxis. Freiburg i. Br.: Herder, 70-98. Waldt, Kathrin (2003). Literarisches Lernen in der Grundschule: Herausforderung durch ästhetisch-anspruchsvolle Literatur. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren. Wiprächtiger‐Geppert, Maja (2009). Literarisches Lernen in der Förderschule. Eine qualitativ‐empirische Studie zur literarischen Rezeptionskompetenz von Förderschü‐ lerinnen und ‐schülern in Literarischen Unterrichtsgesprächen. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren. 83 Gemeinsam… und doch verschieden Bilderbücher in Einfacher oder Leichter Sprache im inklusiven Deutschunterricht Kriterien zur Vereinfachung von Texten Linda Schomakers und Dorothee Meyer Abstract: Bilderbücher sind aufgrund ihrer multimodalen Zugangsmög‐ lichkeiten durch Text und Bild sowie die häufig gegebene Möglichkeit zur Übertragung in die erfahrbare Lebenswelt - beispielsweise durch Theaterstücke oder Realgegenstände - in besonderer Weise für die Arbeit in heterogenen Lerngruppen unter Einbeziehung von Schüler: innen mit kognitiver Beeinträchtigung geeignet. Mit Blick auf den Abbau von Lernbarrieren in Unterrichtssettings kann dabei die Frage auftreten, ob für Schüler: innen der Zugang zum Text durch eine Textvereinfachung geschaffen werden kann. Anregungen dazu bieten die Leichte Sprache, die in den 1990er aus der Selbstvertretungsbewegung behinderter Menschen heraus entwickelt wurde oder auch die Einfache Sprache, die einem flexibleren Regelgerüst folgt. Im Artikel werden auf der Basis verschiedener Regelkataloge und Emp‐ fehlungen der Leichten und Einfachen Sprache, auf Grundlage der Text‐ verständlichkeitsforschung und didaktischer Fachliteratur Kriterien zur Textvereinfachung entwickelt und exemplarisch auf einen Ausschnitt des Bilderbuchs Armer Pettersson von Sven Nordqvist angewendet. So können im inklusiven Deutschunterricht in der Primarstufe für (leseschwache) Schüler: innen sprachliche Zugänge und damit ein Lernen am gemein‐ samen Gegenstand ermöglicht werden. 1 Deutschunterricht in heterogenen Gruppen Der Deutschunterricht in der Primarstufe steht vor der Herausforderung, Schüler: innen in ihrer Individualität gemeinsam zu unterrichten. Als vorrangig sprach- und schriftbasierter Unterricht verfolgt er das Ziel, die Kulturtechnik Lesen als Schlüsselkompetenz zur gesellschaftlichen Teilhabe zu vermitteln. Lesen stellt dabei für viele Schüler: innen eine herausfordernde Tätigkeit dar, sodass Texte im Lese- und Literaturunterricht Barrieren darstellen können. Des‐ halb ist die Suche nach Wegen notwendig, mit denen Texte von Schüler: innen auf unterschiedliche Weise erfasst und verarbeitet werden können. In der Deutschdidaktik sind in Bezug auf den Umgang mit Heterogenität insbesondere Kinder im Blick, „die aufgrund spezifischer Sozialisationsbedin‐ gungen und/ oder Persönlichkeitsmerkmalen in statistisch auffälliger Weise zum Scheitern an den schulischen Anforderungen neigen“ (Hennies/ Ritter 2014: 10). Der didaktische Umgang damit wird dabei anhand von drei Spannungsfeldern thematisiert: (1) Individualisierung und Gemeinsamkeit, (2) Individualisierung und Bildungsstandards sowie (3) die Zusammenarbeit aus Fachwissenschaft und der inklusiven Fachdidaktik (siehe Hennies/ Ritter 2013: o.S.; 2014: 10 ff.; Pompe/ von Brand 2016: 30). Jedoch stößt die Deutschdidaktik „spätestens dort an Grenzen, wo der Zugang zum laut- und schriftsprachlichen Symbolsystem erheblich von den in den Bil‐ dungsstandards formulierten Mindestanforderungen abweicht“ (Hennies/ Ritter 2014: 10; Naugk et al. 2016: 43). Eine Herausforderung stellen auch die Felder dar, die einen bildungssprachlichen Hintergrund voraussetzen (Hennies/ Ritter 2014: 13). Aufgrund ihrer gesellschaftlich herausragenden Bedeutung ist die Kultur‐ technik Lesen in den Bildungsstandards des Faches Deutsch ein fest verankerter Kompetenzbereich und wird als Schlüsselqualifikation zu erfolgreicher Lebens‐ bewältigung und Teilhabe gesehen (siehe Noack 2014: 232). Insofern ist es eine wichtige, auch fächerübergreifende Aufgabe, die Lesefähigkeit möglichst aller Schüler: innen anzubahnen, auszubauen und zu festigen. Dazu kann eine Verknüpfung der verschiedenen Disziplinen Integrations-/ In‐ klusionspädagogik, Fachdidaktik Deutsch, germanistische Fachwissenschaft sowie Förderpädagogik wichtige Impulse geben (siehe Dönges 2011: 62; Diroll et al. 2020: o.S.). 2 Das Bilderbuch im Deutschunterricht Das Bilderbuch erfährt unter Berücksichtigung dieses Anliegens mit seiner textentlastenden Bildgestaltung sowie hinsichtlich literarischer Lernmöglich‐ keiten als lebensweltnahes, bildgestütztes Medium eine große Wertschätzung. Es ist auch ein Medium, was insbesondere in heterogenen Gruppen vielen Schüler: innen unterschiedliche Zugangswege eröffnet. 85 Bilderbücher in Einfacher oder Leichter Sprache im inklusiven Deutschunterricht Durch eine charakteristische Wechselbeziehung stehen im Medium Bilderbuch Bild und Text in einem Funktionszusammenhang (siehe Thiele 2003: 36, 53). Die Fähigkeit, Bilder - beispielsweise im Bilderbuch - zu verstehen sowie die ihnen enthaltenen Codes zu entschlüsseln, bezeichnet man als visual literacy (Dehn 2014). Codes können dabei u. a. die Figuren, der Hintergrund und die Betrachtungsrichtung sein (siehe Kümmerling-Meibauer/ Pompe 2016: 134). Der Text eines Bilderbuches rahmt meist die narrative Handlung, während das Bild Stimmungen, Charakterisierungen sowie Erweiterungen oder Vertie‐ fungen der Handlung transportiert (siehe Thiele 2011: 223). Auch monoszeni‐ sche und pluriszenische Bilder können hohe narrative Qualität haben und sind somit dem Text nicht hierarchisch untergeordnet. Wird der weite Textbegriff zugrunde gelegt, umfasst dieser im Bilderbuch also verbale und nonverbale sowie visuelle oder auch auditive Mitteilungen. Das erweitert das Verständnis über den Schrifttext hinaus auf mündliche Kommunikation, Theaterstücke, Filme und mehr (siehe Abraham/ Kepser 2009: 29). Das Medium Bilderbuch ist durch seine konstitutiven Bild-Text-Bezüge ein Beispiel des erweiterten Textbegriffs, wodurch sich für eine heterogenitätssen‐ sible Deutschdidaktik besondere Anschlussmöglichkeiten und eine unterrichts‐ praktische Relevanz ergibt. Bilder und Texte erzählen in ihrer eigenen Sprache und besitzen beide narra‐ tives Potenzial, welches sich „in der Verzahnung und Durchdringung beider Ebenen“ entfaltet (Thiele 2011: 224). Die Text-Bild-Interdependenzen können unterschiedlich ausgestaltet sein, z. B. in der Abgrenzung von fantastischen und realistischen Bilderbüchern. Durch intertextuelle und intermediale Verweise geht das Bilderbuch Beziehungen mit anderen Textsorten ein, z. B. mit Märchen. Zudem gibt es Bilderbücher in verschiedenen medialen Formaten. Im Unterricht kann das Medium z. B. aus sprachdidaktischer, literaturdidaktischer oder medi‐ endidaktischer Perspektive betrachtet werden. Durch diese Unterschiedlichkeit von Bilderbüchern und ihren Text-Bild-Bezügen erweitert sich das ästhetische und didaktische Potenzial (siehe Abraham/ Knopf 2014: 4 f.). Bilderbücher als Medium im Unterricht geben zudem Anknüpfungspunkte an die Sozialisation und Lebenswelt der Schüler: innen. Das erhöht die Motiva‐ tion, unterstützt die sprachliche Entwicklung und die narrative Kompetenz. Bilder bieten dabei Textentlastung, insbesondere für Schüler: innen mit wenig Schrifterfahrung, so dass einer Frustration aufgrund von Leseschwierigkeiten entgegengewirkt werden kann (siehe Gressnich 2014: 151; Kümmerling-Mei‐ bauer/ Pompe 2016: 135). Die visuelle Ebene wird genutzt, um der verbalen Ebene Bedeutung zu entnehmen. 86 Linda Schomakers und Dorothee Meyer Bilderbücher bieten didaktisches Potenzial für literarische Lernprozesse, Fan‐ tasie und Imagination, Übernahme von Perspektiven und das Nachvollziehen der Gefühle anderer (siehe Kümmerling-Meibauer/ Pompe 2016: 134). Auch für handlungs- und produktionsorientierte Verfahren (siehe Thiele 2003: 177), die das „Subjekt mit all seinen Sinnen, Gefühlen und Phantasien in den Mittelpunkt des unterrichtlichen Geschehens“ (Hochstadt et al. 2015: 152) stellen, für ästheti‐ sche Lernprozesse und für problemorientierten Unterricht (siehe Lieber/ Schnell 2008: 105 ff.) stellen Bilderbücher ein geeignetes Medium dar. Ebenfalls geeignet sind sie zur impliziten Thematisierung von Grammatikphänomenen (siehe Belke et al. 2017; Diroll et al. in diesem Band). Weiterhin stellen sie vielfältige, individuelle Zugangsweisen auch auf unter‐ schiedlichen Aneignungsebenen bereit und nehmen somit eine Brückenfunk‐ tion zwischen vorschulischen literarischen Erfahrungen der Kinder und den Ansprüchen des Erlernens der Kulturtechnik Lesen ein. Ebenso geeignet sind Bilderbücher als gemeinsamer Gegenstand (siehe Feuser 2005) für die Schreib‐ förderung in inklusiven Settings, da sie projektorientiert und mit umfangreichen inneren Differenzierungsmöglichkeiten erarbeitet werden können, kreative Schreibanregungen und Schreibanlässe bieten und Kinder, wenn die Schreibfä‐ higkeit eingeschränkt ist, sich mit Bildern oder im szenischen Nachspielen der Geschichte kommunikativ mitteilen können (siehe Diroll et al. 2020: o.S.). Auch im fächerübergreifenden Unterricht eignet sich das Medium Bilderbuch beispielsweise als Rahmen im Kunst-, Werk- oder Textilunterricht oder auch, um mathematische, ethische, religiöse oder sachunterrichtliche Themen aufzu‐ greifen (siehe Bräuning et al. 2021). Das Bilderbuch kann hierbei Zugänge er‐ leichtern, sinnstiftende Aufgabenstellungen bieten und die Motivation erhöhen. Aus deutschdidaktischer Perspektive stellt sich die Frage, wie eventuell kom‐ plexe Texte für Schüler: innen unterschiedlicher Heterogenitätsdimensionen zugänglich gemacht werden können. Hier kann der fachwissenschaftlich wenig erforschte, aber dennoch für die praktische Unterrichtsgestaltung nutzbare erweiterte Lese- und Schreibbegriff Anregungen geben (siehe Dönges 2011; Günther 1986; Günthner 2018; Koch 2016; Ratz 2013). Dieser differenziert den Lese- und Schriftspracherwerb unterhalb der logographemischen Phase (siehe Koch 2008: 49). Zu nennen sind hier z. B. die Einbeziehung der Dekodierung von Bildern, ikonischen Zeichen und Symbolen als Gestaltungselemente des Deutschunterrichts in heterogenen Gruppen. Begründet in der Multimodalität von Bilderbüchern können gerade in hand‐ lungs- und produktionsorientierten Verfahren Bilder, szenisches Nachspielen oder einzelne Wörter für die Rezeption von Texten nutzbar gemacht werden. 87 Bilderbücher in Einfacher oder Leichter Sprache im inklusiven Deutschunterricht 3 Leichte und Einfache Sprache Gewinnbringend für die Elementarisierung von Texten erscheinen dabei auch die Konzepte der Leichten und Einfachen Sprache. Aus der Selbstvertretungs‐ bewegung behinderter Menschen heraus entwickelte sich in Deutschland seit der Jahrtausendwende eine wachsende Bewegung für ‚Leichte Sprache‘, eine Sprachform, die durch regelbasierte sprachliche Reduzierungen vor allem Sach- und Informationstexte für möglichst viele Menschen zugänglich machen will. In diesem Kontext erschien das erste Wörterbuch für Leichte Sprache (siehe Mensch zuerst e. V. 2000), welches sich nicht wesentlich von den heute ge‐ nutzten Regelwerken unterscheidet (siehe z. B. BMAS 2014; Netzwerk Leichte Sprache 2013). Zentral in der Forderung nach Leichter Sprache ist die Forde‐ rung nach gesellschaftlicher Teilhabe, die auch auf die Teilhabe an inklusiven Deutschunterricht übertragen werden könnte. Leichte Sprache ist eine Form barrierearmer Kommunikation, die ihrem Adressaten: innenkreis Teilhabe durch das Zugänglichmachen von Information und Kommunikation ermöglicht (siehe Bock 2015: 11). Die Zielgruppe Leichter Sprache wird recht breit definiert (siehe BMAS 2014: 5). Sie adressiert Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung, Personen, welche Deutsch als Zweitsprache lernen oder in ihrer Erstsprache die sprachlichen Codes des Deutschen zum Lesen und/ oder Verstehen von Texten noch nicht hinreichend erlernt haben. Es werden funktionale Analphabet: innen sowie Menschen mit geringen Lese‐ erfahrungen oder mit geringem Bildungsgrad angesprochen. Leichte-Sprache-Texte sollen, um einer ausreichenden fachlichen und inhalt‐ lichen Qualität zu entsprechen, dreifach anschließbar sein: (1) an die Praktiken des Unterrichts für soziale und fachbezogene Teilhabe an Lernprozessen, (2) an sprachliche Praktiken der Gesellschaft, die auf die Zielgruppen Leichter Sprache nicht stigmatisierend oder benachteiligend wirken sowie (3) an die Adressat: innen mit ihrem sprachlichen und inhaltlichen Vorwissen (siehe Bock 2018: 121 f.). Neben dem Konzept der Leichten Sprache beschäftigt sich auch die Einfache Sprache mit der Vereinfachung von Texten. Sowohl für Texte in Leichter als auch in Einfacher Sprache ist fachliche Korrektheit von Bedeutung. Um die Anschlussfähigkeit an das Wissen der Leser: innen - sowohl sprachlich als auch inhaltlich - zu schaffen, sollten möglicherweise unbekannte Begriffe und Fachwörter erklärt werden. Dies gewährleistet ein ausreichendes Textverständnis und eröffnet die Möglichkeit für eine weitere Auseinandersetzung mit dem Thema. 88 Linda Schomakers und Dorothee Meyer Einfache Sprache lässt sich mit dem europäischen Referenzrahmen für Sprachen auf den Niveaus A2 bis B2 einordnen, wodurch bis zu 80-90 % der Ge‐ samtbevölkerung angesprochen sein können, während sich die Leichte Sprache auf den Niveaus A1 und A2 verorten lässt und daher etwa 5 % der Bevölkerung adressiert (siehe Neubauer 2019: 14). Angesprochen von Einfacher Sprache werden Zugewanderte, Menschen mit geringen Lesekompetenzen oder Lern‐ schwierigkeiten, Menschen mit Aphasie, Autismus oder Demenz, funktionale Analphabet: innen, Kinder, Senior: innen und Laien eines Fachgebietes (siehe ebd.: 12). Die Zielgruppendefinitionen zeigen viele Überschneidungen, was die Lesart als sprachliches Kontinuum von Leichter Sprache über Einfache Sprache bis hin zu Standardsprache nahelegt. Beide Konzepte verfolgen dasselbe Ziel - das Ermöglichen von für die Ziel‐ gruppe zugeschnittenen, verständlichen Texten - und haben unterschiedliches Potenzial für verschiedene Textsorten. Ihre Ziele decken sich mit unterrichtli‐ chen Zielen und zeigen die didaktische Relevanz beider Konzepte (siehe Bredel/ Maaß 2019; Rosebrock 2019). Gleichzeitig kommen sie jedoch im literarischen Kontext an ihre Grenzen (siehe Bredel/ Maaß 2018: 11). Die sprachliche Veränderung ästhetischer Schriften generell genauso wie die potenzielle Schmälerung des ästhetischen Gehalts durch die Vereinfachung werden diskutiert (siehe Rosebrock 2019: 108). Ande‐ rerseits steckt in Textanpassungen die Hoffnung, dass Schüler: innen durch die Vereinfachung mehr Motivation zum Lesen entwickeln, die Lesefähigkeiten ausbauen und zunehmend auf Originaltexte zurückgreifen. Texte unterschiedlicher Schwierigkeitsniveaus zum gleichen Thema sind Maß‐ nahme der Binnendifferenzierung über den Deutschunterricht hinaus (siehe Rosebrock 2019: 106). In diesem Zusammenhang können Leichte und Einfache Sprache in ihrer Vermittlungsfunktion Mittel der Differenzierung sowie Indi‐ vidualisierung von (literarischen) Unterrichtsgegenständen sein und zur Über‐ windung von Lernbarrieren beitragen (siehe Musenberg/ Riegert 2017: 388 ff.). 4 Kriterienkatalog zur Vereinfachung von kinderliterarischen Texten Die vorausgegangenen Überlegungen zeigen sowohl das Potenzial von Bilder‐ büchern im inklusiven Deutschunterricht als auch die Notwendigkeit, sich der Komplexität von Texten zu stellen, um dieses Potenzial ausschöpfen zu können. Im Folgenden wird daher aus unterschiedlichen Regelwerken für Leichte Sprache (siehe Bredel/ Maaß 2016: 89; Netzwerk Leichte Sprache 2013; BMAS 2014), den Regeln für Einfache Sprache (siehe Neubauer 2019), der Textverständ‐ 89 Bilderbücher in Einfacher oder Leichter Sprache im inklusiven Deutschunterricht lichkeitsforschung und weiterer Fachliteratur (siehe u. a. Gold et al. 2011) ein Kriterienkatalog zur Textvereinfachung erarbeitet. Der Katalog führt die Konzepte der Leichten und Einfachen Sprache zu‐ sammen und flexibilisiert sie in Hinblick auf ihre Relevanz für kinderliterarische Texte. Dadurch entsteht im Vergleich zu bestehenden Regeln, die sich eher auf Erwachsene beziehen, eine neue Akzentuierung auf ästhetische Texte für das unterrichtliche Setting in der Grundschule. Das Ziel des Kriterienkataloges ist, literarische Texte sprachlich so anzupassen, dass sie im inklusiven Deutschunterricht in der Primarstufe für (leseschwache) Schüler: innen Lernbarrieren abbauen können. 4.1 Kriterien auf Wort-, Satz- und Textebene Auf der Wortebene plädieren die Regelwerke Leichter und Einfacher Sprache inhaltlich kongruent für kurze, einfache, bekannte und häufig gebrauchte Wörter. Das impliziert auch das Vermeiden oder Erklären von Fremdwörtern (siehe Netzwerk Leichte Sprache (NLS) 2013: 22 f.; Neubauer 2019: 33 ff. und 28 ff.). Dabei können ungeläufige Wörter ersetzt sowie Komposita aufgelöst werden. Vielsilbige Wörter sind statistisch seltener und ungewohnter (siehe Gold et al. 2011: 78), sodass sie in der Konsequenz auf Kosten der Leseflüssigkeit gehen. Leseflüssigkeit ist jedoch notwendige Voraussetzung für erfolgreiches Textverstehen (siehe ebd.: 66). Zu berücksichtigen ist allerdings auch, dass bei ausschließlicher Verwendung geläufiger Wörter Texte langweilig werden können und die Wortschatzerweiterung vernachlässigt wird (siehe Christ‐ mann/ Groeben 2019: 129). In literarischen Texten transportieren bestimmte Worte Stimmungen und Gefühle. Insofern gilt es bei der Vereinfachung von Bilderbuchtexten einen Kompromiss zwischen geläufigen Wörtern und der Attraktivität eines Textes zu finden. Bleibt ein ungeläufiges Wort erhalten, kann es erklärt bzw. beschrieben werden. Auch Bild-Text-Bezüge können der Klärung der Wortbedeutung dienen. Der Verständlichkeit dient auch eine möglichst konkrete Sprache. In Leichter Sprache sollen Wörter genau beschreibend sein (siehe NLS 2013: 23), was der Empfehlung nach Konkreta - also nach Gegenständlichkeit - in der Einfachen Sprache entspricht (siehe Neubauer 2019: 40 ff.). Allerdings kann der Bildgehalt im Medium Bilderbuch den Lesenden Kontextinformationen geben, die auf abstrakte Formulierungen auf Textebene kompensierend wirken (können). Das macht eine Flexibilisierung der Regel im Individualfall möglich. Zusätzlich wird in der Leichten und Einfachen Sprache auf die Nutzung des Verbalstils statt des Nominalstils (siehe NLS 2013: 28; Neubauer 2019: 75 ff.) verwiesen. Obwohl der Nominalstil zu präzisen und knappen Formulierungen führt - 90 Linda Schomakers und Dorothee Meyer und gerade deshalb charakteristisch für Bildungssprache ist - ist der Verbalstil leichter verständlich. In einem Satz sollten dabei wenige Substantive Verwen‐ dung finden. Unter anderem können beispielsweise Genitivkonstruktionen und Funktions-Verb-Gefüge zum Verbalstil hin aufgelöst werden (siehe Neubauer 2019: 75 f.). Gleiche Wörter für gleiche Dinge zu benutzen, ist eine weitere Regel Leichter Sprache (siehe NLS 2013: 25). Anstatt nach Synonymen zu suchen, wird auf Wortwiederholungen und ausgewählte Pronomina zurückgegriffen, um Einfachheit und Beständigkeit auf sprachlicher Oberfläche zu schaffen (siehe Rosebrock 2019: 98). Maaß (2015: 182) stellt explizit heraus, dass Pronomen der ersten und zweiten Person, genauso wie das gebräuchliche „es“, verwendet werden können, während Personalpronomen der dritten Person durch das Nomen ersetzt werden sollen, für das sie stehen. Präpronominalisierungen (z. B. dein Kaffee) und Repronominalisierungen (z. B. „Jetzt bist du aber wirklich unmöglich, dachte Findus.“) können verwendet werden. Die Wiederaufnahme von Nominalphrasen stellt direkte Verknüpfungen zwischen den Sätzen her und erleichtert somit das Textverstehen. Pronomina haben bildungssprachlich gesehen zwar dieselbe Funktion, jedoch einen höheren Abstraktionsgrad. Regelwerke der Leichten und Einfachen Sprache sowie die Verständlichkeits‐ forschung plädieren übereinstimmend dafür, die Aktivform zu verwenden (siehe NLS 2013: 29; Neubauer 2019: 84 ff.; Gold et al. 2011: 78). Der Grund sind die sprachlich höheren Anforderungen, die Passivkonstruktionen an Lesende stellen. Empfehlenswert ist, die handelnde Person konkret zu benennen oder unpersönliche Pronomina zu verwenden (siehe Neubauer 2019: 85, 89). Wenn es um das grammatikalische Lernen geht, ist diese Regel allerdings differenziert zu betrachten (siehe Bock/ Schuppener 2019). Der Verständlichkeit dient es auch, Füllwörter zu vermeiden (z. B. ja, wohl), da diese eine geringe Aussagekraft haben. Sie sind oftmals schmückendes Beiwerk und gehen auf Kosten der Klarheit des Textes (siehe Neubauer 2019: 54). Einigkeit besteht zudem in der Forderung nach kurzen Sätzen (siehe NLS 2013: 44; Neubauer 2019: 64 f.) von maximal 12 bis 13 Wörtern pro Satz. Die durchschnittliche Satzlänge beeinflusst die Lesegeschwindigkeit, welche erfolg‐ reiches Textverstehen begünstigt und wird daher als Indikator für Einfachheit und Lesbarkeit auf sprachlicher Oberfläche gesehen (siehe Gold et al. 2011: 66). Die Leichte Sprache fordert auch einen einfachen Satzbau (siehe NLS 2013: 45). Bei üblichen, einfachen Strukturen (z. B. Subjekt - Verb - Objekt) kann der/ die Lesende syntaktische Antizipationen zur besseren Lesbarkeit vornehmen (siehe Bredel/ Maaß 2018: 4 f.). In der Einfachen Sprache müssen Nebensätze nicht vollständig vermieden werden, Hauptsätze bieten jedoch oft eine inhaltlich 91 Bilderbücher in Einfacher oder Leichter Sprache im inklusiven Deutschunterricht deckungsgleiche und sprachlich einfachere Alternative (siehe Neubauer 2019: 69). Die Forderung nach der Vermeidung des Genitivs (siehe NLS 2013: 30) bzw. nach seiner sparsamen Verwendung und Bemühung diesen aufzulösen (siehe Neubauer 2019: 102 ff.) fügen sich in die Regel nach einfacher Syntax ein. Genitivkonstruktionen werden insbesondere durch „von“-Konstruktionen abgelöst. Seltene Genitivverwendung führt dazu, dass dieser als schwierig empfunden wird (siehe ebd.). Allgemein ist bei Anpassungen wichtig, dass Inhalt und Sinn bleiben, sodass die Anschlusskommunikation und das Lernen am gemeinsamen Gegenstand bestehen bleiben. Aus Textveränderungen, wie etwa eingefügten Erklärungen, eingefügten Beispielen oder Änderungen der Reihenfolge oder Auslassungen, ergibt sich ein Spielraum für künstlerische Freiheit bei der Textanpassung. 4.2 Kriterien auf der Ebene der Typografie und Zeichen In der Leichten Sprache gibt es eine Vielzahl an Gestaltungshinweisen für Text und Bild. Allgemein sollen Bilder genutzt werden (siehe NLS 2013: 67). Illustrationen vereinfachen dann, wenn sie zum Text passen und die Relation zum Text verdeutlichen. Dekorative und irritierende Bilder dagegen erschweren das Verständnis (siehe Rosebrock 2019: 101). Illustrationen haben die Funktion, Text zu entlasten und den Übergang zu einem Textbuch zu gestalten, was auch der Frustration entgegenwirkt (siehe Abraham/ Kepser 2009: 86; Kümmer‐ ling-Meibauer/ Pompe 2016: 135). Bilder helfen, dass Schüler: innen Geschichten besser verstehen und einprägen können. Verändernde Eingriffe in vorhandenes, ästhetisches Bildmaterial sind allerdings kritisch zu betrachten. Eine komplexe Bildgestaltung, wie sie im Pettersson-Buch zum Beispiel durch Bewegungs‐ darstellungen oder kleinere Begleitgeschichten vorzufinden ist, könnte im unterrichtlichen Setting beispielsweise durch vorangestellte Bildbetrachtung, die Arbeit mit Bildausschnitten oder sukzessives Auf- oder Abdecken der Bilder begleitet und zum Aufbau von visual literacy genutzt werden. Die Schrift soll serifenlos (z. B. Arial), einheitlich und groß (mind. 14 pt.) sein (siehe NLS 2013: 52 f.). Für die Primarstufe ist eine Anlehnung an die Schulschrift sinnvoll, damit Buchstaben problemlos wiedererkennbar sind (z. B. „ a “ statt „a“). Es sollte ein 1,5-facher Zeilenabstand eingehalten werden und der Text linksbündig ausgerichtet sein (siehe NLS 2013: 55 f.). In der Leichten Sprache wird empfohlen, jeden Satz in eine neue Zeile zu schreiben und Silbentrennung zu vermeiden (siehe NLS 2013: 57 f.), was eine hohe Korrelation zur Erstlese-Literatur aufweist (siehe Gold et al. 2011: 77 ff.). Mit Blick auf die Zielgruppe bzw. die Altersgruppen scheinen diese Hinweise daher plausibel, 92 Linda Schomakers und Dorothee Meyer sodass das Kriterium der typografischen Übersichtlichkeit für den Kriterienka‐ talog herangezogen wird. Mit hellem, dickem, mattem Papier mit dunkler Schrift lässt sich die taktile Handhabbarkeit und die visuelle Wahrnehmung barriereärmer gestalten (siehe NLS 2013: 64 f.). Diese Forderungen sind grundsätzlich in Kinderliteratur zu un‐ terstützen und werden in Büchern umgesetzt. Bildgestützte Medien verlangen mitunter individuelle Lösungen, wenn etwa Bild und Text sehr eng aufeinander bezogen sind und Texteingriffe ebenso Eingriffe in das Bild erfordern. In der Umsetzung wäre dies aufwändig und ggf. kostenintensiv. Zahlen als Ziffern zu schreiben (siehe NLS 2013: 37) stellt eine Erleichte‐ rung auf der Ebene der Lesbarkeit dar. Es kann angenommen werden, dass Schüler: innen der Primarstufe insbesondere Ziffern in kleinen Zahlenräumen schneller erkennen als sie die Zahl als geschriebenes Wort lesen. 4.3 Kriterienkatalog - tabellarische Zusammenfassung Diese Ausführungen zu den erstrebenswerten Regelungen erfordern mitunter Modifizierungen und sind abhängig von der Kommunikationssituation und der zu erfüllenden Funktion des Textes (siehe Bock 2014: 41). Daher ist der folgende Kriterienkatalog (siehe Tab. 1) keine abzuarbeitende Checkliste, sondern möchte eine Orientierung für die Anpassung von kinderliterarischem Textmaterial sein. Ebene Kriterium Wort-, Satz- und Textebene 1. Kurze, geläufige Wörter verwenden 2. Konkreta und Verbalstil bevorzugen 3. Gleiche Wörter für gleiche Dinge verwenden 4. Aktivform verwenden 5. Füllwörter vermeiden 6. Kurze Sätze verwenden 7. Einfachen Satzbau verwenden 8. Textveränderungen erlaubt Typografie und Zeichen 9. Bilder verwenden 10. Typografisch übersichtliche Gestaltung 11. Zahlen als Ziffern schreiben Tab. 1: Kriterienkatalog für literarische Kindertexte (eigene Darstellung) 93 Bilderbücher in Einfacher oder Leichter Sprache im inklusiven Deutschunterricht 5 Exemplarische Anwendung der Kriterien Das zur exemplarischen Anwendung des Kriterienkatalogs ausgewählte Bilder‐ buch Armer Pettersson (siehe Abb. 1) ist Teil der bekannten und beliebten Pettersson-und-Findus-Reihe des Autors und Illustrators Sven Nordqvist. Es ist im Medienverbund verfügbar, wodurch vielfältige - auch digitale - Zu‐ gänge und Lernarrangements möglich sind sowie Medienkompetenz angebahnt werden kann. Als textreiches und sprachlich umfangreiches Bilderbuch bei gleichzeitiger Entlastung durch Bildmaterial ist es in der Primarstufe als Selbstlesemedium nutzbar und kann für inklusives Lernen angepasst werden. Es ermöglicht literarisches Lernen mit Bild-Text-Bezügen und leistet einen Beitrag zur visual literacy. Inhaltlich stellt es Lebensweltbezüge für Kinder her (u. a. Langeweile haben, schlecht gelaunt sein, Unternehmungen machen, Hilfe geben und annehmen) und bietet damit zahlreiche Anlässe für eine methodisch vielfältige Anschlusskommunikation. Das Buch erzählt von dem alten, schlecht gelaunten, unmotivierten Pet‐ tersson, der von dem Kater Findus in Ruhe gelassen werden will. Findus möchte Pettersson wieder zu guter Laune verhelfen und gibt sich dafür große Mühe. Doch egal was Findus tut, Pettersson bleibt griesgrämig und genervt, wird sauer und wütend. Dabei weiß Findus genau, dass Pettersson bestimmt gern angeln gehen möchte. Erst als Findus beim Herunterholen der großen Angel im Holzschuppen scheinbar in Gefahr ist und Pettersson glaubt, ihn retten zu müssen, gelingt es, Pettersson für einen Angelausflug zu überzeugen. Schon bald vergisst Pettersson sein Trübsal und erlebt mit dem munteren, abenteuerlustigen Kater einen schönen Angelvormittag. Im Folgenden finden sich ein Buchausschnitt sowie eine eigene Textanpassung auf der Basis des Kriterienkatalogs. 94 Linda Schomakers und Dorothee Meyer Abb. 1: Cover des Bilderbuchs Armer Pettersson (Nordqvist 1988) © Verlag Friedrich Oetinger, Hamburg 95 Bilderbücher in Einfacher oder Leichter Sprache im inklusiven Deutschunterricht Findus trat auf einen Teelöffel, der unter einem Teller lag. Der Teller schaukelte und klapperte auf der Stelle. Findus versuchte den Löffel so fest zu drücken, dass der Teller gegen die Kaffeetasse schlug, damit es ordentlich klirrte. Das war nicht leicht. Er musste mit einer bestimmten Drehung der Pfote drücken, sonst kam nur ein Klappern und kein Klirren dabei heraus. Er versuchte es wieder und wieder. Und bei jedem Klappern zogen sich Petterssons Augenbrauen mehr und mehr zusammen, und nach fünfmal Klappern und nur einem Klirren machte er die Augen zu und brüllte los: „LASS DAS SEIN! Ich ertrage solche Geräusche nicht, wenn ich schlechte Laune habe. Heute brauche ich Ruhe. Setz dich anständig auf deinen Stuhl und trink deinen Kaffee und benimm dich! “ (Nordqvist 1988: 4) 96 Linda Schomakers und Dorothee Meyer Eigene Textanpassung Findus trat auf einen Löffel, der unter einem Teller lag. Der Teller schaukelte und klapperte. Findus drückte den Löffel fester, damit der Teller gegen die Tasse klirrte. Das war nicht leicht. Findus musste seine Pfote drehen und dann drücken, damit es klirrte. Sonst klapperte es nur, aber es klirrte nicht. Findus versuchte es wieder und wieder. Pettersson kniff die Augen zusammen, wenn es klapperte. Als es 5 Mal geklappert hat und 1 Mal geklirrt hat, brüllte Pettersson: „LASS DAS SEIN! Ich brauche Ruhe, wenn ich schlechte Laune habe. Setz dich auf deinen Stuhl, trink deinen Kaffee und benimm dich! “ Das Ergebnis ist ein sprachlich angepasstes Medium für den inklusiven Primar‐ stufenunterricht, das unterschiedliche Zugänge zum Bilderbuch als Selbstlese‐ medium schafft. In dem Vergleich des Originaltextes mit der eigenen Textanpassung wird die Anwendung vielzähliger Kriterien sichtbar: Das Auflösen von Komposita (z. B. Teelöffel - Löffel) sowie die Kürzung von Wörtern (z. B. Augenbraue - Augen) (Regel 1), aber auch die sparsame Ver‐ wendung von Pronomina sowie Wortwiederholungen (z. B. Findus, Pettersson) (Regel 3) führen zu mehr Einfachheit auf der Wortebene. 97 Bilderbücher in Einfacher oder Leichter Sprache im inklusiven Deutschunterricht Substantive wie „die Drehung“ oder „das Klappern“ tragen durch ihre Auflö‐ sung zum Verbalstil zu einer leichteren Verständlichkeit bei (Regel 2). Die Kür‐ zung von Sätzen sowie die Umstrukturierung langer Sätze (19 und 34 Wörter) zu mehreren kurzen Sätzen (Regel 6) begünstigen die Lesegeschwindigkeit. Die Umwandlung der hypotaktischen Konstruktion (Satz 3 des Originaltextes) sowie die Auflösung aneinandergereihter, durch Konnektoren verbundener Hauptsätze hin zu syntaktisch einfacheren, überschaubaren Sätzen (Regel 7) unterstützt die bessere Lesbarkeit und Orientierung im Text. Da einfache Nebensatzkonstruktionen auch in der Textanpassung Verwendung finden, gibt es pro Satz zum Teil mehr als eine Aussage. Durch die typografische Anordnung kann dem jedoch mit einer Aussage pro Zeile entgegnet werden. Kleinere Weglassungen von Wörtern und Satzteilen sowie das Umstellen der Wörter innerhalb eines Satzes (Regel 8) berücksichtigen den Sinn und Inhalt des Textes sowie die Bild-Text-Interdependenzen, sodass weiterhin eine unterrichtliche Anschlusskommunikation möglich ist. Relevant sind die Unterschiede in der typografischen Gestaltung, insbeson‐ dere die Schriftart und -größe, der Verzicht auf Silbentrennung sowie die Anordnung der Zeilen (Regel 10), die der Textversion eine Übersichtlichkeit und einfache Struktur verleihen. Auch die Verschriftung der Zahlen als Ziffern (Regel 11) ermöglicht Leseflüssigkeit auf sprachlicher Oberfläche. Bilder (Regel 9) sind im vorliegenden Medium enthalten. Zu beachten ist die Anordnung des Textes, die in diesem Fall nicht stark in das Bildmaterial eingreifen sollte. Die Text-Bild-Beziehungen müssen bei der Anwendung eines Kriterienkatalogs zur Textvereinfachung stets berücksichtigt werden. Aufgrund der Bilder können gegebenenfalls mehr Textkürzungen vorgenommen werden, ohne dass sich der literarische Gehalt schmälert. Die Beibehaltung von Mitteln bildlicher Sprache ermöglichen weiterhin Vor‐ stellungsbildung und Deutungen. Es besteht trotz der Textanpassung eine hohe inhaltliche und sprachliche Vergleichbarkeit, die literarisches und ästhetisches Arbeiten an einem gemeinsamen Gegenstand realisierbar macht sowie eine mittel- oder langfristige Annäherung an den Originaltext ermöglichen kann. 6 Diskussion und Ausblick Eine Textvereinfachung von unterrichtsbezogenen Texten kann Barrieren im Textverständnis durch Veränderungen der sprachlichen und typografischen Oberfläche abbauen. Dazu will der vorliegende Kriterienkatalog in der Unter‐ richtsvorbereitung mit seinen wissenschaftlich begründeten Kriterien Anre‐ 98 Linda Schomakers und Dorothee Meyer gungen geben und durch seine Flexibilität dabei helfen, die Nähe zum Original‐ text zu wahren. Er hat allerdings aufgrund des noch jungen Forschungszweiges einen vorläufigen Charakter und bedarf zudem praktischer Validierung mit kinderliterarischen Texten. Dieser Beitrag gibt Impulse für eine erste Integration der Konzepte der Leichten und Einfachen Sprache in die Literaturdidaktik mit dem Ziel, möglichst vielen Schüler: innen Zugang zu bestehenden Texten zu verschaffen, genuss‐ volles Lesen und die Möglichkeit zur Anschlusskommunikation zu verschaffen. In ähnlicher Weise geht der Verlag Spaß am Lesen vor, der bestehende und neue Bücher in einfacher Sprache auflegt. Einen anderen Ansatz, den es ebenso für heterogene Gruppen aufzubereiten gälte, verfolgt das Literaturhaus Frankfurt. Hier werden Texte von vornherein in leichter oder einfacher Sprache verfasst und haben somit ihren eigenen ästhetischen Gehalt. Der vorliegende Ansatz der Textvereinfachung dagegen möchte einen Weg bieten, sprachlich unter Umständen zu anspruchsvolle Bücher nach inhaltlichen und literarischen Aspekten auszuwählen und sie anschließend im gemeinsamen Unterricht zu verwenden. Für Lehrkräfte ist die Textanpassung in der Unterrichtsvorbereitung zeitin‐ tensiv, aber dennoch eine notwendige Differenzierung, sofern nicht bereits einfachere Textversionen verfügbar sind. In heterogenen Gruppen sind daneben noch weitere Differenzierungen nötig, die alternative auditive oder auch hand‐ lungsorientierte Textzugänge schaffen. Literatur Primärliteratur Nordqvist, Sven (1988). Armer Pettersson. Hamburg: Friedrich Oetinger. Sekundärliteratur Abraham, Ulf/ Kepser, Matthis (2009). Literaturdidaktik Deutsch. Eine Einführung. 3. Aufl. Berlin: Erich Schmidt. Abraham, Ulf/ Knopf, Julia (2014). Genres des BilderBuchs. In: Abraham, Ulf/ Knopf, Julia (Hrsg.). BilderBücher. Theorie. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 3-11. Belke, Eva/ Belke, Gerlind, Müller-Brauers, Claudia/ Lehmden, Friederike von (2017). Implizite Förderung des Grammatikerwerbs mit Kinderliteratur. Begleitheft zu den Bilderbüchern „Immer anders“, „Unruhe im Zoo“, „Prinz Bärtram brummt wieder“. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. 99 Bilderbücher in Einfacher oder Leichter Sprache im inklusiven Deutschunterricht Bock, Bettina M. (2014). „Leichte Sprache“: Abgrenzung, Beschreibung und Problemstel‐ lung aus Sicht der Linguistik. In: Jekat, Susanne J./ Jüngst, Heike Elisabeth/ Schubert, Klaus/ Villiger, Claudia (Hrsg.). Sprache barrierefrei gestalten. Perspektiven aus der Angewandten Linguistik. Berlin: Frank & Timme, 17-93. Bock, Bettina M. (2015). Anschluss ermöglichen und die Vermittlungsaufgabe ernst nehmen. 5 Thesen zur Leichten Sprache. Didaktik Deutsch (38), 9-17. Bock, Bettina M. (2018). Überlegungen zur (trans-)kulturellen Anschließbarkeit von „Leichter Sprache“ und „inklusiven“ Lehrmaterialien - ein Vergleich. In: Feilke, Helmuth/ Wieser, Dorothee (Hrsg.). Kulturen des Deutschunterrichts - Kulturelles Lernen im Deutschunterricht. Stuttgart: Fillibach bei Klett, 113-138. Bock, Bettina M./ Schuppener, Saskia (2019). Geistige Behinderung und barrierefreie Kommunikation. In: Maaß, Christiane/ Rink, Isabel (Hrsg.). Handbuch Barrierefreie Kommunikation. Berlin: Frank & Timme, 221-247. Bräuning, Kerstin/ Müller-Brauers, Claudia/ Schomaker, Claudia (2021). Mit Bilderbü‐ chern unterrichten. Praxis Grundschule (1), 6-8. Bredel, Ursula/ Maaß, Christiane (2016). Ratgeber Leichte Sprache. Die wichtigsten Regeln und Empfehlungen für die Praxis. Berlin: Duden. Bredel, Ursula/ Maaß, Christiane (2018). Leichte Sprache - Grundlagen, Prinzipien, Regeln. Der Deutschunterricht (5), 2-14. Bredel, Ursula/ Maaß, Christiane (2019). Leichte Sprache. In: Hochstadt, Christiane/ Olsen, Ralph (Hrsg.). Handbuch Deutschunterricht und Inklusion. Weinheim/ Basel: Beltz, 80-92. Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) (2014). Leichte Sprache - Ein Ratgeber. www.bmas.de/ SharedDocs/ Downloads/ DE/ Publikationen/ a752-ratgeber-le ichte-sprache.pdf ? __blob=publicationFile&; v=3 (last accessed: 05.07.2022) Christmann, Ursula/ Groeben, Norbert (2019). Verständlichkeit: die psychologische Per‐ spektive. In: Maaß, Christiane/ Rink, Isabel (Hrsg.). Handbuch Barrierefreie Kommu‐ nikation. Berlin: Frank & Timme, 123-145. Dehn, Mechthild (2014). Visual Literacy, Imagination und Sprachbildung. In: Knopf, Julia/ Abraham, Ulf (Hrsg.). BilderBücher. Theorie. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 125-134. Diroll, Celina/ Meyer, Dorothee/ Müller-Brauers, Claudia (2020). (Inklusive) Schreibdidaktik. https: / / www.kinderundjugendmedien.de/ fachdidaktik/ 3768-inklu‐ sive-schreibdidaktik (last accessed: 05.07.2022) Dönges, Christoph (2011). Schriftspracherwerb im Förderschwerpunkt geistige Entwick‐ lung - fachdidaktische Entwicklungen und fachrichtungsspezifische Perspektiven. In: Ratz, Christoph (Hrsg.). Unterricht im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung. Fachorientierung und Inklusion als didaktische Herausforderung (Bd. Lehren und Lernen mit behinderten Menschen). Oberhausen: ATHENA, 61-82. 100 Linda Schomakers und Dorothee Meyer Feuser, Georg (2005). Behinderte Kinder und Jugendliche. Zwischen Integration und Aussonderung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Gressnich, Eva (2014). Bilderbücher im Erstleseunterricht. In: Knopf, Julia/ Abraham, Ulf (Hrsg.). BilderBücher. Theorie. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 148-156. Gold, Andreas/ Nix, Daniel/ Rieckmann, Carola/ Rosebrock, Cornelia (2011). Leseflüssig‐ keit fördern. Lautleseverfahren für die Primar- und Sekundarstufe. Seelze: Kallmeyer/ Klett. Günther, Klaus B. (1986). Ein Stufenmodell der Entwicklung kindlicher Lese- und Schreibstrategien. In: Brügelmann, Hans (Hrsg.). ABC und Schriftsprache. Rätsel für Kinder, Lehrer und Forscher. Konstanz: Faude, 32-54. Günthner, Werner (2018). Lesen und Schreiben lernen bei geistiger Behinderung: Grund‐ lagen und Übungsvorschläge zum erweiterten Lese- und Schreibbegriff (Übungs‐ reihen für Geistigbehinderte). Dortmund: Verlag modernes lernen. Hennies, Johannes/ Ritter, Michael (2013). Grundfragen einer inklusiven Deutschdidaktik - Ein Problemaufriss. www.inklusion-online.net/ index.php/ inklusion-online/ article/ view/ 28/ 28 (last accessed: 05.07.2022) Hennies, Johannes/ Ritter, Michael (2014). Zur Einführung: Deutschunterricht in der Inklusion. In: Hennies, Johannes/ Ritter, Michael (Hrsg.). Deutschunterricht in der Inklusion. Auf dem Weg zu einer inklusiven Deutschdidaktik. Stuttgart: Fillibach bei Klett, 7-17. Hochstadt, Christiane/ Krafft, Andreas/ Olsen, Ralph (2015). Deutschdidaktik. Konzep‐ tionen für die Praxis. 2. Aufl. Tübingen: A. Francke. Koch, Arno (2008). Die Kulturtechnik Lesen im Unterricht für Schüler mit geistiger Behinderung. Lesen lernen ohne Phonologische Bewusstheit? Gießen: Shaker. Koch, Arno (2016). Diagnostik und Förderung des erweiterten Lesens. In: Euker, Nils/ Kuhl, Jan (Hrsg.). Evidenzbasierte Diagnostik und Förderung von Kindern und Jugendlichen mit intellektueller Beeinträchtigung. Bern: Hogrefe, 67-84. Kümmerling-Meibauer, Bettina/ Pompe, Anja (2016). Texte und Bilder lesen. In: Pompe, Anja (Hrsg.). Deutsch inklusiv. Gemeinsam lernen in der Grundschule. Baltmanns‐ weiler: Schneider Verlag Hohengehren, 133-150. Lieber, Gabriele/ Schnell, Stefan (2008). Vision Bilderbuch-Portal - Ein Beitrag zur Demo‐ kratisierung von Bildung. In: Lieber, Gabriele (Hrsg.). Lehren und Lernen mit Bildern. Ein Handbuch zur Bilddidaktik. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 103-114. Maaß, Christiane (2015). Leichte Sprache. Das Regelbuch. Münster: LIT. Mensch zuerst e. V. (2000). Das Wörterbuch für leichte Sprache. Kassel: Selbstverlag. Musenberg, Oliver/ Riegert, Judith (2017). Zur didaktischen Bedeutung Leichter Sprache im inklusiven Unterricht. In: Bock, Bettina, M./ Fix, Ulla/ Lange, Daisy (Hrsg.). "Leichte 101 Bilderbücher in Einfacher oder Leichter Sprache im inklusiven Deutschunterricht Sprache" im Spiegel theoretischer und angewandter Forschung (Bd. Kommunikation - Partizipation - Inklusion). Berlin: Frank & Timme, 387-399. Naugk, Nadine/ Ritter, Alexandra/ Ritter, Michael/ Zielinski, Sascha (2016). Deutschunter‐ richt in der inklusiven Grundschule. Perspektiven und Beispiele. Weinheim/ Basel: Beltz. Netzwerk Leichte Sprache (2013). Die Regeln für Leichte Sprache vom Netzwerk Leichte Sprache. www.leichte-sprache.org/ wp-content/ uploads/ 2017/ 11/ Regeln_Leichte_Spr ache.pdf (last accessed: 05.07.2022) Neubauer, Mansour (2019). Einfache Sprache: Grundregeln, Beispiele, Übungen: Schreiben UND Sprechen in Einfacher Sprache. Kurs- und Arbeitsbuch zum Selbst‐ lernen. Mit Lösungen. Von Zugewanderten entwickelt! Bremen: Independently pub‐ lished. Noack, Christina (2014). Lesen. In: Müller, Claudia/ Rothstein, Björn (Hrsg.). Kernbegriffe der Sprachdidaktik Deutsch. Ein Handbuch. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Ho‐ hengehren, 232-234. Pompe, Anja/ von Brand, Tilman (2016). Inklusion im Deutschunterricht. In: Pompe, Anja (Hrsg.). Deutsch inklusiv. Gemeinsam lernen in der Grundschule. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 29-44. Ratz, Christoph (2013). Zur aktuellen Diskussion und Relevanz des erweiterten Lesebe‐ griffs. Empirische Sonderpädagogik 10 (4), 343-360. Rosebrock, Cornelia (2019). Leichte Texte. In: Hochstadt, Christiane/ Olsen, Ralph (Hrsg.). Handbuch Deutschunterricht und Inklusion. Weinheim/ Basel: Beltz, 93-110. Thiele, Jens (2003). Das Bilderbuch. Ästhetik - Theorie - Analyse - Didaktik - Rezeption. 2. Aufl. Bremen/ Oldenburg: Aschenbeck & Isensee. Thiele, Jens (2011). Das Bilderbuch. In: Lange, Günter (Hrsg.). Kinder- und Jugendliteratur der Gegenwart. Ein Handbuch. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 217-230. 102 Linda Schomakers und Dorothee Meyer „Und dann erzählt Toni, wie alles wirklich gewesen ist.“ Tempusförderung mit Bilderbüchern als Chance zur Medienbildung Celina Diroll, Claudia Müller-Brauers und Friederike von Lehmden Abstract: Bilderbücher werden gemeinhin als frühester Start in die Kinderliteratur angesehen. Entsprechend umfassend werden die Einsatz‐ möglichkeiten von Bilderbüchern im Literaturunterricht der Grundschule didaktisch diskutiert. Der vom Bilderbuch ausgehende Sprachinput als besondere Ressource für das grammatische Lernen wird bislang allerdings kaum wahrgenommen. Im Rahmen dieses Beitrags wollen wir daher am Beispiel eines inputstrukturierten Bilderbuchs eruieren, wie mit Bil‐ derbüchern im Deutschunterricht der Grundschule grammatikfördernd gearbeitet werden kann. Wir konzentrieren uns dabei auf die Förderung des Tempuserwerbs, der sowohl für einals auch mehrsprachige Kinder ein häufiges Schwierigkeitsfeld darstellt. Unsere Analyse der Bilderbü‐ cher richtet sich dabei einerseits auf die sprachliche Beschaffenheit des Bilderbuchtextes vor dem Hintergrund des damit fokussierten grammati‐ schen Erwerbsgegenstands, andererseits auf sprachdidaktische Aspekte, die damit eröffnet werden. Dabei wollen wir zudem aufzeigen, inwieweit sich das vorgestellte Bilderbuch auch für fachübergreifendes Arbeiten eignet, insbesondere in Hinblick auf Fragen der unterrichtlichen Medien‐ kompetenzvermittlung als Querschnittsaufgabe für alle Fächer. 1 Einleitung Vorschulische Sprachfähigkeiten sind richtungsweisend in Bezug auf die spä‐ teren Bildungschancen von Kindern (siehe Schütz/ Wößmann 2005). So korre‐ lieren etwa die Breite des vorschulisch erworbenen Wortschatzes oder das phonologische Wissen der Kinder mit der Entwicklung der Lesekompetenz (siehe Artelt et al. 2007). Ihr Erwerb ist zugleich stark abhängig von der sprachlichen Sozialisation von Kindern, d. h. die schriftsprachliche Kompetenz ergibt sich aus den jeweils unterschiedlichen sprachlichen Erfahrungen der Kinder im Zusammenspiel mit der familialen Sprachpraxis (siehe Müller 2012). Einen wesentlichen Bestandteil dieser stellt das Vorlesen von Bilderbüchern dar (siehe Pfost et al. 2010). Für den schulischen Schriftspracherwerb sind bil‐ derbuchbasierte Vorlesepraktiken essentiell. Denn die Texte von Bilderbüchern enthalten als ein in der literarischen und sprachlichen Sozialisation von Kindern früh erfahrbares, genrereiches „Medium der Kinderliteratur“ (Staiger 2014: 12) spezifische Sprachformen, deren Erwerb in der Vorlesesituation Kindern eine stabile Ausgangslage bietet, um in der Schriftlichkeit literates Wissen anzuschließen (siehe Maas 2008; Müller 2012). Entsprechend begegnen Kindern in Bilderbuchtexten Sprachformen wie das Präteritum (siehe Stark 2016), die in der Familien- oder Alltagskommunikation weniger Verwendung finden. Für Kinder, die im Zusammenhang mit der familialen Sprachsozialisation nur wenige Möglichkeiten haben, über das Vorlesen und Hören von Geschichten an der Rezeption von Kinderliteratur teilzuhaben, haben diese fehlenden Erfah‐ rungen unmittelbare Konsequenzen für den Aufbau schriftsprachrelevanten Wissens (siehe Müller 2012). Am Beispiel des Präteritumerwerbs wird dies besonders deutlich: Tempusformen wie das Präsens und Perfekt sind für Kinder im mündlichen Sprachgebrauch präsent und werden durch diesen Input früh in der Sprachentwicklung erworben. Erst mit Eintritt in die Schriftlichkeit oder den ersten Erfahrungen mit Kinderliteratur folgt der Erwerb des Präteri‐ tums (siehe Topalović/ Uhl 2014; Whitehead 2007) sowohl im einals auch im mehrsprachigen Spracherwerb (siehe Diehl et al. 2000; Haberzettl 2005). Die Abfolge der Erwerbsschritte bleibt dabei besonders im bilingualen und im frühen mehrsprachigen Erwerb parallel zum monolingualen Erstspracher‐ werb. Es ergeben sich jedoch im mehrsprachigen Erwerb erstsprachspezifi‐ sche Herausforderungsschwerpunkte. Agglutinierende Sprachen wie das Tür‐ kische markieren das Tempus immer am Ende des Verbs, während es im Deutschen Markierungen am Verbende, mehrteilige und introflexive Varianten gibt, woraus sich Interferenzen bei Lerner: innen mit türkischer Erstsprache im deutschen Tempuserwerb ergeben (siehe Bryant 2021). Einige slawische Sprachen verfügen über nur ein Vergangenheitstempus, sodass Lerner: innen hier im deutschen Zweitspracherwerb oftmals nicht zwischen Tempus und Aspekt differenzieren und die semantischen Funktionen deutscher Vergangen‐ heitstempora (z. B. Abgeschlossenheit als Unterscheidungskriterium zwischen Perfekt und Präteritum) nicht berücksichtigen (siehe Riehl 2018). Gleichsam liefern Bilderbücher zahlreiche Lernimpulse für andere entschei‐ dende Bildungs- und Wissensbereiche wie das mathematische Denken oder die Erschließung von Sachthemen (siehe Bräuning et al. 2021), so dass sich 104 Celina Diroll, Claudia Müller-Brauers und Friederike von Lehmden hier neben dem sprachlichen Lernen ein breites Feld an Lernmöglichkeiten ergibt, das didaktisch aufbereitet werden kann. Aus grundschuldidaktischer Perspektive stellt sich demgemäß die Frage, wie das sprachliche Lernpotential von Bilderbüchern genutzt werden kann, um Kinder im schulischen Grammatik- und Schriftspracherwerb gezielt zu unterstützen. Weiterhin ist zu fragen, wie eine durchgängige und andere Fächer einbeziehende Sprachförderung zielfüh‐ rend umgesetzt werden kann (siehe Niedersächsisches Kultusministerium 2017), um die in Bilderbüchern angelegten multiplen Wissensbereiche für die kindliche Lernentwicklung auszuschöpfen. Entsprechend wollen wir im Folgenden am Beispiel eines für die Förderung des Tempuserwerbs speziell entwickelten Bilderbuchs, Mensch, Oma! (siehe Müller-Brauers et al. 2022a), zeigen, wie im Grundschulunterricht Deutsch sprachdidaktisch mit Kinderliteratur gearbeitet und dabei zugleich fachüber‐ greifende Bezüge hergestellt werden können. Wir konzentrieren uns dabei auf Aspekte der Medienbildung, da sie als Querschnittsaufgabe für alle Schulfächer betrachtet werden (siehe KMK 2017). Die Fokussierung der deutschen Tempora als Lernfeld im Grammatikunterricht begründen wir damit, dass morphologi‐ sche Lernbereiche wie die Flexion starker Verben in den unterschiedlichen Zeit‐ formen vielen Kindern noch über die Grundschulzeit hinaus Schwierigkeiten bereiten können (siehe Kieferle 2006), so dass sich bei der Grammatikförderung mit Bilderbüchern für alle Schüler: innen ein bildungsrelevantes Lernfeld ergibt. 2 Herausforderung Tempuserwerb Im Tempuserwerb finden sich zahlreiche Herausforderungen, die Kinder über‐ winden müssen, um sich sowohl die Formenbildung als auch den Gebrauch der Tempora anzueignen. Erste grundlegende Herausforderung ist der außer‐ ordentliche Formenreichtum der deutschen Tempusbildung (siehe Stark 2016). Dies betrifft einerseits Formänderungen im Zusammenspiel mit Person und Numerus, andererseits die grundlegende Differenzierung im Deutschen nach starken und schwachen Verben (siehe Abb. 1). 105 „Und dann erzählt Toni, wie alles wirklich gewesen ist.“ Person Wortstamm Singular Plural 1. stell (e) en 2. st t 3. t en Abb. 1: Personalformen schwacher Verben im Präsens Starke Verben folgen im Präsens zumeist dem gleichen Endungsschema wie schwache Verben, jedoch weisen insbesondere die 2. und 3. Person Singular einen Stammvokalwechsel auf (ich lese - du liest - er/ sie/ es liest) (siehe Eisen‐ berg/ Fuhrhop 2013: 184). Bei den Vergangenheitsformen stellt die analytische oder synthetische Formbildung eine morphologisch herausfordernde Erwerbs‐ aufgabe dar. Während das Perfekt analytisch durch ein infinites Perfektpartizip und ein finites Hilfsverb (haben oder sein) im Präsens gebildet wird, erfolgt die Bildung des Präteritums synthetisch über das Anfügen des Suffix -te an den unveränderten Verbstamm (sag-te) oder bei starken Verben durch einen Stamm‐ vokalwechsel ohne Suffigierung (lag). In beiden Tempora beeinflussen zusätz‐ lich die Kategorisierung des Verbs als starkes, schwaches, unregelmäßiges, trennbares Verb oder Modalverb und beim Perfekt auch semantische Kriterien wie genau die Form gebildet werden muss und inwieweit Phänomene wie etwa Stammvokalwechsel auftreten (siehe Eisenberg/ Fuhrhop 2013; Jäger/ Fuß 2012). Neben dem breiten Formenparadigma stellt auch das Erkennen der Bedeutung der einzelnen Zeitformen wie auch deren kontextueller Gebrauch eine wesent‐ liche Erwerbsaufgabe dar. Bei der Forschung zu den Verwendungskontexten und Bedeutungen der beiden Tempora hat sich das Verhältnis von Ereigniszeit (Zeit‐ punkt, zu dem der beschriebene Sachverhalt stattfindet), Sprechzeit (Zeitpunkt, an dem gesprochen wird) und Referenzzeit (Beobachterzeitpunkt in Relation zur Ereigniszeit) als potentielles Unterscheidungskriterien herauskristallisiert (siehe Stark 2016). Für das Perfekt gilt, dass es eine Handlung bezeichnet, „die vor der Sprechzeit stattgefunden hat und deren Nachzustand noch zur Sprechzeit Relevanz hat“ (Zeman 2016: 503). Die Grundbedeutung des Präteritums liegt in der Ausdrucksmöglichkeit, die Ereigniszeit vor der Sprechzeit zu verorten. Tempusformen sind zudem kontext- und textsortenspezifisch (siehe Jäger 2007). So lassen sich in alltagssprachlichen mündlichen Erlebniserzählungen aufgrund der hohen sprecher: innenbezogenen Relevanz eher Perfektformen (siehe Zeman 2016), bei Bildbeschreibungen Präsensformen (siehe Dannerer 2012) und in literat geprägten sprachlichen Situationen, z. B. beim mündlichen Diktieren, Berichten oder fiktiven bzw. an literarischen Vorlagen orientierten Erzählen, 106 Celina Diroll, Claudia Müller-Brauers und Friederike von Lehmden Präteritumformen finden (siehe z. B. Becker/ Busche 2019; Quasthoff 2002; Stre‐ cker 2008). Somit sind zur Wahl des adäquaten Tempus Kenntnisse über die morphologische Form, die Bedeutung des Tempus und dessen Verwendung in Abhängigkeit von Textsortenwissen und Wissen um sprachliche Register (siehe Maas 2008) erforderlich. Entsprechend der Komplexität des grammatischen Gegenstands erweist sich auch der Verlauf des Tempuserwerbs als ein längerer Prozess. Die Einsicht in die Bildung der Partizipien und die Berücksichtigung der variierenden Schemata bei starken und schwachen Verben führen dazu, dass Auslassungen der Präfixe oder Suffixe, Übergeneralisierung des Schemas der schwachen Verben oder die Zu‐ ordnung des passenden Auxiliars und die Überwindung der haben-Präferenzen sich im Spracherwerb bei einsprachigen Kindern bis ins Alter von 3; 6 Jahren ziehen können (siehe Kauschke 2012; Wittek/ Tomasello 2002). Dabei zeigt sich, dass analytisch gebildete Perfektvor synthetisch gebildeten Präteritumformen verwendet werden (siehe Behrens 1993). Darüber hinaus korreliert der Tempus‐ erwerb mit der kognitiven Entwicklung von Kindern, da das Verständnis des Konzepts des Vergangenen und die Loslösung vom Egozentrismus zunächst vollzogen werden müssen (siehe Behrens 1993; Stark 2016), so dass hier eine zusätzliche Anforderung besteht. Die Flexion starker und schwacher Verben ist schließlich ein weiterer, zentraler Erwerbsbereich der Tempora, der sich noch im frühen Sekundarbereich fortsetzen kann (siehe Kieferle 2006). Im Zusammenhang mit zweitsprachlichen Lernprozessen sind Interferenzen mit der Erstsprache oder ein erst sehr später Erwerbsbeginn als potentielle Her‐ ausforderungen zu nennen, welche allerdings in allen sprachlichen Bereichen und nicht nur im Tempuserwerb Schwierigkeiten hervorrufen können (siehe Kauschke 2012; Kurevija 2018). Zum Gebrauch der Tempora ist relevant, dass ein variantenreicher Input, der auch die im mündlichen Sprachgebrauch weniger frequenten Tempora wie Präteritum, Futur oder Plusquamperfekt aufgreift, den Erwerb eben dieser Formen positiv beeinflusst (siehe Chilla 2008; Quasthoff 2002; Rau 1979). Die Verbindung der Tempora mit ihrem Verwendungskontext in der medialen und konzeptionellen Schriftlichkeit (siehe Koch/ Oesterreicher 1986) in bestimmten Textsorten unterstützt die Kinder dabei in ihrem Erwerb. Ein gutes und empirisch validiertes Mittel für die genrespezifische Wahl und situative Anpassung der Tempora an Kommunikationsbedingungen und Text‐ sorten stellen literate Texte und somit Bilderbücher dar (siehe Becker 2005; Stark 2016). 107 „Und dann erzählt Toni, wie alles wirklich gewesen ist.“ 3 Grammatiklernen mit Bilderbüchern Lange Zeit wurde das Bilderbuch als Medium und dessen medialer und genre‐ spezifischer Einfluss auf den Interaktionsprozess und das (schrift-)sprachliche Lernen des Kindes weitgehend in der kinderliterarischen Forschung ausgeklam‐ mert (siehe Fletcher/ Reese 2005; Müller/ Stark 2015; Thiele 2003) und damit auch die „verbale Dimension“ (Staiger 2014: 14) des Bilderbuchs. Dabei hat die Sprache im Bilderbuch eine komplexere Struktur als die Familien- oder Alltagssprache (siehe Cameron-Faulkner/ Noble 2013) und liefert für bestimmte Sprachlernbereiche den entscheidenden Sprachinput (siehe Meibauer 2011). So liegt wie bei anderen literarischen Texten im Falle von Bilderbüchern ein unspe‐ zifischer Rezipient: innenkreis vor, dem es an gemeinsamen Wissensbeständen und einer unmittelbaren Rezeptionssituation fehlt. So richten die Autor: innen ihre sprachliche Botschaft im sprachlich komplexen „literaten Register“ (Maas 2010: 43 f.) an eine nicht spezifizierte Gesamtmenge von Vorleser: innen, die diese wiederum an den jeweiligen Entwicklungsstand des Kindes im Rahmen der Vorleseinteraktion adjustieren (siehe Becker/ Müller 2015; Gressnich/ Stark 2015; Rothstein 2013; Stark 2016). Gleichsam sind in Bilderbuchtexten textsorten- und gattungsspezifische Merkmale und eine besondere Verknüpfung von Bild und Text realisiert (siehe Staiger 2014), so dass hieraus nicht nur eine für den Schriftspracherwerb zentrale Ressource resultiert, sondern sich unterschied‐ liche „sprachdidaktische Anreize“ (Müller/ Stark 2015: 102) auftun, die gezielt zur Sprachförderung genutzt werden können. So finden sich in Bilderbüchern z. B. komplexere Nebensatzkonstruktionen, welche in der Vorlesesituation baugleich erweitert und kreativ ergänzt werden können (siehe Müller/ Stark 2015). Des Weiteren können Narrationsmuster und Erzählanreize aus Rahmen- und Binnenhandlung oder Rückschauen der Protagonist: innen im Bilderbuch vorhanden sein, aus denen Impulse für die selbstständige Textproduktion etwa in Form von fiktiven Erzählungen oder Weitererzählungen aus eigener Sicht oder der Perspektive der Protagonist: innen abgeleitet werden können (siehe ebd.). Ein Beispiel hierfür ist Der Bücherfresser von Cornelia Funke und Annette Swoboda (2020), in dem ein Pelzschwein einen unbändigen Appetit auf Bücher hat, diese mit großem Vergnügen verschlingt, aber sich nach ihrem Verspeisen all ihrer Inhalte erinnern kann und schließlich einem Jungen von den Geschichten dieser Bücher erzählt. Auch können Bilderbücher Anreize zur Differenzierung von verschiedenen Textsorten bieten, wie die enthaltenen Briefe in den Büchern von Hase Felix von Annette Langen und Constanza Droop (z. B. 1995, 2003), Der Bär schreibt heute Briefe von Axel Scheffler und Julia Donaldson (2017) oder in Ingo Siegners 108 Celina Diroll, Claudia Müller-Brauers und Friederike von Lehmden (2021) Der kleine Drache Kokosnuss reist um die Welt, die in die Struktur der Erzählung eingebettet sind. Andere Bilderbücher weisen wiederum klar erkennbare Tempuswechsel auf. Im Buch Riese Rick macht sich schick von Axel Scheffler und Julia Donaldson (2008) ist z. B. ein Dankesbrief integriert, der im Gegensatz zur Geschichte, die im Präteritum steht, im Präsens formuliert ist. Im Buch Petterson und Findus - Ein Feuerwerk für den Fuchs von Sven Nordqvist (2013) werden die Gedanken der Protagonist: innen über die Verwendung des Präsens von dem restlichen Text im Präteritum abgrenzt. Tempuswechsel finden sich auch in den Bilderbüchern Warum der Schnee weiß ist von Heinz Janisch und Silke Leffler (2015) und Harmen Van Straatens Bilderbuch (2004) Es war einmal eine Ente (hierzu ausführlich Müller/ Stark 2015). Aber nicht nur die in Text und Bild angelegten sprachdidaktischen Anreize, sondern auch stilistische Mittel und Strukturprinzipien (siehe Finkbeiner 2019) in Bilderbuchtexten können zur sprachlichen Förderung didaktisch genutzt werden. Dazu zählen z. B. textinterne serielle Musterbildungen und häufig rekurrierende sprachliche Muster, die sich positiv auf den Wortschatz-, Nar‐ rations- oder Dialogerwerb auswirken und den Gebrauch dieser Formen in vergleichbaren kommunikativen Situationen etablieren können (siehe ebd.). Finkbeiner nennt hier beispielsweise den Bilderbuchklassiker Die kleine Raupe Nimmersatt von Eric Carle (2008) oder Erstliteratur für Kinder wie z. B. das Buch Vom kleinen Maulwurf, der wissen wollte, wer ihm auf den Kopf gemacht hat von Werner Holzwarth und Wolf Erlbruch (1997). Solche vorhersagbaren, regelbzw. musterhaften parallelisierten Textteile mit kleineren Variationen können darüber hinaus grammatisches Lernen in Bezug auf die Kategorisierung sprachlicher Muster, das Erkennen der zugrundeliegenden grammatischen Strukturen und das Abstraktionsvermögen dieser unterstützen (siehe hierzu Aslin/ Newport 2012; Clark 1990; Cook 2000; Tomasello 2003). Gerade durch Wiederholungen werden grammatische Strukturen hervorgehoben, da in den Satzstrukturen einige Teile mehrfach auftreten, andere hingegen ausgetauscht werden. Hieraus ergibt sich ein besonderes Potential von Bilderbüchern für den Anfangsunterricht Deutsch, denn die stilistischen Mittel der Wiederholung und Kontrastierung von sprachlichen Formen, die in Texten der Kinderlite‐ ratur vorhanden sind, treffen nicht nur die Affinität von Kindern gegenüber sprachspielerischen Aktivitäten, sie eignen sich zugleich in besonderer Weise für eine Grammatikförderung im Deutschunterricht auf der Grundlage eines strukturierten Sprachinputs (siehe Belke/ Belke 2005). 109 „Und dann erzählt Toni, wie alles wirklich gewesen ist.“ 1 Gefördert durch die VolkswagenStiftung in der Förderlinie Key Issues for Research and Society 4 Das Litkey-Bilderbuch Mensch Oma! im Grammatikunterricht Dieses Potential von Bilderbüchern nutzend wurden in dem Forschungsprojekt Litkey („Literacy as the key to social participation“) sechs verschiedene Bilder‐ bücher zur Förderung des Grammatikerwerbs entwickelt, von denen wir eines, das Bilderbuch Mensch, Oma! (Müller-Brauers et al. 2022a), im Folgenden näher vorstellen wollen. 1 Die Konzeption der Bilderbücher basiert auf dem Ansatz der impliziten Grammatikvermittlung und der generativen Textproduktion (siehe Belke 2007), bei dem der vom Bilderbuch ausgehende Sprachinput in besonderer Weise durch linguistische Vorstrukturierung optimiert wird. Darunter fallen z. B. häufige Wiederholung der fokussierten sprachlichen Strukturen und deren Kontrastierung und Darbietung in Gruppen, um das implizite sprachliche Lernen der Kinder zu unterstützen (siehe Belke/ Belke 2005; Belke 2007). Drei der Bilderbücher haben als Schwerpunkt das Genus-Kasus-System und wurden im Rahmen einer Interventionsstudie im Kindergarten empirisch evaluiert (siehe Müller-Brauers/ von Lehmden 2021; von Lehmden et al. i. V.). Die drei weiteren Bilderbücher, zu denen auch das Buch Mensch, Oma! zählt, fokussieren die Verbalphrase und komplexe Sätze und sind sowohl sprachlich als auch thematisch für den Anfangsunterricht Deutsch der Grundschule geeignet. Inhaltlich geht es in dem Buch Mensch, Oma! um den Jungen Toni, der mit seiner Oma einen neu eröffneten Freizeitpark besucht. Da Tonis Oma sich dabei intensiv mit ihrem Mobiltelefon beschäftigt, bekommt sie nur zum Teil mit, was um sie herum geschieht. So bemerkt sie nicht, wie Toni während einer Seehundshow den Hund des Bürgermeisters vor dem Ertrinken rettet. Unglücklicherweise wird Tonis Oma nach der Show von einem Reporter zu den Ereignissen befragt und ihr fehlerhafter Bericht steht danach in der Zeitung. Oma und Toni beschließen, die Ereignisse richtig zu stellen und auf Omas Tablet einen inhaltlich korrekten Bericht für die Zeitung zu schreiben. Insgesamt enthält das Buch 139 Sätze mit flektiertem Verb (siehe Tab. 1). Davon sind 87 Verbformen in der 1., 2. und 3. Pers. Sgl. Präsens Aktiv. Das Präteritum wird zweiundzwanzigmal, zum Großteil in der 3. Pers. Sgl., genutzt. Ähnlich viele Verbformen (20) gibt es im Perfekt. In den parallelen Anteilen der Geschichte tauchen insgesamt 11 Verben in allen drei Tempora auf. 110 Celina Diroll, Claudia Müller-Brauers und Friederike von Lehmden 2 Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Schneider Verlags Hohengehren Flektierte Verben gesamt: 139 Präsens aktiv (92) Präte‐ ritum aktiv (23) Perfekt aktiv (20) Sonstiges (4) 1. Pers. Sgl. 5 1 3 3 x Imperative im Singular 1 x 3. Pers. Sgl. Präteritum Passiv 2. Pers. Sgl. 2 3 3. Pers. Sgl. 80 21 14 1. Pers. Pl. 1 3. Pers. Pl. 4 1 Tab. 1: Übersicht über die Verbformen der 139 flektierten Verben im Buch Mensch, Oma! Für den Tempuserwerb liefert das Buch aus mehreren Gründen einen spe‐ zifischen Input und sprachdidaktischen Anreiz: Im Buch werden zunächst verschiedene Zeitformen im Text unter Fokussierung starker und schwacher Verben dargeboten und wiederholt präsentiert. Die oben genannten Verben werden zudem in drei verschiedenen Ereigniswiedergaben inhaltlich motiviert gegenübergestellt. So wird die Handlung der Geschichte im Präsens erzählt, im Zeitungsartikel das Präteritum (siehe Abb. 2) gebraucht und in dem Erlebnisbe‐ richt das Perfekt (siehe Abb. 3). Abb. 2: Zeitungsartikel in Mensch, Oma! im Präteritum (Müller-Brauers et al. 2022a: 17 f.) 2 111 „Und dann erzählt Toni, wie alles wirklich gewesen ist.“ 3 Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Schneider Verlags Hohengehren Abb. 3: Toni berichtet von den richtigen Ereignissen im Perfekt (Müller-Brauers et al. 2022a: 19 f.) 3 Damit wird der Gebrauch der Tempora funktional in Abhängigkeit unter‐ schiedlicher sozialer Situationen und Sprachhandlungen über Text und Bild hervorgehoben. Dadurch soll die metasprachliche Aufmerksamkeit der Kinder beim (Vor-)Lesen auf den Verwendungszusammenhang der Tempora sowie ihre Bedeutung gelenkt werden und zu einer Ausdifferenzierung des Wissens über verschiedene sprachliche Register führen. Durch den spezifischen Aufbau des Bilderbuchs sind verschiedene sprach‐ didaktische Anreize gegeben. Der Aufbau der Geschichte macht es zunächst möglich, dieselben Ereignisse und somit dieselben Verben parallelisiert in unterschiedlichen Tempusformen zu wiederholen. Durch die Parallelität der Textteile können die Schüler: innen die fokussierten Tempusformen zunächst aus dem Text heraussuchen und gegenüberstellen. Dabei ist es möglich, speziell auf die starken Verben einzugehen und hier Vergleiche zwischen den Tempus‐ formen der einzelnen Verben anzustellen, um den Stammvokalwechsel zu the‐ matisieren. Eine Reflexion über den Einsatz der verschiedenen Tempora kann sich daran anschließen, indem die Kinder ihre eigene Sprachverwendung unter‐ suchen oder Sprache in unterschiedlichen Medien/ Textsorten (YouTube-Videos, Nachrichten, Zeitungsartikeln, Fachtexten, literarischen Texten…) analysieren. Zur metasprachlichen und sprachreflexiven Aktivierung bietet sich weiterhin eine Betrachtung von anderen Bilderbüchern an, die im Präteritum oder Präsens verfasst wurden, oder ebenfalls durch eine Rahmen- und Binnenhandlung verschiedene Tempora gegenüberstellen (siehe Kapitel 3). 112 Celina Diroll, Claudia Müller-Brauers und Friederike von Lehmden 4 Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Schneider Verlags Hohengehren Abb. 4: Schreibauftrag (Müller-Brauers et al. 2022a: 23 f.) 4 Auch lassen sich handlungs- und produktionsorientierte Schreibanlässe (siehe Abb. 4) als eine Form des „tätige[n] statt nur rezeptive[n] literarischen Lernen[s]“ (Abraham 1998: 8 f.) an die Arbeit mit dem Bilderbuch angliedern. Narrative Anlässe finden sich in Kombination mit der Tempusverwendung, z. B. bei der Betrachtung der Bilder als Bildergeschichte, um das Präsens zu üben. Gezielte Fragestellungen mit Antwortvorgaben („Was macht Toni auf diesem Bild? Toni…“) zielen dabei auf das passende Tempus. Auch nachgestellte Inter‐ views zu den Ereignissen, in denen das Perfekt Verwendung findet (z. B. durch vorgegebene Fragestellungen wie „Was haben sie gesehen? Was ist dann pas‐ siert? “), können durchgeführt werden. Anschließend an Tonis Erlebniserzäh‐ lung wird im Buch ein Schreibimpuls gegeben, indem der Anfang einer E-Mail von Toni und seiner Oma an die Zeitungsredaktion zur Richtigstellung der Ereignisse bildlich dargestellt wird. Hier ist es möglich, mit den Schüler: innen zunächst darüber zu sprechen, welche Tempusform für diese Textsorte ange‐ bracht erscheint. Kinder mit weniger sprachlichen Vorkenntnissen können sich hierbei auf die bereits besprochenen Tempusformen beziehen. Weiterhin können Besonderheiten im digitalen und analogen Schreiben thematisiert und besprochen werden, welche Möglichkeiten der Textgestaltung digitale Schreibformate bieten. Anschließen kann sich ebenso eine reflexive Einheit zu den Potentialen und Herausforderungen der Erstellung, Verbreitung und des Konsums von digitalen Texten und Medien (z. B. omnipräsente Verfügbarkeit, Anreize durch Mediendesign…). 113 „Und dann erzählt Toni, wie alles wirklich gewesen ist.“ 5 Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Schneider Verlags Hohengehren Das Buch bietet außerdem eine ausschließlich visuell dargebotene Parallel‐ geschichte von einem Mädchen an, das eine Katze rettet (siehe Abb. 5). Abb. 5: Beispiel für einen Teil der Parallelgeschichte in Mensch, Oma! (siehe Rahmen im Bild; Müller-Brauers et al. 2022a: 11 f.) 5 Im Unterricht könnten ein Erlebnisbericht dieses Mädchens geschrieben oder auch Erlebniserzählungen in selbst durchgeführten Interviews durchgeführt werden, indem vorab eine Vorbereitung des Textprodukts mit einer gemein‐ samen Sammlung möglicher Verben und ihrer Tempusformen stattfindet. So können Kinder mit geringen sprachlichen Vorkenntnissen die Perfektformen prüfen und ggf. selbst korrigieren. Im Anschluss ist es möglich, die verwendeten Tempora sowie das Format des Interviews zu analysieren. Die Schüler: innen können ferner die Geschichte aus dem Präsens ins Präteritum umschreiben, ein eigenes paralleles Bilderbuch über die Katzenrettung kreieren oder eine Bilder‐ buch-App im Mündlichen und Schriftlichen konzipieren. Zur Übertragung ins ausschließlich medial Mündliche bietet sich zudem das Erstellen eines Hörspiels an (siehe z. B. Geist/ Emminger 2020). Diese Aufgabe sollte jedoch erst im Anschluss an eine ausführliche und systematische Betrachtung des Präteritums stattfinden. 114 Celina Diroll, Claudia Müller-Brauers und Friederike von Lehmden 5 Zusammenfassung und sprachdidaktische Diskussion Nicht nur aus den obigen Ausführungen lässt sich folgern, dass sich Bilderbü‐ cher neben zahlreichen anderen Lernbereichen auch in besonderer Weise für das Grammatiklernen eignen. Internationale Studien der Vorleseforschung im Kontext von strukturellen Primingstudien unterstützen die Annahme, dass die wiederholte Rezeption und interaktive Auseinandersetzung mit Geschichten bzw. Kinderliteratur eine zentrale Bedeutung für das grammatische Lernen von Kindern hat (siehe Cameron-Faulkner/ Noble 2013; Garraffa et al. 2021; Hesketh et al. 2016; Vasilyeva et al. 2006). Welche Funktion die Sprache im Bilderbuch für das Grammatiklernen von Kindern einnehmen kann, lässt sich zudem erahnen, wenn man in Betracht zieht, wie Kinder den Sprachinput des Bilderbuchs in ihren Erzählungen verarbeiten (siehe Müller-Brauers et al. in diesem Band). So finden Müller-Brauers und von Lehmden (2021) sowie Müller-Brauers et al. (2017) in kindlichen Nacherzählungen von Bilderbüchern neben lexikalischen Wiederholungen exakte und modifizierte syntaktische und morphologische Einpassungen von im Buch präsentierten sprachlichen Strukturen wie z. B. sich wiederholenden Satzmustern, Tempus oder Formen von Redewiedergabe. Von Lehmden et al. (2013) konnten einen solchen Zuwachs grammatischer Strukturen in Geschichtenwiedergaben in einer deutschsprachigen Studie quan‐ tifizieren, bei der Kindergartenkinder, die Bilderbücher mit vielen Passiven vorgelesen bekamen, beim Nacherzählen eben dieser Bilderbücher signifikant mehr Passive produzierten als diejenigen, denen die vorgelesenen Geschichten im Aktiv präsentiert wurden. Inputoptimierte Bilderbücher wie das oben vorgestellte Bilderbuch Mensch, Oma! bauen auf diesen Studienergebnissen auf und nutzen das grammatische Lernpotential von Bilderbüchern gezielt, indem sie über eine linguistische Strukturierung der Bilderbuchtexte das Grammatiklernen der Kinder anregen. Diese methodische Vorgehensweise kann besonders Kindern mit Deutsch als Zweitsprache und Kindern mit spezifischen Sprachentwicklungsstörungen im Bereich Grammatik entgegenkommen. Generell sind neben der Kognition einzelsprachliche Spezifika der zu erwerbenden Sprache, aber auch der Input in Salienz und Frequenz relevante Einflussfaktoren im Spracherwerb (siehe Rau 1979; Stark 2016). Auch im Zweitspracherwerb kann der Input als zentraler Aspekt herausgestellt werden, da ein früh einsetzender, qualitativ hochwertiger und abwechslungsreicher Sprachkontakt positiven Einfluss nimmt (siehe Chilla 2008), so dass durch die linguistische Strukturierung von Bilderbuchtexten dieser Mechanismus in der sprachlichen Entwicklung von Kindern aufgegriffen werden kann. Gerade beim Erwerb und Gebrauch der Tempora ist anzunehmen, 115 „Und dann erzählt Toni, wie alles wirklich gewesen ist.“ 6 Eine empirische Überprüfung inputoptimierter Bilderbücher in unterrichtlichen Zu‐ sammenhängen in Hinsicht auf die kindliche Grammatikentwicklung steht noch aus, erste Befunde sind aus der eingangs erwähnten Kita-Studie des Litkey-Projekts zu erwarten (von Lehmden et al. i. V.). dass ein variantenreicher Input, der auch die im mündlichen Sprachgebrauch weniger frequenten Tempora Präteritum, Futur oder Plusquamperfekt aufgreift, den Erwerb eben dieser Formen positiv beeinflusst (siehe Stark 2016). Die Verbindung der Tempora mit ihrem Verwendungskontext in Abhängigkeit verschiedener sprachlicher Register und Textsorten kann, so ist anzunehmen, zudem unterstützend sein. 6 Entsprechend stellt das Wissen um grammatische Phänomene wie Tempora und wie diese mit Textsorten korrelieren einen zentralen Lernbereich des literaten Sprachgebrauchs der Institution Schule und gleichzeitig eine Herausforderung im Spracherwerb mono- und bilingualer Kinder dar (siehe Gogolin/ Lange 2011), bei deren Bewältigung unseres Er‐ achtens Kinder mit inputoptimierten Bilderbüchern im Unterricht zusätzlich unterstützt werden können. Damit sind zugleich Anschlussstellen für eine „durchgängige Sprachbil‐ dung“ (Gogolin/ Lange 2011: 118) gegeben, bei der die verschiedenen sprachli‐ chen Lernausgangslagen von Schüler: innen berücksichtigt und zugleich schrift‐ sprachliche Anforderungen sowohl im Mündlichen als auch im Schriftlichen (siehe Koch/ Oesterreicher 1986; Maas 2010) im Unterricht explizit themati‐ siert, didaktisch aufgearbeitet und die Herkunftssprachen der Schüler: innen wertschätzend integriert werden. So sind Bilderbücher wie die Litkey-Bilderbü‐ cher mit spezifischen grammatischen Förderschwerpunkten ausgewiesen (z. B. Genus-Kasus-System, komplexe Sätze), die auch in der Sprachtherapie von Kindern mit spezifischen Sprachentwicklungsstörungen relevant sind (siehe Lüdtke/ Stitzinger 2017). Die dem Medium inhärente Vielfalt an Ausdruckssystemen in Text und Bild macht Bilderbücher zugleich zugänglich für Schüler: innen, die verbal nicht agieren und andere mediale Zugänge nutzen (siehe Müller-Brauers/ Pott‐ hast 2019). So ermöglichen Bilderbücher vielfältige mediale Gestaltungen und Gesprächsanlässe, die z. B. um gebärdenbasierte Kommunikation für Kinder mit Hörbehinderung erweitert werden können (siehe ebd.). Darüber hinaus bietet die Multimodalität des Bilderbuchs über die textlichen und bildlichen Bestandteile hinaus didaktisches Potenzial: Im Deutschunterricht lassen sich auf narrativer Ebene etwa Erzählstrukturen und Erzählperspektiven der Prot‐ agonist: innen thematisieren, aber auch ein literarisch-ästhetischer Blick auf die Gestaltung des Textes und der Bilder kann als Beitrag zur visual literacy (siehe Dehn 2014) oder zur ästhetischen Bildung (siehe Mattenklott 2014) im Primar‐ 116 Celina Diroll, Claudia Müller-Brauers und Friederike von Lehmden bereich fungieren. Inwieweit sich konkret mit Bilderbüchern fachübergreifende Bezüge unterrichtlich realisieren lassen können, wollen wir im Folgenden nochmals anhand des Themas Medienbildung verdeutlichen, das wir auf die Litkey-Bilderbücher Mensch, Oma! und Zu Besuch in der Roboterwelt (siehe Müller-Brauers et al. 2022b) beziehen. 6 Fachübergreifender Ausblick Digitale Bildung ist als Querschnittsaufgabe für alle Schulfächer zu verstehen, bei der verschiedene Kompetenzbereiche angesprochen werden sollen (siehe KMK 2017) und jedes Fach „seine Bildungsziele, Kompetenzen, Gegenstände und Methoden medienbezogen reflektieren und konzipieren“ (Frederking et al. 2018: 76) soll. Im Sinne eines funktionalen Bildungsbegriffs sind der digitalen Bildung Kompetenzen untergeordnet und Medien werden sowohl als Lehr- und Lerngegenstand, in dem der Umgang mit Medien vermittelt werden soll, als auch als Instrument zum Lernen mit Medien angesehen (siehe BMBF 2016). Diese Kompetenzen umfassen Fähigkeiten wie die gezielte Informationssuche im Internet, das Kommunizieren mittels digitaler Medien, das Erstellen eigener Me‐ dienprodukte und der Austausch über Erfahrungen in der digitalen Medienwelt (siehe Niedersächsisches Kultusministerium 2020). Gerade vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie, die zu einer Intensivierung der Mediennutzung von Kindern und Jugendlichen geführt hat (mpfs 2020a, b), ist hier ein erhöhter Bedarf unterrichtlicher Thematisierung anzunehmen. Aus diesem Grund und im Zuge der fortschreitenden Digitalisierung des gesellschaftlichen Lebens scheint der Aufbau von Medienkompetenz erforderlich, und zwar durch Medienkritik, Medienkunde, Mediennutzung und Mediengestaltung (siehe Baacke 1997). Medienkompetenz umfasst im didaktischen Verständnis Kompetenz und Per‐ formanz bei der Benutzung von schriftbasierten, audio-visuellen und digitalen neuen Medien. Dies liegt darin begründet, dass, obwohl der Medienbegriff traditionsbehaftet primär auf analoge Medien abzielte, er eng mit der Tech‐ nologieentwicklung verzahnt ist, welche sich gerade in jüngster Zeit immer schneller und differenzierter vollzieht: Eine „reflexive Einschätzung dieser Entwicklungslinie“ (Rupp 2011: 214) und didaktische Thematisierung dieses Wandels sind somit als zentrale Lerngegenstände zu identifizieren. In den Bilderbüchern Mensch, Oma! und Zu Besuch in der Roboterwelt sind unterschiedliche sprachdidaktische Anreize gegeben, die sich mit dem Thema 117 „Und dann erzählt Toni, wie alles wirklich gewesen ist.“ 7 Unter Medienbildung verstehen wir unter Bezugnahme auf Kerres (2008) einerseits Ein‐ satzmöglichkeiten von verschiedenen analogen und digitalen Medien in der Bildung, so dass sie zu Lehr- und Lernzwecken nutzbar gemacht werden können, andererseits Bildung, die vermittelt werden muss, damit Kinder dazu befähigt werden, in einer medi‐ atisierten Umwelt und Gesellschaft kompetent handeln zu können. Dieses Verständnis referiert somit auf die Dimensionen des Medienkompetenzbegriffs nach Baacke (1997). Medien und Medienbildung verknüpfen lassen. 7 Im Falle von Mensch, Oma! bietet es sich z. B. didaktisch/ methodisch an, gemeinsam mit den Schüler: innen eine fiktive Parallelgeschichte zur Seehundshow zu schreiben, welche die Oma aufgrund der Ablenkung durch ihr Mobiltelefon nicht richtig mitbekommt. Weitere Möglichkeiten zur weiterführenden medialen Umsetzung, bei der die Schüler: innen die Eigenschaften verschiedener Medientypen (visuell, auditiv etc.) kennenlernen können, bieten das Verfassen eines eigenen Bilderbuchs, das Interviewen mit Mikrofon und Kamera und anschließend das Verfassen eines nicht korrekten Zeitungsartikels sowie einer korrigierenden E-Mail am PC. Dabei üben und festigen die Schüler: innen zugleich, wie in Kapitel 4 beschrieben, die Tempusformen Präteritum, Präsens und Perfekt. Werden ver‐ schiedene Geschichten in mehreren Gruppen gemeinsam produziert, können die einzelnen Geschichten getauscht und in andere Textformen mit Tempus‐ wechsel überführt werden (Dialoge in Berichten oder in Zeitungsartikeln, Zeitungsartikel in Geschichte mit direkter Rede…). Das Buch kann zudem von den Schüler: innen als Bilderbuch-App z. B. für eine andere Klasse produziert und präsentiert werden, sodass der Umgang mit Tablets und verschiedenen digitalen Programmen ausprobiert werden kann. Mit der Geschichte kann weiterhin auf inhaltlicher Ebene der Aspekt Mediennutzung in Bezug auf die Verwendung von Mobiltelefonen, Tablets und Zeitungen im Alltag der Kinder mit Fragen zum Umgang mit verschiedenen Medien oder Endgeräten bei sich selbst oder Erwachsenen thematisiert werden. Hierzu bietet sich auch das im Litkey-Projekt entstandene Bilderbuch Zu Besuch in der Roboterwelt an. In dieser Geschichte geht es um den Unterschied zwischen medial-fiktiver und realer Welt. Die Kinder Lio und Tara werden in dieser Geschichte in ein Tablet-Spiel hineingezogen, in dem sie sich in einer fiktiven Roboterwelt wiederfinden. Das Bild des Hereinziehens in das Tablet (siehe Abb. 6) kann dabei als visueller Impuls genutzt werden, um im Unterricht zu besprechen, wie die Kinder mit neuen Medien selbst umgehen, wie sie davon vereinnahmt werden können, welche Spielumgebung für sie interessant ist oder wie zwischen Realem und Fiktivem differenziert werden kann. 118 Celina Diroll, Claudia Müller-Brauers und Friederike von Lehmden 8 Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Schneider Verlags Hohengehren Abb. 6: Lio und Tara gelangen in die Roboterwelt in dem Buch Zu Besuch in der Roboterwelt (Müller-Brauers et al. 2022b: 3 f.) 8 Die Themen der Bücher können für die Schüler: innen zudem ein Ausgangspunkt sein, sich mit ihren eigenen digitalen Umgebungen und Routinen (z. B. Handynutzung, Spiele auf dem Tablet) kritisch auseinanderzusetzen. Diese Reflexion kann das Verstehen und ggf. Modifizieren von Chancen und Risiken ihres eigenen Mediengebrauchs in unterschiedlichen Lebensbereichen fördern. So können auf Basis der Buchlektüre Umfragen zur Häufigkeit und Dauer von verschiedenen Medien mit den Kindern durchgeführt, mit breit angelegten Stu‐ dien, z. B. der KIM-Studie (mpfs 2020a), abgeglichen und im Unterricht diskutiert werden. Die Schüler: innen können zudem dazu ins Gespräch kommen, wie sie und ihre Eltern die Nutzung von Tablets, Handy, Spielekonsolen und Fernsehen bewerten, welche häuslichen Praktiken und Gewohnheiten es hierzu gibt und wie sie selbst zu ihrer eigenen Mediennutzung stehen. Denn, auch wenn Kinder häufig als „early adopters“ (Moser 2010: 240) bezeichnet werden, die schnell einen Zugang zu technischen Neuheiten be‐ kommen, bedarf es dennoch oder auch gerade deshalb einer gezielten Themati‐ sierung dieses Bereichs im Unterricht, da digitale und mediale Kompetenzen sich nicht von alleine entwickeln (siehe Hugger 2008; Moser 2010). Die vorgestellten didaktischen Impulse referieren dabei auf das aktuelle Verständnis von Digita‐ lisierung im Kontext Schule, indem digitale Medien ergänzend zu analogen Medien eingesetzt werden und neue Perspektiven des Lernens und Lehrens 119 „Und dann erzählt Toni, wie alles wirklich gewesen ist.“ mit und zu Medien eröffnen. Gleichzeitig ergeben sich Herausforderungen, da bestehende Lehr-Lernformen und Lernumgebungen durch das sich technisch ständig erweiternde Repertoire an Medien neu konzipiert werden müssen (siehe KMK 2017). Die Potentiale und Anforderungen für den Unterricht aber auch im Leben der Schüler: innen in der digitalen Gesellschaft erhöhen sich simultan und erfordern eine Anpassung der Unterrichtsformen, Lehrkräfteausbildung und schulischen digitalen Ausstattung (siehe BMBF 2016). Strategien wie die „Bil‐ dungsoffensive für die digitale Wissensgesellschaft 2016“ oder die „Digitalstra‐ tegie 2017“ legen die Rahmenbedingungen fest und geben Entwicklungsschübe für den technischen und didaktischen Ausbau des Unterrichts. Konkrete Impulse zur Umsetzung fußen bisher noch auf „Einzelinitiativen und Insellösungen“ (BMBF 2016: 10) und es bedarf einer weiteren didaktischen Fundierung dieser Konzepte (siehe Meyer 2020). Medienthematisierende Bilderbücher wie auch die Nutzung von Bilderbuch-Apps können hier einen wertvollen Beitrag für die Me‐ dienbildung leisten (siehe auch Müller-Brauers/ Miosga in diesem Band), indem sie an der Schnittstelle von Sprachförderung und Medienbildung fungieren und didaktische Potenziale analoger und digitaler Medien fachbezogen aufzeigen. Literatur Primärliteratur Carle, Eric (2008). Die kleine Raupe Nimmersatt. 9. Aufl. Hildesheim: Gerstenberg Verlag. Funke, Cornelia/ Swoboda, Annette (2020). Der Bücherfresser. Bindlach: Loewe. Holzwarth, Werner/ Erlbruch, Wolf (1997). Vom kleinen Maulwurf, der wissen wollte, wer ihm auf den Kopf gemacht hat. Wuppertal: Peter Hammer Verlag. Janisch, Heinz/ Leffler, Silke (2015). Warum der Schnee weiß ist. Berlin: Betz. Langen, Annette/ Droop, Constanza (1995). Briefe von Felix. Ein kleiner Hase auf Welt‐ reise. Münster: Coppenrath. Langen, Annette/ Droop, Constanza (2003). Weltbeste Briefe von Felix. Ein kleiner Hase fliegt rund um die Welt. Münster: Coppenrath. Müller-Brauers, Claudia/ von Lehmden, Friederike/ Lehmann, Bernd (2022a). Mensch, Oma! Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. Müller-Brauers, Claudia/ von Lehmden, Friederike/ Lehmann, Bernd (2022b). Zu Besuch in der Roboterwelt. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. Nordqvist, Sven (2013). Ein Feuerwerk für den Fuchs. Hamburg: Oetinger. Scheffler, Axel/ Donaldson, Julia (2008). Riese Rick macht sich schick. Weinheim, Basel: Beltz & Gelberg. 120 Celina Diroll, Claudia Müller-Brauers und Friederike von Lehmden Scheffler, Axel/ Donaldson, Julia (2017). Der Bär schreibt heute Briefe. Weinheim, Basel: Beltz & Gelberg. Siegner, Ingo (2021). Der kleine Drache Kokosnuss reist um die Welt. München: cbj. Straaten, Harmen van (2004). Es war einmal eine Ente. Stuttgart: Verl. Freies Geistesleben. Sekundärliteratur Abraham, Ulf (1998). Was tun mit Steinen? Gibt es eigentlich ein 'Kreatives Schreiben' im Deutschunterricht? Informationen zur Deutschdidaktik 22 (4), 19-36. Artelt, Cordula et al. (2007). Förderung von Lesekompetenz. Expertise. Bildungsfor‐ schung, Band 17. Berlin, Bonn: BMBF. Aslin, Richard N./ Newport, Elissa L. (2012). Statistical learning: From acquiring specific items to forming general rules. Current Directions in Psychological Science 21 (3), 170-176. Baacke, Dieter (1997). Medienpädagogik. Grundlagen der Medienkommunikation, Band 1. Tübingen: Niemeyer. Becker, Tabea (2005). Kinder lernen erzählen. Zur Entwicklung der narrativen Fä‐ higkeiten von Kindern unter Berücksichtigung der Erzählform. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. Becker, Tabea/ Busche, Natalie (2019). Gebrauch und Erwerb der Tempora in mündli‐ chen und schriftlichen Erzählungen. In: Binanzer, Anja/ Langlotz, Miriam/ Wecker, Verena (Hrsg.). Grammatik in Erzählungen - Grammatik für Erzählungen. Erwerbs-, Entwicklungs-und Förderperspektiven. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohen‐ gehren, 103-124. Becker, Tabea/ Müller, Claudia (2015). Vorlesen und Erzählen kontrastiv. In: Gressnich, Eva/ Müller, Claudia/ Stark, Linda (Hrsg.). Lernen durch Vorlesen. Sprach- und Litera‐ turerwerb in Familie, Kindergarten und Schule. Tübingen: Narr Francke Attempto Verlag, 77-93. Behrens, Heike (1993). Temporal reference in German child language. Form and function of early verb use. Zutphen: Koninglijke Woehrmann. Belke, Eva/ Belke, Gerlind (2005). Das Sprachspiel als Grundlage institutioneller Sprach‐ vermittlung. Ein psycholinguistisch begründetes Konzept für den Zweitspracherwerb. In: Becker, Tabea/ Peschel, Corinna (Hrsg.). Gesteuerter und ungesteuerter Gramma‐ tikerwerb. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 174-200. Belke, Gerlind (2007). Poesie und Grammatik. Kreativer Umgang mit Texten im Deutsch‐ unterricht mehrsprachiger Lerngruppen. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohen‐ gehren. Bräuning, Kerstin/ Müller-Brauers, Claudia/ Schomaker, Claudia (Hrsg.) (2021). Bilderbü‐ cher im fächerübergreifenden Unterricht. Mit Bilderbüchern in heterogenen Lern‐ 121 „Und dann erzählt Toni, wie alles wirklich gewesen ist.“ gruppen unterrichten. Themenheft Praxis Grundschule 1. Braunschweig: Wester‐ mann. Bryant, Doreen (2021). Die deutsche Sprache aus der Lernendenperspektive. In: Alt‐ mayer, Claus/ Biebighäuser, Katrin/ Haberzettl, Stefanie/ Heine, Antje (Hrsg.). Hand‐ buch Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Kontexte-Themen-Methoden. Stuttgart: J.B. Metzler, 124-147. Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) (2016). Bildungsoffensive für die digitale Wissensgesellschaft. Strategie des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. www.kmk.org/ fileadmin/ pdf/ Themen/ DigitaleWelt/ Bildungsoffensi ve_fuer_die_digitale_Wissensgesellschaft.pdf (last accessed: 06.08.2022) Cameron-Faulkner, Thea/ Noble, Claire (2013). A comparison of book text and child directed speech. First Language 33 (3), 268-279. Chilla, Solveig (2008). Erstsprache, Zweitsprache, Spezifische Sprachentwicklungsstö‐ rung? Eine Untersuchung des Erwerbs der deutschen Hauptsatzstruktur durch suk‐ zessiv-bilinguale Kinder mit türkischer Erstsprache. Hamburg: Dr. Kovac. Clark, Eve V. (1990). On the pragmatics of contrast. Journal of Child Language 17 (2), 417-431. Cook, Guy (2000). Language play, language learning. Oxford: Oxford University Press. Dannerer, Monika (2012). Narrative Fähigkeiten und Individualität. Tübingen: Stauffen‐ burg. Dehn, Mechthild (2014). Visual Literacy, Imagination und Sprachbildung. In: Knopf, Julia/ Abraham, Ulf (Hrsg.). BilderBücher. Band 1, Theorie. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 125-134. Diehl, Erika/ Christen, Helen/ Leuenberger, Sandra/ Pelvat, Isabelle/ Studer, Thé‐ rèse (Hrsg.) (2000). Grammatikunterricht: Alles für der Katz? Untersuchungen zum Zweitsprachenerwerb Deutsch. Tübingen: Niemeyer. Eisenberg, Peter/ Fuhrhop, Nanna. (2013). Flexion. In: Eisenberg, Peter (Hrsg.). Das Wort. Grundriss der deutschen Grammatik. Stuttgart: J.B. Metzler, 145-200. Finkbeiner, Rita (2019). Serielle Narration als Konstruktion. Studien an Bilderbüchern für Vorschulkinder. Linguistik online 96 (3), 43-61. Fletcher, Kathryn L./ Reese, Elaine (2005). Picture book reading with young children: A conceptual framework. Developmental Review 25, 64-103. Frederking, Volker/ Krommer, Axel/ Maiwald/ Klaus (2018). Mediendidaktik Deutsch. Eine Einführung. Grundlagen der Germanistik, Band 44. 3. Aufl. Berlin: Erich Schmidt Verlag. Garraffa, Maria/ Smart, Francesca/ Obregón, Mateo (2021). Positive effects of passive voice exposure on children's passive production during a classroom story-telling training. Language Learning and Development 17 (3), 241-253. 122 Celina Diroll, Claudia Müller-Brauers und Friederike von Lehmden Geist, Barbara/ Emminger, Britta (2020). „Die Mutterliebe siegt! “ Hörspielproduktion zum Bilderbuch „Der Tigerprinz“. Grundschule Deutsch 66, 22-25. Gogolin, Ingrid/ Lange, Imke (2011). Bildungssprache und Durchgängige Sprachbildung. In: Fürstenau, Sara/ Gomolla, Mechthild (Hrsg.). Migration und schulischer Wandel: Mehrsprachigkeit. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 107-127. Gressnich, Eva/ Stark, Linda (2015). Zur Funktion von Gesprächseinlagen beim Vorlesen von Bilderbüchern. In: Gressnich, Eva/ Müller, Claudia/ Stark, Linda (Hrsg.). Lernen durch Vorlesen. Sprach- und Literaturerwerb in Familie, Kindergarten und Grund‐ schule. Tübingen: Narr, 57-74. Haberzettl, Stefanie (2005). Der Erwerb der Verstellungsregeln in der Zweitsprache Deutsch durch Kinder mit russischer und türkischer Muttersprache. Tübingen: Nie‐ meyer. Hesketh, Anne/ Serratice, Ludovica/ Ashworth, Rachel E. (2016). Encouraging use of subordination in children’s narratives: A classroom-based priming study. Language Learning and Development 12, 413-428. Hugger, Kai-Uwe (2008). Medienkompetenz. In: Sander, Uwe/ Gross, Friederike von/ Hugger, Kai-Uwe (Hrsg.). Handbuch Medienpädagogik. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 93-99. Jäger, Andreas (2007). Der Gebrauch des Perfekt-Präteritum-Paradigmas in der gespro‐ chenen deutschen Sprache. Die Normen- und Varietätenproblematik im Fremdspra‐ chenunterricht anhand eines ausgewählten Beispiels. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. Jäger, Agnes/ Fuß, Eric (2012). Grammatik. In: Drügh, Heinz/ Komfort-Hein, Su‐ sanne/ Kraß, Andreas/ Meier, Cécile/ Rohowski, Gabriele/ Seidel, Robert/ Weiß, Helmut (Hrsg.). Germanistik. Stuttgart: J.B. Metzler, 37-79. Kauschke, Christina (2012). Kindlicher Spracherwerb im Deutschen. Verläufe, For‐ schungsmethoden, Erklärungsansätze. Germanistische Arbeitshefte, Band 45. Berlin/ Boston: Walter de Gruyter. Kerres, Michael (2008). Mediendidaktik. In: Sander, Uwe/ Gross, Friederike von/ Hugger, Kai-Uwe (Hrsg.). Handbuch Medienpädagogik. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwis‐ senschaften, 116-122. Kieferle, Christa (2006). Was wissen Dritt- und Viertklässler über die Bildung von Vergangenheitsformen? Eine Analyse. In: Becker, Tabea (Hrsg.). Gesteuerter und ungesteuerter Grammatikerwerb. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 75-86. Koch, Peter/ Oesterreicher, Wulf (1986). Sprache der Nähe - Sprache der Distanz. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld von Sprachtheorie und Sprach‐ geschichte. In: Deutschmann, Olaf/ Flasche, Hans/ König, Bernhard/ Kruse, Margot/ 123 „Und dann erzählt Toni, wie alles wirklich gewesen ist.“ Pabst, Walter/ Stempel, Wolf-Dieter (Hrsg.). Romanistisches Jahrbuch, Band 36. Berlin: Walter de Gruyter, 15-43. Kultusministerkonferenz (KMK) (2017). Strategie der Kultusministerkonferenz “Bildung in der digitalen Welt”. Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 08.12.2016 in der Fassung vom 07.12.2017. https: / / www.kmk.org/ fileadmin/ pdf/ PresseUndAktu‐ elles/ 2018/ Digitalstrategie_2017_mit_Weiterbildung.pdf (last accessed: 06.08.2022) Kurevija, Mirna (2018). Grammatik in Texten im Deutschunterricht (Deutsch als Zweit‐ sprache und Deutsch als Fremdsprache) - ein internationaler Vergleich Deutsch‐ land-Kroatien. phbl-opus.phlb.de/ frontdoor/ deliver/ index/ docId/ 656/ file/ Kurevija_D issertation.pdf (last accessed: 06.08.2022) Lüdtke, Ulrike/ Stitzinger, Ulrich (2017). Kinder mit sprachlichen Beeinträchtigungen unterrichten. Ratgeber inklusiver Unterricht. München: Reinhardt. Maas, Utz (2008). Sprache und Sprachen in der Migrationsgesellschaft: Die schriftkultu‐ relle Dimension. Göttingen: V & R Unipress [u. a.]. Maas, Utz (2010). Literat und orat. Grundbegriffe der Analyse geschriebener und gespro‐ chener Sprache. Grazer Linguistische Studien 73, 21-150. Mattenklott, Gundel (2014). Ästhetische Bildung als Aufgabe der Primarstufe. In: Knopf, Julia/ Abraham, Ulf (Hrsg.). BilderBücher, Band 1, Theorie. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 135-140. Meibauer, Jörg (2011). Spracherwerb und Kinderliteratur. Zeitschrift für Literaturwissen‐ schaft und Linguistik 41, 9-26. Meyer, Hilbert (2020). Arbeit mit digitalen Unterrichtsmedien - Plädoyer für eine didaktisch fundierte Unterrichtsentwicklung in 9 Punkten. unterrichten.digital/ 2020/ 05/ 14/ hilbert-meyer-digitalisierung-unterricht/ (last accessed: 14.04.2022) Moser, Heinz (2010). Ansätze des medienpädagogischen Handelns: Das Konzept der Medienkompetenz. In: Moser, Heinz (Hrsg.). Einführung in die Medienpädagogik. Aufwachsen im Medienzeitalter. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 239-284. mpfs (2020a). KIM-Studie. Kindheit, Internet, Medien. Basisuntersuchung zum Medien‐ umgang 6bis 13-Jähriger. www.mpfs.de/ fileadmin/ files/ Studien/ KIM/ 2020/ KIM-Stu die2020_WEB_final.pdf (last accessed: 06.08.2022) mpfs (2020b). JIM-Studie 2020. Jugend, Information, Medien. Basisuntersuchung zum Medienumgang 12bis 19-Jähriger. www.mpfs.de/ fileadmin/ files/ Studien/ JIM/ 2020/ J IM-Studie-2020_Web_final.pdf (last accessed: 06.08.2022) Müller, Claudia (2012). Kindliche Erzählfähigkeiten und (schrift-)sprachsozialisatorische Einflüsse in der Familie. Eine longitudinale Einzelfallstudie mit ein- und mehrspra‐ chigen (Vor-) Schulkindern. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. Müller, Claudia/ Stark, Linda (2015). Sprachdidaktische Anreize in der Kinderliteratur. Ein Typologisierungsversuch. In: Eder, Ulrike (Hrsg.). Sprache erleben und lernen 124 Celina Diroll, Claudia Müller-Brauers und Friederike von Lehmden mit Kinderliteratur I. Theorien, Modelle und Perspektiven für den Deutsch als Zweitsprachenunterricht. Wien: Praesens Verlag, 95-117. Müller-Brauers, Claudia/ Stark, Linda/ von Lehmden, Friederike (2017). Einpassung lite‐ rater Strukturen. Wie Kinder den Input aus Vorlesesituationen produktiv nutzen. Frühe Bildung 6 (4), 199-206. Müller-Brauers, Claudia/ Potthast, Ines (2019). Inklusive Grammatikförderung mit Bilder‐ büchern. biss-sprachbildung.de/ wp-content/ uploads/ 2019/ 11/ biss-journal-11-gramm atifoerderung-mit-bilderbuechern.pdf (last accessed: 14.09.2021) Müller-Brauers, Claudia/ von Lehmden, Friederike (2021). GA: : NZ geMÜTlich - Bilder‐ buchinput und kindliche Geschichtenwiedergaben. In: Börjesson, Kristin/ Meibauer, Jörg (Hrsg.). Kinderliteratur und Pragmatikerwerb. Tübingen: Narr Francke Attempto, 207-232. Niedersächsisches Kultusministerium (2017). Kerncurriculum für die Grundschule. Schuljahrgänge 1-4 Deutsch. www.mk.niedersachsen.de/ startseite/ aktuelles/ pressei nformationen/ neues-im-schuljahr-20172018-156191.html (last accessed: 06.08.2022) Niedersächsisches Kultusministerium (2020). Orientierungsrahmen Medienbildung in der allgemein bildenden Schule. www.nibis.de/ uploads/ nlq-proksza/ Orientierungsra hmen_Medienbildung_Niedersachsen.pdf (last accessed: 17.01.2022) Pfost, Maximilian/ Dörfler, Tobias/ Artelt, Cordula (2010). Der Zusammenhang zwischen außerschulischem Lesen und Lesekompetenz: Ergebnisse einer Längsschnittstudie am Übergang von der Grundin die weiterführende Schule. Zeitschrift für Entwick‐ lungspsychologie und Pädagogische Psychologie 42 (3), 167-176. Quasthoff, Uta (2002). Tempusgebrauch von Kindern zwischen Mündlichkeit und Schrift‐ lichkeit. In: Peschel, Corinna (Hrsg.). Grammatik und Grammatikvermittlung. Frank‐ furt am Main: Peter Lang, 179-197. Rau, Marie Luise (1979). Die Entwicklung von Vergangenheitsstrukturen in der Sprache eines Dreijährigen. Folia Linguistica 13, 356-412. Riehl, Claudia Maria (2018). Deutsch aus kontrastiver Perspektive. In: Harr, Anne-Ka‐ tharina/ Liedke, Martina/ Riehl, Claudia Maria (Hrsg.). Deutsch als Zweitsprache. Migration-Spracherwerb-Unterricht. Stuttgart: J. B. Metzler, 237-274. Rothstein, Björn (2013). Ein Sprachhandlungsansatz für das Vorlesen am Beispiel von Hervé Tullets Turlututu. In: Frickel, Daniela A./ Boelmann, Jan M. (Hrsg.). Literatur - Lesen - Lernen. Frankfurt: Peter Lang, 317-336. Rupp, Gerhard (2011). Mediendidaktik. In: Köhnen, Ralph (Hrsg.). Einführung in die Deutschdidaktik. Stuttgart/ Weimar: J.B. Metzler, 205-252 Schütz, Gabriela/ Wößmann, Ludger (2005). Wie lässt sich die Ungleichheit der Bildungs‐ chancen verringern? ifo Schnelldienst 58 (21), 15-25. 125 „Und dann erzählt Toni, wie alles wirklich gewesen ist.“ Staiger, Michael (2014). Erzählen mit Bild-Schrift-Kombinationen. Ein fünfdimensionales Modell der Bilderbuchanalyse. In: Knopf, Julia/ Abraham, Ulf (Hrsg.). BilderBücher, Band 1. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 3-11. Stark, Linda (2016). Vorlesen und Präteritum. Wissenschaft für den Unterricht. Thema Sprache. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. Strecker, Bruno (2008). „Die Vorstellung hat bereits begonnen“ oder „Die Vorstellung be‐ gann bereits“? Unterschiede beim Gebrauch Präteritum und Präsensperfekt. Sprach‐ report 3, 31-35. Thiele, Jens (2003). Das Bilderbuch. Ästhetik - Theorie - Analyse - Didaktik - Rezeption. Bremen/ Oldenburg: Universitätsverlag Aschenbeck & Isensee. Tomasello, Michael (2003). Constructing a Language. A Usage-Based Theory of Language Acquisition. Cambridge: Harvard University Press. Topalović, Elvira/ Drepper, Laura/ Fröhlich, Nadine (2018). Digitale Bildung als Quer‐ schnittsaufgabe. Der Beitrag des Fachs Deutsch zwischen Sprache, Literatur und Medien. Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 65 (3), 317-325. Topalović, Elvira/ Uhl, Benjamin (2014). Linguistik des literarischen Erzählens. ZGL 42 (1), 26-49. Vasilyeva, Marina/ Huttenlocher, Janellen/ Waterfall, Heidi (2006). Effect of language intervention on syntactic skill levels in preschoolers. Developmental Psychology 42 (1), 164-174. von Lehmden, Friederike/ Kauffeldt, Johanna/ Belke, Eva/ Rohlfing, Katharina (2013). Das Vorlesen von Kinderbüchern als implizites Mittel zur Sprachförderung im Bereich Grammatik. Praxis Sprache 1, 18-27. von Lehmden, Friederike/ Müller-Brauers, Claudia/ Belke, Eva (i. V.). Training the acqui‐ sition of gender and case with specially designed children`s books and songs. von Lehmden, Friederike/ Porps, Lisa/ Müller-Brauers, Claudia (2017). Grammatischer Sprachinput in Kinderliteratur - eine Analyse von Genus-Kasus-Hinweisen in input- und nicht inputoptimierten Bilderbüchern. Forschung Sprache (2), 44-61. Whitehead, Marian R. (2007). Sprache und Literacy von 0 bis 8 Jahren. Troisdorf: Bildungsverlag EINS. Wittek, Angelika/ Tomasello, Michael (2002). German children´s productivity with tense morphology: The Perfekt (present perfect). Journal of Child Language 29 (3), 567-589. Zeman, Sonja (2016). Perfekt. In: Glück, Helmut/ Rödel, Michael (Hrsg.). Metzler Lexikon Sprache. 5. Aufl. Stuttgart: J. B. Metzler, 503. 126 Celina Diroll, Claudia Müller-Brauers und Friederike von Lehmden Gezielte Sprachförderung mit Bilderbüchern in der Grundschule Das Zielorientierte Dialogische Lesen zur Förderung morpho-syntaktischer Fähigkeiten Detta Sophie Schütz Abstract: Dialogisches Lesen unterstützt Kinder nachweislich in ihrer Sprachentwicklung. Dies gilt nach den Erkenntnissen verschiedener Stu‐ dien auch für Kinder mit Deutsch als Zweitsprache, Kinder mit Sprachent‐ wicklungsverzögerungen oder anderen Beeinträchtigungen sowie Kinder aus sozial benachteiligten Familien. Die erwiesenen Effekte beziehen sich in erster Linie auf die lexikalische Entwicklung, während Effekte auf die grammatischen Fähigkeiten bisher im deutschsprachigen Raum nicht nachgewiesen wurden. Die Sprachfördermethode „Zielorientiertes Dialogisches Lesen“ verfolgt explizit auch die Förderung der grammatischen Fähigkeiten. Es werden entsprechend dem Entwicklungsstand der Kinder konkrete Förderziele festgelegt; zudem kommen u. a. die Methoden der Inputspezifizierung und des Evozierens von Zielstrukturen zum Einsatz. Im sprachtherapeu‐ tischen Kontext wird ein derartiges Vorgehen bereits praktiziert, nicht jedoch in der Sprachförderung in (inklusiven) Kindertagesstätten und Grundschulen. 1 Einleitung - Unterstützung des Spracherwerbs durch Bilderbuchbetrachtungen Es ist unbestritten, dass das gemeinsame Betrachten von Bilderbüchern Kinder in ihrem Spracherwerb unterstützt. Die Bedeutungen noch unbekannter Wörter werden im Kontext eines Bilderbuches leichter verständlich und die Abbil‐ dungen spielen dabei eine wesentliche Rolle. Zudem begegnen dem Kind in Bilderbüchern Wörter und sprachliche Strukturen, die in der Alltagssprache nicht oder nur selten vorkommen. Auf diesem Wege können sich sowohl der Wortschatz als auch das Repertoire an grammatischen Fähigkeiten stetig erweitern. Die Bilderbuchbetrachtung bildet ein „Format“ (Bruner 2002: 38), in dem sich die Interaktionen mit den Bezugspersonen stets wiederholen und diese dem Kind bekannte Situation es ihm ermöglicht, sich ganz auf die (u. a. sprachlichen) Inhalte zu konzentrieren. Die Bilderbuchbetrachtung schafft zudem einen Anlass zum Austausch zwischen dem Kind und der Bezugsperson. Nimmt das Gespräch über das Buch mehr Raum ein als das reine Vorlesen des Textes, so handelt es sich um Dialogisches Lesen. Diese Methode hat nachweislich positive Effekte auf die Sprachentwicklung der Kinder und wird mittlerweile für eine alltagsintegrierte Sprachbildung in Kindertagesstätten empfohlen (siehe Baldaeus et al. 2021; Ennemoser et al. 2013; Kraus 2005). Im freien Gespräch über das Bilderbuch mit einer kleinen Anzahl von Kindern kann die pädagogische Fachkraft verschiedene sprachstimulierende Techniken und so genannte Sprachlehrstrategien einsetzen: Die Äußerungen der Kinder werden wertschätzend aufgegriffen und es werden verschiedene Modellierungstech‐ niken (Expansion, Extension sowie korrektives Feedback) eingesetzt, die sich förderlich auf den Spracherwerb der Kinder auswirken (siehe Whitehurst et al. 1988). Das Dialogische Lesen wird in Kindertagesstätten in der Regel im Sinne einer alltagsintegrierten Sprachbildung eingesetzt und nicht als spezifische Fördermaßnahme für Kinder, die als „Risikokinder“ (Hasselhorn/ Sallat 2014: 31) identifiziert wurden, da sie in ihrem familiären Umfeld wenig (deutsch-)sprach‐ lichen Input bekommen oder andere Erschwernisse des (Deutsch-)Spracher‐ werbs aufweisen. Obwohl Bilderbücher sowohl für den pädagogischen Kontext als auch für den sprachtherapeutischen Kontext empfohlen werden (siehe z. B. Riehemann 2020), kommen sie im Rahmen gezielter Sprachfördermaßnahmen in Kindertagesstätten bisher nur selten (beispielsweise aber im Konzept „Language Route“, (siehe Schütz 2015) sowie im „Litkey“-Projekt, (siehe von Lehmden et al. 2017a)) zum Einsatz. Strukturierte und evaluierte Konzepte fehlen insbesondere für den Primarbereich. Diese Lücke schließt das Sprachförderkonzept „Zielori‐ entiertes Dialogisches Lesen“ (Schütz 2020), das im Folgenden vorgestellt wird und das für den Einsatz in Kindertagesstätten und Grundschulen entwickelt wurde. In Grundschulen kommen Bilderbücher bereits häufig im Rahmen der literarischen Bildung zum Einsatz. Zudem werden sie genutzt, um beispiels‐ weise im Sachunterricht oder im Kunstunterricht neue Themen einzuführen. In der Sprachbildung und Sprachförderung wird in der Regel auf andere Materialien zurückgegriffen und entsprechende Sprachförderprogramme und 128 Detta Sophie Schütz Materialsammlungen wurden mittlerweile in kaum überschaubarer Anzahl entwickelt und publiziert. Die Wenigsten der Konzepte und Materialien sind jedoch wissenschaftlich evaluiert und die Effektivität der Fördermaßnahmen schwankt dementsprechend. Zudem finden Sprachfördermaßnahmen in Grund‐ schulen in der Regel außerhalb des Klassenverbandes statt. Auch wenn dies vor dem Hintergrund organisatorischer und fachlicher Herausforderungen nachzuvollziehen ist, so ist dieser Umstand im Sinne des Inklusionsgedankens kritisch zu sehen. Das „Zielorientierte Dialogische Lesen“ bietet demgegenüber die Möglich‐ keit, eine in den Schulalltag integrierte Sprachförderung zu etablieren. Die Bilderbuchbetrachtung kann im gewohnten Rahmen des Unterrichts eingesetzt werden (z. B. literarische Bildung oder Einführung von Themen des Sachun‐ terrichts). Die Art und Weise, wie die Dialoge zum Buch gestaltet werden, ermöglicht in dieser Methode jedoch darüber hinaus, dass einzelne oder mehrere Kinder gezielt in der Entwicklung ihrer sprachlichen Fähigkeiten unterstützt werden können. 2 Das Zielorientierte Dialogische Lesen Das „Zielorientierte Dialogische Lesen“ (Schütz 2020) dient der Unterstützung des Spracherwerbs von Kindern, für die ein sprachlicher Förderbedarf ange‐ nommen wird, da mögliche Risikofaktoren - wie beispielsweise ein sprachlich wenig anregendes familiäres Umfeld, wenig Input in der deutschen Sprache aufgrund von Mehrsprachigkeit, psychische oder kognitive Entwicklungsauf‐ fälligkeiten - bestehen. Die Methode ermöglicht eine gezielte Förderung des Erwerbs grammatischer Kompetenzen, die insbesondere für Kinder im Grund‐ schulalter wichtig sind, weil sie eine Voraussetzung für die Entwicklung von Lese- und Schreibfähigkeiten darstellen und somit den schulischen Erfolg sowie die Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen maßgeblich beeinflussen (siehe von Lehmden et al. 2013; Motsch/ Rietz 2016). Schwierigkeiten im Erwerb grammatischer Kompetenzen gehen nachweislich häufig mit Problemen im Schriftspracherwerb sowie im Verständnis von Texten und der Unterrichts‐ sprache einher (siehe Catts et al. 1999). Das „Zielorientierte Dialogische Lesen“ orientiert sich explizit am Entwick‐ lungsstand der Kinder und verknüpft das klassische Dialogische Lesen mit Me‐ thoden aus der Sprachheilpädagogik. Das jeweils verwendete Bilderbuch wird anhand bestimmter Kriterien ausgewählt und die sprachlichen Äußerungen werden vorab grob geplant. 129 Gezielte Sprachförderung mit Bilderbüchern in der Grundschule 2.1 Zielgruppe Das „Zielorientierte Dialogische Lesen“ ist ein Sprachförderkonzept für inklu‐ sive Kindertagesstätten und Grundschulen. Es ermöglicht eine alltagsintegrierte Sprachförderung in heterogenen Kleingruppen, bei der jeweils bestimmte Kinder im Fokus der fördernden Person stehen. Diese Kinder haben in ihrem (Deutsch-)Spracherwerb einen Unterstützungsbedarf, da sie in ihrem familiären Umfeld wenig Input in der deutschen Sprache erhalten oder Entwicklungsauf‐ fälligkeiten bestehen, die bewirken, dass ihre sprachlichen Fähigkeiten hinter denen gleichaltriger Kinder zurückbleiben. 2.2 Theoretische Grundlagen Nach den vorliegenden Erkenntnissen verschiedener Studien unterstützt die bereits etablierte Sprachbildungsmethode Dialogisches Lesen besonders effektiv die Sprachentwicklung von zweibis dreijährigen Kindern (siehe Mol et al. 2008), von Kindern mit Deutsch als Zweitsprache (siehe Ennemoser et al. 2013), von Kindern mit Sprachentwicklungsverzögerungen (siehe Hargrave/ Sénéchal 2000) sowie von Kindern mit Bildungsbenachteiligungen (siehe Valdez-Men‐ chaca/ Whitehurst 1992). Die erwiesenen Effekte beziehen sich dabei in erster Linie auf die lexikalische Entwicklung, während Effekte auf die grammatischen Fähigkeiten im deutschsprachigen Raum - anders als im angloamerikanischen Raum (siehe Sénéchal et al. 2009) - bisher nicht nachgewiesen werden konnten. Dies lässt sich vermutlich damit erklären, dass der Fokus der Förderung beim Dialogischen Lesen derzeit meist auf der Unterstützung des Erwerbs pragmati‐ scher und lexikalischer Fähigkeiten liegt (z. B. im Konzept „Language Route“, siehe Schütz 2015). Es kann jedoch davon ausgegangen werden, dass der Erwerb morpho-syntaktischer Fähigkeiten beim Dialogischen Lesen zumindest implizit ebenfalls unterstützt wird: Die Sprachlehrstrategien, die beim Dialogischen Lesen zum Einsatz kommen, sind auch in der von Bezugspersonen verwendeten so genannte „Lehrende Sprache“ oder „motherese“ (siehe Ruberg/ Rothweiler 2012) zu beobachten, wenn diese die Kinder ungefähr ab einem Alter von zwei Jahren unbewusst und intuitiv beim Grammatikerwerb unterstützen. Ennemoser und Hartung (2017) konnten dennoch in einer Studie keine nach‐ haltigen signifikanten Effekte des Dialogischen Lesens auf die Entwicklung grammatischer Fähigkeiten nachweisen. Wie die gemeinsame Lesesituation gestaltet werden kann, um den Grammatikerwerb in besonderem Maße zu fördern, wird derzeit zunehmend diskutiert (siehe Baldaeus et al. 2021; von Lehmden et al. 2017a; von Lehmden et al. 2017b; Schütz/ Alt 2020). Vor diesem Hintergrund wurde das Sprachförderkonzept „Zielorientiertes Dialogisches Lesen“ entwickelt (Schütz 2020). 130 Detta Sophie Schütz Das „Zielorientierte Dialogische Lesen“ beinhaltet die verschiedenen sprachför‐ derlichen Strategien, die das Dialogische Lesen ausmachen: ● Anregung der Sprachproduktion (insbesondere durch verschiedene Frage‐ arten), ● Verstärkung im Sinne von Zustimmung und Lob, ● Modellierung der Äußerungen des Kindes durch korrektives Feedback, Expansion (Erweiterung der Äußerungen des Kindes durch Wörter oder Satzteile) und Extension (thematische Weiterführung) sowie ● Absicherung des Verständnisses (siehe Baldaeus et al. 2021). Auch die Vorbereitung und Gestaltung der Lesesituation entspricht dem Vor‐ gehen, das für das Dialogische Lesen empfohlen wird: Es ist wichtig eine ruhige Atmosphäre zu schaffen. Besonders gut gelingt dies, wenn das Lesen in einer Kleingruppe (im Sinne des Inklusionsgedankens in heterogener und wechselnder Zusammensetzung) stattfindet und der Rest der Klasse für diesen Zeitraum durch eine andere Person betreut wird. Dies ermöglicht es der fördernden Person, sich auf die Äußerungen der Kinder zu konzentrieren und insbesondere diejenigen Kinder im Blick zu behalten, die von der Vorlesesitua‐ tion besonders profitieren sollen. Darüber hinaus integriert das „Zielorientierte Dialogische Lesen“ Prinzipien und Methoden aus dem Kontext der Sprachheilpädagogik, die sich auch in den Sprachtherapiekonzepten „Kontextoptimierung“ (Motsch 2017) und „Patholin‐ guistische Therapie“ (Siegmüller/ Kauschke 2006) wiederfinden. Grundsätzlich zielen diese Konzepte auf die Optimierung des Sprachangebots, um den ge‐ förderten Kindern eine effektivere Verarbeitung sprachlicher Informationen und damit ein Voranschreiten im Spracherwerb zu ermöglichen (siehe Zingel/ Kauschke 2013: 28). Die beiden Prinzipien der „Kontextoptimierung“ (Motsch 2017), die „Ursa‐ chenorientierung“ (Motsch 2017: 107) und der „Modalitätenwechsel“ (Motsch 2017: 115), gelten auch für das „Zielorientierte Dialogische Lesen“. In der Ursachenorientierung wird davon ausgegangen, dass viele Kinder, die Un‐ terstützungsbedarf im Spracherwerb haben, auch in den Bereichen auditive Aufmerksamkeit, phonematische Diskriminationsfähigkeit und phonologische Bewusstheit Probleme aufweisen. Um diesen Kindern die Analyse des sprach‐ lichen Inputs und das Entdecken von grammatischen Regelhaftigkeiten zu erleichtern, werden sie durch eine „professionelle Sprechweise“ (Motsch 2017: 108) der Förderperson unterstützt, die die Zielstruktur durch Verlangsamung, Betonung und Dehnung in den Fokus der Kinder rückt. Auch das Vermeiden von „Verwirrern“ (Motsch 2017: 110) spielt sowohl in der „Kontextoptimierung“ 131 Gezielte Sprachförderung mit Bilderbüchern in der Grundschule als auch im „Zielorientierten Dialogischen Lesen“ eine Rolle: Während das Kind darin unterstützt wird, eine bestimme Zielstruktur zu entdecken und zu erwerben, sollen Formulierungen vermieden werden, die das Kind verwirren könnten. Soll das Kind beispielsweise die Verbzweitstellung im Hauptsatz entdecken, so könnte es durch Nebensätze verwirrt werden, in denen das finite Verb in der Endposition steht. Ebenso sollte in der Kasusförderung die vom Kind zu entdeckende Form (beispielsweise der Akkusativ) immer nur mit denjenigen Kasusformen kontrastiert werden, die das Kind bereits sicher erworben hat (beispielsweise Nominativ), nicht aber mit Kasusformen, die das Kind noch nicht beherrscht (beispielsweise Dativ). Siegmüller und Kauschke (2006) sehen im Rahmen der „Patholinguistischen Therapie“ vor, dass der Input, der dem Kind geboten wird, vorab geplant wird, um sicherzustellen, dass die jeweilige Zielstruktur, die im Fokus der Therapie steht, hochfrequent, prägnant und kontrastreich dargeboten wird. Eine Planung des Inputs findet auch im „Zielorientierten Dialogischen Lesen“ statt. Jedoch steht hier der freie, von der Initiative des Kindes geleitete Dialog im Vordergrund, sodass vorgeplante Phrasen und Fragen lediglich als Orientierung und Erinnerungsstütze für die fördernde Person dienen. 2.3 Bestimmung des Förderziels auf der Grundlage des Verlaufs der kindlichen Sprachentwicklung Kennzeichnend für das „Zielorientierte Dialogische Lesen“ ist insbesondere die Zielorientierung des Vorgehens. Es wird dabei vorab festgestellt, auf wel‐ chem sprachlichen Entwicklungsstand sich das jeweilige Kind befindet und dementsprechend ein konkretes Förderziel, nämlich die „Zone der nächsten Entwicklung“ (Wygotski 1987: 83), festgelegt. Dazu ist zunächst eine Sprach‐ standsfeststellung in Form einer Testung oder einer Spontansprachanalyse erforderlich. Bei der Bestimmung des Förderziels orientiert sich die fördernde Person, wie auch im sprachtherapeutischen Kontext üblich (siehe Motsch 2017), an den Phasen der Grammatikentwicklung nach Clahsen (1988): Phase 1: Das Kind bildet Einwortäußerungen. Phase 2: Es bildet Mehrwortäußerungen, die jedoch noch unabhängig von syntaktischen Regelhaftigkeiten sind. Phase 3: Es treten erste einfache Sätze mit korrekter Syntax sowie korrekt flektierten Verben auf. Diese machen jedoch noch einen geringen Anteil der sprachlichen Äußerungen aus. Phase 4: Die Wortstellung in Hauptsätzen ist meist korrekt, es besteht Subjekt-Verb-Kongruenz. 132 Detta Sophie Schütz Phase 5: Das Kind ist in der Lage komplexe Sätze mit korrekter Verbstellung auch in den Nebensätzen zu bilden. Es treten erste kasusmarkierte nominale Satzglieder auf, wobei zunächst meist der Akkusativ erworben und auf Dativ‐ kontexte übergeneralisiert wird. Für das „Zielorientierte Dialogische Lesen“ wird das Förderziel vor diesem Hintergrund wie folgt bestimmt: Wenn sich ein Kind beispielsweise in der Phase 4 (nach Clahsen 1988) befindet und bereits dazu in der Lage ist, korrekte Hauptsätze zu bilden (dabei befindet sich der finite/ flektierte Verbteil an der zweiten Position des Satzes, der infinite Verbteil am Satzende), dann ist der Erwerb der Nebensatzstruktur das Förderziel. Kann das Kind bereits Nebensätze bilden (Phase 5), dann ist der Erwerb des Akkusativs das Förderziel. Eine Schulung der Förderkräfte, in der sie die Grundlagen des Grammatiker‐ werbs sowie die korrekte Umsetzung des „Zielorientierten Dialogischen Lesens“ erlernen, ist wesentlicher Bestandteil des Sprachförderkonzeptes. 2.4 Auswahl des Bilderbuches Grundsätzlich eignen sich sehr viele Bilderbücher für das „Zielorientierte Dialogische Lesen“, da der Text des jeweiligen Buches lediglich einen geringen Anteil des sprachlichen Inputs ausmacht, den die Kinder in der Dialogischen Lesesituation geboten bekommen. Das ausgewählte Buch sollte jedoch den Kriterien entsprechen, die eine generelle Eignung für das Dialogische Lesen ausmachen. Besonders gut eignen sich textfreie Bilderbücher und Bücher, in denen das Text-Bild-Verhältnis symmetrisch/ parallel ist, also Text und Bild weitestgehend übereinstimmen. Dies ermöglicht, dass die Geschichte anhand der Abbildungen im freien Dialog mit den Kindern konstruiert werden kann. Ein komplementäres Text-Bild-Verhältnis (Bild und Text ergänzen sich gegenseitig) oder ein wider‐ sprüchliches Verhältnis, in dem Text und Bild unterschiedliche Informationen vermitteln, stellen deutlich höhere Ansprüche an das Wort- und Textverständnis der Kinder (siehe Hering 2016) und machen die dialogische Lesesituation komplexer, da der Text in jedem Fall vorgelesen und in den Dialog eingebunden werden muss. Baldaeus et al. (2021) empfehlen bei der Auswahl eines Bilderbuches für das Dialogische Lesen zudem inhaltliche Kriterien zu bedenken, die Erzählstruk‐ turen zu berücksichtigen und das sprachliche Potential zu beachten. Die inhaltlichen Kriterien beziehen sich im Grundschulkontext insbesondere auf den Unterrichtsgegenstand. Viele Lehrkräfte nutzen Bilderbücher, um ein neues Thema im Sachunterricht einzuführen - in diesem Falle ist das Thema bereits festgelegt. Das Gleiche gilt, wenn das Bilderbuch im Kunstunterricht 133 Gezielte Sprachförderung mit Bilderbüchern in der Grundschule eingesetzt wird. Wird das Bilderbuch jedoch im Deutschunterricht genutzt und die literarische Bildung steht im Mittelpunkt, so ist ein größerer Spielraum bei der Auswahl des Bilderbuches nach inhaltlichen Kriterien gegeben und es können aktuelle Interessen der Schüler: innen berücksichtigt oder sogar aktuell bestehende Probleme in der Klassengemeinschaft (beispielsweise Ausgrenzung, Mobbing) aufgegriffen werden. Je mehr Relevanz das Thema des Buches für die persönliche Situation des Kindes hat, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass es sich aktiv ins Gespräch über die Geschichte einbringt (siehe Baldaeus et al. 2021). Die Berücksichtigung der Erzählstrukturen bei der Auswahl des Bilderbuches beeinflusst in erster Linie, wie anspruchsvoll das jeweilige Buch ist. In der klassischen Erzählstruktur kommt es nach der Vorstellung von Figuren, Ort und Zeit zu einem besonderen Ereignis, bei dem durch einen Konflikt oder eine Komplikation eine Wendung geschieht. Darauf folgt eine Hinführung zu einem Höhepunkt (oder mehreren Höhepunkten) und am Ende steht in der Regel die Auflösung des Konfliktes. In manchen Fällen bleibt das Ende offen und bietet einen Anlass, den Ausgang der Geschichte im Dialog selbst‐ ständig zu entwickelt (siehe Alt et al. 2014). Baldaeus et al. (2021) sehen die besondere Herausforderung der klassischen Erzählstruktur darin, dass sich die Geschichte kontinuierlich weiterentwickelt und immer wieder neue Elemente hinzukommen, die von den Kindern erfasst und verarbeitet werden müssen, damit diese dem weiteren Handlungsverlauf folgen können. Für Kinder mit geringen Spracherfahrungen empfehlen sie daher eher episo‐ dische Erzählungen, in denen der Hauptteil eine Reihe sich ähnelnder Episoden umfasst (davon abgesehen ähneln episodische Erzählungen in ihrem Aufbau der klassischen Erzählstruktur). Insbesondere der Sprachgebrauch, der in jeder Episode ähnlich ist, erleichtert das Verstehen der Geschichte und lenkt die Aufmerksamkeit der Kinder auf die relevanten Aspekte der Erzählung (siehe Baldaeus et al. 2021). Da die Kinder die Episoden vorhersagen und weiterdenken können, bieten episodische Erzählungen zudem anregende Gesprächsanlässe (siehe Alt et al. 2014). Die Auswahl eines Bilderbuches anhand seines sprachlichen Potentials ist für das „Zielorientierte Dialogische Lesen“ besonders sinnvoll. Es ist zwar nicht zwingend notwendig aber doch sehr hilfreich, wenn die grammatische Zielstruktur bereits häufig im Text enthalten ist. In jedem Falle sollte das Buch genügend Anlässe bieten, um die Zielstruktur im Dialog mit den Kindern hochfrequent anbieten und evozieren zu können. Das Buch sollte zudem nach Möglichkeit wenige so genannte „Verwirrer“ (Motsch 2017: 110) enthalten. Dies bedeutet, dass beispielsweise möglichst 134 Detta Sophie Schütz wenige Nebensätze enthalten sein sollten, wenn die Zielstruktur die Syntax des Hauptsatzes ist, da es den Kindern sonst schwerer fallen kann, die Re‐ gelhaftigkeit der Verbzweitstellung im Hauptsatz zu erkennen. Ebenso sollte möglichst selten der Dativ vorkommen, wenn am Akkusativ gearbeitet wird. Da sich „Verwirrer“ allerdings meist nicht gänzlich vermeiden lassen, kommt der Aufmerksamkeit und dem sprachlichen Verhalten der Förderperson besondere Bedeutung zu. 2.5 Planung der sprachlichen Äußerungen der Förderperson Mehrere Studien haben gezeigt, dass Kinder sprachliche Strukturen besonders gut erwerben können, wenn sie hochfrequent, prägnant und kontrastreich im Input dargeboten werden (z. B. Ambridge et al. 2015; Tomasello 2008). Das Konzept des „Zielorientierten Dialogischen Lesens“ sieht daher vor, dass die Förderperson die sprachlichen Interaktionen der Bilderbuchbetrachtung in Anlehnung an die Inputspezifizierung vorab bewusst plant (siehe auch Dannen‐ bauer 1999). Empfohlen wird, mögliche Äußerungen der Förderperson zu jeder Seite des Bilderbuches auf Karteikarten vorzubereiten. Auf diese Weise kann sichergestellt werden, dass die Zielstruktur hochfrequent und kontrastreich vorkommt und „Verwirrer“ vermieden werden. Die Förderperson achtet dabei auf eine korrekte und deutliche Aussprache und lenkt die Aufmerksamkeit der Kinder durch kurze Pausen und deutliche Betonung auf die Zielstruktur. Diese Inputgestaltung führt zwar zu einer etwas unnatürlichen Sprechweise, hat sich aber als effektiv für die Sprachförderung erwiesen (siehe Motsch 2017). Wenn das „Zielorientierte Dialogische Lesen“ mit Kindern im Grundschul‐ alter durchgeführt wird, ist es empfehlenswert die Zielstruktur auch explizit zu thematisieren, da Kinder in diesem Alter eher von einer expliziten als von einer impliziten Sprachförderung profitieren (siehe Schütz 2015). Die besondere Sprechweise der Förderperson kann dazu den Anlass bieten („Wo spreche ich komisch? “, Motsch 2017: 108) und die grammatische Regel kann daraufhin mit den Kindern gemeinsam entdeckt und besprochen werden. Um die Kinder zur Produktion der Zielstruktur anzuregen, können zudem Fragen auf Karteikarten vorbereitet werden, die diese grammatischen Struk‐ turen evozieren. So animieren beispielsweise „Warum“-Fragen die Kinder zur Produktion von Nebensätzen (Kausalsätzen), „Wen“- und „Wohin“-Fragen evo‐ zieren den Akkusativ und „Wem“- und „Wo“-Fragen den Dativ. Während des Dialogs kommen die bewährten Modellierungstechniken des Dialogischen Lesens (korrektives Feedback, Expansion und Extension) zum Einsatz. 135 Gezielte Sprachförderung mit Bilderbüchern in der Grundschule Der natürliche Gesprächsverlauf steht beim „Zielorientierten Dialogischen Lesen“ stets im Vordergrund und sollte während der Bilderbuchbetrachtung nach Möglichkeit nicht gestört werden. Die Karteikarten mit den vorab ge‐ planten Sätzen und Fragen dienen somit lediglich als Erinnerungsstütze und keinesfalls als „Drehbuch“ für die sprachlichen Interaktionen. 3 Evaluationsstudie „Dialogisches Lesen zur Unterstützung des Erwerbs grammatischer Fähigkeiten in der Kindertagesstätte (DiaGramm)“ 3.1 Ziele Im Rahmen des Projektes „Dialogisches Lesen zur Unterstützung des Erwerbs grammatischer Fähigkeiten in der Kindertagesstätte (DiaGramm)“, einer kon‐ trollierten Interventionsstudie mit Kindern im Alter von vier bis sechs Jahren unter der Leitung von Dr. Detta Sophie Schütz (Universität Bremen) und Prof. Dr. Katrin Alt (HAW Hamburg), werden derzeit die Methode des „Zielorien‐ tierten Dialogischen Lesens“ sowie zwei weitere Methoden des Dialogischen Lesens evaluiert. Ziel des Projektes ist es festzustellen, wie insbesondere auch ältere Kindergar‐ tenkinder mit Hilfe von Bilderbuchbetrachtungen effektiv in ihrem Spracher‐ werb und insbesondere in ihrem Grammatikerwerb unterstützt werden können. 3.2 Methodisches Vorgehen In dem Projekt „DiaGramm“ werden die drei folgenden Ansätze in neun Kindertagesstätten mit insgesamt 170 beteiligten Kindern über einen Zeitraum von zehn Monaten angewendet und ihre Effekte auf die Sprachentwicklung der Kinder - mit Fokus auf dem Erwerb grammatischer Fähigkeiten - erhoben und miteinander verglichen: ● Methode 1: „Zielorientiertes Dialogisches Lesen“ (Schütz 2020), ● Methode 2: Kognitive Aktivierung mittels philosophischer Fragen beim Dialogischen Lesen (Alt 2019) sowie ● Methode 3: die bereits etablierte Methode des Dialogischen Lesens mit Bilderbüchern (Hartung/ Ennemoser 2018; Whitehurst et al. 1988). Alle an der Förderung teilnehmenden Kinder sowie die Kinder der drei Kontroll‐ gruppen-Kindertagesstätten wurden im November und Dezember 2019 mittels der Verfahren ESGRAF 4-8 (Motsch/ Rietz 2016) und HAVAS 5 (Reich/ Roth 2004) getestet, um vorab ihre sprachlichen Fähigkeiten festzustellen. Außerdem kamen der Mottier-Test zur Feststellung der Kapazität des phonologischen Arbeitsgedächtnisses (Bestandteil des Züricher Lesetests, Grissemann 1981) 136 Detta Sophie Schütz sowie der non-verbale Intelligenztest SON-R 2 ½-7 (Tellegen/ Laros 2007) zum Einsatz und es wurden Daten der Kinder - beispielsweise zu Mehrsprachigkeit und Förderbedarfen - mittels eines Elternfragebogens erhoben. Die von Studierenden des Grundschullehramtes durchgeführte Förderung mittels der genannten Methoden begann im Dezember 2019. In jeder Gruppe wurde im Dezember 2019 und im Januar 2020 jeweils eine Videoaufnahme gemacht, um die Interaktionen während der Förderung zu dokumentieren. Das ursprünglich geplante Studiendesign sah vor, dass die Förderung bis einschließlich Mai 2020 fortlaufen sollte und anschließend erneut mit allen Kindern ESGRAF 4-8 und HAVAS 5 durchgeführt würden. Aufgrund der Corona-Pandemie musste die Förderung jedoch Ende März 2020 unterbrochen werden. Ende August 2020 wurde kurzfristig eine Weiterführung des Projekts ermöglicht. Die meisten Kinder wurden nun noch einmal mit ESGRAF 4-8 und HAVAS 5 getestet (leider gab es eine erhebliche Drop-Out-Quote). In fast allen Kitas konnte die Förderung sofort wieder aufgenommen werden. In den meisten Fördergruppen fand eine dritte Videoaufnahme der Interaktionen statt, bevor im Oktober 2020 das Projekt erneut aufgrund der massiv gestiegenen Corona-In‐ fektionszahlen abgebrochen werden musste. Da nicht abzusehen war, ob und wann eine Weiterführung möglich sein würde, wurde das offizielle Projektende verkündet und mit der Auswertung der erhobenen Daten begonnen. 3.3 Ergebnisse Die quantitativen Analysen der Testdaten zeigten im Anstieg der grammati‐ schen Fähigkeiten keinen signifikanten Unterschied zwischen den Kindern der Experimentalgruppen und der Kontrollgruppe. Dies war allerdings zu erwarten, da die lange Unterbrechung der Förderung (April bis August 2020) die Effektivität der Maßnahmen beeinträchtigt haben dürfte. Die Analyse der Videoaufnahmen brachte jedoch Erkenntnisse bezüglich der Wirksamkeit unter anderem des „Zielorientierten Dialogischen Lesens“: Kosmetschke (2021) transkribierte und analysierte im Rahmen seiner Masterar‐ beit die Videoaufnahmen, in denen im Dezember 2019 und im Januar 2020 die Fördersitzungen aufgezeichnet wurden. Er stellte dabei fest, dass die geförderten Kinder schon in der dritten Fördersitzung, in der das erste Video aufgenommen wurde, die Zielstruktur aktiv bildeten - und zwar alle Kinder, die sich beim „Zielorientierten Dialogischen Lesen“ aktiv am Gespräch über das Bilderbuch beteiligten. In der sechsten Fördersitzung benutzten sie die Zielstruktur im Durchschnitt bereits häufiger als in der dritten Sitzung. 46 % der Impulsfragen und 63 % der Impulsaussagen, also angefangene Sätze, die von den Kindern vervollständigt werden mussten, evozierten tatsächlich die 137 Gezielte Sprachförderung mit Bilderbüchern in der Grundschule Zielstruktur. Die Regressionsanalyse ergab zudem, dass dabei ein signifikanter linearer Zusammenhang besteht. Die Kinder begannen also sehr schnell nach Beginn der Förderung mittels des „Zielorientierten Dialogischen Lesens“ damit, die Zielstruktur, die sie vorher noch nicht erworben hatten, selbst aktiv zu bilden. Die Ergebnisse von Kosmetschke (2021) deuten in jedem Falle darauf hin, dass die Methoden des „Zielorientierten Dialogischen Lesens“ in der Praxis um‐ setzbar und zudem auch zielführend sind: Impulsfragen führen tatsächlich dazu, dass die Kinder zur Produktion der Zielstruktur angeregt werden. Außerdem zeigen die Ergebnisse, dass die Impulsaussagen, die bisher nicht Bestandteil des Förderkonzeptes waren, sogar in noch höherem Maße als Impulsfragen dazu dienen, bei den Kindern die Zielstruktur zu evozieren. Es gibt somit Grund zu der Annahme, dass es sich beim „Zielorientierten Dialogischen Lesen“ um eine Methode handelt, mit der auch ältere Kindergar‐ tenkinder effektiv in ihrem Spracherwerb - und insbesondere in dem für diese Altersgruppe besonders relevanten Grammatikerwerb - unterstützt werden können. Dass dies ebenfalls für Kinder im Grundschulalter gilt, ist zu erwarten, muss jedoch in einer separaten Studie untersucht werden. 4 Diskussion und Ausblick Der positive Einfluss von gemeinsamen Bilderbuchbetrachtungen und insbe‐ sondere des Dialogischen Lesens auf die Sprachentwicklung von Kindern ist belegt. Diese Erkenntnis bezieht sich jedoch in erster Linie auf die pragmati‐ schen und lexikalischen Fähigkeiten der Kinder, wohingegen noch nicht sicher belegt werden konnte, dass das Dialogische Lesen auch positive Effekte auf die Entwicklung grammatischer Fähigkeiten hat (siehe Ennemoser/ Hartung 2017). Erste Ergebnisse des „Litkey“-Projektes deuten allerdings darauf hin (siehe Belke et al. 2020). Vor diesem Hintergrund wird seit einigen Jahren diskutiert, wie eine Vorlesesituation gestaltet werden kann, um den Grammatikerwerb in besonderem Maße zu fördern (siehe Baldaeus et al. 2021; von Lehmden et al. 2017a; von Lehmden et al. 2017b; Schütz/ Alt 2020). Die Forscherinnen-Gruppe um von Lehmden und Müller-Brauers setzt im Rahmen des „Litkey“-Projektes bei den Bilderbüchern an und entwickelt in‐ putoptimierte Bilderbücher, in denen den Kindern die jeweils zu erlernende Zielstruktur in einer Weise präsentiert wird, die eine Entdeckung von gramma‐ tischen Regelhaftigkeiten und den Erwerb dieser Regeln begünstigt (siehe von Lehmden et al. 2017a). 138 Detta Sophie Schütz Das „Zielorientierte Dialogische Lesen“ hingegen optimiert den sprachlichen Input, den die Kinder bekommen, indem die erwachsenen Förderpersonen ihre Äußerungen bewusst gestalten. Dies ermöglicht es, das Bilderbuch relativ frei auszuwählen und die Sprachförderung mittels des „Zielorientierten Dialogi‐ schen Lesens“ in den Unterricht einzubinden. Eine entsprechende Vorbereitung der Dialogischen Lesesituation bringt zwar einen erhöhten Vorbereitungsauf‐ wand für die Förderperson mit sich, dieser relativiert sich jedoch mit zuneh‐ mender Erfahrung. Im Projekt „DiaGramm“ konnten bislang keine signifikanten Effekte des „Zielorientierten Dialogischen Lesens“ auf die grammatischen Fähigkeiten von Vorschulkindern nachgewiesen werden, da die Intervention durch die Corona-Pandemie unterbrochen wurde. Die Analysen von Videoaufnahmen aus den Fördersituationen des Projektes zeigen jedoch, dass die teilnehmenden Kinder bereits nach wenigen Fördereinheiten beginnen, die Zielstrukturen selbst zu bilden. Dies deutet auf die Effektivität der Methode hin. Die Förderung wurde im Projekt „DiaGramm“ von Studierenden des Grundschullehramtes durchgeführt. Es ist allerdings fraglich, ob das Konzept „Zielorientiertes Dia‐ logisches Lesen“ gleichermaßen für Erzieher: innen geeignet ist, da die entspre‐ chende Ausbildung nur sehr wenige Inhalte der Themenbereiche Spracherwerb, Sprachbildung und Sprachförderung enthält (siehe Schütz 2015). Untersucht werden muss daher, ob Erzieher: innen die notwendigen Kompetenzen zur Durchführung des „Zielorientierten Dialogischen Lesens“ im Rahmen einer Fortbildung vermittelt werden können. Es kann davon ausgegangen werden, dass Lehrkräfte an Grundschulen, die das Fach Deutsch (als Zweitsprache) studiert haben, über die notwendigen linguistischen Kenntnisse verfügen, um das „Zielorientierte Dialogische Lesen“ im Rahmen einer Kurzfortbildung erlernen und anschließend anwenden zu können. Derzeit befindet sich das Forschungsprojekt ‚Das Zielorientierte Dia‐ logische Lesen als Methode zur alltagsintegrierten Sprachförderung in der Grundschule (ZDL Schule)‘ in der Planungsphase, das eruieren soll, 1. in welcher Form die Methode in inklusiven Grundschulen eingesetzt werden kann, 2. welche Qualifizierungsmaßnahmen Lehrkräfte und pädagogische Mitar‐ beiter: innen in Grundschulen benötigen, um die Methode umsetzen zu können und 3. ob die Förderung positive Auswirkungen in Form einer signifikanten Verbesserung der sprachlichen Fähigkeiten der geförderten Kinder hat. 139 Gezielte Sprachförderung mit Bilderbüchern in der Grundschule Literatur Alt, Katrin (2019). Sprachbildung im philosophischen Gespräch mit Kindern. Eine empi‐ rische Untersuchung in der Vorschule. Opladen/ Berlin/ Toronto: Barbara Budrich. Alt, Katrin/ Hering, Jochen/ Reichmann, Juliane/ Witzsche, Lea (2014). Mit Bilderbüchern in die Lesewelt 2. Anregungen zur Sprach- und Erzählförderung in der Kita. 2. Begleitheft zum Programm Bücher-Kita Bremen. Senatorin für Kinder und Bildung der Freien Hansestadt Bremen. Ambridge, Ben/ Kidd, Evan/ Rowland, Caroline F./ Theakston, Anna L. (2015). The ubiquity of frequency effects in first language acquisition. Journal of Child Language 43, 239-273. Baldaeus, Annika/ Ruberg, Tobias/ Rothweiler, Monika/ Nickel, Sven (2021). Sprachbil‐ dung mit Bilderbüchern. Ein videobasiertes Fortbildungsmaterial zum dialogischen Lesen. Münster: Waxmann. Belke, Eva/ von Lehmden, Friederike/ Müller-Brauers, Claudia (2020). Specially designed children´s books and songs for training the acquisition of German gender and case. Extended abstract and poster presentation held at AMLaP 2020, Potsdam. amlap2020 .github.io/ a/ 94.pdf (last accessed: 06.08.2022) Bruner, Jerome (2002). Wie das Kind sprechen lernt. 2. ergänzte Auflage. Bern: Huber. Catts, Hugh W./ Fey, Marc/ Zhang, Xuyang/ Tomblin, J. Bruce (1999). Language Basis of Reading and Reading Disabilities: Evidence From a Longitudinal Investigation. Scientific Studies of Reading 3 (4), 331-361. Clahsen, Harald (1988). Normale und gestörte Kindersprache. Amsterdam: John Benja‐ mins Publishing Company. Dannenbauer, Friedrich M. (1999). Grammatik. In: Baumgartner, Stephan/ Füssenich, Iris (Hrsg.). Sprachtherapie mit Kindern. München: Reinhardt, 105-161. Ennemoser, Marco/ Kuhl, Jan/ Pepouna, Soulemanou (2013). Evaluation des Dialogischen Lesens zur Sprachförderung bei Kindern mit Migrationshintergrund. Zeitschrift für Pädagogische Psychologie 27 (4), 229-239. Ennemoser, Marco/ Hartung, Nils (2017). Wirksamkeit verschiedener Sprachfördermaß‐ nahmen bei Risikokindern im Vorschulalter. Unterrichtswissenschaft 45 (3),198-219. Grissemann Hans (1981). ZLT, Zürcher Lesetest. Förderdiagnostik bei gestörtem Schrift‐ spracherwerb. 5. Auflage. Bern: Huber. Hargrave, Anne C./ Sénéchal, Monique (2000). A Book Reading Intervention with Pre‐ school Children Who Have Limited Vocabularies: The Benefits of Regular Reading and Dialogic Reading. Early Childhood Research Quarterly 15 (1), 75-90. Hartung, Nils/ Ennemoser, Marco (2018). Ein Förderkonzept im Elementarbereich: Dia‐ logisches Lesen. In: Titz, Cora/ Geyer, Sabrina/ Ropeter, Anna/ Wagner, Hanna/ Weber, 140 Detta Sophie Schütz Susanne/ Hasselhorn, Marcus (Hrsg.). BiSS-Basics II: Konzeptumsetzung und -über‐ prüfung. Stuttgart: Kohlhammer, 115-127. Hasselhorn, Markus/ Sallat, Stephan (2014). Sprachförderung zur Prävention von Bil‐ dungsmisserfolg. In: Sallat, Stephan/ Spreer, Markus/ Glück, Christian W. (Hrsg.). Sprache professionell fördern. Idstein: Schulz-Kirchner Verlag, 28-39. Hering, Jochen (2016). Kinder brauchen Bilderbücher. Erzählförderung in Kita und Grundschule. Seelze: Klett/ Kallmeyer. Kosmetschke, Arne (2021). Zielorientiertes Dialogisches Lesen - Eine Sprachbildungs‐ methode zur Förderung grammatischer Fähigkeiten bei vierbis fünfjährigen Kindern in der praktischen Umsetzung. Unveröffentlichte Masterarbeit. Kraus, Karoline (2005). Dialogisches Lesen - Neue Wege der Sprachförderung in Kin‐ dergarten und Familie. In: Roux, Susanna (Hrsg.). VEP-aktuell: Bd. 5. PISA und die Folgen: Sprache und Sprachförderung im Kindergarten. Landau: Verlag Empirische Pädagogik, 109-129. Mol, Suzanne E./ Bus, Adriana G./ De Jong, Maria T./ Smeets, Daisy J. H. (2008). Added Value of Dialogic Parent-Child Book Readings: A Meta-Analysis. Early Education & Development 19, 7-26. Motsch, Hans-Joachim/ Rietz, Christian (2016). ESGRAF 4-8. Grammatiktest für 4bis 8-jährige Kinder. München: Ernst-Reinhardt-Verlag. Motsch, Hans-Joachim (2017). Kontextoptimierung. Evidenzbasierte Intervention bei grammatischen Störungen in Therapie und Unterricht. München: Ernst-Rein‐ hardt-Verlag. Reich, Hans H./ Roth, Hans-Joachim (2004). Hamburger Verfahren zur Analyse des Sprachstands Fünfjähriger - HAVAS 5. Landesinstitut für Lehrerbildung und Schul‐ entwicklung Hamburg. Riehemann, Stephanie (2020). Förderung und Therapie von Kindern mit Spracherwerbss‐ törungen durch dialogisches Bilderbuchlesen. Praxis Sprache 65 (2), 98-103. Ruberg, Tobias/ Rothweiler, Monika (2012). Spracherwerb und Sprachförderung in der Kita. Stuttgart: Kohlhammer. Schütz, Detta S. (2015). Die Effektivität der Sprachförderung ein- und mehrsprachiger Kinder in vorschulischen Einrichtungen. Eine kontrollierte Interventionsstudie zur Evaluierung des Sprachförderkonzeptes “Language Route”. Frankfurt am Main: Peter Lang. Schütz, Detta S. (2020). Zielorientiertes Dialogisches Lesen. In: Alt, Katrin/ Heche, Lea/ Hollerweger, Elisabeth/ Pieper, Mats/ Reichmann, Juliane/ Schütz, Detta S. (Hrsg.). Mit Bilderbüchern in die Lesewelt 6. Anregungen zur Sprach- und Erzählförderung in der Kita. Begleitheft zum Programm Bücher-Kita Bremen. Senatorin für Kinder und Bildung der Freien Hansestadt Bremen 214-216. 141 Gezielte Sprachförderung mit Bilderbüchern in der Grundschule Schütz, Detta S., Alt, Katrin (2020). Dialogisches Lesen zur Unterstützung des Erwerbs grammatischer Fähigkeiten in der Kindertagesstätte (DiaGramm). Eine kontrollierte Interventionsstudie mit Kindern im Alter von 4 bis 5 Jahren. In: Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete. 79. Jg. München: Ernst Reinhardt Verlag. 214-216. Sénéchal, Monique/ Pagan, Stephanie/ Lever, Rosemary (2009). Relations Among the Frequency of Shared Readingand 4-Year-Old Children’s Vocabulary, Morphological and Syntax Comprehension and Narrative Skills. Early Education and Development 19 (1), 27-44. Siegmüller, Julia/ Kauschke, Christina (2006). Patholinguistische Therapie bei Sprachen‐ twicklungsstörungen. München: Urban & Fischer. Tellegen, Peter J./ Laros, Jakob A. (2007). SON-R 2 ½-7. Non-verbaler Intelligenztest. Deutsche Standardisierung. Göttingen: Hogrefe. Tomasello, Michael (2008). Konstruktionsgrammatik und früher Erstspracherwerb. In: Fischer, Kerstin/ Stafanowitsch, Anatol (Hrsg.). Konstruktionsgrammatik I. Von der Anwendung zur Theorie. Tübingen: Stauffenburg, 19-37. Valdez-Menchaca, Marta C./ Whitehurst, Grover J. (1992). Accelerating Language Deve‐ lopment Through Picture Book Reading: A Systematic Extension to Mexican Daycare. Developmental Psychology 28 (6), 1106-1114. von Lehmden, Friederike/ Kauffeldt, Johanna/ Belke, Eva/ Rohlfing, Katharina (2013). Das Vorlesen von Kinderbüchern als implizites Mittel zur Sprachförderung im Bereich Grammatik. Praxis Sprache 58 (1), 18-27. von Lehmden, Friederike/ Müller-Brauers, Claudia/ Belke, Eva/ Belke, Gerlind (2017a). Implizite Förderung des Grammatikerwerbs mit Kinderliteratur. Begleitheft zu den Bilderbüchern „Immer anders“, „Unruhe im Zoo“, „Prinz Bärtram brummt wieder“. Baltmannsweiler: Schneider. von Lehmden, Friederike/ Porps, Lisa/ Müller-Brauers, Claudia (2017b). Grammatischer Sprachinput in Kinderliteratur - eine Analyse von Genus-Kasus-Hinweisen in input- und nicht inputoptimierten Bilderbüchern. Forschung Sprache (2), 44-61. Whitehurst, Grover J./ Falco, Francine L./ Lonigan, Christopher J./ Fischel, Janet E./ DeBa‐ ryshe, Barbara D./ Valdez-Menchaca, Marta C./ Caulfield, Marie (1988). Accelerating language development through picture-book reading. Developmental Psychology 24 (4), 552-559. Wygotski, Lew (1987). Ausgewählte Schriften Band 2: Arbeiten zur psychischen Entwick‐ lung der Persönlichkeit. Köln: Pahl-Rugenstein. Zingel, Carolin/ Kauschke, Christina (2013). Therapeutische Arbeit an der Erweiterung und Flexibilisierung von Satzstrukturen nach dem Patholinguistischen Ansatz: Ein Fallbeispiel. Sprachförderung und Sprachtherapie in Schule und Praxis 2 (1), 27-41. 142 Detta Sophie Schütz Bilderbuch-Apps im Vergleich Geschichten verstehen und erzählen mit neuen Medien im Deutschunterricht Claudia Müller-Brauers und Christiane Miosga Abstract: Bilderbuch-Apps spielen im Deutschunterricht bislang eine vergleichsweise untergeordnete Rolle, auch wenn die in der Corona-Pan‐ demie im Zuge von Homeschooling und eingeschränkten Freizeitoptionen gewachsenen Erfahrungen von Kindern mit digitalen Medien eine stär‐ kere Verknüpfung des Unterrichts mit den Mediengewohnheiten von Schüler: innen plausibel erscheinen lassen. Eine Hauptproblematik in der Anwendung von Bilderbuch-Apps im Deutschunterricht besteht in der Ermangelung von klaren Qualitätskriterien, die es basierend auf empiri‐ schen Erkenntnissen erlauben, aus einer Fülle von beziehbaren Apps eine für die Literalitätsentwicklung von Kindern förderliche Auswahl zu treffen. In dem vorliegenden Beitrag wollen wir daher ein von uns entwickeltes Modell zur Analyse von Bilderbuch-Apps vorstellen, das eine Grundlage liefert, um Bilderbuch-Apps sprachdidaktisch unter dem Gesichtspunkt rezeptiver und produktiver Erzählfähigkeiten beurteilen zu können. Anhand der modellgeleiteten Analyse von zwei beispielhaft ausgewählten Bilderbuch-Apps wollen wir zeigen, wie unterschiedlich das narrative Potential von Bilderbuch-Apps gestaltet sein kann und welche technischen Eigenschaften sich auch als hinderlich für die Förderung narrativer Fähigkeiten erweisen können. Die Analyseergebnisse dienen als Ausgangspunkt für unterrichtliche Überlegungen und werden in Hinblick auf deutsch- und inklusionsdidaktische sowie fachübergreifende Aspekte diskutiert. 1 Einleitung Durch die Corona-Pandemie hat die Mediennutzung von Kindern in einer Vielzahl von Ländern nochmals einen deutlichen Anschub erfahren (siehe Eales et al. 2021; mpfs 2020a, b; Suter et al. 2021). Aus deutschdidaktischer Sicht rücken damit einerseits die Risiken dieser Entwicklung in Bezug auf die soziale, emotionale und sprachliche Entwicklung von Kindern und Jugendlichen in den Vordergrund (Bujard et al. 2021; OECD 2021), andererseits auch didaktische Ansätze, die an die Mediengewohnheiten der Kinder gezielt anschließen wollen. Einige fachdidaktische Ansätze sehen in Bilderbuch-Apps ein besonderes Po‐ tential, die digitalen Lebenswelten von Kindern im Unterricht aufzugreifen und durch eine auf die Lernvoraussetzungen der Kinder abgestimmte interaktive Auseinandersetzung mit dem Medium Anregungen für die Literalitätsentwick‐ lung und das literarische Lernen zu geben (siehe Brunsmeier/ Kolb 2016; Miosga et al. 2021; Ritter/ Ritter 2020). Allerdings lassen sich bei der unterrichtlichen Ver‐ wendung von Bilderbuch-Apps auch interaktive Herausforderungen benennen, die aus der spezifischen Multimodalität von Bilderbuch-Apps resultieren und welche es beim Einsatz von Bilderbuch-Apps im Deutschunterricht zu beachten gilt. Entsprechend wollen wir im Rahmen dieses Beitrags zwei Bilderbuch-Apps dahin gehend diskutieren, inwieweit sie die rezeptiven und produktiven Erzähl‐ fähigkeiten von Kindern theoretisch unterstützen und welche didaktischen Möglichkeiten sie für den Einsatz im Deutschunterricht bieten. Wir konzen‐ trieren uns auf den Bereich des Erzählens, da diesem in der literalen Entwick‐ lung von Kindern eine entscheidende Bedeutung zugesprochen wird (siehe Stadler/ Ward 2005) und zu seiner Wechselwirkung mit der Rezeption digitaler Kinderliteratur bislang kaum Forschungserkenntnisse vorliegen. Bevor wir die Einsetzbarkeit der Bilderbuch-Apps im Deutschunterricht diskutieren, stecken wir den inhaltlichen Rahmen des Beitrags ab, indem wir auf die besonderen multimodalen Merkmale von Bilderbuch-Apps eingehen und verschiedene Studienergebnisse zum Vorlesen digitaler Kinderliteratur auf der Folie der kindlichen Literalitätsentwicklung zusammentragen (Kapitel 2 und 3). Kapitel 4, 5 und 6 rücken die Analyse der angesprochenen Bilderbuch-Apps auf der Basis des sog. ViSAR 2.0-Modells (siehe Müller-Brauers et al. 2021) in den Mittelpunkt und führen über in unterrichtliche Schlussfolgerungen, die aus der App-Auswertung gezogen werden (Kapitel 7). 144 Claudia Müller-Brauers und Christiane Miosga 2 Bilderbuch-Apps - Kinderliteratur digital und interaktiv erfahren Digitale Medien sind in der Lebenswelt von Kindern heutzutage selbstverständ‐ licher Bestandteil des Familienalltags (siehe z. B. Terras/ Ramsay 2016). Nach der aktuellen KIM-Studie (mpfs 2020a) hat gerade während der Corona-Pandemie ein Zuwachs in der häuslichen Nutzung von neuen Medien wie Tablets oder Smartphones stattgefunden. Mit der Emergenz digitaler Medien in der häusli‐ chen Umgebung bereits von sehr jungen Kindern (siehe Neumann 2016) geht auch ein anderes Verständnis von (Früher) Literalität einher. Der Umgang mit neuen Medien wie Tablets oder Smartphones hat gerade nicht nur während der Corona-Pandemie alltägliche Routinen und sprachliche Praktiken von Kindern und Familien stark verändert (siehe z. B. Gaudreau et al. 2020; Real/ Correro 2015; Suter et al. 2021), sondern auch neue multimodale und medienübergreifende Prozesse und Bedingungen für das sprachliche Lernen innerhalb der familialen und schulischen Lernumgebung geschaffen. Entsprechend wird in der Literatur in diesem Zusammenhang oftmals auf den Begriff der „Multiliteracy“ oder „Mul‐ tiliteracies“ referiert, der einbezieht, dass angesichts einer zunehmenden digi‐ talisierten Welt zur Literalität auch die Fähigkeit zum lernbezogenen Umgang mit digitalen Texten und Medien zählt (siehe hierzu z. B. Walsh 2017 oder Wirth et al. 2020: 107). Deutschdidaktisch gesehen, ergibt sich daraus ein besonderes Interesse an der unterrichtlichen Einbindung von neuen Medien im Bereich des Lesens (siehe hierzu z. B. Leubner 2018), literarischen Lernens (Ritter/ Ritter 2021) oder auch der Erzählförderung (Miosga et al. 2021; Müller-Brauers et al. 2021). Während digitale Literaturformate wie E-Books bei Kindern nach wie vor wenig populär sind und auch während der Corona-Krise keinen Aufwind als Medium außerschulischer Lesepraxis erfahren haben (siehe mpfs 2020b), erscheinen Bilderbuch-Apps v. a. für den Grundschulunterricht im hohen Maße anschlussfähig (siehe Ritter/ Ritter 2020). Der Begriff Bilderbuch-App beschreibt einen besonderen Typus eines digital aufbereiteten Buches und steht zugleich für eine Applikation, die in verschie‐ denen App-Stores zur kommerziellen Nutzung auf Tablets und Smartphones heruntergeladen werden kann (Sargeant 2015: 459). Von anderen digitalen Formen der Kinderliteratur wie z. B. E-Books sind Bilderbuch-Apps insofern abzugrenzen, als dass sie nicht „[…] digitale Entsprechungen gedruckter Bücher […]“ (Leubner 2018: 188) sind, „[…] die an Konventionen des Buchdrucks angelehnt [sind] (z. B. Inhaltsverzeichnis, Seiten mit Seitenzahlen, Satzspiegel in ‚Buchform‘, z. B. Blocksatz)“ (ebd.: 188), sondern ein hohes Maß an medien‐ bezogener Interaktivität bereithalten. Durch ihre verschiedenen interaktiven Features sprechen Bilderbuch-Apps sowohl die visuelle als auch auditive Wahr‐ 145 Bilderbuch-Apps im Vergleich nehmung an und kombinieren verschiedene semiotische Systeme (siehe auch Stichnothe 2014). So ist etwa die für Bilderbücher distinktive Text-Bild-Relation (siehe Staiger 2019; Thiele 2000) bei Bilderbuch-Apps durch visuelle und auditive Animationen (animierte Bilder, Töne, Musikelemente, Geräusche) unterstützt, die von dem/ der Nutzer: in (Vorleser: in, zuhörendes Kind, Leser: in) über das Touchpad betätigt werden können (siehe Serafini et al. 2016). Diese können z. B. eine atmosphärische Funktion haben, Spannungselemente und Emotionen im Handlungsverlauf der Geschichte aufbauen oder auch nur weitere Informa‐ tionen zum Inhalt liefern (siehe Stichnothe 2014). Ritter (2016, 2019) differenziert zwei unterschiedliche Bilderbuch-App-Typen: a. Bilderbuch-Apps, die auf der Grundlage eines bereits bestehenden Bilderbuchs in Printversion entwickelt wurden („Sekundärverarbeitung“, ebd.: 12), b. Bilderbuch-Apps, die einer ana‐ logen Vorlage entbehren und direkt für die digitale Nutzung hergestellt wurden („Primärproduktionen“, Ritter 2019: o.S.)) (im Sinne eines genuin digitalen Texts, siehe hierzu auch Sargeant 2015; Schwebs 2014; Stichnothe 2014). Zu den kennzeichnenden technischen Eigenschaften von Bilderbuch-Apps zählen sog. „Hotspots“, konstant oder intervallbezogene Einblendungen von Symbolen, die zur Aktivierung von animativen auditiven und visuellen Ele‐ menten wie Bewegungen oder Geräuschen auffordern oder weitere Inhalte präsentieren (Serafini et al. 2016: 511). Bilderbuch-Apps können als digitale Umsetzung ergodischer Literatur zudem Möglichkeiten eröffnen, sich aktiv bei der Strukturierung und Gestaltung einer Erzählung einzubringen, z. B. durch die Variation von Protagonist: innen oder technisch angeleitete Eingriffe in das Handlungsgeschehen (siehe Aarseth 1997; Stichnothe 2014). Dadurch vergrö‐ ßern sich nicht nur die Handlungsmöglichkeiten des/ der Nutzer: in (siehe Stich‐ nothe 2014). Auch können Einsichten in das Erzählschema des narrativen Texts wie auch literarische Perspektiven, z. B. auf die beteiligten Figuren, eröffnet werden (siehe Brunsmeier/ Kolb 2016). Zugleich können Bilderbuch-Apps auch mit Spielelementen verbunden sein. So werden z. B. bei der App Kleiner Eisbär - Wohin fährst du? (Oetinger GmbH) zu den verschiedenen Handlungsorten und Protagonist: innen thematisch passende Spiele (z. B. Fischesammeln mit dem Orka oder dem Adler Drago) angeboten. „Damit rücken [Bilderbuch-Apps] auch in die Nähe der Spielsoftware, indem narrative und ludische Strukturen und 146 Claudia Müller-Brauers und Christiane Miosga 1 Zu den weiteren Features von Bilderbuch-Apps können u. a. eine Aufnahme- und Kamerafunktion, verschiedene Sprachfunktionen, Zoom-Optionen, 3D-Darstellungen, Ein- und Ausblendungen von Textteilen oder Elemente von „Augmented Reality“ sein, die Transferprozesse zwischen digitalen Inhalten und Realität stattfinden lassen (siehe hierzu z. B. Knopf 2018). 2 Kursive Hervorhebung im Original. 3 Kursive Hervorhebung im Original. Elemente miteinander kombiniert werden und mitunter im Zusammenspiel die Handlungen hervorbringen“ (Ritter/ Ritter 2020: 30). 1 Durch die spezifische Multimodalität von Bilderbuch-Apps ergeben sich für Kinder zugleich neuartige Möglichkeiten im Bereich des literarischen und nar‐ rativen Lernens. Ritter (2019) und Knopf (2018) sprechen demgemäß von einem „Literarische[n] Format der multimodalen und sequenziellen Bild-Text-Narra‐ tion […]“ (Ritter 2019: o.S.), mit dem „[…] neue Konstruktionsmöglichkeiten des literarischen Textes und neue Interaktionsmöglichkeiten mit den Rezipienten, also den Kindern, entstehen“ (Knopf 2018: 25). 2 Für den Vorleseprozess bei deaktivierter Sprecherstimme bedeutet dies eine besondere Konstellation. Der an sich beim Vorlesen bereits gegebene komplexe Interaktionsprozess wird durch die Multimodalität der App gesteigert. So verändert das interaktive Po‐ tential der App die Vorlesesituation gegenüber analogen Settings dahingehend, dass multimodale Aktivitäten zwischen allen drei Elementen der Vorlese-Trias stattfinden können: Vorleser: in und Kind(er) interagieren untereinander im Dialog und durch haptische Aktivitäten mit den interaktiven Animationen der Bilderbuch-App. „Certainly, with book app content, users can physically interact with it by tapping, touching or swiping the touchscreen, or by tilting or shaking the hardware device itself ” (Sargeant 2015: 461). Damit wird der/ die Vorlesende wie auch das Kind zugleich zum/ zur Nutzer: in der App: „The reader becomes the user: people read ebooks, whereas they use book apps“ (Sargeant 2015: 461). 3 Es kommt folglich zu einer mehrfach gelagerten Interaktion, die sowohl für die Sprachvermittlung als auch -rezeption spezifische Bedingungen generiert. 3 Sprachlich-literales Lernen und Interagieren mit Bilderbuch-Apps Die spezifische Multimodalität von Bilderbuch-Apps scheint je nach Literali‐ tätsbereich eine unterschiedliche Rolle zu spielen. Während Untersuchungen positive Effekte etwa für die Wortschatzentwicklung berichten (siehe z. B. Zipke 2017), ist die Forschungslage in Bezug auf die Erzählentwicklung von Kindern noch recht diffus. So schnitten in Studien von Miosga (2020) und Parish-Morris et al. (2013), die das Geschichtenverständnis von dreijährigen Kindern im 147 Bilderbuch-Apps im Vergleich analogen und digitalen Vorlesesetting auf der Basis identischer Geschichten kontrastiv untersuchten, in der digitalen Bedingung signifikant schlechter als in der analogen ab. Als hinderlich für das Verstehen der Geschichten erwiesen sich dabei v. a. Hotspots, da diese sowohl erwachsene Vorlesende als auch die Kinder im starken Maße von der Geschichte ablenkten und damit zu schlechteren Bedingungen für den kindlichen Verstehensprozess beitrugen. Dies spiegelte sich darin, dass in der digitalen Bedingung inhaltsbezogene Sprachhandlungen von operativen, auf die Anwendung des Mediums abzie‐ lenden Sprachhandlungen überlagert und ein hohes Maß der Interaktion auf die Anwendung des Mediums verwendet wurde, was zugleich zu einer verlän‐ gerten Lesedauer und womöglich auch zu einer Verkürzung der kognitiven Aufnahmekapazität des Kindes als Basis für das inhaltliche Durchdringen der Geschichte führte. Zudem zeigte sich in der Studie von Miosga (2020), dass die spracherwerbsförderlichen Prozesse der emotionalen Abstimmung („communing attunement“, Stern 2000) und des langanhaltenden gemeinsamen Denkens („Sustained shared thinking“, Siraj-Blatchford 2007) in der Interaktion mit der Bilderbuch-App sehr viel weniger stattfanden als in der Interaktion mit dem klassischen Bilderbuch. Auch die für das sprachliche und literale Lernen zentralen Momente „gemeinsamer Aufmerksamkeit“ („joint attention“, Tomasello 1995, 2009) richteten sich mehr auf die Technik und deren Bedienung als auf die eigentliche Geschichte, gemeinsame Themen oder Emotionen der Kinder. Diesen Forschungsberichten gegenüber stehen Studien wie jene von Zhou und Yadav (2017), die weniger klare Ergebnisse zwischen den einzelnen Settings berichten bzw. das Potential interaktiv animierter digitaler Geschichten für das Geschichtenverständnis, die Leseförderung und -motivation bei älteren Kindern hervorheben (siehe Brunsmeier/ Kolb 2017; Kao et al. 2016). Allerdings zeigt sich auch in Studien mit Grundschulkindern, dass dieses Potential nur greift, wenn die interaktiven Elemente, die motivierend wirken, gleichzeitig nicht zu ablenkend sind (siehe Linke et al. 2017). Son et al. (2020) konnten zudem zeigen, dass die Art der interaktiven Funktionen, die sich auf die Geschichte beziehen, unterschiedliche Teilleistungen des Leseverstehens („Erinnern“ vs. „Schlüsse ziehen“) unterstützen können. Interaktive Animationen, die sich explizit auf die Geschichte beziehen, stellten sich in ihrer Untersuchung vor allem bei jüngeren Kindern als förderlich heraus, während solche, die implizit auf die Geschichte referieren, vor allem bei Leser: innen mit fortgeschrittenen Kenntnissen Impulse für den Bereich „Schlüsse ziehen“ lieferten. Für die Frage, inwieweit sich Bilderbuch-Apps grundsätzlich für den Einsatz in heterogenen Lerngruppen im Grundschulunterricht eignen, ist folglich, neben anderen Aspekten wie Medien- und Literaturerfahrung der Lernenden, „Visual 148 Claudia Müller-Brauers und Christiane Miosga Literacy“ (Dehn 2014) oder Alter, einerseits die qualitative Beschaffenheit des Mediums als ein wichtiger Faktor einzubeziehen, andererseits die Rezeptionssi‐ tuation selbst bzw. das interaktive Zusammenspiel zwischen digitalem Medium, Vorleser: in/ Leser: in und Rezipient: in/ Kind. In Bezug auf die Materialität der App scheint v. a. das Verhältnis der Animationen zur Erzählebene des Textes nicht unwesentlich zu sein. So geht Kucirkova (2019) davon aus, dass für die Frage, inwieweit bei der Rezeption von Bilderbuch-Apps für Kinder ein Mehrwert in Bezug auf das sprachliche und literale Lernen besteht, es relevant ist, inwieweit die integrierten Animationen in einem kongruenten oder inkon‐ gruenten Verhältnis zur Erzählebene stehen. Sie nimmt an, dass Inkongruenz der Animationen mit kognitiven und audio-visuellen Anforderungen einhergehen, die die kognitiven Kapazitäten des Kindes für das Verstehen der Geschichte minimieren würden (siehe auch Brunsmeier/ Kolb 2017; Bus et al. 2015). Der Qualität einer App kann, so ist anzunehmen, folglich eine entscheidende Rolle bei der Frage zugesprochen werden, inwieweit Kinder auch vom Vorlesen digital aufbereiteter Literatur in Hinblick auf ihre Literalitätsentwicklung pro‐ fitieren können. So weisen auch Ritter und Ritter (2021) darauf hin, dass die mediale Beschaffenheit eines kinderliterarischen Werkes unmittelbar Einfluss auf die Gesprächsstruktur des Vermittlungshandelns in Vorlesegesprächen hat und damit eine divergente, aber nicht minder reichhaltige Grundlage für das literale Lernen liefern kann, so dass eine pauschalisierende Gegenüberstellung von analogen und digitalen Vorlese-/ Lesesettings wenig weiterführend ist. Vielmehr erscheint es uns zielführender, einen analytischen Blick auf das Medium selbst zu werfen, um daraus Folgerungen für die deutschdidaktische und unterrichtliche Eignung einer Bilderbuch-App zu ziehen. Entsprechend untersuchen wir basierend auf einem von uns entwickelten Modell der Bilder‐ buch-App-Analyse (das „ViSAR2.0-Modell“) im Folgenden zwei exemplarisch ausgewählte Apps danach, inwieweit sie rezeptive und produktive Erzählfähig‐ keiten aus theoretischer Sicht unterstützen können. 4 Das ViSAR2.0-Modell Um Animationen von Bilderbuch-Apps dahingehend beurteilen zu können, in‐ wieweit sie mit dem Handlungsgeschehen in der Geschichte stimmig verbunden sind oder inwieweit sie Narrationsmuster und den typischen Aufbau von Er‐ zählungen der Kinderliteratur visuell und/ oder auditiv herausstellen, haben wir das sog. ViSAR2.0-Modell zur Analyse von Bilderbuch-Apps entwickelt (siehe Müller-Brauers et al. 2021). Das VISAR2.0-Modell sieht im Wesentlichen vier 149 Bilderbuch-Apps im Vergleich 4 Das ViSAR2.0-Modell ist aus dem „ViSAR-Modell“ (Müller-Brauers et al. 2020b) hervor‐ gegangen und integriert die Bereiche des Symbol- und Handlungsfelds. 5 Im Falle von Bilderbuch-Apps müssen hier gleichsam multimodale Aspekte wie Geräu‐ sche, Töne etc. mitgedacht werden. unterschiedliche Ebenen der analytischen App-Betrachtung vor, 4 die in einer wechselseitigen Beziehung zueinanderstehen und einerseits im literarisch-äs‐ thetischen Symbolfeld (Medium App/ fiktionale Welt) (nach Ewers 2000; Gansel 2010), andererseits im Handlungsfeld (Rezeptionssituation, faktisch-empirische Welt) lokalisiert sind (siehe hierzu ausführlich Müller-Brauers et al. 2021). Als erstes ist das visuelle Level zu nennen, in denen die fünf Dimensionen der Bilderbuchanalyse nach Staiger (2019) verankert sind (narrativ, verbal, Bild-Text-Relation (intermodal), paratextuell, materiell). 5 Die zweite Ebene ist das animative Level. Hierunter fallen die unterschiedlichen auditiven und visuellen Animationen einer App, die zusätzlich zu ihrer Form (auditiv, visuell oder auditiv und visuell in Kombination) nach der Art ihrer ● Aktivierung und ihres interaktiven Aufforderungscharakters/ Affordanz (siehe Schwebs 2014): automatisch (z. B. Hintergrundmusik); manuell (ver‐ steckt oder getriggert über Hotspots) ● Ergodik (siehe Aarseth 1997): Integration mehrerer Entscheidungsmöglich‐ keiten innerhalb der Erzählung ● Frequenz: einmalig, wiederholbar, konstant ablaufend differenziert werden können. 150 Claudia Müller-Brauers und Christiane Miosga Abb. 1: Das ViSAR2.0-Modell (Müller-Brauers et al. 2021: 6) Des Weiteren können auf dieser Ebene Animationen nach ihrer Funktion unterschieden werden. Wir distinguieren dabei zwischen narrativen und illus‐ trativ/ atmosphärischen Animationen (siehe z. B. auch Bus et al. 2015). Mit Letzteren sind Animationen gemeint, die keinen unmittelbaren inhaltlichen Bezug zur Geschichte aufweisen, sondern primär dazu dienen, den Raum der Handlung auszuschmücken, zu beleben oder mit einer bestimmten Stimmung oder Atmosphäre zu versehen (z. B. Geräusche des Waldes). In Opposition stehen dazu Animationen, die an den Erzähltext auf unterschiedliche Weise angebunden sind, d. h. auf die eigentliche Geschichte bezogen sind. Dabei differieren wir danach, ob die Animationen grundsätzlich auf die Geschichte re‐ ferieren und in welcher Weise (z. B. kongruent, sinnhaft (siehe Kucirkova 2019)) 151 Bilderbuch-Apps im Vergleich 6 Dabei können illustrativen Animationen in der Interaktion allerdings auch eine narra‐ tive Funktion zugewiesen werden (und umgekehrt), zum Beispiel, wenn illustrative Animationen genutzt werden, um Elemente des Erzählschemas hervorzuheben. Im Modell ist diese Option symbolisiert durch einen Doppelpfeil mit zwei Spitzen. 7 Audiofunktionen, die in Bilderbuch-Apps alternativ zum Lesemodus angeboten werden und eine Hörversion der Geschichte darstellen. Dabei können die Stimmen verschie‐ dener Sprecher: innen mit unterschiedlichen stimmlichen Eigenschaften zum Einsatz kommen, teils auch mit einblendbaren Textteilen, bei denen singuläre Wörter farblich zeitlich parallel zur Lesegeschwindigkeit des Hörtextes markiert werden. Auch die eigene Stimme kann bei einigen Apps durch eine Aufnahme-Funktion die Vorlesefunk‐ tion übernehmen. und inwiefern die Animationen das Erzählschema des Textes hervorheben. 6 Daraus ergeben sich im Wesentlichen zwei Analysebereiche: a. Untersuchung des intermodalen Zusammenspiels nach Thiele (2000: 78 f.) zwischen animativen und visuellen Level und dem Sprecher/ Erzähler innerhalb des Symbolsystems: ● „parallel“ - stimmige, passende Korrelation von Text und animierten Bild/ Ton ● „kontrapunktisch“ - nicht stimmige, inkonsistente Korrelation von Text und animierten Bild/ Ton ● „komplementär“ („geflochtener Zopf “) - komplementäre Korrelation von Text und animierten Bild/ Ton b. Sequenzierung der Story/ histoire (siehe hierzu z. B. Staiger 2019) nach Be‐ standteilen des zugrundeliegenden Erzählschematas Darüber hinaus unterscheiden wir im Modell nach dem Sprecher/ Erzähler  7 (dritte Ebene) und der Rezeptionssituation (vierte Ebene), die es ermöglicht, empirisch analysieren zu können, inwiefern es zu einer Wechselwirkung zwi‐ schen der App (Symbolsystem) und den kindlichen Lernprozessen innerhalb realer Interaktionskontexte (Handlungssystem), etwa im Bereich des narrativen Lernens, kommt. Damit kann z. B. nicht nur modellgeleitet erfasst werden, inwieweit die Kinder auf der Basis des interaktiven Zusammenspiels zwischen Vorleser: in und Kind(ern) bzw. Vorleser: in/ Kind(ern) und App in der Lage sind, die Inhalte der Geschichte inhaltlich zu erfassen, den Aufbau der Geschichte zu verstehen oder Erzählmuster zu internalisieren (rezeptive Erzählfähigkeiten), sondern inwieweit sie auch strukturelle Merkmale des im Text integrierten Erzählschemas für die eigene Sprachproduktion, etwa beim Nacherzählen der Geschichte, nutzen können (produktive Erzählfähigkeiten). Unter rezeptiven Erzählfähigkeiten fassen wir demnach hier die Fähigkeit von Kindern, auf der Basis der ko-konstruierten Vorleseinteraktion zwischen Kind, Medium 152 Claudia Müller-Brauers und Christiane Miosga 8 Es erfolgte eine Kontrolle der Kodierung der Apps durch mehrere Mitarbeiter: innen des Projektteams, dabei wurden Zweifelsfälle im Team diskutiert. Die Kodierung wurde anhand eines Kodierleitfadens durchgeführt, dieser ist bei Müller-Brauers et al. (2020a) mit Kodierbeispielen einsehbar. und Vorlesendem und dem individuellen Vorwissen aus ihrer sprachlichen Sozialisation nicht nur die zentralen Inhalte der Geschichte wiedergeben zu können, sondern den typischen Handlungsaufbau einer Erzählung erfassen, generalisieren, typische Strukturmerkmale, Muster und sprachliche Mittel von Erzählungen internalisieren sowie sich in die Absichten und Emotionen der Protagonist: innen eindenken zu können. Wir schließen damit an Konzepte des literarischen Verstehens an (siehe Boelmann/ König 2021) und gehen zugleich theoretisch einen Schritt weiter als Studien, die das Geschichtenverständnis mit der Fähigkeit zur inhaltlichen Wiederholung der Geschichte und chrono‐ logischen Anordnung der Handlungsabfolgen gleichsetzen (siehe z. B. Krcmar/ Cingel 2014; Parish-Morris et al. 2013). In Hinblick auf die Analyse von produktiven Erzählfähigkeiten im Handlungs‐ feld orientieren wir uns einerseits an konversationsanalytische Ansätze in der Erzählforschung, die neben den „Minimalbedingungen von Ungewöhnlichkeit“ (siehe Quasthoff 1980: 27) die ko-konstruierte Charakteristik von Erzählungen zwischen dem Erzähler und den Interaktanten innerhalb des Erzählprozesses herausstellen (siehe Quasthoff 2001). Andererseits berücksichtigen wir die verschiedenen Genres des Erzählens und sehen Nacherzählungen wie Becker (2011) am idealtypischen Pol des Erzählens, bei denen narrative Mittel und Gattungsmerkmale der literarischen Vorlage Kindern häufig als sprachliche Bausteine und Diskursmuster für die Produktion eigener Erzählungen dienen (siehe auch Müller-Brauers et al. 2017). 5 Zwei Bilderbuch-Apps im Vergleich Um explorativ der Frage nachzugehen, inwieweit sich bestimmte Bilder‐ buch-Apps für den Grundschulunterricht aus dieser Perspektive eignen, wollen wir uns im Folgenden auf die animative Ebene des Modells konzentrieren und die dort genannten Parameter (Form, Aktivierung/ Affordanz, Frequenz, Funktion) auf zwei beispielhafte Bilderbuch-Apps (Sieben grummelige Grömmels und ein kleines Schwein (Oetinger GmbH) und Paul und seine Freunde (Nudge GmbH) anwenden. 8 Beide Apps behandeln das Thema Freundschaft und können für Kinder im frühen Grundschulalter thematisch als geeignet eingeschätzt werden. In der App Sieben grummelige Grömmels und ein kleines Schwein geht 153 Bilderbuch-Apps im Vergleich 9 Nachfolgend abgekürzt mit Grömmels 10 Nachfolgend abgekürzt mit Paul 11 Prozentwerte gerundet es, 9 wie der Titel bereits erahnen lässt, um ein kleines Schwein, das sich in das Haus der sieben grummeligen Grömmels begibt und sich dort neugierig umsieht. Die Grömmels sind zunächst wenig begeistert von dem grunzenden Hausgast, schließen aber das kleine Schwein zunehmend in ihr Herz, vor allem nachdem es ihnen aus einer misslichen Lage geholfen hat. In der App Paul und seine Freunde geht es hingegen um eine Maus, 10 die eines Tages einen Rucksack findet und sich auf eine Abenteuerreise begibt, um den Rucksack mit Schätzen zu befüllen. Ihre Reise verläuft aber nicht so, wie die Maus sich diese vorgestellt hat, denn sie trifft auf ihrer Reise verschiedene Tiere, die in einer Notlage sind und Hilfe benötigen. Statt Schätze zu sammeln entschließt sich die Maus den Tieren zu helfen. Am Ende der Reise ist ihr Rucksack weiterhin leer, denn die Maus hat vor lauter Rettungstaten ganz vergessen, die Schätze einzusammeln, aber das Herz der Maus ist gefüllt mit lauter neuen Freunden. Die folgenden Tabellen (siehe Tab. 1-4) geben einen Überblick zur Auswertung der beiden Apps nach den Kriterien Form, Aktivierung, Frequenz und Funktion.  11 Grömmels Paul Gesamt 87 546 Auditive Animationen 17 % 2 % Visuelle Animationen 18 % 60 % Auditiv-visuelle Animationen 64 % 38 % Tab. 1: Form der Animationen Grömmels Paul Gesamt 87 546 Automatisch 33 % 21 % Versteckt 2 % 74 % Hotspot 64 % 5 % Tab. 2: Aktivierung der Animationen 154 Claudia Müller-Brauers und Christiane Miosga Grömmels Paul Gesamt 87 546 Einmalig 14 % 7 % Wiederholbar 55 % 74 % Konstant 31 % 18 % Tab. 3: Frequenz der Animationen Grömmels Paul Gesamt 87 546 Narrativ 62 % 88 % Illustrativ/ atmosphärisch 38 % 12 % Tab. 4: Funktion der Animationen Die vergleichende Darstellung zeigt, dass es deutliche Unterschiede zwischen den beiden Apps gibt. Dies betrifft v. a. die Gesamtzahl der Animationen und den Anteil auditiver Features und visuell getriggerter Animationen (Hotspots) (siehe Tab. 1, 2). So hat die App Paul deutlich mehr Animationen, was v. a. mit dem iterativen Auftreten der verschiedenen Protagonist: innen innerhalb des Handlungsverlaufs erklärbar ist. So bleiben die Animationen der einzelnen Figuren, die Paul auf seiner Reise trifft, erhalten und können auf den einzelnen Seiten immer wieder angeklickt werden. Allerdings weist die App Paul deutlich weniger auditiv animierte Elemente auf (2 % vs. 17 % (Grömmels) bzw. 38 % vs. 64 % (Grömmels) im Falle der auditiv-visuellen Animationen). Zudem sind in der App Paul deutlich weniger Hotspots integriert (5 % vs. 64 % (Grömmels)). Auch ist der Anteil der Animationen, die mit dem narrativen Text korrespondieren, bei der App Paul höher (88 % vs. 62 % (Grömmels)). Betrachtet man einmal näher, in welchem konkreten Verhältnis die Animationen der beiden Apps zur Erzählebene stehen, d. h. ob sie Informationen im Text hervorheben (parallel), komplementär zu den Inhalten des Erzähltextes angelegt sind oder mit diesen sogar konfligieren (kontrapunktisch), fällt auf, dass die Mehrheit der Anima‐ tionen in beiden Apps in einer symmetrisch-parallelen Relation zum Erzähltext stehen, d. h. die Inhalte der Erzählung hervorheben. Allerdings weist die App Paul einen deutlich höheren Anteil narrativ-symmetrischer Animationen hinsichtlich der Gesamtzahl der Animationen auf (59 % bei Grömmels, 91 % bei Paul), was im Zusammenhang mit einem Überhang illustrativer Animationen in 155 Bilderbuch-Apps im Vergleich 12 Zu Beispielen komplementärer und kontrapunktischer Animationen siehe Müller-Brauers et al. (2020a, 2020b, 2021). 13 Zur theoretischen Begründung der modellbezogenen Auswahl dieses Erzählschematas siehe Müller-Brauers et al. (2021). der App Grömmels steht. Komplementäre und kontrapunktische Animationen treten in beiden Apps nur wenige auf. 12 Bezüglich der Frage, inwieweit das Erzählschema des Textes durch die Anima‐ tionen unterstrichen werden, lassen sich ebenfalls Unterschiede zwischen den Apps ausmachen. Wir beziehen uns in unserer Analyse auf das Erzählschema nach Labov/ Waletzky (1967), das folgende Teilkomponenten des Narrativen unterscheidet: Abstract (Themenvorstellung), Orientierung, Komplikation, Eva‐ luation, Resolution und Coda (Abschluss, fokussierte Rekapitulation). 13 Aus Platz‐ gründen beschränken wir uns hier auf die Analyse der Animationen in der Orientierung, der Komplikation und Resolution der Geschichte. Orientierung Zu Beginn der Erzählung der App Paul werden zunächst Informationen (tex‐ tuell/ bildlich) zu dem zentralen Protagonisten Paul gegeben wie auch zum Ort der Handlung. Diese werden unterstützt durch auditive und visuelle Ani‐ mationen, die einerseits die charakteristischen Merkmale und Handlungen von Paul hervorheben (z. B. Paul hatte zwei riesige Ohren) (siehe Abb. 2), andererseits den Ort des Erzählens verdeutlichen (visuell/ auditiv animierte Tiere und Hintergrundgeräusche des Waldes). 156 Claudia Müller-Brauers und Christiane Miosga 14 Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Jörg Salamon (Nudge GmbH) und Annika Hahn. Abb. 2: Orientierung in der App Paul und seine Freunde, Version 1.0.1 (nudge GmbH) 14 Auch in der App Grömmels sind, als das Schwein das Haus der Grömmels betritt, auditive und visuelle Animationen integriert, die eine Orientierung in Bezug auf das folgende Handlungsgeschehen ermöglichen. So wird der Hauptprotagonist, das Schwein, durch einen zu aktivierenden Hotspot besonders herausgestellt, dessen Aktivierung das Schwein in das Haus der Grömmels eintreten lässt (Text: „Eines Nachts ging ein kleines Schwein in ein Haus hinein“). Auch wird eine weitere Figur der Geschichte, der kleinste Grömmels, der ebenfalls über einen Hotspot aktiviert werden kann, animativ hervorgehoben. Illustrative Animationen, die eine spezifische Stimmung generieren, liegen nicht vor. Zwar ist eine versteckte illustrative Animation integriert, deren Auslösen zu einem Herunterfallen eines Schlüssels von der Wand führt, doch hat diese keine atmosphärische Funktion. Hingegen kann die Animation eines Hundes (wedelnder Schwanz) als illustrative Animation angesehen werden, die zwar für die folgende Handlung keine Rolle spielt, aber insofern nähere Information 157 Bilderbuch-Apps im Vergleich 15 Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Jörg Salamon (Nudge GmbH) und Annika Hahn. zum Handlungssetting gibt, als dass damit indiziert wird, dass zur Familie der Grömmels auch ein Hund gehört. Komplikation In der App Paul tritt die Komplikation der Handlung ein, wenn es Paul, als er am Abend nach Hause kommt, auffällt, dass sein Rucksack immer noch leer ist und er keine Schätze gesammelt hat (siehe Abb. 3). Abb. 3: Komplikation in der App Paul und seine Freunde, Version 1.0.1 (nudge GmbH) 15 Auch hier haben die integrierten Animationen wieder eine erzählschemaunter‐ streichende Funktion. Pauls Traurigkeit wird untermalt durch eine konstant ablaufende Animation seiner fließenden Tränen. Die Dramatik der Situation, die für Paul unverhofft eintritt, wird verstärkt durch eine auditiv und visuell animierte inszenierte Abendkulisse, die das Ende von Pauls Reise im zeitlichen Geschehen markiert. So können verschiedene Sterne angetippt werden, die 158 Claudia Müller-Brauers und Christiane Miosga aufblinken und eine Abendmelodie abspielen. Sie verstärken die Gefühle Pauls und machen seine Verzweiflung darüber deutlich, dass seine Reise vorbei ist und er keine Möglichkeit mehr hat, Schätze zu suchen. Bei der App Grömmels kommt es zu einer Komplikation der Handlung, wenn die Grömmels das kleine Schwein fressen wollen. Die dramatische Situation wird durch narrative Animationen hervorgehoben, die in einem symmetrischen Verhältnis zum Text stehen und die Rede der Figuren wiedergeben. So leitet ein Hotspot zu einer Animation, die durch Betätigung die direkte Rede „Soll ich es fressen? “ in dem Textabschnitt „Soll ich es fressen? “, fragte er. „Alleine frisst du es nicht, das sag ich dir“ auditiv durch eine furchterregende Stimme des größten Grömmels und visuell durch parallele Mundbewegungen wiedergibt. Das nahende Ende des Schweins wird außerdem durch eine automatische Animation der Hand des größten Grömmels markiert, die das sich darauf befindende Schwein gefährlich zum Maul des Grömmels führt. Ergänzt wird diese Szenerie durch die Animation des Hundes, der nach Anklicken über einen Hotspot angesichts der leckeren Speise bereits ungeduldig zu hecheln beginnt. Hier hat eine an sich illustrative Animation, die im Handlungsverlauf keine Rolle spielt, die Funktion, das Erzählschema zu unterstreichen. Resolution Nach Pauls Traurigkeit und Verzweiflung kommt es zu einer Auflösung der Ereignissequenz, indem eine großflächige, mehrgliedrige, auditiv-visuelle Ani‐ mation nach Aktivierung eines Hotspots freigesetzt wird, die alle Tiere zeigt, denen Paul auf seiner Reise geholfen hat. Diese Animation führt über in eine Schlussszene, in denen die beteiligten Figuren bei einem gemeinsamen Abendfest nochmal in ihren animativ markierten Eigenschaften erscheinen und spielerische Aktivitäten ausführen, die ebenfalls auditiv-visuell animiert sind. In der App Grömmels fungieren die Animationen ebenso als technisches Mittel, um die Emotionen der Figuren hervorzuheben. Hierfür wird z. B. die auditiv-visuelle Animation (Stimme und Mundbewegungen) der direkten Rede in dem Satz Du hast aber prächtige Zähne in dem Textabschnitt Du hast aber prächtige Zähne“, sagte es. Und schon lächelte der Grömmel, denn jetzt freute er sich. genutzt. Die Stimme der Figur des Schweines wirkt freundlich und versöhnlich, so dass ein Kontrast zur schaurigen Stimme des Grömmels auf der Seite zuvor entsteht. Zugleich ist die Animation mit einer weiteren, visuellen Animation des Grömmels verknüpft (Mehrgliedrigkeit), die die Emotionen des großen Grömmels herausstellt und zeigt, wie seine Gesichtszüge aus Freude und Zuneigung zum Schwein weich werden und seine Wangen erröten. Die sukzessive sich ins Positive verkehrenden Gefühle der Grömmels für das 159 Bilderbuch-Apps im Vergleich 16 Z. B. Schwein schaut sich im Spiegel an. 17 Z. B. summende, umherschwirrende Fliegen, an der Wand krabbelnde Marienkäfer, quietschende Enten. kleinen Schwein werden in dem Moment zu einer echten Freundschaft, als das Schwein die Grömmels vor einem bedrohlichen Monster rettet, indem es den großen Grömmel auf die Idee bringt, auch dieses durch eine freundliche und versöhnliche Art zu besänftigen (Resolution). Hierfür wird ebenfalls die auditiv-visuelle Animation (Stimme und Mundbewegungen des Grömmels) der direkten Rede in dem Satz Du hast aber große Krallen. Mit denen kannst Du Dich bestimmt gut kratzen genutzt. Die zitternde Stimme der Figur des Grömmels spiegelt zunächst noch seine Furcht wider. Die versöhnliche Wirkung seiner Worte zeigt sich in dem Textabschnitt Das Monster guckte verdutzt: „Na ja, schon. Nur am Rücken nicht“, maulte das Monster. „Und gerade da juckt es immer so. Auf der nächsten Seite ist das animierte Bild der kratzenden Grömmels und des sich ankuschelnden, kichernden Schweins mit weiteren, visuellen und auditiven Animationen des Monsters verknüpft, die die Emotionen des Monsters herausstellen (wohliges hmm, oh, ah und weiche Schaukelbewegungen) und seine Freude und Zuneigung zu den Grömmels und dem Schwein zeigen. 6 Zusammenfassung und Diskussion Betrachtet man einmal die obigen Analyseergebnisse in der Zusammenschau, so ist zu erkennen, dass die App Grömmels grundsätzlich über ein nicht unerhebliches narratives Potential verfügt. So gibt die App über die Art, wie ihre Animationen gestaltet sind, durchaus Hilfestellungen, um den Aufbau der Er‐ zählung zu erkennen oder sich in die Absichten, Gefühle und charakteristischen Eigenschaften der Protagonist: innen hinein zu denken und ihre Beziehung zueinander zu verstehen. Im Detail zeigen sich aber besondere ungünstige technische Eigenschaften der App: ● In der App Grömmels treten Hotspots nicht nur in größerer Zahl auf, sie sind zudem nur zum Teil mit der Erzählebene verbunden. So haben knapp 2/ 3 aller Hotspots (61 %) eine narrative Funktion 16 , jedoch mehr als ein Drittel (39 %) eine illustrativ-atmosphärische Funktion 17 . ● Im Vergleich zur App Paul sind in der App Grömmels nicht nur im geringeren Maße Hotspots integriert (4,6% vs. 64 % der Gesamtzahl der Animationen), auch fungieren bei Paul im Gegensatz zu Grömmels die Hotspots strukturell, um den Handlungsverlauf voranzubringen und eine sich immer wiederho‐ lende Ereignissequenz zu markieren. So erscheinen bei Paul nur dann 160 Claudia Müller-Brauers und Christiane Miosga Hotspots, wenn Paul den Tieren aus ihrer Not hilft. Durch das Anklicken der Hotspots wird die helfende Handlung passend zur Geschichte ausgelöst und lässt sich didaktisch nutzen, indem Vorlesende mit den Kindern gemeinsam antizipieren, wie Paul dem Tier helfen könnte. Bei der App Grömmels liegt keine vergleichbare Systematik vor. ● Zugleich ist der Anteil illustrativer Animationen bei Paul geringer, so dass die interaktiven Elemente weniger von der Geschichte weglenken. Ein Teil der illustrativen Animationen verdeutlichen darüber hinaus Struk‐ turelemente der Erzählungen, indem sie zum Beispiel den Handlungsort konkretisieren oder den Zeitraum herausstellen, in dem die Handlung stattfindet (zum Beispiel den Zeitraum eines Tages) ● Bei der App Grömmel ist außerdem ein hoher Anteil auditiver bzw. au‐ ditiv-visuell kombinierter Animationen zu dokumentieren, die in ihrer Lautstärke mit der Stimme des Vorlesenden in Konkurrenz stehen. ● 32 % der Animationen bestehen bei der App Grömmels zudem aus mehr‐ gliedrigen visuellen und auditiven Animationen, die mehrere bewegte Bilder oder Tonelemente bei Aktivierung in kurzen Abfolgen oder zur selben Zeit freisetzen. ● Darüber hinaus ist der Anteil automatisch und konstant ablaufender Ani‐ mationen im Falle der App Grömmels höher, so dass hier in der Gesamtschau der genannten technischen Eigenschaften ein überfrachtender auditiver und visueller Input angenommen werden kann, der womöglich zu einer erschwerten kognitiven Verarbeitung auf Seiten der Kinder führt und damit auch zu einer Verstehensbeeinträchtigung. Insbesondere aufgrund der hohen Anzahl von unsystematischen Hotspots, von auditiven und mehrgliedrigen gleichzeitigen und konstant ablaufenden Animationen ist das Ablenkungspotential der App Grömmels sehr hoch. Die App Paul ist hingegen, insbesondere durch gezielt eingesetzte, die Geschichte und ihre Struktur unterstützende Animationen zumindest aus theoretischer Perspektive besser geeignet, die rezeptiven und produktiven Erzählfähigkeiten von Kindern zu unterstützen. Inwiefern die technischen und konzeptionellen Unterschiede zwischen den beiden Apps für die narrativen Fähigkeiten von Kindern tatsächlich eine Rolle spielen, können wir zum jetzigen Zeitpunkt allerdings noch nicht beantworten, da ein empirischer Vergleich der Apps noch aussteht. Zumindest lässt sich bei der App Grömmels sagen, dass mit dieser ein hoher interaktiver Aufwand verbunden ist, der allein aus ihrer Anwendung resultiert. So zeigte sich in einer von uns durchgeführten, auf den Daten von Miosga (2020) basierenden Folgestudie (siehe Müller-Brauers et al. 2020a), dass narrative Animationen 161 Bilderbuch-Apps im Vergleich durch die Vorleser: innen am meisten angesprochen werden, aber nicht in einem narrativen, sondern in einem operativen Modus, d. h. die Vorleser: innen kon‐ zentrierten sich in ihren Sprachhandlungen auf die Anwendung der interaktiven Features, aber nutzten die Animationen nicht, um das Kind in die Geschichte einzubeziehen. Damit wurde das an sich vorhandene narrative Potential der App durch die Vorleser: innen nicht ausgenutzt bzw. es blieb in der Interaktion innerhalb der Aufmerksamkeitsspanne des Kindes zu wenig qualitative Zeit, um die Inhalte der Geschichte zu besprechen oder auch narrative Impulse zu setzen, um die Kinder darin zu unterstützen, den Handlungsaufbau und die Inhalte der Geschichte zu durchdringen. 7 Schlussfolgerungen für den Deutschunterricht Für die sprachliche und literale Entwicklung von Kindern spielen die Interak‐ tivität und Multimodalität von Bilderbuch-Apps eine wichtige Rolle (siehe Aguilera et al. 2016). Für die Förderung narrativer Fähigkeiten lässt sich aus dem gegenwärtigem Forschungsstand schließen, dass es beim Vorlesen von Bilderbuch-Apps zentral ist, dass die Vorleser: innen sich nicht von den Animationen ablenken lassen, sondern diese gezielt nutzen, um das Kind in die Geschichte zu involvieren, die Geschichte zu strukturieren und sich an den Themen, Interessen, Emotionen und (Lern-)ausgangslagen des Kindes zu orientieren (siehe z. B. Miosga 2020). Wird das Potential einer Bilderbuch-App interaktiv durch die Anwendung von Strategien zur sprachlichen, kognitiven und emotionalen Aktivierung durch den Vorleser: in ausgenutzt (siehe z. B. Neumann 2020), so ist anzunehmen, dass sich im digitalen Setting ebenso nar‐ ratives Lernen vollziehen kann. Gleichsam können die technischen Features von Bilderbuch-Apps auch Hürden in der Kommunikation evozieren. Im Gegensatz zum analogen Vorlesen müssen, wie in Kapitel 2 dargestellt, im digitalen Setting interaktive Abstimmungen auf drei Ebenen vollzogen werden (Vorleser: in/ Kind vs. Vorleser: in/ App vs. Kind(er)/ App). Auf der Interaktionsebene zwischen Vorleser: in (Eltern, pädagogische Fachkräfte, Lehrer: innen) und Kind(ern) hat der Erwachsene, um eine sprachförderliche dialogische Interaktionsstruktur aufzuspannen, wie beim analogen Vorlesen die Aufgabe, zum einen zwischen der realen Vorlesesituation und dem fiktiven Buchinhalt zu ‚vermitteln‘ und zum anderen das Kind/ die Kinder am Dialog zu beteiligen, sodass ein Wechselspiel aus Sequenzen des Vorlesens und des Dialogs entsteht (siehe Müller/ Stark 2015; Stark 2016). Dominiert die Interaktivität mit der App, verlängert sich nicht nur die Lesedauer (siehe Müller-Brauers et al. 2021), sondern bleibt im Vorleseprozess nur wenig interaktiver Raum für Impulse, die das Kind kognitiv, 162 Claudia Müller-Brauers und Christiane Miosga sprachlich und emotional anregen und damit zur „Zone der nächsten Entwick‐ lung“ (siehe Vygotskij 2002: 326) hinleiten. Von den technischen Eigenschaften von Apps benachteiligt werden können v. a. Kinder mit geringen sprachlichen und kognitiven Fähigkeiten, die auf das interaktive Unterstützungsverhalten des vorlesenden Erwachsenen in besonderer Weise angewiesen sind. Gleichsam bieten die technischen Features von App auch zahlreiche Möglichkeiten, an die unterschiedlichen Lernvoraussetzungen der Schüler: innen anzuschließen und eine „gemeinsame Lernsituation“ (Wocken 1998: 2011) herbeizuführen, die für alle Kinder sprachliche und kommunikative Teilhabe ermöglicht: z. B. durch den gezielten Einsatz der auditiven Animationen der App zum Aufbre‐ chen einer gleichförmigen, dem inhaltlichen Verstehen entgegenstehenden Leseintonation, der Auswahl von Apps mit Mehrsprachigkeitsfunktion oder der Nutzung der Zoomfunktion einer App, um die Schriftgröße und Oberflächen‐ struktur (z. B. durch regulierbare Helligkeit) an die visuellen Voraussetzungen der Schüler: innen anzupassen (siehe Miosga et al. 2021). Ausgehend von unseren bisherigen Arbeiten erscheint es uns daher für den Deutschunterricht evident, dass Lehrer: innen zu einem bewussten Einsatz des narrativen Potentials einer Bilderbuch-App im Unterricht kommen, um die rezeptiven und produktiven Erzählfähigkeiten der Schüler: innen anzuregen. Dabei ist darauf zu achten, dass die Sprachhandlungen der Lehrkraft nicht zu sehr durch die Operation des Mediums bestimmt werden, sondern inhaltsbe‐ zogen sind, z. B. durch ● den gezielten Einbezug von auditiven und visuellen Animationen zur Verdeutlichung des Erzählschemas; dies können sowohl genuin narrative als auch illustrative Animationen sein, die in der Interaktion eine narrative Funktion zugewiesen bekommen, wenn sie auf das Erzählschema bezogen werden; ● das Einbinden von Animationen in das Gespräch mit den Schüler: innen und das Aufgreifen von Gesprächsbeiträgen der Kinder, um die Geschichte mit ihrer Lebenswelt, ihren Themen, Gedanken und Gefühlen zu verknüpfen oder um bestimmte Ereignissequenzen und Strukturmerkmale der Erzäh‐ lung hervorzuheben; ● die Integration von narrativen und illustrativen Animationen in den Vorle‐ seprozess, um auf Seiten der Schüler: innen Involviertheit in die Geschichte, Emotionen, Stimmungen oder die Innensicht der Protagonist: innen anzu‐ regen; ● die Nutzung von illustrativen Animationen, um zusätzliche Informationen zum Handlungsort oder den Handlungsfiguren zu geben (z. B. im Rahmen 163 Bilderbuch-Apps im Vergleich der Orientierung) oder den zeitlichen Handlungsverlauf in einer Chrono‐ logie darzustellen. Des Weiteren können auch zusätzliche Elemente der App als Basis für eine Anschlusskommunikation über die Geschichte verwendet werden. So bietet die App Paul etwa ein Storyboard mit den einzelnen Stationen, auf denen die beteiligten Protagonist: innen nochmal abgebildet sind und welche separat angeklickt werden können, um nochmals in die einzelnen Szenen zu springen. Dies kann z. B. genutzt werden, um das Verständnis der Geschichte zu sichern oder einzelne Ereignissequenzen im Rahmen von „small stories“ (Bamberg/ Ge‐ orgakopoulou 2008) oder „second stories“ (Theobald/ Reynolds 2015) über Im‐ pulsfragen in kooperativen Lernformaten nacherzählen zu lassen (siehe hierzu auch Müller-Brauers et al. 2021). Dabei kann mit den Kindern in einen längeren Dialog eingetreten werden, Themen der Kinder eingebunden und zugleich die Inhalte der Geschichte vertieft werden. Die narrative Nachbereitung kann auch schriftlich erfolgen, indem die Kinder z. B. eigene Geschichten auf der Basis der im Storyboard gezeigten Stationen im narrativen Handlungsverlauf verfassen. Auch lassen sich mit einer Bilderbuch-App verschiedene unterrichtliche Akti‐ vitäten mit fachübergreifendem Bezug verbinden: z. B. szenisches Spiel, Theater, gemeinsame Konzeption eines Lapbooks, Ausstellungen im Fach Kunst etc. (zur Gestaltung einer konkreten Unterrichtseinheit mit der App Paul siehe Miosga et al. 2021). Angesichts des Potentials von Bilderbuch-Apps für eine an den Medienerfah‐ rungen von Kindern anschließende unterrichtliche Literalitätsförderung ist es unseres Erachtens daher grundlegend, einerseits Kenntnisse darüber zu gewinnen, welche potentiellen technischen Ablenker eine App aufweist und inwiefern die Erzählstruktur der Geschichte durch die Animationen der App gestützt wird. Dabei ist auch zu berücksichtigen, inwieweit eine angemessene Programmierung auditiver Animationen in Lautstärke und Ton, die Passung der Vorleserstimme zur Atmosphäre und zur Charakteristik der Handlungsfiguren sowie ein adäquates Design der Animationen im Verhältnis zum Touchscreen vorliegt (Yokota/ Teale 2014: 580). Andererseits sollte eine intensive Beschäfti‐ gung mit der App zu didaktischen Überlegungen führen, wie ihre Animationen gezielt zur Förderung des narrativen Wissens in der Unterrichtskommunikation eingesetzt werden können. Angesichts der Fülle des zur Verfügung stehenden Angebots fehlt es Lehrkräften oftmals schlichtweg an Zeit, sich intensiv mit den Potentialen einer einzelnen App auseinandersetzen. Orientierungen geben Such- und Kriterienkataloge und inhaltliche Einschätzungen der Stiftung Lesen 164 Claudia Müller-Brauers und Christiane Miosga 18 www.lesenmit.app (lesenmit.app), 18 die allgemein-pädagogische Empfehlungen geben, sprachliche Förderbereiche je App benennen und die Vor- und Nachteile der Apps je nach Altersgruppe herausarbeiten. Allerdings fehlt es diesen an einer empirischen Grundlage, so dass weitere Forschungsarbeiten erforderlich sind, die Bilder‐ buch-Apps auf der Folie der kindlichen Literalitätsentwicklung und inklusions‐ didaktischer Fragestellungen evaluieren. Insbesondere für den fachübergrei‐ fenden Unterricht tun sich hier noch interessante Forschungsfelder auf. So sind wie auch in analogen Bilderbüchern in der Breite beziehbarer Bilderbuch-Apps unterschiedliche Genres vertreten, zu denen auch Sachbilderbuch-Apps (z. B. zum Thema Natur und Umwelt) zählen. Diese können die Basis für vielfältige Gesprächsanlässe und fachübergreifende Aktivitäten im Grundschulunterricht und zugleich Ausgangspunkt für zukünftige Forschungen an der Schnittstelle verschiedener Fachdidaktiken sein. Literatur Primärliteratur - Apps De Beer, Hans (2012). Kleiner Eisbär - wohin fährst du, Lars? Oetinger Media GmbH. Hahn, Anika Elfi (2015). Paul und seine Freunde. Version 1.0.1. Nudge GmbH. Wewer, Iris (2012). Sieben grummelige Grömmels und ein kleines Schwein, retrieved from the app „Tigerbooks“ (last accessed: 04.08.2022) Sekundärliteratur Aarseth, Espen J. (1997). Cybertext. Perspectives on ergodic literature. Baltimore, Mary‐ land: Johns Hopkins University Press. Aguilera, Earl/ Kachorsky, Dani/ Gee, Elisabeth/ Serafini, Frank (2016). Expanding analy‐ tical perspectives on children’s picturebook apps. Literacy Research: Theory, Method and Practice 65 (1), 421-435. Bamberg, Michael/ Georgakopoulou, Alexandra (2008). Small stories as a new perspective in narrative and identity analysis. Text & Talk 28 (3), 377-396. Becker, Tabea (2011). Kinder lernen erzählen. 3. Aufl. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. Boelmann, Jan/ König, Lisa (2021). Literarische Kompetenz messen, literarische Bildung fördern. Das BOLIVE-Modell. Empirische Forschung in der Deutschdidaktik, Band 5. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. 165 Bilderbuch-Apps im Vergleich Brunsmeier, Sonja/ Kolb, Annika (2016). Jack and the Beanstalk Today Jack and the Beanstalk Today. Digital storytelling mit einer Bilderbuch-App. Der fremdsprachliche Unterricht Englisch 50 (144), 12-18. Brunsmeier, Sonja/ Kolb, Annika (2017). Picturebooks Go Digital - The Potential of Story Apps for the Primary EFL Classroom. https: / / clelejournal.org/ wp-content/ uploads/ 2 017/ 05/ Picturebooks-Go-Digital-CLELEjournal-5.1.pdf (last accessed: 04.08.2022) Bujard, Martin/ Driesch, Ellen von den/ Ruckdeschel, Kerstin/ Laß, Inga/ Thönnissen, Carolin/ Schumann, Almut/ Schneider, Norbert (2021). Be‐ lastungen von Kindern, Jugendlichen und Eltern in der Corona-Pandemie. https: / / www.bib.bund.de/ Publikation/ 2021/ pdf/ Belastungen-von -Kindern-Jugendlichen-und-Eltern-in-der-Corona-Pandemie.pdf; jsessionid=31F27BE F3FC6A3F764F0C7A564409D14.2_cid389? __blob=publicationFile&v=11 (last ac‐ cessed: 04.08.2022) Bus, Adriana G./ Takacs, Zsofia K./ Kegel, Cornelia A.T. (2015). Affordances and limita‐ tions of electronic storybooks for young children's emergent literacy. Developmental Review 35, 79-97. Dehn, Mechthild (2014). Visual Literacy, Imagination und Sprachbildung. In: Knopf, Julia/ Abraham, Ulf (Hrsg.). BilderBücher. Band 1, Theorie. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 125-134. Eales, Lauren/ Gillespie, Sarah/ Alstat, Reece A./ Ferguson, Gail M./ Carlson, Stephanie M. (2021). Children's screen and problematic media use in the United States before and during the COVID-19 pandemic. Child Development 92 (5), e866-e882. Ewers, Hans-Heino (2000). Literatur für Kinder und Jugendliche. Eine Einführung in grundlegende Aspekte des Handlungs- und Symbolsystems Kinder- und Jugendlite‐ ratur. München: Fink. Gansel, Carsten (2010). Moderne Kinder- und Jugendliteratur. Vorschläge für einen kompetenzorientierten Unterricht. 4. Aufl. Berlin: Cornelsen. Gaudreau, Caroline/ King, Yemimah A./ Dore, Rebecca A./ Puttre, Hannah/ Nichols, De‐ borah/ Hirsh-Pasek, Kathy/ Golinkoff, Roberta Michnick (2020). Preschoolers Benefit Equally From Video Chat, Pseudo-Contingent Video, and Live Book Reading: Impli‐ cations for Storytime During the Coronavirus Pandemic and Beyond. Frontiers in Psychology 11. doi: 10.3389/ fpsyg.2020.02158 (last accessed: 10.04.2022) Kao, Gloria Yi-Ming/ Tsai, Chin‐Chung/ Liu, Chia-Yu/ Yang, Cheng-Han (2016). The effects of high/ low interactive electronic storybooks on elementary school students’ reading motivation, story comprehension and chromatics concepts. Computers & Education 100, 56-70. Knopf, Julia (2018). Bilderbuch-Apps im Kindergarten und in der Primarstufe. In: Ladel, Silke/ Knopf, Julia/ Weinberger, Armin (Hrsg.). Digitalisierung und Bildung. Wiesbaden: Springer VS, 23-38. 166 Claudia Müller-Brauers und Christiane Miosga Krcmar, Marina/ Cingel, Drew P. (2014). Parent-Child Joint Reading in Traditional and Electronic Formats. Media Psychology 17 (3), 262-281. Kucirkova, Natalia (2019). Children’s Reading With Digital Books: Past Moving Quickly to the Future. Child Development Perspectives 13 (4), 208-214. Labov, William/ Waletzky, Joshua (1967). Narrative analysis: oral versions of personal experience. In: Helm, June (Hrsg.). Essays on the Verbal and Visual Arts. Proceedings of the 1966 Annual Spring Meeting of the American Ethnological Society. Seattle, London: University of Washington Press, 12-44. Leubner, Martin (2018). Digitale literale Medien im Deutschunterricht. In: Frederking, Volker/ Krommer, Axel/ Möbius, Thomas (Hrsg.). Digitale Medien im Deutschunter‐ richt. 2. Aufl. Deutschunterricht in Theorie und Praxis, Band 8. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 185-212. Linke, Rebecca/ Kothe, Tin/ Alt, Florian (2017). TaBooGa - A Hybrid Learning App to Support Children’s Reading Motivation. Proceedings of the 2017 Conference on Interaction Design and Children, 278-285. doi: 10.1145/ 3078072.3079712 (last accessed: 10.04.2022) Miosga, Christiane (2020). Cognitively activating and emotionally attuning interactions Their relevance for language and literacy learning and teaching with digital media. In: Rohlfing, Katharina J./ Müller-Brauers, Claudia (Hrsg.). International Perspectives on Digital Media and Early Literacy. The Impact of Digital Devices on Learning, Language Acquisition and Social Interaction. London: Routledge, 27-49. Miosga, Christiane/ Müller-Brauers, Claudia/ Hahn, Anika Elfi (2021). Mit Bilder‐ buch-Apps in Geschichten eintauchen. Ideen für den inklusiven Deutschunterricht. Praxis Grundschule (1), 28-32. mpfs (2020a). KIM-Studie. Kindheit, Internet, Medien. Basisuntersuchung zum Medien‐ umgang 6bis 13-Jähriger. https: / / www.mpfs.de/ fileadmin/ files/ Studien/ KIM/ 2020/ K IM-Studie2020_WEB_final.pdf (last accessed: 04.08.2022) mpfs (2020b). JIM-Studie 2020. Jugend, Information, Medien. Basisuntersuchung zum Medienumgang 12bis 19-Jähriger. https: / / www.mpfs.de/ fileadmin/ files/ Studien/ JIM / 2020/ JIM-Studie-2020_Web_final.pdf. (last accessed: 04.08.2022) Müller, Claudia/ Stark, Linda (2015). Sprachdidaktische Anreize in der Kinderliteratur. In: Eder, Ulrike (Hrsg.). Theorien, Modelle und Perspektiven für den Deutsch als Fremd‐ sprachenunterricht. Kinder- und Jugendliteratur im Sprachenunterricht, Band 2. Wien: Praesens Verlag, 95-117. Müller-Brauers, Claudia/ Miosga, Christiane/ Fischer, Silke/ Maus, Alina/ Potthast, Ines (2020a). Narrative Potential of Picture-Book Apps: A Mediaand Interaction-Oriented Study. Frontiers in Psychology 11. DOI: https: / / doi.org/ 10.3389/ fpsyg.2020.593482 (last accessed: 10.08.2022) 167 Bilderbuch-Apps im Vergleich Müller-Brauers, Claudia/ Boelmann, Jan/ Miosga, Christiane/ Potthast, Ines (2020b). Di‐ gital children’s literature in the interplay between visuality and animation A model for analyzing picture book apps and their potential for children’s story comprehension. In: Rohlfing, Katharina J. / Müller-Brauers, Claudia (Hrsg.). International Perspectives on Digital Media and Early Literacy. The Impact of Digital Devices on Learning, Language Acquisition and Social Interaction. London: Routledge, 161-179. Müller-Brauers, Claudia/ Miosga, Christiane/ Herz, Cornelius (2021). Animationen in Bilderbuch-Apps - Überlegungen zur Förderung des literarischen Verstehens und Handelns im inklusiven Deutschunterricht. MiDU - Medien im Deutschunterricht: Literarisches Verstehen im Kontext von Digitalisierung und Inklusion 3 (1), 1-19. https: / / doi.org/ 10.18716/ ojs/ midu/ 2021.1.5 (last accessed: 06.08.2022) Müller-Brauers, Claudia/ Stark, Linda/ Lehmden, Friederike von (2017). Einpassung lite‐ rater Strukturen. Wie Kinder den Input aus Vorlesesituationen produktiv nutzen. Frühe Bildung 6 (4), 199-206. Neumann, Michelle M. (2016). Young children's use of touch screen tablets for writing and reading at home: Relationships with emergent literacy. Computers & Education 97, 61-68. Neumann, Michelle M. (2020). Teacher Scaffolding of Preschoolers’ Shared Reading With a Storybook App and a Printed Book. Journal of Research in Childhood Education 34 (3), 367-384. OECD (2021). Beyond Academic Learning. First results from the survey of social and emotional skills: OECD. www.oecd-ilibrary.org/ docserver/ 92a11084-en.pdf ? expires=1649777884& ; id=id&accname=guest&checksum=75BC4731C2C6A3954815F23F9C4683CC (last ac‐ cessed: 04.08.2022) Parish-Morris, Julia/ Mahajan, Neha/ Hirsh-Pasek, Kathy/ Golinkoff, Roberta Mich‐ nick/ Collins, Molly Fuller (2013). Once Upon a Time: Parent-Child Dialogue and Storybook Reading in the Electronic Era. Mind, Brain, and Education 7 (3), 200-211. Quasthoff, Uta (1980). Erzählen in Gesprächen. Linguistische Untersuchungen zu Struk‐ turen und Funktionen am Beispiel einer Kommunikationsform des Alltags. Tübingen: Narr. Quasthoff, Uta (2001). Erzählen als interaktive Gesprächsstruktur. In: Brinker, Klaus/ Antos, Gerd/ Heinemann, Wolfgang/ Sager, Sven F. (Hrsg.). Text- und Gesprächs‐ linguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft, 2. Halbband. Berlin/ New York: De Gruyter, 1293-1309. Real, Neus/ Correro, Cristina (2015). Digital literature in early childhood. Reading expe‐ riences in family and school contexts. In: Manresa, Mireia/ Real, Neus (Hrsg.). Digital Literature for Children. Bern: Peter Lang, 173-189. 168 Claudia Müller-Brauers und Christiane Miosga Ritter, Alexandra/ Ritter, Michael (2020). Lesepraxen im Medienzeitalter. Vorlesege‐ spräche zu analogen und digitalen Bilderbüchern: ein Projektbericht. München: Kopaed. Ritter, Alexandra/ Ritter, Michael (2021). Lesepraxen im Medienzeitalter: Ergebnisse einer Fallstudie zu digitalen und analogen (Bilderbuch-)Lektüren. In: Schubert, Torsten/ Gerth, Michael (Hrsg). Multimediales Lehren und Lernen an der Martin-Luther-Uni‐ versität Halle-Wittenberg. Befunde und Ansätze aus dem Forschungsförderprogramm des Zentrums für multimediales Lehren und Lernen (LLZ). Beiträge zum multime‐ dialen Lehren und Lernen, Band 1, 74-90. dx.doi.org/ 10.25673/ 38465 Ritter, Michael (2016). Übergangsphänomene. Neue Bilderbücher im Spannungsfeld analoger und digitaler Medienformate. In: Rußegger, Arno/ Waldner, Tonia (Hrsg.). Wie im Bilderbuch. Zur Aktualität eines Medienphänomens. Angewandte Literatur‐ wissenschaft, Band 19. Innsbruck/ Wien/ Bozen: Studien Verlag, 8-20. Ritter, Michael (2019). Bilderbuch-Apps. www.kinderundjugendmedien.de/ fachdidaktik / 2735-bilderbuch-apps (last accessed: 04.08.2022) Sargeant, Betty (2015). What is an ebook? What is a Book App? And Why Should We Care? An Analysis of Contemporary Digital Picture Books. Children’s Literature in Education 46, 454-466. Schrenker, Eva/ Beyer, Martin (2019). Digitale interaktive Bilderbücher im Unterricht. In: Knopf, Julia/ Abraham, Ulf (Hrsg.). Bilderbücher. Deutschdidaktik für die Primarstufe, Band 2. 2. Aufl. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 141-150. Schwebs, Ture (2014). Affordances of an App. A reading of The Fantastic Flying Books of Mr. Morris Lessmore. Nordic Journal of ChildLit Aesthetics 5 (1). https: / / www.tan dfonline.com/ doi/ pdf/ 10.3402/ blft.v5.24169 (last accessed: 10.04.2022) Serafini, Frank/ Kachorsky, Danielle/ Aguilera, Earl (2016). Picture Books in the Digital Age. The Reading Teacher 69 (5), 509-512. Siraj‐Blatchford, Iram (2007). Creativity, Communication and Collaboration: The Identi‐ fication of Pedagogic Progression in Sustained Shared Thinking. Asia-Pacific Journal of Research in Early Childhood Education 1, 3-23. Son, Seung-Hee C./ Butcher, Kirsten R./ Liang, Lauren A. (2020). The influence of the interactivity of storybook apps on children’s reading comprehension and story enjoyment. Elementary School Journal 120 (3), 422-454. Stadler, Marie A./ Ward, Gay Cuming (2006). Supporting the Narrative Development of Young Children. Early Childhood Education Journal 33 (2), 73-80. Staiger, Michael (2019). Erzählen mit Bild-Schrifttext-Kombinationen. Ein fünfdimensi‐ onales Modell der Bilderbuchanalyse In: Knopf, Julia/ Abraham, Ulf (Hrsg.). Bilderbü‐ cher. Deutschdidaktik für die Primarstufe, Band 2. 2. Aufl. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 12-23. 169 Bilderbuch-Apps im Vergleich Stark, Linda (2016). Vorlesen und Präteritum. Thema Sprache Wissenschaft für den Unterricht, Band 24. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. Stern, Daniel N. (2000). The interpersonal world of the infant. A view from psychoanal‐ ysis and developmental psychology. 2. Aufl. London/ New York: Routledge. Stichnothe, Hadassah (2014). Engineering stories? A narratological approach to child‐ ren's book apps. Barnelitterært Forskningstidsskrift 5 (1). https: / / www.idunn.no/ doi/ 10.3402/ blft.v5.23602 (last accessed: 04.08.2022) Suter, Lilian/ Külling, Céline/ Zollinger, Nina/ Waller, Gregor (2021). Digitales Leben von Kindern und Jugendlichen in Zeiten von Corona (2020): Nationaler Bericht Schweiz. https: / / digitalcollection.zhaw.ch/ bitstream/ 11475/ 22768/ 3/ 2021_Suter_Digitales_Leb en_von_Kindern_und_Jugendlichen_ZHAW.pdf (last accessed: 04.08.2022) Terras, Melody M./ Ramsay, Judith (2016). Family Digital Literacy Practices and Children's Mobile Phone Use. Frontiers in Psychology 7. doi.org/ 10.3389/ fpsyg.2016.01957 (last accessed: 10.04.2022) Theobald, Maryanne/ Reynolds, Edward (2015). In pursuit of some appreciation: assess‐ ment and group membership in children’s second stories. Text & Talk 35 (3), 407-430. Thiele, Jens (2000). Das Bilderbuch. In: Thiele, Jens (Hrsg.). Handbuch Kinderliteratur. Grundwissen für Ausbildung und Praxis. Freiburg im Breisgau/ Basel/ Wien: Herder, 70-98. Tomasello, Michael (1995). Joint attention as social cognition. In: Moore, Chris/ Dunham, Philip (Hrsg.). Joint Attention. Its origins and role in development. Hillsdale: Erlbaum, 103-130. Tomasello, Michael (2009). Why we cooperate. Based on the 2008 Tanner lectures on human values at Stanford University. Cambridge, Massachusetts: MIT Press. Vygotskij, Lev Semenovič (2002). Denken und Sprechen. Psychologische Untersu‐ chungen. Weinheim: Beltz. Walsh, Maureen (2017). Multiliteracies, Multimodality, New Literacies and … What Do These Mean for Literacy Education? In: Milton, Marion/ Forlin, Chris (Hrsg.). Inclusive Principles and Practices in Literacy Education. International Perspectives on Inclusive Education, Band 11. Bingley: Emerald Publishing Limited, 19-33. Wirth, Astrid/ Ehmig, Simone C./ Heymann, Lukas/ Niklas, Frank (2020). Promising inter‐ active functions in digital storybooks for young children. In: Rohlfing, Katharina J./ Müller-Brauers, Claudia (Hrsg.). International Perspectives on Digital Media and Early Literacy. The Impact of Digital Devices on Learning, Language Acquisition and Social Interaction. London: Routledge, 105-121. Wocken, Hans (1998). Gemeinsame Lernsituationen. Eine Skizze zur Theorie des gemein‐ samen Unterrichts. In: Hildeschmidt, Anne (Hrsg.). Integrationspädagogik. Auf dem Weg zu einer Schule für alle. Weinheim/ München: Juventa-Verlag, 37-52. 170 Claudia Müller-Brauers und Christiane Miosga Yokota, Junko/ Teale, William H. (2014). Picture Books and the Digital World: Educators Making Informed Choices. The Reading Teacher 67 (8), 577-585. Zhou, Ninger/ Yadav, Aman (2017). Effects of multimedia story reading and questioning on preschoolers’ vocabulary learning, story comprehension and reading engagement. Education Technology Research and Development 65, 1523-1545. Zipke, Marcy (2017). Preschoolers explore interactive storybook apps: The effect on word recognition and story comprehension. Education and Information Technologies 22 (4), 1695-1712. 171 Bilderbuch-Apps im Vergleich Bilderbücher und Health Literacy Eine Analyse des Bilderbuchs Drin-Bleib-Monster - Alma hat coronafrei mit Blick auf die Vermittlung coronabezogener Gesundheitsinformationen Christina Guedes Correia und Lisa Porps Abstract: Der vorliegende Beitrag beleuchtet das Potenzial von Bilderbü‐ chern zur Förderung der Health Literacy (HL), d. h. Gesundheitsinformati‐ onen recherchieren, verstehen und bewerten zu können, im Kindesalter. Vor dem Hintergrund allgemeiner Überlegungen zum Nutzen von Bilder‐ büchern für die Anbahnung gesundheitsbezogener Kompetenzen wird der Fokus auf die während der Coronapandemie benötigten Teilkompetenzen einer HL gelegt, deren Vermittlung als herausfordernd eingestuft werden kann, da die durch das Coronavirus bedingte Krisensituation insbeson‐ dere für Kinder einerseits eine emotionale Belastung und andererseits einen komplexen Themengegenstand darstellt. Inwiefern Bilderbücher ein geeignetes Kommunikat zur Vermittlung coronabezogener Gesundheits‐ informationen darstellen, wird exemplarisch anhand der Analyse des narrativen Bilderbuchs Drin-Bleib-Monster - Alma hat coronafrei geklärt. Hierfür formulieren wir vorab Leitfragen in Anlehnung an einen bereits bestehenden Ansatz einer kindgerechten Krisenkommunikation aus dem palliativmedizinischen Bereich. Die Analyseergebnisse zeigen, dass sich die Gestaltung des Bilderbuchs mit diesem Ansatz deckt. 1 Einleitung Bilderbücher sind ein beliebtes Medium zur Förderung sprachlicher und lite‐ rarischer Fähigkeiten sowohl in Familien als auch in Institutionen wie Kinder‐ gärten und Schulen (siehe Gressnich et al. 2015). Für den Elementar- und Primarbereich existieren dementsprechend eine Reihe von Vorschlägen für einen gelingenden Einsatz in der Praxis. Aktuelle Publikationen wie Bräuning et al. (2021) fokussieren dabei auch die Förderung mathematischer, sachkundlicher und fremdsprachlicher Fähigkeiten. Hierbei wird deutlich, dass Bilderbücher Impulse für ein fächerübergreifendes Unterrichten liefern können. Durch ihre spezifische Beschaffenheit, z. B. das Zusammenspiel aus Text- und Bildinfor‐ mationen (multimodaler Charakter, siehe Leiß 2020) und unterschiedliche Darstellungsformen (sachlich, erzählend, siehe Steitz-Kallenbach 2003) sowie durch aus ihrer Vermarktung resultierende (digitale) Erweiterungen (siehe Schiefele 2018) bieten Bilderbücher darüber hinaus unterschiedliche Zugänge zu ihren Themeninhalten. Insofern können sie einen geeigneten Gegenstand für heterogene Lerngruppen darstellen. In der gesundheitlichen Bildung erfahren Bilderbücher bislang eher wenig Beachtung, wenngleich international auf ihr pädagogisches, didaktisches und therapeutisches Potenzial zur Förderung des Wohlbefindens von Kindern hin‐ gewiesen wird (siehe Pulimeno et al. 2020). Das mag daran liegen, dass die von Bilderbüchern adressierte Zielgruppe der Kinder bei der Betrachtung gesundheitsbezogener Kompetenzen lange Zeit nur eine marginale Rolle spielte (siehe Pinheiro et al. 2020). Unter dem Schlagwort Health Literacy (HL) werden gesundheitsbezogene Kompetenzen mit Blick auf das Kinder- und Jugendalter aktuell neu diskutiert (siehe Bollweg/ Okan 2020). In diesem Zusammenhang werden bestehende Forschungsdefizite aufgedeckt, die sich mitunter auf die Frage beziehen, „mit welchen Strategien, Programmen und Maßnahmen die Health Literacy von jungen Menschen am besten gefördert werden kann“ (Pinheiro et al. 2020: 6). In unserem Beitrag ziehen wir das Bilderbuch als mögliches Lernmedium in Betracht. Grundlegend ist hierbei die Frage, inwiefern Bilderbücher ein geeignetes Kommunikat zur Vermittlung gesundheitsbezogener Kompetenzen darstellen. Eine fundierte Beantwortung kann nur unter Eingrenzung des Gegenstandes erfolgen. Daher konzentrieren wir uns im Folgenden auf die Coronapandemie und die hierfür benötigten Teilkompetenzen einer HL, die vorrangig das Verstehen und Anwenden pandemiebedingter Handlungsstrate‐ gien betreffen (z. B. das Verstehen von Schutzmaßnahmen und das Umsetzen dieser). Damit nehmen wir Bezug auf eine aktuelle globale Krisensituation, in der Gesundheitskompetenzen einerseits an akuter gesamtgesellschaftlicher Relevanz gewinnen. Andererseits sind jedoch die Gesundheitsinformationen, die zum Erwerb dieser Kompetenzen beitragen können, besonders für Kinder schwierig zu verstehen, weil ihnen Vorerfahrung fehlt und die zu vermittelnden Themen außerordentlich komplex und emotional belastend sind. Die Vermitt‐ lung von Gesundheitsinformationen sollte daher an die kindlichen Bedürfnisse angepasst sein. 173 Bilderbücher und Health Literacy 1 Im Folgenden kürzen wir den Titel des Bilderbuches mit Drin-Bleib-Monster ab. 2 Auch wir verwenden HL und GK im Folgenden synonym und gehen dabei von einer GK i.w.S. aus. Wir verwenden darüber hinaus auch die Begriffe HL-Fähigkeit, HL-Kompetenz oder gesundheitsbezogene Kompetenz. Dabei beziehen wir uns immer auf das in dem vorliegenden Kapitel definierte Konzept. Der Beitrag gliedert sich wie folgt: Zunächst erläutern wir den Begriff HL mit Fokus auf das Kindesalter (siehe Kapitel 2), um hieran anschließend den möglichen Nutzen von Bilderbüchern für die HL-Förderung zu verdeutlichen (siehe Kapitel 3). Im Anschluss beleuchten wir am Beispiel der aktuellen Coronapandemie den besonderen Stellenwert einer HL für gesundheitliche Krisensituationen (siehe Kapitel 4) und formulieren daraufhin bezugnehmend auf einen bereits bestehenden Ansatz zur kindgerechten Kommunikation über das Coronavirus Leitfragen, die wir für die Analyse des Bilderbuches Drin-Bleib-Monster - Alma hat coronafrei fruchtbar machen (siehe Kapitel 5). 1 Unsere Analyse deutet darauf hin, dass sich Bilderbücher für die Vermittlung coronabezogener Gesundheitsinformationen eignen können (siehe Kapitel 6). Unsere Ergebnisse diskutieren wir unter Bezugnahme auf aktuelle Forschungs‐ kontexte und formulieren daran anschließend fachübergreifende Lernfelder und inklusive Potenziale für den Unterricht in der Grundschule (siehe Kapitel 7). In einem abschließenden Fazit fassen wir unsere Ergebnisse zusammen und geben einen Ausblick auf noch offene Fragen (siehe Kapitel 8). 2 Health Literacy HL rekurriert auf den zweckorientierten Umgang von Personen mit gesund‐ heitsbezogenen Informationen (Sørensen et al. 2012: 3). Im deutschen Sprach‐ raum wird auch der Begriff Gesundheitskompetenz (GK) verwendet. 2 Dieser reflektiert jedoch weniger gut, dass die Fähigkeit, Gesundheitsinformationen recherchieren, verstehen, bewerten und anwenden zu können mit Schreibsowie Lesekompetenzen verknüpft ist, die im Vorschulalter angebahnt werden und deren Entwicklung stark von soziökonomischen Bedingungen beeinflusst wird (siehe Bröder 2020). Dies wird an den Ergebnissen einer aktuellen Befra‐ gung (Schaeffer et al. 2021) deutlich: Hier gaben vor allem Ältere, chronisch Kranke, Menschen mit einem niedrigen Bildungs- und Einkommensstatus sowie Menschen mit Migrationshintergrund an, dass sie ihre GK als problematisch bis inadäquat einschätzen. Die letztgenannten Einschätzungen decken sich mit dem Hinweis, dass der sozioökonomische Status auch mit Infektionshäufigkeit und Sterblichkeitsrate vieler Krankheiten korreliert (RKI 2020: 3). Studien aus den USA und Großbritannien weisen darauf hin, dass dies auch für COVID-19 174 Christina Guedes Correia und Lisa Porps zutreffend ist (ebd.: 4). Eine schlechte GK resultiert in negativen gesundheitli‐ chen Outcomes sowohl für das Individuum als auch für die Gesellschaft. Da von ihr Hospitalisierungsraten abhängen können, wird GK der Status als „critical determinant of health“ zugeschrieben (WHO 2017: 8). Vor diesem Hintergrund erschließt sich die Relevanz einer möglichst früh einsetzenden HL-Förderung, bei der sozioökonomisch bedingte Lernstandsun‐ terschiede berücksichtigt und nach Möglichkeit nivelliert werden, als lohnende Investition für die Zukunft. Das Kinder- und Jugendalter blieb bei der Erfor‐ schung gesundheitsbezogener Kompetenzen jedoch lange Zeit unbeachtet. Erst jüngere Publikationen weisen auf ein entsprechendes Forschungsdefizit hin und betonen, dass ihr Grundstein in der Kindheit gelegt wird. Bröder (2020: 382) z. B. macht deutlich, dass auch Kinder, welche noch nicht Lesen und Schreiben gelernt haben, andere Facetten ihrer HL entwickeln, indem sie auf gesundheitsbezogene und für sie relevante Informa‐ tionen zugreifen, wenn diese in bildlichen und mündlichen Darstellungsformaten, z. B. Videos, Bilderbüchern, Gesprächen verfügbar sind und für sie verständlich aufbereitet werden. Insbesondere dem Vorlesen von Bilderbüchern konnte im Rahmen der allge‐ meinen Literacy-Forschung ein positiver Einfluss auf Lernprozesse beim Kind nachgewiesen werden (siehe Sénéchal et al. 2008 zur Wortschatzentwicklung; Lehmden et al. 2013 zur Grammatikentwicklung). Daher gehen wir davon aus, dass eine genaue Betrachtung der gesundheitsbezogenen Inhalte von Bilderbüchern einen Schlüssel zur Beforschung der zielgruppenspezifischen HL-Kompetenzen darstellen könnte. Im Folgenden sollen daher mögliche Ver‐ bindungslinien zwischen Bilderbuch und HL-Erwerb herausgearbeitet werden. 3 Bilderbücher und Health Literacy Bei Bilderbüchern handelt es sich zumeist um ein Medium für Kinder im Vor- und Grundschulalter mit nur wenigen Buchseiten, auf denen sowohl Textals auch Bildinformationen gemeinsam eine Bedeutung erzeugen, z. B. in Form fiktionaler Narrationen (Erzählbilderbuch) oder realitätsbezogener Sach‐ inhalte (Sachbilderbuch), siehe Kurwinkel (2020). Im familialen Kontext werden Bilderbücher gern vorgelesen, wobei sozioökonomisch bedingte Unterschiede quantitativer Art (Stiftung Lesen 2019) und qualitativer Art (Müller 2012; Wieler 1997) festzustellen sind. Insofern „das Bilderbuch vielfältige Erfahrungs- und Lernmöglichkeiten eröffnet, die sprachlich, literarisch, bildästhetisch oder auch fachlich geprägt sein können“ (Preußer 2015: 61), wird sein Lernpotenzial 175 Bilderbücher und Health Literacy 3 Rothstein (2013: 323 f.) unterscheidet in seiner Modellierung verschiedene Arten des Vorlesens: Das Vorlesen im engen Sinn, wenn „der Vorlesende penibelst genau den vorgegebenen Text, ohne von ihm abzuweichen“ vorliest, das Vorlesen im weiten Sinn, „wenn der Vorlesende den vorgegebenen Text durch eigene Anmerkungen ergänzt“ und sogenannte Vorlesegespräche, „wenn Zuhörer und Vorleser sich begleitend zur gemeinsamen Textlektüre über den Text unterhalten“. Aus der Studie von Petra Wieler (1997: 159 f.) geht hervor, dass es sich bei den vorleserseitig vorgenommenen Textmo‐ difikationen um Simplifizierungen entsprechend dem kindlichen Entwicklungsstand handeln kann. auch in Bildungseinrichtungen wie Kindergärten (Stiftung Lesen 2021) und Grundschulen (Bräuning et al. 2021; Knopf und Abraham 2019) ausgeschöpft. In diesem Zusammenhang (siehe ebd.) wird zum einen auf die Möglichkeiten eines fächerübergreifenden Unterrichtens verwiesen, weil die im Bilderbuch darge‐ stellte Wirklichkeit lernfeldübergreifende Anknüpfungspunkte bietet. Zum anderen wird seine Eignung für heterogene Lerngruppen hervorgehoben, weil das Bilderbuch unterschiedliche Zugänge (u. a. affektiv und kognitiv; siehe Steitz-Kallenbach 2003: 154; bildbasiert und schriftbasiert, siehe Leiß 2020: 3-5) zu dem von ihm thematisierten Inhalten bietet. In vielen Fällen treten (digitale) Erweiterungen hinzu: Hierzu zählen u. a. passendes Spielzeug sowie andere Fanartikel, Übersetzungen, Hörspielfassungen, Vorlesestifte, Verfilmungen oder Augmented-Reality-Apps. Diese erweitern das Spektrum an Zugangsmöglich‐ keiten (siehe Schiefele 2018). Ein Zusammenhang zwischen Bilderbuch und Lernprozessen beim Kind scheint auch im Hinblick auf gesundheitsbezogene Kompetenzen naheliegend: Erstens sind Bilderbücher über gesundheitsbezogene Themen frequent ver‐ fügbar. Der Bilderbuchmarkt wartet mit einem reichhaltigen Angebot an Kin‐ derbüchern zu verschiedenen medizinischen Themen und für verschiedene Altersstufen auf (siehe kommentierte Bibliografie bei ALA 2007). Zweitens handelt es sich bei Bilderbüchern um ein an Kinder gerichtetes Medium. Insofern ist davon auszugehen, dass die gesundheitsbezogenen Inhalte in Bilderbüchern adressatengerecht aufbereitet und im Rahmen von Vorlesesituationen (siehe Vorlesemodell von Rothstein 2013 und dessen Erweiterung bei Stark 2016: 71- 114) an die Bedürfnisse des Kindes angepasst werden können. 3 Drittens weisen Studien darauf hin, dass Kinder die gesundheitsbezogenen Inhalte aus Bilder‐ büchern in ihre Wissensbestände integrieren und auf ihr alltägliches Handeln übertragen können (siehe Droog et al. 2014 zu gesunder Ernährung; Holzheimer et al. 1998 zu Asthma). Viertens stellen Bilderbücher, wie schon erwähnt, ein vertrautes Medium im Elementar- und Primarbereich dar. Insofern kann hier an bereits etablierte didaktische Konzepte angeknüpft werden. In diesem Zusammenhang ist schließlich darauf hinzuweisen, dass das Thema Gesundheit 176 Christina Guedes Correia und Lisa Porps 4 Aus Gründen der Lesbarkeit verwenden wird im Folgenden ausschließlich die Begriffe Coronapandemie und Coronavirus. Wir beziehen uns dabei alleinig auf das SARS-CoV-2, nicht auf andere bereits vorher existente Coronaviren. in den bundeseinheitlichen Bildungsbeschlüssen für Kindergärten (KMK 2004) und Schulen (KMK 2012) verankert ist, obwohl „Forschung im Bereich Health Literacy nicht durch genuine Konzepte der Kindergesundheit untermauert [ist], sondern […] vielmehr auf Konzepten der Erwachsenengesundheit, bzw. der Krankheitsprävention bei Erwachsenen basiert“ (siehe Bond/ Rawlings 2020: 551). Im Schulkontext wird Gesundheitsbildung als Querschnittsaufgabe be‐ trachtet, d. h. es soll „in den Unterricht der Fächer und in das Schulleben […] in‐ tegriert“ (ebd.: 5) werden. Sie stellt demnach ein fächerübergreifendes Vorhaben dar. Zudem ist eine lerngruppenbezogene HL-Heterogenität erwartbar (siehe Kapitel 2). Für den Umgang mit beiden didaktischen Herausforderungen, dem fächerübergreifenden Lernen ebenso wie heterogenen Lerngruppen, scheinen Bilderbücher, wie oben dargestellt, ein adäquates Mittel darzustellen. Ein möglicher Zusammenhang von Bilderbuch und HL-Förderpotenzial soll im Folgenden gegenstandsbezogen anhand der Vermittlung coronabezogener Gesundheitsinformationen beleuchtet werden. Hierzu erläutern wir zunächst, welche Gesundheitsinformationen im Rahmen der Coronapandemie an die Bevölkerung vermittelt werden und wie eine geeignete Kommunikation darüber mit Kindern aussehen kann. Auf Grundlage der Ergebnisse lassen sich schließ‐ lich Anforderungen bezogen auf die Beschaffenheit von Bilderbüchern ableiten, mit denen HL-Kompetenzen gefördert werden könnten. 4 Health Literacy in der Coronapandemie Durch die Ausbreitung des SARS-CoV-2 entstand Anfang 2020 eine globale Krisensituation. 4 Dieses, bis dato unbekannte Coronavirus wird sehr effektiv über Tröpfcheninfektion und die Atemluft übertragen. Das Virus löst typi‐ scherweise Symptome wie Husten, Fieber, Schnupfen und Geruchssowie Geschmacksverlust aus, besonders bei jüngeren Menschen sind jedoch auch asymptomatische Verläufe möglich (RKI 2021). Die Coronapandemie stellt unsere Gesellschaft seither vor große Herausforderungen, bei denen es u. a. darum geht, vulnerable Bevölkerungsgruppen wie ältere und vorerkrankte Menschen vor einer Ansteckung mit möglicher Todesfolge zu schützen. Zum Erscheinungszeitpunkt des Bilderbuches Drin-Bleib-Monster im April 2020, das wir in Kapitel 6 analysieren, gelten zum Teil schon die auch heute noch aktuellen Schutzmaßnahmen in Deutschland: Kontaktbeschränkungen (Lockdown von März 2020 bis Mai 2020), das Abstandhalten, die Nies- und Hustetikette und 177 Bilderbücher und Health Literacy das gründliche Händewaschen (siehe BMfG 2021). Gleichzeitig mit dem am 22.03.2020 in Kraft getretenen Lockdown führen viele Firmen die Möglichkeit des Homeoffice für ihre Mitarbeitenden ein, wo es möglich ist. Bundesweit ist bei Kontakt zu einer infizierten Person eine Quarantäne möglich (ebd.). Das Tragen einer (medizinischen) Maske, die Coronaschutzimpfung, Zugangsregelungen für öffentliche Einrichtungen/ Veranstaltungen via 2/ 3G, 1G oder 2G+ gelten zum Erscheinen des Bilderbuches noch nicht. Insgesamt kann die Coronapandemie als komplexes Thema charakterisiert werden, welches aufgrund seiner Aktualität häufig einer gewissen Vagheit sowie einem Wandel bezüglich vieler Informationen unterliegt. Zur Eindäm‐ mung des Pandemiegeschehens ist es unabdingbar, dass die Informationen von der Bevölkerung verstanden und umgesetzt werden. Auch Kinder, bei denen eine Infektion in den meisten Fällen zwar asymptomatisch bzw. ohne schwere Folgen verläuft, die aber dennoch Virus-Übertragende sein können, sind hiervon nicht ausgeschlossen. Kinder können jedoch im Vergleich zu Erwachsenen an weniger Vorwissen und Vorerfahrung anknüpfen, um corona(-schutzmaß‐ nahmen)bezogene Informationen zu verstehen und anzuwenden. Ihre HL muss sich erst noch entwickeln (siehe Bröder/ Carvalho 2020). Hierzu zählt auch der geeignete Umgang mit beunruhigenden Informationen (weltweite Pandemie, hohe Infektionszahlen/ Sterblichkeitsraten) und den daran anknüpfenden Um‐ ständen (Hygienemaßnahmen, Homeschooling, Social Distancing usw.), welche insbesondere für Kinder eine große psychische Belastung darstellen können (siehe Ravens-Sieberer et al. 2021). Aufbauend auf der aktuellen Gesundheits‐ krise und im Umgang mit entsprechenden Gesundheitsinformationen ergibt sich für Kinder aber gleichzeitig die Chance, ihre HL-Fähigkeiten zu stärken (siehe Bröder/ Carvalho 2020: 55 f.). In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, wie die Vermittlung coronabezogener Gesundheitsinformationen an die spezifischen Bedürfnisse von Kindern angepasst werden kann. Einen ersten Ansatz dafür liefern Meaghann Weaver und Lori Wiener (2020) mit ihren Über‐ legungen zu einer kindgerechten Kommunikation über die Coronapandemie. Diese werden wir im Folgenden erläutern, um daran anschließend Leitfragen für die Analyse von Bilderbüchern auszuformulieren. Aus den Leitfragen gehen Anforderungen an die Beschaffenheit von Bilderbüchern über das Coronavirus hervor, die wir im Anschluss anhand einer exemplarischen Analyse überprüfen. 5 Bilderbücher und coronabezogene Health Literacy Weaver und Wiener (2020) entwickeln einen Ansatz zur kindgerechten Kom‐ munikation über die Coronapandemie, den sie aus dem palliativmedizinischen 178 Christina Guedes Correia und Lisa Porps 5 Wir haben das Vorgehen mit den ersten vier Prinzipien, die hier frei aus dem Englischen übersetzt sind, pilotiert. Weaver und Wiener (2020: 10 f.) benennen ferner die folgenden Prinzipien: Connection, Preparedness, Community Building, Death as Part of the Life Cycle, Legacy. Eine Auswertung dieser noch ausstehenden Prinzipien ist wünschens‐ wert. Bereich ableiten. Die Kommunikation kann hier als besonders herausfordernd gelten, da Kindern und Eltern komplexe medizinische Zusammenhänge erklärt und hoch emotionale und belastende Inhalte vermittelt werden müssen. Pal‐ liativmedizinische Fachgesellschaften betonen daher den besonderen Nutzen der Kommunikation für die Zusammenarbeit zwischen Patient: innen und me‐ dizinischem Personal, der zentral für den Erfolg der Behandlungsprozesse ist und eine „high-quality communication“ (Blazin et al. 2018: 2) in diesem Setting notwendig macht. Suzanne Boucher et al. (2020: 52) heben diesbezüglich den positiven Effekt palliativmedizinischer Kommunikationsstrategien hervor, die Kindern besonders in diesen traumatisierenden Lebensabschnitten Ängste nehmen können. Ein Übertrag palliativmedizinischer Kommunikationsprinzi‐ pien für Kinder auf gesundheitliche Krisensettings wie Pandemien, in denen Kinder ebenfalls vielen Stressoren, Ängsten und unter Umständen auch trau‐ matischen Erlebnissen ausgesetzt sein können, erscheint daher sinnvoll, um gesundheitsbezogenes Wissen kindgerecht zu vermitteln. Weaver und Wiener (2020) formulieren neun Prinzipien einer möglichst schonenden Aufklärung für Kinder über das Coronavirus. Die ersten vier Prinzipien (Ehrlichkeit, Re‐ silienz, Sicherheit, Sensibilität) greifen wir im Folgenden nacheinander auf. 5 Hierbei fassen wir zunächst die wichtigsten Punkte Weaver und Wieners (2020) zusammen und formulieren daraufhin Anforderungen an die Beschaffenheit von Bilderbüchern über die Coronapandemie in Form von Leitfragen. Hieraus ergibt sich ein Analyseraster, das in Tabelle 1 eingesehen werden kann. 5.1 Ehrlichkeit Die Aufklärung über die aktuelle Lage sollte realitätsnah und ehrlich erfolgen, um eine vertrauensvolle Umgebung zu schaffen. So können Unsicherheiten, Verwirrungen und falsche Vorstellungen minimiert werden (hierzu auch Tu‐ cker 2006: 208). Bezogen auf das Coronavirus resultiert aus dieser Maxime, dass Kinder sowohl über das Virus, seine Übertragungswege und mögliche Krankheitsverläufe (asymptomatisch, milder Verlauf, schwerer Verlauf ggf. mit Todesfolge) als auch über entsprechende Schutzmaßnahmen (AHA-L-Regel, Social Distancing, häusliche Quarantäne, 3G-Regel) informiert werden sollten, wenn sie danach fragen. Hieraus ergibt sich folgende Leitfrage für die Bilder‐ 179 Bilderbücher und Health Literacy buchanalyse: Klärt das Bilderbuch realitätsnah über das Coronavirus auf, indem es die oben genannten Aspekte thematisiert? Wenn ja, inwiefern? Tab. 1: Kriterienraster für die Bilderbuchanalyse 5.2 Resilienz Kinder orientieren sich an den Strategien der Emotions- und Stressbewältigung (Resilienz), die sie in ihrem Umfeld beobachten. Insofern stellen vor allem Eltern (siehe auch Stadler/ Walitza 2021: 132), aber auch Protagonist: innen in Bilderbüchern (siehe hierzu PDST 2020) eine wichtige Modellfunktion dar. Ein 180 Christina Guedes Correia und Lisa Porps 6 Nach Piaget (1947) befinden sich 4-jährige Kinder in der präoperationalen Phase des Denkens. In diesem Stadium werden literarische Erzeugnisse oftmals sehr emotional rezipiert und Bedrohungen aus der Fiktion können sich auf den Gemütszustand des Kindes übertragen (siehe Tatsch 2012). positives Vorbild zu sein bedeutet, negative Emotionen wie Furcht, Angst und Trauer als etwas Natürliches zu betrachten. Nur so kann über Möglichkeiten zur Überwindung schwieriger Phasen nachgedacht werden. Hinsichtlich der Kom‐ munikation über die Coronapandemie kann festgehalten werden, dass Themen wie die soziale Isolierung oder Verlustängste, die für Kinder sehr belastend sind, wichtige Gesprächsgegenstände darstellen. Hierauf aufbauend kann über Bewältigungsmöglichkeiten (alternative Formen des sozialen Miteinanders, Aktivitäten in der Familie usw.) nachgedacht werden. Hieraus ergibt sich für die Bilderbuchanalyse folgende Leitfrage: Bietet das Bilderbuch Anreize zur Stressbewältigung, indem es emotional belastende Aspekte der Coronapandemie und die damit verbunden negativen Emotionen sowie einen geeigneten Umgang thematisiert? Wenn ja, inwiefern? 5.3 Sicherheit Kinder sollten erfahren, wie sie den Alltag für sich selbst und ihr Umfeld sicherer gestalten können. Indem sie handlungsfähig werden, kann ihnen ein Gefühl von Sicherheit gegeben werden (siehe auch Stadler und Walitza 2021: 138 f.). Bezogen auf die Coronapandemie erscheint vor allem die Anleitung und das Einüben der geltenden Schutzmaßnahmen wie z. B. der AHA-L-Regel relevant. Im Hin‐ blick auf die Bilderbuchanalyse ist demnach folgende Frage leitend: Vermittelt das Bilderbuch Handlungsfähigkeit, indem es zu relevanten Schutzmaßnahmen anleitet und zu deren Einübung auffordert. Wenn ja, inwiefern? 5.4 Sensibilität Die Inhalte sollten an die Neugierde, den Entwicklungsstand und die aktuellen Emotionen des Kindes angepasst werden, um es so vor zu viel oder zu wenig Informationen zu schützen. Pauschale Empfehlungen sind u. E. kaum zu treffen. Eine Anpassung des Inhalts erfolgt idealerweise individuell und situationsab‐ hängig. Eine grobe Orientierung kann jedoch das Adressatenalter und der damit zu erwartende Entwicklungsstand bieten. Insofern wir im Folgenden ein Bilderbuch für 4-Jährige analysieren, erwarten wir, dass die Kommunikation im Bilderbuch schonend erfolgt. 6 Die Kinder sollten emotional aufgefangen werden und Möglichkeiten zur Distanznahme erhalten. Hieraus ergibt sich die folgende Leitfrage: Vermittelt das Bilderbuch die Inhalte schonend, indem es die 181 Bilderbücher und Health Literacy 7 www.phildius.com/ (last accessed: 29.06.2022). Kinder emotional auffängt und Möglichkeiten zur Distanznahme anbietet? Wenn ja, inwiefern? 6 Analyse des Bilderbuchs Drin-Bleib-Monster - Alma hat coronafrei Mit dem Ausbruch des Coronavirus erschienen viele Bilderbücher zu dem Thema (siehe hierzu Moruzi et al. 2021). Hierunter auch das narrative Bilderbuch „Drin-Bleib-Monster“ von Sophia M. Phildius (Phildius 2020). Dieses haben wir bezugnehmend auf die oben aufgeführten Leitfragen analysiert, um einschätzen zu können, inwiefern es als geeignetes Kommunikat zur Vermittlung corona‐ bezogener Gesundheitsinformationen betrachtet werden kann. Die Analyse orientiert sich an der narroästhetischen Vorgehensweise nach Tobias Kurwinkel (2020), die Bild- und Textinformationen als jeweils eigenständige Bedeutungs‐ träger begreift, welche in ihrer Wechselbeziehung zueinander interpretiert werden müssen. Unsere Analyseergebnisse sind im Folgenden pro Leitfrage aufgeführt und werden am Ende zusammenfassend diskutiert. Vorab findet sich eine kurze Inhaltsangabe. 6.1 Inhaltsangabe Das Bilderbuch Drin-Bleib-Monster erschien im April 2020 im Selfpubli‐ shing-Format über die tredition GmbH. Illustriert und getextet von Sophia M. Phildius und unter Mitarbeit von Claudia M. Müller ist es für junge Rezi‐ pient: innen ab vier Jahren ausgewiesen. Es handelt von der Protagonistin Alma, die pandemiebedingt zu Hause bleiben muss. Beim Verlassen ihrer Wohnung wird Alma von einem Drin-Bleib-Monster aufgehalten. Es will Alma davon überzeugen, dass man auch zu Hause Spaß haben kann. Das Bilderbuch stellt auf jeder Doppelseite jeweils eine Szene aus Almas Corona-Alltag und den damit verbundenen Herausforderungen dar. An die narrativen Inhalte anknüp‐ fend können zusätzlich Sachinformationen über das Coronavirus nachgelesen werden. Diese sind in orangefarbene Informationsblasen eingelassen und stehen in keinem direkten Zusammenhang mit der fiktionalen Handlung. Das Bilder‐ buch ist im Hardcover- und Paperbackformat sowie als E-Book zugänglich. Über die Homepage der Autorin stehen zusätzlich eine Online-Version, Vorlesevideos auf Deutsch und in Gebärdensprache, eine Übersetzung ins Englische sowie Ausmalbilder kostenlos zur Verfügung. 7 182 Christina Guedes Correia und Lisa Porps 8 Die Angabe der Seitenzahl bezieht sich hier und im Folgenden immer auf die zugrun‐ deliegende Doppelseite im Bilderbuch. 9 Die Fettmarkierungen heben hier und im Folgenden die zentralen Analyseaspekte hervor. 6.2 Analyseergebnisse 6.2.1 Ehrlichkeit Am Beispiel von Almas Familie präsentiert das Bilderbuch den Entwurf eines Familienalltags unter Coronabedingungen und die damit verbundenen Her‐ ausforderungen. Die Protagonistin Alma, deren Alter auf den Bereich der Grundschulzeit geschätzt werden kann, muss aufgrund der geltenden Kontakt‐ beschränkungen zu Hause bleiben. Sie fühlt sich dort gefangen und findet keine alternative Beschäftigung. Der Handlungsverlauf bietet eine Reihe von Möglich‐ keiten, um über die Coronapandemie aufzuklären und an die Lebenswirklichkeit der Kinder anzuknüpfen. Diese werden auf den einzelnen Bilderbuchseiten vor allem durch die Platzierung der Informationsblasen genutzt, mittels derer ausgewählte Szenen der Narration durch passende Sachinformationen ergänzt werden. Hier wird auf das Virus und seine Übertragung durch virenbelagerte Gegenstände sowie durch eine Tröpfcheninfektion hingewiesen (S. 2). 8,9 Die Bil‐ derbuchbilder unterstützen dabei das Verständnis abstrakter Zusammenhänge, z. B. die Vorstellung, dass „Viren so klein [sind], dass wir sie nicht sehen können“ (S. 2), indem ein heranzoomender Effekt genutzt wird (siehe Abb.1). Abb. 1: Coronaviren auf Türklinke, Phildius: Drin-Bleib-Monster (2020: 2) Die Krankheitsverläufe werden ebenso dargelegt. Das Bilderbuch geht sowohl auf eine mögliche Asymptomatik („Manche Menschen werden auch gar nicht krank“, S. 9) als auch auf einen leichten („auf der ganzen Welt sind Menschen krank geworden“, S. 3) sowie einen schweren Krankheitsverlauf mit Todesfolge 183 Bilderbücher und Health Literacy („ein paar sind sogar gestorben“, S. 3; „vor allem ältere Personen sind durch das Virus gefährdet“, S. 7) ein. Zudem werden verschiedene Schutzmaßnahmen thematisiert: Hierzu zählt vor allem das Händewaschen (siehe auch Kapitel 5.3). Darüber hinaus wird auf die Schließung von Schulen und Kitas (S. 1), das Tragen von Masken (S. 2), die häusliche Quarantäne (S. 4), das Abstand halten (S. 4), die Nies-Etikette (S. 5), die Homeoffice-Regelung (S. 8) und das Zuhause bleiben (S. 9, 13) eingegangen. Die Möglichkeiten, sich auf Corona testen oder dagegen impfen zu lassen, werden nicht thematisiert, da sie zum Zeitpunkt der Bilderbuchveröffentlichung noch nicht bestanden. Die in der Fiktion dargestellte Wirklichkeit kann dementsprechend als reali‐ tätsnah eingestuft werden. Einschränkend muss jedoch festgehalten werden, dass die Sachinformationen weder sehr detailreich sind noch strukturiert aufeinander aufbauen. Für sich genommen bieten sie keine Übersicht über die Thematik. Die Kritikpunkte müssen jedoch vor dem Hintergrund des zugrundeliegenden Bilderbuchtypus beurteilt werden. Es handelt sich nicht um ein Sachbuch, sondern um eine Erzählung, die an geeigneten Stellen mit Sachinformationen angereichert ist. Dieses Konzept führt zu Abstrichen bei der Detailliertheit und Übersichtlichkeit coronabezogener Sachinformationen. Jedoch können dafür auf Ebene der Narration emotionale Aspekte der Corona‐ pandemie ausführlich behandelt werden (siehe Kapitel 6.2.2). 6.2.2 Resilienz Die emotionale Belastung Almas durch die Coronapandemie bildet den zen‐ tralen Gegenstand des Bilderbuchs. Sie wird durch ihren Konflikt mit dem Drin-Bleib-Monster sichtbar. Er entsteht dadurch, dass das Monster sie daran hindert, die Wohnung zu verlassen. Als Alma das Monster bemerkt, versucht sie es loszuwerden (S. 3). Ihre Versuche werden pluriszenisch dargestellt. Alma schleift das Monster hinter sich her (erste Szene), zerrt an seinen Armen (zweite Szene), versucht es abzuschütteln (dritte Szene) und bleibt schließlich resigniert stehen, wobei sie signalisiert, dass sie weder mit dem Monster spielen noch mit ihm befreundet sein möchte (Szene 4). Almas negative Emotionen werden hierbei sowohl auf Bildebene durch Mimik und Gestik als auch auf Textebene durch emotionsaufgeladene Wörter, wie z. B. „grimmig“ oder Lautmalereien wie „Aaargh! “ oder „Uuufff! “ deutlich hervorgehoben (siehe Abb. 2). 184 Christina Guedes Correia und Lisa Porps Abb. 2: Almas negative Emotionen, Phildius: Drin-Bleib-Monster (2020: 3) Almas Familie kann das Drin-Bleib-Monster nicht sehen und ihr somit nicht helfen. Mit dem Monster alleinbleibend beginnt Alma, dieses zu akzeptieren. Hiermit wird ein Wendepunkt in der Erzählung markiert und Alma nähert sich dem Monster an. Gemeinsam schaffen sie es schließlich, die Langeweile zu überwinden und nach Aktivitäten zu suchen, „die man auch ganz toll drinnen machen kann“ (S. 13). Auf zwei Doppelseiten, die in ihrer Ausgestal‐ tung sogenannten Wimmelbildern nachempfunden sind (siehe Abb.3), werden mögliche Aktivitäten visualisiert. Die textlosen Seiten sind farbig aufwendig und detailreich gestaltet und zeigen, wie Alma und das Monster miteinander spielen. Hierbei kommen gehäuft fantastische Elemente wie z. B. Fische aus Büroklammern, ein U-Boot aus Pappe oder ein Dschungel aus Topfpflanzen vor. Die Darstellungsweise verdeutlicht, was das Spielen für Alma leistet. Es stellt eine Möglichkeit dar, für einen Moment aus dem stressbelasteten Corona-Alltag zu fliehen und sich zu erholen. Auf den darauffolgenden Seiten wird Alma sichtbar glücklich dargestellt. Mit ihrem Vater plant sie neue Aktivitäten für den kommenden Tag. Insofern Alma eine Identifikationsfigur darstellt, kann ihre Bewältigungsstrategie als Vorbild für junge Rezipient: innen fungieren. Es kann zusammengefasst werden, dass Almas emotionale Belastung und ihre Langeweile während der Coronapandemie die Themenschwerpunkte des Bilderbuches bilden. Sie wird durch den Konflikt mit dem Drin-Bleib-Monster greifbar. Indem Alma das Drin-Bleib-Monster und damit auch ihre negativen Emotionen akzeptiert, kann sie über Möglichkeiten nachdenken, diese zu überwinden, was ihr schließlich auch gelingt. 185 Bilderbücher und Health Literacy Abb. 3: Alma und das Drin-Bleib-Monster spielen, Phildius: Drin-Bleib-Monster (2020: 11) 6.2.3 Sicherheit Das Bilderbuch thematisiert die gängigen Schutzmaßnahmen während der Coronapandemie (siehe 6.2.1). Einige davon werden stärker, andere weniger stark in den Fokus gerückt. Das Thema Händewaschen erstreckt sich auf einer gesamten Doppelseite (S. 6). Alma steht zusammen mit dem Drin-Bleib-Monster am Waschbeckenrand und seift sich ihre Hände ein. Hierbei entstehen Sei‐ fenblasen, die sich auf der gesamten Bilderbuchseite verteilen. Fünf dieser Seifenblasen sind durchnummeriert. In ihrem Inneren werden verschiedene Handlungsschritte dargestellt, die in ihrer Reihenfolge den Vorgang des Hände‐ waschens visualisieren. Eben jene Handlungsschritte werden auch im Erzähl‐ text expliziert und innerhalb der Informationsblase mit passenden Erklärungen angereichert. Insofern ergibt sich aus dem Zusammenspiel von Text- und Bildelementen eine Anleitung zum Händewaschen, die sich in verschiedene Schritte gliedert (siehe Abb. 4). Auch beim Thema Nies-Etikette (S. 5) ergeben Text- und Bildinformationen zusammen gesehen eine Handlungsanweisung. Alma beobachtet, wie ihr kleiner Bruder Jannis niest. Wie er dies tut, wird sowohl auf Erzähltextebene („Jannis niest in seine Armbeuge“, S. 6) wiedergegeben als auch auf Bildebene dargestellt. Zusätzlich findet sich ein Hinweis hierzu in der Informationsblase („Wenn du husten oder niesen musst, tu dies in deiner Armbeuge.“, S. 6), der durch eine Erklärung ergänzt wird („So steckst du die Menschen um dich herum weniger an.“, S. 6). Auch diese Passage kann als eine Art Anleitung gelesen werden, die das korrekte Niesen und Husten vorführt. 186 Christina Guedes Correia und Lisa Porps 10 Kursivsetzungen sind von uns vorgenommen und dienen hier und im Folgenden zur Markierung analyserelevanter Aspekte, die spezifisch für Kapitel 6.2.4 sind. Bezugnehmend auf die Leitfrage kann festgehalten werden, dass das Bilder‐ buch insofern Handlungsfähigkeit vermittelt, als dass es Anleitungen für das Händewaschen und Niesen präsentiert, die nach oder während der Lektüre ent‐ sprechend eingeübt werden können. Hierdurch kann bei Kindern ein Gefühl von Sicherheit vor einer möglichen Infektion entstehen. Das Tragen von Masken, das Abstand halten sowie die häusliche Quarantäne werden weniger ausführlich behandelt. Hierauf bezogen kann keine Handlungsfähigkeit vermittelt werden. Die marginale Behandlung resultiert aus dem Setting der Erzählung, welche im häuslichen Umfeld Almas verortet ist. Hier können vor allem das Abstand halten sowie das Tragen von Masken als weniger relevant gesetzt werden. Abb. 4: Anleitung zum Händewaschen, Phildius: Drin-Bleib-Monster (2020: 6) 6.2.4 Sensibilität Die Narration wird im personalen Erzählstil aus der Perspektive Almas darge‐ boten, ist emotional sehr aufgeladen (z. B. „Alma sitzt schmollend in ihrem Zimmer. Wegen diesem blöden Virus hat ihre Schule zu.“, S. 1) und macht somit Identifikationsangebote für eine junge Leserschaft, die sich in der gleichen Situation befindet. 10 Hierauf aufbauend kann eine Anschlusskommunikation angeregt werden, in der die aktuelle Gefühlslage der Kinder aufgefangen wird 187 Bilderbücher und Health Literacy (siehe Kapitel 6.2.2). Demgegenüber findet durch den sehr sachlich gehaltenen Text in den Informationsblasen zum einen eine Art Entemotionalisierung statt (z. B. „Die Menschen werden von dem sogenannten Coronavirus krank.“, S. 1). Zum anderen werden Erklärungen dargeboten, die zu einem Verständnis gegen‐ über den coronabedingten Einschränkungen anregen (z. B. „Die Kindergärten und Schulen sind geschlossen, damit sich das Virus nicht ausbreiten kann“, S. 1). Hierdurch kann eine Distanznahme zur individuellen Betroffenheit angeregt werden. Betrachtet man die Inhalte der Informationsblasen, so fällt aus, dass hier deutlich sensiblere Informationen zum Coronavirus thematisiert werden als auf Ebene der Narration. Während auf der Sachebene erwähnt wird, dass „[auf] der ganzen Welt […] Menschen krank geworden und ein paar […] sogar gestorben“ (S. 3) sind, ist Almas Mutter in der Fiktion zwar krank „zum Glück hat sie es [das Virus] jedoch nicht“ (S. 4). Auch Almas Oma geht es gut, obwohl „vor allem ältere Menschen […] durch das Virus gefährdet“ (S. 7) sind. Da die Sachinformationen für den narrativen Handlungsverlauf nicht unmittelbar relevant sind, können diese beim Vorlesen situations-, bedarfs- und altersgerecht in Gänze rezipiert, adaptiert oder ausgespart werden. Im Sinne einer ehrlichen Kommunikation (siehe Kapitel 5.1) erscheint es jedoch ratsam, den Sachinformationen in dem Bilderbuch Beachtung zu schenken, um insgesamt eine ehrliche und damit vertrauensvolle Atmosphäre zu schaffen. In den Informationsblasen fallen zudem Formulierungen auf, die den Inhalt relativieren und abmildern, z. B. „Da es bisher noch keine Medikamente gegen das neue Virus gibt, müssen wir auf uns achtgeben“ (S. 3), „Auf der ganzen Welt sind Menschen krank geworden […]. Aber mittlerweile sind zum Glück viele wieder gesund.“ (S. 3) sowie einen positiven Ausblick in die Zukunft bieten, z. B. „Viele Wissenschaftler arbeiten an Medikamenten“ (S. 12). Insofern kann die Vermittlung der coronabezogenen Inhalte in dem Bilder‐ buch als schonend betrachtet werden. Hierzu trägt vor allem der hohe Identi‐ fikationswert der Protagonistin bei, durch den Kinder emotional aufgefangen werden können, sowie die Trennung von sachlichen (bildlichen/ schriftlichen) und narrativen Inhalten, über die Möglichkeiten zur Distanznahme geschaffen wird. 7 Diskussion Das vorliegende Bilderbuch folgt den von Weaver und Wiener (2020) genannten Kommunikationsprinzipien: 1. Die Coronakrise wird ehrlich dargestellt (siehe Kapitel 6.2.1), wenngleich Einschränkungen bezüglich der sachlichen Informationsdichte und -struktur 188 Christina Guedes Correia und Lisa Porps 11 Amy Cummins verweist z. B. auf eine Passage des Bilderbuchs, in der Kinder als nicht gefährdet dargestellt werden und legt diese Aussage mit der Faktenlage, „COVID-19 can result in severe disease among persons of all ages” (CDC 2020) gegenüber. Bei dieser Beurteilung bleiben Überlegungen hinsichtlich einer schonenden Kommunika‐ tion gegenüber Kindern, wie sie in unserem Analyseraster unter 4.4. verankert sind, unbeachtet. 12 Der Bilderbuchmarkt bietet hier jedoch zunehmend weitere, den aktuellen Umständen angepasste Bilderbücher an, z. B. Dawn McNiff / Zoe Waring (2021) und Stepahnie Noupoué (2020) zum Tragen der Alltagsmasken, Sibylle Mottl-Link / Friederike Schu‐ mann (2021) zum Impfen, Carina Afting / Carla Wessels (2021) zum Testen. auffallen. Diese sind auf den zugrundeliegenden Bilderbuchtypus zurückzu‐ führen. Es handelt sich um eine narrative Erzählung. Das Sachbilderbuch Coronavirus. Ein Buch für Kinder über Covid-19 ( Jenner et al. 2020) wird hingegen bei Amy Cummins (2020) bezogen auf seine Informationsdichte und sachliche, wenngleich simplifizierte Richtigkeit als positiv hervorgehoben. 11 Amy Cum‐ mins stellt jedoch ebenso fest, dass “it does not have named characters” (ebd.: 215). Insofern macht es ggf. weniger Identifikationsangebote als das von uns analysierte narrative Pendant (siehe Kapitel 6.2.2), und eignet sich daher ver‐ mutlich weniger zur Vermittlung von Resilienzstrategien. Eine vergleichende Analyse zwischen sachlichen und narrativen Bilderbüchern kann Aufschluss hierüber geben. Einige relevante Aspekte der Coronapandemie (Maske tragen, Testen, Impfen) werden in Drin-Bleib-Monster nicht fokussiert. Dies ist durch das frühe Erscheinen des Bilderbuches im Frühjahr 2020 zu begründen. 12 Gleiches stellt auch Amy Cummins zu Coronavirus. Ein Buch für Kinder über Covid-19 fest („the book a product of its moment“, ebd.). Das Fehlen der genannten Aspekte führt jedoch auch dazu, dass sich das Bilderbuch diesbezüglich nicht als geeignetes Lernmedium erweist. 2. Es werden Strategien der Resilienz dargestellt (siehe Kapitel 6.2.2). Hierzu wird die Protagonistin Alma als Identifikations- und Vorbildfigur inszeniert, indem sie nicht erkrankt, durch entsprechende Verhaltensregeln aktiv zur Bekämpfung des Virus beiträgt und Widerstand gegenüber ihren negativen Emotionen entwickelt. Diese Beobachtung deckt sich mit der Analyse von 30 coronabezogenen Bilderbüchern bei Kristine Moruzi et al. (2021). Hier zeigt sich, dass die kindlichen Protagonist: innen jeweils gesundheitsbewusst und aktiv sowie bemerkenswert widerstandsfähig und resistent gegen die Krankheit dargestellt werden. 3. Das Bilderbuch präsentiert ferner Handlungsmöglichkeiten (v. a. Hände‐ waschen, Nies-Etikette), die ein Gefühl von Sicherheit geben können (siehe 6.2.3). Auch Cummins (2020: 213) hält für Coronavirus. Ein Buch für Kinder über 189 Bilderbücher und Health Literacy 13 Wenig bekannt ist jedoch darüber, wie genau Kinder (im Gegensatz zu Erwachsenen) gesundheitsbezogene Informationen wahrnehmen (siehe hierzu Bond/ Rawlings 2020). Eine qualitative Analyse von Bilderbuchvorlesegesprächen, die den Fokus auf das kindliche Verhalten legt, ggf. mithilfe von Eye-Tracking, könnte u. E. entsprechende Hinweise liefern. Covid-19 fest: „[it] underscores how young people have an important role to play in the fight against coronavirus“. 4. Der Inhalt ist kommunikativ angepasst aufbereitet, als dass er sich durch eine besondere Sensibilität (Trennung zwischen Sach- und Narrationsebene, Auslagerung und Entemotionalisierung sensibler Inhalte auf die Sachebene) auszeichnet und für die ausgewiesene Altersgruppe angemessen erscheint (siehe Kapitel 6.2.4). In diesem Sinne kann das vorliegende Bilderbuch als kindgerecht eingestuft werden. Aus den Analysen von Cummins (2020) und Moruzi et al. (2021) lässt sich vorsichtig ableiten, dass dies auch für andere Bilderbücher über die Coronakrise zutreffend ist. Folglich gehen wir davon aus, dass Kinder bei der Bilderbuchrezeption etwas über die Coronakrise lernen und ihre HL-Fähigkeiten erweitern können. Inwiefern sie dies tatsächlich tun, können wir basierend auf unseren Ergebnissen nicht sagen. Interventionsstudien aus anderen Gesundheitsbereichen deuten jedoch darauf hin, dass Bilderbücher das kindliche Gesundheitsverhalten beeinflussen können. De Droog et al. (2014) und Heath et al. (2014) zeigen, dass sie Kinder dazu anregen, (unbekanntes) Obst und Gemüse zu konsumieren. Holzheimer et al. (1998) belegen, dass die Rezeption von Bilderbüchern über das Thema Asthma bei betroffenen Kindern zu einem Wissenszuwachs und damit auch zu einem besseren Krankheitsmanagement führt. 13 Im vorliegenden Bilderbuch zeigt sich u. E. vor allem das Potenzial zur Förderung des physischen und mentalen Umgangs mit gesundheitlichen Krisen, indem Gesundheitsinformationen verstanden und gesundheitsförderliche bzw. -erhaltende Maßnahmen abgeschaut, trainiert und angewandt werden können. Die hier genannten Lernfelder sind anschlussfähig an den fächerübergrei‐ fenden Unterricht in der Grundschule. Es lassen sich diverse Verbindungslinien zu den fachbezogenen Lernzielen nachzeichnen (hier exemplarisch dargestellt anhand der Kernlehrpläne für die Primarstufe in Nordrhein-Westfalen, Schul‐ ministerium NRW 2021): Die medizinische Aufklärung über das Coronavirus knüpft an den Lernbereich „Körper und Gesundheit“ des Sachunterrichts an, in dem u. a. der „Einfluss der Umwelt auf die Gesundheit des Menschen“ (ebd.: 187) thematisiert wird (siehe das Händewaschen und Niesen in Kapitel 6.2.3). Die Schüler: innen sollen ferner lernen, „Gesundheitsvorsorge stärker unter dem 190 Christina Guedes Correia und Lisa Porps Aspekt der Gemeinschaft zu betrachten“ (ebd.: 182) (siehe Kapitel 6.2.1 und Kapitel 6.2.4 zur Darstellung des Schutzes vulnerabler Bevölkerungsgruppen). Im Sinne einer gesunden und bewegungsreichen Lebensführung spielt auch der Sportunterricht eine wichtige Rolle. Im Vordergrund steht hier die Entwicklung einer „umfassenden Handlungskompetenz in Bewegung, Spiel und Sport“ (ebd.: 200). Hier ergibt sich die Möglichkeit, Almas Bewältigungsstrategien (siehe Kapitel 6.2.2.) aufzugreifen und auszuprobieren. Aufbauend auf den im Bilder‐ buch genannten Krankheitsverläufen (siehe Kapitel 6.2.1) kann schließlich eine Anschlusskommunikation angeregt werden, in der über die Themen Krankheit, Leid und Tod reflektiert und emotionale Erfahrungen Almas (siehe Kapitel 6.2.2 und 6.2.4) mit der individuellen Betroffenheit abgeglichen werden. Dies knüpft an Gegenstände der Fächer Praktische Philosophie und Religionslehre an: Die Schüler: innen „erläutern (eigene) Erfahrungen und unterschiedliche Umgangsformen mit Ängsten, Leiden und Tod“ (ebd.: 126) und „untersuchen unterschiedliche Umgangsformen mit Grenzsituationen (u. a. Krankheit und Tod)“ (ebd.). Die Analyseergebnisse offenbaren außerdem, dass das vorliegende Bilder‐ buch auf verschiedenen Ebenen rezipiert werden kann; es exemplifiziert dem‐ nach die diversen Zugangsmöglichkeiten, die für die Gattung des Bilderbuchs als spezifisch gelten (siehe Kapitel 3): Durch den Erzähltext und den in den Infor‐ mationsblasen eingelassenen Sachtext können die Bilderbuchinhalte zunächst lesend erschlossen werden (siehe Kapitel 6.1). Daneben besteht die Möglichkeit eines bildbasierten Zugangs (z. B. bildliche Darstellung von Viren, siehe Kapitel 6.2.1). Folglich können die Bildinformationen eine kognitive Entlastung dar‐ stellen. Zum anderen veranschaulichen sie auf narrativer Ebene den familialen Alltag unter Coronabedingungen sowie Almas emotionale Belastung (siehe Kapitel 6.2.2). Hierdurch ergibt sich die Möglichkeit einer affektiven Lektüre. Ein ähnliches Angebot macht der Erzähltext, der ggf. unter Ausschluss der Sachtexte in den Informationsblasen rezipiert werden kann (Identifikationsangebot über die Figur Alma, siehe Kapitel 6.2.4). Über die Rezeption der Informationsblasen bietet das Bilderbuch neben einer gefühlsbetonten Lektüre die Möglichkeit, den Inhalt sachorientiert zu erschließen. Über die Homepage der Autorin sind darüber hinaus diverse weitere Zugänge möglich, etwa: eine künstlerisch-krea‐ tive Auseinandersetzung mit der Thematik durch Ausmalbilder und Bastelan‐ leitungen (z. B. für Monster-Masken, Monster-Briefe, Bommelmonster), ein audiovisueller Zugang mittels Vorlesevideos sowie die Rezeption in anderen Sprachen (Englisch, Gebärdensprache) durch entsprechende Bilderbuchadapti‐ onen. Hieraus lässt sich insgesamt eine potenzielle Eignung für heterogene Lerngruppen ableiten. Dies ist insofern interessant, als dass bereits vorhandene 191 Bilderbücher und Health Literacy HL-Fähigkeiten im Schulalter nicht als einheitlich einzustufen sind (siehe Kap. 2). Insgesamt deuten die hier diskutierten Aspekte auf ein vorhandenes Potenzial von Bilderbüchern zur Vermittlung von Gesundheitsinformationen und zur frühen Förderung der HL hin, das es noch weiter zu erforschen gilt. 8 Fazit HL ist notwendig für die individuelle Rezeption, das Verarbeiten, Bewerten und Anwenden gesundheitsrelevanter Informationen und somit schlussendlich auch für die individuelle Gesundheit, den Umgang mit Krankheiten und die Lebenserwartung. Neben dem individuellen Nutzen einer gut ausgebildeten HL hat diese auch gesellschaftliche Relevanz, wenn es beispielsweise um die Bearbeitung gesundheitlicher Krisensituationen, wie z. B. der Coronapandemie, geht. Folglich verwundert die Forderung nach einer frühen HL-Förderung nicht. Offen bleibt jedoch zunächst, wie und mit welchen Medien HL-Förderung bei Kindern erfolgen kann und sollte, wenngleich eine entsprechende Umsetzung in Bildungseinrichtungen wie Kindergärten und Schulen gefordert wird. In unserem Beitrag sind wir der Fragestellung nachgegangen, inwieweit Bilder‐ bücher ein geeignetes Kommunikat zur Vermittlung gesundheitsbezogener Inhalte darstellen können und ob sich Potenziale für eine frühe HL-Förderung ableiten lassen. Hierzu haben wir die Coronapandemie, die als aktuell sehr relevantes Gesundheitsthema eingestuft werden kann, fokussiert. Speziell bei Kindern erfordert die Kommunikation hierüber eine sensible Strategie, die sowohl komplexe Themen für Kinder zugänglich und kindgerecht aufbereitet als auch belastende Informationen schonend vermittelt. Der Ansatz von Weaver und Wiener (2020) bietet diese kommunikativen Strukturen in Form von palli‐ ativmedizinischen Kommunikationsprinzipien, die coronaspezifisch modelliert wurden, an. Die Analyse des Bilderbuchs Drin-Bleib-Monster zeigt, dass sich diese Kommunikationsprinzipien in dem Bilderbuch wiederfinden lassen. Der vermutete Mehrwert von gesundheitsbezogenen Bilderbuchinhalten für die Förderung von HL-Fähigkeiten (siehe Kap. 3) bestätigt sich insofern, als dass sich in dem analysierten Bilderbuch kindgerecht aufbereitete HL-Lernfelder identifizieren lassen, die sowohl im häuslichen als auch im institutionellen Kontext implementierbar sind. Die Analysen von Cummins (2020) und Moruzi et al. (2021) (siehe Kap. 7) deuten darauf hin, dass sich unsere Erkenntnisse zumindest auf einige weitere, coronabezogene Bilderbücher übertragen lassen. Es wäre wünschenswert, dies anhand weiterer Bilderbücher zu anderen Gesund‐ heitsthemen zu überprüfen und die Analyse um die weiteren Kommunikations‐ 192 Christina Guedes Correia und Lisa Porps prinzipien Weaver und Wieners (2020) zu ergänzen. Geeignete Bilderbücher sind auf dem Markt frequent verfügbar (siehe z. B. Manworren/ Woodring 1998 zu Operationen und Krankheitsaufenthalten; Turner 2006 zu Krankheit und Verletzungen oder Yamaji et al. 2020 zu Krebs). Die hier genannten Studien führen z. T. Inhaltsanalysen durch, jedoch bleiben die kindgerechte Aufberei‐ tung als Bezugsgröße sowie Überlegungen zum didaktischen Einsatz eher unberücksichtigt. Literatur Primärliteratur Afting, Carina/ Wessels Carla (2021). Karl und der Corona-Test. Ein Projekt der Stabstelle Corona. Kreis Steinfurt. Jenner, Elizabeth/ Wilson, Kate/ Roberts, Nia/ Scheffler, Axel (2020). Coronavirus. Ein Buch für Kinder über Covid-19. Weinheim: Beltz & Gelberg. McNiff, Dawn/ Waring, Zoe (2021). So viele liebe Lachgesichter! Mit großen Klappen und Spiegelfolie. München: Penguin JUNIOR. Mottl-Link, Sibylle/ Schumann, Friederike (Hrsg.) (2021). Keine Angst vor dem kleinen Piks! Heute gehe ich zum Impfen. Bindlach: Loewe. Noupoué, Stéphanie (2020). Eine Maske für den Weihnachtsmann. Eine besondere Weihnachtsfeier in Corona-Zeiten. Hamburg: tredition GmbH. Phildius, Sophia (2020). Drin-Bleib-Monster. Alma hat coronafrei. Hamburg: tredition GmbH. Sekundärliteratur ALA (2007). Bilderbücher im inklusiven Unterricht. Literature for Life: Teaching Health Literacy with Picture Books and Novels. https: / / www.ala.org/ aboutala/ offices/ resour ces/ healthliteracy (last accessed: 29.06.2022) Blazin, Lindsay/ Cecchini, Cherilyn/ Habashy, Catherine/ Kaye, Erica/ Baker, Justin (2018). Communicating Effectively in Pediatric Cancer Care: Translating Evidence into Practice. In: Friedrichsdorf, Stefan (2018). Pediatric Palliative Care. MDPI: Basel u. a. 101-116. BMfG (2021): Coronavirus-Pandemie (SARS-CoV-2). Chronik bisheriger Maßnahmen und Ereignisse. https: / / www.bundesgesundheitsministerium.de/ coronavirus/ chronik -coronavirus.html (last accessed: 29.06.2022) Bollweg, Torsten/ Okan, Orkan (2020). Gesundheitskompetenz messen bei Kindern: ak‐ tuelle Ansätze und Herausforderungen. In: Bollweg, Torsten/ Bröder, Janine/ Pinheiro, 193 Bilderbücher und Health Literacy Paulo (Hrsg.). Health Literacy im Kindes- und Jugendalter. Ein- und Ausblicke. Wiesbaden: Springer, 73-98. Bond, Emma/ Rawlings, Vanessa (2020). Kinder als aktiv Mitgestaltende in Health Lite‐ racy Forschung und Praxis? Von Rhetorik zu Rechten. In: Bollweg, Torsten/ Bröder, Janine/ Pinheiro, Paulo (Hrsg.). Health Literacy im Kindes- und Jugendalter. Ein- und Ausblicke. Wiesbaden: Springer, 549-561. Boucher, Suzanne/ Atout, Maha/ McNamara-Goodger, Katrina (2020). Communication with Children and Their Families. In: Downing, Julia (Hrsg.). Children’s Palliative Care: An International Case-Based Manual. Cham: Springer International Publishing, 51-63. Bräuning, Kerstin/ Müller-Brauers, Claudia/ Schomaker, Claudia (Hrsg.) (2021). Bilderbü‐ cher im fächerübergreifenden Unterricht. Mit Bilderbüchern in heterogenen Lern‐ gruppen unterrichten. Themenheft Praxis Grundschule 2021 (1). Bröder, Janine (2020). Health Literacy in der Kindheit und Jugend: Analyse des aktuellen Diskurses und damit verbundene Herausforderungen und konzeptionelle Überle‐ gungen. In: Bollweg, Torsten/ Bröder, Janine/ Pinheiro, Paulo (Hrsg.). Health Literacy im Kindes- und Jugendalter. Ein- und Ausblicke. Wiesbaden: Springer, 373-392. Bröder, Janine/ Carvalho, Graça (2020). Health Literacy von Kindern und Jugendlichen: entwicklungsbezogene Überlegungen. In: Bollweg, Torsten/ Bröder, Janine/ Pinheiro, Paulo (Hrsg.). Health Literacy im Kindes- und Jugendalter. Ein- und Ausblicke. Wiesbaden: Springer, 55-72. Cummins, Amy (2020). Audience, Genre, and Accuracy in Coronavirus: A Book for Children. CEA Critic 82 (3), 212-217. Droog, Simone de/ Buijzen, Moniek/ Valkenburg, Patti (2014). Enhancing children’s vegetable consumption using vegetable-promoting picture books. The impact of interactive shared reading and character-product congruence. Appetite 73, 73-80. Gressnich, Eva/ Müller, Claudia/ Stark, Linda (2015) (Hrsg.). Lernen durch Vorlesen. Sprach- und Literaturerwerb in Familie, Kindergarten und Schule. Tübingen: Narr Francke Attempto. Heath, Philippa/ Houston-Price, Carmel/ Kennedy, Orla (2014). Let’s look at leeks! Picture books increase toddlers’ willingness to look at, taste and consume unfamiliar vegeta‐ bles. Frontiers in Psychology 5. https: / / www.frontiersin.org/ articles/ 10.3389/ fpsyg.20 14.00191/ full (last accessed: 29.06.2022) Holzheimer, Leisa/ Mohay, Heather/ Masters, Ian (1998). Educating young children about asthma: comparing the effectiveness of a developmentally appropriate asthma educa‐ tion video tape and picture book. Child: Care, Health and Development 24 (1), 85-99. KMK (2004). Gemeinsamer Rahmen der Länder für die frühe Bildung in Kindertagesein‐ richtungen. (Beschluss der Jugendministerkonferenz vom 13./ 14.05.2004/ Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 03./ 04.06.2004). https: / / www.kmk.org/ fileadmin/ D 194 Christina Guedes Correia und Lisa Porps ateien/ veroeffentlichungen_beschluesse/ 2004/ 2004_06_04-Fruehe-Bildung-Kitas.pdf (last accessed: 29.06.2022) KMK (2012). Empfehlung zur Gesundheitsförderung und Prävention in der Schule. Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 15.11.2012. https: / / www.kmk.or g/ fileadmin/ veroeffentlichungen_beschluesse/ 2012/ 2012_11_15-Gesundheitsempfehl ung.pdf (last accessed: 29.06.2022) Knopf, Julia/ Abraham, Ulf (2019). Bilderbücher. Band 1 Theorie, 2. Aufl. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. Kurwinkel, Tobias (2020). Bilderbuch. In: Kurwinkel, Tobias/ Schmerheim, Philipp/ Jakobi, Stefanie (Hrsg.). Handbuch Kinder- und Jugendliteratur. Stuttgart: J.B. Metzler Verlag, 201-219. Lehmden, Friederike von/ Kauffeldt, Johanna/ Belke, Eva/ Rohfing, Katharina (2013). Das Vorlesen von Kinderbüchern als implizites Mittel zur Sprachförderung im Bereich Grammatik. Praxis Sprache (1), 18-27. Leiß, Judith (2020). Bilderbücher im inklusiven Literaturunterricht: Fallstricke und offene Fragen im Zusammenhang mit multimodalem Erzählen. MiDU - Medien im Deutschunterricht 2 (2). https: / / journals.ub.uni-koeln.de/ index.php/ midu/ article/ vie w/ 640/ 676 (last accessed: 29.06.2022) Manworren, Renee/ Woodring, Barbara (1998). Evaluating children’s literature as a source for patient education. Pediatric Nursing 24 (6), 548-553. Moruzi, Kristine/ Chen, Shih-Wen/ Venzo, Paul (2021). Public Health, Polio, and Pande‐ mics: Fear and Anxiety about Health in Children’s Literature. Children’s Literature in Education 53 (1), 97-111. Müller, Claudia (2012). Kindliche Erzählfähigkeiten und (schrift-)sprachsozialisatorische Einflüsse in der Familie. Eine longitudinale Einzelfallstudie mit ein- und mehrspra‐ chigen (Vor-)Schulkindern. Baltmannsweiler: Schneider. PDST (2020). Children’s Books for Wellbeing. https: / / www.pdst.ie/ sites/ default/ files/ Ch ildren%27s%20Books%20for%20Wellbeing%20.pdf (last accessed: 29.06.2022) Pinheiro, Paulo/ Bollweg, Torsten/ Bröder, Janine (2020). Health Literacy im Kindes- und Jugendalter - ein Streifzug. In: Bollweg, Torsten/ Bröder, Janine/ Pinheiro, Paulo (Hrsg.). Health Literacy im Kindes- und Jugendalter. Ein- und Ausblicke. Wiesbaden: Springer, 1-7. Preußer, Ulrike (2015). Das Bilderbuch aus didaktischer Perspektive. Didaktik Deutsch 39, 61-73 Pulimeno, Manuela/ Piscitelli, Prisco/ Colazzo, Salvatore (2020). Children’s literature to promote students’ global development and wellbeing. Health promotion perspectives 10 (1), 13-23. Ravens-Sieberer, Ulrike/ Kaman, Anne/ Erhart, Michael/ Devine, Janine/ Schlack, Ro‐ bert/ Otto, Christiane (2021). Impact of COVID-19 pandemic on quality of life and 195 Bilderbücher und Health Literacy mental health in children and acolescents in Germany. European child & adolescent psychiatry, 1-11. RKI (2020). Soziale Ungleichheit und COVID-19. Journal of Health Monitoring 5 (special issue 7) https: / / www.rki.de/ DE/ Content/ Gesundheitsmonitoring/ Gesundheitsberichterstattung/ GBEDownloadsJ / JoHM_S7_2020_Soziale_Ungleichheit_COVID_19.pdf ? __blob=publicationFile (last accessed: 29.06.2022) RKI (2021). Epidemiologischer Steckbrief zu SARS-CoV-2 und COVID-19. https: / / www.rki.de/ DE/ Content/ InfAZ/ N/ Neuartiges_Coronavirus/ Steckbrief.html; jsession id=EE033C09D50410B76D80C36EA4AF6A4E.internet102? nn=2386228 (last accessed: 29.06.2022) Rothstein, Björn (2013). Ein Sprachhandlungsansatz für das Vorlesen am Beispiel von Hervé Tullets Turlututu. In: Frickel, Daniela/ Boelmann, Jan (Hrsg.). Literatur - Lesen - Lernen. Festschrift für Gerhard Rupp. Frankfurt a.M: Peter Lang, 317-335. Schaeffer, Doris/ Berens, Eva-Maria/ Gille, Svea/ Griese, Lennert/ Klinger, Julia/ Sombre, Steffen de/ Vogt, Dominique/ Hurrelmann, Klaus (2021). Gesundheitskompetenz der Bevölkerung in Deutschland vor und während der Corona Pandemie: Ergebnisse des HLS-GER 2. Universität Bielefeld, Interdisziplinäres Zentrum für Gesundheitskompe‐ tenzforschung. https: / / pub.uni-bielefeld.de/ download/ 2950305/ 2950403/ HLS-GER%2 02_Ergebnisbericht.pdf (last accessed: 29.06.2022) Schiefele, Christoph (2018). Formen und Möglichkeiten des Einsatzes digitaler Medien rund um Bilderbücher im inklusiven Deutschunterricht. peDOCS. Fachportal Päd‐ agogik, Erziehungswissenschaft - Bildungsforschung - Fachdidaktik, 1-31. Schulministerium NRW (2021). Lehrpläne für die Primarstufe in Nordrhein-Westfalen. (Deutsch, Englisch, Kunst, Mathematik, Musik, Praktische Philosophie, Evangelische Religionslehre, Katholische Religionslehre, Sachunterricht, Sport). Düsseldorf: Minis‐ terium für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen. Sénéchal, Monique/ Pagan, Stephanie/ Lever, Rosemary/ Ouellette, Gene (2008). Relations Among the Frequency of Shared Reading and 4-Year-Old Children’s Vocabulary, Morphological and Syntax Comprehension, and Narrative Skills. Early Education and Development 19 (1), 27-44. Sørensen, Kristine/ Broucke, Stephan van den/ Fullam, James/ Doyle, Gerardine/ Pelikan, Jürgen/ Slonska, Zofia/ Brand, Helmut (2012). Health literacy and public health: a sys‐ tematic review and integration of definitions and models. BMC public health 12. https: / / bmcpublichealth.biomedcentral.com/ articles/ 10.1186/ 1471-2458-12-80 (last accessed: 29.06.2022) Stadler, Christina/ Walitza, Susanne (2021). Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf die kindliche Entwicklung - Risikofaktoren und Resilienz. In: Benoy, Charles (Hrsg.). COVID-19 - ein Virus nimmt Einfluss auf unsere Psyche. Einschätzungen und Maß‐ 196 Christina Guedes Correia und Lisa Porps nahmen aus psychologischer Perspektive, 2. Aufl. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer, 131-142. Stark, Linda (2016). Vorlesen und Präteritum. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren. Steitz-Kallenbach, Jörg (2003). Bildersachbücher und Sachgeschichten. Wissensvermitt‐ lung durch Bild und Text. In: Thiele, Jens/ Steitz-Kallenbach, Jörg (Hrsg.). Hand‐ buch Kinderliteratur. Grundwissen für Ausbildung und Praxis. 2. Aufl. Freiburg im Breisgau/ Basel/ Wien: Herder, 114-156. Stiftung Lesen (2019). Vorlesestudie 2019 - Vorlesepraxis durch sprachanregende Aktivi‐ täten in Familien vorbereiten und unterstützen. Repräsentative Befragung von Eltern mit Kindern im Alter von 2 bis 8 Jahren. https: / / www.stiftunglesen.de/ fileadmin/ PD Fs/ Vorlesestudie/ Vorlesestudie_2019_01.pdf (last accessed: 13.04.2022) Stiftung Lesen (2021). Vorlesestudie 2021 - Warum ist Vorlesen in Kitas so wichtig? Repräsentative Befragung von Fachkräften in Kitas. https: / / www.stiftunglesen.de/ fil eadmin/ PDFs/ Vorlesestudie/ 20211027_VLS_PK.pdf (last accessed: 29.06.2022) Tatsch, Isabell (2012). Filmwahrnehmung von Kindern. http: / / www.kinderundjugend medien.de/ index.php/ begriffe-und-termini/ 433-filmwahrnehmung-von-kindern (last accessed: 29.06.2022) Tucker, Nicholas (2006). Depressive Stories for Children. Children’s Literature in Educa‐ tion 37 (3), 199-210. Turner, Joan (2006). Representations of Illness, Injury, and Health in Children’s Picture Books. Children’s Health Care 35 (2), 179-189. Weaver, Meaghann/ Wiener, Lori (2020). Applying Palliative Care Principles to Commu‐ nicate with Children About COVID-19. Journal of pain and symptom management 60 (1), e8-e11. WHO (2017). Shanghai declaration on promoting health in the 2030 Agenda for Sustai‐ nable Development. Health promotion international 32 (1), 7-8. Wieler, Petra (1997). Vorlesen in der Familie. Fallstudien zur literarisch-kulturellen Sozialisation von Vierjährigen. Weinheim: Juventa. Yamaji, Noyuri/ Sawaguchi, Megumi/ Ota, Erika (2020). Talking with Children about Cancer: A Content Analysis of Text in Children’s Picture Books. Health 12 (07), 750-763. 197 Bilderbücher und Health Literacy Mehr als Mutter, Vater, Kind(er) Wer gehört dazu? Familienbilder im aktuellen Bilderbuch Susanne Drogi und Raila Karst Abstract: Als zentrales Motiv der Kinder- und Jugendliteratur gestaltet sich das Thema Familie etwa bis zum Ende des 19. Jahrhunderts in idealisierter Form in unterschiedlichsten Texten. Nicht zuletzt mit den gesellschaftlichen Veränderungen des 20. Jahrhunderts wurden diese - insbesondere durch die gesellschaftlichen Entwicklungen der 1970/ 1980er Jahren - immer realistischer und hielten in ihrer Vielfalt schließlich auch Einzug ins Bilderbuch. Ausgehend von drei aktuellen Erscheinungen auf dem Bilderbuchmarkt diskutieren die Autorinnen Potentiale hinsichtlich eines progressiven Grundschulunterrichts, der die verschiedenen Fachbereiche miteinander verknüpft und sich wagt, über den Tellerrand hinauszublicken. 1 Familie im Wandel - soziale und kulturelle Lernchance(n) Familie wird oftmals als „Keimzelle der Gesellschaft“ beschrieben. Auch wenn dies begrifflich zweifelhaft und ungeschickt ausgedrückt ist - Burkart be‐ zeichnet es als „alte Metapher“ (Burkart 2017: 21) - ist Familie doch in den meisten Fällen die erste und intimste Sozialisationsinstanz. Hier werden erste Erfahrungen mit Nähe und Distanz, Gleichheit und Anderssein gemacht bzw. sollten gemacht werden. Nicht jede Familie ist gleich. So wie sich die Familien‐ formen von der bürgerlichen Großfamilie (um 1900) zur modernen Kleinfamilie hin zur Patchwork-, Regenbogen-, Eineltern- oder Adoptivfamilie hin verändert haben, so offen bleibt auch die Frage, was eine Familie ausmacht. In Zeiten zunehmender gesellschaftlicher Pluralisierung sollte der westeuropäische Blick jedoch nicht als das Maß der Dinge gesetzt werden. Der Blick über die eigenen Grenzen zeigt, dass insbesondere in vielen anderen Ländern Familienkonstel‐ 1 Knapp drei Viertel (74 %) der minderjährigen Kinder wurden 2019 bei Ehepaaren groß, rund 16 % wuchsen bei einem alleinerziehenden Elternteil auf und 10 % lebten bei einem unverheirateten Elternpaar. Zehn Jahre zuvor wuchsen mit 76 % noch etwas mehr minderjährige Kinder bei verheirateten Eltern auf. Fast die Hälfte der minder‐ jährigen Kinder (47 %) wuchs 2019 gemeinsam mit einem minder- oder volljährigen Geschwisterkind heran. Gut ein Viertel (28 %) hatte mindestens zwei Geschwister und ein weiteres Viertel (25 %) lebte 2019 ohne weitere Geschwister im Haushalt (siehe Hochgürtel/ Sommer 2021). 2 Der Grundsatzband ist Teil des Lehrplanes Sachsen-Anhalt. In ihm werden neben Aufbau und Funktion des Lehrplans die Leitideen der Grundschularbeit sowie Hinweise lationen vorzufinden sind, die sich von den uns vertrauten Modellen und Vorstellungen unterscheiden. Wendet man den Blick ins Klassenzimmer, wird auffallen, dass einerseits der Großteil der Kinder in klassischen Kleinfamilien lebt 1 , andererseits das Sprechen über alternative Familienformen - und sei es „nur“, dass die Eltern unterschiedliche Nachnamen tragen - enttabuisiert ist. Für die betreffenden Kinder stellt ihre Familienform die Normalität - wenn man in diesem Kontext diese Begrifflichkeit setzen will - dar. Denn, was ist in einer sich individuali‐ sierenden Gesellschaft schon eine „normale“ Familie? Die Pluralisierung von Lebensformen zieht einen Wandel in Familienstrukturen nach sich, der aner‐ kannt werden will. Da Familie jedoch - egal in welcher Konstellation - eine wichtige Lebens‐ sphäre ist, gilt es als unabdingbar ihre Vielfalt zu betrachten. Aufgrund der sich in ihr widerspiegelnden gesellschaftlichen Pluralität in der Schule kommt insbe‐ sondere Kita und Grundschule als Sozialisationsinstanzen nach der Familie eine Schlüsselfunktion zu. Zu den bisherigen Erfahrungen der Heranwachsenden treten neue hinzu. Sie erhalten Gelegenheiten, soziales Miteinander neu zu erleben sowie einen respektvollen und verantwortungsbewussten Umgang miteinander zu pflegen, Konflikte zu verhandeln und eigene Bedürfnisse und Grenzen zu behaupten. Im kleinen Rahmen der Kern- oder Ursprungsfamilie erhalten Kinder frühzeitig die Möglichkeit sich zu erproben und sind nun aufgefordert, ihr Handlungsspektrum zu erweitern, indem sie sich die Viel‐ falt als Ressource für soziale, aber auch kulturelle Lernprozesse zu Nutze machen. Aufgeschlüsselt findet sich das in den Lehrplänen der Länder auf unterschiedlichste Art und Weise. Insbesondere die Leitideen zum sozialen Lernen, (Grund-)Schule als Lern- und Lebensort sowie Erfahrungsraum zu verstehen, verdeutlichen die Chance der Vielfältigkeit mit all ihren Herausfor‐ derungen, welche in allen Klassenstufen und Fächern Berücksichtigung finden sollten. So bietet der Grundsatzband 2 des Landes Sachsen-Anhalt sechs fächer‐ 199 Mehr als Mutter, Vater, Kind(er) Wer gehört dazu? Familienbilder im aktuellen Bilderbuch zur Kompetenzentwicklung der Erziehungs- und Bildungsarbeit und auch fächerüber‐ greifende Themenkomplexe dargestellt. übergreifende Themenkomplexe an, welche unabhängig vom Fach wenigstens jeweils einmal während der Grundschulzeit bearbeitet werden sollten. Zwei dieser Themenkomplexe lassen sich unmittelbar mit dem Thema „Familie“ verknüpfen: Das Leben in der Gemeinschaft sowie Kulturelle Vielfalt in einer Welt. Darüber hinaus bieten die wertebildenden Fächer Ethik und Religion, aber auch das propädeutisch ausgerichtete Fach Sachunterricht, besondere Anregungen, sich mit dem Thema Familie auseinander zu setzen. Kumulativ werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den unterschiedlichen sozialen Erfahrungsräumen ausgelotet. Die Familie steht als primärer Erfahrungsraum jeweils an erster Stelle, sodass Erfahrungen auf das Schulleben und das gesell‐ schaftliche Leben übertragen werden können. Auch der Umgang mit Konflikten soll dabei thematisiert werden. 2 Familienbilder in der aktuellen Kinder- und Jugendliteratur Finden sich die neuen Familienbilder des modernen Kinderromans der 1970er Jahre mit etwas zeitlicher Verzögerung ab den 1980er Jahren auch im Bilderbuch, sollen in diesem Beitrag Publikationen ab 2010 im Fokus der Betrachtung stehen. Die Bandbreite von Familienformen wird im narrativen Bilderbuch deutlich gemacht: Einelternteil-Familien, genauso wie Nachtrennungs-, Patchwork-, Regenbogen- und Stiefelternfamilien. Dem Bilderbuch kommt hier insofern eine besondere Rolle zu, indem es „literarische und bildkünstlerische Gestaltung[en] von Kindheit und dem Lebensraum Familie wie in einem Brennglas besonders verdichtet erscheinen lässt“ (Oetken 2017: 159). Wertvoll erscheint das Motiv nicht nur hinsichtlich der Tatsache, dass potentiell jede: r kindliche Leser: in sich subjektiv angesprochen fühlt und „die inszenierte fiktive Darstellung mit eigenen Familienerfahrungen in Beziehung setzen“ kann (Ritter/ Ritter 2018: 124). Auch werden hierdurch veränderte Rollenbilder und weitere gesellschaftliche Transformationsprozesse ästhetisch gestaltet. Seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts vollzieht sich eine Pluralisierung von Familienformen, was in der Konsequenz zu einer Hybridisierung des Familienbegriffs führt und neue Begriffe notwendig macht und entstehen lässt. Die Kinder- und Jugendliteratur spiegelt und gestaltet die vielfältigen familialen Diversifizierungsprozesse (siehe ebd.: 121) und damit die Bedingungen, unter denen Kinder und Jugendliche aufwachsen. 200 Susanne Drogi und Raila Karst Der Soziologe Burkart zeichnet nach, wie sich die soziologischen Defini‐ tionen von Familie mit dem Paradigmenwechsel der 1970er Jahre von der sogenannten Normalfamilie modifiziert haben. So sei die Minimaldefinition das „Zusammenleben von mindestens einem Elternteil und einem Kind. Zahlreiche Elemente älterer Bestimmungen von Familie wie Ehe, Vateranwesenheit, zwei Eltern verschiedenen Geschlechts und selbst Verwandtschaft zu den Kindern wurden aus der neuen Definition gestrichen“ (Burkart 2017: 21). Inzwischen hat sich das Konzept des „Doing family“ etabliert, das Familie nicht als etwas Stabiles, Gegebenes, sondern „als multilokales Netzwerk“ (Ritter/ Ritter 2018: 121) versteht, das durch seine Mitglieder in aktiven Konstruktionsleistungen immer wieder neu hergestellt wird (siehe Jurczyk 2013: 67). Bilderbücher - narrativ oder sachlich - eröffnen ihren Adressat: innen Iden‐ tifikationsangebote und Alteritätserfahrungen und lassen nicht-konventionelle Lebensweisen und postmoderne Familienformen erlebbar und akzeptierbar werden. Dieses Potential gilt es auszuschöpfen, denn, obwohl gesellschaftlich unterschiedlichste Formen des Zusammenlebens akzeptiert sind und die Kin‐ derliteratur hier nicht nur zeitgemäß, sondern möglicherweise sogar zukunfts‐ weisend ist (siehe Minges 2010: 258), zeigt eine empirische Studie aus dem Jahr 2005, dass der Familienbegriff von Grundschüler: innen noch deutlich enger ist. 2.1 Familienbilder im Blick von Kindern Kinder erleben und erfahren nicht nur ihre eigene Herkunftsfamilie, sondern lernen durch Freunde und den Bekanntenkreis der Eltern viele Familien kennen - wobei auch literarisch/ medial vermittelte Familienbilder Erfahrungen an‐ bieten, wodurch mentale Konzepte entstehen. Wie auch Steiner et al. (2005) Kinder im Alter von 9 bis 11 Jahren auf der Basis von Bilderbuchlektüren und zugehörigen Fragebögen befragten, initiierten die Autorinnen offene Gespräche zu zwei Bilderbüchern mit Kindern der ersten bis vierten Klasse. Durch die gemeinsame Lektüre mit sich anschließender Diskussion, die durch Impulsfragen geleitet war, sollte versucht werden, implizit bestehende Vorstellungen zur Sprache zu bringen. Kinder der 4. Klassenstufe füllten in der Studie von Steiner et al. nach Bilderbuchlektüren einen standardisierten Fragebogen aus und nahmen an einer Leitfadengestützten Gruppendiskussion teil. Eine zentrale Frage dabei war, welche Formen des Zusammenlebens die Schüler: innen als „richtige“ Familien bewerteten und welche nicht. Die Untersuchung ergab, dass die Befragten am Konzept der Kernfamilie festhielten (siehe Steiner/ Weckler/ Weinert 2005: 106). Dass die im Buch Der unsichtbare Vater (Fried/ Gleich 1999) dargestellte Mutter mit ihrem Sohn Paul allein lebt und keinen Kontakt mehr zum Vater Pauls 201 Mehr als Mutter, Vater, Kind(er) Wer gehört dazu? Familienbilder im aktuellen Bilderbuch 3 Das Sachbilderbuch von Alexandra Maxeiner und Anke Kuhl ist 2010 erschienen und 2011 mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet worden. Die Autorinnen dieses Beitrags schätzen dieses Buch in literarästhetischer wie didaktischer Perspektive sehr, doch verzichten auf eine ausführliche Darstellung, da dies in der Sekundärliteratur in den letzten Jahren bereits geschehen ist und Redundanz vermieden werden soll (siehe hierzu bspw. den Beitrag von Scherer (2017)). hat, änderte nichts daran, dass die Schüler: innen überwiegend den Vater mit zur Familie zählten, den neuen, liebevolleren Partner der Mutter jedoch nicht. Beispielhafte Äußerungen waren hier: „weil ein Papa zur Familie gehört“; „weil zu einer richtigen Familie gehören: Mutter, Vater und Kind(er)“ (Steiner et al. 2005: 107 f.). 37 % der Schüler: innen bewerteten die Einelternfamilie von Paul und seiner Mutter als „richtige Familie“ (ebd.). Offenbar war für die Kinder, die an der Studie teilnahmen, Verwandtschaft das wichtigste Kriterium, um über (Nicht-)Zugehörigkeit zu einer Familie zu urteilen, was noch deutlicher nach einer Lektüre eine Sachbilderbuchs (Meine Familie, deine Familie von Holde Kreul und Dagmar Geisler 1997) wurde (siehe ebd.: 109 f.). Das Zusam‐ menwohnen war wiederum keine notwendige Bedingung. Die Kernfamilie erfuhr die höchste Akzeptanz durch die Kinder, wobei auch Stiefelternfamilien und Einelternfamilien - hier nur Mutter-Kind-Familie - von einem deutlichen Teil der Befragten als „richtige Familien“ anerkannt wurden (siehe ebd.: 111). Vorweg kann festgehalten werden, dass die Kinder implizite Kriterien nutzen, um Familienformen zu bewerten. Verwandtschaft ist hier zentral, aber offenbar nicht das einzige Kriterium. Dass auch Stiefeltern- und Einelternfamilien aner‐ kannt wurden, mag wohl an eigenen individuellen Erfahrungen der Befragten, und damit Vertrautheit, liegen. Angesichts der Familienrealitäten im 21. Jahr‐ hundert gilt es, diese impliziten Kriterien zu erweitern, denn „Blutsverwandt‐ schaft, Ehe und Normalfamilie [erfahren] gegenüber vielfältigen [weiteren] Lebensformen einen Bedeutungsverlust“ ( Jurczyk 2013: 66). Es lohnt deshalb ein Blick in die Sachbilderbücher mit der Frage, welche Kriterien hier entwickelt werden, um Familienentwürfe zu beschreiben: Familie Das sind wir, genauso wie Alles Familie! Vom Kind der neuen Freundin vom Bruder von Papas früherer Frau und anderen Verwandten  3 gehen zunächst vom Kriterium der Verwandtschaft aus, um dann aber familiales Zusammenleben als bewusste Entscheidung aus anderen Gründen (Pflegefamilien, Adoptivfamilien usw.) zu benennen. Familien sind über die Zeit nicht starr, sondern wandelbar und in der Regel teilen sie ein gemeinsames Zuhause, wobei eine Familie auch mehrere (oder kein) Zuhause haben kann. Familien zeichnen sich durch Gewohnheiten, Praktiken, Rituale und Kommunikation aus. Sie verbringen gemeinsam Zeit, sorgen füreinander und sind füreinander verantwortlich bzw. einander verpflichtet. 202 Susanne Drogi und Raila Karst Dabei ist anzunehmen, dass sich Konzepte heutiger Heranwachsender - als Folge der Flexibilisierung der Anschauungen der Erwachsenen um sie herum - weiter geöffnet haben. Um dieser Vermutung nachzugehen, haben die Autorinnen dieses Beitrags im September 2021 zwei Bilderbuchgespräche mit Grundschüler: innen geführt. Mit den Erst- und Zweitklässler: innen wurde Mio war da vorgelesen und besprochen; mit den Dritt- und Viertklässler: innen Familie Das sind wir! An den Gesprächen nahmen jeweils sechs bis acht Kinder teil. Mit einer altersgemischten Gruppe aus Erst- und Zweitklässler: innen wurde das Buch Mio war da gemeinsam rezipiert. Hierin begleitet das Klassenmaskott‐ chen Mio, ein Plüschpinguin, jedes Kind der Klasse einen Tag nach Hause. Jede Doppelseite zeigt mit einem je ganzseitigen Bild eine Familie. Gesprächsimpulse für die Schüler: innen waren u.a.: "Wenn du eine dieser Familien besuchen könntest, welche wäre das? " "In welcher der Familien würdest du dich wohl fühlen? Warum? " und: "Was ist eigentlich eine Familie? ” Die Bilder aller Familien lagen den Kindern nochmal als Farbausdrucke vor. Zu der letzten Frage wurde zunächst die Kernfamilie genannt, wobei nicht ein Kind, sondern viele Kinder als erstrebenswert genannt wurden. Sehr schnell bezogen die Schüler: innen aber auch mehrere Generationen in ihren Familienbegriff ein und es zeigte sich das Bewusstsein, dass räumliche bzw. geographische Nähe keine notwendige Bedingung für das Familie-Sein ist. Uneinig waren die Kinder bei der Frage, ob man auch ohne Kinder eine Familie sein könne. Zunächst wurde es vehement verneint, dann aber von ein paar anderen Schüler: innen relativiert: Argument war hier, dass es Paare gäbe, die keine Kinder bekommen können bzw. dass Kinder auch adoptiert werden könnten und diese dann auch Teil der Familie sind, wenn auch keine Verwandtschaft zwischen Eltern und Kind(ern) bestehe. Die Lernenden bezogen sich hier bei der Abwesenheit von Kindern ausschließlich auf unfreiwillige Kinderlosigkeit. Ebenfalls engagiert diskutiert wurde - bezüglich eines Bildes, das eine Regenbogenfamilie zeigt - die Frage, ob eine Familie zwingend eine Mutter brauche. Die meisten Schüler: innen bejahten dies vehement, jedoch setzte sich ein Mädchen hier deutlich in Opposition und wiederholte mehrmals das Wort „nein“. Dabei war in ihrer Begründung die sexuelle Orientierung nicht relevant, sondern eher das Ausscheiden einer Mutter aus einer Familie durch Trennung oder geographische Entfernung - wenn sie in einem anderen Land arbeiten müsse. Wiederum sehr einig waren sich die Kinder, dass für sie körperliche Nähe („Knuddeln“) ein wesentliches Merkmal von Familie ist. 203 Mehr als Mutter, Vater, Kind(er) Wer gehört dazu? Familienbilder im aktuellen Bilderbuch 4 Zu berücksichtigen ist hier, dass sich die Schüler: innen bereits im Unterricht intensiv mit dem Thema Familie beschäftigt hatten. An den Wänden der Räume und Gänge waren die Bilder, die die Schüler: innen hierzu erarbeitet hatten, ausgestellt. Bei den Dritt- und Viertklässler: innen wurde bei der Frage „Was ist Familie? “ mit dem ersten Redebeitrag das Kriterium der Verwandtschaft genannt, der zweite Beitrag abstrahierte diese Definition deutlich, indem ein beteiligtes Kind formuliert, dass Familie „ein Team ist, das immer zusammenhalten sollte“ (Schü‐ lerin, 9 Jahre). Auch die emotionale Zugehörigkeit im Sinne des Empfindens von Geborgenheit „Da hat man so ganz viele Leute um sich und fühlt sich dann halt auch geborgen.“ (ebd.) wurde von den Schüler: innen betont. Sie griffen auf unterschiedliche, aus ihrem Umfeld bekannte Familienkonstellationen zurück, um so die eigene Herkunftsfamilie zu verorten 4 . Auf die Frage „Wozu sind Familien da? “ entstand eine vielstimmige Schlagwortsammlung: „zum Spaß haben“, „zum Trösten“, „zum Liebhaben“, „zum Trauern“, „zum Tierarzt zu gehen“ (ebd.). Eine Schülerin schloss die Beantwortung mit dem Gedanken „Ich glaube, eine Familie ist dazu da, dass man nicht allein ist.“ (ebd.) ab. Die Wortbeiträge der Kinder machen deutlich, dass für sie Familien Räume bieten, innerhalb derer besondere Gefühle möglich werden und ausgelebt werden können. Aber auch gegenseitige Sorge und Verantwortung, die mit Pflichten einhergehen (z. B. der Tierarztbesuch) kommen zur Sprache. Es scheint so zu sein, dass die 2021 befragten Schüler: innen einen offeneren Familienbegriff haben als die der Studie von Steiner et al. (2005). Dies wird al‐ lerdings sehr vorsichtig formuliert, denn neben dem Blick auf die Methoden der Studien wären hier neben dem zeitlichen Abstand von 16 Jahren Faktoren der Untersuchungsgruppen zu bedenken, über die nur spekuliert werden könnte. Gleichzeitig ist diese Flexibilisierung der impliziten Familienbegriffe durch un‐ terrichtliche Kontexte und eine angemessene Lektüreauswahl zu unterstützen, denn es ist fraglich von welcher Qualität, d. h. auch Zeitgemäßheit, die Bilder- und Kinderbücher in den privaten Haushalten sind. 2.2 Zeitgemäße Familienbilder im narrativen Bilderbuch und im Sachbilderbuch - ein Überblick Marcus Sauermann und Uwe Heidschötter erzählen in Der Kleine und das Biest (2017) von der emotionalen Ausnahmesituation einer Mutter kurz nach der Trennung und den Strategien des Protagonisten mit ihr umzugehen. Dabei zeigt er großes Verständnis für seine Eltern und die aktuellen Veränderungen und agiert als der Gelassenste von allen. Schwerer tun sich die Kinderfiguren mit der Bewältigung des neuen Familienlebens in Uta Krauses Wann gehen die wieder? (2010) und Feiern die auch mit? (2012): Nachdem sich Räubermama 204 Susanne Drogi und Raila Karst und Räuberpapa getrennt und die Räuberkinder sich mit ihrer neuen zirkulären Mobilität angefreundet haben, findet der Vater eine neue Partnerin - leider keine Räuberin, sondern eine Prinzessin mit vielen Töchtern. Die Räuberkinder versuchen zunächst die Beziehung zu verhindern, doch schließlich können sie sich mit der Patchworksituation gut arrangieren, die noch an Buntheit gewinnt als sich die Räubermutter in einen Drachen verliebt. Die Geschichte Zwei Papas für Tango (Schreiber-Wicke/ Holland 2017) beruht auf einem tatsächlichen Ereignis im New Yorker Zoo, in dem zwei Pinguin-Männchen gemeinsam ein Ei ausbrühten und so eine Regenbogenfamilie gründen. Im Kontext der tradi‐ tionellen Kernfamilie thematisieren einerseits Leonora Leitl und andererseits Christian Duda und Julia Friese besondere Herausforderungen für Familien: In Königin für eine Nacht (2019) verfällt die Mutter nach dem Verlust ihrer Arbeit in eine Krise, findet aber mit der Unterstützung der Kinder und des Mannes ein neues Standbein. Schnipselgestrüpp (2010) zeigt einen Jungen in einem nahezu leeren Zimmer, das er mithilfe von Zeitungsausschnitten in eine anregungsreiche, phantastische Welt verwandelt, während die Eltern vor dem Fernseher sitzen. Mit der Verwandlung und Belebung seines Zimmers gelingt es dem Jungen, auch für seine Eltern eine Veränderung zu provozieren und die familiäre Sprachlosigkeit und Starre zu überwinden. Liegt der Fokus im erzählenden Bilderbuch meist auf einer Familienform oder höchstens zweien, die zueinander in Beziehung gesetzt werden, haben Sachbil‐ derbücher den Anspruch, eine größere Komplexität und Vielfalt des Themas zu erreichen, wodurch sehr viele Familienentwürfe und Aspekte familiären Zusammenlebens nebeneinander gestellt werden. 2010 erschien Du gehörst dazu. Das große Buch der Familie von Mary Hoff‐ mann und Ros Asquit und Alles Familie! von Alexandra Maxeiner und Anke Kuhl. Familie das sind wir von Felicity Brooks erschien 2019 und 2021 Das alles ist Familie von Michael Engler und Julianna Swaney; letzteres mit einem deutlich narrativen Charakter. Und schließlich die Geschichte um ein Klassenplüschtier, das nach und nach jede Familie der Schüler: innen kennenlernt und vorstellt: Mio war da (Székessy 2019). Die drei Aktuellsten werden im Folgenden genauer dargestellt und Anregungen für die didaktische Erschließung gegeben. 2.2.1 Das alles ist Familie - für das Kindergarten-/ Vorschulalter Das alles ist Familie von Michael Engler und Julianna Swaney bietet einen narrativen Zugang zum Thema für Kinder ab vier Jahren: Lars und seine Mutter, die erst frisch in den Meisenweg gezogen sind, finden vor ihrem Haus ein Päckchen, doch der Name der Adressaten ist unleserlich. Lars ist neugierig und hat die Idee, an den Häusern im Meisenweg zu klingeln und den Empfänger 205 Mehr als Mutter, Vater, Kind(er) Wer gehört dazu? Familienbilder im aktuellen Bilderbuch ausfindig zu machen. Unterstützt wird er von dem Mädchen Lina, die die Nachbarn besser kennt als der Junge. Im Zuge ihrer „Mission“ werden neun unterschiedliche Familienmodelle vorgestellt: die traditionelle Kleinfamilie, die Regenbogenfamilie (siehe Abb. 1), die Patchworkfamilie, die internationale Fa‐ milie, die Großbzw. Mehrgenerationenfamilie, die Adoptivfamilie und Familien mit einem alleinerziehenden Elternteil. Dabei ist die Vielfalt für Lina schon vertrauter und selbstverständlicher als für Lars, der viele Fragen stellt. Abb. 1: Regenbogenfamilie aus: Das alles ist Familie (Engler/ Swaney 2021: o.S.) Gut gelungen ist, dass sich durch das Päckchen und die anschließende Suche ein roter Faden entwickelt, der den Blick in unterschiedliche Familienhäuser 206 Susanne Drogi und Raila Karst legitimiert. Eine große Vielfalt ist hier gelungen, wenn auch nicht die themati‐ sche Komplexität und Differenziertheit erreicht wird, wie es andere Bücher zum Thema tun. Alle Familien werden in Text und Bild höchst idealisiert dargestellt, d. h. dem Umstand, dass es in Familien auch Konflikte und Disharmonie gibt, wird hier kaum bis gar nicht Rechnung getragen. Auch ist der Meisenweg offenbar eine Einfamilienhaussiedlung, d. h. die dargestellten Familien sind wahrscheinlich der Mittel- und Oberschicht zugehörig und bilden somit nur ein eingeschränktes Bild der unterschiedlichen sozialen Lagen, die sich auch anhand von Wohnräumen zeigt, ab. Können die Leser: innen bei einem Teil dieser Bilderbuchfamilien einen Blick ins Wohnzimmer oder den Garten werfen, lernen sie die anderen nur an der Türschwelle kennen. Damit verbleibt die thematische Auseinandersetzung auf der Bestimmung der Anwesenheit von Familienmitgliedern, deren Anzahl, Geschlecht und Herkunft. Weitere Aspekte wie (subjektive) Bestimmungen: ‚Was macht uns zu einer Familie? ‘ oder: ‚Was ist typisch für unsere Familie? ‘ bleiben unberücksichtigt. Dennoch bietet die Geschichte die Möglichkeit, schon vergleichsweise jungen Kindern gesellschaftliche Vielfalt bewusst zu machen und einen Anlass zu bieten, von der eigenen Familie zu erzählen, wie es das Buch im Paratext mit einer freigehaltenen Stelle für das eigene Familienfoto anbietet. Für die Vorschul- und Schuleingangsphase ist auch vorstellbar, dass Kinder, ähnlich wie Lars und Lina in ihrer Straße, gemeinsam mit Eltern oder anderen Erwachsenen erkunden, welche Familienformen es in ihrem unmittelbaren Lebensumfeld (bspw. im Mehrfamilienhaus, in dem das Kind wohnt, oder im eigenen Freundes- und Verwandtenkreis) gibt. Wird das Buch in der Schuleingangsphase behandelt, könnte die Aufgabe, die eigene Familie zu zeichnen insofern modifiziert werden, als dass die Lernenden sich zu zweit ihre Bilder zeigen und erklären, und im Plenum dann nicht das eigene Familienbild, sondern des Partners/ der Partnerin vorstellen. 2.2.2 Mio war da - Klasse 1 und 2 Das Kinderbuch von Tanja Székessy, das 2020 mit dem Siegel für Vielfalt (KIMI) ausgezeichnet wurde, hat ähnlich narrative Züge wie Das alles ist Familie, denn hier ist es der Plüschpinguin Mio der Klasse 1d, der den Adressat: innen die Familien vorstellt. Seine Aufgaben sind es zu trösten, zu kuscheln, zuzuhören und da zu sein, wie er es selbst in der Rolle eines Ich-Erzählers erklärt. Jedes der 14 Kinder darf Mio für eine Nacht mit zu sich nach Hause nehmen. So erhält das Stofftier intime Einblicke in 14 Familien, die von der Vielfalt unserer Gesellschaft zeugen. Da findet sich die klassische Kleinfamilie, die alleinerziehende Mutter 207 Mehr als Mutter, Vater, Kind(er) Wer gehört dazu? Familienbilder im aktuellen Bilderbuch oder ein Kind, das bei seiner Großmutter lebt. Und genauso ist Kulturalität eine Dimension dieser Vielfalt. Jede Doppelseite zeigt den Besuch bei einem Kind. Die Reflexionen von Mio sind nüchtern-naiv, er nimmt viel wahr, doch überlässt es den Leser: innen, die Tragweite des Wahrgenommenen zu durchdringen. Dabei offenbaren die Bilder beim genauen Betrachten viel mehr über das Kinder- und Familienleben, als Mio tatsächlich äußert. So wundert er sich über das Mädchen Juli, die Hausaufgaben macht, obwohl gar keine auf waren, und darüber, dass sie, genau wie er, wenig spricht, dafür umso mehr im Schlaf. Wenn dann das Bild eine Mutter in dominanter Körperhaltung zeigt, die das Mädchen offenbar gerade Schulstoff abfragt, das Mädchen mit leerem Blick vor sich hinstiert und an der Wand hinter ihr eine Urkunde „1. Platz“ zeigt, gibt sich ein Kinderleben zu erkennen, das Unbeschwertheit nicht (mehr) kennt. Tatsächlich bildet das Buch, v. a. in der Bildsprache, sehr viele Heterogeni‐ tätsdimensionen wie Gender, Kultur, Behinderung, soziale Lage und Religion ab. So gibt es den Jungen Bernd, der offenbar erst dann nach Hause geht, bis er sicher sein kann, dass der Freund der Mutter zur Arbeit gegangen ist. Gemeinsam schauen sie fern; leere Bierflaschen und gefüllte Aschenbecher stehen auf dem Tisch (siehe Abb. 2). Abb. 2: Alleinerziehende Mutter mit Sohn aus Mio war da (Székessy 2019: 22 f.) 208 Susanne Drogi und Raila Karst Dann gibt es Hugo, der mit Mio Computerspiele spielt, während sich die Eltern nebenan streiten, und der selbst entscheidet, wann er ins Bett geht - offenbar bei laufendem Fernseher: erstrebenswerte Freiheit oder traurige Vernachlässigung? Mio lernt Orkan kennen, dessen Mutter und Schwestern alles machen, was er (und sein Vater) wollen, oder Nicki, den Jungen mit Down-Syndrom, den Mio als „ein bisschen verwöhnt“ (Székessy 2019: 29, siehe Abb. 3) bezeichnet - zwei Kinderparadiese? Abb. 3: Kleinfamilie aus Mio war da (Székessy 2019: 28 f.) Nicht von allen Kindern lernt Mio die Eltern kennen: von Amira lernt er das Kindermädchen kennen, Marlon macht für sich und den Pinguin Dosenravioli, weil seine Eltern nicht da sind; Otto lebt bei seiner Oma. Viele kindliche Leser: innen kennen nicht die Familienformen, in denen ihrer Mitschüler: innen leben, wissen nicht, was sie prägt, wie sie nach der Schule empfangen werden und wie gemeinsame Familienzeit genutzt wird. In manchen Familien geht es lauter zu, in manchen leiser, manche Familien haben oft Besuch, andere kaum, in manchen Wohnungen liegen Dinge auf dem Boden herum, in anderen nicht. Aber genauso haben auch manche Familien mehr Sorgen, andere weniger. Das anzuerkennen, ohne zu werten, und dabei genauso wenig oberflächlich zu sein, aufmerksam ohne verurteilend zu sein, scheint nicht einfach. Denn nur in der Differenz liegt noch nicht das Unglück. Das ist Tanja Székessy mit dem naiven Blick des Plüschtiers sehr gut gelungen: Er urteilt 209 Mehr als Mutter, Vater, Kind(er) Wer gehört dazu? Familienbilder im aktuellen Bilderbuch nicht, ob das besuchte Kind glücklich ist oder nicht, ob es dort Geborgenheit erfährt. Dies einzuschätzen, obliegt den Leser: innen. In der gemeinsamen Lektüre in den Klassen 1 und 2 kann mit dem Blick auf die dargestellte Klasse die immense Bandbreite unserer Gesellschaft, freilich ohne Anspruch auf Vollständigkeit, reflektiert werden. Um der Bedeutung der Bilder gerecht zu werden, ist eine Unterrichtseinheit vorstellbar, in der die Schüler: innen zunächst Bilder ihrer eigenen Familien zeichnen. Je nach Fähigkeitsstand wird es Kinder geben, die ausschließlich malen, und Kinder, die zu den einzelnen Bildelementen bereits Wörter oder kleine Sätze schreiben, oder Kinder, die einen kurzen Text verfassen und diesen visuell gestalten (siehe Abb. 4). Diese Bilder können dann präsentiert bzw. im Klassenzimmer ausgehängt werden. Abb. 4: Zeichnungen von Erstklässler*innen (Material Raila Karst) 210 Susanne Drogi und Raila Karst Daran kann sich ein Vorlesegespräch mit dem Bilderbuch anschließen, in dem die Lehrkraft die genaue Wahrnehmung der Figuren, ihrer Mimik und Körperhaltung sowie der Gestaltung der jeweiligen Räume als Familienräume anregt. So kann im Anschluss an das Vorlesegespräch eine vertiefte Reflexion zu folgenden Fragen entstehen: Bei welchem der Kinder würdest du einen Tag verbringen? Warum? Wie verbringen die Familien jeweils gemeinsam Zeit? Was würdest du Mio gern von deinem Zuhause zeigen? Diese Fragen können sowohl im Plenum diskutiert als auch Anlässe für Kleingruppenbzw. Partneraufgaben werden. Ebenso ist vorstellbar, dass die Lehrkraft auf ein vollständiges Vorlesen verzichtet und nur die erste Seite vorliest, auf der die Adressat: innen erfahren, wer Mio ist, was seine Aufgaben sind und dass er jedes Kind mal nach Hause begleiten darf. Daran kann sich eine Kleingruppenarbeit anschließen, in der jede Gruppe einen Farbausdruck einer dargestellten Familie erhält und die Lernenden sich darüber austauschen, was sie aus den Bildern erfahren können: Wie geht es den Kindern auf dem Bild? Mit welchen Adjektiven könnte man das Kind beschreiben? Wie lässt sich sein Zuhause beschreiben? Welche Bilddetails kennzeichnen das Zuhause? Um dem Anspruch, Familie nicht nur über Anzahl und Anwesenheit ihrer Mitglieder, sondern über das ‚Doing Family‘ zu definieren, gerecht zu werden, wäre eine anspruchsvollere Anforderung, dass Schüler: innen - ähnlich wie es Tanja Székessy tut - eine typische Familiensituation malen oder münd‐ lich/ schriftlich beschreiben (bspw. die gemeinsame Mahlzeit am Tisch oder ein Gesellschaftsspiel im Wohnzimmer usw.). Ferner liefert das Buch auch die Grundlage dafür im Sachunterricht über Familienalltag, Rollenbilder in anderen Kulturen, über Gemeinsamkeiten und Unterschiede nachzudenken. 211 Mehr als Mutter, Vater, Kind(er) Wer gehört dazu? Familienbilder im aktuellen Bilderbuch 2.2.3 Familie Das sind wir - Klasse 3 und 4 Abb. 5: Wie Familien sich verändern können aus Familie das sind wir. (Brooks/ Ferrero 2019: 12) Wurde in der Schuleingangsphase mit Mio war da vor allem der Bezug zur eigenen Familie gesucht, soll sich das Blickfeld der Lernenden in Klassenstufe 3 und 4 erweitern. Bezüge zur eigenen Familie bzw. zu bekannten Familienformen, wie es mit Mio war da vorgenommen wurde, sollen zunächst reaktiviert und schließlich als Anknüpfungspunkte für weiterführende Erkundungen genutzt werden. Die eigene - meist westeuropäische Perspektive - kann so hinterfragt werden, was im besten Fall der Erziehung zu Mitmenschlichkeit und Toleranz dient. In einer kulturell, sozial und religiös diversen Gesellschaft ist zu berücksichtigen, dass Kinder aus anderen Kulturen als der dominanten auch andere sinnliche und künstlerische Erlebnisse und Kenntnisse mitbringen, die leicht übersehen werden […]. (Mattenklott 2014, 136) Exemplarisch eignet sich besonders die gemeinsame Lektüre von Familie Das sind wir. Während Mio war da und auch Das alles ist Familie stärker im Narrativen verweilten, hat dieses Buch einen deutlich enzyklopädischen Charakter, welcher jeweils auf einer Doppelseite die wichtigsten Fragen zum Thema beantwortet. Erkundet werden können so verschiedenste Zusammen‐ hänge, welche wiederum Anknüpfungs- und Vernetzungsmöglichkeiten zu den unterschiedlichen Lernfeldern der jeweiligen Fächer ermöglichen. Von 212 Susanne Drogi und Raila Karst der Frage, was eine Familie ist, über Verwandtschaftsbeziehungen, typische Familienaktivitäten, Feste und Familienfeiern (siehe Abb. 6), wird im Anhang darüber hinaus eine Wörterliste mit verständlichen Erklärungen zu komplexen Sachverhalten angeboten. Als besonders gelungen kann die weiterführende mediale Vernetzung des Buches genannt werden, welche sich für die Eigenarbeit anbietet. So bietet der Usborne-Verlag zu guter Letzt Quicklinks zu den im Buch angeschnittenen Fragen an, die über die im Buch erläuterten Erklärungen hinausgehen. Abb. 6: Feste und Familienfeiern aus Familie das sind wir (Brooks/ Ferrero 2019: 23) 213 Mehr als Mutter, Vater, Kind(er) Wer gehört dazu? Familienbilder im aktuellen Bilderbuch Die einfachen, wie von Kindern selbst gezeichneten Vignetten regen dazu an, die eigene Familie näher zu beschreiben oder selbst eine fiktive Familie zu kreieren, zu der neben einer Illustration auch ein Steckbrief erstellt werden kann. Vorlage bzw. Anregungen bieten die zahlreichen Konstellationen im Buch. So können Herkunftsorte benannt und beschrieben werden, was neben geografischen Di‐ mensionen auch kulturelle Unterschiede sichtbar macht. Welche Feste werden besonders gefeiert? Wer wird zu einer Familienfeier alles eingeladen - auch hier können außergewöhnliche Unterschiede sichtbar werden. Was isst die Familie an Feiertagen oder an ganz normalen Tagen? Welche Bräuche werden in den unterschiedlichen Familien gepflegt? Im Bereich Lesen können weiterführend typische Märchen und Sagen eines Landes oder einer Region vorgestellt werden. Auch die Frage nach der Religion kann gestellt und vergleichend erörtert werden. Interessant ist es auch zu untersuchen, welche unterschiedlichen Arten des Rechnens es in den unterschiedlichen Ländern gibt. Für das Fach Musik bietet es sich an, neben Liedern auch landeskundliche Instrumente und Tänze zu entdecken. Alle Aspekte können so in einem Lapbook zusammengestellt und präsentiert werden. Schließlich kann im Plenum nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden geforscht werden. Welche Schnittmengen ergeben sich und wie lassen sich Brücken bauen hin zu einem Verständnis für die anderen? Denn schließlich sollten alle dadurch geeint sein, dass jedes Kind eine Familie hat - egal in welcher Konstellation. 3 Ausblick Familie lässt sich nicht erst im 21. Jahrhundert ausschließlich über die (Nicht-)Anwesenheit bestimmter (und miteinander verheirateter oder ver‐ wandter) Akteur: innen bestimmen, sondern vor allem auch durch regelmäßige aktive Handlungen ihrer Mitglieder, die Gemeinsamkeit, Zugehörigkeit und emotionale Beziehung als Familien herstellen (siehe Abb. 7). Daher wäre die Frage ‚Wer gehört zu deiner Familie? ‘ oder auch die Wertungsfrage ‚Ist das eine richtige Familie? ‘, wie sie in der Studie von Steiner et al. (2005) formuliert wurde, zu ersetzen durch die Frage ‚Was macht (d)eine Familie aus? ‘ bzw. auch ‚Was ist das Besondere an deiner Familie? ‘ Damit können die impliziten Kriterien der Schüler: innen sowie ihr Verständnis für gesellschaftliche Diversität am Beispiel der Familie erweitert werden. 214 Susanne Drogi und Raila Karst Abb. 7: Gemeinsame Tätigkeiten in Familien/ Fürsorge. aus: Familie das sind wir (Brooks/ Ferrero 2019: 19) Dabei bergen die Familienbilder der vorgestellten Sachbücher und erzählenden Sachbücher insofern großes Potential, da hier über soziale Gemeinschaften und Gesellschaft nachgedacht werden kann, ohne zu komplex werden zu müssen. 215 Mehr als Mutter, Vater, Kind(er) Wer gehört dazu? Familienbilder im aktuellen Bilderbuch 5 Oder auch Schreimutter von Jutta Bauer (2000) über eine Pinguinmutter, die ihr Kind so sehr anschreit, dass es in seine Einzelteile zerfällt. Doch die Mutter sammelt alle Teile wieder ein, fügt sie liebevoll zusammen und entschuldigt sich bei ihrem Kind - ein Buch für das Kindergartenalter. Wie gezeigt werden konnte, bilden die Bücher - v. a. Mio war da und Familie Das sind wir - zahlreiche Dimensionen von Heterogenität ab, sodass sich - im Idealfall - alle Schüler: innen angesprochen fühlen können. Einem Umstand, dem Tanja Székessy in dieser Zusammenschau am besten gerecht wird, ist darzustellen, dass Familie nicht immer ein glücklicher Ort ist, an dem jedes Kind Geborgenheit erfährt. Familie Das sind wir thematisiert zumindest, dass innerhalb von Familien ganz vielfältige Gefühle durchlebt werden: so auch Trauer, Einsamkeit und Eifersucht. Alles Familie! geht hier weiter, indem auch benannt wird, dass Kinder in manchen Familien angeschrien oder gar geschlagen werden. Möglicherweise könnte dies ein Anspruch an künftige Sachbilderbücher sein, auch diese Familienrealitäten noch mehr zu benennen. Im erzählenden Bilderbuch haben diese Themen schon Eingang gefunden: Zu benennen ist hier Klein (Wirsén 2016), ein fiktives Wesen, das zuhause Angst hat, weil sich die Eltern so heftig streiten und das sich einer Erzieherin im Kindergarten anvertrauen kann. 5 Die vorgestellten Bücher bieten zahlreiche Anlässe, fächerübergreifende Unterrichtseinheiten bzw. Projekte zu entwickeln, innerhalb derer sich nicht nur auf eins der Bücher beschränkt werden muss bzw. sie jeweils auch ausschnitthaft genutzt werden können. Die vorgestellten Ideen sind jeweils so konzipiert, dass ein gemeinsames Lernen den jeweiligen Könnensständen entsprechend ermöglicht werden kann. In jedem Fall eröffnen die Bücher vielfältige Zugänge für die Entfaltung persönlicher und sozialer Kompetenzen auf unterschiedlichen Anspruchsni‐ veaus, indem Lernende Neues kennenlernen, Vorurteile abbauen und die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme weiter entfalten können und so auch grundlegende demokratische Kompetenzen ausbauen. Gleichzeitig spiegeln die Bücher im Nebeneinanderstellen vieler Familienkonstrukte eine Vielzahl von Seinsentwürfen, die für Heranwachsende orientierende Funktion für eine selbstbestimmte Lebensgestaltung haben kann. Die Welt der Familie wird weder im Kinderbuch noch im Lehrbuch der Familienso‐ ziologie einfach abgebildet. Vielmehr entstehen ständig kulturelle Konstruktionen, die sich in Metaphern und Bilder kleiden, in szenische Arrangements und narrative Logiken. (Burkart 2017: 33) 216 Susanne Drogi und Raila Karst Literatur Primärliteratur Bauer, Jutta (2000). Schreimutter. Weinheim: Beltz & Gelberg. Brooks, Felicity/ Ferrero, Mar (2019). Familie das sind wir. Regensburg: Usborne. Duda, Christian/ Friese, Julia (2013). Schnipselgestrüpp. Weinheim: Beltz & Gelberg. Fried, Amelie/ Gleich, Jacky (1999). Der unsichtbare Vater. München: Hanser. Engler, Michael/ Swaney, Julianna (2021). Das alles ist Familie. München: arsEdition. Hoffmann, Mary/ Asquit, Ros (2010). Du gehörst dazu. Das große Buch der Familie. Frankfurt am Main: Fischer Sauerländer. Krause, Uta (2010). Wann gehen die wieder? München: arsEdition. Krause, Uta (2012). Feiern die auch mit? München: arsEdition. Kreul, Holde/ Geisler, Dagmar (1997). Meine Familie, deine Familie. Bindlach: Carl Loewe. Leitl, Leonora (2019). Königin für eine Nacht. Mannheim: Kunstanstifter. Maxeiner, Alexandra/ Kuhl, Anke (2010). Alles Familie! Vom Kind der neuen Freundin vom Bruder von Papas früherer Frau und anderen Verwandten. Leipzig: Klett Kinder‐ buch. Sauermann, Marcus/ Heidschötter, Uwe (2017). Der Kleine und das Biest. Leipzig: Klett Kinderbuch. Schreiber-Wicke, Edith/ Holland, Carola (2017). Zwei Papas für Tango. Stuttgart: Thiene‐ mann. Székessy, Tanja (2019). Mio war da. Leipzig: Klett Kinderbuch. Wirsén, Stina (2016). Klein. Leipzig: Klett Kinderbuch. Sekundärliteratur Burkart, Günter (2017). Szenarien und Narrative. Soziologische Familienbilder zwischen individualisierter Vergangenheit und einer ungewissen Zukunft. In: Roeder, Caro‐ line/ Ritter, Michael (Hrsg.). Familienaufstellungen in Kinder- und Jugendliteratur und Medien. München: kjl&m17.extra. kopaed, 19-36. Dierckx, Heike (2005). Einelternfamilien - erziehungswissenschaftliche Betrachtungen einer familialen Lebensform und ihrer Darstellungsweisen in der zeitgenössischen Kinderliteratur. In: Wieners, Tanja (Hrsg.). Familienbilder und Kinderwelten. Kinder‐ literatur als Medium der Familien- und Kindheitsforschung. Frankfurt am Main: Johann Wolfgang Goethe-Universität, 7-38. Hochgürtel, Tim/ Sommer, Bettina (2021). Lebenssituation von Kindern. Bundeszen‐ trale für politische Bildung. https: / / www.bpb.de/ nachschlagen/ datenreport-2021/ fa milie-lebensformen-und-kinder/ 329569/ lebenssituation-von-kindern (last accessed: 22.07.2022) 217 Mehr als Mutter, Vater, Kind(er) Wer gehört dazu? Familienbilder im aktuellen Bilderbuch Jurczyk, Karin (2013). Familienrealitäten heute: Vielfalt, Leistungen, Überforderungen. In: Förster, Chari/ Höhn, Kariane/ Schreiner, Sonja A. (Hrsg.). Kindheitsbilder - Fa‐ milienrealitäten. Prägende Elemente in der pädagogischen Arbeit. Freiburg i. Br.: Pestalozzi-Fröbel-Verband, 62-75. Mattenklott, Gundel (2014). Ästhetische Bildung als Aufgabe der Primarstufe. In: Knopf, Julia/ Abraham, Ulf (Hrsg.). BilderBücher Band 1: Theorie. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 135-140. Minges, Britta (2010). Patchworkfamilien in der Kinder- und Jugendliteratur der Gegen‐ wart. Innsbruck: Studienverlag. Oetken, Mareile (2017). Alles ist Familie - Familie im Bilderbuch. In: Roeder, Caro‐ line/ Ritter, Michael (Hrsg.). Familienaufstellungen in Kinder- und Jugendliteratur und Medien. München: kjl&m17.extra. kopaed, 159-171. Ritter, Alexandra/ Ritter, Michael (2018). Familienbande(n) als kinderliterarische Kon‐ struktion und Gegenstand ästhetischer Erfahrungen. In: Mayer, Johannes/ Geist, Barbara/ Krapf, Almut (Hrsg.). Varieté der Vielfalt. Ästhetisches Lernen in Sprache, Spiel, Bewegung Kunst. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 121-141. Scherer, Gabriela (2017). Familienbilder lesen. Didaktische und rezeptionsbezogene Perspektiven auf die Ikonographie von Familie im neuen Bilderbuch. In: Roeder, Caroline/ Ritter, Michael (Hrsg.). Famileinaufstellungen in Kinder- und Jugendliteratur und Medien. Bd. 17. Extra. H. kjl&m. München: kopaed, 165-278. Steiner, Katja/ Weckler, Kathjana/ Weinert, Eveline (2005). Zum Familienbegriff von Kindern - Bilderbücher als Medium in der Kindheitsforschung. In: Wieners, Tanja (Hrsg.). Familienbilder und Kinderwelten. Kinderliteratur als Medium der Familien- und Kindheitsforschung. Frankfurt am Main: Johann Wolfgang Goethe-Universität, 71-118. 218 Susanne Drogi und Raila Karst Bilderbücher im Sachunterricht? Potenziale eines Mediums für sachbezogenes Lernen in heterogenen Lerngruppen Alice Junge, Denise Lüttgering, Floreana Schmidt und Claudia Schomaker Abstract: Im Fokus dieses Beitrags werden Potenziale des (Sach-)Bilder‐ buchs als Medium im Sachunterricht reflektiert, die über einen einfachen Themeneinstieg und einer damit verbundenen Aktivierung und Motivie‐ rung von Kindern für eine Sache hinausgehen. Ausgehend von dem Bildungsauftrag und der Sache des inklusiven Sachunterrichts werden die spezifischen Verknüpfungsformen von Narration und Illustration im (Sach-)Bilderbuch im Hinblick auf die Bildungs- und Fördermöglichkeiten für sachbezogenes Lernen in heterogenen Lerngruppen fokussiert, um mögliche Kriterien zur Auswahl von (Sach-)Bilderbüchern aufzuzeigen. Die Analyse exemplarischer Beispiele unterschiedlicher (Sach-)Bilderbü‐ cher zeigt die unterschiedlichen Möglichkeiten für den Einsatz im Sach‐ unterricht auf. 1 Einleitung Bilderbücher fanden jahrelang vor allem im Elementarbereich oder im pri‐ vaten Umfeld von Kindern als Vorlesemedium ihren Einsatz. Das Potenzial wurde dabei hauptsächlich in der Sprachförderung und der Wortschatzerwei‐ terung gesehen (exemplarisch Lehmden et al. 2017; Schmidt et al. 2019). Das Forschungsinteresse an Bilderbüchern entwickelte sich insofern weiter, als dass der Blick auch auf andere didaktische Disziplinen gerichtet wurde und Potenziale von Lehr-Lern-Settings in verschiedenen Kontexten über den Ele‐ mentarbereich hinaus z. B. in der Schule herausgestellt wurden (siehe Goller 2017; exemplarisch Kočanova/ Šipowa 2017; Vogtländer 2020: 22). Wenn auch der Forschungsschwerpunkt in der Sprachdidaktik liegt, kann der didaktische Wert von Bilderbüchern auch in anderen Unterrichtsfächern herausgearbeitet werden. Für den Sachunterricht gibt es aktuell kaum Forschung zum Einsatz von Bilderbüchern, daher unternimmt dieser Beitrag den Versuch, Potenziale für den Sachunterricht zu beleuchten und konkrete Vorschläge darzustellen. Obwohl es bereits Konzepte und Unterrichtsmaterialien für den Einsatz von Bilderbüchern in anderen Fächern gibt (siehe Thiele 2003: 176 ff.; Vogtländer 2020: 22 f.), stellt Vogtländer (2020: 23) kritisch fest, dass Bilderbücher oftmals „nur als Impulsgeber für den Einstieg in einen Themenbereich genutzt“ werden. Das inhaltliche Spektrum und die Gestaltungsvielfalt von Bilderbüchern haben in den letzten Jahren jedoch gezeigt, dass die ästhetische Gestaltung und die Erzählungen komplex sind und wechselseitig aufeinander verweisen, so dass sich verschiedene Bedeutungsebenen für die Auseinandersetzung mit einem Sachverhalt ergeben können. Auf diese Weise kann ein Bilderbuch systematisch im Verlauf einer Unterrichtseinheit eingesetzt werden, um auch noch nicht Lesenden ein Bild von der Welt zu vermitteln mit dem Anspruch, „dem Kind die Welt in eine Form zu übersetzen, sie ihm vorzustellen in einer Vielfalt, die es seine eigenen Möglichkeiten entdecken lässt, und die ihm Mut und Neugier macht“ (Elschenbroich 2001: 45). 2 Zum Anspruch der Sachbildung in heterogenen Lerngruppen Der von Elschenbroich formulierte Anspruch an das pädagogische und didak‐ tische Handeln von Fach- und Lehrkräften verweist auf das gegenwärtig diskutierte Verständnis inklusiven Sachunterrichts: Inklusiver Sachunterricht versteht sich als Unterricht, der an die vielfältigen Dimensionen der Diversität von Lernenden anknüpft, um davon ausgehend die je individuellen Vorstel‐ lungen zu einem Phänomen zu den je verschiedenen fachlichen Deutungen einer Sache in Beziehung zu setzen (siehe u. a. Lange-Schubert/ Tretter 2017: 277 f.). Inklusion bedeutet, dass alle Dimensionen von Vielfalt und Unterschiedlichkeit in den Blick genommen werden. Das können unterschiedliche Fähigkeiten und Erfahrungen, ethnische Herkunft, Nationalitäten, Sprachen, Religionen und vieles mehr sein. Die Liste, worin sich Kinder unterscheiden, könnte hier nach Belieben fortgesetzt werden. Welche Dimensionen von Heterogenität für pädagogisches [und didaktisches] Han‐ deln relevant sind, ist individuell unterschiedlich und situationsabhängig. So wird die Fähigkeit, einen Straßenbahnfahrplan zu lesen, beispielsweise erst in einer Situa‐ tion relevant, in der diese oder eine vergleichbare Fähigkeit zum Tragen kommt. Kinder können sich hinsichtlich dieser Fähigkeit unterscheiden; dies bleibt ohne entsprechenden Kontext jedoch zunächst unbedeutend (Simon/ Gebauer 2014: 45 f.). 220 Alice Junge, Denise Lüttgering, Floreana Schmidt und Claudia Schomaker Mit Blick auf mögliche Zielsetzungen und die Inhaltsauswahl in einem inklu‐ siven Sachunterricht, der sich als vielperspektivischer Sachunterricht versteht, kommt dem Anspruch, Kinder für eine forschende Haltung zu motivieren und zu sensibilisieren, um damit eine fragende Haltung zur Welt einzunehmen (siehe Pech et al. 2018; Pech/ Schomaker 2013), besondere Bedeutung zu. Ein inklusiver Sachunterricht, der dieses Prinzip der Unterrichtsgestaltung berücksichtigt, gibt den ,echten‘ Fragen von Kindern (siehe Schreier 1989) Raum, in denen sich individuelle Interessen, ein individueller Umgang mit der Welt und subjek‐ tive Bedeutungen widerspiegeln. Die kindliche Motivation, sein individuelles Erleben mit der Welt, in der es lebt, zu verknüpfen, ist dem konzeptionellen Selbstverständnis des gegenwärtigen Sachunterrichts nach Ausgangspunkt für die Planung von Sachunterricht. Es gilt, Wagenschein folgend, Kind und Sache in ein bildendes Verhältnis zu setzen: „Mit dem Kind von der Sache aus, die für das Kind die Sache ist“ (Wagenschein 1990/ 2010: 11). Damit wird aus dem individuell wahrgenommenen Ding eine Sache, die unter einer bestimmten Perspektive fokussiert wird. Denn „kennzeichnend für die sachunterrichtliche Arbeit ist die Bewegung in Spannungsfeldern zwischen den Erfahrungen und Interessen der Kinder einerseits und fachlich erarbeitetem Wissen andererseits, dem Anspruch nach Berücksichtigung individueller Lernvoraussetzungen auf der einen Seite und einem gemeinsamen Lernen, das bestimmte Standards und Kompetenzen für alle erfüllt, auf der anderen Seite“ (Miller/ Brinkmann 2013: 227). Dinge werden im Sachunterricht also erst zu Sachen, wenn ihnen eine bestimmte Bedeutung zugewiesen wird, wenn sie unter einer bestimmten Fragestellung erkundet, beobachtet, betrachtet werden. Es ist somit das Ziel, eine ‚Kultur des Fragens‘ im inklusiven Sachunterricht zu etablieren, um an kindliche (Vor-)Erfahrungen und Interessen anknüpfen zu können; eine intrinsische Motivation für die Auseinandersetzung mit einer Sache offenzulegen; den Kindern durch die Berücksichtigung ihrer Fragen Mitwirkungsmöglichkeiten und Verantwortung für die inhaltliche Unterrichtsgestaltung einzuräumen; eine forschende Grundhaltung im Sinne der Wissenschaftsorientierung zu stärken; das Mit- und Voneinanderlernen der Kinder untereinander anzuregen sowie Anhaltspunkte für die diagnostische Analyse der Lernvoraussetzungen zu erhalten (ebd.: 239 f.). Ein derartig ausgerichteter Sachunterricht vermag den Anspruch der Inklusion einzulösen, dass allen Kindern mit ihren Fragen und Interessen sowie Zugängen zu den Sachverhalten entsprochen wird und sie in ihren je individuellen Bildungsprozessen unterstützt werden. Diese Intentionen werden mit dem didaktischen Einsatz von (Sach-)Bilderbüchern aufgegriffen, denn „die spezifi‐ sche Mischung aus Sachorientierung und Narration verbindet […] kognitives 221 Bilderbücher im Sachunterricht? Lernen mit affektivem Lernen und fördert die Entwicklung von Kognition und Phantasie“ (Steitz-Kallenbach 2003: 154). 3 (Sach-)Bilderbücher - eine Annäherung Sprechen wir von Bilderbüchern, hat vermutlich jede: r von uns eine Vorstellung, was das genau ist: Ein Buch für Kinder, welches mit vielen Illustrationen und wenig oder keinem Text gestaltet ist. Zudem, so fügen Künnemann und Müller an, haben Bilderbücher nur einen geringen Seitenumfang, sind oftmals aus widerstandsfähigem Material und erscheinen in unterschiedlichsten Formaten (siehe 1984: 159). Diese Definition von Bilderbüchern ist mittlerweile nicht mehr zeitgemäß; vielmehr muss der Blick auf das, was als Bilderbuch bezeichnet wird, um die in den letzten Jahren stattgefundene Entwicklung dieser Buchgattung in „ästhetischer, narrativer und buchgestalterischer Hinsicht“ (Kurwinkel 2020: 15) erweitert werden. Nichtsdestotrotz geben diese Ausführungen Hinweise zu einer definitorischen Annäherung, die drei wesentliche Kriterien in den Fokus nimmt: Entscheidend ist zum einen das Alter der Adressat: innen, welches sich entweder am konkreten Alter oder der besuchten Bildungseinrichtung orientiert (siehe ebd.). Zum anderen kann das Text-Bild-Verhältnis zur Definition herangezogen werden. Es zeichnet sich dadurch aus, dass sowohl der Bildtext als auch der Schrifttext „als selbstständiger Bedeutungsträger“ (Kurwinkel 2020: 16) fungieren und ein „Handlungskontinuum [Herv. i. O.]“ (ebd.) eröffnen, welches auch allein durch die Bilder entstehen kann (siehe Kurwinkel 2020: 15 f.). Ein drittes Kriterium, das durchaus kritisch zu betrachten ist, ist der Umfang. Hierfür finden sich durchaus divergierende Angaben, so nennt Thiele (2003: 71) einen Umfang von etwa 30 Buchseiten, während Staiger (2014: 20) präzisiert, dass ein Bilderbuch etwa 24 bis 48 Seiten umfasse. Gegenwärtig ist aber festzustellen, dass immer weniger Bilderbücher diesem Umfangskriterium entsprechen und es sich daher weniger eignet, um ein Buch in diese Buchgattung einzuordnen (siehe Kurwinkel 2020: 17). Es wird deutlich, dass die Gestaltung eines Bilderbuches in Bezug auf die eben genannten drei Kriterien Alter, Text-Bild-Verhältnis und Umfang sehr vielfältig sein kann. Daher ist es darüber hinaus für den gezielten Einsatz von Bilderbüchern im (Sach-)Unterricht wichtig, nicht nur zu wissen, sondern auch zu klären, um welche Art von Bilderbuch es sich handelt, damit die jeweiligen Potenziale voll ausgeschöpft werden können. Dazu können verschiedene Kate‐ gorisierungen vorgenommen werden, die zunächst erzählende Bilderbücher von Sachbilderbüchern unterscheiden. Erzählende Bilderbücher beschreiben eine fiktionale Wirklichkeit, die wiederum in fantastische und realistische Erzählbil‐ 222 Alice Junge, Denise Lüttgering, Floreana Schmidt und Claudia Schomaker 1 Mosbach (2019) differenziert u. a. in deskriptive und narrativ-deskriptive Sachbücher, denen Sachbilderbücher untergeordnet werden. Folgend wird der Begriff Sachbuch so verwendet, dass dieser auch Sachbilderbücher umfasst. derbücher unterteilt werden können. Sachbilderbücher hingegen bilden eine non-fiktionale Wirklichkeit ab, die einen konkreten Bezug zu empirisch-über‐ prüfbarem Geschehen ermöglichen. Dazu zählen Bücher mit wenig bis keinem Text, bei denen die Bilder im Fokus der Lernsituation stehen und Sachbilder‐ bücher mit Bildern, die mit (viel) Text versehen sind, sodass Bild und Text unabhängig voneinander oder ergänzend zueinander betrachtet werden können (siehe Knopf 2018: 24). Kretschmer (2009) merkt an, dass eine Unterscheidung in erzählende Bilderbücher und Sachbilderbücher nicht immer möglich ist, da auch eine Vermischung von Elementen denkbar ist (siehe ebd.: 28). Die Vielfalt an Gestaltungsmöglichkeiten von Sachbilderbüchern ist groß, übereinstimmend besteht Konsens darin, „dass sie den Lesern eine bestimmte Sache näherbringen möchten. Gleichzeitig möchten Sachbücher 1 aber auch unterhalten. Sie möchten mit Freude gelesen werden“ (Mosbach 2019: 82). Aus dieser Annahme heraus, unterscheidet Mosbach Sachbücher nach verschiedenen Typologien der Nar‐ ration, die das Verhältnis von „Information und Erzählung“ (ebd.: 83) sowie die Formen der Verknüpfung beider Ebenen in den Blick nehmen. Die von ihr vorgenommene Unterteilung in deskriptive Sachbücher, narrativ-deskriptive Sachbücher und narrative Sachbücher untersucht, inwiefern die „grundlegenden Elemente Zeit und Stimme (das Wie) sowie Elemente der Handlung […] (das Was)“ (ebd.) jeweils umgesetzt sind. Sie knüpft damit an das Verständnis Doderers an, demzufolge ein Sachbuch „den Leser über Dinge, Ereignisse oder Zusammenhänge dieser Welt in einer solchen Weise [unterrichtet], dass durch den Einsatz besonderer sprachlicher Mittel und kompositorischer Kräfte der Leser gleichzeitig unterhalten und belehrt wird“ (Doderer 1961: 14). Mit dieser Unterscheidung eröffnet sich für Mosbach die Möglichkeit, Sachbücher für den Unterricht auch danach auszuwählen, dass unterschiedliche Stile von Narrationen in der Verbindung mit dargestellten Informationen berücksichtigt werden, um so auch „literarische Kompetenz und Lesekompetenz“ (Mosbach 2019: 88) zu fördern. Neben den unterschiedlichen narrativen Darstellungsmöglichkeiten in Sach‐ bilderbüchern nehmen hier auch die jeweiligen Illustrationen gegenüber dem traditionellen Bilderbuch eine eigene Funktion ein. Die Bilder in einem Sachbil‐ derbuch unterstützen nicht lediglich den Text (Kongruenz von Text und Bild), sie können die Informationen des Textes ergänzen (Komplementarität) oder diesen gezielt erweitern (Elaboration) (siehe Lieber 2019: 88). Insofern ist die Art und Weise der bildlichen Darstellung im Sachbilderbuch ein grundlegendes 223 Bilderbücher im Sachunterricht? Qualitätskriterium. Denn so zeigen die Forschungsergebnisse zum kindlichen Bildinteresse (siehe Kittelmann/ Lieber 2013; Lieber 2012), dass Kinder hier „hohe Ansprüche hinsichtlich der naturalistischen Abbildungsqualität der Bilder“ (Lieber 2019: 88) haben. Bilder in Sachbilderbüchern müssen, da sie eine informatorische Absicht haben, „leserlich (d. h. rein optisch entzifferbar), lesbar (d. h. entschlüssel- und verstehbar) und lesenswert sein (d. h. es lohnt sich für die Adressaten sich mit dem Bild auseinanderzusetzen)“ (ebd.: 87 f., Herv. i. O.). Ein gutes Sachbilderbuch eröffnet Kindern sowohl über die Bildals auch die Textgestaltung die Möglichkeit, Differenzen zu erleben, die sie dazu motivieren, sich intensiv mit den dargestellten Sachverhalten auseinanderzusetzen (siehe Lieber 2012). An diese Potenziale von Sachbilderbüchern knüpft eine besondere Kategorie von Bilderbüchern an (gestalterische Sondertypen), die je nach Ge‐ staltung zu den Erzähl- oder Sachbilderbüchern zählen und von den Lesenden „ein gewisses Maß an Eigenaktivität einforder[n]“ (Knopf 2018: 24), welche die Lesenden zur aktiven „Mitgestaltung der Narration“ (ebd.) anregen (siehe ebd.). In eine ähnliche Richtung geht der von Thiele geprägte Begriff der „Ent‐ grenzung“ (Thiele 2003: 203), weitergedacht als mediale Entgrenzungen, wenn nämlich die mediale Grenze des Bilderbuchs überschritten und der Wechsel des Mediums in ein anderes vollzogen wird (siehe Kurwinkel 2020: 36). Ein Beispiel dafür stellt das in vielen Kinderzimmern vorhandene tiptoi-Lernsystem dar, bei dem unter anderem (Sach-)Bilderbücher durch einen Audio-Stift ergänzt werden. So sollen Kinder in einem Alter ab drei Jahren einen spielerischen Zugang zu Sachthemen erhalten (siehe Ravensburger 2021). 4 Sachbezogenes Arbeiten mit (Sach-)Bilderbüchern im Sachunterricht 4.1 Auswahl von (Sach-)Bilderbüchern für den Sachunterricht: mögliche Kriterien und Potenziale (Sach-)Bilderbücher bieten aufgrund der spezifischen Verknüpfung von Narra‐ tion und Illustration zahlreiche Anknüpfungsmöglichkeiten für didaktische Lehr-Lernzusammenhänge; nichtsdestotrotz ist zu bedenken, dass „das Sach‐ buch für Kinder und Jugendliche […] ein Freizeit-, kein Lehr- oder Schulbuch [ist]. Es baut keinen Lehrgang auf, sondern will unterhalten und Freude be‐ reiten“ (Ossowski/ Ossowski 2011: 382). Insofern ist es notwendig, die Potenziale von (Sach-)Bilderbüchern für (fach-)didaktische Zusammenhänge im Hinblick auf Kriterien zu prüfen, die sowohl dem Medium selbst als auch fachdidaktischen Zielsetzungen gerecht werden. Als zentrales Ziel der Arbeit mit (Sach-)Bilderbüchern im Sachunterricht steht die Aneignung von und der Zugang zur Welt. Kretschmer fasst treffend zu‐ 224 Alice Junge, Denise Lüttgering, Floreana Schmidt und Claudia Schomaker sammen, dass „Fantasie, Imagination und Beobachtungsgabe“ (2009: 11) zentrale Voraussetzungen sind, damit sich Kinder Wissen über die Welt aneignen können und sie stellt fest, dass gute Bilderbücher diese Fähigkeiten fördern. Damit stellen sich konsequenterweise folgende Fragen, nämlich welche Potenziale von (Sach-)Bilderbüchern für den Sachunterricht ausgehen und welche Kriterien (Sach-)Bilderbücher zu ‚guten‘ Büchern machen. Der Sachunterricht verbindet in seiner Didaktik vier Grundaufgaben: Iden‐ titätsbildung, Alltagsbewältigung, Partizipation sowie die Anschlussfähigkeit von Bildung (siehe GDSU 2013: 9 ff.). Ausgerichtet ist die Auswahl der Inhalte des Fachs an sog. Schlüsselproblemen mit Gegenwarts- und Zukunftsbedeutung (siehe Klafki 1992). Klafki stellt sechs epochaltypische Schlüsselprobleme als Orientierung für eine zeitgemäße Allgemeinbildung dar. Sie gliedern sich auf in die Frage von Krieg und Frieden, die Umweltfrage und das ökologische Bewusst‐ sein, das Bevölkerungswachstum, gesellschaftlich produzierte Ungleichheit, Risiken und Potenziale von neuen technischen Steuerungs-, Informations- und Kommunikationsmitteln sowie die individuelle Subjektivität und zwischen‐ menschliche Beziehungen (siehe Köhnlein 2007: 97 f.). Sie dienen als Grundlage für eine kritische Auseinandersetzung mit dem Spannungsfeld der Fachlichkeit bzw. Fachorientierung sowie der inhaltlichen und methodischen Vielperspekti‐ vität des Faches (siehe Heran-Dörr 2013: 90), welche ein zentrales Prinzip des Sachunterrichts darstellt. Dabei ist die Prämisse leitend, dass Themen nicht einseitig, sondern von verschiedenen Perspektiven aus gedacht und behandelt werden. Ziel ist vernetztes Denken sowie damit zusammenhängendes kreatives Problemlösen (siehe GDSU 2013). Der Sachunterricht benennt fünf solcher Perspektiven (sozial- und kulturwissenschaftlich, naturwissenschaftlich, geo‐ graphisch, historisch und technisch), sodass auch die Anschlussfähigkeit an die Bezugsfächer der weiterführenden Schulen sichergestellt ist. Ebenfalls sollen dadurch die lebensweltlichen Erfahrungen und Interessen der Kinder einbezogen werden. Die Perspektiven sind trennscharf genug, um das Kompe‐ tenzwachstum für die Bezugsfächer zu fördern und gleichzeitig sollen den Schüler: innen verschiedene Wege verdeutlicht werden, sich die (Lebens-)Welt zu erschließen (siehe GDSU 2013: 14). Die fachlichen Perspektiven bieten unterschiedliche Ansätze für die Bearbeitung einer Fragestellung oder eines Problems. Perspektivenvernetzende Themenfelder können nur mithilfe des Verständnisses und der Methoden verschiedener Perspektiven beantwortet werden (siehe Stoltenberg 2007: 76). Im Perspektivrahmen Sachunterricht werden hier beispielsweise die Auseinandersetzung mit Fragen der Mobilität, Nachhaltigen Entwicklung, Gesundheitserziehung und Medienerziehung be‐ nannt (siehe GDSU 2013). 225 Bilderbücher im Sachunterricht? Es wird der Anspruch verfolgt, Inhalte so auszuwählen, dass sie in dem Zu‐ sammenhang von Kind (Lebenswelt), Sache (Wissenschaft) und Welt (Bildung) zu verorten sind (siehe Pech 2009: 4). Durch die Geschichten der (Sach-)Bilderbü‐ cher ist meistens eine Anschlussfähigkeit an die kindliche Lebenswelt gegeben, sodass sie sich gut in unterschiedlichen (schulischen) Kontexten einbringen lassen. So nimmt das (Sach-)Bilderbuch in der (vor-)schulischen Bildung eine wichtige Stellung in der kulturellen, literarischen, bildnerischen und medialen Sozialisation ein. Kinder können mithilfe von (Sach-)Bilderbüchern den Umgang mit Bildern erlernen, was die Informationsentnahme, die Intentionalität, die kommunikative und repräsentative Funktionen dieser beinhaltet (siehe Hesse 2015: 54 ff.). Studien belegen die Konstruktion von schulischen Lerngelegen‐ heiten und die didaktischen Potenziale von Bilderbüchern (siehe Kočanova/ Ši‐ powa 2017: 228 ff.). Dabei gilt es zu bedenken, dass der Lernzuwachs der litera‐ rischen Kompetenz bei Schüler: innen (im Unterricht) empirisch nur schwer zu erfassen ist und oftmals implizite, nicht zu beobachtende Lernprozesse angeregt werden (siehe Vorst 2016: 94). Hoffmann (2013) konnte mithilfe einer Studie zu schulischen Vorlesegesprächen zeigen, wie Kinder durch Bilderbücher An‐ regungen zur Perspektivübernahme erhalten (siehe Preußer 2015: 65). Ritter und Ritter (2011) verweisen zudem auf die Möglichkeit einer geschlechtersensiblen, individuell und selbstbestimmt gestalteten Leseförderung durch Bilderbücher, um dem geschlechtsspezifischen Leserückstand bei Jungen entgegenzuwirken (siehe ebd.). Sowohl monolinguale als auch mehrsprachige Kinder werden in ihren sprachlichen und literar-ästhetischen Fähigkeiten gefördert. Zudem unterstützen (Sach-)Bilderbücher die personale und kulturelle Entwicklung, bilden die Grundlage für den Aufbau einer Lese- und Schreibkompetenz und fördern die kindliche Kreativität. Die psycho-soziale Entwicklung wird durch das Lesen von Bilderbüchern gestärkt, indem Stereotypen entgegengewirkt und eine Meinungsbildung in Diskussionen angeregt werden kann. Außerdem eignen sie sich für heterogene Lerngruppen, da sie motivationsfördernd sind und zur Teilhabe aller Schüler: innen beitragen können (siehe Kočanova/ Šipowa 2017: 228 ff.). Explizit aus fachdidaktischer Perspektive lässt sich konkretisieren, dass Bil‐ derbücher, ob nun sach- oder erzählbezogen, einen Kontext schaffen, der durch Vertrautheit und Bedeutsamkeit gekennzeichnet ist. Dinge bzw. Phänomene erscheinen nicht nur singulär, sondern eingebettet in Geschichten und/ oder den Kindern bekannte lebensweltliche Kontexte (siehe Vogtländer 2020: 24; ergänzend siehe Gläser 2017: 154 f.). Dadurch kann ein Alltagsbezug hergestellt werden, der für die Didaktik des Sachunterrichts eine, wenn nicht die bedeut‐ samste Prämisse darstellt (siehe Gläser 2005a). Das gilt insbesondere auch 226 Alice Junge, Denise Lüttgering, Floreana Schmidt und Claudia Schomaker 2 Der vollständige Titel lautet: Alles Familie! Vom Kind der neuen Freundin vom Bruder von Papas früherer Frau und anderen Verwandten. Folgend kurz Alles Familie! . für schwierige, d. h. stärker tabuisierte Themen. So eignen sich „Sachbilder‐ bücher […] in der Primarstufe zunächst zur Visualisierung von bestimmten Sachverhalten. Sie zeigen Wege, wie diese adressatenorientiert verpackt und ggf. vereinfacht werden können“ (Lieber 2019: 91). Der Umgang mit (Sach-)Bil‐ derbüchern im Sachunterricht eröffnet darüber hinaus die Möglichkeit, Ar‐ gumentationsfähigkeit zu fördern, Perspektivwechsel einzuüben, Meinungen anderer anzuhören, zu akzeptieren und sie aufzugreifen und bietet damit in besonderer Weise Potenzial für das Philosophieren mit Kindern (siehe Michalik 2019). So können verschiedene Sachkompetenzen durch die „Förderung von Leseprozessen unterstützt werden“ (Gläser 2005b; Gläser 2017: 158). Im Sachunterricht können beide [Sachkompetenzen als auch die Förderung von Leseprozessen (Anm. d. Verf.)] dadurch gefördert werden, dass Lesestrategien bewusst angewendet werden, die Lesemotivation durch realistische Attribuierung gefördert wird, thematisches Interesse der Kinder berücksichtigt wird und verschiedene Lese‐ leistungsniveaus konkret beachtet werden (Koch/ Giest 2015: 9). Mit Blick auf diese Zielsetzungen des Einsatzes von (Sach-)Bilderbüchern im Sachunterricht werden Kriterien zur Auswahl geeigneter (Sach-)Bilderbücher nach thematischen, pädagogischen und ästhetischen Aspekten unterschieden. Während sich das Thema aus dem Lebensweltbezug der Kinder ergibt und dies von den Lehrkräften in der Regel gut einschätzbar sein sollte (siehe Kretschmer 2009: 28), ist die Prüfung der fachlichen Richtigkeit der präsentierten Informationen im Buch je nach thematischem Schwerpunkt durchaus heraus‐ fordernd. Auch im Hinblick auf die Vermittlung bzw. Reproduktion bestimmter gesellschaftlicher Stereotype oder Normvorstellungen ist - je nach Thema mit unterschiedlicher Intensität - das gewählte Buch zu untersuchen. Exemplarisch kann an dieser Stelle auf die letzte Doppelseite des später als positiv bewertetes Beispiel gezeigten Buches Alles Familie!   2 (Maxeiner/ Kuhl 2017) verwiesen werden. Dieses Sachbilderbuch verfolgt die Intention, unterschiedlichste Fami‐ lienformen in positiv-wertschätzender Weise zu erklären und dabei zu zeigen, dass viele Familienkonstellationen existieren und funktionieren, auch ohne genetische Verbindungen. Auf der letzten Doppelseite des Buches ist es für den/ die Lesende: n dann möglich, eine Art ‚Steckbrief ‘ über die eigene Familie auszufüllen. Während in der Ausgabe von 2010 noch nach Merkmalen gefragt wird, die ein Kind von der Mutter, dem Vater, der Oma oder dem Opa hat, und dies ausschließlich auf Kinder zutrifft, die zumindest die leiblichen Eltern oder 227 Bilderbücher im Sachunterricht? Großeltern kennen und damit bestimmte andere Familienformen ausschließt, ist in der aktuellen Ausgabe (hier 2017) eine positive Veränderung vollzogen worden: Die Frage nach den Merkmalen fehlt, stattdessen kann das Kind beantworten, in welchen Punkten sich die Familie ähnlich und in welchen verschieden ist. Dies öffnet den Blick auf Familie, sodass auch nicht leibliche Kinder hier eingeschlossen werden. Pädagogische und ästhetische Kriterien für (Sach-)Bilderbücher festzulegen, fällt oftmals schwer. Vereinzelt finden sich sog. Kriterienkataloge, die jedoch nicht universell für jede (Lehr-)Situation passen und entsprechend adaptiert werden müssen (siehe Kretschmer 2009: 28 f.). Hilfreich können hier Leitfragen sein, die je nach Themen unterschiedliche Gewichtung erhalten sollten. Kretschmer (2009: 29) schlägt in Anlehnung an Mattenklott (1990) einige solcher Fragen vor, von denen hier eine Auswahl dargestellt wird: ● Welche Auffassung vom Kind und vom Kindsein wird im Buch transpor‐ tiert? ● Welches Weltbild, sowohl politisch als auch gesellschaftlich betrachtet, wird vermittelt? ● Thematisiert es relevante Bereiche mit Lebensweltbezug für die Schüler: innen? ● Wird das kritische Denken durch das Buch gefördert? Unter Betrachtung der vorher herausgestellten Potenziale von (Sach-)Bilderbü‐ chern für den Sachunterricht lassen sich diese Leitfragen im Hinblick auf den Einsatz solcher Bücher noch erweitern. Somit können die eben aufgeworfenen Fragen zur Bewertung von (Sach-)Bilderbüchern nach Mattenklott (1990) für den Sachunterricht um folgende Aspekte ergänzt werden: ● Inwiefern thematisiert das Buch relevante Bereiche im Hinblick auf ein oder mehrere der genannten Schlüsselprobleme, sodass ein Gegenwarts- und Zukunftsbezug hergestellt werden kann? ● Inwiefern bietet das Buch im Sinne von Vielperspektivität die Möglichkeit, eine Sache/ ein Phänomen aus verschiedenen Perspektiven heraus zu be‐ trachten bzw. regt es zumindest dazu an? ● Welche Differenzierungsmöglichkeiten bietet das Buch von sich aus bzw. lässt es sich für die jeweilige (heterogene) Lerngruppe adaptieren (z. B. klare Struktur, wenig/ viel Text, erklärende Bilder usw.)? ● Welche (bildungs-)sprachlichen Kompetenzen werden zum Verständnis des Buches vorausgesetzt? Inwiefern regt das Buch (bildungs-)sprachliche Fähigkeiten der Schüler: innen an bzw. fördert sie? 228 Alice Junge, Denise Lüttgering, Floreana Schmidt und Claudia Schomaker 3 Ausführungen zum Zusammenhang zwischen Denken und Sprache sind z. B. bei Dörner 1998 oder Beyer/ Gerlach 2018 zu finden. Diese Ergänzung ist nicht als vollständig anzusehen, sondern kann - insbeson‐ dere auch je nach Thema und Lerngruppe - stetig erweitert werden. Davon abhängig ist auch, welche Kriterien bei der Auswahl schwerer wiegen als andere, denn nicht immer muss ein Buch ausgeschlossen werden, wenn einige Kriterien nicht oder nur unvollständig zutreffen. Daher scheint ein Ampelsystem, was eine Abstufung zu vergebender Kriterien ermöglicht, durchaus sinnvoll. 4.2 Mit (Sach-)Bilderbüchern die Aneignung von Fachsprache fördern Die Rolle von Sprache im (Sach-)Unterricht ist nicht zu unterschätzen. Schließ‐ lich werden Unterrichtsinhalte sprachlich vermittelt, Interaktionen zwischen der Lehrkraft und den Schüler: innen und unter den Schüler: innen selbst prägen den Unterricht und es gibt Belege dafür, dass Denken und Sprache in einem engen Zusammenhang stehen. 3 Die Komplexität der Kommunikation ist dabei oftmals anspruchsvoll (siehe Archie et al. 2016: 198). Bildungssprache sollte daher nicht nur als Mittel, sondern gleichermaßen als Ziel von Unterricht be‐ trachtet werden (siehe Tajmel/ Hägi-Mead 2017: 7). Daher spricht sich die GDSU für eine Verknüpfung von Sachunterricht und Sprachbildung aus. Schüler: innen sollen sprachlich so begleitet werden, dass sie ihre sprachlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten insofern ausbauen können, dass sie sich zunehmend von der Alltagssprache lösen und Bildungssprache sachadäquat einsetzen können (siehe GDSU 2013: 11). Rank und Wildemann (2015) führen drei wesentliche Merkmale an, die zur Abgrenzung zwischen Alltags- und Bildungssprache herangezogen werden können: Bildungssprache weist eine höhere Informationsdichte auf, ist kontextunabhängig und greift schriftsprachliche Redemittel auf, sodass Bildungssprache insgesamt sprachlich komplexer ist (siehe ebd.: 475). An dieser Stelle zeigt ein Blick auf Bilderbücher, dass Sachbilderbücher, wie beispielsweise „Wieso Weshalb Warum? “-Bücher oder das Buch Alles Familie! (Maxeiner/ Kuhl 2017), eher über einen hohen bildungssprachlichen Anteil verfügen. Sie weisen zum Beispiel eine hohe Informationsdichte auf, indem sie Fachbegriffe einführen und durch die Verwendung von schriftsprachlichen Redemitteln sprachlich komplexer sind. Hingegen sind Texte in erzählenden Bilderbüchern, wie in dem Buch Opa Henri sucht das Glück (Ciancioarulo et al. 2020), eher alltagssprachlich formuliert. Dort werden zum Beispiel keine Fachbegriffe eingeführt, sodass die Informationsdichte und die sprachliche Komplexität wesentlich geringer sind. Die Betrachtung der Sprache verschie‐ dener (Sach-)Bilderbücher zeigt, dass es nicht zwei klare Pole, sondern ein 229 Bilderbücher im Sachunterricht? Kontinuum zwischen Alltags- und Bildungssprache gibt, auf dem die verschie‐ denen Bücher anhand der drei Merkmale eingeordnet werden können. Dieses Kontinuum sollte als Orientierung zur Auswahl von Bilderbüchern genutzt werden, damit die sprachliche Gestaltung des Buches zum Sprachniveau der Schüler: innen und zum Ziel der Unterrichtsstunde passt. Die Arbeit mit (Sach-)Bilderbüchern bietet im Sachunterricht also nicht nur die Möglichkeit, inhaltliche Aspekte aufzugreifen, sondern auch die sprachliche Entwicklung von Kindern zu fördern. Die Bilderbuchbetrachtung gilt dabei als „prototypisches, stark strukturiertes Interaktionsformat […], das aufgrund seiner dialogischen Orientierung hohes Sprachförderpotenzial bietet“ (Schmidt et al. 2019: 312). Dabei können sowohl einzelne Sprachebenen, wie z. B. die semantisch-lexikalische Ebene durch die Erweiterung des (Fach-)Wortschatzes oder der Beziehungen von Begriffen untereinander, als auch übergreifende sprachliche Kompetenzen, wie die Erzählfähigkeit, angeregt werden (siehe Kurwinkel 2020: 193). Hierbei kann die Verknüpfung zwischen Bild und Text lernförderlich sein, indem die Anschaulichkeit der Bilder den sprachlichen Zugang erleichtert und sich förderlich auf die Verständlichkeit auswirkt (siehe Martschinke 2015: 501 f.). Bilder bieten zudem den Vorteil, dass sich jedes Kind unabhängig vom individuellen Sprachniveau sprachlich beteiligen kann (siehe Eder et al. 2017: 18). Die dabei sich entwickelnde Erzählfähigkeit wirkt sich schließlich nicht nur positiv auf die zwischenmenschliche Kommunikation, sondern auch auf das Erlernen von Lesen und Schreiben sowie auf die Bildungs‐ sprache aus (siehe Kurwinkel 2020: 193). Die im Sachunterricht anzustrebenden Denk-, Arbeits- und Handlungsweisen, die im Perspektivrahmen (siehe GDSU 2013) angeführt werden, setzen genau hier an: Auf der einen Seite ist der Einsatz von Bildungssprache eine Voraussetzung, um die Anforderungen der Denk-, Arbeits- und Handlungsweisen zu erfüllen, auf der anderen Seite wird der Erwerb von Bildungssprache durch diese gefördert (siehe Archie et al. 2016: 199). Insofern kommt der Einsatz von Bilderbüchern im Sachunterricht auch der Forderung nach, die perspektivenbezogenen sowie perspektivenübergreifenden Denk-, Arbeits- und Handlungsweisen im Sachunterricht zu berücksichtigen und auszubauen (siehe GDSU 2013). Es wird deutlich, dass sprachliche Kompetenzen Voraussetzung und Ziel zugleich sind, um aktiv am Sachunterricht teilzunehmen. Kompetenzen in diesem Kontext meinen also, „dass Kinder über die sprachlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten verfügen, mit denen sie sachunterrichtliche Problemstellungen lösen und die gewonnen[en] Erkenntnisse dann auch in anderen Kontexten einsetzen können“ (Archie et al. 2016: 199). Es stellt sich nun die Frage, welche 230 Alice Junge, Denise Lüttgering, Floreana Schmidt und Claudia Schomaker 4 Bei Kucharz et al. 2015 sind weitere Ausführungen zu den verschiedenen Sprachlehrst‐ rategien zu finden. Möglichkeiten Lehrkräfte unter Verwendung von (Sach-)Bilderbüchern haben, um die Schüler: innensprache bestmöglich zu fördern? Der Spracherwerb von Kindern erfolgt überwiegend in der Interaktion mit dem sozialen Umfeld (siehe Licandro/ Lüdtke 2013: 4). So fungieren z. B. pädago‐ gische Fachkräfte, wie Lehrkräfte, als sprachliches Vorbild. Sie geben Kindern auf den verschiedenen Sprachebenen Input, sodass sie „die grammatikalischen Strukturen einer Sprache [erkennen], […] ihren Wortschatz [erweitern] und […] die Funktion der Kommunikation [lernen]“ (Kucharz et al. 2015: 98). Lehrkräfte sollten sich ihrer bedeutsamen Rolle bewusst sein und daher „eine reichhaltige und möglichst korrekte Sprache nutzen und dabei bewusst nah an der Standardsprache [also der Bildungssprache (Anm. d. V.)] mit den Kindern kommunizieren“ (ebd.: 99) (siehe ebd.: 98 f.). Das Konzept des Scaffolding (engl. „Baugerüst“) setzt hier an, indem mittels eines Unterstützungssystems das fachliche und sprachliche Lernen der Kinder gefördert werden. Die Erfassung des sprachlichen und fachlichen Bedarfs der Klasse durch die Lehrkraft ist dafür grundlegend, damit schließlich „die Lücken, die zwischen dem, was ein Schüler oder eine Schülerin bereits beherrscht, und dem, was angestrebt ist, durch eine entsprechende Unterrichtsplanung und Unterrichtsinteraktion“ (Kniffka/ Roelcke 2016: 114 f.) geschlossen werden können (siehe ebd.). Quehl und Trapp (2015: 52) fassen passend zusammen: Scaffolding stehe „für die unterstützende Begleitung des/ der Lernenden bei gleichzeitiger Befähigung zu zunehmend selbstständigem Handeln“. So kann das dialogische Lesen bei der Bilderbuchbetrachtung gezielt als Maßnahme zur Sprachförderung eingesetzt werden. Das Besondere dabei ist, dass der Fokus nicht auf spezifischen Inhalten liegt, sondern die Art und Weise der sprachlichen Interaktion zwischen Lehrkraft und Kindern entscheidend ist (siehe Ennemoser/ Hartung 2017: 200). Im Sinne der alltagsintegrierten Sprachförderung sollen einfache Sprachlehrstrategien angewendet werden, um die „Zone der nächsten Entwicklung“ nach Vygotsky (1987) anzustreben. Dabei werden zwei Arten von Sprachlehrstrategien differenziert: Es gibt solche, die der kindlichen Äußerung vorausgehen (z. B. Stimulierungstechniken, wie der gezielte Einsatz von Fragen) und andere, die der kindlichen Äußerung nachfolgen (z. B. Modellierungstechniken) (siehe Kucharz et al. 2015: 101 4 ). Der Forschungsschwerpunkt zur alltagsintegrierten Sprachförderung liegt vor allem im Elementarbereich, dennoch betonen Brauner und Prediger (2018) die Bedeutsamkeit von alltagsintegrierter Sprachförderung auch im Fachunterricht, 231 Bilderbücher im Sachunterricht? auch in weiterführenden Schulen, und ergänzen, dass sich der Einsatz solcher Techniken nicht nur positiv auf die Sprachentwicklung, sondern auch auf den fachlichen Lernzuwachs auswirken kann (siehe ebd.: 229). Grundlegend ist, dass pädagogische Fachkräfte stets ihr eigenes (Sprach-)Handeln reflektieren, um die Qualität des sprachlichen Inputs zu sichern (siehe Hellrung 2012: 94). 4.3 Exemplarische Sachbilderbücher im Mittelpunkt Die Analyse der im folgenden dargestellten Beispiele von (Sach-)Bilderbüchern greift die zuvor reflektierten Potenziale und Kriterien sachbezogenen Lernens in heterogenen Lerngruppen durch den Einsatz von (Sach-)Bilderbüchern auf. Im Sinne eines vielperspektivischen Sachunterrichts liegt der Fokus dabei nicht allein auf der Berücksichtigung einer Perspektive, sondern macht deutlich, dass gleich mehrere Perspektiven im Sinne der Förderung eines vernetzenden Denkens aufgegriffen werden können. Technische Perspektive im Sachunterricht Technik ist ein elementarer Bestandteil der kindlichen Lebenswelt. „Sie sichert [die] Existenz [des Menschen], erleichtert die Bewältigung des Alltags und bereichert die individuellen Lebensweisen; ihre Nutzung birgt andererseits aber auch Gefahren und belastet die Umwelt“ (GDSU 2013: 63). Es gilt damit als über‐ greifendes Ziel, dass jeder Mensch grundlegende Kenntnisse „von Technik und ihren Wirkungs- und Bedingungszusammenhängen“ (ebd.) erwerben sollte, „um Möglichkeiten und Folgewirkungen von Technik zu erkennen und eine humane und zukunftsfähige Technik mitdenken, mit verantworten und mitgestalten zu können“ (ebd.). Für Kinder beschränkt sich der Umgang mit technischen Dingen jedoch oftmals auf ein „Bedienungs- und Umgangswissen“ (ebd.), „zugrunde liegende Funktionszusammenhänge, der produktive Charakter der Technik, die Bindung der Technik an Mittel und Zwecke sowie die Genese und Auswirkungen von Technik bleiben häufig unbekannt und unreflektiert“ (ebd.). Im Perspektivrahmen Sachunterricht werden bewusst die beiden Be‐ reiche ,Natur‘ und ,Technik‘ als zwei eigene Perspektiven ausgewiesen, die zwar vielfach aufeinander zu beziehen sind, sich aber in grundlegenden Zugängen und Fragestellungen unterscheiden. In den Naturwissenschaften ist es das Ziel, Kenntnisse über Wirkungszusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten in der Natur zu gewinnen, die unabhängig vom Menschen vorhanden sind. Antworten auf diese Fragen sind nur solange gültig, bis sie durch eine plausiblere Antwort widerlegt werden. In den Technikwissenschaften geht es darum, ausgehend von einem konkreten Problem eine Lösung zu entwickeln, die abhängig von individuellen und übergreifenden Vorstellungen einen bestimmten Zweck zu 232 Alice Junge, Denise Lüttgering, Floreana Schmidt und Claudia Schomaker erfüllen hat. Kenntnisse aus den Naturwissenschaften können hier zur An‐ wendung kommen, um eine erfolgreiche Lösung umzusetzen. Der Wert einer Lösung hängt davon ab, wie gut oder schlecht sie ihren Zweck erfüllt. Es sind daher auch mehrere Lösungen für ein und dasselbe Problem denkbar (siehe Stiftung Haus der kleinen Forscher 2015: 11; Kosack et al. 2015: 33 f.). Diese Zielstellungen aufgreifend stehen im Mittelpunkt des Buchs Coole Kräfte - So arbeiten einfache Maschinen (Macaulay 2016) die Erläuterung des Aufbaus und der Funktionsweise einfacher Maschinen. Der Autor David Macauly erzählt die Geschichte zweier Tiere im Zoo, die aus ihrem Gehege ausbrechen wollen. Sie bauen mehrere einfache Maschinen wie eine Hebelkonstruktion und schiefe Ebenen, sie nutzen Keile und Bauten aus Rädern und Zahnrädern, einen Flaschenzug und Schrauben. Mit einer Kon‐ struktion aus verschiedenen einfachen Maschinen gelingt ihnen schließlich die Flucht, die jedoch abrupt wieder endet. Detaillierte Zeichnungen verdeutlichen die technischen Prinzipien und Wirkmechanismen der dargestellten Techniken. Das Buch hat einen hohen Aufforderungscharakter, da viele Informationen mit Hilfe von Pop-ups, Klappen und einem Mini-Buch, das aus dem Buch selbst herausgenommen werden kann, zur Funktionsweise von Zahnrädern zu entdecken sind. Unter dem vorderen Buchdeckel befindet sich zudem ein Zahnradmechanismus, der funktionstüchtig ist. Zahlreiche Beispiele zeigen, in welchen Alltagszusammenhängen diese Techniken zum Tragen kommen: So wird die Funktionsweise eines Keils anhand eines Haarschneiders, eines Reißverschlusses und einer Axt gezeigt. Im Kontext der Arbeiten auf einer Baustelle sind Hebel erster, zweiter und dritter Ordnung zu sehen. Auf diese Weise wird die Rahmenhandlung durch konkrete Beispiele aus dem Alltag vertieft, so dass die gezeigten Wirkmechanismen erfahrbar werden. Die im Buch erzählte Geschichte setzt damit an zwei elementaren Zielset‐ zungen technischer Bildung an: Zum einen geht es um „das Identifizieren und produktive Lösen technischer Probleme“, zum anderen um „das analysierende technische Denken als gedankliches Durchdringen technischer Prinzipien, Funktionsweisen und Prozesse wie auch das Bewerten und Kommunizieren von Technik“ (GDSU 2013: 63). Die Erzählung fordert Lesende dazu auf, sich mit technischen Problemstellungen auseinanderzusetzen und die kreative Ausein‐ andersetzung mit Materialien der beiden Protagonisten in die Entwicklung in‐ dividueller Lösungen nachzuempfinden oder auch selbst nachzubauen. Mit Hilfe des Bilderbuchs kann die Erarbeitung der Funktionsweise einfacher Maschinen über den Verlauf einer Unterrichtseinheit immer wieder in Alltagskontexte eingebettet werden, um so die Bedeutung der Auseinandersetzung mit diesen technischen Prinzipien für Schüler: innen erfahrbar zu machen. 233 Bilderbücher im Sachunterricht? Sozialwissenschaftliche Perspektive im Sachunterricht Im Kontext der sozialwissenschaftlichen Perspektive ist der Einsatz von Erzähl- und auch Sachbilderbüchern ebenfalls gut umsetzbar und findet bereits an vielen Stellen Umsetzung in der Schulpraxis. Angelehnt an diese Perspektive, ebenso aber auch perspektivenübergreifend nutzbar, bietet das Sachbilderbuch „Alles Familie! “ (Maxeiner/ Kuhl 2017) einen umfassenden Blick auf das Thema Vielfalt der Familienformen. Es greift damit einen hoch bedeutsamen Aspekt auf, der auch im Perspektivrahmen des Sachunterrichts explizit im Themenbereich Sozialisation aufgegriffen wird: Zu lernende Konzepte dieses Bereichs sind Familie, Aufwachsen, Normen/ Werte, Heterogenität/ Ungleichheit/ Wandel, Kultur, Gruppen, Generation, Geschlecht und Migration. (…) Schülerinnen und Schüler können (…) Familienformen im Hinblick auf das Zusammenleben der Generationen und die Veränderung von Werten miteinander vergleichen (GDSU 2013: 36 f.). Obwohl sich in den letzten Jahrzehnten Familienkonstellationen verändert haben und dies weiterhin tun werden, ist in der Bilderbuchliteratur das Bild der traditionellen Kernfamilie mit einem verheirateten Elternpaar mit ein bis zwei Kindern und zum Teil klischeehafter Rollenverteilung noch immer stark präsent. Dabei verdeutlicht ein Blick auf die Familienstatistik (siehe BMFSFJ 2021) wie wenig passend es ist, ausschließlich Literatur einzusetzen, die ein solches Bild reproduziert, geht es doch an der Lebenswelt vieler Kinder vorbei. Das Sachbilderbuch Alles Familie! greift inhaltlich alternative Familienformen auf und erklärt Familienkonstellationen wie Regenbogen-, Patchwork-, Stief-, Pflege- und Adoptivfamilien sowie Leihelternschaft. Auch getrenntlebende Eltern und Gründe dafür werden thematisiert, Verwandtschaftsbeziehungen erläutert. Insbesondere im großen Anteil an Doppelseiten zu Eigenarten von Familien (Geruch, Lautstärke, Kosenamen, Geheimsprache usw.) können sich Schüler: innen wiederfinden und erleben die weiter oben genannte Bedeutsam‐ keit und Vertrautheit sowie einen großen Alltagsbezug. Durch die ausdrucks‐ starken Illustrationen ist das Buch auch für Schüler: innen mit wenigen Sprach‐ kenntnissen bzw. geringer Lesefähigkeit nutzbar. Betrachtet man beispielsweise ausgewählte Abbildungen ohne den Text dazu, lässt sich mit Schüler: innen ins Gespräch darüber kommen, wie sie die Situation verstehen bzw. interpretieren. Besonders gut lassen sich an diesem als Sachbilderbuch ausgezeichneten Werk die Potenziale einer dialogischen Auseinandersetzung innerhalb der Lerngruppe verdeutlichen: Während die Informationen im Buch Alles Familie! eher auf einer sachlichen Ebene gegeben werden, entsteht durch das „Spre‐ chen-Über“ ein Raum für Förderung von Empathie, Perspektivwechsel, Identi‐ 234 Alice Junge, Denise Lüttgering, Floreana Schmidt und Claudia Schomaker tätsstärkung, der Auseinandersetzung mit Emotionen und das Hinterfragen von Stereotypen. Hierbei ist die Erhebung der Ausgangslage der Kinder von großer Relevanz, sodass auf die individuelle, kulturelle und religiöse Lebenswelt der Schüler: innen sensibel eingegangen werden kann. Letztgenannte Aspekte lassen sich aber auch durch Erzählbilderbücher um‐ setzen, zu denen auch mit einem weiten Blick auf das Thema Vielfalt bereits zahlreiche Veröffentlichungen vorliegen. Vielfalt ist ein zahlreiche Aspekte umfassender Bereich, der im Sachunterricht als Denk-, Arbeits- und Handlungs‐ weise des Respektierens und Tolerierens kultureller Deutungen und Werte repräsentiert ist. Hier geht es darum, eine anerkennende Haltung gegenüber gesellschaftlicher Vielfalt und Differenzen bei den Schüler: innen zu entwickeln und zu fördern (siehe GDSU 2013: 33). Exemplarisch sei hierfür auf die Bücher Puppen sind doch nichts für Jungen (Flamant/ Englebert 2017) sowie Keine Angst im Andersrum ( Jones 2015) verwiesen, die sich auf unterschiedlichen Leseni‐ veaustufen dem Thema Vielfalt annähern (ausführlicher siehe Junge/ Lüttgering 2021). Dass auch mithilfe von Erzählbilderbüchern Sachlernen umgesetzt werden kann und dabei eigene Möglichkeiten entstehen, zeigt das folgende Beispiel anhand des Themas Glück, welches im Sachunterricht vielperspektivisch be‐ trachtet werden kann. Dabei können z. B. aus geografischer Perspektive kultu‐ relle Unterschiede in der Betrachtung von Glück, aus ästhetischer Perspektive verschiedene Glückssymbole, aus sprachlicher Perspektive der Bedeutungsun‐ terschied zwischen glücklich sein und Glück haben oder aus naturwissenschaft‐ licher Perspektive die Entstehung von Glücksgefühlen betrachtet werden. Das perspektivenvernetzende Thema „Gesundheit und Gesundheitsprophylaxe“ (GDSU 2013) kann dabei der Verortung von Glück im Perspektivrahmen Sach‐ unterricht dienen, indem Bezüge zum Bildungspotenzial oder zu Kompetenzbe‐ schreibungen hergestellt werden. Gesundheit wird dort als die Fähigkeit eines Menschen, ein Gleichgewicht zwischen den Abwehrmechanismen und Potenzialen des Organismus und der Psyche (den vorhandenen Ressourcen) und den krankmachenden Einflüssen der natürlichen und sozialen Umwelt zu erhalten bzw. immer wieder herstellen zu können (GDSU2013: 80), definiert. Ein ausgewogenes Verhältnis zwischen körperlicher sowie psychi‐ scher Anspannung und Entspannung ist ein Teil des Themenfeldes der Psycho‐ hygiene, welche dem Thema „Gesundheit und Gesundheitsprophylaxe“ zuge‐ ordnet ist. Zudem kann der Umgang mit Stressoren, wie Stress, Angst, Ärger oder Kummer, besprochen werden, um das Wohlbefinden von Schüler: innen zu fördern (siehe GDSU 2013: 81 f.). Das Buch Ein Rucksack voller Glück (Vol‐ 235 Bilderbücher im Sachunterricht? mert/ Broska 2020) bietet einen guten Zugang, um mit Schüler: innen sowohl positive als auch negative Gefühle im Sinne des geforderten Kompetenzzu‐ wachses zu thematisieren. Mia und Flo, die beiden Protagonist: innen des Erzählbilderbuches, erfahren die Geschichte vom Glücksrucksack, den jeder Mensch täglich bei sich trägt. Es handelt sich dabei um einen unsichtbaren Rucksack, in dem alle positiven und negativen Gefühle und Gedanken eines Menschen aufbewahrt werden. Wenn das Negative, wie Neid, Langeweile oder Streit, überwiegt, ist der Rucksack sehr schwer; überwiegt das Positive, wie (Vor-)Freude, Bewegung oder soziale Beziehungen, ist er federleicht. Vor dem fachlichen Hintergrund der positiven Psychologie (siehe z. B. Seligman 2012) kann mit Kindern erarbeitet werden, in welchen Situationen - konkret im Bilderbuch oder darüber hinaus - der Glücksrucksack schwer oder leicht ist und welche Strategien eingesetzt werden können, um den schweren Rucksack zu erleichtern. Die Geschichte rundum Mia und Flo kann Kindern dabei helfen, den Perspektivwechsel zu vollziehen und sich in andere hineinzuversetzen. Zugleich kann die Empathiefähigkeit gefördert werden, indem anhand der verschiedenen Personen im Buch erlernt werden kann, äußere Merkmale für ein positives oder negatives Wohlbefinden zu erkennen. Die Thematisierung von Strategien zur Bewältigung von Stressoren und zum Aufbau von Resilienz liegt dabei auf der Hand. Sprachlich ist das Buch eher alltagssprachlich gestaltet, da es eine geringe Informationsdichte aufweist und die erzählte Geschichte anhand von Bildern stark kontextbezogen ist. Die geringere sprachliche Komplexität und die kindgerechten Illustrationen erleichtern den thematischen Zugang für alle Kinder. Das Buch kann auch als Ausgangspunkt zum Philosophieren mit Kindern genutzt werden, um sich mit Schüler: innen z. B. mit der Frage „Was wäre, wenn jeder Mensch immer einen leichten/ schweren Glücksrucksack hätte? “ auseinanderzusetzen. Dadurch werden v. a. der soziale, der personale, der ästhetische und der handelnde Kompetenzbereich der Kinder gefördert (siehe Rude 2008: 146). Die nähere Betrachtung des Erzählbilderbuches „Ein Rucksack voller Glück“ von Julia Volmert und Elke Broska (2020) mit Blick auf das Prinzip der Vielperspektivität zeigt, dass es Möglichkeiten eröffnet, um einen vielperspektivischen Sachunterricht ausgehend von diesem Buch zu ge‐ stalten. Dabei können z. B. die eingangs beschriebenen Perspektiven erarbeitet werden. Darüber hinaus kommt es weiteren Zielen des Sachunterrichts, wie der Förderung der Empathiefähigkeit oder des Perspektivwechsels, nach. 236 Alice Junge, Denise Lüttgering, Floreana Schmidt und Claudia Schomaker 5 Fazit und Ausblick Die Auseinandersetzung mit (Sach-)Bilderbüchern im Sachunterricht ermög‐ licht es in vielfältiger Weise, Zielsetzungen eines an den individuellen Zugängen und Voraussetzungen von Lernenden ansetzenden, bildungswirksamen Sach‐ unterrichts aufzugreifen. Eine derartige didaktische Einbettung von Medien, die in erster Linie für Kinder entwickelt sind, ist auch nicht neu: Der ,Orbis sensualium pictus‘ von Johann Amos Comenius aus dem 17. Jahrhundert wird als eines der ersten Sachbilderbücher in diesem Sinne gekennzeichnet mit der Idee, die Welt in Auszügen einer großen Anzahl von Lesenden zu zeigen. Diese Tradition setzte sich mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen fort; gegenwärtig ist das Sachbuch für Kinder und insbesondere das Sachbilderbuch ein anerkanntes Medium, das Verlage in eigenen Reihen für unterschiedliche Lesealter herausgeben. Eine didaktische Einbettung knüpft an die Potenziale an, dass mit Hilfe von (Sach-)Bilderbüchern Schüler: innen in ihrer Lesekompetenz gefördert werden können und ihnen ein Zugang zu unterschiedlichen Inhalten mit je verschiedenen Sichtweisen ermöglicht wird, um ihren je individuellen Interessen und Motivationen im Kontext eines inklusiven Sachunterrichts zu entsprechen. Insofern eignen sich (Sach-)Bilderbücher für das Sachlernen in he‐ terogenen Lerngruppen in unterschiedlicher Weise, da der Anspruch von Viel‐ perspektivität auf spezifische Weise eingelöst wird. Die dargestellten Beispiele zum Einsatz von (Sach-)Bilderbüchern im Sachunterricht zeigen auf, wie hier in unterschiedlicher Weise verschiedene Sichtweisen auf ein Thema entwickelt werden, um im Gespräch mit den Schüler: innen an ihre je individuellen Vorstel‐ lungen auf einen Sachverhalt anzuknüpfen und diese auszudifferenzieren. Die Vielfalt in diesem Genre macht es zudem möglich, (Sach-)Bilderbücher nicht nur als „Impulsgeber für den Einstieg in einen Themenbereich“ (Vogtländer 2020: 22 f.) zu nutzen. Werden in einem (Sach-)Bilderbuch die dargestellten Inhalte beispielsweise mit einem erzählenden Kontext verbunden, der in vielfältiger Weise an die Lebenswelten von Kindern heute anknüpft (Rahmengestaltung durch Storytellingaspekte), so können aus der Geschichte heraus Fragen ent‐ wickelt werden, die eine grundlegende Auseinandersetzung mit dem Thema im Sachunterricht ermöglichen. So werden die Schüler: innen aufgefordert, den in der Geschichte dargestellten Phänomenen in ihrem Alltag nachzuspüren, Dinge selbst zu erkunden und ihre Erfahrungen zu den geschilderten Inhalten in Beziehung zu setzen (siehe Schomaker/ Friege 2020). Auf diese Weise kann ein (Sach-)Bilderbuch ein rahmendes Medium für eine gesamte Unterrichtseinheit sein, weil es vielfältige Anlässe bietet, den geschilderten Sachverhalten in differenzierter Weise in einem vielperspektivischen, insbesondere fächerüber‐ 237 Bilderbücher im Sachunterricht? greifenden Sinne nachzugehen. Unterstützt wird ein solches Vorgehen durch die Verbindung vieler analoger (Sach-)Bilderbücher mit digitalen Elementen, die über elektronische Stifte oder Apps zugänglich sind und Inhalte vertiefen oder in spezifischer Weise durch auditive und/ oder visuelle Beiträge erweitern. Es wird zu zeigen sein, inwiefern eine fachdidaktische Berücksichtigung von (Sach-)Bilderbüchern in dieser Weise es ermöglicht bzw. unterstützt, die Inten‐ tionen vielperspektivischen Sachunterrichts, insbesondere in Bezug auf eine fachdidaktische Berücksichtigung inklusiver Ziele, umzusetzen. Literatur Primärliteratur Cianciarulo, Daniela/ Cianciarulo, Isabella/ Antoni, Birgit (2020). Opa Henri sucht das Glück. Hannover: Friedrich Verlag. Flamant, Ludociv/ Englebert, Jean-Luc (2017). Puppen sind doch nichts für Jungen! Melk: Picus Verlag. Jones, Olivia (2015). Keine Angst in Andersrum. Eine Geschichte vom anderen Ufer. Berlin: Schwarzkopf & Schwarzkopf. Macaulay, David (2016). Coole Kräfte - So arbeiten einfache Maschinen. München: Dorling Kindersley. Maxeiner, Alexandra/ Kuhl, Anke (2017). Alles Familie! Vom Kind der neuen Freundin vom Bruder von Papas früherer Frau und anderen Verwandten. Leipzig: Klettkinder‐ buch. Volmert, Julia/ Broska, Elke (2020). Ein Rucksack voller Glück. 5. Aufl. Haan: albarello. Sekundärliteratur Archie, Carmen/ Rank, Astrid/ Franz, Ute (2016). Sprachbildung im und durch Sachunter‐ richt. In: Hartinger, Andreas/ Lange, Kim (Hrsg.). Sachunterricht. Didaktik für die Grundschule. Berlin: Cornelsen, 198-206. Beyer, Reinhard/ Gerlach, Rebekka (2018). Sprache und Denken. 2. Aufl. Wiesbaden: Springer Fachmedien. Brauner, Uli/ Prediger, Susanne (2018). Kapitel 13: Alltagsintegrierte Sprachbildung im Fachunterricht - Fordern und Unterstützen fachbezogener Sprachhandlungen. In: Titz, Cora/ Geyer, Sabrina/ Ropeter, Anna/ Wagner, Hanna/ Weber, Susanne/ Hassel‐ horn, Marcus (Hrsg.). Konzepte zur Sprach- und Schriftsprachförderung entwickeln. Stuttgart: Kohlhammer, 228-246. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) (2021). Familie heute. Daten. Fakten. Trends. Familienreport 2020. www.bmfsfj.de/ blob/ jump/ 163 238 Alice Junge, Denise Lüttgering, Floreana Schmidt und Claudia Schomaker 108/ familienreport-2020-familie-heute-daten-fakten-trends-data.pdf (last accessed: 30.06.2022) Doderer, Klaus (1961). Das Sachbuch als Literaturpädagogisches Problem. Frankfurt/ M.: Diesterweg. Dörner, Dietrich (1998). Sprache und Denken. In: Bungard, Walter (Hrsg.). Mannheimer Beiträge zur Wirtschafts- und Organisationspsychologie. Sonderheft. Mannheim: Universität Mannheim, 4058. Eder, Katja/ Seewald, Katrin/ Wildeisen, Sarah (2017). Neunauge - von der Lust am Bild zur Bildung der Sprache. Einführung in den Umgang mit textfreien Bilderbüchern in der Praxis. Ludwigsfelde: LISUM. Elschenbroich, Donata (2001). Weltwissen der Siebenjährigen. Wie Kinder die Welt entdecken können. München: Verlag Antje Kunstmann. Ennemoser, Marco/ Hartung, Nils (2017). Wirksamkeit verschiedener Sprachfördermaß‐ nahmen bei Risikokindern im Vorschulalter. Unterrichtswissenschaft 45 (3), 198-219. Gesellschaft für Didaktik des Sachunterrichts (GDSU) (2013). Perspektivrahmen Sach‐ unterricht. Vollständig überarbeitete und erweiterte Ausgabe. Bad Heilbrunn: Klink‐ hardt. Gläser, Eva (2005a). Von Außenseitern, Rittern und der ersten Liebe - didaktische Überlegungen zum Umgang mit moderner Kinderliteratur im Sachunterricht. In: Gläser, Eva/ Franke-Zöllmer, Gittag (Hrsg.). Lesekompetenz fördern von Anfang an. Didaktische und methodische Anregungen zur Leseförderung. Baltmannsweiler: Schneider, 59-69. Gläser, Eva (2005b). Lesekompetenz - eine Herausforderung für den Sachunterricht. In: Cech, Diethard/ Giest, Hartmut (Hrsg.). Sachunterricht in Praxis und Forschung - Erwartungen an die Didaktik des Sachunterrichts. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, 147- 154. Gläser, Eva (2017). Arbeit mit Kinderliteratur - Lesekompetenz und Lesepraxis. In: Reeken, Dietmar von (Hrsg.). Handbuch Methoden im Sachunterricht. Aktualisierte Neuausgabe. Baltmannsweiler: Schneider, 153-160. Goller, Gloria (2017). Dialogisches Lesen mit Zuwandererkindern. Sprachförderung am Schulanfang. Grundschule aktuell, Zeitschrift des Grundschulverbandes (139), 33-36. Hellrung, Uta (2012). Sprachentwicklung und Sprachförderung. Beobachten - ver‐ stehen - handeln. Freiburg: Herder. Heran-Dörr, Eva (2013). Entscheidungsrelevante Strukturelemente der Planung von Unterrichtseinheiten. In Tänzer, Sandra/ Lauterbach, Roland (Hrsg.). Sachunterricht begründet planen. Bedingungen, Entscheidungen, Modelle. Bad Heilbrunn: Klink‐ hardt, 84-99. 239 Bilderbücher im Sachunterricht? Hesse, Katrin (2015). Die Darstellung von Tod und Trauer im deutschsprachigen und schwedischen Bilderbuch. edoc.hu-berlin.de/ handle/ 18452/ 19278 (last accessed: 30.06.2022) Hoffmann, Jeanette (2013). „Vielleicht sehnt der sich nach Sonne …“ - Entfaltung von Perspektiven im Gespräch zum Bilder(buch)kino einer vielstimmigen Geschichte. In: Jantzen, Christoph/ Klenz, Stefanie (Hrsg.). Text und Bild - Bild und Text. Bilderbücher im Deutschunterricht. Stuttgart: Fillibach bei Klett, 37-72. Junge, Alice/ Lüttgering, Denise (2021). Brave Jungs und wilde Mädchen. Geschlechter‐ vorstellungen und deren Reflexion im Sachunterricht. Themenheft Praxis Grund‐ schule (1), 20-27. Kittelmann, Julia/ Lieber, Gabriele (2013). Kindliches Bildinteresse und die Bedeutung der Kontextualisierung von Bildern. In: Schulz, Frank/ Seumel, Ines (Hrsg.). Tagungsband U20 - Kindheit Jugend Bildsprache. München: kopaed, 783-791. Klafki, Wolfgang (1992). Allgemeinbildung in der Grundschule und der Bildungsauftrag des Sachunterrichts. In: Lauterbach, Roland/ Köhnlein, Walter/ Spreckelsen, Kay/ Kle‐ witz, Elard (Hrsg.). Brennpunkte des Sachunterrichts. Kiel: IPN, 11-31. Kniffka, Gabriele/ Roelcke, Thorsten (2016). Fachsprachenvermittlung im Unterricht. Paderborn: Schöningh. Knopf, Julia (2018). Bilderbuch-Apps im Kindergarten und in der Primarstufe. Potenzial für das literarische Lernen? ! In: Ladel, Silke/ Knopf, Julia/ Weinberger, Armin (Hrsg.). Digitalisierung und Bildung. Wiesbaden: Springer Fachmedien, 23-38. Kočanova, Anna D./ Šipowa, Irina A. (2017). Bilderbücher und ihr didaktisches Poten‐ zial. wort.daad.ru/ wort2017/ 16_Wort_Kocanova_Sipova_225_240.pdf (last accessed: 30.06.2022) Koch, Helvi/ Giest, Hartmut (2015). Wissensdurst und Leselust. Mit spannenden Texten Fachsprache fördern. Grundschulunterricht Sachunterricht (4), 8-11. Köhnlein, Walter (2007). Aufgaben und Ziele des Sachunterrichts. In: Kahlert, Joa‐ chim/ Fölling-Albers, Maria/ Götz, Margarete/ Hartinger, Andreas/ Reeken, Dietmar von/ Wittkowske, Steffen (Hrsg.). Handbuch Didaktik des Sachunterrichts. Bad Heil‐ brunn: Klinkhardt, 89-99. Kosack, Walter/ Jeretin-Kopf, Maja/ Wiesmüller, Christian (2015). Zieldimensionen tech‐ nischer Bildung im Elementar- und Primarbereich. In: Graube, Gabriele/ Jeretin-Kopf, Maja/ Kosack, Walter/ Mammes, Ingelore/ Renn, Ortwin/ Wiesmüller, Christian (Hrsg.). Wissenschaftliche Untersuchungen zur Arbeit der Stiftung ,Haus der kleinen For‐ scher‘. Band 7. Schaffhausen: Schubi, 30-156. Kretschmer, Christine (2009). Bilderbücher in der Grundschule. Braunschweig: Wester‐ mann. 240 Alice Junge, Denise Lüttgering, Floreana Schmidt und Claudia Schomaker Kucharz, Diemut/ Mackowiak, Katja/ Beckerle, Christine (2015). Alltagsintegrierte Sprachförderung. Ein Konzept zur Weiterqualifizierung in Kita und Grundschule. Weinheim/ Basel: Beltz. Künnemann, Horst/ Müller, Helmut (1984). Bilderbuch. In: Doderer, Klaus (Hrsg.). Le‐ xikon der Kinder- und Jugendliteratur. Personen-, Länder- und Sachartikel zu Ge‐ schichte und Gegenwart der Kinder- und Jugendliteratur. Weinheim: Beltz, 159-171. Kurwinkel, Tobias (2020). Bilderbuchanalyse. Narrativik - Ästhetik - Didaktik. 2. Aufl. Tübingen: Narr Francke Attempto Verlag. Lange-Schubert, Kim/ Tretter, Tobias (2017). Inklusives Lernen im naturwissenschaftli‐ chen Sachunterricht. Vom guten Unterricht in heterogenen Lerngruppen. In: Hell‐ mich, Frank/ Blumberg, Eva (Hrsg.). Inklusiver Unterricht in der Grundschule. Stutt‐ gart: Kohlhammer, 268-293. Lehmden, Friederike von/ Porps, Lisa/ Müller-Brauers, Claudia (2017). Grammatischer Sprachinput in Kinderliteratur - eine Analyse von Genus-Kasus-Hinweisen in input- und nicht inputoptimierten Bilderbüchern. Forschung Sprache (2), 44-61. Licandro, Ulla/ Lüdtke, Ulrike (2013). Peer-Interaktionen. Sprachbildung in der und durch die Gruppe. Osnabrück: nifbe. Lieber, Gabriele (2012). ‚Ich mag es, wenn man selbst noch überlegen kann.‘ - Schul‐ buchillustration, Leerstellen und kindliches Bildinteresse. In: Doll, Jörg/ Frank, Keno/ Fickermann, Detlef/ Schwippert, Knut (Hrsg.). Schulbücher im Fokus. Nutzungen, Wirkungen und Evaluation. Münster/ New York/ München/ Berlin: Waxmann, 67-82. Lieber, Gabriele (2019). Wissen kindgerecht klein geschnitten, in Form gebracht und verpackt. Sachbilderbücher im Deutschunterricht. In: Knopf, Julia/ Abraham, Ulf (Hrsg.). BilderBücher. Band 1 Theorie. Baltmannsweiler: Schneider, 85-92. Martschinke, Sabine (2015). Bilder. In: Kahlert, Joachim/ Fölling-Albers, Maria/ Götz, Mar‐ garete/ Hartinger, Andreas/ Miller, Susanne/ Wittkowske, Steffen (Hrsg.). Handbuch Didaktik des Sachunterrichts. 2. Aufl. Bad Heilbrunn: utb, 500-505. Mattenklott, Gundel (1990). Buch-Befragung. Von der Schwierigkeit, Kinder- und Jugend‐ bücher zu bewerten. Informationen Jugendliteratur und Medien 4, 146-151. Michalik, Kerstin (2019). Philosophieren mit Kindern im inklusiven Sachunterricht. In: Pech, Detlef/ Schomaker, Claudia/ Simon, Toni (Hrsg.). Inklusion im Sachunterricht. Perspektiven der Forschung. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, 63-77. Miller, Susanne/ Brinkmann, Vera (2013). SchülerInnenfragen im Mittelpunkt des Sachun‐ terrichts. In: Gläser, Eva/ Schönknecht, Gudrun (Hrsg.). Sachunterricht in der Grund‐ schule. Entwickeln - gestalten - reflektieren. Frankfurt/ M.: Grundschulverband, 226-241. Mosbach, Johanna (2019). Narration und Sachbuch. Erzählend informieren - informie‐ rend erzählen. In: Knopf, Julia/ Abraham, Ulf (Hrsg.). BilderBücher. Band 2 Praxis. Baltmannsweiler: Schneider, 82-89. 241 Bilderbücher im Sachunterricht? Ossowski, Ekkehard/ Ossowski, Herbert (2011). Sachbücher für Kinder und Jugendliche. In: Lange, Günter (Hrsg.). Kinder- und Jugendliteratur der Gegenwart. Grundlagen, Gattungen, Medien, Lesesozialisation und Didaktik. Baltmannsweiler: Schneider, 364- 390. Pech, Detlef (2009). Sachunterricht - Didaktik und Disziplin. Annäherungen an ein Sachlernverständnis im Kontext der Fachentwicklung des Sachunterrichts und seiner Didaktik. Widerstreit Sachunterricht 13, 1-10. Pech, Detlef/ Schomaker, Claudia (2013). Inklusion und Sachunterrichtsdidaktik - Stand und Perspektiven. In: Ackermann, Karl-Ernst/ Musenberg, Oliver/ Riegert, Judith (Hrsg.). Geistigbehindertenpädagogik! ? Disziplin - Profession - Inklusion. Ober‐ hausen: Athena, 341-359. Pech, Detlef/ Schomaker, Claudia/ Simon, Toni (2018). Sachunterrichtsdidaktik & Inklu‐ sion. Ein Beitrag zur Entwicklung. Baltmannsweiler: Schneider. Preußer, Ulriker (2015). Das Bilderbuch aus didaktischer Perspektive. Ein Forschungsbe‐ richt. Didaktik Deutsch: Halbjahresschrift für die Didaktik der deutschen Sprache und Literatur 20 (39), 61-73. Quehl, Thomas/ Trapp, Ulrike (2015). Sprachbildung im Sachunterricht der Grundschule: mit dem Scaffolding-Konzept unterwegs zur Bildungssprache. 2. Aufl. Münster/ New York: Waxmann. Rank, Astrid/ Wildemann, Anja (2015). Die Sachen versprachlichen. In: Kah‐ lert, Joachim/ Fölling-Albers, Maria/ Götz, Margarete/ Hartinger, Andreas/ Miller, Su‐ sanne/ Wittkowske, Steffen (Hrsg.). Handbuch Didaktik des Sachunterrichts. 2. Aufl. Bad Heilbrunn: utb, 474-479. Ravensburger (2021). Ravensburger tiptoi Stift. www.ravensburger.de/ produkte/ tiptoi/ t iptoi-starter-sets/ der-stift-00801/ index.html (last accessed: 30.06.2022) Ritter, Alexandra/ Ritter, Michael (2011). Brückenmedium Bilderbuch. Bilderbücher zur Leseförderung, auch für Jungen! In: Sasse, Ada/ Valtin, Renate (Hrsg.). Mädchen und Jungen in der Schule. Förderung von Lesekompetenz und Leseinteresse. Berlin: Deutsche Gesellschaft für Lesen und Schreiben, 98-114. Rude, Christophe (2008). Philosophieren als Bildungsprinzip. In: Deutsche UNESCO-Kommission e. V. (DUK) (Hrsg.). Philosophie - eine Schule der Freiheit. Philosophieren mit Kindern weltweit und in Deutschland. Bonn: DUK, 140-148. Schmidt, Floreana A./ Risse, Laura S./ Beckerle, Christine/ Mackowiak, Katja (2019). Der Einsatz von Fragearten in unterschiedlich stark strukturierten Situationen im Kita-Alltag. Empirische Sonderpädagogik 11 (4), 310-317. Schomaker, Claudia/ Friege, Gunnar (2020). Warten, reparieren, wegwerfen, erneuern… Wann ist was sinnvoll? Grundschule Sachunterricht (85), 6-13. Schreier, Helmut (1989). Ent-trivialisiert den Sachunterricht! Grundschule 21 (3), 10-13. 242 Alice Junge, Denise Lüttgering, Floreana Schmidt und Claudia Schomaker Seligman, Martin (2012). Flourish. Wie Menschen aufblühen. Die Positive Psychologie des gelingenden Lebens. München: Kösel. Simon, Toni/ Gebauer, Michael (2014). Das Science-Camp der Kinderuniversität Halle. Beispiel für einen inklusionsorientierten Sachunterricht. Sache-Wort-Zahl 42 (139), 44-50. Staiger, Michael (2014). Erzählen mit Bild-Schrifttext-Kombinationen. Ein fünfdimensio‐ nales Modell der Bilderbuchanalyse. In: Knopf, Julia/ Abraham, Ulf (Hrsg.). BilderBü‐ cher. Theorie. Band 1. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 12-23. Steitz-Kallenbach, Jörg (2003). Bildersachbücher und Sachgeschichten - Wissensvermitt‐ lung durch Bild und Text. In: Thiele, Jens/ Steitz-Kallenbach, Jörg (Hrsg.). Handbuch Kinderliteratur. Grundwissen für Ausbildung und Praxis. Freiburg/ Breisgau: Herder, 114-156. Stiftung Haus der kleinen Forscher (2015). Technik - Kräfte nutzen und Wirkungen erzielen. Berlin. Stoltenberg, Ute (2007). Perspektivrahmen Sachunterricht. In: Kahlert, Joachim/ Föl‐ ling-Albers, Maria/ Götz, Margarete/ Hartinger, Andreas/ Reeken, Dietmar von/ Witt‐ kowske, Steffen (Hrsg.). Handbuch Didaktik des Sachunterrichts. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, 75-79. Tajmel, Tanja/ Hägi-Mead, Sara (2017). Sprachbewusste Unterrichtsplanung. Prinzipien, Methoden und Beispiele für die Umsetzung. Münster/ New York: Waxmann. Thiele, Jens (2003). Das Bilderbuch. Ästhetik - Theorie - Analyse - Didaktik - Rezeption (2. Auflage). Oldenburg: Isensee. Vogtländer, Anna (2020). Bilderbücher im Kontext früher mathematischer Bildung. Wiesbaden: Springer Fachmedien. Vorst, Claudia (2016). Bilderbuch und Empirie. Ein Forschungsbericht. In: Pompe, Anke (Hrsg.). Literarisches Lernen im Anfangsunterricht. Theoretische Reflexionen Empi‐ rische Befunde Unterrichtspraktische Entwürfe. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 89-101. Vygotsky, Lev S. (1987). Ausgewählte Schriften. Köln: Pahl-Rugenstein. Wagenschein, Martin (1990/ 2010). Kinder auf dem Wege zur Physik. Weinheim/ Basel: Beltz. 243 Bilderbücher im Sachunterricht? Mit Bilderbüchern kulturelle Diversität, Migration und Ausgrenzung erkunden Sachunterrichtsdidaktische Begründungen im Kontext des gesellschaftlichen Lernens Eva Gläser Abtract: Bilderbücher werden als Medien ebenso wie Schulbücher oder Filme in Grundschulen integriert. Dies gilt nicht nur für das Schulfach Deutsch, sondern auch für den Sachunterricht. Dennoch wurde bislang nur begrenzt eine explizit sachunterrichtsdidaktische Auseinandersetzung mit dem Medium Kinderbzw. Bilderbuch geführt. Spezifische didaktische und methodische Ansätze zur Einbindung von Kinderliteratur bzw. von Bilderbüchern liegen für die Fachdidaktik Sachunterricht nur vereinzelt vor (Gläser 2005/ Gläser 2017). In diesem Beitrag wird am Beispiel von ausgewählten Bilderbüchern, die im Anfangsunterricht der Grundschule oder in den weiteren Jahr‐ gängen insbesondere zu sozial- und kulturwissenschaftlichen Themen des Sachunterrichts integriert werden können, diskutiert, welches fach‐ didaktische Potential aus Sicht der Sachunterrichtsdidaktik zugrunde gelegt werden kann. Ebenso werden die beiden fachdidaktischen Perspek‐ tiven, die Deutsch- und die Sachunterrichtsdidaktik, in Bezug auf die unterrichtliche Einbindung von Bilderbüchern verglichen. Gemeinsame interdisziplinäre Ansätze, aber auch mögliche disziplinäre Unterschiede, werden somit ausgelotet. Die fachdidaktische Auseinandersetzung zum Einsatz von Bilderbüchern im Sachunterricht soll insbesondere thematisch über Anderssein, Selbstsein und den Erfahrungen von Ausgrenzungen, zu Flucht, Migration sowie dem Fremdsein und somit auch grundlegend zu kultureller Diversität geführt werden. 1 Sachunterrichtsdidaktik und Kinderliteratur Sachbücher, Kinderromane und Bilderbücher werden, auch wenn diese nicht spezifisch für die schulische Lektüre konzipiert und gestaltet wurden, als Medien in den Grundschulunterricht mit einbezogen. Begründet wird dies für die Deutschdidaktik unter anderem damit, dass Bilderbücher „Bild-Text-Symbiosen mit großem ästhetischem und nicht minder großem didaktischen Potential“ sind (Abraham/ Knopf 2019: 4). Um eine begründete didaktische Entscheidung für ein Buch treffen zu können, entwickelten Luptowicz und Kraft (2019: 12) „Qualitätskriterien zur Auswahl von Bilderbüchern“. Sie betonen vor allem die Bedeutung von kunstpädagogischen, literatur- und dramenwissenschaftlichen Bezügen. Für die Bilderbuchauswahl sind nach Luptowicz und Kraft all diese Bereiche mit einzubeziehen, d. h. es sind sowohl thematische und inhaltliche, künstlerische und ästhetische als auch sprachliche und erzählerische Qualitäts‐ kriterien anzuwenden (siehe ebd.: 13). Diese grundlegenden Prämissen sind auch aus Sicht der Sachunterrichtsdi‐ daktik bedeutsam. Eine Betrachtungsweise lediglich auf der sachlichen Text‐ ebene würde dem Medium in keiner Weise gerecht werden. Bilderbücher sollten nicht auf Textinhalte reduziert werden, die Bild-Text-Verbindungen sind ebenso wie die Illustrationen von Belang. Bilderbücher können in unterschiedliche Genres aufgeteilt werden: Sie „un‐ terscheiden sich erstens nach ihrer Wirklichkeitsreferenz (poetisch-fiktionales Bilderbuch vs. Sachbilderbuch) und können genau wie alle anderen Literatur- und Mediengruppen realistisch oder fantastisch sein (Abraham/ Knopf 2019: 4 f.). Nach Ossowski (2002) können wiederum folgende Typologien in Bezug auf das Sachbuch unterschieden werden: das Sachbilderbuch, das Erzählbilderbuch und das Bildersachbuch (siehe ebd.: 672 f.). Für die Fachdidaktik Sachunterricht sind sowohl poetisch-fiktionale Bilderbücher als auch Sachbilderbücher interessant, denn im Fach Sachunterricht ist nicht nur die sachliche Zugangsweise zur Erschließung der Lebenswelt einzubinden, sondern auch die philosophische und die ästhetische (siehe Richter 2009; Schomaker 2008). So können im Kontext einer ästhetischen Welterschließung mit Hilfe von Bilderbüchern auch bildliche bzw. grafische Umsetzungen von Themen entdeckt werden und zudem können philosophische Fragen in Kinderbüchern in den Unterricht eingebunden werden. 245 Mit Bilderbüchern kulturelle Diversität, Migration und Ausgrenzung erkunden 2 Darstellungen vom Selbstsein und Anderssein in Bilderbüchern Literarische Figuren, die aufgrund ihres Selbst- oder Andersseins bzw. ihrer Besonderheiten bei Kindern beliebt sind, gibt es zahlreich in der modernen Kinderliteratur. Pippi Langstrumpf, Frederick oder das Sams sind nur einige dieser Protagonist: innen, die durch eigene Wert- und Handlungsmuster gekenn‐ zeichnet sind. Es fällt auf, dass sie oft sympathisch dargestellt werden. Während die Figur Pippi Langstrumpf, die durch die Veröffentlichungen der Bücher von Astrid Lindgren bereits seit den 1940er Jahren bekannt wurde, insbesondere durch ihre Sprache und Handlungen überkommene Geschlechterstereotype und Normierungen von Kinderleben humorvoll durchbricht und somit aufzeigt, dass Mädchen sie „selbst sein“ können, werden durch die Geschichte über die Maus Frederick in dem gleichnamigen Bilderbuch des Autors Leo Lionni aus dem Jahr 1967 gesellschaftliche Wertvorstellungen des Zusammenlebens und des ‚Andersseins‘ hinterfragt. Diese beiden Bücher, der Kinderroman und das Bilderbuch, können aus der Perspektive der Fachdidaktik Sachunterricht auch im Kontext von grund‐ legender Bildung interpretiert werden. Grundlegende Bildung, wie sie in der Fachdidaktik Sachunterricht als basale Zielsetzung umschrieben wird (siehe GDSU 2013: 9), bindet auch die Wahrnehmung und Reflexion von Verschieden‐ heit mit ein. Beispielsweise sollen Schüler: innen innerhalb der sozial- und kulturwissenschaftlichen Perspektive nicht nur die tatsächliche bzw. scheinbare kulturelle Verschiedenheit reflektieren. Das Anderssein bzw. Fremdsein soll auch im Hinblick auf Geschlechter, Generationen, Ethnien und körperliche Merkmale wahrgenommen werden (siehe ebd.: 27 ff.). Zu ergänzen ist zudem die Sicht auf das Selbstsein als bedeutsame Stärkung des Eigenen bzw. des indi‐ viduellen kindlichen Lebensentwurfs. Diese fachdidaktischen Lesarten dieser beiden Bücher können mehrfach aufgegriffen werden: Zum einen in Bezug auf den inhaltlichen Kontext, der hier, wie oben dargelegt wurde, sachunter‐ richtsdidaktisch interpretiert werden kann. Zum anderen kann aber auch, wie Becker (2016) es aus Sicht der Deutschdidaktik beispielhaft für das Bilderbuch „Frederick“ aufzeigt, eine literarische Gattung literaturdidaktisch in den Blick genommen werden. Sie erläutert, wie mit diesem Kinderbuch das Lesen von Fabeln im Deutschunterricht prinzipiell didaktisch heute (grundsätzlich noch) begründet und methodisch umgesetzt werden kann. Beide Fachdidaktiken, die Sachunterrichts- und die Deutschdidaktik, sind somit einzubeziehen, wenn Anderssein bzw. Selbstsein mit Kinderliteratur thematisiert wird. Bilderbücher, die das Genre der Tierfabel nutzen, um über Anderssein bzw. Selbstsein zu erzählen, liegen vielfach vor. Im Folgenden soll didaktisch 246 Eva Gläser hinterfragt werden, inwieweit diese aktuell noch eingebunden werden sollten. „Tierfabeln gibt es zuhauf unter den Bilderbüchern; wahrscheinlich bilden sie die zahlenmäßig größte Gruppe“ (Kesper 2019: 194). In Fabeln sind die Akteure stets Tiere, beispielsweise Mäuse, Grillen, Löwen oder Ameisen, denen in Fabeln bestimmte Eigenschaften zugeschrieben werden. So gelten Ameisen als fleißig, Löwen als stark, Mäuse als ängstlich und Grillen als nutzlos oder faul. Diese Zuteilungen der Charaktere bleiben in den Fabeln starr, die moralischen Deutungen werden den Lesenden vorgegeben. Das Verhalten der Tiere symbo‐ lisiert somit normative nicht zu hinterfragende Werturteile ihrer Autor: innen. Warum sollte man dennoch heute noch Fabeln in der Grundschule lesen? Die Deutschdidaktikerin Becker betont, dass die Fabel „nun mal eine didaktische Gattung zum Zwecke der Verhaltensänderung“ ist und damit in eine Zeit einzuordnen wäre, „in der Literatur zur Einflussnahme auf Kinder gedacht ist; in Epochen also, in denen die Erziehungsabsicht dominiert, Kinder als Garanten für eine bessere Welt anzusehen.“ (2016: 4). Sie betont daher, „dass manche Fabeln im Literaturunterricht heute besser ‚gegen den Strich‘ gelesen werden, als sie zur ernstgemeinten Verhaltensregulation zu nutzen“ (ebd.). Sie veranschaulicht anhand von historischen und modernen Fabeln die aktuelle Bedeutung für den Deutschunterricht und erörtert methodische unter‐ richtliche Umsetzungen. Dabei steht auch die Thematik des Andersseins im Zentrum. So hat Frederick, die Bilderbuchgeschichte von Leo Lionni, inhaltliche Gemeinsamkeiten mit der historischen Fabel „Die Grille und die Ameise“ des Dichters Jean de la Fontaine (2021). Auch wenn beide Texte die narrative Grund‐ struktur einer Fabel enthalten, zudem Tiere in diesen miteinander sprechen und handeln, so zeigen beide auch grundlegende Unterschiede: Denn Lionni hat die historische Fabel hinsichtlich ihrer moralischen Aussage fundamental verändert, sie sozusagen wie Becker betont gegen den Strich erzählt, was Grundschulkinder im Unterricht erkennen und reflektieren können. Lionni zeigt keinen Konflikt zwischen zwei unterschiedlichen Tieren, eine Grille und eine Ameise fungieren hier nicht als Gegensatzpaar. In seiner Geschichte wird von einer Gruppe erzählt, einer Mäusefamilie, in der die Figuren unterschiedlich agieren. Die in Fabeln somit typische Dualität der Charaktere, die auf unter‐ schiedliche Tiere bzw. Gruppen verteilt ist, wird somit aufgebrochen. In der historischen Fabel wird die Ameise als stets fleißig Handelnde darge‐ stellt, die zudem bereits im Herbst vorsorgend und damit zweckmäßig für das Überleben im Winter agiert. Gemäß dem Aufbau von Fabeln wird am Ende diese moralische Aussage noch unterstrichen. Auch wenn die Maus Frederick, wie die Grille bei Fontaine, ‚anders ist‘ als alle anderen und die Handlung durch das Motiv des herbstlichen Sammelns von Vorräten für den Winter deutliche 247 Mit Bilderbüchern kulturelle Diversität, Migration und Ausgrenzung erkunden Parallelen aufweist, zeigt sie doch eine eindeutig andere Wendung bzw. Aussage wie die folgende Passage bereits zeigt: „Frederick, warum arbeitest du nicht? “, fragten sie. „Ich arbeite doch“, sagte Frederick, „ich sammle Sonnenstrahlen für die kalten, dunklen Wintertage.“ Frederick sammelt somit ebenso bewusst Vorräte wie die anderen Mäuse, er vollzieht keine gegensätzliche Handlung. Er sammelt Wörter, Sonnenstrahlen und bunte Farben und somit schöne Erinnerungen an den Sommer, was die anderen Mäuse zunächst befremdet, wodurch in dieser Geschichte die Motive des ‚Andersseins‘ und des ‚Selbstseins‘ gleichermaßen eingebunden werden. Denn diese Motive werden nicht als negative Gegensätze postuliert, sondern als sinnhafte Formen eines vielfältigen Miteinanders. Denn es sind am Ende der Geschichte die gesammelten Dinge, mit denen Frederick alle anderen Mäuse erfreuen kann. Dieses Bilderbuch wurde vor über 50 Jahren zum ersten Mal publiziert. Es kann dennoch als ein sehr modernes Kinderbuch gekennzeichnet werden, da es Kinder zum Selbstsein bestärkt und die Bedeutung von Vielfalt in Gruppen unterhaltsam positiv unterstreicht, Zielsetzungen, die auch in der Sachunterrichtsdidaktik relevant sind. Darstellungen vom Anderssein sind in modernen Kinder- und Jugendbüchern häufig enthalten, wobei die literarische Umsetzung sehr vielfältig ist. Büker und Kammler kennzeichneten in ihrem bereits im Jahr 2003 herausgegebenen Band Das Fremde und das Andere fünf grundlegende literarische Figurentypen: der Fremde als Gast, der kulturell Fremde, der Außenseitertyp, der bzw. das historisch-geneologisch Fremde und der bzw. das phantastische Fremde. Somit kann das Sams als phantastischer Fremder und Pippi Langstrumpf oder Frede‐ rick als Außenseiter: innen gekennzeichnet werden, wobei die Besonderheit ist, dass diese beide Figuren „positive Außenseiter“ sind. In einigen Bilderbüchern bleiben die Außenseiter: innen jedoch ausgegrenzt und werden auch im Verlauf der Geschichte nicht in eine Gruppe integriert. Besonders eindrücklich wurde dies in dem 1994 erschienenen Bilderbuch Irgendwie anders von Kathryn Cave (Text) und Chris Riddell (Illustration) textlich und bildlich umgesetzt. Das Buch erfährt bis heute trotz der zu kritisierenden einseitigen Darstellung des Andersseins eine große Beachtung, was u. a. sicherlich auch daran liegt, dass es 1997 mit dem UNESCO-Preis für Kinder- und Jugendliteratur im Dienst der Toleranz prämiert wurde. Auch aktuell findet man im Internet zahlreiche Vorschläge für methodische Umsetzungen im Grundschulunterricht, zudem wird die Geschichte seit ihrer Uraufführung im Jahr 2016 musikalisch als Kinderoper inszeniert. Zu Beginn der Geschichte wohnt ‚Irgendwie anders‘ allein auf einem Berg und er hat keine Freunde. Alle Versuche von ihm Freunde zu finden misslingen. Trotz seiner massiven Versuche sich an die Normen der Mehrheit anzupassen, 248 Eva Gläser d. h. so zu spielen wie alle, so zu essen wie alle, bleibt er isoliert. Eine Wende im Buch erfolgt erst durch die Figur „das Etwas“. Das steht eines Tages vor seiner Tür und möchte sich mit ihm anfreunden. Irgendwie anders agiert ihm gegenüber zunächst selbst ausgrenzend. Er wird somit vom Ausgegrenzten zum Ausgrenzenden, denn er schickt das Etwas einfach weg. Dann erkennt er, dass das Etwas ebenso wie er anders ist, sich wie er einen Freund wünscht. Daher holt er das Etwas zurück und sie werden Freunde. Das Ende birgt keine wirkliche Lösung des Konfliktes, am Ende der Geschichte bleiben die Ausgegrenzten auch weiterhin unter sich und leben auch immer noch weit weg von allen anderen Wesen abgeschieden auf dem Berg. Positiv zu bewerten in Bezug auf das Verständnis von Anderssein ist, dass die Erzählung, aber vor allem auch die Bilder deutlich zeigen, wie verletzend dies für den Ausgegrenzten ist. Problematisch bleibt, dass vermittelt wird, dass nur Außenseiter Toleranz zeigen und leben können und am Ende ein friedliches freundliches Miteinander nur Außenseiter miteinander leben können. Daher irritiert, dass diese Geschichte einen Preis für die Darstellung von Toleranz erhielt, denn sie zeigt vielmehr die Abgrenzung von Andersartigkeit in einer Ausschließlichkeit auf, die im Unterricht nicht ohne Diskussionen genutzt werden sollte. Eine Möglichkeit wäre, andere ähnliche Erzählungen in den Unterricht über Toleranz, Inklusion, Ausgrenzung, das Anderssein oder das Selbstsein einzubinden, beispielsweise das Bilderbuch Elmar (siehe Gläser/ Graff 2006). Das Bilderbuch Elmar (McKee 2004) offeriert Spielräume für Individua‐ lität, es zeigt Selbstsein als ein entscheidendes Element für ein solidarisches Miteinander. Elmar, die Hauptfigur, ein bunt karierter Elefant, ist in seine Herde gut integriert, seine äußerliche Andersartigkeit empfindet die Elefantengruppe als Bereicherung. „Wenn Elmar da war, gab es für die Elefanten immer was zu lachen.“ Durch einen Trick verändert Elmar sein Äußeres, die Aufhebung der Differenz bewirkt jedoch, dass die anderen Elefanten ihre Lebenslust verlieren, denn nun sind alle grau. Die Rückverwandlung von Elmar in seine eigentliche Besonderheit, sein Anderssein, erleichtert die Elefantengruppe. Die Einbindung von Bilderbüchern im Grundschulunterricht kann, wie auf‐ gezeigt wurde, nicht ohne eine detaillierte sachunterrichtsdidaktische Analyse erfolgen. Insbesondere wenn ein Buch über den Umgang mit Differenz bzw. über das Anderssein eingebunden werden soll, sollten vorab folgende kritischen Fragen an das Buch gestellt werden: Bleibt der Außenseiter im Buch ein Außenseiter? Besteht die Ausgrenzung auch am Ende der Geschichte noch? Wird Anderssein bzw. Heterogenität als Bereicherung, als Vielfalt oder als Stigma erzählt? Muss der Andere oder der Fremde besser sein bzw. sinnvoller handeln als die anderen, um Akzeptanz zu erfahren? (siehe Gläser/ Graff 2006: 249 Mit Bilderbüchern kulturelle Diversität, Migration und Ausgrenzung erkunden 42). Die Antworten auf diese Fragen lassen erkennen, ob ein Buch, das Differenz in den Mittelpunkt seiner Geschichte setzt, ermöglicht, wie von der Fachdidaktik Sachunterricht gefordert, „gesellschaftliche Vielfalt und Differenzen“ (GDSU 2013: 33) anzuerkennen. Gerade die beiden Bilderbücher Elmar und Irgendwie anders, die aufgrund ihres einfachen Textaufbaus und ihrer ansprechenden und gefühlvollen Bilder von Kindern im Anfangsunterricht gelesen und interpretiert werden können, eignen sich für die Auseinandersetzung mit dem Anderssein bzw. mit Vielfalt und Differenzen in Gruppen. Dies kann beispielsweise durch den Vergleich der beiden Geschichten, insbesondere durch die Thematisierung der unterschiedlichen Lösungen am Ende der Geschichten, initiiert werden (siehe ebd.: 43). 3 Darstellungen über der, die, das Andere und Fremde Das Angebot an „interkulturell ausgerichteter Kinder- und Jugendliteratur“ ist „breit gefächert“ (Becker 2020: 117). Allerdings kritisiert die Literaturdi‐ daktikerin Becker einige dieser Publikationen, denn „häufig tauchen hierin unterschwellig oder offenkundig rassistische Argumentationsmuster auf “ (ebd.: 117 f.). Zwei bekannte Kinderromane führt sie beispielhaft hierfür als Belege an: Milchkaffee und Streuselkuchen von Carolin Philipps aus dem Jahr 1996 und Neben mir ist noch Platz von Paul Maar aus dem Jahr 1993. In diesen Romanen er‐ kennt Becker „imperialistische und eurozentristische Wahrnehmungsschemata sowie stigmatisierende Konstruktionen des Anderen“ (Becker 2020: 118). Ihre Begründung lautet: „Das Fremde und das Andere werden als das Nicht-Eigene präsentiert und die Differenz zwischen Eigenem und Fremdem wird als Idee verfestigt“ (ebd.). Auch in der sogenannten „Kinderbuchdebatte“, die medial viel Aufmerksamkeit erfuhr, wurde über Rassismen in der Kinder- und Jugend‐ literatur diskutiert. Pippi Langstrumpf und andere klassische Kinderbücher wie beispielsweise Die kleine Hexe wurden als rassistisch gedeutet. Bereits vor dieser Debatte wurde unter anderem im Jahr 2009 eine überarbeitete Auflage von Pippi Langstrumpf veröffentlicht. Wie kann erkannt werden, ob Kinderliteratur sich verdeckt oder offen „rassistischer Argumentationsmuster“ bedient? Rösch hat für die Analyse von „interkulturell wertvoller Kinder- und Jugendliteratur“ sieben Kriterien entwi‐ ckelt (siehe Rösch 2006): 1. Die Welt aus einer interkulturellen Perspektive betrachten, 2. Einen Perspektiv‐ wechsel unterstützen, ethnisch mehrfachadressiert sein, 3. Rassistische Argumenta‐ tionsmuster vermeiden, 4. Eine doppelte Optik (Selbst- und Fremdwahrnehmung) unterstützen, 5. Die Bedeutung von Diversität reflektieren, sie aber nicht aufheben, 250 Eva Gläser 6. Kulturvermittlung und interkulturelle Kommunikation unterstützen, 7. Literarisch und nicht dokumentarisch erzählt sein. (ebd.: 101 f.) Rösch erkennt, ebenso wie Becker, in der jüngsten Kinder- und Jugendliteratur, die eine interkulturelle Perspektive einnimmt, eine deutliche Tendenz. So ist erfreulicherweise „die Sensibilität für rassistische Argumentationsmuster“ nach Becker seit den 1990er Jahre gestiegen (2020, 129). Zudem wertet sie es als einen großen Vorteil, dass nicht mehr die „Problembücher“ dominieren, die „das ,Außergewöhnliche‘ und ‚Prototypische‘ verstärkt aufzeigen. Vielmehr würde aktuell vermehrt „das Diverse und Gemeinsame“ stattdessen betont (ebd.). Becker unterstreicht die Ausführungen von Rösch, in dem sie ebenso für das „Vorleben von egalitärer Differenz, die Überwindung von Diskriminierung, das Zeigen von Diversität als Standard, die Inszenierung von Hybridität als Normalität“ (Rösch 2013, 30) plädiert. Sie ergänzt, dass „die Vermittlung trans‐ kultureller Werte und die Betonung des Gemeinsamen statt des Trennenden“ zudem sinnvoll sei (Becker 2020: 129). 4 Darstellungen von kultureller Diversität und Vorurteilen Ein Bilderbuch, das die oben ausgeführten Kriterien erfüllt, ist „Alle da! Unser kunterbuntes Leben“ von Anja Tuckermann (Text) und Tine Schulz (Illustration) aus dem Jahr 2014. Bereits der Titel zeigt die intendierte Blickrichtung: Es geht um „uns“ alle, also um all jene, die in dieser Gesellschaft zusammenleben, nicht um vermeintlich Andere oder Fremde. In dem Buch wird kulturelle Vielfalt co‐ micartig inszeniert, farbenfroh illustriert und sprachlich angemessen für Kinder im Grundschulalter dargestellt („Es gibt Vorurteile, die nicht besonders schlimm sind. Aber manche Vorurteile können denen, über die geredet wird, richtig schaden.“ (o.S.)). Die Vorurteile, die auf einer Doppelseite aufgeführt werden, ermöglichen es, für rassistische Argumentationsmuster sensibel zu werden: „Alle Roma betteln“ (o.S.), „Frauen, die ein Kopftuch tragen, sind weniger klug“ (o.S.). Dies bleibt in diesem Buch nicht unhinterfragt stehen, erläuternd wird hierzu erklärt: „Ein Vorurteil ist eine fertige Meinung, die jemand hat, obwohl er etwas nicht genau weiß, nicht genau geguckt und auch nicht nach‐ gefragt hat.“. Auf den einzelnen Seiten des Buches werden sowohl allgemeine Erläuterungen über Vorurteile, Flucht, Migration und das Zusammenleben von Menschen gegeben, als auch individuelle Beweggründe beispielsweise für Flucht und Migration episodisch erzählt. So werden unterschiedliche Herkünfte und Biografien exemplarisch erfahrbar. Trotz der lockeren Gestaltung, den humorvollen Zeichnungen und der einfachen Sprache wird die Tragweite, die Migration bedingen kann, nicht ausgeklammert, sondern konkret benannt, 251 Mit Bilderbüchern kulturelle Diversität, Migration und Ausgrenzung erkunden beispielsweise, indem mühsame Fluchtwege und Beschränkungen durch Visa für Familien in unterschiedlichen Ländern aufgezeigt werden. Das Buch hat zudem einen weiteren Schwerpunkt: Exemplarisch werden unterschiedliche Bereiche aus dem alltäglichen Leben in Bezug zu kultureller Diversität (Sprache, Feste, Rituale) dargestellt. Das Bilderbuch Wie ich Papa die Angst vor Fremden nahm (2003) hat auf den ersten Blick viele Ähnlichkeiten mit Alle da! Unser kunterbuntes Leben (2014). Es ist ebenso comicartig gezeichnet, in einfacher verständlicher Sprache formuliert und thematisiert Vorurteile bzw. alltägliche Rassismen. Das Genre ist allerdings ein anderes, es ist eine Bilderbuchgeschichte. Rafik Schami, der Autor des Buches, verdreht bewusst die in der Regel üblichen Rollenmuster von Kindern und Erwachsenen. Denn in dieser Geschichte gelingt es einem Mädchen, ihrem Vater mit viel Geduld und Nachsicht „die Angst vor Fremden“ zu nehmen. Sie selbst wird als vorurteilsfrei gegenüber Fremden dargestellt, ohne die Angst, die ihr Vater vor Fremden, dem Fremden, hat. Die Tochter erzählt „Immer wenn uns ein Schwarzer auf der Straße begegnete, wurde die Hand meines Papas hart und drückte zu wie ein Nussknacker. Er hatte Angst vor Fremden, vor allem vor Schwarzen“ (ebd.: o.S.). Auch die Bilder illustrieren seine Abneigung und Intoleranz deutlich gegenüber Menschen mit anderer Hautfarbe als seiner eigenen. Allerdings wird übertrieben bildlich dargestellt, wie er zu schwitzen beginnt, vor Angst, als ein schwarzer Mann zu ihm in den Aufzug steigt. Letztendlich kann er seine Vorurteile nur durch seine Tochter überwinden, die ihn zu der Familie ihrer besten Freundin mitnimmt, die aus Tansania nach Deutschland kam. Zu bedenken ist, dass das Buch sowohl mit dem Text und den Bildern Stereotype transportiert, die, auch wenn sie die Thematik humorvoll tragen sollen, nur bedingt im Text aufgeklärt werden. Somit stellt das Buch aus fachdidaktischer Sicht keine einfache zu entschlüsselnde Thematisierung dar. 5 Darstellungen über Flucht und Migration und Vorurteile In den letzten Jahren erschienen vermehrt Kinderbücher zu Flucht und Migra‐ tion. Der Literaturwissenschaftler Klaus-Michael Bogdal kritisierte bereits in den 1990er Jahren Kinderbücher bzw. ihre einseitigen Thematisierungen des Fremden im Unterricht. Nicht einzelne Fremde und deren Schicksal sollten im Unterricht behandelt werden, „da eine Wissensvermittlung und Aufklärung über die ethnisch, kulturell oder geographisch ‚Fremden‘“ nicht genüge (1996: 23). Vielmehr müssen, so Bogdal, „unsere Normalitätsvorstellungen, die die Anderen zu Fremden ‚machen‘“ erkannt, durchschaut und verändert werden“ (ebd.). Kinderbücher, die das Fremde, das Andere nicht personalisiert darstellen, 252 Eva Gläser sondern in einer Fabel oder einer Phantasiegeschichte, entsprächen dieser Intention. Rösch untersuchte zwölf aktuelle Bilderbücher, die von ihr unter dem Begriff „Flucht-Literatur“ (2018: 2) zusammengefasst werden. Ihre kritische literaturdi‐ daktische Analyse der Bücher basiert „auf ihrer Gestaltung von Zeit, Raum, Figurenkonstellationen, Erzählperspektive und erzeugten Images“ (ebd.). Eine eindeutige negative Kritik erfährt in ihrer Analyse vor allem das Bilderbuch Bestimmt wird alles gut von Kirsten Boje (2016). Nach Rösch erfüllt es „einige der rassistischen Argumentationsmuster, die für migrationsliterarische Werke ermittelt wurden“ (Rösch 2018: 4 f.). Nach Rösch ist das „Helfersyndrom“ in dem Bilderbuch integriert, da Rahaf, die Hauptfigur, als hilfsbedürftig dargestellt wird (siehe ebd.: 5). Das in diesem Buch dargestellte Einzelschicksal wird zudem als ein Beispiel für das „Oasensyndrom“ kritisiert. Anders wird dagegen das Bilderbuch Akim rennt von Claude K. Dubois (2013) von Rösch interpretiert. Das Buch zeige Akim nicht in einer Opferrolle, obwohl er vor einem Krieg fliehen muss. „Trotz dieser schrecklichen Erlebnisse wird Akim zum handelnden Protagonisten.“ (Rösch 2018: 6). Dagegen wird in dem Bilderbuch Am Tag, als Saida zu uns kam (Gomez Redondo 2016) eine andere sprachliche Variante gewählt, um Flucht und Fremdheit zu thematisieren. Über die Sprache als das Eigene und das Verbindende von Menschen wird in diesem Buch nachgedacht, bildlich unterstützt mit den Sprachen, insbesondere wird mit den Schriftzeichen der beiden Mädchen, den Hauptfiguren der Geschichte, grafisch gespielt. Die Suche nach der Sprache von Saida durchzieht die Bilder und den Text: „Am Tag, als Saida zu uns kam, erklärte mir Papa, dass meine Freundin ihre Sprache wahrscheinlich gar nicht verloren hatte. Vielleicht wollte sie ihre Sprache bloß nicht sprechen, weil sie anders war als unsere.“ (o.S.). Die Thematisierungen von Migration und Flucht in den vorgestellten Kinder‐ büchern zeigen auch konkrete Bezüge zur Fachdidaktik Sachunterricht auf. Die Auseinandersetzung mit Migration kann dem Themenbereich „Sozialisation“ zugeordnet werden (siehe GDSU 2013: 36 f.). „Diese Zuordnung verdeutlicht die Bedeutung der Sozialisation bzw. des ‚eigenen Lebens´ für die Reflexion der spezifischen Person bzw. ihrer Entwicklung innerhalb der Gesellschaft.“ (Gläser/ Peuke 2015: 151). Verschiedene grundlegende Prämissen sind aus Sicht der Fachdidaktik Sachunterricht hierbei bedeutsam (siehe ebd.: 163). Unter anderem ist auch die „geographische Dimension von Migration“ einzubinden, „Migration sollte sowohl als Immigration als auch als Emigration thematisiert werden“, „Menschen mit Migrationshintergrund sind als heterogene Gruppe darzustellen“, „Migration ist in Zusammenhang mit sozialer Ungleichheit“ zu thematisieren, „auch Vorurteile, Fremdenfeindlicheit bzw. Rassismus“ sind 253 Mit Bilderbüchern kulturelle Diversität, Migration und Ausgrenzung erkunden aufzugreifen, „verschiedene Formen bzw. Gründe der Migration sind zu thema‐ tisieren“ und auch „die historische Dimension von Migration ist einzubinden, insbesondere als ein bedeutsamer Bestandteil der deutschen bzw. europäischen Geschichte“ (ebd.). Die sachunterrichtsdidaktische Prämisse, „die historische Dimension von Migration“ zu thematisieren, kann mit ausgewählten Kinderbüchern ermöglicht werden. Das Bilderbuch „Wilhelms Reise. Eine Auswanderungsgeschichte“ von Anke Bär (2013) veranschaulicht die historische Dimension sowohl sprachlich als auch bildlich sehr ansprechend. Unterschiedliche Fragen (Wieso wanderten Menschen vor über 150 Jahren aus Deutschland bzw. aus Europa aus? Welche Gründe hatten die Menschen damals? ) werden mit diesem Buch nachvoll‐ ziehbar. Ein anderer Blick auf die historische Dimension wird in dem Buch von Christa Holtei In die neue Welt. Eine Familiengeschichte aus dem Jahr 2013 gelegt. In diesem Buch wird Auswanderung aus der Sicht von heute erzählt. Die Migration der Vorfahren in die „neue Welt“ vor 150 Jahren, nach Amerika, wird von deren Nachfahren konkret nacherlebt. Sie führt eine Familie aus Nebraska nach Deutschland, von wo aus die Migration damals begann. Die Gründe für die historische Migration werden somit in dieser Erzählung aus der heutigen Perspektive thematisiert und historischen Quellen, die es heute hierzu noch gibt, werden in diese Erzählung mit eingebunden. 6 Bilderbücher und das Ordnen von weltweiter Vielfalt Wie kann man die Vielzahl an Menschen, die weltweite Vielfalt verständlich darstellen? Eine Möglichkeit ist, die kaum fassbare Anzahl der Menschen zu verkleinern, in dem diese reduziert und exemplarisch dargestellt wird. „Auf der Erde leben etwa siebeneinhalb Milliarden Menschen, in Ziffern: 7 500 000 000. Knapp zwei Milliarden davon sind Kinder unter 15 Jahren.“ Mit diesen beiden Sätzen beginnt das Sachbilderbuch „100 Kinder“ von Christoph Drösser (Text) und Nora Coenenberg (Illustration). Es gewann 2021 in der Kategorie Sachbuch den Deutschen Jugendliteraturpreis. Die Jury begründete ihre Entscheidung damit, dass in diesem Buch „in einer klug abgestimmten Kombination aus Texten, Illustrationen und Infografiken ein umfangreiches Tableau an gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Aspekten“ (Arbeits‐ kreis Jugendliteratur 2021) enthalten sei. Zudem zeigt das Buch laut der Jury „Diversität, benennt Unterschiede und Gemeinsamkeiten, spricht Probleme und Ungerechtigkeiten an, weiß Erstaunliches und Kurioses zu berichten. Sachlich, unaufgeregt und verständlich regt es zum Nachdenken an, lässt staunen und macht neugierig auf die Welt und ihre Kinder.“ (ebd.). Das Buch, das für Kinder 254 Eva Gläser im Grundschulalter getextet und illustriert wurde, zeigt die Komplexität und Vielfalt weltweiten Lebens, insbesondere das von Kindern, die Differenzen und Gemeinsamkeiten ihrer Lebenslagen, in sechs großen Kapiteln eindrücklich auf. Somit werden mit diesem Sachbilderbuch die „Vielfalt und Verflechtungen von Räumen“ ebenso wie „Lebenssituationen nah und fern“ (GDSU 2013: 54) für Kinder nachvollziehbar. Zielsetzungen, die im Perspektivrahmen der Gesell‐ schaft für Didaktik des Sachunterrichts (GDSU) innerhalb der geographischen Perspektive für den Unterricht in der Grundschule eingefordert werden, werden in diesem Buch thematisiert. Damit Kinder die unfassbare Anzahl von Menschen weltweit annähernd begreifen können, durchzieht das Buch ein leicht verständliches Gedankenspiel: „Was wäre, wenn die Welt ein Dorf von 100 Kindern wäre? “ (Droesser 2020: 7). Als Einstieg, im ersten Kapitel, wird erklärt, dass „nur eines der 100 Kinder aus Deutschland“ käme (ebd.). Dies ermöglicht den Lesenden, die immense Dimen‐ sion der Weltbevölkerung, bildhaft als ‚ich und die anderen 99 Kinder dieser Welt‘, nachvollziehen zu können. Wo diese 100 Kinder leben, wird anschließend auf einer gezeichneten Weltkarte dargestellt: In Asien sind es 56, in Afrika 25 und in Europa dagegen nur 6 Kinder. So werden in diesem Buch Zahlen, vielmehr Statistiken, in anschauliche Bilder einsichtig übersetzt. Zudem stellen auf allen Doppelseiten zu jedem Thema in zwei Reihen angeordnete Punkte alle 100 Kinder dar. So wird anschaulich, was es heißt, dass 10 von 100 Kinder arbeiten, 16 keine Schuhe besitzen, da die betroffenen Kinder bzw. Punkte anders farblich markiert wurden. Damit erfüllt dieses Buch eine weitere Zielsetzung der Fachdidaktik Sachunterricht: „Die Schülerinnen und Schüler können sich aufgrund von Berichten in Medien (z. B. Kinder - und Jugendsachbücher, Kin‐ derserver im Internet) informieren, wie unterschiedlich Menschen in anderen Räumen leben und was ihren Alltag prägt.“ (GDSU 2013: 54). Die Zahlen allein ergeben noch kein fundiertes Wissen, sie blieben sinnentleert, stünden als bloße Fakten isoliert, wenn diese nicht durch Kommentierungen bzw. Erläuterungen zudem aufgeklärt würden. In diesem Buch werden daher zu jedem Thema auch unterschiedliche Gründe für die weltweiten ungleichen Verteilungen aufgezeigt, mit einfachen Texten und zusätzlichen Hinweisen. Schüler: innen können somit „Vergleiche zwischen verschiedenen Lebenssituationen in anderen Räumen der Erde und der eigenen Lebenssituation anstellen, Unterschiede festhalten und über Ursachen für diese Unterschiede und auch Ungleichheiten nachdenken“ (ebd.: 54). Im Mittelpunkt dieses Buches stehen die weltweit lebenden Kinder und ihre Lebenssituationen, somit wird eine der zentralen sachunterrichtsdidaktischen Zielsetzungen umgesetzt: Der „Ausgangspunkt sachunterrichtlicher Lernpro‐ 255 Mit Bilderbüchern kulturelle Diversität, Migration und Ausgrenzung erkunden zesse sind die Erfahrungen und die Lebenswelt der Kinder“ (GDSU 2013: 10). Eine weitere zentrale Prämisse der Fachdidaktik Sachunterricht wird im Perspektivrahmen zudem eingebunden, denn im Rahmen des Sachunterrichts soll auch die „Auseinandersetzung mit der Qualität des Wissens: Wie lässt sich das, was wir selbst und was andere wissen, prüfen und nutzen? “ (ebd.) ermöglicht werden. Diese Zielsetzung können die Lesenden am Ende des Buches selbst erkunden, denn hier wird die Frage „Woher kommen die Zahlen? “ (Drösser 2020: 94) in dem gleichlautenden Kapitel beantwortet. Es wird somit ein Verständnis über Wissenschaft bzw. über Daten in dem Sachbilderbuch nicht nur veranschaulicht, sondern die Herkunft von diesen auch begründet. Ein weiteres Sachbilderbuch, das die Komplexität der Welt bildlich und textlich veranschaulicht, ist Wenn die Welt ein Dorf wäre… von David J. Smith (Text) und Shelagh Armstrong (Illustration). Das im Jahr 2002 erschienene Buch liegt inzwischen in einer aktualisierten Auflage aus dem Jahr 2018 vor, in dem vor allem die Zahlen und Fakten erneuert wurden. Auch dieses Buch beginnt mit einem Gedankenspiel, indem der Anstoß gegeben wird: „…angenommen, wir würden uns die ganze Weltbevölkerung als Dorf mit nur 100 Bewohnern vorstellen? “ (Smith 2002: 7). Somit repräsentiert jede Person „ungefähr 75 Millionen (75 000 000) Menschen aus der tatsächlichen Welt“ (ebd.). Die Arithmetik, die diesen beiden Büchern zugrunde liegt, ist somit sehr ähnlich. Der entscheidende Unterschied ist, dass in dem Buch 100 Kinder speziell die Gruppe der Kinder fokussiert wird, während in Wenn die Welt ein Dorf wäre… alle Menschen in die allgemeinen Zahlendarstellungen eingebunden werden. Auch die Texte gilt es kritisch zu vergleichen, denn während Christoph Drösser Erläuterungen, Kommentierungen und sachliche Hintergründe einbindet, um die Zahlenwelt ergründbar zu gestalten, verbleibt der Text von Wenn die Welt ein Dorf wäre… auf der Ebene einer simplen Datensammlung. Vergleicht man die grafische Gestaltung, dann fällt zudem auf, dass in beiden Publikationen die Bilder vor allem einen illustrativen Charakter einnehmen. Allerdings sind in 100 Kindern auch bildliche Umsetzungen enthalten, die ein zusätzliches über den Text hinausgehendes Entschlüsseln der quantifizierten Welt ermöglichen sollen, beispielsweise Karten, die Verteilungen von Ressourcen, wie beispielsweise Spielwaren, verbildlichen. Somit werden in dem Sachbilderbuch „100 Kinder“ vermehrt Deutungsmöglichkeiten offeriert, sowohl in der Bildals auch in der Textebene. Aus sachunterrichtsdidaktischer Sicht sind beide Bücher empfehlenswert. Denn die hier ausgeführten Zahlenwelten könnten im Klassenraum sichtbar gestaltet, mit der eigenen Lebenswelt in Bezug gesetzt oder in Teilbereichen selbst textlich noch weiter ausdifferenziert werden. Zudem wird mit diesen 256 Eva Gläser Büchern deutlich: Die geographischen Perspektive ist ebenso wie die historische Perspektive für ein Verständnis von Gesellschaft bedeutsam (siehe GDSU 2013: 36). Dies zeigt sich in dem Buch, wenn das fiktive Weltdorf hier in eine zeitliche Dimension gebracht wird: „Um 1000 vor unserer Zeitrechnung lebte nur eine Person im Dorf. Im Jahr 500 vor unserer Zeitrechnung lebten 2 Personen im Dorf. Im Jahr 1 nach unserer Zeitrechnung lebten 3 Personen im Dorf. […] Im Jahr 2100 werden 250 Menschen im Dorf leben.“ (Smith 2002: 29) Welche Auswirkungen dies für die Weltgemeinschaft, die Weltmeere und die Tier- und Pflanzenwelt haben wird, lässt sich auch für Grundschulkinder durch diese Zahlen sicherlich schon deutlich erahnen. 7 Bilderbücher in der Grundschule - ein Plädoyer für fächerverbindende didaktische Lesarten Bilderbücher bieten Kindern ästhetische, sachliche und teilweise auch philoso‐ phische Zugänge zur Welt. Vor allem bieten sie Gesprächsanlässe, offerieren zudem neue Sichtweisen und können das Eigene in andere Perspektiven rücken. Sprachlich zeigen sie Formen auf, die nicht alltäglich sind, bieten teilweise auch sachlich, informative Texte und ermöglichen es, neue Begriffe zu verstehen. Bilderbücher, ob Sachbilderbücher oder andere, können und sollten in den Unterricht integriert werden. Und sie sind oft für Leseanfänger: innen schon verständlich. Allerdings sind Bilderbücher keine Medien, die nur im Kontext einer einzigen Fachdidaktik interpretiert werden sollten, wie anhand der Kin‐ derbücher in diesem Beitrag aufgezeigt werden konnte. Sowohl Perspektiven aus der Deutsch- und der Sachunterrichtsdidaktik sollten einbezogen werden, damit nicht eine sachliche oder literarische Lesart im Unterricht dominiert. Auch wenn die didaktische Bedeutung begründet werden kann, so soll die Maxime, die die Literaturdidaktikerin Lieber grundlegend für das Arbeiten mit Bilderbüchern für den Deutschunterricht formulierte, ebenso für den Sachunterricht am Ende noch betont werden: „Wichtig ist bei all dem, wie bei jedem Einsatz von Bilderbüchern im Unterricht, das Buch als Ganzes zu würdigen und es nicht abzuzwecken.“ (Lieber 2019: 92). Es sollte auch im Sachunterricht nicht vergessen werden, dass Bilderbücher vor allem kulturelle Güter sind, die wertschätzend als künstlerische Produkte in den Unterricht eingebunden werden sollten, denn sie eröffnen und erweitern Kindern nicht nur neue thematische Welten, sie ermöglichen vor allem auch vielseitige ästhetische Räume. 257 Mit Bilderbüchern kulturelle Diversität, Migration und Ausgrenzung erkunden Literatur Primärliteratur Bär, Anke (2013). Wilhelms Reise. Eine Auswanderungsgeschichte. 2. Aufl. Hildesheim: Gerstenberg. Boje, Kirsten (2016). Bestimmt wird alles gut. 7. Aufl. Leipzig: Klett Kinderbuch. Cave, Kathryn (1994). Irgendwie anders. 31. Aufl. Hamburg: Oetinger. Drösser, Christoph (2020). 100 Kinder. 8. Aufl. Stuttgart: Gabriel. Gomez Redondo, Susana (2016). Am Tag als Saida zu uns kam. Wuppertal: Peter Hammer. Dubois, Claude, K. (2013). Akim rennt. Frankfurt a. M.: Moritz. Holtei, Christa (2013). In die neue Welt. Eine Familiengeschichte in zwei Jahrhunderten. Weinheim: Beltz & Gelberg. Lionni, Leo (2013). Frederick. 18. Aufl. Weinheim: Beltz & Gelberg. La Fontaine, Jean de (2021). Sämtliche Fabeln. München: Anaconda. McKee, David (2004). Elmar. 19. Aufl. Stuttgart: Thienemann. Schami, Rafik (2003). Wie ich Papa die Angst vor Fremden nahm. München: Hanser. Smith, David J. (2002). Wenn die Welt ein Dorf wäre. 8. Aufl. Wien/ München: Jung‐ brunnen. Tuckermann, Anja/ Schulz, Tine (2014). Alle da! Unser kunterbuntes Leben. Leipzig: Klett Kinderbuch. Sekundärliteratur Abraham, Ulf/ Knopf, Julia (2019). Genres des BilderBuchs. In: Knopf, Julia/ Abraham, Ulf (Hrsg.). BilderBücher, Band 1 Theorie. 2. Aufl. Baltmannsweiler: Schneider, 3-13. Arbeitskreis Jugendliteratur (2021). Jurybegründung für das Kinderbuch „100 Kinder“. https: / / www.jugendliteratur.org/ buch/ 100-kinder-4235 (last accessed: 20.2.2022) Becker, Susanne Helene (2016). Fabeln. Ein Genre für den aktuellen Literaturunterricht? Grundschule Deutsch 50, 4-7. Becker, Karina (2020). Vom Umgang mit kultureller Diversität in Kinder- und Jugendbü‐ chern seit den 1990er Jahren. In: Sommerfeld, Beate (Hrsg.). Zwischen Ideologie und Transcreation: Schreiben und Übersetzen - Poznań: Wydawnictwo Rys, Studien zur Germanistik und Translationsforschung 7, 117-132. Bogdal, Klaus-Michael (1996). Fremdheiten - Eigenheiten. Basisartikel in Praxis Deutsch (134), 20-27. Büker, Petra/ Kammler, Clemens (Hrsg.) (2003). Das Fremde und das Andere. Interpreta‐ tionen und didaktische Analysen zeitgenössischer Kinder- und Jugendbücher. Wein‐ heim/ München: Juventa. Gesellschaft für Didaktik des Sachunterrichts (GDSU) (Hrsg.) (2013). Perspektivrahmen Sachunterricht. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. 258 Eva Gläser Gläser, Eva (2005). Lesekompetenz - eine Herausforderung für den Sachunterricht. In: Cech, Diethard/ Giest, Hartmut (Hrsg.). Sachunterricht in Praxis und Forschung. Erwartungen an die Didaktik des Sachunterrichts. Zwischen Grundlagenforschung und Unterrichtspraxis. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, 147-154. Gläser, Eva (2017). Arbeit mit Kinderliteratur - Lesekompetenz und Lesepraxis. In: Reeken, Dietmar v. (Hrsg.). Handbuch Methoden im Sachunterricht. Kinder.Sa‐ chen.Welten. Dimensionen des Sachunterrichts. 4. Aufl. Baltmannsweiler: Schneider, 153-160. Gläser, Eva/ Graff, Thyra (2006). Zum Umgang mit Differenz. Darstellungen von „Anders sein“ in modernen Kinderbüchern. Sache - Wort - Zahl (Anders sein) 75 (34), 41-43. Gläser, Eva/ Peuke, Julia (2015). Migration und Migrationsgesellschaft im sozialwissen‐ schaftlichen Sachunterricht thematisieren. In: Gläser, Eva/ Richter, Dagmar (Hrsg.). Die sozialwissenschaftliche Perspektive konkret. Begleitband 1 zum Perspektiv‐ rahmen Sachunterricht. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, 151-168. Kesper, Matthis (2019). Zwei Bilderbücher von Janell Cannon im Deutsch- und Sachun‐ terricht. In: Abraham, Ulf/ Knopf, Julia (Hrsg.). BilderBuch. Band 2: Implikationen für die Praxis. 2. Aufl. Baltmannsweiler: Schneider, 191-201. Kraft, Tanja/ Müller, Ann-Kristin (2019). Soziokulturelles Lernen mit Bilderbüchern. In: Abraham, Ulf/ Knopf, Julia (Hrsg.). BilderBuch. Band 1: Theorie. 2. Aufl. Baltmanns‐ weiler: Schneider, 131-137. Lieber, Gabriele (2019). Wissen kindgerecht klein geschnitten, in Form gebracht und verpackt. Sachbilderbücher im Deutschunterricht. In: Knopf, Julia/ Abraham, Ulf (Hrsg.). BilderBücher. Band 1 Theorie. 2. Aufl. Baltmannsweiler: Schneider, 85-92. Luptowicz, Corinna/ Kraft, Tanja (2019). Qualitätskriterien zur Auswahl von Bilderbü‐ chern. In: Abraham, Ulf/ Knopf, Julia (Hrsg.). BilderBuch. Band 2: Implikationen für die Praxis. 2. Aufl. Baltmannsweiler: Schneider, 12-18. Ossowski, Herbert (2002). Sachbücher für Kinder und Jugendliche. In: Lange, Günter (Hrsg.). Taschenbuch der Kinder- und Jugendliteratur. Bd. 2 Medien und Sachbuch. Baltmannsweiler: Schneider, 657-682. Richter, Dagmar (2009). Sachunterricht - Ziele und Inhalte: Ein Lehr- und Studienbuch zur Didaktik. Baltmannsweiler: Schneider. Rösch, Heidi (2006). Was ist interkulturell wertvolle Kinder- und Jugendliteratur? Beiträge Jugendliteratur und Medien 2, 94-103. Rösch, Heidi (2018). Alles wird gut! ? - Flucht als Thema in aktuellen Bilderbüchern für den Elementar- und Primarbereich. https: / / www.leseforum.ch/ sysModules/ obxLesef orum/ Artikel/ 626/ 2018_2_de_roesch.pdf (last accessed: 20.2.2022) Schomaker, Claudia (2008). Ästhetische Bildung im Sachunterricht. Zur kritisch-refle‐ xiven Dimension ästhetischen Lernens. Baltmannsweiler: Schneider. 259 Mit Bilderbüchern kulturelle Diversität, Migration und Ausgrenzung erkunden Opa Peers Schnitzeljagd Anspruchsvolles Sachlernen und literarisches Lernen in heterogenen Lerngruppen Julia Menger Abstract: Im Zusammenhang mit der Inklusionsdebatte ist der Um‐ gang mit Heterogenität im Unterricht stärker in den Fokus vieler Lehr‐ kräfte, Fachdidaktikerinnen und Fachdidaktiker gerückt. Ein gemeinsames Lernen, zu dem alle Kinder mit ihren unterschiedlichen Interessen, Kom‐ petenzen, Einstellungen und Vorerfahrungen einen wertvollen Beitrag leisten können, steht im Spannungsfeld von Sache, Individualität und Gemeinsamkeit. Der folgende Beitrag stellt ein Lernangebot vor, das diese drei Bereiche versucht in ein Gleichgewicht zu bringen. Die illustrierte Vorlesegeschichte Opa Peers Schnitzeljagd verbindet anspruchsvolles Sach‐ lernen aus dem Bereich der technischen Bildung mit dem sprachlichen Lernen aus dem Bereich der literarischen Bildung. Die fächerübergreifende Konzeption rückt die komplexen Lernanlässe ins Zentrum, ohne die Fachlichkeit aus dem Blick zu verlieren. Die Geschichte als gemeinsame Basis und Rahmung des Unterrichts schafft durch kreativ-problemlösende Zugänge im sprachlichen wie im sachunterrichtlichen Bereich vielfältige Vernetzungsmöglichkeiten, individuelle Lernwege und das Arbeiten an einer gemeinsamen Sache. 1 Illustrierte Geschichten im Unterricht - Mehr als ein kindgerechter Einstieg in ein Thema Geschichten begeistern Kinder. Ob Hörbücher, das Vorleseritual am Abend oder das Erzählen von Geschichten zu Bilderbüchern - Kinder tauchen in Geschichten ein, entwickeln eigene Vorstellungen und versetzen sich in lite‐ rarische Figuren hinein (siehe Merklinger 2015: 145). Die Reflexion fremder Gedanken- und Gefühlswelten sowie alternativer Handlungsweisen fördert die Perspektivenübernahme und damit die Empathiefähigkeit, schärft aber auch den Blick für eigene Verhaltensoptionen (siehe Volz/ Wiprächtiger-Geppert 2014: 223). Geschichten können Kinder emotional, kognitiv und auch in ihrer ästhetischen Wahrnehmung herausfordern. Das Zusammenspiel von Gefühlen, eigenen Vorstellungen, Erfahrungen und Reflexionsprozessen trägt dazu bei, neu Gelerntes mit bereits vorhanden Wissensstrukturen zu verknüpfen, zu ver‐ stehen und flexibler anwenden zu können. In Unterrichtssituationen begegnen Kindern Geschichten vor allem in Form von Bilderbüchern, Kinderbüchern oder illustrierten Geschichten. Illustrierte Geschichten enthalten rein quantitativ betrachtet weniger Bilder als Bilderbücher, so dass der Text den Ablauf der Erzählung entfaltet, während die Bilder parallel zur Erzählung ausgewählte Passagen veranschaulichen oder ergänzen (siehe Thiele 2021: 224 f.). Die Bilder nehmen also häufig eine den Schrifttext erläuternde Funktion ein, sie entwi‐ ckeln kein eigenes Handlungskontinuum (siehe Kurwinkel 2020: 16). Dennoch entsteht durch sie eine zusätzliche Erzählebene, die Imagination und Textanti‐ zipation unterstützen kann. Voraussetzung hierfür ist jedoch eine durchdachte Textauswahl und reflektierte methodische Umsetzung im Unterricht. 1.1 Merkmale von illustrierten Geschichten und ihre Potenziale für wirksamen Unterricht Reflektiert ausgewählte illustrierte Geschichten beleben den Unterricht und wirken sich auf vielfältige Weise positiv auf Lernprozesse aus. Sie schaffen nicht nur eine wichtige Verbindung zwischen kindlichen Perspektiven und fachwissenschaftlichen Zugängen, sondern ermöglichen auch die Gestaltung inklusiver Lernangebote. Damit ihr Potenzial ausgeschöpft werden kann, sollte eine Geschichte folgende Merkmale erfüllen: 1. Anschlussfähigkeit an Kind und Sache 2. Anregende sprachliche und narrative Textgestaltung 3. Veränderbarkeit der Erzählung Kern einer Geschichte ist der Erzählkontext, weshalb dieser bei der Auswahl einer Geschichte von besonderer Bedeutung ist. Er sollte sich durch eine doppelte Anschlussfähigkeit an Kind und Sache auszeichnen und demzufolge an die Lebenswelt sowie die Interessen der Kinder anschließen, ohne die fachlichen Ansprüche zu vernachlässigen. Vielfältige Identifikationsmöglichkeiten führen zu subjektiver Involviertheit und fördern so die Vorstellungsbildung und ein tiefgreifendes Textverständnis (siehe Spinner 2006: 8). Als Motive für erfolg‐ reiche Kinderliteratur sind z. B. der Zusammenhalt in autonom handelnden Kindergruppen, die Anerkennung durch Erwachsene oder das Bestehen von 261 Opa Peers Schnitzeljagd Bewährungsproben bekannt (siehe Rosenbrock 2021: 5). Zusammen mit Schau‐ plätzen und Situationen aus dem Alltag der Kinder können Vorerfahrungen und Vorwissen aktiviert und als Ausgangspunkt für eine differenzierte Sacher‐ schließung genutzt werden (siehe Kahlert 2005: 213). Die Überprüfung der Geschichte auf ihre fachliche Tiefe und inhaltliche Strukturierung verhindert die Übermittlung von Banalitäten und Klischees sowie die Verwendung fachlich unpassender Analogien. Auch die sprachliche und bildliche Gestaltung einer Geschichte beeinflusst ihr Potenzial für die Aktivierung von Lernprozessen, vor allem in heterogenen Lerngruppen. Anspruchsvolle Geschichten zeichnen sich durch ihre offene Erzählweise aus. Das Erzählen aus mehreren Perspektiven oder die Auflösung des linearen Erzählens führt auf vielfältigen Wegen zu einem gemeinsamen inhaltlichen Kern und lässt so viel Raum für selbstreguliertes Lernen (siehe Volz/ Wiprächtiger-Geppert 2014: 221). Sprachliche Komplexität kann diese Form der natürlichen Differenzierung dann unterstützen, wenn beim Vorlesen ein komplexes Erzählgefüge mit vielfältigen Interpretationsspielräumen darge‐ boten wird. Um lebendige Vorstellungen entstehen zu lassen und damit ein inneres Nacherleben zu ermöglichen, braucht es eine sprachliche Differenziert‐ heit, atmosphärisch dichte Beschreibungen mit komplexen Satzstrukturen und einem reichhaltigen Sprachangebot (siehe Thäle/ Riegert 2014: 199). Sprachliche Vereinfachungen würden die Geschichte auf ihren Inhalt reduzieren und damit in ihrem literarischen Potenzial stark beschneiden. In heterogenen Lerngruppen kann der Sprachentwicklungsstand jedes einzelnen jedoch sehr unterschiedlich sein. Voraussetzung für eine auf den Sprachentwicklungsstand abgestimmte Geschichtenwahl ist die Kenntnis der jeweiligen Lernvoraussetzungen der Kinder. Das sprachliche Potenzial der Geschichte (Wortschatz, grammatische Strukturen und Komplexität sprachlicher Handlungen) kann dann den indivi‐ duellen sprachlichen Bedürfnissen angepasst und eine Überforderung einzelner Kinder vermieden werden (siehe Baldaeus et al. 2021: 22, 27). Während des Vorlesens unterstützt die Lehrkraft das Verstehen durch gezielte Impulse zum Gespräch über das Gehörte, Wortschatzarbeit oder reale Gegen‐ stände, die eine Erkundung mit verschiedenen Sinnen ermöglichen (siehe ebd.: 46). Die Bilder können hier ein zentrales Element sein, da sie keine eindeutige Leserichtung vorgeben und so viel Raum für eigene Vorstellungsbildung lassen (siehe Naugk et al. 2016: 148). Sie greifen die Erzählstruktur auf, entschleunigen den Rezeptionsprozess und laden zum intensiven Austausch über die Geschichte ein. Das Zusammenspiel von Bild und Text eröffnet vielfältige produktive und kommunikative Zugänge zu Geschichten, die sich positiv auf sprachliche, literarische und sachunterrichtliche Lernprozesse auswirken können. Die Bilder 262 Julia Menger in illustrierten Geschichten zeigen weniger einen chronologischen Ablauf der Ereignisse, sondern zeichnen sich durch eine weite Bildfolge aus, die ausgewählte Figuren, Geschehensverläufe oder Schauplätze gezielt in den Fokus rücken (siehe Staiger 2019: 17, 20 f.). Atmosphäre, Charaktere oder komplexere Schauplätze konkretisieren sich in den Illustrationen, machen neugierig und laden zu Gesprächen über das Gesehene ein. Bildgestaltung, Bildaufteilung, Farbgebung oder Perspektiven wirken auf Betrachter unterschiedlich und führen so Individualität und Gemeinsamkeit auf natürliche Weise zusammen (siehe ebd.: 20). Die Verknüpfung dieser beiden Pole wird auch durch die Struktur der Ge‐ schichte positiv beeinflusst, wenn sie veränderbar ist und so vielfältige hand‐ lungs- und produktionsorientierte Zugänge eröffnet. Individuelle Textzugänge werden immer wieder in kooperative und gemeinsame Unterrichtssituationen zurückgeführt, so dass sich die Vielfalt der individuellen Lernwege gewinn‐ bringend für die gemeinschaftlichen Lernprozesse auswirkt. Die intensive Auseinandersetzung mit Inhalt, Sprache und Ästhetik fördert eine differenzierte Sacherschließung genauso wie die Entwicklung literarischer Kompetenzen. Neu zu lernende Inhalte und Zusammenhänge werden durch handlungs- und produktionsorientierte Aufgaben gedanklich tiefer durchdrungen, an die Geschichte rückgebunden und auf neue Situationen transferiert. Die inten‐ sive sachliche Auseinandersetzung im fiktionalen Gestaltungsraum fördert die Grundkompetenz, mentale Modelle zu entwickeln und Handlungsfolgen zu antizipieren, was sich positiv auf die Bewältigung von herausfordernden Alltagssituationen auswirken kann (siehe Belgrad/ Klipstein 2015: 182). 1.2 Methodische Überlegungen zur Integration illustrierter Geschichten in den Unterricht Die Berücksichtigung heterogener Lernvoraussetzungen zeigt sich in einer Unterrichtsgestaltung, die Gemeinsamkeit und Vielfalt ins Zentrum stellt (siehe Kaiser/ Seitz 2020: 13). Gemeinsame Erlebnisse, sachbezogener Austausch und das Verfolgen eines gemeinsamen Ziels im Sinne einer Leitidee (z. B. eine Aus‐ stellung selbst gestalteter Lesekisten) können durch Geschichten im Unterricht etabliert werden. Vor jeder methodischen Überlegung zur Unterrichtsgestaltung stellt sich zunächst die Frage, ob das Lesen der Geschichte auch zur Förderung der Lesefertigkeit genutzt werden soll. Der Leselernprozess entwickelt sich über die gesamte Grundschulzeit hinweg, auch im Deutschunterricht der Sekundar‐ stufe I ist die Förderung der Lesekompetenz ein wichtiger Schwerpunkt. Die Teilfähigkeiten des Leseverstehens entwickeln sich im Laufe der Grundschulzeit zwar stetig, allerdings innerhalb der Lerngruppen sehr unterschiedlich (siehe 263 Opa Peers Schnitzeljagd Lenhard 2019: 43 f.). Man kann daher nicht davon ausgehen, dass die Lesekom‐ petenz bei allen Kindern am Ende der Grundschulzeit gleich weit entwickelt ist. Anspruchsvolle Erzählkontexte und eine differenzierte Sprachgestaltung würden viele Kinder beim Selbstlesen überfordern, so dass das Vorlesen im Sinne eines Unterrichts für alle Kinder ein geeigneterer Zugang zu komplexeren Geschichten sein kann. Dazu trägt auch eine angenehme Vorleseatmosphäre bei. Eine ritualisierte Vorlesezeit, die sich vom übrigen Unterrichtsgeschehen absetzt, kann Wohlbefinden, Geborgenheit und Genuss hervorrufen und so das Gemeinschaftserleben stärken (siehe Kruse 2016: 104). Darüber hinaus entfällt beim Vorlesen das eigene Dekodieren des Textes und es wird Verarbeitungska‐ pazität zum Hörverstehen frei (siehe Belgrad/ Klipstein 2015: 182). Vorlesen kann sich also positiv auf die Lesemotivation und die Leseleistung von Kindern aus‐ wirken, die sich durch eine gut reflektierte Verbindung methodischer Zugänge noch steigern lassen (siehe ebd.: 196). Die folgenden drei Methoden zeigen beispielhaft, wie Geschichten zum zentralen Bestandteil des Unterrichts werden können: 1. Höraktivierendes Vorlesen 2. Vorlesegespräche 3. Aktivierende Aufgabenstellungen Geschichten bieten ein reichhaltiges Potenzial für Lernprozesse in verschie‐ denen Kontexten, auch über den Deutschunterricht hinaus. Vor allem die Vorstellungsbildung ist wichtige Voraussetzung für fachliches Lernen (z. B. im Sachunterricht) und sollte daher gezielt beim Vorlesen gefördert werden. Sie kann dabei vor allem dann positiv beeinflusst werden, wenn die Kinder Möglichkeiten der aktiven Partizipation bekommen. Das Konzept des hörakti‐ vierenden Vorlesens (siehe Kruse 2010) knüpft genau an dieser Stelle an. Durch eine bewusste Sprechgestaltung in Intonation, Tempo und Stimmmodulation kann die Aufmerksamkeit auf bestimmte Textteile gerichtet werden, einzelne Charaktere klarer konturiert und so die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme gestärkt werden. Bei komplexen Erzählsträngen können Bilder, Illustrationen, konkrete Gegenstände aus der Geschichte oder szenische Einschübe das Text‐ verständnis und Nacherleben der Erzählung unterstützen (siehe Kruse 2010: 22). Die Auswahl der höraktivierenden Maßnahmen ist jeweils auf den Text und die Ziele des Vortrages abzustimmen. Sie sollten nicht zu weit vom Text wegführen, sondern an den Stellen gezielte Impulse setzen, die für die weiteren Lernaktivitäten zentral sind. Neben der Qualität des Vorlesens kann auch die konkrete Gestaltung des Vor‐ leseprozesses in Form von Vorlesegesprächen ein tiefgreifendes Textverständnis 264 Julia Menger fördern. Sparsam eingesetzte und gut platzierte Gesprächseinlagen während des Vorlesens initiieren einen kurzen Austausch über eigene Erfahrungen und Vorkenntnisse, über Verständnisschwierigkeiten, individuelle Interpretationen oder den antizipierten Fortgang der Geschichte (siehe Kruse 2016: 106). Der Dialog bezieht sich dabei stets auf Text und Zuhörende, weniger auf den Austausch zwischen vorlesender Lehrkraft und Zuhörenden (siehe Kruse 2010: 19). Die vorlesende Lehrkraft hat die wichtige Aufgabe, das Vorlesegespräch aktiv zu strukturieren. Sie wählt geeignete Impulse aus, um Kinder kognitiv zu aktivieren und einzelne Gesprächsbeiträge aufeinander zu beziehen (siehe Fuhrmann/ Merklinger 2015: 255 f.). Die höraktivierenden Maßnahmen lassen sich sehr gut integrieren und als Ausgangspunkt für Gespräche nutzen. Für längere textbezogene Gesprächs- und Arbeitsphasen eignen sich aktivie‐ rende Aufgabenstellungen, die imaginationsorientiert sind und eine handlungs- und produktionsorientierte Auseinandersetzung mit der Geschichte anregen. Häufig werden diese durch textproduktive Aufgaben mit unmittelbarem Bezug zur Vorlesesituation umgesetzt (siehe Kruse 2016: 107), können aber auch durch szenisches Spiel, ästhetisches Gestalten oder die Verarbeitung der Geschichte mit digitalen Medien (z. B. Stop-Motion Filme) realisiert werden. Handlungs- und produktionsorientierte Zugänge zeichnen sich durch eine hohe aktive Be‐ teiligung der Kinder und Offenheit in Bezug auf die Aufgabenstellungen aus. Sie eröffnen viele Möglichkeiten der natürlichen Differenzierung und eignen sich daher in besonderer Weise für heterogene Lerngruppen. Wie bei allen anderen Zugängen und Impulsen sollte auch bei der Auswahl der Aufgabenstellung die Zielsetzung und die Passung zu Lerngruppe und Lerngegenstand fachdidaktisch überprüft werden. Die Aufgabe sollte die Geschichte fortführen, weiterentwi‐ ckeln oder ergänzen statt die inneren Bilder in Einzelteile zu zerlegen und damit einen Gesamteindruck zu zerstören. Bei allen positiven Effekten, die das Vorlesen von Geschichten für den Unter‐ richt haben kann, sollte ihr Einsatz nicht als Mittel zum Zweck missverstanden werden. Eine Verengung auf die Gestaltung eines kindgerechten Einstiegs oder schöne Verpackung zur Motivationssteigerung wird ihrem Potenzial nicht gerecht. Die reflektierte Auswahl und professionelle Unterrichtsrealisierung führen zu einem ausgewogenen Verhältnis von affektiven, ästhetischen und kognitiven Momenten. Einer Banalisierung des Geschichteneinsatzes wird auf diese Weise genauso entgegengewirkt wie einer Überfrachtung mit Lernange‐ boten. 265 Opa Peers Schnitzeljagd 1 Abrufbar unter paedagogik.de/ alle-anzeigen-grundschule/ product/ praxisbuch-technik orientierter-sachunterricht-2202/ (last accessed: 24.09.21) 2 Opa Peers Schnitzeljagd - Ein fächerintegrierendes Lernangebot für die Klassen 3 und 4 Wie Geschichten zu einem strukturierenden Element des Unterrichts werden können, zeigt das Lernangebot rund um die Vorlesegeschichte Opa Peers Schnit‐ zeljagd  1 (siehe Menger 2021). Die im vorherigen Kapitel dargestellten Merkmale und methodischen Überlegungen sind hierfür konstitutiv. Im Zentrum der Geschichte stehen die Geschwister Ida und Nils, die zu‐ sammen mit Idas Freundin Anne einen Teil der Sommerferien bei ihren Groß‐ eltern auf dem Land verbringen. Opa Peer hat für die Kinder eine Schnitzeljagd vorbereitet, die sie auf verschiedenen Ebenen herausfordert - Teamgeist ist gefragt. Rätselhafte Reime (siehe Abb. 1) führen die Drei zu unterschiedlichen Orten auf dem großen Gelände, an denen vier Problemstellungen gelöst werden sollen. Abb. 1: Beispielhafter Rätseltext mit passender Illustration 266 Julia Menger Hierfür müssen die Kinder Hilfsmittel erfinden, um die von Opa Peer ver‐ steckten Bilderrätsel einsammeln zu können. Im dargestellten Beispiel soll mit einer Angel ein Kästchen aus einem Brunnen gehoben werden, in dem sich das Bilderrätsel befindet (siehe Abb. 2). Das zweite Problem fordert den Bau einer Erfindung, mit der ein Schlüssel von einem hoch oben angebrachten Nagel geangelt werden kann. Dieser öffnet eine Kammer, in der das Bilderrätsel versteckt ist. Abb. 2: Bilderrätsel zum Brunnenrätsel Für die dritte Problemstellung müssen die Kinder ein Hilfsmittel entwickeln, mit dem eine Kugel aus einem Rohr geschoben werden kann. Im Inneren der Kugel finden sie dann das entsprechende Bilderrätsel. Für die Lösung des vierten und letzten Problems muss ein Fahrzeug gebaut werden, das eine Mausefalle auslösen kann. Der Bügel klappt um und zeigt das Bilderrätsel, das auf der Rückseite angebracht ist. Nach der Lösung aller Bilderrätsel ergibt sich das Lösungswort „Kinosessel“. Anne, Nils und Ida wissen sofort, dass ihre Belohnung ein gemeinsamer Kinobesuch mit den Großeltern ist. 2.1 Struktur des Lernangebots Unterricht ist ein sehr komplexes Geflecht, das durch seine Prozessqualität, das individuelle Lernpotenzial und die Lehrperson mit ihren persönlichen Merk‐ malen und ihrer professionellen Kompetenz beeinflusst wird (siehe Helmke 2021: 71). Die Konzeption einer Lernumgebung kann nur einen kleinen Teil dieser Einflussfaktoren in den Blick nehmen: das Lernangebot. Die didaktische Qualität von Lehr-Lernmaterialien und ihr Potenzial zur kognitiven Aktivierung von Schüler: innen beeinflussen die Unterrichtsqualität in hohem Maße (siehe ebd.: 79). Sie repräsentieren ein bestimmtes Lehr-Lernverständnis, das sich 267 Opa Peers Schnitzeljagd zusammen mit der inhaltlichen Strukturierung in der Aufgabenkultur und der Medienauswahl widerspiegelt (siehe Adamina 2017: 13, 17). Im kompetenzori‐ entierten Unterricht steht die eigenständige Bearbeitung und Erschließung von Lerngegenständen im Vordergrund (siehe ebd.: 17). Ausgehend von Vorer‐ fahrungen entwickeln sich dabei Alltagsvorstellungen, Fähigkeiten und Fertig‐ keiten weiter, Reflexions- und Übungsprozesse führen zur flexiblen Anwendung des Gelernten (siehe ebd.). Damit Lehr- Lernmaterialien diesen Ansprüchen gerecht werden, bedarf es umfassender Forschung, didaktischer und fachwis‐ senschaftlicher Reflexionen. Auf der Grundlage einschlägiger Publikationen arbeitet Adamina (2017: 18 f.) sieben Aspekte heraus, die für die Entwicklung von Unterrichtsmaterialien von besonderer Bedeutung sind. Diese münden zusammen mit ausgewählten fächerübergreifenden Qualitätskriterien (siehe Helmke 2021: 168 ff.) in folgende Leitlinien für die Entwicklung des Lernange‐ bots Opa Peers Schnitzeljagd: 1. Das Lernangebot knüpft an Vorwissen und -erfahrungen der Kinder an und vernetzt Erkenntnisse in sinnstiftenden Zusammenhängen miteinander (kumulatives Lernen). 2. Das Lernangebot fordert zum selbstständigen Denken und Handeln heraus, fördert kommunikativen Austausch und Reflexion des eigenen Lernens (kognitive Aktivierung). 3. Das Lernangebot nutzt unterschiedliche Lernwege und vielfältige Lösungs‐ möglichkeiten als ganzheitlichen Blick auf den gemeinsamen Lerngegen‐ stand (natürliche Differenzierung und adaptiver Unterricht). 4. Das Lernangebot fördert grundlegende fachliche und überfachliche Kom‐ petenzen (Kompetenzorientierung). 5. Das Lernangebot zeichnet sich durch sprachliche Verständlichkeit und fachliche Korrektheit aus, stellt Strukturierungshilfen bereit und ist trans‐ parent in seinen Leistungserwartungen (inhaltliche Strukturierung). Die Unterrichtseinheit gliedert sich in mehrere Sequenzen, die aufeinander abgestimmt sind und jeweils unterschiedliche inhaltliche und methodische Schwerpunkte setzen (siehe Abb. 3). 268 Julia Menger Abb. 1: Struktur des Lernangebots Als Einstieg liest die Lehrkraft den ersten Geschichtenteil vor, in dem Protago‐ nist: innen, Handlungsort und Erzählsituation vorgestellt werden. Zusätzlich zur anregenden Sprache mit vielen ausführlichen Beschreibungen wird die Vorstellungsbildung durch die graphische Illustration des Geländes unterstützt. Die vier Schauplätze der Problemstellungen sind darauf deutlich zu erkennen, so dass die Illustration auch im weiteren Verlauf der Einheit zur Orientierung oder auch als Präsentationsmedium eingesetzt werden kann. Die entwickelten Erfindungen könnten beispielsweise als Fotos an den jeweiligen Orten auf dem Bild angeheftet werden. Der zweite Teil der Geschichte dient der inhaltlichen Orientierung und schafft Transparenz über die weiteren Anforderungen, die an die Kinder ge‐ stellt werden. Ida, Nils und Anne entdecken eine alte Eichentruhe, in der sie Baumaterialien, eine Schatzkarte mit den vier Problemstellungen und die ent‐ sprechenden Reime finden. Im Sinne des höraktivierenden Vorlesens empfiehlt es sich, Materialien, Schatzkarte und Rätseltexte als Realia bereit zu halten. Diese schaffen einen fließenden Übergang zu der dritten Sequenz, in der die Rätseltexte 269 Opa Peers Schnitzeljagd genauer analysiert und so die Problemstellungen verstanden werden sollen. Die zur Verfügung stehenden Materialien veranschaulichen die Problemstellung und helfen dabei, das Ziel der Aufgabe zu klären: Alle Erfindungen sollen dazu führen, dass die Zettel mit den Bilderrätseln gefunden werden können. Dieser immer gleiche Aufbau ermöglicht ein strukturiertes methodisches Vorgehen (Ziel erkennen, Planen, Konstruieren, Erproben, Reflektieren) unabhängig von den individuellen Lern- und Lösungswegen. Planvolles Arbeiten wird sichergestellt, was zum einen unüberlegtem Vorgehen und damit Materialver‐ schwendung vorbeugt. Zum anderen wird so die Lehrkraft entlastet, da sie sich schneller einen Überblick über die jeweiligen Zwischenstände verschaffen und Lernprozesse aktiv begleiten kann. In den vier Problemstellungen zeigt sich vielfältiges Differenzierungspotenzial: Die Offenheit in Materialauswahl und Zielobjekt (die selbst entwickelte Erfindung) ist allen Problemstellungen gemein und ermöglicht individuelle Zugänge. Die Vielfalt der gefundenen Lösungen initiiert kriteriengeleitete Vergleiche, Analysen und Bewertungen. Darüber hinaus vermittelt sie eine Wertschätzung für alle Ergebnisse und kann zu neuen Perspektiven auf dieselbe Ausgangssituation führen. Trotz der Offenheit unterscheiden sich die Problemstellungen in der Komplexität der jeweiligen Lösungsanforderungen. So ist es beispielsweise einfacher, eine Angel zu entwickeln als ein Rollfahrzeug mit Motor und Ramme. Da die Lernenden in Gruppenarbeit nur eine Problemsituation bearbeiten, entstehen durch die Wahl der Problemstellung zusätzliche Möglichkeiten, auf Lernvoraussetzungen und Interessen der Lernenden einzugehen. Nachdem alle ihre Erfindung fertiggestellt, präsentiert und die Funktionalität bewertet haben, stellen sich die Gruppen vor, die Protagonist: innen hätten in der Geschichte genau ihre Lösung gefunden. Im szenischen Spiel wird nachempfunden, wie Anne, Ida und Nils mit Hilfe der Lösungskonstruktion die Bilderrätsel finden und so die Rückbindung an die Geschichte erreicht. Anschließend schreiben alle Gruppen ihren Teil der Geschichte weiter. Sie erzählen, wie die Drei zur Lösung kommen und so den wichtigen Zettel mit dem Bilderrätsel finden. Damit jeder einzelne Text trotz der Spielräume in sprachli‐ cher und inhaltlicher Gestaltung an den Anfang der Geschichte angebunden werden kann, wird immer der jeweils letzte Satz als Anschlussstelle vorgegeben (z. B. „Stolz hielten sie das Kästchen hoch.“). Kurze Überleitungstexte mit der Lösung des jeweiligen Bilderrätsels verbessern die Textstruktur und sorgen für einen fließenden Übergang zur nächsten Problemstellung. Wenn alle Bilderrätsel gelöst sind und das Lösungswort gefunden wurde, kann das Schlusskapitel vorgelesen und die Geschichte so beendet werden. Durch die Verknüpfung von bereits vorgegebenen Textteilen und selbst ge‐ 270 Julia Menger schriebenen Texten der Schüler: innen entsteht eine Klassengeschichte, die bei‐ spielsweise auf der Schulwebsite veröffentlicht werden kann. Die Präsentation des Klassenprojektes stärkt das Gemeinschaftsgefühl, das Selbstwirksamkeits‐ empfinden und das Selbstbewusstsein jedes einzelnen Kindes. 2.2 Fächerintegrierender Unterricht: Sachunterricht und Deutsch Die übliche Organisation von Schulunterricht ist bestimmt durch einen Stun‐ denplan, der die Abfolge von Unterrichtsfächern an einem Schulvormittag ausweist. Zu den Unterrichtsfächern gehören die entsprechenden wissenschaft‐ lichen und fachdidaktischen Disziplinen. Anders als alle anderen Fächer hat der Sachunterricht jedoch nicht eine Bezugswissenschaft, sondern viele. Lern‐ gegenstände werden im Sachunterricht vielperspektivisch betrachtet, so dass Phänomene und Zusammenhänge der Lebenswelt auf der Grundlage verschie‐ dener Bezugswissenschaften systematisiert, verstanden und reflektiert werden. Die Bearbeitung komplexer Fragen und Probleme, vernetztes Denken, Selbst‐ ständigkeit und eine höhere Beteiligung der Lernenden an Planungs- und Gestaltungsprozessen sind strukturgebende Merkmale, die maßgeblich mit dem Sachunterricht verbunden sind. Alle wesentlichen Merkmale des fächerüber‐ greifenden Unterrichts sind somit immanent im Sachunterricht verankert (siehe Hempel 2020: 29 und Labudde 2009: 333). Das macht den Sachunterricht beson‐ ders attraktiv für fächerübergreifende Unterrichtsprojekte. Diese lassen sich grundsätzlich als Unterrichtsformen bezeichnen, „bei denen Wissensbestände oder Fertigkeiten aus mehr als einem Fach in die Auseinandersetzung mit dem Unterrichtsgegenstand eingebunden sind“ (Hempel 2020: 28). Vom eigentlichen Wortsinn ausgehend werden Fachgrenzen überschritten, verschiedene fachliche Perspektiven systematisch miteinander vernetzt und so ein Lerngegenstand/ ein Problem in seiner Komplexität erfasst (siehe Moegling 2010: 13). Welche Fächer für ein fächerübergreifendes Unterrichtsprojekt miteinander verknüpft werden, hängt maßgeblich von dem ausgewählten Lerngegenstand und seinem Facet‐ tenreichtum ab. Im Zentrum der in diesem Beitrag vorgestellten Unterrichtsanregung steht die Geschichte um Opa Peers Schnitzeljagd, die an die Lebenswelt der Kinder an‐ knüpft, Identifikationsmöglichkeiten schafft, Vorstellungen aktiviert, vielfältige handlungs- und produktionsorientierte Zugänge eröffnet und zu kommunika‐ tivem Austausch anregt. Sie vereint somit besonderes Potenzial für literarisches Lernen im Deutschunterricht (siehe Spinner 2006: 8 f.) und technisches Lernen im Sachunterricht (siehe Kahlert 2005: 214 und 218 ff. und Menger 2021: 18 f.). Fächerübergreifendes Lernen zeigt sich hier in einem fächerintegrierenden Verständnis. Der Lerngegenstand wird aus verschiedenen fachlichen Perspek‐ 271 Opa Peers Schnitzeljagd tiven (hier Deutsch und Sachunterricht) bearbeitet und die jeweils anderen Fachinhalte in das eigene Fach integriert (siehe Moegling 2010: 29 f.). Durch die aufeinander abgestimmte Behandlung einer Thematik in zwei Fächern kann sich ein Synergieeffekt einstellen, eine Motivationssteigerung erreicht und das Lernen effizienter gestaltet werden (siehe ebd.: 54). Die inhaltlichen und methodischen Schwerpunkte des literarischen Lernens im Deutschunterricht wurden bereits in Kapitel 1 in weiten Teilen ausgeführt. Im Folgenden wird nun der sachunterrichtliche Schwerpunkt „Erfinden“ näher in den Blick genommen (siehe Menger 2021: 19 ff.), damit die fachbezogenen Lernchancen aus beiden Fachperspektiven Berücksichtigung finden. Erfinden als Beitrag zur technischen Bildung im Sachunterricht Erfinden ist eng mit problemorientiertem Sachunterricht verknüpft. Beim technischen Problemlösen entwickeln Lernende von ihrem Anfangszustand ausgehend eine Zielperspektive, die sich in dem angestrebten Endzustand ma‐ nifestiert. Die Problemlösung ist das verbindende Element vom Anfangszum Endzustand und eröffnet ein komplexes Lernfeld. Das Erfassen eines Problems und die Entwicklung von Lösungsideen fordern nicht nur überfachliche Kom‐ petenzen wie Kreativität, Teamfähigkeit, Motivation und Durchhaltevermögen. Kenntnisse über Materialeigenschaften und -verarbeitung, technische Funktio‐ nalität sowie sachgerechten Umgang mit Werkzeugen sind in gleicher Weise für die Bewältigung von Problemlöseaufgaben erforderlich (siehe Menger 2021: 24). Methodisch strukturiert sich das technische Problemlösen in acht Phasen, die jeweils eingeführt, geübt und reflektiert werden müssen, um die Methodenkom‐ petenz der Lernenden zu erweitern. Ausgangspunkt des sogenannten ‚Design Process‘ (siehe ITEA 2007: 237) ist es, ein Problem zu erkennen (1) und Kriterien für das angestrebte Ziel festzulegen (2). Daran schließt sich die Entwicklung von Lösungsideen an (3). Diese werden zunächst ungefiltert gesammelt, dann in einem gemeinsamen Aushandlungsprozess genauer ausgearbeitet, geprüft und diskutiert (4). Eine Lösungsidee zeigt sich dabei als besonders vielversprechend. Sie wird ausgewählt (5) und in Form eines Prototyps/ Modells umgesetzt (6). Nach der Optimierung des Entwurfs (7) präsentiert die Gruppe das Ergebnis und prüft, ob die eingangs formulierten Kriterien erfüllt werden (8). Ist dies nicht der Fall, beginnt der Prozess von vorn. Diese Arbeitsschritte sind auch für die Erfindung von Hilfsmitteln bei Opa Peers Schnitzeljagd grundlegend. Den Gruppen stehen Checklisten zur Verfügung, auf denen sie jeden einzelnen Erfindungsschritt dokumentieren und so zu jedem Zeitpunkt einen Überblick über ihren aktuellen Arbeitsstand und die nächsten Schritte bekommen. Dies kann jedoch nur dann gelingen, wenn zentrale methodische Basiskompetenzen 272 Julia Menger bereits eingeführt und geübt wurden, wie z. B. das Anfertigen von Sachzeich‐ nungen, der Umgang mit Materialien und Werkzeugen, aber auch ausgewählte Präsentationstechniken. Der Kontext der Geschichte richtet den Blick der Kinder auf den Kern, der Technik charakterisiert: das Zusammenspiel von einem Bedürfnis, das zu technischem Handeln führt, und einem so entstanden Artefakt, das die Lebens‐ bedingungen oder -perspektiven verbessert (siehe Graube 2016: 73). Bezogen auf die Geschichte verspüren die Lernenden das Bedürfnis, ein Hilfsmittel zu erfinden, um damit der angekündigten Belohnung etwas näher zu kommen. Aus diesem Zusammenhang erwächst die Notwendigkeit der Förderung von Technikmündigkeit. An den Stellen, an denen Lebensbedingungen für den einen verbessert werden, können sie sich für jemand anderen verschlechtern. So ist Technikmündigkeit notwendige Voraussetzung, um an der technisierten Gesell‐ schaft verantwortungsvoll teilnehmen und sie mitgestalten zu können (siehe ebd.: 111). Interessens- und Zielkonflikte müssen erkannt, Handlungsoptionen entwickelt und reflektiert genutzt werden (siehe Binder 2020: 22). Auch dazu kann das hier vorgestellte Lernangebot einen Beitrag leisten. Die Erfindungen der einzelnen Gruppen werden nach der Präsentation auf ihre Funktionalität und Effizienz überprüft. Zu Beginn festgelegte Ziele und Kriterien gelten hierbei zugleich als Maßstab und Orientierung, um eine fundierte und strukturierte Einschätzung darüber geben zu können, ob das Hilfsmittel in der Situation der Geschichte funktionieren könnte. Opa Peers Schnitzeljagd stellt ein reichhaltiges Lernangebot für Deutsch- und Sachunterricht bereit. Fachspezifische und überfachliche Lernchancen können durch ihre zahlreichen Vernetzungsmöglichkeiten die verschiedenen Lernprozesse positiv beeinflussen und Synergieeffekte hervorrufen (siehe Abb. 4). 273 Opa Peers Schnitzeljagd Abb. 4: Fächerintegrierendes Lernen am Beispiel des Lernangebots zu Opa Peers Schnit‐ zeljagd 274 Julia Menger 3 Zusammenfassende Schlussbetrachtung Aktuelle Debatten um die Gestaltung von inklusivem Unterricht zeigen sehr heterogene Einschätzungen darüber, welche Konsequenzen sich für die Unter‐ richtspraxis aus den fachdidaktischen und schulpädagogischen Überlegungen zur Wirksamkeit von Unterricht ergeben. Sowohl in der pädagogischen Fach‐ welt als auch in öffentlichen Diskussionen um Schulentwicklung zeigt sich eine starke Präsenz des Themas Inklusion. Politische, pädagogische und fach‐ didaktische Perspektiven treffen aufeinander, zum Teil begleitet von starker Emotionalität und Polarisierung (siehe Naugk et al. 2016: 14, 17). Da die Unsi‐ cherheit vieler Lehrkräfte in Bezug auf die wachsenden Anforderungen durch inklusiven Unterricht sehr groß ist, ist ein riesiger Markt an Unterrichtshilfen mit Differenzierungsangeboten speziell für inklusiven Unterricht entstanden. Diese weisen häufig Arbeitsmaterialien in unterschiedlichen Niveaustufen aus und beziehen sich auf Maßnahmen der äußeren Differenzierung. Zur Entwicklung von Professionalität können diese Kopiervorlagensammlungen allerdings nur selten beitragen. Ein professionelles Selbstverständnis in Bezug auf inklusiven Unterricht setzt eigene Erfahrungen und Erfolgserlebnisse, Erfahrungsaustausch im Kollegium und systematische Weiterentwicklung des Unterrichts voraus (siehe Kaiser/ Seitz 2020: 7). Anregungen von Kolleg: innen, aber auch Publikationen mit konkretem Theorie-Praxis-Bezug können dazu verhelfen, über die eigene Unterrichtspraxis neu nachzudenken, kreativ damit umzugehen und die Kinder stärker in Planungs- und Gestaltungsprozesse einzubeziehen. Daraus kann dann ein geschärfter Blick in Bezug auf die vielen Möglichkeiten zur natürlichen Differenzierung resultieren, die oft bereits in dem eigenen Unterricht angelegt und bisher vielleicht noch nicht voll ausgenutzt wurden. Die in diesem Beitrag vorgestellte Unterrichtsidee ist als eine solche Anre‐ gung zu verstehen. Sie zeigt, dass sich ein gemeinsamer Lerngegenstand zu einer gemeinsamen Leitidee entwickeln kann und sich so wie ein roter Faden durch die Unterrichtseinheit zieht. Fächerübergreifendes Lernen kann da, wo es sinnvoll ist, Basiskompetenzen doppelt stärken und auch inhaltlich zu Syn‐ ergieeffekten führen. Illustrierte Geschichten haben ein sehr hohes Potenzial, Heterogenität nicht nur als Chance zu sehen, sondern als Voraussetzung für eine ganzheitliche Erfassung des Lerngegenstandes und der fachspezifischen Arbeitsweisen. Durch die produktive Arbeit an der Geschichte wird der Unter‐ richt so geöffnet, dass unterschiedliche Lernwege und Arbeitsschwerpunkte eine Selbstverständlichkeit sind, zentrale fachspezifische Arbeitsweisen (z. B. 275 Opa Peers Schnitzeljagd Design Process) aber trotzdem strukturiert eingeführt und reflektiert werden können. Literatur Adamina, Marco (2017). Die parallele Verwendung von Lehrmitteln verschiedener Fachbereiche im Unterricht der Primarstufe (PaLeMi_Prim). Schlussbericht. Bern: PH Bern. www.phbern.ch/ sites/ default/ files/ 2020-03/ pa_le_mi_prim_schlussbericht_ 13w00201_170902.pdf (last accessed: 25.09.2021) Baldaeus, Annika et al. (2021). Sprachbildung mit Bilderbüchern. Ein videobasiertes Fortbildungsmaterial zum dialogischen Lesen. Münster, New York: Waxmann. Belgrad, Jürgen/ Klipstein, Christin (2015). Leseförderung durch Vorlesen. Ein empirisch begründetes Plädoyer für das regelmäßige Vorlesen im Unterricht aller Schularten. In: Gessnich, Eva/ Müller, Claudia/ Stark, Linda (Hrsg.). Lernen durch Vorlesen: Sprach- und Literaturerwerb in Familie, Kindergarten und Schule. Tübingen: Narr Francke Attempto, 180-198. Binder, Martin (2020). Wie wäre es, technisch gebildet zu sein? Technische Bildung im Kontext Allgemeiner Bildung. Baltmannsweiler: Schneider. Fuhrmann, Catharina/ Merklinger, Daniela (2015). Literarisches Lernen in Vorlesegesprä‐ chen. In: De Boer, Heike/ Bonanati, Marina (Hrsg.). Gespräche über Lernen - Lernen im Gespräch. Wiesbaden: Springer, 251-266. Graube, Gabriele (2016). Zum Wesen von Wissenschaft und Technik im 21. Jahrhun‐ dert. In: Graube, Gabriele/ Mammes, Ingelore (Hrsg.). Gesellschaft im Wandel. Kon‐ sequenzen für natur- und technikwissenschaftliche Bildung in der Schule. Bad Heil‐ brunn: Klinkhardt, 72-98. Helmke, Andreas (2021). Unterrichtsqualität und Lehrerprofessionalität. Diagnose, Eva‐ luation und Verbesserung des Unterrichts. Seelze: Kallmeyer. Hempel, Christopher (2020). Die gemeinsame Planung fächerübergreifenden Unterrichts Fallanalysen zur unterrichtsbezogenen Zusammenarbeit von Lehrerinnen und Leh‐ rern. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Huber, Ludwig (2001). Stichwort: Fachliches Lernen. Das Fachprinzip in der Kritik. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 4 (3), 307-331. International Technology and Engineering Education Association (ITEA) (Hrsg.) (2007). Standards for Technological Literacy: Content for the study of Technology. Virginia (US). www.iteea.org/ File.aspx? id=42513&; v=2a53e184 (last accessed: 26.09.21) Kahlert, Joachim (2005). Story Telling im Sachunterricht - Lernpotenziale von Ge‐ schichten. In: Reinmann, Gabi (Hrsg.). Erfahrungswissen erzählbar machen. Narrative Ansätze für Schule und Wirtschaft. Lengerich: Pabst Science Publishers, 207-223. 276 Julia Menger Kaiser, Astrid/ Seitz, Simone (2020). Inklusiver Sachunterricht. Theorie und Praxis. Baltmannsweiler: Schneider. Kruse, Iris (2016). Gut vorlesen. Textpotenziale entfalten. Schulisches Bilderbuchvor‐ lesen in empirischer Überprüfung. In: Pompe, Anja (Hrsg.). Literarisches Lernen im Anfangsunterricht. Theoretische Reflexionen. Empirische Befunde. Unterrichtsprak‐ tische Entwürfe. Baltmannsweiler: Schneider, 102-121. Kruse, Iris (2010). Das Vorlesen lernförderlich gestalten. Astrid Lindgrens Märchen "Sonnenau" - Ein Unterrichtsbeispiel zum "Höreraktivierenden Vorlesen". Grund‐ schulunterricht Deutsch 57 (1), 18-22. Kurwinkel, Tobias (2020). Bilderbuchanalyse. Narrativik - Ästhetik - Didaktik. Tü‐ bingen: Narr Francke Attempto. Labudde, Peter (2009). Fachunterricht und fächerübergreifender Unterricht: Grundlagen. In: Arnold, Karl-Heinz/ Sandfuchs, Uwe/ Wiechmann, Jürgen (Hrsg.). Handbuch Un‐ terricht. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, 331-336. Lenhard, Wolfgang (2019). Leseverständnis und Lesekompetenz: Grundlagen - Dia‐ gnostik - Förderung. Stuttgart: Kohlhammer. Menger, Julia (2021). Praxisbuch technikorientierter Sachunterricht. Erfinden und Ent‐ decken als kindorientierte Zugänge zur Technik. Baltmannsweiler: Schneider. Merklinger, Daniela (2015). Sprachformen für Unbestimmtheit und Ungewissheit: Lite‐ rarisches Lernen im Vorlesegespräch. In: Gessnich, Eva/ Müller, Claudia/ Stark, Linda (Hrsg.). Lernen durch Vorlesen: Sprach- und Literaturerwerb in Familie, Kindergarten und Schule. Tübingen: Narr Francke Attempto, 143-159. Naugk, Nadine/ Ritter, Alexandra/ Zielinski, Sascha (2016). Deutschunterricht in der inklusiven Grundschule. Perspektiven und Beispiele. Weinheim und Basel: Beltz. Rosenbrock, Claudia (2021). Elementare Lesekultur. Zum Leitbild schulischer Lese‐ didaktik für Kinder. https: / / http: / / dx.doi.org/ 10.13140/ RG.2.2.25113.75363 (last ac‐ cessed: 20.09.21) Spinner, Kasper H. (2006). Literarisches Lernen. Praxis Deutsch 33 (200), 6-16. Staiger, Michael (2019). Erzählen mit Bild-Schrifttext-Kombinationen. In: Knopf, Julia/ Abraham, Ulf (Hrsg.). BilderBücher, Band 1 Theorie. Baltmannsweiler: Schneider, 14-25. Thäle, Angelika/ Riegert, Judith (2014). Literarische Zugänge im inklusiven Deutschun‐ terricht - zur Bedeutung von Textzugängen. In: Hennies, Johannes/ Ritter, Michael (Hrsg.). Deutschunterricht in der Inklusion. Auf dem Weg zu einer inklusiven Deutschdidaktik. Stuttgart: Klett, 195-208. Thiele, Jens (2021). Das Bilderbuch. In: Lange, Günther (Hrsg.). Kinder- und Jugendlite‐ ratur der Gegenwart. Baltmannsweiler: Schneider, 217-230. Volz, Steffen/ Wiprächtiger-Geppert, Maja (2014). Literarisches Lernen für alle - lite‐ rarästhetisch anspruchsvolle Bilderbücher im inklusiven Unterricht. In: Trumpa, 277 Opa Peers Schnitzeljagd Silke/ Seifried, Stefanie/ Franz, Eva/ Klauß (Hrsg.). Inklusive Bildung. Erkenntnisse und Konzepte aus Fachdidaktik und Sonderpädagogik. Weinheim u.a.: Beltz Juventa, 220- 233. 278 Julia Menger Eine (un-)geplante Überraschung Explorative Erkundung eines textlosen Bilderbuches im Mathematikunterricht Kerstin Bräuning und Caren Feskorn Abstract: In der Fülle von Bilderbüchern nehmen jene eine besondere Position ein, die ohne einen Begleittext auskommen, d. h., in denen sich die Narration ausschließlich innerhalb einzelner oder im Verbund mehrerer Bilder entfaltet; einschlägige Publikationen sprechen daher auch von visuellen Narrationen. Dabei liegt der unterrichtliche Mehrwert v. a. in der Entwicklung der Sprach-/ Erzählkompetenz, wobei davon ausgegangen werden kann, dass die Bandbreite unterrichtlicher Potenziale deutlich darüber hinausgeht. Daran anknüpfend wird vor dem Hintergrund eines explorativen Vorgehens beleuchtet, welche Ideen Zweitklässler: innen in der Auseinandersetzung mit einem textlosen Bilderbuch im methodischen Rahmen des subjektiven Kartografierens entwickeln, wie jene Ideen im Fachunterricht aufgegriffen und - vom Kind aus - zum Lerngegenstand gemacht werden können. So legt eine qualitative Bildinhaltsanalyse der entstandenen Arbeitsprodukte dar, dass die visuelle und narrative Ausge‐ staltung um ein Schaf, das seine Wolle zum Stricken eines Pullovers für einen Freund nutzt, vielfältige Anschlussmöglichkeiten für das fachbezo‐ gene wie fachübergreifende Arbeiten eröffnet. Die Lerngruppe zeigt auf, dass das Kind selbst in der Lage ist, wertvolle didaktische Artefakte zu entwickeln, die für Lehrkräfte durchaus Überraschungen bereithalten. 1 Einleitung Bilderbücher erfreuen sich - bei Kindern wie Erwachsenen - einer großen Beliebtheit; ihrer Orientierung an Trivialität und pädagogischem Duktus sind 1 Zu einem Überblick über Zäsuren der Bilderbuchentwicklung siehe z. B. Thiele (2018). 2 Siehe z. B. Weinkauff und Glasenapp (2018). die gegenwärtigen Erscheinungsformen längst entwachsen. 1 Erhalten geblieben ist jedoch die Hinwendung zum vornehmlich jungen Publikum, sodass Lehrende der Primarstufe Bilderbücher vielfach in die Planung von Lehr-Lern-Arrange‐ ments einbeziehen. Vor allem im Deutsch- und Englischunterricht gehören sie zum didaktischen Grundrepertoire, was durchaus naheliegend erscheint, zielen jene Unterrichtsfächer, wenn auch in unterschiedlichen Facetten, auf die Entwicklung der geschriebenen wie gesprochenen Sprache und auf die „Herausbildung basaler Kompetenzen im Umgang mit Buch- und anderen Printmedien” (Abraham 2019: 208) ab. Besonders Bilderbüchern wird dabei zugeschrieben, neben kognitiven Lernauch ästhetischen Bildungsprozessen gerecht werden zu können; Mattenklott (2002) spricht vom „Bilderbuch als Grundschule der Künste” (33). Dahingehende methodisch-didaktische Anre‐ gungen haben gemein, dass Schüler: innen nicht als bloße Rezipient: innen von Literatur anzusehen sind, sondern als Akteur: innen verstanden werden sollen, die in der Auseinandersetzung mit literarischen Werken diese gleichsam für sich selbst erschaffen. Im Zuge dessen stehen handlungs- und produktionsorientierte Aktivitäten im Mittelpunkt, die vor, während und/ oder im Anschluss an das gemeinsame Lesen von Bilderbüchern erfolgen, den „mentalen Aufenthalt” (Rosebrock/ Nix 2014: 147) im literar-ästhetischen Raum verlängern und subjek‐ tive sowie ggf. kreative Freiheiten erlauben. Dies kann jedoch - in wörtlicher Anlehnung an das hier im Fokus stehende Bilderbuch - überraschenderweise ebenfalls für den Mathematikunterricht gelten, wie der vorliegende Beitrag aufzeigen wird. In den folgenden Ausführungen wird auf eine allgemeinfachliche Darstellung der Bilderbuchgattung verzichtet 2 , die im Spiegel verschiedener Bezugsdiszi‐ plinen ohnehin wenig eindeutig erscheint; ebenso wenig findet sich eine detaillierte literaturwissenschaftliche Analyse des ausgewählten Bilderbuches. Abraham (2019) gibt zu bedenken: „Alle Einzelmedien sind in ihrer Eigenart zu würdigen.” (208) Dieser Forderung wird nachgekommen, indem Besonderheiten des textlosen Bilderbuches in Bezug auf das Bilderbuch Die Überraschung von Sylvia van Ommen (2007) aufgegriffen und in den Kontext des Mathematikun‐ terrichts eingeordnet werden. 280 Kerstin Bräuning und Caren Feskorn 2 Theoretische Rahmung 2.1 Bilderbücher im Mathematikunterricht Auch wenn der Einsatz von Bilderbüchern zur Initiierung mathematischer Lernprozesse zunächst ungewohnt erscheinen mag, begründet er sich aus fachdidaktischer Sicht u. a. darin, dass mathematische Phänomene durch das Bil‐ derbuch in einen realen oder fiktionalen lebensweltlichen Kontext eingebettet dargeboten werden, sodass Kinder eine Idee davon entwickeln können, in wel‐ chen Aspekten Mathematik auch außerhalb des Klassenzimmers in Erscheinung tritt. Darüber hinaus werden durch die vorhandenen Illustrationen konkrete äußere Repräsentationen bereitgestellt, mit denen Mathematik entdeckt und erkundet werden kann, denn sowohl in der Erkenntnistheorie als auch der Fachdidaktik ist die Bedeutung der Anschauung zur Begriffs-, Bedeutungs- und Erkenntnisbildung unumstritten (z. B. Söbbeke/ Steinbring 2007). Duval (2000) stellt dies mit seiner Beschreibung des paradoxen Charakters mathematischer Begriffe deutlich heraus: There is an important gap between mathematical knowledge and knowledge in other sciences. We do not have any perceptive or instrumental access to mathematical objects […] We cannot see them, study them through a microscope or take a picture of them. The only way of gaining access to them is using signs, words, symbols, expressions or drawings. (61) Hinzu kommen Aspekte aus der Lehr-Lern-Psychologie, die darauf hinweisen, dass Lernen dann erfolgreich ist, wenn Lerngegenstände in narrativen Zusam‐ menhängen vorkommen, die für das Kind bedeutsam erscheinen. So zeigt die Deutschdidaktik, dass Kinder eine hohe Bereitschaft aufweisen, „sich über Bilderbücher zu äußern, bestimmte Seiten wieder aufzuschlagen, Bilder erneut zu betrachten, mit dem Finger auf besondere Motive zu zeigen, Fragen zu stellen […]“ (Thiele 1985: 14), was gleichermaßen auch für Bilderbücher mit mathematischen Anknüpfungspunkten gilt. Für den Elementarbereich halten Heuvel-Panhuizen et al. (2009) fest: As we have shown, picture books can offer a meaningful context for learning mathematics, and provide an informal basis of experience with mathematical ideas that can be a springboard for more formal levels of understanding. (37) Dies kann jedoch ebenfalls für den Primarbereich gelten (z. B. Bräuning/ Ritter 2016; Feskorn/ Grohmann 2021). Aspekte, die sich für den (Mathematik-)Unter‐ richt als bedeutungstragend erweisen, sind etwa das Thema des Bilderbuches und dessen Ästhetik, allem voran jedoch die Bilder und ihr dialogisches Ver‐ 281 Eine (un-)geplante Überraschung 3 Inwiefern dem Titel als Peritext eine herausragende Bedeutung im Rezeptionsge‐ schehen zukommt, kann an dieser Stelle nicht diskutiert, sondern nur vorsichtig gemutmaßt werden. Für eine ausführlichere Diskussion siehe z. B. Bosch (2014: 80-84, 87). hältnis zum Erzählten - wobei dies für textlose Bilderbücher nachfolgend spezifiziert werden soll. 2.2 Textlose Bilderbücher Eine prägnante Definition zur Charakterisierung textloser Bilderbücher liefert Nières-Chevrel (2010): „Text is reduced to a title.” 3 (130) Fraglich ist im Zuge dessen, ob ein Bilderbuch überhaupt als textlos gelten kann, wenn es einen Titel und auf dem Bucheinband manchmal zudem eine Zusammenfassung der inten‐ dierten Narration enthält. Antworten hierzu lassen sich bei Bosch (2014) finden: „We call picturebooks that do not contain any words in the visual narration ‚wordless’ […].” (73) Das Attribut textlos bezieht sich somit auf das, was sich als Bildsequenz zwischen der vorderen und hinteren Umschlagsseite entfaltet, sodass Bosch (2014) vorschlägt, von „wordless narratives” (73) zu sprechen, wie etwa auch bei Volz (2020) der Terminus „textlose Narration” (169) zu finden ist. Schriftzeichen, die einen inhärenten Teil der in den Bildern dargestellten Objekten bilden, erkennen einer Erzählung ihre textlose Eigenschaft dabei nicht zwangsläufig ab: „These […] may be described using the adjective intra-iconic given that they are intrinsic to the represented iconic signs.” (Bosch 2014: 75) Fest steht insgesamt, dass die Textlosigkeit eines Bilderbuches keinesfalls damit einhergeht, Kinder wortlos zurückzulassen. Vielmehr scheint dem Pikto‐ ralen die Aufforderung innezuwohnen, sich intensiv über das Wahrgenommene auszutauschen, und dabei eine narrative Betrachtungshaltung einzunehmen. Dabei initiiert vor allem die Aushandlung über Bedeutungszuschreibungen einzelner oder mehrerer Elemente Narrations(re)konstruktionen. Die visuelle Erzählinstanz erfordert vom lesenden Gegenüber, die Rolle der verbalen Er‐ zählinstanz einzunehmen, wobei dies nicht zwangsläufig die lautsprachliche Form meint. Nières-Chevrel (2010) konstatiert: „The picture book requires an active collaboration from the reader, or rather, the viewer.” (130) Aus diesem Grund nimmt Lysaker (2019: 2 f.) davon Abstand, im Umgang mit textlosen Bilderbüchern von „comprehension” zu sprechen; stattdessen ist der Begriff „comprehending” vorzuziehen, der die aktiv-ausgestaltende Rolle des Subjekts wiedergibt. So kann das textlose Bilderbuch dann als „dialogic object and participation genre” (ebd.: 8) verstanden werden; „children author unique texts and something new comes into being every time“ (ebd.: 2). Das traditionelle Cha‐ rakteristikum eines Bilderbuches, Text und Bild zu einem bi-codalen Medium zu 282 Kerstin Bräuning und Caren Feskorn vereinen, geht trotz der Textlosigkeit somit keineswegs verloren, sondern wird lediglich so modifiziert, dass die kommunikative Funktion von Bilderbüchern (Weinkauff/ Glasenapp 2018: 170) durch individuelle Lesarten der Bilder einmal mehr unterschiedliche Narrationen befördert. Die Entwicklung jener Lesarten unterliegt besonders bei textlosen Werken verschiedenen Parametern, die einerseits im Buch, andererseits im betrach‐ tenden Gegenüber zu verorten sind: Gestalterische Elemente, wie z. B. (Hinter‐ grund-)Farben, ein- oder doppelseitige Bilder und ihre mono- oder pluriszeni‐ sche Aufmachung als auch verschiedenste Aspekte der Bildsyntax, -semantik und -pragmatik fungieren als Bedeutungsträger, werden beim Dekodieren aber zugleich mit interindividuellem Verständnis gefüllt. Kulturelle wie soziale Prägungen und Erfahrungen determinieren diesen Sinnbildungsprozess: „Using their own recontextualized experiences […] they [the children, Anm. d. Verf.] imagine what characters are like, what they are thinking and feeling, and what their worlds are like.” (Lysaker 2019: 7) Gleichermaßen betont Volz (2020: 171) die den textlosen Bilderbüchern eigene Besonderheit, dass getroffene (Vor-)An‐ nahmen stetig geprüft bzw. angepasst und Schlüsselszenen selbstständig iden‐ tifiziert werden müssen. Vor- und Zurückblättern sind hierbei von Bedeutung, da es die Wahrnehmung von Leerstellen, sog. „page breaks” (Krichel 2019: 59), intensiviert und deren Ausgestaltung erfordert. Nières-Chevrel (2010: 133) spricht davon, dass das Umblättern besonders zeitliche und räumliche Wechsel impliziert. Auch Bosch (2014) schreibt: „The page is the unit of sequencing.” (71) Das auf den einzelnen Seiten Dargestellte gilt es dann kausal, temporal und lokal zu verknüpfen, um eine Narration zu evozieren. In „Die Überraschung” (van Ommen 2007) stehen vor allem Interpretationen von Raum und Zeit im Fokus. Als Abfolge einzelner Momentaufnahmen darge‐ stellt, fährt ein Schaf (Hauptakteur) mehrmals mit einem Roller hin und her: Zuerst fährt es zum Storch bzw. Farbenladen, dann zurück, danach zum Pudel bzw. zur Spinnerei, dann zurück, und zum Schluss mit einem roten Wollpul‐ lover im Gepäck zur Giraffe bzw. seinem Freund. Damit endet das Buch. Da ausschließlich das Schaf auf seinem Fahrzeug dargestellt wird, jedoch keinerlei Außenansichten, bleiben einerseits viele Interpretationsmöglichkeiten, ob das Schaf z. B. in einem Stall wohnt oder alle Tiere in „Menschenhäusern“ leben oder ob alle bis auf das Schaf dieselbe Adresse haben. Andererseits bleibt glei‐ chermaßen offen, welche Distanzen zwischen den einzelnen Handlungspunkten liegen und wie diese lokal zu verorten sind. Zwar ist der Bildraum des Buches faktisch „eine Fläche mit nachmessbaren Maßen” (Kretschmer 2009: 16), wobei diese durch die Zentrierung der Figuren im gewählten Werk nahezu identisch ausfallen, gleichzeitig jedoch auch „ein imaginärer Raum, auf dem, wie auf 283 Eine (un-)geplante Überraschung der Bühne des Theaters, die Handlung vorgestellt wird” (ebd.). Im gewählten Bilderbuch entwickelt dabei die Ausrichtung des Rollers nach entweder rechts (Zu jemandem hinfahren? ) oder links (Wieder zurückfahren? ) mutmaßlich eine treibende Kraft. Mit Blick auf die Kollaboration, die das betrachtende Subjekt mit den Bildern eingeht, entstehen auf diese Weise verschiedenste Handlungs‐ spielräume. Wie diese bei Kindern einer zweiten Klasse aussehen können, wird hier explorativ im Rahmen des subjektiven Kartografierens erfasst. 2.3 Subjektives Kartografieren (auch im Mathematikunterricht) Als subjektives Kartografieren beschreibt Daum (2011) „eine intensive Form der Raumbzw. Weltaneignung” (19). Dies lässt erahnen, dass die Methode, wenn auch der Geografie- und Sachunterrichtsdidaktik entlehnt (z. B. Adamina 2015: 143), weit über das exakte Abbilden des uns Umgebenden in Form von thematischen und topografischen Karten hinausgeht. Ziel ist stattdessen, dass Schüler: innen „ihre persönlichen Lebensräume und deren subjektive Relevanz rekonstruieren” (Daum 2011: 35), indem alltäglich und punktuell Erlebtes, als bedeutsam oder unwichtig Wahrgenommenes, heimlich und offen Gewünschtes oder fantastische Wege, Orte und Beziehungen des nahen und fernen Georaums auf einem leeren Blatt zeichnerisch dargestellt werden. Jene Vorstellungen formen sich dabei durch eigene und fremde Wahrnehmungen (Adamina 2015: 137). Hasse (2011) spricht an dieser Stelle von der etwaigen Funktion eines Psychogramms, d. h. der „Darstellung individueller aber auch gesellschaftlich vermittelter Beziehungen zu Sachverhalten und Situationen” (60), denen Ler‐ nende in ihrer Lebenswelt begegnen. Objektiven, normierenden oder ästheti‐ schen Ansprüchen wird sich dabei gänzlich entledigt. Einzug hält dafür der kommunikative Austausch über das Abgebildete bzw. die Bilder der Welt, die Heranwachsende erfahren, erschließen und erzeugen. Innerhalb einschlägiger Geografie- und Sachunterrichtspublikationen scheinen sich einige Themen besonders für das subjektive Kartografieren mit Kindern zu eignen: meine Schule bzw. mein Schulweg (z. B. Gruben 2015), mein Lieblingsplatz bzw. -ort (z. B. Daum 2010), meine Stadt bzw. mein Stadtteil (z. B. Hasse 2011), meine Heimat (z. B. Daum 2010), meine Welt bzw. mein Leben (z. B. Daum 2014). Impressionen der dabei entstehenden facettenreichen Arbeitsprodukte sind den jeweiligen Literaturangaben zu entnehmen. Als in‐ haltlich einendes Merkmal zeigt sich jedoch folgendes: „Kartographien von Kindern und Jugendlichen weisen in der Regel von sich aus einen hybriden Charakter auf, d. h. eine Mischung von bildhaften, kartographischen und schriftlich verfassten Elementen” (Daum 2011: 26), die häufig zudem mit einer zeitlichen Dimension verbunden werden. Das Bildhafte und Kartografische 284 Kerstin Bräuning und Caren Feskorn beinhaltet dabei unweigerlich eine räumlich-geometrische Komponente, was eine erste Verbindung zum Fach Mathematik erahnen lässt. Um aufzuzeigen, wie im Unterricht fächerübergreifend mit subjektiven Kartografien gearbeitet werden kann, wird ein Blick in die planungsweisenden Dokumente für Sach- und Mathematikunterricht geworfen, die u. a. für Schüler: innen zu erwerbende räumliche Kompetenzen umschreiben: Während der Perspektivrahmen Sachun‐ terricht ausweist, dass Lernende „Räume […] wahrnehmen, [sich] Vorstellungen und Konzepte dazu bewusstmachen, Räume erkunden […] und Ergebnisse do‐ kumentieren, sich in Räumen orientieren, mit Orientierungsmitteln umgehen” (GDSU 2013: 47) können sollen, so postulieren die Bildungsstandards Mathe‐ matik unter der übergeordneten Kompetenz „sich im Raum orientieren” die Un‐ terpunkte „über räumliches Vorstellungsvermögen verfügen” sowie „räumliche Beziehungen erkennen, beschreiben und nutzen (Anordnungen, Wege, Pläne, Ansichten)” (KMK 2004: 10). Eine Möglichkeit, die zur kindlichen Wahrneh‐ mung von Raum und zur kindlichen Reflexion über räumliche Gegebenheiten führt, stellen Zeichnungen - wie sie auch subjektive Kartografien sind - dar (Sinclair/ Bruce 2015: 323). Die Kunsthistorikerin Wittmann (2010) versteht Zeichnungen in ähnlicher Weise als „Motor der Raumvorstellung” (3). Dahinge‐ hend wird hervorgehoben, dass „nicht die Geometrie der Zeichnung vorgängig [sei], sondern umgekehrt die Zeichnung der Geometrie” (ebd.). Auf Grundlage dieser Sichtweise, d. h. die Entstehung geometrischer Kompetenzen aus der Zeichenpraxis, lässt sich die Kinderzeichnung bzw. die subjektive Kartografie als „Aufzeichnungsapparat der Psychogenese des Raums operationalisieren” (ebd.) und kann „die Adaption von geometrischen Vorstellungen sichtbar machen, weil sie an deren Ausbildung wesentlich mitgewirkt hat” (ebd.). Als Schnittstelle zwischen einem textlosen Bilderbuch, dessen Behandlung im Mathematikunterricht und dem subjektiven Kartografieren kann insgesamt also das Handlungsraum-rezipierende und zugleich Handlungsraum-konstruie‐ rende Individuum gesehen werden: Die fiktionalen Gegebenheiten des Bilder‐ buches werden im Spiegel eigener, realer (Raum-)Erfahrungen gelesen und abgebildet. Passend dazu soll erneut Lysaker (2019) aufgegriffen werden: „Using their own recontextualized experiences […] they [the children, Anm. d. Verf.] imagine what characters are like, what they are thinking and feeling, and what their worlds are like.” (7, Hervorh. d. Verf.) Das Resultat jener Deutungsprozesse lässt sich, so die Vermutung, in subjektiven Kartografien festhalten und für fachlich-kommunikative Zwecke fixieren. So heißt es auch bei Lysaker (2019) weiter: „Children’s comprehending with texts is a relational meaning-making event, one in which children’s ongoing relationality and all that constitutes that relationality is both resource and outcome.” (7) 285 Eine (un-)geplante Überraschung Geht es um jenen „outcome” (ebd.) in Papierform, mahnt Hasse (2011) vor dem Hintergrund interaktiver Kartenangebote, satellitengestützter Navigations- und geografischer Informationssysteme, dass „das alte Kartenblatt auf den Status einer nur noch stummen Karte” (59) zu sinken scheint. Ähnlich wie textlose Bilderbücher den bzw. die Betrachter: in nicht wortlos zurücklassen, gestalten sich analoge subjektive Kartografien von Schüler: innen jedoch keineswegs stumm: Sie drücken empfundene Selbst- und Weltverhältnisse aus, die von Lehr‐ kräften als Ausgangspunkt für unterrichtliche Thematisierungen genommen werden können. Gleichermaßen bilden eigenproduzierte Kartografien räum‐ liche Gegebenheiten ab und können so als „means to assess and attend to children’s understanding and temporal sense of space” (Sinclair/ Bruce 2015: 323) fungieren. „Damit rückt das Medium […] in den Spiegel einer bildungstheore‐ tischen Reflexion” (Hasse 2011: 60) - und innerhalb der explorativen Erkundung des vorliegenden Beitrags in den Spiegel mathematikhaltiger Interaktion und mathematischer Bildungsprozesse. 3 Explorative Erkundung im Rahmen der Erprobung des Bilderbuches 3.1 Untersuchungsinteresse Für die Deutschdidaktik postuliert Thiele (2018: 228) einen Forschungsbedarf in der kindlichen Bilderbuchrezeption, um Wahrnehmungs- und Verarbeitungs‐ prozesse abbilden zu können. Unter dem Arbeitsauftrag (weitere Ausführungen siehe Kapitel 3.2), einen Plan über die im Bilderbuch zurückgelegten Wege des Schafes als Hauptakteur zu zeichnen, wird sich diesem Desiderat im Rahmen des Mathematikunterrichts explorativ unter einer fachbezogenen Per‐ spektive angenähert: Wenn Lernenden dazu aufgefordert werden, Pläne zur vorliegenden Geschichte zu zeichnen, bewegen sie sich zum einen in den vorhergehend beleuchteten interpretativen Handlungsspielräumen, zugleich aber auch in zwei- und dreidimensionalen Raumerfassungen und -erfahrungen. In der Geografiedidaktik existieren diesbezüglich verschiedene Raumkonzepte (Sprenger/ Peter 2015: 74-77), wobei mit Hilfe von subjektiven Kartografien individuelle Raumvorstellungen erfasst werden können. Diese entsprechen nach Sprenger und Peter (2015) dem Verständnis von „Raum als Kategorie der Sinneswahrnehmung” (76): Ausgangspunkt ist ein Raum, der jedoch […] auf unterschiedliche Weise betrachtet werden kann. […] Die jeweiligen Unterschiede ergeben sich z. B. aus soziodemogra‐ phischen Merkmalen (Alter, Geschlecht, Familienstand) oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten gesellschaftlichen Interessensgruppe. (ebd.) 286 Kerstin Bräuning und Caren Feskorn Für das Darstellen von Karten, auch im Sinne mathematischer Anforderungen, wird zudem der „Raum als System von Lagebeziehungen materieller Objekte” (Sprenger/ Peter 2015: 76) relevant. Bei diesem spielt die Beziehung zwischen Orten eine wichtige Rolle, vor allem der eigene tatsächliche Standort und davon ausgehend Lagerelationen sowie Distanzen. All diese Aspekte müssen auch im gewählten Bilderbuch (re-)konstruiert werden, da weder in den Bildern noch durch begleitende Worte diesbezügliche Angaben gemacht werden. Die (Re-)Konstruktionen können in den gezeichneten Plänen der Schüler: innen zum Ausdruck kommen. Anzumerken ist, dass die zeichnerische Abbildung des Dreidimensionalen Kinder allerdings vor die Herausforderung stellt, für die Darstellung der räumlichen Tiefe passende bildnerische Lösungen zu finden (Miller 2015: 85). Aus diesem Grund wird hier der Ansatz „drawing-by-telling“ (Kotsopoulos et al. 2015) verfolgt, der es den Lernenden im Anschluss an die Zeichenaktivität ermöglicht, verbale Ergänzungen zum Abgebildeten zu machen und so Kompetenzen zu zeigen, „that they may not be capable of expressing through their fine motor skills” (Kotsopoulos et al. 2015: 452). 3.2 Skizzierung der Unterrichtseinheit/ -stunde Die Unterrichtseinheit zum Bilderbuch Die Überraschung umfasste insgesamt drei Unterrichtsstunden und wurde von der Fachlehrkraft zu Beginn des zweiten Schuljahres mit 22 Schüler: innen durchgeführt. Während es in den ersten beiden um die von den Kindern wahrgenommene mathematische Substanz des Bilderbuches ging (Bräuning/ Weise 2020), wurde sich in der dritten Stunde, die diesem Beitrag zugrunde liegt, einer grafischen Umsetzung der Narration gewidmet. Alle Unterrichtsstunden liegen videografiert vor. Um den Schüler: innen das gesamte Bilderbuch auf einen Blick zu prä‐ sentieren, liegen im Sitzkreis mehrere Blätter, auf denen jeweils alle Bilder‐ buchseiten abgebildet sind. Zuerst wird die Geschichte des Buches von den Schüler: innen nacherzählt und anschließend mit Figuren und dem Motorroller nachgespielt. Im Anschluss richtet die Lehrkraft folgenden Arbeitsauftrag an die Lerngruppe: Es ist doch jetzt mal ganz spannend rauszufinden, wie die kleine Stadt aussieht, also wie die Stadt der Tiere aussieht, wo die alle wohnen. Man hat hier (zeigt auf die Bilder auf dem Boden) auch schon ein paar Tipps, wer da wo wohnen könnte, wo das Schaf überall lang fahren muss, um zu den einzelnen Tieren zu kommen und ich möchte, dass ihr jetzt eure Ideen aufmalt. Nach einer kurzen Interaktion mit einem Kind fügt die Lehrkraft ergänzend hinzu: 287 Eine (un-)geplante Überraschung 4 Für eine beispielhafte Illustration der aufgeführten Charakteristika siehe Abbildung 5. Also zeichne mal, male mal eine Stadt, wie du sie dir vorstellst, wenn du dieses Buch (zeigt dabei auf das Buch und die Bilder auf dem Boden) vor dir hast. Welche Stadt wächst da in deinem Kopf ? Wo wohnen die einzelnen Tiere und wo muss das Schaf überall lang? Versuch uns davon mal einen Plan aufzuzeichnen, wo das Schaf langfährt, um zu den einzelnen Tieren zu kommen. Die sich anschließende Einzelarbeitsphase wird final durch eine Plenumsdis‐ kussion der entstandenen Pläne abgerundet. 3.3 Exkurs: Kinderzeichnungen Basierend auf den Ausführungen in Kapitel 2.3 erscheint es hilfreich, die Entwicklung von Kinderzeichnungen in Bezug auf Raumkonzepte und das Erzeugen von Räumlichkeit (Richter 1997: 81 ff.) zu betrachten. Um den Eindruck der Raumtiefe zu generieren, stehen grundsätzlich folgende zeichnerische Mög‐ lichkeiten zur Verfügung: a) die Verkleinerung von Objekten in der Tiefe, b) die Überlappung von Objekten, c) die Auflösung der Kontur und die Verwischung von Gegenstandskonturen und d) das Verblassen der Farbe zur Tiefe hin (Bareis 1998; zit. n. Schulz 2007: 75), wobei die beiden letztgenannten Aspekte von Kindern allerdings kaum genutzt werden, da sie außerhalb ihres bildnerischen Denkens liegen. In den zeichnerischen Entwicklungsphasen von Kindern unterscheidet Peez (2015) verschiedene charakteristische Bildarten im Hinblick auf die Abbildung des Raumes: Standlinienbild, Streifenbild und Standflächenbild; Brügel und Spielmann (2021) ergänzen zudem das Landkartenbild. Erste Annährungen an die Darstellung des Dreidimensionalen im Zweidimensionalen zeigen sich in der Kritzelphase (ab ca. 3 Jahren), in der räumliche Orientierungen über Nähe und Distanz der Kritzel zueinander erkundet werden (Peez 2015: 45). In der sich anschließenden frühen (ab ca. 4,5 Jahren) und mittleren Schemaphase (ab ca. 5-6 Jahren) entspricht die Aufteilung des Raumes dem sog. Standlinienbild. Gemäß der Schwerkraft werden die meisten Gegenstände auf dem unteren Blattrand als angenommene Grundlinie platziert (Peez 2015: 47). Dabei besitzt das Standlinienbild weder Raumtiefe noch Überdeckungen. 4 Im weiteren Verlauf öffnet sich das vertikal flache Standlinienbild dann zu einer tiefenräumlichen Darstellung (Peez 2015: 57), dem sog. Streifenbild, indem der Raum von der Linie des Standlinienbildes zu einem unteren und oberen Streifen erweitert wird. Richter (1997: 82) spricht deswegen auch vom Raumschichtenbild. Der Raum wird hier von unten nach oben geordnet (Heyl/ Schäfer 2016: 53), indem der untere Blattrand mit Grün oder Braun als Boden und der obere Blattrand 288 Kerstin Bräuning und Caren Feskorn 5 Für eine beispielhafte Illustration der aufgeführten Charakteristika siehe Abbildung 9. (Am unteren Blattrand malt Benno einen grünen Streifen, am oberen Blattrand einen blauen.) 6 Für eine beispielhafte Illustration der aufgeführten Charakteristika siehe Abbildung 8. 7 Die Arbeitsprodukte der Schüler: innen sind innerhalb des Projektes PrimaL (Problemorientierter inklusiver Mathematikunterricht - Längsschnittstudie) entstanden. Zur Wahrung der Anonymität der Schüler: innen werden ihre Klarnamen nicht verwendet; zusätzlich werden auch nur relevante Ausschnitte aus den Kinderzeichnungen abgedruckt. mit Blau als Himmel gekennzeichnet wird. Das Kind bezieht sich bei seiner Zeichnung also auf die sichtbare Wirklichkeit, wobei Perspektiven, Verkür‐ zungen oder Überschneidungen kaum berücksichtigt werden. Es werden jedoch erste topologische Relationen in ein System von räumlichen Beziehungen integriert, die „bereits euklidische und projektive Relationen umfassen: So stellt schon die Rahmung eine (euklidische) geometrische Grundform dar; auch die Platzierung der Gegenstände in der Mittelzone in Form von Gruppierungen mit bestimmten Abständen, Reihungen, Ballungen, Distanzen entspricht einem metrisch fundierten Raumplan” (Richter 1997: 82). 5 Für das sich anschließende Standflächenbild oder Flächenbild (Heyl/ Schäfer 2016: 53) der späten Schema‐ phase (ab ca. 9 Jahren), bei Peez (2015: 59) auch Steilbild, lässt sich feststellen, dass die gesamte Fläche von oben betrachtet die Standfläche bildet. Bildge‐ genstände werden meist von vorne oder von der Seite in ihrer markanten, schematischen Ansicht dargestellt. Bei Standflächenbildern ist kein Himmels‐ raum vorhanden. Stattdessen treten Umklappungen auf, bei denen zumeist senkrechte Objekte in der Draufsicht zu einer beliebigen Seite gekippt werden, um sie möglichst genau darzustellen (Bareis 1998; zit. n. Schulz 2007: 76). Nach Richter (1997) können Umklappungen „als eine produktive Lösung eines Darstellungsproblems angesehen werden, bestimmte Mitteilungsinhalte mit den jeweiligen Darstellungsfähigkeiten - hier den Fähigkeiten zur Konstruktion von Flächenrelationen und sich entwickelnden projektiven Beziehungen - zu vereinen” (85). 6 Als Sonderform des Standflächenbildes führen Brügel und Spielmann (2021) ergänzend das Landkartenbild an, auf dem ähnlich wie bei Spiel- und Verkehrsteppichen Gebäude, Flüsse, Eisenbahnschienen und Straßen wie auf einer Landkarte in der Fläche ausgebreitet werden. 3.4 Analyse der Arbeitsprodukte 7 Ein erster Blick in die Arbeitsprodukte der Schüler: innen offenbart, dass inner‐ halb der Lerngruppe zunächst die in Kapitel 3.3 aufgeführten Bildarten - zum Teil als Mischformen - vertreten sind. Bei den Standlinienbildern werden zu‐ meist alle vier Protagonist: innen der Geschichte entweder durch eine Zeichnung 289 Eine (un-)geplante Überraschung des Tieres oder dessen Haus, zum Teil auch mit entsprechenden Beschriftungen, gekennzeichnet. Streifenbilder entstehen nur wenige; sie zeigen vornehmlich das Schaf als Hauptakteur sowie ein oder mehrere Häuser der Tiere. Beim überwie‐ genden Teil der Standflächenbilder werden alle Häuser der in der Geschichte auftretenden Tiere aufgezeichnet und zudem Straßen sowie Umgebungsdetails aus der Draufsicht oder mit Umklappungen dargestellt. Das Landkartenbild tritt nur einmal auf. Hier sind zwei Häuser und eine Straße zu erkennen, sodass augenscheinlich kein näherer Bezug zur Geschichte geschaffen wird. Interessanter als die bloße Klassifizierung der Kinderzeichnungen nach objektiv-zeichnerischen Gesichtspunkten erweist sich jedoch die tiefergehende inhaltliche Betrachtung des Abgebildeten, wodurch auch der von Daum (2011: 26) postulierte hybride Charakter von subjektiven Kartografien (bildhafte, kartografische, schriftsprachliche Elemente; siehe auch Kapitel 2.3) näher be‐ leuchtet werden kann. Aus diesem Grund wird in Anlehnung an die von Lobinger (2012) beschriebene semiotische Herangehensweise einer qualitativen Bildinhaltsanalyse nachgegangen, an deren Ende eine induktive Kategorienbil‐ dung der subjektiven Kartografien sowohl in Bezug auf die Narration des Bilderbuches als auch in Bezug auf die Abbildung räumlicher Gegebenheiten steht. Aufgeworfen werden dabei vier Kategorien: ● subjektive Situationskarten ● subjektive Geschichtenkarten ● subjektive Geschichtenlandkarten ● subjektive Landkarten Jene Kategorien werden nachstehend anhand ausgewählter Beispiele illustriert und erläutert. Pro Kategorie werden mehrere Kinderzeichnungen abgebildet, um die Heterogenität hinsichtlich der Ausgestaltung ihrer Zeichnungen aufzu‐ zeigen. Für die Kategorie der subjektiven Situationskarten werden einzelne Zeichnungen zudem ausführlicher beschrieben und interpretiert, während sich für die verbleibenden Kategorien aus Platzgründen lediglich eine verglei‐ chende Analyse ausgewählter Beispiele finden lässt. Anhand der subjektiven Situationskarten soll jedoch das verfolgte semiotisch orientierte Vorgehen verdeutlicht werden. Bedeutsam hierfür ist nach Lobinger (2012), dass das Dargestellte auf der „Ebene der Denotation“ (247) zunächst wiedergegeben und ihm nachfolgend auf der „Ebene der Konnotationen“ (ebd.) begründete Bedeutungen zugeschrieben werden. „Diese […] Bedeutungen können entweder durch kulturbedingte Assoziationen entstehen oder aber durch bestimmte visuelle Darstellungsweisen forciert werden.“ (ebd.) An dieser Stelle lassen sich 290 Kerstin Bräuning und Caren Feskorn eindeutige Bezüge zu subjektiven Kartografien (siehe Kapitel 2.3) und zu den kindlichen Zeichenmodi des Raumes (siehe Kapitel 3.3) herstellen. 3.4.1 Subjektive Situationskarten Bei den subjektiven Situationskarten steht der Kern der Geschichte im Vor‐ dergrund, die zeichnerisch zum Ausdruck kommt. Insofern werden einzelne Situationen aus dem Bilderbuch oder an der Geschichte Beteiligte dargestellt. Häufig wird sich dabei auf das Schaf als Hauptprotagonisten mit der Giraffe als beschenkter Figur fokussiert. Die Zeichnungen der Kinder sind überwiegend Standlinien- oder Streifenbilder. Sowohl kartografische als auch schriftsprach‐ liche Elemente treten selten auf. Abb. 1: Zeldas Zeichnung Abb. 2: Valerias Zeichnung Abb. 3: Finns Zeichnung Auf Zeldas Zeichnung (Abb. 1), die sich als Standlinienbild mit einem kleinen kartografischen Anteil (Straße) beschreiben lässt, befindet sich auf der linken Blatthälfte ein mit „Hund” bezeichnetes Haus. Auf der rechten Blatthälfte ist in Draufsicht eine bunt gestreifte Straße mit Mittelmarkierung dargestellt. Wird Zeldas Zeichnung auf den Geschichtenverlauf bezogen, so wird eine Situation abgebildet, in der das Schaf, nachdem es im Farbenladen war, zum Hund fährt, der die gefärbte Wolle spinnt - obwohl Zelda das Schaf nicht explizit abbildet. Interessant an dieser Zeichnung ist, dass es eine Umklappung enthält, die sich darin zeigt, dass die linke Blatthälfte eine Frontalsicht des Hauses, die rechte Blatthälfte aber eine Draufsicht der Straße umfasst. Die vertikal gestreifte Farbgebung der Straße kann als Kodierung für den Farbenladen betrachtet werden. Darin zeigt sich ein fiktives Moment, das gut zum Bilderbuch passt, da Straßen in der echten Welt für gewöhnlich asphaltgrau sind. Valerias Zeichnung (Abb. 2) enthält Elemente verschiedener Bildarten. Am ehesten ähnelt es einem Streifenbild. Valeria bildet, wie fast alle Kinder, den Roller ab, wobei bei ihr der bzw. die Fahrer: in eher einem Menschen als einem Schaf ähnelt. Sie scheint die Geschichte des Bilderbuchs in die Realität zu 291 Eine (un-)geplante Überraschung übertragen. Dies zeigt sich auch daran, dass sie ein Auto im Vordergrund zeichnet, das im Bilderbuch nicht vorkommt und auch bei keiner anderen Kin‐ derzeichnung auftritt. Im Hintergrund befinden sich entsprechend der Anzahl der Protagonist: innen vier Häuser. Die Häuser besitzen in identischer Weise alle dreimal zwei Fenster und erinnern so an Plattenbauten. Dies könnte u. U. in direktem Bezug zur Lebenswirklichkeit des Kindes stehen, da die Schulumge‐ bung von jener Bauweise geprägt ist. Zudem sind die Häuser durchnummeriert. Je größer die Nummerierung wird, umso kleiner erscheinen sie. Ggf. soll die Nummerierung die Abfolge der Handlungspunkte im Bilderbuch darstellen, sodass in Haus 1 das Schaf lebt, sich in Haus 2 der Farbenladen mit dem Storch befindet usw. In Haus 4 sind die Fenster gelb hinterlegt, was mit der Farbe der Giraffe übereinstimmen könnte. Andererseits ist es irritierend, dass so im kleinsten Haus das größte Tier leben würde. Es könnte auch sein, dass mit Hilfe der abnehmenden Größe der Häuser eine Tiefenfunktion, also ein Weiter-Wegstehen des kleinsten Hauses, erzeugt werden soll. Finns Zeichnung (Abb. 3) ist ein Standlinienbild, auf dem drei Häuser sowie ein Roller mit darauf sitzendem Schaf dargestellt sind. Die drei Häuser sind unterschiedlich gestaltet: Auf einem Haus steht FRÖSÖER (Friseur) und soll vermutlich den Ort kennzeichnen, an dem das Schaf sein Fell schert oder aber an dem der Hund die Wolle spinnt. Im Hochhaus daneben ist die Giraffe sichtbar, aber nur an den Stellen, an denen sich Fenster befinden. Finn bedient sich hier dem Prinzip der Überlappung von Objekten, um den Eindruck einer Raumtiefe zu erzeugen. So hat er immer nur Teile der Giraffe in den Fenstern sichtbar werden lassen, wobei die Giraffe anscheinend nur aus einem Hals und einem Kopf, der sich im obersten Fenster zeigt, besteht. Am rechten Bildrand ist ein weiteres Haus dargestellt, auf dem FABENREN (Farben) steht. Vermutlich symbolisiert der Kreis mit mehreren farbigen Punkten außen herum auf der Hauswand den Farbenladen. Auffällig ist, dass sich sowohl beim rechten als auch beim linken Haus ein senkrecht stehender Schornstein angepasst an die Dachschräge auf der linken bzw. rechten Dachseite befindet. Aufgrund der Darstellung des Schornsteins lässt sich daher bei Finn ein ausgebildetes euklidisches Verständnis vermuten. Auch seine Vielfalt in der Darstellung der Häuser und seine durch das Fenster sichtbare Giraffe zeigen, dass er bereits detailgetreu zeichnet. Mit der Verwendung der Wörter schreibt er den Häusern eindeutige Funktionen zu. Seine Zeichnung spiegelt quasi die Beteiligten und deren Funktionen in der Geschichte wieder. Gemutmaßt werden kann zudem, dass dem Schaf auf seinem Roller die zentrale Bedeutung zugeschrieben wird, da es als größtes Element dargestellt ist. 292 Kerstin Bräuning und Caren Feskorn 3.4.2 Subjektive Geschichtenkarten In den subjektiven Geschichtenkarten kommt ein prozesshafter Handlungsver‐ lauf der Geschichte zum Ausdruck, indem die Zeichnung die Protagonist: innen der Geschichte sowie verschiedene (chronologisch geordnete) Ereignisse inner‐ halb eines Bildes darstellt. Dazu werden - in Abgrenzung zu den subjektiven Situationskarten - Tiere wiederholt bzw. mehrfach gezeichnet und Wege als Verbindungen zwischen Tieren oder zwischen Tieren und Häusern markiert. Bezüglich der Bildarten treten vorwiegend Mischformen auf, wobei Standlinien- und Streifenbild vorherrschen. Schriftsprachliche Elemente erscheinen nur punktuell; kartografische Elemente lassen sich nicht finden. Abb. 4: Stans Zeichnung Abb. 5: Alfons Zeichnung Abb. 6: Justins Zeichnung Abb. 7: Mias Zeichnung Die abgebildeten Arbeitsprodukte der Schüler: innen zeigen verschiedene bild‐ nerische Elemente, um einen Prozess bzw. Geschichtenverlauf darzustellen: Stan (Abb. 4) verwendet - ähnlich eines roten Fadens - einen rot gekringelten Strich, um die Beziehung und ggf. auch den zurückzulegenden Weg des Schafes zur Giraffe zu verdeutlichen. Alfons (Abb. 5) hingegen bedient sich der mehrmaligen Darstellung des Schafes auf dem Roller, um von links nach rechts einen zeitlich organisierten Prozess zu verdeutlichen. Justin (Abb. 6) und Mia (Abb. 7) scheinen Elemente einer Umklappung in ihrer Zeichnung zu verwenden, um einen län‐ 293 Eine (un-)geplante Überraschung geren Weg zu verdeutlichen. Justin verwendet zusätzlich Pfeile als semiotische Zeichen, die sowohl Richtung als auch Bewegung anzeigen. Mia stellt auf der linken Blatthälfte vermutlich einen Weg dar, der zur Giraffe führt. Am rechten Bildrand sind Hochhäuser zu sehen, in denen sich in einem der Farbenladen befindet. Bei ihrer Zeichnung wird der vorhergehend bereits angedeutete mögliche Zusammenhang zur Umgebung der Plattenhochhaus-Siedlung, in der sich die Grundschule befindet, besonders deutlich. 3.4.3 Subjektive Geschichtenlandkarten Subjektive Geschichtenlandkarten greifen Standorte, Lagerelationen und Dis‐ tanzen (Raum als System von Lagebeziehungen materieller Objekte; siehe auch Kapitel 3.1) auf und ermöglichen so eine zunehmend räumliche Veror‐ tung von Schauplätzen, die bei der vordergründigen Wiedergabe von Hand‐ lungsmomenten, wie es in den subjektiven Situationskarten und subjektiven Geschichtenkarten der Fall ist, weniger Beachtung findet. In den subjektiven Geschichtenlandkarten finden sich daher sowohl Frontalals auch Draufsichten und damit einhergehend auch Umklappungen. Des Weiteren werden in den Zeichnungen alle Protagonist: innen und zum Teil auch deren Funktionen sowie deren Häuser und Wege schriftsprachlich gekennzeichnet. Die Zeichnungen verschaffen damit einem bzw. einer Fremdbetrachter: in ähnlich wie bei einer Landkarte einen Überblick über den (Handlungs-)Raum als System von Lage‐ beziehungen. Zusätzlich werden die wesentlichen Elemente der Geschichte dargestellt. Kartografische und schriftsprachliche Elemente finden sich in fast allen Zeichnungen. Abb. 8: Tabeas Zeichnung Abb. 9: Bennos Zeichnung 294 Kerstin Bräuning und Caren Feskorn Abb. 10: Luis’ Zeichnung Tabeas (Abb. 8) und Bennos (Abb. 9) Zeichnung ähneln sich sehr. Durch den Kreisverkehr wird das Zeichenblatt in vier gleich große Rechtecke eingeteilt. In jedem Rechteck befindet sich ein Haus für eine: n Protagonist: in der Geschichte. Bei Bennos Zeichnung sehen alle Häuser identisch aus und besitzen die gleiche Orientierung. Bei Tabea hingegen deuten sich bereits perspektivische Quader‐ zeichnungen an. Zudem besitzen ihre Häuser verschiedene Ausrichtungen, sodass sie das Blatt während des Zeichenprozesses vermutlich gedreht hat. Luis’ Zeichnung (Abb. 10) hebt sich davon ab. In seiner Zeichnung sind viele Umgebungsaspekte eingebunden, wie z. B. ein Parkplatz oder ein Tunnel. Außerdem sind die Größenverhältnisse der verschiedenen Gegenstände wei‐ testgehend stimmig zueinander und lassen somit bereits euklidische Relationen erkennen. Die schriftsprachlichen Ergänzungen von Luis informieren nicht nur, wo welches Tier wohnt, sondern geben auch Auskunft darüber, dass zwei parallele Geraden z. B. einen Fußweg darstellen sollen. Luis nutzt die Sprache also, um gezeichnete Objekte, bei denen die Funktion in der Draufsicht nicht deutlich wird, zu klären. Er verwendet die gesamte Fläche, um Häuser sowie Straßen, Fußweg, Tunnel und Parkplatz darauf zu verteilen. Genauso wie der Roller des Schafes rot ist, so erhält das Haus des Schafes die Farbe Rot und wird damit kodiert. Luis‘ Zeichnung umfasst zudem ein Röntgenbild, bei dem die nicht sichtbare Einrichtung des Hunde-Hauses sichtbar wird. Damit wird 295 Eine (un-)geplante Überraschung deutlich, dass er das Haus in seiner Gesamtheit und Bedeutung darstellt und nicht ausschließlich das visuell-optische Ergebnis (Peez 2015: 231). 3.4.4 Subjektive Landkarten Subjektive Landkarten werden in enger Anlehnung an subjektive Geschichten‐ landkarten aufgefasst: Zwar wird auch bei den subjektiven Landkarten ein Raum abgebildet, der jedoch weniger als Handlungsraum zu verstehen ist, da eindeutige Bezüge zur Narration des Bilderbuches kaum nachvollziehbar sind. Als Bildart tritt bei dem ausgewählten Schülerbeispiel eine Mischung aus Standflächenbild und Landkartenbild auf. Es zeigen sich kartografische, jedoch keine schriftsprachlichen Elemente. Abb. 11: Julians Zeichnung In Julians Zeichnung (Abb. 11) scheinen die beiden gezeichneten Häuser einem Fluchtpunkt zu folgen und bereits erste Ansätze einer perspektivischen Zeich‐ nung zu enthalten. Bei der Betrachtung seiner Zeichnung wird deutlich, dass sich die räumlichen Fähigkeiten in der Zeichnung von den handwerklich-zeich‐ nerischen Fähigkeiten unterscheiden. 296 Kerstin Bräuning und Caren Feskorn 3.5 Zusammenfassende Gedanken Sowohl bei der hier erfolgten analysierenden Erstauswertung der Kinderzeich‐ nungen aber auch in der mündlichen Plenumsdiskussion im Unterricht zeigt sich, dass die entstandenen Arbeitsprodukte aus verschiedenen fachlichen Blickwinkeln unterschiedliche Informationen und Anknüpfungspunkte für die unterrichtliche Weiterarbeit bereithalten. Luedtke und Sorvaag (2018) konsta‐ tieren: „Teachers must understand that the power of story is a natural tool that can be used in many subjects, including developing mathematical understanding and ways of thinking.” (59) Unter mathematikdidaktischen Gesichtspunkten bieten die Kinderzeichnungen allesamt Potenziale, um sich räumlichen Vor‐ stellungen und deren Darstellungsmöglichkeiten zu nähern, indem dadurch die Lernausgangslage und ein Ausgangspunkt für die Weiterarbeit im Sinne der natürlichen Differenzierung bestimmt wird. Gleichzeitig kann an ihnen entfaltet werden, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, um Gezeichnetes als Orientierungshilfe zu nutzen, wie es z. B. im Sachunterricht thematisiert wird. Aus deutschdidaktischer Perspektive hingegen erscheinen vor allem die subjektiven Geschichtenkarten gewinnbringend, da es in ihnen um den Geschichtenverlauf geht und der erzählende Charakter in den Fokus rückt. Im Sinne von „story maps” (Reutzel 1985) können die Kartografien genutzt werden, um visuelle Zusammenfassungen von schriftlichen oder mündlichen Erzählungen zu schaffen, die ihrerseits zu Interpretationen, Erzählungen und Dokumenten zur (Be-)Deutungsaushandlung werden. 4 Fazit Zu Beginn des Beitrages wurde zunächst versucht anzudeuten, dass das Poten‐ zial von (textlosen) Bilderbüchern weit über eine bloße Instrumentalisierung zur Sprach- und Schriftförderung hinausgehen und auch für das Fach Mathematik einen herausragenden Mehrwert bieten kann. Einblicke in die durchgeführte Unterrichtseinheit und Abbildungen von Arbeitsprodukten können dies bestä‐ tigen und zeigen auf, dass der offene Charakter der Aufgabenstellung und die Besonderheiten des textlosen Bilderbuches den Schüler: innen ermöglichten, individuelle mentale Repräsentationen des (Handlungs-)Raumes zu entwickeln und darzustellen. Die Verbindung des Bilderbuchs Die Überraschung (van Ommen 2007) und des subjektiven Kartografierens kann wertvolle Momente zur Initiierung fachlicher Lernprozesse generieren, die sich z. B. auf das Erfassen und Darstellen von Lagebeziehungen in Raum und Ebene oder den Umgang mit verschiedenen Ansichten und Perspektiven beziehen. Darüber hinaus eröffnen sich jedoch auch fachübergreifende Potenziale, wie z. B. der kreative und 297 Eine (un-)geplante Überraschung produktive Umgang mit Literatur oder die Funktionen von und der Umgang mit analogen wie digitalen Karten und Plänen. Insgesamt bewahrheitet sich: „Children do remarkable things as they read wordless books […]. When you put wordless books in children’s hands […] meaning-making comes alive because of the qualities of and affordances of wordless books” (Lysaker 2019: 1) - aber noch viel bedeutsamer „because of the children themselves” (ebd.). 5 Ausblick Insgesamt können Kinderzeichnungen eine gewinnbringende Informations‐ grundlage bieten, um einen Einblick in die räumlich-geometrischen Entwick‐ lungen der jeweiligen Kinder zu erhalten. In diesem Zusammenhang wäre es denkbar, weitere Bildanalysen vorzunehmen, welche die von Piaget und Inhelder (1999) postulierten Entwicklungsstadien - topologisch, projektiv, eu‐ klidisch - in den Fokus rücken. Erste diesbezügliche Versuche zeigen, dass sich aufgrund der offenen Aufgabenstellung eine Analyse sehr herausfordernd gestaltet. Im Anschluss an die hier dargestellte explorative Erkundung soll den Schüler: innen, deren Arbeitsprodukte bereits Bestandteil der vorliegenden Erprobung waren, am Ende von Klasse 4 der Arbeitsauftrag zum Entwerfen eines Planes erneut gestellt werden, um die neuen Zeichnungen mit den hier analysierten zu vergleichen. Anzunehmen ist, dass sich eine Weiterentwicklung der geometrischen Fähigkeiten zeigt. Einschränkend ist anzumerken, dass in der Unterrichtseinheit, die diesem Beitrag zugrunde liegt, zwar der Ansatz drawing-by-telling (Kotsopoulos et al. 2015: 452; siehe auch Kapitel 3.1) verfolgt wurde, an dieser Stelle aus Platzgründen jedoch nur die subjektiven Kartografien als Unterrichtsprodukte in den Blick genommen wurden. Daum (2014) betont jedoch „die Kombina‐ tion von Zeichnung und zeichnungsbezogener Kommunikation” (199). Auch Petersen und Schwender (2011) merken an: „‚Ein Bild sagt mehr als tausend Worte‘ […] doch wir wissen nicht welche.“ (20) So liegen Videoaufnahmen der Unterrichtsstunden vor, deren qualitativ-interpretative Analyse in einem zukünftigen Beitrag erfolgen soll. 298 Kerstin Bräuning und Caren Feskorn Literatur Primärliteratur Ommen, Sylvia van (2007). Die Überraschung. Düsseldorf: Sauerländer. Sekundärliteratur Abraham, Ulf (2019). Im Deutschunterricht Medien untersuchen und nutzen. In: Abraham, Ulf/ Knopf, Julia (Hrsg.). Deutsch. Didaktik für die Grundschule. 5. Aufl. Berlin: Cornelsen, 204-235. Adamina, Marco (2015). Geographische Aspekte. In: Kahlert, Joachim/ Fölling-Albers, Maria/ Götz, Margarete/ Hartinger, Andreas/ Miller, Susanne/ Wittkowske, Steffen (Hrsg.). Handbuch Didaktik des Sachunterrichts. 2. Aufl. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt, 137-142. Bosch, Emma (2014). Texts and Peritexts in Wordless and Almost Wordless Picturebooks. In: Kümmerling-Meibauer, Bettina (Hrsg.). Picturebooks. Representation and Narra‐ tion. New York: Taylor & Francis, 71-106. Bräuning, Kerstin/ Ritter, Michael (2016). Katzensprünge und Mäuseschritte. Die Grund‐ schulzeitschrift (298.299), 50-53. Bräuning, Kerstin/ Weise, Judith (2020). Wie viel Mathematik steckt im Bilderbuch? Praxis Grundschule (2), 10-13. Brügel, Eberhard/ Spielmann, Raphael (2021). Landkartenbild. Online im Web. URL: https: / / www.kinderzeichnung.de/ einzelanalysen/ lexikon/ landkartenbild (last ac‐ cessed: 06.09.2021) Daum, Egbert (2010). Heimatmachen durch subjektives Kartographieren. Grundschul‐ unterricht Sachunterricht 57(2), 17-21. Daum, Egbert (2011). Subjektive Kartographien und Subjektives Kartographieren - Ein Überblick. In: Daum, Egbert/ Hasse, Jürgen (Hrsg.). Subjektive Kartographien. Beispiele und sozialräumliche Praxis. Oldenburg: BIS, 11-41. Daum, Egbert (2014). Subjektives Kartographieren. Kinder und Jugendliche visualisieren ihre Weltaneignungen. In: Deinet, Ulrich/ Reutlinger, Christian (Hrsg.). Tätigkeit - Bil‐ dung - Aneignung. Sozialraumforschung und Sozialraumarbeit. Wiesbaden: Springer Fachmedien, 189-201. Duval, Raymond (2000). Basic issues for research in mathematics education. In: Nakahara, Tadao/ Koyama, Masataka (Hrsg.). Proceedings of the 24th Conference of PME. Hiroshima: Nishiki Print Co. Ltd., 55-69. Feskorn, Caren/ Grohmann, Wolfgang (2021). One Is a Snail, Ten Is a Crab. Mathematik mit Kopf, Herz, Hand - und Fuß. Praxis Grundschule (1), 30-33. Gesellschaft für Didaktik des Sachunterrichts (GDSU) (2013). Perspektivrahmen Sachun‐ terricht. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt. 299 Eine (un-)geplante Überraschung Gruben, Frauke (2015). Subjektive Landkarten. Schulwege erkunden, beschreiben und darstellen. Sachunterricht (62)1, 13-16. Hasse, Jürgen (2011). Karten diesseits objektivistischer Ansprüche. In: Daum, Eg‐ bert/ Hasse, Jürgen (Hrsg.). Subjektive Kartographien. Beispiele und sozialräumliche Praxis. Oldenburg: BIS, 59-86. Heuvel-Panhuizen, Marja van den/ Boogaard, Sylvia van den/ Doig, Brian (2009). Picture books stimulate the learning of mathematics. Australian Journal of Early Childhood 34(3), 30-39. Heyl, Thomas/ Schäfer, Lutz (2016). Frühe ästhetische Bildung - mit Kindern künstleri‐ sche Wege entdecken. Berlin, Heidelberg: Springer. KMK (2004). Bildungsstandards im Fach Mathematik für den Primarbereich. Be‐ schluss vom 15.10.2004. URL: www.kmk.org/ fileadmin/ Dateien/ veroeffentlichungen _beschluesse/ 2004/ 2004_10_15-Bildungsstandards-Mathe-Primar.pdf (last accessed: 30.08.2021) Kotsopoulos, Donna/ Cordy, Michelle/ Langemeyer, Michelle (2015). Children’s under‐ standing of large-scale mapping tasks: an analysis of talk, drawings, and gesture. Zentralblatt für Didaktik der Mathematik 47(3), 451-463. Kretschmer, Christine (2009). Bilderbücher in der Grundschule. Braunschweig: Wester‐ mann. Krichel, Anne (2020). Textlose Bilderbücher - visuelle Narrationsstrukturen und erzähl‐ didaktische Konzeptionen für die Grundschule. Münster: Waxmann. Lobinger, Katharina (2012). Visuelle Kommunikationsforschung. Wiesbaden: Springer Fachmedien. Luedtke, Melissa/ Sorvaag, Karen (2018). Using Children’s Literature to Enhance Math Instruction in K-8 Classrooms. In: Jao, Limin/ Radakovic, Nenad (Hrsg.). Transdisci‐ plinary in Mathematics Education. Blurring Disciplinary Boundaries. New York: Springer, 47-73. Lysaker, Judith T. (2019). Before Words: Wordless Picture Books and the Development of Reading in Young Children. NY: Teachers College Press. Mattenklott, Gundel (2002). Das Bilderbuch als Grundschule der Künste. Ein Abecedarius. In: Informationen zur Deutschdidaktik 26(2), 33-43. Miller, Monika (2015). Raumbilder und Erzählräume. Raumsysteme in den Kinder- und Jugendzeichnungen und die Analogien in der Kunst. In: Roeder, Caroline (Hrsg.). Himmel und Hölle: Raumerkundungen - interdisziplinär & in schulischer Praxis. München: Kopaed, 84-107. Nières-Chevrel, Isabelle (2010). The Narrative Power of Pictures. L’Orage (The Thun‐ derstorm) by Anne Brouillard. In: Colomer, Teresa/ Kümmerling-Meibauer, Bet‐ tina/ Silva-Díaz, Cecilia (Hrsg.). New Directions in Picture Book Research. New York: Routledge, 129-138. 300 Kerstin Bräuning und Caren Feskorn Peez, Georg (2015). Kinder zeichnen, malen und gestalten. Kunst und bildnerisch-ästhe‐ tische Praxis in der KiTa. Stuttgart: Kohlhammer. Petersen, Thomas/ Schwenders, Clemens (2011). Die Entschlüsselung der Bilder. Me‐ thoden zur Erforschung visueller Kommunikation. Ein Handbuch. Köln: Herbert von Halem. Piaget, Jean/ Inhelder, Bärbel (1999). Die Entwicklung des räumlichen Denkens beim Kinde. 3. Aufl. Stuttgart: Klett-Cotta. Reutzel, D. Ray (1985). Story maps improve comprehension. The Reading Teacher 38(4), 400-404. Richter, Hans-Günther (1997). Die Kinderzeichnung. Entwicklung, Interpretation, Äs‐ thetik. Berlin: Cornelsen. Rosebrock, Cornelia/ Nix, Daniel (2014). Grundlagen der Lesedidaktik und der syste‐ matischen schulischen Leseförderung. 7. Aufl. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. Schulz, Nina (2007). Das zeichnerische Talent am Ende der Kindheit: ein empirischer Vergleich zwischen dem Selbstbild und den Fremdbildern von Peers, Eltern, Lehrern und Künstlern. Münster: Waxmann. Sinclair, Nathalie/ Bruce, Cathy (2015). New opportunities in geometry education at the primary school. Zentralblatt für Didaktik der Mathematik 47(3), 319-329. Söbbeke, Elke/ Steinbring, Heinz (2007). Anschauung und Sehverstehen - Grundschul‐ kinder lernen im Konkreten das Abstrakte zu sehen und zu verstehen. In: Lorenz, Jens-Holger/ Schipper, Wilhelm (Hrsg.). Hendrik Radatz - Impulse für den Mathema‐ tikunterricht. Braunschweig: Bildungshaus Schulbuchverlag, 62-68. Sprenger, Sandra/ Peter, Carina (2015). Geographische Raum-Erkundungen: Topographie und Raum. In: Roeder, Caroline (Hrsg.). Himmel und Hölle: Raumerkundungen - interdisziplinär & in schulischer Praxis. München: Kopaed, 71-84. Thiele, Jens (1985). Bilderbücher entdecken. Untersuchungen, Materialien und Empfeh‐ lungen zum kritischen Gebrauch einer Buchgattung. Oldenburg: Isensee. Thiele, Jens (2018). Das Bilderbuch. In: Lange, Günther (Hrsg.). Kinder- und Jugendlite‐ ratur der Gegenwart. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 217-230. Volz, Steffen (2020). Textlose Narration im inklusiven Literaturunterricht. In: Scherer, Gisela/ Heintz, Kathrin/ Bahn, Michael (Hrsg.). Das narrative Bilderbuch. Türöffner zur literar-ästhetischen Bildung, Erzähl- und Buchkunst. Trier: wvt, 169-181. Wittmann, Barbara (2010). Jean Piaget und die spontane Geometrie des Kindes. Eine Studie zur Kinderzeichnung als psychologisches Instrument. URL: www.mpiwg-berl in.mpg.de/ PDF/ FS_11_Wittmann_dt.pdf (last accessed: 08.09.2021) Weinkauff, Gina/ Glasenapp, Gabriele von (2018). Kinder- und Jugendliteratur. 3. Aufl. Paderborn: Schöningh. 301 Eine (un-)geplante Überraschung Manche sind anders (Teckentrup 2014) - und beim Lernen sowieso alle Bilderbücher und ihre Potenziale für die Arbeit mit heterogenen Lerngruppen in mathematischen Lernumgebungen Katja Poser-Kempe und Caren Feskorn Abstract: Das gewählte Bilderbuch ist - wie es in seinem Titel heißt - wirklich anders: Anstelle einer Erzählung bietet das Bilderbuch großflä‐ chig illustrierte Seiten, die ein buchstäblich tierisches Muster aufweisen. Allerdings ist ein Tier immer besonders, sodass es heißt, aufmerksam auf die Suche zu gehen. Ausgehend vom Kerngedanken des Bilderbuches liegt es auf der Hand, sich mit Lerngruppen dem Kompetenzbereich Muster und Strukturen zu nähern - allerdings auf andere Art und Weise: Zwar sollen die Lernenden Muster mit unterschiedlichsten Materialien produzieren, dabei jedoch, angelehnt an das Bilderbuch, auch eine Unregelmäßigkeit einbauen. So lässt sich von der Vorschule bis zur vierten Klasse ein Lernangebot im Rahmen einer substanziellen Lernumgebung konzipieren, das natürlich differenzierend den Bedürfnissen einer heterogenen Schü‐ lerschaft entgegenkommt. Der Beitrag beleuchtet und diskutiert einerseits Potenziale des Einsatzes von Bilderbüchern für den Mathematikunterricht generell als auch spezifisch im Rahmen substanzieller Lernumgebungen. In enger Verzahnung mit einer explorativen Erprobung in den Klassenstufen 1 und 2 und einer Analyse der entstandenen Eigenproduktionen der Schüler: innen zeigt der Beitrag andererseits auch konkrete und theoretisch fundierte Anregungen zur Gestaltung inklusiven Unterrichts auf, in dessen Fokus der individuelle und persönliche Zugang zur Materie steht und dennoch Anknüpfungspunkte für weiteres gemeinsames Lernen bietet. 1 Besonderheiten gelten für textlose Bilderbücher. Ausführungen hierzu sind dem Beitrag von Bräuning und Feskorn (279-301) in diesem Band zu entnehmen. 1 Einleitung Per definitionem wird die Buchgattung des Bilderbuchs weitläufig als mediale Form verstanden, die sich aus einer verbalen und einer piktoralen Zeichenebene zusammensetzt (z. B. Kurwinkel 2017; Weinkauff/ von Glasenapp 2018) und so als „Bild-Text-Hybrid“ (Mattenklott 2014: 138) aufzufassen ist. Das Bilderbuch vereint somit zwei Zeichenebenen zu einem Gesamt(kunst)werk; der Inhalt wird bi-codal getragen. 1 Zentral ist dennoch, dass die Bilder als selbständige Bedeutungsträger fungieren. Wenig verwunderlich erscheint somit Folgendes: „Learning from picture books may take place on a number of various levels. Most importantly, it concerns visual learning […].” (Kümmerling-Meibauer et al. 2015: 3). Die Vorzüge dessen sind für den Elementar- und Primarbereich offen‐ sichtlich: Auch im Zuge der sich noch entwickelnden Alphabetisierung kann ein Bilderbuch bereits für junge Leser: innen bzw. Betrachter: innen eine Narration entfalten, Informationen zugänglich machen und zugleich die Lese-, Erzähl- und Schreibkompetenz erweitern sowie (proto-)literarische Lernprozesse ermögli‐ chen. Hinzu kommt nicht zuletzt die Eröffnung vielfältiger synästhetischer Erfahrungsräume, die auch beim mehrmaligen Rezipieren erhalten bleiben (Weinkauff/ von Glasenapp 2018: 170). So ist vielfach zu beobachten, dass Kinder eine hohe Bereitschaft aufweisen, „bestimmte Seiten wieder aufzuschlagen, Bilder erneut zu betrachten, mit dem Finger auf besondere Motive zu zeigen […]“ (Thiele 1985: 14), sodass davon ausgegangen werden kann, dass dem Bilderbuch ein besonderer Aufforderungscharakter innewohnt, seine Darstel‐ lungen zu dekodieren. Die Deutschdidaktik spricht dabei von Visual Literacy (z. B. Krichel 2020: 24-31). Die damit verbundene visuell-ästhetische Dimension kann schlussendlich auch als Schnittstelle zum Mathematikunterricht - wort‐ wörtlich - gesehen werden, wenn es um die perzeptuelle und kognitive Wahrnehmung von (geometrischen) Mustern und Strukturen geht. Ohne jene an dieser Stelle genauer zu definieren, ist ihre Bedeutung für das mathemati‐ sche Lernen unumstritten: „Die Beschäftigung mit Mustern und Strukturen in der Idee der Verallgemeinerung ist ein Zugang zum Wesen der Mathematik” (Steinweg 2014: 55), weswegen sie gezielt zum Gegenstand fachlicher Lernar‐ rangements gemacht wird. Auch der vorliegende Beitrag widmet sich dem Kompetenzbereich Muster und Strukturen (KMK 2005: 10) und zeigt auf, wie jüngeren Schulkindern innerhalb einer substanziellen Lernumgebung zum Bil‐ derbuch Manche sind anders von Britta Teckentrup (2014) ein gewinnbringender 303 Manche sind anders (Teckentrup 2014) - und beim Lernen sowieso alle Anlass geboten werden kann, sich dem Musterbegriff erstmalig zu nähern bzw. diesen im Weiteren auch auszuschärfen. Wenn Kümmerling-Meibauer et al. (2015) also schreiben: „Learning from picturebooks is surely a topic that will benefit from interdisciplinary work” (4), so gilt, dass ein Baustein dessen zweifelsohne auch die Mathematik(-didaktik) sein kann. 2 Theoretischer Hintergrund 2.1 Bilderbücher (und ihre Potenziale) im Mathematikunterricht National lässt sich in jüngster Zeit eine zunehmende Bandbreite methodisch-di‐ daktischer Publikationen zur Einbindung von Bilderbüchern in den Mathe‐ matikunterricht verzeichnen; international hingegen etabliert sich diese Idee bereits seit mehreren Dekaden. So stellt Welchman-Tischler (1992) schon vor 30 Jahren fest: „[T]eachers can help children to experience […] mathematics […] while building on what grips the imagination of students and teachers - children’s literature.” (1) Auch wenn Welchman-Tischler (1992) unter jener Kinderliteratur vornehmlich textbasierte Erzählungen versteht, gelten die von ihr initial aufgeführten Potenziale auch für die in diesem Beitrag fokussierten Bilderbücher: This use of a book [in the teaching of mathematics, Anm. d. Verf.] is especially valuable for making children aware of the many ways mathematics is used in their everyday lives […] and offers the benefits of interdisciplinary activities in the motivation of the students […]. (5) Bilderbücher können demnach auf motivierende Weise einen Anlass für ma‐ thematische Lernprozesse bilden, indem sie einen anschaulichen Zugang zur Materie gewähren und zudem abbilden, wie bzw. dass mathematische Phäno‐ mene auch außerhalb von Lehrwerk und Klassenzimmer, d. h. der Lebenswelt zugehörig und fachübergreifend, in Erscheinung treten. Dabei kommt besonders der Visualisierung von Mathematik eine herausragende Rolle zu: Bedenkt man, dass die Fachdisziplin sich nicht durch dingliche Substanzbegriffe, sondern Relationsbzw. Beziehungsbegriffe auszeichnet (Steinbring 1998: 162) und Beziehungen grundsätzlich amodaler Natur sind, müssen jene durch Darstel‐ lungen sichtbar gemacht werden. Dies können - wenn auch nicht uneingeschränkt - Illustrationen in Bilderbüchern leisten, indem sie mathematisch-abs‐ trakte Konzepte konkretisieren. Unbedingt erwähnenswert erscheint in dieser Hinsicht die Tatsache, dass es unter keinen Umständen um eine mutmaßlich kindgemäße Vergegenständ‐ lichung, Personifizierung oder Verniedlichung von Lerninhalten geht. Die 304 Katja Poser-Kempe und Caren Feskorn 2 Welche Aspekte dazu beitragen, dass ein Bilderbuch als mathematisch-gehaltvoll gelten kann, sind in Bräuning et al. (i. V.) dargelegt. Vorzüge von Bilderbüchern liegen vielmehr darin, dass sie Kontexte bieten, die sich von konstruierten „didaktischen Mäntelchen” (Bönig et al. 2017: 102) insofern unterscheiden, dass das Mathematische unweigerlich und authen‐ tisch mit dem inhaltlichen Kern des Buches verwoben ist. Folglich verweist Welchman-Tischler (1992) auf die Bedeutung von „stories with a mathema‐ tics-related plot [that] stand by themselves” (5) und hebt damit hervor, dass künstliche Anreicherungen zu vermeiden sind. Flevares und Schiff (2014) verdeutlichen dies sinnbildlich: „[P]resenting the book as a spoonful of sugar with the implied unpalatable medicine of mathematics.” (6) Abseits der Darbietung von rahmenden Kontexten, in denen mathematische Lernerfahrungen entstehen können, sind Bilderbücher darüber hinaus auch dazu geeignet, kreative mathematische Erfahrungen zu ermöglichen, mathema‐ tische Fragestellungen aufzuwerfen oder mathematische Konzepte anzubahnen bzw. zu vertiefen (Welchman-Tischler 1992). Als eine Gelingensbedingung für einen zeitgemäßen Mathematikunterricht gilt übergreifend, dass der Unterricht u. a. aktiv-entdeckend und diskursiv gestaltet wird (z. B. Wittmann 1995), was gleichsam in der Natur der gemeinsamen Bilderbuchrezeption von Kindern und Erwachsenen liegt: Beim betrachtenden (Vor-)Lesen „entdeckt, erschließt und diskutiert der Vorlesende den Inhalt des Bilderbuchs gemeinsam mit den Zuhö‐ renden; dabei werden letztere von Rezipierenden zu Akteuren” (Kurwinkel 2017: 179). Übertragen auf den Mathematikunterricht können Schüler: innen beim gemeinsamen dialogischen Rezipieren mathematisch-gehaltvoller Bilderbücher somit zu Akteur: innen der Mathematik werden. 2 Wird nun ein Bilderbuch in den Fokus des Unterrichts gerückt, das sich mit Mustern und Strukturen beschäftigt, wie es bei Manche sind anders (Te‐ ckentrup 2014) der Fall ist, können sich Anknüpfungspunkte entfalten, in denen Schüler: innen jenen Inhaltsbereich aktiv erkunden. Zieht man die Tatsache hinzu, dass Mathematik genuin als Wissenschaft von Mustern verstanden wird (z. B. Devlin 1998; Wittmann 2003), kommt den Lernenden hier einmal mehr die Rolle von fachlichen Akteur: innen zu. Konstitutiv ist dabei, dass Muster nicht nur betrachtet und ästhetisch genossen werden, wobei dieser Aspekt nicht zu vernachlässigen ist, wie die später aufgeführten Arbeitsprodukte der Schüler: innen eindrücklich zeigen werden. Vielmehr aber kann „man sie [die Muster, Anm. d Verf.] erforschen, fortsetzen, ausgestalten und selbst erzeugen” (Wittmann 2003: 26) und dabei fachlich originär tätig sein, indem Strukturen kreiert, identifiziert, gedeutet, reproduziert und manipuliert werden. 305 Manche sind anders (Teckentrup 2014) - und beim Lernen sowieso alle Entsprechend des Bilderbuches beschränkt sich der vorliegende Beitrag auf geometrische Muster und klammert arithmetische (zunächst) aus. Im Gegensatz dazu soll das mathematische Lernangebot, das ausgehend vom Bilderbuch entwickelt wurde, allerdings keine Restriktionen erfahren: In besonderer Weise liegt ein Potenzial von Bilderbüchern nämlich darin, heterogenen Lerngruppen zu begegnen, die zunehmend zum Schwerpunktthema der Unterrichtsplanung werden. Eine Möglichkeit, einen den Lernvoraussetzungen entsprechenden flexiblen Unterricht zu gestalten, sind sog. substanzielle Lernumgebungen (z. B. Hirt/ Wälti 2016; Wittmann 1998; Wollring 2009). 2.2 Substanzielle Lernumgebungen im Mathematikunterricht Eine substanzielle Lernumgebung ist als eine flexible, große Aufgabe zu ver‐ stehen, die „in der Regel aus mehreren Teilaufgaben und Arbeitsanweisungen [besteht], die durch bestimmte Leitgedanken - immer basierend auf einer innermathematischen oder sachbezogenen Struktur - zusammengebunden sind“ (Hirt et al. 2016: 13). Darüber hinaus orientieren sie sich an zentralen Zielen, Inhalten und Prinzipien des Mathematikunterrichts, auf deren Basis sich Möglichkeiten für reichhaltige, mathematisch-substanzielle Aktivitäten ergeben (Wittmann 1998: 337), die über die bloße Reproduktion von Wissen hinausgehen. Jene Aktivitäten sollen stattdessen so konzipiert sein, dass sie allen Lernenden einen uneingeschränkten und ihren Lernvoraussetzungen entsprechenden Zugang zum aktiven Erfahren, Erforschen und Entdecken von Mathematik gewähren, dabei also dem natürlichen Heterogenitätsspektrum einer Klasse Rechnung tragen. Substanzielle Lernumgebungen sind folglich natürlich differenzierend gestaltet. Wittmann (2010) bezeichnet diese Form der Differenzierung als natürlich, da sie sich in der Auseinandersetzung mit dem wohlverstandenen Fach Mathematik nahezu von selbst ergibt. Der Schlüssel dafür liegt in Lernangeboten, die eine niedrige Eingangsschwelle haben, einen bestimmten Grundbestand von Kenntnissen und Fertigkeiten sichern und darüber hinaus den Kindern Optionen ermöglichen, die sie nach ihren individuellen Möglichkeiten wahrnehmen können. (63) Innerhalb eines solchen Lernangebots zu Mustern und Strukturen kann die einheitliche Aufgabenstellung für die gesamte Lerngemeinschaft etwa lauten, mit verschiedenen Materialien (z. B. Pattern Blocks, Stempeln, …) Muster zu entwerfen - welche Komplexität diese jedoch annehmen, d. h. welche (vielsei‐ tigen) Dimensionen die zugrundeliegenden Bildungsregeln bzw. Strukturen konstituieren, liegt in den Händen der Lernenden; die Aufgabe ist in ihren An‐ forderungsniveaus flexibel. Auch wenn die Schüler: innen somit aufgabengleich 306 Katja Poser-Kempe und Caren Feskorn 3 Das Fördern bezieht sich an der Stelle nicht nur auf Unterstützungsmöglichkeiten für langsamer lernende Kinder, sondern auf Unterstützungsmöglichkeiten für alle Kinder. arbeiten, ist dennoch Raum für individuelle Entscheidungen gegeben, wie z. B. „Ansatzpunkte und Tiefe der Bearbeitung, die Verwendung von Hilfs- oder Arbeitsmitteln, die Art und Weise der Notation/ Dokumentation/ Darstellung ihres Vorgehens [und] ihrer Bearbeitungswege“ (Krauthausen/ Scherer 2016: 51). Dadurch entstehen Arbeitsergebnisse, die zugleich hinreichend ähnlich und doch hinreichend verschieden sind, um in einen auf die Aufgabe und somit das Lernthema gerichteten gemeinsamen und ergiebigen Austausch zu treten, denn mathematisches Lernen bedarf der fachbezogenen Interaktion und Kommunikation (z. B. Nührenbörger/ Schwarzkopf 2010). Die Lehrperson indes begleitet jene Aktivitäten, indem sie moderiert, koordiniert, unterstützt und berät (Krauthausen/ Scherer 2016: 75 ff.); sie leistet Hilfe zur Selbsthilfe (Witt‐ mann 1995: 15). Gleichzeitig bietet die von den Lernenden selbst ausgestaltete Passung des Lernangebotes an ihre individuellen Fähig- und Fertigkeiten der Lehrperson die Chance, etwas über die Schüler: innen zu erfahren, über ihre Denkwege und ihre mathematischen Kompetenzen (Wollring 2009), sodass Ziele zur Förderung abgeleitet werden können. 3 Die bisherigen Ausführungen haben deutlich gemacht, dass Lernumge‐ bungen natürlich differenzierende Lernangebote inhärent sind. Damit diese auch ein Angebot für alle Lernenden darstellen und deren Eigenaktivität initiieren, müssen sie hinreichend komplex sein (Krauthausen/ Scherer 2016: 50). Bohlmann und Benölken (2020) führen hierzu aus: In contrast to common isolated and constrained tasks […] complex and substantial mathematical activities ensure a certain degree of openness and freedom. […] The complexity […] is given by a rich mathematical substance that offers potential for individually guided activities with options of going more into depths or of working on follow-up problems. (4 f.) Komplexität steht somit einer Aufgabenatomatisierung entgegen und ist als Offenheit zu verstehen, die sogar in dreifacher Hinsicht von Bedeutung ist: Für die Aufgabe bzw. deren Bearbeitung (wie vorhergehend angeführt), für das im Fokus stehende Unterrichtsthema (Vernetzung mit anderen Lerngegenständen) als auch darüber hinaus (Vernetzung mit anderen Fächern des Grundschulcur‐ riculums). Betrachtet man die genannten Aspekte, dann können in der Gesamtschau und mit Rückgriff auf die Ausführungen von Wollring (2009) sechs Leitideen konsta‐ 307 Manche sind anders (Teckentrup 2014) - und beim Lernen sowieso alle tiert werden, die das Konzept der substanziellen Lernumgebungen beschreiben (13 ff.): (L1) Mathematischer Sinn und Werksinn: Reichhaltige, mathematische Akti‐ vitäten bilden den Kern einer jeden substanziellen Lernumgebung. Darüber hinaus gilt es, dem bearbeiteten Gegenstand auch eine Bedeutungseinschätzung über den (Mathematik-)Unterricht hinaus entgegenzubringen und diese im Unterricht aufzuzeigen. (L2) Artikulation, Kommunikation, soziale Organisation: Der Erwerb mathe‐ matischer Kompetenzen ist ein aktiv-handelnder Prozess, der eines sozialen Austauschs bedarf und demzufolge vielfältige Artikulationsmöglichkeiten im Sinne des Handelns, Sprechens und Schreibens bereitstellen sollte. (L3) Differenzieren: Substanzielle Lernumgebungen ermöglichen durch den Einsatz natürlich differenzierender Lernangebote einen produktiven Umgang mit Heterogenität. Den Lernenden werden Freiheitsgrade in der Bearbeitung zugestanden (z. B. Art und Weise der Dokumentation, die Nutzung von Arbeits‐ mitteln, Tiefe der Bearbeitung). (L4) Logistik: Bereitgestellte Materialien müssen sowohl unter fachlichen und fachdidaktischen als auch unter zeit- und materialökonomischen Gesichts‐ punkten ausgewählt werden. (L5) Evaluation: Die Evaluierung inhalts- und prozessbezogener Kompe‐ tenzen durch die Lehrenden im Rahmen einer substanziellen Lernumgebung bietet das Potenzial, Lernwege der Lernenden optimal zu unterstützen. (L6) Vernetzung: Substanzielle Lernumgebungen offerieren fachinterne und fachübergreifende Vernetzungsmöglichkeiten, d. h. zu anderen Inhalten des Mathematikunterrichts, aber auch zu Inhalten anderer Fächer. Legt man an diese Leitideen die Ausführungen zum Einsatz von Bilderbü‐ chern im Mathematikunterricht an (siehe Kapitel 2.1), so ergeben sich deutliche Schnittpunkte, die einen Einsatz von Bilderbüchern im Rahmen mathemati‐ scher Lernumgebungen bekräftigen: Geeignete Bilderbücher bieten Kindern einen bedeutungsvollen Kontext zum mathematischen und fachübergreifenden Lernen, da sie an ihrer Lebenswelt anknüpfen (L1 und L6). Sie eröffnen damit einen ganzheitlichen Zugang zur Fachwissenschaft, wirken kognitiv aktivie‐ rend und befördern mathematische Diskurse (L1, L2 und L3), die gleichzeitig einen Rahmen für informelle Kompetenzwahrnehmungen und Standortbestim‐ mungen der Lehrkraft bieten (L5). Die im Bilderbuch involvierte piktorale und verbale Darstellung mathematischer Phänomene lädt dazu ein, offene mathe‐ matische Fragestellungen abzuleiten und sinnstiftend Mathematik zu treiben (L1). Die mediale Form und ihre künstlerisch-ästhetischen Gestaltungselemente schlagen zudem eine Brücke zu anderen Fächern des Grundschulcurriculums 308 Katja Poser-Kempe und Caren Feskorn 4 Katja Poser-Kempe (L6). Diese gehaltvolle Verbindung der Arbeit mit Bilderbüchern im Rahmen substanzieller Lernumgebungen wird im nachfolgenden Kapitel anhand eines konkreten Beispiels illustriert. 3 Vorstellung einer substanziellen Lernumgebung zum Bilderbuch Manche sind anders (Teckentrup 2014) 3.1 Das Bilderbuch und seine mathematischen Anknüpfungspunkte Das Bilderbuch Manche sind anders (Teckentrup 2014) bildet auf vielen - jedoch nicht allen - Doppelseiten ein farbig gestaltetes Muster aus Individuen je einer Tierart ab (Vögel, Fledermäuse, Kamele, Seehunde, Schildkröten, Strauße, Pandabären, Affen, Nashörner, Flamingos, Fische, Lemuren, Pinguine, Schmet‐ terlinge), wobei das Muster stets von einem kurzen achtzeiligen Reim begleitet wird. So heißt es auf der Seite, die ein Muster aus Reihen von nach rechts blickenden Pinguinen zeigt: Abb. 1: Reim aus dem Bilderbuch Manche sind anders (Teckentrup 2014: o. S.) Abb. 2: Eigene Illustration des dazugehö‐ rigen Musters, entstanden in einem fach‐ übergreifenden Unterrichtsvorhaben 4 309 Manche sind anders (Teckentrup 2014) - und beim Lernen sowieso alle Der Reim zeigt zunächst auf, dass ein Pinguin eine Besonderheit mit sich trägt, also anders ist als die anderen. Da die Reime zumeist mit einer Frage enden, fühlen sich sowohl jüngere als auch ältere Leser: innen direkt dazu auf‐ gefordert, das beschriebene Tier mit seiner Besonderheit ausfindig zu machen. An dieser Stelle wird eindrücklich deutlich, dass das Bilderbuch, wie eingangs beschrieben, als „Bild-Text-Hybrid“ (Mattenklott 2014: 138) aufzufassen ist. Zugleich kann wahrgenommen werden, dass das Bilderbuch den Inhaltsbereich Muster und Strukturen in zweifacher Hinsicht anspricht: piktoral durch die Illustrationen, verbal in Form von Endreim und Rhythmus. Nachfolgend sollen beide Ebenen einzeln erläutert und die Anknüpfungspunkte für mathematisches Lernen herausgearbeitet werden: Piktorale Ebene: Papic und Mulligan (2005) fassen ein Muster als eine zahl- oder raumbezogene Regelhaftigkeit von Elementen auf, wobei die Beziehungen zwischen den Elementen eine Struktur konstituieren (609). Lüken (2014) führt in ähnlicher Weise aus, dass ein Muster ein geordnetes Ganzes aus numerischen oder räumlichen Regelmäßigkeiten meint (775). Die kleinste Einheit eben jener numerischen oder räumlichen Regelmäßigkeiten wird dabei als „Grundeinheit“ (Lüken 2014), „Grundidee“ (Lorenz 2016) oder „Ausgangsbaustein“ (Beutelspa‐ cher 2016) bezeichnet. Diese gilt es zu identifizieren, um ein Muster als solches wahrzunehmen. Lorenz (2016) zufolge unterliegt dies einer Begriffsbildung: „Die Regel, die das Muster hervorbringt, muss erkannt werden.“ (129) Benz et al. (2015) sprechen synonym auch von einer „Wiederholungsregel“ (295), Steinweg (2013) von „Aufbauregel“ (27) oder „Konstruktionsregel“ (44), Lüken (2014) hingegen von einem „Bildungsgesetz“ (775). Gemeinsam haben die unter‐ schiedlichen Begriffe jedoch, dass sie anzeigen, welcher Gedanke einem Muster zugrunde liegt: „Wenn man nicht wenige Teile in spezifischer Weise, sondern (unendlich) viele Objekte in systematischer Weise aneinanderfügt, erhält man ein Muster.“ (Beutelspacher 2016: 11) Innerhalb einschlägiger Fachpublikationen wird dabei zwischen verschiedenen Mustern unterschieden, wobei die Katego‐ rien nicht überschneidungsfrei aufzufassen und Beziehungen untereinander sowie innerhalb mitzudenken sind: Geometrische und arithmetische Muster (Benz et al. 2015: 295; KMK 2005: 10): In geometrischen Mustern setzt sich die Grundeinheit des Musters aus geome‐ trischen Objekten zusammen, die sich meist durch die Kriterien der Formund/ oder Farbgebung unterscheiden, sodass Steinweg (2013) sie auch als „Formen- und Farbenmuster“ in Abgrenzung zu „Zahlenmustern“ bezeichnet (28-57). Zahlenbzw. arithmetische Muster hingegen beruhen auf Zahlenfolgen. 310 Katja Poser-Kempe und Caren Feskorn 5 Formenmuster nach Lorenz (2016) unterscheiden sich von den im ersten Anstrich genannten Formenmustern nach Steinweg (2013). Lineare und flächige Muster (Lorenz 2016: 130): Während lineare Muster, nach Lüken (2012) auch „Musterfolgen“ (29 ff.), eine Fortsetzung der Grundeinheit in nur zwei Richtungen bei vertikaler oder hori‐ zontaler Orientierung meinen, können sich flächige Muster in alle Richtungen fortsetzen. Als Form linearer Muster gelten Bandornamente, als Form flächiger Muster hingegen Parkettierungen (Franke/ Reinhold 2016: 289-304). Sich wiederholende (statische) und wachsende (dynamische) Musterfolgen (Lüken 2012: 29 f.): Unter sich wiederholenden Musterfolgen sind solche zu verstehen, in denen eine Grundeinheit als Ganzes wiederkehrend und unverändert aneinandergesetzt wird. Wachsende Musterfolgen hingegen zeichnen sich durch eine systemati‐ sche Veränderung (sowohl Vergrößerung als auch Verkleinerung) der Grund‐ einheit aus. Formenmuster 5 (Lorenz 2016: 130) und Ring-Musterfolgen (Lüken 2012: 31): Formenmuster gelten nach Lorenz (2016) als in sich abgeschlossen; weitere de‐ finitionsmäßige Ausführungen finden sich allerdings nicht. Als Beispiele hierfür können u. E. aber 1) Muster mit mindestens einer Achsen- oder Punktsymmetrie und 2) Mandalas gelten, die der Drehsymmetrie unterliegen. Diese Annahmen finden sich auch bei Franke und Reinhold (2016) wieder, die hinsichtlich 1) ausführen, dass symmetrische Objekte von Kindern oft als besonders ästhetisch empfunden und so beim freien Legen mit Material bevorzugt entworfen werden (259, 288). Mit Blick auf 2) nutzen sie zudem den Begriff „Kreismuster“ (Franke/ Reinhold 2016: 283), die sich ausgehend von einem Mittelpunkt entfalten. Die von Lüken (2012) benannten Ring-Musterfolgen hingegen besitzen keinen festgelegten Anfangs- oder Endpunkt; die Grundeinheit ist entsprechend des Begriffs kreisförmig (auch rechteckig) angeordnet. Mit Rückblick auf die beispielhaft angeführte Pinguinseite aus Manche sind anders (Teckentrup 2014) ist zu erkennen, dass im Bilderbuch ausschließlich geometrische, flächige und sich wiederholende (statische) Muster zu finden sind. Die Grundeinheit ist dabei verschieden komplex: während sie auf einigen Seiten aus lediglich einem Element besteht (z. B. ein einzelner Pinguin), finden sich auf anderen Seiten auch Grundeinheiten, die mehrere Einzelelemente umfassen (z. B. eine grüne und eine graue Fledermaus), die teilweise zudem durch verschiedene Raum-Lage-Ausrichtungen gekennzeichnet sind (z. B. ein stehender und ein kopfüber hängender Affe, die sich über die Schulter anbli‐ 311 Manche sind anders (Teckentrup 2014) - und beim Lernen sowieso alle cken). Leitend sind somit visuell wahrnehmbare Wiederholungen von Form und Farbe sowie die räumlichen Beziehungen der Einzelobjekte als entscheidende strukturelle Eigenschaften. Besonders ist zudem, dass die Seiten nicht nur gänzlich gefüllt sind, sondern die Tierfiguren bzw. Grundeinheiten auch am Seitenrand noch anteilig abgedruckt sind, sodass der Eindruck des Fortsetzens entsteht. An dieser Stelle bietet es sich an, erneut auf Beutelspacher (2016) zurückzugreifen: In der Mathematik werden Muster in der Regel unendlich groß gedacht. Reale Muster sind natürlich beschränkt und sind somit nur ‚Anfänge des echten Musters‘. […] Muster sind ein wunderbares Mittel, die Unendlichkeit zu erfassen. (S. 11f.) Verbale Ebene: Innerhalb der Kinder- und Jugendliteraturforschung werden besonders Reim und Metrum zugeschrieben, ein frühes literar-ästhetisches Er‐ fahrungspotenzial darzustellen, da beide Aspekte eine deutlich wahrnehmbare „Differenz zur Alltagssprache“ (Weinkauff/ von Glasenapp 2018: 138) aufweisen. Interessanterweise fungieren Reim und Metrum dabei u. a. als „Strukturierung“ und „rhythmisierende Wiederholung“ (ebd.: 145), wodurch bereits hier sprach‐ liche und inhaltliche Parallelen zu den vorhergehenden fachwissenschaftlichen Ausführungen zu Mustern und Strukturen erkennbar sind. Betrachtet man nun die Verse, die das ausgewählte Bilderbuch umfasst, so lässt sich aus den Grundmöglichkeiten des Reims auf allen Seiten ein Endreim finden. Korte et al. (2014) führen hierzu aus: „Traditionelle Muster der Abfolge von end‐ reimenden Versen werden als Reimschema (rhyme pattern) bezeichnet“ (121), womit Paarreim, Kreuzreim und umarmender Reim voneinander unterschieden werden. Gemeinsam ist ihnen jedoch, dass sie als „traditionelle Muster“ (ebd.) aufgefasst werden. Erneut ist eine konzeptuelle Überschneidung zu entdecken, sodass sich zeigt, dass durch den Schrifttext des Bilderbuches einerseits das Erfahrungsspektrum zu Mustern und Strukturen erweitert wird, andererseits aber auch fachübergreifende Lernchancen ergriffen werden können (siehe dazu ergänzend Kapitel 6). So schreibt auch Lorenz (2016): Und wenn wir mit Kindern über Rhythmus […] nachdenken, betreiben wir Ma‐ thematik. Auch wenn wir nicht rechnen. Rhythmus ist Wiederholung, und damit nahe an den geometrischen Wiederholungsmustern wie den Bandornamenten und Parkettierungen. (136) 4.2 Skizzierung und Begründung der Lernumgebung Ausgehend von den im Bilderbuch vorhandenen mathematischen Anknüp‐ fungspunkten zum Bereich Muster und Strukturen wurde eine Lernumgebung 312 Katja Poser-Kempe und Caren Feskorn 6 Allerdings wäre im Anschluss ein Fokus auf arithmetische Muster als weiterer Anknüp‐ fungspunkt denkbar (L6). 7 Dabei sind grundsätzlich vielfältigste Materialien denkbar. In dieser Erprobung kamen Pattern Blocks sowie verschiedene Formenplättchen aus Pappe und Plastik zum Einsatz (siehe L4). konzipiert, die sich in erster Linie geometrischen Mustern zuwendet, da die Illustrationen im Bilderbuch aus flächigen Formen gestaltet sind, die in ihrer räumlichen Anordnung jeweils ein Muster erzeugen. 6 Sie bilden den Ausgangspunkt der von uns entwickelten und als mathematisch-substanziell wahrgenommenen Teilaufgaben (L1): Aufgabe 1: Entwirf ein eigenes Muster. Aufgabe 2: Baue in dein Muster eine Unregelmäßigkeit ein. Aufgabe 3: Finde die Unregelmäßigkeit in den Mustern deiner Mit‐ schüler: innen und repariere sie. Aufgabe 1 bietet durch ihre inhaltliche Offenheit und die freie Wahl der Materialien 7 einen Zugang für alle Lernenden zur Kreation eines eigenen Musters (L2 und L3). Die Konstruktionsweisen der Lernenden (z. B. zuerst Festlegung der Grundeinheit, dann entsprechende Produktion des Musters; weitere Vorgehensweisen siehe Lüken 2012: 34 f.) können ebenfalls variieren. Am Ende der Arbeitsphase steht die Frage, ob bzw. warum das Ergebnis einem Muster entspricht oder (warum) nicht, sodass die Schüler: innen in kommuni‐ kativer Kooperation am gemeinsamen Gegenstand die einem Muster zugrunde liegende Prämisse der Wiederholung einer Grundeinheit überprüfen (L2). Dass sich hierbei intensive fachliche Gespräche zwischen den Lernenden entfalten können, wird an späterer Stelle dargelegt. Bereits hier zeigt sich jedoch das Potenzial der Lernumgebung, den Kompetenzstand der Lernenden in Bezug auf inhalts- und prozessbezogene Kompetenzen wahrzunehmen (L5). Während der Arbeitsphase ergibt sich für die Lehrperson die Möglichkeit, die Lernenden in ihrem Arbeitsprozess zu beobachten. Gespräche über die Regelmäßigkeiten im Muster lassen zudem Einblicke in das Denken der Kinder zu. Die Arbeitspro‐ dukte spiegeln wider, inwiefern die Lernenden den Musterbegriff verinnerlicht haben. Solche Möglichkeiten zur Evaluation ergeben sich dabei nicht nur in der ersten Arbeitsphase, sondern auch in den folgenden beiden Arbeitsphasen. Aufgabe 2 stellt die bewusste Wahrnehmung von Strukturen am eigenen Muster in den Mittelpunkt. Gemäß Steinweg (2013) könnte man an dieser Stelle von einer reflexiven Musteraktivität sprechen, die nach einer „Erstbegegnung” (25) mit der Aufgabe (hier Aufgabe 1) stattfindet und besonders dann als 313 Manche sind anders (Teckentrup 2014) - und beim Lernen sowieso alle lernbedeutsam erscheint, wenn die Musterproduktion ohne Fokus auf eine Bildungsregel erfolgt, d. h. einem kreativen Treibenlassen nahekommt. Aufgabe 3 fokussiert auf die Identifikation der Struktur bei unbekannten Mustern - allerdings unter anderen Bedingungen, als es die üblichen Aktivitäten in Lehrwerken tun. Statt der gängigen Musterfortsetzung oder der Auffüllung von Lücken bedarf es dem Erkennen der Struktur, was auch das Wahrnehmen von Einzelobjekten erfordert. Interessant und den Lernprozess intensivierend sind zudem Überlegungen, wie das Muster unter Beibehaltung der Unregelmä‐ ßigkeit erneut zu einem Muster werden kann (L1). Insgesamt begründen vor allem Aufgabe 2 und 3 den Einsatz des ausge‐ wählten Bilderbuches im Mathematikunterricht: Es motiviert auf authentische und natürliche Weise, zunächst ein Muster anzufertigen und dieses dann mit einer Unregelmäßigkeit zu versehen. Durch den im Bilderbuch veran‐ kerten Aufforderungscharakter, die Unregelmäßigkeit zu finden, lässt sich das aufmerksame Suchen und Beschreiben der eigentlichen Aufbaubzw. Kon‐ struktionsregel auch auf den Fachunterricht übertragen, ohne eine künstliche Anreicherung im Sinne des „didaktischen Mäntelchens“ (Bönig et al. 2017: 102) vornehmen zu müssen. Der Unterricht kann so nach dem Muster (hier im etymologischen Sinne einer Vorlage) des Bilderbuches gestaltet werden. Gleichzeitig unterscheidet sich das Bilderbuch von gängigen Lehrwerken für den Mathematikunterricht dahingehend, dass das Bilderbuch flächige Muster aufweist. Lehrwerke hingegen thematisieren überwiegend lineare Muster, so‐ dass angenommen werden kann, dass das Bilderbuch das Erfahrungsspektrum für Muster deutlich erweitert. 4.3 Ein erster Blick in die Arbeitsprodukte Die beschriebene Lernumgebung kam zur Einführung des Musterbegriffs (Klasse 1) und zur Wiederholung und Festigung (Klasse 2) zum Einsatz. Zunächst sei der: die Leser: in an dieser Stelle dazu eingeladen, einen Moment innezuhalten und die ausgewählten Arbeitsergebnisse von Erst- und Zweitklässler: innen aus Aufgabe 1 (siehe A1, ein eigenes Muster entwerfen) und Aufgabe 2 (siehe A2, eine Unregelmäßigkeit einbauen) auf sich wirken zu lassen (siehe Abb. 3 bis 14): 314 Katja Poser-Kempe und Caren Feskorn Abb. 3: Lydia (Kl. 1, A2) Abb. 4: Lilly (Kl. 2, A2) Abb. 5: Richard (Kl. 1, A1) Abb. 6: Moritz (Kl. 1, A2) Abb. 7: Samantha (Kl. 1, A2) Abb. 8: Lara (Kl. 1, A1) Abb. 9: Chriss (Kl. 2, A1) Abb. 10: Ayla (Kl. 1, A2) 315 Manche sind anders (Teckentrup 2014) - und beim Lernen sowieso alle Abb. 11: Enie (Kl. 1, A2) Abb. 12: Lenny (Kl. 1, A1) Abb. 13: Nick (Kl. 1, A2) Abb. 14: Pia (Kl. 1, A2) Bereits auf den ersten Blick wird deutlich, dass schon aus einfachsten Mate‐ rialien durch das Spiel mit z. B. Materialform, -farbe und -größe eine unüber‐ schaubare Vielzahl von Mustern entstehen kann. Vermutlich deshalb spricht Steinweg (2001) auch davon, dass Muster die Mathematik regelrecht verzaubern: „Mathematik wird erfahrbar in der Schönheit ihrer Strukturen und kann so faszinieren” (262), wobei die Faszination sowohl Lernende als auch Lehrende erreicht. 4.4 Eine erste Analyse der Arbeitsprodukte Betrachtet man die abgebildeten Arbeitsprodukte der Schüler: innen, so sind zunächst in sich abgeschlossene Formenmuster (siehe Abb. 3, 4, 12 und 14), lineare Muster (siehe Abb. 8, 10 und 11) und vereinzelt flächige Muster (siehe Abb. 6 und 7) zu erkennen. Abseits dessen stellt Abbildung 9 eine mögliche Besonderheit dar, die von den Lernenden während eines Galerierundgangs entsprechend mit der Frage „Ist das schon fertig? ” begleitet wurde. Chriss verneinte dies und ergänzte, dass er das Gelegte noch einmal legen und anfügen müsse, um ein Muster zu erhalten, was in der Lerngruppe auf Zustimmung stieß. Durch die Lehrkraft konnten an dieser Stelle weitere Impulse gesetzt werden, die eine thematische Diskussion zwischen den Schüler: innen anregten: Wo müsste Chriss nochmal anlegen? Rechts oder links? Geht auch oben und unten? Ähnlich 316 Katja Poser-Kempe und Caren Feskorn vertiefende Überlegungen lassen sich bei Richard (siehe Abb. 5) anstellen: Das Muster kann einerseits als fertiges Formenmuster gelten, bietet andererseits aber auch einen Aufforderungscharakter, das Muster - in der fotografierten Ausrichtung - nach rechts und links fortzusetzen, bis das Muster z. B. mit einem einzelnen gelben (hellgrauen) Dreieck abgeschlossen wird. Gleichsam ist es auch möglich, das Gelegte - ähnlich wie bei Chriss (siehe Abb. 9) - als Grundeinheit anzuerkennen. Hier tritt in Erscheinung, was Steinweg (2013) als die „Unvollständigkeit der konkreten Lösung” (27) betitelt und für den Mathematikunterricht einen genuinen Anlass für Aushandlungsprozesse bietet. Insgesamt erstaunt im Rahmen der durchgeführten Lernumgebung die Viel‐ zahl der entworfenen Formenmuster sowohl in Klasse 1 als auch in Klasse 2, da das gewählte Bilderbuch ausschließlich flächige Muster abbildet. Ob sich die Vorliebe der Schüler: innen für Formenmuster in ihrem besonderen ästhetischen Reiz begründet, kann an dieser Stelle nur gemutmaßt werden. Franke und Reinhold (2016) verweisen dahingehend auf Folgendes: „Beim freien Legen mit geometrischen Formenplättchen kann man schon feststellen, dass Kinder […] auch ‚schöne Muster‘ legen. Diese weisen fast immer Symmetrie (Achsen- oder Punktsymmetrie) auf.“ (288) Interessant ist, dass jene Symmetrieaspekte von Lydia (siehe Abb. 3) bereits vor der unterrichtlichen Einführung bewusst ge‐ nutzt, durch das Anlegen eines Stiftes gezeigt und verbalisiert werden konnten („Hier muss man das zusammenklappen.”). Rückt man Lennys (siehe Abb. 12) oder Pias (siehe Abb. 14) Formenmuster in den Gesprächsmittelpunkt, so ist ergänzend auch eine erste informelle Begegnung mit der Dreh- und Punkt‐ symmetrie denkbar. Franke und Reinhold (2016) führen weiterhin aus: „Die Muster [Formenmuster, Anm. d. Verf.] können Anlass für weitere geometrische Fragestellungen sein, die auf den Umgang mit Bandornamenten und Parketten vorbereiten.“ (288) Unter Rückgriff auf die beschriebenen Eigenschaften einer substanziellen Lernumgebung soll so an dieser Stelle nochmals nachdrücklich ihre Flexibilität bzw. das Potenzial betont werden, dass Schüler: innen in großem Umfang eigene Vorkenntnisse einbringen und über die Passung zwischen individuellem Lernstand und Anforderungsniveau bestimmen können. Dieses Potenzial zeigt sich besonders deutlich in der Anzahl der Faktoren, die die Schüler: innen nutzen, um ein Muster zu entwerfen. Im Gegensatz zu wenigen einfarbigen Musterproduktionen (siehe Abb. 12 und 14) überwiegen solche, die mindestens zwei Farbwechsel aufweisen. Auch wenn oder gerade weil besonders bei dem Legematerial Pattern Blocks Form und Farbe vielfach untrennbar miteinander verbunden sind, bedienen sich die Lernenden wei‐ terer Möglichkeiten, um Varianz zu erreichen: Größe, Ebene (sowohl eine Positionierung der Legeteile in verschiedene Richtungen nach z. B. rechts, 317 Manche sind anders (Teckentrup 2014) - und beim Lernen sowieso alle links, oben und unten als auch ein Aufeinanderlegen mehrerer Legeteile) und Ausrichtung werden beim Legen der einzelnen Formenteile auf verschiedenste Weise so kombiniert, dass Muster entstehen, deren Struktur unterschiedlich offensichtlich ist. Lara (siehe Abb. 8) und Ayla (Abb. 10) etwa nutzen auch eine zusätzliche Legeebene, während Enie (siehe Abb. 11) durch Farben-, Anzahl- und Größenwechsel ein Muster schafft, das ein vergleichsweise komplexes Spiel mit den genannten Faktoren umfasst. Ebenso vielfältig sind dementsprechend die Unregelmäßigkeiten, die die Schüler: innen in ihre Muster einbauen. Einerseits zeigt sich, dass einige Ler‐ nende z. B. Form und/ oder Farbe einzelner Elemente austauschen (Abb. 4 und 6), ein Element hinzufügen (siehe Abb. 3) oder eines entfernen. Andere Lernende hingegen verändern die räumliche Ausrichtung von Legeteilen (siehe Abb. 7). Interessant ist dabei, dass sich der empfundene Schwierigkeitsgrad bzgl. der Identifikation der Unregelmäßigkeit zwischen Lehrkraft und Lerngruppe deutlich voneinander unterscheidet: Während der: die erwachsene Betrachter: in in Abbildung 10 die Besonderheit sofort zu identifizieren vermag, zeigte sich dies für die Lernenden deutlich anspruchsvoller: Sie fokussierten auf den regelmäßigen Farbwechsel der gelben (hellgrauen) und grünen (dunkelgrauen) Quadrate, während Kreis und Dreieck in zweiter Ebene zunächst keine Bedeu‐ tung beigemessen wurde. Besonders dieses Beispiel hebt die Vorzüge einer na‐ türlichen Differenzierung gegenüber anderen Differenzierungsformen hervor, da es eindrücklich aufzeigt, dass Schwierigkeitsgrad oder Anforderungsniveau in hohem Maße subjektive Begriffe darstellen (Krauthausen 2018: 298). Äußerst spannende Diskurse ergaben sich anschließend während der Repa‐ ratur der Muster, da dies grundsätzlich auf verschiedene Weise erfolgen kann. Betrachtet man z. B. das Muster von Samantha (siehe Abb. 7 bzw. Abb. 15), so kann das links eingekreiste Legeteil repariert werden; gleichsam ist es jedoch auch möglich, das rechts eingekreiste Legeteil um 180 Grad zu drehen. Während die Achsensymmetrie in beiden Varianten erhalten bleibt, ändert sich ggf. die einheitliche Ausrichtung der dunkelgrünen (dunkelgrauen) Legeteile, was zum Anlass genommen werden kann, um mit den Schüler: innen über ihre Wahrnehmung von Regelmäßigkeit zu diskutieren. 318 Katja Poser-Kempe und Caren Feskorn Abb. 15: Mögliche zu reparierende Legeteile Noch intensiver werden die Diskussionen bei Enies Muster (siehe Abb. 11 bzw. Abb. 16): Repariert werden können z. B. Dreieck A und B oder aber Dreieck C. Die Herausforderung - sowohl für Lehrkraft als auch Lernende - liegt darin begründet, dass in Enies Muster mehrere Parameter die Bildungsregel formen und beachtet werden müssen, wobei dennoch auch eine isolierte und schrittweise Betrachtung des gelegten Musters im Sinne von Zeilen (siehe Abb. 17) und Abschnitten (siehe Abb. 18) denkbar ist: So ist es möglich, zunächst in der Zeile der Quadrate nach einer regelmäßigen Abfolge zu suchen (hellgrau, dunkelgrau, hellgrau, dunkelgrau), sich dann den einzelnen Dreiecken zu widmen, anschließend die Rechtecke in den Blick zu nehmen, um final eine Beziehung zwischen den aus Dreiecken zusammengesetzten Quadraten herzustellen. Gleichfalls zeigt sich jedoch auch eine abschnittsgemäße Vorgehensweise in der Beziehungssuche zwischen Quadrat, Dreieck und Rechteck als zielführend. 319 Manche sind anders (Teckentrup 2014) - und beim Lernen sowieso alle Abb. 16: Mögliche zu reparierende Legeteile Abb. 17: Betrachtung nach Zeilen Abb. 18: Betrachtung nach Abschnitten 320 Katja Poser-Kempe und Caren Feskorn Besonders bei Enies Werk werden demnach eindrücklich die Komponenten erfahrbar, die Lüken (2012) nebst anderen unter dem Struktursinn subsumiert: „Das flexible Aufteilen eines Musters in Teile (Struktureinheiten) […], das Erkennen wechselseitiger Verbindungen, Beziehungen und Zusammenhänge zwischen den Struktureinheiten […], das Integrieren der Struktureinheiten und Betrachten des Musters als Ganzes” (221), wodurch sich spannende und intensive Fachgespräche zwischen Schüler: innen entwickeln können. 5 Fazit Der Blick in die Arbeitsprodukte der Schüler: innen zeigt, dass das gewählte Bilderbuch in Verknüpfung mit dem Konzept der substanziellen Lernumgebung zu einer produktiven Diversität in den Arbeitsergebnissen geführt hat, die mustergültig für den gewinnbringenden Umgang mit Heterogenität spricht. Ganz im Sinne des Konzeptes der mathematischen Lernumgebungen bot eine Aufgabe für alle Kinder der Lerngruppe reichhaltige Möglichkeiten für the‐ menspezifische Aktivitäten - hier zum Thema Muster und Strukturen -, die einerseits entsprechend der eigenen Fähigkeiten be- und erarbeitet wurden, gleichzeitig aber durch die Orientierung am Von- und Miteinanderlernen eine soziale Einbettung erfuhren. Bezüglich des Einsatzes von Kinderliteratur im Mathematikunterricht hebt Welchman-Tischler (1992) als Potenzial hervor, dass die Lehrkraft entscheiden kann, mit welcher Tiefe das literarische Werk - hier ein Bilderbuch - mathematisch rezipiert werden kann. So heißt es: „The teacher can select […] to suit the needs and interests of the children.” (ebd.: 5) Dass dies im Rahmen einer substanziellen Lernumgebung jedoch viel eher durch die Lernenden selber geschehen kann, ist indes offensichtlich. Insgesamt offenbart die Lernumgebung eindrücklich eine motivationale und affektive Hinwendung der Schüler: innen zum Entwerfen eigener Muster und Aufdecken von Strukturen, was gleichsam einer genuinen mathematischen Denk-, Handlungs- und Arbeitsweise entspricht. Im Bereich der literarischen Bilderbuchforschung gilt: „Bilder und Texte interpretieren […] diese Welt und können Kindern Anregungen und Anstöße geben zur Auseinandersetzung” (Thiele 1985: 12) mit eben dieser Welt. Unter Nutzung des Bilderbuches Manche sind anders (Teckentrup 2014) wird ein Anlass zur mathematischen Auseinan‐ dersetzung mit der Welt geboten, wobei sich der Anlass originär aus dem Bilderbuch ergibt. 321 Manche sind anders (Teckentrup 2014) - und beim Lernen sowieso alle 8 apps.mathlearningcenter.org/ pattern-shapes/ 6 Ausblick Innerhalb der Deutschdidaktik scheint weitreichende Einigkeit zu bestehen, dass sich Bilderbücher „hervorragend für einen handlungs- und produktions‐ orientierten Umgang” (Hollstein/ Sonnenmoser 2019: 186) eignen. Dies gilt jedoch auch für den Mathematikunterricht. In weiteren Erprobungen wird das Handlungs- und Produktionsspektrum zurzeit erweitert, indem eine digitale Umsetzung des Lernangebotes mit der App „Pattern Shapes“ 8 vergleichend er‐ hoben wird. Erste Einblicke in das Projekt zeigen vielversprechende Ergebnisse besonders dahingehend, dass das Entwerfen von Formenmustern abnimmt, das Entwerfen von flächigen Mustern durch das Arbeiten auf einer Tabletfläche hingegen zunimmt. Diese ersten Annahmen bedürfen aber einer tiefergehenden Betrachtung, die in Bräuning et al. (i. V.) erfolgen soll. Gegeben werden kann an dieser Stelle stattdessen eine Impression aus einem Unterrichtssetting in Klasse 3, in dem das Bilderbuch Manche sind anders (Teckentrup 2014) den Kompetenzbereich Muster und Strukturen im Fächerverbund erfahrbar gemacht hat: Abb. 19: Moosgummidruck und Reim zum Druck 322 Katja Poser-Kempe und Caren Feskorn Den Seehund ohne Nase zu entdecken, bedarf einiger intensiver Blicke und wird dadurch erschwert, dass sich die einzelnen Tiere trotz Druck mit dem‐ selben selbst erstellten Stempel aus Moosgummi unterschiedlichen Aussehens erfreuen. So sind nicht nur manche, sondern alle anders - so wie es auch auf das Lernen von Schüler: innen zutrifft. Literatur Primärliteratur Teckentrup, Britta (2014). Manche sind anders. 2. Aufl. München: Prestel. Sekundärliteratur: Benz, Christiane/ Peter-Koop, Andrea/ Grüßing, Meike (2015). Frühe mathematische Bildung. Mathematiklernen der Dreibis Achtjährigen. Berlin, Heidelberg: Springer Spektrum. Beutelspacher, Albrecht (2016). Dem Gemeinen einen hohen Sinn geben … In: Beyer, Udo (Hrsg.). Die Basis der Vielfalt. Geometrie als Grundlade und Anregung des Denkens. Wiesbaden: Springer Vieweg, 1-15. Bönig, Dagmar/ Hering, Jochen/ London, Monika/ Nührenbörger, Marcus/ Thöne, Berna‐ dette (2017). Erzähl mal Mathe! Mathematiklernen im Kindergartenalltag und am Schulanfang. Seelze: Kallmeyer, Klett. Bohlmann, Nina/ Benölken, Ralf (2020). Complex Tasks: Potentials and Pitfalls. Mathe‐ matics 8 (10), 1-19. Bräuning, Kerstin/ Poser-Kempe, Katja/ Feskorn, Caren (i. V.). Bilderbücher im Mathema‐ tikunterricht. Berlin: Cornelsen. Devlin, Keith (1998). Muster der Mathematik. Ordnungsgesetze des Geistes und der Natur. Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag. Flevares, Lucia M./ Schiff, Jamie R. (2014). Learning mathematics in two dimensions: a review and look ahead at teaching and learning early childhood mathematics with children’s literature. frontiers in Psychology 5, 1-12. Franke, Marianne/ Reinhold, Simone (2016). Didaktik der Geometrie in der Grundschule. 3. Aufl. Berlin, Heidelberg: Springer Spektrum. Hirt, Ueli/ Wälti, Beat/ Wollring, Bernd (2016). Lernumgebungen für den Mathematikun‐ terricht in der Grundschule: Begriffsklärung und Positionierung. In: Hirt, Ueli/ Wälti, Beat (Hrsg.). Lernumgebungen im Mathematikunterricht. Natürliche Differenzierung für Rechenschwache bis Hochbegabte. 5. Aufl. Seelze: Klett/ Kallmeyer, 12-14. Hollstein, Gudrun/ Sonnenmoser, Marion (2019). Werkstatt Bilderbuch. 2. Aufl. Balt‐ mannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. 323 Manche sind anders (Teckentrup 2014) - und beim Lernen sowieso alle KMK (2005). Bildungsstandards im Fach Mathematik für den Primarbereich. Be‐ schluss vom 15.10.2004. https: / / www.kmk.org/ fileadmin/ Dateien/ veroeffentlichunge n_beschluesse/ 2004/ 2004_10_15-Bildungsstandards-Mathe-Primar.pdf (last accessed: 05.01.2021) Korte, Barbara/ Müller, Klaus Peter/ Schmied, Josef (2004). Einführung in die Anglistik. 2. Aufl. Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler. Krauthausen, Günter (2018). Einführung in die Mathematikdidaktik - Grundschule. 4. Aufl. Berlin: Springer Spektrum. Krauthausen, Günter/ Scherer, Petra (2016). Natürliche Differenzierung im Mathematik‐ unterricht. Konzepte und Praxisbeispiele aus der Grundschule. 2. Aufl. Seelze: Klett/ Kallmeyer. Krichel, Anne (2020). Textlose Bilderbücher - visuelle Narrationsstrukturen und erzähl‐ didaktische Konzeptionen für die Grundschule. Münster: Waxmann. Kümmerling-Meibauer, Bettina/ Meibauer, Jörg/ Nachtigäller, Kerstin/ Rohlfing, Katha‐ rina J. (2015). Learning from Picturebooks. Perspectives from child development and literacy studies. New York: Routledge. Kurwinkel, Tobias (2017). Bilderbuchanalyse. Narrativik - Ästhetik - Didaktik. Tü‐ bingen: Narr Francke Attempto. Lorenz, Jens H. (2016). Kinder begreifen Mathematik. 2. Aufl. Stuttgart: W. Kohlhammer. Lüken, Miriam M. (2012). Muster und Strukturen im mathematischen Anfangsunterricht. Grundlegung und empirische Forschung zum Struktursinn von Schulanfängern. Münster: Waxmann. Lüken, Miriam (2014). Rot, gelb, blau, rot, gelb, blau - und weiter? ! Inhalte, Bedeu‐ tung und Unterrichtsideen für den Kompetenzbereich „Muster und Strukturen“. In: Roth, Jürgen/ Ames, Judith (Hrsg.). Beiträge zum Mathematikunterricht. Münster: WTM-Verlag, 775-778. Mattenklott, Gundel (2014). Ästhetische Bildung als Aufgabe der Primarstufe. In: Knopf, Julia/ Abraham, Ulf (Hrsg.). BilderBücher. Band 1 Theorie. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 135-140. Nührenbörger, Marcus/ Schwarzkopf, Ralph (2010). Die Entwicklung mathematischen Wissens in sozial-interaktiven Kontexten. In: Böttinger, Claudia/ Bräuning, Kerstin/ Nührenbörger, Marcus/ Schwarzkopf, Ralph/ Söbbeke, Elke (Hrsg.). Mathematik im Denken der Kinder. Anregungen zur mathematikdidaktischen Reflexion. Seelze: Klett/ Kallmeyer, 73-81. Papic, Marina/ Mulligan, Joanne (2005). Prescholers‘ Mathematical Patterning. In: Clarkson, Philip/ Downton, Ann/ McDonough, Andrea/ Pierce, Robyn/ Roche, Anne/ Horne, Marj/ Gronn, Donna (Hrsg.). Building connections: Theory, research and practice (Proceedings of the 28 th annual conference of the Mathematics Education Research Group of Australasia, Melbourne). Sydney: MERGA, 609-616. 324 Katja Poser-Kempe und Caren Feskorn Steinbring, Heinz (1998). Mathematikdidaktik. Die Erforschung theoretischen Wissens in sozialen Kontexten des Lernens und Lehrens. Zentralblatt für Didaktik der Mathe‐ matik 30 (5), 161-167. Steinweg, Anna S. (2001). Zur Entwicklung des Zahlenmusterverständnisses bei Kindern. Epistemologisch-pädagogische Grundlegung. Münster: LIT. Steinweg, Anna S. (2013). Algebra in der Grundschule. Berlin u.a.: Springer Spektrum. Steinweg, Anna S. (2014). Muster und Strukturen zwischen überall und nirgends - Eine Spurensuche. In: Steinweg, Anna S. (Hrsg.). Mathematikdidaktik Grundschule - 10 Jahre Bildungsstandards. Bamberg: University of Bamberg Press, 51-66. Thiele, Jens (1985). Bilderbücher entdecken. Untersuchungen, Materialien und Empfeh‐ lungen zum kritischen Gebrauch einer Buchgattung. Oldenburg: Isensee. Weinkauff, Gina/ von Glasenapp, Gabriele (2018). Kinder- und Jugendliteratur. 3. Aufl. Paderborn: Schöningh. Welchman-Tischler, Rosamond (1992). How to use children’s literature to teach mathe‐ matics. Reston: NCTM. Wittmann, Erich Ch. (1995). Aktiv-entdeckendes und soziales Lernen im Rechenunter‐ richt. In: Wittmann, Erich Ch./ Müller, Gerhard N. (Hrsg.). Mit Kindern rechnen. Frankfurt am Main: Arbeitskreis Grundschule e. V., 10-41. Wittmann, Erich Ch. (1998). Design und Erforschung von Lernumgebungen als Kern der Mathematikdidaktik. Beiträge zur Lehrerbildung 16 (3), 329-342. Wittmann, Erich Ch. (2003). Was ist Mathematik und welche pädagogische Bedeutung hat das wohlverstandene Fach auch für den Mathematikunterricht in der Grund‐ schule? In: Baum, Monika/ Wielpütz, Hans (Hrsg.). Mathematik in der Grundschule. Seelze: Kallmeyer, 18-46. Wittmann, Erich Ch. (2010). Natürliche Differenzierung im Mathematikunterricht der Grundschule - vom Fach aus. In: Hanke, Petra/ Möwes-Butschko, Gudrun/ Hein, Anna Katharina/ Berntzen, Detlef/ Thieltges, Andree (Hrsg.). Anspruchsvolles Fördern in der Grundschule. Münster: ZfL Verlag, 63-78. Wollring, Bernd (2009). Zur Kennzeichnung von Lernumgebungen für den Mathematik‐ unterricht in der Grundschule. In: Peter-Koop, Andrea/ Lilitakis, Georg/ Spindeler, Brigitte (Hrsg.). Lernumgebungen - ein Weg zum kompetenzorientierten Mathema‐ tikunterricht in der Grundschule. Festschrift zum 60. Geburtstag von Bernd Wollring. Unter Mitarbeit von Bernd Wollring. Offenburg: Mildenberger, 9-23. 325 Manche sind anders (Teckentrup 2014) - und beim Lernen sowieso alle Wohaar! Einer würde mir reichen! Das Bilderbuch 365 Pinguine im Mathematikunterricht der Grundschule Birgit Brandt Abstract: Bilderbücher bieten auch für den Mathematikunterricht der Grundschule sehr viel Potential, Lernprozesse anzuregen. In diesem Beitrag wird eine empirische Studie zum Einsatz des Bilderbuches 365 Pinguine von Jean-Luc Fromental und Joëlle Jolivet vorgestellt, in der insbesondere prozessbezogene Kompetenzen im Zusammenhang mit dem Sachrechnen in den Blick genommen werden. Mit Hilfe der qualitativen Inhaltsanalyse werden dafür kollektive Bearbeitungsprozesse als Wege durch den Modellierungskreislauf nachgezeichnet. 1 Einführung Der Mathematikunterricht in der Grundschule soll die Schüler: innen ausgehend von mathematischen Alltagserfahrungen unterstützen, ein vertieftes und gesi‐ chertes Verständnis zu zentralen mathematischen Bereichen zu erlangen (Kul‐ tusministerkonferenz 2004: 10). Dabei kommt insbesondere den allgemeinen mathematischen Kompetenzen eine wesentliche Rolle für einen verständnisori‐ entierten und auf Allgemeinbildung ausgerichteten Mathematikunterricht zu. In diesem Zusammenhang fordert Heymann „Und last but not least ist dem Umsetzen einfacher Sachverhalte in mathematische Modelle und umgekehrt erheblich mehr Aufmerksamkeit zu schenken.“ (Heymann 1996: 21). Das Bil‐ derbuch 365 Pinguine von Jean-Luc Fromental und Joëlle Jolivet (2018) bietet viele Möglichkeiten, einerseits innermathematisch inhaltsbezogene Lerngele‐ genheiten anzuregen (Roos 2015, 2017), andererseits aber auch die allgemeinen mathematischen Kompetenzen zu stärken und insbesondere auch das „Um‐ setzen einfacher Sachverhalte in mathematische Modelle“. Das Bilderbuch 365 Pinguine ist 2008 erstmals aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt worden, und es liegen bereits Beiträge aus verschiedenen grundschuldidaktischen Bereichen zum Einsatz im Grundschulunterricht vor. Dabei werden aufgrund der thematischen Ausrichtung des Buches Einsatzmög‐ lichkeiten im Sachunterricht diskutiert (Grammatikos 2012; Nosko/ Plank 2020), aber auch für den Mathematikunterricht gibt es Beiträge, die vor allem arith‐ metische Themen herausarbeiten (Roos 2015: 2017) (siehe Abschnitt 3). Dieser Beitrag fokussiert auf Einsatzmöglichkeiten, die die allgemeine mathematische Kompetenz des Modellierens im Verbund mit sachrechnerischen Fähigkeiten und dem Problemlösen betreffen. Im Rahmen einer Staatsexamensarbeit (Tei‐ cher 2020) wurde dazu eine explorative Studie durchgeführt, um folgende über‐ greifende Forschungsfrage zu bearbeiten: Wie bearbeiten Grundschüler: innen einer dritten Klasse in Kleingruppen Modellierungsaufgaben zum Bilderbuch „365 Pinguine“? Dafür wurde das Buch zwei Kleingruppen der Jahrgangstufe 3 ausschnitts‐ weise vorgelesen und den Schüler: innen Aufgaben zum Buchkontext zur kol‐ lektiven Bearbeitung vorgelegt; diese kollektiven Bearbeitungsprozesse wurden videografiert, transkribiert und die so gewonnenen Daten mit Hilfe der qua‐ litativen Inhaltsanalyse (Mayring 2015; Mayring/ Fenzl 2019) ausgewertet. In diesem Beitrag wird folgende Teilfrage verfolgt: Wie gestalten sich die konkreten Modellierungsprozesse in Hinblick auf den Modellierungskreislauf ? (siehe Teicher 2020: 4) Im Folgenden wird zunächst das Modellieren im Zusammenhang mit dem Problemlösen und dem Sachrechnen kurz dargelegt. Anschließend wird das Bilderbuch 365 Pinguine (Fromental/ Jolivet: 2018) vorgestellt, in seinen unter‐ schiedlichen Dimensionen für einen (fächerübergreifenden und -verbindenden) Grundschulunterricht eingeordnet und insbesondere die sich eröffnenden ma‐ thematikdidaktischen Potentiale diskutiert. Im Anschluss werden konkrete kollektive Bearbeitungsprozesse betrachtet und aufzeigt, welche heuristischen Strategien die Schüler: innen wählen und wie sich diese in die Teilprozesse des Modellierungskreislaufs (Blum/ Leiß 2007) einordnen lassen. 2 Problemlösen und Modellieren beim Sachrechnen Laut sächsischem Lehrplan für die Grundschule ist „im Mathematikunterricht stets von der Lebenswirklichkeit der Kinder auszugehen“ (Sächsisches Staatsmi‐ nisterium für Kultus 2019: 2) und somit das Sachrechnen eine Querschnittsauf‐ gabe, die in die Lernbereiche Arithmetik, Geometrie und Umgang mit Größen zu integrieren ist (ebd.). Märchen, fiktive Geschichten und somit auch Bilderbücher 327 Wohaar! Einer würde mir reichen! gehören zur Lebenswirklichkeit der Kinder und können als Ausgangspunkt für sachrechnerische Tätigkeiten dienen (Franke/ Ruwisch 2010: 37; siehe Roos 2017). Zudem ist Sachrechnen in der Grundschule eng mit den allgemeinen Kompetenzen des Modellierens und des Problemlösens verknüpft. Franke und Ruwisch (2010) sprechen daher vom „Sachrechnen als integriertes Modellieren und Problemlösen“ (ebd.: 71). Dabei werden, so Franke und Ruwisch (2010: 65), mit dem mathematischen Modellieren bzw. dem Problemlösen jeweils unterschiedliche Perspektive auf das Sachrechen eingenommen und somit un‐ terschiedliche Aspekte näher beleuchtet. Im Folgenden wird auf beide Aspekte näher eingegangen. 2.1 Problemlösen und heuristische Strategien Das Problemlösen als mathematische Tätigkeit wird von Winter (1995) als einer der wesentlichen Grunderfahrungen eines allgemeinbildenden Mathematikun‐ terrichts gesehen und ist in den Bildungsstandards entsprechend verankert (KMK 2004). Die Begriffe ‚Problem‘ bzw. ‚Problemlösen‘ werden in unterschied‐ lichen Disziplinen nicht einheitlich definiert (Collet 2009: 18). Grundsätzlich spricht man von einem Problem, wenn der Weg von einer bestimmten Aus‐ gangssituation zum erwünschten Ziel nicht unmittelbar abgerufen werden kann - entsprechend stellt der Transformationsprozess vom Ausgangszustand zum gewünschten Zielzustand den Problemlöseprozess dar (ebd.: 19). Als grundlegend für das mathematische Problemlösen kann die „Schule des Den‐ kens“ (Polya 2010) gesehen werden. Polya verknüpft das Problemlösen mit dem Lösen einer mathematischen Aufgabe: „Eine Aufgabe lösen heißt, einen Ausweg aus einer Schwierigkeit finden, einen Weg um ein Hindernis herum entdecken, ein Ziel erreichen, das nicht unmittelbar erreichbar war.“ (Polya 1966: 9). Dabei führt Polya nicht nur das noch heute allgemein akzeptierte Phasenmodell des Problemlösens ein (1. Aufgabe verstehen, 2. Plan aufstellen, 3. Plan durchführen und 4. Rückschau; siehe Polya 2010: Einband), sondern legt auch eine umfangreiche Sammlung an Heuristiken vor, die als Grundlage für das Problemlösenlernen gesehen werden können (z. B. Bruder/ Bauer 2011). Franke und Ruwisch (2010) grenzen die heuristischen Strategien für die Grundschule auf die Teilzielbildung bzw. die Zerlegung in Teilschritte, das Vorwärts- und das Rückwärtsarbeiten sowie die Analogiebildung ein und benennen einige grundschulgerechte heuristische Hilfsmittel wie Tabellen, Skizzen, Planfiguren und den Einsatz konkreter Objekte (ebd.: 68 f.). 328 Birgit Brandt 2.2 Mathematisches Modellieren und der Modellierungskreislauf In der Literatur trifft man auf eine Vielzahl unterschiedlicher Darstellungen des Modellierungsprozesses. Sie unterscheiden sich häufig in der Detailliertheit, der Anzahl der formulierten Teilprozesse oder dem, was man als mathematische Modellierung versteht. Es gibt dabei eine engere Auffassung, nach der das mathematische Modellieren nur bestimmte Teilprozesse im Modellierungskreis‐ lauf beinhaltet, während die weitere Auffassung gewissermaßen den gesamten Modellierungskreislauf dem mathematischen Modellieren gleichsetzt (Hinrichs 2008: 18). Ausgehend von der Sichtweise auf die angewandte Mathematik von Pollak (1977) wird zunächst - zumindest formal - zwischen ‚der Welt der Mathematik‘ und ‚dem Rest der Welt‘ unterschieden (siehe Greefrath 2010: 36), aus der sich dann ein 4-Phasen-Modell ergibt: 1. Reale Situation 2. Reales Modell 3. Mathematisches Modell 4. Mathematische Resultate „Dabei werden Probleme aus der Lebenswirklichkeit in die Sprache der Mathe‐ matik übersetzt, innermathematisch gelöst und anschließend die Angemessen‐ heit der Lösung in Bezug auf das reale Problem überprüft.“ (Schmidt 2010: 11 f.). In diesem Zitat von Schmidt wird auch die Beziehung zwischen dem Problemlösen und dem Modellieren deutlich: Das Problem liegt in einer realen Ausgangssituation; auf dem Weg vom Start zum Ziel werden dabei (auch) mathematische Mittel eingesetzt. Die so gewonnene Lösung muss sich in der realen Situation dann bewähren. Als Grundlage für die Auswertung der empirischen Bearbeitungsprozesse bezieht sich dieser Beitrag auf den von Blum und Leiß (2007) dargelegten Modellierungskreislauf, der in idealtypischer Weise diese vier Phasen mitein‐ ander verknüpft und die einzelnen Bearbeitungsschritte charakterisiert. Die Autoren beschreiben insgesamt sieben Teilschritte: 1. Konstruieren/ verstehen, 2. Vereinfachen/ strukturieren, 3. Mathematisieren, 4. Mathematisch arbeiten, 5. Interpretieren, 6. Validieren und 7. Darlegen (siehe Abb. 1). 329 Wohaar! Einer würde mir reichen! Abb. 1: Modellierungskreislauf nach Blum und Leiß (Schukajlow 2011: 77) In den ersten beiden Teilschritten geht es zunächst darum, die Situation zu verstehen und in Hinblick auf eine mathematische Bearbeitung des Problems zu strukturieren und zu vereinfachen. Die Teilschritte 3 und 5 stellen jeweils den Übergang von der Realität in die ‚Welt der Mathematik‘ (Schritt 3) und wieder zurück (Schritt 5) dar. Idealerweise wird schließlich die im vierten Teil‐ schritt innermathematisch ermittelte Lösung in den beiden letzten Teilschritten bezogen auf ihre Tauglichkeit für die ‚reale Ausgangsituation‘ überprüft. Diese Teilschritte dienen als Grundlage für die qualitative Inhaltsanalyse. Dabei werden einzelne Abschnitte der beobachteten Bearbeitungsprozesse deduktiv einem Teilschritt zugeordnet und so der Bearbeitungsprozess als Weg durch den Modellierungskreislauf nachgezeichnet (siehe Abb. 9). 3 Das Bilderbuch „365 Pinguine“ Die Geschichte im Bilderbuch 365 Pinguine handelt von einer Familie, die ab dem Neujahrstag jeden Morgen ein Paket vom Postboten entgegennimmt. Zur Überraschung der Familie befindet sich immer wieder ein neuer Pinguin im Paket. Der Absender bleibt jedoch zunächst unbekannt. Infolgedessen stellen die täglich mehr werdenden Tiere das gesamte Familienleben auf den Kopf. Viele Fragen gilt es zu klären. Wie sollen die Pinguine heißen? Wie viel Nahrung brauchen die Pinguine und was könnte das kosten? Wie und wo wollen wir die Pinguine verstauen? Die täglich wachsenden Herausforderungen, Unannehm‐ lichkeiten und Probleme belasten die Familie zunehmend. Am 31. Dezember steht plötzlich Onkel Viktor, der als Ökologe arbeitet, vor der Tür. Er lüftet 330 Birgit Brandt das Geheimnis. Aufgrund des Klimawandels schmilzt das Packeis am Südpol. Die Pinguine haben kaum noch Platz und sollen nun, dank Victors Idee, vom Südpol zum Nordpol verfrachtet werden. Die Familie diente lediglich als Zwischenstation. Onkel Viktor fährt 182 Pinguinpaare persönlich zum Nordpol, ein Pinguin bleibt in der Familie und der normale Alltag scheint sich wieder einzuspielen, bis am darauffolgenden Neujahrsmorgen wieder der Postbote klingelt. Eine neue Überraschung wartet auf die Familie: Ein Eisbär im Karton mit dem Hinweis: „Ich bin Nummer 1, bitte füttert mich! “ (Fromental/ Jolivet, 2018: o.S.). An dieser Stelle endet das Bilderbuch. Die Geschichte wird aus der Perspektive des Jungen der Familie, Theo, geschrieben, der jedoch eher sachlich die zunehmenden Probleme und emotio‐ nalen Momente schildert („In Papas Kopf dreht sich alles. Mama dreht auf. Amanda dreht durch.“; Fromental/ Jovilet 2018: o.S.). Am Ende der Geschichte informiert der Ökologe, Onkel Victor Emanuel, über Erderwärmung und Export geschützter Tierarten. Trotz dieses realitätsbezogenen Grundmotivs ist die gesamte Geschichte als realitätsfern und fantastisch einzuordnen. Nahezu prototypisch entspricht 365 Pinguine der Definition eines Bilderbu‐ ches, wonach „nicht allein der hohe Anteil von Bildern und der niedrige Anteil von Text, […] das Bilderbuch charakterisieren, sondern vor allem die enge Wechselbeziehung der Komponenten Bild und Text, die im Zusammenwirken ein komplexes symbolisches Gefüge bilden“ (Schröder 2015: 46). Dem Text kommt dabei die Funktion der Handlungsentwicklung zu, während das Bild Handlungsmomente festhält (Thiele/ Steitz-Kallenbach 2003: 78 ff.). Bild und Text beziehen sich in diesem Bilderbuch stark aufeinander, sodass sie erst durch ihre Gemeinsamkeit volle Wirkung entfalten (Lewis 2005: 36). Die Komponente Bild wird mit ausdrucksstark kolorierten Bildern, teilweise auch kleinen Wimmelbildern, im Buch umgesetzt. Illustrationen sind vordergründig einfach gehalten. Untermalt wird die Einfachheit und Strukturiertheit durch ein einheitliches Farbschema, mit den Hauptfarben orange, schwarz, weiß und blau (siehe Giesa 2008). Oft geht die Schritttextabfolge der einzelnen Passagen ineinander über und wird auf der nächsten Seite vorgeführt, sodass die Leser: innen zum Umblättern und Weiterschauen angeregt werden. 3.1 Fachübergreifende Überlegungen zum Einsatz im Grundschulunterricht Grundsätzlich thematisiert das Bilderbuch das weiterhin hochaktuelle und sehr komplexe Sachthema Klimawandel und seine Folgen (Grammatikos 2012; Nosko/ Plank 2020). Sehr phantasievoll wird das Thema Klimawandel und daraus entstehende Gefahren für den Lebensraum der Tiere in Szene gesetzt; 331 Wohaar! Einer würde mir reichen! die durchaus humorvolle Fiktion der Geschichte bietet so Gelegenheit, Konse‐ quenzen in der Realität zu thematisieren (siehe Nosko/ Plank 2020: 17). Kurze und einfache Sätze im Präsens sowie wörtliche Rede sind kennzeich‐ nend für die Textgestaltung. Immer wiederkehrende Wortwendungen, wie „Ich bin Nummer …“ oder „Klingeling“ unterstreichen den täglichen Episoden‐ charakter. Zudem können die Kinder unter literaturdidaktischer Perspektive sprachliche Ausdrucksformen und rhetorische Figuren als Stilmittel erfahren (Nosko/ Plank 2020: 17), beispielsweise: „Wir leben Pinguine. Wir denken Pinguine. Wir träumen Pinguine. Wir werden Pinguine.“ (Fromental/ Jolivet 2018: o.S.). Auch wenn die Lexik weitgehend alltagssprachlich geprägt ist, so werden dennoch einige Fachbegriffe und Fremdwörter verwendet (z. B. anonym, (Pinguin)ragout, Ordnungssystem, Treibhauseffekt, Ökologe, gemäßigte Zone, Export, Würfel als mathematischer Körper, Temperatur) sowie Maßeinheiten (Kilogramm, Cent) in unterschiedlichen Schreibweisen vorausgesetzt, die für viele Kinder im Grundschulalter wohl eher als (sprachliche) Hürde verstanden werden können und im Unterricht entsprechend aufgegriffen werden müssen, um den Kindern einen Zugang zur Vielschichtigkeit des Buches zu eröffnen. Abschließend lässt sich festhalten, dass das Bilderbuch durch seine Gestal‐ tung, politische Relevanz und mathematische Reichhaltigkeit für den fächerver‐ bindenden Unterricht neben der Auseinandersetzung mit dem ökologisch-poli‐ tischen Gehalt und den mathematischen Lerngelegenheiten auch künstlerische und literarische Potentiale bietet. 3.2 Mathematische Lerngelegenheiten „Kinder sind besonders im Grundschulalter begeisterungsfähig für Geschichten, Gedichte und Bilderbücher“ (Roos 2017: 8). Sie gehören zu ihrer Lebenswelt und schaffen so das gewünschte Kriterium Lebensweltbezug (Roos 2017: 10), auch wenn durch die Geschichte für die sachrechnerische Auseinandersetzung kein echter Alltagsbezug gegeben ist (siehe Franke/ Ruwisch 2010: 37). Allerdings fiel es den Kindern der Studie leicht, sich in die chaotisch-fiktive Familiensituation hineinzudenken und sie nahmen schnell den mathematischen Faden auf (siehe Transkript 1): 332 Birgit Brandt 12 SuS 1: …oh wie süß! 13 VL: [VL liest weiter vor aus dem Bilderbuch] 14 „Da sagt meine Schwester Amanda. Guck mal, noch ein Brief „Ich bin 15 Nummer eins, füttert mich! “ „Komisch“, sagt Papa. Am nächsten Morgen: 16 Klingelingeling. Der zweite Pinguin. Auch dieses Mal steht weder der Name 17 noch Absender auf dem Paket. Aber auf dem Deckel ist zu lesen. Ich bin 18 Nummer zwei und ich brauche eure Hilfe. Am übernächsten Tag. 19 Klingelingeling. Pinguin Nummer…“ 20 SuS 3: …Drei! [lacht] 21 VL: Genauso anonym, wie die anderen. „Es wird immer verrückter, sagt der Papa. 22 Nach Nummer zwei folgte sogleich Nummer drei. Bitte sorgt dafür, dass ich 23 mich nicht erkälte und so geht es bis Ende der Woche weiter. Am Sonntag 24 haben wir sieben Pinguine.“ 25 SuS 1: Ohrr,… [Pause] meine Mama liebt Pinguine. … 31 SuS 1: Also die Familie hat jetzt 31 Pinguine, weil jeden Tag ein neuer Pinguin 32 kommt. Januar, der Monat, hat 31 Tage. Das weiß ich aus dem Sachun‐ terricht. 33 VL: Stimmt. Keinen mehr, keinen weniger. 34 Jetzt müsst ihr euch mal vorstellen, ihr habt 31 Pinguine zu Hause. 35 SuS 3: Wohaarr! Einer würde mir reichen. [lacht] Transkript 1: G1 - Einstieg in die Geschichte (Teicher 2020: 73) Das Buch bietet viele Möglichkeiten, sehr unterschiedliche mathematische Konzepte aufzugreifen und verschiedene mathematische Kompetenzen anzu‐ sprechen. Das mathematische Potential ergibt sich aus der Gestaltung sowie unmittelbar in die Geschichte eingebundene Aufforderungen. „Der nächste 333 Wohaar! Einer würde mir reichen! 1 Die Lösung „59 Pinguine“ findet sich auf dem Kopf geschrieben unten im Bild. 2 Das Bilderbuch weist keine Seitenzahlen auf; die Seitenangabe ergibt sich, wenn man die Seiten durchnummeriert und dabei das Cover als Seite 1 zählt. Monat hat nur 28 Tage. Und jeden Morgen kommt ein neuer Pinguin. Wie viele sind das: 31+28=? ? 1 “ (Fromental/ Jolivet 2018: o.S.; siehe Abb. 2). Abb. 2: Eingebundene Aufforderungen zum Rechnen (Fromental/ Jolivet 2018: 7 2 ) Der mathematische Gehalt ist somit in die Geschichte eingebettet und kann sich aus der Beschäftigung mit der Geschichte heraus entfalten. Der Kategorisierung von Marston (2014) folgend wäre das Bilderbuch „365 Pinguine“ somit der Ka‐ tegorie „Embedded“ zuzuordnen: „Quality picture books written principally to entertain but with mathematical language and concepts purposefully embedded within them.“ (Marston 2014: 15). Das Bilderbuch spricht schwerpunktmäßig den mathematischen Inhaltsbe‐ reich „Zahlen und Operationen“ der Bildungsstandards an (KMK 2004: 8), aber es werden auch Standardeinheiten aus den Bereichen Zeitspannen und Gewichte thematisiert sowie das räumliche Vorstellungsvermögen angesprochen und 334 Birgit Brandt somit auch die mathematischen Inhaltsbereiche „Größen und Messen“ sowie „Raum und Form“ (KMK 2004: 11). Schon an dieser Stelle ist zu erkennen, dass dieses Bilderbuch eine Vielzahl an inhaltsbezogenen mathematischen Kompetenzen miteinander kombiniert. Laut Roos (2015) eignet sich der Inhalt des mathematischen Bilderbuches dabei optimal für die dritte Jahrgangstufe, da arithmetische Inhalte der zweiten Klasse wiederholt und der Zahlenraum bis zur 1000 geöffnet wird. Da bereits viele Fragen im Buch vorgegeben sind, bietet dieses Bilderbuch eine gute Möglichkeit, um erfolgreich mathematisches Denken zu initiieren (Roos 2015: 20). In der folgenden Ausführung wird auf einige relevante mathematische Inhalte exemplarisch genauer eingegangen. 3.2.1 Zählen, Zahlen, Zahlaspekte Im Fokus der Geschichte steht die stetig wachsende Pinguinanzahl. Diese Problematik kann mit dem Kardinalzahlaspekt assoziiert werden, da es sich um Mengen handelt, deren Mächtigkeit anwächst. Im Zusammenspiel mit dem Ordinalzahlaspekt wird dabei die Abfolge der natürlichen Zahlen sowie die Nachfolgerbeziehung +1 angesprochen, etwa wenn nach dem 28. Februar (59 Pinguine; siehe Abb. 2) die 60 folgt und ein Tag später noch ein weiterer Pinguin mit „+1“ entgegengenommen wird (siehe Abb. 3). Abb. 3: Abfolge und Nachfolgerfunktion +1 der natürlichen Zahlen (Fromental/ Jolivet 2018: 15, 18) Weiter wird der Ordinalzahlaspekt thematisiert, indem einzelnen Pinguinen über die Reihenfolge des Eintreffens eine Nummer zugewiesen wird. „Mit dem Aspekt der Ordinalität kann [so] eine zeitliche Perspektive verbunden werden, 335 Wohaar! Einer würde mir reichen! da die Vögel tageweise nacheinander eintreffen.“ (Tiedemann 2012: 58) (siehe Abb. 4). Abb. 4: Ordinaler Zahlaspekt (Fromental/ Jolivet 2018: 8) Die Erweiterung des Zahlenraums über die 100 hinaus erfolgt am 10. April, an dem - zumindest in Nicht-Schaltjahren - 100 Pinguine erreicht werden. Im Buch werden dazu Pinguine als Wimmelbild angeboten (siehe Abb. 5, links), das als Aufforderung gesehen werden kann, die Anzahl der Pinguine zu überprüfen und dafür eine geeignete Abzählstrategie zu entwickeln. Die Ziffern 1, 0, 0 auf den Bäuchen der drei Pinguine (siehe Abb. 5, rechts) sind nun nicht mehr als Nummerierung zu verstehen, die die Reihenfolge des Erscheinens wiedergibt; vielmehr kann diese Darstellung als Ausgangspunkt genommen werden, die Bedeutung der Ziffern im Stellenwertsystem zu thematisieren (siehe Abb. 5). Beim genaueren Betrachten fällt zudem auf, dass sich im Laufe der Geschichte immer mal wieder ein Pinguin in den Illustrationen mit blauen statt orangenen Füßen einschleicht (z. B. in der Würfelformation Abb. 6). Dieser Pinguin bleibt am Ende bei der Familie, während die restlichen 364 Pinguine zusammen 182 Paare bilden. Somit lässt sich hier auch die Parität der Zahlen, gerade versus ungerade, ansprechen. 336 Birgit Brandt Abb. 5: 100 Pinguine (Fromental/ Jolivet 2018: 20, 21) 3.2.2 Größen und Messen - Schwerpunkt Zeiteinheiten Die Anzahlen der Pinguine werden fortlaufend mit Zeiteinheiten verkettet. Mit Hilfe von Feststellungen wie „Am Sonntag haben wir sieben Pinguine“ (Fro‐ mental/ Jolivet 2018: o.S.) lässt sich ableiten, dass eine Woche aus sieben Tagen besteht. Analog dazu steht „Ende Januar haben wir 31 Pinguine“ (ebd.; Abb. 6) für monatliche Betrachtungen und induziert, dass der erste Monat im Jahr 31 Tage umfasst. Weiter zeigt die Menge von 365 Pinguinen am Silvesterabend an, dass ein Jahr aus ebenso vielen Tagen besteht. Zeiteinheiten wie Woche, Monat oder Jahr werden dementsprechend prinzipiell auf die ausgewählte Grundeinheit Tage zurückgeführt, die wiederum mit der Zahl der Pinguine gleichzusetzen ist (siehe Tiedemann 2012: 58). Andere Größen werden z. B. thematisiert, wenn es darum geht, was die Versorgung der Pinguine kostet. Abb. 6: Pinguin-Anzahlen in Verbindung mit Zeiteinheiten (Fromental/ Jolivet 2018: 10, 13) 337 Wohaar! Einer würde mir reichen! 3 „Legt man z. B. in der untersten Reihe vier, darüber auf Lücke drei, wieder darüber auf Lücke zwei und zuletzt in der Mitte der obersten Reihe einen Gegenstand, so erhält man als Figur ein gleichseitiges Dreieck. […] Allgemein können Dreieckszahlen [also] durch die Formel 1+2+3+ … +n beschrieben werden.“ (Graumann 2002: 69). 4 In der letzten Schublade 133 144 sitzen zwölf Pinguine, nicht 144-133=11. Dieses Phänomen ist ähnlich beim Rechnen mit Kalendern zu berücksichtigen und führt häufig dazu, dass entsprechende Rechnungen zählend bearbeitet werden; siehe dazu Transkript 4. 3.2.3 Ordnungssysteme - figurierte Zahlen In verschiedenen Episoden versucht die Familie, die steigende Anzahl der Pinguine zu bewältigen, indem diese in Gruppen geordnet werden. Damit tritt das Ordnen bzw. das Bündeln in den Blickpunkt (Roos 2015: 21). Als zum Beispiel der 60. Pinguin (am Folgetag des 28. Februars; siehe Abb. 2) ankommt, werden je fünfzehn Pinguine in Dreiecksform angeordnet und somit 4x15 Pinguine figuriert dargestellt. Diese Form (Dreieckszahl 3 ) impliziert, dass die natürlichen Zahlen, von eins bis fünf summiert, fünfzehn ergeben (Abb. 7, links). Damit sind arithmetische und geometrische Fähigkeiten im Verbund gefragt. Auch der 6x6x6 Würfel (siehe Abb. 7, rechts) ist eine entsprechende figurierte Zahldarstellung. Als weiteres Ordnungssystem wird die Aufteilung der Pinguine in 12er-Gruppen angeboten: In einem Regal sind in zwei Reihen jeweils 6 Schubladen und in jeder Schublade sitzen je 12 Pinguine.; die Anzahl aller Pinguine in diesem Schubfachsystem lässt sich mit der Multiplikation 2x6x12=144 berechnen. Dabei sind die Schubladen bezeichnet mit den Ord‐ nungsnummer der Pinguine, die jeweils Platz gefunden haben (1 12, 13 24, …, 133 144; siehe Abb. 7, Mitte). Hierbei lässt sich dann entdecken, dass die Anzahl der Pinguine in einer Schublade nicht über eine einfache Subtraktion der Ordnungszahlen berechnet werden kann. 4 Abb. 7: Verschiedene Ordnungssysteme (Fromental/ Jolivet 2018: 17, 28, 34) 338 Birgit Brandt 5 Und man könnte dann mit Hilfe eines Kalenders die Wochentage dazu bestimmen und so weitere Regelmäßigkeiten erkunden. Die Ordnungssysteme lassen sich immer konkreten Daten zuordnen - und der nächste Pinguin führt jeweils dazu, das gerade passende Ordnungssystem zu ‚zerstören‘ - im Bild mit den Dreieckszahlen angedeutet durch „Klingeling“. In der Studie wird dieses Phänomen von den Kindern entsprechend antizipiert, als sie ihre eigenen Lösungen für 60 Pinguine mit der Lösung im Buch vergleichen (siehe Transkript 2): 77 SuS 3: Wie macht der Papa das im Buch? 78 VL: Eine sehr gute Frage. Wir schauen mal hin, gemeinsam. 79 SuS 3: […] die haben ja 4 mal 15 genommen? 80 VL: Richtig. Aber das ist nicht schlimm, sondern nur eine andere Möglich‐ keit. 81 Unsere Pinguine zu verstauen. Ein viel größeres Problem ist, dass es am 82 nächsten Tag… 83 SuS 2: … wieder Klingeling macht [lacht]. 84 Und was passiert? Wieder ein Pinguin und alles ist kaputt. 85 SuS 3: Oh nein [verschränkt Arme vors Gesicht] Transkript 2: (G2) Die Ordnung geht „kaputt“ (Teicher 2020: 83) Im Folgenden wird die Frage nach geeigneten Ordnungssystemen zu be‐ stimmten Daten genauer betrachtet. In der unterrichtlichen Gestaltung ist es durchaus denkbar, nach ersten Betrachtungen im Buch und entsprechenden Vorerfahrungen die Kinder sich selbst Daten oder Anzahlen auswählen zu lassen, für die sie Ordnungssysteme im Sinne figurierter Zahlen finden möchten. Eine Variante wäre, ausgehend von den 60 Pinguinen am 1. März, weitere Daten zu ermitteln, an denen sich jeweils ein neues Dreieck mit 15 Pinguinen ‚bauen‘ lässt‘. 5 Im Rahmen der Studie wurden die Kinder zunächst aufgefordert, für 60 Pinguine verschiedene Systeme zu finden. Danach wurde das Buch bis zum 10. April vorgelesen und schließlich im Duktus des Buches formuliert: „Am 27. Oktober gibt’s einen neuen Hoffnungsschimmer. Papa erfindet ein neues Ordnungssystem! “ (Teicher 2020: 44). Dabei wurde in der Studie von Teicher (2020) die damit verbundene Aufgabe in zwei Teilschritte zerlegt: 1. Anzahl 339 Wohaar! Einer würde mir reichen! 6 So können für die korrekte Anzahl 300 am 27. Oktober unterschiedliche multiplikative Zerlegungen mit drei Faktoren gefunden werden - etwa 3x5x20 - die jeweils zu quaderförmigen Anordnungen führen; je nach Ausrichtung des Quaders können die Faktoren der multiplikativen Zerlegung verschieden auf Länge, Breite und Höhe verteilt werden. Bei der Suche nach verschiedenen Lösungen spielen hier auch kombinatorische Aspekte eine Rolle. der Pinguine am 27. Oktober und 2. mögliche Anordnungen für die zuvor berechnete Anzahl. Die Ausgangsfrage wird somit in zwei Teilprobleme zerlegt, somit also die heuristische Strategie „Teilzielbildung“ (Franke/ Ruwisch 2010: 66) als erster Ansatz vorgegeben. Im ersten Teilschritt wird das Rechnen mit dem Kalender angesprochen und im zweiten Teilschritt figurierte Zahlen, wobei insbesondere bei quaderförmigen Anordnungen auch algebraische Aspekte wie das Kommutativ- und das Assoziativgesetz relevant werden können. 6 Dabei ist der mit dem ersten Teilschritt verbundene Modellierungsprozess ausgehend von der fiktiven Problemlage im Buch als sehr realitätsnah anzusehen, während es beim Anordnen der Pinguine eher notwendig erscheint, sich stärker in die fiktive Idee der Geschichte hineinzudenken. Die empirische Analyse in Abschnitt 4 fokussiert die Lösungsprozesse zum ersten Teilschritt. 4 Empirische Lösungsbeispiele Im Sinne des Modellierungskreislaufes müssen die Kinder zunächst die fiktive Problemlage verstehen und die Anzahl der Pinguine an einem bestimmten Datum mit der Anzahl der Tage bis zu diesem Datum - angefangen am 1. Januar - gleichsetzen. Es gilt also zu bestimmen, der wievielte Tag im Jahr der 27. Ok‐ tober ist. Als heuristisches Hilfsmittel steht den Kindern für ihren kollektiven Bearbeitungsprozess neben ausreichend Papier und Stift ein Kalender zur Verfügung. Es wird zunächst aufgezeigt, welche heuristischen Strategien die Kinder nutzen und dann die Beziehung zum Modellierungskreislauf dargestellt. 4.1 Heuristische Strategien Mit Hilfe des Kalenders kann die Anzahl der Tage einfach durch Abzählen ermittelt werden. Dieser Abzählprozess lässt sich strukturieren, wenn die Tage in Monaten gebündelt gezählt und addiert werden - oder auch verkürzen, wenn man auf die Anzahl der Tage pro Monat als Faktenwissen zurückgreift. Über die Bilderbuchgeschichte können Zwischenergebnisse als Teilziel abgeleitet werden, z. B. 100 Pinguine am 1. April. Dabei würde hier die Lösung ‚vorwärts‘ ermittelt werden von der Anfangssituation 10. April (oder 1. Januar) ausgehend mit dem Zieldatum 27. Oktober. Diese Strategie wird zunächst von Gruppe 2 340 Birgit Brandt gewählt (siehe Transkript 3), die dazu auf den Kalender zurückgreift, indem sie den 1. April als Startdatum sowie den 27. Oktober als Zieldatum für einen konkreten Abzählprozess markieren: 135 SuS 2: Wir zählen die Tage. Aber… 136 SuS 1: Das dauert aber lang. [Pause] 137 SuS 3: Fällt dir was Besseres ein? 138 SuS 2: [fängt mit dem 11. April an zu zählen] 1 - 2 - 3 - 4 - 5 - 6 - 7 - 8 - 9 - 10 - 11 - 12 - 13 - 139 14 - 15 - 16 - 17 - 18 - 19 - 20. Das war April. 140 SuS 1: [fängt mit dem 10. April an zu zählen] 1 - 2 - 3 - 4 - 5 - 6 - 7 - 8 - 9 - 10 - 11 - 12 - 13 - 141 14 - 15 - 16 - 17 - 18 - 19 - 20 - 21. Ich habe aber 21 Tage. 142 SuS 3: Zeig mal. [zu SuS 1] Du hast aber eher angefangen zu zählen. 143 SuS 2: Wir müssen hier beginnen [SuS 2 zeigt auf den 11. April], denn der 10. April ist 144 ist 100 und der elfte Tag sind 101. Transkript 3: (G2) Tage am Kalender abzählen (Teicher 2020: 85) Hier lässt sich die typische Schwierigkeit erkennen, die sich beim Rechnen mit Kalendern ergibt: Welches Datum ist als Start für den Zählprozess zu nehmen und muss das Zieldatum mitgezählt werden? Nachdem sie sich auf 20 Tage für den April geeinigt haben, beginnen sie, die Tage im Mai zu zählen - bis SuS2-G2 mit Blick auf den Kalender feststellt: „Wir brauchen gar nicht zu zählen. Wir sehen doch 31 Tage.“ Sie ermitteln dann die Tage der Monate Mai bis Dezember und addieren diese schriftlich zu den 20 Tagen vom 11.-30. April. SuS1-G2 bemerkt nun: „Wir haben was vergessen. Die 100 draufzurechnen bis April“. Sie kommen so mit 265+100 auf 365 Tage und stellen so fest, dass sie die Gesamtanzahl der Tage im Jahr ermittelt haben. Damit verwerfen sie die Lösung und fangen nochmal „ganz von vorn“ an (siehe Transkript 4): 179 SuS 2: Oh… Also nochmal neu und ganz von vorn. 180 [SuS 2 nimmt Stift und Zettel und notiert die Aufgabe erneut schriftlich] 181 31 im Januar + 28 im Februar + 31 im März + 30 im April + 31 im Mai + 30 341 Wohaar! Einer würde mir reichen! 182 im Juni + 31 im Juli + 31 im August + 30 im September [stoppt] Transkript 4: (G2) Addition der Tage monatsweise (Teicher 2020: 86) So berechnen sie vorwärts zunächst die Tage bis zum 30. September schriftlich (= 273) und addieren als Kopfrechenaufgabe noch 27 Tage hinzu. Insgesamt haben sie also die Zählrichtung ‚vorwärts‘ nicht geändert, jedoch unter Einsatz des Kalenders ihre Zählstrategie angepasst und schließlich die Tage monats‐ weise gebündelt abgezählt. Man kann aber auch die 365 Pinguine am Ende des Jahres als Endsituation nehmen und nun ermitteln, wie viele Pinguine am 27. Oktober noch fehlen - somit also ,rückwärts‘ arbeiten. So hat die Gruppe 1 zunächst ebenfalls versucht, vom 1. April aus vorwärts zählend die Anzahl zu ermitteln, dann aber sehr schnell die 365 Tage als Ausgangspunkt gewählt und „Minusrechnen“ als Strategie gewählt (siehe Transkript 5): 141 SuS 1: Ich weiß es. Ich weiß es. Siebenundzwanzig. 142 SuS 3: Das geht nicht. Am [Pause] 10. April waren es doch schon 100. 143 SuS 1: Dann eben 127. 144 SuS 3: Neee, da sind ja noch andere Monate dazwischen… 145 SuS 2: Genau, wie Juni, Juli und so… 146 SuS 3: Das Jahr hat doch 365 Tage? 147 SuS 1: Ja, das hatten wir doch letztens. 148 SuS 3: Ja, genau. 149 SuS 2: … und jetzt ziehen wir die Tage bis zu dem Oktober ab. 150 SuS 1: … also Minusrechnen die Tage? 151 SuS 2: Ja genau. Transkript 5: (G1) Rückwärtsarbeiten - „Minusrechnen“ (Teicher 2020: 77) Dabei wurden die Pinguine für Dezember (31) und November (30) in Teil‐ schritten halbschriftlich subtrahiert, die restlichen vier Tage bis zum 27. Oktober mit Hilfe der Finger ermittelt und subtrahiert und so über die Zwischenergeb‐ nisse 334 und 304 die korrekte Anzahl 300 für die Tage bis zum 27. Oktober ermittelt. Dabei nutzt diese Gruppe den bereitliegenden Kalender nicht als heu‐ 342 Birgit Brandt 7 Es werden also nur die im kollektiven Bearbeitungsprozess ‚sichtbaren‘ Arbeitsschritte kodiert - in wieweit ggf. einzelne Schüler: innen mental weitere Teilschritte vollziehen, lässt sich nicht ermitteln. ristische Hilfsmittel, sondern löst das Problem rein rechnerisch unter Rückgriff auf vertrautes Faktenwissen. Die von den Schüler: innen eingesetzten Strategien lassen sich idealtypisch wie folgt darstellen (siehe Abb. 8): Abb. 8: Idealtypische Strategien der kollektiven Bearbeitungen G1 und G2 (Teicher 2020: 46) 4.2 Modellierungskreislauf Mit Hilfe der qualitativen Inhaltsanalyse (Mayring 2015; Mayring/ Fenzel 2019) wurden die kollektiven Bearbeitungsprozesse den Teilschritten des Modelliie‐ rungskreislaufes nach Blum und Leiß (2007) zugeordnet. Dazu wurden die oben angeführten sieben Teilschritte als deduktives Kategoriensystem gewählt und einzelnen Äußerungen entsprechend zugeordnet 7 . Der sich damit ergebene ‚Weg‘ durch den Modellierungskreislauf wird durch rote Pfeile dargestellt, die der Originaldarstellung des Modells hinzugefügt werden (siehe Abb. 9). Folgt z. B. auf eine Aktivität, die als mathematisches Arbeiten (4) kodiert wird, eine Aktivität, die ein erneutes Strukturieren der Situation darstellt (2), wird dies durch einen Pfeil von Mathematischen Resultaten nach Situationsmodell markiert. 343 Wohaar! Einer würde mir reichen! In den kollektiven Prozessen der beiden Gruppen zeigt sich ein häufiger Wechsel zwischen dem Realmodell und dem mathematischen Modell. Die Schüler: innen bringen ihre bereits ermittelten mathematischen Resultate immer wieder mit dem Realmodell der fiktiven Situation in Verbindung. Die vier Phasen des mathematischen Modellierens werden in diesen kollektiven Bearbeitungen nicht idealtypisch als Kreislauf in einer Richtung abgearbeitet und dieser auch nicht im Sinne einer Spirale lediglich mehrfach durchlaufen. Vielmehr werden die Teilschritte durch ‚Richtungswechsel‘ wiederholt absolviert. Diese empirische Beobachtung schließt an bekannte Ergebnisse zur Abfolge einzelner Teilschritte in konkreten Bearbeitungsprozessen an (z. B. Schukajlow 2011 82 ff.). Damit verbunden ist ein Wechsel zwischen den beiden ‚Welten‘ Realität (‚dem Rest der Welt‘, s. o.) und Mathematik zur sukzessiven Anpassung des mathematischen Modells sowie der innermathematischen Bearbeitung (siehe auch Peter-Koop 2003). Der wiederholte ‚Richtungswechsel‘ lässt sich z. B. deutlich im Bearbeitungs‐ prozess der Gruppe 2 beim Bestimmen der Anzahl der Pinguine am 27. Oktober erkennen (siehe Abb. 9. Dies wird auch von den Schüler: innen selbst mit „also noch mal neu und ganz von vorn“ formuliert (siehe Transkript 4) und ist eng mit den Fehlerkorrekturen und den Strategiewechseln der kollektiven Selbstkontrolle verknüpft. Somit spiegeln sich in diesen Wechselbewegungen im Modellierungskreislauf metakognitive Aktivitäten wider (siehe Schukajlow 2011: 84). Abb. 9: Abfolge der Teilschritte des Modellierungskreislaufes im Bearbeitungsprozess der Gruppe 2 (Teicher 2020: 55) 344 Birgit Brandt Interessant ist auch die letzte Transformation, die Übertragung des mathemati‐ schen Resultates auf die ‚fiktive‘ Ausgangssituation und dabei zunächst von der ermittelten Anzahl der Tage zu der Frage nach der Anzahl der Pinguine (siehe Transkript 6): 174 SuS 3 Hää, [liest noch einmal vor] 175 „Wie viele Pinguine hat die Familie am 27. Oktober“ 176 Also wie viele Pinguine und nicht wie viele Tage. 177 SuS 2: Hää, woher sollen wir das wissen. [Pause] 178 SuS 1: Ich weiß auch nicht. … 182 SuS 2: Achso, es kommt ja jeden Tag ein Pinguin, also doch 300 Pinguine. 183 SuS 1: Stimmt 300 Tage sind gleich 300 Pinguine. 184 SuS 3: Also, sind es am 27. Oktober 300 Pinguine. 185 SuS 1: Man sind das viele. Die arme Familie. [Pause] Transkript 6: (G1) Anzahl der Tage gleich Anzahl der Pinguine (Teicher 2020: 78) Obwohl die Gruppe den Zählprozess der Tage als Lösungsweg für die Frage „Wie viele Pinguine hat die Familie am 27. Oktober? “ gewählt hat, scheint ihnen der Zusammenhang ‚auf dem Weg‘ verloren gegangen zu sein. Umso überraschter scheinen sie dann über die naheliegende Beziehung zu sein: „jeden Tag ein Pinguin“. Die 300 Tage als ‚reales Resultat‘ wird von SuS1-G1 so zunächst als 300 Pinguine in das ‚Situationsmodell‘ zurückgeführt und abschließend auf die Situation der Familie und somit in die Geschichte als ‚fiktive Realsituation‘ übertragen. 5 Abschlussdiskussion Über eine Fiktion - wie die Geschichte im Bilderbuch 365 Pinguine - wird eine eigene Welt geschaffen, in der die Protagonist: innen der Geschichte fiktive Situationen mit fiktiven Problemen erleben. Für die Protagonist: innen wären diese als „reale Ausgangssituationen“ zu denken. Werden diese fiktiven Situa‐ tionen als Ausgangspunkt für (Modellierungs-)Aufgaben genommen, müssen 345 Wohaar! Einer würde mir reichen! sich die Schüler: innen in die Geschichte hineindenken, die jeweilige Situation erfassen und in Hinblick auf eine mathematische Bearbeitung strukturieren und vereinfachen - und schließlich ihre Lösung wieder in den Erzählplot der Geschichte - die Fiktion - einfügen. In diesem Beitrag wurden kollektive Bearbeitungsprozesse betrachtet, die sich ausgehend von dem Bilderbuch „365 Pinguine“ inhaltsbezogen auf arithmetische Fähigkeiten beim Umgang mit Größen (Zeit) bezogen haben. Wie die exemplarischen Bearbeitungsprozesse aufzeigen, bieten sich sehr unterschiedliche Lösungswege an, die Differenzie‐ rungspotential ausgehend von den Schüler: innen ermöglichen. Die Aufgabe lässt sich über die Wahl eines anderen Datums auch in Hinblick auf das Anforderungsniveau differenzieren. Gemäß der Forschungsfrage, wie sich die konkrete Modellierungsprozesse in Hinblick auf den Modellierungskreislauf gestalten, zeigt sich in den exemplarischen Bearbeitungsprozessen, dass sich die Teilschritte des Modellierens auch in der Auseinandersetzung mit fiktiven Aus‐ gangssituationen erkennen lassen. Dabei zeigt sich auch, dass die kollektiven Prozesse durch zahlreiche Richtungswechsel geprägt sind, die als kollektive Selbstkontrolle zu verstehen sind und somit auf metakognitive Aktivitäten hinweisen. Somit dokumentiert sich auch, dass die gewählte Aufgabenstellung durchaus im Schwierigkeitsgrad angemessen ist, um „einfache Sachverhalte in mathematische Modelle“ (Heymann 1996: 21) zu überführen. Das Bilderbuch bietet darüber hinaus auch Möglichkeiten für einen fächer‐ übergreifenden und fächerverbindenden Unterricht. So können sich die Kinder zunächst über die Auseinandersetzung mit dem fiktiven Gehalt der Geschichte mit dem klimapolitischen Hintergrund beschäftigen, der am Ende durch den Ökologen Onkel Victor angesprochen wird. Bei entsprechenden Recherchen zu Pinguinen und ihrem Lebensraum sowie zum Klimawandel bieten Zahlenfakten, Größenangaben, Diagramme u.Ä. Potential für weitere mathematische Lern‐ prozesse - und so kann der Mathematikunterricht hier zur politischen Bildung beitragen, indem die in diesem Beitrag eingenommene mathematische Brille auf das Bilderbuch „365 Pinguine“ um weitere fachliche Brillen ergänzt wird und dabei insbesondere Konzepte der politischen Bildung einbezogen werden: Dem allgemeinen didaktischen Prinzip der Kontroversität folgend, sind auch im Un‐ terricht des Faches Mathematik die Fragen nach Partizipations- und Mitbestimmungs‐ möglichkeiten für Schüler fundamental. Bei Inhalten mit politischem Gehalt sind überdies auch die damit in Verbindung stehenden fachspezifischen Arbeitsmethoden der politischen Bildung einzusetzen. Dafür eignen sich u. a. Rollen- und Planspiele, Streitgespräche oder Pro- und Kontradebatten. (Sächsisches Staatsministerium für Kultus 2019: 2) 346 Birgit Brandt Literatur Primärliteratur Fromental, Jean-Luc/ Jolivet, Joëlle (2018). 365 Pinguine. Stuttgart: Aladin Verlag. Sekundärliteratur Blum, Werner/ Leiß, Dominik (2007). How do Students and Teachers deal with mathe‐ matical Modelling Problems? The example Sugarloaf und the DISUM Project. In: Haines, Christopher/ Galbraith, Peter L./ Blum, Werner/ Khan, Sanowar (Hrsg.). Mathe‐ matical Modelling (ICTMA12) - Education, Engineering and Economics. Chichester: Horwood, 222-231. Bruder, Regina/ Bauer, Christina (2011). Problemlösen lernen im Mathematikunterricht. Berlin: Cornelsen Scriptor. Collet, Christina (2009). Förderung von Problemlösekompetenzen in Verbindung mit Selbstregulation. Wirkungsanalysen von Lehrerfortbildungen. Münster u.a.: Wax‐ mann. Franke, Marianne/ Ruwisch, Silke (2010). Didaktik des Sachrechnens in der Grundschule. 2. Aufl. Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag. Giesa, Felix (2008). Ein Pinguin kommt selten allein. www.satt.org/ literatur/ 08_03_ping u.html (last accessed: 13.07.2022) Grammatikos, Silke (2012). Methoden für den Deutschunterricht und Leseförderung. Bilderbücher in der Grundschule. docplayer.org/ 20775421-Bilderbuecher-in-der-grun dschule.html (last accessed: 13.07.2022) Greefrath, Gilbert (2010). Didaktik des Sachrechnens in der Sekundarstufe. Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag. Heymann, Hans Werner (1996). Allgemeinbildung und Mathematik. Weinheim: Beltz. Hinrichs, Gerd (2008). Modellierung im Mathematikunterricht. Heidelberg: Spektrum, Akademischer Verlag. Kultusministerkonferenz (Hrsg.) (2004). Beschlüsse der Kultusministerkonferenz: Bil‐ dungsstandards im Fach Mathematik für den Primarstufenbereich. Beschluss vom 15.10.2004. www.kmk.org/ fileadmin/ veroeffentlichungen_beschluesse/ 2004/ 2004_10 _15-Bildungsstandards-Mathe-Primar.pdf (last accessed: 13.07.2022) Lewis, David (2005). Reading contemporary picturebooks. Picturing text. Transferred to digital print. London: Routledge Calmer. Marston, Jennie (2014). Identifying and using picture books with quality mathematical content. Moving beyond Counting on Frank and The Very Hungry Caterpillar. APMC 19 (1), 14-23. Mayring, Philipp (2015). Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken. 12. Aufl. Weinheim/ Basel: Beltz. 347 Wohaar! Einer würde mir reichen! Mayring, Philipp/ Fenzl, Thomas (2019). Qualitative Inhaltsanalyse. In: Baur, Nina/ Bla‐ sius, Jörg (Hrsg.). Handbuch Methoden der empirischen Sozialforschung. 2. Aufl. Wiesbaden: Springer VS, 633-648. Nosko, Christian/ Plank, Ingrid (2020). Klimawandel und Klimaschutz als Themen in der Kinderliteratur - Aspekte aus der Sicht der Deutsch- und Sachunterrichtsdidaktik. Di‐ dacticum 2(1), 93-111. didacticum.phst.at/ index.php/ didacticum/ article/ view/ 35 (last accessed: 13.07.2022) Peter-Koop, Andrea (2003). „Wie viele Autos stehen in einem 3-km-Stau? ” Modellbil‐ dungsprozesse beim Bearbeiten von Fermi-Problemen in Kleingruppen In: Ruwisch, Silke/ Peter-Koop, Andrea (Hrsg.). Gute Aufgaben im Mathematikunterricht der Grundschule. Offenburg: Mildenberger, 111-130. Pollak, Henry Otto (1977). The Interaction between Mathematics and Other School Subjects (Including Integrated Courses). In: Athen, Hermann/ Kunle, Heinz (Hrsg.). Proceedings of the Third International Congress on Mathematical Education. Zent‐ ralblatt für Didaktik der Mathematik, Karlsruhe, 255-264. Polya, George (1966). Vom Lösen mathematischer Aufgaben. Einsicht beim Lernen und Lehren. Basel: Birkhäuser Verlag. Polya, George (2010). Schule des Denkens. Vom Lösen mathematischer Probleme. 4. Aufl. Tübingen: Narr Francke Attempo. Roos, Sabrina (2015). Ein Bilderbuch zum Einstieg. Erste Schritte auf eigenen Weg in den Zahlenraum bis 100. Grundschule Mathematik 46 (3), 20-23. Roos, Sabrina (2017). Lesen wir heute wieder mathematisch? Bilderbücher im Mathema‐ tikunterricht. Grundschule Mathematik 54 (3), 8-11. Sächsisches Staatsministerium für Kultus (2019). Lehrplan Grundschule Mathematik. w ww.schule.sachsen.de/ lpdb/ web/ downloads/ 10_lp_gs_mathematik_2019.pdf ? v2 (last accessed: 13.07.2022) Schmidt, Barbara (2010). Modellieren in der Schulpraxis - Beweggründe und Hindernisse aus Lehrerseicht. Berlin: Verlag Franzbecker. Schröder, Bettina (2015). Bild(er)leser wissen mehr! Das Bilderbuch als Vermittler von „Visual Literacy. Eine Aufgabe für die Kinder- und Jugendbibliotheksarbeit? Wiesbaden: Dinges & Frick GmbH. Schukajlow, Stanislaw (2011). Mathematisches Modellieren: Schwierigkeiten und Strate‐ gien von Lernenden als Bausteine einer lernprozessorientierten Didaktik der neuen Aufgabenkultur. Münster u.a.: Waxmann. Teicher, Theresa (2020). Kollektive Modellierungsprozesse in der Primarstufe am Bei‐ spiel des Bilderbuches „365 Pinguine“. Wissenschaftliche Arbeit im Rahmen der 1. Staatsprüfung für das Lehramt an Grundschulen. TU Chemnitz (unveröffentlichte Examensarbeit). 348 Birgit Brandt Thiele, Jens/ Steitz-Kallenbach, Jörg (2003). Handbuch Kinderliteratur: Grundwissen für Ausbildung und Praxis. Freiburg im Breisgau u.a.: Herder. Tiedemann, Kerstin (2012). Mathematik in der Familie: Zur familialen Unterstützung früher mathematischer Lernprozesse in Vorlese- und Spielsituationen. Münster: Waxmann. Winter, Heinrich (1995). Mathematikunterricht und Allgemeinbildung. Mitteilungen der GDM (61), 37-46. https: / / ojs.didaktik-der-mathematik.de/ index.php? journal=mgdm& page=issue&op=view&path%5B%5D=26 (last accessed: 05.07.2022) 349 Wohaar! Einer würde mir reichen! Kopf hoch, Fledermaus! (Willis/ Ross 2008) Fokussierende Interaktionen fördern die vertiefte Diskussion mathematischer Inhalte in einem Bilderbuch Leandra Zirnstein und Kerstin Bräuning Abstract: In den letzten Jahren besteht ein vermehrtes Interesse, das Potential von Bilderbüchern für das Lernen und Verstehen von Mathe‐ matik zu nutzen. Ergebnisse verschiedener Untersuchungen im vorschu‐ lischen Bereich zeigen, dass sich der Einsatz von Bilderbüchern positiv auf das Mathematiklernen auswirken kann. Die Untersuchungssituati‐ onen beschränken sich weitestgehend auf Interviews und Kleingruppen‐ gespräche im Elementarbereich. Schulpraktische Artikel thematisieren den Einsatz von Bilderbüchern im Mathematikunterricht der Grundschule. Wissenschaftliche Untersuchungen dazu liegen bisher im deutschspra‐ chigen Raum kaum vor. In unserer Untersuchung legen wir daher den Fokus auf unterrichtliche Interaktionen zu einem Bilderbuch und deren unterschiedliches Potential, fachliche Inhalte vertieft zu diskutieren. Es wird herausgearbeitet, wie sich durch direkte oder indirekte Impulse der Lehrkraft unterschiedliche Interaktionen entwickeln und inwieweit fachliche Inhalte ausgehandelt werden. Dazu werden Ausschnitte aus je einer Mathematikunterrichtsstunde einer ersten und einer zweiten Klasse zum Buch Kopf hoch, Fledermaus! (Willis/ Ross 2008) qualitativ-interpre‐ tativ analysiert und anschließend miteinander verglichen. Als Ergebnis der Analysen werden drei unterschiedliche Kommunikationsmuster vor‐ gestellt, die auf verschiedenste Art das Aushandeln fachlicher Inhalte unterstützen können. 1 Einleitung Bilderbücher erfreuen sich sowohl in Familien als auch im Elementarbereich großer Beliebtheit. Im Primarbereich werden Bilderbücher bisher häufig im Deutsch- und Englischunterricht eingesetzt. Im Mathematikunterricht oder Sachunterricht sind sie bis jetzt noch kein fester Bestandteil, da geschriebene wie gesprochene Sprache nicht den Schwerpunkt dieser Fächer bildet. Doch auch dort bieten Bilderbücher mit der Vernetzung verschiedener Repräsentati‐ onsebenen besondere Möglichkeiten, um mit Schüler: innen in eine vertiefte Diskussion fachlicher Inhalte zu kommen. Aus Untersuchungen zu Interakti‐ onsmustern im Mathematikunterricht zeigt sich, dass jeder Unterrichtsinhalt und dessen Potential von seiner Umsetzung abhängt (Bräuning/ Steinbring 2011), vor allem im Hinblick auf Interaktionsmuster und deren Folgen für die Anregung und Unterstützung fachlicher Inhalte. Daraus ergibt sich die Forschungsfrage dieses Beitrags: „Welche Interaktionsmuster lassen sich aus der dialogischen Lesesituation zum Bilderbuch „Kopf hoch, Fledermaus! ” (Willis/ Ross 2008) herausarbeiten und inwiefern unterstützen diese die vertiefte fachliche (mathematische) Diskussion? “ Die theoretische Fundierung (Kap. 2) der hier vorgestellten Forschungsar‐ beit bilden zwei Teilkapitel. Als Hintergrund wird zunächst der bisherige Forschungsstand zum mathematischen Lernen mit Bilderbüchern skizziert (Kap. 2.1). Darauf aufbauend wird das Untersuchungsinteresse geklärt. Es geht um Kommunikationsmuster und deren Einfluss auf die vertiefte Diskussion fachlicher (mathematischer) Inhalte. Dabei wird aufgezeigt, welches Zusam‐ menspiel interaktionaler und epistemologischer Aspekte das Mathematiklernen unterstützen (Kap. 2.2). Auf diesem theoretischen Hintergrund wird die bereits erwähnte Forschungsfrage ausdifferenziert (Kap. 2.3). Die gesamte empirische Studie und deren Auswertung wird in einem Kapitel dargestellt (Kap. 3). Die durchgeführte Studie wird in ihrem Design (Kap. 3.1) und der verwendeten Methodologie (Kap. 3.2) beschrieben. Anschließend wird der Inhalt des Bilder‐ buchs sowie seine mathematikdidaktischen Potentiale betrachtet (Kap. 3.3). Die Analysen der beiden Erprobungen hinsichtlich ihrer Interaktionsmuster bilden den Schwerpunkt des Beitrags (Kap. 3.4). Anhand zweier kurzer Szenen werden drei Interaktionsmuster vorgestellt, die die vertiefte Diskussion mathematischer und fachlicher Inhalte unterstützen. Abschließend werden die Unterschiede der beiden Erprobungen herausgearbeitet (Kap. 3.5). Der Beitrag schließt mit einer Diskussion der Ergebnisse und einem Ausblick, wie diese im Mathematikunter‐ richt Anwendung finden könnten (Kap. 4). 351 Kopf hoch, Fledermaus! (Willis/ Ross 2008) 2 Theoretischer Hintergrund 2.1 Forschungsstand zum mathematischen Lernen mit Bilderbüchern Positive Effekte des Vorlesens von Bilderbüchern auf die Entwicklung der Sprache und Literacy von Kindern sind schon lange Untersuchungsgegenstand der Forschung (Anderson et al. 2005: 6). Erste Veröffentlichungen zur Verwendung von Kinderlite‐ ratur zum Mathematiklernen erscheinen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (ab 1990er) besonders im amerikanischen Raum (Flevares/ Schiff 2014: 2). Ergebnisse verschiedener Untersuchungen im vorschulischen Bereich zeigen, dass sich der Einsatz von Bilderbüchern positiv auf das Mathematiklernen auswirken kann (siehe Elia et al. 2010; Heuvel-Panhuizen et al. 2009; Vogtländer 2020). Heuvel-Panhuizen und Boogard (2008: 343f.) beschreiben drei theoretische Perspektiven, die den Einsatz von Bilderbüchern zum Mathematiklernen rechtfertigen (siehe auch Elia et al. 2010: 127): die konstruktivistische Auffassung vom Lernen, die Bedeutung kontextualisierten Lernens und die Rolle des Lernens durch Interaktion, welche in den beiden erstgenannten integriert ist. Inwiefern Bilderbücher dem Anspruch, der mit diesen Perspektiven verbunden ist, gerecht werden können und tatsächlich positive Effekte auf das mathematische Denken von Kindern haben, wurde in einigen Studien untersucht: Anderson et al. (2005) schlossen aus den Ergebnissen ihrer Unter‐ suchung, bei der Eltern gemeinsam mit ihren vierjährigen Kindern zwei nicht explizit mathematische Bilderbücher lasen, dass gemeinsames Lesen gute Bedingungen für die Thematisierung mathematischer Begriffe und Konzepte bietet. Bei der Anzahl und Qualität der Interaktionen in Bezug auf mathematische Inhalte traten erhebliche Unterschiede auf. Worauf dies zurückzuführen ist, wurde nicht untersucht. Zwei weitere interessante Studien wurden in den Niederlanden durchgeführt (Elia et al. 2010: 125ff.; Heuvel-Panhuizen/ Boogard 2008: 342ff.). Es konnte festgestellt werden, dass Bilderbücher allein, auch ohne Anschlussaktivitäten und durch reines unkom‐ mentiertes Vorlesen, das Potential haben, Kinder im Kindergartenalter mathematisch zu aktivieren. Der Fokus der Untersuchungen lag darauf wie sich der Inhalt des Buches auf mathematikhaltige Äußerungen der Kinder auswirkt. Die Interaktionen wurden hier nicht explizit untersucht. Eine weitere Studie (Heuvel-Panhuizen et al. 2009: 30ff.) zeigte, dass auch nicht explizit mathematische Bilderbücher Interaktionen zwischen Kindergartenkindern und Lehrpersonen über mathematische Konzepte anregen können. Insofern ergibt sich die Erkenntnis, dass Bilderbücher auch Poten‐ tiale für den Mathematikunterricht haben können. Heuvel-Panhuizen et al. (2016: 340) weisen auf ein Forschungsdesiderat hin: Bisher liegen kaum Untersuchungen vor, welche die wirksamen Elemente von dialogischen Lesesituationen mit Bilder‐ büchern identifizieren. Daher arbeiten wir Interaktionsmuster sowie direkte und 352 Leandra Zirnstein und Kerstin Bräuning indirekte Impulse der Lehrkräfte aus zwei Unterrichtsstunden heraus, welche das mathematische Denken und Lernen anregen können. 2.2 Interaktionsmuster im Mathematikunterricht Interaktionen bilden einen zentralen Bestandteil des Lernens in der Schule. „Interaction is not a medium but a constituent of learning“ (Krummheuer 1992: 30). Fachliche Inhalte werden verbal verhandelt und es wird deutlich, dass „schu‐ lisches Lernen […] hochgradig sprachgebunden“ (Krummheuer/ Brandt 2001: 201) ist. Unterrichtsinteraktionen sind oftmals geprägt durch das IRE-Muster (Mehan 1979: 286), welches sich durch das Stellen einer Frage der Lehrperson (initiation), dem Antworten der Schüler: in (reply) und der Bewertung der Lehrperson (evaluation) charakterisieren lässt. Bauersfeld, Krummheuer und Voigt haben die soziologischen Konzepte wie das IRE-Muster von Hugh Mehan (1979) auf Mathematikunterricht angepasst (Voigt 1995: 166). Bauersfeld (1978) beschreibt ein dem IRE-Muster (Mehan 1979: 286) ähnliches, in den meisten Fällen als unvorteilhaft zu betrachtendes Interaktionsmuster im Mathematikun‐ terricht. Bei diesem werden tiefgründige Interaktionen und Verhandlungen über Deutungsprozesse nicht ermöglicht. Es findet eine „Handlungsverengung durch Antworterwartung“ (Bauersfeld 1978: 168) mit gleichzeitig einhergehender Sinnentleerung statt. Das bedeutet, dass die Lehrperson, wenn sie nicht die erwartete Antwort auf ihre Frage erhält, diese so verändert, dass die Antwort‐ möglichkeiten immer stärker eingeschränkt werden. Dieser Vorgang wird so lange wiederholt, bis die erwartete Antwort vom Kind genannt wird. Dieses Interaktionsmuster bezeichnet er als Trichter-Muster (ebd.: 162 f.). Wood (1998) beschreibt neben der trichternden Interaktion, dem Trichtermuster (Bauersfeld 1978: 162 f.), eine fokussierende Interaktion. Diese ist davon geprägt, dass die Lehrperson die Kinder dazu anregt, ihre Lösungsvorschläge mitzuteilen. Von der Lehrperson erfordert dies, dass sie den Vorschlägen der Kinder respektvoll und wertschätzend begegnet. Dabei fokussiert sie durch gezielte Interaktionen die Aufmerksamkeit der Kinder auf bestimmte mathematische Aspekte und ermög‐ licht ihnen damit, ihre eigenen Denkweisen zu begründen. Die Kinder werden zu aktiven Teilnehmenden an der Interaktion über Mathematik und ihre Lösungs‐ vorschläge und Ansichten werden bedeutsam (Wood 1998: 170). Durch Interak‐ tion wird laut Steinbring (1999: 515) neues mathematisches Wissen konstruiert. Basierend auf der fokussierenden Interaktion (Wood 1998) arbeiten Gellert und Steinbring (2014: 24 f.) heraus, dass durch die Zurückhaltung der Lehrkraft es den Schüler: innen ermöglicht wird, ihre eigenen mathematischen Sichtweisen einzubringen. Wenn die Lehrkraft interveniert, um weitere Erklärungen zu den Äußerungen einzuholen, dann bleibt ihre Aufmerksamkeit auf die Antworten 353 Kopf hoch, Fledermaus! (Willis/ Ross 2008) der Schüler: innen zentriert. In einer neueren Studie von Vogler und Beck (2020) wird solch ein Verhalten der Begleitperson mit der Begrifflichkeit einer hohen Responsivität bezeichnet. Responsivität stellt dabei ein grundlegendes Merkmal „eines gelungenen Scaffolding-Prozesses“ (Vogler/ Beck 2020: 169) im Sinne von Wood et al. (1976) dar. Bei einem aktuellen interdisziplinären Projekt der Deutsch- und Mathematikdidaktik (siehe Quasthoff et al. 2021) werden gesprächsanalytisch Unterrichtsinteraktionen ausgewertet. Dabei scheint das Muster mit eingeschränkten Mitwirkungsrechten der Schüler: innen, bei denen sie die Rolle von „small parts suppliers“ (Quasthoff et al. 2021: 10) einnehmen, eher dem Trichtermuster (Bauersfeld 1978) zu ähneln. Bei einem anderen Muster nehmen die Schüler: innen die Rolle von „principal contributors“ (Quasthoff et al. 2021: 10) ein. Sie erhalten damit die Möglichkeit anspruchsvolle Beiträge zum Inhalt als auch zum Diskursprozess zu leisten. Werden diese Erkenntnisse zusammenfassend betrachtet, so lassen sich trichternde und fokussierende Interaktionen als zwei Pole von Interaktionsmustern festhalten. 2.3 Forschungsfrage In dieser Untersuchung werden Interaktionen zum Bilderbuch Kopf hoch, Fleder‐ maus! im Mathematikunterricht einer ersten sowie einer zweiten Klasse betrachtet, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede beim Umgang der jeweiligen Lehrkraft mit dem Bilderbuch in Interaktion mit den Schüler: innen herauszuarbeiten. Zu beiden Unterrichtsstunden liegen Videoaufnahmen vor, wobei in diesem Beitrag ausschließlich die dialogischen Lesesituationen ausgewertet werden. Leitend ist dabei die Forschungsfrage: „Welche Interaktionsmuster lassen sich aus der dialogischen Lesesituation zum Bilderbuch „Kopf hoch, Fledermaus! “ herausarbeiten und inwiefern unterstützen diese die vertiefte fachliche Diskussion? “ 3 Mathematische Potentiale im Bilderbuch am Beispiel Kopf hoch Fledermaus 3.1 Design der Untersuchung Im Mathematikunterricht einer ersten sowie einer zweiten Klasse wird durch die jeweilige Klassenlehrerin das Bilderbuch Kopf hoch, Fledermaus! eingesetzt. Die Lehrerinnen erhalten zur Vorbereitung ausschließlich das Bilderbuch und ansonsten keinerlei Vorgaben. Für beide Lehrerinnen ist der Einsatz eines Bilderbuches im Mathematikunterricht neu. Die Schülerschaft ist durch eine große Heterogenität in Bezug auf sprachliche Kompetenzen sowie sozialen Hintergrund geprägt. Bei einem Drittel der Kinder liegen diagnostizierte För‐ 354 Leandra Zirnstein und Kerstin Bräuning derbedarfe vor. Auf diese wird im Unterricht im Sinne der Inklusion und der Ermöglichung der Teilhabe reagiert. 3.2 Methodologie Die vorliegenden Episoden werden transkribiert und anschließend sorgfältig qualitativ-interpretativ ausgewertet (für den Forschungsansatz der qualita‐ tiven und interpretativen Analysen mathematischer Interaktionsprozesse, siehe Krummheuer 2000) und anschließend mit Hilfe des Analyserasters FormaL-In (Bräuning/ Steinbring 2011) analysiert. Zu Beginn der interpretativen Analyse wird 1. eine „Paraphrase“ der Interaktion in der ausgewählten Episode durch‐ geführt. Anschließend werden 2. verschiedene alternative Interpretationen für Einzeläußerungen herausgearbeitet. Dabei besteht die Möglichkeit, das Video der Episode so oft es nötig ist zu betrachten, um Interpretationen zu prüfen und zu widerlegen oder zu unterstützen, auch im Sinne der turn-by-turn-Analyse (3.). Daran schließt sich 4. die zusammenfassende Interpretation an. Auf Grund‐ lage dieser werden Impulse herausgearbeitet, bei denen die Lehrerin mathema‐ tische Inhalte fokussiert. Eine interpretative Vorgehensweise ist sinnvoll, da die Interaktionen und Impulse zum Bilderbuch Gegenstand der Untersuchung sind und damit auch die Deutungen, Interpretationen und wechselseitige Be‐ zugnahmen, welche diese bei Lehrperson und Kindern hervorrufen. Bräuning und Steinbring (2011) haben für die Analyse mathematischer Gespräche das Analyseinstrument „Formal-In“ („Forms of teachers’ mathematical Interaction“) entwickelt, welches die Ergebnisse einer qualitativ-interpretativen Analyse nutzt und nochmals auswertet. Damit lässt sich das Zusammenspiel der inter‐ aktionalen und der epistemologischen mathematischen Dimension beschreiben. Die interaktionale Dimension unterscheidet zwischen instruktiven und explo‐ rativen Interaktionen, welche sich explizit auf mathematische Inhalte beziehen, sowie zwischen intervenierenden und moderierenden Interaktionen, die sich auf die Art und Weise der Kommunikation beziehen (ebd.: 929). Bei explorativen und moderierenden Interaktionen handelt es sich eher um Erkundungen, dabei wird Mathematik als Prozess angesehen. Instruktive und intervenierende Inter‐ aktionen scheinen hingegen eher mit der Vermittlung mathematischen Wissens verbunden zu sein. Bei Letzteren hat die Lehrperson eine ganz bestimmte Vor‐ stellung von den Äußerungen, die zu einem mathematischen Thema gemacht werden können, während es bei explorativen und moderierenden Interaktionen eher darum geht, das Mathematikverständnis des Kindes zu erkunden. Dies wird verknüpft mit der dinglich-konkreten und der symbolisch-relationalen Sicht auf Mathematik. Somit kann das zentrale Moment, die Wechselwirkung zwischen Interaktion und mathematischem Inhalt, herausgearbeitet werden. 355 Kopf hoch, Fledermaus! (Willis/ Ross 2008) 3.3 Analyse des Bilderbuchs Kopf hoch Fledermaus 3.3.1 Inhalt des Bilderbuchs Das Bilderbuch Kopf hoch, Fledermaus von Jeanne Willis und Tony Ross (2008) handelt von einer Fledermaus und einer Gruppe junger Wildtiere. Diese erklären die Fledermaus für verrückt, weil sie verschiedene Äußerungen wie „Ich hätte gern einen Regenschirm, damit meine Füße nicht nass werden“ (ebd.: 3), „Unten am Himmel ist eine große schwarze Regenwolke“ (ebd.: 6; siehe auch Bönig et al. 2015: 66) und „Ein Baum hat ganz oben einen Stamm und ganz unten Blätter“ (ebd.: 14) tätigt. Die Frage der weisen Eule, ob die jungen Wildtiere schon einmal versucht hätten, die Dinge wie die Fledermaus zu sehen, bringt sie dann jedoch dazu, sich in die Position der Fledermaus zu versetzen und lässt sie feststellen, dass die Fledermaus recht hat, wenn man die Dinge aus ihrer Perspektive betrachtet. 3.3.2 Mathematikdidaktisches Potential des Bilderbuchs Das Buch behandelt keinen expliziten mathematischen Inhalt. Es finden sich jedoch auf verschiedenen Ebenen mathematische Aspekte. Der zentrale mathe‐ matische Inhalt des Bilderbuches bezieht sich auf den Perspektivwechsel, der durch die auf dem Kopf hängende Fledermaus und ihre damit einhergehende Sichtweise im Vergleich zu den anderen Tieren thematisiert wird. Im Zusam‐ menspiel von Text und Bild werden die Tiere mit der Perspektive der Fledermaus konfrontiert, sind aber zuerst nicht zu einer Perspektivübernahme fähig und bezeichnen sie deshalb als dumm. Die Perspektivübernahme beschreibt Louis Leon Thurstone in der räumlichen Orientierung („spatial orientation“, Faktor S3). Es ist die Fähigkeit die eigene Person in räumliche Situationen einzuordnen und andere Perspektiven einzunehmen (Franke 2007: 64). Um die Perspektive der Fledermaus und die vertauschten Lagebeziehungen in ihren Aussagen nachvollziehen zu können, müssen sich die Kinder gedanklich in die Position der Fledermaus begeben. Dabei ist also auch der Aspekt der Wahrnehmung der Raumlage, also der Fähigkeit zum „Erkennen der Raum-Lage-Beziehung eines Gegenstands zu dem Standpunkt der Person, die diesen Gegenstand wahrnimmt“ (ebd.: 47), von Bedeutung. Nach dem Erfassen der Beziehungen zwischen Objekten bzw. Tieren, die auf den Bildern dargestellt sind, können diese mit passenden Lagebeziehungen (oben, unten, neben, links von, …) beschrieben werden. Das Potential liegt im Text bzw. in dem, was durch den Text erzählt wird, da hier Ungewöhnliches vorkommt („Ich hätte gern einen Regenschirm, damit meine Füße nicht nass werden“ (Willis/ Ross 2008)). Zudem kommt es zu einem Widerspruch zwischen dem Bild und der Aussage der 356 Leandra Zirnstein und Kerstin Bräuning 1 Die Transkriptionen sind auf mathematikdidaktische Zwecke angepasst und orien‐ tieren sich an GAT Transkription (Selting et al. 1998). Transkriptionsregeln: (kursiv) paralinguistische, mimische und gestische Aspekte sowie Handlungen; fett betont gesprochen; ? Stimmhebung; . Stimmsenkung; (.) (..) (…) Pause von einer, zwei oder drei Sekunde(n); # unmittelbar aneinander anschließende Äußerungen. Fledermaus „Unten am Himmel ist eine große schwarze Regenwolke“ (ebd.), wenn auf dem Bild jedoch die Wolke oben zu sehen ist. 3.4 Interaktionsmuster in den Erprobungen 3.4.1 Fokussierende Interaktionen - Erprobung in Klasse 1 Die Unterrichtsstunde findet zu Beginn der 1.Klasse nach nur wenigen Schul‐ wochen mit 23 Schüler: innen statt. Lehrerin1 schaut in einer dialogischen Lesesituation mit den Kindern das Bilderbuch an und spricht mit ihnen darüber. Während des Gesprächs sitzt Lehrerin1 auf einem Stuhl vor der Tafel den Kindern zugewandt. Diese sitzen in einer Art Halbkreis in mehreren Reihen in ein bis zwei Metern Abstand zur Lehrerin1 auf dem Boden und schauen zu ihr. Zu Beginn liest Lehrerin1 die ersten drei Seiten des Buches vor und zeigt sie den Kindern. In der nachfolgenden Interaktion sehen die Kinder die Bilder‐ buchseite, auf der eine kopfüber hängende Fledermaus an einem Ast zu sehen (Willis/ Roos 2008: 3) ist, die sagt „Ich hätte gerne einen Regenschirm, damit meine Füße nicht nass werden“. Daraufhin entwickelt sich folgende Interaktion in der Klasse 1 . 2 Lehrerin1 (dreht das Buch zu den SuS) (8 Sek.) (beugt sich vor) Wenn’s regnet, werden da eure Füße als erstes nass? 3 Einige SuS (schütteln den Kopf) Neeeeeiiiiin. 4 Lehrerin1 Zora. 5 Zora (nicht sichtbar auf dem Video) Unsere unsre Haare. 6 Lehrerin1 Okay. Warum sagt´n die Fledermaus hier (zeigt auf das Bild) es werden, meine Füße sollen nicht nass werden? (zeigt auf Schüler1, der sich meldet) 7 Schüler1 (nimmt die erhobene Hand herunter) Weil sie auf´m Kopf hängt. 8 Lehrerin1 Und was bedeutet das denn? 9 Schüler1 (…) Die (unverständlich) auf den Ast. Tab. 1: Transkript 1 aus Klasse 1 357 Kopf hoch, Fledermaus! (Willis/ Ross 2008) 2 Im Folgenden wird Zeile mit Z. abgekürzt. Wie in Tabelle 1, dem Transkript 1 aus Klasse 1, zu sehen ist, wird in einer wechselnden Interaktion zwischen Lehrerin1 und jeweils einem Kind über die Eingangsfrage von Lehrerin1 „Wenn’s regnet, werden da eure Füße als erstes nass? ” gesprochen. Einige Schüler: innen reagieren mit einem “Nein”. Weitere Schüler: innen berichten, dass zuerst die Haare nass werden, da die Fledermaus auf dem Kopf hängt. Die geschlossene Frage von Lehrerin1 in Zeile 2 2 vermittelt zuerst den Ein‐ druck einer intervenierenden Interaktion (Bräuning/ Steinbring 2011: 929), mit der die Kinder zu der intendierten Antwort von Lehrerin1 gelenkt werden sollen. Diese Antwort wäre, dass bei ihnen anders als bei der Fledermaus nicht zuerst die Füße nass werden. Diese wird durch einige Schüler: innen (Z. 3-4) auch indirekt formuliert. Es scheint jedoch als sei diese Frage nur die Grundlage für die zweite Frage (Z. 6), mit der es zu einer moderierend-explorativen Interaktion kommt. Die Lehrerin fokussiert die Aufmerksamkeit der Kinder schon mit ihrem ersten Impuls darauf, dass bei der Fledermaus etwas anders ist als bei ihnen und fragt dann, warum das so ist (Z. 6). Damit schafft sie die Grundlage für eine explorative Interaktion, in der die Kinder dem Grund erkundend nachgehen können. Somit dient die erste geschlossene und instruktive Frage dazu, die Aufmerksamkeit der Kinder auf bestimmte Aspekte der Bilderbuchseite zu lenken, nämlich, dass bei den Kindern bei Regen zuerst die Füße nass werden. Dieser Aspekt und seine Begründung besitzt mathematisches Potential. Die Interaktion wird durch den Impuls von Lehrerin1 auf den Perspektivwechsel und die andere Lage der Fledermaus im Raum fokussiert, möglicherweise auch auf die Inversion (Franke 2007: 48 ff.). Obwohl die Interaktion zielgerichtet ist, handelt es sich nicht um eine trichternde Interaktion, da sie nicht sinnentleerend und antwortverengend ist (Bauersfeld 1978: 162 f.). Außerdem liegt hier der Fokus immer auf der Antwort der Kinder und nicht auf einer möglicherweise von Lehrerin1 intendierten Antwort. Lehrerin1 fragt nach den Antworten der Kinder und auch nach deren Bedeutung (Z. 8). Dadurch kann die Aufmerksam‐ keit der Kinder in kurzer Zeit auf den Perspektivwechsel gelenkt werden, der anschließend weiter thematisiert werden kann. Eine weitere interessante Interaktion entsteht, nachdem Lehrerin1 noch drei Seiten vorgelesen und gezeigt hat. Auf dieser Bilderbuchseite ist die an einem Ast kopfüber hängende Fledermaus abgebildet, die einen Regenschirm über ihre Füße hält, und oberhalb von ihr befindet sich eine schwarze Regenwolke (Willis/ Roos 2008: 6). Die Fledermaus sagt: „Ich freue mich so, dass ihr mir 358 Leandra Zirnstein und Kerstin Bräuning 3 Schülerinnen und Schüler werden mit SuS abgekürzt. einen Regenschirm geschenkt habt. Unten am Himmel ist eine große schwarze Regenwolke.“ 3 Lehrerin1 (schaut die SuS  3 an) „Unten am Himmel ist eine große schwarze Regenwolke.“ 4 Zora Unten? (hebt leicht eine Hand) Oben. 5 Lehrerin1 (zeigt auf Zora) Zora, warum wunderst du dich? 6 Zora Weil die verkehrtrum hängt, die Fledermaus. (zeigt in Richtung des Buches nach oben) Eigentlich, wenn man, wenn man soo (macht mit ausgestrecktem Finger eine fließende Bewegung nach oben und wieder nach unten) steht, dann ist es oben. Aber, wenn die Fledermaus so rumhängt, dann ist es unten. Tab. 2: Transkript 2 aus Klasse 1 In einer dyadischen Interaktion zwischen Lehrerin1 und Zora, wie in Tabelle 2, dem Transkript 2 aus Klasse 1, zu lesen ist, geht Zora auf die Aussage aus dem Bilderbuch “unten am Himmel ist eine große schwarze Regenwolke“ ein (Tab. 2). Lehrerin1 wiederholt diese Aussage (Z. 3). Auf diese reagiert Zora erst mit unten und dann mit oben und wird durch Lehrerin1 zu einer Begründung aufgefordert, welche sie anschließend unternimmt. Mit Hilfe der Wiederholung der Aussage der Fledermaus (Z. 3) wirkt diese Interaktion von Lehrerin1 wie eine indirekte Intervention, da sie scheinbar auf eine Reaktion der Kinder zu dieser Äußerung wartet. Diese Aussage wider‐ spricht nämlich der Illustration der Bilderbuchseite, welche die Kinder sehen. Dahinter verbirgt sich die andere Perspektive der Fledermaus, die durch Per‐ spektivwechsel bzw. die räumliche Orientierung nachvollzogen werden kann (Franke 2007: 64 ff.) und damit ein wichtiger mathematischer Inhalt ist. Zoras Reaktion wird von Lehrerin1 hinterfragt (Z. 5) und damit wird die Aufmerksam‐ keit auf ihre Aussage gelenkt. Die Interaktion ist explorativ-moderierend, da sie inhaltlich explorativ verläuft als auch gleichzeitig für den weiteren Verlauf moderierend wirkt. Möglicherweise erkennt Lehrerin1 das in der Äußerung steckende Potential den Perspektivwechsel anzusprechen und fokussiert sie deshalb. In Zoras folgender Bemerkung bestätigt sich dieses, da sie sagt, dass der Grund für die Lagebeschreibung der Fledermaus ihre andere Perspektive ist (Z. 6). Die Interaktion lässt sich hier als fokussierend bezeichnen, da die Aufmerksamkeit eindeutig auf bestimmte mathematische Aspekte des Buches und auf Äußerungen der Kinder gelenkt wurde. Trotz dieser starken Lenkung 359 Kopf hoch, Fledermaus! (Willis/ Ross 2008) ist es keine trichternde Interaktion, da der Impuls (Z. 3) offen ist und auch die Frage an Zora (Z. 5) andere Antworten ermöglicht. 3.4.2 Akkumulierende Interaktionen - Erprobung in Klasse 2 Zu Beginn der 2. Klasse wird im Mathematikunterricht mit 18 Schüler: innen in der gleichen Grundschule wie Klasse 1 das Bilderbuch eingesetzt. Lehrerin2 liest den Kindern in einer dialogischen Lesesituation das Buch vor und kommt mit ihnen darüber ins Gespräch. Währenddessen sitzt Lehrerin2 auf einem Stuhl in der Mitte des Raums und ist den Kindern zugewandt. Diese sitzen in einer Art Halbkreis in Reihen in ein bis zwei Metern Abstand zur Lehrerin2 auf dem Boden sowie auf den dahinterstehenden Tischen und schauen zu ihr. Lehrerin2 liest das Buch vor und zeigt den Kindern die Bilderbuchseiten. Diese äußern sich dazu. Dabei ruft meist ein Kind das nächste auf. Lehrerin2 äußert sich nur durch Laute wie „Hmhm“. Bei der dritten Bilderbuchseite, auf der eine an einem Ast kopfüber hängende Fledermaus zu sehen ist (Willis/ Roos 2008: 3), die sagt „Ich hätte gerne einen Regenschirm, damit meine Füße nicht nass werden“, kommt es zu folgender Interaktion, wie in nachfolgender Tabelle 3, dem Transkript 1 aus Klasse 2, zu lesen ist: 1 Lehrerin2 (schaut ins Buch, dreht es zu den SuS und schaut sie an) „Ich hätte gerne einen Regenschirm“, sagte die Fledermaus (zeigt auf die Fledermaus) (8 sec.) Fabian. 2 Fabian Die möchte bestimmt gerne n Regenschirm für die Sonne. 3 Lehrerin2 Okay. (.) 4 Fabian Damit sie nicht verbrennt. 5 Lehrerin2 (nimmt einen Finger an den Mund) Psssst. (.) Darfst ruhig weiterreden. (..) Oder aussuchen, wie du möchtest. 6 Fabian Ähm (.) Lisa? 7 Lisa Also die Fledermäuse sind genauso ähnlich wie Vampire und dur durch den und durch den Schutz von bei dem (.) Regen‐ schirm, da kommt ja keine Sonne und Regen hin. 8 Lehrerin2 Okay. 9 Lisa (…) Jessy 10 Jessy Warum braucht die denn den Schirm? Die braucht doch keinen. Es gibt doch ne Höhle, da kann die sich doch auch verstecken. Tab. 3: Transkript 1 aus Klasse 2 360 Leandra Zirnstein und Kerstin Bräuning Lehrerin2 liest den Text der Bilderbuchseite und ruft Fabian auf (siehe Tab. 3). Er stellt die Vermutung auf, dass die Fledermaus einen Regenschirm gegen die Sonne möchte. Anschließend ruft Fabian Lisa auf, die Fledermäuse mit Vampiren vergleicht und abschließend ist Jessy der Meinung, dass die Fledermaus keinen Regenschirm braucht, da sie sich in einer Höhle verstecken kann. Auffällig ist, dass Lehrerin2 die Aussage der Fledermaus im Bilderbuch, warum sie gerne einen Regenschirm hätte, weglässt. Nach einer Pause ruft sie Fabian auf (Z. 1). Diese Pause kann man als indirekten Impuls bezeichnen, da sie nicht explizit eine Frage formuliert, sondern aufhört zu lesen, wartet und dann ein Kind sprechen lässt. Im Verlauf der Sequenz machen die Kinder ganz un‐ terschiedliche Äußerungen. Lehrerin2 interveniert nicht, sondern nimmt diese immer hin (z. B. „Okay“ (Z. 3), „Okay“ (Z. 8) und lässt die Kinder weitersprechen oder andere Kinder aufrufen (Z. 5). Interessant ist, dass die Kinder scheinbar alle überlegen, warum die Fledermaus einen Regenschirm braucht oder haben möchte. Damit reagieren sie auf den letzten indirekten Impuls von Lehrerin2, nämlich die Äußerung der Fledermaus (Z. 1). Betrachtet man den mathema‐ tischen Gehalt, fällt auf, dass weder Äußerungen zu Lagebeziehungen noch zum Perspektivwechsel oder zur Inversion der Fledermaus gemacht werden. Stattdessen beziehen sie sich auf andere Themen. So gibt es Äußerungen dazu, dass die Fledermaus bei Sonne verbrennt (Z. 2, 4), zu Vampiren (Z. 7) und zu einer Höhle als Versteckmöglichkeit (Z. 10). Im weiteren Verlauf werden auch mögliche Vorlieben der Fledermaus und eine mögliche Gefahr von Gewitter für Vögel (Z. 23) angesprochen. Es finden sich also Themen aus den verschiedensten Bereichen. Es sind sowohl Sachunterrichtsthemen als auch andere Narrationen. Viele entfernen sich vom eigentlichen Inhalt des Buchs. Eine mögliche Begründung ist, dass Lehrerin2 die Aussage der Fledermaus nicht vollständig vorliest (Z. 1) und weglässt, dass die Fledermaus den Schirm für ihre Füße haben möchte, was auf ihre besondere Raumlage hinweist. Außerdem findet während der Interaktion kein Fokussieren auf mathematische Inhalte durch Lehrerin2 statt. Sie reagiert nur mit „Okay“ (Z. 3, 8) und fragt nicht nach und sie lenkt auch nicht die Aufmerksamkeit der Kinder auf bestimmte Aspekte der Äußerungen oder des Bilderbuchs. Stattdessen sind die Kinder aufgefordert, nachdem sie etwas gesagt haben, ein weiteres Kind aufzurufen, was sie auch tun (z. B. Z. 6, 9). Es werden vielfältige Ideen gesammelt und angehäuft, die keinen inhaltlich mathematischen Bezug haben. Eine weitere interessante Interaktion entsteht einige Minuten später. Es geht immer noch um die Aussage der Fledermaus zum Regenschirm. Außerdem hat Lehrerin2 eine weitere Seite vorgelesen (Willis/ Roos 2008: 4). Auf dem Bild sind eine Ziege sowie ein Elefant mit einem Regenschirm über dem Kopf dargestellt. 361 Kopf hoch, Fledermaus! (Willis/ Ross 2008) Der Elefant sagt: „Ein Regenschirm ist dazu da, dass der Kopf trocken bleibt, nicht die Füße! Dumme alte Fledermaus.“ Nach dem Vorlesen zeigt Lehrerin2 den Kindern diese Seite und fragt „Was hatn der Elefant gerade gesagt? “ Transkript 2 aus Klasse 2 findet sich nachfolgend in Tabelle 4. 86 Jenny (nicht sichtbar auf dem Video) Hm also der Elefant hat grad gesagt, wir brauchen den, die Fledermaus braucht den Regen‐ schirm, damit der Kopf trocken bleiben soll. 87 Lehrerin2 Der hat eigentlich gesagt, die Fledermaus ist dumm. Warum hat der gesagt die Fledermaus ist dumm? (..) Lucy. 88 Lucy (nicht sichtbar auf dem Video) Weil man einen Regenschirm für ein Kopf nimmt und nicht für ähm für die Beine und es gibt ja es gibt so ein Regenschirm und dann gibt’s ja noch so welche für die Sonne, damit man nicht einen Sonnenbrand bekommt und das wollte eigentlich so einen ähm für den Kopf damit man keinen Sonnen # 89 Lehrerin2 # Aber warum braucht denn jetzt die Fledermaus (.) den Regen‐ schirm (.) für die Beine? (.) Für die Füße? (.) Warum? (blättert eine Seite zurück) (..) Lisa? 90 Lisa Dam damit die Füße trocken bleiben? 91 Lehrerin2 Na warum? (.) Hält die den so? (macht mit einer Hand eine Bewegung in Richtung Boden) Nach unten? 92 Schüler1 Nein. Tab. 4: Transkript 2 aus Klasse 2 Jenny reagiert auf die Frage von Lehrerin2 „Was hatn der Elefant gesagt? “ (Z. 83), indem sie den Text des Bilderbuches in eigenen Worten wiedergibt. Anschließend sagt Lehrerin2 vermutlich das, was sie hören wollte (Z. 87): „Der hat eigentlich gesagt, die Fledermaus ist dumm.“ (Z. 87). Dann fragt sie, warum der Elefant das gesagt hat. Lucys Antwort (Z. 88) scheint aber nicht das zu sein, was Lehrerin2 sich erhofft hat, da sie die Frage noch einmal anders stellt. Sie fragt, warum die Fledermaus den Schirm für die Füße braucht (Z. 89). Dabei blättert sie wieder auf die Seite zurück, auf der die Fledermaus kopfüber an einem Ast hängend zu sehen ist. Damit bietet Lehrerin2 den Kindern eine bildliche Unterstützung damit sie ggf. die erwartete mathematische Antwort liefern. Auch Lisas Antwort (Z. 90) scheint sie nicht zufriedenzustellen, da sie daraufhin äußert: „Na warum? “ (Z. 91). Lehrerin2 möchte hier eine ganz bestimmte Antwort hören und versucht die Kinder dahinzubringen. Durch die Frage „Hält sie den so? Nach unten? “ (Z. 91) scheinen die Antwortmöglichkeiten 362 Leandra Zirnstein und Kerstin Bräuning verringert zu werden. Auch im weiteren Verlauf erhält sie nicht ihre intendierte Antwort. Sie stellt die gleiche Frage wie in Z. 89 nochmal. Später scheint sie in der Antwort eines Schülers, dass die Fledermaus vielleicht schlafen will, dann ein Potential zu entdecken, so dass sie fragt: „Wie schläft sie? Wie schläft sie? “ Auch hier sind nicht mehr viele Antworten möglich. Als die offensichtlich von ihr erwünschte Antwort gegeben wird („Also die schläft andersherum.“), scheint sie zufrieden und erleichtert und hinterfragt diese Antwort nicht weiter. In diesem Abschnitt scheint Lehrerin2 die ganze Zeit auf diese Antwort hinzuar‐ beiten. Damit handelt es sich hier eher um eine intervenierende Interaktion, da Lehrerin2 die Kinder zu der von ihr intendierten Antwort lenkt und daher auch trichternd wirkt. Ihre Fragen führen zwar auch dazu, dass die Kinder verschiedene Antworten geben, jedoch werden diese nicht so akzeptiert wie in der anderen Sequenz, wo Lehrerin2 oft mit „Okay“ reagiert hat. Hier stellt sie entweder direkt eine Frage oder die Fragen beginnen mit „Aber warum“ (Z. 89) oder „Na warum“ (Z. 91). Damit vermittelt sie den Schüler: innen, dass sie mit den Antworten nicht zufrieden ist und etwas anderes hören möchte. Die Interaktion tendiert dazu trichternd zu sein, wobei jedoch nicht von einer Sinnentleerung, doch aber von einer Antwortverengung gesprochen werden kann (Bauersfeld 1978: 162 f.). Die Interaktion wird die ganze Zeit auf die Inversion der Fledermaus und vielleicht auch den damit einhergehenden Perspektivwechsel (Franke 2007: 48 ff.) gelenkt. Dass die Fledermaus kopfüber schläft, wird am Ende von den Kindern gesagt. Inwiefern sie aber erkannt haben, dass die andere Perspektive der Fledermaus der Grund dafür ist, dass sie zuerst ihre Füße benennt und dass die Tiere sie deshalb für dumm erklären, geht aus diesen Antworten nicht hervor. 3.5 Diskussion der Analyseergebnisse Es werden zwei unterschiedliche Lehrerinnen sowie verschiedene Klassen‐ stufen betrachtet, um aufzeigen zu können, inwiefern direkte und indirekte Impulse der jeweiligen Lehrkraft sich auf die Erkenntnisse und den Umgang mit dem Bilderbuch auswirken. Bei der vergleichenden Betrachtung der Ana‐ lyse-Ergebnisse zu den Unterrichtsausschnitten aus Klasse 1 bzw. Klasse 2 wird Folgendes deutlich: In Klasse 1 fokussiert Lehrerin1 auf den mathematischen As‐ pekt des Perspektivwechsels im Bilderbuch. Auf der interaktionalen Ebene sind die Ausschnitte durch explorativ-moderierende Interaktionen gekennzeichnet. Als indirekte (verbale) Impulse werden Äußerungen der Kinder paraphrasiert oder auch ein Bezug zur eigenen Erfahrungswelt der Kinder („Subjektiver Erfah‐ rungsbereich“ nach Bauersfeld 1983: 2) explizit durch Lehrerin1 hergestellt. An anderer Stelle wird durch die Wiederholung einer Textstelle der Widerspruch 363 Kopf hoch, Fledermaus! (Willis/ Ross 2008) zwischen dem Bilderbuchtext und dem dazugehörigen Bild deutlich. In Klasse 1 erstreckt sich die dialogische Lesesituation über 10 Minuten. Im Vergleich dazu beträgt diese in der 2. Klasse 35 Minuten. Lehrerin2 fokussiert das Gespräch mit den Zweitklässler: innen inhaltlich nicht auf den Perspektivwechsel. In manchen Phasen werden trichternde Elemente in der Interaktion deutlich. In anderen Phasen sammelt Lehrerin2 die Äußerungen der Kinder und lässt diese meist un‐ kommentiert stehen. Dabei werden hauptsächlich Aspekte des Sachunterrichts und des Deutschunterrichts zusammengetragen. Um diese Interaktionsweise zu kennzeichnen, wird der Begriff der akkumulierenden Interaktion durch die beiden Autorinnen entwickelt. Dieser lässt alle Antworten der Kinder zu und auf Seiten der Lehrerin werden kaum Rückmeldungen zu den Antworten gegeben. Sie werden lediglich gesammelt. Akkumulierende Interaktionen besitzen eine große Nähe zum „Muster der inszenierten Alltäglichkeit“ (Voigt 1984: 177 f.), bei dem künstlich versucht wird, mathematische Inhalte mit Alltäglichem zu verknüpfen. Dabei gerät der Fokus auf die Mathematik in den Hintergrund und den Kindern bleibt zumeist unklar, was der Inhalt ist, mit dem sie sich beschäftigen sollen. In den betrachteten Sequenzen treten akkumulierende, trichternde und fokussierende Interaktionen auf. Dabei nimmt von der akkumulierenden hin zur fokussierenden Interaktion der Anteil der auszuhandelnden Mathematik zu. Bei akkumulierenden Interaktionen, welche in Klasse 2 auftreten, kann es sein, dass vielfältige Äußerungen der Kinder gesammelt werden, die alle akzeptiert, aber auch nicht hinterfragt oder weiter thematisiert werden. Dabei spielt es keine Rolle, ob dabei Mathematik ausgehandelt wird oder nicht. Es wird keine fachliche Richtung vorgegeben und die Inhalte entfernen sich teilweise stark vom Bilderbuch. Bei trichternden Interaktionen spielt die Mathematik eine Rolle, jedoch wird diese alleine von der Lehrkraft vorgegeben. Durch gezielte Fragen leitet Lehrerin2 die Schüler: innen zu ihrer intendierten Antwort. Damit wird die Interaktion daraufhin verengt (Bauersfeld 1978: 162 f.). Bei fokussie‐ renden Interaktionen wird der jeweilige mathematische Inhalt in den Blick genommen. Dabei werden die Sichtweisen der Schüler: innen berücksichtigt, wie in Klasse 1, wo durch einen Impuls diese angeregt werden, sich in die Perspektive der Fledermaus zu versetzen oder durch die Wiederholung einer Textstelle der Widerspruch zwischen der Bild- und Text-Ebene im Bilderbuch indirekt aufgegriffen wird. Diese Impulse von Lehrerin1 führen zu mathematischen Äußerungen der Kinder. Es bleibt festzustellen, dass der Einsatz von Bilderbüchern im Mathematik‐ unterricht auf der einen Seite das Potential bietet, die subjektiven Erfahrungs‐ bereiche (Bauersfeld 1983: 2) der Kinder vermehrt einzubeziehen und einen 364 Leandra Zirnstein und Kerstin Bräuning Lebensweltbezug herzustellen. Auf der anderen Seite besteht jedoch auch die Gefahr, dass durch die in eine Narration „verpackte“ Mathematik ein Akkumu‐ lieren von Ideen entsteht und insgesamt fachliche Inhalte, hier speziell der mathematische Inhalt, in den Hintergrund geraten. 4 Fazit und Ausblick Das Forschungsinteresse dieses Beitrages ist es Interaktionsmuster aus der dialogischen Lesesituation zum Bilderbuch Kopf hoch, Fledermaus! herauszuar‐ beiten sowie aufzuzeigen inwiefern diese die vertiefte fachliche Diskussion unterstützen können. Als Ergebnis der Analysen wurden drei unterschiedliche Interaktionsmuster vorgestellt, akkumulierend (Autorinnen 2022), trichternd (Bauersfeld 1978) und fokussierend (Wood 1998), die in unterschiedlicher Weise das Aushandeln fachlicher Inhalte unterstützen. Akkumulierende Interaktionen sind davon geprägt, dass Kinder ihre Ideen einbringen dürfen, die Lehrperson diese jedoch ausschließlich sammelt, weder Rückfragen stellt noch den mathe‐ matischen Inhalt berücksichtigt und sich insofern rein moderierend verhält. Trichternde Interaktionen sind weitestgehend geprägt von instruktiven und in‐ tervenierenden Interaktionen, bei denen die erwartete Antwort der Lehrperson auf den mathematischen Inhalt im Vordergrund steht und nicht das Verständnis der Kinder dazu. Bei fokussierenden Interaktionen ist die Interaktion zwischen Lehrperson und Kind(ern) von moderierenden und explorativen Interaktionen geprägt, bei der die Lehrperson sehr bewusst zum Teil auch instruktiv oder inter‐ venierend die Aufmerksamkeit auf den mathematischen Inhalt des Bilderbuches ausrichtet (Bräuning et al. 2020). Dabei zeigt sich, dass diese fokussierenden Interaktionen die vertiefte Diskussion fachlicher Inhalte befördern. Die hier herausgearbeiteten Interaktionsmodi, akkumulierend, trichternd und fokussierend, weisen Ähnlichkeiten zu den drei unterschiedlichen Sup‐ port-Jobs, „Mitmachen, Entwicklungsfortschritt, Erkundung" auf, die Kerstin Tiedemann (2017: 23) im Rahmen von Mutter-Kind-Dyaden in alltäglichen ma‐ thematikhaltigen Vorlese- und Spielsituationen herausgearbeitet hat. Dabei sind akkumulierende Interaktionen mit dem Support-Job „Mitmachen“ vergleichbar, wobei in einer Mutter-Kind-Dyade, die Vielfalt der Ideen weniger stark streut als in einer Klassengemeinschaft und daher womöglich noch mehr Mathematik ausgehandelt wird als im Klassenverband. Außerdem bezieht sich der Sup‐ port-Job „Mitmachen“ (Tiedemann 2017: 18) stärker auf die Möglichkeit weiter an der Spielsituation teilnehmen zu können auch wenn nicht eine passende mathematische Deutung des Kindes vorliegt. Werden trichternde Interaktionen positiv gedeutet, so dienen sie aus der Sicht der Lehrkraft ausschließlich dazu 365 Kopf hoch, Fledermaus! (Willis/ Ross 2008) den „Entwicklungsfortschritt“, wie bei Tiedemann (2017: 21) beschrieben, zu begünstigen. Der Support-Job „Erkundung“ (Tiedemann 2017: 23) ist genau wie hier bei den fokussierenden Interaktionen auf die Erkundung des Verständnisses der mathematikhaltigen Situation der Schüler: innen ausgerichtet. Insofern wird Mathematik zwischen Lehrkraft und Lernenden ausgehandelt. Werden Bilder‐ bücher und deren mathematisches Potential in diesem Sinne ausgehandelt, dann erweitern sie das mathematische Lernen der Schüler: innen um Bezüge zu subjektiven Erfahrungsbereichen (Bauersfeld 1983: 2) als auch zu fiktionalen Welten. Durch die drei verschiedenen Typen von Sprechen und Denken von Mercer (1996) wird der Blickwinkel auf die herausgearbeiteten Interaktionsmuster erweitert. „Disputational talk“, „cumulative talk“ und „exploratory talk“ können sowohl mit den herausgearbeiteten Interaktionsmustern dieses Beitrags als auch mit den Support Jobs nach Tiedemann (2017) verglichen werden. Dabei unterstützt die Erläuterung des cumulative talks vor allem auch die Erläute‐ rung der akkumulierenden Interaktion, da bei diesem die Sprecher positiv, aber unkritisch auf dem aufbauen, was der andere (oder die anderen) gesagt hat (haben). Das Gespräch wird dazu genutzt, um durch Akkumulation ein „gemeinsames Wissen“ (Mercer 1996: 368 f.) zu konstruieren. Laut Mercer (1996: 369) ist dieses gekennzeichnet durch Wiederholungen, Bestätigungen und Ausführungen wie sie auch in den Sequenzen bei Lehrerin2 auftreten. Wird noch ein Bezug zu Quasthoff et al. (2021) hergestellt, so nehmen die Schüler: innen sowohl bei akkumulierenden als auch bei fokussierenden Interaktionen die Rolle von „principal contributors“ (Quasthoff et al. 2021: 10) ein, wobei bei akkumulierenden Interaktionen fachliche Inhalte eine nebensächliche Rolle spielen. Bei trichternden Interaktionen erscheinen die Schüler: innen als „small part suppliers“ (Quasthoff et al. 2021: 10), die der Lehrkraft kleine „hints“ geben, um die intendierte Antwort der Lehrkraft zu reproduzieren. Hinsichtlich des Potentials von Bilderbüchern mathematische Inhalte in Interaktionen zu thematisieren, decken sich unsere Beobachtungen mit denen aus anderen Untersuchungen (Anderson et al. 2005; Heuvel-Panhuizen et al. 2009). In Bezug auf die Interaktionen zu Bilderbüchern zwischen Lehrpersonen und Schüler: innen ergeben sich aus unserer Untersuchung neue Erkenntnisse. Anhand der Analysen lässt sich zeigen, dass indirekte Impulse wie das Vor‐ lesen des Buchs ohne weitere Fragen o.ä. zu akkumulierenden Interaktionen führen können, wenn die Lehrperson auch im weiteren Gespräch nicht auf die Antworten der Kinder eingeht und den mathematischen Inhalt nicht im Blick hat. Bei indirekten Impulsen und akkumulierenden Interaktionen werden auf verschiedenen Ebenen Ideen gesammelt, welche sich möglicherweise eignen, 366 Leandra Zirnstein und Kerstin Bräuning um das Bilderbuch fächerübergreifend zu diskutieren. Sie können aber auch zu (nahezu) trichternden Interaktionen führen, wenn die Kinder verschiedenste Ideen anbringen, die Lehrperson aber ihr Augenmerk auf eine von ihr erwartete Antwort richtet. Direkte, aber auch indirekte Impulse, bei denen auf einen bestimmten (fachlichen) Aspekt gelenkt wird, zum Beispiel durch eine Frage oder eine Paraphrasierung, führen zu einer fokussierten Interaktion. Indem in den darauffolgenden Interaktionen sowohl der fachliche Inhalt als auch Fragen und Reaktionen auf die Antworten der Kinder berücksichtigt werden, bleibt der Fokus erhalten und der Einsatz von Bilderbüchern kann als gewinnbringend angesehen werden. In den Analysen lassen sich zwei bestimmte Arten der Im‐ pulse erkennen, die zur Fokussierung mathematischer Inhalte beitragen. Es gibt einerseits Impulse, die den Inhalt mit der Lebenswelt der Kinder verknüpfen. Dies geschieht unter Einbezug ihrer „subjektiven Erfahrungsbereiche“ (Bauers‐ feld 1983: 2) und somit einer Analogiebildung im Hinblick auf den lebensweltlich gerahmten fachlichen Inhalt. Diese Vernetzung des Bilderbuchinhalts und der lebensweltlich gerahmten Situation führt zu mathematischen Äußerungen und möglicherweise zu einem besseren Verständnis des mathematischen Inhalts des Perspektivwechsels. Andererseits lässt sich dem Widerspruch zwischen Bild und Text im Bilderbuch eine besondere Bedeutung für das Fokussieren mathe‐ matischer Inhalte zuordnen, da dort Unstimmigkeiten aufgeworfen werden können, die die Kinder zum eigenen Denken und Argumentieren anregen. Die Untersuchung der Interaktionen zu Bilderbüchern im Mathematikun‐ terricht einer inklusiv beschulten heterogenen Schüler: innenschaft zeigen be‐ reits bei dem Vergleich zweier Unterrichtsstunden besondere Erkenntnisse im Hinblick auf die Interaktion und die damit einhergehenden fachlichen Diskussionen. Insbesondere durch fokussierende Interaktionsarten werden vertiefte fachspezifische und fächerübergreifende Diskussionen unterstützt. Es scheint daher lohnenswert auf der Grundlage weiterer Interaktionsanalysen Sprachmuster in Form von „Scaffolding“ (Wood et al. 1976: 90) für Interaktionen über fachliche Inhalte speziell mit Bilderbüchern herauszuarbeiten. 367 Kopf hoch, Fledermaus! (Willis/ Ross 2008) Literatur Primärliteratur Willis, Jeanne/ Ross, Tony (2008). Kopf hoch, Fledermaus! Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag. Sekundärliteratur Anderson, Ann/ Anderson, Jim/ Shapiro, Jon (2005). Supporting multiple literacies: Pa‐ rents’ and children’s mathematical talk within storybook reading. Mathematics Education Research Journal 16 (3), 5-26. Bauersfeld, Heinrich (1978). Kommunikationsmuster im Mathematikunterricht. Eine Analyse am Beispiel der Handlungsverengung durch Antworterwartung. In: Bauers‐ feld, Heinrich (Hrsg.). Fallstudien und Analysen zum Mathematikunterricht. Han‐ nover: Schroedel, 158-170. Bauersfeld, Heinrich (1983). Subjektive Erfahrungsbereiche als Grundlage einer Interak‐ tionstheorie des Mathematiklehrens und -lernens. In: Bauersfeld, Heinrich/ Bussmann, Hans/ Krummheuer, Götz/ Lorenz, Jens Holger/ Voigt, Jörg (Hrsg.). Lernen und Lehren von Mathematik. Analysen zum Unterrichtshandeln II (Vol. 6). Bielefeld: Aulis Verlag, 1-56. Bönig, Dagmar/ Hering, Jochen/ Thöne, Bernadette (2015). Erzählabenteuer und Mather‐ eisen in der Kita. Frühe sprachliche und mathematische Förderung mit Bilderbüchern. Bremen: Die Senatorin für Soziales, Kinder, Jugend und Frauen. Bräuning, Kerstin/ Feskorn, Caren/ Grohmann, Wolfgang (2020). Das explorativ-moderie‐ rende Interaktionsmuster im problemorientierten Mathematikunterricht der Grund‐ schule. In: Siller, Hans-Stefan/ Weigel, Wolfgang/ Wörler, Jan Franz (Hrsg.). Beiträge zum Mathematikunterricht 2020. Münster: WTM-Verlag, 165-168. Bräuning, Kerstin/ Steinbring, Heinz (2011). Communicative characteristics of teachers’ mathematical talk with children - From knowledge transfer to knowledge investiga‐ tion. ZDM 43 (6-7), 927-939. Elia, Iliada/ Heuvel-Panhuizen, Marja van den/ Georgiou, Alexia (2010). The role of pictures in picture books on children’s cognitive engagement with mathematics. European Early Childhood Education Research Journal 18 (3), 125-147. Flevares, Lucia M./ Schiff, Jamie R. (2014). Learning mathematics in two dimensions: a review and look ahead at teaching and learning early childhood mathematics with children´s literature. Frontiers in Psychology 5 (459), 1-12. Franke, Marianne (2007). Didaktik der Geometrie. Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag. 368 Leandra Zirnstein und Kerstin Bräuning Gellert, Andrea/ Steinbring, Heinz (2014). Students constructing meaning for the number line in small-group discussions: negotiation of essential epistemological issues of visual representations. ZDM 46 (1), 15-27. Heuvel-Panhuizen, Marja van den/ Boogard, Sylvia van den (2008). Picture books as an impetus for kindergartners’ mathematical thinking. Mathematical Thinking and Learning 10 (4), 341-373. Heuvel-Panhuizen, Marja van den/ Boogard, Sylvia van den/ Doig, Brian (2009). Picture books stimulate the learning of mathematics. Australian Journal of Early Childhood 34 (3), 30-39. Heuvel-Panhuizen, Marja van den/ Elia, Iliada/ Robitzsch, Alexander (2016). Effects of reading picture books on kindergartners’ mathematics performance. Educational Psychology 36 (2), 323-346. Krummheuer, Götz (1992). Lernen mit „Format“: Elemente einer interaktionistischen Lerntheorie; diskutiert an Beispielen mathematischen Unterrichts. Weinheim: Dt. Studien-Verlag. Krummheuer, Götz (2000). Analyses: Interpretative research in primary mathematics education. Some preliminary remarks. Zentralblatt für Didaktik der Mathematik 32 (5), 124-125. Krummheuer, Götz/ Brandt, Birgit (2001). Paraphrase und Traduktion: partizipationsthe‐ oretische Elemente einer Interaktionstheorie des Mathematiklernens in der Grund‐ schule. Weinheim: Beltz. Mehan, Hugh (1979). Learning Lessons. Cambridge, MA: Harvard University Press. Mercer, Neil (1996). The quality of talk in children’s collaborative activity in the classroom. Learning and Instruction 6 (4), 359-377. Quasthoff, Uta/ Heller, Vivien/ Prediger, Susanne/ Erath, Kirstin (2021). Learning in and through classroom interaction: On the convergence of language and content learning opportunities in subject-matter learning. European Journal of Applied Linguistics, 10 (1), 57-85. Selting, Margret/ Auer, Peter/ Barden, Birgit/ Bergmann, Jörg/ Couper-Kuhlen, Eliza‐ beth/ Günthner, Susanne/ Meier, Christoph/ Quasthoff, Uta/ Schlobinski, Peter/ Uh‐ mann, Susanne (1998). Gesprächsanalytisches Transkriptionssystem (GAT). Linguis‐ tische Berichte, 91-122. Steinbring, Heinz (1999). Epistemologische Analyse mathematischer Kommunikation. In: Neubrand, Michael (Hrsg.). Beiträge zum Mathematikunterricht. Hildesheim: Franzbecker, 515-518. Tiedemann, Kerstin (2017). Mathematiklernen in der Familie: Zu familialen Support-Sys‐ temen für das Mathematiklernen von Vorschulkindern in alltäglichen Vorlese-und Spielsituationen. Journal für Mathematik-Didaktik 38 (1), 1-27. 369 Kopf hoch, Fledermaus! (Willis/ Ross 2008) Vogler, Anna-Marietha/ Beck, Melanie (2020). Förderung responsiven Handelns durch den Einsatz mathematischer Situationspattern. In: Beck, Melanie/ Billion, Lara/ Fetzer, Marei/ Huth, Melanie/ Möller, Victoria/ Vogler, Anna-Marietha (Hrsg.). Ein multiper‐ spektivischer Blick auf Lehr-Lernprozesse - Konzeptionelle, multimodale und digitale Analysen im elementaren und hochschuldidaktischen Kontext. Münster u.a.: Wax‐ mann, 193-214. Vogtländer, Anna (2020). Bilderbücher im Kontext früher mathematischer Bildung: eine Untersuchung zum Einsatz von Bilderbüchern im Kindergarten. Wiesbaden: Springer-Verlag. Voigt, Jörg (1984). Interaktionsmuster und Routinen im Mathematikunterricht. Theore‐ tische Grundlagen und mikroethnographische Falluntersuchungen. Weinheim und Basel: Beltz Verlag. Voigt, Jörg (1995). Thematic patterns of interaction and sociomathematical norms. In: Cobb, Paul/ Bauersfeld, Heinrich (Hrsg.). The emergence of mathematical meaning: Interaction in classroom cultures. New York: Routledge, 163-201. Wood, Terry (1998). Alternative Patterns of Communication in Mathematics Classes: Funneling or Focusing? In: Steinbring, Heinz/ Bartolini Bussi, Maria G., Sierpinska, Anna (Hrsg.). Language and Communication in the Mathematics Classroom. Reston: The National Council of Teachers of Mathematics, 167-178. Wood, David/ Bruner, Jerome/ Ross, Gail (1976). The role of tutoring in problem solving. Journal of child psychology and psychiatry, and allied disciplines 17, 89-100. 370 Leandra Zirnstein und Kerstin Bräuning Verzeichnis der Autor: innen Birgit Brandt ist Professorin an der TU Chemnitz und lehrt dort Mathema‐ tikdidaktik für die Grundschule. Forschungsschwerpunkte sind die Weiterent‐ wicklung einer Interaktionstheorie mathematischen Lernens mit dem Fokus auf kollektive und kooperative Prozesse, frühe mathematische Bildung sowie Sprache und Mathematik. Kerstin Bräuning ist promovierte wissenschaftliche Mitarbeiterin im Be‐ reich Mathematikdidaktik für die Grundschule an der Martin-Luther-Univer‐ sität Halle-Wittenberg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Kommunikation und Interaktion, speziell bei Bilderbüchern im (fächerübergreifenden) (Mathe‐ matik-)Unterricht. Celina Diroll arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung „Didaktik der Symbolsysteme - Deutsch“ am Institut für Sonderpädagogik an der Leibniz Universität Hannover. Ihre Schwerpunkte in Forschung und Lehre sind Deutsch als Zweit- und Bildungssprache aus theoretischer und didaktischer Perspektive sowie die sprachlichen Potenziale von Bilderbüchern. Susanne Drogi ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Schulpädagogik und Grundschuldidaktik im Bereich Grundschuldidaktik Deutsch der Universität Halle. Sie promovierte zu Formen und Funktionen von Komik in der Kinder- und Jugend-Literatur (KJL) zur DDR und Wende. Ihre Arbeitsschwer‐ punkte sind Zeitgeschichtliche KJL, Familienbilder in der KJL, Literaturdidaktik, Literarisches Lernen im Medienverbund. Caren Feskorn ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Arbeitsbereich Mathe‐ matik- und Mediendidaktik der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind der Einsatz von Bilderbüchern im Mathe‐ matikunterricht und die Entwicklung multiplikativen Denkens bei Grundschul‐ kindern. Eva Gläser ist Professorin für Sachunterricht an der Universität Osnabrück. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen die Politische Bildung und das histo‐ rische Lernen in der Grundschule, die konzeptionelle Weiterentwicklung des Anfangsunterrichts, die Erforschung von Lernvoraussetzungen von Kindern im Elementar- und Primarbereich zu sachunterrichtsrelevanten Themen und die Analyse von Lernaufgaben in didaktischen Medien und Materialien. Christina Guedes Correia ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für germanistische Linguistik und Sprachdidaktik der Ruhr-Universität Bochum und promoviert zu Adressierungsverfahren in der interprofessionellen Kommu‐ nikation im medizinischen Notfalltraining. Alice Junge ist promovierte wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sonderpädagogik der Leibniz Universität Hannover. Ihre Forschungs- und Ar‐ beitsschwerpunkte sind Professionalisierungsprozesse in der Lehrer: innenbil‐ dung, biografisches Lernen sowie Sexualbildung und Vielfalt im Sachunterricht. Raila Karst ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Arbeitsbereich Deutsch des Institutes für Schulpädagogik und Grundschuldidaktik an der Martin-Lu‐ ther-Universität Halle-Wittenberg tätig. Sie promoviert zur Lyrikdidaktik in der Grundschule. Weitere Arbeitsschwerpunkte sind neben der Sprachdidaktik insbesondere Konzeptionen der DaZ-Didaktik als auch des Anfangsunterrichts. Lisa König ist promovierte akademische Mitarbeiterin für Literatur- und Mediendidaktik (Schwerpunkt Primarstufe) am Institut für deutsche Sprache und Literatur, Pädagogische Hochschule Freiburg, und stellvertr. Direktorin des Zentrums für didaktische Computerspielforschung. Ihre Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte liegen in der Untersuchung literarischer und medialer Lern- und Verstehensprozesse sowie der empirischen Bildungsforschung. Katrin Kreuznacht ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Son‐ derpädagogik der Leibniz Universität Hannover. Zu ihren Schwerpunkten in Forschung und Lehre zählen die Cultural Disability Studies, Intersektionalität, partizipative Forschung sowie inklusives literarisches Lernen. Denise Lüttgering (B.A. Sonderpädagogik) ist als studentische Hilfskraft in der Abteilung Sachunterricht und Inklusive Didaktik der Leibniz Universität Hannover tätig. Julia Menger ist promovierte akademische Rätin in der Abteilung für Sach‐ unterricht an der Europa-Universität Flensburg. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich der naturwissenschaftlichen und technischen Bildung im Sachunterricht. Dorothee Meyer ist promovierte Lehrkraft für besondere Aufgaben am Institut für Sonderpädagogik an der Leibniz Universität Hannover. Ihre Forschungs‐ 372 Verzeichnis der Autor: innen schwerpunkte sind Gruppenprozesse in inklusiven Kleingruppen, inklusive (politische) Bildung, inklusive Didaktik sowie leichte und einfache Sprache. Christiane Miosga ist Professorin und Dozentin für „Sprach-Pädagogik & -Therapie" an der Leibniz Universität Hannover. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Vorleseforschung, der Gesprächsanalyse und (inklusiven) Didaktik der multimodalen Interaktion in Schule, Kita und Sprachtherapie. Claudia Müller-Brauers ist Professorin für Deutschdidaktik im Institut für Sonderpädagogik an der Leibniz Universität Hannover und leitet die Abteilung „Didaktik der Symbolsysteme Deutsch“. Sie lehrt und forscht u. a. im Bereich der Bilderbuch- und (Early-)Literacy-Forschung. Lisa Porps koordiniert an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster das Sprachförderprojekt „Deutsch für Kinder und Jugendliche mit Zuwanderungs‐ geschichte“. An der Ruhr-Universität Bochum beschäftigt sie sich im Rahmen ihrer Promotion mit der Verwendung von Vokativen in der Eltern-Kind-Kom‐ munikation. Katja Poser-Kempe ist Lehrerin im Hochschuldienst im Fachbereich Grund‐ schuldidaktik Mathematik an der Universität Leipzig. Ihre Forschungsschwer‐ punkte sind die Professionalisierung von Mathematik-Multiplikator: innen und der Einsatz von Bilderbüchern im Mathematikunterricht. Floreana Schmidt ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sonder‐ pädagogik der Leibniz Universität Hannover. Ihre Forschungs- und Arbeits‐ schwerpunkte sind alltagsintegrierte Sprachförderung, (Bildungs-)Sprache im Sachunterricht und Themen rund um das Schulfach Glück. Claudia Schomaker ist Professorin für Sachunterricht und Inklusive Didaktik im Institut für Sonderpädagogik an der Leibniz Universität Hannover. Ihre For‐ schungsschwerpunkte umfassen das Sachlernen im Übergang vom Elementarin den Primarbereich, den Umgang mit individuellen Lernvoraussetzungen im inklusiven Sachunterricht sowie den forschungsmethodischen Zugang zu Schüler: innenvorstellungen über den Ansatz der Phänomenografie. Linda Schomakers ist sonderpädagogische Lehrkraft am Förderzentrum Sprache in München. Den Masterabschluss an der Leibniz Universität Hannover und den Vorbereitungsdienst in der inklusiven Grundschule absolvierte sie in den Fachrichtungen Lernen und Sprache sowie der Fachdidaktik Deutsch. Detta Sophie Schütz arbeitet als promovierte Universitätslektorin an der Universität Bremen. Ihre Schwerpunkte in Lehre und Forschung bilden dabei 373 Verzeichnis der Autor: innen der ungestörte und gestörte Erst- und Zweitspracherwerb sowie die Sprachdi‐ agnostik, Sprachbildung und Sprachförderung in inklusiven Bildungseinrich‐ tungen. Friederike von Lehmden ist promovierte klinische Linguistin (M. Sc.) und wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung „Didaktik der Symbolsysteme Deutsch“ am Institut für Sonderpädagogik an der Leibniz Universität Hannover. Ihre Forschungsinteressen liegen in den Bereichen Bilderbücher, Sprachförde‐ rung und Grammatikerwerb. Leandra Zirnstein ist Referendarin an einer Grundschule in Berlin Reinicken‐ dorf und ehemalige Grundschullehramtsstudierende der Martin-Luther-Univer‐ sität Halle-Wittenberg. 374 Verzeichnis der Autor: innen ISBN 978-3-7720-8768-4 Bilderbücher regen Kinder auf vielfältige Weise zum Lernen an. Allerdings fehlt es bislang an einer fachübergreifenden Perspektive auf die Arbeit mit Bilderbüchern in didaktischen und unterrichtlichen Zusammenhängen. Die interdisziplinären Beiträge dieses Bandes untersuchen, welches Potential Bilderbücher für die Förderung der kindlichen Lernentwicklung haben. Durch die Verbindung didaktischer Zugänge aus Sprach- und Mathematikdidaktik, Sachunterricht und Sonderpädagogik bietet der Band konkrete praktische Anregungen zum Einsatz von Bilderbüchern im inklusiven und fächerübergreifenden Unterricht an der Grundschule. Er wendet sich an Vertreter: innen unterschiedlicher Fachdidaktiken, Studierende des Grundschullehramts und der Sonderpädagogik sowie Praktiker: innen in Kitas und Grundschulen oder in der Weiterbildung.