eBooks

Topographien der eddischen Mythen

2015
978-3-7720-5552-2
A. Francke Verlag 
Lukas Rösli

Die beiden bekanntesten Texte der altnordischen Mythologie, die Lieder-Edda und die Prosa-Edda, welche im 13. Jahrhundert in Island verschriftlicht wurden, bieten eine Vielzahl von Erzählungen über die Entstehung der Welt bis hin zu ihrem Untergang.Die Untersuchung geht anhand von Theorien und Methoden, die der gegenwärtigen Raumwissenschaft in den Kultur- und literaturwissenschaften entliehen sind, der Frage nach, über welche narratologischen Darstellungsverfahren in den Texten der altnordischen Mythologie der Kosmos der eddischen Mythen aufgebaut, gegliedert und wieder zerstört wird. Dabei wird gezeigt, dass die Topographien der eddischen Mythen bei weitem nicht so statisch sind, wie bisher von der Forschung angenommen wurde, sondern äußerst dynamisch funktionieren und sich immer ihrem Verwendungszweck in der Erzählung anpassen. Dr. phil. Lukas Rösli ist Assistent für ältere und neuere skandinavische Literatur am Seminar für Nordistik der Universität Basel.

A. FRANCKE VERLAG TÜBINGEN BEITRÄGE ZUR NORDISCHEN PHILOLOGIE 55 Lukas Rösli Topographien der eddischen Mythen Eine Untersuchung zu den Raumnarrativen und den narrativen Räumen in der Lieder-Edda und der Prosa-Edda Topographien der eddischen Mythen Beiträge zur Nordischen Philologie Herausgegeben von der Schweizerischen Gesellschaft für Skandinavische Studien Redaktion: Jürg Glauser, Silvia Müller, Klaus Müller-Wille, Hans-Peter Naumann, Barbara Sabel, Thomas Seiler Beirat: Michael Barnes, François-Xavier Dillmann, Stefanie Gropper, Annegret Heitmann, Andreas G. Lombnæs Band 55 · 2015 A. FRANCKE VERLAG TÜBINGEN A. FRANCKE VERLAG TÜBINGEN Lukas Rösli Topographien der eddischen Mythen Eine Untersuchung zu den Raumnarrativen und den narrativen Räumen in der Lieder-Edda und der Prosa-Edda Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung. © 2015 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: www.francke.de E-Mail: info@francke.de ISSN 1661-2086 ISBN 978-3-7720-8552-9 Titelbild: Quelle: Northern Antiquities, an English translation of the Prose Edda from 1847. Painted by Oluf Olufsen Bagge. Das vorliegende Werk ist die überarbeitete und aktualisierte Fassung einer Dissertation, die von der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich im Herbstsemester 2013 auf Antrag von Prof. Dr. Jürg Glauser und Prof. Dr. Stephen A. Mitchell angenommen wurde. Printed in the EU Inhaltsverzeichnis Vorwort ................................................................................................................ vii 1 Einleitung ................................................................................................... 1 1.1 Vorbemerkungen ........................................................................................................ 1 1.2 Skandinavistische Forschung zum Raum in den eddischen Mythen................... 3 1.2.1 Weshalb sind die bisherigen Analysen der Raumstrukturen in den eddischen Mythen nicht ausreichend? ........................................................................................ 3 1.2.2 Die Anfänge der skandinavistisch-mediävistischen Raumforschung.................. 3 1.2.3 Raumstrukturalistische Ansätze in der skandinavistischen Mediävistik ............ 7 1.2.4 Neuere Ansätze in der eddischen Forschung ........................................................ 20 1.2.5 Fazit zur diskutierten skandinavistischen Forschung .......................................... 24 1.3 Raumwissenschaftliche Forschung und der topographical turn ......................... 25 1.3.1 Wozu braucht der topographical turn eine skandinavistische Perspektive? ..... 25 1.3.2 Vorbemerkungen zum topographical turn ............................................................ 25 1.3.3 Die Abkehr vom Verständnis des Raumes als a priori gegebenem .................... 27 1.3.4 Räumliche und topographische Strukturen im Narrativ ..................................... 33 1.3.5 Fazit zur raumwissenschaftlichen Forschung ....................................................... 38 2 Anfänge und Anfangssetzungen .......................................................... 41 2.1 Vorüberlegungen zum Anfang ................................................................................ 41 2.2 Der Anfang im Text .................................................................................................. 42 2.2.1 Der Anfang der Lieder-Edda am Beispiel der V ǫ lospá ......................................... 42 2.2.2 Der Anfang der Prosa-Edda ..................................................................................... 44 2.2.3 Edition der Prosa-Edda............................................................................................. 45 2.2.4 Die Haupthandschriften der Prosa-Edda............................................................... 46 2.2.5 Zwischenfazit zu den Anfängen in den eddischen Textquellen ......................... 57 2.3 Der Anfang im Narrativ ........................................................................................... 59 2.3.1 Anfänge - Schöpfungsgeschichten - Kosmogonien ............................................ 59 2.3.2 Die Entstehung der Welt in der V ǫ lospá................................................................ 60 2.3.3 Zwischenfazit zur Entstehung der Welt in der V ǫ lospá....................................... 69 2.3.4 Die Entstehung der Welt in den eddischen Liedern Vafðrúðnismál und Grímnismál ................................................................................................................. 70 2.3.5 Mögliche Bedingungen zur Erschreibung der Topographie in der Lieder-Edda ................................................................................................................ 74 2.3.6 Die Entstehung verschiedener Welten in der Prosa-Edda .................................. 75 2.3.7 Ein neuer Anfang in der Gylfaginning.................................................................... 95 2.3.8 Fazit zu den Anfangsnarrativen in der Prosa-Edda .............................................. 97 Inhaltsverzeichnis vi 3 Die Entwicklung der Topographien der eddischen Mythen ........ 99 3.1 Vorüberlegungen zur Entstehung und Entwicklung topographischer Strukturen................................................................................................................. 99 3.2 Die (Ein-)Teilung des Raumes .............................................................................. 100 3.3 Die Weltenesche und die Quellen als topographische Strukturmittel............. 108 3.3.1 Yggdrasill als lebendige vertikale Weltenachse.................................................... 108 3.3.2 Die Welten unter den Wurzeln ............................................................................. 109 3.3.3 Die Wesen beim Baum ........................................................................................... 112 3.3.4 Vom Rechtsraum beim Baum zum Wissensraum an der Quelle ..................... 115 3.3.5 Von Wurzeln und Brücken.................................................................................... 122 3.3.6 Doppelungen im Raum .......................................................................................... 126 3.4 Himmelsräume ........................................................................................................ 129 3.5 Die Unvereinbarkeit der erzählten Topographien ............................................. 137 4 Ephemere Topographien ..................................................................... 145 4.1 Vorüberlegungen zu den unbeständigen Raumstrukturen ............................... 145 4.2 Die ephemere Topographie des Ostens der Riesen ............................................ 146 4.2.1 Þórr bei den Riesen im Osten ................................................................................ 154 4.2.2 Ein Kessel als ephemerer Raum im Osten ........................................................... 159 4.2.3 Der Osten als für die Schmährede funktionalisierter Raum ............................. 162 4.2.4 Zwischenfazit zum ephemeren Raum des Ostens .............................................. 165 4.3 Ephemere Räume als narratologisches Prinzip in der Gylfaginning ................ 166 4.4 Fazit zu den ephemeren Topographien.................................................................175 5 Das Ende der eddischen Topographien............................................ 177 5.1 Vorüberlegungen zum Ende der Topographien ................................................. 177 5.2 Das Ende am Anfang - die Darstellung der ragna r ǫ k in der V ǫ lospá ............ 178 5.2.1 Das intradiegetische Ende in der V ǫ lospá und die rekonstruierte Topographie............................................................................. 178 5.2.2 Fazit zum intradiegetischen Ende in der V ǫ lospá............................................... 191 5.3 Das Ende der V ǫ lospá als Anfang der eddischen Lieder.................................... 192 5.4 ragna r ǫ k in weiteren Narrativen des Codex regius der Lieder-Edda ............... 194 5.5 Das Ende der Topographie in der Darstellung der Gylfaginning ..................... 197 5.6 Fazit zum Ende der Topographien in den eddischen Narrativen .................... 20 6 Schlussbetrachtungen .......................................................................... 207 Literaturverzeichnis ........................................................................................ 211 6 Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde von der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich im Herbstsemester 2013 als Dissertation auf Antrag der Promotionskommission, Prof. Dr. Jürg Glauser als „hauptverantwortliche Betreuungsperson“ und Prof. Dr. Stephen A. Mitchell, angenommen. An dieser Stelle danke ich den Herausgebern der Beiträge zur Nordischen Philologie für die Aufnahme meines Manuskripts in ihre Reihe. Dem Schweizerischen Nationalfonds (SNF) danke ich herzlich für die großzügige fianzielle Unterstützung der Drucklegung. Die Arbeit wurde für die Publikation leicht überarbeitet. Die Arbeit entstand im Rahmen meiner Anstellung als Assistent an der Abteilung für Nordische Philologie am Deutschen Seminar der Universität Zürich und konnte durch das Stipendium des Forschungskredits der Universität Zürich weiterentwickelt und beendet werden. Dem Forschungskredit der Universität Zürich danke ich herzlich für die großzügige Unterstützung meines Dissertationsprojektes, welche es mir ermöglichte, die letzten zwei Jahre fokussiert an meiner Arbeit zu schreiben. Meinem Doktorvater, Prof. Dr. Jürg Glauser, bin ich zu großem Dank verpflichtet. Schon früh hat er mich in meinem Forschungsvorhaben unterstützt und meinen wissenschaftlichen Werdegang gefördert. Zudem möchte ich ihm für das rege Interesse an dieser Arbeit und an neuen theoretischen Konzepten, für seine kritischen Anregungen, seine aufmerksame Betreuung und seine Wertschätzung herzlich danken. Auch ermutigte er mich immer wieder, Teile meiner Arbeit an verschiedenen Konferenzen und Workshops zu präsentieren und zur Diskussion zu stellen. Ebenso gilt mein Dank Prof. Dr. Stephen A. Mitchell, der sich bereiterklärte, als Zweitgutachter meine Arbeit zu betreuen. Seine Einladung an die Harvard University ermöglichte mir einen intensiven und angeregten Austausch sowohl mit ihm als auch den dortigen Kolleginnen und Kollegen der Abteilung für Scandinavian Studies. Auch Prof. Dr. Klaus Müller-Wille möchte ich herzlich für seinen Beitrag an dieser Arbeit danken. Er nahm sich immer wieder Zeit, um mit mir theoretische Fragestellungen und problematische Begrifflichkeiten zu diskutieren, und erklärte sich dazu bereit, den Beisitz bei meinem Dissertationskolloquium zu übernehmen. Dem Doktoratsprogramm Medialität - Historische Perspektiven der Universität Zürich danke ich für die finanzielle Unterstützung bei meinem Auslandaufenthalt und bei Konferenzbesuchen. Den Mitgliedern des Doktoratsprogramms und meinen Kolleginnen und Kollegen an der Abteilung für Nordische Philologie am Deutschen Seminar, insbesondere Sandra Schneeberger, möchte ich für die regen Diskussionen sowohl in den Kolloquien als auch außerhalb danken. Dr. Anna Katharina Richter half mir beim Layouten der Drucklegung, ihr sei hiermit dafür gedankt. Mein größter und herzlichster Dank gilt schließlich meiner Lebenspartnerin Christina Henss. Die unzähligen Diskussionen mit ihr und die vielen guten Impulse von ihrer Seite waren für die vorliegende Arbeit äußerst gewinnbringend. Auch für das sorgfältige und kritische Korrektorat meiner Arbeit und für ihre Unterstützung und Geduld bin ich ihr sehr dankbar. Ihr möchte ich diese Arbeit widmen. Zürich, Mai 2015 Lukas Rösli 1 Einleitung 1.1 Vorbemerkungen Die Frage nach räumlichen Strukturen ist - spätestens seit dem spatial turn 1 in den Sozialwissenschaften und der Humangeographie - auch ein zentrales, unter dem Terminus topographical turn 2 etabliertes Thema in den Kultur- und Literaturwissenschaften, in welchen vor allem die Fragen nach der Möglichkeit und den Formen der Repräsentation von Räumen im Text von Bedeutung sind. Topographien, wie sie in den Texten der altnordischen Lieder-Edda und der Prosa-Edda 3 aus dem 13. Jahrhundert dargestellt werden, sind ein Thema, das die skandinavistisch-mediävistische Forschung seit längerem beschäftigt. Dies bisher jedoch meist mit einem dezidierten Fokus auf die Kosmogonie und Kosmographie innerhalb der nordischen Mythologie, wobei die Frage nach Motivähnlichkeiten in religionswissenschaftlicher und komparatistischer Hinsicht im Zentrum stand. Des Weiteren war die skandinavistische Mediävistik lange Zeit darum bemüht, aus dem sehr heterogenen Mythengeflecht eine geglättete und verständliche Mythologie zu kreieren, wobei die Leerstellen in den einzelnen Texten einfach durch interpretative Annahmen aufgefüllt wurden, welche meist auf vermeintlichen Analogien beruhten, oder man versuchte, einem Zirkelschluss gleich, die Leerstellen des einen Textes mit dem anderen Text zu füllen und umgekehrt. 4 1 Siehe dazu unter Anderem: Günzel, Stephan [Hrsg.]: Raumwissenschaften. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2009, oder Döring, Jörg und Thielmann, Tristan [Hrsg.]: Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Transcript, Bielefeld 2008, welche beide einen guten Einblick in die interdisziplinären Fragestellungen bieten. 2 Siehe dazu: Wagner, Kirsten: Topographical Turn. In: Günzel, Stephan [Hrsg.]: Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch. J.B. Metzler, Stuttgart und Weimar 2010, S. 100-119. 3 Die Prosa-Edda wird auch als Snorra-Edda bezeichnet. Diesen Titel trägt der Text, da er bisweilen dem isländischen Literaten, Historiker, Rechtsgelehrten und Politiker Snorri Sturluson (1179-1241) zugeschrieben wird. Es sind jedoch keine Textzeugnisse aus der Lebzeit Snorris überliefert, die seine Autorschaft bestätigen würden. 4 Schon zu Beginn der 1980er Jahre monierte Edmund Leach die Vorgehensweise der (Re-) Konstruktion eines Mythos anhand literarischer Quellen in seiner sehr kritischen Einleitung zur englischen Übersetzung einer Monographie von Steblin-Kamenskij: Leach, Edmund: Introduction. In: Steblin-Kamenskij, M.I.: Myth. Karoma, Ann Arbor 1982, S. 1-20. Leach verweist jedoch nicht nur auf die oben erwähnte Problematik von Zirkelschlüssen, sondern vielmehr auf grundsätzliche, seiner sozialanthropologischen Arbeits- und Denkweise geschuldete Bedenken gegenüber der Möglichkeit, dass ein vorchristlicher Mythos einzig aus schriftlichen Quellen und ohne die direkte Beobachtung von kultischen oder rituellen Handlungen, in denen mythologische Erzählungen eine gewichtige Rolle spielen, ableitbar sei. Insgesamt muss jedoch beachtet werden, dass Leachs Kritik weniger auf eine fundierte Kenntnis der vom Skandinavisten Steblin-Kamenskij diskutierten altnordischen Literatur zurückzuführen ist, als vielmehr ein unverholener Ausdruck seiner Antipathie gegenüber der sowjetrussischen Herkunft Steblin-Kamenskijs und der damit gemäß Leach verbundenen Forschungstradition ist. So diskreditiert Leach das Buch von Steblin- Kamenskij schon im ersten Satz seiner Einleitung als aus wissenschaftlicher Sicht überflüs- 1 Einleitung 2 Die beiden oben erwähnten altnordischen Textsammlungen aus dem späteren Mittelalter gelten als die wichtigsten literarischen Quellen der nordischen Mythologie. Die Lieder-Edda ist eine Sammlung anonymer Dichtung und gibt in den Götterliedern mythologische Stoffe und in den Heldenliedern gemeingermanische Heldensagen in altnordischer Ausprägung wieder. Die Prosa-Edda ist ein dichtungstheoretischer und mythographischer Text, der unter Verwendung von Motiven und Zitaten aus der Lieder-Edda in den Kosmos der nordischen Mythologie einführt, stellenweise als Lehrbuch für angehende Dichter konzipiert ist und mit einem Verzeichnis skaldischer Versarten abschließt, welches selber als Gedicht konzipiert ist und über prosaische Einschübe kommentiert wird. Bei der Betrachtung der altnordischen Edda-Lieder aus dem 13. Jahrhundert, darunter besonders der V ǫ lospá (Die Weissagung der Seherin), Vafþrúðnismál (Das Wafthrudnirlied) und Grímnismál (Das Grimnirlied), lässt sich erkennen, dass die Darstellung erzählter Räume innerhalb der einzelnen eddischen Mythen und der einzelnen Texte stark variiert. Beim medialen Wechsel, welcher von diesen Texten der Lieder-Edda in die prosaische Verschriftlichung der Prosa-Edda stattfand, verstärkt sich diese Variation nochmals deutlich. Bisher wurde das Thema der Topographien der eddischen Mythen meist unter einem rekonstruierenden Blickwinkel betrachtet. Dabei wurde Räumlichkeit im Gegensatz zur Zeitlichkeit oft als statisch aufgefasst. Durch die Verwendung theoretischer Ansätze des topographical turns zur Untersuchung der räumlichen Strukturen in den eddischen Texten soll in dieser Arbeit ein neuer mediävistisch-literaturwissenschaftlicher Zugang zu den mythologischen Texten der altnordischen Literatur aufgezeigt werden. Dieser wird zu einem profunderen Verständnis des Raums in Bezug auf narratologische, intertextuelle und kulturspezifische Zusammenhänge der altnordischmythologischen Literatur führen. Die Analyse wird an exemplarischen und repräsentativen Textbeispielen, sowohl aus den Handschriften als auch aus den kritischen Editionen, vorgenommen. Die Arbeit ist klar textkritisch und textimmanent ausgerichtet und dem close reading verpflichtet, zudem berücksichtigt sie auch mediale Fragestellungen, sofern diese dem besseren Verständnis der topographischen Strukturen in den eddischen Texten dienlich sind. Die eddischen Mythen bieten für die topographische Forschung ein philologisch einzigartiges Korpus, an welchem man sowohl die Performativität räumlicher Anfangssetzungen als auch narratologische und rhetorische Strukturen des Mythos untersuchen kann. Dies leistet einen relevanten Beitrag zur theoretischen Diskussion im Rahmen des topographical turns, erweitert sie um eine dezidiert skandinavistischmediävistische Perspektive und gibt der gesamten Skandinavistik neue theoretische Impulse und Erkenntnisse zu den Raumstrukturen der eddischen Mythen. sig, wenn er schreibt: „The most interesting aspect of this book for English language readers is that it comes out of Soviet Russia.“ (Ebd., S. 1) 1.2 Skandinavistische Forschung zum Raum in den eddischen Mythen 3 1.2 Skandinavistische Forschung zum Raum in den eddischen Mythen 1.2.1 Weshalb sind die bisherigen Analysen der Raumstrukturen in den eddischen Mythen nicht ausreichend? Mit dem Thema des Raumes und seiner Konstitution sowie räumlichen Begebenheiten in der altnordischen Mythologie beschäftigte sich die Skandinavistik seit frühster Zeit. Die eddischen Mythen wurden dabei meist, wie in den nachfolgenden Ausführungen ersichtlich wird, als ein aus der Lieder-Edda und der Prosa-Edda extrahiertes Mythenkonglomerat gelesen. Eine solchermaßen konstruierte Text-Chimäre entspricht jedoch keiner der verschriftlichten (spät-)mittelalterlichen Textversionen. Nicht nur die handschriftlichen Varianten der Erzählungen, deren textuelle Unfestigkeit ein zentrales Charakteristikum vormoderner Literatur ist, blendet ein derartiges Textverständnis weitgehend aus, sondern es degradiert folglich - über die Erschaffung eines homogenen und fixierten Mythos - auch die Topographien in den einzelnen Erzählungen zu statischen Entitäten. Solch ein Ansatz vermag zwar, wie die bisherige skandinavistische Forschung zeigt, gewisse analytische und methodische Zugäng zu erleichtern, doch werden dabei jene dynamischen Prozesse nivelliert, die, wie in der vorliegenden Arbeit aufgezeigt wird, ein Spezifikum der Topographien der eddischen Mythen sind. Im Folgenden soll anhand einiger Beispiele aus der Forschungstradition der mediävistischen Skandinavistik und ihrem Umgang mit den räumlichen Strukturen der eddischen Mythen aufgezeigt werden, dass sowohl eine neue, topographische Analyse als auch ein dezidiert textimmanenter Zugang ein Desiderat ist. Von einer vollständigen Aufarbeitung der Forschungsgeschichte zum Thema - im Sinne eines Überblicks über die Forschungslage - wird bewusst abgesehen, da es hauptsächlich darum geht, die Grundzüge der bisher geleisteten Forschung und deren Erkenntnisse darzulegen, diese kritisch zu diskutieren und sie auf ihre Anwendbarkeit für die vorliegende Arbeit hin zu überprüfen. 1.2.2 Die Anfänge der skandinavistisch-mediävistischen Raumforschung Anfänglich war das Fachgebiet der Skandinavistik noch der Germanistik untergeordnet und wurde darin als Teilgebiet der Altgermanistik verstanden, bevor es dann zur Nordischen Philologie mit eigener Existenzberechtigung weiterentwickelt und diversifiziert wurde. Bei der wissenschaftlichen Beschäftigung mit den eddischen Mythen kann von den Anfängen und bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts ein dezidiert germanisierender Blickwinkel festgestellt werden. Die Auseinandersetzung mit den eddischen Texten war meist durch die Frage geprägt, wie sich aus dem altnordischen ein germanischer Stoff rekonstruieren lassen kann und so konzentrierte sich die Forschung vor allem auf religionswissenschaftliche Fragen rund um die altnordischen Schöpfungsmythen oder auf die eddischen Heldenlieder und deren gemeingermanische Inhalte. Die Methode, die bei diesen Ansätzen meist verwendet wurde, war jene des Vergleiches. Über das Aufspüren von Motivanalogien in den verschiedenen eddischen Texten und in Mythologien anderer Kulturkreise oder mittels etymologischer Herleitungen und sprachgeschichtlichen Rekonstruktionen versuchte man deren 1 Einleitung 4 germanische Originalität zu bestimmen und zu untermauern. Wichtige Vertreter dieses Forschungszweiges waren unter Anderem der Begründer der deutschen Philologie, Jacob Grimm, sowie der dänische Forscher Gudmund Schütte und der niederländische Altgermanist Jan de Vries. Grimms philologische und religionswissenschaftliche Forschungen sind stark etymologisch und historisierend geprägt. Er stützt seine Überlegungen auf Vergleiche mit römischen, altgriechischen und hebräischen Quellen und versucht, fernab von quellenkritischen Gesichtspunkten, ein germanisches Weltbild zu rekonstruieren, wie es der wissenschaftlichen Arbeitsweise seiner Zeit entsprach. Interessant bei Grimm ist jedoch, dass er eine deutliche Verknüpfung von räumlichen und zeitlichen Phänomenen erkennt, wenn er schreibt: „[U]nsere sprache gibt mehrfache übergänge aus dem begriffe der zeit in den des raums an hand [sic]“ 5 . Grimm belegt dies, nebst verschiedenen anderen etymologischen Herleitungen, durch das altnordische Wort veröld (dt.: Zeitalter oder Welt). 6 Das Wort erfuhr eine semantische Veränderung des Denotats, wenn es zuerst auf einen Zeitabschnitt und später auf die räumlich verortbare Welt referierte. 7 Auch Grimms Äußerungen zur Topographie zeigen deutliche Verbindungen zu zeitlichen Strukturen. Einerseits hält er fest, „daſs sich die vorstellungen zeit, zeitalter, welt, erdkreis, erde, licht, luft, wasser mannigfach mischen; ring in erdring weist auf die kugelgestalt der erde und auf planetarische drehung [sic]“ 8 hin. Andererseits schreibt er aber auch, dass es neun Welten gäbe, die „der lage nach [sic]“ 9 geordnet seien und von denen die unterirdische Nebelwelt (Niflheimr) die älteste sei. Grimm verweist hier auf zwei unterschiedliche topographische Konzepte: Das eine nimmt den Erdkreis nicht im Sinne einer horizontalen Achse wahr, sondern fasst ihn, durch die Verknüpfung mit dem Faktor Zeit, als einen Globus auf und beschreibt so einen ausgeprägt vierdimensionalen Raum. Das andere Konzept gibt die Idee einer vertikalen Achse wieder, indem die neun Welten als übereinander geschichtet verstanden werden. Der dänische Forscher Gudmund Schütte befasste sich eingehend mit der Frage nach dem Horizont der germanischen Stämme - Schütte nennt diesen eingedeutscht Gesichtskreis. 10 Den geographischen Horizont beschreibt Schütte in Form von drei konzentrischen Kreisen, bei denen vom innersten zum äußersten Ring das Wissen über andere Geographien und Völker kontinuierlich abnimmt und die er mit Innenzone, Mittelzone und Außenzone umschreibt, sowie einer als Nullzone definierten Fläche, die gänzlich außerhalb der erfahrbaren Welt einer Gesellschaft liegt. 11 Densel- 5 Grimm, Jacob: Deutsche Mythologie. Band II, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1965 (Berlin 4 1876, Göttingen 1 1835), S. 659. 6 Zu den unterschiedlichen Übersetzungsmöglichkeiten siehe unter dem Lemma verin: Baetke, Walter: Wörterbuch zur altnordischen Prosaliteratur. 8., unveränderte Auflage. Akademieverlag, Berlin 2008 ( 1 1965/ 68), S. 715. 7 Grimm: Deutsche Mythologie. Band II, S. 661. 8 Ebd., S. 663. 9 Ebd., S. 670. 10 Schütte, Gudmund: Gotthiod und Utgard. Altgermanische Sagengeographie in neuer Auffassung [Band I und II]. Aschehoug Dansk Forlag, Kopenhagen und Frommannsche Buchhandlung, Jena 1935 (Band I) und 1936 (Band II). 11 Ebd., S. 23: „Den geographischen Gesichtskreis im allgemeinen können wir uns so vorstellen als ein geometrisches Bild mit Farbenschattierungen, die darstellen, wie sich die geographische Kunde vom Zentrum aus allmählich verliert, bis schliesslich das Gebiet der vollständigen Unkunde erreicht wird. Denken wir uns also im Innern eine tiefrote Zirkelfläche, 1.2 Skandinavistische Forschung zum Raum in den eddischen Mythen 5 ben Ansatz kann man auch in neuerer Zeit wieder finden, wie an späterer Stelle erläutert werden wird. Interessant ist, dass Schütte diesen geographischen „Gesichtskreis“ nicht nur rein anthropologisch betrachtet, sondern ihn auch in der Geographie der germanischen Mythen wiederzufinden glaubt. Dazu bildet er Analogien zwischen den von ihm selber aufgestellten Termini und Begriffen aus den eddischen Texten. 12 Schütte lässt sich, durch die vermeintliche Analogie von seiner Mittelzone mit Miðgarðr, bzw. von Aussenzone und Útgarðr, zur Behauptung verleiten, dass sein Konzept des „Gesichtskreises“ den Germanen schon intuitiv bewusst gewesen sei. 13 Er geht sogar noch einen Schritt weiter und impliziert durch seine Beweisführung mittels der Wortähnlichkeiten, dass dieses Konzept auf die gesamte eddische Mythologie angewandt werden könne. Eine derart geartete horizontale Achse, wie Schütte sie für den Aufbau der gesamten Welt der skandinavischen Mythologie postuliert, wird später auch wieder in der strukturalistischen Raumsemantik stark gemacht. Schütte lässt jedoch außer Acht, dass die horizontale Lagerung der Regionen, wie sie in den eddischen Texten vorkommt, sehr wohl eine innere Zone haben könnte, die nach Schüttes Analogie dann jedoch mit Ásgarðr besetzt sein müsste. Auch Jan de Vries ist in seiner Arbeit zur Altgermanischen Religionsgeschichte 14 von dieser historisierenden Tendenz geprägt, 15 wie sie sich schon bei Grimm zeigte. Die Topographie der eddischen Mythen - de Vries nennt diese „verschiedene Formen von mythologischer Geographie“ 16 - betrachtet er unter etymologischen Blickpunkten. Gestützt auf seine Übersetzung von altnordisch Miðgarðr als „Hof der Mitte“ 17 , die Innenzone. [sic] die den Brennpunkt des geographischen Wissens und Interesses darstellt. Daran schliesst sich ein Gürtel mit mittelkräftiger roter Farbe, die Mittelzone, die umgebenden Stammverwandten vertretend; er könnte eventuell auch andere Farben enthalten, verschiedenen Fremdvölker bezeichnend, die durch regen Verkehr einigermassen bekannt sind. Dann folgt ein umgebender weiterer Gürtel mit den verschiedenen Farben des Spektrums in schwachen Tönen, die Aussenzone, die bunte Welt der wenig bekannten Fremdvölker in der Ferne. Und den Abschluss bildet die leere, farblose Nullzone, die ganz unbekannt ist.“ 12 Ebd., S. 23: „Aber unsere Urväter waren so geographisch eingestellt, dass sie die Einteilung gewissermassen vorausgegriffen haben. Der gemeingermanische Wortschatz enthält einen Ausdruck ,Mittelgart‘, meiner ,Mittelzone‘ entsprechend, und demgegenüber stellt das Altnordische einen Ausdruck ,Aussengart‘ = ,Aussenzone‘. Unbelegt ist in der alten Sprache die ,Innenzone‘, aber zum Ersatz begegnen sich das Altnordische und das Altdeutsche in einer Bezeichnung ,Obenhimmel‘, was einer Zone Nr. 4, ,Obenzone‘ entsprechen würde. Also fand sich ursprünglich eine Dreiheit, zwar nicht ,Innen-, Mittel- und Aussenzone‘, wol [sic] aber ,Oben-, Mittel- und Aussenzone‘.“ 13 Schüttes Idee, dass die eddischen Mythen eine Aussage über „die Germanen“ und deren Vorstellungswelten zulassen würden, zeigt, wie undifferenziert - ja beinahe völkisch anmutend - seine Arbeitsweise ist. 14 Vries, Jan de: Altgermanische Religionsgeschichte. Band I und II, Walter de Gruyter, Berlin 2 1957. 15 De Vries glaubt besonders im eddischen Schöpfungsmythos eine „uralte mythische Vorstellung“ zu erkennen, was er durch das süddeutsche Wessobrunner Gebet zu belegen versucht. Siehe dazu: Vries: Altgermanische Religionsgeschichte. Band II, S. 361. 16 Ebd., S. 380. 17 Ebd., S. 372. 1 Einleitung 6 nimmt er den ganzen Kosmos als vom Hof/ Haus ausgehend wahr. 18 Darauf aufbauend betrachtet er den Raum als durch konzentrische Kreise strukturiert, die sich nach allen vier Himmelsrichtungen ausdehnen. Dabei geht er auf dieselbe Weise vor, wie dies schon Schütte tat. Als besonders ausdifferenziert beschreibt de Vries den Norden und Osten, die von Dämonen und Riesen bevölkert seien, und den Süden, der als von Hitze dominiert beschrieben wird. 19 Dieses horizontale Weltbild relativiert de Vries an anderer Stelle wieder, indem er durch die Situierung des Götterwohnsitzes Ásgarðr im Himmel eine vertikal gelagerte Weltachse impliziert. 20 Diese stark anthropologisch anmutende Betrachtungsweise von de Vries, bei der der altnordische Kosmos vom Hof ausgehend betrachtet wird, findet in späteren Untersuchungen zum Thema immer wieder Eingang. Obwohl eine solche Annahme durchaus interessant ist, lässt sie außer Acht, dass bei einer horizontalen Einteilung der Welten, nicht der Hof, also Miðgarðr, sondern Ásgarðr im Zentrum liegt. Dieser anthropozentrische Ansatz, der den Menschen und sein bewohntes Umfeld ins Zentrum rückt, könnte eventuell dadurch gestützt werden, wenn man die Welt der Götter als eine geistig-religiöse und dem Menschen verinnerlichte Welt betrachtet, worüber sie als Zentrum der Welt der Menschen interpretiert werden könnte. Dabei würde man jedoch gewichtige Teile der eddischen Narrative rein metaphorisch verstehen und die intradiegetische Welt in den Texten nicht ernst nehmen, wenn man die Welten, welche die Narrative der eddischen Mythologie hervorbringen, auf eine anthropozentrische Sichtweise reduzieren würde. Einer solchen Auffassung muss hier mit Nachdruck widersprochen werden. Die frühe skandinavistische Forschung versuchte, wie oben diskutiert, die Beschaffenheit der Welt, wie sie in den eddischen Mythen präsentiert wird, über Etymologien und Vergleiche begreifbar zu machen. Dass bei einem solch engen, auf Einzelworte gerichteten Blickwinkel größere Zusammenhänge verloren gehen, liegt auf der Hand. Zudem ermöglicht diese Herangehensweise zwar ein gewisses Verständnis für die diskutierten Einzelphänomene, nicht aber für die Narrative, die in den Texten der eddischen Mythen wiedergegeben werden. Des Weiteren verhindert der historischrekonstruierende Ansatz der frühen Forschung jegliches Verständnis für die Transmission und die Unfixiertheit der eddischen Mythen, die schon durch die Existenz der verschiedenen Versionen der Texte in den Manuskripten immanent sind. Zudem verleiten die anthropologischen Züge, die in den oben disktierten Arbeiten zu erkennen sind, zu der Annahme, dass den Menschen in den eddischen Göttermythen eine zu prominente Rolle beigemessen wird. Wie an späterer Stelle direkt an den eddischen Texten gezeigt werden kann, nehmen Menschen in den eddischen Mythen, sofern man sich nicht mit den Heldenliedern befasst, nur eine marginale Rolle ein. 18 Mit dieser stark anthropologischen Perspektive eines vom Hof ausgehenden Weltverständnisses befasst sich auch Kirsten Hastrup. Siehe dazu: Hastrup, Kirsten: Island of Anthropology. Studies in past and present Iceland. Odense University Press, Odense 1990. 19 Vries: Altgermanische Religionsgeschichte. Band II, S. 373f. 20 Ebd., S. 377f. 1.2 Skandinavistische Forschung zum Raum in den eddischen Mythen 7 1.2.3 Raumstrukturalistische Ansätze in der skandinavistischen Mediävistik In der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts setzten sich auch in der Nordischen Philologie die Methoden und Ansätze des Strukturalismus durch. 21 Besonders in der Mythenforschung untersuchte man die Mechanismen und Strukturen kultureller Symbolsysteme. Die eddische Mythologie wurde dabei in Einzelmythologeme aufgegliedert, damit der systemische Charakter, der diesen Grundstrukturen zugrunde liegt, betrachtet werden konnte. Erst danach widmete man sich, ausgehend von den Einzelstrukturen und deren Verknüpfungen untereinander, dem untersuchten Objekt, also den eddischen Texten als Einheit, und versuchte die Mythen in ihrem Kontext zu verstehen. Diese Ansätze, die vor allem von Forschern wie Eleazar Moiseevich Meletinskij, Aaron J. Gurjewitsch, Paul C. Bauschatz, Kirsten Hastrup, Jens Peter Schjødt oder dem stark komparatistisch arbeitenden Forscher Kurt Schier verwendet werden, waren äußerst fruchtbar und konnten sehr produktiv angewandt werden. Bei der Betrachtung räumlicher Gegebenheiten in den Narrativen der eddischen Mythen zeigte sich ein starkes Interesse am Aufbau und an der Gliederung der Welt oder der Welten entlang von Achsen, Grenzen und Codes. Die deutlich dualistisch geprägten Strukturen und die Zerlegung der Mythen in ihre kleinsten möglichen Teile, die Mythologeme, bergen jedoch auch das Problem, dass die Systeme dadurch als etwas sehr Statisches aufgefasst werden. Bahnbrechend und lange Zeit maßgebend bezüglich der Betrachtung räumlicher Strukturen in der altnordischen Mythologie war der russische Forscher Eleazar Moiseevich Meletinskij, 22 der sich in mehreren Aufsätzen mit der skandinavischen Mythologie als System auseinandersetzt. 23 Seine Analysen der Räume und Welten in den eddischen Texten basieren auf semantischen Oppositionen und sind gänzlich strukturalistisch aufgebaut. 24 Wie in anderen mythologischen Systemen auch, sieht Meletinskij in der skandinavischen Mythologie eine fortlaufende Wiederholung einzelner Motive und deren parallelen Varianten. 25 Die Redundanz der mythologischen Informationen, die durch solche Parallelen generiert werde, zerfalle durch die Gliederung „into levels, codes and various aspects“. 26 Dies sei auch die Art und Weise, auf die man mythologische Motive, Funktionen und Objekte am einfachsten isolieren, ordnen und systematisieren könne, so Meletinskij. 27 Dabei anerkennt er zwar, dass einige 21 Einen exemplarischen Einblick in die Denk- und Arbeitsweise der strukturalistisch geprägten skandinavistischen Mythenforschung bietet: Haugen, Einar: The Mythical Structure of the Ancient Scandinavians: Some Thoughts on Reading Dumézil. In: Lane, Michael [Hrsg.]: Introduction to Structuralism. Basic Books, New York 1970, S. 170-183. 22 Die transkribierte Schreibweise des kyrillischen Namens variiert stark. Hier wird jene Transkription angewandt, welche in den genannten Aufsätzen Verwendung findet. 23 Meletinskij, Eleazar M.: Scandinavian Mythology as a System [Part 1]. In: Schwimmer, Erik G. [Hrsg.]: Journal of Symbolic Anthropology, Nr. 1, 1973, S. 43-57; sowie in: Ders.: Scandinavian Mythology as a System [Part 2]. In: Schwimmer, Erik G. [Hrsg.]: Journal of Symbolic Anthropology, Nr. 2, 1974, S. 57-78. Eine Zusammenfassung der beiden Teile findet sich in: Ders.: Scandinavian Mythology as a System of Oppositions. In: Jason, Heda und Segal, Dimitri [Hrsg.]: Patterns in Oral Literature. Mouton Publishers, Den Hague und Paris 1977, S. 251-260. (= World Anthropology, Bd. 44) 24 Meletinskij: Scandinavian Mythology as a System [Part 1], S. 43. 25 Ebd. 26 Ebd., S. 43f. 27 Ebd., S. 44. 1 Einleitung 8 mythologische Objekte, die er jedoch nicht benennt, auf verschiedenen Ebenen zueinander in einer Beziehung stehen, doch scheint diese sehr statisch zu sein, wenn er erläutert, dass diese Koexistenz auf einer Opposition beruhe. 28 Sowohl das räumliche, als auch das zeitliche System der skandinavischen Mythologie sieht er eingeteilt in zwei Subsysteme: Den Raum teilt er in eine horizontale und eine vertikale Achse, die Zeit in Kosmogonie und Eschatologie. 29 Das horizontale System sieht er als anthropozentrisch und durch die Opposition von der Welt der Menschen (Miðgarðr) und einer unwirtlichen und feindlichen Welt außerhalb deren Grenzen (Útgarðr) aufgebaut. 30 An diese Aussage knüpft Meletinskij die semantischen Oppositionspaare „familiär“- „fremd“, „systematisiert“-„unsystematisiert“ oder „Zentrum“-„Peripherie“. 31 In diesem binären Gefüge, so seine Ansicht, ist der Himmel (womit hier Ásgarðr gemeint ist) nicht entgegengesetzt zu Miðgarðr, sondern als integraler Bestandteil der Welt der Menschen zu verstehen, wobei die beiden Begriffe der Erde und des Himmels abwechselnd im Narrativ verwendet würden. 32 Eine solche Darstellung der Welt, wie im Kapitel zur Entwicklung der Topographien der eddischen Mythen gezeigt werden wird, ist unzulänglich verkürzt und, wie auch schon bei de Vries moniert wurde, einem anthropozentrischen Weltbild geschuldet, das in dieser Form nicht durch die Narrative in den eddischen Texten gestützt werden kann. Eine weitere räumliche Opposition, die Meletinskij betrachtet, ist jene von „Land“ und „Wasser“, wobei er Miðgarðr als dem Weltmeer gegenübergestelles Land auffasst. Als Grenze zwischen den beiden Räumen interpretiert er den Miðgarðsormr, der schlangenhafte Wurm, der die Welt umspannend im Meer liegt. 33 Als weitere Gegenpole nennt er Miðgarðr oder Ásgarðr gegenüber dem Totenreich Hel, deren Opposition er als „süd“-„nord“ Gegensatz bestimmt, oder Miðgarðr zu J ǫ tunheimr, was dann als „west“-„ost“- Dichotomie definiert wird. 34 Der Süden, so Meletinskij, sei jedoch ausschließlich eschatologisch und somit zeitspezifisch bestimmt, da dies das Reich von Surtr sei, der als Feuerriese eine gewichtige Rolle während ragnarökr innehat. 35 Meletinskij unterschlägt jedoch, dass sowohl das Gebiet im Süden als auch das im Norden unter den Bezeichnungen Muspell (Süden), beziehungsweise Niflheimr (Norden), in der Prosa- Edda eine wichtige kosmogonische Bedeutung hat, da die Hitze und die Kälte, die von den beiden Polen ausgehen, jene Substanz erzeugen, aus der das Urwesen Ýmir entsteht. 36 28 Ebd. 29 Ebd., S. 46. Leider fügt Meletinskij in den hier erwähnten Aufsätzen keine bibliographischen Referenzen an, sodass man nicht erkennen kann, von wo er die Einteilung der Subsysteme übernommen hat. Wie oben zu lesen ist, implizieren aber schon frühere Untersuchungen, dass es eine solche Systematisierung gegeben hat. 30 Ebd. 31 Ebd., S. 46f. Die Dichotomie „systematisiert“-„unsystematisiert“ will Meletinskij analog zu Claude Lévi-Strauss’ Terminologie des mythologischen Oppositionspaars „Kultur“- „Natur“ verstanden wissen. 32 Ebd., S. 47. 33 Ebd. 34 Ebd. 35 Ebd., S. 47. 36 Siehe dazu: Edda Snorra Sturlusonar. (= Edda Snorronis Sturlæi). Sumptibus legati Arnamagnæani. Band 1 von 3. Nachdruck: Otto Zeller, Osnabrück 1966. (Editio princeps: Legati Arnamagnæani, Hafnia [= Kopenhagen] 1848-1887.), S. 42. 1.2 Skandinavistische Forschung zum Raum in den eddischen Mythen 9 Die vertikale Achse, wie sie Meletinskij in seine Systematisierung der skandinavischen Mythologie einfügt, sieht er durch die Weltenesche Yggdrasill wiedergegeben. Yggdrasill sei dreigeteilt in Himmel, Erde und Unterwelt, wobei jeweils Oppositionspaare zwischen allen Lagen auszumachen seien, was eine zweifache Opposition zwischen oben und unten ergäbe. 37 Besondere Aufmerksamkeit schenkt er den beiden Totenreichen, die er auf der vertikalen Achse situiert. Im Himmel wäre dies Valh ǫ ll und in der Unterwelt Hel. Dieser „oben“-„unten“ Opposition fügt Meletinskij zudem jene von „männlich“-„weiblich“ und „auserwählt“-„normalsterblich“ an. Valh ǫ ll identifiziert er als männlichen Ort, der von den Einherjar, den von Óðinn ausererwählten toten Kriegern, bewohnt wird, und Hel als weiblich konnotierten Ort, der der gleichnamigen Unterweltfigur und den nicht im Kampf verstorbenen Toten zugedacht ist. 38 Eine Übereinstimmung der beiden Achsen sieht er in einer Serie von Motiven - Meletinskij nennt sie „identifications“ 39 - die von der einen Achse in die andere transformierbar seien, so zum Beispiel der raumsemantische Inhalt von „Norden“, dessen Konnotation als Ort des Totenreichs in der horizontalen Achse nach „unten“ übertragen wird. 40 Eine solche Transformation scheint jedoch nicht mit dem übereinzustimmen, was Meletinskij selber, wie oben erwähnt, zuvor erkannt hat, wenn er das Totenreich der horizontalen Weltachse in der vertikalen auf zwei Orte aufteilt, einem unteren, Hel, und einem oberen, Valh ǫ ll. Des Weiteren kommt er beim Vergleich der beiden Achsen zum Schluss, dass die Opposition von „Kultur“-„Natur“ beim horizontalen Modell ausgeprägter sei und beim vertikalen der Gegensatz von „Kosmos“- „Chaos“ dominiere, was er aber eher an zeitlichen Strukturen festmacht als an räumlichen. 41 Meletinskijs Ausführungen sind zwar nicht gerade von einer profunden Textkenntnis geprägt, doch boten und bieten seine Ansätze viele Anknüpfpunkte, wie im Weiteren zu sehen sein wird. Auch seine religionswissenschaftlichen Vergleiche mit anderen, meist slawischen und indischen Mythen und Mythologemen wären sehr spannend, doch da er keine bibliographischen Referenzen für seine Aussagen angibt, ist es schwierig an Meletinskijs Überlegungen anzuknüpfen. Einen profunden Überblick über das Weltbild des mittelalterlichen Menschen gibt Aaron J. Gurjewitsch in seiner Monographie mit dem gleichlautenden Titel. 42 Darin geht er auf unterschiedliche, meist zentraleuropäische Vorstellungen der Welt ein, die seiner Ansicht nach die Menschen im Mittelalter prägten. Sein kulturhistorischer und komparatistischer Ansatz ist stark durch den Strukturalismus geprägt, doch nimmt auch Gurjewitsch wiederum Ideen auf, die schon von de Vries und dessen Zeitgenossen ausgeführt wurden. Zu Beginn seiner Ausführungen hält er fest, dass sich die Kategorien der Wahrnehmung von und Vorstellung über Zeit und Raum im Mittelalter stark von denen der Modernen unterscheiden. 43 Da auch die Zeit, so Gurjewitsch, 37 Meletinskij: Scandinavian Mythology as a System [Part 1], S. 48. 38 Ebd., S. 49f. 39 Ebd., S. 50. 40 Ebd. 41 Ebd. 42 Gurjewitsch, Aaron J.: Das Weltbild des mittelalterlichen Menschen. C.H. Beck, München 4 1989 (1980, die russische Erstausgabe erschien 1972). 43 Ebd., S. 30: „In dem sogenannten primitiven bzw. mythologischen Bewusstsein existieren diese Kategorien nicht als reine Abstraktionen, da das Denken der Menschen in dem archaischen Stadium der Entwicklung vorwiegend konkret und gegenständlich-sinnlich war.“ 1 Einleitung 10 im Mittelalter als etwas Räumliches empfunden worden sei, sei auch das damalige Verständnis der Gegenwart „nicht aus dem Grundmassiv der Zeit herausgelöst“ 44 gewesen. Die Gegenwart sei somit nicht von der Vergangenheit oder Zukunft abgekoppelt verstanden worden, sondern als etwas, das sich nach allen Seiten hin ausdehne, wobei sich die Zeitschichten durchdrungen und gegenseitig erklärt und mit Sinn gefüllt hätten. 45 Diese Aussage, die hier nur auf die Zeit bezogen wird, lässt sich auch auf räumliche Situationen und topographische Relationen innerhalb der eddischen Mythen anwenden. Wie schon de Vries’ etymologischer Ansatz, basiert auch Gurjewitschs kulturgeschichtliche Betrachtung auf der Grundannahme, dass der (Bauern-)Hof das Zentrum der kosmischen Vorstellungswelt des mittelalterlichen Menschen gewesen sei und sich darüber der Mikrokosmos auf den Makrokosmos übertragen lasse. Er geht sogar so weit, dass er sagt, dass das „Gehöft des Ackerbauers [...] das Modell des Weltalls [war]“, 46 was seiner Meinung nach besonders gut in der skandinavischen Mythologie ersichtlich sei, da sich darin vorchristliche Vorstellungen bewahrt hätten, die zuvor einmal allen germanischen Völkern gemeinsam gewesen seien. 47 Dabei klingen wiederum zwei schon bekannte Beobachtungen zur Gliederung der horizontalen Weltachse der eddischen Mythologie an: Einerseits Schüttes Untersuchungen zum Horizont des Menschen im (vor-)mittelalterlichen Skandinavien, welcher sich um den Hof als Zentrum herum aufbaue, wobei die Welt umso fremder werde, je weiter man von diesem Zentrum entferne, und andererseits die von Meletinskij stark gemachten semantischen Oppositionen von Kultur und Natur oder Kosmos und Chaos, die sich darin spiegelten. Gurjewitsch überträgt dieses Weltbild und dessen horizontale Weltachse in ein mythologisches System, wenn er den bäuerlichen Hof mit dem Wohnsitz der Götter gleichsetzt. Die skandinavische Mythologie, so Gurjewitsch, stelle insgesamt eine Geschichte der Besiedelung oder Landnahme dar. 48 Ihre Welt sei „die Gesamtheit der Höfe, welche von Menschen, Göttern, Riesen und Zwergen“ 49 bewohnt würden. Die Ausfüh- 44 Ebd., S. 31. 45 Ebd. 46 Ebd., S. 48. 47 Ebd: „Die Welt der Menschen - Midgard (Miðgarðr wörtlich - „mittleres Gehöft“) ist der bebaute, kultiviertere Teil des Weltraums. Midgard ist von einer den Menschen feindlichen Welt der Geister und Riesen umgeben, dem Utgard (Útgarðr); und dieser bezeichnete „das, was außerhalb der Begrenzung des Hofes gelegen ist“, den unbearbeiteten, chaotisch gebliebenen Teil der Welt. Der Kontrast von Midgard und Utgard findet eine Parallele in der Gegenüberstellung zweier Bodenkategorien im skandinavischen Recht - „in den Grenzen des Horts“ (innangards) und „außerhalb des Horts“ (útangards). Von diesem Kontrast wurde sowohl das grundlegende Rechtsverständnis (der individuelle und der kollektive Landbesitz) als auch die ursprüngliche Vorstellung vom Kosmos erfaßt: Die menschliche Welt, das Gehöft, der Bauernhof, der eine völlige Analogie und damit eine erhöhte Sanktion im Asgard - dem Gehöft der Asen (Æsir = Götter) besaß, wird von allen Seiten bedrängt durch eine unerforschte dunkle Welt der unheilvollen Mächte, der Ängste und Gefahren.“ Gurjewitsch zeigt bei solchen Überlegungen wenig Interesse an quellenkritischen Überlegungen, wenn er Texte des 13. Jahrhunderts, die auf Island verfasst wurden, auf gemeingermanische, vorchristliche Aussagen hin durchkämmt. 48 Ebd., S. 49. 49 Ebd. 1.2 Skandinavistische Forschung zum Raum in den eddischen Mythen 11 rungen zur Strukturierung der Welt mittels eines Netzwerkes von Höfen, 50 die auch an neuralgischen Orten stehen, wie dem Zentrum der Welt und den Schnittpunkten von Himmel und Erde, die Gurjewitsch aufstellt, scheinen auf den ersten Blick sehr plausibel zu sein. Gut angedacht ist auch die erfahrbare Prozesshaftigkeit der Kosmogonie. Problematisch ist hingegen, dass er diesen Gründungsprozess als etwas Abschließendes versteht, wenn er sagt, dass durch die Besiedlung der Welt die Topographie verfestigt werde, wobei sie jedoch zu einer statischen Größe verkommt. Gurjewitsch lässt hier außer Acht, dass besonders die Schöpfungsgeschichte in der eddischen Mythologie stark dynamisch geprägt ist und eben nicht, wie in anderen Kosmogonien, 51 final, sondern quasi-zirkulär, beziehungsweise seriell gestaltet ist, wenn man an die Rekonstruktion der Erde nach ragnarökr, beziehungsweise ragna r ǫ k denkt. Die Topographie ist, wie sie uns in den Narrativen der eddischen Mythen präsentiert wird, und wie später gezeigt werden soll, gerade nicht durch eine konsequente Verfestigung geprägt, sondern verformt und verändert sich andauernd. Geht man von den verschriftlichten eddischen Texten aus, so erschreiben diese die Topographie der eddischen Mythen und festigen sie in ihrer jeweils vorliegenden Form. Diese Mythen und ihre Topographie sind jedoch in keiner Weise determiniert oder indisponibel, was anhand der verschiedenen Versionen der eddischen Mythen, wie sie zum Beispiel in den Handschriften der Lieder-Edda und der Prosa-Edda vorliegen, belegt werden kann. An anderer Stelle vermischt Gurjewitsch die skandinavische Topographie, wobei er damit wohl eine geographische Topographie Skandinaviens im Mittelalter bezeichnet, mit der Topographie der Mythen, welche in den eddischen Texten die räumlichen Begebenheiten der in den Narrativen dargestellten Welten wiedergibt. 52 Eine solche Suche nach Überschneidungen oder Überlappungen der mythologischen Topographien der eddischen Narrative mit realen Topographien, wie man sie in der Geographie Skandinaviens wiederfinden kann, ist durchaus interessant. Forschungen auf diesem Gebiet haben gezeigt, dass über die Namensgebungen mythologische oder 50 Ebd., „Solange das Urchaos herrschte, war die Welt ungeordnet, und es gab in der Tat keinerlei Behausungen. Der Prozeß der Ordnung der Welt, der Trennung von Himmel und Erde, der Schaffung der Zeiten, des Tages und der Nacht, der Erschaffung der Sonne, des Mondes und der Sterne war gleichzeitig auch der Prozeß der Gründung von Gehöften und ein für allemal der Schaffung einer festen Topographie der Welt. An jedem Knotenpunkt der Welt, in ihrem Zentrum auf der Erde, im Himmel, an der Stelle, wo der Regenbogen beginnt, der von der Erde in den Himmel führt, und dort, wo sich Himmel und Erde vereinen - überall befindet sich ein Hof, ein Gehöft oder eine Burg.“ 51 Man denke hier zum Beispiel an den Schöpfungsvorgang in der Genesis, der, im Sinne der Ausgestaltung der Welt, einen explizit finalen Charakter hat. 52 Ebd., S. 49f: „Die skandinavische Topographie ist nicht durch rein geographische Koordinaten charakterisiert - sie ist erfüllt von emotionaler und religiöser Bedeutung, und auch der geographische Raum stellt gleichzeitig einen religiös-mythologischen Raum dar. Der eine geht zwangslos in den anderen über. Das Chaos, welches der Erschaffung der Welt und der Menschen vorausging, hieß Ginnungagap, „große Leere“. Die Leere stellte keinen negativen Begriff, nicht das Gegenteil des Angefüllten, sondern eine Art Potenz, einen Zustand dar, der die Voraussetzung für die darauffolgende Ordnung der Welt bildete und von einer magischen Kraft durchdrungen war. Doch im frühen Mittelalter ordneten die Skandinavier diese im Norden an - es ist das Eisschollen bedeckte Meer. Midgard ist in der Mythologie der Welt der Menschen, die von Gott geschaffen ist, eine Burg, die die Menschen vor dem Überfall der Riesen schützt. Doch bezeichnet man in der realen skandinavischen Topographie, wie wir sehen, auch ländliche Gehöfte mit diesem Namen.“ 1 Einleitung 12 gar religiöse Inhalte auf reale räumliche Gegebenheiten appliziert wurden. 53 Somit kann davon ausgegangen werden, dass auch die Landschaft eine mythologische Geschichte wiedergibt und, wie Stefan Brink es nennt, „zu uns spricht“. 54 Für das innertextuelle Verständnis der Topographien der eddischen Mythen fasst dies jedoch zu kurz, da von einem vortextuellen Mythos ausgegangen wird, der in einer gelebten Religion verankert war, und nicht von einer Textadaption, wie sie in den Handschriften, die allesamt lange nach der Christianisierung Skandinaviens entstanden sind, überliefert wird. Eine Betrachtung von Raum und Zeit nimmt auch Paul C. Bauschatz in seinem Text The Well and the Tree 55 vor. Wie schon der Titel vermuten lässt, geht Bauschatz vom Motiv der Quelle, in der nordischen Mythologie bezieht er sich hauptsächlich auf Urðr, beziehungsweise Urðar brunnr (dt.: Urðrs Quelle/ Brunnen), und dem Motiv des Baums, dem Weltenbaum Yggdrasill, aus. Die eddischen Texte liest er jedoch etwas eigenwillig, wenn er festhält: „[...] the tree rises from the well, and its branches, containing all created worlds, overspread it. The actions of these worlds fall as dew, some into the well and some outside it. Those actions falling within form the layered, sheeting, active strata within the well. These create a source of power, which, in turn, returns through the root to the upper portion of the tree.“ 56 Eine solche Leseweise ist aus Bauschatz strukturalistischem Ansatz heraus sinnvoll, da er dadurch zwei klar trennbare Bereiche, die Quelle und den Weltenbaum, erhält, die er als oppositäre Systeme auffassen und darüber den strukturalistischen Dualismus aufrecht erhalten kann. Den Bereich des Baumes definiert Bauschatz als den Lebensraum der Menschen, der so 53 Auch an dieser Stelle macht sich Gurjewitschs Unkenntnis bezüglich der eddischen Texte bemerkbar, die ihm zu seiner These ein gutes Argumentarium bereitgestellt hätten, wie an späterer Stelle gezeigt wird. 54 Brink, Stefan: Naming the Land. In: Brink, Stefan und Price, Neil [Hrsg.]: The Viking World. Routledge, London und New York 2008, S. 57-66. Brink schreibt dazu: „Since every name carries some historical information, place names can make the landscape ,speak‘ to us. The names give another dimension to the silent archaeological sources. They become small narratives that can be used in retelling the history of the early landscape, a field of research that I have called spatial history, hence whose aim is to write a history where people are not agents, but the landscape is.“, S. 57. 55 Bauschatz, Paul C.: The Well and the Tree. The University of Massachusetts Press, Amherst 1982. Innerhalb der Skandinavistik wurde Bauschatz’ Untersuchung sehr kontrovers bewertet. Siehe dazu die folgenden Rezensionen: Dick, Ernst S., in: Speculum, Vol. 59, No. 3, 1984, S. 616-619; Lincoln, Bruce, in: Hostory of Religion, Vol 23, No. 1, 1983, S. 84-87; Lindow, John, in: The Journal of English and Germanic Philology, Vol. 83, No. 2, 1984, S. 264-265. Da Bauschatz, trotz der zum Teil harschen Kritik in den Rezensionen, für die vorliegende Arbeit interessante Überlegungen anstellt, findet sein Ansatz hier Erwähnung. 56 Bauschatz: The Well and the Tree, S. 122. In den eddischen Texten steht jedoch, dass sich nicht Äste, sondern Wurzeln (an.: rót) zu den einzelnen Welten oder Reichen hin erstrecken, wobei sich jene Wurzel, unter der Urðarbrunnr liegt, in den Himmel erstreckt. Siehe dazu: Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 70: „Þriðja rót asksins stendr á himin, ok undir þeirri rót er brunnr sá, er mjök er heilagr, er heitir Urðarbrunnr; […]“ [Die dritte Wurzel der Esche ragt in den Himmel und unter dieser Wurzel ist jene Quelle, die sehr heilig ist, diese heißt Urðarbrunnr; ...]. Alle Übersetzungen aus dem Altwestnordischen, bzw. Altisländischen stammen, sofern nicht anders ausgewiesen, von mir, L. R. 1.2 Skandinavistische Forschung zum Raum in den eddischen Mythen 13 aufgebaut sei, dass man ihn als „,created‘ reality“ 57 bezeichnen könne. Diese Definition des Bereiches der Menschen als ein dreidimensionaler Raum, der durch die Relation zwischen Gegenständen und Personen und deren Handeln charakterisiert, moduliert und erfahrbar gemacht ist, scheint vorerst sinnvoll zu sein, auch wenn Bauschatz die Menschen ins Zentrum rückt, wofür es nur in den Heldenliedern der Lieder-Edda Belege gibt, nicht jedoch in den Göttermythen, auf welche er sich hier ganz klar bezieht. Die Quelle hingegen, so Bauschatz, sei räumlich ganz anders strukturiert. Sie beinhalte den gesamten Kosmos, außer jenem des rein physikalischen und dreidimensionalen Raumes des Baumes, der nur in seiner ephemeren Präsenz und statischen Verfestigung existiere. Im Gegensatz dazu sei der Raum der Quelle ein konzeptioneller und abstrakter, in dem sich alle Motive und Gründe - und darin eingeschlossen die Finalität des Raumes des Weltenbaumes - für die Handlungen befänden und somit auch die wechselseitigen Beziehungen zwischen diesen Handlungen angelegt seien. 58 Innerhalb der Quelle sammle sich daher sowohl die Zukunft aller Gegebenheiten und Handlungen von Objekten und Personen, die sich innerhalb der Welt oder der Welten des Baumes abspielen, sowie alles Vergangene, das wieder in die Quelle zurückkehrt. 59 An diese Feststellung knüpft Bauschatz an, dass die Welt von Yggdrasill der horizontalen Achse entspreche, bei der die Handlungen synchron verlaufen, und der Bereich von Urðar brunnr der vertikalen Achse, also einem diachronen Handlungsverlauf. 60 Diese Annahme kann so aber nur dann gelten, wenn man die Achsen als zeitliche Codes versteht und nicht als rein räumliche Lagerungen der Welten, da Bauschatz im Gegensatz zu den bisher genannten Forschungsansätzen nur jenen Teil des Kosmos betrachtet, der entlang der Weltenesche situiert ist. Handlung oder Bewegung sind für Bauschatz zentrale Voraussetzungen für die Erfahrbarkeit oder sogar für die Existenzmöglichkeit von Raum: „Where there is no action of significance, there is, in effect, no space.“ 61 Der Mensch orientiere sich im Raum anhand von signifikanten Handlungen und bewege sich so darin, dass es ihm entweder gewährt sei, in gewisse existente Räume einzudringen und sich darin zu bewegen, oder er erschaffe diese seinen Bedürfnissen gemäß und den Vorgaben folgend, welche der Bereich der Quelle dafür bereitstelle, selbst. 62 An dieser Stelle beginnt Bauschatz die Kategorien Zeit und Raum stark zu vermischen, wobei der Raum zu einem Kontainer für die Zeitebenen wird und der eigentliche, erlebte Raum nur noch auf der dünnen Linie der Gegenwart Platz findet. 63 Diese 57 Bauschatz: The Well and the Tree, S. 125. Weiter schreibt er ebenda: „It is a realm of things, objects, their relations and their actions. It is largely and most obviously physical and real in a three-dimensional sense. All aspects of it become known first and most clearly by their created shapes and by the ways in which those shapes move and interact. It is a realm of actions, not motives; a realm of physical realities, not abstractions.“ 58 Ebd., S. 125. 59 Ebd. 60 Ebd., S. 126 und S. 129. 61 Ebd., S. 132. 62 Ebd., S. 138. 63 Ebd., S. 139: „The past, as collector of events, is clearly the most dominant, controlling portion of all time. Man’s world stands at the junction of this past and the nonpast, that is, at that point, the present, in which events are in the process of becoming ,past‘. The past is experienced, known, laid down, accomplished, sure, realized. The present, to the contrary, is in flux and confusion, mixed with irrelevant and significant details. What we nowadays 1 Einleitung 14 Überlegung versucht er am Beispiel einer Person zu erläutern, die vor einem Kontainer steht, der als Raum für Vergangenes dient, und in diesen hineinblickt. Dabei steht die Person an der Schwelle zum Kontainer, welche die Gegenwart darstellt. Dinge, die in der Gegenwart geschehen, können nun für die Vergangenheit wichtig werden und im Kontainer untergebracht werden, oder sie gehen daran vorbei. Zukünftiges, als auch Ereignisse, die nicht im Vergangenheitskontainer gesammelt werden, kann die Person nicht wahrnehmen. 64 Dies würde für den Raum bedeuten, dass er nur in der Zeitlichkeit, also in der Gegenwart und in der Vergangenheit, eine Ausdehnung hätte. Daraus leitet er weiter ab, dass das germanische Zeitschema nur binär, also gegenwärtig und nichtgegenwärtig, und nicht dreigliedrig wie das moderne Schema - aufgeteilt in Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit - gewesen sei. Bauschatz geht bei dieser Annahme sogar so weit, dass er grundsätzlich für das germanische Weltbild postuliert, dass dieses kein Konzept „Zukunft“ kenne. 65 Denkt man nun aber an die eddische Mythologie und hierbei speziell an die prophetischen Texte, wie zum Beispiel die V ǫ lospá, 66 so ist in diesen immer auch eine von den prophezeienden Erzählinstanzen vermittelte Zukunft mit angedacht. Bauschatz sieht durchaus auch die Problematik des binären Zeitschemas, das die von ihm propagierte Räumlichkeit aufweist. 67 Raum ist, im Sinne Bauschatz’, nur als Behälter für die Zeit existent und um Zeitlichkeit erfahrbar zu machen. Anscheinend ist der Raum jedoch finit und die Zeit endet in jenem Moment, in dem der Kontainer gefüllt ist und überzulaufen beginnt. Wieso sich der Zeitbehälter, der den Raum darstellt, nicht unendlich weit ausdehnen kann, wird ebenso wenig erläutert, wie die Frage danach, wie der Raum gestaltet ist, der die Nichtvergangenheit ein- oder aufnimmt. Das kosmische Ende, das Bauschatz in diesem binären System angelegt sieht, würde man innerhalb der eddischen Mythologie wohl intuitiv auf ragnarökr, beziehungsweise ragna r ǫ k beziehen. Doch Bauschatz versteht unter ragnarökr oder ragna r ǫ k nur einen von mehreren Zeitpunkten, der einen Anfang, jedoch kein Ende markiere. 68 Seine Überlegungen zu den unendlichen Anfängen, die er in einer Verschachtelung unzähliger Kontainer, welche die überlaufende Zeit aufnehmen können, abge- call the ,future‘ is, within the structure of this Germanic system, just more of the nonpast, more flux, more confusion.“ 64 Ebd., S. 140. Auf ebendieser Seite illustriert Bauschatz seine Ausführungen auch anhand einer Skizze. 65 Ebd., S. 141. 66 Siehe dazu: Edda. Die Lieder des Codex regius nebst verwandten Denkmälern. Band I: Text. Neckel, Gustav [Hrsg.], 5. verbesserte Auflage von Hans Kuhn, Carl Winter Universitätsverlag, Heidelberg 1983, S. 1-16. 67 Bauschatz: The Well and the Tree, S. 142: „Within the binary time system, the past is constantly increasing and pulling more and more time and events into itself; it alone has any assured strength or reality. Because of this, time is ever-changing, growing, and evolving. It is agglutinative and open-ended, as is its container. This structure leads, temporally, to one obvious conclusion: The container will eventually become full. Upon such conclusion, we would expect a cosmic close, an end of the universe implicit in the structure itself.“ 68 Ebd., S. 143: „It is clear that Ragnar ǫ k is not the end of time but one of, apparently, several temporal points in the cosmos that mark beginnings. These points are at once new and old. It is as if the container of the past had overflowed itself and had begun to fill another, larger container, which somehow is structured so as to surround and enclose the earlier one; it contains more, and as more time is accomplished, more and more time grows.“ 1.2 Skandinavistische Forschung zum Raum in den eddischen Mythen 15 bildet sieht, macht er daran fest, dass gemäß V ǫ lospá 69 einige Götter auch in der Welt, die nach ragnarökr oder ragna r ǫ k entsteht, wieder präsent sind und dass der Drache Níðh ǫ ggr, der in der vergangenen Welt den Mördern, Ehe- und Eidbrechern am Totenstrand das Blut aussaugte, über die neue Welt hinwegfliegt. 70 Wieso dadurch jedoch das binäre Zeitschema gestützt werden soll, wird nicht ganz klar, deutet doch gerade dieses Erneuern der Welt auf ein serielles Zeitverständnis hin. Die Überlegungen hinsichtlich der ineinander verschachtelten Kontainer, die überlaufende Zeit aufnehmen können, sodass das kosmische System nicht endet, scheint recht interessant und auch fruchtbar verwendbar zu sein, wenn man es ausbauen und nicht nur die Zeit in den Vordergrund rücken würde. Es stellt sich die Frage, was mit dem einen Kontainer, also einem einzelnen Raum, der die Vergangenheit aufgenommen hat, geschieht, wenn ein neuer, anscheinend größerer Kontainer, als Überlaufbecken zu wirken beginnt. Sind dann Zeit und Raum der vergangen Welt in die neue inkludiert? Oder wieso geht der alte Raum nicht im neuen auf, um damit auch die Vergangenheit wieder erfahrbar zu machen? Und wenn der neue Kontainer als Überlaufbecken fungiert und somit eine größere Öffnung haben muss, als sein Vorgänger, ist dann auch die erfahrbare Gegenwart größer und wird dadurch mehr Handlung und Bewegung in die Vergangenheit aufgenommen? Solche Überlegungen sollen unter Anderem in der vorliegenden Arbeit im Kapitel zum Ende behandelt werden, in dem die Endlichkeit der Topographien der eddischen Mythen diskutiert wird. Insgesamt sind die philosophischen Überlegungen, die Bauschatz in The Well and the Tree anstellt, zwar interessant, doch sind diese, da sie den Raum nur als relationale Größe für die Betrachtung der Zeit benutzen, nicht adäquat auf die Fragen nach den Topographien der eddischen Mythen adaptierbar. Zudem ist das Weltbild, das er seinen Betrachtungen als Folie unterlegt, rein anthropozentrisch gehalten und daher nicht wirklich in Korrelation mit den Narrativen zu den eddischen Mythen zu bringen, sofern man sich nicht dezidiert mit den eddischen Heldenliedern auseinandersetzt, was Bauschatz auch nicht tut. Auch die Dänin Kirsten Hastrup setzt sich in ihrer Monographie Island of Anthropology. Studies in past and present Iceland 71 unter Anderem mit dem Raumverständnis im mittelalterlichen Island auseinander. Wie der Titel schon andeutet, tut sie dies unter ausgewiesen anthropologischem Blickwinkel, wobei sie klar strukturalistischen Methoden folgt. Bei der Betrachtung der Kosmologie bezieht sie sich hauptsächlich auf die weiter oben bereits erwähnten Arbeiten von Meletinskij und Gurjewitsch. Zu Beginn ihrer Arbeit geht Hastrup auf das horizontale Weltmodell ein und beschreibt einmal mehr die schon bekannte Opposition von Miðgarðr, dem topographisch betrachtet untrennbar Ásgarðr inkludiert sei, und Útgarðr, und die damit verbundene Trennung von Menschen und Göttern gegenüber Riesen und anderen nichtmenschlichen Wesen. 72 Als Trennlinie zwischen den beiden Sphären sieht sie das Meer und in ihm den Miðgarðsormr, als Repräsentant jener bösen Mächte, die durch den Gott Þórr bekämpft werden. 73 Diesen stellvertretend für die Menschen ausgetra- 69 Siehe dazu zum Beispiel: Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 1-16. 70 Bauschatz: The Well and the Tree, S. 142f. 71 Hastrup: Island of Anthropology. 72 Ebd., S. 27f. 73 Ebd., S. 27. Dass das Meer als Grenze zwischen Miðgarðr und Útgarðr liegen soll, ist im Zusammenhang mit Útgarðr als ein eigenständiger Lebensraum der Riesen durch die Texte 1 Einleitung 16 genen ständigen Kampf des Asen gegen die Bedrohungen durch Riesen, Trolle und Ungeheuer interpretiert Hastrup als Vermittlung zwischen Innen und Außen. 74 Die Tatsache, dass beide Kräfte - die des Inneren und die des Äußeren, respektive des Guten und des Bösen - sich an den Grenzen oder durch Überlappungen treffen können und dabei abwechselnd die Oberhand gewinnen, verweise auf eine Art von Begegnungsstätte, die sich durch eine Ausgeglichenheit der Kräfte auszeichne. 75 Das Innere sei in der Realität der isländischen Bauern des Mittelalters der Hof gewesen, das Äußere sei mit dem unbewohnten und unkontrollierten Raum assoziiert worden. 76 Hastrup geht sogar noch einen Schritt weiter in ihrer anthropologischen Auslegung des horizontalen Weltmodells der eddischen Mythen, wenn sie diesem Modell ein soziales zur Seite stellt. 77 Hastrup zufolge sei es nicht verwunderlich, dass diese sehr altertümliche skandinavische Vorstellung des Kosmos auf Island so lange überdauerte, wenn man von der Übertragbarkeit des horizontalen Modells auf die Vorstellungswelt des skandinavischen Menschen im Mittelalter und den geographischen Gegebenheiten Islands als Insel ausgehe. 78 Das vertikale Modell des Kosmos behandelt Hastrup nur sehr kurz und sie bekräftigt, was schon Meletinskij feststellte, um sich dann zwei zeitlichen Modellen zu widmen, die sie den beiden unterschiedlichen räumlichen Codes zuordnet. 79 Sie hält fest, dass die Zeit im horizontalen Modell reversibel sei, da keines der beiden Lager, die sich gegenüberstehen und zu getrennten Sphären gehören, den Raum des anderen einnimmt. 80 Das vertikale Modell sei hingegen durch Irreversibilität geprägt, was sie an den Konnotationen von Yggdrasill als Baum des Schicksals und Urðar brunnr als Quelle des Schicksals und Wohnstätte der Nornen festmacht. 81 Hastrup schließt ihre zu den eddischen Mythen nicht belegbar und scheint eine Interpretation von Hastrup zu sein. Auch wenn Þórr manchmal durchs Wasser waten muss, um zu den Riesen zu gelangen, so werden an diesen Stellen meist Flüsse genannt. Zwar geht Þórr im Zuge seines Abenteuers bei Útgarða-Loki, wie in der Gylfaginning beschrieben, übers Meer zu den Riesen, doch handelt es sich dort bei Útgarðr explizit um eine Burg, die zudem im Narrativ „austr í Jötunheima“ verortet wird. Diese Textstelle kann somit in keiner Weise als Beleg für einen Lebensraum der Riesen dienen, der sich innerhalb der Topographien der eddischen Mythen mit Útgarðr benennen lassen würde. Vgl.: Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 144-150. Zur Kritik an Hastrups Leseweise siehe auch: Schjødt, Jens Peter: Horizontale und vertikale Achsen in der vorchristlichen skandinavischen Kosmologie. In: Ahlbäck, Tore [Hrsg.]: Old Norse and Finnish Religions and Cultic Place- Names. Koteva, Åbo 1990, Fußnote Nr. 5, S. 45. 74 Hastrup: Island of Anthropology, S. 28. 75 Ebd. 76 Ebd. Diese Auffassung von Innen und Außen im Bezug auf die eddische Mythologie wurde, wie oben zu lesen ist, schon von Jan de Vries vertreten. 77 Ebd., „For the people, then, the horizontal model of centre and periphery (or of concentric circles) served as a confirmation of the distinction between the ,we‘ inhabiting the centre and the ,others‘ inhabiting the periphery of the world, at many levels of reality. Taking this somewhat beyond the concept of space, we find in this cosmological model a genera model for conceiving of the opposition between the security of the ,familiar‘ and the danger of the ,foreign‘ or the ,unknown‘ - which again was expressed also in the concept of the ætt (the kin group) as a bounded unit of allies, with ego standing at the centre.“ 78 Ebd., S. 29. 79 Ebd., S 31f. 80 Ebd., S. 31. 81 Ebd., S. 32. 1.2 Skandinavistische Forschung zum Raum in den eddischen Mythen 17 Erörterungen zur Kosmologie und Gesellschaft im mittelalterlichen Island mit der Feststellung, dass die beiden Modelle in der Prosa-Edda wohl eher als ineinander integriert verstanden und bei Weitem nicht so getrennt betrachtet worden seien, wie sie dies tue. 82 Die Frage nach der Vereinbarkeit der beiden Modelle ist aber auch hier von Interesse, wenn diese, gemäß den Manifestationen in den einzelnen Narrativen, im Kapitel zur Unvereinbarkeit der erzählten Topographien, betrachtet werden. Auch der dänische Religionswissenschaftler Jens Peter Schjødt setzte sich mittels strukturalistischer Ansätze mit den Weltachsen in der skandinavischen Kosmologie auseinander. 83 Schjødt kritisiert in seinem Aufsatz, dass viele der mittels strukturalistischer Methoden gewonnenen Einsichten in die räumliche Gliederung der eddischen Mythologie durch die starren Oppositionen und binären Systematisierungen zu vermeintlichen Unvereinbarkeiten bezüglich der Weltachsen führen. Dabei liegt aus seiner Sicht das einzig Widersprüchliche bei der Einteilung der Welt in eine horizontale und eine vertikale Achse im Standort, der den Göttern zugeordnet wird. 84 Im horizontalen Weltbild ist das göttliche Refugium Ásgarðr, wie oben bereits mehrfach erwähnt, im Zentrum der Welt verortet. Im vertikalen Modell wird Ásgarðr hingegen im Himmel situiert. Laut Schjødt weist das Kosmosbild, welches seiner Meinung nach den eddischen Texten entnommen werden kann, im Grunde eine zusammenhängende Konzeption auf. 85 Schjødt versteht somit die Koordinate „oben“, die bisher als Kardinalpunkt auf der vertikalen Achse galt, als reine Funktion, die auf der horizontalen Achse gegeben ist, um über diese Koordinate einen Weg zurückzulegen, der nicht dem einer Geraden auf einer Ebene entspricht. Die Richtungsangabe „nach oben“, die bisher als Punkt einer vertikalen Lagerung der Welten verstanden wurde, interpretiert er dahingehend, dass dies auch auf einen höher gelegenen Wohnsitz der Götter, innerhalb des horizontalen Weltbildes, verweisen könne. 86 Der vertikalen Achse gesteht er hingegen nur nach unten hin eine Bedeutung zu, da sie in diese Richtung mannigfaltig bevölkert sei. 87 Alle Wesen, die dieser Achse zugeordnet seien, hätten eine Verbindung zur Unterwelt. 88 Interessant ist hierbei, dass 82 Ebd. 83 Schjødt: Horizontale und vertikale Achsen in der vorchristlichen skandinavischen Kosmologie, S. 35-57. 84 Ebd., S. 35. 85 Ebd., S. 45: „[...] die Götter haben ihren Platz im Zentrum; aussenherum sind dann die Menschen, die Riesen und das Weltenmeer in selbiger Reihenfolge in ,Domänen‘ platziert, die als konzentrische Zirkel aufgefasst werden. In Richtung nach ,oben‘ ist der Himmel, Ýmirs Schädel, auf dem die Sterne und andere Himmelskörper sitzen und durch den die Götter durchreisen konnten - besonders Þórr wenn er von Miðgarðr nach Útgarðr und wieder zurück flog. In diesem Sinne sind die Götter natürlich ,himmlisch‘, aber es ist charakteristisch, dass der Himmel in diesem Zusammenhang ,benutzt‘ wird und daher in Relation zu dem horizontalen Modell eine Funktion bekommt.“ 86 Ebd., S. 46. Schjødt versteht diesen höher gelegenen Ort im Gegensatz zum tiefer gelegenen Meer, wobei er für einen solchen argumentativen Höhenvergleich ein Nullniveau, zum Beispiel den Meeresspiegel als Normalhöhennull, annehmen müsste. 87 Ebd. 88 Ebd., „Dies gilt für Gruppen wie Zwerge, Elfen und vermutlich auch die Wanen, betrachtet als Gesamtgruppe, aber hauptsächlich wohl für Hel und die Toten, die in ihrem Reich verkehren. Ganz abgesehen davon, wie interessant diese Unterwelt ist, so soll es in diesem Zusammenhang ausreichen, auf ihre Existenz hinzuweisen, wodurch die vertikale Achse dann etabliert ist.“ Mit der strukturellen Frage nach den Wanen setzt sich Schjødt in folgendem 1 Einleitung 18 Schjødt die Riesen nicht zu den chthonischen Wesen der Unterwelt im vertikalen Modell zählt. Dennoch sind für ihn die Riesen von zentraler Bedeutung, wenn es um die Kosmogonie, im Gegensatz zur Kosmologie, 89 geht, wie die Kosmologie in den eddischen Quellen überliefert wird. Besonders hebt er den Urriesen Ýmir hervor, den er als „das Baumaterial für den gesamten Kosmos“ 90 bezeichnet. Schjødt weist auch darauf hin, dass es wichtig sei, dass Ýmir erst nach seinem Tode Bedeutung erhalte, wenn die Götter aus dem Chaos den Kosmos formen. 91 Betrachtet man aber die Prosa-Edda, so wird deutlich, dass diese Annahme nicht wirklich gelten kann, da darin, wie im Kapitel zur Entstehung verschiedener Welten in der Prosa-Edda dargelegt wird, ausdrücklich beschrieben wird, dass die Welt schon vor der Existenz Ýmis in Norden und Süden geteilt war und somit eine gewisse Struktur aufwies. 92 Gemäß Schjødts Betrachtungsweise kann die Kosmogonie als doppelte Opposition gelesen werden, bei welcher sich die Riesen, beziehungsweise das Chaos, und die Götter, oder der Kosmos, gegenüberstehen, was dann auch für den Untergang, also die Eschatologie, gilt. 93 Übertragen auf den räumlichen Code sieht er diese Opposition von Chaos und Kosmos auch im horizontalen Weltmodell, bei dem das Refugium der Riesen am weitesten entfernt ist von jenem der Menschen und Götter. 94 Aus seiner Sicht „[...] scheint [es] daher völlig ohne Übereinstimmung mit den Quellen, zu behaupten, dass Chaos vs Kosmos auf der vertikalen Achse am deutlichsten hervortritt: Chaos droht ganz allein auf der horizontalen Achse.“ 95 Schjødt wirft in seinem Aufsatz den von ihm kritisierten Forschern vor, dass diese „einem Systemzwang zum Opfer gefallen sind, der nicht notwendig ist, um strukturalistische Analysen zu machen.“ 96 Denselben Vorwurf kann man aber auch ihm machen, da er dem Zwang nach Oppositionen folgend, diese an willkürlich aufgestellten Punkten festmacht. Wie oben gezeigt wurde, ist unter Anderem Schjødts Verortung des Wohnsitzes der Götter, bei dem er „oben“ als auf der horizontalen Achse liegend annimmt, nicht wirklich stringent gewählt, wenn er danach die Oppositionen „Reich der Götter und Menschen“ gegenüber der „Unterwelt“ als sich auf der vertikalen Achse befindend bestimmt. Wenn er davon ausgehen möchte, dass die beiden Achsen in den Texten eher einem zusammenhängenden Konzept gleichen, so müsste man sich Aufsatz auseinander: Schjødt, Jens Peter: Aser og vaner: Historie eller struktur? In: Fallos, Nr. 5, Århus 1984, S. 48-70. 89 John Stanley Martin weist seinerseits darauf hin, dass eine Einteilung in Kosmogonie und Kosmologie bei den eddischen Mythen nicht immer ganz einfach sei: „From the outset it should be noted that it is at time very hard to distinguish between cosmogonic and cosmological themes. In many places mythological geography intrudes into presentation of motifs of origin.“ (S. 358) Martin, John Stanley: Ár vas alda. Ancient Scandinavian creation myths reconsidered. In: Dronke, Ursula et al. [Hrsg.]: Speculum Norroenum. Norse Studies in Memory of Gabriel Turville-Petre. Odense University Press, Odense 1981. S. 357-369. 90 Schjødt: Horizontale und vertikale Achsen in der vorchristlichen skandinavischen Kosmologie, S. 51. Dass dies nicht immer die Funktion ist, die Ýmir in den eddichen Mythen zuteil wird, wird im Kapitel zum Anfang im Narrativ aufgezeigt . 91 Ebd. 92 Siehe dazu: Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 40. 93 Schjødt: Horizontale und vertikale Achsen in der vorchristlichen skandinavischen Kosmologie, S. 51. 94 Ebd., S. 51. 95 Ebd. 96 Ebd. 1.2 Skandinavistische Forschung zum Raum in den eddischen Mythen 19 eine Art Globus vorstellen und nicht erneut in ein binäres System ausweichen, welches zuvor noch negiert wurde. Zudem geht Schjødt auch bei der Systematisierung der Anfangssetzung, wenn aus dem Chaos Kosmos wird, nicht den Narrativen der eddischen Mythen folgend vor, sondern wählt mit dem Tode Ýmis einen Zeitpunkt im Narrativ, der als einer von mehreren Anfängen gelten kann. 97 Einen ausgewiesen komparatistisch-religionshistorischen Ansatz verfolgt Kurt Schier in seinem Aufsatz Die Erdschöpfung aus dem Urmeer und die Kosmogonie der Völospá 98 . Darin vergleicht Schier Motive aus den verschiedenen Versionen der Kosmogonie in den eddischen Mythen mit anderen indoeuropäischen, slawischen, persischen und ägyptischen Schöpfungsmythen um herauszufinden, ob „das Emporheben der Erde aus dem Meer“ 99 , als welches Schier die Kosmogonie in der V ǫ lospá versteht, eine Erfindung des anonymen Dichters oder ein erhaltenes Motiv eines Urmythos sei. 100 Das Chaos vor der Schöpfung, so argumentiert er, sei keine Leere im Sinne eines Vakuums, sondern eine prima potentia oder prima materia, die ungeordnet sei. 101 So könnte man den Urriesen Ýmir als diese Urmaterie verstehen oder eben auch das Meer, aus welchem die Erde gehoben wird. 102 Eine andere Möglichkeit, das Chaos zu beschreiben, sieht er in der Darstellung ex negativo der Dinge, die noch nicht waren, als das Chaos vorherrschte, wobei natürlich gleichzeitig die zukünftige Existenz jener Dinge durch ihre Nennung präsupponiert wird. 103 Diese Chaosumschreibung nach dem Muster „[a]ls A noch nicht war und B noch nicht war, ... da war X (aus dem die Welt geschaffen wird)“ kommt mehrfach in den eddischen Texten vor, wenn auch in unterschiedlichen Zusammenhängen. 104 Dass die Kosmogonie, wie sie in der V ǫ lospá 4,1.2 105 wiedergegeben ist, eine Weltentstehung aus dem Wasser sei, ist nicht unumstritten. Schier weist selber darauf 97 Dies wird unter Anderem im Kapitel zur Entstehung der verschiedenen Welten in der Prosa-Edda diskutiert. 98 Schier, Kurt: Die Erdschöpfung aus dem Urmeer und die Kosmogonie der Völospá. In: Strerath-Bolz, Ulrike et al. [Hrsg.]: Nordlichter. Ausgewählte Schriften 1960-1992. Diederichs, München 1994, S. 15-52. 99 Ebd., S. 15. 100 Wie schon weiter oben betont, wird die Annahme eines allem zugrunde liegenden Urmythos im Bezug auf die analysierten und diskutierten eddischen Texte in der vorliegenden Arbeit als nicht verifizierbar betrachtet und daher gänzlich abgelehnt. Aus diesem Grund wird auch einzig mit den vorhandenen Textquellen, sowohl den wichtigsten Handschriften, als auch den gängigen kritischen Editionen, gearbeitet und entlang der darin verschriftlichten Narrative argumentiert. 101 Schier: Die Erdschöpfung aus dem Urmeer und die Kosmogonie der Völospá, S. 21. 102 Ebd. 103 Ebd. 104 Ebd., S. 21f. Schier nennt hier nebst der V ǫ lospá in einer Fußnote auch Vafðrúðnismál, Þrymsqviða und Oddrúnargrátr. Zudem verweist er in diesem Zusammenhang auch auf den Zauberstab von Ribe, sowie auf das Wessobrunner Gebet, auf Heliand 2886, Andreas 799, Crist 968, den Runenstein von Skarpåker in Schweden und ein nicht betitelte altenglische Formel, wobei sich der Vergleich bei den nichteddischen Belegen hauptsächlich auf die Wendung „Erde und Oberhimmel“ stützt. Siehe dazu auch: Lönnroth, Lars: The Founding of Miðgarðr (V ǫ luspá 1-8). In: Acker, Paul und Larrington, Carolyne [Hrsg.]: The Poetic Edda. Essays on Old Norse Mythology. Routledge, New York 2002, S. 1-25, insbesondere S. 14-19. 105 Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 1: „Áðr Burs synir bioðom um ypþo“ [Bis Burs Söhne das Land bekannt machten] oder [Bis Burs Söhne das Land hoben]. 1 Einleitung 20 hin, dass in der Negativumschreibung des Chaos (V ǫ lospá 3,3.4 106 ) steht, dass noch kein Meer existiere. 107 Dem gegenüber stellt er jedoch V ǫ lospá 59,1.2.3 108 . Diese Textstelle kann laut Schier fast nur so aufgefasst werden, dass die V ǫ lva, also die Seherin, welche gemäß seiner Lesweise die Erzählinstanz des ganzen Liedes ist, von einem erneuten Hochheben des Landes aus dem Meer spricht. 109 Schiers Betrachtung der religionshistorischen Motive in der V ǫ lospá sind dann sehr ergiebig, wenn er nahe am eddischen Text bleibt und versucht, die innertextuellen Zusammenhänge des Narratives dieses eddischen Liedes aufzudecken. Dennoch verfällt er jedoch oft derselben methodischen Suche nach „genetic similarities“ 110 , wie sie auch schon von de Vries angestrebt wurde und die meist im Erkennen von Motivähnlichkeiten zwischen unterschiedlichsten Religionen in unterschiedlichsten Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden endet. Diese Motivspuren benutzt Schier dann dazu, die Kosmogonie, wie sie seiner Meinung nach in der V ǫ lospá präsentiert wird, als sehr alte mythische Tradition zu bestimmen. 111 Zu einem innertextuellen Verständnis der Narrative der eddischen Mythen, welche sich auf die Beschreibung der Topographien beziehen, trägt die Frage nach der Herkunft der Motive und Themen jedoch wenig bei. Bei der Betrachtung und Diskussion all dieser strukturalistischen Arbeiten zeigte sich, dass die Arbeit am eigentlichen Textmaterial, wie es sich in den Handschriften und den kritischen Editionen finden lässt, oft zugunsten der methodisch geforderten Struktur vernachlässigt wird. Das starre Konzept der binären Strukturen vermag nicht oder nur bedingt die stark dynamische Welt der eddischen Mythen zu fassen und es erweist sich daher auch als unzureichend, um die Topographien derselben zu beschreiben. Dennoch bieten einige Ansätze durchaus eine gute Grundlage, um darauf eine vertiefte Auseinandersetzung mit den Topographien der eddischen Mythen aufzubauen. 1.2.4 Neuere Ansätze in der eddischen Forschung Erst neuere Forschungsansätze, wie sie Lars Lönnroth oder Tatjana N. Jackson verwenden, betrachten die eddische Mythologie - wohl auch aus einer Gegenbewegung zum Strukturalismus heraus - als etwas stark Dynamisches. Räumliche Strukturen und Topographien werden folglich nicht mehr als gegebene und starre Größen wahrgenommen, sondern als sich in ihrer Struktur, Form und Funktion verändernde und wandelbare Zustände beschrieben. So wird das Erschaffende und Wandelnde, das jeder Mythos in sich trägt, auch in seiner narrativen Ausprägung veranschaulicht. Zudem wurde auch die Skandinavistik in den letzten Jahren durch ein neues Textver- 106 Ebd., „vara sandr né sær né svalar unnir“ [weder Sand noch See waren noch kalte Wogen]. 107 Schier: Die Erdschöpfung aus dem Urmeer und die Kosmogonie der Völospá, S. 25. 108 Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 14: „Sér hon upp koma ǫ ðro sinni iorð ór ægi“ [Sie sieht ein weiteres Mal hervorkommen]. 109 Schier: Die Erdschöpfung aus dem Urmeer und die Kosmogonie der Völospá, S. 25. Die Frage, wie sich die Kosmogonie in den unterschiedlichen Narrativen der eddischen Mythen präsentiert, wird in der vorliegenden Arbeit eingehend im Kapitel zu den Anfängen und Anfangssetzungen diskutiert. 110 Siehe hierzu: Martin: Ár vas alda. Ancient Scandinavian creation myths reconsidered, S. 363f. 111 Schier: Die Erdschöpfung aus dem Urmeer und die Kosmogonie der Völospá, S. 42. 1.2 Skandinavistische Forschung zum Raum in den eddischen Mythen 21 ständnis beeinflusst, das unter dem Schlagwort der New Philology 112 bekannt wurde. Texte werden seither nicht mehr nur in ihrer edierten Form untersucht, sondern in jeder möglichen Variante die existiert. 113 Daher wird auch keine hierarchische Abstufung zwischen den einzelnen Versionen vorgenommen, wenn jede Quelle und jede Version als eigenständige Überlieferung betrachtet wird. Zudem sollen diese Textzeugnisse als Artefakte ihrer Zeit gelesen werden, wobei eine textimmanente Herangehensweise unabdingbar scheint. Da in den wenigsten Fällen Marginalien, Kommentare und Erläuterungen aus der Zeit der Verschriftlichung der Texte vorliegen, muss man so nahe wie möglich am Text argumentieren, um Schlussfolgerungen zu vermeiden, die keiner Überprüfung standhalten würden. Spekulative Thesen oder gewagte Interpretationen sind zwar immer sehr spannend und regen zu wichtigen Diskussionen an, doch in den seltensten Fällen halten sie einer Verifizierung stand. Besonders für das Verständnis der Topographien der eddischen Mythen, deren Grundlage schriftliche Quellen sind, erweisen sich die Prämissen der New Philology als unabdingbar. So geht auch die vorliegende Arbeit davon aus, dass die Welten, die Räume und Topographien einer verschriftlichten Mythologie auf der Ebene des Textes erschrieben werden. In seinem Aufsatz The Founding of Miðgarðr (V ǫ luspá 1-8) 114 betrachtet Lars Lönnroth bei seinem close reading der Strophen 1 bis 8 der V ǫ lospá auch dezidiert die Topographie von Miðgarðr. Dabei geht er ausdrücklich vom Narrativ selber aus und versucht zu zeigen, wie der Rezitator des Liedes in der Rolle der Erzählinstanz den Zuhörern die Erschaffung von Miðgarðr näherbringt. 115 Dazu musste, laut Lönnroth, die Zuhörerschaft jedoch eine gewisse Vorkenntnis der altnordischen Mythologie mitbringen, da diese einen wichtigen Schlüssel zum Verständnis des Liedes darstellt, ohne den man den Inhalt nur unzureichend verstehen könnte. 116 Andere Stellen, wie 112 Eine gute Einführung, welche sich dezidiert mit der mediävistischen Skandinavistik auseinandersetzt, bietet hierzu: Driscoll, Matthew James: The words on the page: Thoughts on philology, old and new. In: Quinn, Judy und Lethbridge, Emily [Hrsg.]: Creating the medieval saga: Versions, variability, and editorial interpretations of Old Norse saga literature. Syddansk Universitetsforlag, Odense 2011, S. 85-102. 113 Nebst den schriftlichen Quellen werden vermehrt auch nichtschriftliche Quellen wie Illustrationen in Handschriften oder Bildsteine bezüglich der Medialität dargestellter Narrative erforscht, insbesondere im Hinblick auf deren Visualität oder hinsichtlich gewisser Anteile von vermittelter Oralität in den Text-Bild-Relationen. Siehe dazu unter Anderem: Mitchell, Stephen A.: Memory, Mediality, and the „Performative Turn“. Recontextualizing Remembering in Medieval Scandinavia. In: Hermann, Pernille und Mitchell, Stephen [Hrsg.]: Memory and Remembering: Past Awareness in the Medieval North. Scandinavian Studies, Vol. 85, 2013, Nr. 3. University of Illinois Press, Champaign 2013, S. 282-305; Glauser, Jürg: Sinnestäuschungen. Medialitätskonzepte in der Prosa-Edda. In: Margrét Eggertsdóttir et al. [Hrsg.]: Greppaminni. Hið íslenska bókmenntafélag, Reykjavík 2009, S. 165-174; Harris, Joseph: Romancing the Rune: Aspects of Literacy in Early Scandinavian Orality. In: Deskis, Susan E. und Hill, Thomas D. [Hrsg.]: „Speak Useful Words or Say Nothing“: Old Norse Studies by Joseph Harris. Cornell University Library, Ithaca 2008, S. 319-347; Andrén, Anders: Re-reading Embodied Texts - an Interpretation of Rune-stones. In: Burström, Mats und Carlsson, Anders [Hrsg.]: Current Swedish Archaeology, Vol. 8. The Swedish Archaeological Society, Stockholm 2000, S. 7-32. 114 Lönnroth: The Founding of Miðgarðr (V ǫ luspá 1-8), S. 1-25. 115 Ebd., S. 10. 116 Ebd., S. 11. Ob es für das Verständnis der V ǫ lospá jeoch wirklich so wichtig ist, wie Lönnroth behauptet, dass die Zuhörerschaft wusste, dass der Körper des Urriesen Ýmir in der 1 Einleitung 22 jene zu den neun Welten, 117 von denen die Seherin berichtet, sind seiner Meinung nach bewusst dunkel gehalten, was ihre Aussage betreffe. 118 Im Bezug auf die prominenteste handelnde Figur im Narrativ der eigentlichen Kosmogonie ist für Lönnroth klar, dass es sich einzig um die sich transformierende Landschaft selbst handeln könne. 119 Wichtig scheint hierbei vor allem die Erkenntnis, dass die Erzählinstanz die Schöpfung der Erde als Bild über die Sprache inszeniert, wobei die Erzählinstanz so als Medium für die Erschaffung der Topographie dient. Durch die Erzählung erschafft sie somit Miðgarðr selber in der Form, in der das Land präsentiert wird, oder zumindest schafft die Erzählinstanz die diegetischen Voraussetzungen, sodass Miðgarðr durch die Söhne von Burr aus den Tiefen gehoben werden kann, bevor das Land im Lied beschrieben wird, ja überhaupt erst beschrieben werden kann. Über seine Interpretation des Steinbodens, auf den die Sonne scheint, 120 als Halle oder Saal, 121 gerät Lönnroths Argumentation in die Nähe der anthropozentrischen Leseweisen. Zumindest würde seine Auffassung der Halbstrophe die oben oft erwähnte Annahme stützen, dass Miðgarðr als eine Welt betrachtet werden muss, die vom Hof, im Sinne eines Langhauses aus der Wikingerzeit oder einem später auf Island verbreiteten Torfhof, ausgeht. Lönnroth will mit seiner Interpretation jedoch hauptsächlich die These stützen, dass die V ǫ lospá als ein Abbild des Milieus auf Island im 13. Jahrhundert gelesen werden soll. Seiner Meinung nach zeigt sich im Text zur Topographie von Miðgarðr auch eher ein soziales Gefüge von um die Vormachtstellung kämpfenden Familienverbänden, als eines aus der Zeit der germanischen Völkerwanderung oder der Wikingerzeit. 122 Trotz dieser anthropologischen Ausschweifungen ist seine stark auf das Prosa-Edda durch Óðinn und seine Brüder zur Erschaffung von Miðgarðr verwendet wird, scheint fraglich zu sein, wenn man bedenkt, dass Ýmir in der V ǫ lospá gerade nicht diese Funktion hat. 117 Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 1, Strophe 2,3-6: „nío man ec heima, nío íviði, miotvið mœrna fyrir mold neðan.“ [neun Welten erinnere ich, neun im Baum, des trefflichen Weltenbaums, tief unter der Erde.] 118 Lönnroth: The Founding of Miðgarðr (V ǫ luspá 1-8), S. 14. Lönnroth gibt hier trotz der von ihm monierten Unklarheit der Strophe einige Erklärungsversuche an, so zum Beispiel, dass die neun Welten als Teile der drei Wurzeln Yggdrasils interpretiert werden könnten, wie dies die Prosa-Edda vermuten lässt, oder dass sie neun Schwestern beschreiben würden, die alle Seherinnen seien. 119 Ebd., S. 16f: „The most important element in stanza four is in any case not the actor (the sons of Burr) but the transformation which the landscape undergoes. From the word ,until‘ (áðr), which connects this stanza antithetically with the previous one, the sibyl conjures up a picture of the world-center which emerges from the abyss described earlier, and out of which vegetation, and thereby also culture, begins to grow. This world-center was perceived as a large room or hall (like the one in which the recitation was taking place? ) where the southern sun shines down on a stone floor (sól scein sunnan / á salar steina), from which vegetation now begins to grow like a green carpet.“ 120 Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 1, Strophe 4,3-6. 121 Lönnroth tut dies sehr explizit: „The universe of the poem grows even more intimate and personal. At the same time as the gaping abyss, with its barren absence of grass, is transformed into a hall where the sun is shining upon the grass, the sun itself turns into a personified being with human weaknesses.“ Lönnroth: The Founding of Miðgarðr (V ǫ luspá 1- 8), S. 17. Hierbei ist auch spannend zu sehen, dass Lönnroth, wenigstens implizit, von einem Narrativ ausgeht, welches in und durch sich selber wächst und seine Diegese durch die Veränderung der Topographie vergrößert. 122 Ebd., S. 22. 1.2 Skandinavistische Forschung zum Raum in den eddischen Mythen 23 Narrativ der V ǫ lospá bezogene Betrachtung sehr aufschlussreich, da Lönnroth, auch wenn dies eventuell nur unbewusst geschieht, Ansätze aufgreift, wie sie auch in der zeitgenössischen literatur- und kulturwissenschaftlichen Raumforschung Verwendung finden. Einen gegenwärtig wieder viel diskutierten Ansatz verfolgt Tatjana N. Jackson in ihrem Aufsatz Ways on the ,Mental Map‘ of Medieval Scandinavians 123 , wobei hier nur auf die Grundzüge ihrer Überlegungen eingegangen wird. In der Wahrnehmungspsychologie ist die Idee der kognitiven Karte (in der Raumwissenschaft hat sich die englische Bezeichnung mental map durchgesetzt) schon länger ein Begriff. 124 Jackson geht in ihrem Aufsatz nicht individuellen mental maps nach, sondern einer kollektiven Karte, die einer Gesellschaft zugeordnet werden kann und somit einen Teil des Weltbildes dieser Gesellschaft darstellt. 125 Um sich dieser mental map des mittelalterlichen Skandinaviens zu nähern, bedient sie sich der altnordischen Literatur. 126 Jacksons Annahme, dass man den altnordischen Texten räumliche Denkmuster entnehmen kann, ist durchaus einleuchtend. Wieso sie jedoch glaubt, dass sie aus den Sagas, 127 welche hauptsächlich zwischen dem ausgehenden zwölften und frühen fünfzehnten Jahrhundert in den uns überlieferten Formen verschriftlicht wurden, eine mental map der Skandinavier aus dem Frühmittelalter entnehmen kann, wird nicht ganz deutlich. 128 Auch reale Karten, beziehungsweise nautische Karten existierten in Westeuropa bis ins spätere dreizehnte Jahrhundert nicht, worauf Jackson in einer Fußnote dezidiert hinweist. 129 Nun deckt sich jedoch die Blütezeit der isländischen Handschriftenproduktion und der Verschriftlichung der Sagas genau mit dem Aufkommen der nautischen Karten in Europa. Selbstverständlich belegt eine solch zeitliche Überschneidung in keiner Weise, dass die Schreiber der Sagas auf Island diese Karten kannten, doch besteht die Möglichkeit, dass es so war. Zudem geht die gegenwärtige Forschung eher davon aus, dass man in den Sagas gesellschaftliche Werte und Konzepte der Zeit ihrer Verschriftlichung aufspüren kann, als dass man, wie Jackson 123 Jackson, Tatjana N.: Ways on the „Mental Map“ of Medieval Scandinavians. In: Heizmann, Wilhelm et al. [Hrsg.]: Analecta Septentrionalia. Beiträge zur nordgermanischen Kultur- und Literaturgeschichte. De Gruyter, Berlin und New York, 2009, S. 211-220. (= Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd. 65) 124 Ebd., S. 212f. Jackson verweist in einer Fußnote auch auf einen sehr fundierten Aufsatz zu diesem Thema: Tuan, Yi-Fu: Images and Mental Maps. In: Annals of the Association of American Geographers, Vol. 65, Nr. 2, 1975, S. 205-213. 125 Jackson: Ways on the „Mental Map“ of Medieval Scandinavians, S. 213. 126 Ebd., „Thus, the works of Old Norse literature - the product of creative activity on the part of early medieval Scandinavians, who were skilled seafarers and easily able to orientate themselves on sea and long before the first maps appeared - have reflected specific spatial ideas that could hardly have been used for practical purposes in everyday life.“ 127 Für eine Übersicht zu den verwendeten Primärtexten in Jacksons Arbeit sei auf ihre Bibliographie verwiesen: Ebd., S. 218-220, sowie auf die Fußnote 8: Ebd., S. 213. 128 Einen interessanten Ansatz bezüglich der Frage, inwiefern die verschriftlichten Sagas des isländischen Spätmittelalters Rückschlüsse auf eine mental map und auf die Erinnerung topographischer Strukturen einer oralen Kultur geben können, findet sich bei Gísli Sigurðsson, der dies anhand der Vínland sagas (Grœnlendinga saga und Eiríks saga rauða) diskutiert und erörtert. Siehe dazu: Gísli Sigurðsson: Túlkun íslendingasagna í ljósi munnlegrar hefðar. Tilgáta um aðferð. Stofnun Árna Magnússonar á Íslandi, Reykjavík 2002. Darin insbesondere der 3. Teil: Sögur og sannleikur, S. 249-300. 129 Jackson: Ways on the „Mental Map“ of Medieval Scandinavians, S. 213. Siehe dazu Fußnote 7. 1 Einleitung 24 annimmt, aus ihnen stichhaltige und ungefilterte Aussagen über ein Kollektiv und deren Normen zur Handlungszeit der Sagas ablesen könnte. Dennoch sind einige von Jacksons Erkenntnissen, wie jene zu den Himmelsrichtungen und der Strukturierung der Weltteile, äußerst interessant. 130 Ihre Feststellungen resultieren natürlich aus dem Untersuchungsgegenstand, den altnordischen Sagas, und sind nicht ohne Weiteres auf die nordische Mythologie übertragbar. Dennoch sind sowohl die eddischen Texte als auch die Sagas Teil derselben skandinavischen 131 Gesellschaft und deren Vorstellungswelten. So ist auch die Festsetzung der Kardinalpunkte oder Haupthimmelsrichtungen ein Bestandteil der Kosmogonie, wie sie in der Prosa-Edda wiedergegeben wird. 132 Sowohl bei Lönnroth als auch bei Jackson ist eine starke textimmanente Auseinandersetzung mit dem Quellenmaterial erkennbar. Dennoch untersuchen beide die Texte, ob nun die Sagas oder die V ǫ lospá, vor allem darauf hin, wie sich in ihnen außertextuelle Gegebenheiten repräsentieren. Das Narrativ dient ihnen einzig zur Stützung der These, dass dieses einer Gesellschaft des 13. Jahrhunderts entstamme oder dazu, die kognitiven Prozesse eben jener Gesellschaft zu beleuchten. Daran zeigt sich, dass es ein Desiderat ist, die Topographie der eddischen Mythen aus ihren Narrativen heraus zu verstehen und zu eruieren, wie es diesen überhaupt möglich ist ganze Welten zu erschaffen, die über den Text hinaus wirken. 1.2.5 Fazit zur diskutierten skandinavistischen Forschung Die Diskussion einiger der bisher geleisteten Forschungen innerhalb der Skandinavistik, die, wie oben bereits erwähnt, die wichtigsten Arbeiten und wissenschaftlichen Ansätze betrachten will und keinen Anspruch auf Vollständigkeit hat, zeigt deutlich, dass die Gesamtheit der Topographien der eddischen Mythen bisher nur am Rande behandelt oder, der Verwendung von strukturalistischen und raumsemantischen Methoden Rechnung tragend, als etwas sehr statisches aufgefasst werden. Besonders deutlich trat zutage, wie intensiv die Idee der Einteilung und Reduktion des eddischen Kosmos’ auf zwei Achsen, eine horizontale und eine vertikale, rezipiert und bearbeitet wurde. Besonders in den dem Strukturalismus verpflichteten Arbeiten fand dieses Konzept regen Zuspruch, was wohl hauptsächlich an der einfachen Adaptionsmöglichkeit liegt, welche durch die Oppositionen sowohl der Achsen zueinander, sowie zu den Punkten auf den einzelnen Achsen selbst, gegeben ist. Zudem wurde bis heute, 130 Ebd., „The world consists of four quarters, according to the four cardinal directions. The set of lands in each segment of this ,mental map‘ is invariable. The western quarter includes all the Atlantic lands, such as England, Iceland, the Orkney and Shetland Islands, France, Spain, and even Africa. The eastern lands are the Baltic lands and the territories far beyond the Baltic Sea, such as Russia and Byzantium. The southern lands are Denmark and Saxony, Flanders and Rome. The northern quarter is formed by Norway itself, but also by Finnmark and, sometimes, by Bjarmaland. The latter is described as a territory lying on the borderline of the easterly and northerly segments, since it was thought to belong to the easterly quarter, but one could get there only by travelling northwards.“ 131 Geht man von den verschriftlichten Texten der Sagas und Eddas aus, so könnte man diese Vorstellungswelt eventuell sogar auf Island oder zumindest auf den westnordischen Sprachraum im Mittelalter beschränken, da dort der weitaus größte Teil der altnordischen Handschriften angefertigt wurde. 132 Siehe dazu: Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 48-50. 25 soweit dies in Erfahrung zu bringen war, nie betrachtet, wie die einzelnen Narrative und insbesondere die unterschiedlichen Erzählweisen und -perspektiven in den eddischen Texten die räumlichen Strukturen und topographischen Gegebenheiten beeinflussen und verändern. Viele der bisher geleisteten und hier besprochenen Beiträge bieten jedoch, nebst all der angebrachten Kritik, interessante Erkenntnisse, an die angeknüpft werden kann. 1.3 Raumwissenschaftliche Forschung und der topographical turn 1.3.1 Wozu braucht der topographical turn eine skandinavistische Perspektive? Fragen zum Raum und zur Räumlichkeit wurden schon länger, sowohl im Sinne einer eigenständigen Raumwissenschaft als auch interdisziplinär und an verschiedenste Forschungsfeldern adaptiert betrachtet. Im Folgenden werden nun einige Überlegungen zum Raum behandelt, die von Vorgängern oder Vertretern jenes neuen Raumverstäntnisses angestellt wurden, das den raumwissenschaftlichen Paradigmenwechsel evozierte, der in den letzten Jahren auch die Literatur- und Kulturwissenschaften erreichte. Dabei stehen methodologische Ansätze und Theorien im Fokus, die allesamt nicht aus dem Fachgebiet der Skandinavistik entstammen. Dennoch bietet das Korpus der Texte rund um die eddischen Mythen, wie schon weiter oben erwähnt, eine Vielzahl räumlicher Strukturen, die von Anfangssetzungen und Schöpfungsmythen über Beschreibungen der Wohnstätten der Götter bis hin zum Zerfall, dem Untergang und der Wiederentstehung der eddischen Welt reichen. So soll die vorliegende Arbeit nicht nur der Skandinavistik neue theoretische Impulse geben, sondern auch dem topographical turn ein neues Korpus zugänglich machen und dessen Theorien und Methoden daran sowohl validieren als auch diversifizieren. 1.3.2 Vorbemerkungen zum topographical turn Einige kurze Vorbemerkungen zu diesem Thema seien jedoch erlaubt, bevor die einzelnen Theorien und Ansätze präsentiert und diskutiert werden. Die Hinwendung zum Raum wird oft als eine Abwendung von der Zeit verstanden, die besonders in den Literaturwissenschaften lange im Vordergrund der Untersuchungen stand. 133 Raum und Zeit müssen jedoch zwingend als interdependente Kategorien betrachtet werden, „denn ebenso wie zeitliche Verläufe einer räumlichen Vermittlung bedürfen, 133 Siehe dazu: Böhme, Hartmut: Einleitung: Raum - Bewegung - Topographie. In: Ders. [Hrsg.]: Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext. Verlag J.B. Metzler, Stuttgart und Weimar 2005. S. IX-XXIII. (= Germanistische Symposien Berichtsbände, Bd. 27), sowie auf die Narratologie bezogen: Dennerlein, Katrin: Einleitung. In: Dies.: Narratologie des Raumes. De Gruyter, Berlin und New York 2009, S. 1-12. (= Narratologia. Constributions to Narrative Theory, Bd. 22) 1.3 Raumwissenschaftliche Forschung und der topographical turn 1 Einleitung 26 gewinnt auch der Raum nur durch seine konkrete Zeitlichkeit an Bedeutung“ 134 . Seit der Wiederentdeckung des Raumes in den Medien-, Kultur- und Literaturwissenschaften, dem sogenannten topographical turn, 135 der sich in den letzten Jahren vollzog, beschäftigt man sich, nebst zahlreichen anderen Forschungsfeldern wie der Kartographie als Bild-Text-Symbiose, der materialphilologischen Betrachtung räumlicher Gliederungen und Anordnungen von Text in Manuskripten oder Drucken gegenüber einer räumlich schwer fassbaren Oralität oder der rhetorischen Funktion von räumlichen Strukturen in der Literatur, zunehmend mit der Frage wie Texte, beziehungsweise Narrative Räume zu konstruieren vermögen. 136 Der Raum wird in der Literatur nicht mehr als statischer Ort der Handlung einer Figur verstanden, in dem einzig die Positionierung einer Figur zu anderen Figuren oder Dingen im Raum, die in binären Oppositionen ausgedrückt werden könnten, betrachtet werden können, sondern als ein dynamischer Prozess gelesen, bei welchem sich Raum immer neu erschafft. 137 Auch die theoretischen und methodologischen Ansätze der Beschäftigung mit räumlichen Strukturen soll an dieser Stelle nur umrissen und nicht als umfassender Überblick über die Forschung präsentiert werden. Dabei wird bewusst nur auf Untersuchungen und Überlegungen eingegangen, die im Zusammenhang mit dem gegenwärtigen topographical turn stehen. Dies hat zur Folge, dass der Schwerpunkt der diskutierten Ansätze im Zeitraum ab dem frühen zwanzigsten Jahrhundert liegt und mit Aristoteles und Kant nur zwei philosophische Standpunkte behandelt werden, welche außerhalb des gewählten Zeitrahmens liegen, die jedoch in der gegenwärtigen Raumwissenschaft noch immer rezipiert werden. 134 Hallet, Wolfgang und Neumann, Birgit: Raum und Bewegung in der Literatur: Zur Einführung. In: Dies. [Hrsg.]: Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn. Transcript, Bielefeld 2009, S. 11-32. 135 Die Begriffsdefinition rund um die topologische Wende ist bisher noch nicht sehr ausdifferenziert. Nebst dem spatial turn, der meist als Oberbegriff für die Hinwendung zur Betrachtung des Raumes in den unterschiedlichsten Disziplinen verwendet wird, wird besonders in den Literatur- und den Kulturwissenschaften der topographische Aspekt betont, wenn vom topographical turn gesprochen wird, der auch in der vorliegenden Arbeit verwendet wird. Beim topological turn wird der Akzent hingegen auf philosophisch-logische und mathematische Betrachtungsweisen gelegt. Siehe dazu: Döring, Jörg und Thielmann, Tristan: Was lesen wir im Raume? Der Spatial Turn und das geheime Wissen der Geographen. In: Dies. [Hrsg.]: Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Transcript, Bielefeld 2008, S. 7-45; oder auch: Döring, Jörg: Spatial Turn. In: Günzel, Stephan [Hrsg.]: Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch. J.B. Metzler, Stuttgart und Weimar 2010, S. 90-99; und Wagner: Topographical Turn, S. 100-109; sowie: Dennerlein, Katrin: Einleitung. In: Dies.: Narratologie des Raumes, S. 1-12. 136 Siehe dazu: Sasse, Sylvia: Poetischer Raum: Chronotopos und Geopoetik. In: Günzel, Stephan [Hrsg.]: Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch. J.B. Metzler, Stuttgart und Weimar 2010, S. 294-308. 137 Dies ist als Abkehr von Lotmans diskreten und dynamischen Räumen zu verstehen, bei denen er sowohl unbewegliche, statische Räume, als auch Bewegung in und zwischen diesen Räumen annahm und untersuchte. Siehe dazu: Lotman, Jurij M.: Zur Metasprache typologischer Kultur-Beschreibungen. In: Ders.: Aufsätze zur Theorie und Methodologie der Literatur und Kultur. Scriptor Verlag, Kronberg 1974, S. 345f. 27 1.3.3 Die Abkehr vom Verständnis des Raumes als a priori gegebenem Raum und räumliche Strukturen wurden schon in der Antike diskutiert. 138 Damals wurde, wie zum Beispiel von Aristoteles, 139 der Raum aus philosophischer und physikalischer Sicht betrachtet und an ihm erörtert, wie sich ein Körper zum ihn umgebenden Raum verhält und ob der Raum selbst auch Körper, Stoff oder Form sei. 140 Aristoteles kommt zum Schluss, dass Raum als grundlegend gegeben gedacht werden müsse, da nur durch den Raum als Bezugssystem Körper oder Stoffe in ihrer Lage bestimmt werden können oder sich selber bewegen können. 141 So interessant diese Überlegungen aus philosophischer Sicht sind und auch wenn sie das Verständnis dessen, was auch heute noch als Raum verstanden wird, stark geprägt haben, sind sie für eine auf das Narrativ literarischer Texte bezogene Raumbetrachtung nicht wirklich relevant und werden daher nicht vertiefend ausgeführt. Sehr dezidiert äußert sich Immanuel Kant zum Raum in einigen seiner Schriften. 142 In seinen transzendentalphilosophischen Betrachtungen hält Kant fest, dass Raum nicht durch die Vorstellung geschaffen werden könne. 143 Wahrnehmung, so Kant, ist demnach nur im Raum möglich oder anders gesagt, nur wenn ein Bezugssystem vorhanden ist, an welchem man sich orientieren und seinen eigenen Standpunkt zur Lage anderer Objekte beschreiben kann. Der Raum selbst tritt jedoch in den Hin- 138 Siehe dazu: Heuner, Ulf [Hrsg.]: Klassische Texte zum Raum. Parados Verlag, Berlin 3 2008. 139 Aristoteles: Physik. Buch IV, Kapitel 1-5. In: Heuner [Hrsg.]: Klassische Texte zum Raum, S. 33-44. 140 „Es gibt nämlich vielerlei, wovon der Raum eines sein muss. Entweder nämlich Form, oder Stoff, oder eine Art von Zwischenraum, nämlich der zwischen demjenigen was das Äußerste ist, oder das Äußerste selbst, wenn es keinen Zwischenraum gibt außer der Größe des darin enthaltenen Körpers. Dass er nun hiervon dreierlei nicht sein kann, ist ersichtlich. Aber wegen seines Umgebens gilt er für die Form. Denn in dem Nämlichen ist das Äußerste des Umgebenden und des Umgebenen. Es sind nun allerdings beides Begrenzungen; aber nicht des Nämlichen, sondern die Form des Dinges, der Raum aber, des umgebenden Körpers.“ Ebd., S. 40. 141 Ebd., S. 43: „Weder muss nämlich der Raum zugleich mit wachsen, noch der Punkt einen Raum einnehmen, noch zwei Körper in demselben Raume sein, noch gibt es einen körperlichen Zwischenraum. Denn Körper ist, was von dem Raume dazwischen ist, nicht Zwischenraum eines Körpers. Und es ist auch der Raum irgendwo, nicht aber wie an einem Orte, sondern wie die Grenze an dem Begrenzten. Denn nicht alles was ist, ist im Raume, sondern der bewegliche Körper. Und es bewegt sich auch nach seinem Orte jedes Ding; ganz natürlich. Was nämlich benachbart und nicht durch Gewalt berührend ist, das ist verwandt. Und was von Natur zusammengehört, leidet nichts voneinander; was aber sich berührt, leidet von einander und wirkt auf einander. Und es bleibt auch von Natur alles an seinem eigentümlichen Orte, jedes einzelne nicht ohne Grund. Denn dieser ist als Teil in den ganzen Raume in dem Verhältnisse des trennbaren Teils zu dem Ganzen.“ 142 Siehe dazu zum Beispiel die Auszüge zum Thema Raum in: Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft. In: Heuner [Hrsg.]: Klassische Texte zum Raum, S. 107-114; oder das Kapitel zu Kant in: Dünne, Jörg und Günzel, Stephan [Hrsg.]: Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006, S. 74-84. (= Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Bd. 1800) 143 Kant, Immanuel: Von dem Raume. In: Dünne und Günzel [Hrsg.]: Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, S. 76: „Die Möglichkeit äußerer Wahrnehmung, als solcher, setzt mithin den Begriff des Raumes voraus und schafft ihn nicht; wie auch, was im Raume ist, Sinne affiziert, der Raum selbst aber nicht aus dem Sinnen geschöpft werden kann.“ (Hervorhebung gemäß Text) 1.3 Raumwissenschaftliche Forschung und der topographical turn 1 Einleitung 28 tergrund und lässt sich nicht als positive Größe erkennen. Dennoch anerkennt Kant die Möglichkeit der Erkenntnis mehrerer Räume, die laut seiner Raumdefinition dann nur Teile des einen, einzigen übergeordneten Raumes darstellen und sich in ihrer Lage auf diesen beziehen müssen. 144 Kant nennt damit schon zwei Punkte, wenn auch nur implizit, die er an späterer Stelle deutlich macht: Wenn verschiedene Räume nur Teile eines umfassenderen Systems sind, dann muss diese allgemeine Kategorie Raum unendlich groß sein. 145 Zudem muss dieser Raum a priori gegeben sein, da er allen äußeren Betrachtungen als Referenz dient und als Bedingung der Möglichkeiten der Existenz von Objekten gilt und sich nicht erst um diese herum bildet. 146 Kant zufolge ist ein Raum im Innern eines anderen Raumes nur ein eingeschränkter Raum innerhalb des übergeordneten und seiner Meinung nach einzigen Raumes, der dadurch bestimmbar ist, dass in ihm Räumlichkeit erst ermöglicht wird. 147 Ob diese Annahmen auch auf Räume innerhalb eines Narratives oder Textes zutreffen, in denen der Rezipient nicht Teil der Diegese 148 ist, und ob man einen einzelnen Raum als übergeordnetes System für die Topographien der eddischen Mythen ausmachen kann, wird in der vorliegenden Arbeit an mehreren Stellen diskutiert. 144 Ebd. 145 „Der Raum wird als eine unendliche gegebene Größe vorgestellt. Nun muss man zwar einen jeden Begriff als eine Vorstellung denken, die in einer unendlichen Menge von verschiedenen möglichen Vorstellungen (als ihr gemeinschaftliches Merkmal) enthalten ist, mithin diese unter sich enthält; aber kein Begriff, als ein solcher, kann so gedacht werden, als ob er eine unendliche Menge von Vorstellungen in sich enthielte. Gleichwohl wird der Raum so gedacht (denn alle Teile des Raumes ins Unendliche sind zugleich). Also ist die ursprüngliche Vorstellung vom Raume Anschauung a priori, und nicht Begriff.“ Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft. In: Heuner [Hrsg.]: Klassische Texte zum Raum, S. 110. 146 Kant dazu: „Der Raum ist eine notwendige Vorstellung a priori, die allen äußeren Anschauungen zum Grunde liegt. Man kann sich niemals eine Vorstellung davon machen, dass kein Raum sei, ob man sich gleich ganz wohl denken kann, dass keine Gegenstände darin angetroffen werden. Er wird also als die Bedingung der Möglichkeit der Erscheinungen, und nicht als eine von ihnen abhängende Bestimmung angesehen, und ist eine Vorstellung a priori, die notwendiger Weise äußeren Erscheinungen zum Grunde liegt.“ Ebd. 147 Ebd., „Der Raum ist kein diskursiver, oder, wie man sagt, allgemeiner Begriff von Verhältnissen der Dinge überhaupt, sondern eine reine Anschauung. Denn erstlich kann man sich nur einen einigen Raum vorstellen, und wenn man von vielen Räumen redet, so verstehet man darunter nur Teile eines und desselben alleinigen Raumes. Diese Teile können auch nicht vor dem einigen allbefassenden Raume, gleichsam als dessen Bestandteile (daraus seine Zusammensetzung möglich sei), vorhergehen, sondern nur in ihm gedacht werden. Er ist wesentlich einig das Mannigfaltige in ihm, mithin auch der allgemeine Begriff von Räumen überhaupt, beruht lediglich auf Einschränkungen. Hieraus folgt, dass in Ansehung seiner eine Anschauung a priori (die nicht empirisch ist) allen Begriffen von demselben zum Grunde liegt. So werden auch alle geometrische Grundsätze, z. E. dass in einem Triangel zwei Seiten zusammen größer sein, als die dritte, niemals aus allgemeinen Begriffen von Linie und Triangel, sondern aus der Anschauung und zwar a priori mit apodiktischer Gewissheit abgeleitet.“ 148 Für eine Auseinandersetzung mit dem Begriff der Diegese siehe: Bunia, Remigius: Diegesis and Representation: Beyond the Fictional World, on the Margins of Story and Narrative. In: Poetics Today, Nr. 31, 2010, Heft 4. Duke University Press, Durham 2011, S. 679-720. Bunia kritisiert darin die seiner Auffassung nach äußerst inkonsistente Verwendung des Terminus in den Literaturwissenschaften, die er insbesondere anhand Genettes Äusserungen zu den unterschiedlichen Ausprägungen der Diegese zu identifizieren versucht. 29 Ernst Cassirer, der die gegenwärtige Raumdiskussionen stark beeinflusst hat und seit einiger Zeit wieder vermehrt rezipiert wird, hält in seiner epistemologisch ausgerichteten Arbeit unter dem Titel Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum 149 fest, dass weder die Form und Gestalt, noch die damit verbundene Betrachtungsweise eines Raumes a priori feststehen. 150 Erst durch die „Sinnordnung“ 151 , also die Relation des Betrachters zum Raum und die Art und Weise dieses Zusammenhangs werden Gestalt und Form des Raumes gebildet. 152 Cassirer weist darauf hin, dass ein Raum sich innerhalb einer Sinnordnung gestaltet und erst dadurch seine Gestalt, sowie seine Form bekommt. Räumlichkeit kann folglich nichts grundsätzlich Feststehendes, nichts Statisches sein, sondern muss als eine dynamische Größe betrachtet werden, die abhängig von der Denkform 153 ist, in welcher sich der Raum bildet. 154 Cassirer weist ferner darauf hin, dass es mythische Merkmale sind, die den mythischen Raum strukturieren und bestimmen. Einzelne Orte, Räume oder Richtungen grenzen sich in diesem mythischen Raum gegenseitig durch ihre Qualität - Cassirer benutzt zur Verdeutlichung dieser Qualitäten Dichotomien wie „Heiligkeit oder Unheiligkeit, Zugänglichkeit oder Unzugänglichkeit, Segen oder Fluch [...]“ 155 , die später auch in der strukturalistischen Raumsemantik Verwendung fanden - voneinander ab. 156 Cassirer geht jedoch in seiner Abhandlung zum mythischen Raum nicht auf die Frage ein, von wem der Raum seine Qualität oder Sinnordnung zugeschrieben bekommt. Dass unterschiedliche Sinnordnungen den Raum verschieden generieren, würde zudem auch bedeuten, dass sich der Raum selber verändern würde oder sich zumindest die Verhältnisse in ihm neu darlegen würden, wenn von einer Ordnung in die andere gewechselt würde, während derselbe Raum betrachtet wird. Dennoch ist es Cassirer anzurechnen, dass der Raum aus dem starren Korsett einer Betrachtung als statischgegebener Größe befreit wurde. 157 Diese Definition der Welt als ein „System von Er- 149 Siehe dazu: Cassirer, Ernst: Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum (1931). In: Ders.: Symbol, Technik, Sprache. Felix Meiner Verlag, Hamburg 1985, S. 93-119. 150 Damit stellt sich Cassirer diametral gegen ein Raumverständnis, wie es zum Beispiel von Kant postuliert wurde. 151 Ebd., S. 102. 152 Ebd., „Der Raum besitzt nicht eine schlechthin gegebene, ein für allemal feststehende Struktur; sondern gewinnt diese Struktur erst kraft des allgemeinen Sinnzusammenhangs, innerhalb dessen sein Aufbau sich vollzieht. Die Sinnfunktion ist das primäre und bestimmende, die Raumstruktur das sekundäre und abhängige Moment.“ 153 Ebd., S. 103. 154 Ebd., S. 102f: „Was zunächst den mythischen Raum angeht, so entspringt er einerseits der charakteristischen mythischen Denkform, andererseits dem spezifischen Lebensgefühl, das allen Gebilden des Mythos innewohnt und ihnen ihre eigentümliche Tönung verleiht. Wenn der Mythos das Rechts und Links, das Oben und Unten, wenn er die verschiedenen Gegenden des Himmels, Osten und Westen, Nord und Süd voneinander scheidet - so hat er es hier nicht mit Orten und Stellen im Sinne unseres empirisch-physikalischen Raumes, noch mit Punkten und Richtungen im sinne unseres geometrischen Raumes zu tun. Jeder Ort und jede Richtung ist vielmehr mit einer bestimmten mythischen Qualität behaftet und mit ihr gewissermaßen geladen. Ihr ganzer Gehalt, ihr Sinn, ihr spezifischer Unterschied hängt von dieser Qualität ab.“ 155 Ebd., S. 103. 156 Ebd. 157 Ebd., S. 98: „Der Raum hört auf, ein ,Ding unter Dingen‘ zu sein; es wird ihm der letzte Rest physikalischer Gegenständlichkeit geraubt. Die Welt wird nicht als Ganzes von Kör- 1.3 Raumwissenschaftliche Forschung und der topographical turn 1 Einleitung 30 eignissen“, in dem der Raum nun als eine dynamische Größe lesbar wird, mag auch der Grund dafür sein, dass Cassirer gegenwärtig so intensiv in den Literatur- und Kulturwissenschaften rezipiert wird. 158 An Cassirers Überlegungen lässt sich Michail M. Bachtins Theorie des Chronotopos in der Literatur anschließen. 159 Bachtin sieht im Chronotopos (den er mit „Raumzeit“ 160 übersetzt) die Basis dafür, dass die in der Literatur beschriebenen Ereignisse nicht nur in Form einer informativen Mitteilung wahrgenommen werden, sondern dass diese überhaupt erst beschrieben, dargestellt und erfahrbar gemacht werden können. 161 Was bei Bachtin zuerst wie eine Gleichwertigkeit von Zeit und Raum wirkt, wird jedoch sogleich wieder relativiert, wenn er schreibt, dass „[...] in der Literatur die Zeit das ausschlaggebende Moment des Chronotopos ist“. 162 Der Chronotopos ist laut Bachtin in der Literatur grundlegend für das Genre verantwortlich. 163 Dabei verknüpft der Chronotopos einer Erzählung, wie eine Überlagerung einer Landkarte mit einem Zeitstrahl, die Ebenen Raum und Zeit so, dass sich dadurch Sujets - die Punkte, an denen sich die beiden Ebenen treffen - ergeben, die typisch für gewisse literarische Gattungen sind. 164 Interessant sind Bachtins Ausführungen zur Zeit dennoch, da er diese mit einer vertikalen und einer horizontale Gliederung der Welten verbindet, wie dies weiter oben schon beschrieben wurde. 165 Bachtin bezieht sich zwar auf den mittelalterlichen „Ritteroman“ und auf Dantes Göttliche Komödie, doch soll in dieser Arbeit im Kapitel zum Ende der eddischen Topographien in Anlehnung an Bachtins visionären Chronotopos versucht werden, ähnliche Überlegungen pern ,im‘ Raume, noch als ein Geschehen ,in‘ der Zeit definiert, sondern sie wird als ein ,System von Ereignissen‘, […], genommen […]“. 158 Cassirers Versuch, seine eigene Raumauffassung an literarischen Texten anzuwenden, scheitert jedoch, da er seine Analyse nur auf die Ebene der Zeit ausrichtet. Siehe dazu: Ebd., S. 108-112. 159 Bachtin, Michail M.: Formen der Zeit und des Chronotopos im Roman. Untersuchung zur historischen Poetik. In: Ders.: Untersuchungen zur Poetik und Theorie des Romans. Aufbau Verlag, Berlin und Weimar 1986, S. 262-464. In seinen Schlussbemerkungen, die Bachtin nachträglich 1973 verfasste, verweist er explizit auf die Arbeit von Ernst Cassirer. Siehe dazu: S. 456. 160 Ebd., S. 262. Bachtin verweist darauf, dass er den Begriff des Chronotopos zwar bei den mathematischen Naturwissenschaften entlehnt hat, dass er den Terminus jedoch metaphorisch und von Einsteins Relativitätstheorie losgelöst verstanden wissen will. 161 Ebd., S. 263: „Im künstlerisch-literarischen Chronotopos verschmelzen räumliche und zeitliche Merkmale zu einem sinnvollen und konkreten Ganzen. Die Zeit verdichtet sich hierbei, sie zieht sich zusammen und wird auf künstlerische Weise sichtbar; der Raum gewinnt Intensität, er wird in die Bewegung der Zeit, des Sujets, der Geschichte hineingezogen. Die Merkmale der Zeit offenbaren sich im Raum, und der Raum wird von der Zeit mit Sinn erfüllt und dimensioniert.“ 162 Ebd. 163 Ebd. 164 Bachtin legt dies zum Beispiel an der Gattung des Abenteuerromans dar. Siehe dazu: Ebd., S. 264-293. 165 Ebd., S. 344f: „Der Einfluss der mittelalterlichen jenseitigen Vertikalen ist hier außerordentlich groß. Die ganze räumlich-zeitliche Welt wird hier einer symbolischen Sinngebung unterzogen. Man kann sagen, dass hier die Zeit in der eigentlichen Handlung des Werkes gänzlich zum Stillstand gebracht ist. Handelt es sich doch um eine ›Vision‹, die in der realen Zeit von ganz kurzer Dauer ist, während das Geschehene selbst einen außerzeitlichen Sinn hat (obgleich dieser auch in einer Beziehung zur Zeit steht).“ 31 auf die eddischen Mythen zu übertragen um zu sehen, wie sich die Zeit und der Raum der Prophezeiung oder der Vision in Bezug auf die Zeit und den Raum innerhalb des Prophezeiten verhalten. Bachtin geht an späterer Stelle nur implizit darauf ein, dass der Raum die Logik der Zeit strukturiert. Eine vertikale Weltenachse mit übereinander gelagerten Welten setzt, so seine These, eine Gleichzeitigkeit voraus, die mit einer absoluten Ewigkeit koexistieren würde. 166 Nur bei einer Gleichzeitigkeit sei es möglich, dass Geschehnisse innerhalb der verschiedenen Welten einen Einfluss auf andere Welten hätten. Dies gilt natürlich nur für den Chronotopos und ist für ihn auch zwingend, da bei diesem, wie zuvor erwähnt, die Ebene der Zeit mit jener des Raumes (oder eben der Räume) zwingend zusammentreffen müssen. Im Gegensatz dazu ist die Zeit auf der horizontalen Weltachse eschatologisch oder historisch im Sinne eines Zeitstrahls gegliedert und kann nicht gleichzeitig an mehreren Orten auf der Landkarte auftreffen, ohne dass verschiedene Handlungen vonstatten gehen würden. 167 Bei beiden Erzählebenen, der horizontalen und der vertikalen, geht Bachtin davon aus, dass die Strukturierung und die Verkettung von Ereignissen, also zeitbezogene Bewegungsabläufe oder Motive, den Raum konstituieren. Im Raum selbst werden Objekte und deren Positionen dann durch deiktische oder indexikalische Ausdrücke angegeben. 168 Der Raum wird dadurch zwar symbolisch lesbar, da Bachtin die Räumlichkeit über den Zeichengebrauch definiert, doch bleibt der Raum am Motiv verhaftet und wird infolgedessen (im Gegensatz zur Zeit) als statische Größe aufgefasst. An Bachtins Überlegungen anschließend hat sich der russische Strukturalist und Kultursemiotiker Jurij M. Lotman eingehend mit räumlichen Strukturen in der Literatur auseinandergesetzt. 169 Lotman begreift den literarischen Text - ja sogar Kultur im Allgemeinen - als ein „sekundäres modellbildendes System“ 170 , welches auf der Grundlage der natürlichen Sprache errichtet ist. 171 Er geht hierbei nicht wie Bachtin von der Zeit als maßgebende Größe aus, sondern versucht „[…] auf der Grundlage räumlicher Modelle, insbesondere des Apparats der Topologie […] eine Metasprache zur Beschreibung der Kultur“ 172 und somit eine Semantik des Raumes zu konstruieren. Angelehnt an die strukturalistischen Funktionen von Figuren im Text, wie sie Vladimir J. Propp in seiner Morphologie des Märchen 173 erarbeitete, definiert Lotman die Grundstruktur eines narrativen Textes als Sujet und Ereignis, welches er auch als Motiv bezeichnet. 174 Beide bestimmt er als „unentbehrliche Elemente des Sujets“ 175 . 166 Ebd., S. 345-347. 167 Ebd., S. 346f. 168 Ebd., S. 270-274. 169 Lotman geht darauf hauptsächlich in den beiden folgenden Monografien ein: Lotman: Die Struktur literarischer Texte und ders.: Aufsätze zur Theorie und Methodologie der Literatur und Kultur. 170 Lotman: Die Struktur literarischer Texte, S. 22. 171 Ebd., S. 23. 172 Lotman: Aufsätze zur Theorie und Methodologie der Literatur und Kultur, S. 343. 173 Propp, Vladimir J.: Morphologie des Märchens. Hrsg. von Karl Eimermacher, Hanser Verlag, München 1972. (= Literatur als Kunst) 174 Lotman: Die Struktur literarischer Texte, S. 329f. 175 Ebd., S. 341: „1. ein bestimmtes semantisches Feld, das in zwei sich ergänzende Teilmengen gegliedert ist; 2. eine Grenze zwischen diesen Teilen, die unter normalen Umständen unüberschreitbar ist, sich jedoch im vorliegenden Fall (ein Sujet-Text spricht immer von dem vorliegenden Fall) für den Helden als Handlungsträger doch als überwindbar erweist; 3. der Held als Handlungsträger.“ 1.3 Raumwissenschaftliche Forschung und der topographical turn 1 Einleitung 32 Sujethaft und damit mit einer räumlich relevanten Struktur versehen ist ein Text laut Lotman dann, wenn darin ein Held vorkommt, der eine Grenze überschreitet. 176 Die sich ergänzenden Teilräume, die vorhanden sein müssen, damit eine Abgrenzung und Grenzüberschreitung erst möglich ist, werden wiederum auf drei Ebenen bestimmbar. Topologisch ist der Raum der Diegese in Oppositionspaare gegliedert wie „hoch - niedrig“, „links - rechts“, „offen - geschlossen“ oder „abgegrenzt - nicht abgegrenzt“. Diesen werden, so Lotman, nicht-topologische Wertungen, beziehungsweise semantische Oppositionen wie „gut - schlecht“, „eigen - fremd“ oder „sterblich - unsterblich“ zugewiesen, welche „sich als Material zum Aufbau von Kulturmodellen“ 177 eignen. Anschließend erhalten diese darüber semantisch aufgeladenen topologischen Anordnungen Zuweisungen in der Diegese, welche sich durch topographische Oppositionen ausdrücken wie „Himmel - Erde“, „Erde - Unterwelt“, „Haus - Wald“ oder „oben - unten“. 178 Dieses strukturalistisch-statische und dennoch stark intuitive Vorgehen Lotmans - im Bezug auf die Zuteilungen von Wertigkeiten und die damit verbundene Moralisierung des Raumes - ist auch einer der Hauptkritikpunkte der zeitgenössischen Literatur- und Kulturwissenschaften bei der Beschäftigung mit dem Raum und wohl der wichtigste Grund, wieso Lotmans Ansatz im gegenwärtigen Diskurs des topographical turns nur noch eine marginale Rolle spielt. 179 Dennoch muss man Lotman bei aller Kritik zugutehalten, dass er sich durch dieses modellhafte Verständnis des Raumes im literarischen Text von der Vorstellung, der Text liesse sich auf eine „[...] bloße Reproduktion dieser oder jener lokalen Charakteristiken einer realen Landschaft zurückführen […]“ 180 , verabschiedet. Die im Narrativ eines literarischen Textes dargestellte Topographie ist somit, auch wenn sie sich auf einen realgeographischen Topos bezieht, immer nur ein System von räumlichen Relationen und Strukturen, welches durch die Sprache geformt und nur in ihr existent ist. Wie schon Bachtin versteht auch Lotman den Raum als ein System eines Zeichengebrauchs, welches sowohl kulturell als auch historisch - im literarischen Text als modellhafte Beziehung zwischen unterschiedlichen Auffassungen der Welt - lesbar ist. 176 Auch der aus China stammende amerikanische Geograph Yi-Fu Tuan schreibt in seinem Standardwerk Space and Place. The Perspective of Experience, dass Raum erst durch die Bewegung von einem Orten zu einem anderen entsteht, der Ort jedoch auch den Raum benötigt, um als solchen erkannt zu werden und sich gegen andere abzugrenzen. Siehe dazu: Tuan, Yi-Fu: Space and Place. The Perspective of Experience. Edward Arnold, London 1977, S. 6f., S. 85-100, sowie S. 199-203. 177 Lotman, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte. Fink, München 3 1989, S. 313. 178 Vgl.: ebd., S. 311-329. 179 Zur Kritik an Lotman aus der Sicht des topographical turns siehe: Dennerlein: Narratologie des Raumes, S. 29-31, sowie Sasse, Sylvia: Poetischer Raum: Chronotopos und Geopoetik, S. 294-308; oder Frank, Michael C.: Die Literaturwissenschaften und der spatial turn: Ansätze bei Jurij Lotman und Michail Bachtin. In: Hallet, Wolfgang und Neumann, Birgit [Hrsg.]: Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn. Transcript, Bielefeld 2009, S. 53-80. 180 Lotman: Aufsätze zur Theorie und Methodologie der Literatur und Kultur, S. 200. Eine Gegenbewegung zu dieser Auffassung von Topoi in der Literatur bietet die gegenwärtige Literaturgeographie, die Berührungspunkte zwischen einer fiktionalen und einer realen Geographie annimmt. Siehe dazu u.a.: Piatti, Barbara: Die Geographie der Literatur. Schauplätze, Handlungsräume, Raumphantasien. Wallstein Verlag, Göttingen 2008. 33 1.3.4 Räumliche und topographische Strukturen im Narrativ Einen ersten dezidiert topographischen Ansatz im Sinne des topographical turns findet sich bei Joseph Hillis Miller. 181 Von der Idee ausgehend, „[…] that topographical considerations, the contours of places, cannot be separated from toponymical considerations, the naming of the places“ 182 , entwickelt Miller den Begriff der Topographie für die Literaturwissenschaft weiter. Von der etymologischen Bedeutung des Wortes Topographie, dem (Er)Schreiben eines Ortes, leitet er ab, dass Topographie nicht mehr bloß als „[...] representation of a landscape according to the conventional signs of some systems of mapping“ 183 , sondern als performativer Akt der Herstellung eines Raumes durch Sprache verstanden werden müsse. 184 Ein Ort oder eine Landschaft, so Miller, werde in einem Namen aufgenommen und erst so für den sprachlichen Gebrauch zugänglich gemacht. Durch dieses Benennen wird eine Örtlichkeit schon zu einem virtuell in ein Narrativ eingeschriebenen Ort, einer Topographie in der Landschaft. 185 Diesen Prozess und die damit verbundenen sprachlichen Verfahren nennt er Topotropographie. 186 Miller geht somit stärker auf den Akt des Schreibens - das Erschreiben der Topographie - ein als dies bei den oben genannten raumsemantischen Ansätzen der Fall war. Nicht mehr nur das Narrativ, wie es im Text verfestigt ist, wird betrachtet, sondern auch die Konstruktion des Narratives selbst, welcher Miller ebenfalls eine raumbildende Eigenschaft attestiert. Dabei wird ein Raum oder eine Topographie nicht länger als eine Größe aufgefasst, über die einzig die jeweilige Lage im Raum, die Abstände und Bewegungen von Figuren und Dingen zueinander in Beziehung gesetzt werden. Durch den Prozess des (Er)Schreibens und Benennens werden diese Orte erst im Narrativ erschaffen und haben darüber die Möglichkeit in ein kulturelles Wissen einzugehen. 187 Ulrich Meurer geht der Frage nach Raumkonzepten im Hinblick auf den Film und die Literatur der Postmoderne nach. 188 Seine Vorüberlegung schlagen einen Bogen von der Antike hin zum französischen Philosophen Gilles Deleuze, dessen Begrifflichkeit Meurer sich bei seiner Auseinandersetzung mit der Topographie in Literatur und Film der Postmoderne bedient. 189 Besonders Meurers Darlegungen zur Loslösung von der Idee eines absoluten Raumes, die Einsteins Relativitätstheorie nach sich zog, sind aufschlussreich, da er sich nicht nur auf philosophische sondern auch auf litera- 181 Miller, J. Hillis: Topographies. Stanford University Press, Stanford 1995. 182 Ebd., S. 1. Miller leitet diese These vom Gebrauch topographischer Beschreibungen und toponymischer Verwendungen anhand der Raumdarstellungen in Marcel Prousts À la recherche du temps perdu ab. 183 Ebd., S. 4. 184 Ebd., S. 3f. 185 Ebd., S. 4. 186 Ebd. 187 Umgekehrt fließt natürlich auch kulturelles Wissen bei der Rezeption eines Textes in das Verständnis räumlicher Strukturen und die davon abgeleitete mental map der Topographie im Narrativ ein. 188 Meurer, Ulrich: Topographien. Raumkonzepte in Literatur und Film der Postmoderne. Wilhelm Fink, München 2007. 189 Zu Meurers Verwendung der Deleuzeschen Terminologie siehe: Ebd., S. 30-35, wobei sich Meurer hauptsächlich auf folgende Texte von Deleuze bezieht: Deleuze, Gilles: Differenz und Wiederholung. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1997, sowie Deleuz, Gilles und Guattari, Félix: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie. Merve, Berlin 5 2002 (1997). 1.3 Raumwissenschaftliche Forschung und der topographical turn 1 Einleitung 34 turwissenschaftliche Konzepte bezieht. Das grundsätzliche Einvernehmen, so Meurer, welches auf den Erstreckungsrichtungen von Länge, Breite und Höhe als Skalare zur Beschreibung des Raumes beruhte, erfuhr in der Moderne eine grundlegende Relativierung, welche sich zuerst in den Naturwissenschaften und der theoretischen Mathematik vollzog. 190 Dadurch habe sich auch das Verständnis vom Raum in der Literatur grundlegend geändert. Wenn Topographien im Text nicht mehr auf allgemeingültige Realitäten sondern nur noch auf relative Subjektivitäten referieren, so können durch diese Räume auch keine Abbilder von Sinninhalten generiert werden. 191 Zudem entwerfen Texte sowohl metaphorisch als auch konkret immer mehrere Dimensionen, sei dies nun der zweidimensionale Raum der Buchseite, die Dreidimensionalität des Artefaktes oder Mediums, in dem der Text verfestigt ist und übermittelt wird, die Möglichkeit von unidimensionalen Räumen in fiktiven Narrativen oder die Verflechtungen, die durch intertextuelle Bezüge zustande kommen. 192 Topographien in der Literatur können somit Formen annehmen und darstellen, die sich nicht auf ein System wie jenes des absoluten Raumes oder des euklidischen Anschauungsraumes beschränken. Meurer umschreibt dies mit folgender Metapher: „Die Narration ist ein ‚Buchstaben-Maschinenraum’, der Textwelten generiert.“ 193 Auch wenn Meurer diese Aussagen und Feststellungen explizit auf die Literatur der Postmoderne bezieht, muss man sich fragen, ob dies nicht auch für die Topographien gelten kann, wie sie in den Texten zu den eddischen Mythen beschrieben sind. Besonders die der Postmoderne attestierte innertextuelle Selbstreferenzialität scheint auch, wie in der vorliegenden Arbeit unter Anderem im Kapitel zu den Anfängen und Anfangssetzungen behandelt, auf gewisse Narrative der eddischen Mythen zuzutreffen. Einen äußerst interessanten und fruchtbaren Ansatz bietet die Romanistin Vittoria Borsò an. 194 Ihrem Verständnis von Topographie nach kann es in der Literaturwissenschaft nicht das Ziel sein, diese im Sinne einer Mimesis eines gegebenen Raumes, der die Welt als geschlossenen Behälter repräsentiert, zu betrachten. 195 Vielmehr versteht Borsò diesen Begriff als - mit einem Bindestrich versehene - Topo-Graphie, die für sie auch das Einkerben oder (Er)Schreiben des Raumes impliziert. 196 Diese Prämisse schuldet sie der Ansicht, dass Raum immer etwas Produziertes, nie etwas Vorgegebe- 190 Meurer: Topographien. Raumkonzepte in Literatur und Film der Postmoderne, S. 12: „[…] die weglosen Topologien, die Riemannsche Geometrie, der n-dimensionale, der gekrümmte Raum, dessen Form sich nach der Materienverteilung richtet, die Raumzeit - all dies bricht nicht nur mit der klassischen gradlinigen Erstreckung, sondern entfernt den Raum zunehmend von seiner physischen Erfahrbarkeit.“ 191 Ebd., S. 13: „Wenn es zuvor noch möglich war, den Raum als Abbild eines Sinninhaltes zu inszenieren, als einheitlichen Kosmos, Seelenlandschaft oder Projektionsfläche einer Weltgewißheit, so löst sich das moderne Schreiben von solchem Gedanken eines allumfassenden Verhältnisses zur Wirklichkeit und vollzieht den Schritt zu einer vor allem wahrgenommenen Umgebung […].“ 192 Ebd., S. 15. Siehe dazu auch: Ryan, Marie-Laure: Space. In: Hühn, Peter et al. [Hrsg.]: Handbook of Narratology. Walter de Gruter, Berlin und New York 2009, S. 420-433. (= Narratologia. Contributions to Narrative Theory, Bd. 19) 193 Meurer: Topographien. Raumkonzepte in Literatur und Film der Postmoderne, S. 16. 194 Borsò, Vittoria: Topologie als literaturwissenschaftliche Methode: die Schrift des Raums und der Raum der Schrift. In: Günzel Stephan [Hrsg.]: Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften. Transcript, Bielefeld 2007, S. 279-295. 195 Ebd., S. 279. 196 Ebd. 35 nes sei, und dass die Untersuchungen literarischer Topographien immer eine kritische Reflexion des Raumes und dessen Bedingungen der Produktion und dessen dynamischer Prozesse sein müsse. 197 Ihre Annahme ist zudem, dass die Beschäftigung mit Topographie immer auf topologischen Überlegungen beruhe, weshalb sie sich hauptsächlich auf die Topologie bezieht, die sie jedoch nicht scharf von der Topographie zu trennen vermag. 198 Die Problemstellung bei der Betrachtung des Raumes in Texten drehe sich weniger um die „[…] unendlichen Komplexitäten des Raums […]“ 199 , als um „[…] die Repräsentation als unlösbares Verhältnis zwischen Simultaneität und Chronologie […].“ 200 Dieses Verhältnis beruhe auf der Tatsache, dass im Text „[…] ein zwar endlicher, jedoch unbegrenzter Raum, der in der Zeit der möglichen Lektüre stets neu geschrieben wird“ 201 , produziert werde. Doch auch innertextuell kann der Raum unbegrenzt sein, da eine Erzählung verschiedene Erzählinstanzen mit unterschiedlichen diegetischen Ebenen haben kann, die zudem zeitlich unabhängig voneinander existieren, sich überlappen oder ineinander falten können. 202 Borsò stellt anhand ihrer Untersuchungen sieben Grundthesen auf, die das Verhältnis von Topologie und Literaturbzw. Kulturwissenschaft zusammenfassen sollen, 203 von denen im Folgenden jedoch nur die für die vorliegende Arbeit interessanten Thesen wiedergegeben werden. Als erste These nennt sie die „›Produktion‹ von Raum als performativen Akt“ 204 , wonach der strukturierte Raum „keine Gegebenheit und keine diskrete Entität“ 205 sei. Vielmehr sei der Raum ein performatives Artefakt, das erst durch ein sprachliches oder visuelles Medium erzeugt werde. Topologie schließt somit für die Literatur- und Kulturwissenschaften sowohl die Produktion, die Wahrnehmung und die Kognition des Raumes als auch dessen verfestigte Seite der Technik und Materialität mit ein. 206 Eine zweite für die hier amgestellten Überlegungen relevante These ist jene der „›Indifferenz‹ der Zeichen als ›Nullpunkt‹ der Topologie“ 207 , welche besagt, dass Strukturen des Raumes, wie etwa die Dynamik, keine Ontologie oder Eigenschaften eines Raumes selbst sind, sondern vielmehr in Bezug auf den bewohnten Raum erzeugt werden. Um den dynamischen Raum methodologisch betrachten zu können, brauche es keinen diskreten, in-differenten Raum, der als Nullpunkt verstanden werde und dem Strukturierung retrospektiv hinzugefügt sei. 208 Vielmehr müsse der Topologe als 197 Ebd. 198 Ebd., S. 279f. Borsò bezeichnet an dieser Stelle die Topographie als Repräsentation eines Raumes, der unabhängig vom Medium ist, in dem er gestaltet wird. Topologie, so erläutert sie auf Seite 294, sei hingegen die Repräsentation der eingeschriebenen Einstellungen im Medium, also die Art und Weise der Parameter, die eingestellt werden, um einen Raum entstehen zu lassen. 199 Ebd., S. 282. 200 Ebd. 201 Ebd., S. 284. 202 Ebd., S. 285. 203 Für einen vollständigen Überblick über die sieben Thesen siehe: Ebd., S. 288-293. 204 Ebd., S. 289. 205 Ebd. 206 Ebd. Borsò bricht an dieser Stelle ihre Aussage sogar auf die Phrase herunter, dass Raum „gemacht“ wird. 207 Ebd., S. 290. 208 Ebd., S. 290f. 1.3 Raumwissenschaftliche Forschung und der topographical turn 1 Einleitung 36 Betrachter selber den Nullpunkt einnehmen. Dieser Nullpunkt sei für ihn „[…] ein offener Beobachterstandpunkt, […], von dem er über die Kontingenz der eigenen Positionierung reflektiert.“ 209 Ein solcher Standpunkt kann laut Borsò nur aus der materiellen Oberfläche der Repräsentation des Textes gewonnen werden und nicht aus dessen Tiefenstruktur. 210 Der problematischste Aspekt der Topologie, der der Komplexität des behandelten Gegenstandes geschuldet ist, ist jener, den Borsò mit „Topologie als Analyse der körperbezogenen Positionierung im Raum“ 211 umschreibt. Dieser These zufolge „finden die topologisch zu beobachtenden Ereignisse auf der Ebene des Beschriebenen (énoncé) wie auch auf der Ebene des Beschreibens (énonciation) im Betrachteten und im Betrachter statt.“ 212 Dabei setzt sich das Subjekt körperlich in eine Beziehung zum Raum. Diese Bezugnahme der nachträglichen Positionierung des Subjekts findet sowohl zwischen ihm und dem Anderen im Raum als auch zu anderen Räumen statt. 213 Raumsituationen sind folglich immer „verkörpert“ 214 und äußern sich durch die Orientierung und Situierung des Körpers im Raum und durch den Körper selbst. Diese Thesen zeigen, Borsò zufolge, dass eine topologische Analyse die „[...] Darstellungen des Wissens um die Dynamik des Raumes […]“ 215 zu erörtern vermag und nicht in der Rekonstruktion von semiotisierten und symbolischen Räumen verharrt, wie dies bei der Topographie der Fall sei. Für Borsò ist die Topologie des Textes ein „Ereignisraum des Bildes“ 216 , in dem sich Räumlichkeit und die Positionierung des Subjektes, durch die unzähligen Möglichkeiten der Wahrnehmung beim Akt des Lesens, kontinuierlich neu gestalten. Eine narratologiebezogene Herangehensweise findet sich auch bei Ansgar Nünning. 217 Er kritisiert zu Beginn seines Aufsatzes über Formen und Funktionen literarischer Raumdarstellung, dass sich viele der bisher geleisteten Arbeiten zum Thema Raum in der Literatur einzig mit der Betrachtung der Motivik, der Raumsymbolik und der Funktionen von Naturdarstellungen auseinandergesetzt hätten. 218 Nünning argumentiert seinerseits zu Gunsten einer „[…] durchgängige[n] Einbeziehung der Formen der erzählerischen Vermittlung - insbesondere die grundlegende Differenzierung zwischen den Perspektiven wahrnehmender Figuren und der übergeordneten Perspektive eines auktorialen Erzählers [...]“ 219 , welche unerlässlich sind, wenn man 209 Ebd., S. 291. 210 Ebd. 211 Ebd. 212 Ebd. Das Begriffspaar énoncé und énonciation, welches vom französischen Linguisten Emile Benveniste geprägt wurde, wird üblicherweise mit Äußerung und Äußerungsakt übersetzt. Borsò scheint die Termini jedoch in einem textbezogenen Sinn zu gebrauchen, der die Ambiguität des Prozesses des Schreibens sowie jenen des Beschreibens des Narratives hervorhebt. 213 Ebd. 214 Ebd. 215 Ebd., S. 294. 216 Ebd. 217 Nünning, Ansgar: Formen und Funktionen literarischer Raumdarstellung. In: Hallet, Wolfang und Neumann, Birgit [Hrsg.]: Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn. Transcript, Bielefeld 2009, S. 33-52. 218 Ebd., S. 35. 219 Ebd., S. 36. g 37 sich mit erzählten Räumen 220 befassen will. Ausgehend von den unterschiedlichen Varianten erzählerischer Vermittlung und Perspektiven diskutiert er die Funktionen und Formen narrativ-fiktionaler Raumdarstellungen. Dabei verweist er auf Dietrich Jägers Unterscheidung von fünf Verfahren, die eine Wirklichkeitswiedergabe von räumlichen Strukturen im Text ermöglichen. 221 Er kritisiert an Jägers Einteilung jedoch, dass sie das Spektrum von narrativen Techniken, die für die Darstellung des Raumes in der Literatur Verwendung fänden, bei Weitem nicht ausreichend erfasse. Insbesondere moniert er das Fehlen der Betrachtung der Erzählsituation im Text. Nünning betont daher, wie wichtig auch bei der Beschäftigung mit topographischen Darstellungen in der Literatur die Frage nach der Erzählperspektive sei. 222 Eine intern fokalisierte Raumdarstellung - Nünning nennt die so beschriebenen Räume auch „figural-fokalisiert“ 223 - führe fast immer zu einer Dynamisierung der dargestellten Räume, da sich die Figuren darin bewegen würden. Im Gegensatz dazu gäbe ein auktorialer Erzähler den Raum meist aus einer statischen und übergeordneten Warte wieder, bei der raum-zeitliche Verhältnisse nicht signifikant ausgearbeitet seien. 224 Dies stellt Nünning anhand seines Untersuchungsgegenstands, den Romanen des 19. und 20. Jahrhunderts, fest. Ausschließlich mit der „Narratologie des Raumes“ 225 befasst sich Kathrin Dennerlein, deren Arbeit einen sehr fundierten Überblick über raumbezogene Ansätze von der frühen Erzählforschung bis zur Gegenwart mit einem deutlichen Schwerpunkt auf strukturalistische Methoden bietet. Ihr Ziel ist es, anhand der Neueren deutschen Literatur eine Terminologie zur Narratologie des Raumes zu entwickeln. Dennerlein greift hierzu jedoch weniger die neueren Ansätze des topographical turns auf. Vielmehr bezieht sie sich auf das Konzept eines idealen Modell-Lesers, der den Raum der erzählten Welt in Form eines mentalen Modells entschlüsselt, was er mittels seiner Erkenntnisse über die Alltagsvorstellungen der Welt und den Raum tätigt. 226 Solche Alltagsvorstellungen des Raumes sind durch „[…] diejenigen Objekte mit einer Unterscheidung von innen und außen, die eine (potentielle) Umgebung der Figuren darstellen […]“ 227 definiert. Dabei bezieht sich Dennerlein, wenn auch nur implizit, auf die frühe Humangeographie und deren Idee eines Kontainer-Raumes, die schon 220 Ebd. Nünning verweist an dieser Stelle auf die umfassende komparatistisch-literaturwissenschaftliche Arbeit von Dietrich Jäger, die sich mit Räumlichkeiten aus phänomenologischer Sicht beschäftigt: Jäger, Dietrich: Erzählte Räume. Studien zur Phänomenologie der epischen Geschehensumwelt. Königshausen und Neumann, Würzburg 1998. (= Kieler Beiträge zur Anglistik und Amerikanistik, Neue Folge, Bd. 14) 221 Jäger: Erzählte Räume. Studien zur Phänomenologie der epischen Geschehensumwelt, S. 23: „Die Nennung, das Sagen, die Aufzählung (Häufung, Aneinanderreihung, Akkumulation), die Nach- oder Abbildung (Imitation, mimetische Behandlung u.ä.) und die Umdeutung (Metaphorisierung, Symbolisierung).“ 222 Nünning: Formen und Funktionen literarischer Raumdarstellung, S. 45: „Dabei stellt sich die Frage, ob der Raum primär von einem heterodiegetischen Erzähler beschrieben, aus der Perspektive einer der Figuren wahrgenommen wird, deren Erlebnis und Auffassungsweise ihrer Umwelt subjektiv gefärbt sein können, oder aber durch den Figurendialog thematisiert und evoziert wird.“ 223 Ebd. 224 Ebd. 225 Dennerlein: Narratologie des Raumes. 226 Ebd., S. 196. 227 Ebd. 1.3 Raumwissenschaftliche Forschung und der topographical turn 1 Einleitung 38 weiter oben diskutiert und als problematisch bewertet wurde, sowie auf Theoriekonzepte der Rezeptionsästhetik und deren Vorstellung eines impliziten Lesers, der Leerstellen im Text auszufüllen vermag. In Dennerleins Terminologie ist ein Raum „[…] potentiell wieder in einem größeren Raum enthalten. Stellen innerhalb von Räumen werden als ‚Orte‘ bezeichnet. Der Oberbegriff für Räume, Orte und topographische Objekte ist die ‚räumliche Begebenheit‘.“ 228 Raum im Narrativ, so Dennerlein, kann hauptsächlich durch Inferenzen auf den Raum und durch raumreferentielle Ausdrücke erzeugt werden, die der Modell-Leser zueinander in Beziehung setzen kann. 229 Inferenzen sind nur dann angebracht, wenn die erzählte Welt im Text für den Modell-Leser unvollständig und daher durch das Weltwissen nicht logisch erschließbar erscheint. 230 Sind räumliche Gegebenheiten im Text unbestimmbar, in der Diegese aber vorhanden, so spricht Dennerlein von einer Unbestimmtheitsstelle, im Gegensatz zu einer Leerstelle, bei der weder die Logik noch die textuelle Relevanz auf das Vorhandensein eines Raumes hinweist. 231 Bestimmbare Räume im Text werden dann, durch die Zeitlichkeit im Narrativ und durch handlungs- oder figurenbezogene Komponenten, zu Ereignisregionen. 232 Falls darin auch ein Erzähl- oder Schreibakt eines Erzählers situiert werden kann, so werden sie zu Erzählräumen (in Abgrenzung zu den erzählten Räumen). 233 Informationen innerhalb des Raumes werden gemäß ihrer Einschätzung im Text für die Figuren durch die drei Raumachsen, welche sechs Richtungen im Raum vorgeben, organisiert. 234 Eine solche Strukturierung des Raumes im Text ist nur dann möglich, wenn Figuren oder Objekte vorhanden sind, von denen aus Positionen oder Lagen im Raum wahrgenommen werden können. Insgesamt muss zu Dennerleins Betrachtung der Narratologie des Raumes gesagt werden, dass sie den Raum nicht nur als textuelles Konstrukt, sondern, durch das Einfügen eines idealen Modell-Lesers, diesen auch als mentales Modell auffasst. Dennoch sind ihre Ausführungen, vor allem durch das Postulat eines Kontainer-Raumes, stark an physikalische Eigenschaften und an Alltagsvorstellungen angelehnt. Daher ist das von Dennerlein entwickelte Beschreibungsinstrumentarium für eine Betrachtung der Topographien der eddischen Mythen nur sehr bedingt verwendbar. 1.3.5 Fazit zur raumwissenschaftlichen Forschung Aus dem Umfeld der Raumwissenschaften und des topographical turns können besonders Millers Theorien und die Ansätze von Borsò und Nünning eine fundierte Ausgangsbasis dafür bilden, den dynamischen und prozesshaften Charakter, beziehungsweise die narratologischen Verfahren der Topographien der eddischen Mythen 228 Ebd. 229 Ebd., S. 197f. Als raumreferenzielle Ausdrücke gibt Dennerlein Eigennamen, Deiktika, Toponymika, Gattungsbezeichnungen, Relationen und weitere Konkreta an. 230 Ebd., S. 198. 231 Ebd. 232 Ebd. 233 Ebd., S. 199. 234 Ebd., S. 201. Sowohl die Achsen als auch die Richtungen (vorne-hinten, oben-unten und rechts-links) bezieht Dennerlein auf ihre Annahme, dass die Umwelt der Figuren oder der Objekte im Text durch einen Kontainer-Raum strukturiert ist, der zudem eine innenaußen Dichotomie evoziert und so den dreidimensionalen Raum in seiner Ausdehnung begrenzt. 39 zu beschreiben. Sie müssen jedoch zwingend um weitere und eigene Überlegungen, ausgehend von den philologischen Methoden der skandinavistischen Mediävistik, erweitert werden. Schon die Vielfalt der hier dargestellten Ansätze bezüglich der Auseinandersetzung mit den Themen Topographie und Raum, sei dies nun in der Skandinavistik oder innerhalb des topographical turns, lässt erahnen, dass es nicht das Ziel dieser Arbeit sein kann, eine einheitliche Methode zu finden, um die Topographien - geschweige denn die Topographie - der eddischen Mythen zu beschreiben. Aus diesem Grund und ausgehend von der These, dass die Raumnarrative und narrativen Räume der eddischen Mythen zu dynamisch organisiert sind, um eine singuläre Topographie abzubilden, werden in den folgenden Kapiteln einzelne räumliche Strukturen und topographische Vorgänge betrachtet, die alle am Gesamtbild der Topographien der eddischen Mythen ihren Anteil haben. Es geht bewusst nicht darum, die ausgewählten eddischen Texte in einer bestimmten Reihenfolge und nach einem gewissen Muster zu bearbeiten, sondern um das Aufdecken narrativer und performativer Gestaltungsverfahren und raumstrukturbildender Phänomene, die zur Erzeugung der Topographien in den Texten verwendet werden. Dabei wird direkt an den Texten erprobt und diskutiert, ob einige der zuvor diskutierten Ansätze (oder welche Teile davon) für die Narrative der altnordischen Mythen verwendet werden können oder inwiefern sie modifiziert und erweitert werden müssen. 1.3 Raumwissenschaftliche Forschung und der topographical turn 2 Anfänge und Anfangssetzungen 2.1 Vorüberlegungen zum Anfang Wo beginnt etwas, wenn man von einem Anfang spricht? Kann man den Anfang als Zeitpunkt eines Beginns oder als räumlich situierbaren Ort des Einsetzens einer Veränderung überhaupt erkennen oder ist der Ausgangspunkt und der Moment einer schöpferischen Initialzündung erst rückblickend eruierbar und somit eine nachträgliche Zuordnung? 1 Sind Anfänge demnach immer Distinktionen, in zeitlicher wie auch räumlicher Hinsicht, die eine Trennung von einem vorherigen und einem folgenden Zustand beschreiben? Impliziert eine solche Unterscheidung, dass es eine Entität vor dem Anfang gegeben haben muss? Oder verweist die Distinktion nur darauf, dass nach dem Anfang etwas gegenwärtig ist, was zuvor nicht war und folglich vor der Schöpfung - im Sinne der creatio ex nihilo - nicht zwingend etwas existiert haben muss? Solchen Fragen wird in diesem Kapitel, im Bezug auf den Beginn der Schöpfung, bei welchem Räumlichkeit ja allererst generiert wird, in den Texten zu den eddischen Mythen nachgegangen. Anfangssetzungen, meist in der Form von Schöpfungsgeschichten und Ursprungsmythen, sind zentrale Bestandteile der meisten Mythologien. In den eddischen Mythen werden Anfänge, im Sinne von Schöpfungsakten, wiederholt beschrieben. Im Folgenden werden diese Schöpfungsvorgänge sowohl in ihren singulären Manifestationen als auch in ihrer Beziehung zueinander betrachtet. Dabei steht die Frage im Zentrum, wie Topographie und Räumlichkeit in den Narrativen der einzelnen Erzählungen und der Lieder erschaffen oder entwickelt wird und welche narrativen Verfahren Anwendung finden. Die Kosmogonien in den Narrativen der eddischen Mythen sind, so wird sich zeigen, stärker topographisch geprägt als zeitlich konnotiert. Dies mag im ersten Moment simpel und logisch klingen, wenn man bedenkt, dass es sich bei einer Kosmogonie um ein Erklärungsmodell handelt, das die Entstehung der Welt zu beschreiben versucht. Führt man sich jedoch die biblische Schöpfungsgeschichte vor Augen, wie sie in der Genesis beschrieben wird, so ist diese sowohl durch ihre Systematik als auch durch die Abfolge der Schöpfungsvorgänge stark zeitlich ausgerichtet. 2 Das System, dem die Beschreibung der Schöpfung hier folgt, ist jenes der wiederum aus dem Schöpfungsablauf abgeleiteten Wochentage. Innerhalb der Abfolge dieser Tage wird als erste schöpfende Tätigkeit eine Trennung von Tag und Nacht vorgenommen. Erst über eine zeitliche Einteilung wird die Systematik, nach der die weiteren Schöpfungsabfolgen strukturiert sind, generiert und etabliert. 1 Zu diesen und ähnlichen grundlegenden Fragen zum Phänomen des Anfangs siehe auch: Koschorke, Albrecht: Zur Logik kultureller Gründungserzählungen. In: Druffner, Frank und Lepper, Marcel [Hrsg.]: Zeitschrift für Ideengeschichte. Jahrgang 1, Heft 2. C.H. Beck, München 2007, S. 5-12. 2 Siehe dazu: 1. Mose, 1,1-2,6. 2 Anfänge und Anfangssetzungen 42 2.2 Der Anfang im Text Um der Frage nach Anfängen und Anfangssetzungen in Narrativen überhaupt nachgehen zu können, ist es notwendig, vorab zu klären, wo ein Narrativ eigentlich beginnt, das in schriftlicher Form verfestigt ist und - wie im Falle der verwendeten eddischen Texte - eine Transmissionsgeschichte aufweist, die sich über mehrere Jahrhunderte erstreckt und dessen Wiedergabe und Vermittlung sich nicht nur auf das Medium Text beschränkt. 3 Aus materialphilologischer Sicht müsste man jede Textmanifestation einzeln bewerten und nebst den verschriftlichten Narrativen auch die Einbände, die Bindungen, die Lagen und den genauen Aufbau des Manuskripts untersuchen und jede einzelne Handschrift 4 analysieren. Da in der vorliegenden Arbeit jedoch hauptsächlich auf die Narrative, also die Textebene, eingegangen wird, werden Fragen zur Materialphilologie und dem Aufbau der Manuskripte und Editionen nur am Rande besprochen. Natürlich durchlebt auch das Narrativ bei der Transmission Veränderungen, sei es durch die Eingliederung eines einzelnen Narratives in den Verbund eines Kodex oder durch die neue Stellung eines Liedes oder einer Erzählung, welche durch die Einbindung des Narratives in seiner verschriftlichten Form in eine Kompilation erfolgt. Zudem kann das Narrativ bei der Abschrift auch inhaltlich - im Sinne einer Transposition - verändert werden, wenn es zum Beispiel an gewissen Stellen gekürzt wird oder durch metadiegetische Einschübe erweitert wird. 5 2.2.1 Der Anfang der Lieder-Edda am Beispiel der V ǫ lospá Doch wo nimmt das Narrativ im Text seinen Anfang? Betrachtet man ein einzelnes Lied aus der Handschrift des Codex regius der Lieder-Edda 6 , mag die Frage nach dem Anfang vorerst recht simpel scheinen. Der Text des Liedes setzt umgehend auf der ersten Blattseite recto mit der Initiale H (des Wortes „hljóðs“) als Majuskel ein, die sich über drei Zeilen erstreckt und aus nicht ausgefüllten Umrisslinien besteht. 7 Der Titel des Liedes - V ǫ lospá -, den man aus den daraus zitierten Passagen in der Prosa- Edda sowie aus den gängigen Editionen kennt, wird weder in diesem Manuskript 3 Für weitere mögliche Arten der Wiedergabe eddischer Narrative, dargelegt am Beispiel der V ǫ lospá, siehe: Gunnell, Terry: V ǫ luspá in Performance. In: Gunnell, Terry und Lassen, Annette [Hrsg.]: The Nordic Apocalypse. Approaches to V ǫ luspá and Nordic Days of Judgement. Brepols, Turnhout 2013, S. 63-77; sowie: Gunnell, Terry: The Performance of the Poetic Edda. In: Brink, Stefan und Price, Neil [Hrsg.]: The Viking World. Routledge, London und New York 2008, S. 299-303. 4 Der ambige Begriff der Handschrift kann - wie an dieser Stelle - als Schriftbild von der Hand eines einzelnen Schreibers und nicht im Sinne eines Manuskripts verstanden werden. In den folgenden Überlegungen zu den Handschriften wird der Begriff jedoch als Synonym zu den Manuskripten verwendet. 5 Für die transtextuellen Verfahren der Transposition siehe: Genette, Gérard: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Edition Suhrkamp, Frankfurt am Main 1993. 6 GKS 2365 4to. Das Manuskript ist auch unter der isländischen Bezeichnung Konungsbók bekannt. 7 GKS 2365 4to, 1r. 2.2 Der Anfang im Text 43 noch in der zweiten Haupthandschrift 8 aus dem Spätmittelalter erwähnt. Weder wird das Lied durch einen Prolog eingeleitet noch ist der Stabreim durch Sperrungen zwischen den Verseinheiten gekennzeichnet. Der Text des Liedes ist, bis auf wenige Initialen, als Fließtext wiedergegeben und nicht in Zeilenform dargestellt, wie man dies aus den gängigen Editionen kennt. 9 Die Stimme der Erzählinstanz beginnt die Topographie des Raumes in der Erzählung im selben Moment zu entwickeln, wie der Leser dem typographischen Abbild des Narratives auf dem Pergament, dem eigentlichen Text, folgen kann. 10 „Hlióðs bið ec allar / helgar kindir [...]“ 11 [Gehör erbitte ich aller / heiliger Geschlechter [...] 12 Etwas veraltet könnte man diesen Anfang des Textes, der mit dem Beginn des Narratives zusammenfällt, 13 als Erzählinstanz beschreiben, die sich sofort in medias res begibt. Der Begriff des Erzählers ist hier nicht nur im übertragenen Sinne auf die Erzählperspektive bezogen, sondern gleichzeitig auf die mediale Situation, aus der heraus sich das Narrativ entwickelt. In der ersten Strophe der V ǫ lospá spricht die Erzählstimme oder Erzählinstanz die Zuhörer - wiederum im doppelten Sinne: jene, die intradiegetisch den Inhalt vernehmen, wie auch jene, die dem Rezitieren des Liedes als Text zuhören - direkt an, bittet um deren Gehör oder Aufmerksamkeit und sagt, dass sie etwas über die ältesten Wesen oder die älteste Kunde, an die sie sich erinnern kann, erzählen wird. 14 Da die V ǫ lospá das einzige Lied im Codex regius der Lieder-Edda ist, welches die Zuhörerschaft auf diese, den Text einleitende Weise direkt anspricht, 15 ist es nicht verwunderlich, dass das Lied an einer so prominenten 8 Die nur noch fragmentarisch überlieferte Hauksbók, AM 544, 4to. Zu den einzelnen Handschrifen, deren Transmissionsgeschichte und zur Namensgebung des Liedes siehe: Völuspá. Sigurður Nordal [Hrsg. und Komm.], Ommo Wilts [Üs.], Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1980, S. 1-16. 9 Siehe für die Darstellung der V ǫ lospá in Zeilenform zum Beispiel: Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 1-16. 10 Zur bisherigen Forschung zur Erzählperspektive in der V ǫ lospá des Codex regius der Lieder-Edda siehe: Horst, Simone: Merlin und die völva. Weissagungen im Altnordischen. Herbert Utz Verlag, München 2010, S. 180-216. In ihrer stark strukturalistisch ausgerichteten Arbeit geht Simone Horst zwar neben den zeitlichen Aspekten der Erzählperspektive auch auf die Diegese ein, blendet jedoch räumliche Fragestellungen vollständig aus. 11 Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 1. 12 Alle Übersetzungen aus dem Altwestnordischen, bzw. Altisländischen stammen, sofern nicht anders ausgewiesen, von mir, L. R. 13 Im Gegensatz dazu beginnt zum Beispiel der Text in der oben erwähnten Edition von Neckel/ Kuhn nicht mit dem Narrativ der V ǫ lospá sondern mit Auszügen aus drei Vorwörtern, dem Inhaltsverzeichnis, sowie Erläuterungen zu den Abkürzungen, wobei bei dieser Betrachtung die weiteren Paratexte (Einband, Titelei und bibliographische Kurztitelangaben) nicht berücksichtigt werden. Siehe dazu: Edda. [Neckel/ Kuhn], S. v-xii. Zum Verhältnis der Strophen und der Versfolge der V ǫ lospá im Codex regius der Lieder-Edda und in der Edition von Neckel/ Kuhn siehe „Table 1“ in: Boyer, Régis: On the Composition of V ǫ lospá. In: Glendinning, Robert J. und Haraldur Bessason [Hrsg.]: Edda. A Collection of Essays. University of Manitoba Press, Winnipeg 1985 ( 1 1983), S. 118. 14 Siehe dazu: Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 1. Auf den exakten Wortlaut wird an späterer Stelle eingegangen. 15 Simone Horst konstatiert in ihrer Arbeit zur V ǫ lospá, dass die Einleitung, in welcher die Zuhörerschaft direkt angesprochen wird, große Ähnlichkeit mit jenen Einleitungsformeln aufweise, welche sonst in der altnordischen Skaldendichtung und der gesamteuropäischen 2 Anfänge und Anfangssetzungen 44 Stelle steht und den Kodex eröffnet. So bietet die V ǫ lospá einen Anfang in mehrfacher Hinsicht: Das Lied steht im Codex regius der Lieder-Edda als erster Text, 16 die Erzählinstanz bittet innerhalb der Diegese um Aufmerksamkeit und eröffnet darüber ein Setting, welches dem Beginn des Vortragens entspricht. Dies gilt wiederum, wie oben erläutert, auch für die Rezipienten außerhalb des Narratives. Dabei treten die mediale Instanz des Textanfangs und die des performativen Anfangs gleichzeitig auf, was den Raum, den die Erzählinstanz dadurch eröffnet, unmittelbar erfahrbar macht. 17 Durch diese Immanenz des Narratives wird nicht nur der Anfang des Textes und darüber der Raum in der Erzählung, sondern auch der folgende Inhalt und die gleichzeitig entstehende Topographie des Liedes direkt vor den Rezipienten entwickelt. So antizipiert die Erzählstimme schon in der ersten Strophe den weiteren Handlungsrahmen des Liedes, den sie als „Bericht über Ereignisse der Vorzeit“ 18 ankündigt und der vom Anfang der Kosmogonie handeln werde. Im Manuskript des Codex regius der Lieder-Edda ist an dieser Stelle der Nexus zwischen dem Anfang des materiellen Textes und dem gleichzeitigen Anfang des innertextuellen Narratives deutlich inszeniert. Man darf wohl annehmen, dass sich der Schreiber der Wirkung dieses Stilmittels bewusst war, wenn er ein solch dezidiert performatives Moment an den Anfang des Kodex stellte. 19 2.2.2 Der Anfang der Prosa-Edda Ganz anders gestaltet sich der Anfang des Narratives in der Prosa-Edda, welche in vier Haupthandschriften vorliegt, deren Transmission zumindest in Auszügen bis ins frühe 20. Jahrhundert belegt werden kann. 20 Jeder der vier wichtigsten Kodizes 21 be- Heldendichtung üblich seien: Horst, Simone: Merlin und die völva. Weissagungen im Altnordischen, S. 250f. 16 Dies gilt nicht für die Hauksbók, in der die V ǫ lospá auf den Blattseiten 20r-21r niedergeschrieben ist und losgelöst von anderen eddischen Texten zwischen Afsaknir Fyrir Samneyti Við Bannsetta aus Theologica qvædam, videntur esse úr Adamsbók — Heimspeki ok helgifræði (15r-19v) und der Trójumanna saga (22r-33v) steht. 17 Für Überlegungen zur theatralisch-performativen Inszenierung der eddischen Lieder siehe unter Anderem: Gunnell: The Performance of the Poetic Edda, S. 299-303, sowie: Gunnell, Terry: Eddic Poetry. In: McTurk, Rory [Hrsg.]: A Companion to Old Norse-Icelandic Literature and Culture. Blackwell Publishing, Malden, MA, 2005, S. 82-100. Terry Gunnell versucht darin zu belegen, dass die eddischen Lieder als eine Art Musiktheater vor einem Publikum aufgeführt worden seien. Die vorliegende Arbeit versteht Performativität hingegen in erster Linie als einen Sprechakt im Sinne der Ethnographie des Sprechens, der von einem literaturwissenschaftlichen Standpunkt betrachtet und am Text selbst nachgewiesen werden kann. Explizit zur theatralischen Performanz und zur Oralität der V ǫ lospá siehe: Gunnell: V ǫ luspá in Performance, S. 63-77. 18 Völuspá. [Nordal], S. 27. 19 Zum Schreiber der V ǫ lospá siehe: Völuspá. [Nordal], S. 141-145. 20 So wurde zum Beispiel die Handschrift SÁM 61 c, die Strophen aus der Prosa-Edda beinhaltet, zwischen den Jahren 1909 und 1911 von Jóhann Sigurjónsson in Dänemark angefertigt. 21 Die vier Haupthandschriften sind: Codex regius (der Prosa-Edda), GKS 2367, 4 o , (= Redaktion R), Codex Trajectinus, Bibliothek Utrecht Nr. 1374 cod. ms., (= Redaktion T), Codex Wormianus, AM 242, Fol., (= Redaktion W), und Codex Upsaliensis, DG 11, (= Redaktion U). Siehe dazu: Lorenz, Gottfried: Einleitung. In: Snorri Sturluson: Gylfaginning. Gottfried 2.2 Der Anfang im Text 45 inhaltet die vier Teile Formáli (dt.: Prolog/ Vorrede), Gylfaginning (dt.: Gylfis Täuschung), Skáldskaparmál (dt.: Sprache der Dichtkunst) und Háttatal (ein Verzeichnis der verschiedenen Versarten der altnordischen Dichtung), nach denen die Prosa-Edda gegliedert wird. 22 Keine dieser Handschriften ist jedoch vollständig überliefert, da Blätter am Anfang und/ oder Ende der Lagen, welche die jeweilige Textmanifestationen der Prosa-Edda in den einzelnen Kodizes wiedergeben, fehlen oder stellenweise beschädigt und unlesbar sind. Das Problem, das diese fragmentarische Überlieferung involviert, ist das Fehlen eines vollständigen und durchgehenden Textes, sodass die gängigen Editionen immer auf einer Zusammenstellung verschiedener Teile aus den einzelnen Kodizes beruhen. Wenn im Folgenden ohne weitere Annotation von der Prosa-Edda die Rede ist, so bezieht sich dies immer auf eine kritisch edierte Ausgabe, welche einen bearbeiteten und normalisierten Lauftext wiedergibt, der in dieser Form in keiner der vier Haupthandschriften belegt ist. 23 Da die Redaktionen der vier Hauptmanuskripte der Prosa-Edda jedoch äußerst interessante Abweichungen, sowohl zu den normalisierten Editionen als auch untereinander bezüglich der Topographien und räumlichen Darstellungen in den Narrativen aufweisen, werden diese stellenweise gesondert betrachtet und diskutiert. 2.2.3 Edition der Prosa-Edda Die verwendete Referenzedition rahmt den Text des Prologs und der Gylfaginning mit unterschiedlichen Paratexten und Metatexten und verschiebt dadurch den Anfang der Erzählung nach hinten. 24 Betrachtet man nun, ausgehend von den zuvor genannten Prämissen, den Anfang der Prosa-Edda, den sogenannten Prolog, in seiner edierten Lorenz [Hrsg., Üs. und Komm.], Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1984, S. 1- 5. (= Texte zur Forschung, Bd. 48) oder in: Faulkes, Anthony: Manuscripts. In: Snorri Sturluson: Edda. Prologue and Gylfaginning. Faulkes, Anthony [Hrsg.], Viking Society for Northern Research, University College London, London 2005, S. xxviii-xxxi. 22 Besonders die Originalität des Prologs und seine Zugehörigkeit zur Prosa-Edda wurden im 20. Jahrhundert immer wieder intensiv und kontrovers diskutiert. Die Meinungen darüber, ob der Prolog nun in der verschollenen ursprünglichen Version des Textes vorhanden war und aus derselben Hand stammte wie die restlichen Teile, waren äußerst unterschiedlich. Siehe dazu: Lorenz, Gottfried: Einleitung. In: Gylfaginning. [Lorenz], S. 23-40 und insbesondere Fußnote 111, S. 24. Für die vorliegende Arbeit ist diese Diskussion jedoch gänzlich unerheblich, da die materiell vorhandenen und überlieferten oder edierten Texte, mit denen gearbeitet wird, allesamt den Prolog innerhalb des Textkonglomerates Prosa-Edda aufführen. 23 Als Referenzedition dient im Folgenden, wenn nicht anders ausgewiesen, der erste Band von: Edda Snorra Sturlusonar. (= Edda Snorronis Sturlæi). Sumptibus legati Arnamagnæani. 3 Bände. Nachdruck: Otto Zeller, Osnabrück 1966. (Editio princeps: Legati Arnamagnæani, Hafnia [= Kopenhagen] 1848-1887.) In der vorliegenden Arbeit folgen die Zitate aus der Referenzedition der Textgestaltung des Lauftextes soweit wie möglich. Textmarkierungen, wie die durch Kursivierung markierten Auflösungen der Abbreviaturen, die auf die Änderung des Schriftbildes des Druckes gegenüber jenem der Handschriften hinweisen, sowie Annotationen und die Anmerkungen aus dem kritischen Apparat werden jedoch nicht übernommen. Ferner ist zu beachten, dass es sich bei der Edition um eine zweisprachige Ausgabe (Altisländisch und Latein) handelt, bei der der altisländische Text auf der verso Seite mit geraden Seitenzahlen abgedruckt ist. 24 Siehe dazu: Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani]. 2 Anfänge und Anfangssetzungen 46 Fassung, so fällt im Gegensatz zur V ǫ lospá auf, dass das Narrativ des Textes einsetzt, ohne dass jemand direkt angesprochen wird. Das performative Moment des Anfangs fällt somit für den Prolog der Prosa-Edda weg, da eine auktoriale Erzählinstanz, die nicht Teil der Diegese des Narratives ist, keinen innertextuellen Erzählraum zu eröffnen vermag. 25 Dennoch bedient sich das Narrativ eines bemerkenswerten Einstiegs in den Text: „A LMÁTTIGR GUÐ skapaði í upphafi himin ok jörð, […].“ 26 [Der allmächtige Gott schuf am Anfang Himmel und Erde, ...] Dieser Anfang des Prologs erinnert unweigerlich an den Beginn der Genesis im ersten Buch Mose, 1,1: „In principio creavit Deus cælum et terram.“ 27 Da die Ähnlichkeit auf den ersten Blick frappant und davon auszugehen ist, dass diese Analogie intendiert ist, fällt der Unterschied zwischen dem biblischen und dem eddischen Anfang nicht unmittelbar auf. Während der Text der Genesis einleitend und wortwörtlich auf den Anfang Bezug nimmt und dessen semantischen Inhalt über die Wortstellung, beziehungsweise das Schriftbild und den Wortlaut verdoppelt, 28 verweigert sich das Narrativ der Prosa-Edda dieser Tautologie auf der textuellen Ebene von Schriftbild und Inhalt partiell, indem die Nennung des Anfangs nach hinten verschoben ist. Durch die Stellung des vermeintlichen Bibelzitats am Beginn des eddischen Textes und durch die Möglichkeit der Rekonstruktion im gegebenen situativen Kontext, ist sowohl der Bezug auf den Hypotext als auch die Anfangssetzung des biblischen Schöpfungsmythos 29 gewährleistet. Der Akt der Schöpfung selbst ist zu Beginn des Narratives in der Prosa-Edda schon abgeschlossen, worauf auch die Verwendung des Verbs im Präteritum hinweist. Die Topographie der Welt, so wie sie in diesem kurzen Ausschnitt dargestellt wird, ist nur in der Dichotomie von Himmel und Erde erkennbar. Einen Anfangspunkt der Schöpfung - und somit ein Beginn der topographischen und räumlichen Strukturierung des Kosmos - ist im Narrativ selbst nicht gegeben, doch wird darauf - durch die Stellung der Referenz am Anfang der Erzählung - wie oben dargelegt, referiert. 2.2.4 Die Haupthandschriften der Prosa-Edda Ganz anders verhält es sich, wenn man den Anfang in den unterschiedlichen handschriftlichen Redaktionen der Prosa-Edda betrachtet. Wie schon oben erwähnt, bein- 25 Siehe dazu auch die weiter oben schon diskutierten Beobachtungen zum auktorialen Erzähler und dem innertextuellen Erzählraum in: Nünning: Formen und Funktionen literarischer Raumdarstellung, S. 33-52. 26 Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 2. 27 Biblia Sacra Iuxta Vulgatam Versionem. Gryson, Roger und Weber, Robert [Hrsg.], 5. verbesserte Auflage, Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart 2007. 28 In der jüdischen Schrifttradition hat diese Stelle sogar einen dreifachen Bezug auf den Anfang, da die hebräischen Namen der fünf Bücher Mose jeweils durch das erste Wort zum Beginn jedes Buches, das Incipit, benannt sind. So wird das erste Buch der Thora dann auch Bereschit (hebr. ְ בּתי ִ שׁא ֵ ר ), zu Deutsch „Anfang“, genannt. Siehe dazu auch: Krochmalnik, Daniel: Variationen zum Anfang in der jüdischen Tradition. In: Druffner, Frank und Lepper, Marcel [Hrsg.]: Zeitschrift für Ideengeschichte. Jahrgang 1, Heft 2. C.H. Beck, München 2007, S. 45-61. 29 An dieser Stelle der Prosa-Edda ist einzig der Schöpfungsmythos im christlich-jüdischen Sinne gemeint, welcher dann im Verlauf der Erzählung, wie später diskutiert und dargelegt wird, sukzessive durch Überlagerungen und Veränderungen in das Narrativ des eddischen Schöpfungsmythos übergeht. 2.2 Der Anfang im Text 47 halten alle vier Kodizes den Prolog in unterschiedlicher Länge. Dies ist verschiedenen Umständen geschuldet: Der Codex regius der Prosa-Edda ist fragmentarisch und der Beginn des Textes darin, wie auch im Codex Trajectinus, nicht überliefert, beziehungsweise sind die Blätter nicht mehr vorhanden. Der Codex Wormianus seinerseits weist eine deutliche Amplifikation auf, bei der das Narrativ des Prologs erweitert ist, und im Codex Upsaliensis ist dem Prolog ein kurzer paratextueller Einschub vorangestellt, der auf den Titel des „Buches“, auf die Person, die den Text zusammengestellt haben soll, und auf die Gliederung verweist. Diese Abweichungen am Anfang der Haupthandschriften werden im Folgenden für jede einzelne Manifestation der Prosa- Edda erläutert und diskutiert. Unterschiede lassen sich natürlich nicht nur zwischen den Kodizes ausmachen, sondern insbesondere hinsichtlich der Referenzedition, wobei für diese eine narratologisch orientierte Betrachtung des Anfangs ergiebiger zu sein scheint und daher an späterer Stelle vorgenommen wird. 2.2.4.1 Der Codex regius der Prosa-Edda Da die meisten Übersetzungen und Editionen der Prosa-Edda hauptsächlich auf der Redaktion R, der Konungsbók, wie der Codex regius der Prosa-Edda auch genannt wird, beruhen, 30 wird mit der Betrachtung dieser Handschrift begonnen. Der Text beginnt auf der Blattseite 1 recto, dessen Pergament stark nachgedunkelt und an einigen Stellen unlesbar ist. Zudem weist das Blatt in der oberen Hälfte und gegen den rechten Rand hin ein Loch auf, welches bei der Herstellung oder Bearbeitung des Pergaments, wohl beim Spannen oder Abschaben, entstanden sein muss, da die Schrift um die Öffnung herum verläuft. Außerdem lässt das Blatt weitere Bruchstellen erkennen, die jedoch bei der Konservierung aufgefüllt wurden und bei denen die Schrift lückenhaft und der Zeilenfluss unterbrochen ist, sodass man davon ausgehen kann, dass diese Beschädigungen nach der Fertigstellung der Handschrift zustande gekommen sind. Der Text setzt oben auf der Blattseite 1 recto wie folgt ein: „er vér köllum Skjöld, hans son Bjaf, er vér köllum Bjár, [...]“ 31 [den wir Skjöld nennen, sein Sohn Bjaf, den wir Bjár nennen, ...]. Der Text des Codex regius der Prosa-Edda setzt somit, im Vergleich zur Referenzedition, 32 gegen Ende der Ahnenfolge von Tror/ Þórr ein, die mit Óðinn und dessen Frau Frigg endet. Das Narrativ beginnt gänzlich unvermittelt und der Rezipient könnte, trotz der Tatsache, dass es sich um die Blattseite 1 recto handelt, durch paläographisches Wissen daraus schließen, dass es sich um ein Fragment handeln muss, da der Zeilenanfang nicht mit einer Majuskel oder gar einer Initiale, sondern mit einer Minuskel einsetzt. Der Anfang des Narratives kann somit als unbeabsichtigte Ellipse gelesen werden, deren Kontext jedoch nicht erschlossen werden kann, sofern man keine vollständigere Version des Narratives kennt. Die Ahnenfolge kann aus der verstümmelten Version der verbliebenen Zeilen nicht rekonstruiert werden. Die ersten vier Worte lassen jedoch darauf rückschließen, dass der vorhergehende Text wohl über eine Aufzählung von dualen Synonymiebildungen strukturiert gewesen sein muss, wie er dann auch im folgenden weitergeht. Der Vergleich von Namensgebungen wird von der Erzählinstanz durch die Verwendung der Personalpronomina in der ersten Person Nominativ Plural, in Opposition zu einer 30 Zu dieser Aussage siehe auch: Gylfaginning. [Lorenz], S. 3. 31 Siehe: https: / / notendur.hi.is/ eybjorn/ gg/ gg4par00.html (Stand: 09.05.2015) 32 Dies entspricht dem Text ab der Mitte der 3. Zeile in: Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 24. 2 Anfänge und Anfangssetzungen 48 nicht explizit genannten dritten Person Nominativ Plural, stark gemacht. Durch das fragmentarische Narrativ wird jedoch weder deutlich, auf wen die erstgenannte unmarkierte Gruppe referieren soll, deren Namensgebungen für gewisse Personen aufgezählt werden, noch wer die „wir“-Gruppe ist, zu der sich die Erzählstimme zu rechnen scheint, indem sie sagt, wie in ihrer eigenen Sprache dieselben Personen genannt werden. Dadurch bleibt auch offen, an wen sich die Erzählstimme richtet, denn es wäre sowohl denkbar, dass die durch das Personalpronomen in der ersten Person Nominativ Plural bezeichnete Gruppe den Rezipienten einschließt und diesen somit in das Narrativ miteinbeziehen würde oder dass sich der Erzähler durch die Referenz auf eine autarke Gruppe vom Rezipienten abheben möchte und dieser damit nicht Teil der erzählten Diegese wäre. Der Anfang des Codex regius der Prosa-Edda ist, wie gezeigt wurde, durch die Fragmenthaftigkeit des Manuskripts stark korrumpiert und entspricht dadurch in keiner Weise dem elaborierten Anfang, wie er in den meisten Editionen vorzufinden ist. Man darf jedoch davon ausgehen, dass die Handschrift nicht immer in diesem Zustand war und der eigentliche Anfang irgendwann im Verlauf der Zeit buchstäblich weggebrochen ist und er sich so, im Bezug auf das Narrativ, nach hinten verschoben hat. 2.2.4.2 Der Codex Trajectinus Ebenfalls am Anfang korrumpiert ist der Prolog der Prosa-Edda in der Version der Redaktion T, dem Codex Trajectinus. 33 Dieser besteht noch heute aus der anzunehmenden Originalbindung und ist ein Papiermanuskript aus 52 Blättern quarto, welche in 14 Lagen eingeteilt sind. Das erste Blatt der ersten Lage wurde herausgeschnitten und die letzten drei Blätter der letzten Lage fehlen ebenfalls. Den Papierbögen vorangestellt sind zwei Vorsatzblätter, die in der oberen Ecke festgeklebt wurden. Auf dem ersten Vorsatzblatt steht auf der Blattseite 1 recto eine Briefanschrift, nebst verschiedenen Textfragmenten und Kritzeleien, welche von unterschiedlichen Händen angefertigt wurden. Die Rückseite dieses Blattes, also Vorsatzblatt 1 verso, ist vollständig mit einem Brief versehen, den Bjarni Jónsson an seinen Bruder Páll schrieb, der auf der Vorderseite in der Anschrift erwähnt wird. Datiert ist dieser Brief auf das Jahr 1595 und stammt somit aus der Entstehungszeit der Handschrift, deren Verschriftlichung um das Jahr 1600 angenommen wird. Das Vorsatzblatt 2 recto ist im oberen Drittel mit einer Reihe von poetischen Begriffen und Umschreibungen für das Wort konungr (dt.: „König“) versehen. Den Rest nimmt ein sehr elaboriertes Gedicht ein, dessen Verse auch kommentiert sind. Die Schrift ist jedoch nur sehr schwer entzifferbar. Die Rückseite, 2 verso, ist bis auf zwei Schnörkelverzierungen leer gelassen. Obwohl diese beiden Blätter nicht Bestandteil des eigentlichen Textes der Handschrift sind, müssen sie dennoch als Paratexte in die Betrachtung miteinbezogen werden, da sie die Rezeption des Manuskripts lenken und so in gewisser Weise den Anfang des eigentlichen Textes der Handschrift verzögern und den materiellen Raum des gesamten Textkonglomerates erweiten. 34 33 Codex Trajectinus. The Utrecht manuscript of the Prose Edda. Anthony Faulkes [Ed.], Rosenkilde and Bagger, Kopenhagen 1985. (= Early Icelandic Manuscripts in Facsimile, Bd. 15) 34 Diese und die folgenden Beobachtungen und deskriptiven Feststellungen basieren auf der verwendeten Faksimile-Edition von Faulkes. 2.2 Der Anfang im Text 49 Der Text der Prosa-Edda beginnt auf der Blattseite 1 recto. Auch diese erste Blattseite ist geprägt von paratextuellen Elementen, die sich um den eigentlichen Text herum gruppieren. In der oberen rechten Ecke steht „deest folium unum“ in einer Schrift geschrieben, deren Hand meist dem dänischen Archivar Ole Worm zugeordnet wird. Darunter, in der Mitte des oberen Seitenfünftels, steht auf zwei Zeilen verteilt eine Besitzangabe: „Boki n̄ Edda Er Þetta / Jone Arasyne tilheÿrande Anno 1626“ 35 [Dies ist das Buch Edda / es gehörte im Jahre 1626 Jón Arason]. Die ersten vier Worte sind mit roter Tinte geschrieben und stark verschwommen. Unter dem Fließtext des Prologs der Prosa-Edda auf der Blattseite 1 recto stehen die Worte „Edda Boki n̄ besta“ [Edda, das beste Buch] und daneben eine Schnörkelverzierung, die den Schnörkeln auf der Blattseite 2 verso der Vorsatzblätter ähnlich sieht. Bemerkenswert hierbei scheint besonders, dass auf derselben Blattseite zwei Mal das Wort „Edda“ benutzt wird, wobei einmal sogar explizit unter Verwendung des Demonstrativpronomens auf das vorliegende Buch oder Manuskript verwiesen wird. Dies ist daher bedeutsam, da sonst einzig im Codex Upsaliensis, der weiter unten besprochen wird, eine Referenz auf die Benennung des Textes oder gar auf einen konkreten Titel gegeben wird. Der Text des Prologs der Prosa-Edda in der Version des Codex Trajectinus beginnt mit den Worten „þad sama spurdu þeir af gaumlum frendum sinum at siþan er talid voru morg hundrod vetra, [...]“ 36 [Dasselbe erfuhren sie auch von ihren älteren Verwandten, da dies danach viele hundert Winter erzählt wurde ...]. Der Text setzt im Codex Trajectinus somit nach der Beschreibung der Erschaffung der Welt durch Gott und nach der Erkenntnis der Menschen über die göttliche Beschaffenheit der Natur ein. 37 Man wäre nun geneigt anzunehmen, dass hier ein Fragment vorliegt, wie es beim Codex regius der Prosa-Edda der Fall war, und somit ca. drei Viertel einer Blattseite im Quartoformat fehlen würde, wenn es in der selben Handschrift geschrieben wäre, wie der restliche Text. Anthony Faulkes geht jedoch davon aus, dass die Vorlage, deren Blattgröße er als Oktav annimmt, nicht lesbar gewesen sei. 38 Unter dieser Annahme würde bezüglich des Prologs des Codex Trajectinus kein Verlust an Text vorliegen, der nach der Entstehung des Kodex zustande gekommen wäre, da der fehlende Beginn des Prologs nie Teil des Kodex gewesen wäre. Der Text beginnt ohne Initiale, 39 was ein Indiz dafür sein könnte, dass die Textvorlage selber noch nicht in dieser verkürzten Version vorlag. Dagegen spricht jedoch, dass die erste Initiale im Fließtext auf der Blattseite 5 recto vorkommt. Diese steht in einem der ersten Kapitel der Gylfaginning, markiert jedoch nicht den Übergang zwischen dem Prolog und der Gylfaginning selbst, wie er aus der Referenzedition bekannt ist. 40 Die paläographische Strukturierung des Textes lässt somit keinen Rückschluss darauf zu, ob am Beginn des Prologs eine Initiale existiert haben muss, da auch der Beginn der Gylfaginning nicht durch eine solche gekennzeichnet ist. 35 Codex Trajectinus. The Utrecht manuscript of the Prose Edda. [Faulkes], 1r. 36 Ebd. 37 Dies entspricht in der Referenzedition der zweiten Hälfte der ersten Zeile: Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 6. 38 Codex Trajectinus. The Utrecht manuscript of the Prose Edda. [Faulkes], S. 10. 39 In der Faksimileversion des Codex Trajectinus ist weder genau ersichtlich noch beschrieben, ob es sich beim ersten Graphem des Fließtextes um eine Majuskel handelt. Um dies zu klären müssten die unterschiedlichen Ausprägungen dieses einen Graphems paläographisch untersucht werden, da das Graphem [Þ] als Majuskel der Minuskel [þ] sehr ähnlich sieht. 40 Siehe dazu: Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 30. 2 Anfänge und Anfangssetzungen 50 Im Gegensatz zum Codex regius der Prosa-Edda findet man im Codex Trajectinus also ein Textkonglomerat vor, welches durch einen längeren paratextuellen Vorlauf geprägt ist, der sich wie erwähnt bis auf die erste eigeklebten Blattseite des eigentlichen Fließtextes ausdehnt. Dabei wird der Anfang des Textes des Prologs der Prosa- Edda auch im rein räumlich-materiellen Sinne erweitert. Der Anfang der Erzählung der Prosa-Edda im Codex Trajectinus selbst fehlt jedoch, wenn man sich am Plot der verwendeten Referenzedition orientiert. Bemerkenswert ist dieser Umstand, wenn man, wie oben erwähnt, in Betracht zieht, dass der Anfang, wie man ihn aus der Edition kenn, nie im Codex Trajectinus existiert haben soll, wie Faulkes darzulegen versucht. Da auch keine Marginalie oder Glosse auf der Blattseite 1 recto existiert, die auf das Fehlen dieses Anfangs hinweist, darf davon ausgegangen werden, dass die Anfangssetzung für den Schreiber dieser Handschrift nicht von Bedeutung war. So fehlt im vorhandenen Prolog die biblische Anfangsszenerie und der erste Teil der Erklärung zur Ausbildung einer theologia naturalis bei den Menschen, um dann erst beim zweiten Teil der Erkenntnis einer natürlichen Religion und der euhemeristischen Deutung des altnordischen Pantheons einzusetzen. Eine alttestamentarische Schöpfungsszene, wie sie aus anderen Redaktionen und den Editionen der Prosa-Edda als Anfangssetzung bekannt ist, kennt die Handschrift des Codex Trajectinus somit entweder nicht oder scheint sie bewusst nicht zu erzählen. Der paratextuelle Einschub der doppelten Benennung des Textes als „Boki n̄ Edda [...]“ [Das Buch Edda ...], bzw. „Edda Boki n̄ [...]“ [Edda das Buch ...] auf der Blattseite 1 recto gibt dem Text einerseits eine starke Rahmung, welche nicht nur auf der Ebene der Makrotypographie den Fließtext einbettet sondern zudem - durch die Spiegelung der beiden Lexeme - beinahe wie ein unterbrochener ornamentaler Fries aus den beiden Worten auf dem Blatt wirkt. Andererseits erzeugt diese Betitelung, wenigstens für den modernen Rezipienten, 41 auch eine Anfangssetzung für das Narrativ an sich. So ersetzt die Betitelung des Textes die fehlende erste Schöpfungsgeschichte dahingehend, dass die Anfangssetzung nicht über eine Kosmogonie, sondern auf der typographischen und medialen Ebene, im Sinne der Sichtbarkeit von Textzeichen, erfolgt. Die Räumlichkeit beginnt sich somit nicht in der inhaltlichen Ebene des Textes zu entwickeln, sondern auf der materiellen Ebene des Manuskriptes als Medium des Textes. Durch den direkten Bezug, den die beiden Betitelungen auf den Text der Prosa-Edda nehmen, gehen diese Paratexte beinahe in den eigentlichen Text über oder werden von ihm antizipiert, so dass er sich um diese gegenseitige Referenzialität erweitert. Einen Anfang, im Sinne einer Schöpfung und Gestaltung der intradiegetischen Welt der eddischen Mythologie, der topographisch oder räumlich auf der inhaltlichen oder narratologischen Ebene betrachtet werden könnte, bietet der Einstieg in den Codex Trajectinus jedoch nicht in jener Art, wie dies aus der Referenzedition bekannt ist. Doch wie oben erwähnt, ist gerade die Absenz der Anfangssetzung äußerst bemerkenswert, bedenkt man, dass diese, innerhalb des Anfangs im Prolog, einen expliziten transtextuellen Verweis auf die christlich-jüdische Schöpfungsgeschichte darstellt. 41 Hierbei muss man bedenken, dass die wenigsten (spät-)mittelalterlichen, altnordischen Manuskripte mit Titeln versehen waren, bzw. dass Titel oder Überschriften meist erst nachträglich eingefügt wurden. 2.2 Der Anfang im Text 51 2.2.4.3 Der Codex Wormianus Die Redaktion W der Prosa-Edda, der Codex Wormianus, AM 242, Fol., ist im Gegensatz zu den beiden vorgängig besprochenen Redaktionen nicht fragmentarisch, was den Anfang des Textes betrifft. 42 Ganz im Gegenteil ist diese Version des Prologs die umfangreichste und auch detaillierteste. Der Text des Prologs setzt auf Blattseite 1 verso 43 mit einer großen Initiale A ein, 44 welche teils farbig gestaltet ist. Die Initiale leitet das erste Wort der Seite ein und markiert sowohl den Beginn des Textes als auch den Anfang des Kodex an sich. Der erste Satz des Prologs des Codex Wormianus lautet: „ALmattigr guð skapaði i upphafí himin ok i ȯ rð ok alla þá hlut(i) er þeim fylgía ok síðarst menn tua er ætter eru fra komnar Adam ok Euo ok fiolgaðiz þeira kynsloð ok drefðiz um hæim allan.“ 45 [Der allmächtige Gott schuf Himmel und Erde und alle Dinge, die ihnen folgten, und zuletzt zwei Menschen, von denen die Geschlechter abstammen, Adam und Eva, und ihnen folgten Nachkommen und breiteten sich über die ganze Welt aus.] Im Gegensatz zu den Redaktionen R und T der Prosa-Edda, welche, wie oben gezeigt wurde, den Prolog nur fragmentarisch überliefern, gleicht diese Version des Anfangs des Prologs eher jener, die aus den meisten Editionen bekannt ist. Dabei fällt auf, dass der Schöpfungsbeginn, wie er im Codex Wormianus wiedergegeben wird, dieselbe Analogie zum Anfang in der Genesis aufweist wie dies weiter oben für die Referenzedition dargelegt wurde. Die Ähnlichkeit zum Wortlaut der Genesis ergibt sich wiederum aus dem Wort „upphafí“, zu Deutsch „Anfang“, „Beginn“ oder „Ursprung“. 46 Dieses erzeugt, wie oben schon erwähnt, eine gewisse Tautologie auf der Schrift- und Inhaltsebene des Textes, wobei sich der Anfang verdoppelt. Die Emphase des Satzes liegt beim Beginn des Prologs im Codex Wormianus jedoch auf dem allmächtigen Gott als Schöpfer selbst und nicht auf dem Anfang, wie dies im Narrativ der Genesis der Fall ist. Diese Emphase wird einerseits durch die Wortstellung im ersten Satz erzeugt, in welchem, im Gegensatz zum Wortlaut der Genesis, die Allmacht Gottes an erster Stelle steht, und andererseits durch die typographische Repräsentation des ersten Wortes, welches aus einer Initiale und einer darauffolgenden Majuskel besteht. Da das Wort „upphafi“, welches den Anfang benennt, vom eigentlichen Einsetzen des Textes weiter entfernt steht, wirkt der Beginn, sowohl in zeitlicher als auch in räumlicher Hinsicht, in die Ferne gerückt. Ins Zentrum drängt sich beim Codex Wormianus stattdessen die Ursache dieses Anfangs, der 42 Siehe dazu: Johansson, Karl G.: Studier i Codex Wormianus. Skrifttradition och avskriftsverksamhet vid ett isländskt skriptorium under 1300-talet. Acta Universitatis Gothoburgensis, Göteborg 1997, S. 18-29. 43 Siehe dazu: Ebd., S. 29, Tabelle 1. In älteren Ausgaben wird meist die veraltete Bezeichnung nach Seitenzahlen benutzt, gemäß welcher der Prolog folglich auf Seite 2 beginnt. Siehe dazu unter Anderem: Codex Wormianus, AM 242, Fol. Kommisionen for det arnamagnæanske legat [Hrsg.], Gyldendalske Boghandel - Nordisk Forlag, Kopenhagen und Kristiania 1924, S. II, oder in: Edda Snorra Sturlusonar. Ufgivet efter håndskriftrne. Finnur Jónsson und Kommissioner for det Arnamagnæanske legat [Hrsg.], Gyldendalske Boghandel, Nordisk Forlag, Kopenhagen 1931, S. IX. 44 Siehe dazu: Codex Wormianus, AM 242, Fol. [Kommisionen for det arnamagnæanske legat], Anmerkung Nr. 1, S. 1: „Ornamentered og farved initial, men farverne (delvis grön) er næst helt udviskede.“ 45 Ebd., Hervorhebungen gemäß Edition. 46 Zu den unterschiedlichen Übersetzungsmöglichkeiten siehe unter dem Lemma uppin: Baetke: Wörterbuch zur altnordischen Prosaliteratur, S. 683. 2 Anfänge und Anfangssetzungen 52 allmächtige Gott. Dies erzeugt den Effekt einer medialen Umsetzung der inhaltlichen auf der typographischen Ebene des Textes und umgekehrt. Das Paradox eines Schöpfergottes, der vor dem eigentlichen Anfang schon existiert haben soll, und welches im Codex Wormianus so angedeutet wird, wird dann auch an späterer Stelle in der Gylfaginning der Prosa-Edda diskutiert. 47 Das Fehlen jeglicher paratextueller Rahmung, wie sie zuvor für den Codex Trajectinus diskutiert wurde, oder eines Titels oder einer Überschrift, wie sie in der Referenzedition vorhanden sind, 48 lässt den Anfang des Textes der Prosa-Edda, wie er im Codex Wormianus wiedergegeben ist, gänzlich immediat wirken. Es kann schon antizipierend gesagt werden, dass der Anfang des Textes der Prosa-Edda des Codex Wormianus in seiner immanenten Unmittelbarkeit von keiner anderen Version übertroffen wird. Der Text und damit auch die Diegese des erzählten Narratives und die intradiegetische Welt und deren Topographie entfalten sich somit gleichzeitig und nehmen im selben Moment ihren Anfang, in dem man mit der Rezeption des Codex Wormianus beginnt. 2.2.4.4 Der Codex Upsaliensis Der Codex Upsaliensis, 49 auch Redaktion U genannt, gilt als die älteste der überlieferten Handschriften der Prosa-Edda. Das Manuskript ist auf einigen Blattseiten stark beschädigt, doch nicht fragmentarisch, und weicht, was den Text anbelangt, partiell von den anderen Redaktionen ab. Ihre Entstehung wird ungefähr auf den Zeitraum zwischen 1300 und 1325 datiert. 50 Der Fließtext und die Rubrizierungen sind von derselben Hand geschrieben, doch können auch zahlreiche spätere Handschriften 51 ausgemacht werden, die als Marginalien erkennbar sind. 52 Initialen sind ornamental gestaltet und in roter, grüner und schwarzer Tinte ausgeführt. 53 Bevor der Text der Prosa-Edda einsetzt ist ein an den unteren Rändern stark nachgedunkeltes Blatt eingefügt, 54 welches in der Faksimileausgabe zwar abgebildet ist, jedoch weder eingehend besprochen noch in der darin enthaltenen Transkription berücksichtigt wurde. Blatt 1 recto zeigt gegen die rechte obere Ecke hin das Bild einer Chimäre, die aus einem 47 Siehe dazu: Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 36-38. 48 Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 2. 49 Snorre Sturlasons Edda. Uppsala-Handskriften DG 11. Grape, Anders [Hrsg.], Generalstabens Litografiska Anstalt, Stockholm und Almqvist & Wiksells, Uppsala 1962, und Snorre Sturlasons Edda. Uppsala-Handskriften DG 11, II. Grape, Anders et al. [Hrsg.], Almqvist & Wiksells, Uppsala 1977, und: Snorri Sturluson: The Uppsala Edda. Heimir Pálsson [Hrsg.], Viking Society for Northern Research, University College London, London 2012. Für eine eingehende Untersuchung zu den eddischen Liedstrophen, welche im Codex Upsaliensis Verwendung finden, siehe: Bäckvall, Maja: Skriva fel och läsa rätt? Eddiska dikter i Uppsalaeddan ur ett avsändaroch mottagarperspektiv. Institutionen för nordiska språk, Uppsala 2013. 50 Zur Datierung der Handschrift DG 11 4to siehe: Ebd., S. ix; sowie in: The Uppsala Edda. [Heimir Pálsson], S. xxx-xxxiv. 51 Handschriften sind hier im Sinne der Hand unterschiedlicher Schreiber zu verstehen. 52 Zu den Überschriften und Marginalien siehe: The Uppsala Edda. [Heimir Pálsson], S. xcii- xcv. 53 Snorre Sturlasons Edda. Uppsala-Handskriften DG 11, II. [Grape], S. ix-x. 54 Dies wären die Seiten 1 und 2 des Faksimiles, doch sind die Seiten nicht nummeriert. Siehe: Snorre Sturlasons Edda. Uppsala-Handskriften DG 11. [Grape]. 2.2 Der Anfang im Text 53 menschlichen Kopf und dem Hinterteil eines Tieres, wohl eines Pferdes oder Hirschs, zusammengesetzt ist. Darunter befindet sich ein Text, der in zwei Abschnitte geteilt ist, doch wie schon erwähnt in der Transkription nicht vorkommt. 55 Auf Blatt 1 verso steht im oberen Drittel „Hier er vnder pryamvs konvng“ 56 [Hier unten ist König Priamus], die untere Hälfte wird vom Bild einer Figur eingenommen, die an Mitra, Pektorale und Stab als Bischof zu erkennen ist, der mit Zeige- und Mittelfinger seiner rechten Hand auf die gegenüberliegende Blattseite zeigt. Die beiden Seiten sind in der Faksimileausgabe weder paläographisch beschrieben noch wirklich ediert und sollen hier nur in den wichtigsten Punkten besprochen werden. Sicherlich müssen sie als eine paratextuelle Rahmung angesehen werden, die in dieser Form natürlich auch auf den Text der Prosa-Edda einwirkt. So vermag zum Beispiel oben genannte Zeile, die über der Bischofsdarstellung geschrieben steht, auf den Text des Prologs zu verweisen und die Genealogie der aus Trója stammenden Asen zu antizipieren. Im Gegensatz zur Redaktion W, in der die Genealogie von Príamus selbst vorkommt, 57 wird in der Redaktion U jedoch einzig auf Príamus, den König von Trója, als Vater der Frau von König Menón verwiesen. 58 Eingehender werden im Folgenden die bildlichen Darstellungen auf dem ersten Blatt betrachtet: Das Bild der Chimäre, als ein dem Mythos zugehörendes Wesen, könnte als Referenz auf die mythologische Diegese der Prosa-Edda gelesen werden. Eine solche Leseweise würde dem Einfluss der Zeichnung aber wohl zu starkes Gewicht zuschreiben, da Chimären nicht wirklich zum Figureninventar der eddischen Mythen zählen. Einen potentiellen Zusammenhang - wenn auch hauptsächlich hinsichtlich der Besitzergeschichte der Handschrift - zwischen Bild und Text könnte für die Darstellung des Bischofs angenommen werden. Die auf den Text weisende Handstellung wirkt zu bewusst gezeichnet, um zufällig und bedeutungslos zu sein. Folgt man dem Zeigegestus in der Verlängerung der Finger, so weisen diese auf die erste Zeile des Prologs: „Almattigr Gvð skapaþi himin ok iorð. ok alla hlvti [...].“ 59 [Der allmächtige Gott schuf Himmel und Erde. Und alle Dinge ...] Schon die Darstellung des Bischofs legt eine mögliche christliche Konnotation mit dem Text nahe, doch durch die Geste der Hand, die auf den ersten Satz nach dem Incipit 60 hinweist, verdoppelt sich dieser Eindruck. Die Faksimileausgabe hält nur sehr knapp für die Blattseite 1 verso fest, dass die Zeichnung kaum älter als aus dem 15. Jahrhundert sein könne. 61 Da jedoch weder Angaben zur Verlässlichkeit dieser Datierung gemacht 55 Zum Text auf der Blattseite 1 recto, der in zwei Teilen, beziehungsweise drei Verse gegliedert ist, siehe: The Uppsala Edda. [Heimir Pálsson], S. xcviii-xcix. 56 Snorre Sturlasons Edda. Uppsala-Handskriften DG 11, II. [Grape], S. xviii. Hervorhebungen gemäß Transkription. 57 Siehe dazu: https: / / notendur.hi.is/ / ~eybjorn/ gg/ gg4par00.html (Stand: 09.05.2015) 58 Siehe dazu: The Uppsala Edda. [Heimir Pálsson], S. 8. 59 Snorre Sturlasons Edda. Uppsala-Handskriften DG 11, II. [Grape], S. 1. Hervorhebungen gemäß Transkription. 60 Zum Incipit siehe unter Anderem: Münkler, Marina: Erfahrung des Fremden. Die Beschreibung Ostasiens in den Augenzeugenberichten des 13. und 14. Jahrhunderts. Akademie Verlag, Berlin 2000, S. 240-248. Auch wenn sich Münklers Darlegungen bezüglich der „Formen der Glaubhaftmachung: incipites und Prologe“ (Ebd., S. 410) hauptsächlich auf Incipites aus Handschriften mittelalterlicher Reiseberichte bezieht, können insbesondere ihre Aussagen zur Autornennung auch für das Beispiel aus dem Codex Upsaliensis geltend gemacht werden. 61 Siehe dazu: Snorre Sturlasons Edda. Uppsala-Handskriften DG 11, II. [Grape], S. xviii. 2 Anfänge und Anfangssetzungen 54 werden noch beschrieben wird, wie diese zustande kam, könnte sie auch jüngeren Datums sein, wenn man bedenkt, dass die Besitzlinie der Handschrift nur bis in die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts zurückverfolgt werden kann. 62 Bis ins Jahr 1639, als er sein Amt als Bischof auf Skálhot antrat, war sie im Besitz des Isländers Brynjólfur Sveinsson, der sie damals dem Professor und Historiker Stephen Hansen Stephanius (oft auch in der latinisierten Version Stephanus Johannis Stephanius ausgeschrieben) aus Sorø vermachte. 63 Über diese aussertextuelle Besitzergeschichte des Kodex bestände somit eine Beziehung zwischen dem Manuskript und einem kirchlichen Würdenträger, auf die die bildliche Darstellung möglicherweise referieren könnte. 64 In diesem Falle könnte es sich um eine gekonnte mediale Umsetzung der Präsentation oder Übermittlung des Textes in der materiellen Manifestation des Textträgers durch den zukünftigen Bichof an den nachfolgenden Besitzer handeln. Dies würde auf einen extradiegetischen Bezug zwischen der Zeichnung und dem Text der Prosa-Edda in der Verschriftlichung des Codex Upsaliensis hindeuten. Dieser historische Aspekt hat jedoch, abgesehen von der der möglichen, aber vom Zeichner oder der Entstehungszeit der Darstellung eventuell nicht intendierten medialen Präsentation der Übergabe der Handschrift, keinen intratextuell erkennbaren Einfluss auf die Narrative zu den Topographien der eddischen Mythen an sich. Abgesehen von der erwähnten Konnotation, welche, wie gezeigt wurde, vermutlich einzig über eine historisierende und rückwirkende Zuschreibung zustande kommt, antizipiert die Bischofsdarstellung in ihrer paratextuellen Funktion auch die Lesererwartung. Die bildliche Darstellung des kirchlichen Würdenträgers generiert für den Textanfang des Prologs einen verstärkt christlichen Verstehensrahmen und vereindeutlicht und legitimiert darüber den Anfang des Textes - die Beschreibung der Schöpfung der Welt durch Gott - als Wahrheit im christlichen Sinne. Wie schon weiter oben erwähnt, beginnt der Text der Prosa-Edda in der Version des Codex Upsaliensis auf der Blattseite 2 recto. Über der den Prolog einleitenden Initiale A befindet sich ein als Rubrizierung gestaltetes Incipit, das sich über drei Zeilen erstreckt: „bok þessi heitir edda. hana hevir saman setta snorri sturlo son eptir þeim hætti sem her er skipat. Er fyrst fra asvm ok ymi. þar næst skalldskap[ar mal] ok heiti margra hlvta. Siþaz hátta tal er snorri hevir ort um hak[on] konvng ok skvla hertug[a].“ 65 [Dieses Buch heißt Edda. Es wurde von Snorri Sturluson zusammengestellt, in jener Weise, in der es hier geordnet ist. Zuerst handelt es von den Asen und Ymir. Darauf von der Sprache der Dichtkunst und den Namen vieler Dinge. Zuletzt von der Aufzählung der Versformen, die Snorri über König Hákon und Herzog Skúli gedichtet hat.] Wie schon für den Codex Trajectinus diskutiert, benennt auch dieser Paratext 62 Vgl.: The Uppsala Edda. [Heimir Pálsson], S. xxx. 63 Siehe dazu: Snorre Sturlasons Edda. Uppsala-Handskriften DG 11. [Grape], S. 9f; sowie in: The Uppsala Edda. [Heimir Pálsson], S. xxxii. 64 Laut Heimir Pálsson hatte Brynjólfur Sveinsson den Kodex schon früher, spätestens jedoch als er im Winter 1636-1637 das Manuskript von Jón lærði Guðmundsson abschreiben liess, nach Dänemark gebracht. Siehe dazu: The Uppsala Edda. [Heimir Pálsson], S. xxx. Weiter geht Heimir Pálsson davon aus, dass Brynjólfur Sveinsson die heute unter der Sigel DG 11 4to bekannte Handschrift schon vor seiner Rückkehr nach Island und somit noch vor dem Beginn seiner Amtszeit als Bischof an Stephen Hansen Stephanius übergeben habe. Vgl.: The Uppsala Edda. [Heimir Pálsson], S. xxxii. 65 Snorre Sturlasons Edda. Uppsala-Handskriften DG 11, II. [Grape], S. 1. Hervorhebungen gemäß Transkription. Zur Diskussion dieser Textstelle siehe: The Uppsala Edda. [Heimir Pálsson], S. xciiif. 2.2 Der Anfang im Text 55 einleitend die gesamte Handschrift oder den darin verschriftlichten Text als Edda. Darüber hinaus wird auf Snorri Sturluson als jene Person verwiesen, die den Text oder das Manuskript verfasst, geschrieben oder zusammengesetzt, also kompiliert haben soll. 66 Diese Stelle gilt in der Forschung oft als Beleg für die tatsächliche Autorschaft Snorris. 67 Da die Nennung jedoch die einzige Referenz auf Snorri als Kompilator ist, die in einer der Haupthandschriften der Prosa-Edda zu finden ist, und da die Texte der verschiedenen Manuskripte mehr oder weniger stark voneinander abweichen, ist die lange als Faktum betrachtete Autorschaft Snorris als problematisch zu bewerten. Zudem müssten sich die Verfechter einer solchen Verfasserfixiertheit der Frage stellen, welchen wissenschaftlichen Mehrwert diese für das Verständnis der einzelnen Textmanifestationen der Prosa-Edda hat, wenn kein Autograph aus der Hand des postulierten Autors überliefert ist. Solch autorenimmanente Ansätze resultieren in einem unverhüllten Biographismus, 68 welcher neuphilologische und textkritische Aspekte meist gänzlich außer Acht lässt. Interessanter als die Nennung Snorris ist an dieser Stelle jedoch die Aufzählung der einzelnen Teile der Prosa-Edda. Weder der Prolog noch die Gylfaginning werden in der oben zitierten Rubrizierung als solche bezeichnet. 69 Diese, in den bekannten Editionen als zwei verschiedene Sektionen betitelte Teile, werden interessanterweise 66 Für die unterschiedlichen Bedeutungen und Übersetzungsmöglichkeiten von „setja saman“ siehe unter dem Lemma setja in: Baetke: Wörterbuch zur altnordischen Prosaliteratur, S. 529. 67 Zur Thematik der Autorschaft Snorris siehe unter Anderem in: Edda. Prologue and Gylfaginning. [Faulkes], S. xii-xvi; The Uppsala Edda. [Heimir Pálsson], S. xi-xxix; sowie unter dem Lemma Snorra-Edda in: Simek, Rudolf und Hermann Pálsson: Lexikon der altnordischen Literatur. Die mittelalterliche Literatur Norwegens und Islands. Zweite, wesentlich vermehrte und überarbeitete Auflage von Rudolf Simek. Kröner, Stuttgart 2007, S. 352f. Für eine gut aufgearbeitete Übersicht über ältere Forschungsbeiträge zur möglichen Autorschaft von Snorri Sturluson siehe: Lorenz, Gottfried: Einleitung. In: Gylfaginning. [Lorenz], S. 1-42. Zu beachten ist bei Lorenz jedoch, dass er von der Annahme aus argumentiert, dass „die Person des Verfassers für die Erklärung des Textes von Belang ist“. (Ebd., S. 6). Auch neuere Untersuchungen machen sich für eine Verfasserschaft Snorris stark. Siehe dazu unter Anderem: Nahl, Jan Alexander van: Snorri Sturlusons Mythologie und die mittelalterliche Theologie. De Gruyter, Berlin 2013. Van Nahls Überlegungen zur Verfasserschaftsfrage wirken durch seine autorenimmanente Argumentation bemerkenswert antiquiert. Siehe dazu insbesondere das Kapitel Snorra-Edda = Snorris Edda? - Zu Snorris Verfasserschaft, S. 43-47. Der Rückgriff auf eine überlieferungsgeschichtlich nicht belegbare und somit konstruierte Autoren- oder Urheberfigur, der man, in Bezug auf die Prosa-Edda, jegliche Absichten nach Belieben unterstellen kann, ist wohl eher van Nahls Faszination an der historischen Person Snorris geschuldet, die sich schon im Titel seiner Monographie manifestiert, als einem literaturwissenschaftlichen Verständnis mittelalterlicher Textgenese. So erstaunt es auch nicht, dass sich van Nahl dazu hinreißen lässt, die von ihm kolportierte Intention des angeblichen Verfassers als Tatsache auszuweisen, wenn er schreibt: „Snorri verfolgte mit seinem Werk Ziele, die nicht losgelöst von historiographischen, mythographischen und skaldischen Ambitionen zu verstehen sind; nicht zuletzt bewegte er sich damit gar auf politischer Ebene.“ (Ebd., S. 74). 68 Als Beispiel siehe hierzu: Lorenz, Gottfried: Einleitung. In: Gylfaginning. [Lorenz], S. 7-9; oder: Edda. Prologue and Gylfaginning. [Faulkes], S. xii-xvi. 69 Auf der Blattseite 3r (Seite 3 der Transkription) steht, wiederum als Rubrizierung, dass nun die Gylfaginning beginne, womit eine gewisse Distinktion zwischen dem Prolog und der Gylfaginning zu erkenen ist: Snorre Sturlasons Edda. Uppsala-Handskriften DG 11, II. [Grape], S. 3. 2 Anfänge und Anfangssetzungen 56 als ein einziger verstanden, wenn in der Handschrift steht, dass der erste Teil jener sei, der von den Asen und Ýmir handle. Bemerkenswert daran ist, dass neben den Asen auch der Urriese Ýmir erwähnt wird, der zwar bei der Kosmogonie, wie sie in der Gylfaginning vermittelt wird, eine sehr zentrale Rolle spielt, doch im weiteren Verlauf der Erzählung nicht mehr präsent ist. Dass Ýmir hier eine solch explizite Erwähnung findet, zeigt, wie wichtig dem Verfasser der Handschrift die intradiegetisch verhandelte eddische Schöpfung und damit die Gestaltung der Topographie, in der sich die eddischen Mythen entwickeln, zu sein scheint. Danach werden als zweiter Teil Skáldskaparmál, sowie poetische Umschreibungen verschiedenster Dinge, und als letzter Teil Háttatal erwähnt, zu welchem die Erläuterung folgt, dass Snorri darin den König Hákon Hákonarson und dessen Schwiegervater Jarl Skúli behandle. 70 Diese Dreigliederung des Textes, der im Paratext vorgenommen wird, lässt ein starkes Bewusstsein für die Eigenständigkeit der einzelnen Teile erkennen. Der Text des Prologs der Prosa-Edda setzt wie folgt ein: „Almattigr Gvð skapaþi himin ok iorð. ok alla hlvti er þeim fylgia: ok siþaz menn. er ettirnar ero fra komnar Adam ok evo. ok dreifþvz ættirnar vm heimin siþan.“ 71 [Der allmächtige Gott schuf Himmel und Erde. Und alle Dinge die ihnen folgten: und zuletzt den Menschen. Von denen stammen die Geschlechter ab, Adam und Eva. Und die Geschlechter breiteten sich danach über die ganze Welt aus.] Im Vergleich zum Codex Wormianus, der neben dem Codex Upsaliensis als einzige der Haupthandschriften den Beginn des Prologs überliefert, erwähnt der Codex Upsaliensis der Prosa-Edda den Anfang nicht explizit als Wort, 72 dafür wiederum den allmächtigen Gott als Schöpfungsmacht. Das Fehlen einer Anfangssetzung der Schöpfung von Himmel und Erde wird dadurch intensiviert, dass der Paratext, der sich mit dem inhaltlichen Aufbau des Manuskripts auseinandersetzt, 73 den Beginn der Erzählung nach vorne versetzt und so eine Immanenz des Anfangs, wie er im Codex Wormianus ersichtlich war, verunmöglicht. Durch die beiden ersten Blattseiten, die wie oben besprochen sowohl Text als auch Zeichnungen aufweisen, wird der Beginn der Erzählung noch weiter verschoben. Denkt man an die Leserführung bei der Rezeption der Redaktion U, geschieht diese Verschiebung des Anfangs des Narratives des Prologs unabhängig davon, ob der Text und die bildlichen Darstellungen einen direkten Bezug zur Prosa-Edda haben oder nicht. Die in der Eröffnung des Prologs erschriebene Topographie ist, wie auch schon für das Narrativ des Codex Wormianus festgehalten, sehr rudimentär gehalten. Die Welt scheint in zwei distinkte Pole eingeteilt zu sein: einen Himmel und eine Erde. Während des Schöpfungsvorganges kamen, laut Narrativ, weitere, nicht benannte Dinge hinzu, und er endete mit der Erschaffung des ersten Menschenpaares, Adam und Eva. Die dargestellte Diegese ist sehr beschränkt und wirkt durch die rudimentäre Dualität von Oben und Unten, auf der Ebene der Raumstrukturierung, wie ein Kasten oder Kontainer. Einzige Anhaltspunkte bei diesen beiden Lagen sind die darin an- 70 Zur historischen Beziehung zwischen Snorri Sturluson, dem norwegischen König und dessen Schwiegervater siehe: Edda. Prologue and Gylfaginning. [Faulkes], S. xii-xiii. 71 Snorre Sturlasons Edda. Uppsala-Handskriften DG 11, II. [Grape], S. 1. Hervorhebungen gemäß Transkription. 72 Der Beginn des Schöpfungsberichtes in der Redaktion U der Prosa-Edda kann jedoch, im Sinne eines elliptischen Zitats, gleichwohl als Referenz auf den Anfang der Genesis gelesen werden. 73 In diesem Zusammenhang könnte man die Rahmung auch als Metatext im Sinne der Terminologie Genettes verstehen, da der Text sich an dieser Stelle selber kommentiert und reflektiert. 2.2 Der Anfang im Text 57 scheinend verteilten Objekte oder Dinge, zu denen auch die Menschen gehören. Da jedoch weder die Dinge noch die Menschen genauer verortet werden, wirken nur die beiden Ebenen von Himmel und Erde als topographische Landmarken oder Flächen und der Raum dazwischen scheint unstrukturiert und beinahe leer. 2.2.5 Zwischenfazit zu den Anfängen in den eddischen Textquellen Wie gezeigt werden konnte, sind die Anfänge und Anfangssetzungen, wie sie sich in den verschiedenen Quellen, den Manuskripten und den Editionen präsentieren sehr unterschiedlich. Besonders deutlich trat hervor, wie stark sich die einzelnen Redaktionen der Handschriften voneinander und im Vergleich zu den gängigen Editionen unterscheiden. Für die V ǫ lospá, die den Anfang in der Lieder-Edda bildet, kann festgehalten werden, dass sie einerseits einen sehr immediaten Einstieg in den Text aufweist und andererseits hoch performativ in ihrer Inszeniertheit ist. Dabei überlagern sich die Topographien der erzählten und der erzählenden Welt gänzlich und die innertextuelle und außertextuelle Performanz sind so eng miteinander verwoben, dass zwischen extradiegetischem und intradiegetischem Raum beinahe nicht mehr unterschieden werden kann. 74 Die V ǫ lospá zeigt als eröffnendes Lied der Lieder-Edda mit dieser performativen Gestaltung des Anfangs ein hohes Bewusstsein für die Möglichkeit der Entwicklung einer räumlichen Situation, die sich gleichzeitig mit der Entfaltung des Textes vollzieht, der jedoch im Präteritum gehalten ist und dadurch auf etwas Abgeschlossenes hinweist. Für die Prosa-Edda wurden die materiellen Anfänge unterschiedlicher Fassungen betrachtet und diskutiert. Wie gezeigt wurde, weichen die einzelnen Redaktionen stark voneinander ab. Zudem gibt die Referenzedition eine Version der Prosa-Edda wieder, die in dieser Form keiner der vier Redaktionen entspricht und sich als eklektisches Text-Konglomerat präsentiert, bei welchem weder genau markiert noch ersichtlich ist, welche Textstelle aus welchem Manuskript stammt. Da der eigentliche Text des Prologs und der Gylfaginning in den Editionen durch Kommentare, Anmerkungen zur Ausgabe, Titel und weiteren Meta- und Paratexten umrahmt ist, wird eine Unmittelbarkeit des Anfangs der Erzählung verunmöglicht. Im kurzen Vergleich des Anfangs des Prologs mit jenem in der biblischen Genesis zeigte sich, dass in der Wortwahl eine klar erkennbare Parallele der beiden Texte besteht, wobei in jener Version der Prosa-Edda, wie sie in der Referenzedition wiedergegeben ist, auf die Tautologie verzichtet wird, die in der Genesis durch die Nennung des Wortes „Anfang“ hergestellt wird. Der fragmentarisch erhaltene Codex regius der Prosa-Edda weist zu Beginn eine größere Lacuna auf. Dadurch ergibt sich schon auf der materiellen Basis des Textes, dass der Anfang des Prologs, wie wir ihn aus der Edition kennen, fehlt. Das Narrativ setzt an jener Stelle ein, an der über die Benennung unterschiedlicher Personen berichtet und eine Opposition zwischen zwei Sprachgruppen dargelegt wird. Der Codex regius der Prosa-Edda beginnt somit nicht mit dem bekannten Anfang, sondern mit- 74 Diese Beobachtung zu den Überlagerungen gilt, wie oben erwähnt, natürlich hauptsächlich unter der Prämisse, dass es sich um eine orale Rezitation - im lateinischen Sinne der lectura - des Liedes handelt. Im Falle des stillen Lesens müsste diskutiert werden, wie stark der Text für sich spricht, da in diesem Fall die extradiegetische Komponente auf der Textebene verharren würde. 2 Anfänge und Anfangssetzungen 58 ten in der Erzählung, was den Einstieg in die Handlung des Prologs stark erschwert. Um das abrupte Einsetzen der Erzählung in ihrem Zusammenhang situieren zu können, müsste die gegebene Leerstelle gefüllt werden können, da der Prätext sich nicht autopoietisch erschließen lässt. Auch der Codex Trajectinus gibt den Anfang des Prologs der Prosa-Edda nicht in der bekannten Form der Referenzedition wieder, doch ist das Manuskript an dieser Stelle nicht fragmentarisch. Wie dargelegt wurde, wird angenommen, dass der Anfang nie Teil der Handschrift war. Der Text der Prosa-Edda ist durch verschieden Paratexte gerahmt, wobei zweimal auf den Text selbst, bzw. dessen Titel oder Benennung hingewiesen wird. Die biblisch anmutende Anfangssetzung, wie sie für die Edition diskutiert wurde, fehlt im Codex Trajectinus. Der Text setzt erst mitten in der Beschreibung der natürlichen Erkenntnis von der Existenz Gottes durch den Menschen ein, um mit einem euhemeristischen Erklärungsversuch der nordischen Götter fortzufahren. Wie erläutert wurde, ist gerade die unkommentierte Absenz des Anfangs und somit das Fehlen der göttlichen Schöpfungsszenerie sehr bemerkenswert. Diese anscheinend bewusste Verweigerung eines Kommentars zur Lacuna beeinflusst auch die Wahrnehmung der Topographie, die das Narrativ im Text entwickelt. Der Anfang des Prologs, wie er im Codex Wormianus vorliegt, wirkt äußerst immediat. Die Handschrift weist keinerlei paratextuelle Rahmung auf und setzt direkt mit dem Fließtext der Erzählung ein. Im Gegensatz zu den anderen Manuskriptversionen ist der intertextuelle Bezug des ersten Satzes zur Genesis deutlicher erkennbar, da der Anfang als solcher benannt wird, auch wenn das Lexem dafür nicht an erster Stelle steht. Die Wortstellung im ersten Satz setzt die Emphase somit nicht auf den Anfang der Schöpfung, sondern auf deren Ursache, beziehungsweise den Verursacher selbst. Durch die Unmittelbarkeit, mit der der Anfang im Codex Wormianus einsetzt, fallen der Text und die sich entwickelnde Diegese zusammen. Die Topographie des Anfangs, wie sie sich beim Beginn der Erzählung entfaltet, bildet sich somit gleichzeitig mit dem Rezipieren des Textes aus. Anhand des Codex Upsaliensis der Prosa-Edda konnte gezeigt werden, wie mehrere Beobachtungen, die bei der Diskussion der vorhergehenden Manuskripte schon festgehalten wurden, zusammentreffen. 75 Der Text der Prosa-Edda ist in dieser Version in mehrfacher Hinsicht gerahmt. Der Erzählung vorangestellt sind zwei Blattseiten, die beide sowohl Textelemente als auch gezeichnete Darstellungen beinhalten, deren Bezug zum eigentlichen Inhalt des Manuskripts, der Prosa-Edda, nicht abschließend geklärt werden konnte. Für die bildliche Darstellung eines Bischofs auf der Blattseite 1 verso, wurden zwei Deutungsmöglichkeiten angeboten: Einerseits wäre es möglich, dass der auf die erste Zeile der Erzählung hinweisende Bischof die christliche Konnotation des Textes unterstreichen soll, andererseits könnte damit auch eine mediale Umsetzung der Übergabe des Manuskripts an dessen späteren Besitzer durch 75 Vgl. hierzu auch: Glauser, Jürg: Unheilige Bücher. Zur Implosion mythischen Erzählens in der ‚Prosa-Edda‘. In: Cardelle de Hartmann, Carmen et al. [Hrsg.]: Heilige Bücher. Das Mittelalter, Band 18, 2013, Heft 1. Akademie Verlag, Berlin 2013, S. 106-121. Glauser geht darin dezidiert auf das narrative Potential ein, das in den Manuskripten der Prosa-Edda - insbesonder in der Version des Codex Upsaliensis - durch den Zusammenfall der verschiedenen narratologischen Anfangssetztungen, den er mit dem Begriff der Implosion versieht, und dem er konsequenterweise auch das Ende der Gylfaginning als neuen Anfang zurechnet, zur Schau gestellt wird. 2.3 Der Anfang im Narrativ 59 den Bischof gezeigt sein, was eine realhistorische Entsprechung hätte, die über die bildliche Darstellung wieder Eingang in das Manuskript fand. Eine weitere Rahmung erfährt der Text durch eine metatextuelle Einleitung, welche den Aufbau der Handschrift erläutert, deren Titel oder Benennung angibt und einen möglichen Kompilator nennt. Besonderes Augenmerk wurde bei der Diskussion dieser Rubrifizierung auf die Substitution der Benennung von Prolog und Gylfaginning durch die Asen und durch Ýmir gelegt. Die prominente Nennung Ýmis kann als Bewusstsein des Schreibers für die Wichtigkeit des Urriesien für die Topographie der eddischen Mythen gelesen werden. Im Gegensatz zum Codex Wormianus wird in der Redaktion U der Anfang nicht als solcher benannt, sondern - durch die Nennung Gottes als allmächtiger Schöpfer - einzig die Ursache für den Anfang angegeben. Die Topographie der durch Gott geschaffenen Welt wirkt äußerst statisch und karg. Sie wird anhand der Divergenz von zwei Ebenen beschrieben, deren Zwischenraum durch unterschiedliche Dinge und die Menschen bevölkert ist. Insgesamt lässt sich festhalten, dass die Anfänge in den Quellen zu den eddischen Mythen in sehr unterschiedlicher Form vorliegen und präsentiert werden. Beim Vergleich von Lieder-Edda und Prosa-Edda kann konstatiert werden, dass, was zumindest die besprochene V ǫ lospá betrifft, die Lieder-Edda sich des performativen Charakters der Anfangssetzung durchaus bewusst ist, was bei den teilweise fragmentarischen Anfängen der Prosa-Edda nur bedingt erkennbar ist. Nach diesen teilweise stark materialphilologisch geprägten Überlegungen zum Anfang wird im kommenden Kapitel der Anfang auf der Inhaltsebene der eddischen Mythen erörtert, wobei diskutiert wird, wie sich die Setzung des Anfangs zur daraus resultierenden Schöpfung verhält und wie die Narrative der unterschiedlichen Texte die Topographien der eddischen Mythen erschreiben oder entstehen lassen. 2.3 Der Anfang im Narrativ 2.3.1 Anfänge - Schöpfungsgeschichten - Kosmogonien Kosmogonien, also Erklärungsversuche der Entstehung der Welt, sind zentrale Momente einer jeden Mythologie, beschreiben sie doch Vorstellungen davon, wie eine - bestimmten Kulturen oder Gesellschaften zugehörende - Umwelt geschaffen worden sei. Im Folgenden werden daher die einzelnen Anfänge, Schöpfungsgeschichten oder Kosmogonien untersucht und diskutiert, wie sie sich in den verschiedenen Texten der Lieder-Edda und in der Referenzedition der Prosa-Edda, wie auch in den unterschiedlichen Redaktionen, so sie sich denn unterscheiden, darstellen. Zu Beginn werden dazu einzelne, repräsentative Lieder der Lieder-Edda betrachtet und anhand ihrer Narrative soll aufgezeigt werden, welche unterschiedlichen Schöpfungskonzepte am Anfang der Kosmogonien stehen und wie diese im Text entwickelt werden. Daran anschließend folgt eine Diskussion darüber, ob und wie die Topographien der eddischen Mythen diese Kosmogonien präsupponieren und durch sie vorgeformt oder bedingt sind. In einem weiteren Schritt werden dieselben Punkte und Fragen an der Prosa-Edda überprüft, wobei ausschließlich die Narrative des Prologs und der Gylfaginning berücksichtigt werden. Nebst der Referenzedition werden Stellenweise auch die Redaktionen der Manuskripte berücksichtigt, falls daran interessante Abweichungen zum edierten Text aufgezeigt werden können. 2 Anfänge und Anfangssetzungen 60 Mythologische Kosmogonien, Schöpfungsgeschichten oder Anfangssetzungen sind sprachlich gefasste Konzepte zur Erklärung der Erschaffung der Welt, in der sich der Mensch wiederfindet. Es sind Modelle, die sich im Falle der eddischen Mythen in den Handschriften vielleicht nur bedingt, da eingeschränkt durch die Veränderbarkeit des Narratives durch die Transmission des Textes, und in den Editionen konkreter, durch die Drucklegung, der damit einhergehenden größeren Verbreitung, und der Auswahl der Textgrundlage durch einen Herausgeber, verfestigt haben. Von der Prämisse ausgehend, dass sich diese Kosmogonien in den Narrativen der Texte abbilden und somit Teil der innertextuellen Diegese sind, soll an dieser Stelle nicht auf außertextuelle Phänomene verwiesen werden, auch wenn Kosmogonien natürlich als sinnstiftende Erzählungen verwendet werden, um die Lebensumwelt einer Kultur oder eines gesellschaftlichen Gefüges zu begründen und, zum Beispiel in Bezug auf Nationalmythen, selbstreferentiellen und identitätsbildenden Charakter haben. 2.3.2 Die Entstehung der Welt in der V ǫ lospá Auch für die Betrachtung und Diskussion der Kosmogonie in der Lieder-Edda lohnt es sich, mit der V ǫ lospá zu beginnen. Wie schon bei der Erörterung zum Anfang des Textes aus materieller und inhaltlicher Perspektive erkenntlich war, zeigt die V ǫ lospá ein starkes Bewusstsein für ihre eigene Performativität im Narrativ. Es konnte deutlich gemacht werden, dass das Lied zu Beginn auf der intrawie auch extradiegetischen Ebene mit mehreren Erzählinstanzen spielt, die übereinanderliegend und sich durchdringend verschiedene Erzählräume gestalten und einnehmen. Im Folgenden werden die ersten vier Strophen der V ǫ lospá genauer auf ihren kosmogonischen Inhalt hin analysiert und diskutiert, wie die Erschaffung der Welt im Narrativ vonstatten geht. Dabei wird auch der Aufbau der Reihenfolge der Strophen betrachtet, da die Zeitlichkeit nicht linear verläuft, wie sich schon bei der Betrachtung des Anfangs herausstellte. Die erste Strophe, die weiter oben schon auf ihre Bedeutung für den Anfang des Narratives und ihre performative Beschaffenheit hin betrachtet wurde, setzt wie folgt ein: Hlióðs bið ec allar helgar kindir, meiri oc minni, m ǫ gu Heimdalar; vildo, at ec, Valf ǫ ðr, vel fyrtelia forn spioll fira, þau er fremst um man. 76 [Gehör erbitte ich aller heiliger Geschlechter, höherer und minderer, Söhne Heimdalls; du willst, dass ich, Valf ǫ ðr wohl berichte alte Erzählungen der Menschen und Götter, derer ich mich als früheste erinnere.] Die Erzählinstanz bittet um die Aufmerksamkeit der Zuhörerschaft, die sie als „alle heiligen Geschlechter“ und „höhere und niedere Söhne Heimdalls“ bezeichnet. Durch 76 Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 1. Dabei muss beachtet werden, dass die Wortfolge „helgar kindir“ einzig in der Hauksbók zu finden ist, wohingegen sie im Codex regius der Lieder-Edda „allar kindir“ lautet. 2.3 Der Anfang im Narrativ 61 die Forschung konnte bisher nicht abschließend geklärt werden, auf wen diese Bezeichnungen referieren. Einerseits wird in einigen Kommentaren zur V ǫ lospá dahingehend argumentiert, dass sich die „heiligen Geschlechter“ auf die Götter beziehen würde. 77 Lars Lönnroth erkennt in den Verszeilen jedoch schlicht ein Synonym für die nachfolgenden Söhne Heimdalls. 78 Ursula Dronke geht noch einen Schritt weiter und schreibt in ihrem Kommentar zu dieser Verszeile, dass eine Kontextualisierung mit den Göttern an dieser Stelle schlicht falsch wäre. 79 Beide erkennen in der darauffolgenden Bezeichnung der Söhne Heimdalls eine Referenz auf die Rígsþula, 80 in welcher Heimdallr als der Vater der drei Stände, Adel, Bauern und Knechte, bezeichnet wird und somit als Stammhalter der Menschen gilt. 81 Einen solch intertextuellen Bezug zu knüpfen ist für einen heutigen Rezipienten sicher sinnvoll und mag ein Erklärungsversuch für diese doch sehr obskure Verszeile sein. Man darf jedoch nicht vergessen, dass die Rígsþula kein Teil der Handschrift des Codex regius der Lieder-Edda ist, sondern als Fragment im Codex Wormianus überliefert ist, der die Prosa-Edda beinhaltet und wie schon erwähnt aus der Mitte des 14. Jahrhundert stammt. Zudem ist die Rígsþula als Randeintrag, datiert auf das 15. Jahrhundert, im Codex Upsaliensis der Prosa-Edda enthalten. 82 Eine Argumentation zugunsten einer solchen intertextuellen Referenz für die Lieder-Edda, wie sie Dronke und Lönnroth annehmen, ist auf der Basis von Textzeugnissen nicht belegbar und müsste über nicht mehr nachprüfbare orale Transmission oder verlorengegangene verschriftlichte Quellen erfolgt sein. Man kann dagegen aber sicher davon ausgehen, dass sich, im Falle einer Rezitation des Liedes vor Publikum, das Auditorium durch die Erzählinstanz angesprochen fühlt und die Textstelle auf sich beziehen wird. Die Zeitlichkeit, die sich in dieser ersten Strophe zeigt, reicht von der Gegenwart der einsetzenden Erzählung bis hin zu den frühesten Dingen, an die sich die Erzählinstanz erinnern mag. Dadurch öffnet sich auch ein Raum, der aus der Gegenwart in die Vergangenheit reicht und dessen Topographie mit dem weiteren 77 Siehe hierzu zum Beispiel Fussnote 1 in: Krause, Arnulf [Hrsg., Üs., Komm.]: Die Götterlieder der Älteren Edda. Philipp Reclam jun., Stuttgart 2006, S. 10. (= Reclams Universal Bibliothek, Nr. 18426); oder auch den Aufsatz von Lars Lönnroth, in welchem er, ohne dafür Referenzen anzugeben, schreibt „Some commentators maintain that the gods themselves are addressed [...].“ Lönnroth: The Founding of Miðgarðr (V ǫ luspá 1-8), S. 13. 78 Ebd., S. 13. 79 The Poetic Edda. Volume II, Mythological Poems. Dronke, Ursula [Hrsg., Üs., Komm.], Clarendon Press, Oxford 1997, S. 106: „The pl. kindir is not recorded used of the gods. To interpret the phrase as relating to the gods would be contextually and idiomatically incorrect.“ 80 Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 280-287. Die Rígsþula gehört zu jenen eddischen Liedern, die nicht im Codex reguis der Lieder-Edda überliefert sind, jedoch auf Grund ihrer Thematik und ihres Versmaßes trotzdem in der Edition von Neckel/ Kuhn aufgeführt sind. 81 The Poetic Edda. Volume II, Mythological Poems. [Dronke], S. 106, und in: Lönnroth: The Founding of Miðgarðr (V ǫ luspá 1-8), S. 13. Hierzu muss gesagt werden, dass Heimdallr einzig in der Prosaeinleitung zur Rígsþula erwähnt wird und sich, wie beschrieben wird, bei den Menschen Rígr nannte, wie er dann auch durch das ganze Lied hindurch heisst. Martin argumentiert jedoch dahingehend, dass das heiti Rígr nicht für Heimdallr, sondern Óðinn stehe, da dessen Attribute, wie die Weisheit, das Alter oder Runen im Lied vorkommen. Siehe dazu: Martin: Ár vas alda, S. 360. 82 Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 280-287. 2 Anfänge und Anfangssetzungen 62 Fortgang des Narratives erschaffen wird. Dabei antizipiert der Erinnerungsraum, 83 der durch den gegenwärtigen Erzählraum gebildet ist, einen erinnerten Raum, der über das folgende Narrativ des erzählten Raumes akualisiert wird. 84 So beginnt das Narrativ auch schon in der zweiten Strophe damit, diese Leere, die einzig durch die Erzählinstanz gefüllt werden kann, auszufüllen. Diese Ausschließlichkeit ist sowohl innertextuell als auch durch das Narrativ selbst begründet. Einerseits scheint die Erzählinstanz die einzige Person zu sein, die sich so weit in die Vergangenheit zurück erinnern kann, und andererseits schließt die Monologhaftigkeit des personellerzählten Narratives andere Figuren aus, die diese Leerstellen füllen könnten: Ec man iotna, ár um borna, þá er forðom mic fœdda h ǫ fðo; nío man ec heima, nío íviði, miotvið mœran fyr mold neðan. 85 [Ich erinnere mich der Riesen, der anfangs geborenen, welche ehemals mich aufgezogen haben; neun Welten erinnere ich, neun im Baum, des trefflichen Weltenbaums, tief unter der Erde.] Das Narrativ füllt die Leere der Vergangenheit zuerst mit Figuren, an die sich die Erzählinstanz zu erinnern vermag. Dass die Erzählstimme, die, auf Grund des in der Prosa-Edda postulierten Titels des Liedes, 86 oft als Völva interpretiert wird, selber auch Riesin ist, wie dies in manchen Kommentaren zu lesen ist, 87 kann bezweifelt werden, da für eine direkte Verwandtschaft zu den Riesen keine textbasierende Grundlage gegeben ist. 88 Den Raum beginnt das Narrativ dadurch zu strukturieren, 83 Zum Erinnerungsraum siehe unter Anderem: Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. Beck, München 2003, darin insbesondere das Kapitel Raum-Metaphern, S. 158-165; sowie Neumann, Birgit: Erinnerung, Identität, Narration. Gattungstypologie und Funktionen kanadischer „Fictions of memory“. Walter de Gruyter, Berlin 2005. 84 Dem Erinnerungsraum ist somit immer auch eine Zeitlichkeit inhärent, die eine rekursive Funktion aufweist. Vergangenes wird innerhalb des Erinnerungsraumes aktualisiert, wobei eine zeitliche Aktualisierung auch mit räumlichen Elementen einhergeht. Durch das Rekurrieren auf inaktuelle zeitliche Momente und Raumstrukturen im Erinnerungsraum - beziehungsweise durch deren Vergegenwärtigung - überlagern sich die gegenwärtige Topographie des aktuellen Raums, in dem sich der Akt des Erinnerns vollzieht, und die vergangene Topographie des erinnerten Raumes. Gleichsam falten sich die mit den beiden Zeitebenen und Topographien verknüpften Narrative ineinander und bringt durch diesen dynamischen Prozess den Erinnerungsraum innerhalb der Erzählung hervor. 85 Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 1. 86 Siehe dazu: Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 38. 87 Siehe dazu z.B. in: Krause [Hrsg., Üs., Komm.]: Die Götterlieder der Älteren Edda, Fußnote 5, S. 10: „Die redende Völva ist demnach selbst riesischer Herkunft.“ Auch Schulz erkennt in der Völva eine Riesin. Siehe dazu: Schulz, Katja: Riesen. Von Wissenshütern und Wildnisbewohnern in Edda und Saga. Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2004, S. 107-110. (= Skandinavistische Arbeiten, Bd. 20) 88 Legitimieren ließe sich ein solcher Bezug auf das lyrische Ich, welches spricht, eventuell, wenn man an das Konzept der Ziehkindschaft denkt, welches in den zeitgleich verschriftlichten Isländersagas häufig belegt ist. 2.3 Der Anfang im Narrativ 63 indem die Erzählinstanz „neun Welten“ nennt, an die sie sich erinnern kann. Wie diese gelagert sind, welche Form sie haben oder wie sie zueinander in Beziehung stehen, erfährt man hingegen nicht. Noch schwieriger ist die daran anschließende Zeile, in der „nío íviði“ genannt werden. Die Bedeutung des Lexems íviði 89 ist bisher nicht wirklich geklärt worden und so gibt es die verschiedensten Übersetzungsmöglichkeiten dafür. 90 Die Problematik, welche mit dem Lexem einhergeht ist, dass man es in Relation mit den nachfolgenden Zeilen lesen muss. Bezieht man das Wort auf den nachfolgenden „berühmten Weltenbaum“, so wäre die Leseweise als „Äste“ oder „Wurzeln“ naheliegender, als etwa „Riesinnen“. Der berühmte oder herrliche Weltenbau, der darauffolgend genannt wird, wird meist als Synonym für die Esche Yggdrasils gelesen. 91 Dass dieser Baum dann aber „unter der Erde“ sein soll, entspricht nicht wirklich den anderen Darstellungen von Yggdrasill, könnte jedoch auch nur auf dessen Äste oder Wurzeln bezogen sein, die zuvor genannt wurden. Die zweite Strophe der V ǫ lospá lässt einen kurzen Einblick auf eine mögliche Topographie zu, auch wenn diese noch immer äußerst dunkel und nur schwer fassbar ist. Neun nicht weiter ausgeführte Welten gliedern den Raum, ein Baum mit neun Ästen oder neun riesenhaften Bewohnerinnen befindet sich unter der Erde und Riesen bewohnen mindestens eine dieser Welten, in der auch die Erzählinstanz aufgewachsen war. Eine erste vorstellbare und verständliche Beschreibung einer Topographie bietet die dritte Strophe der V ǫ lospá, wie sie sowohl der Codex regius der Lieder-Edda als auch die Hauksbók wiedergeben: Ár var alda þar er Ýmir bygði, vara sandr né sær né svalar unnir; iorð fannz æva né upphiminn, gap var ginnunga, en gras hvergi. 92 89 Mehr dazu unter dem Lemma íviði in: Sveinbjörn Egilsson: Lexicon Poeticum Antiquæ Linguæ Septentrionalis. Ordbog over det norsk-islandske skjaldesprog. S. L. Møllers Bogtrykkeri, Kopenhagen 1931, S. 325. 90 Hier nur einige der Übersetzungsvorschläge: Krause übersetzt ohne zu kommentieren „neun Äste“, siehe: Krause [Hrsg., Üs., Komm.]: Die Götterlieder der Älteren Edda, S. 10. Hollander übersetz mit „the nine abodes“ (dt. etwa „Wohnstätten“ oder „Aufenthaltsorte“), mit einem Hinweis in Fußnote 4 darauf, dass unklar sei, was darunter zu verstehen sei: The Poetic Edda. Hollander, Lee M. [Üs., Komm.], University of Texas Press, Austin 1962, S. 2. Bellows übersetzt die Zeile mit „the nine in the tree“, was er auch nicht kommentiert: The Poetic Edda. Bellows, Henry Adams [Üs., Komm.], Oxford University Press, London 1926, S. 3. Sehr detailliert geht hingegen Dronke auf das Übersetzungsproblem dieser Stelle ein: The Poetic Edda. Volume II, Mythological Poems. [Dronke], S. 109f. Dronke argumentiert hauptsächlich anhand von Analogien, die sie in anderen eddischen Liedern und Texten sieht. Sie versteht „nío íviði“ als „the nine wood-ogresses“ (S. 7), was sie durch Hyndlolióð Str. 48, einer þula und der Strophe 1 des Forspjallsljóð zu belegen versucht. Daneben sieht sie in dem Kompositum „íviðia“, auf welches sie „íviði“ zurückführt, den Präfix „í-“ zum Wortstamm „viðr“, also „im Baum“, dessen Wurzeln dann die Riesinnen sein sollen. Lönnroth sagt dazu äußerst pragmatisch: „But the phrase is too obscure to be interpreted. We can suppose that there were listeners in thirteenth-century Iceland who were just as mystified as we are. The phrase is supposed to be unclear.“ (Hervorhebung im Original): Lönnroth: The Founding of Miðgarðr (V ǫ luspá 1-8), S. 14. 91 Siehe dazu: The Poetic Edda. Volume II, Mythological Poems. [Dronke], S. 109f. Oder Fußnote 6 in: Krause [Hrsg., Üs., Komm.]: Die Götterlieder der Älteren Edda, S. 10. 92 Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 1. 2 Anfänge und Anfangssetzungen 64 [Zu Beginn des Zeitalters war es, als Ýmir lebte, weder Sand noch See waren noch kalte Wogen; Erde fand sich nirgends noch ein Oberhimmel, leer war der Raum, aber nirgends Gras.] Zuerst wird wiederum eine Zeitlichkeit beschrieben, die jedoch nicht explizit auf einen Initialzeitpunkt referiert, sondern einfach eine weit zurückliegende Vergangenheit markiert. 93 Beinahe chiastisch stehen die zwei ersten Zeilen der dritten Strophe zu den beiden der zweiten Strophe, in der zuerst der Raum mit Wesen gefüllt wurde und erst danach die Zeitlichkeit angesprochen wird. Nun wird ein Lebewesen, Ýmir, 94 genannt, das zu dieser frühesten Zeit schon lebte oder etwas bewohnte. Wo dieses Wesen zu verorten ist wird nicht konkretisiert und die weitere Topographie wird hauptsächlich ex negativo dargestellt. Die Welt scheint bis auf Ýmir leer zu sein, da es weder Sand noch See, noch Wellen gibt, auch Erde gibt es noch keine, auf der Gras hätte wachsen können und auch ein Himmel existiert noch nicht. Diese Darstellungsweise impliziert natürlich, dass dies alles zu einem späteren Zeitpunkt existieren wird, sodass man schon einen ersten Eindruck der über die ex negativo-Beschreibung antizipierten Topographie erhält. Zwei Punkte müssen an dieser Stelle eingehender betrachtet und diskutiert werden. Einerseits das formelhafte „iorð fannz æva né upphiminn“ und andererseits die Zeile „gap var ginnunga“, die bei dieser Topographie ex negativo als einzige positive Darstellungsform herausragt. Die alliterative Zeilenpaarung von „iorð fannz æva né upphiminn“ lässt sich, laut Dronke, auf eine gemeingermanische Formel zurückführen, wenn man sie zu „weder Erde noch Oberhimmel“ verkürzt. 95 Ähnliche Phra sen finden sich auch in anderen eddischen Liedern, wie der Þrymsqviða 96 , 93 Krauses Übersetzung als „Urzeit war es“ kommt dem beschriebenen Umstand sicher schon recht nahe: Krause [Hrsg., Üs., Komm.]: Die Götterlieder der Älteren Edda, S. 10. Man könnte die Zeile aber auch als „In frühester Zeit war es“ oder „Zu Beginn des Zeitalters war es“ verstehen. Lönnroth sieht darin eine stark der oralen Tradition verpflichtete Formel, wie sie heute etwa noch bei Märchen („Es war einmal...“ oder „Vor langer, langer Zeit, als....“) zu finden ist und auch in anderen eddischen Liedern vorkommt (so zum Beispiel in folgenden Liedern: Helgaqviða Hundingsbana in fyrri, Guðrúnarqviða in fyrsta oder Sigurðarqviða in scamma). Siehe dazu: Lönnroth, Lars: „Iörð fannz æva né upphiminn“. A formula analysis. In: Dronke, Ursula et al. [Hrsg.]: Speculum Norroenum. Norse Studies in Memory of Gabriel Turville-Petre. Odense University Press, Odense 1981, S. 312. 94 Zur Wortherkunft und zu religionshistorischen, sowie komparatistischen Überlegungen bezüglich Ýmir siehe: Lindow, John: Handbook of Norse Mythology. ABC-CLIO, Santa Barbara 2001, S. 322-325; sowie: Simek, Rudolf: Lexikon der germanischen Mythologie. 2., erg. Auflage, Kröner, Stuttgart 1995 ( 1 1984), S. 484f.; als auch: Lincoln, Bruce: The Indo- European Myth of Creation. In: History of Religions, Vol. 15, No. 2, 1975. The University of Chicago Press, Chicago 1975, S. 121-145; oder: Konráð Gíslason: Om Navnet Ýmir. Bianco Lunos Bogtrykkeri, Kopenhagen 1874. (= Kongelige Danske Videnskabernes Selskab. Historisk og Filosofisk Afdeling: Det kongelige danske videnskabernes selskabs skrifter. Raekke 5., 4de Bd. 11) Für die vorliegende Arbeit zu den Topograhien der eddischen Mythen sind solche Ansätze nicht wirklich von Bedeutung und werden deswegen nicht vertieft behandelt. 95 Siehe dazu: The Poetic Edda. Volume II, Mythological Poems. [Dronke], S. 112. 96 Siehe dazu Strophe 2 der Þrymsqviða in: Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 111. - 2.3 Der Anfang im Narrativ 65 Vafðrúðnismál 97 und Oddrúnargrátr 98 . Zudem taucht diese Formel auf dem schwedischen Runenstein von Skarpåker (Sö 154) auf. 99 Doch auch außerskandinavische, westgermanische Quellen beinhalten diese Phrase in sehr ähnlicher Form. 100 Die deutlichste Parallele findet sich im Althochdeutschen Wessobrunner Gebet, dessen erste Zeilen wie folgt lautet: Dat gafregin ih mit firahim firiuuizzo meista, Dat ero ni uuas noh ûfhimil, noh paum noh pereg ni uuas, ni [...] nohheinîig noh sunna ni scein, noh mâno ni liuhta, noh der mâreo sêo. 101 [Das erfuhr ich unter den Menschen als das größte Wunder, dass es die Erde nicht gab noch den Himmel, dass es noch keinen Baum und keine Berge gab, nicht ein einziger Stern, noch die Sonne schien, noch der Mond leuchtete, noch die glänzende See.] 102 Lönnroth hält zu recht fest, dass im Wessobrunner Gebet nicht nur die Parallele zur oben genannten Phrase auffällig ist, sondern große Teile der ersten Strophe deutliche Ähnlichkeiten zur dritten Strophe der V ǫ lospá zeigten. 103 Wie in der V ǫ lospá wird die Schöpfung auch im Wessobrunner Gebet durch eine Topographie ex negativo dargelegt. 104 Die negative Formulierung ist für den beschriebenen Schöpfungsvorgang von zentraler Bedeutung, da erst darüber die Leere oder das Chaos impliziert werden. Erst durch die Nichtexistenz des Kosmos vermag eine schöpfende Kraft diesen danach zu erschaffen und eben jene Dinge zu kreieren, die als abwesend genannt werden. Die Bestandteile der ex negativo dargestellten Topographie unterscheiden sich jedoch in den beiden Texten merklich. Nebst der Erde und dem Oberhimmel existieren in der V ǫ lospá weder Sand, Meer, Wellen noch Gras. Im Wessobrunner Gebet hingegen scheint der Raum nach der Schöpfung durch Baum, Berg, Sonne, Mond und Meer gefüllt zu sein, wenn man davon ausgeht, dass danach die fehlenden Elemente vorhanden sind. Der Ort der Verschriftlichung des Wessobrunner Gebets ist bisher noch nicht endgültig geklärt worden, wohingegen für die V ǫ lospá, wie sie in den Handschriften überliefert ist, einzig Island in Frage kommt. 105 Stellt man sich die Bestandteile vor, die die reale Topographie Islands bilden, so scheinen die in der Strophe ge- 97 Siehe dazu Strophe 20 der Vafðrúðnismál in: Ebd., S. 48. 98 Siehe dazu Strophe 17 der Oddrúnargrátr in: Ebd,. S. 236. 99 Siehe dazu: Lönnroth: „Iörð fannz æva né upphiminn“. A formula analysis, S. 312. 100 Lönnroth nennt hier westgermanische, religiöse Dichtung als Quellen (Andreas, Christ, Alt Englische Psalmen, Hêliand und Wessobrunner Gebet): Lönnroth: „Iörð fannz æva né upphiminn“. A formula analysis, S. 312f. 101 Althochdeutsche Literatur. Mit Proben aus der Altniederdeutschen. Schlosser, Horst Dieter [Hrsg., Üs., Komm.], Fischer-Bücherei, Frankfurt am Main 1970, S. 28. 102 Wessobrunner Gebet. In: Althochdeutsche Literatur. Eine kommentierte Anthologie. Stephan Müller [Hrsg., Üs. und Komm.], Philipp Reclam jun., Stuttgart 2007, S. 201. 103 Lönnroth: „Iörð fannz æva né upphiminn“. A formula analysis, S. 313. 104 Ebd., S. 316: „But the negative form is not in itself very significant, since it may simply be regarded as a grammatical variation of the positive form [...].“ 105 Zur Entstehungsgeschichte der V ǫ lospá siehe: Völuspá. [Nordal], S. 5-14. 2 Anfänge und Anfangssetzungen 66 wählten Elemente ein Abbild der Entstehungsumwelt des Textes zu sein. Ein solcher außerdiegetischer Bezug ist jedoch rein spekulativ und kann durch den Text nicht ausreichend gestützt werden. 106 Die Verszeile „gap var ginnunga“, die meist als „den Schlund der Urleere gab es“ 107 interpretiert, beziehungsweise übersetzt wird, ist schon rege diskutiert und erörtert worden. 108 Meist werden die beiden Komponenten als durch das geforderte Versmaß bedingte Sperrung des mythischen Namens Ginnungagap gelesen, wie er in der Prosa- Edda vorkommt. 109 Weiter oben wurde dahingehend argumentiert, dass innerhalb des Narratives der dritten Strophe der V ǫ lospá, betrachtet man die ex negativo- Darstellung der Topographie, die Stelle „gap var ginnunga“ die einzige positive Markierung ist. Interessant ist, dass diese positive Ausformulierung jenes Moments, der in frühester Zeit vorherrschte, als einzig Ýmir existierte, mit einem Nichtzustand oder einer inhaltlichen Leere einhergeht. Die Topographie entspricht an dieser Stelle des Narratives also einer Leere oder einem ungeordneten Chaos, 110 in dem einzig Ýmir als personifizierte Urmaterie vorhanden ist. Falls Ýmir als eine solche Urmaterie verstanden werden darf, so präsupponiert er durch die Darstellung der Topographie ex negativo den später existenten Kosmos, der schon in der Urwesenheit Ýmis angelegt ist. Die an dieser Stelle also noch nicht explizit vollbrachte Schöpfung wird implizit im Narrativ der V ǫ lospá genannt und man könnte sie ganz ausformulieren, würde man die Vorzeichen umkehren, sodass Ýmir die Leere ausfüllen würde und daraus Erde, Himmel, Sand, Meer und Gras entstehen könnten. Die dritte Strophe präsentiert die Welt, wie sie sein wird, wobei der als absent dargestellte Kosmos in seiner Singularität keine Ähnlichkeit mehr mit dem diffusen Bild der neun Welten aufweist, wie es zuvor in Strophe zwei offenbart wurde. Die dritte Strophe der V ǫ lospá wird auch in der Prosa-Edda zitiert. 111 Deren Situierung im Narrativ wird jedoch an späterer Stelle behandelt, da nun einzig auf die zitierte Strophe eingegangen wird. Der Wortlaut in der Prosa-Edda ist beinahe derselbe, wie in der oben genannten Version der Lieder-Edda: Ár var alda þat er ekki var: vara sandr né sær né svalar unnir. 106 Lönnroths Argumentation für die genannten natürlichen Elemente und das Gras, sowie deren Reihung, hat jedoch Züge einer solchen außerdiegetischen Leseweise: Lönnroth: The Founding of Miðgarðr (V ǫ luspá 1-8), S. 16. 107 Krause [Hrsg., Üs., Komm.]: Die Götterlieder der Älteren Edda, S. 10. 108 Eine kurze und prägnante Übersicht bietet: The Poetic Edda. Volume II, Mythological Poems. [Dronke], S. 112-114. Jan de Vries geht sogar so weit, dass er den Terminus als „der mit magischen Kräften erfüllte Weltraum“ umschreibt. Siehe dazu unter dem Lemma ginn 2 in: Vries, Jan de: Altnordisches etymologisches Wörterbuch. Brill, Leiden 1962, S. 167f. 109 Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 42-46. Auf die Topographie und die räumliche Struktur, die Ginnungagap in der Prosa-Edda aufweist, wird an späterer Stelle eingegangen. 110 Lönnroth argumentiert zu Gunsten eines Chaos, welches danach durch göttliche Kräfte zum Kosmos geformt wird: Lönnroth: The Founding of Miðgarðr (V ǫ luspá 1-8), S. 15f. 111 Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 38. Bemerkenswert ist, dass erst durch dieses Zitat, welches in allen vier Haupthandschriften der Prosa-Edda genannt wird, der Titel des Liedes bekannt ist, wie man ihn nun auch in den Editionen der Lieder-Edda kennt. 2.3 Der Anfang im Narrativ 67 j ǫ rð fannsk eigi né upphiminn, gap var ginnunga, en gras ekki. 112 [Zu Beginn des Zeitalters war es, als da nichts war: weder Sand noch See waren noch kalte Wogen. Erde war nicht vorhanden noch der Oberhimmel, leer war der Raum, aber kein Gras.] Die grundlegende Abweichung zur oben besprochenen Variante der V ǫ lospá findet sich in der Verszeile zwei. Die Existenz Ýmis wird durch ein postuliertes Nichts substituiert. Einzig die große Leere bleibt zurück, wobei diese eine Form des schon biblisch verarbeiteten Tohuwabohus zu sein scheint, bevor irgendeine schöpfende und strukturierende Kraft eingegriffen hat. Diese Veränderung der zitierten Liedstelle ist, wie später gezeigt wird, durch das Narrativ der Prosa-Edda zu erklären, 113 welches eine solche omnipotente Abwesenheit jeglicher Topographie, und sei sie nur innerhalb der Urmaterie in der Form Ýmis angelegt, fordert. Dabei zeigt sich auch, dass über das Fehlen der Urmaterie oder des ersten Lebewesens die Darstellung des Raumes ex negativo nicht als Präsupposition funktionieren kann, sondern deren Absenz markiert wird. So gibt die Version der Strophe drei der V ǫ lospá, wie sie in der Prosa- Edda vermittelt wird, einzig das Bild einer Leere wieder, ohne auf den zukünftigen Kosmos und die Beschaffenheit der Welt referieren zu können. Eine Leere, bei der noch keine Form von Existenz zugegen ist, ist schwierig mit einem fixen Zeitpunkt im Sinne eines Beginns oder Anfangs in Verbindung zu bringen, da dazu ein Moment der Veränderung nötig wäre, der zeitlich nur in einem Raum fassbar wäre, nicht aber in einer Leere, in der Wandel nicht substantiell sein kann. Somit muss die erste Verszeile in der Version der Prosa-Edda eher als Zeitspanne gelesen werden, da es ein Einwirken von außen benötigen würde, um einen Anfang der Schöpfung initiieren zu können. Die vierte Strophe der V ǫ lospá, die den Schöpfungsprozess im räumlichen Sinne vorerst abschließt, hat die eigentliche Erschaffung der Welt zum Inhalt: Áðr Burs synir bioðom um ypþo, 112 Ebd., S. 38-40. 113 Dronke sieht diese Variante der Strophe durch begründet, dass sie durch Narrativ selbst interpoliert sei. So geht Dronke davon aus, dass Ýmir auf Grund der Tatsache nicht genannt werde, dass er erst an späterer Stelle in die Erzählung eingeführt werde. Dies sei der Grund, dass die Beschreibung des Kosmos, wie sie in der Version der Strophe 3 der V ǫ lospá in der Prosa-Edda wiedergegeben werde, ohne jegliche Urmaterie auskomme. Siehe dazu: The Poetic Edda. Volume II, Mythological Poems. [Dronke], S. 79. Lönnroth hingegen argumentiert dahingehend, dass es sich bei den beiden Versionen um zwei unterschiedliche mündlich überlieferte Traditionen desselben Textes handle: Lönnroth: „Iörð fannz æva né upphiminn“. A formula analysis, S. 311. Lönnroths These kann jedoch, mangels Quellenbelegen, nicht verifiziert werden und ist, so interessant dieser Ansatz sein mag, daher hinfällig. Damit soll weder eine Fixiertheit des Textes postuliert, noch die von Albert Lord und Milman Parry begründete oral-formulaic school negiert werden, sondern nochmals darauf hingewiesen werden, dass in der vorliegenden Arbeit einzig eddische Texte behandelt werden, die materiell überliefert sind und so eine Validierbarkeit der Textanalysen und Aussagen zulassen. þeir er miðgarð, mœran scópo; 2 Anfänge und Anfangssetzungen 68 sól scein sunnan á salar steina, þá var grund gróin grœnum lauki. 114 [Bis Burs Söhne das Land bekannt machten, sie die Miðgarðr, den berühmten schufen; die Sonne schien von Süden auf die Steine des Bodens, da war aus dem Grund gewachsen grüne Vegetation.] Mit der Beschreibung der Schöpfungsszene endet die vorhin erwähnte Zeitspanne, während welcher die Leere den Raum einnahm, durch das Wort „áðr“, welches an dieser Stelle mit „bis“ zu übersetzen ist. 115 Das Ende wird mit dem Zeitpunkt angegeben, an dem die Söhne Burs auftreten. 116 Auch wenn die Frage berechtigt ist, von wem Burr abstammt und mit wem er seine Söhne zeugte, deren Anzahl nicht genannt wird, kann diese im Text nicht geklärt werden. Das Lexem „áðr“ beendet die Zeitspanne, die in der vorherigen Strophe der V ǫ lospá eröffnet wurde, und eine neue setzt ein. Der leere Raum wird nun im Text auch topographisch gefüllt, wenn die Söhne Burs zu agieren beginnen. Die Verszeile „bioðom um ypþo“ wird unterschiedlich übersetzt und interpretiert. 117 Die gängige Leseweise ist, dass das Land von den Söhnen gehoben oder emporgehoben wurde. Woraus das Land hochgehoben wird, ist dem Text nicht zu entnehmen. Eine der häufigsten Deutungsvarianten ist, dass es sich um eine Analogie zu den in verschiedenen Kulturen verbreiteten Mythen der Weltschöpfung aus dem Urmeer handeln könnte. 118 Dronke zweifelt eine solche Leseweise zurecht an, wenn sie darauf hinweist, dass keine weiteren Belege in altnordischen Texten existieren, die das Mikronarrativ des Hochhebens der Erde aus dem Wasser durch Brüder überliefern würden. 119 Eine weitere Möglichkeit ist, die Stelle als „machten das Land bekannt“ oder „verkündeten das Land“ zu übersetzen. 120 Diese Leseweise hat dann 114 Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 1. 115 Siehe dazu unter dem Lemma áðr: Baetke: Wörterbuch zur altnordischen Prosaliteratur, S. 3. Oder in: Sveinbjörn Egilsson: Lexicon Poeticum Antiquæ Linguæ Septentrionalis, S. 28. 116 Zur Problematik rund um den Namen Burr und um dessen Söhne, die hier nicht weiter diskutiert werden soll, siehe: The Poetic Edda. Volume II, Mythological Poems. [Dronke], S. 114f. 117 Siehe dazu unter dem Lemma yppa, zu welchem das Lexem ypþo gehört, in: Baetke: Wörterbuch zur altnordischen Prosaliteratur, S. 763. Oder in: Sveinbjörn Egilsson: Lexicon Poeticum Antiquæ Linguæ Septentrionalis, S. 633. 118 Siehe dazu folgenden sehr detaillierten Aufsatz: Schier: Die Erdschöpfung aus dem Urmeer und die Kosmogonie der Völospá. S. 15-52. Dass Schiers Interpretation dieser Stelle erst retrospektiv über den Untergang der Welt und ihr nachträgliches Auftauchen aus dem Wasser zustande kommen kann, wird in Kapitel 5.2.1 bei der Betrachtung des intradiegetischen Endes in der V ǫ lospá dargelegt. 119 The Poetic Edda. Volume II, Mythological Poems. [Dronke], S. 115f. Dronke erwähnt an dieser Stelle zwar auch einen Zusammenhang zur Erzählung über den Streit zwischen Heimdallr und Loki, bei dem beide in der Gestalt von Seehunden um einen Stein kämpfen, den Loki im Meer versteckte. Diesen Stein könnte man auch als Land verstehen, um dessen Emporhebung sie sich streiten. Trotz ihrer Einwände übersetzt Dronke die Verszeile aus der V ǫ lospá mit „lifted up seashores“: Ebd. S. 7. 120 Diese Leseweise legitimiert sich über yppa in seiner Bedeutung als „bekanntmachen, verkünden“. Siehe dazu unter dem Lemma yppa, Punkt 2, in: Baetke: Wörterbuch zur altnordischen Prosaliteratur, S. 763. 2.3 Der Anfang im Narrativ 69 ihre Berechtigung, wenn man vom Narrativ selbst ausgeht und bedenkt, dass in der darauffolgenden Verszeile das Land benannt wird und die Söhne Burrs als dessen Schöpfer angegeben werden. Sowohl in der Entwicklung des Textes, als auch in jener des Narratives wird an dieser Stelle zum ersten Mal eine Schöpfung verkündet und der Name dieser Welt - Miðgarðr 121 - bekannt gemacht. Die Art und Weise, wie diese Welt oder dieses Land erschaffen wurde, bleibt zwar, im Gegensatz zur vorhergehenden Deutungsvariante, unbekannt, doch bleibt sie näher am Narrativ des Textes, der weder ein Meer erwähnt, noch eine andere Substanz, aus der das Land emporgehoben werden könnte. Einen ersten Eindruck der Topographie von Miðgarðr bieten die letzten Verszeilen der vierten Strophe der V ǫ lospá. 122 Darin wird diese neu geschaffene und über die innertextuelle, performative Benennung erst fassbar gemachte Welt soweit konkretisiert, dass man weiß, dass die Sonne von Süden her auf die Steine der Erde 123 scheint und aus dem Erdboden grüner Lauch 124 wächst. Die Topographie von Miðgarðr beschränkt sich bisher auf eine Erde, deren Boden sowohl steinig als auch bewachsen ist. Das Narrativ zeichnet somit in dieser einen Strophe der V ǫ lospá die Entstehung der Erde, vom Benennen des noch öden Landes, über die Beschreibung der ersten Sonnenstrahlen, die den Boden wärmen, bis hin zum Sprießen von Pflanzen nach. 2.3.3 Zwischenfazit zur Entstehung der Welt in der V ǫ lospá Wie gezeigt werden konnte, entwickeln die ersten vier Strophen der V ǫ lospá, ausgehend von einem Erzähl- und Erinnerungsraum, in dem die Erzählinstanz die weiteren erzählten Räume performativ durch Sprache entstehen lässt, verschiedene Topographien. Zu Beginn generiert das Narrativ eine sehr vage Struktur von neun Welten und einem Baum, der seine Äste oder Wurzeln unter der Erde ausstreckt. Diese Diegese scheint jedoch vom Narrativ für den weiteren Verlauf nicht weiter verwendbar zu sein, sodass sie nicht ausformuliert oder präzisiert wird. Etwas konkreter wird dann die Leere des Raumes veranschaulicht, wobei dies über eine Darstellung der Topographie ex negativo geschieht. Erst in der vierten Strophe entwickelt das Narrativ, über die Erzählinstanz, einen Raum, der durch eine Namens-gebung und die Addition topographischer Elemente zu einer festen, für den weiteren Verlauf des Narratives verwendbaren innertextuellen Diegese wird. Über die Namenszuordnung wird die Topographie intradiegetisch fixiert und so ist es dem Narrativ möglich, die Struktur der Räumlichkeit, nachdem sie zum ersten Mal ausformuliert wurde, über diesen Namen wieder abzurufen. Dies mag, nebst dem zuvor schon diskutierten Grund, ein weiterer sein, wieso die V ǫ lospá an erster Stelle der Lieder-Edda steht. Einen ver- 121 Miðgarðr kann als „Hof der Mitte“ oder „Wohnort in der Mitte“ verstanden werden. Siehe dazu unter dem Lemma mið-: Baetke: Wörterbuch zur altnordischen Prosaliteratur, S. 418. Oder in: Sveinbjörn Egilsson: Lexicon Poeticum Antiquæ Linguæ Septentrionalis, S. 404f. 122 Siehe dazu: Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 1. 123 Die Annahme der meisten Übersetzer, dass salr hier nicht als Saal, Gebäude oder Halle gelesen werden soll, sondern metaphorisch für die Welt steht, ist sicher richtig. Siehe dazu unter Anderem: The Poetic Edda. Volume II, Mythological Poems. [Dronke], S. 116. 124 Auch laukr steht hier sicher als Metapher und beschreibt die Vegetation allgemein. Zudem steht diese letzte Zeile der Strophe vier in ganz bewusstem Kontrast und Variation zur letzten Zeile der dritten Strophe, in welcher schon das Wort Gras Verwendung fand. Siehe dazu auch: The Poetic Edda. Volume II, Mythological Poems. [Dronke], S. 116. 2 Anfänge und Anfangssetzungen 70 gleichbaren Aufbau des Narratives, das die Topographie in dieser sich entwickelnden Form entstehen lässt, findet sich in der Lieder-Edda kein zweites Mal. Sowohl der Anfang des Narratives in der V ǫ lospá, als auch die Verfahrensweise, wie die Schöpfung vonstatten geht, sind ganz deutlich performativ, prozessual und dynamisch geprägt. Räumlichkeit realisiert sich in den ersten vier Strophen der V ǫ lospá einzig mittels einer klaren Abfolge von narratologischen Sequenzen, sprachlichen Bildern und über die Äußerungen und Sprachhandlungen der Erzählinstanz, wobei das Narrativ auch deutlich macht und exemplarisch vorführt, dass solche performativen Prozesse zur Gestaltung von Topographien nicht immer glücken. An späterer Stelle muss daher auch diskutiert werden, inwieweit die Topographien, die durch Benennungen und die räumliche Ausdifferenzierung der einzelnen Länder, Regionen oder Orte in den unterschiedlichen Liedern oder der Prosaversion der eddischen Mythen identisch sind. 2.3.4 Die Entstehung der Welt in den eddischen Liedern Vafðrúðnismál und Grímnismál Die Erschaffung der Erde ist neben der V ǫ lospá noch in zwei anderen Liedern des Codex regius der Lieder-Edda explizit erwähnt. Dabei handelt es sich um das an dritter Stelle stehende Lied Vafðrúðnismál 125 und um das im Codex regius der Lieder-Edda an vierter Stelle stehende Lied Grímnismál 126 . Beide Narrative erzählen einen ganz anderen Schöpfungsbericht als den, der anhand der V ǫ lospá aufgezeigt werden konnte. Vafðrúðnismál gilt als Dialoggedicht, in welchem Óðinn und der kundige Riese Vafðrúðnir mythologisches Wissen in einem Disput austauschen. 127 Eingeleitet wird der dialogisch gestaltete Teil durch fünf Strophen, in denen Óðinn und seine Frau Frigg beratschlagen, wie gefährlich eine Reise zu Vafðrúðnir sein wird. 128 Óðinn, der die Reise trotz möglicher Gefahren antritt, gibt sich beim Riesen unter dem Namen Gagnráðr aus, um von ihm nicht erkannt zu werden, während sie sich gegenseitig auf ihr Wissen hin befragen. Den Anfang macht Vafðrúðnir, nachdem er erläuterte, dass sein Gast nur lebend davonkomme, wenn er mehr wisse, als der Riese selbst. Die erste Frage, die Óðinn in der Strophe 20 dem Riesen stellt, nachdem er alle von Vafðrúðnir an ihn gerichteten Fragen richtig beantwortet hat, lautet: „Segðu þat iþ eina, ef þitt œði dugir oc þú, Vafðrúðnir, vitir, hvaðan i ǫ rð um kom eða uphiminn fyrst, inn fróði i ǫ tunn.“ 129 [Sag dies als erstes, falls dein Verstand etwas taugt und du, Vafðrúðnir, es weißt, 125 Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 45-55. 126 Ebd., S. 56-68. 127 Siehe dazu unter dem Lemma Vafþrúðnismál in: Simek, Rudolf und Hermann Pálsson: Lexikon der altnordischen Literatur. Die mittelalterliche Literatur Norwegens und Islands, S. 408f. 128 Siehe dazu die Strophen 1 bis 5 der Vafðrúðnismál in: Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 45. 129 Ebd., S. 48. 2.3 Der Anfang im Narrativ 71 woher die Erde kam oder der Oberhimmel zuerst, weiser Riese.] Óðinn will von Vafðrúðnir somit wissen, wie es um dessen Kenntnis über die Herkunft von Erde und Oberhimmel steht. Einerseits ist es bemerkenswert, dass gerade diese Frage zur Kosmogonie aufkommt, nachdem der Riese selbst immer nur nach Namen bestimmter Himmelsphänomene oder Landmarken fragte. 130 Die Fragen von Óðinn hingegen rücken, über das verwendete Interrogativum „hvaðan“ (dt: „woher“), viel größere Zusammenhänge ins Zentrum, will der Ase doch einen Ursprung oder eine Begründung bestimmter Phänomene und intradiegetischer Begebenheiten eruieren. Auffällig ist, dass wiederum eine gewisse Kookkurrenz von „i ǫ rð“ und „uphiminn“ zu erkennen ist, wie sie weiter oben schon besprochen wurde. Das Narrativ gestaltet die oben zitierte Frage jedoch so, dass nicht nach einer schöpfenden Kraft gefragt wird, sondern nach dem Material, aus dem geschöpft wurde. 131 Schon daran ist ein deutlicher Gegensatz zum Schöpfungsnarrativ der V ǫ lospá zu erkennen, in welchem die erschaffenden Figuren stärker im Zentrum stehen, die entweder durch das Emporheben des Landes oder durch das Benennen der Erde dieselbe erzeugen. Der Riese gibt dann auch exakt darauf Antwort, wenn er beschreibt, woraus die Welt gemacht wurde: „Ór Ýmis holdi var i ǫ rð um sc ǫ puð, enn ór beinum bi ǫ rg, himinn ór hausi ins hrímkalda i ǫ tuns, enn ór sveita siór.“ 132 [Aus Ýmis Fleisch wurde die Erde geschaffen, und aus den Kochen die Berge, der Himmel aus dem Schädel des eiskalten Riesen, und aus dem Blut die See.] Die Antwort von Vafðrúðnir, die direkt auf die Frage eingeht und minutiös beschreibt, woraus die Erde geschaffen wurde, hat eher den prozesshaften als performativen Charakter wie er am Beispiel der Schöpfung in der V ǫ lospá diskutiert wurde. Die Strophe beschreibt dadurch eine Abfolge von Handlungen, dass zuerst auf Ýmis gesamten Körper referiert wird, aus dem die Erde geschöpft wurde, um dann auf die Einzelteile dieses Körpers und ihre Entsprechungen in der daraus entstandenen eddischen Topographie einzugehen. Darüber, dass Vafðrúðnir nicht bloß die Materie, also 130 Siehe dazu zum Beispiel die Strophe 11 der Vafðrúðnismál, in der das Frageschema „Segðu mér, Gagnráðr, / allz þú á golfi vill / þíns um freista frama, / hvé sá […] heitir, [...]“ [Sag du mir, Gagnráðr, / da du vom Fußboden willst / dein Geschick erproben, / wie das ... heißt, ...] von Vafðrúðnir etabliert wird, wobei die erste hier durch eine Klammer eingefügte Auslassung jeweils durch das erfragte Objekt belegt ist, die zweite durch die Spezifizierung dieses Objektes. Ebd., S. 46 131 Das Lexem hvaðan muss hier im Sinne von „woher“ oder gar „woraus“ verstanden werden. Siehe dazu unter dem Lemma hvaðan: Baetke: Wörterbuch zur altnordischen Prosaliteratur, S. 283, oder in: Sveinbjörn Egilsson: Lexicon Poeticum Antiquæ Linguæ Septentrionalis, S. 296. 132 Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 48. 2 Anfänge und Anfangssetzungen 72 Ýmir, nennt, aus der die Welt erschaffen wird, rückt der Gestaltungsprozess in den Vordergrund. Der Raum entsteht durch den Prozess der in der Diegese des Liedes situierten Wiedergabe einer vergangenen Handlung. Demselben Muster folgt auch das Narrativ des Liedes, wenn es einen Handlungsverlauf darstellt, der von der Einleitung, über den Wissensstreit, bis hin zum Sieg von Óðinn über den Riesen reicht. Die beiden Protagonisten des Liedes, die sich gegenseitig ansprechen, dienen dem Narrativ als Medien, über welche die Inhalte vermittelt und transportiert werden, wobei Ýmir in der im Dialog entwickelten Diegese wiederum selber zum Medium wird, über welches die Weltschöpfung vermittelt wird. Ganz im Gegensatz zur V ǫ lospá, bei welcher das Narrativ selbst diese Funktion innehat und damit den Raum über die Performativität beinahe autopoietisch entstehen lässt. Eine etwas andere Form der Beschreibung bietet das Lied Grímnismál. Im Codex regius der Lieder-Edda direkt an Vafðrúðnismál anschließend, wird das Lied, welches im lyrischen Teil als Monolog strukturiert ist, durch eine Prosasektion eingeleitet und durch eine ebensolche beendet. Wiederum geht ein Gespräch zwischen Óðinn und dessen Frau Frigg dem Hauptteil des Liedes voraus, welches Óðins Reise zu König Geirroðr zum Thema hat. 133 Diesmal ist der Grund für Óðins Reise jedoch nicht die Lust, sein Wissen zu erproben, sondern eine Wette zwischen ihm und seiner Frau. Von Geirroðr wird Óðinn, der sich Grímnir nennt, gefangengenommen und zwischen zwei Feuern gefoltert. Agnarr, der Bruder des Königs, hat Erbarmen mit dem Gast und bringt ihm Wasser zu trinken. Daraufhin beginnt Óðinn zu sprechen, während sein Umhang in Flammen steht, und über die Kosmogonie und Kosmologie zu berichten. In den Strophen 40 und 41 behandelt das Lied die Schöpfung der Erde: Ór Ýmis holdi var i ǫ rð um sc ǫ puð, enn ór sveita sær, bi ǫ rg ór beinum, baðmr ór hári, en ór hausi himinn. 134 [Aus Ýmis Fleisch wurde die Erde geschaffen, aber aus Blut die See, Berge aus Knochen, Bäume aus Haaren, aber aus dem Schädel der Himmel.] Auffällig ist hier, dass Óðinn die Strophe 40 mit den genau gleichen Worten einleitet, wie es im Lied zuvor schon Vafðrúðnir tat. Das Narrativ wirkt an dieser Stelle beinahe so, als ob durch Óðinn nochmals der Riese sprechen würde. Danach wird die Strophe jedoch soweit abgewandelt, dass sogar die Flora Erwähnung findet, die die Topographie mitgestaltet und ausdifferenziert. Ansonsten sind es dieselben Körperteile Ýmis, die zur Herstellung derselben Elemente der Natur verwendet werden, wie sie schon in der Vafðrúðnismál genannt wurden. Die darauf folgende Strophe 41 beschreibt die eddische Topographie noch etwas eingehender: Enn ór hans brám gerðo blíð regin miðgarð manna sonom; 133 Siehe dazu: Ebd., S. 56f. 134 Ebd., S. 64. 2.3 Der Anfang im Narrativ 73 scý ǫ ll um sc ǫ puð. 135 [Aber aus seinen Wimpern machten die freundlichen Götter Miðgarðr den Menschensöhnen; aber aus seinem Gehirn wurden jene rausinnigen Wolken alle geschaffen.] Hier gestaltet das Narrativ sowohl die Erschaffung Miðgarðs als auch dessen semantischen Inhalt anders als dies im Narrativ der V ǫ lospá der Fall ist, sodass darüber auch die intradiegetische Topographie eine andere wird. Aus den Brauen des Urriesen erschaffen „die freundlichen/ gütigen waltenden Mächte/ Lenker/ Götter“ 136 Miðgarðr für die Menschensöhne. Wer diese schöpfenden Kräfte sind, wird nicht konkretisiert. So kann nicht mit Bestimmtheit aus dem Text abgeleitet werden, dass es sich um dieselben Mächte handelt, die zuvor aus Ýmir die Welt erschufen, da für die Beschreibung der Ausgestaltung von Miðgarðr unpersönliche Passivkonstruktionen im Text verwendet werden. Die sequenzielle Abfolge, die in beiden Strophen zur Darstellung des Schöpfungsvorganges verwendet wird, legt die Leseweise, dass es sich um dieselben Schöpfungskräfte handelt, jedoch nahe. Die Bezeichnung Miðgarðr referiert in Grímnismál über die Form der Brauen nicht länger auf eine Welt an sich, sondern auf einen Wall oder einen schützenden Zaun. Der Name Miðgarðr verweist somit in den Grímnismál nicht auf die gesamte Erde, wie dies für Miðgarðr in der Verwendung des Narratives der V ǫ lospá zutraf, sondern ist nur noch ein topographisches Spezifikum in der räumlichen Gesamtstruktur dieser Welt. Dies kann auch anhand des Narratives der Grímnismál belegt werden, da darin die Erde als universale Entität in Strophe 40 aus Ýmis Fleisch geschaffen wird. Miðgarðr kann somit, wie bisher gezeigt werde konnte, auf zwei verschiedene räumliche Gegebenheiten innerhalb der Topographien der eddischen Mythen referieren. Einerseits auf die Erde als Ganzes, wie dies in der V ǫ lospá der Fall ist, oder auf die Umzäunung eines gewissen Gebietes, wobei diese Einfriedung in irgendeiner nicht genannten Weise zugunsten der Menschen errichtet ist. Aus dem Hirn Ýmis werden die Wolken geschaffen, die als trotzig, böse oder gemein umschrieben werden. Dies führt zu einer neuen Eigenschaft bezüglich der Beschreibung der Topographie in der Grímnismál, wie sie erst in dieser Strophe auftaucht. In den bisher betrachteten Strophen aus dem Codex regius der Lieder-Edda waren die Nennungen der einzelnen Elemente der Topographie meist wertneutral gehalten. Ausnahmen bildeten die Konnotationen zu Miðgarðr in der V ǫ lospá und jene zu Ýmir in der Vafðrúðnismál, die jedoch entweder auf die Urmaterie verwiesen oder auf die Erde als ganzes, doch nie auf eine geodätische Beschreibung der Geosphäre, der Lithosphäre oder der Hydrosphäre und ihrer Ausformulierungen im Text. Die semantische Konnotation, die in der Grímnismál hinzukommt, differenziert jene Elemente, die zur Topographie gehören, und erweitert so das Denotat räumlicher Strukturen um einen Subtext, der die Topographie der eddischen Mythen bei deren Erschreibung semantisch zu spezifizieren vermag. 135 Ebd., S. 64. 136 Zur Übersetzung von blíð siehe unter dem Lemma blíðr: Baetke: Wörterbuch zur altnordischen Prosaliteratur, S. 57. Oder in: Sveinbjörn Egilsson: Lexicon Poeticum Antiquæ Linguæ Septentrionalis, S. 53. Für regin unter dem Lemma regin: Baetke: Wörterbuch zur altnordischen Prosaliteratur, S. 489. Oder in: Sveinbjörn Egilsson: Lexicon Poeticum Antiquæ Linguæ Septentrionalis, S. 460. enn ór hans heila vóro þau in harðmóðgo 2 Anfänge und Anfangssetzungen 74 Das Narrativ der Grímnismál lässt die räumlichen Strukturen, wie sie bei der Kosmogonie dargestellt werden, in einer sequenziellen Prozessualität entstehen. Diese Sequenzen strukturieren nicht nur die Entstehung der Welt, sondern das ganze Narrativ des Liedes. 137 Die Monologstruktur, in der das Lied gestaltet ist, lässt die Welt sowohl für den intradiegetischen Zuhörer in der Halle des Königs Geirroðr, als auch für den Rezipienten des Textes gleichermaßen performativ entstehen. Die performative Ebene wird jedoch dadurch gebrochen, dass sich Analogien zur Vafðrúðnismál bilden, die das Narrativ als Spiegelung des vorhergehenden Liedes zu erkennen geben. Zudem wird der prozessuale Charakter der Schöpfung über die Konnotation der topographischen Elemente mit wertenden Inhalten sowohl gebrochen als auch für das Lied selbst individualisiert. Die Erzählinstanz greift stärker in das Narrativ ein und skizziert eine Topographie, die schon durch frühere Beschreibungen überlagert ist. 2.3.5 Mögliche Bedingungen zur Erschreibung der Topographie in der Lieder- Edda Im Verlauf der Analyse der drei oben genannten Kosmogonien aus der Lieder-Edda zeigte sich, dass die Topographie der eddischen Mythen keine singuläre sein kann. Betrachtet man die Lieder im Codex regius der Lieder-Edda als eine Sequenz von Narrativen, so verändert sich die Modalität der narratologischen Produktion der Topographie im Verlauf des Textes von einer performativen Raumgestaltung und Raumbenennung, über eine prozessuale Inszenierung des eigentlichen Schöpfungsvorgangs, bis hin zur Überlagerung der beiden Darstellungsformen, bei der die Topographie individualisiert und diversifiziert wird. Die Topographie ist folglich nie statisch, sondern dynamisch und passt sich an die neuen, vom Narrativ geforderten Bedingungen an, sofern gewisse Parameter in ihr nicht oder nur partiell verändert werden. So zeigten sich zwei Kategorien, die relativ stabil bleiben müssen, damit die Kosmogonie in den Mythen der Lieder-Edda wiedererkannt und vom Narrativ produktiv verwendet werden kann: Einerseits kann sich das Narrativ eines, in einem früheren Narrativ vordefinierten und mit gewissen Inhalten versehenen Namens bedienen, dessen Denotat nicht apodiktisch zu sein braucht, sondern konnotativ erweiterbar ist. Andererseits können prozessuale Abläufe verwendet und differenziert oder amplifiziert werden, solange Grundmuster, wie zum Beispiel die Ausgangslage oder einzelne Segmente einer Sequenz, vom Narrativ beibehalten werden. Bisher zeichnen sich für die Topographien der eddischen Mythen folgende Bedingungen ab, damit deren Erschreibungen oder Ausformulierungen glücken:  Die Topographie darf nicht zu minimalistisch präsentiert werden, sonst vermag das Narrativ die Lücken nicht auszufüllen.  Beschreibungen ex negativo ermöglichen es, noch nicht vorhandene Strukturen und Entitäten einzuführen, ohne partiell-lineare Zeitabläufe zu stören. 137 Zur Einteilung der einzelnen Sequenzen siehe: The Poetic Edda. Volume III, Mythological Poems II. Dronke, Ursula [Hrsg., Üs., Komm.], Oxford University Press, Oxford 2011, S. 113-124. 2.3 Der Anfang im Narrativ 75  Erst die Benennung gewisser topographischer Großstrukturen und die dadurch geleistete Verdichtung von Inhalten ermöglicht es dem Narrativ, eine mental map mit relativ fixen Markierungen zu erzeugen.  Kosmogonien sind sowohl durch sprachlich-performative als auch durch narratologisch-reihende Prozesse strukturiert, wobei das Narrativ entweder durch Benennung neuer Strukturen oder durch Umformung bekannter Kategorien eine Welt und deren Topographie erschreibt. Diese Punkte werden im folgenden Abschnitt auf die Schöpfung der Welt, wie sie in der Prosa-Edda beschrieben ist, angewandt. Dabei soll auch diskutiert werden, ob und wieweit die hier aufgestellten ersten Prämissen zugunsten der prosaischen Grundstruktur des Textes adaptiert werden müssen, damit sie im Narrativ funktionieren. 2.3.6 Die Entstehung verschiedener Welten in der Prosa-Edda Der Grund, dass vorrangig Texte aus der Lieder-Edda analysiert und diskutiert wurden, beruht weitgehend nicht auf der Tatsache, dass die uns überlieferte Handschrift des Codex regius der Lieder-Edda, die wohl um das Jahr 1270 niedergeschrieben wurde, um einige Jahrzehnte älter ist als die älteste überlieferte Redaktion der Prosa-Edda, der Codex Upsaliensis von ca. 1300. Vielmehr ergibt sich diese Reihenfolge aus dem innertextuellen Befund, dass sich die Prosa-Edda explizit - über Zitate - auf Strophen aus der Lieder-Edda bezieht. Auch wenn, wie schon anhand der dritten Strophe der V ǫ lospá gezeigt werden konnte, die Verweise auf die Lieder-Edda nicht immer einer wortgetreuen Übernahme entsprechen, so muss man doch davon ausgehen, dass den Schreibern der unterschiedlichen Redaktionen der Prosa-Edda diese Lieder in sehr ähnlicher Form, was sowohl den Inhalt als auch die Stropheneinteilung anbelangt, bekannt waren. 138 Bisher weist auch vieles darauf hin, dass die Beeinflussung der beiden Texte wohl eher einseitig verlief und die Lieder-Edda nicht als Hypertext der Prosa-Edda gelesen werden kann. Wie bei der Betrachtung der Anfänge des Textes in den Handschriften und der Edition der Prosa-Edda, die weiter oben vorgenommen wurde, ersichtlich wurde, basieren die Unterschiede innerhalb der verschiedenen Redaktionen des Textes hauptsächlich auf materiellen Faktoren. Im Folgenden stehen hingegen inhaltliche und narratologische Aspekte im Zentrum der Überlegungen, wobei hauptsächlich auf die Referenzedition eingegangen wird und die Redaktionen der Manuskripte nur dann hinzugezogen werden, wenn sich an ihnen bemerkenswerte Abweichungen aufzeigen lassen. Die erste Schöpfungsszene, die in der Prosa-Edda einen kosmogonischen Anfang darstellt, ist der oben schon mehrfach besprochene erste Satz des Prologs: „A LMÁTTIGR GUÐ skapaði í upphafi himin ok jörð, […].“ 139 [Der allmächtige Gott schuf am Anfang Himmel und Erde, ...] Der Text gibt an dieser Stelle den Schöp- 138 Solche Unterschiede können auch infolge voneinander divergierender Vorlagen zustandegekommen sein. So ist es durchaus möglich, dass die verschiedenen Redaktionen der Prosa- Edda auch unterschiedliche, einst schriftlich vorhandene Varianten der eddischen Lieder wiedergeben, die der Forschung heute nicht mehr zugänglich sind und die von jenen Versionen, wie man sie aus den gegenwärtig bekannten Handschriften kennt, abweichen. 139 Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 2. 2 Anfänge und Anfangssetzungen 76 fungsbericht im Präteritum wieder, sodass er zum Zeitpunkt des einsetzenden Narratives als abgeschlossen gelesen werden kann. Die sehr knapp gehaltene Topographie dieser ersten Kosmogonie wird nicht mit dem Verlauf des Narratives zusammen prozessual entwickelt, sondern als Faktum dargestellt. Etwas prozesshafter werden hingegen die Ereignisse beschrieben, die die Sintflut zur Folge haben, wie sie auch aus dem Narrativ der Genesis bekannt ist, wobei die Welt bis auf die Nachfahren Noahs von Menschen entvölkert wird: „[…] ok fyrir því drekti guð heiminum í sjóvargangi, ok öllum kykvendum heimsins, nema þeim er í örkinni voru með Nóa.“ 140 [... und deswegen ertränkte Gott die Welt in einer Flut, und alle Lebewesen der Welt, ausser jenen, die mit Noah in der Arche waren.] Im Prolog der Prosa-Edda wird jedoch, im Gegensatz zur Genesis, nicht darauf eingegangen, was nach der Sintflut noch an topographischen Anhaltspunkten innerhalb der intradiegetischen Welt vorhanden war. Laut dem Narrativ wird die ganze bewohnte Welt ertränkt und alle Lebewesen mit ihr. Da das Narrativ danach von den überlebenden Menschen spricht, kann davon ausgegangen werden, dass noch während und nach der Sintflut ein Teil der Erde bewohnbar gewesen sein muss. Zudem darf wohl davon ausgegangen werden, dass die Lücke, die sich zwischen der Erzählung zur eintretenden Flut und der Wiederbesiedelung der Welt auftut, im Narrativ des Prologs der Prosa-Edda von den Rezipienten durch extradiegetisches Wissen über den Inhalt der Genesis und deren Beschreibung der Sintflut aufgefüllt werden kann. Diese Prämisse muss erfüllt sein, damit das Narrativ im weiteren Verlauf des Textes auf der räumlichen Ebene auf die als innertextuelle Diegese postulierte Topographie zurückgreifen und somit glücken kann, bis eine neue Kosmogonie oder Schöpfungsszene beschrieben wird, deren neues Narrativ die alte Erzählung und deren räumliche Strukturen überlagert und ablöst. Die Topographie der Erde wird im Prolog zuerst über Analogien beschrieben, die die Menschen innerhalb der Diegese herstellen, um Phänomene in der Natur zu erklären: Þat hugsuðu þeir, ok undruðust, hví þat mundi gegna, er jörðin ok dýrin ok fuglarnir höfðu saman eðli í sumum lutum, ok þó úlík at hætti. Þat var eitt eðli, at jörðin var grafin í hám fjalltindum, ok spratt þar vatn upp, ok þurfti þar eigi lengra at grafa til vatns en í djúpum dölum; svâ er ok dýr ok fuglar, at jamlángt er til blóðs í höfði ok fótum. Önnur náttúra er sú jarðar, at á hverju ári vex á jörðunni gras ok blóm, ok á sama ári fellr þat allt ok fölnar; svá ok dýr ok fuglar, at þeim vex hár ok fjaðrar ok fellr af á hverju ári. Þat er hin þriðja náttúra jarðar, þá er hon er opnuð ok grafin, þá grær gras á þeiri moldu, er efst er á jörðunni. Björg ok steina þýddu þeir móti tönnum ok beinum kvikinda. 141 [Dies überlegten sie, und wunderten sich, wie dies zusammenhängen könnte, dass die Erde und die Vögel und die Tiere dieselbe Eigenart in manchen Dingen hatten, und doch so ungleich in der Beschaffenheit waren. Es war eine Eigenart, dass, wenn in der Erde auf einem hohen Berggipfel gegraben wurde, dort Wasser hervorquoll, und dort musste man nicht länger nach Wasser graben, als in tiefen Tälern; so ist es auch bei den Tieren und den Vögeln, dass es gleich weit ist zum Blut im Kopf und den Füssen. Eine zweite Eigenart der Erde ist es, dass in jedem Jahr auf der Erde Gras und Blumen wachsen und im selben Jahr stirbt 140 Ebd. 141 Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 4. 2.3 Der Anfang im Narrativ 77 dies alles und verwelkt; so ist es auch bei den Tieren und Vögeln, dass ihnen Haare und Federn wachsen und in jedem Jahr ausfallen. Dies ist die dritte Eigenart der Erde, dass wo sie geöffnet und darin gegraben wird, dort wächst Gras auf ihrem Erdboden, der zuoberst ist auf der Erde. Felsen und Steine verglichen sie mit Zähnen und Gebeinen von Lebewesen.] Anthropomorphe Strukturen in der Natur werden, besonders bei der Beschreibung der Erdoberfläche, direkt mit Teilen eines Lebewesens verglichen. Die Topographie bleibt jedoch realistisch, da die menschlichen Züge in der Natur über einen Vergleich erkannt und nicht, wie an späterer Stelle im Text, damit gleichgesetzt werden. Bei diesen Analogien handelt es sich weniger um eine Entstehung der Welt im Sinne einer Erschreibung als um den Versuch, die Natur und Umwelt über sprachliche Bilder fassbar zu machen. Expliziter wird die Strukturierung der Welt im folgenden Abschnitt beschrieben: Veröldin var greind í þrjár hálfur: frá suðri vestr ok inn at Miðjarðarsjá; sá lutr var kallaðr Affríka, en hinn syðri lutr þeirrar deildar er heitr ok brunninn af sólu. Annarr lutr frá vestri ok til norðrs, ok inn til hafsins; er sá kallaðr Evrópa eða Enea: hinn neyrðri lutr er þar kaldr, svâ at eigi vex gras, ok eigi má byggja. Frá norðri ok um austrhálfur, allt til suðrs, þat er kallat Asía. Í þeim luta veraldar er öll fegrð ok prýði ok eign jarðarávaxtar, gull ok gimsteinar, þar er ok mið veröldin; ok svâ sem þar er jörðin fegri ok betri kostum en í öðrum stöðum, svâ var ok mannfólkit þar mest tignat af öllum giptum: spekinni ok aflinu, fegrðinni ok allri kunnostu. 142 [Die Welt war in drei Erdteile eingeteilt: von Süden nach Westen und hinein bis zum Mittelmeer, dieser Teil wurde Afrika genannt, aber der südliche Teil dieses Bereiches ist heiss und verbrannt durch die Sonne. Der zweite Teil von Westen und zum Norden und hinein bis zum Meer, wird Europa oder Enea genannt: sein nördlicher Teil ist so kalt, dass dort kein Gras wächst und niemand sich anzusiedeln vermag. Von Norden und um die Osthälfte, bis nach Süden, dies wird Asien genannt. In diesem Teil der Welt ist alles Schönheit und Pracht und reich an Feldfrüchten, Gold und Edelsteinen. Dort ist auch die Mitte der Welt; und so wie dort die Erde schöner und besser ist in jeder Hinsicht als an anderen Orten, so war auch das Menschenvolk dort am ausgezeichnetsten mit allen Gaben: Weisheit und Macht, Schönheit und in allen Künsten.] Der Text nimmt an dieser Stelle eine Einteilung der Welt in drei Kontinente vor. Das Narrativ verwendet dieselben raumstrukturierenden Mittel zur Beschreibung der Welt, wie sie auch bildlich auf mittelalterlichen T-O-Karten verwendet werden. 143 Die 142 Ebd., S. 10-12 143 Zur mittelalterlichen Kartographie und zu kartographischen Beschreibungsmodellen der Vormoderne siehe unter Anderem: Baumgärtner, Ingrid und Kugler, Hartmut [Hrsg.]: Europa im Weltbild des Mittelalters. Kartographische Konzepte. Akademie Verlag, Berlin 2008. (= Orbis mediaevalis. Vorstellungswelten des Mittelalters, Bd. 10); Brincken, Anna- Dorothee von den: Das geographische Weltbild um 1300. In: Moraw, Peter [Hrsg.]: Das geographische Weltbild um 1300. Politik im Spannungsfeld von Wissen, Mythos und Fiktion. Duncker & Humblot, Berlin 1989, S. 9-32. (= Zeitschrift für historische Forschung, Beiheft 2 Anfänge und Anfangssetzungen 78 bis zu diesem Moment sehr unstrukturierte Welt wird durch diesen Abschnitt gegliedert und so für die Verwendung im weiteren Verlauf des Narratives bereitgestellt. Genauso wie in den besprochenen Texten aus der Lieder-Edda wird im Prolog der Prosa-Edda die Erde mittels Benennung erschrieben und strukturiert. Im Gegensatz zu den eddischen Liedern verwendet das Narrativ des Prologs dazu jedoch aus der Geographie bekannte Bezeichnungen für die einzelnen Kontinente und für das Mittelmeer. Von Süden ausgehend beschreibt der Text die drei Kontinente im Uhrzeigersinn und vermittelt für die ersten beiden Kontinente klimageographische Angaben, bevor er den dritten Kontinent und die dort lebenden Menschen beschreibt, auf welchem auch der Mittelpunkt der Erde lokalisiert wird. Da durch das Narrativ nicht erkenntlich gemacht wird, wer diese Einteilung vorgenommen hat, kann davon ausgegangen werden, dass der Text diese Gliederung selbst mittels ihrer Erschreibung erzeugt. Die Welt wird an dieser Stelle über eine Ausdifferenzierung erschrieben, bei der jeder Kontinent differenzierter beschrieben wird als der vorhergehende. Besonders Asien, welches die Hälfte der Erdmasse ausmacht, wird mit Mikronarrativen ausgefüllt, wenn der Text sich über dessen Reichtum und die Bewohner äußert. Rudolf Simek argumentiert dahingehend, dass die Reihung der behandelten Kontinente dem epischen Stilmittel des Achtergewichts geschuldet sei, 144 was insofern logisch erscheint, wenn man nur das darauf folgende kurze Narrativ über Trója betrachtet, zu welchem der Text streben würde. Denkt man hingegen an den weiteren Verlauf des Prologs, so ist explizit Europa, welches im Text als zweiter Kontinent behandelt wird, für die Entwicklung des Narratives von zentraler Bedeutung und nicht etwa Asien, wie Simeks Leseweise nahelegen würde. Bei der Benennung Europas fällt auf, dass ein Synonym, Enea, dafür angegeben wird. Diese Alternativbezeichnung für Europa ist, gemäß Simek, nur in der Prosa-Edda und der Ynglinga saga 145 in der Heimskringla überliefert und beziehe sich auf Aeneas. 146 Eine ähnliche Nennung kommt auch in der Naturalis historia, Buch IV, Abschnitt 96, von Plinus dem Älteren vor, der eine Insel Namens Aeningia in Nordeuropa beschreibt, von der Enea ebenso abgeleitet sein könnte. 147 Sowohl eine transtextuelle Verbindung zu Plinius als auch zu Vergils Aeneis wäre theoretisch denkbar, lässt sich aber auf der Basis des Textes der Prosa-Edda nicht nachweisen. Zwar kommen im weiteren Verlauf Trója und dessen Bewohner vor, 6); Cosgrove, Denis: Geography and Vision. Seeing, Imagining and Representing the World. I.B. Tauris, London und New York 2008. (= International Library of Human Geography, Bd. 12); Cosgrove, Denis: Apollo’s Eye. A Cartographic Genealogy of the Earth in the Western Imagination. The Johns Hopkins University Press, Baltimore 2001; Edson, Evelyn: Mapping Time and Space. How Medieval Mapmakers viewed their World. The British Library, London 2 1999 (1997). (= The British Library. Studies in Map History, Vol. 1); Englisch, Brigitte: Ordo orbis terrae. Die Weltsicht in den Mappae mundi des frühen und hohen Mittelalters. Akademie Verlag, Berlin 2002. (= Orbis mediaevalis. Vorstellungswelten des Mittelalters, Bd. 3); Glauch, Sonja et al. [Hrsg.]: Projektion - Reflexion - Ferne. Räumliche Vorstellungen und Denkfiguren im Mittelalter. De Gruyter, Berlin und Boston 2011; sowie: Glauser, Jürg und Kiening, Christian [Hrsg.]: Text - Bild - Karte. Kartographien der Vormoderne. Rombach, Freiburg i. Br. 2007. (= Rombach Wissenschaften. Reihe Litterae, Bd. 105) 144 Simek, Rudolf: Altnordische Kosmographie. De Gruyter, Berlin und New York 1990, S. 147. 145 Snorri Sturluson: Heimskringla. Band 1. Bjarni Aðalbjarnarson [Hrsg.], Hið Íslenzka Fornritafélag, Reykjavík 1941, S. 9. 146 Simek: Altnordische Kosmographie, S. 192. 147 www.thelatinlibrary.com/ pliny.nh4.html (Stand: 09.05.2015) 2.3 Der Anfang im Narrativ 79 doch liegt das Augenmerk auf einer Figur Namens Tror und nicht etwa auf Aeneas. Auch das Narrativ, welches Trója behandelt, dient als Anfangssetzung. Darin werden auf euhemeristische Weise Figuren des trojanischen Königsgeschlechts, welche von Trója her aufbrechen, um sich in Nordeuropa als gottähnliche Wesen verehren zu lassen, mit den altnordischen Göttern gleichgesetzt. 148 Dabei wird eine Reise beschrieben, die Óðinn und sein Gefolge von Tyrkland, in dem Trója dem Text nach liegt, über Saxland [Sachsen] und Reiðgotaland [Jütland] nach Svíþjóð [Schweden] führt. Unterwegs setzt Óðinn in den verschiedenen Ländern, die er und sein Gefolge durchqueren, seine Söhne als Regenten ein, die dann Stammhalter der einzelnen Königsgeschlechter werden. In Svíþjóð setzt er in der Stadt Sigtúnir zwölf Oberhäupter ein, wie er es aus Trója kennt, und reist danach weiter gegen Norden bis er ans Meer kommt, wo er Noregr [Norwegen] einem seiner Söhne vermacht. Diese Gründungsmythen der einzelnen Königsreiche und deren Stammlinien werden in der Prosa-Edda gänzlich performativ inszeniert, worüber sich der Text auch selber äußert: Þeir Æsir tóku sèr kvânföng þar innanlands, en sumir sonum sínum, ok urðu þessar ættir fjölmennar, at umb Saxland ok allt þaðan um norðrhálfur dreifðist svâ, at þeirra túnga, Asíamanna, var eigin túnga um öll þessi lönd. Ok þat þykkjask menn skynja mega af því, at skrifuð eru langfeðga nöfn þeirra, at þau nöfn hafa fylgt þessi túngu, ok þeir Æsir hafa haft túnguna norðr híngat í heim: í Noreg ok í Svíþjóð, í Danmörk ok í Saxland; ok í Englandi eru forn landsheiti eða staða heiti, þau er skilja má, at af annarri túngu eru gefin en þessi. 149 [Die Asen nahmen sich dort im Land Frauen und verheirateten einige ihrer Söhne und diese Geschlechter wurde so zahlreich, dass sie sich über Sachsen und von dort aus über den ganzen Norden ausbreiteten, sodass ihre Sprache, die der Asiaten, zur eigenen Sprache all dieser Länder wurde. Und die Menschen glauben dies daran erkennen zu können, da die Namen ihrer Vorväter aufgezeichnet wurden, denn diese Namen gehörten zu jener Sprache, welche die Asen als Sprache hierher in den Norden der Welt brachten: nach Norwegen und nach Schweden, nach Dänemark und nach Sachsen; in England aber gibt es Landesbezeichnungen und Ortsnamen, bei denen man erkennen kann, dass sie von einer anderen Sprache stammen, als dieser.] Am Ende der Textstelle wird deutlich, dass durch die Sprache auch Narrative in die Landschaft eingeschrieben werden können, die so das Verständnis der Topographie mitprägen. Der Text selbst tut dies explizit für die genannten germanischen und skandinavischen Länder, wenn er diese mittels Ansippungen, also den Verknüpfungen von Herrschaftslinien und Königreichen, im Narrativ beschreibt. Dieselbe performative Funktion verwendet das Narrativ auch an späterer Stelle nochmals, um die intradiegetische Topographie der eddischen Mythen zu festigen. Eine erste Ätiologie, die nicht nur sprachlich performativ ist, sondern auch einen gewissen theatralisch-handelnden Charakter hat, ist das Narrativ zu Gefjun, 150 welches nur in drei der Haupthandschriften der Prosa-Edda enthalten, im Codex Upsaliensis 148 Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 12-30. 149 Ebd., S. 28-30. 150 Ebd., S. 30-32. 2 Anfänge und Anfangssetzungen 80 jedoch nicht überliefert ist. 151 Darin trifft der schwedische König Gylfi auf eine Asin Namens Gefjun, der er, als Gegenleistung für ihre Unterhaltung, so viel Land versprach, wie sie an einem Tag und einer Nacht pflügen könne. Gefjun holte sich dazu Ochsen aus Jötunheimr, einem Riesenland im Norden, die das Land so tief umpflügten, dass es losriss, worauf die Ochsen es nach Westen in eine Meerenge zogen. Die Insel, die so entstand, nennt der Text Selund und das entstandene Loch auf dem Festland, das sich daraufhin mit Wasser füllte, den See Lögrinn. Diese ätiologische Sage über die Herkunft der beiden topographischen Phänomene der Insel und des Sees, wird unmittelbar nach der prosaischen Verarbeitung auch noch in der Form einer skaldischen Strophe in der Prosa-Edda wiedergegeben. 152 Diese schreibt der Text dem norwegischen Skalden Bragi inn gamli Boddasson zu, der in der ersten Hälfte des neunten Jahrhunderts gewirkt haben soll. 153 Durch die kenningar, die in der skaldischen Strophe verwendet werden, erhält die Insel Selund weitere Attribute zugeschrieben, sodass darüber auch die Topographie stärker ausdifferenziert wird. Die Herkunftslegende, die eine doppelte Schöpfung von Land wie auch von Wasser beschreibt, wird somit auch verdoppelt wiedergegeben, wobei zwei verschiedene Gattungen dazu verwendet werden. Beim Wechsel, der sich von der Prosa hin zur Skaldik vollzieht, wird zwar das medial Vermittelte des Narratives beibehalten, doch ändert sich seine Form. In derselben Weise sind auch die beiden topographischen Gegebenheiten, die beschrieben werden, miteinander über eine mediale Gegenform, als Form und Abdruck, verbunden. So bildet hier die Prosa-Edda, wie auch schon für andere Anfänge gezeigt, den Inhalt des Narratives auf der darstellenden Textebene ab. Des Weiteren verfährt der Text stark performativ, wenn er die Ätiologie mit den Worten „Frá honum er þat sagt, at [...]“ 154 [Von ihm wird erzählt, dass …] beginnt. Einerseits setzt durch diese einleitende Phrase das Narrativ über Gylfi und Gefjun in demselben Moment ein, in dem auch auf der Textebene davon erzählt wird. Andererseits öffnet sich damit auch ein Raum, dessen Topographie außerhalb des erinnerten Raumes des Narratives liegt. Dieser Raum scheint der Erzählinstanz bekannt, doch vermittelt sie daraus dem Rezipienten nur diese eine Erzählung über Gylfi und Gefjun, ohne zu erläutern, wo dieses erinnerte Narrativ herkommt oder wer es sonst noch kennt. Anders verhält es sich bei der skaldischen Strophe, durch die das in der Prosa-Edda eben Erzählte fundiert wird. Diese wird mit den Worten „Svâ segir Bragi skáld gamli“ 155 [So sagt der Skalde Bragi der Alte] eingeleitet und lässt damit den Skalden quasi selber ins Narrativ eintreten und darin sprechen, sodass sich der Raum des Textes öffnet und der einen, bisher im Text das Narrativ vermittelnden Erzählinstanz, kurzzeitig eine zweite zur Seite gestellt wird. Auf diese kurze Herkunftslegende folgt jener Teil der Prosa-Edda, der in der Uppsala Handschrift als „Gylva ginning“ betitelt wird. 156 König Gylfi, der als zauberkundiger und kluger Mann beschrieben wird, macht sich auf zu den Asen nach Ásgarðr, um mehr über die Herkunft ihrer Macht zu erfahren. Um nicht erkannt zu werden, 151 Siehe dazu: https: / / notendur.hi.is/ / ~eybjorn/ gg/ gg4par01.html (Stand: 09.05.2015) 152 Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 32. 153 Siehe dazu Anmerkung 11 in: Gylfaginning. [Lorenz], S. 69. 154 Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 30. 155 Ebd., S. 32. 156 Siehe dazu: The Uppsala Edda. [Heimir Pálsson], S. 10. 2.3 Der Anfang im Narrativ 81 verkleidet er sich und nennt sich Gángleri. 157 Doch die Asen bemerken sein Vorhaben und spiegeln ihm Sinnestäuschungen vor: „En er hann kom inn í borgina, þá sá hann þar háfa höll, svâ at varla mátti hann sjá yfir hana; þak hennar var lagt gyltum skjöldum, svâ sem spánþak.“ 158 [Und als er in die Burg kam, da sah er dort eine hohe Halle, sodass er kaum über sie sehen konnte; ihr Dach war mit goldenen Schilden belegt, so wie ein Schindeldach.] Gylfi kennt anscheinend den Weg nach Ásgarðr, weiss jedoch nicht, wie es dort aussieht, sodass er sich von den Asen durch die vorgespiegelte Halle täuschen lässt, die mit goldenen Schildern, die als Dachschindeln dienen, sehr prunkvoll beschrieben wird. Sowohl die Burg, als auch die Halle und alle weiteren Räume in ihr, sind Fiktionen, die, sowohl für Gylfi, als auch für den Rezipienten des Textes, nur im Narrativ, zur Bildung eines Erzählraums, existent sind und für beide gleichzeitig erschrieben und erschaffen werden. Interessant ist, dass dasselbe Narrativ einer vorgetäuschten Halle nochmals im Text vorkommt, wenn die drei Asenkönige Gylfi von einer Reise Þórs erzählen, wie an späterer Stelle im Kapitel zu den ephemeren Topographien gezeigt wird. In der Halle wird Gylfi vor einen dreistufigen Hochsitz geführt, auf dem drei Könige sitzen, die er sogleich auszufragen beginnt. Mit seiner ersten Frage will Gylfi erfahren, wen die Asen als ältesten und ranghöchsten Gott anerkennen, worauf er Allföðr als Antwort erhält, sowie elf weitere heiti für dieselbe Figur, die er „[...] í Ásgarði enum forna [...]“ 159 [im alten Asgard] trug. Die darauf folgende Frage und die Antworten nehmen ein Narrativ auf, das schon im Prolog der Prosa-Edda vorkam und weiter oben diskutiert wurde: Þá spyrr Gángleri: hvar er sá guð? eða hvat má hann? eða hvat hefir hann unnit framaverka? Hár segir: lifir hann of allar aldir ok stjórnar öllu ríki sínu, ok ræðr öllum lutum, stórum ok smám. Þá mælti Jafnhár: hann smíðaði himin ok jörð, ok loptin ok alla eign þeirra. Þá mælti Þriði: hitt er mest, er hann gerði manninn, ok gaf honum önd, þá er lifa skal ok aldri týnast, þótt líkaminn fúni at moldu eða brenni at ösku, ok skulu allir menn lifa, þeir er rètt eru siðaðir, ok vera með honum sjálfum þar sem heitir Gimli eða Vingólf. En vândir menn fara til Heljar ok þaðan í Niflhel, þat er niðr í enn níunda heim. 160 [Darauf fragt Gángleri: Wo ist dieser Gott? Oder war kann er? Oder was für Großtaten hat er vollbracht? Hár sagt: Er lebt für alle Zeiten und lenkt sein ganzes Reich und verfügt über alle Dinge, große und kleine. Darauf sprach Jafnhár: Er erschuf Himmel und Erde und die Luft und alles, was zu ihnen gehört. Da sprach Þriði: Dies ist aber das Wichtigste, dass er den Menschen schuf und ihm eine Seele gab, die da leben soll und niemals vergeht, selbst wenn der Leichnam zu Erde verwest oder zu Asche verbrennt und es sollen alle Menschen leben, die rechten Glaubens sind, und sie werden mit ihm selbst an jenem Ort sein, der Gimli oder Vingólf heißt. Aber böse Menschen gehen zu Hel und von dort nach Niflhel, dies ist unten in der neunten Welt.] 157 Zugunsten der Lesbarkeit wird im Folgenden für die Doppelidentität von Gylfi/ Gángleri einzig der Name Gylfi verwendet. 158 Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 34. 159 Ebd., S. 36. 160 Ebd., S. 38. 2 Anfänge und Anfangssetzungen 82 Auf Gylfis Frage nach dem Aufenthaltsort des höchsten Gottes wird von Hár vorerst nicht eingegangen, da er sich in seiner Antwort nur auf ein transzendentes und omnipotentes Gottesbild bezieht, dieses jedoch nicht verortet. Die Antwort von Jafnhár kann als bewusste Reminiszenz des Narratives an den ersten Satz aus dem Prolog verstanden werden, der dort im Zusammenhang mit dem christlichen Gott verwendet wurde und von Jafnhár nur sehr geringfügig abgeändert wird, indem er nebst der polaren Raumdichotomie von Himmel und Erde das Medium Luft einfügt. Erst Þriði, der von der Unsterblichkeit der Seele des Menschen erzählt, erläutert, dass die rechtschaffenen Menschen nach ihrem Tod bei Allföðr in Gimli oder Vingólf leben und die schlechten zu Hel fahren werden und von dort nach Niflhel kommen. Zur Beschreibung der Lage von Niflhel bedient sich der Text eines Narratives, das auch in der V ǫ lospá bekannt ist, wobei es sich um die oben schon diskutierten neun Welten handelt. Bei den beiden Raumbezeichnungen, die für den Aufenthaltsort von Allföðr angegeben werden, wird an dieser Stelle nicht deutlich, ob es sich um Synonyme für ein und denselben Raum handelt, oder ob es zwei eigenständige Räume sind. 161 Beide Leseweisen sind gemäß der Omnipotenz, die Allföðr zugesprochen wird, denkbar. Topographisch lässt sich an dieser Textstelle nur ablesen, dass eine gewisse Opposition zwischen einem nicht lokalisierten und nur über seine Antipode definierten Oben, das positiv konnotiert dargestellt wird, und einem explizit genannten Unten, das negativ konnotiert ist, besteht. Nimmt man nun diese Konnotationen als konträrgraduelle Antonymien, so kann man, in Bezug auf die Lage, die jedoch nur für Niflhel angegeben ist, durch Analogiebildung festhalten, dass Gimli und Vingólf dementsprechend in der ersten oder obersten Welt situiert werden könnten. Sowohl über das aufgerufene Bild eines transzendenten Schöpfergottes als auch durch das Propagieren einer unsterblichen Seele und des Menschen als Krone der Schöpfung zitiert die Textstelle christliche Glaubenselemente. Solchermaßen hergestellte Konnotationen konstituieren eine Himmel-Hölle-Dichotomie, 162 von der für dieses Mikronarrativ der Prosa-Edda angenommen werden kann, dass sie als christliche Raummatrix auf die topographische Vorstellung eines Lebens nach dem Tode übertragen werden kann. Dieses Schöpfungsnarrativ, in dem die Ausdifferenzierung der Topographie mittels christlicher Raumsemantiken vorgenommen wird, erfährt einen drastischen Bruch, wenn Gylfi seine nächste Frage stellt: Þá mælti Gángleri: hvat hafðist hann áðr at, en himinn ok jörð væri gör? Þá svarar Hár: þá var hann með Hrímþussum. Gángleri mælti: hvat var upphaf? eða hversu hófst? eða hvat var áðr? Hár svarar: svâ sem segir í Völuspá: Ár var alda þat er ekki var: 161 Betrachtet man den Name Vingólf als rechtsköpfiges Kompositum, so deutet dies auf einen abgeschlossenen Raum hin, wenn man gólf im Sinne von „Zimmer“ oder „abgetrennter Raum“ übersetzt. Für die unterschiedlichen Bedeutungen und Übersetzungsmöglichkeiten von „gólf“ siehe unter dem Lemma gólf: Baetke: Wörterbuch zur altnordischen Prosaliteratur, S. 206. 162 Siehe dazu auch: Molenaar, H. A.: Concentric Dualism as Transition Between a Linear Cyclic Representation of Life and Death in Scandinavian Mythology. In: Bijdragen tot de Taal-, Landen Volkenkunde, Deel 138, 1ste Afl., Anthropologica XXIV, Leiden 1982, S. 29-53. 2.3 Der Anfang im Narrativ 83 vara sandr nè sær nè svalar unnir, jörð fannst eigi nè upp-himinn, gap var ginnúnga en gras ekki. 163 [Darauf sprach Gángleri: Was hat er getan, bevor Himmel und Erde erschaffen waren? Da antwortet Hár: Damals war er bei den Reifreisen. Gángleri sprach: Was war am Anfang? Oder wie begann es? Oder was war davor? Hár antwortet: So wie es in der Völuspá heißt: Zu Beginn des Zeitalters war es, als da nichts war: weder Sand noch See waren noch kalte Wogen. Erde war nicht vorhanden noch der Oberhimmel, leer war der Raum, aber kein Gras.] Bemerkenswert an der ersten Frage Gyfis in dieser Textstelle ist, dass er sich nicht mit der ihm vorgetragenen Kosmogonie abzugeben bereit zu sein scheint, wenn er nach einer Zeitspanne vor der Schöpfung der Erde fragt. Doch wiederum weichen die Asenkönige der Frage aus und Hár gibt diesmal eine räumlich konnotierte und personenbezogene Antwort, wenn er angibt, dass Allföðr, für den die anaphorische Verwendung des Personalpronomens im Text zu stehen scheint, vor der oben erwähnten Schöpfung bei den Hrímþursar, den Reifriesen, gewesen sei. In dieser Aussage macht sich ein Paradoxon bemerkbar, das der Logik des zuvor postulierten omnipotenten Schöpfergottes widerspricht: Eine Existenz der Reifriesen vor der initialen Schöpfung der Welt durch Allföðr ist mit der ihm attestierten Allmacht nicht vereinbar. 164 Dieser Paralogismus oder Fehlschluss scheint auch Gylfi im Narrativ aufzufallen, da er auf eine Antwort insistiert indem er ein weiteres Mal dezidiert nach dem Anfang, nach einer neuen Kosmogonie und nochmals nach der Zeit vor dem Beginn der Schöpfung fragt. Wiederum ist es Hár, der antwortet und durch das Rezitieren der schon zuvor behandelten Strophe aus der V ǫ lospá, womit er das eddische Lied betitelt, versucht die bisher angebotene Kosmogonie zu retten, indem er in der Version der Strophe, wie sie im Narrativ der Prosa-Edda überliefert ist, den Urriesen Ýmir ausspart und durch ein Nichts ersetzt. Mit dem zuvor in der Erzählung durch Jafnhár vermittelten Vorwissen, dass die Welt durch Allföðr erschaffen werden wird, bekommt die Strophe aus der V ǫ lospá nun einen anderen Unterton, wenn, wie oben schon angedeutet, in dieser Variante der Strophe keine Urmaterie mehr vorhanden ist, aus der die Welt geschöpft und gestaltet werden könnte. Um das Narrativ eines omnipotenten Schöpfergottes aufrecht zu erhalten, versucht der Text in die Urzeit zurück zu blenden, als noch nichts - auch nicht die Reifriesen - außer der allumfassenden Leere existierte. 163 Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 38-40. 164 Gleichzeitig erinnert dieses Mikronarrativ an die weiter oben schon diskutierte Strophe 2 der V ǫ lospá, in der es die Erzählinstanz selbst ist, die sich an jene Zeit erinnert, als sie bei den Riesen lebte. Siehe dazu: Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 1. 2 Anfänge und Anfangssetzungen 84 Nach dieser Replik Hárs melden sich die beiden anderen Asenkönige zu Wort, was ein Hinweis darauf sein mag, dass die angegebene Topographie zu minimalistisch ausgefallen ist, sodass das Narrativ erweitert werden muss, wenn es nicht abbrechen will: Þá mælti Jafnhár: fyrr var þat mörgum öldum en jörð var sköput, er Niflheimr var görr, ok í honum miðjum liggr bruðr sá, er Hvergelmir heitir, ok þaðan af falla þær ár er svâ heita: Svöl, Gunnþra, Form, Fimbul, Þul, Slíðr ok Hríð, Sylgr ok Ylgr, Víð, Leiptr; Gjöll er næst helgrindum. Þá mælti Þriði: fyrst var þó sá heimr í suðrhálfu, er Muspell heitir; hann er ljóss ok heitr, svâ hann er logandi ok brennandi; er hann ok úfærr þeim, er þar eru útlendir ok eigi eigu þar ỏðul. Sá er Surtr nefndr, er þar sitr á landsenda til landvarnar, hann hefir loganda sverð, ok í enda veraldar mun hann fara ok herja, ok sigra öll goðin, ok brenna allan heim með eldi. Svâ segir í Völuspá: Surtr ferr sunnan með sviga leifi, skínn af sverði sól valtíva: grjótbjörg gnata, en gífr rata, troða halir helveg, en himinn klofnar. 165 [Darauf sprach Jafnhár: Es war viele Zeitalter bevor die Erde geschaffen wurde, als Niflheimr gemacht wurde, und in seiner Mitte liegt jene Quelle, die Hvergelmir heißt, und von dort entspringen jene Flüsse, die so heißen: Svöl, Gunnþra, Form, Fimbul, Þul, Slíðr und Hríð, Sylgr und Ylgr, Víð, Leiptr; Gjöll ist am nächsten bei der Pforte zu Hel. Darauf sprach Þriði: Zuerst war aber jener Erdteil im südlichen Teil der Welt, der Muspell heisst; er ist hell und heiß, da er in Flammen steht und brennt; er ist auch unpassierbar für diese, die dort fremd sind und dort nicht ihre Heimat haben. Der wird Surtr genannt, der dort an der Landesgrenze zur Landesverteidigung sitzt. Er hat ein brennendes Schwert und am Ende der Welt wird er losziehen und heeren und alle Götter besiegen und die ganze Welt mit Feuer verbrennen. So heißt es in der Völuspá: Surtr zieht von Süden her mit dem Ruten Verderber, es scheint vom Schwert die Sonne der Schlachtgötter: Felsberge stürzen zusammen, und Trollfrauen stolpern, es stapfen die Menschen auf dem Helweg, und der Himmel birst.] Zeitlich befindet sich der Inhalt des Erzählten nun auf der Ebene des Beginns des Schöpfungsaktes, beziehungsweise der Entstehung der eddischen Welt. Die verknappte Kosmogonie wird nun aber durch zwei Länder, Gebiete oder Pole - Niflheimr und Muspell - erweitert, die ganz zu Beginn den Elementen Wasser, beziehungsweise Feu- 165 Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 40. 2.3 Der Anfang im Narrativ 85 er und Hitze zugeordnet sind. Wiederum ist es so, dass nur eines dieser Gebiete, wie schon bei der Dichotomie der Totenreiche, genauer lokalisiert wird. Wenn von Muspell gesagt wird, dass es in der Südhälfte der Welt liege, so suggeriert das Narrativ, dass Niflheimr, in Analogie zum explizit erwähnten Süden, im Norden liegt. Die Mitte Niflheims wird als große Quelle beschrieben aus der zwölf namentlich benannte Flüsse entspringen, 166 wobei der letztgenannte Fluss, Gjöll, in der Nähe der Pforte zu Hel liegend beschrieben wird. Für alle Flüssen fehlt jedoch jegliche Angabe zur Fließrichtung, sodass keine Aussage darüber getroffen werden kann, in welcher Himmelsrichtung zum Beispiel die Pforte zu Hel zu lokalisieren wäre. Die Namen der einzelnen Flüsse hingegen sind sprechende und weisen Konnotationen zum Element Wasser, wie auch zu dessen akkustisch wahrnehmbaren Lauten auf. 167 Über allfällige Bewohner dieses nördlichen Gebietes wird im Text nichts gesagt, sodass es bis auf die Flüsse und die Pforte zur Unterwelt leer zu sein scheint. Muspell, welches älter als Niflheimr sei, wird als hell, heiß und in Flammen stehend beschrieben. Surtr, 168 der Wächter über Muspell, wird am Ende der Welt mit einem Flammenschwert die Götter und die ganze Erde vernichten. Nebst dieser apokalyptischen Figur scheinen noch weitere Lebewesen Muspell zu bewohnen, da das Narrativ konstatiert, dass jene, die dort nicht heimisch sind, in Muspell auch nicht lebensfähig seien. 169 Interessant sind auch die sich im Narrativ eröffnenden Antonymien, wenn gleichzeitig mit dem Beginn der Kosmogonie auf den Weltuntergang referiert wird, wobei all jene Narrative ausgespart werden, die zu diesem Weltuntergang führen. 170 Davon handelt auch die zitierte Strophe 52 aus der V ǫ lospá, 171 die als Referenz angegeben wird. Dabei wird, mit einigen kenningar versehen, berichtet, wie Surtr das Feuer über die Welt bringen wird, sodass die Berge einstürzen und sowohl Menschen als auch „Trollfrauen“ sterben, wenn der Himmel zerspringt. Die zitierte Strophe vermittelt einzig Wissen über das Ende der Welt und steht somit diametral der Frage zum 166 Die Redaktion U gibt sowohl die beiden Flüsse Fimbul und Þul als einen einzigen Fluss namens Fimbulþul als auch die Flüsse Víð und Leiptr als Víðleiptr an, wodurch sich die Zahl der Flüsse von zwölf auf zehn verringert. Siehe dazu: The Uppsala Edda. [Heimir Pálsson], S. 14. 167 Siehe dazu Anmerkungen 8 bis 18 in: Gylfaginning. [Lorenz], S. 112-114. Lorenz gibt dazu folgende Übersetzungsmöglichkeiten an: Sv ǫ l (die Kühle), Gunnþrá (die Kampftrotzige), Fj ǫ rm (die Eilende), Fimbulþul (die stark Rauschende), Slíðr (die Fürchterliche), Hríð (die Stürmische), Sylgr (die Verschlingende), Ylgr (die Raubende), Víð (die Breite), Leiptr (die Blitzende) und Gj ǫ ll (die Brüllende). Die Schreibweise und die Anzahl der Flüsse folgen hier der Edition von Lorenz. 168 Surtr kann mit „der Schwarze“ übersetzt werden. Siehe dazu unter dem Lemma Surtr: Sveinbjörn Egilsson: Lexicon Poeticum Antiquæ Linguæ Septentrionalis, S. 547. 169 Zu beachten ist hier, dass es sich wiederum um eine Beschreibung ex negativo handelt, woraus man schließen kann, dass es ungenannte Lebewesen geben muss, die dort heimisch sind. 170 Zur Konnotation von Muspell und dem Weltuntergang siehe auch die althochdeutsche Stabreimdichtung Muspilli, welche ca. 870 auf Altbairisch verfasst wurde: Althochdeutsches Lesebuch. Braune, Wilhelm und Ebbinhaus, Ernst A. (Hrsg.). 17. Auflage, Niemeyer, Tübingen 1994, S. 86-89. Darin wird eine apokalyptische Szenerie geschildert, bei der „mittilgart“ verbrannt wird, wenn das „muspille“ über die Menschen hereinbricht, nachdem der Engel Elias mit dem Antichristen kämpfte. 171 Interessant ist, dass die Redaktion U die apokalyptische Figur in der Prosa Surtr, im Zitat aus der V ǫ lospá hingegen Svartr nennt. Siehe dazu: The Uppsala Edda. [Heimir Pálsson], S. 14. 2 Anfänge und Anfangssetzungen 86 Anfang gegenüber, die Gylfi eigentlich beantwortet haben wollte. Die vermeintliche Anfangssetzung in dieser Textstelle wird somit mehrfach gebrochen. Zuerst wird der Anfang dadurch leicht interpoliert, dass, durch das Voranstellen der Beschreibung topographischer Strukturen in Niflheimr, nicht jene Gegend ins Narrativ eintritt, die als erste existierte. Danach wird, wie oben schon erläutert, die Topographie von Muspell dazu verwendet, um Surtr als Figur einzuführen und damit dem Narrativ die Möglichkeit zu geben, auf das Weltenende zu sprechen zu kommen. Dennoch insistiert Gylfi weiter darauf, zu erfahren, wie die Kosmogonie ablief, auch wenn er davon abrückt, etwas über das Moment des Anfangs in Erfahrung bringen zu können: Gángleri mælti: hversu skipaðist áðr en ættirnar yrði eða aukaðist mannfólkit? Þá mælti Hár: Ár þær, er kallaðar eru Elivâgar, þá er þær voru svâ lángt komnar frá uppsprettunni, at eitrkvikja sú, er þar fylgði, harðnaði, svâ sem sindr þat er renn or eldinum, þá varð þat íss, ok þá er sá íss gaf staðar ok rann eigi, þá heldi yfir þannig enn þat er af stóð eitrinu, ok fraus at hrími, ok jók hrímit hvert yfir annat, allt í Ginnúnga-gap. Þá mælti Jafnhár: Ginnúnga-gap, þat er vissi til norðrs ættar, fylltist með þúnga ok höfugleik íss ok hríms, ok inn í frá úr ok gustr; en hinn syðri lutr Ginnúnga-gaps léttist móti gneistum ok síum þeim, er flugu or Muspells heimi. Þá mælti Þriði: svâ sem kalt stóð af Niflheimi; ok allir lutir grimmir, svá var þat, er vissi námunda Muspelli, heitt ok ljóst; en Ginnúnga-gap var svâ hlætt sem lopt vindlaust; ok þá er mættist hrímin ok blær hitans, svâ at bráðnaði ok draup, ok af þeim kviku-dropum kviknaði, með krapti þess er til sendi hitan, ok varð manns líkandi, ok var sá nefndr Ýmir, en Hrímþussar kalla hann Örgelmi, ok eru þaðan komnar ættir Hrímþussa, svâ sem segir í Völuspá hinni skömmu: Eru völur allar frá Viðólfi, vitkar allir frá Vilmeiði, en seið-berendr frá Svarthöfða, allir jötnar frá Ými komnir. En hèr segir svâ Vafþroðnir jötun, hvaðan Örgelmir kom með jötna sonum fyrst, enn fróði jötunn: Þá er or Elivâgum stukku eitr-dropar ok óx unnz or varð jötun; þar eru orar ættir komnar allar saman, því er þat æ allt til atalt. 172 [Gángleri sprach: Auf welche Weise wandelt es sich, bevor die Geschlechter 172 Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 42-44. entstanden und das Menschenvolk sich vermehrte? Darauf sprach Hár: Es gab 2.3 Der Anfang im Narrativ 87 die Flüsse, die Elivâgar genannt wurden, als sie schon so weit von ihrer Quelle waren, dass ihre giftige Gischt, die sie mit sich führten, fest wurde, so wie Schlacke, die aus dem Feuer rinnt, da wurde daraus Eis. Und als dieses Eis zum Stehen kam und nicht mehr floss, da verhielt es sich zudem so, dass daraus Gift entstand und zu Reif gefror, und der Reif legte sich über alles, im ganzen Ginnúnga-gap. Darauf sprach Jafnhár: Der Teil des Ginnúnga-gaps, der in die nördliche Himmelsrichtung wies, füllte sich mit schwerfälligem und schwerem Eis und Reif, und im Innern gab es Sprühregen und Böen. Aber der südliche Teil des Ginnúnga-gaps lichtete sich angesichts der Funken und den Glutteilen, die aus Muspells heimr heranflogen. Da sprach Þriði: So wie die Kälte ihren Ursprung in Niflhel hatte und alle grimmigen Dinge, so war das, was in die Nähe von Muspell gerichtet war, heiß und hell. Aber das Ginnúnga-gap war so mild, wie windstille Luft, und als der Reif auf den heißen Luftstrom traf, da schmolz er und tropfte, und aus den Gischttropfen entstand Leben, durch die Kraft dessen, der die Hitze sandte. Und wurde zur Gestalt eines Mannes, und der wurde dann Ýmir genannt, aber die Reifriesen nennen ihn Örgelmir, und von ihm stammen die Geschlechter der Reifriesen ab, so wie es in der Völuspá inn skamma [die kurze Weissagung der Seherin] heißt: Alle Seherinnen stammen von Viðólfr, alle Zauberer von Vilmeiðr, aber die Hexerei praktizierenden von Svarthöfði, alle Riesen kommen von Ýmir. Und hier spricht der Riese Vafþroðnir, woher Örgelmir kommt mit der Riesen Söhne, zuerst, dieser kundige Riese: Damals als aus den Elivâgar Gifttropfen spritzten und wuchsen, bis daraus ein Riese wurde; unsere Geschlechter sind dort alle zusammen hergekommen, daher ist dies alles immerzu böse.] Die Flüsse, die Elivâgar genannt werden, sind möglicherweise synonym mit den vorher genannten zwölf Flüssen, die in Niflheimr entspringen, zu verstehen. 173 Erst der darauffolgende Vergleich und die damit einhergehende explizite Nennung von Niflheimr ermöglicht es, die zuvor getätigten Aussagen von Hár und Jafnhár bezüglich der Elivâgar mit deren Verortung in Niflheimr zu assoziieren. Dass die giftige Gischt, 173 Siehe dazu unter dem Lemma Élivágar in: Simek: Lexikon der germanischen Mythologie, S. 89. Für weitere Interpretationsansätze siehe auch Anmerkung 4 in: Gylfaginning. [Lorenz], S. 123f. Lorenz gibt darin zusätzlich die Interpretationen der Élivágar als „nördliches Eismeer“ oder gar im Sinne von „i ǫ tunheimr als Totenreich“ an. 2 Anfänge und Anfangssetzungen 88 die zu Eis erstarrt, mit Schlacke, die aus dem Feuer rinnt, verglichen wird, wirkt kontradiktorisch, antizipiert jedoch die darauffolgende Beschreibung Muspells. Das Eis scheint von etwas, das nicht genannt wird, daran gehindert zu werden, weiterzufließen und türmt sich daher auf. Man kann somit entweder annehmen, dass der Übergang von Niflheimr und Ginnungagap eine Erhöhung darstellt, die die beiden Räume voneinander trennt, oder dass im Ginnungagap selbst, im Sinne eines leeren Raumes, das Eis nicht weiterfließen oder greifen konnte. Die zweite Leseweise ist jedoch unwahrscheinlich, da gleich darauf beschrieben wird, dass der Reif, der aus dem gefrorenen Sprühregen entstand, alles im Ginnungagap überzog. Das hier präsentierte Narrativ über Ginnungagap wirkt paradox, bedenkt man, dass Ginnungagap bisher, über das Zitat aus der V ǫ lospá, als gänzlich leerer Raum beschrieben wurde. Wenn sich der Reif „über alles“ legte, so impliziert dies, dass etwas zu Bedeckendes vorhanden gewesen sein muss und der Raum somit nicht leer war. Bevor sich der Text nun aber Muspell zuwendet, beschreibt das Narrativ in Richtung von Norden nach Süden, die klimatische Geographie im Ginnungagap, ohne dass auf die Topographie eingegangen wird. Dabei werden jedoch nur die Pole beschrieben, von denen der nördliche durch Frost und Stürme, der südliche durch Funken und Glutteilchen, also Hitze, geprägt ist. Muspell wird durch einen kontradiktorischen Vergleich mit Nifelheimr, welches zudem über Emotionen charakterisiert und konnotiert wird, eingeführt. Nachdem Muspell aber nur sehr kurz Erwähnung findet, wendet sich das Narrativ wieder dem Ginnungagap zu, das als mild und windstill beschrieben wird. In Anbetracht dessen, dass zuvor die klimatischen Bedingungen der nördlichen und südlichen Ausläufer des Ginnungagaps geschildert wurden, muss man annehmen, dass das Narrativ nun mit Ginnungagap dessen Mitte bezeichnet. Beim Aufeinandertreffen von Hitze und Reif bilden sich Gischttropfen, aus denen, laut Narrativ, der Urriese Ýmir entsteht. Über ihn wird vorerst nur gesagt, dass er den Körper eines Mannes habe und der Stammvater der Reifriesen sei, wobei er seine ersten Nachfahren durch Autogamie gebiert. Dazu werden zwei eddische Strophen angefügt, von denen die erste aus dem V ǫ lospá in scamma genannten Teil der Hyndlolióð 174 und die zweite aus den Vafðrúðnismál 175 stammen. Das erste Zitat muss hier nicht weiter diskutiert werden, da es nur Informationen zur Abstammung einiger Wesen zum Inhalt hat und keine topographischen Angaben macht. Auch das zweite Zitat enthält keine neuen Raumstrukturen, doch ist bemerkenswert, dass darüber in der Prosa-Edda Ýmir mit Örgelmir (Aurgelmir) gleichgesetzt wird. 176 Nachdem Gylfi erfährt, dass Ýmir von den drei Asenkönigen nicht als Gott betrachtet oder gar annerkannt wird und wie aus ihm weitere Reifriesen entstanden, will er wissen, wo Ýmir lebte und wie er sich ernährte: 174 Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 288-296. Das Hyndlolióð, dessen Strophen 29-44 von Sophus Bugge als V ǫ lospá in scamma bezeichnet wurden, ist einzig in der Handschrift der Flateyjarbók, GkS 1005 fol., überliefert. 175 Ebd., S. 45-55. Die Zeilen 4-6 der Strophe 31 sind jedoch nur in den Handschriften der Prosa-Edda überliefert. 176 Zur Problematik dieser Substitution siehe auch Anmerkung 25 in: Gylfaginning. [Lorenz], S. 132. 2.3 Der Anfang im Narrativ 89 spenum hennar, ok fæddi hon Ými. 177 [Darauf sprach Gángleri: Wo lebte Ýmir? Oder wovon lebte er? - Als nächstes ereignete sich dies, dass der Reif tropfte, sodass daraus die Kuh entstand, die Auðhumla hieß, und vier Milchflüsse rannen aus ihrem Euter und damit ernährte sie Ýmir.] Wiederum ist es auffällig, dass Gylfi keine Antwort auf den ersten Teil seiner Frage erhält. Doch scheint ihn dies nicht weiter zu beschäftigen, wie seine nächste Frage zeigt, woraus man schließen kann, dass die Erzählung ausreichte, um zu glücken. Auch der Umstand, dass eine Kuh als zweites Lebewesen auf dieselbe Weise erschaffen wurde wie zuvor der Urriese, wird vom Narrativ nicht weiter kommentiert. Vielmehr will Gylfi erfahren, wovon sich diese Kuh im Ginnungagap ernährte, womit er wiederum auf ein Zuvor rekkuriert. Þá mælti Gángleri: við hvat fæddist kýrin? Hár segir: hon sleikti hrímsteinana, er saltir voru, ok hinn fyrsta dag, er hon sleikti steina, kom or steininum at kveldi manns hár, annan dag manns höfuð, þriðja dag var þar allr maðr: sá er nefndr Buri; hann var fagr álitum, mikill ok máttugr; hann gat son þann, er Börr hèt. Hann fèkk þeirrar konu er Besla hèt, dóttir Bölþorns jötuns, ok fengu þau III sonu: hèt einn Óðinn, annarr Vili, III . Vé; ok þat er mín trúa, at sá Óðinn ok hans bræðr munu vera stýrandi himins ok jarðar; þat ætlum vèr, at hann muni svâ heita; svâ heitir sá maðr, er vèr vitum mestan ok ágæztan, ok vel megu þér hann láta svâ heita. 178 [Darauf sprach Gángleri: Wovon ernährte sich die Kuh? Hár sagt: Sie schleckte an den Reifsteinen, die salzig waren, und am ersten Tag, als sie an den Steinen schleckte, kamen aus den Steinen am Abend die Haare eines Mannes, am zweiten Tag der Kopf eines Mannes, am dritten Tag war da ein ganzer Mann: dieser wird Buri genannt. Er war von schöner Gestalt, groß und stark. Er bekam einen Sohn, der Börr hieß. Dieser nahm sich jene zur Frau, die Besla hieß, die Tochter des Riesen Bölþorn, und sie hatten drei Söhne: einer hieß Óðinn, der andere Vili, der dritte Vé. Und es ist mein Glaube, dass dieser Óðinn und seine Brüder die Lenker des Himmels und der Erde sein werden. Dies meinen wir, dass er so heißen wird. So heißt jener Mann, den wir als den größten und berühmtesten ansehen, und für dich wäre es gut, ihn auch so heißen zu lassen.] Die Erzählung über Auðhumla macht nur geringe Angaben zur Topographie des Ginnungagaps. Man erfährt jedoch, dass der Raum, in dem die Kuh und Ýmir sich befinden, von Reif bedeckte Steine enthält, die salzig sind. Durch das Lecken der Steine legt Auðhumla innert drei Tagen daraus einen Mann 179 frei, der Buri genannt wird, und 177 Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 46. In den Redaktionen T und U wird die Antwort eingeleitet durch „Hár svarar: “, was in R und W fehlt. 178 Ebd. 179 Die Übersetzung von Altnordisch maðr ist nicht ganz unproblematisch, da es sowohl Mann, Mensch als auch Person bedeuten kann. Auch der Reifriese Ýmir wird als maðr bezeichnet, daher kann nicht davon ausgegangen werden, dass es sich bei Buri eindeutig um Þá mælti Gángleri: hvar bygði Ýmir? eða við hvat lifði hann? - Næst var þat, þá er hrímit draup, at þar varð af kýr sú, er Auðhumla hèt, en IV mjólkár runnu or 2 Anfänge und Anfangssetzungen 90 der der Stammvater der Asen ist. Bei dieser Schöpfung ist unklar, ob sie intendiert ist, oder rein zufällig geschieht. Buris Sohn Börr zeugt zusammen mit einer Riesin drei Söhne, Óðinn, Vili und Vé. 180 Die drei Brüder sind somit, strenggenommen, zur Hälfte von den Reifriesen abstammend. Über Óðinn und seine Brüder sagt Hár, er glaube, dass diese die zukünftigen Lenker von Himmel und Erde sein werden. Zudem meinen die Asenkönige, dass Óðinn so heißen werde, da es jener Name sei, den sie am höchsten schätzten und auch Gylfi und sein Gefolge würden ihn so heißen lassen. An dieser Stelle zeigt das Narrativ wiederum eine bemerkenswert performative Eigenschaft, wenn die Schöpfung Óðins dazu benutzt wird, seine eigene Göttlichkeit zu implementieren. Die Aussage von Hár legt nahe, dass er sich bewusst ist, dass einzig durch die Benennung, und somit die Semantisierung und Konnotation des Namens und durch den Glauben an die damit verknüpften Inhalte eine Theosis oder Divinität Óðins möglich ist. Dadurch schöpft und postuliert das Narrativ selbst Óðinn als Gott. Erst durch das Glücken dieses performativen Akts ist es für das Narrativ möglich, Óðinn im weiteren Verlauf der Prosa-Edda als Hauptgott der Æsir zu verwenden. Gylfi scheint im Aufeinandertreffen der Reifriesen und des neuen Mischgeschlechts der Æsir ein gewisses Konfliktpotential zu sehen. Þá mælti Gángleri: hvat varð þá um þeirra sætt? eða hvârir voru ríkari? Þá svarar Hár: synir Börs drápu Ými jötun, en er hann fèll, þá ljóp svâ mikit blóð or sárum hans, at með því drekktu þeir allri ætt Hrímþussa, nema einn komst undan með sínu hýski; þann kalla jötnar Bergelmi; hann fór upp á lúðr sinn ok kona hans, ok hèlzt þar, ok eru af þeim komnar Hrímþussa ættir, svâ sem hèr segir: Örófi vetra áðr væri jörð of sköpuð þá var Bergelmir borinn; þat ek fyrst of man, er sá hinn fróði jötunn á var lúðr of lagiðr. 181 [Darauf sprach Gángleri: Wie stand es damals um ihren Frieden? Oder wer von ihnen war mächtiger? Darauf antwortet Hár: Die Söhne Börs erschlugen den Riesen Ýmir, und als er stürzte, da lief so viel Blut aus seinen Wunden, dass sie damit das ganze Geschlecht der Reifriesen ertränkten, außer einer kam davon mit seinem Hausvolk; diesen nennen die Riesen Bergelmir. Er ging auf seine Mahlkiste mit seiner Frau zusammen und wurde dadurch gerettet. Und von ihm stammen die Geschlechter der Reifriesen ab, so wie es hier heißt: Unzählige Winter bevor die Erde erschaffen wurde einen Menschen handelt. Zu den unterschiedlichen Übersetzungsmöglichkeiten siehe unter dem Lemma maðr in: Baetke: Wörterbuch zur altnordischen Prosaliteratur, S. 399f. 180 Die Namen der drei Brüder weisen eine bemerkenswerte Parallele zur christlichen Trinität von Gott Vater, Sohn (Jesus Christus, der auch als Wille des Vaters gilt) und Heiligem Geist auf, denn wenn man Óðinn mit Allföðr gleichsetzt, wie dies an späterer Stelle in der Prosa-Edda getan wird, und Vili (der Wille) und Vé (das Heiligtum) hinzunimmt, sind sich die beiden Konzepte sehr ähnlich. Siehe dazu unter dem Lemma Vili: Edda. Prologue and Gylfaginning. [Faulkes], S. 178. 181 Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 46-48. 2.3 Der Anfang im Narrativ 91 da wurde Bergelmir geboren; das ist das erste, woran ich mich erinnere, ist dies, dass dieser kundige Riese auf eine Mahlkiste gelegt wurde.] In der Erzählung Hárs spiegelt sich ganz deutlich das Narrativ zur Sintflut, welches schon im Prolog Verwendung fand. Bei der Erschlagung Ýmis durch die drei Söhne Börrs tritt so viel Blut aus dem Riesen aus, dass das ganze Geschlecht der Reifriesen, bis auf den weisen Bergelmir, der sich mit seiner Frau auf einer Unterlage der Mühlsteine retten kann, darin ertrinkt. Bergelmir löst somit durch sein Überleben den getöteten Ýmir als Stammvater der Reifriesen ab. Das Narrativ nimmt damit, in Anlehnung an die Sintfluterzählung aus dem Prolog, eine neue, seriell oder sequenziell gestaltete Anfangssetzung vor, wobei die neue Topographie nach der Überschwemmung mit einer neuen Genealogie enggeführt wird. Die eingefügte eddische Strophe, von der nicht gesagt wird, dass sie dem Wortlaut der Strophe 35 der Vafðrúðnismál 182 entspricht, verweist darauf, dass die Erschaffung der eddischen Welt zum Zeitpunkt der Geburt Bergelmirs noch nicht stattgefunden hat. Zudem wird in der strophischen Version des Narratives die Erzählung um die Aussage erweitert, dass Bergelmir von einer nicht genannten Person auf die als Floß verwendete Unterlage der Mühlsteine, bzw. die Mahlkiste, gelegt wurde. Diese aktive Aussetzung des Riesen erinnert an jenes Motiv der Rettung durch Aussetzung, das unter Anderem in der alttestamentarischen Erzählung von Mose verwendet wird. 183 Erst die nächste Frage zu den weiteren Ereignissen rund um Óðinn, Vili und Vé, bringt Hár dazu, von der eigentlichen eddischen Kosmogonie zu erzählen: Þá svarar Gángleri: Hvat höfðust þá at Börs synir, ef þú trúir at þeir sè guð? Hár segir: eigi er þar lítið af at segja; þeir tóku Ými ok fluttu í mitt Ginnúnga-gap, ok gerðu af honum jörðina; af blóði hans sæinn ok vötnin, jörðin var gör af holdinu, en björgin af beinunum, grjót ok urðir gerðu þeir af tönnum ok jöxlum, ok af þeim beinum er brotin voru. Þá mælti Jafnhár: af því blóði, er or sárum rann ok laust fór, þar af gerðu þeir sjá þann, er þeir gerðu, ok festu saman jörðina, ok lögðu þann sjá í hring utan um hana; mun þat flestum manni úfæra þykkja at komast þar yfir. Þá mælti Þriði: tóku þeir ok haus hans, ok gerðu þar af himin, ok settu hann upp yfir jörðina með IV skautum, ok undir hvert horn settu þeir dverg; þeir heita svâ: Austri, Vestri, Norðri, Suðri; þá tóku þeir síur ok gneista þá, er lausir fóru, ok kastað hafði or Muspells heimi, ok settu á miðjan ginnúnga himin bæði ofan ok neðan, til at lýsa himin ok jörð; þeir gáfu staðar öllum eldíngum, sumum á himni, sumar fóru lausar undir himni, ok settu þó þeim stað ok sköpuðu gaungu þeim. Svâ er sagt í fornum vísindum, at þaðan af voru dægr greind ok áratal, svâ sem segir í Völuspá: Sól þat nè vissi hvar hon sali átti, máni þat nè vissi hvat hann megins átti, stjörnur þat nè vissu, 182 Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 51. 183 Siehe dazu auch die Anmerkungen 4 und 6 in: Gylfaginning. [Lorenz], S. 155-157. 2 Anfänge und Anfangssetzungen 92 Svâ var áðr en þetta væri of jörð. 184 [Darauf antwortet Gángleri: Was geschah dann mit Börs Söhnen, wenn du glaubst, dass sie Götter seien? Hár sagt: Nicht wenig ist davon zu erzählen. Sie nahmen Ýmir und beförderten ihn mitten ins Ginnúnga-gap und machten aus ihm die Erde: aus seinem Blut das Meer und die Gewässer, die Erde wurde aus dem Fleisch gemacht, aber die Berge aus dem Gebein, Steine und Geröll machten sie aus den Zähnen und den Backenzähnen und aus den Gebeinen, die zerbrochen waren. Da sprach Jafnhár: Von dem Blut, dass aus den Wunden rann und ungehindert floß, schufen sie jenes Meer, welches sie machten und mit der Erde zusammen befestigten. Und sie legten dieses Meer rings um sie herum. Den meisten Menschen wird es unmöglich erscheinen, dieses zu überqueren. Darauf sprach Þriði: Sie nahmen auch seinen Schädel und schufen daraus den Himmel und stellten ihn auf vier Ecken über der Erde auf. Und in jede dieser Ecken stellten sie einen Zwerg; diese heißen so: Austri, Vestri, Norðri, Suðri. Dann nahmen sie diese Glutteilchen und Funken, welche sich ungehindert bewegten und aus Muspells heimr geschleudert wurden, und setzten sie mitten in den Ginnúnga-Himmel, sowohl darüber wie auch darunter, um Himmel und Erde zu beleuchten. Sie gaben allen Feuern Orte, einigen am Himmel, einige bewegten sich ungehindert unter dem Himmel. Und sie gaben ihnen so ihren Platz und schufen ihren Lauf. So wird in alten Offenbarungen berichtet, dass dadurch die Tageszeiten eingeteilt wurden und auch die Zählung der Jahre, so wie es in der Völuspá heißt: Die Sonne wusste nicht, wo sie ihren Raum hatte, der Mond wusste nicht, was er für eine Kraft hatte, die Sterne wussten nicht, wo sie ihren Platz hatten. So war es zuvor, ehe sich dies über der Erde ereignete.] Obwohl Gylfi nicht danach fragt, wird ihm nun eine Schöpfungsgeschichte erzählt, die wiederum gespiegelte Versatzstücke eines aus dem Prolog bekannten Narratives beinhaltet. Óðinn, Vili und Vé schöpfen die Erde aus Ýmis Körper, indem sie ihn zerteilen und aus den verschiedenen Körperteilen und deren Bestandteilen die Welt formen. Zuerst beschreibt das Narrativ, woraus die einzelnen Komponenten, die den Kosmos bilden, bestehen. 185 Das Blut, das zuvor schon bei der Sintflut Verwendung fand, wird zu Wasser, das Fleisch zur Erde, Knochen werden zu Bergen, Zähne und Knochensplitter zu Steinen und Geröll. Im Gegensatz zur Textstelle im Prolog, bei der die 184 Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 48-50. 185 Die weiter oben diskutierte Position von Lönnroth, dass in der V ǫ lospá die Welt aus dem Chaos geschöpft werde, kann für die Prosa-Edda so nicht übernommen und bestätigt werden, wenn man bedenkt, dass schon vor der Kosmogonie gewisse Strukturen, von Niflheimr und Muspell über die Beschreibung und Bevölkerung des Ginnungagaps, vorhanden waren. Eher findet in der Prosa-Edda eine Umformung der bestehenden Topographien statt, wenn aus Ýmir, als Teil der bestehenden Welt, eine neue erschaffen wird. Zur Chaos/ Kosmos These in der V ǫ lospá siehe: Lönnroth: The Founding of Miðgarðr (V ǫ luspá 1-8), S. 15f. hvar þær staði áttu. 2.3 Der Anfang im Narrativ 93 Menschen, die ihren Schöpfer vergessen hatten, in der Natur nur Ähnlichkeiten zu Körperteilen sehen, geschieht hier eine Art umgekehrte Transsubstitution, wenn aus dem in der Diegese realpräsenten Körper Ýmis die Welt erschaffen wird. Eine erste geographische Strukturierung der eddischen Topographie, wie sie in der Prosa-Edda beschrieben wird, kommt in der darauffolgenden Replik von Jafnhár zum Ausdruck. Das Meer wird als rings um die Erde fließend beschrieben, was im Gegenzug auch die Erde selbst als rund erscheinen lassen würde. Auch die Aussage von Þriði, dass der Schädel des Riesen, der den Himmel bildet, auf vier Ecken der Welt gesetzt wurde, die von Zwergen gebildet werden, welche die Namen der Himmelsrichtungen tragen, gibt Aufschluss über die Geographie dieses neuen Kosmos. Erst durch die Platzierung der Glutteilchen und Funken am Himmel und der Bestimmung ihrer Umlaufbahnen werden die Tageszeiten und eine Zeitmessung möglich. Dass eine Zeitrechnung vor der Erschaffung der Gestirne nicht denkbar war, wird durch das umgestellte Zitat eines Teils der Strophe 5 der V ǫ lospá konstatiert. 186 Noch ausführlicher wird die Topographie im folgenden Textausschnitt beschrieben, mit dem die räumliche Strukturierung des eddischen Kosmos vorerst beendet wird: Þá mælti Gángleri: þetta eru mikil tíðindi er nú heyri ek; furðu mikil smíð er þat, ok hagliga gert. Hvernig var jörðin háttuð? Þá svarar Hár: hon er krínglótt utan, ok þar utan um liggr hinn djúpi sjár, ok með þeirri sjávarströndu gáfu þeir lönd til bygðar jötna ættum; en fyri innan á jörðunni gerðu þeir borg umhverfis heim fyrir úfriði jötna, en til þeirrar borgar höfðu þeir brár Ýmis jötuns, ok kölluðu þá borg Miðgarð. Þeir tóku ok heila hans ok köstuðu í lopt, ok gerðu af skýin, svâ sem hèr segir: Or Ýmis holdi var jörð of sköpuð, en or sveita sjár; björg or beinum, baðmr or hári, en or hausi himinn; en or hans brám gerðu blíð regin Miðgarð manna sonum; en or hans heila voru þau hin harðmóðgu ský öll of sköput. 187 [Darauf sprach Gángleri: Dies sind bedeutende Neuigkeiten, von denen nun höre. Eine außerordentlich große Arbeit ist das und geschickt gemacht. Auf welche Weise war die Erde geordnet? Darauf antwortet Hár: Sie ist kreisförmig auf der Außenseite und ringsum liegt das tiefe Meer. Und an ihren Meeresufern gaben sie den Geschlechtern der Riesen Land zum Besiedeln. Aber innerhalb der Erde errichteten sie einen Wall rings um die Welt, gegen die Angriffe der Riesen, und für diese Verschanzung verwendeten sie die Wimpern des Riesen Ýmir und diese Befestigung nannten sie Miðgarðr. Sie nahmen auch sein Hirn 186 Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 2. 187 Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 50-52. 2 Anfänge und Anfangssetzungen 94 und schleuderten es in die Luft und machten daraus die Wolken, so wie es hier heißt: Aus Ýmirs Fleisch wurde die Erde erschaffen, aber aus Blut das Meer; Felsen aus Gebein, Bäume aus Haar, aber aus dem Schädel der Himmel; und aus seinen Wimpern machten die freundlichen Götter Miðgarðr den Menschensöhnen; aber aus seinem Hirn wurden da all die überaus rauen Wolken geschaffen.] Die Gestalt der Erde, die hier vermittelt wird, entspricht dem Abbild dessen, was zuvor im Narrativ schon behandelt wurde: Die Erde ist außen kreisförmig und von einem tiefen Meer umgeben. 188 Weiter beschreibt Hár, dass die Länder, die an den Stränden, beziehungsweise am Meer liegen, von den Riesen bewohnt seien und die Menschen in der Mitte der Erde leben. Zum Schutz vor den Angriffen der Riesen bauen Óðinn, Vili und Vé einen Wall aus Ýmis Augenbrauen oder Wimpern, den sie Miðgarðr nennen. Die Erzählung wird durch zwei Strophen aus der Grímnismál gestützt, die weiter oben schon eingehend diskutiert wurden, als gezeigt wurde, dass Miðgarðr auf zwei verschiedene Konzepte, sowohl auf die Erde in ihrer Gesamtheit als auch auf eine Einfriedung oder ein umzäuntes Gebiet, referieren kann. Die Gliederung der Weltteile wird kurz darauf weiter ausdifferenziert, wenn erzählt wird, dass die drei Söhne Bors in der Mitte der Welt eine Burg errichten, die sie Ásgarðr nennen, und von dem Hár sagt, dass er und die beiden anderen Erzählinstanzen dieses Trója nennen würden. 189 Damit knüpft das Narrativ wieder an jener Stelle des Prologs an, als Óðinn und seine Gefolgschaft aus Trója wegzogen, um sich im Norden Europas vergöttlichen zu lassen. Durch diese Überblendung des menschlichen Óðins aus dem Prolog, mit dem in der Erzählung zur Divinität stilisierten Óðinn, wird die euhemeristische Tendenz des Textes deutlich verstärkt. Zudem wird durch die Identifikation von Ásgarðr als Trója dieses durch die geographische Lokalisierbarkeit räumlich fassbar gemacht und sowohl aus dem ungegliederten Erdenkreis der eddischen Topographie als auch aus dem Svíþjóð 190 der Rahmenerzählung herausgelöst. Es darf jedoch nicht außer Acht gelassen werden, dass die gesamten Narrative, die die Asenkönige 188 Das Adjektiv kringlóttr, welches die Form der Erde beschreibt, kann hier entweder im Sinne von kreisförmig oder rund gelesen werden. Siehe dazu unter dem Lemma kringlóttr in: Baetke: Wörterbuch zur altnordischen Prosaliteratur, S. 343. Dabei bleibt unklar, ob die von Hár geschilderte Erde die Gestalt einer Kugel oder einer Scheibe hat. Zur Diskussion bezüglich möglicher Vorstellungen der Erde in der Prosa-Edda siehe unter Anderem: Holtsmark, Anne: Studier i Snorres mytologi. Universitetsforlaget, Olso 1964, S. 32; sowie die Anmerkung 2 in: Gylfaginning. [Lorenz], S. 161. 189 Ebd., S. 13. Diese Synonymiebildung zwischen Ásgarðr und Trója lässt sich an dieser Stelle nur in den Redaktionen R, T und W finden. In der Redaktion U ist sie einzig im Prolog vorhanden, jedoch nicht an dieser Stelle der Gylfaginning. Siehe dazu: The Uppsala Edda. [Heimir Pálsson], S. 20. 190 Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 30. 2.3 Der Anfang im Narrativ 95 im Text vermitteln, innerhalb einer Illusion, die den intradiegetischen Erzählraum der Rahmung bildet, geäußert werden. 2.3.7 Ein neuer Anfang in der Gylfaginning Nach der Erzählung über ragnarökr, 191 dem Weltuntergang in den eddischen Mythen, interessiert sich Gylfi dafür, ob danach noch Götter lebten und ob überhaupt noch eine Erde und ein Himmel existieren würden, wenn die ganze Welt verbrannt sei. Þá mælti Gángleri: hvârt lifa nokkvor goðin þá? eða er þá nokkvor jörð eða himinn? Hár segir: Upp skýtr jörðunni þá or sænum, ok er þá græn ok fögr; vaxa þá akrar ósánir. Víðarr ok Váli lifa, svâ at eigi hefir særinn ok Surta logi grandat þeim, ok byggja þeir á Íðavelli, þar sem fyrr var Ásgarðr, ok þar koma þá synir Þórs, Móði ok Magni, ok hafa þar Mjöllni. Þvínæst koma þar Baldr ok Höðr frá Heljar: setjast þá allir samt, ok talast við, ok minnast á rúnar sínar, ok ræða of tíðindi þau, er fyrrum höfðu verit, ok Miðgarðsorm, ok um Fenris-úlf; þá finna þeir í grasinu gulltöflur þær, er Æsirnir höfðu átt. 192 [Darauf sprach Gángleri: Leben dann noch irgendwelche Götter? Oder gibt es dann noch irgendeine Erde oder einen Himmel? Hár erwidert: Die Erde taucht dann aus dem Meer auf und ist dann grün und herrlich, Feldfrüchte wachsen dann ungesät. Víðarr und Váli leben, weil weder das Meer noch Surts Flammen ihnen Schaden zufügten, und sie siedeln auf Íðavöllr, dort wo zuvor Ásgarðr war. Und dann kommen die Söhne Þórs, Móði und Magni, und besitzen dann Mjöllnir. Als nächste kommen da Baldr und Höðr aus Hel: sie setzten sich alle zusammen, unterhalten sich und erinnern sich des geheimen Wissens. Und sie reden von den Ereignissen, die vorher geschehen waren, von der Midgardschlage und vom Fenris-Wolf. Dann finden sie im Gras die goldenen Spielsteine, die die Asen besessen hatten.] Hár prophezeit hier eine Wiedergeburt oder Rekonstruktion der Welt aus dem Meer, auf deren Erde, die grün und schön genannt wird, Getreide wachsen wird, das nicht angepflanzt werden musste. Die Kosmogonie scheint autark und autopoietisch, ohne eingreifende schöpfende Kraft oder Macht vonstatten zu gehen. Nur Götter der zweiten Generation, also die Kinder von Óðinn und Þórr, überleben den Weltuntergang oder kehren aus dem Totenreich Hel zurück. Als Wohnstätte dient auch der neuen Generation der freie Platz Iðavöllr, der zuvor schon in Ásgarðr das geographische, wie auch gesellschaftliche Zentrum der Topographie bildete. Von der Zeit vor dem Untergang der Welt bleiben den neuen Göttern nur Þórs Hammer, Mjöllnir, ihr geheimes Wissen und die Geschichten aus der Vergangenheit, sowie ein goldenes Brettspiel 191 In der Referenzedition findet sich nebst der hier verwendeten Schreibweise auch die Form ragnarökkr. Für die Belegstellen der unterschiedlichen Schreibweisen vgl. im Index Generalis unter dem Lemma Ragnarökkr in: Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 3. [Legati Arnamagnæani], S. 833. Die Haupthandschriften der Prosa-Edda beinhalten die Schreibweisen ragna ravkr (R), ragnarauckr (T), ragna rokkr (W) und ragna rackr (U). In der Lieder-Edda wird es ragna r ǫ cr geschrieben. 192 Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 200-202. 2 Anfänge und Anfangssetzungen 96 übrig, welches sie im Gras finden. Über die Topographie dieser neuen Erde, die sich aus dem Meer erhoben hat, werden keine weiteren Angaben gemacht. Der Raum der eddischen Mythen scheint bis auf die von den Asen noch immer erinnerten Narrative geglättet zu sein und ist somit bereit, um neu erschrieben und über neue Narrative topographisch ausgestaltet zu werden. Nachdem Gylfi von dieser Rekonstruktion der Kosmogonie erfahren hat, löst sich die ihm vorgespiegelte Sinnestäuschung um ihn herum auf und auch er steht auf einem leeren Feld. Því næst heyrði Gángleri dyni mikla hvern veg frá sèr, ok leit út á hlið sèr; ok þá er hann sèst meirr um, þá stendr hann úti á slèttum velli; sèr þá önga höll ok önga borg. Gengr hann þá leið sína braut, ok kemr heim í ríki sitt, ok segir þau tíðindi er hann hefir sèt ok heyrt, ok eptir honum sagði hverr maðr öðrum þessar sögur. En Æsir setjast þá á tal ok ráða ráðum sínum, ok minnast á þessar frásagnir allar, er honum voru sagðar, ok gefa nöfn þessi hin sömu, er áðr eru nefnd, mönnum ok stöðum þeim er þar voru, til þess, at þá er lángar stundir liði, at menn skyldu ekki ifast í, at allir væri einir þeir Æsir, er nú var frá sagt, ok þessir, er þá voru þau sömu nöfn gefin. Þar var þá Þórr kallaðr, ok er sá Ása-Þórr, hinn gamli sá er Öku-Þórr, ok honum eru kennd þau stórvirki er Ektor gerði í Trójo. En þat hyggja menn, at Tyrkir hafi sagt frá Úlixes, ok hafi þeir hann kallat Loka, þvíat Tyrkir voru hans hinir mestu úvinir. 193 [Als nächstes hörte Gángleri großen Lärm aus allen Richtungen um sich herum und er wandte sich suchend zur Seite; aber als er sich mehr umsah, da stand er draußen auf einem flachen Feld; erblickte da keine Halle und keine Burg. Da ging er seines Weges und kam heim in sein Reich und erzählte jene Neuigkeiten, die er gesehen und gehört hatte, und nach ihm erzählte ein Mensch dem anderen diese Geschichten. Aber die Asen setzten sich zum Gespräch zusammen und hielten Rat darüber ab und erinnerten sich an alle die Geschichten, die ihm erzählt wurden, und sie gaben dieselben Namen, jenen die vorher genannt wurden, den Menschen und Orten, die da waren, damit dann, wenn eine lange Zeit vergangen wäre, die Menschen nicht daran zweifeln sollen, dass alle dieselben Asen seien, von denen nun erzählt wurde, und jenen, denen da dieselben Namen gegeben wurden. Da wurde dann Þórr benannt, und er ist der alte Asen-Þórr, der auch Öku-Þórr ist, und von ihm sind jene Großtaten bekannt, die Ektor in Troja vollbrachte. Aber die Leute meinen, dass die Türken von Úlixes erzählten, und dass sie ihn Loki nannten, weil die Türken seine größten Feinde waren.] Die Vermittlung der Geschichten, die Gylfi von den Asenkönigen erzählt bekommen hat, glückte allem Anschein nach, da er sich aufmacht, um dieselben Erzählungen in seinem Reich zu kolportieren, worauf auch diese Rezipienten die von Gylfi gehörten eddischen Mythen weiter erzählen. Die Asenkönige setzen sich zusammen und beraten darüber, wie sie nun mit den Geschichten, die sie Gylfi erzählten, weiter verfahren sollen. Das Narrativ zeigt eine bemerkenswerte Selbstreferenzialität, wenn beschrieben wird, dass die Asenkönige erkennen, dass diese Geschichten erst dann glaubwürdig und für die Rezipienten erinnerbar werden, wenn sie Personen und Orte gemäß 193 Ebd., S. 204-206. 2.3 Der Anfang im Narrativ 97 ihren Erzählungen benennen. Dieser performative Akt, den sie intradiegetisch vornehmen, spiegelt gleichzeitig den materiellen Text an sich wieder, da erst durch dessen verschriftlichte Existenz die eddischen Mythen in der Form der Prosa-Edda bekannt sind. Die Räume und Topographien der eddischen Mythen, wie sie im Narrativ der Prosa-Edda wiedergegeben sind, werden so als während der intradiegetischen Erzählung fingierte markiert. Durch den Rückgriff auf das Trója-Narrativ aus dem Prolog bricht der Text erneut mit der innerhalb des Erzählraums der Rahmung entwickelten Mythologie, indem er die in den eddischen Mythen als Götter dargestellten Figuren wieder auf euhemeristische Weise zu Helden aus der Antike werden lässt. Das eddische Pantheon wird nicht nur auf eine profane Ebene heruntergebrochen, sondern zudem in einen gewissermaßen historischen Kontext eingebettet, was die Geschichten in eine Zeitachse einbindet, worüber die, in den eddischen Mythen intendierte, quasi-zyklische Zeitenfolge negiert wird. Durch das Anknüpfen der erzählten eddischen Mythen an Trója entsteht zudem eine paradoxe Raumsituation. Weder das Ásgarðr der Asenkönige, welches der Rahmenerzählung zufolge in Schweden lokalisiert wird und schon vor den Erzählungen der Asenkönige von Gylfi als real anerkannt wurde, noch das von ihnen postulierte Ásgarðr innerhalb der intradiegetischen eddischen Topographie, würde in seiner Räumlichkeit bestehen bleiben, wenn es gänzlich mit Trója substituiert wird. 2.3.8 Fazit zu den Anfangsnarrativen in der Prosa-Edda Im Gegensatz zu den eher diffusen Kosmogonien und Anfangssetzungen, wie sie in den besprochenen Texten der Lieder-Edda präsentiert werden, sind jene in der Prosa- Edda stärker prozessual und bildlich dargestellt. Die Topographien der eddischen Mythen werden in der Prosa-Edda, was ihre Entstehung angeht, nicht, wie in den eddischen Liedern, als eine im Erzählraum auf einer zeitlichen Ebene liegende Reihung, sondern beinahe als Schlaufen dargestellt, deren Narrative sich immer wieder überlagern und ineinander übergehen. Von einer deutlich der christlichen Tradition verpflichteten Schöpfungsgeschichte ausgehend, wird diese erste Kosmogonie durch die Sintflut verbaliter überschwemmt, um einer neuen Auffassung der Umwelt, die in Analogie zu einem Lebewesen gesehen wird, Platz zu machen. So sind es dann sprachliche Prozesse, die zu einer neuen Anfangssetzung beitragen, die über Vergleiche von Phänomenen in der Natur und anthropomorpher Strukturen zustande kommt. Mit raumstrukturierenden Mitteln, wie sie auch in der zeitgenössisch-spät mittelalterlichen Kartographie zu beobachten sind, wird die beschriebene Welt in Kontinente gegliedert und mit Narrativen versehen. Das antike Trója dient als Ausgangspunkt, um das eddische Pantheon euhemeristisch zu erklären und, im Sinne einer Ansippung, die Königslinien und Herrschaftsgebiete in Nordeuropa zu begründen. So weist der Text selbst auf die performative Möglichkeit hin, dass mittels Sprache Narrative in die Landschaften eingeschrieben werden können. Eine weitere Schöpfung, sowohl im sprachlich-performativen als auch handelnd Sinne, wird als Ätiologie zu Beginn der Gylfaginning in der Gefjun-Erzählung präsentiert. Das Narrativ dieser Herkunftslegende wird, wie gezeigt wurde, in zwei verschiedenen medialen Ausprägungen, einer prosaischen und einer skaldischen, dargelegt. Nach diesen unterschiedlichen Anfängen und Schöpfungen, die als Rahmung die eigentliche Gylfaginning einfassen, beginnt sich der Text seines fiktiven Charakters bewusst zu werden. Das Narrativ setzt an, eine Illusion zu erschaffen, in welcher der - 2 Anfänge und Anfangssetzungen 98 weitere Verlauf der Erzählung eingebettet ist. Im so eröffneten Erzählraum versuchen die drei Asenkönige Gylfi von ihren Erzählungen rund um das eddische Pantheon zu überzeugen. Sie nutzen nochmals das christlich geprägte Schöpfungsnarrativ, welches schon zu Beginn des Prologs Verwendung fand, doch hält dieses den kritischen Fragen Gylfis nicht stand. Die Asenkönige rücken jedoch von ihrer ersten Version einer Schöpfung langsam ab und verwenden immer wieder Zitate aus eddischen Liedern, um ihre Aussagen über die neu fingierten Kosmogonien zu stützen. Es kommt auch vor, dass die Narrative zu minimalistisch ausformuliert sind, um eine vollständige Kosmogonie für den weiteren Verlauf des Narratives zu legitimieren, sodass davon abgewichen und eine plausiblere und detailliertere Version präsentiert wird. So versuchen sie, mittels eines neuen Narratives, welches die Erde in zwei elementare Pole und eine dazwischenliegende Leere einteilt, eine eigenständige Kosmogonie zu fingieren. Dabei verknüpfen sie auf der zeitlichen Ebene die Entstehung der Welt mit der Prophezeiung ihres Untergangs. Die Einführung des Urwesens Ýmir und dessen Opponenten Óðinn, Vili und Vé, die Gylfi als Götter anerboten werden, bietet dem Text die Möglichkeit, das Narrativ der eigentlichen eddischen Kosmogonie zu entwickeln, welche sehr ausführlich beschrieben wird. Doch nach der Schöpfungsgeschichte nimmt die Erzählung wieder ein Narrativfragment aus dem Prolog auf, indem die eben erst zu Gottheiten erhobenen Æsir wieder zu Menschen in Trója gemacht werden. In seiner spielerischen Illusion bricht der Text wieder mit der Kosmogonie, die er eben erst erschrieben hat. Schlussendlich, nachdem sich die den Erzählraum bildende Illusion zwar aufgelöst hat, doch vom betrogenen Gylfi nicht als solche erkannt wird, kolportiert dieser das Gehörte, ganz im Sinne der intradiegetischen Erzählinstanzen. Diese wiederum erkennen, dass ihre Narrative nur dann Bestand haben werden, wenn diese über Repräsentationen in die Umwelt ausserhalb der Erzählung und durch das Benennen von Orten oder Personen in die extradiegetische Topographie eingeschrieben werden. Dieser performative Akt des Einschreibens der eddischen Mythen in die Topographie verweist auf einer Metaebene auf das narratologische Gestaltungsprinzip des Textes der Prosa-Edda selbst, durch deren Verschriftlichung oder Tradierung das Erschriebene erst zum Mythos wurde. Durch den erneuten Rückgriff auf das Trója- Narrativ oder gar den sich daraus bildenden Topos wird das Erzählte wiederum auf euhemeristische Weise verformt, in einen quasi-historischen Zeitverlauf eingebettet und geographisch lokalisierbar gemacht. Zudem eröffnet sich dadurch ein räumliches Paradox, wenn das Ásgarðr der Rahmenerzählung und jenes der eddischen Mythen mit Trója substituiert wird. 3 Die Entwicklung der Topographien der eddischen Mythen 3.1 Vorüberlegungen zur Entstehung und Entwicklung topographischer Strukturen Im vorhergehenden Kapitel konnte gezeigt werden, wie Anfangssetzungen und Anfänge in den verschiedenen Narrativen zu den Kosmogonien in den eddischen Texten räumliche Strukturen erschaffen und welche narratologischen Mittel Verwendung finden. Dabei wurden bewusst nur Anfänge und deren Umformungen und Überlappungen betrachtet, um zu erörtern, mittels welcher Verfahren die Texte, sowohl auf materieller als auch auf inhaltlicher Ebene eine Welt erschreiben, die als Diegese genutzt werden kann. Im folgenden Kapitel werden nun, ausgehend von diesen unterschiedlichen Diegesen, weitere Beispiele aus den eddischen Texten behandelt und auf die Entwicklung und Entstehung topographischer Strukturen hin analysiert und diskutiert. Besonders die Ansätze von Miller, Meurer, Borsò und Nünning werden, wie sie in der Einleitung beschrieben wurden, in die Betrachtung der einzelnen Narrative einfließen. Diese werden dazu genutzt, um aufzuzeigen, wie die Topographien der eddischen Mythen, nachdem sie durch die Kosmogonien determiniert wurden, durch die Erzählung und während des Erzählens weiter Form annehmen können. Ein spezielles Augenmerk liegt auf der Frage, welchen Einfluss die vorgegebenen räumlichen Strukturen auf die Ausdifferenzierung der Topographien haben und ob es den Narrativen möglich ist, eigenständige Räume zu erschaffen, die sich gänzlich oder auch nur partiell von den anfänglich postulierten Diegesen separieren können oder ob diese nur innerhalb der vorgegebenen erzählten Welten integrierend realisiert werden. Falls ein Raum als autark betrachtet werden kann, muss analysiert werden, ob diese Autonomie selbst Einfluss auf die zuvor erörterten Topographien hat oder als parallel autarke Entität existieren kann. Des Weiteren muss diskutiert werden, ob und wie sich die erschriebenen Räume der Lieder-Edda von denen der Prosa-Edda, bedingt durch die verschiedenen Textgattungen und Erzählweisen, voneinander unterscheiden. Bisher zeichnete sich ab, dass die Lieder-Edda eher eine Reihung verschiedener Mythologeme präsentiert, die einzelne Topographien für sich beanspruchen können, während die Prosa-Edda vielmehr ein Erzählgeflecht aus verschiedenen Mythen vorstellt, die eine umfassendere und in sich geschlossenere Raumstruktur verlangen, die jedoch, wie gezeigt werden konnte, immer wieder gebrochen, relativiert und in Paradoxien überführt wird. Diese Annahme soll am Ende dieses Kapitels abschließend geklärt sein. 3 Die Entwicklung der Topographien der eddischen Mythen 100 3.2 Die (Ein-)Teilung des Raumes Der Raum kann, sobald er geschaffen wurde, wie im vorherigen Kapitel schon angedeutet wurde, auf verschiedene Weisen eingeteilt und gegliedert werden. Bisher zeigte sich, dass dies mit den medialen Mitteln der Kartographie, über Herkunftslegenden oder Ansippungen, durch die Bildung von Polaritäten oder über Schichtungen und Überlappungen verschiedener Welten sowie durch horizontale Abtrennungen vollzogen werden kann. Bei jeder Teilung eines Raumes entstehen abgetrennte Bereiche, die, mit eigenen Narrativen versehen, auch eigene Topographien ausbilden können. Im Folgenden werden unterschiedliche Einteilungen betrachtet, die die Topographien der eddischen Mythen, ausgehend von den in den verschiedenen Kosmogonien konstatierten Diegesen, weiter ausdifferenzieren. Ein schon bekanntes Mittel zur Ausdifferenzierung der Welt findet in der V ǫ lospá nochmals Verwendung. Durch Benennung, also über sprachliche Performativität, wird eine Zeitlichkeit eingeführt, die den Lauf der Gestirne gliedert: Þá gengo regin ǫ ll á r ǫ cstóla, ginnheilog goð, oc um þat gættusz: nótt oc niðiom n ǫ fn um gáfo, morgin héto ok miðian dag, undorn oc aptan, árom at telia. 1 [Dann gingen alle lenkenden Mächte zum Richtstuhl, die hochheiligen Götter, und darüber beratschlagten sie: Nacht und ihren Nachkommen gaben sie Namen, Morgen benannten sie und Mitte des Tages, Nachmittag und Abend, um die Jahre zu zählen.] In dieser Strophe der V ǫ lospá wird jedoch nicht nur eine Möglichkeit zur Zeitrechnung eingeführt, nachdem Burrs Söhne den Kosmos schufen. Wichtiger scheint, dass die bisher sehr unbestimmten schöpfenden Figuren vom Narrativ nun etwas konkreter gezeichnet werden, wenn es sie als regin 2 bezeichnet. Diese unbestimmte Anzahl lenkender Mächte oder Rater und heiligsten Götter, die über die Benennung der Tageszeiten das Zählen der Jahre ermöglichen, gehen dazu zu einem r ǫ cstóll 3 , einem Richtstuhl 4 also, der nicht weiter beschrieben wird. Die ersten vier Zeilen werden in dieser Form im Text vier Mal wiederholt und bilden so ein Stef 5 , über dessen Wiederholung die Herrschaft der Götter gefestigt wird. Den ersten zwei Nennungen der Stef in den Strophen sechs und neun folgen jeweils Schöpfungsvorgänge oder performative Kategoriebildungen. Wie oben gezeigt, wird in der Strophe sechs beim Richtstuhl 1 Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 2. 2 Siehe dazu unter dem Lemma regin in: Baetke: Wörterbuch zur altnordischen Prosaliteratur, S. 489. 3 Siehe dazu unter dem Lemma r ǫ cstóll: Sveinbjörn Egilsson: Lexicon Poeticum Antiquæ Linguæ Septentrionalis, S. 476. 4 Dronke gibt an, dass es sich auch um einen Thron des Schicksals handeln könnte: The Poetic Edda. Volume II, Mythological Poems. [Dronke], S. 37. 5 Siehe dazu unter dem Lemma Stef: Simek, Rudolf und Hermann Pálsson: Lexikon der altnordischen Literatur. Die mittelalterliche Literatur Norwegens und Islands, S. 360. 3.2 Die (Ein-)Teilung des Raumes 101 die Gliederung des Tagesablaufs über eine Ordnung, welche eine Zeitrechnung erst ermöglicht, vorgenommen. Bei der zweiten Nennung des Stef in Strophe neun sind es die Zwerge, 6 über deren Erschaffung beim Gang der Götter zum Richtstuhl verhandelt wird. In den Strophen 23 und 25 hingegen beratschlagen sich die Götter über Missstände und wie diese beseitigt werden können. 7 Der Richtstuhl scheint somit sowohl eine kosmogonische Funktion zu haben als auch ein quasi-juristischer Ort zu sein, an welchem die Götter mittels sprachlicher Äußerungen neue Realitäten generieren können. Das Narrativ eröffnet durch das Stef die Möglichkeit, dass die Diegese durch die waltenden Mächte selbst ausdifferenziert wird, indem durch die mehrfache Verwendung des im Narrativ selbst generierten Textzitates eine Konstanz geschaffen wird, die gleichzeitig Abänderungen zulässt und fordert. Nach der Einführung der Zeitrechnung treffen sich die Asen, um Kultur- und Zivilisationsgüter zu erschaffen: Hittuz æsir á Iðavelli, þeir er h ǫ rg oc hof há timbroðo; afla l ǫ gðo, auð smíðoðo, tangir scópo oc tól gorðo. 8 [Die Asen trafen sich auf Iðavöllr, sie bauten Opferstätten und hohe Tempel; errichteten Essen, schmiedeten Schätze, schufen Zangen und stellten Werkzeug her.] In Strophe sieben der V ǫ lospá werden nun erstmals die Asen genannt und eingeführt, welche eigentlich durchgehend mit den oben genannten Göttern und waltenden Mächten gleichgesetzt werden. 9 Diese Analogiebildung zwischen den Asen und den zuvor als heiligste Götter bezeichneten Schöpfermächten mag logisch erscheinen, ist im Narrativ jedoch formal nicht explizit angelegt. Der Ort, an dem sich die Asen treffen, wird als Iðav ǫ llr bezeichnet, dessen Bedeutung bisher von der Forschung nicht auf befriedigende und abschließende Weise geklärt werden konnte. 10 Die Annahme, der Name könnte auf eine Veränderbarkeit und auf etwas Zyklisches hinweisen, wäre, in Anbetracht der Tatsache, dass Iðav ǫ llr nach ragnarökr von einigen Asen erneut besiedelt wird, durchaus denkbar. 11 Nach der Kosmogonie beginnt sich in Strophe sieben die Zivilisation bemerkbar zu machen. Kulturzivilisatorische Errungenschaften wie Religion und Handwerk werden beschrieben und in die Diegese eingeführt. Falls die Asen mit den Göttern gleichgesetzt werden können, so stellt sich hier die Frage, 6 Siehe dazu: Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 2. 7 Siehe für beide Strophen: Ebd., S. 6. 8 Siehe dazu: Ebd., S. 2. 9 Siehe dazu Dronke, die gar von einer Säkularisierung der Götter spricht, wenn sie bei ihrem kultischen Namen genannt werden und dennoch äußerst weltliche Handlungen vornehmen: The Poetic Edda. Volume II, Mythological Poems. [Dronke], S. 37f. 10 Siehe dazu unter dem Lemma Iðav ǫ llr: Sveinbjörn Egilsson: Lexicon Poeticum Antiquæ Linguæ Septentrionalis, S. 333, sowie Simek: Lexikon der germanischen Mythologie, S. 216. Auch Dronke versteht das Kompositum als sich veränderndes, immer in Bewegung bleibendes Feld: The Poetic Edda. Volume II, Mythological Poems. [Dronke], S. 37. Siehe dazu auch: Völuspá. [Nordal], S. 37. 11 Siehe dazu Strophe 60: Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 14. 3 Die Entwicklung der Topographien der eddischen Mythen 102 wieso die Götter Altäre und Tempel für sich selbst errichten. Dronke sieht darin eine Form der Archetypisierung, die als Beispiel für die Menschen dienen soll, um es den Asen gleichzumachen. 12 Diese These wirkt zwar auf den ersten Blick recht plausibel, doch muss die Frage erlaubt sein, wieso diese Archetypen von Tempeln und Altären vom Narrativ zehn Strophen, rechnet man die Aufzählung der Zwergennamen mitein, 13 vor der Erschaffung des ersten Menschenpaares als Musterexemplare konzipiert werden sollen. Eine andere Möglichkeit, diese Textstelle zu lesen, würde in einer Unterscheidung von den allmächtigen Göttern, die sich beim Richtstuhl versammeln, und den Asen auf Iðav ǫ llr münden. Das Narrativ müsste für eine solche Leseweise jedoch stark strapaziert werden, wie oben schon erwähnt wurde. Die Strophe acht gliedert die Topographie weiter auf, wenn die „Freizeitbeschäftigung“ der Asen eingeführt wird: Teflðo í túni, teitir vóro, var þeim vættergis vant ór gulli, unz þriár qvómo þursa meyiar ámátcar mi ǫ c, ór iotunheimom. 14 [Sie spielten Tafl auf der Wiese, sie waren heiter, ihnen fehlte es nicht an Gold, bis drei Riesenmädchen kamen, fast übermächtige, aus Jötunheimr.] Die Asen spielen ihr Tafl-Brettspiel 15 auf einer umzäunten Hauswiese oder bei einem Gehöft. Durch die Nennung von tún wird angedeutet, dass sich die Asen auch landwirtschaftlich zu betätigen scheinen, da es sich um einen Ausdruck aus der Agrarwirtschaft handelt. 16 Dennoch ist es ein inneres, abgeschlossenes Gebiet, das nicht zum äußeren, unbewirtschafteten und auch nicht direkt zum landwirtschaftlich genutzten Teil des Hofes gehört. Der Bereich, der mit tún umschrieben wird, ist sicherlich als abgetrenntes Landstück zu verstehen, welches die Topographie weiter unterteilt. Der Text legt nahe, dass die Asen Gold im Überfluss haben, was auf einen gewissen Reichtum hindeuten mag. Dronke geht in ihrer Interpretation so weit, dass sie in dieser 12 The Poetic Edda. Volume II, Mythological Poems. [Dronke], S. 37. Für weitere Interpretationsansätze siehe: Völuspá. [Nordal], S. 37f. 13 Dronke sieht in der Aufzählung der Zwergennamen eine Interpolation, die im „Original“ der V ǫ lospá nicht vorhanden gewesen sei. Für diese These gibt sie drei Gründe an: 1. Wieso soll der Dichter zuerst alle Mythen nur kurz anschneiden und danach so ausführlich auf die Zwergennamen eingehen? 2. Wieso gibt es zwei verschiedene Versionen der Schöpfung der Zwerge in den Strophen neun und zehn? 3. Wieso gibt es einen so deutlichen Bruch im Kontinuum des Narratives, wenn die Aufzählung der Zwergen endet? So interessant diese Fragen auch sein mögen, sind sie doch unerheblich wenn man sich mit den real existierenden Textquellen befasst und keine Rekonstruktion vornehmen will, da sowohl der Codex regius der Lieder-Edda als auch die Hauksbók die Zwergennamen beinhalten. Für Dronkes Argumentation siehe: The Poetic Edda. Volume II, Mythological Poems. [Dronke], S. 67f. 14 Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 2. 15 Siehe dazu: Völuspá. [Nordal], S. 38. 16 Siehe dazu unter dem Lemma tún: Baetke: Wörterbuch zur altnordischen Prosaliteratur, S. 666; sowie Nordals Kommentar zu dieser Strophe in: Völuspá. [Nordal], S. 38-40. 3.2 Die (Ein-)Teilung des Raumes 103 Szenerie Anlagen zu einem Goldenen Zeitalter erkennen will. 17 Sicher scheint, dass die Asen bis zur Peripetie in der Mitte der achten Strophe ein relativ sorgenfreies und unbeschwertes Leben führen. Dann bricht etwas von Außen in die heile Welt der Asen ein: Drei mächtige þursar-Mädchen aus I ǫ tunheimr kommen zu den Asen und scheinen durch ihre Anwesenheit das bisher autarke Kultur- und Zivilisationsgefüge aufzubrechen. Eine Erklärung, die den Besuch der Riesinnen oder Trollmädchen erläutern würde, wird nicht gegeben und man kann über die Ursache nur unnötig spekulieren. 18 Durch die Nennung der Riesinnen und ihrer Wohnstätte wird eine erneute Aufteilung der eddischen Topographie vorgenommen. Die Asen sind ab diesem Moment weder alleine auf der von ihnen erschaffenen Welt, noch besitzen sie die ganze Erde. Diese ist mindestens in zwei Gebiete aufgeteilt, von denen das eine, in dem der nach außen hin abgegrenzte Bereich von Iðav ǫ llr liegt, den Asen zugeschrieben ist. Das zweite Gebiet wird vom Narrativ als I ǫ tunheimr bezeichneter und, über die darausstammenden þursar-Mädchen, den Riesen zugeschrieben. Das Narrativ vollzieht somit selber die erste Einteilung der Topographie in der V ǫ lospá, indem es einerseits Bestehendes genauer beschreibt und so, durch die Ausformulierung des Raumes, Gliederungen vornimmt und andererseits durch die Einführung und Benennung neuer Wesen und deren Lebenswelt neue Raumstrukturen erschreibt. Die Distinktionen werden also lokal, wie auch über das Subjekt oder das Kreatürliche, im Sinne einer Abgrenzung der riesischen Geschöpfe zu einem göttlich Anderen, getätigt. Aus nicht weiter erläuterten Gründen scheint die Ankunft der Riesinnen die Götter dazu zu veranlassen, sich erneut zum Richtstuhl zu begeben: Þá gengo regin ǫ ll á r ǫ cstóla, ginnheilog goð, oc um þat gættuz, hverr scyldi dverga dróttin scepia ór Brimis blóði oc ór Bláins leggiom. 19 [Dann gingen alle lenkenden Mächte zum Richtstuhl, die hochheiligen Götter, und darüber beratschlagten sie: wer das Gefolge der Zwerge erschaffen soll aus Brimirs Blut und aus Bláinns Gebein.] Die Götter beraten, wer das Geschlecht der Zwerge aus dem Blut Brimis und den Knochen Bláins erschaffen soll. Der Name Brimir kommt in der V ǫ lospá in Strophe 37 20 nochmals vor, wo er als Bezeichnung für einen Riese benutzt wird. Bláinn wird nur in der oben genannten Strophe und im Zitat derselben in der Gylfaginning 21 erwähnt. In der Forschung werden beide Namen meist als Synonyme für den Urriesen 17 The Poetic Edda. Volume II, Mythological Poems. [Dronke], S. 37f. 18 Ebd., S. 38. 19 Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 2. 20 Ebd., S. 8. Nebst dem Zitat dieser Strophe in der Gylfaginning (Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 64) und als Bezeichnung einer Halle im zu den Skáldskaparmál gezählten Prosateil Bragaræður (Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 226) kommt der Name noch als Bezeichnung für ein Schwert im Eddabruchstück der Redaktion A (AM 748, 4to) im Lied Grímnismál und im Codex regius der Lieder- Edda im Heldenlied Sigrdrífomál vor. 21 Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 64. 3 Die Entwicklung der Topographien der eddischen Mythen 104 Ýmir gelesen, 22 da aus seinem Blut das Meer und aus seinen Knochen die Berge und Felsen geformt wurden. Ein solcher Analogieschluss würde eventuell Sinn haben, wenn man die Erdgebundenheit der Zwerge miteinschließt und sie so aus demselben Material gefertigt wären wie die Felsen, doch fehlt ihnen ein Bezug zum Meer, welcher über eine Gleichsetzung von Ýmis und Brimis Blut starkgemacht würde. Brimir und Bláinn können aber genauso wahrscheinlich zwei verschiedene Materien oder Wesen sein, aus denen die Zwerge geformt werden, ohne dass eine Gleichsetzung mit Ýmir nötig oder gar vom Narrativ gefordert wäre, insbesondere angesichts der Tatsache, dass die V ǫ lospá das Narrativ rund um die Fertigung der Welt aus dem Urriesen, wie weiter oben ausführlich diskutiert wurde, gar nicht erwähnt. In der darauffolgenden Strophe 10 wird die Schöpfung der Zwerge etwas anders beschrieben: Þar var Mótsognir mæztr of orðinn dverga allra, en Durinn annarr; þeir manlícon m ǫ rg um gorðo, dvergar, ór i ǫ rðo, sem Durinn sagði. 23 [Da war Mótsognir der beste geworden von allen Zwergen, und Durinn der zweite; viele menschenähnliche Gestalten schufen sie, Zwerge, aus Erde, wie Durinn erzählte.] Die Zwerge werden in dieser Textstelle also aus der Erde und in Menschengestalt geschaffen. 24 Dies widerspricht einerseits, wie Dronke richtig erkannte, 25 dem zuvor im Text verwendeten Schöpfungsnarrativ, andererseits wird auch hier in der Forschung immer wieder die Gylfaginning 26 hinzugezogen, um die Stelle zu erklären. In dem besagten Teil der Prosa-Edda wird beschrieben, dass sich die Zwerge aus Maden, die sich in Ýmis Fleisch eingenistet haben, entwickeln. Da bekanntlich laut der Gylfaginning und den eddischen Liedern Vafþrúðnismál und Grímnismál die Erde aus dem Fleisch des Urriesen geformt wurde, wird hier ein Zirkelschluss vorgenommen, um eine angeblich plausible Erklärung für die Strophe zu erhalten. Dabei muss wiederum angefügt werden, dass die V ǫ lospá das Weltschöpfungsnarrativ in keiner Weise mit Ýmir in Verbindung bringt. Vielmehr wird durch die Konnotation mit der Erde eine gewisse Bodenbezogenheit der Zwerge beschrieben, wie sie oben schon Erwähnung fand. So fügt sich zu den zwei bisherigen topographischen Bereichen und den dazu- 22 Siehe dazu zum Beispiel: The Poetic Edda. Volume II, Mythological Poems. [Dronke], S. 38. Dronke sieht den Grund der Götter, dass sie die Zwerge schaffen, in der Tatsache, dass die Zwerge nun Gold abbauen würden. Sie liest diese und die vorhergehende Strophe so, dass die Götter die Alleinherrschaft über das Gold verloren hätten, als die Riesinnen zu ihnen kamen und sich nun mit den Zwergen eine neue Quelle zum Abbau der Goldressourcen schafften. Oder: Völuspá. [Nordal], S. 41. 23 Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 3. 24 Die beiden Darstellungen der Schöpfung der Zwerge aus Blut und Knochen, respektive aus Erde erinnern nicht nur motivisch an eine umgekehrte Version der Schöpfung des Menschen im Paradiese - Adam aus einem Klumpen Erde und Eva aus Adams Rippe - durch Gott. Vgl.: 1. Mose 2.7 und 2.22. 25 The Poetic Edda. Volume II, Mythological Poems. [Dronke], S. 67f. 26 Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 62-64. 3.2 Die (Ein-)Teilung des Raumes 105 gehörenden Lebensformen nun eine dritte, jene der Zwerge, die in Menschengestalt womöglich in der Erde wohnen. Das Narrativ verortet jedoch die Zwerge nicht explizit in einem ihnen zugewiesenen Lebensraum. Die nächste Schöpfungsszene, die wiederum neue Wesen hervorzubringen scheint, folgt in den Strophen 17 und 18, 27 nach der Auflistung der Namen der Zwerge: Unz þrír qvómo ór því liði, ǫ flgir oc ástgir æsir, at húsi, fundo á landi, lítt megandi, Asc oc Emblo, ørl ǫ glausa. Ǫ nd þau né átto, óð þau né h ǫ fðo, lá né læti né lito góða; ǫ nd gaf Óðinn, óð gaf Hœnir, lá gaf Lóðurr oc lito góða. 28 [Bis drei aus dieser Schar kamen, mächtige und wohlwollende Asen, zum Haus, sie fanden an Land, wenig Kraft habend, Askr und Embla, schicksalslos. Seele besassen sie keine, Vernunft hatten sie keine, weder Lebenswärme noch Benehmen noch eine gute Gestalt; Seele gab Óðinn, Vernunft gab Hœnir, Lebenswärme gab Lóðurr und eine gute Gestalt.] Dieses Mikronarrativ, in dem beschrieben wird, dass drei Asen zu einem Haus kommen und dort an Land zwei als Askr und Embla benannte Entitäten finden, wird meist mit einer Stelle aus der Gylfaginning 29 gleichgesetzt. 30 Wiederum ist diese Analogie eher problematisch, da in den beiden Narrativen, jenem der V ǫ lospá und dem der Gylfaginning zwei der drei Asen unterschiedliche Namen tragen und nicht davon ausgegenagen werden darf, dass diese einfach als Synonyme betrachtet werden können. Zudem wird in der V ǫ lospá nicht explizit erwähnt, dass die beschriebenen Geschöpfe Menschen sind, noch, dass diese aus Holz gemacht wurden, wie es in der Prosa-Edda zu lesen ist. Die beiden obengenannten Strophen aus der V ǫ lospá sind deutlich obskurer als die prosaische Ausformulierung in der Gylfaginning. Dronke versucht die Textstelle aus der V ǫ lospá dahingehend zu lesen, dass sie zum Beispiel das Haus als Pars pro Toto für Miðgarðr versteht, 31 was zwar möglich ist, aber unnötig verklausuliert wäre, da bekanntlich Miðgarðr als Topos schon zuvor im Narrativ der 27 Für eine etymologische und religionskomparatistische Analyse der beiden Strophen siehe: Polomé, Edgar C.: Some Comments on V ǫ luspá, Stanzas 17-18. In: Ders.: Essays on Germanic Religion. Institut for the Study of Man, Washington, D.C. 1989, S. 30-54. (= Journal of Indo-European Studies, Monograph Number Six) 28 Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 4f. 29 Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 52-54. 30 Als eines der Beispiele für eine solche problematische Gleichsetzung siehe: Völuspá. [Nordal], S. 45-49. 31 The Poetic Edda. Volume II, Mythological Poems. [Dronke], S. 39. 3 Die Entwicklung der Topographien der eddischen Mythen 106 V ǫ lospá eingeführt und verortet wurde und somit auch als Topographie verwendet werden kann. Geht man einzig vom vorliegenden Text aus und lässt sich nicht auf die Zirkelschlüsse unter Bezugnahme auf die Gylfaginning ein, so bietet sich folgendes Bild: Drei vorerst unbenannte Asen begeben sich an einen Ort, an dem ein Haus steht, worauf sie an Land 32 Askr und Embla finden. 33 Diese beiden genannten Entitäten werden, wie es schon von der Beschreibung der Erde vor ihrer Entstehung bekannt ist, ex negativo umschrieben, bevor die drei Asen, welche nun namentlich genannt sind, Askr und Embla zum Leben erwecken. Aus dem Text selbst ist jedoch weder zu entnehmen, welcher Gattung diese neuen Lebewesen angehören, noch, ob ihnen ein eigener Lebensraum zugeteilt wird, was eine Aufgliederung der Topographie zur Folge hätte. Anhand dieses kurzen Narratives aus der Lieder-Edda lässt sich im Folgenden darlegen, wie die Prosa-Edda aus einem so verschlüsselten und knappen Mythologem eine eigene erschriebene Mythe ausformuliert: Þá svarar Hár: Þá er þeir Börs synir gengu með sævarströndu, fundu þeir trè tvö, ok tóku upp trèin, ok sköpuðu af menn; gaf hinn fyrsti önd ok líf, annarr vit ok hræríng, III ásjónu, málit ok heyrn ok sjón; gáfu þeim klæði ok nöfn: hét karlmaðrinn Askr, en konan Embla, ok ólusk þaðan af mannkindir, þeim er bygðin var gefin undir Miðgarði. 34 [Da antwortet Hár: Als die Söhne Börrs am Meeresstrand entlang gingen, fanden sie zwei Holzstücke und nahmen die Holzstücke und schufen daraus Menschen. Der erste gab Seele und Leben, der zweite Verstand und Bewegung, der dritte Aussehen, Sprache und Gehör und Sehvermögen; sie gaben ihnen Kleidung und Namen: der Mann hieß Askr, aber die Frau Embla, und von ihnen stammen die Menschengeschlechter ab, denen bewohnbares Gebiet unterhalb von Miðgarðr gegeben wurde.] 32 Die Formilierung á landi kann unterschiedlich interpretiert werden und entweder darauf hinweisen, dass die Asen die leblosen Entitäten Askr und Embla „auf dem Boden“ fanden oder dass dies „an Land“ - im Gegensatz zum Wasser - geschah. Eine explizite Konnotation mit einer Grenze zwischen dem Wasser und dem Land, wie sie durch ein Ufer oder einen Strand gegeben wäre, findet sich an dieser Stelle jedoch nicht. Siehe dazu unter dem Lemma land in: Baetke: Wörterbuch zur altnordischen Prosaliteratur, S. 359f. 33 Asker wird meist als Esche übersetzt, Embla konnte bisher noch nicht sinnvoll gedeutet werden, wird aber oft in Analogie zur Esche als Ulme gelesen. Siehe dazu unter den Lexemen Askr (S. 16f.) bzw. Embla (S. 109) in: Sveinbjörn Egilsson: Lexicon Poeticum Antiquæ Linguæ Septentrionalis. Da die beiden Figuren in der Forschung meist als erstes Menschenpaar gelesen werden, werden ihre Namen, durch die Übereinstimmung der Anfangsbuchstaben, auch oft mit Adam und Eva aus der jüdisch-christlichen Tradition in Verbindung gebracht. Einen guten Überblick über Forschungsansätze zur Etymologie von Embla, insbesondere jene der letzten Jahre, bietet zudem: Elmevik, Lennart: Embla. Ett bidrag till diskussionen om den nordiska urmoderns namn. In: Reinhammar, Maj [Hrsg.]: Saga och Sed. Kungl. Gustav Adolfs Akademiens Årsbok 2012. Uppsala 2013, S. 47-53. Elmvik selbst argumentiert in seinem Aufsatz dahingehend, dass es sich bei Embla um eine Abwandlung der Bezeichnung für das weibliche Geschlechtsorgan handle. 34 Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 52-54. 3.2 Die (Ein-)Teilung des Raumes 107 In der Prosa-Edda sind es nun, der in der Kosmographie und Kosmogonie entwickelten Diegese des von ihr ausgehenden Narratives folgend, die Söhne Börs, welche zuvor als Óðinn, Vili und Vé bezeichnet werden, 35 die explizit an einen Meeresstrand kommen und dort zwei Hölzer finden, aus denen sie Menschen erschaffen. Durch die ausdrückliche Nennung eines Strandes wirkt es, als ob die dort gefundenen Hölzer angeschwemmt worden wären, wobei nicht klar wäre, von wo sie herstammen, da es gemäß der Kosmographie der Prosa-Edda, wie zuvor schon mehrfach gezeigt wurde, außerhalb der ringförmigen Erde bisher nur das Meer gibt. Die Hölzer wären somit schon Teil der Diegese gewesen, als sie gefunden wurden, wenn sie aus der durch die Asen erschaffenen Welt stammen würden. Daher wäre es fraglich, ob bei der Erschaffung des Menschen wirklich von einer Schöpfung ausgegangen werden kann oder ob es sich nicht vielmehr um eine (Um-)Formung handelte. Bei einer (Um-)Formung wäre die Materie in diesem Falle schon präprotologisch, also vor der eigentlichen Erschaffung des Menschen, existent gewesen und durch die drei Asen nur mit einer neuen Form und Funktion versehen worden, was jedoch keine Kreation im engeren Sinne darstellen würde. Den ersten Mann, den sie aus dem Holz formen, nennen sie Askr, die erste Frau Embla, und diesen geben sie Miðgarðr für sie und ihre Nachfahren zur Wohnstätte. Der Bezug zum Holz, der in der V ǫ lospá in keiner Weise explizit ist, wird hier etabliert, bevor eine Namensgebung - und damit eine mögliche Zuschreibung zu zwei Holzarten - erfolgt. Die lebensgebende Schöpfung findet direkt statt, ohne den rhetorischen Umweg über eine Beschreibung ex negativo, nachdem die ersten beiden Menschen, anscheinend zuerst noch leblos, aus dem Holz gefertigt wurden. Im Gegensatz zur Strophe in der V ǫ lospá wird das in der Gylfaginning als Menschen ausgegebene Paar erst nachträglich, nachdem es erschaffen und ins Narrativ eingeführt wurde, benannt und als Frau und Mann ausgewiesen. Die gesamte Erschaffung oder Formung der Menschen wirkt in der Gylfaginning prozessualer und, durch die Namensgebung, auch performativer als in der V ǫ lospá. Während in der V ǫ lospá eine Unterteilung der Topographie ausgespart wird, nimmt das Narrativ in der Prosa- Edda an dieser Stelle eine Gliederung des Raumes vor. So wird den Menschen ein Teil der eddischen Topographie zugesprochen, was im Gegenzug die Menschen in der erzählten Welt verortbar macht und sie für die eddische Diegese funktionalisierbar macht. Durch eine positive Reihung der Ereignisse im Narrativ, die Veränderung der Abfolge bei der Schöpfung und der spezifischen Benennung der Figuren, sowie durch die Einbettung der Szenerie in eine verständliche, da intradiegetisch schon bekannte Topographie, wird in der Prosaumformulierung ein verständlicherer und konziserer Mythos generiert. Dabei wird der Mensch als Schöpfung, sei dies nun im Sinne einer Kreation oder Formung durch die Asen oder Götter, kurzzeitig in den Fokus der Erzählung gerückt. In der V ǫ lospá sind die Menschen für das Narrativ entbehrlich, wenn nicht gar obsolet, da sie als solche gar nicht benannt werden. 35 Ebd., S. 46. 3 Die Entwicklung der Topographien der eddischen Mythen 108 3.3 Die Weltenesche und die Quellen als topographische Strukturmittel 3.3.1 Yggdrasill als lebendige vertikale Weltenachse In der V ǫ lospá folgt in Strophe 19, direkt auf die Schöpfung von Askr und Embla, die Beschreibung einer „weiteren“ Esche, dem Weltenbaum Yggdrasill: Asc veit ec standa, heitir Yggdrasill, hár baðmr, ausinn hvítaauri; þaðan koma d ǫ ggvar, þærs í dala falla, stendr æ yfir, grœnn, Urðar brunni. 36 [Eine Esche weiß ich stehen, sie heißt Yggdrasill, ein hoher Baum, besprengt mit glänzendem Nass, von dort kommt der Tau, der in die Täler fällt, immergrün steht sie über Urðrs Quelle.] Durch die Nennung von Yggdrasill 37 , von dem zu wissen die Erzählinstanz angibt, erhält die Erde, die bisher stark horizontal ausgerichtet war, eine vertikale Achse. 38 Dronke geht davon aus, dass die vorherige Episode über Askr und Embla die Erzählinstanz dazu veranlasst, sich der Esche Yggdrasils zu erinnern, und attestiert den beiden Eschen, der Figur Askr und dem Baum eine gemeinsame Verbindung im Sinne 36 Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 5. 37 Der Name des Weltenbaums wird oft als kenning gelesen, die aus einem heiti für Óðinn, Yggr, der Schreckliche, und drasill, Pferd, zusammengesetzt ist. Siehe dazu unter dem Lemma Yggdrasill: Simek: Lexikon der germanischen Mythologie, S. 494-496. Diese kenning wird dann meist aufgelöst als Galgen von Óðinn und in Verbindung mit der Selbstopferung in Hávamál Strophe 138 gebracht: Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 40. Ein anderer Ansatz geht auf indogermanische Vorstellungen zurück und ließt den Namen als vom germanischen *igwja, Eibe, und dem indogermanischen *dher-, stützen, abstammend als Eibensäule. Siehe dazu: Schröder, Franz Rolf: Ingunar-Freyr. Verlag Mohr, Tübingen 1941, S. 1-15. Für eine kurze, aber umfassende Darstellung der mythologischen Vorstellungen siehe: Andrén, Anders: I skuggan av Yggdrasil. Trädet mellan idé och realitet i nordisk tradition. In: Andrén, Anders et al. [Hrsg.]: Ordning mot kaos - studier av nordisk förkristen kosmologi. Nordic Academic Press, Lund 2004, S. 389-430, insbesondere S. 390-396. (= Vägar till Midgård, Bd. 4) Einige interessante religionskomparatistische Überlegungen zu Yggdrasill finden sich auch bei Dronke: The Poetic Edda. Volume II, Mythological Poems. [Dronke], S. 125f. Für einen sehr guten Überblick über die bisherige etymologische Forschung siehe: Elmevik, Lennart: Yggdrasill. En etymologisk studie. In: Sävborg, Daniel et al. [Hrsg.]: Scripta Islandica. Isländska Sällskapets Årsbok 58/ 2007. Uppsala 2008, S. 75-84. Elmevik argumentiert in seinem Aufsatz zudem dahingehend, dass Yggdrasill auch als „något oformligt stort och otympligt, koloss“ (Ebd., S. 81) gelesen werden könne. 38 Siehe dazu unter Anderem auch: Schjødt: Horizontale und vertikale Achsen in der vorchristlichen skandinavischen Kosmologie, S. 35-57, oder Schjødt, Jens Peter: Wilderness, Liminality, and the Other in Old Norse Myth and Cosmology. In: Feldt, Laura [Hrsg.]: Wilderness in Mythology and Religion. Approaching Religious Spatialities, Cosmologies, and Ideas of Wild Nature. De Gruyter, Berlin und Boston 2012, S. 188-190. (= Religion and Society, Bd. 55) 3.3 Die Weltenesche und die Quellen als topographische Strukturmittel 109 einer Transfiguration des entstehenden Lebens. 39 Yggdrasill wird als hoher von Wasser oder einem flüssigen Lehm benetzter Baum dargestellt, 40 von dem aus Tau in die Täler hinunter tropft. Er steht immergrün über Urðar brunnr, Urðs Quelle oder Brunnen. Das Narrativ der V ǫ lospá gibt keinen genauen Standort für den Baum an, noch wird dessen Ausmaß angegeben, doch da von ihm Tau in die unbenannten Täler tropft, scheint er sehr groß und ausladend zu sein, wie auch die oben schon erwähnte etymologische Untersuchung von Elmevik festhält. Yggdrasill wird in der V ǫ lospá noch ein zweites Mal erwähnt und als alter Baum beschrieben, der während ragnarökr zu beben und dröhnen beginnt. 41 Sigurður Nordal geht noch einen Schritt weiter, wenn er Yggdrasill, ausgehend von der oben zitierten Strophe, in „dreifacher Gestalt“ 42 in der V ǫ lospá dargestellt sieht: „[…] in der Vergangenheit, Str. 2, wo sie als Samenkorn in der Erde erscheint; in der Gegenwart, wo sie in vollem Wuchse steht; in der Zukunft, Str. 47, wo sie gealtert und ihr Ende nahe ist.“ 43 Eine solche Leseweise geht jedoch einzig von einer zeitbezogenen Konnotation des Baumes aus, welche besonders in Strophe zwei sehr zweifelhaft ist, da in deren Narrativ nicht deutlich wird, ob nun die Wurzeln, der Baum oder die verschiedenen Welten als sich unter der Erde befindend dargestellt werden. Dennoch ist die Überlegung interessant, dass der Samen des Weltenbaumes sich gemäß der Erinnerung der Erzählinstanz schon zur frühsten Zeit in der Erde befunden hätte und somit die Existenz des Baumes durch die Nennung des Samens implizit im Narrativ präsupponiert wäre. Wird hingegen die Strophe 19 als explizite Erstnennung der Weltenesche aufgefasst, so wirkt deren Erscheinen in der Erzählung sehr unvermittelt, sofern nicht von der oben genannten Leseweise von Dronke ausgegangen wird. Auffällig ist jedoch, dass keine der Leseweisen darüber hinwegtäuschen kann, dass in der V ǫ lospá kein Schöpfungsnarrativ zu Yggdrasill gegeben wird. Die Weltenesche, ob nun schon als Samenkorn oder erst als ausgewachsener Baum, scheint somit entweder performativ durch die auf die Erinnerung der Erzählinstanz zurückgeführte Nennung ins Narrativ oder über eine Autopoiesis in die Diegese eingeführt zu werden, wodurch sie für die Topographie der V ǫ lospá verwendbar gemacht wird. 3.3.2 Die Welten unter den Wurzeln Nach einer Funktionalisierung Yggdrasils als Richtplatz der Asen, die weiter unten betrachtet wird, geht das Narrativ der Grímnismál ab Strophe 31 genauer auf die Beschaffenheit der Weltenesche ein: Þriár rœtr standa á þriá vega undan asci Yggdrasils; Hel býr undir einni, annarri hrímþursar, þriðio mennzcir menn. 44 39 The Poetic Edda. Volume II, Mythological Poems. [Dronke], S. 39. 40 Zur Übersetzungsproblematik dieser Stelle siehe: Völuspá. [Nordal], S. 50f. 41 Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 11. 42 Völuspá. [Nordal], S. 49. 43 Ebd. 44 Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 63. 3 Die Entwicklung der Topographien der eddischen Mythen 110 [Drei Wurzeln erstrecken sich in drei Richtungen unter der Esche Yggdrasils; Hel wohnt unter einer, unter der zweiten Reifriesen, unter der dritten menschliche Menschen.] Drei Wurzeln des Baumes erstrecken sich in drei Richtungen, 45 die mittels ihrer Bewohner beschrieben werden, die unter den einzelnen Wurzeln leben oder sich dort befinden. Einerseits ist dies Hel, welche auf ambige Weise entweder die Totengöttin selbst oder den ihr zugeschriebenen Bereich bezeichnet, 46 andererseits sind es die Reifriesen und drittens die Menschen. Yggdrasill stützt sich, laut Grímnismál, mit seinen Wurzeln also auf diese drei Bereiche ab, die drei verschiedenen Gattungen zugeordnet werden und von denen zwei den Lebenden und einer den Toten zugehörig zu sein scheinen. Das Narrativ grenzt hier die Topographien sowohl über eine Demarkation als auch über semantische Inhalte voneinander ab. Die semantischen Abgrenzungen finden über die oben schon angedeuteten distinktiven Merkmale wie lebendig - tot (Menschen und Reifriesen im Gegensatz zu Hel) oder über im Textzusammenhang erschließbare Charakteristika wie feindlich - freundlich (Reifriesen und eventuell Hel im Gegensatz zu den Menschen) statt. Doch schon über die explizite und unterschiedliche Benennung der drei Gruppen wird eine semantische Trennung vollzogen, die eine Separation auf der sprachlich-performativen Ebene darstellt. Über eine mögliche räumliche Lagerung der drei Bereiche wird im Narrativ keine Angabe gemacht. Die einzige Aussage, die eine räumliche Aufteilung vornimmt ist die, dass die bezeichneten Lebewesen unter den drei Wurzeln angesiedelt sind. So bleibt sowohl unklar, ob diese verschiedenen Gebiete horizontal oder vertikal angeordnet vorzustellen sind, als auch, ob sie sich an ihren Grenzen oder Rändern berühren oder voneinander unabhängig und nur über den Baum miteinander verbunden gedacht sind. Auch in der Gylfaginning wird das Wurzelmotiv verwendet, um eine Gliederung verschiedener Bereiche, die in direkter Verbindung mit Yggdrasill zu stehen scheinen, vorzunehmen: […] þrjár rætr trèsins halda því upp, ok standa afar breitt: ein er með Ásum, en önnur með Hrímþussum, þar sem forðum var Ginnúnga-gap; in þriðja stendr yfir Niflheimi; […] 47 [... drei Wurzeln des Baumes halten ihn aufrecht und stehen überaus breit: eine ist bei den Asen, aber die zweite bei den Reifriesen, da wo zuvor Ginnúnga-gap war; die dritte erstreckt sich über Niflheimr; ...] 45 Für die möglichen Bedeutungsvarianten von vegr siehe unter dem Lemma vegr: Gering, Hugo: Glossar zu den Liedern der Edda (Sæmundar Edda). Zweite Auflage. Ferdinand Schöningh, Paderborn 1896, S. 185. (= Bibliothek der ältesten deutschen Litteratur- Denkmäler, Bd. 8) 46 Siehe dazu unter dem Lemma Hel in: Simek: Lexikon der germanischen Mythologie, S. 178f. Hier zeigt sich durch das verwendete Verb jedoch klar, dass es sich um die Totengöttin und nicht um deren Lebensraum handeln muss. 47 Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 68. 3.3 Die Weltenesche und die Quellen als topographische Strukturmittel 111 Wiederum werden drei Wurzen des Baumes genannt, die Yggdrasill aufrichten und sehr breit sind. Wie schon in Grímnismál wird auch im Narrativ der Prosa-Edda die mittlere der drei genannten Wurzeln als den Reifriesen zugeordnet beschrieben, jedoch wird sie genauer lokalisiert. Sie reicht laut der Erzählung dort hin, wo zuvor das Ginnúnga-gap, die Leere vor der Entstehung der Welt, lag. Dieses wurde, wie im Kapitel zur Entstehung verschiedener Welten in der Prosa-Edda behandelt, als zwischen dem heißen Pol im Süden und dem kalten Pol im Norden liegend beschrieben. Somit müsste die Wurzel, die sich bis zu den Reifriesen erstreckt, auch irgendwo in der Mitte zwischen diesen beiden Polen verortbar sein. Die erste Wurzel des Baumes liegt bei den Asen. Wie schon an früherer Stelle diskutiert, ist den Asen jener Weltteil zugeordnet, welcher laut Gyfaginning in der Mitte der Welt liegt und Ásgarðr genannt wird. 48 Die Wurzel, die als dritte genannt wird, reicht nach Niflheimr, welches auch schon zuvor besprochen wurde und den nördlichen, kalten Pol oder die Nordhälfte der Welt darstellt, aus welchem eines der beiden Elemente stammt, aus dem sich im Ginnúnga-gap der Urriese Ýmir bildet. 49 Die Problematik, die sich aus dem implizierten Zeitbezug, beziehungsweise aus einer chronologisch inkonsistenten gleichzeitigen Nennung von vor- und nachkosmogonischen geographischen Einheiten und topographischen Strukturen ergibt, wird vom Narrativ nicht kommentiert. Auch die räumliche Überlappung, durch die gleichzeitige Nennung von Ásgarðr und Ginnúnga-gap, die beide stellenweise im Narrativ als Zentrum der Welt stark gemacht werden, scheint der immanenten Logik des Narratives nicht zuwider zu laufen. Zudem macht der Text auch in der Gylfaginning nicht deutlich, ob die Strukturierung des Raumes horizontal oder vertikal vorgenommen wird. Die oben erwähnte Überlappung der beiden Gebiete von Ásgarðr und Ginnúnga-gap würde eine vertikale Lagerung als Leseweise bevorzugen, wenn man die zeitliche Inkongruenz dieser beiden Orte ausblendet. Die bisherige Betrachtung der oben genannten Bereiche der eddischen Topographie, wie sie in der Gylfaginning der Prosa-Edda erschrieben wird, legt es jedoch nahe, dass von einer horizontalen Lagerung ausgegangen werden kann, sofern man die anachronistische Nennung von Niflheimr ausblendet und die Riesen am Rande von Miðgarðr verortet, wie dies zuvor vom Narrativ vorgenommen wurde. 50 Geht man in Bezug auf die Reifriesen von einer Korrelation der Ausrichtung der Wurzel und des Randes von Miðgarðr aus, so werden diese lokal und punktuell und nicht universal im Sinne eines die Erde umfassenden oder umschließenden Lebensraums der Riesen innerhalb dieser horizontalen Raumstrukturierung verortet. Im Gegensatz zum Narrativ zur Grímnismál verknüpft jenes der Prosa-Edda die Wurzeln nicht durchgehend mit den Bewohnern von gewissen Gebieten, sondern nennt bei der ersten Wurzel nur die Bewohner, bei der zweiten die Bewohner und ein nicht mehr existentes Gebiet oder einen Vorschöpfungszustand und für die dritte nur noch ein Gebiet, welches schon vor der eigentlichen Kosmogonie existierte und von dem keine Bewohner bekannt sind. Deutlich wird jedoch, dass der Mensch, im Gegensatz zu den Erzählungen von den Wurzeln Yggdrasils, wie sie in Grímnismál Verwendung finden, für die Weltenesche, wie sie in der Prosa-Edda beschrieben wird, keine Bedeutung hat. 51 Die Erzählungen von den Wurzeln der Weltenesche scheinen 48 Ebd., S. 54. 49 Siehe dazu auch die Anmerkung 8 in: Gylfaginning. [Lorenz], S. 240-242. 50 Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 50. 51 Wellendorf schreibt dazu: „In Snorri’s description of the cosmos the gods are included at the expense of man that has been left out. Man thus does not belong in this cosmos, and the 3 Die Entwicklung der Topographien der eddischen Mythen 112 somit nicht sehr stabil zu sein, da die Beschreibungen in den Narrativen der Prosa- Edda und der Grímnismál doch stark voneinander abweichen und einzig in der Dreizahl und über die Nennung der Reifriesen eine partielle Ähnlichkeit aufweisen. Dass weder Ásgarðr noch Niflheimr in Grímnismál vorkommen, mag dem Umstand geschuldet sein, dass Niflheimr als Konzept, welches wie in der Prosa-Edda das Narrativ eines Mythos an sich knüpfen kann, gar nicht bekannt ist und Ásgarðr im gesamten Codex regius der Lieder-Edda nur zwei Nennungen 52 erfährt, wodurch auch Ásgarðr nicht zu einem solch festen Bestandteil der eddischen Topographie werden kann, wie dies in der Prosa-Edda der Fall ist. 3.3.3 Die Wesen beim Baum In Grímnismál wird in den Strophen 32-35 ausführlich dargelegt, welche Wesen auf, am und unter dem Weltenbaum leben und wie deren Beziehung zu Yggdrasill ist: Ratatoscr heitir ícorni, er renna scal at asci Yggdrasils; arnar orð hann scal ofan bera oc segia Niðh ǫ ggvi niðr. Hirtir eru oc fiórir, þeirs af hæfingar á gaghálsir gnaga: Dáinn oc Dvalinn, Duneyrr oc Duraþrór. Ormar fleiri liggia undir asci Yggdrasils, enn þat uf hyggi hverr ósviðra apa; Góinn oc Móinn - þeir ero Grafvitnis synir -, Grábacr oc Grafv ǫ lluðr; Ofnir oc Sváfnir hygg ec at æ scyli meiðs qvisto má. Ascr Yggdrasils drýgir erfiði, meira, enn menn viti; hi ǫ rtr bítr ofan, enn á hliðo fúnar, scerðir Niðh ǫ ggr neðan. 53 tree is best thought of as placed in another world, an otherworld.“ Wellendorf, Jonas: Homogeneity and heterogeneity in Old Norse cosmology. In: Andrén, Anders et al. [Hrsg.]: Old Norse religion in long-term perspectives. Origins, changes, and interactions. Nordic Academic Press, Lund 2006, S. 52. (= Vägar till Midgård, Bd. 8) 52 Ásgarðr wird in Hymisqviða, Strophe 7, als Ort der Abreise von Týr und Þórr genannt, siehe dazu: Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 89, und in Þrymsqviða, Strophe 18, drohr Loki Þórr damit, dass die Riesen bald Ásgarðr bewohnen werden, wenn er seinen Hammer nicht holen werde, siehe dazu: Ebd., S. 113. 53 Ebd., S. 63f. 3.3 Die Weltenesche und die Quellen als topographische Strukturmittel 113 [Ratatöskr heißt das Eichhörnchen, weches an der Esche Yggdrasils rumrennen soll, die Worte des Adlers soll es von oben herab tragen und unten Niðh ǫ ggr erzählen. Vier Hirsche sind da auch, die an den oberen Trieben mit zurückgebogenen Hälsen nagen: Dáinn oc Dvalinn, Duneyrr oc Duraþrór. Mehr Schlangen liegen unter der Esche Yggdrasils, als jeder törichte Narr annimmt, Góinn und Móinn - sie sind Grafvitnirs Söhne -, Grábacr und Grafv ǫ lluðr; Ofnir und Sváfnir, ich denke, dass sie immer die Zweige des Baumes beschädigen werden. Die Esche Yggdrasils erträgt Mühsal, mehr als man weiß, der Hirsch frisst oben, und an der Seite fault es, unten nagt Niðh ǫ ggr.] Durch die Beschreibung des Eichhörnchens Ratat ǫ skr, welches die Nachrichten des Adlers, der in einem oberen Bereich des Baumes sitzt, Niðh ǫ ggr, der im unteren Bereich Ygdrasills lebt, übermittelt, erhält der Baum eine dezidiert vertikale Konnotation. Auf welchen Ebenen des Baumes sich der Adler oder Niðh ǫ ggr befinden, wird im Narrativ zur einseitigen und vertikalen Nachrichtenvermittlung durch Ratat ǫ skr nicht beschrieben, noch werden Angaben zum Inhalt der kolportierten Mitteilungen gemacht. Dennoch wird durch die Einteilung der verschiedenen, übereinander gelagerten Lebensbereiche der drei Wesen zum ersten Mal eine explizit vertikale Gliederung vorgenommen und erkenntlich. Die vier namentlich genannten Hirsche, die Triebe abnagen und deren Positionierung nicht deutlich gemacht wird, soll man sich wohl neben dem Baum und um ihn herum stehend vorstellen, falls sie sich an Yggdrasils Ästen gütlich tun. Auch mehrere Schlangen, die mit Namen genannt und unter der Esche verortet werden, fressen die Zweige des Baumes ab. In der letzten Strophe zur Umwelt Yggdrasils wird nochmals deutlich darauf hingewiesen, dass der Baum durch die Tiere, die ihn umgeben, Mühsal erleidet und dass er an den Seiten schon fault. All dies sei jedoch den Menschen nicht bewusst, wie der Text konstatiert. Der Baum selbst scheint, nebst den Wurzeln, die in drei verschiedene Bereiche ragen, und dem nicht lokalisierten Richtplatz der Asen, hauptsächlich als Raum der Tiere oder tierhafter Wesen verstanden zu werden. Die Narrative, die sich rund um Yggdrasill als Mythologeme ansiedeln, sind in Grímnismál sehr vage und lassen viel Platz für spekulative Interpretationen. 54 Dennoch lässt sich erkennen, dass hier die Topographie des Baumes auch über Namen erschrieben wird und nicht einzig über die einzelnen Kreaturgattungen, welche die durch ihre Lebensräume dargestellte Topographie einneh- 54 Siehe dazu zum Beispiel: The Poetic Edda. Volume III, Mythological Poems II. [Dronke], S. 131. 3 Die Entwicklung der Topographien der eddischen Mythen 114 men, bewohnen und beleben. Durch diese Benennung der Wesen, die zur Umwelt Yggdrasils zählen, werden sie zu klar definierten und individuell verortbaren Subjekten erhoben und so, wie der Baum selbst, für weitere Narrative fassbar gemacht. Erst einem Subjekt, welches sich über einen Namen und einer oft dazugehörenden aktiven Handlungsmöglichkeit von den eher statischen Objekten abzugrenzen vermag und dadurch wiedererkennbar und individualisiert wird, ist es möglich, eine mythologische Funktion im Narrativ einzunehmen, an sich zu binden und nicht austauschbar zu werden. 55 Besonders deutlich wird diese Hervorhebung und eine damit einhergehende Subjektivierung eines einzelnen Exemplars einer Entität bei der letzten Nennung Yggdrasils in Grímnismál in Strophe 44: Ascr Yggdrasils, hann er œztr viða, enn Scíðblaðnir scipa, Óðinn ása, enn ióa Sleipnir, Bilr ǫ st brúa, enn Bragi scalda, Hábróc hauca, enn hunda Garmr. 56 [Die Esche Yggdrasils ist der vortrefflichste der Bäume, aber Scíðblaðnir der Schiffe, Óðinn der Asen, aber Sleipnir der Pferde, Bilr ǫ st der Brücken, aber Bragi der Skalden, Hábróc der Habichte, aber Garmr der Hunde.] Durch die Ernennung all dieser Dinge zu relevanten Unikaten - im Sinne einer Einzigartigkeit, die durch den Superlativ markiert wird - und die dazugehörige Hierarchisierung, wird die Esche Yggdrasils, wie auch die anderen genannten Figuren und Gegenstände innerhalb der im Narrativ gebildeten Kategorisierungen, noch prägnanter in die Diegese eingeschrieben und durch den Status, der ihr und den anderen Objekten zugeschrieben wird, gänzlich unverwechselbar gemacht. Zudem impliziert die Hierarchisierung und Hervorhebung innerhalb einer Kategorie, dass es jeweils mehrere der genannten Dinge und Lebewesen geben muss, die miteinander verglichen und zueinander in Beziehung gesetzt werden können. So kann aus dem oben genannten Zitat darauf geschlossen werden, dass es nebst der Weltenesche noch weitere Bäume innerhalb der Diegese geben muss. 55 Natürlich gibt es in den eddischen Texten auch Objekte, die mythologische Funktionen innerhalb der Narrative an sich binden können. Doch auch diese erhalten, denkt man zum Beispiel an Þórs Hammer Mj ǫ llnir, erst durch die Namensgebung die Möglichkeit in Narrativen funktionalisiert zu werden, da über den Namen ein Wiedererkennen, welches zur weiteren Verwendung im Narrativ von Nöten ist, sichergestellt werden kann. Gleichzeitig sind solche Objekte meist auch personen- oder ortsgebunden und können, trotz der teilweisen Personifizierung und Individualisierung, welche sie durch die Namensgebung erfahren, von sich aus nicht zu aktiv handelnden Entitäten werden. 56 Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 63f. 3.3 Die Weltenesche und die Quellen als topographische Strukturmittel 115 3.3.4 Vom Rechtsraum beim Baum zum Wissensraum an der Quelle Wie schon gezeigt wurde, findet Yggdrasill innerhalb des Codex regius der Lieder- Edda einzig noch in Grímnismál Erwähnung, wobei der Baum mit mehr Attributen versehen wird als in der V ǫ lospá. Die Strophen 29 und 30 geben ihn darin als Richtplatz Þórs, bzw. der Asen aus: K ǫ rmt oc Ǫ rmt oc Kerlaugar tvær, þær scal Þórr vaða, hverian dag, er hann dœma ferr at asci Yggdrasils, þvíat ásbrú brenn ǫ ll loga, heil ǫ g v ǫ tn hlóa. Glaðr oc Gyllir, Glær oc Sceiðbrimir, Silfrintoppr oc Sinir, Gísl oc Falhófnir, Gulltoppr oc Léttfeti, þeim ríða æsir ióm dag hvern, er þeir dœma fara at asci Yggdrasils. 57 [K ǫ rmt und Ǫ rmt und die beiden Kerlaugar, diese muss Þórr durchwaten, jeden Tag, wenn er richten geht, an der Esche Yggdrasils, da die Asenbrücke voller Flammen brennt, die heiligen Wasser sieden. Glaðr und Gyllir, Glær und Sceiðbrimir, Silfrintoppr und Sinir, Gísl und Falhófnir, Gulltoppr und Léttfeti, diese Pferde reiten die Asen, jeden Tag, wenn sie richten gehen, an der Esche Yggdrasils.] In Strophe 29 beschreibt das Narrativ, nebst der Funktion Yggdrasils als eine Art Richtplatz, auch vier Flüsse, die Þórr durchwaten muss, um zur Esche zu gelangen. Welche heiligen Wasser am Ende der Strophe gemeint sind, die infolge der brennenden Asenbrücke sieden, ist nicht deutlich auszumachen. 58 Es könnte sich um die vier zu Beginn der Strophe genannten Flüsse handeln, 59 doch wäre es auch 57 Ebd., S. 63. 58 Dieselbe Strophe wird auch in der Gylfaginning wiedergegeben, siehe dazu: Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 70-72. Der Codex Upsaliensis gibt die letzte Halbzeile jedoch anders wieder: „heil ǫ g v ǫ tn flóa.“ [heilige Wasser fließen]. Eine solche Leseweise würde sich somit stärker auf die zuvor in der Strophe genannten Flüsse beziehen und weniger auf die brennende Brücke. Siehe dazu Anmerkung 29/ 8 in: Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 63. 59 Zu den Namen der Flüsse in Grímnismál und deren mögliche Bedeutungen siehe: Hale, Christopher S.: The River Names in Grímnismál 27-29. In: Glendinning, Robert J. und 3 Die Entwicklung der Topographien der eddischen Mythen 116 möglich, dass sich die Nennung auf die Wasser aus der in Grímnismál nicht erwähnten Quelle Urðar brunnr bezieht. Dies würde jedoch voraussetzen, dass die in der V ǫ lospá postulierte Topographie einen direkten Einfluss auf jene im Narrativ von Grímnismál ausübt oder diese zumindest vom Narrativ partiell antizipiert und adaptiert würde. In Strophe 30 werden verschiedene Namen angegeben, die auf die Pferde referieren, mit welchen die anderen Asen an jenen Tagen zu Yggdrasill reiten, an denen sie dort richten. Für die Topographie des hier diskutierten mythischen Narratives bedeutend ist, dass Yggdrasill entfernt von Ásgarðr, dem Wohnsitz der Asen zu liegen scheint. 60 Verdeutlicht wird dies sowohl durch die Nennung der Pferde, die von den Göttern benötigt werden, um zum Richtplatz, von dem nicht gesagt wird, was oder wer dort gerichtet wird, zu gelangen, als auch durch die Flüsse, die Þórr zu durchschreiten hat. Der Wohnsitz der Asen darf daher für die Topographie in Grímnismál als inkongruent mit dem Ort, an dem Yggdrasill steht, verstanden werden. 61 Dronke gibt an, dass Þórr durch die Flüsse wate, da dieser Weg kühler und nach Leben strebend sei, und nicht über die brennende Brücke gehe, da dies der Weg der Toten sei. 62 Problematisch scheint für eine solche Leseweise jedoch, dass gleich darauf heilige Gewässer genannt werden, die siedend heiß sind, was eine gewisse Opposition zum von Dronke konstatierten kühlen Weg erkennen lässt. Auch die These, dass die brennende Brücke im Zusammenhang mit dem Tod stehe, lässt sich durch den Text in keiner Weise stützen. Wahrscheinlicher ist eher, dass Ásbrú für die Brücke zwischen Ásgarðr und Miðgarðr steht und somit hauptsächlich als Verbindung zwischen den beiden Welten dient. In der Gylfaginning wird Ásbrú sogar als Synonym für Bifröst gesetzt, 63 was jedoch keineswegs bedeuten muss, dass auch in Grímnismál Ásbrú auf dasselbe Denotat referiert wie Bifr ǫ st. Wie eine Ausdifferenzierung dieses Narratives oder ein Ausformulieren der Mythologeme und ihrer narratologischer Versatzstücke hin zu einer Mythe aussehen kann, wird im Folgenden am Beispiel Yggdrasils innerhalb der Prosa-Edda dargelegt: Þá mælti Gángleri: Hvar er höfuðstaðrinn eða helgistaðrinn goðanna? Hár svarar: Þat er at aski Yggdrasils; þar skulu guðin eiga dóma sína hvern dag. Þá mælti Gángleri: hvat er at segja frá þeim stað? Þá segir Jafnhár: askrinn er allra trea mestr ok beztr; limar hans dreifast yfir heim allan, ok standa yfir himni; […] 64 Haraldur Bessason [Hrsg.]: Edda. A Collection of Essays. University of Manitoba Press, Winnipeg 1985 ( 1 1983), S. 165-186. (= The University of Manitoba Icelandic Studies, Bd. 4) Dabei muss beachtet werden, dass Hale der Strophenzählung von Finnur Jónsson (De gamle Eddadigte. Finnur Jónsson [Hrsg.], G. E. C. Gads Forlag, Kopenhagen 1932, S. 68f.) folgt und nicht jener der in dieser Arbeit verwendeten Referenzedition von Neckel und Kuhn, wenn er die Strophen 27-28 (siehe dazu: Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 62f.) in drei Strophen aufteilt. 60 Siehe dazu auch: Wellendorf: Homogeneity and heterogeneity in Old Norse cosmology, S. 52. 61 Diese Erkenntnis ist besonders im Vergleich zur Darstellung der räumlichen Strukturen von Yggdrasill und Ásgarðr, wie sie in der Gylfaginning der Prosa-Edda beschrieben wird, bedeutend, wie an späterer Stelle dargelegt wird. 62 The Poetic Edda. Volume III, Mythological Poems II. [Dronke], S. 130. 63 Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 70: „[…] hvern dag ríða Æsir þángat upp um Bifröst; hon heitir ok Ásbrú.“ [Jeden Tag reiten die Asen dort hinauf über Bifröst, sie heißt auch Ásbrú.] 64 Ebd., S. 68. 3.3 Die Weltenesche und die Quellen als topographische Strukturmittel 117 [Darauf sprach Gángleri: Wo ist der Hauptort oder die heilige Stätte der Götter? Hár antwortet: Dies ist an der Esche Yggdrasils; dort sollen die Götter jeden Tag ihre Gerichtsversammlungen abhalten. Darauf sprach Gángleri: Was ist von diesem Ort zu sagen? Da sagt Jafnhár: Die Esche ist von allen Bäumen der größte und beste, ihre Zweige breiten sich über die ganze Welt aus und erstrecken sich über den Himmel; ...] Sowohl durch Gylfis, beziehungsweise Gángleris, Frage nach dem Hauptort oder der heiligen Stätte der Götter, 65 als auch durch die darauf folgende Antwort Hárs wird die Esche Yggdrasils, beziehungsweise eine bestimmte Stelle beim Baum zu einem geheiligten Ort stilisiert und darüber in gewisser Weise sakralisiert. 66 So entsteht in der Topographie der Prosa-Edda ein quasi-sakraler Raum, der sich vorerst an den Baum anlagert und mit diesem über die Götter in Verbindung zu stehen scheint. Unklar bleibt, wie sich Gyfis Frage bezüglich dieses Ortes zu den Göttern verhält. Die ambige Leseweise würde zwei Möglichkeiten anbieten: Einerseits lässt sich die Frage dahingehend interpretieren, dass die Götter, die im Genitiv stehen, erst durch ihre Präsenz oder ihr Handeln den besagten Ort sakralisieren. Dabei würde die Stätte durch die Götter und somit für andere Lebewesen, wie zum Beispiel die hier im Text nicht erwähnten Menschen, zu einem Heiligtum oder einem Ort, der durch die Würde des Heiligen ausgestattet ist. Andererseits kann die Frage dahingehend gedeutet werden, dass Gylfi wissen möchte, welcher Ort den Göttern selbst als heilig gilt. Dies würde jedoch bedeuten, dass die Sakralisierung des Ortes durch eine andere, den Göttern selbst heilige und ihnen somit transzendent höher gestellte Macht zustande kommen würde. 67 Die Antwort Hárs lokalisiert nicht nur den Ort, welcher auf die von Gylfi erfragte Eigenschaft zutrifft, innerhalb der in der Prosa-Edda erschriebenen Topographie, sondern weist der Stelle zudem eine Funktion als Richtplatz zu. Eine Verknüpfung der Asen mit einer juristischen Instanz oder Macht konnte schon in der V ǫ lospá erkannt werden, doch fehlte im Narrativ der V ǫ lospá eine genaue, beziehungsweise benannte topographische Lokalisierung des Richtstuhls, bei welchem sich die Götter zur Beratschlagung treffen. Auch die Grímnismál attestieren, wie weiter oben aufgezeigt wurde, 65 Bei der Frage Gylfis muss beachtet werden, dass die in der verwendeten Referenzedition wiedergegebene Zitierweise jener aus der Handschrift der Redaktion R folgt. In den Redaktionen T und W lautet die Replik „Hvar er h ǫ fuðstaðrinn eða helgistaðr goðanna? “ und in der Redaktion U „Hvar er h ǫ fuðstaðr eða helgistaðr goðanna? “ Ob sich durch das Fehlen des bestimmten Artikels an den Subjekten die Semantik des Satzes ändert, konnte bisher noch nicht abschließend geklärt werden. Zum Wortlaut der unterschiedlichen Redaktionen der Prosa-Edda siehe: https: / / notendur.hi.is/ / ~eybjorn/ gg/ gg4dip13.html (Stand: 09.05.2015) 66 Siehe zu den Interpretationsmöglichkeiten von h ǫ fuðstaðrinn und helgistaðrinn die Anmerkungen 1 und 2 in: Gylfaginning. [Lorenz], S. 236, sowie zu staðr im Besonderen in: Holtsmark: Studier i Snorres mytologi, S. 59f. Bei Holtsmark ist insbesondere die Gleichsetzung von staðr und civitas im Sinne eines klerikal-administrativen Zentrums sehr interessant. 67 Siehe dazu die weiter oben geführte Diskussion zur Problematik der Altäre und Tempel, die die Götter laut dem Narrativ der Strophe 7 der V ǫ lospá errichten, und bei welchen auch nicht deutlich ist, wem auf diesen Altären geopfert oder wer in diesen Tempeln verehrt wird. 3 Die Entwicklung der Topographien der eddischen Mythen 118 den Göttern eine rechtssprechende Funktion. Zudem wird, wie gezeigt wurde, die Esche Yggdrasils gleichzeitig als Ort dieser juristischen Handlungen etabliert. Für diese zwei Beispiele aus der Lieder-Edda und für die Textstelle aus der Prosa-Edda gilt, dass sie die Götter mit einer Gerichtbarkeit in Verbindung bringen, welche jedoch in den Narrativen stark orts- oder wie im Fall des Richtstuhls in der V ǫ lospá sachgebunden zu sein scheint. Es wirkt in den genannten Narrativen so, als ob die rechtsbezogene Konnotation sich vielmehr auf die Orte und Objekte, als auf die Asen selbst bezieht. So erschreiben die Narrative innerhalb der diskutierten eddischen Mythen sowohl für den Richtstuhl als auch für den Richtplatz an der Esche Yggdrasils jeweils einen Raum, der juristisch explizit performativ werden kann, sobald sich die Asen in ihm einfinden und dort eine rechtlich bindende Funktion einnehmen, welche ihnen durch das Narrativ zugeschrieben wird. Dennoch scheint der juristische Anspruch, der das Narrativ den Göttern attestiert, eine sekundäre Funktion zu sein. Die primäre juristische Funktion ist dem bezeichneten Raum bei der Esche oder am Richtstuhl zugeteilt, was im Narrativ schon dadurch erkenntlich wird, dass die Asen nicht ortsungebunden, sondern erst durch die Verortung innerhalb der Topographie des jeweiligen Mythos über diese Fähigkeit verfügen. Innerhalb der Topographie der Prosa- Edda wird diesem juristisch funktionalisierten Ort somit gleichzeitig die Eigenschaft des Sakralen wie auch eine gewisse Zentralität 68 zugeschrieben. Dennoch muss festgehalten werden, dass der durch die oben genannten Eigenschaften markierte Raum innerhalb des Narratives indefinit bleibt, da er weder namentlich benannt und darüber performativ in die Topographie der Prosa-Edda eingeschrieben ist, noch exakt lokalisiert wird. Statt einer zu erwartenden präzisen Verortung der durch Gylfi erfragten Stelle oder deren Benennung verweist die Antwort Hárs direkt auf ein anscheinend übergeordnetes raumgliederndes Konzept, 69 wenn er die Esche Yggdrasils ins Zentrum seiner Ausführung stellt. Gylfi scheint jedoch auf eine genauere Beschreibung des vom ihm erfragten Ortes zu hoffen, wenn er insistiert und nachfragt, ob die Asenkönige ihm mehr davon erzählen können. Wiederum glückt seine Frage nicht, wenn Jafnhár in seinen Ausführungen gleich auf die Esche zu sprechen kommt und diese zu beschreiben beginnt. Yggdrasill wird von Jafnhár mit zwei Superlativen versehen beschrieben, wodurch er den Baum in eine hierarchische Struktur einbindet. Dabei werden zwei Qualitäten der Esche benannt, die weiter oben schon für die Narrative in der V ǫ lospá und in der Grímnismál eruiert wurden. Neu ist hingegen, dass der Baum nun nicht mehr einfach als hoch sondern gleich als der größte 70 beschrieben wird und dass diese Qualität mit jener aus der Grímnismál verknüpft wird. Durch die explizite Hierarchisierung und die mit der Namensgebung verbundenen Individualisierung wird der Baum, im Sinne von Millers Konzept der Topotropographie, 71 schon fast in übertrie- 68 Diese darf an dieser Stelle jedoch nicht als geographisches Zentrum, sondern als Zentrum innerhalb einer hierarchischen Gliederung unterschiedlicher Räume verstanden werden, welche sich alle auf die Asen oder deren Handeln beziehen. 69 Dass der Baum im Narrativ der Prosa-Edda als übergeordnet verstanden wird, zeigt sich schon daran, dass er als Marker für die Lokalisierung des Hauptortes der Götter verwendet wird, ohne dass die Stelle genauer angegeben wird. 70 Der in der Gylfaginning zur Beschreibung des Baumes verwendete Superlativ mestr ist in seiner Bedeutung ambig, da er, wie auch auf Deutsch, sowohl auf eine Längenangabe, als auch auf eine innere Größe im Sinne von Macht verweisen kann. Siehe dazu unter dem Lemma meiri in: Gering: Glossar zu den Liedern der Edda (Sæmundar Edda), S. 118f. 71 Siehe dazu: Miller: Topographies, S. 4. 3.3 Die Weltenesche und die Quellen als topographische Strukturmittel 119 bener Deutlichkeit im Narrativ als Entität erschrieben und innerhalb der Topographie des eddischen Mythos, wie er in der Prosa-Edda zu Yggdrasill ausformuliert ist, verankert. Die räumliche Dimension der Esche wird im darauffolgenden Satz angegeben, wenn Jafnhár sagt, dass sich die Äste Yggdrasils über die ganze Welt erstrecken und über den gesamten Himmel ausbreiten würden. Durch diese Beschreibung im Narrativ wird der alles überragende Baum sowohl zu einer horizontalen als auch zu einer vertikalen Achse innerhalb der Topographie des erschriebenen Mythos rund um die Esche Yggdrasils und gleichzeitig zu einem zentralen Bestandteil der Topographie der gesamten Prosa-Edda stilisiert. Anschließend beschreibt Jafnhár die weiter oben schon kurz angesprochenen Wurzeln des Baumes. Dabei werden sowohl die Bereiche erwähnt, in welche die Wurzeln hineinragen, als auch die Quellen und Brunnen benannt, welche unter den Wurzeln Yggdrasils liegen: […]; þrjár rætr trèsins halda því upp, ok standa afar breitt: ein er með Ásum, en önnur með Hrímþussum, þar sem forðum var Ginnúnga-gap; en þriðja stendr yfir Niflheimi; ok undir þeirri rót er Hvergelmir, en Níðhöggr gnagar neðan rótna. En undir þeirri rót, er til Hrímþussa horfir, þar er Mímisbrunnr, er spekð ok mannvit er í fólgit, ok heitir sá Mímir er á brunninn; hann er fullr af vísindum, fyrir því at hann drekkr or brunninum af horninu Gjallarhorni. Þar kom Allföðr ok beiddist eins drykkjar af brunninum, en hann fèkk eigi fyrr en hann lagði auga sitt at veði. Svâ segir í Völuspá: Allt veit ek, Óðinn! hvar þú auga falt. Or þeim enum mæra Mímis brunni drekkr möð Mímir morgun hverjan af veði Valföðrs. Vituð þér enn, eða hvat? Þriðja rót asksins stendr á himni, ok undir þeirri rót er brunnr sá, er mjök er heilagr, er heitir Urðarbrunnr; þar eigu guðin dómstað sinn; hvern dag ríða Æsir þángat upp um Bifröst; hon heitir ok Ásbrú. 72 [... drei Wurzeln des Baumes halten ihn aufrecht und stehen überaus breit: eine ist bei den Asen, aber die zweite bei den Reifriesen, da wo zuvor Ginnúnga-gap war; die dritte erstreckt sich über Niflheimr; und unter dieser Wurzel befindet sich Hvergelmir, aber Níðhöggr nagt von unten an der Wurzel. Und unter dieser Wurzel, die zu den Reifriesen gerichtet ist, dort ist der Mímisbrunnr, in der Weisheit und Verstand verborgen sind, und der heißt Mímir, der die Quelle besitzt. Er ist voller Weisheit, weil er mit dem Horn Gjallarhorn aus der Quelle trinkt. Dorthin kam Allföðr und verlangte einen Trunk aus der Quelle, er bekam ihn nicht, bevor er sein Auge als Pfand einsetzte. So heißt es in der Völuspá: 72 Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 68-70. 3 Die Entwicklung der Topographien der eddischen Mythen 120 Alles weiß ich, Óðinn! Wo du dein Auge verbargst. Aus dieser einen berühmten Quelle Mímirs trinkt Mímir Met jeden Morgen aus Valföðrs Pfand. Weißt du mehr, oder was? Die dritte Wurzel der Esche ragt in den Himmel und unter dieser Wurzel ist jene Quelle, die sehr heilig ist, diese heißt Urðarbrunnr. Dort haben die Götter ihren Richtplatz. Jeden Tag reiten die Asen dort hinauf über Bifröst, sie heißt auch Ásbrú.] Auffällig hierbei ist insbesondere die rhetorische Konstruktion, die im Narrativ verwendet wird, um die Wurzeln mit den Gebieten oder deren Bewohnern und Brunnen oder Quellen zu verknüpfen. Zuerst werden die drei Gebiete aufgezählt und danach in spiegelverkehrter Reihenfolge die dazugehörigen Quellen oder Brunnen eingeführt. 73 Es wirkt beim Aufbau des Narratives so, als wären die Paare für die Erzählung umso wichtiger, je weiter sie im Text auseinander liegen. Dies lässt sich an der Ausführlichkeit der Beschreibung der Brunnen, beziehungsweise Quellen, wie auch an den sich an die Namen anlagernden weiteren Narrative erkennen. Die Bewohner und Gebiete, welche davor als unter den drei Wurzeln liegend beschrieben werden, wurden in der Gylfaginning schon zuvor durch eigenständige Narrative in die Topographie der Prosa-Edda eingeführt, sodass es an dieser Stelle ausreicht, nur deren Namen zu nennen, um die damit verknüpften erzählten Inhalte und räumlichen Strukturen aufzurufen. 74 So wurde auch schon Hvergelmir, im Zuge der Beschreibung der Urpole Muspell und Niflheimr, bei der Ausformulierung der Topographie vor der Weltschöpfung, als gemeinsame Quelle jener Flüsse, welche in Niflheimr entspringen, innerhalb der Topographie erschrieben und verortet. 75 Für die räumliche Konnotation von Hvergelmir bleibt jedoch offen, ob die zwölf Flüsse noch immer zur selben Stelle fließen, an der zuvor, in Verbindung mit der Hitze aus dem Süden, der Urriese Ýmir entstand. Neu zur Beschreibung Niflheims kommt hinzu, dass mit Níðh ǫ ggr ein Lebewesen in die bisher als sehr unwirtlich und lebensfeindlich dargestellte Umwelt hineingeschrieben wird, welches auch schon in Grímnismál als unter der Esche Yggdrasils lebend und diese beschädigend genannt wird, wie weiter oben diskutiert wurde. Im Narrativ der Gylfaginning ist Níðh ǫ ggr jedoch expliziter verortet, als in Grímnismál, in dessen Erzählverlauf Níðh ǫ ggr nicht einer der drei Wurzeln des Weltenbaumes zugeordnet ist, sondern einzig für die vertikale Dreigliederung der Esche von unten, Mitte und oben und somit zur Initialisierung einer vertikalen Weltachse innerhalb der Topographie der Grímnismál verwendet wird. 73 Diese Reihenfolge von a, b, c und c’, b’, a’ findet sich nicht etwa nur in der Edition sondern auch in den vier wichtigsten Kodizes der Prosa-Edda. Für die vier Redaktionen siehe: https: / / notendur.hi.is/ / ~eybjorn/ gg/ gg4dip13.html (Stand: 09.05.2015) 74 Die Problematiken, die sich in der oben zitierten Textstelle durch die zeitlichen Überlappungen und Verknotungen und die damit verknüpften Räume oder der Bewohner ergibt, wurden weiter oben schon diskutiert. 75 Siehe dazu: Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 40. 3.3 Die Weltenesche und die Quellen als topographische Strukturmittel 121 Unter der zweiten Wurzel Yggdrasils, welche ins Gebiet der Reifriesen ragt, lokalisiert das Narrativ der Gylfaginning die Quelle Mímisbrunnr. Im Gegensatz zum zuvor beschriebenen Raum unter jener Wurzel, die nach Niflheimr und über die Quelle Hvergelmir hinweg führt, und dessen schon durch die Kosmogonie bekannter Topographie, sind bei der zweiten Wurzel zwar die Reifriesen und deren Lebensraum schon bekannt, 76 doch nicht die Quelle oder der Brunnen. 77 Mímisbrunnr wird vorerst nicht durch seine Beschaffenheit oder Lage beschrieben, sondern durch die in ihm verborgenen Eigenschaften charakterisiert. Erst nach der Bezeichnung der Quelle als Wissensspeicher wird die noch nicht im Narrativ eingeführte Figur genannt, zu welcher die Quelle explizit zu gehören scheint. Von der Figur Mímir wird wiederum gesagt, dass sie voller Weisheit sei, da sie mit dem Horn Gjallarhorn aus der Quelle trinke. Über die erzählte Figurenhandlung wird der Brunnen oder die Quelle von einem Speicher des Wissens zu einem Medium der Vermittlung von Wissen umfunktioniert. Unklar bleibt, woher die Flüssigkeit, welche aus der Quelle entnommen wird, ihre wissensvermittelnde Eigenschaft bezieht, beziehungsweise wie oder von wo die Weisheit in den Inhalt des Brunnens gelangt. Diese Frage wird zusätzlich durch die Tatsache erschwert, dass die Quelle im Narrativ sehr eng mit der Figur Mímis, sei es über das Besitzverhältnis, die Namenszuschreibung oder das Wissen im Brunnen oder von Mími selbst, verknüpft ist. Der Raum der Quelle wird folglich über den Namensgeber oder das Medium Brunnen zu einem Ort, an dem Weisheit gleichzeitig akkumuliert und vermittelt wird, indem das Wissen als mediale Inszenierung und Manifestation in die Topographie der Prosa-Edda eingeschrieben wird. Dass die Vermittlung des Wissens nicht nur innerhalb des reziproken Systems zwischen Mímir und der ihm zugeschriebenen Quelle stattfinden kann, wird oft aus der darauf folgenden kurzen Erzählung und der anschließend aus der V ǫ lospá zitierten Halbstrophe 78 hergeleitet. In beiden Narrativen wird wiedergegeben, dass Óðinn, der in der Prosaausformulierung mit dem heiti Allföðr und in der Halbstrophe mit Valföðr bezeichnet wird, sein eines Auge bei Mímir und der mit seinem Namen versehenen Quelle hinterlässt. Beide Textstellen werden meist dahingehend gedeutet, dass Óðinn sein Auge für einen Trunk aus dem Brunnen und damit für das in der Flüssigkeit enthaltene Wissen opfert. 79 Dass Óðinn sein Auge für einen Schluck aus der Quelle hergibt, ist einzig im Prosanarrativ der Gylfaginning zu lesen, nicht jedoch in der Strophe der V ǫ lospá, genauso wie nur die prosaische Ausformung eine Verknüpfung des Erbittens eines Trunks mit der Möglichkeit eines Erlangens von Weisheit zu implizieren vermag. Über die in der Gylfaginning zitierte Halbstrophe der V ǫ lospá lässt sich weder ein Zusammenhang zwischen der Quelle und einer darin enthaltenen Weisheit, noch eine Ursache für das Verbergen des Auges im Brunnen Mímis erkennen. So zeigt schon das Narrativ der Prosa-Edda in Bezug auf das Mythologem der Quelle Mímis und des Auges Óðins und bei der Verwendung der Halbstrophe aus der V ǫ lospá einen gewissen Hang zur Interpretation, beziehungsweise zur 76 Siehe dazu: Ebd., S. 50. 77 Zu den Übersetzungsmöglichkeiten von brunnr siehe unter dem Lemma brunnr: Gering: Glossar zu den Liedern der Edda (Sæmundar Edda), S. 28, oder in: Baetke: Wörterbuch zur altnordischen Prosaliteratur, S. 73. 78 Siehe für den in der Prosa-Edda nicht zitierten ersten Teil der Strophe 28: Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 7. 79 Siehe für eine solche Leseweise zum Beispiel unter dem Lemma Mímis Brunnen in: Simek: Lexikon der germanischen Mythologie, S. 281f. 3 Die Entwicklung der Topographien der eddischen Mythen 122 Ausformulierung des Mythologems hin zu einer Mythe. Der beschriebene Raum wird dadurch mit einer Erzählung gefüllt und über das medial inszenierte Wissen und die Ätiologie der partiellen Selbstopferung Óðins zur Erlangung desselben in die Topographie eingeschrieben. Die Topographie von Niflheimr, als Ort unter der Wurzel Yggdrasils, und die darin lokalisierte Quelle Mímis werden somit nicht über raumstrukturierende Merkmale, sondern durch die im Narrativ der Prosa-Edda inszenierte Vermittlung von Wissen erweitert. 3.3.5 Von Wurzeln und Brücken Nach der Verifizierung der Erzählung über Óðinn und dessen Verpfändung des Auges, die über die Autorität der zitierten Halbstrophe aus der V ǫ lospá geleistet wird, kehrt der Text der Gylfaginning unvermittelt zum Narrativ rund um die Wurzeln der Esche zurück. Die dritte Wurzel, die beschrieben wird, liegt wie zuerst berichtet wird bei den Asen. 80 Nun, nach der Erzählung rund um die anderen zwei Wurzeln, die dortigen Quellen und die sich daran anschließenden Narrative, wird die Wurzel als in den Himmel stehend beschrieben. Dabei wird nicht deutlich, ob Yggdrasils eine Wurzel nun in den Himmel hoch reicht und man sich Ásgarðr dadurch im Himmel selbst verortet vorzustellen hat oder ob die Beschreibung dahingehend gedeutet werden muss, dass die Wurzel über den Himmel reicht und durch den astronomischen Zenit über Ásgarðr und zurück zur Erde führt. Für die zweite Leseweise spricht der weitere Verlauf des Narratives, welches eine Quelle beschreibt, die unter der Wurzel liegt. Diese dritte Quelle wird als heilig beschrieben und mit dem Namen Urðarbrunnr versehen. Zusammen mit der Einbettung der Quelle in einen sakralen Kontext und der darauffolgenden Aussage, dass dort die Gerichtsstätte der Götter sei, nimmt Jafnhár in seiner Erzählung Motive auf, die zuvor von Gylfi erfragt und von Hár angesprochen wurden, sofern man den Ort der Gerichtbarkeit bei der Esche Yggdrasils mit jenem bei Urðarbrunnr gleichsetzen kann. Des Weiteren wird im Narrativ der Weg beschrieben, den die Götter jeden Tag auf ihren Pferden zurücklegen, um von einem ungenannten Ort zur Quelle und dem dortigen Richtplatz zu gelangen. Das Narrativ, welches hierfür in der Prosa-Edda zur Erschreibung der Topographie benutzt wird, bedient sich einer Verknüpfung von Erzählfragmenten, die weiter oben schon für die Strophen 29 und 30 aus der Grímnismál 81 verhandelt wurden. In der Gylfaginning werden jedoch die reitenden Asen mit einer Brücke in Verbindung gebracht, die den Namen Bifröst trägt und die mit der in Grímnismál in Flammen stehenden Brücke Ásbrú gleichgesetzt wird. Der Raum der Quelle Urðarbrunnr wird im Folgenden durch weitere Erzählungen ausdifferenziert und in die Topographie der Prosa-Edda eingeschrieben und so in der Diegese für weitere Narrative verwendbar gemacht. Die Brücke Bifröst wurde hingegen schon in die Diegese eingeführt, bevor sie zur Ausdifferenzierung der Topographie des Weltenbaums erneut aktualisiert und intradiegetisch produktiv verwendet wird: 80 Erinnert man sich an das Narrativ der Einteilung der Welt nach der Kosmogonie, wie es in der Prosa-Edda wiedergegeben wird, so wird die Wohnstätte der Asen und ihre Burg Ásgarðr in der Mitte der Welt verortet: Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 54. 81 Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 63. 3.3 Die Weltenesche und die Quellen als topographische Strukturmittel 123 Þá mælti Gángleri: Hver er leið til himins af jörðu? Þá svarar Hár, ok hló við: eigi er nú fróðliga spurt; er þèr eigi sagt þat, at guðin gerðu brú til himins af jörðu ok heitir Bif-röst? hana muntu sèt hafa; kann vera at þat kallir þú regnboga. Hon er með III litum ok mjök sterk, ok ger með list ok kunnáttu meiri en aðrar smíðir; ok svâ sem hon er sterk, þá mun hon brotna, þá er Muspells megir fara ok ríða hana, ok svima hestar þeirra yfir stórar ár, svâ koma þeir fram. Þá mælti Gángleri: eigi þótti mér goðin gera af trúnaði brúna, er hon skal brotna mega, er þau megu gera sem þau vilja. Þá mælit Hár: eigi eru goðin hallmælis verð fyrir þessa smíð, góð brú er Bifröst, en engi lutr er sá í þessum heimi er sèr megi treystast, þá er Muspells synir herja. 82 [Darauf sprach Gángleri: Welcher Weg führt in den Himmel von der Erde? Da antwortet Hár, und lachte dabei: Das ist nun nicht klug gefragt. Ist dir denn nicht erzählt worden, dass die Götter eine Brücke in den Himmel von der Erde bauten und dass sie Bif-röst heißt? Du wirst sie gesehen haben, es kann sein, dass du sie Regenbogen nennst. Sie ist dreifarbig und sehr stabil und mit mehr Geschicklichkeit und Kenntnis gefertigt als andere Bauten. Und obwohl sie so stabild ist, wird sie zerbrechen, wenn Muspells Verwandte über sie gehen und reiten, und ihre Pferde schwimmen durch große Flüsse, so kommen sie vorwärts. Darauf sprach Gángleri: Mich dünkt es nicht, dass die Götter die Brücke im Vertrauen schufen, wenn sie zerbrechen kann, da sie doch schaffen können, was sie wollen. Darauf sprach Hár: Die Götter haben diesen Vorwurf nicht verdient für dieses Bauwerk. Bifröst ist eine gute Brücke, aber es gibt kein Ding in dieser Welt, auf das man sich verlassen kann, wenn Muspells Söhne Krieg führen.] Nachdem zuvor über die Wölfe berichtet wurde, 83 die am Ende der Welt die Sonne und den Mond verschlingen werden, fragt Gylfi, beziehungsweise Gángleri recht unvermittelt nach einem Weg in den Himmel. Die Frage Gylfis impliziert durch seine Wortwahl, dass er sich den Himmel als einen lokalisierbaren Ort innerhalb der bisher im Narrativ entwickelten Topographie der Diegese vorzustellen scheint, den man mittels des Zurücklegens einer gewissen Wegstrecke erreichen kann. Hár, der darauf antwortet, scheint jedoch nicht die Art und Weise der Frage, sondern Gylfis Unwissen zu dieser Thematik verwunderlich zu finden. Wenn Hár von Gylfi wissen will, ob dieser noch nie von Bifröst gehört habe, klingt es so, als ob es sich bei der Geschichte zu diesem Namen um eine geläufige Erzählung handeln würde, die auch außerhalb des von den Asenkönigen für Gylfi errichteten illusorischen Erzählraums, also der fingierten, mythologischen Wirklichkeit existieren würde. Dabei sind zwei Punkte in Hárs Äußerung bemerkenswert, an denen sich die narratologische Struktur, beziehungsweise die zur Entwicklung des Narratives von den Asen angewandten Erzähltechniken erkennen lassen, wenn nicht sogar von selbst zu erkennen geben und offenlegen. Wenn Gylfi danach gefragt wird, ob ihm noch nie erzählt wurde, dass die Götter eine Brücke zwischen Erde und Himmel gebaut hätten, so wird bewusst nach der Kenntnis um eine Erzählung und nicht nach dem Wissen über einen Zustand gefragt. Hárs Frage selbst ist so aufgebaut, dass sie sowohl Elemente der Erzählung 82 Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 60-62. 83 Siehe dazu: Ebd., S. 58-60. Auf diese Stelle des Primärtextes wird im Kapitel zum Ende der Topographie eingegangen. 3 Die Entwicklung der Topographien der eddischen Mythen 124 über die von den Göttern erbaute Brücke als auch deren Namen enthält. Dadurch vermittelt die Frage mehr Wissen als sie in Erfahrung zu bringen vermag. Nach diesem etwas verklausulierten Bericht über die Brücke und deren namentliche Nennung, welche Bifröst nach den gewohnten performativen Mustern in die Topographie der von den Asenkönigen erzählten Welt einschreibt, referiert Hár auf den Regenbogen als Phänomen, welches er als außerhalb der von ihm sprachlich fingierten Diegese verortet. Die Gleichsetzung von Bifröst und dem Regenbogen wirkt an dieser Stelle wie eine umgekehrte Ätiologie, wobei nicht eine Erscheinung in der Natur durch eine Herkunftslegende erklärt, sondern ein von Hár beschriebenes Bauwerk, das in der Prosa-Edda einen Anteil an der intradiegetischen Topographie der eddischen Mythen hat, mit einem außermythologischen Wetterphänomen begründet wird. Bei diesem Vergleich stehen sich die erzählte Brücke Bifröst und der sichtbare Regenbogen in zwei unterschiedlichen Systemen, einem mythischen und einem physikalischen, als auch die beiden medialen Vermittlungen des Hörens und des Sehens gegenüber, wobei beide Bezeichnungen anscheinend auf dasselbe Bezeichnete referieren. Die weiteren Eigenschaften der Brücke, ihre Dreifarbigkeit, sowie die Festigkeit und Einzigartigkeit als Bauwerk, 84 welche von Hár erwähnt werden, benutzt er in seiner Erzählung dazu, um hervorzuheben, wie außergewöhnlich ihre Dekonstruktion sein wird. Die Söhne Muspells, die als Zerstörer der Brücke genannt werden, werden ohne weitere Erklärungen ins Narrativ eingeführt, genauso wie eine Begründung für das Ende von Bifröst ausgelassen wird. So wirkt dann auch Gylfis Frage bezüglich der Diskrepanz zwischen der von Hár zuvor postulierten Standfestigkeit des Bauwerks der Götter und dessen in Aussicht gestellten Zerfalls verständlich. Gylfi argumentier an dieser Stelle nicht mittels einer Omnipotenz, von der beim Erhalt einer durch die Götter erschaffenen Realität ausgegangen werden könnte, sondern anhand der im Narrativ an früherer Stelle schon mehrfach den Göttern zugesprochenen Schöpfungskraft, welche er in Frage stellt. Hárs Antwort, die darauf abzielt, dass nichts auf der Welt der vernichtenden Gewalt der Muspellssöhne standhalten werde, enthält zudem die explizite Aussage, dass es nichts gäbe, dem man wirklich vertrauen könne. Bezieht man nun Gylfis Infragestellen einer göttlichen Macht hinsichtlich einer beständigen Kreation auf die von den Asenkönigen bisher durch Erzählungen performativ inszenierte intradiegetische Welt, so kann Hárs Antwort als ein implizites Eingeständnis einer Fiktionalität der von ihm und seinen Miterzählern fingierten Diegese gelesen werden. Die gesamte Welt, von der Gylfi berichtet wird, ist so als unzuverlässiges Konstrukt und damit als Trugbild, welches nur innerhalb des Narratives, beziehungsweise innerhalb des Erzählraums existiert, erkenntlich gemacht. Das Ende dieser nur in der Erzählung oder in deren verschriftlichter Form existenten Welt, beziehungsweise der Diegese und ihrer räumlichen Ausformung wird durch die Nennung Muspells gleichzeitig mit ihrem narrativen Anfang verknüpft und überblendet. Durch die quasi-prophetische Vorwegnahme der Verwüstung und letztendlichen Zerstörung jener Diegese, die über das Anzitieren von Versatzstücken eddischer Lieder und mittels eigener, erdichteter Narrative geschaffen wurde, legt Hár offen, dass diese performativ erzeugte Welt und ihre Topographie nur solange existent ist, wie die Erzählung von ihm und den zwei weiteren Erzählinstanzen andauert. Diese Hinweise auf die Illusion einer Welt, die Gylfi im Narrativ vermittelt wird, scheint Gylfi nicht zu erkennen oder zumindest geht er nicht auf sie ein. Die Antwort Hárs ist somit aus 84 Letzteres wird auch in Grímnismál in Strophe 44 über die Brücke Bilr ǫ st gesagt, weshalb diese oft mit Bifr ǫ st gleichgesetzt wird: Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 63f. 3.3 Die Weltenesche und die Quellen als topographische Strukturmittel 125 performativer Sicht geglückt und lässt ein weiteres Bestehen des Dialoges und damit auch der in ihm postulierten Diegese zu, was im Fortgang des Dialogs die hier nun nicht weiter diskutierte Frage Gylfis erkennen lässt, die sich einem neuen Thema zuwendet, beziehungsweise einen schon zuvor in der Erzählung der Asenkönige eröffneten Raum aufgreift. 85 Die Brücke, welche wie eben dargelegt schon vor ihrer Nennung im Zusammenhang mit der Topographie rund um die Weltenesche Yggdrasill ins Narrativ eingeführt wurde, bietet Gylfi Anlass zu einer weiteren Frage bezüglich der Beschaffenheit Bifrösts: Þá mælti Gángleri: brenn eldr yfir Bifröst? Hár segir: þat er þú sèr rautt í boganum, er eldr brennandi; uppá himin mundu gánga Hrímþussar ok bergrisar, ef öllum væri fært á Bifröst, þeim er fara vilja. Margir staðir eru á himni fagrir, ok er þar allt guðlig vörn fyrir; […]. 86 [Darauf sprach Gángleri: Brennt ein Feuer über Bifröst? Hár sagt: Das, was du im Bogen rot siehst, ist brennendes Feuer. Hinauf in den Himmel würden die Reifriesen und Bergriesen gehen, wenn von allen Bifröst begangen würde, die sie begehen wollen. Viele schöne Stätten sind im Himmel, und es ist dort überall göttliche Gegenwehr, ...] Auf Gylfis Frage bezüglich eines Feuers, welches auf Bifröst brenne, antwortet Hár, dass die rote Farbe, die man im Bogen sehen könne, dieses Feuer sei. Der Bogen muss an dieser Stelle sicher ambig gelesen werden und referiert dadurch sowohl auf den Brückenbogen der durch die Erzählung in die Topographie der Prosa-Edda eingeschriebenen Brücke Bifröst als auch auf den gemäß der vorherigen Beschreibung dreifarbigen Regenbogen. 87 Die weitere Aussage Hárs, dass auch die Reifriesen und Bergriesen in den Himmel gehen würden, wenn jeder Bifröst begehen könnte, der wolle, ist auch aus raumstrukturierender Hinsicht äußerst interessant. Hárs vorangegangene Ausführung zu Bifröst suggeriert, dass die Riesen, im Gegensatz zu den meisten Asen, 88 aufgrund des Feuers auf der Brücke an einer Überquerung derselben gehindert würden. Wenn das Feuer den einzigen Hinderungsgrund für die Riesen darstellt, muss davon ausgegangen werden, dass sie ansonsten die Brücke betreten könnten. Diese Möglichkeit würde jedoch in diametraler Opposition zur bisher in der Prosa- Edda postulierten topographischen Verortung der Riesen stehen, welche durch den von den Göttern aus Ýmis Augenbrauen gefertigten Wall von den Gebieten Miðgarðr und Ásgarðr abgetrennt sind. 89 Würde sie das Feuer nicht hindern, müsste es für die Riesen somit aus raumsituativer Hinsicht entweder möglich sein den Wall zu durch- 85 Siehe dazu: Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 60-62. 86 Ebd., S. 72. 87 Für eine Übersicht über weitere mögliche Interpretationen, die in der Forschung zur roten Farbe des Bogens genannt werden, siehe Anmerkung 38 in: Gylfaginning. [Lorenz], S. 253f. 88 Ausgenommen davon ist, wie oben schon erwähnt, gemäß der zitierten Strophe 29 aus Grímnismál der Gott Þórr, der die Brücke Ásbrú nicht überschreiten oder wie die anderen Götter mit einem Pferd bereiten kann. 89 Vgl.: Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 50. Ein Miteinbeziehen Ásgarðrs in das durch den Wall geschützte Gebiet basiert auf der Prämisse, dass das Gebiet der Götter, im Sinne einer horizontalen Strukturierung, als innerhalb Miðgarðrs angenommen wird. 3 Die Entwicklung der Topographien der eddischen Mythen 126 brechen, oder die Brücke müsste in einen für die Riesen zugänglichen Bereich innerhalb der Topographie hineinragen. Insbesondere die zweite Annahme scheint recht unwahrscheinlich zu sein, da die beiden Enden der Brücke im Narrativ einigermaßen genau situiert sind: Wie weiter oben schon dargelegt, liegt das eine Ende beim Richtplatz in der Nähe der Esche Yggdrasils und das andere scheint an einer Stelle verortet zu sein, von der aus die Asen Zutritt haben. Keines der beiden Enden wird einem Raum zugeordnet, der auch von den Riesen beansprucht wird oder diesen in der Topographie der Prosa-Edda zugeschrieben würde. Die Bemerkung, dass die Riesen ohne das Feuer auf der Brücke ungehindert in den Himmel gehen würden, mag implizieren, dass das eine Ende von Bifröst vertikal höher gelagert ist und somit Gylfis Vorstellung eines Weges in den Himmel entspricht. 90 Dennoch bleibt an dieser Stelle des Narratives noch unklar, weshalb die Riesen überhaupt den Weg in den Himmel beschreiten wollten und weshalb sie eine Bedrohung, vor der das Feuer auf der Brücke den Himmel schützen soll, darstellen könnten. Bezüglich einer lokalisierbaren Ebene innerhalb des Himmels äußert sich Hár nur sehr vage, wenn er sagt, dass es im Himmel viele prächtige Orte gäbe und dass diese göttliche Protektion genießen würden. 91 Dabei bleibt sowohl unklar wie diese Stellen, Orte oder Stätten innerhalb des Himmels gelagert sind, als auch wodurch dieser göttliche Schutz zustande kommt und ob er auch dann aufrecht erhalten bleibt, wenn die Götter sich über Bifröst zum Richtplatz bei der Esche begeben. 3.3.6 Doppelungen im Raum Nach einer kürzeren Passage zu einer Halle bei der Quelle unter der Esche, über die dort wohnenden Nornen und deren Verbindung zum Schicksal der Menschen, 92 kommt Gylfi wiederum über eine Frage auf den Baum zu sprechen: Þá mælti Gángleri: Hvat er fleira at segja stórmerkja frá askinum? Hár segir: mart er þar af at segja. Örn einn sitr í limum asksins, ok er hann margs vitandi, en í milli augna honum sitr haukr sá, er heitir Veðrfölnir. Íkorni sá, er heitir Ratatöskr, renn upp ok niðr eptir askinum, ok berr öfundarorð milli arnarins ok Níðhöggs; En IIII hirtir renna í limum asksins ok bíta barr; Þeir heita svâ: Dáinn, Dvalinn, Dunevrr, Duraþrór. En svâ margir ormar eru í Hvergelmi með Níðhögg, at engi túnga má telja; […]. 93 [Darauf sprach Gángleri: Was für weitere Wunderdinge sind von der Esche zu erzählen? Hár sagt: Viel ist davon zu erzählen. Ein Adler sitzt in den Zweigen der Esche und er weiß viel, aber zwischen seinen Augen sitzt jener Habicht, der Veðrfölnir heißt. Das Eichhörnchen, das Ratatöskr heißt, rennt entlang der Esche hinauf und hinunter und übermittelt Schmähworte zwischen dem Adler und Níðhöggr. Aber vier Hirsche dringen in die Zweige der Esche und fressen die Triebe ab. Sie heißen so: Dáinn, Dvalinn, Dunevrr, Duraþrór. Aber so viele 90 Vgl.: Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 60-62 91 Vgl.: Ebd., S. 72. 92 Siehe dazu: Ebd., S. 72-74 93 Ebd., S. 74 3.3 Die Weltenesche und die Quellen als topographische Strukturmittel 127 Schlangen sind mit Níðhöggr im Hvergelmir, dass keine Zunge sie aufzuzählen vermag; ...] Schon Gylfis Wortwahl bei der Äußerung seines Wunsches nach weiteren Einzelheiten oder Erzählungen über die Esche weist darauf hin, dass er hinsichtlich der genaueren Beschreibung des Baumes Erstaunliches oder Verwunderliches erwartet. 94 Sowohl Gylfis Frage als auch Hárs Einleitung der Antwort zeigen ein bemerkenswertes Bewusstsein dafür, dass die erneute Ausdifferenzierung der Esche und ihres Umfeldes über ein weiteres Narrativ zustande kommen wird und somit erst im Moment der oralen Vermittlung innerhalb des Erzählraums in der Diegese des erzählten Raumes entstehen und in der intradiegetischen Topographie verfestigt wird. 95 Die in Hárs Erzählung beschriebene Darstellung der Lebewesen, die sich auf, an, unter und um Yggdrasill bewegen, entspricht in den Hauptzügen den Strophen 32-35 aus der Grímnismál, 96 welche weiter oben schon hinsichtlich ihrer raumstrukturierenden Eigenschaft diskutiert wurde, folgt jedoch einem anderen Aufbau. Das Narrativ ordnet die Wesen, die in Verbindung mit der Esche stehen, in einer anderen Reihenfolge als in der Grímnismál: Als erstes Tier wird der Adler beschrieben, der in den Ästen Yggdrasils sitzt und zwischen dessen Augen ein namentlich genannter Habicht 97 sitzt. Von einem im oberen Teil des Baumes situierten Punkt, dem Aufenthaltsort des Adlers und des Habichts ausgehend, schildert Hár in seinen weiteren Ausführungen die anderen Entitäten, die sich bei der Esche aufhalten: Ratatöskr, das Eichhörnchen, wird in der Variante des Narratives, wie sie die Prosa-Edda wiedergibt, zu einem Vermittler, welcher gehässige Worte vertikal in beide Richtungen kolportiert. So wird nicht nur der Vogel in den Ästen gewissermaßen verdoppelt, sondern auch die Sprechrichtung des Eichhörnchens wird zu einer doppelten, was die Möglichkeit der Aktionen innerhalb des Raumes des Baumes erweitert. Níðh ǫ ggr, der zuvor schon ins Narrativ eingeführt wurde, erfährt keine Verdoppelung, doch werden unzählige Schlangen an derselben Stelle verortet, was einer Vervielfachung in verkleinerten Abbildungen seiner selbst entspricht. Die Hirsche und deren Namen sind dieselben wie in Strophe 34 in der Grímnismál. 98 Im Gegensatz zur Ausformulierung dieses Erzählfragmentes in 94 Dies wird besonders deutlich durch die Verwendung des Wortes stórmerki, welches einzig in der Handschrift der Redaktion U keine Erwähnung findet. Siehe dazu das Kompositum stórmerki unter dem Lexem stórin: Baetke: Wörterbuch zur altnordischen Prosaliteratur, S. 609. 95 Sowohl die Frage als auch die Einleitung zur Antwort enthalten das Verb segja, dessen Denotat immer auf eine mündliche Vermittlung referiert. Siehe dazu unter dem Lexem segja in: Baetke: Wörterbuch zur altnordischen Prosaliteratur, S. 521f. 96 Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 63f. 97 Der Habicht Veðrfölnir, der in der einzig Redaktion U Veðrlaufnir genannt wird, findet einzig an dieser Stelle in der Prosa-Edda Erwähnung und kommt auch in keinem der eddischen Lieder vor. Zur Redaktion U siehe: The Uppsala Edda. [Heimir Pálsson], S. 30. 98 Vgl.: Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 64. Die Redaktion U der Prosa-Edda weicht wiederum etwas von den anderen Kodizes ab, da darin der erstgenannte Hirsch mit dem Namen Daninn belegt ist. Zwei der vier Hirschnamen werden auch in anderen Zusammenhängen innerhalb der eddischen Texte verwendet: Dáinn ist sowohl in Strophe 13 (nur in der Version der Hauksbók, siehe dazu: Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 3, Fussnote zu Strophe 13) innerhalb der Aufzählung der Zwergennamen in der V ǫ lospá und in der Gylfaginning der Prosa-Edda (siehe dazu: Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 64-66), in deren Narrativ diese Stelle zitathaft Verwendung findet, und in Strophe 7 im Hyndlolióð (siehe 3 Die Entwicklung der Topographien der eddischen Mythen 128 der Lieder-Edda, in welcher die Hirsche beinahe statisch mit nach hinten geneigten Häuptern dastehend dargestellt sind, dringen sie in Hárs Erzählung aktiv ins Geäst der Esche ein, was auf eine gewisse Dynamik und einen möglichen Raum außerhalb des Astwerkes Yggdrasils hinweist. Durch diese Bewegung wird der Baum noch stärker ins Zentrum des durch ihn eröffneten Raumes gerückt, wenn die vier Hirsche aktiv auf die Esche zugehen und sie bedrängen. Die Doppelungen und Vervielfachungen im Raum, die durch die Erzählung vorgenommen werden, können als Erfüllung von Gylfis Erwartungen bezüglich der wundersamen Begebenheiten rund um Yggdrasill gelesen werden. In den Vordergrund tritt insbesondere die namentliche Einschreibung des Habichts in den Raum der Esche, da der Habicht, im Gegensatz zum anonym gehaltenen Adler, weder im Narrativ der Prosa-Edda noch in anderen eddischen Texten Verwendung findet. Diese performative Benennung eines Tieres, welches in keiner Weise mythologisch oder narratologisch funktionalisiert oder spezifiziert wird, treibt Hárs Erzählstrategie der Ausdifferenzierung der eddischen Topographie ad absurdum. Es werden zwar sowohl der Raum als auch das in ihm vorhandene Figurenensemble erweitert, doch bleibt der verortete und benannte Habicht ein leerer Indikator in der sonst durch Erzählungen unterfütterten Diegese. Sowohl die Topographie als auch die darin scheinbar agierende Figur werden durch die Situierung und Benennung aufgebläht, wobei eine Referenz, die über ein Narrativ dem Namen des Habichts einen Inhalt verleihen könnte, gänzlich fehlt. Der Habicht wird, trotz des Versuches ihn mittels der Namensgebung und des ihm zugewiesenen Platzes als Subjekt innerhalb der Diegese nutzbar zu machen, zum Objekt oder gar einem leeren Zeichengefüge degradiert, welches zwar benannt ist, jedoch auf nichts Weiteres zu verweisen vermag. So verschwindet er auch sofort wider aus der von den Asenkönigen erzählten Welt, wenn sich das Narrativ anderen Dingen zuwendet, da dem Habicht zur nötigen Erinnerbarkeit eine eigene Geschichte fehlt. Wie zuvor schon angedeutet, erkennen die drei Asen, die Gylfi die Topographie der eddischen Mythen in der Prosa-Edda erzählen, das Problem, dass die Welt, wie sie sie in ihrer eigenen Erzählung entstehen lassen, mit dem Abbrechen des gesamten Narratives selbst zu einem Ende kommen wird. Der Habicht Veðrfölnir kann hier als Versuch der Erzählinstanzen gelesen werden, Gylfi dahingehend zu testen, ob er eine Offenlegung des narratologischen Verfahrens der Erzählinstanzen erkennt. Der Name Veðrfölnir dient folglich als Kumulationspunkt für das erzählerische Prinzip, indem er auf etwas verweist, was in der sprachlich erzeugten Diegese keinen Bezugspunkt mehr hat, der über ein Mikronarrativ gegeben wäre. So wird der Habicht zur leeren Worthülse entwertet, was von Gylfi jedoch weder erkannt noch dazu: Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 289), welches nicht im Codex Regius der Lieder-Edda überliefert ist, als Name eines Zwerges überliefert, sowie in Strophe 143 der Hávmál (siehe dazu: Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 41) als Name eines álfr (dt., Alben). Dvalinn bezeichnet in einer Strophe der in Skáldskaparmál überlieferten Alsvinnsmál (siehe dazu: Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 482) dem Text zufolge wohl einen Reiter. In Strophe 11 (siehe dazu: Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 3) innerhalb der Aufzählung der Zwergennamen in der V ǫ lospá und in der Gylfaginning der Prosa-Edda (siehe dazu: Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 64) die daraus zitiert, in Strophe 14 (siehe dazu: Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 4) der V ǫ lospá, in Strophe 143 der Hávmál (siehe dazu: Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 41), in Strophe 16 der Alvíssmál (siehe dazu: Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 126), sowie in Strophe 13 der Fáfnismál (siehe dazu: Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 182) und in der Gylfaginning (siehe dazu: Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 72), in der aus der Strophe 13 der Fáfnismál zitiert wird, bezeichnet der Name einen Zwerg. 3.4 Himmelsräume 129 kommentiert wird. Dadurch scheint die Aufrechterhaltung der Diegese und ihrer Topographie weiterhin zu gelingen, was am weiteren Verlauf, beziehungsweise dem Fortlaufen des Narratives zu erkennen ist. 3.4 Himmelsräume Nach der Betrachtung und Diskussion der einzelnen Funktionen, die den Räumen, welche der Weltenbaum erzeugt oder die an ihn angelagert sind, im Narrativ zugeschrieben werden, und der Beschreibung der Tiere, welche den Raum der Esche Yggdrasils bevölkern, nimmt Gylfi die im Narrativ zur Brücke Bifröst schon angedeutete Himmelsthematik erneut in einer Frage auf: Þá mælti Gángleri: Mikil tíðindi kannþu at segja af himnum: hvat er þar fleira höfuðstaða en at Urðarbrunni? Hár segir: Margir staðir eru þar göfugligir: Sá er einn staðr þar, er kallat er Álfheimr, þar byggvir fólk þat, er Ljósálfar heita, en Dökkálfar búa niðri í jörðu, ok eru þeir úlíkir þeim sýnum, en miklu úlíkari reyndum. Ljósálfar eru fegri en sól sýnum, en Dökkálfar eru svartari en bik. Þar er einn sá staðr, er Breiðablik er kallat, ok engi er þar fegri staðr. Þar er ok sá, er Glitnir heitir, ok eru veggir hans ok steðr ok stólpar af rauðu gulli, en þak hans af silfri. Þar er enn sá staðr, er Himinbjörg heitir, sá stendr á himinsenda við brúarsporð, þar er Bifröst kemr til himins. Þar er enn mikill staðr, er Valaskjálf heitir; þann stað á Óþinn, þann gerðu guðin ok þöktu skíru silfri; ok þar er Hliðskjálfin í þessum sal, þat hásæti er svâ heitir, ok þá er Allföðr sitr í því sæti, þá sèr hann of allan heim. Á sunnanverðum himins enda er sá salr, er allra er fegrstr ok bjartari en sólin, er Gimle heitir; hann skal standa þá er bæði himin ok jörð hefir farizt, ok byggja þann stað góðir menn ok rèttlátir of allar aldir. Svâ segir í Völuspá: Sal veit ek standa sólu fegra, gulli betra, á Gimle, þar skulu dyggvar dróttir byggja ok of aldr-daga yndis njóta? 99 [Darauf sprach Gángleri: Wichtige Begebenheiten kannst du vom Himmel erzählen: Welche weiteren bedeutenden Orte gibt es dort außer jenen am Urðarbrunnr. Hár sagt: Viele herrliche Orte gibt es dort. So ist ein Ort dort, der Álfheimr genannt wird, dort lebt jenes Volk, das Ljósálfar heißt, aber die Dökkálfar leben unten in der Erde, und sie sind ungleich in ihrer Erscheinung, aber noch ungleicher in ihrer Erfahrung. Ljósálfar sind glänzender als die Sonne im Aussehen, aber Dökkálfar sind schwärzer als Pech. Dort ist auch der Ort, der Breiðablik genannt wird, und es gibt dort keinen schöneren Ort. Dort ist auch jener, der Glitnir heißt, und seine Wände und Stützen und Säulen sind aus rotem Gold, aber sein Dach aus Silber. Da ist auch der Ort, der Himinbjörg heißt, 99 Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 78-80. 3 Die Entwicklung der Topographien der eddischen Mythen 130 er befindet sich am Himmelsende beim Brückenkopf, dort wo Bifröst in den Himmel kommt. Da ist außerdem jene wichtige Stätte, die Valaskjálf heißt, diese Stätte gehört Óþinn, diese errichteten die Götter und deckten sie mit reinem Silber. Und in diesem Saal dort ist Hliðskjálf, jener Hochsitz der so heißt, und wenn Allföðr in diesem Sitz sitzt, dann sieht er über die ganze Welt. Am nach Süden gerichteten Himmelsende ist jener Saal, der von allen der schönste und strahlender als die Sonne ist, dieser heißt Gimle. Er wird noch stehen, wenn beide, Himmel und Erde, vergangen sind. Und an diesem Ort werden sich gute Menschen und rechtschaffene für alle Zeiten aufhalten. So heißt es in der Völuspá: Einen Saal weiß ich stehen schöner als die Sonne, besser als Gold, auf Gimle, dort soll sich das rechtschaffene Gefolge aufhalten, und für ewige Zeiten nutzen was glückselig macht.] Gylfis Aussage kann dahingehend interpretiert werden, dass das zuvor in den Erzählungen Erfahrene für ihn dann einen direkten Bezug zum Himmel zu haben scheint, 100 wenn die Thematik auf den Weltenbaum in seiner Gesamtheit gerichtet war, von dem, gemäß dem Narrativ, einzig eine der drei Wurzeln in den Himmel reicht. Nach der Beschreibung des bisher als Hauptort genannten Urðarbrunnr erwartet Gylfi, dass ihm die drei Könige von weiteren wichtigen Plätzen oder Stellen berichten, die innerhalb des Himmels von Bedeutung sind. Alleine schon die Tatsache, dass Gylfi nach zusätzlichen Orten im Himmel fragt, präsupponiert, dass dieser Himmelsraum innerhalb der Diegese der von den Asenkönigen entwickelten Erzählung im weiteren Verlauf des Narratives ausdifferenziert werden muss. Wiederum ist es Hár, der Gylfis Forderung nach einer erweiterten und strukturierteren Ausgestaltung des Himmels nachkommt, um die bisher rudimentär ausgestaltete Erzählung über den Himmel für die von den Asenkönigen sprachlich imaginierte intradiegetische Topographie der Prosa-Edda auszuweiten und über diese Spezifikation den Raum weiter zu entfalten. Hár hält dann auch gleich zu Beginn seiner Antwort fest, dass der Himmel durch mehrere prächtige Orte gegliedert sei. Auf diese Antwort folgt eine Aufzählung der verschiedenen Orte oder Stätten, die sich alle gegenseitig an Großartigkeit übertreffen, was teilweise auch auf deren Bewohner zutrifft. Sie setzt mit der Nennung von Álfheimr ein, welcher von den Ljósálfar (dt.: Lichtalben) bewohnt wird. Über das Determinans, welches zur genaueren Bestimmung der Alben dient, bildet das Narrativ eine Dichotomie, bei der die Dökkálfar (dt.: Dunkelalben) in die Diegese eingeführt werden. Von diesen wird erzählt, dass sie, im Gegensatz zu den Ljósálfar, die als schöner als die Sonne beschrieben werden, unten in der Erde wohnen und dunkel wie 100 Siehe dazu auch die Anmerkung 1 zu Kapitel 17, in welcher Lorenz dahingehend argumentiert, dass schon über Gylfis Bemerkung der Schauplatz des Geschehens in den Himmel als überirdischer Bereich versetzt werde: Gylfaginning. [Lorenz], S. 270f. Für eine solche Leseweise, bei der der Himmel in eine göttliche Sphäre, im Sinne des christlich konnotierten oder zumindest eines transzendenten Himmels, entrückt wäre, gibt es an dieser Stelle jedoch keine erkenntlichen Angaben im Text. 3.4 Himmelsräume 131 Pech seien. Da die Opposition bei der Lokalisierung der topographischen Lage des Lebensraumes der Dökkálfar dezidiert hervorgehoben wird, kann davon ausgegangen werden, dass im Gegensatz dazu Álfheimr oberirdisch 101 zu verorten ist. Zu den nach Álfheimr genannten Stätten Breiðablik und Glitnir hingegen macht das Narrativ keine Aussage darüber, wie die beiden Orte innerhalb der erzählten Topographie des „Himmels“ zu verorten sind. Dies ist darauf zurückzuführen, dass zu ihrer Lokalisierung einzig die deiktische Angabe þar (dt.: dort, da) verwendet wird und diese Partikel, ohne ein deiktisches Zentrum, eine ambige Bezugnahme oder Relation der genannten Orte anbietet. 102 So kann þar sowohl auf „im Himmel“ als auch „in Álfheimr“ referieren. Breiðablik und Glitnir können somit eigenständige Gebiete, Plätze oder Gebäude irgendwo innerhalb des Himmel benennen oder auf Stellen innerhalb des schon genauer beschriebenen Álfheimr verweisen. Je nach Interpretation dieser Schachtelung spezifiziert das Narrativ dadurch entweder die räumliche Großstruktur des Himmels oder konkretisiert ein schon eingeführtes Teilgebiet dieser Struktur durch darin enthaltene Unterstrukturen. Die Ambiguität dieser Stelle im Narrativ vermag darauf zu verweisen, wie einerseits Unschärfe zur Erzeugung der Topographie der erzählten Diegese in der Prosa-Edda fruchtbar gemacht wird als auch darauf, dass durch die ambige Subordination eine gewisse Dynamik und Unfestigkeit der Raumsituation erkenntlich wird, bei der sich das Raumgefüge entweder ineinander verschachtelt oder sich entfaltet. Im Gegensatz zu der zuvor beschriebenen vagen und ambigen Topographie beschreibt Hár ziemlich exakt, an welcher Stelle Himinbjörg innerhalb der von ihm durch die Erzählung imaginierten und damit sich intradiegetisch manifestierenden Raumsituation zu liegen kommt. Ein weiteres Mal führt das Narrativ den benannten Ort über die deiktische Partikel þar ein, lässt die dadurch aufkommende Unschärfe jedoch hinter sich, indem Himinbj ǫ rg genauer verortet wird: Himinbjörg wird an den Rand des Himmels, beziehungsweise dessen Ende gesetzt, an dem auch der Brückenkopf 103 der Regenbogenbrücke Bifröst lokalisiert wird. 101 „Oberirdisch“ soll hier einzig als „über der Erde liegend“ verstanden werden und als Platzhalter für eine genauere Lokalisierung von Álfheimr dienen, da eine Verortung dessen, was hier innerhalb der Diegese als „Himmel“ bezeichnet wird, an dieser Stelle noch nicht zu klären ist. 102 Zu raumreferentiellen Ausdrücken siehe auch: Dennerlein: Narratologie des Raumes, S. 209, Tabelle 2. 103 Die Wortkombination brúarsporðr wird meist als Brückenkopf oder Brückenende übersetzt. Siehe dazu unter dem Lemma brú: Baetke: Wörterbuch zur altnordischen Prosaliteratur, S. 72. Insbesondere die Semantik von Brückenkopf würde auf eine Konnotation mit einer Wehranlage am Ende einer Flussbrücke hinweisen. Siehe dazu: Böhme, Horst Wolfgang et al. [Hrsg.]: Wörterbuch der Burgen, Schlösser und Festungen. Reclam, Stuttgart 2004, S. 87-88. Diese Leseweise würde Himinbjörg zu einer Festung am Rande des Himmels machen, wobei das Narrativ keine Motivation für eine Schutzbedürftigkeit des Himmels erkennen lässt, welche vor dem Beginn von ragnarökr auszumachen wäre, da die Hauptfeinde der Götter, die Riesen, dem Narrativ der Prosa-Edda nach durch den Wall um Miðgarðr ausgesperrt sind und somit keinen Zugang zum Anfang der Brücke haben können. In Strophe 13 der Grímnismál wird Himinbjörg mit Heimdallr in Verbindung gebracht, der darin als vorðr goða (dt.: Wächter der Götter) bezeichnet wird: Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 59f. Diese Funktion des Brückenwächters wird Heimdallr später auch in der Gylfaginning der Prosa-Edda zugeschrieben, wobei auch die Strophe aus Grímnismál in etwas abgeänderter Version zitiert wird: Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 100-102. 3 Die Entwicklung der Topographien der eddischen Mythen 132 Zu den bisher genannten Orten im Himmel fügt Hár Valaskjálf hinzu. Dieser Name wird von Hár zuerst als Bezeichnung für einen Ort, eine Stätte oder einen Wohnsitz („staðr“) und danach für einen Saal oder eine Halle („í þessum sal“) verwendet. Damit wird Valaskjálf, im Gegensatz zu Glitnir, bei welchem einzig die beschriebene Architektur auf eine Halle hinweist, explizit als erstes Gebäude innerhalb der Topographie des erzählten Himmels eingeführt. Der Name Hliðskjálf, der zuvor im Narrativ laut Hár auf einen Ort verweist, 104 bezeichnet nun einen Hochsitz, von dem aus die ganze Welt zu überblicken ist. 105 Durch die Verschiebung des Denotats von Hliðskjálf von einer nicht genauer umschriebenen Stelle hin zu einem Hochsitz, konkretisiert sich auch dessen räumliche Lage. Hliðskjálf, welches zuvor als eigenständiger Platz innerhalb von Ásgarðr bezeichnet wird, 106 ist nun integrativer Bestandteil von Valaskjálf. Gleichzeitig wird der unbenannte Hochsitz, der auf Hliðskjálf steht, in seiner benannten Variante in eine Halle versetzt. Dabei findet eine Übertragung statt, bei der die Funktionalisierung des Hochsitzes durch seine Versetzung in eine Halle auch eine gewisse Vergeistigung erfährt. Solange der Hochsitz noch auf einer Stelle namens Hliðskjálf verortet wird, von der nicht gesagt wird, dass sie sich im Innern eines Gebäudes befindet, kann die ihm zugeschriebene Funktion einer Erhöhung, von der aus die ganze Welt überblickt werden kann, noch durch die topographische Lage erklärt werden. Dieser Erklärungsversuch versagt in jenem Moment, wenn Hliðskjálf als Bezeichnung auf den Hochsitz selbst übertragen und dieser zudem in die Halle Valaskjálf versetzt wird. Der Hochsitz wird sowohl von seinem zuvor genannten Standort innerhalb von Ásgarðr an einen neuen Platz im Himmel versetzt als auch in ein Gebäude inkludiert, was ein direktes Sehen, welches zuvor vom Hochsitz aus möglich war, nun verhindert. Durch das Einschließen des Aussichtspunktes, den Hliðskjálf repräsentiert, und der damit erzeugten Störung einer direkten visuellen Wahrnehmung, kann diese Funktionalisierung nicht mehr über die Topographie geleistet werden. Die Sichtbarkeit geht in beide Richtungen verloren: Der in Valaskjálf stehende Hochsitz kann weder von außen gesehen werden, noch ist es, physikalischnaturwissenschaftlich betrachtet, von Hliðskjálf aus möglich weiter als bis an die Halleninnenwände sehen zu können. Der Rundumblick auf die Welt, der vom Hochsitz in der Halle im Himmel aus aber dennoch möglich ist, wird somit zwangsläufig zu einem inneren und geistigen Sehen. Diese Übertragung, die durch die Verlagerung des Hochsitzes und dem damit einhergehenden „neuen Sehen“ zustande kommt, wirkt sich auch auf die Konnotation der Topographie des Himmels aus, wie weiter unten aufgezeigt wird. 104 Siehe dazu: Ebd., S. 54. Vgl. dazu auch Anmerkung 9 in: Gylfaginning. [Lorenz], S. 174. 105 In der Lieder-Edda findet Hliðskjálf in den Prosaprologen zu den beiden Liedern Grímnismál (Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 56) und F ǫ r Scírnis (Ebd., S. 69) Erwähnung. In der Einleitung zu Grímnismál steht, dass Óðinn und seine Frau Frigg „sáto í Hlíðskjálfo“ [saßen in Hlíðskjálf], wobei das Verb sitja sowohl „sitzen“ als auch, neben vielen weiteren Bedeutungen, „sich niederlassen“ gelesn werden kann (siehe dazu Baetke: Wörterbuch zur altnordischen Prosaliteratur, S. 536f.). In F ǫ r Scírnis steht „Freyr, […], hafði sezc í Hliðskjálf oc sá um heima alla.“ [Freyr, ..., hatte sich in Hlíðskjálf gesetzt und sah in alle Welten.] Die Verbform setjask (von setja) kann wiederum als „sich setzen“ und „Platz nehmen“ oder als „sich an einem Ort niederlassen“, „sich ansässig machen“ gelesen werden (siehe dazu Ebd., S. 529). Beide Nennungen von Hliðskjálf sind somit auch in der Lieder-Edda ambig lesbar und verweisen bei weitem nicht so dezidiert auf einen Hochsitz, wie dies z.B. Simek zu erkennen glaubt. Siehe dazu: Simek: Lexikon der germanischen Mythologie, S. 194f. 106 Siehe dazu: Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 54. 3.4 Himmelsräume 133 Nachdem Gimle schon zuvor - synonym zu Vingólf und als christilich konnotierter Jenseitsort für die rechtschaffenen Verstorbenen - durch Þriði in die Diegese der Prosa-Edda eingeführt wurde, 107 findet nun über die Erzählung Hárs eine Verortung dieser implizit christlichen Vorstellungen im Himmel und damit eine Übertragung in die von den Asenkönigen entwickelte intradiegetische Topographie ihres eigenen, eddischen Narratives statt. In der sprachlichen Übertragung wird der Saalbau Gimle am südlichen Ende des Himmels in den Himmelsraum eingeschrieben und als schönstes und strahlendstes Gebäude hervorgehoben. Auch bei dieser Verortung und Darstellung wird Gimle als Aufenthaltsort für gute und rechtschaffene Leute charakterisiert, welche dort für alle Zeit, selbst wenn der Himmel und die Erde vergangen sein werden, wohnen werden. Eine dezidierte Konnotation von Gimle mit einem Schöpfergott, wie dies an der früheren Stelle im Text der Fall war, oder sonst einer Gottheit findet im Narrativ an dieser Stelle jedoch nicht statt. Die als Zitat eingefügte, jedoch abgeänderte Strophe 64 der V ǫ lospá, welche auf die Beschreibung der Halle Gimle folgt, macht keine Angabe zum Namen der Halle selbst, sondern benennt Gimle als Ort, an dem der Saal steht. So finden sich in der oben zitierten Textpassage aus der Prosa-Edda zwei unterschiedliche topographische Darstellungen für Gimle, wenn das Prosanarrativ ein Gebäude bezeichnet, die Versstrophen jedoch auf ein Gebiet verweisen. Auch die Halle oder der Saal selbst werden in den unterschiedlichen Kodizes verschieden beschrieben. Der Codex regius der Lieder-Edda, sowie die Redaktionen W und U der Prosa-Edda beschreiben ihn als „gulli þacþan“ 108 (dt.: mit Gold bedeckt), in den Redaktionen R und T der Prosa-Edda steht hingegen, der Saal sei „gulli betra“ 109 (dt.: besser als Gold). Zwar würde die Beschreibung eines mit Gold gedeckten Hallendaches in Korrelation zu den Beschreibungen von Valaskjálf und Glitnir stehen, was laut Lorenz „stilistisch besser wäre“, 110 doch vermag die Kollokation, wie sie in den Redaktionen R und T vorkommt, die Darstellung der Halle, die als strahlender als die Sonne bezeichnet wird, in Hárs Erzählung besser aufzunehmen. Durch die Verwendung eines Übertreibungsgestus im Sinne einer Hyperbel, bei dem sich Herrliches mit noch Herrlicherem ablöst, wird die erzählte Topographie des Himmels innerhalb der gesamten Diegese der Prosa-Edda deutlich hervorgehoben und wenn nicht räumlich, so zumindest in hierarchisierender Weise wertend an die Spitze der bisher erwähnten Orte gestellt. Auch die in der Darstellung genannten und für die Bauten verwendeten Werkstoffe Gold und Silber, können im Sinne einer Wertung gelesen werden. Diese darf jedoch nicht ausschließlich mit der materiellen Bedeutung der Edelmetalle in einem außertextuellen Kontext gleichgesetzt werden, sondern ergibt sich schon innerhalb des Narratives durch die exklusive und dezidierte Nennung der Bausubstanzen für Teile der beiden Stätten Valaskjálf und Glitnir innerhalb der erzählten Topographie des Himmels. 111 107 Siehe dazu: Ebd., S. 38. 108 Zum Wortlaut der Redaktion U siehe: The Uppsala Edda. [Heimir Pálsson], S. 34; zu jenem der Redaktion W siehe unter Gylfaginning 17 [W] unter: https: / / notendur.hi.is/ / ~eybjorn/ gg/ gg4dip17.html (Stand: 09.05.2015) 109 Siehe dazu: Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 15. 110 Siehe dazu Kommentar 14, § 3 in: Gylfaginning. [Lorenz], S. 276f. 111 Eine semantische Konnotation von Reichtum und glänzender Pracht, welche durch die beiden Edelmetalle unweigerlich zusätzlich aufgerufen wird, darf sicher nicht ausgeschlossen werden, da diese zum oben genannten Übertreibungsgestus beitragen. 3 Die Entwicklung der Topographien der eddischen Mythen 134 An diese Erzählung über die räumliche Strukturierung des Himmels hängt sich ein weiteres himmelsbezogenes Narrativ an, welches wiederum durch eine Frage Gylfis eingeleitet wird: Þá mælti Gángleri: Hvat gætir þess staðar þá er Surta logi brennir himin ok jörð? Hár segir: svâ er sagt, at annarr himin sè suðr ok upp frá þessum himni, ok heitir sá himin Andlángr, en hinn III . himin sè enn upp frá þeim, ok heitir sá Víðbláinn, ok á þeim himni hyggjum vèr þenna stað vera, en Ljósálfar einir hyggjum vèr at nú byggvi þá staði. 112 [Darauf sprach Gángleri: Was bewahrt diesen Ort, wenn Surts Flamme Himmel und Erde verbrennt? Hár sagt: Es wird erzählt, dass ein zweiter Himmel südlich und über diesem Himmel sei, und dieser Himmel heißt Andlángr, aber der dritte Himmel sei noch über diesen, und der heißt Víðbláinn, und wir glauben, dass in diesem Himmel jener Ort sei, aber wir glauben, dass einzig die Ljósálfar nun an diesem Ort wohnen.] Obwohl Gylfi anscheinend in Erfahrung bringen möchte, was diese Stätte, also Gimle, beschützen wird, wenn die Flamme von Surtr 113 den Himmel und die Erde vernichtet, geht Hár in seiner Replik auf den Himmel in seiner Gesamtheit ein. Diese Form des Nichteingehens auf eine von Gylfi gestellte spezifische Frage durch ein Umlenken auf größere Zusammenhänge, ermöglichte es den Erzählinstanzen, wie schon mehrfach aufgezeigt, neue Narrative und Topographien zu generieren, ohne dass dabei der Sprech- oder Erzählakt und die darin postulierte Diegese missglücken würde. Hár erzählt in seiner Antwort, dass es über dem bisher beschriebenen Himmel einen weiteren namens Andlangr gebe, der im Süden liege, und darüber ein dritter Himmel namens Víðbláinn liege, in dem er Gimlé verortet und der von den Ljósálfar bewohnt sei. 114 Diese Mehrhimmeltheorie, welche der Text hier wiedergibt, ist in keiner Weise eine der eddischen Diegese entstammende genuine Idee. Unter dem Titel „Alfheim og Himlene“ 115 geht Holtsmark dem Diskurs zu diesen übereinander gelagerten Himmeln nach und findet auch Parallelen zum altnordischen Elucidarius: Magister: Þrir ero himnar. Einn licamlegr sa es ver megom sia. Annar andlegr. Þar es andlegar scepnor bvggua þat ero englar. Enn þriþe es scilningar himinn þar es heilog þrenning bvggver. Oc helger englar mego þar sia Goþ. 116 112 Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 80. 113 Der Name Surtr, der in der Prosa-Edda dem Wächter von Muspell und dem Vernichter der Welt zugeschrieben wird, wird, seiner Bedeutung folgend, in der Redaktion U an dieser und anderen Stellen mit Svartr gleichgesetzt. Vgl. kritischer Apparat zu Strophe 52 in der V ǫ lospá der auf die Variante in Redaktion U eingeht: Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 12. 114 Wiederum weicht hier die Redaktion U von den anderen drei Redaktionen der Prosa-Edda ab, da darin die Namen der zwei weiteren Himmel in umgekehrter Reihenfolge verwendet werden. Siehe dazu: https: / / notendur.hi.is/ / ~eybjorn/ gg/ gg4par17.html (Stand: 09.05.2015) 115 Holtsmark: Studier i Snorres mytologi, S. 35-38. 116 The Old Norse Elucidarius: Original Text and English Translation. Evelyn Scherabon Firchow [Hrsg. und Üs.], Camden House, Columbia 1992, S. 4. (= Medieval Texts and Translations) 3.4 Himmelsräume 135 [Lehrer: Drei Himmel gibt es. Ein körperlicher, den wir sehen können. Ein zweiter ist geistig. Dort halten sich die geistigen Geschöpfe auf, dies sind die Engel. Und der dritte ist der Himmel des Verstandes, wo sich die heilige Dreifaltigkeit aufhält. Und die heiligen Engel können dort Gott schauen.] Holtsmarks oft rezipierte 117 Argumentation geht sowohl von der Wortähnlichkeit zwischen „andlegr“ (dt.: geistig, geistlich) und dem Namen Andlángr aus als auch davon, dass sie in den Ljósálfar eine Übertragung der christlichen Engel in die eddische Mythologie sieht. 118 Eine solche Interpretation über einen Diskurs, der dieser Mehrhimmeldarstellung in der Textstelle der Prosa-Edda zugrunde liegt, ist zwar nicht unproblematisch, doch durchaus möglich. Eine Schlüsselfrage, die bei Holtsmark unbeantwortet bleibt, ist jene nach dem ersten Himmel. Im Elucidarius wird dieser mit dem physisch sichtbaren Himmel gleichgesetzt. Im Narrativ der Prosa- Edda ist hingegen schon der erste Himmel durch eine Topographie geprägt, die sowohl verschiedenste Orte als auch deren Bewohner aufzunehmen vermag, zu denen auch die Ljósálfar und Gimle zählen. Die Überlagerung der von Hár postulierten ersten Topographie des Himmels mit der darauffolgenden Erzählung zu den übereinanderliegenden Himmel zeigt somit mehrere Brüche in der Diegese auf: Einerseits wird Gimle, welches wohl mit dem Ort gleichzusetzen ist, den die Asenkönige nun plötzlich als in Víðbláinn verortet zu wissen vorgeben, dadurch aus der räumlichen Struktur des ersten Himmels ausgelagert. Andererseits werden auch die zuvor in Álfheimr angesiedelten Ljósálfar, welches als Gebiet im ersten Himmel verortet anzunehmen ist, nun mit Gimle und dem dritten Himmel in Verbindung gebracht. 119 Diese Umstellung und Veränderung in der Topographie des Himmels wirkt äußerst unmotiviert, wenn man bedenkt, wie detailreich und spezifisch die bisherige Struktur dieses Raumes und der darin gelegenen Orte und Gebäude von der Erzählinstanz vorgenommen wurde. Dennoch gibt es in beiden Narrativen zumindest eine Gemeinsamkeit für die Verortung von Gimle, wenn der Hallenbau oder Saal in beiden Darstellungen im Süden lokalisiert wird. Im topographisch strukturierten Himmel befindet sich Gimle am südlichen Ende des Himmels und die zwei weiteren, gestaffelten Himmel werden als südlich des ersten Himmels gelegen beschrieben. Eine Überlagerung oder ein Aufeinandertreffen der drei Himmel am Südrand wäre durchaus vorstellbar und könnte auch eine gleichzeitige Existenz von Gimle in den verschiedenen, einander tangierenden Himmelsräumen legitimieren. Gegen eine solche Konstruktion und Verschachtelung der Himmelsräume spricht hingegen der Umstand, dass das Narrativ der Prosa-Edda Gimle entweder im ersten oder im dritten Himmel verortet, nie aber im zweiten, und dass im ersten Himmel keine Beziehung zwischen den in Álfheimr lokalisierten Ljósálfar und Gimle etabliert wird. Eine Lokalisierung des Göttlichen und eine gewissermaßen vergeistigte Konnotation erfährt der Himmel im Narrativ der Prosa-Edda erst über die Verknüpfung eines der glorifizierten Orte mit Óðinn, den Wechsel der Referenz für Hliðskjálf von einem 117 Siehe dazu z.B. Anmerkung 3 in: Gylfaginning. [Lorenz], S. 271f. 118 Holtsmark: Studier i Snorres mytologi, S. 36f. 119 Diese Verortung der Ljósálfar im Narrativ der Prosa-Edda steht auch in einer Teilopposition zur Interpretation der Ljósálfar als Adaption der Engel aus dem altnordischen Elucidarius bei Holtsmark. Im Elucidarius ist der zweite Himmel der Lebensraum oder die Wohnstätte der Engel, der dritte Himmel ist einzig durch die Trinität besetzt und dient den Engeln nur als Schauraum zur Erkennung Gottes. 3 Die Entwicklung der Topographien der eddischen Mythen 136 Ort innerhalb des horizontal verorteten Ásgarðr, welches im Zentrum von Miðgarðr und somit auf der Erde liegt, 120 hin zu einem gleichnamigen Hochsitz im Himmel, und über die Konkretisierung und Einschreibung Gimles als Jenseitsort für rechtschaffene und gute Menschen in diesem Himmelsraum. Auffällig an der gesamten räumlichen Konnotation des Göttlichen mit einem Ort im Himmel oder sogar mit dem Ort „Himmel“ ist, dass dieser Wechsel der Funktion des Himmels erst nach der weiter oben diskutierte Frage Gylfis und der damit verbundenen Nennung des Himmels ins Narrativ einfließt. Zuvor wird der Himmel einzig als Schädeldecke Ýmis eingeführt und ist im Sinne einer Himmelsschale zur Verortung der Laufbahn von Sonne und Mond sowie als Aufhängung der Sterne funktionalisiert. 121 Dabei fungiert der Himmel, der sich auf die vier als Zwerge personifizierten Himmelsrichtungen stützt, eher als eine Art liminale Membran, unter und über der sich die Himmelskörper befinden und die sich vom Rand der Erde aus über den Zenit derselben spannt. 122 In dieser ersten raumstrukturierenden Funktion ist der Himmel mehr ein Gewölbe, welches sich wie ein Schirm oder ein umgedrehtes Gefäß über der kreisförmigen Erde erhebt, unter dem die Nacht und der Tag sowie der Mond und die Sonne, allesamt als anthropomorphe Personifizierungen, auf von Pferden gezogenen Wagen ihre Runden drehen. 123 Dieser Himmel bildet eine Art Firmament oder einen Hohlraum über der aus den Gebieten der Riesen, aus Miðgarðr und aus Ásgarðr bestehenden Erde und dem Meer und steht gleichzeitig zumindest an den vier Fixpunkten der Himmelsrichtungen mit der Erde in Verbindung. Dabei ist der beschriebene Raum des Himmels, trotz der sich darin befindlichen Himmelskörper und Gestirne, gänzlich ohne verortbare Stellen oder lokalisierbare Plätze, welche auf topographische Merkmale hinweisen würden. Eine erste, wenn auch vage Lokalisierbarkeit eines Ortes im Himmel entsteht durch die Nennung und Beschreibung von Bifröst, wie sie weiter oben diskutiert wurde. Die Himmelsbrücke wird von den Asenkönigen benutzt, um Gylfis Frage nach einem Weg in den Himmel zu beantworten. Durch diese materialisierte Verbindungslinie zwischen Erde und Himmel wird der Himmel selbst zu einem begehbaren Ort erweitert, womit auch das Narrativ die Möglichkeit erhält, diesen bisher noch leeren, sphärischen Raum topographisch zu verfestigen und zu strukturieren. Obwohl Hár in seinen Aussagen zu Bifröst hauptsächlich auf die Bauweise der Brücke und eine umgekehrte ätiologische Erklärung derselben eingeht, wird schon durch Gylfis Frage offensichtlich, dass er sich den Himmel als begehbar und dessen Erscheinungsform als einen Ort vorstellt, der sich in dieser Funktion von jener des Himmelsgewölbes als Sphäre über der Erde deutlich unterscheidet. Eine zweite kurze Nennung als topographisch strukturierter Raum erfährt der Himmel bei seiner Beschreibung als Bestandteil des Einflussgebiets der Esche Yggdrasils. Der Himmel wird mit der dritten Wurzel des Baumes in Verbindung gebracht, unter der die Quelle Urðarbrunnr liegt und an der sich auch die Gerichtsstätte der Asen befindet. Durch die Dreigliederung, welche mit der Erwähnung der Wurzeln der Esche und deren räumliche Erstreckung einhergeht, wird der Himmel endgültig zu einem Gebiet umgedeutet, welches einen Raum situierbar macht und konkretisieren lässt. Dennoch bleibt unklar, wie sich dieser Himmelsraum strukturiert und wie er sich innerhalb der bisher im Narrativ der Pro- 120 Siehe dazu: Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 54. 121 Vgl.: Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 48-60. 122 Siehe dazu: Ebd., S. 48-50. 123 Siehe dazu: Ebd., S. 56. 3.5 Die Unvereinbarkeit der erzählten Topographien 137 sa-Edda etablierten Topographie verorten lässt. Da gesagt wird, dass die eine Wurzel Yggdrasils im Himmel liege, kann man sich diese, wie weiter oben schon diskutiert wurde, entweder als auf den Himmel gerichtet und dort verortete Wurzel oder als eine sich durch den Himmel und damit durch das Firmament ziehende, dabei jedoch nur einen Bogen beschreibende, vorstellen. Der Wechsel in der Darstellung des Himmelraumes ist spätestens dann gänzlich vollzogen, wenn Gylfi von Orten im Himmel erfahren will, die sich seiner Annahme zufolge zusammen mit Urðarbrunnr in diesem topographisch verfestigten Himmel befinden müssen. Die Erzählung Hárs, welche darauf folgt, konkretisiert nun den Himmel als Lebensraum, bebautes Gebiet und als den Wohnsitz von Óðinn. Damit verweist der Himmel nicht länger auf eine Sphäre sondern auf einen verortbaren und topographisch strukturierten, gefestigten Raum innerhalb der erzählten Diegese. 3.5 Die Unvereinbarkeit der erzählten Topographien Diese sukzessive Umformung der Konnotation des Himmels, von der stark materialverhafteten Himmelsschale aus Ýmis Schädeldecke hin zu einem topographisch ausformulierten Lebensraum der Asen und Lichtalben, findet innerhalb des Narratives der Prosa-Edda über eine dynamische Sequenz statt, die durch Gylfis Fragen initiiert wird. Erst der jeweils geäußerte Wunsch nach weiteren Einzelheiten zu den Orten im Himmel oder zum Himmel an sich, veranlasst die drei Asenkönige zusätzliche Erzählstränge zu eröffnen und damit die Topographie zu konkretisieren und zu verdichten. Dabei zeigt sich auch, dass die Darstellung des Himmels für Gylfi umso glaubwürdiger zu sein scheint, je stärker seine Räumlichkeit in der Erzählung ausdifferenziert, durch topographische Angaben gefüllt und somit gewissermaßen an eine bekannte, beziehungsweise irdische Topographie angeglichen wird. Diese von Gylfi durch sein Nachfragen angeregten und eingeforderten Erzählungen der Asen und die in den Antworten von den Erzählinstanzen angewandten Strategien reüssieren selbst dann, wenn sich retrospektiv Widersprüche zu zuvor ausformulierten Darstellungen der Topographie erkennen lassen. Eine solche Unvereinbarkeit der erzählten Topographien, auf die intratextuell in der Prosa-Edda jedoch nicht eingegangen wird, soll hier exemplarisch anhand der Darstellung Bifrösts als Brücke zwischen Himmel und Erde aufgezeigt werden. Dabei sind zwei Funktionalisierungen Bifrösts von Bedeutung, die im Narrativ zur Strukturierung des Raumes vorgenommen werden: Einerseits wird die Brücke zur Grenze und bildet damit gleichzeitig eine Trennung als auch eine Verbindung zweier Räume, andererseits dient Bifröst als Passage, bei welcher der Weg zum Raum wird. Über ihre Verwendung als Weg zwischen Himmel und Erde manifestiert sich die Brücke gleichzeitig als Grenze zwischen diesen beiden Räumen. 124 Dabei macht sie den Raum des Himmels einerseits begehbar, wenn der Himmel nun nicht mehr als unzugängliche Schale und Sphäre präsentiert wird, andererseits wird die Brücke zur Trennlinie zwischen dem Raum der Erde und jenem des Himmels, da erst durch ihre Existenz eine Dualität der beiden Gebiete erzeugt wird. Himmel und Erde sind zwar schon vor der Einführung Bifrösts ins Narrativ sich gegenüberstehende Entitäten, doch sind diese beiden Teile über die Punkte, auf denen die Himmelsschale auf der Erde ruht, direkt 124 Vgl.: Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 60-62. 3 Die Entwicklung der Topographien der eddischen Mythen 138 miteinander verbunden. Erst der zusätzliche und zugängliche Raum, der durch die Brücke im Himmel entsteht, macht diesen neuen Himmelsraum zu einer Singularität und löst ihn aus dem Gesamtgefüge heraus. Dabei wird auch Ásgarðr, welches wie zuvor beschrieben bisher in der Mitte der Welt oder Miðgarðs verortet wird, durch die Existenz dieser grenzziehenden Brücke, von der Erde abgespalten und in den neuen Himmelsraum überführt. Die Verlagerung des Wohnsitzes der Götter wird im Narrativ der Prosa-Edda sukzessive als Prozess vollzogen: Die zu Beginn der Erzählung der Asenkönige in einem in der Mitte der Welt liegenden, irdischen Ásgarðr 125 angesiedelten Æsir werden über die Beschreibung der drei Wurzeln Yggdrasils, von denen die eine bei den Asen und gleichzeitig im Himmel liegt, mit dem topographisch noch unstrukturierten, jedoch von der Erde abgelösten Himmelsraum in Verbindung gebracht. Parallel dazu wird erzählt, dass unter derselben Wurzel im Himmel auch die Richtstätte der Asen, bei Urðarbrunnr, liegt, zu der diese jeden Tag über Bifröst reiten. 126 Über die Nennung der Brücke und des Ortes, zu dem sie führt, wird ein Ende des Weges, den die Brücke darstellt, innerhalb der Topographie verortet, während der Ausgangspunkt, von dem aus die Asen die Strecke über Bifröst zurücklegen, ungenannt bleibt. Diese Verortung des Brückenkopfes beginnt dann paradox zu werden, wenn Urðarbrunnr von Gylfi als im Himmel liegend angesehen wird, ohne dass ihm einer der drei Asenkönige widerspricht. 127 Zum einen Ende der Brücke bei der Richtstätte im Himmel fügt Hár danach die Darstellung eines Brückenkopfes hinzu, welcher bei Himinbjörg lokalisiert wird. 128 Die Topographie, welche durch Bifröst beschrieben wird, diversifiziert das Narrativ folglich immer stärker: Die Grenze und Verbindungslinie, die die Brücke zwischen den durch sie voneinander abgelösten Gebieten der Erde und des Himmels bildet, löst sich auf und weicht einer doppelten Lokalisierung des Brückenkopfes im Himmel. Es kann durchaus sein, dass Urðarbrunnr und Himinbjörg in enger Nachbarschaft zueinander stehen und die beiden Namen auf dasselbe Ende der Brücke, welches im Himmel verortet wird, in der Erzählung der Asenkönige referieren. Die topographischen Angaben, die das Narrativ für die Orte, Hallen und Plätze im Himmel vermittelt, sind zu vage, um eine solche Annahme grundsätzlich zu verwerfen. Zudem könnte auch hier das bisher im Narrativ öfters erkannte Prinzip der Überlagerung oder Überlappung der räumlichen Gegebenheiten und Strukturen zum Tragen kommen, bei dem die Unfestigkeit der Topographie zu einer partiellen oder temporären Gleichsetzung der beiden Orte Urðarbrunnr und Himinbjörg führen könnte. Problematischer ist jedoch weniger die Frage nach der Verortung des Endes der Brücke im Himmel, als vielmehr die damit einhergehende Überlegung hinsichtlich des Ausgangspunktes Bifrösts. Wenn die Æsir in der Erzählung Hárs vom irdischen Ásgarðr in den im Narrativ neu eröffneten Himmelsraum umgesiedelt werden, was wie oben gezeigt wurde, schon durch die Verortung der einen Wurzel Yggdrasils bei den Asen im Himmel vollzogen wird, löst sich die Verbindung zur Erde auf, für die Bifröst funktionalisiert wird. Dies lässt sich an der Beschreibung des Weges erkennen, den die Asen bei ihrem Ritt über die Brücke hin zur Richtstätte zurücklegen. Denn wenn sowohl Urðarbrunnr als auch die Asen im Himmel verortet sind und Bifröst als Weg zwischen dem Ausgangspunkt der Asen und dem Richtplatz fungiert, dann verliert die Brücke ihre Anbindung zur Erde. 125 Vgl.: Ebd., S. 54. 126 Vgl.: Ebd., S. 70. 127 Vgl.: Ebd., S. 78. 128 Vgl.: Ebd. 3.5 Die Unvereinbarkeit der erzählten Topographien 139 Dabei wird Bifröst zu einer innerhimmlischen Passage umfunktioniert, bei der die Intention und Funktion der Brücke als eigenständiger Raum im Vordergrund steht. Dieser Passagenraum ist somit stärker auf die Möglichkeit des Zurücklegens einer Wegstrecke, beziehungsweise auf den Endpunkt derselben gerichtet, als auf jene einer Transgression zwischen Himmel und Erde. 129 So wird der Himmelsraum endgültig zu einem singulären und kann nun, losgelöst von seiner anfänglichen Konnotation mit der Materialität der Schädeldecke Ýmis, durch weitere Erzählungen aufgefüllt und neu funktionalisiert werden. Die disparate Konnotation von Erde und Himmel und die unterschiedlichen Funktionen und Konzepte, die diesen beiden Gebieten in der Topographie der eddischen Mythen zugeschrieben werden, lassen sich auf einer sprachlichen Ebene auch im Alvíssmál der Lieder-Edda erkennen. 130 Aufgebaut in einer Dialogstruktur will der Ase Þórr darin vom allwissenden Zwerg Alvíss die Bezeichnungen oder heiti für verschiedene von ihm genannte Dinge erfahren, beziehungsweise, wie diese bei den verschiedenen mythischen Lebewesen heißen. So kommt Þórr in Strophe 9 auch auf die Erde zu sprechen und will wissen, welche weiteren Bezeichnungen Alvíss dafür kennt: „Segðu mér þat, Alvíss, - ǫ ll of r ǫ c fira voromc, dvergr, at vitir -, hvé sá i ǫ rð heitir, er liggr fyr alda sonom, heimi hveriom í? “ 131 [„Sag du mir dies, Alvíss, - alle Schicksale der Wesen ahne ich, Zwerg, weißt du -, wie heißt die Erde, die vor der Menschen Söhne liegt, in jeder Welt? “] Die Formulierung „heimi hveriom í“ (dt.: „in jeder Welt“) bezieht sich wohl nicht auf einzelne, singuläre Welten, sondern auf die Gebiete oder Lebensräume, die den einzelnen Gattungen von Wesen zugeteilt sind. So nennt dann Alvíss die jeweiligen Bezeichnungen für die Erde, welche die verschiedenen Gruppen von Geschöpfen dem Denotat zuordnen: „I ǫ rð heitir með m ǫ nnom, enn með ásom fold, kalla vega vanir, ígrœn i ǫ tnar, álfar gróandi, kalla aur upregin.“ 132 [„Erde heißt sie bei den Menschen, aber bei den Asen Feld, Wege nennen sie die Wanen, 129 Transgression wird an dieser Stelle in einem doppelten Sinn verstanden: Einerseits in der Grundbedeutung des Überschreitens und andererseits als Übertretung oder Verstoß gegen die vorgegeben Ordnung, wenn die Söhne Muspells bei ragnarökr bei ihrem Versuch, den Himmel zu erstürmen, die Brücke zum Einsturz bringen. Vgl.: Ebd., S. 60-62. 130 Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 124-129. 131 Ebd., S. 125. 132 Ebd. 3 Die Entwicklung der Topographien der eddischen Mythen 140 Immergründe die Riesen, die Alben Wachsende, sandiger Boden die oben waltenden Mächte.“] Der Zwerg gibt hier die Art und Weise an, wie die Menschen, die Asen, die Wanen, die Riesen, die Alben und die „oben waltenden Mächte“, beziehungsweise die Götter als Gesamtheit von Asen und Wanen die Erde nennen. Dabei fallen die unterschiedlichen Konnotationen auf, die dem Denotat beigemessen werden und die teilweise eine gewisse Funktionalisierung beinhalten. I ǫ rð oder Jörð bezeichnet in der nordischen Mythologie nebst der Erde auch die als Gottheit personifizierte Erde. 133 Die Bezeichnung fold, welche die Asen für die Erde verwenden, kann mit Feld, Land oder Erde übersetzt werden. 134 Insbesondere von raumstrukturierendem Interesse sind die Benennungen der Wanen, Riesen und der Alben, da diese auf Pfade oder Wege (vega), die Fruchtbarkeit der immergrünen (ígrœn) Erde, sowie auf das Wachsen (gróandi) und somit auf eine Ausdehnung oder die Fruchtbarkeit referieren. Der Erde wird jeweils ein Mehrwert zugeschrieben: Die Bezeichnungen der Erde, wie sie laut Alvíss von den Riesen und den Alben verwendet wird, verweist auf die Fertilität der Erde und interpretiert diese gleichsam als Organismus, der Leben hervorzubringen oder als System selbst eigenständig zu wachsen vermag. Für die Wanen hingegen scheint die Erde eine Ansammlung oder Bündelung von Strecken zu sein. Dies verweist auf die Funktion der Erde als ein Raum, der begangen werden kann und in welchem Distanzen zwischen verschiedenen Punkten zurückgelegt werden können. Gleichzeitig referiert ein Weg immer auch auf ein Gelände, welches sich um einen Weg herum befindet oder in welchem sich der Weg als begehbarer Streifen abzeichnet. So bildet ein Weg innerhalb der ihn einschließenden Topographie eine Linie, welche einerseits festgelegt sein kann und damit sowohl die Spuren vergangener Begehungen aufzeigt als auch eine Spur für zukünftige vorgibt, andererseits jedoch, wenn ein neuer Weg abgeschritten wird, erst über eine Realisierung als Strecke im Raum präsent und aktualisiert wird. Wenn nun vega als Synonym für die Erde steht und diese Wege schon vorhanden sind, so kann man sie sich als eine Reihe von Parallelen oder ein Geflecht oder Netzwerk von Linien vorstellen, die auf jeden Fall immer eines Raumes bedürfen, durch den die Wege einerseits verlaufen können und der sie andererseits umgibt und sie gleichzeitig voneinander abgrenzt. Da sich die Bezeichnung vega 135 für die Erde, die den Wanen durch Alvíss im Narrativ zugeschrieben wird, auf mehrere Wege bezieht und nicht nur auf einen Weg, der die Erde in ihrer Gesamtheit als Strecke zwischen zwei nicht genannten Punkten beschreiben würde, scheint es für die Wanen in der erzählten Diegese noch Räume außerhalb dieser Wege zu geben: Die Erde wird zu einem Netz aus Wegen, bei dem weder deutlich ist, welche Räume damit verbun- 133 Siehe dazu auch: Simek: Lexikon der germanischen Mythologie, S. 229. Die hier zitierte Strophe aus dem Alvíssmál lässt jedoch keinen Rückschluss darauf zu, ob es sich bei der Nennung von Iorð um die Bezeichnung der Erde oder den Namen der Gottheit handelt, da der Anfang der Replik des Zwerges und somit der erste Buchstabe von Iorð durch eine Majuskel wiedergegeben wird. Vgl.: GKS 2365 4to, 19v. Zudem spricht gegen eine Interpretation der Nennung von Iorð als Name der Göttin, dass hier keine Sakralisierung der Erde erkennbar ist, die diese in einen religiösen oder kultischen Kontext einbinden würde, welcher zwingend nötig wäre, um eine solche Funktionalisierung der Erde im Narrativ deutlich machen zu können. 134 Siehe dazu unter dem Lemma fold in: Sveinbjörn Egilsson: Lexicon Poeticum Antiquæ Linguæ Septentrionalis, S. 144f. 135 Die in Strophe 10 des Alvíssmál verwendete Form von vegr ist maskulin, Genitiv, Plural. 3.5 Die Unvereinbarkeit der erzählten Topographien 141 den werden, noch wie sich die Leerräume zwischen den einzelnen Wegen, ihren Knotenpunkten und Kreuzungen topographisch gestalten. Gleichzeitig kann die Bezeichnung auf die Begehbarkeit der topographisch strukturierten Erde referieren, bei der der Raum der Erde die Möglichkeit zum Durchschreiten bietet. Die Funktionalisierung der Erde bleibt bei beiden Interpretationsmöglichkeiten dieselbe: Für die Wanen stellt die Erde ein Geflecht aus Strecken dar, die einerseits Orte verbindet, die es andererseits aber auch zu überwinden gilt. Weniger auf eine Funktion als auf einen Zustand verweist die Bezeichnung der Erde als aur, 136 wie sie gemäß dem Narrativ des Alvíssmál durch die upregin erfolgt. Sowohl „sandiger Boden“ als auch „feuchte Erde“ können als Hinweis auf die in der V ǫ lospá beschriebene Hebung der Erde durch die Söhne Burs gelesen werden. 137 Dabei würde die Konnotation mit der feuchten und damit wohl jungen Erde, die topographisch noch unbestimmt und wenig strukturiert ist, die Semantik des heiti bestimmen. Auch eine andere mögliche Konnotation dieser Bezeichnung könnte sich aus der V ǫ lospá speisen, da darin in Strophe 19 beschrieben wird, wie die Täler unter den Wurzeln der Esche Yggdrasils durch den Tau, der vom Baum tropft, nass werden. 138 Dies sind jedoch nur zwei spekulative Versuche, um mögliche Ansätze zur Herleitungen des Begriffs aurr, der von den upregin für den Himmel verwendet wird, über die innertextuelle Großstruktur der Lieder-Edda zu erklären. Interessant ist auch, dass die „oben waltenden Mächte“, wenn man diese wie schon erwähnt als die Gesamtheit der Götter, bestehend aus den Asen und Wanen, interpretiert, in dieser kollektiven Funktion einen anderen Sprachgebrauch zu haben scheinen, als innerhalb der einzelnen Göttergeschlechter. Zudem benutzt Þórr, der sowohl den Asen als auch den „oben waltenden Mächten“ zugerechnet werden kann, in seiner Frage das Wort i ǫ rð zur Bezeichnung der Erde, welches laut Alvíss sonst von den Menschen gebraucht wird. Dies weist darauf hin, dass i ǫ rð im Narrativ als Denotat und die weiteren Synonyme, welche die nichtmenschlichen Wesen verwenden, im poetologischen Sinne als dessen heiti anzusehen sind. Noch deutlicher wird die unterschiedliche räumliche Konnotation der einzelnen Bezeichnungen bei Alvíss Antwort auf Þórs Frage nach den unterschiedlichen Benennungen für den Himmel: „Himinn heitir með m ǫ nnm, en hlýrnir með goðom, kalla vindofni vanir, uppheim i ǫ tnar, álfar fagraræfr, dvergar driúpan sal.“ 139 [„Himmel heißt er bei den Menschen, aber Gestirntäger bei den Göttern, Windweber nennen ihn die Wanen, Oberwelt die Riesen, Glanzdach die Alben, die Zwerge tropfenden Saal.“] 136 Siehe dazu unter dem Lemma aurr: Baetke: Wörterbuch zur altnordischen Prosaliteratur, S. 35, sowie in: Gering: Glossar zu den Liedern der Edda (Sæmundar Edda), S. 16. Die von Gering angegebenen weiteren Bedeutungen unter Punkt 1 (Nass, Wasser) und Punkt 3 (Kot) sind für die vorliegende Stelle irrelevant. 137 Vgl. Strophe 4 in der V ǫ lospá in: Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 1. 138 Vgl.: Ebd., S. 5. 139 Ebd., S. 125f. 3 Die Entwicklung der Topographien der eddischen Mythen 142 Der Zwerg beginnt seine Aufzählung der verschiedenen Begriffe für Himmel mit dem Denotat himinn, dessen Gebrauch er den Menschen zuordnet. Auffällig bei der Nennung der weiteren heiti für Himmel und der ihnen zugeordneten Geschöpfe ist, dass die Asen als Kategorie entfallen und durch die Götter in ihrer Gesamtheit substituiert werden, die Wanen hingegen weiterhin als eigenständige Geschlecht beibehalten werden. Zudem gibt Alvíss keine Bezeichnung für den Himmel bei den „Ratenden“ an, sondern ersetzt diese durch die Zwerge. Die heiti für Himmel verweisen alle auf eine dem Denotat zugeschriebene Funktion, welche mitunter auch auf eine deutlich raumstrukturierende Konnotation hinweist. Hlýrnir 140 , welches die Bezeichnung des Himmels bei den Göttern ist, referiert auf den Himmelskörper tragenden oder mit Gestirnen versehenen Himmel. Dabei wird der Himmel entweder als Material für die Aufhängung der Gestirne verstanden oder zu einem Raum, in dem sich die Himmelskörper befinden. So verweist hlýrnir über die Gestirne, beziehungsweise in seiner Funktion als Trägermaterial derselben, wie dies die Himmelschale aus Ýmis Schädeldecke tut, auf den Himmel. Der bezeichnete Raum des Himmels wird somit erst über die sich in ihm befindlichen Objekte realisiert. Die Bezeichnung vindofnir 141 , die die vanir gemäß Alvíss für den Himmel verwenden, verweist auf dessen meteorologische Eigenschaft Wind zu erzeugen oder - im Sprachgebrauch der Wanen - diesen zu weben. Dabei steht die Funktion, die der Himmel als Sphäre hat, im Zentrum der Konnotation und der Raum des Himmels wird über den in ihm produzierten Wind realisiert. Der über das heiti bezeichnete Raum entzieht sich einer statischen Materialisierung, wie sie in anderen Benennungen erkennbar ist, und wird zur reinen produktiven Dynamik, bei der weder der Produzent (der Himmel als Sphäre) noch das Produkt (der Wind) oder der Produktionsvorgang (das Weben) in direkter und visueller Form ersichtlich sind. Uppheimr 142 , welches die Bezeichnung des Himmels bei den Riesen ist, verweist gleich auf mehrere konzeptuelle Inhalte: Die „Oberwelt“ kann im Sinne einer Perspektive gelesen werden, die von den Riesen gegenüber dem Bezeichneten eingenommen wird und diese zugleich selbst als unter dem Himmel lebend verortet. Gleichzeitig verweist das heiti auf die Lage des Himmels, der durch die Bezeichnung als „Welt“ auch eine gewisse topographisch-materielle Festigkeit erhält und zu einem autonomen Raum zu werden scheint. Die Alben verwenden für den Himmel die Umschreibung fagraræfr, was als „Glanzdach“ übersetzt werden kann. 143 Dies verweist wie hlýrnir sowohl auf eine feste Deckenkonstruktion als auch auf deren Fähigkeit zu leuchten oder zu glänzen, was sich auf die Sonne oder Gestirne beziehen mag, die darin verortet werden. Der Himmel wird somit wiederum als eine materiell verfestigte Kuppel über der Erde interpretiert, deren Funktion im Erhellen der darunterliegenden Erde liegt. Ein Raum, als 140 Siehe dazu unter dem Lexem hlýrnir: Sveinbjörn Egilsson: Lexicon Poeticum Antiquæ Linguæ Septentrionalis, S. 267. 141 Siehe dazu unter dem Lemma vindofnir: Gering: Glossar zu den Liedern der Edda (Sæmundar Edda), S. 197. 142 Siehe dazu unter dem Lemma uppheimr: Ebd., S. 179. 143 Siehe dazu unter dem Lemma fagraræfr: Sveinbjörn Egilsson: Lexicon Poeticum Antiquæ Linguæ Septentrionalis, S. 119. 3.5 Die Unvereinbarkeit der erzählten Topographien 143 abgeschlossenes Ganzes, wird durch das Dach nicht realisiert. So bleibt der Himmel in der Bezeichnung der Alben ein statisches Gebilde, das selbst nur als Trägermaterial für das Leuchten fungiert, jedoch keine eigenständige Topographie aufweist. Bei den Zwergen wird der Himmel gemäß dem Narrativ driúpan 144 sal 145 genannt. Mit dieser Benennung verweist dieser tropfende oder triefende Saal oder die Halle gleich auf mehrere Konzepte, welche sich stellenweise mit den oben angeführten decken. Der Himmel wird einerseits explizit als Raum im Sinne einer Halle oder eines Saals aufgefasst. Diese verweist wohl wiederum auf die Vorstellung der Himmelsschale aus Ýmis Schädel, die auf der Erde ruht und über der Erde ein hallenartiges Gewölbe bildet. Dabei steht über diese Bezeichnung, wie auch schon in anderen heiti zum Himmel, die materielle Festigkeit der Himmelschale im Zentrum der Konnotation. Das Tropfen des Saals andererseits bezieht sich wohl auf den aus dem Himmel auf die Erde fallenden Regen. Somit impliziert die Wortfolge driúpan sal in dieser Bedeutung die Vorstellung von einem Naturphänomen, wie dies ebenso für hlýrnir, vindofnir und fagraræfr festgestellt werden konnte. Der metaphorische Verweis auf das Himmelsgewölbe, aus dem es auf die Erde niederregnet, lässt ein Konzept erkennen, welches einen singulären und statischen Raum beschreibt, jedoch keinen Hinweis auf eine Topographie gibt. Bemerkenswert an diesen Strophen des Alvíssmáls ist, dass über die einzelnen Bezeichnungen für Erde und Himmel keinerlei Bezüge zu den Lebewesen hergestellt werden, deren Benennungen der Objekte vom Zwerg aufgesagt werden. So ist es auch nicht möglich, eine der Sprachgruppen im Himmel oder auf der Erde zu verorten oder ihren Lebensraum über die heiti genauer zu eruieren, um Orte innerhalb des Himmels oder auf der Erde bestimmen zu können, die eine topographische Strukturierung erkennen ließen. Dies wird, wie zuvor schon erwähnt, dadurch zusätzlich erschwert, dass auch Þórr jeweils diejenige Bezeichnung in seinen Fragen verwendet, welche laut Alvíss ausschließlich von den Menschen verwendet wird. So wird die Zuteilung von Bezeichnung und den Bezeichnenden, die der Zwerg in seiner Aufzählung und somit das Narrativ angibt, schon von Vornherein aufgebrochen. Zudem zeigen sich ganz unterschiedliche, teilweise widersprüchliche Konzepte, die über die einzelnen Bezeichnungen für dasselbe Denotat hergestellt werden, und die dem Bezeichneten dadurch auch verschiedene Funktionen zuordnen. Da im Lied jedoch keine Erzählungen an die verschiedenen Bezeichnungen geknüpft werden, sondern alle heiti erst durch ihre Erwähnung im Narrativ performativ entstehen, muss sich der Leser sowohl die Konzepte, welche mit den Benennungen vermittelt werden, als auch die dadurch zustande kommenden Funktionalisierungen der Objekte selbständig erarbeiten. Durch die Nennung der einzelnen Bezeichnungen, welche die verschiedenen Wesen in ihrem eigenen Sprachgebrauch für die Objekte haben, beziehungsweise dadurch, dass der Zwerg in der Erzählung eine solche Kategoriebildung vornimmt, werden die semantischen Konzepte performativ etabliert, verfestigt und zur weiteren Verwendung im Narrativ verfügbar gemacht. 144 Siehe dazu unter dem Lemma drjúpr: Gering: Glossar zu den Liedern der Edda (Sæmundar Edda), S. 32. 145 Siehe dazu unter dem Lemma salr: Ebd., S. 143. 4 Ephemere Topographien 4.1 Vorüberlegungen zu den unbeständigen Raumstrukturen Die bisher besprochenen Topographien der eddischen Mythen zeigten sich zwar stellenweise Veränderungen ausgesetzt, die durch räumliche Umformungen, semantische Überlagerungen oder über neue Zuschreibungen zustande kommen, doch bleiben sie in den einzelnen Erzählungen relativ konsistent und lassen sich, wie zu sehen war, oft auch für weitere Narrative verwenden. Es konnte auch dargelegt werden, dass eine räumliche Beschreibung innerhalb der Erzählung auf umso größere Akzeptanz stößt, je detaillierter ihre Topographie ist. Ein Topos wird durch die sprachliche Ausdifferenzierung seiner räumlichen oder topographischen Konstitutionen performativ über die Erzählung oder das Erzählen selbst in das Narrativ eingeschrieben und darin verfestigt. Im folgenden Kapitel werden räumliche Strukturen analysiert und diskutiert, welche nur kurzfristig in den Erzählungen realisiert werden und sich noch in demselben Narrativ, zu dem die Erzählungen gehören, wieder verflüchtigen. Solche topographisch unsteten Orte können unterschiedlich motiviert sein. In den eddischen Texten finden sie sich, wie im Folgenden gezeigt wird, einerseits in peripheren Räumen, also fern der durch die Erzählung ausgestalteten Topographie. Diese Orte präsentieren sich dann auch weniger in Abgrenzung zu bekannten, erzählten Räumen oder über eine eigene Topographie, sondern hauptsächlich durch eine geographische Richtungsangabe, in der sie zu verorten sind und die über die Erzählung anscheinend semantisch aufgeladen wird. Andererseits können ephemere Orte auch innerhalb eines tragenden Narratives vorkommen. In diesem Fall kann der Raum, wie dies von den festeren Topographien her bekannt ist, ausdifferenziert erzählt und beschrieben werden, da die Flüchtigkeit des Ortes durch die Erzählung selbst motiviert und intendiert sein kann. In einem ersten Teil wird auf ephemere Topographien eingegangen, die sich in den einzelnen eddischen Texten zwar durchaus als Topoi, sowohl im Sinne von Orten als auch deren stereotype Verfestigung in den Narrativen, erkennen lassen, deren räumliche Strukturierung jedoch sehr vage und indifferent bleibt. So soll auch versucht werden zu klären, wie sich ein ephemerer Raum, der topographisch undefiniert und instabil ist, gleichzeitig zu einem wiederkehrenden Topos in den eddischen Texten verfestigen kann. Die Entwicklung solcher unbeständiger Räume und der Umgang mit ihnen in den Erzählungen wird anhand der Verortung der Riesen im Osten der eddischen Topographie dargestellt und diskutiert. Der zweite Teil des Kapitels geht der Frage nach, welches narratologische Prinzip einem flüchtigen Ort und dessen topographischer Beschreibung zugrunde liegen kann, wenn diese innerhalb des Narratives eine tragende Rolle einnehmen. Was geschieht mit einem Ort, wenn er durch die Erzählinstanz nach seiner Konstruktion wieder bis zur Auflösung dekonstruiert wird? Was geschieht mit dem Raum selbst, der für die Erzählung entwickelt, innerhalb der bekannten Topographie verortet und 4 Ephemere Topographien 146 später wieder aus der Verortung gelöst wird, und wie ist dieser Vorgang durch die Erzählung motiviert? Bei der Betrachtung und Analyse der ephemeren Topographien steht explizit nicht ihr Ende, sondern ihre Flüchtigkeit und Unbestimmtheit sowie deren Funktionalisierung im Narrativ im Zentrum der Diskussion. Dem ephemeren Raum ist sein Ende, so könnte man als These formulieren, entweder ebenso immanent wie sein Anfang oder er ist, als Topos verwendet, nicht auf seine befristete Existenz, sondern auf das Erzeugen eines vagen und undeutlich abgegrenzten Ortes hin angelegt, der nur als zeitweiliger Träger eines wiederkehrenden und stereotypen Mikronarratives fungiert. 4.2 Die ephemere Topographie des Ostens der Riesen Riesen 1 sind in mehrfacher Hinsicht für die Topographien der eddischen Mythen von zentraler Bedeutung. Dies zeigte sich im Kapitel zum Anfang, in welchem Textstellen analysiert und diskutiert wurden, in denen der Urriese Ýmir einerseits als eine Form von Platzhalter vor der eigentlichen Schöpfung, andererseits auch explizit als Materie zur Herstellung der Topographie verwendet wird. Zudem werden die Riesen, wie schon erläutert, als Distinktionsmerkmal für die Weltteile, die sich unter den Wurzeln der Esche Yggdrasils befinden, als auch über den ihnen zugeschriebenen Sprachgebrauch für verschiedene Bezeichnungen und damit einhergehende Konzepte, als eigenständige Gruppe von Lebewesen innerhalb der eddischen Diegese in den Erzählungen etabliert. Im Folgenden werden die Riesen und ihr Lebensraum als Bestandteil der erzählten Welten innerhalb der verschiedenen Texte ausschließlich hinsichtlich ihrer geographischen Verortung in den Topographien betrachtet. In der V ǫ lospá wird den Riesen schon früh eine den Göttern gegenüber destruktive Haltung zugeschrieben, die sich, wie Schulz richtig festhält, 2 bald nach der Kosmogonie und der Etablierung kultureller Techniken zeigt. Die erste Nennung der Riesen im Narrativ der V ǫ lospá findet jedoch schon innerhalb dessen statt, was im Kapitel zur Entstehung der Welt in der V ǫ lospá als medialer und performativer Anfang beschrieben wurde. Die Erzählinstanz eröffnet einen Erinnerungsraum, in dem sie an die Riesen als jene Wesen zurückdenkt, die sie aufgezogen haben. 3 Dabei verbleiben die Riesen jedoch in diesem Erinnerungsraum und werden nicht in die später erzählte Diegese und deren Topographie überführt, da diese erst in Strophe 3 der V ǫ lospá durch den Rückblick auf die Zeit vor der eigentlichen Schöpfung entwickelt wird. 4 Die Funktionalisierung der Riesen als Aggressoren findet durch den Einfall der drei jungen Riesinnen „ór i ǫ tunheimom“ 5 , welches innerhalb der Diegese nicht explizit situiert 1 Zu den Riesen im Allgemeinen siehe unter dem Lemma Riesen in: Simek: Lexikon der germanischen Mythologie, S. 346-348, für eine eingehendere terminologische und motivische Betrachtung der Riesenthematik in der altnordischen Literatur siehe: Schulz: Riesen. Von Wissenshütern und Wildnisbewohnern in Edda und Saga; sowie für eine komparatistische Betrachtung: Motz, Lotte: Giants in Folklore and Mythology: A New Approach. In: Folklore, Vol. 93, No. 1, 1982, S. 70-84. 2 Siehe dazu: Schulz: Riesen. Von Wissenshütern und Wildnisbewohnern in Edda und Saga, S. 107. 3 Vgl. Strophe 2 in: Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 1. 4 Siehe: Ebd. 5 Ebd., S 2. 4.2 Die ephemere Topographie des Ostens der Riesen 147 wird, nach Iðav ǫ llr ihren Anfang. Eine solche negative Konnotation des Geschlechts der Riesen wird in Strophe 25 der V ǫ lospá weiter ausgearbeitet, wenn die Götter darüber beratschlagen, wer die Frau von Óðr den Riesen gegeben habe. 6 In der zweiten Hälfte der Strophe 37 7 wird ein Ort namens Ókólnir erwähnt, 8 an welchem sich die Bierhalle eines Riesen namens Brimir befindet, doch lassen sich weder die Halle noch die benannte Stelle durch das Narrativ innerhalb der Topographie verorten. Auch eine explizit negative Konnotation lässt sich ihnen nicht zuweisen. 9 „Austr sat in aldna / í Iárnviði“ 10 [Ostwärts saß die Alte / im Eisenwald] lauten die ersten zwei Zeilen der Strophe 40 der V ǫ lospá, wobei die Alte im Eisenwald häufig als Riesin interpretiert wird. 11 Die Zuschreibung der Alten zum Geschlecht der Riesen, welche an dieser Stelle im Text nicht explizit vorgenommen wird, findet über den Namen des Waldes statt, beziehungsweise über die außertextuelle Referenz von Iárnviðr zu járnviðja, das als ein heiti für eine Riesin gelesen werden kann. 12 Wenn man die Alte im Eisenwald 6 Vgl. Strophe 25 in: Ebd., S . 6. Die in der Frage der Götter erwähnte mit Verderben oder Unglück vermischte Luft (lopt alt lœvi blandit) scheint implizit in Abhängigkeit zur Übergabe von Óðs Frau an die Riesen zu stehen, doch wird der Grund dieser Kausalität nicht erwähnt. Es bietet sich an dieser Stelle an, die „schlechte Luft“ in einem metaphorischen Sinne als Verweis auf die Verschlechterung der Beziehung zwischen den Göttern und den Riesen hin zu lesen, was auch die darauffolgende Strophe 26 (Ebd., S. 6) motivieren würde. Darin zieht der Gott Þórr zu einem nicht spezifizierten, jedoch wohl mit den Riesen und damit mit i ǫ tunheimr gleichzusetzenden Ort aus, um eine zuvor vereinbarte Abmachung mit Gewalt aufzukünden. Diese Strophe wird oft als erster Zug Þórs gegen die Riesen in der V ǫ lospá interpretiert, siehe dazu auch: Schulz: Riesen. Von Wissenshütern und Wildnisbewohnern in Edda und Saga, S. 108f. 7 Siehe Strophe 37, Zeilen 5-8: Edda. [Neckel/ Kuhn], S 8. 8 Zu Ókólnir, welches sie mit „Never Cold“ übersetzt (S. 16), schreibt Dronke: „Ókólnir is not mentioned elsewhere and may well be the poet’s own invention, to contrast most plainly with the bitter cold valleys and such-deserted beach.“ Siehe dazu: The Poetic Edda. Volume II, Mythological Poems. [Dronke], S. 141. Dronkes Aussage ist in der von ihr vorgenommenen Absolutheit nicht haltbar, da auch im Codex Wormianus der Prosa-Edda mit Ókólnir der Ort benannt wird, an welchem sich die Trinkhalle befindet: „[…] i þeim sal er Brímer heiter. hann stendr a Okolní.“ Siehe dazu: Codex Wormianus, AM 242, Fol. [Kommissionen for det arnamagnæanske legat], S. 49. 9 Die Trinkhalle findet auch in der Gylfaginning in allen vier Redaktionen der Prosa-Edda Erwähnung. Im Gegensatz zur gängigen, wenn auch grammatikalisch nicht eindeutigen Leseweise von Brimir als Name des Riesen, statt der Halle, in der V ǫ lospá (vgl. dazu: Völuspá. [Nordal], S. 78.), bezeichnet Brimir in der Prosa-Edda explizit die Halle selbst. Siehe dazu: Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 198. In der Prosa-Edda wird Brimir als Halle in die textuelle, diegetisch-topographische und funktionalisierte Nähe von Gimlé gerückt, welches im Himmel verortet und durchwegs positiv konnotiert ist. Siehe dazu auch unter Anmerkung 5 in: Gylfaginning. [Lorenz], S. 632. 10 Siehe Strophe 40, Zeilen 1-2: Edda. [Neckel/ Kuhn], S 9. 11 Vgl.: Schulz: Riesen. Von Wissenshütern und Wildnisbewohnern in Edda und Saga, S. 110, oder unter Fussnote 71 in: Krause [Hrsg., Üs., Komm.]: Die Götterlieder der Älteren Edda, S. 20. 12 Siehe dazu die Anmerkung in: The Poetic Edda. Volume II, Mythological Poems. [Dronke], S. 142. Dronke verweist auf die Strophe 3 des Háleygjatal, in der die Riesentochter Skaði als járnviðja, also „die aus dem Eisenwald“, bezeichnet wird. Siehe dazu: Eyvindr Finnsson skáldaspillir: Háleygjatal. In: Den Norsk-Islandske Skjaldedigtning. B, Rettet Tekst, Første Bind. Finnur Jónsson [Hrsg.], Rosenkilde og Bagger, Kopenhagen 1973, S. 60. Im Skáldskaparmál wird Járnviðja jedoch explizit als eines der heiti für die tr ǫ llkvinna, also Trollfrauen, 4 Ephemere Topographien 148 als Riesin interpretiert, so stellen die ersten zwei Zeilen der Strophe 40 die erste, vage geographische Verortung einer Person aus dem Riesengeschlecht in der Lieder-Edda dar. Die Nennung von austr 13 gibt zwar die Himmelsrichtung an, in welcher sich die Riesin befindet, doch bleibt ein wichtiger Faktor ungeklärt, um eine genaue Verortung vorzunehmen: Ein Bezugssystem, zu welchem die Riesin über einen definierten Fixpunkt in Relation gesetzt werden könnte, fehlt an dieser Stelle. So bleibt unklar, von welchem Punkt aus austr gedacht werden muss. Dies lässt zwei Interpretationen der zwei Zeilen zu: Entweder liegt der Eisenwald, in dem sich die Alte irgendwo befindet, im Osten oder die Alte ist selbst im Osten des Eisenwaldes. Keine der beiden Lesarten kann jedoch klären, von welchem Punkt oder Bezugssystem aus „ostwärts“ gedacht werden muss. In der V ǫ lospá fehlt eine Strukturierung der Welt, wie sie im Kapitel zur Entstehung verschiedener Welten in der Prosa-Edda anhand des Prologs und der Gylfaginning aufgezeigt werden konnte. Im Gegensatz zur Darstellung des Himmels in der Gylfaginning, wie sie im Kapitel zu den Himmelsräumen diskutiert wurde, wird dieser durch die Erzählung in der V ǫ lospá nicht zu einem topographisch verfestigten und dadurch bewohnbaren Raum. So kann davon ausgegangen werden, dass die beschriebene Alte, ob nun im Eisenwald selbst oder zusammen mit dem Eisenwald, irgendwo im Osten der intradiegetischen Welt, im Sinne der Erde, beziehungsweise Miðgarðr, zu verorten ist. Eine negative Konnotation von Iárnviði kommt einzig über die Alte und über ihre Nachkommen 14 zustande und nicht über die Verortung selbst. Im Gegensatz dazu findet eine explizit negative Konnotation des Ostens als geographisch und topographisch strukturiertes Gebiet schon in Strophe 36 statt: Á fellur austan um eitrdala, s ǫ xum oc sverðom, Slíðr heitir sú. 15 [Ein Fluss fließt von Osten durch Gifttäler, mit Messern und Schwertern, Slíðr heißt er.] angegeben. Siehe dazu: Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 552. Schulz zeigt jedoch in ihrer Untersuchung zu den Termini, welche in der altnordischen Literatur für Riesen verwendet werden, auf, dass sich auch tr ǫ ll durchaus auf Riesen beziehen kann: Schulz: Riesen. Von Wissenshütern und Wildnisbewohnern in Edda und Saga, S. 45f. Auf eine gewisse Gleichsetzung der beiden Termini lässt auch die Stelle in der Gylfaginning schließen, die das Mikronarrativ um Járnviðjur wiedergibt. Siehe dazu: Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 58-60. Drin wird eine gýgr (eine Riesin oder ein Riesenweib) erwähnt, die östlich von Miðgarðr in einem Wald namens Járnviðr lebe. Die Alte, die dort im Wald lebe, sei eine tr ǫ llkona und werde Járnviðjur genannt. An dieser Stelle der Gylfaginning scheinen somit die beiden Worte gýgr und tr ǫ llkona auf dasselbe semantische Konzept oder Denotat zu verweisen, welches in der individualisierten und personifizierten Form den Eigennamen Járnviðjur trägt. 13 Siehe dazu unter dem Lemma austr in: Baetke: Wörterbuch zur altnordischen Prosaliteratur, S. 36. Da austr hier in adverbialem Gebrauch ist, liegt die Übersetzung „ostwärts“ oder „nach Osten“ nahe. 14 Siehe Strophe 40, Zeilen 3-8: Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 9. Die Alte gebiert laut diesen Zeilen nebst Wölfen auch jenes Wesen, welches zu Beginn der ragnarök die Sonne verschlingen wird. 15 Ebd., S 8. 4.2 Die ephemere Topographie des Ostens der Riesen 149 Der Osten wird darin als Ursprungsort des Flusses Slíðr 16 gesetzt und über die angeführte Topographie der eitrdalir 17 und die sich im Fluss befindenden Schwerter und Messer als gefährlich und unwirtlich dargestellt. Diese Bedrohlichkeit, die vom Fluss ausgeht und ihren Ursprung im Osten hat, wird im Narrativ jedoch nicht als eine aktive beschrieben und dient somit einzig zur Semantisierung des Ostens innerhalb der erschriebenen oder erzählten Topographie. Die Verknüpfung des über den Ursprung des Flusses als lebensfeindlich und trostlos geschilderten Ostens in Strophe 36 mit der Erzählung über die Alte und ihre Nachkommen in Strophe 40 verstärkt die negative Konnotation des Ostens innerhalb der Topographie der V ǫ lospá, doch ist diese rein lokal gebunden und scheint vorerst keinen Einfluss auf die restlichen Gebiete der eddischen Topographie zu haben. Der Raum des Ostens bleibt bei diesen Beschreibungen gänzlich ephemer und wird im Narrativ einzig dazu eröffnet, um über ein kurzes Anerzählen für eine negative Semantisierung verwendet zu werden. In Strophe 50, während ragna r ǫ k, wird der Osten, wenn auch nicht als erfahrbarer Raum, sondern über die aus ihm einbrechenden Gefahren als Bedrohungsraum, für den Rest der intradiegetischen Welt der V ǫ lospá von Bedeutung: Hrymr ecr austan, hefiz lind fyrir, snýz i ǫ rmungandr í i ǫ tunmóði; ormr knýr unnir, enn ari hlaccar, slítr nái neff ǫ lr, Naglfar losnar. 18 [Hrymr fährt von Osten her, er hat sein Schild vor sich, es windet sich das gewaltige Zaubertier in Riesenzorn; 16 Slíðr ist in Grímnismál auch die Bezeichnung für einen der Flüsse, die nahe an den Menschen vorbei fließen und danach hinunter zu Hel stürzen. Siehe dazu Strophe 28 in: Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 62f. Laut Strophe 26 der Grímnismál (Ebd., S. 62) entspringen alle Flüsse aus der Quelle Hvergelmir, die in den Grímnismál durch das Wasser gespiesen wird, das vom Geweih des Hirschs Eikþyrnir tropft. Die Fließrichtung von Slíðr nach Hel, wie sie in Grímnismál beschrieben wird, mag auch der Grund sein, dass der Fluss in der Forschung auch als Unterweltsfluss bezeichnet wird. Siehe dazu unter dem Lemma Slíðr in: Simek: Lexikon der germanischen Mythologie, S. 389. Auch in der Gylfaginning der Prosa-Edda findet Slíðr im als einer der Flüsse Erwähnung, die aus Hvergelmir entspringen, siehe dazu: Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 40. Dabei muss jedoch festgehalten werden, dass Hvergelmir als Quelle von Slíðr in der Prosa-Edda in Niflheimr verortet wird und somit nicht im Osten, wie in der erzählten Topographie der V ǫ lospá, zu lokalisieren ist, sondern im präkosmogonischen Norden liegt. Somit wird Slíðr in den verschiedenen Narrativen auch unterschiedlich funktionalisiert. Während der Fluss in der V ǫ lospá zur Semantisierung des unwirtlichen und lebensfeindlichen Ostens verwendet wird und in Grímnismál in der Liste der Namen jener mythischen Flüsse genannt wird, die bei den Menschen vorbei nach Hel fließen und damit eher zur Unterteilung der verschiedenen durchflossenen Gebiete dienen, hat er als Teil des großen Urstroms Élivágar Anteil an der Kosmogonie und schafft in diesem Zusammenhang in Form des Urriesen Leben. 17 Siehe dazu unter dem Lemma eitrdalr in: Gering: Glossar zu den Liedern der Edda (Sæmundar Edda), S. 37. Wieso Gering eitrdalr nebst der wörtlichen Übersetzung als „Gifttal“ auch noch als „Tal in dem eine tötende Kälte herrscht“ versteht, ist nicht ganz klar, doch findet sich dieselbe Übersetzung auch bei Dronke. Siehe dazu: The Poetic Edda. Volume II, Mythological Poems. [Dronke], S. 140. 18 Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 11. 4 Ephemere Topographien 150 die Schlange schlägt Wellen, der Adler kreischt, Leichen reißt der Nasenbleiche, Nagelfar ist los.] Die in der Lieder-Edda sonst nicht weiter erwähnte Figur Hrymr wird häufig als Riese gedeutet. 19 Seine Herkunft aus dem Osten verweist darauf, dass er vorher im Osten verortet war. Neben Hrymr werden in der Strophe 50 jedoch mindestens zwei weitere Wesen, die nicht-riesischer Herkunft sind, genannt, die weder in einem Raum lokalisiert, noch aus einer bestimmten Richtung kommend beschrieben werden. Wenn i ǫ rmungandr, meist zusammen mit dem darauf folgenden altnordischen Wort für Schlange (ormr), als heiti für Miðgarðsormr, also die Weltenschlange, gelesen wird, so müsste i ǫ rmungandr im Meer rund um die ganze Erde liegend gedacht werden und hätte folglich keinen direkten Bezug zum Osten. 20 Wieso i ǫ rmungandr, wenn man diesen metaphorisch als Schlange interpretiert, jedoch „í i ǫ tunmóði“, also in Riesenzorn, 21 verfallen soll, ist genauso schwierig zu deuten, wie wenn man diesen wortgetreu als einen großen Stab oder, wie dies Dronke tut, als eine Art Wassergeist liest. Der nachfolgende ormr, 22 die Schlange, welcher Wellen schlägt, darf sicherlich als 19 Siehe dazu unter dem Lemma Hrymr in: Simek: Lexikon der germanischen Mythologie, S. 208, sowie den Versuch einer etymologischen Herleitung des Namens bei Dronke: The Poetic Edda. Volume II, Mythological Poems. [Dronke], S. 146, sowie die Erläuterungen bei Nordal: Völuspá. [Nordal], S. 95f. Die Deutung der Figur als Riese wird gestützt durch eine Stelle in der Prosa-Edda, in der zu Beginn der ragnarök eine Figur mit demselben Namen vorkommt, die explizit als Riese bezeichnet wird: „Hrymr heitir jötunn, er stýrir Naglfara, […].“ Vgl. dazu: Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 188. [Hrymr heißt der Riese, der Naglfar steuert, ...]. Da in der Gylfaginning kurz darauf (Ebd., S. 192- 198) mehrere Strophen zitiert werden, darunter auch Strophe 50 aus der V ǫ lospá in der Hrymr genannt wird, kann davon ausgegangen werden, dass der Name auf dieselbe mythologische Figur verweist. 20 Für diese Interpretation siehe unter dem Lemma j ǫ rmungandr in: Gering: Glossar zu den Liedern der Edda (Sæmundar Edda), S. 98. Gering übersetzt j ǫ rmungandr sowohl als „Weltenschlange“ als auch recht profan als „Riesenschlange“. Siehe auch unter dem Lemma Jörmungandr in: Simek: Lexikon der germanischen Mythologie, S. 229. Sowohl Nordal als auch Dronke verstehen i ǫ rmungandr im Sinne von einem „großen Stab“, siehe dazu: Völuspá. [Nordal], S. 96. Nordal bezieht die Form des Stabes sowie die damit in der Strophe in Verbindung stehende Bewegung des Windens in seiner Interpretation der Textstelle letztlich jedoch auch wieder auf die Weltenschlange. Dronke liest das Kompositum ferner als „powerful spirit“ und übersetzt es mit dem schottischen Begriff „wraith“, welches gemäß ihrer Erläuterung „water spirit“ bedeutet. Siehe dazu: The Poetic Edda. Volume II, Mythological Poems. [Dronke], S. 146. Dennoch gibt Dronke an, dass der Dichter der V ǫ lospá damit wohl auf den Miðgarðsormr verweisen wolle. 21 Siehe dazu unter dem Lemma j ǫ tunmóðr in: Gering: Glossar zu den Liedern der Edda (Sæmundar Edda), S. 98. Ob sich der Zorn ausschließlich auf Riesen bezieht oder einen riesenhaften oder riesigen Zorn beschreibt kann aufgrund der Ambiguität in der gesamten Strophe nicht geklärt werden. Schulz bezieht dies, wie in der Forschung üblich, auf die Midgardschlange, siehe dazu Fussnote 87 in: Schulz: Riesen. Von Wissenshütern und Wildnisbewohnern in Edda und Saga, S. 41. 22 In der Handschrift des Codex regius der Lieder-Edda ist das Wort ormr durch einen Punkt vom vorhergehenden Strophenteil abgetrennt. Diese markante typographische Trennung innerhalb dessen, was in den Editionen als Strophen wiedergegeben wird, kann auch als Distinktion der Sinneinheiten auf der Darstellungsebene des Textes gelesen werden. Eine solche Leseweise würde die Interpretation von i ǫ rmungandr als Miðgarðsormr, welche un- 4.2 Die ephemere Topographie des Ostens der Riesen 151 Miðgarðsormr gelesen und verstanden werden. Dabei verschiebt sich im Narrativ die Herkunft, beziehungsweise die Verortung der Bedrohung vom Osten und vom Land, wie dies zuvor für die Riesen festgehalten wurde, hin ins Wasser, welches die gesamte Erde umgibt. Der schreiende Adler, der auf den ormr folgt, kann in Analogie zu den anderen Gefahren in der Luft oder aus derselben stammend gelesen werden. Das Wesen, auf welches sich die Bezeichnung neff ǫ lr 23 bezieht und welches laut der Strophe die Toten reißt, wird in der Forschung sowohl als heiti für den Adler als auch für den als Drachen interpretierten Niðh ǫ ggr 24 gelesen, der in Strophe 39 der V ǫ lospá 25 als leichenaussaugendes Geschöpf und in Grímnismál 26 und in der Prosa-Edda 27 als unter den Wurzeln der Esche Yggdrasils lebend beschrieben wird. Die letzte Entität, die in der oben zitierten Strophe innerhalb des erzählten Bedrohungsszenarios genannt wird, wird als Naglfar bezeichnet und findet in der gesamten Lieder-Edda einzig an dieser Stelle in der V ǫ lospá Erwähnung. Die Bedeutung von Naglfar kann zwar sinnvoll aus den Wortkomponenten und durch das nachfolgende Verb erschlossen werden, 28 doch fehlt ein narrativer Kontext, in der dieses „Nagelschiff“ eingebettet wäre. 29 ter Anderem über die Kookkurrenz mit ormr zustande kommt, relativieren. Vgl.: GKS 2365 4to, 2v. 23 Siehe dazu unter dem Lemma neff ǫ lr in: Gering: Glossar zu den Liedern der Edda (Sæmundar Edda), S. 126. Gering fügt zu seiner Übersetzung als „bleich um die Nase“ an, dass einige Editoren der V ǫ lospá die Lesart der Hauksbók, die an dieser Stelle niðf ǫ lr, „düsterbleich“, bevorzugen. Vgl. dazu auch: Hauksbók. Utgiven efter de arnamagnæanske håndskrifter No. 371, 544 og 675, 4 o samt forskellige papirshåndskrifter. Det Kongelige Nordiske Oldskrift-Selskab [Hrsg.], Thieles Bogtrykkeri, Kopenhagen 1892-96, S. 191. Zur Diskussion über weitere mögliche Bedeutungen von neff ǫ lr siehe unter Anderem: Völuspá. [Nordal], S. 96, sowie in: The Poetic Edda. Volume II, Mythological Poems. [Dronke], S. 146. 24 Siehe dazu unter dem Lemma Niðhöggr in: Simek: Lexikon der germanischen Mythologie, S. 300. Simek weist zudem darauf hin, dass der Name in den þulur, den Aufzählungen verschiedener heiti, als Name eines Zwerges aufgelistet ist. 25 Siehe dazu: Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 9. 26 Vgl. Strophen 32 und 35 in: Ebd., S. 63f. 27 Vgl. dazu: Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 68-76. 28 Naglfar besteht aus den beiden Komponenten nagl (Baetke: Wörterbuch zur altnordischen Prosaliteratur, S. 437: Finger-, Zehennagel) und far (Ebd., S. 125: Schiff), worauf sich das nachfolgende Verb losna (Ebd., S. 392: sich lösen, loslösen) bezieht. So kann die Teilstrophe zwar als „Nagelschiff“, welches sich löst und damit wohl lossegelt, interpretiert werden, doch fehlt eine Einbettung in ein Narrativ, um die Funktion des Schiffes und die damit einhergehende Bedrohung verstehen zu können. Die Deutung über die Nägel der Menschen, so Simek, beruhe jedoch auf einer Volksetymologie. Ursprünglich habe man sich, ausgehend von got. naus (tot), ein Totenschiff vorgestellt. Siehe dazu unter dem Lemma Naglfar in: Simek: Lexikon der germanischen Mythologie, S. 292f. 29 In der Gylfaginning der Prosa-Edda erzählen die drei Asenkönige vom - in der von ihnen fingierten Diegese - größten existierenden Schiff, welches sie Naglfari nennen und Muspell zuordnen. Siehe dazu: Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 138. An späterer Stelle berichten sie über ein Schiff namens Naglfar, welches von Hrymr gesteuert wird und aus den Nägeln der Toten gemacht ist. Diese Erzählung wird von den Asenkönigen unter Anderem mit dem Zitieren der oben genannten Strophe aus der V ǫ lospá gestützt. Siehe dazu: Ebd., S. 188-198. Falls sich die beiden Benennungen Naglfari und Naglfar wirklich auf dasselbe Schiff beziehen, wie Simek, ohne dass er auf die unterschiedliche Schreibweise eingeht, angibt (Simek: Lexikon der germanischen Mythologie, S. 292f.), würde sich eine starke Diskrepanz in der Herkunft es Schiffes im Narrativ der Gylfaginning eröffnen. 4 Ephemere Topographien 152 Betrachtet man die Strophe in ihrer Gesamtheit, so kann festgehalten werden, dass die darin erzählte Bedrohung, welche auf die intradiegetische Welt der V ǫ lospá einwirkt, eine sehr umfassende ist. Über die Verortung der einzelnen Faktoren lässt sich erkennen, dass der topographisch nicht ausgebildete Raum durch Hrymr vom Land aus, durch den Miðgarðsormr aus dem Wasser, den Adler aus der Luft und durch Naglfar auf dem Wasser bedrängt wird. Interpretiert man neff ǫ lr als heiti für den Drachen Niðh ǫ ggr, so wäre es zudem möglich, eine Bedrohung aus der Erde heraus in der Strophe zu erkennen. Auch wenn - außer für Hrymr - eine innertextuelle, geographische Lokalisierung innerhalb der Topographie nicht abschließend geklärt werden kann, gilt für all diese Entitäten, dass nicht der Raum ihrer Herkunft für das Narrativ von zentralem Interesse ist, sondern einzig die Bewegung auf jenen unbekannten Raum zu, der durch sie bedroht wird. Erfahrbar wird somit nicht der Herkunftsraum, der im Falle des Riesen im Osten situiert ist und einzig über ein ephemeres Anerzählen dargestellt wird, sondern ein topographisch unbestimmter und unstrukturierter Raum, in welchem Bedrohung und Bedrohtes aufeinander prallen oder gar zusammenfallen. Auch in der darauffolgenden Strophe 51 der V ǫ lospá wird der Osten als ephemerer Raum zum Ausgangspunkt der erzählten Bedrohung: Kióll ferr austan, koma muno Muspellz um l ǫ g lýðir, en Loki stýrir; fara fífls megir með freca allir, þeim er bróðir Býleiptz í for. 30 [Ein großes Schiff fährt von Osten her, das Volk Muspells wird übers Meer kommen, aber Loki steuert; die Anhänger des Narren gehen alle mit dem Gierigen, mit ihnen fährt der Bruder von Býleiptr.] Das von Loki gesteuerte Schiff, welches die Leute Muspells über das Meer bringt, kommt wiederum aus dem Osten. Um welches Schiff es sich handelt, macht das Narrativ nicht deutlich. 31 Topographisch interessant ist, dass das Schiff aus dem Osten kommend die Leute Muspells mit sich zu bringen scheint. Wie im Kapitel zu den Entstehungen verschiedener Welten in der Prosa-Edda erläutert, werden Muspell sowie die explizitere Bezeichnung Muspellsheimr in der Gylfaginning der Prosa-Edda hauptsächlich als Namen für den südlichen Pol während der eddischen Kosmogonie ver- Als Naglfari wird es Muspell und damit dem Süden der eddischen Topographie wie sie in der Prosa-Edda erschrieben wird oder eventuell auch einer mythologischen Gestalt mit dem Namen Muspell zugeordnet, während es unter dem Namen Naglfar über den Riesen Hrymr als Steuermann des Schiffes, beziehungsweise über Hrymr in der aus der V ǫ lospá zitierte Strophe, deutlich dem Osten zugeschrieben wird. 30 Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 12. 31 Nordal hingegen scheint sich sehr sicher zu sein, welches Schiff hier gemeint ist, wenn er schreibt: „Man kann kaum bezweifeln, dass es Muspells Volk ist, das mit dem Schiff kommt, und dieses Schiff ist eben Naglfar.“ Siehe dazu: Völuspá. [Nordal], S. 99. Auch Simek interpretiert das von Loki gesteuerte Schiff als Naglfar: Simek: Lexikon der germanischen Mythologie, S. 292f. 4.2 Die ephemere Topographie des Ostens der Riesen 153 wendet. 32 In der Lieder-Edda gibt es für Muspell, nebst jener in der oben zitierten Strophe, nur noch eine weitere Nennung in der Locasenna. 33 Insbesondere die Kookkurrenz von Muspell mit Bezeichnungen für Leute in der Lieder-Edda (in der V ǫ lospá sind es lýðir und in der Locasenna sind es synir) wird in der Forschung dahingehend gedeutet, dass es sich in diesen beiden Fällen bei Muspell um die Bezeichnung einer Figur handelt, die meist als Riese interpretiert wird. 34 Gemäß dieser Interpretation stellt man sich auch Muspells Gefolgschaft auf dem Schiff als Riesen vor, worüber sich die topographische Verortung der Riesen im Osten und die über sie von dort her einfallende eminente Bedrohung für die intradiegetische Welt stützen lassen. Eine andere Deutungsvariante wäre, die lýðir Muspells, die mit dem Schiff übers Meer kommen, als aus Muspell, als topographisch bestimmbaren Ort im Sinne von Muspellsheimr, stammend zu lesen. 35 Auch die Bezeichnung fífls megir 36 wird in den Kommentaren zur V ǫ lospá als Hinweis auf Riesen gelesen. 37 Da sich fífls megir innerhalb der Strophe wohl auf lýðir Muspells bezieht, 38 bleibt der Osten, als Ausgangspunkt der durch diese Personen verkörperten Bedrohung, aufrechterhalten. Für beide Strophen lässt sich festhalten, dass die erzählte Handlung auf die Erzählinstanz zustrebt, wobei der Ausgangspunkt der Handlung nur anerzählt wird, um die 32 Siehe dazu auch die Anmerkungen im Index of names unter dem Lemma Muspell in: Edda. Prologue and Gylfaginning. [Faulkes], S. 173. 33 Siehe dazu die Strophe 42 der Locasenna in: Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 104f. 34 Siehe dazu unter Anderem: Völuspá. [Nordal], S. 99f, sowie in: The Poetic Edda. Volume II, Mythological Poems. [Dronke], S. 146f. Auch Simek geht dieser Frage nach und diskutiert einmal Muspell unter dem gleichnamigen Lemma in: Simek: Lexikon der germanischen Mythologie, S. 289f., wobei er, wie auch Nordal und Dronke, davon ausgeht, dass Muspell auf das althochdeutsche Wort muspille zurückzuführen und damit eine gemeingermanische Bezeichnung für ein „Weltende durch Feuer“ sei. Der Begriff habe dann, so sind sich die drei einig, eine Bedeutungsverschiebung erhalten, als er ins Altnordische einging. Dabei wurde Muspell als Bezeichnung eines Weltendes vom Konzept einer riesenhaften und dämonischen Person überlagert, die durch ihr Auftreten während ragnarök noch immer eine stark weltbedrohende Konnotation aufweist. Einen möglichen Grund für diese Bedeutungsübertragung diskutiert Simek unter dem Lemma Muspellssöhne in: Simek: Lexikon der germanischen Mythologie, S. 291. 35 Eine Nennung von Muspellsheimr (in der Schreibweise Muspells heimr) findet sich jedoch einzig in der Prosa-Edda. Siehe dazu: Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 42. Um eine solche Leseweise für die Lieder-Edda stützen zu können, müssten jedoch Belegstellen in den Texten der eddischen Lieder gesucht werden, die eine ähnliche Verbindung von Personen und einem Ort, der im Genitiv steht, aufweisen. 36 Siehe dazu unter dem Lemma fífl-megir in: Gering: Glossar zu den Liedern der Edda (Sæmundar Edda), S. 47. Gering übersetzt die von ihm als Kompositum aufgefassten Worte als „tolle, blindlings folgende Leute“ und erwähnt keine Konnotation mit Riesen. 37 Siehe dazu unter Anderem: Völuspá. [Nordal], S. 10, sowie in: The Poetic Edda. Volume II, Mythological Poems. [Dronke], S. 147, als auch in: Schulz: Riesen. Von Wissenshütern und Wildnisbewohnern in Edda und Saga, S. 110f. 38 In der Edition des Codex regius der Lieder-Edda von Neckel/ Kuhn ist zwischen den Verszeilen vier und fünf der Strophe 51 der V ǫ lospá, wie oben wiedergegeben, ein Semikolon gesetzt. Im Text der Handschrift, der darin nicht strophisch vorliegt, findet sich an dieser Stelle keinerlei Markierung im Fließtext. Dies steht ganz in Kontrast zur verwendeten Interpunktion in Strophe 50 der V ǫ lospá, bei welcher auch die Handschrift an der Stelle des Semikolons eine markante Interpunktion im Text aufweist. Vgl.: GKS 2365 4to, 2v. Dies könnte auf eine stärkere Verbindung der Satzteile und deren Sinneinheiten in der Strophe 51 hinweisen. 4 Ephemere Topographien 154 Herkunft der Bedrohung vage zu lokalisieren. Der von außen bedrängte Raum, in welchem sich auch der Standpunkt der innerdiegetischen Erzählinstanz zu befinden scheint, wird selbst nicht räumlich strukturiert dargestellt. Über die erwähnten horizontalen Richtungen, wie zum Beispiel „austan“, wird, wie Schulz richtig feststellt, der Standpunkt, beziehungsweise der Raum der erzählenden Instanz selbst realisiert und diese so in den Fokus der Perspektive des Narratives versetzt. 39 Dabei scheint Schulz jedoch zu entgehen, dass, wie weiter oben für die Strophe 50 der V ǫ lospá aufgezeigt wurde, die Bedrohung nicht nur aus horizontaler Richtung, sondern auch aus der Vertikalen kommt, was zugleich die Perspektivierung der Erzählung und die Fokussierung auf den bedrohten Raum intensiviert. Ausgangspunkte dieser Bedrohungen sind flüchtige Räume, die zwar, wie für den Osten bisher gezeigt werden konnte, durchaus als Topoi funktionieren können. Innerhalb des Narratives sind diese jedoch nicht topographisch verfestigt oder konkretisiert, sondern sie dienen als Ursprungsort einer beginnenden Handlung und sind daher einzig über ihre negative semantische Konnotation in die Topographie der Diegese eingeschrieben. So kann man für die betrachteten ephemeren Räume, wie sie sich in den oben diskutierten Beispielen der V ǫ lospá zeigen, festhalten, dass sie, in ihrer Funktion als Herkunftsorte negativer Einflüsse oder eines Bedrohungsszenarios, im Narrativ dazu Verwendung finden, einen Raum von außen zu umreißen und vorzustrukturieren, der hier als Bedrohungsraum bezeichnet werden soll. In diesem fallen, wie weiter oben schon erwähnt, die Bedrohung und das Bedrohte zusammen und so wird der Raum über die Handlungen, die auf ihn einwirken, topographisch strukturiert. Dabei ist er nicht, wie für andere Räume und deren Topographien gezeigt wurde, durch einen inneren Aufbau strukturiert, sondern erhält seine Struktur von einer äußeren und ständig dynamischen Handlung, die auf den bedrohten Raum zustrebt. Durch das Zustreben der äußeren Bedrohungen auf einen Punkt, der von Schulz als „Standpunkt der erzählenden Instanz“ 40 definiert wird, werden sowohl die ephemeren und topographielosen Räume, die den Bedrohungsraum bilden, immer größer, ohne Form anzunehmen, und gleichzeitig wird der bedrohte Raum selbst immer kleiner. 4.2.1 Þórr bei den Riesen im Osten Im Folgenden wird ein Topos betrachtet, der den Osten auf der erschriebenen und erzählten Karte der eddischen Mythen als eigenständigen, doch gleichsam ephemeren Raum einträgt und verwendet. Der hier als „Þórr bei den Riesen im Osten“ bezeichnete Topos bedient sich der vorhergehend erläuterten negativen Konnotation des Ostens. Im Gegensatz zum Topos des bedrohlichen Ostens, wie er vom Narrativ zur Entwicklung des Bedrohungsraums genutzt wird, der über die aus dem Osten und anderen flüchtigen Räumen stammenden Bedrohungen innerhalb des Narratives aufgerufen wird, ist im Topos „Þórr bei den Riesen im Osten“ keine dem Osten entstammende Person, Figur oder Handlung angelegt, die in einen anderen, ihn umge- 39 Siehe dazu: Schulz: Riesen. Von Wissenshütern und Wildnisbewohnern in Edda und Saga, S. 110. Schulz nennt noch weitere horizontale Richtungen, aus denen Bedrohungen kommen, so zum Beispiel auch den goldenen Saal auf Niðav ǫ llr in Strophe 37 der V ǫ lospá (siehe dazu: Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 8), wobei sie jedoch nicht deutlich macht, inwiefern davon eine Bedrohung ausgehen soll. 40 Schulz: Riesen. Von Wissenshütern und Wildnisbewohnern in Edda und Saga, S. 110. 4.2 Die ephemere Topographie des Ostens der Riesen 155 benden Raum eindringt. Vielmehr wird der Osten über die Anwesenheit des Asen Þórr in diesem Raum etabliert, wobei diese Präsenz, außer in der Hymisqviða, 41 in den verschiedenen Narrativen immer eine vergangene ist. Diese Rückbesinnung auf den Osten, als einen zuvor zwar besuchten, in der Handlung des Narratives jedoch nicht aktiv verwendeten Raum, macht ihn in der eddischen Topographie zwangsläufig zu einem ephemeren Gebilde, das nur in der Vergangenheit existent ist und in der Gegenwart als abgeschlossener Raum wahrgenommen und über die Erinnerung aktualisiert wird. Das Narrativ der Hárbarðzljóð 42 wird direkt über den Topos „Þórr bei den Riesen im Osten“ in Form eines kurzen Prosaeinschubes eröffnet: Þórr fór ór austrvegi ok kom at sundi eino. Ǫ ðrom megom sundzins var feriokarlinn með scipit. 43 [Þórr war unterwegs aus dem Osten und kam an einen Sund. Auf der anderen Seite des Sundes war ein Fährmann mit dem Schiff.] Der Osten, hier als austrvegr 44 bezeichnet, wird im Narrativ als zuvor von Þórr besuchter Raum dargestellt und verwendet, wobei weder deutlich wird, was der Ase dort getan hat, noch ob und wie dieser Raum topographisch strukturiert ist. Erst außerhalb dieses unterdeterminierten Raum des Ostens wird über den beschriebenen Sund, der sich in der erzählten Gegenwart Þórs im Narrativ manifestiert, der aktuelle Raum der Diegese topographisch gegliedert. Eine gewisse Ausdifferenzierung des Sundes erfolgt dann über die Anführung des Fährmanns mit seinem Schiff, wodurch auch der weitere Handlungsverlauf - ein Disput zwischen Þórr und dem Fährmann, der aufgrund von Þórs Bitten um eine Überfahrt entsteht - motiviert wird. Somit initiiert in der Hárbarðzljóð erst die topographische Voraussetzung des Sunds, den Þórr mit Hilfe des Schiffes zu überqueren und nicht zu umgehen gedenkt, den weiteren Fortgang der Erzählung. 45 Hárbarðr, 46 der Þórr über den Sund fahren soll, ihm dies jedoch verweigert, stellt im Verlauf des Dialoges immer wieder die Tapferkeit und Kraft Þórs infrage, indem er seine eigenen Liebesabenteuer mit Frauen, die in der Forschung oft als Riesinnen interpretiert werden, 47 über Þórs 41 Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 88-95. Auf die Darstellung und Verwendung des Ostens in der Hymisqviða wird weiter unten eingegangen. 42 Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 78-87. 43 Ebd., S. 78. 44 Siehe dazu unter dem Lemma austr-vegr in: Baetke: Wörterbuch zur altnordischen Prosaliteratur, S. 36. Baetke gibt, da seine Belegstellen aus der altnordischen Prosaliteratur stammen, auch realgeographische Übersetzungsmöglichkeiten an, die jedoch nicht auf die Topographien der eddischen Mythen übertragen werden dürfe. 45 Simek hingegen geht von der Erzählsituation aus und hält dazu fest, dass das Motiv des Helden, der auf einen streitlustigen Fährmann trifft, nicht nur in der altnordischen Literatur aufzufinden sei. Siehe dazu unter dem Lemma Hárbarðsljóð in: Simek: Lexikon der germanischen Mythologie, S. 168f. Die stärksten Parallelen sieht er jedoch in „Hagens Streit mit dem Fährmann an der Donau im Nibelungenlied (1480ff.).“ (Ebd., S. 169). Auch Schulz geht kurz auf die Hárbarðzljóð ein und nennt deren inhaltliche Konzeption einen „Männervergleich“ (mannjafnaðr), bei welchem sich die beiden Kontrahenten gegenseitig ihre Leistungen und Taten vorhalten. Siehe dazu: Schulz: Riesen. Von Wissenshütern und Wildnisbewohnern in Edda und Saga, S. 114f. 46 Hárbarðr wird in der Forschung meist als Óðinn gedeutet, der seinen Sohn Þórr neckt und verspottet, da der Name auch als eines der heiti für Óðinn in den þulur Verwendung findet. Siehe dazu unter dem Lemma Hárbarðr in: Simek: Lexikon der germanischen Mythologie, S. 168. 47 Siehe dazu: Schulz: Riesen. Von Wissenshütern und Wildnisbewohnern in Edda und Saga, S. 75 und S. 114f. Schulz ist in ihrer Beurteilung der Frauen, von denen Hárbarðr im Narrativ 4 Ephemere Topographien 156 Kämpfe mit meist namentlich genannten Riesen stellt. Erst in Strophe 23 wird in einer Þórr zugeteilten Replik explizit gemacht, was seine Tätigkeit im Osten war: „Ec var austr oc i ǫ tna barðag, brúðir b ǫ lvísar, er til biargs gengo; mikil myndi ætt i ǫ tna, ef allir lifði, vætr myndi manna undir miðgarði. Hvat vanntu meðan, Hárbarðr? “ 48 [„Ich war im Osten und erschlug Riesen, Schaden stiftende Frauen, die zum Berg gingen; Zahlreich wär das Geschlecht der Riesen, wenn alle lebten, keine Menschen gäbe es unter Miðgarðr. Was tatest du unterdessen, Hárbarðr? “] Þórr erzählt Hárbarðr, dass er im Osten war, um Riesen zu töten. Zwar nennt das Narrativ schon zuvor einige Riesen, die der Ase erschlagen hat, doch sind diese jeweils nicht explizit innerhalb einer Topographie verortet. 49 In Strophe 23 werden die Riesen weiter als „Schaden stiftende Frauen“ betitelt, die zu einem nicht weiter spezifizierten Berg gingen, der innerhalb des Ostens die dortige Topographie mitzuprägen scheint. Þórr gibt zudem einen Grund für seine Gewalt gegen die Riesen oder Riesinnen an, wenn er sagt, dass eine Überzahl an Riesen die Existenz der Menschen unter Miðgarðr bedrohen würde. Einerseits impliziert die Strophe, dass Þórr nicht alle Riesen töten will, sondern nur deren Bestand zu begrenzen versucht. Andererseits zeigt sie auf, dass die Menschen durch Miðgarðr, was an dieser Stelle wohl einen Wall und nicht die von ihnen bewohnte Welt insgesamt bezeichnet, vor den Riesen geschützt sind. Daraus lässt sich schließen, dass die Riesen im Narrativ der Hárbarðzljóð von den Menschen getrennt gedacht sind und sie als außerhalb Miðgarðs, genauer gesagt im Osten außerhalb des in der Diegese als Welt der Menschen beschriebenen Raumes, zu lokalisieren sind. 50 erzählt, nicht sehr konsequent, wenn sie diese zuerst als „Frauen, die immer riesenhafte Züge haben“ (S. 75) und später dezidiert als „Riesinnen“ (S. 115) bezeichnet. 48 Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 82. 49 Siehe als Beispiel dazu Strophe 19 in: Ebd., S. 81. Darin berichtet Þórr davon, wie er den Riesen Þiazi erschlug und dessen Augen in den Himmel warf, worauf diese zu Sternen werden. Simek zeigt auf, dass sowohl die Tötung von Þiazi als auch die Erzählung über die zu Sternen werdenden Augen in den Narrativen der eddischen Mythologie an unterschiedliche Personen aus dem Umfeld der Asen gekoppelt ist, wobei auch mal Óðinn als Riesentöter funktionalisiert wird. Siehe dazu unter dem Lemma Thjazi in: Simek: Lexikon der germanischen Mythologie, S. 412f. 50 Schon eine solch vage, jedoch annähernd geographische Verortung der Riesen vermag die im einleitenden Kapitel zur skandinavistischen Forschung erwähnte und in der Forschung noch immer häufig kolportierte Behauptung zu widerlegen, dass die Riesen in der eddischen Topographie rund um Miðgarðr herum angesiedelt seien und sich so ein aus konzentrischen Kreisen bestehendes horizontales Weltmodel der Strukturierung der Topographien der eddischen Mythen zugrunde legen ließe. Diese schematische und textferne Vorstellung einer konzentrisch gegliederten eddischen Welt, die sich bis in die Gegenwart in der Forschung behaupten kann, findet man auch bei Gro Steinsalnd, die unter dem Titel „Et tredelt, sirkelformet verdensbilde - Åsgård, Midgård og Utgård“ nicht nur explizit auf 4.2 Die ephemere Topographie des Ostens der Riesen 157 Nebst des Berges, der in Strophe 23 im von den Riesen bewohnten Osten erwähnt wird, findet sich in Strophe 29 eine weitere topographische Markierung: „Ec var austr oc ána varðac, þá er mic sótto þeir Svárangs synir; grióti þeir mik b ǫ rðo, gagni urðo þeir þó lítt fegnir; þó urðo þeir mic fyrri friðar at biðia. Hvat vanntu þá meðan, Hárbarðr? “ 51 [„Ich war im Osten und bewachte den Fluss, als mich Svárangrs Söhne angriffen; Gestein warfen sie auf mich, des Sieges wurden sie dennoch wenig froh; denn zuerst mussten sie mich um Frieden bitten. Was tatest du unterdessen, Hárbarðr? “] Wiederum berichtet Þórr davon, dass er sich im Osten aufgehalten habe, diesmal ist dieser Aufenthalt jedoch dadurch motiviert, dass er dort einen Fluss zu verteidigen oder zu bewachen hatte. Im Narrativ wird weder der Name des Flusses erwähnt noch der Grund, weshalb oder vor wem dieser durch den Asen geschützt werden muss. Angegriffen wird dann auch nicht der Fluss selbst, sondern Þórr, der ihn verteidigt. Seine Opponenten sind die Söhne von Svárangr 52 , die wie ihr Vater meist als Riesen interpretiert werden. Unklar scheint, ob die beiden Söhne, die den Asen mit Steinen angreifen, bei diesem Angriff getötet werden oder ob sie Þórr wirklich um Frieden bitten konnten, der ihnen auch gewährt wurde. Die Strophe bietet eine ambige Leseweise, da der Kampf zwischen den Riesen und dem Gott unter Anderem rhetorisch mit einer Litotes umschrieben wird. Die gesamte Szenerie, die in der Strophe beschrieben wird, bleibt trotz der topographischen Implikationen, die in den ephemeren Raum des Ostens eingetragen sind, eher vage. Da jegliche Bezugspunkte innerhalb des hier als Osten bezeichneten Raumes fehlen, können weder die Kontrahenten darin genau lokalisiert werden, noch der Fluss über seine Fließrichtung oder Lage topographisch verortet werden. So bleibt der Osten als topographisch strukturierter Raum weiterhin gänzlich unterdeterminiert und gewinnt nur über die negative Konnotation mit den Þórr gegenüber feindlich auftretenden Riesen an semantischer Stabilität und Konstanz. Auf die Frage Þórs, was er denn in der Zwischenzeit getan habe, antwortet Hárbarðr in Strophe 30 zum ersten Mal explizit damit, 53 dass auch er im Osten gewesen sei: dieses Modell verweist, sondern dieses zudem bildlich (S. 99) darstellt. Siehe dazu: Steinsland, Gro: Norrøn Religion. Myter, Riter, Samfunn. Pax Forlag, Oslo 2005, S. 98-100. 51 Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 83. 52 Siehe dazu unter dem Lemma Svárangr in: Simek: Lexikon der germanischen Mythologie, S. 400. Simek liest die Söhne Svárangs als allgemeine kenning für Riesen, ohne das Mikronarrativ als Verweis auf eine weitere und ausformulierte Erzählung zu interpretieren. 53 Wenn Hárbarðr schon zuvor von seinen Großtaten und Abenteuern erzählt, so werden diese ehemaligen Schauplätze entweder über eine Ortsnennung (z.B. in Strophe 16 die Insel Algrœn, siehe: Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 80) oder über den Namen einer beteiligten Person (z.B. in Strophe 20 der Riese Hlébarðr, siehe: Ebd., S. 81) lokalisiert und innerhalb der Topographie verortet. 4 Ephemere Topographien 158 „Ec var austr oc við einhveria dœmðac, léc ec við ina línhvíto oc launþing háðac, gladdac ina gullbi ǫ rtu, gamni mær unði.“ 54 [„Ich war im Osten und unterhielt mich mit einer, ich spielte mit der Leinenweißen und hielt eine heimliche Zusammenkunft ab, ich erfreute die Goldglänzende, Vergnügen ließ das Mädchen mir zukommen.“] Hárbarðr, der zur Einleitung der Replik dieselbe Formulierung verwendet, wie dies in den oben diskutierten Strophen des Narratives Þórr tat, zeigt damit, dass auch er einen Ostraum betreten konnte. Da er dort jedoch angeblich nur auf Liebesabenteuer aus war, bleibt der in der Erinnerung der Erzählung aktualisierte Osten topographisch weiter unbestimmt. Auch lässt sich über die einzelnen Bezeichnungen der Frauen, die Hárbarðr im Osten besuchte, nichts über deren Herkunft oder Wesensart sagen, sodass nicht abschliessend geklärt werden kann, ob er sich mit Riesinnen traf oder nicht. So durchbricht Hárbarðs Erzählung die von Þórr aufgestellte Implikation des Ostens mit den darin verorteten boshaften und streitlustigen Riesen, wenn er von den heimlichen Zusammenkünften mit den dort lebenden Mädchen spricht. Der Osten, wie er in der Hárbarðzljóð dargestellt ist, bietet im Narrativ ein durchwegs ambiges Bild. Laut Þórs Erzählungen entstammen diesem Raum andauernd Gefahren in der Gestalt der Riesen, welche die innerhalb von Miðgarðr liegende Topographie und deren Bewohner bedrohen. Hárbarðr zufolge ist dieser Raum des Ostens jedoch, trotz der immer wieder auftretenden Gefahren, 55 schon beinahe ein locus amoenus. 56 Am Beispiel der Hárbarðzljóð lässt sich zeigen, dass ein Raum im Narrativ durch verschiedene Erzählinstanzen, wie sie in diesem dialogischen Streit- und Spottlied gegeben sind, unterschiedlich funktionalisiert werden kann. Die Semantisierung des Ostens ist keine statische, sondern eine äußerst dynamische. Da der beschriebene Raum im Narrativ nur auf vergangene Handlungen referiert und dessen Struktur über diese verhandelt wird, kann der Raum des Ostens für die Gegenwart der Erzählung als ephemerer Raum gelesen werden, der einerseits nur über die einzelnen Repliken eröffnet und danach wieder geschlossen wird, andererseits auf der Handlungsebene im Moment der Erzählung schon wieder geschlossen ist, da die Vorgänge darin zeitlich zurückliegen und nur indirekt, innerhalb des intradiegetischen Erinnerungsraums aktualisiert werden. 54 Ebd., S. 83. 55 Insbesondere die Gefahren, die von Seiten eifersüchtiger Ehemännern drohen, sind im Zusammenhang mit diesen Liebes- und Brautraubabenteuer typisch. Siehe dazu unter Anderem Strophe 20 der Hárbarðzljóð in: Ebd., S. 81. 56 Auch in For Scírnis lässt sich ein potentieller locus amoenus ausmachen, an dem laut Narrativ ein Treffen zwischen einem Asen und einer Riesin stattfinden soll. Skírnir handelte mit der von seinem Herrn Freyr angebeteten Riesin Gerðr aus, dass die beiden sich nach neun vergangenen Nächten in einem Wald namens Barri treffen werden. Die Zusammenkunft im Wald wird vom Narrativ nicht wiedergegeben, da es schon mit den Worten des an der Liebe leidenden und schmachtenden jungen Asen endet. Siehe dazu Strophen 41 und 42 der For Scírnis in: Ebd., S. 77. 4.2 Die ephemere Topographie des Ostens der Riesen 159 4.2.2 Ein Kessel als ephemerer Raum im Osten In der Hymisqviða 57 kommt der Topos „Þórr bei den Riesen im Osten“ in einer narrativisch weniger ausgestalteten Variante vor: Die Asen Týr und Þórr reisen zum Vater Týs, dem Riesen Hymir, um bei ihm einen Kessel zu holen. In diesem Kessel will der Meerriese Ægir 58 Bier brauen, welches er den Asen an jenem Fest auftischt, das den Rahmen für die darauffolgende Locasenna bildet. Den Wohnort Hymis gibt Týr in Strophe 5 wie folgt an: „Býr fyr austan Élivága hundvíss Hymir, at himins enda; á minn faðir, móðugr, ketil, rúmbrugðinn hver, rastar diúpan.“ 59 [„Es wohnt östlich von Élivágr, der sehr weise Hymir, an des Himmels Ende; mein Vater besitzt, der Mutige, einen Kessel, einen geräumigen Kessel, einen meilentiefen.“] Das rahmende Narrativ verortet den Riesen östlich des Flusses Élivágr und am Ende des Himmels. 60 Der Fluss wird zwar nicht genauer lokalisiert, doch scheint er eine Art Grenze zwischen zwei topographischen Einheiten oder Gebieten zu sein, von denen der nach Osten gerichtete Teil am äußeren Rand der Erde, beziehungsweise am Ende des Himmels liegt. Der Himmel wird als ein endlicher dargestellt, was sich wohl im Sinne eines Schirms oder einer Kuppel über der Erde interpretieren lässt, worin die Vorstellung einer Himmelschale anklingt, die aus dem Schädel Ýmis gefertigt ist, wie sie weiter oben schon für andere Stellen in der Lieder-Edda und auch für die Prosa- Edda diskutiert wurde. 61 Räumlich interessant ist Týs Aussage über den Kessel seines Vaters, den er als rúmbrugðinn, „geräumig“ oder „raumgreifend“, und rastar djúpan, etwa „meilentief“, bezeichnet. Die Ausmaße des Kessels werden einerseits über ein Längenmaß für die Strecke, die zwischen zwei Ruhepausen auf einer Reise zurückgelegt wird, 62 zur Bezeichnung der Tiefe und andererseits über eine Volumenangabe, die 57 Siehe dazu: Ebd., S. 88-95. 58 In Strophe 2 der Hymisqviða wird Ægir jedoch als bergbúi, Bergbewohner, bezeichnet. Vgl.: Ebd., S. 88. 59 Ebd., S. 89. 60 Sowohl der Fluss Élivágr als auch der Himmelsrand werden auch in den Vafðrúðnismál mit Riesen in Verbindung gebracht. In Strophe 31 berichtet Vafðrúðnir davon, dass aus den Gifttropfen, die aus den Élivágr spritzen, ein Riese entstehe. Dieses Mythologem ist - wie schon mehrfach diskutiert - auch in der Prosa-Edda fruchtbar gemacht, um den Urriesen Ýmir zu etablieren. In Strophe 37 wird der Riese Hræsvelgr genannt, der in der Gestalt eines Adlers am Rande der Erde sitz und mit durch das Schlagen seiner Flügel den Wind produziert. Beide Orte werden somit schon zuvor mit Riesen konnotiert, sodass dieser Topos in der Hymisqviða nicht gänzlich neu oder unmotiviert ist. Vgl.: Ebd., S. 50-52. 61 Siehe dazu unter Anderem das Kapitel zu dem Himmelsräumen. 62 Ursula Dronke gibt zu Recht zu bedenken, dass eine solche r ǫ st keinem fixen Längenmaß entspricht, sondern immer in Abhängigkeit zur Topographie des durchschrittenen Gebiets zu lesen ist. Vgl.: The Poetic Edda. Volume III, Mythological Poems II. [Dronke], S. 79. 4 Ephemere Topographien 160 das altnordische Wort für Raum beinhaltet, 63 erzeugt und beschrieben. Der Kessel wird somit über Mittel, wie sie sonst für Beschreibungen topographischer Verhältnisse verwendet werden, in die Diegese der Hymisqviða eingeschrieben. Die unglaubliche Größe des Braukessels, die über die Beschreibung seiner räumlichen Ausmaße erzeugt wird, verweist implizit auch auf seinen Besitzer, der diesen in Verwendung hat. Während den Abenteuern, die Þórr bei und mit Hymir im Osten erlebt, 64 agiert Þórr nicht gemäß seiner Funktion als Riesentöter und Beschützer Miðgarðs. Erst in Strophe 35, als Þórr den über Kraftprüfungen gewonnenen Kessel auf seinen Schultern wegträgt, macht sich im Narrativ eine gewisse Feindseligkeit bemerkbar, wobei die Aggression anscheinend von Hymir ausgeht: Fóro lengi, áðr líta nam aptr Óðins sonr eino sinni; sá hann ór hreysom með Hymi austan fólcdrótt fara fiolh ǫ fðaða. 65 [Sie gingen lange, bevor Óðins Sohn ein Mal zurückzublicken begann; er sah aus Steinhaufen mit Hymir von Osten eine Volksschar hervorkommen, eine vielköpfige.] Als sich der hier als Sohn Óðins betitelte Þórr nach einer längeren Marschzeit umdreht und zurückblickt, sieht er im Osten Hymir mit einer großen Schar seines Vol- 63 Zur Problematik der Deutung und Übersetzung von rúmbrugðinn siehe: The Poetic Edda. Volume III, Mythological Poems II. [Dronke], S. 78. 64 Insbesondere das Narrativ um Þórs und Hymis gemeinsame Ausfahrt aufs Meer hinaus, bei dem der Asen versucht den Miðgarðsormr zu fangen, wird auch in der Prosa-Edda produktiv verwendet. Vgl.: Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 166-172. In der Prosa-Edda wird der Fischzug jedoch nicht wie in der Hymisqviða als eine der Abenteuerfahrten motiviert, die als Prüfung zum Erwerb des Braukessels dienen, sondern über die vorhergegangene Schmach, welche Þórr beim Zusammentreffen mit dem Miðgarðsormr in der Halle von Útgarða-Loki erlitt. Bemerkenswert ist jedoch, dass sich hier die Kodizes in der Benennung des Riesen eklatant von der verwendeten Edition unterscheiden. In den Redaktionen T und R wird der Riese, mit dem Þórr aufs Meer fährt, sowohl Ýmir als auch Hymir genannt. Die Redaktion W bezeichnet ihn nur mit dem Namen Ymer und die Redaktion U nennt ihn EÝmir. Siehe dazu: https: / / notendur.hi.is/ / ~eybjorn/ gg/ gg4dip44.html (Stand: 09.05.2015) Der Name Ýmir ist im Narrativ zur Kosmogonie in der Prosa-Edda explizit mit dem Urriesen, aus dem die Welt geschaffen wird, verknüpft. Da es topographisch oder raumsituativ äußerst problematisch wäre, wenn der Urriese in der aus seinem Körper erschaffenen Welt erneut auftreten würde, wurde der Name in der Edition der Prosa-Edda wohl zu Hymir vereinheitlicht. Eine erneute Verwendung des Urriesen Ýmir im Narrativ um Þórs Fischzug wäre zwar denkbar, doch wäre dies eine intradiegetische Spiegelung, die schwierig zu motivieren wäre. Ýmir würde gleichzeitig den Makrokosmos der Diegese darstellen, als auch als Mikrokosmos in dieser Diegese existieren. Die topographische Großstruktur der eddischen Welt der Prosa-Edda würde von sich selbst als Raum eingefasst (Ýmir in der Diegese der Hymisqviða) wie umlagert (die Diegese der Hymisqviða als Teil der aus Ýmir geschaffenen Welt) werden, was eine unendliche Vervielfältigung der Struktur in sich selbst erzeugen würde. 65 Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 94. 4.2 Die ephemere Topographie des Ostens der Riesen 161 kes, wohl weitere Riesen, aus Steinhäufen kommen. Der durch den Rückblick Þórs im Narrativ evozierte Raum hat sich bis zu dieser Wiedervergegenwärtigung schon hinter den reisenden Asen geschlossen und wird erst über die Umschau wieder für die Diegese immanent und für weitere Erzählungen oder Handlungen nutzbar. Die zurückblickend als feindselig wahrgenommen Riesen werden über die Steine oder Felsen, denen sie entsteigen, Teil einer manifesten Topographie, die sich zuvor durch die Loslösung des Erzählstrangs vom Osten verflüchtigt hatte. In der darauffolgenden Strophe 36 erschlägt Þórr die als hraunvala, Lavawale, bezeichneten Riesen mit der ihm zugeschriebenen Waffe Mi ǫ llnir. 66 Insbesondere nach der doppelten Konnotation der Riesen mit einem Material, das anscheinend ihren Lebensraum, beziehungsweise dessen Topographie prägt und im Narrativ über die Steinhaufen und über die kenning etabliert wird, mag Mi ǫ llnir als Waffe gegen diese Bedrohung auch vom Namen her passend sein. Die Etymologie von Mi ǫ llnir ist zwar keines Falls gesichert, doch würde an dieser Stelle die Deutung als „Zermalmer“ in den Kontext der Steinmetaphern passen. 67 In der Hymisqviða wird der Osten, nachdem er in der Rahmenerzählung durch Týr als Wohnort seines riesischen Vaters und Aufbewahrungsort des Kessels aufgestellt wurde, als Abenteuerraum konstituiert und in dieser Funktion dazu verwendet, um die Þórr auferlegten Prüfungen ins Narrativ des Liedes einzubetten. Mit dem Erhalt des Kessels und der Rückführung der Handlung in die Rahmung der Erzählung schließt sich der Abenteuerraum wieder, ohne explizit einen weiteren Einfluss auf die ihn umgebende Diegese zu haben. Auch das feindliche Nahen der Riesenschar ist nicht über den ephemeren Raum der Abenteuer motiviert, sondern gründet in der Rahmenhandlung der Hymisqviða, da sich Hymir anscheinend nicht mit dem Verlust seines Braukessels abfinden mag und diesen zurückhaben will. Auch der Kessel selbst verändert sich während der Erzählung, sodass seine räumliche Beschaffenheit als eine dynamische aufgefasst werden kann. Zu Beginn des Liedes in Strophe 5 wird er durch das Narrativ aus der Ferne über die unglaublichen Ausmaße als eigenständiger, jedoch im Osten inkludierter Raum in die Diegese eingeschrieben. Selbst aus der Nähe, in Hymis Halle, sind die dort aufbewahrten neun Kessel, von denen der eine der besagte Braukessel ist, noch immer groß genug, damit die beiden Asen, Þórr und Týr, sich darunter vor den Blicken Hymis verbergen können. 68 So passt sich der Kessel in seiner Größe in paradoxer Weise seiner Funktion im Narrativ an, in dem er, konträr zur perspektivischen Logik, aus der Ferne geräumiger wirkt als aus der Nähe. Dass der Kessel als Raum in der Rahmenerzählung des Liedes eine dynamische Größe ist, zeigt sich erneut, wenn Þórr sich diesen umgedreht auf die Schultern lädt und ihn so hochzuheben und wegzutragen vermag. 69 Die Aneignung des Braukessels durch Þórr löst 66 Siehe dazu Strophe 36 in: Ebd., S. 94. 67 Zu den verschiedenen Etymologien siehe unter Anderem unter dem Lemma Mjöllnir in: Simek: Lexikon der germanischen Mythologie, S. 284-286. Insbesondere die von de Vries vorgeschlagene Herleitung aus an. mala oder mølva würde auf das Mahlen verweisen. Siehe dazu: Vries: Altnordisches etymologisches Wörterbuch, S. 390. Einen auf der Kollokation von hamarr (Hammer oder Fels) und Mj ǫ llnir basierenden Deutungsvorschlag, der auch von Simek rezipiert wird, diskutiert Lotte Motz, die sich stark an archäologischen Funden von Steinäxten orientiert: Motz, Lotte: The Germanic Thunderweapon. In: Saga-Book, Bd. 24, Viking Society for Northern Research. University College London, 1994-1997, S. 329-350. 68 Siehe dazu Strophe 9 der Hymisqviða in: Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 89. 69 Siehe dazu Strophe 34 der Hymisqviða in: Ebd., S. 94. 4 Ephemere Topographien 162 ihn aus dem Gesamtraum des Ostens heraus, wobei sich die Perspektive auf eine unmittelbare Nähe verschiebt, die den Kessel als Objekt im Raum wahrnehmbar macht. 70 Der anfänglich mittels topographischen und raumstrukturierenden Merkmalen etablierte und im Osten inkludierte und verortete Kessel als Raum ist selbst insofern ephemer, als sich zum Ende der Erzählung die gigantischen Ausmaße zugunsten des handhabbaren Objektes verflüchtigen. 4.2.3 Der Osten als für die Schmährede funktionalisierter Raum Auch in der Locasenna, 71 der Spottrede Lokis, in der der zwiespältigste aller Götter die anderen Götter des altnordischen Pantheons vorführt, kommt der Topos „Þórr bei den Riesen im Osten“ vor. Schon der Prosateil, der entweder als Epilog zur Hymisqviða oder als Prolog zur im Codex regius der Lieder-Edda ihr nachfolgende Locasenna gelesen werden kann, berichtet davon, dass Þórr auf einer Fahrt im Osten und daher am Festmahl nicht anwesend sei. 72 Da die Prosazeilen damit einleiten, dass Ægir, der Hymis Kessel von Þórr erhalten hatte, nun das Bier für die Asen gebraut habe, darf davon ausgegangen werden, dass die erwähnte Reise Þórs eine erneute Fahrt in den Osten ist und nicht in direkter Abhängigkeit mit der Erzählung rund um die Gewinnung des Kessels steht. Dem literarischen Konzept der Senna 73 folgend beschimpft und verspottet Loki die am Fest in Ægis Halle anwesenden Asen und Alben, nachdem er zuerst aufgrund eines Totschlages aus der Halle gejagt wurde und ihm danach wieder Einlass gewährt wurde. 74 Loki benutzt Mythologeme, die teilweise aus anderen eddischen Liedern bekannt sind, und wandelt sie ins Obszöne oder gar Absurde, um die Anwesenden vorzuführen und bloßzustellen. 75 Für zwei dieser Anfeindungen verwendet Loki auch den Topos des Ostens, den er in seinen Ausführungen immer mit Riesen konnotiert. Äußerst zotig fällt seine Häme gegen Ni ǫ rðr aus: „Þegi þú, Ni ǫ rðr! þú vart austr heðan gíls um sendr at goðom; Hymis meyiar h ǫ fðo þic at hlandtrogi oc þér i munn migu.“ 76 70 Den Wechsel der Perspektive am Ende der Hymisqviða diskutiert auch Schulz, wobei sie jedoch nicht den Kessel als räumliches Objekt sondern den Protagonisten Þórr ins Zentrum ihrer Überlegungen stellt. Siehe dazu: Schulz: Riesen. Von Wissenshütern und Wildnisbewohnern in Edda und Saga, S. 89. 71 Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 96-110. Zur intensiv diskutierten Entstehungszeit dieses eddischen Liedes, über welche immer wieder die Frage nach den dadurch vermittelten Glaubensinhalten eruiert werden soll, siehe unter dem Lemma Lokasenna in: Simek: Lexikon der germanischen Mythologie, S. 249-251. 72 Siehe Prosaprolog zur Locasenna in: Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 96. 73 Siehe dazu unter dem Lemma Senna in: Simek, Rudolf und Hermann Pálsson: Lexikon der altnordischen Literatur. Die mittelalterliche Literatur Norwegens und Islands, S. 332. 74 Vgl.: Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 96. 75 Siehe als Beispiel dazu die Strophe 32, in der Loki die Göttin Freya ziemlich offen beschuldigt mit ihrem Bruder Freyr eine inzestuöse Beziehung zu führen, in: Ebd., S. 103. 76 Ebd., S. 103. 4.2 Die ephemere Topographie des Ostens der Riesen 163 [„Schweig du, Ni ǫ rðr! Du wurdest von hier in den Osten als Geisel von den Göttern geschickt; Hymirs Töchter benutzten dich als Nachttopf und pissten dir in den Mund.“] Der Topos des Ostens, der in der Locasenna von Loki dazu genutzt wird, um über Ni ǫ rðs Geiselhaft bei den Riesen zu erzählen, ist im Narrativ wohl auch nur als Schmähung funktionalisiert. 77 Kein anderer eddischer Text erzählt davon, dass Ni ǫ rðr von den Göttern als Geisel zu den Riesen gesandt worden wäre. Bekannt ist hingegen das Mikronarrativ, welches davon berichtet, dass Ni ǫ rðr von den Wanen erschaffen wurde, um, wohl nach dem Krieg zwischen den beiden Göttergeschlechtern, den Asen als Geisel übergeben zu werden. 78 Dass in der Locasenna die Asen durch die Riesen ersetzt werden, zu denen Ni ǫ rðr geschickt wird, ist sowohl ein Affront gegen die Asen, da diese im Narrativ durch die Riesen substituiert werden, als auch gegen Ni ǫ rðr selbst. Im Gegensatz zur sonst überlieferten Geschichte über Ni ǫ rðs Geiselhaft, in welcher er bei den Asen bleibt und nicht wieder zu den Wanen zurückkehrt bis die Welt endet, berichtet Lokis Replik von einer schon abgeschlossenen Handlung. Der Raum des Ostens ist somit im Narrativ der Locasenna, was die Erzählung über Ni ǫ rðr betrifft, schon wieder geschlossen und wird nur über die Vergegenwärtigung kurzzeitig und flüchtig im Narrativ etabliert. Gegen Ende der Locasenna und nachdem Loki beinahe alle Anwesenden in Ægis Halle beleidigt und beschimpft hat, betritt Þórr den Festsaal und versucht den Schmähredner zum Schweigen zu bringen. 79 Dabei droht er Loki unter Anderem damit, ihn in den Osten zu befördern: „Þegi þú, r ǫ g vættr! þér scal minn þrúðhamarr, Mi ǫ llnir, mál fyrnema; upp ec þér verp oc á austrvega, síðan þic mangi sér.“ 80 [„Schweig du, unmännlicher Wicht! Dir soll mein mächtiger Hammer, Mi ǫ llnir, die Sprache rauben; hinauf werf ich dich und in den Osten, danach sieht dich niemand mehr.“] Die drei Zeilen der ersten Halbstrophe sind als Stef konzipiert und dienen jeweils in allen Repliken Þórs als Einleitung zu den danach unterschiedlich formulierten Drohungen. In der oben zitierten Strophe 59 besteht die Drohung darin, dass Þórr Loki als Sanktion für sein Fehlverhalten in Aussicht stellt, ihn mittels seines Hammers Mi ǫ llnir auf den Ostweg, beziehungsweise in den Osten zu schleudern. Der Osten kann 77 Die Aussage Lokis, dass Ni ǫ rðs Mund den Töchtern des Riesen Hymir als Nachttopf diente, ist von einer solch obszönen Explizitheit, dass sie nicht weiter kommentiert werden muss. 78 Siehe dazu die Strophen 38 und 39 der Vafþrúðnismál: Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 52. Auch in der Gylfaginning der Prosa-Edda wird dieses Mikronarrativ verwendet. Siehe dazu: Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 92. 79 Siehe dazu Prosaeinschub vor Strophe 57 und Strophen 57 bis 65 in: Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 108f. 80 Ebd., S. 108. 4 Ephemere Topographien 164 einerseits als Verbannungsraum gelesen werden, der über seine ephemere Konstitution den Verbannten Loki einschließt. Über diese angedrohte Versetzung würde Loki gleichzeitig aus der Diegese, in der die Asen agieren, und somit aus den narratologisch aktiven Topographien der eddischen Mythen ausgeschlossen. Andererseits kann der Osten hier auch einfach als sehr ferner Ort gelesen werden, der weit ab vom intradiegetischen Raum der Locasenna, also der Halle von Ægir, liegt und von dem aus Loki eine gewisse Zeit benötigen würde, um wieder in den Handlungsraum der Asen zurückzukommen. Gleichzeitig könnte der Osten, durch diese aktive Verlagerung von Loki, auch zukünftig, über sich an die Erzählung seiner Verbannung anlehnende Mikronarrative, viel stärker auf der mental map des eddischen Gesamtnarratives in Erscheinung treten und so ein kontinuierlicher und stabiler Raum werden. Als nicht mehr ephemerer Raum würde der Osten auch von der narratologischen und geographischen Peripherie aus ins Zentrum rücken und eine prägnante Markierung innerhalb der Topographien der eddischen Mythen werden. Loki antwortet darauf, wie schon in der weiter oben diskutierten Replik zu Ni ǫ rðr, mit der verächtlichen Erwähnung eines Mikronarratives, welches von einer Reise Þórs in den Osten zu den Riesen handelt: „Austrforom þínom scaltu aldregi segja seggiom frá, sízt í hanzca þumlungi hnúcþir þú, einheri, oc þóttisca þú þá Þórr vera.“ 81 [„Von deinen Reisen in den Osten sollst du niemals den Leuten berichten, seitdem im Däumling des Handschuhs zusammengekauert du saßest, Einzelkämpfer, und damals schienst du nicht Þórr zu sein.“] Loki benutzt hier den Topos „Þórr bei den Riesen im Osten“ direkt, um Þórr zu diffamieren. Dabei spielt er auf eine aus seiner Sicht unrühmliche Begebenheit an, bei der sich Þórr angeblich in einem Handschuh versteckte. 82 Der Handschuh, dessen Däumling dem Asen als Schutzraum diente, muss einem Träger gehören, der riesenhafte Hände hat. Durch den Größenunterschied zwischen Þórr und dem Besitzer des Handschuhs, den man sich ob seiner zu vermutenden Größe als Riese vorstellen kann, verändert sich auch die Perspektive auf den Raum des Ostens und dessen Topographie. Um solch großen Wesen Platz bieten zu können, müsste dieser Riesenraum im 81 Ebd. 82 Eine ähnliche Schmähung erfährt Þórr in der Hárbarðzljóð, als ihn Hárbarð in Strophe 26 darauf anspricht, dass Þórr sich vor Fialarr in einem Handschuh versteckt habe. Vgl.: Ebd., S. 82. Auch in der Gylfaginnig der Prosa-Edda kommt das Motiv des Riesenhandschuhs vor. Vgl.: Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 144-150. Bei diesem Narrativ zu einem Abenteuer Þórr ist auch Loki zugegen, als sie zusammen im Handschuh des Riesen Skrýmir, welchen sie für ein Haus halten, übernachten. Es ist jedoch unklar, ob die drei Narrative dieselbe Geschichte wiedergeben oder es sich einfach um dasselbe Motiv handelt, welches in den unterschiedlichen Erzählungen verschieden aktualisiert wird. Insebesondere ein transtextueller Verweis auf die Geschichte aus der Gylfaginning wäre in der Locasenna nicht sinnvoll zu erklären, da Loki sich im Narrativ der Gylfaginning mit Þórr zusammen im Handschuh versteckt und, gemäß seiner eigenen Argumentation in der Locasenna, dann auch unrühmlich gehandelt hätte. 4.2 Die ephemere Topographie des Ostens der Riesen 165 Osten dementsprechend geräumig sein. Eine veränderte Perspektive auf den Osten, von welchem aus die vom Narrativ als Norm gesetzte Topographie und die darin enthaltenen Objekte und Personen klein wirken, würde auch den Raum des Ostens in seiner topographischen Struktur verändern. Wenn der von den Riesen bewohnte Osten topographisch in gewisser Relation zu ihrer angenommenen Körpergröße steht, so würde er, was die räumliche Verhältnismäßigkeit betrifft, einen gewichtigen Teil der gesamten eddischen Topographie einnehmen. Dieser daraus resultierenden Möglichkeit eines, im Vergleich zur übrigen Topographie, überdimensionalen Ostens kann das Narrativ dadurch entgegenwirken, indem es, wie weiter unten diskutiert wird, die Perspektiven und Größenverhältnisse dynamisch gestaltet oder, wie oben gezeigt werden konnte, den Osten als ephemeren Raum verwendet, der nur dann eröffnet wird, wenn er thematisiert und dadurch aktualisiert wird, ohne auf den Rest der Diegese einen direkten Einfluss auszuüben. 4.2.4 Zwischenfazit zum ephemeren Raum des Ostens Der Osten wird in den Topographien der eddischen Mythen, wie sie in der Lieder- Edda dargestellt sind, äußerst fruchtbar als Topos verwendet. Über die aus dem Osten stammenden Bedrohungen wird anfänglich eine Konnotation zwischen dem Osten und den Riesen, welche eine Gefahr für die Bewohner der restlichen eddischen Welt darstellen, hergestellt. Dabei findet im Narrativ über diesen Topos entweder eine Verortung von Personen statt, die potentielle Bedrohungen für den Raum außerhalb des Ostens darstellen, oder es wird, wie am Beispiel aus der V ǫ lospá dargelegt, der Akt des Einfallens dieser Bedrohung in die Welt außerhalb des Ostens selbst dynamisch beschrieben, wobei der Raum des Ostens nur als Herkunftsraum dieser Gefahr dient. In beiden Fällen ist der Raum selbst jedoch ephemer, da er nur zur Herleitung der Konnotation aktiviert wird und danach - sofern die Gefahr nicht aktualisiert wird - vom Narrativ wieder geschlossen wird. Der über diese Konnotation etablierte Topos der „Riesen im Osten“ findet in weiteren Narrativen produktiv Verwendung, in denen der Ase Þórr als Protagonist fungiert, wobei die Handlung in der Erzählung selbst meist schon in der intradiegetischen Vergangenheit verortet ist. Besonders deutlich lässt sich die Verwendung des ephemeren Ostens in der Hárbarðzljóð erkennen, in deren Narrativ Þórr und Hárbarðr über ihre unterschiedlichen Erfahrungen im Osten disputieren. Dabei zeigt sich, dass der Osten verschieden funktionalisiert werden kann, wenn er für Hárbarðr eine Art locus amoenus darstellt, von Þórr hingegen als Schauplatz von Kämpfen und gewaltsamen Auseinandersetzungen mit den dortigen Bewohnern beschrieben wird. Diese dynamische und instabile Eigenschaft des Ostens spiegelt sich auch im Narrativ der Hymisqviða, in der einerseits ein im Osten lokalisiertes Objekt, der Braukessel des Riesen Hymir, in der Rahmenhandlung über einen Perspektivenwechsel unter-schiedliche und dadurch flüchtige räumliche Strukturen aufzuweisen vermag, und andererseits die Binnenerzählung den Osten als Abenteuerraum funktionalisiert. Anhand der Verwendung des Topos in der Locasenna konnte gezeigt werden, dass der zuvor in den Narrativen als ephemerer Raum etablierte Osten durch die Aktualisierung von Mikronarrativen, die Erzählungen vergangener Handlungen aufrufen oder aufzurufen vorgeben, Gefahr läuft, zu produktiv zu werden. Dabei würde sich der Osten innerhalb der Topographie der eddischen Mythen derart konkretisieren, dass er irreversibel in eine mental map 4 Ephemere Topographien 166 der eddischen Diegese eingeschrieben wird, was eine allfällige Verschiebung der Gewichtung der gesamten Raumsituation in den eddischen Narrativen zur Folge hätte. 4.3 Ephemere Räume als narratologisches Prinzip in der Gylfaginning Sowohl der Topos der „Riesen im Osten“ als auch jener von „Þórr bei den Riesen im Osten“ wird, wie weiter oben schon angedeutet wurde, in der Gylfaginning der Prosa- Edda häufig verwendet und bildet, wie im nachfolgend diskutierten Beispiel gezeigt wird, in der Prosa-Edda ein eigenständiges Narrativ aus. In der Erzählung um die Abenteuer von Þórr beim Riesen Útgarða-Loki 83 nimmt das Narrativ ein Element aus der Rahmenerzählung der Gylfaginning auf, um es nach dem narratologischen Prinzip der Spiegelung in der von den drei Asenkönigen erzählten Binnenhandlung erneut zu verwenden. 84 Dabei wird, wie in der Rahmung, ein Raum, beziehungsweise eine topographische Struktur eröffnet, die sich zu einem späteren Zeitpunkt, wenn das Narrativ diese nicht mehr benötigt, wieder verflüchtigt. Den Beginn der Erzählung markiert die Frage Gylfis danach, ob Þórr jemals irgendwohin gekommen sei, wo er auf jemanden traf, der mächtiger oder stärker als er gewesen sei. 85 Hár antwortet Gylfi darauf, dass, auch wenn dies jemals der Fall gewesen wäre, niemand darüber reden dürfte, damit niemand glauben würde, Þórr sei nicht der Stärkste gewesen. 86 Die Tabuisierung eines möglichen Narratives, welches den Asengott als schwach oder besiegbar ausweisen würde, regt Gylfis Interesse daran umso mehr und so weist er die drei Könige darauf hin, dass er nun wohl etwas gefragt habe, worauf sie keine Antwort geben wollten. 87 Da Hár keine weiteren Antworten auf die von Gylfi gestellte Frage geben kann, wird er vom Narrativ als Erzählinstanz zurückgezogen und durch die nächsthöhere ersetzt, wenn Jafnhár das Wort ergreift. Dieser räumt zwar ein, dass es solche Berichte über Niederlagen Þórs gäbe, dass diese jedoch reine Lügen seien, denen man nicht glauben soll. Daraufhin verweist er auf die über ihm sitzende höchste Erzählinstanz, von der er angibt, dass diese die Wahrheit 83 Siehe für die gesamte Erzählung: Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 140-166. 84 Einige der nachfolgenden Überlegungen zum narratologischen Prinzip der Spiegelung finden sich ausführlich behandelt in: Rösli, Lukas: Erschriebene und gespiegelte Welten im Prolog und der Gylfaginning der Prosa-Edda. In: Brahier, Gabriela und Johannsen, Dirk [Hrsg.]: Konstruktionsgeschichten. Narrationsbezogene Ansätze in der Religionsforschung. Ergon, Würzburg 2013, S. 281-293. (= Diskurs Religon, Bd. 2) 85 Siehe dazu: Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 140. 86 Siehe dazu: Ebd. An dieser Stelle spricht Hár implizit über sich und die zwei weiteren Erzählinstanzen, sowie über Gylfi, der die ihm vermittelten Narrative rezipieren und später auch rezitieren soll. Dabei zeigt der Text erneut eine gewisse Selbstreflexivität, wenn eine Erzählinstanz darin darauf hinweist, dass sie bewusst das Narrativ für ihre Zwecke zu verändern bereit ist. 87 Siehe dazu: Ebd., S. 140-142. Dabei darf nicht vergessen gehen, dass das gesamte, vermeintliche „Frage-Antwort-Spiel“ der Gylfaginning den in der Rahmung aufgestellten Regeln folgt, dass Gylfi die Halle der Asenkönige nicht wieder verlassen dürfe, falls er nicht klüger als seine Gesprächspartner sei. Vgl.: Ebd., S. 36. 167 kenne und nicht lügen werde. 88 Diese Aussage nimmt Gylfi zum Anlass um die Asenkönige darauf hinzuweisen, dass er das Wissensduell gewinnen werde, wenn er nun keine passende Antwort auf seine zuvor gestellte Frage erhalte. 89 Seine Erzählung über Þórs Abenteuerfahrt zum Riesen Útgarða-Loki eröffnet Þriði mit den Worten, dass ihm und den beiden anderen Asenkönigen nicht angenehm sei, darüber zu reden, doch soll Gylfi von diesen Begebenheiten erfahren. 90 Das darauffolgende Narrativ wird durch die einleitende und explizit thematisierte Ungläubigkeit Gylfis zum möglichen Wendepunkt der gesamten Erzählung der Gylfaginning stilisiert. Falls dieses Narrativ nicht glücken sollte, beziehungsweise vom zuhörenden Gylfi nicht als passende Antwort angenommen wird, würden die bisher erzählten und in die Diegese der Binnenhandlung eingeschriebenen Topographien der eddischen Mythen in sich zusammenbrechen, da sie als fingiert und somit als unglaubwürdig erkannt würden. Statt nun eine Geschichte über Þórr zu erzählen, die leicht zu glauben wäre und ohne Brüche auskommen würde, hält Þriði Gylfi einen Spiegel vor, indem er ins Narrativ dieselbe Täuschung einbaut, der in der Rahmenerzählung der Gylfaginning auch Gylfi selbst schon erlag. Durch die Verwendung des narratologischen Prinzips der Spiegelung vermag das Narrativ sich doppelt zu überprüfen: Einerseits zeigt sich an der Erzählung um die Abenteuer von Þórr beim Riesen Útgarða-Loki, wie glaubwürdig dieses Narrativ ist, welches Gylfis Sicht auf die bisher postulierte Macht und Stärke und somit die vorrangige Stellung des Asengottes testet. Andererseits vermag das Narrativ zu eruieren, ob Gylfi den Hinweis auf die Täuschung, der er selbst innerhalb des Erzählraums ausgesetzt ist, zu erkennen vermag oder ob die Analogie zu seinem eigenen Zustand unerkannt und somit aufrecht erhalten bleibt. Die von Þriði erzählte Abenteuerfahrt von Þórr, auf der ihn Loki begleitet, beginnt mit einem Besuch bei einem nicht benannten Bauern, dessen Sohn und Tochter die Reisenden auf ihrem weiteren Weg begleiten: „[…] ok byrjaði ferðina austr í Jötunheima ok allt til hafsins, ok þá fór hann út yfir hafit þat it djúpa; […]“ 91 [... und trat die Reise ostwärts nach Jötunheimr an und bis hin ans Meer, und dann ging er hinaus über das tiefe Meer; ...] An dieser Stelle verändert sich die etablierte Großstruktur der Topographie, wie sie zuvor für die Prosa-Edda aufgezeigt wurde. Die kreisförmig beschriebene Erde, um welche das Meer liegt, 92 wird nun über ein der Erde gegenüberliegendes Land erweitert, welches als Jötunheimr bezeichnet wird. Dieses ist, laut Narrativ, im Osten und auf der anderen Seite der tiefen See zu verorten. Die Topographie dieses Landes wird, wie auch die Geräusche und Objekte darin, als äußerst groß beschrieben: So ist der Wald groß, das Nachtlager, welches sich später als Handschuh herausstellt, ist groß, das Erdbeben in der Nacht, welches das vermeintliche Haus wellenförmig wanken lässt, ist gewaltig, genauso wie der nächtliche Lärm und 88 Siehe dazu: Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 140. Der Verlauf der Erzählung von Þriði zeigt danach auf, dass sich Jafnhár durch diese Aussage selbst der Lüge bezichtigt, was wiederum auf die Fiktivität und Erfundenheit der von den drei Erzählisntanzen fingierten Narrative hinweist. 89 Siehe dazu: Ebd., S. 140-142. 90 Siehe dazu: Ebd., S. 142. 91 Ebd., 144. 92 Vgl.: Ebd., S. 50. Insbesondere die Lage der Strände, die den Riesen in der beschriebenen Topographie zu Beginn der Gylfaginning zugeteilt werden, ist an dieser Stelle nicht wirklich eindeutig. Die Leseweise, dass sie der außen kreisförmigen Erde angehören ist jedoch in dieser ersten Beschreibung viel wahrscheinlicher, als dass es sich um Strände handeln würde, die an einem ungenannten Land jenseits des Meeres liegen. 4.3 Ephemere Räume als narratologisches Prinzip in der Gylfaginning 4 Ephemere Topographien 168 das Getöse. 93 Schon über die allumfassende Größe, die dem an einer neuen Stelle in die Topographie eingefügten Land zugesprochen wird, wird eine Perspektivenveränderung darstellt. Dieses verschobene Größenverhältnisse der Reisenden zu ihrer Umwelt wird im Narrativ noch zugespitzt, wenn Þórr und seine Gefährten auf den ihnen bedrohlich scheinenden Riesen Skrýmir treffen, der die drei Schläge, die der Ase ihm mit seinem Hammer zufügt, nur als unbedeutende Gegenstände wahrzunehmen vorgibt, die ihm auf den Kopf fallen. 94 Nach den fehlgeschlagenen Angriffen auf den Riesen, die zum ersten Mal die von Gylfi erfragte Unterlegenheit Þórs zum Ausdruck bringen, erklärt Skrýmir der Gruppe, wo sie hingehen sollten: […] en ekki eigut þèr nú lánga leið fram til borgarinnar, er kallat er Útgarðr. Heyrt hefi ek, at þèr hafit kvisat í milli yðvar at ek væra ekki lítill maðr vexti, en sjá skulut þèr þar stærri menn, er þèr komit í Útgarð. Nú mun ek ráða yðr heilræði: látið þèr eigi stórliga yfir yðr, ekki munu hirðmenn Útgarða-Loka vel þola þvílíkum kögursveinum köpuryrði; en at öðrum kosti hverfit aptr, ok þann ætla ek yðr betra af at taka. En ef þèr vilit fram fara, þá stefnit þèr í austr, en ek á nú norðr leið til fjalla þessa, er nú munut þèr sjá mega. 95 [... und ihr habt nun keinen weiten Weg mehr bis zur Burg, die Útgarðr genannt wird. Ich habe gehört, dass ihr untereinander geflüstert habt, dass ich kein klein gewachsener Mann sei, aber dort werdet ihr größere Menschen sehen, wenn ihr nach Útgarðr kommt. Nun will ich euch einen guten Rat geben: tretet nicht großspurig auf, die Gefolgsleute von Útgarða-Loki werden derartige Großmäuligkeiten eines Bürschleins nicht dulden; anderenfalls kehrt um, und dies wäre, glaube ich, besser von euch anzunehmen. Aber wenn ihr weitergehen wollt, dann wendet euch gegen Osten, aber mein Weg führt nach Norden zu jenen Bergen, die ihr nun werdet sehen können.] Skrýmir gibt ungefragt ein Ziel für die Reisegruppe an, bevor er, im Gegensatz zu Þórr und dessen Gefährten, selbstbestimmt weiter nach Norden und einem Gebirge entgegen zieht. Über den Riesen wird Útgarðr ganz deutlich als Burg oder Festung ins Narrativ und die Diegese eingeführt und im Osten des durchreisten Landes, welches wohl mit Jötunheimr gleichgesetzt werden kann, verortet. 96 Skrýmir, der Þórr und seine Gefährten darauf hinweist, dass sie dort noch größere Männer als ihn zu erwarten hätten, gibt mit der Nennung von Útgarða-Loki zudem den Namen des Burgherrn an und warnt sie davor, sich vor dessen Gefolgsleuten prahlerisch zu verhalten. 97 Doch 93 Siehe dazu: Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 144-146. 94 Ebd., S. 146-150. 95 Ebd., S. 150. 96 Wie schon in der Einleitung ausführlich dargelegt ist die einzige Nennung Útgarðs in der Prosa-Edda zu finden, wobei dieser Ort, wie im oben angefügten Zitat zu entnehmen ist, sehr genau in der intradiegetischen Topographie verortet. Wie im einleitenden Kapitel zur skandinavistischen Forschung nachgewiesen, basiert diese Annahme, dass Útgarðr einen Weltteil beschreiben würde, der - entsprechend zu Miðgarðr und Ásgarðr - den Riesen zuzuordnen wäre, auf einer Übergeneralisierung oder Analogiebildung, welche keine Entsprechung in den eddischen Texten hat. 97 Lorenz weist zurecht darauf hin, dass die Ratschläge und Bemerkungen des Riesen Skrýmir, die er an Þórr richtet, nebst den Hinweisen auf den möglichen Ausgang des Besuches auf der Burg von Útgarða-Loki und die bekannte Prahlerei des Asengottes auch Elemente einer 169 selbst der Ratschlag des Riesen, dass sie umkehren sollten, hält die Gruppe um Þórr und Loki nicht davon ab, weiter zu gehen, bis sie zu einer Burg kommen. Þórr fór fram á leið ok þeir fèlagar, ok gekk fram til miðs dags; þá sá þeir borg standa á völlum nokkvorum, ok settu hnakkann á bak sèr aptr, áðr þeir fengu sèt yfir upp; gánga til borgarinnar, ok var grind fyri borghliðinu, ok lokin aptr. Þórr gekk á grindina, ok fèkk eigi upp lokit, en er þeir þreyttu at komask í borgina, þá smugu þeir milli spalanna, ok komu svâ inn; sá þá höll mikla, ok gengu þannig; var hurðin opin; þá gengu þeir inn, ok sá þar marga menn á tvâ bekki, ok flesta ærit stóra. 98 [Þórr und seine Gefährten machten sich auf den Weg und gingen weiter bis zur Mitte des Tages; da sahen sie eine Burg auf einem Feld stehen und sie legten den Kopf in den Nacken, bevor sie sich einen Überblick verschaffen konnten. Sie gingen zur Burg und vor dem Burgtor war eine Gittertür und sie war verschlossen. Þórr ging auf die Gittertür zu und vermochte sie nicht aufzuschließen. Aber als sie sich anstrengten um in die Burg zu kommen, da zwängten sie sich zwischen den Gitterstäben hindurch und kamen so hinein. Dort sahen sie eine große Halle und gingen dorthin. Die Türe war offen; da gingen sie hinein und sahen dort viele Leute auf zwei Bänken, und die meisten waren überaus groß.] Die Burg auf dem Feld, die so hoch ist, dass die Protagonisten beinahe nicht darüber zu blicken vermögen, entspricht in der Beschreibung einer Spiegelung jenes Mikronarratives, welches Gylfi selbst innerhalb der Rahmenerzählung erlebte, als er zur Burg der Asenkönige gelangte. 99 Diese erste Anspielung Þriðis auf eine Erfahrung, die gemäß der Rahmung auch Gylfi machte, verknüpft das Narrativ mit der Unfähigkeit, wenn nicht gar mit der Schwäche des Asen Þórr. Über die beschriebene Größe der Burg kommt, wie schon seit dem Betreten des riesischen Raumes Jötunheimr, eine Verschiebung der Perspektive zustande. Þórr erweist sich einerseits zu schwach, um das Burggitter zu öffnen, andererseits ist er nun - im Vergleich zum Gitter - so klein, dass selbst er zwischen den Stäben hindurchpasst. Auch die große Halle, die die Reisenden im Innern der Burg sehen, spiegelt ein Element aus der Rahmenerzählung der senna, einer Schmäh- oder Spottrede, beinhalten, wenn er Þórr als „kögursveinum köpuryrði“, also ein „frecher Lumpenkerl“ oder „großmäuliges Bürschlein“, bezeichnet. Vgl. Anmerkung 29 in: Gylfaginning. [Lorenz], S. 533. 98 Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 150-152. In der Redaktion U wird der Anfang der oben zitierten Textstelle wie folgt wiedergegeben: „Þeir ganga til Miðgarðs ok sá borg standa á v ǫ llum nokkurum […].“ Siehe dazu: The Uppsala Edda. [Heimir Pálsson], S. 68. Bemerkenswert ist, dass sich über die Nennung von Miðgarðr dessen Topographie auf Jötunheimr übertragen würde, beziehungsweise, dass sich Miðgarðr auf die ihm gegenüberliegende Seite des Meeres spiegeln würde, was eine Doppelung der Topographie bewirken könnte. Heimir Pálsson klassifiziert diese Nennung jedoch als einen Schreibfehler (siehe Fußnote 3: Ebd., S. 68), welchen er in Analogie zum von Skrýmir genannten Útgarðr setzt, das in der Handschrift zuerst auch als Miðgarðr (in der Schreibweise miþgarþr) niedergeschrieben, dann aber zu Útgarðr korrigiert wurde (siehe dazu Fußnote 1: Ebd., S. 68). 99 Vgl.: Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 34. 4.3 Ephemere Räume als narratologisches Prinzip in der Gylfaginning 4 Ephemere Topographien 170 Gylfaginning. 100 In Þriðis Erzählung zur Ankunft Þórs und seiner Gefährten im durch die Burg repräsentierten und in ihr räumlich manifestierten Herrschaftsgebiet von Útgarða-Loki überlagern sich, über die motivische und narrative Ähnlichkeit mit der Rahmung der Gylfaginning und über das dadurch erzeugte narratologische Prinzip der Spiegelung, die Topographien von Jötunheimr und jener von Ásgarðr 101 aus der Rahmenhandlung. Schon über diese Überlappung der äußeren Diegese und der Diegese der Binnenerzählung legt sich die Konstruiertheit des Gesamtnarratives durch die erzählenden Asenkönige offen, da dadurch der von ihnen erschaffene Erzählraum mit dem von ihnen fingierten und erzählten Raum zusammenfällt. Die Halle in Útgarða-Lokis Burg vermag jedoch nicht nur Topographien aus der äußeren Diegese in sich aufzunehmen, sondern wird auch zu einem Kumulationspunkt von räumlichen Strukturen oder raumstrukturierenden Objekten aus der Diegese der Binnenerzählung. Während der von Útgarða-Loki angesetzten Wettkämpfe, beziehungsweise Kraftproben zwischen seinen Gefolgsleuten und den eingetroffenen Gästen kommt es zu solchen Kumulationen, bei der sich äußere Raumstrukturen in die Halle hineinfalten. Eine dieser Einstülpungen einer topographischen Großstruktur in den erzählten Raum der Halle inszeniert Útgarða-Loki während des Trinkwettkampfs, bei dem Þórr ein ihm vorgesetztes Trinkhorn in mindestens drei Schlucken leeren soll. 102 Erst später erfährt Þórr, dass das Horn mit dem Meer verbunden war und es daher unmöglich für ihn war, die Trinkprobe zu bestehen. 103 Dabei spiegelt sich das Meer, welches ansonsten außerhalb der Halle als topographische Markierung die eddische Welt mitstrukturiert, in den erzählten Raum hinein. Durch die im Narrativ inszenierte Gleichsetzung des Wassers im Horn mit der topographischen Großstruktur des Meeres findet an dieser Stelle eine raumspezifische Kumulation statt. Zur Auflösung dieser Täuschung fügt Útgarða-Loki die ätiologische Erklärung an, dass es sich bei der erkennbaren Menge an Meerwasser, die Þórr zu trinken vermochte, um das Phänomen der Ebbe handle. 104 100 Vgl.: Ebd. 101 Dieses Ásgarðr bezeichnet jenen Ort, den die drei Asenkönige Gylfi innerhalb der Rahmenhandlung der Gylfaginning als Täuschung vorgaukeln. Siehe dazu: Ebd, S. 32-36. Es darf explizit nicht mit dem „irdischen Ásgarðr“ oder dem „himmlischen Ásgarðr“ gleichgesetzt werden, welche beide als fingierte Topographien in der von den Asenkönigen erzählten Binnenerzählung in die ebenfalls fingierte Diegese eingeschrieben werden. 102 Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 156-158. 103 Ebd., S. 164. 104 In der Leseversion von Faulkes ist diese ätiologische Erklärung typographisch so dargestellt, als ob sie von Þriði in Form einer direkten Rede geäußert würde. Siehe dazu: Edda. Prologue and Gylfaginning. [Faulkes], S. 43. Die Nennung der Ätiologie käme in dieser Darstellungsweise einem Einbrechen der Erzählinstanz in den erzählten Raum innerhalb des Narratives „Þórr beim Riesen Útgarða-Loki“ gleich. Somit würden sich wiederum die narratologischen Ebenen der Rahmung und jene der Binnenerzählung überlagern. Gleichzeitig würde über die Nennung der Ebbe auf einen Vorgang in der Natur und damit auf etwas außerhalb des erzählten Raumes wie auch außerhalb des Erzählraums verwiesen werden. Diese Leseweise, dass die Ätiologie durch Þriði vermittelt wird, kann jedoch weder über die Referenzedition (siehe dazu: Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 164), noch über die Transkriptionen der einzelnen Handschriften gestützt werden. Für die Transkriptionen von Gylfaginning 47 [R, T, W, U] siehe unter: https: / / notendur.hi.is/ / ~eybjorn/ gg/ gg4dip44.html (Stand: 09.05.2015) 171 Die zweite Einstülpung zeigt sich bei der darauffolgenden Kraftprobe Þórs, als er von Útgarða-Loki dazu angehalten wird, es seinen jungen Gefolgsleuten gleich zu tun und eine Katze vom Boden aufzuheben, was dem Asengott jedoch wiederum misslingt. 105 Wie bei den anderen Wettstreiten auch, bedient sich Útgarða-Loki einer Täuschung, um Þórr am Sieg zu hindern, wie er ihm später gesteht: […] eigi þótti mèr hitt minna vera vert, er þú lyptir upp kettinum, ok þèr satt at segja, þá ræddust allir þeir er sá, er þú lyptir af jörðu einum fætinum; en sá köttr var eigi sem þèr sýndist, þat var Miðgarðsormr, er liggr um lönd öll, ok vannst honum varliga lengðin til, at jörðina tæki sporðr ok höfuð, ok svâ lángt seildist þú upp, at skamt var þá til himins. 106 [... mich dünkte dies nicht wenig bedeutsam zu sein, als du die Katze hochhobst, und um dir die Wahrheit zu sagen, da erschraken alle, die es sahen, als du eines der Beine vom Boden hochhobst. Aber diese Katze war nicht das, was sie dir schien, es war der Miðgarðsormr, der um alle Länder liegt, und seine Länge reicht kaum aus, dass Schwanz und Kopf die Erde berühren, und du strecktest dich so weit hinauf, dass es nicht mehr weit war zum Himmel.] Der Riese gibt zu, dass jene Katze, die Þórr vor sich sah und aufzuheben versuchte, in Wirklichkeit die Miðgarðschlange war, die als ein Zerrbild in die Halle gespiegelt wurde. Die Schlange, die den Raum der ganzen eddischen Welt zu umfassen vermag, konzentriert sich auf den einen Punkt in der Halle, der durch die Katze repräsentiert ist. Während Þórr nur die vorgegebene Illusion und die damit zusammenhängende Perspektive im Raum wahrzunehmen vermag, erkennen die Riesen die intradiegetischen Ausmaße seines Kraftaktes. Im Gegensatz zur vorhergehenden Täuschung, die Anlass zu einer Ätiologie bietet, verweist diese nun nicht auf ein außerdiegetisches Phänomen, sondern bedient sich eines Narratives, welches zuvor von den drei Asenkönigen für die Topographie der von ihnen fingierten eddischen Welt der Binnenerzählung postuliert wurde. Die Verschiebung der Perspektiven, beziehungsweise deren Wahrnehmung ist bei beiden genannten Beispielen eine doppelte: Was das Narrativ Þórr und seine Gefährten in der Halle von Útgarða-Loki erkennen lässt, scheint für sie in einer angemessenen Relation mit dem Raum, in dem sie sich gerade befinden, und der Topographie zu stehen, die diesen Raum beinhaltet. Die Erfahrung die sie jedoch machen, entspricht nicht der, die sie ob des Gesehenen als erwartbar zu erachten scheinen, was dem Erstaunen der zu den Wettkämpfen Aufgeforderten nach ihren Niederlagen zu entnehmen ist. Im Gegensatz dazu wissen die Riesen in der Burg von Útgarða-Loki anscheinend um die richtigen Relationen und sind daher erstaunt darüber, dass jemand wie Þórr, der im Vergleich zu den ihm vorgespiegelten Tatsachen sowie zum ihn umgebenden Raum klein wirkt, eine solche Stärke beweisen kann. So bietet der Raum den zwei verschiedenen Gruppen unterschiedliche Perspektiven, die ihn dadurch zu einem dynamisch erfahrbaren machen. Für beide in den Raum hineingefalteten Großstrukturen gilt, dass sie sich nur in zeitlich begrenzter Dauer an diesem Ort manifestieren. Die Überlagerungen im Raum der Halle und die darüber entste- 105 Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 158. 106 Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 164. 4.3 Ephemere Räume als narratologisches Prinzip in der Gylfaginning 4 Ephemere Topographien 172 hende Kumulation von verschiedenen topographisch verortbaren Strukturen sind somit flüchtig und lassen auch den Raum selbst zu einem ephemeren werden. Nach den Wettkämpfen und bevor Útgarða-Loki Þórr und dessen Gefährten offenbart, dass und wie sie von ihm überlistet wurden, verlässt er mit ihnen seine Burg, um sich von ihnen zu verabschieden. Dabei gibt sich Útgarða-Loki auch als jener Riese zu erkennen, den die Reisenden zuvor im Wald trafen und unter dem Namen Skrýmir 107 kennenlernten: […] en sjónhverfíngar hefi ek gert þèr: svâ at fyrsta sinn, er ek fann þik á skóginum, kom ek til fundar við yðr; ok þá er þú skyldir leysa nestbaggann, þá hafðak bundit með gresjárni, en þú fannt eigi hvar upp skyldi lúka. En því næst laust þú mik með hamrinum iij högg, ok var it fyrsta minnst ok var þó svâ mikit, at mèr mundi endast til bana, ef á hefði komit; en þar er þú sátt hjá höll minni setberg, ok þar sáttu ofan í þrjá dali ferskeytta ok einn djúpastan, þar voru hamarspor þín; setberginu brá ek fyrir höggin, en eigi sátt þú þat. 108 [... aber ich hab dir Sinnestäuschungen bereitet: so, zum erste Mal, als ich auf dich im Wald stieß, kam es zu einer Begegnung mit euch. Und als du das Proviantbündel aufbinden wolltest, da hatte ich es mit Eisendraht zugebunden, aber du hast nicht herausgefunden, wo man es aufmachen kann. Aber als nächstes schlugst du mich drei Hammerhieben, und der erste war noch der geringste und war doch so stark, dass er mich getötet hätte, wenn er mich getroffen hätte. Und dort, wo du von meiner Halle aus einen Berg sahst, und der oben darauf drei viereckige Täler hatte, wovon eines das tiefste ist, dort waren deine Hammerspuren. Den Berg bewegte ich vor den Schlag, aber dies sahst du nicht.] Útgarða-Loki gibt zu, dass er schon bei ihrer ersten Begegnung Sinnestäuschungen angewandt hatte, um das Zusammentreffen mit Þórr zu überleben. Dabei hatte der Riese zur Abwehr von Þórs Hammerschlägen eine ephemere Topographie geschaffen, indem er einen Berg an die Stelle versetzte, an der Þórr den Kopf von Skrýmir vermutete. Dass es sich bei der Verschiebung des Berges, den Þórr während seiner Angriffe nicht bemerkte oder nicht als solchen erkannte, nicht um eine reine Illusion, sondern um eine kurzfristige Veränderung der intradiegetischen Raumstruktur handelte, zeigt die Tatsache, dass die drei Schläge, welche der Ase mit Mjöllnir ausführte, die Topographie des Berges nachhaltig veränderten. Dies lässt sich im Narrativ daran belegen, dass Þórr auf die drei Täler hingewiesen wird, welche er mit den Schlägen in den Berg hieb und die von der Halle aus deutlich auszumachen sind. Die Auswirkungen, die Þórs Schläge auf die durch den Riesen zeitlich begrenzt modifizierte Topographie von Jötunheimr haben, sind somit permanenter Natur. Der Berg, der zur Erzeugung des ephemeren Raumes Verwendung fand, unterliegt im Narrativ also nicht denselben dynamischen Bedingungen wie der produzierte Raum, sondern erfährt eine bleibende Deformation. Þórr hat sich über die Schläge selber in die Topographie des Riesenlandes eingeschrieben, da an die drei Täler im Berg, einer ätiologischen Erzählung gleich, das Narrativ ihres intradiegetischen Ursprungs geknüpft ist. 107 Die Identifizierung von Útgarða-Loki als Skrýmir findet nicht über den Namen, sondern nur über die Erwähnung des Treffens und der damit verbundenen Vorgänge im Wald statt. 108 Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 162. 173 Nach der Offenbarung seiner trickreichen Täuschungen eröffnet Útgarða-Loki, dass er auch bei einem weiteren Zusammentreffen mit Þórr Illusionen anwenden würde, damit dieser keine Macht über ihn erlangen könnte. 109 Darüber erzürnt schwingt der Ase seinen Hammer um den Riesen zu erschlagen: En er Þórr heyrði þessa tölu, greip hann til hamarsins ok bregðr á lopt, en er hann skal fram reiða, þá sèr hann þar hvergi Útgarða-Loka, ok þá snýst hann aptr til borgarinnar, ok ætlast þá fyrir at brjóta borgina; þá sèr hann þar völlu víða ok fagra, en önga borg. Snýst hann þá aptr ok ferr leið sína, til þess er hann kom aptr í Þrúðvanga. 110 [Aber als Þórr diese Rede hörte, griff er nach dem Hammer und schwang ihn durch die Luft, aber als er zuschlagen will, da sieht er dort nirgends Útgarða-Loki, und da dreht er sich zurück zur Burg und beabsichtigt, die Burg zu zerstören; da sieht er dort ein weites und schönes Feld, aber keine Burg. Da kehrt er um und geht seines Weges, bis er zurück kommt nach Þrúðvangr.] Die Burg von Útgarða-Loki erweist sich an dieser Stelle des von Þriði erzählten Narratives als ein explizit ephemerer Raum, der sich verflüchtigt, nachdem er weder für die intradiegetische Handlung der Reise Þórs und seiner Gefährten, noch für die das Narrativ motivierende und erzeugende Antwort der Erzählinstanz auf Gylfis Frage länger Verwendung findet. Die in der Erzählung erwähnten Sinnestäuschungen vermögen folglich auf zwei unterschiedliche Funktionen zu verweisen: Einerseits funktionieren sie innerhalb der Diegese, die Þriði durch sein Erzählen erschafft, als Phantasma, welches darauf hin angelegt ist, Þórr zu täuschen. Dabei wird von Útgarða-Loki ein Raum inszeniert, in dem auch die enthaltenen Objekte und die daran geknüpften Mikronarrative Trugbilder sind, die nicht als solche erkannt werden. Da die gesamte Binnenhandlung dieser Erzählung jedoch Elemente der Rahmenhandlung der Gylfaginning aufnimmt, legt sie gleichzeitig über die Illusion als verwendetes Motiv, das die Erzählinstanz selbst in das von ihr formulierte Narrativ einbaut, offen, dass innerhalb der Erzählung nicht alles so sein muss, wie es die Diegese vermuten lässt. So findet auch die Verflachung der Topographie, die mit dem Ende des Narratives einhergeht und sich in der erzählten Diegese im leeren Feld abbildet, auf dem die intradiegetischen Protagonisten stehen, seine gespiegelte Entsprechung am Ende der Rahmenhandlung der Gylfaginning wieder: Því næst heyrði Gángleri dyni mikla hvern veg frá sèr, ok leit út á hlið sèr; ok þá er hann sèst meirr um, þá stendr hann úti á slèttum velli; sèr þá önga höll ok önga borg. Gengr hann þá leið sína braut, ok kemr heim í ríki sitt, […]. 111 [Als nächstes hörte Gángleri großen Lärm aus allen Richtungen um sich herum und er wandte sich suchend zur Seite; aber als er sich mehr umsah, da stand er draußen auf einem flachen Feld; erblickte da keine Halle und keine Burg. Da ging er seines Weges und kam heim in sein Reich, ...] 109 Siehe dazu: Ebd., S. 164. 110 Ebd., S. 164-166. 111 Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 204. 4.3 Ephemere Räume als narratologisches Prinzip in der Gylfaginning 4 Ephemere Topographien 174 Der Raum der Erzählung, die Halle der drei Asenkönige, in dem Gylfi die Erzählungen rund um die intradiegetische Welt der Asen vernahm, erweist sich im Moment seiner Verflüchtigung auch als ein ephemerer Raum. Dabei verwendet das Narrativ der Rahmenhandlung dasselbe Mikronarrativ zur Verflachung der Topographie, wie schon in der Binnenerzählung über Þórs Reise in den Osten zu Útgarða-Loki. Der ephemere Raum der Rahmung korrespondiert somit mit jenem in Þriðis Erzählung. Geht man vom narratologischen Prinzip der Spiegelung aus, über welches der fiktive und ephemere Raum der Halle in der Rahmenerzählung der Gylfaginning Eingang in die Binnenerzählung fand, so liegt es nahe, auch den darüber eröffneten und erzählten Raum als Spiegelung zu interpretieren. Der im Narrativ von der Erzählinstanz Þriði erzählte Raum der Burg des Riesen Útgarða-Loki, ist, so ließ sich weiter oben zeigen, eine Illusion, die dazu erschaffen wird, um selber als Erzählraum für die Täuschung Þórs und seiner Gefährten während der Wettkämpfe zu dienen. In diesem fiktiven Raum der Burg, der von den getäuschten Protagonisten als Wirklichkeit anerkannt wird, werden ihnen weitere Illusionen vermittelt, die sie ebenfalls als real akzeptieren. Erst im Nachhinein, wenn die illusorische Funktion des ephemeren Raumes als solcher erkannt wurde, wird auch die Irrealität der in ihm verorteten Geschehnisse wahrgenommen. Gylfi, dem diese doppelte Irreführung anhand der Erzählung rund um die Täuschung Þórs - im Rahmen seiner Zweifel um die Macht des Asengottes - exemplarisch dargelegt wird, vermag dies jedoch nicht in den eigenen Erfahrungsbereich zu übertragen. 112 Gylfi nimmt das Gehörte selbst dann noch als real an, wenn sich der Erzählraum als Trugbild erweist und sich vor seinen Augen verflüchtigt. Anerkennt man, dass die von den Asenkönigen als Fiktion erschaffene Halle der Rahmung als von Þriði gespiegeltes Narrativ genutzt wird, um die Erzählung von Þórr bei Útgarða-Loki zu entwickeln, so könnte rückschließend angenommen werden, dass sich dieses narratologische Prinzip der Spiegelung auch in den erzählten Geschehnissen, die sich im vorgetäuschten Erzählraum in der Burg von Útgarða-Loki zutragen, erkennen lässt. Wie weiter oben gezeigt wurde, wird der fiktive Charakter der erzählten Welt und ihrer Protagonisten im Narrativ um Þórs Abenteuerfahrt zu Útgarða- Loki mehrfach thematisiert und explizit als solcher ausgewiesen. Überträgt man - analog zum intradiegetischen Erzählraum - diesen erzählten Raum und dessen konstruierte, ephemere Topographie auf die Rahmenhandlung, so lässt dies den Schluss zu, dass auch die Erzählungen der drei Asenkönige, welche die Topographien der eddischen Mythen in die von ihnen erzählte Diegese einschreiben, einem Trugbild entsprechen. Die Narrative über die Asengötter und die eddische Welt sind somit fingierte Konstrukte im ephemeren Erzählraum der Halle der Asenkönige, die einzig zur Täuschung Gylfis entwickelt wurden. 112 Dieses Unvermögen lässt sich daran erkennen, dass er nach seiner eigenen Täuschung durch die Asenkönige in sein Reich zurückkehrt und dort die eben erfahrenen Narrative über die göttlichen Asen seinem Volk weitererzählt. Vgl.: Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 204. 4.4 Fazit zu den ephemeren Topographien 175 4.4 Fazit zu den ephemeren Topographien Die Thematik der ephemeren Topographien und Räume wurde im vorliegenden Kapitel anhand des Topos der „Riesen im Osten“ entwickelt, der sich schon in der V ǫ lospá als ein produktives Element des Narratives erwies. Nach der Einführung der Riesen innerhalb eines Erinnerungsraumes, der in der V ǫ lospá außerhalb der Diegese der Binnenerzählung liegt und somit auch einen gewissen flüchtigen Charakter aufweist, beginnt sich der Topos sukzessive innerhalb des Narratives zu etablieren. Dieser kommt dadurch zustande, dass sich die Konstituenten der negativ konnotierten Riesen mit jenen des ebenfalls negativ besetzten Ostens überlagern. Der Osten wird jedoch nicht als ein erfahrbarer Raum in der Topographie der V ǫ lospá verortet, sondern erlangt seine Bedeutung im Narrativ über seine dynamische Funktion als Bedrohungsraum. Der erzählte Raum selbst bleibt in seiner topographischen Auformulierung flüchtig und dient einzig dazu, als anschwellender, jedoch vage lokalisierter Herkunftsraum für jene Gefahren zu fungieren, die auf die Erzählinstanz zustreben. Der Topos „Þórr bei den Riesen im Osten“, der sowohl in den eddischen Liedern als auch im Narrativ der Prosa-Edda produktiv Verwendung findet, zeigte, dass auch ein ephemerer Raum und dessen Topographie durchaus zu einem Handlungsraum werden können. Bemerkenswert an den Beispielen aus der Lieder-Edda ist, dass in diesen der genannte Topos mehrheitlich in der Vergangenheit verortet ist. Der Raum selbst wird über seine Erwähnung im Narrativ aufgerufen und aktualisiert, obschon er zum Zeitpunkt seiner Nennung schon wieder geschlossen ist. Daneben hat der Osten, über die Verbindung mit Þórr auch die Möglichkeit, innerhalb der Topographie zu einem Abenteuerraum zu werden, wie sich am Beispiel der Hymisqviða darlegen ließ. Anhand der Rahmenerzählung der Hymisqviða konnte zudem diskutiert werden, wie ein Objekt, welches über topographische und raumstrukturierende Merkmale ins Narrativ eingeschrieben wird, sowohl hinsichtlich seiner Ausmaße als auch seiner Perspektivenbildung zu einer dynamischen Größe werden kann. Dass die beiden Topoi der „Riesen im Osten“ und „Þórr bei den Riesen im Osten“ über die Aktualisierung der mit ihnen verknüpften vergangenen Narrative auch Gefahr laufen, sich überproportional in die mental map der eddischen Mythen einzuschreiben und so zu beständigen Markierungen innerhalb der Topographie zu werden, zeigten die Beispiele aus der Locasenna. Daran liess sich auch erkennen, dass ein Raum umso gewichtiger innerhalb der gesamten eddischen Diegese werden kann, je mehr Narrative an ihn gekoppelt sind und je ausdifferenzierter dabei seine Topographie dargestellt wird. In der Gylfaginning der Prosa-Edda werden ephemere Raumstrukturen über das narratologische Prinzip der Spiegelung äußerst produktiv für das Gesamtnarrativ verwendet. Über diese Spiegelungen legt das Narrativ zudem seine eigene Konstruiertheit offen dar, wenn Gylfi exemplarisch, anhand mehrfach ineinander verschachtelter Erzählräume und erzählter Räume in der Binnenerzählung, demonstriert wird, wie der Raum der Rahmenhandlung, also der Gylfi umgebende Erzählraum, und die ihm darin erzählte Diegese aufgebaut sind. Trotz der deutlichen Hinweise auf seinen eigenen Erfahrungsbereich scheint Gylfi die beinahe parabelhafte Erzählung über Þórs Reise zur Burg des Riesen Útgarða-Loki nicht zu durchschauen, sodass auch er am Ende die von den drei Asenkönigen für ihn fingierten Geschichten über die Asengötter weitererzählt. 5 Das Ende der eddischen Topographien 5.1 Vorüberlegungen zum Ende der Topographien Ein Ende ist generell nicht denkbar, ohne dass zuvor ein Anfang gesetzt wurde. Dem dazwischenliegenden Abschnitt, der durch die beiden Punkte des Anfangs und des Endes markiert und begrenzt wird, ging durch den nachträglich gesetzten Anfangspunkt einerseits zuvor schon ein Ende voraus, andererseits bildet der zwischen Anfang und Ende liegende Abschnitt selbst eine narratologische Struktur, 1 die auf das Ende hinführt. 2 Nachdem zu Beginn dieser Arbeit der Anfang der Topographien der eddischen Mythen analysiert und diskutiert wurde, gefolgt von ihren Ausdifferenzierungen in den einzelnen Narrativen und ihren ephemeren Erscheinungsformen, steht abschließend ihr Ende im Zentrum der Betrachtung. Dabei geht es nicht einzig darum, wie das Ende der räumlich strukturierten Welt im Narrativ inszeniert und dargestellt wird, sondern auch darum, was mit den Narrativen zu den eddischen Topographien geschieht, wenn die intradiegetisch erzählte Topographie endet. Entspricht das Ende eines Raumes und seiner Topographie im Narrativ einer Annihilation aller darin erschriebenen oder erzählten Dinge und Strukturen oder wird über die Vergegenwärtigung einer Abwesenheit, die rückblickend durch das Ende markiert ist, ein neuer Erzählraum für die Erinnerung geschaffen, in dem eine Diegese vom Narrativ rekonstruiert werden kann? 3 Eine Rekonstruktion jener intradiegetischen Topographien, welche aus den eddischen Texten bekannt sind, würde jedoch das Ende als Abbruch in Frage stellen, beziehungsweise würde das erzählte Ende im Narrativ zu einem von vielen wiedererzählten und darüber aktualisierten Enden, einer seriellen Sequenz von Enden also. Über die materielle Verfestigung der Narrative in den Kodizes, Manuskripten und Editionen ist eine Vergegenwärtigung und die damit verknüpfte Aktualisierung ihrer Inhalte nicht nur gegeben, sondern intendiert. Im Folgenden werden daher nicht nur die Auswirkungen, welche die Erzählungen über das Ende auf die intradiegetischen Topographien haben, sondern auch die mate- 1 Zum Ende als narratologische Struktur im Allgemeinen siehe unter Anderem: Miller, J. Hillis: The Problematic of Ending in Narrative. In: Welsh, Alexander [Hrsg.]: Nineteenth- Century Fiction. Special Issue: Narrative Endings. Volume 33, Number 1, June 1978, University of California Press, Berkeley, Los Angeles und London 1978, S. 3-7; sowie: Kermode, Frank: Sensing Endings. In: Welsh, Alexander [Hrsg.]: Nineteenth-Century Fiction. Special Issue: Narrative Endings. Volume 33, Number 1, June 1978, University of California Press, Berkeley, Los Angeles und London 1978, S. 144-158; oder: Kermode, Frank: The Sense of an Ending. Studies in the Theorie of Fiction. Oxford University Press, New York 1967. 2 Vgl.: Stierle, Karlheinz und Warning, Rainer: Vorwort. In: Stierle, Karlheinz und Warning, Rainer [Hrsg.]: Das Ende. Figuren einer Denkform. Fink, München 1996, S. ix-x. (= Poetik und Hermeneutik, Bd. 16) 3 Zur Rekonstruktion und Annihilation des Endes siehe auch: Koschorke, Albrecht: Der postmortale Blick - Das Erhabene und die Apokalypse. In: Bauer, Markus und Rahn, Thomas [Hrsg.]: Die Grenze. Begriff und Inszenierung. Akademie Verlag, Berlin 1997, S. 325f. 5 Das Ende der eddischen Topographien 178 riellen Manifestationen des Endes in den eddischen Texte betrachtet. Dabei geht es einerseits um den Aufbau und die Gliederung der einzelnen Narrative innerhalb der Handschriften, andererseits darum wie sich die Erzählungen über das Ende in den Narrativen von anderen Erzählungen abgrenzen. Auch auf einer materiellen Ebene muss somit gefragt werden, wo etwas endet und was nach diesem Ende neu beginnt. 5.2 Das Ende am Anfang - die Darstellung der ragna r ǫ k in der V ǫ lospá Im Kapitel zu den Anfängen der Topographien der eddischen Mythen wurde die prominente Stellung, die der V ǫ lospá sowohl in der Handschrift des Codex regius der Lieder-Edda als auch in der verwendeten Referenzedition zukommt, schon ausführlich beschrieben und diskutiert. Im Folgenden wird nun zuerst die intradiegetische Darstellung des Endes der Welt analysiert, welches mit der Prophezeiung zu den ragna r ǫ k eingeleitet wird. 4 In einem zweiten Schritt wird betrachtet, welche Probleme sich aus der Verknüpfung des Endnarratives in der V ǫ lospá mit ihrer Einbindung ins Gesamtnarrativ der Lieder-Edda ergeben, wenn das Ende der Welt schon am Anfang des Kodex und somit schon zu Beginn des verschriftlichten mythologischen Gesamtnarratives bekannt ist. 5.2.1 Das intradiegetische Ende in der V ǫ lospá und die rekonstruierte Topographie Nach der Beschreibung der Umstände, die zum Tode Balders führen, 5 nimmt das Narrativ der V ǫ lospá immer düsterere Züge an, was in der ersten Vorausschau von ragna r ǫ k durch die Erzählinstanz in Strophe 44 kulminiert: Geyr Garmr mi ǫ c fyr Gnipahelli, festr mun slitna, en freki renna; fi ǫ lð veit hon frœða, fram sé ec lengra um ragna r ǫ c, r ǫ mm, sigtýva. 6 [Garmr bellt laut vor Gnipahellir, die Fessel wird reißen, und der Wolf rennen; viel Kunde weiß sie, weiter seh ich voraus das mächtige Ragnarök der Schlachtgötter.] 4 Eine profunde Einführung in die Thematik bietet folgender Aufsatz: Würth, Stefanie: Ragnarök: Götterdämmerung und Weltende in der nordischen Literatur. In: Hartmann, Sieglinde und Müller, Ulrich [Hrsg.]: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein Gesellschaft. Band 13, 2001/ 2002, Frankfurt am Main 2002, S. 29-43. 5 Siehe dazu die Strophen 31 bis 35 der V ǫ lospá in: Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 7f. 6 Ebd., S. 10. 179 Die erste Nennung der im Narrativ als Stef konzipierten Strophe 7 scheint den initiierenden Moment des Beginns von ragna r ǫ k wiederzugeben. Das „Endschicksal der Götter“ 8 wird gleichzeitig über die Nennung von Geschehnissen in der erzählten Zukunft („festr mun slitna“) und der intradiegetischen Gegenwart („Geyr Garmr mi ǫ c“), die als Zukünftiges über die Prophezeiung aktualisiert zur Gegenwart wird, sowie über das gegenwärtige Wissen („fi ǫ lð veit hon frœða“), welches über die dritte Person Singular an die Erzählinstanz geknüpft ist, und das vorausschauende Sehen („fram sé ec lengra“) der Erzählinstanz als sprechendes Subjekt, ins Narrativ eingeführt. Dabei überlagern sich die verschiedenen Ebenen der Zeiten genauso, wie die mediale Herkunft des vermittelten Wissens und die Aktanten der grammatikalischen Personen. Der Moment vor dem Ausbruch der ragna r ǫ k bildet im Narrativ somit einen über die Erzählinstanz aktiv als auch passiv in der Erinnerung des Zukünftigen vergegenwärtigten Raum der Erzählung. Der Ort Gnipahellir, an dem die Figur Garmr, die wohl als wolfähnlicher Hund zu interpretieren ist, 9 verortet wird, kann innerhalb der eddischen Topographie nicht lokalisiert werden, da jegliche raumspezifische Angaben dazu fehlen. Dabei scheint auch der durch Garms Handlung der Befreiung und des Losrennens antizipierte Bedrohungsraum für das Narrativ und dessen weiteren Verlauf wichtiger zu sein als die schlüssige Verortbarkeit des noch angeketteten Garms. 10 Dieser Bedrohungsraum, den die Erzählinstanz durch die Prophezeiung der Vorgänge vor und während der ragna r ǫ k eröffnet, wird in der darauffolgenden Strophe 45 noch expliziter veranschaulicht: 7 Im Gegensatz zur Variante der V ǫ lospá aus der Referenzedition, wird derselbe Wortlaut in der Handschrift des Codex regius der Lieder-Edda bei der zweiten und dritten Nennung des Stef - in den Versstrophen 49 und 58 - über Abkürzungen wiedergegeben. Siehe dazu: Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 10-14. In der Version der Hauksbók kommt derselbe Wortlaut, wenn auch stellenweise in stark abgekürzter Variante, hingegen in den Strophen 31, 36, 41, 46 und 50 vor. Siehe dazu: https: / / notendur.hi.is/ / ~eybjorn/ ugm/ voluspa/ vsp3.html (Stand: 09.05.2015) 8 Siehe dazu unter dem Lemma Ragnarök in: Simek: Lexikon der germanischen Mythologie, S. 340f. Dass es sich in keiner Weise um ein definitives Ende der Götter oder ihrer Welt handelt, wie die Übersetzung vermuten lassen würde, wird im Verlauf dieses Kapitels aufgezeigt werden. 9 Siehe dazu: Völuspá. [Nordal], S. 86, oder unter dem Lemma Garmr in: Simek: Lexikon der germanischen Mythologie, S. 127. Der Name Garmr findet außer in der V ǫ lospá noch in Grímnismál Strophe 44 (Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 66.) und in der Gylfaginning der Prosa- Edda als Zitat dieser Strophe aus Grímnismál (Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 132.) sowie einer zitathaften Anlehnung an die ersten zwei Zeilen der oben zitierten Strophe 44 der V ǫ lospá: „[…] hundrinn Garmr er bundinn er fyrir Gnipahelli.“ (Ebd., S. 190) [...der Hund Garmr, der festgebunden ist vor Gnipahellir]. 10 Ein in Fesseln gelegtes wolfähnliches Tiere dient auch in Strophe 39 der Locasenna als Motiv zur Beschreibung des terminus ante quem der ragna r ǫ k, beziehungsweise des Bedrohungsraums der darüber evoziert wird, dass das Tier ab dem Zeitpunkt seiner Befreiung zur Gefahr für die intradiegetische Welt werden wird: „Týr qvað: Handar em ec vanr, / enn þú Hróðrsvitnis, / b ǫ l er beggia þrá; / ulfgi hefir oc vel, / er í b ǫ ndum scal / bíða ragna r ǫ crs.“ Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 104 [Týr sprach: Die Hand fehlt mir, / aber dir Hróðrsvitnir, / der Schaden ist für beide Verlust; / der Wolf hat es auch nicht gut, / der in Fesseln muss / erwarten Ragnarökr]. 5.2 Das Ende am Anfang - die Darstellung der ragna r ǫ k in der V ǫ lospá 5 Das Ende der eddischen Topographien 180 hart er í heimi, hórdómr mikill, scegg ǫ ld, scálm ǫ ld, scildir ro klofnir, vind ǫ ld, varg ǫ ld, áðr ver ǫ ld steypiz; mun engi maðr ǫ ðrom þyrma. 11 [Brüder werden sich bekämpfen und sich den Tod bringen, Vettern werden die Verwandtschaft zerstören, rauh ist es in der Welt, viel Ehebruch, Axtzeit, Schwertzeit, Schilder zerbersten, Windzeit, Wolfzeit, bevor die Welt zusammenstürzt; kein Mensch wird den anderen schonen.] Die von der Erzählinstanz vorhergesagten Tötungen innerhalb der engsten Familienbande, welche in den ersten sechs Halbversen Erwähnung finden, funktionieren wohl hauptsächlich als Folie, um den sittlichen Zerfall vor oder bei dem Einsetzen der ragna r ǫ k zu schildern. Dass es sich hierbei jedoch um ein Abbild des Auseinanderbrechens der menschlichen Gesellschaft handelt, wie häufig in der Forschung behauptet, 12 ist sehr unwahrscheinlich, da das Narrativ vor und nach dieser Schilderung der Zustände nur äußerst marginal auf die Welt der Menschen eingeht, die weder im Narrativ der V ǫ lospá noch in der darin beschriebenen Diegese eine zentrale Rolle einnimmt. Da familiäre Beziehungen in der Diegese der V ǫ lospá insbesondere hinsichtlich des Göttergeschlechts, respektive der Asen beschrieben werden und auch der Brudermord an Baldr als einer der Auslöser für die Geschehnisse, die zu ragna r ǫ k führen, in der V ǫ lospá dargestellt wird, mag eine Interpretation dieser Strophe eher auf die Wiedergabe der allmählich zerrütteten Zivilisation der eddischen Götter hindeuten. Besonders interessant ist der Halbvers „áðr ver ǫ ld steypiz“, da damit zum ersten Mal innerhalb der intradiegetischen Prophezeiung der V ǫ lospá auf ein Ende der bestehenden Welt hingewiesen wird. Unklar bleibt jedoch, ob ver ǫ ld 13 auf einen Zeitraum verweist, wobei der Halbvers dann im metaphorischen Sinne als Zusammenbruch einer Gesellschaft und deren Niedergang gelesen werden kann, oder ob es auf die Welt als topographisches Gebilde referiert, welche in sich zusammenstürzt. In Strophe 47 steht die Esche Yggdrasils trotz der drohenden Gefahren und dem in der Strophe angedeuteten Erzittern, das als Erdbeben interpretiert werden kann, 14 noch unverrückbar an ihrem Platz: Scelfr Yggdrasils ascr standandi, ymr iþ aldna tré, en i ǫ tunn losnar; hræðaz allir á helvegom áðr Surtar þann sefi of gleypir. 15 11 Ebd., S. 10f. 12 Siehe dazu die Anmerkungen zum Thema in: Völuspá. [Nordal], S. 87f. 13 Für die unterschiedlichen Konnotationen von ver ǫ ld siehe verǫ ld unter dem Lemma verin: Baetke: Wörterbuch zur altnordischen Prosaliteratur, S. 715. 14 Aus Nordals Sicht ist diese Interpretation sogar die einzig richtige: „Zweifellos handelt es sich hier um die Schilderung eines Erdbebens.“ Siehe dazu: Völuspá. [Nordal], S. 91. 15 Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 11. Brœðr muno beriaz oc at b ǫ nom verðaz, muno systrungar sifiom spilla; 181 [Zitternd steht die Esche Yggradsills, der alte Baum ächzt, aber der Riese ist frei; es fürchten sich alle auf den Helwegen, bevor sie Surtrs Verwandter verschlingt.] Die hier aus der Referenzedition zitierte Strophe findet sich in dieser Weise einzig in der Hauksbók verschriftlicht, der Codex regius der Lieder-Edda hingegen gibt nur die ersten vier Halbverse und diese zudem in einer anderen Reihenfolge wieder. 16 In beiden Manuskripten dröhnt und bebt der Baum zwar ob des sich befreienden, unbenannten Riesen, doch steht er immer noch fest verwurzelt an seinem Platz. Insbesondere die letzten zwei Halbverse, die nur in der Version der V ǫ lospá aus der Hauksbók überliefert sind, bieten Anlass zur Interpretation. 17 Das Problem bei der Deutung besteht darin, dass im Narrativ nicht deutlich wird, wer nun wen verschlingt, beziehungsweise wer mit þann und wer als sefi Surtar bezeichnet ist. Vom Strophenaufbau her scheint es sinnvoll þann auf die Esche Yggdrasils zu beziehen, die dann von einem nicht genannten Verwandten Surts verschlungen wird. 18 Eine solche Leseweise ist auch in Zusammenhang mit dem Gesamtnarrativ vertretbar, da die Esche nach der Strophe 47 keine weitere Erwähnung in der V ǫ lospá findet. In Bezug auf die Veränderung der Topographie, die mit dem Verschwinden des Weltenbaums einhergeht, ist es zudem unerheblich, wodurch die Veränderung entsteht. Als vertikale Achse, über die der Baum in die Diegese der V ǫ lospá Eingang fand und darin funktionalisiert wurde, ist die Esche für die Strukturierung des Raumes nicht von tragender Bedeutung, sodass ihr Wegfallen weder einen starken Einfluss auf die Topographie noch auf die eddische Eschatologie zu haben scheint. Diese Marginalisierung lässt sich auch daran festmachen, dass der Baum im Codex regius der Lieder-Edda, in dessen Textvariante der V ǫ lospá die Esche Yggdrasils, im Gegensatz zur zuvor beschriebenen Version aus der Hauksbók, nicht verzehrt wird, keinen Anteil an der weiteren Handlung oder der topographischen Beschreibung vor oder während den ragna r ǫ k im Narrativ hat. Nach der zweiten Nennung des Stef in Strophe 49 und der Etablierung des im Kapitel zu den ephemeren Topographien beschriebenen Bedrohungsraums in den Strophen 50 und 51, dessen progressive Ausdehnung durch die herannahenden Opponenten der Asen im Narrativ verdeutlicht wird, beginnt der Raum innerhalb der Diegese der Prophezeiung in Strophe 52 der Lieder-Edda explizit zu kollabieren: Surtr ferr sunnan með sviga lævi, scínn af sverði sól valtíva; griótbi ǫ rg gnata, enn gífr rata, troða halir helveg, enn himinn klofnar. 19 [Surtr zieht von Süden her mit dem Ruten Verderber, es scheint vom Schwert die Sonne der Schlachtgötter: 16 Im Codex regius der Lieder-Edda stehen die Halbverse 1 und 2 hinter 3 und 4. Siehe dazu die Anmerkungen zur Strophe 47 in: Ebd. 17 Zu den unterschiedlichen Argumentationen und Interpretationen siehe: Völuspá. [Nordal], S. 87f. 18 Da Surtr selbst als Name für einen Feuerriesen interpretiert wird, könnte auch sein Verwandter mit Feuer konnotiert sein, was das Verschlingen des Baumes motivieren würde 19 Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 12. 5.2 Das Ende am Anfang - die Darstellung der ragna r ǫ k in der V ǫ lospá 5 Das Ende der eddischen Topographien 182 Felsberge stürzen zusammen, und Trollfrauen stolpern, es stapfen die Menschen auf dem Helweg, und der Himmel birst.] Die von Süden her auf die Erzählinstanz zustrebende Bedrohung Surts, welche über das Zweige verbrennende Feuer und die in den Schwertern reflektierte Sonne konkretisiert wird, ist im Text der V ǫ lospá parallel zur zweiten Halbstrophe geführt, in der zusammenstürzende Felsen und der berstende Himmel chiastisch zu den fallenden Riesenweibern und den Menschen, die den Helweg beschreiten, gestellt. Das Feuer, das die Welt bedroht, scheint im Narrativ auch die Menschen und Riesen zu verbrennen. In der Darstellung des Raumes beginnt sich gleichzeitig eine gewisse Verflachung der Topographie abzuzeichnen, die sowohl durch den aufgerissenen Himmel als auch die zerbröselnden Felsen impliziert wird. Die Struktur der Topographie der eddischen Welt, wie sie in der V ǫ lospá durch die Erzählinstanz zuerst performativ entwickelt wurde, wird nun innerhalb der Prophezeiung sukzessive dekonstruiert. Diese Dekonstruktion findet jedoch nur für die Diegese des erzählten Raumes und darin über die performativ erzeugte aktualisierte Vorwegnahme der Zukunft statt. Jener erzählte Raum, welcher die Topographie der eddischen Welt enthält, wie sie die Erzählinstanz in ihrer Rede fingiert, die innerhalb des Erzählraums der Rahmung stattfindet, für die V ǫ lospá, antizipiert somit einen weiteren erzählten Raum, in dem sich das Ende der eigenen Diegese abbildet. So ist das performativ evozierte Bild des berstenden Himmels zwar ein aktuelles, doch existiert es nur in der Form einer Projektion im gegenwärtigen Narrativ. Dabei überlagert sich der zur Zeit des Erzählens aktuelle Raum des Himmels mit jenem des intradiegetisch aktualisierten Raumes und jenem des über die Antizipation der Prophezeiung vergegenwärtigten Himmels: Der letzte Himmelsraum steht durch sein Zerbrechen kurz vor der Negation seiner eigenen Ausmaße. Innerhalb der erzählten Diegese der eddischen Welt der V ǫ lospá würde sich somit der Himmel als Topographie ausglätten, sobald die beiden Narrative deckungsgleich werden. Der Kollaps der intradiegetischen Topographie, der durch den aufbrechenden Himmel und das zerbröselnde Gestein einsetzt, kumuliert nach der Schilderung der Schlachten und Einzelkämpfe zwischen den Asen und ihren Opponenten 20 im Untergang der gesamten Welt in Strophe 57: Sól tér sortna, sígr fold í mar, hverfa af himni heiðar sti ǫ rnor; geisar eimi við aldrnara, leicr hár hiti við himin sialfan. 21 [Die Sonne beginnt schwarz zu werden, die Erde versinkt im Meer, vom Himmel stürzen die klaren Sterne; der Dampf tobt mit dem Feuer, rasch steigt große Hitze selbst bis in den Himmel hinauf.] 20 In den Strophen 46 bis 56, zwischen denen das oben genannte Stef in Strophe 49 zum zweiten Mal vorkommt, rücken sowohl Riesen und unterschiedlich benannte Wölfe als auch der Miðgarðsorm gegen die Asen und die von ihnen bewohnte Welt vor und verwickeln die Götter in Kampfhandlungen. Siehe dazu: Ebd., S. 11-13. 21 Ebd., S. 13f. 183 Die Struktur der Topographie der eddischen Welt, wie sie in der V ǫ lospá entwickelt wird, implodiert, nachdem die Hauptvertreter der Asen im Kampf gestorben sind. 22 Die Kettenreaktion, die durch die ragna r ǫ k in Gang gesetzt wurde und zur in Strophe 57 beschriebenen apokalyptischen Katastrophe führt, wird jedoch auch nach dem Wegfall der sich bekämpfenden Kräfte nicht unterbrochen. Über die naturalistisch wirkende Darstellung des Weltuntergangs setzt das Narrativ dazu an die Topographie zu glätten. Gleichzeitig verschwinden aus dem erzählten Raum durch den Tod der Götter und ihrer Kontrahenten auch die an diese Figuren geknüpften Narrative, die zuvor durch die Erzählinstanz in die Topographie eingeschrieben wurden. Die sich verdunkelnde Sonne, das Feuer und der Rauch veranschaulichen die Unmöglichkeit des deutlichen Erkennens eines Ablaufs der Geschehnisse. 23 Für die Erzählinstanz sind einzig die im Meer versinkende Erde und die vom Himmel fallenden Sterne im sich entleerenden Raum auszumachen, woran sich aber keine handlungsevozierten Narrative anschließen lassen, da die Bewohner dieser untergehenden Erde, die über ihre Taten weitere Erzählungen evozieren könnten, schon tot sind. So nimmt die Erzählinstanz das Stef in Strophe 58 erneut auf und verweist dadurch nochmals auf den prophetischen Charakter des Narratives, der darin erzählten Vorhersehung des Endes der intradiegetischen Welt und der darüber evozierten Glättung des Raumes. 24 Durch den Rückgriff auf das Stef unterbricht das Narrativ einerseits die Schilderung des sich in Strophe 57 ereignenden Weltuntergangs, während dieser in der Erzählung noch aktiv vonstatten geht, andererseits verweist es über die Nennung der Götter auf den Zustand der Welt während des Erzählens selbst. Die Strophe bildet zudem einen Übergang von der untergehenden Erde zu ihrer darauffolgenden Auferstehung in Strophe 59: Sér hon upp koma ǫ ðro sinni i ǫ rð ór ægi, iðiagrœna; falla forsar, flýgr ǫ rn yfir, sá er á fialli fisca veiðir. 25 [Sie sieht ein weiteres Mal hervorkommen, die Erde aus dem Meer, die neu ergrünte, Wasserfälle stürzen, ein Adler fliegt darüber, der im Gebirge Fische jagt.] 22 Siehe dazu die Strophen 53 bis 56 der V ǫ lospá in: Ebd., S. 12f. Der Tod von Óðinn wird im Narrativ der Strophe 53 nur implizit über die Trauer seiner Frau Hlín, bzw. Frigg und die Kämpfe bei denen er fallen wird angedeutet. Der Tod von Þórr wird hingegen in Strophe 56 explizit erwähnt. 23 Nordal interpretiert die beschriebene Szenerie der eddischen Apokalypse, wie sie in der V ǫ lospá wiedergegeben wird, als Vulkanausbruch und verweist darauf, dass dieses Naturphänomen dem Dichter des Liedes wohl aus seiner Lebenswelt bekannt war. Siehe dazu: Völuspá. [Nordal], S. 107. Nordals Interpretation ist zwar sicherlich eine sehr naheliegende, doch marginalisiert sie den eschatologischen Ansatz der Textstelle, wenn das Ende bloß als Beschreibung einer Naturgewalt betrachtet wird, insofern, als dass der narratologische Aufbau ausgeblendet wird und nicht danach gefragt wird, wieso die Natur nach dem Tod der Götter und ihrer Gegenspieler als einzige vorhandene Kraft die Erde vernichtet. 24 Vgl.: Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 14. 25 Ebd. 5.2 Das Ende am Anfang - die Darstellung der ragna r ǫ k in der V ǫ lospá 5 Das Ende der eddischen Topographien 184 In der Darstellung der wiederentstehenden Welt markiert die Erzählinstanz durch den Wechsel in die dritte Person Singular das Vermittelte als ein über das Sehen passiv erfahrenes Wissen. Der Raum der Diegese beginnt sich in der erzählten Vorausschau im Narrativ erneut zu füllen und zu strukturieren, wenn die Erde auf beinahe zyklische Weise ein weiteres Mal aus dem Meer auftaucht. 26 Im Gegensatz zur Darstellung der Schöpfung der Welt in Strophe 4 der V ǫ lospá, in der nicht deutlich gemacht wird, woraus die Söhne Burs die Erde herausheben, 27 finden sich bei der erneuten Entstehung der Welt keine Kräfte, die als aktiv schöpfende beschrieben werden. Das Narrativ reduziert die Rekonstruktion der Kosmogonie auf eine Autopoiesis, da die angeblich von einer dritten Person in einer Vision gesehenen Vorgänge zukünftiger Geschehnisse einzig über die Nacherzählung als Diegese verfestigt werden. Darüber stellt der Text seine narratologische Schöpfungskraft in den Vordergrund So entsteht die Welt bei ihrer erneuten Schöpfung nicht mehr durch eine intradiegetische Handlung, sondern einzig über die sprachliche Beschreibung der Sichtbarwerdung, ohne dass die Gründe oder Kräfte angegeben würden, die diesen Raum formen oder bedingen. Die Schöpfungstätigkeit liegt explizit bei der Erzählinstanz, die die wiederauflebende Topographie der eddischen Mythologie der V ǫ lospá auserzählt und über das Erzählen festigt. Die geschilderte Szenerie einer Erde, auf welcher Flora und Fauna schon von Anbeginn an existent sind, verkürzt die Rekapitulation des Schöpfungsnarratives zusätzlich, wenn eine Diegese und deren Topographie aufgerufen werden, die auf bekannten Elementen basiert. Selbst die Asen sind innerhalb dieser Quasi-Palingenese schon präexistent: Finnaz æsir á Iðavelli oc um moldþinur, mátcan dœma oc minnay þar á megindóma oc á Fimbultýs fornar rúnar. 28 [Die Asen treffen sich auf Iðav ǫ llr und unterhalten sich über den mächtigen Erdumspanner und erinnern sich dort der geweltigen Ereignisse und an Fimbultýrs alte Runen.] 26 Zur Frage des Zyklischen in der V ǫ lospá siehe unter Anderem: Vésteinn Ólason: V ǫ luspá and Time. In: Gunnell, Terry und Lassen, Annette [Hrsg.]: The Nordic Apocalypse. Approaches to V ǫ luspá and Nordic Days of Judgement. Brepols, Turnhout 2013, S. 25-44. Vésteinn Ólason widmet sich insbesondere auf den Seiten 27-31 Überlegungen zur Gewichtung der verschiedenen Phasen der Schöpfung, der Ereignisse die zu ragna r ǫ k führen, ragna r ǫ k selbst und dem darauffolgenden Neubeginn in der V ǫ lospá. Zum Zyklischen in der skandinavischen Mythologie im Allgemeinen siehe: Molenaar: Concentric Dualism as Transition Between a Linear Cyclic Representation of Life and Death in Scandinavian Mythology, S. 29-53. 27 Vgl.: Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 1. Über den Hinweis auf das Zyklische, welches in Strophe 59 der Schöpfung der Erde aus dem Meer attestiert wird, kann man die Kosmogonie, wie sie in Strophe 4 beschrieben wird, rückblickend auch als eine „Land aus dem Meer“-Schöpfung interpretiert werden. Eine solche Zuschreibung ist jedoch, wie schon in Kapitel 2.3.2 bei der Betrachtung der Kosmogonie in der V ǫ lospá erwähnt, erst retrospektiv möglich. 28 Ebd., S. 14. 185 Die Asen treffen erneut auf Iðav ǫ llr zusammen, welches für sie gemäß des Narratives schon in Strophe 7 als Versammlungsort und als Stätte zur Entwicklung und Etablierung kulturzivilisatorischer und religiöser Güter fungierte. 29 Diesmal dient das Feld oder der Platz jedoch als angeblicher Erinnerungsraum für Geschichten und Wissen aus der untergegangenen Welt. Der erwähnte „mächtige Erdumspanner“, 30 die erinnerten großen Ereignisse 31 und die zu Fimbultýr 32 gehörenden alten Runen finden in der genannten Form jedoch keine explizite Entsprechung im zuvor erzählten Narrativ und in der Diegese der untergegangenen Welt. Die Wiedergabe dieser zukünftigen Erinnerungen durch die Erzählinstanz produziert Leerstellen im Raum, die durch tatsächlich oder auch nur vermeintlich bekannte Narrative gefüllt werden können. Die Topographie der erneuerten Erde, wie sie durch die Erzählinstanz prophezeit wird, scheint sowohl durch die Existenz von Iðav ǫ llr, der innerhalb der Diegese der untergegangenen Welt als erster benannter Ort fungiert, als auch über dessen Funktion als Erinnerungsraum schon in gewisser Weise vorgeformt und mit Narrativen gefüllt zu sein. Weiter wird prophezeit, dass die Asen im Gras goldene Tafeln finden, die sie schon vor Urzeiten besaßen. 33 So zeigt sich die in der Prophezeiung beschriebene aus dem Meer auftauchende Welt nicht nur über die schon von Beginn an in sie eingeschriebenen Narrative, sondern auch über die wieder oder noch immer vorhandenen Gegenstände, die aus der zuvor von der Erzählinstanz etablierten Diegese entstammen, als eine rekonstruierte. 29 Vgl.: Ebd., S. 2. 30 Diese poetische Umschreibung wird oft als kenning für den Miðgarðsormr gelesen. Siehe dazu: Völuspá. [Nordal], S. 108, oder siehe unter dem Lemma moldþinurr in: Gering: Glossar zu den Liedern der Edda (Sæmundar Edda), S. 121. Nordals Interpretation, wie wohl auch jene von Gering, stützt sich auf die Leseweise von þinurr als Synonym für þinull, welches eine „Randleine des Fischnetzes“ bezeichnet, und so mit dem im Weltenmeer liegenden Miðgarðsormr in Verbindung gebracht werden kann. Versteht man þinurr jedoch in seiner Bedeutung als „mittlerer (biegsamer) Teil des Bogens“, so könnte die kenning ebenso auf Miðgarðr in seiner Funktion als Schutzwall hindeuten. Für die Übersetzungsvarianten siehe unter dem Lemma þinurr in: Baetke: Wörterbuch zur altnordischen Prosaliteratur, S. 773. 31 Die Halbversstrophen 5 und 6 zu den erinnerten und erzählenswerten Ereignissen sind nur in der Hauksbók überliefert, nicht jedoch im Codex regius der Lieder-Edda. Siehe dazu die Anmerkung zur Strophe 60 in: Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 14. Worauf sich diese Ereignisse beziehen wird in der Strophe selbst nicht deutlich gemacht. 32 Der Name wird häufig als heiti für Óðinn gelesen. Siehe dazu unter dem Lemma Fimbultýr in: Simek: Lexikon der germanischen Mythologie, S. 101. Dieses Hapax legomenon ohne weitere Belegstellen als Bezeichnung für Óðinn zu lesen und über diese Gleichsetzung zudem auf Óðins Funktion als Hauptgott der Germanen zu schließen scheint doch etwas gewagt. Nicht weniger problematisch ist hingegen Nordals Ansatz, der den Namen Fimbultýr aus der V ǫ lospá über die Strophe 142 der Hávamál mit Óðinn gleichsetzt, in welcher (wie auch in der von Nordal nicht als Beleg erwähnten Strophe 80 desselben Liedes) die Bezeichnung fimbulþulr genannt wird, die auch als heiti für Óðinn gelesen wird. Siehe dazu: Völuspá. [Nordal], S. 108f. 33 Vgl. Strophe 61 in: Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 14. Die explizite Bezeichnung der Asen findet sich nur in der Hauksbók, im Codex regius der Lieder-Edda und im Text der Referenzedition steht hingegen die mediopassive Formuierung „Þar muno eptir [...] finnaz [...]“. Für die Belege in den verschiedenen Manuskripten siehe die Anmerkung zur Strophe 61, S. 14. 5.2 Das Ende am Anfang - die Darstellung der ragna r ǫ k in der V ǫ lospá 5 Das Ende der eddischen Topographien 186 Die beschreibende Vorausschau auf diese autopoietische Welt findet ihren Höhepunkt in der Darstellung des Kulturlandes und der Wiederinbesitznahme der Welt durch die Asen in Strophe 62: Muno ósánir acrar vaxa, b ǫ ls mun allz batna, Baldr mun koma; búa þeir H ǫ ðr oc Baldr Hroptz sigtóptir, vel, valtívar - vitoð ér enn, eða hvat? 34 [Es werden unbesät die Äcker wachsen, alles Unglück wird sich bessern, Baldr wird kommen; wohnen werden H ǫ ðr und Baldr auf Hroptrs Kampfstätte, glücklich, die Schlachtgötter - wisst ihr mehr, oder was? ] So wie die Äcker aus sich selbst heraus ungesät Früchte tragen, wird auch die gesamte Welt zu einer moralisch besseren werden, wenn der Brudermord vergessen ist und sich H ǫ ðr und Baldr gemeinsam an der Kampfstätte von Hroptr niederlassen. Ungeachtet der Problematik, welche mit der Interpretation der zweiten Halbstrophe einhergeht, 35 zeigt sich daran, dass die Topographie nicht gänzlich leer ist, sondern noch immer oder schon wieder mit alten Narrativen aus der vergangenen Diegese zumindest Stellenweise gefüllt ist. So generiert sich diese wiedererstandene Erde nicht einzig aus sich selbst heraus, sondern über die Erinnerung an die vergangenen raumspezifischen Narrative, die einen Teil jener Topographie bilden, die von den Asen der zweiten Generation 36 in Besitz genommen oder erneut angeeignet wird. Das Bild der Herrlichkeit dieser auferstandenen Welt, wie es im Narrativ der Prophezeiung vermittelt wird, wird weiter ausgestaltet durch die Nennung des Saals Gimlé in Strophe 64, der 34 Ebd. 35 Die Bedeutung der zweiten Halbstrophe ist unsicher. Hroptr wird meist als heiti für Óðinn gelesen. Siehe für die Belege dafür unter dem Lemma Hroptr in: Snorri Sturluson: Edda. Skáldskaparmál. 2: Glossary and Index of Names. Anthony Faulkes [Ed.], Viking Society for Northern Research, University College London, London 1998, S. 479. Hroptz sigtóptir interpretiert dann Nordal als kenning für Valh ǫ ll, die Halle Óðins. Siehe dazu: Völuspá. [Nordal], S. 109. Schwierigkeiten bietet vor allem das Wort vel, welches gemäß Nordal an dieser Stelle „[…] völlig sinnlos erscheint.“ Nordal erwähnt hingegen Papiermanuskripte aus dem 17. Jahrhundert, ohne weitere Angaben zu deren Signaturen zu liefern, die anstelle von vel valtívar das Wort vé valtívar an dieser Stelle aufführen, was als „heilige Wohnstätte der Schlachtgötter“ gelesen werden könnte und damit zur Interpretation von Hroptz sigtóptir als Valh ǫ ll passen würde. Siehe dazu: Ebd., S. 110. 36 Als zweite Generation der Asen werden hier jene Götter bezeichnet, die in der wiederauferstandenen Welt erneut zugegen sind. Dies sind im Narrativ der V ǫ lospá, laut der oben zitierten Strophe 62, die beiden Söhne Óðins, H ǫ ðr und Baldr, und in Strophe 63 wird zudem Hœnir genannt (Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 14). Anstelle der Göttertrias Óðinn, Lóðurr und Hœnir, die in Strophe 18 an der Schaffung der Menschen (Ebd., S. 5) beteiligt sind und als erste in der V ǫ lospá erwähnt werden, wird diese Trias nun durch Baldr, H ǫ ðr und Hœnir verkörpert. Hinzugestellt werden ihnen zwei namentlich nicht genannte Brüder, die vindheimr, also wohl den Himmel, bewohnen werden, sofern dieses Brüderpaar nicht erneut H ǫ ðr und Baldr bezeichnet. Beide Deutungen sind sicher möglich, da einerseits mit vindheimr ein eigenständiger Lebensraum bezeichnet werden könnte, was für zwei unbekannte Brüder sprechen, oder im Falle der Söhne Óðins deren Halle genauer, beziehungsweise im Himmel liegend verorten würde. Siehe dazu Strophe 63 in: Ebd., S. 14. 187 mit Gold bedeckt und schöner als die Sonne beschrieben wird, und in dem ein rechtschaffenes, unbekanntes Gefolge auf ewige Zeit Freude genießen wird. 37 Dennoch ist diese Vision von Gimlé die erste wirkliche Innovation, mit der die Erzählinstanz die Topographie der wiederaufgetauchten Erde versieht, welche nicht aus der zuvor im Narrativ entwickelten Diegese der versunkenen Welt entstammt. Die in der Referenzedition darauffolgende Halbstrophe 65 findet sich nur in der Hauksbók überliefert, nicht jedoch im Codex regius der Lieder-Edda. 38 Þá kømr inn ríki at regindómi ǫ flugr, ofan, sá er ǫ llo ræðr. 39 [Dann kommt der Mächtige zum Göttergericht der Starke, von oben, der über alles herrscht.] Von oben herab kommt eine mächtige Kraft, die alles beherrscht und über alles waltet, zu einem gewaltigen Göttergericht. 40 Diese Halbstrophe wird oft in Bezug zu christlichen Vorstellungen eines Weltengerichts oder des Jüngsten Gerichts gestellt, wobei die Macht die von oben kommt, beziehungsweise im christlichen Kontext aus dem Himmel, im Sinne einer Chiffre für die Transzendenz Gottes als Christus interpretiert wird. 41 Eine solche Auslegung der Halbstrophe kommt jedoch nur über außertextuelle Referenzen zustande und vermag nicht zu klären, wie sich der vom Narrativ geformte innertextuelle Raum dadurch verändert. Intradiegetisch strukturiert die Erzählinstanz mittels der Halbstrophe die Topographie insofern, als sie ein Oben ins Narrativ einschreibt, das über der erneuerten Welt liegt und welches zur Verortung einer dort angesiedelten Macht dient. Dieser nicht weiter spezifizierten Macht wird zudem die Fähigkeit zugeschrieben, den ihr zugeteilten Raum eigenmächtig zu verlassen und, motiviert durch die ihr konzedierte Allmacht, ein umfassendes Gericht abzuhalten, wobei nicht deutlich gemacht wird, wer davon betroffen sein wird. So wird über die Zuschreibungen, die im Narrativ an diese Macht geknüpft sind, der von ihr eingenommene Raum des Oben semantisch stark aufgewertet und der darunter liegende Raum der wiederentstandenen Welt über die richtende (All-)Macht, die über die Erde und deren Bewohner durch die Erzählinstanz verhängt wird, in gewisser 37 Siehe dazu Strophe 64 in: Ebd., S. 15. Nordal gibt an, dass diese Stelle oft im Kontext christlicher Glaubensvorstellungen gedeutet werde. Siehe dazu: Völuspá. [Nordal], S. 110f. 38 Siehe dazu Anmerkung zur Strophe 65 in: Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 15. 39 Ebd. 40 Zu dieser vorhergesehenen zukünftigen Macht siehe auch: Steinsland, Gro: V ǫ luspá and the Sibylline Oracles with a Focus on the „Myth of the Future“. In: Gunnell, Terry und Lassen, Annette [Hrsg.]: The Nordic Apocalypse. Approaches to V ǫ luspá and Nordic Days of Judgement. Brepols, Turnhout 2013, S. 147-160. (= Acta Scandinavica, Bd. 2) Steinsland argumentier in ihrem Aufsatz dahingehend, dass die Halbstrophe aus der Hauksbók als eine spätpagane interpretatio norroena christlicher Konzepten gelesen werden könne. Sowie in: Vésteinn Ólason: V ǫ luspá and Time, S. 25-44. Vésteinn Ólason hingegen argumentiert für eine Leseweise, bei der vorerst noch mündlch überlieferten Hauptstruktur der V ǫ lospá, der jene Form noch nahe stehe, wie sie im Codex regius der Lieder-Edda überliefert ist, deutlich vorchristliche Züge aufweise. Nach der Christianisierung Islands habe das Lied jedoch christliche Inhalte und Interpretationen angezogen, welche zu der Version der Hauksbók mit der oben zitierte Halbstrophe geführt habe. 41 Siehe dazu die detaillierten Ausführungen Nordals in: Völuspá. [Nordal], S. 112-115. 5.2 Das Ende am Anfang - die Darstellung der ragna r ǫ k in der V ǫ lospá 5 Das Ende der eddischen Topographien 188 Weise abgewertet. Durch die Initialisierung einer Macht in einem über der Welt gelegenen Raum wird eine vertikale Achse in die erneuerte Diegese der V ǫ lospá eingeschrieben, die im Narrativ zur untergegangenen Welt in dieser Antagonismus bewirkenden Form nicht vorhanden war. Der in der Hauksbók und der Referenzedition über die Achse implizierte Dualismus wird durch die letzte Strophe der V ǫ lospá gefestigt und stellenweise auf die Topographie der Erde nach den ragna r ǫ k übertragen: Þar kømr inn dimmi dreki fliúgandi, naðr fránn, neðan frá Niðafi ǫ llom; berr sér í fi ǫ ðrom, - flýgr v ǫ ll yfir, - Niðh ǫ ggr, nái - nú mun hon søcqvaz. 42 [Dort kommt der dunkle Drachen geflogen, die glänzende Natter, von unten aus den Niðafi ǫ ll, er trägt in den Federn, - fliegt übers Feld, - Niðh ǫ ggr, Leichen - nun wird sie versinken.] Die Strophe beginnt anaphorisch mit denselben drei Worten, wie schon die Halbstrophe 65 zuvor. 43 Über diese Wiederholung, in Verbindung mit den darauffolgenden Worten ríki, beziehungsweise dimmi, wird der Kontrast, der sich danach inhaltlich in der Strophe 66 zur vorhergehenden Halbstrophe abzeichnet, deutlich akzentuiert. Diese in der Strophe schon über die Anapher eingeleitete Divergenz bildet sich auch in der vom Narrativ vermittelten Topographie ab: Der dunkel schimmernde Drache Niðh ǫ ggr 44 kommt von unten her aus den Niðafi ǫ ll 45 und trägt fliegend die Leichen über ein Feld. In der letzten Strophe der V ǫ lospá beschreibt die Erzählinstanz in ihrer Vision der wiederentstandenen Erde sowohl eine Topographie, die über die Berge und das erwähnte Feld strukturiert wird, als auch eine mit dem Raum verbundene negative Konnotation, die über den aufsteigenden Drachen, der schon ein Teil der untergegangenen Diegese und deren Narrativ war, vermittelt wird. Im Narrativ der Hauksbók und der Referenzedition mag das Vorhandensein der Leichen, die Niðh ǫ ggr davonträgt, durch den zuvor genannten regindómr, das mächtige Göttergericht, moti- 42 Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 15. 43 Im Gegensatz zur oben zitierten Strophe, setzt jene in der Hauksbók mit „Kemr hinn dimi […]“ [Es kommt der Dunkle ...] ein. Die Referenzedition gibt in Strophe 66 hingegen den Wortlaut des Codex regius der Lieder-Edda wieder, in dessen Version der V ǫ lospá die Halbstrophe 65 nicht überliefert ist und somit keine Anapher vorliegen kann. Die Anapher zeigt sich in ihrer vollen Ausformung somit nur in der konstruierten Version der V ǫ lospá, wie sie in der Referenzedition vorzufinden ist. Siehe dazu die Anmerkung zur Zeile 1 der Strophe 66 in: Ebd., S. 15. 44 Siehe dazu auch Strophe 39 der V ǫ lospá, in der Niðh ǫ ggr als leichenaussaugender Drache beschrieben wird: Ebd., S. 9. 45 Sowohl Nordal als auch Simek lesen das den Niðafi ǫ ll vorangestellte neðan als Hinweis dafür, dass die dunkeln Berge in der Unterwelt liegen. Siehe dazu: Völuspá. [Nordal], S. 116; als auch unter dem Lemma Niðafjöll in: Simek: Lexikon der germanischen Mythologie, S. 299. Ebenso kann man auch dahingehend argumentieren, dass es sich bei Niðafi ǫ ll um ein Gebirge handelt, welches ein Teil der irdischen Topographie darstellt. Wichtig scheint einzig, dass Niðh ǫ ggr unter den Bergen hervor kommt, und nicht, ob es sich um ein Gebirge aus dem Totenreich handelt oder nicht. 189 viert sein. Dieser Interpretation folgend würde Niðh ǫ ggr die Toten entweder zum Gericht hin oder nach dem Ende des Gerichts wegtragen. Für das Narrativ der V ǫ lospá, wie es im Codex regius der Lieder-Edda verschriftlicht ist, kann diese Motivation hingegen nicht für die Existenz der Toten innerhalb des Raumes der auferstandenen Erde geltend gemacht werden, da das Gericht in dieser Version des Liedes bekanntlich fehlt. So bieten sich dafür zwei Interpretationsansätze an: Entweder stammen die Toten von den ragna r ǫ k her und sind durch das Feuer oder bei den Schlachten umgekommen oder sie könnten auch erst beim Versinken der ersten Erde zu Tode gekommen sein. Beide Annahmen implizieren, dass die Leichen noch aus der vergangenen Diegese stammen und innerhalb der Prophezeiung der Erzählinstanz in den neuen Raum der auferstandenen Welt überführt und in diesen integriert werden. Insbesondere in der Version des Codex regius der Lieder-Edda weist das Narrativ der V ǫ lospá darauf hin, dass es sich bei der in der Vorausschau der Erzählinstanz beschriebenen topographischen Struktur nicht um eine effektive Neuschöpfung der Welt im Sinne einer genuinen Kosmogonie handelt, sondern um eine Rekonstruierung der untergegangenen Erde mit partiellen Modifikationen im Raum. Einen Bruch in der erzählten Prophezeiung stellt der letzte Halbvers der Strophe 66 dar. In den beiden Haupthandschriften ist der Halbvers zwar graphematisch unterschiedlich verfestigt, doch ist er in beiden inhaltlich identisch mit der normalisierten Wiedergabe in der Referenzedition. Problematisch ist die Frage nach dem Wort, auf das sich hon im Halbvers „nú mun hon søcqvaz“ bezieht. Über die Kookkurrenz von hon und søcqvaz und die zuvor in Strophe 57 im Meer versunkene Erde, 46 wäre es denkbar, dass sich das Personalpronomen im Femininum über einen weitläufigen anaphorischen Verweis auf das Wort i ǫ rð, also die Erde, bezieht, welches auch feminin ist. Damit würde, dem Narrativ der Version der V ǫ lospá aus der Hauksbók folgend, die Erde, nach dem die unbekannte allmächtige Kraft ihr Gericht gehalten und der Drache die Toten weggeschafft hat, die Erde erneut versinken. Dadurch verschwindet die rekonstruierte, beziehungsweise rekonstituierte Welt gleichzeitig mit dem Abbruch des Liedes endgültig aus der prophezeiten Diegese und somit auch aus dem Narrativ der V ǫ lospá. Über das Entschwinden aus der prophezeiten Diegese würde diese Welt auch deren Rahmung, also die zuvor von der Erzählinstanz innerhalb des Narratives zur erinnerten Kosmogonie und den durch die Rahmung des Gesamtnarratives der V ǫ lospá evozierten Ist-Zustand der intradiegetischen Welt, verlassen. Ungeklärt bleibt, welchen Einfluss diese absolute Dekonstruktion der in der Prophezeiung rekonstruierten Erde für die Diegese der erzählten Welt vor der Vorausschau auf deren zukünftiges Ende hat, und außerdem die Frage danach, was mit der die erinnerte Diegese einleitenden Rahmung im Narrativ geschieht. Obwohl das Abbrechen oder Schließen jenes Narratives des Raumes, dem die prophezeite Topographie der auferstandenen Welt eingeschrieben ist, gleichzeitig das Ende des eddischen Liedes markiert, lässt sich bei der oben dargelegten Interpretation nicht erkennen, ob sich das Abbrechen simultan auch auf die zuvor eröffneten Raumstrukturen und Topographien auswirkt. So erweist sich das Ende - innerhalb der Prophezeiung - als Mikronarrativ der V ǫ lospá, das durch die ungeschlossene Erzählstruktur als ein quasi-unendliches Narrativ gelesen werden kann. Das Ende des eddischen Liedes ist somit nicht mit dem noch immer offenen Ende des Gesamtnarratives gleichzusetzen. 46 Siehe dazu Halbvers 2 der Strophe 57 in: Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 13. 5.2 Das Ende am Anfang - die Darstellung der ragna r ǫ k in der V ǫ lospá 5 Das Ende der eddischen Topographien 190 Meist wird hon in der Forschung jedoch dahingehend gedeutet, dass das Pronomen sich auf die Erzählinstanz selbst beziehe. 47 Dabei stellt sich jedoch die Frage, ob diese Aussage der Erzählinstanz innerhalb des Narrativ des Erzählraums der Rahmung oder in jenem des erzählten Raumes der Prophezeiung getätigt wird. Falls es sich um eine Offenbarung innerhalb der Prophezeiung handelt, so würde die Erzählinstanz einzig das Ableben der Person, die über das Personalpronomen in der dritten Person Singular feminin beschrieben ist, in einer zeitlich nicht fixierten Zukunft voraussagen. Das Versinken dieser Person nach der Rekonstruktion der Erde, die Wiederbesiedelung der neuen Welt durch einige Asen und den Drachen Niðh ǫ ggr sowie die über alte und neue Narrative gefestigte Topographie, hat auf die Diegese dieser erneuerten Welt jedoch keinen Einfluss. Ihr Versinken markiert somit einzig das textbezogene Ende des Liedes V ǫ lospá, ohne jedoch vom Narrativ dafür sinnvoll motiviert zu wirken. Die intradiegetischen Topographien und Räume der Rahmung, der erinnerten und der prophezeiten Welten werden dadurch nicht geschlossen und so zeigt sich das Ende wiederum, wie schon weiter oben diskutiert, als ein offenes. Ganz anders stellt sich das Ende dar, wenn man das Personalpronomen als auf die Erzählinstanz bezogen interpretiert, die ausgehend von der einleitenden Rahmung der V ǫ lospá, also im Erzählraum, den Rezipienten des Narratives sowohl die erinnerte Diegese als auch die Prophezeiung vermittelt. Bei einem Zusammenfall der Erzählinstanz mit der weiblichen Person, auf die über das Personalpronomen verwiesen wird, wirkt sich das Versinken der Erzählinstanz auch auf die Rahmung aus, indem bei dieser Leseweise die Prophezeiung im zweitletzten Halbvers der letzten Strophe der V ǫ lospá abrupt abbricht und das Narrativ im letzten Halbvers zurück in den Erzählraum geführt wird. Dabei wird zwar der intradiegetische Raum der erinnerten als auch der wiederauferstandenen Welt und deren Topographien nicht geschlossen, doch zeigt sich das Ende der Erzählung insgesamt als ein geschlossenes, wenn die Erzählinstanz aus der Rahmung heraustritt und zusammen mit dem Ende des Textes verstummt. Zurück bleiben einzig die in der Rahmung angesprochenen und zum Zuhören aufgeforderten Rezipienten. Die von Karl Müllenhoff vorgenommene Änderung des Personalpronomens im letzten Halbvers von hon zu hann 48 führt zu einer ganz anderen Interpretation des 47 Siehe dazu auch die Ausführungen zur älteren Forschung bezüglich dieser Interpretation in: Völuspá. [Nordal], S. 19-21. Zum Wechsel der Perspektive in der V ǫ lospá siehe auch: Paul, Fritz: Bericht und Vision. Überlegungen zur Verschiebung der Erzählperspektive in der V ǫ lospá. In: Frank, Armin Paul und Mölk, Ulrich [Hrsg.]: Frühe Formen mehrperspektivischen Erzählens von der Edda bis Flaubert. Ein Problemaufriß. Erich Schmidt Verlag, Berlin 1991, S. 1-16; sowie allgemeiner zum Wechsel der Erzählperspektive in Prophezeiungen in: Starý, Jiří: Induktive, intuitive und inspirierte Mantik in klassischen und altnordischen Quellen der germanischen Religion. In: Heizmann, Wilhelm et al. [Hrsg.]: Analecta Septentrionalia. Beiträge zur nordgermanischen Kultur- und Literaturgeschichte. De Gruyter, Berlin und New York, 2009, S. 607-645. (= Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd. 65) 48 Siehe dazu die Anmerkungen zu den Varianten für die Strophe 66 der V ǫ lospá in: Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 15. In Neckels Erstausgabe von 1914 findet sich diese Änderung sogar noch im edierten Text der V ǫ lospá, wobei auf die Varianten in den Handschriften nur im Apparat eingegangen wird. Siehe dazu Strophe 66 der V ǫ lospá in: Edda. Die Lieder des Codex regius nebst verwandten Denkmälern. Band I: Text. Neckel, Gustav [Hrsg.], Carl Winter Universitätsverlag, Heidelberg 1914, S. 15. (= Germanische Bibliothek. Zweite Abteilung: Untersuchungen und Texte, Bd. 9) Auch die Übersetzung von Krause folgt dieser von 191 Endes der V ǫ lospá. 49 Aufgrund dieser Änderung bezieht sich das Personalpronomen auf den Drachen Niðh ǫ ggr, der mit den Leichen unter den Flügeln davonfliegt und danach wieder, in dieser Leseweise wohl erneut nach dem vorhergehenden Untergang der Erde, versinkt. Die Änderung des Personalpronomens vom Femininum zum Maskulinum im Text der V ǫ lospá, welches somit weder einen Bezug zur Erde noch zur Erzählinstanz herzustellen vermag, ändert auch deren Narrativ. Das Ende bleibt ein offenes, wenn sich in der anzunehmenden Vorstellung, die durch die Änderung evoziert wird, der Drache unter die Niðafi ǫ ll zurückzieht. So vermag über das Personalpronomen im Maskulinum keiner der von der Erzählinstanz zuvor im Narrativ entfalteten Räume geschlossen und keine der intradiegetischen Topographien verflacht zu werden. Auch die Rahmung und der darin eröffnete Erzählraum bleiben somit dem Narrativ der V ǫ lospá erhalten, selbst wenn der Text auf der materiellen Ebene seiner Verschriftlichung abbricht. Im Falle der von Müllenhoff vorgenommenen und von weiteren Herausgebern und Übersetzern kolportierten Änderung des Personalpronomens im letzten Halbvers, stellt der Drache innerhalb der Topographie der erneuerten Welt ein Mikronarrativ dar, welches, über das Versinken von Niðh ǫ ggr, für die V ǫ lospá ein offenes Ende evoziert. 5.2.2 Fazit zum intradiegetischen Ende in der V ǫ lospá Die innerhalb des Narratives der V ǫ lospá beschriebenen Enden, welche in der Prophezeiung durch die Erzählinstanz vermittelt werden, strukturieren den Raum in unterschiedlicher Weise. Die verschiedenen Varianten der V ǫ lospá, wie sie in den beiden Handschriften und der Referenzedition wiedergegeben sind, weisen bei der Darstellung des Endes und der Beschreibung der Topographie der rekonstruierten Erde große Differenzen auf. Die Vorausschau auf die Vorgänge während den ragna r ǫ k evoziert einen Bedrohungsraum, der invasiv in die Diegese der eddischen Welt und deren Topographie, wie sie zuvor in der V ǫ lospá von der Erzählinstanz entwickelt und wiedergegeben wurde, expandiert. Der sich im Narrativ ausbreitende Bedrohungsraum, der selbst nicht mit eigenständigen Erzählungen gefüllt ist, dient einzig dazu, den von den Asen bewohnten Raum zu bedrängen und in seiner Ausdehnung zu reduzieren. Davon sind auch die Topographien betroffen, die zuvor über die mit ihnen verknüpften Narrativen den erzählten Raum strukturierten. Anhand des Mikronarratives zum Untergang der Esche Yggdrasils, die in beiden handschriftlich tradierten Versionen der V ǫ lospá nach der erinnerten Kosmogonie als vage vertikale Achse in der Topographie etabliert wurde, ließ sich eine starke Heterogenität der verschriftlichten Narrative erkennen. Während im zweiten Teil der Strophe 47 der V ǫ lospá, in den Varianten der Hauksbók und der Referenzedition beschrieben ist, wie die Esche von einem nicht benannten Verwandten Surts verzehrt wird, fehlt diese zweite Halbstrophe im Codex regius der Lieder-Edda gänzlich. Zwar findet der Untergang Yggdrasils bei den einsetzenden ragna r ǫ k in der Hauksbók und der Version der Referenzedition Erwähnung, doch hat der Umstand, dass diese vertikale Achse aus Müllenhoff initiierten Änderung. Siehe: Krause [Hrsg., Üs., Komm.]: Die Götterlieder der Älteren Edda, S. 27. Eine solche Änderung des Textes ist aus editionsphilologischer Sicht nicht vertretbar und findet hier einzig als Beispiel für eine editionshistorische Betrachtungsweise der V ǫ lospá Erwähnung. 49 Zur Änderung von Müllenhoff siehe auch: Völuspá. [Nordal], S. 19f. 5.2 Das Ende am Anfang - die Darstellung der ragna r ǫ k in der V ǫ lospá 5 Das Ende der eddischen Topographien 192 der Topographie der Diegese der V ǫ lospá verschwindet, keinen Einfluss auf den weiteren Verlauf des Narratives, wie es in der Prophezeiung wiedergegeben wird. Noch stärker marginalisiert wird der Weltenbaum und seine Funktion als Achse, wenn die Vernichtung der Weltenesche nicht einmal erwähnt wird. So wird jegliche Relevanz der Esche Yggdrasils in der Variante der V ǫ lospá, wie sie im Codex regius der Lieder- Edda überliefert ist, für den Verlauf der ragna r ǫ k negiert. Das Ende der von der Erzählinstanz entwickelten Topographie der Welt in der V ǫ lospá wird durch den implodierenden Himmel markiert. Gleichzeitig versinkt die Erde im Meer während sich die Sonne verdunkelt, worüber ein intradiegetischer Blick auf die Szenerie verunmöglicht wird. Während dieses Vorgangs, der durch den zuvor beschriebenen Tod einiger Asen und ihrer Opponenten eingeleitet wird, scheint sich die Topographie vorerst von den Narrativen, welche in sie eingeschrieben sind, zu befreien. Doch die wiederauferstandene Erde, welche keine eigenständige Schöpfung darstellt, sondern eine Rekonstruktion der vorhergegangenen Welt ist, entält, so konnte deutlich gezeigt werden, noch immer Narrative aus der untergegangen Welt. Sie ist also keine neue Welt, sondern nach Vésteinn Ólason „the old world cleansed“, 50 wobei die Topographie nur schlecht ausgewaschen wurde: Die aus dem Meer erneut aufgetauchte Welt beinhaltet sowohl Überreste der Kulturgüter der Asen aus der während den ragna r ǫ k angeblich zerstörten Erde, als auch einzelne Götter und benannte Orte selbst. Über diese Personen, Räume und Gegenstände antizipiert die rekonstruierte Topographie teilweise die zuvor schon daran angelagerten Narrative. Wiederum zeigte sich eine starke Abweichung in den verschiedenen Versionen der V ǫ lospá bei einem neu in diese rekonstituierte Topographie eingeschriebenen Mikronarrativ. Im Gegensatz zum Codex regius der Lieder-Edda beschreibt das Narrativ der V ǫ lospá in der Variante der Hauksbók wie eine von oben kommende allmächtige Kraft die Erde richten wird. Über die semantisch stark positiv konnotierte Macht wird auch der ihr zugeschriebene Raum eines nicht weiter ausgeführten Obens beeinflusst, was eine neue und zuvor in der Topographie der V ǫ lospá nicht vorhandene Dichotomie zwischen oben und unten markiert, die ein moralisches Ungleichgewicht impliziert. Insbesondere das intradiegetische Ende der V ǫ lospá, welches mit dem Ende des Liedes auf der Textebene zusammenfällt, erwies sich als äußerst produktiv für die Analyse und Diskussion der Frage, wie sich das Ende des Narratives auf die in und von ihm, beziehungsweise über die Erzählinstanz, entwickelte Topographie auswirkt. Die unterschiedlichen Antworten, die aus der Analyse der letzten Strophe der V ǫ lospá resultierten, beruhen vorwiegend nicht auf der Betrachtung von Varianten, wie sie die unterschiedlichen Textmanifestationen vermitteln, sondern ergaben sich aus verschiedenen Interpretationsansätzen. Die Leseweise der letzten Strophe hat starken Einfluss auf die offene oder geschlossene Form des Endes und darüber auch auf die topographischen Strukturen, wie sie im Narrativ eröffnet wurden. 5.3 Das Ende der V ǫ lospá als Anfang der eddischen Lieder Die V ǫ lospá bildet sowohl im Manuskript des Codex regius der Lieder-Edda, als auch in der, verwendeten Referenzedition, die dem Aufbau der Handschrift folgt, den Auf- 50 Vésteinn Ólason: V ǫ luspá and Time, S. 27. 193 takt der Textsammlung. 51 Was für Auswirkungen die oben diskutierte Prophezeiung zum Ende und dem Wiederauftauchen der Welt und deren Topographien auf die weiteren Narrative und die darin beschriebenen Raumstrukturen hat, wird im Folgenden erörtert. Vom darauffolgenden Narrativ der Hávamál grenzt sich jenes der V ǫ lospá im Codex regius der Lieder-Edda über den Anfang der Hávamál auf der Blattseite 3 recto, beziehungsweise über die Initiale G ab, die sich als Majuskel über drei Zeilen erstreckt, mehrfarbig gestaltet ist und das Wort Gáttir einleitet. 52 Dem über die Initiale eingeleiteten Wort folgen zwei weitere, bevor, durch eine Sperrung getrennt, die letzten vier Worte der V ǫ lospá folgen. Die Sperrung scheint den Titel Hávamál als Rubrizierung zu enthalten, doch ist dieser stark ausgeblichen. Das Ende der V ǫ lospá nähert sich somit in gewisser Weise dem Beginn der Hávamál, wenn das eine Narrativ auf derselben Zeile endet, auf der das andere einsetzt, doch sind die beiden Textpassagen, die zu den jeweiligen Narrativen gehören, nicht miteinander verschränkt. Eine noch deutlichere Sperrung lässt sich in der Referenzedition erkennen. Dabei wird zwischen das Ende der V ǫ lospá, 53 nebst den Anmerkungen des kritischen Apparats, und dem Anfang der Hávamál 54 die Liste der Zwergennamen eingefügt, 55 wie sie in der Prosa-Edda vorkommt. 56 Durch diese Einfügung der Aufzählung der Zwergennamen geht nicht nur die Unmittelbarkeit des Übergangs von einem Lied zum anderen verloren, wie er in der Handschrift gegeben und auf paläographischer Ebene abgebildet und erkennbar ist. Gleichzeitig wird in der Referenzedition das Narrativ durch diese Quasi-Doppelung 57 der Auflistung der Zwergennamen verlängert und so dessen Ende herausgezögert. Das Narrativ der V ǫ lospá endet in der Referenzedition somit zum ersten Mal mit dem weiter oben für das intradiegetische Ende besprochenen Halbvers und ein zweites Mal - verzögert - durch die Liste mit dem letzten genannten Zwergennamen. Diese Sperrung zwischen der V ǫ lospá und der Hávamál zeigt sich in der Edition auch auf einer Ebene des Schriftraumes abgebildet, wenn die beiden Narrative über mehr als eine Seite voneinander getrennt sind. Darüber entsteht auch eine gewisse Vereinzelung der Narrative im Schriftraum, der sie zu eigen- 51 Auf die Version der V ǫ lospá aus der Hauksbók (AM 544 4to) wird im Folgenden nicht weiter eingegangen. Dies begründet sich darin, dass die V ǫ lospá in der Hauksbók das einzige eddische Lied (eddisch im Sinne von zum Codex regius der Lieder-Edda gehörend) darstellt und somit ihre Stellung im Kodex keinen Einfluss auf weitere eddische Topographien haben kann. Zudem hat die Variante der V ǫ lospá in der Hauksbók nicht denselben mehrfach performativen Charakter, wie er für die Stellung des Liedes im Codex regius der Lieder- Edda im Kapitel zu den Anfängen beschrieben wurde, da das Lied nicht als Beginn der Handschrift inszeniert ist. Auf die V ǫ lospá (Blattseiten 20r-21r) folgt in der Hauksbók eine Abschrift der Trojúmanna saga (Blattseiten 22r-33v). Siehe dazu: Hauksbók. Utgiven efter de arnamagnæanske håndskrifter No. 371, 544 og 675, 4 o samt forskellige papirshåndskrifter. [Det Kongelige Nordiske Oldskrift-Selskab], S. 188-192 (V ǫ lospá) und S. 193-226 (Trojúmanna saga). 52 Für ein Digitalisat der Handschrift GKS 2365 4to, die als Codex regius der Lieder-Edda bekannt ist, siehe: http: / / www.am.hi.is: 8087 (Stand: 09.05.2015) 53 Siehe dazu: Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 15. 54 Siehe dazu: Ebd., S. 17. 55 Siehe dazu: Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 15f. 56 Siehe dazu: Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 64-68. 57 Die Doppelung ist keine vollständige, da jene Liste, die auch in der Prosa-Edda verschriftlicht ist, mehr Namen wiedergibt, als jene der V ǫ lospá. 5.3 Das Ende der V ǫ lospá als Anfang der eddischen Lieder 5 Das Ende der eddischen Topographien 194 ständigen und beinahe autonomen Texten macht, was sie innerhalb des Codex regius der Lieder-Edda in dieser Weise nicht sind. Der prophezeite Untergang der Welt und ihre Rekonstruktion nach den ragna r ǫ k, wie sie in der V ǫ lospá beschrieben werden, antizipieren, über die besondere Stellung des Liedes innerhalb des Codex regius der Lieder-Edda, den Zusammenfall und die Auflösung aller weiteren Topographien, die sich in den darauffolgenden Narrativen zur eddischen Welt oder den eddischen Topographien eröffnen. Die in der V ǫ lospá erinnerte Kosmogonie, die danach erschriebene Topographie und der vorhergesagte Untergang dieser Strukturen sowie deren partielle Wiederherstellung bilden so eine einseitige Rahmung, beziehungsweise eine einigermaßen konsistente Prämisse für die weiteren raumspezifischen Narrative des Codex regius der Lieder-Edda. Das Ende der eddischen Welt ist damit jedem weiteren Narrativ vorweggenommen und, über das Bewusstsein der zukünftigen Vorgänge während und nach den ragna r ǫ k, implizit unterlegt. Über diese potentielle Vergegenwärtigung der Endlichkeit der eddischen Welt werden alle in ihr mittels der Narrative eingravierten Topographien zu flüchtigen Räumen gemacht. Eine Persistenz ist daher in den auf eine Eschatologie zustrebenden Narrativen für die erschriebenen Topographien ausgeschlossen. 5.4 ragna r ǫ k in weiteren Narrativen des Codex regius der Lieder- Edda Explizit erwähnt wird das Ende, im Sinne der ragna r ǫ k, in den Liedern des Codex regius der Lieder-Edda neben den bisher genannten und diskutierten Beispielen einzig in der Vafðrúðnismál 58 , in der Helgaqviða Hundingsbana ǫ nnor 59 sowie in der Atlamál in grœnlenzco 60 . In der als Wissenswettstreit aufgebauten dialogischen Vafðrúðnismál verweist das Narrativ in den Strophen 17 und 18 auf das Feld, das Vígríðr genannt wird, „hundrað rasta [...] á hverian veg“ [hundert Meilen ... auf jeder Seite] messe und auf dem es während den ragna r ǫ k zum Kampf zwischen Surtr und den Göttern kommen werde. 61 Implizit geht das Lied auch auf die rekonstruierte Welt nach den ragna r ǫ k ein, wenn in der Strophe 50 danach gefragt wird, wer nach dem Erlöschen des Feuers, das Surtr entfachte, die Besitztümer der Götter innehabe. 62 Im Gegensatz zu den weiter oben diskutierten Strophen aus der V ǫ lospá werden in der Vafðrúðnismál einzig Söhne der beiden Asen Óðinn und Þórr als Besiedler der wiederhergestellten Topographie genannt. 63 Das Narrativ der Vafðrúðnismál endet damit, dass Vafðrúðnir eingestehen muss, dass er zwar ein großes Wissen hat und selbst über ragna r ǫ k erzählen kann, im Wettstreit schlussendlich jedoch seinem Opponenten unterliegt. 64 Die im Dialog verhandelten und innerhalb des Liedes verteilten Darstellungen der ragna r ǫ k und der danach rekonstruierten und wiederbesiedelten Welt beziehen sich jedoch nicht wie in der V ǫ lospá explizit auf den Vorgang der Eschatolo- 58 Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 45-55. 59 Ebd., S. 150-161. 60 Ebd., S. 248-263. 61 Siehe dazu die Strophen 17 und 18 der Vafðrúðnismál in: Ebd., S. 47. 62 Ebd., S. 54. 63 Siehe dazu die Strophe 51 der Vafðrúðnismál in: Ebd., S. 54f. 64 Siehe dazu die Strophe 55 der Vafðrúðnismál in: Ebd., S. 55. 195 gie und der autopoietischen Quasi-Apokatastasis, sodass sie nur über das Vorwissen aus der V ǫ lospá mit dem Ende der Welt und ihrer Wiederauferstehung in Verbindung gebracht werden können. In der Vafðrúðnismál werden neu Mikronarrative in die Topographien des Bedrohungsraums und der erneuerten Erde, wie sie schon aus der Prophezeiung der V ǫ lospá bekannt sind, eingeschrieben, worüber die Räume spezifiziert werden und sich die Topographien verdichten. Erst das tatsächliche Ende des Liedes, die Strophe 51 der Vafðrúðnismál, nennt explizit die ragna r ǫ k, wenn auch nur als prophetisches Wissen. Sowohl der intradiegetisch erzählte Raum als auch der Erzählraum selbst bleiben jedoch offen, was auch für das Ende des Liedes selbst gilt. So lässt sich anhand der Vafðrúðnismál deutlich erkennen, dass die zuvor als einseitige Rahmung bezeichneten Narrative zu den topographischen Strukturen des Endes der in der V ǫ lospá erschrieben Diegese und deren Restitution das Narrativ zu denselben Räumen in der Vafðrúðnismál präsupponieren. Im Gegensatz zu den Narrative rund um ragna r ǫ k in den Götterliedern der Lieder-Edda, in denen das vorhergesagte Ende und die damit zusammenhängende Rekonstruktion der Welt als Teil der Diegese unterschwellig immer auch die Topographien der erzählten Welt bedrohen, wird ragna r ǫ k in den Heldenliedern zur Beschreibung persönlicher Erlebnisse verwendet. In Strophe 40 der Helgaqviða Hundingsbana ǫ nnor beschreibt die Magd von Sigrún die geisterhafte Vision des totgeglaubten Helgis, der mit einer Reiterschar zu seinem Grabhügel reitet: „Hvárt eru þat svic ein, er ec siá þycciomz, eða ragna r ǫ c, ríða menn dauðir? er ióa yðra oddom keyrit, eða er hildingom heimfor gefin? “ 65 [„Ist es denn eine Täuschung, die ich zu sehen glaube, oder Ragnarök, reiten tote Menschen? Sind eure Pferde mit Sporen angetrieben, oder ist den Helden die Heimkehr gewährt? “] In ihrer Selbstbefragung zur Authentizität des von ihr Gesehenen, welches sich innerhalb der Topographie um den Grabhügel Helgis abspielt, nennt die Magd sowohl Täuschung als auch ragna r ǫ k als mögliche Begründungen. 66 Die Referenz auf ragna r ǫ k bezieht sich wohl weniger auf den Untergang der eddischen Welt und deren Topographie, als vielmehr auf das Mikronarrativ, welches besagt, dass die Einherjar, 67 die von Óðinn ausgewählten und in seiner Halle Valh ǫ ll lebenden verstorbenen Krieger, den Göttern bei ihrer letzten Schlacht beistehen. 68 So überlagern sich bei der Betrach- 65 Ebd., S. 159. 66 Die Konnotation des Gesehenen mit ragna r ǫ k als Zukünftiges Ende der Welt und der Frage nach einer Illusion impliziert zudem Merkmale der Prophezeiung, wie sie im Narrativ der Vorhersehung der ragna r ǫ k in der V ǫ lospá vorzufinden sind. 67 Zu den Einherjar siehe unter dem Lemma Einherier in: Simek: Lexikon der germanischen Mythologie, S. 85f. 68 Einen Bezug zwischen den Einherjar und den ragna r ǫ k in der Lieder-Edda stellt die Strophe 23 der Grímnismál her, wenn beschrieben wird, wie sie ausziehen, um gegen den Wolf zu kämpfen: Fimm hundruð dura / oc um fiórom togom, / svá hygg ec at Valh ǫ llo vera; / átta hundruð einheria / ganga ór einom durom, / þá er þeir fara at vitni at vega. Siehe: Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 62. [Fünfhundert Türen / und vierzig / so denk ich, dass Valh ǫ ll sei / 5.4 ragna r ǫ k in weiteren Narrativen des Codex regius der Lieder-Edda 5 Das Ende der eddischen Topographien 196 tung der Szenerie durch die Magd die intradiegetische Topographie um den Grabhügel Helgis und jener Raum, der zwischen Valh ǫ ll und dem Feld der letzten großen Schlacht während den ragna r ǫ k liegt. Gleichzeitig konvergieren die beiden Diegesen der eddischen Götterlieder mit jenen der Heldenlieder, wobei über den Umstand, dass Helgi als toter Krieger in diesem zusammengeführten Raum erscheint, die topographische Folie der ragna r ǫ k, die sich über die Diegese der Helgaqviða Hundingsbana ǫ nnor legt, eine gewisse Konnotation mit einer Anderswelt oder einem Jenseits aufweist. Die überlagerten Topographien weisen damit gleichzeitig auch einen starken Kontrast auf, bei dem die „reale Topographie“ der Diegese des Heldenliedes die „transzendente Topographie“ der Götterlieder zu einer abstrakten macht. Gleichzeitig wird über die persönliche Erfahrung der Magd der Tod Helgi, beziehungsweise das den Tod des Helden bezogene Ende, mit dem kollektiven Ende der Welt, im Sinne eines Zusammenfalls der beiden oben genannten Topographien, mit der Eschatologie der ragna r ǫ k assoziiert. In Strophe 22 der Atlamál in grœnlenzco möchte Glaumvor, dass ihr Ehemann, König Gunnarr, ihr einen Traum deutet, den sie in der Nacht zuvor hatte: „Gorvan hugða ec þér gálga, gengir þú at hanga, æti þic ormar, yrða ec þic qviqvan, gerðiz r ǫ c ragna; ráð þú, hvat þat væri.“ 69 [„Ich glaubte einen Galgen dir errichtet zu sehen, du warst dabei gehängt zu werden, an dir nagten Schlangen, ich traf dich noch lebend an, Ragnarökr trug sich zu; deute du, was dies meinte.“] Wie schon anhand der Verwendung des Begriffs ragna r ǫ k in der Helgaqviða Hundingsbana ǫ nnor diskutiert, ist auch hier die Nennung des „Endschicksals der Götter“ im Kontext eines individuellen Erlebnisses zu verstehen. Als im Traum gesehene Bilder - man kann in diesem Zusammenhang auch von Geschehnissen innerhalb eines Traumraums sprechen - überlagern sich keine Topographien im Sinne von narratologischen Raumstrukturen. Die Nennung von ragna r ǫ k verweist an dieser Stelle wohl nicht auf eine Diegese und das darin vorhandene und die Welt als Kollektiv bedrohendes Ende, sondern auf das in der Traumvision vorhergesehene individuelle Ende Gunnars in der Schlangengrube. 70 Somit wird ragna r ǫ k hier als Metapher für den Tod Gunnars verwendet, ohne einen Zusammenhang mit dem Ende der Welt oder dem Zerfall der eddischen Topographien zu haben. Einzig der Modus der Prophezeiung erinnert noch an das Narrativ aus der V ǫ lospá. Die Nennung der ragna r ǫ k in den eddischen Heldenliedern des Codex regius der Lieder-Edda, so zeigten die beiden oben genannten Beispiele, dient, im Gegensatz zu ihrem Vorkommen in den Götterliedern, nicht dazu, den Untergang oder das Ende der im Narrativ etablierten Diegese und deren Topographie zu bezeichnen. Der Begriff der ragna r ǫ k wird zu einer Metapher umfunktioniert, die sich, im Zusammengang mit einer individuell erfahrenen Vision, auf den singulären Tod einer Person im achthundert Einherjar / gehen durch eine Türe / wenn sie losziehen, um gegen den Wolf zu kämpfen.] 69 Ebd., S. 251. 70 Zu Gunnars Tod in der Schlangengrube siehe Strophe 59 der Atlamál in grœnlenzco in: Ebd., S. 256. 197 Heldenlied bezieht. Das Ende der Topographien aus den Götterliedern wird zu einem subjektiven Ende des Helden umgedeutet. Gleichzeitig verschiebt sich auch das Verständnis der Diegese der Götterlieder und der von ihnen belebten Topographie der eddischen Mythen hin zu einem Jenseitsort oder einer Anderwelt, die bestenfalls noch als transzendente Parallelwelt zur Diegese der Heldenlieder gelesen werden kann, die dem weltlichen Personal der Heldenlieder nur sehr partiell zugänglich zu sein scheint. 5.5 Das Ende der Topographie in der Darstellung der Gylfaginning Auch in der Gylfaginning der Prosa-Edda findet das Narrativ zu den ragna r ǫ k Verwendung, um das Ende der von den drei Asenkönigen erzählten Topographie zu markieren. Im Gegensatz zum Codex regius der Lieder-Edda wird in den Texten der Prosa-Edda die Schreibweise ragnarökr verwendet und daher meist als „Götterdämmerung“ interpretiert. 71 Nach der ausführlichen Erzählung zu den Vorgängen um den Brudermord an Baldr 72 berichten die Asenkönige Gylfi, wie die Götter Loki, der H ǫ ðr dazu anstiftete, auf seinen Bruder mit einem Mistelzweig zu schießen, gefangen nehmen, ihn mit den Därmen seines Sohnes in einer Höhle fesseln und über ihm eine Schlange aufhängen, deren Gift ihm ins Gesicht tropft. 73 Die Auswirkung, die das Gift auf Loki hat, wird vom Narrativ benutzt, um eine Ätiologie für das Erdbeben zu erzählen: „[…] þá kippist hann svâ hart við, at jörð öll skelfr; þat kallit þèr landskjálfta.“ 74 [... dann zuckt er so fest zusammen, dass die ganze Erde bebt; dies nennt ihr Erdbeben.] In dieser Höhle, so die Asenkönige, werde Loki bis zum Beginn von ragnarökr in Fesseln liegen. 75 Diese Aussage nutzt Gylfi, um mehr über das Ende der ihm in der Erzählung dargelegten Diegese zu erfahren: Þá mælti Gángleri: hver tíðindi eru at segja frá um ragnarökr? þess hefi ek eigi fyrr heyrt getið. Hár segir: mikil tíðindi eru þaðan at segja, ok mörg; þau en fyrstu, at vetr sá kemr, er kallaðr er fimbul vetr; þá drífr snær ór öllum áttum, frost eru þá mikil ok vindar hvassir; ekki nýtr sólar. Þeir vetr fara iij saman, ok ekki sumar milli. En áðr gánga svâ aðrir iij vetr, at þá er um alla veröld orostur miklar; […]. 76 [Darauf sprach Gángleri: Was für Ereignisse sind über Ragnarökr zu berichten? Davon habe ich zuvor nichts zu hören bekommen. Hár sagt: Bedeutende Ereig- 71 Zum Unterschied von ragna r ǫ k und ragnarökr siehe unter dem Lemma ragnarökr in: Simek: Lexikon der germanischen Mythologie, S. 341. Um den unterschiedlichen Konzepten gerecht zu werden, die über die verschiedenen Achreibweisen vermittelt werden, wird im Folgenden für das Ende der Welt, wie es in der Prosa-Edda beschrieben wird, die Schreibweise ragnarökr verwendet. 72 Siehe dazu: Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 172-180. 73 Siehe dazu: Ebd., S. 180-184. 74 Ebd., S. 184. In dieser kurzen ätiologischen Erzählung wird erneut deutlich, dass über die erzählte Diegese, die von den Asen bewohnt wird, eine Verbindung zur Welt außerhalb der Rahmung, beziehungsweise zu jener Diegese in der Prosa-Edda, in der das Königreich von Gylfi eingeschrieben ist, hergestellt wird. 75 Siehe dazu: Ebd. 76 Ebd., S. 186. 5.5 Das Ende der Topographie in der Darstellung der Gylfaginning 5 Das Ende der eddischen Topographien 198 nisse sind davon zu erzählen, und viele. Dies als erstes, dass ein Winter kommt, der Fimbul-Winter genannt wird; dann treibt Schnee aus allen Himmelsrichtungen, der Frost ist dann groß und die Winde scharf; die Sonne nützt nicht. Diese Winter gehen zu dritt hintereinander und dazwischen ist kein Sommer. Aber voraus gehen drei andere Winter, in denen auf der ganzen Welt große Schlachten sind, ...] Gángleris, beziehungsweise Gylfis Bemerkung, dass er noch nichts über ragnarökr vernommen habe, stimmt so nicht. 77 Über sein Nachfragen bringt er jedoch Hár dazu, das Narrativ um ragnarökr zu eröffnen, wobei zu Beginn noch nicht deutlich gemacht wird, dass es sich um das Ende der intradiegetischen Welt der Asen handelt. Im Gegensatz zu den ragna r ǫ k, wie sie im Narrativ der V ǫ lospá prophezeit werden, berichtet Hár davon, dass zuerst drei Winter lang Schlachten auf der ganzen Welt stattfinden werden, bevor der drei Jahre andauernde fimbul vetr 78 als Einleitung zum ragnarökr die Erde mit Frost überziehen wird. Da der Schnee aus allen Himmelsrichtungen kommt, wird eine Verortung seines Ausgangspunktes innerhalb der zuvor von den Asen erzählten Topographie verunmöglicht. Über die nicht mehr scheinende Sonne und den andauernden Winter wird zudem die Abfolge der Jahreszeiten unterbrochen, sodass der sich eröffnende Bedrohungsraum vorerst als ein klimatisch konzipierter beschrieben werden kann. Der Beginn des Endes der erzählten Welt, welcher durch den Schnee und den Frost markiert ist, führt das Narrativ, sowie das von Surtr über die Welt geschleuderte Feuer, das die Welt verbrennen wird und das Ende des ragnaröks kennzeichnet, 79 zu seinem Ausgangspunkt zurück. Die intradiegetisch über das von den Asenkönigen fingierte Narrativ beschriebene Welt, die gemäß ihrer Erzählung aus Ýmir geschaffen wurde, der seinerseits aus einer Verbindung von Feuer und Eis entstand, löst sich am Ende wieder in diese beiden Urelemente auf. Während dieser Dekonstruktion der Diegese, die durch fimbul vetr initiiert wird, werden Bestandteile der Topographie einerseits aktiv annihiliert, wie dies für die Sonne und den Mond der Fall ist: „Þá verðr þat, er mikil tíðindi þykkja, at úlfrinn gleypir sólna, ok 77 So erfährt Gylfi im von Hár erzählten Mikronarrativ zu den Äpfeln der Iðunn, dass die Asen dank den Äpfeln bis zu ragnarökr nicht altern werden. Siehe dazu: Ebd., S. 98-100. Und auch im Mikronarrativ zur schicksalshaften Begegnung zwischen Týr und dem Fenrisúlfr, bei der der Wolf dem Asen die Hand abbeißt, wird von Hár erwähnt, dass der Fenrisúlfr bis zum Beginn von ragnarökr in Fesseln liegen wird. Siehe dazu: Ebd., S. 112-114. Im Gegensatz dazu fragt Gylfi gemäß dem Text der Redaktion U der Prosa-Edda nicht nach den Erzählungen zur ragnarökr, sondern nach dem fimbul vetr. Siehe dazu: The Uppsala Edda. [Heimir Pálsson], S. 78. 78 Zum fimbul vetr siehe unter dem Lemma Fimbulwinter in: Simek: Lexikon der germanischen Mythologie, S. 102. Im Codex regius der Lieder-Edda findet sich ein Hinweis auf den fimbulvetr einzig in der Strophe 44 der Vafðrúðnismál. Siehe dazu: Edda. [Neckel/ Kuhn], S. 53. Dabei scheint sich fimbulvetr in der Vafðrúðnismál allgemein auf die ragna r ǫ k zu beziehen und somit zumindest partiell die Vorstellung eines großen Feuers, welches die Erde verbrennt, zu ersetzen. 79 „Því næst slýngr Surtr eldi yfir jörðina, ok brennir allan heim.“ Vgl.: Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 192. [Gleich darauf schleudert Surtr Feuer über die Erde und verbrennt die ganze Welt.] Interessant ist, dass das Narrativ beschreibt, wie die Erde in Brand gesetzt wird und dass darüber dann die ganze Welt, also nicht eine Einzelerscheinung sondern die Gesamtheit von allem was ist, in Flammen aufgeht. Zur Welt als raumphilosophischer Begriff siehe: Geboers, Tom: (Art.) Welt. In: Günzel, Stephan [Hrsg.]: Lexikon der Raumphilosophie. WBG, Darmstadt 2012, S. 449-451. 199 þykkir mönnum þat mikit mein; þá tekr annarr úlfrinn túnglit, ok gerir sá ok mikit úgagn; […].“ 80 [Dann geschieht das, was ein bedeutendes Ereigniss scheint: der Wolf verschlingt die Sonne, und den Menschen scheint dies ein großes Unglück; dann ergreift der andere Wolf den Mond, und verursacht damit auch großen Schaden; ...] Dabei wird ein Mikronarrativ aufgenommen, welches schon im Sinne einer Vorausschau beim Einschreiben von Sonne und Mond in die Topographie des Himmels diente. 81 Andererseits lösen sich Teile der intradiegetischen Raumstruktur autodynamisch auf: „[…]; stjörnurnar hverfa af himninum. Þá er ok þat til tíðinda, at svâ skelfr jörð öll ok björg, at viðir losna ór jörðu upp, en björgin hrynja, en fjötrar allir ok bönd brotna ok slitna.“ 82 [...; die Sterne verschwinden vom Himmel. Zu diesen Ereignissen gehört auch, dass die ganze Erde bebt und alle Berge, so dass die Bäume sich aus der Erde herauslösen, aber die Felsen stürzen herab und alle Fesseln und Bande brechen und reißen.] Die Gestirne fallen vom Himmel oder lösen sich in ihm einfach auf, 83 die Erde beginnt ohne Zutun zu beben, die Berge stürzen ein und die Bäume lösen sich selbst aus dem Boden heraus. So nivelliert das Narrativ die Topographie schon bevor sich die Opponenten der Asen auf dem Feld Vígríðr für die große, letzte Schlacht versammeln. Der Kollaps der intradiegetischen Topographie der Prosa-Edda markiert somit, im Gegensatz zum weiter oben diskutierten Ende der Diegese in der V ǫ lospá, den Anfang von ragnarökr und nicht dessen Schlusspunkt. Die Verflachung der Diegese konvergiert somit nicht mit dem Ende des intradiegetischen Narratives, da der letzte Kampf zwischen den Göttern und ihren Gegnern noch bevorsteht. Das von Hár erzählte Narrativ von ragnarökr weist einen deutlichen Kontrast zu den vorangegangenen Erzählungen zu den göttlichen Asen auf, da sie, was die eddischen Topographien der Prosa-Edda betrifft, den ihnen zugesprochenen Gestaltungsanspruch verlieren. Bis zum Einsetzen von ragnarökr waren es die Götter, die über die Erzählung der Asenkönige, beziehungsweise innerhalb der von ihnen fingierten Diegese, den Raum strukturierten. 84 Nach der Nivellierung der mittels der Erzählungen über die Götter in die eddische Diegese projizierten Topographien gewinnen die Opponenten der Asen die Oberhand im Narrativ und können somit auch die intradiegetische Welt nach ihren Vorstellungen, beziehungsweise den Vorgaben der Erzählinstanzen folgend, verändern. Dies lässt sich im Text auch daran erkennen, dass im Bedrohungsraum, der den erzählten Raum einzunehmen beginnt, die in zu den Göttern antithetisch 80 Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 186-188. 81 Siehe dazu: Ebd., S. 58. Bemerkenswert bei der Wiederverwertung des Mikronarratives ist, dass die Namen der Wölfe, die zudem über eine Genealogie ins die Diegese eingeführt wurden, nicht verwendet werden, sodass der narratologische Anschluss, der schon über die Antizipation des Untergangs von Sonne und Mond präsupponiert wurde, recht vage bleibt. 82 Ebd., S. 188. 83 Das Verb hverfa ist diathetisch ambig und kann sowohl richtungsbezogen im Sinne von „fallen“ als auch reflexiv im Sinne von „sich auflösen“ gelesen werden. Siehe dazu unter dem Lemma 1. hverfa in: Gering: Glossar zu den Liedern der Edda (Sæmundar Edda), S. 88. Zum Motiv der stürzenden Sterne siehe auch unter Anmerkung 11 in: Gylfaginning. [Lorenz], S. 606. Lorenz erwähnt die Möglichkeit der sich auflösenden Sterne nicht, die narratologisch motiviert sein könnten, da er sich in seinen Ausführungen an dieser Stelle einzig für eine religionshistorische und -komparatistische Transmission des Motives interessiert. 84 Eine Ausnahme bilden die zuvor schon behandelten ephemeren Topographien, die teilweise von anderen Kräften geformt und mit Narrativen versehen werden. 5.5 Das Ende der Topographie in der Darstellung der Gylfaginning 5 Das Ende der eddischen Topographien 200 stehenden Kräfte die Handlung im Narrativ bestimmen. Die Asen werden in der Erzählung von agierenden zu reagierenden Figuren degradiert. 85 Mit der Auflösung der intradiegetischen Topographie und der Dekonstruktion der Handlungsfähigkeit der Asen geht auch ein gewisser Verlust der Textkohärenz im Narrativ, wie es die Asenkönige Gylfi erzählen, einher. So verlaufen die Geschehnisse rund um ragnarökr in den von Hár zitierten Strophen aus der V ǫ lospá diametral zur zuvor berichteten Handlung im Prosanarrativ. Dadurch misslingt die von Hár über das Zitat angestrebte Autorisierung des Erzählten. Wie so oft weicht der Text der V ǫ lospá, wie er in der Prosa-Edda wiedergegeben wird, von der weiter oben diskutierten Version des Codex regius der Lieder-Edda ab. 86 So wird über den Einschub der Strophen der erzählte Raum zwar gedoppelt, dessen Rahmung die Dekonstruktion und Verflachung der Topographie bildet, doch vermag er sich nicht mehr topographisch zu verfestigen, wenn das Mikronarrativ zu ragnarökr mit dem Ende des erzählten Raumes anfängt als auch damit abgeschlossen wird. Der Anfang der Prophezeiung des Endes der intradiegetischen Welt nimmt dieses Ende in der Prosa-Edda schon vorweg, was einen deutlichen Bruch in der Stringenz des Erzählten zur Folge hat. Die gebrochene Kohärenz im gehörten Narrativ scheint Gylfi nicht zu interessieren, da er von den Asenkönigen nach der Erzählung rund um ragnarökr erfahren will, was nach dem Untergang der intradiegetischen Welt geschieht: Þá mælti Gángleri: hvat verðr þá eptir, er brenndr er himinn ok jörð, ok heimr allr, ok dauð goðin öll ok allir Einherjar ok allt mannfólk? ok hafit þèr áðr sagt, at hverr maðr skal lifa í nokkvorum heimi um allar aldir. Þá segir Þriði: margar eru þá vistir góðar ok margar illar; bazt er þá at vera á Gimli á himni, ok allgott er til góðs drykkjar, þeim er þat þykkir gaman, í þeim sal er Brímir heitir; hann stendr ok á himni. Sá er ok góðr salr er stendr á Niðafjöllum, gjörr af rauðu gulli; sá heitir Sindri. Í þessum sölum skulu byggja góðir menn ok siðlátir. Á Náströndum er mikill salr ok illr, ok horfa í norðr dyrr, hann er ok ofinn allr ormahryggjum sem vandahús; en orma höfuð öll vitu inn í húsit ok blása eitri, svâ at eptir salnum renna eitrár, ok vaða þær ár eiðrofar ok morðvargar, […]. 87 [Da sprach Gángleri: was geschieht danach, wenn der Himmel und die Erde verbrannten und die ganze Welt, und alle Götter tot sind und alle Einherjar und das ganze Menschenvolk? Und habt ihr nicht zuvor gesagt, dass jeder Mensch in irgendeiner Welt für alle Zeiten leben soll. Darauf sagt Þriði: Es gibt da viele gute Aufenthaltsorte und viele schlechte, am besten ist es dann, in Gimli im 85 „En er þessi tíðindi verða, þá stendr upp Heimdallr, ok blæss ákafliga í Gjallarhorn, ok vekr upp öll guðin, ok eiga þau þíng saman. Þá ríðr Óðinn til Mímis brunns, ok tekr ráð af Mími fyrir sèr ok sínu liði.“ Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 190. [Aber wenn diese Ereignisse geschehen, dann steht Heimdallr auf und bläst heftig ins Gjallarhorn und weckt alle Götter aus, und sie halten zusammen ein Thing ab. Dann reitet Óðinn zu Mímirs Quelle und ersucht von Mímir Rat für sich und sein Gefolge.] Diese Textstelle zeigt die Ohnmacht der Götter besonders deutlich, da sie trotz des schon eröffneten Bedrohungsraumes und der nahenden Gefahren zu schlafen scheinen und selber keinen Beschluss an ihrer Versammlung fassen können, sodass Óðinn zu Mímir gehen muss, um sich Rat zu holen. 86 Zu den Abweichungen und zur Anordnung der Verse in den beiden unterschiedlichen Versionen der V ǫ lospá siehe Anmerkung 39 in: Gylfaginning. [Lorenz], S. 620-629. 87 Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 198-200. 201 Himmel zu sein, und reichlich gute Getränke sind für die, denen es Vergnügen bereitet, in jenem Saal, der Brímir heißt; er steht auch im Himmel. Jener ist auch ein guter Saal, der auf den Niðafjöll steht, errichtet aus rotem Gold, der heißt Sindri. In diesem Saal sollen gute Menschen und sittsame wohnen. Auf den Náströndir ist ein großer und schlechter Saal, und die Türe ist nach Norden gewandt, er ist auch ganz aus Schlangenrücken geflochten, wie ein Haus aus Flechtwerk, und alle Schlangenköpfe weisen in das Haus hinein und speien Gift, sodass entlang des Saals Gift rinnt, und diese Flüsse durchwaten Eidbrecher und Mörder, ...] Gylfi erinnert die Asenkönige daran, dass sie schon an früherer Stelle im Narrativ erwähnten, dass alle Leute in irgendeiner Welt für alle Zeit leben würden. Dabei bezieht sich Gylfi auf das erste Schöpfungsnarrativ, das ihm erzählt wurde und welches er nicht als Anfang der Kosmogonie akzeptierte, 88 sowie auf das Narrativ zur Etablierung des Himmels als eigenständige und topographisch ausformulierte Raumstruktur. 89 So nutzt Gylfi zwei von den Asenkönigen konstatierten Anfangssetzungen, die sie in den erzählten Raum eingeschrieben haben, um das im Erzählraum eben vernommene Ende der fingierten Diegese in Frage zu stellen. Damit präsupponiert die Frage Gylfis, dass in der erzählten Diegese eine rekonstruierte Welt vorkommen wird oder dass nur eine der Welten verbrennen und andere intradiegetische Raumstrukturen das Feuer überstehen werden. 90 Þriði, der nun anstelle von Hár die Erzählinstanz verkörpert, geht in seiner Antwort jedoch nicht auf eine Welt oder gar mehrere ein, sondern nennt die danach namentlich erwähnten Orte vistir, also Wohnstätten oder Aufenthaltsorte, 91 von denen es viele gäbe. Als einziger Ort, der wie erwähnt auch schon zuvor im Narrativ der Prosa-Edda vorkam, wird Gimli genannt. Über die schon ganz zu Beginn des Narratives etablierte Konnotation dieses Ortes mit einem Jenseitsort, an dem rechtschaffene Menschen ewig lebe werden, und dessen spätere Verortung in der transzendenten Topographie des Himmels der Asen, bietet Gimli einen guten Ausgangspunkt, um an das über den Namen aufgerufene Mikronarrativ weitere Orte anzuknüpfen. Nebst Gimli nennt Þriði in der Version der Gylfaginning, wie sie vom Codex regius der Prosa-Edda und von der oben zitierten Referenzedition wiedergeben wird, den Saal Brímir, der auch im Himmel verortet wird. Ein weiterer Saal, der Sindri genannt werde und aus rotem Gold bestehe, stehe auf den Niðafjöll und werde von guten und sittsamen Menschen bewohnt. Negativ konnotiert ist hingegen ein namentlich nicht benannter Saal mit einer nach Norden offenen Türe, der an den Nástrandir stehe, dessen Dach aus Schlangen geflochten sei und in dessen Innern das 88 Siehe dazu: Ebd., S. 36-38. 89 Siehe dazu: Ebd., S. 78-80. 90 Dies steht in Diskrepanz zur weiter oben schon erwähnten Darstellung des Untergangs der gesamten Welt, wie Hár sie in seiner Erzählung prophezeit, und auch zur Aussage Gylfis, dass die gesamte Welt verbrannt sei. 91 Siehe dazu unter dem Lemma vist in: Baetke: Wörterbuch zur altnordischen Prosaliteratur, S. 748f. Bemerkenswert an der Wortwahl Þriðis ist, dass sich das altnordische Wort nicht nur auf eine gewisse Lokalität sondern auch auf eine mit ihr verknüpfte Verköstigung oder Speisung bezieht und in keiner Weise eine Welt im Sinne einer Kosmogonie impliziert. So wird dann auch die im Narrativ beschriebene Halle Brímir explizit mit dem Vorhandensein guter Getränke konnotiert. 5.5 Das Ende der Topographie in der Darstellung der Gylfaginning 5 Das Ende der eddischen Topographien 202 Gift der Schlangen zu Strömen zusammenfließe. 92 Dort werden sich nach dem Ende der Welt Mörder und Eidbrecher aufhalten. Die drei anderen Redaktionen der Prosa-Edda variieren in der Wiedergabe der Lokalisierung der Aufenthaltsorte und deren Topographien: Die Redaktion T verortet den Saal Brímir nicht im Himmel, sondern auf einem Berg aus rotem Gold, der Sindri genannt wird. 93 In der Redaktion W der Prosa-Edda ist die Nennung von Gimle getilgt, doch wird ein mit einem positiv konnotierten Superlativ versehener Ort im Himmel genannt. Der Saal Brímir wird hingegen an einem Ort namens Ókólnir lokalisiert. 94 Die stärkste Kürzung in der Beschreibung dieser jenseitsweltlichen Topographie nach ragnarökr weist die Redaktion U auf: „Bezt er at vera á Gímlé meðr Surti, ok gott er til drykkjar í Brimlé eða þar sem heitir Sindri.“ 95 [Am besten ist es in Gímlé bei Surtr zu sein, und reichlich zu trinken gibt es in Brimlé oder dort wo es Sindri heißt.] Als bester Ort wird wiederum Gimlé genannt, der im Narrativ des Codex Upsaliensis jedoch nicht mit dem Himmel, sondern mit Surtr in Verbindung gebracht wird, dem oft als Feuerriesen interpretierten Wesen, das die zuvor erzählte Diegese verbrannte. Diese Konnotation des Weltenzerstörers Surtr mit dem Ewigkeitsort Gimlé, der für gute Menschen als bester Ort ausgewiesen wird, wie sie in der Redaktion U wiedergegeben wird, ist für die Prosa-Edda einzigartig und aus dem Narrativ heraus nicht schlüssig erklärbar. 96 Brimlé 97 und Sindri werden weder als Gebäude beschrieben noch als Plätze innerhalb der Topographie verortet. Im Gegensatz zu den Abweichungen bei der Nennung und Verortung der als gut konnotierten Jenseitsorte ist die Beschreibung des negativen Ortes in den vier Redaktionen der Prosa-Edda invariabel. 98 Erst nach einem Verseinschub, der das Mikronarrativ zur Halle an den Nástrandir konsolidieren soll und Hvergelmir als schlimmsten aller Orte bezeichnet, 99 fragt Gylfi danach, ob nach ragnarökr überhaupt noch irgendwelche Götter leben und ob es noch eine Erde und einen Himmel geben werde: Þá mælti Gángleri: hvârt lifa nokkvor goðin þá? eða er þá nokkvor jörð eða himinn? Hár segir: upp skýtr jörðunni þá ór sænum, ok er þá græn ok fögr; vaxa þá akrar ósánir. Viðarr ok Vali lifa, svâ at eigi hefir særinn ok Surta logi grandat þeim, ok byggja þeir á Íðavelli, þar sem fyrr var Ásgarðr, ok þar koma þá synir Þórs, Móði ok Magni, ok hafa þar Mjöllni. Þvínæst koma þar Baldr ok Höðr frá Heljar: setjast þá allir samt, ok talast við, ok minnast á rúnar sínar, ok ræða of 92 Zu den einzelnen Namen der Hallen und Orte siehe Anmerkungen 4-10 in: Gylfaginning. [Lorenz], S. 632-636. 93 Siehe dazu Gylfaginning 52 [T] unter: https: / / notendur.hi.is/ / ~eybjorn/ gg/ gg4dip51.html (Stand: 09.05.2015) 94 Siehe dazu Gylfaginning 52 [W] unter: https: / / notendur.hi.is/ / ~eybjorn/ gg/ gg4dip51.html (Stand: 09.05.2015) 95 The Uppsala Edda. [Heimir Pálsson], S. 82. 96 Siehe dazu auch: Samplonius, Kees: The Background and Scope of V ǫ luspá. In: Gunnell, Terry und Lassen, Annette [Hrsg.]: The Nordic Apocalypse. Approaches to V ǫ luspá and Nordic Days of Judgement. Brepols, Turnhout 2013, S. 124. (= Acta Scandinavica, Bd. 2) 97 Die Bezeichnung Brimlé ist wohl einer Analogiebildung von Brímir zu Gimlé geschuldet. 98 Siehe dazu Gylfaginning 52 [R, T, W, U] unter: https: / / notendur.hi.is/ / ~eybjorn/ gg/ gg4dip51.html (Stand: 09.05.2015) 99 Siehe dazu: Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 200. 203 tíðindi þau, er fyrrum höfðu verit, ok Miðgarðsorm, ok um Fenris-úlf; þá finna þeir í grasinu gulltöflur þær, er Æsirnir höfðu átt. 100 [Darauf sprach Gángleri: Leben dann noch irgendwelche Götter? Oder gibt es dann noch irgendeine Erde oder einen Himmel? Hár erwidert: Die Erde taucht dann aus dem Meer auf und ist dann grün und herrlich, Feldfrüchte wachsen dann ungesät. Víðarr und Váli leben, weil weder das Meer noch Surts Flammen ihnen Schaden zufügten, und sie siedeln auf Íðavöllr, dort wo zuvor Ásgarðr war. Und dann kommen die Söhne Þórs, Móði und Magni, und besitzen dann Mjöllnir. Als nächste kommen da Baldr und Höðr aus Hel: sie setzten sich alle zusammen, unterhalten sich und erinnern sich des geheimen Wissens. Und sie reden von den Ereignissen, die vorher geschehen waren, von der Midgardschlage und vom Fenris-Wolf. Dann finden sie im Gras die goldenen Spielsteine, die die Asen besessen hatten.] Gylfi lässt in seiner Frage nicht erkennen, dass er die zuvor von Þriði beschriebenen Aufenthaltsorte im Himmel als Orte auffasst, die innerhalb des planetären Himmels, beziehungsweise des Firmaments verortet sind, wenn er wissen will, ob überhaupt noch ein Himmel nach ragnarökr existieren werde. So scheint die Etablierung einer Jenseitstopographie im Narrativ durch die Erzählinstanz Þriði nicht geglückt zu sein, was den erneuten Sprecherwechsel von Þriði zu Hár motivieren mag. Das Markieren einer Repetition bei der aus dem Meer aufsteigenden Erde fehlt im Narrativ der Prosa-Edda gänzlich. Dies mag dem Umstand geschuldet sein, dass keine der zuvor erzählten Kosmogonien eine Schöpfung der Welt aus dem Wasser darstellt. Wie schon für die Rekonstruktion der Erde im Narrativ der V ǫ lospá diskutiert, wird auch der aus dem Meer auftauchenden Welt in der Prosa-Edda keine Schöpfungskraft zugeschrieben. Die vom Narrativ als autopoietisch ausgewiesene Erde stellt eine stark vorgeformte Topographie dar. Dies geschieht über die in ihr eingeschriebenen Narrative der erneut existierenden Götter, 101 sowie über die Tatsache, dass die Welt als von Beginn her grün und mit unbesät wachsenden Äckern beschrieben wird. Zusammen mit den namentlich erwähnten Asen finden sich in der prophezeiten, erneuerten Welt auch Gegenstände, wie die Goldtafeln oder Mjöllnir, und Orte, wie Iðavöllr und das darüber in Erinnerung gebrachte Ásgarðr, 102 wieder, die über die Erzählungen der Asenkönige schon in die vergangene Welt eingeschrieben waren. In einem Gespräch zwischen den sechs verbleibenden Göttern eröffnet sich ein Erinnerungsraum, der dazu dient, vergangenes Wissen und die Erzählungen über den Fenrisúlfr und den Miðgarðsormr zu vergegenwärtigen. So wird der erzählte Erinnerungsraum zu einem Erzählraum, in dem das Ende der vergangenen Diegese und die topographischen 100 Ebd., S. 200-202. 101 Im Gegensatz zur erneuerten Welt im Narrativ der V ǫ lospá, wird die aus dem Meer aufgetauchte Erde der Prosa-Edda einzig von Kindern der beiden Asen Óðinn und Þórr besiedelt. Lorenz interpretiert dies dahingehend, „[…] dass sich die alten Götter in ihren Nachkommen verjüngen.“ Siehe dazu Anmerkung 3 in: Gylfaginning. [Lorenz], S. 640. 102 Lorenz ließt „[…] á Iðavelli, þar sem fyrr var Ásgarðr […]“ dahingehend, dass Ásgarðr zerstört worden sei und Iðav ǫ llr nun in einer gereinigten, paradiesischen Form vorliege. Siehe dazu Anmerkung 3 in: Ebd. Eine solche Interpretation lässt jedoch außer Acht, dass über die erneute Nennung von Ásgarðr der alte Götterwohnsitz eine gewisse Aktualisierung im Narrativ erfährt. In die Topographie von Iðav ǫ llr bleibt somit auch ohne die effektive Präsenz der Wohnstätte der Asen das Narrativ zu Ásgarðr eingeschrieben. 5.5 Das Ende der Topographie in der Darstellung der Gylfaginning 5 Das Ende der eddischen Topographien 204 Strukturen der untergegangenen Welt, mit all den in sie eingeschriebenen Narrativen, aktualisiert werden können. Das Ende im Sinne eines eschatologischen Schlusspunkts wird darüber, dass die intradiegetische Raumstruktur der vergangenen Welt im erinnerten Narrativ erneut ins Bewusstsein gerückt wird, relativiert, wenn nicht sogar gänzlich negiert. Nach einem weiteren Verseinschub prophezeit Hár, obwohl von Gylfi nicht danach gefragt, dass auch ein Menschenpaar das Feuer überstehen werde: En þar sem heitir Hoddmímis-hollt leynast menn ij í Surta loga, er svâ heita: Líf ok Leifþrasir, ok hafa morgindöggvar fyrir mat, en af þessum mönnum kemr svâ mikil kynslóð, at byggvist heimr allr; [...]. 103 [Aber dort, wo es Hoddmímis-hollt heißt, verstecken sich zwei Menschen während Surtrs Feuer, die so heißen: Líf und Leifþrasir, und haben Morgentau als Nahrung, aber von diesen Menschen werden so viele Nachkommen abstammen, dass die ganze Welt besiedelt wird; ...] Über das Mikronarrativ zu Líf und Leifþrasir wird ein zuvor in der vergangenen Diegese noch nicht genannter Ort namens Hoddmímis-hollt in die Topographie der erneuerten Erde eingeschrieben. 104 Da Hár jedoch erzählt, dass sich die beiden Menschen in diesem Zufluchtsraum vor der Flamme Surts verstecken werden, muss davon ausgegangen werden, dass er schon vor ragnarökr existierte. So gilt für die Menschen, wie auch für die rekonstruierte Diegese, dass es sich mehr um ein Kontinuum, im Sinne einer creatio continua, 105 als um eine innovative Kosmogonie handelt. Die von Hár prophezeite Genealogie der Menschen und die Vorausschau auf die Besiedelung der ganzen Welt durch die Nachkommen von Líf und Leifþrasir sind, genauso wie die Geburt einer neuen Sonne vor dem Ende der vergangenen Welt, 106 ein klarer Hinweis auf eine serielle Abfolge, deren Anfang immer schon vor dem Ende des vorherigen Abschnitts initiiert wird. Bevor sich der Erzählraum, der Gylfi von den drei Asenkönigen als Halle vorgegaukelt wird und dem Gesamtnarrativ als Rahmung dient, in Luft auflöst, weißt Hár nochmals auf den fingierten und innovativen Charakter des Erzählten und der darin formulierten Topographie der eddischen Mythen der Prosa-Edda hin: En nú ef þú kannt lengra fram at spyrja, þá veit ek eigi hvaðan þèr kemr þat, fyrir því at öngan mann heyrða ek lengra segja fram aldarfarit, ok njóttu nú sem þú namt. 107 103 Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 202. 104 Zu den Namen des Ortes und der beiden Menschen siehe Anmerkung 10 in: Gylfaginning. [Lorenz], S. 644-646. 105 Zur theologischen Begründung der creatio continua bei Augustinus siehe: Aurelius Augustinus: Über den Wortlaut der Genesis. De Genesis ad Litteram Libri Duodecim. Der große Genesiskommentar in zwölf Büchern. I. Band, Buch I bis VI. Carl Johann Perl [Üs.], Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 1961, S. 192-194. 106 Siehe dazu: Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 204. 107 Edda Snorra Sturlusonar. Bd. 1. [Legati Arnamagnæani], S. 204. 205 [Nun aber, wenn du weiter zu fragen imstande bist, dann weiss ich nicht, woher du das hast, da ich noch keinen Menschen mehr vom Gang der Welt vortragen hörte, und nutze nun, was du vernommen hast.] Hár gibt, stellvertretend für die triadisch organisierte Erzählinstanz, in seiner letzten Replik implizit zu, dass Gylfi den Wissenswettstreit gewonnen habe. 108 Bemerkenswert an Hárs Aussage ist, dass er darüber die narratologische Struktur des Wettstreits als eine sehr einseitige offenlegt, bei der Gylfi nie wirklich selber auf eine Frage der Asenkönige antworten muss. Zugleich schließt Hár den Erzählraum darüber, indem er bemerkt, noch nie jemanden mehr vom Gang der Welt erzählen gehört zu haben. Falls Gylfi dennoch weitere Fragen hätte, so könnte sich Hár nicht vorstellen, woher diese stammen würden. Einerseits mag dies als Hinweis auf die Vollständigkeit der Erzählung der Asenkönige gelesen werden, andererseits spielt dies auf die Produktion des Narratives im Erzählraum und der darin eingefassten erzählten Räume an. Wie gezeigt werden konnte, bilden die Fragen Gylfis, sofern er die erzählten intradiegetischen Raumstrukturen anerkennt, den Ausgangspunkt um die Diegese weiter auszuformulieren. In diesem Sinne bestimmt Gylfi das Narrativ aktiv mit, welches ihm innerhalb des Erzählraums der Rahmung präsentiert wird, was folglich auch die Souveränität der triadisch funktionierenden Erzählinstanz relativiert und darüber das Erzählte als nichtgenuines Wissen deklariert. Nicht nur Gylfi hat somit zum ersten Mal so viel über den Gang der Welt und die eddische Topographie erfahren, sondern auch die Erzählinstanzen selbst, die die Diegese und die dazugehörenden Räume anhand der Fragen erst generierten. Das Ende des erzählten Raumes und damit der Diegese der Prosa-Edda, findet, wie schon in den weiter oben diskutierten Texten der Lieder-Edda, nicht beim Weltuntergang am Ende der ragnarökr statt. Selbst die in der Prosa-Edda in Form einer Doppelung angelegte Zerstörung der intradiegetischen Topographie und die darin eingeklammerten und gerahmten Abläufe während ragnarökr vermögen auf der Ebene der Prophezeiung kein Ende des Narratives zu bewirken, wie anhand der rekonstruierten, aus dem Meer auftauchenden Welt, mit den in deren Topographie noch immer enthaltenen Narrativen, dargelegt werden konnte. Erst über den Wegfall des Erzählraums, der fingierten Halle der Asenkönige, endet das Narrativ der eddischen Mythen. Wie schon im Kapitel zu den Anfängen erörtert wurde, bildet jedoch auch dieses Abbrechen nur einen Wendepunkt, einen weitereren Anfang innerhalb der seriell gehaltenen Struktur des Narratives der Gylfaginning. Über das Treffen der Erzählinstanzen, deren Rekapitulation der Erzählung und ihr Wissen um die Notwendigkeit des performativen Einschreibens der Figuren und Orte, welche in der intradiegetischen Welt die Topographie prägten, in eine Topographie außerhalb des Erzählraums, wird das Narrativ vergegenwärtigt und erneut zur Existenz gebracht. Ein Einschreiben des Narrativ in eine erweiterte, außerdiegetische Topographie verunmöglicht somit ein Ende desselben und setzt einen weiteren Anfangspunkt. Der Inhalte der Erzählung wird auf eine neue Raumstruktur projiziert, wobei sich die intradiegetischen Topographien mit jenen außerhalb der Erzählung überlagern, was gemäß der Asenkönige eine Autorisierung und Authentifizierung ihrer Erzählung bewirken soll. 108 Wie schon mehrfach erwähnt folgt der Wissenswettstreit der Gylfaginning der in der Rahmung aufgestellten Prämisse, dass Gylfi die Halle der Asenkönige nicht wieder verlassen dürfe, falls er nicht klüger als seine Gesprächspartner sei. Vgl.: Ebd., S. 36. 5.5 Das Ende der Topographie in der Darstellung der Gylfaginning 5 Das Ende der eddischen Topographien 206 5.6 Fazit zum Ende der Topographien in den eddischen Narrativen Anhand der oben diskutierten Beispiele zum Ende der Topographien aus der Lieder- Edda und der Prosa-Edda ließ sich aufzeigen, dass ein Ende in den Texten, im Sinne einer Verflachung oder einer gänzlichen Annihilation der Topographien und der in ihnen eingeschriebenen Narrative, wie es über das Konzept der ragna r ǫ k, beziehungsweise ragnarökr intendiert scheint, nicht vollzogen wird. Einerseits gründet die Unmöglichkeit des Endes darin, dass in keinem der besprochenen Texte durch den in den Prophezeiungen beschriebenen Zerfall der intradiegetischen Welt die Topographien und die darin eingeschriebenen Narrative für eine weitere Verwendung aus dem Gesamtnarrativ gelöscht werden. Sowohl ragna r ǫ k als auch ragnarökr haben in ihren Ausformulierungen in den Texten immer schon den Kern eines neuen Narratives angelegt, was in einer Erneuerung und Rekonstruktion der vergangenen Erde mündet. Ein Ende des Narratives kann auch rückblickend nicht festgestellt werden, da die erneuerte Welt noch immer topographisch verfestigte Narrative der vorherigen enthält. Sie ist somit keine aktive Neuschöpfung in einem zyklischen Sinn, sondern über die den Topographien immanenten Narrative als eine dynamische creatio continua zu verstehen, deren Erneuerung Teil des autopoietischen Systems der erzählten Diegesen der eddischen Mythen ist. Andererseits zeigt der Aufbau der Gylfaginning und der V ǫ lospá, deren Narrative über einen Erzählraum in der Rahmung verfügen, dass sich der erzählte Raum nicht zwingend schließen muss, wenn die Diegese des Erzählraums endet. Dabei endet jenes Narrativ, welches von der Rahmung umgeben ist, in einem offenen Erzählschluss, sodass die Topographie des erzählten Raumes bestehen bleibt. Ein weiterer wichtiger Punkt für die Unmöglichkeit des Endes der Topographien der eddischen Mythen ist die Tatsache, dass die Narrative in verschriftlichter Form vorliegen. Über die Möglichkeit der Rezeption dieser Texte, seien sie nun in den Handschriften überliefert oder in einer gedruckten Edition vorliegend, werden ihre Narrative immer wieder aktualisiert und die in ihnen angelegten Raumstrukturen über diese Aktualisierung erneut gebildet. Der Schluss der Gylfaginning in der Prosa- Edda demonstriert dieses Prinzip des Zur-Existenz-Bringens über die Vergegenwärtigung der intradiegetischen Welt durch die Asenkönige sehr deutlich. 109 So kolportiert Gylfi in seinem Reich die gehörten Erzählungen der Asenkönige, während die Erzählinstanzen versuchen, die Topographie dieses Reiches mit jenen Namen für Orte und Personen zu füllen. Darüber sollen sich die Narrative, die an diese Lokalitäten und Personen in der intradiegetischen und von den Asenkönigen fingierten eddischen Welt und deren Topographie gebunden waren, in den Raum außerhalb der von ihnen fingierten Erzählung einschreiben. Als eine etwas konkretere und außertextuelle Form dieses Vorgangs kann die Verschriftlichung des Gesamtnarratives der Prosa-Edda verstanden werden. Wie über die Erzählinstanzen innerhalb des Textes wird über die Handschriften oder Editionen das Narrativ in die Welt eingeschrieben, sodass über die Rezeption die Aktualisierung der Topographien der eddischen Mythen bis zum heutigen Tag nicht endet. 109 Siehe dazu: Ebd., S. 204-206. 6 Schlussbetrachtungen Am Ende der Untersuchung zu den Topographien der eddischen Mythen angekommen, soll abschließend eine Paraphrasierung der gewonnenen Erkenntnisse vorgenommen sowie ein Ausblick auf weiterführende Überlegungen angestellt werden. Die bisher geleisteten Forschungen aus der Skandinavistik und der Raumwissenschaft, die zu Beginn präsentiert und diskutiert wurden, boten, trotz der angebrachte Kritik, fruchtbare Ansätze für die Erarbeitung und Systematisierung der literarischen Raumdarstellungen in den eddischen Texten - angefangen bei der Raumgenese über die Entwicklung von Topographien bis zu ihrer Dekonstruktion. Der gewählte Aufbau der Arbeit, der sich an der narrativen Struktur der Texte selbst und am intradiegetischen Raumgefüge orientierte, erwies sich als äußerst produktiv. Über eine solche Vorgehensweise, bei der mit der Betrachtung der Anfänge der Raumnarrative und den in ihnen entwickelten narrativen Räumen begonnen und mit dem Ende der eddischen Topographie abgeschlossen wurde, konnten zwei Fixpunkte gesetzt werden. Sie boten Ausgangsmöglichkeiten um die Narrative in ihren unterschiedlichen Textmanifestationen zu vergleichen. So konnten die Narrative der eddischen Texte in ihrer Vielfalt untersucht und auf narratologische sowie auch textspezifische Divergenzen eingegangen werden. Die Anfänge der eddischen Texte, die sowohl in ihrer materiellen, verschriftlichten Form in den wichtigsten Handschriften und den Referenzeditionen als auch in ihren inhaltlichen, narrativen Ausprägungen untersucht wurden, zeigten sich äußerst heterogen in ihrer Gestalt und Setzung. So stellte sich der Beginn der V ǫ lospá aus dem Codex regius der Lieder-Edda auf der Ebene des Manuskriptes und auf der Ebene des Narratives stark performativ inszeniert dar. Letztere weist eine Erzählinstanz auf, die innerhalb des von ihr geschaffenen Erinnerungsraumes die Topographie über sprachliche Handlungen und über explizite Benennungen ins Narrativ einschreibt. Dabei überlagern sich die erzählte Diegese und der Erzählraum am Anfang der V ǫ lospá. Die Kosmogonie wird in ihrer Erzählung über ex negativo-Darstellungen gestaltet, welche die Diegese im Narrativ antizipieren. Die vier betrachteten Handschriften der Prosa- Edda gehen bei der Anfangssetzung und der Raumgenese anders vor. Im Vergleich zur Referenzedition stellt sich der Beginn des Narratives in zwei der Manuskripte aufgrund ihres fragmentarischen Überlieferungszustands als verschoben dar. Einzig der Codex Wormianus bietet einen äußerst immediaten Einstig ins Schöpfungsnarrativ, wobei der Beginn des Textes mit dem Beginn der in ihm generierten Diegese zusammenfällt. Der Codex Upsaliensis bewirkt auf der materiellen Textebene über bildliche Darstellungen, eine Selbstbetitelung und die Nennung eines möglichen Kompilators eine Verschiebung des Anfangs. Gleichzeitig antizipiert der Text jedoch über eine verknappte Inhaltsangabe, die in Form einer Rubrik dem Fließtext vorangestellt ist, das Narrativ. Die Anfangsnarrative der Prosa-Edda, die anhand der Referenzedition diskutiert wurden, stellen die Topographien über sich überlagernde Schlaufen dar. Die Räume im Narrativ werden über den Einbezug von Vergleichen, Zitaten und über die intradiegetische Genese eines Erzählraumes, in dem neue erzählte Topographien fingiert werden, generiert. In der Prosa-Edda erschreibt das Narrativ somit 6 Schlussbetrachtungen 208 nicht eine Welt, die als Diegese funktioniert, sondern mehrere Welten mit unterschiedlichen topographischen Eigenschaften. Einzelphänomene lagen im darauffolgenden Kapitel zur Entwicklung der Topographien im Zentrum der Betrachtung. Anhand strukturbildender Orte wurde dargelegt, wie die Narrative in den verschiedenen Texten die bei den Kosmogonien erschaffenen Diegesen weiter ausdifferenzieren. Für die V ǫ lospá kann festgehalten werden, dass das Narrativ einerseits die entstandene Welt weiter gliedert, andererseits über neu eingeführte Wesen und deren Benennung Distinktionen in der Topographie vornimmt. Am Beispiel der Weltenesche Yggdrasill wurde für die Prosa-Edda und für die Lieder-Edda die Funktionalisierung von Räumen, die sich an den Baum anlagern oder von ihm selbst gegliedert werden, in den einzelnen Narrativen betrachtet. Die Topographie des Baumes weist unter Anderem Wissensräume und Rechtsräume auf, die im Narrativ erschrieben werden. An der Ausformulierung des Himmelsraumes im Narrativ der Prosa-Edda konnte gezeigt werden, wie dieser durch die Erzählinstanzen in einem dynamischen Prozess verändert wird und sukzessive innerhalb der Topographie verschoben wird. Der Himmelsraum bot dann auch Anlass für die Betrachtung und Analyse der Unvereinbarkeit der Topographie. Dabei zeigte sich, dass sowohl Überlappungen und Transformationen in den Räumen als auch sprachliche Synonymien, die divergierende Raumkonzepte transportieren, zu unüberwindbaren Paradoxien führen können. Neben diesen im Narrativ ungewollt erzeugten unfesten Topographien gibt es Räume, die bewusst auf eine Flüchtigkeit hin angelegt sind. Diese ephemeren Räume wurden für die Lieder-Edda anhand des Topos des Ostens betrachtet. Der Osten erwies sich als sehr produktiv, wenn es darum geht, im Narrativ Räume nur kurzzeitig für die Diegese zur Verfügung zu stellen. Durch die Überlagerung der negativ konnotierten Konstituenten der Riesen mit jenen Ostens wird in der V ǫ lospá ein Raum erzeugt, der im Narrativ als Bedrohungsraum aufscheint und verwendet wird. Dieser dient im Narrativ einzig als verortbarer Herkunftsraum für Gefahren, wobei seine spezifische Topographie stets ephemer bleibt. In der Prosa-Edda legt das Narrativ sein eigenes Gestaltungsprinzip offen, wenn die Erzählinstanzen Gylfi in einer Binnenerzählung darlegen, wie der Erzählraum der Rahmenhandlung, in der sich der Zuhörer befindet, strukturiert ist. Das über die Prophezeiung zu den ragna r ǫ k ins Narrativ eingeführte Ende in der V ǫ lospá erwies sich als offenes Ende. Die Topographie der Diegese wird von der Erzählinstanz zwar dekonstruiert, doch schließt sich unmittelbar daran die Vorausschau auf eine neu entstehende Welt an, in deren Topographie noch immer Narrative aus der vergangenen Diegese eingeschrieben sind. So bricht das Narrativ nicht ab, sondern geht in eine weiterführende Sequenz über, deren erzählter Raum nicht geschlossen wird. Auch die Erzählung über ragnarökr in der Prosa-Edda vermag die Topographie im Narrativ nicht gänzlich aufzulösen, sondern leitet über zu einer Rekonstruktion der Welt. Deren Entstehung kann nicht als eine zyklische Neuschöpfung betrachtet werden, sie muss vielmehr als Teil einer creatio continua verstanden werden. In der vorliegenden Arbeit wurden aus dem Korpus der eddischen Texte hauptsächlich ausgewählte mythologische Narrative untersucht, wobei weder die eddischen Götterlieder in ihrer Gesamtheit, noch die dichtungspoetischen Teile der Prosa-Edda analysiert wurden. Insbesondere die eddischen Heldenlieder wurden auf Grund der sich auf mythologische Texte beschränkten Korpusauswahl nur marginal berücksichtigt. Die topographischen Fragestellungen und die verwendeten methodischen Ansät- 6 Schlussbetrachtungen 209 ze zu den Raumnarrativen und narrativen Räumen können sich auch äußerst produktiv auf die bisher nicht behandelten Texte und Untergattungen der eddischen Literatur adaptieren und anwenden lassen. Von speziellem Interesse könnte eine Analyse der Topographien der eddischen Heldenlieder sein, da, im Gegensatz zur eddischen Mythologie, in der Diegese der altnordischen Heldenepik der Mensch im Zentrum der literarischen Betrachtung steht. Daran anschließend würde sich ein Vergleich der mythischen und der heroischen Topographien in den eddischen Texten anbieten. Auch die in der Arbeit nur peripher eingeflossenen Überlegungen hinsichtlich eines Vergleiches der narratologischen Gestaltungsprinzipien eddischer Raumnarrative und der bildlich dargestellten Narrative auf zeitgenössisch-spätmittelalterlichen Karten würden, hinsichtlich der medialen Transformation der Vermittlung von Narrativen, fruchtbare Ansätze liefern. Zudem bietet die vorliegende Arbeit eine profunde Ausgangslage, um die durch Systematisierung und Abstrahierung gewonnenen Erkenntnisse weiter operationalisierbar zu machen und sie so auch für ein erweitertes Textkorpus zur Verfügung zu stellen. Literaturverzeichnis Primärliteratur Althochdeutsche Literatur. Mit Proben aus der Altniederdeutschen. Schlosser, Horst Dieter [Hrsg., Üs., Komm.], Fischer-Bücherei, Frankfurt am Main 1970. Althochdeutsches Lesebuch. Braune, Wilhelm und Ebbinhaus, Ernst A. [Hrsg.], 17. Auflage, Niemeyer, Tübingen 1994. Biblia Sacra Iuxta Vulgatam Versionem. Gryson, Roger und Weber, Robert [Hrsg.], 5. verbesserte Auflage, Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart 2007. Codex Trajectinus. The Utrecht manuscript of the Prose Edda. Anthony Faulkes [Ed.], Rosenkilde and Bagger, Kopenhagen 1985. (= Early Icelandic Manuscripts in Facsimile, Bd. 15) Codex Wormianus, AM 242, Fol. Kommisionen for det arnamagnæanske legat [Hrsg.], Gyldendalske Boghandel - Nordisk Forlag, Kopenhagen und Kristiania 1924. De Codex Trajectinus Van De Snorra Edda. Willem Van Eeden [Hrsg.], Eduard Ijod, Leiden 1913. De gamle Eddadigte. Finnur Jónsson [Hrsg.], G. E. C. Gads Forlag, Kopenhagen 1932. Die Edda. Mit historisch-kritischem Commentar. Erster Band: Einleitung und Text. Boer, R. C. [Hrsg.], Tjeenk Willink & Zoon, Haarlem 1922. Edda Snorra Sturlusonar. (= Edda Snorronis Sturlæi). Sumptibus legati Arnamagnæani. 3 Bände. Nachdruck: Otto Zeller, Osnabrück 1966. (Editio princeps: Legati Arnamagnæani, Hafnia [= Kopenhagen] 1848-1887.) Edda Snorra Sturlusonar. Ufgivet efter håndskriftrne. Finnur Jónsson und Kommissionen for det Arnamagnæanske legat [Hrsg.], Gyldendalske Boghandel, Nordisk Forlag, Kopenhagen 1931. Edda. Die Lieder des Codex regius nebst verwandten Denkmälern. Band I: Text. Neckel, Gustav [Hrsg.], 5. verbesserte Auflage von Hans Kuhn, Carl Winter Universitätsverlag, Heidelberg 1983. (= Germanische Bibliothek. Vierte Reihe. Texte) Edda. Die Lieder des Codex regius nebst verwandten Denkmälern. Band I: Text. Neckel, Gustav [Hrsg.], Carl Winter Universitätsverlag, Heidelberg 1914. (= Germanische Bibliothek. Zweite Abteilung: Untersuchungen und Texte, Bd. 9) Elucidarius. In Old Norse Translation. Evelyn Scherabon Firchow und Kaaren Grimstad [Ed.], Stofnun Árna Magnússonar, Reykjavík 1989. (= Rit, Stofnun Árna Magnússon á Íslandi, Bd. 36) Eyvindr Finnsson skáldaspillir: Háleygjatal. In: Den Norsk-Islandske Skjaldedigtning. B, Rettet Tekst, Første Bind. Finnur Jónsson [Hrsg.], Rosenkilde og Bagger, Kopenhagen 1973, S. 60-62. Hauksbók. Utgiven efter de arnamagnæanske håndskrifter No. 371, 544 og 675, 4 o samt forskellige papirshåndskrifter. Det Kongelige Nordiske Oldskrift-Selskab [Hrsg.], Thieles Bogtrykkeri, Kopenhagen 1892-96. Literaturverzeichnis 212 Snorre Sturlasons Edda. Uppsala-Handskriften DG 11. Grape, Anders [Hrsg.], Generalstabens Litografiska Anstalt, Stockholm und Almqvist & Wiksells, Uppsala 1962. Snorre Sturlasons Edda. Uppsala-Handskriften DG 11, II. Grape, Anders et al. [Hrsg.], Almqvist & Wiksells, Uppsala 1977. Snorri Sturluson: The Uppsala Edda. Heimir Pálsson [Hrsg.], Viking Society for Northern Research, University College London, London 2012. Snorri Sturluson: Edda. Prologue and Gylfaginning. Anthony Faulkes [Ed.], Viking Society for Northern Research, University College London, London 2005. Snorri Sturluson: Edda. Háttatal. Anthony Faulkes [Ed.], Viking Society for Northern Research, University College London, London 1999. Snorri Sturluson: Edda. Skáldskaparmál. 1: Introduction, Text and Notes. Anthony Faulkes [Ed.], Viking Society for Northern Research, University College London, London 1998. Snorri Sturluson: Edda. Skáldskaparmál. 2: Glossary and Index of Names. Anthony Faulkes [Ed.], Viking Society for Northern Research, University College London, London 1998. Snorri Sturluson: Gylfaginning. Gottfried Lorenz [Hrsg., Üs. und Komm.], Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1984. (= Texte zur Forschung, Bd. 48) Snorri Sturluson: Heimskringla. Band 1. Bjarni Aðalbjarnarson [Hrsg.], Hið Íslenzka Fornritafélag, Reykjavík 1941. The Old Norse Elucidarius: Original Text and English Translation. Evelyn Scherabon Firchow [Hrsg. und Üs.], Camden House, Columbia 1992. (= Medieval Texts and Translations) The Poetic Edda. Volume III, Mythological Poems II. Dronke, Ursula [Hrsg., Üs., Komm.], Oxford University Press, Oxford 2011. The Poetic Edda. Volume II, Mythological Poems. Dronke, Ursula [Hrsg., Üs., Komm.], Clarendon Press, Oxford 1997. Völuspá. Sigurður Nordal [Hrsg. und Komm.], Ommo Wilts [Üs.], Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1980. (= Texte zur Forschung, Bd. 33) Primärliteratur in Übersetzung Althochdeutsche Literatur. Eine kommentierte Anthologie. Stephan Müller [Hrsg., Üs. und Komm.], Philipp Reclam jun., Stuttgart 2007. (= Reclams Universal Bibliothek, Nr. 18491) Aurelius Augustinus: Über den Wortlaut der Genesis. De Genesis ad Litteram Libri Duodecim. Der große Genesiskommentar in zwölf Büchern. I. Band, Buch I bis VI. Carl Johann Perl [Üs.], Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 1961. Die Edda des Snorri Sturluson. Krause, Arnulf [Hrsg., Üs., Komm.], Philipp Reclam jun., Stuttgart 1997. (= Reclams Universal Bibliothek, Nr. 782) Die Götterlieder der Älteren Edda. Krause, Arnulf [Hrsg., Üs., Komm.], Philipp Reclam jun., Stuttgart 2006. (= Reclams Universal Bibliothek, Nr. 18426) Isidor von Sevilla: Die Enzyklopädie. Lenelotte Möller [Üs. und Anmerkungen], Marixverlag, Wiesbaden 2008. Snorri Sturluson: Edda. Anthony Faulkes [Ed. and Trans.], Everyman classics, J.M. Dent, London 11 2004 (1987). Literaturverzeichnis 213 Voluspå. Steinsland, Gro und Meulengracht Sørensen, Preben [Üs., Komm.], Pax, Oslo 1999. The Poetic Edda. Larringon, Carolyne [Üs., Komm.], Oxford University Press, Oxford 1996. (= The World’s Classics) The Poetic Edda. Hollander, Lee M. [Üs., Komm.]: University of Texas Press, Austin 1962. The Poetic Edda. Bellows, Henry Adams [Üs., Komm.], Oxford University Press, London 1926. Online verfügbare Primärquellen Plinius der Ältere: Naturalis Historiae Liber IV: http: / / www.thelatinlibrary.com/ pliny.nh4.html Transkriptionen der Handschriften der V ǫ lospá und der Gylfaginning: https: / / notendur.hi.is/ ~eybjorn/ Digitalisate der eddischen Handschriften GKS 2365 4to und GKS 2367 4to: http: / / www.am.hi.is: 8087 Sekundärliteratur Abram, Christopher: Myths of the Pagan North. The Gods of the Norsemen. Continuum, London und New York 2011. Aertes, Jan A. und Speer, Andreas [Hrsg.]: Raum und Raumvorstellungen im Mittelalter. DeGruyter, Berlin 1998. (= Miscellanea mediaevalia, Bd. 25) Ahlbäck, Tore [Hrsg.]: Old Norse and Finnish Religions and Cultic Place-Names. Almqvist and Wiksell International, Stockholm 1990. (= Scripta Instituti Donneriani Aboensis; Bd. 13) Alpsancar, Suzana et al. [Hrsg.]: Raumprobleme. Philosophische Perspektiven. Wilhelm Fink Verlag, München 2011. Andrén, Anders et al. [Hrsg.]: Ordning mot kaos - studier av nordisk förkristen kosmologi. Nordic Academic Press, Lund 2004. (= Vägar till Midgård, Bd. 4) Andrén, Anders: I skuggan av Yggdrasil. Trädet mellan idé och realitet i nordisk tradition. In: Andrén, Anders et al. [Hrsg.]: Ordning mot kaos - studier av nordisk förkristen kosmologi. Nordic Academic Press, Lund 2004, S. 389-430. (= Vägar till Midgård, Bd. 4) Andrén, Anders: Re-reading Embodied Texts - an Interpretation of Rune-stones. In: Burström, Mats und Carlsson, Anders [Hrsg.]: Current Swedish Archaeology, Vol. 8. The Swedish Archaeological Society, Stockholm 2000, S. 7-32. Árni Björnsson: Die Völuspá aus einem neuen Blickwinkel. In: Heizmann, Wilhelm et al. [Hrsg.]: Analecta Septentrionalia. Beiträge zur nordgermanischen Kultur- und Literaturgeschichte. De Gruyter, Berlin und New York, 2009, S. 3-27. (= Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd. 65) Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. Beck, München 2003 ( 1 1999). (= C.H. Beck Kulturwissenschaft) Literaturverzeichnis 214 Bachtin, Michail M.: Formen der Zeit und des Chronotopos im Roman. Untersuchung zur historischen Poetik. In: Ders.: Untersuchungen zur Poetik und Theorie des Romans. Aufbau Verlag, Berlin und Weimar 1986, S. 262-464. Bäckvall, Maja: Skriva fel och läsa rätt? Eddiska dikter i Uppsalaeddan ur ett avsändaroch mottagarperspektiv. Institutionen för nordiska språk, Uppsala 2013. (= Nordiska Texter och Undersökningar, Bd. 31) Baum, Constanze et al. [Hrsg.]: Mythos Ursprung: Modelle der Arché zwischen Antike und Moderne. Könighausen & Neumann, Würzburg 2011. Baumgärtner, Ingrid: Erzählungen kartieren. Jerusalem in mittelalterlichen Kartenräumen. In: Glauch, Sonja et al. [Hrsg.]: Projektion - Reflexion - Ferne. Räumliche Vorstellungen und Denkfiguren im Mittelalter. De Gruyter, Berlin und Boston 2011, S. 193-223. Baumgärtner, Ingrid et al. [Hrsg.]: Raumkonzepte. Disziplinäre Zugänge. V&R unipress, Göttingen 2009. Baumgärtner, Ingrid und Kugler, Hartmut [Hrsg.]: Europa im Weltbild des Mittelalters. Kartographische Konzepte. Akademie Verlag, Berlin 2008. (= Orbis mediaevalis. Vorstellungswelten des Mittelalters, Bd. 10) Bauschatz, Paul C.: The Well and the Tree. The University of Massachusetts Press, Amherst 1982. Für die Rezensionen zu The Well and the Tree siehe: Dick, Ernst S., in: Speculum, Vol. 59, No. 3, 1984, S. 616-619. Lincoln, Bruce, in: Hostory of Religion, Vol. 23, No. 1, 1983, S. 84-87. Lindow, John, in: The Journal of English and Germanic Philology, Vol. 83, No. 2, 1984, S. 264-265. Beck, Heinrich: Gylfaginning. Anmerkungen zu Versionen und Interpretationen. In: Heizmann, Wilhelm et al. [Hrsg.]: Analecta Septentrionalia. Beiträge zur nordgermanischen Kultur- und Literaturgeschichte. De Gruyter, Berlin und New York, 2009, S. 86-93. (= Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd. 65) Beck, Heinrich: Die Uppsala-Edda und Snorri Sturlusons Konstruktion einer skandinavischen Vorzeit. In: Sävborg, Daniel et al. [Hrsg.]: Scripta Islandica. Isländska Sällskapets Årsbok 58/ 2007. Uppsala 2008, S. 5-32. Beck, Heinrich: Gylfaginning und Theologie. In: Wolf, Alois [Hrsg.]: Snorri Sturluson: Kolloquium anlässlich der 750. Wiederkehr seines Todestages. Narr, Tübingen 1993, S. 49-57. (= ScriptaOralia, Bd. 51) Beck, Heinrich et al. [Hrsg.]: Germanische Religionsgeschichte. Quellen und Quellenprobleme. De Gruyter, Berlin und New York 1992. (= Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd. 5) Bek-Pedersen, Karen: The Norns in Old Norse Mythology. Dunedin Academic Press, Edinburgh 2011. Berndt, Christian und Pütz, Robert [Hrsg.]: Kulturelle Geographien: Zur Beschäftigung mit Raum und Ort nach dem Cultural Turn. Transcript, Bielefeld 2007. Berzeviczy, Klára et al. [Hrsg.]: Gelebte Milieus und virtuelle Räume. Der Raum in der Literatur- und Kulturwissenschaft. Frank & Timme, Berlin 2009. (= Kulturwissen schaften, Bd. 8) Böhme, Hartmut [Hrsg.]: Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext. Verlag J.B. Metzler, Stuttgart und Weimar 2005. (= Germanistische Symposien Berichtsbände, Bd. 27) - Literaturverzeichnis 215 Böhme, Hartmut: Einleitung: Raum - Bewegung - Topographie. In: Böhme, Hartmut [Hrsg.]: Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext. Verlag J.B. Metzler, Stuttgart und Weimar 2005, S. IX-XXIII. (= Germanistische Symposien Berichtsbände, Bd. 27) Borsò, Vittoria: Topologie als literaturwissenschaftliche Methode: die Schrift des Raums und der Raum der Schrift. In: Günzel Stephan [Hrsg.]: Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften. Transcript, Bielefeld 2007, S. 279-295. Boyer, Régis: On the Composition of V ǫ lospá. In: Glendinning, Robert J. und Haraldur Bessason [Hrsg.]: Edda. A Collection of Essays. University of Manitoba Press, Winnipeg 1985 ( 1 1983), S. 117-133. (= The University of Manitoba Icelandic Studies, Bd. 4) Boyer, Régis: Yggdrasill. La Religion des Anciens Scandinaves. Payot, Paris 1981. Brincken, Anna-Dorothee von den: Das geographische Weltbild um 1300. In: Moraw, Peter [Hrsg.]: Das geographische Weltbild um 1300. Politik im Spannungsfeld von Wissen, Mythos und Fiktion. Duncker & Humblot, Berlin 1989, S. 9-32. (= Zeitschrift für historische Forschung, Beiheft 6) Brink, Stefan: Naming the Land. In: Brink, Stefan und Price, Neil [Hrsg.]: The Viking World. Routledge, London und New York 2008, S. 57-66. Brink, Stefan: Mytologiska rum och eskatologiska föreställningar i det vikingatida Noden. In: Andrén, Anders et al. [Hrsg.]: Ordning mot kaos - studier av nordisk förkristen kosmologi. Nordic Academic Press, Lund 2004, S. 291-316. (= Vägar till Midgård, Bd. 4) Brink, Stefan: Ortnamnen och kulturlandskapet. Ortnamnens vittnesbörd om kulturlandskapets utveckling och dess utnyttjande i södra Norrland, särskilt Hälsingland. Uppsala universitet, Uppsala 1983. Brink, Stefan und Nordeide, Sæbjørg Walaker [Hrsg.]: Sacred Sites and Holy Places. Exploring the Sacralization of Landscape Through Time and Space. Brepols, Turnhout 2013. (= Studies in the Early Middle Ages, Bd. 11) Bunia, Remigius: Diegesis and Representation: Beyond the Fictional World, on the Margins of Story and Narrative. In: Poetics Today, Nr. 31, 2010, Heft 4. Duke University Press, Durham 2011, S. 679-720. Bunia, Remigius: Faltungen. Fiktion, Erzählen, Medien. Erich Schmidt Verlag, Berlin 2007. (= Philologische Studien und Quellen, Heft 202) Cassirer, Ernst: Mythos, Sprache und Kunst. Hrsg. von Bohr, Jörn und Hartung, Gerald. Felix Meiner Verlag, Hamburg 2011. (= Ernst Cassirer. Nachgelesene Manuskripte und Texte, Bd. 7) Cassirer, Ernst: Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum (1931). In: Derselbe: Symbol, Technik, Sprache. Felix Meiner Verlag, Hamburg 1985, S. 93-119. (= Philosophische Bibliothek, Bd. 372) Certeau, Michel de: Kunst des Handelns. Merve Verlag, Berlin 1988. Clunies Ross, Margaret [Hrsg.]: Old norse myths, literature and society . University Press of Southern Denmark, Odense 2003 . (= The Viking Collection. Studies in Northern Civilization, Bd. 14) Clunies Ross, Margaret: Prolonged Echoes. Old Norse myths in medieval Northern society. Vol. 2: The reception of Norse myths in medieval Iceland. Odense University Press, Odense 1998. (= The Viking Collection. Studies in Northern Civilization, Bd. 10) Literaturverzeichnis 216 Clunies Ross, Margaret: Snorri’s Edda as narrative. In: Fix, Hans [Hrsg.]: Snorri Sturluson. Beiträge zu Werk und Rezeption. De Gruyter, Berlin und New York 1998, S. 9-21. (= Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd. 18) Clunies Ross, Margaret: Prolonged Echoes. Old Norse myths in medieval Northern society. Vol. 1: The myths. Odense University Press, Odense 1994. (= The Viking Collection. Studies in Northern Civilization, Bd. 7) Clunies Ross, Margaret: Skáldskaparmál. Snorri Sturluson’s ars poetica and medieval theories of language. Odense University Press, Odense 1987. (= The Viking Collection. Studies in Northern Civilization, Bd. 4) Cosgrove, Denis: Geography and Vision. Seeing, Imagining and Representing the World. I.B. Tauris, London und New York 2008. (= International Library of Human Geography, Bd. 12) Cosgrove, Denis: Apollo’s Eye. A Cartographic Genealogy of the Earth in the Western Imagination. The Johns Hopkins University Press, Baltimore 2001. Csáky, Moritz und Leitgeb, Christoph [Hrsg.]: Kommunikation - Gedächtnis - Raum: Kulturwissenschaften nach dem „Spatial Turn“. Transcript, Bielefeld 2009. Davidson, Hilda Roderick Ellis: Myths and symbols in pagan Europe. Early Scandinavian and Celtic religion. Syracus University Press, Syracus 1988. Deleuze, Gilles: Differenz und Wiederholung. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1997. Deleuz, Gilles und Guattari, Félix: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie. Merve, Berlin 5 2002 (1997). Dennerlein, Katrin: Narratologie des Raumes. De Gruyter, Berlin und New York 2009. (= Narratologia. Constributions to Narrative Theory, Bd. 22) Döring, Jörg und Thielmann, Tristan [Hrsg.]: Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Transcript, Bielefeld 2008. Driscoll, Matthew James: The words on the page: Thoughts on philology, old and new. In: Quinn, Judy und Lethbridge, Emily [Hrsg.]: Creating the medieval saga: Versions, variability, and editorial interpretations of Old Norse saga literature. Syddansk Universitetsforlag, Odense 2011, S. 85-102. (= The Viking Collection. Studies in Northern Civilization, Bd. 18) Dronke, Ursula: Myth and fiction in early Norse lands. Variorum, Aldershot 1996. (= Collected studies series, C524) Dünne, Jörg und Günzel, Stephan [Hrsg.]: Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006. (= Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Bd. 1800) Dünne, Jörg et al. [Hrsg.]: Von Pilgerwegen, Schriftspuren und Blickpunkten. Raumpraktiken in medienhistorischer Perspektive. Verlag Könighausen & Neumann, Würzburg 2004. Edson, Evelyn: Mapping Time and Space. How Medieval Mapmakers viewed their World. The British Library, London 2 1999 (1997). (= The British Library. Studies in Map History, Vol. 1) Elmevik, Lennart: Embla. Ett bidrag till diskussionen om den nordiska urmoderns namn. In: Reinhammar, Maj [Hrsg.]: Saga och Sed. Kungl. Gustav Adolfs Akademiens Årsbok 2012. Uppsala 2013, S. 47-53. Elmevik, Lennart: Yggdrasill. En etymologisk studie. In: Sävborg, Daniel et al. [Hrsg.]: Scripta Islandica. Isländska Sällskapets Årsbok 58/ 2007. Uppsala 2008, S. 75-84. Literaturverzeichnis 217 Englisch, Brigitte: Ordo orbis terrae. Die Weltsicht in den Mappae mundi des frühen und hohen Mittelalters. Akademie Verlag, Berlin 2002. (= Orbis mediaevalis. Vorstellungswelten des Mittelalters, Bd. 3) Frank, Michael C.: Die Literaturwissenschaften und der spatial turn: Ansätze bei Jurij Lotman und Michail Bachtin. In: Hallet, Wolfgang und Neumann, Birgit [Hrsg.]: Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn. Transcript, Bielefeld 2009, S. 53-80. Friedrich, Udo und Quast, Bruno [Hrsg.]: Präsenz des Mythos. Konfigurationen einer Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit. De Gruyter, Berlin und New York 2004. (= Trends in Medieval Philology, Vol. 2) Genette, Gérard: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Edition Suhrkamp, Frankfurt am Main 1993. (= Edition Suhrkamp. Aesthetica, Bd. 1683) Gísli Sigurðsson: Goðsögur Snorra Eddu: Lýsing á raunheimi með aðferðum sjónhverfingarinnar. In: Gunnar Þór Jóhannesson und Helga Björnsdóttir [Hrsg.]: Rannsóknir í féglagsvísindum X. Félagsog mannvísindadeild. Félagsvísindastofnun Háskóla Íslands, Reykjavík 2009, S. 851-861. Gísli Sigurðsson: Túlkun íslendingasagna í ljósi munnlegrar hefðar. Tilgáta um aðferð. Stofnun Árna Magnússonar á Íslandi, Reykjavík 2002. (=Stofnun Árna Magnússonar á Íslandi, Rit 56) [Erschien in englischer Übersetzung unter dem Titel: The Medieval Icelandic Saga and Oral Tradition. A Discourse on Method. Harvard University Press, Cambridge (MA) und London 2004. (= Publications of the Milman Parry Collection of Oral Literature, Nr. 2)] Glauch, Sonja et al. [Hrsg.]: Projektion - Reflexion - Ferne. Räumliche Vorstellungen und Denkfiguren im Mittelalter. De Gruyter, Berlin und Boston 2011. Glauser, Jürg: Unheilige Bücher. Zur Implosion mythischen Erzählens in der ‚Prosa- Edda’. In: Cardelle de Hartmann, Carmen et al. [Hrsg.]: Heilige Bücher. Das Mittelalter, Band 18, 2013, Heft 1. Akademie Verlag, Berlin 2013, S. 106-121. Glauser, Jürg: Island - Eine Literaturgeschichte. J.B. Metzler, Stuttgart, Weimar 2011. Glauser, Jürg: Sinnestäuschungen. Medialitätskonzepte in der Prosa-Edda. In: Margrét Eggertsdóttir et al. [Hrsg.]: Greppaminni. Hið íslenska bókmenntafélag, Reykjavík 2009, S. 165-174. Glauser, Jürg [Hrsg.]: Skandinavische Literaturgeschichte. Metzler, Stuttgart 2006. Glauser, Jürg und Kiening, Christian [Hrsg.]: Text - Bild - Karte. Kartographien der Vormoderne. Rombach, Freiburg i. Br. 2007. (= Rombach Wissenschaften. Reihe Litterae, Bd. 105) Glendinning, Robert J. und Haraldur Bessason [Hrsg.]: Edda. A Collection of Essays. University of Manitoba Press, Winnipeg 1985 ( 1 1983). (= The University of Manitoba Icelandic Studies, Bd. 4) Götze, Lutz: Zeit-Räume - Raum-Zeiten. Gedanken über Raum und Zeit in den Kulturen. Peter Lang, Frankfurt am Main und andere 2011. (= Im Medium fremder Sprachen und Kulturen, Bd. 18) Grimm, Jacob: Deutsche Mythologie. Band II, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1965 (Berlin 4 1876, Göttingen 1 1835). Gunnell, Terry: V ǫ luspá in Performance. In: Gunnell, Terry und Lassen, Annette [Hrsg.]: The Nordic Apocalypse. Approaches to V ǫ luspá and Nordic Days of Judgement. Brepols, Turnhout 2013, S. 63-77. (= Acta Scandinavica, Bd. 2) Gunnell, Terry: The Performance of the Poetic Edda. In: Brink, Stefan und Price, Neil [Hrsg.]: The Viking World. Routledge, London und New York 2008, S. 299-303. Literaturverzeichnis 218 Gunnell, Terry: Eddic Poetry. In: McTurk, Rory [Hrsg.]: A Companion to Old Norse- Icelandic Literature and Culture. Blackwell Publishing, Malden, MA, 2005, S. 82- 100. Gunnell, Terry: Hof, Halls, Goðar and Dwarves: An Examination of the Ritual Space in the Pagan Icelandic Hall. In: Cosmos - The Journal of the Traditional Cosmology Society, Vol. 17, Nr. 1, 2001, S. 3-36. Gunnell, Terry und Lassen, Annette [Hrsg.]: The Nordic Apocalypse. Approaches to V ǫ luspá and Nordic Days of Judgement. Brepols, Turnhout 2013. (= Acta Scandinavica, Bd. 2) Günzel, Stephan [Hrsg.]: Raumwissenschaften. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2009. (= Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Bd. 1891) Günzel Stephan [Hrsg.]: Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften. Transcript, Bielefeld 2007. Gurjewitsch, Aaron J.: Das Weltbild des mittelalterlichen Menschen. C.H. Beck, München 4 1989 ( 1 1980). Hale, Christopher S.: The River Names in Grímnismál 27-29. In: Glendinning, Robert J. und Haraldur Bessason [Hrsg.]: Edda. A Collection of Essays. University of Manitoba Press, Winnipeg 1985 ( 1 1983), S. 165-186. (= The University of Manitoba Icelandic Studies, Bd. 4) Halldór Hermannsson: Two Cartographers: Guðbrandur Thorláksson and Thórður Thorláksson. Reprint der Ausgabe von Cornell University Library Ithaca, New York 1926, Kraus Reprint Corporation, New York 1966. (= Islandica, Bd. 17) Hallet, Wolfgang und Neumann, Birgit: Raum und Bewegung in der Literatur: Zur Einführung. In: Dies. [Hrsg.]: Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn. Transcript, Bielefeld 2009, S. 11-32. Haraldur Bessason et al. [Hrsg.]: Heiðin minni. Greinar um fornar bókmenntir. Heimskringla, Reykjavík 1999. Harris, Joseph: Romancing the Rune: Aspects of Literacy in Early Scandinavian Orality. In: Deskis, Susan E. und Hill, Thomas D. [Hrsg.]: „Speak Useful Words or Say Nothing“: Old Norse Studies by Joseph Harris. Cornell University Library, Ithaca 2008, S. 319-347. (= Islandica, Vol. 53) Hastrup, Kirsten: Island of Anthropology. Studies in past and present Iceland. Odense University Press, Odense 1990. (= The Viking Collection, Studies in Northern Civilisation, Bd. 5) Haubrichs, Wolfgang [Hrsg.]: Anfang und Ende. J. B. Metzler, Stuttgart und Weimar 1995. (= Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, LiLi; Heft 99) Haupt, Sabine: „Kryptopische“ Zeit-Räume. Unterirdische und außerirdische Topographien als Reservate von Temporalität. In: Böhme, Hartmut [Hrsg.]: Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext. Verlag J.B. Metzler, Stuttgart und Weimar 2005, S. 501-535. (= Germanistische Symposien Berichtsbände, Bd. 27) Haugen, Einar: The Mythical Structure of the Ancient Scandinavians: Some Thoughts on Reading Dumézil. In: Lane, Michael [Hrsg.]: Introduction to Structuralism. Basic Books, New York 1970, S. 170-183. [Erstrduck des Aufsatzes erschienen unter: Haugen, Einar: The Mythical Structure of the Ancient Scandinavians: Some Thoughts on Reading Dumézil. In: To honor Roman Jakobson: essays on the occasion of his 70. birthday, 11. October 1966, Vol. 2. Mouton, Den Haag 1967, S. 855- 868. (= Janua linguarum, Series maior, Bd. 32)] Literaturverzeichnis 219 Hedeager, Lotte: Scandinavian „Central Places“ in a Cosmological Setting. In: Hårdh, Birgitta und Larsson, Lasse [Hrsg.]: Central Places in the Migration and Merovingian Periods. Papers from the 52nd Sachsensymposium Lund, August 2001. Almqvist & Wiksell International, Lund 2002, S. 3-18. (= Uppåkrastudier 6; Acta Archaeologica Lundensia, Series in 8°; Nr. 39) Herschend, Frands: Ordering Landscapes. In: Fabech, Charlotte und Ringtved, Jytte [Hrsg.]: Settlement and Landscape. Proceedings of a conference in Århus, Denmark, May 4-7 1998. Jutland Archaeological Society, Højbjerg 1999, S. 331-335. Heuner, Ulf [Hrsg.]: Klassische Texte zum Raum. Parados Verlag, Berlin 3 2008. Holtsmark, Anne: Studier i Snorres mytologi. Universitetsforlaget, Olso 1964. (= Skrifter utgitt av det Norske videnskaps-akademi i Oslo. Hist.-filos. Kl. N.S.; No. 4) Horst, Simone: Merlin und die völva. Weissagungen im Altnordischen. Herbert Utz Verlag, München 2010. (= Münchner Nordistische Studien, Bd. 5) Huber, Martin et al. [Hrsg.]: Literarische Räume. Architekturen - Ordnungen - Medien. Akademie Verlag, Berlin 2012. Hultgård, Anders: Old Scandinavian and Christian Eschatology. In: Ahlbäck, Tore [Hrsg.]: Old Norse and Finnish Religions and Cultic Place-Names. Koteva, Åbo 1990, S. 344-357. Jackson, Tatjana N.: Ways on the „Mental Map“ of Medieval Scandinavians. In: Heizmann, Wilhelm et al. [Hrsg.]: Analecta Septentrionalia. Beiträge zur nordgermanischen Kultur- und Literaturgeschichte. De Gruyter, Berlin und New York, 2009, S. 211-220. (= Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd. 65) Jäger, Dietrich: Erzählte Räume. Studien zur Phänomenologie der epischen Geschehensumwelt. Königshausen und Neumann, Würzburg 1998. (= Kieler Beiträge zur Anglistik und Amerikanistik, Neue Folge, Bd. 14) Johanek, Peter: Weltbild und Literatur. Fiktive Geographie um 1300. In: Moraw, Peter [Hrsg.]: Das geographische Weltbild um 1300. Politik im Spannungsfeld von Wissen, Mythos und Fiktion. Duncker & Humblot, Berlin 1989, S. 97-108. (= Zeitschrift für historische Forschung, Beiheft 6) Johansson, Karl G.: Studier i Codex Wormianus. Skrifttradition och avskriftsverksamhet vid ett isländskt skriptorium under 1300-talet. Acta Universitatis Gothoburgensis, Göteborg 1997. (= Nordistica Gothoburgensia, Bd. 20) Joisten, Karen [Hrsg.]: Räume des Wissens. Grundpositionen in der Geschichte der Philosophie. Transcript Verlag, Bielefeld 2010. Kermode, Frank: Sensing Endings. In: Welsh, Alexander [Hrsg.]: Nineteenth-Century Fiction. Special Issue: Narrative Endings. Volume 33, Number 1, June 1978, University of California Press, Berkeley, Los Angeles und London 1978, S. 144-158. Kermode, Frank: The Sense of an Ending. Studies in the Theorie of Fiction. Oxford University Press, New York 1967. Kiening, Christian: Medialität in mediävistischer Perspektive. In: Küpper, Joachim [Hrsg.]: Poetica. Zeitschrift für Sprach- und Literaturwissenschaft. Band 39. Wilhelm Fink, München 2007, S. 285-352. Kiening, Christian: Zwischen Körper und Schrift. Texte vor dem Zeitalter der Literatur. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2003. Kliege, Herma: Weltbild und Darstellungspraxis hochmittelalterlicher Weltkarten. Nodus Publikationen, Münster 1991. Klingenberg, Heinz: Heidnisches Altertum und nordisches Mittelalter: Strukturbildende Perspektiven des Snorri Sturluson. HochschulVerlag, Freiburg 1999. Literaturverzeichnis 220 Klingenberg, Heinz: Odins Wanderzug nach Schweden. Altisländische Gelehrte Urgeschichte und mittelalterliche Geographie. In: Alvíssmál, Nr. 3, 1994, S. 19-42. Klingenberg, Heinz: Odin und die Seinen. Altisländischer Gelehrter Urgeschichte anderer Teil. In: Alvíssmál, Nr. 2, 1993, S. 31-80. Klingenberg, Heinz: Trór Þórr (Thor) wie Trōs Aeneas: Snorra Edda Prolog, Vergil- Rezeption und Altisländische Gelehrte Urgeschichte. In: Alvíssmál, Nr. 1, 1992, S. 17-54. Konráð Gíslason: Om Navnet Ýmir. Bianco Lunos Bogtrykkeri, Kopenhagen 1874. (= Kongelige Danske Videnskabernes Selskab. Historisk og Filosofisk Afdeling: Det kongelige danske videnskabernes selskabs skrifter. Raekke 5., 4de Bd. 11) Koschorke, Albrecht: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzählteorie. S. Fischer, Frankfurt am Main 2012. Koschorke, Albrecht: Zur Logik kultureller Gründungserzählungen. In: Druffner, Frank und Lepper, Marcel [Hrsg.]: Zeitschrift für Ideengeschichte. Jahrgang 1, Heft 2. C.H. Beck, München 2007, S. 5-12. Koschorke, Albrecht: Der postmortale Blick - Das Erhabene und die Apokalypse. In: Bauer, Markus und Rahn, Thomas [Hrsg.]: Die Grenze. Begriff und Inszenierung. Akademie Verlag, Berlin 1997, S. 325-341. Koschorke, Albrecht: Die Geschichte des Horizonts. Grenzen und Grenzüberschreitungen in literarischen Landschaftsbildern. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1990. Krochmalnik, Daniel: Variationen zum Anfang in der jüdischen Tradition. In: Druffner, Frank und Lepper, Marcel [Hrsg.]: Zeitschrift für Ideengeschichte. Jahrgang 1, Heft 2. C.H. Beck, München 2007, S. 45-61. Kugler, Hartmut: Zur kognitiven Kartierung mittelalterlicher Epik. Jean Bodels „drei Materien“ und die „Matière de la Germanie“. In: Böhme, Hartmut [Hrsg.]: Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext. Verlag J.B. Metzler, Stuttgart und Weimar 2005, S. 244-263. (= Germanistische Symposien Berichtsbände, Bd. 27) Kuhn, Hans: Asgard, Midgard und Utgard. In: Kuhn, Hans: Kleine Schriften, Band 4. Hrsg.: Dietrich Hofmann, Verlag Walter de Gruyter, Berlin und New York 1978, S. 295-302. Kundert, Ursula et al. [Hrsg.]: Ausmessen - Darstellen - Inszenieren. Raumkonzepte und die Wiedergabe von Räumen in Mittelalter und früher Neuzeit. Chronos Verlag, Zürich 2007. Kure, Henning: I begyndelsen var skriget. Vikingetidens myter om skabelsen. Gyldendal, Kopenhagen 2010. Larrington, Carolyne: Vafþrúðnismál and Grímnismál: Cosmic History, Cosmic Geography. In: Acker, Paul und Larrington, Carolyne [Hrsg.]: The Poetic Edda. Essays on Old Norse Mythology. Routledge, New York 2002, S. 59-77. Leach, Edmund: Introduction. In: Steblin-Kamenskij, M.I.: Myth. Karoma, Ann Arbor 1982, S. 1-20. Lincoln, Bruce: The Center of the World and the Origins of Life. In: History of Religions, Vol. 40, No. 4 (May 2001), University of Chicago, Chicago 2001, S. 311-326. Lincoln, Bruce: The Indo-European Myth of Creation. In: History of Religions, Vol. 15, No. 2, 1975. The University of Chicago Press, Chicago 1975, S. 121-145. Lindow, John: Mythology and Mythography. In: Clover, Carol J. und Lindow, John [Hrsg.]: Old Norse-Icelandic Literature. A Critical Guide. Cornell University Press, Ithaca und London 1985, S. 21-67. (= Islandica, Bd. XLV) Literaturverzeichnis 221 Lönnroth, Lars: The Founding of Miðgarðr (V ǫ luspá 1-8). In: Acker, Paul und Larrington, Carolyne [Hrsg.]: The Poetic Edda. Essays on Old Norse Mythology. Routledge, New York 2002, S. 1-25. Lönnroth, Lars: „Iörð fannz æva né upphiminn“. A formula analysis. In: Dronke, Ursula et al. [Hrsg.]: Speculum Norroenum. Norse Studies in Memory of Gabriel Turville-Petre. Odense University Press, Odense 1981, S. 310-327. Lotman, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte. Fink, München 3 1989. (= Uni- Taschenbücher; Literatur, Bd. 103) Lotman, Jurij M.: Aufsätze zur Theorie und Methodologie der Literatur und Kultur. Scriptor Verlag, Kronberg 1974. Løftingsmo, Arnt: Edda i aust. Gudediktinga i lys av kvitsjøhandelen og det eurasiske verdsbildet. Solum Forlag, Oslo 1990. Marold, Edith: Der Dialog in Snorris Gylfaginning. In: Fix, Hans [Hrsg.]: Snorri Sturluson. Beiträge zu Werk und Rezeption. De Gruyter, Berlin und New York 1998, S. 131-180. (= Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd. 18) Martin, John Stanley: Ár vas alda. Ancient Scandinavian creation myths reconsidered. In: Dronke, Ursula et al. [Hrsg.]: Speculum Norroenum. Norse Studies in Memory of Gabriel Turville-Petre. Odense University Press, Odense 1981, S. 357-369. Martin, John Stanley: Ragnar ǫ k: An Investigation into Old Norse Concepts of the Fate of the Gods. Van Gorcum and Company, Assen 1972. (= Melbourne Monographs in Germanic Studies, Vol. 3) McKinnell, John: Meeting the Other in Norse Myth and Legend. D. S. Brewer, Cambridge 2005. Meletinskij, Eleazar M.: Scandinavian Mythology as a System of Oppositions. In: Jason, Heda und Segal, Dimitri [Hrsg.]: Patterns in Oral Literature. Mouton Publishers, Den Hague und Paris 1977, S. 251-260. (= World Anthropology, Bd. 44) Meletinskij, Eleazar M.: Scandinavian Mythology as a System [Part 2]. In: Schwimmer, Erik G. [Hrsg.]: Journal of Symbolic Anthropology, Nr. 2, 1974, S. 57-78. Meletinskij, Eleazar M.: Scandinavian Mythology as a System [Part 1]. In: Schwimmer, Erik G. [Hrsg.]: Journal of Symbolic Anthropology, Nr. 1, 1973, S. 43-57. Meurer, Ulrich: Topographien. Raumkonzepte in Literatur und Film der Postmoderne. Wilhelm Fink, München 2007. Miller, J. Hillis: Topographies. Stanford University Press, Stanford 1995. Miller, J. Hillis: The Problematic of Ending in Narrative. In: Welsh, Alexander [Hrsg.]: Nineteenth-Century Fiction. Special Issue: Narrative Endings. Volume 33, Number 1, June 1978, University of California Press, Berkeley, Los Angeles und London 1978, S. 3-7. Mitchell, Stephen A.: Memory, Mediality, and the „Performative Turn“. Recontextualizing Remembering in Medieval Scandinavia. In: Hermann, Pernille und Mitchell, Stephen [Hrsg.]: Memory and Remembering: Past Awareness in the Medieval North. Scandinavian Studies, Vol. 85, 2013, Nr. 3. University of Illinois Press, Champaign 2013, S. 282-305. Mitchell, Stephen A.: Witchcraft and Magic in the Nordic Middle Ages. University of Pennsylvania Press, Philadelphia 2011. (= The Middel Ages Series) Molenaar, H. A.: Concentric Dualism as Transition Between a Linear Cyclic Representation of Life and Death in Scandinavian Mythology. In: Bijdragen tot de Taal-, Landen Volkenkunde, Deel 138, 1ste Afl., Anthropologica XXIV, Leiden 1982, S. 29-53. Literaturverzeichnis 222 Motz, Lotte: The Germanic Thunderweapon. In: Saga-Book, Bd. 24, Viking Society for Northern Research. University College London, London 1994-1997, S 329-350. Motz, Lotte: Giants in Folklore and Mythology: A New Approach. In: Folklore, Vol. 93, No. 1, 1982, S. 70-84. Mülder-Bach, Inka: III. Literarische Räume. Einleitung. In: Böhme, Hartmut [Hrsg.]: Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext. Verlag J.B. Metzler, Stuttgart und Weimar 2005, S. 404-407. (= Germanistische Symposien Berichtsbände, Bd. 27) Müllenhoff, Karl: Um ragnaröckr. In: Zeitschrift für deutsches Altertum und Literatur, Bd. 16, 1873, S. 146-148. Münkler, Marina: Erfahrung des Fremden. Die Beschreibung Ostasiens in den Augenzeugenberichten des 13. und 14. Jahrhunderts. Akademie Verlag, Berlin 2000. Nahl, Jan Alexander van: Snorri Sturlusons Mythologie und die mittelalterliche Theologie. De Gruyter, Berlin 2013. (= Ergänzungsbände zum Reallexikon der germanischen Altertumskunde, Bd. 81) Neumann, Birgit: Erinnerung, Identität, Narration. Gattungstypologie und Funktionen kanadischer „Fictions of memory“. Walter de Gruyter, Berlin 2005. (= Media and cultural memory, Bd. 3) Neumann, Birgit und Nünning, Ansgar: An Introduction to the Study of Narrative Fiction. Klett Lernen und Wissen, Stuttgart 2008. Nünning, Ansgar: Formen und Funktionen literarischer Raumdarstellung. In: Hallet, Wolfgang und Neumann, Birgit [Hrsg.]: Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn. Transcript, Bielefeld 2009, S. 33-52. Ogier, James: Islands and Skylands: An Eddic Geography. In: Grafestätter, Andrea et al. [Hrsg.]: Islands and Cities in Medieval Myth, Literature, and History. Papers delivered at the International Medieval Congress, University of Leeds, in 2005, 2006, and 2007. Peter Lang, Frankfurt am Main 2011, S. 9-20. (= Beihefte zur Mediävistik. Monographien, Editionen, Sammelbände; Bd. 14) Olrik, Axel: Ragnarök. Die Sagen vom Weltuntergang. Vereinigung wissenschaftlicher Verleger, Walter De Gruyter, Berlin und Leipzig 1922. Paul, Fritz: Bericht und Vision. Überlegungen zur Verschiebung der Erzählperspektive in der V ǫ lospá. In: Frank, Armin Paul und Mölk, Ulrich [Hrsg.]: Frühe Formen mehrperspektivischen Erzählens von der Edda bis Flaubert. Ein Problemaufriß. Erich Schmidt Verlag, Berlin 1991, S. 1-16. Piatti, Barbara: Die Geographie der Literatur. Schauplätze, Handlungsräume, Raumphantasien. Wallstein Verlag, Göttingen 2008. Pichler, Wolfram und Ubl, Ralph [Hrsg.]: Topologie. Falten, Knoten, Netze, Stülpungen in Kunst und Theorie. Verlag Turia + Kant, Wien 2009. Piltz, Anders: Die gelehrte Welt des Mittelalters. Böhlau, Köln 1978. Polomé, Edgar C.: Some Comments on V ǫ luspá, Stanzas 17-18. In: Ders.: Essays on Germanic Religion. Institut for the Study of Man, Washington, D.C. 1989, S. 30- 54. (= Journal of Indo-European Studies, Monograph Number Six) Propp, Vladimir J.: Morphologie des Märchens. Hrsg. von Karl Eimermacher, Hanser Verlag, München 1972. (= Literatur als Kunst) Reutlinger, Christian et al. [Hrsg.]: Raumwissenschaftliche Basics. Eine Einführung für die soziale Arbeit. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2010. Rösli, Lukas: Erschriebene und gespiegelte Welten im Prolog und der Gylfaginning der Prosa-Edda. In: Brahier, Gabriela und Johannsen, Dirk [Hrsg.]: Konstruktionsge- Literaturverzeichnis 223 schichten. Narrationsbezogene Ansätze in der Religionsforschung. Ergon, Würzburg 2013, S. 281-293. (= Diskurs Religion, Bd. 2) Ryan, Marie-Laure: Space. In: Hühn, Peter et al. [Hrsg.]: Handbook of Narratology. Walter de Gruter, Berlin und New York 2009, S. 420-433. (= Narratologia. Contributions to Narrative Theory, Bd. 19) Samplonius, Kees: The Background and Scope of V ǫ luspá. In: Gunnell, Terry und Lassen, Annette [Hrsg.]: The Nordic Apocalypse. Approaches to V ǫ luspá and Nordic Days of Judgement. Brepols, Turnhout 2013, S. 113-145. (= Acta Scandinavica, Bd. 2) Sasse, Sylvia: Literaturwissenschaft. In: Günzel, Stephan [Hrsg.]: Raumwissenschaften. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2009, S. 225-241. Schier, Kurt: Die Erdschöpfung aus dem Urmeer und die Kosmogonie der Völospá. In: Strerath-Bolz, Ulrike et al. [Hrsg.]: Nordlichter. Ausgewählte Schriften 1960 - 1992. Diederichs, München 1994, S. 15-52. Schindel, Thomas: Räume des Medialen: Zum spatial turn in Kulturwissenschaften und Medientheorien. Hülsbusch, Boizenburg 2007. Schjødt, Jens Peter: Wilderness, Liminality, and the Other in Old Norse Myth and Cosmology. In: Feldt, Laura [Hrsg.]: Wilderness in Mythology and Religion. Approaching Religious Spatialities, Cosmologies, and Ideas of Wild Nature. De Gruyter, Berlin und Boston 2012, S. 183-204. (= Religion and Society, Bd. 55) Schjødt, Jens Peter: Initiation between two Worlds. Structure and symbolism in prechristian Scandinavian religion. University Press of Southern Denmark, Odense 2008. (= The Viking Collection. Studies in Northern civilization, Bd. 17) Schjødt, Jens Peter: Horizontale und vertikale Achsen in der vorchristlichen skandinavischen Kosmologie. In: Ahlbäck, Tore [Hrsg.]: Old Norse and Finnish Religions and Cultic Place-Names. Koteva, Åbo 1990, S. 35-57. Schjødt, Jens Peter: Aser og vaner: Historie eller struktur? In: Fallos, Nr. 5, Århus 1984, S. 48-70. Schjødt, Jens Peter: Völuspá - cyklisk tidsopfattelse i gammelnordisk religion. In: Kjær, Iver et al. [Ed.]: Danske Studier. Akademisk Forlag, Kopenhagen 1981, S. 91- 95. Schön, Ebbe: Asa-Tors hammare. Gudar och jättar i tro och tradition. Hjalmarson & Högberg, Stockholm 2004. Schröder, Franz Rolf: Ingunar-Freyr. Verlag Mohr, Tübingen 1941. (= Untersuchungen zur germanischen und vergleichenden Religionsgeschichte, Bd. 1) Schulte, Michael: Memory culture in the Viking Ages. The runic evidence of formulaic patterns. In: Sävborg, Daniel et al. [Hrsg.]: Scripta Islandica. Isländska Sällskapets Årsbok 58/ 2007. Uppsala 2008, S. 57-73. Schulz, Katja: Riesen. Von Wissenshütern und Wildnisbewohnern in Edda und Saga. Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2004. (= Skandinavistische Arbeiten, Bd. 20) Schütte, Gudmund: Gotthiod und Utgard. Altgermanische Sagengeographie in neuer Auffassung [Band II]. Aschehoug Dansk Forlag, Kopenhagen und Frommannsche Buchhandlung, Jena 1936. Schütte, Gudmund: Gotthiod und Utgard. Altgermanische Sagengeographie in neuer Auffassung [Band I]. Aschehoug Dansk Forlag, Kopenhagen und Frommannsche Buchhandlung, Jena 1935. See, Klaus von: Mythos und Theologie im skandinavischen Hochmittelalter. Carl Winter Universitätsverlag, Heidelberg 1988. (= Skandinavistische Arbeiten, Bd. 8) Literaturverzeichnis 224 Siegert, Bernhard: I. Repräsentationen diskursiver Räume. Einleitung. In: Böhme, Hartmut [Hrsg.]: Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext. Verlag J.B. Metzler, Stuttgart und Weimar 2005, S. 3-11. (= Germanistische Symposien Berichtsbände, Bd. 27) Simek, Rudolf: Erde und Kosmos im Mittelalter. Das Weltbild vor Kolumbus. C.H. Beck, München 1992. Simek, Rudolf: Altnordische Kosmographie. De Gruyter, Berlin und New York 1990. Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd. 4) Simek, Rudolf: Übersetzungen kosmographischer Begriffe in altnordischen enzyklopädischen und geographischen Texten. In: NORDEUROPA: Studien 23. Greifswald 1988, S. 96-103. (= Wissenschaftliche Zeitschrift der Ernst-Moritz-Arndt- Universität Greifswald, Sonderreihe) Simek; Rudolf: Elusive Elysia or Wich Way to Glæsisvellir? On the Geography of the North in Icelandic Legendary Fiction. In: Simek, Rudolf et al. [Hrsg.]: Sagnaskemmtun. Studies in Honour of Hermann Pálsson. Hermann Böhlaus Nachf., Graz, Köln und Wien 1986, S. 247-275. (= Philologica Germanica, Bd. 8) Simons, Oliver: Raumgeschichten. Topographien der Moderne in Philosophie, Wissenschaft und Literatur. Wilhelm Fink Verlag, München 2007. Spicer, Arnold und Hamilton, Sarah [Hrsg.]: Defining the Holy. Sacred Space in Medieval and Early Modern Europe. Ashgate, Hants und Burlington 2005. Starý, Jiří: Induktive, intuitive und inspirierte Mantik in klassischen und altnordischen Quellen der germanischen Religion. In: Heizmann, Wilhelm et al. [Hrsg.]: Analecta Septentrionalia. Beiträge zur nordgermanischen Kultur- und Literaturgeschichte. De Gruyter, Berlin und New York, 2009, S. 607-645. (= Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd. 65) Steinsland, Gro: V ǫ luspá and the Sibylline Oracles with a Focus on the „Myth of the Future“. In: Gunnell, Terry und Lassen, Annette [Hrsg.]: The Nordic Apocalypse. Approaches to V ǫ luspá and Nordic Days of Judgement. Brepols, Turnhout 2013, S. 147-160. (= Acta Scandinavica, Bd. 2) Steinsland, Gro: Norrøn Religion. Myter, Riter, Samfunn. Pax Forlag, Oslo 2005. Steinsland, Gro: Ask og Embla i V ǫ luspá - fri fantasi eller gammel tradisjon? Om et mulig imago dei-motiv i V ǫ luspá skapelsesmyte. In: Ásdís Egilsdottir und Rudolf Simek [Hrsg.]: Sagnaheimur, Studies in Honour of Hermann Pálsson on his 80th birthday, 26. May 2001. Fassbaender, Wien 2001, S. 247-262. (= Studia Medievalia Septentrionalia, Bd. 6) Steinsland, Gro: Antropogonimyten i V ǫ luspá. En tekstog tradisjonskritisk anlyse, In: Arkiv för nordisk filologi 98, Lund 1983, S. 80-107. Steinsland, Gro: Treet i V ǫ luspa. In: Arkiv för nordisk filologi 94, Lund 1979, S. 120- 150. Stierle, Karlheinz und Warning, Rainer: Vorwort. In: Stierle, Karlheinz und Warning, Rainer [Hrsg.]: Das Ende. Figuren einer Denkform. Fink, München 1996, S. IX-X (= Poetik und Hermeneutik, Bd. 16) Stretrath-Bolz, Ulrike: Sprache und Religion im Prolog der Snorra-Edda. In: Fix, Hans [Hrsg.]: Snorri Sturluson. Beiträge zu Werk und Rezeption. De Gruyter, Berlin und New York 1998, S. 267-274. (= Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd. 18) Strömer-Caysa, Uta: Grundstrukturen mittelalterlicher Erzählungen. Raum und Zeit im höfischen Roman. De Gruyter, Berlin und New York 2007. (= De Gruyter Studienbuch) Literaturverzeichnis 225 Tiller, Elisabeth und Mayer, Christoph Oliver [Hrsg.]: RaumErkundungen: Einblicke und Ausblicke. Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2011. (= Beiträge zur neueren Literaturgeschichte. Dritte Folge, Bd. 282) Tomberg, Markus: Der Begriff von Mythos und Wissenschaft bei Ernst Cassirer und Kurt Hübner. Lit Verlag, Münster 1996. (= Philosophie, Bd. 24) Tuan, Yi-Fu: Religion: From Place to Placelessness. Center for American Places at Columbia College Chicago, Chicago 2009. (= Center books on the international scene, Bd. 5) Tuan, Yi-Fu: Space and Place. The Perspective of Experience. Edward Arnold, London 1977. Tuan, Yi-Fu: Images and Mental Maps. In: Annals of the Association of American Geographers, Vol. 65, Nr. 2, 1975, S. 205-213. Tuan, Yi-Fu: Topophilia: A Study of Environmental Perception, Attitudes, and Values. Prentice-Hall Inc., Englewood Cliffs 1974. Turville-Petre, E. O. G.: Myth and Religion of the North. The Religion of Ancient Scandinavia. Weidenfeld and Nicolson, London 1964. Vésteinn Ólason: V ǫ luspá and Time. In: Gunnell, Terry und Lassen, Annette [Hrsg.]: The Nordic Apocalypse. Approaches to V ǫ luspá and Nordic Days of Judgement. Brepols, Turnhout 2013, S. 25-44. (= Acta Scandinavica, Bd. 2) Vries, Jan de: Forschungsgeschichte der Mythologie. Alber, Freiburg im Breisgau 1961. (= Orbis academicus. 1. Geisteswissenschaftliche Abteilung, Bd. 7) Vries, Jan de: Altgermanische Religionsgeschichte. Band I und II, Walter de Gruyter, Berlin 2 1957. Wagner, Kirsten: Topographical Turn. In: Günzel, Stephan [Hrsg.]: Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch. J.B. Metzler, Stuttgart und Weimar 2010, S. 100-119. Warf, Barney und Arias, Santa [Hrsg.]: The Spatial Turn. Interdisciplinary perspectives. Routledge, New York 2009. (= Routledge Studies in Human Geography, Bd. 26) Weber, Gerd Wolfgang: Mythos und Geschichte. Essays zur Geschichtsmythologie Skandinaviens in Mittelalter und Neuzeit. Edizioni Parnaso, Trieste 2001. (= Hesperides, Bd. 11) Weber, Gerd Wolfgang: Siðaskipti. Das religionsgeschichtliche Modell Snorri Sturlusons in Edda und Heimskringla. In: Simek, Rudolf et al. [Hrsg.]: Sagnaskemmtun. Studies in Honour of Hermann Pálsson. Hermann Böhlaus Nachf., Graz, Köln und Wien 1986, S. 309-329. (= Philologica Germanica, Bd. 8) Wellendorf, Jonas: Homogeneity and heterogeneity in Old Norse cosmology. In: Andrén, Anders et al. [Hrsg.]: Old Norse religion in long-term perspectives. Origins, changes, and interactions. Nordic Academic Press, Lund 2006, S. 50-53. (= Vägar till Midgård, Bd. 8) Welsh, Alexander [Hrsg.]: Nineteenth-Century Fiction. Special Issue: Narrative Endings. Volume 33, Number 1, June 1978, University of California Press, Berkeley, Los Angeles und London 1978. Wenzel, Horst: II. Räume der Literatur. Einleitung. In: Böhme, Hartmut [Hrsg.]: Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext. Verlag J.B. Metzler, Stuttgart und Weimar 2005, S. 215-223. (= Germanistische Symposien Berichtsbände, Bd. 27) Werle, Benno: Körper, Raum und mediale Repräsentation. In: Döring, Jörg und Thielmann, Tristan [Hrsg.]: Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Transcript, Bielefeld 2008, S. 365-392. Literaturverzeichnis 226 Westrem, Scott D.: The Hereford Map. A Transcription and Translation of the Legends with Commentary. Brepols, Turnhout 2001. (= Terrarum Orbis, Bd. 1) Wilke, Jürgen: Die Ebstorfer Weltkarte. 1. Textband, 2. Tafelband. Verlag für Regionalgeschichte, Bielefeld 2001. (= Veröffentlichungen des Instituts für historische Landesforschung der Universität Göttingen, Bd. 39) Williams, Henrik: Projektet Originalversionen av Snorre Sturlusons Edda? Studier i Codex Upsaliensis. Ett forskningsprogram. In: Sävborg, Daniel et al. [Hrsg.]: Scripta Islandica. Isländska Sällskapets Årsbok 58/ 2007. Uppsala 2008, S. 85-99. Willing, Antje: Binnenstrukturen heilsgeschichtlicher Projektion. Zur Christusfigur auf der Ebstorfer Weltkarte. In: Glauch, Sonja et al. [Hrsg.]: Projektion - Reflexion - Ferne. Räumliche Vorstellungen und Denkfiguren im Mittelalter. De Gruyter, Berlin und Boston 2011, S. 297-318. Wolf, Alois: Sehweisen und Darstellungsfragen in der Gylfaginning. Thors Fischfang. In: Skandinavistik. Zeitschrift für Sprache, Literatur und Kultur der nordischen Länder. Jahrgang 7, J. J. Augustin, Glückstadt 1977, S. 1-27. Würth, Stefanie: Ragnarök: Götterdämmerung und Weltende in der nordischen Literatur. In: Hartmann, Sieglinde und Müller, Ulrich [Hrsg.]: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein Gesellschaft. Band 13, 2001/ 2002, Frankfurt am Main 2002, S. 29- 43. In englischer Übersetzung erschienen unter: Würth, Stefanie: The Role of V ǫ luspá in the Perception of Ragnar ǫ k in Old Norse-Icelandic Literature. In: Clunies Ross, Margaret [Hrsg.]: Old norse myths, literature and society . University Press of Southern Denmark, Odense 2003 , S. 217-233. (= The Viking Collection. Studies in Northern Civilization, Bd. 14) Wörterbücher, Handbücher und Lexika Baetke, Walter: Wörterbuch zur altnordischen Prosaliteratur. 8., unveränderte Auflage. Akademieverlag, Berlin 2008 ( 1 1965/ 68). (= Sitzungsberichte der Sächsischen Akademie der Wissenschaften Leipzig. Philologisch-historische Klasse, Bd. 111, Heft 1 und 2) Böhme, Horst Wolfgang et al. [Hrsg.]: Wörterbuch der Burgen, Schlösser und Festungen. Reclam, Stuttgart 2004. Gering, Hugo: Glossar zu den Liedern der Edda (Sæmundar Edda). Zweite Auflage. Ferdinand Schöningh, Paderborn 1896. (= Bibliothek der ältesten deutschen Litteratur-Denkmäler, Bd. 8) Glasze, Georg und Mattissek, Annika [Hrsg.]: Handbuch Diskurs und Raum. Theorien und Methoden für die Humangeographie sowie die sozial- und kulturwissenschaftliche Raumforschung. Transcript, Bielefeld 2009. Günzel, Stephan [Hrsg.]: Lexikon der Raumphilosophie. WBG, Darmstadt 2012. Günzel, Stephan [Hrsg.]: Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch. J.B. Metzler, Stuttgart und Weimar 2010. Lindow, John: Handbook of Norse Mythology. ABC-CLIO, Santa Barbara 2001. (= Handbooks of world mythology) Simek, Rudolf und Hermann Pálsson: Lexikon der altnordischen Literatur. Die mittelalterliche Literatur Norwegens und Islands. Zweite, wesentlich vermehrte und überarbeitete Auflage von Rudolf Simek. Kröner, Stuttgart 2007 ( 1 1987). (= Kröners Taschenausgabe, Bd. 490) Literaturverzeichnis 227 Simek, Rudolf: Lexikon der germanischen Mythologie. Dritte, völlig überarbeitete Auflage. Kröner, Stuttgart 2006 ( 1 1984). (= Kröners Taschenausgabe, Bd. 368) Sveinbjörn Egilsson: Lexicon Poeticum Antiquæ Linguæ Septentrionalis. Ordbog over det norsk-islandske skjaldesprog. S. L. Møllers Bogtrykkeri, Kopenhagen 1931. Vries, Jan de: Altnordisches etymologisches Wörterbuch. Brill, Leiden 1962. Beiträge zur Nordischen Philologie Band 1 Oskar Bandle: Die Gliederung des Nordgermanischen. 1973, 117 Seiten und 23 Karten Band 2 Conradin Perner: Gunnar Ekelöfs Nacht am Horizont. 1974, 250 Seiten Band 3 Heinz Klingenberg: Edda - Sammlung und Dichtung. 1974, 185 Seiten Band 4 Oskar Bandle u.a.: Studien zur dänischen und schwedischen Literatur des 19. Jahrhunderts. 1976, 225 Seiten Band 5 Hartmut Röhn: Untersuchungen zur Zeitgestaltung und Komposition der Islendingasögur. 1976, 159 Seiten Band 6 Ulrike Sprenger: Untersuchungen zum Gebrauch von sá und nachgestelltem inn in der altisländischen Prosa. 1977, 282 Seiten Band 7 Hans-Peter Naumann: Sprachstil und Textkonstitution. Untersuchungen zur altwestnordischen Rechtssprache. 1979, 188 Seiten Band 8 Wilhelm Friese u.a.: Strindberg und die deutschsprachigen Länder. Internationale Beiträge zum Tübinger Strindberg-Symposion 1977. 1979, 396 Seiten Band 9 Wolfgang Pasche: Skandinavische Dramatik in Deutschland. Björnstjerne Björnson, Henrik Ibsen, August Strindberg auf der deutschen Bühne 1867-1932. 1979, 310 Seiten Band 10 Aldo Keel: Innovation und Restauration. Der Romancier Halldór Laxness seit dem Zweiten Weltkrieg. 1981, 161 Seiten Band 11 Oskar Bandle u.a.: Strindbergs Dramen im Lichte neuerer Methodendiskussionen. Beiträge zum IV. Internationalen Strindberg-Symposion in Zürich 1979. 1981, 289 Seiten Band 12 Jürg Glauser: Isländische Märchensagas. Studien zur Prosaliteratur im spätmittelalterlichen Island. 1983, 357 Seiten Band 13 Radko Kejzlar: Literatur und Neutralität. Zur schwedischen Literatur der Kriegs- und Nachkriegszeit. 1984, 278 Seiten Band 14 Hans Joerg Zumsteg: Olav Duuns Medmenneske-Trilogie. 1984, 304 Seiten Band 15 Festschrift für Oskar Bandle. Zum 60. Geburtstag am 11. Januar 1986. Herausgegeben von Hans-Peter Naumann unter Mitwirkung von Magnus von Platen und Stefan Sonderegger. 1986, 316 Seiten Band 16 Bjørnstjerne Bjørnsons Briefwechsel mit Deutschen. Herausgegeben von Aldo Keel. I. Teil: 1859-1898. 1986, 414 Seiten Band 17 Bjørnstjerne Bjørnsons Briefwechsel mit Deutschen. Herausgegeben von Aldo Keel. II. Teil: 1899-1909. 1987, 330 Seiten Band 18 Andreas Heusler an Wilhelm Ranisch. Briefe aus den Jahren 1890- 1940. In Zusammenarbeit mit Oskar Bandle herausgegeben von Klaus Düwel und Heinrich Beck. 1989, 739 Seiten Band 19 Nordische Romantik. Akten der XVII. Studienkonferenz der International Association for Scandinavian Studies 7-12. August 1988 in Zürich und Basel. 1991, 528 Seiten Band 20 Stefanie Würth: Elemente des Erzählens. Die þættir der Flateyjarbók. 1991, 170 Seiten Band 21 Susan Brantly: The Life and Writings of Laura Marholm. 1991, 206 S. Band 22 Thomas Seiler: På tross av - Paal Brekkes Lyrik vor dem Hintergrund modernistischer Kunsttheorie. 1993, 193 Seiten Band 23 Karin Naumann: Utopien von Freiheit. Die Schweiz im Spiegel schwedischer Literatur. 1994, 226 Seiten Band 24 Wilhelm Friese: Halldór Laxness. Die Romane. Eine Einführung. 1995, 164 Seiten Band 25 Stephen N. Tranter: Clavis Metrica: Háttatal, Háttalykill and the Irish Metrical Tracts. 1997, 226 Seiten Band 26 Stefanie Würth: Der „Antikenroman“ in der isländischen Literatur des Mittelalters. Eine Untersuchung zur Übersetzung und Rezeption lateinischer Literatur im Norden. 1998, 294 Seiten Band 27 Wolfgang Behschnitt: Die Autorfigur. Autobiographischer Aspekt und Konstruktion des Autors im Werk August Strindbergs. 1997, 325 Seiten Band 28 Hans-Peter Naumann / Silvia Müller (Hrsg.): Hochdeutsch in Skandinavien. Internationales Symposium, Zürich 14.-16. Mai 1998. 2000, 254 Seiten Band 29 Bettina Baur: Melancholie und Karneval. Zur Dramatik Cecilie Løveids. 2002, 234 Seiten Band 30 Uwe Englert: Magus und Rechenmeister. Henrik Ibsens Werk auf den Bühnen des Dritten Reiches. 2001, 368 Seiten Band 31 Oskar Bandle: Schriften zur nordischen Philologie. Sprach-, Literatur- und Kulturgeschichte der skandinavischen Länder. Herausgegeben von Jürg Glauser und Hans-Peter Naumann. 2001, 638 Seiten Band 32 Jürg Glauser / Barbara Sabel (Hrsg.): Skandinavische Literaturen in der frühen Neuzeit. 2002, 350 Seiten Band 33 Susanne Kramarz-Bein: Die Þiðreks saga im Kontext der altnorwegischen Literatur. 2002, 396 Seiten Band 34 Astrid Surmatz: Pippi Långstrump als Paradigma. Die deutsche Rezeption Astrid Lindgrens und ihr internationaler Kontext. 2005, 618 Seiten Band 35 Iris Ridder: Der schwedische Markolf. Studien zu Tradition und Funktion der frühen schwedischen Markolfüberlieferung. 2002, 276 Seiten Band 36 Barbara Sabel: Der kontingente Text. Zur schwedischen Poetik in der Frühen Neuzeit. 2003, 171 Seiten Band 37 Verschränkung der Kulturen. Der Sprach- und Literaturaustausch zwischen Skandinavien und den deutschsprachigen Ländern. Zum 65. Geburtstag von Hans-Peter Naumann herausgegeben von Oskar Bandle, Jürg Glauser und Stefanie Würth. 2004, 582 Seiten Band 38 Silvia Müller: Schwedische Privatprosa 1650-1710. Sprach- und Textmuster von Frauen und Männern im Vergleich. 2005, 370 Seiten Band 39 Klaus Müller-Wille: Schrift, Schreiben und Wissen. Zu einer Theorie des Archivs in Texten von C.J.L. Almqvist. 2005, XII, 510 Seiten Band 40 Jürg Glauser (Hrsg.): Balladen-Stimmen. Vokalität als theoretisches und historisches Phänomen. 2012, 195 Seiten Band 41 Anna Katharina Richter: Transmissionsgeschichten. Untersuchungen zur dänischen und schwedischen Erzählprosa in der frühen Neuzeit. 2009, X, 327 Seiten Band 42 Jürg Glauser / Anna Katharina Richter (Hrsg.): Text - Reihe - Transmission. Unfestigkeit als Phänomen skandinavischer Erzählprosa 1500-1800. 2012, 319 Seiten Band 43 Lena Rohrbach: Der tierische Blick. Mensch-Tier-Relationen in der Sagaliteratur. 2009, XII, 382 Seiten Band 44 Andrea Hesse: Zur Grammatikalisierung der Pseudokoordination im Norwegischen und in den anderen skandinavischen Sprachen. 2009, 254 Seiten Band 45 Jürg Glauser / Susanne Kramarz-Bein (Hrsg.): Rittersagas. Übersetzung, Überlieferung, Transmission. 2014, 274 Seiten Band 46 Klaus Müller-Wille (Hrsg.): Hans Christian Andersen und die Heterogenität der Moderne. 2009, 241 Seiten Band 47 Oskar Bandle: Die Gliederung des Nordgermanischen. Reprint der Erstauflage mit einer Einführung von Kurt Braunmüller. 2011, XXV, 117 Seiten und 23 Karten Band 48 Simone Ochsner Goldschmidt: Wissensspuren. Generierung, Ordnung und Inszenierung von Wissen in Erik Pontoppidans Norges naturlige Historie 1752/ 53. 2012, 296 Seiten Band 49 Frederike Felcht: Grenzüberschreitende Geschichten. H.C. Andersens Texte aus globaler Perspektive. 2013, 312 Seiten Band 50 Thomas Seiler (Hrsg.): Wildgänse und Windmühlen. Aspekte skandinavisch-iber(oamerikan)ischer Kulturbeziehungen. 2013, VIII, 231 Seiten Band 51 Klaus Müller-Wille/ Joachim Schiedermair (Hrsg.): Wechselkurse des Vertrauens. Zur Konzeptualisierung von Ökonomie und Vertrauen im nordischen Idealismus. 2013, XXVI, 213 Seiten Band 52 Hendrik Lambertus: Von monströsen Helden und heldenhaften Monstern. Zur Darstellung und Funktion des Fremden in den originalen Riddarasögur. 2013, 260 Seiten Band 53 Alois Wolf: Die Saga von der Njálsbrenna und die Frage nach dem Epos im europäischen Mittelalter. 2014, 121 Seiten Band 54 Walter Baumgartner: Gibt es den Elch - Fins elgen? Aufsätze 1969- 2011 zur neueren skandinavischen Lyrik. Essays 1969-2011 om nyere skandinavisk lyrikk. 2014, 338 Seiten Band 55 Band 56 Katharina Seidel: Textvarianz und Textstabilität. Studien zur Transmission der Ívens saga, Erex saga und Pacevals saga. 2014, 248 Seiten Lukas Rösli: Topographien der eddischen Mythen. Eine Untersuchung zu den Raumnarrativen und den narrativen Räumen in der Lieder-Edda und der Prosa-Edda . 2015, VIII, 227 Seiten Die beiden bekanntesten Texte der altnordischen Mythologie, die Lieder-Edda und die Prosa-Edda , welche im 13. Jahrhundert in Island verschriftlicht wurden, bieten eine Vielzahl von Erzählungen über die Entstehung der Welt bis hin zu ihrem Untergang. Die Untersuchung geht anhand von Theorien und Methoden, die der gegenwärtigen Raumwissenschaft in den Kultur- und Literaturwissenschaften entliehen sind, der Frage nach, über welche narratologischen Darstellungsverfahren in den Texten der altnordischen Mythologie der Kosmos der eddischen Mythen aufgebaut, gegliedert und wieder zerstört wird. Dabei wird gezeigt, dass die Topographien der eddischen Mythen bei weitem nicht so statisch sind, wie bisher von der Forschung angenommen wurde, sondern äußerst dynamisch funktionieren und sich immer ihrem Verwendungszweck in der Erzählung anpassen. Dr. phil. Lukas Rösli ist Assistent für ältere und neuere skandinavische Literatur am Seminar für Nordistik der Universität Basel.