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Seefahrten des Denkens

2017
978-3-8930-8616-0
Attempto Verlag 
Alina Noveanu
Julia Pfefferkorn
Antonino Spinelli

"Denn man muss bei diesen Dingen wenigstens eines erreichen: entweder lernen oder herausfinden, wie es sich damit verhält oder, wenn das unmöglich ist, zumindest die beste der menschlichen Reden nehmen und die am schwersten widerlegbare, und auf ihr wie auf einem Floß fahrend es wagen, durch das Leben zu segeln, wenn jemand nicht sicherer und gefahrloser auf einem zuverlässigeren Fahrzeug, einer göttlichen Rede, durch das Leben zu reisen vermag." (Platon, Phaidon 85c-d)

Alina Noveanu, Julia Pfefferkorn, Antonino Spinelli (Hg.) Seefahrten des Denkens Seefahrten des Denkens Alina Noveanu, Julia Pfefferkorn, Antonino Spinelli (Hg.) Seefahrten des Denkens Dietmar Koch zum 60. Geburtstag Umschlagabbildung: Martin Maria Strohmayer („Die große Überfahrt“) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH & Co. KG Dischingerweg 5 D-72070 Tübingen Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Schlusslektorat: Marianne Ott Satz: Antonino Spinelli Printed in Germany ISBN 978-3-89308-452-4 · Inhaltsverzeichnis „Auf die Schiffe, ihr Philosophen! “ Vorwort zur Festschrift .................................................................................... 5 I. Meer und Reise Tatjana Arndt An Euterpe Drei Gedichte von Anna Achmatova .............................................................. 15 Simon Schüz Die Sehnsucht nach dem Meer Stilles Gespräch mit Saint-Exupéry................................................................. 19 Antonino Spinelli Die Zeit des Meeres und die Zeit des Dichters Betrachtungen zu Eugenio Montales Gedichtzyklus Mediterraneo .................. 33 Jörg Magenau Der Riss im Schleier der Zeit Ernst Jüngers „Annäherungen“ als Weltreisen ins Innere ............................... 45 Joana Günther Die Kunst der träumenden Bewegung am Berg bei Nietzsche ......................... 53 Sebastián Ochoa Aufnahmen .................................................................................................... 67 II. Gnôthi seautón Damir Barbarić Die Einkörperung der Seele nach Platons Phaidros ......................................... 81 Julia Pfefferkorn Sokrates’ Lob der theía manía Zur Funktion mythischer Gottheiten im Phaidros .......................................... 95 Igor Mikecin Die Dunkelheit der Sprache Heraklits .......................................................... 105 Inhaltsverzeichnis 2 Alina Noveanu Das Genießen der Aphrodite Zu den Gestalten des Eros und der Aphrodite in Platons Symposion ............ 113 Joachim Schneider Werden - Entstehen und Vergehen - in der Philosophie der Vorsokratiker Die Erfindung der Endlichkeit ..................................................................... 123 David Schäfer Gewissensbisse ............................................................................................. 135 III. „Zu den Sachen selbst! “ Arnulf Heidegger Zur Entstehungsgeschichte der Gesamtausgabe von Martin Heidegger ........ 147 Giuliana Gregorio Die Philosophie und die Unendlichkeit des Dialogs...................................... 155 Francesco Cattaneo „Die Begriffe jeden Tag neu denken“ Die wesentliche Anfänglichkeit des Denkens im anderen Anfang ................. 163 Ferdinando G. Menga Repräsentation und Entzug Phänomenologische Wege zwischen Fragen und Antworten......................... 179 Roberto Rubio Bildcharakter und geschichtsgründende Macht der Kunst bei Heidegger...... 195 Rosa Maria Marafioti Der Mensch und der Denker Heideggers Verirrung und seine Kritik am Nationalsozialismus ausgehend von den Schwarzen Heften ........................................................................... 203 Ralf Elm Technomorphismus und Seinssorge Aristoteles’ Differenzierung von poíesis, prâxis, theoría und Heideggers frühes Seinsverstehen ................................................................................... 219 Christos Voudouris Die Sprache als Mittel zum ‚Rufen der Intention der Welt‘ Ein denkendes Gespräch mit Heideggers Vortrag Die Sprache ..................... 235 Inhaltsverzeichnis 3 Julia Schmidt-Peterson Spiegelungen - das Gestell und das Geviert.................................................. 251 Rainer Thurnher Das Katheder des Galilei Eine Erzählung in phänomenologischer Absicht ........................................... 255 Martin Maria Strohmayer Sturm in Stille .............................................................................................. 265 IV. Stimmungen Gerhard Wölfle Versuch über Langeweile ............................................................................. 277 Manuel Schölles Der Trotz bei Franz Rosenzweig .................................................................. 293 Cathrin Nielsen Rapport Versuch über das Gedächtnis ....................................................................... 303 Ryosuke Ohashi Das Solo-Kabarett „Alle drei Seiten erleiden den Verlust eines Ryô“ Zur Japanischen Ethik zwischen Tradition und Moderne............................. 309 Niels Weidtmann Was heißt Philosophieren? oder: Über Freundschaft .............................................................................. 319 Daniele Giulianelli Ein Streben nach Leere ................................................................................ 327 Ana Munte Der letzte Zweifler....................................................................................... 329 Friedhelm Schneider Kants Aufsatz Beantwortung der Frage „Was ist Aufklärung? “ Bemerkungen am Rande oder Mutproben.................................................... 333 Siglen........................................................................................................... 339 „Auf die Schiffe, ihr Philosophen! “ Vorwort zur Festschrift Die Philosophie und das Meer Friedrich Nietzsches Appell an die Philosophen, der sich in der Fröhlichen Wissenschaft (FW, KSA 3, S. 529 f.) findet, spielt in seiner pointierten Kürze auf eines der reichsten Metaphernfelder der Philosophie an. Wohl kaum ein Philosoph in Antike, Mittelalter, Neuzeit und Moderne hat nicht an irgendeiner Stelle seines Werkes auf Meer und Seefahrt Bezug genommen, um seinem Gedanken Ausdruck zu verleihen. Es stellt sich also die Frage: Aus welchem Grund erlangt diese Metaphorik in der Philosophiegeschichte eine solche Bedeutung? Einige einleitende Worte sollen dem Versuch gewidmet sein, dieser Frage nachzugehen. Unschwer lässt sich feststellen, dass wir die thematische Breite und die philosophische Tiefe dieses Bildbereiches Platon verdanken. Die auf Alkaios (46a D, 326 LP) zurückgehende und von Theognis (667-682) sowie Aischylos (Sieben gegen Theben, 62-64) wiederaufgenommene Analogie des Staats-Schiffes und der damit verknüpfte Vergleich zwischen Herrscher und Steuermann finden bei Platon bereits im Frühwerk Anwendung (Euthd. 291d). In der Politeia ist es die Bildlichkeit des Steuermanns, die Sokrates’ Gesprächspartnern vor Augen führen kann, was für sie mit Blick auf den Staat nicht offensichtlich ist: dass die Staatsführung eine Kunst ist, die nicht jeder beherrscht; dass der Staatslenker zugunsten des Ganzen und nicht zum eigenen Vorteil befiehlt; dass ein Staat immer in der Gefahr schwebt, durch Missregierung im wahrsten Sinne des Wortes „unterzugehen“ (R. 341c-d, 342e, 488a-489c). Die bildstarke Metaphorik des Staates als Schiff auf hoher See versetzt die Gespräche über Staatsführung in eine extremere und für die Vorstellung fassbarere, in eine mit einer bestimmten Gefühlslage verbundene Dimension, die die Bedeutung der Frage nach der guten Staatsführung mit großer Prägnanz verdeutlicht. Den Übergang zu einem weiteren Anwendungsbereich des Metaphernfelds leistet die vor allem in der Politeia prominente weiterführende Betrachtung des guten Steuermanns, der hier mit dem Philosophen identifiziert wird. Von dieser Identifikation ist es nicht mehr weit bis zur Übertragung der Metaphorik auf die Seele im Phaidros, wo der νοῦς zum „Steuermann der Seele“ ( ψυχῆς κυβερνήτης , Phdr. 247c) erklärt wird. Die Assoziation zwischen dem göttlichen νοῦς und dem Steuermann entfaltet ihre größte philosophische Fruchtbarkeit im Mythos der zwei Weltalter des Politikos, in dem der Gott, kurz bevor die Ordnung der Welt gänzlich aufgelöst ist und sie „im unbegrenzten Meer der Ungleichheit [ εἰς τὸν τῆς ἀνομοιότητος ἄπειρον ὄντα πόντον ]“ versinkt, das Steuer wieder aufnimmt (Plt. 273d). Das komplementäre Metaphernpaar „Meer“ Vorwort zur Festschrift 6 und „Steuermann“ hat hier gegenüber der politischen Dimension eine weit tiefergehende philosophische Ebene erreicht. In der Betitelung des Meeres als „unbegrenztes“ schwingt eine Anspielung auf die in der Spätphilosophie zentralen Prinzipien πέρας und ἄπειρον mit. Doch es gibt noch einen dritten Anwendungsbereich der Meer-Metaphorik, der wiederum mit der Engführung von νοῦς und Steuermann verwandt ist: Was sich im Protagoras (Prt. 338a) als eine Analogie zwischen Rede und Seefahrt andeutet, entwickelt sich zum größten metaphorischen Netz in Platons Philosophie. In zahllosen Kontexten wird die jeweils durchgeführte Untersuchung, ja das Philosophieren selbst mit einer Seefahrt oder gar mit dem Schwimmen im offenen Meer enggeführt. Es sei erinnert an die drei „Wellen“ ( κύματα ), denen die Argumentation der Politeia begegnen und widerstehen muss (R. 457b, 472a, 473c), sowie an die Gefahr, in der Untersuchung „ins größte Meer [ εἰς τὸ μέγιστον πέλαγος ]“ zu fallen und nur „durch einen Delfin [ δελφῖνά τινα ]“ gerettet zu werden (R. 453d). Die philosophische Untersuchung ist eine Herausforderung, ein risikoreiches Unternehmen, das persönlichen Einsatz und Mut erfordert und das auch scheitern kann. Zeichen dessen ist das mehrfache Ausweichen auf einen „ δεύτερος πλοῦς “ (Phd. 99d, Plt. 300c, Phlb. 19c), auf eine zweite, alternative Fahrweise, weil sich die erste als nicht gangbar erweist. Mehr noch als die Analogie des Staats-Schiffes und die Verbindung der Bildlichkeit des Meeres und der Seefahrt mit den Inhalten des spezifischen philosophischen Entwurfs scheint dieser dritte Anwendungsbereich der Meer- Metaphorik bei Platon, nämlich ihr reflexiver Bezug auf die philosophische Betätigung selbst, auf spätere Autoren großen Einfluss ausgeübt zu haben. Auch Hegel etwa ließ sich durch die metaphorische Verknüpfung von Philosophie und Meer inspirieren, wenn er im Konzept zur Berliner Antrittsrede (1818) schrieb: Der Entschluß zu philosophieren wirft sich rein in[s] Denken […], - er wirft sich wie in einen uferlosen Ocean - - alle die bunten Farben, alle Stützpunkte verschwunden; alle sonstigen freundlichen Lichter [...] sind ausgelöscht, nur der Eine Stern, der innere Stern des Geistes leuchtet - er ist der Polarstern - aber es ist natürlich[,] daß den Geist in seinem Alleinsein mit sich gleichsam ein Grauen befällt; man weiß noch nicht, wo es hinauswolle[,] wohin man hinkomme. (GW 18, S. 30) Hegel beschreibt das Philosophieren als einen Sprung nicht nur einfach ins kalte Wasser, sondern ins Grenzenlose und Uferlose eines nächtlichen Ozeans. Dieser Ozean ist das Denken selbst, das keine Schranken und keine Orientierungsmarken kennt als sich selbst. Hegels dunkles Bild evoziert die Größe des Denkens, seine Einsamkeit mit sich, die unendliche Zahl der Denkwege und den Mut, dessen der Philosophierende bedarf. Nietzsche, zu dem wir abschließend noch einmal zurückkommen, zeichnet in seinem Gedicht „Nach neuen Meeren“ (FW, KSA 3, S. 649) ein sehr viel „Auf die Schiffe, ihr Philosophen! “ 7 helleres Bild des Philosophierens, und doch bleiben viele Elemente aus Hegels Metaphorik erhalten: Nach neuen Meeren. Dorthin - will ich; und ich traue Mir fortan und meinem Griff. Offen liegt das Meer, in’s Blaue Treibt mein Genueser Schiff. Alles glänzt mir neu und neuer, Mittag schläft auf Raum und Zeit -: Nur dein Auge - ungeheuer Blickt mich’s an, Unendlichkeit! Auch Nietzsches Genueser Schiff treibt ins „Blaue“, ins „Offene“ und Unbekannte, auch ihm graut vor der abgründlichen „ungeheuer“ wirkenden „Unendlichkeit“ des Meeres, obgleich wir uns hier ein taghelles Meer vorstellen müssen. In Nietzsches Darstellung gibt es ein Ziel, einen konkreten Willen, einen Wunsch nach Herausforderung: Der Mut des Philosophierenden erfährt hier eine positive Beschreibung. Das Bild des schlafenden Mittags außer Raum und Zeit zeugt von einem Moment der Inspiration. Wenn wir also die Anfangsfrage wieder aufnehmen, aus welchem Grund die Meer-Metaphorik in der Philosophie eine solche Bedeutung erreicht, was sie dazu prädestiniert, so wäre jetzt darauf zu antworten: Sie gibt der Philosophie und dem Philosophierenden die Möglichkeit, in wirkungsstarker und treffender Weise auf sich selbst und auf die Unverfügbarkeit der eigenen Voraussetzungen und Wege Bezug zu nehmen. Jedes philosophische Denkunternehmen gleicht einer gefahrvollen Seefahrt und einem Sprung ins offene Meer. Die vorliegende Festschrift versammelt dreißig solcher „Seefahrten des Denkens“. Die Idee zur Festschrift Die Idee zu dieser Festschrift nahm im Herbst 2014 während einer Tagung in Salerno Gestalt an, an der viele Mitglieder von Dietmar Kochs „Arbeitskreisen“ - dazu unten mehr - beteiligt waren. Entscheidend für den Übertritt der Schwelle von der Idee zur Realität war ohne Zweifel der hohe Grad an Zustimmung, den das Projekt sofort bei allen Freunden, Bekannten, Weggefährten Dietmars, jeden Alters und jeder beruflichen Ausrichtung, erfuhr. Das Herausgeber-Trio fand sich im Handumdrehen. Der Universitätsverlag Attempto, bei dem Dietmar Koch seit Anfang der Neunzigerjahre eine Vielzahl an Monographien und Aufsatzbänden herausgegeben hatte, erklärte sich spontan bereit, das Projekt aufzunehmen und uns bei der Finanzierung entgegenzukommen. Dass der Band sich durch private Spenden würde finanzieren können, stand bereits nach einer ersten Umfrage unter den Beitragenden außer Zweifel. Nachdem so die Grundlagen für die Veröffentlichung geschaffen waren, konn- Vorwort zur Festschrift 8 te zur inhaltlichen Planung übergegangen werden. Besonders in Erinnerung bleiben aus den folgenden Monaten, bis zur Fertigstellung des druckfertigen Manuskripts, die Maßnahmen zur strengen Geheimhaltung, denen ein Projekt dieser Art zwangsläufig unterworfen ist und die nicht selten zu brenzligen Situationen führten. Ein Sammelsurium von Seefahrten Die hier versammelten Beiträge folgen ausdrücklich keiner formalen und keiner inhaltlichen Vorgabe. Als einzige Empfehlung an die Beitragenden wurde formuliert, dass der eingereichte Text ein persönliches Geschenk an Dietmar Koch sein sollte. Ergebnis ist ein buntes Sammelsurium aus Beiträgen der verschiedensten Textsorten - Aufsätze, Geschichten, Gedichte, Übersetzungen, Essays - sowie auch einige Bildbeiträge in Form von Fotografien und Zeichnungen. Die Breite und Uneinheitlichkeit des Bandes spiegelt so den Reichtum an Ideen und Assoziationen, an Themenfeldern und persönlichen Gedanken, die die Freundschaft mit Dietmar Koch in jedem Beitragenden aufkommen lassen. Die Gliederung, die wir dem Band zu geben versucht haben, ist daher auch nicht als feste Unterteilung zu verstehen. Die Übergänge zwischen den vier Teilen, die jeweils durch einen Bildbeitrag erfolgen, sind fließend. Angeführt von dem etwas anders gearteten Musenanruf Tatjana Arndts - einer Übersetzung dreier Gedichte Anna Achmatovas - enthält der erste Teil, dem wir die Überschrift „Meer und Reise“ gegeben haben, die Beiträge, die sich am deutlichsten auf den Titel der Festschrift beziehen: eine essayistische Deutung von Antoine de Saint-Exupérys Die Stadt in der Wüste (Simon Schüz), eine Interpretation von Eugenio Montales Gedichtzyklus Mediterraneo (Antonino Spinelli), einen Essay über Ernst Jüngers Annäherungen (Jörg Magenau) sowie eine Untersuchung der Berg- und Wander-Metaphorik bei Friedrich Nietzsche (Joana Günther). Auch der erste Bildbeitrag (Sebastián Ochoa), der diesen Teil abschließt, widmet sich der Thematik des Weges und der Wanderung. Der zweite Teil, betitelt mit „Gnôthi seautón“, versammelt die Beiträge, die sich der antiken Philosophie widmen: Zwei Aufsätze zu Platons Phaidros - zum Seelenmythos (Damir Barbarić) und zum „göttlichen Wahnsinn“ (Julia Pfefferkorn) - sind gefolgt von einer Untersuchung von Heraklits Sprache (Igor Mikecin) und einer essayistischen Betrachtung der Gestalten des Eros und der Aphrodite in Platons Symposion (Alina Noveanu). Ein weiterer Aufsatz beschäftigt sich mit der Thematik des Werdens bei den Vorsokratikern (Joachim Schneider), bevor der Teil durch eine fotografische Reise zur Insel Samothrake - ein bedeutendes Reiseziel sowohl in der Antike als auch für Dietmar Koch - zu einem Abschluss kommt (David Schäfer). Die dritte und umfänglichste Gruppe von Beiträgen, überschrieben mit „Zu den Sachen selbst! “, die sich Autoren und Fragestellungen der Phänomenologie widmen, wird eingeleitet durch einen Bericht zur Entstehung der Gesamtaus- „Auf die Schiffe, ihr Philosophen! “ 9 gabe von Martin Heideggers Schriften (Arnulf Heidegger) und enthält weitere Aufsätze zum Thema des Dialogs bei Hans-Georg Gadamer (Giuliana Gregorio), zum Denken des „Anderen Anfangs“ bei Heidegger (Francesco Cattaneo) sowie eine Konfrontation zwischen Heidegger und Bernhard Waldenfels (Ferdinando G. Menga), eine Betrachtung der Bedeutung der Kunst bei Heidegger (Roberto Rubio) und eine Untersuchung seiner Schwarzen Hefte (Rosa Maria Marafioti). Weitere drei Beiträge widmen sich Heideggers Aristoteles- Interpretation (Ralf Elm), seinem Aufsatz Die Sprache (Christos Voudouris) sowie seinem Begriffspaar „Gestell“ und „Geviert“ (Julia Schmidt-Peterson). Der Teil schließt mit einer Geschichte „in phänomenologischer Absicht“ (Rainer Thurnher) und einigen Zeichnungen Martin Maria Strohmayers. Der vierte und abschließende Teil vereinigt unter dem Titel „Stimmungen“ einen Aufsatz zur Thematik der Langeweile (Gerhard Wölfle), eine Auseinandersetzung mit dem Thema des Trotzes bei Franz Rosenzweig (Manuel Schölles), einen Essay über den Besuch einer Ausstellung (Cathrin Nielsen), einen Aufsatz über japanische Ethik (Ryosuke Ohashi) und eine Betrachtung der Verbindung von Philosophie und Freundschaft (Niels Weidtmann). Ein Aufruf an den Lebensmut in Form eines Gedichts (Daniele Giulianelli), eine komischgruselige Geschichte (Ana Munte) sowie eine Reihe Aphorismen zu Kants Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (Friedhelm Schneider) schließen den Band ab. Der Beschenkte Dietmar Koch, selbst in den achtziger Jahren Studierender der Philosophie, Germanistik und Altphilologie in Tübingen, ist seit 1990 Seminarassistent und Dozent am dortigen Philosophischen Seminar. Er ist Autor zahlreicher Publikationen insbesondere im Bereich der Antike und Phänomenologie und des Weiteren Herausgeber einer großen Zahl philosophischer Publikationsreihen: etwa der Tübinger Phänomenologischen Bibliothek, der Denkwege und Phainomena, der Antike-Studien sowie der Zeitdiagnosen, um nur die wichtigsten zu nennen. Gemeinsam mit Kollegen aus der Philosophie oder aus benachbarten Fachbereichen organisiert er fast jährlich Tagungen in Tübingen, zu denen namhafte Fachvertreter und immer auch Nachwuchswissenschaftler eingeladen werden. Seit 2008 ist er Mitveranstalter der bekannten „Tübinger Platon-Tage“. Erwähnenswert ist schließlich auch sein jahrzehntelanges Engagement als wissenschaftliches Mitglied im Vorstand der „Martin-Heidegger-Gesellschaft“. Jeder Studierende der Philosophie kennt Dietmar Koch vom ersten Tag seines Studiums an: Manch ein verzwicktes bürokratisches Problem wäre ohne seine Erfahrung, seinen guten Willen und seinen Einfallsreichtum unlösbar. Viel wichtiger aber als dies ist, dass in vielen Fällen - etwa in der Studienberatung oder in den Seminarsitzungen zu Semesterbeginn - der erste Kontakt zu den Inhalten des Studienfachs durch Dietmar Koch erfolgt. Seine außergewöhnliche Art und Weise der Heranführung an und der Auseinandersetzung Vorwort zur Festschrift 10 mit philosophischen Texten hat insbesondere - aber bei weitem nicht nur - die jüngeren Beitragenden zu diesem Band nachdrücklich geprägt. Die Beschäftigung mit philosophischem Gedankengut offenbart sich in seinen Seminaren und Arbeitskreisen in jedem Moment als eine besondere Art der Begegnung mit dem Text, mit den Ideen der anderen, mit den eigenen Gedanken und Stimmungen. Sie bekundet sich als ein nie zu beendender lebendiger Austausch zwischen Leser und Text. Ein solcher Austausch sieht sich oft Momenten der Unverfügbarkeit ausgesetzt: zuallererst der Unverfügbarkeit der eigenen Stimmung im Lese- und Schreibprozess, aber auch der Unverfügbarkeit eines definiten Sinns hinter dem unerschöpflichen Reichtum eines klassischen Werks. Diese Momente gilt es als wesentlich für das Philosophieren und die eigene denkerische Entwicklung zu begreifen und mit ihnen geistig zu wachsen. Dietmar Kochs Bemühungen in der Heranführung junger Studierender an die Philosophie zielen so letztendlich immer auf eines: auf das Überspringen des Funkens philosophischer Begeisterung. Philosophie erschöpft sich nicht in Hausarbeiten, Noten und Credit Points. Bereits zu Beginn seiner Tübinger Zeit hat sich Dietmar Koch darum bemüht, einen Kreis Gleichgesinnter zu etablieren. Dieser Kreis fand in dem von ihm mitbegründeten Verein „Tübinger Gesellschaft für Phänomenologische Philosophie“ seine feste Form. Im Laufe der Jahre entstand nebst den halbjährlichen Treffen der Gesellschaft, die bis heute der Vorstellung der aktuellen Forschungsprojekte der Mitglieder gewidmet sind, eine Vielzahl von „Arbeitskreisen“, die insbesondere interessierte Studierende ansprechen sollten: Erwähnt seien hier vor allem der sogenannte „Bursen-“ oder „Samstagsarbeitskreis“ (der den aktiven Beiträgen von Nachwuchswissenschaftlern offensteht), der „Logos-Arbeitskreis“ (der sich seit einigen Jahren Platon widmet), der „Arbeitskreis für Europäische Philosophie, Griechische Mythologie und ihr Mysterienwesen“ sowie der „Arbeitskreis Philosophie und Psychoanalyse“. Von großer Bedeutung für alle Arbeitskreise ist ihre nachdrücklich internationale Ausrichtung, die sich sowohl in der Einbeziehung ausländischer Wissenschaftler und Studierender, als auch in der mit Eifer betriebenen Organisation von sommerlichen Arbeitskreistreffen und philosophischen Veranstaltungen etwa privat in Sizilien oder, mit Unterstützung des Deutschen Generalkonsulats Thessaloniki, auf Samothrake niederschlägt. Die stufenweise Einführung der Studienanfänger in das akademische Umfeld mit Hilfe der Arbeitskreise hat sich als eine einmalige und sehr konkrete Form der Förderung von Nachwuchswissenschaftlern erwiesen: Sie besteht nicht nur in der Möglichkeit, wertvolle Kontakte zu knüpfen, sondern vor allem in der Ermutigung, das Wort zu ergreifen, sowie in der Wertschätzung des individuellen Beitrags jedes Mitglieds. In den oft intensiven Diskussionen steht auch gegenüber den jüngsten Teilnehmern nie die Vermittlung von Lehrmaterial im Vordergrund, sondern immer die Schaffung eines Raums für ein gemeinsames Denken, für ein intergenerationelles Gespräch in Freundschaft. Wie vielfältig und vieldimensional dieser gemeinsame Raum ist, davon kann die vorliegende Festschrift einen Eindruck geben. Sie ist unser aller gemeinsamer Dank an Dietmar Koch, für die Initiierung und Belebung dieses einmaligen Raums der philosophischen Begegnung. „Auf die Schiffe, ihr Philosophen! “ 11 Danksagung Es obliegt uns Herausgebern nun noch, eine Reihe weiterer Danksagungen vorzutragen. An erster Stelle möchten wir herzlich allen Autoren danken, die zum vorliegenden Band beigetragen haben. Ihre spontane und unumwunden zum Ausdruck gebrachte Begeisterung für das Projekt, ihr unbegrenzter Ideenreichtum hinsichtlich Thematik und Gestalt des eingesandten Beitrags, weiter ihr beeindruckender Einsatz und ihr Bemühen um Pünktlichkeit, Genauigkeit und um eine erfolgreiche Zusammenarbeit sowie schließlich ihr Vertrauen in uns Herausgeber waren das unverzichtbare Fundament für das Gelingen des Vorhabens. Die Finanzierung des Bandes verdankt sich den privaten Spenden von (in alphabetischer Reihenfolge) Giuliana Gregorio, Rosa Maria Marafioti, Ana Munte, Sebastián Ochoa, Christos Voudouris, Gerhard Wölfle sowie weiteren großzügigen Spenden, ohne die der Band nicht hätte erscheinen können. Nicht unerwähnt bleiben soll die Unterstützung, die wir durch den Verlag erfahren haben. Namentlich sei Karin Burger, Isabel Johe, Vanessa Weihgold sowie den ehemaligen Lektoren Daniel Seger und Bernd Villhauer, die den Band ursprünglich wohlwollend angenommen haben, herzlich gedankt. Ein besonderer Dank gilt schließlich dem Tübinger Künstler Martin Maria Strohmayer für das Titelbild („Die große Überfahrt“) sowie Marianne Ott für das Schlusslektorat. Die Herausgeber I. Meer und Reise Tatjana Arndt An Euterpe Drei Gedichte von Anna Achmatova Tatjana Arndt 16 Муза Когда я ночью жду ее прихода, Жизнь, кажется, висит на волоске. Что почести, что юность, что свобода Пред милой гостьей с дудочкой в руке. И вот вошла. Откинув покрывало, Внимательно взглянула на меня. Ей говорю: «Ты ль Данту диктовала Страницы Ада? » Отвечает: «Я». 1924 Aus: Anna Achmatova, Lirika, Moskwa 2007, S. 341. Muse Nachts, wenn ich sie erwarte, Hängt das Leben, so kommt mir vor, an einem Haar. Was sind schon Ehre, Jugend oder Freiheit Gegen die liebe Gastfreundin mit Schilf in ihrer Hand. Und siehe hin. Sie kommt herein. Wirft die Bettdecke beiseite. Aufmerksam schaut sie mich an. Ich sage ihr: „Warst du es, die dem Dante Die Seiten von der Hölle diktiert hat? “ Sie antwortet: „Ich war’s.“ An Euterpe 17 Муза Как и жить мне с этой обузой, А еще называют Музой, Говорят: «Ты с ней на лугу...», Говорят: «Божественный лепет...» Жестче, чем лихорадка, оттрепет, И опять весь год ни гу-гу. 1956 Aus: Anna Achmatova, Die Muse, in Russische Lyrik. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, ru/ dt., hrsg. v. Kay Borowski u. Ludolf Müller, Stuttgart 1983, S. 376. Muse Wie soll ich mit dieser Last leben, Welche die Menschen auch ‚Muse‘ nennen. Sie sagen: „Du bist mit ihr auf der Wiese…“, Sie sagen: „Es ist göttliches Lallen…“. Härter als Fieberfrost schüttelt mich diese, Und tut mir das ganze Jahr keinen Gefallen. Tatjana Arndt 18 Музa ушла по дороге Осенней узкой, крутой, И были смуглые ноги Обрызганы крупной росой Я долго ее просила Зимы со мной подождать, Но сказала: «Ведь здесь могила, Как ты можешь ещё дышать? » Я голубку ей дать хотела, Ту, что всех голубятне белей, Но птица сама полетела За стройной гостьей моей. Я, глядя ей вслед, молчала, Я любила её одну, А в небе заря стояла, Как ворота в её страну. 1915 Aus: Anna Achmatova, Lirika, Moskwa 2007, S. 137. Die Muse ging einen Weg, Einen herbstlich engen, steilen, Und die dunkelhäutigen Beine waren Mit großen Tautropfen bedeckt. Ich bat sie lange darum, Mit mir auf den Winter zu warten, Aber sie sagte: „Das hier ist ein Grab, Wie kannst du noch atmen? “ Ich wollte ihr eine Taube geben, Die die weißeste aller im Taubenhaus ist, Doch der Vogel ist von selbst geflogen, Hinter meiner schlanken Gastfreundin her. Ich, ihr hinterher schauend, schwieg, Ich liebte nur sie allein, Und im Himmel stand Morgenrot, Wie das Tor zu ihrem Land. Simon Schüz Die Sehnsucht nach dem Meer Stilles Gespräch mit Saint-Exupéry Jede philosophische Besinnung ist ein Gespräch. Zum Eigentümlichen philosophischer Gespräche gehört, dass in ihnen über Verschiedenes geredet und doch ein Selbiges ausgesprochen werden kann. Das ermöglicht, dass sich solche Gespräche auch im Stillen entwickeln können. Es liegt an uns, diese stillen Gespräche auszutragen und das Verschiedene ihrer Reden in ein Selbiges zusammenzufügen. Diesem Anspruch an die philosophische Besinnung versuchen die Arbeiten Dietmar Kochs in besonderer Weise zu entsprechen. Ihre thematische Breite darf deshalb nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie alle Teile desselben Gesprächs sind, in das Platon ebenso eingeschlossen ist wie Heidegger und viele andere. Die Natur dieses philosophischen Gesprächs überhebt ferner der Einteilung in die ‚historische‘ und ‚systematische‘ Behandlungsweise von Themen. Es ist nur konsequent, dass Dietmar Koch seine Weise philosophischer Besinnung im Format von Gesprächskreisen pflegt und an andere weitergibt. Die Würdigung der Arbeiten Dietmar Kochs geschieht daher am besten in der Fortführung ihrer Art der Gesprächsführung, insofern diese von der Überzeugung getragen ist, dass Weg und Sache des Denkens zusammengehören. In diesem Beitrag möchte ich anhand von Passagen aus Antoine de Saint-Exupérys Die Stadt in der Wüste (franz. Citadelle) einen ersten Zugang zu einem solchen im Stillen geführten Gespräch bahnen. Dabei werden einige Resonanzen hörbar werden, die insbesondere zu den Entwürfen Heideggers und zu Nietzsches Also sprach Zarathustra bestehen, aber auch zu platonischen Motiven wie dem Verhältnis von Staat und Kosmos, éros und alétheia, Seiendem und Idee. Doch in erster Linie soll zunächst Saint-Exupéry selbst zu Wort kommen und nicht vorschnell gedeutet und festgesetzt werden. Gleichwohl bleibt, wie es sich für stille Gespräche gehört, die hier vorgenommene Auswahl der Passagen und Leitworte über das beredt, was in ihr verschwiegen wird. I Analogie, Widerstreit und Weltlichkeit In Saint-Exupérys Die Stadt in der Wüste hören wir in aphoristischer Form die Gedanken und Erinnerungen eines Königs des Berbervolkes, wie er sein Reich zu gestalten und zu regieren trachtet. Ein zentrales Motiv in den Reflexionen Simon Schüz 20 des Berberfürsten ist es, seinen „Sinn für das Reich“ 1 zu bewahren und gegen die verstellenden Meinungen seiner Untertanen und Berater festzuhalten: Wenn ihnen der Sinn für das Reich verlorengeht, werden sie nicht gewahr, daß sie verknöchern und ihre Substanz einbüßen und den Dingen ihren Wert rauben. Die Dinge bewahren ihre äußere Erscheinung, aber was ist eine Perle oder ein Diamant, wenn sie niemand begehrt? Sie haben den gleichen Wert wie geschliffenes Glas. [...] Sie sehen nicht ihre Verarmung, denn die Gegenstände, die sie gebrauchen, bleiben die gleichen. (S. 52 f.) Geht der ‚Sinn für das Reich‘ verloren, dann geschieht mit den Dingen etwas, was sich als ‚Seinsverlassenheit‘ bezeichnen ließe. In dieser Verlassenheit ist das Seiende noch in der Art einer äußeren Erscheinung, wie es heißt, aber es ist vielmehr zu einem ‚Unseienden‘ verarmt und verwahrlost. Dieser Vorgang deutet darauf hin, dass das Wesen und die Substanz der Dinge in etwas anderem liegen als in ihrer bloßen äußeren Erscheinung. Laut dem König ist dies der „göttliche Knoten“, der dem Reich und dem darin wachsenden Menschen zugrunde liegt: Deswegen soll man alles, was Größe hat, stets im Menschen wachhalten und ihn zu seiner eigenen Größe bekehren. Denn die entscheidende Nahrung empfängt er nicht von den Dingen, sondern von dem Knoten, der die Dinge verknüpft. Was ihn speist, ist nicht der Diamant, sondern eine bestimmte Beziehung zwischen Mensch und Diamant: nicht die Sandwüste, sondern eine bestimmte Beziehung zwischen der Sandwüste und den Stämmen, die sie bewohnen. (S. 54) Der durch den „Knoten“ gestiftete Zusammenhang ist ein Geflecht aus mannigfaltigen, aber geeinten Beziehungen unter Verschiedenem. In ihm fügen sich Mensch und Diamant, Sandwüste und Stämme in eine analogische Einheit. Das Bild des Knotens verdeutlicht ferner, dass diese Einheit nicht selbst etwas Seiendes über oder neben dem Seienden ist, welches sie verknüpft. Der Knoten ist nämlich nur eine Weise, wie gewisse Stränge miteinander verknüpft werden; er besteht aus nichts anderem als diesen Strängen. Und dennoch sind die Stränge nicht einfach identisch mit dem Knoten, zu dem sie verbunden werden. Aus dieser ‚ontologischen Differenz‘ ergibt sich, dass das Wesen des Reiches als Knoten unsichtbar wird für den analytischen, am Vorhandenen klebenden Blick der „Logiker“, gegen dessen Beschränktheit (und nicht dessen relative Gültigkeit) sich der König immer wieder ausspricht: So ist es mit denen, die mein Land zu entdecken glauben, indem sie es zerlegen. Es gibt darin, sagen sie, Hammel und Ziegen, Gerste und Häuser - und was denn sonst noch? Und sie dünken sich arm, da sie nicht mehr besitzen. Und es friert sie. [...] Während doch mein Land etwas ganz anderes ist als diese Hammel und Felder, diese Häuser und Berge; nämlich das, wodurch all das be- 1 Antoine de Saint-Exupéry: Die Stadt in der Wüste, übersetzt von Oswald von Nostitz, Frankfurt a. M. 1985, S. 52. Alle Seitenangaben im Haupttext beziehen sich auf diese Ausgabe. Die Sehnsucht nach dem Meer 21 herrscht und verknüpft wird: das Vaterland meiner Liebe! Und glücklich ist, wer darum weiß, denn er bewohnt mein Haus. (S. 21) Die hier beschriebene Verknüpfung des Seienden im Knoten, der als „Vaterland meiner Liebe“ angesprochen wird, darf jedoch nicht dazu führen, die ‚ontologische Differenz‘ zwischen dem Knoten und dem Seienden auf den Unterschied zwischen einer Relation und ihren Relata zu reduzieren. Dies wird zum einen dadurch klar, dass das einzelne Seiende erst im und durch den Knoten wahrhaft und wesentlich existiert, also nicht einfach von ihm abtrennbar ist. Dies erläuterte bereits das obige Beispiel vom Diamanten, der ohne Einbindung in den Knoten seine Kostbarkeit verliert und sich nicht mehr wesentlich vom „geschliffene[n] Glas“ abhebt. Zum anderen ist es der Knoten selbst, der in dem, was er verknüpft, aufgeht und nahezu verschwindet; denn als analogisches Gefüge ist der Knoten etwas, worin Einheit und Vielfalt gleichursprünglich sind. Dies erläutert der Berberkönig am Gleichnis der Zitadelle, deren Einheit aus einer Steigerung der Vielfalt erst hervorgeht: Deshalb entfalte ich die Einheit der Liebe in verschiedenartigen Säulen und Kuppeln und ergreifenden Bildwerken. Denn wenn ich die Einheit ausdrücken will, mache ich sie vielgestaltig bis in[s] Unendliche. Und du hast kein Recht, daran Anstoß zu nehmen. (S. 181) Wie aber sind die gleichursprünglichen Momente der Einheit und Vielfalt im Reich aufeinander bezogen? Dies erläutert der König am Gleichnis des Schiffsbaues, das zeigt, wie die analogische Einheit der Menschen und der Dinge durch einen übergreifenden Zweck gestiftet wird. Die Vielfalt durchdringt gleichsam ein einheitliches ‚Worumwillen‘. Darauf deutete bereits die obige Passage hin, in welcher der König fragt: „[W]as ist eine Perle oder ein Diamant, wenn sie niemand begehrt? “ (S. 53) Die Kategorie des ‚Begehrens‘, die Leben und Wollen umschließt, ist offenbar für das Reich und das vielfältige Seiende in ihm konstitutiv. Im Gleichnis des Schiffbaus scheint das Worumwillen zunächst in dem Ziel zu liegen, mit dem Schiff das Meer zu befahren: Ebenso darfst du es aber auch mir nicht zum Vorwurf machen, wenn mir die Unordnung in meinem Reich keine Sorge bereitet. Denn wenn dich die Betrachtung der Mannschaften verwirrt, die auf verschiedene Weise an ihren Tauen ziehen, mußt du nur ein wenig zurücktreten, um diese menschliche Gemeinschaft, diesen Knoten eines Stammes, der verschiedene Zweige treibt, diese Einheit, die ich vor allem erstrebe und die den Sinn meines Reiches ausmacht, gewahr zu werden. Und dann wirst du nur noch ein Schiff sehen, das auf dem Meere fährt. (S. 182) Darin zeigt sich der gesuchte ‚Sinn des Reiches‘ als das ‚Welthafte‘ der im Reich gegründeten Welt. Denn der Sinn des Reiches übersteigt nicht nur das einzelne Seiende, sondern auch die jeweiligen Beziehungen des Seienden untereinander, wie etwa die Zweck-Mittel-Beziehungen, die jegliches ‚Zeug‘ ausmachen, wie es in der Herstellung des Schiffes gebraucht wird. Demnach hat auch der Schiffsbau seinen Zweck nicht einfach in sich selbst. Streng genommen ist Simon Schüz 22 nicht die Seefahrt des Schiffes der Endzweck der verschiedenen Tätigkeiten des Schiffsbaus, sondern das die Seefahrt und den Schiffsbau erst fordernde Worumwillen der „Freude am Meer“: Denn ein Schiff erschaffen, heißt nicht die Segel hissen, die Nägel schmieden, die Sterne lesen, sondern die Freude am Meer wachrufen - die ein und dieselbe ist - und wo sie herrscht, gibt es keine Gegensätze mehr, sondern nur Gemeinsamkeit der Liebe. (S. 182) Der König unterscheidet somit die vielfältigen bestimmten Zwecke, die im Zuge des Schiffbaus verfolgt werden, sowie den davon abstrahierbaren, allgemeinen Zweck, das Meer mit einem Schiff zu befahren, von der „Freude am Meer“ als Worumwillen. Diese Unterscheidung ermöglicht es erstens, die Vielfalt der Zwecke zu vereinen, und zweitens, dem Zweck als solchem eine tiefere Dimension des Sinns abzugewinnen. Ein Zweck wie der Schiffsbau ist als solcher zunächst etwas Gesetztes, aber sein Sinn und der Grund, warum er überhaupt Zweck ist und dementsprechend ‚begehrt‘ wird, liegen in der „Liebe“, die sich in der „Freude am Meer“ ausdrückt. Zur Gleichursprünglichkeit von Einheit und Vielfalt gehört jedoch auch, dass die Einheit eine strittige, gegenstrebige und dynamische ist. Im Widerständigen sollen sich die Elemente der Einheit gegeneinander und gegen ein bloßes Einerlei profilieren und artikulieren. So spricht der König über die gegenstrebigen Interessen und scheinbar unvereinbaren „Wahrheiten“ der am Schiffsbau Beteiligten, der Brettschneider und Nagelschmiede: Ich werde aber auch nicht versöhnen. [...] Denn alles, was sie suchen, ist begehrenswert; all ihre Wahrheiten sind einleuchtend. Es ist meine Aufgabe, das Bild zu erschaffen, das sie in sich aufnehmen kann. Denn das gemeinsame Maß für die Wahrheit der Brettschneider und die Wahrheit der Nagelschmiede ist das Schiff. (S. 358) Die vielfältige Einheit, welche die Freude am Meer stiftet, fordert ebenso das Auseinandertreten einander widerständiger Elemente, wie es sie in einem gemeinsamen Streben vereint. Auch für sich genommen braucht jedes Element den Widerstand, um seine Gestalt und seinen Platz im Worumwillen der Freude am Meer zu erhalten, weil es nur so auf lebendige Weise am Schiffsbau teilhat: Ich liebe es, wenn der leitende Baumeister die Brettschneider plagt, um die Nägel zu schützen, und die Nagelschmiede plagt, um die Bretter zu schützen. Denn aus dieser Spannung der Kraftlinien wird das Schiff entstehen, und ich verspreche mir nichts von den Brettschneidern ohne Leidenschaft, die die Nägel verehren, und von den Nagelschmieden ohne Leidenschaft, die die Bretter verehren. (S. 460 f.) Für diese Notwendigkeit des strittigen Moments steht bisweilen das Motiv des Feindes, der mit dem König ebenso eng verbunden wie zerstritten ist: Die Sehnsucht nach dem Meer 23 Wenn ich am Werke mitwirke, begegne ich daher stets meinen Feinden mit offenen Armen, damit sie mich wachsen lassen, denn ich weiß, daß es eine Ebene gibt, auf der mir der Kampf als Liebe erschiene. (S. 182) Das Motiv des Feindes zeigt auch, dass die im Knoten der Liebe zum Reich gestiftete Einheit eine in sich abgeschlossene Ganzheit ausmacht. Zwischen den Reichen herrscht daher eine Art ‚Zerklüftung‘, der zufolge sie ganz ungleich sind, weil sie einem je eigenen Maß angehören, aber auch ganz gleich, weil das Wesen ihres Maßes, die Liebe, dasselbe ist. In diesem Sinn besingt der König seinen „vielgeliebten Feind“ (S. 476): Ich übe daher Gerechtigkeit entsprechend meiner Weisheit. Und er übt Gerechtigkeit entsprechend seiner Weisheit. Beide scheinen einander zu widerstreiten, und wenn sie sich die Stirn bieten, nähren sie unsere Kriege. Doch er und ich, wir folgen auf entgegengesetzten Wegen mit unseren tastenden Händen den Kraftlinien des gleichen Feuers. (S. 476) Das „Feuer“ bildet eine Einheit, die sogar die beiden Feinde vereint und somit auch die jeweilige Gestalt des Reiches und seines Worumwillens übersteigt. Hier ist für den König der Ort des Göttlichen: In Dir allein, Herr, finden sie [die entgegengesetzten Wege] sich zusammen. [...] Denn Du bist, o Herr, das gemeinsame Maß für den einen wie für den anderen. Du bist der Knoten, der alles vielfältige Tun bestimmt. (S. 476) Das Wesen des Reiches als göttlicher Knoten bildet somit den Ausgangspunkt und das Ziel für die Regierung des Königs. Im nächsten Abschnitt werde ich näher betrachten, welche Rolle dabei Bestimmtheit und Gestalthaftigkeit spielen, um einen jeweiligen Knoten zu bilden, der als Worumwillen der Menschen dienen kann. II Einzelheit, Gestalt und Sinn Damit das Königreich eine Struktur analogischer Einheit entfalten und dabei ein umgreifendes Worumwillens abgeben kann, muss das Reich gebildet werden. An das Motiv der Bildung knüpft sich eine Auffassung des Lebens, die im Symbol der Zeder konzentriert wird: Bewahrt eure Gestalt, seid beständig wie der Schiffssteven und verwandelt innerlich wie die Zeder, was ihr von draußen hereinholt! Ich bin der Rahmen und das Gerüst und der schöpferische Akt, der euch ins Leben ruft; wie der mächtige Baum, der seine eigenen - und keine fremden - Zweige entwickelt, der seine eigenen - und keine fremden - Nadeln und Blätter bildet, müßt ihr nun wachsen und Wurzeln schlagen... (S. 101) Das Reich sowie der Mensch, der im Reich aufgeht, haben wie die Zeder den Gesetzen des Lebens zu gehorchen. Zu ihnen gehört erstens eine Art existenzieller Überantwortung, denn die Zeder ist aufgefordert, ihre „eigenen - und keine fremden - Zweige“ zu bilden. Zweitens gebietet das Leben ein Wachs- Simon Schüz 24 tum durch schöpferische Transformation, so wie die Zeder das Gestein in ihre Zweige und Nadeln verwandeln muss, um zu wachsen. Beides, jemeinige Überantwortung und transformierendes Wachstum, steht unter dem Gebot der Bildung einer bestimmten, einzigartigen Gestalt. Wie der König am Bau des Palastes seines Vaters veranschaulicht, verstattet erst die Formgebung ein Worumwillen, das den „Rahmen“ und das „Gerüst“ für ein begehrendes Streben abgeben kann. In der Formgebung liegen für den König: Auswahl durch Ausschluss, Freiheit durch Zwang und Vollendung durch mühevolles Werden. Erst in diesen Formen des Zwangs und der Beschränkung kann Bestimmtheit erwachsen - und damit die Liebe zu etwas Einzigartigem und nicht mehr Austauschbarem: Ich habe mein Gesetz auferlegt, und es gleicht der Form der Mauern und der Anordnung meines Heims. Der Törichte kam zu mir und sagte: ‚Befreie uns von deinem Zwang, dann werden wir größer werden.‘ Ich wußte aber, daß sie dadurch zunächst kein Gesicht mehr erkennen und sodann - weil sie ein solches nicht mehr liebten - auch sich selber nicht mehr erkennen würden [...]. Denn sie schlugen mir vor, ich solle, damit man sich dort bequemer ergehen könne, die Mauern von meines Vaters Palast niederreißen, wo alle Schritte einen Sinn hatten. (S. 22) Ohne Bestimmtheit, ohne Gesetz, haben die Schritte im Palast des Königs keinen Sinn mehr. Erst durch den schöpferischen Akt, dem Raum des Heims eine bestimmte Form zu geben, hat dieser auch einen Sinn. Dazu gehört mitunter, dem Heim ein „Herzstück zu geben, damit etwas darin sei, dem man sich nähern und von dem man sich entfernen kann“ (ebd.). Die im „Herzstück“ des Hauses gestiftete Bestimmtheit in der Ordnung des Raums gibt somit den Schritten eine Richtung und ein Entfernungsmaß, das heißt einen Sinn. Ebenso verhält es sich mit der Form der Zeit, die ihr durch die Ordnung der Riten und Feste gegeben wird: Und die Riten sind in der Zeit, was das Heim im Raume ist. Denn es ist gut, wenn uns die verrinnende Zeit nicht als etwas erscheint, das uns verbraucht und zerstört wie die Handvoll Sand, sondern als etwas, das uns vollendet. Es ist gut, wenn die Zeit ein Bauwerk ist. So schreite ich von Fest zu Fest, [...] von Weinlese zu Weinlese, so wie ich als Kind vom Saal des Rates in den Saal der Ruhe ging, im festgefügten Palast meines Vaters, wo alle Schritte einen Sinn hatten. (S. 21) Der Zwang zur Bestimmtheit ermöglicht hiernach erst Gestaltwerdung. Die Wahl der Festtage mag von außen betrachtet arbiträr erscheinen, aber sie ermöglicht, dass es überhaupt ein bestimmtes Maß der Zeit gibt. Deshalb ist für den König ein „Taugenichts“, wer sagt: „Anderswo hat man andere Bräuche als die euren. Warum solltet ihr sie nicht verändern? “ (S. 23 f.) Wie in Abschnitt III noch näher betrachtet werden wird, kommt die Frage nach der Notwendigkeit einer jeweiligen Gestaltung immer schon zu spät, wenn sie an die Gestalt des Reiches gerichtet ist, das anderen Gestaltungen erst Maß und Raum gibt. Die Sehnsucht nach dem Meer 25 In der Bestimmtheit der Gestalt gründet ihre Einzelheit und Einzigartigkeit; diese wiederum ermöglicht sinntragende Phänomene wie Liebe und Schönheit. Demnach gibt es ohne das Moment des Zwangs und des Ausschließens auch die Schönheit nicht: „Denn diese Blume hier ist vor allem eine Absage an alle anderen Blumen. Und eben nur unter dieser Bedingung ist sie schön“ (S. 33). Die Befreiung vom Zwang ist umgekehrt das Ende von Streben und Werden, welche auf etwas Bestimmtes gerichtet sind und daraus ihr Ziel empfangen. Mit dem Zwang und dem Widerstand verlieren sich auch die Werthaftigkeit des Worumwillens und der durch es gestiftete Sinn: Was hätte dieser Menschenhaufen, der auf seiner Streu unter der Krippe lag, sich noch wünschen können? Wofür hätten sie sich schlagen können? Für das Brot? Sie empfingen genug. Für die Freiheit? Aber in den Grenzen ihrer Welt waren sie unendlich frei. Sie ertranken schier in dieser maßlosen Freiheit, die manchem Reichen die Eingeweide aushöhlt. [...] Und ich gedachte der Worte meines Vaters: ‚Wenn du willst, daß sie Brüder sein sollen, zwinge sie einen Turm zu bauen. Willst du aber, daß sie sich hassen, so wirf ihnen Korn vor...‘ (S. 51 f.) Nach den Worten des Königs sind demnach Bildung, Leben und Widerstand gegen Zwang unauflöslich miteinander verknüpft. Dieser Zusammenhang verdichtet sich wiederum im Bild der mühsam aufwachsenden Zeder: Glaubst du, die Zeder hätte dadurch Gewinn, daß sie den Wind vermiede? Der Wind peinigt sie, aber er formt sie zugleich. [...] Du suchst dem Leben einen Sinn zu geben, da doch sein Sinn vor allem darin besteht, daß du dich selber findest, nicht aber, daß du den elenden Frieden gewinnst, der mit dem Vergessen des Streites verbunden ist. Wenn dir etwas widerstrebt und dich peinigt, so laß es wachsen; es bedeutet, daß du Wurzeln schlägst und dich wandelst. Dein Leid bringt Segen, wenn es dir zur Geburt deiner selbst verhilft. (S. 134) Die Elemente des Zwangs und des Streits kennzeichnen somit den Prozess eines Herausbildens der eigenen Gestalt. Der Mensch wird unter dem Zwang des Reiches somit zu dem, der er eigentlich schon ist. Der Wert des Knotens, der die Dinge zusammenhält, bestimmt sich demnach aus der Liebe und der Hingabe, die für ihn aufgebracht werden: „Gewiß, je härter die Mühen sind, mit denen du dich um der Liebe willen aufreibst, um so mehr feuern sie dich an. Je mehr du gibst, um so mehr wächst du.“ (S. 70) Ein zentraler Ausdruck für diese wertstiftende Hingabe ist der „Austausch“: Und im Laufe meiner langen Wanderungen habe ich klar erkannt, daß der Wert der Kultur meines Reiches nicht auf der Güte der Nahrung beruht, sondern auf der Höhe der gestellten Forderungen und der Inbrunst der Arbeit. Sie ist nicht aus dem Besitz, sondern aus dem Geschenk entstanden. [...] Und ich kenne jene verkümmerten Rassen, die keine Gedichte mehr schreiben, sondern nur lesen: die ihren Boden nicht mehr bebauen, sondern sich vor allem auf ihre Sklaven verlassen. [...] Ich liebe nicht die Seßhaften des Herzens. Alle, die nichts austauschen, werden zu nichts. (S. 33) Simon Schüz 26 Das Geschenk des Austausches dient keinem Handel und doch empfängt der sich Verschenkende darin erst sich selbst. Im Austausch bildet sich der Mensch zu einer bestimmten Gestalt und kann wachsen und etwas werden, weil er über sich hinausgeht. Diese Transzendenzbewegung im sich austauschenden Menschen, die abermals an das himmelwärts gerichtete Wachstum der Zeder erinnert, hat zwei Pole: zum einen das Göttliche des Reiches, das ihn übersteigt und überdauert, und zum anderen ein jeweiliges Kunstwerk, an das er sich mit Können und Mühe verschenkt. In der Schilderung des Königs gehört beides im Austausch zusammen, das Jenseits des Reiches und seines Tempels sowie das Diesseits eines Kunstwerkes: Und ich erkannte, worauf es ankommt: Vor allem gilt es das Schiff zu bauen und die Karawane zu rüsten und den Tempel zu errichten, der den Menschen überdauert. Und fortan siehst du sie sich in Freuden gegen etwas austauschen, was kostbarer ist als sie selbst. Und es entstehen die Maler, die Bildhauer, die Kupferstecher und Goldschmiede. Aber erwarte dir nichts vom Menschen, wenn er für sein eigenes Leben und nicht für die Ewigkeit arbeitet. (S. 32) Das Sich-Verschenken der Maler, Bildhauer und anderen Kunsthandwerker ergeht in seinem Worumwillen an den Sinn des Reiches, aber im Vollzug an ihr jeweiliges Werk. Im Werk verdichtet sich der Zusammenhang von Gestaltwerdung und Sinnhaftigkeit, weil das Werk auf eine Vollendung zustrebt. Das (Kunst-)Werk wird somit zum Versammlungsort des göttlichen Knotens wie auch der Bezüge, die der Einzelne zu ihm hat. Insofern bleibt das Werk in seiner Wahrheit für den Künstler zumeist unsichtbar. Er sieht nicht, dass er in seinem Werk aufgeht und sich an es verschenkt, weil es ihn mit dem ‚göttlichen Knoten‘ des Reiches verbindet: ‚Was ist es, Flickschuster, was dich so fröhlich macht? ‘ Aber ich hörte nicht auf seine Antwort, denn ich wußte genau, daß er sich täuschte, und daß er mir von dem Gelde, das er verdient hatte, oder von der Mahlzeit, auf die er wartete, oder von seinem Feierabend erzählen würde. Er wußte ja nicht, daß sein Glück darin bestand, sich in goldene Pantoffeln zu verwandeln. (S. 35 f.) III Schöpfung, Entfaltung, Freiheit Die Momente der Bildung, Bestimmtheit und des Zwangs entsprechen der Struktur des „göttlichen Knotens“ als einer aus Vielfalt gebildeten, konkreten Einheit von strittigen Gegensätzen (siehe I.). Was in der Bildung des Reiches durch die Form noch hinzukommt, ist die Freiheit und scheinbare Willkür in der Schöpfung der Form. Das Entscheidende ist hierbei das Moment der Bestimmtheit, dass eine Form die Bildung und Vervollkommnung des Lebens ermöglicht (siehe II.); darüber hinaus ist die Form nicht zu rechtfertigen: „Die Wahrheit meiner Gebote ist der Mensch, der daraus entstehen soll. Und die Bedeutung der Bräuche und der Gesetze und der Sprache meines Reiches suche ich nicht in ihnen selber.“ (S. 25) Die Einzigartigkeit einer bestimmten Form Die Sehnsucht nach dem Meer 27 verwehrt es, sie wiederum unter allgemeine Gesetze zu stellen und von dort her abzuleiten; vielmehr ist die Form etwas Göttliches wie die Form eines Gedichts: Ich komme und knete diesen Teig, der nur erst Rohstoff ist, nach dem schöpferischen Bilde, das mir allein durch Gott und außerhalb der Wege der Logik zuteil wurde. Ich baue meine Kultur, begeistert von der Einzigartigkeit, die ihr innewohnen wird, so wie andere ihre Gedichte bauen und hier einen Satz umstellen, dort ein Wort abändern, ohne daß sie genötigt wären, die Umstellung oder Abänderung zu rechtfertigen, auch sie begeistert von der Einzigartigkeit, die dem Gedicht innewohnen wird und die sie mit der Kraft des Herzens erkennen. (S. 26) Die schöpferische Freiheit des Königs mag zunächst als Willkür erscheinen. Genauer betrachtet hat der König sich jedoch dem „schöpferischen Bilde“ zu unterwerfen, das ihm „allein durch Gott“ zugesprochen wurde. Dieses Bild fungiert als eine Art Richtmaß, innerhalb dessen eine freie Entfaltung stattfindet. Die Notwendigkeit einer das Bild ausführenden Entfaltungsbewegung lässt sich zum einen aus dem Entwicklungs- und Werdenscharakter des Lebens nachvollziehen, zum anderen aus der Verfasstheit des Reiches als ‚göttlicher Knoten‘, in dem Einheit und Vielheit gleichursprünglich sind. Obwohl die schöpferische Entfaltung des Reiches ihr inneres Maß, d. h. ihr Worumwillen an jenem Bild hat, so kommt ihr doch eine eigene Dimension von Freiheit zu: Ich brauche das Schiff nicht in seinen Einzelheiten vorauszusehen, wenn ich es erschaffe. Denn ich kann nichts erfassen, was der Mühe wert wäre, wenn ich ganz allein die Pläne für das Schiff in seiner Vielfalt entwerfe. Alles wird sich verändern, wenn es ans Licht tritt, und ich überlasse es den anderen, sich mit diesen Erfindungen zu beschäftigen. Ich brauche nicht jeden Nagel des Schiffes zu kennen. Ich muß aber den Menschen den Drang zum Meer vermitteln. (S. 182 f.) Wie jedoch das Bild des Knotens augenfällig macht, sind der „Drang zum Meer“ und seine vielfältige Ausgestaltung in der Wachstumsbewegung des Reiches zwar unterscheidbar, aber nicht voneinander zu trennen. Als analogische Einheit lässt sich weder der Drang als Bedingung der Entfaltung noch die Entfaltung als Endzweck des Dranges isolieren. Insofern sie beide eine Gestalt ausmachen, gibt es zwischen ihnen kein logisch analysierbares Verhältnis. Vielmehr gibt es nur die Ganzheit der Gestalt, die einfach ist, wie sie ist: So sprechen die Professoren, die von Schlußfolgerung zu Schlußfolgerung schreiten. Aber das Leben ist. Genau wie der Baum. Und der Stiel ist nicht etwa das Mittel, das der Keim gefunden hat, um Zweig zu werden. Stiel, Keim und Zweig sind nur ein und dieselbe Entfaltung. (S. 69) Das dem ‚Bild‘ und seiner Entfaltung gemeinsame Freiheitsmoment lässt sich als eine ‚Abgründigkeit‘ verstehen, welche die Gründung des Reiches kennzeichnen muss, d. h. eine Unableitbarkeit aus und Unvergleichlichkeit mit an- Simon Schüz 28 derem. Diese Abgründigkeit ist somit zum einen die Kehrseite der Einmaligkeit und „Einzigartigkeit“ (S. 26) des Reiches, die es wesentlich unvergleichlich und damit auf nichts Gleichartiges zurückführbar sein lassen. Zum anderen ergibt sich die Abgründigkeit des Reiches daraus, dass es eine oberste Maß- und Wertsetzung darstellt, die keinem höheren Maßstab oder Prinzip unterstehen kann. Deshalb führt von einer alten Welt zur Welt eines neuen Reiches nur ein ‚Sprung‘, da keine von einem neutralen Standpunkt und Maßstab aus betrachtet werden kann: Wenn ich dir eine Welt entdecke, dich aber an Ort und Stelle lasse, um sie dir zu zeigen, so siehst du sie nicht. Und du bist im Recht. Denn von deinem Standpunkt aus ist sie falsch. Und mit Recht verteidigst du deine Wahrheit. So übe ich keine Wirkung aus, wenn ich mit originellen [...] Behauptungen komme, denn das allein ist originell [...], was von einem gewissen Standpunkt aus gesehen wird, während es seiner Natur nach eine Betrachtung von einem anderen Standpunkt aus verdiente. (S. 177) Dieser Fundamentalcharakter der „Wahrheit“, die dem Reich und seinen Gesetzen zugrunde liegt, lässt sich aus der Annahme erhellen, dass Kategorien wie ‚Sinn‘ und ‚Wert‘ nur am Maßstab des Lebens anwendbar sind, das Sinn- und Werthaftes kennt und erstrebt. Das jeweilige Reich ist jedoch eine Gestaltungsform des Lebens, die auf keine höhere Form zurückführbar ist. Aus dem Fundamentalcharakter der „Wahrheit“ des Reiches für das Leben ergibt sich ferner ihre wesentliche ‚Unscheinbarkeit‘: Das große Bild gibt sich nicht als Bild zu erkennen: Es ist. Oder genauer: du befindest dich darin. Und wie vermöchtest du dagegen anzukämpfen? Wenn ich dich in einem Hause unterbringe, bewohnst du ganz einfach das Haus, und so ist es der Ausgangspunkt, von dem aus du die Dinge beurteilst. (S. 176) Die Sorge des Königs für den Sinn seines Reiches lässt sich nicht zuletzt daraus ersehen, dass der Sinn des Reiches etwas Unscheinbares ist, dessen außer ihm niemand achtet, weil alle es zum selbstverständlichen Ausgangspunkt ihrer Weltsicht und Wertungen nehmen. Doch ist der Sprung in den Abgrund der Gründung des Reiches einmal vollzogen, ergibt sich von selbst ein inneres Maß und eine Notwendigkeit des Reiches. Daher ist das, was aus der Sicht des Sprunges noch als schöpferischer Akt erscheint, zugleich in der Entelechie der Entfaltung etwas ganz Notwendiges und Natürliches: Aber wenn ich dich auf meinem Gange, der weder wahr noch falsch ist - es gibt keine Schritte, die du leugnen könntest, da sie ja da sind - dorthin führe, wo die Wahrheit neu ist, so wirst du mich nicht mehr als deren Schöpfer wahrnehmen und meine Behauptungen werden dir dann nicht mehr originell [...] vorkommen, denn es waren einfache Schritte und sie folgten ganz natürlich aufeinander. (S. 177) Aus der entelechialen Zusammengehörigkeit von Bild, Gründung und Entfaltung erhellt, dass der Akt der Schöpfung trotz seiner Abgründigkeit nicht will- Die Sehnsucht nach dem Meer 29 kürlich oder arbiträr genannt werden kann, wenn er ein Reich zu stiften vermag. Die nachträgliche Sinnhaftigkeit und Entelechie des im Reich entfalteten Werkes kann sogar über die Abgründigkeit seiner Schöpfung hinwegtäuschen; so sagt der König gegen die Logiker: Denn die Schöpfung ist von anderer Wesensart als das erschaffene Objekt, das von ihr beherrscht ist, und läßt in den Zeichen keine Spuren zurück. Der Schöpfer entzieht sich stets seiner Schöpfung. Und die Spur, die er zurückläßt, ist reine Logik. [...] So kommt nicht zu mir, ihr Sklaven, die ihr mit Hämmern und Nägeln bewehrt seid, um mir vorzutäuschen, ihr hättet das Schiff erdacht und vom Stapel gelassen. (S. 189) Die entfaltete Gestalt des Schiffes scheint ‚logisch‘ erfassbar und konstruierbar durch die Hämmer und Nägel, aus denen die Logiker das Schiff zu verstehen suchen. Doch der tiefere Grund der Gestalt liegt im Worumwillen der Sehnsucht nach dem Meer. Aus diesem Worumwillen entstehen die gleichsam axiomatischen Setzungen, denen die Schlussfolgerungen und Notwendigkeiten der Logiker nur nachfolgen können. Der König geht sogar so weit, das Primat des Schöpferischen auf die Axiome der Geometrie auszuweiten: „[I]hr geht Schritt für Schritt den Sätzen der Geometrie nach und werdet nicht gewahr, daß zuvor einer des Weges kam, der sie aufstellte.“ (S. 189) Im Kern handelt es sich dabei jedoch nur um zwei inkommensurable Ansichten derselben Sache, die das eine Mal von der Schöpfung aus, das andere Mal von ihrer Entfaltung aus betrachtet wird. Genauer gesagt, wird die Entfaltung ontisch angesehen und nicht ‚ontologisch‘ hinsichtlich ihres Worumwillens. Der König bringt diese zwei Ansichten in einer Passage auf die Begriffe „Geist“ und „Verstand“: Fürwahr, ich habe es wohl verstanden, Herr, daß der Geist den Verstand beherrscht. Denn der Verstand überprüft die Baustoffe, doch allein der Geist sieht das Schiff. Und sobald ich das Schiff gebaut habe, werden sie mir ihren Verstand leihen, um das von mir erschaffene Gesicht zu kleiden, zu schützen, zu härten und zu erklären. (S. 358 f.) Die Ansichten des Geistes und des Verstandes bilden eine gewisse Hierarchie, insofern der auf das Vorhandene gerichtete Verstand nicht den Geist erfassen kann, umgekehrt aber der Geist die Sichtweise des Verstandes einschließt und bedingt. Im Narrativ der Stadt in der Wüste sind deshalb die Logiker und kommentierenden Mathematiker die Untertanen des Königs; aus demselben Grund ist der König aber bereit, einem echten, schöpferischen Mathematiker den Thron zu räumen (vgl. S. 189). IV Zeremoniell, Gottheit und Brauch Die unter III. erkundeten Zusammenhänge von Freiheit und Notwendigkeit, Bild und Entfaltung verdichten sich im Begriff des Zeremoniells, das einerseits ein konventioneller Ritus ist, andererseits die höchste Stufe der Formgebung im Leben des Reiches darstellt. Im Zeremoniell verbinden sich ferner die Ge- Simon Schüz 30 stalthaftigkeit und Bestimmtheit des Reiches und seiner Ordnung (II.) mit dessen Charakter als göttlichem Knoten (I.): Denn es gibt keine Abwesenheit, die dich vom Hause und von der Liebe entfernt, wenn du die Schritte tust, die das Zeremoniell der Liebe oder des Hauses vorschreiben. Deine Abwesenheit trennt dich nicht, sondern verbindet dich, sie läßt dich nicht ausscheiden, sondern vereinigt dich. Und kannst du mir sagen, wo die Grenze liegt, hinter der die Abwesenheit einen Schnitt bedeutet? Wenn das Zeremoniell gut geknüpft ist, wenn du den Gott gut anschaust, in dem ihr euch vereinigt, wenn dieser Gott glühend genug ist - wer wird euch dann vom Hause oder vom Freunde trennen? (S. 472) Die obige Passage verdeutlicht ferner, dass das Zeremoniell mit Leben und Liebe gefüllt werden muss, d. h. einem „glühend[en]“ Gott dienen muss. Dann wird das Zeremoniell zu einem Band, das Abwesenheit und Entfernung mit Anwesenheit und Nähe verknüpft. Umgekehrt ist das Zeremoniell der Weg des Berberkönigs, nach seinem Gott zu suchen: „Ich forsche, im Finsteren tappend, nach Deinen göttlichen Kraftlinien. Und da es mir an Beweisen fehlt, die nicht meiner Stufe angemessen sind, sage ich, daß ich mit der Wahl der Riten des Zeremoniells im Rechte bin, wenn sich herausstellt, daß ich mich dadurch befreie, und daß ich darin atme.“ (S. 461) Die Wahl des Zeremoniells, die gleichbedeutend mit der Gründung des Reiches zu sein scheint, wurde als schöpferischer, nicht selbst nach einem weiteren Maßstab beurteilbarer Akt beschrieben (III.). Gleichwohl deutet der Bezug zum Göttlichen darauf hin, dass es auch nach dem inneren Maß des Zeremoniells ein Gelingen und ein Verfehlen gibt. Das Gelingen zeigt sich dem König, wenn die Hingabe an den Zwang des Zeremoniells zu einer Befreiung wird: „[D]ein Gott ist kein fertiges Geschenk, kein Vorrat, der irgendwo für dich aufbewahrt wird, sondern Fest und Krönung des Zeremoniells deiner Nöte“ (S. 415). Im Brauchtum des Zeremoniells versammeln sich somit verschiedene Weisen des ‚Brauchens‘. Das Gelingen des Zeremoniells, d. h. die Steigerung und Befreiung des Lebens zu sich selbst, braucht den Bezug zum Göttlichen als dem richtungsweisenden Transzendenten. Insofern der Gott zugleich mit dem „Knoten, der alles vielfältige Tun bestimmt“ (S. 476), identifiziert wird, braucht das Göttliche auch das Zeremoniell. Wie wir etwa an dem Flickschuster sahen, der sich unwissentlich in seine Pantoffel zu verwandeln sucht, braucht ebenso der Mensch das Zeremoniell, um sich an das Reich zu verschenken und in ihm einen bestimmt gebildeten Sinn zu finden. Umgekehrt braucht das Reich die Hingabe des Menschen und dessen Widerstand gegen seinen Zwang, damit die Ordnung des Zeremoniells mit Leben gefüllt wird. Das Brauchen im Zeremoniell lässt sich somit näher bestimmen als ein unbedingter, entfaltende Formwerdung fordernder Anspruch, der im ‚Sinn für das Reich‘ immer schon an den Menschen ergangen ist: Ein vollkommenes Gedicht, das sich in Handlungen äußert und dich mit allem, was du bist, bis auf die Muskeln vollständig in Anspruch nimmt. So ist mein Zeremoniell. (S. 402) Die Sehnsucht nach dem Meer 31 Indem das Zeremoniell als „vollkommenes Gedicht“ angesprochen wird, hören wir Saint-Exupérys Dichtung auch über sich selbst sprechen. Im Gang unseres stillen Gesprächs werden wir somit auch über dieses selbst belehrt. Philosophische Besinnung vollzieht sich demnach ebenfalls als ein Zeremoniell, das einem höheren Anspruch durch eine Entfaltungsbewegung zu entsprechen versucht. Woher rührt dieser Anspruch, der die am Gespräch Teilnehmenden zusammenführt? Er kommt von Ferne und ist jedem Gesprächsteilnehmer zugleich ganz nah - so wie die ‚Sehnsucht nach dem Meer‘, welche die Menschen im Reich des Berberkönigs zum Schiffsbau versammelt und in einem ‚göttlichen Knoten‘ verbindet. Die Bildersprache der Stadt in der Wüste gibt uns dabei den Wink, dass das Bauen des Schiffes, das Wohnen im Reich und das Andenken an das Meer unzertrennlich sind. Wir tun daher gut daran, unsere Sehnsucht nach dem Meer zu wecken, wenn wir uns auf Seefahrten des Denkens begeben. Antonino Spinelli Die Zeit des Meeres und die Zeit des Dichters Betrachtungen zu Eugenio Montales Gedichtzyklus Mediterraneo Der Zyklus Mediterraneo bildet eine der fünf Sektionen von Eugenio Montales erster sowie bekanntester Gedichtsammlung, Ossi di seppia (1925). 1 Er besteht aus neun Gedichten, die keine einzelnen Überschriften tragen. Zwar handelt es sich nicht um die einzigen Gedichte ohne Titel, denn diese fehlen auch in der Hauptsektion, die denselben Namen trägt wie die gesamte Sammlung. Im Inhaltsverzeichnis werden jedoch die Gedichte aus der Sektion Ossi di seppia mit dem ersten Vers angegeben, während beim Zyklus Mediterraneo alle neun Gedichte nur kollektiv durch den Titel der Sektion vertreten sind. Schon aus diesem Hinweis wird klar, dass die neun Gedichte keine einzelnen Stücke sind, sondern bereits von ihrem Urheber als innig zusammengehörende Gesamtkomposition verstanden wurden. Im vorliegenden Beitrag soll ein Versuch unternommen werden, diese Komposition aus einem philosophischen Blickwinkel anhand eines ihrer Leitfäden von Anfang bis Ende zu verfolgen. Dabei muss in diesem Rahmen auf eine ausführliche Kommentierung der Gedichte als Ganze verzichtet werden. Stattdessen werden wir uns an einigen Fragmenten 2 orientieren, um einen - sei es auch notgedrungen verkürzten - hermeneutischen Weg durch diesen Gedichtzyklus zu gehen. Das Thema, das dafür gewählt wurde, ergibt sich wie von selbst aus einem Gesamtblick auf Montales frühes Werk. In erster Linie ist die metapoetische Ebene in Form einer Reflexion über die Tätigkeit des Dichters bereits in den eröffnenden Gedichten sowohl der ersten als auch der Hauptsektion anwesend. I Limoni, das die erste Sektion, Movimenti, eröffnet, beginnt mit einer Abstandnahme des Autors zu den poeti laureati, den „mit Lorbeer bekränzten Dichter[n]“, die bei den „Pflanzen mit seltenen Namen“ verweilen, während das lyrische Ich sich zu „Schilfröhren“, „Gemüsegärten“ 1 Eugenio Montale: Ossi di seppia, in Tutte le poesie, a c. di Giorgio Zampa, 5a edizione, Milano 1991. Deutsche Teilübersetzungen in Ders.: Gedichte, 1920-1954, Italienisch- Deutsch, übertragen v. Hanno Helbling, München 1987 und Was bleibt (wenn es bleibt). Gedichte 1920-1980, Italienisch-Deutsch, ausgewählt, übersetzt und mit Anmerkungen versehen v. Christoph Ferber, Mainz 2013. Wenn nicht anders vermerkt, sind die Übersetzungen von Montales Gedichten meine eigenen. Die Übersetzungen wurden von Julia Pfefferkorn revidiert und verbessert. Dafür sowie für die sprachliche Korrektur des gesamten Manuskriptes möchte ich mich bei ihr herzlich bedanken. 2 Nur drei Gedichte (das zweite, das siebente und das neunte) werden im Folgenden in voller Länge zitiert. Antonino Spinelli 34 und „Zitronenbäumen“ bekennt. Non chiederci la parola che squadri da ogni lato, das eröffnende Gedicht der Sektion Ossi di seppia, ist seinerseits eine regelrechte programmatische Erklärung über seine Poetik. Darin setzt sich Montale der traditionellen Figur des poeta vate, des ,wahrsagenden Dichters‘, entgegen, indem er der Lyrik jede affirmative und offenbarende Funktion abspricht. In diesem Kontext beschreibt er seine eigene Dichtung als Ansammlung „manche[r] krumme[r] Silbe, dürr wie ein Ast“ (qualche storta sillaba e secca come un ramo). Aus diesen vorläufigen Hinweisen gehen bereits zwei Hauptmerkmale hervor, die auch in Mediterraneo eine zentrale Rolle spielen. Zunächst wird in einer Geste der Demut die Dürftigkeit der Dichtung betont und damit in eins ihre Unfähigkeit herausgehoben, eine inhaltlich positive Sinngebung zu gewähren. In zweiter Linie tritt die Tendenz deutlich hervor, die Dichtung selbst mit sinnlichen Objekten zu identifizieren, das lyrische Wort als gewöhnliche Pflanze, als trockenen Ast, ja gar als Rest eines totes Tieres zu betrachten. In letztere Richtung weist der Titel der gesamten Sammlung: Ossi di seppia (,Tintenfischknochen‘ im Plural). Damit ist - biologisch gesprochen - der Schulp der Sepien gemeint. Als ovaler, flacher und poröser weißer Gegenstand ist er relativ häufig auf Mittelmeerstränden anzutreffen. Dieses stumme, einsame und rätselhaft anmutende Relikt eines früheren marinen Lebewesens wird in Montales Titel zur sinnlichen Verkörperung seiner Poesie erhoben. Dies ist wörtlich zu verstehen: Jedes Gedicht seines Buches ist ein Tintenfischknochen, ein seltsames vom Meer herausgeschleudertes Zeugnis vergangenen Lebens. Damit ist bereits eine der zentralen Annahmen von Mediterraneo berührt: Die Quelle des Dichtens ist das Meer. Der Dichter schöpft seine lyrische Nahrung aus jenem Grenzgebiet, in welchem sich Wasser und Land gegenseitig durchdringen, wo das Gestein sich „losreißen“ will, „hinausgelehnt in einer unsichtbaren Umarmung“ (la pietra / / voleva strappartsi, protesa / / in un visibile abbraccio), und „die harte Materie den nächsten Wirbel spür[t], und pulsier[t]“ (la dura materia sentiva / / il prossimo gorgo, e pulsava 3 ). Diese innige Begegnung von Meer und Land, die die steile und felsige ligurische Küste, in der Montales Dichtung beheimatet ist, charakterisiert, wird zum Ort des ursprünglichen künstlerischen Geschehens, zum Urquell alles Schöpferischen. Diese primordiale, fruchtbare Kraft ist jedoch nur eines der vielfältigen Gesichter, die das Meer im Laufe der Komposition Mediterraneo annimmt. Im Meer spiegelt sich der Wandel des Dichters wider oder, besser, der Wandel des Dichters identifiziert sich mit dem Wandel seines Verhältnisses zum Meer. Die Geschichte dieses Verhältnisses ist also der Gegenstand des Zyklus Mediterraneo. Oder, anders gesagt, Mediterraneo ist, als lyrisches Geschehen, der selbsterzählende Ausdruck des Verhältnisses zwischen Dichter und Meer. 3 Aus dem III. Gedicht des Zyklus Mediterraneo, in Montale, Ossi di seppia, S. 55. Die Zeit des Meeres und die Zeit des Dichters 35 Die Zeit des Meeres I. [Wirbel] 4 A vortice s’abbatte sul mio capo reclinato un suono d’agri lazzi. Scotta la terra percorsa da sghembe ombre di pinastri, e al mare là in fondo fa velo più che i rami, allo sguardo, l’afa che a tratti erompe dal suolo che si avvena. Quando più sordo o meno il ribollio dell’acque che s’ingorgano accanto a lunghe secche mi raggiunge: o è un bombo talvolta ed un ripiovere di schiume sulle rocce. […] Wie ein Wirbel stürzt auf mein geneigtes Haupt das Tönen herber Scherze. Die Erde glüht, gemustert durch die schrägen Schatten wilder Pinien; und da hinten verschleiert das Meer vor dem Blick eher als das Geäst, die Schwüle, die ab und zu aus dem rissigen Boden hervorbricht. Dann erreicht mich, bald dumpfer bald heller, das Brausen des Wassers, das neben langen Untiefen sich verwirbelt: Oder es ist ein Knall, manchmal, und ein Regnen Von Geschäum auf die Felsen. [...] Der Zyklus wird von einem Gemälde aus sinnlichen Eindrücken eröffnet. Die geistigen Inhalte, die Metaphern der späteren Gedichte bleiben hier aus. Die Dinge bieten sich in ihrer Nacktheit dar: Es ist heiß, laut, das Meer bewegt. Der Dichter schaut nach unten, scheint in sich versammelt zu sein. Seine Sinne sind jedoch empfänglich, und zwar für das Meer und seinem Reich. Aus diesem Zustand der ,sinnenden‘ Offenheit entfaltet sich die Geschichte von Mediterraneo - die Geschichte vom Dichter und dem Meer. 4 Die folgenden Zitate stammen aus ebd., S. 53-61. Die römische Zahlen (I-IX) entsprechen der Reihenfolge der neun Gedichter im Gesamtzyklus. Die Überschriften in eckigen Klammern sind mein eigener Zusatz. Antonino Spinelli 36 II. [Kindheit] Antico, sono ubriacato dalla voce ch’esce dalle tue bocche quando si schiudono come verdi campane e si ributtano indietro e si disciolgono. La casa delle mie estati lontane t’era accanto, lo sai, là nel paese dove il sole cuoce e annuvolano l’aria le zanzare. Come allora oggi in tua presenza impietro, mare, ma non più degno mi credo del solenne ammonimento del tuo respiro. Tu m’hai detto primo che il piccino fermento del mio cuore non era che un momento del tuo; che mi era in fondo la tua legge rischiosa: essere vasto e diverso e insieme fisso: e svuotarmi così d’ogni lordura come tu fai che sbatti sulle sponde tra sugheri alghe asterie le inutili macerie del tuo abisso. Ältestes, trunken bin ich von der Stimme, die aus deinen Mündern strömt, wenn sie aufblühen wie grüne Glocken, und zurückstürzen und sich auflösen. Das Haus meiner fernen Sommer war dir nah, du weißt es, dort, in dem Land, wo die Sonne glüht und die Mücken den Himmel bewölken. Wie eh und je in deinem Angesicht werde ich zu Stein, Meer, doch nicht mehr würdig glaube ich zu sein der erhabenen Mahnung deines Atems. Du zuerst hast mir gesagt, dass das winzige Gären meines Herzens nichts sei als ein Moment des deinen; dass tief mir gelte dein heikles Gesetz: weit und ungleich zu sein und zugleich fest: Und mich so von allem Schmutz zu befreien, dir gleich, der du auf die Ufer schleuderst zwischen Kork Algen Seesterne, den nutzlosen Schutt deines Abgrunds. 5 5 Übersetzung von Julia Pfefferkorn und Antonino Spinelli, unveröffentlicht. Die Zeit des Meeres und die Zeit des Dichters 37 Das Meer ist in erster Linie der Ort der Kindheit. Oder zumindest lässt es der Rausch als solches erfahren, der den Dichter bei seinem Anblick befällt. Dadurch wird offenbar: Die Zeit des Meeres ist für den Dichter erinnerte Zeit, sie ist für ihn Vergangenheit, ob wirklich, ausgedacht oder einfach ersehnt. Wie eine alte Gottheit offenbart das Meer dem Kind das Gesetz, das es prägen wird. Der Dichter hängt vom Meer ab, ohne es ist er nichts. Und er ist ähnlich wie das Meer: Sein Wesen ist ein Kampfplatz von Gegensätzen; er ist dazu bestimmt, nutzlosen Schutt - die dichterischen Worte - aus dem Abgrund seiner Unergründlichkeit auf die trockenen Ufer der menschlichen Sprache zu schleudern. III. [Erlösung] [...] Tu vastità riscattavi anche il patire dei sassi: pel tuo tripudio era giusta l’immobilità dei finiti. [...] [...] Du, endlose Weite, erlöstest auch das Leiden der Steine: Gerecht war durch deine Pracht die Unbeweglichkeit der Endlichen. [...] So wie des Gesetzes und der Offenbarung, ist das Meer in dieser ersten Erscheinungsform auch Quelle der Erlösung. Der Dichter bewundert es, folgt ihm, bleibt ihm treu. Er sieht die menschliche Begrenztheit, empfindet aber kein Leiden daran, weil er, wie in einer mythischen Vergangenheit, in einer Einheit mit ihm lebt. Oder glaubt zu leben. Das Meer ist Heimat, Ruhe, verlobtes Land: IV. [Heimat] [...] Nasceva dal fiotto la patria sognata. Dal subbuglio emergeva l’evidenza. L’esiliato rientrava nel paese incorrotto. [...] [...] Es entstand aus dem Wogen die erträumte Heimat. Aus der Aufruhr trat die Einsicht hervor. Der Verbannte kam wieder ins unversehrte Land. [...] Antonino Spinelli 38 Die Zeit des Dichters V. [Unmut] Giunge a volte, repente, un’ora che il tuo cuore disumano ci spaura e dal nostro si divide. Dalla mia la tua musica sconcorda, allora, ed è nemico ogni tuo moto. In me ripiego, vuoto di forze, la tua voce pare sorda. [...] Questo pezzo di suolo non erbato s’è spaccato perché nascesse una margherita. In lei tìtubo al mare che mi offende, manca ancora il silenzio nella mia vita. Guardo la terra che scintilla, l’aria è tanto serena che s’oscura. E questa che in me cresce è forse la rancura che ogni figliuolo, mare, ha per il padre. Jäh kommt die Stunde, zuweilen, in der dein unmenschliches Herz uns beängstigt und sich von unserem trennt. Deine Musik ist dann mit meiner unstimmig, und feindlich wird mir all dein Tun. In mich weiche ich zurück, bar von Kräften, deine Stimme scheint mir stumm. [...] Diese kahle Erdscholle ist gebrochen, damit aus ihr eine Margerite entwachse. In ihr trotze ich dem Meer, das mich verletzt, es fehlt noch die Stille in meinem Leben. Ich schaue auf die flimmernde Erde, von lauter Klarheit verfinstert die Luft. Und dies, was in mir steigt, ist wohl der Unmut, o Meer, den jeder Sohn gegen den Vater nährt. Nachdem, vom zweiten bis zum vierten Gedicht, die mythische Vergangenheit des Meeres in den Worten des Dichters erklang, wendet sich seine Sprache nun plötzlich der Gegenwart zu. Es ist zuerst eine iterative Gegenwart, die von einem wiederkehrenden Verdruss, von einer unerwarteten Feindseligkeit erzählt, welche die einst unerschütterliche Ehrfurcht ablöst. Erst dieser Bruch, diese neu ansetzende Unstimmigkeit schafft den Raum für das Entstehen eines selbstständigen Lebens: Die kahle Erde bricht, damit eine Blume wächst. Die einsame Pflanze auf der Küste wird somit zum Bild des Trotzes, des eigensinni- Die Zeit des Meeres und die Zeit des Dichters 39 gen Aufstandes gegen die Übermacht des Unendlichen. Das Meer kann nicht nur erlösen, es kann auch ersticken. Die Dichtung ist nicht nur Geburt aus dem grenzenlosen Wasser, sie muss sich auch von der Obhut des Meeres befreien, sich an der trockenen Küste ansiedeln. VI [Dichtung] [...] Pur di una cosa ci affidi, padre, e questa è: che un poco del tuo dono sia passato per sempre nelle sillabe che rechiamo con noi, api ronzanti. Lontani andremo e serberemo un’eco della tua voce, come si ricorda del sole l’erba grigia nelle corti scurite, tra le case. E un giorno queste parole senza rumore che teco educammo nutrite di stanchezze e di silenzi, parranno a un fraterno cuore sapide di sale greco. [...] Jedoch eines vertraust du uns an, Vater, und zwar dieses: dass ein Wenig deiner Gabe für immer in die Silben eingehe, die wir mit uns tragen, wir summende Bienen. Weit hinaus werden wir gehen, und ein Echo deiner Stimme aufbewahren, so wie sich der Sonne entsinnt das graue Gras in verdunkelten Höfen, zwischen den Häusern. Und diese lautlosen Worte, die wir mit dir aufzogen, genährt von Müdigkeit und Stille, werden einst einem verschwisterten Herzen nach griechischem Salz schmecken. Einmal aus dem Meer getreten, entpuppt sich das dichterische Wort in all seiner Dürftigkeit. Die Dichter sind „summende Bienen“, winzige Insekten, deren Geräusch in Anwesenheit des Dröhnens der Wogen verschwinden würde. Dennoch trägt dieses Summen ein Echo seiner Herkunft, behält die Spuren seiner verlorenen Heimat. So wie das Gras ohne Sonne, wäre das Wort ohne Meer nicht entstanden. Im Element des Salzes verdichtet sich dieses Verhältnis: Die Spur des Meeres bleibt im Wort eingeprägt, sie ist das, was ihm Geschmack verleiht. Antonino Spinelli 40 VII [Auflösung] Avrei voluto sentirmi scabro ed essenziale siccome i ciottoli che tu volvi, mangiati dalla salsedine; scheggia fuori del tempo, testimone di una volontà fredda che non passa. Altro fui: uomo intento che riguarda in sé, in altrui, il bollore della vita fugace - uomo che tarda all’atto, che nessuno, poi, distrugge. Volli cercare il male che tarla il mondo, la piccola stortura d’una leva che arresta l’ordegno universale; e tutti vidi gli eventi del minuto come pronti a disgiungersi in un crollo. Seguìto il solco di un sentiero m’ebbi l’opposto in cuore, col suo invito; e forse m’occorreva il coltello che recide, la mente che decide e si determina. Altri libri occorrevano a me, non la tua pagina rombante. Ma nulla so rimpiangere: tu sciogli ancora i groppi interni col tuo canto. Il tuo delirio sale agli astri ormai. Rau und wesentlich wollte ich mich fühlen so wie die Steine, die du wendest, zerfressen vom Salzwasser; zeitlose Scherbe, Zeuge eines kalten Willens, der nicht vergeht. Anderes wurde ich: ein umsichtiger Mensch, der in sich selbst wie in den anderen das Sieden des flüchtigen Lebens betrachtet, ein Mensch, der vor der Tat zögert, die niemand, danach, vertilgt. Ich wollte das Übel suchen, das wie ein Holzwurm an der Welt nagt, den kleinen Fehler am Hebel, der das Uhrwerk des Alls anhält, und ich sah alle Ereignisse des Moments wie bereit, sich in einem Sturz zu lösen. Ich folgte der Furche eines Pfads und hatte das Gegenteil im Herzen, mit seiner Verlockung; vielleicht brauchte ich das scheidende Messer, den entscheidenden Geist, der sich bestimmt. Andere Bücher brauchte ich, nicht deine dröhnenden Seiten. Die Zeit des Meeres und die Zeit des Dichters 41 Doch ich weiß nichts zu bereuen: Du löst immer noch die inneren Knoten mit deinem Gesang. Zu den Sternen steigt nunmehr dein Wahn. Der Dichter hält sich in einem Zwischenraum, in einem Riss auf. Er wäre gerne ein Stein gewesen, ein kleiner Teil des großen und vollkommenen, vom Meer beherrschten Gefüges. Autark, weil bedürfnislos, in seiner absoluten Abhängigkeit. Als Beobachter der Welt - und deren Erzähler - kann der Dichter jedoch nicht bei dieser Ordnung stehen bleiben, er muss deren Schwachstelle suchen, die Bresche, die in der „gerechten“ „Unbeweglichkeit der Endlichen“ ein neues Sinngeschehen ermöglicht. Sein Austritt aus der primordialen Ordnung ist jedoch nie vollständig: Er ist nicht imstande, dem verlockenden Weg des unbekümmerten Lebens zu folgen. Seine Gebundenheit an das Grenzenlose bleibt für ihn bestimmend, er kann (und will) nicht seine Nabelschnur kappen. Das, was ihn erlöst, verdammt ihn zugleich. VIII [Frust] Potessi almeno costringere in questo mio ritmo stento qualche poco del tuo vaneggiamento; dato mi fosse accordare alle tue voci il mio balbo parlare: - [...] Ed invece non ho che le lettere fruste dei dizionari, e l’oscura voce che amore detta s’affioca, si fa lamentosa letteratura. Non ho che queste parole che come donne pubblicate s’offrono a chi le richiede; non ho che queste frasi stancate che potranno rubarmi anche domani gli studenti canaglie in versi veri. [...] Könnte ich doch zwängen in meinen holpernden Rhythmus auch nur ein Wenig von deiner Beredsamkeit; wäre es mir nur vergönnt, mein stotterndes Wort nach deinen Klängen zu stimmen: - [...] Doch habe ich nichts als die verzehrten Zeichen der Wörterbücher und die dumpfe Stimme, die, Liebe genannt, ermattet, und in kläglicher Literatur endet. Ich habe nichts als diese veröffentlichten Worte, wie Frauen, die sich Antonino Spinelli 42 dem bieten, der sie verlangt; nichts als diese ermüdeten Sätze, die mir schon morgen gaunerische Schüler stehlen können, in wahren Versen. [...] Die Rechnung des Dichters geht nicht auf. Die Herkunft aus dem Meer, die Verwurzelung im urheimischen Geschehen kann nicht garantieren, dass das dichterische Wort zu einem offenbarenden wird. Das Wort bleibt menschlich und als solches dem Missbrauch, der Abnutzung, dem Sinnverlust anfällig. Auch der echte Dichter kann nicht umhin, Literat zu sein. Sein Werk ist Tinte auf Papier und das Papier vergilbt, die Tinte verblasst. Dennoch macht dies das Dichten nocht nicht zu einem sinnlosen Werk. Die Erfahrung des Scheiterns bleibt eine Fahrt und seine Spur weist auf die Herkunft hin. Es bleibt die Frage bestehen, die schon zu Anfang in Form eines leisen Zweifels hervortrat: Ist die Herkunft aus dem Meer eine reale oder ist die ewige Vergangenheit des Dichters der bloße Traum eines nie erlebten Glücks, die Verfälschung eines projizierenden Scheingedächtnisses? Ist die Zeit des Meeres eine reale oder eine imaginäre Zeit? Das Ende der Zeiten? Vielleicht ist die Frage nur eine Scheinfrage. Der Zweifel bleibt das Primäre, jede Antwort ist ihm gegenüber nur nachträglich, kann ihn als solche nicht auflösen. Am Ende - und als Ende - bleibt nur noch die Gewissheit des Verzehrt-Werdens. Im Meer verdünnt sich jeder hineingegebene Tropfen ins Unendliche, er verliert sofort seine Individualität. Im Unterschied zum Zweifel über die Vergangenheit, ist diese Gewissheit über die Zukunft fest, man kann sie nicht erschüttern. In jedem Moment können wir - wie Montale im Schlussgedicht von Mediterraneo - auf unser Leben zurückblicken, als wäre es zu Ende. In diesem Gestus werden die zwei Zeiten, die ewige Vergangenheit des Meeres und die ewige Gegenwart des Dichters, als miteinander vereinigt und in einer projizierten Zukunft aufgehoben gedacht. Der Riss, von dem die Poesie lebt, wird als geschlossen gedacht. Wie durch eine Flutwelle nimmt das Meer die zuvor herausgeschleuderten Relikte, zu denen die Gedichte - und ja auch der Dichter - gehören, wieder zu sich. Die Heilung ist Vernichtung, die Erlösung Auflösung. Doch dies ist auch nur unser Blick auf das Leben - oder das Gedicht eines Dichters. Der Mensch sucht den Sinn im Unendlichen, trägt ihn mit sich, aber drückt ihn nur negativ aus, als Abwesenheit. Und nur negativ lässt sich auch die Lösung dieses Paradoxons denken, und zwar als Ende der Individualität. Liegt der Grund dafür vielleicht darin, dass der echte Sinn sich nicht in der Kunst - und auch nicht in der Philosophie - positiv ausdrücken lässt; dass es unmöglich ist, das Meer in Verse zu zwängen? Die Zeit des Meeres und die Zeit des Dichters 43 IX. [Verdunstung] Dissipa tu se lo vuoi questa debole vita che si lagna, come la spugna il frego effimero di una lavagna. M’attendo di ritornare nel tuo circolo, s’adempia lo sbandato mio passare. La mia venuta era testimonianza di un ordine che in viaggio mi scordai, giurano fede queste mie parole a un evento impossibile, e lo ignorano. Ma sempre che traudii la tua dolce risacca su le prode sbigottimento mi prese quale d’uno scemato di memoria quando si risovviene del suo paese. Presa la mia lezione più che dalla tua gloria aperta, dall’ansare che quasi non dà suono di qualche tuo meriggio desolato, a te mi rendo in umiltà. Non sono che favilla d’un tirso. Bene solo so: bruciare, questo, non altro, è il mio significato. Zerstreue, wenn du es willst, dieses schwache, klagende Leben, wie ein Schwamm den flüchtigen Zug von einer Schiefertafel wischt. Ich warte auf die Rückkehr in deinen Kreis, es erfülle sich mein schlingerndes Vergehen. Meine Ankunft war das Zeugnis einer Ordnung, die ich auf dem Weg vergaß, diese meine Worte schwören auf ein unmögliches Ereignis und sie kennen es nicht. Doch immer als ich deine sanfte Brandung auf den Ufern rauschen hörte, ergriff mich Verblüffung, wie einen Gedächtnislosen, der sich seiner Heimat entsinnt. Eher als deiner offenen Pracht, entnahm ich meine Lehre deinem Keuchen, das an mancher trostlosen Mittagsstunde fast geräuschlos erklingt. Dir nun übergebe ich mich in Demut. Ich bin nur der Funke eines Thyrsos. Ich weiß es wohl: Brennen, nichts anderes, dies ist mein Sinn. Jörg Magenau Der Riss im Schleier der Zeit Ernst Jüngers „Annäherungen“ als Weltreisen ins Innere Wer von „Annäherungen“ spricht, ist noch nicht angekommen. Er hat ja gerade erst begonnen. Annäherungen versprechen eine Bewegung, die ihr Ziel bestimmt noch nicht erreicht hat, ja, vielleicht sogar davon ausgeht, es niemals zu erreichen. Annäherungen 1 nannte Ernst Jünger sein Buch über Drogen und Rausch und machte schon mit diesem Titel deutlich, dass das Thema nicht zu Ende zu führen sein würde. 1970 erschienen (da war er 75 Jahre alt), bot er damit eine Summe seiner fortgesetzten Experimente und lebenslangen Beschäftigung mit Drogen aller Art. Er suchte die direkte Verbindung - und doch sind es eben nur Annäherungen, so wie sich zwei Parallelen einander annähern, um sich erst im Unendlichen zu berühren. Also nach menschlichem Ermessen doch wohl eher nie. Annäherungen ist eine Art Autobiographie, die den verschiedenen Substanzen - Bier, Wein, Äther, Haschisch, Opium, Kokain, Meskalin, LSD - folgt, als wären es die Drogen und ihre unterschiedlichen Qualitäten, die den natürlichen Verlauf einer Biografie bestimmen. Leibliche Zugriffe auf Materielles - Rauchen, Kauen, Trinken, Atmen, Schlucken - verwandeln sich dabei in bewusstseinserweiternde Kulturtechniken. Nur ein damals gebräuchlicher Anwendungsbereich fehlt: das Spritzen, und die Droge Heroin. Selbstzerstörung war nie Jüngers Ziel. (Und Blut offenbar nicht der Stoff, den er für den Rausch reservierte. Sein Verleger Michael Klett berichtet vom blutigen linken Hemdsärmel Jüngers. Nach schweren Schicksalsschlägen - als seine Frau Gretha starb, als sein Sohn Alexander sich erschoss - habe er stets eine Nadel im Revers getragen. Wenn der Schmerz zu stark geworden sei, habe er sich mit der Nadel in den Unterarm gestochen, durch das Jackett hindurch, um sich mit körperlichem Schmerz vom depressiven, seelischen Schmerz abzulenken. 2 ) Von „Annäherungen“ zu sprechen heißt, das Risiko zu kalkulieren und die Grenze nicht zu überschreiten, die eine Rückkehr unmöglich machen würde. Das Beispiel Jünger lehrt aber auch: Wer über hundert Jahre alt werden will, muss nicht unbedingt auf rechtsdrehende Schonkost, Leinsamen und biodynamische Ganzheitlichkeit setzen. Dionysische Erfahrungen mit Rausch und Entgrenzung 1 Ernst Jünger: Annäherungen, in Sämtliche Werke in 14 Bänden und 4 Supplementbänden (SW), Stuttgart 1978 ff., Bd. 11. 2 So Michael Klett im Gespräch mit dem Verfasser. Nachzulesen auch in Thomas Hettche: Totenberg, Köln 2012, Kapitel „Feindberührung“. Jörg Magenau 46 und die Bereitschaft, mit Giften in richtig dosierte Berührung zu kommen, können ebenfalls vitalisierend wirken. Der Titel „Annäherungen“, so schrieb Jünger einleitend, „steht für jede, insbesondere die musische Entwicklung und für das Leben überhaupt.“ 3 Das ist eine starke These, die den Drogenkonsum voraussetzungslos zur künstlerischen Praxis erhöht. Zu erwarten ist demnach ein Bildungsroman wie Goethes Wilhelm Meister, nur dass der Protagonist Ernst Jünger nicht im Theater in die Schule geht, sondern Sinneserweiterung durch Drogen sucht. LSD zum Beispiel ließ ihn, den eher Unmusikalischen, vorübergehend hellhörig werden. Auf einmal konnte er Musik in ihrer Struktur begreifen. Drogen waren für ihn in der Regel kein Mittel der Betäubung und Benebelung, sie dienten dazu, die Wahrnehmung zu schärfen und in andere Dimensionen der Existenz vorzudringen. Der Bildungs-Vorgang, den sie ermöglichen, ist so umfassend, dass das, was Jünger anbietet, selbst zu einer Art Droge wird: Nicht eigentlich ein Buch habe er schreiben wollen, schreibt er. Es sei ihm vielmehr darum gegangen, „einen Apparat zu konstruieren, ein Fahrzeug, das man nicht als derselbe verlässt, der eingestiegen ist.“ 4 So wird die gelingende Lektüre zu einem Rauscherlebnis, einem Mysterium der Wandlung, einer Annäherung an etwas Unbekanntes, das den Leser - ebenso wie den Autor selbst - ergreift und verändert. Es ist bestimmt kein Zufall, dass Jüngers Drogenbuch mit der Erinnerung an eine Lektüre-Erfahrung beginnt: Ariosts Rasender Roland begleitete ihn auch in den Schützengräbern Flanderns. Hier fand er seine Maßstäbe für Heroismus - und nicht in der Wirklichkeit des alltäglichen Sterbens. Wegen dieser Diskrepanz stufte er die Lektüre als „gefährlich“ ein: „Überhaupt setzt die literarische Bildung Maßstäbe, die in der Realität nicht ausgefüllt werden können; das Spielfeld wird zu weit gesteckt.“ 5 Genau dies hat das Lesen mit Rauscherfahrungen gemeinsam. Vielleicht liegt darin auch der Grund, warum es von manchen Eltern als Suchtmittel betrachtet und möglichst eingeschränkt wird. Kafka hat das Lesen einmal als „Axt für das gefrorene Meer in mir bezeichnet. 6 Jünger sieht das ähnlich, auch wenn seiner sorgsam ziselierten Prosa das nicht immer gleich anzumerken ist. Aber schließlich vergleicht er ja auch nicht so sehr das Schreiben mit dem Rausch als den Vorgang des Lesens. Der Autor hat die Axt zu bauen, die er seinen Lesern in die Hand gibt. Im Rausch zu schreiben, führt zu nichts. Das belegen Jüngers Drogen-Protokolle eindrucksvoll. Von seinen phantastischen LSD-Erlebnissen finden sich im Nachhinein auf dem Papier nur ein paar nichtssagende Worte: „Adlerflug“. „Drei Schwin- 3 Jünger: Annäherungen, S. 21. 4 Ebd. 5 Ebd., S. 11. 6 „Ich glaube, man sollte überhaupt nur noch solche Bücher lesen, die einen beißen und stechen. Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch? [...] Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns“ (Franz Kafka: Briefe 1902-1924, Frankfurt a. M. 1958, S. 27). Der Riss im Schleier der Zeit 47 gen.“ „Der Frühling kommt.“ 7 Und von der mit Kokain so großartig empfundenen Genialität blieb nichts als sinnloses Gekrakel übrig. Und doch gibt es für ihn einen tiefen Zusammenhang zwischen Rausch und Produktion, wie er am 9.2.1943 im Tagebuch notierte: „Obwohl sie sich zu gleicher Zeit ausschließen, sind sie doch aufeinander angewiesen wie Entdeckung und Beschreibung, wie Exploration und Geographie. Im Rausche dringt der Geist weiter und abenteuerlicher, unmittelbarer vor. Er sammelt Erfahrung im Grenzenlosen ein. Ohne solche Erfahrung ist keine Poesie.“ 8 Gleichzeitig geht das nicht: Erst kommt der Rausch, dann kommt das Schreiben. So sehr das eine das andere bedingt, so sehr schließen sie sich aus. Textproduktion ist nüchterne Konstrukteursarbeit. Jüngers Arbeitszimmer in der Wilflinger Oberförsterei war ein naturwissenschaftliches Laboratorium. Dem Schreiben diente die eine Seite des Tisches. Da fanden sich Papier, Tinte und Feder und eine Rolle Tesafilm, um bei Bedarf getrocknete Blüten ins Manuskript zu kleben. Daneben stand das Mikroskop. Die Lupe und all das Werkzeug, das der Entomologe für die Präparation seiner Käfer benötigte, lag auf der anderen Seite des Tisches bereit: Pinzette, Nadeln, Watte, Glasröhrchen, ein Ätherfläschchen. Hier war ein Feinmechaniker am Werk, der sich mit der Natur beschäftigte, ein Uhrmacher, der aber keine mechanischen Uhren um sich duldete, sondern Sanduhren sammelte. Die Zeit sollte sanft verrinnen und nicht ticken. Im Rausch aber hört die Zeit auf, messbar zu sein. Dann versagen auch die Sanduhren. All das bildet einen großen Zusammenhang und schließlich auch den Kontext, in den Jüngers Drogenerfahrungen einzuordnen sind: Sie sind weniger Rausch als Experiment, weniger Entgrenzung als Wechsel des Zeitgefühls, weniger Kontrollverlust als auf Messbarkeit und Verwertbarkeit zielende Erfahrung. Alles, was Jünger schreibt und alles, was er sammelt, ist auf Transzendenz ausgerichtet. Zeitlebens ist er ein Todessucher und Todesforscher, voller Neugier darauf, hinter die Dinge zu sehen und sich der letzten Grenze, dem point of no return, anzunähern. Sein Draufgängertum im Ersten Weltkrieg gehört als frühe Rauscherfahrung ebenso in diesen Zusammenhang wie seine Sammlung „Letzter Worte“, die er in den fünfziger Jahren anlegte. 9 So wie er seine Käferfunde bestimmte, systematisierte und in eine große Ordnung des Lebens einbettete, so sammelte er auch letzte Worte von Sterbenden quer durch die Menschheitsgeschichte. Doch seine Hoffnung, damit einen vagen Blick über die finale Schwelle tun zu können, erfüllte sich nicht. Annäherungen, auch hier. Mehr teilt der letzte Rausch des Verlöschens nicht mit. 7 Jünger: Annäherungen, S. 392. 8 Ernst Jünger: Strahlungen I (Kaukasische Aufzeichnungen), SW 2, Stuttgart 1979, S. 488. Vgl. auch den Artikel Rausch von Ulrich Baron in Matthias Schöning (Hg.): Ernst Jünger. Handbuch. Leben - Werk - Wirkung, Stuttgart 2014. 9 Ernst Jünger: Letzte Worte, hg. v. Jörg Magenau, Stuttgart 2013. Jörg Magenau 48 Das Sterben als Rausch ist Thema seines Essay über Das spanische Mondhorn. 10 Es geht da um einen prachtvollen Käfer, der nach langem Madendasein nur wenige Stunden lebt, in denen er den Hochzeitsflug absolvieren muss. Wie kommt dieses Missverhältnis von Schönheitsaufwand und Lebensdauer zustande, fragt Jünger und vergleicht diese Existenz mit einem Feuerwerk, bei dem erst sehr lange - während des Larvenlebens - die Zündschnur glimmt, bevor es sich in einer gewaltigen rauschhaften Explosion erfüllt. 11 „Annäherung“ ist ein Schlüsselbegriff in Jüngers Werk. Er markiert nicht nur die Drogenerfahrungen, sondern steht auch als Titel über einem geheimnisvollen Gedicht, das in seinem Alterstagebuch Siebzig verweht zu finden ist. Am 1. August 1991 12 und in einer leicht überarbeiteten Fassung am 2. Mai 1992 13 fassen diese Verse sein religiöses Empfinden in einer Art Glaubensbekenntnis zusammen. Dieses beginnt fast wie der Refrain eines berühmten Songs von Bob Dylan mit der Zeile „Ich klopfe an, ich klopfe an, ich klopfe an“, um dann nacheinander Vater, Sohn und Heiligen Geist und die Elemente Erde, Wasser, Licht aufzurufen und ein kosmisches Gleichgewicht zu proklamieren: Waage, Sterne, Waage, Sonne, Amen, Dank. Bob Dylan dichtete im selben Jahrzehnt: „Tryin’ to get to heaven, before they close the door.“ 14 Die Balance zu halten ist für Jünger unverzichtbar, in der Konstruktion eines wohlgefügten Universums ebenso wie in der eigenen Erfahrung. Wenn so ein Mann über Rausch und Drogen schreibt, dann tut er das mit Zirkel und Lineal. Aber er zielt auf die letzten, äußersten Dinge und zitiert auch in seinem Drogenbuch das Kirchenlied von Johann Timotheus Hermes, das er so schätzte und das ihn sein Leben lang begleitete: „Ich hab von Ferne / / Herr, Deinen Thron erblickt.“ 15 - Knock, knock, knockin’ on heaven’s door. Jüngers Drogenbiographie der Annäherungen steht unter diesem Stern. Das Leben, das sich daraus ergibt, ist ja selbst so „ein Fahrzeug, das man nicht als derselbe verlässt, der eingestiegen ist“. Vor allem aber besteigt Jünger dieses Fahrzeug nicht gern allein, und wenn er es doch tut, dann geht es meistens schief. Die Drogen, mit denen er in Berührung kommt, sind stets einem sozialen Kontext zuzuordnen. Früheste Erinnerungen gelten der Zeit des Wandervogel, in der die Gruppe der Jungs nach langem Marsch eine Brauerei besichtigt und sich anschließend zielstrebig betrinkt. Äther ist die Droge der Soldaten im Ersten Weltkrieg, in den Lazaretten war sie leicht zu bekommen. Mochte die gnädige Vernebelung der Wirklichkeit noch eine Gemeinschaft stiftende Praxis an der Front gewesen sein, so ging es damit in der 10 Jünger: Das Spanische Mondhorn, SW 13, S. 49 ff. 11 Ebd., S. 61. 12 Jünger: Siebzig verweht V, SW 22, S. 41. 13 Ebd., S. 75. 14 Auf der CD Time out of mind aus dem Jahr 1997. Da heißt es in der ersten Strophe des Songs Tryin’ to get to heaven: „Every day your memory grows dimmer / / It doesn’t haunt me like it did before / / I’ve been walking through the middle of nowhere / / Trying to get to heaven before they close the door“. 15 Jünger: Annäherungen, S. 58. Der Riss im Schleier der Zeit 49 Etappe und vereinzelt schief: Jünger schildert, wie er in Hannover, von Äther berauscht, versäumt, einen Vorgesetzten ordnungsgemäß zu grüßen, weil er ihn nicht mehr als solchen erkennen kann: Der Rausch bewirkt eine „kaleidoskopische“ Wahrnehmungszersplitterung, in der Jünger zwar noch ein Rangabzeichen erfasst, aber nicht mehr dessen Bedeutung. 16 Der Eklat, den er damit verursacht, trägt dazu bei, dass er mit dieser Droge keine tiefere Freundschaft schließt. Auch der Versuch mit Haschisch, das aus dem Vorrat der väterlichen Apotheke stammt, misslingt gründlich. 17 Da ist Jünger zu Beginn der zwanziger Jahre mit seiner Mutter unterwegs und strandet wegen eines Bahnstreiks in einem Hotel in Halle an der Saale. In seinem Kulturbeutel führt er ein Porzellangefäß mit der zähen, grünen Paste mit sich, die er nun, mangels eines geeigneten Werkzeugs, mit dem Griff der Zahnbürste wie Kaugummi herauszieht. Das führt zu einer kräftigen Überdosis, einem rhythmischen, wie von einem Pendel geschlagenen Schwindel, Herzrasen, Angstzuständen und schließlich dazu, dass er in seiner Panik barfuß und im offenen Pyjama durchs Hotelfoyer ins Zimmer der Mutter eilt, um sie zu wecken. Bevor dann der Arzt erscheint, kann Jünger eben noch den Porzellanbehälter vor dem Fenster in einem Schneehaufen entsorgen. Der Arzt glaubt an eine Fischvergiftung, der am Mittag verzehrte polnische Karpfen sei schuld, und therapiert mit Kaffee, zufällig auch ein zuverlässiges Mittel gegen einen Cannabisrausch. Die Lehre, die Jünger daraus zieht, ist die: Drogen nicht ohne genaue Kenntnisse, Vorbereitung, und nicht ohne Begleitung einzunehmen. Eine ordentliche, gewohnte Umgebung ist der beste Rahmen dafür. Soll der Rausch gelingen, dann ist er im Gemeinschaftserlebnis gut aufgehoben und im Experimentcharakter begrenzt. Schon damals, in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg, sammelte er Material zum Thema und begann, verschiedene Substanzen systematisch zu erproben. Er legte Akten dazu an und bat auch seinen Bruder Friedrich Georg, ihm alles zu schicken, was er an Zeitschriftenartikeln zu medizinisch, chemisch, physiologisch und psychologisch interessanten Aspekten in die Finger bekäme. 18 Zugleich gab er sich dem jüngeren (und vorsichtigeren) Bruder gegenüber als der Eingeweihte, Erfahrene, wenn er ihm schrieb: Es gibt im Rausch eine untrügliche Sicherheit in Bezug auf die Rangordnung, die der lächerlichen Art, in der wir in der Lotterie des Lebens unsere Lose ziehen, sehr überlegen ist. Es handelt sich bei Trunk und Zutrunk um ein Mysterium unter Männern, durch das jenseits von Intelligenz und Tugend das Maß an Urkraft ermittelt wird, das einem jeden zugeteilt worden ist. Für den Lauf einer Nacht werden die Karten neu gemischt und aufgelegt nach den Gesetzen einer höheren Realität. 19 16 Ebd., S. 177 ff. 17 Ebd., S. 249-263. 18 So in einem Brief an den Bruder Friedrich Georg Jünger vom 28.7.1923 (unveröffentlicht, Deutsches Literaturarchiv Marbach). 19 So in einem weiteren Brief an Friedrich Georg Jünger, vom 21.11.1921 (ebenfalls unveröffentlicht, Deutsches Literaturarchiv Marbach). Jörg Magenau 50 Das bezog sich auf die militärische Welt, der er damals noch angehörte. Die durch Alkoholexzesse herbeigeführte Entgrenzung dieser „Mysterien unter Männern“ hatte dann zuerst etwas mit der Aufhebung der Rangunterschiede zu tun, war also eine soziale Erfahrung. Das zumindest ist geblieben. Jede weitere Droge ist an eine bestimmte Lebensphase und an Freundschaften gebunden: Kokain an Friedrich Hielscher und die zwanziger Jahre; Meskalin an die frühen Fünfziger und an den Verleger Ernst Klett; zur selben Zeit berichtet der Sekretär Armin Mohler von respektablen Wein-Gelagen in Jüngers damaligem Wohnort Ravensburg. LSD schließlich gehört zur Freundschaft mit Albert Hofmann, dem Finder und Konstrukteur dieser synthetischen Droge, die in den sechziger Jahren weite Verbreitung fand. Zu untersuchen wäre, ob und wieweit der jeweilige Drogenkonsum die Denkweise und das Verhalten im zugehörigen Lebensabschnitt prägte, was zum Beispiel Kokain mit der aufgeputschten Stimmung der militant nationalistischen Kreise zu tun hatte, in denen Jünger in Leipzig und im Berlin der Weimarer Republik verkehrte. Oder inwiefern die mexikanische Pilzdroge Teonanacatl in den fünfziger Jahren dazu beitrug, Jüngers Waldgängertum und seine ökologische Hinwendung zur Natur (die eine Abwendung von der Geschichte war) zu befördern. Für eine solche Nachforschung bräuchte es jedoch einen zugleich chemisch wie literarisch kundigen Leser. Ihm könnte es auch ein Hinweis zur Rausch-Wissenschaft und Dämonologie sein, wenn Jünger 1946 in seinen Erinnerungen Hitler mit einer Pflanze verglich, „die auf einem verrotteten Boden zu mächtiger Größe gedeiht, indem sie seine Kräfte an sich zieht“ 20 - so wie es die Art der Pilze ist. Rausch ist für Jünger ein Zustand, dem er mit ebenso viel Misstrauen wie Faszination begegnet. Zu Annäherungen an die 68er-Bewegung und das Hippietum der Siebziger kam es nicht; die Hippies waren ihm suspekt, weil sie jeden Ordnungssinn vermissen ließen und von ihren Trips nur zu oft nicht mehr wiederkehrten. Leichtfertiger Drogenkonsum stieß ihn ab. Umgekehrt galt er den Studenten als Repräsentant der verhassten Väter- oder Großvätergeneration, als soldatischer Typus oder gar als Wegbereiter des Faschismus, von dem nichts, noch nicht einmal Drogenerfahrungen annehmbar gewesen wären. Jüngers „Annäherungen“ hatten nichts mit Exzessen zu tun, sondern mit der Überschreitung bestimmter Grenzen. Es handelt sich um kalkulierte Abstürze oder, militärisch gesprochen, um Ausbrüche, denen aber immer wieder der Rückzug hinter die geschlossenen Linien folgt. Vor allem sind es Ausbrüche aus dem Kontinuum von Raum und Zeit, Annäherungen an eine andere Dimension. Die erste Begegnung mit LSD verlief eher enttäuschend. Gegen den „Königstiger Meskalin“ empfand er Albert Hofmanns Droge allenfalls als „Hauskatze“. 21 Das lag aber, wie der Freund versicherte, lediglich an der zu niedrig angesetzten Dosis von 0,05 Milligramm, die zwar die Farbwahrnehmung inten- 20 Jünger: Strahlungen II (Die Hütte im Weinberg), SW 3, S. 608 (29.3.1946). 21 Jünger: Annäherungen, S. 349. Der Riss im Schleier der Zeit 51 sivierte und den Rauchfaden eines japanischen Räucherstäbchens verzauberte, die aber nicht in die Tiefe führte. Spätere, höher dosierte Versuche, ließen Jünger seine erste Einschätzung revidieren. Wenn Jünger seine Drogenreisen als „Einstiege“ bezeichnete, 22 dann hieß das, dass er hinunter wollte in eine Höhlenwelt. Hofmann hatte als Chemiker Erfahrung mit Substanzen, doch er unterschätzte die Sensibilität eines kreativen Menschen. So enttäuschend der erste Versuch verlief, veränderte er doch das Zeitgefühl. In dem sich kräuselnden Rauch des Räucherstäbchens schien die Zeit fassbar zu werden, als wäre sie ein greifbares Ding. „Die Zeit war in dem Gebilde wirkend“, heißt es in der Erzählung Besuch auf Godenholm, in der ein eben solches Räucherstäbchen vorkommt. „Sie hatte es gerieft, gewirbelt, geringelt, als ob sich gedachte Münzen schnell aufeinanderschichteten.“ 23 Aber das war nicht genug. Es musste gelingen, die Zeit wie einen Schleier zu zerreißen, um dahinter die wahre Substanz der Dinge zu erschauen. Drogen konnten Türen öffnen, wenn man sie richtig zu nutzen verstand. Wer die Tür durchschritt, trat durch die Materie hindurch und aus ihr hinaus und warf einen Blick auf das geistige Sein. (Und so schreibt Jünger auch immer wieder von „geistigen Einstiegen“. 24 ) Doch bei diesem ersten Versuch gelangten sie nur bis an die verschlossene Tür. Die Oberflächen der Dinge begannen zu leuchten, aber sie wurden nicht transparent. Fröstelnd kehrten sie in die Wirklichkeit zurück und hüllten sich in Decken wie erschöpfte Wüstenreisende, wenn sich in der Nacht die Kälte herabsenkt. Im Rausch wird Zeit ausgeliehen und verschwendet; sie muss anschließend zurückbezahlt werden, so Jünger: „Der Flut folgt Ebbe, den Farben Blässe, die Welt wird grau, wird langweilig.“ 25 Und doch ist diese Rückkehr die eigentliche Kunst. Rausch, heißt es in Alexander Pscheras Jünger-Buch Bunter Staub 26 , ist „Heimat und Wanderung zugleich. Im Rausch bricht man auf, ohne wegzugehen. Im Rausch kommt man an, ohne weggegangen zu sein. Rausch ist Hütte, Wüste und Wald zugleich. Rausch ist der verzweifelte Versuch, die Erinnerung einzuholen, die von den Träumen als bunte Spur zurückblieb. Rausch ist der Versuch, die Sehnsucht der Träume zu erhaschen. Rausch bleibt immer auch eine Sehnsucht nach der Sehnsucht und damit auf sich selbst verwiesen. Rausch ist ein hergestellter, 22 So das Kapitel „Frühe Einstiege“, ebd., S. 77-95. 23 Jünger: Besuch auf Godenholm, SW 15, S. 404. Exakt dieselbe Formulierung ist auch zu finden in: Annäherungen, S. 356. 24 So z. B. im Zusammenhang mit der Lektüre eines Opium-Buches während der Besatzungszeit in Paris am 3.12.1941. Der „geistige Einstieg“, den das Opium bietet, führt demnach in einen Zustand der Schmerzlosigkeit. „Die Seele schafft sich Ränge zum Übergang in den Tod.“ (Strahlungen I. Das erste Pariser Tagebuch, SW 2, S. 279 f.). 25 Jünger: Annäherungen, S. 21. 26 Alexander Pschera, (Hg.): Bunter Staub. Ernst Jünger im Gegenlicht, Berlin 2008. Der Rausch wird dort als „Gegenteil“ der „Désinvolture“ bezeichnet - einem anderen Zentralbegriff Jüngers, der so etwas wie machtgestützte Souveränität und Gelassenheit impliziert. Jörg Magenau 52 kein echter Traum [...]. Rausch ist ein künstliches Paradies. Und in dessen Künstlichkeit entsteht dann, unter Umständen, eine andere Person.“ 27 Das trifft die Stimmungslage bei Ernst Jünger ziemlich genau und weist zurück auf das dem Buch vorangestellte Motto Martin Heideggers: „Bleiben aber ist ein Zurückkehren.“ Es beschreibt vielleicht weniger die Person Ernst Jünger als sein Werk. Denn das, was da entstand, ist ja selbst oft genug rauschhaft: die Exzesse des Krieges aus In Stahlgewittern und den Schriften der zwanziger Jahre, die surrealistischen Traumbilder in Das abenteuerliche Herz oder die apokalyptischen Visionen in Auf den Marmorklippen. Den Rausch zu leben, hieß für Jünger, ihn zu kontrollieren und in ein Forschungsgebiet zu verwandeln. Deshalb findet er nur in seinen Büchern statt. Im Text. Und in den Köpfen der Leser, weil ja jede gelungene Literatur ein Aufbruch in andere Welten ist. Ein Einstieg. Eine Annäherung. 27 Ebd., S. 163. Joana Günther Die Kunst der träumenden Bewegung am Berg bei Nietzsche Einleitung Nietzsches Philosophie stellt einen Wendepunkt von der rein rational, logisch verstandenen Denkweise zurück zu einer intuitiven, naturverbundenen Denkart, einer Philosophie des Leibes dar. Sein gesamtes Werk ist eine Philosophie der Bewegung, eine ständige Entwicklung, ein ewiges Werden. Diese Bewegung darf von Beginn an nicht als eine lineare Bewegung verstanden werden, sondern vielmehr als eine Kreisbewegung, in der es immer wiederkehrend möglich wird, Gegensätzliches zu vereinen, ohne es ineinander verschwimmen zu lassen. Eine zentrale Figur für diese bewegte Philosophie ist Nietzsches Wanderer und Bergsteiger, zu welchem konstitutiv das Wandern, als heimatloses Umherstreifen, hinzugedacht werden muss. Das Bergsteigen stellt die erste Stufe der höheren Bewegungsformen dar, auf die das Tanzen und schlussendlich als höchste Form der Bewegung das Fliegen folgen. Diese fließend ineinander übergehenden Bewegungsformen setzen implizit die Kunst der Bewegung am Berg voraus, die damit den Anfang der Bewegung an sich ausmacht und daher die Grundlage der folgenden These ist. Es ist die Bewegung, in welcher der Mensch zum Wanderer und zum Überwinder seines bisherigen Ichs wird. Damit ist schon angedeutet, dass es sich hierbei nicht um ein subjektivistisches Weltbild Nietzsches handeln kann, sondern vielmehr die Bewegung an sich, als eine schaffende Bewegung, zu welcher der Bergsteiger bzw. Wanderer konstitutiv dazugehören, im Mittelpunkt steht. Die zu verifizierende Annahme ist daher folgende: Die träumende Bewegung am Berg ist eine schaffende Bewegung, in der sich der Bergsteiger zunächst verliert, um zu seinem eigentlichen, ganzheitlichen Selbst zu finden. Diese Ganzheitlichkeit des Selbst schließt das Ich mit ein, jedoch als bewegten und veränderbaren Teil, der je und je überwunden werden kann und muss, um in die Bewegung einzugehen. Falls diese These bestätigt werden kann, ist das Bild des Berges nicht als simple und ersetzbare Metapher zu verstehen, sondern als der konstitutive Grundbaustein von Nietzsches Lehre vom Schaffenden. Dazu ist es vonnöten, zunächst den Anfang des sich windenden Weges und damit auch den Beginn der Bewegung genauer auszumachen, um die Frage zu klären, wie der Bergsteiger überhaupt auf seinen Weg gelangt. Dies führt zu der Untersuchung des Weges an sich, als eines Weges der Größe, und seiner inneren Verbundenheit mit dem Bergsteiger. Nach der Betrachtung des Schmerzes und des Abgrundes, die mit den unvermeidlichen Gefahren des Joana Günther 54 Bergsteigens einhergehen, wird zuletzt die Bedeutung des Augenblicks des Genusses der Bewegung und der vollkommenen Schönheit untersucht und schlussendlich die Unumgänglichkeit der Bergmetaphorik in Nietzsches Philosophie zusammenfassend dargestellt. Zuvor muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass sich die folgende Auseinandersetzung mit dem Wanderer, der sich in den Bergen bewegt, befassen wird. Um Missverständnisse zu umgehen, ist an dieser Stelle deutlich zu machen, dass der Wanderer in Nietzsches Werken nicht ausschließlich ein Bergsteiger ist, sondern auch Wüsten durchstreift und über Meere fährt. Die Landschaftsvielfalt, welche durch die Figur des Wanderers zu einer Einheit gebracht wird, ist jedoch ein anderes weites Thema, das den Umfang der Abhandlung übersteigen würde. Diese Auseinandersetzung beschränkt sich daher auf die Untersuchung des bergsteigenden Wanderers, um der Tiefe dieses Bildes gerecht werden zu können. 1 Der Anfang Die Bewegung des Bergsteigers ist elementar mit dem Weg verknüpft. Der Weg, um welchen es sich hierbei handelt, ist ein Weg der Einsamkeit, der voraussetzt, sich selbst aus der Herde 2 zu lösen und sich auf einen eigenen Weg zu begeben. Doch wie kommt es zu diesem Wendepunkt, was, wortwörtlich, bewegt den Wanderer dazu, den eigenen, viel gefahrreicheren und schwierigeren Weg der Einsamkeit auf sich zu nehmen und damit die scheinbare Sicherheit der Herde zu verlassen? Iwawaki-Riebel verortet in ihrer Dissertation den Ursprung des Wanderers in Europa und erklärt das Bedürfnis nach einem Perspektivwechsel, über die europäischen Grenzen hinaus, als Antrieb für die eigentliche Wanderschaft. Diese Fähigkeit der Erweiterung des eigenen Blickwinkels und das Einordnen des eigenen Selbst in einen größeren Kontext stellen für sie damit die zentralen Eigenschaften des Wanderers dar. 3 Unbestreitbar ist, dass dieser Perspektivwechsel, welcher zu einer Überwindung der europäischen Subjektivitätsphilosophie führen soll, fundamental zu der Figur des Wanderers und Bergsteigers hinzugehört, dennoch scheint diese Bestimmung nicht auszureichen. Sie würde Nietzsches Versuch, den Bergsteiger als zentrales Element seiner Philosophie, als fundamentale Expression der schaffenden Bewegung, zu konzipieren, nicht 1 Sean Ireton beschäftigt sich eingehend mit der Einheit der unterschiedlichen Landschaftsformen, durch welche der Wanderer streift, vgl. Sean Ireton: „Ich bin ein Wanderer und ein Bergsteiger“. Nietzsche and Zarathustra in the mountains, in Colloquia Germanica 42,3 (2009), S. 193-212, hier 197. 2 Hier bediene ich mich Nietzsches eigener Terminologie, siehe z. B. in Also sprach Zarathustra die 5. Vorrede über den letzten Menschen (Za, KSA 4, S. 20) oder das Kapitel Vom Wege des Schaffenden (Za, KSA 4, S. 80). 3 Toyomi Iwawaki-Riebel: Nietzsches Philosophie des Wanderers. Interkulturelles Verstehen mit der Interpretation des Leibes, Würzburg 2004, S. 141. Die Kunst der träumenden Bewegung am Berg bei Nietzsche 55 gerecht werden. Ginge es rein um die geistige Fortbewegung aus Europa, wäre der Wanderer eine zufällig gewählte Metapher und könnte auch durch einen Reiter oder einen anderen Reisenden ersetzt werden. Dass dem nicht so ist und der Wanderer, der auf seinen eigenen Füßen den Weg bestreitet, die einzig mögliche Figur für Nietzsches Philosophie darstellt, soll sich im Folgenden zeigen. Der Anfang und der Antrieb müssen daher, um dieser noch offenen Frage nachzugehen, in der Berg- und Wanderterminologie selbst gefunden werden. Die Tiefe, Einheit und Zusammengehörigkeit der Terminologie des Bergsteigens mit Nietzsches Philosophie kann nur durch ein selbst freies und die Bewegung ermöglichendes Denken erfasst werden. So kommt Jung schlussendlich zu dem Fazit seiner - nicht nur Riebels Monographie, sondern zudem zwei weitere Texte über Nietzsches Berg- und Wanderphilosophie betreffenden - Rezension, dass „die Beweglichkeit dieses Denkens unter schalen Generalisierungen zu begraben“ 4 der bisher eigentliche Hinderungsgrund bei der Erfassung der Tiefgründigkeit der Thematik sei. Die Bergmetaphorik stellt für Nietzsche also keinesfalls lediglich ein Vehikel zur schönen Ausformulierung seiner Gedanken dar, sondern ist ein fester und nicht zufällig gewählter Bestandteil seines philosophischen Vorhabens. Bei der Suche nach dem Beginn der Bewegung in der Bergterminologie selbst liegt daher eine andere Vermutung nahe, welche eher mit dem antikgriechischen Verständnis des thymós 5 einhergeht, nämlich die auffallend häufige Verwendung der Metapher der Füße, wenn es darum geht, einen steilen und steinigen Weg zu bestreiten. Die Füße scheinen bei Nietzsche eine Art enthusiasmós 6 und thymós darzustellen und damit der eigentliche Initiator der schaffenden Bewegung zu sein. Die Füße selbst treiben an und werden nicht zunächst vom Verstand beherrscht, sie sind es, welche den Weg erspüren und erlaufen können. Es sind die Füße, die den ersten Schritt wagen und es mit dem Berg aufnehmen können. Sie lassen, als Metapher für das Er-Fühlen des Weges, die fundamentale Bedeutung des Gefühls an sich einsichtig werden, denn das Herz steht vor dem Verstand, wenn der Mut gefragt ist, ein Wagnis einzugehen: „Man sollte keine neuen Wege gehen, wenn unser Herz nicht noch kühner ist als unser Kopf“ (NF, KSA 9, S. 27). Der Beginn eines Weges kann und muss also als ein Wagnis gesehen werden, welches lediglich von starken Füßen, im antik-griechischen Verständnis von einem stark ausgeprägten 4 Joachim Jung: Nietzsches Philosophie des Wanderers, in Nietzsche-Studien 37 (2008), S. 323-342, hier 342. 5 Die Bedeutungsspanne des altgriechischen Wortes thymós reicht von Übersetzungen wie das „Lebendige“, sich „Regende“ und dem „Lebensmut“ bis hin zur „heftigen Begierde“ oder gar dem „Zorn“ (vgl. „Thymós“ in Franz Passow: Handwörterbuch der griechischen Sprache, Bd. 2, Leipzig 2004). In dieser Abhandlung wird thymós als der Mut und die Lebenskraft verstanden, die für das Gehen des eigenen Weges erforderlich sind. 6 Enthousiasmós, übersetzt mit „göttliche Einwirkung“, „Begeisterung“ oder „Verzückung“, wird hier als die Intuition der Ganzheit verstanden. (vgl. „Enthousiasmós“, in Passow: Handwörterbuch). Beides, die Intuition und der Mut müssen zusammenspielen, um die Bewegung anheben zu lassen. Joana Günther 56 thymós, aufgenommen werden kann. Schon an dieser Stelle wird angedeutet, dass es sich um eine ganzheitliche leibliche Bewegung und gerade nicht um eine rein rationale Bewegung des Verstandes handelt. Diese Bewegung wird am ehesten durch den Traum oder das Träumerische zum Ausdruck gebracht. Der Traum ist weder Phantasterei noch ein bloßes Vorstellen, sondern vielmehr gerade die gelebte Bewegung des Denkens selbst, die auch das Unbewusste, das nicht kognitiv Erfassbare, enthält. Das Vorstellen würde in dieser Hinsicht zu kurz greifen, da es gerade nur kognitiv etwas einseitig vor das Subjekt stellt und nicht das Unbewusste miteinschließt. Aber auch die Phantasterei trifft die Denkbewegung, die Nietzsche ausdrückt, nicht. Sie führt in eine jenseitige Sphäre, fernab des Lebens, sodass gerade darin der große Unterschied besteht: Der Traum kann gelebt werden. Er ist als unbewusste Welt daher zentral für die Ausführung der Bewegung. „Die meisten Bewegungen im Einüben sind Versuche, und der Intellekt bejaht die gelungenen, er erzeugt sie nicht“ (NF, KSA 10, S. 405). Für die Erzeugung der Bewegung ist daher das Bild der Füße, die den Weg in ihrer unmittelbaren Verbundenheit zur Erde erspüren, entscheidend. Der Verstand kann lediglich im Nachhinein den Weg als solchen bejahen und überblicken. Aufgrund dessen ist es der Fuß und nicht der Kopf, der den Kampf gegen den Geist der Schwere auf sich nimmt und damit elementar mit dem Bedürfnis nach Leichtigkeit verbunden ist: Ein Pfad, der trotzig durch Geröll stieg, ein boshafter, einsamer, dem nicht Kraut, nicht Strauch mehr zusprach: ein Berg-Pfad knirschte unter dem Trotz meines Fusses. Stumm über höhnischem Geklirr von Kieseln schreitend, den Stein zertretend, der ihn gleiten liess: also zwang mein Fuss sich aufwärts. Aufwärts: - dem Geiste zum Trotz, der ihn abwärts zog, abgrundwärts zog, dem Geiste der Schwere, meinem Teufel und Erzfeinde. (Za, KSA 4, S. 198) Der Fuß drängt Aufwärts immer weiter hinauf in luftige Höhen und voran, sucht sich den harten Bergpfad als Weg, um den Geist der Schwere endlich abzuschütteln und in der Bewegung leichter werden zu können. So besitzt der thymós die Leichtigkeit, den Anfang eines Wagnisses einzugehen, das noch nicht vom Verstand erfasst werden kann. Das Bedürfnis nach Leichtigkeit in der denkenden Bewegung führt über den steinigen Bergpfad, um die Füße zu stärken, die Bewegung des Gehens zu erlernen und schlussendlich zu tanzen und zu fliegen; analog dazu den Mut auszubilden, um je und je weitere Wagnisse eingehen zu können. Dieser Prozess des Leichterwerdens ist einem Schaffensprozess gleich, in welchem das Werk im Mittelpunkt des Geschehens steht. Der Schaffende muss ebenso wie der Bergsteiger Zeiten des Zweifelns, des Abwägens der Gefahr und des Scheiterns in Kauf nehmen, um die Bewegung fortzusetzen und die Möglichkeit, ein gelungenes Werk zu schaffen oder den Gipfel zu erreichen, wahrzunehmen. Diese Entwicklung ist daher auch von stetiger Übung bestimmt, da es sich um eine Bewegung handelt, in der kein Schritt übersprungen werden kann. Lediglich können durch eine gewisse Beständigkeit die Schritte größer und leichter werden: „Wie willst du tanzen lernen, wenn du nicht einmal gehen lerntest! Und über dem Tanzenden ist Die Kunst der träumenden Bewegung am Berg bei Nietzsche 57 noch der Fliegende und seine Seligkeit“ (NF, KSA 10, S. 556). Diese verschiedenen, aufeinanderfolgenden und fließend ineinander übergehenden Bewegungsformen bilden einen einheitlichen Prozess des Schaffens, doch dazu muss der Mensch bereit sein, sein früheres Ich je und je aufzugeben, um sich dieser Bewegung als Teil derselben, nämlich als Wanderer, hinzugeben. Darin liegt gerade die Bestimmung des Wanderers, in der ständigen Veränderung. 7 Der Beginn der Bewegung durch die Füße darf daher nicht als einmaliges Geschehen missverstanden werden. Die Füße stellen nicht nur den ersten Beginn, sondern einen immer wiederkehrenden Neuanfang und Wendepunkt dar: „Oh Zarathustra, sagten sie, nun liegst du schon sieben Tage so, mit schweren Augen: willst du dich nicht endlich wieder auf deine Füsse stellen? “ (Za, KSA 4, S. 271). Auf die Füße stellen bedeutet, bildlich vorgestellt, wieder Kontakt mit der Erde aufzunehmen. Die Fußsohlen berühren die Erde und sind ihr wieder treu. Durch diese Berührung wird die Fortbewegung, nach vorangegangener Überwindung der alten Bewegungsform und des bisherigen Ichs des Wanderers, ermöglicht. Durch das Auf-die-Füße-Stellen wird ein Weitergehen denkbar. Rekapitulierend kann an dieser Stelle festgehalten werden, dass der Mensch aufgrund von starken Füßen, und entsprechend eines ausgeprägten thymós, auf seinem Weg angelangt ist und die Bereitschaft mitbringt, sein bisheriges Ich loszulassen 8 . Dennoch reicht dies nicht aus, um den besagten Weg auch tatsächlich zu gehen. Der Wanderer muss den Weg, den seine Füße gehen und gehen wollen, auch mit seiner Vernunft bejahen, insofern er sich ganzheitlich auf das Wagnis, welches sich mit seinem eigenen Weg vor ihm auftut, einlässt, indem er die Bewegung mitgeht. Das bedeutet, er muss ganz Bergsteiger werden, seine gewohnten Bahnen hinter sich lassen und dem Weg der Einsamkeit durch seine Berglandschaft folgen. Daher ist es nun an der Zeit, den Weg als solchen, den Weg durch die Berge, genauer zu betrachten. Der Weg durch die Berge Der Weg, auf welchem sich der Gang ereignet, ist keineswegs mit einer geradlinigen, vom Verstand vorausschauend geplanten und im Anschluss gebauten Straße gleichzusetzten. Er kommt vielmehr einem mäandrierenden Lebensstrom gleich, dessen Windungen sich entwickeln und verändern, wodurch der zukünftige Verlauf ungewiss bleibt. Die Wegwindungen sind Ausdruck dieser Unvorhersehbarkeit und implizieren die ständige Bewegung und Entwicklung des Weges selbst, der niemals etwas Statisches sein und werden kann. Daher ist 7 „Es muss in ihm selbst [im Philosophen und Wanderer] etwas Wanderndes sein, das seine Freude an dem Wechsel und der Vergänglichkeit habe.“ MA, KSA 2, S. 363. 8 Das Loslassen und damit der Verlust des bisherigen Ichs schließt eine Öffnung mit ein, weg von einer starren Subjektzentriertheit hinein in eine Bewegung der Ganzheitlichkeit. Das Ich findet damit zurück in das ganzheitliche Selbst. Joana Günther 58 es kein Zufall, dass Nietzsche den Weg unter anderem durch Berglandschaften führen lässt, in welchen der Fluss seinem natürlichen und wilden Verlauf folgt. Gewiss könnte das Bild der Berge in Nietzsches Schriften leichtfertig mit seinem persönlichen Bezug zu den Schweizer Alpen, in deren Gegend er sich während des Schreibens oft aufgehalten hat, begründet werden, doch reicht dieser Bezug nicht aus, um die tiefe Verwurzelung der Berge in Nietzsches Philosophie zu erfassen. So schreibt Nietzsche im Vorwort zu Ecce Homo: „Philosophie, wie ich sie bisher verstanden und gelebt habe, ist das freiwillige Leben in Eis und Hochgebirge“ (EH, KSA 6, S. 258). Die Berge sind also nicht als banale Metapher zu verstehen, sondern vielmehr als Inbegriff seines philosophischen Denkweges. Sobald nun der Weg über Berge und durch Täler führt, sind Höhen und Tiefen mit eingeschlossen, daher ist es sinnvoll, den Berg als solchen genauer zu betrachten. Der Berg ist bestimmt durch die vertikale Differenz zwischen dem Meeresgrund und dem Gipfel, die Höhe, welche den Abgrund immer schon mit einschließt. Aus der Ferne und direkt am Fuße des Berges lassen sich Höhe und Abgrund nicht durch stillstehendes Beobachten einsehen: Es braucht die Bewegung, um den Berg als solchen zu erfahren. Führt der Weg über den Berg, muss auch der Wanderer diese Bewegung des Über mitvollziehen, er muss den Berg, als Teil seines Weges, über-winden. Der Weg wird damit zu einem Weg der Überwindung und, falls diese tatsächlich geschieht, zu einem Weg der Größe. Resümierend ist der Berg Teil des Weges, der den Menschen zuallererst hin zum Über führt und damit auch Teil der Bewegung des Menschen hin zum Übermenschen. Sich selbst in dieser Bewegung vorfindend wird der Mensch zu einem Bergsteiger, der den Berg als solchen und damit das Über seines Weges erfahren kann. Der vergangene Weg kann hierbei keinen Aufschluss über die zukünftige Bewegung geben, die das Loslassen der Vergangenheit und das Einlassen auf den Weg selbst fordert. Daraus folgt, dass je ausgeprägter der thymós ist und je tiefer sich der Bergsteiger seinem Dasein hingeben kann, desto näher kommt er seinem Weg der Größe: „Du gehst deinen Weg der Grösse: das muss nun dein bester Muth sein, dass es hinter dir keinen Weg mehr giebt! “ (Za, KSA 4, S. 194). Es ist der einzig mögliche Weg, den es nunmehr gibt, kein anderer Weg kommt mehr in Frage, er ist sogar seine (Zarathustras) letzte Zuflucht geworden. Der Blick weg von der Vergangenheit und hin in die Zukunft lässt den Mut des Bergsteigers zu seiner vollen Größe aufblühen. Die Höhe des Berges, im alltagsprachlichen Sinn, scheint auf den ersten Blick eine messbare, quantitative Distanz zu sein. Doch die Höhe bei Nietzsche findet sich immer vereint mit dem Abgrund, beziehungsweise der Tiefe wieder. Daher liegt es nahe, dass die Höhe in Nietzsches Berg-Terminologie vielmehr als Größe und Schönheit verstanden werden muss, im Gegensatz zu einer messbaren, quantitativen Höhe. So schreibt Nietzsche über den hohen, jedoch von ihm für nicht als schön empfundenen Montblanc: „die näheren Berge dort sind alle schöner und ausdrucksvoller, - aber ‚lange nicht so hoch‘, wie jenes absurde Wissen, zur Abschwächung, hinzufügt“ (MA, KSA 2, S. 641). Die Kunst der träumenden Bewegung am Berg bei Nietzsche 59 Die Größe schließt, im Gegensatz zur quantitativen Höhe, auch die Tiefe mit ein, sie lässt den Berg durch seine Abgründe groß werden, durch seine Zerklüftetheit und seine nicht einsichtigen Stellen. „Gipfel und Abgrund - das ist jetzt in Eins beschlossen! Du gehst deinen Weg der Grösse“ (Za, KSA 4, S. 194). In der Bewegung werden die Gegensätze zu einer Einheit vereint und damit groß. 9 Diese spannungsvolle Einheit fordert das Fortschreiten bis zu den scheinbaren Grenzen des Weges, an welchen ein Weitergehen unmöglich erscheint, jedoch auch eine Umkehr nicht mehr möglich ist. Dein Fuss selber löschte hinter dir den Weg aus, und über ihm steht geschrieben: Unmöglichkeit. Und wenn dir nunmehr alle Leitern fehlen, so musst du verstehen, noch auf deinen eigenen Kopf zu steigen. (Za, KSA 4, S. 194) Es ist der Punkt des Über, welcher das Steigen auf den eigenen Kopf fordert und den Weg der Größe ausmacht. Hier entscheidet sich, ob der Weg tatsächlich ein Weg der Größe wird und ob der Bergsteiger bereit ist weiterzugehen, über sich selbst hinauszusteigen, um die Bewegung nicht zu unterbrechen. Ist jedoch der Moment der Entscheidung gekommen und die Größe des Über wird erahnt, scheint die Entscheidung bereits gefallen zu sein: Und noch Eins weiss ich: ich stehe jetzt vor meinem letzten Gipfel und vor dem, was mir am längsten aufgespart war. Ach, meinen härtesten Weg muss ich hinan! Ach, ich begann meine einsamste Wanderung! Wer aber meiner Art ist, der entgeht einer solchen Stunde nicht: der Stunde, die zu ihm redet ‚Jetzo erst gehst du deinen Weg der Grösse! ‘ (Za, KSA 4, S. 193 f.). Der letzte Gipfel deutet schon an, dass es sich nicht nur um einen einzigen Berg, der den Anschein eines Absoluten erwecken könnte, handelt. 10 Vielmehr führt der Weg über viele Berge und fordert je und je eine Überwindung. Der augenblickhafte Charakter des Antrittes der einsamsten Wanderung wird immer wiederkehrend eintreten. Diese ständige Überwindung entspricht einem Schaffensprozess, in welchem der Mensch zum Übermensch werden kann. Der Berg ist, in der Terminologie des Schaffens gesprochen, ein Werk, welches von dem Bergsteiger, dem Schaffenden zunächst angegangen und schlussendlich auch überwunden oder, anders ausgedrückt, vollendet werden muss. Während des Gehens auf dem Weg entstehen Berge von Größe. Dabei ist das Schaffen eines Werkes, genauso wie ein Berg im Gebirge, nicht einzeln zu denken, sondern vielmehr als eine individuelle Landschaft, in welcher „der Erkennende“ lernen soll, „mit Bergen [zu] bauen! “ (Za, KSA 4, S. 134). 9 Sean Ireton geht auf die horizontale Bewegung des Bergsteigers ein, indem er den Seiltänzer als Bergsteiger interpretiert. Diese Auslegung stärkt das Verständnis der Höhe als Größe und des Abgrundes als nicht zwingend vertikale Distanz. Ireton: Wanderer und Bergsteiger, S. 199. 10 Bolland stellt in seiner Dissertation fest, dass in Nietzsches Werk nie von dem einen Berg, sondern immer von Bergketten und Gebirgen die Rede ist, und führt daraufhin diese Untersuchung noch weiter fort: Mark Edmund Bolland: Nietzsche and mountains, http: / / etheses.dur.ac.uk/ 1579/ (Stand 16.02.16), S. 31. Joana Günther 60 An dieser Stelle ist festzuhalten, dass es sich bei der Bewegung der Größe um eine wechselseitige Bewegung zwischen dem Bergsteiger und dem Wachstum des Berges handelt. Je erfahrener der Bergsteiger, desto höher wachsen seine Berge - je mutiger der Schaffende, desto größer werden seine Werke. Das bedeutet, dass es hier im Ganzen nicht um eine rein vom Subjekt ausgehende Bewegung geht. Von „sich selbst absehen lernen ist nötig“, um den Weg der Größe zu gehen, das eigene Ich loszulassen, um sich der Bewegung und dem Gang vollständig hingeben zu können, um den nächsten Schritt klar zu sehen, den schmalen Weg weiter in die Höhe zu steigen und endlich „heim“ zu kehren (Za, KSA 4, S. 193). Zurück nach Hause zu gelangen heißt zum eigenen selbst zurückzufinden, was nur im Prozess des Schaffens geschehen kann. Je leichter die Bewegung des Bergsteigens wird, je mehr sie sich in Richtung Fliegen bewegt, desto mehr muss sich das Subjekt als solches hingeben, um mit dieser schaffenden Bewegung eins zu werden, um etwas entstehen zu lassen und zu sich zurückzukehren. Zarathustra ist Bergsteiger geworden und in allem, was ihm auf seinem Weg begegnen wird, wird „ein Wandern […] sein und ein Bergsteigen: man erlebt endlich nur noch sich selber“ (ebd.). Durch das Absehen von dem eigenen Ich während des Ganges auf den letzten Gipfel kann Zarathustra über sich hinwegsteigen und „Hinab auf [sich] selber sehn und noch auf [seine] Sterne“ (ebd). Die Loslösung von allem Vergangenen, das bisherige Ich eingeschlossen, welche der Gang des eigenen Weges fordert, ist jedoch auch zwangsläufig mit Gefahren verbunden. Gefahr und Schmerz Es sind vor allem zweierlei Gefahren, welche dem Bergsteiger auf seinem Weg begegnen. Die erste Gefahr ist die Ungewissheit, mit welcher der sich windende Weg konstitutiv verbunden ist. Die zweite wird durch die Abgründe hervorgerufen, die den Berg zu einem Berg machen. Beide Gefahren fordern das Eingehen eines Wagnisses, dies bedeutet jedoch auch immer die Möglichkeit der Überwindung und damit das Schaffen eines Werkes. Zunächst zur ersten Gefahr, der Ungewissheit, die das Bergsteigen immer schon mit sich bringt, da der Weg nicht vorhergesehen werden kann. Gleichzeitig trifft diese Gefahr den Kern von Nietzsches Lehre, dass „das Leben ein Mittel der Erkenntniss“ sein dürfe (FW, KSA 3, S. 553). Das Wagnis besteht jedoch vor allem darin, dass es in der Einsamkeit eingegangen werden muss. Diesen „andre[n]“ Weg, der „schwieriger, verschlungener und steiler“ ist, muss der Bergsteiger in seiner Einsamkeit gehen, auf seinen eigenen Füßen. 11 Der Weg fordert die Isolation von der Herde, zwar bestreiten Gefährten mit ihm den Weg, dennoch könne diese dem Wanderer beim Gehen nicht behilflich sein. 11 Friedrich Nietzsche: Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten, in KGW III,2, S. 133- 244, hier 220. Die Kunst der träumenden Bewegung am Berg bei Nietzsche 61 In dieser Einsamkeit, fernab von dem Lärm des Erfolges, dem Getümmel der Masse, findet der Wanderer seine Stille, die ihm eine Schaffensquelle darstellt. Denn es sind „[d]ie stillsten Worte […], welche den Sturm bringen. Gedanken, die mit Taubenfüssen kommen, lenken die Welt“ (Za, KSA 4, S. 108). Sich der Stille hingeben, ist gleichzeitig ein Sich-der-Stille-Aussetzen, in welcher die Ungewissheit zu einem Schmerz werden kann. Doch erst durch dieses Sich- Ausliefern, wird die Stille selbst zur Quelle des Schaffens. Wortwörtlich sprudelt aus dieser die Kraft, etwas entstehen zu lassen, heraus: So mag es wohl einmal dem Wanderer ergehen; aber dann kommen, als Entgelt, die wonnevollen Morgen anderer Gegenden und Tage, wo er schon im Grauen des Lichtes die Musenschwärme im Nebel des Gebirges nahe an sich vorübertanzen sieht, wo ihm nachher, wenn er still, in dem Gleichmaass der Vormittagsseele, unter Bäumen sich ergeht, aus deren Wipfeln und Laubverstecken heraus lauter gute und helle Dinge zugeworfen werden, die Geschenke aller jener freien Geister, die in Berg, Wald und Einsamkeit zu Hause sind und welche, gleich ihm, in ihrer bald fröhlichen bald nachdenklichen Weise, Wanderer und Philosophen sind. (MA, KSA 2, S. 363) Der Wanderer hat den Abend zuvor durchgehalten, die Nacht der Ungewissheit, die schmerzvolle Einsamkeit, die sich in diesem Morgenmoment zu einer schönen Einsamkeit wandelt. Schmerz und Schönheit hängen im Schaffensprozess unweigerlich miteinander zusammen. Der Schmerz muss bejaht werden, um einen Berg zu besteigen und gehört damit zu diesem Geschehen hinzu. Diese gutartige Einsamkeit zählt zu dem hohen Schmerz, aus welchem Schönheit in Form eines Werkes entstehen kann. Die Stille, als konstitutive Voraussetzung, bietet dem Bergsteiger, dem Inbegriff des Einsamen, den Raum, eine „erste Bewegung“, ein „aus sich rollendes Rad“ zu sein (Za, KSA 4, S. 80). Die Kraft und Macht für diesen Schaffensweg muss aus dem eigenen Selbst herauskommen, sie ist die Freiheit, die sich in der Einsamkeit eröffnet. Es ist der zuvor angesprochene thymós, der den Bergsteiger in seinem Herzen antreibt. In gleicher Weise kann diese einmal angefangene Bewegung schmerzvoll werden, gleich einer sprudelnden Quelle, aus welcher heraus ein Über-Fluss entströmt und nicht ablaufen kann: „Also vergiengen dem Einsamen Monde und Jahre; seine Weisheit aber wuchs und machte ihm Schmerzen durch ihre Fülle“ (Za, KSA 4, S. 105). Der Bergsteiger kann, einmal angefangen, die Bewegung des Bergsteigens nicht mehr beenden, ohne einen tödlichen Absturz zu riskieren. Doch der Bergsteiger erkennt bald, dass die Einsamkeit seine einzige Heimat werden kann, da sie die Quelle ist, welche die Kraft für den weiteren Weg in sich birgt. „Oh Einsamkeit! Du meine Heimat Einsamkeit! Zu lange lebte ich wild in wilder Fremde, als dass ich nicht mit Thränen zu dir heimkehrte! “ (Za, KSA 4, S. 231). 12 12 Auch Riebel schreibt von dieser neuen geistigen Heimat der Einsamkeit: „Wo aber ist Zarathustras Heimat? Er hat in der Tat seine Heimat verlassen, die Einsamkeit aber ist für ihn eine neue Heimat, d. h. die geistige Heimat.“ Iwawaki Riebel: Nietzsches Philosophie des Wanderns, 27. Joana Günther 62 Die zweite Gefahr, die ständige Präsenz des Abgrundes, kann ebenso nur im Fluss der Bewegung des Bergsteigens ausgehalten werden. Das Risiko einzugehen, sich überhaupt in die Nähe des Abgrundes zu begeben, ist evident notwendig, um auf hohe Berge steigen zu können und damit, konkret gesprochen, auch notwendig, um Nietzsches Philosophie zu verstehen. Das Bergsteigen führt immer wieder in die Nähe der Abgründe, welche umso tiefer sind, je höher die Berge werden. Nur wer zunächst in die Tiefe des Abgrundes hinabgestiegen ist, kann in die Höhe des Berges aufsteigen. Auch hier findet sich also die unumgängliche Ganzheitlichkeit von Tiefe und Höhe wieder. Wie aus dem Meer heraus die Berge entstehen, wird aus dem Abstieg der Aufstieg ermöglicht: „Aus dem Tiefsten muss das Höchste zu seiner Höhe kommen“ (Za, KSA 4, S. 195). Die Tiefe des Schmerzes muss erfahren werden. Das bedeutet, bis hin zur Todesgefahr 13 , zum Schmerz des Todeszeitpunktes vorgedrungen zu sein. Diese Todesgefahr taucht als „ein Abgrund“ auf. Alles scheint „plötzlich zum Gestein und Absturz geworden“ zu sein (NF, KSA 9, S. 621). Gleichzeitig treibt dieser Augenblick die Bewegung paradoxerweise weiter in die Höhe. Durch die ganzheitliche Verbindung des Gegensatzpaars am Berg, der Tiefe und der Höhe, wird eine Spannung aufgebaut, welche vom Bergsteiger ausgehalten werden muss, denn aus ihr wird im gleichen Zug die Bewegung der Zukunft geboren. 14 Als wesentlicher Bestandteil des Schaffensprozesses ist der Abgrund damit auch Teil der Erfahrung des Selbst. Diese Selbstfindung während der Bewegung des Bergsteigens und die dafür konstitutiven Abgründe werden in Jenseits von Gut und Böse einsichtig: „Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein“ (JGB, KSA 5, S. 98). An dieser Stelle wird die Eigendynamik des Abgrundes, der selbst zum Sehenden werden kann, ausformuliert. Es handelt sich nicht um eine einseitige Bewegung des Bergsteigers, der in die Abgründe hinabsteigt, um Berge hinaufsteigen zu können, sondern die Abgründe steigen auch in die innersten Tiefen seines Selbst hinab. Eindrücklich wird dieser Zusammenhang auch von Zarathustra erfahren: „In deine Höhe mich zu werfen - das ist meine Tiefe! [...] Du Licht-Abgrund! - in alle Abgründe trage ich da noch mein segnendes Ja-sagen“ (Za, KSA 4, S. 207-209). Der Lichtabgrund gleicht einem Himmel, in welchen sich Zarathustra hineinwerfen möchte, Höhe und Tiefe scheinen nicht mehr unterscheidbar zu sein. Bemerkenswert ist hierbei, dass dieses Hineinwerfen in die Höhe in seine eigenen Tiefen führt. Die Angst vor dem Abgrund wird damit in eine bejahende Liebe verwandelt, eine Liebe zur ganzheitlichen Bewegung, die den Verlust des bisherigen Ichs in Kauf nimmt. Im Augenblick der Konzentration auf das Bergsteigen, 13 Der Tod wird hier im weitesten Sinn als Abschiedsmoment verstanden. 14 Vivette Vivarelli beschreibt in ihrem Aufsatz Nietzsches Abgründe dieses Zusammenspiel von Berg und Abgrund als Zeitpunkt der Geburt des Über: „Im anschaulichen Spiel der Umkehrung im Zarathustra entsteht aus dem Abgrund des Nichts wie ein umgestülpter Hut des Übermenschen Berg der Menschen-Zukunft.“ Vivette Vivarelli: Wo der Fels selbst schaudernd zur Tiefe blickt: Nietzsches „Abgründe”, in Zeitschrift für Ideengeschichte 5 (2011), S. 5-17, hier 7. Die Kunst der träumenden Bewegung am Berg bei Nietzsche 63 auf den träumerischen Bewegungsfluss, wird dem Bergsteiger sein Selbst leiblich spürbar. Ich bin plötzlich mitten in diesem Traume erwacht, aber nur zum Bewusstsein, dass ich eben träume und dass ich weiterträumen muss, um nicht zu Grunde zu gehen: wie der Nachtwandler weiterträumen muss, um nicht hinabzustürzen. (FW, KSA 3, S. 417). Dieses Bewusstsein über den eigenen Traumzustand ist fundamental für das Bergsteigen, denn durch das Gewahrwerden ist es möglich, der inneren Intuition, den eigenen Füßen bzw. dem enthusiasmós zu vertrauen. Erst dadurch kann die Bewegung fließender und leichter, zu einem Bewegungsfluss 15 werden, sich wandelnd vom Gehen, über das Tanzen bis hin zum Fliegen. Diese leichte, träumerische Bewegung bewahrt vor dem Sturz in den Abgrund. In den Unzeitgemäßen Betrachtungen und in Menschliches Allzumenschliches finden sich diese Bilder des Tanzes am Abgrund wieder, welche, wie Vivette es ausdrückt, das „Abmessen der Schritte“ verhöhnen und damit die träumerische Bewegung zur einzig möglichen in der Nähe des Abgrundes machen. 16 Augenblicke der Schönheit Nachdem nun der Schmerz genauer behandelt wurde, welcher die Tiefe des Abgrundes eröffnet, ist es nötig, die Aussicht, die ein Bergsteiger auf seinem Weg wohl als Augenblick der Vollkommenheit bezeichnen würde, genauer zu betrachten. Dennoch darf nicht vergessen werden, dass auch hier Aussicht und Abgrund wieder als untrennbar und zusammengehörig verstanden werden müssen. Der genussvolle Augenblick der Aussicht und des Überblickes gehört, ebenso wie die Angst im Angesicht des Todes, am Abgrund zum Bergsteigen hinzu. Diese Momente des Innehaltens in der Bewegung geben den Rhythmus derselben vor und treiben dadurch die Bewegung mit neuem Schwung weiter an. Solche Augenblicke dürfen nicht als Stillstand betrachtet werden, sondern sie sind vielmehr zentrale Teile der Bewegung als Ganzes. Hier wird sich der Bergsteiger seiner träumenden Bewegung bewusst, er erkennt die Kraft derselben und erahnt die Vollkommenheit seines Werkes. Es sind die Momente, in denen die Stille zu dem Hinaufsteigenden spricht und sich die Musen gütig zeigen. „Die Liebe, der Frühling, jede schöne Melodie, das Gebirge, der Mond, das Meer — Alles redet nur einmal ganz zum Herzen“ (MA, KSA 2, S. 337). Der Augenblick an sich vereint Gegensätze zu einer Schönheit, in ihm treffen Ewigkeiten aufeinander und werden vereint. Es ist der Moment, in welchem die Spannung nicht nur erträglich, sondern zu einem Genuss wird, im Augenblick verwandelt sich der schreckliche Schmerz in einen hohen Schmerz, durch 15 Dieser Bewegungsfluss nähert sich auch dem modernen Phänomen des Flows (beim Bergsteigen, Klettern, aber auch beim philosophischen Denken und Schreiben) an. 16 Vivarelli: Nietzsches Abgründe, 14. Joana Günther 64 die Schönheit der vereinten Gegensätze. Nach dem mühsamen Aufstieg erreicht Zarathustra diesen Moment des Augenblicks der Ewigkeit: Siehe diesen Thorweg! Zwerg! sprach ich weiter: der hat zwei Gesichter. Zwei Wege kommen hier zusammen: die gieng noch Niemand zu Ende. Diese lange Gasse zurück: die währt eine Ewigkeit. Und jene lange Gasse hinaus — das ist eine andre Ewigkeit. Sie widersprechen sich, diese Wege; sie stossen sich gerade vor den Kopf: — und hier, an diesem Thorwege, ist es, wo sie zusammen kommen. Der Name des Thorwegs steht oben geschrieben: „Augenblick“. (Za, KSA 4, S. 199 f.) Zwei ewige Wege, welche von sich her nicht zu Ende gegangen werden können, treffen sich an diesem Tor und werden als sie selbst gegenwärtig; in diesem einen Moment wird die Ewigkeit als Ewigkeit eingesehen, dadurch wird der Augenblick selbst, als Inbegriff der Vergänglichkeit, zu einem Moment der Ewigkeit. Diese scheinbare Paradoxie kann mit der ewigen Wiederkehr des Gleichen 17 in Verbindung gesetzt werden, insofern diese Augenblicke einzigartig und ganzheitlich gedacht werden. In ihnen geht eine Ewigkeit auf, doch selbst ist der einzelne Augenblick vergänglich. Die Ewigkeit des Augenblicks besteht daher in der fortwährenden Wiederkehr dieser Ganzheitsmomente. Zarathustra wird immer wieder mit seinem Geist der Schwere an diesem Punkt des Weges, dem Augenblick, angelangen und dort je und je die Ewigkeit erfahren. Trotz dieser immensen Bedeutung des Augenblicks ist er gerade nicht durch Lärm und Aufruhr, sondern im Gegenteil durch Stille und Einfachheit bestimmt: „Das Wenigste gerade, das Leiseste, Leichteste, einer Eidechse Rascheln, ein Hauch, ein Husch, ein Augen-Blick — Wenig macht die Art des besten Glücks. Still! “ (Za, KSA 4, S. 344). Plötzlich wird das harte Bergsteigen zu einem Genuss. Das Werk wird in der Bewegung vollendet und der Bergsteiger spürt in diesem Fluss sein Dasein als Bergsteiger. Es ist ein Moment der Ganzheitlichkeit, die Welt ist „rund und reif“ (Za, KSA 4, S. 344). In der Terminologie des Schaffens gesprochen, entsteht hier eine Einheit zwischen dem Schaffenden und seinem Werk. Das Werk an sich steht unanfechtbar im Mittelpunkt, es ist das Eigentliche, das, worum es geht, und doch findet sich der Schaffende immer schon in seinem Werk vor. Es ist dasjenige, das im vorhergegangenen als das Selbst des Schaffenden bezeichnet wurde. Dieses Selbst braucht es essentiell bei der Entstehung des Werkes, denn das Selbst ist das Schaffende des Schaffenden. Um diesen Augenblick zu erfahren, braucht es die Bewegung, jene, welche in der Einsamkeit und der Stille stattfindet, die träumende Bewegung am Berg, die den Bergsteiger sein Selbst fühlen lässt. Das Bergsteigen ist diese sich fortentwickelnde und im selben Moment verwandelnde Bewegung, welche vom 17 Die ewige Wiederkehr des Gleichen, die auch in der gegenwärtigen Nietzsche-Forschung eine noch immer offene Frage darstellt, ist wohl einer der schwierigsten Gedanken Nietzsches und kann an dieser Stelle nicht weiter ausbuchstabiert werden, da dies den Umfang dieser Arbeit bei weitem übersteigen würde. Die Kunst der träumenden Bewegung am Berg bei Nietzsche 65 Gehen bis hin zum Fliegen reicht. Das Fliegen trägt in die Luft, lässt die Aussicht noch weiter werden. Diese Form der Bewegung kennt keinen Stillstand und zeichnet sich durch ihre immer leichter werdende Art aus, die Bewegung vom Gehen, am Boden, bis zum Fliegen, in der Luft, wird immer schwereloser. An dieser Stelle muss jedoch noch einmal ausgeholt werden. Die Schwerelosigkeit bezieht sich hier nicht auf den Abstand zur Erde - dieser soll treu geblieben werden -, sondern vielmehr sind mit ihr die Entfernung zum Geist der Schwere und das Nahekommen zu dem eigenen selbst gemeint. „Und Zarathustra lief und lief und fand Niemanden mehr und war allein und fand immer wieder sich und genoss und schlürfte seine Einsamkeit und dachte an gute Dinge, — stundenlang“ (Za, KSA 4, S. 342). Diese kindliche, tanzende Leichtigkeit, dieser lustige Frohgemut ist es, aus welcher der Bergsteiger seine Kraft und Geduld für seine langen und harten Wanderungen schöpft. Sie ist es auch, die die Ewigkeit in einem Augenblick erscheinen lässt. Hat er die Berge oder die Masten mit „hurtigen Beinen“ erklommen, wird der Augenblick der seligen Vollkommenheit, der Aussicht kommen: „[A]uf hohen Masten der Erkenntniss sitzen dünkte mich keine geringe Seligkeit“ (Za, KSA 4, S. 244). Daher ist es nicht verwunderlich, dass der Bergsteiger je und je für diese Augenblicke der Klarheit bereit ist, wieder aufzubrechen: [W]illst du aber nicht heute auf einen hohen Berg steigen? Die Luft ist rein, und man sieht heute mehr von der Welt als jemals.“ — „Ja, meine Thiere, antwortete er, ihr rathet trefflich und mir nach dem Herzen: ich will heute auf einen hohen Berg steigen! (Za, KSA 4, S. 296) Schlusswort Es hat sich gezeigt, dass das Bild des Bergsteigers und des Wanderers der Inbegriff von Nietzsches Philosophie des Schaffens sind. In der Bewegung am Berg werden Höhe und Tiefe in einem Ganzen vereint, die dadurch entstehende Spannung ausgehalten und ein Werk geboren. Einem Traum gleicht diese Bewegung, der den Absturz in den Abgrund verhindert und gleichzeitig die Einsicht in die Tiefen des Innersten des Berges und auch des Bergsteigers ermöglicht. In der Hingabe an die Bewegung, im Fluss derselben, spürt sich der Bergsteiger als Bergsteigender in dem Augenblick des Aktes selbst. Dieser Bergsteiger ist damit ein Schaffender, welcher sich seinem Werk, in der Bewegung des Schaffens, hingibt und es damit vollenden kann. Die Terminologie des Bergesteigens scheint damit die einzig mögliche für Nietzsche zu sein, um seine Philosophie der Bewegung, in welcher Gegensätze vereint werden können, ohne sich aufzuheben, auszudrücken. In keinem anderen Bild vereinen sich das Werk und der Schaffende in einem harmonischen Wechselspiel so außergewöhnlich, wie auch der Bergsteiger mit dem Berg im Austrag der Bewegung. Aus dieser unbewussten, intuitiven Einheit heraus entsteht die Schönheit und Größe eines Werkes, die durch eine Joana Günther 66 rational geplante Denkweise niemals zustande kommen könnte. Damit gleicht diese Philosophie des Bergsteigens vielmehr einer Kunst, wie auch die Bewegung am Berg als eine Kunst bezeichnet werden kann, welche den Zugang zu einer Dimension der Größe eröffnet und im Augenblick Einsicht oder auch Aussicht in dieselbe gewährt. Sebastián Ochoa Aufnahmen Sebastián Ochoa 68 Aufnahmen 69 Sebastián Ochoa 70 Aufnahmen 71 Sebastián Ochoa 72 Aufnahmen 73 Sebastián Ochoa 74 Aufnahmen 75 Sebastián Ochoa 76 Aufnahmen 77 II. Gnôthi seautón Damir Barbarić Die Einkörperung der Seele nach Platons Phaidros „Ja, bei Hera, schön ist der Ruheplatz. Weit ausladend und hoch die Platane hier, prächtig der hohe Wuchs des Keuschbaumes und die schattige Atmosphäre; und weil er in Blüte steht, wird er den Platz mit süßestem Duft erfüllen. Und dann die Quelle, die allerliebst unter der Platane hervorsprudelt mit ganz kühlem Wasser, wie an den Füßen zu spüren ist. Nach den kleinen Figuren und Votivgaben zu urteilen, scheint der Ort den Nymphen und dem Acheloos geweiht zu sein. Und ferner, mit Verlaub, die frische Luft an diesem Ort, wie lieblich und überaus angenehm; sommerlich und hell tönt sie wieder vom Chor der Zikaden. Von allem aber das Herrlichste ist die Art der Wiese, wie sie in ihrer sanften Neigung, wenn man sich hinlegt, für den Kopf die ideale Unterlage bietet.“ 1 Wie sollte man in dieser schwärmerischen Schilderung am Anfang des Phaidros, durch deren diskrete Ironie der Eindruck von echter und aufrichtiger Begeisterung noch gesteigert wird, gerade Sokrates wiedererkennen, den Fremdling in der Natur, den eifrigen Liebhaber der Reden und der Gespräche, den unermüdlichen Sucher nach Gesprächspartnern innerhalb der Stadtmauern? Nicht nur der junge Phaidros, auch Sokrates selbst erklärt sich überrascht vom beinahe dithyrambischen Fluss der Worte, die wie von selbst aus ihm herausströmen, und kann sich dem Bann des Staunens nicht anders entziehen als dadurch, dass er seine eigene Begeisterung der geheimnisvollen Macht des göttlichen Orts zuschreibt. Ohne nach seinem sonstigen Brauch darauf zu bestehen, dass der Gesprächspartner durch seine Zustimmung oder Widerlegung die wache Teilnahme am Gespräch bezeugt, gibt er sich widerstandslos der Entzückung des Monologs hin: „In aller Stille also hör mir zu. Denn wirklich, der Platz scheint heilig zu sein, so dass du dich nicht wundern sollst, wenn ich im Fortgang der Rede etwa von Nymphen verzückt werde. Denn was ich bisher sage, klingt fast schon wie Dithyramben“ (238c9-d3). Sokrates ist hier offensichtlich weit entfernt von jener „Flucht in die Logoi“ aus dem Phaidon, wo er, in Angst davor, durch den übermäßig starken Glanz der Dinge in ihrem unaufhörlichem Entstehen und Vergehen blind zu werden, seine Zuflucht zur „zweiten Fahrt“ nahm, die darin besteht, nach der „Wahrheit des Seienden“ nicht mehr mittels „der Augen und eines jeden der anderen Sinne“ zu suchen. Stattdessen gilt es, das Werden der Dinge in der Ruhe und 1 Phdr. 230b2-c5. Die Übersetzung folgt mit einzelnen Veränderungen: Platon Werke, Übersetzung und Kommentar, Bd. III,4: Phaidros, Übersetzung und Kommentar von Ernst Heitsch, Göttingen 1993. Platons Phaidros wird im Folgenden in Klammern im Haupttext nach dieser Übersetzung und mit dem Hinweis auf die Stephanus-Paginierung zitiert. Damir Barbarić 82 Sicherheit der Logoi zu betrachten, d. h. in den „Bildern“ der Dinge, was in diesem Zusammenhang offenkundig in gleichem Maß die Worte wie die Aussagen, Bestimmungen und Voraussetzungen meint. 2 Im Unterschied dazu öffnet sich Sokrates im Phaidros den glänzenden Rätseln der werdenden und aufgehenden Natur, und zwar mit allen seinen Sinnen, nicht nur mittels der Sicht, sondern auch des Gehörs sowie des Geruchs- und Tastsinns. Um den Grund für diese überraschende Veränderung des Ansatzes zu finden, scheint es ratsam zu sein, dem Hinweis Ernst Hoffmanns zu folgen, der den Phaidros als Zeugnis von Platons neuem Naturbegriff sieht, der ihm aus der tieferen Einsicht ins Wesen des Lebens als unaufhörlicher Bewegung, die den Himmelskörpern und der menschlichen Vernunft auf gleiche Weise eignet, entsprungen ist. Aus dieser Grundbestimmung des Lebens als nie aufhörender Bewegung entstand auch der neue Seelenbegriff, der den Kern aller Darlegungen im Phaidros ausmacht. Die Seele wird jetzt verstanden und bestimmt als die immerwährende, sich selbst bewegende Grundkraft des Seins und des Werdens, durch die das Ganze des Himmels mit der irdischen Natur und dem Menschenleben unauflöslich verbunden ist. 3 Es ist nicht zu übersehen, dass Platon im Phaidros gewissermaßen zurück zu der im Phaidon abgewiesenen „naturphilosophischen“ Spekulation findet, vor allem jener von Alkmaion und Empedokles, die ihm offensichtlich ein neues Licht auf die noch älteren orphischen und pythagoreischen eschatologischen Lehren warfen, die zweifellos die tragende Grundlage für alles sind, was im Phaidros ausgeführt wird. Es ist öfters hervorgehoben worden, dass der wesentlich vertiefte Bewegungsbegriff, nachdem die Bewegung im Sophistes als eines der Seienden anerkannt wurde, Platon den Weg zur Auffassung des „vollständigen Seienden“ im Sinne des Lebens gebahnt hat, und das heißt der unerschöpflichen Kraft des Werdens. Als Ursprung und Quelle dieser Kraft wird im Phaidros die Seele erwiesen. Demnach geht es im Dialog zwar in erster Linie um die Seele 4 , nicht weniger aber um das Ganze der Natur, allerdings verstanden im Sinne der frühen φύσις . Etwas vereinfachend gesagt, kehrt Platon im Phaidros zum Bereich der natürlichen Bewegungen des Entstehens und Vergehens zurück und versöhnt sich gleichsam damit. Man könnte fast sagen, er nehme diesen irdischen Bereich als Wohnort des Menschen an, der, obwohl vorübergehend, mindestens zum Teil der ernsthaften Mühe wert ist. Es ist in diesem Zusammenhang sicher bezeich- 2 Phd. 99d-100b. 3 Ernst Hoffmann: Platon. Eine Einführung in sein Philosophieren, Reinbek 1961, S. 130. 4 Hermias erwähnt in seinem Kommentar zum Phaidros (Hermiae Alexandrini in Platonis Phaedrum Scholia, ad fidem codicis Parisini 1810 denuo sollati edidit et apparato critico ornavit P. Couvreur, Paris 1901, S. 8, 15-19, 10) nicht weniger als sechs in der Überlieferung konkurrierende Untertitel des Dialogs: „Vom Eros“, „Von der Rhetorik“, „Von der Seele“, „Vom Guten“, „Vom ersten Schönen“ und „Vom Schönen schlechthin“. Die Einkörperung der Seele nach Platons Phaidros 83 nend, dass er vom Phaidros an in seinem Spätwerk die „Ideen“ fast nie ausdrücklich, sondern nur gelegentlich, und dann nur mittelbar, erwähnt. 5 Muss die Philosophie dadurch, dass sie ihren sicheren Anhaltspunkt im ewigen, eines und dasselbe bleibenden, einförmigen, unbewegten und unbeweglichen Seienden verlässt und zur alten φύσις zurück findet, des sie auszeichnenden Abstands von aller Sophistik und Rhetorik, also der Künste des geschickten Zurechtfindens in vielfältigen Erscheinungen im Bereich des Werdens, verlustig gehen? Gewiss nicht. Denn die frühgriechische φύσις , zu der Platon im Phaidros zurückkehrt, um ihr dann im ganzen folgenden Werk verpflichtet zu bleiben, ist nicht wie die spätere ,Natur‘ ein begrenztes Teilgebiet des irdischen Seienden, vom Himmel und Himmlischem getrennt, das auf der Erde dem Menschen gegenübersteht und seiner vielfältigen Arbeitstätigkeit unterworfen ist. Zur umfassenden ursprünglichen φύσις gehören in gleichem Maß Erde und Himmel, leblose und lebendige Wesen, Menschen und Elemente, Götter und Welten. Demgemäß sind auch die Menschen, vom Blickpunkt des allumfassenden kosmischen Lebens aus betrachtet, nicht bloße Sterbliche, nur mit eigenen endlichen Zwecken und Zielen beschäftigt und gefesselt durch die Sorge um die Erhaltung und Rettung ihres endlichen Lebens. Ob sie es wissen oder nicht, sind sie vielmehr durch ihre Seele die Verwandten von Göttern, Heroen und Dämonen, die Gefährten der Sterne, die willigen oder unwilligen Helden im stets bewegten und immer von Neuem sich wandelnden kosmischen Drama ohne Anfang und ohne Ende. Daher tritt die „Natur“ im Phaidros nicht als Gegenstand praktischer Umbildung oder theoretischer Forschung auf. Sie erscheint ausschließlich als die schöne Natur, das heißt als solche, die den Menschen - und zwar am heißen Sommermittag, zur Zeit des Aufstiegs des Tages zu seinem Gipfel, wo er sich in voller Stille, vom uralten Pan verführt, der Ahndung dämonischer Geheimnisse hingeben darf 6 - begeistert und emporhebt, entzückt und „außer sich“ bringt, ihn derart ins Offene des Ganzen ent-rückend 7 : „[W]eil er aber vom Treiben der Menschen sich absetzt und dem Göttlichen sich widmet, wird er von der Menge gescholten, als wäre er von Sinnen, dass er aber voll des göttlichen Geistes ist, merken sie nicht.“ (249c8-d3) Jede menschliche Kunst und Fertigkeit, sein ganzes praktisches Können, auch wenn eben das von der Menge als echte Tugend gelobt und hochgeschätzt wird, ist, wenn es nicht von der göttli- 5 Zum grundsätzlichen Unterschied zwischen dem Phaidros sowie Platons späteren Dialogen überhaupt und den mittleren vgl. Hermann Gundert: Enthusiasmos und Logos bei Platon, in Lexis 2 (1949), S. 25-46 (auch in: Konrad Gaiser (Hg.): Das Platonbild. Zehn Beiträge zum Platonverständnis, Hildesheim 1969, S. 176-197, hier 191). 6 Vgl. Kurt Schilling: Platon. Einführung in seine Philosophie, Wurzach (Württ.) 1948, S. 203. 7 In diesem Zusammenhang bedient sich Platon absichtlich des doppeldeutigen Ausdrucks μανία , der neben „Verrücktheit“ auch den affirmativen Sinn von „Entzückung“ bzw. „Begeisterung“ hat. Vgl. Johannes Thome: Psychotherapeutische Aspekte in der Philosophie Platons, Hildesheim/ Zürich/ New York 1955, S. 156. Damir Barbarić 84 chen Begeisterung geleitet und auf das Ganze des Seienden, damit auch des Göttlichen, gerichtet ist, nichts anderes als „bloß sterbliche Nüchternheit“, mit anderen Worten: „sterbliche und eigentlich armselige Ökonomie“, und als solche letztendlich „Unfreiheit“. Jene, die zeit ihres Lebens nur damit beschäftigt sind und für alles andere blind und taub bleiben, ahnen nicht, dass sie sich damit zum nie endenden Aufenthalt im dunklen, gefängnisartigen Bereich der Erde, oder im schlimmeren Fall sogar unter ihr, verurteilen (256e5-257a2). Durch den entzückenden Glanz ihrer Schönheit hebt die im Phaidros von Platon neu entdeckte Natur den Menschen empor und lässt ihn erkennen, dass sie ganz von unerschöpflichem Leben durchgezogen ist und dass ihr Wesen in der Seele besteht, also in einer Bewegung, die unaufhörlich aus sich heraus entspringt und in je anderen Gestalten erscheint. Derart in ihrem Wesen als Seele empfunden, ist die Natur der Ursprung des Lebens sowohl für die scheinbar im Ganzen sterblichen Menschen auf der Erde wie für die wirklich Unsterblichen am Himmel: „Alles, was Seele ist, kümmert sich um alles, was unbeseelt ist, und durchstreift das ganze Himmelsgewölbe, doch immer in anderen Gestalten.“ (246b6-7) Diese Erkenntnis ist nicht erreichbar auf dem geläufigen Weg der vom Logos geleiteten Überlegung, also der gesetzmäßigen Verbindung und Trennung der vereinzelten Gedanken. In Analogie zur Natur des wahrhaft Schönen im Symposion 8 wird die Seele im Phaidros als nicht nur allen Sinnen, sondern auch dem Logos selbst entzogen bestimmt. Die Antwort auf die Frage, was sie eigentlich ist, wäre, wenn überhaupt, nur in einer langen Erörterung und mit göttlicher Hilfe möglich. (245a4-5) Alles deutet darauf hin, dass diese Antwort nicht in der Bestimmung ihres beständigen und immer sich selbst gleichen Wesens besteht. Gemäß der allgemeinen dynamischen Seinsauffassung des späten Platon, wonach „Sein“ nichts anderes heißt als „Vermögen zu tun und zu leiden“ 9 , zielt die Erörterung der Seele nicht auf ihr Wesen, sondern auf ihre „Natur“ ( φύσις ), das heißt, auf alles, was ihr geschieht und was sie tut, in einem Wort: auf ihre „Widerfährnisse und Taten“ ( πάθη τε καὶ ἔργα , 245c2-4). Es ist längst erkannt worden, dass der im Phaidros vorgeführte, allem Anschein nach von Alkmaion übernommene ‚Beweis‘ für die Unsterblichkeit der Seele, genauer nur dessen Anfang ( ἀρχὴ ἀποδείξεως , 245c4), die Regeln der logischen Beweisführung, auch wenn sie einigermaßen frei und unverbindlich gedeutet werden, nicht befriedigt. Die wohl absichtliche Archaisierung des Ausdrucks und der Satzbildung, die oft irritierende Kreisförmigkeit des Argumentierens, die gegenseitige Bedingung der Grundsätze, von denen keiner als die letzte Grundvoraussetzung, aus der die anderen mit Notwendigkeit folgen müssen, gelten kann, schließlich die unverhüllte Nachlässigkeit bei der Bezeichnung und Benennung - all das mag befremdlich wirken. Es ist aber nicht als Ausdruck von Platons Unfähigkeit zum logisch korrekten Denken und 8 Vgl. Drew Hyland: Oude Tis Logos, Oude Tis Episteme: The Hermeneutics of Beauty, in Internationales Jahrbuch für Hermeneutik 4 (2005), S. 9-26. 9 Sph. 247d8 f. Die Einkörperung der Seele nach Platons Phaidros 85 Schließen zu verstehen, sondern eher als Hinweis darauf, dass die Betrachtung der Seele als der „sich selbst bewegenden Bewegung“ an die Grenze des Denkens, wie es gewöhnlich vollzogen wird, führt. Denn in der so verstandenen Bewegung gibt es keinen Platz mehr für etwas, was, selbst fest und beständig ruhend, aller Bewegung zugrunde liegen könnte. 10 Daher stützt sich Platon im zehnten Buch seines letzten Werks Nomoi, beim wiederholten Versuch, das Bewegungsproblem bis zur letzten Konsequenz weiterzudenken, auf das Gleichnis eines gefährlichen, kaum zu durchquerenden, da unaufhaltsam schnell fließenden Stroms, der jene, die ihm, nicht hinreichend vorbereitet, unmittelbar begegnen, wie ein Blitzschlag trifft, der bei ihnen verderblichen Schwindel hervorruft und sogar unheilbare Erblindung verursacht. 11 Bereits im frühen Charmides war gerade die Möglichkeit einer sich selbst bewegenden Bewegung zusammen mit den anderen Fällen des je fragwürdigen Selbstverhältnisses erwähnt worden, die einigen zwar unglaublich scheinen möchte, den anderen aber vielleicht nicht. 12 Es ist daher kein Wunder, dass bei den wichtigsten Denkern der Metaphysik in Platons Nachfolge gerade der philosophische Begriff des Anfangs als maßgebliches Beispiel für die vollständige Widersprüchlichkeit und daher auch logische Unmöglichkeit gilt, womit das allmähliche Verschwinden der platonischen Seelenauffassung aus dem Gesichtskreis dieser Metaphysik zusammenhängt. Schon Aristoteles besteht, indem er das Thema nur auf das Problem des Zeitanfangs einschränkt, darauf, dass die Zeit, um anzufangen, gleichsam ihrer selbst vorausgehen müsste, woraus folgt, dass jeder Jetzt-Augenblick in sich zweifach und zusammengesetzt, nicht eins und einfach, wäre. In ihm müsste nämlich einerseits etwas sein, was anfängt, und andererseits etwas, von woher es anfängt. Da aber der Augenblick, ebenso wie der Punkt auf der Linie, nicht anders gedacht werden kann als einfach, muss geschlossen werden, der Anfang der Zeit sei unmöglich und die Zeit demnach ewig. Jahrhunderte danach wird das in Kants Hauptwerk wiederholt, und zwar vor allem in der ersten Antinomie der reinen Vernunft, der Sache nach aber ebenso in der ersten Analogie der Erfahrung. Wenn es zum Denken, will es kein leeres Denken, sondern das wirkliche Erkennen sein, schlicht notwendig ist, die Zeit und den Raum, damit auch ein beständiges Etwas, vorauszusetzen, dann leuchtet es ein, dass durch den Gedanken einer Bewegung, die aus sich selbst bewegt wird bzw. aus sich selbst anfängt, das Denken selbst auf seine letzte, kaum zu übersteigende Grenze stößt. Eine solche Bewegung erscheint ihm als ein erstaunlicher, ganz unmögli- 10 Dies wird zu Recht von Raphael Demos: Plato’s Doctrine of the Psyche as a Self-Moving Motion, in: Journal of the History of Philosophy, 6,2 (1968), S. 133-145, hier 136 f., hervorgehoben. Insofern ist die bei Chalcidius (In Timaio 263; 241,8-10 Waszink) zu findende und das ganze Mittelalter beherrschende Auslegung der platonischen Seelenauffassung im Sinne der „körperlosen Substanz, die sich selbst vernünftigerweise bewegt“ (substantia carens corpore semet ipsam movens rationabilis) als irreführend zu erklären. 11 Lg. 892d9 f. 12 Chrm. 168e9-169a1. Damir Barbarić 86 cher und nicht zu denkender plötzlicher Übergang ( μεταβολή ) vom Stehen und von der Ruhe zur Bewegung. Einen solchen Übergang bestimmt Platon im Parmenides als die innerste Natur des „plötzlichen Augenblicks“ ( τὸ ἐξαίφνης ), der, da jedes bestimmten Ortes bar, für das Denken stets unerreichbar bleiben muss. 13 Auf die weiteren dazu gehörenden Fragen kann hier nicht eingegangen werden. Es sei nur so viel festgestellt, dass der sogenannte Beweis für die Unsterblichkeit der Seele als der Selbstbewegung das Vorspiel zum danach folgenden Mythos ist. Im Mythos wird gleichnishaft zunächst die Geschichte der Seele als solcher dargestellt und dann der Grund der Unterscheidung der göttlichen Seele von jener menschlichen, die gewöhnlich als im Ganzen sterblich bezeichnet wird. Diese Geschichte spielt sich in jenem unermesslichen und allumfassenden Bereich ab, der zwar die Zeit und den Raum, wie wir sie kennen, in sich einschließt, aber nicht auf sie eingeschränkt ist, sondern gleichsam zulässt, auf sie hinab zu blicken von einem viel höheren und weiteren, für beide jenseitigen Blickpunkt, von dem aus erst der wahre Sinn beider genau einzusehen ist. Es ist hier nicht der Ort für eine allgemeine Betrachtung der Bedeutung der Mythen in Platons Philosophie. Anzumerken ist jedoch, dass die einseitige rationalistische Ansicht, nach der sie nur ein pädagogisch motivierter Anhang und poetischer Schmuck für den eigentlichen philosophischen Inhalt sind, heutzutage zu Recht als überwunden gilt. Es ist aber davor zu warnen, in Absetzung davon in das andere, vor allem den romantisch inspirierten Interpreten eigentümliche Extrem zu fallen, nach dem der Mythos die einzig angemessene Form ist, in der Platon die tiefste Wahrheit seiner Philosophie aussprechen kann, da sie dem logischen Denken unerreichbar ist und ihrer Natur nach der mystischen und religiösen Offenbarung viel näher steht. Vielleicht ist es am besten, sich in dieser Frage an die Mitte zu halten und auf der gegenseitigen Bedingung und fruchtbaren Wechselwirkung von Mythos und Logos zu bestehen. Dieser Ansicht nach dient der Mythos bei Platon der möglichst treuen Darstellung der umfassenden, durch das logische Denken zwar zum Teil ergründbaren, aber noch weiter reichenden und daher nie ganz gewissen, sondern immer nur wahrscheinlichen Geschichte der Seele im Ganzen, die immer sowohl zeitlich wie überzeitlich, sowohl räumlich wie überräumlich ist. 14 Wenn nach der berühmten Bestimmung aus der Politeia die Aufgabe des wahren 13 Prm. 156d-e. 14 Aus der Menge der einschlägigen und weiterführenden Literatur sei nur Folgendes erwähnt: Walter Hirsch: Platons Weg zum Mythos, Berlin 1971, S. 218 ff.; Theo Kobusch: Die Wiederkehr des Mythos, in Markus Janka, Christian Schäfer (Hg.): Platon als Mythologe. Neue Interpretationen zu den Mythen in Platons Dialogen, Darmstadt 2002, S. 44- 57, insb. 50; Christian Pietsch: Mythos als konkretisierter Logos, in Janka/ Schäfer (Hg.): Platon als Mythologe, S. 99-114, insb. 100; Paul Friedländer: Platon, Bd. 1, 3. durchgesehene und ergänzte Auflage, Berlin 1964, S. 200 f.; Ludwig Edelstein: The Function of the Myth in Platon’s Philosophy, in Journal of the History of Ideas, 10,4 (1949), S. 463- 581, insb. 477. Die Einkörperung der Seele nach Platons Phaidros 87 Philosophen in der Betrachtung der ganzen Zeit und des ganzen Seins besteht, liegt die Aufgabe des Mythos in der auf nachdenklicher Überlegung beruhenden bildhaften Erzählung vom allumfassenden Ganzen des Lebens. Dieses kaum denkbare und aussprechbare Ganze schließt in sich, und zwar jenseits aller Dichotomie, sowohl das Ganze des Seins als auch das Ganze der Zeit und des Raumes, und darüber hinaus deren gemeinsamen Ursprung. In diesem Sinne etwa fasst der Neuplatoniker Salustios, wenn er vom Handeln der Götter bei Homer spricht, das Wesen des griechisch verstandenen Mythos im oft zitierten Satz zusammen: „Das, was in den Mythen dargestellt wird, ist nie geschehen, ist aber immer“, und setzt als Erklärung dazu die eigene Ansicht, dass „die Vernunft alles zugleich schaut, während der Logos eines als Erstes, das andere als Zweites sagt“. 15 Der Mythos des Phaidros ist neben dem Er-Mythos im zehnten Buch der Politeia und jenem der zwei Zeitalter im Politikos wohl der tiefste und philosophisch bedeutsamste unter allen platonischen Mythen. Er beginnt mit einem Gleichnis der Seele, demgemäß sie „der vereinigten Kraft eines geflügelten Gespannes und seines geflügelten Lenkers“ ähnelt (246a6-7). Es ist nach allem bisher Gesagten leicht zu erkennen, dass das Wort δύναμις , die Kraft also, hier mit Absicht gewählt ist, um den Gedanken an die Seele als etwas substantiell Bestehendes von vornherein auszuschließen. Die Seele ist kein Etwas; sie ist nichts schlicht Bestehendes, sondern die gespannte Fügung der Kräfte. Als Ursprung der Bewegung ist sie immer nur Drang, Trieb und ständiges Anfangen. Sie ist nichts Einfaches, wie es die zahlreichen früheren Äußerungen Platons, allen voran jene im Phaidon, anzudeuten scheinen. Die Seele ist im Gegenteil eine dynamische Einheit, die aus zwei zusammengekoppelten Kräften, der des Lenkers und der des Gespanns, besteht, genauer aus drei, da die Kraft des Gespanns aus der Kraft von zwei verschiedenen Pferden resultiert. Wie diese Dreifachheit der Seele des Näheren zu verstehen ist, darüber streiten die Interpreten Platons seit Jahrhunderten. Besonders in der neueren Zeit erschöpft sich die Forschung über die Seele bei Platon meistens in zwar scharfsinnigen, aber daher nicht weniger fruchtlosen Auseinandersetzungen über die verschiedensten Einzelaspekte dieses immer anregenden Themas. Man spricht dabei mit kaum zu fassender Selbstverständlichkeit über die „Teile“ der Seele, obwohl Platon hier nachdrücklich das Wort εἶδος gebraucht (253c8), wie er übrigens auch sonst in diesem Zusammenhang auf das Wort „Teil“ ( μέρος ) entweder ganz verzichtet oder es nur mit unübersehbarer Abstandnahme ge- 15 Salustios: De diis et mundo IV 9 (Rochefort): ταῦτα δὲ ἐγένετο μὲν οὐδέποτε, ἔστι δὲ ἀεί, καὶ ὁ μὲν νοῦς ἅμα πάντα ὁρᾷ, ὁ δὲ λóγος τὰ μὲν πρῶτα τὰ δὲ δεύτερα λέγει . Der zweite Satz spricht die von den Neuplatonikern allgemein vertretene Ansicht aus. Vgl. Plotin: Enneaden 5,9,24-29; Proklos: In Platonis Rempublicam I 77, 13 ff.; Olympiodoros: In Platonis Gorgiam 237, 14-23; 249, 8-16. Dazu Michael Erler: Praesens divinum. Mythische und historische Zeit in der griechischen Literatur, in Janka/ Schäfer (Hg.): Platon als Mythologe, S. 81-96, insbes. S. 87. Damir Barbarić 88 braucht. 16 So lässt er es z. B. im zehnten Buch der Politeia dahingestellt, ob sich die „wahre Natur“ der Seele - vorausgesetzt, es gelinge einmal, sie ganz rein und von allen Zuwächsen der Sterblichkeit befreit zu sehen - als „mehr- oder eingestaltig“ ( εἴτε πολυειδὴς εἴτε μονοειδής ) zeigen würde 17 , ebenso wie er in den Nomoi die Frage unentschieden lässt, ob das Leidenschaftliche an der Seele ( θυμóς ) ihr bloßer Zustand oder ein besonderer Teil ist ( εἴτε τι πάθος εἴτε τι μέρος ). 18 Auf jeden Fall wird die Seele im Phaidros ganz eindeutig als die in sich dreifache Kraft bestimmt. Das in diesem Zusammenhang vorkommende Adjektiv σύμφυτος hebt zusätzlich hervor, dass die ihre Einheit bildenden drei Kräfte nicht die äußerlich und bloß mechanisch zusammengesetzten ,Teile‘ sind. Sie sind hingegen zur gemeinsamen Einheit organisch „verwachsen“ und sind daher als so etwas wie ihre Momente zu verstehen. Schon durch die vage Redeweise darüber macht Platon offenkundig, dass die Dreifachheit der Seele nicht dogmatisch als etwas Endgültiges zu nehmen ist und dass es nicht zuletzt aus diesem Grund außerordentlich schwer ist, ihre Seinsweise genau zu bestimmen und angemessen anzusprechen. In der Politeia deutet Platon an, dass nur ein „längere[r] und umfassendere[r] Weg“ 19 zur vollen und genauen Einsicht in das Wesen der Seele führen könnte, was als Hinweis auf die Möglichkeit und sogar die Notwendigkeit der weiteren Teilung verstanden werden kann. 20 Da die Seele keine beständige Substanz ist, sind auch ihre drei Kräfte bzw. Momente nicht dem späteren aristotelischen Modell nach als bloße Eigenschaften oder Vollzugsarten eines zugrunde liegenden Beständigen zu fassen. Im Gegenteil eignet jeder dieser Kräfte eine eigene dynamische Seiendheit und daher kann gesagt werden, eine jede schließe in sich das Ganze der Seele ein. Jede ist in sich ganzheitlich und wesentlich selbstständig, trotzdem aber in ihrer Tätigkeit stets auf beide anderen und auf das Ganze der Seele angewiesen. Nicht zuletzt wird dies durch das von Platon so oft verwendete Bild des gegenseitigen Streits und der heftigen Entgegensetzung der Seelenkräfte, gelegentlich auch ihres freundlichen Einklangs, bezeugt. 21 Freilich darf auch die Dreifachheit der Seele nur als bedingt und möglichst wenig starr verstanden werden. Denn die niedrigste und beweglichste Kraft der Seele, jene des Begehrens, ist selbst nicht eins, sondern mannigfaltig, und kann 16 Vgl. Thomas A. Szlezák: Unsterblichkeit und Trichotomie der Seele im zehnten Buch der Politeia, in Phronesis 21,1 (1976), S. 31-58, hier 38. 17 R. 612a3-5; auch 435c5. 18 Lg. 863b3. 19 R. 435d3. 20 So auch Apelt in seinem Kommentar: Platon, Der Staat, neu übersetzt und erläutert v. Otto Apelt, Leipzig 1923 (= Platon, Sämtliche Dialoge, hg. v. Otto Apelt, Bd. V, Hamburg 1993), S. 470, Anm. 53. 21 Vgl. Jörn Müller: Psychologie, in Christoph Horn, Jörn Müller, Joachim Söder (Hg.): Platon Handbuch. Leben - Werk - Wirkung, Stuttgart/ Weimar 2009, S. 142-154, insb. 147. Die Einkörperung der Seele nach Platons Phaidros 89 wegen ihrer Vielartigkeit nicht mit einem Namen bezeichnet werden. 22 Platon lässt dies durch das Bild des wilden und vielköpfigen, von den vielfältigen Trieben blind angestachelten Tieres offenkundig werden. 23 Diese immer weiter gehende Zersplitterung eignet aber nicht nur der niedrigsten Kraft der Seele. In anderer Art und Weise gehen auch beide anderen Kräfte innerlich immer weiter auseinander. 24 In diesem Zusammenhang kommt es einzig darauf an, einzusehen, dass die Einheitlichkeit der Seele keine bloß mechanische, sondern eine durchgängig dynamische und organische ist. 25 Abgesehen von den möglichen Unterschieden im Einzelnen entspricht die Dreifachheit der Seele im Phaidros jener, die schon aus der Politeia bekannt ist. Zweifelsohne ist der „Lenker“ die Metapher für den Verstand bzw. die Vernunft, allgemeiner gesagt für das Überlegende ( τὸ λογιστικóν ) in der Seele; nicht zufällig wird er an einer Stelle (247c6) ausdrücklich als ihr „Steuermann“ bezeichnet. Es liegt ebenso nahe, das Pferd, das als schwarz, starknackig, mit kurzem Hals, zottig um die Ohren, Freund von Maßlosigkeit und Hochmut dargestellt wird (253e1 ff.), mit der begehrenden Kraft der Seele gleichzusetzen, deren Natur die unersättliche, nie zu befriedigende und daher immer wachsende Gier nach Genuss und Vergnügen, vor allem jenen des Erwerbens, Besitzes und Verbrauchens von allem Sinnlichen und Körperlichen, ist, und zwar immer unmittelbar und unbedingt, ohne auch das kürzeste Einhalten, Zögern oder Verschieben. In der Politeia wird diese Kraft der Seele als das, „womit sie verliebt ist und hungert und durstet und von den übrigen Begierden umhergetrieben wird, das Gedankenlose und Begehrliche, gewissen Anfüllungen und Lüsten Befreundete“ 26 bestimmt. Das andere Pferd, „von aufrechter Gestalt und wohl gegliedert, hoch im Nacken, die Nase etwas eingebogen, von weißer Farbe, schwarz die Augen, ehrgeizig mit Maß und Schamgefühl und ein Freund echten Ruhmes“ (253d3 ff.), ist zweifellos eine Metapher für die mittlere und vermittelnde Kraft der Seele, die bei Platon meistens θυμóς bzw. τὸ θυμοειδές genannt wird. Der Bedeutungsbereich dieser Ausdrücke fasst etwa Leidenschaft, Beherztheit, Zorn und Wagemut in sich zusammen. 27 Bei Platon bezeichnen sie hauptsächlich den heftigen Willen zur Anerkennung und Herrschaft sowie zu Ansehen, Ruhm und Ehre, die damit zusammenhängen. 22 R. 580d10 ff. 23 R. 588d4. 24 Nach der treffenden Bemerkung von Herwig Görgemanns: Platon, Heidelberg 1994, S. 137 f., geht es in Platons Darstellung der Seele nicht um eine Gestalt mit ihren Teilen, sondern um die Kräfte, die in der Seele zur Tätigkeit kommen. Vgl. auch Robert W. Hall: Ψυχή as a Differentiated Unity in the Philosophy of Plato, in Phronesis, 8,1 (1963), S. 63- 82, hier 69. 25 Vgl. Plato’s Phaedrus, A Commentary for Greek Readers by Paul Ryan, Introduction by Mary Louise Gill, Norman (Oklahoma) 2012, S. 184, ad 2461a6-7. 26 R. 439d6-8. Übersetzung nach Schleiermacher. 27 Zur Bedeutung von θυμóς bei Platon vgl. The Phaedrus of Plato, with English Notes and Dissertations by William H. Thompson, London 1868 (Nachdr. New York 1973), S. 166. Damir Barbarić 90 Die hervorragende Wichtigkeit dieser dreifachen Verfassung der Seele im Ganzen von Platons Philosophie ist bekannt. Sowohl die Tugend wie die Ausartung und der Verfall nicht nur des einzelnen Menschen, sondern auch der Polis als der Gemeinschaft des wesenhaften bzw. gelungenen Lebens, darüber hinaus auch der Weltgeschichte selbst, hängen vor allem davon ab, ob diese drei Grundkräfte der Seele, denen auch die drei wichtigsten Stände in der Polis sowie die drei Wesenskräfte der Welt im Ganzen entsprechen, im gegenseitigen Einklang oder im Streit zueinander stehen. Löst sich eine Kraft von den anderen und vom Ganzen ab und lebt sie weiterhin nur um ihrer selbst willen, nur nach dem eigenen höchsten Ziel strebend, dann entsteht daraus sowohl in der Seele des einzelnen Menschen als auch in der menschlich-göttlichen Lebensgemeinschaft der Polis, schließlich auch im All der verderbliche Streit, dem sich Uneinigkeit und Ungerechtigkeit anschließen. Da die Seele ihrem Wesen nach unzerstörbar ist und in jedem Fall ein stets so oder anders verfasstes dynamisches Gefüge miteinander verwachsener Kräfte bleibt, führt diese Ablösung und Verselbstständigung einer ihrer Kräfte nie zur vollkommenen Aufhebung und Vernichtung der übrigen und des ganzen Gefüges. Daher bekundet sich das Auseinandergehen der Kräfte, und als Folge davon das zerrissene, verkehrte und ungerechte Leben, immer dadurch, dass je eine von drei Wesenskräften danach strebt, beide anderen um jeden Preis zu unterwerfen und nur den eigenen Zwecken dienstbar zu machen. Wird etwa die Gier nach Lust und Genuss übermäßig stark, zieht sie die Leidenschaft zu Ruhm und Ansehen nach sich, die dann zusammen mit dem durch die Begierde betäubten Verstand ausschließlich damit beschäftigt werden, der Unersättlichkeit nach Genuss und Besitz höchstes Ansehen und Ruhm zu verschaffen. Am Ende gelingt es ihnen, auch den Verstand selbst, der, da er durch Gier und Lust schwach und weichlich geworden und den eigenen Inhalt verloren hat, immer dürrer und unfruchtbarer wird, zu unterwerfen und dazu zu verlocken, nur noch klug und scharfsinnig immer neue Mittel zu deren endlosem Wachsen zu ersinnen und herzustellen. In dem Falle aber, dass in der Seele die Leidenschaft zur Herrschaft die beiden übrigen Kräfte besiegt und unterwirft, wird sie einerseits zwar die Rohheit der bloßen Befriedigung der körperlichen Bedürfnisse und die sklavische Hingabe an das sinnliche Vergnügen verachten. Andererseits wird sie aber, da sie nur auf menschliche Meinungen und öffentliche Bräuche gerichtet ist, mit gleicher Verachtung von ihrer angeblichen Höhe hinab auf Verstand, Vernunft und Geist schauen und in ihrem Suchen nach Erkenntnis, Wissen und Weisheit nichts als die nutzlose Muße sehen, die in keiner Weise förderlich sei für den Menschen und seine Tugenden. Lösen sich schließlich Vernunft und Geist von beiden anderen Seelenkräften ab, dann entfernen sie sich mehr als angemessen vom wirklichen Leben. Infolgedessen werden sie allmählich immer abstrakter, um am Ende zur Dürftigkeit eines nur noch formellen, inhaltsleeren Verstandes zu gelangen, der, da er zunächst mit den logischen Notwendigkeiten und dann auch mit den rein formellen Möglichkeiten der verschiedensten Verhältnisse der Dinge zu einen- Die Einkörperung der Seele nach Platons Phaidros 91 der beschäftigt ist, immer mehr die Dinge selbst und die unhintergehbare Grundtatsache ihres sinnlichen, und d. h. immer zufälligen, Seins aus dem Blick verliert. Deshalb wird der des eigenen Ziels verlustig gegangene Verstand immer weniger fähig, sowohl dem ehrgeizigen Streben nach Anerkennung und Herrschaft wie auch der Gier nach Besitz und genussreichen Verzehr des Sinnlichen Widerstand zu leisten. Diese zugestanden vereinfachende Erinnerung war nötig, um vor ihrem Hintergrund die Bedeutsamkeit der Tatsache stärker hervortreten zu lassen, dass die Seele im Phaidros mehr als in anderen Werken Platons trotz ihrer Dreifachheit immer als das einheitliche Ganze besprochen wird. Das schlechte Pferd steht, auch dann, wenn es sich in seiner ungezähmten Überheblichkeit auf den Körper dessen stürzt, mit dem es sich leiblich zu vereinigen begehrt, nicht gänzlich außer der Reichweite der mit der besinnlichen Überredung gemischten sorgfältigen Versuche, durch die der Lenker und das tüchtige Pferd es von seiner Absicht, auch um den Preis des äußersten Schmerzes, abzuhalten bemüht sind. Ebenso verhält es sich mit dem tüchtigen Pferd. Auch dann, wenn es unter dem Druck seines schlechten Gefährten so sehr schwankt, dass es nicht mehr entscheiden kann, ob sein Urteil, wenn es die leibliche Inbesitznahme zu etwas erklärt, was gutem Geschmack, allgemeinem Brauch und angeborenem Schamgefühl entgegen steht, richtig und treffend ist, bleibt es doch mindestens teilweise den Anweisungen des Lenkers hörig, obwohl es deren wahren Sinn nicht verstehen kann. Schließlich ist auch der Lenker weder von Begierde und Leidenschaft noch von Scham und Wagemut ganz gelöst, da ihm all das, zwar in einem gereinigten und gleichsam geistig aufgeklärten Zustand, innewohnt, wodurch er auch fähig wird, sich ihrer größtenteils zu enthalten. Die innere unaufhebbare Angewiesenheit des Lenkers auf die sinnliche Leiblichkeit leuchtet an mehreren Stellen des Dialogs durch, wie etwa an jener, wo erzählt wird, wie ihm „der Blick voller Liebe und die Seele von einem Gefühl wohliger Wonne erfüllt“ werden, so dass er infolgedessen „die kitzelnden Stiche der Sehnsucht zu fühlen beginnt“ (253e5-254a1). Damit kommen wir zum letzten und vielleicht wichtigsten Moment des ganzen Gleichnisses über die Seele. Die Seele, im Allgemeinen bestimmt als die in sich dreifach verwachsene Bewegungskraft, wird als in ihrer ursprünglichen und reinen Gestalt „geflügelt“ und „überall und ganz mit Flügeln bewachsen“ dargestellt. Das Bild des Flügels dient offensichtlich dazu, - in Anlehnung an eine uralte und größtenteils verlorengegangene orphische Überlieferung, die nur teilweise in den verstreuten Versen frühgriechischer Lyriker und dürftigen Fragmenten der Tragiker bewahrt ist - unter allen Seelenbewegungen eine ganz besondere, innerste zweifache und zweideutige Bewegung hervorzuheben, die für die Seele wohl am verhängnisvollsten ist. Diese Bewegung zeigt sich einerseits als Aufschwung und schwebendes Umherkreisen am Himmel und andererseits als Hinabstürzen auf die Erde und dann auch als das dortige Herumtreiben. Das, was diese beiden entgegengerichteten Bewegungen als ihre rätselhafte Mitte verknüpft und zugleich auseinander gehen lässt, kann darüber Damir Barbarić 92 hinaus als eine dritte, geheimnisvolle Bewegung des reinen Versinkens in die endlose Tiefe gedeutet werden. 28 Als die Kraft der Selbstbewegung hat die Seele weder Anfang noch Ende. In ihrer ursprünglichen, reinen und vollkommenen Gestalt ist sie ganz beflügelt und schwebt daher in vollständiger Leichtigkeit im Himmel. Sie kreist überall herum, kümmert sich um alles, was keine Seele hat, und erscheint in immer neuen und verschiedenen Gestalten (246b6-7). Die Seele, der das Unglück geschieht, ihr Gefieder und damit auch die Leichtigkeit des Schwebens zu verlieren, deshalb schwer zu werden und sich mit Schlechtigkeit und Vergessen zu füllen, hat ein ganz anderes Schicksal: Sie „stürzt hernieder, bis sie Halt findet an etwas Festem; und hat sie dort dann Wohnung genommen in einem irdischen Körper, der dank der Wirkung der Seele nun den Eindruck macht, er bewege sich selbst, dann heißt das Ganze, Seele und Körper zusammen, Lebewesen und hat die zusätzliche Bezeichnung ,sterblich‘“ (246c2-6). Die ganz besondere Wichtigkeit dieser Stelle - an der, wie im gesamten Text des Mythos, ein jedes Wort sorgfältigen Nachdenkens und behutsamer Auslegung bedürftig ist - liegt darin, dass hier Platons Bemühung im Phaidros ihren Gipfel erreicht: Er will das Lebensdrama der Menschen auf der Erde in einem Licht zeigen, das nicht nur aus dem Ganzen der Welt, sondern darüber hinaus aus dem geheimnisvollen, diesem Ganzen auf immer jenseits bleibenden „überhimmlischen Ort“ auf dieses herniederscheint. Erst von dort aus gesehen leuchtet es nämlich ein, inwiefern das irdische Leben eines jeden Menschen nur scheinbar endlich und sterblich ist, während es in Wahrheit nur jedes Mal eine der unendlich vielen zeitweiligen Episoden des immer neuen, da unaufhörlich anfangenden Lebens der gesamten Seele ist. Der Lebensanfang eines sterblichen Lebewesens erweist sich von diesem Blickpunkt aus als ein immer neuer Zufall, ein neuer Akt des ewigen kosmischen Dramas, das ihm vorangeht und sich in ihm je auf eine gewisse Zeit und in einer gewissen Weise festlegt und damit einkörpert. In Anbetracht dessen könnte man fast, wie Platon im Gorgias unter Verweis auf Euripides, in vollem Ernst die Frage stellen, ob das, was bei den Menschen ,das Leben‘ heißt, nicht in Wahrheit der Tod ist, während unter dem Schleier dessen, was den Menschen unter dem Namen ,Tod‘ stets verborgen bleibt, sich eigentlich das echte und wahre Leben versteckt. 29 Doch der Mythos reicht noch weiter. Zunächst relativiert er den für die Menschen immer erschreckenden Gedanken des Todes und erklärt ihn zur bloßen Illusion. Das befreiende Resultat daraus liegt darin, dass das bedrückende Gefühl der sprach- und bewusstlosen und trotzdem immer und überall gegenwärtigen Angst, die sich dumpf und bedrohlich über die Menschen beugt, sich zurückzieht und ihren Platz der gelassenen Heiterkeit - der Ausdruck φαιδρóς , der dem ganzen Dialog seinen Namen gibt, heißt ja eigentlich „heiter“ - überlässt, welche dem Menschen die Aussicht auf das endlose Ganze der Zeit 28 Vgl. dazu Michael Erler: Platon (Grundriss der Geschichte der Philosophie, hg. v. Helmut Holzhey: Die Philosophie der Antike, Bd. 2/ 2), Basel 2007, S. 382. 29 Grg. 492e10 f. Die Einkörperung der Seele nach Platons Phaidros 93 eröffnet. Damit wird er in jedem Augenblick zur schicksalhaften Entscheidung für die je eigene Lebensweise, samt den ihr zugehörenden Taten und Unterlassungen, befreit, wodurch er zur Mitursache aller zukünftigen Veränderungen seiner Lage in der gesamten endlosen Zeit wird. Darüber hinaus lässt diese Gelassenheit selbst den Grund erahnen, aus dem die verkörperte Seele einmal den seligen Bereich göttlichen Lebens verlassen musste, um durch die Geburt ihren irdischen Wohnort im körperlichen Lebewesen, genannt ,Mensch‘, zu finden. Denn das, was dem einzelnen Menschen als das Mysterium der Geburt auf immer dunkel und undurchschaubar bleibt, ist in Wahrheit nicht der Anfang seines Lebens als solches, ebenso wie der Tod nicht dessen völliges Aufhören und Ende ist. Das Leben, der unerschöpflichen Seele unaufhörlich entspringend, hat weder Anfang noch Ende, so dass jede Geburt nichts anderes als eine neue Einkörperung ist. In diesem Sinne ist der große Mythos im Phaidros als ebenso genealogisch wie eschatologisch zu bezeichnen. Durch ihn öffnet sich der Blick sowohl für das, was ,nach dem Tod‘ kommen wird, wie auch für das, was ,vor der Geburt‘ seit je gewesen ist. Was ist aber der Grund für die Einkörperung der Seele, also für die Geburt des menschlichen Lebewesens? Anders gewendet, worin liegt die Ursache für den verhängnisvollen Fall der Seele zur Erde hinab und dafür, dass sie sich dort einen festen irdischen Körper aneignet? Woher stammt überhaupt der Unterschied zwischen den göttlichen, nie durch den Tod gefährdeten unsterblichen Seelen und den menschlichen, die an sich zwar gleichermaßen unsterblich, jedoch dem Verhängnis tödlichen Verschwindens preisgegeben und zu dem verurteilt sind, was die frühgriechische Religions- und Mysterienüberlieferung unter dem Namen „Kreis der Geburten“ ( κύκλος γενέσεως ) kennt? Um diesem wohl zentralen Rätsel des Mythos einen Schritt näher zu kommen, tut es vor allem Not, einzusehen, dass die Seele als Ursprung der Bewegung und des Lebens ihrer dynamischen, also kraft- und machtartigen, nicht substantiellen Natur gemäß immer in irgendeiner Weise bewegt, und daher wie alles Lebendige dem unaufhörlichen Wechsel von Wachstum und Verfall preisgegeben ist. Diese Notwendigkeit, der auch die Seele selbst unterworfen ist, bringt Platon uns durch eine Wendung näher, die für viele Interpreten so verwirrend ist, dass sie den Ausweg aus der Verlegenheit darin suchen, ihn ohne weiteres zur bloßen Metapher zu erklären. Platon zögert nicht, davon zu sprechen, dass nicht nur der Leib, sondern auch die Seele sich ernährt. Auch sonst an vielen, oft besonders wichtigen Stellen seines Werks erzählt er mit merkwürdiger Selbstverständlichkeit davon, wie die Seele sich nährt und füttert und sich sogar in regelmäßigen zeitlichen Abständen immer wieder verpflegen muss. 30 Im Timaios wird diese Ansicht sogar zu dem allgemeinen Satz zusammengefasst, dass „für alles die Pflege in jeder Weise dieselbe ist, die darin besteht, einem jeden die ihm eigentümliche Nahrung und Bewegung zu geben“ 31 . 30 Vgl. Karin Alt: Diesseits und Jenseits in Platons Mythen von der Seele (Teil I), in Hermes, 110,3 (1982), S. 278-299, insb. 293, Anm. 83. 31 Ti. 90c6-7. Damir Barbarić 94 Gewiss ist die Nahrung bei den reinen himmlischen Seelen ganz verschieden von dem, was den Menschen auf der Erde unter diesem Namen bekannt ist. Wie auf der Erde für die Seltenen, die von der Liebe zur Wahrheit und zum Wissen, von der Musik und Schönheit sowie vom Guten und Gerechten ergriffen und entzückt sind, gesagt wird, ihre Seele nähre sich vom freien Glanz der Wahrheit, Schönheit, Tüchtigkeit und Gerechtigkeit, die glücklicherweise auch unter den irdischen Dingen und Ereignissen ab und zu auftauchen, so kann, und zwar in viel höherem Maß, für die reinen Seelen am Himmel gesagt werden, sie nähren sich im ungestörten Schauen des Wahren, Schönen, Weisen, Guten selbst. Die Frucht dieser Verpflegung ist in beiden Fällen gleich, obwohl in einem verschiedenen und kaum vergleichbaren Maß, nämlich das heilsame Keimen, Sprießen und Wachsen jenes Gefieders, das die Seele emporhebt, oder sie, wenn sie schon emporgehoben ist, in der Leichtigkeit des Schwebens hält. Selbst die Götter - mit Ausnahme von Hestia, der Hüterin des kosmischen Herdes, womit Platon, wie vor ihm die Pythagoreer, wohl die Erde meint, die als einzige im Mittelpunkt des ewig kreisenden Weltalls stehen bleibt 32 - verlassen in regelmäßigen Zeitabständen ihre göttlichen Wohnungen und steigen aufwärts zum überhimmlischen Ort, um dort die Schwungkraft ihres Gefieders durch die Schau des wahrhaft Seienden zu erneuern. Es ist eben dieser Aufstieg, bei dem einige Seelen das Gefieder verloren haben und in Richtung auf ihre irdische Geburt in einem festen Körper zu sinken beginnen. Warum? Der Grund dieses verhängnisvollen Ereignisses wird im Mythos nicht klar dargelegt, sondern eher nur sparsam und zögerlich angedeutet. Es bleibt zu vermuten, dass dieser geheimnisvolle, wohl ganz unhintergehbare Grund, wenn überhaupt, dann zu fassen wäre, wenn der ganze Mythos mit allen anderen platonischen Mythen vom Jenseits zusammengedacht und ausgelegt würde. Dies ist sicher eine vielfach lohnende Aufgabe. Denn es mag erquickend sein, ab und zu einen flüchtigen Blick hinter den Schleier des Lebens zu werfen. 32 Vgl. William K. C. Guthrie: A History of Greek Philosophy, Vol. IV: Plato: The Man and his Dialogues: Earlier period, Cambridge 1975, 403, Anm. 1, außerdem die kurze, aber philosophisch klärende Bemerkung zur Hestia bei Dietmar Koch: Zur Bewegung der göttlichen und der menschlichen Seele in Platons Dialog Phaidros, in Dietmar Koch, Irmgard Männlein-Robert, Niels Weidtmann (Hg.): Platon und das Göttliche (Antike-Studien, Bd. 1), Tübingen 2010, S. 102. Auch sonst liegt das Verdienst des aufschlussreichen Aufsatzes darin, die Interpretation des Mythos im Rahmen eines entsprechend weiten Gesichtskreises der allgemeinen platonischen Unterscheidung der wesentlichen Bewegungsarten sowie der im Sophistes dargestellten Lehre vom Bewegt-Werden der Ideen durch den Akt ihrer Erkenntnis unternommen zu haben. Julia Pfefferkorn Sokrates’ Lob der theía manía Zur Funktion mythischer Gottheiten im Phaidros Einstieg Die Eröffnungsszene von Platons Phaidros - es ist ein heißer Sommertag in Athen - lässt den Leser an einer spontanen Begegnung zwischen Sokrates und dem jungen Phaidros teilhaben. Phaidros, ein begeisterter Anhänger des Lysias, trägt eine Rede dieses bedeutenden attischen Redners mit sich, in der dieser vertritt, dass man eher dem Nichtliebenden zu Gefallen sein müsse als dem Liebenden (227c5-8). Die beiden entschließen sich zu einem Spaziergang außerhalb der Mauern von Athen, 1 um die Rede gemeinsam zu lesen, und lassen sich bald im Schatten einer Platane nieder, wo sie ein kleines Heiligtum für die Nymphen und für Acheloos entdecken. Zur Schönheit und Geeignetheit des Ortes, die von Sokrates emphatisch hervorgehoben wird (230b2-c5, vgl. 229a3-6), fügt sich die besondere Tageszeit: Es ist Mittag ( μεσημβρία , 242a4; vgl. 229a6) - die Stunde des Pan, dem das Schlussgebet des Dialogs gewidmet sein wird (279b8-c3, vgl. 263d6). Wie bereits aus diesen einleitenden Worten hervorgeht, sind im Phaidros mythische Gottheiten nicht nur abstraktes Gesprächsthema, sondern sie brechen gleichsam in die Handlung herein und beeinflussen die Unterhaltung zwischen Sokrates und Phaidros von Anfang an als inspirierende und überwachende Kraft. Die verstärkte Gegenwart von inspirierenden und die Handlung beeinflussenden mythischen Gottheiten lässt den Phaidros als besonders geeignet erscheinen, um nach der Rolle mythischer Gottesvorstellungen in Platons Dialogen und für die Dialogführung zu fragen. Im Zentrum der folgenden Betrachtung sollen die Passagen zur θεία μανία stehen, und zwar deren drei „traditionelle“ Formen (243e6-245a8; 265b2-c3): Ihre Einführung erfolgt an einer Gelenkstelle im Dialog zu Beginn der zweiten Rede des Sokrates, doch verblasst ihre Bedeutung gewöhnlich im Schatten der vierten Art der göttlichen μανία , nämlich dem philosophischen Wahnsinn des Eros. Die Untersuchung der Textstellen, die in drei sich gegenseitig ergänzende Beobachtungen mündet, wird die These nahelegen, dass den mythischen Gottheiten - und in besonderem Maße inspirativen Göttern - eine propädeutische Funktion zukommt, die zum philosophischen Denken und Leben führt, begleitet, überredet. 1 Daniel Werner hebt die Bedeutung des Verlassens des Stadtbereichs richtigerweise hervor: „The dialogue is thereby predicated upon a crossing of boundaries, as the two characters move beyond their accustomed haunts“ (Daniel Werner: Myth and Philosophy in Plato’s Phaedrus, Cambridge 2012, S. 21, Herv. D. W.). Julia Pfefferkorn 96 Die Allgegenwart und Asystematik der mythischen Gottheiten Wie bereits die eingangs referierte Rahmenhandlung des Phaidros zeigt, sind die vier Arten der θεία μανία - denen ich mich in Kürze widmen werde - nicht die einzige Bezugnahme auf mythische Gottesvorstellungen, die sich in diesem Dialog findet. Darüber hinaus gibt es zwei weitere Kontexte, in denen traditionelle Gottheiten in den Vordergrund treten: Im Seelenmythos, dem Herzstück von Sokrates’ zweiter Rede, begegnen wir den zwölf olympischen Göttern, die mit ihrem jeweiligen „Chor“ zum überhimmlischen Ort aufsteigen (246e4 ff.). Unmittelbar im Anschluss an diese zweite Rede mahnt Sokrates, sich nicht vom Gesang der Zikaden, der Boten der vier Musen Terpsichore, Erato, Urania und Kalliope, einschläfern zu lassen (258e6 ff.): Auch sie wirken somit aktiv auf die Handlung ein. Angesichts dieser vier auf verschiedenen Ebenen des Dialogs zu verortenden Kontexte, in denen mythische Gottheiten im Phaidros auftreten - die inspirierenden Götter der Rahmenhandlung, die vier Arten des göttlichen Wahnsinns zu Beginn von Sokrates’ zweiter Rede, die zwölf olympischen Götter innerhalb des Seelenmythos und schließlich die vier Musen nach der zweiten Rede -, scheint es kaum übertrieben zu sein, von einer Allgegenwart der mythischen Götter in diesem Dialog zu sprechen. 2 Was bei einem näheren Blick auf diese Instanzen mythischer Gottesfiguren im Phaidros erstaunt, ist jedoch, dass diese sich teilweise überschneiden oder überlagern, aber untereinander doch wesentlich unverbunden zu bleiben scheinen. Die Musen beispielsweise, denen der Wahnsinn der Dichtung zugewiesen ist, werden in der Erläuterung der Zikaden wieder aufgenommen und detaillierter behandelt, jedoch ohne jeglichen Verweis auf die θεία μανία . Apollon, Herr des Wahnsinns der Prophetie, erscheint erneut als eine der zwölf olympischen Gottheiten, zu denen jedoch Dionysos, verantwortlich für den Wahnsinn der Einweihungen, nicht zu rechnen ist. Der göttliche Kosmos, unter dessen Augen sich das Gespräch des Phaidros abspielt, scheint auf einen ersten Blick also jeglicher Systematik oder Kohärenz zu entbehren. 2 Tatsächlich scheint diese ständige Bezugnahme auf das Göttliche ein einendes Element für den Phaidros darzustellen, der sich bis heute mit einer angeregten Debatte über die inhaltliche und formale Einheit des Werkes konfrontiert sieht. Vgl. zur Forschungslage und für einen Versuch, den Phaidros als einheitliche Komposition zu deuten, Werner: Myth and Philosophy, S. 13, 151, 236 ff. Wie offen die Diskussion weiter bleibt, zeigt ein neuer Deutungsversuch Stephen Halliwells, der insbesondere den Widerspruch zwischen Sokrates’ Forderungen an die Rhetorik und Platons eigenem Stil herausstellt (vgl. Stephen Halliwell: ‘Where are you going and where have you come from? ’ The Problem of Beginnings and Endings in Plato, in Eleni Kaklamanou, Maria Pavlou, Antonis Tsakmakis (eds.), Framing the Dialogues: How to Read Openings and Closures in Plato, Leiden [erscheint voraussichtlich 2017/ 18]. Sokrates’ Lob der theía manía 97 Θεία μανία Nach diesen einleitenden Bemerkungen, die auf die Komplexität der Frage nach der Funktion mythischer Gottheiten im Phaidros einstimmen können, möchte ich mich nun den Textpassagen zum göttlichen Wahnsinn zuwenden. Die Einführung einer göttlichen Form der μανία , die sich vom menschlichen Wahnsinn abhebt und durch die „uns die größten Güter zukommen [ τὰ μέγιστα τῶν ἀγαθῶν ἡμῖν γίγνεται ]“ 3 (244a6-7), stellt einen Wendepunkt nach Sokrates’ erster Rede dar, welche sich wie die des Lysias gegen den Liebenden gerichtet hatte: Seine zweite Rede, die Sokrates durch die Abgrenzung des göttlichen vom menschlichen Wahnsinn eröffnet, wird von ihm als Παλινῳδία (243b2), als Widerruf, der beiden vorausgegangenen Reden bezeichnet, weil beide die göttliche - das heißt an sich gute - Natur des Eros nicht respektiert hatten. Auf diese Weise wird die μανία , die zuvor allgemein als ein krankhaftes Verhalten bezeichnet worden war (231d2-3; 241a3-4, b1), in ihrer göttlichen Form gegenüber der rein menschlichen Vernunft ( σωφροσύνη und νοῦς ) rehabilitiert. 4 Meine Analyse konzentriert sich auf die ersten drei Arten der θεία μανία , die Yunis als „traditional examples of beneficial divine madness“ 5 identifiziert. Die erste Art, der Wahnsinn der Mantik oder Wahrsagekunst, der Sokrates die längste Erläuterung widmet (244a8-d5), wird von ihm im Herzen der griechischen Kultur und auch in der griechischen Sprache selbst verwurzelt: Die Prophetin von Delphi, die Priesterinnen von Dodona sowie die Sybille werden als Beispiele inspirierter Mantik und der Vorhersage der Zukunft zitiert, die allen - sowohl im privaten wie im öffentlichen Raum - zugutekommt. Im Anklang an die Etymologien des Kratylos behauptet Sokrates, dass das Wort μαντική selbst von dem Begriff der μανία herstamme. Das „Zeugnis der Ahnen [ μαρτυροῦσιν οἱ παλαιοί ]“, welches aus der Etymologie spricht, offenbart somit die Überlegenheit der inspirierten Prophetie gegenüber Praktiken der rationalen Weissagung wie der Deutung des Vogelflugs. 6 Aufgrund des gekünstelten Charakters der Etymologien könnte man Sokrates hier eine ironische Haltung unterstellen. Doch seine zugrunde liegende Absicht ist meines Erachtens alles andere als ironisch: Es geht ihm darum, den Begriff des Wahnsinns an eine der 3 Die Übersetzungen der Phaidros-Stellen sind meine eigenen, der griechische Text entspricht Burnet (mit Ausnahme von 244d5-245a1, hier folge ich Linforth und Robin). 4 Diese Opposition wird auffallend oft wiederholt: 244a5, b1-2, d3-4; 245a8, b4; 256b6, e5. Vgl. auch die Stellen zu θεία - νόσος - und - θεία - μανία in Sophokles’ Ajax (S. Aj. 185, 611). 5 Harvey Yunis (ed.): Plato Phaedrus, Cambridge 2011, S. 130. Heitsch deutet die ersten drei Formen des göttlichen Wahnsinns als „empirisch[e]“ Argumentation und als Appell „an allgemeine Erfahrungen und deren übliche Bewertung“ (Ernst Heitsch (Hg.): Platon Phaidros, Übersetzung und Kommentar, Göttingen 1993, S. 91). Abgesehen von dieser korrekten allgemeinen Beobachtung ermangelt Heitschs Kommentar einer vertiefenden Problematisierung der drei Formen im Einzelnen. 6 Die „ οἰωνιστική “, die Sokrates zufolge das Etymon „ νοῦς “ enthält. Vgl. Reginald Hackforth (ed.): Plato’s Phaedrus, Cambridge 1952, S. 56. Julia Pfefferkorn 98 Säulen der griechischen Kultur zu binden und ihm auf diese Weise eine positive Bedeutung zu verleihen. Die zweite Form des göttlichen Wahnsinns ist in einem einzigen, schwer zu deutenden Satz zusammengefasst (244d5-245a1): 7 Aber auch von den schwersten Krankheiten und Nöten - nämlich die, welche in einigen Familien in alter Zeit aus Zorn irgendwoher aufgekommen sind - hat der Wahnsinn, [unter diesen] entspringend und prophezeiend durch die dazu Berufenen 8 , Befreiung gefunden, indem er Zuflucht in Gebeten und Ehrerweisungen an die Götter nahm. So brachte der Wahnsinn durch die Entdeckung von Reinigungen und Initiationen den, der an ihm teilhatte, für die Gegenwart und für die Zukunft außer Gefahr, indem er dem auf richtige Weise Wahnsinnigen und Besessenen Erlösung von den gegenwärtigen Übeln fand. ἀλλὰ μὴν νόσων γε καὶ πόνων τῶν μεγίστων, ἃ δὴ παλαιῶν ἐκ μηνιμάτων ποθὲν ἔν τισι τῶν γενῶν, ἡ μανία ἐγγενομένη καὶ προφητεύσασα οἷς ἔδει, ἀπαλλαγὴν ηὕρετο, καταφυγοῦσα πρὸς θεῶν εὐχάς τε καὶ λατρείας· ὅθεν δὴ καθαρμῶν τε καὶ τελετῶν τυχοῦσα ἐξάντη ἐποίησε τὸν ἑαυτῆς ἔχοντα πρός τε τὸν παρόντα καὶ τὸν ἔπειτα χρόνον, λύσιν τῷ ὀρθῶς μανέντι τε καὶ κατασχομένῳ τῶν παρόντων κακῶν εὑρομένη. 7 Meine Übersetzung (sowie die Interpunktion im Griechischen) orientiert sich hauptsächlich an der äußerst feinkörnigen Analyse von Ivan M. Linforth: Telestic Madness in Plato, in University of California Publications in Classical Philology 13 (1946), S. 163-172. Einzig an zwei Stellen differiert meine Deutung von der Linforths: Die Bestimmung des Zorns (µήνιµα - wrath) als göttlicher (divine) Zorn ist schlicht eine Ergänzung, die sich zwar in der (wahrscheinlichen) poetischen Vorlage in Euripides’ Phönizierinnen (παλαιῶν Ἄρεος ἐκ μηνιμάτων - „aus altem Zorn des Ares“; E. Ph. 934) findet, nicht jedoch im platonischen Text. Sokrates identifiziert die Quelle des Zorns bewusst nicht ( ποθέν - irgendwoher), denn Götter, die Leid und Not über die Menschen bringen, sind mit seinem Götterbild nicht vereinbar. Erst kurz zuvor war die göttlich-gute Natur des Eros hervorgehoben worden (242e2-3). Weiterhin ist mit πρός τε τὸν παρόντα καὶ τὸν ἔπειτα χρόνον meines Erachtens genau das gemeint, was Linforth ausschließt (vgl. S. 166), nämlich die Befreiung von den Leiden auch für die Zukunft: Es handelt sich um eine Vorausdeutung auf 248c2-5, wo das Erblicken der Ideen - das mehrfach einer Initiation verglichen wird (vgl. insb. 249c7-8 und weiterhin 246b7, 248b4, 250b8, 250c4 sowie 253c3) - es der Seele ermöglicht, bis zum nächsten Auszug oder sogar für immer unverletzt ( ἀπήμων ) und unbeschadet ( ἀβλαβής ) zu bleiben. Wie diese Stelle selbst zeigt, schließt der Bezug auf die Zukunft eine Wiederholung der „Einweihung“ nicht aus. 8 Eine große Schwierigkeit für die Übersetzung bereitet die Formulierung „ οἷς ἔδει “, die von den meisten Übersetzern dem Hauptsatz zugeordnet und etwa mit „die es nötig haben“ (Heitsch) oder „die in Not waren“ (Schleiermacher) übertragen wird. Ich habe mich entschieden, Linforth zu folgen („the appointed ones“, S. 165; ähnlich Yunis: „the proper persons“, S. 133; vgl. LSJ „ δεῖ “ A.I.2), weil andernfalls eine kaum sinnvolle Überlagerung aller von „den schwersten Krankheiten und Nöten“ Betroffener mit den vom Wahnsinn Befallenen eintritt und somit das Moment der „Entdeckung“ von Ritualen (das eines Einzelnen als Medium bedarf) abhanden kommt. Erst infolge dieser Entdeckung können die Notleidenden in eine ritualisierte - gleichsam homöopathische - Form des Wahnsinns versetzt werden, um sich von ihren Leiden zu befreien (sehr aufschlussreich hierzu Lg. 790c5-791b2). Allerdings sollte auch die Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden, dass die Ambivalenz von Platon intendiert ist. Sokrates’ Lob der theía manía 99 Auffallend ist in dieser Charakterisierung des Wahnsinns der Initiationen zweierlei: erstens die bereits von Linforth hervorgehobene Personifizierung der μανία, 9 die sie selbst zum göttlichen Akteur und zum Entdecker der erlösenden Riten macht, und zweitens die extreme inhaltliche Ungenauigkeit des Satzes. Worauf wird hier angespielt? Etwa auf den Wahnsinn der tanzenden Korybanten, der Bacchantinnen oder aber auf bestimmte Mysterienkulte? 10 Welche Familien sind gemeint? Die Formulierungen verbleiben so stark im Ungefähren, dass ihnen nur ein assoziativer Wert zugesprochen werden kann. Offenbar geht es Platon hier gar nicht darum, auf etwas Bestimmtes Bezug zu nehmen: Vielmehr scheint das bunte, teils dichterische Vokabular des komplexen Satzes eine Vielzahl ritueller Praktiken und mythischer Gehalte aufzurufen, die Phaidros und dem zeitgenössischen Leser einen gefühlsmäßigen Eindruck von der heilenden Kraft der göttlichen μανία geben. Nicht zu übersehen ist auch die globale Anspielung auf „die gegenwärtigen Übel [ τῶν παρόντων κακῶν ]“, von denen der Wahnsinn der Initiationen erlöst: Sie scheint sich allgemein auf die Nöte und Mühen des menschlichen Daseins zu beziehen. 11 Die Zuweisung dieser ersten beiden Arten des Wahnsinns an Apollon bzw. Dionysos erfolgt - entgegen Sokrates’ Behauptung - erst in der kurzen Wiederaufnahme der Unterscheidung in 265b3-4, doch stellt sie für Platons Zeitgenossen wohl keine Überraschung dar: Die Erwähnung von Delphi an erster Stelle verweist unmittelbar auf Apollon und die Verbindung von μανία sowohl mit μαντική als auch mit Dionysos findet sich bereits in einer bekannten Passage von Euripides’ Bakchen. 12 Die dritte Art des göttlichen Wahnsinns schließlich, die μανία der Musen (245a1-8), ergreift eine zarte und reine Seele, erregt sie und versetzt sie in bakchische Begeisterung und erzieht, in Gesängen sowie anderen Arten der Dichtung tausend Taten der Ahnen ausschmückend, die Nachkommen. λαβοῦσα ἁπαλὴν καὶ ἄβατον ψυχήν, ἐγείρουσα καὶ ἐκβακχεύουσα κατὰ τε ᾠδὰς καὶ κατὰ τὴν ἄλλην ποίησιν, μυρία τῶν παλαιῶν ἔργα κοσμοῦσα τοὺς ἐπιγιγνομένους παιδεύει. 9 Vgl. Linforth: Telestic Madness in Plato, S. 170-172. 10 Heitsch: Platon Phaidros, S. 91, Anm. 130 macht eine Reihe von Vorschlägen, ohne dabei jedoch das Problem der textlichen Ungenauigkeit selbst zu thematisieren. Linforth: Telestic Madness in Plato, S. 169 legt genau darauf den Akzent: „We must acknowledge, that we do not know what legend Socrates had in mind, and I repeat that the vagueness of the relative clause [...] may really mean that he had no legend in mind“ (Herv. I. L.). 11 Vgl. Linforth: Telestic Madness in Plato, S. 164 („human misery in general“). 12 Μάντις δ᾽ ὁ δαίμων ὅδε: τὸ γὰρ βακχεύσιμον | καὶ τὸ μανιῶδες μαντικὴν πολλὴν ἔχει: | ὅταν γὰρ ὁ θεὸς ἐς τὸ σῶμ᾽ ἔλθῃ πολύς, | λέγειν τὸ μέλλον τοὺς μεμηνότας ποιεῖ - Ein Mantis ist auch dieser Gott [Dionysos]: Das Bakchische nämlich | Und das Manische enthalten Mantik in Fülle. | Denn wann immer der Gott ganz in einen Körper eingeht, | lässt er die Manischen die Zukunft vorhersagen (E. Ba. 298-301, meine Übs.). Vgl. Yunis: Plato Phaedrus, S. 132 u. 195. Siehe auch die explizite Verbindung von Apollon mit der Mantik in der ersten Etymologie des Götternamens „Apollon“ im Kratylos (Crat. 404e8-405c4). Julia Pfefferkorn 100 Wer nicht inspiriert sei und nur durch die τέχνη ein guter Dichter zu sein glaube, ergänzt Sokrates durch ein Wortspiel, bleibe zugleich ‚unvollkommen‘ und ‚uneingeweiht‘ ( ἀτελής ). Empfängerin des Wahnsinns der Musen ist - durch den inspirierten Dichter - ausdrücklich eine junge Seele; das Ziel ist das der Erziehung. Inwiefern diese drei ersten Arten des göttlichen Wahnsinns tatsächlich „traditionell“ als Formen von μανία aufgefasst wurden, ist verschiedentlich in Frage gestellt worden. 13 Womöglich wird der Prophetie genau aus diesem Grund die längste Erläuterung gewidmet: Sie - und allen voran die Pythia - ist das Paradebeispiel einer göttlichen Besessenheit, die den Menschen Gutes bringt, und kann auf ein unmittelbares Verständnis seitens des Gesprächspartners hoffen. Darüber hinaus ist die Thematik der Inspiration bzw. des Enthusiasmus hier bekanntermaßen keineswegs etwas Neues im platonischen Werk. Im Unterschied zu den Bezugnahmen insbesondere auf die poetische Inspiration etwa im Ion, in der Apologie, im Menon und später in den Nomoi sowie auch allgemein auf die dichterische Kunst in der Politeia, 14 scheint Platon ihr hier jedoch eine rein positive Bedeutung zuzuweisen, die frei von Kritik und Ambivalenz ist. Wie aktuell diese Problematik des Phaidros bis heute ist, zeigt Capras lapidare Bemerkung in Plato’s Four Muses (2014): „[T]he dialogue is unique in presenting a sustained case for a positive form of inspiration.“ 15 Während der Lobpreis der traditionellen Inspiration aufgrund der erwähnten Widersprüche zu anderen Dialogen vor und nach dem Phaidros kaum als direkte Äußerung von Platons eigener Haltung aufgefasst werden kann, 16 bleibt also die entscheidende Frage bestehen: Welche Funktion erfüllt in diesem Kontext diese so überraschend unkritische Bewertung der Inspiration unter dem Slogan einer göttlichen Form des Wahnsinns - die sich außerdem noch gegen platonische Hauptbegriffe wie νοῦς und σωφροσύνη zu richten scheint? Folgende drei Beobachtungen sollen helfen, eine Antwort auf diese Frage zu finden. 13 Hackforth: Plato’s Phaedrus, S. 60 und Linforth: Telestic Madness in Plato, S. 171. 14 Ap. 21e2-22c8; Ion 534b3-d4, 536c1-d3; Men. 99b11-d9; Lg. 682a1-5, 700d2-e4, 719c1-d1 und R. insb. 605c10 ff., 607b1 ff. Auch die Mantik wird in vielen anderen Dialogen quer durchs platonische Werk ambivalenter diskutiert: siehe z. B. Ion 531b1-10, 534c7-d4; Men. 99c11-d5; Ti. 69d7-72b5; Lg. 885c5-e5. 15 Andrea Capra: Plato’s Four Muses. The Phaedrus and the Poetics of Philosophy, Washington DC 2014, S. 17. 16 Hackforth: Plato’s Phaedrus, S. 61 hatte (unter Berufung auf Wilamowitz) geschrieben: „Plato is in this dialogue quite exceptionally conscious of the value of the imaginative, as against the rational power of the human soul.“ Heitsch: Platon Phaidros, S. 91 f. weist dagegen mit Recht darauf hin, dass die positive Darstellung der Inspiration - die eine dialoginterne Funktion erfüllt - nicht als Äußerung von Platons eigener Meinung gelesen werden sollte. Diese Deutung scheint inzwischen konsensfähig zu sein: vgl. auch Yunis: Plato Phaedrus, S. 134 und insb. Daniel Werner: Plato on Madness and Philosophy, in Ancient Philosophy 31 (2010), S. 47-71, hier 57. Sokrates’ Lob der theía manía 101 1. Beobachtung: der Zielpunkt Platon führt die drei traditionellen Arten der θεία μανία eigentlich bereits weit vor unserer Textstelle ein, und zwar in Gestalt von Sokrates’ Verhalten: Dieser ruft zu Beginn seiner ersten Rede die Musen an (237a7) und bemerkt anschließend, von „etwas Göttlichem ergriffen [ θεῖον πάθος πεπονθέναι ]“ zu sein, sodass er beginnt, dionysische Dithyramben zu dichten (238c5-d3), bevor er zum Ende seiner Rede wörtlich behauptet, ein μάντις zu sein, weil ihm bewusst geworden sei, gegen die Götter gefrevelt zu haben (242c4). Zu dem Zeitpunkt, an dem der göttliche Wahnsinn eingeführt wird, hat sich die traditionelle Inspiration also auf implizite Weise bereits als problematisch erwiesen, wenn sie sich gegen die vierte Art des Wahnsinns wendet, nämlich den philosophischen des Eros: Sie führt zu einem unwahren Ergebnis ( Οὐκ ἔστ’ ἔτυμος , 244a3). 17 Die Erläuterung der drei Formen der traditionellen göttlichen μανία ist also nicht so kritikfrei, wie sie auf den ersten Blick erscheinen könnte. Seinerseits ist der Seelenmythos im Anschluss gespickt mit Anspielungen auf die vorigen Erläuterungen zur Inspiration, die hier im Dienst der philosophischen Betrachtung steht. 18 So zeigt gerade der Kontrast zwischen den beiden sich stark unterscheidenden Reden des Sokrates, dass die drei traditionellen Arten des göttlichen Wahnsinns auf die vierte zielen, die die „beste [ ἀρίστην ]“ (265b5) ist und „das größte Glück [ εὐτυχίᾳ τῇ μεγίστῃ ]“ (245b7) bringt. Umgekehrt gesagt: Ein „Wahnsinn des Eros“ wäre ohne die Erläuterung der traditionellen Formen 19 unverständlich. 2. Beobachtung: Zeitlichkeit Weiterhin lässt sich in der Beschreibung aller drei Arten des göttlichen Wahnsinns ein starker Akzent auf der Zeitlichkeit im Sinne der Zeitenfolge Vergangenheit - Gegenwart - Zukunft feststellen: Erinnern wir uns an die „Ahnen“ und die Vorhersage der „Zukunft“ der μανία des Apollon; weiter an den Zorn 17 Nicht übersehen werden sollte hier auch das Vokabular des „Richtigen“ und „Angemessenen“, das in der Beschreibung jeder der drei Formen der traditionellen Inspiration versteckt ist: jemanden „richtig ausrichten“ ( ὤρθωσαν , 244b5) in Hinsicht auf die Zukunft, „auf die richtige Art wahnsinnig sein“ ( ὀρθῶς μανέντι , 244e4) bezüglich der Initiation, ein „angemessener“ ( ἱκανὸς ποιητής , 245a6-7) Dichter sein. Es gibt also in allen drei Beschreibungen zumindest einen impliziten Hinweis auf eine Kategorie, die eine Form von Kritik des göttlichen Wahnsinns nahelegt. Eine weitere, explizitere Andeutung einer ambivalenteren Konzeption der Inspiration findet sich auch in der Aufzählung der Lebensweisen, in denen der Prophet, der Priester und der Dichter nur den fünften bzw. sechsten Rang einnehmen (vgl. 248d7-e2). 18 Siehe zum Enthusiasmus 249d2 und e1, 253a3 sowie 255b6. Auf Initiation, Katharsis, Epopteia und Myesis wird angespielt insb. in 249c7-8 und 250c4, weiterhin in 246b7, 248b4, 250b8 sowie 253c3. Vgl. auch Anm. 7 in diesem Beitrag. Die Zweideutigkeit von τελέω (einweihen und vervollkommnen) prädestiniert die Begrifflichkeit der Initiation für Platons Zwecke. 19 Die vier erläuterten Formen des göttlichen Wahnsinns bilden nicht notwendig eine vollständige Liste (vgl. Werner: Plato on Madness, S. 50, Anm. 5). Julia Pfefferkorn 102 „in alter Zeit“ und an die „gegenwärtigen Übel“, von denen der Wahnsinn der Einweihungen „für die Gegenwart und für die Zukunft“ befreit; sowie schließlich an die Taten „der Ahnen“, durch die der Wahnsinn der Musen die „Nachkommen“ erzieht. Auch die Formulierung in der Wiederaufnahme der Thematik, welche die θεία μανία als „göttliche Verkehrung der gewohnten Sitten [ θείας ἐξαλλαγῆς τῶν εἰωθότων νομίμων ]“ (265a10 f.) definiert, enthält eine Anspielung auf die Ausgedehntheit der Zeit. Die Erläuterung der drei traditionellen Arten der göttlichen μανία hebt also einerseits die Zeitlichkeit des menschlichen Daseins hervor (bzw. dessen „contingency“, mit Ferrari zu sprechen 20 ), während sie andererseits die Perspektive auf eine göttliche Überzeitlichkeit eröffnen: Die Götter stehen außerhalb der zeitlichen Ordnung, sie vereinigen Vergangenheit und Zukunft, sie manifestieren sich in einer ausgezeichneten Gegenwart. Die so gesteigerte Sensibilität für Zeitlichkeit bereitet Phaidros und den Leser auf die Inhalte des unmittelbar folgenden Mythos über die Unsterblichkeit der Seele und die Ewigkeit der Ideen vor. 3. Beobachtung: der Einzelne Die dritte Beobachtung hebt einen Sachverhalt hervor, der nicht nur diese drei traditionellen Beispiele eines göttlichen Wahnsinns betrifft, sondern ganz wesentlich das anspricht, was „Inspiration“ ausmacht: Sie betrifft immer einen Einzelnen, der sich von der Masse abhebt und zum Sprachrohr und Medium des Gottes wird, der von ihm Besitz ergriffen hat. Dies geht unmittelbar aus Sokrates’ Erläuterungen hervor: Die Pythia, die Priesterinnen von Dodona sowie die Sybille werden gleich zu Anfang als Exponenten der Mantik genannt, ferner im Kontext der Initiation die ‚dazu Berufenen‘ ( οἷς ἔδει ) 21 und schließlich, für die dritte Art der θεῖα μανία , die Dichter. Von großer Bedeutung ist auch für diesen Kontext, dass Sokrates selbst sich als göttlich besessen erklärt und somit sich selbst als Einzelnen in Szene setzt. Dieser Wesenszug der Inspiration ist weit mehr als eine Vorausdeutung auf den folgenden Mythos: Sokrates wird mit Nachdruck darauf bestehen, dass der philosophische Eros nur wenige ergreift ( ὀλίγαι <ψυχαί> , 250a5; ὀλίγοι , b4). Sokrates’ Zurückgreifen auf den Mythos deutet selbst bereits an, dass die Erfahrung philosophischer Inspiration letztendlich unveräußerlich, das heißt unübertragbar und in ihrem Wesen nicht kommunizierbar ist. 22 Daniel Werner hat weiterhin hervorgehoben, dass Sokrates’ Beschreibung sowohl der göttlichen als auch der philosophischen Inspiration auf eine Erfahrung deutet, die 20 Giovanni R. F. Ferrari: Listening to the Cicadas. A study of Plato’s Phaedrus, Cambridge 1990, S. 127, 133, 137, 166, 232. Vgl. auch Halliwell: ‘Where are you going...? ’, der die inhaltliche Bezugnahme auf die Kontingenz des Lebens auf der Dialogebene gespiegelt sieht. 21 Vgl. zum Übersetzungproblem von οἷς ἔδει Anm. 8 in diesem Beitrag. 22 Vgl. auch Werner: Myth and Philosophy, S. 216. Sokrates’ Lob der theía manía 103 wir als „fundamentally passive“ 23 empfinden (wie sie auch von Sokrates selbst in 238c6 in Worte gefasst wird) und die uns ein Gefühl der ‚Ergriffenheit‘ gibt. Doch Platon zielt hier meines Erachtens noch auf etwas Weiteres: Während für Lysias die Inhalte seiner Rede zum Spielball seiner rhetorischen Gewandtheit 24 werden, die den technischen Intellekt des Verfassers in ihrem Zentrum wissen, verortet Sokrates die Inhalte philosophischen Denkens in einer Höhe, die die Fähigkeiten des menschlichen Intellekts - den menschlichen νοῦς , die menschliche σωφροσύνη - übersteigt: Der Mensch ist nicht das Maß aller Dinge. 25 Die propädeutische Funktion der mythischen Götter Es gilt nun, die Fäden aus diesen drei Beobachtungen zusammenzuziehen. Aus den Erläuterungen sollte deutlich geworden sein, dass dem Dreigespann der traditionellen Formen der göttlichen Inspiration eine propädeutische Funktion zukommt, die auf die philosophischen Inhalte des Mythos, auf welche alle drei ausgerichtet sind, vorbereitet und einstimmt. Diese Vorbereitung und Einstimmung geschieht sowohl auf der Grundlage von Wissensgehalten (z. B. der Überzeitlichkeit des Göttlichen) als auch, und insbesondere, mit Hilfe bestimmter Gefühle, die die Rede über das Göttliche in Phaidros und im Leser (zumindest im zeitgenössischen) aufkommen lässt: Ehrfurcht und Verehrung - religiöse Gefühle, die eine Haltung des Aufschauens zu etwas Bedeutenderem und Größerem hervorrufen. Es ist Sokrates’ Absicht, eine Projektion dieser Gefühle auf das ‚Göttliche‘ der Philosophie zu erreichen: „Das Göttliche ist das Schöne, Weise, Gute und alles Derartige [ τὸ δὲ θεῖον καλόν, σοφόν, ἀγαθόν, καὶ πᾶν ὅτι τοιοῦτον ]“ (246d8-e1). 26 Man könnte also formulieren, dass Platon sich dieser religiösen Gefühle bedient, um Phaidros und dem Leser die richtige Einstellung zur Philosophie zu vermitteln und um sie zu einer philosophischen Denk- und Lebensweise zu überreden. 27 23 Werner: Plato on Madness, S. 51 (Herv. D. W.); vgl. auch S. 61 (der Philosoph als „‘possessed’ by the Forms“, „an experience in which something happens to us“; Herv. D. W.). 24 Vgl. für eine ähnliche Deutung von Lysias’ (und Phaidros’) Haltung Ferrari: Listening to the Cicadas, S. 7, 58, 62. 25 Vgl. dazu unmittelbar Lg. 716c4-6. Nicht übersehen werden darf auch, dass die σωφροσύνη explizit unter den im überhimmlischen Ort zu schauenden Ideen genannt wird (Phdr. 247d6). 26 Die Götter verdanken ihre Göttlichkeit der Tatsache, dass sie sich dem Göttlichen - d. h. den Ideen - widmen: siehe 249c6. 27 Dass darin eine persuasive Seite platonischen Schreibens anerkannt wird, muss nicht überraschen. Mit Recht eröffnet Andrea Capra sein Buch mit der Feststellung: „There is a growing consensus that Plato’s ambition was not only to put forward his ideas, but also to provoke and persuade“ (Plato’s Four Muses, S. 1). Vgl. auch seine Thesen zu „inspired, and inspiring, logoi“ (S. 107 ff.). Darüber hinaus wird aus dem Gesagten gut deutlich, dass bestimmte Emotionen von erheblicher Bedeutung für die platonische Dialogführung sind. Julia Pfefferkorn 104 Aus einer anderen Perspektive beinhaltet die propädeutische Funktion der traditionellen Arten des göttlichen Wahnsinns aber auch, dass deren Beschreibung tatsächlich Elemente enthält, die sie mit der Erfahrung des philosophischen Denkens und Lebens teilen: die Unübertragbarkeit der Erfahrung, das Gefühl der Ergriffenheit, die Erhabenheit der Bezugsobjekte. 28 Im Seelenmythos des Phaidros sowie auch im Timaios erhält die so ermöglichte Vermittlungsrolle mythischer Gottesvorstellungen eine bildhafte Ausgestaltung in der (ontologischen) Zwischenstellung der olympischen bzw. gewordenen Götter zwischen der Welt des Werdens und dem Ideenkosmos. 29 Warum aber, bleibt nun noch offen, treten im vorliegenden Kontext gerade mythische Götter der Inspiration in den Vordergrund? Diese Frage scheint leicht zu beantworten: Schon im Symposion (202d13 ff.) werden etwa die Praktiken inspirierter Mantik dem Dämonischen zugeordnet, dem eine Vermittlungsfunktion zwischen Sterblichen und Unsterblichen, zwischen Menschen und Göttern zukommt. Die mythischen Götter der Inspiration stehen im kulturellen Bewusstsein also für genau das, was sie im philosophischen Kontext des Phaidros leisten sollen: Vermittlung. Kehren wir zum Abschluss noch einmal zu den einleitenden Beobachtungen über den Phaidros zurück, die sich gut in dieses Bild fügen. Das allgegenwärtige Hereinbrechen des Göttlichen von den ersten Seiten des Dialogs an schafft die Atmosphäre für eine Öffnung der Perspektive weg von dem rhetorischtechnischen Intellektualismus des Lysias und nimmt Phaidros mit auf den Weg zu einem philosophischen Denken. Eine Systematik der göttlichen Instanzen hat, so scheint mir, in diesem Rahmen schlicht keine Bedeutung, denn sie sind nicht der Zielpunkt 30 des Gesprächs, sondern eine konzeptuelle und emotionale Brücke zu diesem Ziel. Sie sind, ganz analog der Schilderung im Mythos, Vermittler, Reisebegleiter und Chorführer auf dem Weg zum überhimmlischen Ort. 28 Daniel Werners These, dass „all other kinds of madness, be they of the prophetic, telestic, poetic or crudely human kind, are implicitly being condemned as antithetical to the philosophical life“ (Werner: Plato on Madness, S. 63, vgl. auch S. 57), erweist sich deshalb als zu stark. Von einer Verdammung kann keine Rede sein, wenn die Bezugnahme auf traditionelle Formen der Inspiration dazu dient, zu einem philosophischen Denken und Leben hinzuführen. Eine vollständige Abwertung der drei traditionellen Formen des Wahnsinns ist auch angesichts der ausgezeichneten Rolle als Chorführer, die deren drei Namenspatronen - Apollon, Dionysos, die Musen - in den Nomoi erhalten (Lg. 664b3-665a6), unwahrscheinlich. 29 Siehe Phdr. 248a1 ff. und Ti. 41a3 ff. Vgl. für diesen Kontext auch meine Ausführungen in Julia Pfefferkorn: Der Tanz der Magneten. χορεία , Seele und die Mimesis des Göttlichen in Platons Nomoi, in Michele Abbate, Julia Pfefferkorn, Antonino Spinelli (Hg.): Selbstbewegung und Lebendigkeit. Die Seele in Platons Spätwerk, Berlin/ Boston 2016, 145-178, hier S. 170 ff. 30 Sokrates scheint tatsächlich zum Sprachrohr Platons zu werden, wenn er auf die Frage, ob er an die Mythen glaube, antwortet, dass er für derlei Fragen keine Zeit habe, weil er sich selbst (d. h. die Natur seiner Seele) immer noch nicht erkennen könne, und folglich einfach annehme, was allgemein geglaubt werde (229e3-230a5). Igor Mikecin Die Dunkelheit der Sprache Heraklits Heraklit wird von alters her der Dunkle ( ὁ Σκοτεινός ) genannt. 1 Aber worin besteht eigentlich und woher kommt diese Dunkelheit ( σκότος ), nach welcher Heraklit seinen Beinamen erhalten hat? Sie zeigt sich bereits als die Dunkelheit der Sprache Heraklits, die in seinen Sprüchen verwahrt ist (orationis obscuritas, Sen. Epist. XII, 7). Diese Dunkelheit seiner Sprache ist aber nicht die Folge von Nachlässigkeit oder eines Strebens nach einer verführerischen Ausdrucksweise. Die Dunkelheit der Sprache Heraklits ist überhaupt kein Mangel, der durch eine deutlichere Rede aufgehoben werden könnte. Ihr Sinn liegt auch nicht nur darin, dass das Gesagte vor dem Missverständnis geschützt und für die Unwürdigen unzugänglich gemacht wird, oder dass sie den achtsamen Zuhörer aus der Vergessenheit des immerseienden und allen gemeinsamen Logos erweckt. 2 Ihre Gestalt ist mit ihrem Inhalt unzertrennlich verbunden und geht aus dem Anspruch des Logos notwendig hervor. Wem der Logos verborgen bleibt, der hört diese Sprache und vernimmt sie nicht: ἀξύνετοι ἀκούσαντες κωφοῖσιν ἐοίκασι. φάτις αὐτοῖσιν μαρτυρεῖ παρεόντας ἀπεῖναι ; indem sie unvernünftig hören, gleichen sie Tauben, der Spruch bezeugt es ihnen: anwesend (sind sie) abwesend (B 34 DK). 3 Für Aristoteles ist die Sprache Heraklits unverständlich unter anderem auch deshalb, weil sie sich nicht eindeutig gliedern lässt, so dass unklar bleibt, in welcher Beziehung zueinander die Wörter eines Satzes stehen. 4 Aber die von Aristoteles genannte Stelle ist gerade das vorbildhafte Beispiel der bewussten Vieldeutigkeit der Sprache bei Heraklit und jeder Versuch ihrer Auflösung zugunsten einer der möglichen Lesarten führt zum Verlust des ursprünglichen Sinnreichtums. Die Dunkelheit der Sprache Heraklits lässt sich nicht durch die grammatische Kunst erklären. Überhaupt lässt sie sich nicht zureichend erfassen, wenn die Dunkelheit des Heraklit nur der Sprache 1 Siehe unter anderem Strab. XIV, 1, 25; Heraclit. Homer. alleg. 24, 3-5; [Arist.] De mundo 396b20; Clem. Strom. V, VIII, 50, 2; Hippol. Ref. omn. haer. IX, 2; Eus. Chron. p. 107, 15; 111, 21; Praep. evang. X, 14, 15; Suda s. ῾Ηράκλειτος ; Tzetz. Exegesis in Iliad. p. 101; 126; Etym. Magn. s. βίος ; Eustath. In Iliad. I, 49; In Od. IV, 450 usw. Als Übersetzungen für σκοτεινός werden im Lateinischen tenebrosus und obscurus verwendet. 2 Vgl. Cic. De nat. deor. III, 14, 35. Insofern Heraklit nicht deutlich spricht, hat er uns, sagt Plotin, aufgefordert, die Bilder zu deuten, so dass wir bei uns dasselbe suchen müssen, was er selbst gefunden hat (siehe Plot. Enn. IV, 8 [6] 1, 11). 3 Sämtliche Übersetzungen von Heraklits Fragmenten stammen vom Verfasser. 4 Arist. Rhet. 1407 b11-18. Als Beispiel für die Unklarheit der Sprache Heraklits nimmt Aristoteles den Anfang des ersten Spruchs: τοῦ δὲ λόγου τοῦδ’ ἐόντος αἰεὶ ἀξύνετοι γίνονται ἄνθρωποι . Das Adverb αἰεί kann sich sowohl auf ἐόντος (der immer seiende Logos / der Logos des immer Seienden) als auch auf γίνονται beziehen (die Menschen erweisen sich immer als gehörlos gegenüber dem Logos). Igor Mikecin 106 zugesprochen wird, die dann noch bloß als Ausdrucksmittel des Denkens verstanden wird. Die Dunkelheit des Heraklit bezieht sich also nicht nur auf seine Sprache, sondern auch auf sein Denken in seiner wesentlichen Einheit mit der Sprache. Denn die Dunkelheit seiner Sprache beruht auf der Dunkelheit des vernehmenden Versammelns ( λέγειν ), das dem Logos selbst entspricht. Diese Dunkelheit des vernehmenden Versammelns zeigt sich vor allem an der Einsicht in die Selbigkeit des Gegensätzlichen. Aristoteles sieht die Dunkelheit des Heraklit in der Sprache, die gegen den Satz vom Widerspruch als den Grundsatz des Denkens ( ἀρχὴ συλλογιστική ) verstößt. Dieser Satz besagt, dass es unmöglich ist, dass dasselbe demselben zugleich und in demselben Sinn zugesprochen und abgesprochen wird (Arist. Met. 1005 b19-20), bzw. dass das Gegensätzliche demselben zugleich zugesprochen und abgesprochen wird (Arist. Met. 1005 b26-27). Diese Unmöglichkeit beruht auf der ursprünglichen Unmöglichkeit, von demselben zu sagen, dass es ist und zugleich nicht ist (Arist. Met. 1005 b23-24, 29-30; 1005 b35 - 1006 a2; 1006 a3-4). Indem die entgegengesetzte Aussage das Gegensätzliche demselben zuspricht, setzt sie auch die zugrunde liegenden gegensätzlichen Gedanken einander auf widersprüchliche Weise entgegen. Es ist zufolge Aristoteles unbezweifelbar, dass Heraklit demselben Gegensätzliches zuspricht (Arist. Met. 1063 b24-30). Aber diese widersprüchliche Rede Heraklits, meint Aristoteles, darf nicht wortwörtlich genommen werden, sondern es gilt zu durchschauen, was hinter ihr eigentlich gedacht wird (Arist. Met. 1005 b23-26). Selbst Heraklit, glaubt Aristoteles, wäre gezwungen anzuerkennen, dass gegensätzliche Aussagen über dasselbe unmöglich sind (Arist. Met. 1062 a31-35). Aber die Dunkelheit des Heraklit lässt sich weder durch den Verstoß gegen den Satz vom Widerspruch noch durch die Unklarheit der Sprache erklären. Vielmehr ist es nötig, ausgehend von Heraklit die Voraussetzungen zu entdecken, auf welchen der Satz vom Widerspruch als solcher beruht, sowie die Reichweite seiner Geltung. Im Gegensatz zu Aristoteles sagt Platon im Sophistes, indem er unter anderen auch an Heraklit denkt, dass es schwierig und unangebracht sei, den berühmten und ehrenvollen Ahnen vorzuwerfen, dass sie nicht die Wahrheit gesagt hätten. Es könne jedoch gesagt werden, dass sie rücksichtslos gewesen seien und sich nicht darum gekümmert hätten, ob jemand ihnen folgen könne oder nicht. Der Gedanke der Selbigkeit des Gegensätzlichen ist so schwierig, dass Platon gezwungen ist, durch die dialektische Untersuchung der Ideen dasjenige vorzutragen, was Heraklit einfach und ohne Begründung verkündet. 5 In der Rücksichtslosigkeit Heraklits verbirgt sich die anfängliche Einfachheit und Tiefe des vernehmend-versammelnden Sagens in Übereinstimmung mit dem Logos als der ursprünglichen Versammlung. 5 Siehe Pl. Sph. 243a. Die Dunkelheit der Sprache Heraklits 107 Der Sinn der Dunkelheit der Sprache Heraklits wird in der Geschichte über den delischen Taucher ( Δήλιος κολυμβητής ) angedeutet. 6 Als Euripides Sokrates die Schrift Heraklits übergeben habe, habe er ihn nach seiner Meinung gefragt, und Sokrates habe geantwortet: Was ich verstanden habe, ist vortrefflich, wahrscheinlich auch das, was ich nicht verstanden habe, aber es bedarf eines delischen Tauchers. Der ‚Delische Taucher‘ war bei den Griechen eine sprichwörtliche Redewendung für einen guten Schwimmer und Taucher, weil die Taucher von Delos wegen ihrer Fähigkeit berühmt waren, im tiefen Meer nach Perlen zu tauchen. Die Tiefe des bei Heraklit Gesagten erfordert einen tiefsinnigen Zuhörer und Leser ( τὸ βάρος τῆς ἑρμηνείας , Diog. Laert. IX, 7). Ebenso wie die Seele einen so tiefen Logos hat ( οὕτω βαθὺν λόγον ἔχει , DK 22 B 45), dass ihre Grenzen nicht gefunden werden können, so ist auch die Sprache Heraklits dunkel, weil ihr eine Tiefe eignet, die mit der abgründigen Meerestiefe vergleichbar ist. Der Taucher stammt aus Delos, und Delos ist die Geburtsinsel von Apollon und Artemis. Besonders Apollon ist an Delos gebunden. 7 Der berühmteste Tempel Apollons war gerade auf Delos, und Apollon selbst wurde der Herr von Delos genannt. Apollons Kennzeichen - Bogen und Leier - werden bei Heraklit zu den wichtigsten Zeichen der Anwesenheit des Logos in allem Werdenden. Heraklit ehrt Apollon als den Gott des Lichtes und der Weissagung, so dass die Dunkelheit der Sprache Heraklits mit der Weise verbunden ist, wie Apollon in Delphi durch seine Weissagerin Pythia kündet. Gemäß dem vorhersagenden Weissagen trägt Apollon den Beinamen Λοξίας , der vom Wort λοξός (‚gebogen, schief‘) kommt; τὰ λοξά sind die Weissagungen, eben wegen ihrer Vieldeutigkeit. Schon die Geschichte von der Entstehung des Namens der Geburtsinsel Apollons deutet auf den Streit von Licht und Dunkelheit hin, der im Denken Heraklits waltet: Vor Apollons Geburt nämlich sei Delos ziellos im offenen Meer umhergetrieben, doch sobald Apollons Mutter Leto sie betreten habe, sei sie angehalten und mit Säulen am Meeresboden befestigt worden, und plötzlich habe sie aus dem Meer geragt wie der leuchtende Stern der dunklen Erde. 8 Den Namen habe Apollon seiner Geburtsinsel selbst gegeben, indem er den alten Namen Ortygia geändert habe. Der Name Delos komme nämlich vom Wort δῆλος (‚offenbar, klar, deutlich‘), denn sie rage aus dem Meer in die Klarheit des Himmels und bleibe zugleich in der undurchsichtigen Meerestiefe verwurzelt ( ἐξ ἀδήλου , Etym. Magn. s. Δῆλος ; vgl. Schol. Il. I, 9). Die Redewendung ‚delischer Taucher‘ vereint somit Gegensätzliches: das Licht und die Dunkelheit. Er ist derjenige, der in die Meerestiefe versinkt, um in ihr das Hellste zu finden und ans Licht zu bringen. So wie das Gold in der Dunkelheit der Erde verborgen liegt, und die Goldsucher viel Erde ausgraben müssen, um es zu entdecken ( χρυσὸν γὰρ οἱ διζήμενοι γῆν πολλὴν ὀρύσσουσι καὶ εὑρίσκουσιν 6 Siehe Diog. Laert. II, 22; IX, 12; Suda s. Δηλίου κολυμβητοῦ ; David. In Porph. Isag. 4; Elias In Porph. Isag. 16. 7 Vgl. Hom. Hymn. in Ap. Del. III, 140-162. 8 Siehe Pind. Fr. 64; 65. Igor Mikecin 108 ὀλίγον ; denn die Gold suchen, graben viel Erde auf und finden wenig; DK 22 B22), so verweilt auch das Weise, nach dem die Seele sucht, in der Verborgenheit ihrer unergründlichen Tiefe. Unter den wichtigsten Beinamen Apollons sind diejenigen, die ihn als den Lichtgott bezeichnen: Λύκειος, Λύκιος, Λυκηγενής, Φοῖβος . Es ist das Licht, das plötzlich in der Dunkelheit aufbricht und so leuchtet, dass das Beleuchtete sich in seiner Wahrheit zeigt. Davon spricht auch das Epigramm bei Diogenes Laertios, das Heraklit gewidmet ist: Nicht schnell entfalte die Buchrolle Heraklits / / des Ephesiers. Sehr schwer zu gehen ist der Pfad. / / Finsternis ist da und unbeleuchtetes Dunkel, doch führt ein Geweihter / / dich ein, ist er heller als die leuchtende Sonne. 9 Erst dann werde sichtbar, dass die Sprache Heraklits des Dunklen leuchtend ( λαμπρῶς ) und klar ( σαφῶς ) sei. 10 Die Sprache Heraklits ist dunkel, nur insofern das Licht und die Dunkelheit gegenstrebig vereinigt sind. Indem das Licht sich aus dem Streit mit der Dunkelheit entzündet, hat es sein Maß, so dass es die Dunkelheit erhellt, ohne sie zu vernichten. Die Dunkelheit ist dem Licht so entgegengesetzt, dass es das eine nicht ohne das andere gibt. Der Gegensatz von Licht ( φάος ) und Dunkelheit ( σκότος ) geht aus dem Gegensatz von Entzünden ( ἅπτομαι ) und Verlöschen ( σβέννυμι ) des ewigen Feuers hervor. Er selbst aber beruht auf dem Gegensatz des Entbergens ( εὑρίσκω ) und Verbergens ( κρύπτω/ λανθάνω ), Erscheinens ( φαίνομαι ) und Verschwindens ( ἀφανίζω ), Aufgehens ( φύω ) und Untergehens ( δύνω ) des Werdens in allem Werdenden und des Seienden im Werden selbst. Der Gegensatz von Entbergen und Verbergen kommt gerade in jenem Spruch zum Vorschein, der vom wahren Sagen selbst spricht: ὁ ἄναξ, οὗ τὸ μαντεῖόν ἐστι τὸ ἐν Δελφοῖς, οὔτε λέγει οὔτε κρύπτει, ἀλλὰ σημαίνει ; der Herr, dessen Orakel dasjenige in Delphi ist, weder entbirgt noch verbirgt, sondern gibt Zeichen (DK 22 B93). Das Zeichengeben ist die Weise, wie Apollon durch Weissagungen kündet, die seine Weissagerin Pythia in seinem Tempel in Delphi vermittelt. Sie vernimmt den lautlosen Zuspruch Gottes und übersetzt ihn in die verlautbarten Zeichen. So spricht Apollon durch Pythia, und sie hat keine eigene Sprache, sondern ist in ihrem Verkünden ganz dem Gott hingegeben. 11 Heraklit aber verkündet weder wie Apollon und Pythia noch wie Priester, die das Verkündete in die zweideutigen hexametrischen Sprüche übersetzen. Der Gott entbirgt weder nur, noch verbirgt lediglich, denn er unterscheidet nicht das Gegensätzliche in Einem (DK 22 B102). Im Gegensatz dazu ist das zeichengebende Sagen Heraklits weder nur das Entbergen noch nur das Verbergen, sondern beides zugleich, insofern es das Gegensätzliche scheidet und zugleich in das Eine vereinigt. Während die weissagende Sprache vorhersagt und vom Zukünftigen spricht, sagt Heraklit das, was immer war und ist und sein wird, und in allem waltet. In der Nähe des Weisen stehend unterscheidet er sich vom Weissager 9 Diog. Laert. IX, 16. 10 Diog. Laert. IX, 17. 11 Siehe Iambl. De mysteriis III, 15. Die Dunkelheit der Sprache Heraklits 109 Gottes. Die Stimme Gottes ist an sich lautlos. Diese Stimme hört in seinem Heiligtum ( μαντεῖον ) die Weissagerin ( μάντις ) und übersetzt sie durch ihren rasenden Mund in das lautlich Hörbare ( μαινομένωι στόματι ... φθεγγομένη , DK 22 B92). Dieser Laut wird dann von den Priestern als eine Weissagung gestaltet, die den Sterblichen ausgesagt wird, die das Heiligtum besuchen. Heraklit selbst spricht weder menschlich ( οὐκ ἀνθρωπείως ) noch verkündet er wie die Sibylle, die vom Gott befangen ( διὰ τὸν θεόν , DK 22 B92) Zeichen gibt, noch dichterisch wie Priester, sondern deutet das Eine einzige Weise in Zeichen an. Ebenso wenig wie die Weissagerin spricht derjenige, der das Weise liebt ( ἀνὴρ φιλόσοφος , DK 22 B35), aus sich selbst, aber er ist kein Bote Gottes, sondern der Herold der Wahrheit des Logos selbst, die durch ihn zur Sprache kommt ( οὐκ ἐμοῦ ἀλλὰ τοῦ λόγου ἀκούσαντας ὁμολογεῖν σοφόν ἐστιν ἓν πάντα εἶναι ; jenen, die nicht mich, sondern den Logos gehört haben, ist es weise, zusammen mit dem Logos zu sagen: alles ist eins; DK 22 B50). Der Logos selbst spricht durch den Sagenden als seinen Wahr-sager. Er bedarf dabei keiner Offenbarung Gottes in den Weissagungen, denn das zeichengebende Sagen des Weisen tritt an die Stelle der weissagenden Voraussage. Anstatt die Antwort des Gottes im Tempel zu suchen, sucht und erkennt er sich selbst ( ἐδιζησάμην ἐμεωυτόν ; ich habe mich selbst gesucht; DK 22 B101) und findet die göttliche Gnome, die alles steuert (vgl. DK 22 B41). Da die Sprache und das Vernehmen im anfänglichen Logos gründen, beruht auch ihre Dunkelheit letztendlich auf der Dunkelheit des Logos. Heraklits Logos schließt in sich das Verbergen ein, weil nur das entbergend-verbergende Sagen das entbergende Verbergen des anfänglichen Logos in allem Werdenden zeigen kann. 12 Daher befindet sich der wahre Sinn von Heraklits Beinamen, der Dunkle, nicht bloß in der Unklarheit des sprachlichen Ausdrucks und des Denkens, sondern die Dunkelheit der Sprache Heraklits entspricht der Dunkelheit dessen, was vor allem anderen sagwürdig ist. Die Sprache gehört zum Vernehmen, das schon in sich selbst sagend ist. Und dieses sagende Vernehmen gehört dem Logos selbst, der als das Immerseiende in allem Werdenden waltet. Infolge der Vergessenheit des Logos zerfällt seine ursprüngliche Dreieinheit in Sprache (Grammatik), Denken (Logik) und Sein (Ontologie). Auf dieser Vergessenheit beruht dann auch das oberflächliche Verständnis von Heraklits Beinamen ‚der Dunkle‘. Das Verbergen und das Entbergen des Sagens ist im Zeichengeben vereinigt. Das Sagen als Zeichengeben ist das sich-verbergende Entbergen. Was durch Zeichen angedeutet wird, kann das Werdende, das Werden des Werdenden und das Werden selbst sein, aber was eigentlich in jedem möglichen sagenden Zeichen angedeutet wird, ist der Logos selbst als das Immerseiende ( τοῦ δὲ λόγου τοῦδ’ ἐόντος αἰεί , DK 22 B1). Indem der Logos sich entbirgt, verbirgt er sich im Entborgenen. In der Sprache aber, die keine Zeichen gibt, sind das Entbergen und Verbergen nicht vollkommen vereinigt, sondern in ihrer 12 Vgl. Iambl. Ib. Sect. VII, 1. Igor Mikecin 110 Einheit entzweit. Wenn die Sprache das Werdende nur zu entbergen trachtet und nicht zugleich auch bewusst verbirgt, entbirgt sie nicht den verborgenen Logos seines Werdens, und er bleibt im Werdenden verhüllt. Wenn die Sprache den Logos nur zu enthüllen versucht, ohne auf seine eigene Verborgenheit zu achten, und das heißt, nicht in Zeichen spricht, verhüllt sie ebenso den Logos, weil die Verborgenheit immer schon dem Logos gehört (vgl. DK 22 B123). Er ist nämlich in seiner Wahrheit nicht das Entborgene schlechthin, sondern gerade das Un-verborgene. Wenn aber das Verbergen in der Sprache maßlos überwiegt, verhüllt sie nicht nur den Logos, indem sie überhaupt nicht auf ihn hört, sondern auch das Werdende, indem sie es nicht als dasjenige entbirgt, worin sich der Logos selbst verbirgt. Jedes Sprechen entbirgt und verbirgt seinem Wesen nach zugleich. Aber während das wahre Sprechen aus der Einheit der Gegensätze Zeichen gibt, entzweit das unwahre Sprechen die Gegensätze. Trotz dieser Entzweiung können die Gegensätze aber nie getrennt werden. Die übermäßig entbergende Sprache ist die erklärende und begründende Sprache der Vielwisserei ( πολυμαθίη ), die für die wahre Einheit des Logos taub ist. Im Gegensatz dazu ist die Sprache, die übermäßig verbirgt, die verhüllende Sprache der unverborgenen Unwissenheit ( ἀμαθίη ). Beiden entzieht sich die Wahrheit des Logos, und es verliert sich die Einheit des immer Seienden in der zerstreuten Vielheit des Werdenden. Das Zeichengeben entbirgt weder nur noch verbirgt es nur, noch entbirgt es bald und verbirgt bald, sondern es vollzieht beides zugleich in der ursprünglichen Einheit. Es entbirgt nicht zu einem Teil und verbirgt zu einem anderen. Es entbirgt nicht etwas und verbirgt etwas anderes, sondern es ist das Zugleich des Entbergens und Verbergens. Aber das sagende Zeichengeben ist auch nicht bloß ein unvollständiges Andeuten. Im Zeichen ist nämlich der Logos im Ganzen anwesend als abwesend. Durch das Zeichen wird das in ihm Verborgene als das Ab-wesende in die Anwesenheit gebracht. Indem das Zeichengeben durch das Entborgene auf das Verborgene hindeutet, bewahrt es das Verborgene in seiner Verborgenheit und lässt es zugleich im Entborgenen erscheinen. Das Zeichen ist nicht bloß aus dem Gegensätzlichen zusammengesetzt, sondern im Zeichen walten die Gegensätze - das Entbergen und Verbergen - unzertrennlich. Das Zeichengeben als das wahre Sagen entbirgt weder nur noch verbirgt es nur, sondern verbleibt in der wahren Einheit des Entbergens und Verbergens. Aber diese Einheit ist kein Einerlei des Gleichen, sondern die äußerste Spannung des Gegenstrebigen. Das sagende Entbergen des Sagbaren beruht auf dem sichverbergenden Entbergen des Logos selbst. Nur dasjenige Sagen, das so entbirgt, dass es zugleich auch verbirgt, erzeugt die Wahrheit des Logos, denn es entspricht seiner eigenen Unverborgenheit. Als das Un-verborgene ist der Logos das, was nie untergeht ( τὸ μὴ δῦνόν ποτε , DK 22 B16). Diesem verbergenden Entbergen entspricht das zeichengebende Sagen. Die Dunkelheit der Sprache Heraklits 111 Das, worin der immer seiende Logos sich verbirgt, ist das Werden des Werdenden. Der Logos des Werdens verbirgt sich so, dass dieses Verbergen nie durch das Entbergen vernichtet werden kann. Der Logos ist zugleich das Unverborgene, weil er in seinem Verbergen nie untergehen kann. Deshalb ist nur dasjenige Sagen un-verborgen, und das heißt wahr, in welchem die Unverborgenheit des Logos vollkommen zur Sprache kommt. Der Gegensatz von Entbergen und Verbergen ist die Herkunft des Gegensatzes der Wahrheit und Unwahrheit, und folglich der wahren und falschen Rede. Die Wahrheit ist dabei nicht nur das Entbergen und die Entborgenheit; und die Unwahrheit ist nicht nur das Verbergen und die Verborgenheit, sondern die Wahrheit ist eben die Un-verborgenheit, in welcher das Entborgene im ursprünglichen Streit ( ἔρις ) mit dem Verborgenen liegt, und die Unwahrheit ist die gegenseitige Entzweiung des Entbergens und Verbergens, wobei das zeichengebende Sagen ausbleibt, das allein im Stande ist, die Gegensätze in der Sprache zusammenzuhalten. Als das Sichverbergende im Entbergen ist der Logos das Dunkle. Insofern die Sprache Heraklits dem Dunkeln entspricht, ist auch sie selbst dunkel, denn sie ist notwendig durch das bestimmt, was sie anspricht. Wenn das Sagen dem Sichverbergenden zugesteht, in seiner Unverborgenheit zu bleiben, dann achtet es auf die Verborgenheit als die unerschöpfliche Quelle jedes Entbergens. Heraklit ist dunkel, weil sein entbergend-verbergendes Sagen die Wahrheit des Logos bewahrt und in Übereinstimmung mit ihm selbst sagt. Insofern das Sichverbergen dasselbe wie das Sichentziehen des Logos ist, verzichtet das entsprechende Sagen auf das Aussprechen des Unaussprechbaren. Dem Gesagten im zeichengebenden Sagen gehört immer auch das Unausgesprochene oder das Verschwiegene. Das Sagen Heraklits ist dunkel, weil es auf den Logos hört, der in seinem Entzug nur durch die Zeichen sagbar ist. In seinem Verbergen ist der Logos aber nicht unerkennbar, in seinem Entzug ist er nicht unzugänglich, in seiner Unaussprechbarkeit ist er nicht unsagbar. Im Gegenteil, der Logos ist gerade als das Sichverbergende im Ganzen erkennbar. Das sagende Entbergen verhält sich zum Logos als dem ursprünglich Unverborgenen. Es ist das ausdrückliche Sich-Halten in der Unverborgenheit des Logos. So wie der Logos des Werdens sich in den hörbaren Zeichen kundgibt, und vor allem in Worten, so auch in den sichtbaren Zeichen, besonders im Bogen, in der Leier und im Kykeon. Dem wahren Sagen gehört daher auch das zeigende Werk ( ἔργον ). Indem Heraklit, laut einer Geschichte, den Kykeon aus Wasser und Gerstengraupen wortlos gemischt und getrunken habe ( σιωπῶσαν παραίνεσιν ἐκθείς ), vor denen, die bei ihm einen Rat gesucht hätten, habe er ein Zeichen ( ἐνδειξάμενος ἐμφαίνων ) der Bescheidenheit und der Einfachheit, der Unbedürftigkeit und der Selbstgenügsamkeit gegeben. 13 Das Mischen und Austrinken des Kykeon ist das schweigende Zeigen der Tugend durch das Werk und zugleich das Zeigen der Wirkung des Kykeon. Wie das Werk, so gibt auch 13 Siehe Plut. De garr. 17, 511b; Themist. De virtute, p. 40. Igor Mikecin 112 der Spruch in sich selbst das Zeichen dessen, wovon die Rede ist, denn das Sagen ist in seinem Wesen das Zeigen und Verweisen. Der Gegensatz von Verbergen und Entbergen erscheint also auch als Einheit von Schweigen und Verlauten. Die übermäßig entbergende Rede achtet nicht auf das Schweigen und das Unaussprechbare, sowie umgekehrt das übermäßige Schweigen auch dann auf das Wort verzichtet, wenn das Sagbare noch immer aussprechbar ist. Das wahre Sagen achtet auf das wahrhaft Unaussprechbare und schließt in sich das sagende Schweigen. Damit wird das Unaussprechbare durch das Ausgesprochene gesagt. So ist der Verzicht auf die Benennung dessen, was sich durch das Sagen verkündet, das weder nur entbirgt noch nur verbirgt, die Eigenschaft des wahren Sagens selbst (vgl. DK 22 B93). Jedes Werdende ist das Zeichen des Logos, die Stätte seines sichverbergenden Entbergens. Aber die Worte sind unter allem Werdenden die besonderen Zeichen, weil durch sie alles als das Zeichen des immerseienden Logos angedeutet wird. Heraklit spricht mit Worten als Zeichen, so dass das Werdende, das in der Sprache zum Wort kommt, wiederum zum Zeichen des Logos selbst wird. Durch das zeichengebende Sagen, das dem Logos des Gesagten entspricht und in Übereinstimmung mit ihm das Gemeinsame sagt, geschieht das λέγειν des an sich lautlosen Logos sprachlich. Ein solches Sagen nimmt den Logos nicht als seinen Gegenstand, über den etwas Wahres gesagt wird. Der Logos ist überhaupt nicht bloß der gedankliche Inhalt des sprachlichen Ausdrucks. Das wahre Sagen gesteht dem Logos selbst zu, in seiner Wahrheit zu seinem eigenen Wort zu kommen. So wird der Logos durch das zeichengebende Sagen, das weder nur entbirgt noch nur verbirgt, in seine eigene Unverborgenheit gebracht. Alina Noveanu Das Genießen der Aphrodite Zu den Gestalten des Eros und der Aphrodite in Platons Symposion Darum habe ich mich auch so herausgeputzt, um schön zum Schönen zu gehen. Platon, Symposion, 174a-b Dass die Poesie ausgerechnet die Liebe verpasst hätte, will keiner glauben. Die Liebe lebte immer schon im Gedicht. Nichts eignete dem Melos mehr als die süße Begleitung der Lyra. Dagegen ist jeder Diskurs über die Liebe ein potentieller Angriff auf die ihr eigene Rhythmik. Reden über die Liebe laufen Gefahr, sich dem wissenschaftlichen Diskurs zu unterwerfen, ja, sie können anatomisch werden - und die Erotik das Anatomischen hält sich in engen Grenzen, im Vergleich zur Lebendigkeit des Gedichts als verwahrendem ,Körper‘ des Liebesgeschehens selbst. Wie steht es aber um die verschiedenen Töne der Sprache der Weisheitsliebe? So kommt es, dass alles europäische Reden über Liebe mit verkaterten Männern beginnt, deren Prosa als medientechnische, nämlich aufschreibbare Innovation nur eine Leerstelle der Poesie erfüllen soll. 1 Friedrich Kittler bezieht sich mit seinem Satz auf einen wesentlichen Moment des ‚europäischen‘ Liebes-Diskurses, der sich aus dem Gedicht und zugleich in Abgrenzung von der Dichtkunst entwickelte. Er beruft sich damit auf Platon, der im Symposion die Sache des Eros und ihre Bedeutung für die Philosophie auslegt und zwar im gleitenden Übergang vom Hymnos zur Lobrede. Das europäische Philosophieren über die Liebe bedient sich also in der Begründung seines Diskurses eines Vorwandes, eines Tricks, so wie es oft die Götter tun, wenn sie einen der auserwählten schönen Sterblichen verführen wollen. Kein Lobgedicht wurde auf den Eros gedichtet, kein enkómion, so die bedauernde Feststellung des Pausanias (177a) 2 . Die versammelten Männer, die sich noch von der vorigen Nacht erholen, versuchen nun die Lücke auszufüllen - und zwar mit schönen Lobreden, mit lógoi, epaínoi. 1 Friederich A. Kittler: Die Wahrheit der technischen Welt, Berlin 2013, S. 330. 2 Die folgenden Angaben verweisen soweit nicht anders vermerkt auf Platons Symposion (Zitate in der Übersetzung von Barbara Zehnpfennig, Hamburg 2012). Alina Noveanu 114 Auch wenn Liebe ohne Schönheit nicht vorstellbar ist, ist diese Engführung zunächst erschlichen. Ob sich Sokrates nun schön macht, um zum Schönen (und Guten) zu gehen oder ob es die jugendliche Schönheit des Phaidros ist und sein Eifer um ein Leben, das „auf schöne Weise“ (178c) gelebt werden sollte: Dieses mythische Tandem Eros und Aphrodite philosophisch zu durchdringen, das ist doch letztlich die Aufgabe, die Sokrates gestellt wird als einem, der sich in allem für unwissend erklärt, bis auf die Sache der Liebe (177d). Zu seinem Wissen ist er einst durch die Hilfe der einzigen Frau gelangt, die im Werk Platons einen Großauftritt bekommt und dabei nichts Kleines leistet. Sie hat alles schon durchblickt, die göttliche Diotima, die Priesterin aus Mantineia, die ihr Volk vor dem Ausbruch einer furchtbaren Seuche zu bewahren wusste und durch die der junge Sokrates auch die ersten ‚Einweihungen‘ in Liebesangelegenheiten erhielt. Unklar bleibt, ob er damals bereits über die kleineren ‚Mysterien‘ hinauszublicken vermochte, über die erotiká, die ihm Diotima nach und nach offenbart. Dann hält sie an einer Stelle ihrer Rede inne. Was folgt, ist für den jungen Sokrates etwas gänzlich Neues. Es geht viel um Blicke, um das Erfahren und Berühren einer ‚Sache selbst‘ „an sich und für sich und in sich ewig in einer Gestalt“ (211b). Wir können aus dem Aufbau der Diotimarede wohl bestimmte Stufen der Mysterieneinweihung herauslesen. 3 Ob mystische Berührung oder reiner Rausch: Das Phänomen der Liebe und des Liebens zeichnet sich auf hervorragende Weise dadurch aus, dass Liebe kein Widerfahrnis ist, das sich als solches allein über die Schrift machen ließe. Die Weisen ihrer Übertragung sind weder die der hysterischen Identifizierung noch die der - an sich problematischen - Überlieferung von Wissen. Sokrates lässt Letzteres im Wollfaden-Gleichnis anklingen (175d). Auch ist ihre eigentümliche Dialektik nicht die des Diskurses. Die lógoi selbst sind auch nach der zweiten durchzechten Nacht nicht zu Ende, auch wenn der Eros letztlich - passenderweise - einer uns nicht mehr überlieferten Diskussion über Komödien- und Tragödiendichtung Raum lässt. Die Teilnehmer am Symposion schlafen einer nach dem anderen ein. Nur die (sokratischen) Reden fließen weiter, während sich ihr Urheber unbekümmert den restlichen Wein einflößt. Worte und Reden werden, so sehen wir am Beispiel des Sokrates, nicht einfach übertragen, sondern sie verwandeln sich und wandern über in denjenigen, der sie gut verträgt: Was sie hier ,zeugend‘ erzeugen, ist selbstverständlich auch ein Eros-Geschehen. All dies gilt als Urform einer „Prosa über Liebe“, die, wieder mit Kittler gesprochen, „(zumindest bis vor Nietzsche) den Rausch als Leerstelle weiterträgt“ 4 . Gleichzeitig handelt es sich - so die These Kittlers - bei der vom Abendland praktizierten Liebe um eine ‚Verfallsgeschichte‘. Die langsame Trennung von Rausch und Liebe ist eine Geschichte der ‚Ernüchterung‘, die zwar an den 3 Vgl. dazu Manuel Schölles: Die Mysterien des Schönen, in Dietmar Koch, Irmgard Männlein-Robert, Niels Weidtmann (Hg.): Platon und das Göttliche, Tübingen 2010, S. 174- 192. 4 Kittler: Die Wahrheit, S. 330. Das Genießen der Aphrodite 115 Rausch des Vortags noch anknüpfen konnte, aber „an deren Ende das nüchterne Wissen und das nüchterne Reden von Sex stehen“ 5 . Auffällig also, dass gerade Sokrates, der die Liebe ‚wusste‘, den Anfang dieser Verfallsgeschichte markieren soll. Wie konnte es passieren, dass der, der nichts wusste, zum ersten (und vielleicht letzten) ‚Wissenden‘ der Liebe wurde? Wir werden versuchen, uns der Antwort auf diese Frage und dem Geheimnis des Sokrates anzunähern, indem wir einige Gestalten des Eros und der Aphrodite betrachten, wie sie uns Platon in seinem Symposion vorstellt. Die Weise, wie der Eros berührt, ist ohne den Umweg über die Schönheitsmysterien nicht nachvollziehbar. Das Ergriffensein vom silenenhaft Schönen, Verführerischen des Sokrates wird uns auch zum Schluss des Dialogs beispielhaft vorgeführt. Oder bekommen wir dort nur ein falsches lebendes Beispiel, das eines maßlos Verliebten und in seiner Lüsternheit eher mit Vorsicht zu genießenden Liebenden? Sollten wir uns doch besser an den Aufstieg von den Leibern zu den Seelen und zum Schönen selbst halten und die Symposion-Lektüre nach der Diotima-Rede gar weniger aufmerksam fortsetzen? Der Auftritt des liebes- und weintrunkenen Alkibiades (ein Doppelrausch! ) und die Geschichte seiner von Sokrates nicht erwiderten Leidenschaft ist wohlbekannt. Der nüchterne Geliebte des schönen und entflammten Liebhabers redet zwar über den Eros, bleibt aber vom Begehren selbst unberührt. Sokrates scheint gleichsam am anderen Pol der erotischen Skala zu stehen, der ‚Trunkenheit‘ des Alkibiades gegenüber, er, der nur ‚nüchterne‘ lógoi über die Liebe liebt. Entsprechend listig entwirft Platon auch zwei gegensätzliche Erscheinungsweisen der Aphrodite und damit logischerweise auch des Eros: eine noble, himmlische und eine irdisch-gemeine, die durchaus auch dem Modell des Seelengespanns mit den beiden ungleichen Rosse im Phaidros 6 assoziiert werden können. Diese beiden leicht moralisierend zu missdeutenden Gestalten des Eros und der Aphrodite führt Platon im Symposion interessanterweise nach der schönen Rede des schönen Phaidros ein. Dieser hatte in seiner Rede über die göttliche Liebe des Achilles zu Patroklos davon berichtet, wie der Geliebte (der schönere und stärkere Achill), zum Liebenden geworden, bereit gewesen war, seinem Freund in den Tod zu folgen. Eine Liebe auf Augenhöhe also, die dem gewöhnlichen Modell der Knabenliebe beziehungsweise des Lehrer-Schüler- Verhältnisses nicht mehr entspricht. Diese beschreibt Phaidros aber als die von den Göttern meistgeschätzte und gewürdigte Liebe: „Daher zollten die Götter ihm [Achilles] höchste Bewunderung und ehrten ihn vor allen anderen, weil er seinen Liebhaber so hoch geachtet hatte“ (180a). Denn auch wenn die Götter das Gewöhnliche, die Liebe des Liebhabers zum Geliebten gut heißen: „[...] mehr noch allerdings bewundern und preisen und entgelten sie, wenn der Geliebte den Liebhaber liebt, als wenn der Liebhaber den Geliebten“ (180b). 5 Ebd., S. 329. 6 Phdr. 246a ff. Alina Noveanu 116 Was es mit dieser Umkehrung des Verhältnisses vom Geliebten zum Liebhaber auf sich hat, darüber gibt vielleicht die Schlussszene des Dialogs genauer Aufschluss. Alkibiades, der jüngere, der daher klassischerweise für die Rolle des Geliebten bestimmt ist, wird zum Liebenden und bietet so den Vergleich zu Achill. Eine schwache Stelle hat Alkibiades aber auch - und jetzt endet unser Vergleich -, denn obwohl er die Schönheit in Sokrates erblickt hat, verfehlt er in seiner Liebe das Wesentliche und verfällt einer Maßlosigkeit, die seine Seele verunstaltet. Seine ungebändigte Leidenschaft und sein Größenwahn bereiten den Untergang vor, seinen eigenen und den seiner Stadt. Und Sokrates, der den Wechsel zum Geliebten gemacht hat, wen oder was begehrt er? Wir kommen darauf zurück. Zunächst scheint es in der Liebe darauf anzukommen, die heftigen Leidenschaften bändigen zu lernen. Schön sein heißt, in der Liebe wie im Genuss das Maß zu halten. Für alles, was in der Intensität keine Grenzen des Komfortablen überschreitet, steht im Symposion Eryximachos. Als Modell für eine gesunde Lebensführung im Allgemeinen und nicht nur in einer Liebesbeziehung könnte dessen Rede einen weiteren Schlüssel für das Verständnis des weiten Umfelds der sogenannten ‚platonischen Liebe‘ bieten. Zuvor aber sind es die Worte des erfahrenen Liebhabers des Agathon, die eine Differenzierung einführen. Pausanias beginnt so: Nicht schön, scheint mir, Phaidros, ist uns das Thema gestellt, wenn uns so schlechthin aufgetragen ist, Eros zu preisen. Denn wenn es nur einen Eros gäbe, dann wäre das schön. Tatsächlich aber gibt es nicht bloß einen; wenn es aber nicht bloß einen gibt, dann ist es richtiger, daß zuvor bestimmt wird, welchen von beiden man loben soll. Ich werde also versuchen, zu berichtigen und zunächst den Eros zu kennzeichnen, den man loben muß, dann ihn zu loben in einer des Gottes würdigen Weise. Wir alle wissen, daß es ohne Eros keine Aphrodite gibt. Wäre sie also nur eine, so würde auch Eros nur einer sein; da es aber nun zwei sind, muß es notwendig auch zwei Arten des Eros geben. Wie sollten aber nicht der Göttinnen zwei sein? Die eine ist die ältere und mutterlose, die Tochter des Uranos, die wir dann auch die himmlische nennen, die jüngere aber ist die Tochter des Zeus und der Dione, die wir die Allerweltsgöttin (die gemeine) nennen. Notwendig wird dann auch der Eros, der der letzteren zur Seite steht, zu Recht der gemeine genannt, der andere aber der himmlische. (180c-e) Die Verkürzung der Vielfalt der Aphroditengestalten, die in all ihren antiken Beinamen nachwirkt, 7 hat hier einen didaktischen Zweck. Bislang war die Rede von dem einen - und einzigen - Eros, dem ältesten Gott, ohne dessen Berührung nichts Werkhaftes bei Menschen entstehen kann und keine Heldentat. Vor allem aber dient die erste Rede, die Rede des Phaidros, dazu, die Verknüpfung von Eros und Schönheit zu verfestigen. Schön zu reden über das Schöne, das ist der Wunsch der Gesellschaft beim Trinkgelage, wenn sie Eros als The- 7 Vgl. z.B. Karl Kerenyi: Die Mythologie der Griechen, Stuttgart 2016, S. 56 ff. Das Genießen der Aphrodite 117 ma wählt. Darauf hatte sich Sokrates bereits im Voraus vorbereitet, ohne zu wissen, was auf ihn zukommen würde. Nun wird allmählich der Boden für eine komplexere Sicht vorbereitet, eine, die auch die weniger schöne und vielleicht sogar gefährliche Gestalt des Eros thematisiert. Eine etwas undemokratische, aber durchaus griechische Betrachtung des Wesens der menschlichen Gemeinschaften spielt da untergründig hinein: Wir hören, es bleibe den Wenigen vorbehalten, schön zu lieben, den anderen aber, den Vielen, wäre Liebe nur auf gemeine Weise bekannt. Pausanias geht es aber nicht allein um die Trennung zwischen seelischer und geschlechtlicher Liebe, sondern hauptsächlich um eine andere. Es geht darum, im Wie des Handelns überhaupt, im Vollzug eines Aktes Schönheit oder Hässlichkeit entstehen zu lassen: Mit jeder Handlung verhält es sich folgendermaßen: An und für sich selbst ist, sie zu tun, weder schön noch häßlich. Was wir zum Beispiel jetzt hier machen, trinken oder singen oder uns unterhalten, davon ist nichts an und für sich schön, sondern erst im Tun wird es so, wie es getan wurde; denn schön und richtig getan wird es schön, nicht richtig aber häßlich. So also auch das Lieben und der Eros: Nicht jeder ist schön und würdig, verherrlicht zu werden, sondern nur der, der dazu antreibt, schön zu lieben. (180e-181a) Auch wenn die Abwehr des Körperlich-Geschlechtlichen dem platonisierenden Leser Platons immer noch den Leitfaden in Sachen Erotik bietet (Pausanias, könnte man meinen, verfolge in seiner Rede eigene Interessen), geht es hier offenbar nicht um einen bestimmten Akt oder eine bestimmte Handlung, sondern allein darum, etwas (zum Beispiel die Liebe) ,schön‘ auszuführen, sie einem ,Lebensstil‘ harmonisch einzugliedern. Es geht also wie so oft bei Platon um die Sorge um den Gesamtkontext. Ein schönes Ganzes muss gewahrt bleiben, doch diese Schönheit herzustellen, kommt nicht dem Eros zu. Es ist die Schönheit, Aphrodite, die das Entflammtsein überprüft, die das Begehren normiert. Schwierige Situation, denn gerade vom Entflammten kann wenig Nüchternheit hinsichtlich seines Liebesobjekts erwartet werden. Der Hinweis des Pausanias ist hier etwas zweideutig: Der Eros der gemeinen Aphrodite ist also auch in Wahrheit gemein und bewirkt, was sich eben trifft. Dieser ist es dann auch, den die gewöhnlichen Menschen lieben. Es lieben aber solche erstens nicht minder Frauen als Knaben, sodann, gleichviel wen sie lieben, bei denen mehr den Körper als die Seele und ferner, so sehr sie nur können, die Törichtsten, weil sie allein auf ihre Befriedigung sehen und sich nicht darum kümmern, ob es auf schöne Weise geschieht oder nicht. Daher ergibt es sich für sie, dass sie tun, was sich gerade trifft, ebenso Gutes wie auch das Gegenteil. (181a-b) Wir versuchen, einige Züge des Eros der gemeinen Aphrodite festzuhalten. Die Zufälligkeit, das Nicht-Wissen um sich und das Handeln, wie es sich „trifft“, sprechen dabei nicht gegen den Charakter der Unverfügbarkeit, wie es dem Liebesgeschehen (als ‚Schickung‘, als Empfang, wenn man so möchte) immer schon eignet. Kritisiert wird nicht die Weise des Getroffenseins, sondern die Alina Noveanu 118 Verweigerung der Übernahme dieses Geschehens im Wissen um sich und im Handeln. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Gemeinen bei ihrem Lieben Gutes vollbringen (oder auch Schönes). Sie tun das aber ohne Überlegung, ohne auf das Schöne und Gute ihres Handelns oder auf die Wirkung im Gesamtzusammenhang zu achten. Blind für das Ganze zielen sie nur auf ihre eigene Befriedigung. Dass sie dabei häufig „mehr den Körper“ als die Seele des Geliebten begehren, bezeichnet ein trauriges Missverhältnis, doch scheint dies zweitrangig zu sein, verglichen mit der Gefahr des Besitzenwollens, des Missbrauchs der Sache zum Zwecke des eigenen Wohls. Damit wäre man schon bei der prinzipiellen Auseinandersetzung zwischen dem Philosophen und dem Sophisten. Beide sind, auf unterschiedliche Weise, auf den Eros angewiesen im Umgang mit den schönen lógoi. Wer aber ‚hat‘ das Wissen, und was ist es für ein Wissen, wenn es sich nicht um eine allgemein übertragbare Sachkenntnis handeln soll? Für die Ausbildung der erotischen Tugend gibt es keine klaren Maßstäbe. Vieles ist möglich und dennoch: Sitten bezüglich der Schönheit von Liebesangelegenheiten, (erotische) Gesetze, Normen und Bräuche, wie sie Pausanias aufzählt, lassen sich nicht ohne Weiteres auf jede Situation übertragen und werden an verschiedenen Orten auch anders gesehen und gelebt. So ist auch eine eindeutige Normierung der Liebesverhältnisse für Pausanias eher gefährlich: Also, wo es als häßlich gilt, den Liebhabern nachzugehen, hat das seinen sicheren Grund in der Schlechtigkeit derer, die diese Sitte festgesetzt haben, nämlich in der Selbstsucht der Herrscher und in der Feigheit der Beherrschten. Wo es aber schlechthin als schön gilt, da hat dies seinen Grund in der Trägheit der Seele derer, die dies festgesetzt haben. (182c-d) Es gibt also keine eindeutig zu empfehlende Ethik des Liebens, aber, so Pausanias, eine viel schönere Sitte habe sich „hier“ eingebürgert, eine, die sich nun zu rechtfertigen böte. Zunächst rühmt Pausanias die Idee einer totalen Toleranz und Transparenz aller möglichen Liebesverhältnisse (denn „es sei schöner, offen zu lieben als heimlich“, 182d). Zu diesem Recht, offen zu lieben, befähige nun gerade die Intensität der Liebe eines Liebhabers für den Geliebten. All is fair in love and war, so gibt Pausanias zu verstehen, denn was bei einem Nichtverliebten zu tadeln oder zu schmähen wäre, Unterwürfigkeit und Kriecherei, das sei einem Liebenden gestattet, „als wäre es etwas über die Maßen Schönes, was er da vollbrächte“ (183b). Starke Liebe rechtfertigt alles, so lange sie dabei „schön“ ist - und nun kommt die Pointe des Pausanias: „ein ganzes Leben lang“. Nicht weil die Liebenden es sich geschworen haben („ein Liebesschwur sei gar kein Schwur“, 183b), sondern weil jeder der Liebenden auf seine Weise, „verschmolzen ist mit etwas, das Bestand hat“ (183e). Dies alles kennzeichnet den Liebhaber der Sinnesart, die eine gute und keine gemeine ist. Pausanias schließt mit einem Lob auf diese Liebesgemeinschaft, deren Prüfstein und Tugend bei aller Relativierung dessen, was und für wen etwas „schön“ sei, doch letzlich nur die Dauer sein kann. Das Genießen der Aphrodite 119 Auch der nächste Redner Eryximachos ist in Sachen Liebe höchst liberal: von allem genießen dürfen, solange sich der „frevelhafte“ Eros fernhält und der „anständige“ für die maßvolle Mischung sorgt. Anständigkeit und gute Musik, so spricht der besonnene und durchaus sympathische Arzt, das tut Leib und Seele wohl, denn so wie die Heilkunst als Lehre von der Harmonie des Körpers eine Wissenschaft ist, so auch die Musik, „indem sie ihm gegenseitige Liebe und Eintracht einpflanzt; […] eine Wissenschaft von der Liebe in Bezug auf Harmonie und Rhythmus“ (188c). Eryximachos hat mit seiner Rede und in seinem Appell zur Mäßigung durchaus Recht. Aber Eryximachos hat leicht reden. Er trinkt an dem Abend nicht (auch eine radikale Entscheidung), und so ist auch seine Schmähung der Intensitätsstärken am ‚Tag danach‘ und in der neuen Trinkrunde doch eher unangenehm - selbst wenn wir ihm die Einführung der Idee der Harmonie verdanken und ihm nicht unterstellen wollen, dass er ein kleines bißchen geheuchelt hat. Aristophanes, der inzwischen sein Schluckauf in den Griff bekommen hat, schließt mit seiner notorischen Rede über Kugelmenschen an, die, einst getrennt, nach Vereinigung und Verschmelzung trachten. Auch das, was der Komödiendichter über den Eros vorträgt - interessanterweise unter Auslassung der Aphrodite - dürfte jedem vertraut sein: das Begehren, die eigene andere Hälfte zu finden, die vermisste und ersehnte Einheit wiederherzustellen und so mit dem Geliebten glücklich und selig zu sein für alle Zeiten. „Diese Begierde also und dies Streben nach dem Ganzen nennt man Liebe“ (192e-193a). Selbst wenn die Liebenden nie erfahren werden, was sie voneinander wollen - dies gehört zur Tragik der Liebeskomödie -, gibt es hier und da Momente der Erfüllung: Diese wurden (zumindest technisch) nach dem Ur-Verlust möglich und zwar, witzigerweise, durch den chirurgischen Eingriff keines anderen als Hephaistos’, eines Gottes, der auch seine Erfahrungen mit Aphrodite gemacht hat. Nun folgt die rhetorische Glanzleistung des Agathon, der alle begeistert. Agathon redet schön und rund. Er deckt den Fehler aller bisherigen Reden auf - denn sie handeln ja von den Menschen und nicht von dem Gott Eros - und unternimmt seinen eigenen Durchgang durch die Kardinaltugenden. Ein Loblied auf den Eros, das kriegt Agathon virtuos hin: Er ist der Schönste und Beste, der Jüngste, der Besonnenste, Gerechteste und auch der Weiseste. Alles gut argumentiert und, als Krönung, zwei inspirierte Verse. So sei Eros: der da schafft Frieden unter den Menschen, dem Meer aber Stille, ein Schweigen der Stürme und leidlosen Schlaf. (197c)c Der Beifall ist groß. Der so gezähmte Eros ist greifbar geworden. Keinem der Anwesenden fällt ein, sich über die Flachheit der Rede ihres Gastgebers und Preisträgers zu beschweren. Umso kraftvoller der Eintritt des Sokrates. Sein Verriss der vorherigen Reden ist hart und knapp. Diejenigen, die um den Eros wissen, würden nie solche Reden auf seine Schönheit verfassen, auch nicht mit schönen Worten spielen. Nichts anderes als die Wahrheit wolle er über den Eros sagen, aber gemäß der týche, in Worten, die dem Augenblick und dem Zufall entspringen, Worte, wie sie sich ergeben. Keine vorgefertigte Rede, Alina Noveanu 120 keine bloß schönen lógoi, das kennzeichnet das Philosophieren gegenüber dem sophistischen Putz, der in Agathons Diskurs als leere Schönheit und falscher Glanz offenbar wurde. Was Sokrates mit Diotima anbietet, ist der in der Rede aufsteigende Eros zur Wahrheit des Schönen selbst. Das Reden über entbirgt eine andere Dimension und stellt die gesamte Existenz des Empfängers des Logos in Frage. Ob Einweihung oder nicht, dieser Diskurs ist keine bloße Übertragung von Informationen. Es geht auch nicht ums Überzeugen. Woran Diotima zweifelt, kann weder die intellektuelle Ausstattung des Sokrates noch sein Wille zu wissen sein, sondern es ist seine Fähigkeit, als der junge Mann, der er damals war, sich die ‚höheren‘ erotiká auch entsprechend einzuverleiben. Zunächst sollen aber die bisher angesprochenen, dennoch dürftig ausgeführten Aspekte des Erotischen zusammengefügt werden. Es geht um eine Korrektur, die Momente der Vorreden aufgreift und auf diesen aufbaut. Aufgenommen werden die Verbindung des Eros zum Schönen, sein Gefahr- und Mangelwesen, die belebenden Effekte auf den Menschen und auch die Gründe, warum er sich in der Unerschöpflichkeit seiner Gestalten immer wieder entziehen muss. Der Eros, so der erste Gang der ‚Einweihung‘, ist weder ein Gott noch ist er sterblicher Natur, sondern ein großer Dämon, ein Grenzwesen, aber auch ein Philosoph. Er vollzieht den Umgang der Götter mit den Menschen, er ermöglicht alle Zwiesprache, sowohl im Wachen, sagt Diotima, wie auch im Schlaf. Dann folgt der Mythos. Diotima spricht von Eros als einem Kind des Poros, dem Wegefinder und der Armut, der Penia. Ein Mangelwesen ist er also schon, das eine merkwürdige Sehnsucht nach dem Überfluss, nach göttlicher Unsterblichkeit erweckt. Wer sich auf ihn einlässt und ihn versteht, sei ein ‚dämonischer‘ Mensch. Nur ihm sei gewährt, ein Gottgeliebter, theophilés, zu werden, sollte er die wahre Tugend erreicht haben, nämlich das Schöne für sich selbst und als es selbst, durch alle Erscheinungen hindurch zu erblicken. Bezeichnenderweise wird Eros auf dem Geburtsfest der Aphrodite gezeugt, denn „das Geliebte ist auch in der Tat das Schöne, Zarte, Vollendete, glücklich zu preisende. Der Liebende aber hat eine andere Gestalt, so, wie ich es dargelegt habe“ (205c). Eine erste Schlussfolgerung wird hier möglich: Das rein erotische Verhältnis bedeutet immer ein Ungleichgewicht. Der Liebende begehrt am Geliebten dasjenige, woran ihm ermangelt. Und deshalb würden die Götter auch nicht philosophieren, so die berühmte Aussage Diotimas (204a). Zumindest solange diese philía nur einen Aufstieg zur Weisheit vermeinen würde. Aber dies wäre von uns zu kurz gedacht. Dass das Göttliche dennoch einen Anteil an Freude hat, eine andere Form von Genuss, könnten wir mit dem Timaios 8 versuchen nachzuvollziehen. Wenn sich der Demiurg angesichts der Schönheit des von ihm erschaffenen Kosmos freut, dann ist das eine Freude, die mit Aufhebung 8 Vgl. Ti. 34b, wo von der Erschaffung des Weltalls als „seliger Gott“ von eudaimonía die Rede ist. Das Genießen der Aphrodite 121 von Mangelzuständen nichts zu tun hat, sondern mit reinem Genuss. Auch scheinen die Götter etwas für besonders tugendhafte Menschen zu empfinden (und auf den Erwerb der Tugend zielt der erotische Weg): philía als Liebe unter Gleichgesonnenen, gleichzeitig Freundschaft und höchste Achtung. 9 Diese Beziehung auf Augenhöhe scheint für die Griechen die höchste Form des Umgangs gewesen zu sein. Um theophilés zu werden, muss der Einzelne zunächst dämonisiert, sprich, den Weg der erotischen Einweihung gegangen sein, aber letztlich nicht, um die Liebe zum Anderen zu erfahren und sein Begehren zu stillen, sondern um darüber hinaus die Freundschaft zu sich selbst zu erlangen. Die Zeugungsfähigkeit im Schönen und nicht das Schöne als Ersatz für den eigenen Mangel, das, so Diotima, ist die Pointe des gesamten Erosgeschehens. Und zugleich ist es die Art Unsterblichkeit, die den Sterblichen vorbehalten bleibt. Was ergibt sich aber auf der höchsten Stufe der Einweihung? Wir haben Gründe zu vermuten, dass es sich sowohl um ein Sehen wie auch um ein Berührtwerden handelt, und zwar seitens des Schönen ,selbst‘. Wir wissen nicht, wie es sich zuträgt. Diotima erzählt nichts darüber. Eine Leerstelle, ein Rausch, ein Übergang. Das Schöne selbst nicht für einen selbst zu begehren, sondern sich von diesem her neu und anders zu erleben, es zu empfangen und dann etwas zu zeugen, dieses Ganze erfordert eine gewaltige Blickumkehr. Wenn sie gelingt, wird aber in dieser Umkehrung der Liebende, der sich im Eros auf die Sachen Einlassende, zum Geliebten von Menschen und Göttern. Durch ihn wird Schönes gezeugt. Davor dürfte er aber viel Schönes geliebt und er muss schön geliebt haben. Schlusswort Das ist es, ihr Männer, was ich an Sokrates lobe. Und was ich wiederum tadle, habe ich darunter gemischt und euch erzählt, wie er mich verspottet hat. Nicht mir allein hat er jedoch dies angetan, sondern auch Charmides, des Glaukon Sohn, und Euthydemos, des Diokles Sohn, und noch gar vielen anderen, welche er täuscht, als wäre er der Liebhaber und sich dann doch eher als der Geliebte herausstellt anstelle des Liebhabers. (222a-b) Alkibiades ist entsetzt, und auch andere schöne Jünglinge, die sich gern als Geliebte des Sokrates geträumt hätten, sind es. Sokrates pflegt den Umgang mit ihren Seelen und vermeidet die körperliche Vereinigung. Platonische Verweigerung? Leibfeindlichkeit? Oder aber: Ist er sich selbst genug befreundet und seinem Gott, so dass sein Begehren auf anderes zielt? Rührt daher seine dämonische Anziehungskraft? Sokrates wurde vom Liebenden zum Geliebten. Das ist, was die Götter von ihren Lieblingen erwarten. Vermutlich hat Sokrates seine vielen Lieben gehabt, aber irgendwann wurde er doch auf andere Weise gewaltig (deinós, 207c). Früher nur, so heißt es, soll er gezeugt haben. Jetzt 9 Vgl. dazu u. a. Thomas A. Szlezák: Freundschaft zwischen Gott und Mensch, in Koch/ Männlein-Robert/ Weidtmann: Platon und das Göttliche, S. 216 ff. Alina Noveanu 122 schreibe er keine Werke, aber als Maieutiker ist er selbst zum Werk geworden: Ein Liebeswerk Platons und, möglicherweise, die dritte Gestalt der Aphrodite im Symposion. Sokrates mag so ausgesehen haben wie Marsyas, aber die Haut seines Begehrens hat er längst abgestreift. Die ‚dorische Harmonie‘, das in sich Ruhende seines bíos und die schlichte Schönheit seiner lógoi zieht die anderen an, ist aber der Anderen nicht bedürftig. Zum Schluss also doch eine Aphrodite ohne Eros? Hier wäre Vorsicht geboten. Auch wenn es sich um keine der Erosgestalten handelt mit denen Pausanias zu verführen versteht: Das Begehren umkehren zu können, scheint die geheime Kunst der schönsten der Aphroditen zu sein. Sie gewährt ihren Lieblingen Genussfähigkeit, das Einhalten des Maßes bei höchster Leidenschaft und lange Nächte gefüllt mit Gesprächen bei nüchterner Trunkenheit. Joachim Schneider Werden - Entstehen und Vergehen in der Philosophie der Vorsokratiker Die Erfindung der Endlichkeit Am Anfang der europäischen Philosophiegeschichte steht das Nachdenken über ‚Entstehen und Vergehen‘ im Zentrum der Reflexionen der Vorsokratiker des 6. und 5. Jahrhunderts v. Chr., sei es, dass sie dabei den Schwerpunkt der Kosmogonie, Physik, Zoologie oder Anthropologie bedenken. Können wir das nachvollziehen? Hat diese Philosophie einen so hohen Stellenwert, sind ihre Aussagen so überzeugend, dass wir sie mehr als zweitausend Jahre danach noch für zitierfähig halten? Oder ist es die bloße historische Reminiszenz, die sie als Vordenker der klassischen Periode Griechenlands bedenkt? Sind ihre Aussagen vielleicht in noch vorwissenschaftlichem - noch mythologisch anmutendem - Gewande so lohnend, unserem Thema einen verständlicheren Zugang zu verschaffen? Wir stehen mit dem Denken der Vorsokratiker an einer bedeutenden Wende. Wurden vormals die alltäglichen und auch die bedeutsameren Ereignisse dem Einfluss übermächtiger Gottheiten zugeschrieben, setzt sich in dieser Zeit die Tendenz durch, Naturphänomene oder vermeintlich schicksalhafte Verläufe mehr und mehr rational zu erklären. Dabei erfolgte die Relativierung mythischer Begründungsweisen evolutionär, denn mit dem rationalen Erklären natürlicher Ursachen wurden nicht auch gleich die Gottheiten abgeschafft. Dafür steht Thales in besonderer Weise, der pantheistisch „alles voller Götter sah“ 1 . Diese evolutionäre Entwicklung zur Zeit des Thales ist nicht sonderlich verwunderlich, da einerseits viele der damals gedeuteten Phänomene nicht restlos nach Ursache und Wirkung aufgeklärt werden konnten, und der Mythos weiterhin als Erklärungsmodell diente. Zum anderen war und ist der Übergang vom Mythos zum Logos auch von der logischen Seite her nicht abgeschlossen. Viele der damals als logisch dargestellten Vorstellungen waren Hypothesen von nur kurzer Dauer. Wir können mit Aristoteles Thales als jemanden sehen, der mit rationalen Argumenten Zusammenhänge zu erklären versuchte, die ihn zum Begründer einer bis heute gültigen erkenntnistheoretischen Vorgehensweise machte. Er formulierte wissenschaftliche Hypothesen, die nur so lange Gültigkeit haben, bis neue Hypothesen die alten ersetzen. 1 DK 11 A22. Die vorsokratischen Fragmente werden nach der Ausgabe Die Fragmente der Vorsokratiker, Griechisch und Deutsch v. H. Diels, hg. v. W. Kranz, 3 Bde, Hildesheim 2006 (Nachdruck der 6. Auflage, Berlin 1956) zitiert. Wo davon abweichende Übersetzungen verwendet werden, wird dies in der Fußnote angemerkt. Joachim Schneider 124 In mythologischer Zeit wurde der Tag-Nacht-Rhythmus mit der Fahrt des Sonnengottes über den Himmel gedeutet. Die Drehung der Erde um ihre eigene Achse war noch nicht erkannt. Blitz und Donner waren Machtinsignien eines strafenden Gottes 2 , nicht die elektrische Entladung eines Spannungsfeldes. Infolge der Beschäftigung mit kosmologischen Phänomenen konnte Thales die Sonnenfinsternis auf das Jahr 585 v. Chr. richtig vorhersagen. 3 Nachdem Thales die alljährlichen Überflutungen des Nils mit den Passatwinden in Einklang brachte, 4 diente nicht mehr eine Gottheit als Erklärung dieses Phänomens. Der Mythos besagte nämlich, die Schleusen der Quellen wären von einer zürnenden Gottheit geöffnet. 5 Entscheidend für die Beurteilung meteorologischer oder kosmologischer Erscheinungen waren in jener Zeit natürliche Erklärungen, unabhängig davon, dass nach wie vor das Ordnungsprinzip des Ganzen der Welt der Weisheit von Gottheiten zugeschrieben wurde. Die Todesmythen der vorklassischen Zeit Griechenlands waren alles andere als beschwichtigend. Das Leben nach dem Tod hatte noch viel Ähnlichkeit mit den zuvor beschriebenen archaischen Vorstellungen. Die Menschen im Südosten Europas glaubten nicht an ein glücklicheres Leben nach dem Tod, sondern sahen blutleere Schatten ewig ruhelos in der Unterwelt vegetieren. Die Unterwelt wurde dabei keinesfalls als virtueller oder metaphysischer Raum gedacht, sondern war real auf dem Mittelpunkt der Erde oder buchstäblich unter der Welt verortet. So wie die ‚Oberwelt‘ im Sinne eines Herrschaftsverhältnisses hierarchisch strukturiert war, so war symmetrisch dazu auch die Unterwelt mit einem Herrscher und Beherrschten versehen. Als Herrscher der auf ewig Untoten wurden die Gottheiten Hades und seine Frau Persephone gefürchtet. Das Götterpaar stammte in dritter Generation von der Urmutter Erde, der Gaia, und dem Vater Uranos, dem Himmel ab 6 und gehörte so, dem Mythos nach, noch zu den vorolympischen Gottheiten Griechenlands. Die Unterwelt, auch gleichlautend mit dem König der Toten, als Hades oder auch Tartaros bezeichnet, wurde von dem Fluss Styx, mit seinen Nebenflüssen Acheron und Kokytos in neunfachen Ringen umflossen, 7 um die Unterwelt für die Sterblichen sowohl für den Hin-, wie für den Rückweg unüberwindlich von der Lebenswelt zu trennen. Styx wurde auch als Gottheit geachtet, wenngleich ihr Name von στυγεῖν , von verhasst, als die Verhasste, abgeleitet war. 8 Um in die Unterwelt zu gelangen, bedurfte es am Fluss Styx des Fährmanns Charon mit seinem scheußlichen Wachhund Kerberos, die nicht jeden Willigen gleich zu transportieren 2 Karl Kerényi: Die Mythologie der Griechen, Stuttgart 1997, S. 28. 3 Herodot, I, 74. 4 DK 11 A16. 5 Wolfgang Röd: Geschichte der Philosophie, Bd. 1 Die Philosophie der Antike 1. Von Thales bis Demokrit, 2. Auflage, München 1988, S. 24. 6 Kerényi: Mythologie, S. 29ff. 7 Kerényi: Mythologie, S. 35. 8 Ebd., S. 35. Werden - Entstehen und Vergehen in der Philosophie der Vorsokratiker 125 gedachten. Um Charon bei Laune zu halten und ihn geneigt zu machen war es Brauch, den Toten für die Überfahrt kleine Münzen in den Mund zu legen. Der Mythos kennt auch so etwas, was man damals als ausgleichende Gerechtigkeit im Reich der Toten empfand, denn es wurde geglaubt, Minos, der gnadenlose Richter der Unterwelt, ließe es nicht damit bewenden, die einmal Gestorbenen als geisterhafte Schatten ewig im Totenreich zu halten, sondern ließe Frevler auch noch im Jenseits peinigen. 9 Wer zu Lebzeiten Schuld auf sich geladen hatte, wurde in Ketten gelegt und ins Gefängnis des Tartaros geworfen und wurde dort von den sogenannten Erinnyen physisch und psychisch gequält, was, so muss man annehmen, auch von den Schatten durchaus erlitten wurde. Noch zu Beginn der christlichen Zeitrechnung wurden getöteten Mördern die Beine gebrochen, 10 sei es zur Strafe oder sei es, damit sie ihr schändliches Tun im Totsein nicht fortführen sollten. Neben diesen eher erschreckenden Szenarien des Totenreiches gab es auch ‚die Insel der Glückseeligen‘, zu der allerdings nur einige wenige, privilegierte Heroen im Totenreich Zugang hatten. 11 Kurzum, in den gängigen Vorstellungen, die der Mythos zu Sprache bringt, war das Reich der Toten ein beängstigender Ort, der das Sterben keinesfalls zu einer einfachen Sache machte. Homer lässt den Achilles, den überragenden griechischen Helden von Troia, sagen: Preise mir nicht tröstend den Tod, ruhmvoller Odysseus, Lieber möcht ich fürwahr dem unbehüteten Meier, Der nur kümmerlich lebt, als Tagelöhner das Feld baun, Als die ganze Schar vermoderter Toten beherrschen. 12 Der Schüler des Thales war Anaximander. Der 25 Jahre jüngere Philosoph stammte wie sein Lehrer gleichfalls aus dem ionischen Milet, der besagten Kleinstadt Kleinasiens, die der heutigen Türkei zugerechnet wird. Für unseren Zusammenhang erscheint Anaximander von nachhaltiger Bedeutung, nicht seines geozentrischen Weltbildes wegen, denn er glaubte, die Erde befände sich in der Mitte des Universums, und um sie herum würden sich in konzentrischen Kreisen Fixsterne, Mond und Sonne befinden oder um sie herumbewegen, sondern auf ihn geht die abstrakte Vorstellung der Welt als einer Einheit zurück. Er dachte sich die Welt schwebend im Universum als eine Scheibe, einem Diskus gleich, auf dessen Oberseite sich die Menschen bewegten und auf dessen Unterseite das Reich der Toten angesiedelt war. Anaximander führte die Einheit der Welt nicht wesentlich auf ihre räumliche Begrenztheit zurück, denn er besaß nur mythische Vorstellungen von der Größe der Welt 13 , sondern er benannte einen Wesensgrund, der nicht nur allen seienden Dingen in dieser 9 Ebd., S. 181 ff. 10 Vgl. Johannes-Evangelium 19, 31. 11 Kerényi: Mythologie, S. 181. 12 Homer: Odyssee, 11, 488-491, nach der Übers. v. J. H. Voss, Hamburg 1791, zitiert bei J. Choron: Der Tod im abendländischen Denken, Stuttgart 1967, S. 32. 13 DK 12 A11. Joachim Schneider 126 Welt eigen ist, sondern der Welt selbst, so wie er sie dachte, gilt. Er erkannte die Endlichkeit als Wesen dieser Welt, deren einheitlicher Grund diese Wahrheit ist, die er von der Allgegenwart und Unsterblichkeit ewiger Gottheiten unterschied. Dass die Endlichkeit keinesfalls immer eine unbestrittene Tatsache war, sondern erst entdeckt werden musste, wie sie in archaischer Zeit von den Ureinwohnern nicht gedacht wurde, die nur zyklische Unendlichkeit und keine Endlichkeit kannten, scheint eine historische Entwicklung der Vernunft zu beschreiben, die die Endlichkeit der Welt als Wesenseinheit entdeckte. Von Anaximander ist ein Spruch über Entstehen und Vergehen der endlichen Dinge überliefert, der für unseren Kontext wichtig ist. Seine dunklen und enigmatischen Aussagen haben zu mehreren Übersetzungsversuchen geführt, die den Zugang zu diesem Spruch zusätzlich erschwert. Hören wir zunächst, was Anaximander in der klassischen Übersetzung von Diels/ Kranz sagt: Anfang und Ursprung der seienden Dinge ist das Apeiron [...]. Woraus aber das Werden ist den seienden Dingen, in das hinein geschieht auch ihr Vergehen nach der Schuldigkeit; denn sie zahlen einander gerechte Strafe und Buße für ihre Ungerechtigkeit nach der Zeit Anordnung. 14 Bedenken wir zunächst wer oder was mit ‚den Seienden‘ gemeint ist, so liegt es nahe, dieses anthropologisch auf die Menschen einzuschränken, wie es der Verweis auf die Schuldigkeit, Strafe und Buße des Spruches nahelegt. Allerdings ist diese Interpretation nicht hinreichend, denn τὰ ὄντα (das Seiende) umfasst nach Anaximander nicht nur die lebenden Dinge im heutigen Sinne, sondern es sind für ihn alle materiellen Dinge ‚seiende Dinge‘, die mit organischem oder lebendigem Sein versehen sind. Mit anderen Worten war für Anaximander auch die ‚unbelebte Natur‘ (im heutigen Sinn) belebte Natur. Allerdings ist τὰ ὄντα der Plural des griechischen τὸ ὄν , das Seiende. Wenn τὰ ὄντα klassischerweise im Singular übersetzt wird, dann ist darauf zu verweisen, dass die Griechen unter dem Seienden in der Regel eine Vielzahl dachten, ‚die seienden Dinge‘. Dieser Hinweis ist deshalb nicht ganz ohne Belang, weil ‚das Seiende‘ ein Begriff ist, der im Singular eine abstrakte Allgemeinheit ausdrückt, und die ‚seienden Dinge‘ als konkrete Einzelheiten eine Pluralität vorstellen. Die Übersetzung des τὰ ὄντα auf ‚die seienden Dinge‘ festzulegen, ist Anaximander gemäßer. Erst circa 80 Jahre später wird Parmenides den metaphysischen Gedanken formulieren, das Sein als Eines, singulär zu interpretieren. Die Einheit alles Seienden ist bei Anaximander mit der Endlichkeit der Welt vermittelt, in der alles Seiende wie sie selber ihre Bestimmung haben. „Woraus das Werden der seienden Dinge ist“, sagt Anaximander, „in das hinein geschieht auch ihr Vergehen.“ Der Bezugsrahmen dieses „Woraus die seienden Dinge ihren Ursprung und ihr Vergehen haben“, ist dieses Eine, τὸ ἕν , das für 14 DK 12 B1. Werden - Entstehen und Vergehen in der Philosophie der Vorsokratiker 127 Anaximander die endliche Welt ist. Das nach Entstehen und Vergehen vereinigte Sein unterliegt der ‚Schuldigkeit‘, endliche Welt zu sein. Wie aber haben wir uns das Hineingehen in das Werden der Dinge vorzustellen, durch das sie ihr Entstehen und Vergehen haben? Ist dieses Hineingehen der Dinge ein exogener Vorgang, der auf die Welt trifft, wie die Hand, die in einen Handschuh schlüpft? Ein merkwürdiger Ungedanke ist es, dass vorgefertigte seiende Dinge extraterrestrisch auf unserer Welt gekommen sein sollen. Kann Anaximander das gemeint haben? Wohl sicher nicht. Wie aber ist dann dieses „woraus sie ihren Ursprung [ ἀρχήν ] und ihr Vergehen [ φθοράν ] haben“ zu deuten? Ist das Hineingehen vielleicht mit einem Plan vergleichbar, der als Grundlage dient, nach dem ein Haus gebaut werden soll? Ist dieses Geschehen ein geistiges Prinzip, das sich nur durch sein Anderes, Seiendes, realisiert? Während das Haus den Plan für sein Entstehen konstitutiv braucht, entsteht der Plan des Hauses, auch ohne dass man es baut. Wie viele Pläne gibt es von gedachten, vorgestellten oder schriftlich fixierten Häusern, die nie real werden? Im Gegenteil, die Vorzeitigkeit eines Plans vor dem Hausbau lässt eine Nachzeitigkeit, wenn das Haus erst einmal nach einem gegebenen Plan gebaut wurde, nicht mehr zu. Sobald das Haus Fakt ist, ist der Plan in ihm aufgehoben. Wie ist dann aber das Vergehen des Plans, des nach einem Plan gebauten Hauses, zu denken? Ist er dem Vergehen anheimgegeben, oder bleibt er nicht als Anlage des Hauses anwesend? Hat dieses Geschehen dann noch irgendetwas mit der Aussage des Satzes des Anaximander gemein? Eine andere Möglichkeit eines Hineingehens mag der Satz des Anaximander meinen, wenn er aus dem Vergehen das Neue hervorgehen sieht. Ist dann damit das Einbringen von Fruchtsamen oder Samenkörnern in den Boden gemeint? Auch bei dieser Auslegung des Hineingehens muss uns der Verdacht beschleichen, das Gemeinte nicht richtig erfasst zu haben, denn aus dem Vergehen von Körner- oder Fruchtsamen erwarten wir beim Vergehen ein Entstehen allenfalls des Gleichen von Gleichem, nicht aber ein undefiniertes Neues, anderes Sein von Seiendem. Aus dem Kern des Apfels wird natürlicherweise kein Kirschbaum usw. Alle genannten Deutungen des Werdens, aus dem Entstehen und Vergehen hervorgehen sollen, scheinen den Spruch des Anaximander nicht hinreichend zu erfassen. Denn nach Anaximander sollen Entstehen und Vergehen auseinander hervorgehen. Anaximander gibt als Grund des Entstehens das Vergehen an, und das Vergehen als den Grund dafür, dass alles entsteht. Allerdings ist der Grund richtig bedacht, an dieser Stelle nicht im Sinne einer Kausalität zu begreifen, sondern es ist der Grund, der als Ursprung des Entstehens und Vergehens zu fassen ist. Damit bleibt die Frage offen, wie das Entstehen und Vergehen in diese Welt kommt, die Einheit in Endlichkeit ist? Darüber gibt der einleitende Satz Auskunft, wobei umstritten ist, ob der Begriff des Ursprungs nicht eine spätere Joachim Schneider 128 Einfügung ist. 15 Anfang und Ursprung der seienden Dinge ist das ápeiron ( ἀρχήν... τῶν ὄντων τὸ ἄπειρον ). 16 Wie aber ist dieses ápeiron zu denken, aus dem die seienden Dinge ( τὰ ὂντα ) ihren Anfang und Ursprung ( ἀρχή ) haben? Das á-peiron, abgleitet von τὸ πέρας , Grenze oder Schranke, ist die Verneinung des Begrenzten, also das Unbegrenzte, das Grenzenlose, das Schrankenlose. Im Anschluss an die zitierte Stelle erklärt Anaximander dieses ápeiron näher. Er sagt: es sei „ohne Alter“ 17 und „ohne Tod und ohne Verderben [ ἀθάνατον ... καὶ ἀνώλεθρον ]“ 18 . Damit erweist sich das ápeiron als überzeitlich, ortsunabhängig und seiend im anaximandrischen Sinne. Dieses ápeiron ist demnach nicht extraterrestrisch angesiedelt, sondern innerweltlich beheimatet, ewig, nicht sterblich, unvergänglich, vereinzelt, grenzen- und schrankenlos in temporärer wie in topologischer Hinsicht. Heidegger nennt es auch bereichslos. 19 ‚Bereichslos‘ kann einmal als außerhalb von Raum und Zeit gedacht werden oder, wie wir es zu deuten bevorzugen, ‚bereichslos‘ meint ‚ohne Bereich‘, indem es in allen Bereichen gleichursprünglich ist. Bezogen nur auf den Bereich des Einen, das Anaximander die Welt nennt. Auf die Zeit bezogen hat das Bereichslose dann sowohl vor-, als auch nachals auch jetztzeitig Geltung. Das ápeiron ist unbegrenzt, daher ohne Anfang und Ende, aber es ist Anfang und Ende der seienden Dinge, daher lebendig seiend im Sinne Anaximanders. Das Vergehen der Dinge fällt in dieses ápeiron zurück, das macht die Endlichkeit der seienden Dinge aus, aus dem neues Seiendes entsteht. Es zeigt sich eines der fundamentalen Spannungsverhältnisse, die Anaximander aufdeckt. Das ápeiron ist innerweltliches ápeiron, einer Welt, deren Grund und Begründetes Endlichkeit ist, die nur Seiendes kennt, das endlich ist. Dieser Endlichkeit stellt er mit dem ápeiron ein schrankenloses Seiendes als Anfang alles Seienden gegenüber. Diese ‚erste Materie‘, wie die Alten es später nannten, ist ohne Anfang dargestellt, unzerstörbar, unvergänglich, ewiger Grund dessen, was Welt wird. Wenn das ápeiron unvergängliche Materie ist, dann ist das ápeiron so etwas, was wir als belebendes Elementarteilchen verstehen können. Den Anfang, aus dem das Entstehen kommt, und in das das Vergehen im Sinne Anaximanders zurückgeschieht, verstehen wir jetzt besser, es ist ein Ursubstanzielles, das er das ápeiron nennt, das so lange besteht wie die Welt selber, die durch Anfang und Ende ihrer selbst bestimmt ist. Damit kommt das andere Spannungsverhältnis des Spruchs von Anaximander in den Blick. Es ist dies der Bezug, der den ersten Teil mit dem zweiten Teil des Spruches verknüpft, der mit den Worten beginnt: „...denn sie zahlen 15 Theophrast soll ἀρχήν später eingefügt haben. Vgl. dazu Röd: Geschichte der Philosophie, S. 40, S. 217 Anm. 16 DK 12 B2. 17 DK 12 B2. 18 DK 12 B3. 19 M. Heidegger: Der Spruch des Anaximander, GA 78, S. 143 ff. Werden - Entstehen und Vergehen in der Philosophie der Vorsokratiker 129 einander Strafe [ διδόναι γὰρ αὐτὰ δίκην ... ἀλλήλοις ]“ 20 . Mit den Worten: Strafe ( δίκη ), Buße ( τίσις ), Ungerechtigkeit ( ἀδικία ) befinden wir uns in einem Bereich, der so gar nicht in das Reich der von uns so verstandenen Natur passt, sondern eher in ein menschliches Rechtsverhältnis einrückt. Wer würde der Katze schuldhaft vorwerfen wollen, Mäuse zu fangen? Wir können diese Vokabeln vorschnell als Anthropomorphismus deuten, wenn Schuld, Buße und Ungerechtigkeiten auf die unbewusste Natur treffen. Anaximander aber stellt hier eine Verbindung zum Endlichen her, ein Begriff, der in beiden Welten Gültigkeit hat. In unserem Zusammenhang ist der andere Denker der Vorsokratik Heraklit, der - nach einer von Aristoteles überlieferten Anekdote - einstmals an seinem Herdfeuer stand und sich die Hände wärmte, als ein paar seiner aristokratischen Freunde bei ihm vorbeischauten. Er bat sie, ohne zu zögern einzutreten, denn „auch an diesem Ort seien Götter“ 21 , hieß er die Ankömmlinge willkommen. Warum ist diese kleine Begebenheit so bezeichnend? Für Heraklit war das Feuer Urelement, aus dem alles Werden hervorging und in dasselbe alles nach der Zeitenfolge wieder zurückgehen werde, wie für Thales das Wasser und für Anaximenes die Luft Urstoff der werdenden und vergehenden Welt war. Heraklit sagt, „[a]lles ist austauschbar gegen Feuer und Feuer gegen alles, wie Waren gegen Gold und Gold gegen Waren“ 22 . Die Welt löst sich nach entsprechender Erdperiode wieder in Feuer auf, dem die Stoiker später den Namen ἐκπύρωσις , Weltbrand, gaben. Entstehen und Vergehen werden bei Heraklit nicht mehr wie bei Anaximander als auseinander hervorgehend betrachtet. Alles Seiende, sagt der auch aus dem ionischen Ephesos Kleinasiens stammende Philosoph mit dem größten Einfluss unter den Vorsokratikers auf die nachfolgenden Philosophenschulen - er soll der am häufigsten zitierte Philosoph der Platonischen Akademie in Athen gewesen sein - alles Seiende entsteht aus Gegensätzen. „Vielleicht strebt die Natur nach dem Entgegengesetzten und bringt daraus und nicht aus dem Gleichen das Harmonische hervor“, 23 „Zusammensetzungen und Nichtganzes, Zusammentretendes, Auseinandertretendes, Übereinstimmendes, Dissonantes; aus allem eins und aus einem alles“ 24 . Aus diesem Geist ist der oft zitierte Satz des Heraklit zu verstehen, nach dem „Krieg […] aller Dinge Vater, aller Dinge König [ πόλεμος πάντων μὲν πατήρ ἐστι, πάντων δὲ βασιλεύς ]“ 25 sei. Harmonie entsteht nach Heraklit, wenn das Widerstreitende zusammentritt. 26 20 DK 12 B1. 21 DK 22 A9, Übers. Jaap Mansfeld/ Oliver Primavesi, in: Dies. (Hg.): Die Vorsokratiker, Stuttgart 2012. 22 DK 22 B90, Übers. Mansfeld/ Primavesi. 23 DK 22 B10, Übers. Laura M. Gemelli Marciano, in: Die Vorsokratiker, Bd. 1, Düsseldorf 2007. 24 Ebd. 25 DK 22 B53. 26 DK 22 B8. Joachim Schneider 130 Es nimmt daher nicht Wunder, dass Heraklit aus dem Gegensatzpaar Entstehen und Vergehen einen seiner wichtigsten Gedanken formuliert, den er aus diesem Gegensatz zu der Einheit des Werdens mit weitreichenden Implikationen formt. Wenn nämlich alles Werden ist, ist Sein nur Übergang, kann es keine Kontinuität geben, nur Bewegung. Es kann nicht stabilisierte und schon gar nicht prästabilisierte Wirklichkeit sein. Wenn Sein nur in Übergängen zu denken ist, wofür das Feuer Heraklit ein Synonym war, dann gibt es kein ruhiges Beharren, keine Beständigkeit und kein Stillstehen mehr. Das Schlimme an dieser Endlichkeit ist, dass sie aus dem Werden hervorgeht. Der Übergang vom Werden zum Sein ist nur so zu denken, wenn das zuvor Gewordene, aus dem das Werden hervorging, in ein Neues übergeht, indem das Alte Vergangenheit wird. Nehmen wir die Zahlenreihe als Beispiel. Wir können hinter dem Komma beliebig viele Zahlen einsetzten. Um von der 1 auf die 2 zu kommen, muss die Zahlenreihe hinter dem Komma endlich sein, was der Beliebigkeit widerspricht. Räumlich ausgedrückt, bedeutet es das Übergehen von einer Grenze, die ein Davor und ein Dahinter kennt. Diese Grenze ist unaufhebbar, weil das Werden ein vergehendes Werden ist, aus dem nur so Neues hervorgeht. Heraklits Werden ist daher der Ursprung der Endlichkeit. Dass dieses Werden für alle Momente des Seienden, aber nicht für Vorstellungen und auch nicht für Begriffe gilt, wurde auch von Heraklit angenommen. Die berühmte Flussmetaphorik Heraklits lautet: „In dieselben Flüsse steigen wir und steigen wir nicht, wir sind und wir sind nicht [ ποταμοῖς τοῖς αὐτοῖς ἐμβαίνομέν τε καὶ οὐκ ἐμβαίνομεν, εἶμέν τε καὶ οὐκ εἶμεν ].“ 27 Es ist zu bedenken, dass nicht nur der Fluss in diesem Aphorismus das Synonym für Werden ist, sondern auch die Menschen selber nicht ein und dieselben sind, die zweimal in den fließenden Fluss steigen. Doch betrachten wir den Nachsatz: „wir sind und sind es nicht“ etwas genauer, denn an ihm wird die Wendung des als melancholisch geltenden Heraklit zur Metaphysik deutlich. Die kosmologische Ordnung wird zunächst anthropologisch gewendet: „Als Unsterbliche sind sie sterblich, als Sterbliche unsterblich: Das Leben der Sterblichen ist der Unsterblichen Tod, der Tod der Unsterblichen der Sterblichen Leben.“ 28 Mit dem Prinzip des Werdens auf die Sterblichen geschaut, wird der Übergang von Leben und Sterben in eine zyklische Bewegung, nicht nur als ein planetares Geschehen von Heraklit gesehen, sondern wird auch ontogenetisch auf das einzelne Leben, auf das einzelne menschliche Sein, bezogen: „Es ist eigentlich dasselbe, was darin ist: Lebendes und Totes und das Wachen und das Schlafen und Junges und Altes; denn dieses, wenn es sich ändert, ist jenes, und umgekehrt jenes, wenn es sich ändert, dieses.“ 29 Die Vorstellung, dass Leben und Todbringendes zugleich in einem (biologischen) Sein gegenwärtig sind, und Todbringendes überhaupt gegenwär- 27 DK 22 B49a. 28 DK 22 B62: ἀθάνατοι θνητοί, θνητοὶ ἀθάνατοι, ζῶντες τὸν ἐκείνων θάνατον, τὸν δὲ ἐκείνων βίον τεθνεῶτες . 29 DK 22 B88, Übers. Gemelli Marciano. Werden - Entstehen und Vergehen in der Philosophie der Vorsokratiker 131 tig und nicht als lebensbegrenzend am Ende des Lebens, beides nacheinander empfunden wird, ist eine ungeheure Vorstellung für die damalige Zeit, die das Verhältnis von Endlichkeit und Unendlichkeit neu definierte. Aber das Prinzip des Werdens, aus dem Entstehen und Vergehen als dem universellen Gesetz des Gegensatzes hervorgeht, findet bei Heraklit noch einen weiteren gedanklichen Höhepunkt, wenn er diesen theistisch wendet: „Der Gott ist Tag-Nacht, Winter-Sommer, Krieg-Frieden, Sättigung-Hunger.“ 30 Heraklit unterzieht offensichtlich auch die unsterblichen Götter diesem Werden und lässt sie als Wesen erscheinen, die ebenso wie die Sterblichen dem universellen Gesetz des Werdens aus Gegensätzlichen ausgesetzt sind. Einen völlig neuen Denkansatz entwickelt der Arzt und Philosoph Parmenides aus dem süditalienischen Elea, der als erster Metaphysiker unter den Naturphilosophen der Vorsokratik zur Geltung kam. Wenn alles Sein nur Werden ist, wie Heraklit lehrte, dann stellt sich die Frage nach dem Beständigen. Was ist beständig, was hat Dauer, was besteht vielleicht sogar ewig? Parmenides war der Philosoph, der aus der Unbeständigkeit aller anschaubaren, empirischen, materiellen, endlichen Dinge nach dem Unwandelbaren fragt, das er metaphysisch glaubte in dem zeitunabhängigen, dauerhaften, intelligiblen, wahren, ewigen Logos erkannt zu haben. Ein Begriff, der eine von den Sinnen unabhängige, gedachte Vorstellung der Vernunft ist. Parmenides misstraute der Veränderung aller seienden Dinge so sehr, dass er nichts Wahres an und in ihnen zu erkennen vermochte, dennoch wollte Parmenides nur diese beiden Seiten der Wirklichkeit als die ganze Wahrheit der Welt anerkennen. Von Parmenides liegt ein Lehrgedicht vor, nicht von ihm selber überliefert, aber von Aristoteles, dessen Schüler Theophrast und anderen schriftlich fixiert und intensiv besprochen. Dieses Lehrgedicht weist zwei Teile auf, deren erkenntnisbildende Leitthematik zum einen die Wahrheit, ἀληθεία , und zum anderen die Meinung, δόξα , oder das bloße Fürwahrhalten der Leute zum Thema hat. Diese zwei Teile eines Werkes sind nicht nur ästhetisch aufeinander bezogen, sondern, so wie wir Parmenides verstehen, sind beide Seiten für einander wechselseitig bestimmend. Gleichwohl fasst Parmenides Wahrheit und Führwahrhalten wie das Verhältnis von Sein und Schein. Weshalb er die Menschen auch die Doppelköpfigen, δικρανοί , nannte. Der Wahrheitssuchende muss sich zwischen zwei möglichen „Wege[n] der Forschung“ 31 entscheiden, dem Irrtum und der Wahrheit. Die Menschen der dóxa sind dem Irrtum, dem nur scheinbar Richtigen, so verfallen, dass sie sogar den Irrtum erforschen oder nach Meinung des Parmenides irrtümlich erforschen. Der Irrtum bestehe in höchstem Maße in der falschen Vorstellung, die sie über das ‚Sein und das Nichts‘ zu erkennen glauben und sich darüber in Aussagen äußern, denn diese Menschen würden das ‚Sein und das Nichtsein‘ für dasselbe halten. 32 Dabei sei es nun einmal der Fall, dass nur das Sein ist. 33 30 DK 22 B67. Übers. Mansfeld/ Primavesi. 31 DK 28 B2. 32 Vgl. ebd. Joachim Schneider 132 Dies sei der Weg der Wahrheitssuchenden. Die Menschen, die den Weg des Fürwahrhaltens, der dóxa, beschreiten, halten das Nichts für seiend. Aber über das Nichts lasse sich nichts sagen, weil es nicht ist, es existiert nicht. 34 Im Gedicht stellt Parmenides alétheia und dóxa als bloße Form von Erkenntnis gegenüber. Bei genauerer Betrachtung ist diese Gegenüberstellung ein Aufspannen der ganzen Welt der Menschen zwischen Wahrheit und Fürwahrhalten als ‚Weltgefüge‘ der Lebenswelt, wie Karl Reinhardt, unter Hinzuziehung auch der überlieferten Fragmente des Parmenides, in seiner wichtigen Rezeption richtig darstellt. 35 Sein und Nichtsein, Sein und Schein, Subjekt und Prädikat, Sein und Nichts werden von Parmenides als universelle Gegensätze gegeneinander geführt. Erstaunlich dabei, welche gleichrangige Geltung der Philosoph dem Irrtum und dem Nichterkennen verschafft. Um der Wahrheit willen, bedarf es seiner Ansicht nach des Irrtums, bisweilen wohl sogar des Unwahren für die Herstellung des Wahren. Das erweiterte universell geltende Gesetz der Gegensätzlichkeit ist bei aller Unterschiedenheit noch dem Denken Heraklits angelehnt. Er spricht von einem zweigeteilten Kosmos, διάκοσμος , die Gegenüberstellungen sind apriorische Gegebenheiten auch in kosmischer Universalität. Damit ergab sich für Parmenides aber ein Problem. Er behauptete über Nichtsseiendes nichts aussagen zu können, bestimmte aber gleichzeitig einen Gegensatz von Sein und Nichtsein als einen universellen Gegensatz. Damit sagt er über das Nichtsein zumindest so viel aus, dass es der Gegensatz des Seins ist. Wenn nun aber das Seiende in seiner Mannigfaltigkeit (der alétheia) mit Parmenides zu denken ist, dann hat das Nichts mindestens diese Universalität. Diese aber wird von dem Philosophen dadurch bestritten, dass nicht einmal die logische Gleichrangigkeit von Sein und Nichts in ihrem gegenseitigen Gegensatz gedacht werden soll. Wie also löst Parmenides dieses vernunftgeleitete Problem logisch auf? Die ‚gegensätzlich verbundenen Seienden‘ verharren nicht in diesen Gegensätzen. Im Fragment 8 führt Parmenides die Mischung von Gegensätzlichem ins Denken ein. 36 Für Parmenides ergibt sich eine fundamentale Dreiteilung: a) das Sein, τὸ εἶναι , in Form der Aletheia, der Wahrheit, das was wirklich ist, ist das Sein; b) das Nichtsein, τὸ οὐκ εἶναι , auf der Erkenntnisebene die Doxa, das Fürwahrhalten von Nichtseiendem ist nicht, (man bedenke, auf welcher Ebene Parmenides das Seiende für nicht wahr hält); und c) aus Sein und Nichtsein die Mischung, ἔστι, οὐκ ἔστι, ἔστι τε καὶ οὐκ ἔστι , ist das Zusammengehen von Sein und Nichtsein geworden. 37 Der revolutionäre Gedanke besteht in dem Aufbrechen der 33 DK 28 B6: ἔστι γὰρ εἶναι, μηδὲν δ᾽ οὐκ ἔστιν . 34 DK 28 B7 und B6. 35 Vgl. Vgl. Karl Reinhardt: Parmenides, 5. unveränderte Auflage, Frankfurt a. M. 2012, S. 44 ff. 36 DK 28 Β12. 37 DK 28 B8. Vgl. Reinhardt: Parmenides, S. 44 ff. Werden - Entstehen und Vergehen in der Philosophie der Vorsokratiker 133 fundamentalen Antinomien von Sein und Nichtsein. Mit der Mischung von Sein und Nichtsein sieht er das Ineinandergehen dieser Gegensätze in universeller Dimension in eine neue Einheit des Seins, die er metaphysisch zum System des Alleinen ausbaut. Es ist zu bedenken, dass das Nichtsein für Parmenides im Gedicht nur einen logischen Status hatte, es war ontologisch nicht existierend gefasst, da es nur eine rein gedankliche erkenntnistheoretische Struktur der Gegenüberstellung der Vernunft zum Sein ist. In den Fragmenten ist der Charakter des Nichtseins keinesfalls so eindeutig nur als logische Opposition zum Sein besprochen, denn die Mannigfaltigkeit des Seins sieht in allen Dingen das Mischungsverhältnis. Wenn jetzt gefragt wird, was das alles mit Werden und Vergehen, unserem Thema, zu tun hat, so hörten wir, dass Parmenides das Verhältnis von Sein und Nichtsein in allen Körpern als ‚Mischung der Erscheinungen‘ bestimmt: Gleiches und Nichtgleiches, ταὐτὸν καὶ οὐ ταὐτόν , Seiendes und Nichtseiendes zugleich in einem, εἶναί τε καὶ οὐχί , ist das Zusammengehen von Werden und Vergehen in allen Körpern. Der zum System ausgebaute Gedanke der Durchmischung ist der Gedanke des Alleinen, das im 8. Fragment von Parmenides zum Ausdruck gebracht wird und wegen seiner Rezeptionsbedeutung in den nächsten Jahrhunderten bis ins Mittelalter bei Thomas von Aquin, Duns Scotus und darüber hinaus bis zu Leibniz nicht nur in der metaphysischen Bedeutung, sondern auch seinem ontologischen Inhalt nach, der für unseren Zusammenhang wichtig ist, hier ganz in der Version von Karl Praechter zitiert werden soll: „Es bleibt nur noch ein Weg der Darstellung, dass es [das Seiende] ist. Auf diesem Wege aber sind gar viele Zeichen, dass es als Ungewordenes auch unvergänglich ist, ganz eingeboren und unbewegt und unendlich. Und es war nicht erstmals noch wird es sein, da es jetzt ist insgesamt als ein Ganzes, Einiges, Zusammenhängendes. Denn welche Entstehung willst du dafür [für das Seiende] suchen? Wie und woher soll es angewachsen sein? [Aus dem Seienden kann es nicht geworden sein, denn es ist selbst das Seiende], noch werde ich zugeben, dass du sagst oder denkst, es stamme aus dem Nichtseienden. Denn es ist weder sagbar noch denkbar, dass es nicht sein sollte. Welche Pflicht sollte es denn auch getrieben haben, eher später als vorher mit dem Nichts beginnend zu wachsen? So muss es notwendigerweise entweder ein für allemal sein oder gar nicht. Aber da eine Grenze am äußersten Ende vorhanden ist, ist es von allen Seiten vollendet, gleich der Masse einer wohlgerundeten Kugel, von der Mitte überall gleich. Denn es darf weder größer noch kleiner sein hier oder dort.“ 38 Das Sein wird das metaphysisch gedachte Alleine bei Parmenides, in dem alle endliche Verschiedenheit in es aufgehoben ist. Das In-einem-Alles, und Inallem-Eins, das auch Werden und Vergehen ist, ohne dass das Sein selber diesem Gesetz unterworfen ist, denn es „nicht geworden und unvergänglich 38 DK 28 B8, 1 ff, 42 ff, zitiert bei: Karl Praechter: Die Philosophie des Altertums (Friedrich Ueberwegs Grundriss der Geschichte der Philosophie, 1. Teil) 13. Auflage, Graz 1953, S. 84 ff. Joachim Schneider 134 ewig“, repräsentiert im menschlichen Körper, ist das bio-logische Sein, in dem Sein und Tod in einem Organismus (als ontologische Einheit) erfasst ist. Die Brisanz dieses Ansatzes ergibt sich mit der Frage: Wenn alles in Einem ist und das Eine in Allem, wie viel Tod ist dann im Leben und wie viel Leben ist dann im System des Todes? Parmenides hatte vor allen anderen verstanden, dass die ‚Einheit der Gegensätze‘ die Voraussetzung der Endlichkeit des Menschen ist. Wäre die Mischung des Unterschiedenen von Leben und Tod im Körper nicht gegeben, die Menschen wären dann vielleicht gebürtlich, aber nicht sterblich. Parmenides legt mit dem Gedanken der Einheit der Mischung von Gegensätzen ein erstes, noch unausgearbeitetes dialektisches Modell vor, das Platon aufnimmt und in ein erstes dialektisches System transformiert. David Schäfer Gewissensbisse David Schäfer 136 Gewissensbisse 137 David Schäfer 138 Gewissensbisse 139 David Schäfer 140 Gewissensbisse 141 David Schäfer 142 Gewissensbisse 143 III. „Zu den Sachen selbst! “ Arnulf Heidegger Zur Entstehungsgeschichte der Gesamtausgabe von Martin Heidegger In der familiären Überlieferung beginnt die Sorge um den Erhalt der Manuskripte mit der Rückkehr Erika Semmlers, einer engen Freundin von Elfride und Martin Heidegger, vom Reichsparteitag der NSDAP 1938. Sie berichtet von der drohenden Kriegsgefahr. Das Haus in Zähringen liegt nahezu in Reichweite der französischen Artillerie, die französischen Besetzungen im Ruhrgebiet und in Baden während der Weimarer Republik sind lebendige Erinnerung. Meine Großeltern sehen daher Freiburg als Frontstadt. Martin Heidegger hatte sein 2. Hauptwerk, die „Beiträge zur Philosophie“ 1 vollendet. Die Schrift wird fein säuberlich in einem gesondert angefertigten Schuber aufbewahrt. 2 Wie sollen sie und viele andere Abhandlungen vor der drohenden Zerstörung oder vor dem Verlust gerettet werden? Einen Ausweg bietet Bruder Fritz in Meßkirch. 3 Militärisch ist Meßkirch im Gegensatz zu Freiburg nicht als Frontstadt zu erwarten und in der ländlichen Gegend, geschickt versteckt, besteht die Hoffnung, dass die Manuskripte die dunkle Zeit überleben werden. Darüber hinaus kann der kluge und verständige Bruder mit dem Abschreiben beginnen. Eine andere technische Möglichkeit, die einmaligen Manuskripte zu vervielfältigen, steht noch nicht zur Verfügung. Bruder Fritz bewährt sich als hellsichtiger Begleiter des Denkers. Unklare dunkle Stellen berichtigt er, ohne dass sein älterer Bruder daran Anstoß nimmt, im Gegenteil, seine Verbesserungsvorschläge werden regelmäßig ohne Umschweife angenommen. Zwei Eisenkisten mit Manuskripten werden im Kirchturm des kleinen Örtchens Bietingen (heute Teilort der Gemeinde Sauldorf) verwahrt. Sie überstehen das Kriegsende schadlos. Dennoch wäre ein wichtiger Teil der Manuskripte kurz vor Kriegsende noch fast verloren gegangen. Nach einem Luftangriff auf Meßkirch im Februar 1945 holt mein Großvater selbst die in einem Panzerschrank der Volksbank eingelegten Manuskripte heraus. Der Schrank ist, wie sein Neffe Heinrich Heidegger als Augenzeuge berichtet, unverschlossen. 4 Ein kleiner Teil von Manuskripten und vor allem von Abschriften lagert bei Arnold und seinem Sohn Heinrich Petzet in Icking bei München. Auf der Hütte in Todtnauberg gibt es ein gebundenes dünnes Büchlein „Potsdamer Rede über Friedrich den Großen von Walter Elze“. Darin steht folgende Wid- 1 GA 65. 2 Das Original befindet sich im Deutschen Literaturarchiv in Marbach a. N. 3 Vgl. Walter Homolka, Arnulf Heidegger (Hg.): Heidegger und der Antisemitismus, Freiburg 2016, S. 45. 4 Hans Dieter Zimmermann: Martin und Fritz Heidegger. Philosophie und Fastnacht, 2. Aufl., München 2005, S. 99 f. Arnulf Heidegger 148 mung: „Herrn Prof. Dr. Martin Heidegger in Verehrung mit den herzlichsten Grüßen[,] die treulichen ‚Hüter der Manuskripte‘ Arnold Petzet / Heinrich Petzet / April 1940.“ 5 Am Ende des Krieges befinden sich beide Söhne Heideggers in russischer Kriegsgefangenschaft. Der Ältere, Jörg, kehrt 1949 zurück. Der Jüngere, Hermann, erreicht Freiburg im September 1947 wieder als Dystrophiker und mit offenen Wunden an Körper und Seele. Umsichtig umsorgt die Mutter ihren Sohn, der zu ihr im Übrigen ein nicht ganz einfaches Verhältnis hat. Nachdem der Vater sieht, dass der Sohn langsam wieder zu Kräften kommt, wendet er sich an ihn mit dem klaren Auftrag, für den Fall seines Todes habe er, Hermann, nichts anderes zu tun, als die Manuskripte zu verschnüren und zu versiegeln und für 100 Jahre gesperrt in ein Archiv zu legen. Die Zeit sei noch nicht reif, ihn zu verstehen. Weihnachten 1957 verbringen meine Großeltern auf der Hütte. Am 28.12.1957 verfasst mein Großvater, „nur für Hermanns persönlichen Gebrauch“ eine „Übersicht über den Bestand an Manuskripten“ und unterteilt diese wie folgt: I. Vorlesungen... II. Übungen... III. Vorträge... IV. Darstellungen zur Geschichte der abdl. Metaphysik... V. Interpretationen einzelner Texte von Anaximander - Nietzsche... VI. Gespräche über Wissenschaft, Technik, Ding, Sprache... VII. Werkstattaufzeichnungen 26 schw. Hefte... Über die Textart der „Überlegungen“ und „Anmerkungen“ 6 , die weltweit als „Schwarze Hefte“ bekannt wurden, ist viel gerätselt worden. Die von ihm selbst verwendete Bezeichnung „Werkstattaufzeichnungen“ scheint am treffendsten zu sein. Hinzu legt mein Großvater eine am gleichen Tag und ebenfalls „nur für Hermanns persönlichen Gebrauch“ verfasste „Inhaltliche Ordnung der Arbeiten“ Die Sprache der Seinsgeschichte… Geschichte des Wahrheitsbegriffs u. der Logik Gespräch mit Hölderlin Die Sprache Der Weg durch Sein und Zeit - Selbstkritik u. Fortführung Die metaphysischen Grundstellungen der abd. Philosophie Beiträge und Besinnung Vom Anfang; das Ereignis; die Stege Die Vier Hefte. Schema der Kehre Für I. - IX. nach verschied. Hinsichten die Werkstattaufzeichnungen…“ 7 5 Walter Elze: Potsdamer Rede über Friedrich den Großen, Potsdam 1939. vgl. auch Heinrich W. Petzet: Auf einen Stern zugehen, Frankfurt 1983, S. 48 f. 6 GA 94-97. 7 „Übersicht“ und „Inhaltliche Ordnung“ befinden sich in Privatbesitz. S. Abb. 1 und 2. Zur Entstehungsgeschichte der Gesamtausgabe von Martin Heidegger 149 Mein Großvater wird in den 50er und 60er Jahren mehrfach gedrängt, seine Schriften zu veröffentlichen oder eine Gesamtausgabe vorzubereiten. Seit den Tagen der Weimarer Republik kennt er den Verleger Dr. Vittorio Klostermann. Dieser schreibt am 07.02.1968, er halte den Zeitpunkt für eine Gesamtausgabe für gekommen; Bibliotheken, Seminare und alle, die eine philosophische Bibliothek besitzen, würden dies begrüßen. Mit Brief vom 20.02.1968 antwortet der Autor: „Für eine Gesamtausgabe meiner Schriften kann ich mich noch nicht entschließen; bei Gelegenheit möchte ich darüber mit Ihnen sprechen. Jetzt bin ich noch mit eigenen Arbeiten beschäftigt, die ich in meinem Alter nicht als Torso liegen lassen möchte.“ Hartnäckig und geschickt verfolgt der Verleger sein Ziel jedoch weiter. Mit Erfolg gewinnt er Martin Heidegger für die Veröffentlichung der „Frühen Schriften“, die 1972 erstmals erschienen. Grund genug für den Verleger, einen erneuten Anlauf zu nehmen. Im Brief vom 10.04.1972 wird Herr Dr. Friedrich-Wilhelm von Herrmann vom Verleger als die geeignete Persönlichkeit angepriesen, das Ganze zu leiten. Doch mein Großvater lässt sich nicht umstimmen: „Es würde nicht dem Stil meiner Denkweise entsprechen. Bitte haben Sie Verständnis dafür; ich habe alle ähnlichen Anfragen, die im letzten Jahrzehnt von verschiedenen Seiten an mich gerichtet waren, ablehnend beschieden.“ (Brief vom 11.04.1972) Auf direktem Wege ist das Ziel nicht zu erreichen. Ohne den Autor davon in Kenntnis zu setzen, ruft der Verleger Klostermann Heideggers Sohn Hermann an. Die Gründe, mit der Gesamtausgabe umgehend zu beginnen, liegen auf der Hand: Die weltweite Wirkung von Heideggers Denken wird den Ruf nach einer Gesamtausgabe nicht vergehen lassen. Noch könnte der Verfasser selbst die Richtlinien vorgeben, in welcher Form und Ausstattung eine Edition auf den Weg gebracht wird. Mitte der 70er Jahre stehen zahlreiche geeignete Herausgeberinnen und Herausgeber für die einzelnen Bände zur Verfügung. Nicht zuletzt ist ein Verleger bereit, das Wagnis einzugehen. Meinem Vater leuchten die Gründe ein, sie sind allerdings dem Autor weder unbekannt noch von ihm unbedacht. Hermann Heidegger gelingt es jedoch im September 1973, seinen Vater umzustimmen. Der Sohn ist damals in einem Stab für NATO-Übungen tätig und daher mit den Planspielen für den Ernstfall vertraut. Im Jahre 1973 ist der Kalte Krieg noch lange nicht überwunden, der Einmarsch der Warschauer Paktstaaten in die CSFR liegt gerade 5 Jahre zurück, die Gefahr eines 3. Weltkrieges ist nicht gebannt. Wenn nun alle seine schriftlichen und zu Lebzeiten unveröffentlichten Hinterlassenschaften in einem einzigen Archiv lägen, bestehe die Gefahr, dass seine jahrzehntelange Arbeit den nächsten Krieg nicht überstehen werde und selbst wenn, dann sei es völlig ungewiss, ob die sämtlich in deutscher Handschrift gefertigten Manuskripte überhaupt noch zu entziffern sein würden. Nach einigen Minuten des Schweigens stimmt Martin Heidegger dem Plan einer Gesamtausgabe zu und bestimmt seinen Sohn Hermann unmittelbar und zu dessen Überraschung zum „Betreuer der Gesamtausgabe“ 8 . 8 Handschriftliche Widmung des Vaters an Hermann im Band 24 der GA, Privatbesitz. Arnulf Heidegger 150 Die Freude beim Verleger ist groß: „Es bedarf keiner besonderen Versicherung, dass mein Verlag (dies gilt für mich wie meine Söhne) es zu seinen wichtigsten Aufgaben zählt[,] Ihrem Werk zu dienen, es verlegerisch zu sichern und zur Wirkung zu bringen.“ (Brief vom 12.10.1973) Am 16.11.1973 kommt es zwischen Martin und Elfride Heidegger sowie dem Verleger Vittorio Klostermann und seinem Sohn Michael zu einer ersten Besprechung, bei der die Aufteilung der Gesamtausgabe in vier Abteilungen vorgesehen wird: „Erste Abteilung enthält alle Werke, die bereits veröffentlicht vorliegen[,] außerdem schon gedruckte Vorlesungen. Zweite Abteilung enthält die Texte der Vorlesungen einschließlich der schon veröffentlichten in chronologischer Folge als Weg der Lehrtätigkeit. Dritte Abteilung enthält die unveröffentlichten Manuskripte der Abhandlungen und Vorträge. Vierte Abteilung enthält Aufzeichnungen und Zusätze zu den veröffentlichten Schriften.“ Knappe 4 Monate später findet in Freiburg-Zähringen eine weitere Besprechung in Anwesenheit der Eheleute Heidegger, Hermann Heidegger, Walter Biemel sowie Vittorio und Michael Klostermann statt. Hier erhalten die Abteilungen III. und IV. ihre heute noch gültigen Titel „Unveröffentlichte Abhandlungen“ und „Aufzeichnungen und Hinweise“. 9 In dieser Zeit beginnt Martin Heidegger, Entwürfe, Skizzen, Gedankensplitter niederzuschreiben, die letztlich in einem Vorwort für die Gesamtausgabe münden sollten. Die Kräfte des Autors lassen jedoch merklich nach. Mein Großvater bemerkt selbst, dass er nicht mehr in der Lage sein wird, das von ihm vorgesehene Vorwort fertigzustellen. Er sammelt seine Versuche zusammen, übergibt sie Hermann Heidegger mit der Aufforderung, dieses handschriftliche Konvolut auf der Hütte in Todtnauberg zu verbrennen. Der Sohn weigert sich jedoch, es gäbe darin zu viele Goldkörner; diese zu verbrennen, wäre viel zu schade. Martin Heidegger überlässt es seinem Sohn, was damit geschehen soll. Im Jahre 2006 gibt Hermann Heidegger dieses Konvolut ins Deutsche Literaturarchiv nach Marbach, aus dem Dietmar Koch einige Jahresgaben für die Martin- Heidegger-Gesellschaft zusammenstellt und sorgfältig herausgibt. Wenn auch das Vorwort nicht mehr fertig wird, eine Widmung für die Gesamtausgabe verfasst Martin Heidegger noch. Sie lautet: Die Gesamtausgabe ist meiner Frau Elfride geb. Petri gewidmet. Ihr inständiger Beistand auf dem langen Weg war die Hilfe, derer ich bedurfte. M.H. 10 9 Der Briefwechsel und die Gesprächsprotokolle zwischen Dr. Vittorio Klostermann und M. Heidegger befindet sich im DLA Marbach a. N. 10 Faksimile vor Band 1 Frühe Schriften der GA, hg. von F.-W. von Herrmann, 1978. Zur Entstehungsgeschichte der Gesamtausgabe von Martin Heidegger 151 Die Ehe kennt Höhen und viele Tiefen. Nach einem kleinen Schlaganfall im Jahre 1970 kann Elfride mit ihrem Mann die letzten Jahre ungeteilt verbringen. Sie hat nahezu 6 Jahrzehnte ihres fast 100 Jahre währenden Lebens in den Dienst ihres Mannes gestellt. Ich selbst erinnere mich gut daran, welche Genugtuung ihr diese Widmung gab. Sie dürfte daran Anteil gehabt haben, dass sie ihren Mann um fast 16 Jahre überlebte. Im April 1974 wird der Verlagsvertrag unter Dach und Fach gebracht, ein Jahr später erscheint der erste Band der Gesamtausgabe „Die Grundprobleme der Phänomenologie“ 11 , herausgegeben von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, den Martin Heidegger zum „Hauptmitarbeiter der Gesamtausgabe“ 12 ernennt und der die meisten Bände herausgeben wird. Ein Denkweg ist sichtbar geworden. „Wege, nicht Werke.“ 11 GA 24, hg. v. F.-W. von Herrmann, 1975 (1.Auflage). 12 In einer Buchwidmung, Privatbesitz. Arnulf Heidegger 152 Abb. 1: Übersicht über den Bestand an Manuskripten, Manuskript von Martin Heidegger, Privatbesitz = I + C y . . J - § I - \ - § - § = § - s l l ( . . r s : . e r _ l _ . . . \ - \ , | I } ^ - § r t / r + F : § I t - / = - , l = f t , t : 3 I - s - . . - E : § = r p ; T T i r ] T » l § L : , f " f s § + + r - ' t s s f t § _ _ - s t . 5 . a C ' \ - - - ; \ $ r § : , ' l s , ^ * ' . I t - { + I + L + t , 5 : " | ( . l * . . - \ t - > J l . : - I S § § . § - - - \ < - ) I u ) , r - L ( ! ( - 2 . i ( t r l { f . \ f 1 F i \ - - = : l , T : T r e i § \ { e < r i G ! } . - . T 3 t F - \ \ , T ' _ _ \ I i x i t : S - J t T . t { I l . i ; o l . \ = l \ 1 \ l < l t 1 5 J \ s r \ - \ l $ - - 5 - - 1 5 F r \ 2 t + r i t 1 , r . 1 t 7 t 6 § f + : s t I { I I I t . f T T t I 1 t i s - . a \ I } J T . L + § l - . . . ? f § T Q § + F : I E ) f s _ r ? ( - . 1 ' + + l 5 § a T ' T r \ + . l : _ . J - < ' } I t r ä - ) t - Y I s - 5 - ? 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L + l \ ? t J J § i > . & f - t ? , I I = r I . x t R - § + \ = ? t t . l . - 9 : a \ , . 1 \ i 1 ) - E f ? t § i r - 5 r r Zur Entstehungsgeschichte der Gesamtausgabe von Martin Heidegger 153 Abb. 2: Inhaltliche Ordnung der Arbeiten, Manuskript von Martin Heidegger, Privatbesitz 1 - J P < ) I ' , l - r I : { ' i , ( - 3 + ü i l . r - > p I , t L J t { _ Y l i J T t r : ? c c I t ? I : ? t : r l = ' ? , ? T I I , 7 ? ? t I ) \ S t t < l ! r t : ' ? I ä ' r l r P + § I \ i + t . € { , ' C > ? t t ( ? F r 7 : 3 L § - . , I t I i § t L F : ( \ : { r - + 3 - - - ( r t , : + J - - L . f f t q , s . r - \ _ \ c t \ t I t ; 5 I L t f ' ( ( T 5 C r \ t a , r a ' t r r - J r r § [ ' F r 1 S : i r f e ' t ' r I > - - ; L : q F t s T f ) I t \ r I l z - ] I . \ . 1 1 . I t r l 7 ö . K r c " I § J F . t ' t § F § 3 { F § E t . = § i , J t r r J c - u r f ( , ) I t i i F r F . Z I . \ D r - § I r ' l , _ _ - - e r L J f l r r F F t F I t - \ * f l T r : - < ) I ? : j . J E - F ) t . 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L o ' t E E Y s * r P r _ r T , p ( I f I t r I 1 o o r r i : S F ; § ? f ü l r I F = ? ' § : . : , § S , F i ' i J t \ ( I I * ( I Giuliana Gregorio Die Philosophie und die Unendlichkeit des Dialogs - Morgen also, o Phaidon, wirst du wohl diese schönen Locken abscheren? - So sieht es wohl aus, o Sokrates, sprach ich. - Nicht doch, wenn du mir folgst. - Was denn? fragte ich. - Heute noch, sagte er, wollen wir, ich meine und du diese abscheren, wenn uns nämlich die Rede stirbt und wir sie nicht wieder ins Leben rufen können. Platon, Phaidon, 89 b-c (Übs. v. F. Schleiermacher) „Was ist das - die Philosophie? “, fragte sich Heidegger 1955 in einem berühmten Vortrag. 1 In jenem Zusammenhang lautete seine Antwort: Es ist zunächst notwendig, das Wort „Philosophie“ aus seinem griechischen Ursprung zu hören. Das griechische Wort φιλοσοφία stellt als solches einen Weg dar, und zwar einen, auf welchem wir schon immer unterwegs sind und der zugleich hinter und vor uns liegt. φιλοσοφία ist insofern ein geschichtliches Wort, das auf unsere ganze Überlieferung hinweist, indem es die gesamte Bahn der Geschichte des Abendlandes beschreibt und einschließt. Das heißt jedoch nicht, dass wir an die Überlieferung im Sinne einer unwiderruflichen Vergangenheit zwingend gebunden sind, weil das Überliefern als ein délivrer, ein Befreien „in die Freiheit des Gesprächs mit dem Gewesenen“ zu verstehen ist. Im Rahmen dieses freien Gesprächs muss die Überlieferung aufgenommen und verwandelt werden: Es handelt sich hier um eine Aneignung der Geschichte, die mit deren sogenannter „Destruktion“ zusammenfällt. Was destruiert, abgebaut werden soll, ist aber keineswegs die Geschichte selbst (i. e. die Philosophie als Geschichte), sondern die historische Behandlung der Philosophie, die historischen Aussagen über die Geschichte der Philosophie. Destruieren bedeutet dann, das Ohr für das Überlieferte (für Heidegger: den Zuspruch des Seins) frei und offen zu halten, seinem Zuspruch zu entsprechen. Ist das unumgängliche Verhältnis zwischen Philosophie und Geschichte somit in den Mittelpunkt der Reflexion gestellt, scheint trotzdem das wesentliche, vitale Gespräch der Philosophie mit ihrer Geschichte eine Schranke darin zu finden, dass die Philosophie selbst von Heidegger als ein sozusagen ‚abgeschlossenes‘ Unternehmen beurteilt wird. Neun Jahre später behauptet er be- 1 Martin Heidegger: Was ist das - die Philosophie? (1955), in Identität und Differenz, GA 11, Frankfurt a. M. 2006. Giuliana Gregorio 156 kanntlich, dass die Philosophie in der heutigen Zeit „in ihr Ende eingegangen ist“ 2 . Mit der Metaphysik als begründend-vorstellend-kalkulierendem Herrschaftsentwurf des Seienden identifiziert, findet die Philosophie Heidegger gemäß im Zeitalter der Technik und deren planetarer Ausdehnung ihre Vollendung. Eine solche Vollendung ist jedoch keine Vollkommenheit, sondern bedeutet die endgültige Auflösung, Ausfaltung und Verzweigung der Philosophie in die Wissenschaften, die sich als „Triumph der steuerbaren Einrichtung einer wissenschaftlich-technischen Welt und der dieser Welt gemäßen Gesellschaftsordnung“ 3 gestaltet. Weit davon entfernt, ein bloßes Aufhören zu sein, ist also das Ende der Philosophie der „Beginn der im abendländisch-europäischen Denken gegründeten Weltzivilisation“ 4 . Die Philosophie als solche hat ihre (im eben angedeuteten Sinne metaphysische) Aufgabe erfolgreich zum Abschluss gebracht. Ihre Auflösung in die technisierten Wissenschaften - und es ist bemerkenswert, dass Heidegger hier fast prophetisch von der zentralen Rolle der Kybernetik spricht - stellt in gewissem Maße die vollständige Verwirklichung aller ihrer geschichtlichen Möglichkeiten dar. Aber nur in gewissem Maße: Denn die Realisierung der allerletzten Möglichkeit der Philosophie durch ihre technische Verwandlung - ihr „Ende“ - erschöpft keineswegs die immer fortlebende Aufgabe des Denkens. Dieses Ende birgt in sich die Eventualität eines neuen Anfangs (eines „anderen“ Anfangs); nach der Vollendung der letzten Möglichkeit der Philosophie kann sich eine erste Möglichkeit eröffnen, die aber jetzt nicht mehr der Philosophie, sondern dem Denken reserviert ist; ihm ist eine Aufgabe vorbehalten, die „weder der Philosophie als der Metaphysik noch gar den aus ihr herkommenden Wissenschaften zugänglich“ 5 ist. Das (diskreditierte) Wort „Philosophie“ muss nun also abtreten und dem Wort „Denken“ das Feld überlassen. Gewiss, auch dieses Denken, das gleichzeitig sowohl als Vordenken als auch als Andenken, Erinnerung, usw. betrachtet werden soll, hat grundlegende geschichtliche Züge und eine wesentliche geschichtliche Aufgabe. Das schließt aber nicht aus, dass Heideggers Rede vom Ende der Philosophie als Metaphysik (i.e. als konstitutive, ‚strukturelle‘ Seinsvergessenheit) uns unwiderleglich vor eine Zäsur stellt, und zwar vor eine radikale Zäsur, einen scharfen Bruch der Geschichte, eine hochproblematische Unterbrechung der geschichtlichen Kontinuität. Das eröffnet die heikle Frage des „post-“ (des Post-metaphysischen), die bekanntermaßen jahrzehntelange Diskussionen hervorgerufen hat. Alle Positionen, die Heideggers Abschied von der Metaphysik - und, wie gesehen, in seiner extremsten Fassung, von der Philosophie überhaupt - ernst nehmen, sind nämlich dazu genötigt worden, sich mit dem neuen, weiten und vielfältigen, aber insgesamt etwas öden Panorama des postmetaphysischen Den- 2 Martin Heidegger: Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens (1964), in Zur Sache des Denkens, GA 14, Frankfurt a. M. 2007, S. 69. 3 Ebd., S. 73. 4 Ebd. 5 Ebd., S. 73 f. Die Philosophie und die Unendlichkeit des Dialogs 157 kens zu konfrontieren. 6 Es ist in diesem Kontext nicht besonders wichtig festzustellen, ob dieser Abschied bei Heidegger selbst wirklich so absolut ist oder nicht vielmehr sehr ambivalent bleibt (man denke z. B. an das verwickelte Verhältnis zwischen den Begriffen Überwindung und Verwindung). Hier hervorzuheben ist nur, dass die interessantesten Richtungen der postmetaphysischen Denkproduktion (Dekonstruktivismus, Archäologie, Genealogie, usw.) unter ihren unbezweifelbaren Unterschieden eine ähnliche Grundgestaltung vorzeigen, die als eine im Grunde immer noch ‚nost-algische‘, zurückblickende Geste beschrieben werden könnte - eine Geste, die trotz aller kritischen Radikalität auf einer beständigen Rückverweisung an die liquidierte Metaphysik insistiert, als ob das Denken außer und jenseits dieser Verweisung keinen eigentlichen Gehalt hätte. Die Metaphysik (i. e. die Philosophie in ihrem geschichtlichen Lauf) wird sozusagen als ein Ruinenfeld betrachtet, in dem man herumgeht und von dem man nicht loskommt. Wenn dieses Phänomen auch positiv gelesen werden kann, und zwar im Sinne der starken Persistenz, auch im zeitgenössischen Denken, eines Bewusstseins des unumgänglichen geschichtlichen Charakters des Philosophierens, so geschieht dies alles dennoch, wie angedeutet, in einer allgemeinen Trauerstimmung von Liquidierung, Verlust, Irreparabilität (die fast den Eindruck von einem Wühlen in den Trümmern vermittelt). Dieser gesamten Traueratmosphäre entzieht sich entschieden der hermeneutische Ansatz. Dies hängt bei Gadamer nicht von einer Art inkongruentem und naivem Optimismus ab (der ihm jedoch oft vorgeworfen worden ist). Selbst wenn er sich der Nicht-Linearität der Geschichte, ihrer Brüche, Risse und Stolpersteine voll bewusst ist, bestreitet Gadamer Heideggers Vorstellung der - an ihr Ende gelangten - Metaphysik. Er erscheint insoweit als gegen jene „teuflische Versuchung des post-metaphysischen Denkens“ 7 immun, die darin besteht, die Metaphysik als einen homogenen Block aufzufassen. Um nur ein Beispiel anzugeben, behauptet er gegen den angeblich ‚metaphysischen‘ Charakter des Logos- Begriffes (diese Behauptung findet sich - nicht zufällig - im Zusammenhang einer Auseinandersetzung mit Derrida): Was ist Logos? Man soll gewiß nicht unterschätzen, daß bereits die sokratischplatonische Flucht in die Logoi eine Wendung darstellt, die die Metaphysik, die Logik der Begriffsdefinition und des Beweisens, vorbereitet hat. Aber ist Logos nicht noch etwas anderes? Was meint Logos bei Heraklit, was im sokratischen Nichtwissen, was in Platos Dialektik? Was meint der Logos spermatikos der Stoa und gar der Logos des Johannesevangeliums? Da hat ‚Logos‘ ganz andere Dimensionen. 8 6 S. dazu u. a. Giusi Strummiello: Sich eine Vergangenheit aufbereiten. Das post-metaphysische Denken und die retrospektive Erfindung der Metaphysik in: Paola-Ludovika Coriando, Tina Röck (Hg.), Perspektiven der Metaphysik im „postmetaphysischen Zeitalter“, Berlin 2014, S. 41-54. 7 Ebd., S. 51. 8 Hans-Georg Gadamer: Hermeneutik auf der Spur (1994), in Hermeneutik im Rückblick, Gesammelte Werke (im Folgenden abgekürzt als GW), Bd. 10, Tübingen 1995, S. 154. Giuliana Gregorio 158 So etwas wie „die“ Metaphysik gibt es für Gadamer nicht; und das gilt gleichermaßen sowohl für die vermeintlichen ‚Begriffe der Metaphysik‘ (im Sinne von metaphysisch definitiv kompromittierten Begriffen) als auch im Allgemeinen für die sogenannte „Sprache der Metaphysik“, von der man sich ein für alle Mal befreien müsse. Gewiss sind die philosophischen Reden im Laufe der Geschichte manchmal erstarrt, sogar versteinert; aber das wertet die geschichtliche Sprache der Philosophie als solche nicht ab. Das tragische Ringen des späten Heidegger mit der Sprache, die dramatische „Sprachnot“, in der er sich verstrickt (und die übrigens in Gadamers Augen allen großen Denkern eigen ist), seine titanischen und oft fragwürdigen Anstrengungen, der ‚metaphysischen‘ Sprache zu entkommen, fußen - grob gesagt - auf einer falschen Prämisse: Nun muß ich gegen Heidegger geltend machen, daß es gar keine Sprache der Metaphysik gibt. […] Es gibt nur Begriffe der Metaphysik, deren Inhalt sich aus der Verwendung der Worte bestimmt, so wie das mit allen Worten ist. Die Begriffe, in denen sich Denken bewegt, sind sowenig wie die Worte unseres alltäglichen Sprachgebrauchs durch eine starre Regel von fester Vorgegebenheit beherrscht. Die Sprache der Philosophie, auch wenn sie noch so schwere Traditionslasten trägt, wie eben die der ins Lateinische umgesetzten aristotelischen Metaphysik, versucht immer wieder eine Verflüssigung aller sprachlichen Angebote. 9 Deshalb ist Gadamer davon tief überzeugt, „daß keine Begriffssprache, auch nicht die von Heidegger sogenannte ‚Sprache der Metaphysik‘, einen unbrechbaren Bann für das Denken bedeutet, wenn sich nur der Denkende der Sprache anvertraut, und das heißt, wenn er in den Dialog mit anderen Denkenden und mit anders Denkenden sich einläßt.“ 10 Es ist daher „in voller Anerkennung der durch Heidegger geleisteten Kritik am Subjektsbegriff“, dass er „im Dialog das ursprüngliche Phänomen der Sprache zu fassen“ 11 versucht hat. Die Idee des Dialogs wird aus diesen Gründen zum Schwerpunkt des ganzen hermeneutischen Unternehmens, i. e. zum Kern, um den es sich in allen seinen Seiten und Facetten dreht. Gadamer beschreibt also folgendermaßen - sich immer noch auch auf Derrida berufend - seine persönliche Wiederaufnahme von Heideggers Rede über die notwendige Überwindung/ Verwindung der Metaphysik: Ich suche nun Heideggers ‚Verwindung‘ der Metaphysik in phänomenologischem Stile fortzuführen und an der Dialektik von Frage und Antwort zu bewähren. Das aber heißt, daß man im Gespräch den Ausgang nimmt. Da vollzieht sich die Différance, durch die in Frage und Antwort die Alterität des 9 Hans-Georg Gadamer: Zwischen Phänomenologie und Dialektik - Versuch einer Selbstkritik (1985), in Hermeneutik II. Wahrheit und Methode. Ergänzungen. Register, GW 2, Tübingen 1986, S. 11-12. 10 Hans-Georg Gadamer: Text und Interpretation (1983), in GW 2, S. 332. 11 Ebd. Die Philosophie und die Unendlichkeit des Dialogs 159 Wahren ausgetragen wird. In dieser Dialektik von Frage und Antwort geschieht ein ständiger Überschritt. Es mag in der Frage wie in der Antwort Ungesagtes mitsprechen und dekonstruktiv aufdeckbar sein. Aber es spricht nicht erst dadurch mit, daß es aufgedeckt wird. Ja, vielleicht spricht es dann gerade nicht mehr. Im Gespräch ist es ja auch kein Bruch, wenn sich immer neue Gesichtspunkte melden, immer neue Fragen und Antworten sich stellen, die immer wieder alles verschieben. Man kommt sich trotzdem näher. Man beginnt zu verstehen, auch wenn man nicht weiß, wohin es führt. 12 Es ist wahr, dass der Philosophie immer wieder die Gefahr der Scholastik droht, sofern ihr und ihren Begriffen ständig eine heimliche Tendenz zur Verabsolutierung, Dogmatisierung, Versteifung innewohnt und sie wie ein Schatten begleitet. Eben daher wird für Gadamer „der Rang eines Denkens fast dadurch bestimmbar, wie weit es die Versteinerungen aufzubrechen vermag, die der überlieferte philosophische Sprachgebrauch darstellt.“ 13 Deswegen erscheint auch ihm die Aufgabe der Destruktion als dem philosophischen Denken mitkonstitutiv, und diese à la Heidegger als „Freilegung“ gedachte Destruktion muss danach streben, alle „Konventionen der Rede und des Denkens zu brechen und neue Horizonte aufzureißen.“ 14 Der Destruktion gibt Gadamer aber auch einen anderen, eigentümlichen Namen, der allen Diskontinuitäten und Brüchen zum Trotz eine gewisse, wenngleich nur ‚regulative‘ Kontinuität der Geschichte (und der Philosophie als geschichtlichen Dialogs) voraussetzt. Nur wenige Jahre nach Heideggers Erklärung des Endes der Philosophie schreibt Gadamer nämlich zwei sehr aufschlussreiche Aufsätze über die Begriffsgeschichte. 15 Dieses Wort, das von Hegel - und sehr wahrscheinlich schon von früheren Autoren - stammt, 16 erhält in Gadamers Hermeneutik eine neue philosophische Deklination. Scheinbar handelt es sich dabei um eine recht veraltete Frage, und zwar um die Polemik gegen den neukantianischen Begriff der „Problemgeschichte“. 17 In 12 Gadamer: Hermeneutik auf der Spur, S. 155. 13 Hans-Georg Gadamer: Selbstdarstellung (1975), in GW 2, S. 506. 14 Gadamer: Hermeneutik auf der Spur, S. 156. 15 Hans-Georg Gadamer: Begriffsgeschichte als Philosophie (1970), in GW 2, S. 77-91, und Ders.: Die Begriffsgeschichte und die Sprache der Philosophie (1971), in Neuere Philosophie II. Probleme - Gestalten, GW 4, Tübingen 1987, S. 78-94. S. dazu Reiner Wiehl: Gadamers philosophische Hermeneutik und die begriffsgeschichtliche Methode, in Archiv für Begriffsgeschichte, 45 (2003), S. 9-20. 16 Vgl. Ernst Müller, Falko Schmieder: Begriffsgeschichte und historische Semantik. Ein kritisches Kompendium, Berlin 2016, S. 45. 17 Dass jedenfalls die Frage nach der Begriffsgeschichte keine ‚Antiquität‘ ist, wird durch die zahlreichen Studien bezeugt, die diesem Thema in den letzten Jahren gewidmet worden sind. S. z. B.: Gunter Scholtz (Hg.): Die Interdisziplinarität der Begriffsgeschichte, Hamburg 2000; Carsten Dutt, (Hg.): Herausforderungen der Begriffsgeschichte, Heidelberg 2003; Hans-Erich Bödeker: Begriffsgeschichte, Diskursgeschichte, Metapherngeschichte, Göttingen 2002; Riccardo Pozzo, Marco Sgarbi (Hg.): Eine Typologie der Formen der Begriffsgeschichte, Hamburg 2010; Dies. (Hg.): Begriffs-, Ideen- und Problemgeschichte im 21. Jahrhundert, Wiesbaden 2011. Giuliana Gregorio 160 Wirklichkeit spricht Gadamer von etwas anderem: Weit davon entfernt, eine bloße Hilfsdisziplin der Philosophie zu sein, ist die Begriffsgeschichte in Gadamers Definition „Vollzugsform“ der Philosophie selbst. Schon am Ende der Einleitung zu Wahrheit und Methode hatte er geschrieben: Die Begrifflichkeit, in der sich das Philosophieren entfaltet, hat uns […] immer schon in derselben Weise eingenommen, in der uns die Sprache, in der wir leben, bestimmt. So gehört es zur Gewissenhaftigkeit des Denkens, sich dieser Voreingenommenheiten bewußt zu werden. Es ist ein neues, kritisches Bewußtsein, das […] alles verantwortliche Philosophieren zu begleiten hat und das die Sprach- und Denkgewohnheiten, die sich dem einzelnen in der Kommunikation mit seiner Mitwelt bilden, vor das Forum der geschichtlichen Tradition stellt, der wir alle gemeinsam angehören. Die nachfolgenden Untersuchungen bemühen sich, dieser Forderung dadurch nachzukommen, daß sie begriffsgeschichtliche Fragestellungen mit der sachlichen Exposition ihres Themas aufs engste verknüpfen. 18 Gadamers Ausarbeitung des Konzepts Begriffsgeschichte beruht auf dem Gedanken der Vorrangigkeit der Sprache innerhalb der menschlichen Erfahrung: Die Sprache, als „erste Erschließung“, enthält schon immer in ihren Worten eine „Vorausgelegtheit“ der Welt, aus der erst die Begriffssprache der Philosophie ihre Worte schöpft. So ist die philosophische Begriffsbildung „durch schon gesprochene Sprache ständig mitbedingt“ 19 und die Aufgabe der Philosophie besteht darin, „sich das Verhältnis von Wort und Begriff als ein unser Denken bestimmendes Verhältnis bewußt zu machen.“ 20 Wenn, wie oben gesagt, die philosophische Begrifflichkeit dazu neigt, fixe Terminologie zu werden, charakterisiert sich die Begriffsgeschichte als Vollzugsform der Philosophie durch ihr unaufhörliches Hin- und Zurückgehen jenes Weges, der immer wieder vom Wort zum Begriff und umgekehrt von den erstarrten Begriffen zu der Flüssigkeit und Lebendigkeit des Wortes führt: „Was begriffsgeschichtliche Ausweisung zu leisten vermag, ist, den Ausdruck des Philosophierens aus scholastischer Erstarrung zu lösen und für die Virtualität der lebendigen Rede zurückzugewinnen.“ 21 Insoweit kann die Begriffsgeschichte als Philosophie (und daher die Philosophie überhaupt) mit der Musik verglichen werden. Man kann von einem musikalischen Ton nur sprechen, wenn alle seine Obertöne in und mit ihm mitschwingen. Eine durch technische Apparaturen artifiziell aus den Obertönen ‚filtrierte‘ Musik wäre keine Musik mehr: Musik ist erst jenes Gebilde, in dem Obertöne mit allem, was sie an neuen Klangwirkungen und Aussagefähigkeit der Töne zu erzeugen vermögen, mitspielen. So ist es auch im philosophischen Denken. Die Obertöne der Wörter, 18 Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischer Hermeneutik, GW 1, Tübingen 1986, S. 5. 19 Gadamer: Begriffsgeschichte als Philosophie, S. 80. 20 Ebd. 21 Ebd., S. 90. Die Philosophie und die Unendlichkeit des Dialogs 161 die wir gebrauchen, lassen uns die Unendlichkeit der Denkaufgabe, die Philosophie für uns ist, präsent halten, und das allein erlaubt, sie - in aller Begrenzung - zu erfüllen. Philosophisches Denken und Mitdenken wird daher die Starrheit der sozusagen chemisch-reinen Begriffe brechen müssen. 22 Das höchste, unüberwindbare Muster eines solchen Vorgehens ist und bleibt für Gadamer die sokratische Gesprächsführung. In den platonischen Dialogen zeigt sich auf hervorleuchtende Weise, wie „das Ideal der philosophischen Sprache nicht die denkbar größte Ablösung einer terminologisch eindeutig gemachten Nomenklatur vom Leben der Sprache ist, sondern die Rückbindung des begrifflichen Denkens an die Sprache und das Ganze der Wahrheit, das in ihr präsent ist.“ 23 Das heißt aber, dass erst „im wirklichen Sprechen oder im Gespräch, sonst nirgends, […] Philosophie ihren wahren, ihren nur ihr eigenen Prüfstein“ 24 hat. Und nicht nur das: Erst im wirklichen Sprechen, im Gespräch, findet die Philosophie ihr eigentliches Wesen. Über die Parallele zwischen Begriffsgeschichte und Musik, die „ohne ihre Obertöne keine Musik wäre“, und über die Vorbildlichkeit der platonischen Dialoge für das Philosophieren schreibt Gadamer noch: Ohne die Konnotationen zum Klingen zu bringen, die einem begrifflichen Ausdruck aus seiner Geschichte zuwachsen, und ohne das musikalische Ohr, das dieses Klingen mithört, bleibt die philosophische Aussage um ihre eigenste Dimension verkürzt. Die logische Analyse philosophischer Sätze und Argumentationszusammenhänge […] kann daher m. E. immer nur eine sekundäre Funktion ausüben. Was die logische Analyse etwa in der Überprüfung der Schlüssigkeit von Gesprächsbewegungen des platonischen Sokrates leisten kann, ist ein besonders einleuchtendes Beispiel dafür. Dort kommt der mimetische Charakter der platonischen Dialoge noch hinzu. Plato ist bestrebt, nicht nur Gedankenfolgen in ihrem logischen Zusammenhang abzubilden, sondern Menschen in lebendigem Gespräch zu zeigen und durch die Teilnahme an diesem Gespräch sachliche Einsichten zu vermitteln. Aber das gilt nicht nur für das literarische Kunstwerk Platos. Auch wo keine mimetische Absicht besteht, sondern der Gedanke seinen unmittelbaren Ausdruck sucht, gilt: alle philosophische Aussage gewinnt ihren vollen Gehalt erst aus Nichtgesagtem. 25 Unter vielen Gesichtspunkten erscheint dann der Dialogcharakter als für das Philosophieren wesentlich. Es ist ein Gespräch des Denkens mit sich selbst, ein Gespräch der Denker (bzw. der Menschen tout court) miteinander, ein Gespräch der Philosophie/ n mit ihrer Geschichte, ein Gespräch mit den Anderen und mit dem Anderen, ein Gespräch zwischen Gesagtem und Nichtgesagtem, ein Gespräch - im extremsten Fall - zwischen Sagbarem und Nichtsagbarem. Das verleiht aber der Philosophie alle jene Züge der Prekärität, Zerbrechlich- 22 Ebd. 23 Ebd., S. 91. 24 Ebd. 25 Gadamer: Die Begriffsgeschichte und die Sprache der Philosophie, S. 93-94. Giuliana Gregorio 162 keit, Vorläufigkeit, Unabschließbarkeit, Unvollständigkeit, die jedem wirklichen Dialog eigen sind: Jeder Versuch des Denkens ist ein Versuch zum Gespräch […]. Man weiß nie, ob man nicht auf dem Holzweg ist und umkehren muß. […] Philosophie kennt keine wahren Sätze […]. Philosophieren ist vielmehr eine beständige Selbstüberholung aller ihrer Begriffe, wie ein Gespräch eine ständige Selbstüberholung durch die Antwort des Anderen ist. Deshalb gibt es eigentlich keine Texte der Philosophie in dem Sinne, in dem wir von literarischen Texten sprechen - oder von der Heiligen Schrift. So wahr sich die Erfahrung der Menschen unter den geschichtlichen Bedingungen ihres Lebens und ihrer Schicksale bildet, so formen sich die Worte und Antworten, die neue Fragen zu stellen erlauben. Daher ist die Geschichte der Philosophie ein durchgehender Dialog mit sich selbst. Die Philosophen haben keine Texte, weil sie wie Penelope ihr Gewebe immer wieder auftrennen, um sich für die Heimkehr ins Wahre aufs neue zu rüsten. 26 Da aber das Wahre, im Sinne eines endgültigen Besitzes, als solches in der hermeneutischen Auffassung prinzipiell unerreichbar ist, indem es ein immer wieder aufgeschobener terminus ad quem bleibt, erweist sich der Dialog als notwendig durch eine „schlechte Unendlichkeit“ gekennzeichnet. Die hermeneutische Philosophie, die die guten Rechte dieser (nur anscheinend ‚schlechten‘) Unendlichkeit verteidigt, verzichtet von Anfang an auf das Ideal einer letzten Begründung, das mit der konstitutiven menschlichen Endlichkeit ganz inkompatibel wäre. Sie vertraut sich hingegen der (dialogischen, riskanten aber zugleich fruchtbaren) Offenheit der Erfahrung und des Fragens an. Gadamer wiederholt das unermüdlich: „Wir werden immer am Ende darauf bestehen müssen, daß Logos nicht Monolog ist und daß jedes Denken ein Dialog mit sich selbst ist und mit dem Anderen.“ 27 Solange die Menschen miteinander sprechen und denken, wird also dieser Dialog - die Philosophie - kein Ende haben können. 26 Hans-Georg Gadamer: Zur Phänomenologie von Ritual und Sprache (1992), in Kunst als Aussage. Ästhetik und Poetik I, GW 8, Tübingen 1993, S. 430. 27 Gadamer: Hermeneutik auf der Spur, S. 158. Francesco Cattaneo „Die Begriffe jeden Tag neu denken“ Die wesentliche Anfänglichkeit des Denkens im anderen Anfang Der reinste Dank ist das An-denken An-denken aber ist das Denken im An-fang das an-gefangene Denken das Denken des Seyns als das Eigene der Freyheit des Seyns das Denken ist das anfängliche dem An-fang vereignet - gelassen dichten das anfängliche - eigentliche Dichten Erst aus Seyn naht das Heile - dann Gottheit M. Heidegger 1 Im Protokoll des berühmten Heraklit-Seminars, das Martin Heidegger und Eugen Fink im Wintersemester 1966/ 67 zusammen veranstalteten, stößt man auf eine bemerkenswerte - wenn auch scheinbar nebensächliche - Textstelle. In der 7. Sitzung des Seminars kommt die Rede auf Hegels Einschätzung des griechischen Denkens. Heidegger fragt: „Welchen Charakter hat bei Hegel das griechische Denken für die Philosophie? “. 2 Die erste Antwort, nach der das griechische Denken einen vorbereitenden Charakter hätte, findet Heidegger „zu allgemein“. 3 Im Laufe des Gesprächs wird präzisiert, dass nach Hegels Sicht das griechische Denken bei der Substanz verweilt und die Frage des Subjektes und des Bewusstseins unbeachtet lässt. Für die Entwicklung der Philosophie ist es nach Hegel nötig, „das Wahre nicht als Substanz, sondern eben so sehr als Subject aufzufassen und auszudrücken“. 4 Auf der Grundlage dieser Erklärung kann man Hegels Auffassung des griechischen Denkens genauer bestimmen. Daher fragt Heidegger: „Was für ein Denken ist dasjenige, das 1 GA 81, S. 140. 2 GA 15, S. 125. 3 Ebd. 4 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes, in GW 9, S. 18 Francesco Cattaneo 164 geradezu auf das ὑποκείμενον und nicht auf das Subjekt hin blickt? “. 5 Die Antwort gibt Heidegger wenig später selbst: Ich hatte gefragt, wie die Griechen nach Hegels Interpretation denken. Wir haben gesagt, daß in ihrem Denken der Bezug zum Subjekt nicht ins Thema kommt. Aber die Griechen waren doch Denkende? Für Hegel jedoch war ihr Denken ein Zugewandtsein dem Vor- und Zugrundeliegenden, was er das Denken des Unmittelbaren nennt. Das Unmittelbare ist das, zwischen dem nichts dazwischenkommt. Hegel charakterisiert das ganze griechische Denken als Stufe der Unmittelbarkeit. Erst mit Descartes betritt für ihn die Philosophie festes Land durch den Ansatz beim Ich. 6 Doch bevor diese Antwort gegeben wurde, hatte einer der Teilnehmer des Seminars auf eine Schwierigkeit in Bezug auf Heideggers Frage verwiesen: „Ich scheue mich, die abgegriffenen Worte zu nennen.“ 7 Und Heidegger entgegnete: „In der Philosophie ist kein Wort und kein Begriff abgegriffen. Wir müssen die Begriffe jeden Tag neu denken.“ 8 Der Begriff, der hier abgegriffen scheint und den man jeden Tag neu denken müsste, ist offensichtlich die Interpretation des griechischen Denkens als „Stufe der Unmittelbarkeit“. Was aber meint Heidegger überhaupt damit, dass man „die Begriffe jeden Tag neu denken“ müsse? Ist diese Behauptung im Sinne der neuzeitlichen Wissenschaft zu verstehen? Handelt es sich um ein Erfordernis der wissenschaftlichen Methode, die keine Voraussetzung zulassen und nichts für abgemacht halten darf und so alles immer wieder von vorn überprüfen muss? Sind Heideggers Worte eine Mahnung zur Wissenschaftlichkeit der Erkenntnis? Und wenn sie das nicht wären, wenn sie die Exaktheit der neuzeitlichen Wissenschaft und noch allgemeiner die Vernünftigkeit der abendländischen Vernunft in Frage stellten, wären sie dann bloß unwissenschaftlich und irrational? Oder gibt es eine andere und andersartige Strenge des Denkens, im Lichte derer „die seit Jahrhunderten verherrlichte Vernunft die hartnäckigste Widersacherin des Denkens ist“? 9 *** Beim Verständnis von Heideggers Äußerung kann uns Hannah Arendt helfen, die einen tiefen Einblick in die innere Bewegung und Spannung des heideggerschen Denkens hatte. In einem am 21. Juli 1972 verfassten Brief schreibt Arendt an Heidegger: 5 GA 15, S. 126. 6 Ebd., S. 127. 7 Ebd., S. 126. 8 Ebd., S. 128. 9 GA 5, S. 267. „Die Begriffe jeden Tag neu denken“ 165 Wenn das Denken, wie bei Dir, jeden Morgen eigentlich neu anhebt, kann es gar nicht anders als Resultate zudecken. Das ist der Preis, den die ursprüngliche „Mündlichkeit“ der denkenden Tätigkeit dem Schreiben abverlangt. Es gibt dazu eine lustige Bemerkung von Kant, die ich Dir zuschicken werde, wenn ich wieder in den Besitz meiner Papiere komme. Kant sagt etwa: Der Vernunft sind Resultate zuwider, sie löst sie immer wieder auf. (Sokrates). 10 Was heißt das, dass das Denken die jeweiligen Resultate zudecken soll? Wie sind hier die Begriffe „Denken“, „Resultate“ und auch „zudecken“ zu verstehen? Enthalten sie etwas Besonderes und Bemerkenswertes? Oder handelt es sich um eine bloße Selbstverständlichkeit? Verhält es sich mit der modernen Wissenschaft und der heutigen Technik nicht genau so? Die moderne Wissenschaft positivistischer Prägung hat sich auf der Grundlage des Paradigmas des Fortschritts verstanden; und Fortschritt bedeutet, ständig die jeweiligen Kenntnisse durch richtigere, vollständigere und exaktere - allgemein gesagt: wahrere - Kenntnisse zu ersetzen. Die vorher erreichten „Resultate“ werden zugunsten der neueren aufgelöst. Bei der heutigen Technik geht es noch anders zu. Sie interessiert sich nicht mehr für die „Wahrheit“ und letztlich auch nicht mehr für den „Fortschritt“ (zumindest nicht im Sinne einer Philosophie der Geschichte, die sich als solche grundsätzlich im Horizont des metaphysischen Begriffs der Wahrheit bewegt). Im Rahmen der technisierten Wissenschaft ist die Wahrheit kein „Ding an sich“ metaphysischer Art: Sie wird zur Wirksamkeit. Im Vortrag Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens schreibt Heidegger: Die Kategorien, auf die jede Wissenschaft für die Durchgliederung und Umgrenzung ihres Gegenstandsgebietes angewiesen bleibt, versteht sie instrumental als Arbeitshypothesen. Deren Wahrheit wird nicht nur am Effekt gemessen, den ihre Verwendung innerhalb des Fortschritts der Forschung bewirkt. Die wissenschaftliche Wahrheit wird mit der Effizienz dieser Effekte gleichgesetzt. [...] „Theorie“ bedeutet jetzt: Supposition der Kategorien, denen nur eine kybernetische Funktion zugestanden, aber jeder ontologische Sinn abgesprochen wird. Das Operationale und Modellhafte des vorstellend-rechnenden Denkens gelangt zur Herrschaft. 11 Die Effizienz deckt sich mit der Beherrschbarkeit und Kontrollierbarkeit. Heidegger nennt die so verstandene technisierte Wissenschaft „Kybernetik“ und erkennt ihr Wesen in der Steuerung, in der Machenschaft. Die Kybernetik entfaltet sich immer dergestalt, dass die erworbenen Macht-Niveaus durch gesteigerte Macht-Niveaus ersetzt werden. Sollen wir in dieser Richtung Heideggers Worte auslegen? Ohne Zweifel meinen Heidegger und Arendt etwas anderes. Es handelt sich nicht um den Ersetzungsprozess, der im Fortschritt der modernen Wissenschaft oder in der 10 Hannah Arendt, Martin Heidegger: Briefe 1925 bis 1975 und andere Zeugnisse, aus den Nachlässen herausgegeben von Ursula Ludz, Frankfurt a. M. 1998, S. 238. 11 GA 14, S. 72-73. Francesco Cattaneo 166 Macht-Steigerung der heutigen Technik stattfindet. Die „Resultate“, die aufzulösen sind, sind kein im Horizont der Wissenschaft und der Technik Vorhandenes, sondern jener Horizont selbst, ein Horizont, der die Erscheinungen des Weltganzen und die Stellung des Menschen in diesem prägt und lenkt. „Resultate zudecken“ bedeutet, jenen Spiel-Raum des Denkens wiederzugewinnen, von dem her man imstande ist, das wissenschaftlich-technische Gefüge der gegenwärtigen Welt in Frage zu stellen. Aber wie kann man diesen Spiel-Raum wiedergewinnen? Heute befindet sich die Philosophie gegenüber der Wissenschaft in einer schwierigen Lage. Die so genannten Erfolge der technisierten Wissenschaft sind so verblüffend, dass sie keiner Rechtfertigung oder Ermächtigung bedarf. Die Wissenschaft funktioniert von selbst und braucht, um zu funktionieren, nur sich selbst. Sie ist sozusagen die ganze Philosophie, die sie braucht. Im berühmten Spiegel-Gespräch stellt Heidegger fest: „Es funktioniert alles. Das ist gerade das Unheimliche, daß es funktioniert und daß das Funktionieren immer weiter treibt zu einem weiteren Funktionieren und daß die Technik den Menschen immer mehr von der Erde losreißt und entwurzelt.“ 12 Wenn alles funktioniert, wird die Philosophie scheinbar überflüssig. In der Tat kann sie ihre grundlegende Rolle nicht mehr wahrnehmen, weil sich die Wissenschaft als die schon entschiedene Grund-Tatsache durchsetzt. Daher wird die Philosophie zur Wissenschaftsphilosophie: Sie setzt notwendig die Wissenschaft voraus und versieht diese dann „mit einem Grund (der keiner ist) und einem Sinn (dem die Besinnung fehlt)“. 13 Wenn die Philosophie vom herrschaftlichen Wissen zur ancilla scientiae wird, kann sie keine echte Philosophie sein, weil die philosophische Grundlegung aus sich selbst stammen muss und keine Voraussetzung verträgt. Bestenfalls verlangt man, wenn die Philosophie nicht liquidiert wird, dass sie ihrerseits funktioniert und z. B. Zwecke und Richtungen für die Technik festsetzt oder - sich als Kulturgut behauptend - historische Informationen über die Stellungnahmen der Philosophen bereitstellt. Aber damit wird nicht eigentlich ein Spiel-Raum des Denkens geschaffen. Wie kann man also die Resultate der Technik in Frage stellen? Wie kann man den Spiel-Raum des Fragens im „Zeitalter der völligen Fraglosigkeit“ 14 offen halten? Die Leitfrage unserer Überlegung könnte lauten: Ist die Wissenschaft wirklich so absolut (im etymologischen Sinne verstanden: losgebunden von jeder Bindung)? Ist sie wirklich so un-bedingt, wie sie sich selbst einschätzt? Hat sie sich völlig von der Philosophie befreit? Im schon zitierten Vortrag Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens betont Heidegger: 12 GA 16, S. 669-670. 13 GA 65, S. 142. 14 Ebd., S. 124. „Die Begriffe jeden Tag neu denken“ 167 Die Wissenschaften [reden] bei der unumgänglichen Supposition ihrer Gebietskategorien immer noch vom Sein des Seienden. Sie sagen es nur nicht. Sie können zwar die Herkunft aus der Philosophie verleugnen, sie jedoch nie abstoßen. Denn immer spricht in der Wissenschaftlichkeit der Wissenschaften die Urkunde ihrer Geburt aus der Philosophie. 15 Die Wissenschaft übersieht die entscheidenden Implikationen ihrer Herkunft aus der Philosophie - einer Wesensherkunft, die immer eine Wesenszukunft bleibt. 16 Bestenfalls macht sie diese Herkunft zu einem Forschungsobjekt der Historie, doch damit stellt sie sich nicht grundsätzlich infrage. Das Zeitalter der Wissenschaft versteht sich selbst - nach Max Weber - als Zeitalter der Entzauberung. Da es aber nichts von seiner Herkunft und von seiner Zukunft weiß, da es in seiner Entwurzelung darüber keine Fragen stellen kann, ist es das Zeitalter „der völligen Verzauberung“. 17 Um diese Verzauberung aufzulösen, muss man die philosophische Herkunft der Wissenschaft erkennen. Aber wie und wodurch? Eine Möglichkeit besteht vielleicht darin, zur neuzeitlichen Geburt der Wissenschaft zurückzukehren. Galileo Galilei schreibt im 6. Kapitel des Saggiatore: Die Philosophie steht in diesem großen Buch geschrieben, dem Universum, das unserem Blick ständig offen liegt. Aber das Buch ist nicht zu verstehen, wenn man nicht zuvor die Sprache erlernt und sich mit den Buchstaben vertraut gemacht hat, in denen es geschrieben ist. Es ist in der Sprache der Mathematik geschrieben, und deren Buchstaben sind Kreise, Dreiecke und andere geometrische Figuren, ohne die es dem Menschen unmöglich ist, ein einziges Wort davon zu verstehen; ohne diese irrt man in einem dunklen Labyrinth herum. 18 René Descartes nimmt im Discours de la méthode die Klarheit und die Exaktheit der Mathematik zum Vorbild der wahren Erkenntnis und zum Leitbild des philosophischen Fragens. Der Satz, nach dem das Wahre mathematischer Prägung ist, ist kein physikalischer oder mathematischer Satz, sondern ein philosophischer, und mithin ein echter Grund-Satz. Der mathematische Charakter der Natur ist keine Wahrheit, die sozusagen vom Himmel fällt, sondern verdankt sich einer grundsätzlichen philosophischen Entscheidung des neuzeitlichen Menschen in Bezug auf seine (Grund-)Erfahrung von Gott, von der Welt und mithin vom menschlichen Dasein. Nur deshalb kann sich die Wissenschaft als Bezugspunkt der Philosophie präsentieren. Genügt es aber, zur neuzeitlichen Geburt der Wissenschaft zurückzukehren, um den Vorrang der Wissenschaft in Frage zu stellen und folglich einen echten Spiel-Raum des Denkens zu schaffen? Wie man bei Descartes sieht und wie auch Hegel in der oben erwähnten Textstelle der Phänomenologie des Geistes unterstrichen hat, entspringt die neuzeitliche Philosophie der Frage nach den 15 GA 14, S. 73. 16 Vgl. dazu GA 9, S. 323 und GA 12, S. 91. 17 GA 65, S. 124. 18 Galileo Galilei: Il saggiatore, a cura di Ottavio Besomi e Mario Helbing, Editrice Antenore, Roma-Padova 2005, S. 119-120 (meine Übs.). Francesco Cattaneo 168 Erkenntnismöglichkeiten des Menschen. Wie kann der Mensch, verstanden als Subjekt, das Objekt treffen? Wie kann die Erkenntnis eine wahre Erkenntnis sein? Der methodische oder auch hyperbolische Zweifel Descartes’ bringt die Anwendung eines erkenntnistheoretischen Ansatzes mit sich, der die Subjekt- Objekt-Beziehung voraussetzt. Im Unterschied zur mutmaßlichen Unmittelbarkeit des griechischen Denkens ist das vorstellende Subjekt der Ausgangspunkt der neuzeitlichen Philosophie. Wenn aber in der Kybernetik „das Operationale und Modellhafte des vorstellend-rechnenden Denkens [...] zur Herrschaft“ gelangt, dann ist sie eine wesentliche Entwicklung der neuzeitlichen, auf dem mathematisch vorstellenden Subjekt gründenden Philosophie. Die Rückkehr zur neuzeitlichen Geburt der Wissenschaft reicht nicht aus, um die Resultate der Technik wieder in Frage zu stellen und so einen Spiel-Raum des Fragens zu stiften. Was jetzt nötig scheint, ist die Problematisierung des Begriffs vom Subjekt und zugleich der gründenden Funktion der Philosophie. Aber welchen Weg sollten wir dazu begehen? In einer der angeführten Textstellen hat uns Heidegger schon eine Richtung angezeigt. Wenn die ganze abendländische Philosophie griechischer Herkunft ist, dann sollten wir unsere Aufmerksamkeit auf den griechischen Anfang richten. Das griechische Denken erfasst das Sein zweideutig. Paragraph 20 von Heideggers Einführung in die Metaphysik trägt einen erhellenden Titel: „Das griechische Seinsverständnis: Sein als Ständigkeit im Doppelsinne von φύσις und οὐσία.“ 19 Am Ende des Paragraphen liest man: „Sein“ sagt für die Griechen: die Ständigkeit in dem Doppelsinne: das In-sich-stehen als Ent-stehendes ( φύσις ), als solches aber „ständig“, d. h. bleibend, Verweilen ( οὐσία ). 20 Dieser Doppelsinnigkeit des Seinsverständnisses entspricht eine Doppelsinnigkeit der Wahrheitsauffassung. Die Griechen haben für Wahrheit zwei Wörter: Zum einen ἀλήθεια und zum anderen ὁµοίωσις. Die metaphysische Überlieferung hat diese Doppelsinnigkeit zugunsten des Seins als οὐσία , als das Bleibende und Verweilende, und der Wahrheit als ὁµοίωσις, als Übereinstimmung, aufgelöst. Dieser anfänglichen Entscheidung ist die ganze abendländische Philosophie entsprungen, eine Philosophie, die auf der Anwesenheit, auf dem anwesenden Seienden beruht. Die Metaphysik fragt, vom Seienden her, nach dem Sein dieses Seienden (nach seiner Seiendheit); sie übersteigt das Seiende zugunsten seines Seins und kehrt dann zum Seienden zurück, um es im Lichte seines Seins zu greifen. Der Leitfaden des metaphysischen Fragens bleibt stets das vorliegende Seiende in seiner Anwesenheit. Und die Anwesenheit wird im Sinne des mit sich selbst ständig identisch Bleibenden verstanden. Hierher rührt der metaphysische Grundgegensatz von Ewigkeit und Zeit. Die Ewigkeit als nunc stans ist die Verlängerung des anwesenden Augenblicks, der verweilt und nicht vergeht. Der Vorrang des anwesenden Seienden bestimmt auch die 19 GA 40, S. 63. 20 Ebd., S. 68. „Die Begriffe jeden Tag neu denken“ 169 onto-theo-logische Verfassung der Metaphysik. 21 In der Tat ist die Metaphysik einerseits Ontologie, weil sie den Grundcharakter des Seienden, also die Kategorien, als das Generellste, als das, was für alle Seienden ständig gültig ist, denkt; und andererseits Theologie, weil sie die höchste Gestaltung des Seienden, also das vollkommene Seiende (Gott), denkt. Die Anwesenheit bleibt in wandelnder Gestalt das Leitmotiv der abendländischen Philosophie. In ihrem Rahmen wird die Wahrheit als adaequatio intellectus et rei, als Angleichung bzw. Übereinstimmung von Intellekt bzw. erkennendem Verstand und Sache bzw. Gegenstand, verstanden. Im Übergang von der Antike zur Moderne geschieht eine Umkehrung. In der Antike ist das Subjekt ( ὑποκείμενον ) das, das den Kern (das Wesen) der Sache bildet und ihr erlaubt, ungeachtet des Wandels der Akzidenzien es selbst zu bleiben. In der Moderne handelt es sich um das erkennende Subjekt, das in Abhängigkeit von den Bedingungen der Möglichkeit seiner Erkenntnis das Objekt konstituiert. Die adaequatio intellectus ad rem wird zur adaequatio rei ad intellectum. Gleichzeitig wandelt sich die Wahrheit von der Richtigkeit (rectitudo) der Vorstellung zur Gewissheit (certitudo) des Subjekts und endlich zur Aufstellung des Willens zur Macht (also zum vom Willen zur Macht gestellten Wert). Im Aufsatz Zur Frage nach der Bestimmung der Sache des Denkens fragt Heidegger: Inwiefern ist die Bestellbarkeit die letzte Phase in der Geschichte des Wandels der Anwesenheit? Kein Mensch kann darüber entscheiden, ob nicht noch weitere Wandlungen bevorstehen. Wir wissen die Zukunft nicht. Allein, um die Bestellbarkeit als die letztmögliche Phase im geschichtlichen Wandel der Anwesenheit zu bestimmen, bedarf es keines prophetischen Blickes in die Zukunft. Der Einblick in die Gegenwart genügt, wenn er nur, statt Weltzustand und Lage des Menschen zu beschreiben, darauf achtet, die Art der Anwesenheit des Menschen und der Dinge in einem mit der Anwesenheit des Menschen zu den Dingen zu erblicken. Dann zeigt sich: In der Herrschaft der Bestellbarkeit des Anwesenden, in ihr selbst, kommt die Macht des herausfordernden Stellens zum Vorschein, insofern sie vor allem den Menschen selbst daraufhin stellt, alles Anwesende und somit sich selber in seiner Bestellbarkeit sicherzustellen. 22 Heidegger bestimmt die Bestellbarkeit (also die grenzenlose kybernetische Steigerung der Kontrollierbarkeit) als „die letzte Phase in der Geschichte des Wandels der Anwesenheit“. Es handelt sich um die letzte Phase, weil es, nach der oben erwähnten Umkehrung der Bedeutung des Subjektes und nach seiner Auffassung im Lichte einer Philosophie des Willens, keine anderen Möglichkeiten für die metaphysisch ergriffene Anwesenheit gibt. Die Umkehrung der Umkehrung wäre in der Tat eine bloße Rückkehr zur Vergangenheit. Von der Anwesenheit her verstanden, ist die metaphysische Gründung eine Vereinheitlichung des Seienden, weil sie alles Seiende auf eine ständig vorliegende und bleibende Grundlage, auf ein fundamentum absolutum et incon- 21 Vgl. GA 11, S. 51-79. 22 GA 16, S. 627. Francesco Cattaneo 170 cussum zurückführt. Das Mannigfaltige und das Einzelne werden durch eine Verallgemeinerung auf das Eine eingeschränkt: Sie werden einer grundsätzlichen reductio ad unum untergezogen. In der letzten Phase der Geschichte des Wandels der Anwesenheit - der Phase der Kybernetik als unbedingter Selbstbehauptung des Willens zur Macht (oder des Willens zum Willens, des Willens zum Sich-Steigern des Willens) - wird die Vereinheitlichung zur „totalen Mobilmachung“, 23 im Rahmen von deren Planung sich die Natur in Bestand und der Mensch in Massenmensch verwandelt. Diese Art Vereinheitlichung können wir auch die Globalisierung nennen, also die Verbreitung der abendländischen technisierten Wissenschaft auf der ganzen Welt. Nach Heidegger endet die abendländische Philosophie als „Einrichtung einer wissenschaftlich-technischen Welt und der dieser Welt gemäßen Gesellschaftsordnung“. 24 Am Ende der Geschichte des Wandels der Anwesenheit - also am Ende der Geschichte der Philosophie - hat das Abendland die Möglichkeit, eine neue Empfänglichkeit gegenüber der griechischen Erfahrung der Anwesenheit reifen zu lassen. Das ist die entscheidende Aufgabe, die Heideggers Denken übernommen hat und die weiterzuführen in unserer Verantwortung liegt. Das Ende erlaubt, den griechischen Anfang zu wiederholen. Aber diese Wiederholung ist keine bloße Wiederholung des Gleichen, keine Wiedereinführung der Vergangenheit. Um zu erkennen, dass die Möglichkeiten der metaphysischen Auffassung der Anwesenheit erschöpft sind, müssen wir schon die Winke eines anderen Anfangs erblicken. Wie Heidegger schreibt, ist „das Ende [...] als Ende erst sichtbar aus dem neuen Anfang“. 25 Dieser andere Anfang kehrt dem ersten Anfang nicht den Rücken, sondern kann, indem er die Vollendung des ersten Anfangs als Kybernetik ahnt, zum ersten Anfang anders zurückkehren. Solche Andersartigkeit besteht eigentlich darin, dass die Zweideutigkeit des griechischen Verständnisses des Seins völlig entfaltet wird. Die οὐσία, die Anwesenheit als das ständig und bleibend Vorliegende, wird jetzt explizit in ihre Verwurzelung in der φύσις als dem Ent-stehenden und Entspringenden erfahren. Die so verstandene φύσις drückt die entbergende Dynamik, die ursprüngliche Spannung aus, welche die οὐσία durchherrscht. Die ἀλήθεια erscheint ihrerseits als das ursprüngliche Phänomen des Sich-Eröffnens und des Sich-Aufschließens, von dem her erst das Seiende an-west und dann als Gegenstand der Vorstellung behandelt werden kann. Das Wort ἀλήθεια beginnt mit einer Negation. Heideggers denkende Übersetzung dieses Wortes lautet: Un-verborgenheit. Durch diese Übersetzung bringt Heidegger jene wesentliche Negation zutage, die im griechischen Wort nur stillschweigend enthalten ist. In der Wiederholung des ersten Anfangs wird die zur ἀλήθεια gehörende Negation zu einem Wink, der zu dem Gedanken einlädt, dass jede Anwesenheit ständig mit der Abwesenheit verbunden bleibt, dass also Anwesenheit und Abwesenheit gleichursprünglich sind. „Abwesen entbirgt Anwesen / Tod erbringt 23 GA 65, S. 143. 24 GA 14, S. 73. 25 GA 6.1, S. 211. „Die Begriffe jeden Tag neu denken“ 171 Nähe“, schreibt Heidegger. 26 Die Griechen haben die Erfahrung der ἀλήθεια gemacht. Deswegen sind sie für Heidegger sozusagen Phänomenologen ante litteram. Aber sie haben diese Erfahrung, bzw. ihre innere Spannung und ihren inneren Streit, nicht ausdrücklich thematisiert. Sie verweilten bei der hellen Seite des Phänomens und vernachlässigten die andere, die nächtliche Seite, weil bei ihnen das Staunen über die Anwesenheit des Seienden überwog. Die Griechen verstanden die Anwesenheit somit als „eine starre Bühne mit ständig aufgezogenem Vorhang“ 27 und nicht in ihrer Gleichursprünglichkeit mit der Abwesenheit. In der Kunstwerk-Abhandlung betont Heidegger: Die verborgene Geschichte der griechischen Philosophie besteht seit ihrem Anfang darin, daß sie dem im Wort ἀλήθεια aufleuchtenden Wesen der Wahrheit nicht gemäß bleibt und ihr Wissen und Sagen vom Wesen der Wahrheit mehr und mehr in die Erörterung eines abgeleiteten Wesens der Wahrheit verlegen muß. Das Wesen der Wahrheit als ἀλήθεια bleibt im Denken der Griechen und erst recht in der nachkommenden Philosophie ungedacht. Die Unverborgenheit ist für das Denken das Verborgenste im griechischen Dasein, aber zugleich das von früh an alles Anwesen des Anwesenden Bestimmende. 28 Doch welche Implikationen hat diese Wiederholung des griechischen Anfangs? Welche sind die - noch unsichtbaren und zukünftigen - Grundzüge des Denkens im anderen Anfang? In der Wiederholung der φύσις und der ἀλήθεια tritt die Verweigerung des Seins zutage. Aufgrund dieser Verweigerung und dieses Entzugs kann das Sein nicht nach dem Leitfaden des vorliegenden Seienden gedacht werden. Die Leitfrage der Metaphysik, die nach dem Sein des Seienden fragt, muss zugunsten der Grundfrage, die nach dem Sein selbst fragt, aufgegeben werden. Das Sein unterscheidet sich vom Seienden, weil es sich im Seienden entzieht. Da das Sein kein Seiendes ist, ist das Sein gleichursprünglich mit dem Nichts. Der Gleichursprünglichkeit des Seins und des Nichts entspringt der grundsätzliche Entzug des Seins. Aber der Unterschied zwischen Sein und Seiendem bedeutet nicht, dass sich das Sein anderswo in Bezug auf das Seiende befindet. Das Sein ist das Offene als Dimension des Streits zwischen Entbergung und Verbergung, zwischen Welt und Erde. Die Offenheit des Seins, oder das Sein als „Lichtung für das Sichverbergen“, 29 ereignet sich als diese Spannung, die es jetzt erlaubt, das Seiende „aus der Wahrheit des Seyns“ zu verstehen 30 , und zwar so, dass das Sein sich in ihm birgt. Die Un-verborgenheit ist das ursprüngliche Phänomen, weil ihr nichts vorangeht. Sie ist das reine Erscheinen, dank dessen eine Welt welten kann. Aber die Unverborgenheit als Sich-Erschließen einer Welt entfaltet sich nur durch das menschliche Denken. Im Rahmen der Unverborgenheit kann das menschli- 26 GA 13, S. 183. 27 GA 5, S. 41. 28 Ebd., S. 37-38. 29 GA 65, S. 29. In einer Randbemerkung zum Brief über den „Humanismus“ spricht Heidegger von der „Lichtung als Lichtung des sichverbergenden Bergens“. GA 9, S. 352. 30 GA 65, S. 11. Francesco Cattaneo 172 che Denken kein Vorstellen von etwas Vorhandenem sein: Es nimmt an dem Sich-Erschließen des ursprünglichen Phänomens teil, indem es dieses übernimmt und stützt. Also handelt es sich um eine grundsätzliche Teilnahme am Sein. In den Beiträgen zur Philosophie erklärt Heidegger diese Teilnahme folgendermaßen: „Das Seyn braucht den Menschen, damit es wese, und der Mensch gehört dem Seyn, auf daß er seine äußerste Bestimmung als Da-sein vollbringe.“ 31 Deswegen charakterisiert Heidegger das Ereignis als „Gegenschwung des Brauchens und Zugehörens“. 32 Das Ereignis hat eine Kehre- Struktur: Es handelt sich um den Gegenschwung des ereignenden Zuwurfs (des Seins) und des ereigneten Entwurfs (des Daseins). Das Dasein findet sich immer im Da, in der Lichtung des Seins, aber dieses „Sich-Finden“ ist aktivtransitiv zu verstehen: Der Mensch, als Dasein, muss dieses Da sein, das heißt offen halten. 33 Im Ereignis-Denken wird der metaphysische Grund aufgegeben und die Gleichursprünglichkeit von Grund und Abgrund erkannt. Doch wenn dies geschieht, erschöpft sich der metaphysische Drang zur Vereinheitlichung. Das Sein kann nicht als das Generellste oder als das höchste Seiende verstanden werden. Darüber denkt Heidegger im § 29 der Beiträge zur Philosophie nach, dessen Titel „Das anfängliche Denken (Die Frage nach dem Wesen)“ lautet: Im Bereich der Leitfrage ist die Auffassung des Wesens von der Seiendheit ( οὐσία - κοινόν ) her bestimmt; und die Wesentlichkeit des Wesens liegt in seiner größtmöglichen Allgemeinheit. Das besagt in der Gegenrichtung: das Einzelne und Mannigfaltige, was unter den Wesensbegriff rückt und von wo aus dieser angesetzt wird, ist beliebig; ja gerade die Beliebigkeit des Seienden, die dennoch und gerade die Zugehörigkeit zum Wesen anzeigt, ist wesentlich. Wo dagegen das Seyn als Ereignis begriffen wird, bestimmt sich die Wesentlichkeit aus der Ursprünglichkeit und Einzigkeit des Seyns selbst. Das Wesen ist nicht das Allgemeine, sondern die Wesung gerade der jeweiligen Einzigkeit und des Ranges des Seienden. Die Wesensfrage enthält in sich das Entscheidungshafte, das jetzt von Grund aus die Seinsfrage durchherrscht. Entwurf ist Rangsetzung und Entscheidung. Der Grundsatz des anfänglichen Denkens lautet daher gedoppelt: alles Wesen ist Wesung. Alle Wesung bestimmt sich aus dem Wesentlichen im Sinne des Ursprünglich- Einzigen. 34 Die „Einzigkeit des Seyns“ ist völlig verschieden von der Einheitlichkeit des metaphysisch verstandenen Seins. Während die Einheitlichkeit immer das Gleiche bleibt, ereignet sich die Einzigkeit jedes Mal aufs Neue: Es handelt sich mit den Worten Heraklits und Hölderlins um das in sich verschiedene Selbe. „We- 31 Ebd., S. 251. 32 Ebd. 33 Vgl. dazu ebd., S. 293 ff. (insbesondere § 173). 34 Ebd., S. 66. „Die Begriffe jeden Tag neu denken“ 173 sen“ muss jetzt als Zeitwort begriffen werden. Daher spricht Heidegger von der Wesung, in der der dynamische und offene Charakter des aus der Wahrheit des Seins gedachten Wesens hervorgehoben wird. Die Einzigkeit der Wesung des sich ereignenden Seyns ist eigentlich geschichtlich und die Geschichte ist die Dimension der Entscheidung. Der andere Anfang ist eine Entscheidungsstätte. Er bewegt sich notwendig im Strom der Überlieferung: Er muss das Gespräch übernehmen, das die Zugehörigkeit zur Geschichte auferlegt. Die Zugehörigkeit zur Geschichte verlangt, dass man Entscheidungen trifft. Dieses Entscheidungen treffende geschichtliche Gespräch entfaltet sich als Wiederholung. Indem der andere Anfang den ersten wiederholt, bezieht er zu ihm Stellung. Dadurch nehmen beide - der erste und der andere Anfang - Gestalt an. Diese Wechselseitigkeit des ersten und des anderen Anfangs nennt Heidegger „das Zuspiel“, das in den Beiträgen eine der sechs Fügungen der Fuge des Ereignis-Denkens darstellt. 35 „Nur im Bedenken des anderen Anfangs spielt sich die bisherige Geschichte des Denkens als Geschichte des ersten Anfangs zu, und umgekehrt, nur im Bedenken dieser Geschichte spielt sich der andere Anfang in seiner Möglichkeit zu“. 36 Im geschichtlichen Gespräch muss der andere Anfang entscheiden, was der erste Anfang sei, und er kann das nur durch den Zuspruch des ersten Anfangs. Die Entscheidung, die sich im anderen Anfang andeutet, ist die Entscheidung zwischen der Erfahrung der ἀλήθεια als „Offenheit ohne Entzug“ (oder Anwesenheit ohne Abwesenheit) und der Erfahrung der Unverborgenheit als „Offenheit mit Entzug“ (oder Anwesenheit mit Abwesenheit). Über die Wiederholung des ersten Anfangs sagt Heidegger im § 33 der Beiträge: Gerade wer die Seinsfrage begriffen und ihre Bahn einmal zu durchmessen wirklich versucht hat, kann von der „Antike“ und ihrem Gefolge nichts mehr erhoffen, es sei denn die furchtbare Mahnung, erst wieder das Fragen in den selben Grund der Notwendigkeit zu verlegen, nicht jener erstmaligen, endgültig gewesenen und nur so wesenden. Vielmehr heißt hier „Wiederholung“, das selbe, die Einzigkeit des Seyns, wieder und somit aus einer ursprünglicheren Wahrheit zur Not werden zu lassen. „Wieder“ besagt hier gerade: ganz anders. 37 Durch die geschichtliche Wiederholung der ἀλήθεια wird diese als Unverborgenheit, also als eine ursprünglichere Wahrheit, erfahren. Die „Antike“ übersendet eine „furchtbare Mahnung“, weil sie im Rahmen des geschichtlichen Gesprächs die Denkenden an das Sein als Zu-Denkendes, an das Sein als die immer selbe Sache des Denkens bindet. 38 Doch damit zwingt die „furchtbare 35 Vgl. darüber ebd., § 39. 36 Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Heideggers Philosophie der Kunst. Eine systematische Interpretation der Holzwege-Abhandlung „Der Ursprung des Kunstwerkes“, Frankfurt a. M. 1994, 2. überarb. und erw. Auflage (1. Auflage 1980), S. 12. Heidegger schreibt: „Der Einsprung in den anderen Anfang ist der Rückgang in den ersten und umgekehrt“ (GA 65, S. 185). 37 GA 65, S. 73. 38 Vgl. dazu GA 9, S. 335. Francesco Cattaneo 174 Mahnung“ die im Augenblick verwurzelten Denkenden auch, ihre Geschichtlichkeit durch eine Auseinandersetzung mit dem Gewesenen zu übernehmen. Im § 1 der Beiträge präzisiert Heidegger in Bezug auf das Denken des anderen Anfangs: Im Wissen des übergänglichen Denkens bleibt der erste Anfang entscheidend als erster und ist doch überwunden als Anfang. Für dieses Denken muß die klarste und seine Einzigkeit erst erschließende Ehrfurcht vor dem ersten Anfang zusammengehen mit der Rücksichtslosigkeit der Abkehr eines anderen Fragens und Sagens. 39 Das Zusammenpassen von Ehrfurcht und Rücksichtslosigkeit ist das Kennzeichen der Entfaltung einer geschichtlichen Auseinandersetzung. Aber das Bemerkenswerteste an der soeben angeführten Textstelle ist der Hinweis auf den Sachverhalt, dass der andere Anfang erst die Einzigkeit des ersten Anfangs erschließt. Was soll das genau bedeuten? Im § 44 der Beiträge, der den Titel „Die ‚Entscheidungen‘“ trägt, verzeichnet Heidegger die Entscheidungen, die beim Übergang vom ersten zum anderen Anfang getroffen werden. Eine dieser Entscheidungen betrifft die Frage, „ob das Seiende das Sein als sein ‚Generellstes‘ nimmt und damit der ‚Ontologie‘ ausliefert und verschüttet oder ob das Seyn in seiner Einzigkeit zum Wort kommt und das Seiende als Einmaliges durchstimmt“. 40 Der andere Anfang ist der Entfaltungs-Raum der ursprünglichen Geschichtlichkeit bzw. der Einzigartigkeit und Einmaligkeit des sich ereignenden Seyns. Daher sind die Zukünftigen, die den anderen Anfang, ihn vorbereitend, übernehmen, „die Einmaligen“. Richtig verstanden ist der andere Anfang kein Entscheidungsbereich im Sinne der metaphysischen Grund-Entscheidungen und Grund-Stellungen. Der Entscheidungsbereich des anderen Anfangs ist einzigartig. Diese Einzigartigkeit liegt darin, dass sich im anderen Anfang der Verweigerungscharakter des Seins ankündet. Mit dem Verweigerungscharakter des Seins entfaltet sich völlig die offene Spannung des Ereignisses. Das vom Ereignis her verstandene Sein ist das Freie, das die Unumgänglichkeit selbst der Entscheidung und die Notwendigkeit selbst der Geschichte begründet. In diesem Freien wird die Freiheit des Menschen am angemessensten geborgen. Im anderen Anfang ereignet sich das Sein als abgründige Gründung, als das Geheimnis des Reinentsprungenen. 41 Anders gesagt ereignet sich im anderen Anfang die sich durch das Dasein erschließende geschichtliche Wesung der sich-bergenden Einzigartigkeit des Seins. Im Unterschied zum ersten Anfang bleibt der andere Anfang wesentlich anfänglich. Der andere Anfang ist die Entfaltung der unaufhörlichen Anfänglichkeit des Seins als Ereignis. Im § 91 („Vom ersten zum anderen Anfang“) der Beiträge erklärt Heidegger: 39 GA 65, S. 6. 40 Ebd., 90-91. 41 Vgl. dazu Friedrich Hölderlin, Der Rhein, V. 46, in Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente, hg. v. Dietrich E. Sattler, München 2004, Bd. 9, S. 225. „Die Begriffe jeden Tag neu denken“ 175 Der erste Anfang erfährt und setzt die Wahrheit des Seienden, ohne nach der Wahrheit als solcher zu fragen, weil das in ihr Unverborgene, das Seiende als Seiendes, notwendig alles übermächtigt, weil es auch das Nichts verschlingt und als „Nicht“ und Gegen in sich einbezieht oder ganz vernichtet. Der andere Anfang erfährt die Wahrheit des Seyns und fragt nach dem Seyn der Wahrheit, um so erst die Wesung des Seyns zu gründen und das Seiende als das Wahre jener ursprünglichen Wahrheit entspringen zu lassen. Jedesmal ist im Anfänglichen dieser Anfänge, und zwar ganz verschieden, alles Schulmäßige unmöglich und das Übergängliche der eigentliche Kampf. Aber jedesmal besteht auch die Gefahr, daß, wo immer aus dem Anfang ein Beginn und Fortgang wird, diese sich als Maßstäbliches zur Geltung bringen, von dem aus das Anfängliche nicht nur abgeschätzt, sondern auch ausgelegt wird. Aus dem ersten Anfang beginnt sich das Denken zunächst unausgesprochen und dann eigens so gefaßt als Frage: was ist das Seiende? zu verfestigen (die Leitfrage der damit beginnenden abendländischen „Metaphysik“). Aber irrig wäre die Meinung, die diese Leitfrage im ersten Anfang und als Anfang antreffen wollte. Nur zur groben und ersten Unterweisung kann der erste Anfang mit Hilfe der „Leitfrage“ in seinem Denken gekennzeichnet werden. Andererseits geht aber auch das Anfängliche des Anfangs verloren, d. h. es zieht sich in das Unergründete des Anfangs zurück, sobald die Leitfrage für das Denken maßgebend wird. 42 Mit der Entmachtung der φύσις durch die platonische ἰδέα, mit dem Sich- Durchsetzen der Leitfrage und folglich mit dem Beginn der Metaphysik verliert der erste Anfang seinen echten anfänglichen Charakter, der unerkennbar bleibt. 43 Das Ereignis-Denken des anderen Anfangs ermöglicht es, dem ersten Anfang seinen anfänglichen Charakter zurückzugeben. Damit kann die griechische Philosophie als die Art, in der das Sein „zuerst das Griechentum, und nur dieses, in Anspruch genommen hat“, anerkannt werden. Durch diese Anerkennung, die zum Griechischen zurückkehrt, indem sie „über das Griechische hinaus“ 44 geht, erscheint die Philosophie und somit auch ihre Vollendung durch Nietzsches Willen zum Willen und die Machenschaft der Technik als eine geschichtliche Möglichkeit der Erfahrung des Seins. Wenn der erste Anfang in seiner eigenen Anfänglichkeit und daher in seiner echten „geschichtegestaltenden“ 45 Verwurzelung erkannt wird, verliert die Technik grundsätzlich ihren unbedingten und absoluten Charakter. Die Geschichtlichkeit des Anfänglichen geht weit über die Globalisierung der Technik, weit über ihre Machenschaft hinaus, indem sie sich der auf der Lichtung des Seins beruhenden Freiheit des Menschen (als Dasein) zuwendet. *** 42 GA 65, S. 179-180. 43 Ebd., S. 174. 44 GA 14, S. 88. 45 GA 50, S. 24. Francesco Cattaneo 176 Unter den Entscheidungen, die den anderen Anfang begleiten, gibt es auch die Entscheidung, „ob der Mensch ‚Subjekt‘ bleiben will oder ob er das Da-sein gründet - / / ob mit dem Subjekt das ‚animal‘ als die ‚Substanz‘ und das ‚rationale‘ als ‚Kultur‘ dauerfähig bleiben soll oder ob die Wahrheit des Seyns [...] im Da-sein eine werdende Stätte findet“. 46 Im anderen Anfang ist das Dasein die Stätte für die Entfaltung des Seins in seiner Verweigerung. Das Denken ist jetzt keine Richtigkeit der Vorstellung, sondern die Inständigkeit im Sein als eines Freien: Dem Anspruch des Seins als Zu-denkendes entsprechend lässt das Denken sich vom Sein rufen. Aber der Zuruf des Seins ereignet sich in der geschichtlichen Anfänglichkeit. Das Denken als Seinsverständnis muss im anderen Anfang eigentlich anfänglich sein; es muss, im Rahmen der Notwendigkeit der geschichtlichen Entscheidung, die Einzigartigkeit seines Seinsverhältnisses immer wieder neu erwecken und erfahren. Anfänglichkeit besagt hier weder das bloß Neue, „weil dieses das flüchtig nur Gestrige“ 47 ist, noch das Ewige, denn dieses wird gerade nicht aus der Geschichte „heraus- und weg-gestellt“: 48 Es handelt sich hingegen um das Ursprüngliche, um den abgründigen Sprung des Seins. Im anderen Anfang entfaltet sich das Denken als grundsätzliche Wiederholung. „Wieder“ besagt „ständig anders“, ausgehend von der eigenen Geschichtlichkeit als Entscheidungsstätte. Das im Offenen innestehende Denken ist der Unerschöpflichkeit des Zwangs der Phänomene 49 ausgesetzt. Das sich ständig anders wiederholende Denken bleibt, wie das sich verweigernde Sein, immer im status nascens. Das Wiederholen als „Verharren beim Selben“ ist also das „Zeugnis der echten Inständlichkeit des anfänglichen Denkens“, 50 eine Inständlichkeit, die im Fragen besteht. Der Satz „Wir müssen die Begriffe jeden Tag neu denken“ drückt den Auftrag dieser phänomenologischen Wiederholung aus, die sich auch gegen sich selbst richten muss, so dass sich die Begriffe der phänomenologischen Aufweisung, anstatt zu Formeln zu werden, von den Phänomenen selbst weiter nähren können. In diesem Sinne muss Heideggers Maxime nicht nur im Lichte des phänomenologischen Ansatzes gedeutet, sondern als ein entscheidender Leitsatz der hermeneutischen Phänomenologie betrachtet werden, und zwar in Einklang mit dem anderen berühmten phänomenologischen Leitsatz „Zu den Sachen selbst! “. Die phänomenologische Wiederholung der Begriffe fordert eine vollständige Verwandlung ihrer metaphysischen Prägung. Metaphysisch ist der Begriff das Allgemeinste (und also das Leerste), 51 das für alle einzelnen Fälle Geltende. Aber da sich im anderen Anfang das Verhältnis von Allgemeinheit und Einzelheit verändert, muss sich auch das Wesen des Begriffs (zusammen mit dem 46 GA 65, S. 90. 47 Ebd., S. 55. 48 Ebd. 49 GA 26, S. 237. 50 GA 65, S. 82. 51 Ebd., S. 137. „Die Begriffe jeden Tag neu denken“ 177 Begriff des Wesens) verändern. 52 Genau in diesem Sinn sollten wir Heideggers Gespräch mit den Dichtern verstehen. Damit bringt Heidegger das Wesen der Sprache ins Spiel - eine Sprache, die kein Mittel, sondern das „Haus des Seins“ 53 ist, und die den Übergang von der Logik zur Sigetik 54 erfordert. Auch das ist eine der Grundentscheidungen des anderen Anfangs. 52 Vgl. dazu GA 8, 215 ff. und GA 9, S. 357. 53 GA 9, S. 333. 54 Vgl. dazu GA 65, §§ 37-38. Ferdinando G. Menga Repräsentation und Entzug Phänomenologische Wege zwischen Fragen und Antworten • In seinem Vorwort zu Angelo Hesnards Buch über Freuds Werk stellt Maurice Merleau-Ponty 1 eine auf einer tiefgreifenden Wechselbeziehung beruhende innere Verbindung zwischen Phänomenologie und Psychoanalyse heraus. Er bestimmt sie als eine „Konsonanz“ oder „Affinität“, die nicht nur auf einem geteilten Interesse dafür beruhe, was sich in der menschlichen Erfahrung in ihrer Ursprünglichkeit offenbart, sondern auch auf einem anderen Element: ein gemeinsames „sich ausrichten“ auf dieses Ursprüngliche als einen durch eine konstitutive „Latenz“ charakterisierten Ort. 2 Während hier auf jegliche Diskussion und Untersuchung hinsichtlich der Psychoanalyse verzichtet werden soll, liefert dieser wertvolle Hinweis Merleau- Pontys m. E. eine auf einer Entzogenheit des Ursprünglichen in der Erfahrung basierende Konnotation der Phänomenologie, die von großer Bedeutung und der Vertiefung würdig ist. Denn wenn es wahr ist, dass die Phänomenologie dem ursprünglichsten Bereich der Erscheinung, mit dem sie ihrer Bestimmung nach immer verbunden bleibt - erinnern wir uns des Mottos ihres Gründers: immer wieder zurück zu den Sachen selbst! -, insbesondere dann begegnet, wenn dieser Bereich in Grenzerfahrungen hervortritt, die ihren ursprünglichen Charakter mehr darin zeigen, was sie verstecken als darin, was sie der Gegebenheit darbieten, scheint sie zwangsläufig in eine ebenso konstitutive wie heikle Situation zu geraten. In anderen Worten fällt die genuinste Bestimmung der Phänomenologie gleichzeitig mit ihrer schwierigsten Aufgabe zusammen. Es handelt sich dabei um eine genuine Bestimmung, insofern im besagten Bereich der Latenz die ursprüngliche Dimension der Erfahrung selbst auf dem Spiel steht, jene Dimension, mit der das Erlebte der Subjektivität einhergeht. Doch gleichzeitig handelt es sich um eine sehr schwierige Aufgabe, da eine solche Latenz das gewöhnliche Vorgehen der Phänomenologie wesentlich in Unruhe versetzt. Denn sie verlangt eine eigentümliche Diskursivität des Denkens, die einen Zugang und eine Entsprechung zum Sichentziehen des Ur- • Anmerkung: Die deutsche Übersetzung des ursprünglich italienischen Typoskripts wurde von Julia Pfefferkorn angefertigt und vom Autor revidiert, ergänzt und überarbeitet. Ein ausdrücklicher Dank gilt Christian Schumacher für seine sorgfältige Assistenz in der Korrektur des Textes. 1 Maurice Merleau-Ponty: Préface, in Angélo Hesnard: L’Œuvre de Freud et son importance pour le monde moderne, Paris 1960. 2 Ebd., S. 8. Ferdinando G. Menga 180 sprünglichen gewährt, ohne es in einer Vergegenständlichung oder Repräsentation zu verraten. Angefangen bei Edmund Husserl haben zahlreiche Phänomenologen großes Feingefühl für diese schwierige Aufgabe des phänomenologischen Denkens gezeigt. In diesem Beitrag möchte ich meine Aufmerksamkeit jedoch auf eine besondere Konfrontation zwischen den Denkwegen zweier Autoren begrenzen, die diese Frage mit vergleichsweise großer Radikalität, aber gegensätzlicher Semantik angegangen sind. Es handelt sich um Martin Heidegger und Bernhard Waldenfels. Wie bekannt gestaltet Heidegger die ursprüngliche Dynamik der Latenz und des Entzugs in der Erfahrung als Seinsphänomen und sucht dementsprechend unaufhörlich und immer von neuem eine Sprache, welche diesem angemessen und der metaphysischen Tradition der Moderne und ihrer objektivierenden Einstellung gegenüber alternativ ist. Denn Heidegger zufolge hat letztere durch ein auf die Repräsentation und Vergegenständlichung fixiertes Denken das Sein stets auf das Seiende reduziert und auf diese Weise den außerontischen und über-repräsentationalen Status vergessen, der ihm gerade aus seinem Charakter der ursprünglichen Entzogenheit heraus zukommt. 3 Dieses Problemszenario entfernt sich nicht weit von dem auch bei Waldenfels umrissenen, welcher das Phänomen eines Entzugs, das sich auf die Erfahrung in ihrer ursprünglichsten Dimension auswirkt, als eine radikale Fremdheit beschreibt. 4 Um genau zu sein, spricht Waldenfels vom Fremden als dem, „was sich nur zeigt, indem es sich entzieht“. 5 Daraus folgt, dass auch er, wie Heidegger, unmittelbar auf die heikle Frage stößt, wie diese ursprüngliche Entzogenheit zu denken und zu sagen ist, ohne sie zu verraten, 6 da die Sprache oder das Denken, das normalerweise mittels des Registers der Repräsentation oder der Objektivierung vorgeht, nicht etwa den Entzug des Fremden bewahrt, sondern das Fremde in einer aneignenden Vergegenwärtigung aufhebt. Die Annäherung von Waldenfels und Heidegger, die ich hier untersuchen möchte, legitimiert sich jedoch auch dank eines anderen entscheidenden Elements: die Wahl desselben Bereichs, in dem sich für die beiden Autoren die Möglichkeit ergibt, das Denken - den logos - anzutreffen, das dieser Dynamik des ursprünglichen Entzugs gerecht werden kann. Dieser diskursive Bereich ist 3 Die Bestimmung der Ursprünglichkeit des Seins als Entzug ist im gesamten Werk Heideggers nachzuverfolgen. Für eine Vertiefung dieser Frage vgl. vor allem Marlène Zarader, Heidegger et les paroles de l’origine, Paris 1986. 4 Vgl. Bernhard Waldenfels: Verfremdung der Moderne. Phänomenologische Grenzgänge, Göttingen 2001, S. 55 f. Ähnlich ders., Bruchlinien der Erfahrung. Phänomenologie - Psychoanalyse - Phänomenotechnik, Frankfurt a. M. 2002, S. 187 f. 5 Waldenfels: Verfremdung der Moderne, S. 37. Ähnlich in ders.: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, Frankfurt a. M. 2006, S. 20. 6 „Damit stellt sich die Frage, wie oder von woher wir vom Fremden sprechen können, ohne ihm seine Fremdheit zu rauben“ (Bernhard Waldenfels: Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden 1, Frankfurt a. M. 1997, S. 50). Repräsentation und Entzug 181 derjenige, in dem die Verbindung zwischen Fragen und Antworten zum Ausdruck kommt. Doch gerade bezüglich des Verhältnisses von Frage und Antwort offenbaren die beiden Autoren ihren größten Gegensatz, den ich in seinen entscheidenden Aspekten zu erläutern und zu diskutieren versuchen werde. Während Heidegger auf den Vorrang der Frage pocht, um einen ursprünglichen Zugang zum Sichentziehen des Seins ausfindig zu machen, entwickelt Waldenfels seinen phänomenologischen Ansatz in der Richtung eines Primats der Antwort als einziger Logik, die dem Sichentziehen des Fremden auf radikale und genuine Weise entsprechen kann. Die Wichtigkeit, diesen Gegensatz zu untersuchen, ergibt sich dadurch, dass er nicht nur die Merkmale eines bloßen Disputs zwischen zwei Interpretationsrichtungen nachzeichnet, sondern auf einer viel tieferliegenden Ebene auf eine Gesamtbewertung der Grundzügen der philosophischen Moderne verweist. In einer Frage formuliert: Kann - und wenn ja, inwiefern - das Register der Repräsentation, über das im Verhältnis zwischen Frage und Antwort entschieden wird, adäquat auf den ursprünglichen Raum der Phänomenalität der Erfahrung und auf seine Dynamik der Entzogenheit zugreifen? 1 Auf dem Fragen beharren. Heidegger und die Überwindung der philosophischen Moderne Beginnen wir bei Heidegger, für den sich das Sein als der ursprüngliche Raum jeder Erscheinung, jedes Geschehens oder Denkens innerhalb der Erfahrung des westlichen Menschen gestaltet, wobei sich letzterer jedoch in keinem Augenblick seiner Geschichte als fähig erwiesen hat, das Sein angemessen zu denken. Dies ist gerade aufgrund des repräsentativen Charakters seines Denkens geschehen, das, da es ausschließlich innerhalb des abgeleiteten Registers der Objektivierung tätig ist und sich lediglich um die Anwesenheit des Anwesenden - des Seienden - sorgt, bisher (wenn auch unbewusst) auch das ursprüngliche Sein als Vorhandenheit behandelt hat. Auf diese Weise hat er sich nicht darauf besonnen, dass das ursprüngliche Register des Seins keinesfalls dasjenige der Präsenz ist, das mit der Re-präsentation in Bezug steht, sondern dasjenige einer Dynamik des Entzugs vor der Präsenz. Diese ursprüngliche Dynamik gibt einerseits dem Seienden seinen Präsenzraum und transzendiert es andererseits unweigerlich kraft dieses Entzugs. Das ist, stark verkürzt, Heideggers kritische These gegen die metaphysische Tradition und vor allem das neuzeitliche Denken, das diese Tradition durch eine Zuspitzung der vorstellenden Einstellung auf den Gipfel bringt. 7 Daraus wird auch deutlich, was in Heideggers Entwurf auf dem Spiel steht: gegenüber dem metaphysischen Diskurs die Gegenauffassung eines ursprünglicheren Denkens des Seins zu vertreten, d. h. eines Denkens, das sich, indem es 7 Vgl. diesbezüglich vor allem Martin Heidegger: Die Zeit des Weltbildes, in HW, S. 75 ff. Ferdinando G. Menga 182 den Anspruch erhebt, einen echteren Diskurs über das Sein zu führen, auf der Grundlage eines wirklich ursprünglichen Zugangs zum Sein selbst legitimiert. An dieser Stelle fragt man sich jedoch: Wie kann sich eine solche Diskursmöglichkeit gestalten, die das Sein angemessen erfassen kann und also, den Bereich der repräsentativen Vermittlungen überspringend - welche auf der bloßen ontischen Ebene der Präsenz stehen bleiben -, dazu in der Lage ist, direkt auf das Sein in seinem ursprünglichen Sichentziehen, in seinem Sichtranszendieren hinsichtlich der abgeleiteten ontischen Ebene zuzugreifen? Kann es einen solchen logos nach Maß der Unmittelbarkeit geben, 8 der nicht der Umschiffung durch die repräsentativen Vermittlungen verfällt? Hier kommt in Heideggers Lehre die Verbindung von Frage und Antwort ins Spiel. Oder besser, es beginnt sich der Anspruch eines Vorrangs der Frage zum Nachteil der Einstellung zur Antwort abzuzeichnen. Denn wenn das Problem - wie Heidegger äußert - darin besteht, zum ersten Mal (in der Geschichte des Abendlandes) einen echten Diskurs über das Sein einzuführen, einen Diskurs, der dem Sein in seinem Sichentziehen ursprünglich entspricht, muss dieser Diskurs nicht nur von einer Wiederaufnahme der ursprünglichen Frage nach dem Sein ausgehen, von der durch die metaphysische Tradition nie eigentlich gestellten „Grundfrage“ - so bezeichnet sie Heidegger an einem gewissen Punkt seines Denkweges -, 9 sondern er muss angesichts dieser Frage eine angemessene Haltung einnehmen, nämlich die, nicht zu antworten. Und dass die echte Haltung gegenüber dem Sein im Aussetzen der Antwort besteht, wird verständlich, sobald die Charakterzüge ans Licht kommen, die die Antwort in Heideggers Ansatz annehmen. Für Heidegger meint eine Antwort zu geben nichts anderes als zu thematisieren, festzustellen, vorzustellen, zu objektivieren, mit anderen Worten - und dies ist der Kern seiner Überlegung -, zwangsläufig im metaphysischen Modus vorzugehen, der alles dem definierbaren und beherrschbaren Bereich der Präsenz unterstellt. So entsteht eine enge Verbindung zwischen dem, was weiter oben unter dem Titel „Metaphysik“ und der antwortenden Einstellung kommentiert worden ist. 10 Anders gesagt entspricht dasjeni- 8 Für eine Lesart, die auf dem Unmittelbarkeitscharakter des authentischen Diskurses, den Heidegger zu entwerfen beabsichtigt, besteht, siehe Jacques Taminiaux: Lectures de l’ontologie fondamentale. Essais sur Heidegger, Grenoble 1986; ders.: The Husserlian Heritage in Heidegger’s Notion of the Self, in: Theodore Kiesel, John van Buren (Hg.): Reading Heidegger from the Start. Essays on his Earliest Thought, Albany 1994, S. 269- 290. 9 „Die Grundfrage als eigentlich gründende, als die Frage nach dem Wesen des Seins, ist als solche in der Geschichte der Philosophie nicht entfaltet […]“ (N I, 2). 10 Diese Verbindung wird gut erfasst von Günter Figal: Verwindung der Metaphysik. Heidegger und das metaphysische Denken, in Christoph Jamme (Hg.): Grundlinien der Vernunftkritik, Frankfurt a. M. 1997, S. 463. Zum Problem der Frage und Antwort im Verhältnis zur Metaphysik bei Heidegger, siehe auch die Beiträge von: Babette E. Babich: Heidegger’s Relation to Nietzsche’s Thinking. Connivance, Nihilism, and Value, in New Nietzsche Studies 3 (1999), S. 23-52; Michael A. Gillespie: Hegel, Heidegger and the Ground of History, Chicago/ London 1984, S. 134-148; Alan D. Schrift: Nietzsche and the Question Repräsentation und Entzug 183 ge, was sich in der metaphysischen Einstellung auf das Sein bezieht, dem, was immer durch eine Antwort zum Ausdruck kommt, d. h. durch eine verobjektivierende Bestimmung, eine Vergegenständlichung. 11 Wenn damit deutlich geworden ist, wie der diskursive Bereich des repräsentierbaren Ontischen der Antwort entspricht, ist leicht zu verstehen, dass der eigentlich dem Sein gemäße diskursive Ort kein anderer sein kann und darf als derjenige der Frage. In einer der Vorlesungen, die dem Denken Nietzsches gewidmet sind, jenem äußersten Punkt der zu überwindenden metaphysischen Einstellung, bezieht sich Heidegger auf die Grundfrage der Philosophie - die fragt: „Was ist das Sein? “ - und erläutert deutlich seine Position zum Fragen: […] Was ist das Sein selbst? Diese allererst zu entfaltende und zu begründende Frage nennen wir die Grund-frage der Philosophie, weil in ihr die Philosophie erst den Grund des Seienden als Grund und zugleich ihren eigenen Grund erfragt [Herv. FGM] und sich begründet. (N I, 64) 12 Achtet man genau darauf, was in diesen Zeilen gesagt wird, macht uns Heidegger nicht nur darauf aufmerksam, dass der ursprüngliche Raum des Seienden (der Grund) das Sein ist und die Grundfrage folglich „Was ist das Sein? “ lauten muss, sondern er umreißt auch eine eigentliche Haltung, die das philosophische Fragen betrifft, bzw. den Umstand, dass die Philosophie „sich“ im Fragen „begründet“ (genau gesagt: indem sie „ihren eigenen Grund erfragt“). Was deshalb die Philosophie gründet, ist nicht der durch die eventuelle Antwort auf die Grundfrage hervorgebrachte Grund, sondern - wenn man Heideggers Annahme wörtlich folgt - es ist das Fragen selbst. Wie unzweideutig am Schluss der Vorlesung über Nietzsche von 1939 zu lesen ist: Das anfängliche Fragen antwortet nie selbst. Ihm bleibt nur das Denken, das den Menschen auf das Hören der Stimme des Seins abstimmt und ihn zur Wächterschaft für die Wahrheit des Seins ge-fügig werden läßt. (N II, 22) Daraus kann nur eine Schlussfolgerung für Heideggers Ansicht gezogen werden: Die Philosophie findet sich schon auf der Ebene des Fragens gegründet, noch vor der Antwort. 13 of Interpretation. Between Hermeneutics and Deconstruction, New York/ London 1990, S. 34-37. 11 „Wie verhält sich […] die Metaphysik zum Sein selbst? Denkt die Metaphysik das Sein selbst? Nein und niemals. Sie denkt das Seiende hinsichtlich des Seins. Das Sein ist das zuerst und zuletzt Antwortende [Herv. FGM] auf die Frage, in der stets das Seiende das Befragte bleibt“ (N II, S. 311). 12 An derselben Stelle fährt Heidegger wie folgt fort: „In der Frage nach dem Wesen des Seins wird so gefragt, daß nichts mehr außerhalb dieser Frage bleibt, nicht einmal das Nichts“ (N I, S. 65). 13 Genau in dieser Hinsicht präzisiert Heidegger, indem er sich der Unterscheidung zwischen einem Behandeln und einem Entfalten der Antwort bedient, wie eine echte Einstellung zum Fragen verstanden werden muss: „Die Frage, so wie sie gefragt und gesagt wird, behandeln, heißt, eine Antwort für sie suchen. Die Frage, so wie gestellt ist, entfalten, Ferdinando G. Menga 184 Dies ist also Heideggers Grundeinstellung in Bezug auf seinen Entwurf eines eigentlichen Zugangs zum Sein: Indem er den Diskurs in der Selbstgenügsamkeit der Frage in ihrer unmittelbaren Selbstbezüglichkeit zurückhält bzw. in sie zurückschreiten lässt, muss der Diskurs keine Antwort abwarten, die unweigerlich eine repräsentative Vermittlung ins Spiel bringen würde und folglich das bestimmen würde, was genau besehen kraft seines ursprünglichen Sichentziehens keiner Bestimmung verfallen kann und darf. 14 Für Heidegger entspricht also ein radikaler Interrogativismus dem logos, der fähig ist, der repräsentativen Vermittlung vorzubeugen und somit unmittelbar das Sein in seiner Dynamik des ursprünglichen Entzugs und in seiner Unbestimmbarkeit zu erfassen. Dies geht deutlich auch aus einigen klaren und prägnanten Zeilen hervor, die aus der berühmten Rektoratsrede von 1933 stammen: Das Fragen ist […] nicht mehr nur die überwindbare Vorstufe zur Antwort als dem Wissen, sondern das Fragen wird selbst die höchste Gestalt des Wissens. Das Fragen entfaltet dann seine eigenste Kraft der Aufschließung des Wesentlichen aller Dinge. Das Fragen zwingt dann zur äußersten Vereinfachung des Blickes auf das Unumgängliche. (GA 16, S. 111) Von besonderer Bedeutung ist hier vor allem der letzte Satz: Einerseits ermittelt er sicherlich einen „unumgänglichen“ Raum, der der Dynamik des ursprünglichen Entzugs des Seins geschuldet ist, andererseits muss er jedoch auch irgendwie auf die Zugangsmöglichkeit auf jenes Unzugängliche hinweisen. Und dieser Zugang wird nicht zufällig als ein „fragender Blick“ bezeichnet, der sich dem Unzugänglichen kraft einer eigentümlichen „Vereinfachung“ zuwenden kann, die ihm nicht von anderswo als aus seinem Unmittelbarkeitscharakter zukommen kann. Denn nur ein direkter und unmittelbarer Blick dieser Art kann sich vor die antwortende Vermittlung stellen. Ausschließlich eine solche unmittelbare Geste kann sich in die Vorgängigkeit des Sichgebens/ Sichentziehens des Seins begeben, das der Nachträglichkeit vorausgeht, in der das Seiende in der Repräsentation erscheint, welche das Sein verbirgt. In anderen Worten gelingt es dem Fragen in seinem Unmittelbarkeitscharakter, jenen ursprünglichen diskursiven Akt zu vollziehen, den Heidegger auch als „Schritt zurück [des] Denken[s]“ kennzeichnet, das sich „schon auf den Weg begeben [hat], dem Sein selbst in seinem Sichentziehen entgegenzudenken“ (N II, 335). Und „zurück“ bedeutet hier eben: in die Unmittelbarkeit des ur- heißt dagegen, die Frage wesentlicher fragen, sich im Fragen dieser Frage eigens in die Bezüge hineinstellen, die sich eröffnen, wenn all das angeeignet wird, was im Fragen der Frage zum Vollzug kommt“ (N I, S. 410). 14 Dass der ursprüngliche Entzug des Seins vor dem Seienden in eine Charakterisierung des Seins selbst als Unbestimmbarkeit münden muss, ist Heidegger seit Sein und Zeit klar, wo das Sein, beschrieben als „trascendens schlechthin“, zwangsläufig „über jedes Seiende und jede mögliche seiende Bestimmtheit eines Seienden hinaus“ (SZ, S. 38) gehen muss. Zu einem solchen Charakter des heideggerschen Seins als das notwendig jeder Antwort Entschlüpfende vgl. Figal: Verwindung der Metaphysik, S. 459-463. Repräsentation und Entzug 185 sprünglichen sich entziehenden Sichgebens des Seins, das nicht anders als vorgängig hinsichtlich der immer nachträglichen Repräsentation und der Vermittlung sein kann - so nachträglich, dass sie durch die Objektivierung das Ereignis des Entzugs selbst verbergen. 15 Während an dieser Stelle die Gründe für Heideggers Ausrichtung auf einen Vorrang der Frage oder, genauer gesagt, auf einen eigentlichen Seinsdiskurs als „ein ursprüngliches Fragen, das auf die Antwortfindung verzichtet“ (N I, S. 410) 16 deutlich geworden sind, erweist sich jedoch das Ergebnis seines Entwurfs als keineswegs klar und deshalb einer Untersuchung wert. 2 Kritische Anmerkungen zu Heideggers radikalem Interrogativismus Zunächst kann man sich wundern, ob ein ursprüngliches Fragen, das in seiner unmittelbaren Selbstbezüglichkeit verschlossen bleibt, noch die Merkmale der Frage besitzt. Wenn man diesbezüglich Waldenfels’ Analysen folgt, gelangt man sofort zu der Schlussfolgerung, dass eine solche ursprüngliche Frage, da sie sich keinesfalls selbst befragen kann - andernfalls wäre sie weder ursprünglich noch sich selbst unmittelbar 17 - als konstitutiven Charakter eine ursprüngliche Unfraglichkeit aufweisen würde. Anders ausgedrückt (und mit Waldenfels): „Eine Frage, die als interrogatio pura bei sich selbst haltmachen würde, würde aufhören, eine Frage zu sein“; denn „sie wäre […] in ihrer reinen Selbstbezüglichkeit […] irrelativ, absolut“. 18 Daraus folgt, dass eine sich selbst unmittelbare Frage nicht dem diskursiven Raum eines Denkens entsprechen kann, das sich im Ort des Ursprungs aufhält, es sei denn sie schweigt über den unvermeidlichen Verlust der Fraglichkeit oder hält ihn versteckt. Dies ist somit das Dilemma des reinen Fragens, vor das uns Waldenfels stellt: Ein Fragen, das nichts voraussetzt als sich selbst und damit in den Rang eines ἀνυπόθετον aufrückt, bereitet sich selbst ein Ende. Das Dilemma einer reinen Frage läßt sich wie folgt formulieren. Entweder ist das Fragen ein voraussetzungsloses Erstes, dann steht es selbst außer Frage, oder das Fragen stellt sich 15 Hier wäre auf zahlreiche zu analysierende Stellen bei Heidegger über die zentrale Bedeutung der Entsprechung zwischen der Charakterisierung der Unmittelbarkeit des Denkens, das authentisch auf das ursprüngliche Sichentziehen des Seins zugreift, und der Bewegung der Vorwegnahme bezüglich der repräsentativen Vermittlung. Ich beschränke mich hier auf: Martin Heidegger: Grundfragen der Philosophie. Ausgewählte »Probleme« der »Logik«, GA 45, S. 110; ders., Heraklit, GA 55, S. 108. 16 Ähnlich vgl. N I, S. 17, 64 f., 421, und N II, S. 22, 264, 301-304, 310 f., 338 f., 352, 446 f. 17 Es ist klar, dass eine ursprüngliche Frage, wenn sie erste Voraussetzung sein will, sich nicht einer Selbstbefragung öffnen darf; denn diese würde ihr, da sie eine Infragestellung und folglich einen Fremdbezug der Frage selbst implizieren würde, genau den Verlust der Ursprünglichkeit bescheren. 18 Bernhard Waldenfels: Fragendes Denken, in Deutsch-Französische Gedankengänge, Frankfurt a. M. 1995, S. 168. Ferdinando G. Menga 186 selbst in Frage, dann ist es kein voraussetzungsloses Erstes mehr. Ist das Fragen ein Erstes, dann ist es nicht fraglich, ist es fraglich, dann ist kein Erstes. 19 Genau hier stößt Heideggers Versuch also auf ein unüberwindliches Hindernis, das eine erste kritische Bemerkung anregt: Eine ursprüngliche Frage, als erstes Wort, verliert am Ende ihren Fraglichkeitscharakter und erweist sich damit als Un-Frage. Aber nicht nur: Es gibt ein zweites Problemszenario, das sich ausgehend von dieser Anmerkung eröffnet. Denn wenn eine reine Frage als unmittelbarer Akt jede tatsächliche Fraglichkeit aufhebt und somit auch das, was den Raum der Unsagbarkeit und des Entzugs des Seins bewahren sollte, kommt der titanische Anspruch ans Licht, der sie antreibt. Bzw. tritt der Anspruch eines unmittelbaren Zugangs zum ersten Wort hervor, der sich, indem er die Aneignung des Raums des Ursprünglichen in voller Transparenz und ganzem Umfang gestattet, als Strategie der ausschließlichen und definitiven Übernahme einer Herrschaft über den Sinn der Totalität gestaltet. Auf diese Weise bestätigt sich jedoch ein Anspruch, der, weitab davon, die Dynamik des Entzugs und der Fremdheit des Ursprungs zu bewahren, den alten Vorrang der Aneignung des Grundes erneuert, der die gesamte metaphysische Tradition charakterisiert hatte. Folglich erweist sich die Registrierung der Tatsache, dass sich Heidegger, obwohl er konstant auf ein dem ursprünglichen Entzug konformes Denken ausgerichtet ist, nie auf die Topologie des Ursprungs durch die Semantik des Fremden bezieht, sondern immer nur mittels der nostalgisch-spekulativen des Eigenen, als keinesfalls äußerlich. Einer solchen Semantik gemäß ist die Fremdheit als Element, das zu einem unumgänglich indirekten und vermittelten Zugang zum Ursprünglichen zwingt, einzig als abgeleitetes und übergängiges Moment zu betrachten und demnach als dazu bestimmt, sich in der Wiedereinholung des eigenen Ursprünglichen in seiner Unmittelbarkeit zu erlöschen, wobei dieses Ursprüngliche nur kraft seines schlichten Vorausgesetztseins als das ontologisch Erste betrachtet wird. 20 Hinsichtlich dessen können die vielen Seiten, die Heidegger Hölderlin widmet, nicht unbeachtet bleiben, in denen immer wieder dieselbe, auf einer bestimmten (diskutablen! ) Interpretation des Geistes der Verse basierende, unzweideutige Annahme bestätigt wird, der zufolge „die Ausfahrt in die Fremde“ nichts anderes sei, als „eine Bedingung des Heimischwerdens im Eigenen“. 21 19 Bernhard Waldenfels: Antwortregister, Frankfurt a. M. 1994, S. 184 f. 20 Der nostalgisch-spekulativen Dynamik des metaphysischen Denkens, in dessen Spur auch Heideggers Versuch bleibt, zollt besondere Aufmerksamkeit Fabio Ciaramelli, L’originaire et l’immédiat. Remarques sur Heidegger et le dernier Merleau-Ponty, in Revue philosophique de Louvain 96,2 (1998), S. 198-231. 21 Martin Heidegger: „Andenken“, in Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, GA 4, S. 96. Dieser Vorrang des Eigenen, der aus Heideggers Interpretation von Hölderlin spricht, entgeht auch Waldenfels nicht (vgl. Waldenfels: Topographie des Fremden, S. 135). Repräsentation und Entzug 187 Einer aufmerksamen Lektüre gemäß vollbringt Heidegger damit in seinem Versuch im Grunde, statt den repräsentationalen Ansatz des modernen Denkens zu überwinden, nichts anderes, als dessen geheimste Sehnsucht nach dem Erhalt eines Privilegs über den Sinn der Totalität zu verschärfen; die Sehnsucht, sich das anzueignen, was die metaphysische Tradition als Fundament bezeichnete. Gerade aus diesem Grund zögert Waldenfels keinen Augenblick, dieses radikale Fragen, zu dem auch Heideggers Anspruch, innerhalb der Grundfrage zu verbleiben, gehört, auf die fundamentalistische Einstellung zurückzuführen, die für das moderne Denken charakteristisch ist. Sein Kommentar diesbezüglich lautet lapidar: „Der Interrogativ steigert sich zum Interrogativismus eines Fragens, das um sich selbst kreist. Dieser Interrogativismus ist ein Ausläufer des Fundamentalismus; der Grund rettet sich in die Grundfrage [Herv. FGM].“ 22 In letzter Konsequenz kann Heideggers falscher Schritt paradoxerweise einem Übermaß an Feingefühl für das Fremde und seine Dynamik des Entzugs angelastet werden. Dieses Übermaß hat ihn einerseits zu einer Verabsolutierung und Totalisierung des Fremden innerhalb einer absoluten Transzendenz und andererseits, in der Folge, zu der Notwendigkeit einer ebenso absoluten Denkungsart verleitet, um es sich zugänglich zu machen (d. h. anzueignen). Resultat: In Heideggers Versuch wird der absolutistische Anspruch der Repräsentation des modernen Denkens keinesfalls beseitigt, sondern einfach in die Form eines Absolutismus des Unrepräsentierbaren verkehrt. Es handelt sich um eine Form der Mystik des Fragens, die nichts anderes versucht, als den Ort des Ursprünglichen zu kolonisieren - um sich die ausschließliche Hoheit über den Sinn der Totalität zu garantieren -, im Sinne eines, wie Heidegger selbst sagt, „Heimischwerden[s] im Eigenen“. 3 Antwortlogik und Erfahrungskontingenz. Der phänomenologische Weg Waldenfels’ Die Zuspitzung des Charakters der Vorgängigkeit und des Entzugs des Seins und das dem gemäße Unterfangen, ihm zu entsprechen und dabei den nachträglichen Vorgang der repräsentativen Vermittlung zu vermeiden, haben Heidegger zu dem fatalen Fehler verleitet, sich dessen nicht bewusst zu werden, dass der ursprüngliche Entzug keineswegs die nachträgliche Vermittlung ausschließt, sondern sie ausdrücklich und, paradoxerweise, ursprünglich verlangt. Denn dass der Ursprung sich entzieht und sich damit als fremd erweist, bedeutet nichts anderes, als dass er, da er sich einem Diskurs, der unmittelbar auf ihn zugreift, verschließt, keinen anderen Raum zur Erscheinung hat als die abgeleitete Vermittlung, deren Voraussetzung er zu sein beansprucht. So erweist sich als der Stachel im Fleisch in Heideggers Versuch der unvermeidbare indirekte 22 Waldenfels: Antwortregister, S. 186. Ferdinando G. Menga 188 Zugang durch Repräsentation und Vermittlung, 23 deren Logik zufolge das Ursprüngliche kraft seiner Fremdheit seinen einzigen Erscheinungsraum im Abgeleiteten erhält. Es handelt sich dabei um ein Abgeleitetes, das sich in seiner Nachträglichkeit als ursprünglich charakterisiert. Mit der Unausweichlichkeit der Vermittlung sehen wir uns deshalb vor eine paradoxe Verkehrung gestellt, deren Strukturierung gemäß das Ursprüngliche den Charakter einer Voraussetzung der nachträglichen Vermittlung nur einnimmt, insofern sich ihm jedoch die nachträgliche Vermittlung selbst voraussetzt. Einen von Derrida - einem der Denker, die am meisten darauf bestanden haben, dass diese Verkehrung entscheidend ist - stammenden Vorschlag aufnehmend, kann man diese merkwürdige Dynamik unter dem Titel der Supplementarität des Ursprungs zusammenfassen, nämlich im Sinne eines Ursprungs, der, da das Sichentziehen zu seinen konstitutiven Eigenschaften gehört, nur in seinem Supplement, in seinem Substitut ursprünglich erscheinen kann. Dieses Substitut jedoch, da es dem Ursprung vorausgesetzt ist, „ersetzt nichts, das ihm irgendwie prä-existiert hätte“. 24 Ausgehend von dem Bereich der Frage und der Antwort, lässt sich mit Waldenfels diese gesamte Dynamik auf folgende Weise formulieren: Wenn der Ursprung sich immer schon entzieht und deshalb eminent durch eine unvermeidbare Fremdheit gekennzeichnet ist, kann er nicht in der Unmittelbarkeit eines selbstbezüglichen Fragens zur Sprache kommen, sondern nur in der nachträglichen Antwort erscheinen, die durch den unumgänglichen Anspruch hervorgerufen wird, die der Entzug selbst hervorbringt. In der Konsequenz reduziert für Waldenfels, anders als für Heidegger, die Antwort, wenn sie auch zum Bereich der repräsentativen Vermittlung gehört, nicht nur den ursprünglichen Entzug nicht auf die Präsenz, sondern konstituiert sich auch als jenes einzige und eigentliche diskursive Register, welches das Fremde selbst zur Erscheinung bringen kann. 25 Wenn man nun die Gründe weiter untersucht, warum Waldenfels jenen logos, der imstande ist, das ursprüngliche Fremde zum Ausdruck zu bringen, in der Antwort aufspürt, stößt man mittelbar auf den gleichzeitig ursprünglichen und nachträglichen Charakter des responsiven Vorgangs. Die Ursprünglichkeit 23 Genau deshalb muss Merleau-Ponty in seinen späten, Heidegger gewidmeten Zeilen anmerken: „[Heidegger] sucht einen direkten Ausdruck des Seins, von dem er jedoch zeigt, dass es nicht zum direkten Ausdruck fähig ist. Man müsste es mit dem indirekten Ausdruck versuchen, d. h. das Sein durch seine Winke des Lebens, der Wissenschaft etc. zeigen.“ (Maurice Merleau-Ponty, Notes de cours 1959-1961, Paris 1996, S. 82). 24 Jacques Derrida: Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen, in Die Schrift und die Differenz, übs. v. Rodolphe Gasché u. Ulrich Köppen, Frankfurt a. M. 2000, S. 424. Auf dem ursprünglichen Charakter der Nachträglichkeit bestehend, beschreibt Derrida so auch das Supplement des Ursprungs: „Die befremdliche Struktur des Supplements wird hieran deutlich: eine Möglichkeit bringt nachträglich erst das hervor, dem sie sich angeblich nur hinzufügen soll“ (ders.: Die Stimme und das Phänomen, übs. v. Jochen Hörisch, Frankfurt a. M. 1979, S. 146 [Übs. verändert]). 25 Für eine explizite Bezugnahme von Waldenfels auf das Paradigma der ursprünglichen Vermittlung siehe Waldenfels: Bruchlinien der Erfahrung, S. 34, 56. Repräsentation und Entzug 189 der Antwort entspricht dem Umstand, dass der Ursprung, da er sich als fremder entzieht, keinen anderen Erscheinungsraum hat als die Antwort selbst, d. h. nicht erscheint, wenn nicht als das „Worauf einer Antwort - und nichts weiter“ 26 . Die Nachträglichkeit entspricht dem Sachverhalt, dass die Antwort, da sie nie von sich selbst ausgeht, sondern immer schon von „anderswo“ 27 , bzw. von einer vorhergehenden Anforderung des Fremden, sich nicht als Herrschaftsort des Fremden konstituieren kann, sondern sich stattdessen als der Ort erweist, der beständig dessen Pathos lebt. 28 Anders gesagt weist die Antwort in ihrer Nachträglichkeit die Merkmale jener unumgänglichen Passivität auf, die den ursprünglichen Einbruch des unvorwegnehmbaren fremden Ereignisses seitens jedweder - sprachlicher oder erfahrungsbasierter - Denkordnung konnotiert und in ihrer supplementären Ursprünglichkeit 29 den Zugang zum sonst unerreichbaren Anspruch des Fremden garantiert. Genau in diesem Sinn kann Waldenfels behaupten, indem er die pathische Dimension der Antwort unterstreicht: „Erst im Antworten auf das, wovon wir getroffen sind, tritt das, was uns trifft, als solches zutage.“ 30 Dies bedeutet natürlich nicht, dass die Antwort dem ursprünglichen Fremden, das sie hervorruft, zuvorkommt, sondern dass im Gegenteil die Antwort, obwohl sie der einzige Ort ist, in der sich das fremde Ereignis offenbaren kann, immer schon nachträglich einsetzt, da sie sich einem unvermeidbar indirekten Zugang zum Fremden anvertrauen muss. 31 Etwas paradox könnte man formulieren, dass die ursprüngliche Fremdheit deshalb eine solche ist, weil sie sich niemals in einem direkten Zugang - wie dem von Heideggers Interrogativismus beanspruchten - vorwegnehmen lässt, sondern sich immer nur in der Nachträglichkeit der Ant- 26 Waldenfels: Topographie des Fremden, S. 180. 27 Waldenfels: Bruchlinien der Erfahrung, S. 188. 28 „Antworten heißt vom Fremden her sprechen. Damit verwandle ich mich vom Patienten in einem Respondenten, der auf das antwortet, was ihm widerfährt“ (Bernhard Waldenfels: Sozialität und Alterität. Modi sozialer Erfahrung, Berlin 2015, S. 22). Zum Vorrang des Pathischen in Waldenfels’ Antwortlehre vgl. ebd., 20ff.; ders.: Bruchlinien der Erfahrung, Kap. 1-6; ders.: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, Kap. 2. 29 Dass der Bereich der Antwort mit der ursprünglichen Supplementarität assoziiert werden muss, suggeriert Waldenfels selbst: vgl. Bernhard Waldenfels: Antwort auf das Fremde. Grundzüge einer responsiven Phänomenologie, in ders., Iris Därmann (Hg.): Der Anspruch des Anderen. Perspektiven phänomenologischer Ethik, München 1998, S. 47. 30 Waldenfels: Bruchlinien der Erfahrung, S. 59. 31 Bezüglich des unweigerlich indirekten Zugangs zum Fremden, ist in Antwortregister (S. 634) zu lesen: „Alle Grundfiguren, die man einer Antwortlogik zurechnen kann, weisen einen indirekten Charakter auf. Der Hiatus zwischen Anspruch und Antwort und die Irreziprozität zwischen Ansprechendem und Angesprochenem kämen zum Verschwinden, wenn ich auf beiden Seiten der Kluft Fuß fassen könnte, vergleichend und ausgleichend. Doch die Diastase zwischen Anspruch- und Antwortereignis besagt, daß ich als Antwortender immer schon zu spät komme, um mich mit dem Anderen auf eine Stufe zu stellen, Vergleiche zu ziehen und einen Vertrag zu schließen. Ich kann nur nachträglich über ein Ereignis sprechen in einer Rede, die selbst schon durch die Nachwirkungen einer Anrede geprägt ist. Das Fremde hat sich im Eigenen bereits eingenistet, bevor ein Versuch der Aneignung einsetzen kann.“ Ferdinando G. Menga 190 wort manifestiert, d. h. indem das Fremde mit seinem Anspruch die Antwort hervorruft, in der allein es (als das Sich-Entziehende) erscheint. „Der Anspruch wird […] erst zum Anspruch in der Antwort, die er hervorruft und der er uneinholbar vorausgeht.“ 32 Dies ist im Wortlaut Waldenfels’ Annahme, die, wenn sie aufmerksam im Licht der bereits erwähnten Passivität der Antwort vernommen wird, es nun erlaubt, den endlichen Charakter des responsiven Aktes zu thematisieren und so noch einmal auf dem unüberbrückbaren Unterschied zu Heideggers Ansatz zu beharren. Denn dass das ursprüngliche Fremde sich nur in der nachträglichen Antwort ausdrückt, die es hervorgebracht hat, bedeutet nichts anderes, als dass letztere, da sie den Ursprung nie in seiner totalen Selbsttransparenz - und folglich ein für alle Mal - erfassen kann, sich unweigerlich als eine partielle Antwort gestaltet. 33 In einer Situation, in der der Ursprung durch eine irreduzible Fremdheit charakterisiert ist, die keinen unmittelbaren Zugang zu ihm erlaubt, der ihn vollständig ergreifen könnte, geht man nie von einem Diskurs aus, der eine Herrschaft über den ursprünglichen Sinn erfordert und sich als absoluter Diskurs darstellen kann. Stattdessen beginnt jedes Reden und Tun immer schon nachträglich und ist deshalb gekennzeichnet durch Begrenztheit und Kontingenz. Genau dies ist der Status der responsiven Diskursivität, die kraft des nicht anzueignenden fremden Anspruchs, der sie in Bewegung setzt, unweigerlich als „ein Antworten, das nicht vorweg seiner Antworten Herr ist“ 34 konnotiert ist. All dies führt zu folgender Konklusion: Die Repräsentation nimmt einen völlig neuen Charakter an, wenn wir sie nicht mehr mit Heidegger lesen, sondern sie ausgehend von den Voraussetzungen eines responsiven Denkens interpretieren. 35 Die repräsentative Logik muss nicht ausschließlich als Objektivierung und Sinnschöpfung im Sinne eines Vor-stellens, das jede Möglichkeit eines ursprünglichen Entzugs auslöscht, aufgefasst werden; das repräsentative Denken kann stattdessen auch als sinnstiftend verstanden werden, insofern es dazu gezwungen ist, weil es den Sinn nicht unmittelbar und von Anfang an besitzt. 36 Die Repräsentation offenbart auf diese Weise eine konstitutive End- 32 Waldenfels: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, S. 67. 33 Waldenfels schreibt: „Das Fremde wird zu dem, was es ist, nirgendwo anders als im Ereignis des Antwortens, das heißt, es läßt sich niemals vollständig und eindeutig bestimmen. Das, worauf wir antworten, übersteigt stets das, was wir zur Antwort geben“ (Waldenfels: Topographie des Fremden, 52). Oder auch: „Antworten ist [...] ein Reden und Tun, das anderswo beginnt, dort, wo es nie war und nie sein kann. Was mich in Anspruch nimmt, läßt sich erst hinterdrein und also nie völlig fassen“ (Bernhard Waldenfels: Grenzen der Normalisierung. Studien zur Phänomenologie des Fremden 2, Frankfurt a. M. 1998, S. 96). 34 Ebd. 35 Zu der Möglichkeit, die Repräsentation als Antwort zu charakterisieren, siehe Bernhard Waldenfels: Vielstimmigkeit der Rede. Studien zur Phänomenologie des Fremden 4, Frankfurt a. M. 1999, S. 148 ff. 36 Die Antwort als ursprüngliche Sinnschöpfung, d. h. als paradoxer Akt, in dem zum Ausdruck gebracht wird, was sich genau besehen erst in der Nachträglichkeit des Ausdrucks selbst bildet, ist ein Thema, das Waldenfels ausdrücklich von Merleau-Ponty entleiht. Sie- Repräsentation und Entzug 191 lichkeit, da sie dazu aufgefordert ist, auf den ursprünglichen Entzug des Sinns zu antworten, wobei genau dieser ursprüngliche Entzug sich ihr als Anspruch darstellt, auf den sie nicht nicht antworten kann. Die responsive Gestaltung der Repräsentation drückt also nicht etwa eine Form der Herrschaft aus, sondern ist vielmehr auf das defizitäre Register einer irreduziblen ursprünglichen Vertretung zurückzuführen, 37 d. h. einer ursprünglichen Ersetzung eines Fremden, das als solches, gerade weil es ausschließlich durch eine Repräsentation/ Stellvertretung erscheinen kann, niemals total - und folglich immer von neuem nur partiell - in dieser Ersetzung ursprünglich erscheinen wird. Dabei handelt es sich um eine ursprüngliche Wiederholung, die, da sie nie von der Präsenz des Originals ausgehen kann, dessen Wiederholung sie ist, immer in unaufhörlicher iterativer Bewegung bleiben wird, ohne auf das Original zuzugreifen, auf das sie sich bezieht. 38 Somit führt Waldenfels’ responsiver Ansatz zu einem Ergebnis, das Heideggers Interrogativismus entgegengesetzt ist: Die Responsivität setzt jeden Versuch, sich eines definitiven und totalen Sinns zu bemächtigen, schachmatt, indem sie die Unmöglichkeit für jeglichen Diskurs ans Licht bringt, mit einer direkten und vollständigen Aneignung des ursprünglichen Sinns einzusetzen. Waldenfels schreibt: „Am Anfang war die Antwort“, 39 d. h. ein immer schon dadurch verzögertes Wort, dass es vom ursprünglichen Fremden hervorgerufen ist. 40 Folglich setzt kein responsiver Diskurs je bei einem angeeigneten oder anzueignenden ersten Wort an. Und damit wird er (durch diese irreduzible Verzögerung gezeichnet) niemals mit einem letzten Wort enden können. 41 Nicht Herr seines Anfangs noch seines Endes, steht der responsive Diskurs he insb. Bernhard Waldenfels: Das Paradox des Ausdrucks, in Deutsch-Französische Gedankengänge, S. 105-123. 37 Zur phänomenologischen Wiederaufnahme dieses Paradigmas der ursprünglichen Vertretung vgl. Waldenfels: Vielstimmigkeit der Rede, 123 f.; ders.: Hyperphänomene. Modi hyperbolischer Erfahrung, Berlin 2012, Kap. 8. 38 Zum Verhältnis Fremdheit/ ursprüngliche Wiederholung vgl. Bernhard Waldenfels: Ortverschiebungen, Zeitverschiebungen. Modi leibhaftiger Erfahrung, Frankfurt a. M. 2009, Kap. 6. 39 Waldenfels: Antwortregister, S. 270. 40 Deshalb bemerkt Waldenfels zusammenfassend: „Die sogenannten Urworte, die Urphänomene zum Sprechen bringen, wären ihrerseits bereits Antworten. Wie man schon mit Merleau-Ponty […] und später mit Levinas […] von einer Urvergangenheit sprechen kann, die nie Gegenwart war, so kann man auch von einer Antwort sprechen, die nie Urwort war. Will man den alten Ausspruch beibehalten, der den Logos an den Anfang setzt, so müßte man ihn umformulieren in: Am Anfang war die Antwort“ (ebd.). 41 „Das erste Wort bestünde in einer Rede, die ganz und gar bei sich selbst anfinge, ohne an anderes anzuknüpfen, ohne Angebote aufzugreifen oder auf Ansprüche zu antworten. Das letzte Wort bestünde in einer Rede, die ganz und gar bei sich selbst enden würde, ohne Möglichkeiten offen zu halten für eine Rede, die ihrerseits an diese Rede anknüpft, sie fortsetzt, ihr widerspricht“ (Waldenfels: Vielstimmigkeit, S. 60). Ferdinando G. Menga 192 immer „dazwischen“ 42 und folglich im konstanten Verweis auf verschiedene Antworten und Repräsentationen. 43 Sicherlich, wenn Waldenfels einerseits auf der Nicht-Entsprechung zwischen responsiv-repräsentativer Einstellung und der Haltung der Herrschaft über das Fremde besteht, ist er sich andererseits jedoch jener Denktradition bewusst, die, angeregt durch einen unbezwingbaren „horror alieni“ 44 , gerade durch diese Einstellung ihren Herrschaftswillen ausgedrückt hat. Nicht zufällig erweisen sich seine Kritiken an der modernen Tradition und ihrer objektivierenden Zuspitzung als nicht weniger harsch denn Heideggers. 45 Doch was Waldenfels zugleich ebenso klar ist - und genau an dieser Stelle öffnet sich der Abgrund zwischen seinem und Heideggers Ansatz -, ist, dass es einer Haltung, die die Grenzen der Repräsentation nachzuzeichnen beabsichtigt, keinesfalls erlaubt ist, eine weitere Ebene in Bezug zu ihr einzuführen, da es ein konstitutiver Charakterzug der endlichen Denkerfahrung ist, im Spiel der Repräsentationen, der Bestimmungen, der Antworten zu verbleiben, ohne je aus ihm heraustreten zu können. In diesem Sinne ist eine kritische Dimension, die den Gefahren der Repräsentation angemessen und weit davon entfernt ist, eine Über-Repräsentationalität anzustreben, dazu aufgefordert, innerhalb der Repräsentation selbst zu verbleiben und somit diese Dimension aus ihrer absolutistischen und fundamentalistischen Form in ihre ursprüngliche Gestalt zurückzuführen, die auf die responsive Kontingenz des Denkens verweist. In dieser Dimension ist es möglich, nicht mehr einen titanischen Subjektivismus zu identifizieren, sondern die irreduzible Situation eines „homo respondens“ 46 , der keine Antworten (durch-)setzt, sondern immer schon antwortet, weil er antworten muss. 47 Diese Anmerkung macht jetzt deutlicher denn je, warum es für Waldenfels, anders als für Heidegger, weniger darum geht, die Moderne mit dem Register der Repräsentation zu überwinden, sondern darum, sie ernst zu nehmen, indem er die immer schon konstitutive Dynamik der Verfremdung wiederaufnimmt, 48 bzw. jenes irreduzible genealogische Moment, in dem nicht die Logik der direkten Aneignung des Sinns gilt, sondern das Fremde mit seinem „Stachel“ 49 wirkt, der die unaufhaltsame indirekte und kontingente Bewegung der Antwort ursprünglich und zwangsläufig hervorruft und beansprucht. 42 Waldenfels: Fragendes Denken, S. 171. 43 Vgl. Waldenfels: Antwortregister, S. 269 f. 44 Bernhard Waldenfels: Erfahrung des Fremden in Husserls Phänomenologie, in Deutsch- Französische Gedankengänge, S. 52. 45 Vgl. z. B. Waldenfels: Topographie des Fremden, S. 48 f.; ders.: Verfremdung der Moderne, S. 19 ff. 46 Waldenfels: Sozialität und Alterität, S. 15 (vgl. auch S. 22). 47 Zur Unausweichlichkeit der Antwort vgl. Waldenfels: Antwortregister, Teil III, Kap. 3; ders.: Topographie des Fremden, S. 52; ders.: Grenzen der Normalisierung, S. 97. 48 Vgl. Waldenfels: Verfremdung der Moderne. 49 Vgl. Bernhard Waldenfels: Der Stachel des Fremden, Frankfurt a. M. 1990. Repräsentation und Entzug 193 Aus der auf diesen Seiten geführten Analyse ist also folgende Schlussfolgerung zu ziehen: Die Verbindung zwischen Ursprünglichem und Antwort verweist, über die Gefahr einer Fixierung auf die Repräsentation hinaus - was Heidegger sehr gut erkannt hat - mit Gewissheit auch auf eine weitere ursprünglichere und unausweichliche Möglichkeit, die Erfahrung als ein kontingentes Antworten auf ihren, andernfalls unerreichbaren, Sinnanspruch zu repräsentieren. Es handelt sich um eine Verbindung, die vielleicht niemand besser als Merleau-Ponty, mit dem Hinweis auf den ich diesen Text eröffnet habe, gewusst hat, zu erfassen, wenn er feststellt: „Reden und Schreiben bedeutet, eine Erfahrung zu übersetzen, die doch erst zum Text wird durch das Wort, das sie selbst wachruft.“ 50 Eben dadurch erweist sich dieses Wort als Ant-wort. 50 Maurice Merleau-Ponty: Résumés de cours. Collège de France 1952-1960, Paris 1968, S. 41. Roberto Rubio Bildcharakter und geschichtsgründende Macht der Kunst bei Heidegger In seinen Reflexionen über das Kunstwerk hebt Heidegger die Rolle der Kunst bei der Gründung der Geschichte hervor. Heideggers Ansatz zeichnet sich dadurch aus, dass er die geschichtsbildende Macht der Kunst im Rahmen einer Kunstauffassung erörtert, die den Bildcharakter der Kunst auf besondere Weise betont. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, die Verbindung zwischen Heideggers Gedanken zum Bildcharakter der Kunst und seinen Einsichten zu der geschichtsgründenden Macht der Kunst herauszustellen. Meine Interpretation basiert auf drei Thesen. Erstens: Heidegger misst der Kunst eine eigentümliche bildhafte Leistung bei. Es handelt sich um die Leistung der ursprünglichen Darstellung. Ontologisch verstanden besteht sie in einem besonderen Prozess von Präsenz-Einbruch und Sinnbildung: Das Kunstwerk bricht in die Alltagswelt ein, macht auf sein eigenes Erscheinen aufmerksam und gestaltet zugleich die bedeutsame Welt um. Zweitens: Heidegger versteht die Kunst als eine spezifische Weise des Wahrheitsgeschehens, d. i. der Gestaltung des Sinnesraums, die das Zum-Vorschein-Kommen der Phänomene möglich macht. Der Wahrheitsmodus der Kunst besteht darin, dass die Spannung von Sinneröffnung und Sinnentzug in ein Seiendes - das Kunstwerk - gebannt wird. Drittens: Die Auffassung der Kunst als Wahrheitsmodus geht einher mit Heideggers Konzeption der Geschichte als Sich-Ereignen der Wahrheit. Für Heidegger bestimmt also die Kunst qua Wahrheitsmodus die Geschichte mit. Aus diesen Thesen lässt sich folgendes Argument bilden: Wenn erstens das Spezifische der Kunst als Wahrheitsgeschehen in der Fixierung der Spannung von Sinnoffenheit und -entzug im Kunstwerk besteht, und wenn zweitens die Erscheinungsweise des Kunstwerkes einem Darstellungsprozess entspricht, dann muss der geschichtliche Charakter der Kunst mit Blick auf deren Bildhaftigkeit gedeutet werden. Zur Ausarbeitung dieser Interpretation soll zunächst Heideggers außergewöhnliche Konzeption der Kunst als Bilderproduktion dargestellt werden. Dann wird seine Auffassung der Geschichtlichkeit von Kunst thematisiert und schließlich sollen die strukturellen Verbindungen zwischen Bildhaftigkeit und Geschichtlichkeit der Kunst ans Licht gebracht werden. Roberto Rubio 196 1. Die Kunst als ursprüngliche Bilderproduktion Ende der zwanziger Jahre erfährt Heidegger die inneren Grenzen seiner Fundamentalontologie. Die Krise wird bereits in der Vorlesung 1929/ 30 Die Grundbegriffe der Metaphysik dokumentiert. Nach dem Versuch, die Weltbildung durch den Begriff des „Entwurfs“ zu klären, sagt Heidegger: Auch die Transzendentalphilosophie muß fallen. [...] Auch die Ontologie und ihre Idee muß fallen, gerade weil die Radikalisierung dieser Idee ein notwendiges Stadium der Entfaltung der Grundproblematik der Metaphysik war. (GA 29/ 30, S. 522) Zu den Gründen dieser Krise kann gesagt werden: Heidegger kommt zu der Erkenntnis, dass sich seine bisherige Erläuterung des Sichzeigens des Seienden aus dessen Sinnhorizont her auf das Moment der Zugänglichkeit konzentriert und die Spannung von Sinnoffenheit und Sinnentzug nicht ausreichend entfaltet. Zudem erweist sich die Betonung der entwerfenden Kraft des Daseins als ein Zug der transzendentalen Subjektphilosophie, von der Heidegger jedoch Abstand nehmen will. Heideggers Selbstkritik kommt auf indirekte Weise im Vorwurf an Platon zur Sprache, dass die Orientierung an der ἰδέα die Unterschiede von Sinnoffenheit und Sinnentzug unter dem Primat des Sichtbaren nivelliere. Dieser Einwand lässt sich als eine Kritik am eigenen Schematismusprogramm begreifen, denn Heidegger lässt Kants transzendentales Schema sowie Platons ἰδέα ausdrücklich in der Struktur des reinen Bildes zusammenfallen. 1 Heideggers Versuche, einen Weg aus der Krise zu finden, werden auch durch die Thematik von Bild und Bilden geprägt. Obwohl er sich von der Orientierung am Sichtbaren entfernt, verzichtet er nicht auf die Suche nach einer als Produktion von Bildern, d. i. als Verbildlichung, aufgefassten paradigmatischen Sinnproduktion. Im Rahmen dieser Suche orientiert er sich an der Kunst. Sowohl die im Kontext von Sein und Zeit entfaltete Schematismuslehre als auch die ab den dreißiger Jahren ausgearbeitete Kunstauffassung lassen sich als zwei Varianten des Gedankens der exhibitio originaria verstehen. Zwei Fragen drängen sich hier auf. Erstens: In welchem Sinne entspricht die Kunst einer ursprünglichen Darstellung (exhibitio originaria)? Zweitens: In welchem Sinne ist die Kunst qua ursprüngliche Darstellung Produktion von Bildern? Zur Beantwortung dieser Fragen sei die erste Ausarbeitung des Kunstwerkaufsatzes (1931) 2 betrachtet. Die Hauptthese der Schrift lässt sich wie folgt wiedergeben: Das Wesen der Kunst liegt darin, die Wahrheit ins Werk zu setzen. Die Kunst macht deswegen den Ursprung des Kunstwerkes aus. In diesem Zusammenhang wird die Kunst als Dichtung gekennzeichnet. Als maßgebliche 1 Vgl. GA 3, S. 102, 105; GA 34, S. 68, 71, 111. 2 Martin Heidegger: Vom Ursprung des Kunstwerks. Erste Ausarbeitung, in Heidegger- Studies 5 (1989), S. 5-22. (EA) Bildcharakter und geschichtsgründende Macht der Kunst bei Heidegger 197 Beispiele werden der Zeustempel, das Apollostandbild, die griechische Tragödie und die Dichtkunst Hölderlins angegeben. 3 In diesem weiten Sinne verweist der Terminus „Dichtung“ auf Plastik (Standbilder, Bauwerke) und Poesie. Die Malerei spielt dabei jedoch keine zentrale Rolle. Die Interpretation von Van Goghs Gemälden kommt in der ersten Ausarbeitung des Kunstwerkaufsatzes nicht vor. Anhand der Beispiele der bildenden Künste entfaltet Heidegger seine Konzeption über den dichtenden, also produktiven und nicht reproduktiven, Charakter der Kunst. Das Kunstwerk wird maßgeblich mit Blick auf den in die Höhe ragenden Tempel bzw. das Standbild verstanden. Es heißt: Der Tempel, der auf einem Vorgebirge oder in einem Felsental aufragt, das Standbild, das im heiligen Bezirk dasteht, diese Werke sind, unter dem vielen Übrigen [...] nicht nur allenfalls auch vorhanden, sondern sie halten im gelichteten Spielraum des Erscheinens der Dinge die Mitte besetzt - sie sind wirklicher als jedes Ding, weil deren jedes erst in dem durch das Werk erstrittenen Offenen sich als seiend bekunden kann. (EA, S. 15) Aufragend in eine Welt und zurückreichend in die Erde eröffnet der Tempel das Da [...]. (EA, S. 12) Die Zitate bieten eine Charakterisierung der ontologischen Leistung des Kunstwerks. Diese besteht vor allem darin, den Sinnkontext für das Erscheinen der Dinge neu zu gestalten. Die Umkontextualisierung der Erfahrung erfolgt dabei dadurch, dass das Kunstwerk aufragt und zugleich in den Boden zurückreicht. Sehen wir es uns näher an. Heideggers Beschreibung plastischer Kunstwerke betont drei Erscheinungsmerkmale: Erstens ragt das Werk auf, d. i. es bricht in das Offene ein und zieht die Aufmerksamkeit auf sich. Das Werk erscheint also isoliert, dem herrschenden Sinnkontext entbunden. Zweitens verweist das Werk auf das Offene und den dunklen Boden zugleich. Es präsentiert sich als Mitte der Spannung von entgegengesetzten Instanzen. Drittens gestaltet es den Sinnkontext um. Alltägliche Dinge und Verhaltensweisen verlieren dabei ihre Selbstverständlichkeit. 4 Es gilt festzuhalten, dass das konkrete Hervortreten von Bauwerken und Skulpturen als die Spannung zwischen zwei Tendenzen beschrieben wird: nach oben in das Gelichtete und nach unten in den Boden. In anderen Passagen erläutert Heidegger diese Spannung als den Streit zwischen Manifestations- und Entzugstendenzen. Solche Tendenzen stünden ihrerseits in Bezug zu elementaren, irreduziblen Instanzen, nämlich der Erde qua Instanz des Sinnentzugs und der Welt als Instanz der Sinnoffenheit. 3 Vgl. EA, S. 7, 12. 4 Für eine ausführliche Interpretation der ontologischen Züge der Bilderfahrung nach Heidegger siehe Roberto Rubio: La concepción ontológica de Heidegger sobre la producción. El descubrimiento de la plasticidad, in Gregorianum 91/ 2 (2010), S. 343-369. Roberto Rubio 198 Gemäß dem ontologischen Modell der Spannung entgegengesetzter Tendenzen und heterogener Instanzen ist das Kunstwerk ein Bild sui generis. Sein Bildcharakter besteht nicht in der Ähnlichkeit zu etwas anderem, auch nicht in der sinnlichen Nachbildung des Unsinnlichen. „Bild“ meint hier eine nicht abgeleitete Erscheinungsart, deren Grundzüge die einbrechende Präsenz des Werkes und die Umgestaltung seines Sinnkontextes sind. Obwohl Heidegger das Kunstwerk nicht ausdrücklich als Bild charakterisiert, lässt sich seine Orientierung an der Plastik als Dokument einer eigenen Bildauffassung interpretieren. Der Tempel und insbesondere das Standbild liefert hierbei das paradigmatische Beispiel. In diesem Zusammenhang ist Heideggers Rückgriff auf den Begriff des Stehens zu deuten. Er spricht der Kunst zu, die Wahrheit im Kunstwerk zum Stehen zu bringen (GA 5, S. 62). „Zum Stehen bringen“ meint hier fixieren sowie errichten. Heideggers Formulierung lässt sich also wie folgt wiedergeben: Das Kunstwerk ist Bild im Sinne des Standbildes, denn die Spannung von Sinnoffenheit und Sinnentzug wird im Werk fixiert und tritt dabei als Spannung hervor. Wenn das zutrifft, dann wird Folgendes klar: Obwohl Heidegger die platonisch inspirierte Darstellungslehre kritisiert und den Terminus „Darstellung“ in seinem eigenen Ansatz nicht benutzt, entfaltet er doch eine Darstellungslehre. Die ontologische Leistung der Kunst liegt nach ihm darin, dass das Kunstwerk auf sein eigenes Erscheinen aufmerksam macht, zugleich aber die Spannung von heterogenen Instanzen mit zeigt und somit die Welt umgestaltet. Und das kann die Kunst, wie erläutert, aufgrund ihres Bildcharakters leisten. Mit Rückgriff auf die kantische Differenzierung zwischen exhibitio originaria et derivativa, d. i. zwischen dichtender und reproduktiver Erscheinung im Bilde, lässt sich die Erscheinungsweise des Kunstwerkes als exhibitio originaria kennzeichnen. Diese Charakterisierung, die Heidegger ausdrücklich in seiner Schematismuslehre benutzt hat, lässt sich auf neue Weise auf seine Kunstauffassung anwenden. Jetzt können wir auf die zweite Frage eingehen: In welchem Sinne ist die Kunst qua ursprüngliche Darstellung Produktion von Bildern? In Heideggers Konzept meint Hervorbringung und Dichtung nicht die Verfertigung des Produkts durch die causa efficiens, sondern den Erscheinungsvorgang bei der Erfahrung von Kunstwerken. Mit anderen Worten: Es geht nicht darum, dass Kunstwerke angefertigt werden, sondern darum, dass mit ihnen ein eigentümlicher Manifestationsprozess stattfindet. Heideggers ontologischer Ansatz zur Kunst zielt nicht auf die Rekonstruktion des Anfertigungsprozesses ab, sondern auf die Beschreibung des Manifestationsvorgangs. An sich betrachtet weist dieser den Charakter der ποίησις auf im Sinne des εἰς οὐσίαν ἄγειν (Sph. 219 a5-7). Sofern das Zur-Anwesenheit-Kommen des Werkes im Kunstwerk selbst erfahrbar wird, sofern also das Kunstwerk es selbst und seinen Kontext in statu nascendi gibt, ist das bildhafte Erscheinen des Kunstwerkes ποίησις . Der so verstandenen Hervorbringung liegt aber die Bild- und Darstellungsleistung zugrunde. In diesem Sinne sagt Heidegger: Bildcharakter und geschichtsgründende Macht der Kunst bei Heidegger 199 Bilden ist Her-vor-bringen, nämlich vor ins Unverborgene, Offenbare und her aus dem Verborgenen und Sichverbergenden. Das so verstandene Hervorgebrachte, Gebildete ist das Gebild. Insofern dieses zum Vorschein und damit ins Scheinen kommt, bietet es einen Anblick und ist als Gebild zugleich das ursprüngliche Bild. (GA 13, S. 171) 2. Die Geschichtlichkeit der Kunst Im Vortrag über den Ursprung des Kunstwerkes wird der geschichtliche, d. i. geschichtsbildende, Charakter der Kunst herausgestellt. Die Kunst ist geschichtlich und ist als geschichtliche die schaffende Bewahrung der Wahrheit im Werk. Die Kunst geschieht als Dichtung. Diese ist Stiftung in dem dreifachen Sinne der Schenkung, Gründung und des Anfanges. Die Kunst ist als Stiftung wesenhaft geschichtlich. [...] Die Kunst ist Geschichte in dem wesentlichen Sinne, daß sie Geschichte gründet. (GA 5, S. 64 f.) Das Zitat zeigt deutlich, dass der Gedanke der Geschichtlichkeit von Kunst im Rahmen der Wahrheitsthematik entfaltet wird. Die Grundeinsicht Heideggers lässt sich wie folgt wiedergeben: „Geschichte“ ist der Name für das Geschehen der Wahrheit. Die Geschichtlichkeit der Kunst besteht dementsprechend in der spezifischen Art und Weise, wie das Wahrheitsgeschehen in der Kunst vonstattengeht. Im Kunstwerkaufsatz wird das Wahrheitsgeschehen jedoch in dreierlei Hinsicht betrachtet: bezüglich der Erscheinung des Seienden, mit Blick auf die Existenz eines Volkes und hinsichtlich der Überlieferung des Seins- und Wahrheitsverständnisses. Heidegger versucht, die Geschichtlichkeit der Kunst nach diesen drei Aspekten zu analysieren. Was den ersten Aspekt betrifft, so ist von der „schaffende[n] Bewahrung der Wahrheit im Werk“ die Rede (ebd.). Der Wahrheitsmodus der Kunst besteht demnach darin, dass die Spannung von Sinneröffnung und Sinnentzug in ein Seiendes - das Kunstwerk - gebannt wird. Das Kunstwerk erscheint derart, dass es die Aufmerksamkeit auf sich zieht und das Spannungsverhältnis von semantischen und nicht-semantischen Instanzen dabei erfahrbar macht. Hinsichtlich des zweiten Aspektes sagt Heidegger: Immer wenn Kunst geschieht […], kommt in die Geschichte ein Stoß, fängt Geschichte erst oder wieder an. Geschichte meint hier nicht die Abfolge irgendwelcher und sei es noch so wichtiger Begebenheiten in der Zeit. Geschichte ist die Entrückung eines Volkes in sein Aufgegebenes als Einrückung in sein Mitgegebenes. (GA 5, S. 65) An dieser und anderen Stellen ist der Ton eines National-Ästhetizismus zu spüren, der Heidegger mit der deutschen Romantik verbindet. 5 Eine ausführli- 5 Vgl. Philippe Lacoue-Labarthe, La fiction du politique. Heidegger, l’art et la politique. Breteuil-sur-Iton 1987. Roberto Rubio 200 che Diskussion zu Heideggers Auffassung der Volksgeschichte fällt jedoch aus dem Rahmen des vorliegenden Beitrags. Es genüge hier zu sagen, dass die Erscheinung des Kunstwerkes nach Heidegger auch die Figuren von Schaffenden und Bewahrenden einschließt. 6 Das Kunstwerk erscheint demnach als eine Aufgabe, die auf ihre Adressaten, d. i. die zukünftigen Rezipienten, abzielt. In diesem Sinne bildet es die (Volks-)Geschichte. Der dritte Aspekt des Wahrheitsgeschehens betrifft die Tradition des Seins- und Wahrheitsverständnisses. Ab den dreissiger Jahren versteht sie Heidegger im Sinne der Seinsgeschichte. Diese weist die Struktur eines doppelten Anfangs auf: Der erste Anfang zeichnet sich aus durch die Verfestigung einer verstellenden Seins- und Wahrheitsauffassung namens Metaphysik. Der andere Anfang kann seinerseits als Möglichkeit erfolgen und verlangt nach Vorbereitung. Nach Heidegger bestimmt die Kunst qua Wahrheitsmodus die (Seins-)Geschichte in zweierlei Art mit: Einerseits trägt die „Ästhetik“, d. i. das Verständnis der Kunst im Zeichen der Metaphysik, zur Festigung der Metaphysik bei. Andererseits ist die Aufgabe der zukünftigen Kunst die Überwindung der Ästhetik. In diesem Sinne trägt auch die Kunst zur Überwindung der Metaphysik bei. Dem „anfänglichen“ Denken im Übergang vom ersten zum anderen Anfang der Seinsgeschichte entspricht die Kunst im anfänglichen Sinne. 7 In mehreren Texten der dreißiger Jahren reserviert Heidegger den Terminus „Kunst“ für die metaphysische, d. i. „ästhetische“, Kunst und benutzt das Wort „Dichtung“ zur Benennung der künftigen, seynsgeschichtlichen Kunst. „Kunst“ in jeder Art nur innerhalb und mit der Metaphysik, deshalb in der „Weltanschauung“. Kunstpolitik und Weiterführung der „Kunst“, aber überall ohne „Dichtung“. Dichtung als Gründung - Stiftung des Seyns. Von hier aus schärfer klären, was in den Vorträgen über das Kunstwerk gefragt. Dichtung - nicht mehr als Kunst; mit dem Ende der Metaphysik das Ende der „Kunst“ - τέχνη . Langsam klar, was mit dem Vortrag „Über den Ursprung des Kunstwerkes“ gefragt; Wahrheit des Seyns, was in der Kunst das verborgen Dichtende Wesen. (GA 67, S. 108) Diese Terminologie präzisiert die Kunst als eine Figur der Seinsgeschichte, auf deren Überwindung es nun ankommt. Dichtung qua Stiftung erhält dementsprechend ihren Ort im Übergang zum anderen Anfang. Betrachtet man die drei Aspekte des Wahrheitsgeschehens zusammen, so lässt sich sagen: Die Kunst als Erscheinungsvorgang ist nach Heidegger insofern geschichtlich, als sie ihre Adressaten mit der herrschenden überlieferten Seins- und Wahrheitskonzeption konfrontiert. Die Kunstwerke fördern eine selbstkritische Rezeption, die in konkreter Weise die Gegenwart infrage stellt und somit die Möglichkeit eines Anfangs eröffnet. 6 „Der Ursprung des Kunstwerkes, d. h. zugleich der Schaffenden und Bewahrenden, das sagt des geschichtlichen Daseins eines Volkes, ist die Kunst.“ (GA 5, S. 66) 7 Vgl. GA 66, S. 230. Bildcharakter und geschichtsgründende Macht der Kunst bei Heidegger 201 3. Bildcharakter und Geschichtlichkeit der Kunst Bevor man auf den Zusammenhang von Bildhaftigkeit und Geschichtlichkeit der Kunst eingeht, sei Folgendes zu bemerken: die Bildhaftigkeit der Kunst lässt sich nicht auf die visuellen Künste einschränken. Ebenso wenig ist der dichtende Charakter der Kunst auf die Poesie zu begrenzen. Ontologisch verstanden ist jedes Kunstwerk ein ursprüngliches Bild und die Kunst insgesamt ist exhibitio originaria. Dies bedeutet, dass das Kunstwerk sich selbst und seine sinnhafte Welt in statu nascendi gibt. So heißt es: „Das Kunstgebilde echter Art ist selbst die Epiphanie der von ihm gelichteten und in ihm gewahrten Welt“ (GA 13, S. 106). Die ursprüngliche Darstellung ist keine (sinnliche) Darstellung von etwas (Unsinnlichem), sondern Selbstpräsentation des Werkes und Gestaltung seines Sinnkontextes zugleich. Aus dem Gesagten wird ersichtlich, dass sich die Kunst als exhibitio originaria auf den drei Ebenen des Wahrheitsgeschehens entfaltet. Es handelt sich um einen Erscheinungsvorgang, der zur Veränderung der Daseinsbedingungen aufruft, indem er seine Adressaten mit der herrschenden Seins- und Wahrheitskonzeption konfrontiert. 8 Nun stellt sich die Frage: Wie genau entfaltet sich die Kunst auf diesen drei Ebenen? Worin liegt das Spezifische der Kunst als Modus des Wahrheitsgeschehens? Erstens: Bei der Kunsterfahrung wird die Spannung von semantischen und nicht-semantischen Instanzen im Werk fixiert. Das Kunstwerk macht eine solche Fixierung erfahrbar. Das Besondere an der Kunst liegt darin, dass ein Seiendes, das ich nicht bin, d. i. das Kunstwerk, vor mir erscheint und mich zugleich zur Teilnahme am Prozess der Bildung seines Sinnkontextes auffordert. Ich bin „am Werk“, insofern meine Aufmerksamkeit vom Werk selbst hervorgerufen wird. So wie ein Bild in die Augen springt und Aufmerksamkeit erregt, so wirkt das Kunstwerk wie ein Appell. Zweitens: Durch die Antwort auf diesen Anspruch wird der Betrachter in eine Tradition von „Bewahrenden“ eingebettet. So eröffnet sich aus dem Werk her eine Gemeinschaft von Interpreten. Drittens: Die Konfrontation mit der herrschenden Wahrheits- und Seinsauffassung erfolgt in erster Linie dadurch, dass der ursprüngliche Bildcharakter des Werkes den Dualismus von Materie und Form, von Sinnlichem und Nicht-Sinnlichem infrage stellt. Darin liegt die (seins-)geschichtliche Bedeutung der Kunst. Die Überwindung der Ästhetik erfolgt, wenn die herrschende Verstellung des ursprünglichen Bild- und Darstellungscharakters der Kunst ans Licht gebracht wird. Das kann nach Heidegger nur in einer Kunsterfahrung stattfinden, in der der appellierende Bildcharakter des Werkes die geeignete Entsprechung findet. 9 8 „Das Werk selbst erfüllt jetzt die Wesensaufgabe, jene Entscheidung zum Seyn mit zu entfalten. Das Werk ist weder sinn-bildlicher Gegenstand noch Anlage der Einrichtung des Seienden, sondern Lichtung des Seyns als solchen, welche Lichtung die Entscheidung zu einem anderen Wesen des Menschen enthält. Die Kunst hat jetzt Da-seinscharakter.“ (GA 66, S. 37) 9 Siehe Heideggers Entfaltung der Thematik von Blick, Anblick und Entgegenblick (GA 77, S. 13 f., 172, 177 f., 182; GA 12, S. 57, 61; GA 54, S. 152 ff., 155 ff., 215 ff.). Roberto Rubio 202 Schluss Heideggers These, die Kunst sei geschichtsgründend, nimmt klare Konturen an vor dem Hintergrund seiner bildorientierten Kunstauffassung. Die geschichtliche Bedeutung der Kunst als sinnstiftende Erscheinungsart sowie ihre spezifische seinsgeschichtliche Relevanz beruhen auf deren Bildcharakter. Die einbrechende Präsenz des Bildes sowie dessen Kraft, die innere Spannung von semantischen und nicht-semantischen Instanzen erfahrbar zu machen, fördert die kritische Erfahrung des überlieferten Hylemorphismus und des darauf basierten Produktionsbegriffs. Die Erfahrung des Bildes im ursprünglichen Sinne und die Kritik der vorherrschenden Darstellungs-, Produktions- und Bildauffassung machen nach Heidegger zwei Seiten derselben Medaille aus. Im Rahmen der Lehre der Seinsgeschichte wird dieser Prozess als „Überwindung der Ästhetik“ gekennzeichnet. Wir können ihn als „Destruktion des Bildes“ wiedergeben. Die Pointe ist hierbei, dass die Kritik der Kunsttradition und die darin eingeschlossene Vorbereitung auf den Wesenswandel der Kunst als die Erfahrung des Kunstwerkes qua ursprüngliches Bild geschieht. Die bildhafte Erscheinung als ursprüngliche Sinn- und Präsenzerfahrung ist der seynsgeschichtlichen Kunst eigen. Rosa Maria Marafioti Der Mensch und der Denker Heideggers Verirrung und seine Kritik am Nationalsozialismus ausgehend von den Schwarzen Heften Das Denken ist die Arbeit des Geistes, die Träumerei seine Lust. Victor Hugo Vorbemerkung Der folgende Beitrag hat zum Ziel, Heideggers Politikauffassung in den 1930er und 1940er Jahren samt seinem fragwürdigen Verhältnis zum Nationalsozialismus ausgehend von den bisher erschienenen Schwarzen Heften (1931-48) - die Überlegungen, die Winke und die Anmerkungen I-V - zu erläutern. Um diesen Zweck zu erfüllen, gilt es, den Gehalt der Schwarzen Hefte vor dem Hintergrund der gleichzeitig entstehenden Abhandlungen und Universitätsveranstaltungen zu verstehen. Denn die Schwarzen Hefte sind kein selbstständiges Werk, sondern Notizbücher, deren Niederschrift im Zusammenhang mit der Kehre vom fundamentalontologischen zum seinsgeschichtlichen Ansatz der Seinsfrage am Anfang der 1930er Jahre beginnt und erst in den 1970er Jahren endet. 1 Infolgedessen begleiten die Schwarzen Hefte den Weg des seinsgeschichtlichen Denkens, das seine erste systematische Gestalt in den Beiträgen zur Philosophie (Vom Ereignis) (1936-38) findet, dessen Gefüge in den großen Abhandlungen von 1938-44 in immer neuen Anläufen durchdacht wird. 2 Deshalb macht das Gedankengut dieser seinsgeschichtlichen Abhandlungen den Maßstab für die kritische Bewertung des ihm neben- und nachgeordneten Sachgehaltes der Schwarzen Hefte aus. Tatsächlich enthalten diese Notizbücher nicht nur Gedankenzüge, die von seinsgeschichtlicher Bedeutung sind, sondern auch untergeordnete Gedanken- 1 Zur Stellung der Schwarzen Hefte in Heideggers Vorhaben seines Gesamtwerkes vgl. Beilage zu Wunsch und Wille (Über die Bewahrung des Versuchten), in: GA 66, S. 420, 426, wo Heidegger schreibt, die „Überlegungen und Winke II-IV-V“ enthielten „den Zug der unausgesetzten Bemühung um die einzige Frage“ (um die Frage nach der Wahrheit des Seins selbst). 2 Es geht um: Besinnung (1938/ 39), Die Überwindung der Metaphysik (1938/ 39, in: GA 67, S. 5-174), Die Geschichte des Seyns (1938/ 40), Über den Anfang (1941), Das Ereignis (1941/ 42), Die Stege des Anfangs (1944). Der Plan der Beiträge stand schon seit dem Frühjahr 1932 - d. h. seit wenigen Monaten nach der Niederschrift des ersten uns verfügbaren Heftes - fest. Rosa Maria Marafioti 204 Splitter, die zwar in der seinsgeschichtlichen Sprache verfasst sind, doch lediglich unter den persönlichen philosophisch belanglosen Ansichten Heideggers zu verzeichnen sind. Zu diesen letzten gehören auch viele den Nationalsozialismus angehende Äußerungen, von denen in den seinsgeschichtlichen Abhandlungen keine Spur zu finden ist. Im Gegensatz dazu wird in Heideggers wegbahnenden Schriften eine eindeutige Polemik gegen die NS-Weltanschauung vorangebracht, die an mehreren Stellen der Schwarzen Hefte anklingt. Aus diesen Notizbüchern tritt auch deutlich hervor, dass Heideggers Annäherung an die NSDAP während der Rektoratszeit durch keine bloß politischen Gründe motiviert war, sondern sich aus einer bestimmten Denkauffassung der europäischen Geschichte und aus dem ganz menschlich illusionären Traum ergab, den Fluss der Weltereignisse durch ein unmittelbares Wirken steuern zu können. Die These, dass Heideggers Anforderungen an die NSDAP eben die Folge der Verblendung eines Privatmenschen waren, der ja als Denker Hitlers Nationalsozialismus schon ab der Mitte der 1930er Jahre durch eine ausschlaggebende Besinnung kritisiert hat, soll in drei Schritten entwickelt werden, die die folgenden Tatbestände in Betracht ziehen müssen: Heideggers Übernahme des Rektorats und sein späterer Rücktritt von dem Amt, die offenkundige Abstandnahme Heideggers von Hitlers Nationalsozialismus durch seine seinsgeschichtliche Deutung, Heideggers Einschätzung der nationalsozialistischen Bewegung und der Rektoratserfahrung nach dem Ende des zweiten Weltkrieges. Der Auftrag der Deutschen und die Führerschaft des Wissens Die Krise der Nachkriegszeit während der Vorlesung Die Grundbegriffe der Metaphysik: Welt, Endlichkeit, Einsamkeit (WS 1929/ 30) auslegend, erfasst Heidegger die Notlage Europas am Ende der 1920er Jahre als eine Folge der von der Seinsverlassenheit veranlassten Seinsvergessenheit. Die im Wintersemester 1929/ 30 vollzogenen Analysen sowie die Auseinandersetzung mit Nietzsche und seiner Rezeption Spenglers, Klages, Schelers, Zieglers, finden einen Widerhall im zweiten veröffentlichten Heft, wo Heidegger Nietzsches Spruch „Gott ist tot“ 3 als Ausdruck des „Nihilismus des Seienden“ deutet, dessen Entwurzelung von der Seinsvergessenheit verursacht werde. Darauf aufbauend behauptet Heidegger, die europäische Krise lasse sich erst durch die Erfahrung der aus der Seinsvergessenheit entspringenden Not bewältigen, die dann mit der Stellung der Seinsfrage einhergehen könne. Da die einzigen, die die Tragweite einer solchen Frage ahnten, obwohl sie nach dem Sein nicht einmal eigentlich fragten, die Griechen waren, gelte es, „‚ursprünglicher‘ - ja zuvor 3 Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, in: Werke, Bd. V, Stuttgart 1921, S. 163, zitiert in: GA 94, S. 76. In der Rektoratsrede wird der Spruch Nietzsches als Ausdruck der „Verlassenheit des heutigen Menschen“ (GA 16, S. 111) angeführt. Der Mensch und der Denker 205 überhaupt begreifenderweise die unerfragte Frage [zu] fragen“. 4 Die Seinsfrage zu stellen, heiße so viel wie in das „wahre Grundverhältnis zum Anfang“ der abendländischen Geschichte - zu den Griechen - zu treten, „und bedeutet auch das Wiederanfangen des Anfangs - dieser das sich loswerfende denkende Dichten […] in seinen wesentlichen Notwendigkeiten - Kunst - Polis - Philosophie - die Götter - die Natur - die Weltbildung.“ 5 Das „denkende Dichten“, das die Seinsfrage stellen müsse, könne nicht durch ein einzelnes Dasein geübt werden, da das Dasein als geschichtliches miteinander in einer von dem überlieferten Seinsverständnis gestalteten Welt sei. 6 Schon in Sein und Zeit (1927) hatte Heidegger geschrieben, die einzelnen Schicksale verbänden sich im „Geschehen der Gemeinschaft, des Volkes“, d. h. im Geschick, dessen Macht in „der Mitteilung und im Kampf […] erst frei wird“ (GA 2, S. 508). Die in den Tod vorlaufende Entschlossenheit - d. h. das auf seine ursprüngliche Endlichkeit sich entwerfende Dasein - lasse das geschichtliche Seiende auf sich zukommen, indem sie es auf seine Gewesenheit zurückwerfe und die Wiederholung bzw. die ausdrückliche Überlieferung einer seiner Existenzmöglichkeiten erlaube. Sich „selbst die ererbte Möglichkeit überliefernd“, könne das geschichtliche Seiende bzw. das Volk „die eigene Geworfenheit übernehmen und augenblicklich sein für ‚seine Zeit‘“ (ebd., S. 509). Als Heidegger Anfang der 1930er Jahre durch die Auseinandersetzung mit Hegel in die Geschichtlichkeit der Wahrheit des Seins selbst (des Seyns) und mithin in die Seinsgeschichte einen Einblick verschafft, misst er dem Völkerbegriff eine maßgebende Bedeutung zu. Die Analyse der Geschichtlichkeit des Daseins auf der seinsgeschichtlichen Ebene in den Überlegungen IV überarbeitend, schreibt Heidegger: „Es gilt, einzuspringen in das Da-sein als ein geschichtliches. Dieser Sprung vollzieht sich nur als die Befreiung des Mitgegebenen in das Aufgegebene.“ (GA 94, S. 237). Der Einsprung in das geschichtliche Da-sein sei zugleich Sprung von dem in der Not der Neuzeit sich vollendeten ersten Angang der Seinsgeschichte in den anderen Anfang als dessen Wiederholung, wie sich aus der gleichnamigen „Fuge“ der Beiträge zur Philosophie entnehmen lässt. 7 Das, was „mitgegeben“ sei, sei bereits „die Not als Not der 4 GA 94, S. 27. „Ursprünglicher“ wird von Heidegger doppeldeutig gemeint: „tiefer“ und zugleich „anfangsgründend“. Vgl. dazu ebd., S. 45, wo zu lesen ist, das Einholen der Griechen bedürfe der „Kraft des Sich-nach-vorne Werfens in einem ur-springenden Erfragen. Das bedeutet aber nur: im heutigen Menschen das Da-sein befreien“. 5 Ebd., S. 87. Vgl. S. 65, wo Heidegger erklärt, „die ursprüngliche Einheit“ von Denken und Dichten gründe sich im „Wesen der Philosophie - als Erfragen des Wesens […] des Seins“. Hier ist die etymologische Bedeutung der Poesie als ποίησις , ausweisendes Heraus-stellen vorausgesetzt, die Heidegger erst im WS 1934/ 35 illustrieren wird (vgl. GA 39, S. 29). 6 Vgl. GA 73, S. 281-282, 370, wo Heidegger die Ansätze der Seinsfrage in Sein und Zeit und in den Beiträgen vergleicht und schreibt: „Kunst also selbst in der Zwischenstellung, damit als Ermächtigung und zugleich als Sammlung - zum geschichtlichen Dasein als Volk mit den Völkern! “. 7 Vgl. GA 65, S. 225, wo auf die Überlegungen II-VII verwiesen ist. In GA 94, S. 234, schreibt Heidegger: „Wer einen großen Sprung tun will, braucht den großen Anlauf. Für Rosa Maria Marafioti 206 Notlosigkeit“ (GA 94, S. 237), d. h. die nie einmal erfahrene und sich seit den Griechen steigernde Seinsvergessenheit: Sie sei aufzugeben, damit der erste Anfang dem anderen zugespielt werden könne. Das Volk, das zuständig für den „Weltaugenblick unserer Geschichte und seine Entschlossenheit“ (ebd., S. 112) sein solle, sei das deutsche. Denn zuerst vermag es nur das Volk der Dichter und der Denker 8 , „das Sein ursprünglich neu [zu] dichten“ 9 , d. h. zu stiften und mithin die Geschichte neu anfangen zu lassen. Der „Vorrang“ 10 , den das Schicksal den Deutschen zugemessen habe, sei keinesfalls als eine Art theoretischer Grund des von einem vermeintlichem „Herrenvolk“ gewollten Kampfes um die Weltherrschaft aufzufassen. Dagegen bringe die Sonderstellung der Deutschen eine höchste Verantwortung gegenüber den anderen Völkern mit sich, sofern „Deutsch sein“ meine: „die innerste Last der Geschichte des Abendlandes vor sich her werfen und auf die Schulter nehmen.“ 11 Wenn die Deutschen diesen Auftrag übernehmen würden, kämen sie als Volk zu sich selbst und könnten gleichsam das Abend-Land angesichts einer anderen Morgenröte zu seinem Untergang führen. Heidegger ist der Meinung, dass die Deutschen noch nicht für ihre seinsgeschichtliche Aufgabe bereit seien. Gleichzeitig mit dem Aufbruch der nationalsozialistischen Partei beklagt er, man werde zwar auf „das politische Wollen der Jungen“ 12 gestoßen, doch sei es parteipolitisch instrumentalisiert. Trotzdem möchte Heidegger auf der Ebene der alltäglichen Politik nichts leisten. Aus den Zeugnissen und Briefen von 1931-33 wird ersichtlich, dass er die Machtergreifung der nationalsozialistischen Partei nur aus zwei Gründen als positiv betrachtet: Die politische Umwälzung werde der Gefahr der Kulturzerstörung durch den Kommunismus wohl entgegentreten und eine erste Erweckung zu- diesen großen Anlauf muß er weit zurückgehen. Dieser Zurückgang muß bis in den ersten Anfang gehen - wenn es im Sprung den zweiten Anfang gilt.“ 8 Heidegger nimmt diese Bestimmung der Deutschen von Madame De Staëls Werk De l’Allemagne (1810) auf, die in den Schwarzen Heften zunächst in stark kritischen Wendungen vorkommt (vgl. ebd., S. 501, 514; GA 95, S. 10; GA 73, S. 862). 9 GA 94, S. 27. Vgl. die Erläuterung der Dichtung als „Stiftung des Seyns“ in der ersten Fassung des Vortrags Vom Ursprung des Kunstwerks (1931/ 32) (in Heidegger Studies 5 (1989), S. 20-21), die Heidegger gleichzeitig mit der zitierten Überlegung verfasst. Die im Kunstwerkaufsatz von 1936 und in den seinsgeschichtlichen Abhandlungen beleuchtete Bestimmung der Dichtung als Wesen der Kunst und der Kunst als Gründungsweise der Seynswahrheit findet in den Überlegungen aus der zweiten Hälfte der Dreißigerjahre einen stetigen Anklang. 10 GA 94, S. 97. Der Vorrang der Deutschen ist ähnlich wie derjenige, der dem Dasein als dem die Seinsfrage zu stellen vermögenden Seienden in Sein und Zeit zugemessen ist (vgl. GA 2, S. 16-18). In den Überlegungen XIV (1940) wird Heidegger den nationalsozialistischen Herrenvolksbegriff stark kritisieren (vgl. GA 96, S. 204). 11 GA 95, S. 2. Nach Heidegger müssen die Deutschen dazu verhelfen, „daß jedes Volk die Größe und Wahrheit seiner Bestimmung finde und bewahre“ (GA 16, S. 193), wenn sie selbstverantwortlich sind. Vgl. die Reden von 1933 und 1937 in GA 13, S. 15-16 und in GA 16, S. 191-193, und die Rückbesinnung des Jahres 1945 in GA 16, S. 414. 12 GA 94, S. 58. Vgl. S. 59, 61 und die Erklärung, seine Bemühungen hätten nichts mit Parteipolitik zu tun, auf den Seiten 63, 109. Der Mensch und der Denker 207 gunsten des „Bau[s] einer volklich gegründeten Welt“ 13 mitbewirken. Doch sei diese ausschließlich „parteipolitische“ „erste“ Revolution nicht genug: Sie solle von einer „zweiten und tieferen“ gefolgt werden, die erst einsetzen könne, wenn die Deutschen über sich selbst und ihren geschichtlichen Augenblick ein Bewusstsein erlangen. Daraus entstehe die Notwendigkeit der Wissenserziehung, dessen Sinn von Heidegger darin gesehen wird, „die innerste Daseinskraft unseres Volkes zu wecken […] um die Grundart des volklichen Seins zu finden.“ 14 Die Freigebung einer solchen Bewusstseinsweckung vermöge nur die Universität. Durch die Überlegungen aus den Jahren 1932-33 wird bestätigt, dass Heidegger die Hochschule als autonom gegenüber dem Staatsapparat und, im humboldtschen Sinne, als den im philosophischen Wissen verwurzelten „Gipfel […] der Nation“ 15 sieht. Er ist jedoch zugleich der Meinung, dass sich die Universität seit dem Ende des 19. Jahrhunderts allmählich so in eine praktisch-technische Erziehungsanstalt verwandelt habe, dass sie eine blinde „politische“ - d. h. völlig ideologisierte - „Wissenschaft“ zwecks der Ausbildung von bloßen Staatsbeamten übermittele. Deshalb bezweckt Heidegger eine Wiederholung der humboldtschen Idee der Universität durch eine Universitätsreform, die er schon seit seinen ersten Freiburger Vorlesungen fordert, damit „eine geistig politische Führung“ 16 der „höheren wissenschaftlichen Anstalt“ sichergestellt werde. Als ihm die Möglichkeit geboten wird, zum Rektor der Universität Freiburg gewählt zu werden, ergreift er die Gelegenheit, in der Hoffnung, 13 Heideggers Brief vom 30.03.1933, in Martin Heidegger u. Eisabeth Blochmann: Briefwechsel 1918-1969, hg. v. Joachim W. Storck, Marbach 1990 2 , S. 60. Vgl. das Zeugnis Hermann Mörchens vom Silvester 1931, das in der Sendung des Westdeutschen Fernsehens vom 23.01.1989 Der Zauberer von Meßkirch - Martin Heidegger veröffentlicht wurde. 14 GA 94, S. 144. Zu der Tatsache, dass Heidegger einerseits sowohl mit der Politik als auch mit den universitären Verwaltungsdingen ganz unerfahren war, anderseits eine radikale Umwälzung alles Bisherigen forderte, vgl. Otto Pöggeler: Philosophie und Nationalsozialismus - am Beispiel Heideggers, Opladen 1990, S. 24-28. Dass Heideggers Patriotismus und Einsatz für eine ursprüngliche Verwandlung die Gründe für seine Verblendung waren, wird betont in Jean Grondin: Warum ich Heidegger in schwieriger Zeit treu bleibe, in: Arnulf Heidegger u. Walter Homolka (Hg.), Heidegger und der Antisemitismus. Positionen im Widerstreit, Freiburg i. Br. 2016, S. 235-237. 15 Wilhelm von Humboldt: Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin, in: Werke in fünf Bänden, hrsg. v. Andreas Flitner u. Klaus Giel, Bd. IV, Stuttgart 1980, S. 255. Heidegger verweist in den Reden vom 25.11.1933 und 15.-16.08.1934 auf Humboldt (vgl. GA 16, S. 198-199, 292-293). Zu Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten zwischen der humboldtschen und der heideggerschen Universitätsauffassung vgl. István M. Fehér: Schelling - Humboldt. Idealismus und Universität. Mit Ausblicken auf Heidegger und die Hermeneutik, Frankfurt a. M. 2007, S. 61-69, 145-159, 188-227. 16 GA 94, S. 115. Zu den Grundzügen der heideggerschen Universitätsreform im Vergleich zu Jaspers Entwurf vgl. Alfred Denker: Martin Heidegger, Karl Jaspers und die Universitätsreform (1919-1933), in Alfred Denker u. Holger Zaborowski (Hg.): Heidegger und der Nationalsozialismus II. Interpretationen, Heidegger-Jahrbuch 5 (2009), S. 32-45. Rosa Maria Marafioti 208 seine Reform in Gang zu setzten und zugleich den anderen Anfang der Seinsgeschichte vorzubereiten. Heidegger sieht die Aufgabe der reformierten Universität als eine Verwandlung der deutschen Wirklichkeit an, die in eine „weltgeschichtliche Wendung“ (GA 97, S. 185. Vgl. GA 16, S. 302-307) münden müsse. Eine solche Wendung solle die eigentliche „zweite und tiefere“ Revolution ausmachen, zu der die nationalsozialistische Partei und ihr Führer allein keineswegs hinleiten könnten. 17 Dieser Sachverhalt tritt schon in der Antrittsrede Die Selbstbehauptung der deutschen Universität (1933) in Erscheinung. Die Universität zu ihrer Selbstbehauptung bzw. zur Wiederaneignung des wesenshaften Wissens als ihres eigenen Wesens auffordernd, ruft Heidegger aus: „Die deutsche Universität gilt uns als die hohe Schule, die aus Wissenschaft und durch Wissenschaft die Führer und Hüter des Schicksals des deutschen Volkes in die Erziehung und Zucht nimmt.“ (GA 16, S. 108). Doch solle die Universität selbst geführt werden, und zwar von demjenigen, der offensichtlich auf die Wurzel des ursprünglichen Wissens zurückgehe und darüber im Klaren sei, dass die „Übernahme des Rektorats […] die Verpflichtung zur geistigen Führung dieser hohen Schule“ 18 sei. Heidegger nimmt an, ein solcher Rektor zu sein: Er versteht sich selbst „platonisch“ 19 als der denkende Führer, der die Universität zur Führerschaft und Erneuerung des geistigen Lebens der Nation leiten muss, indem er einen Einfluss auf den politischen Führer - Hitler - ausübt. Die Notwendigkeit, auf Hitler einzuwirken, um eine innere Wandlung zugunsten einer echten geschichtlichen Wende in der von ihm geleiteten politischen Bewegung zu bewirken, ist Heidegger von Anfang an klar. So leuchtet der Unterschied zwischen den philosophischen Ausführungen des neu gewählten Rektors und der nationalsozialistischen Weltanschauung den hohen Parteifunktionären bald auf. Während der Minister Wacker den Rektoratsredeninhalt als „Privatnationalsozialismus“ 20 bezeichnet, trägt Heidegger um Dezember 1933 in ein Schwarzes Heft ein: „Wir wollen nicht den Nationalsozialismus „theoretisch“ unterbauen […]. Aber wir wollen der Bewegung und ihrer Richt- 17 Vgl. GA 16, S. 192, 302, wo Heidegger unterstreicht, das „Wesen der nationalsozialistischen Revolution“ liege nicht in einer bloßen Machtübernahme, sondern in der „Verwandlung der deutschen Wirklichkeit“ durch die Universität. Deshalb ruft er schon am Anfang des Rektorats zur „Bereitschaft zur ‚Revolution‘ als solche“ (GA 94, S. 112) auf. 18 Ebd., S. 107. Zum „geistig Führen“ vgl. GA 94, S. 138. Zur Zweideutigkeit der Rektoratsrede vgl. Günter Figal: Einleitung, in: Ders. (Hg.): Heidegger Lesebuch, Frankfurt a. M. 2007, S. 24. 19 Zu den Annäherungs- und Entfernungspunkten zwischen Heidegger und Platon vgl. Hannah Arendt: Martin Heidegger ist achtzig Jahre alt, in: Günther Neske u. Emil Kettering (Hg.): Antwort. Martin Heidegger im Gespräch, Pfullingen 1988, S. 232-246, hier S. 244; Giovanni Reale: Heidegger e il nazismo, in Micromega 7 (2013), S. 115-117. 20 GA 16, S. 381. Dieser Ausdruck ist kein Beweis für die These des Buches Emmanuel Faye: Heidegger. Die Einführung des Nationalsozialismus in die Philosophie, Berlin 2009. Gegen die Ausführungen Fayes vgl. François Fédier (Hg.): Heidegger. À plus forte raison, Paris 2007. Der Mensch und der Denker 209 kraft Möglichkeiten der Weltgestaltung und der Entfaltung vorbauen.“ (GA 94, S. 134. Vgl. S. 114-115; GA 16, S. 410-411). Heidegger drückt jedoch schon unmittelbar nach der Wahl zum Rektor großen Zweifel am Erfolg seines Unternehmens aus, wenn er die Überlegung niederschreibt: Gedrängt zur Übernahme des Rektorats handle ich das erste Mal gegen die innerste Stimme. Ich werde in diesem Amt, wenn es hochkommt, allenfalls dieses oder jenes verhüten können. Für den Aufbau - gesetzt, daß er überhaupt möglich ist - fehlen die Menschen. 21 Ende 1933 listet Heidegger elf die Universität bestimmende Faktoren auf, darunter: „1. Die Deutsche Studentenschaft; die […] Deutsche Dozentenschaft; 3. Das S.A.-Hochschulamt“ (GA 94, S. 130). Er bemerkt: „Diese Organisationen wirken […] nicht aus dem wirklichen geschichtlichen Leben der einzelnen Hochschulen, sondern kommen von außen her.“ Die die Erziehung betreffenden Entscheidungen werden „aus den rechnenden Gesamtbedürfnissen der allgemeinen berufsständischen Ansprüche“ getroffen. 7. Die Ministerien übernehmen verwaltungsmäßig die Hochschulen […]. Der Rektor wird aber lediglich zur Vermittlungsstelle jener Organisationen […]. 8. Die Hochschule selbst bringt eine eigentliche ‚Selbstbehauptung‘ nicht mehr auf; sie versteht diese Forderung gar nicht mehr. (Ebd., S. 131) Aus den darauffolgenden Überlegungen geht klar hervor, zu welcher Wesensverwandlung Heidegger die machtpolitische Strömung anhält. Heidegger nennt die vorherrschende Weltanschauung „Vulgärnationalsozialismus“ und bezeichnet ihn als „ethischen Materialismus“, der sich vom ökonomischen Materialismus des Marxismus unterscheide, welchem er entgegentreten sollte, wenngleich er doch dazu nicht gefeit sei. Zudem verschaffe sich dieser Vulgärnationalsozialismus mittels eines „trübe[n] Biologismus“ (ebd., S. 142- 143) seine eigene Ideologie. Dieser Nationalsozialismus verkaufe dem Pöbel veraltete Kulturgüter, durch die sich der „Geist des Bürgertums“ hindurchziehe. Diesem Geist solle ein „geistige[r] Nationalsozialismus“ (ebd., S. 135) den Krieg erklären, den Heidegger auch als „deutschen Sozialismus“ bezeichnet. Er setzt diesem nationalen Sozialismus als „nähere[s] Ziel […] das Zusichselbstkommen des Volkes aus seiner Verwurzelung und aus der Übernahme seines Auftrags durch den Staat“, damit die Erfüllung des eigentlichen - obzwar fernsten - Zieles möglich werde: „die geschichtliche Größe des Volkes in der Erwirkung und Gestaltung der Seinsmächte“ (ebd., S. 136). 21 GA 94, S. 110. Trotzdem schwanken die Überlegungen aus den Jahren 1932-33 zwischen Ver- und Misstrauen gegenüber Hitler. Die Entwicklung von Heideggers Stellung zur NSDAP geht aus dem Briefwechsel mit dem Bruder Fritz deutlich hervor (vgl. Heidegger u. Homolka (Hg.), Heidegger und der Antisemitismus, S. 15-142). Zu Heideggers Hoffnung, dass Hitlers Revolution in den Übergang zum anderen Anfang hätte münden können, vgl. Peter Trawny: Martin Heidegger: Eine kritische Einführung, Frankfurt a. M. 2016, S. 77-84. Rosa Maria Marafioti 210 Kaum ein Jahr nach der Rektoratsauswahl wird sich Heidegger bewusst, dass die vom sogenannten Vulgärnationalsozialismus aufgezwungene „politische Erziehung“ nicht durch eine andersartige ersetzbar ist, die mit den seinsgeschichtlichen Zielen übereinstimmt. Heidegger beschreibt die „wesentliche Erfahrung des zu Ende gehenden Rektoratsjahres“ als „das unaufhaltsame Ende der Universität“ und stellt fest: „Ich stehe am Ende eines gescheiterten Jahres.“ (Ebd., S. 154, 160). Trotzdem gibt er nicht auf und verspricht: „Wir werden auch nie beiseite stehen […]. Wir werden in der unsichtbaren Front des geheimen geistigen Deutschland bleiben.“ 22 Die πóλις , das Politische, die Politik An dieses „geistige[s] Deutschland“ denkend, verweist Heidegger in den Vorträgen Die deutsche Universität (15.-16. 08. 1934) auf das „geheime Deutschland“, das zur Jahrhundertwende dank der Zusammenarbeit von Staatsmännern, Dichtern und Denkern aus den Trümmern der napoleonischen Kriege auferstanden sei. Er spornt zur Wiederholung einer solchen geistigen Erneuerung an und schließt, dass „der Sinn der nationalsozialistischen Bewegung“ und „die Aufgabe der neuen Universität“ in der „Erziehung des Volkes durch den Staat zum Volk“ (GA 16, S. 307) liegt. Damit verherrlicht Heidegger nur scheinbar die nationalsozialistische Partei, denn er betont: „Der neue Geist des deutschen Volkes ist kein zügelloser, herrschsüchtiger und kriegsgieriger Nationalsozialismus, sondern nationaler Sozialismus. Sozialismus aber bedeutet keine bloße Änderung der Wirtschaftsgesinnung […] - sondern: Sozialismus ist die Sorge um die innere Ordnung der Gemeinschaft des Volkes.“ 23 Das somit „formal-anzeigend“ bestimmte „Soziale“ und „Nationale“ weist in die Richtung einer „Erneuerung und Sammlung“ der Deutschen „zu einer abendländischen Verantwortung“ 24 , die der Nationalsozialismus nach Heidegger hätte bewerkstelligen können, falls er sich „vergeistigt“ und auf seine biologischrassische Weltanschauungslehre verzichtet hätte. 22 Ebd., S. 155. Heidegger deutet das „geheime Deutschland“ seinsgeschichtlich in GA 96, S. 31-32. Zu diesem Thema vgl. Francesco Fistetti (Hg.): La Germania segreta di Heidegger, Bari 2001. 23 Ebd., S. 304. In GA 73 bezeichnet Heidegger seine Gegenwart als „müßige Zeit“ und ihre Vertreter als „Werkunfähige und tatenarm (nicht ‚politisch‘)“ (S. 540), indem er schreibt: „unfertig der Staat - ebenso das Volk“ (S. 565). Zur seinsgeschichtlichen Auslegung des Kommunismus vgl. GA 54, S. 127; GA 69, S. 191-196, 202-210; GA 96, S. 128-130, 149-157, 173-174, 256-257; zur Auseinandersetzung Heideggers mit dem Marxismus vgl. Danilo N. Basta: Zu Heideggers Marx-Interpretation, in: Richard Wisser (Hg.): Martin Heidegger - Unterwegs im Denken. Symposion im 10. Todesjahr, Freiburg/ München 1987, S. 215-238. 24 GA 16, S. 414. Zu der Tatsache, dass Heideggers Erwartungen an die NSDAP lediglich auf „eine große geistige Erneuerung“ gerichtet waren, vgl. Hans-Georg Gadamer: Oberflächlichkeit und Unkenntnis, in: Neske (Hg.): Antwort, S. 152-156, hier S. 154. Der Mensch und der Denker 211 Der Glaube an die Möglichkeit einer solchen „Reinigung“ 25 der NSDAP entsprang aus einer Selbsttäuschung. Sobald Heidegger sie einsieht, beginnt er, die Grundzüge der nationalsozialistischen Bewegung zu überdenken. Dies führt ihn einerseits zur Einordnung des sogenannten „Vulgärnationalsozialismus“ als Erscheinungsform des Nihilismus, anderseits zur genaueren Bestimmung der Wesenscharaktere der „neuesten Neuzeit“ als Vollendung des ersten Anfangs der Seinsgeschichte und der ihr eigentümlichen Art von Politik. Wenn Heidegger nach der Rektoratsübergabe für eine Weile noch Worte wie „Entscheidung“, „Macht“, „Wille“ verwendet, „destruiert“ er sie phänomenologisch und misst ihnen eine „formal-anzeigende“ Bedeutung bei, damit sie auf den Bezug zwischen Da-sein und Seyn verweisen können. Dies gilt auch für die Termini „Nationalsozialismus“ und „Politik“, deren Behandlung ab 1934 in den Vorlesungen über Hölderlin und Nietzsche - zwei Bezugsautoren des Hitler-Regimes - und in den Seminaren über Hegels Staatslehre und Über Wesen und Begriff von Natur, Geschichte und Staat (1933-35) einen wichtigen Bestandteil des philosophischen Widerstands Heideggers in der Nazizeit ausmacht. Die Unerlässlichkeit einer „politische[n] Erziehung […] zur Hineinführung in unser eigenes politisches Sein“ 26 wird besonders im Seminar Über Wesen und Begriff von Natur, Geschichte und Staat aufgewiesen. In ihm hält Heidegger für eine „dringende Aufgabe“ seiner Zeit, der „Politik ihren gehörigen Rang wieder zu geben […], sie wieder zu sehen lernen als Grundcharakter des in der Geschichte philosophierenden Menschen und als das Sein, in dem der Staat sich entfaltet, so daß derselbe wahrhaft die Seinsart eines Volkes genannt werden kann“ (WB, S. 72). Um diese Aufgabe zu erledigen, geht Heidegger auf das griechische Wort „ πóλις “ zurück und betont, dass die von ihm stammende und deshalb ursprüngliche Bedeutung von „Politik“ überhaupt nichts mit einem Staatsgeschäft zu tun habe, da sie vielmehr das Ursprungsgebiet von Staat und Menschen sei. „Das Politische“ erweise sich nämlich als die „Grundmöglichkeit und [die] ausgezeichnete Seinsweise des Menschen“, der „in sich die Möglichkeit und Notwendigkeit“ trage, „in einer Gemeinschaft sein eigenes Sein und das der Gemeinschaft zu gestalten und zu vollenden.“ 27 Die Gemeinschaft, zu 25 Vgl. GA 16, S. 414, 655. Zur kritischen Analyse des Namens „National-sozialismus“ vgl. GA 95, S. 161; GA 96, S. 43, 195. 26 Martin Heidegger: Über Wesen und Begriff von Natur, Geschichte und Staat (im Folgenden im Text abgekürzt als WB), in: Alfred Denker u. Holger Zaborowski (Hg.): Heidegger und der Nationalsozialismus I. Dokumente, Heidegger-Jahrbuch 4 (2009), S. 53-88, hier S. 73. 27 Ebd., S. 73, 71. Heidegger legt die aristotelische Definition des Menschen als „ ζῷον πολιτικόν “ aus. Er betrachtet den griechischen Begriff von „ πóλις “ auch in der Staatsphilosophie Hegels gewidmeten Seminar (WS 1934/ 35), wo er sich ebenso mit Carl Schmitts Auffassung des „Politischen“ kritisch auseinandersetzt (vgl. GA 86, S. 172-173, 608-609, 654-655). Der Begriff von „ πóλις “ wird von Heidegger in GA 53, S. 97-108; GA 54, S. 133-143; GA 4, S. 87-88 weiter gedacht. Wahrscheinlich hält Heidegger im SS 1937 gegen die nationalsozialistische Diktatur ein Seminar über Hobbes’ Leviathan (vgl. Bruno Altmann: Ernüchterung eines Philosophen. Heidegger macht nicht mehr gerne Pfötchen, in Rosa Maria Marafioti 212 der der Mensch wesenshaft gehöre, sei das Volk, das nicht durch „Stammesgemeinschaft und Rasse“ entscheidend bestimmt werden könne, sondern durch die „Nation“ als „eine unter gemeinsamem Schicksal gewachsen […] und innerhalb eines Staates ausgeprägte Seinsart“ 28 . Dementsprechend werde das Volk zum Volk, indem es seinem Geschick innerhalb eines die ihm gewährten Wesensmöglichkeiten begrenzenden Staats entspreche. Aus diesem Grund sind Staat und Volk geschichtlich und verhalten sich zueinander wie Sein und Seiendes: Der Staat ist das Sein des Seienden namens „Volk“. Die Klärung des ursprünglichen Wesenszusammenhangs von Volk und Staat, die Heidegger in diesem Seminar bezweckt, soll wahrscheinlich diejenige „Metapolitik“ ausführen, deren Begriff im Schwarzen Heft aus dem Jahr 1933 auftaucht. Dort versteht Heidegger die Meta-politik als eine Entwicklung der Metaphysik, indem er schreibt: „Die Metaphysik des Daseins muß sich nach ihrem innersten Gefüge vertiefen und ausweiten zur Metapolitik ‚des‘ geschichtlichen Volkes.“ 29 In den fundamentalontologischen Arbeiten am Ende der 1920er Jahre sollte die Metaphysik des Daseins die Seinsweise des transzendierenden - meta-physischen - Seienden im Hinblick auf die Frage nach dem Sein überhaupt phänomenologisch beschreiben. Während der Kehre zum seinsgeschichtlichen Ansatz der Seinsfrage denkt Heidegger, dass die Daseinsanalyse in der Erläuterung des „Geschehens der Gemeinschaft“ bzw. des „politischen“ Wesens des Volkes zu radikalisieren sei. 30 Die Metapolitik soll vermutlich dazu dienen, den Deutschen ihr „politisches“ Sein zu zeigen, damit sie in den Stand versetzt werden, innerhalb der Grenzen eines Staates zu sich selbst zurückzukehren und ihre geschichtliche Aufgabe zu erfüllen: die Seinsfrage zu stellen und zu einem „anderen“ geschichtlichen Anfang hinüberzuführen. Denker/ Zaborowski (Hg.): Heidegger und der Nationalsozialismus I, S. 206-209, hier S. 207 f.). 28 WB, S. 73. Heidegger lehnt von Anfang an die nationalsozialistische Rassenlehre ab. Zur These, dass die in den Schwarzen Heften auftauchenden auf die Juden bezogenen Sätze keinen antisemitischen Sinn enthalten, vgl. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Francesco Alfieri: Martin Heidegger. La verità sui Quaderni neri, Brescia 2016, S. 39-41. 29 GA 94, S. 115-116, 124. Der Ausdruck „Metapolitik“ kommt auch in einem in den Jahren der Beiträge zur Philosophie verfassten Manuskript vor, wo sie die Bedeutung der Grenzbestimmung des Politischen einnimmt (vgl. GA 73, S. 565). Durch die Metapolitik greift Heidegger vermutlich den nie verwirklichten Entwurf der „Metontologie“ als „Umschlag“ der Fundamentalontologie in die „metaphysische Ontik“ wieder auf, die der Wesensort der Frage nach der Politik im Bereich des fundamentalontologischen Ansatzes der Seinsfrage hätte sein sollen (vgl. GA 26, S. 199-201). 30 Nach Christian Sommer bezweckt Heidegger durch die Metapolitik, das deutsche Volk zu sich selbst zu führen, indem er es an die Götter zurückzubinden versucht, um einen anderen geschichtlichen Anfang herbeizuführen (cfr. Christian Sommer: Heidegger, politische Theologie, in: Peter Trawny u. Andrew J. Mitchell (Hg.): Heidegger, die Juden, noch einmal, Frankfurt a. M. 2015, S. 43-53). Zum heideggerschen Entwurf einer Ontologie des Volkes, die der Ontologie des Politischen zugrunde liege, vgl. Holger Zaborowski: „Eine Frage von Irre und Schuld? “ Martin Heidegger und der Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 2010, S. 417-433. Der Mensch und der Denker 213 Im Seminar Über Wesen und Begriff von Natur, Geschichte und Staat wird auf ein Drittes hingewiesen, das in einem Wesensverhältnis mit dem Staat und dem Volk steht: „der Führerwillen“, der „allererst die anderen zu einer Gefolgschaft“ umschafft, „aus der die Gemeinschaft entspringt“ (WB, S. 87. Vgl. S. 85). Dass die Charaktere eines solchen Willens - trotz des Verweises auf den Spitznamen Hitlers „Trommler“ - nicht nach dem Vorbild derjenigen des damaligen Kanzlers von Heidegger ausgearbeitet werden, ist aus den Bindungen zu entnehmen, die die Macht des Führers daran hindern, sich absolut und diktatorisch durchzusetzen: „eine Hüterschaft im Volk, die die Verantwortung für den Staat mit tragen hilft“, die mit dem Volk gemeinsame geschickliche Aufgabe, „die Seele des Volkes“, „die Überlieferung“ 31 . Die Rolle des Führers, der „in der lebendigen Entfaltung seines eigenen Wesens zugleich“ versteht und erwirkt, „was Volk und Staat ist“ (WB, S. 73), lässt sich ausgehend von der Beschreibung des Gründers der Seynswahrheit in den Beiträgen zur Philosophie erfassen. Der Gründer sei das Da-sein, sofern sich die Wahrheit des Seyns durch ihn in ein ausgezeichnetes Seiendes einrichte, aus dem her sich eine geschichtliche Welt entfalten könne. In der im Umkreis der Beiträge sich aufhaltenden Abhandlung Der Ursprung des Kunstwerkes (1936) benennt Heidegger fünf Einrichtunsweisen der Seynswahrheit, zu denen auch „die staatsbildende Tat“ 32 gehöre. Wie sich aus der „Fuge“ Die Gründung der Beiträge entnehmen lässt, werde die Seynswahrheit durch den Vollziehenden einer solchen Tat in einem Seienden, und zwar in einem staatlichen Gefüge und in den ihm entsprechenden Gemeinschaftsformen, gründend geborgen. Deshalb überwinde die dadurch entstandene „politische“ Konstellation die Not der Seinsverlassenheit des Seienden und die ihr gemäße Politikauffassung. Gegen Mitte der 1930er Jahre gelangt Heidegger zur Einsicht, dass das neuzeitliche Wesen des Politischen in der Machtpolitik bestehe, indem er die „Machenschaft“ als die der Seinsverlassenheit zugrunde liegende Wesungsweise des Seyns in der Neuzeit versteht. Während die Machenschaft auf der ontischen Ebene eine hinterhältige und intrigante Handlungsweise bezeichne, mache sie seinsgeschichtlich die neuzeitliche Wesungsweise des Seyns in seinem Unwesen aus, die der Auslegung des Seienden als etwas Gemachtes und Machbares zugrunde liege und von der Technik hinsichtlich der „Herstellung des Seienden selbst […] in die berechenbare Machbarkeit“ 33 Gebrauch mache. 31 WB, S. 73, 77, 78. Vgl. GA 86, S. 74, 169-171, wo Heidegger die Führung „in das Volk und […] in seine geschichtliche Sendung“ gründet und sich implizit gegen Hitler wendet („Führer ‚durch seine überzeugende Persönlichkeit‘ (liberal-aesthetisch) oder durch List und Gewalttätigkeit“, „Lenker eines Beamtenapparats“). 32 GA 5, S. 45. Vgl. GA 45, S. 43; GA 65, S. 70-71, 96, 302, 389; GA 73, S. 75. Einige von den hier genannten Bergungsweisen werden auch in GA 94, S. 318, 382, 506 erwähnt. 33 GA 66, S. 173. Zu der Machenschaft vgl. GA 65, S. 107-109, 126-132; GA 69, S. 46- 47, auf die Heidegger in GA 96, S. 111 verweist; GA 66, S. 16-24, auf die er in GA 96, S. 111 und in GA 67, S. 15 verweist. In GA 69, S. 209, und in GA 96, S. 141 kehrt Heidegger den berühmten Satz Clausewitzs um und stellt fest, der „totale“ bzw. aus der Machenschaft entspringende Krieg sei keine Fortsetzung der Politik, sondern seine Verwandlung, Rosa Maria Marafioti 214 Die neuzeitliche Politik sei eine Art von Technik, deren Grundzüge als Beispiele der Seinsverlassenheit in der „Fuge“ Der Anklang der Beiträge hervorgehoben sind. In dieser Schrift werden unter den Gestalten der Seinsverlassenheit auch die folgenden aufgelistet: Die völlige Unempfindlichkeit gegen das Vieldeutige in dem, was für wesenhaft gehalten wird […]. Z. B. was alles ‚Volk‘ heißt: das Gemeinschaftliche, das Rassische, das Niedere und Untere, das Nationale, das Bleibende; z. B. was alles ‚göttlich‘ genannt wird; 2. Das Nichtmehrwissen, was Bedingung ist und was Bedingtes und Unbedingbares. Vergötzung der Bedingungen geschichtlichen Seyns, des Völkischen z. B. mit all seiner Vieldeutigkeit, zum Unbedingten. 3. Das Steckenbleiben im Denken und Ansetzen von ‚Werten‘ und ‚Ideen‘ […]. 4. Demzufolge wird alles eingebaut in einen ‚Kultur‘-Betrieb, 34 dessen Funktionäre für die einzige mögliche „Sinngebung“ der Wissenschaft seine „völkisch-politische oder […] anthropologische Zwecksetzung“ (GA 65, S. 142) halten. Damit betreibt Heidegger offenbar eine seinsgeschichtliche Kritik an der nationalsozialistischen Weltanschauung und an ihrer auf der überlieferten Bestimmung des Menschen als „animal rationale“ und „Subjekt“ beruhenden Anthropologie, die den Volksbegriff unbestimmt lasse, damit sie ihn mit demjenigen der Rasse gleichsetzen und das Blut als letzten Geschichtszweck erheben könne. Die kritische Anspielung auf den nationalsozialistischen Staat in den Beiträgen, der das Gegenbild des aus der Gründung der Seynswahrheit gebildeten Staats ist, wird von unzähligen Überlegungen der Schwarzen Hefte ab 1934 begleitet. In ihnen beklagt sich Heidegger, dass die Vieldeutigkeit des „Volkes“ „die Erfüllung des im Voraus und ohne Wissen neuzeitlich festgehaltenen Subjektcharakters des Menschen“ übernehme und unter „der Maske des Gemeinschaftsgedankens“ verdecke. „Der Subjektcharakter erfährt aber noch eine besondere Verhärtung durch den Vorrang der biologischen […] Deutung des Volkswesens.“ 35 Man wolle das Wesentliche mit der vermeintlichen „Einsicht in die biologischen Züchtungsbedingungen des ‚Volkes‘“ ergriffen haben und erfasse nicht, dass das Volk somit „ohne Sinn und Ziel - ohne den Willen zu einem Ziel“ zurückgelassen werde, „denn die Selbsterhaltung […] kann nie Ziel, sondern muß immer nur Bedingung sein“ (GA 94, 338, 316). Das Rechnen auf den Eigen- oder Gemeinnutz eines „Massen- Unvolkes“ hinsichtlich seiner unterschwelligen Manipulation sei das Verfahren der Politik im „entscheidenden Abschnitt der Neuzeit“ 36 . die auf metaphysische Entscheidungen verweise. Zur Wesensbeziehung der Machenschaft mit der Politik vgl. GA 69, S. 100, 188, 206. 34 GA 65, S. 117. Vgl. S. 24, 98-99, 139, 163 und die Erläuterungen in Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Wege ins Ereignis. Zu Heideggers „Beiträgen zur Philosophie“, Frankfurt a. M. 1994, S. 100-103. 35 GA 94, S. 521. Zur Kritik an der nationalsozialistischen Ideologie in den Überlegungen und Winken vgl. Silvio Vietta: »Etwas rast um den Erdball…«. Martin Heidegger: Ambivalente Existenz und Globalisierungskritik, Paderborn 2015, S. 89-188. 36 Ebd., S. 485. Damit ist die „neueste Neuzeit“ bzw. die Endphase der mit dem ersten Anfang begonnenen Epoche gemeint. Der Mensch und der Denker 215 In einer Überlegung vom Ende der 1930er Jahre gibt Heidegger an: „‚Politisch‘ im neuzeitlichen Sinne […] hat nichts mehr mit der πóλις , ebensowenig mit Sittlichkeit und noch weniger mit der ‚Volkwerdung‘ zu tun“ (GA 96, 43. Vgl. 117, 187-188, 260). Heutzutage sei die Politik die „eigentliche Vollstreckerin der Machenschaft des Seienden; […] deshalb ist die Rede von ‚Machtpolitik‘ ein Mißverständnis in der Form eines überfüllten Ausdrucks“ (ebd., S. 43). Eine solche Politik lasse sich erst „metaphysisch“ erfassen, und zwar als Ausdrucksform der von Nietzsches Gedanken des Willens zur Macht begriffenen höchsten Vollendung der Metaphysik. Nach der Mitte der 1930er Jahre verwendet Heidegger das Wort „Metaphysik“ keinesfalls als Bezeichnung seines eigenen Denkens - deswegen lässt er auch den Ausdruck „Metapolitik“ fallen -, sondern ausschließlich als Bestimmung der abendländischen seinsvergessenden Kulturgeschichte, die ihrerseits nur eine Epoche der Seinsgeschichte ausmacht. Heideggers Überzeugung zufolge lässt sich die Metaphysik in Richtung eines „anderen“ Anfangs nur unter der Voraussetzung überwinden, dass sie als „Geschick“ des Seins selbst und mithin auch die Machenschaft bzw. die Technik als „die Grundform“ der „neuzeitlichen Wahrheit“ 37 des Seienden erfahren werde. Erst eine solche Erfahrung könnte es ermöglichen, mit der Technik sachgemäß - „frei“ 38 - umzugehen - und dem Geschick des Abendlandes standzuhalten. Heidegger glaubt, dass der „nationale Sozialismus“ geeignet gewesen wäre, mit der Technik ein schickliches Wesensverhältnis einzugehen, wenn es seinen geschichtlichen Kontext ursprünglich eingesehen hätte. Die nationalsozialistische Bewegung hat aber kein wesentliches Wissen erlangt und ist im aus der Seinsverlassenheit entstehenden Nihilismus verstrickt geblieben. Das Irren zwischen der Größe und dem Großen In den Beiträgen nennt Heidegger als erstes unscheinbares Zeichen der Seinsverlassenheit die „Berechnung“. Sie sei diejenige Verhaltensweise, welche alles im Voraus so plane, dass das subjekthafte Vor-stellen das Ganze des Seienden beherrschen könne. Aus dieser Rechnung entspringe das „Riesenhafte“, das kein grenzenloses Quantitatives sei, sondern „die Quantität als Qualität“ 39 , und zwar als „Größe“. Durch die „Größe“, die dem „seiner selbstgewißen, Alles auf das eigene Vor- und Her-stellen bauenden ‚Subjektum‘“ (GA 65, 441) angehöre, werde das eigentliche „Große“ „nur mißdeutet und hintangehalten“ (GA 94, 398). Das Große ist in den Schwarzen Heften scharf von der Größe unterschieden, soweit die „Ursprünglichkeit der Wahrheit des Seyns“ zu ihm gehöre, 37 Ebd, S. 238. Zur Metaphysik als Epoche und Geschick des Seins selbst vgl. GA 5, S. 265; GA 7, S. 75. Zur Ratsamkeit der späteren heideggerschen Verwandlung der Überwindung der Metaphysik in ihre Verwindung vgl. Gianni Vattimo: La fine della modernità. Nichilismo ed ermeneutica nella cultura post-moderna, Milano 1985, S. 172-189. 38 Vgl. GA 7, S. 7; GA 16, S. 526-527, 677. 39 GA 65, S. 135. Vgl. S. 120-121, 135-138, 441-443; GA 95, S. 349-350. Rosa Maria Marafioti 216 da diese Wahrheit das jeglichen Maßstäben zugrunde liegende „Übermaß“ 40 sei. In der Sackgasse der Seinsvergessenheit verfangen, kenne die nationalsozialistische Bewegung kein Großes, sondern verberge sein leeres nihil hinter eine riesenhafte Größe, auf die Heidegger während der Vorlesung Einführung in die Metaphysik (SS 1935) anspielt: Was heute vollends als Philosophie des Nationalsozialismus herumgeboten wird, aber mit der inneren Wahrheit und Größe dieser Bewegung (nämlich mit der Begegnung der planetarisch bestimmten Technik und des neuzeitlichen Menschen) nicht das Geringste zu tun hat, das macht seine Fischzüge in diesen trüben Gewässern der ‚Werte‘ und ‚Ganzheiten‘. 41 Die Größe des Nationalsozialismus bestehe nicht in einer Ideologie, sondern hänge von der seine Weltmachtpolitik tragenden Technik ab, welche seine Wahrheit so wie die der Vollendung der Neuzeit sei: Wenn die nationalsozialistische Bewegung dies verstanden hätte, hätte sie der Technik entgegenwirken können, statt sich ihr blind ausliefern zu lassen. Auf Hitlers Nationalsozialismus gesetzt zu haben, ist das Ergebnis der Selbsttäuschung Heideggers und ein Bestandteil desjenigen „Irrtums“ vom Rektorat, welcher der Denker schon ab 1934 eindeutig benennt. In einer Überlegung aus 1939 schreibt Heidegger: Rein ‚metaphysisch‘ (d. h. seynsgeschichtlich) denkend habe ich in den Jahren 1930-1934 den Nationalsozialismus für die Möglichkeit eines Übergangs in einen anderen Anfang gehalten und ihm diese Deutung gegeben. Damit wurde diese ‚Bewegung‘ in ihren eigentlichen Kräften und inneren Notwendigkeiten sowohl als auch in der ihr eigenen Größengebung und Größenart verkannt und unterschätzt. Hier beginnt vielmehr und zwar in einer viel tieferen - d. h. umgreifenden und eingreifenden Weise als im Faschismus die Vollendung der Neuzeit […]. Aus der vollen Einsicht in die frühere Täuschung über das Wesen und die geschichtliche Wesenskraft des Nationalsozialismus ergibt sich erst die Notwendigkeit seiner Bejahung und zwar aus denkerischen Gründen. Damit ist zugleich gesagt, daß diese ‚Bewegung‘ unabhängig bleibt von der je zeitgenössischen Gestalt und der Dauer dieser gerade sichtbaren Formen. 42 40 Ebd, S. 398, 381. Vgl. S. 345; GA 95, S. 321, 427, 430; GA 96, S. 430. 41 GA 40, S. 208. Vgl. Heideggers Kommentar in GA 16, S. 667-668, 677. Zu der über diesen Satz entfachten Debatte und zur Entdeckung eines ähnlichen Ausdrucks in der Hölderlin-Vorlesung vom WS 1934/ 35 (in GA 39, S. 195 steht die fehlerhafte Version „innere Wahrheit der Naturwissenschaft“ statt der richtigen Fassung „des Nationalsozialismus“), welche die These veranlassen könnte, dass Heidegger der nationalsozialistischen Ideologie einen eigenen nationalen Sozialismus entgegensetzen würde, vgl. Julia A. Ireland: Naming Φύσις and the „Inner Truth of National Socialism“: A New Archival Discovery, in Research in Phenomenology 44 (2014), S. 315-346. 42 GA 95, S. 408. Noch in der Anmerkung II spricht Heidegger von der Bewegung Hitlers als einer „erbärmlichen Abirrung“ (GA 97, S. 209) des Wesens des Nationalsozialismus. Mehr als in anderen Schriften arbeitet Heidegger in den Schwarzen Heften die Rektoratserfahrung auf. Unter den Stellen, an denen er von „Irrtum“ spricht, sind: GA 94, S. Der Mensch und der Denker 217 Das, was „unabhängig“ von der unter dem Hitler-Regime von dem Nationalsozialismus eingenommenen Gestalt bleibe, sei seine Wahrheit bzw. die Tatsache, dass er in die Endphase der Neuzeit führe. Den Nationalsozialismus bejahen, heißt hier deswegen so viel wie auf seine Wesensherkunft, d. h. auf die Seinsgeschichte zurückzugehen, um einen „anderen“ Anfang vorzubereiten. Aus der Rektoratserfahrung lernt Heidegger, dass der Anfang nicht unmittelbar tathaft zu erzwingen, sondern auf der Ebene des wirkungslosen Handelns des Denkens zu erharren sei. 43 In den Anmerkungen auf sein Engagement in den Jahren 1933-34 zurückblickend, schreibt Heidegger: „Der Irrtum war nicht ein bloß ‚politischer‘ in dem Sinne, daß man sich in der ‚Partei‘ versah; politisch im weltgeschichtlichen Sinne“ - d. h. im Sinne des ursprünglich Politischen als Entsprechung des Seinsgeschicks im Umgang der Völker miteinander - „war die Entscheidung kein Irrtum; denn es sollte im vorhinein nicht beim National-sozialismus als solchem bleiben […]; er war gedacht als Ende der Metaphysik, als Übergang.“ 44 Das Rektorat war dennoch aus zwei Gründen ein Irrtum: erstens wegen der Unfähigkeit, das Unvermögen der Nazi-Hierarchen zu erkennen, sich anders denn als bloße Funktionäre zu verhalten und „den verbrecherischen Wahnsinn Hitlers“ bzw. sein „verbrecherische[s] Wesen“ 45 zu durchschauen; zweitens aufgrund der „Übereilung […]. Das noch nicht Klar-sehen, […] daß nicht durch ‚Wirken‘ und mit einem ‚Schlag‘ ein Wandel zu schaffen“ 46 sei. Wenn „die technische Welt […] nicht mit Halbheiten zu überwinden ist - sondern nur in einem [denkerischen] Durchgang durch ihr volles Wesen“ (GA 97, 249-250), dann ist nachvollziehbar, warum Heidegger ein stärkeres „öffentliches, allen verständliches Gegenbekenntnis“ 47 zum Nationalsozialismus immer für unangebracht gehalten hat. Er hat wohl keine Re-Aktion leisten wollen, die sich auf derselben Ebene von dem bewegt hätte, dem sie entgegen- 198, 286; GA 95, S. 433; GA 96, S. 172; GA 97, S. 64, 98, 127, 147-148, 174, 258, 274. 43 Vgl. GA 97, S. 343, wo Heidegger bemerkt, die platonische These vom Zusammenfall des Philosophen mit dem Politiker gelte eben für den Philosophen, nicht für den Denker. Zum eigenartigen Handeln des Denkens vgl. GA 9, S. 313-314; GA 97, S. 19, 101, 110, 405, 480. 44 GA 97, S. 148. Vgl. S. 274 und zum „Politischen“ die Seiten 47, 131, 150. 45 Ebd., S. 444, 460. Vgl. S. 98, 147; GA 94, S. 155. 46 GA 97, S. 98. Vgl. S. 130, 185. In GA 73, S. 1015-1017, fügt Heidegger einen dritten Grund hinzu: die „Selbsttäuschung, es ließe sich ungestraft inmitten der Wissenschaften und der wissenschaftlichen Ausbildung - denken“, wohingegen diese wesenhaft ein vorstellendes Berechnen sind. 47 Heideggers Brief an Herbert Marcuse vom 20.01.1948, auf www.marcuse.org/ herbert/ pubs/ 40spubs/ 47MarcuseHeidegger.htm (Stand: 30.06.2017). Hier nennt Heidegger drei Gründe für sein Schweigen: während des Nazi-Regimes die Todesgefahr; nach 1945 die Notwendigkeit, nicht mit den Opportunisten verwechselt zu werden, die zuerst Nazianhänger waren und dann Hitler den Rücken kehrten; den in seinen Universitätsveranstaltungen geleisteten Widerstand. Rosa Maria Marafioti 218 treten sollte, und wäre somit wirkungslos geblieben. 48 Er mochte seine Stimme in das von der Diktatur der Weltöffentlichkeit gestimmte Gelärm nicht einfließen lassen 49 und sich aus demjenigen Schwung des „Man“ herausnehmen, von welchem er selbst mitgerissen wurde. Denn er hat seine Verirrung während der Rektoratszeit in den Schwarzen Heften folgendermaßen ausgelegt: „Irre: Zwar das Wesen des ‚Man‘ denken und es doch im rechten Augenblick weder sehen noch verstehen.“ (GA 97, S. 198. Vgl. S. 143). Der Denker, der in Sein und Zeit die das Dasein aus der Verlorenheit in das Man zurückholende Entschlossenheit entwirft und die Notwendigkeit festgestellt hatte, den Entschluss „für seine mögliche und je faktisch notwendige Zurücknahme“ (GA 2, S. 407 f.) freizuhalten, konnte sich dann von seinem Verfallensein abkehren. Durch seine denkerische Kritik am Nationalsozialismus und am Totalitarismus hat Heidegger einen Deutungsschlüssel für Phänomene der heutigen Welt wie die Massengesellschaft, die Globalisierung, die Biotechnologien, die Abschreckungsstrategien und den Konzernimperialismus geboten. Die Reichweite der heideggerschen Begriffsmittel wurde von seinen (auch jüdischen) Schülern geschätzt, bei denen sie zwecks einer Rehabilitierung der praktischen Philosophie Verwendung fanden. Das fundamentalontologischseinsgeschichtliche Denken als solches hat sich bewährt und wird sich auch noch als einer der im philosophischen Abend-Land „ragende[n] Berge“ bewähren, die „als Richtpunkt“ stehen und „je den Blickkreis“ (GA 65, S. 18) bilden, „universal“ 50 und unabhängig vom Geschichtsbild ihrer Verfasser. 48 Vgl. vor allem GA 65, S. 411; GA 97, S. 58, 122, 128. Zu Heideggers Ablehnung der Anti-Denkungsart vgl. Adriano Fabris (Hg.): Metafisica e antisemitismo. I „Quaderni neri“ di Heidegger tra filosofia e politica, Pisa 2014, S. 106 f. 49 Zum „Man“, seinem Geschwätz und seiner Diktatur vgl. GA 95, S. 92; GA 96, S. 265- 266; GA 97, S. 138, 140, 173, 411, 414; GA 69, S. 74; GA 70, S. 35. 50 Vgl. GA 6.2, S. 300; GA 97, S. 59-60. Ralf Elm Technomorphismus und Seinssorge Aristoteles’ Differenzierung von poíesis, prâxis, theoría und Heideggers frühes Seinsverstehen 1. Vorbemerkung Unser je eigenes Leben in seiner unhintergehbaren Faktizität ursprünglich zu verstehen, machte bekanntlich Heideggers frühes „urwissenschaftliches“ Philosophieren aus. 1 Das Anliegen seiner „phänomenologischen Hermeneutik der Faktizität“ 2 bildete auch den Hintergrund für seine intensive Beschäftigung mit Aristoteles in den 1920er Jahren. Einerseits vollende sich in Aristoteles die ihm vorangegangene Philosophie, andererseits nehme mit der ‚Kulmination‘ in seinem Werk die griechische Grundbegrifflichkeit ein solches Gepräge an, dass sich alle nachkommende Philosophie in ihren Bahnen bewege. Zu diesen prägenden Grundbegriffen zähl(t)en auch Aristoteles’ Differenzierungen von poíesis, prâxis, theoría mit ihren möglichen Bestformen der téchne, phrónesis und sophía. Mehrfach hat Heidegger sie interpretiert. Insbesondere seine frühen Auslegungen des sechsten Buches der Nikomachischen Ethik sowie der Eingangskapitel von Aristoteles’ Metaphysik führten zu einem komplexen Ergebnis. Einerseits zeige sich in der Praxis der phrónesis ein durchgängiger Bezug zur Faktizität, deren ureigenes Sein Aristoteles jedoch aus Gründen einer bestimmten ontologischen Orientierung nicht positiv zu denken vermochte. Andererseits entspringe die sophía zwar dem in einer Sorgestruktur sich vollziehenden faktischen Leben, das sie jedoch in seiner Faktizität gerade im Verfolgen seiner letzten Verstehenshinsichten als theoría wiederum aus den Augen verliere. Daraus ließen sich Rückschlüsse für Heideggers frühe Hermeneutik der Faktizität ziehen, die schließlich zu Sein und Zeit führte. Denn wenn weder über den Seinscharakter der phrónesis noch über den der sophía je für sich das Sein des faktischen Lebens adäquat verständlich wird, dann verstand Heidegger auch hier sein Philosophieren als eines, das im Abbau griechischer Vorentscheidungen vor jedweder Theorie-Praxis-Trennung nach Art einer phroneti- 1 Zur frühen Philosophie als „Urwissenschaft“ s. Martin Heidegger: Zur Bestimmung der Philosophie, hg. v. Bernd Heimbüchel (GA 56/ 57), § 2, bes. S. 15 ff., bzw. als „Ursprungswissenschaft“ s. Martin Heidegger: Grundprobleme der Phänomenologie, hg. v. Hans-Helmuth Gander, GA 58, § 1. 2 Vgl. Martin Heidegger: Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), hrsg. von Käte Bröcker- Oltmanns (GA 63), S. 7, 14 ff., passim. Ralf Elm 220 schen sophía bzw. sophía-artigen phrónesis das Sein des faktischen Lebens auszulegen versuchte. 3 Nun gehört aber zu Aristoteles’ wirkungsmächtigen Unterscheidungen nicht nur die Differenzierung von Theorie und Praxis i. w. S. Mit ihr geht die Frage nach dem Verhältnis von poíesis und prâxis, von téchne und phrónesis einher. Ohne ihre Verschiedenheit zu leugnen, interpretiert Aristoteles sie für Heidegger doch in ein und demselben ontologischen Horizont. Weil dieser ein teleologischer ist und dementsprechend alles Seiende - in Analogie zu Herstellungsprozessen - auf sein spezifisches „Fertigsein“ hin verstanden wird, rücken über ihre Differenzen hinweg poíesis, prâxis und theoría enger zusammen, als es üblicherweise angenommen wird. Ja, mit der Ausrichtung ihrer Tätigkeit am Maßstab des für ihre Bereiche jeweils Vollkommenen, nach dessen Maßgabe téchne, phrónesis wie sophía konkret das ‚hervorbringende Verhalten‘ anleiten, das kontextsensible Tun justieren, das Denken vollziehen - um auf je ihre Weise Perfektion zu verwirklichen - stellt sich die Frage, ob sich nicht überhaupt im teleologischen Verständnis allen Tätigseins einschließlich des menschlichen Lebens im Ganzen eine Grundauffassung technischen Mittel-Zweck-Denkens ausspricht, also im Grundansatz einer spezifisch verstandenen Teleologie eine instrumentelle Vernunft impliziert ist. Wenn das zumindest der Grundtendenz nach zuträfe, wenn ferner Heidegger dann möglicherweise nicht nur die herkömmliche Theorie-Praxis-Trennung zurückzunehmen, sondern damit verbunden überhaupt auch die Bezüge von poíesis, prâxis, theoría neu zu bedenken versucht hätte, dann könnte das weitere Rückschlüsse vor allem auf sein frühes Verständnis faktischen Lebens als „Sorgen“ und „Sein-in-einer-Welt“ zulassen. 4 - Im Folgenden möchte ich deshalb zunächst ausschließlich von Aristoteles her an die zentralen Grundzüge von poíesis (téchne), prâxis (phrónesis) und theoría (sophía) erinnern - was im gebotenen Rahmen freilich nur in einer skizzenhaften Zusammenführung zentraler Stellen unternommen werden kann -, um anschließend Heideggers frühe Aristotelesdeutung vorzustellen und eine besondere Pointe seines Seinsverstehens herauszustellen. 2. Poíesis Zentral für Aristoteles’ Auffassung von poíesis ist ihre allgemeine Bestimmung als durch téchne angeleitete Herstellung und Hervorbringung eines Werkes ( ἔργον ). Auf diese Weise vermag Aristoteles sie von dem abzugrenzen, was von Natur aus wird. Entsprechend bilden das kunstmäßige Hervorbringen und natürliche Werden zwei Arten des Werdens. 5 Während das natürliche Werden 3 Vgl. Ralf Elm: Aristoteles - ein Hermeneutiker der Faktizität? Aristoteles‘ Differenzierung von Phronesis und Sophía und ihre Transformation bei Heidegger, in: Alfred Denker et al. (Hg.), Heidegger und Aristoteles, Heidegger-Jahrbuch 3, Freiburg/ München 2007, S. 255- 282. 4 Martin Heidegger, GA 63, S. 102. 5 Vgl. Met. VII 7, 1032 a12 f. Technomorphismus und Seinssorge 221 dasjenige meint, das aus der Natur hervorgeht, und während das somit von Natur aus Seiende das Prinzip seiner Bewegtheit und Ruhe, seines Werdens und Seins in ihm selbst hat, entsprechend auch nur von Artgleichem erzeugt wird, 6 sieht das bei dem poietischen Hervorbringen und also dann durch Kunst Seienden (bzw. analog z. B. bei den durch die ärztliche Kunst hervorgebrachten Zuständen) anders aus. Das Hervorbringen und kunstmäßig Werdende haben ihr Prinzip, mithin ihre Bewegungs- und Zielursache in der téchne bzw. in Vermögen und Überlegung. 7 Damit liegt das Prinzip des kunstmäßigen Hervorbringens „in der Seele“ 8 des Künstlers bzw. „im Hervorbringenden, nicht jedoch im Hervorgebrachten“. 9 Das, was als Prinzip ( ἀρχή ) im Künstler leitend ist, ist die Form ( εἶδος ) des Herzustellenden als Ziel, Zweck, Ende ( τέλος ) des Herstellungsvorganges selbst. Weil diese Form als Telos der Hervorbringung dieser zuvor erfasst sein muss (im νοεῖν bzw. in der νόησις ), sagt Aristoteles, die Noesis müsse der poíesis vorausgehen. Von der erfassten Form (ohne Stoff) bzw. dem Zweck als Erstem geht die Überlegung zu den Mitteln bis hin zu dem letzten Mittel, das der Künstler nun in umgekehrter Reihenfolge als erstes direkt ergreifen kann, um über die weiteren Mittel sukzessive das (mit dem Stoff) bezweckte Werk hervorzubringen. 10 Eine solche „mit Überlegung verbundene Grundhaltung des Hervorbringens“ 11 ist für Aristoteles die die poíesis eigentlich tragende téchne. Beide haben mit der genuinen prâxis und ihrer Höchstform, der phrónesis (Klugheit), gemeinsam, dass sie nicht das Notwendige und Ewige, sondern das, was auch anders sein kann, zum Gegenstand haben. 12 Der entscheidende Unterschied ergibt sich aus der zielgerichteten Produktorientiertheit von poíesis und téchne im Gegensatz zur Selbstzwecklichkeit von prâxis und Klugheit. „Jeder, der etwas herstellt, tut dies umwillen von etwas, und das Herzustellende ist nicht Ziel schlechthin (es ist vielmehr für etwas und von etwas), sondern das ist das tunliche Handeln. Denn das gute Handeln ist Ziel, und das Streben erstrebt dieses.“ 13 Wenn etwas Herzustellendes, ein bestimmtes Werk ( ἔργον ), auf etwas anderes verweist ( πρός τι ) - das hergestellte Haus zum Wohnen ist -, dann gehört dieses Wohnen in seinem konkreten praktischen Vollzug nicht mehr zum Herstellungsbereich der Technik. Poíesis und téchne produzieren deshalb Werke, die „außerhalb“, „neben“ ( παρά ) den hervorbringenden Tätigkeiten zum Gegenstand des Gebrauchs im umgreifenderen Praxiszusammenhang wer- 6 Vgl. ebd. 1032 a16 ff., a 25; Phys. II 1, 192 b13 f. 7 δύναμις und διάνοια , Met. VII 7, 1032 a25 ff. 8 ἐν τῇ ψυχῇ , ebd. 1032 b1, 23; Phys. II 3, 194 b26. 9 EN VI 4, 1140 a13 f.: ἡ ἀρχὴ ἐν τῷ ποιοῦντι ἀλλὰ μὴ ἐν τῷ ποιουμένῳ . 10 Vgl. Met. VII 7, 1032 b15 ff. 11 Vgl. EN VI 4, 1140 a4 f. die Bestimmung der ποίησις als μετὰ λόγου ποιητικῆς ἕξεως . 12 Vgl. ebd. 1140 a1. 13 EN VI 2, 1139 b1 ff.: ἕνεκα γάρ του ποιεῖ πᾶς ὁ ποιῶν, καὶ οὐ τέλος ἁπλῶς (ἀλλὰ πρός τι καὶ τινός) τὸ ποιητόν, ἀλλὰ τὸ πρακτόν· ἡ γὰρ εὐπραξία τέλος, ἡ δ᾽ ὄρεξις τούτου (vgl. VI 5, 1140 b 6ff.) Ralf Elm 222 den. 14 Selbst wenn poíesis und prâxis in ihren konkreten Vollzügen streng zu unterscheiden sind, weil sie unterschiedlichen Typs sind, gehört poíesis offensichtlich integral zur prâxis in ihren weiteren Zusammenhängen. 3. Prâxis Der Grundbegriff der prâxis durchzieht Aristoteles’ gesamtes Denken. 15 Es lassen sich zwei grundsätzliche Tendenzen feststellen. Zum einen wird prâxis im Horizont von Biologie, Kosmologie und Theologie in einem universalen, mit dem Leben identischen Sinne verstanden. Zum anderen gilt sie als Spezifikum des Menschen. Zunächst qualifiziert sie das Wesen des Lebendigen und der Natur ( φύσις ). Prâxis wird geradezu gleichgesetzt mit „Leben“ und „Bewegung“ 16 , die ihrerseits im biologisch-kosmologischen Horizont als vollzugshaftes „Streben“ ( ὄρεξις ) nach Voll-endung, nach Vollkommenheit, nach Teilhabe am Göttlichen verstanden werden. 17 Weil zuletzt das Göttliche, der „Unbewegte Beweger“, als reine „Wirklichkeit“ ( ἐνέργεια ) das vollkommen Seiende und Beste ist, bewegt er „als Erstrebtes“, „als Geliebtes“. 18 Während er selbst „ohne alle prâxis ist, da er sich selbst das Worumwillen ist“ 19 , und auch seine Denktätigkeit für Aristoteles keine prâxis, sondern reiner, in sich stehender Vollzug ist, ist das nach Vollkommenheit strebende Bewegtsein alles anderen (unvollkommenen) Seienden prâxis im weiteren Sinne. Der Vollzugsgesichtspunkt wird insbesondere in den Schriften zur Ethik, Politik, Rhetorik und Poetik beibehalten, nur dass prâxis hier ausschließlich dem Menschen zugesprochen wird. „Die Tiere besitzen keine prâxis.“ 20 Mögen die Tiere auch der Ursprung etwa ihrer Fortpflanzung sein, so „ist speziell der Mensch auch noch Ursprung von bestimmten Handlungen, er allein unter den 14 EN I 1, 1094 a4 ff. 15 Basis der Verwendung seines prâxis-Begriffs ist einmal das alltägliche und überlieferte Verständnis von prâxis, wonach darunter das Tätigsein teils mit, teils ohne Bezug auf das Ergebnis des Tätigseins insbesondere im Bereich des menschlichen Lebens verstanden wird. Ebenso werden Platons erste Unterscheidungen von prâxis im Sinne zunächst von handwerklicher Tätigkeit und lógos (Gorg. 449d ff.), im Ansatz die Unterscheidung von poíesis (als herstellendem Machen) und prâxis (Chrm. 163b), ferner die Einteilung der Wissenschaften in handelnde und erkennende Wissenschaften (Plt. 258e f.) als Vorform der Unterscheidung von prâxis und theoría bei Aristoteles in begrifflich klarer und wirkungsgeschichtlich entscheidender Weise ausdifferenziert. 16 Pol. I 4, 1254 a7; De caelo II 6, 288 b33; EE II 6, 1222 b29. 17 De an. II 4, 415 a26 ff. 18 Met. XII 7, 1072 a26, b3. 19 De caelo II 12, 292 a24 f., b4 f. 20 EN VI 2, 1139 a20. Genau heißt es dort: Es sei offenkundig, „dass die Tiere ( τὰ θηρία ) wohl Wahrnehmung besitzen, aber an der Praxis keinen Anteil haben ( πράξεως δὲ μὴ κοινωνεῖν ).“ Technomorphismus und Seinssorge 223 Lebewesen; denn von keinem anderen könnten wir sagen, es handle“. 21 Der Mensch allein verfügt durch seine für Aristoteles nicht durch Notwendigkeit, Zufall oder Natur determinierte ,Vorzugswahl‘ ( προαίρεσις ) über den Ursprung und Modus seiner prâxis. 22 Prohaíresis wird näherhin gefasst als Ineinsgehen von Streben und Vernunft, als strebende Vernunft bzw. vernünftiges Streben: „Ein solcher Ursprung ist der Mensch.“ 23 Das Handeln verwirklicht in seinem Vollzug als dieser das jeweils erstrebte Gut ( οὗ ἕνεκα, ἀγαθόν ). Da prâxis so ihr Ziel jeweils in sich trägt und vollzugshaft realisiert, ist sie für Aristoteles im eigentlichen Sinne Praxis und wird als ἐνέργεια , als eigentliche Wirklichkeit, Verwirklichung, Tätigkeit begriffen. 24 Als solche ist sie streng von der Tätigkeitsart herstellerischer poíesis zu unterscheiden, die ein vom Tätigkeitsvorgang (z. B. Bauen) ablösbares Werk (etwa ein Haus) produzieren will. 25 Deshalb gehören poíesis und prâxis „zu verschiedenen Genera“. 26 Entsprechend unterscheiden sich auch ihre Vernunftformen des Könnens. Die poietische Herstellung von etwas basiert auf dem habitualisierten technischen Können und Wissen, auf der téchne als Kunst(fertigkeit). Demgegenüber verwirklicht sich die selbstzweckhafte gute prâxis als Vollzug von phrónesis, die als sittlich-praktisches Können und Wissen schlicht die Form gelingender Lebenspraxis selbst ist. 27 Diese bereits angesprochene Differenzierung von produktorientiertem Machen einerseits und selbstzweckhaften Vollzügen andererseits erfährt je nach Diskussionskontext im aristotelischen Oeuvre allerdings unterschiedliche, z. T. voneinander abweichende Ausprägungen. Beispielsweise kann Aristoteles politische Tätigkeiten im Allgemeinen und kriegerische Auseinandersetzungen im Besonderen durchaus zu tugendhaften Praktiken zählen ( κατὰ τὰς ἀρετὰς πράξεις ), aber zugleich sagen, dass sie nicht um ihrer selbst willen gewählt werden und ein von ihrem Vollzug unterschiedenes Ziel verfolgen, also z. B. poietische Funktionen umwillen der Herstellung von Frieden übernehmen. 28 Aristoteles betont die Verwirklichung von Zielen und Zwecken vor allem deshalb von ihrer praxisimmanenten Seite, weil es für ihn im komplexen Zusammenhang der praktischen Vollzüge insgesamt auf das Gelingen der Lebenspraxis als Ganzer ankommt. „Wenn es aber ein Endziel ( τέλος ) der Handlungen ( τῶν πρακτῶν ) gibt, das wir um seiner selbst willen wollen, das übrige aber seinetwegen, wenn wir also nicht alles um eines anderen willen erstreben [...], dann ist es klar, dass jenes das Gute und das Beste ist“. 29 In aller prâxis erstrebt der Mensch nach Aristoteles das Ziel aller Ziele um seiner selbst 21 EE II 6. 1222 b 19. 22 EE II 6, 1223 a 15 ff.; EN III 3 ff. 23 EN VI 2, 1139 b5. 24 Vgl. z. B. EN I 1, Anfg.; I 6 passim; I 8, 1098 b15. 25 Vgl. z. B. EN I 1; VI 4; Met. IX 6, 1048 b18 ff. 26 EN VI 5, 1140 b6 ff. 27 Vgl. EN VI 4, 1140 a3 ff.; VI 5, 1140 b1 ff. 28 Vgl. EN X 7, 1177 b5 ff., b16 ff. 29 EN I 1, 1094 a18 ff. Ralf Elm 224 willen, die eudaimonía als das Gelingen seiner gesamten Lebenspraxis. Als das das Lebensganze umgreifende télos des Menschen ist die eudaimonía nur im prâxis-Modus der enérgeia wirklich. Denn weil das „Leben Praxis und nicht Herstellung ist“ 30 , kann die eudaimonía als lebensimmanentes télos von prâxis kein Werk außerhalb des Lebensvollzugs sein. Wirklich ist sie nur in der prâxis, aber nicht in jedweder, sondern allein im Vollzug des guten Lebens und Handelns (als εὖ ζῆν, εὐζωία, εὐ πραττεῖν, εὐπραξία 31 ) innerhalb eines es ermöglichenden politischen Zusammenhangs. 32 Dieser sittlich-praktisch-politischen Lebensform kann Aristoteles die Lebensform der Theorie bald gegenüberstellen, bald diese als höchste Form von prâxis bestimmen. 33 Damit ist die Frage verbunden, ob das bürgerlichpolitische Leben oder die theoretisch-philosophische Lebensform wählenswerter sei. Hier arbeitet Aristoteles sowohl eine Rangordnung von Praxis und Theorie als auch eine Wechselseitigkeit aus. Die entscheidende Vermittlung leistet das Verständnis von prâxis und ihrer Bestform ( εὐπραξία als εὐδαιμονία 34 ). Insofern auf sittlich-politische Weise im abwechselnden Regieren und Regiertwerden von Freien und Gleichen das Guthandeln ( εὐπραξία ) und das glückselige Wohlergehen ( εὐδαιμονία ) eines sind, „so dürfte wohl das praktische Leben ( βίος πρακτικός ) gemeinsam für den ganzen Staat wie auch für den Einzelnen das beste sein“. 35 Indem Aristoteles jedoch den prâxis-Begriff weiter fasst und die höchste Form der prâxis nach Maßgabe größtmöglicher Unabhängigkeit und Selbstzweckhaftigkeit versteht, nimmt das theoretische Leben ( βίος θεωρητικός ), das Leben der Betrachtung ( θεωρία ), den ersten Rang ein und gilt als höchste prâxis und unüberbietbare Glückseligkeit. Denn „es braucht sich das praktische Leben durchaus nicht nur auf andere zu richten, wie einige meinen, und es sind durchaus nicht nur jene Gedanken praktisch, die um der aus dem Handeln sich ergebenden Zwecke willen geschehen, sondern viel mehr noch sind die selbstzwecklichen (Gedanken) und die Betrachtungen und Überlegungen (praktisch), die um ihrer selbst willen erfolgen“. 36 Weil diesen Grad von Selbstzweckhaftigkeit das praktisch-politische Leben aufgrund der in ihm waltenden Abhängigkeiten nicht erreichen kann, ist alles für den Menschen als Menschen hier erreichbare spezifisch menschliche Glück ‚nur‘ eine 30 Pol. I 4, 1254 a7: ὁ δὲ βίος πρᾶξις, οὐ ποίησις, ἐστιν . 31 Vgl. z. B. EN I 2, 1095 a19; I 8, 1098 b21 f. 32 Übrigens differenziert Aristoteles mit dieser auf das Gelingen des Handelns zielenden Bestimmung auch die bereits bei den Tragikern und Platon verwendete Begriffsverbindung der εὐπραξία weiter aus, in der die Momente von Erfolg, Glück(en) und Wohlergehen zusammenkommen (z. B. Aisch., Sept. 223 ff.; Platon, Chrm. 172a, 173d; Grg. 507c). Vgl. ferner die Fortführung in den Grundbestimmungen seiner Poetik (Poet. 6, 1450 a17 ff.). 33 EN X 6 ff.; Pol. VII 3. 34 Pol. VII 3, 1325 a22 f. 35 Ebd. b14 ff. 36 Ebd. b19 ff.; EN X 7. Technomorphismus und Seinssorge 225 Glückseligkeit „im zweiten Sinne“. 37 Aber selbst wenn der Mensch ein Leben des Geistes gemäß dem Göttlichen in ihm als ‚höchste prâxis‘ führt, so bildet die Polis seine Basis, mit der er als Mensch und Mitbürger in allem Überschreiten verbunden bleibt, weil sie ihn aufgrund ihrer Verfasstheit überhaupt zu tragen imstande ist. 38 4. Theoría Theoría, das philosophisch-wissenschaftliche Betrachten und Erkennen, bestimmt Aristoteles bekanntermaßen ebenfalls durch verschiedene Abgrenzungen. Je nach Gesichtspunkt gibt es jedoch erneut über diese Abgrenzungen hinweg tiefere Zusammenhänge, die ebenfalls berücksichtigt werden müssen. Beispielsweise zeigt seine Rekonstruktion der Genesis der Wissenschaft an verschiedenen Stellen, wie das freie Betrachten einerseits auf bestimmten praktischen Voraussetzungen beruht, selbst lebensweltlich aus Alltags- und Herstellungswissen hervorgeht, aber dann eine Tendenz freisetzt, die im ausdrücklichen Unterschied zu den lebensweltlichen Interessenslagen und praktischen Abzweckungen Sachverhalte um ihrer selbst willen betrachtet; gleichwohl kann Aristoteles dabei diese theoría als zweckfrei-verweilende Betrachtung in ihrer Höchstform unter dem Gesichtspunkt des Vollzugs auch wieder als höchste prâxis ansprechen. - Ich werde kurz die praktischen Voraussetzungen und lebensweltlichen Vorformen anführen, dann an Genesis und Vollzug der theoretischen Lebensform erinnern. Wissenschaftliches Betrachten bedarf der praktischen Voraussetzungen. Denn Bedingungen für das Entstehen und für die Bewahrung der freien Wissenschaften in einem Raum der Muße sind die Versorgung mit dem Lebensnotwendigen auf ökonomisch-technischer Basis (Arbeiten und Herstellen) sowie auf der Ebene politischer Selbstverwaltung das freie politische Tätigsein (Handeln) als politisch-praktische Vollzugsform der Autarkie der politischen Gemeinschaft 39 , die ihrerseits ihre gegliedert differenzierte und gestufte Lebensform in einer Art von Erziehung zur Muße fortzusetzen bestrebt ist. 40 Wie von praktischen Voraussetzungen, so sind die Wissenschaften auch von Vorformen der Wirklichkeitseröffnung und Erschließung von Welt abhängig. Bereits in den elementarsten Weisen der Wirklichkeitserkenntnis, in den Sinneswahrnehmungen, liegt Aristoteles zufolge etwas, das vom Nutzen absieht und zu einem spezifischen Anschauen tendiert. „Nicht nämlich nur zum Zweck des Handelns, sondern auch, wenn wir nicht zu handeln beabsichtigen, ziehen wir das Sehen ( ὁρᾶν ) so gut wie allen anderen vor. Ursache davon ist, das dieser Sinn uns am meisten Erkenntnis gibt und viele Unterschiede aufdeckt.“ 41 So 37 EN X 8, 1178 a9. 38 Vgl. EN X 8 und 9. 39 Met. I 1, 981 b20 ff.; 2, 982 b22 ff.; Pol. I 1-2. 40 Pol. VII 14, 1333 b30 ff.; 15, 1334 a15 ff. 41 Met. I. 1, 980 a24 ff. Ralf Elm 226 sehr aber schon in unseren Wahrnehmungen, darauf aufbauend in Erinnerungen, Vorstellungen und Erfahrungen Momente des Betrachtens liegen, freigesetzt wird dieser ‚theoretische‘ Grundzug erst in téchne und Wissenschaft ( ἐπιστήμη ), schließlich in der Weisheit ( σοφία ) als höchster Wissensform in ihrem Vernehmen ( νοεῖν ). Entlang des Zusammenhangs vom alltäglichen Sehen bis zum philosophischen Betrachten und durch die Formen des Wissens hindurch gibt es eine zunehmende Distanz zur praktischen Abzweckung durch eine immer umfassendere Erkenntnis des Allgemeinen, durch ein immer freieres Wissen um Gründe und Ursachen 42 ; und „auch zu lehren fähiger ist die auf die Ursachen theoretisch gerichtete Wissenschaft; denn es lehren diejenigen, die zu jedem die Ursache angeben“. 43 Das Wesen dieser sozusagen theoretischen Weisheit ist für Aristoteles ebenfalls im lebensweltlichen Wissen der die poíesis integrierenden prâxis vorverstanden. Denn war Weisheit ursprünglich praktische Weisheit des welterfahrenen oder in einer Kunst kompetenten Weisen, so trifft für Aristoteles schon das, was dem allgemeinen Vorverständnis nach die (poietisch-praktische) Weisheit eines (z. B. Werkstatt-)Meisters in seinem Metier ausmacht, für die theoretische Wissenschaft zu. 44 Dazu gehört dann, dass sie 1. nach Möglichkeit alles wissen will, 2. das Schwierige durchschaut, 3. Ursachen genauer kennt und besser lehrt als andere Erkenntnis, 4. um ihrer selbst und des Wissens (letztlich des Ersten und der Ursachen) willen vollzogen wird, 5. leitend und gebietend ist, weil sie um den Zweck des Guten in und von allem weiß. Seine Vollendung erreicht dieses betrachtende Erkennen in der sophía bzw. Philosophie. Aristoteles definiert sie als „theoretische Wissenschaft ( ἐπιστήμη θεωρητική ) von den ersten Prinzipien und Ursachen“. 45 Met. VI 1, 1026 a18 f., spricht von „drei theoretischen Philosophien“ und meint damit Mathematik, Physik, Theologie ( τρεῖς φιλοσοφίαι θεωρητικαί, μαθηματική, φυσική, θεολογική ). ‚Theoretisch‘ sind diese Wissenschaften, weil sie ihre Gegenstände von ihnen selbst her, das Seiende in seinen notwendigen Gründen und Ursachen primär betrachten und so begreifen wollen. Da das Betrachten um seiner selbst, um des Wissens selbst willen und nicht um eines äußeren Nutzens willen geschieht, entspricht dieser ‚Nutzlosigkeit‘ der theoretischen Wissenschaften, dass sie „nicht notwendig“ und „frei“ sind. 46 Innerhalb der theoretischen Wissenschaften gibt es für Aristoteles eine Rangordnung, die sich von der Gegenstandsseite her bestimmt. „Gibt es etwas Ewiges, Unbewegliches, Abtrennbares, so muss offenbar dessen Erkenntnis einer betrachtenden Wissenschaft angehören ( θεωρητικῆς τὸ γνῶναι ). [...] Denn unzweifelhaft ist, dass, wenn sich irgendwo ein Göttliches findet, es sich in einer solchen Natur findet, und die würdigste Wissenschaft die würdigste Gattung des Seienden zum Gegenstande haben 42 Ebd. 981 a12 ff. 43 Ebd. I 2, 982 a28 ff. 44 Met. I 2, 982 a4 ff.; a 19 ff. 45 Met. I 2, 982 b9 f. 46 Met. I 1, 981 b21; 2, 982 b27. Technomorphismus und Seinssorge 227 muss“. 47 Diese Wissenschaft bezeichnet Aristoteles als „erste Philosophie“ und „erste Wissenschaft“. 48 Da ihre Theorie das Höchste und Ehrwürdigste betrachtet, denkend erfasst, ist sie unüberbietbar höchste und schlechthin vollendete Theorie. Es handelt sich um die Theologie bzw. wegen des Göttlichen als des höchsten Seienden um die Ontologie ( περὶ τῆς οὐσίας ἡ θεωρία 49 ). Zur theoría ist der Mensch durch seinen Geist ( νοῦς ) befähigt, der sich als Vermögen ( δύναμις ) im Vollzug des Betrachtens als reines Tätig- und vollendetes Wirklichsein ( ἐνέργεια ) aktualisiert. Ein solches betrachtendes Tätigsein ( ἐνέργεια θεωρητική 50 ) ist wohl Höchstform des Wissens, aber für Aristoteles nicht nur im Gegensatz zur prâxis, sondern in bestimmter Hinsicht nun wieder als deren Vollendung. Denn prâxis braucht nicht nur auf Mitmenschen und äußerliche Zwecke bezogen sein. Denken kann auch prâxis sein und das umso mehr bei „Betrachtungen und Überlegungen, die um ihrer selbst willen erfolgen“. 51 Wie oben bereits angesprochen, kennt die „praktische Lebensform“ ( βίος πρακτικός ) zwar auch die selbstzweckliche tugendhafte prâxis. Dennoch gewährt ihr Vollzug nur eine Glückseligkeit „zweiten Ranges“, weil der Mensch als Einheit aus Leib und Seele und im gemeinschaftlichen Miteinander noch in zahlreichen Abhängigkeiten steht. 52 Diese überschreitet erst die „Lebensform der Betrachtung“ ( βίος θεωρητικός ). Ein solches Leben gemäß dem Geist, im und als Vollzug des Nous, geht über das Leben des Menschen als Menschen hinaus, ist lebbar nur, „insofern er etwas Göttliches in sich hat“. Nach Maßgabe des Unterschiedes zwischen diesem Göttlichen selbst und dem aus Leib und Seele zusammengesetzten Wesen ist wiederum zu verstehen „der Unterschied zwischen der Tätigkeit, die von diesem Göttlichen ausgeht, und allem sonstigen tugendhaften Tun. Ist nun der Geist im Vergleich mit dem Menschen etwas Göttliches, so muss auch das Leben nach dem Geiste im Vergleich mit dem menschlichen Leben göttlich sein“. Von daher schränkt Aristoteles die berühmte Mahnung, als Menschen nur an Menschliches, als Sterbliche nur an Sterbliches denken zu sollen, ein und fordert selbst zur Bemühung auf, „soweit es möglich ist, unsterblich zu sein und alles zu tun, um nach dem Besten, was in uns ist, zu leben“. Weil dieses Göttliche in uns als unser wahres Selbst und der Vollzug des jedem Wesen Eigentümlichen für es als das beste gelten, ist das betrachtende „Leben gemäß dem Geiste, da ja dieses am meisten der Mensch ist“, das glückseligste. Dazu gehört im Einzelnen, dass die Tätigkeit des Geistes als das Beste in uns auch die besten Gegenstände des Erkennbaren betrachtet; Aristoteles zählt alles dazu, was sich nicht anders verhalten kann, das Notwendige, deshalb Ewige, und dies bis hin zur höchsten Betrach- 47 Met. VI 1, 1026 a10 f., 19 ff. 48 Ebd. 1026 a16; XI 4, 1061 b19. 49 Das ist die Eingangsformulierung von Met. XII 1069 a18. 50 EN X 7, 1177 a16, 18, b19. 51 Pol. VII 3, 1325 b19 ff. 52 Vgl. EN X 8. Zur oben näher beschriebenen philosophischen Lebensform s. EN X 7, insb. ab 1177 b28 bis zum Ende. Ralf Elm 228 tung des göttlichen Ursprungs von allem in der „ersten Philosophie“. Außerdem ist das θεωρεῖν am anhaltendsten von allen Tätigkeiten und bietet wunderbar reine, nicht mit Schmerz vermischte, beständige Freuden. Ferner gibt es Autarkie am meisten bei der Betrachtung ( περὶ τὴν θεωρητικήν ), die wir auch vollziehen können, wenn wir alleine sind, und je weiser man ist, umso mehr. Die Betrachtung wird ihrer selbst wegen geliebt, bietet sie doch außer dem Betrachten nichts. Vollzieht sich dieses Leben der Betrachtung wirklich als βίος über das ganze Leben, dann ist dieser βίος θεωρητικός die Glückseligkeit schlechthin gewährende Lebensweise eines Freien. 53 - Für Aristoteles ist Maßstab und Musterbeispiel der betrachtenden Tätigkeit die theoría Gottes selber, der sich selbst sein Worumwillen ist, sowie das Universum, das wie Gott keine nach außen gerichteten Tätigkeiten, sondern nur die in ihnen eigentümlich beschlossenen kennt. 54 Paradigma ist das vernehmende Erkennen, das im Vernehmen den Ursprung von allem denkt, mithin Gottes Denken des Denkens ( νόησις νοήσεως ). 55 5. Zusammenhang von poíesis, prâxis, theoría durch ein teleologischtechnomorphes Seinsverständnis? Martin Heideggers frühe Aristoteles-Deutung Wie wenn sich für Aristoteles die Sphären des Lebens in einer gewissen Hierarchie der Tätigkeitsvollzüge spiegelten, greifen poíesis, prâxis und theoría gleichsam in einer mehrfach ‚gestuften‘ Weise ineinander. Das technisch herstellende Tun hat seine anzufertigenden Werke in ihrer fertigen Gestalt klar vor seinem (geistigen) Auge und bringt sie durch entsprechende Technik hervor, das Verfertigte (von einfachen Werkzeugen bis zu den mit ihrer Hilfe hergestellten prágmata) kann sogar untereinander in umfassenderen (Arbeits-, Besorgungs-, Lebens-)Zusammenhängen weiterer Verwendbarkeit zur Verfügung stehen; gleichwohl übersteigt seine Benutzung den herstellerischen Rahmen der poíesis, indem das unterschiedlich Hergestellte und also Verfügbare mitsamt den ihnen entsprechenden Techniken integral in den Dienst der prâxis genommen wird. 56 Ebenfalls ist der prâxis eine innere Ausrichtung zu eigen, nämlich am Gelingen orientiert zu sein. Von daher ergibt sich wiederum eine Art von ‚Mehrstufigkeit‘. Weil prâxis in einzelnen Situationen wie in der menschlichen Lebenspraxis als Ganzer, individuell wie kollektiv stets prekär ist, scheitern kann, auf jeden Fall nicht von selbst gelingt, bedarf es gegenüber allen prâxis verunmöglichenden Extremen prâxis ermöglichender, sittlich ex- 53 Met. I 2, 982 b25 f. 54 Vgl. EN X 8, 1178 b21 f.; De caelo II 12, 292 b4 f.; Pol. VII 2, 1325 b27 ff. 55 Met. XII 9, 1074 b34. 56 Das macht auf bestimmten Gebieten dann auch die enge Verbindung des technischpoietischen und des phronetisch-praktischen Tuns aus, insofern z. B. zur umfassenden ärztlichen oder politischen Praxis immer auch ihr Können als ἰατρικὴ τέχνη oder πολιτικὴ τέχνη gehört, aber eben nicht in der technischen Spezialkompetenz aufgeht. Technomorphismus und Seinssorge 229 zellenter Haltungen bei den Einzelnen, der sog. „Tugenden“, sowie der gerechten Ordnung im politischen Gemeinwesen (freilich immer auf technischpoietisch-organisierter ökonomischer Basis). Aber selbst dieses Gelingen der sittlich-praktisch-politischen Lebensweise ist selbst als Gelingen noch nicht das äußerste Gelingen des Menschenmöglichen. Das stellt sich erst in der die praktische zur theoretischen Lebensweise übersteigenden Lebensform der theoría ein, die ihrerseits wiederum in der gewissen ‚Stufung‘ ihrer wissenschaftlichen Weltzugänge angesichts der axiologisch gegliederten Seinshierarchie im Kosmos erst bei der Betrachtung des Göttlichen als dem „Immerseienden“ ( ἀεὶ ὄν ) ihre Vollendung erfährt. Aristoteles’ Deutung der menschlichen Tätigkeitsformen bis ‚hinauf‘ zur höchsten Wirklichkeitserkenntnis hat sich bekanntlich für den frühen Heidegger entlang eines leitend gewordenen Seins-Sinns - „Sein als Hergestelltsein“ - ausgebildet. Demgemäß würde alles Seiende - in Analogie zu Herstellungsprozessen - auf sein spezifisches „Fertigsein“ hin verstanden. 57 Heidegger hat in der Auslegung der griechischen Texte zeigen können, dass dies im Horizont der technisch angeleiteten poíesis natürlich für die handwerklich-poietischen Herstellungsvorgänge unserer alltäglichen Gebrauchsgegenstände zutrifft, aber nicht darauf beschränkt ist. Selbst dort, wo Platon wie Aristoteles gleichermaßen meinten, prâxis, ja die Lebenspraxis als Ganze klar von poietischen Herstellungsvorgängen unterscheiden zu können, vermag Heidegger herauszuarbeiten, dass auch hierbei beispielsweise das individuelle „Leben“ im Hinblick auf seine sittliche Exzellenz und Bestheit ( ἀρετή ) jeweils „als ein zu idealer Gestalt herstellbarer Umgangsgegenstand“ vorausgesetzt, also wiederum durchaus technomorph verstanden wird. Das gilt sogar für das Verständnis von Philosophie und Wissenschaft als theoría, das die Griechen und später die Christen in der mönchischen Tradition der Kontemplation zwar als unüberbietbar höchste Lebensform angesetzt haben. Jedoch sind für Heidegger „solche Ansetzungen des menschlichen Daseins in einer zu erreichenden Vollkommenheit und himmlischen Natürlichkeit selbst“ wiederum Ausdruck für das leitende Verständnis von „Sein als Hergestelltsein“ und „Fertigsein“. 58 Dieser Lesart kommt eine große Plausibilität zu. Sie kann in Entsprechung zu den Tätigkeitsvollzügen in ihren typischen Formen die unterschiedlichen Grade von (jeweils als herstellbar unterstellter) Vollendetheit und nach griechischem Selbstverständnis überhaupt das teleologische Denken einsichtig machen, das die Verbundenheit von poíesis, prâxis und theoría im menschlichen Lebenszusammenhang als Ganzem mit trägt. Natürlich wird diese Verbundenheit auch inhaltlich getragen. Denn für Heidegger bleibt die Ausrichtung auf das Fertige als das technisch-poietisch Verfertigte und entsprechend für die (Gebrauchs-)Praxis verfügbar Zuhandene („ Τὰ ὄντα - οὐσία - ὄν ; Hausstand, 57 Vgl. Martin Heidegger: Phänomenologische Interpretationen ausgewählter Abhandlungen des Aristoteles zur Ontologie und Logik, hg. v. Günther Neumann (GA 62), Frankfurt a. M. 2005, S. 250 ff., 385. 58 GA 62, S. 356. Ralf Elm 230 verfügbare Welt des Besorgens“ 59 ) auch über das unmittelbare Besorgen hinaus maßgeblich. Sie hält sich nämlich auch dort durch, wo man zunächst um des besseren umgänglichen Besorgens willen den Dingen in ihrem Werden wie den alltäglichen Erfahrungen auf den Grund geht. Selbst wenn dies mit einer Distanzierung von der Umgangspraxis einhergeht, wird die Orientierung am Fertigen und zur Verfügung Stehenden, am Sein als Präsentem ( οὐσία als Anwesenheit) nicht aufgegeben. Die Tendenz wird über die weitergehende Einbeziehung von Hinsichten bis zu „letzten Hinsichten“, warum etwas ursächlich so ist, wie es ist, geradezu über die ‚Professionalisierung‘ alltäglichen Erfahrungswissens hin zu Technik und Wissenschaft bis hin zur Ausbildung ihrer Höchstform von theoría immer reiner ausgeprägt. 60 Damit gehört Aristoteles’ Genesis der Wissenschaft nicht nur integral zum und in den Zusammenhang von poíesis, prâxis und theoría. Mehr noch zieht sich der maßgebliche Seinssinn des Seienden als Hergestelltsein, Fertigsein, als Verfügbar- und Gegenwärtigsein durch alle Formen des Herstellens, Umgehens wie Wissens durch, ohne dass die Griechen oder Aristoteles es vermocht hätten, ‚ihr‘ Seinsverständnis als solches (letztlich aus dem Horizont der Zeit) zu verstehen. 6. Faktizität und metaphysisches Seinsverständnis Vor diesem Hintergrund möchte ich noch einmal auf Heideggers frühe urwissenschaftliche und lebensphänomenologische Hermeneutik des faktischen Lebens zurückkommen. Denn unter der Voraussetzung, dass es der Philosophie um dieses faktische Leben in seiner Faktizität geht, zeigt das antike Philosophieren in seiner geschichtlichen Entwicklung bis zu Aristoteles und äußerst ausgeprägt in der aristotelischen Theorie-Tendenz ein eigentümliches Ausweichen vor der Faktizität. Obwohl dem poíesis-prâxis-Zusammenhang die wissenschaftlich-philosophische theoría entspringt, also in diesem Zusammenhang steht, löst sie sich in gewisser Weise dennoch umso mehr daraus, je mehr das erfahrungsvermittelte und in Alltags-, Herstellungs- und Gebrauchswissen eingelassene umsichtige Besorgen in ein nach Hinsichten gegliedertes Erkennen des rein Vorhandenen umschlägt. Die Folge ist, dass nun auf der Basis „bloß hinsehenden Wahrnehmens“ 61 bzw. analog nach dem Primat des νοεῖν als dem „reinen anschauenden Vernehmen“ 62 überhaupt jede entsprechend theoretisch kategoriale Explikation erfolgt. Indem auf diese Weise die theoría zwar ganz zu sich zu kommen scheint, ent-hebt sie sich einerseits zugleich der sie eigentlich tragenden, unhintergehbaren Faktizität, um ihrer geschichtlichen Dimension andererseits umso unbemerkter anheimzufallen. Das Verhältnis zu Umwie 59 GA 62, S. 96. 60 GA 62, S. 96 ff. mit Blick auf Met. I 1-2. 61 Vgl. z. B. Martin Heidegger: Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs, hrsg. von Petra Jaeger (GA 20), Frankfurt am Main 1979, S. 300. 62 Vgl. Martin Heidegger: Sein und Zeit, hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann (GA 2), Frankfurt am Main 1977, S. 227 (= SZ, Erste Ausgabe, S. 171). Technomorphismus und Seinssorge 231 Mitwelt, zu den Dingen wie Mitmenschen, überhaupt zu allen Dimensionen des In-der-Welt-seins verändert sich, da es zunehmend ein äußerliches, da ‚theoretisch-anschauendes‘ wird. 63 Nach Maßgabe eines solchen Weltverhältnisses kann dann wiederum überhaupt der ganze Zusammenhang von poíesis, prâxis und theoría wie von außen angeschaut und der Gesamtzusammenhang selber als einer ausgelegt werden, der einer bestimmten Mittel-Zweck- Rationalität unterliegt. Mit zu den Implikationen würde gehören, dass der Mensch sein Leben bzw. sich selbst quasi-technisch (miss-)versteht, es bzw. sich selbst im Einzelnen wie zur Gänze als technisch lösbares Problem ansieht. Dem entsprächen dann manche Äußerungen der Griechen - Heidegger markiert diese sich gerade auch bei Aristoteles zeigende Tendenz -, dass der Mensch sich als ζῷον λόγον ἔχον (später als animal rationale), den Logos und die Logik als universal einsetzbares Mittel (also die okzidental wegweisend gewordene instrumentelle Rationalität), sein Leben überhaupt als technisch-poietisch kontrollierbar voraussetzt und dies alles im Horizont technisch-machbarer Vervollkommnung seiner Natur. Die technisch-angeleitete poíesis gäbe dann das Paradigma von prâxis ab, nach deren Zielvorgaben jeweilige Mitteleinsätze die geplanten Werke verwirklichen. 64 Weiter würden prâxis und ihre sie eigentlich sichernden „Tugenden“ instrumentell für das Gelingen des Lebens vorausgesetzt, überhaupt die praktische Lebensform als Ganze, nämlich als Mittel zur Ermöglichung von theoría bzw. zur Einrichtung einer theoretischen Lebensweise als höchster Gelingensform. 65 Τheoría ihrerseits wird zum bestmöglichen Mittel der Selbstperfektionierung als Vervollkommnung der eigenen Natur im Hinblick auf das Göttliche in ihr. Das Ganze wird flankiert durch Erziehung, durch eine Erziehung zur Tugend, zur Gerechtigkeit, zur Muße, durch eine Erziehung, die ihrerseits technomorph gedeutet wird, nämlich im Verbund mit téchne und als diese, die die „unfertige“, „unvollständige“ Natur des Menschen „ergänzt“ und „vollendet“. 66 Was bedeutet das nun, wenn man sich an Heideggers frühe Bestimmung der Philosophie erinnert, wonach sie „die Aufgabe [habe], die Faktizität des Lebens zu erhalten und die Faktizität des Daseins zu stärken“ 67 ? 1) Der Instrumentalismus und Perfektionismus, der sich durch poíesis, prâxis, theoría hindurch in bestimmter Weise hält, weist die Tendenz der Distanzierung und Loslösung von der Faktizität auf. Später wird Heidegger diese 63 Vom ,Kriegsnotsemester‘ an hat Heidegger diese Veränderung unter den Stichworten der „Entlebung“ (GA 56/ 57, z. B. S. 90 f.) bis hin zur „Entweltlichung der Welt“ bzw. „des Zuhandenen“ in Sein und Zeit gefasst (z. B. SZ, S. 65, 75; GA 2, S. 88, 101). 64 Vgl. z. B. EN III 3, 1112 b11 ff.; Met. VII 7, 1032 b5 ff. 65 Die zahlreichen Stellen für und gegen eine solche These im Werk des Aristoteles sind aufgelistet und diskutiert in Ralf Elm: Klugheit und Erfahrung bei Aristoteles, Paderborn 1996, S. 24 ff. 66 Vgl. z. B. Pol. III 9, 1280 b5 ff., VII 17, 1337 a2 f. 67 So Martin Heidegger: Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks. Theorie der philosophischen Begriffsbildung, hg. v. Claudius Strube (GA 59), Frankfurt a. M. 1993, S. 174. Ralf Elm 232 Tendenz der Abwendung vom Dass(-sein) und Hinwendung zum Was(-sein), ohne den das instrumentelle Denken fokussierenden Sinn des Seins als Fertigsein und essentialistisch verstandene Präsenz zu hinterfragen, bekanntlich schon bei Platon grundgelegt sehen und als Metaphysik auffassen. Ihr entspricht dem Humanismusbrief zufolge die Dominanz desjenigen Tätigseins, das sich als technisch-instrumentelles Denken (durch poíesis, prâxis, theoría hindurch) im „Bewirken einer Wirkung […] geschätzt nach ihrem Nutzen“ 68 zeigt und seinsgeschichtlich zum „Gestell“ führt. 2) Im Gegenzug dazu bewegt sich schon Heideggers frühe Auslegung der Lebensfaktizität nicht nur vor jeder Unterscheidung in prâxis (phrónesis) und theoría (sophía). Weil der Bereich der poíesis (téchne) integral zum Lebenszusammenhang der prâxis gehört, muss man sagen, dass Heidegger überhaupt jene Trennungen sowohl von poíesis-prâxis als auch von prâxis-theoría, damit ihrer aller vorhandenheitsontologische substanz- und später subjektgegründete Ausrichtung zu unterlaufen versucht. 3) Anregungen dazu entnimmt Heidegger nicht nur in seinen religionsphänomenologischen Vorlesungen dem urchristlichen Primat des Lebensvollzugs angesichts der möglichen Wiederkunft Christi ( παροὐσία ) und der Sorgensbewegtheit bei Augustinus (als cura). Ebenso lässt er sich von den Hinweisen bei Aristoteles selbst inspirieren. Danach ist die aristotelische prâxis sowohl als „Streben“ und „Aussein auf“ ( ὄρεξις ) wie auch als von der phrónesis geleitete gute prâxis ja primär vom Vollzug her, alles ‚Was‘ des Tuns vom und aus dem ‚Wie‘ des unüberbietbar exzellenten Vollzugs zu verstehen, so dass überhaupt das Leben in seiner Gänze keine poíesis, sondern prâxis ist. Schließlich ist Aristoteles’ Bestimmung der theoría als höchste prâxis für Heideggers Philosophieren anregend, negativ: weil das Denken auf keinen Fall zu einem quasiunbeschwerten, unbekümmerten Aufenthalt des „Nichtsorgens“ und der „Sorglosigkeit“ weg von der Faktizität des Daseins führen sollte, positiv: weil es in sich gegenüber der Alltagspraxis eine Steigerungsmöglichkeit von prâxis darstellt. 4) Es ist (bei Zusammenführung des zweiten und dritten Aspekts) dieser sorgensbewegte und in der Sorge verbleibende (Selbst-)Vollzug von prâxis, der nicht anders als im (Eigen-)Vollzug des Philosophierens (im Frühwerk noch) zum Maßstab desjenigen Seinsverstehens wird, das sich als Sorge vor einer Trennung von poíesis-integrierender prâxis und theoría, von phrónesis und sophía, bzw. infolge einer gewissen Sprachnot: in ihrer Einheit einer phrónesisartigen sophía bzw. sophía-artigen phrónesis zu bewegen versucht. 69 68 Vgl. Martin Heidegger: Wegmarken, hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann (GA 9), Frankfurt a. M. 1976, S. 313. 69 Vgl. mutatis mutandis Heideggers Überlegungen in Sein und Zeit (SZ, S. 300): „Sorge aber […] umfaßt das Sein des Daseins so ursprünglich und ganz, daß sie in der Scheidung von theoretischem und praktischem Verhalten je schon als Ganzes vorausgesetzt werden muß.“ Technomorphismus und Seinssorge 233 5) Da dieser Vollzug Heidegger zufolge ursprünglicher ist als die technomorphen in Mittel-Zweck-Bezügen sich haltenden Verkürzungen von poíesis, prâxis und theoría, fallen die äußeren - teleologischen - Vollendungsvorgaben fort, für deren Verwirklichung jene ‚gestuften‘ Tätigkeitsformen als Mittel zum „Bewirken einer Wirkung“ nach Maßgabe der Nützlichkeit immer wieder angedacht worden sind. Damit ist zugleich gesagt: Der Sorgevollzug selbst - als Seinssorge - und die Aufgabe seiner fortwährenden Erneuerung im Kontext einer niemals aufhebbaren Faktizität ist von keiner anderen äußerlich bleibenden Vorgabe her regelbar! Diese Überlegung ähnelt wieder sehr dem aristotelischen Vollzugsverständnis von prâxis, die als jeweiliges konkretes Handeln aufgrund der Unberechenbarkeit der immer möglichen zufälligen Umstände „weder durch Technik noch durch (wissenschaftliche) Vorschrift“ oder Lehre anleitbar ist 70 , sondern jeweilig situativ vollzogen werden muss, dies für Heideggers frühes Seinsverstehen aus eigener Ursprünglichkeit heraus. Das aber heißt - als zusammenführende These formuliert - : Heideggers ganz vom Wie-, vom Seinsvollzug bewegtes, frühes Seinsverstehen ist mitentstanden aus der Einsicht in die Unmöglichkeit, unser menschliches Leben und endlichgeschichtliches In-der-Welt-sein überhaupt als wissenschaftlich-technisch lösbares Problem zu verstehen, als könnten wir der Sorge um unsere Faktizität, unser (Dass- und Da-)Sein, um unsere Endlichkeit jemals technisch durch ein Ideal der Perfektionierung, welcher Art auch immer, mit entsprechend folgendem Instrumentalismus enthoben werden. 6) Die These wird bestätigt durch die explizite Einbeziehung des Aspekts der „Bewegung“, die der Sorgevollzug je ist. Denn der ‚Wegfall‘ der teleologischen Zielvorgaben als Ausrichtung der menschlichen Bewegtheit auf Fertigsein und Vollendung zu, hat Heidegger nicht nur früh schon für den anderen (Vollzugs-)Charakter von Bewegung und für ihre Voraussetzungen ( κίνησις und φύσις ) sensibilisiert, sondern ihn zugleich aufmerksam gemacht auf den „Weg in der Bewegtheit“. 71 Weil das Dasein in allem Besorgen „sein eigenes Sein mit(besorgt)“ und der Sorge um sein Sein nicht wirklich enthoben werden kann (da selbst ein nach griechischem Muster gedachter Einstellungswechsel zur theoría als „Ausruhen“ und „Nichtsorgen“ letztlich ein „Modus der Sorge“ ist 72 ), ist es als Sorge um das Sein „unterwegs“ 73 und in seiner Faktizität „im Wurf“, „solange es ist“. 74 Da schon Aristoteles die prâxis nicht ausschließlich technomorph dachte, sondern unter ihrem Vollzugsgesichtspunkt als ‚weder technisch noch wissenschaftlich‘ regelbar ansah, überantwortete er sie den Klugen mit ihrer situativ 70 EN II 2, 1104 a7. 71 Martin Heidegger: Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles. Einführung in die phänomenologische Forschung, hg. v. Walter Bröcker u. Käte Bröcker-Oltmanns (GA 61), Frankfurt a. M. 1985, S. 157. 72 Vgl. GA 62, S. 112, 115 und GA 20, S. 381, 425. 73 GA 20, S. 425. 74 SZ, S. 179. Ralf Elm 234 kontextsensiblen phrónesis. Ähnlich werden wir Heidegger zufolge unserer Faktizität nicht Herr durch einen kybernetisch noch so perfektionistischen Technomorphismus, als könnten wir der Sorge um das Sein jemals enthoben werden. Vor allem im Spätwerk vertraut er sie deshalb bekanntlich den wesentlichen Denkern an. Ihr Denken handelt - dem Humanismusbrief zufolge - „ursprünglicher […] als die Metaphysik“ mit ihrem sich zumindest partiell durch poíesis, prâxis, theoría hindurchziehenden Instrumentalismus und Perfektionismus als „Bewirken“ von „Wirkungen“ nach Maßgabe der Nützlichkeit. Gegenüber dieser metaphysischen Grundtendenz „ist“ das wesentliche „Denken weder theoretisch noch praktisch. Es ereignet sich vor dieser Unterscheidung.“ Es „vollbringt den Bezug des Seins zum Wesen des Menschen“, indem es bei jeder Sachauseinandersetzung neu die (jeweilige) Sache seines Denkens ihr ent-sprechend zu ihrer „Fülle“ zu entfalten vermag. Ein solches „Hervorgeleiten, producere“ eignet sich also auch die einstige poíesis als Hervor-bringen ursprünglicher an. 75 Aber für das noch vor jeder Schematisierung in poíesis, prâxis, theoría liegende Sorgetragen für das Eigenwesen je einer Sache wie für das epochal je uns an-gehende Sein als es selbst, für den Weg eines solchen Vollbringens und Findens des ihm entsprechenden Aufenthalts, dafür gilt: „ ἡ ὁδὸς - μήποτε μέθοδος / / der Weg (ist) niemals ein Verfahren.“ 76 Anders ausgedrückt: Wie bei der Seinssorge des Frühwerks unterliegt auch das Vollbringen im Spätwerk als Vollbringen ‚des Bezugs des Seins einer Sache wie des Seins in seiner Fülle zum Wesen des Menschen‘ keinem Verfahren, keinem Algorithmus; es kann aufgrund der unerschöpflichen Tiefe der jeweilig sich zeigenden Sache weder vorab noch nach einem ihr gegenüber äußerlich bleibenden Plan betrieben werden. Verlangt ist vielmehr im Vollbringen ein ständiges Sorgetragen um den Bezug zur Sache, ein Sicheinlassen auf das, was eine Sache einem zu verstehen gibt und entsprechend ins Wort hervor-gebracht wird. - Diese Aspekte zusammen mit dem Jubilar bei verschiedenen Gelegenheiten auf unterschiedlichen Wegen weiter zu erörtern, wird immer wieder aussichtswie einsichtsreich sein. 75 GA 9, S. 313, 358 und 364 (alle Hervorhebungen der letzten Zitate von R. Elm). Heideggers Versuch einer ursprünglicheren Interpretation von „Poíesis“, die insgesamt einen Bezug zur Kunst eröffnet, hat möglicherweise auch zu dem Projekt der gleichnamigen Reihe geführt, die Dietmar Koch seit 2014 herausgibt. Vgl. zum Selbstverständnis der Reihe Dietmar Koch, Alina Noveanu (Hg.): Über die »Großen Götter« auf der Insel Samothrake (Reihe: POIESIS. Philosophie-Dichtung-Bild), Tübingen 2014. 76 Martin Heidegger: Aus der Erfahrung des Denkens 1910-1976, hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann (GA 13), Frankfurt a. M. 1983, S. 233. Christos Voudouris Die Sprache als Mittel zum ‚Rufen der Intention der Welt‘ Ein denkendes Gespräch mit Heideggers Vortrag Die Sprache Sprache Ein Mann blickte auf seine Gleichungen und sagte, das Universum hat einen Anfang. Es hat einen Knall gegeben, sagte er. Einen Urknall, und das Universum war geboren. Und es dehnt sich aus, sagte er. Er berechnete sogar die Lebensdauer: Zehn Milliarden Umkreisungen der Erde um die Sonne. Die Welt jubelte. Man hielt seine Berechnungen für Wissenschaft. Niemand bedachte, daß der Mann mit der Annahme, das Universum habe einen Anfang, lediglich der Logik seiner Muttersprache gefolgt war. Diese Logik verlangt den Anfang wie eine Geburt und Entwicklungen wie das Heranwachsen und das Ende wie den Tod als Darlegungen von Fakten. Das Universum hatte einen Anfang, und es wird alt, so versicherte uns der Mann, und es wird sterben, wie alles stirbt, wie auch er starb, nachdem er mathematisch die Logik seiner Muttersprache bestätigt hatte. Die andere Sprache Hatte das Universum wirklich einen Anfang? Entspricht die Theorie vom Urknall der Wahrheit? Das sind keine Fragen, obwohl es den Anschein hat. Ist die Logik, die einen Anfang, Entwicklungen und ein Ende als Darlegung von Fakten verlangt, die einzig bestehende Logik? Das ist die eigentliche Frage. Es gibt mehr als eine Logik. Es gibt zum Beispiel eine, die verlangt, daß man eine Christos Voudouris 236 Vielfalt von Intensitäten als Fakten anerkennen muss. Nach dieser Logik beginnt nichts und endet nichts. So gesehen, ist die Geburt kein klares, eindeutiges Ereignis, sondern eine besondere Art der Intensität. Das gilt auch für das Heranreifen und für den Tod. Ein Mann mit dieser Logik stellt fest, wenn er seine Gleichungen betrachtet, daß er genug unterschiedliche Intensitäten berechnet hat, um glaubwürdig sagen zu können, das Universum hatte keinen Anfang, und es wird niemals enden, aber es durchlief, es durchläuft und wird in Zukunft endlose Veränderungen der Intensität durchlaufen. Dieser Mann könnte sehr wohl zu dem Schluß kommen und sagen: Das Universum ist das Vehikel der Intensität. Man kann es benutzen, um sich endlos lange durch Veränderungen zu begeben. All das und noch viel mehr wird er erkennen, ohne vielleicht jemals zu begreifen, daß er bloß die Logik seiner Muttersprache bekräftigt. 1 Einleitung In diesem Beitrag möchte ich Heideggers Vorträge Die Sprache und Der Weg zur Sprache 2 deuten, wobei ich die Sprache zuerst so in den Blick nehme, wie auch Heidegger sie betrachtet. Ich gehe jedoch einen Schritt weiter, indem ich behaupte, dass die Sprache nicht nur die Welt und das Ding ‚ruft‘, sondern darüber hinaus auch die Intention 3 der Welt im Sinne Castanedas, nämlich eine Intention, mit der wir die Welt erbauen. 1 Carlos Castaneda: Das Wirken der Unendlichkeit, Übers. v. Manfred Ohl, Frankfurt. a. M. 2000, S. 17-18. 2 Alle im Folgenden zitierten Passagen Heideggers wurden den Vorträgen „Die Sprache“ und „Der Weg zur Sprache“ entnommen. In: US (GA12), S. 7-30, 227-257. 3 Dazu Carlos Castaneda: Das Wirken der Unendlichkeit, Übers. v. Manfred Ohl u. Hans Santorius, Frankfurt a. M. 1998, S. 16: „Intention/ Wille oder Intendieren/ Wollen entsprechen in ihrer Bedeutung den Begriffen, die Schamanen im alten Mexiko benutzten, um etwas zu beschreiben, für das es keine Übersetzung gibt - bewußtes Handeln, zu dem sie sich entschlossen. Es ging dabei um ein vorsätzliches Handeln, dem die Gegenwart als Orientierungspunkt diente und das in die Vergangenheit und in die Zukunft projiziert wurde. Das Wollen projizierte sich in die Vergangenheit unter Anwendung der Erfahrung der Schamanen, und es projizierte sich in die Zukunft unter dem ,Postulat‘ der Schamanen, sie seien in der Lage, Möglichkeiten des Handelns zu beeinflussen, die noch nicht sichtbar waren. Sie benutzten zum Beispiel ihr in der Vergangenheit durch Erfahrung gewonnenes Wissen über das innerste Verhalten von Menschen, die nie zu Entscheidungen fähig sind. Dieses Wissen projizierten sie in die Zukunft, wobei sie wiederum von der Annahme ausgingen, daß ihre Macht und Kraft als Schamanen vielleicht ausreichen würden, um Sinn und Ordnung im Leben jener Menschen zu schaffen, die in der Gegenwart so Die Sprache als Mittel zum ,Rufen der Intention der Welt‘ 237 Weiterhin werde ich die Stille untersuchen, als den Ort, woher, wie ich meine, die Sprache stammt, aus der wir eine neue, von der oben genannten unterschiedene Intention erfahren können, die wir selbst wiederum mittels der Sprache ‚rufen‘ werden. Der wichtigste Unterschied zwischen den beiden Arten von Intention besteht darin, dass, während die erste durch das Artikulieren der Laute und ferner durch die Sprache als Sprechen die Welt aufbaut, die zweite direkt aus der Stille stammt, d. h. aus dem unmittelbaren Kontakt mit dem, was wir gewöhnlich unter ‚Geist‘ verstehen. Indem die erste Art der Intention die Sprache und das Denken braucht, um ihr Wissen zu analysieren, ist die zweite schlicht, sparsam, und eben still, weil sie nicht zu analysieren und gar zu sprechen braucht, sondern nur das Wissen hervorzubringen hat, nach dem wir handeln können, ohne es erklären oder beweisen zu müssen. Intention Ich beginne mit einer allgemeinen Beobachtung, die oft unterschätzt wird und die m. E. nicht nur für unser Wissen, sondern für unser Leben von großer Bedeutung ist: Alles bedarf einer „Kraft“ (Geist, Intention), um zu sein. „Kraft“ ist hier nicht einfach im Sinn einer Möglichkeit (wie beispielsweise dem dýnamis-Begriff des Aristoteles) gedacht, sondern stellt die Voraussetzung und die Grundlage all unserer Tätigkeiten dar. Eine solche Kraft, die so stark ist, dass sie, wie wir sehen werden, die ganze Welt konstruiert oder erlaubt, dass die ganze Welt auf ihr aufgebaut wird, ist die Sprache. Um sprechen zu können, brauchen wir Kraft. Das Sprechen ist ein Können, das wir leicht erfassen können, wenn wir es für einen Moment genauer betrachten. Können bedarf der Kraft, der Möglichkeit und Fähigkeit. Sogar in unserer Alltagssprache sagen wir: „Ich kann Deutsch oder ich kann Englisch, oder Altgriechisch.“ Die Kinder oder die Neugeborenen können noch nicht sprechen. Uns scheint es so, dass sie sich noch im Reich der Stille befinden. verloren schienen und in der Vergangenheit verloren gewesen waren, aber nicht notwendigerweise in der Zukunft verloren sein mussten. Um dieses Konzept anzuwenden, mussten die Schamanen im alten Mexiko die künstliche Unterteilung akzeptieren, wie die Syntax ihrer Sprache sie verlangte und die wie die Syntax der meisten Sprachen Ereignisse in den Begriffen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft anordnete. Jene Schamanen bauten darauf, daß sie, je mehr ihre Stärke und Macht zunahm, besser in der Lage sein würden, diese künstliche Unterteilung aufzulösen und Zeit und Raum als eine Einheit ohne Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu schaffen. Dabei handelt es sich um eine Einheit von Zeit und Raum, in der die Dinge intendiert/ gewollt, bewirkt, erfunden, geschaffen und unmittelbar durchgesetzt werden können. Das Konzept Intention/ Wollen ist äußerst schwierig zu verstehen. Der lateinische Ursprung des Wortes Intention suggeriert einen Begriff, der leicht zu verstehen ist. Das ist jedoch nicht der Fall. Ich empfehle, diesen Begriff mit einer Reihe von Verben, einer Umschreibung zu übersetzen. Intention/ Wille oder Intendieren/ Wollen kann nicht mit einem einzigen Wort definiert werden, denn es handelt sich um einen Vorgang, der am besten in eine Vielzahl von Worten gefasst wird.“ Christos Voudouris 238 Aber kaum können sie sprechen, können sie auch schon denken. Wir glauben jedoch, dass das Denken im Vergleich zum Sprechen einen kleinen zeitlichen Vorsprung hat. Ist dies aber der Fall? Oder läuft es wie bei Zwillingsgeschwistern, bei denen man den Erstgeborenen für den älteren hält, wobei er doch, wie wir wissen, als zweiter seinen Platz im Bauch der Mutter bekam, und daher dieser der jüngere sein müsste? Ist es Denken, was man tut, wenn man Worte miteinander verbindet, um etwas ausdrücken zu wollen, oder sprechen wir schon fertige, bereits gelernte Gedanken aus? Etwas, was schon bekannt ist, ist leichter auszudrücken: Dagegen ist es schwieriger oder sogar unmöglich, neue, originelle Gedanken zu finden und sie aussprechen. Oft sagen wir: „Wir haben keine Worte. Sie liegen zu tief.“ Zu tief, wo? Zu tief in der Stille. Um ein neues Wissen verlautbaren zu können, müssen wir bei der Stille ansetzen. Die Tatsache, dass wir überhaupt sprechen lernen konnten, stammt daher, dass wir uns damals als Neugeborene noch in der Stille befanden. Wir lebten in der Stille und in der Stille haben wir die Sprache erlernt. Sind wir einmal aus der Stille herausgetreten, dann lernen wir kaum ein ‚neues‘ Wort kennen. Ist es Denken, was wir tun, wenn wir beim Sprechen zögern und einen Moment still werden, oder ist es Hören? Und was versuchen wir in diesem Fall zu hören? Auf was hören wir? Wir hören auf das „Rufen der Intention“. Dann ist es aber kein Denken mehr, sondern ein Versuch, die Intention eines Wortes in Erinnerung zu rufen. Drücken die Worte einen Gedanken aus, oder drücken sie ein Wissen aus? Und ist das vielleicht der Grund, dass das griechische Wort für ‚Wahrheit‘ Erinnerung bedeutet? ‚ Α-λήθεια ‘ bedeutet wörtlich: Nichtvergessenheit. Die älteste Regel, die uns als ‚Wahrheit‘ aus der alten Zeit überliefert wurde, ist die Übereinstimmung des Wortes, das ein Ding benennt, mit dem Ding selbst. Und zwar als Erinnerung. Bekanntlich ist Heideggers Wort für Α-λήθεια ‚Unverborgenheit‘ - ein Ausdruck, der mich jedoch nicht überzeugt. Α-λήθεια meint m. E. eher die Intention des Wortes, ein Ding zu bestimmen oder, in der Sprache der Überlieferung, die Welt zu beschreiben und festzulegen, sodass die beiden eins sind. Nehmen wir erst Heideggers Ausgangspunkt beim Nennen einer Sache: Die Sprache nennt die Dinge, sie ruft die Dinge in ihr Dingen, und so ruft sie die Welt in ihr Welten. Im Nennen sind die genannten Dinge in ihr Dingen gerufen. Dingend ent-falten sie Welt, in der die Dinge weilen und so je die weiligen sind. Die Dinge tragen, indem sie dingen, Welt aus. (US, S. 19) Heidegger spricht nicht aus, dass wir die Welt mittels der Sprache erbauen. So weit geht Heidegger nicht, weil er die Sprache nicht als Kraft betrachtet, sondern den Zusammenhang aus der Sicht der Sprache und des Denkens betrachtet und formuliert. Aber die dahinter versteckte (verborgene) Wahrheit, die Bedeutung dessen, kann nur genau darin bestehen, dass wir, indem wir die Sprache erlernen, auch eine Intention erlernen, mit deren Hilfe wir dann die Welt der Dinge erbauen. Heidegger scheint das Gleiche zu meinen: „Darum Die Sprache als Mittel zum ,Rufen der Intention der Welt‘ 239 nennt die erste Strophe nicht bloß Dinge. Sie nennt zugleich Welt“ (US, S. 20). Deswegen ruft die Sprache nicht nur die Dinge in ihr Dingen, sondern auch die Welt in ihr Welten. Doch nicht die Sprache, sondern die Intention der Sprache ist dafür verantwortlich. Die erbaute Welt ist die Welt, die wir dann durch Sprechen und Denken aufrechterhalten, indem wir unaufhörlich über die schon bekannte Beschreibung der Welt sprechen und nachdenken. Und genau dies bezeichnen wir als Denken: eine Erinnerung an eine Zeit, die schon weit zurückliegt, und zwar die Zeit, in der wir das Sprechen noch erlernten. Und wo liegt die Erinnerung oder der Gegenstand der Erinnerung, nämlich das, was wir als Welt erlernten? Sie liegt in der Stille, in der sie geboren wurde, in welcher sie schon vor ihrer Geburt als Wissen vorhanden war (als Wissen der Anderen oder Wissen überhaupt) und aus der wir die Intention der Sprache erlernt haben. Das erklärt auch, warum es uns so schwer fällt, uns daran zu erinnern. Um uns an etwas, was wir in der Stille gelernt haben, erinnern zu können, müssen wir selbst still werden. Weil dies in jener Zeit geschah, in der wir das Denken und das Sprechen noch nicht ausübten, dürfen wir, um uns daran zu erinnern, auch jetzt nicht sprechen und denken. Das Zögern, das wir öfters beim Sprechen bemerken, ist dann in Wirklichkeit kein Versuch, die Tätigkeit, die wir ‚Denken‘ nennen, auszuführen, sondern ein Versuch, uns an das Wissen zu erinnern. Um welches Wissen handelt es sich aber? Es geht um das Wissen, das wir damals gelernt haben, welches mit der genannten Intention verbunden ist. Warum ist es schwer oder unmöglich, neues Denken zu erfinden, d. h. einen neuen Gedanken oder ein neues Wissen? Ist es vielleicht deshalb so schwer, weil wir von dem Ort (wo die Sprache erörtert wird), wo das Wissen und die Intention ihren Platz haben, nämlich von der inneren Stille, weit entfernt sind, und den Weg dahin nicht finden können? Das Verbinden von Buchstaben, Worten und Sätzen miteinander bringt bereits ein Denken mit sich. Sogar ganze Gedankenfolgen bringen sie mit sich. Das können wir leicht sehen, wenn wir uns an die Stimme unserer Mutter, unseres Vaters oder des Bruders und der Schwester erinnern, die uns die Intention der Sprache damals lehrten. Um das hören zu können, was sie uns damals sagten, ist es notwendig, uns ‚wachzurufen‘, um uns damit aus der Stille herauszubringen, in der wir uns in jener Zeit noch befanden. Laut, zärtlich, trocken, weich oder auf Befehl, und vor allem geduldig, wiederholten sie das gleiche Wort, damit wir es erst hörten, es uns einprägten und dann lernen konnten. „Die Sterblichen sprechen, insofern sie hören“ (US, S. 29). Und weiter: „Das hörend-entnehmende Sprechen ist Ent-sprechen“. Wir hören zuerst und sprechen erst dann. Wir ent-sprechen. Wir ant-worten auf das Besagte. (Es ist darüber hinaus wahr, dass wir schon im Bauch der Mutter die Sprache hörten, und es wäre gar nicht übertrieben zu sagen, dass wir sie an diesem Ort als ein Ganzes erlernten. Was wir dann als geborene und kleine Kinder weiter tun, ist einfach, die Kraft zu erwerben, um das ‚Wissen‘ der Sprache, das wir im Bauch lernten, laut artikulieren zu können.) Daraufhin haben wir das gleiche Wort, den gleichen Laut, am Anfang innerlich zu wiederholen versucht, bis wir es schließlich erlernten und ausspre- Christos Voudouris 240 chen konnten. Als sich die inneren Sprachorgane genug entwickelt hatten und besonders als die anderen es schafften, unseren Willen und unsere Intention zu entwickeln, waren wir in der Lage, die gleiche Welt zu erbauen wie sie, um mit ihnen kommunizieren zu können. Wir hatten endlich die Kraft bzw. den Willen und die Sprache ver-wirklicht, um das Wort laut auszusprechen, nachdem wir es oft innerlich wiederholt es unzählige Male falsch ausgesprochen hatten. Aber unsere Bemühungen, es zu schaffen, und die Beharrlichkeit unserer Lehrer, die uns weiter zwangen, das Wort richtig auszusprechen, damit das Wort mit dem Ding, das es meint, übereinstimmte, brachten am Ende das erwünschte Ergebnis. Und dieses bestand nicht bloß darin, das Wort auszusprechen, sondern vielmehr, die Stille zu brechen und aus ihr heraus die Welt zu erbauen. Beschreiben „Wir befinden uns nicht in direktem Kontakt mit der Welt. Zwischen uns und der Welt liegt die Beschreibung.“ 4 Das Beschreiben ist eine Art zu sprechen und denken, die nicht bestimmend und autoritär ist. Beschreiben ist eine Art Sprache, eine Wortsammlung, mit der wir die Beziehungen zwischen den Dingen zueinander, zwischen uns und zwischen den Dingen und der Welt knüpfen und etwas über sie aussagen. Schon das bedeutet, dass etwas zwischen uns und der Welt liegt. Was dazwischen liegt, ist die Beschreibung, die mit Hilfe von Worten und Gedanken zum Ausdruck kommt. Um in die Nachbarschaft der Sprache kommen zu können, müssen wir, wie bereits gesagt wurde, selbst still werden, unser inneres Gespräch aussetzen. Und dazu müssen wir zuerst auf die Sprache hören. Das Zuhören bringt uns in die Stille. Nur dann können wir ihr ent-sprechen und auf sie ant-worten. Sind denn das, was uns die Lehrer lehren, nur Worte und das Aussprechen von Worten? Lehren sie uns ein Wort oder ist in diesem Wort die Intention enthalten, d. h. das Wissen von dem und der Wille zu dem, was damit erlernt werden muss? Das Wort drückt das Wissen der Welt aus. Was meint das Wissen der Welt? Es bedeutet das, was die Welt ist, aber auch, wie wir diese Welt erbauen können: nämlich mit dem Aussprechen der Worte und der Gedanken. Aber ist es möglich, dass wir mit den Worten sowie mit dem Denken die Welt erbauen? Ohne Zweifel tun wir dies. Es ist nicht so, dass wir mit den Worten diese Welt erbauen, so wie wir z. B. ein Haus bauen, sondern die Sprache und das Denken werden zu Werkzeugen unserer Wahrnehmung (oder unserer ‚Ansicht‘). Also ist es die Wahrnehmung, die die Welt ‚konstruiert‘. Das wird umso wichtiger, wenn wir bedenken, dass sie uns dazu führt, zu glauben, dass Sprache und Denken die einzigen Hilfsmittel sind, die wir zur Verfügung haben, um die Welt zu erbauen. Die Welt, die wir damit konstituieren, ist die bekannte Welt, die Welt der Gegenstände als bloße Gegenstände. Durch das 4 Carlos Castaneda: Der Ring der Kraft, Übers. v. Thomas Lindquist, Frankfurt a. M. 2001, S. 93. Die Sprache als Mittel zum ,Rufen der Intention der Welt‘ 241 Sprechen und Denken der Anderen (unserer Lehrer) werden wir gezwungen und überzeugt, sie als das einzige Instrument, Organ, Werkzeug, anzunehmen und zu akzeptieren, das wir besitzen. Wir sagen, dass es natürlich ist, zu sprechen, und dass wir Menschen uns von allen anderen Wesen in der Welt durch das Sprechen und das Denken unterscheiden. Aber genauso natürlich ist es, zu schweigen und still zu werden. Das tun wir aber nicht und dadurch verschwenden wir eine natürliche Gabe, die wir besitzen, nämlich die Gabe, das stille Wissen direkt aus der Quelle, nämlich aus dem Geist, zu gewinnen. Diese Beschreibung des Bekannten und des bestimmten Seins der bloßen Gegenstände haben wir auf vielen Seiten unserer Philosophiegeschichte entwickelt, d. h. festgelegt. Dies haben wir selbstverständlich bisher immer aus der Perspektive des Sprechens und des Denkens und mit ihnen allein als den einzigen Werkzeugen für dieses Unterfangen ausgeführt. Daher ist es nicht verwunderlich, dass sie ihre eigenen Mittel benutzen, nämlich sie selbst, um uns davon zu überzeugen, dass sie die richtigen sind, d. h. dass nur sie die Welt erbauen können, und weiter noch, dass sie die einzigen Werkzeuge sind, die wir als menschliche Wesen besitzen. Das geschieht dauernd und unaufhörlich 5 . Unaufhörlich sprechen wir und unaufhörlich benutzen wir die gleiche Beschreibung, mal identisch, mal ein wenig verändert, eben ‚um-schrieben‘, aber jedes Mal kommen wir auf das gleiche hinaus, auf die gleiche Welt, deren Geheimnisse wir nicht einmal ein wenig in die Unverborgenheit bringen können. Dabei sind wir die gleichen Menschen, die wir schon immer waren, mit den gleichen Problemen und leiden unter den gleichen Widersprüchen und den gleichen Ausweglosigkeiten. Und dies trotz der Erfahrungen, die wir in unserem Leben gemacht haben. Als ob wir aus ihnen gar nichts gelernt hätten, was ja auch leider wahr ist. Nicht einmal ein wenig konnten wir uns von Widersprüchen, Problemen usw. befreien, sondern im Gegenteil: Man macht sich noch mehr zum Sklaven, je weiter man sich von seiner wahren Natur entfernt. Man macht sich zu einem geistigen und seelischen Krüppel, fremd in der eigenen, selbst kreierten Welt, und zwar indem man nur einen Teil seiner gesamten Möglichkeiten, der dazu noch der kleinere ist - nämlich das Denken und Sprechen - einsetzt. So hat man es bisher nicht schaffen können, auf die ewigen Fragen auch nur die geringste Antwort zu bekommen, auf Fragen, die im Herzen schmerzen, und die 5 „Der Mensch spricht. Wir sprechen im Wachen und im Traum. Wir sprechen stets; auch dann, wenn wir kein Wort verlauten lassen, sondern nur zuhören oder lesen, sogar dann, wenn wir weder eigens zuhören noch lesen, stattdessen einer Arbeit nachgehen oder in der Muße aufgehen. Wir sprechen ständig in irgendeiner Weise. Wir sprechen, weil Sprechen uns natürlich ist. Es entspringt nicht erst aus einem besonderem Wollen. Man sagt, der Mensch habe die Sprache von Natur. Die Lehre gilt, der Mensch sei im Unterschied zu Pflanze und Tier das sprachfähige Lebewesen. Der Satz meint nicht nur, der Mensch besitze neben anderen Fähigkeiten auch diejenige zu sprechen. [...] Der Satz will sagen, erst die Sprache befähige den Menschen, dasjenige Lebewesen zu sein, das er als Mensch ist. Als der Sprechende ist der Mensch: Mensch. Wilhelm von Humboldt hat dies gesagt. Doch es bleibt zu bedenken, was dies heißt: der Mensch“ (US, S. 9). Christos Voudouris 242 uns dazu treiben, unser Leben so zu leben, als ob wir schon längst tot wären. Dies alles sind nur Worte, Pläne und Träume, die nie wahr werden, sodass man nicht mehr zu träumen wagt. Schuld daran ist nur unsere Wahrnehmung, die uns dazu zwingt, jedes andere Wort, jeden anderen neuen Gedanken nicht auszusprechen und laut denken zu können, sondern ewig nur die gleichen und das gleiche langweilige, zynische Leben im Blick zu haben. Wir fragen andauernd: Warum soll ich aber so leben und mich so verhalten, wenn das alles uns nichts bringt, und ich sterben werde? Als ob die Worte für Liebe, Zuneigung und Zusammenarbeit nicht benutzt werden könnten oder als ob dieses Leben und diese Welt nicht wertvoll genug wären, um einfach das Leben in dieser Welt und in dieser Zeit zu leben. Der Grund für all dies liegt nicht darin, dass der Mensch es nicht will, sondern dass er nicht anders kann. Der Wille, den er als Kind entwickelt hat (oder zu dem ihn seine Lehrer lenkten), um die Welt zu erbauen, ist auch für sein Verhalten verantwortlich. Um aus diesem Wirbel herauskommen zu können, muss er eine neue Sprache entwickeln, ein anderes Denken und eine andere, neue Beschreibung, die zu einem anderen Handeln und Verhalten und damit zu einer anderen Weltbeziehung führen wird. Dabei geht es um eine neue Beschreibung, und zwar eine aus der Perspektive des Willens, als jenes von der Vernunft unabhängige Mittel, das nur seinen eigenen Regeln und Prinzipien unterliegt, weil er gar nichts mit der Vernunft, d. h. mit dem Sprechen und Denken gemeinsam hat. Der Wille als einzelnes und separates Vermögen kann von der Vernunft nicht vorgeschrieben bekommen, wie er funktionieren soll, und ferner kann er ihre Regeln und Prämissen nicht übernehmen, weil er die Regeln und Prämissen der Vernunft nicht verstehen kann. Als ein Vermögen der reinen Kraft kann er nur von Regeln und Prinzipien der Kraft kontrolliert, gelenkt und gezähmt oder überzeugt werden. Der Mensch muss hart dafür kämpfen, eine neue Beschreibungsweise zu erlernen, um seinem Willen eine neue Richtung zu geben, die eben dieser neuen Beschreibung ent-spricht, die ihn folglich zu einem neuen Verhalten führen wird. Mit Hilfe des Willens können wir dieses ‚andere Selbst‘ werden, das reine Energie ist und das sich ausschließlich mit reiner Energie kommunizieren kann. Um zu ihm zu gelangen, ist nicht das Sprechen und das Denken, sondern nur der Wille geeignet. „Wanderer tritt still herein! “ Gedichte beschreiben das Unbekannte, oder das Bekannte seitens der Stille. Der Wille ist das Mittel, die Stille zu erreichen und von dort aus an das stille Wissen zu gelangen. Die Sprache überwältigt unsere Wahrnehmung durch unser unaufhörliches Selbstgespräch und damit schließt sie alle anderen Vermögen aus, mit denen wir eine andere Welt und ein anderes Selbst konstituieren könnten, sodass wir aus Blindheit im Grunde nur eines sehen, nämlich die Welt der bloßen Gegenstände. Gegen sie haben wir hartnäckig und beharrlich Die Sprache als Mittel zum ,Rufen der Intention der Welt‘ 243 zu kämpfen, um unseren Willen zu reinigen und zu befreien, was dann impliziert, dass wir die Stille erreichen. Was wir mit dem Sprechen schaffen, ist viel mehr, als nur uns auszudrücken. Mit der Sprache rufen wir die Intention der Welt. Wanderer tritt still herein. 6 Als ob die Welt uns (bzw. ihn) hereinzutreten aufriefe, als ob sie uns aus dem weiten, dunklen Universum, in die Welt hineinrufen ließe. Ohne Ziel oder Zweck. Ein Rohstoff für das Licht der Welt. Nur zum Leben und nur zur Welt. Diese Welt ist eine Schönheit. Dieses Leben auf dieser Erde ist schön. Alles ist da, nur um die Sehnsucht des Menschen auszudrücken, der sich nach dieser Schönheit sehnt, um ihr dadurch entgegenzukommen. Als ob der Wanderer (bzw. wir) nach längerer Zeit des Wanderns endlich in die Heimat zurückkehrte. ‚Nostalgía‘ ist das griechische Wort für Sehnsucht und heißt: der Schmerz nach der Heimat. Dieser Schmerz ist es, der die Schwelle versteinerte (US, S. 15). Weg von dieser Welt der Stille, des Friedens und der reinen Kraft, um zurück zur Welt, des Widerspruchs und des Lärmes, zu kehren. 7 Es bedarf der Kraft und des Willens, um das, was Carlos Castanedas beschreibt, zu erreichen. Die beste Art, es zu bewältigen, ist, es im ,Stillen‘ zu tun. Deshalb heißt es auch im Gedicht Trakls: Wanderer tritt still herein. Ein anderer Dichter sagt: My Soul, wait without thought, for you are not ready for thought. 8 Meine Seele, warte ohne zu denken, weil du nicht bereit bist zu denken. ‚Warte ohne zu denken‘ meint, dass die Seele still bleiben soll, um dadurch in sich die Welt empfangen zu können. Das ganze Wissen, das ein Sterblicher gewinnen könnte, ist das Wissen Gottes, und es wird als ein Empfangen dargestellt. Ein Empfangen ist der Anfang des neuen Bewusstseins in seiner Vollkommenheit. Eine Deutung Wanderer tritt still herein. Wir kommen aus der Stille, d. h. aus der Stille des Mutterleibs, durch eine magische Öffnung in die Welt hinein, nachdem wir ewig in anderen Welten herumgewandert sind, in den Schmerzen, im Lärm und in den Widersprüchen dieser Welt. Schmerz versteinerte die Schwelle. Mit Schmerzen kommen wir in die Welt hinein. Es ist der Schmerz der Frau und des Mannes, aber auch unserer. Die versteinerte Schwelle ist die fast übermenschliche Kraft und die rücksichtslose Entschlossenheit des Menschenkindes, einen neuen Menschen in diese Welt zu bringen. Der ,Stein‘ in ,ver-steinerte Schwelle‘ deutet Sauberkeit, Klarheit und starken Willen an. Das ,Hier‘ dieser Welt ist die Schwelle, ist der Unter-schied, der die zwei Welten vereinigt und der versteinert ist. Dennoch könnte kein Schmerz die 6 US, S. 15. Die folgenden durch Kursivschreibung gekennzeichneten Zitate stammen aus dem im Vortrag Die Sprache von Martin Heidegger ausgelegten Gedicht Georg Trakls „Ein Winterabend“. 7 Castaneda: Der Ring der Kraft, S. 228. 8 Thomas S. Eliot: East Coker, in The Four Quartets, London 2009. Christos Voudouris 244 Welt in ihrer Freude daran hindern, den stillen Wanderer, der noch wandert, willkommen zu heißen und ihn hereintreten zu lassen. ,Versteinert‘ heißt hier: entschlossen, die Schwelle, die Dunkelheit der anderen, äußeren Welt zu überqueren und in die Helle der geistigen Welt hineinzutreten. Da erglänzt in reiner Helle…: die reine Helle, die das reine Wissen meint, und die reine Liebe, in der der Wanderer sich selbst zum Glänzen bringt, und in der die ganze Welt mit ihm zusammen erglänzt, um mit deren Glanz den Neuankömmling fröhlich zu begrüßen. Froh sind auch die Götter dieser Erde, die Erde des Menschen, der schon zuvor hier war und der Gastgeber für alle Neuangekommenen ist, denn auch die Erde könnte diese versteinerte Schwelle sein. Der Mensch begrüßt den Neuling mit seinen ältesten Erfindungen und Schöpfungen, die für sein Leben und Überleben die wichtigsten sind. Da erglänzt in reiner Helle auf dem Tische Brot und Wein. (US, S. 15) Die Welt zeigt dem Wanderer trotz der Winternacht ihre Wärme und ihre diskrete, fast bescheidene Zärtlichkeit, und diese sind das Geringste und zugleich das Wertvollste und der größte Reichtum, den sie dem Wanderer für Herz und die Seele bieten kann. Brot und Wein stehen auf dem Tisch und warten auf ihn. Der Tisch ist die Erde, die dem Wanderer die Dinge der Welt zeigt, die der Mensch in den Jahren seiner Weltgeschichte schuf. Stolz zeigt er ihm seine Tüchtigkeit und Fähigkeit durch die ersten Dinge, die ihn in seiner Geschichte begleiten. Es sind die primitivsten, aber zugleich die wertvollsten für sein Überleben: Brot und Wein. Das Wichtigste von allem ist die Freude, die Helle und das Erglänzen, die Bereitschaft und die Freundlichkeit, die Zärtlichkeit und die Liebe, die dem Wanderer von seinem Gastgeber entgegengebracht und gezeigt werden. Der Gastgeber handelt, wie man leicht sehen kann, ohne von dem Wanderer etwas zurückzuverlangen. Vielmehr gibt er ihm alles, was er besitzt: Körper, Seele und Geist. Das ist die Innigkeit der Welt und der Dinge, das ist das „Heißen“, das Wesen der Sprache. „Die dritte Strophe heißt die Mitte für Welt und Ding kommen: den Austrag der Innigkeit“ (US, S. 23). Gemeint ist die innere Stille, mit der wir das stille Wissen, durch das die Welt erst möglich wird, zum Ausdruck bringen. Dieses stille Wissen ist nichts anderes als die Intention der Welt, die wir mit Hilfe der Sprache rufen. Beide, Welt und Ding, kommen aus der Stille, woher auch die Intentionen der Welt und des Dinges stammen. Solches Stillen ereignet sich jedoch nur in der Weise, daß zugleich das Geviert der Welt die Gebärde des Dinges erfüllt, insofern das Stillen dem Ding Genüge gönnt, Welt zu verweilen. Der Unter-Schied stillt zwiefach. Er stillt, indem er die Dinge in der Gunst von Welt beruhen lässt. Er stillt, indem er die Welt im Ding sich begnügen lässt. In dem zwiefachen Stillen des Unter-Schieds ereignet sich: die Stille. (US, S. 26) Das Ding kann auch der Mensch sein, doch in der Stille gibt es keinen Unterschied. Ding und Welt sind eins. Nur die Sprache, oder richtiger in Heideggers Die Sprache als Mittel zum ,Rufen der Intention der Welt‘ 245 eigenen Worten: „Die Be-wegung bringt die Sprache (das Sprachwesen) als die Sprache (die Sage) zur Sprache (zum verlautenden Wort)“ (US, S. 250). Wenn also das Sprechen der Sprache geschieht, dann trennt sie beide voneinander. Erst in der Welt sind sie geschieden. Dort werden sie mit Hilfe des Sprechens in die Mitte gerufen, d. h. zur Stille, wo sie sich wieder treffen sollen, um nur für einen Moment wieder eins zu werden. Dinge und Welt in ihr eigenes stillend, ruft der Unter-Schied Welt und Ding in die Mitte ihrer Innigkeit. Der Unter-Schied ist das Heißende. Der Unter-Schied versammelt aus sich die Zwei [...]. (US, S. 27) Im Unter-schied wird also alles versammelt und wird eins. Das zweifache Stillen ist das Stillen von beiden Seiten her. Dinge und Welt müssen sich still (das heißt auch friedlich) zueinander verhalten, um sich in der Mitte des Rufes zu treffen oder treffen zu können, weil die Ewigkeit aus der Innigkeit beider und aus der Stille kommt. Die Mutter-Welt muss still werden, während der Neuankömmling, der Wanderer im Reich des Bewusstseins, gleichfalls aus der Stille kommt, damit die beiden sich miteinander in der Mitte des Unter-schieds treffen. Der Unter-Schied als Ort des Treffens, als Versammlung der Welt und des Dinges, aber auch von ,Mensch‘ und ,Geviert‘. Stille Heidegger sagt: Das Geläut der Stille ist nichts Menschliches (US, S. 27), weil der Mensch immer spricht, wobei Gott ‚stillt‘. Aber es gab eine sehr lange Zeit in der Geschichte der Menschheit, in der der Mensch nicht sprach. Im Durchschnitt braucht ein Mensch mindestens zwei bis drei Jahre, um sprechen zu lernen, was für dieses Alter eine sehr lange Zeitspanne ist, ja fast eine Ewigkeit, die noch länger wird, wenn man die Zeit hinzu addiert, in der er im Bauch des Mutterleibs in der Stille lebt. Das Sprechen, aber auch das im Schweigen ständig geführte Selbstgespräch, bestimmt seit alters her das Wesen des Menschen. ζῷον λόγον ἔχον . Ist damit aber wirklich alles gesagt? Die Stille ist auch ein Zustand, der zur menschlichen Natur gehört. Es gibt keinen natürlicheren Zustand des Menschen, als den, in dem er sich als Baby und als Kind noch befand. Also, um die Natur des Menschen komplett und gerecht zu gestalten und besonders zu verstehen, sollten wir der Aussage: „Wohl dagegen ist das Menschliche in seinem Wesen sprachlich“ (US, S. 27) noch hinzufügen, dass er am meisten von Natur „still“ ist. Die meisten Möglichkeiten des Menschen kommen aus der Stille und in der Stille können sie wiederum verwirklicht werden. Eine Form von Stille ist auch die Sprache. Wir heißen die Ding-Welt zu kommen und mit dem Rufen der Intention der Sprache bauen wir die Welt auf. Es sieht so aus, als sei es die Sprache selbst gewesen, die uns aus der Stille in die Welt half, die mit ihren Worten uns den Weg zurück versperrt, als ob sie es wäre, die dadurch ‚die Schwelle versteinert‘, Christos Voudouris 246 sodass wir schon beim Lernen und Aussprechen des Wortes nicht mehr in sie zurückkehren können. Im Gegenteil ist es so, dass wir, um zur Stille zurückzukehren, das Gegenteil von dem tun müssen, was wir gewöhnlich tun, nämlich aufhören zu sprechen. Auch ist es, da die Stille ein natürlicher Bewusstseinszustand ist, und da die Sprache aus der Stille stammt, d. h. von der Stille aus gesehen wurde, ratsam zu lernen, still zu werden, damit wir, wenn wir es möchten oder brauchen, zur Stille, d. h. zum Geist und zum unmittelbaren Wissen zurückkehren können. Wenn die Sprache aus der Stille stammt und sie ein Wissen darstellt, mit dem wir in der Welt und im Leben umgehen, und wenn wir mit der Sprache die Intention der Welt rufen, d. h. die Welt mit den Worten immer wieder neu erbauen, dann können wir zurecht anerkennen, wie außerordentlich wichtig es ist, die Stille erreichen zu können. Das Wissen wird wie ein Fluß aus dir raus frei fließen, als ob es von den Worten bewacht und versperrt war. 9 Wenn wir mit Worten unsere Welt erbauen, würden wir die Welt dann auch verändern können, indem wir andere Worte benutzen? Können andere Worte uns, die Welt und die Beziehung zwischen uns untereinander sowie zwischen uns und der Welt, d. h. Menschen, Tieren, Pflanzen, Universum etc. auch verändern? Nach dem bisher Gesagten muss unsere Antwort „Ja“ lauten. Die Weise, in der wir sprechen, ist die Weise, in der wir sprechen lernten. Damit ist gemeint, wie Heidegger schreibt, dass wir erst zuhörten und dann sprechen lernten. „Entsprechen“ (US, S. 30) nennt er dies. Erst hören wir das Wort, das das Ding nennt und es ruft, dann wiederholen wir es, erst innerlich, schweigend und still, zuerst die Vokale des Wortes, AAA, OOO, UUU, III, EEE, AAA, und dann halbe Worte: ,Ma‘ statt Mama usw., bis wir das Wort ganz und klar aussprechen. Um hören zu können, müssen wir selbst - muss unser Sprechen und unser Denken - erst still werden. Aber es gilt auch umgekehrt: Wir hören zu und erreichen dadurch die Stille. „Jedes Wort des sterblichen Sprechens spricht aus solchem Gehör und als dieses“, und weiter: „Die Sterblichen sprechen, insofern sie hören. Sie achten auf den heißenden Ruf der Stille des Unter-Schieds, auch wenn sie ihn nicht kennen“ (US, S. 29). Man sieht hier, wie wichtig es ist, was wir unseren Kindern beibringen und wie wir sie sprechen lehren. Denn wir lehren sie so, die Welt zu hören und zu erbauen. Durch die Tatsache, dass die ,Schwelle versteinerte‘ (mit deren Steinen wir die Welt und die Dinge der Welt erbauten) und wir die Tür zur Stille hinter uns geschlossen haben, und weiterhin geschlossen halten, haben wir uns in die schlechte Lage versetzt, dass wir mit den Worten der Sprache eine Mauer auf der Schwelle gebaut haben, die uns in Wirklichkeit von unserem Ursprung trennt und die Welt in zwei Teile spaltet. Was wir im Grunde mit dem 9 So Don Juan Matus in Carlos Castaneda: Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan, Übers. v. Thomas Lindquist, 8. Auflage, Frankfurt a. M. 2001, S. 137. Die Sprache als Mittel zum ,Rufen der Intention der Welt‘ 247 lauten oder innerlich unaufhörlichen Sprechen und Denken erreichen, ist, dass wir die Schwelle bloß noch härter machen. Es ist also eine halbe Welt, die wir mit den Worten und den Gedanken erbauen. Meint das vielleicht der Dichter, wenn er sagt: Schmerz versteinerte die Schwelle? Ist das der Unterschied, von dem die Rede ist? Der Unterschied, die Trennung von unserem Ursprung? Das ist der Schmerz des sprechenden Menschen, ausgesprochen durch den Mund eines Dichters, der mit den Augen des Dichters sieht und der in die Tiefe der stillen, dunklen Ozeane seiner Seele schaut, um zu sehen, welcher Abgrund uns und unsere Welt von der Quelle unseres Stammes und dem Ursprung unseres Lebens und Wissens unwiderruflich trennt. Über das Wort ,versteinert‘ bemerkt Heidegger, dass es das einzige Verb im Gedicht ist, für das die Vergangenheitsform gewählt wurde. Hat die Versteinerung der Schwelle schon damals, in der Zeit, als die Menschen sprechen gelernt haben, stattgefunden? Und können wir seitdem die Schwelle nicht mehr überqueren und in die Heimat der Stille hinübertreten? In der Stille finden wir zwar keinen Tisch, der mit Brot und Wein gedeckt ist, aber wir finden Ausgleich, Ruhe, Wissen, Freude und Liebe. Dies sind geistige Güter, die uns das Brot und den Wein, das Leben und die Welt zu schätzen lehren. Die Möglichkeit, das alles zu tun, haben wir aber immer noch. Sie liegt als ‚Gefühl in unserem Bauch‘. Das ist ja ein natürlicher Zustand, der für uns sogar natürlicher ist als das Sprechen. Das Eintreten in die Stille ist ein Mittel, selbstbewusst zu werden oder es kann uns zum Selbstbewusstsein führen, um uns zu erlauben, unsere wahren Möglichkeiten endlich in die Praxis umzusetzen, anstatt nur über Praxis zu sprechen und nachzudenken. Das wäre der einzige Ausweg aus der Fixierung unseres Blickes auf nur einen Punkt, die Ding-Welt als die Welt der bloßen Dinge. Der Weg zur Befreiung von dieser Fixierung bestünde darin, das Sprechen und das Denken für Momente ‚auszuschalten‘, denn durch sie können wir nur unsere Selbstreflexion ausdrücken, mit der wir glauben, die Welt als Ganze zu bezeichnen. Dieser Weg würde uns dahin bringen, anderes zu sehen und den Mut zu entwickeln, unser wahres Schicksal ins Auge zu fassen, gemäß welchem wir nicht nur sterblich, sondern auch göttlicher Abstammung sind. Der Preis dafür ist nicht einmal sehr hoch: Wir müssen dafür nur einige Minuten still werden. Lernen wir als Erwachsene, erst zuzuhören und dann zu sprechen, werden wir bald sehen, dass das Sprechen mit jedem Mal des Stillwerdens näher an seinen Ursprung herankommt, den Ort, an dem wir, wie Heidegger sagt, die Sprache erörtern: „Die Sprache erörtern heißt, nicht so sehr sie, sondern uns an den Ort ihres Wesens bringen: Versammlung in das Ereignis“ (US, S. 10). Damit wäre der Mensch dann in der Lage, das Ganze zu erörtern, d. h. sich seiner selbst und der Welt bewusst zu werden, und nicht nur bloß das zu reflektieren, was er irgendwann in seiner Kindheit lernte. Christos Voudouris 248 Selbstreflexion Es scheint, dass unsere ganze Erkenntnis über uns und die Welt eine Selbstreflexion ist oder dass sie das Wissen, das wir in unserer Kindheit gelernt haben, sprachlich und gedanklich bloß reflektiert. Dieses Wissen haben wir damals stillschweigend als unser eigenes akzeptiert, und was wir dann später tun, kann nur als Selbstreflexion bezeichnet werden. Es ist gar nicht so, dass wir als Babys die Bedeutung der Worte schon verstehen 10 , sondern vielmehr nehmen wir ihre Deutung wahr, d. h. das, was Heidegger als „Zeigen“ 11 (US, S. 233) beschreibt. Anschließend reagieren wir auf diese Bedeutung, bis wir lernen, dies zu automatisieren, d. h. automatisch auf die Erscheinung des Dinges zu reagieren, d. h. es zu reflektieren. Das passiert, wenn wir die Sprache erlernt haben. Danach reflektieren wir über das Gesagte binnen Sekunden, d. h. wir re-agieren vielmehr darauf, als dass wir agieren. In dem Aller, in dem wir unsere Urteilskraft noch nicht entwickelt haben, kann es sich dabei im Grunde nur um eine bloße Selbstreflexion handeln. Was Heidegger sagt, ist jedoch noch etwas anderes. Er schreibt, wir hören oder wir sollten erst zuhören, und dann im Rückbezug auf das Gehörte sprechen. Er nennt dies „Ent-sprechen“. Und natürlich ist das, was wir damals lernten, die einzige Wahrheit. Und natürlich handelt es sich dabei um Wissen. Das Wissen der Welt. Die Intention der Welt, die Wissen und Kraft ist. Das Innehalten von Wissen und Kraft, um dieses mit Hilfe der Sprache und des Denkens zum Ausdruck zu bringen. Damit reflektieren wir im Grunde aber in unserem Selbstgespräch nur das Wissen, das wir immer in uns tragen, das wir damals erlernt und als das einzig wahre erkannt haben - das Wissen, mit dem wir die Welt erbauen und als solche erkennen. Die Weise, nach der die Sterblichen, aus dem Unter-Schied in diesen gerufen, ihrerseits sprechen, ist: das Entsprechen. Das sterbliche Sprechen muß allem zuvor auf das Geheiß gehört haben, als welches die Stille des Unter-Schiedes Welt und Dinge in den Riß seiner Einfalt ruft. Jedes Wort des sterblichen Sprechens spricht aus solchem Gehör und als dieses. (US, S. 29) Dass dies zutrifft, zeigt sich auch an anderer Stelle: Eigentliche Dichtung ist niemals nur eine höhere Weise (Melos) der Alltagssprache. Vielmehr ist umgekehrt das alltägliche Reden ein vergessenes und darum vernutztes Gedicht, aus dem kaum noch ein Rufen erklingt. (US, S. 28) Dies kann nur bedeuten, dass wir automatisch sprechen, das damals Erlernte ständig reflektierend, das aber, weil es vergessen ist, schon ‚vernutzt‘ ist. ‚Vernutzt‘ heißt hier, dass es seine Kraft, d. h. die Kraft, die Intention und das 10 „Die Sterblichen sprechen, insofern sie hören. Sie achten auf den heißenden Ruf der Stille des Unter-Schiedes, auch wenn sie ihn nicht kennen“ (US, S. 32). Die Sprache als Mittel zum ,Rufen der Intention der Welt‘ 249 Wissen, mit dem wir die ursprüngliche Welt bauten (für uns, nicht für unsere Lehrer), schon seit damals ausgeschöpft hat. Wir verfallen damit unserer Selbstreflexion und dies nur durch die Worte. Man könnte formulieren, dass wir dadurch in einer gewissen Weise zu „Opfern“ unserer eigenen Selbstreflexion werden. Das ist umso bedeutsamer, wenn man bedenkt, dass wir nicht nur das Sprechen auf Befehl erlernen, sondern auch das ‚Verhalten‘. Unser Verhalten haben wir zuerst als ‚Gehörtes‘ beim Sprechen der Sprache erlernt. Und genau wie wir ent-sprechen, so entverhalten wir uns auch: verhalten hinsichtlich des Gehörten aber auch des Gezeigten und des Vorgeführtes. ,Zurückhalten‘ meint stillwerden. ,Zuvorkommen‘ meint gar nicht das Zuhören, wie es üblicherweise geglaubt wird, sondern nur das Selbstreflektieren. Heidegger schreibt: „Auf diese Weise wohnen die Sterblichen im Sprechen der Sprache“ (US, S. 30). Die Sterblichen wohnen selbstreflektierend im Sprechen der Sprache und auf diese Weise und deshalb sind die Sterblichen und ist ihr Sprechen (vergessen und vernutzt) sterblich. Und auf diese Weise können sie auch mit der Sprache und mit den Worten den Nächsten töten. „Die Sprache spricht“, sagt Heidegger. Ich würde ihm hier widersprechen: Es ist der Mensch, der spricht, so wie der Mensch es ist, der nicht spricht. Der nicht die Sprache spricht, und kein anderer ist für seine Wahl und seine Entscheidungen verantwortlich. Die Sprache sollte nur ein Werkzeug im Dienste des Menschen sein, um mit den anderen über das schon Bekannte zu kommunizieren. Und sie ist ein Werkzeug geworden, um die Welt zu erbauen. Die Meinung, dass dies übertrieben sei und die Sprache gar nicht die Kraft hätte, die Welt zu erbauen, ist naiv: Das ganze Wissen der Welt ist auf Worten erbaut. Heideggers Aussage „Der Mensch spricht, insofern er der Sprache entspricht“ (US, S. 30) erweckt diesbezüglich den Anschein einer Korrektur. Das Ent-sprechen ist hier bewusstes Sprechen. Nur das kann zu einer anderen Sprache führen, mit Hilfe derer wir eine andere, neue Intention erlernen könnten, wodurch wir wiederum eine andere, neue Welt erbauen werden. Das Entsprechen ist wirklich zunächst ein Zuhören. „Der Mensch spricht, insofern er der Sprache entspricht. Das Entsprechen ist Hören. Es hört, insofern es dem Geheiß der Stille gehört“ (US, S. 30.). Dem kann ich zustimmen. Aber es ist mehr ein Wunsch, und als solcher entspricht er nicht der Wirklichkeit, d.h. der Weise, wie es sich in Wirklichkeit in unserer alltäglichen Welt verhält. Wir müssen lernen, still zu werden, denn um zu hören, muss man erst still werden. Das Zuhören ist nämlich auch die Technik, wie man seine innere Stille sammeln kann. Als solche wird sie dann zu einem Existenzzustand, von dem aus der Mensch an das stille Wissen, d. h. das Wissen, das unmittelbar vom Geist herrührt, gelangen wird. Christos Voudouris 250 Nachwort Die Sprache kann als Mittel dienen, um damit nicht nur zwei Intentionen zu beschreiben, sondern noch zwei Intentionen zu ‚rufen‘. Es stellt eine Schwierigkeit dar, dass wir nur diejenige Intention, die wir als die ‚Logik‘ oder das ‚Bekannte‘ kennen, beschreiben und ‚rufen‘ können. Wir haben gezeigt, wie wir mit dieser Intention unsere Welt der bloßen Gegenstände konstruieren und welche Rolle die Sprache dabei spielt. Die andere Intention ist uns noch unbekannt, sie kann aber bekannt werden, und zwar durch das Gegenteil dessen, was wir für die Beschreibung des bekannten Wissens benutzen, nämlich die Sprache: „Die Sprache als die Sprache zur Sprache bringen“ (US, S. 230). „Die Sprache spricht“ (US, S. 17). Ferner spricht nicht die Sprache, sondern der Mensch, der sie kontrolliert und lenkt, d. h. bewusst spricht, wird mit Hilfe des Willens aus der Stille, der Quelle allen Wissens und natürlich auch aller Sprachen und Beschreibungen, herausgeholt. Es handelt sich um ein unmittelbares und ursprüngliches Wissen, das aus dem direkten Kontakt mit dem Geist gewonnen und zugleich direkt und unmittelbar in die Praxis umgesetzt wird, d. h. ohne die Vermittlung von Gefühlen, Wünschen, usw., aber auch ohne Vermittlung der Sprache und des Denkens. Julia Schmidt-Peterson Spiegelungen - das Gestell und das Geviert Martin Heideggers Auseinandersetzung mit seiner Zeit war von Scharfsinn, genauem Hinsehen und einem Sinn für das Ganze geprägt. Fragen wir nach einem Phänomen der heutigen Zeit, sollten wir auch versuchen, den Blick von der einzelnen Erscheinung auf das ihm Wesenhafte zu lenken, so dass unsere Weltauslegung, unser Umgang mit den Dingen zutage tritt. Wir fragen, das heißt wir befinden uns auf einem Weg des Denkens und das heißt auch, er führt uns notwendig durch die Sprache. Wir achten darauf, wie wir Dinge und Mitdaseiende benennen, denn darin zeigt sich, wie dieselben momentan zu ihrer Anwesenheit gelangen - im ausgesprochenen Wort können sie ganz da sein; jedoch - gelangen sie in unserer heutigen Zeit ganz zu ihrer vollen Anwesenheit? Ist ein Anwesensein-Lassen in einem technisch-gestellhaften Weltverhältnis überhaupt noch möglich oder bedarf es dazu eines anderen Umgangs mit den Dingen oder gar eine andere Weltauslegung - das Geviert? 1. Vorbe-merkung Aufmerksamkeit unserer heutigen Zeit gegenüber beginnt direkt bei der Sache selbst: Auf-merken. Um aufmerken zu können, muss ich zunächst von etwas angesprochen sein. Etwas muss sich mir gezeigt haben, dem ich dann mein Verweilen bei der Sache schenke. Ich befasse mich mit dem, was sich mir in diesem Moment darbietet, anbietet, um mich mit ihm einzulassen. Ich merke dann auf, wenn mir etwas fremd erscheint, vielleicht unpassend, vielleicht ein Lächeln hervorruft; ein Auf-merken bedarf der Mußezeit, der Möglichkeit des Nahekommens von Dingen. Es ist kein Aufmerken, das dazu dient, etwas Störendes zu beseitigen, um die Aufmerksamkeit gleich wieder der Geschäftigkeit des Alltags zuzuwenden. Wir bleiben dann unfrei unserer Zeit gegenüber, auch wenn wir sie leidenschaftlich bejahen oder verneinen, solange wir nur das Zeitliche und nicht die Zeitlichkeit selbst in Augenschein nehmen, uns über die Beschleunigung, mit der Distanzen zurückgelegt werden, erfreuen oder uns sorgen. 2. Ein-Blick in das, was ist Das Bestellen des Ge-Stells stellt sich vor das Ding, läßt es als Ding ungewahrt, wahrlos. So verstellt das Ge-Stell die im Ding nähernde Nähe von Welt. Das Ge-Stell verstellt sogar noch dieses sein Verstellen, so wie das Vergessen von Julia Schmidt-Peterson 252 etwas sich selber vergißt und sich in den Sog der Vergessenheit wegzieht. Das Ereignis der Vergessenheit läßt nicht nur in die Verborgenheit entfallen, sondern dieses Entfallen selbst entfällt mit in die Verborgenheit, die selber noch bei diesem Fallen wegfällt. 1 Die Bestimmung des Gestells nimmt die Entbergungsweise in den Blick, wie wir den Dingen entsprechen. In seinem Aufsatz Die Technik und die Kehre 2 bestimmt Heidegger das Gestell mit den drei Schlagwörtern ‚Beschleunigung‘, ‚Steuerung‘ und ‚Sicherung‘. Die Vorstellung eines perfekt effizienten Kreislaufes drängt sich auf: Dinge werden schnellstmöglich und kostengünstig produziert wie am laufenden Band, die Steuerung der Prozesse übernehmen weitere technische Geräte und der Bestand der Waren bleibt immer gesichert. Niemals soll der Kunde fürchten müssen, dass ein Produkt nicht mehr ‚zur Stelle‘ ist, nicht mehr verfügbar. So wird in einem technisch-funktionalen Weltverhältnis der Anschein erweckt, alles ist jederzeit verfügbar, ein reibungsloser, verlässlicher Ablauf ist gesichert und notfalls einklagbar. Um der Konkurrenz den Rang abzulaufen, wird an der Beschleunigung der Prozesse auf Hochtouren gearbeitet; bald sollen Drohnen Pakete innerhalb weniger Stunden ausliefern. Dieses Bestellen, im Sinne des grenzenlosen Verfügbarmachens, offenbart die Macht, die ein wesentlicher Faktor des Gestells ist. Über jegliche Dinge wird frei verfügt, man lässt sie als Dinge ‚wahrlos‘. Die Dinge werden zu bloßen Gegenständen, ohne dass sie verwahrt würden aufgrund ihrer eigentümlichen Seinsweise, noch vielmehr: aufgrund der Tatsache, dass sie sind und nicht vielmehr nicht. Alles wahre Verwahren, Wertschätzen, Antworten beruht auf diesem Auf-merken, im weiteren Staunen darüber, dass überhaupt etwas ist. Indem diese Bewegung nicht mehr zugelassen wird, gemeinhin wegrationalisiert wird, wird dem einzelnen Ding die Möglichkeit genommen, sich zu nähern und Welt zu nähern, d. h. in seinen eigentümlichen Bezügen wahrgenommen zu werden, bedacht zu werden, angemessen angesprochen zu werden. Die Entbergungsweise des Gestells verstellt das Nähern von Welt je und je insofern, als es den Bezug von Welt immer schon vorgegeben hat: Der Mensch stellt die Dinge alleinig auf sich selbst zu, seine Weltbezüge bestimmen die der Dinge, er lässt sich nicht mehr ansprechen, sondern ist Wortführer - er „begegnet am Ende immer nur sich selbst“ 3 . Wenn die Auslegung von der Welt und den Dingen von vorneherein festgelegt ist, sieht der Mensch in den Dingen am Ende immer nur sein Werk, seinen Gebrauchsgegenstand, seine Bediensteten. Längst ist nicht mehr allein unbelebte Materie zu bestellen, auf den Menschen zugestellt; Pflanzen dienen uns als Kraft- und Rohstoffe, Tiere als genormte Nahrungsportionen, Menschen als Dienstleister, Träger von Funktionen, zur Einnahme bestimmter gesellschaftlich vorgegebener Rollen. 1 Martin Heidegger: Bremer und Freiburger Vorträge, GA 79, hg. v. Petra Jaeger, Frankfurt am Main 2005, S. 75. 2 Martin Heidegger: Die Technik und die Kehre (TK), Stuttgart 2014. 3 Ebd., S. 27. Spiegelungen - das Gestell und das Geviert 253 Heidegger spricht noch eine zweite Lesart der Verstellung an: Dem Menschen ist die Sichtweise auf das verstellende und zustellende Weltverhältnis selbst verstellt. Er ist so geschäftig im Erledigen von Dingen, so in der Selbstbeschleunigung begriffen, dass er vergisst, dass er längst vergessen hat. Vergessen aufzumerken. Das Vergessen kam schleichend, fast unbemerkt. Die Technik und mit ihr der Blick auf die Dinge und Menschen mutete schon immer fortschrittlich an. Befreien wir uns von den alltäglichen Zwängen der harten körperlichen Arbeit. Befreien wir uns von Ängsten und Unsicherheiten, von Mangel und Informationsdefiziten, von Langsamkeit und Rückständigkeit. Das Versprechen, Zeit zu sparen, um damit wiederum Zeit zur freien Verfügung gestellt zu bekommen, war eines der bedeutendsten des technischen Fortschritts. Was haben uns die Geräte nicht alles abgenommen, was früher von Hand gemacht werden musste: im Alltag zum Beispiel Wäsche waschen, Briefe schreiben. Doch wo ist die versprochene Zeit zur freien Verfügung? Wo ist die Muße, die uns ermöglichen soll, von den Notwendigkeiten des Alltags Abstand zu nehmen und sich in einem freien Zeit-Spiel-Raum wiederzufinden, in dem ich nicht mehr der Wortführer bin, sondern mich ansprechen lasse? Wir haben uns den ‚Blick‘ der Apparate zu eigen gemacht. Wir bestimmen, wie der Ablauf zu sein hat. Wir dirigieren, delegieren, machen verfügbar, tauschen aus. Die technischen Apparaturen und ihre Arbeitsprozesse umgeben und faszinieren uns so mannigfaltig und allgegenwärtig, dass wir nicht bemerken, wie wir ihnen anfangen zu gleichen. Wie auch wir effizient werden und das von unserem Gegenüber verlangen. Wie wir wollen, dass die Dinge reibungslos funktionieren, um möglichst wenig Energie aufwenden zu müssen; um Energie zu sparen. Doch wozu? Um uns der eigenen Stille auszusetzen? Gehört das nicht der rückständigen, alten Welt an? 3. Blick „Werden wir als die Erblickten in den Wesensblick des Seyns eingeholt, daß wir ihm nicht mehr entgehen? Gelangen wir so in das Wesen der Nähe, die im Ding dingend Welt nähert? Wohnen wir einheimisch in der Nähe, so daß wir anfänglich in das Geviert von Himmel und Erde, Sterblichen und Göttlichen gehören? “ 4 Schleichend haben wir den ‚Blick‘ der Apparate übernommen. Wäre es da nicht die Lösung, unseren Blick umzuwenden, ihn in eine andere Richtung zu drehen, anders zu sehen? Eines bleibt dabei zu bedenken: Wir dürfen dies nicht als die altbekannten Wortführer tun, als die, die den Ton angeben. Wir haben die Möglichkeit, unseren Blick dann zu ändern, wenn wir uns anblicken lassen. Wenn wir uns von der Seynsweise des Gevierts so erblicken lassen, dass kein Entweichen und keine Ausreden mehr gelten. Wenn wir erkennen, dass es um nichts weniger als unser Leben und um das Sein der Dinge geht. Indem wir uns 4 GA 79, S. 77. Julia Schmidt-Peterson 254 aneinander wieder annähern, indem das Ding sich mit seinen Weltbezügen nähern darf, sich vorstellen, zeigen und entfalten darf, um in uns Anklang zu finden und uns zu stimmen. Und weiter gedacht: Ist diese Bewegung erst einmal vollzogen und wird dieser Blick zur positiv verstandenen Gewohnheit, dann werden wir heimisch in ihr. Dann hat sich unser Blick umgewandt und beugt sich nicht mehr den Ansprüchen der funktionalen Weltauslegung. Doch wie soll das möglich sein in einer Welt voller Apparate, die ihre ‚Sicht‘-weise und die damit einhergehenden Machtstrukturen sicher nicht aufgeben werden? ‚Blitzen‘ ist dem Wort und der Sache nach: blicken. Im Blick und als Blick tritt das Wesen in sein eigenes Leuchten. Durch das Element seines Leuchtens hindurch birgt der Blick sein Erblicktes in das Blicken zurück; das Blicken aber wahrt im Leuchten zugleich das verborgene Dunkel seiner Herkunft als das Ungelichtete. Einkehr des Blitzes der Wahrheit des Seyns ist Einblick. Die Wahrheit des Seyns dachten wir im Welten von Welt als das Spiegel-Spiel des Gevierts von Himmel und Erde, Sterblichen und Göttlichen. Wenn die Vergessenheit sich kehrt, wenn Welt als Wahrnis des Wesens des Seyns einkehrt, ereignet sich der Einblitz der Welt in die Verwahrlosung des Dinges. Diese ereignet sich in der Weise der Herrschaft des Ge-Stells. Einblitz von Welt in das Ge-Stell ist Einblitz der Wahrheit des Seyns in das wahrlose Sein. Einblitz ist Ereignis im Seyn selbst. 5 Wir müssen darauf vertrauen, dass wir angeblickt werden. Dass sich das Gestell als äußerster Entzug der Wahrnis des Seins von Seiendem als wahrlos offenbart. Dass es Fragende und Denkende gibt, die die Verwahrlosung bemerken. Dass sich die Mitdaseiende stimmen lassen und auch anfangen, sich zu fragen und zu denken und zwar also: 4. Vor-Blick in das, was kommt Wie müssen wir denken; denn das Denken ist das eigentliche Handeln, wenn Handeln heißt: dem Wesen des Seyns an die Hand gehen, um ihm jene Stätte zu bereiten, in die es sich und sein Wesen zur Sprache bringt. Ohne die Sprache bleibt alles Überlegenwollen ohne jeden Weg und Steg. Ohne die Sprache fehlt jedem Tun jede Dimension, in der es sich umtun und wirken könnte. Sprache ist dabei niemals erst Ausdruck des Denkens, Fühlens und Wollens. Sprache ist die anfängliche Dimension, innerhalb derer das Menschenwesen überhaupt erst vermag, dem Sein und dessen Anspruch zu entsprechen und im Entsprechen dem Sein zu gehören. Dieses anfängliche Entsprechen, eigens vollzogen, ist das Denken. Denkend lernen wir erst das Wohnen in dem Bereich, in dem sich die Verwindung des Seinsgeschickes, die Verwindung des Ge-Stells, ereignet. 6 5 GA 79, S. 74. 6 GA 79, S. 71. Rainer Thurnher Das Katheder des Galilei Eine Erzählung in phänomenologischer Absicht ∗ Die folgende Geschichte erhebt keinen Anspruch darauf, in jedem Sinne wahr zu sein. Ma, se non è vero, è ben trovato - dies wenigstens hofft der Erzähler. Gleichwohl kann man ihr, wenn man will, auch eine Wahrheit entnehmen. Wie man weiß, ist allen Phänomenologen das Katheder besonders ans Herz gewachsen. Das Katheder hat es ihnen nun einmal angetan. Im Hörsaal kann der Phänomenologe an ihm unmittelbar und anschaulich demonstrieren, was ein Ding im phänomenologischen Sinne ist und worauf es verweist, nämlich auf die Welt, zu der es gehört, und auf das Aktleben des Bewußtseins, in dem es sich konstituiert. So rangiert das Katheder in der Beliebtheitsskala noch vor dem Tintenfaß und dem Briefkasten, dem Sessel und dem Schreibtisch. Dies hat einmal einen aus der Zunft - sein Name ist mir wieder entfallen - zu der kritischen Bemerkung veranlaßt, man könne mit dem Inventar der phänomenologischen Betrachtungen ein ganzes Möbellager füllen. Damit hat er wohl recht. Und auch in dem, was er damit sagen wollte, daß nämlich die eigentlichen „Sachen selbst“ der Phänomenologie in der Regel nichts sinnenfällig Gegebenes sind. Unter allen Dingen aber ist es seit jeher das Katheder, das der Phänomenologe besonders schätzt. Wenn so ein Phänomenologe im Hörsaal steht, wenn er in Fahrt gekommen ist und sich erst einmal richtig warm geredet hat, kann man sicher sein, daß er früher oder später beim Katheder anlangt, um ihm sein Hohelied zu singen. *** So geht es auch in unserer Geschichte um ein Katheder, allerdings nicht um ein beliebiges, wie es in jedem Hörsaal anzutreffen ist, sondern um das berühmteste von allen. Tausende und Abertausende von Touristen jährlich schleppen sich, meist bei brütender Sommerhitze und mit letzter Kraft zu ihm hin, um es mit offenem Mund zu bestaunen, gerade so wie das teatro anatomico, das sich im selben altehrwürdigen Gemäuer befindet. Erraten! Es geht in unserer Geschichte - nicht nur, aber unter anderem auch - um die berühmte cattedra di Galilei in Padua. Nicht in der Universität allerdings, sondern zu Hause suchen wir Galilei mit unserer Erzählung auf, und zwar just an dem Tag, an dem er seine berühmten ∗ Anmerkung: Auf Wunsch des Autors wird die alte Rechtschreibung beibehalten. Rainer Thurnher 256 Fallrinnenexperimente erstmals durchführen wird. Daß er diese erst in hohem Alter in seinem Exil in Cerveteri angestellt haben soll, halten wir für mehr als unwahrscheinlich. Galilei war nicht der umtriebige Experimentator, als den die Späteren ihn gerne sehen wollten. Galilei war im Grunde ein schwerfälliger, in praktischen Dingen eher unbeholfener Mensch. Er war ein Grübler. Und so hat er sich die Gesetzmäßigkeiten der gleichmäßig beschleunigten Bewegung zuerst zusammengedichtet und zusammengereimt. Er hat sie sich ausgedacht; er hat sich eine solche Bewegung imaginiert und hat ihren zu erwartenden Verlauf mathematisch berechnet, er hat ihn konstruktiv zu bestimmen gesucht. Erst im Nachhinein ist er darangegangen, zu sehen, ob sich die Sache in Wirklichkeit auch so verhält wie gedacht. 1 Also zuerst wird die Sache ausgedacht, und dann wird gesehen, ob sie sich so in der Natur wiederfindet. Durch Grübeln und durch methodisch strenge mathematische Konstruktion ist Galilei zu seinen Fallgesetzen gelangt. Und durch Grübeln ist er auch dahinter gekommen, daß sich die Fallbewegung verlangsamen läßt, wenn man sie durch eine schiefe Ebene ablenkt. So wird sie verzögert und gleichsam in die Länge gezogen. Und das war ein guter Einfall, denn wenn die gleichmäßig beschleunigte Bewegung langsam vonstatten geht, läßt sie sich leichter beobachten und genauer messen. Die Hauptarbeit war somit getan. Die Sachen waren ausgebrütet, sie waren ausgedacht und berechnet. Und so blieb nur die im Grunde nebensächliche und lästige Aufgabe, das Ganze durch die Wirklichkeit sich bestätigen zu lassen. Fünf Wochen kostbarer Zeit - Galilei knauserte mit der Zeit nicht weniger als mit dem Geld - fünf Wochen kostbarer Zeit waren verloren gegangen, um sich all den Plunder zu besorgen, der jetzt um ihn herumlag: Die Fallrinne, die Waage, die Wasseruhr, das Winkelmaß, die Bleikugeln, die Eisenkugeln, die Glaskugeln, die Tonkugeln, die Holzkugeln. Galilei war ein Stubenhocker. Nur widerwillig verließ er das Haus. Und nun waren unzählige Gänge notwendig geworden. Zweimal mußte er zum Schuster, sich die Schuhe sohlen lassen, so viel war er unterwegs gewesen. Dann der Ärger mit den Handwerkern! Dazu ihre aufdringlichen Fragen, wozu denn ein Mann in seinem Alter all die kindischen Dinge brauche, die Murmeln, die sorgsam polierte Rinne, die Wasserbehälter, die in weniger als einer Minute ausgeronnen waren und niemandem einen Nutzen bringen konnten. An die Unsummen, die er aufgewendet - in seinen Augen wenigstens war es eine 1 So heißt das Werk, in dem er die von ihm entdeckten Fallgesetze erstmals dargelegt hat, bezeichnenderweise „Discorsi e dimostrazioni matematiche intorno a due nuove scienze attenti alla meccanica ed i movimenti locali“. Und darin ist zu lesen: „Sollte sich herausstellen, daß sich die [...] Eigenschaften [einer gleichförmig beschleunigten Bewegung, wie sie eben berechnet wurde] in frei fallenden Körpern wiederfinden, so werden wir annehmen dürfen, daß die gegebene Definition die Bewegung fallender Körper einschließt und daß deren Beschleunigung proportional zur Dauer der Bewegung wächst.“ Das Katheder des Galilei 257 Menge Geld; viel zu viel, um nur etwas zu bestätigen, was man ohnedies schon wußte! - an die Ausgaben wollte er erst gar nicht denken! Jetzt ist er also da, der große Tag. Und als wollte er ihn bis zur Neige genießen und in seiner Bedeutung so recht auskosten, sitzt der schon leicht ergraute Gelehrte versonnen da. Sein Blick ruht bald auf dem einen, bald auf dem anderen der Dinge, die er sich mit so viel Umsicht besorgt. Die bunten Glaskugeln sind es, die ihn zuerst gefangennehmen. Wie das Licht in ihnen spielt! Und bald sieht er nicht mehr die Glaskugeln vor sich, sondern die Werkstatt des Glasbläsers, den er so oft aufgesucht! Dieser Mastro Emanuele verstand sich wohl darauf, das Glas zu färben und Kugeln herzustellen, die innen mit gewundenen bunten Bändern und Fäden durchzogen waren. Hoffnungslos war es gewesen, dem alten Manne beizubringen, daß seine Farben, die sein ganzer Stolz waren, in diesem Falle keine Bedeutung haben sollten. Bei ihm gäbe es nur Kugeln mit Farben oder gar keine! Auch ein schlichter Handwerker habe seine Ehre, die es zu wahren gelte. Auch ein simpler artigiano habe seinen Stolz. Gesetzt den Fall, er stellte für Galilei eine ganz gewöhnliche Glaskugel her, und es käme zufällig ein Besucher zu ihm, Galilei, der sich auf edles Glas verstünde, und fragte ihn, wo er denn diese primitive Kugel erstanden habe, und er, Galilei, würde antworten: bei Messer Emanuele in der Calle dei Vetrai. Er, Emanuele, würde denselben Augenblick sterben vor Scham. Er würde solche Schmach und Schande nicht überleben. Mit diesen Reden freilich war es nicht getan. Galilei mußte, ob er wollte oder nicht, um seiner Glaskugeln willen dem Meister durch die Werkstatt und das ganze Haus folgen bis in die entlegenen Kammern, in welchen er seine wertvollen Farben wie einen kostbaren Schatz verwahrt hielt. Und nun ging es erst recht los. Emanuele geriet ins Schwärmen und erzählte ihm von den weiten und gefahrvollen Reisen, die er unternehmen mußte, um sich jedes einzelne dieser Pülverchen und Wässerchen, die meist ganz unscheinbar und glanzlos aussahen, zu beschaffen. Die einen, so wußte er zu berichten, waren aus den Eingeweiden von Schnecken, die andern aus dem Saft von Läusen gewonnen, andere wiederum aus Blüten, Früchten oder Wurzeln von Gewächsen mit merkwürdigen Namen. Sie seien keineswegs überall anzutreffen. Man begegne ihnen nur in bestimmten Landstrichen und sie gediehen in der gewünschten Qualität nur auf besonderen Böden von seltener Beschaffenheit. Zudem müsse man den genauen Zeitpunkt ihrer Reife kennen, wie auch die Konstellation der Gestirne, unter welcher sie zu ernten waren. Andere Farben wiederum waren aus Erzen oder Mineralien gewonnen oder entstammten überhaupt einem geheimen Chemismus, dessen Rezeptur einzig von einer geringen Zahl verkommener Mönche beherrscht wurde, die im Bunde standen mit den dämonischen und siderischen Mächten. Sie wurden von ihren Äbten angekettet gehalten, wie Galeerenknechte, um in dunklen und geheimnisumwitterten Gewölben das gleißnerische Licht der Hölle zu bannen, das den Farben ihren magischen Glanz verlieh, der anders nicht zu erreichen war. Meister Emanuele hatte es verstanden, alles so lebendig zu schildern, daß Galilei, wenngleich er nun in seiner ihm so vertrauten Studierstube saß, sich doch von neuem ent- Rainer Thurnher 258 rückt sah in ferne Länder, auf entlegene Hochebenen, in unwegsame Schluchten, in modrige Schächte und Stollen, die tief ins Innere zerklüfteter Berge führten, in von dunklen Geheimnissen umwitterte Klöster und Abteien. Maestro Emanuele entnahm den Döschen, den Fläschchen und Fiolen einige Proben. Galilei machte mehrfach Anstalten, sich höflich zu empfehlen, doch mit dem einzigen Erfolg, daß der Meister, sie geflissentlich übersehend, sich umso eifriger um seinen Gast bemühte. Unfreundlich zu sein und Emanuele vor den Kopf zu stoßen, wagte er indes nicht, denn dies hätte geheißen, sich die dringend benötigten Kugeln in Murano oder gar in Böhmen besorgen zu müssen. So fügte er sich in das Unvermeidliche und folgte dem Meister durch die labyrinthischen Gänge zurück in die Werkstatt, wo dieser es sich nicht nehmen ließ, in eigener Person seinem Gast ad oculos zu demonstrieren, wie sich die stumpfen Pülverchen und unahnsehnlichen Flüssigkeiten, waren sie erst mit dem Quarzsand gemischt und unter dem Feuer zum Schmelzen gebracht, in ein Grün, ein Blau, ein Rot, ein Gelb von überirdischem Glanze verwandelten. Ehrfürchtig waren die Gesellen vor dem Meister zur Seite getreten. Sie standen im Kreise herum und beobachteten ihren Dienstherren, wie er geschickt und mit sicheren Handgriffen die farbigen Massen zu filigranen Fäden und Bändern auszog, wie er sie kunstvoll ineinander verschlang und einer Kugel von mittlerer Größe einfügte. Einer Kugel? Galilei mußte, da er sich daran erinnerte, laut auflachen. Einer Kugel! Der wackere Emanuele! So sehr er sich auf die Farben verstand, so wenig vermochte er, seine Erzeugnisse der idealen geometrischen Form anzunähern. Ja es schien Galilei, daß Emanuele es mit der albernen Weisheit der Araber hielt, daß nur der Allmächtige vollkommen sei und es daher dem Menschen nicht anstünde, Dinge in makelloser Ausführung und von vollendeter Form hervorzubringen. Offenbar verband Emanuele damit auch die Vorstellung, daß kleine, fast unmerkliche Abweichungen von der Regelmäßigkeit die Dinge für das Auge erst gefällig machten. So war mit den Kugeln, die von seiner Hand gefertigt waren, nichts Rechtes anzufangen. Sie eierten über die Laufrinne, gerieten alsbald in ein ärgerliches Schlingern und Wanden und langten zuletzt bei einem aufreizenden, sinnlosen Hüpfen an. Wurde dieses gar zu heftig, so mochte es wohl vorkommen, daß sie die ihnen zugedachte Bahn überhaupt verließen, die Wandung übersprangen und in tausend Stücke zerbarsten. In solchen Augenblicken war der Gelehrte versucht zu glauben, Emanuele habe sie, um seine Pläne zu vereiteln, absichtlich mit Eigensinn und tückischer Bosheit ausgestattet. Welcher Überredungskunst hatte es bedurft, einen der Gesellen so weit zu bringen, daß er sich bereit fand, die Kugeln seines Meisters nachträglich zu bearbeiten. Und wahrlich, die Überredung mit Worten allein hätte nicht ausgereicht. Es mußten - was Galilei in seiner Knausrigkeit besonders hart angekommen war - einige Scudi bester Prägung darangegeben werden, um den Worten das nötige Gewicht zu verleihen. Dem Gesellen wäre es freilich schlecht ergangen, hätte der Meister davon erfahren. So dauerte es nicht lange, bis den Gesellen der Mut wieder verließ. Mit Bitterkeit mußte Galilei feststellen, daß er für sein gutes Geld einen Berg von ärgerlichem Ramsch erstanden Das Katheder des Galilei 259 hatte, in dem sich inzwischen nur wenige annähernd brauchbare Exemplare fanden. Mit einem tiefen Seufzer wandte sich der Gelehrte vom bunten Reigen der kunstvoll gearbeiteten Glasgebilde ab, deren trügerischer Glanz ihn anfänglich berückt hatte. Nicht länger sollte er seiner Verführung erliegen. So suchte er Trost bei der schlichten Laufrinne. Und er tat gut daran. Denn sie wurde seinen Ansprüchen, die an der Geometrie und ihrer Strenge sich orientierten, nahezu restlos gerecht. Auch liebte Galilei in seiner Nüchternheit das Schlichte, Einfache, Schmucklose. Gedankenverloren ließ er seine Finger fast zärtlich und liebkosend die Bahn entlanggleiten, die alsbald die Kugeln nehmen würden, welche in Gruppen geordnet bereitlagen. Keine Unebenheit, keine Abweichung ließ sich bemerken. Hatte Galilei sich vor wenigen Wochen noch über den Schreiner im Hause wahrlich genug geärgert, wenn dieser mit seinem unvermittelt einsetzenden, nie enden wollenden Hämmern, Sägen, Fräsen, Hobeln und Glätten ihn aus seinen Gedanken riß, so war er ihm mittlerweile in Freundschaft verbunden. Und wenngleich das Hämmern, Sägen und Fräsen in der gleichen Weise sich fortsetzte wie eh und je, schien er es seit einiger Zeit kaum mehr wahrzunehmen. Freilich: Der Weg hinunter in die Werkstatt war ihn hart angekommen. Er schien ihm, obwohl er nur wenige Stufen hinabsteigen mußte, weiter zu sein als der Weg zu Meister Emanuele, der unweit der Basilica del Santo wohnte, oder zur Werkstatt des Drechslers, der gar am anderen Ende der Stadt hauste. Stets war Galilei achtlos an dem Gewölbe vorübergegangen, das, etwas unter dem Niveau der Straße gelegen, die Wirkungsstätte seines Peinigers barg. Statt sich als neu hinzugekommener Hausgenosse bekannt zu machen, war er darauf bedacht, dem Störenfried so lange als möglich aus dem Weg zu gehen und seinen Gruß zu meiden. Die Rinne jedoch — die Rinne, die er so dringend benötigte, zwang ihn zur Kapitulation. Man hatte ihm nämlich glaubhaft versichert, daß eben der Schreiner in seinem Hause sich wie kein anderer auf das Hobeln und Glätten des Holzes verstand. So hatte er schließlich seinen Widerwillen überwunden und sich in das Gelaß hinabbegeben, das ihm so oft zum Ärgernis geworden. Nachdem sein Auge sich an das matte Licht gewöhnt hatte, staunte er nicht wenig, daß unter den spärlichen engen Kammern, die er bewohnte, eine ganze Welt Platz finden konnte. Galilei hatte sich den Ort - wohl wegen des Hallens der ihn peinigenden Geräusche - mehr oder weniger leer vorgestellt, einzig besetzt mit den Instrumenten, die nötig waren, ihm die Besinnung zu rauben. Nun aber sah er eine Unzahl unterschiedlicher Gerätschaften, bereitliegend auf Borden und Theken, ruhend in Regalen und Etageren, baumelnd an Wandhaken und Stiften, verstaut in Kästen, Kisten und Truhen. Eine feste Regel der Anordnung war nicht sogleich zu erkennen, jedoch spielte sichtlich der mühelose Zugriff am jeweiligen Ort, an dem die Geräte zum Einsatz gelangten, eine bestimmende Rolle. Einzelne Gruppen von Geräten waren nach ihrer Größe geordnet, die meisten aber nach Gesichtspunkten, deren Kenntnis sich einem Uneingeweihten weitgehend entzog. Die Welt, die hier unter dem Gewölbe ihren Platz gefunden hatte, war also die Welt dieses Schreiners, die Welt, in Rainer Thurnher 260 der er wirkte, die Welt, die seine Verrichtungen im einzelnen leitete, die Welt, in der er zuhause war. Sie erschloß sich Galilei - wenigstens in Teilen und so weit, als es einem bloßen Betrachter überhaupt möglich ist - nach und nach. Denn der Schreiner schien es darauf angelegt zu haben, ja es schien ihm insgeheim ein Vergnügen zu bereiten, sich seinem allzu zurückhaltenden Mitbewohner auf seine Weise und als der, der er war, nämlich ein Schreiner, bekannt zu machen. Er tat so, als hätte er den Eindringling gar nicht bemerkt. Seine Aufmerksamkeit war, wie es schien, ganz und gar in Beschlag genommen von den vor ihm liegenden Stücken, die er gerade bearbeitete. Im ganzen aber galten offenbar alle Zurüstungen jenem Etwas, das als ein noch unfertiges Gebilde nahezu den ganzen Platz einnahm, der in der Mitte des Raumes zwischen den Hobelbänken, den Sägeböcken, den Pressen und dem Ofen, auf dem mehrere Leimtöpfe brodelten, frei geblieben war. Die endgültige Gestalt oder der Zweck dessen, was hier im Entstehen begriffen war, war für den Betrachter - anfänglich wenigstens - nicht zu erraten. Galilei räusperte sich ein ums andere Mal, wie er meinte, mehr als vernehmlich. Schon war er nahe daran, aus der Fassung zu geraten und seinen Hausgenossen verärgert anzufahren, als ihm - die Rinne - die Rinne! - wieder in den Sinn kam, die Rinne, die ihn zwang, sich zu beherrschen und alles zu ertragen, was sein Peiniger ihm noch zugedacht haben mochte. Seine Lage indes wurde in dem Maße erträglich, als seine Aufmerksamkeit nach und nach von dessen Hantierungen in Anspruch genommen wurde. Mit Spannung und wachsender Neugier sah Galilei allmählich eine erkennbare Gestalt annehmen, was wohl einen Reisesekretär oder einen kleinen Kabinettschrank abgeben mochte. Der Meister war mit wahrem Feuereifer bei der Sache. Galilei vermutete - wohl nicht zu unrecht -, daß er es darauf angelegt hatte, ihm Eindruck zu machen. Jedenfalls handhabte er die unterschiedlichen Hobel, Zangen und Sägen, die Zwingen, Schabeisen und Bohrer, die Hämmer, die Sandpapiere und Leimpinsel mit einer derartigen Geschicklichkeit, daß es schien, er hätte selten weniger als drei Geräte gleichzeitig in Gebrauch. Er legte eine Virtuosität und Artistik an den Tag, daß man sich des Eindrucks nicht erwehren konnte, es ginge nicht mit rechten Dingen zu. Bald verhüllten Wolken von Hobelspänen den Hexenmeister, bald entzog ihn ein Nebel von Schleifstaub dem Blick, bald verschwand er in einem Wirbel von Leimtropfen. Jedesmal aber, wenn er wieder auftauchte, hatte er sein Werk in beträchtlichem Maße voran- und der Vollendung nähergebracht. Eben in dem Augenblick, als es Galilei klar wurde, was hier im Entstehen begriffen war, hielt auch der Meister inne, trat vor seinem Werk zurück und betrachtete es eine geraume Weile mit sichtlichem Behagen und Wohlgefallen. Dann aber wandte er sich unvermittelt seinem Gast zu. Als wäre dieser eben erst eingetreten, fragte er ihn mit einem freundlichen Lächeln und in verbindlichem Tonfall: Was kann ich für Sie tun, mein Herr? Es dauerte ein wenig, bis Galilei sich gefaßt hatte und keinen Zweifel mehr hegte, daß er der Angesprochene war. Auch mußte er sich den Grund seines Das Katheder des Galilei 261 Hierseins erst wieder ins Gedächtnis rufen. Er machte wohl keine gute Figur, als er dem tüchtigen Mann nicht ohne Verlegenheit und umständlich genug sein Anliegen vortrug: Er brauche eine Rinne, eine Holzrinne, deren Boden so schön geglättet sei, daß die Kugeln, die er darin rollen lassen wolle, ungehindert und in der größten Regelmäßigkeit - auf diese komme alles an - sich fortbewegten. Der Gelehrte war nicht wenig erstaunt darüber, daß der Schreiner nicht weiter nachfragte und auch sonst keinerlei Anzeichen der Verwunderung erkennen ließ. Ja ganz im Gegenteil. Auf seinem Gesicht erschien ein mildes Lächeln, er nickte Galilei ermunternd und verständnisvoll zu, als wäre er längst mit seinen Absichten vertraut. Die Sache klärte sich indes rasch auf; denn der Schreiner wandte sich dem Vorhang zu, der die nach hinten gelegenen Räumlichkeiten dem Blick entzog. Von dort waren immer wieder Geräusche zu hören gewesen, die keinen Zweifel daran ließen, daß dahinter das Weib oder die Haushälterin des Meisters sich zu schaffen machte. Hast du’s gehört, mein Täubchen, rief dieser mit schallender Stimme und ohne eine Spur von Zurückhaltung, es ist, wie ich Dir’s immer gesagt habe: Bei dem da oben fehlt’s gewaltig, meilenweit, da oben! Galilei schluckte mehrmals trocken. Seine Geistesschärfe indes ließ ihn sofort erkennen, daß es nicht klug gewesen wäre, Protest einzulegen. Den Mann in seinem Glauben zu belassen war zweifellos der sicherste Weg, zu seiner Rinne zu gelangen. So machte Galilei nicht nur ein dümmliches Gesicht, sondern führte auch einige der charakteristischen Gesten und Bewegungen aus, wie man sie an Narren und Geistesschwachen allenthalben beobachten kann. Der Erfolg stellte sich augenblicklich ein. Sie können Ihre Rinne haben - vorausgesetzt, Sie zahlen die Hälfte des Preises im voraus an, das sind - an dieser Stelle dachte er eine Weile nach - vierzehn Silberfüchslein. - Meinst du nicht auch, mein Täubchen, rief er wieder nach hinten, es ist doch klug, von einem solchen Kerl, der nicht in einem Palaste wohnt und dennoch den ganzen Tag sich mit Kindereien abgibt, eine Vorauszahlung zu verlangen? Galilei wandte zaghaft ein: Aber - aber, ich bin doch Professor - Professor an der hiesigen Universität! Das ändert die Sache natürlich, gab der Schreiner zurück, in diesem Falle - in diesem Falle muß ich die ganze Summe im voraus haben, wenn Sie Wert auf Ihre - Rinne - legen! Der Gelehrte fügte sich ergeben in sein Schicksal. Am nächsten Tag brachte er dem Schreiner den geforderten Preis, zähneknirschend zwar, aber ohne sich das geringste anmerken zu lassen. Dies hätte er nicht tun dürfen. Denn da blieb nichts mehr, was den Schreiner zur Eile hätte antreiben können. Als Galilei es nach einigen Wochen wagte, ihm deshalb Vorhaltungen zu machen, bekam er zu hören: Professorchen, Sie sind aber ganz schön weltfremd. Kein Mensch, der nicht ganz hohl im Kopf ist, entlohnt einen Handwerker zur Gänze im voraus. Aber, fügte er hinzu, ich lasse gerne mit mir reden. Ich bin Argumenten gegenüber nicht unzugänglich, wenn sie Substanz haben ... Sie verstehen mich doch! Rainer Thurnher 262 So mußte Galilei dem Manne noch eine kleinere Summe in Aussicht stellen. Mit dieser Zusage hatte er es recht getroffen. Sie wirkte Wunder. Der Schreiner achtete nicht weiter darauf, daß Galilei sich noch in der Werkstatt aufhielt. Er machte sich unverzüglich an die Arbeit, so daß dieser mit demselben Bangen, mit dem ein Gutsbesitzer der ersehnten Geburt seines Erben beiwohnt, seine Rinne das Licht der Welt erblicken sah. Am selben Tag noch legte der Schreiner sie in seine Arme und er konnte sich überzeugen, daß sie gediegen gearbeitet und, wenn man das von einem leblosen Ding überhaupt sagen kann, kerngesund war. Da war alle Unbill vergessen und verziehen und niemand stand fortan in des Gelehrten Gunst so hoch wie der Schreiner. Es dauerte weniger als ein Jahr, bis an der Universität das Institut für Schreinerei und Stilkunde des Möbels den Lehrbetrieb aufnehmen konnte. Aus Dankbarkeit fertigte der frisch gebackene Ordinarius des ISSM (Institut für Schreinerei und Stilkunde des Möbels) für seinen Gönner ein Katheder an, eben die nachmals so berühmte cattedra di Galilei. Viel noch gäbe es zu berichten von der Welt der Drechsler und der Welt der Töpfer, von der Welt der Uhrmacher und der Welt der Schlosser, der Welt der Mechaniker und der Welt der Büchsenmacher, die Galilei auf ähnliche Weise, jedoch unter ganz unterschiedlichen Begleitumständen kennenlernte. So kam er, wie er sich scherzhaft auszudrücken pflegte, gleich mehrmals und immer wieder zur Welt, oder besser gesagt, in allerlei merkwürdige Sphären und Welten, als er sich die Tonkugeln, die Holzkugeln und Bleikugeln, die Waage, die Winkelmaße und die Wasseruhr besorgte, die unerläßlich waren für sein Experiment. Allein: Woher sollte man die Zeit nehmen, dies im einzelnen zu schildern? Auch unser Held mußte sich aus seinen Träumen reißen, sich zur Arbeit anhalten, wollte er das Tageslicht noch nutzen. Die Dinge haben es in sich, dachte er. Man schaut sie an, und schon ist man verloren. Sie verfügen über einen Zauber! Sie tragen einen fort an entlegene Orte! Die Dinge versetzen dich, oft gegen deinen Willen, in die Welten, zu denen sie gehören oder in die Welten, denen sie entstammen, mitunter auch in die Welten, aus denen die Dinge kommen, die zu ihrer Herstellung notwendig sind! Und die vielen Geschichten, die sie dir aufdrängen, Geschichten, in die sie dich im Handumdrehen verstricken! Der Kuckuck! Schluß damit! Entschlossen machte er sich nun an die Arbeit. Er rückte die Waage und die Gewichtssätze zurecht und wog der Reihe nach die Kugeln ab. Zunächst die Bleikugeln, die in unterschiedlicher Größe bereitlagen. Der Büchsenmacher hatte sie nach den Anordnungen des Gelehrten gegossen. Sodann kamen die Eisenkugeln, wie sie der Schmied ihm verfertigt hatte, an die Reihe. Jedesmal notierte der Gelehrte das Ergebnis auf kleine Zettelchen, die neben der Waage bereitlagen, so daß jede Kugel, deren Gewicht bereits ermittelt worden war, auf ein ihr zugehöriges Stückchen sorgfältig geschnittenen Papiers zu liegen kam. Die Zahl auf jedem der Zettelchen gab auf diese Weise Auskunft über die darauf ruhende Kugel. Sodann kamen die Meisterwerke Emanueles, oder je- Das Katheder des Galilei 263 denfalls die vom Gesellen nachgearbeiteten, an die Reihe. Auch ihnen erging es nicht anders. Es folgten die Tonkugeln und zuletzt die Holzkugeln. Da mochte es schon vorkommen, daß eine größere Eisen- oder Glaskugel unter kleinere Bleikugeln zu liegen kam oder unansehnliche Tonkugeln sich unter die glattpolierten Holzkugeln mischten. Und überhaupt war mit den Kugeln, auch wenn man ihnen äußerlich keinerlei Veränderung anmerkte, eine sonderbare Verwandlung vor sich gegangen. In dem Augenblick, in dem Galilei jede von ihnen auf die Waagschale legte, entkleidete er sie ihrer Beschaffenheit als Bleikugel, als Eisenkugel, als Glaskugel, als Holzkugel oder Tonkugel. Er raubte ihnen allen - ohne daß ihm dies zu Bewußtsein gekommen wäre - zugleich die Kraft, die sie eben noch hatten, die Fähigkeit, auf unterschiedliche Welten zu verweisen, auf die Welt ihres gewöhnlichen Gebrauchs, auf die Welt ihrer Verfertigung, auf die Welten, welchen ihr Stoff entnommen war. Entschwunden waren auch die Geschichten, die sie einem, der sie mit anderen Augen angesehen hätte, wohl hätten erzählen können. Nun wurden sie, ungeachtet ihres unterschiedlichen Aussehens, zusammengerückt in eine merkwürdige Uniformität. Von nun an waren sie nichts weiter als bloße Massen. Die Unterschiedslosigkeit, welche die ihnen zuteilgewordene Auffassung ihnen zufügte, legte sich auf sie wie ein Nebel, der das Herbstbunt in einförmige, graue Schatten verwandelt. Galilei hatte nicht mehr Dinge vor sich, die ihn entrückten in die unterschiedlichsten und krausesten Welten. Er sah nur mehr Massen vor sich, die einzig durch die genauestens ermittelte Quantität sich voneinander zu unterscheiden vermochten. Und über eben diesen Unterschied gaben die Zettelchen mit ihren dürren Zahlen hinreichend Auskunft. Selbst die Kugelgestalt dieser Gebilde war im Grunde unwesentlich. Sie war nur gewählt worden, weil so am leichtesten das störende Moment der Reibung sich minimieren ließ. Doch dies wäre auch auf anderem Wege zu erreichen gewesen. So hatte Galilei vorübergehend die Möglichkeit erwogen, Klötzchen über eine eingeseifte Blechrinne gleiten zu lassen. Die Kugelgestalt, auch das Material, aus dem die Kugeln gefertigt waren: sie hatten im Grunde nichts mehr zu besagen. Nicht anders sollte es der Holzrinne ergehen, die Galilei nun, ihren glatten Grund wohlgefällig betrachtend, in Stellung brachte. In dem Augenblick, als er mit dem Winkelmaß ihren Neigungswinkel bestimmte, hörte sie auf, eine Holzrinne oder gar diese Holzrinne mit ihrer unverwechselbaren Geschichte zu sein. Sie wurde zur schiefen Ebene, einem Ding also, das eigentlich ein Unding war, weil es keiner der von einem Menschen erlebbaren und leibhaft wahrnehmbaren Welten mehr angehörte. Was einst als Holzrinne sich darstellte, war hinübergeglitten in den imaginären Raum geometrischer Konstruktion und Idealisierung. Es konstituierte sich, bezogen auf das Winkelmaß, als schiefe Ebene, als ein Gebilde, das allein und absolut ausreichend durch seine ebene Fläche und den Neigungswinkel sich bestimmen ließ. Es entging Galilei nicht, daß etwas ihm zusetzte. Er fühlte sich in sonderbarer Weise berührt und beunruhigt. Gewiß: er war jetzt nicht mehr jener zerstreute Grübler, als der er sich eben noch den Bildern und Geschichten hinge- Rainer Thurnher 264 geben hatte, welche die Dinge, die ihn umgaben, in ihm wachzurufen vermocht hatten. Er war jetzt ganz bei der Sache, einzig darauf aus, sich Klarheit zu verschaffen und das erwartete Ergebnis bestätigt zu sehen. Und dennoch: Da war noch ein Etwas, das sein Recht zu fordern schien - der Schatten wohl jener Welten, jener bunten, reichen, verführerischen Welten, die durch sein Tun sich entzogen hatten, die - vielleicht für immer - in unnahbare Fernen entrückt waren. Aber eben noch als Schatten vermochten sie zu wirken, einen kaum faßbaren Hauch von Wehmut auf seine Seele legend. Wie um ihn zu verscheuchen, nahm Galilei ein Blatt Papier und notierte entschlossen in ungewohnt großen Lettern - ungewohnt wegen der Sparsamkeit, die er sonst im Umgehen mit Papier an den Tag legte: Das Buch der Natur ist in Zahlen, Linien und Dreiecken geschrieben. Und was ist, ist Natur. Darüber hinaus gibt es nichts. Punktum. Nun ward es dem Gelehrten leichter. Die Arbeit ging ihm schnell von der Hand. Nach einigen Proben mit Kugeln von unterschiedlichem Gewicht zog er die Uhr zu Rate. An der Rinne brachte er Markierungen an, verglich die Dauer ihrer Bewegung mit den Strecken, die die Kugeln zurücklegten. Und in der Tat: die Bewegung vollzog sich wie erwartet. Das Gewicht der Kugeln ging in die Gleichung nicht ein. Es bewirkte, was ihre Geschwindigkeit betraf, keinen Unterschied. Nur der zurückgelegte Weg ließ sich in Relation zur verstrichenen Zeit setzen. Galilei war zufrieden. Er setzte sich, lehnte sich zurück und verscheuchte einige Fliegen, die auf dem Tisch sich niedergelassen hatten. Sein Blick fiel auf das Blatt mit den großen Lettern. Er las, was darauf notiert war, vor, mit vernehmbarer Stimme, als hätte er sich mitzuteilen, was ein Fremder irgendwann niedergeschrieben: Das Buch der Natur ist in Zahlen, Linien und Dreiecken geschrieben. Und was ist, ist Natur. Darüber hinaus gibt es nichts. Punktum. Galilei schüttelte den Kopf. Der erste Satz mag angehen, sagte er bei sich. Alles weitere lassen wir dahingestellt. Er nahm einen Stift und übermalte die Sätze, denen er nicht mehr zustimmen wollte. Nun war zu lesen: Das Buch der Natur ist in Zahlen, Linien und Dreiecken geschrieben. Galilei nickte zustimmend. Das Buch der Natur - in diesem Buch will ich lesen. In diesem Buch allein. Das bewahrt mich vor vielen Übeln. Klare Zeichen ergeben ein klares Denken. Sie werden sich finden, die Wirrköpfe und Narren, die sich mit den übrigen Fragen herumschlagen werden, mit der Frage etwa, ob es außer diesem Buch der Natur noch andere Bücher gibt, und ob in ihnen zu lesen sich irgend lohnt. Martin Maria Strohmayer Sturm in Stille Martin Maria Strohmayer 266 Sturm in Stille 267 Martin Maria Strohmayer 268 Sturm in Stille 269 Martin Maria Strohmayer 270 Sturm in Stille 271 Martin Maria Strohmayer 272 Sturm in Stille 273 IV. Stimmungen Gerhard Wölfle Versuch über Langeweile Was ist Langeweile? Überdruss (Verdruss), Verdrossenheit, Eintönigkeit, Interesselosigkeit, Freudlosigkeit, Erlebnisarmut, Sinnarmut, Apathie, Trägheit, Müdigkeit, taedium vitae, Lebensekel, Weltschmerz, Schwermut, Depression. Dass letztgenannte Gefühle sich in dem Wort ‚Langeweile‘ auf das Zeitempfinden auswirken, scheint typisch für das Deutsche zu sein, nicht jedoch (oder weniger) für andere Sprachen taedium (lat.), ennui (frz.), boredom (engl.), noia (ital.). 1 Welche Formen von Langeweile gibt es? Worin besteht, wie entsteht Langeweile? Solche Fragen sollen uns in einem ersten Abschnitt beschäftigen. Zunächst einige Beispiele: In Anlehnung an ein Beispiel, das Heidegger in seiner berühmten Abhandlung zur Langeweile anführt, nehmen wir an: Wir befinden uns auf einem kleinen Bahnhof in der Provinz und erfahren, dass der erwartete Zug einige Stunden Verspätung hat. Wir schauen auf die Uhr. Der Lebensprozess, die Zeit selbst ‚gerät ins Stocken‘, sie scheint nur schleppend weiterzugehen oder ‚stehen zu bleiben‘. Eine Leere steigt in uns auf. Das Dasein „entleert“ 2 sich. Wir suchen nach einer Ersatzbeschäftigung, die uns die Zeit vertreiben soll. Wir lesen die Fahrpläne. Wir gehen unruhig auf und ab. Wir schauen wieder auf die Uhr. Erst eine Viertelstunde vorbei. Wir gehen durch den Bahnhof und schauen uns an, was es da alles gibt. Dann schauen wir wieder auf die Uhr. Aber die Zeit will einfach nicht vergehen. Zum Glück stellt sich heraus, dass jemand ein Spiel dabei hat. Diese Form der Langeweile wurde als „situative oder Gelegenheitslangeweile“ 3 bezeichnet. Sie ist begrenzt auf eine Situation und scheint deshalb auch leicht zu beheben zu sein. Ist sie ausgelöst durch eine unvorhergesehene Störung der Gliederung der Zeit, so verschwindet sie mit der Aufhebung dieser Störung. Ein weiteres Beispiel: Pontius Euagrius, ein ägyptischer Anachoret des 4. Jahrhunderts (345-399) 4 , schildert in seiner Schrift über das monastische Leben den Angriff des Dämons der Acedia, des sogenannten ‚Mittagsdämons‘, auf den Mönch. Acedia (gr. ἀκηδία ) ist das lästigste der acht Hauptlaster bzw. der 1 Vgl. Hans-Ulrich Lessing: Artikel Langeweile, in Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. Joachim Ritter u. a., Darmstadt 1971-2004, Bd. 5, Basel 1980, S. 29. 2 Vgl. Friedhelm Decher: Besuch vom Mittagsdämon. Philosophie der Langeweile, Lüneburg 2000, S. 19. 3 M. Doehlemann: Langeweile? Deutung eines verbreiteten Phänomens, Frankfurt 1991, 22. 4 Vgl. Theologische Realenzyklopädie, Berlin/ New York 1977-2004, Bd. 10, S. 565-570. Gerhard Wölfle 278 sieben Todsünden und kann im mönchischen Kontext als ‚Erschöpfung‘, ‚Überdruss‘, ‚Trägheit‘, ‚Schwermut‘, ‚Betrübnis‘, ‚Hoffnungslosigkeit‘, ‚Bedrängnis‘ wiedergegeben werden. 5 Wir präsentieren den unten angeführten Text in Auswahl als Zitat und Paraphrase. 6 Die Acedia, als Dämon, d. h. als Macht vorgestellt, der sich der Mönch von vornherein nicht willentlich entziehen kann, attackiert den Mönch zwischen der 4. und 8. Stunde, d. h. zwischen 10 und 14 Uhr, also wenn die Hitze des Tages und die Folgen des Fastens unerträglich zu werden drohen. Zunächst bewirkt er, dass die Sonne aussieht, als bewege sie sich kaum oder gar nicht, fünfzigstündig lässt er den Tag erscheinen. Danach zwingt er ihn, ununterbrochen zu den Fenstern zu schauen, aus der Zelle fortzuspringen, gespannt zur Sonne zu blicken, wie lange es noch bis zur neunten Stunde sei […], und bald hierhin, bald dorthin zu spähen, ob nicht einer der Brüder […]. Der Mönch wird seiner Verlassenheit und Einsamkeit inne. Von Mal zu Mal steigert sich der Verdruss, zunächst unter dem Gesichtspunkt des Orts. Der Dämon flößt ihm Hass ein auf seine Arbeit, die immer liebloser gewordene Gemeinschaft unter den Brüdern, so dass er sich nach einem anderen Ort sehnt, an dem die Arbeit leichter wäre. Er gibt ihm ein, dass „es (nicht) Sache des Orts (sei), dem Herrn wohlzugefallen, überall“ - sagt er - „lasse sich das Göttliche anbeten.“ Schließlich wird auch die zeitliche Dimension in den Verdruss einbezogen. Der Dämon erinnert ihn an eine frühere bessere Lebensweise und stellt ihm die lange Zeit weiterer Mühen der Askese vor Augen. Er setzt alle Hebel in Bewegung, „damit der Mönch die Zelle verläßt und vom Kampfplatz flieht“, d. h. seine mönchische Daseinsform und die ihr zugehörige Welt aufgibt. Er wird eine neue suchen müssen - sagen wir z. B., als Kaufmann leben. Es ist klar, dass es hier um den Verlust einer gesamten Daseinsform und der ihr zugehörigen Welt geht. In unserem Beispiel scheint der Verdruss der Langeweile durch äußere Faktoren ausgelöst zu sein, etwa durch die Mühe und Last, in der größten Mittagshitze das Fasten, Wachen, Beten und Lesen durchhalten zu müssen, schlägt sich dann im ständigen Nach-der-Sonne-Schauen im Verhalten nieder, das bereits Symptom und Folge der eingetretenen Langeweile ist, und ergreift schließlich den geistigen Bereich, dass sich nämlich verschiedene Motive dafür aufdrängen, dieses Leben zu verlassen. 5 Vgl. H. Schlögel: Artikel Acedia, in Walter Kasper (Hg.): Lexikon für Theologie und Kirche, Freiburg/ Basel/ Rom/ Wien 1993, S. 109 f.; Anton Vögtle: Artikel Acedia, in Reallexikon für Antike und Christentum, hg. v. Theodor Klauser, Stuttgart 1941 ff., S. 62 f.; Thomas von Aquin: Summa theologiae, II-II, q. 35. Vgl. auch die Deutsche Thomas- Ausgabe, Bd. 17 B, Heidelberg/ Graz/ Wien/ Köln, 1966, 368, Anm. 10). Vgl. zu dieser Thematik: Alfred Bellebaum: Langeweile, Überdruss und Lebenssinn, Opladen 1990. 6 Euagre le Pontique: Traité pratique ou le moine, Pr. 12 (Sources chrétiennes 171, S. 520- 527, gr.-frz.). Text nach G. Bader: Melancholie und Metapher. Eine Skizze, Tübingen 1990, S. 9 f. Versuch über Langeweile 279 Doehlemann nennt diese Form „überdrüssige Langeweile“, besser wäre wohl die Bezeichnung „Langeweile des Überdrusses“. Nicht immer muss der Überdruss eine ganze Daseinsform erfassen, er kann sich auch in gewissen Teilbereichen ausbreiten: „Überdruß am (fest-)täglichen Einerlei, an der penetranten (All-)Gegenwart von Banalem und Spießigem“, das Angeödetwerden von der „Monotonie der Wochentagsabfolge […] oder der selbstzufriedenen Spießigkeit deutscher Sonntage“ 7 , Überdruss, der entsteht durch die „öde Gleichförmigkeit von Lebens- und Arbeitsbedingungen“ 8 . Der mit der Langeweile des Überdrusses (und auch der situativen Langeweile) sich einstellende Zustand ist „Erlebnisarmut“, die Betroffenen fühlen sich „eingeengt, eingesperrt, beschnitten, an der Entfaltung gehindert“ 9 . Das wohl häufigste Motiv für den Langeweile auslösenden Verdruss ist das Grundgefühl, dass sich nichts Neues ereignet, wie es im Buch des Predigers zu lesen ist: „Was geschehen ist, eben das wird hernach sein. Was man getan hat, eben das tut man hernach wieder, und es geschieht nichts Neues unter der Sonne“ (Pred. 1, 9; vgl. 1, 10) 10 . Hierin kommt ein Lebensgefühl zum Ausdruck, dass aus dem „ewig gleichen Kreislauf“ des Werdens und Vergehens nicht herauszukommen ist und dass das Dasein wie ein Gefängnis ist, in dem sich nichts Neues ereignet. Ob dies Motiv bzw. Auslösung der Langeweile im Fall des Mönches ist, ist nicht genau auszumachen, eher wohl die Überlastung. Deshalb dafür noch ein anderes, eindeutiges Beispiel. Madame Bovary versprach sich von ihrer Heirat ein anregendes und erfüllendes gesellschaftliches Leben, aber sie ist bald von dem Dorfalltag und ihrem Mann gelangweilt. Nachdem ein langersehnter Ball nicht stattfand, heißt es: Nach dem Verdruss [l’ennui] über diese Enttäuschung blieb ihr Herz wieder leer, und von neuem folgte das ewige Einerlei der Tage. So würden sie nun weiterrinnen, immer gleich, unübersehbar, und sie brächten ihr nichts! Die anderen Leben, so platt sie auch waren, hatten wenigstens Aussicht auf ein Ereignis. Irgendeine Begebenheit führte zuweilen eine Kette überraschender Wendungen herbei und das Bühnenbild wechselte. Doch bei ihr geschah nichts, Gott hatte es so gewollt! Die Zukunft war ein pechschwarzer Flur und die Tür am Ende fest verschlossen. 11 Es gibt keinen Winkel ihres Daseins, in den die Form dieser Langeweile nicht eindringt, wie es Flaubert in unvergleichlichen Worten schildert: „Sie jedoch, ihr Dasein war kalt wie ein Dachboden, dessen Fensterchen nach Norden zeigt, 7 Doehlemann: Langeweile? , S. 23. 8 Ebd., S. 53. 9 Ebd. 10 Zitiert nach der Ausgabe Die Bibel oder die ganze Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments, Übers. Martin Luthers, Stuttgart 1985. 11 Gustave Flaubert, Madame Bovary, hg. u. neu übs. v. Elisabeth Edl, München 2012, S. 87 f. Gerhard Wölfle 280 und die Langeweile, diese Spinne, wob ihr Netz im Finstern über jeden Winkel ihres Herzens.“ 12 Die Langeweile des Überdrusses ist noch nicht die tiefste Form der Langeweile. Sie kann sich nur auf Teilbereiche oder auch eine ganze Daseinsform und die zu ihr gehörige Welt beziehen. Im letzteren Fall ist es eine bestimmte (wirkliche oder vorgestellte) Daseinsform (z. B. diejenige eines Mönchs oder Madame Bovarys), aus der die jeweilige Person herausfällt. Diese Art von Langeweile kann überwunden werden, indem der Betroffene eine andere Daseinsform annimmt. Das geschieht meist unter Druck, weil der Mensch die reine Leere nicht ertragen kann. Demgegenüber ist die letzte Stufe des Verdrusses und der Langeweile - man könnte sie mit Doehlemann „existentielle Langeweile“ nennen - dann erreicht, wenn ein Betroffener für sich keine Möglichkeit mehr sieht, in irgendeine andere bestimmte Daseinsform zu wechseln, also sich jeglicher Daseinsform und der ihr zugehörigen Welt verweigert. Hier wird das Phänomen der Langeweile auf jedwedes Dasein und die ganze Welt entgrenzt. „Situative und überdrüssige Langeweile sind gegenstandsbezogen: Etwas langweilt mich [z. B. ein Vortrag, Zus. d. Verf.] - und im Übergang zur existentiellen Langeweile ist dieses Etwas [das mich langweilt, Zus. d. Verf.] ‚die ganze Welt‘.“ 13 „Man weiß mit sich und der Welt nichts anzufangen, bleibt teilnahmslos.“ 14 Der Verdruss wird zum Ekel an der Welt, zur Schwermut. Vor dem Hintergrund der gegebenen Beispiele wollen wir nun weitere Fragen stellen, die uns in das Phänomen der Langeweile tiefer eindringen lassen. Es scheint ein wesentliches Merkmal der Langeweile zu sein, dass ein Wechsel von einem Zustand in der Zeit in einen anderen, der anderes oder sogar Neues (Unerwartetes, Überraschendes) bringt, nicht erfolgt. Dieser Frage wenden wir uns zu, indem wir von Kants Theorie der Langeweile ausgehen und sie erweitern. Dann ist zu klären, wie denn das Zeiterleben der Langeweile im Unterschied zu dem, das frei ist von Langeweile, zu beschreiben ist. Und schließlich ist der Frage nachzugehen, wie ein solcher Übergang ausgelöst werden kann. Kant behandelt die Langeweile in seiner Abhandlung Anthropologie in pragmatischer Hinsicht 15 im Kontext des Gefühls der Lust und Unlust. Im Unterschied zur intellektuellen gehört sie in den Bereich der sinnlichen Lust bzw. Unlust. Er definiert: „Vergnügen ist eine Lust durch den Sinn und was diesen belustigt, heißt angenehm. Schmerz ist die Unlust durch den Sinn, und was jenen hervorbringt, ist unangenehm.“ (BA 169, AA 230) Bezieht man dies auf die elementarste Ebene unseres Lebens, lässt sich sagen: „Was unmittelbar (durch den Sinn) mich antreibt, meinen Zustand zu 12 Ebd., S. 64. 13 Doehlemann: Langeweile? , S. 53. 14 Ebd., S. 23. 15 Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in Werke in zehn Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. 10, Darmstadt 1970. Zitiert wird nach der dort angegebenen Paginierung der ersten und zweiten Ausgabe (=BA). Zusätzlich wird die entsprechende Seite der Akademie-Ausgabe (Bd. VII) nach dem Kürzel AA angegeben. Versuch über Langeweile 281 verlassen (aus ihm herauszugehen): ist mir unangenehm - es schmerzt mich; was eben so mich antreibt, ihn zu erhalten (in ihm zu bleiben): ist mir angenehm, es vergnügt mich.“ (BA 169, AA 231) Die Natur hat nun aber genau diesen „Schmerz zum Stachel der Tätigkeit in ihn gelegt, dem er [der Mensch] nicht entgehen kann: um immer zum Bessern fortzuschreiten […]“ (BA 175, AA 235). Wird ein Zustand verlassen und der Schmerz aufgehoben (BA 172, AA 232), so bedeutet das Vergnügen: „Sein Leben fühlen, sich vergnügen, ist also nichts anders als: sich kontinuierlich getrieben fühlen, aus dem gegenwärtigen Zustande herauszugehen (der also ein eben so oft wiederkommender Schmerz sein muß).“ (BA 173, AA 233) So erweist sich dieser „Stachel der Tätigkeit“, der immer antreibt, aus dem gegenwärtigen Zustand herauszugehen als „eine weise Einrichtung der Natur“ (BA 172). Durch ihn „fühlen wir allererst unser Leben; ohne diesen würde Leblosigkeit eintreten“ (BA 170, AA 231). Eben letzteren Zustand fasst Kant als „Langeweile“. „Wen endlich auch kein positiver Schmerz zur Tätigkeit anreizt, den wird allenfalls ein negativer, die lange Weile als Leere an Empfindung, die der an den Wechsel derselben gewöhnte Mensch in sich wahrnimmt, indem er den Lebenstrieb doch damit auszufüllen bestrebt, oft dermaßen affizieren, dass er eher etwas zu seinem Schaden, als gar nichts zu tun sich angetrieben fühlt.“ (BA 172, AA 233) Kant sieht darin den Tod im Leben sich ankündigen: Die in sich wahrgenommene Leere an Empfindungen erregt ein Grauen (horror vacui), und gleichsam das Vorgefühl eines langsamen Todes, der für peinlicher gehalten wird, als wenn das Schicksal den Lebensfaden schnell abreißt. (BA 173, AA 233) Man könnte sagen, dass unser Leben im Antagonismus des Wechsels von Schmerz bzw. Unlust und Vergnügen bzw. Lust pendelt. Welcher Grad an Schmerz erreicht sein muss, dass - setzen wir voraus, dass erst der Mensch im Unterschied zum Tier Langeweile bewusst empfinden kann - ein Mensch einen Zustand verlässt, um in einen anderen überzugehen, und welcher Rhythmus von Schmerz und Vergnügen (Unlust und Lust) nötig ist, dass Lebendigkeit oder Langeweile empfunden wird, ist biologisch verankert und wird je Individuum verschieden sein. Allerdings spielen hier natürlich im Falle des Menschen eine Fülle von geschichtlich variablen sozialen, kulturellen und geistigen Faktoren eine Rolle. Dass sich Kant dessen bewusst ist, zeigt sich z. B. darin (den Wahrheitsgehalt dieser Feststellung lassen wir dahingestellt), dass die Langeweile weniger den „Karaiben“ betrifft, sondern „kultivierte Menschen“, „welche auf ihr Leben und auf die Zeit aufmerksam sind“ (ebd.). Wer durch seine soziale und kulturelle Prägung ständig darauf aus ist, mit seiner Zeit etwas anzufangen und sie auszufüllen, wird früher Langeweile verspüren als ein Mensch, der einem anderen Kulturkreis oder einer anderen Epoche angehört, die darauf keinen oder weniger Wert legen. Gerhard Wölfle 282 Er [der Karaibe] kann stundenlang mit seiner Angelrute sitzen, ohne etwas zu fangen; die Gedankenlosigkeit ist ein Mangel des Stachels der Tätigkeit, der immer einen Schmerz bei sich führt, und dessen jener überhoben ist. (Ebd.) 16 Kant bringt auch die Beobachtung ins Spiel, dass der „Druck oder Antrieb, jeden Zeitpunkt, darin wir sind, zu verlassen und in den folgenden überzugehen“ im Laufe der Geschichte oder auch eines Menschenlebens zunehmen kann und es letztlich am Individuum hängt, wie viel Mangel an Erfahrung von Neuem es für zumutbar hält. Dieser Druck oder Antrieb, jeden Zeitpunkt, darin wir sind, zu verlassen und in den folgenden überzugehen, ist akzelerierend und kann bis zur Entschließung wachsen, seinem Leben ein Ende zu machen, weil der üppige Mensch den Genuß aller Art versucht hat, und keiner für ihn mehr neu ist; wie man in Paris vom Lord Mordaunt sagte: „die Engländer erhenken sich, um sich die Zeit zu passieren.“ (Ebd.) Um die Langeweile und das Gefühl der Leblosigkeit zu überwinden, empfiehlt Kant Tätigkeiten, die eben den ins Stocken geratenen Rhythmus von Schmerz und Vergnügen, Unlust und Lust wieder in Gang zu bringen vermögen (vgl. BA 172, AA 232), das Spiel, vornehmlich um Geld, das zwischen Furcht vor Verlust und Hoffnung auf Gewinn pendelt, das Schauspiel und den Liebesroman, in denen man den Wechsel von Schwierigkeiten, Ängstlichkeit, Schmerz und Erfüllung der Hoffnungen und Freuden durchlebt, und den Genuss von Tabak, bei dem eine zunächst unangenehme Empfindung durch Absonderung eines Schleims aufgehoben wird, so dass eine „immer neue Erweckung der Empfindungen und selbst der Gedanken“, also eine Art Gesellschaft und Unterhaltung entsteht. Kants Theorie erfasst den entscheidenden Aspekt der Erscheinung der Langeweile, nämlich das Ausbleiben (oder die Verzögerung) des Wechsels eines Zustands in der Zeit in einen anderen, aber es sind an sie doch etliche Fragen zu stellen und Ergänzungen zu machen, um auf eine konkretere Ebene der Zeitgliederung und Zeitgestaltung zu kommen, die für das Auftreten oder die Verhinderung von Langeweile eine Rolle spielen. Fragen wären: Ist hier die naturhafte Basis nicht zu sehr an einer kausalen Vorstellung orientiert, müsste nicht von vornherein die dem Organismus angemessenere teleologische Ausrichtung mit einbezogen werden, dass es nämlich nicht nur um das Verlassen eines durch Schmerz bestimmten Zustands, sondern um das Anstreben eines lustvollen Zustands geht? (vgl. BA 169 f., AA 230 f.) Und zum andern: Müsste nicht ebenso von vornherein, mehr als Kant es tut, über die biologische Ebene hinaus berücksichtigt werden, dass jeglicher Wechsel oder ausbleibende Wechsel eines Zustands in der Zeit im Rahmen eines bestimmten Erwartungshorizonts geschieht, der von vielen anderen Motiven überlagert wird? So kann z. B. 16 Ähnliches meint das Sprichwort, das Nietzsche erwähnt: „Das Sprüchwort: ‚Der Magyar ist viel zu faul, um sich zu langweilen‘, giebt zu denken. Die feinsten und thätigsten Thiere erst sind der Langeweile fähig.“ (Menschliches, Allzumenschliches II, KSA 2, S. 577). Versuch über Langeweile 283 die Basis eines Arbeitsprozesses ursprünglich darin begründet sein, dass der Schmerz des Hungergefühls einen zwingt, einen gegenwärtigen Zustand zu verlassen, um zu arbeiten und Geld zu verdienen (und insofern auch Langeweile zu vermeiden); dass aber ein Arbeitsprozess als solcher einen Schritt nach dem andern verlangt, liegt unmittelbar in der Logik dieses Prozesses und entspringt nicht nur biologischen Gegebenheiten. Umgekehrt spielen biologische Gegebenheiten auch über das Herausgehen aus einem gegenwärtigen Zustand in der Zeit hinaus eine Rolle auf der Ebene der Gliederung z. B. eines Arbeitsprozesses, ob sie mit den jeweiligen Fähigkeiten eines Organismus vereinbar ist. Z. B. können zu viele Wiederholungen und zu wenige Pausen zu einer zu großen Monotonie und einer Überforderung führen, die zu einem Herausfallen aus dem Arbeitsprozess und damit zur Langeweile führen. Kants Theorie, auf unsere beiden Fälle angewendet, würde etwa besagen: Die ausgebliebene Ankunft des Zugs verhindert den Übergang aus einem Zustand in der Zeit in einen anderen und führt in den Zustand der Langeweile, die die Teilnehmer des Ausflugs durch ein Spiel, d. h. durch einen „künstlich“ hervorgerufenen Wechsel in der Zeit, zu vertreiben versuchen. Im Fall Madame Bovarys liegt der Fall schon komplizierter: Denn hier geht es ja nicht nur darum, dass von einem Zustand in der Zeit zu einem anderen übergegangen wird, sondern sogar zu einem solchen, der wirklich Neues, Unerwartetes, Überraschendes mit sich bringt. (Kant deutet es an, wenn er Lord Mordaunt unterstellt, er wolle Neues. Er kann auch (in seinem aufklärerischen Interesse) vom „Bessern“ (BA 175, AA 235) sprechen. Man könnte hier den Zustand in der Zeit auf die gesamte Daseinsform Madame Bovarys beziehen und sagen: So wie die bisherige Daseinsform durch ein Ausbleiben von Neuem gekennzeichnet war, bedarf es jetzt eines aktiv gewollten Übergangs in eine Daseinsform, in der Neues ankommen kann. Wenden wir uns nun der zweiten Frage zu, wie der Unterschied von einem Zeiterleben, das frei ist von Langeweile, zur Langeweile zu beschreiben ist. Hier ist weiterzukommen, indem wir versuchen, solch merkwürdige, wohl metaphorisch zu verstehende Wendungen, wie sie eingangs verwendet wurden, zu deuten: „Die Zeit gerät ins Stocken“, „Leere steigt in uns auf“, „Das Dasein entleert sich“. Geben wir das einfache Beispiel eines Arbeitsprozesses mit einer Sequenz von verschiedenen Tätigkeiten! Gehen wir von dem Idealfall aus, so kann die Zeit, die wir durchlaufen, von einer Tätigkeitsfolge so erfüllt sein, dass wir gar nicht merken, wie die Zeit vergeht, sie verschwindet sozusagen in der Tätigkeit, weil beide eine Einheit bilden. Ja, wir selbst als Erlebende gehen sozusagen in der Einheit von Tätigkeit und Vergehen der Zeit auf. Ein solcher Arbeitsprozess ist in irgendeiner Weise zeitlich gegliedert in eine Abfolge von Schritten, etwa: Anfang - Folge von Tätigkeiten - Fertigstellung eines ersten Produkts - Pause - Wiederanfang usw., ein Rhythmus, der einen ganzen Erwartungshorizont definiert. Wird nun diese Zeitordnung gestört, etwa dadurch, dass gewisse Teile, die zur Produktion unbedingt benötigt werden, fehlen, weil sie nicht angeliefert Gerhard Wölfle 284 wurden, so fallen wir aus der erwarteten Folge von Tätigkeiten, durch die wir durch die Zeit in gegliederter Weise so gut getragen worden wären, heraus in den ungegliederten Zeitfluss. Leere steigt in uns auf, weil die gegliederte Abfolge außer Kraft gesetzt ist. Und eben weil diese Abfolge von Tätigkeiten verschwunden ist, die bisher die Zeit so ideal erfüllte und überbrückte, scheint die Zeit ins Stocken zu kommen oder stehenzubleiben, wobei zugleich in Differenz zu ihr die ungegliedert verrinnende Zeit hervortritt, mit der wir nichts anzufangen wissen, die Zeitform, die man als Langeweile bezeichnen könnte. Wir stehen also gewissermaßen sowohl der durch die Tätigkeit gegliederten Zeitfolge, aus der wir herausgefallen sind, teilnahmslos gegenüber wie auch der ungegliedert verrinnenden Zeit, in der quasi alle Zeitpunkte gleich-gültig sind, bis wieder eine Tätigkeit gefunden ist, die die Zeit gegliedert erfüllen und überbrücken kann. Wir sind aus einer gegliederten Zeitfolge herausgefallen, ohne der Zeit, die gleichgültig verrinnt, entrinnen zu können, so dass wir das In-der- Zeit-Sein als Gefängnis empfinden. 17 Diese Grundvorstellung lässt sich auf alle möglichen Sequenzen übertragen, Folgen von Ereignissen, Zuständen, Tätigkeiten (unterbrochen von Ruhepausen), die jeweils in einen nach einer bestimmten Ordnung gegliederten Erwartungshorizont eingebettet sind. Bei unserem Beispiel der Zugverspätung tritt an die Stelle der erwarteten Ereignisfolge - Umsteigen, Weiterfahren -, in der die Reisenden gewissermaßen wie von selbst bis zum Ziel getragen worden wären, durch das Ausbleiben des Zugs das pure Verrinnen der Zeit als Langeweile, der sie teilnahmslos ausgeliefert sind. Madame Bovary fällt aus einem Leben, wie sie es sich gewünscht hätte, das, abwechslungsreich unter Einbeziehung der Begegnungsmöglichkeit von Neuem und Überraschendem gegliedert, sie durch die Zeit hätte tragen können, in das „Einerlei der Tage“. Hier gibt es zwar (anders als im Fall der ausbleibenden Ankunft des Zugs) Wechsel von Zuständen, aber nicht solche, die Neues, Unerwartetes bringen. Da Monat für Monat, Jahr für Jahr immer nur dasselbe geschieht, ist hier die Entstehung von Langeweile nicht durch einen Abbruch linear, sondern zyklisch vorzustellen wie ein Kreis, in dem nichts Neues geschieht. Sie lebt teilnahmslos, weil ihr die Teilnahme an einem Leben, wie es ihr vorschwebt und ihr Selbst hätte erfüllen können, entzogen ist, und weil sie an ihrem realen Leben wegen seiner Eintönigkeit ebenfalls nicht wirklich teilzunehmen fähig ist, so dass ihr Selbst unerfüllt zurückbleibt. Schließlich ist der Frage nachzugehen, wie ein solcher Übergang aus einem Zeiterleben ohne Langeweile in Langeweile ausgelöst werden kann. In dem einfachsten Fall der situativen Langeweile liegt die Auslösung der Langeweile in der erwarteten, aber ausbleibenden (oder verzögerten) Ankunft des Zuges bzw. im Ausbleiben des notwendigen Materials für den Produktionsprozess innerhalb eines gewissen Erwartungshorizonts. Es könnte auch daran liegen, 17 Vgl. dazu: „Langeweile ist Gefangenschaft in der ausdruckslosen, vom Leben abgelösten Zeit, die das Leben entleert, um sich eine unheilschwangere Autonomie zu errichten.“ (Emile M. Cioran: Gedankendämmerung, Frankfurt 1993, S. 55). Versuch über Langeweile 285 dass der Arbeitsprozess nicht gut gegliedert ist. Eine Verhinderung der Auslösung der Langeweile wäre durch Behebung dieser Mängel relativ leicht möglich. Im Fall Madame Bovarys wird die Langeweile dadurch ausgelöst, dass die Möglichkeit des Neuen, Unerwarteten in ihrem Erwartungshorizont fehlt. Eine Vermeidung der Langeweile läge darin, Zustände, die Neues (also nicht nur anderes) mit sich bringen, zu schaffen oder die bisherige Daseinsform durch eine andere zu ersetzen, in der eben solche Zustände aktuell werden könnten. Welch verschiedene und einander überlagernde Möglichkeiten der Auslösung von Langeweile es geben kann, zeigt uns ein Blick auf das Beispiel des mönchischen Daseins. Mehreres kann in seinem Fall zum Herausfallen aus der mönchischen Existenz geführt haben. Wir sind auf Vermutungen angewiesen, weil der Text sich nicht festlegt. Es wäre möglich, dass der Mönch, inzwischen durchs Alter geschwächt, die Strapazen in der Mittagshitze nicht mehr durchhält. Man könnte sagen, dass die zeitliche Gliederung, die bisher passte, sich nunmehr mit steigendem Alter nicht mehr als angemessen erweist, so dass also das Alter in Kombination mit ungünstiger zeitlicher Gliederung auslösende Faktoren sind. Durch sie kommt nun aber ein geistiger Prozess in Gang, der Schritt für Schritt weitere Beobachtungen und Argumente sammelt und schließlich in einer Infragestellung des Sinns der gesamten mönchischen Existenz endet. Dabei ist interessant zu beobachten, dass der beunruhigte Blick nach der Sonne, dass sie nicht weiterzugehen scheint, nicht Ursache, sondern schon ein Symptom der einsetzenden Langeweile ist, in dem sich das Herausfallen aus einem bisher fraglosen Durchlaufen der Zeitfolge zeigt. Entscheidend ist nun aber die Feststellung, dass die Langeweile, die, wie wir unterstellen, hier noch als durch relativ äußere Faktoren ausgelöst sein könnte, auch allein im Geistigen begründet sein könnte ohne die genannten äußeren Faktoren. Das Ergebnis, dass die mönchische Existenz sinnlos ist, muss nicht durch relativ äußere Faktoren ausgelöst sein, sondern könnte auch am Anfang stehen als Erkenntnis, die als rein geistiger Akt zum Verdruss gegenüber dieser Lebensweise führt. Der Verdruss, durch den die Langeweile eintritt, kann, muss aber nicht durch relativ äußere Bedingungen ausgelöst sein, d. h. er kann rein geistigen Ursprungs sein. Dieses Ergebnis lässt sich durch folgende Überlegung bestätigen, die eine Äußerung von Pessoa aus dem Buch der Unruhe zum Ausgangspunkt nimmt. Er sagt im Blick auf das Beispiel der Arbeit: „Der Überdruss ist nicht die Langeweile des Nichts-zu-tun-Habens, sondern die ärgere Krankheit, zu fühlen, daß es sich nicht lohnt, irgend etwas zu tun.“ 18 Erweitern wir diese Aussage noch um dem Aspekt der zeitlichen Gliederung der Arbeit, könnte man folgende Reihe bilden: Schon keine Arbeit zu haben, kann Auslösung von Langeweile bedeuten. (Obgleich durchaus auch Langeweile auftreten kann, wenn einer nur dem Vergnügen nachgeht, für das sich das Problem der Langeweile nicht weniger stellt). Aber auch einer, der arbeitet, kann der Langeweile verfallen, wenn 18 Fernando Pessoa: Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Fernando Soares, übs. v. Inés Koebel, Frankfurt 1987, S. 200. Gerhard Wölfle 286 die Arbeit zu monoton ist oder zeitlich ungünstig gegliedert ist. Der tiefste Ursprung der Langeweile ist aber der, wenn keinerlei Sinngebung mit der Arbeit verbunden ist (insbesondere z. B. auch keine Selbstbestimmung zur Arbeit vorliegt), also ein Ursprung geistiger Art. 19 Pascal - Verdrängung der Langeweile Pascals Denken kreist in ganz besonderer Weise um das Verhältnis von Langeweile und Geschäftigkeit bzw. Zerstreuungen. Auf der Suche nach dem Glück scheut der Mensch die Begegnung mit sich selbst, die Selbsterkenntnis, denn sie würde ihm seine „Nichtigkeit“ (622/ 131), 20 „Tod, Elend und Unwissenheit“ (133/ 168) vor Augen führen, die er nicht überwinden kann. Um angesichts dessen dennoch glücklich zu sein, ist er auf den Einfall gekommen, „sich Gedanken daran zu versagen“ (134/ 169). Das kann ihm nur so gelingen, dass er durch Geschäfte und Zerstreuungen so weit wie möglich die Ruhe und Langeweile zu vermeiden versucht, in der die Gedanken an seine Nichtigkeit aufzusteigen drohen. Entfernt man aus einem Menschenleben Geschäftigkeit und Zerstreuung, stellt sich Langeweile ein, in der sich die Leere auftut, in der der Mensch seinem Selbst und der Erkenntnis seiner Nichtigkeit und seines Elends begegnet. Indem Pascal uns einen König vor Augen stellt, macht er uns klar, was für jeden Menschen gilt: Man mache die Probe, man lasse einen König ganz allein, ohne irgendeine Befriedigung der Sinne, ohne daß sein Geist von irgendeiner Sorge beschwert wird, ohne Gesellschaft und ohne Zerstreuung, mit aller Muße an sich denken, und man wird sehen, daß ein König ohne Zerstreuung ein Mensch voller Elend ist. Daher vermeidet man das auch sorgfältig, und unfehlbar wird es in der Umgebung der Könige stets sehr viele Leute geben, die darüber wachen, daß ihren Geschäften die Zerstreuung folgt, und die all ihre Mußestunden beobachten, um ihnen Vergnügungen und Spiele zu bieten, damit keine Leere entstehe. Das heißt, daß sie von Personen umgeben sind, die bewunderungswert sorgfältig darauf achten, daß der König nicht allein und in der Lage sei, an sich selbst zu denken, da sie wohl wissen, daß er elend sein wird, sosehr er auch König ist, wenn er daran denkt. (137/ 142) An anderer Stelle fasst es Pascal folgendermaßen zusammen: Nichts ist dem Menschen so unerträglich, als wenn er sich in vollkommener Ruhe befindet, ohne Leidenschaften, ohne Beschäftigungen, ohne Zerstreuungen, ohne Betriebsamkeit. Dann fühlt er seine Nichtigkeit, seine Verlassenheit, seine Unzulänglichkeit, seine Abhängigkeit, seine Ohnmacht, seine Leere. So- 19 Vgl. Lars Svendsen: Kleine Philosophie der Langeweile, Frankfurt/ Leipzig 2002, S. 29 ff. 20 Blaise Pascal: Gedanken, hg. v. Jean-Robert Armogathe, Stuttgart 1997. Pascal wird im Folgenden gemäß dieser Ausgabe im Text zitiert. Die erste Zahl gibt die Zählung Lafumas an, die zweite diejenige Brunschvicgs. Versuch über Langeweile 287 gleich werden vom Grunde seiner Seele die Langeweile, der Trübsinn, die Traurigkeit, der Kummer, der Verdruß und die Verzweiflung aufsteigen. (622/ 131) Wenn man sich vor Augen hält, dass einerseits Tätigkeiten und Beschäftigungen eigentlich dazu da sind, die Hindernisse, Sorgen und Aufgaben des Lebens zu lösen, um damit einen Zustand der Ruhe zu erreichen, andererseits aber gerade dieser Zustand der Ruhe wiederum in Langeweile umzuschlagen droht, so dass wiederum neue Beschäftigungen und Zerstreuungen nötig sind, um dies zu vermeiden, tritt zutage, dass das Leben in ein unauflösbares Paradox eingespannt ist. Die Ruhe wird gesucht, nur um sie wieder zu verlassen, damit sie nicht in Langeweile umschlägt. Pascal durchschaut diesen tragischen Kreislauf: So verrinnt das ganze Leben; man sucht die Ruhe, insofern man gegen einige Hindernisse kämpft, und wenn man sie überwunden hat, wird die Ruhe unerträglich wegen der Langeweile, die sie erzeugt. Man muß sie aufgeben und sich eifrig ins Getümmel stürzen. (136/ 139) Dabei ist die Rolle der Zerstreuung nicht nur diejenige, den ständigen Rückfall in die Langeweile und die dadurch mögliche Selbsterkenntnis zu verhindern, sondern sie hält uns tragischerweise auch davon ab, Mittel zu suchen und zu finden, die uns aus unserem Elend befreien würden. Das einzige, was uns über unser Elend hinwegtröstet, sind die Zerstreuungen. Und doch sind sie unser größtes Elend. Denn gerade sie sind das Haupthindernis, wenn wir über uns selbst nachdenken wollen, und sie stürzen uns unmerklich ins Verderben: Ohne Zerstreuungen litten wir an Langeweile, und diese Langeweile würde uns drängen, ein zuverlässigeres Mittel zu suchen, um uns davon zu befreien; die Zerstreuungen aber unterhalten uns und lassen uns unmerklich dem Tode anheimfallen. (414/ 171) Was aber könnte ein sichereres Mittel sein, das uns aus unserem Elend befreien und zum wahren Glück führen könnte? Diejenigen, die es außer sich suchen in Beschäftigungen und Zerstreuungen, sind am weitesten davon entfernt, denn sie finden nicht einmal zu ihrem Selbst. Sie sagen: „Geht nach außen und sucht das Glück in der Zerstreuung. Und das ist nicht wahr: Die Krankheiten kommen.“ (407/ 465) Dem Zufall ausgesetzt, können sie von Krankheiten und von anderem Leid und Unglück getroffen werden (vgl. 132/ 170). Dann haben sie, indem sie der Langeweile ausgesetzt sind, die Chance, zur Selbsterkenntnis zu finden und zu erkennen, dass das Glück nicht in der Zerstreuung liegen kann. Andere suchen die Selbsterkenntnis. Pascal führt als Beispiel die Stoiker an: „Die Stoiker sagen: Haltet Einkehr in euch selbst, dort werdet ihr eure Ruhe finden. Und das ist nicht wahr.“ (407/ 465) Oder: „Haltet Einkehr in euch selbst, dort werdet ihr euer Glück finden. Man glaubt ihnen nicht, und diejenigen, die ihnen glauben, sind die Gedankenlosesten und Einfältigsten.“ (143/ 464) Ihre Selbsterkenntnis ist nicht radikal genug. Wie eingangs gesagt wurde, kann der Mensch durch sich selbst „Tod, Elend und Unwissenheit“ nicht heilen (133/ 168) - und wir können ergänzen - seine „Nichtigkeit, seine Verlassenheit, seine Unzulänglichkeit, seine Gerhard Wölfle 288 Abhängigkeit, seine Ohnmacht, seine Leere“ (622/ 131) nicht aufheben. Also: „Das Glück ist weder außerhalb von uns noch in uns; es ist in Gott und sowohl außerhalb von uns wie auch in uns.“ (407/ 465) Der unendliche Abgrund, der sich auftut, wenn wir uns, der Langeweile und Leere ausgesetzt, in unserer Nichtigkeit erkennen, kann nicht durch unser Selbst, aber auch nicht durch äußere Dinge aufgefangen werden: Sie sind „dazu nicht fähig, weil dieser unendliche Abgrund nur durch etwas Unendliches und Unwandelbares ausgefüllt werden kann, das heißt durch Gott selbst. Gott allein ist das wahre Glück des Menschen.“ (148/ 425) Die Langeweile, die so sehr vom alltäglichen Leben gemiedene, ist also in Wirklichkeit das Eingangstor zur Selbst- und Gotteserkenntnis und zur Gründung in Gott. Baudelaire - Unentrinnbarkeit der Langeweile - Das Schöpferische der Langeweile Verdruss/ l’ennui ist die Grundstimmung, die am Anfang und am Ende der Dichtung Baudelaires steht. Er betrifft das Ganze der Welt und bewegt sich auf der Ebene der existentiellen Langeweile. Er wird schon im ersten Gedicht der Blumen des Bösen, An den Leser, als das hässlichste Laster (vgl. V. 33), das Grundlaster, eingeführt, 21 das anders als die gewöhnlichen Laster nicht nur einzelne Daseinsbereiche betrifft, sondern (ähnlich wie die acedia das ganze Mönchtum) das ganze jeweilige Dasein und die ihm zugehörige Welt, ja genauer, alle möglichen Daseinsformen und die Welt schlechthin ergreift und möglicherweise auch der Boden ist, aus dem alle einzelnen Laster erwachsen. Eben weil der Mensch, zwischen Spleen 22 und Ideal, Satan und Gott gestellt, 23 im ewigen Kreislauf der Sünde verstrickt bleibt, ohne dass je Neues in Sicht kommt, kann das Ergebnis nur der Verdruss/ l’ennui sein, unter dem sich, wie 21 Charles Baudelaire: Die Blumen des Bösen, Vollständige zweisprachige Ausgabe, dt. Übers. v. Friedhelm Kemp, München 1986 (= BdB, zitiert nach Nummer und Titel des Gedichts und Vers). Ansonsten werden die Werke Baudelaires (ausgenommen: „Die Blumen des Bösen“) zitiert nach der Ausgabe: Sämtliche Werke/ Briefe. In acht Bänden, hg. v. Friedhelm Kemp u. a., München 1975-92 (=Werke/ Briefe). 22 Der englische Begriff „spleen“ (gr. „ σπλήν “ - „Milz“) hatte ursprünglich die Bedeutung „schlechte Laune“, „Tick“. Im 18. Jahrhundert wurde die Melancholie in der Form des Spleen gepflegt. Der Begriff fand von England aus auch Eingang in Frankreich, wurde in der Romantik zum Modewort für die Haltung des Lebensüberdrusses und rückt bei Baudelaire in die Nähe von „ennui“. Vgl. Charles Baudelaire: Les Fleurs du Mal, édition critique, établi par Jacques Crépet et Georges Blin, Paris 1942, S. 256-259. 23 „Jeder Mensch wird zu jeder Stunde gleichzeitig von zwei Forderungen bewegt: die eine führt ihn zu Gott, die andere zu Satan hin. Die Anrufung Gottes, oder das Streben des Geistes, ist die Sehnsucht des Emporsteigens; die Anrufung Satans, oder die tierische Lust, ist eine Wonne des Hinabsteigens.“ (Mein entblösstes Herz XI, Werke/ Briefe, Bd. 6, S. 229). Versuch über Langeweile 289 in einer Oase, dieses Schauspiel des Grauens („wir sahen überall [...] von der höchsten bis zur tiefsten Sprosse der schicksalhaften Leiter das langweilige Schauspiel der unsterblichen Sünde“, CXXVI Die Reise, VI, V. 86-88) vollzieht: „Die Welt, eintönig, eng und klein, heut, gestern, morgen, immer zeigt sie uns unser Bild: Eine Oase des Grauens in einer Wüste der Langeweile! “ (CXXVI Die Reise, VII, V. 110-112) 24 Obgleich der Dichter in der Alltagswelt als Mensch, der sich erhalten muss, äußerlich noch engagiert ist, ist er doch grundsätzlich im Verdruss über den unaufhörlichen Kreislauf des Bösen aus ihr und ihrer Zeitfolge herausgefallen, so dass er ihr teilnahmslos gegenübersteht: „Nichts dehnt so lang sich wie die lahmen Tage, wenn unter schweren Flocken schneeverhangener Jahre die Langeweile, Ausgeburt der dumpfen Teilnahmslosigkeit [incuriosité], das Ausmaß der Unsterblichkeit gewinnt.“ (LXXVI Spleen, V. 15-18) Wie ein Deckel drückt der Himmel auf den Geist, die Erde verwandelt sich in einen Kerker, in dem außer dem Grauen sich nichts Neues ereignet und sich darum die Zeit nur schleppend und langsam dahinzieht: „Wenn tief und schwer der Himmel den Geist, den ächzend von Verdrossenheit geplagten [en proie aux longs ennuis], wie ein Deckel drückt und ganz den Kreis des Horizonts umfassend uns einen schwarzen Tag herabgießt, trauriger als die Nächte“ (LXXVIII Spleen, V. 1-4), „Und lange Leichenwagen, ohne Trommeln und Musik, ziehen in meiner Seele langsam vorbei […]“ (V. 17 f.). Den vom Verdruss/ l’ennui Befallenen ergeht es, wie Baudelaire es, Flaubert nahekommend, ausdrückt, wie „wenn ein stummes Volk verruchter Spinnen in unsren Hirnen seine Netze auszuspannen naht“ (V. 11 f.). Eine Gestalt, die durch kein Vergnügen und keine Grausamkeit mehr unterhalten werden kann, sondern mit ihren Hunden und Tieren der Langeweile preisgegeben ist (vgl. LXXVII Spleen), symbolisiert den Dichter selbst als den „König eines Regen-Landes“ - unwillkürlich ist man an Pascals König erinnert, dessen Unterhaltung noch gelingt, was hier nicht mehr möglich zu sein scheint. Er steht für den Menschen der Moderne, der der Langeweile nicht mehr entrinnen kann. Aber eben dieses Ausgeliefertsein an die Langeweile, die den Blumen des Bösen als Erfahrung schon vorauszusetzen ist, ist nun doch nicht nur Ende, sondern Anfang, dieses „langweilige Schauspiel der unsterblichen Sünde“ noch einmal durch die Dichtung erstehen zu lassen. Die Teilnahmslosigkeit, in die der Dichter durch die Langeweile gefallen ist, schlägt um in höchste Teilnahme, Kreativität, Produktivität, für die gerade das Herausgefallensein aus der alltäglichen bürgerlichen Welt Voraussetzung ist. Denn eben dadurch hat der Dichter alle Vorstellungen und Werte bürgerlicher Moral hinter sich gelassen, um sich dem Bösen, zu dem nicht nur das moralisch Böse, 24 Vgl. dazu: „Theorie der wahren Zivilisation. Sie liegt weder im Gas, noch im Dampf, noch im Tischrücken, sondern einzig und allein in der Verminderung der Spuren der Erbsünde.“ (Mein entblösstes Herz XXXII, Werke/ Briefe, Bd. 6, S. 245). Ferner: „Welcher Begriff wäre törichter als der des Fortschritts, da doch der Mensch, wie jeder Tag aufs neue beweist, immer dem Menschen ähnlich und gleich, das heißt immer ein Wilder bleibt“ (Raketen XIV, Werke/ Briefe, Bd. 6, S. 208). Gerhard Wölfle 290 sondern auch das soziale Elend und das Leiden an der Endlichkeit gehören, jenseits aller moralischen Einschränkung, Abschwächung und Verdrängung 25 zu stellen und ihm bis in alle Einzelheiten hinein „seine Schönheit abzugewinnen.“ 26 Ein wesentliches, charakteristisches Merkmal des Schönen ist aber Baudelaire zufolge „das Unregelmäßige, das heißt das Unerwartete, die Überraschung, das Erstaunen“ 27 , also gerade das, was die Langeweile überwinden kann. So entspringt der Langeweile, die aus der Erfahrung des ewigen Kreislaufs des Bösen hervorgeht, die Dichtung, die in der Verwandlung des Bösen in Schönheit diejenige Überraschung zu liefern vermag, die das Gegenmittel der Langeweile ist, die den Leser, wie es eingangs gesagt wird, seine Wasserpfeife („houka“, An den Leser, V. 38) schmauchend, unterhält, der dadurch zum Komplizen des Dichters wird („scheinheiliger Leser, - meinesgleichen, - mein Bruder“, An den Leser, V. 40), an all dem Schrecklichen und Hässlichen, das der Dichter in Schönheit verwandelt, Gefallen zu finden. Aber auch dieser zweite Durchgang, in dem es gelingen mag, die Langeweile zu vertreiben, führt wieder in Verdruss und Langeweile, aus der nur noch helfen könnte, wenn jenseits des Todes wirklich Neues begegnete: O Tod, alter Kapitän, es ist Zeit! Laß uns die Anker lichten! Dieses Land hier sind wir leid [nous ennuie], o Tod! […] Wir wollen […] zur Tiefe des Abgrunds tauchen, Hölle oder Himmel, gleichviel! Zur Tiefe des Unbekannten, etwas Neues zu erfahren. (CXXVI Die Reise, VIII, V. 137 f.; 142 ff.) 28 Treten wir einen Schritt zurück, um das bisher Ausgeführte in einen größeren Zusammenhang einzuordnen! Was ist der Überdruss und die mit ihm verbundene Langeweile? Cioran sagt einmal: „Inmitten der Langeweile wissen wir, daß das Dasein nicht hat sein sollen; in seinen Unterbrechungen vergessen wir das und sind da.“ 29 Man könnte diese Äußerung so verstehen, dass im Verdruss und der mit ihm verbundenen Langeweile das Nichts nach uns greift: Wir 25 In diesem Sinn schreibt Baudelaire der Mutter am 9. Juli 1857: „Sie wissen, daß ich immer der Meinung war, daß Literatur und Kunst ein Ziel außerhalb jeglicher Moral verfolgen, und daß die Schönheit der Idee und des Stils mir genügt. Aber dieses Buch, dessen Titel: Fleurs du Mal - alles aussagt, besitzt […] eine unheimliche und kalte Schönheit […]“ (Werke/ Briefe, Bd. 3, 19 f.) Baudelaire war es gleichgültig, ob der Gedichtzyklus Gutes oder Böses bewirke. (Vgl. Werke/ Briefe, Bd. 4, S. 116). 26 Ebd., S. 116. 27 Raketen VIII, Werke/ Briefe, Bd. 6, 200. In Der Salon 1859 ist davon die Rede, dass „das Schöne immer erstaunt“ (Werke/ Briefe, Bd. 5, 136). Vgl. ferner: „Das Schöne ist immer bizarr“ (Exposition universelle 1855, in: Charles Baudelaire: Oeuvres complètes II. Texte établi, présenté et annoté par Claude Pichois, Paris 1976, S. 578). 28 Andere Weisen, sich der Zeit, insbesondere dem „ennui“, zu entziehen, sind für Baudelaire die Reise (z. B. BdB: LIII Einladung zur Reise; XXII Fremdländischer Duft), der Rausch („Es ist die Stunde des Rausches! Um nicht die geschundenen Sklaven der Zeit zu sein, berauscht euch; berauscht euch ohne Unterlaß! An Wein, an Poesie, an Tugend, nach eurem Belieben.“ Le Spleen de Paris: XXXIII Berauscht Euch, Werke/ Briefe, Bd. 8, S. 251) und der Fall ins Nichts (BdB: LXXX Gefallen am Nichts). 29 Cioran: Gedankendämmerung, S. 198. Versuch über Langeweile 291 werden inne, dass das Dasein nicht hat sein sollen. 30 Die Leere an Empfindungen, das Gefühl der Leblosigkeit, das mit dem Herausgefallensein aus der Zeitfolge des Lebens in eine Art Stillstand verbunden ist, stellen eine Unterbrechung dar, in der das Dasein durch das Nichts in Frage gestellt wird. „Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr Nichts? “ Durch die in der Gegenwart der Langeweile eines Daseins gemachte Erfahrung, dass es nicht habe sein sollen, in der das Nichts nach ihm greift und die Frage entsteht: Warum ist überhaupt Seiendes und nicht Nichts? , wird nun das Dasein auf den Anfang zurückgeworfen, für den sich ebenso die Frage stellt, warum es nicht beim Nichts geblieben ist. In dieser Korrelation legt sich der Gedanke nahe, dass, wie in einer jeweils gegenwärtigen Erfahrung der Langeweile, auch im Anfang der Welt eine Ur-Langeweile, ein Horror vacui, bestand, den es zu überwinden galt. Kierkegaard fasst es in die anthropomorphe Vorstellung: „Die Götter langweilten sich, darauf schufen sie die Menschen, Adam langweilte sich, weil er allein war, darum ward Eva erschaffen […] usw.“ 31 Cioran drückt es so aus, dass „die Welt sich aus der Ursprungsruhe durch die Raserei der Identität herausgerissen [hat]“ bzw. „daß eine Langeweile der Selbstidentität, eine Erkrankung des statischen Unendlichen die Welt in Bewegung gesetzt haben.“ 32 Hier wird das zwitterhafte Schweben der Langeweile zwischen Nichts und Sein greifbar. Das Ende des Nichts, die Überwindung der Leere der Langeweile, ist der Anfang des Seins - das gilt für die Schöpfung der Welt nicht weniger wie für die Schöpfung menschlicher Kunst. Die Langeweile, als grauenhafte Leere und Leblosigkeit erfahren, kann zu ihrer Überwindung höchstes Potential an Kreativität und Produktivität freisetzen. Es kann auch weniger kreativ geschehen, dass ein Mensch aus der Langeweile in ein (vielleicht verändert gestaltetes) alltägliches Dasein zurückfindet und sich wieder, wie es Pascal beschreibt, in die Zerstreuung stürzt. Im Ursprung ist Kant zufolge das Erhalten des ursprünglichen Zustands angenehm. Erst mit dem Schmerz wird das Verlassen angenehm, indem es mit der Aufhebung des Schmerzes das Gefühl der Lebendigkeit erzeugt und in Gegensatz zum Fall des Nicht-Verlassens oder Nicht-Verlassen-Könnens tritt, das im Gefühl der Leblosigkeit, Leere und Langeweile bleibt. Ohne den Schmerz gäbe es den Unterschied von Leblosigkeit (Langeweile) und Lebendigkeit (Aufhebung der Langeweile) nicht. Alles spitzt sich auf die Frage zu: Wer hat den Schmerz, den „Stachel der Tätigkeit“, gesetzt? 30 Auch Martin Heidegger setzt die „tiefe Langeweile“ mit dem Nichts in Beziehung. Wenn es von ihr wie von der Angst heißt, dass sie „alle Dinge, Menschen und einen selbst mit ihnen in eine merkwürdige Gleichgültigkeit zusammen[rückt]“ und „diese Langeweile […] das Seiende im Ganzen [offenbart]“, so ist davon auszugehen, dass auch sie wie die Angst „das Nichts [offenbart]“ (Was ist Metaphysik? , in Wegmarken, GA 9, 3. Aufl. 2004, S. 110 ff.). Inwiefern dies in der Freiburger Vorlesung WS 1929/ 1930 (GA 29/ 30, §§19- 41) tatsächlich gezeigt wird, bleibt weiterer Untersuchung überlassen. 31 Sören Kierkegaard: Entweder/ Oder. Erster Teil, dt. Übers. v. Emanuel Hirsch, Düsseldorf 1964, S. 305. 32 Cioran: Gedankendämmerung, S. 252. Manuel Schölles Der Trotz bei Franz Rosenzweig ןג .לוענ אל ליבש וילא , אל .ךרד ןג לוענ - .םדא Ein verschlossener Garten - kein Weg hin, kein Steg, Ein verschlossener Garten ist der Mensch. - Rachel 1 Ich wollte nicht hineingehen und schwieg: Jeden Morgen, wenn ich die Schwelle zum Kindergarten überschreiten musste, hörte ich auf zu sprechen, jeden Tag, bis mich meine Mutter mittags wieder abholte. Ich war vier, und das ist meine früheste Erinnerung an meinen Trotz. Über zwei Jahre hielt ich ihn durch. Erst in der Vorschulzeit öffnete ich mich. Da war es dann vorbei, der Trotz hatte sich erschöpft. Diese Zeit ist fast vollkommen verschüttet. Die späteren Unterwerfungen, die notwendig waren, um im äußeren Leben nicht zu scheitern, die Anbiederungen an Autoritäten, die Anpassungen an mir wesensfremde Strukturen, all die Selbstverleugnungen in Sprache und Verhalten haben tiefe Spuren der Scham in mir hinterlassen. Aber woher kam jener frühe unschuldige Trotz, durch den ich noch ganz Mensch gewesen bin? Was bedeutet er? Nur ein Aufbegehren, eine erste kindliche Revolte gegen Eltern und Staat? Die Selbstbehauptung des Prometheus, die titanische Selbstbehauptung, gehört zu den sichtbarsten Formen des Trotzes. In dieser kurzen Rede in Aischylos’ Gefesseltem Prometheus wird sie von Hermes streng verurteilt (1007-1035): 2 Ich rede viel doch alles scheint umsonst zu sein. Nichts haftet, meine Bitten machen dich um nichts Geschmeidiger. Einem neugebändigten Füllen gleich Beißest den Zaum und bäumst dich gegen den Zügel auf. Doch tust du heftig auf Grund schwachen Rats, denn Trotz Und Eigensinn bei einem, der nicht richtig denkt, Allein für sich vermögen gegen niemand nichts. […] Du siehst dich um und überleg und glaube nicht, Daß Eigensinn je besser ist als guter Rat. 1 Rachel: Lieder, Hebräisch und Deutsch, ausgewählt und übersetzt v. Ruth Ollendorf, Berlin 1936, S. 34-35. 2 Übersetzung von Walter Kraus, in: Aischylos, Tragödien, Stuttgart 2002, S. 322-323. Manuel Schölles 294 Das von Aischylos verwendete griechische Wort, das hier mit „Trotz und Eigensinn“ übersetzt wird, lautet αὐθαδία (authadía). Heinrich Voss übersetzt αὐθαδία mit „Selbsterhebung“ und ein paar Verse später in der Rede der Chorführerin mit „Selbstgefühl“. 3 In Hermes’ Worten wird der Trotz zum Vorwurf. Trotz ist hier dasselbe wie Sturheit und Wut. Von der Chorführerin wird er der εὐβουλία (euboulía) entgegengesetzt, der Wohlberatenheit, die allem vernünftigen Handeln zugrunde liegt. Der Trotz ist hier Vermessenheit und falscher Stolz gegenüber einer höheren Macht. Das Eigene in Prometheus’ Eigensinn wird geleugnet, der Widerspruch mit Strafe belegt. Ist das schon der Trotz, den ich suche und verstehen möchte? Ich erinnere mich an das Schicksal von Ödipus, der im Angesicht der schrecklichsten Leiden trotzig bleibt, gegen Kreon und seinen Sohn Polyneikes. Er stirbt in Würde. Ich erinnere mich auch an seine Tochter Antigone, die das göttliche Gesetz über das Gesetz des Staates stellt und daran zugrunde geht. Antigone weiß, wie etwas richtig getan werden muss, und gerät dadurch in einen schrecklichen Widerspruch zur Welt. Das ist nicht Vermessenheit und Hochmut, im Gegenteil. Im Zeichen des Trotzes wird ihre ganze Existenz zum Wagnis. Auch Achilleus’ Trotz ist kein Hochmut, keine Vermessenheit, sondern die gerade angemessene Erwiderung auf Agamemnons Beleidigung. In der Weigerung, zu den Waffen zu greifen, in seiner Abgeschiedenheit und Verschlossenheit zeigt sich Achilleus in den Grenzen, in denen er ist, und die zuvor von Agamemnon verletzt wurden. Achilles’ Trotz ist ein grenzsetzendes Sich- Verweigern, ein gewaltiges Nein-Sagen, aus dem zugleich ein Ja ruft, das Ja seiner Eigenheit. Ohne den Trotz hätte Achilleus aufgehört, Achilleus zu sein. Diesen Rückzug auf mich selbst, der die Grenzen, die mich zu dem machen, der ich bin, sichtbar werden lässt, führt Platon in der mythologischen Psychologie des Phaidros auf die Macht des θυμός (thymós) zurück. 4 Dieser trachtet in der Bewegung des erotischen Ergriffenseins danach, das Begehren, die ἐπιθυμία (epithymía), daran zu hindern, sich mit dem ganzen liebenden Menschen ungezügelt auf den Geliebten zu stürzen, diesen zu verzehren - und wenn dieser verzehrt ist, sich danach auf den nächsten Geliebten zu stürzen und wieder auf den nächsten und so weiter. Das Begehren kennt keine Grenze und vernichtet dadurch wie ein ungebändigtes Feuer seine eigene Grundlage: den Geliebten. Denn der Geliebte ermöglicht allererst den Dialog, durch den der Liebhaber die Blickrichtung auf das Schöne selbst gewinnt, und wiederum der Geliebte zum Schönen und Göttlichen hin gebildet wird. Für Platon ist die Liebe ein Grundverhalten und Grundverhältnis der Seele. Oder wäre ein Leben ohne die Erfahrung des Schönen denkbar? Der θυμός , der Mut, also die spezifische Eigengestimmtheit der Seele, ist die Macht in mir, die mich einhegt, die mir Schutz gibt in einem Bereich, in dem ich bei mir selbst bleiben kann. Und zwar 3 Vgl. Heinrich Voss: Äschylos, zum Theil vollendet von Johann Heinrich Voss, Heidelberg 1839, ad loc. 4 Vgl. Pl., Phdr. 253c-254e. Der Trotz bei Franz Rosenzweig 295 auch dann, wenn die Grenzen durchlässig werden. Den θυμός nennen wir im Deutschen auch einfach „Herz“. Das Begehren öffnet und will zum anderen, das Herz zieht es zurück und schließt die Seele wieder ab, damit sie nicht im unendlichen Fluss des Begehrens untergeht. Das Herz gibt dem Leben Kontur. Und dies ist die Grundlage des Trotzes. Demnach wären der Gegensatz des Trotzes nicht die Wohlberatenheit und die Vernunft, sondern die Nachlässigkeit, die Verzagtheit, die Feigheit. Beim Abendessen heute fragte ich meine Frau Ulrike, in welchen Situationen sie trotzig reagiere, und sie antwortete: „Trotz kann es nicht alleine geben. Er braucht immer den anderen. Ich bin trotzig, wenn sich ein anderer über mich stellt, über mich entscheidet, etwas an meinem Bild verändert.“ Das war auch an mich gerichtet. Wenn Ulrike sich mir gegenüber trotzig verhält, dann nicht wie in Platons Phaidros als bloß zurückweichender Eigensinn, sondern weil sie sich davor schützen will, dass ich ihr Bild verändere. Sie will sich nicht nur vor sich selbst schützen, wie der Liebhaber im Phaidros, sondern auch vor dem anderen, so wie Achilleus. Doch worin besteht jenes Bild, das nicht durch den anderen verändert werden soll? In Franz Rosenzweigs Stern der Erlösung - veröffentlicht im Jahr 1921 - habe ich eine Analyse des Trotzes gefunden, die mich schon einige Zeit beunruhigt. Sie hebt mit einer Bestimmung des „wahren Seins“ des Menschen an: Vergänglichkeit, die Gott und Göttern fremde, der Welt das bestürzende Erlebnis ihrer eigenen, sich allzeit erneuernden Kraft, ist dem Menschen die immerwährende Atmosphäre, die ihn umgibt, die er mit jedem Zug seines Atems einsaugt und ausstößt. 5 Die Vergänglichkeit des Menschen ist eng verknüpft mit seinem „Sein im Besonderen“. Damit ist nicht die Individualität gemeint, weil für Rosenzweig individuell nur die Dinge in der Welt sind, der Mensch aber - in seinem Wesen - nicht Teil der Welt ist. Sein Einzelsein gewinnt der Mensch nicht im Verhältnis zu anderen Einzelnen, sondern radikal nur aus sich selbst. Wie ist das gemeint? Die Eigenheit des Menschen ist ein Einzelnes, das allen Raum einnimmt: Sie ist eben zwar nicht selbst unendlich, aber „im“ Unendlichen; sie ist Einzelnes und dennoch Alles. Um sie herum liegt die unendliche Stille des menschlichen Nicht-nichts; sie selber ist der Ton, der in diese Stille tönt, ein Endliches und doch Grenzenloses. 6 Der Mensch erfährt sein eigenes Wesen als Ton, der in der Stille tönt, als ein auf nichts anderes zurückführbares Geschehen, das ihm etwas Selbstverständliches ist und das sich, wie Rosenzweig treffend sagt, „nicht auf Flaschen ziehen läßt“ 7 . Er ist vor dem Wissen, aber er ist auch nach dem Wissen. Kein Wissen vermag den Menschen einzufangen, er ist unbeweisbar. Er ist - er selbst. Der 5 Franz Rosenzweig: Stern der Erlösung, Frankfurt am Main 1988, S. 68. 6 Ebd., S. 69. 7 Ebd. Manuel Schölles 296 Mensch in seinem Eigensein ist ein Nichts des Wissens. Er offenbart sich unmittelbar in seiner Tatsächlichkeit, in der „Erfahrung seines Daseins“ 8 . Mit der Erfahrung des Dasein, des Tons, der in der Stille tönt, ist die seltsame und wunderbare Offenbarung der einfachen Tatsache gemeint, dass ich ich bin. Die Besonderheit des Menschen ist nicht die Besonderheit eines Einzelfalls unter vielen Einzelfällen. In der Erfahrung meiner Eigenheit gibt es nur mich selbst, ich erfahre kein Ding, keine andere Tatsache und auch den anderen nicht wie ich mich erfahre; und ich erfahre mich auch nicht erst durch die Beziehungen, die ich zu anderen habe. Gehen wir vom Nichts des Wissens vom Menschen und der Erfahrung seines Daseins aus, ist das Eigenwesen des Menschen ein radikal singuläres Geschehen. Es tönt in der Stille, und das heißt auch: in der Einsamkeit. Das Wort „Ton“ ist griechischen Ursprungs und bedeutet soviel wie Spannung, die Spannung einer Saite, die in eine schwingende oder zitternde Bewegung gebracht werden kann. Die schwingend-zitternde Spannung, der Ton, ist im Wesentlichen ein Phänomen der Zeit, eine rhythmische Struktur, die einerseits in ihrem Zittern das räumliche Nebeneinander aufzuheben scheint, andererseits im Er- und Verklingen das Wesen der Zeit auffällig macht: das Entstehen und Vergehen. 9 Und so will wohl auch Rosenzweig das Dasein des Menschen verstanden wissen, als etwas, das sich durch seine Zeitlichkeit auszeichnet. 10 Ich erfahre mein Dasein vor und nach jedem Wissen eben nicht als etwas Feststehendes, Unveränderliches, und auch nicht bloß als etwas in der Zeit, wie ein Ding, das mir begegnet, und das mal so und mal anders aussieht, sondern ich erfahre mich gleichsam als einen Mitspieler im Geschehen der Zeit: dass ich konstitutiv dafür bin, dass es überhaupt die Zeit gibt. Rosenzweig zitiert Goethe mit den Worten: „nur allein der Mensch vermag das Unmögliche, er kann dem Augenblick Dauer verleihen“ 11 . Das Schwebende des Augenblicks, nämlich dass in ihm Entstehen und Vergehen zusammenfallen, ich den Augenblick aber dennoch als etwas Währendes erfahre, hat seinen Grund in meinem Sein im Besonderen. Die Erfahrung meines Daseins ist die Erfahrung von Zeit. Für Rosenzweig beginnt alle Philosophie mit der Erfahrung des Todes. Diese äußert sich in der immerwährenden Atmosphäre unserer Vergänglichkeit - 8 Stéphane Mosès: System und Offenbarung. Die Philosophie Franz Rosenzweigs, München 1985, S. 66. 9 Vgl. zum Phänomen des Tons Manuel Schölles: Harmonie - Zahl - Mimesis. Archytas und die Frage nach der Vielheit, Tübingen 2016, S. 171-182. Im Zusammenhang mit dem musikalischen Werk findet sich bei Rosenzweig auch folgende Ausführung über die Harmonie (Stern, S. 221): „Diese Beseelung der Einzelheit ist das Werk der Harmonie. Die Harmonie gibt dem einzelnen, im Rhythmus nur erst ein stummes Glied des Ganzen bildenden Augenblick Ton und Leben zugleich; sie macht ihn überhaupt erst tönend und beseelt ihn, gibt ihm Stimmungswert, und beides in einem, recht so wie die Offenbarung dem stummen Selbst Sprache und Seele in einem verleiht.“ 10 Mosès: System und Offenbarung, S. 66. 11 Zitiert nach Rosenzweig: Stern, S. 70. Der Trotz bei Franz Rosenzweig 297 als Angst. Wir philosophieren, weil wir uns ängstigen. Aber, so Rosenzweig, die traditionell-idealistischen Philosophen haben den Tod verdrängt: Vom Tode, von der Furcht des Todes, hebt alles Erkennen des All an. Die Angst des Irdischen abzuwerfen, dem Tod seinen Giftstachel, dem Hades seinen Pesthauch zu nehmen, des vermißt sich die Philosophie. Alles Sterbliche lebt in dieser Angst des Todes, jede neue Geburt mehrt die Angst um einen neuen Grund, denn sie mehrt das Sterbliche. 12 Zwar versäumen es die Philosophen nicht, vom Tod zu reden. Sie reden sogar recht häufig davon. Aber sie verharmlosen ihn, sie nehmen dem Menschen die „Ängste der Erde“ 13 . So hat die traditionelle Philosophie eine spezifische Weise entwickelt, mit dem Tod umzugehen: Sie sucht ewige Wahrheiten, die nicht sterblich sind, und gibt mithin das Einzelne und den Einzelnen zugunsten der Allheit des Seins preis. Nur vermöge der Allheit kann die Philosophie ihrem Anspruch gerecht werden, alles zu denken. Denken und Sein seien dasselbe. Weil der Tod jedoch ein Ereignis des Einzelnen in seiner Besonderheit ist, muss das einzelne Sterben aus der Welt verschwinden. Die Philosophie ist zu einer Strategie geworden, dem eigentlichen Tod, meinem Tod, auszuweichen. So ist es möglich, zugleich Philosoph und Professor zu sein, Aufsätze über den Tod zu schreiben, ohne am Tod zu verzweifeln. Der Tod wurde zu einem Nichts, doch: „Der Tod ist nicht Nichts, sondern ein unerbittliches, nicht wegzuschaffendes Etwas.“ 14 Der Tod ist in jeden Augenblick, den der Mensch erfährt, eingeschrieben. Und dennoch, der Mensch „will bleiben, er will - leben.“ 15 Der Mensch ist nicht nur Sein, sondern auch Wille. Erst durch die Verbindung von Wesen und Freiheit ist der Mensch in seiner Lebendigkeit, ist er Selbst. Der Wille des Menschen ist frei, eine Freiheit, die unmittelbar aus dem verneinten Nichts des Menschen entspringt. 16 Mein Nichts, nämlich dass ich von mir nichts wissen und beweisen kann, verbürgt meine Unbedingtheit. Mein Nichts ist Ausgangspunkt - ich weiß nichts von mir -, ihn zu verneinen, heißt, in eine Bewegung einzutreten. Diese ist nur im Wollen unbegrenzt, nicht im Können. Was hier Freiheit genannt wird, ist die sich in mir ausbreitende Bewegung, die kein Ding in ihrem Anfang hat, die nicht angestoßen wurde, sondern genauso ursprünglich ist wie mein Sein. Gleichwohl hat sie eine Richtung: Sie will. Und was will sie? Sie will mein Wesen. Aber wozu bedarf es noch des Willens, der mein Wesen will, wenn ich es doch schon bin? Vielleicht, weil ich mehr bin als Wesen. Weil ich mich darüber hinaus zu diesem meinem Wesen verhalte, und weil dieses mein Wesen Zeitlichkeit ist, keine feststehende und vorgegebene Substanz, es also seinerseits ein Verhältnis ist. Mein Selbst ist das Verhältnis von Verhältnissen, das lebendige 12 Ebd., S. 3. 13 Ebd. 14 Ebd., S. 5. 15 Ebd., S. 3. 16 Vgl. ebd., S. 5. Manuel Schölles 298 Verhältnis zwischen dem Ja meines Wesens (die Fülle dessen, was nicht Nichts ist) und dem Nein meiner Freiheit (der Tat der Befreiung vom Nichts). Das Selbst entspringt der Bestimmung des Willens durch das Wesen, indem der Wille das Wesen will. 17 Dieser Wille entwickelt sich nach Rosenzweig zum Trotz („das stolze Dennoch“ 18 ), sobald er sich, das Wesen „von ferne sichtend“ 19 , in seiner Endlichkeit erkennt. Dann weiter: Als Trotz läuft er nun weiter seine Bahn […] bis zu dem Punkt, wo die Existenz der Eigenheit sich ihm fühlbar macht, daß er nicht mehr unverändert weitergehen kann, ohne sie zu beachten. Diesen Punkt, wo die Eigenheit in ihrer stummen daseienden Tatsächlichkeit dem freien Willen in den Weg zu liegen kommt - in den Weg tritt, wäre schon zu viel gesagt -, diesen Punkt bezeichnet ein Name, den wir schon vorhin, etwas vorgreifend […] verwendet haben: den Charakter. 20 Der Trotz trotzt nun „auf den Charakter“ 21 . Diese verhältnishafte Bewegung nennt Rosenzweig das Selbst: „Das Selbst ist das, was in diesem Übergriff des freien Willens auf die Eigenheit, als Und von Trotz und Charakter, entsteht.“ Das Selbst entspringt einer Art mehrstufigen Entwicklung: In der Verneinung des Nichts fängt eine Bewegung an, die Wille genannt wird. Ausgehend vom Nichts ist diese unbedingt, im Ziel ihrer Bewegung, im Wesen, erkennt sie jedoch ihre Endlichkeit. Dadurch verwandelt sie sich zum Trotz. Trotz der Endlichkeit bewegt sie sich weiter auf ihrer Bahn zum Wesen hin. Der Punkt, an dem Trotz und Wesen aufeinandertreffen, ist der Charakter (oder auch: das Ethos). Es ist der Punkt, an dem sich die stumme Erfahrung der Tatsächlichkeit meines Daseins meiner anderen inneren Regung, dem Willen, in den Weg legt. Die Erfahrung meines Daseins bringt den unbedingten Willen gleichsam auf eine Bahn, orientiert ihn, verleiht ihm Inhalt. Von einer Verbindung zu den Dingen in der Welt ist hier noch nicht die Rede. In der daraus resultierenden Bewegung, die darin besteht, dass der Trotz jetzt auf den Charakter trotzt, der trotzende Wille nun diesen sich zum Inhalt erwählt, leuchtet endlich mein Selbst auf. Dies ist meine Geburt. Aber, so betont Rosenzweig, der Geburtstag meines Selbst ist nicht identisch mit dem Datum, das auf meinem Ausweis steht. Die biologische Geburt ist nicht die Geburt meines Selbst, sondern gehört zur Geschichte meiner Persönlichkeit. Diese ist meine „Rolle in der vielstimmigen Symphonie der Menschheit“ 22 . Vom Selbst gibt es keinen Plural, es ist radikal einzig, die Persönlichkeit hingegen ist zählbar, sie wird überhaupt erst konkret in der Mehrzahl, weil sie die vielen wechselseitigen Beziehungen der Menschen zu ihrer Bestimmung braucht. Zu meiner Persönlichkeit gehören mein Ge- 17 Vgl. ebd., S. 75. 18 Ebd., S. 73. 19 Ebd. 20 Ebd. 21 Ebd. 22 Ebd., S. 74. Der Trotz bei Franz Rosenzweig 299 burtsdatum, meine Herkunft, meine Ausbildung, mein Aussehen, meine Gesundheit, zu ihr gehören Heirat, Kinder, Beruf, Freunde, Amt und Würden, mein Ansehen, mein Vermögen, mein ganzer äußerlicher Erfolg und Misserfolg: Die Persönlichkeit ist immer eine unter andern; sie wird verglichen; das Selbst vergleicht sich nicht und ist unvergleichbar. Das Selbst ist kein Teil, kein Unterfall, auch kein eifersüchtig bewachter Anteil am gemeinsamen Gut, den „aufzugeben“ verdienstlich sein könnte. Das sind alles Gedanken, die nur für die Persönlichkeit gedacht werden können. Das Selbst ist nicht aufgebbar - wem denn? es ist ja niemand für es da, dem es etwas „geben“ könnte; es ist allein; es ist keines von den „Menschenkindern“; es ist Adam, der Mensch selbst. 23 Eine Seite weiter schreibt Rosenzweig: „Das Selbst ist der einsame Mensch im härtesten Sinne des Worts. Das „politische Tier“ ist die Persönlichkeit.“ 24 Der Geburtstag des Selbst ist zweifach: […] dieser blinde und stumme, in sich verschlossene Daimon überfällt den Menschen das erste Mal in der Maske des Eros, von da an geleitet er ihn durchs Leben bis zu jenem Augenblick, wo er die Maske ablegt und sich enthüllt als Thanatos. 25 Die Ambiguität, die dem Tod zu eigen ist, wird hier besonders deutlich: Im Ursprung ein Moment des Trotzes gegen die Endlichkeit des Augenblicks ist der Tod auf einer anderen Ebene als Tod der Persönlichkeit zu verstehen, der mir zunächst hinter der Maske des Eros begegnet. Im Tod der Persönlichkeit verliere ich die äußerlichen, individuellen Bestimmungen meines Daseins, sichtbar in den Augen des Sterbenden, in seiner „letzten Vereinzelung und Einsamkeit“. Der eigentümliche Trotz des Greises (Ödipus auf Kolonos) gewinnt an diesem Punkt seinen besonderen Rang, der aus der Sicht des individuellen persönlichen Lebens unverständlich ist. Andererseits fällt Rosenzweig mit seiner Trotz-Analyse auch nicht in ein substanzialistisches Denken zurück, in eine Philosophie also, die alle Phänomene immer auf ein dahinterliegendes eigentliches Wesen zurückführt. Eine solche Rückführungsphilosophie würde seinem Anspruch an ein neues Denken nicht genügen. Das Wesen des Menschen ist für Rosenzweig nicht etwas anderes - nicht die Welt, nicht Gott, nicht das Ich - es ist der Mensch selbst. „Auf die Frage nach dem Wesen gibt es nur tautologische Antworten.“ 26 Und diese Antworten, wie bereits gesagt, schließen sich auch ‚nur‘ in der Erfahrung auf, für das diskursive Wissen hingegen sind sie Nichtse. 23 Ebd. 24 Ebd., S. 77. 25 Ebd. 26 Franz Rosenzweig: Das neue Denken. Einige nachträgliche Bemerkungen zum „Stern der Erlösung“, in ders.: Der Mensch und sein Werk. Gesammelte Schriften Bd. 3, Den Haag 1984, S. 139-161, hier 145. Manuel Schölles 300 Im Tod wie auch in seiner Maskierung, dem Eros, wird meine Einsamkeit offenbar - und zugleich trotze ich. Deswegen nennt Rosenzweig das Selbst „metaethisch“: weil es als radikal vereinzeltes nicht in der sittlichen Welt leben kann. Die Gesetze und Normen gehören zur Persönlichkeit, die jedoch in Eros und Tod vernichtet wird. Sie können nicht Gesetze und Normen des Selbst sein, dieses hat nur sein Ethos, das zum Inhalt seines Trotzes geworden ist. Aus metaethischer Sicht sind die Pathologien unseres Lebens und ihre Therapieversuche irrelevant, betreffen sie doch nur die Persönlichkeit. Die Rosenzweigsche Metaethik lehrt mich nichts über ein gelungenes Leben da draußen. Es gibt keine Therapie des Selbst. 27 Worauf es ankommt, ist gerade nicht, das Selbst als Substanz der Individualität zu verstehen, sondern als meine trotzige Erfahrung des Todes und der Einsamkeit. Auf dieser Ebene bin ich ganz dieser Trotz, ich unterwerfe mich nicht, ich harre, ich biete die Stirn, aber ich bin auch vollkommen abgelöst von den Beziehungen zu allem, was nicht ich selbst bin. In dieser Beziehungslosigkeit ist mein Sprechen im Grunde ein Schweigen. Es ist „Sprache vor der Sprache, Sprache des Unausgesprochenen, Unaussprechlichen“ 28 . Denn alles, was ich zu sagen habe, dient nur meinem Trotz. Indem ich trotze, will ich eigentlich, wenn auch tief in mir verborgen und uneingestanden, nichts anderes als meine Unsterblichkeit. Rosenzweig erkennt darin das wahre Motiv des tragischen Helden: Der Held als solcher muß nur untergehen, weil der Untergang ihm die höchste Verheldung, nämlich die geschlossenste Verselbstung seines Selbst ermöglicht. Er verlangt nach der Einsamkeit des Untergangs, weil es keine größere Einsamkeit gibt als diese. Deshalb stirbt der Held eigentlich auch nicht. 29 Die suizidale Einstellung des Trotzes ist nur auf den ersten Blick paradox. Untergang und Tod sind nicht dasselbe. Es gibt mehrere Arten zu sterben. Der Held wählt den Tod nicht statt seiner Unsterblichkeit, sondern für sie. Der Trotz ist fundamental unterschieden von der Verdrängung. Der Verdrängende versucht angesichts der Endlichkeit seinen Bewusstseinsinhalt zu reduzieren. 30 Diese Reduktion kann durch Isolation, Verankerung, Distraktion oder Sublimation geschehen, womit ich dem norwegischen Philosophen Peter Wessel Zapffe und seinem pessimistischen Aufsatz Der letzte Messias aus dem Jahr 1933 folge: 27 Deshalb ist das trotzige metaethische Selbst auch kein geeigneter Ausgangspunkt für Überlegungen und Aktionen im Bereich des Politischen. Fragen des Zusammenlebens sind ihm fremd. 28 Rosenzweig: Stern, S. 87. 29 Ebd., 86. 30 Vgl. Peter Wessel Zapffe: Der letzte Messias, in: ders.: Ausgewählte Texte, Zürich 1999, S. 23-38, hier 27. Der Trotz bei Franz Rosenzweig 301 − Isolation: „Zurückweisung störender und destruktiver Gedanken und Gefühle“ 31 , zum Beispiel „in einer allgemeinen Übereinkunft gegenseitigen Verschweigens“ 32 . − Verankerung: „Festlegung von Punkten innerhalb des liquiden Bewusstseins-chaos“ 33 , zum Beispiel Religion, Ehe, Karriere, Macht, Geborgenheit des Elternhauses und so weiter. − Distraktion: „Man hält die Aufmerksamkeit innerhalb einer kritischen Grenze, indem man sie unablässig durch neue Eindrücke von aussen fesselt“. 34 − Sublimation: Verwandlung des Lebensschmerzes „in Erlebniswerte“ 35 , zum Beispiel mein Schreiben dieses Essays. 36 Die vier Weisen der Verdrängung sind bewusste und unbewusste Lebensstrategien der Persönlichkeit. Sie antworten auf die Frage: Warum lebe ich denn noch? Der Trotz hingegen sucht die höchste Weise der Verschlossenheit, sucht den Tod der pluralen Persönlichkeit zugunsten der vollkommenen Vereinzelung des Selbst. Auch der Trotzige sucht einen Weg aus der Paradoxie der Endlichkeit. Er bricht zwar alle Brücken hinter sich ab, die verschiedenen Verdrängungsstrategien sind keine Optionen für ihn. Aber das bedeutet nicht, dass der ganze Mensch sterben müsste. Und weil jede Lebensäußerung nur wieder zurück in die Verdrängung führt, ist der Trotzige zum Schweigen verdammt - zu seiner vollkommenen Verschlossenheit. Es gibt nichts in der Welt, das ihn hält. Was aber Trotz und Verdrängung verbindet: Beides will die Unsterblichkeit. Doch wenn ich mich gegen die Verdrängung entscheide, kann ich eben nur trotzig nach der Unsterblichkeit verlangen - stumm, verschlossen, durch den Tod meines äußeren Lebens. Gleichwohl sind die Verdrängungsmechanismen als die äußere Seite meines Daseins immer da, aber sie sind nicht das Ganze und erschöpfen mich nicht. Sie erschöpfen mich deshalb nicht, weil ich neben der pluralen Existenz der Persönlichkeit zugleich ein Einziger bin - das einzige Selbst. Konkret bin ich wohl immer beides in einem, stummer Held und beredter Feigling, innerlich verschlossen und äußerlich gefangen. Die Sprache in dieser Konstellation, die über das Schweigen des Helden hinaus geht, ist immer Sprache der Persönlichkeit, Sprache der Verdrängung. Aber gibt es keine andere Sprache, eine Sprache, die mich aus dem tragischen Gefängnis meiner Einsamkeit befreit? Die Philosophie, zumindest in ihrer tra- 31 Ebd., S. 28. 32 Ebd., S. 29. 33 Ebd., S. 30. 34 Ebd., S. 32. 35 Ebd., S. 35. 36 Zapffe weiter zur Sublimation (ebd., S. 35): „Hier bietet sich im Übrigen Gelegenheit zu dem wildesten Rundtanz durch ständig neue ironische Oberinstanzen in einem circulus vitiosus peinlichster Art.“ Manuel Schölles 302 ditionellen Ausformung, ist keine Alternative, im Gegenteil. Aber auch die Kunst führt nicht weit genug: Das Reich der Kunst gibt den Boden, wo überall das Selbst erwachsen kann; aber jedes Selbst ist wieder ein ganz einsames, einzelnes Selbst; die Kunst schafft nirgends eine wirkliche Mehrheit von Selbsten, obwohl sie überall die Möglichkeit zum Erwachen von Selbsten herstellt: das Selbst, das erwacht, weiß dennoch nur von sich selbst. Mit andern Worten: das Selbst bleibt in der Scheinwelt der Kunst stets Selbst, wird nicht - Seele. 37 Die Kunst hat eine metaethische Bedeutung, indem sie „die Möglichkeit zum Erwachen von Selbsten herstellt“. Denn: „Der Mensch, der einmal von seinem Daimon besessen ist, hat für sein ganzes Leben ‚Richtung‘ bekommen.“ Aber eine Erlösung des einsamen Menschen, so dass er Seele wird, bietet sie nicht. Rosenzweig lehnt die idealistische Vergötterung der Kunst ab. Ohne die Kunst wäre der Mensch zwar ein Krüppel, aber sie ist „Glied nur neben andern. Der Mensch ist mehr.“ 38 Noch einmal: Gibt es keine andere Sprache? Wie kann sich mein Daimon aus der Umklammerung des Trotzes befreien und ins Freie hervorbrechen? Wie gelingt der Eintritt in ein echtes dialogisches Geschehen mit dem anderen, das niemals erwachsen kann aus dem Weg der Verdrängung, weil er mich auf Funktionen und äußerliche Beziehungen reduziert - aber wie aus dem Schweigen des einsamen Selbst? Ich will hier nicht weitergehen, ich will beim Trotz bleiben. Der Weg, auf dem Rosenzweig geht, ist wohl nur im Ganzen des Durchgangs durch den Stern der Erlösung verständlich zu machen. Und das übersteigt hier meine Kräfte. Ich begnüge mich damit, die Ambiguität des Trotzes festzuhalten, als notwendigen Ausgangspunkt für eine echte Öffnung für den anderen, aber auch als heldisches Refugium, das zu erstarren droht, wenn ich es nicht als einen Schritt auf einer längeren Reise begreife. Es ist gefährlich zu glauben, dort Erlösung gefunden zu haben, wo man in Wahrheit in seinem Trotz gefangen ist. 39 Eingangs habe ich von meinem Trotz im Kindergarten gesprochen. Es war vielleicht nur die Furcht vor den anderen Kindern. Der Trotz, über den Rosenzweig spricht, gehört zu einem anderen Bereich. Die Scham wächst, je älter ich werde. Bestürzt blicke ich auf meine Tochter Mathilde, im Wissen, dass in ihr, unendlich entfernt, dieselben Stürme wüten wie in mir und in dir. 37 Rosenzweig: Stern, S. 89. 38 Ebd., S. 164. Rosenzweig spricht in diesem Zusammenhang auch von der Opferung der Künstler: „Die Künstler werden also eigentlich geopfert für die Menschlichkeit der übrigen Menschheit. Die Kunst bleibt Stückwerk, damit das Leben ein Ganzes sein und werden kann.“ (Stern, S. 213) 39 Schon Kierkegaard analysiert das Dämonische der Verschlossenheit. Vgl. Sören Kierkegaard: Der Begriff Angst, 2. Auflage, Frankfurt am Main 1996, 108-124. Cathrin Nielsen Rapport Versuch über das Gedächtnis Auf einem Zwischenstopp in Frankfurt bin ich kürzlich vom Flughafen in die Innenstadt gefahren. Nachdem ich mich zunächst dem geschäftigen Gewirr des Bahnhofsviertels übergeben und von dieser oder jener Zielstrebigkeit probehalber hatte mitziehen lassen, war ich irgendwann zu einer Kirche gelangt, die sich unmittelbar an einer mehrspurigen Straße gelegen in die Vorfrühlingsdämmerung erhob. Der freistehende, rippenartig durchbrochene Turm war zwischen die Passanten über den Bürgersteig gesetzt. Als habe jemand nach einem Körper für diesen fragilen Hals gesucht, der ansonsten wie eine Art Förderturm nur in die Tiefe verwurzelt, aber im Hinblick auf seine diesseitige Berechtigung ganz nackt geblieben wäre, befand sich knapp daneben der, durch eine Reihe buntverglaster Auglöcher durchbrochene, Kirchenbauch. Ein Plakat kündigte eine Ausstellung an: Rockhounds, die soeben eröffnet werden sollte. Rockhounds - das sind Amateurgeologen, die sich mit Hammer und Lupe, Ritzbesteck und Geigerzähler am scheinbar opaken Erdboden zu schaffen machen. Die die Gesteinsformationen, in die sich die Umschwünge, Katastrophen und Äquilibrien des Menschlichen abgelagert haben, freilegen, die Verrückungen im Erdreich, die den Erosionsschutt durchforsten. Sie sind Chemiker und Jäger zugleich, Analytiker und Fährtenleser. Vor allem jedoch müssen sie über die Fähigkeit verfügen, die Epidermis, jene kostbare Schale, die auf den tieferen, weiter nach innen wurzelnden Netzwerken aufliegt, aufzubrechen und ihr Geschichtsplasma zu verflüssigen, ohne sie in ihrem Zusammenhalt zu beschädigen. Der Prospektor zerschwemmt die Haut, er zwingt jede Zelle, sich in ihrer Geschichtlichkeit auszuweisen, um in die „Chronik der Gefühle“ vorzudringen - eine Chronik, die keineswegs analog verläuft zur Chronik der Ereignisse, sondern als Sediment von Dynamit überwintert, jederzeit auf dem Sprung, im Hier und Jetzt ihr Nachspiel zu beginnen. Im Innern waren Leinwände gespannt, durch die von hinten her Licht fiel, so dass die Gemälde vor einen hintraten wie Erscheinungen. Manche schienen das Licht regelrecht zu verkörpern, andere waren wie dunkel gewirkte Muster, die sich, je mehr man sich in sie hineinbeugte, zu unzähligen Begebenheiten entfalteten. Drei halbwüchsige, auf einem Rasenstück zusammenhockende Kinder in Badehosen, Trümmer, Larven, eine im Fallen begriffene Frau. Eines dieser Gewebe bestand aus zahllosen Negativen, die die Künstlerin, wie ich später Cathrin Nielsen 304 erfuhr, aus dem Müll eines Drogeriemarktes gezogen und zu diesem Grubentuch zusammengeheftet hatte. Ganz im Gegensatz zu ihrer gedrängten, lichtvollen Präsenz wiesen die Titel unmissverständlich auf die nächtliche Seite der Welt: Die Zeche. Nightrider. La deutsche vita. Ihre Arbeitsweise: Schürfen, Bohrung, Bricolage. Die seelischen Diaphragmen durchstoßen, die das Heute über das Gestern errichtet, die Kontrollvorrichtungen und Sichtblenden. Eindringen in das Bassin geschichtlich gesättigter Zellen, Sondieren des Herangeschwemmten, Radiografie des Gewebes auf seine Male, Knäuel, humanen Stollen und Korrespondenzen. Übersetzung in ein Piktogramm des Aufschreis. Sampling. Nähen. Spinnen. Weben, atemlos. Die spinnende Klotho als Trümmerfrau. Vor den Bahnen standen Leute. Sie wirkten klein und gedrungen vor den lichten Gestalten, die sie in ihrer merkwürdig vorwegnehmenden Transparenz um ein Doppeltes überragten. Ihre Blickrichtungen kreuzten sich, als würden die einen den Zeitpfeil nach vorwärts verfolgen, während die anderen beharrlich in die andere Richtung blickten. Auf ein Räuspern hin begannen sie sich zögernd um einen Mann zu versammeln, der sich als Kurator der Ausstellung vorstellte. Anschließend ergriff ein vielleicht vierzigjähriger Mann das Wort. Innerhalb der Biologie, hob er mit einem Blick stummer Herausforderung an, innerhalb der Biologie setzt sich zunehmend die Erkenntnis durch, dass natürliche Systeme weniger auf festen Gesetzlichkeiten beruhen als dass sie Phänomene einer kollektiven Erinnerung darstellen. Das, was eine Amsel zu einer Amsel macht oder einen Termitenhaufen zu einem Termitenhaufen, sind nicht einfach Molekülzusammenhänge, die sich in einer geschichtslosen Formel zusammenfassen lassen. Ihr Bauplan entspringt vielmehr sedimentierten Gewohnheiten, kumulierten Wachstums- und Verhaltensbahnen, an denen unzählige Generationen von Organismen mitgeflochten haben. In der Amsel, die hier und heute durch die Dämmerung huscht, tritt uns die ganze Vergangenheit „Amsel“ entgegen, eine Vergangenheit, die als unabgeschlossene zugleich nach vorne hin offen ist, also Gegenwart. Denn das Einzelne erschöpft sich nicht in dieser inneren Gravitation Gedächtnis, es konkretisiert sie zugleich, durch die Intimität seines Rufens, seine spezifische Färbung, seinen unverwechselbaren Abdruck im Schnee. Alle Lebewesen, fuhr er ohne aufzublicken fort, scheinen Erinnerungen zu haben, die nicht ihnen allein gehören. Als Individuen sind sie zugleich Medien von Fernwirkungen, die sie in das geheimnisvolle Gewebe der Geschichte eintreten lassen, das voller Geflüster, Berührung und Nachbilder ist und in dem nichts wirklich verloren geht. Mit dem britischen Biologen Sheldrake könnte man von „morphischer Resonanz“ sprechen, einer Art Rapport durch Raum und Zeit hindurch, körperlos und der Notwendigkeit einer Begegnung vis-à-vis enthoben. Auch wir selbst stehen möglicherweise in solchen Resonanzbeziehungen zueinander. Das betrifft die Unwägbarkeiten, Widerfahrnisse und Ge- Rapport 305 wohnheiten unserer Herkunft, aber auch die unsichtbare Schrift der Vorfahren. Auch hier gibt es Entscheidungen, an die wir bewusst oder unbewusst anknüpfen, Geschichten, die selbst Erwartungshorizonte in die Zukunft spinnen, abgelagerte Enttäuschungen, offene Wunden, katalytische Explosionen. Wie kommt es, dass man sich in einem anderen Menschen wiedererkennt, in seiner ganz bestimmten Art, sich zu bewegen, den Finger zwischen die Buchseiten zu legen, das Glas zu den Lippen zu führen? Als schimmerten die verschütteten Erinnerungen hindurch wie frühere Häute, wie ein unendliches Gespräch, wie ein Wispern, als würden sie sich alle einbringen wollen, die Ungeborenen, die Lebenden und die Toten. „Wenn wir den Mund aufmachen, reden immer zehntausend Tote mit.“ Er stockte, und mir fiel auf, dass er offenbar Schwierigkeiten hatte, sich in seinen Notizen zurechtzufinden. Tatsächlich schob er die Blätter ziellos ineinander, als würde sich die Reihenfolge dessen, was er von sich gab, je nach Anordnung des Stapels neu und anders ausrichten. Nachdem er einen Schluck aus seinem Weinglas genommen hatte, fuhr er jedoch fort: Nach der Hypothese der morphischen Resonanz haben wir eigene Erinnerungen, weil wir dem, was wir in der Vergangenheit waren, ähnlicher sind als irgendwem sonst. Doch wir sind (wenn auch in geringerem Maße) auch unseren Vätern und Müttern, Großvätern und Großmüttern ähnlich, und in noch geringerem Maße denen, die auf irgendeine Art etwas mit uns teilen, unsere Sprache, unsere Art, die Stimme zu erheben, ein Bahnticket zu falten, einen Mantel abends an den Haken zu hängen oder die Finger über unsere Mobiltelefone huschen zu lassen, in dieser scheinbar so intimen Choreografie unserer Möglichkeiten. Ja, letztlich allen Menschen gleichen wir auf irgendeine Art und Weise, den Lebenden wie den Toten. Ist es wirklich nötig, anzunehmen, dass das Bewusstsein im Singular steht? Dass unsere persönlichen Erfahrungen und Erinnerungen von denen irgendeiner anderen Person verschieden, ja durch Zeit und Raum getrennt sein müssen? Und dass demnach unsere Erinnerungen mit dem Zusammenbruch der Körper unweigerlich verschwinden? Vielleicht gibt es den Tod ebenso wenig wie die Zeit, deren Vergehen ja, wie auch die Physiker meinen, „nichts“ entspricht. Vielleicht gibt es nur eine Verminderung der Präsenz. Nachdem er mit einem knappen Kopfnicken seine Lesung unvermittelt beendet hatte, an die sich ein verhaltener Applaus anschloss, begannen die Leute wieder, zwischen diesen durch ihre Bewegungen leicht erbebenden Leinwänden herumzuwandern. Sheldrake. Ich erinnerte mich, diesen Biologen einmal in einer Talkshow gesehen zu haben. Irgendwie hatte mich seine Geste, die Hände unter die Schenkel zu schieben, wenn er zwischen seinen akademischen Kollegen in sich hineinlachte, amüsiert. Er spöttelte über die Auffassung von der Gefangenschaft in unserem Gehirn mit seinen Speicherungssystemen und seinem neuronalen Feuern, das sich wie eine Magical Mystery Show in der Dunkelheit unseres Schädels abspielt. Vielleicht tragen wir, so hatte er erklärt, unser Gedächtnis ja gar nicht in unserem Kopf herum. Vielleicht empfangen Cathrin Nielsen 306 wir die Vergangenheit vielmehr durch eine Übertragung von einander ähnlichen Formen, in deren unmittelbarer Gegenwart die Körper ruhen. Die sichtbare Kausalität wäre dann nur ein besonderer Fall. Ich trat wieder in den schmalen Gang, der sich zwischen den Bildbahnen eröffnete, und in dem die Vorderseiten der einen mit den Rückseiten der anderen Bilder, die das Sujet in einer eigentümlichen Spiegelverkehrung wiedergaben, ein stummes Zwiegespräch zu bilden schienen. Warum bleiben die Erinnerungen bestehen, wenn unser Körper sich doch ständig erneuert? Wenn unser physisches Leben ein einziges Verbrennen ist, ein gigantischer molekularer Umsatz, warum wird die Vergangenheit nicht einfach mitverbrannt, restlos und unwiderruflich? Warum sucht sie uns heim, warum zieht sie ihre Konsequenzen, warum treten die Gewesenen aus unerfindlichen Gründen an uns heran, mit ihrem entfernten und doch irgendwie flehenden Blick, so wie ich jetzt bemüht war, den Blick dieses Gesalbten hier aus dem stummen Getöse der Zeit zu befreien? Ich war vor einem der Bilder stehengeblieben, das einen vielleicht zwölfjährigen Jungen zeigte. Er geht ergeben auf den Betrachter zu, die Haut bis auf das offene Fleisch wund. Seine Hände gleichen harkenähnlichen Klauen, die auf dem Rumpf, in den die Brustwarzen, der Nabel und das Geschlecht wie irgendwie sinnlose Zeitmale eingezeichnet waren, hin und her zu rasen schienen, als wollten sie das verschorfte Erdreich aufbrechen. Zugleich war mir, als hätte ich diesen Jungen eben hier gesehen, erst auf den Stufen zu der Empore mit der Orgel und dann später bei der Sakristeitür, über der sich das einem unbekannten Meister aus dem fünfzehnten Jahrhundert zugeschriebene Andachtsbild befindet, das, wie der Kurator eingangs erwähnt hatte, neben den alten Abendmahlsgeräten den einzig erhaltenen Rest der ehemaligen Weißfrauenkirche darstellte und auf dem man im Hintergrund des gekreuzigten Jesu die Stadtansicht Frankfurts erkennt. Vielleicht, dachte ich, summiert jede abgelebte Minute uns erneut zu so einem Bild, das wie ein Schatten hinter unserem Rücken anwächst und uns mit all denen verknüpft, die vor uns und nach uns sind, sein und werden, und die uns unablässig ihre Ungeheuerlichkeiten mitteilen. Irgendwann wird dieses Bild wie ein Zeiger nach vorne gewandert sein und uns verschlucken. Es hört, dachte ich mit plötzlichem Zorn, nie auf. Unsere Gegenwart wird von Sekunde zu Sekunde tiefer in das Gewesensein gepresst und trotzdem wächst der Fötus als Fleisch im Fleisch, und die Finger sprießen ihm zu solchen heulenden Herden heran. Wie ich später einer ausliegenden Broschüre entnehmen konnte, war der Grundstein für das Gebäude, in dem wir uns befanden, im Frühjahr 1955 gelegt worden. Ursprünglich war die Weißfrauenkirche mehrere hundert Meter weiter weg gestanden; sie war in der Nacht vom 22. auf den 23. März 1944 nach einem Großangriff, der ab etwa viertel vor zehn innerhalb einer knappen Stunde die gesamte Frankfurter Altstadt dem Erdboden gleichgemacht hatte, Rapport 307 ausgebrannt. Zahllose Menschen hatten den Angriff in der die ganze Innenstadt verzweigenden Unterwelt mit ihren Gewölbegängen, Kellerdurchbrüchen und Katakomben überstanden und waren mit Rückzug der Maschinen und der daraufhin einkehrenden gespenstisch dröhnenden Stille am Gerechtigkeitsbrunnen vor dem Römer wieder nach oben geklettert, in ein Trümmerfeld aus Rauch, Staub und Asche, in das erst gegen Mittag wieder Tageslicht durchzusickern begonnen hatte. Obgleich die Weißfrauenkirche im Wesentlichen erhalten geblieben war, war auf einen Wiederaufbau verzichtet worden. Im Verlauf der Abrissarbeiten entdeckte man neben etwa siebzig weiteren Grabstätten drei Zinnsärge, einen großen und zwei kleine, die die Gebeine der am späten Vormittag des 19. März 1686 offenbar an den Folgen einer Zwillingsgeburt verstorbenen ersten Gattin des Grafen Volradt, Graf von Nassau Usingen, enthielt. Schädel und Kleidung der jungen Frau waren gut erhalten, auf ihrer Brust lag eine silberne Kapsel, die ihr Herz umschloss. Ich legte die Broschüre zurück auf den Tisch und trat hinaus in das inzwischen regennasse Dunkel. An der Aschentonne stand der Redner, der eine Zigarette zwischen seinen Fingern rollte und mir, als ich ihm entgegentrat, mitten ins Gesicht sah. Vis-à-vis zu uns das Ausstellungsplakat, auf dem zwei Frauen zu erkennen waren, eine helle und eine verschwimmend dunkle, die Stein auf Stein schlugen, jede für sich, während sich irgendwo aus der kreisförmigen Geschichte in ihrem Rücken emportauchende Hände an ihnen zu schaffen machten. Havarien des Realen, allseits. Es scheint, als gingen die Moleküle des Gewesenen dazu über, ihren Aggregatzustand zu wechseln, als nähmen sie ihren abschiedlichen Aufenthalt als Rümpfe, wächserne Chiffren, Vogelwesen, als hockten sie unendlich flüchtig in unserem Nacken, um sich mit der brutalen Geste endender Zärtlichkeit abzustoßen, eines nach dem andern, als sammelten und formierten sie sich alle zugleich zum Aufbruch in ein Territorium jenseits des Menschen. Womöglich, dachte ich, bedürfte es nur eines winzigen Rucks in unseren, von der sogenannten Hirnwissenschaft immer nachhaltiger zu isolierten Kerkern gemachten Köpfen, um uns in den Anderen wiederzuerkennen und so die Verminderung der Präsenz, von der der Redner gesprochen hatte, gewissermaßen aufzuheben. Wir würden alle durcheinander hindurchgehen, die Lebenden und die Toten, und unsere Stimmen würden einander durcheilen wie die Körper vorhin im Gewirr der Bahnhofsgassen, die mich hier hingeführt hatten, so wie die Abermillionen in den Äther gesendeten elektronischen Bilder und Nachrichten schon jetzt den Raum gewissermaßen aufgehoben und zu einem einzigen Stimmenmeer vereint hatten, in dem sich, auf eine mir plötzlich ganz aberwitzig scheinende Weise, noch immer einzelne Nachrichten trafen und etwas auslösten in unserem Fleisch: ein Ziel, eine Trauer, eine vorübergehende Verbindlichkeit. Ryosuke Ohashi Das Solo-Kabarett „Alle drei Seiten erleiden den Verlust eines Ryô“ Zur Japanischen Ethik zwischen Tradition und Moderne • 1. Zu Beginn ist eine These vorauszuschicken: Das Verhältnis zwischen Tradition und Moderne ist von Kultur zu Kultur je anders. In Europa hatte die kulturelle Tradition zumindest bis zur Neuzeit und vielleicht im subjektiven Bewusstsein sogar bis heute eine „Vielschichten-Struktur“, wie man sie an den seit dem Frühmittelalter bestehenden, sakralen Bauwerken oft räumlich vergegenwärtigt sieht: Der Unterbau ist romanisch, das Mittelschiff gotisch, aber das Innere und das Dach wird barock umgebaut. Die verschiedenen Kulturepochen liegen im christlichen Europa aufeinander, und die Zentralachse, die diese Schichten durchzieht, ist das Christentum. Die Vorstellung dieser Vielschichten-Struktur verbindet sich mit der eurozentrischen Weltvorstellung, die sich in der europäischen Neuzeit gebildet hat, und zwar historisch gesehen mit einem gewissen Recht. Die Expansionszeit der europäischen Welt, „Age of Discovery“ oder „Age of Exploitation“, dauert seit der Mitte des 15. Jahrhunderts an und diese Ausdrücke selber werden aus der europäischen Sicht her formuliert, etwa wie die geographischen Bezeichnungen Naher Osten, Ferner Osten usw. Die Hegelsche Vorlesung über die Weltgeschichte spiegelt diese eurozentrische Weltvorstellung wider, indem die Weltgeschichte als die Geschichte der europäischen Welt aufgefasst wird und die nicht-europäischen Weltgegenden als ihre Randsphären betrachtet werden. Allerdings hat sich die Situation inzwischen geändert, was selbst in Hegels Vorlesungen angekündigt wird, wo der Philosoph die von ihm so aufgefasste Weltgeschichte als Geschichte der „Alten Welt“ bezeichnet und Amerika sowie Australien als die noch geschichtslose „Neue Welt“ bezeichnet. Indem im 20. Jahrhundert die USA zur Supermacht wurden, die Sowjetunion ebenso, und jetzt im 21. Jahrhundert China in der Wirtschaft Japan überholt hat, um zur Anmerkung: Die Urfassung des vorliegenden Manuskriptes wurde 2001 auf dem „15th International Congress of Aesthetics“ in Tokyo vorgetragen und die Zusammenfassung derselben wurde unter dem Titel Hermeneutische Analyse eines rakugo-Stücks aus interkultureller Perspektive in K. Nishimura, K. Iwaki, T. Otabe, K. Sasaki, E. Tsugami (Eds.): Selected Papers of the 15th International Congress of Aesthetics, published by The Organizing Committee of the 15th International Congress of Aesthetics, Tokyo 2003, S. 276-280, gedruckt. Der volle Text wird hier zum ersten Mal publiziert. Ryosuke Ohashi 310 zweitgrößten Wirtschaftsmacht der Welt zu werden, ist Europa schon längst nicht mehr das Zentrum, sondern eines der wichtigsten Zentren der Welt geworden. Allerdings gilt Europa nach wie vor als die Gegend, wo die neuzeitliche Wissenschaft und Technik entstanden, und die Technologie als Fusion der Wissenschaft und Technik die ganze Welt prägte. Europa kann nach wie vor als Ursprungsort der Moderne bezeichnet werden, wie einst Griechenland der Entstehungsort der Philosophie war, die in Europa den gegenwärtigen, interkulturellen Stand erreicht hat. Im fern-östlichen Land Japan, das in Hegels Vorlesungen über die Weltgeschichte kein einziges Mal zum Thema wurde und erst Ende des 19. Jahrhunderts etwa gleichzeitig mit Deutschland das Zentralmacht-System des Staates annahm, um sich zu modernisieren bzw. zu europäisieren, wo aber andererseits über tausend Jahre lang die verschiedenen Kulturen aus dem eurasischen Kontinent bald über die Seidenstraße, bald direkt aus China, in jedem Fall aber über Korea, übermittelt wurden, sieht das Verhältnis von Tradition und Moderne sehr anders aus als in Europa. Die Traditionen - die jetzt nicht im Singular, sondern im Plural angesprochen werden müssen - bestehen nicht aufeinander mit einer zentralen Achse, dem Christentum, sondern nebeneinander mit einer „Vielzentren-Struktur“ und den „multi-religiösen“ Achsen. Die im japanischen Mittelalter entstandenen Künste wie das Blumenstecken und die Teezeremonie bilden zum Beispiel auch im gegenwärtigen Leben in Japan neben den modernen Spielen die wesentlichen Elemente des Alltagslebens. Ein typisches Haus in Japan besteht aus dem Washitsu, den traditionell-japanischen Räumen, wo man auf Strohmatten sitzt, und dem Yôshitsu, den europäischmodernen Räumen, in denen man steht und geht. Das modernste Bauwerk wird bei der Feier der Grundsteinlegung shintoistisch eingeweiht. Die Geschichte der Kaiserfamilie Japans geht ihrer Ideologie nach auf die mythologische Urzeit zurück, was zwar heute nicht mehr geglaubt wird. Aber im Kulturbewusstsein der Japaner ist die Kaiserfamilie der Ort, an dem das Alte und das Neue nebeneinander stehen. Der Kaiser wird heute noch in einer shintoistischen Zeremonie gekrönt, und tritt dabei im Gewand des Shinto-Priesters auf, sonst zeigt er sich vor dem Publikum immer in europäischer Kleidung, und nie im Kimono. Dieser flüchtige Vergleich zwischen Europa und Japan in Bezug auf das Verhältnis von Tradition und Moderne veranlasst uns zur Frage: Welcher Teil der Ethik geht wegen der historisch-kulturellen Bestimmtheit mit der Zeit unter, und welcher wird als die überzeitliche bzw. allgemein menschliche beibehalten. Was verändert sich überhaupt in der Ethik mit der Zeit, und was von ihr bleibt unverändert? Ein amüsantes Stück des japanischen Solo-Kabaretts („rakugo“), das in Japan schon lange tradiert wird und heute noch populär ist, gibt uns einen Einblick in diese Frage. Das Stück wird betitelt: Alle drei Seiten erleiden den Verlust eines Ryô (hundert Euro). Das Solo-Kabarett „Alle drei Seiten erleiden den Verlust eines Ryô“ 311 2. Die Handlung des Stücks ist wie folgt: Der Bewohner einer Mietskaserne Hachikô fand auf der Straße ein Portemonnaie, in dem drei Ryô enthalten waren. Ein Pfandschein war auch darin, dem zu entnehmen war, dass der Besitzer des Portemonnaies ein anderer Bewohner derselben Mietskaserne, Kumakô, war. Dieser hatte offenbar einige Dinge verpfändet, um sich den für ihn sehr hohen Betrag zu leihen. Die Namen Hachikô und Kumakô klingen auch für japanische Ohren belustigend. „Hachi“ meint die Zahl Acht, und wird in kinderreichen Familien oft dem Vornamen des achtgeborenen Kindes hinzugefügt. Die Endung „kô“ war ursprünglich die verehrende Bezeichnung für einen Adligen, später aber die halb spottende Bezeichnung für einen „Kerl“. Hachikô bedeutet also: „der hochwürdige Achtgeborene“. „Kuma-kô“ bedeutet „der hochwürdige Bär“, da das Wort „Kuma“ Bär bedeutet. Sowohl Hachikô wie auch Kumakô sind sogenannte „Edo-Kerle“ bzw. „Edoiter“, etwa wie man die Menschen in Berlin oder München die „Berliner“ oder „Münchner“, nennt. Das sind die Menschen mit dem typischen Temperament der Edo-Periode in Japan. Dieses Temperament wird oft ästhetisch idealisiert, als „Edo-Kerl-Temperament“. Ihr Charakterzug liegt darin, bei nichts lange hängenzubleiben, etwa wie die Blütenblätter, die innerhalb einer Woche, bei einem starken Sturmwind sogar in einer Nacht, gänzlich abfallen können, ohne dass auch nur ein Blütenblatt an den Zweigen hängen bleibt. Die Menschen mit dem Temperament der Edo-Kerle sind offen, aufrecht und stolz, obwohl manchmal leichtsinnig. Sie streiten oft und gerne, weil Ihnen das geduldige Nachdenken nicht gefällt. Edo-Kerle mögen Feuer und Streit. Wenn aber der Streit beendet wird, hegen die Leute danach keinen Groll, wie wenn ein Taifun vorbeigeht und danach nur der wolkenfreie blaue Himmel zu sehen ist. Hachikô begriff bei seinem Fund gleich, warum sein Kasernen-Kamerad Kumakô in diesen Tagen merkwürdig aussah. Kumakô schien ihm irgendetwas zu verheimlichen, obwohl er eigentlich mit ihm ganz eng verbunden war. Hachikô erinnerte sich daran, dass Kumakô vor einigen Tagen in einem Hasardspiel alles verloren hatte und verstand sofort, dass dieser nun versuchen wollte, wieder ein Spiel zu machen, um seinen Verlust zu decken. Das Hasardspiel war die einzige, schlechte Gewohnheit des sonst wunderbaren Kerls Kumakô. Hachikô sah ein, dass Kumakô mit drei Ryô weiter wetten wollte. Wenn er aber dieses Geld nicht hatte, und weiterhin im Spiel verlor, musste er ein Habenichts werden. So ging Hachikô zu einem Spielhaus, wo Kumakô, wie er erwartet hatte, bereits mitten im Spiel war. Als Hachikô die drei Ryô an Kumakô zurückgeben wollte, empfand Kumakô es als Schande, erstens diese Gelder fallen gelassen zu haben, und zweitens diese ihm einmal abhanden gekommenen Gelder wieder zurückzunehmen, als hinge er noch an ihnen, was vollkommen gegen seine Ästhetik ging. In der Tat sagt man oft: Ein stolzer Edo-Kerl gibt beim Trinken in einer Ryosuke Ohashi 312 Kneipe alles Geld aus, das er hat, sodass in der Früh kein einziger Cent mehr im Portemonnaie übrig bleibt. Wie konnte Kumakô, der typische Edo-Kerl, die Schande ertragen, die von Hachikô gefundenen drei Ryô wieder zurückzunehmen? Hachikô behauptete freilich, er sei auch ein Edo-Kerl. Wie konnte er wiederum die Schande ertragen, sich das auf der Straße gefundenen Geld, die jemand anderem gehören, zu eigen zu machen? Der Besitzer des Geldes war Kumakô, der es zurückbekommen sollte. Kumakô aber erwiderte Hachikô: „Du bist aber jetzt der Besitzer, da Du das Geld gefunden hast.“ Der Streit konnte trotz der Vermittlung des Hausmeisters der Mietskaserne nicht ausgesöhnt werden, sodass der Hausmeister die beiden zum Richter Ooka-Echizennokami begleitete. Ooka war ein Richter des 18. Jahrhunderts, der dank seiner gerechten und weisen Urteilssprüche sehr populär wurde. Der Ausdruck „Ookas Urteilsspruch“ gilt sogar heute noch als Bezeichnung für ein gerechtes und weises Urteil bei einem sehr schweren Streitfall. Ooka fällte für den Streit zwischen Hachikô und Kumakô das folgende Urteil: Hachikô soll wegen seiner Redlichkeit gelobt werden und Kumakô ebenfalls wegen seines offenherzigen Charakterzugs. Ooka legte ein Ryô aus, um dieses den gefundenen drei Ryô hinzufügen. Die Summe war somit vier Ryô. Ooka gab Hachikô und Kumakô je zwei Ryô zum Lob ihrer Tugend. Der Hausmeister fragte Ooka, was der Sinn dieses Urteils sei. Ooka sagte: „Kumakô hat drei Ryô verloren, aber zwei Ryô zurückbekommen. Hachikô hat drei Ryô gefunden, aber zwei Ryô erhalten. Ich habe einen Ryô für die beiden ausgegeben. Alle drei Seiten haben den Verlust eines Ryô erlitten.“ 3. Das Stück „Alle Seiten erleiden den Verlust eines Ryô“ ist nicht in den Geschichten von Ooka, dem in der Edo-Zeit entstandenen Non-fiction-Roman, enthalten. Offensichtlich handelt es sich bei diesem Stück nicht um eine historische Geschichte, sondern um den Mythos, die Legende, die um den Richter Ooka entstand. Aber auch der genannte Non-fiction-Roman ist kein historisches Dokument, sondern schildert die von vielen Autoren zusammengefassten Erzählungen des legendären Richters Ooka. Gerade darin aber, dass Ooka auf diese Weise noch populärer geworden ist, sieht man, dass das Volk in der Edo- Zeit in den Richteraussprüchen Ookas die ethischen Ideale fand. Dann ist das Stück „Alle drei Seiten erleiden den Verlust eines Ryô“ im Hinblick auf das damalige Sozialsystem und die damalige ethisch-moralische Vorstellung zu interpretieren. Ich möchte für diese Interpretation drei Hinsichten angeben: 1. Die damalige Beschaffenheit der Öffentlichkeit; 2. Das repräsentative sittliche Bewusstsein von Hachikô und Kumakô; und 3. Die Ästhetik der Edo-Zeit. Das Solo-Kabarett „Alle drei Seiten erleiden den Verlust eines Ryô“ 313 3.1. Die Öffentlichkeit in der Edo-Zeit In Europa entstand die „bürgerliche Öffentlichkeit“ erst in der Neuzeit, so schreibt Habermas in seinem Buch Strukturwandel der Öffentlichkeit 1 , während zuvor, in der feudalistisch-mittelalterlichen Zeit, nur die „repräsentative Öffentlichkeit“ herrschte. Erstere kann nicht existieren ohne das kritische „Leserpublikum“, das durch die Publikationen der Presse und weitere Drucksachen gebildet wird, die es aber im feudalistischen Mittelalter nicht gab. Belege hierfür findet Habermas allerdings nur in der Entwicklungsgeschichte der Gesellschaft in Europa. Das Schema dieser Entwicklungsgeschichte gilt jedoch nicht für Japan, in dem das „Leserpublikum“ schon in der feudalistischen Edo- Zeit gebildet worden war. Der Historiker Tatsusaburô Hayashiya weist darauf hin, dass in der feudalistischen Gesellschaft in der Neuzeit Japans die Aufklärung durch Verlagsbuchhandel vorangetrieben wurde. 2 Es gibt keinen Verlagsbuchhandel ohne das Leserpublikum. Die Edo-Zeit war im Hinblick auf das politische System feudal, aber im Hinblick auf die Öffentlichkeitsstruktur eher modern. Auch bereits die Publikation des Non-fiction-Romans Die Geschichten von Ooka setzte das Leserpublikum der Presse voraus. Tradition und Moderne standen nebeneinander. Die Tatsache, dass der Richter Ooka vermittels dieses Leserpublikums populär wurde, deutet an, dass das Volk mit dem damaligen Gerichtssystem nicht zufrieden war, wobei die Popularität Ookas den latenten Ausdruck der Kritik des Volks am damaligen Gerichtssystem zu erkennen gibt. In der Tat ist festgestellt worden, dass sich das Gerichtsurteil damals nicht wie heute auf objektive Beweise, sondern meistens auf die Aussagen der Verdächtigen stützte, die oft durch harte Behandlung und Folter zum Geständnis gebracht wurden. Der Richter, dessen Amtsname „Bugyô“ lautete, wurde erst auf der allerletzten Stufe der Untersuchung hinzugezogen und zuvor hatten meist schon die hierarchisch geordneten Beamten wie „Yoriki“, „Dôshin“, „Meakashi“, „Okappiki“ dem jeweiligen Stand entsprechend die Verdächtigen eines Verbrechens recht subjektiv untersucht. Der Richter Ooka wurde deshalb vom Volk geliebt und idealisiert, weil er sein Urteil so weit wie möglich objektiv auf Grund der Beweise, somit in gerechter Weise fällte. Sein Ansehen war nicht ohne Grund. Er, der am Anfang Richter in einem Bezirk in Edo war, kam in seiner Karriere wegen seiner Leistung immer weiter vorwärts, und machte viele Reformen, um am Ende zum Daimyô, das heißt zum Fürsten, befördert zu werden. Dieses große Vorwärtskommen war im Rahmen des feudalistischen Sozialsystems, in dem der soziale Stand in der Regel festgesetzt war, die große Ausnahme. Zur Gerechtigkeit Ookas in der feudalistischen Neuzeit Japans sei eine andere Art der Gerechtigkeit zum Vergleich heranzuziehen: Die Idee der Gerech- 1 Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit, Berlin 1990. 2 Tastusaburo Hayashiya weist in seinem Buch Machi-shu - Bildungsgeschichte der ‘Bürger’ in Kyoto, Tokyo 1964 (Taschenbuch-Ausgabe Tokyo 1990), darauf hin, dass in Japan die frühe Neuzeit bzw. das Zeitalter der Feudalgesellschaft die Epoche ist, in der das Verlagsgeschäft die Aufklärungstätigkeit gefördert hat. Ryosuke Ohashi 314 tigkeit in Platons Politeia. Der Staat in Form der Polis war der kleine Gemeinschaftsstaat der freien Bürger, der in den Augen Platons als das erweiterte Individuum galt. Deshalb betrachtete er in seiner Untersuchung die Gerechtigkeit als Tugend der einzelnen Individuen am größeren Muster, der Gerechtigkeit des Staates. Wo die Individuen und der Staat in ihrer Konstitution als identisch empfunden werden, ist kein vermittelndes, kritisches Leserpublikum nötig. Es war Sokrates, der die Polis Athen wie eine Pferdebremse stach und kritisierte. Er musste deshalb zum Tode verurteilt werden. Aber sogar dieser Gefangene verweigerte die Flucht aus dem Gefängnis, mit der Argumentation, dass auch das schlechte Gesetz als Gesetz des Staats anzuerkennen ist. Er glaubte, dass die Gerechtigkeit als idéa existiert, die erst nach dem Tod für die Seelenaugen sichtbar wird. So nahm er dem ihm gegenüber ungerechten, aber dennoch im Grunde gerechten Staatsgesetz folgend das Gift. Athen brauchte kein kritisches Publikum, und dies heißt, dass es dort keine bürgerliche Öffentlichkeit gab. Diese entstand erst in der europäischen Neuzeit, nach der Auflösung der Feudalsysteme. Aber in der feudalistischen Edo-Zeit in Japan existierte sie bereits, weil das alte Feudalistische und die neue, moderne Idee der Gerechtigkeit einander nicht ausschlossen, sondern nebeneinander existieren konnten. Der gerechte Richter Ooka konnte modern sein, ohne sein Amt im feudalen Regime aufzugeben. Das Leserpublikum war in latenter Weise kritisch zum damaligen ungerechten Gerichtssystem eingestellt, somit modern, indem es außerhalb der offiziellen Öffentlichkeit des Ritterregimes verortet war, und in dieser Weise ein Teil des Alten blieb. 3 Um die Modernität der Gerechtigkeit Ookas zu zeigen, wäre ein anderer Vergleich nicht unnütz. Diese in der bürgerlichen Öffentlichkeit der Edo-Zeit idealisierte Gerechtigkeit könnte als eine „politische Gerechtigkeit“ bezeichnet werden, wie sie Otfried Höffe darstellt. 4 Die politische Gerechtigkeit wird von Höffe von der Gerechtigkeit unterschieden, die von oben durch die öffentliche Macht „verteilt“ wird. Sie ist je nach politischer Lage „austauschbar“. Aber die von Höffe gemeinte Gerechtigkeit ist wiederum die erst in der modernen Zeit ermöglichte, die er in der intensiven Rezeption der und Auseinandersetzung mit der Gerechtigkeitstheorie John Rawls’ als ein Prinzip der demokratischen Gesellschaft erwies. Dass die politische Gerechtigkeit schon in der spätfeudalistischen Gesellschaft in Japan möglich war, wäre nach der Theorie Höffes nicht leicht verständlich. Dies war in Japan nur deshalb möglich, da eine gewisse Modernität schon im feudalistischen Sozialsystem vorhanden war, und das Alte und das Neue nebeneinander bestehen konnten. In Europa konnte 3 Das Bürgertum in der Edo-Zeit konnte als Träger dieser Ethik innerhalb des feudalistischen Sozialsystems durch verschiedene Institutionen wie der Feuerwehr, der Bekämpfung von Verbrechen, der Erziehung usw. den Charakter einer gewissen Öffentlichkeit herausbilden. Zwar war es institutionell nicht möglich, in dieser bürgerlichen Öffentlichkeit ausdrücklich und offen Kritik an der offiziellen Öffentlichkeit des Ritterregimes zu üben. Aber eine latente Kritik konnte doch geäußert werden, wie wir gesehen haben. 4 Vgl. Otfreid Höffe: Politische Gerechtigkeit. Grundlegung einer kritischen Philosophie von Recht und Staat, 4. Auflage, Berlin 2003. Das Solo-Kabarett „Alle drei Seiten erleiden den Verlust eines Ryô“ 315 demgegenüber die feudalistisch-repräsentative und die bürgerlich-moderne Öffentlichkeit chronologisch nur aufeinander folgen und nicht nebeneinander bestehen. 3.2. Das sittliche Bewusstsein von Hachikô und Kumakô Die Gerechtigkeit ist die Gesinnung, die sowohl die Seite der öffentlichen Macht wie auch die des Volks teilt. Die Instanz für diese Gerechtigkeit wird zunächst von der Seite des Stärkeren bestimmt . Aber ohne das Gefühl der Ungerechtigkeit auf der Seite des Schwächeren kommt keine Rede von der Gerechtigkeit zustande. Die logische Argumentation von der Gerechtigkeit und das Gefühl der Ungerechtigkeit bilden zwei Seiten ein und desselben Problems. Anders gesagt: Die Frage der Gerechtigkeit bedarf nicht nur der rechtsphilosophischen Überlegung, sondern einer gewissen Sinneslehre bezüglich des ethischen Gefühls und des Temperamentes. Als Ooka die moralische Haltung der gut gesinnten Bürger Hachikô und Kumakô lobte, war es zunächst die konfuzianische Tugend, die Ooka im Auge hatte. Es gibt darin fünf repräsentative Tugenden: Humanität, Verbindlichkeit, Sitte, Intelligenz, Vertrauen. Diese ursprünglich konfuzianischen Tugenden sollten der sozialen Ordnung des feudalistischen Sozialsystems entsprechen. Nun liegt der Kernpunkt des Urteilsspruchs von Ooka darin, dass alle drei Seiten einschließlich der Seite der öffentlichen Macht den „Verlust“ eines Ryô erleiden. Dieser Gedanke des glücklichen Verlustes ist nicht konfuzianisch, sondern eher buddhistisch. Es gilt, die Gesinnung des gerechten Verlustes von einem Ryô in Betracht zu ziehen. Um den Schluss vorwegzunehmen, gibt es drei ästhetische Elemente, aus denen die genannte Gesinnung besteht. Diese drei Elemente wurden einst vom japanischen Philosophen Shûzô Kuki (1888-1941) aufgezählt, als dieser im Gespräch mit Martin Heidegger seinen Gedanken über „iki“ als ästhetische Phänomene im neuzeitlichen Japan erörterte. Die Übersetzung des Wortes „iki“ in die europäischen Sprachen war zwar für Kuki selbst schwierig, aber gerade deshalb versuchte Kuki, hermeneutisch und phänomenologisch zu den Phänomenen des „iki“ zu kommen, und zwar ausgehend von den drei leichter zugänglichen Gesinnungselementen: Die elegant-erotische Haltung zwischen den zwei Geschlechtern, der Stolz, und die Bereitschaft zur Entsagung. Kuki wollte diese drei Elemente nicht nur in den Haltungen, Gebärden und Redensarten der Menschen, sondern im übertragenen Sinne auch im Design, in den Wohnungseinrichtungen, im Muster der Kleider usw. finden. Dass Kumakô nicht an den verloren gegangenen Geldern hängenbleiben will, ist der Ausdruck für die Bereitschaft zur Entsagung. Damit ist auch der Stolz verbunden, der bei Kumakô allerdings nicht das Gefühl des Stärkeren, sondern des Betroffenen ist. Kumakô soll weiterhin als ein typischer Edo-Kerl die „iki“-Tugenden spontan so zeigen, dass seine Haltung, wenn diese auf der Theaterbühne präsentiert wird, von Frauen als männlich-anziehend empfunden wird, somit elegant-erotisch ist. Er will erneut im Hasardspiel sein Vermögen Ryosuke Ohashi 316 aufs Spiel setzen und dieses unter Umständen wie Kirschblütenblätter verlieren. Dies ist dennoch nicht als eine dekadente Ästhetik anzusehen, weil Kumakô sonst ein gutgesinnter Bürger ist, der fleißig arbeitet. Es gibt einige Kabuki- Theaterstücke, in denen solche Personen dargestellt werden. 5 Hachikô andererseits will auch im Stil des „iki“ leben. Er ist stolz genug, um auf die gefundenen Gelder zu verzichten und diesen zu entsagen. Er ist weiterhin bereit, seinem Freund Kumakô von Herzen Ratschläge zu geben und sogar mit diesem zu streiten, um diesen vom Spiel abzubringen. Seine männliche Freundschaft wird auch in der Weise des Kabuki-Theaters ästhetisch stilisiert, und ist in diesem Sinne elegant-erotisch. Der Richter Ooka muss ebenfalls vom ästhetischen Stil des „iki“ geprägt sein, wenn er mit dem Stolz des gerechten Richters jedem Profit seines Berufs entsagt und, mehr noch, einen Verlust gerne erleidet, was mit einem eleganten Raffinement durchgeführt wird. Man kann wiederum einige Kabuki-Stücke angeben, in denen Ooka selbst, aber auch andere ähnliche Figuren thematisiert werden. 6 Unter den drei Elementen: das Erotische, der Stolz und die Entsagung, ist das dritte im Fall unseres Solo-Kabarett-Stücks vorwiegend. Das japanische Wort für die Entsagung, „akirame“, kommt vom Verb „akirameru“, klar einsehen. Die Entsagung im Sinne des klaren Einsehens ist die buddhistische Grundhaltung, wie Kuki auch sagt. Weder Hachikô noch Kumakô sind sich der tiefsinnigen buddhistischen Weisheit bewusst. Aber das öffentliche Moralbewusstsein ist meistens so beschaffen, dass es zwar irgendwo tief in der Geistestradition des Volks seine Wurzel hat, aber diese Wurzel zunächst und zumeist im öffentlichen Bewusstsein verdeckt bleibt, obwohl sie durch Generationen hindurch gepflegt wird. Dieses Alte existiert mit dem gegenwärtigen Temperament des Edo-Kerls parallel. Die Idee der Gerechtigkeit des allseitigen Verlustes eines Ryô stützt sich auf diese buddhistisch geprägte, konfuzianistisch gebildete, und in der bürgerlichen Öffentlichkeit vermittels des Leserpublikums zum Ausdruck gebrachte Ästhetik der Edo-Zeit. 5 Ein typisches Beispiel für ein Kabuki-Stück wäre „Sukeroku yukari Edo-zakura“ (Der bildschöne Mann Sukeroku und die Kirschblüte). Gemäß den Kabuki-Stücken verkörpert Sukeroku die Eigenschaften der „Entsagung“ und des „Stolzes“ in verfeinerter Weise. Sukeroku repräsentiert sowohl den männlichen Erotizismus, den sich das einfache Volk in Gestalt von Edo vorstellt, als auch die weiblliche erotische Anmut. Sukeroku, der Geliebte der Kurtisane Agemaki, ist ein starker und freigebiger Händler und er sorgt mit aller Kraft dafür, dass die Übeltat des reichen Kunden Agemakis ans Licht kommt. 6 Ein Kabuki-Stück, in dem eine ähnliche Figur wie Ooka auftritt, ist „Kanjinchô“ („Die Werbung für die Spende“): Der Grenzwächter Togashi setzt sich mit dem starken Mönch Benkei auseinander. Togashi gestattet Benkei, der sich bemüht, seinen jungen Herrn zu schützen, die Grenze zu überqueren, obwohl Togashi erkennt, dass Benkei ihn betrügt. Er täuscht dabei vor, Benkei nicht zu kennen. Darin wird die ethisch-ästhetische Perspektive Togashis deutlich, die mit der Loyalität, der Treue und dem Mut von Benkei im Einklang steht. Das Solo-Kabarett „Alle drei Seiten erleiden den Verlust eines Ryô“ 317 3.3. Die Ästhetik der Edo-Zeit Eine vorläufige Schlussüberlegung ist noch hinzuzufügen. Ist diese Ästhetik der Edo-Zeit vergangen oder ist sie im heutigen Japan als ein Fall des Nebeneinanderseins von Tradition und Moderne irgendwie noch gegenwärtig? Diese Frage kann verallgemeinert werden zu der Formulierung, ob und, wenn ja, welcher Teil der Ethik und Ästhetik in der Vergangenheit mit der Zeit vergeht, und welcher Teil als lebendige Tradition erhalten bleibt. Zumindest war Kuki selbst, der die „iki“-Phänomene thematisierte, nicht davon überzeugt, dass die „iki“-Phänomene in der Edo-Zeit zwar gerade noch bis zu seiner Zeit überliefert worden waren, aber doch in Zukunft weiter tradiert werden würden. Seine Motivation für die Verfassung seines renommierten Buchs Die Struktur des „iki“ war das Bedenken, dass diese Phänomene in Japan eines Tages verschwinden und in Vergessenheit geraten würden. Sein Wunsch war es, diese Phänomene zumindest für das Gedächtnis seines Volks aufzubewahren. Sein Wunsch wird heute teilweise erfüllt, weil sein Buch als Longseller bis heute gelesen wird, was aber zugleich bedeutet, dass sein Bedenken Realität geworden ist. Allerdings kann man hierin ein Paradox sehen: Die „iki“-Ästhetik ist verloren gegangen, aber das Leserpublikum des Buchs von Kuki äußert die Kritik an dieser heutigen Tendenz, indem es das Buch akzeptiert und insofern es die Existenz der „iki“-Phänomene noch im Auge behält. Soll man dann mit Kant sagen, dass die „iki“-Ästhetik wie die kategorischen Imperative 7 nur insofern kategorisch, und somit allgemein-gültig, sein kann, als sie formal bleibt und nicht auf den Inhalt der moralischen Urteile bezogen wird? Inzwischen hat sich so vieles in Ethik und Sitte und Lebensstil verändert, dass die „iki“-Phänomene kaum mehr Platz zu finden scheinen. Eines ist aber dennoch zu bedenken: Angenommen, dass alle „iki“- Phänomene verloren gehen. Wie steht es aber um den Gedanken von „Verlust“, den die drei Menschen, Ooka, Hachikô und Kumakô, in der konkreten Form des Verlusts eines Ryô erleiden? Wäre der „Verlust“ nicht als Grundelement der „Gerechtigkeit“ überhaupt erlitten? Es ist zwar klar, dass die Ellbogengesellschaft auch in Japan zum Standard geworden ist. Aber damit muss noch nicht gesagt sein, dass die Menschen die Idee des „Verlustes“ völlig vergessen haben, auch wenn sie nichts mehr von der „iki“-Ästhetik verstehen. 7 Die Universalisierungsformel des kategorischen Imperativs lautet: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ (GMS, S. 45). Als Selbstzweckformel des kategorischen Imperativs kann hier geltend gemacht werden: „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“ (GMS, S. 54 f.). Die Naturgesetzformel des kategorischen Imperativs lautet: „Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetze werden sollte.“ Die Reich-der-Zwecke-Formel passt gut zu diesem zehnten Bild: „Demnach muß ein jedes vernünftiges Wesen so handeln, als ob es durch seine Maxime jederzeit ein gesetzgebendes Glied im allgemeinen Reich der Zwecke wäre.“ (GMS, S. 66) Ryosuke Ohashi 318 Wenn große Katastrophen, wie ein Tsunami oder ein Atommeiler-Unfall, passieren, gehen viele Menschen auf eigene Kosten und auf Kosten ihrer Alltagszeit als Freiwillige zu dem betroffenen Ort. Die beiden Seiten, die Freiwilligen und die von der Katastrophe betroffenen Menschen, erleiden je einen Verlust. Ich möchte eine These zu formulieren wagen: Jede Gerechtigkeit setzt irgendeinen Verlust voraus. Eine Verhandlung endet mit dem Ergebnis, dass jede der betroffenen Seiten irgendeinen Verlust bringt, den sie akzeptieren muss. Wer keinerlei Verlust in der Verhandlung oder im Streit duldet, für den gibt es nur eine Form der Lösung: die totale Vereinigung der Gegensätze zugunsten der einen Seite. Diese totale Vereinigung ist allerdings keiner der Seiten „gerecht“. Wolfgang Welsch hat insofern Recht, als er behauptet, dass die „Gerechtigkeit“ an die Stelle der „Vereinigung“ treten soll. 8 Allerdings ist weiter zu fragen, ob der Verlust bei der Gerechtigkeit wie die Kantischen Imperative nur formal oder je und je konkret ist. In der im Abendland seit der griechischen Antike tradierten Ontologie der Perfektion, und auch in der von dieser Ontologie im Grunde bestimmten Anthropologie wäre der durchaus negativ klingende „Verlust“ schwer zu lokalisieren. Gefühle wie Mitleid, Schmerz, Pein oder die Tat, die zum Selbstopfer führt, werden meist mit der Idee des Verlustes verbunden. Sie sind alle negativ. Aber im Solo-Kabarett „Alle drei Seiten erleiden den Verlust eines Ryô“ ist der „Verlust“ ästhetisch. Die mit ihm verbundene Zufriedenheit ist nicht euphorisch, sondern ästhetisch-produktiv, so dass er sogar zum Theaterstück werden kann. Die durch diesen Verlust verwirklichte Gerechtigkeit ist als ästhetische Gerechtigkeit zu bezeichnen, die von der politischen Gerechtigkeit oder der Gerechtigkeit der öffentlichen Macht, aber auch von der Gerechtigkeit als dem demokratischen Prinzip zu differenzieren ist. Hinter dieser ästhetischen Gerechtigkeit liegt die buddhistische Weltanschauung, in der das Äußerste des Verlustes, die „Leere“, den Umschlag zur „Fülle“ bringt. Die „ästhetische Gerechtigkeit des Verlustes“ ist ein Beispiel für das Nebeneinandersein von Tradition und Moderne, wie es in Japan, wenn auch nicht immer und überall, noch zu finden ist. Sie könnte weiterhin als ein Modell für die Gerechtigkeit in den Wertekonflikten in der globalisierten Welt betrachtet werden. 8 Wolfgang Welsch: Vernunft. Die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der transversalen Vernunft, Frankfurt a. M. 1995, 2007 4 , S. 698-715. Niels Weidtmann Was heißt Philosophieren? oder: Über Freundschaft „Was das ist - die Philosophie, lernen wir nur kennen und wissen, wenn wir erfahren, wie, auf welche Weise die Philosophie ist.“ 1 Mit diesem Satz schließt Heidegger unmittelbar an die Phänomenologie an und hebt die Frage nach der Philosophie aus dem Bereich bloßen Wissens hinaus auf eine Erfahrungs- und Sinnebene. Denn als was sich uns etwas zeigt, hängt daran, wie es sich zeigt, und die Weise, wie es sich zeigt - die „Gegebenheitsweise“ (Husserl) - konstituiert den Sinn dessen, was sich uns zeigt. Das Wie des sich Zeigens der Philosophie ist ihr Sprechen. Die Philosophie zeigt sich als das, was sie ist, dadurch, dass sie spricht; das aber bedeutet, dass sie sich selber ausspricht - und eben darin liegt ihr Sinn. Die Selbstaussage ist der Sinn der Philosophie; zugleich ist die Philosophie das Sagen des Sinnes. Das heißt, die Philosophie ist das Sagen der Selbstaussage. Und zwar grundsätzlich; überall, wo etwas in der Selbstaussage seines Sinnes erfahren wird, begegnen wir ihm philosophisch. Wollen wir verstehen, was das ist - die Philosophie, dann müssen wir eine solche Selbstaussage von Sinn hören („erfahren“) lernen. Das aber heißt, wir müssen uns vom Seienden angehen und betreffen lassen, wir müssen uns von ihm etwas, nämlich seinen Sinn, sagen lassen. Das Seiende kann uns aber nur betreffen, wenn es uns tatsächlich etwas angeht, und es kann uns nur etwas angehen, wenn es uns betrifft; kurz, wir können das Sagen von Sinn nur vernehmen, wenn wir selber an ihm teilhaben. Wir haben an ihm teil, wenn wir ihn erfahren, d. h. wenn wir philosophieren. „Was das ist - die Philosophie, lernen wir nur kennen und wissen“, wenn wir philosophieren. Das ist ein Zirkel. Alles hängt daran, in diesen Zirkel hineinzukommen. Nur dann sprechen wir nicht von außen über das Seiende, sondern lassen es selber zu Wort kommen. Die Philosophie macht damit auf die Hermetik alles Seienden aufmerksam. Das aber heißt nichts anderes, als dass Philosophieren eine Frage des Geistes ist. Nicht des Intellekts, sondern des Geistes. Das Seiende atmet einen eigenen Geist, an dem man teilhaben muss, will man den Sinn des Seienden verstehen - und eben diese Teilhabe am Geist des Seienden heißt philosophieren. Der Zirkel, dem wir in der Frage nach der Philosophie begegnen, bedeutet gerade nicht, dass sich die Philosophie nach außen hin verschließt, sondern dass sie das bloße Außen auf ein unendliches Innen hin zu öffnen vermag, von dem her noch das Außen seinen eigenen Sinn erfährt, - wenn man nur zu philosophieren beginnt. Das Innere unterscheidet sich freilich nur von außen ge- 1 Martin Heidegger: Was ist das - die Philosophie? , Stuttgart 1956, S. 29. Niels Weidtmann 320 sehen vom Äußeren; und das auch nur, weil es von außen her nicht in seiner Innerlichkeit gesehen, sondern als ein vom Äußeren Unterschiedenes - und damit letztlich als ein anderes Äußeres - verstanden wird. Die Unterscheidung von Innen und Außen ist deshalb auch nur von außen her gesehen eine Frage sachlicher Unterscheidungen, von innen her gesehen aber eine Frage der Dimension. Dem Außen erscheint alles äußerlich, gleichsam hohl und damit nichtig; von innen her dagegen erschließt sich alles in seinem eigenen Sinn, und das gerade deswegen, weil es in seiner Innerlichkeit, seinem In-sein erfahren wird. In-sein meint nicht in anderem oder in sich selbst sein, so als ob das Innen eine bloße Verschachtelung von Äußerem wäre, sondern es meint wesentlich Drinsein im Sinne von Inter-esse, Zwischen-sein. Ein solches Zwischen-sein bedeutet Teilhabe. Das Innere unterscheidet sich vom Äußeren durch das Moment der Teilhabe, die ihm seinen eigenen Sinn verleiht. Teilhabe woran? Am eigenen Sein, an der eigenen Wirklichkeit. Philosophierend zeigen sich uns die Sachen als an ihrem eigenen Sein teilhabend. Sie geraten in Bewegung und werden zum Ereignis ihres eigenen Seins. Jede einzelne Erfahrung atmet den Geist der Sache im Ganzen und nur, wo dieser Geist erfahren wird, vermögen wir auch den Sinn der Sache zu verstehen. Philosophieren heißt demnach, einen Innenblick zu bekommen, hineinzukommen in das Ereignis der Wirklichkeit. Deshalb kann Heidegger sagen, dass es darauf ankommt zu „erfahren, wie, auf welche Weise die Philosophie ist“. Die Philosophie handelt eben nicht von bestimmten Themen, sie untersucht keine abgesteckten Wirklichkeitsbereiche, ja sie untersucht gar nichts; auch handelt die Philosophie nicht eigentlich von den letzten Fragen, vom Tod, von der Existenz oder vom Sein. Nicht was die Philosophie ist oder tut, macht sie aus, sondern die Weise, wie sie dies tut und wie sie selbst Philosophie ist, bestimmt ihr eigenes Wesen. Dieses Wie liegt, wie wir gesehen haben, in der Selbstaussage. Dort, wo wir auf die Selbstaussage einer Sache achten, philosophieren wir. Auf die Selbstaussage einer Sache achten wir dann, wenn wir an ihr und ihrer Wirklichkeit teilhaben. Die Weise, wie die Philosophie philosophiert, zeigt sich uns nun also als Teilhabe am Sinngeschehen des Seienden oder, in Heideggers Worten, als das „Entsprechen zum Sein des Seienden“ 2 . Teilhabe aber ist nur möglich, wenn es gelingt, den Außenin einen Innenblick zu verwandeln, wenn es gelingt, in das Sinngeschehen so hineinzukommen, dass es uns selber erfasst. Teilhabe kann nicht erzwungen werden, sie muss geschenkt werden; und das vor allem deswegen, weil sie uns selbst nicht unberührt lässt, sondern im Ganzen verwandelt. Die periagogé tes psychés, von der Platon spricht, meint eine solche Verwandlung. Es reicht nicht aus, den Blick zu heben und vom Besonderen abzusehen, um das Allgemeine sehen zu lernen. Der Seinssinn steht nicht über den Dingen, sondern er ereignet sich mitten in ihnen. Also müssen auch wir uns hineinbegeben in die Wirklichkeit, um am Sich-Ereignen des Seins teilzuhaben. Aber, so fragt Heidegger, stehen wir nicht immer schon in der Wirklichkeit? Ja und nein. Von innen her gesehen ja, weil 2 Ebd., S. 23. Was heißt Philosophieren? 321 sich der Außenblick von innen her als dimensionale Verfehlung der Wirklichkeit darstellt. Von außen her gesehen aber haben wir nicht mehr als bestenfalls eine vage Ahnung davon, was Innenblick meint. „Die Entsprechung zum Sein des Seienden bleibt zwar stets unser Aufenthalt. Doch nur zuzeiten wird sie zu einem von uns eigens übernommenen und sich entfaltenden Verhalten.“ 3 Der Dimensionensprung, der für die Wendung des Blicks von außen nach innen - und damit für die Übernahme der „Entsprechung zum Sein“ - gefordert ist, stellt den Weg in die Philosophie dar. Einen solchen Weg beschreibt Parmenides im Proömium seines Lehrgedichtes. Es handelt sich um eine Auffahrt, die uns nicht woanders hin, sondern in erster Linie höher führt. Diese Auffahrt können wir nicht selber leisten, sondern müssen auf einem Wagen von Rössern gezogen und von Heliadenmädchen geführt werden. Freilich verlangt die Auffahrt auch etwas von uns, nämlich Mut; den Mut, uns auf ein unverfügbares Geschehen einzulassen, uns verwandeln zu lassen. Gelingt die Fahrt, so beschleunigt sie sich; sie kommt selber in Fahrt. Am Tor des Lichts angelangt, entscheidet Dike darüber, ob wir zu solch einer Verwandlung tatsächlich bereit sind und die Schwelle übertreten dürfen. Dann eröffnet sie uns den Weg der Wahrheit: „Sein ist, ein Nichts dagegen ist nicht.“ 4 Das ist die Wahrheit, die sich dem Innenblick eröffnet. Sie sagt das Sein aus. Sie sagt aber nicht etwas über das Sein aus, sie ordnet ihm kein Prädikat zu. Vielmehr nimmt sie das Sein in die Selbstaussage seines Sinnes zurück und öffnet es dadurch für die Teilhabe. Nun kommt alles darauf an, diese Wahrheit nicht festhalten zu wollen, sondern sie tatsächlich als Weg zu verstehen. Die Wahrheit liegt nicht im Sein, sondern in der Teilhabe an der Selbstaussage seines Sinnes. Der Weg ist darum nicht einfach ein Weg zur Wahrheit, sondern zugleich der Aufgang der Wahrheit selbst. Wie aber können wir an der Selbstaussage des Sinnes von Sein teilhaben? Doch wohl nur dadurch, dass wir mit ihm ins Gespräch kommen. Philosophieren meint dann in ein Gespräch zu kommen - und zwar so, dass sich darin der Sinn dessen, worum es im Gespräch geht, selber ausspricht. Jenseits einer solchen Selbstaussage bleibt uns jeglicher Sinn verschlossen. Ein Gespräch, in dem sich der Sinn dessen, worum es im Gespräch geht, selber ausspricht, kann man nicht führen. Von einem solchen Gespräch muss man sich führen lassen, ja mehr noch, mitnehmen, mitreißen lassen, meint solches Gespräch doch die Teilhabe an der Selbstaussage des Sinns. Wir sprechen deshalb ganz richtig davon, dass wir ins Gespräch kommen müssen. Wir müssen hineinkommen ins Gespräch, das Gespräch hat eine eigene Verlaufsform, die wesentlich darin besteht, dass es erst nach und nach zum Gespräch wird - dadurch, dass die Gesprächsteilnehmer die Führung mehr und mehr an das Gespräch abgeben. Die Führung an das Gespräch abgeben können die Gesprächsteilnehmer aber nur dann, wenn ihnen das, was sie zum Gespräch bei- 3 Ebd., S. 22. 4 DK 26 B6, Übers. v. Hermann Diels u. Walter Kranz: Die Fragmente der Vorsokratiker, 6. Auflage, Zürich 1951. Niels Weidtmann 322 tragen, vom Gespräch selber zugesprochen wird. Tatsächlich zeigt sich den Gesprächspartnern der Sinn dessen, um das es im Gespräch geht, erst im Laufe des Gesprächs, so dass sie das, was sie selber zum Gespräch beitragen, nicht schon von außen her mitbringen können, sondern es erst durch den Innenblick, d. i. die Teilhabe am Gesprächsgeschehen, gewinnen müssen. Das Gespräch ist durch das Hin und Her geprägt, das sich zwischen den Gesprächsbeiträgen und der Sache, um die es im Gespräch geht, entwickelt. Die verschiedenen Gesprächsbeiträge versuchen auf die Sache, die sich im Laufe des Gesprächs zeigt, zu antworten und damit den Sinn dieser Sache klarer hervortreten zu lassen; der deutlicher werdende Sinn wiederum lässt die Gesprächsbeiträge in neuem Licht erstrahlen und klärt sie gleichsam über sich selber auf. So ist das Gespräch nicht bloße Verständigung über eine Sache, sondern Teilhabe an einem Sinngeschehen, das von außen nicht greifbar ist. Das philosophische Gespräch führt deshalb nie zu einem Ergebnis, an dem sich festhalten und auf das sich aufbauen ließe. Es kann stattdessen ge- und misslingen. Und es muss, nein es darf immer wieder von neuem gesucht werden. Wenn wir die Überlegungen zur Philosophie als einem Gespräch auf das sokratische Denken übertragen, dann können wir die Gesprächsbeiträge vielleicht als die verschiedenen dóxai bezeichnen, die von den Gesprächspartnern ins Gespräch eingebracht werden. Die Sache, um die es im Gespräch geht, wäre demnach die Idee. Die Idee kommt erst im Laufe des Gesprächs zum Vorschein; zugleich werden die dóxai im Gespräch über ihren Status, bloße dóxai zu sein, aufgeklärt. Damit aber werden sie gerade nicht entwertet, sondern umgekehrt an die Idee rückgebunden. Die dóxai haben teil an der Idee, und das heißt nichts anderes, als dass sie selbst eben diese Idee auf ihre Weise verkörpern. Freilich nur dann, wenn die Rückbindung an die Sache des Gesprächs gelingt, d. h. wenn die dóxai so ins Gespräch eingebracht werden, dass sie sich selbst von der Idee her verstehen. Dann aber hängt die Idee so sehr an den dóxai wie umgekehrt jene an der Idee. Die Gespräche, die Sokrates in den platonischen Dialogen führt, dienen zunächst dazu, seinen Gesprächspartnern zu verdeutlichen, dass sie die Sachen noch ganz von außen sehen und sich erst auf ein Gesprächsgeschehen einlassen müssen, wenn sie einen Innenblick gewinnen wollen. Die platonischen Dialoge wollen die Dogmatik der dóxai brechen, die darin liegt zu meinen, jenseits der dóxai gebe es nichts weiter zu entdecken. In dieser Hinsicht sind sie deshalb eigentlich mehr Vorgespräche denn im oben genannten Sinn schon philosophische Gespräche. Deshalb auch müssen sie wenigstens zu Beginn von Sokrates geführt werden und übernehmen nicht selber die Führung. Im weiteren Verlauf werden freilich auch die platonischen Dialoge immer mehr zu Zwiegesprächen. Im philosophischen Gespräch kommt der Verschiedenheit der dóxai eine tragende Rolle zu. Es braucht das Zwiegespräch, um den Sinn der Sache, um die es im Gespräch geht, schärfer hervortreten zu lassen. Und das deswegen, weil dieser Sinn erst im Gespräch aufgeht und er sich jenseits des Gesprächs - und damit eben auch jenseits der tieferen Erfassung der dóxai - nicht halten lässt. Heraklit fasst den sich in einem solchen Gespräch aussprechenden Sinn Was heißt Philosophieren? 323 als xynós, als das Gemeinsame, bzw. als lógos, was Heidegger mit Versammlung übersetzt; Parmenides spricht vom Sein und Platon von der Idee. In allen Begriffen klingt an, dass das in ihnen Ausgedrückte auf den Widerstreit verschiedener dóxai angewiesen ist und sich deshalb nur im Zwiegespräch zeigt. Gemeinhin wird das so verstanden, dass das Gemeinsame solches eben nur von Verschiedenem sein kann ebenso wie die Versammlung Verschiedenes versammeln muss und die platonische Idee als Idee nur erscheinen kann, wenn sie sich in Verschiedenem zeigt. Noch das Sein wird darin vom Seienden unterschieden, dass es eines ist und die Unterscheidung des vielfältig Seienden dimensional unterfängt. Wir dürfen diese Begriffe nun aber nicht zu leicht nehmen. Sie bezeichnen kein Allgemeines, unter das sich die Vielfalt der dóxai subsumieren ließe. Vielmehr spricht sich der lógos in den dóxai aus - deshalb hängt ja alles daran, einen Innenblick zu gewinnen; er ist aber nichts jenseits dieser Selbstaussage in den dóxai. Das xynós wird als die Teilhabe der dóxai an der Wahrheit bzw. als die Teilhabe des Seienden am Sein erfahren, wobei Teilhabe eben nicht Teil sein meint. Teilhabe meint, dass das Sinngeschehen im einzelnen Moment im Ganzen präsent ist dadurch, dass es in diesem Moment als Ganzes auf dem Spiel steht. Das Einzelne ist als Moment das Ganze des Geschehens, aber nicht so, dass dieses Geschehen in ihm aufgehen würde. Andernfalls würde das Sinngeschehen auf ein einzelnes Moment zusammensurren und wäre dann kein Sinngeschehen mehr. Am Sinn teilzuhaben ist aber nur möglich, wenn der Sinn nicht irgendwo vorliegt, sondern aufgeht und sich ereignet. Die Erfahrung der Teilhabe bedeutet deshalb konkret: die Erfahrung, dass die dóxa eine wahre Ansicht ist (die Wahrheit ist in der dóxa voll und ganz getroffen, ohne dass sie sich deshalb auf die dóxa reduzieren ließe) und dass das Seiende seiend ist (seiend kann es nur sein, wenn ihm das Sein ganz zukommt, andernfalls wäre es lediglich ein bisschen seiend; und doch lässt sich auch das Sein nicht auf das einzelne Seiende reduzieren, andernfalls könnte es ihm nicht zukommen). Die Wahrheit zeigt sich in der dóxa ebenso wie sich das Sein im Seienden zeigt - wenn man sie zu sehen lernt, d. h. philosophiert. Weder die Wahrheit noch das Sein sind dabei etwas jenseits von diesem, ihrem Sich-Zeigen - nur, dass das Sich-Zeigen eben nur im und als das Aufgehen von Wahrheit und Sein möglich ist und damit immer den Charakter eines Geschehens hat, das über sich und das einzelne Moment hinausweist. Der Begriff der Idee spricht dies unmittelbar aus, das eídos ist das Zu-Sehende, das, was es im Seienden zu sehen gilt, will man dessen Sinn erfassen. Das eídos ist ununterschieden vom Seienden, es meint das Seiende so, wie es sich dem sehenden Blick enthüllt, und doch verweist es unendlich über das Seiende hinaus - genau dadurch vermag es, das Seiende zu enthüllen. Das eídos zeigt sich dabei nur dem Innenblick, darum ist die Idee mit der Zeit zum Inbegriff des Inneren geworden. Die verschiedenen dóxai lassen sich also nicht unter ein Allgemeines subsumieren, ihnen kommt auch nicht eine gemeinsame Bestimmung zu (etwa Sein oder Wahrheit) und ebenso wenig ergänzen sie sich gegenseitig wie Teile zu einem Ganzen. Wohl aber nötigen sie sich wechselseitig zu zeigen, auf welche Niels Weidtmann 324 Weise in ihnen jeweils die Wahrheit und das Sein im Ganzen getroffen sind, und das heißt auch, dass sie sich dazu nötigen zu zeigen, auf welche Weise die jeweils andere dóxa in der eigenen Gestalt bereits mitgesagt ist. Noch einmal mit Blick auf das Gespräch: Die Sache, um die es im Gespräch geht, also der Sinn dessen, worüber das Gespräch geführt wird, geht erst im - und nur als - Gespräch auf. Er schwebt nicht über den Gesprächspartnern und ihren Beiträgen, sondern führt diese tiefer in ihre Eigengestalt hinein. Der Sinn, der im Gespräch aufgeht, entfaltet sich deshalb als der je eigene Sinn der Gesprächsteilnehmer und ihrer Beiträge. Die Gesprächsteilnehmer werden keineswegs zu speziellen Fällen eines allgemeinen Sinnes. Das Hin und Her des Gesprächs zeigt sich uns damit nun doch als das Hin und Her zwischen den Gesprächspartnern. Nur, dass die Gesprächspartner nicht auf die Partikularität des jeweils anderen Beitrags antworten, sondern darauf, wie in diesem Beitrag das Ganze, um das es im Gespräch geht, gesagt und getroffen ist. Der Sinn, der im Gespräch aufgeht, offenbart nicht die Zusammengehörigkeit der verschiedenen Gesprächsteilnehmer in etwas Drittem, sondern lässt diese sich in ihrer jeeigenen vollen Wirklichkeit begegnen. Eine solche Begegnung ist von Freundschaft geprägt. Freundschaft meint das Aufmerksamwerden darauf, dass der Andere den Sinn dessen, um das es im Gespräch geht, trifft - und das heißt verwirklicht bzw. aufgehen lässt, ohne dass sich dieser Sinn deswegen auf den Beitrag des Anderen reduzieren ließe. Im Gegenteil, ein solches Aufmerksamwerden hilft, die eigene Aussage des Sinns zu klären und tiefer zu erfassen. Das freundschaftliche Gespräch nivelliert die Unterschiede zwischen den Gesprächspartnern nicht, es fasst ihre Beiträge nicht unter ein Allgemeines und es beruft sich nicht auf Ähnlichkeiten. Nietzsche schreibt gar: „Du sollst ihm [dem Freund] am Nächsten mit dem Herzen sein, wenn du ihm widerstrebst.“ 5 Aristoteles sieht die Freundschaft deshalb auch als Garant für jede Staatsordnung; sie ist wichtiger als die Gerechtigkeit, die Platon als zentral für das Funktionieren eines Staates ansieht 6 , weil sie es ermöglicht, die Wahrheit in den verschiedenen dóxai sehen zu lernen und sie so alle gelten zu lassen, ohne eine einzelne von ihnen zur Staatsräson zu erheben. 7 Freundschaft ermöglicht aber nicht nur Einigung, an erster Stelle fördert sie das Selbstseinkönnen. Sie macht für die eigene Gestaltfindung frei, weil sie statt einzuengen und die Freunde auf eine gemeinsame Gestalt hin zu verpflichten, dem Anderen mit dem unendlich positiven Vorurteil begegnet, den Sinn auf seine Weise verwirklichen zu können. Zugleich fordert sie ihn durch die eigene Sinngestalt dazu heraus, dies auch tatsächlich zu tun. Der Sinn des eigenen Selbst kann nicht einfach erkannt werden, er muss zuvor überhaupt erst aufge- 5 Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra, KSA 4, S. 71 f. 6 In den Nomoi (z. B. Lg. 695d, 701d, 862c) heißt es freilich, dass der Gesetzgeber für die freundschaftliche Verbundenheit der Bürger untereinander sorgen muss. Für diesen Hinweis danke ich Julia Pfefferkorn. 7 Arist., EN 1155 a20-30. Was heißt Philosophieren? 325 hen - und er geht auf, indem er sich zeigt und auf die Sinngestalt des Anderen antwortet. Ohne Freundschaft ist das nicht möglich. Arendt hat das ganz deutlich gesehen: Würden die Philosophen trotz ihrer notwendigen Entfremdung vom Alltagsleben der menschlichen Angelegenheiten je zu einer wahrhaftigen politischen Philosophie gelangen, müssten sie die Pluralität des Menschen, aus der die ganze Vielfalt menschlicher Angelegenheiten hervorgeht, zum Gegenstand ihres thaumazein machen. […] Sie müssten hinnehmen, und zwar nicht lediglich in resignierender Akzeptanz der menschlichen Schwäche, dass ‚es nicht gut ist, dass der Mensch allein sei‘. 8 Schöner ist das vielleicht nur noch im Lobgedicht Meister Daitos ausgedrückt, das Nishitani zitiert, um seine Interpretation des Wesens der Begegnung zu stützen. Die Begegnung, so Nishitani, reicht erst dort in ihr Wesen hinab, wo die Begegnenden selber in ihrer je-eigenen Gestalt aus dem, ja als das Ereignis der Begegnung hervorgehen. Sie sind dann un-unterschieden, weil sich in ihrer jeweiligen Gestalt das Ganze der Begegnung, und damit immer auch der jeweils Andere, ereignet. Begegnung meint immer ein solches Ereignis des Ganzen im Einzelnen. Deshalb auch findet Meister Daito das Ereignis der Begegnung auf genau dieselbe Weise in der Natur vor. Auch hier ist die Begegnung (das Gespräch) eine freundschaftliche, die den Pflanzen erst ihre Frische (den Geist) schenkt: Im Lichte der warmen Sonne taut der Schnee; es ist Frühling. Pflaumenblüten und Weidensprosse wetteifern in ihrer duftenden Frische miteinander. Anlaß zum Gedicht, das Heiter des Windes, ein unendlicher Sinn; Den zu verstehen sei nur dem erlaubt, der sich im Freien mit dem Singen abgemüht hat. 9 8 Hannah Arendt: Sokrates. Apologie der Pluralität, Berlin 2016, S. 85. 9 Keiji Nishitani: Vom Wesen der Begegnung, in Ryosuke Ohashi (Hg.): Die Philosophie der Kyoto-Schule, Freiburg 1990, S. 258-274, hier S. 270. Daniele Giulianelli Ein Streben nach Leere Ein Streben nach Leere. Nichts tun, Nur … sein. Liebe - Liebe und Leben, Himmel und Regen, Pflanzen, Häuser und Himmel. Geh‘ mit deiner Armut durch die Welt, Mit Farben im Herzen Und entflammten Sinnen. Die Anderen sind nicht böse, Sie gehen dorthin, Wo sie das Leben hinführt. Du hast viel zu lernen - von ihnen, Von der Liebe, die entsteht und vergeht, Von der Freude und der Arbeit, Von der Mühe und der Kraft - Nur so wirst auch du lieben. 1 Anmerkung: Die Verse sind eine freie Übersetzung meines 2006 für den Literaturpreis „Premio Città di La Spezia“ ausgewählten und publizierten Gedichtes Aspirazione al vuoto: „Aspirazione al vuoto... / / Non fare nulla, / / solo...Essere / / Amore...amore e vita / / Cielo e pioggia, / / le piante, i palazzi e il cielo. / / Povero va' per il mondo, / / con i colori nel cuore, / / e i sensi accesi. / / Gli altri non sono cattivi, / / vanno dove li porta la vita. / / Hai molto da imparare da loro, / / dall'amore che nasce e muore, / / dalla gioia e dal lavoro, / / l'impegno e la forza solo così amerai anche tu.“ Ana Munte Der letzte Zweifler Herr Jesus Christus, Du Sohn Gottes, erbarme dich meiner. Herr Jesus Christus, Du Sohn Gottes, erbarme dich meiner. Herr Jesus Christus, Du Sohn Gottes, erbarme dich meiner. Herr Jesus Christus, Du Sohn Gottes, erbarme dich meiner. Herr Jesus Christus, Du Sohn Gottes, erbarme dich meiner. Herr Jesus Christus, Du Sohn Gottes, erbarme dich meiner. Herr Jesus Christus, Du Sohn Gottes, erbarme dich meiner. Das geflüsterte Gebet war nicht laut genug. Sie fing an zu schreien: Herr Jesus Christus, Du Sohn Gottes, erbarme dich meiner. Sie war eine sehr gläubige Frau und diesmal konnte sie ihren Augen nicht trauen: Ein Mann saß im Zimmer und rauchte in Ruhe seine Zigarre. Ein Fremder, dessen Anwesenheit alles paralysierte. Sie lag im Bett wie gefesselt. Ab und zu lächelte der Mann; aber nur ab und zu. Herr Jesus Christus, Du Sohn Gottes, erbarme dich meiner. Sie wohnte alleine und seit einer gefühlten Ewigkeit hatte kein Mann das Zimmer mit ihr geteilt. Als die Zigarre zu Ende war, war auch der Mann verschwunden. Am nächsten Tag das Gleiche. Immer um 3 Uhr nachts wachte sie auf: Der Mann, der Geruch, das Lächeln, das ohnmächtige Gebet. Der Mann, der Geruch, die Erinnerung an ein viel zu leeres Haus, Angst und Ohnmacht. Immer um 3 Uhr nachts. Nach mehreren Tagen traf sie einen Priester. Sie beteten gemeinsam. Mehrmals. - Und dann? - Dann war der Mann weg. - Willst du sagen, dass das ein böser Geist oder ein Dämon oder was auch immer war? Alle Mädchen tauschten schräge Blicke. Es schien alles sehr deutlich: Entweder war Nina verrückt oder ihre Tante. Insbesondere von (der viel zu populären) Mara wurde sie ausgelacht. Diese eingebildete Kuh hält sich immer für so aufgeklärt. - Meine Tante war nicht verrückt. Mara, wenn du dir so sicher bist, dass der Teufel nicht existiert, dann hast du auch keine Angst vor ihm, oder? - Richtig. Das leise Gelächter und die hinter vorgehaltener Hand erzählten Witze sind die schlimmsten. - Man sagt, dass, wenn man um 12 Uhr nachts vor einem Spiegel steht und dreimal laut Satan, komm und lass uns kämpfen sagt, das Gesicht des Teufels auftaucht und die Augen rot werden. Traust du dich? - Ist das ein Witz, oder was? Natürlich, wie viel Uhr haben wir? Ana Munte 330 Es war in der Tat kurz vor 12. Alle gingen vor den Spiegel und beobachteten Maras Bewegungen genau. Mit (halb) großem Selbstbewusstsein stand Mara vor dem Spiegel. Ein klein wenig bereute sie die Entscheidung; aber es war zu spät. Satan, komm und lass uns kämpfen. Satan, komm und lass uns kämpfen. Satan, komm und lass uns kä... Ein Schrei erschütterte das Haus. Der Schrei war so laut, dass man nicht einschätzen konnte, ob man tatsächlich etwas gehört hatte oder nicht. Anfangs meinten alle, er hätte Schizophrenie oder Epilepsie. Die Diagnosen der Krankheit meines Bruders strotzten vor Sinnlosigkeit. Er war besessen, so der Pfarrer Miron. Wie viele andere Familien aus der Gegend war auch meine nicht besonders gläubig. Erst als Nicu anfing, mit komischen Stimmen in unbekannten Sprachen zu sprechen, waren in der Tat alle überzeugt davon, dass Gott existiert. Der Schluss war ziemlich einfach: Nicus Verhalten war ein lebendiger Beweis dafür, dass der Teufel existiert. Da der Teufel existiert, muss notwendigerweise auch Gott existieren, sonst wären die häufigen Besuche des Priesters und die riesigen Mengen an Weihwasser unwirksam gewesen. Aber das heilige Wasser und das Vorlesen aus dem Evangelium mussten wirken. Ich war damals sehr jung und diese Erinnerungen sind eher die Erinnerungen meiner Familie. Die Jahre sind vergangen; wir sprechen nicht mehr darüber. Als einzige Spur davon blieb die tägliche, fast mechanische Rezitation des vierundfünfzigsten Psalms meiner Mutter. Ich hatte Angst, bevor ich sprechen konnte. Jetzt, da ich sprechen kann, reichen die Worte nicht aus. Über solche Sachen darf man nicht sprechen. Wenn man über sie spricht, dann kommt er. Oder es, oder sie. Es können viele sein. Wenn du sie triffst, hör nicht zu und geh deinen Weg. Du weißt nicht, woher es kommt, was es ist und was es will. Der Fluch hat viele Formen. Ein neugeborenes Schweinchen mit zwei Köpfen oder mit einem aus dem Mund hängenden Schwanz, ein bekanntes Gesicht, das längst tot sein sollte, eine schöne Frau mit roten Haaren, ein unreiner Mönch oder eine unruhige Braut, die Trost zu suchen scheint. Man kann die Zeichen lesen. Einem wird schlecht oder der Sarg ist leer, oder Menschen werden krank. Menschen, so wie du und ich. Der Nachbar, seine Ernte war ganz schlecht. Es war ein Zeichen. Letztes Jahr, als sein Schwiegervater friedlos gestorben ist, Gott beschütze seine Seele! Wenn es als Mensch kommt, schau immer den Mund an. Nicht die Augen. Auf den Mund. Hier, so, auf die Ecke. Manchmal haben sie Blut da. Sehr wenig, aber man erkennt es. Und dann musst du ein Gebet aufsagen. Und dich bekreuzigen. Wenn du dich nicht bewegen kannst, dann mach es mit deiner Zunge. So oft wie du kannst. Die Alte begann Streichhölzer anzuzünden und die Flammen ins Quellwasser zu werfen. Undeutliche und geflüsterte Sätze kamen aus ihrem Mund und ohne es zu bemerken, habe ich die Augen geschlossen. Ich spürte dann ihre nassen Finger auf meiner Stirn - das Kreuzzeichen. Am Ende musste ich das Wasser trinken und, obwohl die Frau eine sanfte Stimme hatte und ich sie für halb verrückt hielt, ergriff mich eine vage Unruhe. Sofort machte ich das Kreuzzeichen, in meinem Mund. Herr Jesus Christus, Du Sohn Gottes, erbarme dich Der letzte Zweifler 331 meiner. Einfach zur Sicherheit. Wahrscheinlich war es nur eine kleine Reminiszenz meiner alten… Skotophobie. Die Nacht war kalt und in Stummheit ganz versunken; es war eine Zeit, in der die Ängste nicht ausgesprochen werden durften. In dem halb verlassenen Haus am Ende des Dorfes funkelte eine Kerze; oder eine alte Lampe; man konnte es nicht genau sehen. An den Schatten ließ sich ein Zittern erkennen. Man konnte die Unsicherheit in der Luft spüren; sie war genauso stark wie der Geruch von nassen Wänden. Die Stille war so groß, dass es fast unmöglich war, sich keine Geräusche einzubilden. Ein Brummen, das von niemandem kam. Ein lächerliches Gefühl von Hoffnungslosigkeit, als ob die ganze Welt ein Scherz wäre. War sie es? ! Teils verhungert, teils verwundert saß der Teufel. Diesmal waren die Hufe ganz allein unter dem Tisch. Einzig er zweifelte an seiner Existenz. Friedhelm Schneider Kants Aufsatz Beantwortung der Frage „Was ist Aufklärung? “ Bemerkungen am Rande oder Mutproben vorweg Ein Autor kann nicht alles denken, was er sagt. - Dazu gehört ein Leser oder zwei, vielleicht gar drei. - Lesen heißt, sich bücken nach dem Ungedachten, das der Autor liegen ließ. Trübung Was ist Aufklärung? - ungeklärt, jedenfalls einstweilen… Wir fischen im Trüben, solange wir nach Klarheit fragen. sapere aude Warum verlangt es Mut, sich des Verstandes ohne Leitung eines andern zu bedienen? Was an dem Verstand ist so gefährlich? - Der Verstand ist das Vermögen der Erkenntnis durch Zusammenhängen und Verknoten dessen, was für sich genommen ganz unverständlich bleibt. Der Verstand ist die große Konjunktion durch weil, damit, sodass, obwohl, indem... und die Suche nach Komplizen. Noch nicht genug: Der Verstand ist das Vermögen der Erkenntnis nach Regeln, denen zu widersprechen sich der Verstand genötigt sieht. Jeder Grund ist unbegründet, jeder Regress infinit. Jede Konsequenz ist paradox und Regeln gelten ausnahmsweise. Kein Satz, der sagt, was wahr ist und was falsch, kann falsch sein oder wahr und müsste doch den Unterschied benennen. Stattdessen heißt es: Was wahr ist, muss auch falsch sein können. Man kann sich des Verstandes nicht bedienen, ohne ihn darüber zu verlieren. Erkenntnis schließt die Einsicht ein, dass wir es nicht vermögen. - Veranstaltungen des Verstandes sind wie ein Chicken-Run: Entweder man gewinnt oder man überlebt. Friedhelm Schneider 334 Mut Denken ist gefährlich: Es selbst tun, heißt allein zu sein und in den Widerspruch geraten. Denken ist die Weigerung zu verstehen, die Befähigung zum Unsinn, der Entschluss, allein durch Schaden klug zu werden. - Stattdessen kannst du dich aber auch mit den anderen verständigen... ihr werdet die Dinge schon regeln. Hörigkeit Jeder denkt zuerst an „Mund“, wenn von Mündigkeit die Rede ist, an sprechen können, selbst, für sich selbst und von sich selbst - ohne Vormund, Fürsprecher und Anwalt, ohne Leitung und Begleitung eines andern. Wir sprechen aber nicht nur dadurch, dass wir reden, wir schweigen auch und horchen. Wir nehmen wahr, wer zu uns spricht, und haben einen Sinn auch für die Stille. - Sprechen ist nur an seinem Rand etwas, was wir können; aus allem, was wir sagen, spricht immer auch, dass wir es nicht vermögen: Die Worte fehlen uns, so vieles hat noch keinen Namen, und es wimmelt hier von Ungesagtem. Sprechen ist nicht, ohne dass es jemand vor uns tut. Sprechen ist nicht ohne Hören, Horchen und auch nicht ohne Schweigen. Zum Sprechen braucht man Ohren: Wer taub ist, ist auch stumm. Fremdverdienst - Selbstverschulden Seine Mündigkeit ist das, was uns ermächtigt, jemandem die Schuld zu geben. Ist darum etwas „selbstverschuldet“, so ist es damit auch schon mündigkeitsbedingt. Unmündigkeit - so Kant - ist nun aber selbstverschuldet, und das heißt: Mündig müssen wir bereits gewesen sein, als wir es ließen. Ist Unmündigkeit nun aber selbstverschuldet, hat dann nicht Mündigkeit als fremdverdient zu gelten? Selbstverdienst gäbe es hier so wenig wie ein Fremdverschulden dort. An meiner Unmündigkeit trage allein ich selbst die Schuld, an meiner Mündigkeit allein ein anderer das Verdienst. Und so wie ich den Eingang zur Unmündigkeit nur selber finde, findet den Ausgang aus ihr nur ein anderer für mich. Undankbarkeit und Stolz vielleicht machen dies vergessen: Unmündig kann nur werden, wer es mündig wird und im Wissen, was er tut. Mündig kann nur werden, wem ein anderer dazu hilft. Der eine weiß nicht, was er tut, der andere nicht, wie ihm geschieht. Kants Aufsatz Beantwortung der Frage „Was ist Aufklärung? “ 335 Mündigkeit Wir sind nicht frei, wir sind frei gelassen; Mündigkeit ist Freiheit erst aus einer zweiten Hand: Wir sind emanzipiert. Und das heißt: Frei sind wir nur, um unsere Freiheit wieder daran zu geben. Das korrekte Etymon ist nicht der Mund, sondern die Hand. faul und feige Nur wer arm ist oder auf der Flucht, ist demnach überhaupt erst in der Lage zu sagen, wie es wirklich ist. - Alle anderen bestechen oder sind bestochen. Bluff Was wir alleine nicht vermochten, das soll nun in Gesellschaft möglich sein! - Nur öffentlich und nur allmählich werden wir vernünftig oder zur Vernunft gebracht. - Eher wohl muss es heißen: Wozu das Publikum uns bringen will, das nennt das Publikum Vernunft. Öffentlichkeit Man könnte sie das gastrointestinale System einer Gesellschaft nennen: Es reguliert deren Wortwechsel so wie sein bildgebendes organisches Gegenüber den Stoffwechsel. - Dort wie hier geschieht dies durch Speichel, Säure, Bitternis... durch Beißen, Kauen, Schlucken und durch die Peristaltik... öffentlich Hier darf man alles sagen, solange man nur sagt, was alle sagen. - Öffentlich ist die Vernunft nicht zu gebrauchen. Alle machen Lärm und jeder redet mit. Vernunft - noch ungebraucht Was wir sind, sind wir dem Vernehmen nach. Was wir tun, tun wir im Einvernehmen. Was wir sagen, haben wir zuvor vernommen… Vernunft ist nie allein die eigene; Vernunft bleibt nicht dieselbe. - Wir ziehen, wenn wir denken, einen Kreis, in dem der Geist erscheinen muss. Denken ist, bevor wir es gebrauchen, magisch: Wir sprechen ein paar Worte und warten, was geschieht und wissen nicht warum. Friedhelm Schneider 336 Fieber Was wir denken nennen - könnte, müsste das nicht auch betrachtet werden als die Bemühung um den Schutz davor? Können, müssen wir nicht in dem Denken, das wir tun, den Versuch erkennen, das Denken zu verhindern, das uns widerfährt? - oder doch zumindest den Versuch, die Gedanken einzuzäunen und zu zähmen? Ist denn nicht jeder Einfall ein schreckliches Ereignis, eine Bedrohung durch das Unbekannte, eine Katastrophe dessen, was wir wissen, eine Krankheit, vor der wir uns nur eine Weile schützen können? Wir denken, um uns der Gedanken zu erwehren und um das Feuer auszutreten. „Und wenn der große Friedrich kommt...“ Mit der Vernunft bringt sich das Unbedingte zu Gehör und uns bringt es dadurch zum Schweigen und zum Hören und sodann zum Widerspruch. - Vernunft, ein Raub, privat - aber weder aufgeklärt noch absolut noch gar dem König unterworfen. Schwund Was aufgeklärt ist, ist dem Grunde nach „nichts als“ oder ein „als ob“ in der Erscheinung, jedenfalls im Schwinden. - Was ist an dieser Einsicht schon gewagt? - Die Wirklichkeit zerfällt in unsere Vorstellungen davon... und wir bekommen Angst beim Anblick unseres Schattens. Wolken Sie sind der Aufenthalt der Engel; Sokrates kommt auch von dort. Schon die Kinder wissen, was die Wolken zeigen, und noch die digitalen Daten entnehmen wir der Cloud. Aus dem Trüben kommen Stimmen. Das Ungenaue ist bedeutungsvoll… genau genommen ist da aber nichts. Was man genau besieht, das ist danach nicht mehr. Stimmen Sapere aude! - Das sagen die dir, die dich noch eben faul und feige nannten. Ne timeas! - Das sagt der Engel, wenn er lacht. Kants Aufsatz Beantwortung der Frage „Was ist Aufklärung? “ 337 Wagnis Wer denkt, gibt eine Probe seines Muts. Mit welchem Maß wird aber der gemessen? - Mutig ist, wer sich nicht fürchtet, wenn es dunkel wird und er allein ist. hinterher Frag nicht mich, was der Autor sagen wollte! - Frage dich, was du zu hören wagen willst! Siglen Hans-Georg Gadamer GW Gesammelte Werke , Tübingen 1985 ff. Georg Wilhelm Friedrich Hegel GW Gesammelte Werke, in Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft hg. v. der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste, Hamburg 1968 ff. Martin Heidegger GA Gesamtausgabe, Frankfurt a. M. 1975 ff. EA Vom Ursprung des Kunstwerks. Erste Ausarbeitung, in Heidegger-Studies 5 (1989), S. 5-22. HW Holzwege, Frankfurt a. M. 1950. N I, II Nietzsche, Bd. 1, 2, Pfullingen 1961. SZ Sein und Zeit, Tübingen 1927. WB Über Wesen und Begriff von Natur, Geschichte und Staat), in Heidegger-Jahrbuch 4 (2009), S. 53-88. Ernst Jünger SW Sämtliche Werke in 14 Bänden und 4 Supplementbänden, Stuttgart 1978 ff. Immanuel Kant AA Sämtliche Werke, hg. v. der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900 ff. 340 Friedrich Nietzsche KSA Kritische Studienausgabe, hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, Berlin 1980. KGW Werke. Kritische Gesamtausgabe, begr. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, weitergeführt v. Wolfgang Müller- Lauter u. Karl Pestalozzi, Berlin 1967 ff. EH Ecce Homo, in KSA 6. FW Die fröhliche Wissenschaft, in KSA 3. JGB Jenseits von Gut und Böse, in KSA 5. MA Menschliches, Allzumenschliches, in KSA 2. NF Nachgelassene Fragmente, in KSA 7-13. Za Also sprach Zarathustra, in KSA 4. Platon Ap. Apologie des Sokrates Chrm. Charmides Cra. Kratylos Euthd. Euthydemos Grg. Gorgias Ion Ion Lg. Nomoi Men. Menon Phd. Phaidon Phdr. Phaidros Phlb. Philebos Plt. Politikos Prm. Parmenides Prt. Protagoras R. Politeia Sph. Sophistes Ti. Timaios Bei weiteren antiken Autoren werden die Abkürzungen des „Liddell-Scott- Jones Greek-English Lexicon“ verwendet. „Denn man muss bei diesen Dingen wenigstens eines erreichen: entweder lernen oder herausfinden, wie es sich damit verhält oder, wenn das unmöglich ist, zumindest die beste der menschlichen Reden nehmen und die am schwersten widerlegbare, und auf ihr wie auf einem Floß fahrend es wagen, durch das Leben zu segeln, wenn jemand nicht sicherer und gefahrloser auf einem zuverlässigeren Fahrzeug, einer göttlichen Rede, durch das Leben zu reisen vermag.“ (Platon, Phaidon 85c-d) ISBN 978-3-89308-452-4