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Ästhetik der Marginalität im Werk von Joseph Roth

2016
978-3-7720-5520-1
A. Francke Verlag 
Daniel Romuald Bitouh

Ausgehend von der Frage des Dritte-Welt- oder Afrika-Bezugs in Joseph Roths Texten untersucht die Arbeit die Marginalität von dessen Hauptgestalten am Beispiel ausgewählter Romane und essayistischer Texte. Das Kernanliegen der Untersuchung ist es zu zeigen, wie die imperiale Begegnung zwischen Europa und Afrika in Roths Werk thematisiert und dargestellt wird. Dabei ergeben sich u.a. folgende Problemkreise: Was ist Marginalität bei Joseph Roth? Wie kommt die Marginalität von Roths Gestalten zum Vorschein? Inwiefern lässt sich diese Marginalität auf einen globalen Zusammenhang übertragen?

Ein postkolonialer Blick auf die Verschränkung von Binnen- und Außerkolonialismus K U LT U R - H E R R S C H A F T - D I F F E R E N Z 19 Daniel Romuald Bitouh Ästhetik der Marginalität im Werk von Joseph Roth KULTUR - HERRSCHAFT - DIFFERENZ Herausgegeben von Moritz Csáky, Wolfgang Müller-Funk und Klaus R. Scherpe Band 19 • 2016 „Das gespaltene Subjekt“ von Daniel Romuald Bitouh Ästhetik der Marginalität im Werk von Joseph Roth Ein postkolonialer Blick auf die Verschränkung von Binnen- und Außerkolonialismus Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. © 2016 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Internet: www.francke.de E-Mail: info@francke.de Printed in Germany ISSN 1862-2518 ISBN 978-3-7720-8520-8 Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Österreichischen Forschungsgemeinschaft. Umschlagabbildung: Ebenholzfigur aus Südkamerun; KünstlerIn unbekannt. Das Werk wurde auf dem Kunstmarkt in Yaounde (Kamerun) im Jahre 2008 gekauft. Inhalt Einführung 11 Sachlage, Problemstellung, Vorbemerkungen 11 Forschungsstand 16 Methodische Vorgehensweise 44 Leitfragen und Aufbau der Arbeit 51 1. Zum Begriff „Ästhetik der Marginalität“: Eine begriffliche Grundlegung im postmodernen bzw. postkolonialen Diskurs 52 1.1. Jacques Derrida und die Dekonstruktion der abendländischen Metaphysik als Hervorhebung des Marginalen 52 1.2 Vom Postmodernismus zum Postkolonialismus 95 1.3 Postkolonialität: kein einseitiges Phänomen, keine einfache zeiträumliche Angabe 109 1.4 Die postkoloniale Theorie im binneneuropäischen Kontext: eine Frage der Übersetzung 12 2. Unheimliches Leben: Zu den Erscheinungsformen der Marginalität von Roths Hauptgestalten 138 2.1 Sigmund Freud, Julia Kristeva und Homi Bhabha über das Unheimliche 138 2.2 Zum unheimlichen Leben der Figur Andreas Pum aus Die Rebellion 149 2.2.1 Andreas Pum: einfältiger, unkritischer Patriot 149 2.2.2 Die Figur des ›zitternden Italieners‹ Bossi als Allegorie einer krankhaften Gesellschaft 155 2.2.3 Andreas Pums Begegnung mit der Witwe Blumich: eheliches Leben als unheimliches Leben? 156 2.2.4 Andreas Pums Erfahrung der ›(més-)alliance‹ 158 2.2.5 Andreas Pum, ein kritisch denkender Mensch 169 2.2.5.1 Aufbegehren gegen die weltliche und göttliche Ordnung 169 2.2.5.2 ›Das Subjekt/ Objekt‹ Andreas Pum im Räderwerk des Staates verfangen 171 2.2.5.3 Andreas Pums Haftentlassung oder Gefängnisausbruch? 175 Inhalt 6 2.2.5.4 Andreas Pums Gefangenschaft oder die Metamorphose des Subjekts 180 2.2.6 Der neureiche Willi als häretische Figur? 185 2.2.7 Zweite oder virtuelle gerichtliche Vorladung: Andreas dies- und jenseitige Abrechnung mit dem Machtdispositiv 189 2.2.8 Zur machtpolitisch gezogenen Grenze zwischen einer kranken und gesunden Welt 193 2.3 Zum unheimlichen Leben der Familie Mendel Singer aus Joseph Roths Roman Hiob. Roman eines einfachen Mannes 19 2.3.1 Ein Leben unter dem Zeichen materieller Bedürftigkeit 19 2.3.2 Das ›Krüppelkind‹ Menuchim als Außenseiter der Familie Mendel Singer 203 2.3.3 Deborahs Kontaktaufnahme mit dem (Erz-)Schmuggler Kapturak als subversiver Akt 208 2.3.4 Die Suche nach der différence/ différance (Differenz) 21 2.3.4.1 Schemarjahs Flucht ins amerikanische Exil 213 2.3.4.2 Abschied von Russland oder von Europa: Amerika- Reisevorbereitungen und Träume vom paradiesischen Leben 217 2.3.5 Sam in ›Uncle Sam’s‹ Land 219 2.3.5.1 Ein Leben unter dem Zeichen des Unheimlichen: Die Stacheln des Paradieses 223 2.3.5.2 Mendel Singer: Anpassungsschwierigkeiten oder Identitätskrise? 224 2.3.5.3 (Bananen-)Konsum als politischer Signifikant des gesellschaftlichen Aufstiegs? 234 2.3.6 Vom marginalen Objekt zum zentralen Subjekt: Menuchims Wunderheilung 236 2.4 Zum unheimlichen Leben der Figur Andreas Kartak aus Die Legende vom heiligen Trinker 242 2.4.1 Migrantenleben, ›Kapitalbesitz‹ und Selbstwertgefühl 244 2.4.2 Die Kirche, das Gewissen oder das Gesetz als Institution und Andreas Kartaks unbewusster Widerstand 251 2.4.3 Zur Vielschichtigkeit und Vielfältigkeit des Raumes der Marginalität 256 2.5 Zu Joseph Roths Darstellung von Räumen dialogischer Begegnungen zwischen Zentren und Peripherien, zwischen ›Erster und Dritter Welt‹: Wie die Peripherie die offizielle Ordnungskultur dezentriert. 26 Inhalt 7 3. Joseph Roth und die Frage der imperialen Begegnung zwischen Europa und Afrika: Zu weiteren Dimensionen der Verschränkung von binnen- und außereropäischem Kolonialismus 278 3.1 Franz Tundas kritische Betrachtungen über die imperiale Begegnung zwischen Europa und Afrika 279 3.2 Zur machtpolitischen Dimension des Begriffs Kultur (Aneignung und Verdrängung) 285 3.3 ›Europäische Kultur‹ als Maske und Kostüm 290 3.4 Kritik an der europäischen Konstruktion der nichtwestlichen Welt als textuelles Niemandsland in Kunst und Literatur oder die Dekonstruktion einer marginalisierenden Ästhetik 292 3.5 Joseph Roths Kritik an der marginalisierenden, kulturimperialistischen und machtpolitischen Seite des wissenschaftlich-technischen Fortschritts 294 3.6 The Other or Native response: die Texte afrikanischer Schriftsteller als postkoloniale Literatur bzw. als Gegengeschichtsschreibung 302 3.7 Zu Joseph Roths ›Rehabilitierung der Schwarzen‹: eine Art re-lecture und ré-écriture der Geschichte 312 3.8 Differenz und Interdependenz: Zur katachretischen oder dezentrierenden Figur ›des blonden Negers‹ aus Joseph Roths Essay Der blonde Neger Guillaume 3 3.8.1 Antisemitismuskritik? 322 3.8.2 Herkunft und Sprache 32 3.8.3 Kolonialer Blick 327 3.8.4 Der Migrant Wilhelm Tiele als Verkörperung einer provozierenden und dezentrierenden Andersheit 328 Schlussbemerkung 332 Bibliographie 335 Werke Joseph Roths 335 Auswahlbibliographie zu Joseph Roth 335 Weitere Literatur 337 Nachschlagewerke 352 Internetquellen 352 für Ngoyo Simon Ndobé Antonia Amaguena Lucie Vorwort Nothing to boast of, when you have it, since your strength is just an accident arising from the weakness of other 1 Es mag befremdend klingen, das Werk des ostjüdischen, österreichischen Schriftstellers Joseph Roth mit Afrika oder der sogenannten Dritten Welt verbinden zu wollen. Denn die österreichbzw. europazentrierte Roth- Forschung prägt maßgeblich die Diskussion über seine Texte und trägt dazu bei, ein bestimmtes Joseph Roth-Bild zu fixieren. Solche eingebürgerten Festlegungspraktiken lassen bewusst oder unbewusst ein Schweigen über andere mögliche und produktive Aspekte zu Joseph Roths Werk entstehen. Joseph Roth fasste den Mut, gegen totalitäre Systeme in einer Zeit - der nationalsozialistischen Zeit - zu schreiben, in der der Akt des (Gegen-)Schreibens ›sich selbst einen Totenschein ausstellen‹ bedeutete. Dieses Schreiben gegen die totalitäre logozentrische Schrift des Imperialkolonialismus lässt sich als geistige Dekolonisierung auffassen und verbindet Joseph Roth mit Autoren wie Aimé Césaire, Frantz Fanon, Franz Kafka, Franz Werfel, Robert Musil, Mongo Beti, Ngugi wa Thiong’o, Cheikh Hamidou Kane oder Wole Soyinka. In unserer heutigen Welt, in der Subjekte im Süden wie im Norden des Globus zunehmend mit Grenzsituationen - Kriegen, bewaffneten Konflikten, Umweltkatastrophen, Hungersnöten, privaten bzw. öffentlichen Erniedrigungen und Demütigungen konfrontiert sind, erweist sich eine differenzierte Anatomie des Zusammenlebens im 21. Jahrhundert als eine Notwendigkeit. Diese Arbeit, die sich mit Joseph Roths Texten unter dem Konzept ›Ästhetik der Marginalität‹ befasst, bettet sich in einen interkulturellen Dialog ein und stellt ein Moment dieses Dialogs dar. Joseph Roths Texte werden aus einer postkolonialen Perspektive dialogisch mit Anregungen aus Texten vielfältiger Autoren - u.a. Sigmund Freud, Frantz Fanon, Joseph Conrad, Hannah Arendt, Michael Bachtin, Aimé Césaire, Mongo Beti, Jacques Derrida, Michel Foucault, Homi Bhabha, Albert Memmi, Ngugi wa Thiong’o, Giorgio Agamben usw. - gelesen. Joseph Roth gehört, wie Franz Kafka, Franz Werfel oder Robert Musil, zu den bedeutendsten deutschsprachigen Autoren aus der Peripherie der alten Donaumonarchie, die sowohl der deutschösterreichischen als auch der europäischen Literatur zu Ruhm und Glanz verholfen haben. Dennoch bildet die Biographie Joseph Roths nicht den Gegenstand dieses Buches. Im Mittelpunkt stehen vorwiegend Fragen der Marginalität, der Herrschaft, der Macht, der kulturellen Differenzen und Interdependenzen. Diese Fragen, die anhand ausgewählter Texte Joseph Roths aufgeworfen und eruiert wer- 1 Joseph Conrad, Heart of darkness and other stories, Denmark 1995, S. 6. Vorwort 10 den, ermöglichen eine Heranziehung afrikanischer Textualitäten in den in dieser Arbeit inszenierten Dialog. Was ist unsere Welt, wenn nicht ein dialogischer Raum? Diese Arbeit ist das Resultat eines langjährigen dialogischen Engagements. Ich bedanke mich bei all jenen, die mittel- oder unmittelbar an diesem Dialog beteiligt waren. Unvergesslich bleibt das prägende Werk meiner Dozenten an der Universität Jaunde I in Kamerun. Ich erinnere mich an die ständigen Anregungen von Prof. Dr. Alioune Sow und bin ihm dafür verbunden. Mein Dank richtet sich auch an Prof. Dr. David Simo, denn einer seiner erbaulichen Leitsätze bleibt mir unauslöschlich im Gedächtnis, nämlich: „Man soll sich ans Wissen klammern.“ Der langjährige produktive Gedankenaustausch im Rahmen einer Mitstreitergruppe mit Tchuinang Kisito, Bidjang Bertrand und Tatchouala Eugène Colinet an der Universität Jaunde I während meiner frühen Studentenjahre verdient es ebenfalls, an dieser Stelle erwähnt zu werden. Dank gebührt auch den MitstreiterInnen des DoktorandInnen-Kolloquiums von Professor Dr. Wolfgang Müller-Funk am Institut für Germanistik der Universität Wien. Dieses Kolloquium bildet das Forum, in dem und durch das diese Arbeit Gestalt angenommen hat. Manchen MitstreiterInnen bin ich besonders für ihre bedingungslose Gesprächs- und Disskussionsbereitschaft dankbar - u.a. Eva Schörkhuber, Daniela Finzi, Gerard Lind, Emilja Mancic, Sarah Froschauer, Nicole Kandioler um nur einige zu nennen. Mariama Bitouh und Gottfried Bitouh zolle ich einen Dank für die Unterstützung und die Geduld. Die zahlreichen Gespräche mit DDr. Amadou Lamine Sarr haben sich als erbaulich erwiesen. Besonderen Dank zolle ich Prof. Dr. Norbert Bachleitner für die zweite Begutachtung der Arbeit. Zu äußerstem Dank bin ich Prof. Dr. Wolfgang Müller-Funk verpflichtet, der diese Arbeit fachlich betreut hat. Einführung Sachlage, Problemstellung, Vorbemerkungen Ausgehend von der Frage des Dritte-Welt- oder Afrika-Bezugs 2 in Joseph Roths Texten untersucht die Arbeit die Marginalität von dessen emstn Hauptgestal- 2 Der Begriff ›Dritte Welt‹ ist ein politisch, ideologisch sowie kulturell beladener Begriff. Mit diesem Begriff sind gewöhnlich geographisch außereuropäische Länder gemeint, mit besonderem Fokus auf Afrika südlich der Sahara, Asien, Ozeanien, Mittel- und Südamerika und vor allem auf bestimmte Verhältnisse, die in diesen Ländern im Vergleich zu sogenannten entwickelten Ländern anzutreffen sind. Dennoch zeichnet sich die Aufnahme dieses Begriffes in diese Arbeit durch eine Unterminierung herkömmlicher, rein geographischer und ideologischer eben deswegen überaus kulturimperialistischer Auffassung aus, wie sich aus Dieter Nohlens Bestimmung herauslesen lässt. Hier kommt es vielmehr darauf an, auf die möglichen Bedeutungsverästelungen aufmerksam zu machen, die dem Begriff ›Dritte Welt‹ im Laufe dieser Arbeit stellenweise zukommen, z. B. auf S.43ff. Dieter Nohlen unternimmt eine knappe Darstellung der geschichtlichen Entwicklung des Begriffes ›Dritte Welt‹. Die Herkunft des Begriffes gehe auf das Jahr 1949 zurück. Er wurde von Angehörigen der kommunistischen Partei in Frankreich verwendet, um den Versuch einer unabhängigen Oppositionspolitik auf internationale Ebene gegenüber der rechten kapitalistischen Partei zu bezeichnen. Vgl. Dieter Nohlen (Hg.), Lexikon Dritte Welt. Länder, Organisationen, Theorien, Begriffe, Personen, vollständig aktualisierte Ausgabe, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch 1989, S. 172. Der Begriff weist in seinen Anfängen also auf „die Vorstellung eines Dritten Weges“ hin (ebd.). Und eine ähnliche Vorstellung setzte sich, so Nohlen, im Rahmen der Blockfreien Bewegung durch (ebd). Was die immer wiederkehrenden Vorbehalte bezüglich des abschätzigen und diskriminierenden Beigeschmacks dieses Begriffes angeht, meint Nohlen, dass sie begriffsgeschichtlich jeglicher Grundlage ermangeln (vgl. ebd.). „Im Gegenteil: In den 50er Jahren wurden unter ‘Dritte Welt’ nur jene Länder subsumiert, die positiv verstanden einen Dritten Weg der Blockfreiheit zu beschreiten gewillt schienen. Erst in den 60er Jahren, als Unterschiede wirtschaftliche Entwicklung (sic) in den internationalen Beziehungen an Bedeutung gewannen, wurde der Begriff auf alle Entwicklungsländer in Übersee ausgedehnt.“ (ebd.) Dieter Nohlen setzt seine abwehrende Argumentation fort, indem er andere Begriffe ins Feld führt - „Erste Welt“ und „Zweite Welt“ (ebd.) -, die ihm zufolge damals klarere Definitionsmerkmale zur Verfügung stellten: „(westliche Industrieländer = industrialisiert-kapitalistisch; Staatshandelsländer oder sozialistische Länder = industrialisiert-sozialistisch)“ (ebd.). Nohlen stützt sich auf die Maßstäbe von entwickelten Ländern, um „Unterentwicklung“ als „kennzeichnendes Merkmal aller Dritte-Welt-Länder“ anzuführen (ebd.). Nohlen wendet dennoch ein, dieses Merkmal eigne sich nicht für jene Ländergruppe, die durch den international gebräuchlichsten Begriff Entwicklungsländer bezeichnet wird. Ein Begriff, der aber auch eine Reihe europäischer Länder einschließe und verdecke, dass sich natürlich auch die Industrieländer entwickeln bzw. weiterentwickeln - und das in viel schnellerem Tempo als die Entwicklungsländer, so dass die Lücke zwischen Entwicklungs- und Einführung 12 Sachl age, Problemstellung, Vor bemer kungen ten am Beispiel ausgewählter Romane und essayistischer Texte. Es wird darauf abgezielt, den Afrikabzw. Dritte-Welt-Bezug aufzudecken - ein bisher wenig beachteter Aspekt in der klassischen Roth-Forschung. Die Kernfrage der Untersuchung lautet, wie die imperiale Begegnung zwischen Europa und Afrika im Roths Werk thematisiert und dargestellt wird, eine Frage, die sich - der Logik dieser Untersuchung nach - in folgende Fragen übersetzen lässt: Was ist Marginalität bei Joseph Roth? Wie kommt die Marginalität von Roths Gestalten zum Vorschein? Inwiefern lässt sich diese Marginalität auf einen globalen Zusammenhang übertragen? Diese Untersuchung verfolgt das Ziel, Roths Texte nach deren Afrika-Bezug zu befragen und zu hinterfragen und daraus Roths Einstellung zur europäischen imperialen Bewegung zu erschließen. Es geht keineswegs darum, das Afrikanische in Roths Werk aufzuspüren. Es wird - in Anlehnung an Edward Said - vielmehr davon ausgegangen, dass die imperiale Begegnung zwischen Europa und der ›Dritten Welt‹ eine entscheidende Bewegung in der Gestaltung unserer Welt gewesen ist und immer noch ist. Und Edward Said bekräftigt: One of imperialism’s achievements was to bring the world closer together, and although in the process the separation between Europeans and natives was an insidious and fundamentally unjust one, most of us should now regard the historical experience of empire as a common one. The task then is to describe it as pertaining to Indians and Britishers, Algerians and French, Westerners and Africans, Asians, Latin Americans, and Australians despite the horrors, the bloodshed, and the vengeful bitterness. 3 Mit einem derartigen Problemfeld wird eine Art literarische Deterritorialisierung von Roths Texten signalisiert. Es hat sich eingebürgert, Texte einem ausgewiesenen nationalen Territorium, einer bestimmten Nationalflagge zuzuordnen. Ein Brauch, der die Texte einigermaßen zu einer unterwürfig ethnozentrischen Existenzform zu zwingen versucht. Auf die Begrenzungen solcher kulturellen Praktiken hinweisend merkt Homi Bhabha Folgendes an: „Nations, like narratives, lose their origins in the myths of time and only fully Industrieländern wachse (vgl. ebd. S. 173). Dem „geographisch festgelegten Begriff Südländer“ zieht Nohlen den Begriff ›Dritte Welt‹ vor, da „auch einige im Süden des Globus gelegene Länder zu den westlichen Industrieländern gehören (Australien, Neuseeland)“ (ebd.). Nohlen plädiert daher für eine Ausdifferenzierung des Begriffs ›Dritte Welt‹, die er gemäß bestimmten Kriterien unternimmt - erdölproduzierende Länder; am wenigsten entwickelte Länder; geographisch benachteiligte Länder (Binnenländer, Inseln); AKP-Staaten; Schwellenländer usw. Nohlen präzisiert dazu, dass es Überlappungen zwischen diesen Ländergruppen gibt, und hält diese Ausdifferenzierung besonders für Zwecke der internationalen Entwicklungspolitik für umso wichtiger, als sich Entwicklungsländer immer mehr voneinander unterscheiden (vgl. ebd.). 3 Edward W. Said, Culture and Imperialism, New York: Vintages Books 1993, S. xxif. Kursivschrift i.O. Sachlage, Problemstellung, Vorbemerkungen 13 realize their horizons in the mind´s eye.“ 4 Joseph Roth selbst steht der einseitig territorial sowie sprachlich bestimmten Nationalität kritisch gegenüber. 5 In Culture and Imperialism macht Said auf solche ererbten kulturellen Praktiken aufmerksam. Said schreibt: „We are still the inheritors of that style by which one is defined by the nation, which in turn derives its authority from a supposedly unbroken tradition.“ 6 Said äußert sich da kritisch über die exklusiven kulturellen Rituale von weltweiten nationalen Philologien, die dadurch Kultur in einen „battleground“ 7 verwandeln, on which causes expose themselves to the light of day and contend with one another, making it apperent that, for instance, American, French, or Indian students who are taught to read their national classics before they read others are expected to appreciate and belong loyally, often uncritically, to their nations and traditions while denigrating or fighting against others. 8 Nationale Philologien werden folglich zu „protective enclosure: check your politics at the door before enter it“. 9 Es ist zwar nicht daran zu zweifeln, dass sich die kulturellen Strukturen, die Architektur einer Gesellschaft an einem Text zuweilen erkennen lassen und dass der Text selbst eine Dimension dieser Strukturen und Architektur darstellt. 10 Diese Strukturen könnten andeuten, dass der Text keine creatio ex nihilo ist. Sie scheinen aber dem Text eine endgültig fixe Identität zuzuschreiben. Dennoch subvertiert der Begriff ›Text‹ selbst solch eine Identitätszuschreibung. Die explosive, plurale Dimension von Texten wird eben von Roland Barthes in seinem Buch Le bruissement de la langue (Das Rauschen der Sprache) hervorgehoben: Le Texte est pluriel. Cela ne veut pas dire seulement qu´il a plusieurs sens, mais qu´il accomplit le pluriel même du sens: un pluriel irréductible (et non pas seulement acceptable). Le Texte n´est pas coexistence de sens, mais passage, traversée; il ne peut donc relever d´une interprétation, même libérale, mais d´une explosion, d´une dissémination. Le pluriel du Texte tient, en éffet, 4 5 6 7 8 9 10 Homi K. Bhabha, „Introduction: narrating the nation“, in: ders. (Hg.), Nation and Narration, London, New York: Routledge 1990, S. 1-7, hier S. 1. Vgl. Joseph Roths publizistische Texte unter dem titel „Reise durch Heanze land“ in: Joseph Roth Werke, Band 1, Das Journalistische Werk 1915-1923, S. 100-11. Künftighin im Fließtext und in Fußnoten als JRW mit Angabe des Bandes und der Seitenzahl zitiert . Said, Culture and Imperialism (Anm. 3), S. xxv. Ebd. S. xiii. Ebd. Kursivschrift ist eine Hervorhebung i.O. Ebd. S. xiv. Edward Said schreibt aus seiner langjährigen Erfahrung als vergleichender Literaturbzw. Kulturwissenschaftler (vgl. ebd. S. xxvi). Genauso wie die Werke des russisch-jüdischen Malers Marc Chagall, die die russische Provinzarchitektur zur Inspirationsquelle haben, werden Joseph Roths Werke vom Aroma seines ostgalizischen Geburtsortes geprägt. Er verwendet die galizische periphere Architektur als Quellform seines Schreibens und Denkens. Vgl. David Bronsen, Joseph Roth: eine Biographie, Köln: Kiepenheuer und Witsch 1974, S. 27f. Einführung 14 non à l´ambiguїté de ses contenus, mais à ce que l´on pourrait appeler la pluralité stéréographique des signifiants qui le tissent (étymologiquement, le texte est un tissu) […] 11 Laut Barthes sind Texte Gewebe aus unterschiedlichen (kulturellen) Einflüssen. Und die Tatsache, dass Texte aufgrund kultureller Differenzen immer wieder anders verstanden werden, scheint die Tendenz der Identifizierung mit einer bestimmten nationalen Fahne, einem bestimmten Territorium oder einem transzendentalen Signifikat 12 zu unterminieren und vielmehr die These einer textuellen Offenheit zu legitimieren. Aus der Sicht dieser Arbeit bedeutet textuelle Offenheit keineswegs Tötung des Autors - als Moment des künstlerischen Schaffens verstanden. Getötet wird - auf unbewusster Ebene - der Autor als bedeutungssetzende, identitätsstiftende Instanz. Trotz der Tatsache, dass der Verfasser eines Textes durch diesen Text als kulturelle Instanz weiterlebt, verfügt er über keine absolute Macht über seine Texte, sondern die Texte führen künftig eine Art eigenständiges Leben. In jedem Text gibt es eine Dynamik, die über das Geschriebene hinausweist. Die Texte werden bisweilen deswegen anders verstanden, weil Bedeutung in einem literarischen Text immer wieder verschoben wird, aber nie fix und endgültig präsent ist. „Le texte, au contraire, pratique le recul infini du signifié, le texte est dilatoire; son champ est celui du signifiant“, 13 schreibt Roland Barthes. Der Text, wie Roland Barthes ihn auffasst, ist ein unendliches Spiel von Signifikanten ohne Zentrum und ohne Grenzen. 14 Daraus lässt sich auch die Dynamik der literatur- und kulturwissenschaftlichen Tätigkeit - verstanden als dialogische Bewegung zwischen Texten und Kontexten - ablesen. 15 Es wird davon ausgegangen, dass Schreiben ein vielschichtiger Prozess ist, der im komplexen Raum zwischen Bewusstsein und Unbewusstsein angesiedelt ist. Sigmund Freud fasst den Schreibprozess als einen Tagtraum auf. 16 Freud bezieht sich 11 Roland Barthes, Le bruissement de la langue, Essais critiques IV. Paris: Éditions du Seuil 1984, S. 75. Kursivschrift ist eine Hervorhebung i. O. 12 Vgl. ebd. S. 74. 13 Ebd. Hervorhebung i.O. 14 Vgl. ebd. f. 15 Vgl. Michail M. Bachtin, Die Ästhetik des Wortes, herausgegeben von Rainer Grübel, aus dem Russischen übersetzt von Rainer Grübel und Sabine Reese, Frankfurt/ Main: Suhrkamp Verlag 1979, S. 352f. 16 Vgl. Sigmund Freud, Der Dichter und das Phantasieren (1908), in: Cordelia Schmidt Hellerau (Hg.), Sigmund Freud. Das Lesebuch. Schriften aus vier Jahrzehnten, eingeleitet und mit Begleittexten versehen von Cordelia Schmidt Hellerau, Frankfurt/ Main: S. Fischer Verlag 2006, S. 157-168, hier S. 165f. Vgl. dazu Daniel Romuald Bitouh, „Liminalität, Hybridität und Identität. Zu Joseph Roths Inszenierung der Grenze als Subversion der Metaphysik von Identität“, in: Anna Babka/ Julia Malle/ Matthias Schmidt (Hg.), Dritte Räume. Homi K. Bhabhas Kulturtheorie. Krititk. Anwendung. Reflexion, Wien: Verlag Turia+Kant 2012, S. 167-182. Sachlage, Problemstellung, Vorbemerkungen 15 dabei auf Momente der Traumarbeit - Verdichtung 17 und Verschiebung. 18 Dies besagt ein Abrutschen des sogenannten Autors in all seinen unterschiedlichen Spielarten - Dichter oder Schriftsteller. Der Autor wird zur Figur. Er schreibt oder spricht nicht, sondern es schreibt und spricht in ihm. 19 Der Schreibprozess erweist sich daher als etwas Dynamisches. Im Schreibprozess schleichen sich Dinge ein, die dem Text andere Züge verleihen könnten. In einer erweiterten Perspektive deuten solche Betrachtungen darauf hin, dass kein Text, kein kulturelles Artefakt als Privateigentum einer bestimmten ›Kultur‹ definiert werden kann. Denn, wie Said unterstreicht, „because of empire, all cultures are involved in one another; none is single and pure, all 17 Anhand einer Reihe von Träumen, deren verdichtete Gedankenmassen Freud analysierend aufdeckt und entfaltet, werden die Verdichtungs- und Verschiebungsvorgänge veranschaulicht, die bei der Traumgestaltung am Werk sind. Es besteht ein „Mißverhältnis zwischen Trauminhalt und Traumgedanken“. Sigmund Freud, Die Traumdeutung, Frankfurt/ Main: S. Fischer Verlag 1972, S. 282. Trauminhalte, so Freuds Grundthese, zeichnen sich durch Verdoppelung, Vieldeutigkeit, Ambivalenz und mehrfache Determiniertheit aus. „Die Herstellung von Sammel- und Mischpersonen ist eines der Hauptarbeitsmittel der Traumverdichtung“, bringt Freud beispielweise vor (ebd. S. 295). Und Mischgestalten, Schattenbilder, Spiegelbilder bzw. Doppelgänger sind manchen Lesern aus der Auseinandersetzung mit literarischen Texten bekannt. Näheres zur Traumverdichtung- und Verschiebungsarbeit (vgl. ebd.), vor allem im „IV. [Kapitel: ] Die Traumarbeit“, siehe Inhaltsverzeichnis der angegebenen Ausgabe und genauer unter folgenden Untertiteln „A. Die Verdichtungsarbeit“ und „B. Die Verschiebungsarbeit“, ebd. S. 280-308. 18 „Was in den Traumgedanken offenbar der wesentliche Inhalt ist, braucht im Traum gar nicht vertreten zu sein. Der Traum ist gleichsam anders zentriert, sein Inhalt um andere Elemente als Mittelpunkt geordnet als die Traumgedanken.“ Sigmund Freud, ebd. S. 305. Kursivschrift ist eine Hervorhebung i.O. 19 Die Art und Weise, wie Freud Dostojewskis Roman Die Brüder Karamasoff (1878- 1880) in „Dostojewski und die Vatertötung“ analysiert, bekräftigt diese These. Freud stützt sich auf Dostojewskis Roman Die Brüder Karamasoff, um auf den psychischen Zustand des Autors Fjodor Dostojewski zu schließen. Freud liest Die Brüder Karamasoff als Dostojewskis pathologischen Befund. Vgl. Sigmund Freud, „Dostojewski und die Vatertötung“, in: ders. Bildende Kunst und Literatur, Studienausgabe, Band X, Frankfurt/ Main: S. Fischer Verlag 1969, S. 267-286. Dies bedeutet dennoch keineswegs, dass Freud um die Herstellung von Eins-zu-eins- Identitätsbeziehungen zwischen der Person des Autors und den unterschiedlichen Figuren bemüht ist, die in einem fiktionalen Text vorkommen. Lässt sich ein Text überhaupt ohne Kenntnisse über das Leben des Autors analysieren? Freud scheint diese Frage durch die Analyse einer Novelle von Stefan Zweig Drei Meister (1920) bejahend zu beantworten. Die Novelle handelt von einem spielsüchtigen Jüngling. In der ganzen Analyse verliert Freud kein Wort über das Leben von Stefan Zweig (vgl. ebd. S. 284-286). Ausschließlich die Spielsucht des Jünglings steht im Mittelpunkt. Und diese Spielsucht deutet Freud als Ersatz für einen „Onaniezwang“ (ebd. S. 286). Wie dem auch sei, die psychoanalytische Literaturkritik scheint in einer grauen Zone angesiedelt zu sein - zwischen einer Proklamierung des Todes der Autorität und einem Verfall in Biographismus. Einführung 16 are hybrid, heterogenous, extraordinarily differentiated, and unmonolithic“. 20 Literarische Texte, Filme, Denkmäler, Kunstwerke, Räume (wie Bibliotheken, Museen, Kulturinstitute, Naturreservate usw.) liefern den Beweis dafür. In unserem globalen Zeitalter können solche Räume - und besonders literarische Texte - nicht mehr als ›nationale konservative Kammern‹ konzipiert werden, sondern diese offenbaren sich zunehmend als Räume globalen Austausches. Und in dieser Untersuchung werden Joseph Roths Texte als solch ein Raum betrachtet. Denn Texte sowie deren Schaffensbzw. Entstehungsprozesse sind als politische Handlungen wahrzunehmen, die nicht nur die gesellschaftlichen Anliegen eines mit Meilensteinen abgesteckten Territoriums angehen, sondern vor allem unbegrenzt eine globale Dimension aufweisen. „Der Prozeß des Lesens, Verstehens und Interpretierens ist prinzipiell unabgeschlossen“, 21 merkt Müller-Funk an, der dabei die Offenheit und vor allem die aktuelle Relevanz von Roths Werk herausstreicht. Unter dem Begriff „Aktualität“ gibt Müller-Funk - neben der postmodernen Besetzung von Roths Werk - nicht zuletzt auch die unabweisbare Tatsache zu erkennen, dass sich „heute andere Fragen (zumindest aber die Fragen anders) stellen als etwa in den siebziger Jahren“. 22 Hinterfragt wird hier eine eingebürgerte Praxis der Begrenzung von Texten mit nationalen Meilensteinen, wie dies in den klassischen textwissenschaftlichen Kulturen zu sehen war. Diese Hinterfragung findet auch Berücksichtigung bei Doris Bachmann-Medick, die diesbezüglich Folgendes schreibt: „Mit Blick auf kulturelle Diskurse sind die als fest angenommenen Grenzen literarischer Texte aufzubrechen und die Tätigkeit des Interpretierens zu einer kritischen Auseinandersetzung mit einem umfassenderen Korpus kultureller Texte weiterzuentwickeln.“ 23 Forschungsstand Es mag befremdend klingen, das Werk des ostjüdischen, österreichischen Schriftstellers Joseph Roth mit Afrika oder mit sogenannter Dritter-Welt verbinden zu wollen. Denn die klassische Roth-Forschung, die zwei Tendenzen aufweist, prägt maßgeblich die Diskussion über seine Texte. Die eine Richtung dieser Forschungstendenz fokussiert vielmehr eine Heimat- und Untergangsdramatik hinsichtlich der Geschichte des Untergangs der Habsburgischen Donaumonarchie. Das Buch Der habsburgische Mythos in der 20 Said, Culture and imperialism (Anm. 3), S. xxv. 21 Wolfgang Müller-Funk, Joseph Roth, München: Verlag C.H. Beck 1989, S. 21. 22 Ebd. 23 Doris Bachmann-Medick, „Einleitung: Literaturwissenschaft in kulturwissenschaftlicher Absicht“, in: dies. (Hg.), Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft, mit Beiträgen von James Clifford, Vincent Crapanzano, Phyllis Gorfain, Richard Handler, Daniel A. Segal und Christopher L. Miller, Frankfurt/ Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1996, S. 9. Forschungsstand 17 österreichischen Literatur des Triester Germanisten Claudio Magris lässt sich in diese Richtung einordnen. Magris führt Joseph Roth - neben Franz Werfel, Robert Musil, Franz Carl Doderer usw. - als einen der Schriftsteller an, die einen habsburgischen Mythos in deren Texten thematisieren. Magris schreibt: Von Zweig bis Werfel, Roth und Csokor, Musil und Doderer beschwören viele Schriftsteller - ausdrücklich oder indirekt - die Atmosphäre und Kennzeichen des kulturellen Lebensstils der Donaumonarchie. Dabei handelt es sich um keine äußerliche thematische Verwandtschaft auf der Grundlage äußerer Kriterien, wie gemeinsamer Motive und Inhalte ihrer Werke, sondern vielmehr um einen ganz bestimmten kulturellen Humus, der in expressive Formen und einen spezifischen Ton der dichterischen Inspiration übertragen wird. Menschheitsbild und Denken dieser Schriftsteller, ihre mannigfaltige Reaktion auf die konkreten Lebensprobleme und die Nuancierung ihrer Empfindungswelt werden von der Last einer Tradition bedingt, von der sie kaum loskommen; vor allem aber von der Doppelbödigkeit ihrer Existenz in einer Unbeständigkeit und Unzufriedenheit mit der gegebenen geschichtlichen Wirklichkeit und von einer daraus folgenden Flucht und Rückwendung zur Existenz und Gefühlswelt einer historisch versunkenen Welt. 24 Die Figur des Kaisers Franz Joseph I. gilt als paradigmatische Gestalt für diesen Mythos. Laut David Bronsen wurde das Bewusstsein Franz Werfels, Robert Musils, Franz Carl Doderers - Joseph Roths Zeitgenossen - auch vom Antlitz der Kaiserfigur sowie von den kulturellen Landschaften der alten Donaumonarchie geprägt. 25 Zu diesen Zeitgenossen gehören außerdem die damalige Schuljugend, die Beamten, die Soldaten, die Bauern und Durchschnittsmenschen, die tagtäglich das Porträt des allmächtigen, allgegenwärtigen Kaisers zu Gesicht bekamen. Das Bildnis des Kaisers beherrschte private und öffentliche Räume. In Radetzkymarsch 26 zum Beispiel ist das Bildnis des Kaisers neben dem Crucifixus in Schulen, Militärkasernen, Beamtenstuben, Lokalen, Tabaktrafiken, in Kasinos, in Arbeits- und Wohnzimmern, in der Aula der Kadettenakademie, auf Briefmarken und Münzen allgegenwärtig (vgl. JRW 5, 202f). 27 „[…] [H]underttausendmal verstreut im ganzen weiten Reich war der Kaiser Franz Joseph, allgegenwärtig unter seinen Untertanen wie Gott in der Welt.“ (JRW 5, 203). Die Stadt Wien des imperialen Zeitalters (1871-1918), die im Roman Radetzkymarsch dargestellt wird, ist ebenfalls von der Figur des Kaisers besetzt. Der alte Maler Professor Moser aus Radetzkymarsch, der aus der Kaiserfigur ein Zentralmotiv seines Malerwerkes macht und der als Jugend- und Schulfreund des Bezirkshauptmanns Franz 24 Claudio Magris, Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur, Salzburg: Otto Müller Verlag 1966, S. 8. 25 Vgl. David Bronsen, Joseph Roth: eine Biographie (Anm. 10), S. 103. 26 Joseph Roth, Radetzkymarsch, in: JRW, Band 5, Romane und Erzählungen 1930-1936. Künftighin im Fließtext als JRW mit Angabe des Bandes und der Seitenzahl zitiert. 27 Vgl. ebd. David Bronsen, Joseph Roth: eine Biographie (Anm. 10), S. 103. Einführung 18 Trotta bei gemeinsam verbrachten Sommerferien ein Porträt des Barons Franz von Trotta und Sipolje anfertigt (vgl. JRW 5, 153f.), schildert in seinen Werken, wie tiefgreifend die Kaiserfigur das Bewusstsein der Bewohner des Reiches prägt. Gleichzeitig zeigen diese Werke das, was die Figur des Kaisers aus den Völkern der Donaumonarchie macht, und zwar Kinder, Untertanen, Diener und umgekehrt, nämlich was die Völker der Monarchie aus der Figur des Kaisers machen. Professor Mosers Malkunst übernimmt dementsprechend Züge einer Dienerschaft zu Ehren des Kaisers. Er fristet dennoch ein kümmerliches Dasein (vgl. JRW 5, 175f, 178f). Über das beherrschende Profil des Kaisers äußert sich ein Zeitgenosse Joseph Roths, der galizische Jude Bruno Schulz, kritisch: Was bedeutet dieses Profil Franz Josef I. mit der von einem Lorbeerkranz bekränzten Glatze? Ist er nicht ein Symbol der Alltäglichkeit, ein Inbegriff aller Möglichkeiten, eine Bürgschaft unüberschreitbarer Grenzen, an denen die Welt ein für allemal versperrt ist? Die Welt wurde zu jener Zeit allseits von Franz Josef I. umschlungen - und es gab keinen Ausweg neben ihm: Auf allen Horizonten wuchs er empor, aus allen Ecken tauchte dieses allgegenwärtige und unvermeidliche Profil auf und sperrte die Welt wie ein Gefängnis ab … Die Welt war zu jener Zeit von Franz Josef I. begrenzt. Auf jeder Briefmarke, auf jedem Geldstück und auf jedem Stempel bestätigte sein Bildnis die Unveränderlichkeit der Welt und das unerschütterliche Dogma ihrer Eindeutigkeit. Sie ist die Welt, und du sollst keine andere Welt neben dieser haben! Lautete das Siegel mit dem kaiserlich-königlichen Greis. Alles andere ist Trug, wilde Anmaßung und Thronräuberei. Auf allem lag Franz Josef I. und bremste die Welt in ihrem Wachstum. 28 Daraus geht deutlich hervor, dass die Wahrnehmung des Kaisers durch die Völker der Monarchie und die Weltöffentlichkeit ambivalent besetzt war. Die einen sahen im alten Monarchen eine identitätsstiftende Figur, während die anderen des Kaisers allgegenwärtiges Profil nicht anders als die Versinnbildlichung einer unterdrückenden und auf sich selbst zentrierten Macht empfanden. Er habe das dringende Nationalitätenproblem nie richtig angepackt, habe nie ein systematisches, auf die Zukunft gerichtetes Programm konzipiert. Seine absolute Herrschaft habe auf der Armee und dem Feudaladel geruht und der Realität und den Erfordernissen des modernen Lebens fern und fremd gegenübergestanden. 29 Die Erschließung des Untergangs der Habsburgischen Monarchie bildet dennoch nur eine Spielart der klassischen Roth-Forschung. Eine andere Dimension dieser Forschungstendenz ist biographisch orientiert. Der amerikani- 28 Bruno Schulz, „Der Frühling“, in: Die Zimtläden und alle anderen Erzählungen, München: 1966, S. 145-146, zitiert nach David Bronsen, ebd. S. 109. 29 Vgl. ebd. S. 110. Forschungsstand 19 sche Literaturwissenschaftler David Bronsen, der in die Literaturgeschichte als Joseph-Roth-Biograph eingegangen ist, bezieht im Rahmen dieser Forschung die Stellung eines ›Meistererzählers‹. Sein aufsehenerregendes Buch Joseph Roth: eine Biographie liefert entscheidende, unumgängliche Aufschlüsse über Joseph Roths Leben und Werk. 30 Dieser Forschungstendenz 31 ist aber vorzuhalten, dass sie durch die vorschnelle Verflechtung von Roths Lebensgeschichte mit seinem Werk zur Verbreitung und Legitimierung statischer, essentialistischer Auffassungen von Kultur und Identität implizit beiträgt. 32 Eine positivistische Verknüpfung seines Werkes mit seinem Leben birgt in sich die Gefahr, dass essentialistische Konzepte von Kultur, Identität und Text dadurch propagiert und so gefestigt werden, dass Joseph Roths Texte ausschließlich im Hinblick auf Habsburg gelesen werden. Eine Analyse von Roths Texten, die sich nur auf die Herstellung von Identitäten zwischen dem Leben des Autors und seinen Texten beschränkt, stumpft das Bedeutungspotenzial ab, das in Joseph Roths Texten - wie in jedem Text - steckt. Berücksichtigt wird zwar die Tatsache, dass Kunst und Literatur Roth sowie zahlreiche zeitgenössische Schriftsteller - u.a. Franz Kafka, Franz Werfel, Robert Musil usw. - in einem Zeitraum darstellen, in dem sie sich Klarheit über die eigenen Existenzgrundlagen verschaffen. 33 Aber es ist nicht zu übersehen, dass die traditionelle Roth-Forschung dazu beigetragen hat und dazu beiträgt, ein bestimmtes Joseph Roth-Bild festzulegen. Und solche Festlegungspraktiken lassen bewusst oder unbewusst eine Art Schweigen über andere mögliche Aspekte zu Joseph Roths Werk entstehen. Daher kann es als ein gewagtes Unterfangen erscheinen, Roths Werk im Hinblick auf dessen möglichen Afrika- oder Dritte-Welt-Bezug zu erschließen. Als wissenschaftlicher Leser 34 aber bin ich hinsichtlich der Grundfrage, wer Joseph Roth eigentlich war oder ist, in gewisser Weise ratlos und gespalten. Denn eine Unzahl von sowohl merkwürdig miteinander zusammenhän- 30 Wie der Leser feststellen wird, werden manche argumentative Aspekte aus David Bronsens Joseph Roth: eine Biographie in diese Arbeit sowohl einer Kritik unterzogen als auch zur Untermauerung mancher soziokultureller Tatbestände herangezogen. 31 Zu dieser Tendenz vgl. u.a. Reinhardt Baumgart, Auferstehung und Tod des Joseph Roth. Drei Ansichten, München, Wien: Carl Hanser Verlag 1991. Vgl. Helmut Nürnberger, Joseph Roth, mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, dargestellt von Helmut Nürnberger, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag 1981. Vgl. Daniel Keel et al. (Hg.), Joseph Roth. Leben und Werk, Zürich: Diogenes Verlag 2010. 32 Vgl. Telse Hartmann, Kultur und Identität. Szenarien der Deplatzierung im Werk Joseph Roths, Tübingen, Basel: A. Francke Verlag 2006. 33 Hansotto Ausserhofer, Joseph Roth und das Judentum. Ein Beitrag zum Verständnis der deutsch-jüdischen Symbiose im zwanzigsten Jahrhundert, Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Grades eines Doktors der Philosophie der Rheinischen Friedrich- Wilhelm-Universität, unveröffentlichtes Manuskript, Bonn, Juni 1970. 34 Das aus Gründen der besseren Lesbarkeit verwendete generische Maskulinum schließt gleichermaßen weibliche und männliche Leser ein. Einführung 20 gender als auch einander ausschließender Diskurse über Roths Lebensgeschichte überkreuzen sich und prallen zusammen, so dass aus diesem Kunterbunt ein Tod des Autors, ein Tod des Identischen, der Autorität implizit resultiert. Sebastian Kiefer fasst diese Krise des identischen Roth folgendermaßen zusammen: Joseph Roth - ein Mann aufrechter Gesinnung, der klaren Position, gar ein Mann des Engagements in Religion und Politik, ein Kämpfer für die Entrechteten dieser Erde oder: Joseph Roth, galizische Ahasver und Konvertit aus sozialem Kalkül, der weltflüchtige Individualist, der dem Absinth ergebene Bohemien, der melancholische Gaukler, ein Möchtegernmillionär, der im Namen ostjüdischer Bedürfnislosigkeit einer ganzen Zivilisation die Rechnung macht, der Tagträumer von den Freuden aristokratischen Daseins, vom altösterreichischen Offizier, vom Galant in Wichs und Rapier? 35 Diese Krise des Identischen oder der Autorität spitzt sich umso mehr zu, als Roth selbst widerspruchsvolle Aussagen über die eigene Lebensgeschichte hervorgebracht haben soll. 36 Die unterschiedlichen Rollen und Etikettierungen, die Joseph Roth zugesprochen oder zugeschrieben und die von Sebastian Kiefer als unvereinbar eingestuft werden, bekräftigen die These des Todes eines identischen Roth. „Wo denn der ‘wahre’ der eigentliche Roth zu suchen ist? “, 37 so lautet eben Kiefers Kernfrage, wobei es ihm keineswegs darum 35 Sebastian Kiefer, „Braver Junge - gefüllt mit Gift“: Joseph Roth und die Ambivalenz, Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler Verlag 2001, S. 3. „Man ist entweder Katholik oder Jude. Gerade dieser Eindeutigkeit entzieht sich der Mensch und Schriftsteller Joseph Roth […]“ Wolfgang Müller-Funk, Joseph Roth (Anm. 21), S. 9. 36 David Bronsens Buch, Joseph Roth: eine Biographie, wirft implizit auch die Frage der eigentlichen Identität Joseph Roths auf. „Und wie sollte man aus den widersprüchlichen Äußerungen der Freunde klug werden, die stets im Brustton der Überzeugung beteuerten: ‘Roth war schwermütig’; ‘Er war leichtlebig’; ‘Er liebte das Militär’; ‘Er haßte das Militär’; ‘Er war Leutnant in der k.u.k. Armee’; ‘Er hatte den Rang eines Einjährig-Freiwilligen’; ‘Er war ein Sozialist’; ‘Er war ein Monarchist’; ‘Er war Glaubensjude’; ‘Er war ein eifriger Katholik’; ‘Er war vereinsamt’; ‘Er war der geselligste Mensch, den man sich vorstellen kann’? “ Ebd. S. 12f. David Bronsen zufolge sei Joseph Roth selbst derjenige, der bewusst widersprüchliche Angaben über das eigene Leben in Umlauf gebracht und dadurch aus dem eigenen Leben, aus der Wirklichkeit eine Fiktion, aus der Fiktion eine Wirklichkeit gemacht habe (vgl. ebd. S. 13). „Und der Joseph Roth, der in dem ‘winzigen Nest’ Szwaby mit seinem Häuflein Slawen, Deutschen und Juden zur Welt kam, ist eine Erfindung; denn in Wirklichkeit wurde Roth in Brody geboren.“ Ebd. S. 31. Aus der Perspektive des Germanisten Wendelin Schmidt-Dengler legt die komplexe Biographie Joseph Roths nahe, dass „das Leben selbst zum Kunstwerk wird“. Wendelin Schmidt-Dengler, „Auf der Wanderschaft: Das Frühwerk Joseph Roths in den Literaturgeschichten“, in: Helen Chambers (Hg.), Co-existent contradictions: Joseph Roth in retrospect, papers of the 1989 Joseph Roths Symposium at Leeds University to commemorate the 50th anniversary of his death, University of Leeds: Ariadne Press 1991, S. 15-34, hier S. 22 37 Sebastian Kiefer, „Braver Junge - gefüllt mit Gift“: Joseph Roth und die Ambivalenz (Anm. 35), S. 2. Forschungsstand 21 geht, nach dem ›wahren‹ in Abgrenzung von einem ›falschen‹ Joseph Roth zu suchen. Von den unvereinbaren Rollen und Etikettierungen, die dem Schriftsteller zugeschrieben oder zugesprochen werden, geht Sebastian Kiefer aus, um sich mit der Frage der Ambivalenz (in Bezug auf Roths Lebensgeschichte) auseinanderzusetzen. Einleuchtend in Kiefers Darstellung ist die Auffassung von Joseph Roths Texten als offenen Artefakten. Dies wird durch die seiner Arbeit zentrale Kategorie ›Ambivalenz‹ kenntlich gemacht. Wenn Kiefer von ›Ambivalenz‹ spricht, meint er auch Roths konfliktuelle Verhältnisse mit Ordnung, Bindung und Autorität. 38 Dabei geht der Verfasser über die einfachen Etikettierungen hinaus, um der Funktion dieser Ambivalenz für Roths literarische Kreativität auf den Grund zu gehen. 39 Aus Sebastian Kiefers Hervorhebung der ambivalenten Dimension von Roths Texten bilden sich entscheidende Impulse heraus, die in diese Arbeit aufgenommen werden, und zwar in die differenzierte Form der Befragung und Hinterfragung eines möglichen Afrikabzw. Dritte-Welt-Bezugs von Roths Texten. Es gibt wissenschaftliche Arbeiten und Aufsätze, die Roths Werke unter der Problematik des Judentums beleuchten. Dazu zählt Katharina Ochses Untersuchung Joseph Roths Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus. 40 Die Verfasserin erkundet, wann, wie und mit welcher Intention Roth (als jüdischer Schriftsteller und Journalist) auf die Angriffe gegen seine Autorschaft sowie auf seine Person reagiert hatte. Katharina Ochse stützt sich dabei auf einige literarische und publizistische Texte Joseph Roths, die den Antisemitismus zum Thema haben. Im Mittelpunkt ihrer Analyse stehen u.a. Roths Romane Das Spinnennetz (1923), Tarabas. Ein Gast auf dieser Erde (1934) und der Essay Juden auf der Wanderschaft (1925/ 26/ 27). Was Katharina Ochse in ihrer Untersuchung zeigt, ist eine Konturierung von Joseph Roths publizistischen Darstellungs- und Sichtweisen des Antisemitismus, eine Gewinnung von Erkenntnissen über Roths Selbst- und Fremdwahrnehmung, eine Wissensaneignung über Roths Selbstverständnis als Jude und als Schriftsteller und nicht zuletzt ein Einblick in seine Identitätssuche und seine Poetik. 41 Die Untersuchung fußt auf Erkenntnissen der an Freud orientierten psychoanalytischen Antisemitismusforschung. Die Verfasserin geht hypothetisch davon aus, dass die Kontinuität des Antisemitismus trotz ständig sich ändernder gesellschaftlicher Voraussetzungen die Vermutung nahelege, seine Ursachen seien wesentlich auch psychischer Natur. 42 Aus stofflichen Gründen bezieht Katharina Ochse sowohl Roths Zeitungsartikel als auch Romane mit 38 Vgl. ebd. S. 12. 39 Vgl. ebd. S. 4f. 40 Vgl. Katharina Ochse, Joseph Roths Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus, Würzburg: Verlag Königshausen und Neumann 1999. 41 Vgl. ebd. S. 9f. 42 Vgl. ebd. S. 12. Einführung 22 ein und grenzt sich dadurch von einer binären Logik ab, 43 die Joseph Roths Werk in eine ›unreife, vorwiegend publizistisch orientierte‹ Frühphase einerseits und eine reife Spätphase als Verfasser von Romanen andererseits teilt. „Roth definiert sich als Schriftsteller und als Journalist und polemisiert wiederholt gegen die kulturkonservative Unterscheidung zwischen Dichtung und Journalismus“, 44 stellt die Verfasserin klar und betont überdies die „Überlappung von Journalistischem und Literarischem bzw. von Realem und Fiktionalem“, 45 die Joseph Roths Schreibprozess ausmacht. Katharina Ochse kommt zu dem Schluss, dass Joseph Roth die Grenzverwischung inszeniert. Gemeint ist jene Grenzverwischung „zwischen Antisemiten und Juden, zwischen der politischen Rechten und der Linken, zwischen Fiktion und Realität und zwischen ‘Dichtung’ und Journalismus, mithin zwischen ‘deutschem’ und ‘jüdischem’ Schreiben“, 46 zwischen Kulturen allgemein. Das Ergebnis, zu dem Katharina Ochse kommt, weist - aus der Perspektive vorliegender Arbeit - eine kulturwissenschaftliche Relevanz auf und wird dementsprechend als bestärkender Impuls in diese Arbeit aufgenommen, um die Grenzverwischung als Joseph Roths textuelle Strategie zu postulieren, die Müller-Funk prägnant auf den Punkt bringt: Wenn das Leben hingegen selbst als fiktional erfahren wird, als Roman, der jede fiktive, d.h. absichtsvolle Erfindung in den Schatten stellt, dann kommt es zu einer Umkehrung ästhetischer Paradigmen: das Sachlichste wird zum Imaginärsten, das jeder konstruierten Fiktion überlegen ist. Gutes Dichten ist - Roth zufolge - immer authentisch. 47 Katharina Ochse ist nicht die Einzige, die Roths Texte unter dem Blickwinkel des Judentums betrachtet. In Joseph Roth und das Judentum befasst sich Hansotto Ausserhofer ebenfalls mit diesem Themenkomplex. Rekonstruiert wird das Jüdische in Roths Werk von der stofflichen und formalen Seite her. Die Grundhypothese von Hansotto Ausserhofer lautet, „dass das Judentum für Roth eine Kategorie seines Denkens und Urteils bildete“. 48 Der Verfasser geht von einer Grunderfahrung zahlreicher jüdischer Autoren aus, nämlich von der Existenzkrise, um Roths Auffassung von jüdischem Sendungsauftrag zu beschreiben. Mit der Absicht, die Spannweite ›jüdischen Geistes‹ zu veranschaulichen, berücksichtigt Ausserhofer die Persönlichkeit genauso wie das 43 Auf die bedenkliche binäre Trennung von Joseph Roths Texten in ›geringschätzigen‹ publizistischen ›Brotberuftexten‹ einerseits und wertvollen Romanen anderseits wird in dieser Arbeit auf S. 36-39 eingegangen. 44 Ebd. S. 11. 45 Ebd. 46 Ebd. S. 214. Näheres dazu ist ebenda S. 214-218 zu erhalten. 47 Wolfgang Müller-Funk, Joseph Roth (Anm. 21), S. 13. Joseph Roth war der Überzeugung, dass „das Leben selbst als eine Art Roman zu begreifen ist“ (ebd. S. 16). 48 Hansotto Ausserhofer, Joseph Roth und das Judentum (Anm. 33), S. 1 Forschungsstand 23 Werk des aus Prag stammenden deutschschreibenden Juden Franz Kafka. 49 Ausserhofer eröffnet auch eine Diskussion über den eigentlichen Standort von Joseph Roths Judentum im Spannungsfeld von Antisemitismus und Zionismus. Dabei analysiert er auch die Eigentümlichkeit von dessen religiöser und politischer Weltanschauung. 50 Die Behandlung von Roths Texten unter dem Aspekt des Judentums hat angesichts der Tatsache, dass Roth selbst ostjüdischer Abstammung war, einen gewissen Stellenwert, aber eine ausgeprägte Betrachtung dieser Texte unter diesem Aspekt birgt die Gefahr, dass sein Werk dadurch eine ethnozentrische Färbung bekommt. Das Anregende aber in der Erschließung der jüdischen Frage im Werk Joseph Roths liegt m.E. in der Hervorhebung der Figur des jüdischen Flüchtlings als soziopolitischer Kategorie, als Verkörperung unheimlichen Lebens. Und mit dem grundlegenden Konzept dieser Arbeit - Marginalität - werden u.a. unheimliche Existenzformen in den Mittelpunkt gerückt. 51 In seinem Joseph Roth und die Ästhetik der Neuen Sachlichkeit 52 betitelten Buch konfrontiert Jürgen Heizmann Roths Werke mit einer literarischen Strömung: der ›Neuen Sachlichkeit‹. Heizmanns Grundthese lautet, Joseph Roth sei ein hervorragender Vertreter der „Neuen Sachlichen“ 53 Ästhetik. Der Verfasser stellt vier Aspekte in den Vordergrund: erstens die Desillusionierung als kennzeichnendes Merkmal der ›Neuen Sachlichkeit‹. Dabei wird von einer künstlerischen Antwort auf entscheidende Veränderungen im alltäglichen Leben des modernen Individuums gesprochen, u.a. auf das Eingesperrt- Sein in einer anonymen Masse, auf die Funktionalisierung und die Entzaube- 49 Ein mächtiges Verlangen zu schreiben vereinige Franz Kafka und Joseph Roth, um sich so am Leben zu erhalten (vgl. ebd. S. 42). 50 Weiterführende Texte in dieser Richtung u.a. vgl. Eva Raffel, Vertraute Fremde. Das östliche Judentum im Werk von Joseph Roth und Arnold Zweig, Tübingen: Gunter Narr Verlag 2002. Vgl. Dietmar Mehrens, Vom göttlichen Auftrag der Literatur: die Romane Roths; ein Kommentar, Vorwort von Helmuth Nürnberger, Hamburg: Libri books on demand 2000. Vgl. Volker Henze, Jüdischer Kukturpessimismus und das Bild des Alten Österreich im Werk Stefan Zweigs und Joseph Roths, Heidelberg: Winter Verlag 1988. Vgl. Joachim Frank Eggers, „Ich bin ein Katholik mit jüdischem Gehirn“: Modernitätskritik und Religion bei Joseph Roth und Franz Werfel; Untersuchungen zu den erzählerischen Werken, Frankfurt/ Main, Wien u.a.: Lang 1996. Vgl. Sonja Otte, Joseph Roth und das Judentum, Inauguraldissertation zur Erlangung der Doktorwürde an der Neuphilologischen Fakultät der Ruprecht-Karls- Universität Heidelberg, Oktober 2001. 51 Siehe Teil 2 dieser Arbeit. 52 Jürgen Heizmann, Joseph Roth und die Ästhetik der Neuen Sachlichkeit, Heidelberg: Mattes Verlag 1990. 53 Ebd. S. 8. Vgl. dazu Ulrich Greiner, „Joseph Roth“, in: Daniel Keel et al. (Hg.), Joseph Roth. Leben und Werk, Zürich: Diogenes Verlag 2010, S. 207-235, hier S. 222. Einführung 24 rung der Welt 54 sowie auf den „Verlust an Totalität“. 55 Die Wirklichkeit wird vom Individuum als Fragment bzw. als Bruchstück wahrgenommen. Diese Veränderungen im Leben führten auch zu Veränderungen im Bereich der Kunst bzw. Literatur. 56 Der moderne Romanheld erscheint künftig vielmehr als entwurzelter, ewig suchender Mensch. Heizmann geht von diesen Gedanken aus, um Roths Romanhelden als „Heimatlose, Flüchtende, Wartende, die keine befriedigende Lebensmöglichkeit in der versachlichten Welt finden können“, 57 zu beschreiben. Jürgen Heizmann unterstreicht, dass sich Roths Romanhelden an eine Welt mit gesicherten Werten erinnern. Sie messen die Gegenwart an der Vergangenheit und zerbrechen an der Unmöglichkeit, diese vergangene Welt wieder zu erreichen. 58 Aus einer solchen Analyse gehen unverkennbare Denkanstöße hervor, um sich mit Roths Figuren auseinanderzusetzen. Das Bedenkliche an einem solchen Ansatz ist, dass er implizit eine totalitäre Darstellungsweise zu legitimieren scheint, bei der die Vergangenheit bzw. sogenannte verlorengegangene Werte zu „self imposed limitations“, 59 zu transzendentalen Kategorien, erhoben werden. Ein solcher Deutungsansatz zeugt von einer teleologischen Geschichtsauffassung. Übersehen wird die Ambivalenz, die dekonstruktive Kraft, die Roths Texte entfalten und auf die Sebastian Kiefer u.a. hinweist. 60 Jürgen Heizmann beschäftigt sich mit der Krise des modernen Romans als zweitem Aspekt, einer Krise, die er als logische Folge der veränderten Wirklichkeit sieht. Aufgrund der Zersplitterung der Welt in ein undurchschaubares Chaos kann der Erzähler nicht mehr 54 Vgl. Jürgen Heizmann, Joseph Roth und die Ästhetik der Neuen Sachlichkeit (Anm. 52), S. 7. 55 Ebd. 56 Solche Motive sind auch bei anderen literarisch-künstlerischen Avantgarde- Bewegungen der Moderne (u.a. Naturalismus, Expressionismus, Dadaismus, Surrealismus, Futurismus, Kubismus usw.) anzutreffen, deren jeweilige Modernität in der Art der Antworten bestand, die jeweils jede Bewegung angesichts veränderter herausfordernder Wirklichkeit brachte. Näheres dazu vgl. u.a. Otto F. Best (Hg.), Theorie des Expressionismus, Stuttgart: Philipp Reclam 1976. Ders. (Hg.), Die deutsche Literatur. Expressionismus und Dadaismus. Ein Abriß in Text und Darstellung, Band 14, Stuttgart: Phillip Reclam 1974. Vgl. Philip Ajouri, Literatur um 1900. Naturalismus - Fin de Siècle - Expressionismus, Berlin: Akademie Verlag 2009. Vgl. Thomas Anz, Literatur des Expressionismus, 2. aktualisierte und erweiterte Auflage, Stuttgart, Weimar: Verlag J.B. Metzler 2010. Vgl. Armin Arnold, Die Literatur des Expressionismus. Sprachliche und thematische Quellen, Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz: W. Kohlhammer Verlag 1966. Vgl. Thomas Anz/ Michael Stark (Hg.), Die Modernität des Expressionismus, Stuttgart/ Weimar: Verlag J.B. Metzler 1994. 57 Jürgen Heizmann, Joseph Roth und die Ästhetik der Neuen Sachlichkeit (Anm. 52), S. 21. 58 Ebd. 59 Paul Michael Lützeler, „From Postmodernism to Postcolonialism. On the interrelation of the discourses“, in: Internet Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Trans Nr. 11, Dezember 2001, S. 1-9, hier S. 1. 60 Vgl. Sebastian Kiefer, Joseph Roth und die Ambivalenz (Anm. 35). Forschungsstand 25 als Allwissender wirken. An der Fähigkeit des Erzählens sowie an der Möglichkeit, durch das Erzählen die Erfahrung mitzuteilen, wird gezweifelt. 61 Deshalb werden andere künstlerische Ausdrucksmittel in die Literatur einbezogen u.a. bildende Kunst, Film, Malerei, Musik usw. 62 Im dritten und vierten Gesichtspunkt setzt sich Heizmann jeweils mit der ›Neuen Sachlichen‹ Wirklichkeits- und Sprachauffassung auseinander. Die ›Neue Sachlichkeit‹ - sogenannte „Rückkehr zur Nüchternheit nach dem expressionistischen Sturm“ 63 wollte die Wirklichkeit objektiv darstellen. 64 Im Grunde ist dieses ›Neue Sachliche‹ Prinzip der objektiven Wirklichkeitsdarstellung mit der ›Neuen Sachlichen‹ Sprachauffassung eng verbunden. Die Sprache wird lediglich als ein Mittel betrachtet, um die Wirklichkeit abzubilden: eine rein instrumentale Sprachauffassung. 65 Heizmann macht aber darauf aufmerksam, dass Joseph Roths Texte diese Sprachauffassung untergraben. 66 Die ›neusachliche‹ Wirklichkeitsbzw. Sprachauffassung gelangt bei Roth zu ihrer Entfaltung, aber gleichzeitig auch zu ihrer Krise. Denn seine ›neusachliche Schreibweise‹ hat wenig bis fast nichts mit dem naturalistisch-realistischen Siegeszug des 19. Jahrhunderts zu tun. 67 „Er ist vielmehr ein Autor des neuen Zeitalters […]“ 68 Wenn Müller-Funk von ›neuem Zeitalter‹ spricht, weist er sowohl auf die „klassische österreichische Moderne“ 69 wie vor allem auch auf ein „‘postmodernes’ Lebensgefühl“ 70 hin. Es handelt sich um ein Gefühl, das sich, wie es sich in dieser Arbeit zeigen wird, bei manchen Roth-Figuren als Erfahrung der Spaltung des Selbst, als Erfahrung des Unheimlichen, als Erfahrung der Differenz und der Interdependenz artikuliert. Das Funktionieren der Sprache in Roths Texten suggeriert, dass es keine Wirklichkeit (als reine objektive 61 Jürgen Heizmann, Joseph Roth und die Ästhetik der Neuen Sachlichkeit (Anm. 52), S. 7. 62 Vgl. Henri R. Paucker (Hg.), Die deutsche Literatur in Text und Darstellung. Neue Sachlichkeit. Literatur im ›Dritten Reich‹ und im Exil, Band 15, Stuttgart: Philipp Reclam 1974. Vgl. Philip Ajouri, Literatur um 1900. Naturalismus - Fin de Siècle - Expressionismus (Anm. 56), besonders S. 55-67. 63 Henri R. Paucker, „Einleitung“, in: ders. (Hg.), Die deutsche Literatur in Text und Darstellung. Neue Sachlichkeit. Literatur im ›Dritten Reich‹ und im Exil (Anm. 62), S. 9-15, hier S.13. 64 Vgl. Jürgen Heizmann, Joseph Roth und die Ästhetik der Neuen Sachlichkeit (Anm. 52), S. 8. Weiterführendes über die neusachliche Ästhetik vgl. Henri R. Paucker (Hg.), Die deutsche Literatur in Text und Darstellung. Neue Sachlichkeit. Literatur im ›Dritten Reich‹ und im Exil (Anm. 62). 65 Vgl. ebd. S. 9. 66 Vgl. ebd. 67 Wolfgang Müller-Funk, Joseph Roth (Anm. 21), S. 12. 68 Ebd. 69 Ebd. 70 Ebd. S. 12 und 21. Einführung 26 Faktizität) außerhalb der Sprache gibt. 71 Die Wirklichkeit und der Mensch erweisen sich als Sprachbzw. Diskurskonstrukte. Laut Heizmann ist die Sprache bei Roth „kein bloßes Werkzeug, sondern […] eine Kraft, die Wirklichkeit erst gebiert“. 72 Die Sprache eines Individuums bestimmt seine Selbstbzw. Fremdwahrnehmung. „So ist die Wirklichkeitserfahrung der Roth’schen Protagonisten durch ihre Sprache bestimmt.“ 73 Unter Sprache ist - in diesem Zusammenhang und im weiteren Sinne - die Geschichte, das kulturelle Machtdispositiv, das Unbewusste sowie das Kommunikationsmittel Sprache im engeren Zusammenhang zu verstehen. Heizmanns Überlegungen eröffnen dennoch einen weiteren Diskussionsraum, der in dieser Untersuchung stellenweise weiterverfolgt werden könnte: die Diskussion über das Verhältnis von Sprache und Selbstbzw. Fremderfahrung - auf Roths Hauptprotagonisten bezogen. Welche Sprache sprechen Roths Romanhelden? Verfügen sie überhaupt über eine Sprache in ihrem durch Diaspora, Migration, Krieg und Exil geprägten Leben? In welchem Verhältnis stehen sie zur ›Sprache des Zentrums‹? Was heißt sprechen in einer solchen Konstellation? 74 In den Blick dieses Diskussionspunkts geraten u.a. die Figuren Andreas Kartak aus Die Legende vom heiligen Trinker, der blonde Neger Guillaume aus Joseph Roths gleichnamigem essayistischem Text Der blonde Neger Guillaume, die Bewohner der galizischen Grenzschenke aus Das falsche Gewicht und die slawischen Minderheiten aus Radetzkymarsch. Anhand erwähnter Gestalten lässt sich die grundsätzliche Frage der imperialen Begegnung sichtbar machen. Zentralbzw. Osteuropa ist auch ein Raum, wo Menschen die Erfahrung von dem gemacht haben, was sprechen heißt. 75 Und die Frage der Sprache wirft unvermeidlich auch Fragen von Kultur und Identität auf. In dem Kultur und Identität. Szenarien der Deplatzierung im Werk Joseph Roths betitelten Buch befasst sich Telse Hartmann mit Roths Werk unter einer kulturwissenschaftlichen Perspektive. Der Ausgangspunkt von Hartmanns Überlegungen ist ihre doppelte Abgrenzung erstens von der traditionellen biographisch orientierten Roth-Rezeption, die vorwiegend auf essentialistische Auffassungen kultureller Identifikation fokussiert, und zweitens von 71 Vgl. ebd. S. 9. Vgl. Jürgen Heizmann, Joseph Roth und die Ästhetik der Neuen Sachlichkeit (Anm. 52), S. 9. 72 Ebd. 73 Ebd. 74 Auf diese Sprach- und Kommunikationslosigkeit von Joseph Roths Haupthelden weist Müller-Funk hin. Vgl. Wolfgang Müller-Funk, Joseph Roth (Anm. 21), S. 23 und 26. 75 Im Übrigen macht Wolfgang Müller-Funk auf die deutschmitteleuropäische Funktion der Donaumonarchie in der kulturellen Kolonisation Osteuropas aufmerksam. Vgl. Wolfgang Müller-Funk/ Birgit Wagner (Hg.), „Diskurse des Postkolonialen in Europa“, in: dies. (Hg.), Eigene und Andere Fremde. „Postkoloniale“ Konflikte im europäischen Kontext, Wien: Verlag Turia+Kant 2005, S. 9-27. Was heißt für einen Kolonisierten sprechen? Auf diese Frage geht Frantz Fanon im ersten Kapitel, „Le Noir et le langage“ (Der Schwarze und die Sprache) ein. Vgl. Frantz Fanon, Peau noire, masques blancs, Paris: Éditions du Seuil 1952, S. 13-32. Forschungsstand 27 Ute Gerhard, die in Nomadische Bewegungen und die Symbolik der Krise. Flucht und Wanderung in der Weimarer Republik 76 die These vertritt, dass Roths Texte ihren Protagonisten nicht nur keine Identität im plastischen Sinne des Wortes zuerkennen, sondern „Identität vollständig unterminieren“. 77 Hartmann distanziert sich von Ute Gerhards These, indem sie diese als „radikale Negativität“ 78 bezeichnet. In Ute Gerhards Analyse werden verschiedene Diskurse über die Wanderungsbewegungen während des Interbellums der 1920er und 1930er Jahre angeführt. In der damaligen Wanderungspolitik herrschte eine binäre Opposition von negativen und positiven Wanderungsbewegungen. Dabei wurden „negativ induzierte Symbole des Nomadischen, der Zerstreuung und der Vermischung einer positiv konnotierenden Serie von regulierten und reterritorialisierten (Massen)Bewegungen“ 79 gegenübergestellt. Der Nationalsozialismus machte sich diese dichotomischen Diskurse zunutze, um ihre auf Rassen- und Sozialhygiene gerichtete Politik zu begründen und zu legitimieren. Der Zustrom von jüdischen Flüchtlingen aus Osteuropa wurde ausschließlich als potenzielle Gefahr eingestuft. Die Bevölkerungswissenschaft entwarf zum Beispiel die Gefahr einer Unterwanderung des deutschen Volkes durch unkontrollierte Flüchtlingsströme aus dem Osten. Die Rassenhygiene warnte vor Panmixie mit eugenisch minderwertigen Rassen, denen insbesondere die ostjüdischen Einwanderer, denotiert als ‘Eindringlinge’ oder ‘Schädlinge’, zugerechnet wurden. Sozialhygiene und Entomologie entwickelten Methoden zur wirksamen Bekämpfung von Seuchen, Schädlingen und Parasiten, deren Übertragung sie vor allem den ostjüdischen Zuwanderern zuschrieben. 80 Ute Gerhard unterstreicht, so Telse Hartmann, „die Produktivität von Roths Texten im Kontext des zeitgenössischen Wanderungsdispositivs“. 81 Zur Bekräftigung der eigenen Arbeitshypothese eignet sich Hartmann teilweise Ute Gerhards Perspektive an, nach der Joseph Roths Texte eine Rhetorik der De- 76 In diesem Buch ist Ute Gerhard u.a. darum bemüht, sichtbar zu machen, wie jüdische und osteuropäische Einwanderer vor dem Hintergrund von Grenzziehungspraktiken im Europa der Vor- und Nachkriegszeit zu Subjekten oder Objekten politischer Diskriminierung und sozialer Ausgrenzung gemacht wurden. In Joseph Roths Texten u.a. sieht Ute Gerhard das diskursive Potenzial vorhanden, das die binären Wanderungslogiken und Rassenpolitiken der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unterminiert. Vgl. Ute Gerhard, Nomadische Bewegungen und die Symbolik der Krise. Flucht und Wanderung in der Weimarer Republik, Opladen/ Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1998, S. 202-227. 77 Telse Hartmann, Kultur und Identität (Anm. 32), S. 18f. 78 Vgl. ebd. S. 19. 79 Ebd. S. 17. 80 Ebd. 81 Ebd. Einführung 28 territorialisierung und Reterritorialisierung entwickeln. 82 Telse Hartmann grenzt sich dennoch von Ute Gerhards These ab, nach der Joseph Roths Texte ihren Protagonisten Identität überhaupt abschlügen. 83 Daher setzt sich Telse Hartmann zum Ziel, Ute Gerhards radikale These zu differenzieren. 84 Hartmann meint, Roths literarische Inszenierungen hielten sich nicht im Rahmen einer derartigen radikalen Negativität. 85 Der biographisch orientierten Roth-Forschung wirft Hartmann vor, Roths Leben mit seinem Werk kurzerhand zu verbinden und dadurch eine essentialistische Auffassung von Kultur und Identität zu legitimieren. 86 Sie schildert ganz zielgerichtet, was sich in Roths Texten abspielt, nämlich die Verquickung von Diskursen der Deplatzierung mit solchen der räumlichen und kulturellen Fixierung […] Einerseits sind viele Protagonisten der Romane und Erzählungen Roths unbehauste, nomadische Figuren, die sich auf einer nicht endenden Flucht befinden. Andererseits bleibt die Idee einer Heimat, wenn auch im Sinne eines immer schon verlorenen Ortes, dennoch präsent. 87 Telse Hartmann distanziert sich dadurch von einer klassischen Roth- Forschung, die (laut Hartmann) dazu neige, „den Texten Roths eine Tendenz zur Wertung der (Heimat-) Gebundenheit als ursprünglichem und unentfremdetem Zustand zuzuschreiben“. 88 Unter Heimatgebundenheit versteht Telse Hartmann u.a. folgende vier thematische Fixpunkte, die die klassische Roth- Forschung auszeichnen: erstens „Roths Darstellung der untergegangenen Donaumonarchie“; zweitens „Roths Thematisierung eines - im Zuge von Modernisierung und Assimilation marginalisierten - traditionellen Ostjudentums oder eines Katholizismus, die beide religiös verankerte Identitäten verbürgten“; drittens „die Literarisierungen jener - entweder zurückgelassenen oder aber fernen - Räume und Landschaften wie z.B. Galizien, Wolhynien, Südfrankreich oder Sibirien, die für geographisch gebundene Identifikationen einständen“; und viertens „den Entwurf von ideologisch definierten Identitäten, die sich aus der Ausrichtung am Sozialismus, vornehmlich in Roths Frühwerk, oder am Legitimismus, in seinem Spätwerk, ergäben“. 89 Solche Heimatgebundenheiten prägen zwar Joseph Roths Texte, diese lassen sich aber keineswegs darauf reduzieren, so die Arbeitsthese von Telse Hartmann. Was die Verfasserin der klassischen Roth-Forschungstendenz außerdem vor- 82 Vgl. Ute Gerhard, Nomadische Bewegungen und die Symbolik der Krise (Anm. 76), S. 208f. 83 Vgl. ebd. S. 205. Vgl. Telse Hartmann, Kultur und Identität (Anm. 32), S. 17. 84 Vgl. Telse Hartmann, Kultur und Identität, ebd. S. 19. 85 Vgl. ebd. 86 Vgl. ebd. 87 Ebd. S. 14. 88 Ebd. Näheres dazu ist ebenda zu erhalten. 89 Ebd. S. 15. In diesen vier Punkten fasst Telse Hartmann die klassische Roth-Forschung zusammen. Näheres ist in den Fußnoten ebenda zu erhalten. Forschungsstand 29 wirft, ist die Vernachlässigung jener literarischen und journalistischen Texte Roths, die die Sprache der historisch-politischen, religiösen oder geographischen Fixierung kritisch reflektieren und eine Rhetorik der Deplatzierung ins Spiel bringen. 90 Ob und wie Roths Texte kulturelle Identitäten als condition of betweenness entwerfen, 91 ist u.a. eine der Fragen, auf die die Untersuchung von Telse Hartmann eine Antwort bringt. Telse Hartmann stellt diese Frage im Hinblick auf den gesellschaftlichen und kulturellen Entstehungskontext von Joseph Roths Texten. Seine Texte partizipieren an den zeitgenössischen Debatten über Krieg, Migration, Exil, Technik, Mechanisierung, nationale Identität, kulturelle Differenzen, imperiale und koloniale Unterdrückung. Es handelt sich um Phänomene, die zur radikalen Veränderung der Wirklichkeit führten und somit zur Veränderung von deren Wahrnehmung durch das Subjekt: „Landflucht“, „Zerfall des sozialmoralischen Milieus“, „Flüchtlingsbewegungen“. 92 Telse Hartmanns Darstellung des soziohistorischen Entstehungskontextes von Roths Texten zielt darauf ab, die Arbeitskonzepte Lokalisierung und Deplatzierung in den Mittelpunkt zu rücken. Telse Hartmanns Untersuchung versteht sich als eine kritische Überprüfung beider Positionen - der von Ute Gerhard und der von der klassischen Roth-Forschung - in Anlehnung an James Cliffords kulturwissenschaftlichen Ansatz, „nach dem Kultur und Identität im Spannungsfeld von Deplatzierung und Lokalisierung zu situieren sind […]“. 93 Einer Rhetorik der Heimatlosigkeit und des Verlustes setzt Hartmann „eine Rhetorik der Deplatzierung“ 94 entgegen. Mit dem ihrer Arbeit grundlegenden Begriff, ›Rhetorik der Deplatzierung‹, hebt Hartmann jene Texte von Joseph Roth hervor, „die statt Verwurzelungsgeschichten Geschichten von Abbruch, Durchreise oder Ankunft, von fortgesetzten oder unterbrochenen Bewegungen erzählen“. 95 Hartmann geht es aber nicht darum, eine These des Nomadismus in binärer Opposition zur herkömmlichen These der Heimatsuche zu legitimieren, sondern darum, „die Repräsentation von Kulturen zwar vom Konzept der Bewegung her neu ins Bild zu rücken, sie dabei aber immer an Prozesse der Fixierung zurückzubinden“. 96 Theoretisch gesehen macht sich Hartmann Kategorien und Gedanken der angloamerikanischen Kulturanthropologie und der postkolonialen Theorie zu eigen. In Anlehnung an James Cliffords eröffnete „Writing- 90 Vgl. ebd. 91 Vgl. ebd. S. 16. 92 Ebd. 93 Ebd. 94 Ebd. S. 16. 95 Ebd. 96 Ebd. Einführung 30 Culture-Debatte“ 97 begründet Telse Hartmann einen prozessualen Kulturbegriff am Beispiel von Roths Texten, die Deplatzierungen thematisieren. Die 97 ›Writing-Culture‹, eine Bezeichnung für eine Debatte, die in den 1980ern in der angloamerikanischen Kultur- und Sozialanthropologie als Abkehr von der klassischen Ethnologie und Ethnographie entstanden ist. Beiden letzteren Disziplinen wird vorgeworfen, ins Projekt des Kolonialismus verwickelt und somit nicht in der Lage zu sein, die Andersheit fremder Kulturen zu repräsentieren. Dieses Unvermögen wird auf den eurozentristischen Charakter dieser Disziplinen zurückgeführt. Es handelt sich um jene überkommenen ethnographischen Repräsentationsformen, in denen der Ethnologe oder Anthropologe als transzendentaler Signifikant, als Autorität fungiert. Dabei wird das Erkenntnisobjekt strategisch und methodisch zum Verstummen gebracht. Zur Reduzierung dieser Kluft sieht Martin Fuchs drei Ansatzpunkte vor: „die ethnologische Erforschung einer Gesellschaft durch Angehörige dieser Gesellschaft selbst (1); die Umsetzung der Erkenntnis, daß die Forschung einen interaktiven und dialogischen Prozeß zwischen mindestens zwei Seiten darstellt, in dem Themen und Szenario der Forschung faktisch gemeinsam ausgehandelt werden (2); schließlich die Anwendung des ethnologischen Blicks auch auf die eigene Gesellschaft und Kultur des Forschers - unter den heutigen Bedingungen heißt das speziell die westliche Gesellschaft und Kultur (3).“ Martin Fuchs, „Die Umkehr des ethnologischen Blicks. Versuche der Objektivierung des eigenen kulturellen Horizonts“, in: Eberhard Berg/ Jutta Lauch/ Andreas Wimmer (Hg.), Ethnologie im Widerstreit: Kontroversen über Macht, Geschäft, Geschlecht in fremden Kulturen, Festschrift für Lorenz G. Löffler, München: Trichster Verlag 1991, S. 311-332, hier S. 312f. Die Writing- Culture-Debatte geht davon aus, dass Kulturen eben Texte sind. Denn sie vermögen es, für sich zu sprechen. Beispielhaft für eine solche koloniale Kulturdarstellung steht Bronislaw Malinowskis berühmt-berüchtigte Monographie über die melanesischen Inselkulturen, Argonauts of the Western Pacific (1922). Die Monographie Malinowskis bettet sich in jene globalen Erzählungen über die Weltgeschichte, in denen ›die nichtwestliche Welt‹ als textuelles Niemandsland dargestellt wird. Das Konzept der ›Writing-Culture‹, die Vorstellung von „Kultur als Text“ verfolgt das Ziel, die Andersheit fremder Kulturen zum Ausdruck zu bringen, wobei Kultur nicht als „Instanz“, sondern vielmehr als „ein Kontext“ aufgefasst wird, in dem „gesellschaftliche Ereignisse, Verhaltensweisen, Institutionen oder Prozesse […] beschreibbar sind“. Clifford Geertz, Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, übersetzt von Brigitte Luchesi und Rolf Bindemann, Frankfurt/ Main: Suhrkamp Verlag 1983, S. 21. In diesem Zusammenhang nimmt Clifford Geertzs Arbeitskonzept - ›Dichte Beschreibung‹ - eine wegweisende Stellung ein. Weiterführende Literatur zur Writing-Culture-Debatte u.a. vgl. James Clifford, „Introduction: Partial Truths“, in: James Clifford/ E. Marcus (Hg.), Writing Culture. The poetics and politics of ethnography, a School of American Research Advanced Seminar, Berkeley, Los Angeles, London: University of California Press 1986, S. 1- 26. Vgl. ders. „On Ethnographic Allegory“, in: ders. (Hg.), Writing Culture, ebd. S. 98-121. Vgl. ders. „On Ethnographic Authority“, in: ders. (Hg.), The Predicament of Culture, Twentieth-Century Ethnography, Literature and Art, Cambridge, London u.a.: Harvard University Press 1988. S. 21-54. Vgl. ders. Routes: travel and translation in the late twentieth century, Cambridge, Massachusetts: Harvard University Press 1997. Vgl. Brigitta Hauser-Schäublin, „Teilnehmende Beobachtung“, in: Bettina Beer (Hg.), Methoden und Techniken der Feldforschung, Berlin: Dietrich Reimer Verlag 2003, S. 33-54. Vgl. Doris Bachmann Medick, (Hg.), Kultur als Text. Die anthropologische Forschungsstand 31 Verfasserin präzisiert die drei Grundschritte ihrer Arbeit. Im ersten Schritt („Kapitel 2: Kulturelle In- und Exklusionen: Grenzen und Grenzräume“) 98 befasst sich Hartmann mit Grenzziehungspraktiken im Europa der Zwischenkriegszeit. Untersucht wird, wie Joseph Roths Texte kulturelle Grenzziehungen - die Strategie zur (territorialen) Fixierung von Identitäten und Kulturen - praktizieren und thematisieren und welchen Stellenwert die Gegenstrategie der kulturellen Entgrenzung erhält, durch welche Phänomene kultureller Deplatzierung und Hybridität hervorgebracht werden können. 99 Telse Hartmann eröffnet ihre Darstellung mit Beispielen von Grenzziehungspraktiken u.a. erstens der einteilenden Terrainmarkierung mithilfe einer reellen oder virtuellen Linie, die als Grenze zwischen einem Diesseits und Jenseits fungiert, zweitens der rhetorischen Grenzziehung, bei der das Eigene in Abgrenzung von einem als minderwertig oder defizitär ausgegebenen Anderen definiert wird. 100 Daraus geht hervor, dass Identitäten durch Praktiken der In- und Exklusion konstruiert oder destruiert werden können. Aus solchen Praktiken ist eine „dichotomische Kartierung der Welt“ 101 herausgewachsen. Telse Hartmann überträgt solche Identitätspolitiken auf das Europa der Zwischenkriegszeit, in der eine ähnliche Politik der Identität im Zuge staatlichnationaler Grenzziehungen im Kurs war. Das Versailler Friedensabkommen setzte den großen Vielvölkermonarchien (Russland, Österreich-Ungarn und dem Osmanischen Reich) ein Ende und löste eine Neukartierung Europas nach dem Nationalitätenprinzip des 19. Jahrhunderts und dem 14-Punkte-Plan des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson aus. Ziel war es, demokratische und homogene Nationalstaaten zu formen, territorial-staatliche Grenzen mit sprachlich-ethnischen Grenzen zu decken. 102 Dieses Experiment erwies sich in ehemaligen Monarchien aber als ein kompliziertes Unterfangen, denn unterschiedliche Nationalitäten waren es in diesen Monarchien gewohnt, neben- und miteinander zu leben. Der Umgang mit dieser vielschichtigen staatlichen Gemengelage stellte die Ideale des Versailler Abkommens auf eine harte Probe. 103 Die Minderheitenproblematik blieb nach wie vor ungelöst. „Die Staaten wurden zu Experimentierfeldern zwangsweise vollzogener nationaler Homogenisierungsversuche, die sowohl Deterritorialisierungen - Wende in der Literaturwissenschaft, mit Beiträgen von James Clifford, Vincent Crapanzano, Phyllis Gorfain, Richard Handler/ Daniel A. Segal und Christopher L. Miller, Frankfurt/ Main: 1996. Vgl. Charlotte Aull Davies, Reflexive Ethnography. A guide to researching selves and others, London, New York: Fischer Taschenbuch Verlag 1999. 98 Telse Hartmann, Kultur und Identität (Anm. 32), S. 20-90. 99 Ebd, S. 20. 100 Vgl. ebd. 22f. 101 Ebd. S. 22. 102 Vgl. ebd. S. 24. 103 Vgl. ebd. Einführung 32 Ausweisungen - als auch Reterritorialisierungen - Internierungen und Assimilationsmaßnahmen - umfassen.“ 104 Die Verfasserin setzt sich zum Ziel, diese Frage der Grenzziehung und die damit einhergehenden diskursiven Praktiken anhand der Figur der Grenze zu erwägen, wie die in Joseph Roths Texten inszeniert wird. 105 Telse Hartmann lenkt u.a. das Augenmerk auf die durch das Nationalitätenprinzip staatenlos gewordenen Menschen, die Opfer einer Logik der trennenden In- und Exklusionen sind: 106 ostjüdische Flüchtlinge, die Minderheiten der Sinti und Roma, aus der ›Dritten Welt‹ in europäischen Metropolen lebende Migranten. „Roths Texte“, so Hartmann, „verleihen den Stimmen der Staatenlosen Gehör und pochen darauf, dass es keineswegs nur die Stimmen von zu vernachlässigenden Einzelfällen seien.“ 107 Joseph Roths Texte treten für die unterdrückte Menschheit ein. 108 Diese Aussagen Telse Hartmanns begründen das Vorhanden-sein einer Ästhetik der Marginalität bei Joseph Roth. Hartmann setzt einen Akzent auf die in Roths Texten thematisierten Menschen, die durch die Beschlüsse des Pariser Vertrages staatenlos geworden sind. Es ist trotzdem nötig zu unterstreichen, dass die Staatenlosigkeit bloß eine Dimension der Marginalität darstellt. Aber der Besitz eines Staatsangehörigkeitsnachweises oder irgendwelcher kapitaler Vorteile schützt nicht vor der Erfahrung der Marginalität, wie diese in dieser Untersuchung artikuliert wird, nämlich als Differenz- und Interdependenzerfahrung, als Erfahrung der Spaltung des Selbst, als die Auseinandersetzung mit bestimmten Grenzsituationen. Die Absurditäten kolonialer Grenzziehungspratiken erfolgten auch bei Grenzziehungen im kolonialen Afrika. In der Berliner Kongo-Konferenz von 1884 einigten sich europäische Mächte über die Rettung ihrer wirtschaftlichen Interessen und teilten sich ›den afrikanischen Kuchen‹ in Herrschaftsgebiete - ohne Rücksicht auf ethnische, sprachliche und kulturelle Begebenheiten sowie auf das Los der Durchschnittsmenschen. 109 Afrika oder die ›Dritte Welt‹ bildet zwar einen marginalen, deshalb aber nicht unwichtigen Aspekt der Marginalität in Joseph Roths Texten. Da dieser Aspekt in Telse Hartmanns Auseinandersetzungen en pas- 104 Ebd. 105 Vgl. ebd. S. 25-89. 106 Vgl. ebd. S. 43-65. 107 Ebd. S. 47. 108 Ebd. S. 50. 109 Kritisches über die Berliner Kongo-Konferenz vgl. Thea Büttner/ Hans-Ulrich Walter (Hg.), Colonialism, neocolonialism, and the anti-imperialist struggle in Africa, Marxist Studies on the Berlin Conference 1884/ 85, special issue 13, Asia, Africa, Latin America, Berlin: Akademie Verlag 1984. Vgl. H. L. Wesseling, Divide and rule: the partition of Africa, 1880-1910, translated by Arnold J. Pomerans, Westport, Connecticut: Praeger Publishers London 1996. Ursprünglicher niederländischer Titel lautet H. L. Wesseling, Verdeel en Heers: De Deling van Afrika, 1880-1914, Uitgeverij Bert Bakker (1991). Vgl. Kya-Mulundu Kyoni, Österreich-Ungarn und die Berliner Kongokonferenz (15. November 1884 - 26. Februar 1885), Diplomarbeit Universität Wien 1997. Unveröffentlichtes Manuskript. Forschungsstand 33 sant erwähnt wird, dennoch nicht wirklich im Zentrum steht, 110 wird dieser eben deswegen in dieser Untersuchung u.a. in den analytischen Mittelpunkt gerückt. Im dritten Teil „Kulturelle Hybridität und Authentizität auf großstädtischen Bühnen“ 111 richtet Telse Hartmann den Fokus auf das Problem hybrider Identitäten und Identifikationen. Unter Hybridität versteht die Verfasserin - in Anlehnung an Bill Ashcroft und im weitesten Sinne - erstens „[…] die Entstehung neuer transkultureller Formen innerhalb der kolonialen und postkolonialen Kontaktzonen“ 112 , die „unter anderem linguistische, kulturelle, politische oder ethnische Vermischungen“ 113 umfasst. In Bezug auf Bhabhas theoretische Ausführungen begreift Telse Hartmann Hybridität zweitens als einen Hinweis auf „das ambivalente Verhältnis zwischen Angehörigen der Kolonialmacht und Kolonisierten, deren Identitäten in der wechselseitigen Interaktion“ 114 fortwährend gestaltet und umgestaltet werden. Telse Hartmann stellt die Frage nach der Funktionsweise solcher Identitäten in den Mittelpunkt. 115 Erörtert wird die Frage, wie Joseph Roths Texte hybride Identifikationen sowie das damit einhergehende Phänomen der Grenzüberschreitung bzw. Grenzverwischung thematisiert. 116 Im vierten und letzten Kapitel - „Kulturelle Identifikationen in Zeiten und Räumen der Diaspora“ 117 - befragt und hinterfragt Telse Hartmann die konzeptuelle Bedeutung des Ostjudentums innerhalb des Werkes Joseph Roths. Sie nimmt sich vor, das in Joseph Roths Texten postulierte Miteinander von Hybridität und Authentizität innerhalb des Ostjudentums kritisch zu beleuchten. Telse Hartmann sichtet das Judentum aus einer von James Clifford geprägten kulturwissenschaftlichen Perspektive, nach der „sich im theoretischen Konzept bzw. in den historischen Praktiken der Diaspora ‘routes’ und ‘roots’ überschneiden“. 118 Die Opposition von Verwurzelung und Deplatzierung genauso wie die Fiktionen von lokal fixierter Heimat, Territorialität, Kultur und Identität werden aufgebrochen. 119 Dementsprechend unterscheidet Telse Hartmann drei Diaspora- Szenarien in Roths literarischem und publizistischem Werk voneinander: „erstens die Diasporagemeinschaft der östjüdischen Ghettos, zweitens die diasporische Figur des Nomaden und drittens die Diaspora-Existenz am Ort 110 Vgl. Teil 4 „Kulturelle Identifikationen in Zeiten und Räumen der Diaspora“, aus Telse Hartmann, Kultur und Identität (Anm. 32), S. 123-196. 111 Ebd. S. 91-122. 112 Ebd. S. 9. 113 Ebd. 114 Ebd. 115 Vgl. ebd. S. 20. 116 Näheres dazu ist ebenda S. 91-122 zu erhalten. 117 Ebd. S. 123-196. 118 Ebd. S. 124. 119 Vgl. ebd. Einführung 34 des Hotels“ 120 . Der letzte Schritt der Untersuchung fokussiert die „Reichweite und Tragfähigkeit jener Identitätsmodelle im Werk Roths, in denen die Dynamik kultureller Deplatzierung mit kulturellen Fixierungen und Zugehörigkeiten verbunden sind“. 121 Auffallend bei Telse Hartmann ist ihre Bevorzugung von Texten aus Joseph Roths Frühwerk. Der Literaturwissenschaftler Wendelin Schmidt- Dengler, der in seinem Vortrag zu dem im Jahre 1989 in Leeds veranstalteten Symposium anlässlich des 50. Todestages Joseph Roths eine Art „tour d´horizon“ 122 der Roth-Rezeption in der Literaturgeschichte unternimmt, würde im Falle Telse Hartmann sagen: „Das Frühwerk hat das Spätwerk verdrängt, es ist, als machte man um alles, was zu sehr an den habsburgischen Mythos erinnert, einen Bogen und rette Roth und sich selber vor der Sentimentalität.“ 123 Aber die Arbeit von Telse Hartmann war 1989 zum Zeitpunkt des Symposiums noch nicht entstanden. Erst 17 Jahre später (genau im Jahre 2006) wird die Untersuchung veröffentlicht, in der sie den Mut hat, traditionsbrechend Joseph Roths Frühwerk den Vorzug zu geben. Es ist Telse Hartmanns Verdienst, den Weg für eine differenzierte Lektüre von Roths Texten zu ebnen, womit sie einen anregenden Beitrag zur Anwendung, Rezeption und Etablierung von Kategorien angloamerikanischer Kulturwissenschaften im Bereich deutschsprachiger Literatur- und Kulturwissenschaften leistet. Telse Hartmann unterstreicht den produktiven Einfluss der usamerikanischen und britischen Kulturanthropologie sowie der postcolonial studies auf die kontinentalen Literaturwissenschaften seit den 1970er Jahren. Sie hält eine literaturwissenschaftliche Anknüpfung an die angloamerikanische Anthropologie sowie an die postkoloniale Theorie für umso sinnvoller, als beide Forschungsrichtungen sich u.a. von der Tradition homogener Nationalkulturen abwenden und an politischen und ontologischen Implikationen des (Be-)Schreibens und textuellen Konstruierens von Kulturen interessiert sind. 124 Die Eigentümlichkeit dieser neuen kulturwissenschaftlichen Perspektivierung liegt in einer „intensive[n] Auseinandersetzung mit literaturwissenschaftlichen Paradigmen und infolgedessen eine theoretische Zusammenführung von Kultur und Text“ 125 . Clifford Geertz wird als derjenige u.a. angeführt, „der Kulturen - nicht nur metaphorisch - als Texte auffasst und die Kulturanthropologie daher als hermeneutische Wissenschaft reformu- 120 Ebd. S. 125. 121 Ebd. S. 20. 122 Wendelin Schmidt-Dengler, „Auf der Wanderschaft: Das Frühwerk Joseph Roths in den Literaturgeschichten“, in: Helen Chambers (Hg.), Co-existent contradictions: Joseph Roth in retrospect (Anm. 36), S. 31. Kursivschrift i.O. 123 Ebd. S. 29. 124 Telse Hartmann, Kultur und Identität (Anm. 32), S. 2. 125 Ebd. S. 1. Zur theoretischen Begründung der Zusammenführung von Kultur und Text siehe S. 30f, Fußnote 97 in dieser Arbeit. Forschungsstand 35 liert“. 126 Durch eine differenzierte Perspektivierung von Joseph Roths Werk entspricht Telse Hartmann unbewusst folgender grundlegender These Schmidt-Denglers: „Roths Werk ist in keinem Kapitel daheim; es ist auf der Wanderschaft.“ 127 Sowohl Schmidt-Dengler als auch Wolfgang Müller-Funk unterstreichen die Offenheit von Joseph Roths Werk. 128 Dieser Offenheit folgend schließt sich die vorliegende Untersuchung der von Telse Hartmann eröffneten literatur- und vor allem kulturwissenschaftlichen Debatte über Macht, Herrschaft und Differenz an. In dieser Untersuchung werden aber vorwiegend die Kategorien ›Marginalität‹, ›Dritter Raum‹, ›Identität‹, ›Differenz‹ und ›Interdependenz‹ in den Vordergrund gerückt. Die Arbeit verfolgt das Ziel, ›Marginalität‹ - eines der Grundkonzepte der postmodernen und postkolonialen Theorie - in Bezug auf Roths Werk ins Blickfeld zu rücken: einerseits durch eine Rekonstruktion der Erscheinungsformen der Marginalität bzw. des unheimlichen Lebens von Roths Hauptgestalten. Besonderes Augenmerk wird dabei auf die ständige „Differenz“, auf diese unaufhörliche Suche nach einem Wo-Anders und Was- Anders oder auf die Erfahrung der Spaltung des Selbst geworfen, die Roths Romanhelden durchlaufen - die Erfahrung des ›Dritten Raumes‹; andererseits durch die Rekonstruktion von Roths Darstellung der imperialen Begegnung zwischen Europa und Afrika - als Ästhetik der Marginalität verstanden. Die imperiale Begegnung zwischen Europa und Afrika ist ein Aspekt, der in der klassischen Roth-Forschung bisher marginal behandelt worden ist. Diese Randerscheinung in der gesamten Roth-Forschung könnte eine Erklärung gerade in der Tatsache finden, dass dieser Aspekt in Joseph Roths Oeuvre auch eine marginale Position - eine anwesende Abwesenheit oder abwesende Anwesenheit - zu beziehen scheint. Eine ausdrückliche Thematisierung der imperialen Begegnung zwischen Europa und Afrika ist in Roths Romanen selten bis nahezu nicht anzutreffen, dennoch ist sie in der Form marginaler Spuren durch verdeckte Andeutungen immerhin vorhanden. Zum Beispiel im Roman Die Flucht ohne Ende und genauer an der Stelle, wo Franz Tunda eine ausführliche Debatte mit seinem Bruder, dem Kapellmeister - ›dem Maestro‹ Georg Tunda -, über die imperiale Begegnung zwischen Europa und Afrika führt. Die beiden Diskutanten werfen Fragen auf, die im dritten Teil dieser Untersuchung behandelt werden. Tundas Erlebnis der russischen Revolution schärft sein ausgeprägtes Bewusstsein für kulturelle Differenzen und vor allem für die Tatsache, dass diese zu Macht- und Herrschaftszwecken instrumentalisiert werden können. Und genau auf diesen Punkt kommt es der Romanfigur Franz Tunda an, der 126 Ebd. S. 1. 127 Wendelin Schmidt-Dengler, „Auf der Wanderschaft: Das Frühwerk Joseph Roths in den Literaturgeschichten“, in: Helen Chambers (Hg.), Co-existent contradictions: Joseph Roth in retrospect (Anm. 36), S. 32. 128 Vgl. Wolfgang Müller-Funk, Joseph Roth (Anm. 21), S. 21. Einführung 36 Punkt, wo die kulturelle Differenz als strategische Waffe eingesetzt wird, um asymmetrische Machtverhältnisse zu legitimieren und zu festigen und diese folglich als natürlich und unveränderlich erscheinen zu lassen. Gerade solche Rhetorik der Macht, solche Siegermentalität wird von Tunda während der Auseinandersetzung mit dem Bruder bemängelt. 129 In einigen essayistischen Texten Joseph Roths hingegen rückt die Frage der imperialen Begegnung zwischen Europa und Afrika in den Mittelpunkt. Es handelt sich um folgende, mit beredten Titeln versehene essayistische Texte: Die Rehabilitierung der Schwarzen 130 , Die Schwarzen im Ruhrgebiet 131 , Der blonde Neger Guillaume 132 . Diese Texte sind zwischen 1915 und 1923 im Zeitalter europäischer imperial-kolonialer Expansion nach Afrika bzw. in die ›Dritte Welt‹ verfasst worden. Sie lassen sich in die vom Ersten Weltkrieg geprägte erste Hälfte des 20. Jahrhunderts einbetten und pointieren die imperiale Begegnung zwischen Europa und Afrika auf schärfste Weise. Europäische Afrika-Kolonien wurden auch in diesen Krieg verwickelt. Brigitte Reinwald spricht von „mehrere[n] hunderttausend Afrikaner[n] aus Frankreichs west- und zentralafrikanischen Kolonien, die in die französische Marineinfanterie eingezogen wurden“ 133 und in die Kampfhandlungen unter der Fahne von alliierten Truppen verwickelt wurden. 134 Diese afrikanischen „Tirailleurs“ (›Schützen‹) kamen nicht ausschließlich aus west- oder zentralafrikanischen Ländern, sondern sie wurden afrikaweit sogar zwangsrekrutiert, da die alliierten Mächte dreiviertel des afrikanischen Kontinents unter ihrer Herrschaft und Macht hatten. Die übrigen Bewohner dieser Kolonien sollten einen Kriegsdienst leisten, von dem keiner befreit war. Diese ›Schützen‹ wurden von der französischen Kolonialmacht im Zuge der „Kolonialkriege in Indochina und Algerien sowie zur Aufstandsbekämpfung in Madagaskar, Tunesien, Marokko, Mauretanien, Niger, und Kamerun“ 135 eingesetzt. Und die Verwicklung afrikanischer Soldaten in europäische Kampfhandlungen entfesselte Debatten in Europa und besonders in der deutschen Öffentlich- 129 Darauf wird im dritten Teil dieser Arbeit näher eingegangen. 130 Joseph Roth, Die Rehabilitierung der Schwarzen (Berliner Börsen-Courier, 15.5.1921), in: JRW, Band 1, Das journalistische Werk 1915-1923, S. 558-562. Künftighin im Fließtext als JRW mit Angabe des Bandes und der Seitenzahl zitiert. 131 Joseph Roth, Die Schwarzen im Ruhrgebiet (Die Glocke, 5.3.1923), in: ebd. S. 947- 948. Künftighin im Fließtext als JRW mit Angabe des Bandes und der Seitenzahl zitiert. 132 Joseph Roth, Der blonde Neger Guillaume (Neue Berliner Zeitung - 12-Uhr-Blatt, 28.12.1923), in: ebd. S. 1092-1093. Künftighin im Fließtext als JRW mit Angabe des Bandes und der Seitenzahl zitiert. 133 Brigitte Reinwald, Reisen durch den Krieg. Erfahrungen und Lebensstrategien westafrikanischer Weltkriegsveteranen der französischen Kolonialarmee, 1. Auflage, Berlin: Klaus Schwarz Verlag 2005, S. 20. 134 Ebd. 135 Ebd. Forschungsstand 37 keit. 136 Joseph Roths Essay Die Rehabilitierung der Schwarzen handelt von diesem als „schwarze Schmach“ (JRW 1, 558) bezeichneten Einsatz schwarzer Soldaten aus französischen Kolonien West- und Zentralafrikas im Ersten Weltkrieg bei der ›Okkupation europäischer Gebiete‹. Joseph Roth liefert eine kontrapunktische Lektüre dieses Ereignisses. Er liest es gegen den Strich, in kritischer Abgrenzung von damals in der deutschen und französischen 137 Öffentlichkeit allgemein verbreiteten Meinungen. 138 Und der vielsagende Titel des Essays Die Schwarzen im Ruhrgebiet lässt sich mehr oder weniger in dieselbe Problematik einbetten. Im dritten Teil der Untersuchung wird dem Inhalt sowie den für diese Analyse infrage kommenden Schichten erwähnter Texte auf den Grund gegangen. Im Rahmen meiner Beschäftigung mit Marginalität werde ich den Blick auf unheimliche Existenzformen lenken. Daher werden vor allem auch jene Texte Roths in Erwägung gezogen, in denen Menschen in unheimlichen Um-, Zu- und Missständen dargestellt werden. Die meisten Roth’schen Helden sind gesellschaftlich und innerlich desorientiert, zersplittert und entwurzelt. Die Folge dieser gesellschaftlichen und innerlichen Desorientierung und Entwurzelung ist ihre Einsamkeit, Vereinsamung, ihre Marginalität. 139 Gestalten wie 136 „Nicht die lebhafteste Einbildungskraft konnte die ungeheure Bewegung vorher ahnen, in der der Weltkrieg gewaltige Völkerscharen von ihrer Heimat losreißt, sie weithin in fremde und ungewohnte Umwelt hinausschleudert. Solche Mischung der Stämme und Rassen, wie sie unsere Feinde aus allen fünf Weltteilen zum Kampf auf dem alten Boden Europas aufgeboten haben, ist unerhört, sie übertrifft weit alles bisher in der Weltgeschichte Dagewesene.“ Otto Stiehl, Unsere Feinde. 96 Charakterköpfe aus deutschen Kriegsgefangenenlagern, Stuttgart: Verlag Julius Hoffmann 1916, S. 5. Otto Stiehl war selbst „Oberleutnant bei der Kommandantur eines Gefangenenlagers“. Ebd. S. 3. Vgl. Reiner Pommerin, „Sterilisierung der Rheinlandbastarde“. Das Schicksal einer farbigen deutschen Minderheit 1918-1937, Düsseldorf: Droste Verlag 1979, S. 87. Vgl. dazu Christian Koller, „Von Wilden aller Rassen niedergemetzelt“. Die Diskussion um die Verwendung von Kolonialtruppen in Europa zwischen Rassismus Kolonial- und Machtpolitik (1914-1930), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2001. 137 Die Schwarze Schmach-Problematik hatte auch eine mediale Dimension und Joachim Zeller verschafft einen Überblick über den medialen Verlauf dieser medialen ›Schwarzen Schmach-Kampagne‹. Vgl. Joachim Zeller, Weiße Blicke - Schwarze Körper. Afrikaner im Spiegel westlicher Alltagskultur, Bilder aus der Sammlung Peter Weiss, Ehrfurt: Sutton Verlag 2010, besonders von S. 174-187. 138 Näheres über Joseph Roths kontrapunktische re-lecture bzw. ré-écriture der Geschichte ist im Teil 3 dieser Arbeit zu erhalten. 139 Darin stimmt Müller-Funk überein, denn er meint: „Diese Entwurzelung, Quell sowohl von Leid als auch von Freiheitsgefühlen, Kennzeichen vieler Rothschen Helden, ist mit dem Verlust selbstverständlichen Daseins verbunden, mit dem Zweifel an der eigenen Identität. Dieser Zweifel entsteht dort, wo man sich fragt, wer man ist. Oder wo man gefragt wird, wer man sei.“ Wolfgang Müller-Funk, Joseph Roth (Anm. 21), S. 22. In derselben Sinnrichtung überlegend bemerkt Gertrude Durusoy, dass sie 1991 bereits die Frage der Entwurzelung anhand des Romans Das falsche Gewicht (1937) zur Diskussion gestellt habe. Sie kam zum Ergebnis, dass die erste Konsequenz der Einführung 38 Andreas Pum in Die Rebellion (1924) 140 , Mendel Singer in Hiob (1930) Leutnant Tunda in Die Flucht ohne Ende (1927), die Kaiserfigur und die Familie Trotta in Radetzkymarsch (1932), Tarabas in Tarabas, ein Gast auf dieser Erde (1934), Andreas Kartak in Die Legende vom heiligen Trinker (1939) und Graf Morstin in Die Büste des Kaisers (1934) machen diese Erfahrungen. Die Untersuchung wird daher folgende Texte besonders unter die Lupe nehmen, nämlich Die Rebellion, Hiob, Roman eines einfachen Mannes und Die Legende vom heiligen Trinker. Diese Texte sind zeitlich jeweils teils in Joseph Roths Frühwerk - Die Rebellion - und in das Spätwerk zu situieren - Hiob, Roman eines einfachen Mannes und Die Legende vom heiligen Trinker. Grundlegend bei der Auswahl dieser Texte ist keineswegs deren chronologische Position in Joseph Roths Schaffen, sondern hauptsächlich die Erfahrungen, die die darin auftretenden Figuren durchlaufen. Die Figuren Andreas Pum, Mendel Singer und Andreas Kartak werden als Protagonisten analysiert, die die Erfahrung des Unheimlichen machen, die - in Anlehnung an Homi Bhabha - als Erfahrung der Spaltung des Selbst, als Erfahrung des ›Dritten Raumes‹ (third space) gedeutet wird. Der ›Dritte Raum‹ (third space), von dem es in Homi Bhabhas Texten sowie Vorträgen leitmotivisch die Rede ist, ist - wie Bhabha es selbst formuliert - „the experience of a deep crisis within the self. The self caught between to be and not to be, to want and not to want, identity and hybridity“. 141 Die Frage, die dabei entsteht, ist, wie das Verhältnis von Joseph Roths Romanen und essayistischen Texten bestimmt werden kann. Diese Frage lässt sich aus den zahlreichen geringschätzigen Bewertungen über Roths publizistische Texte und Frühromane erschließen. So meint Ulrich Greiner abschätzig, dass einige und gerade die frühen Romane Joseph Roths etwas Unfertiges, Unausgeführtes haben. Sie wirken hastig, ungeduldig, kurzatmig. Ihr Umfang ist ja auch gering, schwankt in der Regel um hundert Seiten. Schön sind immer die Anfänge, bestechend die Exposition und Charakterisierung der Figuren. Aber wenn es darum geht, die einzelnen Handlungsstränge weiter zu verfolgen, das Szenarium der Personen episch zu entfalten, dann bricht Roth sehr häufig ab, beginnt zu kommentieren, anstatt zu erzählen, selber zu reden, angeographischen, gesellschaftlichen und innerlichen Entwurzelung und Desorientierung die Einsamkeit, die Vereinsamung innerhalb der Umwelt sei. Vgl. Gertrude Durusoy, „Seelische Beheimatung und Drang zur Flucht bei Joseph Roth“, in: Trans-Internet Zeitschrift für Kulturwissenschaften, 7. Nummer September 1999. 140 Die nach den Titeln von Roths Texten in Klammern stehenden Zahlen bezeichnen das Erscheinungsjahr des Textes. 141 Homi K. Bhabha, „On cultural Hybridity - Tradition and Translation“, Wien, November 2007. Forschungsstand 39 statt reden zu lassen, und biegt die verheißungsvoll begonnenen und vielfältigen Linien der Geschichte zu einem schnellen Ende zusammen. 142 Die Tatsache, dass Roths Frühromane und publizistische Texte sich auf den Entwurf von Situationen beschränken, führt Ulrich Greiner darauf zurück, dass Joseph Roth dauernd unter Geldnot gelitten habe. 143 Eine solche Sicht mindert den Wert von Roths publizistischen Texten und degradiert diese Texte zu ›Brotberuftexten‹. Zweifelsohne hatte der kriegsheimgekehrte Roth, wie zahlreiche andere auch, tatsächlich unter bedrückender materieller und finanzieller Not gelitten und war auf Hilfen angewiesen. 144 Allerdings bezeichnet der Germanist und Literaturwissenschaftler Wendelin Schmidt-Dengler die Vernachlässigung oder Geringschätzung von Joseph Roths Frühwerk als eindeutiges Zeugnis eines kollektiven Verdrängungsvorgangs, der sich auf die Formel bringen lässt: Für die Literaturwissenschaft waren - grob gesprochen - in den ersten fünfundzwanzig Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg die zwanziger Jahre kein Thema, vor allem kein Thema literaturwissenschaftlicher und im engeren Sinne literaturgeschichtlicher Anschauung. 145 Was Ulrich Greiner Joseph Roth vorwirft - und zwar das ›Unfertig-Sein‹, das ›Unausgeführt-Sein‹, das ›Unausgereift-Sein‹ seiner Texte -, bildet m.E. eben das Spannende in Joseph Roths Texten. Seine Texte führen sich nicht als Meistererzählungen auf, sie eröffnen vielmehr Fragen, Debatten. Und eine der Zielsetzungen dieser Untersuchung besteht u.a. darin, manche dieser Fragen kritisch weiterzuverfolgen: Fragen der Marginalität, Macht, Herrschaft, Identität, Differenz und Interdependenz. Die Eingangsfrage, ob Joseph Roths Romane und essayistische Texte gleichgesetzt werden könnten, läuft - im Grunde genommen - auf folgende grundlegende Frage hinaus: Was ist Literatur bzw. was ist nicht Literatur? Manche Untersuchungen über Roth neigen dazu, sein Schaffen in zwei binär entgegengesetzte Phasen zu unterscheiden: in eine vorwiegend journalistische und politisch engagierte, unreife Phase einerseits und in eine reife Phase als Romancier andererseits. Paradigmatisch für solche binären Entgegensetzungen steht folgende Aussage Ingeborg Sültemeyers: 142 Ulrich Greiner, „Joseph Roth“, in: Daniel Keel et al. (Hg.), Joseph Roth. Leben und Werk (Anm. 53), S. 228. 143 Vgl. Ulrich Greiner, ebd. S. 228f. Auf die prekäre finanzielle Situation Joseph Roths wird immer wieder hingewiesen. 144 Bekannte zeitgenössische Schriftsteller und Publizisten verfassten ebenfalls Texte für Zeitschriften u. a. Alfred Polgar, Robert Musil, Franz Werfel, Franz Kafka, Peter Altenberg usw. Vgl. David Bronsen, Joseph Roth: eine Biographie (Anm. 25), S. 189. 145 Vgl. Wendelin Schmidt-Dengler, „Auf der Wanderschaft: Das Frühwerk Joseph Roths in den Literaturgeschichten“, in: Helen Chambers (Hg.), Co-existent contradictions: Joseph Roth in retrospect (Anm. 36), S. 18 und 20. Einführung 40 Roths Werk bis zum Jahre 1926 ist in entscheidender Weise von seiner journalistischen Tätigkeit mitbestimmt und geprägt. Einen Einschnitt, der die Unterscheidung eines ‘Frühwerks’ von einem ‘Spätwerk’ ermöglicht, markiert das Jahr 1926. Die politisch-aufklärerischen Interessen des Journalisten, die bis zu diesem Zeitpunkt dominierten, treten von nun an zurück; für die folgende Schaffensperiode wird der künstlerische Ehrgeiz des Romanciers bestimmend. 146 Bei Sültemeyer wird der Eindruck erweckt, als ob sich diese erwähnten Phasen eines Schreibprozesses gegenseitig ausschlössen. Ganz im Gegensatz zu so einer Darstellungsweise lässt sich feststellen, dass journalistische Erzählung und Dichtung in Roths Texten ineinander verwoben sind. Als Journalist war Joseph Roth immer dichterisch 147 aktiv und als Romancier ebenfalls publizistisch geprägt. Beide geistigen Aktivitäten standen in einem Verhältnis wechselseitiger Befruchtung. 148 Eine scharfe Trennung zwischen dem Romancier und dem Essayisten Roth ist daher ein schwieriges Unterfangen. „Joseph Roth ist kein Fall für Gattungspuristen“ 149 , merkt Karlheinz Rossbacher zu diesem Thema an. „Im Gegenteil, Roth machte kaum einen Unterschied zwischen seinen erzählenden und seinen reportierend- 146 Ingeborg Sültemeyer, Das Frühwerk Joseph Roths 1915-1926. Studien und Texte, Wien, Freiburg, Basel: Herder Verlag 1976, S. 13. Zu solchen binären Darstellungen vgl. Ulrich Greiner. „Joseph Roth“, in: Daniel Keel et al. (Hg.), Joseph Roth. Leben und Werk (Anm. 53). 147 David Bronsens Kommentare wimmeln von Joseph Roths unveröffentlichten Gedichten und fiktional besetzten Prosatexten. Und die meisten dieser Texte fallen zeitlich in jenen Jahren zusammen, in denen er auch Beiträge in Zeitungen publizierte. Vgl. David Bronsen, Joseph Roth: eine Biographie (Anm. 10), S. 188, 189, 190, 201 und 205ff. „Joseph Roths Weg in die Feuilletons der Wiener Zeitungen führte über Lyrik. In der Zeit vor und während des Krieges verfaßte Roth eine Vielzahl Gedichte, teils gefühlsbetont-impressionistisch, teils grob-expressionistisch. Die meisten dieser Texte blieben unveröffentlicht […]“ JRW 1, 1100. Näheres zu Joseph Roths lyrischen Texten ist ebenda zu erhalten, vgl. JRW 1, 1100-1107. Die Tatsache, dass Roths Texte mit poetischen Momenten durchsetzt sind, hat Frank Trommler dazu geführt, diese Texte als „künstlerischen Journalismus“ zu bezeichnen. Frank Trommler, „Roth und die Neue Sachlichkeit“, in: David Bronsen (Hg.), Joseph Roth und die Tradition: Aufsatz und Materialsammlung, Darmstadt: Agora Verlag 1975, S. 276-303, hier S. 279. 148 Näheres dazu vgl. David Bronsen, Joseph Roth: eine Biographie (Anm. 10), S. 236f und 251f. 149 Karlheinz Rossbacher, „‘Der Merseburger Zauberspruch’: Joseph Roths apokalyptische Phantasie“, in: Helen Chambers (Hg.), Co-existent contradictions: Joseph Roth in retrospect (Anm. 36), S. 78-106, hier S. 82. Diese Ansicht wird auch von Fritz Hackert und Klaus Westermann geteilt: „keine Ideologie bringt seine [Joseph Roths] Werke glatt in einem Kanon unter.“ JRW 1, XXIV. In eckigen Klammern Stehendes ist eine Hinzufügung v. mir. Forschungsstand 41 feuilletonistischen Schriften.“ 150 Bevor sich Joseph Roth als Romancier durchsetzte, war er zeitlebens als Journalist tätig. 151 Darauf macht Klaus Westermann aufmerksam: „[S]elbst die meisten seiner erzählerischen Werke erschienen zuerst als Vorabdrucke in Zeitungen.“ 152 Westermann fährt fort: Joseph Roths Zeitungsbeiträge bilden einen wichtigen Block in seinem Werk, weil sie stilistisch wie inhaltlich eigenständige und unabhängige Leistungen sind. Es wäre falsch sie nur als Fingerübungen und Stilschule für die großen erzählenden Schriften zu betrachten oder sie als zweitklassig einzustufen. 153 Klaus Westermann zufolge verstelle man sich den Blick für viele wichtige Einzelheiten und Erkenntnisse, wenn man bei der Betrachtung des Roth’schen Werkes immer nur von seinen erzählerischen Schriften ausgehe. 154 Im Grunde reichen die Wurzeln Joseph Roths Schaffen bis auf seine Gymnasialzeit zurück. Es wäre allzu kurzsichtig, insofern kurzschlüssig, im Datum der Veröffentlichung seines ersten Zeitungsbeitrags oder Romanes den Beginn oder das Ende seines journalistischen oder schriftstellerischen Schaffens sehen zu wollen. Eine prozessuale Betrachtung sollte anstelle einer teleologischen bevorzugt werden. Denn Joseph Roths Spätwerk ist das Ergebnis eines Prozesses, der seinen Anfang im Frühwerk genommen hat. Joseph Roths publizistische Texte lesen und verstehen setzt eine Berücksichtigung des zeitgeschichtlichen und -kulturellen Zusammenhangs voraus, in dem sie entstanden sind. Die zwei Jahrzehnte, in denen Roth als Journalist tätig war, waren ereignisvolle Jahrzehnte. 155 Diese müssen während der Analyse auch skizziert werden, um herauszufinden, warum Joseph Roth darüber spricht oder schreibt. Westermann fasst das zusammen, was Joseph Roth miterlebt hatte: Er erlebte drei politische Untergänge: den der Donaumonarchie, der Weimarer und der österreichischen Republik; auf den ersten folgten Inflation und Weltwirtschaftskrise, auf die beiden letzten der Faschismus. Auf dem Gebiet der 150 Karlheinz Rossbacher, „‘Der Merseburger Zauberspruch’: Joseph Roths apokalyptische Phantasie“ (Anm. 149), S. 82. 151 Klaus Westermann, Joseph Roth, Journalist. Eine Karriere 1915-1939, Bonn: Bouvier Verlag 1987, S. 7. 152 Ebd. 153 Ebd. 154 Ebd. S. 8. „Roth selbst, der während seines ganzen Berufslebens für Zeitungen gearbeitet hat und der vor 1933 einer der angesehensten deutschen Feuilletonisten war, betrachtete journalistisches und schriftstellerisches Schaffen als Einheit.“ Helmuth Nürnberger, Joseph Roth, mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, dargestellt von Helmuth Nürnberger, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1938, S. 11f. Näheres dazu ist ebenda zu erhalten. Telse Hartmann betrachtet Joseph Roths journalistische und literarische Texte als „ästhetische Texte“ und grenzt sich dadurch von Binaritäten ab. Vgl. Telse Hartmann, Kultur und Identität (Anm. 32), S. 21. 155 Vgl. Klaus Westermann, Joseph Roth, Journalist. Eine Karriere 1915-1939 (Anm. 151), S. 10. Einführung 42 Kultur gab es eine zuvor nie gekannte Vielfalt; Elisabeth Berger und Werner Krauss, Bertolt Brecht und Erwin Piscator feierten auf dem Theater Triumphe; der Film begann seinen Siegeszug; der Rundfunk nahm die ersten regelmäßigen Sendungen auf. Das Zeitalter der Technik setzte sich endgültig durch: Das Auto wurde allmählich zum Massentransportmittel, das Flugzeug konnte nun auch im zivilen Bereich genutzt werden. Diese Entwicklung ist der eine Zusammenhang, in dem Roth und seine Arbeiten gesehen werden müssen. Er betrifft ausschließlich inhaltliche Gesichtspunkte. 156 Westermanns Darstellung des zeitgeschichtlichen und zeitkulturellen Entstehungszusammenhangs von Roths publizistischen Texten passt zu bestimmten Texten Roths. Dennoch werden durch so eine Darstellung - für das Verständnis von Roths Zeitungsbeiträgen - auch wichtige Zeitereignisse unsichtbar gemacht. Hingewiesen wird auf jene Beiträge, 157 die die imperiale Begegnung zwischen Europa und Afrika thematisieren. Die Auseinandersetzung mit diesen Beiträgen erfordert einen Blick auf andere auch maßgebliche zeitgeschichtliche und zeitkulturelle Zusammenhänge. 158 Joseph Roths Texte über die imperiale Begegnung zwischen Europa und Afrika entstehen in der Zwischenkriegszeit, eine Zeit, in der die Frage des kulturell Anderen, die Frage der kulturellen Differenz die erhitzte deutsche bzw. europäische Öffentlichkeit beschäftigte. Der Einsatz von schwarzen Kolonialtruppen auf deutschem Boden im Ersten Weltkrieg durch die Franzosen sorgte für Ärger im ganzen deutschsprachigen sowie europäischen Raum. 159 Und dieser Ärger verschärfte sich besonders durch das geopolitische Bewusstsein, das sich die Deutschen bzw. die Europäer von sich selbst und vom schwarzafrikanischen Anderen machten, ein geopolitisches Bewusstsein, das sich ursprünglich von der Aufklärungsphilosophie, dem Darwinismus und dem deutschen Idealismus speiste. 160 Der politisch engagierte Journalist Joseph Roth war ein Chronist seiner Zeit, 161 und sein journalistischer sowie schriftstellerischer Eintritt für ›die 156 Ebd. 157 Jene Beiträge u.a., die im Mittelpunkt des dritten Teils dieser Arbeit stehen, nämlich die Essays Die Rehabilitierung der Schwarzen, Die Schwarzen im Ruhrgebiet und Der blonde Neger Guillaume. 158 Hingewiesen wird auf die Auswirkungen des Ersten Weltkriegs in europäischen Kolonien Afrikas. 159 Näheres dazu vgl. Christian Koller, „Von Wilden aller Rassen niedergemetzelt“ (Anm.136). 160 Vgl. Joachim Zeller, Weiße Blicke - Schwarze Körper (Anm. 137). 161 Klaus Westermann, Joseph Roth, Journalist (Anm. 151), S. 26. Joseph Roth kommt in Berlin im Frühsommer 1920 - mit der Hoffnung und Zuversicht - an, sich eine sichere finanzielle Grundlage zu schaffen. Der Erste Weltkrieg hatte nachhaltige unauslöschliche Spuren in der Stadt Berlin und vor allem im Bewusstsein der Menschen hinterlassen. Die Wirtschaft befand sich in einer desolaten Lage. Durch Inflation und Deflation wurden Menschen um deren Vermögen gebracht. Rechtsnationale Agitatoren nutzten diese soziale Lage aus, um Angst, Misstrauen und Konflikte zu schüren, Menschen gegeneinander zu hetzen. Es war auch die Zeit der Geburt der Weimarer Republik Forschungsstand 43 globale Dritte Welt‹ ist nicht anders als ein Zeichen dieses politischen Engagements. „[…][O]ft vertrat er die Sache der Armen, der Notleidenden, nahm Partei für Unterdrückte und Außenseiter“ 162 sowie „[…] für gesellschaftlich Benachteiligte […] für Kriegsopfer, Heimatlose, Waisen, Bettler, Hungernde und andere Notleidende […]“ 163 Aus solchen Fakten erwächst u.a. auch die Problematik dieser Arbeit. Obwohl Joseph Roths journalistische Texte als ›Brotberuftexte‹ abgetan werden, besitzen sie - laut Westermann - einen eigenständigen Wert in sich, der auch zu schätzen ist. 164 Joseph Roths Zeitungsbeiträge als ›Brotberuftexte‹ abzustempeln, verdunkelt m.E. keineswegs die Tatsache, dass er in diesen Texten zeitkritische Debatten eröffnet, 165 die weiterverfolgt werden könnten. Roths Zeitungsbeiträge zeichnen sich durch eine ausgeprägte thematische Vielfalt aus. Es sind Texte zu sozialen Problemen, Texte zu anderen Kulturen. 166 Diese Untersuchung beschränkt sich dennoch auf jene essayistischen Texte, in denen die imperiale Begegnung zwischen Europa und Afrika im Mittelpunkt steht - Die Rehabilitierung der Schwarzen, Die Schwarzen im Ruhrgebiet, Der blonde Neger Guillaume. Diese essayistischen Texte, die bislang wenig wahrgenommen wurden, besitzen m.E. einen ›hochkarätigen‹ Wert, der in dieser Arbeit gebührend berücksichtigt wird. Diese Texte setzen sich mit der imperialen Begegnung zwischen Europa und Afrika auseinander. Dadurch schlagen sie eine sichtbarunsichtbare Brücke zu anderen Kulturen bzw. zu Texten der afrikanischen Literatur, 167 die die imperiale Begegnung zwischen Europa und Afrika viel- (1919-1933), die im Hinblick auf die damalige erhitzte soziopolitische Lage in die deutsche Geschichte als Sinnbild des politischen Chaos eingegangen ist. Vgl. David Bronsen, Joseph Roth: eine Biographie (Anm. 10), S. 211. Angesichts der sozial angespannten Situation sah sich Joseph Roth dazu bewogen, nicht zu schweigen bzw. sich politisch zu engagieren, Stellung zur gesellschaftlichen Frage des Miteinanders zu nehmen. Joseph Roths publizistisches und literarisches Engagement bedeutete ihm daher, ein Zeichen gegen die Bestialität der Weimarer Republik für die Humanität zu setzen. Der Antisemitismus, die ethnische Intoleranz und die gärende antisemitische Mordatmosphäre spiegeln die Gesichter der damaligen Bestialität wider. Vgl. ebd. S. 218. 162 Klaus Westermann, Joseph Roth , Journalist (Anm. 151), S. 26. 163 Ebd. S. 108. 164 Vgl. ebd. S. 11. 165 Vgl. Telse Hartmann, Kultur und Identität (Anm. 32), S. 16. 166 Vgl. Klaus Westermann, Joseph Roth Journalist (Anm. 151), S. 8. 167 Aber wer von afrikanischer Literatur spricht, muss die Tatsache nicht aus den Augen verlieren, es handelt sich um eine allumfassende Bezeichnung, die auf Heterogenes, Vielstimmiges und Vielschichtiges hinweist. Denn die afrikanische literarische Landschaft ist in ihrer Vielschichtigkeit von der Sprache damaliger Kolonialmächte nach wie vor geprägt. Es wird dementsprechend zwischen einer afrikanischen Literatur französischer, englischer, deutscher, spanischer und portugiesischer Sprache - im Hinblick auf die prägende Rolle benannter Sprachen während der Sozialisierung kolonialer Subjekte in den jeweiligen Kolonialgebieten - unterschieden. Weiterführendes über die Frage der oder einer afrikanischen Literatur ist u.a. in Einführung 44 fältig darstellen. Hingewiesen wird u.a. auf die Romane Ville cruèlle 168 und Mission Terminée 169 von Mongo Beti, auf den Roman Weep not Child 170 von Ngugi wa Thiong´o sowie auf den Roman L´ aventure ambiguë 171 von Cheikh Hamidou Kane. Diese Texte betten sich in ein Projekt der Gegengeschichtsschreibung ein, das auch in den erwähnten essayistischen Texten Joseph Roths eingeschrieben ist. Diese und weitere Texte afrikanischer Autoren werden stellenweise in die Debatten einbezogen. Denn diese Arbeit ist u.a. auch darum bemüht, einen literarischen Dialog zwischen Joseph Roths Texten, zwischen Texten europäischer und afrikanischer Schriftsteller und Autoren zu inszenieren. Methodische Vorgehensweise Diese Untersuchung versteht sich - in Anlehnung an Michail Bachtins Auffassung literaturbzw. kulturwissenschaftlicher Analyse - als dialogische Bewegung zwischen Texten und Kontexten. Michail Bachtin setzt sich u.a. auch mit der Frage der Grenzen von Text und Kontext auseinander. Diesbezüglich schreibt er: folgenden Quellen zu erhalten: Vgl. Jürgen von Stackelberg, Klassische Autoren des schwarzen Erdteils. Die französischsprachige Literatur Afrikas und der Antillen, München: Verlag C.H. Beck 1981. Vgl. Hans-Jürgen Heinrichs, „SPRICH DEINE EIGENE SPRACHE AFRIKA! “ Von der Négritude zur afrikanischen Literatur der Gegenwart, Berlin: Dietrich Reimer Verlag 1992. Vgl. Jean-François Durand (Hg.), Regards sur les littératures coloniales. Afrique francophone: Découvertes, Tome I, Paris, Montréal: Éditions L´ Harmattan 1999. Vgl. ders. (Hg.), Regards sur les littératures coloniales. Afrique francophone: Approfondissements, Tome II, Paris, Montréal: Éditions L´ Harmattan 1999. Vgl. Jean Sévry (Hg.), Regards sur les littératures coloniales. Afrique anglophone et lusophone, Tome III, Paris, Montréal: Éditions L´ Harmattan 1999. Vgl. F. Abiola Irele/ Simon Gikandi (Hg.), The Cambridge history of African and Caribbean literature, Volume 1, Cambridge u.a.: Cambridge University Press 2004. Vgl. dies. (Hg.), The Cambridge history of African and Caribbean literature, Volume 2, Cambridge, New York u.a.: Cambridge University Press 2004. Vgl. Olusa Oke/ Sam Ade Ojo (Hg.), Introduction to Francophone African literature. A collection of essays, African literature/ series No 1, Ibadan, Abuja, Benin City, Kaduna, Lagos, Oweri: Spektrum Books 2000. Vgl. James Currey, Africa writes back: the African Writers series & the launch of African literature, Oxford u.a.: James Currey u.a. 2008. Vgl. Lilian Kesteloot, Les écrivains noirs de langue française: naissance d´une littérature, thèse présentée pour l´obtention du doctorat en philologie romane, 6 eme édition, 1977. Vgl. Joachim Fiebach, Literatur der Befreiung in Afrika, München: Damnitz Verlag 1979. 168 Mongo Beti, Ville cruèlle, Paris: Édition Présence africaine 1971. Erstausgabe 1954. 169 Mongo Beti, Mission Terminée, Paris: Buchet/ Chastel 1999. Erstausgabe 1957. 170 Ngugi wa Thiong´o, Weep not child, with introduction and notes by Ime Ikiddeh, London, Ibadan, Nairobi: Heinemann 1966. Erstausgabe 1964. 171 Cheikh Hamidou Kane, L´aventure ambiguë, préface de Vincent Monteil, Paris: Éditions Julliard 1961. Methodische Vorgehensweise 45 Jedes Wort (jedes Zeichen) eines Textes führt über seine Grenzen hinaus. Es ist unzulässig, die Analyse […] allein auf den jeweiligen Text zu beschränken. Jedes Verstehen ist das In-Beziehung-Setzen des jeweiligen Textes mit anderen Texten und die Umdeutung im neuen Kontext […] 172 Der Text lebt nur, indem er sich mit einem anderen Text (dem Kontext) berührt. Nur im Punkt dieses Kontaktes von Texten erstrahlt jenes Licht, das nach vorn und nach hinten leuchtet, das den jeweiligen Text am Dialog teilnehmen lässt. Wir unterstreichen, daß dieser Kontakt ein dialogischer Kontakt zwischen Texten (Äußerungen) und nicht ein mechanischer Kontakt von ‘Oppositionen’ ist […] 173 Wenn Bachtin von ›Kontext‹ spricht, ist damit nicht nur der Entstehungszusammenhang eines Textes gemeint, sondern es wird vor allem unterstrichen, dass in jedem Text eine Dynamik vorhanden ist, die über den Text hinausweist. Die dialogische Dimension von Roths Texten sieht sich in dem Punkt begründet, wo Joseph Roth selbst eine Brücke zwischen Europa und Afrika - sogenannter Dritter Welt - schlägt, sowie an jenen Textstellen, die solch einen Brückenschlag, eine Blickerweiterung in die Richtung zum Beispiel von Texten afrikanischer Schriftsteller ermöglichen. In seinem Der postkoloniale Blick betitelten Buch führt Paul Michael Lützeler u.a. Autoren wie Aimé Césaire, Léopold Sédar Senghor, Léon Damas, Frantz Fanon, Amilcar Cabral, V.S. Naipaul, Mongo Beti, Chinua Achebe, Wole Soyinka, Cheikh Hamidou Kane, Salman Rushdie, Ernesto Cardenal usw. an, deren Schreiben und Denken zum Eindringen der ›Dritten Welt‹ ins Bewusstsein der Industrienationen 172 Michail M. Bachtin, Ästhetik des Wortes, herausgegeben von Rainer Grübel, aus dem Russischen übersetzt von Rainer Grübel und Sabine Reese, Frankfurt, Main: Suhrkamp Verlag 1979, S. 352. Über die unhintergehbare dialogische Verfassung eines Textes, sprich eines Buches, äußert sich Michel Foucault wie folgt: „Die Grenzen eines Buches sind nie sauber und streng geschnitten: über den Titel, die ersten Zeilen und den Schlußpunkt hinaus, über seine innere Konfiguration und die es autonomisierende Form hinaus ist es in einem System der Verweise auf andere Bücher, andere Texte, andere Sätze verfangen: ein Knoten in einem Netz. Und dieses Spiel der Verweise ist nicht gleichförmig, wenn man es mit einem mathematischen Traktat, einem Textkommentar, einer historischen Erzählung, einer Episode in einem Romanzyklus zu tun hat; hier und da kann die Einheit des Buches, selbst wenn sie als Bündel von Beziehungen verstanden wird nicht als identisch betrachtet werden. Das Buch gibt sich vergeblich als ein Gegenstand, den man in der Hand hat; vergeblich schrumpft es in das kleine Parallelepiped, das es einschließt: seine Einheit ist variabel und relativ. Sobald man sie hinterfragt, verliert sie ihre Evidenz; sie zeigt sich nicht selbst an, sie wird erst ausgehend von einem komplexen Feld des Diskurses konstruiert.“ Michel Foucault, Archäologie des Wissens, übersetzt von Ulrich Köppen, Frankfurt/ Main: Suhrkamp Verlag 1973, S. 36. Titel der Originalausgabe L´ archéologie du savoir, Paris 1969. 173 Michail M. Bachtin, Die Ästhetik des Wortes (Anm. 172), S. 353. Einführung 46 beitragen. 174 Im Übrigen macht Paul Michael Lützeler auf die Ambivalenz oder Brüchigkeit der ›Ersten-/ Dritten-Welt-Polarität‹ in einer sich zunehmend globalisierenden Welt aufmerksam. „Es gibt Armutsgrade der Dritten in der sog. Ersten Welt, wie es hier und da Anhäufungen von Reichtum in der Art der Industriestaaten in den sog. Entwicklungsbzw. Schwellenländern gibt.“ 175 Man findet immer mehr Stadtteile in afrikanischen Hauptstädten mit Urbanisierungsstandards, wie diese in westlichen Metropolen anzutreffen sind, zum Beispiel in Libreville, Kinshasa, Jaunde, Abuja, Kotonou, Duala, Luanda usw. Umgekehrt legen bestimmte Stadtteile in westlichen Metropolen Verelendungen an den Tag, die an Verhältnisse in bestimmten Stadtvierteln in der Dritten Welt erinnern. Es entsteht tatsächlich ein globaler Norden (aus den Eliten des Nordens und des Südens) und ein globaler Süden (aus den armen Mehrheiten des Südens zusammen mit der wachsenden Zahl verarmter und ausgeschlossener Arbeiter und Arbeiterinnen des Nordens), wobei der Graben zwischen beiden immer größer wird 176 , schreibt Leonardo Boff. Besonders diese global gemeinte ›Dritte Welt‹ wird auch von Frantz Fanon angesprochen. Dass Fanons antikoloniales Denken sich an die globale ›Dritte Welt‹ richtet, lässt sich an der Stelle feststellen, in der er die physische und geistige Architektur der kolonialen Situation sowohl in jenen klassischen Kolonialgegenden als auch in europäischen metropolischen Zentren zerlegt. 177 Der Begriff ›Dritte Welt‹, wie dieser von Fanon 174 Vgl. Paul Michael Lützeler, „Einleitung: Der postkoloniale Blick“, in: ders. (Hg.), Der postkoloniale Blick. Deutsche Schriftsteller berichten aus der Dritten Welt, Frankfurt/ Main: Suhrkamp Verlag 1997, S. 7-33, hier S. 8. Vgl. ders. Postmoderne und postkoloniale deutschsprachige Literatur. Diskurs - Analyse - Kritik, Bielefeld: Aisthesis Verlag 2005, S. 27. 175 Ebd. S. 11. 176 Leonardo Boff, „Christentum in der Globalisierung“, in: Leo Gabriel (Hg.), Die Globale Vereinnahmung und der Widerstand Lateinamerikas gegen den Neoliberalismus, Frankfurt/ Main, Wien: Brandes & Apsel/ Südwind Verlag 1997, S. 183-190, hier S. 186. 177 „Le monde colonial est un monde coupé en deux. La ligne de partage, la frontière en est indiquée par les casernes et les postes de police. Aux colonies, l´interlocuteur valable et institutionnel du colonisé, le porte-parole du colon et du régime d´oppression est le gendarme ou le soldat. Dans les sociétés de type capitaliste, l´ enseignement, religieux ou läique, la formation de reflexes moraux transmissibles de père en fils, l´honnêteté exemplaire d´ouvriers décorés après cinquante années de bons et loyaux services, l´amour encouragé de l´harmonie et de la sagesse, ces formes esthétiques du respect de l´ordre établi, créent autour de l´exploité une atmosphère de soumission et d´inhibition qui allège considérablement la tâche des forces de l´ordre. Dans les pays capitalistes, entre l´exploité et le pouvoir s´interposent une multitude de professeurs de morale, de conseillers, de ‘désorientateurs’. Dans les régions coloniales, par contre, le gendarme et le soldat, par leur présence immédiate, leurs interventions directes et fréquentes, maintiennent le contact avec le colonisé et lui conseillent, à coup de crosse ou Methodische Vorgehensweise 47 angewendet wird, weist auf ›die Verdammten dieser Erde‹, sprich auf ehemalige Kolonien und deren Bewohner sowie auf die armen, ausgebeuteten, unterdrückten und marginalisierten Massen in der metropolischen Welt hin. 178 Im Mittelpunkt von Fanons Schreiben stehen die alltäglichen Erfahrungen von Demütigung, Unterdrückung und Erniedrigung, mit denen Subjekte in der kolonialen Situation (situation coloniale) sowohl in der Kolonie als auch in den metropolischen Zentren konfrontiert sind. Der sogenannte Kolonialherr ist auch ein Erzeugnis der kolonialen Situation. Er ist, so wie der Kolonisierte, durch die Kontingenz, die Kontiguität des Lebens in der ›situation coloniale‹ umhüllt. Der dialogische Raum der ›situation coloniale‹ verwandelt sich in einen Raum der Marginalität für beide Kontrahenten, wo jeder oder jede die Spaltung des Selbst auf eigentümliche Weise erfährt. Sogar ein Leben im materiellen Überfluss schützt nicht vor dieser Erfahrung. Fanons postkoloniales Denken „refuses the ambition of any ‘total’ theory of colonial oppression” 179 , ein Denken, das jedwede These einer Reinheit oder Absolutheit kolonialer Macht und Unterdrückung zurückweist. Homi Bhabha fasst Fanons Schreiben bzw. Denken als eine Poesie der Befreiung gegen die kalte, abstumpfende Prosa des kolonialen Realismus auf. Fanons postkoloniales Denken inszeniert die alltäglichen Erfahrungen kolonialer Subjekte: „the experience of the street“ 180 , so Bhabha. Dieser betont die aufbrechende Kraft, die dekonstruktive Kraft in Fanons Denkens, die - Homi Bhabha zufolge - aus Fanons Schreib- und Denkperspektive, aus der Perspektive der Marginalität, also der Unterdrückten, hervorgeht. „What is this distinctive force of Fanon´s vision that has been forming even as I write about the division, the displacede napalm, de ne pas bouger. On le voit, l´intermédiaire du pouvoir utilise un langage de pure violence. L´ intermédiaire n´allège pas l´oppression, ne voile pas la domination. Il les expose, les manifeste avec la bonne conscience des forces de l´ordre. L´intermédiaire porte la violence dans les maisons et dans les cervaux du colonisé.“ Frantz Fanon, Les damnés de la terre, Paris: Éditions Seuil 1975, S. 7f. In denjenigen europäischen Ländern, die nicht am Kolonialunternehmen direkt teilgenommen hatten, sieht Frantz Fanon auch koloniale Verhältnisse in verschobenen Formen am Werk. Auf die Bedeutungsverschiebung, die der Begriff Kolonialismus in der postkolonial genannten Kulturtheorie erfährt, wird im gesamten Teil 1 dieser Arbeit und vor allem unter folgenden Untertiteln „1.2. Vom Postmodernismus zum Postkolonialismus“; „1.3. Postkolonialität als kein einseitiges Phänomen …“ sowie „ 1.4. Die postkoloniale Theorie im binneneuropäischen Kontext: eine Frage der Übersetzung“ noch näher eingegangen. 178 Ebd. S. 62. 179 Homi K. Bhabha, „Remembering Fanon: Self, Psyche and the Colonial Condition“, Foreword to the 1986 Edition, in: Frantz Fanon, Black skin, white masks, translated by Charles Lam Markmann, Forewords by Ziauddin Sardar and Homi K. Bhabha, London: Pluto Press 2008, S. xxi-xxxvii, hier S. xxiv. 180 Ebd. Einführung 48 ment, the cutting edge of his thought? It comes, I believe, from the tradition of the oppressed […]“ 181 Zu den von Lützeler erwähnten Autoren 182 zählen auch europäische Autoren und Denker, u.a. Hans Christoph Buch, Hubert Fichte, Günter Grass, Uwe Timm, Bodo Kirchhoff, Hugo Loetscher usw. 183 Um wie Paul Michael Lützeler zu sprechen, thematisieren diese Autoren, die aus der ›Dritten Welt‹ schreiben, Konflikte und Probleme, die nicht nur ihre jeweiligen Länder angehen, sondern vor allem auch für unsere „Zeit neuer Grenzauflösungen und Grenzziehungen“ 184 relevant sind. Die Texte dieser Autoren schildern trans- oder interkulturelle Grenzgänge sowie kulturelle Schockerlebnisse. 185 Diese Autoren versuchen auch, in der Extremlage zwischen kultureller Entropie einerseits und ideologischem Fundamentalismus andererseits einen Ort zu bezeichnen, der die Vergangenheit nicht abtut, vor den Realitäten der Gegenwart die Augen nicht verschließt und eine menschenwürdige Perspektive auf die Zukunft ermöglicht. 186 Daraus geht implizit hervor, dass der Begriff ›Dritte Welt‹ auch für eine Schreibperspektive steht. 187 In diesen von Lützeler skizzierten Themenkomplex lassen sich auch Joseph Roths Texte einbetten, die in dieser Untersuchung in Betracht kommen. Folgende thematische Knotenpunkte machen aus Roth einen Denker oder Schriftsteller des Postkolonialen aus: erstens die Schilderung jüdischer zertrümmerter Existenzformen sowie deren Erfahrung von Vertreibung und Ausgrenzung im faschistischen Europa; zweitens das Leben als Student aus der Peripherie in der imperialen Metropole Wien 188 ; 181 Ebd. Vgl. ebd. S. xxiii. 182 Siehe S. 45 in dieser Arbeit. 183 Vgl. Paul Michael Lützeler, „Einleitung: Der postkoloniale Blick“ “, in: ders. (Hg.), Der postkoloniale Blick (Anm.174), S. 16f. Axel Dunker wendet aber ein, dass diese immer wieder erwähnten Autoren und deren Texte - Heinrich von Kleist und dessen Erzählung Die Verlobung in St. Domingo werden hinzugezählt - andere Autoren und Texte in den Schatten stellen. Dunker macht sich für eine Erweiterung dieser Liste stark. Er schreibt: „Zu einer Etablierung des (Post-)Kolonialismus innerhalb der deutschen Literaturwissenschaft ist es nötig, diese Einseitigkeiten zu überwinden und den Kanon an literarischen Beispielen wesentlich zu erweitern.“ Axel Dunker, „Einleitung“, in: ders. (Hg.), (Post-) Kolonialismus und deutsche Literatur, Impulse der angloamerikanischen Literatur- und Kulturtheorie, Bielefeld: Aisthesis Verlag 2005, S. 7-16, hier S. 8f. Näheres dazu ist ebenda zu erhalten. 184 Paul Michael Lützeler, „Einleitung: Der postkoloniale Blick“ in: ders. (Hg.), Der postkoloniale Blick (Anm. 174), S. 8. 185 Vgl. ebd. 186 Ebd. 187 Vgl. Axel Dunker, „Einleitung“, in: ders. (Hg.), (Post-)Kolonialismus und deutsche Literatur (Anm. 183). 188 Nach der Matura im Jahre 1913 verlässt Joseph Roth Galizien und lässt sich als Germanistikstudent in Wien nieder. Auf sich selbst gestellt in Wien, genießt Joseph Roth die schönen Seiten der imperialen Metropole. Mit der Zeit nimmt er das damalige Methodische Vorgehensweise 49 drittens die bittere Erfahrung des großstädtischen jüdischen Migrantenlebens in Berlin 189 ; viertens die Begegnung mit Frau Manga Bell im französischen Exil 190 ; fünftens der Eintritt für die geistige Dekolonisierung kolonialer Subhohe Konfliktpotenzial in der Imperialhauptstadt wahr. Hingewiesen wird auf die Reibereien unter den verschiedenen Nationalitäten. „Im Parlament wüteten die Vertreter der verschiedenen Nationen bis Kriegsausbruch gegeneinander, auf der Straße kam es zu blutigen Demonstrationen. An Wiens erster Bildungsstätte, deren Studenten mitunter zu den radikalsten Elementen der Deutschnationalen gehörten, wurden Hader und Zwist oft in blutigem Handgemenge ausgetragen.“ David Bronsen, Joseph Roth: eine Biographie (Anm. 10), S. 150. 189 Joseph Roth kommt in Berlin im Frühsommer 1920 mit der Hoffnung und Zuversicht an, sich eine sichere finanzielle Grundlage zu schaffen. Was bedeutete es, Ostjude zu sein, aus Galizien zu stammen und in Berlin zu leben? David Bronsen führt die Antwort des Schauspielers Alexander Granath - eines jüdisch-galizischen Landmanns - an: „[D]ie Berliner sprächen über Galizien so gehässig, wie über kein anderes Land. Kein Mensch nähme Anstoß daran, wenn Rumänien, Bulgarien, Serbien oder Montenegro genannt würden. Sobald aber das Wort ‘Galizien’ falle, versäume keiner, die Nase zu rümpfen …“ Ebd. S. 32. 190 Andrea Manga Bell, Tochter eines erfolgreichen kubanischen Pianisten und einer Deutschen, heiratete als Achtzehnjährige den Kameruner Prinz Alexander Manga Bell (1897-1966), den Sohn von Rudolf Duala Manga Bell (1873-1914). Aus dieser Ehe kamen zwei Kinder: José Emanuel (1920-1947) und Andrea Tüke (1921-2003). Vgl. Heinz Lunzer (Hg.), Joseph Roth im Exil in Paris 1933 bis 1939. Wien: Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur 2008. S. 44-57, hier S. 44. Rudolf Duala Manga Bell war der König der Dualas in Kamerun unter deutscher Kolonialherrschaft. Die Dualas sind eine ethnische und Sprachgemeinschaft an der Küstegegend Kameruns. Rudolf Duala Manga Bell setzte sich gegen die Absicht der deutschen Kolonialmacht zur Wehr, die Duala-Völker zu enteignen und sie landeinwärts umzusiedeln. Er versuchte eine Widerstandsfront zu bilden, indem er die Unterstützung anderer kamerunischer ethnischer Gruppen suchte. Die deutsche Kolonialmacht bekam Wind von seinen Plänen. Er wurde verhaftet und am 8. August 1914 (gemeinsam mit seinem Sekretär Ngoso Din und Martin Paul Samba) von der deutschen Kolonialmacht öffentlich hingerichtet. Martin Paul Samba war ein gebildeter Anführer des Bulu-Volkes, einer ethnischen und Sprachgruppe im Südkamerun. Vgl. Jean-Pierre Félix Eyoum/ Stefanie Michels/ Joachim Zeller, „Bonamanga. Eine kosmopolitische Familiengeschichte“, auf der Internet-Plattform http: / / www.peuplesawa.com/ downloads/ 102.pdf, S. 14. Vgl. Richard Joseph, „The royal pretender: Prince Alexander Manga Bell in Paris, 1919-1922“, in: Cahier d´études africaines, 14/ N°54/ 1974, S. 339-358, hier S. 339. Nach diesen Ereignissen musste Prinz Alexander Manga Bell nach Duala bzw. Kamerun zurückkehren, weil er seinem Vater nachfolgen sollte. Andrea Manga Bell siedelte nach Berlin um, wo sie Joseph Roth im Jahre 1929 kennenlernte. Beide flüchteten vor den Nationalsozialisten nach Frankreich. Die Beziehung währte bis 1936. Durch diese Frau und deren Kinder machte Joseph Roth die Erfahrung der Marginalität, die Erfahrung der kulturellen Differenz. „Andrea Manga Bell war ihm Inspiration und Sekretärin. Sie tippte Diktate oder Handschriftliches ins Reine.“ Heinz Lunzer (Hg.), Joseph Roth im Exil in Paris 1933 bis 1939 (Anm. 190), S. 44. Näheres dazu vgl. David Bronsen, Joseph Roth. Eine Biographie (Anm. 10), S. 485-511. Vgl. Wolfgang Müller, Joseph Roth. Mit Einführung 50 jekte durch eine kritische Beleuchtung der imperialen Begegnung zwischen Europa und Afrika bzw. zwischen Europa und der ›Dritten Welt‹. Dazu kommt Roths Einstellung zum Zionismus. Joseph Roth betrachtet den Zionismus bzw. die politisch-religiöse Bewegung, die die Gründung eines Nationalstaats in Palästina nach westeuropäischem Muster zum Ziel hatte, als ein Projekt der britischen Kolonialherrschaft und des europäischen Nationalismus à la Versailles. 191 Im Essay Juden auf der Wanderschaft heißt es: Wenn also auch die Juden durchaus die üblen Sitten und Gebräuche der Europäer ablehnten, sie können sie nicht ganz ablegen. Sie sind selbst Europäer. Der jüdische Statthalter von Palästina ist ohne Zweifel ein Engländer. Und wahrscheinlich mehr Engländer als Jude. Die Juden sind Objekt oder ahnungslose Vollstrecker europäischer Politik (JRW 2, 836). Joseph Roth verdeutlicht seine Distanz der zionistischen Bewegung gegenüber. Diese Arbeit versteht sich daher auch als Inszenierung eines nachträglichen Dialogs zwischen ›Schriftstellern der Dritten Welt‹ - auch Schriftstellern des Postkolonialen genannt. Gemeint sind jene Schriftsteller, die - in Anlehnung an Lützeler - aus einer ›Dritte-Welt-Perspektive‹ schreiben. Die Einbeziehung dieser Schriftsteller findet ihre Begründung nicht nur in der Tatsache, dass der postkoloniale Diskurs die theoretische Grundlage dieser Arbeit bildet 192 oder dass diese Schriftsteller zur Begründung des postkolonialen Diskurses beigetragen haben und beitragen, 193 sondern vor allem darin, dass das Bewusstsein für das Spektrum der Beziehungen zwischen ›Erster und Dritter Welt‹ dadurch geweckt und geschärft wird. 194 Durch solch eine Verfahrensweise wird die Hybridität, d.h. das „Nicht-Monolitische der Kulturen“ 195 , betont und ein „Denken in Gegensätzen“ 196 untergraben, wie dies in Samuel Huntingtons Clash of Civilisations der Fall ist. 197 Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, dargestellt von Helmut Nürnberger, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1981. S. 81-84. 191 Vgl. Joseph Roth, Juden auf der Wanderschaft, in: JRW, Band 2, Das journalistische Werk 1924-1928, S. 827-934, hier S. 834-835. Künftighin im Fließtext als JRW mit Angabe des Bandes und der Seitenzahl zitiert. 192 Siehe im Theorieteil der Arbeit S. 50-135. 193 Vgl. Paul Michael Lützeler (Hg.), „Einleitung: Der postkoloniale Blick“, in: ders. (Hg.), Der postkoloniale Blick (Anm. 174), S. 8. 194 Vgl. ebd. Vgl. ders. Postmoderne und Postkoloniale deutschsprachige Literatur, Diskurs - Analyse - Kritik (Anm. 174), S. 27. Vgl. ders. „Einleitung: Postkolonialer Diskurs und deutsche Literatur“, in: ders. Schriftsteller und „Dritte Welt“: Studien zum postkolonialen Blick, Tübingen 1998 S. 7-30, hier S. 28. 195 Ders. Postmoderne und postkoloniale deutschsprachige Literatur, Diskurs - Analyse - Kritik (Anm. 174), S. 28. 196 Ebd. 197 Vgl. Samuel P. Huntington, The clash of civilizations and the remaking of the world order, New York: Simon & Shester 2003. Leitfragen und Aufbau der Arbeit 51 Leitfragen und Aufbau der Arbeit An diesem Punkt angelangt ist es notwendig, die unterschiedlichen Perioden dieser Arbeit sowie die jeweiligen Schwerpunkte darzulegen. Im Mittelpunkt steht die Erschließung des Afrikabzw. Dritte Welt-Bezugs von Roths Texten. Die Arbeit fußt auf der Hypothese, dass binnen- und außereuropäischer Kolonialismus Verschränkungen aufweisen. Erwähnenswert ist, dass die Debatte über Marginalität und die Verschränkung von Kolonialismen einen Bestandteil des ›postkolonialen Diskurses‹ bildet. Dementsprechend macht sich der erste Teil dieser Untersuchung zur Aufgabe, das grundlegende Konzept „Ästhetik der Marginalität“ im bzw. durch den postkolonialen Diskurs zu fundieren. Im zweiten Teil wird der Marginalität bzw. dem unheimlichen Leben von Roths Hauptgestalten auf den Grund gegangen. Die Analyse erfolgt zunächst werkimmanent, aber weitere Texte - theoretische sowie literarische - werden zur Illustration dialogisch herangezogen. Es ist an dieser Stelle notwendig zu unterstreichen, dass diese Arbeit auch um einen Dialog zwischen Theorie- und Primärtexten bemüht ist, wobei der Leser feststellen kann, dass sich beide Texte wechselseitig befruchten. Bei der Rekonstruktion der Erscheinungsbzw. Ausdrucksformen des unheimlichen Lebens von Roths Hauptgestalten wird die Aufmerksamkeit auf die Daseinsformen dieser Figuren gelenkt, nämlich auf ihre Desorientierung, ihre innere Spaltung, ihre Entfremdung, ihre Ausweglosigkeit, ihre Hauslosigkeit, ihre schlagartigen Verwandlungen sowie auf ihren Umgang mit ihrer Umwelt. Einen entscheidenden Punkt in dieser Analyse der Marginalität von Roths Hauptgestalten stellt die Erschließung von Räumen dialogischer Begegnungen dar, Räume, die in dieser Arbeit in erweitertem Sinne hypothetisch - im Hinblick auf die Verschränkung von binnen- und äußereuropäischen Kolonialverhältnissen - als Räume der Begegnung von profaner und sakraler bzw. von ›Erster und Dritter Welt‹ bezeichnet werden. Die historisch mannigfaltigen Begegnungen zwischen Europa und Afrika stellen Spielarten solcher Begegnungsräume dar. Daher widmet sich der dritte Teil einer Rekonstruktion der imperialen Begegnung zwischen Europa und Afrika, wie diese in Roths essayistischen Texten dargestellt wird. Die Rekonstruktion dieser Darstellung zielt darauf ab, Roths Texte nach deren Afrika-Bezug zu befragen und zu hinterfragen und daraus Roths Einstellung zu dieser Begegnung zu erschließen. Dabei wird auch auf bestimmte Debatten bzw. Fragen eingegangen, die in diesen Texten und durch diese aufgeworfen werden, unter anderen Fragen der machtpolitischen Dimension des Begriffs Kultur, Fragen der Gegengeschichtsschreibung, Fragen der geistigen Dekolonisierung, des kolonialen Blickes sowie Fragen der Differenz und Interdependenz. 1. Zum Begriff „Ästhetik der Marginalität“: Eine begriffliche Grundlegung im postmodernen bzw. postkolonialen Diskurs Ich möchte zunächst den Begriff „Marginalität“ im bzw. durch den postmodernen und postkolonialen Diskurs erörtern. Es geht darum, postmoderne und postkoloniale Thesen nur soweit darzulegen, als sie das Grundkonzept ›Ästhetik der Marginalität‹ - wie es in dieser Arbeit verstanden wird - begreiflich machen. Jacques Derridas Theorie und Verfahren der Dekonstruktion bildet daher den Ausgangspunkt. In den Blickpunkt dieser Derrida-Lektüre gerät vor allem die Rehabilitierung der „Ränder der [abendländischen] Moderne“ 198 , um die Derridas Konzept der Dekonstruktion unter anderen auch bemüht ist. An der Rehabilitierung der Ränder abendländischer Moderne beteiligen sich auf eigentümliche Weise historisch unterschiedliche Denker wie Sigmund Freud, Michel Foucault, Frantz Fanon, Franz Kafka, Joseph Conrad, Hannah Arendt, Albert Memmi, Aimé Césaire, Edward Said, Homi Bhabha usw., wenn auch bei manchen nicht selten ambivalente Aspekte anzutreffen sind. Diese und andere hier nicht genannte Autoren werden im Rahmen dieser theoretischen Begründung des Konzepts Marginalität herangezogen. Besonders hervorgehoben werden jene Momente, in denen sich die Texte dieser Denker und Schriftsteller überschneiden. 1.1 Jacques Derrida und die Dekonstruktion der abendländischen Metaphysik als Hervorhebung des Marginalen Bevor auf die einzelnen Fragen eingegangen wird, was Marginalität in Bezug auf Joseph Roths Hauptgestalten bedeutet oder wie die Marginalität von Joseph Roths Figuren zum Vorschein kommt und vor allem wie sich diese Marginalität auf einen globalen Zusammenhang übertragen lässt, möchte ich zunächst einen Blick darauf werfen, wie und wo der Begriff Marginalität in 1.1. Jacques Derrida und die De ko nstruktio n der abendlä ndisc hen Metaphys ik manchen Nachschlagewerken sowie bei gewissen Autoren benützt wird; im Anschluss werde ich mich mit der Frage befassen, inwiefern sich Derridas Dekonstruktion abendländischer logozentrischer Tradition als Sichtbarma- 198 Ein Hinweis auf den Buchtitel von Robert Weimann (Hg.), Ränder der Moderne: Repräsentation und Alterität im (post)kolonialen Diskurs, unter Mitarbeit von Sabine Zimmermann. Frankfurt/ Main: Suhrkamp Verlag 1997. In eckigen Klammern Stehendes ist eine Hinzufügung v. mir. Die Beiträge dieses Buches befragen und hinterfragen „das Projekt der Moderne nicht aus dem traditionellen Zentrum europäischer Macht und Geistigkeit, sondern aus dem zerbrochenen Spiegel seiner kolonialen Ränder“. Ebd. S. 2. Fettmarkiertes ist eine Hinzufügung v. mir. 1.1. Jacques Derrida und die Dekonstruktion der abendländischen Metaphysik 53 1. Zum B egriff „Ästhetik der Margi nalität“ chung und Rehabilitierung des Marginalen, als Betonung der Differenz, aber vor allem der Interdependenz lesen lässt. Dieser Denkbewegung oder Begegnung von Differenz und Interdependenz folgend wird in der dritten Phase dieses Abschnitts Foucaults Machtkonzept ansatzweise dargestellt, wie er es in Überwachen und Strafen (Surveiller et punir) entwickelt hat. Solch eine dialogische Inszenierung von Derrida und Foucault findet eine Begründung darin, dass beide Denker das als postmodern bezeichnete Denken prägen. 199 Eine derartige dialogische mise en scène zielt ferner darauf ab, nachzuvollziehen, wie manche Vertreter der postkolonial genannten Kulturtheorie sich Impulse erwähnter Denker aneignen, aber vor allem nachzuspüren, wie der postkoloniale Diskurs an den Grenzen der Texte erwähnter Autoren arbeitet. Dieter Nohlen bezeichnet das Buch Lexikon Dritte Welt, dessen Herausgeber er ist, als unentbehrliches „Nachschlagewerk und Arbeitsmittel“ 200 für alle, die u.a. „mit Fragen der Entwicklungspolitik, der Nord-Süd-Problematik und der sogenannten Dritten Welt beschäftigt sind“. 201 Darin liefert er kompilierte Ansätze oder Begriffe zu dem, was er als „Dritte-Welt-Probleme“ 202 abstempelt. Zu diesen Begriffen gehört der Begriff ›Marginalität‹. Dieter Nohlen bringt das Phänomen der ›Marginalität‹ mit vor den 1960er Jahren in manchen sogenannten Dritten Welt-Ländern parallel stattfindenden gesell- 199 Weiterführendes zum Begriff Postmoderne u.a. vgl. Jean-François Lyotard, Das postmoderne Wissen: ein Bericht, herausgegeben von Peter Engelmann Wien: Passagen Verlag 1993. Titel der Originalausgabe: La condition postmoderne (1982). Vgl. ders. Der Widerstreit, übersetzt von Joseph Vogl, mit einer Bibliographie zum Gesamtwerk Lyotards von Reinhold Clausjürgens, München: Wilhelm Fink Verlag 1987. Titel der französischen Originalausgabe: Le Différend (1983). Vgl. Wolfgang Welsch (Hg.), Wege aus der Moderne: Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion, mit Beiträgen von J. Beaudrillard, D. Bell, J. Derrida, U. Eco, L. A. Fiedler, A. Gehlen, J. Habermas, I. Hassan, Ch. Jencks, D. Kamper, H. Klotz, J.-F. Lyotard, A. Bonito Oliva, P. Sloterdijk, G. Vattimo, R, Venturi, A. Wellner, Weinheim: VCH, Acta Humanoria 1988. Vgl. ders. Unsere Postmoderne Moderne, vierte Auflage, Berlin: Akademie Verlag 1993. Vgl. Perry Anderson, The origins of Postmodernity, London, New York: Verso 1998. Vgl. Patrick Baum/ Stefan Höltgen (Hg.), Lexikon der Postmoderne. Von Abjekt bis Žižek - Begriffe und Personen, Bochum, Freiburg: Projekt Verlag 2010. Vgl. Stephen Baker, The Fiction of Postmodernity, Edinburgh: Edinburgh University Press 2000. Vgl. Paul Michael Lützeler, „From Postmodernism to Postcolonialism. On the interrelation of the discourses“, in: Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften (Anm. 59). Vgl. ders. „Einleitung: Postkolonialer Diskurs und deutsche Literatur“, in: ders. (Hg.), Schriftsteller und „Dritte Welt“ (Anm. 194). Vgl. ders. „Einleitung: Der postkoloniale Blick“, in: ders. (Hg.), Der postkoloniale Blick. Deutsche Schriftsteller berichten aus der Dritten Welt (Anm. 174). Vgl. ders. „Von der Postmoderne zur Globalisierung: Zur Interrelation der Diskurse“, in: ders. (Hg.), Räume der literarischen Postmoderne: Gender, Performativität, Globalisierung, Tübingen: Stauffenberg Verlag 2000. 200 Dieter Nohlen (Hg.), Lexikon Dritte Welt (Anm. 2), S. 4. 201 Ebd. S. 4. 202 Ebd. S. 7. 1. Zum Begriff „Ästhetik der Marginalität“ 54 schaftlichen Phänomenen der Landflucht und Industrialisierung in Zusammenhang, die die Herausbildung von Bevölkerungsgruppen „in Elendsvierteln an der Peripherie der großen Städte“ 203 zur Folge hatten. Durch die Bezeichnungen ›Elendsviertel‹, ›Peripherie‹, ›Stadt‹ oder ›Dorf‹ wird das Augenmerk u.a. auf die soziale Herkunft, die kümmerlichen Existenzbedingungen, die eingeschränkten Perspektiven und Horizonte dieser Bevölkerungsgruppen gerichtet. Gleichzeitig wird eine trennscharfe Begrenzung der physischen und geistigen Lebensräume dieser Bevölkerungsgruppen vollzogen: „Elendsviertel“, „favelas“, „villas miseras“ 204 usw. Unter Bezugnahme auf Anne Cordova gibt Nohlen zu verstehen, dass der Begriff ›Marginalität‹ in den 1960er Jahren auf produktivitäts- und deshalb einkommensschwache Bevölkerungsgruppen angewandt worden ist, die dementsprechend ihr Dasein, ihr Dazugehörig-Sein 205 mit unstabilen Arbeitsverhältnissen fristen müssen. 206 Nohlen führt im Anschluss die These von Desal an, der ›Marginalität‹ an das Nicht-beteiligt-Sein an Entscheidungsprozessen sowie an den Nicht- Erhalt von sozialen Leistungen knüpft. 207 Also ein Subjekt, das nicht in Entscheidungsprozesse mit einbezogen wird und dazu über eingeschränkten sozialen Gestaltungsraum verfügt, ist marginalisiert. Der Fokus wird hier überwiegend dependenztheoretisch auf ökonomische Asymmetrien gerichtet. Unter Bezugnahme auf Armando Cordova unterscheidet Dieter Nohlen drei Typen von ›Marginalität‹: 1. Bevölkerungsgruppen, die unter vorkapitalistischen Bedingungen leben: alle Arten von nicht entlohnter Arbeit, insbesondere die Subsistenzlandwirtschaft; 2. die nicht oder unter ihrer Qualifikation beschäftigte Bevölkerung, die sich nicht in den Produktionsprozeß integrieren kann; 3. die bereits integrierten Arbeitskräfte, die aus dem Produktionsprozeß wieder ausgestoßen werden. 208 Und Dieter Nohlen hält diese drei Typen für dazu geeignet, „die verschiedenen Situationen von Marginalität in zeitlicher und räumlicher Dimension zu umfassen“. Weitere Unterscheidungen werden vorgenommen: „zwischen relativer Marginalität (aufgrund rassischer, politischer, sozialer und kultureller Unterdrückung) und absoluter Marginalität (Beschneidung jeglichen Zugangs zu ausreichendem und stabilem einkommen)“. 209 Solch eine Betrachtung des Phänomens ›Marginalität‹, die sich auf den Bereich positivistischer statistischer Indizien beschränkt und mit binären Entgegensetzungen - Erste vs. Dritte Welt, reich vs. arm, entwickelt vs. un- 203 Ebd., S. 442. 204 Ebd. Kursivschreibungen sind Hervorhebungen i.O. 205 Die Zugehörigkeit zur Gesellschaft. 206 Vgl. ebd. 207 Vgl. ebd. 208 Ebd. 209 Ebd. 1.1. Jacques Derrida und die Dekonstruktion der abendländischen Metaphysik 55 terentwickelt, Entwicklungsland vs. Industrieland - arbeitet, stellt ipso facto das Soziale als etwas Starres, Undynamisches dar, in dem Subjekte von vornherein aufgrund ihrer Herkunft, Klasse oder ihres Geschlechts festgelegt sind, zu einem unveränderlichen Dasein verdammt sind. Der Begriff ›Marginalität‹ wird in Verbindung mit einer einseitig geographisch und ökonomisch definierten und lokalisierten ›Dritten Welt‹ gebracht. Wenn aber die als marginal verstandene ›Dritte Welt‹ im Hinblick auf weitere gesellschaftliche Phänomene wie Landflucht, Industrialisierung bestimmt wird, dann hat es diese ›Dritte Welt‹ zu jeder Zeit überall gegeben beziehungsweise besteht diese Welt weiterhin fort - selbstverständlich mit graduell kontextbedingten Unterschieden. Darüber hinaus fällt diese Begründung des Phänomens Marginalität durch einen allzu verallgemeinernden Charakter auf. Die psychoaffektive Dimension dieses Phänomens kommt dabei überhaupt nicht zur Sprache. Marginalität erscheint vielmehr als ein Zustand, dessen Ursachen nur ökonomischer Natur sind. Wer der gesellschaftlichen Elite angehört, wer ökonomisch abgesichert ist, wer in einem sogenannten Industrieland lebt, ist von diesem Phänomen relativ geringfügig - oder absolut nicht - betroffen oder getroffen. Zu so einem Schluss könnte man kommen, wenn man Dieter Nohlens Darstellungsweise folgt. Das Phänomen der Marginalität wird als etwas dargestellt, dem vor allem eine Kategorie von Menschen hauptsächlich aufgrund ihrer niedrigen sozialen Herkunft oder ihrer ungesicherten sozialen und ökonomischen Verhältnisse ausgesetzt sind. Dieter Nohlens Darstellung ist mit kartographischen Darstellungen über den afrikanischen, asiatischen, und ozeanischen Raum 210 sowie über den mittelamerikanischen, karibischen und südamerikanischen Raum 211 versehen. Diese Karten sind mit Namen von Ländern übersät, die - vermittels der suggestiven Kraft des Buchtitels Lexikon Dritte Welt - beim Leser auf den ersten Blick den Eindruck erwecken, die reale Dritte Welt auf einen Blick vor Augen zu bekommen. Dazu kommen statistische Indikatoren auf demographischer, 212 wirtschaftlicher 213 und sozialer 214 Ebene, die eine serielle Einteilung, Berechnung, Bewertung, Klassifizierung und Kategorisierung der Länder und der darin lebenden menschlichen Gruppen ermöglicht. Laut intendiertem Programm des Lexikons sollen die versammelten Informationen oder Fakten zur „Bewußtseinsbildung über die 210 Ebd. S. 1 und 2. 211 Ebd. S. 760-761. 212 „Durchschnittliche jährliche Wachstumsrate der Bevölkerung“, „Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter“, „Fertilität“, „Urbanisierungsgrad“, ebd., S. 744-748. 213 „Durchschnittliche jährliche Wachstumsrate des Bruttosozialprodukts pro Kopf“, „Industrialisierungsgrad“, „Exportanteil von Primärprodukten“, „Terms of Trade“, „Schuldendienstquote“, „Indix der Nahrungsmittelproduktion pro Kopf“, ebd. S. 749- 752. 214 „Trinkwasserversorgung“, „tägliches Kalorienangebot pro Kopf“, „Einschulungsquote Grundschule“, „Säuglingssterblichkeit“, „Kindersterbeziffer“, „Lebenserwartung bei der Geburt“, „Einwohner je Arzt“, „Alphabetisierungsquote“, ebd., S. 753-757. 1. Zum Begriff „Ästhetik der Marginalität“ 56 Dritte-Welt-Probleme“ 215 beitragen. Die begrifflichen, kartographischen und tabellarischen Inhalte des Nachschlagewerkes Lexikon Dritte Welt mögen zweifelsohne einen Beitrag zur politischen Bewusstseinsbildung des Lesers leisten. Man kann dennoch nicht umhin festzustellen, dass solche statistisch gestützten, anscheinend unschuldigen, begrifflichen, kartographischen und tabellarischen Darstellungen unbewusst an der Herausbildung und Festigung eines bestimmten geopolitischen Bewusstseins teilhaben. Nohlens Lexikon Dritte Welt vermittelt eine Flut von Wissen über das facettenreiche Andere - hier buchtitelartig als ›Dritte Welt‹ bezeichnet, ein Wissen, das gewissermaßen in einen Macht-Wissen-Komplex 216 eingebettet ist. Unvorsichtig und sogar impertinent würde es scheinen, den akademisch bewährten Autoren des fachlich durchdacht gestalteten Lexikons zu unterstellen, bewusst an diesem Komplex gearbeitet zu haben. Von einer solchen Unterstellung kann hier nicht die Rede sein. Was trotzdem auffällt, ist, dass die an konzeptueller und inhaltlicher Gestaltung des Lexikons beteiligten Autoren westlicheuropäischen Universitäten oder para-universitären Institutionen der Metropolen entstammen. Die skurrile Frage, die daher entstehen könnte, ist, ob und wann eine Zusammenarbeit mit Universitätskollegen aus den im Lexikon behandelten Teilen der Welt überhaupt stattgefunden hat. Im Vorwort 217 des Herausgebers wie im Autorenverzeichnis 218 ist zumindest zu wenig bis gar kein Hinweis auf eine solche Zusammenarbeit zu finden. Was in Dieter Nohlens Beitrag zum Begriff Marginalität zu kurz kommt, ist die Betonung der unhintergehbaren Ambivalenz, die in diesem Begriff enthalten ist: die mannigfaltigen Erfahrungsdimensionen von Marginalität sowie deren vielschichtige Ausdrucksformen, die sich nicht einseitig kausal durch ökonomische Kontingenzen erklären lassen; die Ambivalenz festgefügter Polaritäten, die Ambivalenz des semiotischen Feldes; 219 Marginalität als Spaltung des Selbst, als Erfahrung des Unheimlichen, als Differenz- und Interdependenz-Erfahrung. Und gerade die Erschließung derartiger Erfahrungsdimensionen von Marginalität aus einer postkolonialen Perspektive, jenseits von Dependenztheorien - mit Joseph Roths Texten als Bezugspunkten - steht im Mittelpunkt dieser Arbeit. Bevor jedoch auf die Rekonstruktion der marginalen, unheimlichen Lebensformen von bestimmten Roth-Figuren in Teil 2 der Arbeit eingegangen wird, werden im Folgenden bestimmte philosophisch- 215 Ebd. S. 7. 216 Auf diesen Begriff wird später bei der Auseinandersetzung mit Foucaults Machtkonzept in diesem Teil der Arbeit näher eingegangen. 217 Ebd. S. 7. 218 Ebd. S. 8f. 219 In Anlehnung an Derrida wird davon ausgegangen, dass die Welt oder der gesellschaftliche Raum, der Raum der Zirkulation von Zeichen ist. Vgl. Jacques Derrida, Grammatologie, übersetzt von Hans-Jörg Rheinberger und Hanns Zischler, Frankfurt/ Main: Suhrkamp Verlag 1974, S. 78. Titel der Originalausgabe De la grammatologie, Paris: 1967. 1.1. Jacques Derrida und die Dekonstruktion der abendländischen Metaphysik 57 kulturwissenschaftliche Orte bzw. Texte besucht, in denen die Ambivalenz festgefügter, festgefahrener gesellschaftlicher Polaritäten evident gemacht wird. Das Denken von Jacques Derrida stellt eine der philosophischen Orte dar, in denen solche Polaritäten anhand der Kategorien ›Schrift‹, ›Spur‹, ›différance/ différence‹ operativ dekonstruiert werden. Erwähnt sei im Vorfeld, dass es nicht darum geht, Derridas Philosophie in allen Einzelheiten darzustellen. Es wird vielmehr auf Momente des Derrida’schen Arbeitskonzepts - der Dekonstruktion - eingegangen. Bei dieser symptomatischen Derrida- Lektüre wird die Frage in den Mittelpunkt gerückt, inwiefern der Autor durch die Kategorien - ›Dekonstruktion‹, ›Schrift, ›Spur‹, ›différence oder différance‹ - die Polaritäten unterminiert, das Marginale hervorhebt und vor allem rehabilitiert. In der Grammatologie 220 ist Derrida insbesondere am Verhältnis von geschriebenem und gesprochenem Wort interessiert. 221 Er rückt dieses Verhältnis in einen differenzierten Zusammenhang, indem er sich mit prägenden Figuren des abendländischen Denkens - u.a. mit den Vor- und Nachsokratikern, Friedrich Nietzsche, Martin Heidegger, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Jean-Jacques Rousseau, Ferdinand de Saussure usw. - befasst, die an der Frage nach dem Wesen des (sprachlichen) Zeichens im Allgemeinen und der Schrift im Besonderen beteiligt sind. Derridas Auseinandersetzung mit dem Zeichen kommt einer Auseinandersetzung mit der Welt, mit dem Menschen, mit dem Leben umso mehr gleich, als er selbst die Welt als den Raum der Zirkulation von Zeichen begreift. 222 Die Einbeziehung von Derridas Denken in diese Arbeit geht davon aus, dass erstens Joseph Roths literarische Figuren Zeichenkonstrukte sind, die sich in einer Welt bewegen, in der Zeichen zirkulieren, und dass zweitens Derridas Denken um ein Sichtbar-Machen und Rehabilitieren des Marginalen bemüht ist. Derrida leitet den ersten Teil seines Buches mit Zitaten ein, die er ironisch „Devise“ 223 nennt. In diesen Zitaten ist von der Schrift die Rede. Besonders markant ist das Zitat aus Jean-Jacques Rousseaus Essai sur l´origine des langues 224 , in dem das Alphabet (die Buchstabenschrift) als die Schreibweise zivilisierter bzw. fortgeschrittener Völker eingestuft wird in Opposition zum Malen sowie zur Verwendung allegorischer Figuren anstelle von Buchstaben und Sätzen. Rousseau hält das Malen für ein Wesensmerkmal ›barbarischer 220 Ebd. S. 45. 221 Wobei die Schrift-Wort-Polarität für weitere gängige Polaritäten - Natur/ Kultur, Zentrum/ Peripherie, profan/ sakral, Diesseits/ Jenseits, Westen/ Nichtwesten, Orient/ Okzident, schwarz/ weiß, Mann/ Frau, arm/ reich, richtig/ falsch usw. - stellvertretend steht. 222 Vgl. ebd., S. 78. 223 Ebd. S. 11. 224 Jean-Jacques Rousseau, Essai sur l´origine des langues: où il est parlé de la mélodie et de l´imitation musicale, édition critique, avertissement et notes par Charles Porset, Bordeaux 1970. 1. Zum Begriff „Ästhetik der Marginalität“ 58 bzw. rückständiger Völker‹. Die Buchstabenschrift, das Malen sowie die Verwendung von Zeichen 225 als Schriftformen entsprechen, Rousseau zufolge, „drei verschiedene[n] Zustände[n], unter denen man die in einer Nation zusammengefassten Menschen betrachten kann. Das Malen von Gegenständen kommt den wilden Völkern zu; die Zeichen für Wörter und Sätze den barbarischen Völkern; das Alphabet schließlich den zivilisierten Völkern.“ 226 Anhand dieses Zitats führt Derrida vor Augen, inwiefern der Begriff der Schrift vom Logozentrismus beherrscht wird. 227 Der Begriff Logos bei Derrida verweist sowohl auf die aufklärerische Vernunft (Ratio), auf Europa - als ›Zentrum der Welt‹ verstanden - als auch auf den - im vorbzw. nachsokratischen Sinne - „unendlichen Verstand Gottes“. 228 Und diese historisch differierenden Spielarten des Logos in der abendländischen Philosophie zeichnen sich dadurch aus, dass sie zum Ursprung und Zentrum der Wahrheit erhoben werden. Logozentrismus ist demnach die ständige Suche nach einem Zentrum von Wahrheit und Bedeutung. Daher wird die abendländische philosophische Tradition als logozentrisch bezeichnet, weil sie immer auf der Suche nach so einem Zentrum ist. Sie ist immer bestrebt, solch ein Zentrum zu konstruieren. Und wie in Teil 3 dieser Untersuchung festzustellen sein wird, nimmt die Figur Franz Tunda - aus Joseph Roths Die Flucht ohne Ende - einen ähnlichen logozentrischen Gestus bei seinem Bruder Georg wahr. 229 Derrida sieht diesen Logozentrismus eng mit einem Phonozentrismus verflochten. 230 Der Phonozentrismus - die Überprivilegierung des gesprochenen Wortes - hat, laut Derrida, seinen Ursprung in der abendländischen philosophischen Tradition „von Platon über Leibniz bis Hegel und, jenseits ihrer scheinbaren Grenzen, von den Vorsokratikern bis Heidegger“. 231 Dem stellt Derrida das Konzept einer „Metaphysik der phonetischen Schrift“ 232 entgegen, um auf diese Überbetonung des gesprochenen Wortes aufmerksam zu machen. ›Metaphysik‹ ist eine von Derrida verwendete Kategorie, um ein Wesensmerkmal des Denkens dieser ›Meisterdenker‹ herauszuheben: die Privilegierung des gesprochenen Wortes als Ursprung der Wahrheit, als Garant von Bedeutung zuungunsten der Schrift. „Sokrates, 225 Gemeint werden hier Bilder. 226 Ebd. „La peinture des objets convient aux peuples sauvages; les signes des mots et des propositions, aux peuples barbares; et l´alphabet, aux peuples policés.“ Jean-Jacques Rousseau, „ Chapitre V. De l´ écriture“, in: ders. Essai sur l´origine des langues (Anm. 224), S. 55-70, hier S. 57. 227 Vgl. Jacques Derrida, Grammatologie (Anm. 219), S. 11. 228 Ebd. S. 24. Und Derrida betrachtet den Namen Gottes „zumindest so, wie er in den klassischen Rationalismen zum Ausdruck kommt“ als „de[n] Namen der Indifferenz schlechthin“. Ebd. S. 124 229 Vgl. Teil 3 in dieser Arbeit. 230 Jacques Derrida, Grammatologie (Anm. 219), ebd. S. 24. 231 Ebd. S. 11f. 232 Ebd. S. 11. 1.1. Jacques Derrida und die Dekonstruktion der abendländischen Metaphysik 59 derjenige, der nicht schreibt.“ 233 Diese Aussage, die Derrida unter Anlehnung an Friedrich Nietzsche 234 anführt, hängt mit Derridas Kritik am Phonozentrismus zusammen. Die Figur des Sokrates hat sich in der abendländischen Philosophie - besonders in Platos Texten - als diejenige durchgesetzt, die nicht schreibt, sondern vielmehr spricht. Gerade diese Überprivilegierung des gesprochenen Wortes als authentischer Selbst-Ausdruck eines Menschen, als Garant von Bedeutung wird von Derrida dekonstruiert. Das gesprochene Wort setzt die Präsenz eines sprechenden Subjekts voraus. Und dieses Subjekt wird als Ursprung, Meister und Besitzer der Wahrheit konstituiert, konstruiert und institutionalisiert. 235 Die Stimme wird als die Erzeugerin des ersten Zeichens oder Signifikanten angenommen. 236 „Sie [die Stimme] bezeichnet den ‘Seelenzustand’, der seinerseits die Dinge in natürlicher Ähnlichkeit widerspiegelt oder reflektiert.“ 237 Martin Heidegger bietet eine der vielfältigen philosophischen Quellen, aus denen Derridas Denken der Dekonstruktion hervorgeht. In der Philosophie Heideggers fungiert die Stimme als die Instanz, die das transzendentale Signifikat offenbart. 238 Die Stimme als Garant der Selbstpräsenz und der Wahrheit zu betrachten, hält Derrida für trügerisch, totalitär, metaphysisch und logozentrisch insofern, als sie den Signifikanten völlig auslöscht. 239 Die trügerische Seite der Stimme will Derrida in der Tat sehen, 233 Ebd. S. 16. 234 Derrida erwähnt Friedrich Nietzsche als denjenigen Denker, der den Signifikanten befreit habe. Nietzsche tritt für eine Philosophie ein, die den gewohnten Wertgefühlen widersteht und sich jenseits von Gut und Böse stellt, d.h. billigen Binaritäten entgegenwirkt. Nietzsche ironisiert die Figur des Philosophen. Auf diese Figur wirft er einen misstrauischen und spöttischen Blick. Vgl. Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Vorspiel einer Philosophie der Zukunft, Nachwort von Volker Gerhart, Stuttgart: Philipp Reclam 1988, S. 10f. Von manchen Ausführungen Nietzsches ist abzulesen, dass er längst vor Freud die Aufmerksamkeit auf das Unbewusste zu lenken begonnen hat, ohne es namentlich als ›das Unbewusste‹ zu bezeichnen. Denn er sieht in dieser Instanz ein entscheidendes Triebkraftfeld, dem sogar der wissenschaftliche bzw. philosophische Trieb, der „‘Trieb zur Erkenntnis’ der Väter der Philosophie“ nicht entkommt. Ebd. S. 11f. Nietzsche dekonstruiert das einheitliche, wollende, denkende Subjekt der abendländischen Philosophie und bekräftigt - in der Art eines Psychoanalytikers - hingegen die Spaltung, die Krise des Ichs (vgl. ebd. S. 21, 23). 235 Siehe der Begriff Subjekt beziehungsweise Subjektivität in Ansgar Nünning (Hg.), Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, Ansätze - Personen - Grundbegriffe, vierte aktualisierte und erweiterte Auflage, Stuttgart, Weimar: Verlag J.B. Metzler 2008, S. 691-692. 236 Vgl. Jacques Derrida, Grammatologie (Anm. 219), S. 24. Derrida führt nachweislich Auszüge aus Aristoteles´ De Interpretatione an. Näheres dazu siehe ebd. S. 24. 237 Ebd. S. 24. 238 Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen: Max Niemeyer Verlag 1993, im Nachwort. 239 Jacques Derrida, Grammatologie (Anm. 219), S. 38. 1. Zum Begriff „Ästhetik der Marginalität“ 60 dass sie die Idee der Wahrheit bedinge. 240 Worin die trügerische Seite der Stimme besteht, 241 beantwortet Derrida folgendermaßen: Zwischen dem ursprünglichen Sinn des Seins und dem Wort, zwischen dem Sinn und der Stimme, zwischen der ‘Stimme des Seins’ und der Phone, zwischen dem ‘Ruf des Seins’ und dem artikulierten Laut besteht ein Bruch, der eine fundamentale Metapher bestätigt und sie zugleich verdächtigt, indem er die metaphorische Verschiebung zuspitzt […] 242 Derrida führt die Kategorien der metaphorisch-metonymischen Verdichtung und Verschiebung an, die in Freuds Psychoanalyse auf die Vorgänge hinweist, die im Traum, in Tagträumen oder in Texten am Werk sind. 243 Durch diesen impliziten Rekurs auf Freuds Gedankengut gibt Derrida zu erkennen, dass das gesprochene Wort genauso wie das geschriebene Wort fungiert. Hier wird eine der Grundannahmen Derridas sichtbar, und zwar die, „daß die Differenz zwischen dem Signifikat und dem Signifikanten in letzter Instanz nichts ist“. 244 Im Grunde entgehe nichts der Bewegung des Signifikanten. 245 „Das System der Schrift im allgemeinen (sic) ist dem System der Sprache im allgemeinen nicht äußerlich […]“ 246 Entscheidende Anregungen verdankt Derridas Begriff der Dekonstruktion Heideggers Vorüberlegungen über den Begriff und das Verfahren der De(kon)struktion. 247 Heidegger wird daher gleichermaßen rehabilitiert. „Er ist in sie [die Metaphysik der Präsenz] eingeschlossen aber übersteigt sie zugleich“, 248 merkt Derrida an. Derrida begrüßt Heideggers Aufforderung, „den ‘Vorrang’ der ‘dritten Person des Singular im Indikativ des Präsens’ und des 240 Vgl. ebd. S. 38. 241 Vgl. ebd. 242 Ebd. S. 41. 243 Vgl. Sigmund Freud, Der Dichter und das Phantasieren, in: Cordelia Schmidt- Hellenau (Hg.), Sigmund Freud. Das Lesebuch. Schriften aus vier Jahrzehnten, eingeleitet und mit Begleittexten versehen von Cordelia Schmidt Hellerau, Frankfurt/ Main: S. Fischer Verlag 2006, S. 165f. Vgl. ders. Die Traumdeutung, Frankfurt/ Main: S. Fischer Verlag 1972. 244 Derrida, Grammatologie (Anm. 219), S. 42. Kursivschrift ist eine Hervorhebung i.O. 245 Vgl. ebd. S. 42. 246 Ebd. S. 75. Vgl. ebd. S. 99. 247 In Sein und Zeit vollzieht Martin Heidegger - und plädiert für - eine „Destruktion des überlieferten Bestandes der antiken Ontologie“. Martin Heidegger, Sein und Zeit (Anm. 238), S. 22. Kursivschrift ist eine Hervorhebung i.O. Unter „Destruktion“ versteht Heidegger weder eine einfache Relativierung ontologischer Begriffe noch ein negierendes Verhalten der Vergangenheit gegenüber. Vgl. ebd. „Die Destruktion will aber nicht die Vergangenheit in Nichtigkeit begraben […]“ (ebd. S. 23.). „Sie soll umgekehrt diese in ihren positiven Möglichkeiten, und das besagt immer, in ihren Grenzen abstecken […]“ (ebd. S. 22.). Hervorhebung i.O. 248 Ebd. S. 41. In eckigen Klammern Stehendes ist eine Hinzufügung v. mir. 1.1. Jacques Derrida und die Dekonstruktion der abendländischen Metaphysik 61 ‘Infinitvs’“ 249 in der abendländischen Linguistik und Philosophie zu hinterfragen. Die Herrschaft der sprachlichen Form ›er ist‹ sowie des Infinitivs ›sein‹ in der abendländischen Metaphysik hält Derrida - in Bezug auf Heidegger - für eine „Beschränkung des Sinns von Sein auf den Bereich der Präsenz […]“ 250 Derrida findet bei Heidegger die Art und Weise besonders produktiv, wie diese Herrschaft hinterfragt, de(kon)struiert wird, und zwar dadurch, dass Heidegger „das Wort ‘Sein’ nur unter kreuzweiser Durchstreichung [i. Orig. dt.] lesen lässt“. 251 Unter dieser Durchstreichung „verschwindet die Präsenz eines transzendentalen Signifikats und bleibt dennoch lesbar. Verschwindet und bleibt dennoch lesbar, wird destruiert und macht doch den Blick auf die Idee des Zeichens selbst frei.“ 252 Auf diese Verdoppelung des transzendentalen Signifikats kommt es Derrida an. Anhand der Dekonstruktion logobzw. phonozentrisch konstituierter Verwandtschaft zwischen Stimme und Seelenzuständen, zwischen Stimme und Dingen verdeutlicht Derrida, wie die gesprochene Sprache zur allerersten Konvention gemacht und die geschriebene Sprache hingegen instrumental und derivativ aufs Festhalten von Konventionen reduziert wurde. 253 Diese funktionale Bestimmung der geschriebenen Sprache ortet Derrida im Saussure’schen Zeichenbegriff, der - laut Derrida - immer schon die Unterscheidung zwischen Signifikat und Signifikant impliziert. 254 In Cours de linguistique générale (Grundlagen der Sprachwissenschaft) unterscheidet Saussure zwischen parole und langue, wobei er der parole, dem gesprochenen Wort, den Vorzug gibt. Saussure, so Derrida, erkenne der Schrift nur eine „beschränkte abgeleitete Funktion“ zu. 255 Eine abgeleitete Funktion, weil sie repräsentativ ist: Signifikant eines ersten Signifikanten, Repräsentation der sich selbst gegenwärtigen Stimme, der unmittelbaren, natürlichen und direkten Bezeichnung des Sinns (des Signifikates, der Vorstellung, des idealen Gegenstandes oder wie immer man will). Saussure greift die traditionelle Definition der Schrift wieder auf, die schon 249 Ebd. S. 42. In Einführung in die Metaphysik (1935) nimmt sich Martin Heidegger u.a. vor, die Leere bzw. die „verschwebende, unbestimmte Bedeutung“ (Martin Heidegger, Einführung in die Metaphysik, Tübingen: Max Niemeyer Verlag 1987, S. 59.) sichtbar zu machen, die mit dem Wort ›Sein‹ sowie dessen Beugungsformen verbunden sind. Heidegger schreibt: „[D]as Wort ‘Sein’ hat die leerste und damit allumfassende Bedeutung […]“ Ebd. S. 57. „An dieses leere Wort ‘Sein’ gar die entscheidende Frage der Metaphysik knüpfen zu wollen, heißt alles in Verwirrung bringen. Es bleibt hier nur die eine Möglichkeit, die genannte Tatsache der Wortleere anzuerkennen und so auf sich beruhen zu lassen.“ Ebd. S. 57f. 250 Ebd. S. 42. 251 Ebd. S. 43. Kursiv Geschriebenes und Hinzufügungen entstammen dem Originaltext. Derrida gibt an, dass die Hervorhebung nach Heidegger erfolgt. 252 Ebd. 253 Vgl. ebd. S. 24. 254 Vgl. ebd. S. 25. 255 Ebd. S. 53. Kursiv Geschriebenes ist eine Hervorhebung i.O. 1. Zum Begriff „Ästhetik der Marginalität“ 62 bei Platon und bei Aristoteles sich eng an das Modell der phonetischen Schrift und der Wortsprache anlehnte. Erinnern wir uns an die aristotelische Definition: ‘Es ist also das in der Stimme verlautende Zeichen für die in der Seele hervorgerufenen Zustände, und das Geschriebene Zeichen für das in der Stimme Verlautende.’ 256 Derrida zählt Saussure zu „den umsichtigsten Linguisten und Semiologen“ 257 , wirft ihm trotzdem vor, die logobzw. phonozentrische Herkunft der binären Oppositon Signifikat/ Signifikant, die „Idealisierung des Lautes“ 258 , der Stimme und „der Selbstpräsenz des Subjektes“ 259 unhinterfragt als selbstverständlich angenommen zu haben. 260 Solch eine Präsenz wird „als Substanz“ 261 , als ein „Punkt [stigme] des Jetzt oder des Augenblicks [nun], Selbstpräsenz des cogito, Bewusstsein, Subjektivität, gemeinsame Präsenz von und mit dem anderen, Intersubjektivität als intentionales Phänomen des Ego […]“ 262 vorgestellt. Daraus ist zu entnehmen, dass der Logo- oder Phonozentrismus darum bemüht ist, das Sein des Menschen deswegen ›zu fixieren‹, weil die Schrift erniedrigt, unterdrückt wird. 263 Was Derrida bei Saussure sowie bei der abendländischen philosophischen Tradition beanstandet, ist das Nicht-Hinterfragen der metaphysisch-theologischen Wurzeln des Logo- und Phonozentrismus. Metaphysisch-theologisch wirkt das Doppel Signifikat- Signifikant deshalb, weil das Signifikat als „reine Intelligibilität“ 264 , als „die intelligible Seite des Zeichens“ 265 aufgefasst wird, die dem Antlitz Gottes zugewandt bleibe. 266 Ein weiterer Aspekt von Saussures Linguistik, der auf Derridas Kritik stößt, ist „der Begriff der Arbitrarität des Zeichens“ 267 . Derrida hält Saussures Ausdruck und These der ›Arbitrarität des Zeichens‹ für höchst fragwürdig. Er nimmt Saussure beim Wort und schreibt: 256 Ebd. S. 54. Kursivschrift ist eine Hervorhebung aus dem Originaltext. „Nicht die Verknüpfung von geschriebenem und gesprochenem Wort ist Gegenstand der Linguistik; sondern nur das letztere, das gesprochene Wort allein ist ihr Objekt“ Saussure, Cours de linguistique générale, p. 45/ p. 28, zitiert nach Derrida, ebd. S. 55. Hervorhebung v. Derrida. 257 Ebd., S. 25. Zu diesen Semiologen zählt auch Roman Jakobson, der von Derrida auf Seite 27f angeführt wird. 258 Ebd. 259 Ebd. S. 26. Nachweislich werden Stellen aus Hegels Ästhetik zitiert. Vgl. ebd. 260 Derridas Kritik richtet sich nicht nur an Linguisten wie Saussure, sondern auch an Semiologen wie Umberto Eco, Searle, Charles Peirce u.a. 261 Ebd. 262 Ebd. 263 Ebd. 264 Ebd. S. 28. 265 Ebd. 266 Vgl. ebd. 267 Ebd. S. 58. 1.1. Jacques Derrida und die Dekonstruktion der abendländischen Metaphysik 63 […] wo man die Totalität der determinierten, gesprochenen und a fortiori geschriebenen Zeichen als unmotivierte Vereinbarungen (institutions) betrachtet, müßte man jedes Verhältnis einer natürlichen Unterordnung, jede natürliche Hierarchie zwischen Signifikanten oder Ordnungen von Signifikanten ausschließen. 268 Derrida gibt zu erkennen, dass „die Idee der Vereinbarung selbst, also der Arbitrarität des Zeichens“ 269 die Illusion der Natürlichkeit bzw. der Selbstpräsenz von Bedeutung im gesprochenen sowie geschriebenen Wort vor Augen führt. Und die Welt, laut Derrida, „ist der Raum der Einschreibung, der Raum der Distribution der Zeichen, des geregelten Spiels ihrer - ‘auch lautlichen’ - Differenzen“. 270 Was ›Wirklichkeit‹ genannt wird, erscheint demzufolge als ein Zeichenkonstrukt. Diese Zeichen, so Derrida, rühren von Vereinbarungen her: „der Begriff Schrift impliziert […] die Instanz der vereinbarten Spur (trace instituée)“, 271 bekräftigt Derrida. Diese Bekräftigung ruft das in Erinnerung, was bei Dieter Nohlens Bestimmung des Phänomens der Marginalität zu kurz kommt, nämlich die Betonung der Ambivalenz der Polaritäten Dorf vs. Stadt, reich vs. arm, Dritte Welt vs. Erste Welt usw. 272 Derrida artikuliert die Ambivalenz festgefügter Polaritäten. Derrida zufolge unterminiert die These der Arbitrarität des Zeichens sogar Saussures Vorhaben, „die Schrift in die Finsternis jenseits der Sprache zu stoßen“. 273 Saussure privilegiert die phonetische Schrift, das Alphabet und erhebt das Prinzip der Arbitrarität des Schriftzeichens zum absoluten Prinzip, welches das Schriftzeichen von anderen Zeichen unterscheidet. 274 Er betrachtet und behandelt die Schrift als Äußerlichkeit der Sprache, als das, was die ›systematische Geschlossenheit der Sprache‹ zu verunreinigen, anzustecken bedroht, 275 „als Einfall des Draußen in das Drinnen, welcher die Innerlichkeit der Seele, die lebendige Selbstpräsenz der Seele im wahren Logos und das bei sich selbst seiende gesprochene Wort verletzt“. 276 Saussure sieht in der Schrift nichts anderes als etwas Künstliches, Gekünsteltes, „ein Gewand der Perversion und der Entgleisung, der Korruption und der Verstellung […]“ 277 Derrida führt Saussure wortwörtlich an: „Die Schrift (verschleiert) die Sicht der Sprache; sie ist nicht deren Einkleidung, sondern ihre Verkleidung.“ 278 Saussures Versuche, die Schrift in 268 Ebd. S. 78. 269 Ebd. 270 Ebd. Kursivschrift ist eine Hervorhebung i.O. 271 Ebd. S. 81. Kursivschrift ist eine Hervorhebung i.O. 272 Siehe in dieser Arbeit von S. 47-50. 273 Ebd. S. 79. 274 Vgl. ebd. S. 59. 275 Vgl. ebd. S. 62. 276 Ebd. S. 61. Kursivschrift ist eine Hervorhebung i.O. 277 Ebd. S. 62. 278 Ferdinand de Saussure, Grundlagen der Spachwissenschaft, zitiert nach Derrida, ebd. 1. Zum Begriff „Ästhetik der Marginalität“ 64 die Finsternis zu stoßen, bekräftigen Derridas Zweifel an der von Saussure aufgestellten Annahme der Arbitrarität des Schriftzeichens: Man vermutet auch schon, daß die Schrift als ‘Bild’ und äußerliche ‘Darstellung’ keine unschuldige ‘Repräsentation’ sein kann. Das Draußen unterhält mit dem Drinnen eine Beziehung, die wie immer alles andere als bloß äußerlich ist. Der Sinn des Außen hat sich seit jeher im Innen befunden, war außerhalb des Außen gefangen und umgekehrt. 279 Derridas Kritik an Saussure ist gegen die ganze logozentrische Tradition gerichtet. Denn „[i]n ihr sind […] alle abendländischen Methoden der Analyse, der Auslegung, der Lektüre und der Interpretation entstanden“, 280 will sagen, gefangen. Die logozentrische Einheit von Wort und Schrift prägt den ganzen abendländischen Wissenschaftsbegriff von innen her nachhaltig weiter. 281 Was Derrida der modernen Linguistik zudem vorhält, ist die Nicht- Berücksichtigung anderer Dimensionen des Zeichens, nämlich die ideographische und piktographische. Besonders fragwürdig ist für Derrida die Art und Weise, wie Saussure die phonetische Schrift - für Saussure anscheinend die einzig gültige Schriftart - von der ideographischen und piktographischen abgrenzt. Saussure stellt den Begriff der ›Arbitrarität‹ als - der phonetischen bzw. orthographischen Schrift - typische Eigenschaft auf, die diese Schrift von anderen Schriftarten unterscheidet. Derrida äußert seine Unsicherheit und Skepsis solchen Unterscheidungs- oder Abgrenzungstaktiken gegenüber. Und für besonders „unklug“ 282 und nicht schlüssig hält er Saussures Verwendung des bedenklichen Begriffs der ›Arbitrarität des Zeichens‹: Bedenkt man die heute erwiesene Fragilität solcher Begriffe wie Piktogramm, Ideogramm usw., die Unsicherheit bezüglich der Grenzen zwischen den als piktographisch, ideographisch und phonetisch bezeichneten Schriften, so erweist sich die Saussuresche Begrenzung nicht nur als unklug, sondern man kann auch ermessen, wie notwendig es für die Allgemeine Linguistik geworden ist, eine ganze Familie ererbter metaphysischer Begriffe, die nicht selten psychologisch vermittelt sind und die sich um den Begriff der Arbitrarität des Zeichens gruppieren, preiszugeben. 283 Derrida unterstreicht - der ganzen logozentrischen Tradition widersprechend - die Verschwommenheit der Grenze zwischen einem piktographischen, ideographischen und phonetischen Zeichen. Im Gegensatz zu einer bestimmten Kritik, die in Derridas Grammatologie eine Legitimierung des Imperialismus der Schrift sehen will, 284 führt Derrida - am Beispiel der obigen Aussage - 279 Ebd. 280 Ebd. S. 81. 281 Vgl. ebd. S. 80. 282 Ebd. S. 58. 283 Ebd. 284 Kritische Stellungnahmen zu Derridas Kategorie und Praxis der Dekonstruktion u.a. vgl. Julians Wolfreys, Deconstruction - Derrida, London, New York: Macmillan 1.1. Jacques Derrida und die Dekonstruktion der abendländischen Metaphysik 65 vor Augen, dass er das Zeichen als etwas Vielfältiges auffasst, das sich keineswegs auf das Schriftzeichen limitieren lässt. 285 Derrida betrachtet die symbolische, ikonische und indexikalische Dimension des Zeichens als ineinander verkettet. Hier zeigt sich ein Überschneidungspunkt mit Charles Peirce. Derrida führt Peirce an: Das sogenannte ‘Ding selbst’ ist immer schon ein representamen, das der Einfältigkeit der intuitiven Evidenz entzogen ist. Das representamen kann nur funktionieren, indem es einen Interpretanten hervorbringt, welcher seinerseits zum Zeichen wird und so ad infinitum. Die Identität des Signifikats mit sich selbst verbirgt und verschiebt sich unaufhörlich. 286 Derrida sieht in Peirce denjenigen Semiologen, der sich der intendierten Dekonstruktion des transzendentalen Signifikats deswegen nähert, weil Peirces Semiotik den Verweis von Symbol zu Symbol, d.h. auch von Zeichen zu Zeichen, als die Dynamik des Universums des Seins auffasst. Derrida betont: Wir haben den Logozentrismus und die Metaphysik der Präsenz als den gebieterischen, mächtigen, systematischen und nicht unterdrückbaren Wunsch nach einem solchen Signifikat identifiziert. Peirce indes sieht im Indefiniten des Verweises das entscheidende Kriterium, mit dessen Hilfe man feststellen kann, daß es sich tatsächlich um ein Zeichensystem handelt. Der Anbruch der Bezeichnungsbewegung macht zugleich deren Unterbrechung unmöglich. Das Ding selbst ist ein Zeichen. 287 1998. Vgl. Peter V. Zima, Die Dekonstruktion. Einführung und Kritik, Tübingen, Basel: Francke Verlag 1994. Vgl. Terry Eagleton, „Post-Structuralism“, in: ders. Literary Theory. An Introduction, Minneapolis: University of Minnesota Press 1983, S. 127- 150. Vgl. Manfred Frank, Was ist Neostrukturalismus? 1. Auflage, Frankfurt/ Main: Suhrkamp Verlag 1991. 285 Vgl. Patrick Baum/ Stefan Höltgen (Hg.), Lexikon der Postmoderne (Anm. 199). 286 Ebd. S. 86. Kursivschrift ist eine Hervorhebung i.O. In Peirces Element of logic lautet diese dialogische Bestimmung des Zeichens: „Anything which determines something else (its interpretant) to refer to an object to wich itself refers (its object) in the same way, the interpretant becoming in turn a sign, and so on ad infinitum … If the series of successive interpretants comes to an end, the sign is thereby rendered imperfect, at least.“ Charles Peirce, Elements of logic, Buch 2, S. 302, zitiert nach Derrida, ebd. S. 87. Kursivschrift ist eine Hervorhebung v. Derrida. 287 Ebd. S. 85f. Kursivschrift ist eine Hervorhebung i.O. Inwiefern Peirce mit Derridas Interpretation einverstanden sein kann, bleibt dahingestellt. Denn Peirces Zeichenbegriff bricht einen gewissen poststrukturalitischen Textbzw. Schrift- Zentrismus auf. Peirce fasst das Universum als einen Zeichenprozess bzw. als eine Semiose auf. Vgl. Charles Sanders Peirce, Naturordnung und Zeichenprozeß: Schriften über Semiotik und Naturphilosophie, mit einem Vorwort von Ilya Prigogine, herausgegeben und eingeleitet von Helmut Pape, übersetzt von Bertram Kienzle, Frankfurt/ Main: Suhrkamp Verlag 1999. Peirce, in seinen Schriften über Semiotik und Naturphilosophie, wirft die Frage der Vielschichtigkeit und Vielfältigkeit des Zeichens auf. Das Zeichen beschränkt sich nicht nur auf das Wortzeichen. Die Handschrift ist bildhaft vielfältig mit dem ikonischen und indexikalischen Zeichen verstrickt. Die 1. Zum Begriff „Ästhetik der Marginalität“ 66 Erkennbar ist, wie Derrida entscheidende Anregungen aus Peirces Semiotik bzw. aus dessen Phänomenologie schöpft, um die Sprache lediglich als ein Spiel von Signifikanten ohne Zentrum und ohne Grenzen zu definieren. 288 Das Spiel wird „als Erschütterung der Onto-Theologie und der Metaphysik der Präsenz“, 289 „als die Abwesenheit des transzendentalen Signifikats“ 290 verstanden. An dieser Stelle gibt Derrida zu erkennen, dass es in der Grammatologie mitnichten darum geht, das Schriftzeichen anderen wichtigen, sogar unausweichlichen Aspekten des Zeichens - nämlich dem ikonischen und indexikalischen - vorzuziehen. Das Wort ›Schrift‹, wie es aus Derridas Denken hervorgeht, lässt sich keinesfalls auf die Buchstabenschrift beschränken. Sie schließt „all das, was Anlaß sein kann für Ein-Schreibung überhaupt“ 291 ein: Kinematographie, Choreographie, aber auch ‘Schrift’ des Bildes, der Musik, der Skulptur usw. Ebensogut könnte man von einer athletischen Schrift sprechen und, in Anbetracht der Techniken, die heute dieses Gebiet beherrschen, mit noch größerem Recht von einer Schrift des Militärischen oder des Politischen - all das mit dem Ziel, nicht nur das Notationssystem, das diesen Tätigkeiten sekundär zugeordnet ist, sondern auch das Wesen und den Gehalt der Tätigkeiten selber zu beschreiben. 292 Die Buchstabenschrift - „das Zentrum des großen metaphysischen, wissenschaftlichen, technischen und ökonomischen Abenteuers des Abendlandes […]“ 293 - bildet eine Schriftform unter vielen anderen. Hieroglyphen stellen auch eine Schriftart dar, in der diese unterschiedlichen Momente des Zeichens (Ikon, Index, Symbol) einander durchdringen. Aber diese Ähnlichkeits- und physikalischen Beziehungen bedeuten nicht Identitätsbeziehungen. Denn es sind Zeichen, die keine wirklichen Dinge sind, sondern für etwas anderes stehen. Das Bild von jemandem, der in der Küche sitzt, heißt nicht unbedingt, dass er ein Koch ist oder dass er kochen kann. Umgekehrt können Ikone und Index eine symbolische, konventionelle oder kulturelle Dimension annehmen. Der sog. reine Ikon oder Index kann auch mit einer bestimmten Intentionalität verbunden werden - etwa die Rauchwolken als Kommunikationsmittel bei den Indianern. An diesem Punkt zeigt sich, dass Peirces Denken über das Zeichen auch produktiv für das kulturwissenschaftliche Denken sein könnte. Mit Peirces Hervorhebung der Vielfältigkeit und Vielseitigkeit des Zeichens sieht sich die poststrukturalistische Überprivilegierung des Textes bzw. des Wortzeichens subvertiert. Kultur kann nicht auf den Text bzw. auf das Wortzeichen auf die Schrift reduziert werden. Denn Ikon und Index (als darstellende visualisierende Zeichen) beinhalten auch signifikante Dimensionen, die kulturwissenschaftliche Folgen haben. Vgl. Charles Sanders Peirce, Naturordnung und Zeichenprozeß: Schriften über Semiotik und Naturphilosophie, ebd. 288 Vgl. Jacques Derrida, Grammatologie (Anm.219), S. 87. 289 Ebd. 290 Ebd. 291 Ebd. S. 21. 292 Ebd. 293 Ebd. S. 23. 1.1. Jacques Derrida und die Dekonstruktion der abendländischen Metaphysik 67 Derrida nimmt auch die Rationalismen des 17. und 18. Jahrhunderts ins Visier. Er verweist auf die Denker der europäischen Aufklärung, die sog. enzyklopädischen Denker. Laut Derrida beteiligen sich manche dieser Denker auch am logozentrischen Prozess gegen die sog. ›abgefallene Schrift‹. Dieser ›endlichen Schrift‹ wird „fehlende Selbstpräsenz“ 294 vorgeworfen. Jean- Jacques Rousseau wird als einer der maßgeblichen Scharfrichter in diesem Prozess hingestellt. 295 Derrida kritisiert insbesondere Rousseaus Essai sur l´origine des langues (Essay über den Ursprung der Sprachen), in dem „die repräsentierende, abgefallene, sekundäre, vereinbarte, sprich konventionelle Schrift, die Schrift im eigentlichen und strengen Sinne verdammt“ 296 wird. Daher hält Derrida Rousseau vor, den platonischen Gestus wiederholt zu haben. Rousseau stempelt das geschriebene Wort als tot, als leichnamhaft ab. 297 Derrida zitiert Auszüge aus Rousseaus Essay über den Ursprung der Sprachen. 298 Was aus Rousseaus Essay hervorgeht, wird von Derrida mit anderen Worten folgendermaßen zusammengefasst: Die Schrift im geläufigen Sinn ist toter Buchstabe, sie trägt den Tod in sich. Sie benimmt dem Leben den Atem. Auf der anderen Seite aber wird die Schrift im metaphorischen Sinn, die natürliche, göttliche und lebendige Schrift verehrt; sie kommt an Würde dem Ursprung des Wertes, der Stimme des Gewissens als göttlichem Gesetz, dem Herzen, dem Gefühl usw. gleich. 299 Der Unterschied zwischen Platon und Rousseau besteht demzufolge darin, dass Letzterer sich auf ein anderes Modell der Selbstpräsenz beziehe, 300 „auf die Selbstpräsenz im Gefühl, im sinnlichen cogito, in das sich gleichzeitig das 294 Ebd. S. 31. 295 Vgl. ebd. 296 Ebd. S. 33. 297 Vgl. ebd. S. 33f. „L´ écriture, qui semble devoir fixer la langue est précisément ce qui l´altère; elle n´en change pas les mots mais le génie; elle substitue l´exactitude à l´expression. L´ on rend ses sentiments quand on parle et ses idées quand on écrit. En écrivant on est forcé de prendre tous les mots dans l´acception commune; mais celui qui parle varie les acceptions par les tons, il les détermine comme il lui plait; moins gêné pour être clair, il donne plus à la force, et il n´est pas possible qu´une langue qu´on écrit garde longtemps la vivacité de celle qui n´est que parlée. On écrit les voix et non pas les sons: or dans une langue accentuée ce sont les sons, les accents, les inflexions de toute espèce qui font la plus grande énergie du langage; et rendent une phrase d´ailleurs commune, propre seulement au lieu où elle est. Les moyens qu´on prend pour suppléer à celui-là étendent, allongent la langue écrite, et passant des livres dans le discours énervent la parole même. “ Jean-Jacques Rousseau, „De l´écriture“, in: ders. Essaie sur l´origine des langues, (Anm. 224) 67f. 298 „Selbst die Bibel, das erhabene aller Bücher … ist nur ein Buch … Nicht auf einigen verstreuten Blättern ist das Gesetz Gottes zu suchen, sondern im Herzen des Menschen, worin seine Hand es zu schreiben geruhte.“ Jean-Jacques Rousseau (Lettre à Vernes), zitiert nach Derrida, Grammatologie (Anm. 219), S. 33. 299 Ebd. 300 Vgl. ebd. 1. Zum Begriff „Ästhetik der Marginalität“ 68 göttliche Gesetz eingeschrieben findet“. 301 Besonders herausgestrichen wird die metaphysisch-theologische Dimension von Rousseaus Zeichenbegriff. Derrida unterscheidet bei Rousseau verschiedene Arten von Schrift: einerseits eine natürliche, ›gute‹ Schrift, die „vorschriftlich“ 302 und „geburtsmäßig“ 303 ist und von der „Einheit der Stimme und der Schrift“, 304 von der Einheit des Subjekts mit sich selbst zeugt oder zu zeugen scheint, andererseits eine vom Menschen produzierte künstliche und deswegen abgefallene Schrift. Derrida bemüht sich darum, sich Klarheit über das Wesen dieser ›rousseauistisch vorschriftlichen Schrift‹ zu verschaffen: Je mehr ich mich in mich selbst versenke, je mehr ich mich befrage, umso mehr lese ich die Worte, die in meine Seele geschrieben sind: Sei gerecht und du wirst glücklich sein … Ich entnehme diese Regeln nicht den Prinzipien einer hohen Philosophie, sondern ich finde sie in der Tiefe meines Herzens, durch die Natur in unauslöschlichen Lettern eingeschrieben. 305 Daraus ergibt sich, dass die sogenannte ›gute Schrift‹ in ihrer vorschriftlichen Form zugleich auf Unterschiedliches schließen lässt: auf das (staatliche und göttliche) Gesetz, auf die Gesellschaft, auf das Andere im Selbst sowie auf das kulturell Andere usw. Die Vielfalt und Vielgestaltigkeit des Begriffs ›Schrift‹ wird hiermit nochmals deutlich gemacht, wobei es Derrida darauf ankommt, feststellen und einsehen zu lassen, inwiefern Rousseau und mithin die ganze Aufklärungsphilosophie einigermaßen im Logozentrismus verstrickt sind. Es gibt also eine gute und eine schlechte Schrift: gut und natürlich ist die in das Herz und in die Seele eingeschriebene göttliche Schrift; verdorben und künstlich ist die Technik, die in die Äußerlichkeit des Körpers verbannt ist. Diese Modifikation bewegt sich vollständig im platonischen System: Schrift der Seele, Schrift des Körpers, Schrift des Innen und Schrift des Außen, Schrift des Gewissens und Schrift der Leidenschaften, so wie es auch eine Stimme der Seele und eine Stimme des Körpers gibt: ‘Das Gewissen ist die Stimme der Seele, die Leidenschaften sind die Stimme des Körpers’ (Profession de foi), Die ‘Stimme der Natur’, die ‘heilige Stimme der Natur’ wird eins mit der göttlichen Inschrift und Vorschrift. Ihr hat man sich immer von neuem zuzuwenden, in ihr sich zu besprechen, mit ihren Zeichen Rede und Antwort zu stehen. 306 Derrida hält Rousseaus Idee der ›guten Schrift‹ für theologisch und totalitär. Aus den zahlreichen Passagen, die Derrida aus Rousseaus Essay zitiert, fällt 301 Ebd. S. 34. 302 Ebd. Kursiv hervorgehoben wie i.O. 303 Ebd. 304 Ebd. 305 Jean-Jacques Rousseau, Essay über den Ursprung der Sprachen, zitiert nach Derrida, ebd. 306 Ebd. S. 34. Kursivschrift wie i.O. 1.1. Jacques Derrida und die Dekonstruktion der abendländischen Metaphysik 69 besonders auf, dass Rousseau dem Wort ›Buch‹ - verstanden als Buch der Natur - den Vorrang gibt. Dieser rousseauistischen, enzyklopädischen, totalitären Idee des Buches arbeitet Derrida entschieden entgegen. Die Idee des Buches ist die Idee einer endlichen oder unendlichen Totalität des Signifikanten; diese Totalität kann eine Totalität nur sein, wenn vor ihr eine schon konstituierte Totalität des Signifikats besteht, die deren Einschreibung und deren Zeichen überwacht und die als ideale von ihr unabhängig ist. Die Idee des Buches, die immer auf eine natürliche Totalität verweist, ist dem Sinn der Schrift zutiefst fremd. Sie schirmt die Theologie und den Logozentrismus enzyklopädisch gegen den sprengenden Einbruch der Schrift ab, gegen ihre aphoristische Energie und, wie wir später sehen werden, gegen die Differenz im allgemeinen. 307 Derrida ist von der sprengenden, aphoristischen, subvertierenden Kraft der Schrift überzeugt und macht dadurch seine Distanz gegenüber jeder Teleologie sowie jedem Logozentrismus deutlich. Er begreift „die notwendige Gewalt“ 308 der Schrift - oder des Textes - als eine Gegengewalt, als Antwort auf die Gewalt des imperialen Buches. Wenn Derrida von ›notwendige[r] Gewalt‹ spricht, wird damit auch ein Akt des Widerstands einbezogen, der sowohl bewusst als auch unbewusst sein kann. Was m.E. ambivalent und etwa verwirrend in Derridas Argumentation klingt - vor allem an der Stelle, wo er über die notwendige Gegengewalt der Schrift zu sprechen kommt -, ist jenes Moment, in dem Derrida die Gewalt des imperialen Buches, die Gewalt des imperialen Signifikanten oder Signifikats für ebenfalls „nicht weniger notwendig“ 309 erklärt. Wenn Derridas Gedanken über die historische Verbundenheit von Signifikanten, Begriffen und Texten in Erinnerung ruft, 310 dann öffnet dies einen Raum für die Annahme von der ›ebenso notwendigen Gewalt des imperialen Buches bzw. des imperialen Signifikanten oder Signifikats‹. Wenn wiederum die Tatsache berücksichtigt wird, dass es Derrida keinesfalls darum geht, die Errungenschaften der logozentrischen Tradition zunichte zu machen - Derrida selbst erkennt an, dass diese nicht zunichte gemacht werden können 311 -, dann übernimmt die Bezeichnung des logozentrischen Buches, des imperialen Signifikats oder Signifikanten als etwas ›Nicht-wenig-Notwendiges‹ die Züge einer Rechtfertigung und Legitimierung eines imperialen, kolonialen, macht- und wissenspolitischen Verhältnisses. Die Frage, die daraus entstehen könnte, ist, inwiefern sich Derridas Denken vom abendländischen Logozentrismus distanziert hat, wenn er selbst logozentrische Verhältnisse wiederherzustellen scheint, 307 Ebd. S. 35. Fettmarkierungen sind Hervorhebungen v. mir. 308 Ebd. 309 Ebd. S. 34. 310 Vgl. ebd. S. 28. 311 „Es geht keinesfalls darum, diese Begriffe ‘zurückzuweisen’. Sie sind notwendig, und zumindest heute lässt sich für uns ohne sie nichts mehr denken.“ Ebd. 1. Zum Begriff „Ästhetik der Marginalität“ 70 die er sich zu dekonstruieren vorgenommen hat. Ist es vielleicht nur deshalb, weil er der Logik seines Theoretisierens treu bleiben will? „Was ist wirklich neu an postkolonialer Theorie? “ 312 Diese Frage, die Maria Varela und Nikita Dhawan an die postkoloniale Theorie richten, könnte auch auf Derridas Dekonstruktion zutreffen. Also, was ist neu an der Dekonstruktion? Derridas Dekonstruktion könnte Gefahr laufen, in eine starre, unproduktive strategische Theorie bzw. in eine theoretische Strategie auszuarten, die zweifelsohne auffällt, aber dabei das Risiko eingeht, eines der Ziele zu verfehlen, die sie durchzusetzen sucht: die Rehabilitierung der Ränder europäischer Moderne. Dass Derrida sich anschickt, der vor- und nachsokratischen theologischen, enzyklopädischen Buch- und Schriftkonzeption das Axiom der Schrift und Differenz rückschlagartig entgegenzusetzen, 313 erweckt zumindest den Eindruck, dass er sich solcher Auffälligkeiten bewusst ist, dass er darüber - zumindest phänomenologisch - bewusst gemacht worden ist. Mit dem Axiom der Schrift und der Differenz stellt Derrida die Saussure’sche Bestimmung der Sprache als ein geschlossenes System von Zeichen auf den Kopf: Die Heraufkunft der Schrift ist die Heraufkunft des Spiels; heute kommt das Spiel zu sich selbst, indem es die Grenze auslöscht, von der aus man die Zirkulation der Zeichen meinte regeln zu können, indem es alle noch Sicherheit gewährenden Signifikate mit sich reißt, alle vom Spiel noch nicht erfaßten Schlupfwinkel aufstöbert und alle Festen schleift, die bis dahin den Bereich der Sprache kontrolliert hatten. 314 Derrida nimmt Saussures These der Differentialität sprachlicher Zeichen wieder auf, die bei ihm jedoch eine andere Akzentuierung erfährt. 315 Saussure und Rousseau reduzieren die Schrift auf eine unwesentliche und instrumentale Funktion, die Derrida, wie folgt, in Worte fasst: „Übersetzung eines erfüll- 312 Maria Do Mar Castro Varela, Nikita Dhawan, Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, Bielefeld: Transcript Verlag 2010, S. 127. 313 Vgl. Jacques Derrida, Grammatologie (Anm. 219), S. 35. 314 Ebd. S. 17f. 315 Terry Eagleton liefert eine prägnante Formulierung dieser poststrukturalistischen Akzentuierung sprachlicher Differentialität: „Saussure, as the reader will remember, argues that meaning in language is just a matter of difference. ‘Cat’ is ‘cat’ because it is not ‘cap’ or ‘bat’. But how far is one to press this process of difference? ‘Cat’ is also what it is because it is not ‘cad’ or ‘mat’, and ‘mat’ is what it is because it is not ‘map’ or ‘hat’. Where is one supposed to stop? It would seem that this process of difference in language can be traced round infinitely: but if this is so, what has become of Saussure´s idea that language forms a closed, stable system? If every sign is what it is because it is not all the other signs, every sign would seem to be made up of a potentially infinite tissue of differences. Defining a sign would therefore appear to be a more tricky business than one might have thought. Saussure´s langue suggests a delimited structure of meaning; but where in language do you draw the line? “ Terry Eagleton, „Post-Structuralism“, in: ders. Literary Theory. An Introduction (Anm. 284), S. 127- 150, hier S. 127. 1.1. Jacques Derrida und die Dekonstruktion der abendländischen Metaphysik 71 ten und in seiner ganzen Fülle präsenten Wortes […], Technik im Dienst der Sprache, Fürsprache und Interpretation eines ursprünglichen, selbst der Interpretation entzogenen gesprochenen Wortes […]“ 316 Derrida hingegen denkt über „eine neue Situation des gesprochenen Wortes“ 317 nach sowie über „seine untergeordnete Stellung in einer Struktur, in der sie nicht mehr Herr sein wird“. 318 Ausgehend von der Einsicht, dass die Schrift über die Sprache hinausgeht, gibt Derrida der Schrift den Vorzug gegenüber der Sprache. 319 Derridas Axiom der Schrift und Differenz lässt sich nicht mit einem Imperialismus des Schriftzeichens gleichsetzen. Dieser Grundsatz bezieht die ikonische und indexikalische Seite des Zeichens ein und fungiert darüber hinaus als eine programmatisch-politische Erinnerung an die gewebeartige Struktur unserer Welt, eine Betonung der Differenz und Interdependenz am Beispiel von Buchstaben in einem Text. ›Ich spreche und vernehme meine eigene Stimme, also bin ich. Aber bin ich überhaupt? ‹ Derrida gibt der Schrift den Vorzug gegenüber dem gesprochenen Wort. Denn in der Schrift wird der Moment des Konstruierten, des Organisierten anerkannt. Die Schrift organisiert die Wirklichkeit mittelbar. In der Schrift geht es um eine aufgeschobene Präsenz. Derrida veranschaulicht dies am Beispiel des Kunstwortes différence. Unter différence (Differenz) versteht Derrida einen ökonomischen und politischen Begriff oder Prozess, der das „Differieren“ 320 hervorbringt. Differieren „im doppelten Sinne dieses Wortes [différer - aufschieben / (voneinander) verschieden sein]“. 321 Das französische Substantiv ›différence‹ erinnert lautlich und akustisch aber an die Partizipialform des französischen Verbs ›differer‹, das im selben Wort gleichzeitig den Akt beschreibt, etwas auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben, sowie den Akt, Zeichen auf räumlicher und zeitlicher Ebene voneinander zu unterscheiden. Derridas Kunstwort différence/ différance schließt Passivität und Aktivität mit ein. Der Fokus wird hier auf die Art und Weise gelenkt, wie Subjekte, menschliche Gemeinschaften sich vorstellen und vorgestellt werden, sich gestalten und gestaltet werden, sich aufbauen und aufgebaut werden, und zwar durch Ab-, Aus-, Ein- oder Entgrenzungen, Ein- oder Ausschlüsse, durch Wege, Umwege, Irrwege, Horizonte, Verschiebungen, Repräsentationen, durch Konstruktionen des Selbst und des Anderen. 322 Und 316 Derrida, Grammatologie (Anm. 219), S. 19. Kursivschreibungen sind Hervorhebungen i.O. 317 Ebd. S. 20. 318 Ebd. 319 Vgl. ebd. 320 Ebd. S. 44. 321 Ebd. 322 Weiterführendes zur Derridas Kategorie und Praxis der Dekonstruktion u.a. vgl. Jacques Derrida, Die Schrift und die Differenz, übersetzt von Rodolphe Gasché, Frankfurt/ Main: Suhrkamp Verlag 1972. Titel der Originalausgabe: L´ écriture et la différence, Paris 1967. Ders. Die Stimme und das Phänomen. Einführung in das 1. Zum Begriff „Ästhetik der Marginalität“ 72 in dieser Arbeit wird eben auch der Frage nachgegangen, inwiefern Joseph Roths Figuren ebenfalls in einen solchen Prozess der Differenz miteinbezogen sind; inwieweit sich deren Differenz- und Interdependenzerfahrungen äußern. Dass das Subjekt in einen Prozess der Differenz und Interdependenz verwickelt ist, wird in Teil 2 dieser Arbeit am Beispiel der Daseinsformen bestimmter Figuren Roths, u.a. Andreas Kartak, Andreas Pum und vor allem am Beispiel der Familie Mendel Singer veranschaulicht. Derridas Akt der Dezentrierung ist schon im Ausdruck „Das Ende des Buches und der Anfang der Schrift“ 323 potenziell vorhanden. Der Begriff ›Buch‹ spielt subversiv sowohl auf den ›sakralen Charakter‹ der ›heiligen Schriften‹ an, auf das ›Buch Gottes‹ oder auf ›das Buch der Natur‹, das Bedeutungen bestätigt und festlegt, als auch auf jene Meistererzählungen über die Weltgeschichte, in denen die nichtwestliche Welt logozentrisch als ›textuelles Niemandsland‹, als terra nullius, dargestellt wird. Von solchen Konstitutionen rückt Derrida unmissverständlich dadurch ab, dass er das herkömmliche Verhältnis vom gesprochenen und geschriebenen Wort anders denkt. In dieser Hinsicht zeigt er auf den inflationären Gebrauch „des Zeichens ‘Sprache’“. 324 Was ist überhaupt unter ›Sprache‹ zu verstehen, wenn man sich vorstellt, dass die sog. Sprache vielmehr in unterschiedlichen individuellen, gruppenspezifischen, gemeinschaftlichen oder länderspezifischen Realisierungsformen erscheint? 325 Man spricht von ›der Sprache‹, aber man trifft jeden Tag Sprachen, will sagen, unterschiedliche soziale Realisierungsformen. Dies besagt, was man gewöhnlich als ›die Sprache‹ bezeichnet, stellt keineswegs eine Einheit in sich dar. Am Beispiel des Zeichens ›Sprache‹ lässt sich die Uneinheitlichkeit, die Unbegrenztheit des sprachlichen Zeichens erkennen. In Derridas Worten heißt es: „Die Inflation des Zeichens ‘Sprache’ ist die Inflation des Zeichens selbst, die absolute Inflation, die Inflation selbst.“ 326 Das unendliche Spiel der Sprache weist sinnbildlich ebenfalls auf das unbegrenzte Spiel von Zeichen hin. Und die Schrift erweist sich, laut Derrida, gleichzeitig als Phänomen des Zeichens in der Phänomenologie Husserls, aus dem Französischen von Hans-Dieter Gondek, Frankfurt/ Main: Suhrkamp Verlag 2003. Titel der Originalausgabe: La voix et le phénomène. Introduction au problème du signe dans la phénoménologie de Husserl, Paris (1967). Vgl. Jonathan Culler, Dekonstruktion. Derrida und die poststrukturalistische Literaturtheorie, aus dem Amerikanischen von Manfred Momberger, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1988. Vgl. Peter V. Zima, Die Dekonstruktion (Anm. 284). Vgl. Terry Eagleton, „Post-Structuralism“, in: ders. Literary Theory. An Introduction (Anm. 284). 323 Ebd. S. 16. 324 Ebd. 325 Eine Realität, die auch durch Michail Bachtins Begriff ›Heteroglossie‹ zusammengefasst wird. Vgl. Michail M. Bachtin, „Discourse in the novel“, in: ders. Dialogic imagination: four Essays, by M. M. Bakhtin, Edited by Michael Holquist, translated by Caryl Emerson and Michael Holquist, Austin, Texas: University of Texas Press 1981, S. 259-422. 326 Jacques Derrida, Grammatologie (Anm. 219), S. 16. 1.1. Jacques Derrida und die Dekonstruktion der abendländischen Metaphysik 73 Kategorie und eigentlichen Ort, wo sich dieses Spiel sichtbar macht. Die Schrift - verstanden als „‘Signifikant des Signifikanten’“ 327 - „begreift“ die Sprache, „beschreibt im Gegenteil die Bewegung der Sprache“. 328 Die Schrift erbringt den Nachweis, dass die Sprache ein Spiel von Signifikanten ohne Zentrum und ohne Grenzen ist. „Das Signifikat fungiert darin seit je als ein Signifikant […] Es gibt kein Signifikat, das dem Spiel aufeinander verweisender Signifikanten entkäme, welches die Sprache konstituiert […]“ 329 Derrida untergräbt die Illusion der Selbstpräsenz, die Illusion der Natürlichkeit von Bedeutung, die durch das gesprochene Wort, durch die Stimme erzeugt wird. Rousseau und Saussure bedauern und beklagen das enge Band zwischen gesprochenem und geschriebenem Wort, wobei das geschriebene Wort - so kommt es Rousseau und Saussure vor - „mehr und mehr die Hauptrolle usurpiert“. 330 In dieselbe Sinnrichtung wie Saussure überlegend, sagt Rousseau: „‘Die Schrift ist nur die Repräsentation des gesprochenen Wortes; es ist absonderlich, daß der Bestimmung des Bildes größere Sorgfalt gewidmet wird als der Bestimmung des Gegenstandes.’“ 331 Derrida verfolgt den Punkt weiter, der Entsetzen, Irritation und Unbehagen bei Rousseau und Saussure auslöst. In diesem Zusammenhang schreibt er: [D]iese intime Verknüpfung von Bild und Ding, Graphie und Phonie; sie geht so weit, daß das gesprochene Wort durch eine Spiegelung, Verkehrung oder Perversion seinerseits zum Spekulum der Schrift zu werden scheint, wobei diese ‘die Hauptrolle usurpiert’. Die Repräsentation verflicht sich mit dem, was sie repräsentiert; dies geht soweit, daß man spricht wie man schreibt, daß man denkt, als wäre das Repräsentierte lediglich der Schatten oder der Reflex des Repräsentierenden. Gefährliche Promiskuität, unheilvolle Komplizität zwischen Reflex und Reflektiertem, welches narzißtisch sich verführen läßt. In diesem Spiel der Repräsentation wird der Ursprungspunkt ungreifbar. Es gibt Dinge, Wasserspiegel und Bilder, ein endloses Aufeinander- Verweisen - aber es gibt keine Quelle mehr. Keinen einfachen Ursprung. Denn was reflektiert ist, zweiteilt sich in sich selbst, es wird ihm nicht nur sein Bild hinzugefügt. Der Reflex, das Bild, das Doppel zweiteilen, was sie verdoppeln. Der Ursprung der Spekulation wird eine Differenz. 332 Derrida bewertet diese durch die Schrift begangene Usurpation positiv und sieht darin „keine zufällige Verirrung“ 333 und vor allem eine unhintergehbare Machtverschiebung. 334 Gerade diese Umdrehung des natürlichen Verhältnis- 327 Ebd. S. 17. 328 Ebd. 329 Ebd. 330 Ferdinand de Saussure, Cours de linguistique générale (p. 45/ p. 28), zitiert nach Derrida, ebd. S. 64. Kursivschrift ist eine Hervorhebung v. Derrida. 331 Jean-Jacques Rousseau, zitiert nach Derrida, ebd. S. 64. Hervorhebung v. Derrida. 332 Ebd. S. 65. Kursivschrift ist eine Hervorhebung i.O. 333 Ebd. S. 70. 334 Vgl. ebd. 1. Zum Begriff „Ästhetik der Marginalität“ 74 ses durch die Schrift findet Derrida umso produktiver, als sie die Verschiebung von Bedeutung und Identität einbezieht. Sie setzt die Selbstpräsenz außer Kraft. Saussures Unbehagen an der Schrift stellt sich im erweiterten Sinne auch als ein Unbehagen an alternativen Schriftarten bzw. Textarten heraus - damit sind hier nicht nur die Hieroglyphen, die chinesische Schrift oder das Esperanto, sondern auch weitere kulturelle Kontexte, etwa afrikanische Sprachen, Schriftarten bzw. Textualitäten 335 gemeint, die de facto in Saussures, Rousseaus sowie Hegels 336 Vorstellungswelten die Natürlichkeit der Sprache verunstalten würden. Es sind Sprachen, die an diakritischen Zeichen besonders reich sind. Und wie aus Derridas Kritik hervorgeht, steht das Notationsverfahren von Saussure der „Vermehrung der diakritischen Zeichen“ 337 sehr skeptisch gegenüber. Saussure grübelt über die Unmöglichkeit eines einheitlichen phonetischen oder orthographischen Alphabets. 338 Es stellt sich überdies aber die Frage, ob man deswegen alternative, phonetische und orthographische Schriftarten kurzerhand einfach deshalb über Bord werfen muss oder soll, weil die Seite eines Textes einen schauderhaften Anblick darbieten würde. 339 Handelt es sich hier nicht um eine zusätzliche epistemologische Gewalt? Derridas Rehabilitierung der Schrift kommt einer symbolischen Rehabilitierung jener „Ränder der Moderne“ 340 , jener Räume der Marginalität gleich, die von der ganzen vor- oder nachsokratischen Tradition logozentrisch als schriftlose 341 Räume und deshalb als kultur- und geschichtslos hingestellt 335 Der Begriff Text oder Schrift ist in diesem Zusammenhang im Sinne von Doris Bachmann-Medick zu verstehen, die durch die Metapher Kultur als Text daran appelliert, Handlungen, Ereignisse, soziale Situationen als Texte zu betrachten. Vgl. Doris Bachmann-Medick, Kultur als Text (Anm. 23), S. 10f. 336 Ins Rampenlicht von Derridas Dekonstruktion des abendländischen Phono- und Logozentrismus fällt ebenfalls Hegels Geschichtsphilosophie. Derrida punktiert die totalitäre Dimension dieser Philosophie. Näheres dazu siehe Derrida, Grammatologie, ebd. S. 45-48. Derrida verkennt trotzdem nicht die produktive Seite von Hegels Überlegungen zur Schrift. „Hegel ist auch der Denker der irreduziblen Differenz. Er hat das Denken als ein Zeichen produzierendes Gedächtnis wieder zu Ehren gebracht. Und er hat, wie wir an anderer Stelle zeigen wollen, die wesensmäßige Notwendigkeit der geschriebenen Spur in einem philosophischen, sokratischen Diskurs, der sich ihrer immer entledigen zu können glaubte, von neuem eingeführt. Hegel ist der letzte Philosoph des Buches und der erste Denker der Schrift.“ Ebd. S. 48. Kursivschrift ist eine Hervorhebung i.O. Fettmarkiertes ist eine Hervorhebung v. mir. 337 Ebd., S. 68. Hervorhebung i.O. 338 In diesem Punkt gibt ihm Derrida recht. Vgl. ebd. S. 69f. 339 Vgl. ebd. S. 68. 340 Robert Weimann (Hg.), Ränder der Moderne: Repräsentation und Alterität im (post)kolonialen Diskurs (Anm. 198), S. 2. 341 Hingewiesen wird hier auf das Alphabet oder die Buchstabenschrift, das oder die - im Sinne der logozentrischen Tradition - zu den kulturellen Errungenschaft des ›zivilisierten Abendlandes‹ gehört und die Vormacht des Abendlandes über den Rest legitimieren soll. 1.1. Jacques Derrida und die Dekonstruktion der abendländischen Metaphysik 75 werden. 342 Unter ›Rändern der europäischen Moderne‹ wird hier sowohl Europas überseeische koloniale Ränder: Afrika, Asien, Mittel- und Südamerika, Ozeanien - wie es in Dieter Nohlens kartographischen Darstellungen zu betrachten ist 343 - als auch binneneuropäische Ränder: das vertriebene und verfolgte Judentum Europas, die in den Metropolen Europas lebenden Migranten und Migrantinnen aus der global gefassten Dritten Welt, die ethnischen Minderheiten der Sinti und Roma usw. Und gerade diese erwähnten kolonialen und postkolonialen Ränder stehen im Mittelpunkt von Joseph Roths Schreiben und Denken, wie es sich im Rahmen dieser Untersuchung herausstellen wird. Derridas Dekonstruktion ist kein totalitäres, kein exkludierendes Denken. Sie macht Gebrauch von Momenten klassischer Normen, wenn es ihm auch darum geht, die ›Geschlossenheit‹ („clôture“ 344 ) dieser „konstituierten Normalität“ 345 zu brechen und aus dieser ›Geschlossenheit‹ auszubrechen 346 - ein Denken jenseits von Devisen und Festlegungen. Derrida würdigt die Errungenschaften der abendländischen philosophischen Tradition. Dekonstruktion heißt nicht, diese Errungenschaften blindlings zu kippen. Derrida erkennt die Unmöglichkeit an, ohne diese Begriffe produktiv zu denken. 347 „Es muß vielmehr die systematische und historische Verbundenheit von Begriffen und Gesten des Denkens evident gemacht werden, die man oft unbedenklich glaubt voneinander trennen zu können“, 348 unterstreicht Derrida. Obwohl er die Unmöglichkeit eines absoluten Verzichts auf den abendländischen Zeichenbegriff herausstreicht, bleibt er „gegenüber der metaphysischen Differenz zwischen Signifikat und Signifikant oder gegenüber der Idee des Zeichens im allgemeinen“ 349 misstrauisch. Was Derrida dem abendländischen Zeichenbegriff vorhält, ist dessen Bestimmung des Zeichens als einer Eins-zu-eins- Entsprechung von Signifikat und Signifikant sowie die damit verbundene Konstruktion und Konstitution des Zeichens als „die Einheit einer Heterogenität“. 350 Aus Derridas Ausführungen geht deutlich hervor, dass das, was als Signifikat genannt wird, keineswegs als Ding in der Realität präsent ist. Das Signifikat existiert nicht an sich. Derrida bestreitet die Bestimmung des for- 342 „Die Dekonstruktion versucht durch die Perspektive des Verworfenen und Marginalisierten, den jeweiligen Text zu dezentrieren“ Patrick Baum/ Stefan Höltgen (Hg.), Lexikon der Postmoderne (Anm. 199), S. 39. 343 Vgl. Dieter Nohlen (Hg.), Lexikon Dritte Welt (Anm. 2), Diese Karten sind jeweils auf den Seiten 1, 2, 760 und 761 zu sichten. 344 Ebd. S. 26. 345 Ebd. S. 15. 346 Vgl. ebd. S. 7-8. 347 Vgl. ebd. S. 28. 348 Ebd. S. 28. 349 Ebd. S. 29. 350 Ebd. S. 35. 1. Zum Begriff „Ästhetik der Marginalität“ 76 malen Wesens des Signifikats im Sinne einer außersprachlichen Präsenz. 351 Für Derrida ist das Signifikat nichts anderes als eine Spur, als ein Signifikant, dessen Sinn sich durch sein Verhältnis zu anderen möglichen Spuren konstituiert. Der Begriff Spur bei Derrida verweist sowohl auf vergangene, gegenwärtige und zukünftige Bedeutungen oder Signifikanten. Die Spur ist das, „was sich nicht in der Einfältigkeit einer Gegenwart fassen lässt“. 352 Und Derrida zufolge können die metaphysischen Zeitbegriffe - Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft - die Struktur der Spur sogar nicht adäquat beschreiben. Die Spur entzieht sich jedweder logozentrischen Temporalität. 353 Derrida verteidigt die Vielfältigkeit der Spur gegen deren logozentrische Reduktion auf eine einfältige Präsenz. Die Spur kündigt das Verhältnis zum Selbst und zum Anderen an. In der Spur „zeichnet sich das Verhältnis zum Anderen“ 354 . Sie kann nicht das Museum einer ewig geltenden Bedeutung sein. 355 „Die Spur ist nicht nur das Verschwinden des Ursprungs, sondern besagt hier […], daß der Ursprung nicht einmal verschwunden ist, daß die Spur immer nur im Rückgang auf einen Nicht-Ursprung sich konstituiert hat und damit zum Ursprung des Ursprungs gerät.“ 356 Derrida bevorzugt sogar die Bezeichnung „Ur-Spur“ 357 - im Sinne von Ur-Schrift. In Bezug auf Freuds Traumdeutung bringt Derrida die Spur in Zusammenhang mit dem Subjekt. Die Schrift oder Spur konstituiert das Subjekt und sie zerstreut ihn zugleich. 358 Derrida schreibt: „Die Bestimmung eines X als Subjekt ist nie ein rein konventionelles Verfahren und gegenüber der Schrift nie eine indifferente Geste.“ 359 Daraus ist zu entnehmen, dass der Begriff Schrift oder Spur bei Derrida auch Vor-Schrift, das Gesetz, das Machtdispositiv, die Alterität sowie das Unbewusste schlechthin einschließt. Das Subjekt und die Gesellschaft 351 Vgl. ebd. 352 Ebd. S. 116. 353 Vgl. ebd. 354 Ebd. S. 82. 355 Vgl. ebd. 356 Ebd. S. 107f. 357 Ebd. S. 108. 358 Vgl. ebd. S. 119. Hier zeigt sich auch ein Überschneidungspunkt zwischen Derrida und Lacan. Was Derrida Schrift oder Spur nennt, ist - laut Jacques Lacans Analyse menschlicher Psyche - der Ordnung des Symbolischen zuzuordnen. Bei Lacan steht die Ordnung des Symbolischen für die Ordnung der Sprache, für die sozialen, ökonomischen und kulturellen Normen, für die staatliche und göttliche Ordnung, für das Unbewusste überhaupt. Lacan fasst das Subjekt als ein Wesen auf, das durch die Sprache, durch das Unbewusste strukturiert wird. Die Aufsätze „Das Drängen des Buchstabens im Unbewussten“, „Das Spiegelstadium als Bildner der Ich-Funktion“ und der Aufsatz über Edgar Allan Poes Erzählung Der entwendete Brief (The purlpoined letter) stellen die eigentlichen Orte dar, in denen Lacan seinen Sprachansatz des Unbewussten im Sinne einer Dekonstruktion der abendländischen Metaphysik entfaltet. 359 Jacques Derrida, Grammatologie (Anm. 219), S. 120. 1.1. Jacques Derrida und die Dekonstruktion der abendländischen Metaphysik 77 stellen selbst Momente der Schrift dar. Die Schrift führt - Derrida zufolge - die Spaltung oder Fragmentierung („brisure“ 360 ) von Bedeutung vor Augen. Das veranschaulicht Derrida am Beispiel des Kunstwortes différence/ différance. Die zeitlichen und räumlichen Aspekte, die im Wort différence mitschwingen, aber akustisch oder phonetisch unsichtbar bzw. unwahrnehmbar bleiben, werden durch die Schrift sichtbar gemacht. Dies besagt aber nicht, dass die Schrift Bedeutungen festlegt, sondern sie macht die Illusion der Präsenz von Bedeutung im gesprochenen oder geschriebenen Wort deutlich. Bedeutung ist immer verschoben. Derridas Kategorie der Spur unterwandert die metaphysischen Oppositionen Signifikat/ Signifikant, Natur/ Kultur, Körper/ Seele usw. Die Brechung der metaphysischen Einheit Signifikat/ Signifikant (s/ S), die Zelebrierung des durch die Schrift begangenen Sakrilegs; die Rehabilitierung der „des Landes verwiesenen“, von der Linguistik „geächteten, heimatlos gemachten Schrift“ 361 ; die Hervorhebung von marginalen Schriftarten bzw. von alternativen Geschichten und Literaturen sowie eine Subversion des ›imperialen Signifikats‹ stehen u.a. im Mittelpunkt von Derridas dezentrierender Perspektivierung, die mit dem Begriff ›Dekonstruktion‹ umschrieben wird. Es ist nicht das Ziel dieser Untersuchung, eine Meistererzählung über Derridas Grammatologie zu produzieren. Dieter Nohlen bestimmt das Phänomen ›Marginalität‹ und beschränkt sie auf den Kontext klassischer ›Dritte-Welt‹- Länder. Seine Bevorzugung von vorwiegend positiv soziologischökonomischen Indikatoren, die Nicht-Erwähnung der Ambivalenz des sozialen, semiotischen Feldes sowie die mangelnde Betonung der Ambivalenz gesellschaftlicher Polaritäten - arm vs. reich, Stadt vs. Dorf, Erste vs. Dritte Welt - bilden den Knotenpunkt, von dem dieses theoretische Engagement mit Derridas Dekonstruktion einer Metaphysik der Präsenz ausgegangen ist. Gemeint ist eine Dekonstruktion, die sich als Darstellung der Ambivalenz festgefügter, festgefahrener Polaritäten bzw. als eine symbolische Rehabilitierung der Ränder der europäischen Moderne herausstellt. Diese Arbeit macht sich solche Impulse zu eigen, mit dem Ziel, Afrika und ›die globale Dritte Welt‹ 362 - eine marginale Spur oder Schrift in Joseph Roths Texten - aufzuspüren, indem ausgewählte Texte Roths erschlossen werden. Derridas Rehabilitierung der Ränder europäischer Moderne erfolgt nicht im Sinne einer Abschottung von der europäischen philosophischen Tradition, freilich vielmehr im Sinne eines Brückenschlags zwischen sogenanntem westlichem Zentrum und sogenannter nichtwestlicher Peripherie. Derridas Interesse für das sprachliche Zeichen fußt auf der Einsicht, dass Sprache und Macht vielfältig ineinander verkettet sind. 360 Ebd. S. 114. 361 Ebd. S. 77. 362 Auf diesen Ausdruck ist in der Einführung schon eingegangen worden. 1. Zum Begriff „Ästhetik der Marginalität“ 78 Die Macht der Sprache oder die Sprache der Macht gestaltet Subjekte sowie menschliche Gemeinschaften. Dass die Sprache oder das Zeichen ein machtvolles, gewaltvolles Instrument sein kann, veranschaulicht Frantz Fanon in seinem Schlüsselwerk Peau noire, masques blancs (Schwarze Haut, weiße Masken) anhand des Verhältnisses des Schwarzen zur Sprache des Kolonialherrn. 363 Was bedeutet dem ›schwarzen Subjekt‹ 364 , dem ›kolonialen Subjekt‹ 365 das Sprechen? Ganz ähnlich verhält es sich in manchen Texten Roths. Die Migrantenfigur Andreas Kartak aus Joseph Roths Text Die Legende vom heiligen Trinker ist den Pariser Verhältnissen deshalb hilf- und machtlos ausgeliefert, weil er des Französischen unkundig ist. 366 In einem anderen Kontext führt eine Passage aus Roths Roman Radetzkymarsch vor Augen, dass die Verwendung der ungarischen Sprache in der k.u.k. Armee den ungarischsprechenden Soldaten gelegentlich untersagt wird: „‘Wir bitten die Herren […] die Unterhaltung auf deutsch fortzusetzen.’“ (JRW 5, 423). Dies ist keine Bitte, sondern es klingt eher nach einer Aufforderung des Rittmeisters Jelacich 367 an seine Ungarisch sprechenden Armeegenossen, die trotz der bestürzenden Nachricht von der Ermordung des Thronfolgers in Sarajewo 368 - ohne Rücksicht auf die Gefühle der anwesenden Nationalitäten zu nehmen - dreist auf Ungarisch plaudern (vgl. ebd. 422f). Joseph Roth oder Frantz Fanon tauchen zumindest in Sonderheit nicht in Derridas Grammatologie auf, aber die machtpolitische Dimension des sprachlichen Zeichens, wie sie in Roths und Fanons Texten geschildert wird, ist 363 Vgl. Frantz Fanon, „Le Noir et le langage“, in: ders. Peau noire, masques blancs (Anm. 75), S. 13-32. 364 Vgl. ebd. Der Ausdruck ›schwarzes Subjekt‹, wie es sich aus Fanons Texten herauslesen lässt, weist im engeren Sinne auf Menschen schwarzafrikanischer Herkunft und im weiteren Sinne auf unterdrückte Menschen weltweit hin. Und die metaphorische Kraft, die in diesem Ausdruck enthalten ist, führt dazu, dass sich dieser Ausdruck auch auf den Kolonialherrn bezieht, der - als koloniales Subjekt verstanden - auch von der kolonialen Situation gestaltet wird, von der ›relation coloniale‹ eingehüllt wird. 365 Die Bezeichnung ›koloniales Subjekt‹ wird hier andererseits in Anlehnung an Homi Bhabha verwendet. Wenn Bhabha von „colonial identification subject“ spricht, meint er „both colonizer and colonized“. Homi K. Bhabha, The Location of Culture, London, New York: Routledge 1994, S. 67. Der Schauer bzw. die Kontingenz der kolonialen Konstellation umhüllt und erfasst beide Subjekte in einer kaum vorstellbaren Weise. 366 Auf das unheimliche Leben des Arbeitsmigranten Andreas Kartak wird in Teil 2 eingegangen. 367 Aus Serbien stammend. 368 Eine Nachricht, die jenem Fest ein jähes Ende bereitet, das die alkoholisiert torkelnden Offiziere und Soldaten des kaiserlich-königlichen Jägerbataillons an einer verlorenen Grenzgarnison der Monarchie auf dem Dorf Sipolje veranstalten. Das Fest schlägt in einen Trauermarsch um. Ein Marsch, den manche betrunkene Soldaten und Offiziere in einen Freudenmarsch umzufunktionieren versuchen. Die Flaschen, Gläser und Musikinstrumente werden ihnen weggenommen und der Festplatz wird geräumt (vgl. JRW 5, 410-426). 1.1. Jacques Derrida und die Dekonstruktion der abendländischen Metaphysik 79 Derrida kein unbekanntes Phänomen. Derrida heißt die in der abendländischen Philosophie und der modernen Linguistik enthaltenen dekonstruktiven Impulse willkommen. Die Erweiterung oder Verwirklichung dieses Durchbruchs will er jedoch „heute außerhalb der Linguistik noch am ehesten in der psychoanalytischen Forschung“ 369 sehen. Die Psychoanalyse wäre daher der Ort, an dem die metaphysische Einheit Signifikant/ Signifikat gesprengt wird. Die Spaltung des Selbst, die Nichtidentität des Zeichens bzw. des Subjekts mit sich selbst (Unheimlichkeit), die Rolle des Unbewussten in der Strukturierung des Selbst und des Wortzeichens, das bürgerliche Subjekt als Produkt einer Verdrängung - das sind u.a. psychoanalytische Grundthesen. Darauf baut auch die Argumentation von Derrida. 370 Dass die Verhältnisse zwischen Signifikanten Macht-, Herrschafts-, Differenz- und Interdependenzverhältnisse sind, artikuliert Michel Foucault in Überwachen und Strafen. Michel Foucault wird in diesem Zusammenhang hinzugezogen, weil er durch seine Macht- und Diskurstheorie Einsicht in die Phänomenologie der Macht verschafft und dadurch ebenfalls die Ambivalenz festgefügter Polaritäten durchschauen lässt. Unter Macht versteht Foucault etwas Polymorphes, das weder in bestimmten Institutionen oder im Staatsapparat festgemacht werden noch das Privileg oder das Privateigentum eines Individuums sein kann. Diese Macht ist nicht so sehr etwas, was jemand besitzt, sondern vielmehr etwas, was sich entfaltet; nicht so sehr das erworbene oder bewahrte ‘Privileg’ 369 Jacques Derrida, Grammatologie (Anm. 219), S. 40. 370 Derrida knüpft implizit an Jacques Lacans Gedanken der Brechung der metaphysischen Einheit von Signifikanten und Signifikat an. Anhand des psychoanalytischen Logarithmus S/ s (Signifikant über Signifikat) artikuliert Lacan - sich dadurch von Saussure und von einer substanzmetaphysischen Logozentrik abgrenzend - den Vorrang des Signifikanten über das Signifikat sowie die unbewusste Dimension des Widerstandes von Bedeutung. Dabei steht der graphische Trennstrich für diesen symbolischen Widerstand, für den Mangel an Präsenz, für die Verdichtung und Verschiebung von Bedeutung. Vgl. Jacques Lacan, „Das Drängen des Buchstabens im Unbewußten oder die Vernunft seit Freud“, in: ders. Schriften II, ausgewählt und herausgegeben von Norbert Haas, Olten, Freiburg im Breisgau: Walter Verlag 1975, S. 15-55. Lacans Dekonstruktion der Metaphysik der Präsenz kommt auch im Aufsatz „Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion“ vor. Darin vertritt Lacan die These der heteromorphen Identität bzw. der Nicht-Identität des Subjekts mit sich selbst. Eine These, die er durch den Logarithmus Kind/ Spiegelbild zum Ausdruck bringt. Das Spiegelbild des Kindes - „Spiegel-Ich (je spéculaire)“ oder das „moi“ - ist nicht mit dem Kind, dem „sozialen Ich, (je social)“ identisch. Das Spiegelbild steht - Lacan zufolge - für das Individuum, das „moi“. Ders. „Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion … “, in: ders. Schriften I, ausgewählt und herausgegeben von Norbert Haas, Olten, Freiburg im Breisgau: Walter Verlag 1973, S. 61-70. Daraus ergibt sich graphisch ausgedrückt folgendes: S/ s = je/ moi = Kind/ Spiegelbild. Demzufolge verdeutlicht der Logarithmus S/ s die Spaltung der Subjektivität in der symbolischen Ordnung d.h. in der Ordnung der Sprache. 1. Zum Begriff „Ästhetik der Marginalität“ 80 der herrschenden Klasse, sondern vielmehr die Gesamtwirkung ihrer strategischen Positionen - eine Wirkung, welche durch die Position der Beherrschten offenbart und gelegentlich erneuert wird. Andererseits richtet sich diese Macht nicht einfach als Verpflichtung oder Verbot an diejenigen, welche ‘sie nicht haben’; sie sind ja von der Macht eingesetzt, die Macht verläuft über sie und durch sie hindurch; sie stützt sich auf sie, ebenso wie diese sich in ihrem Kampf gegen sie darauf stützen, dass sie von der Macht durchdrungen sind. 371 Wenn Foucault von Macht spricht, meint er nicht unbedingt jemanden, der in ihrem Besitz ist. Angespielt wird vielmehr auf ein Kräfteverhältnis im Netzwerk gesellschaftlicher Akteure sowie auf Praktiken und Mechanismen zwischen diesen Akteuren. In dieser Hinsicht kann das Individuum, das in diesem Netzwerk eine vornehme Stellung besitzt, keinesfalls die Macht für sich alleine beanspruchen - sogar in einer kolonialen Situation. Besonders hervorgehoben wird der relationale Moment, der Beziehungsaspekt. Der Fokus wird auch auf die Vielfältigkeit, die Unvorhersehbarkeit, die Unberechenbarkeit, auf die Ambivalenz menschlicher Werke und Netzwerke gelenkt. Foucault bringt es, wie folgt, auf den Punkt: Diese Beziehungen reichen nämlich tief in die Gesellschaft hinein und reduzieren sich nicht auf das Verhältnis des Staates zu den Bürgern oder auf die Schranke zwischen den Klassen; sie beschränken sich nicht darauf, auf der Ebene der Individuen, der Körper, der Gesten und der Verhaltensweisen die allgemeine Form des Gesetzes oder der Herrschaft zu reproduzieren. 372 Hans-Ulrich Wehler kommentiert Foucaults Position folgendermaßen: Foucaults sprachtheoretischer Strukturalismus verstößt das Individuum, das Subjekt, aus dem Zentrum des Denkens und Handelns, das ihm die klassische Subjektphilosophie wie selbstverständlich zuerkannt hatte. Das ist die vieldiskutierte ‘Dezentrierung’ des ehemals königlichen Subjekts. Sie ist gleichzeitig eine Entmündigung, ein radikaler Souveränitätsverlust des Individuums. Was heißt das genauer? Wegen der strukturalistischen Grundannahmen werden sprachliche Gebilde zu den eigentlichen Trägern des Handlungsgeschehens. 373 Michel Foucault hat sich nie selbst als Strukturalist bezeichnet oder empfunden. Es sind vielmehr Dinge, die er in seinen Texten inszeniert, die dazu führen, ihn dem Postmodernismus bzw. Poststrukturalismus zuzurechnen, u.a. die Darstellung der Macht als etwas Polymorphes bzw. Relationales, die Erfassung des Körpers durch die Techniken und Technologien der Macht, die 371 Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, aus dem Französischen übersetzt von Walter Setter, Frankfurt/ Main: Suhrkamp Verlag 1976, S. 38. Titel der Originalausgabe: Surveiller et punir. La naissance de la prison, Paris 1975. 372 Ebd. S. 38. 373 Hans-Ulrich Wehler, Die Herausforderung der Kulturgeschichte, München: C. H. Beck 1988, S. 56. 1.1. Jacques Derrida und die Dekonstruktion der abendländischen Metaphysik 81 Dezentrierung der Subjektivität und der Autorität usw. Angesichts der Kritik Hans-Ulrich Wehlers ist es relevant zu verdeutlichen, um welches Subjekt es überhaupt in diesem Akt der Dezentrierung geht. Dezentriert bzw. dekonstruiert wird hauptsächlich das als ›einheitlich‹, ›selbstbewusst‹ und sich ›selbstverwirklichend‹ definierte Subjekt der Aufklärung, ein Subjekt, das in der poststrukturalistischen Subjekts- und Realitätsauffassung als fiktiv, als ein Zeichenkonstrukt hingestellt wird. Durch den poststrukturalistischen Ansatz des dezentrierten Subjektes wird vielmehr zu verstehen gegeben, dass erstens das Subjekt genauso wie ein sprachliches Zeichen in ein Spiel von Signifikanten ohne Zentrum und ohne Ende verwickelt ist. Zweitens wird durch diesen Satz die Rolle des Unbewussten als entscheidendes Kraftfeld menschlicher Psyche hervorgehoben. 374 Was Hans-Ulrich Wehler am (Post-) Strukturalismus kritisiert, ist die Tendenz, alle kulturellen Erscheinungen als Text bzw. als Schrift zu lesen. Dies ist - auf den ersten Blick - der Gesamteindruck, der zum Beispiel aus Derridas Grammatologie hervorgeht. Dennoch wird man der Metapher Kultur als Schrift bzw. Kultur als Text nicht gerecht, wenn darin unbedingt ein Imperialismus des Schriftzeichens zu sehen gesucht wird. Diese Metapher schließt sowohl die ikonische und indexikalische Seite des Zeichens als auch die Kontingenz und Kontiguität des alltäglichen Lebens mit ein. Darüber hinaus ist die Metapher Kultur als Text eine Erinnerung an die gewebeartige und dialogische Struktur unserer Welt. Kultur ist vielmehr eine Konstellation von Texten, die - über das geschriebene oder gesprochene Wort hinaus - auch in Ritualen, Theater, Gebärden, Festen usw. verkörpert sind. Solche Ausdrucksformen sind höchst aufschlußreich, wenn es darum geht, das Netzwerk historischer, sozialer, geschlechtspezifischer Beziehungen im Licht ihrer kulturellen Vertextung, Symbolisierung und Kodierung zu rekonstruieren […] Erst indem man auch Handlungen, Ereignisse und soziale Situationen als ‘Texte’ betrachtet, werden sie über ihre Situationskontingenz hinaus - für den kulturellen Prozeß der Objektivierung von Bedeutungen erschlossen. 375 Nichtsdestoweniger eröffnet Hans-Ulrich Wehlers Kritik an Foucaults Dezentrierung des Subjekts den Blick auf einen m.E. weiteren heiklen Aspekt. Foucaults relationaler Machtbegriff vernachlässigt die Tatsache, dass die Stellung von Subjekten im gesellschaftlichen Machtfeld von Asymmetrien geprägt ist. Denn das Individuum als unausbleiblicher Moment des Netzwerkes und somit der Macht kann und darf nicht übersehen werden, wenn von 374 Vgl. Jacques Derrida, Grammatologie (Anm. 219). Ders. Die Schrift und die Differenz (Anm. 322). Vgl. Terry Eagleton, „Post-Structuralism“, in: ders. Literary Theory (Anm. 284), S. 127-150, besonders S. 130. 375 Doris Bachmann-Medick, „Einleitung“, in: ders. (Hg.), Kultur als Text (Anm. 23), S. 10. 1. Zum Begriff „Ästhetik der Marginalität“ 82 Macht, Diskurs oder Wissen die Rede ist. 376 Ein ›Gebildeter‹ verfügt symbolisch über ein breiteres Handlungsspektrum als ein ›Analphabet‹. Zwischen dem Sohn eines Lumpenproletariers, der nie die Farbe einer Schreibtafel erblickt hat, und dem Sohn eines Herrschers, der durch den Einfluss seines Vaters zu einer gesellschaftlich angesehenen Position befördert wird, besteht eine unüberbrückbare machtpolitische Kluft. Dies lässt sich auch am Beispiel folgender Erfahrung fassen, die Joseph Roth als Student an der Universität Wien gemacht hatte: Ich war damals sehr stolz (ich bin es übrigens noch heute). Ich wurde ein Empörer, weil mein Stolz durch die bestehenden Verhältnisse so oft und so nachdrücklich zu leiden hatte. Ein ganz geringer Vorfall trieb mich der großen Partei der Unzufriedenen zu: zu den Vorlesungen, die ich besuchte, kam sehr oft ein Prinz, ein Mitglied des regierenden Hauses, mit einem Adjutanten. Der Prinz war neunzehn, der Adjutant mochte fünfzig sein, der Professor war zweiundsiebzig Jahre alt. Für den Prinzen und seinen Adjutanten blieb die ganze erste Bank reserviert. Vor ihm verneigte sich der zweiundsiebzigjährige 376 Hans-Ulrich Wehler bringt diesen Kritikpunkt folgendermaßen zum Ausdruck: „Wie man sich diese Ordnung ohne die Erkenntnisinitiative von Individuen vorzustellen hat, bleibt für Foucault eine müßige Frage. Sie sind dezentriert und verschwinden hinter der Übermacht des Diskurses als hochstilisiertem Supersubjekt.“ Hans-Ulrich Wehler, Die Herausforderungen der Kulturgeschichte (Anm. 373), S. 60. Vgl. Gayatri Shakravorty Spivak, Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation, mit einer Einleitung von Hito Steyerl, aus dem Englischen von Alexander Joskowicz und Stefan Nowotny, Wien: Verlag Turia+Kant 2008, S. 40. Der ursprüngliche Titel von Spivaks Text habe „‘Macht, Begehren, Interesse’“ gelautet (ebd. S. 19). Spivak geht es erstens um ein „Hinterfragen des Orts des Forschers bzw. der Forscherin in vielen jüngeren Kritiken des souveränen Subjekts“, zweitens um eine Kritik „an gegenwärtigen westlichen Bemühungen, das Subjekt zu problematisieren“ und drittens um die Frage der Repräsentation des Subjekts „der Dritten Welt innerhalb des westlichen Diskurses“ (ebd.). Spivak nimmt ein Gespräch unter die Lupe, das Michel Foucault und Gilles Deleuze im Jahre 1972 über die Beziehung der Intellektuellen zur sogenannten Macht geführt hatten. Dieses Gespräch ist heute als Text unter dem Titel „Die Intellektuellen und die Macht“ („Les intellectuels et le pouvoir“) vorhanden. Michel Foucault und Gilles Deleuze gehören zu jenen westlichen Intellektuellen, die in ihrer theoretischen Tätigkeit darum bemüht sind, unterdrückte und marginalisierte Subjekte hörbar zu machen. Spivak hält die von Michel Foucault und Gilles Deleuze geführte und vertretene Repräsentationsbzw. Re- Präsentationspolitik für paradox. Denn das unterdrückte oder marginalisierte Subjekt, für das der kritische Intellektuelle spricht oder handelt, ist immer mannigfaltig und kann daher von einem Intellektuellen, einem Theoretiker, einer Partei oder einer Gewerkschaft nicht hundertprozentig repräsentiert bzw. re-präsentiert werden. In dem Versuch dieses Subjekt zu „repräsentieren, repräsentieren die Intellektuellen sich selbst“ (ebd. S.29ff.). Spivak kommt es aber keineswegs darauf an, Repräsentationspolitik, wie diese im Staat, in der politischen Ökonomie sowie in der Theorie des Subjekts betrieben wird, zunichte zu machen. 1.1. Jacques Derrida und die Dekonstruktion der abendländischen Metaphysik 83 Professor sehr tief. Gegen die Sitte wartete der Professor nach der Vorlesung, bis der Prinz den Hörsaal verlassen hatte. 377 Diese Aussagen Roths sind umso mehr mit Vorbehalt aufzunehmen, als er selbst widersprüchliche Aussagen über eigene Erfahrungen in Umlauf gebracht haben soll. 378 Dennoch liegt das Interessante an dieser Aussage darin, dass der machtasymmetrische Augenblick ins Blickfeld gerät. Man kann nicht umhin festzustellen, dass sich die Akteure in diesem Netzwerk keineswegs auf gleicher Höhe bewegen. Trotzdem vermittelt Foucaults Beweisführung - im Kapitel über „Das Fest der Marter“ 379 - den Eindruck, dass die Macht vorwiegend in den Strukturen des Gesetzes oder im doppelten politischen Körper 380 des Souveräns festgemacht wird. Er führt eine endlose Liste von Bestrafungstechniken, Hinrichtungsritualen, Hinrichtungsliturgien auf, die im französischen Strafsystem im 17., 18. und 19. Jahrhundert üblich waren, 381 und kommt zu dem Schluss, dass die Bestrafungs- und Hinrichtungsrituale der Wiederherstellung nicht der Gerechtigkeit, sondern des Macht-Surplus des Souveräns dienten. Die öffentliche Hinrichtung, wie hastig und alltäglich sie auch sein mag, fügt sich in die Reihe der großen Rituale der verdunkelten und erneuerten Macht ein (Krönung, Einzug des Königs in eine eroberte Stadt, Unterwerfung aufständischer Subjekte); als Sieg über das den Souverän verletzende Verbrechen entfaltet sie vor den Augen aller eine unüberwindliche Kraft. Sie soll weniger ein Gleichgewicht wiederherstellen als vielmehr die Asymmetrie zwischen dem Subjekt, welches das Gesetz zu verletzen gewagt hat, und dem allmächtigen Souverän, der das Gesetz zur Geltung bringt, bis zum Äußersten ausspielen. 382 377 Zitiert nach David Bronsen, Joseph Roth: eine Biographie (Anm. 10), S. 137. 378 Vgl. (Anm. 36). 379 Vgl. Michel Foucault, Überwachen und Strafen (Anm. 371), S. 44-90. 380 Unter Bezugnahme auf Ernst Kantorowiczs Studie The King´s two Bodies unterscheidet Foucault zwischen dem biologischen, vergänglichen Körper des Königs und dem rechtlichen, symbolischen Körper, welcher „über die Zeit hinweg dauert und sich als der physische und gleichwohl unberührbare Träger des Königtums erhält […]“ (ebd. S. 41). „Am Gegenpol könnte man sich den Körper des Verurteilten vorstellen. Auch er hat seinen rechtlichen Status; auch ihm sind ein Zeremoniell und ein theoretischer Diskurs zugeordnet; aber dieser Diskurs begründet nicht das ‘Machtplus’, das die Person des Souveräns auszeichnet, sondern das ‘Machtminus’, das die Straffälligen kennzeichnet“. Ebd. S. 41. Daraus ergibt sich, dass der biologische und rechtliche Körper des Königs das Siegel des Machtplus trägt, während der biologische und rechtliche Körper des Verurteilten unter dem Zeichen eines Machtminus steht. 381 Vgl. Michel Foucault, „Das Fest der Martern“, in: ders. Überwachen und Strafen, S. 44-90. 382 Ebd. S. 64f. „Die Wiedergutmachung des durch das Vergehen entstandenen privaten Schadens muß angemessen, das Urteil muß gerecht sein, doch die Vollstreckung der Strafe ist kein Schauspiel des Ebenmaßes, sondern des Übergewichtes und des Übermaßes. In dieser Liturgie der Strafe muß die emphatische Bejahung der Macht 1. Zum Begriff „Ästhetik der Marginalität“ 84 Der Körper des Verurteilten wird „zum Ort der souveränen Rache, der offenbarten Macht und der Asymmetrie der Kräfte“. 383 Durch die Bestrafungs- und Hinrichtungsrituale reagiert der Souverän auf einen Angriff gegen das Gesetz und gegen seine Person. Durch diese Rituale wird das Verbrechen gegen den Körper des Verbrechers gekehrt. Das Verbrechen wird durch ein anderes Verbrechen zunichte gemacht. 384 Solche asymmetrischen Momente verdienen m.E., in Kauf genommen zu werden. Denn, wie Foucault selbst anmerkt: Die Beziehungen sind keine eindeutigen Relationen, vielmehr definieren sie zahllose Konfrontationspunkte und Unruheherde, in denen Konflikte, Kämpfe und zumindest vorübergehende Umkehrung der Machtverhältnisse drohen. Die Umwälzung dieser ‘Mikromächte’ gehorcht nicht dem Gesetz des Alles oder Nichts. Sie wird nicht ein für allemal durch eine neue Kontrolle über die Apparate erreicht, ebensowenig wie durch eine Erneuerung oder Zerstörung der Institutionen; vielmehr besteht sie aus einzelnen Episoden, die jeweils in ihr Geschichtsnetz verflochten sind. 385 Foucault hebt die subversive Rolle des Volkes hervor, die den Hinrichtungsritualen beiwohnt. Durch das Strafschauspiel möchte die souveräne Gewalt eine Terrorwirkung beim Volk hervorrufen. 386 Darüber hinaus hat sich das Volk in die Rache des Souveräns einzuordnen, „wenn dieser unternimmt, ‘sich an seinen Feinden zu rächen’ - auch dann und gerade dann, wenn diese Feinde inmitten des Volkes sind“. 387 Das Volk beteiligt sich am Hinrichtungsritual, um die Macht des Souveräns zu zelebrieren und gleichzeitig seine Untertänigkeit, seinen Treueid zu bezeugen. Foucault gibt dennoch zu verstehen, dass das Verhalten des am Hinrichtungsritual teilnehmenden Volkes unvorhersehbar sein kann. Hervorgehoben wird die Handlungsmacht des Volkes. Es kann eine Hinrichtung, die es für ungerecht hält, verhindern, einen Verurteilten den Händen des Scharfrichters entreißen, seine Begnadigung erzwingen, vielleicht die Scharfrichter verfolgen und sich auf sie stürzen, auf jeden Fall die Richter mit ihrem Urteil verfluchen - all das gehört zu den Praktiken des Volkes, die das Ritual der Martern umgeben, durchkreuzen und häufig er- und ihrer inneren Überlegenheit vollzogen werden. Und diese Überlegenheit ist nicht einfach die des Rechts, sondern die der physischen Kraft des Souveräns, der sich auf den Körper seines Gegners stürzt und ihn besiegt: indem er das Gesetz gebrochen hat, hat der Übeltäter die Person des Fürsten angegriffen; und diese bemächtigt sich nun - vermittels ihrer Beauftragten - des Körpers des Verurteilten, um ihn gebrandmarkt, besiegt, gebrochen vorzuführen.“ (ebd.) 383 Ebd. S. 73. 384 Vgl. ebd. 385 Ebd. S. 39. 386 Vgl. ebd. S. 75. 387 Vgl. ebd. S. 77. 1.1. Jacques Derrida und die Dekonstruktion der abendländischen Metaphysik 85 schüttern. Oft geschieht solches, wenn es sich um die Hinrichtung von Aufrührern handelt […] 388 Das Volk kann „die Gewaltsamkeit der Strafrituale in eine andere Richtung lenken“, 389 die Machtverhältnisse auf den Kopf stellen. Foucault veranschaulicht dies am Beispiel der Solidarität der ganzen Bevölkerung mit dem Verurteilten. „[A]n den Tagen von Hinrichtungen ruhte die Arbeit, die Wirtshäuser waren voll, man beschimpfte die Autoritäten, dem Scharfrichter, den Polizeioffizieren und den Soldaten warf man Schmähworte oder Steine zu […]“ 390 Durch diese eingehende Darstellung der Zweideutigkeit der Strafschauspiele und der Ambivalenz des Volkes verdeutlicht Foucault sein Konzept der Relationalität der Macht. Ein weiterer Gedanke Foucaults, der im Zusammenhang mit seinem Prinzip der Dialogizität der Macht steht und diese Dialogizität veranschaulicht, ist der Gedanke „der Gesetzwidrigkeit des Volkes“. Unter „Gesetzwidrigkeit“ versteht Foucault einen bewussten bzw. unbewussten Widerstand - durch bestimmte Praktiken - gegen alles Gesetzliche. Dieser Widerstand kann „in jeder gesellschaftlichen Schicht spezifische Formen“ 391 annehmen. Foucault sieht diese Gesetzwidrigkeit z.B. einerseits bei den niedrigen Volksschichten, und zwar in Figuren wie Landstreichern, Plünderern, Dieben, Deserteuren und Schmugglern 392 lokalisiert, deren Handlungen sozusagen auch als ein Abreagieren gegen die gesetzlichen Überforderungen angesehen werden könnten. Andererseits zeigt sich diese Gesetzwidrigkeit bei den privilegierten Schichten dadurch, dass sie reaktionär gegen den Verlust ihrer Privilegien kämpfen. 393 Dies erinnert an den Grafen Morstin, eine Figur aus Joseph Roths Roman Die Büste des Kaisers. 394 Die erwähnten Gesetzwidrigkeiten stehen in einem dialogischen Verhältnis zueinander. Foucault schreibt: Zwischen den Gesetzwidrigkeiten der verschiedenen Gruppen bestanden Beziehungen der Rivalität, der Konkurrenz, der Interessenkonflikte, der gegen- 388 Ebd. S. 78. 389 Ebd. S. 80. Foucault führt historische Beispiele an, um dies zu bekräftigen. „1761 gab es in Paris einen kleinen Aufruhr zugunsten einer Dienstbotin, die ihrem Herrn ein Stück Tuch gestohlen hatte. Trotz dessen Herausgabe und trotz aller Bitten wollte ihr Herr die Klage nicht zurückziehen: am Tag der Hinrichtung verhindern die Leute des Stadtviertels die Erhängung, verwüsten den Laden des Kaufmanns und plündern ihn. Die Dienstbotin wird schließlich begnadigt; aber eine Frau, die den bösen Herrn mit Nadeln stechen wollte, wird für drei Jahre verbannt.“ Ebd. S. 81. Weitere Beispiele Vgl. ebd. S. 81, 83f. 390 Ebd. S. 82. 391 Ebd. S. 105. 392 Figuren, die auch in Joseph Roths Texten vorkommen, wie in Teil 2 dieser Arbeit festzustellen sein wird. 393 Vgl. ebd. S. 104f. Näheres darüber ist ebenda zu erhalten. 394 Figuren, die auch in Joseph Roths Texten vorkommen, wie in Teil 2 dieser Arbeit festzustellen sein wird. 1. Zum Begriff „Ästhetik der Marginalität“ 86 seitigen Unterstützung und der Komplizenschaft: wenn sich die Bauern weigerten, bestimmte staatliche oder kirchliche Abgaben zu leisten, so wurde das von den Grundeigentümern nicht unbedingt mißbilligt; wenn sich die Handwerker nicht an die Fabrikreglements hielten, wurden sie von den neuen Unternehmern häufig dazu ermuntert; wie die Geschichte des von der gesamten Bevölkerung gefeierten, in den Schlössern aufgenommenen und von den Gerichtshöfen beschützten Mandrin beweist, wurde der Schmuggel weithin unterstützt. Das ging so weit, daß im 17. Jahrhundert Steuerverweigerungen zu gemeinsamen Aufständen weit auseinander liegender Bevölkerungsschichten führten. Das Wechselspiel der Gesetzwidrigkeiten gehörte einfach zum politischen und ökonomischen Leben der Gesellschaft. 395 Diese Gesetzwidrigkeiten werden in jeder Gesellschaftsschicht bis zu einem gewissen Grad toleriert. Damit ein gewisses gesellschaftliches Gleichgewicht aufrechterhalten wird, müssen, laut Foucault, unerlaubte Praktiken kontrolliert und neu kodifiziert werden. 396 Die Strafgewalt muss reformiert und eingegrenzt werden und die Gesetzwidrigkeit des Volkes einer strengen Kontrolle unterwerfen. 397 Die Strafgewalt verschiebt sich von der Rache des Souveräns auf die Verteidigung der Gesellschaft. Festzuhalten ist, dass Foucaults Hauptargument der Relationalität der Macht zeitgleich die Ambivalenz der Macht und somit die Ambivalenz gesellschaftlicher Machtstellungen artikuliert. Foucault nennt dies die „Mikrophysik der Macht“ 398 . Mit Bezug auf diese ›Mikrophysik‹ tritt der Verfasser für eine Abkehr vom Gegensatz Gewalt/ Ideologie, von der Metapher des Eigentums, vom Modell des Vertrages sowie der Eroberung ein. 399 Grundlegend in Foucaults Machttheorie ist erstens die Auffassung von Macht und Wissen als ineinander verwobenem Komplex und zweitens die Betonung der produktiven Dimension von Macht: 395 Michel Foucault, Überwachen und Strafen (Anm. 371), S. 106f. Louis Mandrin (1725- 1755) war zu Lebzeiten ein in der französischen Gesellschaft der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts vom gemeinen Volk heldenhaft besungener Räuberhauptmann und Erzschmuggler. Für manche galt er als eine Art Rächer ›der armen Ausgebeuteten‹ gegen das räuberische, ruinöse, willkürliche Steuersystem des französischen ›Ancien Regime‹ - der damaligen (vor der französischen Revolution 1789) absolutistischen Macht, die in ihm hingegen einen gemeinen Banditen sieht, der absolut unschädlich zu machen ist. Im Mai 1755 wurde er festgenommen, öffentlich gefoltert und gerädert. Nach seinem Tod blieb er eine Legende. Vgl. Internet-Plattform http: / / www.mandrin.org/ . Näheres zu dieser Figur vgl. Louis Mandrin, Frankreichs Entkräftung und Verderben, erwiesen durch Ludwig Mandrin, Oberanführer der Schleichhändler, Politisches Testament; In seinem Gefängnisse von ihm selbst aufgesetzet, und wegen seiner Merkwürdigkeit, aus der französischen Urschrift getreulich ins Deutsche übersetzt, Franckfurth Frankfurt (sic) 1756. 396 Vgl. Michel Foucault, Überwachen und Strafen, ebd. S. 110. 397 Ebd. S. 113. 398 Ebd. S. 38. 399 Vgl. ebd. S. 40. 1.1. Jacques Derrida und die Dekonstruktion der abendländischen Metaphysik 87 Vielleicht muß man dem Glauben entsagen, dass die Macht wahnsinnig macht und dass man nur unter Verzicht auf die Macht ein Wissender werden kann. Eher ist wohl anzunehmen, dass die Macht Wissen hervorbringt (und nicht blöß fördert, anwendet, ausnutzt); dass Macht und Wissen einander unmittelbar einschließen; dass es keine Machtbeziehung gibt, ohne dass sich ein entsprechendes Wissensfeld konstituiert, und kein Wissen, das nicht gleichzeitig Machtbeziehungen voraussetzt und konstituiert. 400 Dieser Macht-Wissen-Komplex konstruiert und konstituiert das erkennende Subjekt, 401 das zu erkennende Objekt genauso wie die Erkenntnisweisen. 402 Wenn Foucault von Macht-Wissen-Beziehung spricht, meint er auch Disziplinarmacht - diese Macht, die sich meistens in Disziplinarinstitutionen abspielt: in Armeen, Schulen, Kirchen, Klöstern, Spitälern, Gefängnissen, Fabriken, Familienhäusern und Werkstätten usw. 403 Unter Disziplinen versteht Foucault „Methoden, welche die peinliche Kontrolle der Körpertätigkeiten und die dauerhafte Unterwerfung ihrer Kräfte ermöglichen und sie gelehrig/ nützlich machen […]“ 404 Foucault beschreibt zum Beispiel, wie in der Militärakademie aus dem Körper eines Bauern ein gelehriger Soldatenkörper gemacht wird. 405 Er zeigt, wie der Körper zum Zentralgegenstand und zur Zielscheibe der Disziplinarmacht gemacht und vor allem wie der Körper durch staatliche, machtpolitische Techniken besetzt wird. Dazu schreibt Foucault: „Die Aufmerksamkeit galt dem Körper, den man manipuliert, formiert und dressiert, der gehorcht, antwortet, gewandt wird und dessen Kräfte sich mehren.“ 406 Solche theoretischen Betrachtungen lassen sich in einen Dialog zu Fakten aus Roths Texten bringen. Der Kavalleriekadettenschüler Carl Joseph Trotta aus Roths Roman Radetzkymarsch ist das Produkt einer solchen Disziplinarmacht, das Konstrukt einer Verflechtung von Wissens- und Militärmacht. Während der Sommerferien, die er bei seinem Vater, Herrn Bezirkshauptmann Franz Trotta, verbringt, wird sein Wissenstand über Mathematik, deutsche Literatur und Militärwesen von seinem autoritären Vater geprüft. Die mündliche Prüfung erfolgt in martialischer Disziplin (vgl. JRW 5, 160f). Die Disziplinen genauso wie die staatliche Macht sind, um wie Foucault zu sprechen, „zu allgemeinen Herrschaftsformen geworden“. 407 Beide Machtregister überkreuzen sich. Der französische Theoretiker sieht in der Disziplinarmacht - wie in den Bestrafungspraktiken der souveränen Macht - einen Bestandteil der politischen Anatomie. 400 Ebd. S. 39. 401 Durch die Besetzung und Unterwerfung seines Körpers. 402 Vgl. ebd. 403 Vgl. ebd. S. 181f. 404 Ebd. S. 174. 405 Näheres dazu siehe ebd S. 173f. 406 Ebd. S. 174. 407 Ebd. S. 176. 1. Zum Begriff „Ästhetik der Marginalität“ 88 Sie definiert, wie man die Körper der anderen in seine Gewalt bringen kann, nicht nur, um sie machen zu lassen, was man verlangt, sondern um sie so arbeiten zu lassen, wie man will: mit den Techniken, mit der Schnelligkeit, mit der Wirksamkeit, die man bestimmt. Die Disziplin fabriziert auf diese Weise unterworfene und geübte Körper, fügsame und gelehrige Körper. Die Disziplin steigert die Kräfte des Körpers (um die ökonomische Nützlichkeit zu erhöhen) und schwächt diese selben Kräfte (um sie politisch fügsam zu machen). Mit einem Wort: sie spaltet die Macht des Körpers; sie macht daraus einerseits eine ‘Fähigkeit’, eine ‘Tauglichkeit’, die sie zu steigern sucht; und anderseits polt sie die Energie, die Mächtigkeit, die daraus resultieren könnte, zu einem Verhältnis strikter Unterwerfung um. Wenn die ökonomische Ausbeutung die Arbeitskraft vom Produkt trennt, so können wir sagen, dass der Disziplinarzwang eine gesteigerte Tauglichkeit und eine vertiefte Unterwerfung im Körper miteinander verkettet. 408 Foucault macht besonders auf die Spaltung des Selbst durch die Techniken der Disziplinarmacht aufmerksam und betont deren produktive Dimension. Die Disziplinarmacht ›stumpft die politische Energie‹ des Subjektes ab. Sie besetzt den Körper auf eigentümliche Weise. Darin sieht Foucault „eine neue ‘Mikrophysik’ der Macht“. 409 Die Figuren Andreas Pum, Mendel Singer und Andreas Kartak, deren unheimliche Existenzformen den Gegenstand des zweiten Teils dieser Untersuchung bilden, sind jede auf eigenartige Weise Produkte von Disziplinarmächten. Die ritualisierte Disziplin in der Armee, und im Kriegsspital scheint Andreas Pums politische Ernergie im Keime zu ersticken. Rituale in der jüdischen Thora- und Talmudschule bilden einen geistigen Anhaltspunkt für den Thoralehrer Mendel Singer. Durch hartes Schuften im Bergbau hält sich der Minenarbeiter Andreas Kartak übers Wasser. 410 Laut Foucault stellen Armeen, Gefängnisse, Spitäler, Kirchen (bzw. die Moscheen und Synagogen), Schulen, Fabriken genauso wie Elternhäuser Disziplinarräume dar. Es handelt sich um Räume der Überwachung von Individuen, damit sie sich nicht unnütz und gefährlich anhäufen, nicht desertieren, nicht diffus herumschweifen, 411 um „jeden Augenblick das Verhalten eines jeden überwachen, abschätzen und sanktionieren zu können; die Qualitäten und die Verdienste zu messen“. 412 Foucaults Konzept der Disziplinarmacht steht im Zusammenhang mit seiner 408 Ebd. S. 177. 409 Ebd. S. 178. Näheres über Foucaults Verständnis und Darstellung sogenannter „Mikrophysik der Macht“ vgl. Michel Foucault, Mikrophysik der Macht: über Srafjustiz, Psychiatrie und Medizin, Berlin: Merve Verlag 1976. 410 Näheres dazu siehe Teil 2 dieser Untersuchung. 411 Ebd. S. 180. 412 Ebd. S. 184. Näheres zu der Funktionsweise von Disziplinarinstitutionen und deren Konstruktion von Räumen ist ebenda zu erhalten. Foucault veranschaulicht es anhand des Militärhafens, des Militärspitals, der Fabriken, des Schulklassenraums usw. S. 184, 185, 186, 187 und 188f. 1.1. Jacques Derrida und die Dekonstruktion der abendländischen Metaphysik 89 relationalen Begründung des Machtbegriffes. Daher definiert Foucault den Menschen des modernen Humanismus als das Produkt von Disziplinarmächten: eine Art kolonialen Subjektes. Zum Nachweis führt Foucault eine Reihe von Beispielen aus den Institutionen des Militärs, der Medizin, der Schule, der Industrie sowie der Kleinkinderpflege an. 413 Das Individuum ist zweifellos das fiktive Atom einer ‘ideologischen’ Vorstellung der Gesellschaft; es ist aber auch eine Realität, die von der spezifischen Machttechnologie der ‘Disziplin’ produziert worden ist. Man muß aufhören, die Wirkungen der Macht immer negativ zu beschreiben, als ob sie nur ‘ausschließen’, ‘unterdrücken’, ‘verdrängen’, ‘zensieren’, ‘abstrahieren’, ‘maskieren’, ‘verschleiern’ würde. In Wirklichkeit ist die Macht produktiv; und sie produziert Wirkliches. Sie produziert Gegenstandsbereiche und Wahrheitsrituale: das Individuum und seine Erkenntnis sind Ergebnisse dieser Produktion. 414 Wer aber von Macht redet, spricht unbewusst das Phänomen der Marginalität an. Michel Foucault berührt dieses an einigen Stellen. Die subversiven Konstellationen, in die Joseph Roths Figuren verwickelt sind, erinnern an das Leben der infamen Menschen, auf die Foucault in einem gleichnamigen Werk, Das Leben der infamen Menschen, hinweist. Es handelt sich um bedrängte Existenzen. „Leben, die nur vom Zusammenstoß mit einer Macht überleben, welche sie nur vernichten oder zumindest wegwischen wollte, Leben die uns nur wiederkommen dank vielfältigen Zufällen […]“ 415 Wer über Marginalität schreibt, hat notwendigerweise die Frage von Machtverhältnissen zu berücksichtigen. Foucault deutet in einer Fußnote an, dass weiterführende Beispiele aus dem Kolonialismus sowie aus dem Sklavenwesen herangezogen werden könnten, um zu veranschaulichen, 416 inwiefern und wie der moderne Mensch der Aufklärung ein Produkt von Disziplinarmächten sei. Foucault ist aber bei diesen Andeutungen geblieben. Er setzt sich mit einer Dimension europäischer Geschichte auseinander, schenkt indes dem Phänomen des Kolonialismus - in dessen binnen- und außereuropäischer Erscheinungsform - überraschenderweise wenig bis kaum Aufmerksamkeit. 417 Er konzentriert sich vor 413 Vgl. ebd. S. 181f, 184 und 185. 414 Ebd. S. 249f. 415 Ders. Das Leben der infamen Menschen, herausgegeben und übersetzt von Walter Seitter, Berlin: Merve Verlag 2001, S. 22. Erstausgabe: La Vie des hommes infames, in Les Cahiers du Chemin, N 0 29, Paris 1977. 416 Vgl. ders. Überwachen und Strafen (Anm. 371), S. 181, Fußnote 9. 417 In Homo sacer ist Agamben am Beispiel des nackten Lebens der Homo-sacer-Figur darum bemüht, die Zone zu verorten, „in der sich die Techniken der Individualisierung und die Prozeduren der Totalisierung berühren“. Giorgio Agamben, Homo sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben, Frankfurt/ Main: Suhrkamp Verlag 2002, S. 16. Agamben wirft Foucault vor, in seinen Untersuchungen zur Biopolitik diesen Schnittpunkt unbeleuchtet gelassen zu haben (ebd. S. 15). Agamben will diesen 1. Zum Begriff „Ästhetik der Marginalität“ 90 allem auf gesellschaftliche Konstellationen im Frankreich des 17., 18. und 19. Jahrhunderts. 418 Aber die französischen Verhältnisse dieser Jahrhunderte lassen sich nicht auf die territorialen Grenzen Frankreichs beschränken. Die ›Grande Nation‹ war als Kolonialmacht in Afrika, Asien und in Amerika beteiligt. Außer der Tatsache, dass Kolonien Absatzmärkte darstellten, fungierten sie darüber hinaus einigermaßen auch als Riesenstrafanstalten. In der Vorstellungswelt zahlreicher europäischer Herrscher, Machthaber sowie Durchschnittsmenschen war die Kolonie der Ort der Strafe. 419 Erinnert sei hier zum Beispiel an Französisch-Guyana, ein französisches überseeisches Departement, ›Département d´Outre Mer (DOM)‹, das durch das französische Strafsystem in eine ›colonie pénitentiaire‹ (Strafkolonie) umfunktioniert wurde. 420 Unter Berücksichtigung der diktatorischen Ordnung, die die koloniale Situation darstellt, differenziert Homi Bhabha Foucaults ausgeprägte Perspektivierung der Produktivität überwachender und disziplinärer Macht. „I suggest that in order to conceive of the colonial subject as the effect of power that is productive - disciplinary and ‘pleasurable’ - one has to see the surveillance of colonial power as functioning in relation to the regime of the scopic drive“, Überschneidungspunkt nicht, wie Foucault, im Haftraum, sondern eher im Konzentrationslagerraum verwirklicht sehen. Das Lager wird, aus Agambens Perspektive, zum Raum zeitgleich eines Natur- und Ausnahmezustandes par excellence, in dem das nackte Leben des Subjektes in Form der Ausschließung durch und in die Rechtsordnung eingeschlossen wird. Vgl. ebd. S. 18. „Das Lager als absoluter Ausnahmeraum ist topologisch verschieden von einem einfachen Haftraum. Und in diesem Ausnahmeraum zerreißt der Nexus zwischen Ortung und Ordnung [...]“ Ebd. S. 30. In diesem Zusammenhang führt Agamben Hannah Arendt als diejenige an, die vor Foucault und besonders am Beispiel des Konzentrationslagers das zunehmende Einrücken biologischen Lebens ins Zentrum der politischen Bühne der Moderne sichtbar macht. Vgl. ebd. S. 13. 418 Ulrich Wehler geizt nicht mit Worten, um sich kritisch über Foucaults Denken zu äußern, das er als „komplex“ und „diffus“ abstempelt. Hans-Ulrich Wehler, Die Herausforderung der Kulturgeschichte (Anm. 373), S. 46. „Die Grenzen und Unzulänglichkeiten der historischen Analyse Foucaults treten sofort hervor, wo immer sie kontrollierbar sind. Ein enger Frankozentrismus verbindet sich mit wildesten Verallgemeinerungen. Nicht wenige seiner politischen Entscheidungen finde ich verantwortungslos.“ Ebd. S. 45. 419 Das Buch von Ronald Daus, Die Erfindung des Kolonialismus, schildert u.a. Kategorien von europäischen Bürgern, die sich auf den Weg nach Übersee einließen oder die sich aus strukturellen Gründen dazu veranlasst sahen. Vgl. Ronald Daus, Die Erfindung des Kolonialismus, Wuppertal: Hammer 1983. Besonders in folgenden Abschnitten „Das Alltagsleben im portugiesischen Kolonialreich“, S. 55-75; „Die Rückwirkungen des Kolonialismus auf Portugal“, S. 77-96. 420 Vgl. u.a. Stephen A. Toth, Beyond Papillon: the French overseas penal colonies, 1854-1952, Lincoln, London: University of Nebraska Press 2006. Vgl Janet Crane, French Guiana, Oxford, Santa Barbara u.a.: Clio Press 1998. Vgl. Marion F. Godfroy, Bagnards, Paris: Éditions du Chêne 2002. 1.1. Jacques Derrida und die Dekonstruktion der abendländischen Metaphysik 91 so Bhabha. 421 Michel Foucault in Surveiller et punir hat offenbar diesen Aspekt des spaltenden und gespaltenen, des störenden und gestörten Blickes nicht berücksichtigt. Daher setzt Homi Bhabha psychoanalytisch den Akzent auf das visuelle Begehren. Dabei handelt es sich um einen Akzent, der in Foucaults Darstellung zu kurz kommt. Bhabha eignet sich Jacques Lacans Begriff des „scopic drive“ 422 an, um eben die Ambivalenz, die Spaltung des begehrenden, überwachenden Blickes sichtbar zu machen. 423 Bhabha schreibt: In the objectification of the scopic drive there is always the threatened return of the look; in the identification of the Imaginary relation there is always the alienating other (or mirror) which crucially returns its image to the subject; and in that form of substitution and fixation that is fetishism there is always the trace of loss, absence. To put it succinctly, the recognition and disavowal of ´difference´ is always disturbed by the question of its re-presentation or construction. 424 Bhabhas postkoloniales Denken ist insbesondere an den postkolonialen Symptomen interessiert, die in Foucaults genealogischem, archäologischem Denken implizit enthalten sind. 425 „Foucault is able to see how knowledge and power come together in the enunciative ´present´ of transference: the ´calm violence´ - as he calls it - of a relationship that constitutes the discourse“, 426 merkt Bhabha an. Foucault betreibt zwar eine Genealogie der Macht, lässt aber das Kapitel des Kolonialismus unberührt: Die imperiale Begegnung Europas mit dem überseeischen Anderen sowie mit dem Anderen im binneneuropäischen Raum existieren in Foucaults Macht- und Diskurstheorie in der Gestalt von Räumen des Schweigens. Homi Bhabhas postkoloniale Perspektive geht von diesen Räumen des Schweigens in Foucaults Text aus, um eben den kolonialen Text zu hinterfragen: „Does the disavowal of coloni- 421 Homi K. Bhabha, The Location of Culture (Anm. 365), S. 16. Kursivschrift ist eine Hervorhebung i.O. 422 Dylan Evans, An introductory dictionary of Lacanian psychoanalysis, London, New York: Routledge 1996, S. 48. 423 Jacques Lacan unterscheidet vier Arten von Trieben im menschlichen Unbewussten. (D / Oral drive/ Lips Breast/ To suck); (D/ Anal drive / Anus/ Faeces/ To shit); (d / Scopic drive/ Eyes / Gaze / To see); (d / Invocatory drive/ Ears / Voice/ To hear). Vgl. Tabelle, ebd. „However, the drive is not merely another name for desire: they are partial aspects in which desire is realised. Desire is one and undivided, whereas the drives are partial manifestations of desire.“ Ebd. S. 48f 424 Homi Bhabha, „The Other question“, in: ders. The Location of Culture (Anm. 365), S. 81 425 „[W]e shall discover the postcolonial symptom of Foucault’s discourse. Writting of the history of anthropology as the ´counter-discourse´ to modernity - as the possibility of human science postmodernism […]” Homi Bhabha, „The postcolonial and the postmodern“, in: ders. ebd. S. 171-197, hier 195. 426 Ebd. S. 196. 1. Zum Begriff „Ästhetik der Marginalität“ 92 alism turn Foucault´s ‘sign’ of the West into the symptom of an obsessional modernity? Can the colonial moment ever not be contingent - the contiguous as indeterminacy - to Foucaults argument? ” 427 Einige Zeilen weiter fügt Homi Bhabha hinzu: Are we demanding that Foucault should reinstate colonialism as the missing moment in the dialectic of modernity? Do we want him to ´complete´ the argument by appropriating ours? Definitely not. I suggest that the postcolonial perspective is subversively working in his text in that moment of contingency that allows the contiguity of his argument - thought following thought - to progress. Then, suddenly, at the point of its closure, a curios indeterminacy enters the chain of discourse. This becomes the space for a new discursive temporality, another place of enunciation that will not allow the argument to expand into an unproblematic generality. 428 Homi Bhabha hinterfragt das metaphysische Subjekt des 19. Jahrhunderts, das im Mittelpunkt von Foucaults Machttheorie steht und das in Foucaults Beweisführung sowie in den Logozentrismen des 19. Jahrhunderts als heimlich, heimisch und einheitlich konstruiert wird. The grand narratives of nineteenth-century historicism on which its claims to universalism were founded - evolutionism, utilitarianism, evangelism - were also, in another textual and territorial time/ space, the technologies of colonial and imperialist governance. It is the ´rationalism´ of these ideologies of progress that increasingly comes to be eroded in the encounter with the contingency of cultural difference. Elsewhere I have explored this historical process, perfectly caught in the picturesque words of a desperate missionary in the early nineteenth century as the colonial predicament of ´sly civility´ (see Chapter 5). The result of this colonial encounter, its antagonisms and ambivalences, has a major effect on what Foucault beautifully describes as the ´slenderness of the narrative´ of history in that era most renowned for its historicizing (and colonizing) of the world and the word. 429 Den Logozentrismen des 19. Jahrhunderts, die - Bhabha zufolge - zur Entstehung und Beförderung kolonialer Verhältnisse weltweit beigetragen haben, setzt Homi Bhabha die Kontingenz, die dialogische Struktur des intersubjektiven Raumes, die katachretische Konfiguration des sozialen Textes 430 entgegen, die aus diesem heimlich-heimisch-einheitlichen fiktiven Subjekt des 19. Jahrhunderts ein unheimliches, gespaltenes Wesen macht. „It is the contingency that constitutes individuation […]“, 431 betont Bhabha. Die Spaltung dieses fiktiven Subjekts schildert er im 5. Kapitel „Sly civility“ (schlaue Höf- 427 Ebd. S. 194. Kursivschrift ist eine Hervorhebung i.O. 428 Ebd. S. 195f. 429 Ebd. S. 195. 430 Gemeint wird die dialogische, polysemische Zusammensetzung des sozialen Raumes bzw. des sozialen Textes, in dem das Subjekt eingebettet ist. 431 Ebd. S. 189f. 1.1. Jacques Derrida und die Dekonstruktion der abendländischen Metaphysik 93 lichkeiten) am Beispiel der Figur eines verzweifelten Missionars, der mit der Kontingenz bzw. mit der irritierenden kulturellen Differenz der kolonialen Situation konfrontiert ist. 432 Foucaults Diskurs bettet sich in eine kulturimperialistische modernistische Logik, die das Leben ›outside the sentence‹ verdrängt. Und genau in der Verdrängung des kolonialen Textes sieht Bhabha den Überschneidungspunkt zwischen Modernität und Postmodernität. They [modernity and postmodernity] encounter themselves contingently at the point at which the internal difference of their own society is reiterated in terms of the difference of the other, the alterity of the postcolonial site.“ 433 Foucaults Überlegungen zur Phänomenologie der Macht müssen daher auf andere Verhältnisse erweitert werden; die Frage nach der souveränen sowie der disziplinaren Macht ist in den kolonialen und postkolonialen Kontext zu stellen. Außereuropäische Kolonien, Konzentrations- und Internierungslager sowie Gulags wiesen die Wesensmerkmale auf, die Foucault dem Disziplinarraum zuschreibt. Eine solche diskursive Erweiterung erfolgt gerade im Rahmen der postkolonial genannten Kulturtheorie. Auf diese Theorie wird noch eingegangen. Mit dem erklärten Ziel, das Konzept ›Marginalität‹ im und durch den postmodernen, postkolonialen Diskurs zu begründen, ist dieser Teil der Untersuchung mit Derrida eingeleitet worden. Seine Dekonstruktion richtet sich gegen die logozentrisch-teleologische Tradition. Wie rehabilitieren Derridas Theorie und Verfahren der Dekonstruktion die Stimmen und Geschichten anderer Völker konkret, wenn er an wenigen Stellen seines Hauptwerkes ausdrücklich eine dieser Geschichten, Stimmen anspricht bzw. anrührt oder zu Wort kommen lässt? Er beschränkt sich auf Andeutungen, Hinweise auf die Hieroglyphen, auf die chinesische Schrift oder das Esperanto. Diese Hinweise wirken allesamt abstrakt. Die formelhaften Wortspiele ›différance oder différence‹, ›das Draußen ist Drinnen‹, ›brisure‹ und ›clôture‹ klingen bildschön, aber drohen zu einem Spiel zu erstarren. Derrida scheint derjenige zuesrt zu sein, der irgendeinen Nutzen aus solch einem Spiel zieht, dessen Nutznießer der Prediger und Darsteller Derrida zuerst ist. Solche Spielereien führen manche Kritiker dazu, im Postmodernismus und im Prädikat postmodern einerseits eine romantische, schwärmerische Bezeichnung 434 zur Ver- 432 Nähere Aufschlüsse darüber siehe „Sly civility“, in: ders. The Location of Culture, ebd. S. 93-101. 433 Ebd. S. 196. Hervorhebung v. mir. 434 Die Bezeichnung „global age“ zieht Michael Albrow der Bezeichnung „Postmoderne“ vor. Er unterstreicht die Rolle dissonanter Stimmen. „[T]he contributions of premodern and non-Western thinkers can illuminate the debate about globalization. In scholarly terms this requires us to rethink our understanding of globalization and globality in terms of epochal theory. At a broader human level it is an invitation to respect all peoples as potential sources of wisdom for our own time.“ Martin Albrow, The global Age: state and society beyond modernity, Cambridge: Polity Press 1996, S. 6. Zu den 1. Zum Begriff „Ästhetik der Marginalität“ 94 dunkelung und Verschleierung fortbestehender kolonialer Verhältnisse in den metropolischen Zentren sogenannter Erste- und Dritte-Welt-Länder, 435 andererseits eine Fortsetzung andauernder epistemischer Gewalt zu sehen. Denn auf der Ebene des Spielerischen zu verbleiben, bedeutet eben nicht, dass die Stimmen und Geschichten unterdrückter Völker dadurch de facto rehabilitiert werden. Was zum Beispiel Homi Bhabha dem postmodernen Diskurs vorwirft, ist dessen Vernachlässigung, Nichtthematisierung der strukturell, d.h. auch kulturell bedingten Lebenssituationen von Menschen in der global gefassten Dritten Welt: alltägliche Zufälligkeiten, Unmöglichkeiten, Verzweiflungen, Ungewissheiten, innere Zerrissenheiten, Unsichtbarkeiten usw. 436 Der postkoloniale Diskurs lädt den postmodernen Diskurs dazu ein, einen Blick, einen Schritt aus dem Elfenbeinturm abstrakter Begrifflichkeiten zu wagen, um die konkreten Lebenserfahrungen der am Rande der Modernität oder Postmodernität gedrängten Menschheit zu berühren. In diesem Zusammenhang äußert Homi Bhabha seine Bedenken über die postmoderne Theorie- Praxis-Polarität, die Polarität zwischen Sprache und chaotischem Alltag. A form of cultural experience and identity is envisaged in a theoretical description that does not set up a theory-practice polarity, nor does theory become ´prior´ to the contingency of social experience. This ´beyond theory´ is itself a liminal form of signification that creates a space for the contingent, indeterminate articulation of social ´experience´ that is particularly important for envisaging emergent cultural identities. 437 Fokussiert wird die enge historische Vernetzung von Theorie und Praxis, Sprache und Alltag - „theory and practice, language and politics“ 438 . Homi Bhabha lässt sich in diesem Zusammenhang von Impulsen aus Rolands Barthes´ Le plaisir du texte inspirieren. Roland Barthes fasst das konkrete Leben, das chaotische Leben jenseits des logozentrischen Satzes, jenseits der Kennzeichen einer postmodernen Auflösung des Modernitätsprojektes zählt Albrow den Eintritt der Dritten Welt als Signifikanten. Vgl. ebd. S.7. 435 Vgl. Leonardo Harris/ Carolyn Johnson, „Foreword“, in: Lewis R. Gordon/ T. Denean Sharpley-Whiting/ Renée T. White (Hg.), Fanon: a critical Reader, edited with an introduction and translations, Oxford u.a.: Blackwell 996, S. xiv-xvii, hier S. xvii. Julians Wolfreys zweifelt sogar am Vorhanden-sein einer kritischen textanalytischen Methode namens Dekonstruktion überhaupt. „‘Deconstruction, if such a thing exists …’“ Julian Wolfreys, Deconstruction - Derrida, London, New York: Macmillan Press/ Martin Press 1998, S. 1. Im Gegensatz zu Julian Wolfreys entdeckt Jonathan Culler in der Dekonstruktion „[…] eine philosophische Strategie und ein praktisches Verfahren der Literaturkritik“. Jonathan Culler, Dekonstruktion. Derrida und die poststrukturalistische Literaturtheorie, aus dem Amerikanischen von Manfred Momberger, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1988. Siehe Buchumschlag. Vgl. Peter V. Zima, Die Dekonstruktion (Anm. 284). 436 Vgl. Homi K. Bhabha, The Location of Culture (Anm. 365), S. 179. 437 Ebd. 438 Ebd. 1.2 Vom Postmodernismus zum Postkolonialismus 95 Theorie keineswegs als einen Widerspruch zur Theorie auf, sondern vielmehr als den Ort der produktiven Begegnung zwischen Theorie und Praxis, Sprache und Politik, den hybriden Raum par excellence, den Raum des Hier und Dort, Jenseits und Diesseits, des Übergangs, des Drinnen und Draußen, den performativen Raum, in oder an dem die Theorie-Praxis-Polarität ihre Grenze erfährt. Bhabha bekräftigt: [T]he space of the non-sentence is not a negative ontology: not before the sentence but something that could have acceded to the sentence and yet was outside it. 439 Und Bhabha führt fort: „If you seek simply the sententious or the exegetical, you will not grasp the hybrid moment outside the sentence - not quite experience, not yet concept; part dream, part analysis; neither signifier nor signified.“ 440 1.2 Vom Postmodernismus zum Postkolonialismus Zahlreiche Autoren haben Impulse und Momente des postmodernen Denkens aufgenommen, dieses jedoch zugleich im Hinblick auf postkoloniale Dispositive revidiert und weiterentwickelt. Sie entstammen - wie z.B. Amilcar Cabral, Frantz Fanon, Aimé Césaire, Edward Said, Homi K. Bhabha, Gayatri Schakravorti Spivak, Stuart Hall, Bill Ashcroft, Gareth Griffiths, Helen Tiffin - kulturellen Zwischenräumen. 441 Die Eigentümlichkeit der postkolonialen Perspektive - als Ästhetik der Marginalität verstanden - liegt darin, dass die daran beteiligten Denker aus der Erfahrung hybrider Sozialisierungen, sozialer Unterdrückung und Verschiebung, aus ihren diasporischen Erfahrungen heraus schreiben. Diese Erfahrungen prägen nicht nur ihr Leben, sondern finden auch einen Niederschlag in ihrem Schreiben und Denken, prägen ihre kritischen Strategien. Diese Erfahrungen führen sie dazu, die überkommenen kanonischen Auffassungen von Kultur und Ästhetik zu unterminieren, um Kultur vielmehr als einen unvollendeten Prozess anders zu begründen, der nicht jenseits individueller, gemeinschaftlicher, alltäglicher, diasporischer Praktiken und Strategien des Überlebens zu denken ist. In Homi Bhabhas Worten heißt es: „Culture reaches out to create a symbolic textuality, to give the alienating everyday an aura of selfhood, a promise of pleasure.“ 442 Culture as a strategy of survival is both transnational and translational. It is transnational because contemporary postcolonial discourses are rooted in specific histories of cultural displacement, whether they are the ´middle passage´ 439 Ebd. S. 181. Kursiv Geschriebenes ist eine Hervorhebung i.O. 440 Ebd. 441 Vgl. Paul Michael Lützeler, „Einleitung: Der postkoloniale Blick“, in: ders. (Hg.), Der postkoloniale Blick (Anm. 174), S. 8, 9. Diese Arbeit maßt sich dennoch keineswegs an, die Gesamtheit der in diesem Diskurs vertretenen Ansätze hier darzustellen. 442 Homi K. Bhabha, „The postcolonial and the postmodern. The question of agency“, in: ders. The Location of Culture (Anm. 365), S. 172. Kursivschrift ist eine Hervorhebung i.O. 1. Zum Begriff „Ästhetik der Marginalität“ 96 of slavery and indenture, the ´voyage out´ of the civilizing mission, the fraught accommodation of Third World migration to the West after the Second World War, or the traffic of economic and political refugees within and outside the Third World. Culture is translational because such spatial histories of displacement - now accompanied by the territorial ambitions of ´global´ media technologies - make the question of how culture signifies, or what is signified by culture, a rather complex issue. 443 Phänomene wie: „migration, diaspora, displacement, relocation“ 444 führen - mithilfe globaler Medientechnologien - die horizontale und vertikale Dimension kultureller Transformationen vor Augen und stellen die essentialistischen Auffassungen von Kultur und Nation auf eine harte Probe. 445 The natural(ized), unifying discourse of ´nation´, ´peoples´, or authentic ´folk´ tradition, those embedded myths of culture´s particularity, cannot be readily referenced. The great, though unsettling, advantage of this position is that it makes you increasingly aware of the construction of culture and the invention of tradition. 446 Bhabhas Ausführungen machen deutlich, dass die postkoloniale Perspektive ein Bewusstsein für kulturelle Transformationen voraussetzt und weckt, die durch die erwähnten Phänomene unvermeidlich herbeigeführt werden. In seinem Versuch, Wesen, Gegenstand und Ziel der postkolonial genannten Literatur- und Kulturtheorie zu bestimmen, setzt sich Bhabha keineswegs als bestimmende Instanz ins Zentrum. Er spricht von der postkolonialen Theorie als einem Forum unterschiedlicher Perspektiven, als einem Projekt. 447 Der gemeinsame Nenner dieses Projektes ist, dass es sich aus der Erfahrung der kolonialen und imperialen Begegnung Europas mit sog. Dritte-Welt-Ländern sowie aus den weltweit unerhörten und ungehörten Stimmen und Geschichten von Minderheiten und marginalisierten Menschen entwickelt. Die postkolonialen Perspektiven entlarven die Aporien von ideologischen, blinden und tauben Modernitätsdiskursen, die die weltweiten Asymmetrien sowie manche unterdrückten Geschichten von Nationen, Rassen und Völkern mit dem Schleier einer hegemonialen Normalität vertuschen, vernebeln. Den postkolonialen Perspektiven geht es um eine kontrapunktische re-lecture und réécriture solcher nivellierenden Modernitätsdiskurse, 448 mit besonderem Fokus 443 Ebd. 444 Ebd. 445 Vgl. ebd. 446 Ebd. Einfache Anführungszeichen wie vom Verfasser gesetzt. 447 Vgl. ebd. S. 171. 448 „[T]he peoples of the periphery return to rewrite the history and fiction of the metropolis.“ Homi K. Bhabha, „Introduction: narrating the nation“, in: ders. Nation and Narration (Anm. 4), S. 7. Vgl. dazu Bill Aschcroft/ Gareth Griffin/ Helen Tiffin, The Empire writes back. Theory and practice in post-colonial literatures, London, New York: Routledge 1989. 1.2 Vom Postmodernismus zum Postkolonialismus 97 auf Fragen der kulturellen Differenz, der sozialen Autorität und der politischen Diskriminierung, um ambivalente Momente innerhalb des kalten rationalen Modernitätsdiskurses zu enthüllen. 449 Das postkoloniale Projekt lässt sich keineswegs auf Fragen der Klasse oder der Rasse begrenzen. Es ist vielmehr an der Erforschung weltweit historischer Kontingenzen, sprich Differenzen und Interdependenzen, interessiert, an den „widely scattered historical contingencies“. 450 Die am postkolonialen Diskurs 451 Beteiligten schreiben und denken aus der Perspektive marginalisierter, ausgegrenzter, subalterner Stimmen, Geschichten und Literaturen. Ein Diskurs, der sich daher als eine Ästhetik der Marginalität artikuliert. [I]t is from those who have suffered the sentence of history - subjugation, domination, diaspora, displacement - that we learn our most enduring lessons for living and thinking. There is even a growing conviction that the affective experience of social marginality - as it emerges in non-canonical cultural forms - transforms our critical strategies. It forces us to confront the concept of culture outside objets d´art or beyond the canonization of the ´idea´ of aesthetics, to engage with culture as an uneven, incomplete production of meaning and value, often composed of incommensurable demands and practices, produced in the act of social survival. 452 Die postkoloniale Theorie integriert poststrukturalistische, dekonstruktivistische Paradigmen aus der Perspektive unterdrückter Kulturen. 453 Sie macht Gebrauch von der Dekonstruktion als analytisch-kritischem Umgang mit dem kolonialen Diskurs bzw. mit Texten. Bhabha bringt solche postkoloniale An- 449 Vgl. Homi K. Bhabha, „The postmodern and the postkolonial“, in: ders. The Location of Culture, ebd. S. 171. 450 Ebd. 451 Der Begriff Diskurs wird hier im Foucault’schen Sinne verstanden, und zwar als nicht ausschließlich systematische, zusammenhängend aufgebaute sprachliche Konstruktionen, sondern vielmehr auch als Hinweis auf Rituale und Praktiken, die den menschlichen Alltag politisch gestalten. Texte allermöglicher Arten gehören auch zu diesen Praktiken. Vgl. Michel Foucault, Überwachen und Strafen (Anm. 371), S. 39. 452 Homi K. Bhabha, „The postmodern and the postkolonial“, in: The Location of Culture (Anm. 365), S. 171. Kursiv Geschriebenes ist eine Hervorhebung i.O. Unter Marginalisierten versteht Bhabha in Anlehnung an Fanon „the alienated, those who have to live under the surveillance of a sign of identity and fantasy that denies their difference.“ Homi K. Bhabha, „Remembering Fanon: Self, Psyche and the Colonial Condition“, in: Frantz Fanon, Black skin white masks (Anm. 179), S. xxxv. Simon During betrachtet die Beschäftigung mit dem kulturell Marginalisierten als Hauptgegenstand der Kulturwissenschaften überhaupt: „ Cultural studies has been, as we might expect, most interested in how groups with least power practically develop their own readings of, and uses for, cultural products - in fun, in resistance, or to articulate their own identity.“ Simon During, „Introduction“, in: ders. (Hg.), The Cultural Studies Reader, London, New York: Routledge 1993, S. 1-25, hier S. 7. 453 David Huddart, Homi K. Bhabha, London, New York: Routledge 2006, S. 4. 1. Zum Begriff „Ästhetik der Marginalität“ 98 eignung dekonstruktivistischer Impulse anhand folgender Befragung auf den Punkt: How does the deconstruction of the ´sign´, the emphasis on indeterminism in cultural and political judgement, transform our sense of the ´subject´ of culture and the historical agent of change? If we contest the ´grand narratives´, then what alternative temporalities do we create to articulate the differential (Jameson), contrapuntual (Said), interruptive (Spivak) historicities of race, gender, class, nation within a growing transnational culture? Do we need to rethink the terms in which we conceive of community, citizenship, nationality, and the ethics of social affiliation? 454 Im Mittelpunkt der postkolonialen Theorie steht der Gedanke des gespaltenen oder dezentrierten Subjektes, im Hinblick auf die unendliche Dezentrierung oder Verschiebung von Bedeutung im sprachlichen Zeichen. Es handelt sich um eine radikale Demontage von übergeordneten Konzepten, eine Demontage des Denkens mit billigen binären Oppositionen, einen gegenhegemonialen Diskurs für die Emanzipation von Geschichten und Stimmen von Marginalisierten. Homi Bhabha macht die politischen, diskursiven Möglichkeiten deutlich, die die Dekonstruktion eröffnet. Im gleichen Atemzug aber distanziert er sich von bestimmten begrifflichen Abstraktionen, um konkrete menschliche Alltagsbzw. Grenzsituationen anzusprechen. Die Dekonstruktion sollte sich nicht auf Spekulationen über das Zeichen oder auf die Infragestellung von Meistererzählungen beschränken. 455 Der dekonstruktive Impuls lädt dazu ein, manche überkommenen konzeptuellen Umgänge mit Kategorien wie Rasse, Klasse, Subjekt, Geschlecht, Gemeinschaft, Staatsbürgerschaft usw. zu überdenken. Homi Bhabha schreibt: The postcolonial perspective forces us to rethink the profound limitations of a consensual and collusive ´liberal´ sense of cultural community. It insists that cultural and political identity are constructed through a process of alterity. Questions of race and cultural difference overlay issues of sexuality and gender and overdetermine the social alliances of class and democratic socialism. The time for ´assimilating´ minorities to holistic and organic notions of cultural value has dramatically passed. The very language of cultural community needs to be rethought from a postcolonial perspective […] 456 Der Fragenkomplex des postmodernen Diskurses erfährt bei Bhabha eine kritische Erweiterung: 454 Homi K. Bhabha, The Location of Culture (Anm. 365), S. 174. 455 In der Einführung zu The Location of Culture meint Homi Bhabha, dass der Zerfall von Metaerzählungen kein Selbstzweck sein sollte. Bhabha schreibt: „[I]f the interest in postmodernism is limited to a celebration of the fragmentation of ´the grand narratives´ of postentlightenment rationalism then, for all its intellectual excitement, it remains a profoundly parochial enterprise“. Homi K. Bhabha, „Introduction“, in: ders. ebd. S. 1-18, hier S. 4. 456 Ebd. S. 175. 1.2 Vom Postmodernismus zum Postkolonialismus 99 Current debates in postmodernism question the cunning of modernity - its historical ironies, its disjunctive temporalities, its paradoxes of progress, its representational aporia. It would profoundly change the values and judgements, of such interrogations, if they were open to the argument that metropolitan histories of civitas cannot be conceived without evoking the savage colonial antecedents of the ideals of civility. It also suggests, by implication, that the language of rights and obligations, so central to the modern myth of a people, must be questioned on the basis of the anomalous and discriminatory legal and cultural status assigned to migrant, diasporic, and refugee populations. Inevitably, they find themselves on the frontiers between cultures and nations, often on the other side of the law. 457 Homi Bhabha vertritt die These, dass die Geschichte der europäischen ›Mutterländer‹ undenkbar und unverständlich bleibe, wenn Europas imperiale Begegnung mit der ›Dritten Welt‹ und die Stellung von Migranten und Flüchtlingen in den Metropolen nicht mit berücksichtigt werden. Wenn Bhabha von ›metropolitan histories of civitas‹ spricht, meint er nicht nur ein Phänomen, das geographisch etwa in metropolischen Zentren ›des Nordens‹ und ›des Südens‹ limitiert ist, sondern er weist auch auf ein Arsenal von Machtdispositiven hin, die in ehemaligen Kolonien und Kolonialländern inszeniert wurden. Homi Bhabhas postkoloniale Perspektive erinnert - auf spezifische Weise - daran, dass die Gegenwart das Produkt der Vergangenheit ist. I attempt to represent a certain defeat, or even impossibility, of the ´West´ in its authorisation of the idea of colonization. Driven by the subaltern history of the margins of modernity - rather than by the failures of logozentrism - I have tried, in some small measure, to revise the known, to rename the postmodern from the position of the postcolonial. 458 Analytisch macht sich die postkoloniale Theorie Gedanken über die neue Weltlage. Wie sieht die Welt aus? Warum sieht die Welt so aus? Und dieser Dialog besteht u.a. in einer gemeinsamen re-lecture und ré-écriture der Geschichte unserer Welt. Postkoloniale Theoretiker sind auf die Erarbeitung intellektueller Mittel konzentriert, die die Dekonstruktion sowohl früherer als auch gegenwärtiger kolonialer Konstellationen ermöglichen. Diese Dekonstruktion lässt sich als ein Akt der geistigen Dekolonisierung begreifen. 459 Die Vorsilbe ›post‹ impliziert auch zukünftige Beziehungen zwischen Ländern der ›Dritten‹ und der ›Ersten‹ Welt. Der postkoloniale Diskurs ist darum be- 457 Ebd. 458 Ebd. 459 Vgl. Paul Michael Lützeler, „From Postmodernism to Postcolonialism. On the interrelation of the discourses“ (Anm. 59), S. 1-9, hier S. 4. Vgl. ders. „Einleitung: Der postkoloniale Blick“, in: ders. (Hg.), Der postkoloniale Blick (Anm. 174), S. 7f. Ders. „Einleitung: Postkolonialer Diskurs und deutsche Literatur“, in: ders. (Hg.), Schriftsteller und „Dritte Welt“ (Anm. 194), S. 17, 18, 19f. 1. Zum Begriff „Ästhetik der Marginalität“ 100 müht, eine differenzierte Grundlage für diese Beziehungen zu schaffen. Es wird darüber nachgedacht, was unsere Welt geworden ist und wie bzw. warum sie sich in einer Art und Weise entwickelt hat oder entwickelt. Dieser Diskurs, der sich aus facettenreichen Perspektiven 460 zusammensetzt, zeigt die Kräfte, die diese Entwicklung und Veränderungen herbeigeführt haben. Die postkolonialen Perspektiven halten die imperiale Begegnung für eine entscheidende Bewegung in der Gestaltung der Welt. 461 Die Begegnung mit dem Anderen und die Bemühungen, ihn zu gestalten, tragen auch dazu bei, bewusst oder unbewusst das eigene Bild umzubilden. Die postkolonialen Theoretiker spüren verschobene Formen kolonialer Verhältnisse auf und entlarven die vielfältigen Verkettungen von Wissen und Macht. 462 Unter Wissen ist - in Anlehnung an Michel Foucault - sowohl wissenschaftlich systematisch kodiertes Wissen als auch alltäglich produziertes Wissen zu verstehen. 463 Auf politischer Ebene ist diese Theorie darum bemüht, Kategorien zu erarbeiten, um die Funktionsweise des Kolonialismus oder Orientalismus zu entlarven und dadurch zur geistigen Dekolonisierung kolonialer Subjekte beizutragen. 464 Beim ›Kolonialismus‹ wird - im Anschluss an Edward Saids Begriff des ›Orientalismus‹ - nicht nur auf die historische hegemoniale Ausbreitung europäischer Macht auf den Rest der Welt im 18. und 19. Jahrhundert oder auf eine europäisch geprägte und tradierte akademische Beschäftigung mit dem Orient beziehungsweise mit dem Nichtwestlichen, sondern vor allem auf ein Machtwissen, einen Herrschaftsdiskurs über den Anderen hingewiesen. 465 Dieser Diskurs ist bestrebt, den kulturell Anderen durch teleologische Weltauffassungen, starre Binaritäten - z.B. ›der arbeitsscheue Jude‹, ›der wilde oder edle Neger‹, ›der exotische Orient‹, ›das Mittelalter als Epoche des Obskurantismus‹, ›die sinnliche osteuropäische Frau‹ usw. - zu fixieren, zu essentialisieren. Okzident vs. Orient; Westen vs. Nicht-Westen; der Norden vs. der Süden, Beti vs. Bamiléké, 466 Hutu vs. Tutsi, 467 Westjude vs. 460 Vgl. Maria do Mar Castro Varela/ Nikita Dhawan, Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung (Anm. 312). 461 U.a. vgl. Edward W. Said, Orientalismus, New York: Vintage Books 1978. Vgl. ders. Culture and Imperialism (Anm. 2). Vgl. Homi K. Bhabha, The Location of Culture (Anm. 365). Vgl. Gayatri Chakravorty Spivak, Can the Subaltern Speak? (Anm. 376). Vgl. Bill Ashcroft/ Gareth Griffiths/ Helen Tiffin, The Empire writes back (Anm. 448). 462 Vgl. Telse Hartmann, Kultur und Identität (Anm. 32), S. 4. 463 Vgl. Michel Foucault, Überwachen und Strafen (Anm. 371). 464 Vgl. Paul Michael Lützeler, „From Postmodernism to Postcolonialism. On the interrelation of the discourses“ (Anm. 59), S. 3f. Vgl. ders. „Einleitung: Der postkoloniale Blick“, in: ders. (Hg.), Der postkoloniale Blick (Anm. 174), S.7f. Ders. „Einleitung: Postkolonialer Diskurs und deutsche Literatur“, in: ders. (Hg.), Schriftsteller und „Dritte Welt (Anm. 194). 465 Vgl. Edward W. Said, Orientalismus (Anm. 460), S. 2f. 466 Zwei ethnische und Sprachgruppen unter circa zweihundertundfünfzig anderen, die die ethnische Landschaft Kameruns ausmachen. Die Betis bilden eine sprachliche und 1.2 Vom Postmodernismus zum Postkolonialismus 101 Ostjude 468 - Konzepte ohne ontologische Stabilität. 469 Solche kolonialen, orientalischen Diskurse waren „vor dem neuzeitlichen Kolonialismus“ 470 ethnische Gemeinschaft im Südkamerun, die in drei weitere Untergruppen, nämlich die Ewondo, die Eton und die Fang, unterteilt ist. Sie sind dem afrikaweiten Bantuvolk zugehörig. Die Bezeichnung ›Bamiléké‹ steht für eine sprachliche und ethnische Gemeinschaft im Westkamerun, die sich ebenfalls aus zahlreichen Untergruppen zusammensetzt und ebenfalls den Bantusprachen zugehörig ist. Diese ethnischen Gemeinschaften werden durch unterschiedliche ethnisierende Axiome Überlegenheit, Unterlegenheit, Tüchtigkeit, Faulheit, Listigkeit zueinander in Beziehung gebracht. Aus solchen axiomatischen Beziehungen ergibt sich, um wie Herbert Uerlings zu sprechen, „die charakteristische binäre Opposition zwischen ‘Kolonisatoren’ und ‘Kolonisierten’“. Herbert Uerlings, „Kolonialer Diskurs und deutsche Literatur“, in: Axel Dunker (Hg.), (Post-)Kolonialismus und Deustsche Literatur (Anm. 183), S. 17- 44, hier S. 18. Alexis Ngatcha wirft einen kritischen Blick auf die Instrumentalisierung der Ethnie im postkolonialen Kamerun. Er schreibt: „Wer also die politische Praxis im postkolonialen Kamerun verfolgt, muss zur Einsicht kommen, dass die Instrumentalisierung der Ethnizität durch die jeweiligen Machthaber ein nie dagewesenes Ausmaß angenommen hat. Wie in der Kolonialzeit wird die ethnische Vielfalt als Motiv missbraucht, um politischem Pluralismus den Rücken zu kehren unter dem Vorwand, sie würde den Prozess des ‘Nationbuilding’ gefährden. Was eigentlich dahinter steckt, ist lediglich der Versuch, die eigene politische Macht und die diktatorische Praxis vor dem Hintergrund der ethnischen Zugehörigkeit zu legitimieren. Es geht dabei um die Umsetzung des kolonialen Prinzips ‘divide et impera’.“ Alexis Ngatcha, Der Deutschunterricht in Kamerun als Erbe des Kolonialismus und seine Funktion in der postkolonialen Ära, Frankfurt/ Main: Peter Lang u.a. 2002. S. 81. 467 Zwei ethnische und Sprachgruppen in Ruanda, die seit vorkolonialer Zeit einander Hegemoniekämpfe austragen. Die Tutsis (hauptsächlich Viehzüchter) bildeten sich zur herrschenden Schicht heraus, wobei die Hutu (vorwiegend Ackerbauern) als Beherrschte und Diener der Tutsi-Herrschaften konstruiert wurden. Die europäischen Kolonialmächte, die zwischen 1988 und 1962 in Ruanda regierten, nutzten diesen Konflikt - nach dem Motto divide et impera - zur Durchsetzung eigener Herrschaftszwecke aus. Diese innerruandische Differenz überdauerte die postkoloniale Zeit und gipfelte im Jahre 1994 in einem nie da gewesenen Völkermord. Näheres zum ruandischen Genozid u.a. Vgl. Alison Des Forges, Kein Zeuge darf überleben, aus dem Amerikanischen von Jürgen Bauer, 3. Auflage, Hamburg: Hamburger Edition 2008. Vgl. Roméo Dallaire, Shake hands with the devil: The failure of humanity in Rwanda, Roméo Dallaire with Brent Beardsley, New York: Caroll and Graf Paperback Edition 2005. Vgl. Philipp Clark/ Zachary D. Kaufman (Hg.), transitional justice, post-conflict reconstruction and reconciliation in Rwanda and beyond, London: Hurst 2008. Vgl. Jean Hatzfeld, Die Zeit der Macheten. Gespräche mit den Tätern des Völkermordes in Ruanda, aus dem Französischen von Karl-Udo Bigott, mit einem Nachwort von Hans- Jürgen Wirth, Gießen: Haland und Wirth im Psychosozial-Verlag 2010. 468 Eine ethnische Bipolarisierung, die die Sozial- und Kulturgeschichte Europas geprägt hat und die in Joseph Roths essayistischen Texten und Romanen problematisiert und unterminiert wird. 469 Vgl. Edward W. Said, Orientalism (Anm. 460). „We are still the inheritors of that style by which one is defined by the nation, which in turn derives its authority from a supposedly unbroken tradition.“ Ders. Culture and Imperialism (Anm. 2), S. xxv. 1. Zum Begriff „Ästhetik der Marginalität“ 102 bereits vorhanden und bestehen heutzutage in verschobenen Formen über Generationen hinaus fort. 471 Die Bedeutungsverschiebung, die der Begriff Kolonialismus aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive erfahren hat, wird von Herbert Uerlings besonders hervorgehoben: Unser Verständnis des Kolonialismus und seiner Bedeutung hat sich in den letzten Jahrzehnten grundlegend verändert. Diente der Begriff früher zur Bezeichnung einer Politik, die auf den Erwerb meist überseeischer Territorien und deren Ausbeutung ausgerichtet war, und bezeichnete ein Ereignis, das so gut wie ausschließlich ‚dort‘ stattfand und im wesentlichen von ökonomischer Bedeutung war, so ergibt sich aus postkolonialer Perspektive ein ganz anderes Bild. Der Kolonialismus läßt sich aus heutiger kulturwissenschaftlicher Sicht (1) als Ereignis von globaler Bedeutung, (2) als Teil der seit der frühen Neuzeit entstehenden Moderne und (3) als ein Syndrom von Machtverhältnissen und damit verbundenen Repräsentationsformen verstehen, das die Kolonisierenden ebenso nachhaltig geprägt hat wie die Kolonisierten, wenn auch natürlich auf andere Weise. 472 In der postkolonialen Perspektive erfährt die Grenzfigur des Exils oder des Exilierten eine spezifische theoretische wie literarische Aufwertung. Aufgrund der Tatsache, dass sich der Exilierte zwischen zwei oder mehreren Kulturen befindet, ist - so Edward Said - er in der Lage, anders zu sehen. Er bezeichnet Culture and Imperialism als „an exile´s book“ 473 . Und auf sich selbst bezogen, meint er: „belonging […] to both sides of the imperial divide enables you to understand them more easily.“ 474 Telse Hartmann bemängelt indes die allzu universalisierende und gleichzeitig reduktionistische Dimension von Saids positiv aufgeladener Figur des Exilierten. Denn bei Said scheine vor allem ausschließlich die intellektuelle Migrantenelite durch diese Figur angesprochen zu sein. Zu kurz kommt jene Masse von Vertriebenen, die nicht in der Lage seien, den Verlust von Heimat und Zugehörigkeit produktiv in gelehrten Protest umzusetzen. 475 Nur die produktive Umsetzung der verloren gemeinten Heimat und Zugehörigkeit hat nicht unbedingt ausschließlich auf der Ebene der Literatur oder der Theorie zu geschehen. Die kritische Energie der Figur des Exilierten oder Migranten zeigt sich in der Art und Weise, wie sie die Gesellschaften in den Empfangsländern alltäglich auf privater Ebene gestalten sowie in der ›Kunst‹, die sie alltäglich an den Tag legen, um neue 470 Herbert Uerlings, „Kolonialer Diskurs und deutsche Literatur“, in: Axel Dunker (Hg.), (Post-)Kolonialismus und Deutsche Literatur (Anm. 184), S. 20. 471 Vgl. ebd. In Subalternität und postkoloniale Artikulation gewährt Gayatri Spivak u.a. Einsicht in die verschobenen Formen postkolonialer Praktiken. Vgl. Gayatri Spivak, Can the Subaltern speak? (Anm. 376). 472 Herbert Uerlings, „Kolonialer Diskurs und deutsche Literatur“, in: Axel Dunker (Hg.), (Post-)Kolonialismus und Deutsche Literatur (Anm. 183), S. 17. 473 Edward Said, Culture and Imperialism (Anm. 2), S. xxvi. 474 Ebd. S. xxvii. 475 Vgl. Telse Hartmann, Kultur und Identität (Anm. 32), S. 11. 1.2 Vom Postmodernismus zum Postkolonialismus 103 Existenzen aufzubauen. Die Phänomenologie des exilierten Alltags muss auch in Betracht gezogen werden, wenn von positiven Energien der Grenzfigur des Exilierten die Rede ist. In Saids Darstellung der Figur des Exilierten, wie diese in Reflections on exile artikuliert wird, wird die exilierte Nicht-Elite mit einbezogen. You must think of the refugee-peasants with no prospect of ever returning home, armed only with a ration card and an agency number. Paris may be a capital famous for cosmopolitan exiles, but it is also a city where unknown men and women have spent years of miserable loneliness: Vietnamese, Algerians, Cambodians, Lebanese, Senegalese, Peruvians. You must think also of Cairo, Beirut, Madagascar, Bangkok, Mexico City. As you move further from the Atlantic world, the awful forlorn waste increases: the hopelessly large numbers, the compounded misery of ‘undocumented’ people suddently lost, without a tellable history. 476 Hier wird ein einseitiges Bild der Figur des Migranten entworfen, das Bild eines Subjekts, das aus der geographisch unspezifischen, pauschal als ›arm‹ ausgegebenen ›Dritten Welt‹ in die angeblich paradiesische ›Erste Welt‹ auswandert. Bei Said entpuppt sich der koloniale Diskurs als einseitiger Monolog des Kolonialherrn. 477 476 Edward W. Said, „Reflections on exile“, in: ders. (Hg.), Reflections on exile and other Essays, Cambridge, Massachusett: Harvard University Press 2000, S. 173-186, hier S. 175f. Anzumerken sei auch die von Said unternommene Differenzierung zwischen dem Begriff Exil und anderen sinnverwandten Begriffen: „Although it is true that anyone prevented from returning home is an exile, some distinctions can be made among exiles, refugees, expatriates, and émigrés. Exile originated in the age-old practice of banishment. Once banished, the exile lives an anomalous and miserable life, with the stigma of being an outsider. Refugees, on the other hand, are a creation of the twentieth-century state. The word `refugee´ has become a political one, suggesting large herds of innocent and bewildered people requiring urgent international assistance, whereas `exile´ carries with it, I think, a touch of solitude and spirituality. Expatriates voluntarily live in an alien country, unusually for personal or social reasons. Hemingway and Fitzgerald were not forced to live in France. Expatriates may share in the solitude and estrangement of exile, but they do not suffer under its rigid proscriptions. Émigrés enjoy an ambiguous status. Technically, an émigré is anyones who emigrate to a new country. Choice in the matter is certainly a possibility. Colonial officials, missionaries, technical experts, mercenaries, and military advisers on loan may in a sense live in exile, but they have not been banished. White settlers in Africa, parts of Asia and Australia may once have been exiles, but as pioneers and nationbuilders, they lost the label ‘exile’.“ Ebd. S. 181. Was auffällt, ist, wie Said aus der Figur des Exilierten eine Art Schutzmarke macht. 477 Dennoch ist sich Said dieser Einseitigkeit bewusst. Denn er schreibt: „What I left out of Orientalism was that response to Western dominance which culminated in the great movment of decolonisation.“ Edward W. Said, Culture and Imperialism (Anm. 2), S. xii. Said nimmt sich in Culture and Imperialism unter anderen vor, diese Lücke auszufüllen: „ […] to ignore or otherwise discount the overlapping experience of Westerners and Orientals, the interdependence of cultural terrains in which colonizer 1. Zum Begriff „Ästhetik der Marginalität“ 104 Saids Orientalismus hat eine Bekräftigung und Korrektur durch Bhabhas postkoloniales Denken erfahren. It is, on the one hand, a topic of learning, discovery, practice; on the other, it is the site of dreams, images, fantasies, myths, obsessions and requirements. It is a static system of ´synchronic essentialism´, a knowledge of ´signifiers of stability´ such as the lexicographic and the encyclopaedic. 478 Der orientalistische Diskurs entpuppt sich als Macht-Wissen-Komplex - im Sinne Foucaults. Was für den Orientalismus gilt, gilt auch für den kolonialen Diskurs bzw. für den Diskurs über den/ das Andere umso mehr, als Orientalismus sowie Kolonialismus Diskurse über den/ das Andere(n) und das Selbst sind. Die Polarität bzw. die Spaltung des Orientalimus spiegelt sich indirekt in Saids Unterscheidung von latentem und manifestem Orientalismus. Unter latentem Orientalismus versteht Bhabha die unbewusste Dimension des orientalischen bzw. kolonialen Diskurses, die eine Bedrohung für den manifesten Orientalismus, den historischen diskursiven Orientalismus, umso mehr darstellt, als er durch Mechanismen der Traumarbeit - Verschiebung und Verdichtung - diesen Diskurs von innen her untergräbt. 479 Im Gegensatz zu Said, der die koloniale Situation als einen einseitigen Monolog des Kolonialherrn darstellt, betont Homi Bhabha vielmehr die Dialogizität der kolonialen Situation. Homi Bhabha sieht das Problem in der Art und Weise begründet, wie Said sich Foucaults Macht- und Diskurskonzept aneignet. Er gibt zu erkennen und zu verstehen, dass Said den relationalen bzw. dialogischen Aspekt von Foucaults Macht- und Diskurstheorie herunterspielt: The productivity of Foucault´s concept of power/ knowledge lies in its refusal of an epistemology which opposes essence/ appearance, ideology/ science. ´Pouvoir/ Savoir´ places subjects in a relation of power and recognition that is not part of a symmetrical or dialectical relation - self/ other, master/ slave - which can then be subverted by being inverted. Subjects are always disproportionately placed in opposition or domination through the symbolic decentring of multiple power relations which play the role of support as well as target or adversary. It becomes difficult, then, to conceive of the historical enunciations of colonial discourse without them being either functionally overdetermined or strategically elaborated or displaced by the unconscious scene of latent Orientalism: Equally, it is difficult to conceive of the process of subjectification as a placing within Orientalist or colonial discourse for the dominated subject without the dominant being strategically placed within it too. The terms in which Said´s Orientalism is unified - the intenand colonized co-existed and battled each other through projections as well as rival geographies, narratives, and histories, is to miss what is essential about the world in the past century.“ Ebd. S. xx. 478 Homi K. Bhabha, The Location of Culture (Anm. 365), S. 71. 479 Vgl. ebd. S. 71f. 1.2 Vom Postmodernismus zum Postkolonialismus 105 tionality and unidirectionality of colonial power - also unify the subject of colonial enunciation. 480 Homi Bhabha hebt, in Anlehnung an die Psychoanalyse, den unbewussten Pol 481 des kolonialen Diskurses als eines ambivalenten Feldes vielfältiger Kräfte hervor, die die koloniale Situation in einen dialogischen, hybriden Raum verwandeln und die Gewissheiten des kolonialen Diskurses gleichzeitig als Ungewissheiten hinstellen. Bhabhas Lesart der kolonialen Situation und des kolonialen Diskurses ist - wie gesagt - dialogisch angelegt. Auf Edward Saids und Frantz Fanons politisches Programm der geistigen Dekolonisierung Bezug nehmend, betont er die Hybridität und Ambivalenz der kolonialen Situation: „[T]he jagged testimony of colonial dislocation, its displacement of time and person, its defilment of culture and territory; [Fanon] refuses the ambition of any ›total‹ theory of colonial oppression.” 482 Bhabha veranschaulicht diese Ambivalenz am Beispiel des Mimikry-Verhältnisses zwischen den Kolonisierten und den Kolonisierenden: 483 Begehren und Verachtung; Ein- und Ausschließung; Vorbild und Zerrbild. Bhabhas Kategorie der Hybridität lenkt die Aufmerksamkeit vorwiegend auf die Ambivalenz, auf die Differenz und Interdependenz „zwischen Angehörigen der Kolonialmacht und Kolonisierten, deren Identitäten in der wechselseitigen Interaktion von Bhabha räumlich [und zeitlich] als ‘Third space […]’gefasst“ 484 wird. Es geht ihm um die Konzeptualisierung von Widerstand auf symbolischer Ebene, um die Konzeptualisierung subalterner Handlungsmacht und -fähigkeit, die „disruptive Kraft des ausgeschlossen-eingeschlossenen Dritten“ 485 und um die Subversion der Metaphysik von Identität. 486 - Colonial mimicry, colonial agency, hybridity and third space. Mit diesen Denkfiguren werden Formen postkolonialer subalterner Handlungsmächtigkeiten artikuliert: „[T]his liminal moment of identification 480 Ebd. S. 72. Kursiv Geschriebenes ist eine Hervorhebung im Originaltext. Fettgedrucktes ist eine Hervorhebung v. mir. 481 „[T]hose terrifying stereotypes of savagery, cannibalism, lust and anarchy which are the signal points of identification and alienation, scenes of fear and desire, in colonial texts.“ Ebd. 482 Homi K. Bhabha, „Remembering Fanon: Self, Psyche and the Colonial Condition“, in: Frantz Fanon, Black skin white masks (Anm. 179), S. xxxiv. 483 Vgl. Homi Bhabha, „Of mimicry and man. The ambivalence of colonial discourse“, in: ders. The Location of Culture (Anm. 365), S. 85-92. 484 Telse Hartmann, Kultur und Identität (Anm. 32), S. 9. Hinzufügung v. mir. 485 Ebd. S. 8. 486 In Anlehnung an Frantz Fanon betont Homi Bhabha die Handlungsfäghigkeit des Kolonisierten, die eben der Tatsache entspringen könnte, dass er in der kolonialen Ordnung der Dinge durch diese Ordnung schwer zu verorten, einzuordnen ist. „In occupying two places at once - or three in Fanon´s case - the depersonalized, dislocated colonial subject can become an incalculable object, quite literally, difficult to place“. Homi K. Bhabha, „Remembering Fanon: Self, Psyche and the Colonial Condition“, in: Frantz Fanon, Black skin, white masks (Anm. 179), S. xxxiv. 1. Zum Begriff „Ästhetik der Marginalität“ 106 - eluding resemblance - produces a subversive strategy of subaltern agency that negotiates its own authority through a process of iterative ´unpicking´ and incommensurable, insurgent relinking.“ 487 Homi Bhabhas Denkfigur der kolonialen Handlungsmacht bzw. des bewussten oder unbewussten Widerstands gegen die epistemische Gewalt kolonialer Signifikanten kann - im Gegensatz zu Udo Wolters Meinung - keineswegs auf „Fanons revolutionäre Befreiungsemphase des ‘totalen Menschen’“ 488 reduziert und limitiert werden. 489 Bhabha macht vielmehr auf den symbolischen Widerstand aufmerksam, ohne diesen jedoch zu überschätzen. 490 Joseph Roth leistet durch seine Texte einen symbolischen Widerstand gegen die nationalsozialistische totalitäre Signifikantenpraxis 491 - ein Widerstand, den zahlreiche Zeitgenossen Roths auch auf ihre Fahnen geschrieben hatten und entweder bestenfalls mit der Flucht ins Exil, mit Ausbürgerungen oder schlimmstensfalls mit dem Tod bezahlen mussten. 492 Bhabhas Konzeptualisierung postkolonialer subalterner Handlungsmacht ist nicht mit einem einfachen rebellischen Bewusstsein oder mit Rebellentum gleichzusetzen. Er würdigt die Verdienste von Rajanit Guha, der im Rahmen seiner ›Subaltern Study 487 Homi K. Bhabha, „The postcolonial and the the postmodern“, in: ders. The Location of Culture (Anm. 365), S. 185. 488 Udo Wolters, Das obskure Subjekt der Begierde. Frantz Fanon und die Fallstricke des Subjekts der Befreiung, 1. Auflage, Münster: Unrast-Verlag 2001, S. 200. 489 „The agency studied by Bhabha is not the same as this revolutionary agency“. David Huddart, Homi K. Bhabha (Anm. 453), S. 2. 490 Vgl. Homi K. Bhabha, „Remembering Fanon: Self, Psyche and the Colonial Condition“, in: Frantz Fanon, Black skin, white masks (Anm. 179). 491 Hingewiesen wird auf jene deutschen und deutschsprachigen AutorInnen, deren Werke am 10 Mai 1933 mit Adolf Hitlers Machtübernahme zum Opfer der nationalsozialistischen Bücherverbrennung fielen. Näheres zu diesem historischen Ereignis vgl. Werner Treß, „Wider den undeutschen Geist“. Bücherverbrennung 1933, Berlin: Parthas Verlag 2003. Vgl. Joseph Wulf, Literatur und Dichtung im Dritten Reich, eine Dokumentation, Gütersloh: Sigbert Mohn Verlag 1963. Vgl. dazu Nils Schiffhauer/ Carola Schelle (Hg.), Stichtag der Barbarei - Anmerkungen zur Bücherverbrennung 1933, Hannover: Postskriptum Verlag 1983. Vgl. Gerhard Sauder, Die Bücherverbrennung. Zum 10. Mai 1933, München, Wien: Carl Hanser Verlag 1983. 492 Genannt werden u.a. Autoren wie Alfred Döblin, Alfred Wolfenstein, Arnold Zweig, Franz Werfel, Carl Zuckmayer, Heinrich Mann, Arthur Schnitzler, Klaus Mann, Stefan Zweig, Elias Canetti, Alfred Polgar, Réné Schickele, Ernst Toller, Else Lasker- Schüler, Robert Musil, Hermann Kesten, Ernst Fischer, Franz Theodor Csokor, Bertolt Brecht, Lion Feuchtwanger, Alfred Kantorowicz, Egon Erwin Kisch, Ödön von Horváth, Friedrich Wolf, Hans Sahl, Theodor Balk, Kurt Tucholsky usw. Näheres dazu vgl. Michael Winkler (Hg.), Deutsche Literatur im Exil 1933-1945. Texte und Dokumente, Stuttgart: Phillip Reclam 1977. Vgl. Henri R. Paucker (Hg.), Neue Sachlichkeit. Literatur im ›Dritten Reich‹ und im Exil (Anm. 62). 1.2 Vom Postmodernismus zum Postkolonialismus 107 Group‹ rebellisches Bewusstsein positiv bewertet. 493 Bhabha deckt die Aporien des rebellischen Bewusstseins auf: Rebel conciousness is inscribed in two major narratives. In bourgeoisnationalist historiography, it is seen as ´pure spontaneity pitted against the will of the State as embodied in the Raj´. The will of the rebels is either denied or subsumed in the individualized capacity of their leaders, who frequently belong to the elite gentry. 494 Bhabhas subalterne Handlungsmacht spiegelt sich vielmehr im katachretischen Raum des chaotischen Alltags, im Raum der Kontingenz, der Kontiguität, der Dialogizität. 495 Die polysemische und polyphonische Struktur rhetorischer Akte eröffnet dem subalternen Subjekt einen Handlungsraum, einen Spielraum. Bhabha bezieht sich auf Michail Bachtins Kategorie der Dialogizität menschlicher Sprachakte: [T]he utterance appears to be furrowed with distant and barely audible echoes of changes of speech subjects and dialogic overtones, greatly weakened utterance boundaries that are completely permeable to the author´s expression. The utterance proves to be a very complex and multiplanar phenomenon if considered not in isolation and with respect to its author … but as a link in the chain of speech communication and with respect to other related utterances. … 496 Jede sprachliche Äußerung steht in einem dialogischen Verhältnis zu anderen Äußerungen. Sie wiederholt, verändert, verunstaltet diese Äußerungen und wird selbst im unendlichen Prozess der Wiederholung verändert. Niemand kann Anspruch auf Herrschaft über seine Äußerungen erheben. Das Subjekt ist in dem sozialen Text eingebettet. Der soziale Text wird zum dialogischen Raum, zum ambivalenten Raum. Und es ist diese Ambivalenz, die dem Subjekt Handlungsmöglichkeiten, Spielräume eröffnet. Homi Bhabha merkt an: „It is this public sphere of language and action that must become at once the theatre and the screen for the manifestation of the capacities of human agency.“ 497 In dieselbe Richtung argumentierend fährt Bhabha an einer anderen Stelle, wie folgt, fort: [T]here is a contestation of the given symbols of authority that shift the terrains of antagonism. The synchronicity in the social ordering of symbols is challenged within its own terms, but the grounds of engagement have been displaced in a supplementary movement that exceeds those terms. This is the historical movement of hybridity as camouflage, as a contesting, antagonistic 493 Vgl. Homi Bhabha, The Location of Culture (Anm. 365), S. 186. 494 Ebd. S. 186f. 495 Vgl. ebd. 496 Michail M. Bachtin, Speech genres and other late Essays, zitiert nach Homi K. Bhabha, Ebd. S. 189. 497 Ebd. S. 189. 1. Zum Begriff „Ästhetik der Marginalität“ 108 agency functioning in the time lag of sign/ symbol, which is a space inbetween the rules of engagement. 498 Der Ausgangspunkt von Bhabhas dialogischer Lesart des kolonialen Diskurses ist die Grundannahme, dass sich Kulturen, Texte, Menschen, wie (sprachliche) Zeichen in einer dialogischen Bewegung befinden. Durch diesen Perspektivenwechsel erscheint die koloniale Konstellation nicht mehr ausschließlich als diktatorischer Monolog des Kolonialherrn. 499 Trotz aller Divergenzen stellen Postmodernismus und Postkolonialismus ineinander verwobene und somit einander befruchtende Diskurse dar. 500 Dem Literaturwissenschaftler Paul Michael Lützeler zufolge hat das postmoderne Denken sowohl den postkolonialen, feministischen als auch den multikulturalistischen Diskurs beeinflusst. „Postmodernism created a climate in which these discourses were able to unfold.“ 501 Umgekehrt tragen diese Diskurse zur Bereicherung postmodernen Denkens bei. „Feminism, multiculturalism, and postcolonialism, in return, aided in the understanding of postmodernity 498 Ebd. S. 193. Durch diese Aussage verschafft Bhabha gleichzeitig Einsicht in seine Kategorie der Hybridität bzw. der subalternen Handlungsfähigkeit. Und die Texte afrikanischer Schriftsteller stellen eine der unterschiedlichen Orte dar, die die subalterne Handlungsfähigkeit in der Begegnung zwischen den Signifikanten des Kolonisierenden und des Kolonisierten veranschaulichen. Nähere Aufschlüsse dazu siehe im Unterteil „3.6 The Other or Native response; die Texte afrikanischer Schriftsteller als postkoloniale Literatur bzw. als Gegengeschichtsschreibung“ in Teil 3 dieser Untersuchung. 499 „In 1914, almost 85% of the world´s land surface was under the control of a small group of mainly European colonial powers. Yet the consequence of this control was not simple domination. We should not see the colonial situation as one of straightforward oppression of the colonized by the colonizer. Alongside violence and domination, we might also see the last five hundred years as a period of complex and varied cultural contact and interaction.“ David Huddart, Homi K. Bhabha (Anm. 453), S. 2. 500 Vgl. Paul Michael Lützeler, „From Postmodernism to Postcolonialism. On the interrelation of the discourses“ (Anm. 59), Vgl. ders. „Einleitung: Der postkoloniale Blick“, in: ders. (Hg.), Der postkoloniale Blick (Anm. 174), S. 7ff. Vgl. ders. „Einleitung: Postkolonialer Diskurs und deutsche Literatur“, in: ders. (Hg.), Schriftsteller und „Dritte Welt“ (Anm. 194), S. 11-30. Vgl. Alfonso de Toro, „Jenseits von Postmoderne und Postkolonialität. Materialien zu einem Modell der Hybridität und des Körpers als transrelationalem, transversalem und transmedialem Wissenschaftskonzept“, in: Christof Hamann/ Cornelia Sieber et al. (Hg.), Räume der Hybridität. Postkoloniale Konzepte in Theorie und Literatur, Hildesheim, Zürich, New York: Georg Olms Verlag 2002, S. 15-52. Wolfgang Welsch fasst den postmodernen Diskurs als kein auf einen spezifischen Sprachraum beschränktes Phänomen auf. Vgl. Wolfgang Welsch, Unsere postmoderne Moderne (Anm. 199), S. 3ff. 501 Paul Michael Lützeler, „From Postmodernism to Postcolonialism“ (Anm. 59), S. 3. Vgl. ders. „Einleitung: Postkolonialer Diskurs und deutsche Literatur“, in: ders. (Hg.), Schriftsteller und „Dritte Welt“ (Anm. 194), S. 12. 1. 3 Postkolonialität: kein einseitiges Phänomen … 109 […]“ 502 Genauso wie sich der postmoderne Diskurs nicht auf europäischamerikanische Verhältnisse beschränken lässt, 503 kann man den postkolonialen Diskurs keinesfalls auf die Verhältnisse ehemaliger Kolonien eingrenzen. „Sein Ausgriff ist weiter und sein Atem länger.“ 504 Die Tragweite dieses Diskurses erreicht den Kern ehemaliger sowie gegenwärtiger Mutter- und Vaterländer. 1. 3 Post kol onialität: ke in ei nseitiges Phä no men … 1.3 Postkolonialität: kein einseitiges Phänomen, keine einfache zeiträumliche Angabe Udo Wolter will in der postkolonialen Theorie einen einseitigen Diskurs gegen ehemalige Kolonialländer, gegen europäische metropolische Zentren sehen. 505 So einseitig, wie Wolter behauptet, ist diese Theorie jedoch nicht. Homi Bhabha könnte zur Bekräftigung herangezogen werden: […] [P]ostcolonial critique bears witness to those countries and communities - in the North and the South, urban and rural - constituted, if I may coin a phrase, ´otherwise than modernity´. Such cultures of a postcolonial contramodernity may be contingent to modernity, discontinuous or in contention with it, resistant to its oppressive, assimilationist technologies; but they also deploy the cultural hybridity of their borderline conditions to ´translate´, and therefore reinscribe, the social imaginary of both metropolis and modernity. 506 Es handelt sich bei dieser Theorie um eine Analyse der Machtverhältnisse zwischen ehemaligen Kolonialländern und Kolonien wie um eine kritische Auseinandersetzung mit diesen Machtverhältnissen innerhalb ›unabhängig‹ gewordener Kolonien (sowie innerhalb ehemaliger Mutterländer/ Metropolen). Der postkolonialen Theorie geht es nicht vorwiegend um die Suche nach einer kausalen bzw. exogenen Erklärung der Zustände und Umstände in ›Dritte Welt‹-Ländern. Die Aufmerksamkeit wird ebenfalls auf bedenkliche Gouvernmentalitäten bzw. Herrschaftsformen, auf dubiose Technologien und Techniken der Subjektivierung, die innerhalb dieser Länder und menschlicher Gemeinschaften vorherrschen, gelenkt: strukturelle Gewalt, asymmetrische Machtverhältnisse, ungerechte Verteilung von Reichtümern und Ressourcen, ungleiche Bildungschancen, Perspektivlosigkeit usw. In Frantz Fanons „Mésaventures de la conscience nationale“ (Missgeschick 502 Ders. „From Postmodernism to Postcolonialism“, ebd. S. 3. Vgl. ders. „Einleitung: Postkolonialer Diskurs und deutsche Literatur“, in: ders. (Hg.), Schriftsteller und „Dritte Welt“, ebd. S. 12. Diese Diskurse haben aber ihre eigene Geschichte sowie eigene spezifische Wurzeln und Ziele. Näheres dazu ist ebd zu erhalten. 503 Wolfgang Welsch, Unsere postmoderne Moderne (Anm. 199), S. 3f. 504 Ebd. S. 4. 505 Vgl. Udo Wolter, Das obskure Subjekt der Begierde (Anm. 488). 506 Homi K. Bhabha, „Introduction. Locations of culture“, in: ders. The Location of Culture (Anm. 365), S. 6. Kursiv Geschriebenes ist eine Hervorhebung i.O. 1. Zum Begriff „Ästhetik der Marginalität“ 110 des nationalen Bewusstseins) betiteltem Kapitel aus Les damnées de la terre (Die Verdammten dieser Erde) entlarvt er die bedenklichen Seiten postkolonialer Nationalismen und macht u.a. auf die Unabgeschlossenheit des Dekolonisierungsprozesses 507 aufmerksam. Die politischen Parteien, die kolonisierte intellektuelle Elite und die Kompradorenbourgeoisie verkörpern - laut Fanon - jene politischen Kräfte, die sich während der Kolonial- und Postkolonialzeit 508 vornahmen, die Gewalt der wütenden Masse ›anders‹ zu kanalisieren. 509 Manche nationalistischen Parteien interessierten sich aber hauptsächlich für die Stimmen der Wähler. Ihnen ging es vorwiegend darum, am ›nationalen Kuchen‹ mitzunaschen. Fanon gibt zu verstehen, dass diese postkolonialen Politiker als Substitute und Stellvertreter des einstigen Kolonialherrn fungieren. Er unterstreicht, dass diese postkoloniale Elite und die untersten Gesellschaftsschichten (Bauern und städtisches Lumpenproletariat) keineswegs ›dieselbe Sprache‹ sprechen. 510 Fanon rechnet nicht nur mit dem Kolonialherrn, sondern vor allem auch mit den postkolonialen Machthabern der Dritten Welt ab. 511 Im Kreuzfeuer von Fanons Dekolonisierung des Geistes steht sowohl das imperialistische als auch das nationalistische Unternehmen. Die postkoloniale Theorie hat die Dekolonisierung des Menschen auf allen Ebenen des kulturellen und politischen Lebens auf ihre Fahnen geschrieben. Sie schließt eine Auseinandersetzung mit westlichen sowie nichtwestlichen Texten unter Berücksichtigung der Begegnung des Selbst mit dem Anderen ein, wobei das Andere, wie es sich bei Derrida herausgestellt hat, entweder für das oder den Andere(n) im Selbst, für das oder den kulturell Andere(n), für das Unbewusste, die Sprache oder für ein gesellschaftliches Machtdisposi- 507 Vgl. Frantz Fanon, „Mésaventures de la conscience nationale“, in: ders. Les damnées de la terre (Anm. 177), S. 95-139. Der Geschichts- und Politikwissenschaftler Achille Mbembe rückt auch die problematischen Seiten sogenannter afrikanischer Nationalismen des 20. Jahrhunderts - „les nationalismes africains du xx e siecle“ - in den Mittelpunkt seines postkolonialen Denkens. Er ortet eine Wesensnähe zwischen den Nationalismen der Dritten Welt und den westlichen Imperialismen. Achille Mbembé, La naissance du maquis dans le Sud-Cameroun (1920-1960). Histoire des usages de la raison en colonie. Paris: Éditions Karthala 1996, S. 27. 508 Die postkoloniale Konstellation von Dritte-Welt-Ländern zeichnet sich „erstens durch die Auseinandersetzung mit der Erblast des ehemaligen Kolonialregimes, zweitens durch die Konfrontation mit neuen parakolonialen Abhängigkeiten von industrialisierten Ländern und drittens durch die Thematisierung von Konflikten und Problemen, die mit den kulturellen Traditionen und Modernisierungsbestrebungen dieser Länder zu tun haben aus.“ Paul Michael Lützeler, „Einleitung: Der postkoloniale Blick“, in: ders. (Hg.), Der postkoloniale Blick (Anm. 174), S. 7. 509 Vgl. Frantz Fanon, Les damnées de la terre (Anm. 177), S. 24. 510 Vgl. ebd. S. 42f. Fanons Abrechnung mit der opportunistischen Haltung afrikanischer postkolonialer Elite oder Staatsmänner entfaltet sich ebd auf der Seite 42f und im ganzen Buch. 511 Vgl. ebd. besonders in den Kapiteln 1, 2, 3 und 4. 1. 3 Postkolonialität: kein einseitiges Phänomen … 111 tiv steht. Es sei en passant erwähnt, dass Joseph Roths Texte sich zu einer postkolonialen Lektüre besonders deswegen eignen, weil sie Figuren schildern, die Erfahrungen der Spaltung des Selbst durchmachen und mit Machtdispositiven konfrontiert sind. Im Gegensatz zu dem, was gängige Kritiken behaupten, 512 geht es im postkolonialen Diskurs auf keinen Fall um eine billige Umpolung des kolonialen Diskurses. „Der postkoloniale Diskurs“ - so P.M. Lützeler - zielt ab auf nationale und kontinentale Selbstbestimmung in den Regionen der Dritten Welt; er steht in Opposition zu einseitigen Abhängigkeiten von den Industrienationen, wie sie im Nord-Süd-Gefälle deutlich werden; er sucht die erreichte Entkolonisierung zu sichern und neokolonialistische Tendenzen zu verhindern; er will der Dritten Welt im Kontext globaler Entwicklungen zur Achtung und Gehör verhelfen. Der postkoloniale Diskurs trägt dazu bei, eine eigene kulturelle Identität entweder zu behaupten bzw. zu ihr zurückzufinden oder sie neu zu konstruieren. 513 Dass der postkoloniale Diskurs den antikolonialen Diskurs früherer Jahrzehnte fortsetzt, ist einleuchtend. 514 Dies ist eine ziemlich plausible Antwort auf die von Maria Do Mar Castro Varela und Nikita Dhawan gestellte Frage: „Was ist wirklich neu an postkolonialer Theorie? “ 515 Im Gegensatz zu dem, was diese Frage suggeriert, versteht sich die postkoloniale Theorie keineswegs als das Alpha und Omega des antikolonialen Diskurses. Sie knüpft eher an die Ideen von Denkern wie Mahatma Ghandi, Frantz Fanon oder Amilcar Cabral an. Dennoch bringt Homi Bhabha den Unterschied zwischen postkolonialen Perspektiven und anderen ›Dritte Welt‹- Perspektiven, wie folgt, auf den Punkt: The postcolonial perspective - as it is being developed by cultural historians and literary theorists - departs from the traditions of the sociology of underdevelopment or ´dependency´ theory. As a mode of analysis, it attempts to revise those nationalist or ´nativist´ pedagogies that set up the relation of Third World and First World in a binary structure of opposition. The postcolonial perspective resists the attempt at holistic forms of social explanation. It forces a recognition of the more complex cultural and political boundaries that exist on the cusp of these often opposed political spheres. 516 512 Vgl. Maria Do Mar Castro Varela/ Nikita Dhawan (Hg.), Postkoloniale Theorie, Eine kritische Einführung (Anm. 312). 513 Paul Michael Lützeler, „Einleitung: Der postkoloniale Blick“, in ders. (Hg.), Der postkoloniale Blick, S. 7-8. 514 Ebd. S. 7. 515 Maria Do Mar Castro Varela/ Nikita Dhawan, Postkoloniale Theorie, Eine kritische Einführung (Anm. 174), S. 127-128. 516 Homi Bhabha, „The postcolonial and the postmodern: The question of agency“, in: ders. The Location of Culture (Anm. 365), S. 173. 1. Zum Begriff „Ästhetik der Marginalität“ 112 Die postkolonialen Kritiker versuchen, von einem hybriden Raum ausgehend ein historisches, literarisches, theoretisches Projekt zu organisieren. 517 Die postkoloniale Theorie reiht sich nicht in die Traditionen einer Soziologie der Unterentwicklung oder der Dependenztheorie ein. Sie ist operativ darum bemüht, die durch nationalistische und nativistische Pädagogiken aufgestellte binäre Opposition Dritte Welt vs. Erste Welt zu dekonstruieren. Fokussiert werden grundsätzlich kulturelle, politische Grenz- oder Zwischenräume. Es handelt sich um eine Abkehr von jedweder holistischen Auseinandersetzung sozialer Begebenheiten sowie von undifferenzierenden Theorien eines kulturellen Relativismus und Pluralismus. In diesem Diskurs aber entweder die Behauptung einer eigenen kulturellen Identität oder eine Rückbesinnung auf eine solche kulturelle Identität sehen zu wollen, 518 steht im Widerspruch zu den geistigen Unternehmungen der Theoretiker und Historiker dieser Theorie, die u.a. daran arbeiten, metaphysische Auffassungen des Begriffs Kultur zu untergraben. Dennoch birgt die heute als postkolonial bezeichnete Kulturtheorie - auf deren vielzitierte Hauptvertreter Edward Said, Homi Bhabha, Gayatri Spivak hinweisend - eine gewisse elitäre Dimension in sich. 519 Dieser Diskurs scheint sich vorwiegend im universitären Bereich und in Konferenzräumen abzuspielen und sich darauf zu beschränken. Selbstverständlich könnte hier eingewendet werden, dass Universitäten, Institute sowie Konferenzräume auch komplexe machtpolitische Felder - im Foucault’schen Sinne - bilden. Es gehört zur häretischen Geste dieser Denker, den Kulturkolonialismus, d.h. die Attitüde überlegener Arroganz, die an den westlichen Bildungsinstitutionen das Ende des politischen Kolonialismus überdauert habe, zu unterminieren. 520 Eines der wesentlichen Merkmale des postkolonialen Diskurses ist die Auseinandersetzung mit oder der Vorzug von kanonischen philosophischen Texten des Westens. 521 Bei dieser Auseinandersetzung werden einerseits kritische Impulse aufgenommen sowie kulturimperialistische Momente aufgedeckt. Andererseits aber wird der Eindruck erweckt, dass eine Leerstelle lediglich mit Wissen 522 ausgestopft wird. Sollte der postkoloniale Diskurs 517 Vgl. ebd. 518 Lützeler selbst revidiert diese Sichtweise in der ein Jahr danach erschienenen Publikationssammlung, genauer an der Stelle, wo er sich mit Aspekten des postkolonialen Denkens auseinandersetzt. Vgl. Paul Michael Lützeler, Schriftsteller und „Dritte Welt“ (Anm. 194), S. 14-30. 519 Vgl. Wolfgang Müller-Funk, „Das Unmögliche Dritte.“ (Anm. 519). 520 Vgl. Paul Michael Lützeler, Der postkoloniale Blick (Anm. 174), S. 9. 521 Vgl. Wolfgang Müller-Funk, „Das Unmögliche Dritte“ (Anm. 519). Erwähnenswert sei aber, dass die postkoloniale Beschäftigung mit kanonischen westlichen philosophischen Texten sich in ein dekonstruktivistisches Projekt einbettet, das darin besteht, u.a. kontrapunktisch in diesen Texten selbstkritische und selbstreflexive Momente herauszuarbeiten und dadurch diese Texte an deren Grenzen zu erforschen. 522 Dies bedeutet - im Foucault’schen Sinne - auch mit Macht. 1. 3 Postkolonialität: kein einseitiges Phänomen … 113 ausschließlich zu einem Spiel mit den Floskeln kanonischer europäischer Denker verkommen, würde sich daraus die denkwürdige und berechtigte Frage ergeben, ob man dadurch nicht dabei wäre, sich zusätzliche kulturelle Masken aufzusetzen. Eine derartige Sachlage hat Benita Parry dazu veranlasst, Homi Bhabha, Abdul JanMohammed sowie Gayatri Spivak vorzuwerfen, den sogenannten native nicht zu Wort kommen zu lassen. 523 Spivak nimmt diese Kritik zur Kenntnis und reagiert, wie folgt, darauf: When Benita Parry takes us to task for not being able to listen to the natives, or to let the natives speak, she forgets that the three of us, post-colonials, are ‘natives’ too. We talk like Defoe’s Friday, only much better. Three hundred years have passed, and territorial imperialism has changed to neo-colonialism. The resistant post-colonial has become a scandal. Why is the name ‘post-colonial’ specifically useful in our moment? Those of us present in that room in Birkbeck College, or indeed the writers and readers of this collection, who are from formely colonized countries, are able to communicate to each other, to exchange, to establish sociality, because we have had access to the culture of imperialism. Shall we then assign to that culture, to borrow Bernard Williams’s phrase, a measure of ‘moral luck? ’ I think there can be no doubt that the answer is ‘no’. This impossible ‘no’ to a structure, which one critiques, yet inhabits intimately, is the deconstructive philosophical position, and the everyday here and now named ‘postcoloniality’ is a case of it. 524 Auf jeden Fall erweist sich Benita Parrys Einwand als einschneidend. Denn der postkoloniale Kritiker spricht zwar für und über ›die Dritte Welt‹, aber von einer gewissen privilegierten Position, von einem ›kulturellen Heldenplatz‹ aus. Und in solch einer Position besteht die Gefahr, dass der Diskurs oder das theoretische Engagement in einer ›Sonntagspredigt‹ erstarrt, die die ›Gläubiger‹ zweifelsohne beeindruckt, sie zeitweilig von ihrem bitteren Alltag herauslöst, aber diese gleichzeitig auf den ›harten Boden‹ des Alltags zurückfallen lässt. Eine treffende bildliche Erfassung dieses Phänomens kommt in Aimé Césaires Zurück ins Land der Geburt vor, genauer an der Stelle, wo er die lethargische Haltung des Kolonisierten sowie die narkotische Wirkung von Sonntagspredigten im kolonialen Martinique diagnostiziert. Und es sind nicht nur die Lippen, die singen, es singen die Hände, es singen die Füße, es singen die Hinterbacken und die Geschlechtsorgane; es singt das ganze Geschöpf, das in Klänge zerfließt, in Stimme und Rhythmus. 523 Vgl. Benita Parry, Postcolonial studies: a materialist critique, London: Routledge 2004. 524 Gayatri Chakravorty Spivak, „Theory in the Margin: Coetzee´s Foe reading Defoe´s Crusoe/ Roxana“, zitiert nach ders. „Poststructuralism, Marginality, Postcoloniality and Value“, in: Peter Collier/ Helga Geyer-Ryan (Hg.), Literary theory today, Cambridge: Polity Press 1992, S. 219-244, hier S. 225. 1. Zum Begriff „Ästhetik der Marginalität“ 114 Und auf dem Höhepunkt angelangt, zerplatzt die Freude wie eine Wolke. Die Gesänge hören nicht auf, doch sie rollen nun schwankend und schwer durch die Senken der Angst, durch die Tunnels des Schreckens und die Feuer der Hölle. Und jeder macht sich daran, den nächstbesten Teufel am Schwanz zu ziehen, bis die Angst unmerklich sich auflöst in den sanften Sandmalereien des Traums. Und man lebt wahrhaftig wie in einem Traum, man trinkt und man schreit und man singt wie im Traum, und man schlummert auch wie im Traum mit rosenblättrigen Augenliedern […] 525 Der postkolonialen Kritik und Theoriebildung wird - wie der Theorie des Postmodernismus - ebenfalls Beliebigkeit und Diffusion vorgehalten. In Udo Wolters provokantem Buch Das obskure Subjekt der Begierde. Frantz Fanon und die Fallstricke des Subjekts der Befreiung rechnet der Verfasser mit Fanon sowie mit der ganzen Fanon-Rezeption ab. Wolter nimmt die Fanon- Rezeption durch die Linken, die Fanon-Revivals im Rahmen der angloamerikanischen postkolonialen Theorie und hauptsächlich die Fanon-Lektüre Homi Bhabhas ins Visier. Den deutschen Linken der 1968er Jahre wirft Wolter vor, Fanons antikoloniale Revolutionstheorie auf die Legitimation des bewaffneten nationalen Befreiungskampfes verkürzt und im Rahmen eines binären antiimperialistischen Weltbildes wahrgenommen zu haben. 526 Udo Wolter lastet der angloamerikanischen postkolonialen Theorie und darin besonders Homi Bhabha an, erfindungsreich und diffus zu sein. Anders formuliert lassen die postkolonialen Denker und Bhabha an erster Stelle Fanons Texte das sagen, was diese Texte nicht sagen wollen oder können. Bhabha erfinde einen unauthentischen Fanon. Er mystifiziere ihn. 527 Wolter zeigt sich über die Art und Weise besonders schockiert, wie Bhabha die Texte von Fanon aus deren hegelianisch-existentialistischem Bezugsrahmen herausreißt, 528 um diese in den poststrukturalistischen Konzeptrahmen zu pressen. Im von Bhabha 1986 verfassten Essay „Remembring Fanon“ will Wolter eine „Initialzündung“ für den gesamten poststrukturalistischen ›Fanon-Kult‹ sehen. 529 Laut Wolter wird Fanon von diesen Denkern in Anspruch genommen, welche die bipolare Entgegensetzungen - Kolonialherr/ Kolonisierter, Westen/ Rest, Zivilisation/ Wildheit, männlich/ weiblich etc, ebenso wie die repressiven Festschreibungen ethnischer und nationaler Identitäten dekonstruktivistisch auflösen wollen, um eine fließende , ‘hybride’ Subjektivität als 525 Aimé Césaire, Zurück ins Land der Geburt, Französisch und Deutsch, auf Deutsch von Janheinz Jahn übersetzt, Frankfurt/ Main: Insel Verlag 1962, S. 21. Titel der Originalausgabe Cahier d´un retour au pays natal (1939). 526 Ebd. S. 11. 527 Vgl. ebd. S. 202. 528 Ebd. S. 200. 529 Ebd. S. 198. Dabei bezieht er sich auf eine Passage aus Bhabhas „Remembering Fanon“. Näheres dazu ist ebenda zu erhalten. 1. 3 Postkolonialität: kein einseitiges Phänomen … 115 Grundlage neuer kultureller und politischer Formen widerständigen Handelns zu propagieren. 530 Unter Berufung auf Anthony C. Alessandrini, den Herausgeber des jüngsten Fanon-Studien-Sammelbandes, 531 lenkt Udo Wolter das Augenmerk auf die inneren Spannungen des postkolonialen Diskurses über Fanon. In Bhabhas Denkfigur der subversiven Kraft bzw. der subalternen Handlungsfähigkeit will Wolter nichts anderes sehen als eine epigonale Ersatzform von „Fanons revolutionärer Befreiungsemphase des ‘totalen Menschen’“. 532 Die ›akademische Wiederentdeckung‹ von Fanon in den postcolonial studies bezeichnet Udo Wolter als „akademische Selbstbespiegelung“ 533 . Dies würde so gut wie heißen ›Bhabha verwandle Fanon in eine Projektionsfläche eigener Träume und Ängste‹. 534 Udo Wolters Vorwurf, die postkoloniale Fanon-Rezeption sei nicht einheitlich, 535 führt wiederum vor Augen, dass nicht die Fanon-Rezeption, sondern widersprüchlich Udo Wolter von Einheitsutopien besessen zu sein scheint. Muss die postkoloniale Fanon-Rezeptiom überhaupt einheitlich sein? Die postkoloniale Kritik und Theoriebildung bietet sich keinesfalls reduktionistisch und unproduktiv als ›parteipolitische Strategie‹ dar. Die Vielfalt der Fanon-Rezeption gibt zu erkennen, dass es eine Vielfalt von möglichen Fanon-Interpretationen gibt, genauso wie eine Vielfalt von möglichen Johann-Sebastian-Bach-Interpretationen vorhanden ist. 536 Fanon tritt in einen Dialog mit der hegelianisch-marxistischen Dialektik, mit der phänomenologischen Betonung des Selbst und des Anderen und vor allem mit der psychoanalytischen Aufwertung der Ambivalenz des Unbewussten. Dazu kommen Anregungen aus Jean Paul Sartres Philosophie des Existentialismus, aus dem Denken der Négritude-Bewegung sowie aus der afrikanischen Literatur. Dennoch lässt sich Fanons Denken und Schreiben keineswegs auf eine bestimmte Meistererzählung reduzieren. 537 Fanon kommt es vielmehr darauf an, diese 530 Ebd. S. 13. 531 Anthony C. Alessandrini (Hg.), Frantz Fanon: critical perspectives, London: Routledge 1999. 532 Ebd. S. 200. 533 Ebd. S. 201. Aufgrund des Bewusstseins einer Verflechtung von Wissen und Macht profiliert sich das akademische Feld - auch als Bestandteil des pluralen sozialen Feldes verstanden - zum umkämpften Feld postkolonialer Kritik. Näheres dazu vgl. Paul Michael Lützeler, „Einleitung: Der postkoloniale Blick“ (Anm. 174), S. 9f. 534 Vgl. Udo Wolter, Das obskure Subjekt der Begierde (Anm. 488), S. 201. 535 Vgl. ebd. S. 201f. 536 Dies erinnert an den engagierten Gabuner Musiker und Komponisten Pierre Akendenge, der in seiner Komposition „Lambarena“ (1994 erschienen) die Volkslieder der Gabuner Pygmeen - Ureinwohner des afrikanischen äquatorialen Regenwaldes - mit den Kantaten des deutschen Komponisten Johann Sebastian Bach in einen produktiven Dialog bringt. 537 Vgl. Frantz Fanon, Les damnées de la terre, (Anm. 177). Vgl. ders. Peau noire, masques blancs (Anm. 75). Homi Bhabha beschreibt die Art und Weise, wie sich Fan- 1. Zum Begriff „Ästhetik der Marginalität“ 116 Ismen mit dem verdrängten Kapitel der imperialen Begegnung und kolonialer Unterdrückung zu konfrontieren. Die Texte von Fanon führen sozusagen die Krise der hegelianischen Herr-Knecht-Dialektik 538 sowie des Sartre’schen existentialistischen Humanismus vor Augen. 539 on diese unterschiedlichen Anregungen aneignet: „In his desperate, doomed search for a dialectic of delivrance Fanon explores the edge of these modes for thought: his Hegelianism restores hope to history; his existentialist evocation of the ‘I’ restore the presence of marginalised; and his psychoanalytic framework illuminates the ‘madness’ of racism, the pleasure of pain, the antagonistic fantasy of political power.“ Homi K. Bhabha, „Remembering Fanon“ (Anm. 179), S. xxiii. 538 In Anlehnung an eine Passage aus Friedrich Engels´ Schrift Anti-Dühring, in der das Machtverhältnis zwischen den Figuren Robinson Crusoe und Freitag - aus Daniel Defoes Roman Robinson Crusoe - differenziert dargestellt wird, unternimmt Fanon eine Dekonstruktion der Hegel’schen Herr-Knecht-Dialektik. Friedrich Engels schreibt: „Ebensogut wie Robinson sich einen Degen verschaffen konnte, ebensogut dürfen wir annehmen, daß Freitag eines schönen Morgens erscheint mit einem geladenen Revolver in der Hand, und dann kehrt sich das ganze ‘Gewalt’-Verhältnis um: Freitag kommandiert, und Robinson muß schanzen […]. Also der Revolver siegt über den Degen, und damit wird es doch wohl auch dem kindlichsten Axiomatiker begreiflich sein, daß die Gewalt kein bloßer Willensakt ist, sondern sehr reale Vorbedingungen zu ihrer Betätigung erfordert, namentlich Werkzeuge, von denen das vollkommnere das unvollkommnere überwindet; daß ferner diese Werkzeuge produziert sein müssen, womit zugleich gesagt ist, daß der Produzent vollkommnerer Gewaltwerkzeuge, vulgo Waffen, den Produzenten der unvollkommneren besiegt, und daß, mit Einem Wort, der Sieg der Gewalt beruht auf der Produktion von Waffen, und diese wieder auf der Produktion überhaupt, also - auf der ‘ökonomischen Macht’, auf der ‘Wirtschaftslage’, auf den der Gewalt zur Verfügung stehenden materiellen Mitteln.“ Friedrich Engels, „III. Gewalttheorie (Fortsetzung)“, in: ders. Anti-Dühring, (Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft), Peking: Verlag für fremdländische Literatur 1972, S. 217-229, hier S. 217f. Die französische Übersetzung dieser Passage ist in Frantz Fanons Les damnés de la terre nachzulesen: „De même que Robinson a pu se procurer une épée, nous pouvons tout aussi bien admettre que Vendredi apparaît un beau matin avec un revolver chargé à la main, et alors tout le rapport de ‘violence’ se renverse: Vendredi commande et Robinson est forcé de trimer … Donc, le revolver triomphe de l´ épée et même l´ amateur d´axiomes le plus puéril concevra sans doute que la violence n´est pas un simple acte de volonté, mais exige pour sa mise en oeuvre des conditions préalables très réelles, notamment des instruments, dont le plus parfait l´emporte sur le moins parfait; qu´en outre ces instruments doivent être produits, ce qui signifie aussi que le producteur d´ instruments de violence plus parfaits, grossièrement parlant d´armes, l´emporte sur le producteur des moins parfaits et qu´ en un mot la victoire de la violence repose sur la production d´armes, et celle-ci à son tour sur la production en général, donc … sur la ‘puissance économique’, sur l´Etat économique, sur les moyens matériels qui sont à la disposition de la violence“ Friedrich Engels: Anti-Dühring. 2 e Partie, Chapitre III, „Theorie de la violence“. Editions Sociales. Zitiert nach Frantz Fanon, Les damnées de la terre (Anm. 177), S. 27. 539 Vgl. Frantz Fanon, Peau noire, masques blancs (Anm. 75), S. 93, 108. 1. 3 Postkolonialität: kein einseitiges Phänomen … 117 Im Mittelpunkt der postkolonialen Perspektive steht ebenfalls die anthropologische Frage der Alterität, die Frage des Anderen. Der/ Das Andere wird definiert als symbolischer Raum sozialer und psychischer Identifizierungen, „the symbolic domain of psychic and social identifications“. 540 Der Begriff des Anderen schließt hier sowohl der oder das Andere im Selbst sowie der kulturell Andere - auch der/ die/ das Fremde genannt - mit ein. An diesen Begriff des Anderen sowie an schon erwähnte Begriffe 541 knüpft der postkoloniale Diskurs an, um die transnationale oder globale Dimension nationaler Situationen zu akzentuieren, herauszuheben. Um Missverständnisse auszuräumen, merkt Homi Bhabha an: This is not an absorption of the particular in the general, for the very act of articulating cultural differences ‘calls us into question fully as much as it acknowledges the Other… neither reduc[ing] the Third World to some homogeneous Other of the West, nor … vacuously celebrat[ing] the astonishing pluralism of human cultures.’ 542 Die postkoloniale Perspektive ist ein Erinnerungsdiskurs: die Erinnerung an die weltweite Sozial- und Kulturgeschichte der Differenz und Interdependenz. 543 Die am postkolonialen Diskurs Beteiligten argumentieren mit dem Bewusstsein der Historizität, Heterogenität und Pluralität kolonialer Diskurse. Dies lässt sich mit Herbert Uerlings noch genauer verdeutlichen, der schreibt: Die Rede von ‘dem’ kolonialen Diskurs ist aber eine zu heuristischen Zwecken gebildete Abstraktion. Den Kern ‘des’ kolonialen Diskurses bildet ein ethnisierendes Inferioritätsaxiom: Zwei als ethnisch different definierte Einheiten werden zueinander in eine für unbezweifelbar gehaltene Ungleichheitsbeziehung gebracht. Daraus ergib sich die charakteristische binäre Opposition zwischen ‘Kolonisatoren’ und ‘Kolonisierten’. Alles weitere ist historisch, regional und situativ so variabel, daß man besser differenzierend und pluralisierend von ‚kolonialen Diskursen‘ spricht. 544 540 Homi Bhabha, The Location of Culture (Anm. 365), S. 173. 541 Hingewiesen wird u.a. auf die Begriffe Migration, Diaspora, Krieg, Reise, Deportation usw. 542 Homi K. Bhabha, ebd. S. 173. Der in einfachen Anführungszeichen gesetzte Teil dieses Zitats kommt aus Frederic Jamesons Vorwort zu R. Retamars Buch Caliban and the Other Essays und wird hier nach Homi Bhabha zitiert. 543 Vgl. Homi K. Bhabha, „Remembering Fanon“ (Anm. 179), S. xxxv. „Postcoloniality, for its part, is a salutary reminder of the persistent ´neo-colonial´ relations within the ´new´ world order and the multinational division of labor.“ Homi K. Bhabha, The Location of Culture (Anm. 365), S. 6. […] [A] perspective that reimagines the West and reminds it of its repressed colonials origins.“ David Huddart, Homi K. Bhabha (Anm. 453), S. 3. 544 Herbert Uerlings, „Kolonialer Diskurs und deutsche Literatur. Perspektiven und Probleme“, in: Axel Dunker (Hg.), (Post-) Kolonialismus und Deustsche Literatur. Impulse der angloamerikanischen Literatur- und Kulturtheorie (Anm. S. 183), S. 18. 1. Zum Begriff „Ästhetik der Marginalität“ 118 Herbert Uerlings streicht „die ethnisierende Inferiorisierung“ als grundlegendes „Diskursmuster“ hervor, das es zu allen Zeiten und nicht nur in Europa gegeben hat und immer noch gibt, und selbst wenn man der Meinung ist, ohne Bezug auf eine Landnahme solle man nicht von einem ‘kolonialen’ Diskurs sprechen, so lautet doch die entscheidende Frage, warum dessen zentrales Element so ‘erfolgreich’ ist, daß es bis heute nichts an Präsenz und Vitalität eingebüßt hat. Welche Funktionen erfüllt dieses Diskursmuster im postkolonialen Zeitalter? 545 Kolonialer Diskurs ist ein umfassender Begriff für ein historisch vielschichtiges, vielgestaltiges Phänomen. Homi Bhabha, der in seiner Vorlesung 546 u.a. die Nürnberger Rassengesetze sowie Hitler, Himmler und Goebbels, die berühmt-berüchtigten Architekten der nationalsozialistischen ›Endlösung der jüdischen Frage‹, erwähnt, spricht und schreibt mit dem Bewusstsein der historischen Heterogenität des kolonialen Diskurses. 547 Die Absonderung von Die einfachen Anführungszeichen sind gemäß dem Originaltext gesetzt. Uerlings führt fort: „Von entscheidender Bedeutung für die Aussagekraft und Plausibilität diskursanalytischer Untersuchungen ist, daß die Heterogenität und Pluralität kolonialer Diskurse in den Blick gerät. Variabel ist bereits die Art und Weise der Definition der Ethnizität: Wird die Einheit des Kollektivs mythisch (etwa im Blick auf Ursprung, Erwählung, Sendung), religiös, historisch (im Blick auf Herkunft und Geschichte), biologisch oder kulturell (etwa sprachlich) begründet? Gelten Identität und Eigentümlichkeit als unveränderbar oder als (etwa durch religiöse Bekehrung, kulturelle Assimilation, ökonomische Entwicklung) aufhebbar? “ Ebd. S. 18. Kursivschrift i.O. Unter Bezugnahme auf Jürgen Osterhammel veranschaulicht Uerlings, wie unterschiedlich die „Inferiorität“ (ebd.) in der Pluralität des kolonialen Diskurses begründet wird, nämlich „theologisch als heidnische Verworfenheit, technologisch als Minderkompetenz in der Beherrschung der Natur, umweltdeterministisch als Prägung durch ein die menschliche Konstitution schwächendes tropisches Habitat [oder] biologisch als Reduktion auf unveränderliche Rasse-Eigenschaften“. Jürgen Osterhammel, Kolonialismus. Geschichte, Formen, Folgen, München: Beck 2001, S. 113. Zitiert nach Herbert Uerlings, ebd. S. 18. Uerlings merkt dennoch auch an, dass der Begriff ›kolonialer Diskurs‹ eine nicht problematische Abstraktion sei. Beispielweise weist Uerlings auf die Literaturwissenschaftler, auf die semantisch orientierten Kulturwissenschaftler hin, die (Uerlings zufolge) diskursive und nicht-diskursive Praxis verwechseln sowie den faktisch oft heterogenen, instabilen, partiell vielstimmigen Charakter des kolonialen Diskurses verkennen (vgl. ebd. S. 19). 545 Ebd. S. 20. Kursivschrift wie i.O. 546 Vgl. Homi K. Bhabha, „On cultural Hybridity - Tradition and Translation“ (Anm. 140). 547 Die Unterdrückung der Frau in der und durch die männliche (n) phallokratische (n) Ordnung betrachtet Simone de Beauvoir nicht anders als einen machtpolitischen Diskurs. Und im Gegensatz zur Sklaverei, zum Kolonialismus, zur Vernichtung des europäischen Judentums und zur Ausbeutung des Proletariats, die, laut Beauvoir, Folgen von historischen Entwicklungen seien, datiert die Unterdrückung der Frau, so weit wie die Geschichte der Menschheit zurückreicht. Vgl. Simone de Beauvoir, Das 1. 3 Postkolonialität: kein einseitiges Phänomen … 119 Völkern in Mittelbzw. Zentraleuropa durch den Nationalsozialismus, das Osmanische Reich und den Stalinismus war ein kolonialer Diskurs. Der Nationalsozialismus strebte eine Politik der kulturellen Gleichschaltung, Ausgrenzung und Vernichtung an. Programmatisch wurde die Errichtung eines kulturell reinen germanischen Volkes verfolgt. 548 Joseph Roth selbst sah im Dritten Reich „die Filiale der Hölle auf Erden“ (JRW 3, 508). Der metaphorische Titel des Essays Der blonde Neger Guillaume spiegelt u.a. auch Joseph Roths radikale Kritik am nationalsozialistischen Rassenwahn. 549 Roths Werk lässt sich demzufolge auch als eine an einem faschistisch werdenden Europa geübte Kritik betrachten. Sein Erstlingsroman Das Spinnennetz (1923) entfaltet seine visionäre Kraft: die ›Vision‹ einer nahenden nationalsozialistischen Gefahr. 550 Sein Essay Juden auf der Wanderschaft (1927) schildert die gestrandeten Lebensformen des wandernden ost- und westeuropäischen Judentums mit besonderem Fokus auf die inneren Differenzen, die die jüdische andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau, 10. Auflage, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuchverlag 2009, S. 12. „Der Mann sieht großzügig darüber hinweg, dass zu seiner Anatomie auch Hormone und Testikel gehören. Er begreift seinen Körper als direkte, normale Verbindung zur Welt, die er in ihrer Objektivität zu erfassen glaubt, während er den Körper der Frau durch alles, was diesem eigentümlich ist, belastet sieht und ihn als Behinderung als Gefängnis betrachtet.“ Ebd. S. 12. Sogar der moderne Staat mit seinen disziplinären, überwachenden und strafenden Machtmechanismen, mit seinen Technologien der Subjektivierung hat sich in eine ›Strafkolonie‹ verwandelt. Vgl. Michel Foucault, Überwachen und Strafen (Anm. 371). Die Familie als kleinste gesellschaftliche Einheit fungiert auch wie eine ›Strafkolonie‹ mit überwachenden und strafenden Strukturen. Mit der Figur des Vaters bzw. der Mutter als ›koloniale Instanz‹. 548 Näheres dazu ist in Adolf Hitlers Manifest, in den Nürnberger Rassengesetzen vom Herbst 1935 sowie in den Protokollen der Wannsee-Konferenz vom Herbst 1941 bzw. Winter 1942 zur Endlösung der europäischen Judenfrage zu erhalten. Vgl. Adolf Hitler, Mein Kampf (1924), zwei Bände in einem Band, ungekürzte Ausgabe, München: Zentral Verlag der NSDAP 1938. Vgl. Rudolf Beyer (Hg.), Die Nürnberger Gesetze vom 15. September 1935. (Reichsflaggengesetz, Reichbürgergesetz, Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre) und das Ehegesundheitsgesetz vom 18. Oktober 1935, sämtliche Gesetze mit den bisher erschienenen Verordnungen und Erlassen. Textausgabe mit ausführlichen Anmerkungen, 7. Auflage, Leipzig: Reclam 1939. 549 Der Abschnitt „3.8 Differenz und Interdependenz: Zur katachretischen oder dezentrierenden Figur ›des blonden Negers‹, in Teil 3 dieser Arbeit widmet sich der Analyse dieses Essays. 550 Vgl. Katharina Ochse, Joseph Roths Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus (Anm. 40), S. 40f. Matjaz Birk ortet Joseph Roths Fähigkeit der Voraussicht auch in dem Briefwechsel zwischen Joseph Roth und Stefan Zweig. Vgl. Matjaz Birk, „Vielleicht führen wir zwei verschiedene Sprachen …“ Zum Briefwechsel zwischen Joseph Roth und Stefan Zweig. Mit 21 bisher unveröffentlichten Briefen. Münster: Lit Verlag 1997, S. 69. Im Grunde genommen macht diese Fähigkeit der Voraus-, Durch- und Umsicht - sozusagen - das Wesen von Joseph Roths Schreiben aus. 1. Zum Begriff „Ästhetik der Marginalität“ 120 diasporische Gemeinschaft spaltete. 551 Roths kritische Verabschiedung von Hitlers Deutschland drückt sich auch in seinem und durch seinen auf die österreichisch-ungarische Monarchie gerichteten Fokus aus. 552 Joseph Roths Texte rücken u.a. die binneneuropäische Spielart des Kolonialismus in den Mittelpunkt. Es ist in diesem Kontext wohl auch von (Post-)Kolonialismus die Rede, 553 ein Thema, das im Mittelpunkt des Kakanien-Diskurses - des zentraleuropäischen Pendants zum klassischen postmodernen postkolonialen Diskurs - steht. Das Wort ›Kakanien‹ ist ein von Robert Musil im Roman 551 Joseph Roth ergreift in diesem Essay eindeutig Partei für das osteuropäische Judentum, will sagen, für ›eine global gefasste Dritte Welt‹ gegen den westeuropäischen kulturimperialistischen Überlegenheitsdünkel. Schon am Beginn des Essays ist die Positionierung des Verfassers deutlich nachvollziehbar. Der Essay „[…] wendet sich nicht an jene Westeuropäer, die aus der Tatsache, daß sie bei Lift und Wasserklosett aufgewachsen sind, das Recht ableiten über rumänische Läuse, galizische Wanzen, russische Flöhe schlechte Witze vorzubringen. Dieses Buch verzichtet auf die ‘objektiven’ Leser, die mit einem billigen und sauren Wohlwollen von den schwanken Türmen westlicher Zivilisation auf den nahen Osten hinabschielen und auf seine Bewohner; aus purer Humanität die mangelhafte Kanalisation bedauern und aus Furcht vor Ansteckung arme Emigranten in Baracken einsperren, wo die Lösung eines sozialen Problems dem Massentod überlassen bleibt.“ JRW 2, S. 827. 552 Der Untergang der Donaumonarchie bedeutete Roth eine Vernichtung der Stabilität Europas und einen Verlust humaner Werte. Darum setzte sich Joseph Roth - von seinem französischen Exil aus - für eine Restauration der Donaumonarchie unter Otto von Habsburg - Adolf Hitlers Gegenfigur - ein. Vgl. David Bronsen, Joseph Roth: eine Biographie (Anm. 10), S. 486. Die österreichische monarchistische Bewegung kam im Pariser Hotel Foyot unter dem Ansporn von Joseph Roth zusammen, um sich Gedanken über das Vorgehen zu machen und die dazu nötigen finanziellen Mittel zu besprechen. Namhafte Persönlichkeiten aus der europäischen Finanzwelt waren vertreten. Vgl. ebd. 481. Was war eigentlich geplant? „[M]an sollte Otto in einem Sarg nach Wien schicken, um ihn dann als Kaiser zu proklamieren.“ Ebd. S. 482. Drei Wochen vor dem Anschluss, etwa zwischen dem 25. Februar und dem 6. März, hielt sich Joseph Roth unter falschem Namen in Wien auf, um sich u.a. mit dem Kanzler Schuschnigg und anderen kaiserlich Gesinnten zu unterreden. Vgl. ebd. S. 486. Der Polizeipräsident Skubl forderte ihn bei einem Gespräch auf, das Land so schnell wie möglich zu verlassen. Vgl. ebd. S. 505. Am 13. März wird von Bundeskanzler Seyß-Inquart der Anschluss Österreichs an Deutschland verkündigt. Vgl. ebd. S. 507. Joseph Roths Aktivismus für eine Wiederherstellung des monarchistischen Systems in der Republik Österreich hat manche Kritiker dazu verleitet, ihn als Reaktionär und Monarchisten abzustempeln. Eine Berücksichtigung des Kontextes von Joseph Roths politischen Vermittlungsversuchen trägt dennoch dazu bei, manche Unklarheiten auszuräumen. Das monarchistische Österreich, für das Joseph Roth - anlässlich des bevorstehenden Anschlusses Österreichs an Hitler-Deutschland - Partei ergreift, ist nicht ein kleines Blut-und-Boden-Alpenland, vielmehr aber das universale, katholische, übernationale, gottgläubige Österreich. Vgl. ebd. S. 445. 553 „Damit wird, wie eine voreilige Übersetzung der lateinischen Vorsilbe es nahelegen könnte, nicht selbstzufrieden ein Schlussstrich unter die Geschichte des Kolonialismus gezogen.“ Wolfgang Müller-Funk/ Birgit Wagner (Hg.), Eigene und andere Fremde: »postkoloniale« Konflikte im europäischen Kontext (Anm. 75), S. 12. 1. 3 Postkolonialität: kein einseitiges Phänomen … 121 Der Mann ohne Eigenschaften 554 geprägter Begriff, den prominente Vertreter sogenannter Kakanien-Kulturtheorie sowie daran beteiligte Autoren interdisziplinär und multiperspektivisch fruchtbar machen. 555 Wenn Robert Musil schreibt: „[…] [E]s ist immer falsch, die Erscheinungen in einem Land einfach mit dem Charakter seiner Bewohner zu erklären“, 556 dekonstruiert er sowohl die Metaphysik nationalbestimmter Identitäten als auch das einheitliche Subjekt der Aufklärung. „Denn“, fährt Robert Musil fort, ein Landesbewohner hat mindestens neun Charaktere, einen Berufs-, einen National-, einen Staats-, einen Klassen-, einen geographischen, einen Geschlechts-, einen bewußten, einen unbewußten und vielleicht auch noch einen privaten Charakter; er vereinigt sie in sich aber sie lösen ihn auf, und er ist eigentlich nichts als eine kleine, von diesen vielen Rinnsalen ausgewaschsene Mulde, in die sie hineinsickern und aus der sie wieder austreten, um mit andern Bächlein eine andre Mulde zu füllen. Deshalb hat jeder Erdbewohner auch noch einen zehnten Charakter, und dieser ist nichts als die passive Phantasie unausgefüllter Räume; er gestattet dem Menschen alles, nur nicht das eine: das ernst zu nehmen, was seine mindestens neun andern Charaktere tun und was mit ihnen geschieht; also mit andern Worten, gerade das nicht, was ihn ausfülllen sollte. Dieser, wie man zugeben muß, schwer zu beschreibende Raum ist in Italien anders gefärbt und geformt als in England, weil das, was sich von ihm anhebt, andre Farbe und Form hat, und ist doch da und dort der gleiche, eben ein leerer, unsichtbarer Raum, in dem die Wirklichkeit darin steht wie eine von der Phantasie verlassene kleine Steinbaukastenstadt. 557 Robert Musil scheint also derjenige zu sein, der lange vor Homi Bhabha die Figur entworfen hätte, die Bhabha ausdrücklich als third space benennt - würde man hypothetisch sagen. Musil nennt diese Figur nicht explizit ›dritten Raum‹, sondern einfach „unausgefüllte[n] Raum“: einen Erfahrungsraum, den Raum der Selbsterfindung, „ein schwer zu beschreibende[r] Raum“ - Musil zufolge. Daher wird dieser Raum in Bhabhas postkolonialem Denken arbeitshypothetisch als dritter Raum bezeichnet, als Raum der Ambivalenz, der Differenz- und Interdependenzerfahrung konzipiert. Indem Homi Bhabha seine 554 Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, herausgegeben von Adolf Frisé, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag 1978. Erstausgabe (1930). 555 Unter anderen Wolfgang Müller-Funk, Heidemarie Uhl, Anna Babka, Moritz Csáky, Clemens Ruthner, Waltraud Heindl, Hannelore Burger, Peter Plener, Alexander Honold, Manfred Moser, Telse Hartmann, Gesa von Essen, István Eörsi, Milka Car, Béla Rásky, Ursula Prutsch usw. Diese Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Aufgelistet sind hier einige Autoren ohne klassifizierende Absicht. Näheres zu den vielfältigen Beiträgen der hier erwähnten und nicht-erwähnten Autoren siehe Internet Plattform http: / / www.kakanien.ac.at/ . Vgl. Wolfgang Müller-Funk/ Peter Plener/ Clemens Ruthner (Hg.), Kakanien revisited: das Eigene und das Fremde (in) der österreichisch-ungarischen Monarchie, Tübingen u.a.: Francke Verlag 2002. 556 Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften (Anm. 554), S. 34. 557 Ebd. 1. Zum Begriff „Ästhetik der Marginalität“ 122 Figuration des dritten Raumes als Raum der Ambivalenz auffasst, bekräftigt er eine Dimension von Musils Vorstellungen, und zwar dass dieser Raum von einem Land zu einem anderen, von einer Gesellschaft zu einer anderen immer wieder anders, aber keineswegs als eine Metaphysik der Identität erfahrbar ist. Die am Kakanien-Diskurs beteiligten Autoren befragen und hinterfragen das historische kaiserlich- und königliche Habsburger Imperium mit besonderer Akzentsetzung auf dessen kulturimperialistische Nachwirkungen und argumentieren mit dem Bewusstsein der „folgenreiche[n] Verschränkung von Kultur, Herrschaft und Differenz“. 558 Mit diesem verschränkten Blick wird, im Grunde genommen, eine dialogisch-analytische Brücke zwischen außereuropäischen und binneneuropäischen Kolonialverhältnissen geschlagen. 559 Der Kakanien-Diskurs bildet sich auch als ein Erinnerungsdiskurs heraus. Der historischen Tatsache wird Rechnung getragen, dass bedenkliche überlieferte Denkweisen, Erzählungen und Praktiken, weiterhin das Bewusstsein von Menschen und Gesellschaften prägen und Herrschaftsverhältnisse symbolisch zementieren. 560 Dieser Diskurs ist gegenwärtig - im Hinblick auf die sich erweiternde Europäische Union - an einer differenzierten Art und Weise interessiert, Europa zu denken sowie an einem anderen Europa interessiert, das darum bemüht ist, die fatalen Narrativen zu überwinden, die Europa des 20. Jahrhunderts ins Chaos stürzten. 561 Mithilfe einer kreativen Auseinandersetzung mit Impulsen aus den angelsächsischen postcolonial studies hat der Kakanien-Diskurs die „Aufarbeitung der kolonialen und hegemonialen Lasten der europäischen Geschichte auf ihre Fahnen geschrieben“. 562 1. 4 Die post kolo nia le Theorie i m binnene uropä ischen Ko ntext … 558 Wolfgang Müller-Funk/ Peter Plener/ Clemens Ruthner (Hg.), Kakanien revisited (Anm. 555). Näheres über die verschiedenen Facetten dieses Diskurses ist ebd sowie in der Internet-Plattform „Kakanien Revisited“ http: / / www.kakanien.ac.at/ zu erhalten. 559 Wolfgang Müller-Funk, et al. (Hg.), Kakanien revisited, ebd. S. 13f. 560 Vgl. Wolfgang Müller-Funk, „Kakanien revisited. Über das Verhältnis von Herrschaft und Kultur“, in: Wolfgang Müller-Funk/ Peter Plener/ Clemens Ruthner (Hg.), Kakanien revisisted, ebd. S. 14-32, hier besonders S. 16f. Hingewiesen wird u.a. auch auf die Narrative des Nationalsozialismus, die den Genozid am europäischen Judentum vorbereiteten und ausführten. Vgl. Wolfgang Müller-Funk/ Birgit Wagner (Hg.), Eigene und Andere Fremde (Anm. 75), S. 20. 561 Vgl. ebd. S. 23. 562 Ebd. 1. 4 Die postkoloniale Theorie im binneneuropäischen Kontext … 123 1.4 Die postkoloniale Theorie im binneneuropäischen Kontext: eine Frage der Übersetzung 563 Wer aber die postkoloniale Theorie nicht nur im deutschsprachigen, sondern auch im binneneuropäischen Raum erwähnt, der scheint Besorgnis zu erregen und sieht sich einigermaßen dazu verpflichtet, die Anwendbarkeit dieser Theorie auf diese Räume zu rechtfertigen oder zu begründen. 564 Paul Michael Lützeler erwähnt die zwei immer wiederkehrenden grundlegenden Argumente, die gegen jede Anwendung postkolonialer Theorien auf diesen kulturellen Sprachraum sprechen wollen: [E]rstens habe Deutschland [bzw. Österreich] so gut wie keinen Anteil an der europäischen Kolonialgeschichte gehabt, weswegen es auch keine postkolonialen Bürden gebe; und zweitens - damit zusammenhängend - spiele das Kolonialthema in der deutschen Literatur kaum eine Rolle, und die Behandlung der Dritten Welt in der Gegenwartsliteratur sei eine marginale Angelegenheit. 565 Diesen Argumenten hält Lützeler u.a. die deutsche Kolonialgeschichte (ein fast verdrängtes Kapitel in der deutschen Geschichte) sowie „die Beteiligung der Deutschen [ÖsterreicherInnen] am kolonialen Projekt Europas“ 566 entgegen. Unter Bezugnahme auf Jürgen Osterhammel sieht Axel Dunker den im deutschsprachigen Raum und vor allem in der deutschen Literaturwissenschaft dicht gespannten Schleier über den Kolonialismus darin begründet, dass man hier wohl immer noch eher an das englische Kolonialreich, an Britisch-Indien, an die einmal französisch oder selbst belgisch beherrschten Teile Afrikas denke, wenn man dieses Stichwort höre, als dass einem bewusst würde, dass das deutsche Kolonialreich am Ende des 19. Jahrhunderts territorial 563 Die in diesem Unterteil angeführten Gedanken und Argumente sind teils wortwörtlich, teils paraphrasiert aus einer meiner Publikationen übernommen. Vgl. Daniel Romuald Bitouh, „Liminalität, Hybridität und Identität. Zu Joseph Roths Inszenierung der Grenze als Subversion der Metaphysik von Identität“, in: Anna Babka/ Julia Malle/ Matthias Schmidt (Hg.), Dritte Räume. Homi K. Bhabhas Kulturtheorie. Krititk. Anwendung. Reflexion, Wien: Verlag Turia+Kant 2012. S. 167-182. 564 Vgl. ebd. S. 168. 565 Paul Michael Lützeler (Hg.), Schriftsteller und „Dritte Welt“ (Anm. 194), S. 22f. Hervorhebung v. mir. Auf diese zwei abwehrenden Argumente machen Christof Hamann und Cornelia Sieber auch aufmerksam. Vgl. Christof Hamann/ Cornelia Sieber (Hg.), Räume der Hybridität (Anm. 500), im Vorwort. Vgl. dazu Axel Dunker (Hg.), (Post-) Kolonialismus und Deutsche Literatur (Anm. 183). Zu der Frage der geringfügigen Beteiligung Deutschlands bzw. Österreichs am europäischen Kolonialunternehmen meinen Maria Varela und Nikita Dhawan Folgendes: „Doch selbst wenn dies zutreffend wäre - was nicht der Fall ist -, würde dies ganz sicher nicht bedeuten, dass postkoloniale Studien im deutschsprachigen Diskurs überflüssig seien.“ Maria Do Mar Castro Varela/ Nikita Dhawan, Postkoloniale (Anm. 312), S. 11. 566 Paul Michael Lützeler (Hg.), Schriftsteller und „Dritte Welt“ (Anm. 194), S. 23. Hervorhebung v. mir. 1. Zum Begriff „Ästhetik der Marginalität“ 124 das drittgrößte und von der Einwohnerzahl her gesehen immerhin noch das fünftgrößte gewesen sei. 567 Paul Michael Lützeler hält „die indirekte Involvierung“ 568 sogar für bedeutender als die direkte. Eine Annahme, die von Ronald Daus bekräftigt wird: ‘[…] Die Nutznießer des Überseehandels wurden die großen überstaatlichen Finanzorganisationen, die somit den ‘Entdeckungen’ einen Gutteil ihres Aufschwungs verdanken.’ Noch eine Konstante des Kolonialismus hatte sich herausgeschält: er war zu einem gesamteuropäischen Unternehmen geworden; es profitierten keineswegs ausschließlich oder auch nur vorrangig die direkt Kolonisierenden. 569 Binneneuropäische Mächte - sogenannte ›Central European Powers‹ (Deutschland und die österreichisch-ungarische Monarchie) - standen zwar nicht unmittelbar im Mittelpunkt des außereuropäischen Kolonialunternehmens. Dies schließt aber die Tatsache keineswegs aus, dass es koloniale Ambitionen gegeben hat. Die Figur Marlow aus Joseph Conrads Roman Heart of darkness stellt sich selbst als jemanden vor, der seit seiner Kindheit von der Geschichte überseeischer Entdeckungen begeistert war, und hegte schon Pläne, in die weite Welt zu ziehen. Now when I was a little chap I had a passion for maps. I would look for hours at South America, or Africa, or Australia, and lose myself in all the glories of exploration. At that time there were many blank spaces on the earth, and when I saw one that looked particularly inviting on a map […] I would put my finger on it and say, When I grow up I will go there […] Other places were scattered about the Equator, and in every sort of latitude all over the two hemispheres. 570 Solche Übersee-Begeisterungen herrschten in fast allen europäischen Metropolen. Familien kleideten ihre Kinder zu bestimmten Anlässen in Matrosenanzügen. 571 Im Zeitalter des europäischen Imperialismus war es Mode, aus unterschiedlichen Gründen in die weite Welt zu ziehen. Fast alle Gesellschaftsschichten und Berufsgruppen in Europa waren im Überseerausch, angefangen von KaiserInnen und KönigInnen bis zu den Durchschnittsmenschen. Dies lässt sich am Beispiel der Figuren veranschaulichen, die in Conrads Heart of darkness auftauchen. Hingewiesen wird auf Sir Francis Drake 567 Vgl. Axel Dunker, „Einleitung“, in: ders. (Hg.), (Post-)Kolonialismus und Deutsche Literatur (Anm. 183), S. 10f. Vgl. Jürgen Osterhammel, Kolonialismus - Geschichte - Formen - Folgen, München: Verlag C. H. Beck 2001. Vgl. Paul Michael Lützeler (Hg.), Schriftsteller und „Dritte Welt“ (Anm. 194), S. 24. 568 Ebd. S. 23. 569 Ronald Daus, Die Erfindung des Kolonialismus (Anm. 419), S. 90. 570 Joseph Conrad, Heart of darkness (Anm. 1), S. 7. 571 Vgl. Paul Michael Lützeler (Hg.), Schriftsteller und „Dritte Welt“ (Anm. 194), S. 24f. 1. 4 Die postkoloniale Theorie im binneneuropäischen Kontext … 125 und Sir John Franklin, 572 Galionsfiguren der englischen Kaperfahrtgeschichte in der Karibik, deren Kaperfahrten von der englischen Krone Bewilligung und Unterstützung bekamen und die nicht nur in Heart of darkness von Captain Marlow, sondern auch im imperialen England als Seehelden gefeiert wurden. 573 Die Seehandelsgesellschaft, unter deren Dienst die Figur Marlow steht, stellt solche weltweit agierenden Unternehmen dar. Die Agenten dieses Unternehmens kommen aus unterschiedlichen Regionen Europas. So stammt die Figur Fresleven, die sich an einer Rauferei mit den Eingeborenen beteiligt, aus Dänemark. 574 Captain Marlow tritt als Englandstämmiger auf, der dazu fließend Französisch spricht. Die Figur Kurtz dürfte, vom Namen her, deutscher Abstammung sein. Bei der Seehandelsgesellschaft handelt es sich um eine belgische mit Sitz in London. Über diese Handelsgesellschaft äußert sich Marlow wie folgt: „[I]t was a Continental concern, that trading society […]“ 575 Dadurch wird die gesamteuropäische und vor allem die globale Dimension des Kolonialunternehmens unterstrichen und betont. Obwohl diese Agenten nicht explizit unter dem Wappen einer bestimmten Regierung dienen, sind sie Kinder einer Epoche, schleppen ein bestimmtes ›symbolisches Kapital‹ mit sich und fühlen sich als Sendboten des Lichts, wie die Figur Marlow bestätigt: „[…] I was also one of the Workers, with a capital - you know. Something like an emissary of light, something like a lower sort of apostle.“ 576 Jedes Mal wenn vom historischen Kolonialismus die Rede ist, wird mit den Fingern auf einige europäische Länder gezeigt, die als ›klassische Kolonialländer‹ etikettiert werden. Dieser Verweis verschleiert dennoch eine nicht minder gewichtige andere Ausprägung und zwar die, dass europäische Staatsbürger unterschiedlicher Herkunft an den kolonialen Speditionen und 572 „The tidal current runs to and fro in its unceasing service, crowded with memories of men and ships it had borne to the rest of home or to the battles of the sea. It had known and served all the men of whom the nation is proud, from Sir Francis Drake to Sir John Franklin, knights all, titled and untitled - the great knights-errant of the sea […] [C]aptains, admirals, the dark ‘interlopers’ of the Eastern trade, and the commissioned ‘generals’ of East India fleets. Hunters for gold or pursuers of fame, they all had gone out on that stream, bearing the sword, and often the torch, messengers of the might within the land, bearers of a spark from the sacred fire […] The dreams of men, the seed of commonwealths, the germs of empires.“ Joseph Conrad, Heart of darkness (Anm. 1), S. 4. 573 Vgl. John Hampden (Hg.), Sir Francis Drake. Pirat im Dienst der Queen. Berichte, Dokumente und Zeugnisse des Seehelden und seiner Zeitgenossen 1567-1596. Mit 22 zeitgenössischen Darstellungen und Karten, aus dem Englischen übertragen von Günter Thimm, Stuttgart, Wien, Bern: Erdmann Verlag 1997. Vgl. Wolf-Ulrich Cropp, Goldrausch in der Karibik. Auf den Spuren von Sir Francis Drake, 1. Auflage, Bielefeld: Delius Klasing Verlag 2000. 574 Vgl. Joseph Conrad, Heart of darkness (Anm. 1), S. 8. 575 Ebd. 576 Ebd. S. 12. 1. Zum Begriff „Ästhetik der Marginalität“ 126 Expeditionen - aus diversen Gründen - beteiligt waren. Das koloniale imperialistische Projekt war keineswegs ausschließlich das Geschäft von bestimmten sogenannten ›klassischen Kolonialländern‹. Unterschiedliche Nationalitäten beteiligten sich daran passiv oder aktiv entweder durch Gesellschaften mit beschränkter Haftung oder durch wissensdurstige Forscher, Ehrgeizige, Abenteuerlustige, Schatzjäger usw. 577 Dazu kam die Masse von Außenseitern europäischer Gesellschaften, die ein neues Leben in den Kolonien anfangen wollten. 578 Der Besitz von Kolonien in jenem Zeitalter europäischer Kolonialexpansion war ein Zeichen von Macht und Prestige. Die Berliner Kongo- Konferenz von 1884-85, in der europäische Mächte den afrikanischen Kontinent unter sich aufteilten, zielte u.a. darauf ab, mögliche Streitigkeiten unter den direkt oder indirekt am Kolonialunternehmen beteiligten europäischen Mächten im Vorfeld auszuräumen. Frantz Fanon könnte zur Bekräftigung herangezogen werden: Une Conférence de Berlin avait pu répartir l´Afrique déchiquetée entre trois ou quatre pavillons. Actuellement, ce qui est important ce n´est pas que telle ou telle région africaine soit terre de souveraineté française ou belge : ce qui importe, c´est que les zones économiques soient protégées. 579 Dem ist zu entnehmen, dass das koloniale Unternehmen, wirtschaftlich gesehen, dem gesamteuropäischen Kontinent zugute kam. Der Kolonialgedanke breitete sich wellenartig in ganz Europa aus und hatte eine binneneuropäische Seite, die oft übersehen wird. Wolfgang Müller- Funk macht darauf aufmerksam, dass „die Konstruktion des Fremden in der ‘Blütezeit’ des deutschen Imperialismus“ sich „nicht nur auf Außereuropa“ beschränkt, „sondern […] auch Ränder und periphere Gebiete des Deutschen Reiches“ umfasst. 580 Er unterstreicht die deutschmitteleuropäische Funktion der habsburgischen Donaumonarchie in der kulturellen Kolonisation Mittelbzw. Osteuropas. Eine solche Funktion sieht er erstens im Streben des Deutschen Reiches begründet, „sich im Osten durchaus gegen eine polnische Minderheit und den slawischen Panslawismus zu behaupten“, 581 und zweitens in dem Versuch Deutschlands, sich der nach 1866 zu einer Sekundärmacht abgesunkenen k.(u.)k. Monarchie zu bedienen, „[u]m die kulturelle Hegemonie des Deutschtums im mittleren und östlichen Teil Europas sicherzustellen“. 582 Mit diesen Gedanken spielt Müller-Funk u.a. auf Adolf Hitlers natio- 577 Vgl. Ronald Daus, Die Erfindung des Kolonialismus (Anm. 419). 578 Ebd. S. 77. Besonders im Abschnitt über „Die Rückwirkungen des Kolonialismus auf Portugal“, S. 77-96. 579 Frantz Fanon, Les damnées de la terre (Anm. 177), S. 29. 580 Wolfgang Müller-Funk/ Birgit Wagner (Hg.), Eigene und Andere Fremde (Anm. 75), S. 21. 581 Ebd. S. 22. 582 Ebd. Vgl. Paul Michael Lützeler (Hg.), Schriftsteller und „Dritte Welt“ (Anm. 194), S. 23f. 1. 4 Die postkoloniale Theorie im binneneuropäischen Kontext … 127 nalsozialistische Weltmachtpolitik, und zwar auf jene berühmt-berüchtigte ›Blut-und-Boden-Politik‹ an, die nach Hitlers Machtergreifung danach strebte, das sogenannte ›deutsche Volk‹ 583 zur alleinigen Kontinentalmacht in Europa zu etablieren. 584 „Wenn wir aber heute in Europa von neuem Grund und Boden reden, können wir in erster Linie nur an Russland und die ihm untertanen Randstaaten denken“ 585 , unterstreicht Adolf Hitler. Die angesprochene Blut-und-Boden-Politik erwies sich bekanntlich als getarnte Imperialbzw. Kolonialpolitik. 586 Der Verfasser von Mein Kampf sehnt sich u.a. auch nach der untergangenen Habsburgermonarchie, in der er eine Verkörperung der besagten Blut-und-Boden-Politik ipso facto sehen wollte, selbst wenn er das mit Vehemenz beanstandet, was er als „die dauernde Verslawungsarbeit des Thronfolgers“ 587 Erzherzog Franz Ferdinand bezeichnet. Clemens Ruthner, der wie Müller-Funk die einstige Begegnung zwischen der habsburgischen Monarchie und Osteuropa kritisch sichtet, deutet diese Begegnung als einen imperialen Versuch, die historisch verpasste Teilnahme am um 1880 ansetzenden europäischen scramble for Africa (dem Wettlauf um Afrika) im europäischen Kontext wettzumachen. Denn die Etablierung der Vielvölkermonarchie Österreich-Ungarn verlief parallel zur kolonialen Expansion der Kolonialreiche England und Frankreich. 588 Die Anwendung der Begriffe Kolonialismus und Imperialismus auf Binneneuropa erregt Besorgnis auch aufgrund der terminologischen Unsicherheit. Aber diese Unschlüssigkeit sollte kein Grund für einen Verzicht auf eine interdisziplinäre Anwendung postkolonialer Figurationen auf den binneneuropäischen Kontext 589 sein umso mehr, als solch eine Anwendung m.E. sich als ein Akt der ›Iteration‹ begreifen lässt. Es handelt sich um eine Kontextverschiebung, die eine Bedeutungsverschiebung zur Folge hat. Und Lese-, Schreib-, Denkbzw. Sprechakte sind eben nichts anderes als unendliche Kontext- und Bedeutungsverschiebungen. Im zentraleuropäischen Kontext heißt Postimperialismus nicht unbedingt Postkolonialismus. Denn die Überlappung von Imperialismus und Kolonia- 583 Ein Ausdruck, der leitmotivisch in Adolf Hitlers Mein Kampf immer wieder kehrt. Vgl. Adolf Hitler, Mein Kampf (Anm. 548). 584 Vgl. ebd. S. 754f. 585 Ebd. S. 742. Vgl. ebd., S. 757f. 586 „Hitlers Krieg [Kampf] war darauf abgestellt, Osteuropa in eine gewinnbringende Kolonie des ‘Dritten Reiches’ zu verwandeln.“ Paul Michael Lützeler (Hg.), Schriftsteller und „Dritte Welt“ (Anm. 194), S. 26. In eckigen Klammern Stehendes ist eine Hinzufügung v. mir. 587 Adolf Hitler, Mein Kampf (Anm. 548), S. 174f. 588 Vgl. Clemens Ruthner, „‘K.(u)K. postkolonial’? Für eine neue Leseart der österreichischen (und benachbarter) Literatur/ en“, in: Wolfgang Müller-Funk/ Peter Plener/ Clemens Ruthner (Hg.), Kakanien revisited (Anm. 555), S. 93-103, hier S. 97f. 589 Hiermit schließe ich mich dem Standpunkt Clemens Ruthners an, der schreibt: „Eine klärungsbedürftige Terminologie sollte uns also nicht davon abhalten, bestehende Ähnlichkeiten solcher Herrschaftsformen in ihren dokumentierten Niederschlägen - den Narrativen der k.u.k. Kultur/ en - interdisziplinär zu sichten.“ Ebd. S. 98. 1. Zum Begriff „Ästhetik der Marginalität“ 128 lismus, die im französischen und britischen colonial empire stattfand, fand bei den zentraleuropäischen Imperien Habsburg, Russland und Osman nicht gleichermaßen statt. Ist es dennoch möglich, die postkoloniale Theorie in einem Raum wegzudenken, der Schauplatz und Brutstätte von Totalitarismen und Imperialismen gewesen ist, der nachhaltig unter den Nachwirkungen, Traumata und Nachwehen dieser Totalitarismen gelitten hat und der noch mehr oder weniger darunter leidet? Hannah Arendt, eine emblematische Vertreterin für jene DenkerInnen und SchriftstellerInnen, deren Schreib- und Denktätigkeit die unauslöschliche Schramme ihrer Auseinandersetzungen mit den Totalitarismen und Imperialismen ihrer Zeit trägt, könnte hier paradigmatisch aufgeführt werden. Sie betrachtet den europäischen Kolonialimperialismus als den Nährboden, auf dem totalitäre Bewegungen haben gedeihen können. „Erst mit dem imperialistischen Zeitalter entstand so etwas wie Weltpolitik, ohne die wiederum der totalitäre Anspruch auf Weltherrschaft keinen Sinn gehabt hätte“. 590 In Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, genauer im Kapitel über den Imperialismus, betrachtet Hannah Arendt den europäischen überseeischen und kontinentalen Kolonialimperialismus als miteinander verschränkte Phänomene. Von Verschränkung wird deswegen gesprochen, weil sich der kontinentale Imperialismus als Reaktion, als Konkurrenzneid auf die Erfolge des überseeischen Kolonialismus herausgebildet hatte. Die zentralbzw. mitteleuropäischen Mächte, die bei der Neuverteilung der Erde durch westeuropäische Mächte zu kurz gekommen waren, wollten dieses Unrecht wiedergutmachen. 591 Österreich (im Rahmen seiner deutschmitteleuropäischen Funktion) und Russland (vom Stalinismus angespornt) entfalteten sich kolonialistisch auf den osteuropäischen Raum. Der westeuropäischen Seemacht 592 stellten sie die zentralbzw. mitteleuropäische Landmacht entgegen. 593 Müller-Funk und Birgit Wagner bringen diese zwei Seiten des europäischen „imperialistischen Kolonialismus“ 594 auf den Punkt. 595 Der europäische überseeische und kontinentale Imperialismus verwandelte Europa und Afrika in ›Strafkolonien‹ 596 bzw. in ein ›Herz der Finsternis‹ 597 . Ge- 590 Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft: I. Antisemitismus, II. Imperialismus, III. Totale Herrschaft, ungekürzte Ausgabe, München: Piper Verlag 1986, S. 215. Titel der Originalausgabe The origins of totalitarianism (1951). 591 Vgl. ebd. S. 358-366. 592 Mit diesem metaphorischen Ausdruck ist mitnichten gemeint, dass die Herrschaft der sogenannten klassischen Kolonialländer sich auf die Kontrolle der Gewässer der Welt beschränkte. Es wird damit auch nahegelegt, dass diese Länder über das Schicksal von Menschen und Ländern außerhalb territorialer Grenzen Europas herrschten. 593 Vgl. ebd. S. 360. 594 Wolfgang Müller-Funk/ Birgit Wagner (Hg.), Eigene und andere Fremde (Anm. 75), S. 11. 595 Näheres dazu vgl. ebd. S. 14. 596 Ein impliziter Hinweis auf eine gleichnamige Erzählung von Franz Kafka In der Strafkolonie (1919). Die Handlung in Franz Kafkas Erzählung spielt sich in den afrikanischen Tropen ab. Jedoch werden alle Horizonte, in denen Grausamkeiten und 1. 4 Die postkoloniale Theorie im binneneuropäischen Kontext … 129 dacht wird an das Europa der Konzentrations- und Internierungslager sowie an die Konzentrations- und Internierungslagermethoden, die durch portugiesische, spanische, französische, englische und deutsche Kolonialherren in Afrika angewendet wurden. Uwe Timms postkolonialer Roman Morenga (1978), der den durch die deutschen Kolonialschutztruppen verübten Völkermord an den Herero bzw. Hottentotten dokumentiert, liefert den Beleg dafür, dass die allerersten Konzentrationslager-(Methoden) in Deutsch-Südwestafrika - im heutigen Namibia - von der deutschen Kolonialmacht erfunden und experimentiert worden sind. Die Rinder sahen erbärmlich aus, durchweg abgemagert, viele durch Dornen oder Schüsse verletzt, mit eiternden Entzündungen. Allenthalben lagen die Kadaver der verendeten Tiere herum. Es stank nach Aas. Unmittelbar neben dem Viehkraal war eine große freie Fläche mit Stacheldraht eingezäunt worden. Davor Posten mit aufgepflanzten Bajonetten. Hinter dem Zaun konnte Gottschalk Menschen hocken sehen, eher Skelette, nein, etwas in der Mitte zwischen Menschen und Skeletten. Zusammengedrängt saßen sie da, meist nackt, in der stechend heißen Sonne. ‘Wie sehen die denn aus’, sagte Gottschalk und starrte hinüber. ‘Das ist unser Konzentrationslager’, erklärte Moll, ‘nach den neuesten Erkenntnissen der Engländer im Burenkrieg errichtet.’ 598 Der deutsche Schriftsteller Uwe Timm und der aus Kenia stammende Schriftsteller Ngugi wa Thiong´o spielen in ihren Romanen Morenga 599 bzw. Weep not Child 600 auf diese Enteignungen an. Die Methoden und Strategien der Ghettoisierung und Bipolarisierung der kolonialen Welt wurden aber unterschiedlich eingesetzt. Die kolonialen Enteignungen waren ein afrikasowie weltweit verbreitetes Phänomen. Frantz Fanon in Les damnées de la terre 601 menschenverachtende Szenen inszeniert werden, von der aphoristischen Kraft dieses Textes erfasst 597 Ein Hinweis auf Joseph Conrads gleichnamigen Roman Heart of darkness (1902). 598 Uwe Timm, Morenga, Köln 1985, S. 23. 599 „Das Ziel der Eingeborenen-Politik ist der gutgenährte Sklave. Erst die Eisen am Hals, später - und das ist die eleganteste Lösung - im Kopf. Endziel: der Sklave, der sein Sklavendasein bejaht.“ Ebd. S. 143. 600 „For Njoroge, it was a surprising revelation, this knowledge that the land occupied by Mr Howlands originally belonged to them.“ Ngugi wa Thiong´o, Weep not child, with introduction and notes by Ime Ikiddeh, London, Ibadan, Nairobi: Heinemann 1966, S. 26. Erste Ausgabe 1964. Wa Thiong´os Roman verarbeitet u.a. den historischen jahrzehntelangen sog. Mao-Mao-Aufstand, jenes gewaltsame Aufbegehren der Gikuyu in den 1950ern im kolonialen Kenia gegen die vielfältigen Enteignungen der englischen Kolonialmacht. Vgl. Ime Ikiddeh: „Introduction“, in: Ngugi wa Thiong´o, Weep not, child, ebd. S. vii-xiii, hier S. ix. 601 „La ville du colon est une ville en dur toute de pierre et de fer. C´ est une ville illuminée, asphaltée, où les poubelles regorgent toujours de restes inconnus, jamais vus, même pas rêvés.“ „La ville du colonisé, ou du moins la ville indigène, le village nègre 1. Zum Begriff „Ästhetik der Marginalität“ 130 sowie Joseph Conrad in Heart of darkness 602 beleuchten weitere Formen, die diese Enteignungen angenommen hatten. „‘And this [London] also’ […] ‘has been one of the dark places of the earth’“ 603 , heißt es in Joseph Conrads Roman Heart of darkness, der in der Literaturkritik einseitig als Kongo-Roman bezeichnet wird. Wenn aber Joseph Conrad das Wort ›darkness‹ erwähnt, ist in dieser Metapher kein einseitiger Hinweis auf Afrika zu sehen. Mit einbezogen werden ebenfalls weltweite Schauplätze metropolischer zivilisatorischer und kolonialer Grausamkeiten sogar im binneneuropäischen Kontext. 604 In einem Raum, in dem Menschen mit diasporischen Exilerfahrungen gelebt haben und leben, besitzt die postkoloniale Theorie m.E. ihren Stellenwert. Binneneuropa ist nicht nur deshalb ein postkolonialer Raum, weil es einerseits schon Schauplatz von Totalitarismen gewesen ist, sondern vor allem auch, weil es einen Raum von Begegnungen und Grenzüberschreitungen darstellt. Besonders einleuchtend wirkt in diesem Zusammenhang Anna Babkas Hinweis auf die Vielfalt der Bedeutungen und Verwendungsweisen des Begriffs postkolonial, die je nach Fragestellung, Kontext und Disziplin variieren. 605 Mit der Bezeichnung postkolonial werden einerseits vielmehr Transla médina, la réserve est un lieu malfamé, peuplé d´ hommes malfamés.“ Frantz Fanon, Les damnés de la terre (Anm. 177), S. 5-52, hier S. 8, Hervorhebung v. mir. Vgl. Frantz Fanon, Die Verdammten dieser Erde, Vorwort von Jean-Paul Sartre, herausgegeben von Fritz J. Raddatz, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1969, S. 30. 602 „A slight clinking behind me made me turn my head. Six black men advanced in a file, toiling up the path. They walked erect and slow, balancing small baskets full of earth on their heads […]“ Joseph Conrad, Heart of darkness (Anm. 1), S. 15. 603 Ebd. S. 5. Hervorhebung v. mir. 604 Joseph Conrad - eigentlich Józef Teodor Nałęcz Konrad Korzeniowski (1857-1924) - war binneneuropäischer Staatsbürger polnisch-ukrainischer Herkunft mit jüdischem Hintergrund, der sich als Exilierter auffasste. Dies hat Edward Said dazu geführt, Exil und Einsamkeit als immer wiederkehrende Motive in Conrads Texten zu charakterisieren. „Conrad thought of himself as an exile from Poland, and nearly all his work (as well as his life), carries the unmistakable mark of the sensitive émigré´s obsession with his own fate and with his hopeless attempts to make satisfying contact with new surroundings.“ Edward W. Said, „Reflections on exile“, in: ders. (Hg.), Reflections on exile and other Essays (Anm. 476), S. 179. 605 In Anlehnung an Bill Ashcrofts et al. programmatisches Buch The Empire writes back (1989) unterscheidet Anna Babka zwei Ausrichtungen postkolonialer Literaturkritik voneinander: „Die eine konzentriert sich auf die Lektüre kolonialer Texte im strengen Sinne sowie auf die Rolle, die diese Texte für die Konstruktion sozialer und historischer Kontexte spielen; die andere fokussiert die Lektüre bestimmter Tropen, Strukturen und Figuren, die für den postkolonialen Diskurs bestimmend sind und die auch in Texten wirksam sind, die nicht unbedingt der postkolonialen Literatur im engeren Sinne anzugehören scheinen.“ Anna Babka, „‘In-side-out’ the Canon. Zur Verortung und Perspektivierung von postkolonialen Theorien & Gendertheorien in der germanistischen Literaturwissenschaft“, in: Marlen Bidwell-Steiner/ Karin S. Wozonig (Hg.), A canon of our own? Kanonkritik und Kanonbildung in den Gender Studies, Innsbruck, Wien, Bozen: Studien Verlag 2006, S. 117-132, hier S. 126. 1. 4 Die postkoloniale Theorie im binneneuropäischen Kontext … 131 formationen, Wandlungsprozesse 606 als fixe Punkte fokussiert, andererseits wird eine Verabschiedung von den nostalgiebeladenen Bezeichnungen ›Untergang‹, ›Verlust‹, ›Heimatdramatik‹, ›Zer- oder Verfall‹ signalisiert. 607 Françoise Vergès entfaltet weitere Dimensionen des postkolonialen Ansatzes: Loin d´être une simple indication temporelle, l´approche postcoloniale interroge donc toutes les formes d´exclusion produites par la situation coloniale et le moment national qui ne sont pas conçu comme des moments clos sur des territoires aux frontières rigides, mais comme des lieux et des temporalités en interaction avec d´autres lieux et d´autres temporalités. 608 Der postkoloniale Ansatz ist keine einfache raum-zeitliche Angabe. Es geht um eine Hinterfragung aller Formen von Ausgrenzungen, verursacht durch die koloniale Situation und den nationalen Moment, sprich den Nationalismus. Wobei Kolonialismus 609 und Nationalismus keineswegs als auf bestimmte Territorien festbegrenzte Momente aufgefasst werden müssen. Frantz Fanon und Albert Memmi betonen die strukturelle Verwandtschaft von Nationalsozialismus und Kolonialismus. 610 Postkolonialität lässt sich als Hinweis auf das Ineinander-verwoben-Sein von Räumlichkeiten und Zeitlichkeiten, 606 Vgl. Wolfgang Müller-Funk/ Birgit Wagner (Hg.), Eigene und andere Fremde (Anm. 75), S. 12. 607 Und laut Wolfgang Welsch und Paul Michael Lützeler verweist das Präfix „post“ vielmehr auf Transformationen, Übergänge, Überschritte, Übergriffe, Differenzen, Interdependenzen, Grenzüberschreitungen. Vgl. Paul Michael Lützeler, „Postkolonialer Diskurs und deutsche Literatur“ in: ders. (Hg.) Schriftsteller und „Dritte Welt“ (Anm. 194), S. 12. Vgl. Wolfgang Welsch, Unsere postmoderne moderne (Anm. 199), S. 6f. „Die Postmoderne ist keineswegs, was ihr Name suggeriert und ihr geläufigstes Mißverständnis unterstellt: eine Trans- und Anti- Moderne.“ Ebd. S. 6. 608 Françoise Vergès, „Postface pour une lecture postcoloniale de Césaire“, in: Aimé Césaire, Nègre je suis, nègre je resterai: entretiens avec Françoise Vergès, Paris: Éditions Albin Michel 2005, S. 71-149, hier S. 79. 609 Wenn Aimé Césaire von Kolonialismus spricht, meint er nicht nur die imperiale Begegnung zwischen Europa und überseeischen Völkern, sondern vor allem auch den kontinentalen Imperialismus u.a. die Unterdrückung und Vernichtung jüdischer Völker vom Nationalsozialismus und Bolschewismus sowie die Ausbeutung, Unterdrückung und Ausgrenzung von Schwarzen in den USA. Vgl. Françoise Vergès, „Postface pour une lecture postcoloniale de Césaire“, in: Aimé Césaire, Nègre je suis, nègre je resterai (Anm. 608). 610 Dass der Kolonialismus ein konstitutives Moment der ›Nation‹ bzw. des sogenannten Mutterlandes darstellt, beteuert Frantz Fanon: „Le colon fait l´histoire et sait qu´il la fait. Et parce qu´il se réfère constamment à l´histoire de sa métropole, il indique en clair qu´il est ici le prolongement de cette métropole. L´ histoire qu´il écrit n´est donc pas l´histoire du pays qu´il dépouille mais l´histoire de sa nation en ce qu´elle écume, viole et affame.“ Frantz Fanon, Les damnées de la terre (Anm. 177), S.18. Vgl. Albert Memmi, Portrait du colonisé, Précédé de portrait du colonisateur et d´une préface de Jean-Paul Sartre, Paris: Éditions Gallimard 1985, S. 84-87. 1. Zum Begriff „Ästhetik der Marginalität“ 132 auf die dialogische Architektur unserer Welt, auf die Verschränkung von binnen- und außereuropäischen Kolonialverhältnissen verstehen. 611 Die Bevorzugung einer kulturwissenschaftlich-postkolonialen Perspektive in dieser Arbeit erklärt sich u.a. dadurch, dass das Bewusstsein kultureller Differenzen in dieser Perspektive eingeschrieben ist. Diese Differenzen führen dazu, dass Texte in der dialogischen analytischen Praxis immer wieder anders verstanden werden. Die Tatsache, dass Texte aufgrund kultureller Differenzen anders gelesen werden, beweist das Vorhandensein einer dialogischen Bewegung von Zeichen. Und dieses Anders-Verstehen bzw. Anders- Lesen wird in den Fehlinterpretationen, Fragmentierungen und Wiederholungen erkennbar, die der ›Originaltext‹ in der analytischen Praxis erfährt. 612 Homi Bhabha betrachtet den Einsatz des englischen Wortes oder des kolonialen Buchstaben „in the wild and wordless wastes of colonial India, Africa, the Caribbean“ 613 als eine „Entstellung, a process of displacement, distortion, dislocation, repetition [...]“. 614 Es handelt sich um ein ›zwiespältiges Abenteuer‹. 615 Bhabha unterstreicht aber, dass diese ›Ent-Deckung‹ des englischen Buchstaben, - m.E. des deutschen oder französischen Buchstabens „[...] is, at once, a moment of originality and authority. It is, as well, a process of displacement that, paradoxically, makes the presence of the book wondrous to the extent to which it is repeated, translated, misread, displaced“. 616 Bhabha weist hier auf den Prozess der Differenz, den Prozess der Verdichtung und Verschiebung hin, durch den jede Ursprünglichkeitsthese ins Wanken gerät. In Anlehnung an Bhabha, der im Einsatz des imperialen Signifikanten im kolonialen Kontext einen Moment der De-Platzierung sieht, lässt sich - unter dem Begriff Ästhetik der Marginalität - die vorliegende Auseinandersetzung mit Roths Texten ebenfalls als eine Über-Setzung, eine De-Platzierung auffassen. Es ist an dieser Stelle zu erwähnen, dass sich dieser erste Teil der Arbeit zum Ziel gesetzt hat, den Begriff Marginalität durch den dekonstruktiven, postkolonialen Diskurs zu begründen. Joseph Roths Leben und Werk 611 Vgl. Aimé Césaire, Nègre je suis, nègre je resterai (Anm. 608), S. 79. Vgl. Hannah Arendt, Elemente und Ürsprünge totaler Herrschaft (Anm. 590). 612 Vgl. Homi K. Bhabha, The Location of Culture (Anm. 365), S. 102. 613 Ebd. 614 Ebd. S. 105. Kursiv Geschriebenes ist eine Hervorhebung i.O. 615 Mit diesem Ausdruck wird implizit auch auf einen gleichnamigen Roman L´aventure ambiguë (1961) (Das zwiespältige Abenteuer) des senegalesischen Schriftstellers Cheikh Hamidou Kane hingewiesen. Der Roman handelt u.a. von der inneren Zerrissenheit der Hauptfigur Samba Diallo zwischen einer westlich-orientierten Schule und einer traditionsgewandten Koran- oder Traditionsschule. Diese Zerrissenheit steht paradigmatisch für die kulturelle Spaltung, die das ganze Volk der Diallobé, Samba Diallos Volksangehörige, in der Romanwelt durchmacht: die Spaltung zwischen Tradition und (Post-)Modernität. Vgl. Cheikh Hamidou Kane, L´aventure ambiguë, préface de Vincent Monteil, Paris 1961. Aus einem anderen Blickwinkel betrachtet, steht diese Spaltung symptomatisch für die Spaltung des imperialen Signifikanten. 616 Homi K. Bhabha, The Location of Culture (Anm. 365), S. 102. 1. 4 Die postkoloniale Theorie im binneneuropäischen Kontext … 133 stehen - so die Grundthese dieser Arbeit - unter dem Zeichen einer Ästhetik der Marginalität. In einem „Unerbittlicher Kampf“ betitelten Zeitungsartikel antwortet Roth auf die Frage der Aufgabe des Dichters im Jahre 1934 wie folgt: […]Talent und Genie befreien keineswegs von der selbstverständlichen Pflicht, das Böse zu bekämpfen, Ein Dichter, der zum Beispiel heute gegen Hitler und gegen das Dritte Reich nicht kämpfte, ist gewiß ein kleiner schwacher Mensch und wahrscheinlich auch ein wertloser Dichter. Es gibt kein wahrhaft wertvolles Talent ohne die folgenden Eigenschaften: 1. Mitgefühl für die unterdrückten Menschen; 2. Liebe zum Guten; 3. Haß gegen das Böse; 4. Mut, das Mitgefühl für die Schwachen, die Liebe zum Guten, den Haß gegen das Böse auch laut und unzweideutig, also deutlich, zu verkünden. Wer diese Eigenschaften nicht besitzt, und nicht offenbart, ist gewiß ein mittelmäßiges Talent oder ein Dilettant. Die Aufgabe des Dichters in unserer Zeit ist - um Ihre Frage ganz präzise zu beantworten: der unerbittliche Kampf gegen Deutschland, denn dieses ist die wahre Heimat des Bösen in dieser Zeit, die Filiale der Hölle, der Aufenthalt des Antichrist. 617 Joseph Roth definiert die Aufgabe des Schriftstellers in der Zeit des faschistischen Machtdispositivs und der Massenmigration als eine kompromisslose Auseinandersetzung mit diesem Phänomen. Damit begründet er in seiner Antwort sein literarisches Schaffen im Sinne einer Ästhetik der Marginalität. Joseph Roth lebte eine Zeitlang als Außenseiter der literarischen Moderne. Wendelin Schmidt-Dengler macht auf diesen Umstand aufmerksam und weckt zeitgleich das Bewusstsein für manche bedenklichen Praktiken von Literaturhistoriographien, „die nach wie vor bemüht sind, Formeln anzubieten, die konversationstüchtig machen“, 618 alles „auf einen Nenner gebracht zu sehen“. 619 Bei genauerem Hinsehen ist festzustellen, dass sein Name auf der 617 Joseph Roth, „Unerbittlicher Kampf. Antwort auf eine Umfrage“ (Pariser Tageblatt, 12. 12. 1934), in: JRW, Band 3, Das Journalistische Werk 1929-1939, S. 559. Künftighin im Fließtext als JRW mit Angabe des Bandes und der Seitenzahl zitiert. 618 Wendelin Schmidt-Dengler problematisiert eben die marginale Existenz Joseph Roths in den Literaturgeschichten. Diese Feststellung führt ihn dazu, manche Mechanismen der Literaturgeschichte zu hinterfragen. Vgl. Wendelin Schmidt-Dengler, „Auf der Wanderschaft: Das Frühwerk Joseph Roths in den Literaturgeschichten“, in: Helen Chambers (Hg.), Co-existent contradictions: Joseph Roth in retrospect (Anm. 36), S. 17f. 619 Ebd. S. 15. 1. Zum Begriff „Ästhetik der Marginalität“ 134 Liste der ›schwergewichtigen‹ Autoren der literarischen Moderne 620 nur marginal auftaucht. Eine literarische Anerkennung wurde ihm dort versagt. 621 Joseph Roth führte als Mensch und Schriftsteller eine Art Schattendasein. „Joseph Roth ist auch ein Heimatloser in den Literaturgeschichten.“ 622 Erst in den 1950er Jahren, als seine Romane verfilmt wurden, prägte er das Bewusstsein des deutschen und weltweiten Lesepublikums. 623 Kurz nach Erscheinen seines Romans Radetzkymarsch (1932) ergriff Adolf Hitler die Macht in Deutschland. Joseph Roth flüchtete ins Pariser Exil. 624 Eigentlich lebte Joseph Roth schon seit den 1920er Jahren in Paris. Seine Werke sowie die zahlreicher anderer deutsch-jüdischer Schriftsteller und Denker wurden vom Naziregime verbrannt. Aufgrund der damaligen Machtverhältnisse sah er sich an den Rand gedrängt. Er fasste sich nun selbst als vertriebener österreichischer Schriftsteller und Denker auf und streifte durch Europa. „Die vertriebenen Schriftsteller sind fremd, wie Israel in Ägypten fremd war“, 625 schreibt Roth. In diesem Zusammenhang war ihm Schreiben und Lesen eine Kategorie des 620 Vgl. Ulrike Steierwald, Leiden an der Geschichte. Zur Geschichtsauffassung der Moderne in den Texten Joseph Roths, Würzburg: Königshausen & Neumann 1994, hier S. 10f. 621 Klaus Westermann (Hg.), Joseph Roth, Journalist. Eine Karriere 1915-1939 (Anm. 151), S. 7. 622 Wendelin Schmidt-Dengler, „Auf der Wanderschaft: Das Frühwerk Joseph Roths in den Literaturgeschichten“, in: Helen Chambers (Hg.), Co-existent contradictions: Joseph Roth in retrospect (Anm. 36), S. 18. 623 Ebd. S. 7. 624 Frankreich wurde Roth zur zweiten sprachlichen und geistigen Heimat. Es scheint, als ob Joseph Roth auf das Französische zurückgriff, um nicht nur die nationalsozialistische Banalität zu ironisieren, sondern um sich selbst Klarheit über manche bedrückende Erlebnisse zu verschaffen. In Frankreich wurde Roth wieder geistig produktiv. Er fand dort eine für die kreative Arbeit geistig günstige Atmosphäre. Vgl. David Bronsen, Joseph Roth: eine Biographie (Anm. 10), S. 274. Joseph Roths Frankreichaufenthalt gewährte ihm Einblick in Aspekte der französischen Literatur. Zola, Proust, Flaubert, Victor Hugo, Stendhal - das sind u.a. französische Schriftsteller und Denker, die Joseph Roth geistig geprägt hätten (vgl. ebd. S. 274f). Joseph Roth war bereit, sich umzustellen und Französisch als die Sprache seiner Texte zu verwenden (vgl. ebd. S. 276). Auf jeden Fall stand Joseph Roth in Beziehung zu beiden Sprachen und machte die Erfahrung der Spaltung des Selbst durch. In einem Brief an seine französische Übersetzerin Blanche Gidon heißt es: „Oh, si je pouvais écrire en français! Maintenant, presqu´à quarante ans, je commence à comprendre qu´écrire en une langue seulement c´est comme avoir un seul bras. Ayant deux patries je devrais pouvoir maitriser deux langues paternelles. Mais, je suis vieux! Et la langue d´un pays est encore plus difficile à connaitre que ses habitants! J´ai des choses très lourdes à dire, elles sont déjà façonnées en allemand dans mon âme.“ Joseph Roth, „An Blanche Gidon, Marseille, 4.6.1934“, in: Hermann Kesten (Hg.), Briefe 1911- 1939, eingeleitet von Hermann Kesten, Köln, Berlin: Verlag Allert de Lange Amsterdam und Verlag Kiepenheuer und Witsch 1970, S. 336. 625 Joseph Roth, „Die vertriebene deutsche Literatur, 4. April 1937 in: JRW 3, S. 709-712, hier S. 712. 1. 4 Die postkoloniale Theorie im binneneuropäischen Kontext … 135 Widerstands, ein symbolisches Auflehnen gegen ein strafkoloniales und faschistisch werdendes Europa. Wir müssen uns eingestehen, daß unsere einzige Waffe das Wort ist. Es ist eine mächtige, gefährliche und sogar magische Waffe, aber sie ist weder scharf noch direkt. Gegenüber den Kanonen von Krupp, den Giftgasen der Leuna- Werke, den Flugzeugen von Göring, den Konzentrationslagern, der Geheimpolizei, der Unfreundlichkeit der Länder, in denen man den deutschen Literaten zwar Gastrecht gewährt, aber in ihnen nur geduldete Ausländer sieht - dem allen gegenüber sind wir nur ‘arme Schriftsteller’ (JRW 3, 712). Schreiben wird zum Mittel, sich mit der unheimlichen Dimension des Lebens auseinanderzusetzen. „La littérature c´est la sincérité même, la seule expression vraie de la vie“, 626 sagt Joseph Roth in einem Interview mit Frédéric Lefèvre. Die schöpferische Arbeit galt Joseph Roth als die einzige wirksamste Waffe in der Emigration gegen die faschistische Bedrohung. 627 An diesem Widerstand beteiligten sich auch andere Zeitgenossen, u.a. Franz Kafka, Franz Werfel, Robert Musil, Réné Schikele, Soma Morgenstern, Józef Wittlin, Hermann Kesten, Stefan Zweig, - alle Juden, die ihren Beitrag zu Ruhm und Gloria der deutschen Literatur geleistet haben, aber trotzdem ins Exil flüchten mussten, um dem nationalsozialistischen Terror zu entkommen. „Europa ist nur ohne das Dritte Reich möglich“ (JRW 3, 560) 628 , schrieb Joseph Roth fast prophetisch. Joseph Roth tritt in seinem Schreiben für die Entrechteten ein. Die Stellung der „Ausgebooteten, Bedürftigen und an den Rand Gedrängten“ 629 im totalitären und strafkolonialen Europa bildet u.a. einen Schwerpunkt im Roths Werk. Aber Roth sagt sowohl binneneuropäischen als auch außereuropäischen Kolonialverhältnissen den Kampf an. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, könnte er als ein postkolonialer Denker - avant la lettre - angesehen werden umso mehr, als er auch immer wieder auf die zentrale Bedeutung der Begriffe Rasse, Klasse und Geschlecht in der europäischen Konstruktion des Anderen aufmerksam macht. Er lenkt den 626 Frédéric Lefèvre, „Une heure avec Joseph Roth“, in: Les Nouvelles Littéraires, 2.6.1934. Zitiert nach David Bronsen, Joseph Roth: eine Biographie (Anm. 10), S. 349. 627 Vgl. ebd. S. 447. 628 Sowohl die Hitler-Diktatur als auch die stalinistische Schreckensherrschaft standen im Mittelpunkt von Joseph Roths Kritik. „Ebenso sehr wie ich gegen Hitler bin, bin ich auch gegen Stalin. Zwischen dem Kommunismus und dem Nationalsozialismus ist wenig Unterschied; im Grunde sind sie sich zum Verwechseln ähnlich. Lenin ist sozusagen der Großvater, Mussolini der Vater und Hitler der Sohn ein und desselben Systems. Dieses System ist im Grunde gottlos. Es sucht sein Heil und seine Zuflucht bei irdischer Macht […]“ Übersetzung aus: Anton van Duinkerken, „In memoriam Joseph Roth“, in: De Groeme Amsterdamer, 63 (1939), S. 4. Zitiert nach David Bronsen, ebd. S. 457. Näheres dazu ist ebenda zu erhalten. 629 Sebastian Kiefer, „Braver Junge - gefüllt mit Gift“: Joseph Roth und die Ambivalenz (Anm. 35), S. 9. 1. Zum Begriff „Ästhetik der Marginalität“ 136 Fokus auf asymmetrische Machtverhältnisse zwischen Zentren und Peripherien sowohl im binneneuropäischen 630 als auch im außereuropäischen Raum. 631 Er schreibt aus einer der ›Dritten Welt‹ ähnlichen Perspektive bzw. aus der Perspektive eines Ausgegrenzten. 632 Sein Schreiben trägt die Züge eines Dagegen-Anschreibens, eines Rückschlags (the empire writes back) gegen die Meistererzählungen über die Weltgeschichte, ein Schreiben aus dem Rand, aus der Peripherie. „Joseph Roth as Joseph Conrad is writing from the margin of the Habsburg Empire“, 633 bemerkt Wolfgang Müller-Funk in diesem Zusammenhang. Mit dieser Aussage ortet Müller-Funk unter anderem die Perspektive, aus der sich Joseph Roths Schreiben entfaltet, und zwar aus der Marginalität, aus der Peripherie, aus der Grenze, aus einem Dritten Raum. Diese Perspektive kann hypothetisch auch als Dritte-Welt-Perspektive bezeichnet werden, weil das Bewusstsein für das Spektrum der Beziehungen zwischen Zentrum und Peripherie, zwischen ›Erster‹ und ›Dritter‹ Welt, in Joseph Roths Texten bzw. durch seine Texte geweckt und geschärft wird. 634 Galizien, Joseph Roths Geburtsort, war ein Raum der kulturellen Differenzen: von Juden, Polen, Ruthenen und Deutschen bewohnt, geprägt von einer deutsch-jüdisch-polnisch-slawischen Kultur. Menschliche Gemeinschaften, die die Erfahrung der Differenz aber gleichzeitig auch die der unhintergehbaren Interdependenz machen mussten. Galizien war ursprünglich ein slawischsprachiges Gebiet, das gemäß dem machtpolitischen Programm der k.u.k. Donaumonarchie kolonisiert wurde, wobei die slawische und andere Sprachen zugunsten der deutschen Sprache - der Sprache der Imperialmacht - erheblich verdrängt wurden. 635 Dies erinnert an jene Textstelle aus dem Ro- 630 Hingewiesen wird auf die Stellung der Juden und andere Minderheiten im Rahmen des binneneuropäischen Imperialkolonialismus. 631 Hingewiesen wird auf die Stellung der Schwarzen im Zuge des außereuropäischen Imperialkolonialismus. 632 Als Student in Wien hatte er den Antisemitismus am eigenen Leib erfahren. Näheres dazu vgl. David Bronsen, Joseph Roth: eine Biographie (Anm. 10), S. 150f. 633 Aus der Rede von Wolfgang Müller-Funk anlässlich der Vorlesung von Homi K. Bhabha, „On cultural Hybridity - Tradition and Translation“ (Anm. 140). 634 Vgl. Paul Michael Lützeler, Postmoderne und Postkoloniale deutschsprachige Literatur. (Anm. 174), S. 27. 635 Vgl. David Bronsen, Joseph Roth: eine Biographie (Anm. 10), S. 120, 168. Untertanen - aus den peripheren Gebieten der Monarchie -, die der deutschen Sprache mächtig waren, zogen in die Imperialmetropole Wien. Unter den in die Metropole Ziehenden gehörten selbstverständlich auch jene, die der deutschen Sprache nicht mächtig waren. Hier ergibt sich ein Überschneidungspunkt zwischen Galizien und Afrika. Hervorragende SchülerInnen aus dem kolonialen Afrika oder Asien setzten meistens ihr Studium an namhaften Universitäten oder universitären Institutionen der Metropole fort - La Sorbonne, Paris, London, Cambridge, Birmingham, Madrid, Berlin, Hamburg, Harvard usw. Während der imperialen Begegnung zwischen Europa und Afrika wurden die afrikanischen Sprachen auch durch Praktiken und Rituale verdrängt. Die Schule war die Stätte par excellence, in der solche Rituale und Praktiken stattfanden. Unter dem Deckmantel der ›mission civilisatrice‹ war es zum Beispiel 1. 4 Die postkoloniale Theorie im binneneuropäischen Kontext … 137 man Radetzkymarsch, in der unter den k.u.k. Soldaten und Offizieren das ›Gerücht‹ umgeht, „daß man den Thronfolger der österreichisch-ungarischen Monarchie wahrscheinlich in Sarajevo erschossen habe“ (JRW 5, 418f). Diejenigen ungarischen Soldaten und Offiziere der k.u.k. Armee, die sich auf Ungarisch oder Slowenisch gemeinsam auflachend über dieses Gerücht unterhielten, werden in einem martialischen Ton dazu ermahnt, „‘die Unterhaltung auf deutsch fortzusetzen’“ (JRW 5, 423). Joseph Roths Schreibweise zeichnet sich durch einprägsame Beschreibung und Bilderreichtum aus. Der Autor präferiert eine bildreiche Sprache, die keine platte Abbildung der Wirklichkeit sein kann, sondern die Wirklichkeit entlarvt, das unsichtbare Wirkliche sichtbar macht. Randexistenzen, unheimliche Lebensformen gehören zu jenen gesellschaftlichen Phänomenen, die meistens durch gewaltvolle Strukturen unsichtbar gemacht werden. Roths Texte schildern u.a. Menschen in unheimlichen Lebenssituationen. Artikuliert werden Formen des Überlebens, wie man diese aus der ›Dritten Welt‹ kennt. Die Inszenierung unheimlicher Existenzformen stellt u.a. einen der spannenden Aspekte von jenen Texten Roths dar, die in dieser Untersuchung in Betracht kommen. Im folgenden Teil wird der Frage nachgegangen, wie sich das unheimliche, das marginale Leben von bestimmten in Roths Texten dargestellten Gestalten äußert. während der Pausen in Schulhöfen verboten, einheimische Sprachen zu verwenden. Diese koloniale Sprachsystematik herrschte auch auf den Antillen. Dazu merkt Fanon an: „Aux Antilles […] les instituteurs surveillent étroitement les enfants pour que le créole ne soit pas utilisé.“ Frantz Fanon, Peau noire, masques blancs (Anm. 75), S. 22. Dieses koloniale Ritual eroberte auch die private Sphäre von Familien. Frantz Fanon weist unter anderem auf jene Kinder im kolonialen Martinique hin, die von ihren Eltern heftig geschlagen wurden, weil sie es gewagt hatten, die Kreolsprache zu verwenden, oder weil sie Französisch nicht konnten. Vgl. Frantz Fanon, ebd. Diese koloniale Sprachsytematik wird von zahlreichen afrikanischen SchriftstellerInnen literarisch thematisiert u.a. vgl. Chinua Achebe, No Longer at Ease, Illustrated by Bruce Onobrakpeya. Ibadan, London: Heinemann 1987. Erstausgabe 1960. Vgl. Ngugi wa Thiong´o. Weep not child (Anm. 600). Vgl. Mongo Beti. Ville cruèlle (Anm. 168). Vgl. ders. Mission Terminée (Anm. 169). 2. Unhei mliches Lebe n: zu de n Ersc heinungsfor men der Marginalität … 2. Unheimliches Leben: zu den Erscheinungsformen der Marginalität von Roths Hauptgestalten 2.1 Sigmund Freud, Julia Kristeva und Homi Bhabha über das Unheimliche Dieser Teil der Untersuchung setzt sich zum Ziel, das unheimliche, marginale Leben von einigen Figuren Roths zu erschließen. Der ganzen Analyse liegt die Betrachtung von Marginalität und Unheimlichem als sich überlappende Phänomene zugrunde. Es handelt sich um Figuren gemäß dem postkolonialen Gestus der Grenzverwischung. Homi Bhabha bringt diese Überlappung marginalisierter, unheimlicher Lebensformen in Ahnlehnung an Frantz Fanon, wie folgt, auf den Punkt: „[T]he alienated, those who have to live under the surveillance of a sign of identity and fantasy that denies their difference.“ 636 Homi Bhabhas Kategorie des Unheimlichen ist eine Entlehnung von Sigmund Freud. 637 Freud geht dem Wort ›unheimlich‹ etymologisch nach: Das deutsche Wort ‘unheimlich’ ist offenbar der Gegensatz zu heimlich, heimisch, vertraut und der Schluß liegt nahe, es sei etwas eben darum schreckhaft, weil es nicht bekannt und vertraut ist. Natürlich ist aber nicht alles schreckhaft, was neu und nicht vertraut ist […] Zum Neuen und Nichtvertrauten muß erst etwas hinzukommen, was es zum Unheimlichen macht. 638 Freud stellt dem Wort ›unheimlich‹ die Wörter, ›heimisch‹, ›heimlich‹ und ›vertraut‹ gegenüber, wobei sich das Wort ›unheimlich‹ als deren Gegensatz herausstellt. Auf diesen Gegensatz bezugnehmend, kommt Freud zu dem Zwischenschluss, dass das Unheimliche deshalb schreckhaft und angsterregend sei, weil es nicht bekannt und vertraut sei. 639 Freud schränkt dennoch ein, dass nicht alles als schreckhaft gelte, was neu und nicht vertraut sei. 640 In diesen Ausführungen bezieht sich Freud auf die Vorarbeiten des Psychologen Ernst Jentsch, der bei dieser Beziehung des Unheimlichen zum 636 Homi K. Bhabha, „Remembering Fanon: Self, Psyche and the Colonial Condition“, in: Frantz Fanon, Black skin, white masks (Anm. 179), S. xxxv. 637 Vgl. Homi K. Bhabha, The Location of Culture (Anm. 365), S. 10. 638 Sigmund Freud, Das Unheimliche, in: ders. Das Unheimliche. Aufsätze zur Literatur, herausgegeben von Klaus Wagenbach, London: Imago Publishing 1948, S. 45-84, hier S. 47. Kursiv Geschriebenes ist eine Hervorhebung i.O. 639 Vgl. ebd. 640 Vgl. ebd. 2.1 Sigmund Freud, Julia Kristeva und Homi Bhabha über das Unheimliche 139 2.1 Sig mund Freud, J uli a Kristeva und Ho mi K. Bha bha über da s Unhei mliche Neuartigen und Nichtvertrauten, so Freud, stehen geblieben sei. 641 Mit einer gewissen Distanz gibt Freud das wieder, was das Unheimliche aus Jentschs Perspektive wäre: Er findet die wesentliche Bedingung für das Zustandekommen des unheimlichen Gefühls in der intellektuellen Unsicherheit. Das Unheimliche wäre eigentlich immer etwas, worin man sich sozusagen nicht auskennt: Je besser ein Mensch in der Umwelt orientiert ist, desto weniger leicht wird er von den Dingen oder Vorfällen in ihr den Eindruck der Unheimlichkeit empfangen. 642 Freud hält aber „die Gleichung unheimlich gleich nicht vertraut“ 643 für unzulässig und schaut über diesen Tellerrand hinaus. Unter Bezugnahme auf Daniel Sanders´ Wörterbuch, kommt er zu der Feststellung, „daß das Wörtchen heimlich unter den mehrfachen Nuancen seiner Bedeutung auch eine zeigt, in der es mit seinem Gegensatz unheimlich zusammenfällt“. 644 Freud macht darauf aufmerksam, dass das Wort ›heimlich‹ auch weitere Vorstellungskreise beinhaltet, „die, ohne gegensätzlich zu sein, einander doch recht fremd sind, dem des Vertrauten, Behaglichen und dem des Versteckten, Verborgengehaltenen. Unheimlich sei nur als Gegensatz zur ersten Bedeutung, nicht auch zur zweiten gebräuchlichen.“ 645 Er führt eine weitere Auffassung des Unheimlichen an, nämlich die von Schelling: „Unheimlich sei alles, was ein Geheimnis, im Verborgenen bleiben sollte und hervorgetreten ist.“ 646 Sich auf Schellings Definition stützend, kommt Freud zu dem Schluss, dass dem Wort ›unheimlich‹ eine Ambivalenz, eine dezentrierende Polysemie innewohnt. „Unheimlich ist irgendwie eine Art von heimlich.“ 647 In Fremde sind wir uns selbst expliziert Kristeva das, was Freud durch eine semantische Untersuchung des Adjektivs heimlich und seines Antonyms unheimlich bezweckt. Sie schreibt: Ausgehend von einer semantischen Untersuchung des deutschen Adjektivs heimlich und seines Antonyms unheimlich, will Freud tatsächlich zunächst darlegen, daß eine dem Antonym verwandte negative Bedeutung bereits dem positiven Begriff heimlich anhaftet, das ‘vertraut’, aber auch ‘geheim’, ‘verborgen’, ‘undurchdringlich’, ‘hinterlistig’ bedeutet. So verkehren sich in dem Wort heimlich selbst das Vertraute und Intime in ihr Gegenteil und fallen mit dem entgegengesetzten Sinn von ‘beunruhigender Fremdheit’ zusammen, der in unheimlich steckt. 648 641 Vgl. ebd. 642 Ebd. 643 Ebd. 644 Ebd. S. 51. 645 Ebd. 646 Ebd. 647 Ebd. S. 53. 648 Julia Kristeva, Fremde sind wir uns selbst, aus dem Französischen von Xenia Rajewsky, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1990, S. 199. 2. Unheimliches Leben: zu den Erscheinungsformen der Marginalität … 140 Die Wörter ›heimlich‹, ›heimisch‹ und ›unheimlich‹ scheinen sich an einem Punkt der Grenzverwischung, der Ununterscheidbarkeit zu treffen. Der Begriff ›unheimlich‹ vollzieht die Verschiebung, die Spaltung von Bedeutung im selben Wort. Es könnte demzufolge symbolisch auch für die Spaltung des Subjekts in bestimmten Lebenssituationen stehen: Das Nicht-zuhause-Sein in der Welt, die Tatsache oder das Gefühl, Gast auf der Erde zu sein, 649 die Angst vor der beunruhigenden Fremdheit der Welt, das Konfrontiert-Sein mit der eigenen Existenz, mit der Not, der Angst, der Schwierigkeit des eigenen Seins in der Welt, das Konfrontiert-Sein mit dem Tod. Dies bildet - wie später gezeigt wird - einen der Aspekte der Freud’schen Auffassung des Unheimlichen, die sich Homi Bhabha in The Location of Culture aneignet. Diese Spielart des Unheimlichen beschreibt und veranschaulicht das marginale Dasein des Menschen auf Erden. Die „Konfrontation mit dem Tod und seinen Vorstellungen“ 650 gehört, laut Kristeva, zu jenen existentiellen Grenzsituationen, in denen das Ich Unheimliches erlebt. 651 Der beängstigende Gedanke an den eigenen Tod wird vom Ich immer wieder ins Unbewusste verdrängt. Dieser kehrt aber immer wieder in der Form „der beunruhigenden Fremdheit“. 652 Etwas, „was ein Geheimnis, im Verborgenen bleiben sollte“, 653 tritt aber unter bestimmten Bedingungen wieder hervor. 654 Kristeva bringt es auf den Punkt: „Wir stellen uns als Weiterlebende vor (die Religionen versprechen die Unsterblichkeit), aber der Tod bleibt der Feind des Weiterlebenden […]“ 655 Auch die Suche nach Liebe, die Phänomenologie der Liebe beinhaltet Aspekte des Unheimlichen. 656 „‘Liebe ist Heimweh’“. 657 „Die Varianten des Unheimlichen, der beunruhigenden Fremdheit sind vielfältig […]“ 658 Diese Aussage Kristevas halte ich für besonders produktiv für diese Untersuchung. Freud unterscheidet zwischen dem Unheimlichen der materiellen Realität und dem Unheimlichen der Fiktion, sprich der psychischen Realität. 659 Als Beispiel führt Freud die Figur des Sandmannes aus Ernst Theodor Amadeus Hoffmanns 660 gleichnamiger Erzählung Der Sandmann an. 661 Freud sieht in E.T.A. Hoffmann „de[n] unerreichte[n] Meister des Unheimlichen in der 649 Tarabas, ein Gast auf dieser Erde heißt eben der Titel eines Romans, den Joseph Roth im Jahre 1934 veröffentlicht. Vgl. JRW 5, 479-628. 650 Julia Kristeva, Fremde sind wir uns selbst (Anm. 648), S. 201. 651 Vgl. ebd. 652 Ebd. S. 203. 653 Sigmund Freud, Das Unheimliche (Anm. 638), S. 53. 654 Vgl. Julia Kristeva, Fremde sind wir uns selbst (Anm. 648), S. 201. 655 Ebd. 656 Vgl. ebd. S. 201f. 657 Ebd. S. 201. 658 Ebd. S. 203. 659 Vgl. Sigmund Freud, Das Unheimliche (Anm. 638), S. 80. 660 Abgekürzt E.T.A. Hoffmann. 661 Diese Erzählung wird hier im Haupttext aus erster Quelle angeführt. 2.1 Sigmund Freud, Julia Kristeva und Homi Bhabha über das Unheimliche 141 Dichtung“. 662 Dies wird anhand von dessen Erzählung veranschaulicht. Der Student Nathanael versucht seinem Freund Lothar brieflich durch Worte und Bilder das auszumalen, was ihm widerfahren ist, und zwar die Begegnung mit einem Händler optischer Geräte, der in Nathanaels Gedächtnis ein grausames Erlebnis der frühen Jugendzeit wachruft. Nathanael erzählt dieses Erlebnis seinem Freund Lothar, damit dieser nachempfinden kann, was ihn innerlich quält. Er macht eine Rückblende auf das Ritual des Mittag- und Abendessens aus seiner Jugendzeit, wie es damals im Familienkreis gepflegt wurde. Es waren Augenblicke, in denen die ganze Familie zusammentraf. Nach dem Abendmahl pflegten die Familienangehörigen sich ins Arbeitszimmer des Vaters zu setzen, wobei der Vater Tabak rauchend Geschichten erzählte. 663 Gemeinsames Mittag- und Abendessen, Geschichten im Familienkreis erzählen gehören zu Momenten, die beim Subjekt ein Gefühl der Heimat und Geborgenheit erwecken. Die Erzählungen des Vaters wurden jeden Abend um Punkt neun Uhr durch ein dumpfes Treten und Poltern aus dem Treppenhaus unterbrochen. In solchen Augenblicken wurde die Mutter immer von Traurigkeit übermannt. „‘Nun Kinder! - zu Bette! zu Bette! der Sandmann kommt, ich merk es schon.’“ 664 Eines Abends fasst der kleine Nathanael Mut und fragt die Mutter: „‘Ei Mama! wer ist denn der böse Sandmann, der uns immer von Papa forttreibt? ’“ 665 Die Mutter meint, es sei eine Erfindung. „‘Es gibt keinen Sandmann, mein liebes Kind’, erwiderte die Mutter; ‘wenn ich sage, der Sandmann kommt, so will das nur heißen, ihr seid schläfrig und könnt die Augen nicht offen behalten, als hätte man euch Sand hineingestreut.’“ 666 Die Antwort der Mutter beruhigt der kleine Nathanael nicht. Denn er hat eben gemerkt, dass seine Mutter immer um Punkt neun traurig und hektisch wird. Nathanael will Näheres über diesen Unbekannten erfahren, der die Ordnung des Vaters in Unordnung bringt. „‘Ei Mama! wer ist denn der böse Sandmann, der uns immer von Papa forttreibt? ’“ 667 Er befragt auch das Dienstmädchen über die Identität des rätselhaften Sandmannes. ‘[…] Das ist ein böser Mann, der kommt zu den Kindern, wenn sie nicht zu Bett gehen wollen und wirft ihnen Händevoll Sand in die Augen, dass sie blutig zum Kopf herausspringen, die wirft er dann in den Sack und trägt sie in den Halbmond zur Atzung für seine Kinderchen; die sitzen dort im Nest und haben krumme Schnäbel, wie die Eulen, damit picken sie der unartigen Menschenkindlein Augen auf.’ 668 662 Sigmund Freund, Das Unheimliche (Anm. 638), S. 62. 663 E.T. A. Hoffmann, Der Sandmann, Stuttgart: Philipp Reclam 2003, S. 3. Im Jahre 1871 erstmals veröffentlicht. 664 E. T. A. Hoffmann, Der Sandmann, ebd. S. 4. 665 Ebd. 666 Ebd. S. 4f. 667 Ebd. S. 4. 668 Ebd. S. 5. 2. Unheimliches Leben: zu den Erscheinungsformen der Marginalität … 142 Dieses grausige Bild des Sandmannes flößt dem kleinen Nathanael Angst und Entsetzen ein. Dennoch bleibt die Neugier des Buben ungestillt. Der unbekannte nächtliche Gast machte das Heim zu einem unheimlichen Ort. Trotz seiner Angst fasst Nathanael eines Abends den Entschluss, sich im Zimmer des Vaters zu verstecken und den Sandmann zu erwarten. Von seinem Versteck aus entdeckt er die Gestalt des sog. Sandmannes. Es handelt sich um keinen anderen als den alten Advokaten Coppelius, der manchmal bei Nathanaels Vater zu Mittag isst. Beim Anblick des grotesken Körpers von Doktor Coppelius ist Nathanael davon überzeugt, es mit dem Sandmann zu tun zu haben. Darüber hinaus macht Nathanael eine grausame Entdeckung. In der Nacht pflegt Dr. Coppelius das Arbeitszimmer von Nathanaels Vater in einen esoterischen Tempel zu verwandeln, in dem er (als Meister) und Nathanaels Vater (als gequälter Ministrant) dunkle, okkulte Messen zelebrieren. Nathanael musste damals ansehen, wie Dr. Coppelius seinen Vater bei der okkulten Messe misshandelte. 669 Nathanael wird letztendlich von Meister Coppelius erwischt. An dieser Stelle merkt der Leser, dass Nathanaels Vater und Dr. Coppelius einen esoterischen Pakt geschlossen hatten, nach dem der Vater seinen Sohn ritualartig durch Coppelius ermorden lassen sollte. Der Leser fragt sich sogar, ob Dr. Coppelius und Nathanaels Vater nicht Doppelgänger sind? Nathanaels Vater willigt in den Ritualmord in extremis nicht ein. Dadurch rettet er seinen Sohn. Aber der gekränkte Meister Coppelius kommt nach langer Abwesenheit zurück und verübt einen gewaltvollen Ritualmord am Vater, ein Mord, der die ganze Stadt entsetzt. 670 Der Vater ist anstelle des Sohnes ermordet worden. Jahre später fühlt sich der Student Nathanael durch die Figur Giuseppe Coppola, den Wetterglashändler, an den einstigen teuflischen Dr. Coppelius erinnert. Die Geschichte, die Nathanael seinem Freund Lothar erzählt, trägt unheimliche Züge, denn es bleibt weiterhin unklar, ob sich die ganze Szene im Traum abgespielt hat oder ob es sich hier um Erlebtes handelt. 671 Durch diese Verwirrung ist die Erzählung unheimlich zwischen Traum und Wirklichkeit angesiedelt. Wenn es sich ausschließlich um Nathanaels Traumgedanken 669 Vgl. ebd. S. 8-10. 670 „Es mochte wohl schon Mitternacht sein, als ein entsetzlicher Schlag geschah, wie wenn ein Geschütz losgefeuert wurde. Das ganze Haus erdrohnte, es rasselte und rauschte bei meiner Türe vorbei, die Haustüre wurde klirrend zugeworfen. ‘Das ist Coppelius’, rief ich entsetzt und sprang aus dem Bette. Da kreischte es auf in schneidendem trostlosen Jammer, fort stürzte ich nach des Vaters Zimmer, die Tür stand offen, erstickender Dampf quoll mir entgegen, das Dienstmädchen schrie ‘Ach, der Herr! - der Herr! ’ - Vor dem dampfenden Herde auf dem Boden lag mein Vater tot mit schwarz verbranntem grässlich verzerrtem Gesicht, um ihn herum heulten und winselten die Schwestern - die Mutter ohnmächtig daneben! - ‘Coppelius, verruchter Satan, du hast den Vater erschlagen! ’“ Ebd. S. 11. 671 Vgl. ebd. S. 7-10. 2.1 Sigmund Freud, Julia Kristeva und Homi Bhabha über das Unheimliche 143 handelt, dann kann man auch von der Allmacht der Gedanken, von einer magischen Denkweise sprechen, die laut Freud ›primitive Menschen‹, Kinder und Zwangsneurotiker kennzeichnet. 672 Der Traum oder der Tagtraum als Raum des magischen Denkens wird dann zum Raum des Unheimlichen. In seiner Deutung von Hoffmanns Text vergleicht Freud das Gefühl des Unheimlichen nicht einfach, wie der Psychologe Ernst Jentsch, mit ›einer intellektuellen Unsicherheit‹, sondern vielmehr mit einer schreckliche[n] Kinderangst, die Augen zu beschädigen oder zu verlieren. Vielen Erwachsenen ist diese Ängstlichkeit verblieben und sie fürchten keine andere Organverletzung so sehr wie die des Auges. Ist man doch auch gewohnt zu sagen, dass man etwas behüten werde wie seinen Augapfel. Das Studium der Träume, der Phantasien und Mythen hat uns dann gelehrt, dass die Angst um die Augen, die Angst zu erblinden, häufig genug ein Ersatz für die Kastrationsangst ist. 673 672 Vgl. Julia Kristeva, Fremde sind wir uns selbst (Anm. 648), S. 202. Was ein Kind, einen primitiven oder animistischen Menschen und einen Zwangsneurotiker miteinander verbindet, ist - laut Freud - eine animistische, magische Denkweise, „die Herrschaft der Ideenassoziationen“. Sigmund Freud, Totem und Tabu (1912/ 13) „III. Animismus, Magie und die Allmacht der Gedanken“, in: ders. Fragen der Gesellschaft. Ursprünge der Religion, Band IX, Studienausgabe, Frankfurt/ Main: S. Fischer Verlag 1974, S. 364-386, hier S. 371. Unter magischer Denkweise versteht Freud jede Vorstellung, die Außenwelt durch Gedanken verändern zu können (vgl. ebd. S. 314, 377). Freud unterscheidet drei Stadien in der Entwicklung der menschlichen Psyche. Und diese Stadien entsprechen, Freud zufolge, drei Denksystemen der Menschheitsgeschichte: dem anymistischen, dem religiösen und dem wissenschaftlichen Entwicklungsstadium. „Wenn wir im Nachweis der Allmacht der Gedanken bei den Primitiven ein Zeugnis für den Narzißmus erblicken dürfen, so können wir den Versuch wagen, die Entwicklungsstufen der menschlichen Weltanschauung mit den Stadien der libidinösen Entwicklung des einzelnen in Vergleich zu ziehen. Es entspricht dann zeitlich wie inhaltlich die animistische Phase dem Narzißmus, die religiöse Phase jener Stufe der Objektfindung, welche durch die Bindung an die Eltern charakterisiert ist, und die wissenschaftliche Phase hat ihr volles Gegenstück in jenem Reifezustand des Individuums, welcher auf das Lustprinzip verzichtet hat und unter Anpassung an die Realität sein Objekt in der Außenwelt sucht.“ Ebd. S. 378. Freud unterstreicht dennoch, dass die Grenzen zwischen diesen Entwicklungsstadien sehr ambivalent sind. „Der Mensch bleibt in gewissem Maße narzisstisch, auch nachdem er äußere Objekte für seine Libido gefunden hat.“ Ebd. S. 377. Im religiösen und wissenschaftlichen Entwicklungsstadium sind Spuren magischer Denkweise vorhanden. Genauso wie die animistische Denkweise immer noch im Menschen überdauert, ist das Infantile im Erwachsenenalter auch präsent. 673 Sigmund Freud, Das Unheimliche (Anm. 638), S. 59. Dass E.T.A. Hoffmann ein Meister des Unheimlichen in der Dichtung sei, verdeutlicht Freud am Beispiel von anderen Texten E.T.A. Hoffmanns. Näheres siehe ebd. Freud befasst sich auch mit weiteren Spielarten der Figur des Unheimlichen, u.a. „die Beziehung zum Tode“, sowie „die unbeabsichtigte Wiederkehr des Gleichen“ (ebd. S. 66, 67, 77), die Figur des Doppelgängers (vgl. ebd. S. 65) sowie die Figur des Wahnsinns (vgl. ebd. S. 73). 2. Unheimliches Leben: zu den Erscheinungsformen der Marginalität … 144 Die Kastrationsangst, die Angst, ein Organ zu verlieren, die Angst, die Macht zu verlieren oder daran nicht beteiligt zu sein, auf die Freud hier anspielt 674 , weist eine Verbindung zum Ödipuskomplex bzw. zur Vatertötungsproblematik auf. 675 Die Vatertötungsfrage bei Freud wirft eine grundsätzliche anthropologische, gesellschaftliche und kulturwissenschaftliche Frage auf: die Frage des Menschen, die unzertrennlich mit den kulturwissenschaftlichen Fragen der Macht, der Gewalt, der Differenz und Interdependenz verbunden ist. Sie veranschaulicht eine generationsübergreifende Ansteckung, eine mimetische Rivalität, die nicht biologisch, sondern kulturell besetzt ist. 676 Diese Rivalität sieht von Generation zu Generation unterschiedlich aus. Die Vatertötung weist auf den symbolischen oder reellen Tod hin, der vom Anderen, vom Unbekannten, herbeigeführt wird. „Der andere (sic), das ist mein (eigenes) Unbewußtes“ 677 , beteuert Kristeva. Die Begegnung mit dem Anderen kommt eine Begegnung mit dem Unbewussten, mit dem Unheimlichen gleich. 678 Näheres ist ebd von S. 62 bis S. 83 zu erhalten. Auffallend ist aber, dass Freud zwischen zwei Grundformen des Unheimlichen unterscheidet, nämlich zwischen dem Unheimlichen, was „eine Frage der materiellen Realität“ (ebd. S. 79) ist, und dem, was „von verdrängten infantilen Komplexen [..], von Kastrationskomplex“ (ebd. S. 79) ausgeht. Diese letztere Form des Unheimlichen bezeichnet Freud als „das Unheimliche der Fiktion“ (ebd. S. 80), „der Phantasie, der Dichtung“ (ebd.), eine „psychische Realität“, die „vor allem weit reichhaltiger [ist] als das Unheimliche des Erlebens, es umfasst dieses in seiner Gänze und dann noch anderes, was unter den Bedingungen des Erlebens nicht vorkommt“. Ebd. Näheres über das Verhältnis beider Grundformen des Unheimlichen zueinander ist ebd zu erhalten. Wie es sich in diesem Teil der Arbeit herausstellen wird, sind beide Grundformen des Unheimlichen, wie Freud sie unterscheidet, in Joseph Roths Texten zu finden und fließen ineinander. 674 Kristeva kann hier zur Bekräftigung angeführt werden: „Das Unheimliche, das bei Nathaniel (in Hoffmanns Erzählung Der Sandmann) die Vaterfigur und ihre Substitute ebenso wie die Anspielungen auf die Augen auslösen, ist mit der vom Kind erlebten Kastrationsangst verbunden; es ist eingeschrieben in sein Unbewußtes, verdrängt und tritt schließlich anläßlich eines Zustands der Verliebtheit wieder in Erscheinung.“ Julia Kristeva, Fremde sind wir uns selbst (Anm. 648), S. 200. 675 Vgl. Eveline List, Psychoanalyse: Geschichte, Theorien, Anwendungen, Wien: Facultas Verlag 2009, S. 86-88. 676 Die Frage der Kastrationsangst bildet den roten Faden, der folgende Texte Freuds durchzieht: u.a. vgl. Sigmund Freud, „Totem und Tabu (1912/ 13). III. Animismus, Magie und die Allmacht der Gedanken“, in: ders. Fragen der Gesellschaft. Ursprünge der Religion (Anm. 672). Vgl. ders. „Totem und Tabu (1912/ 13). IV. Die infantile Wiederkehr des Totemismus“ , in: ders. Fragen der Gesellschaft. Ursprünge der Religion, ebd. S. 387-444. Vgl. ders. „Dostojevski und die Vatertötung“ (1928/ 1927), in: ders. Bildende Kunst und Literatur, Band X, Frankfurt/ Main: Fischer Verlag 1969, S. 267-286. 677 Julia Kristeva, Fremde sind wir uns selbst (Anm. 648), S. 200. 678 Vgl. ebd. S. 203. Kristeva bezeichnet die Begegnung mit dem Anderen als „Erfahrung des Abgrunds“ (ebd.) als „Erfahrung der Alterität“ (ebd. S. 205). „Angesichts des Fremden […] lösen sich meine festgefügten Grenzen auf, meine Konturen zerfließen, Erinnerungen an Erlebnisse, in denen man mich fallengelassen hat, überfluten mich, 2.1 Sigmund Freud, Julia Kristeva und Homi Bhabha über das Unheimliche 145 Laut Kristeva ist der Andere eine Erscheinungsform, eine Ortlichkeit des Unheimlichen. Sie betrachtet die Begegnung mit dem Anderen als Moment des Erlebnisses der Kastrationsangst. Dieses Unbewusste kann auch die Züge des gesellschaftlichen Machtdispositivs annehmen. 679 Der schreckenerregende Sandmann aus E.T.A. Hoffmanns Erzählung könnte paradigmatisch für das gesellschaftliche Machtdispositiv 680 , für Disziplinarmächte 681 stehen. Denn das Gefühl des Unheimlichen kann vom Machtdispositiv beim Individuum hervorgerufen werden. Diese Aspekte vom Freud’schen Begriff des Unheimlichen werden von Homi Bhabha aufgenommen und weiterentwickelt. If, for Freud, the unheimlich is ´the name for everything that ought to have remained … secret and hidden but has come to light,´ then Hannah Arendt´s description of the public and private realms is a profoundly unhomely one: ´it is the distinction between things that should be shown´, she writes, which ich verliere die Haltung. Ich fühle mich ‘verloren’, ‘konfus’.“ Ebd. S. 203. Die Erfahrung des Unheimlichen bzw. das Unheimliche, laut Kristeva, ergibt sich aus einem „Zusammenbrechen der bewußten Abwehr, ausgehend von Konflikten, die das Ich gegenüber einem anderen (sic) - dem Fremden - erfährt […]“ Ebd. S. 205. 679 Auf die vielfältigen Erscheinungsformen der Freud’schen Kastrationsangst bzw. des Kastrationskomplexes machen die Erläuterungen von Jean Laplanche aufmerksam: „[…] Le complexe de castration est la condition a priori qui règle l´échange interhumain en tant qu´échange d´objets sexuels qu´il peut dans l´expérience concrète se présenter sous plusieurs facettes, être ramené à des formulations à la fois différentes et complémentaires […]“ Jean Laplanche/ J-B, Pontalis, Vocabulaire de la psychanalyse, sous la direction de Daniel Lagache, Paris: Presses universitaires de France 1967, S. 78. 680 Vgl. Sigmund Freud, Das Unheimliche (Anm. 638), S. 60. 681 Der Begriff Disziplinarmacht wird hier in Anlehnung an Michel Foucault angeführt. Foucault macht besonders auf die Spaltung des Selbst durch die Techniken der Disziplinarmacht bei gleichzeitiger Betonung von deren produktiver Seite aufmerksam. „Sie definiert, wie man die Körper der anderen in seine Gewalt bringen kann, nicht nur, um sie machen zu lassen, was man verlangt, sondern um sie so arbeiten zu lassen, wie man will: mit den Techniken, mit der Schnelligkeit, mit der Wirksamkeit, die man bestimmt. Die Disziplin fabriziert auf diese Weise unterworfene und geübte Körper, fügsame und gelehrige Körper. Die Disziplin steigert die Kräfte des Körpers (um die ökonomische Nützlichkeit zu erhöhen) und schwächt diese selben Kräfte (um sie politisch fügsam zu machen). Mit einem Wort: sie spaltet die Macht des Körpers; sie macht daraus einerseits eine ‘Fähigkeit’, eine ‘Tauglichkeit’, die sie zu steigern sucht; und anderseits polt sie die Energie, die Mächtigkeit, die daraus resultieren könnte, zu einem Verhältnis strikter Unterwerfung um. Wenn die ökonomische Ausbeutung die Arbeitskraft vom Produkt trennt, so können wir sagen, daß der Disziplinarzwang eine gesteigerte Tauglichkeit und eine vertiefte Unterwerfung im Körper miteinander verkettet.“ Michel Foucault, Überwachen und Strafen (Anm. 371), S. 176f. 2. Unheimliches Leben: zu den Erscheinungsformen der Marginalität … 146 through their inversion in the modern age ´discovers how rich and manifold the hidden can be under conditions of intimacy´. 682 Bhabha lenkt die Aufmerksamkeit auf unheimliche Lebensformen. Mit diesem Begriff weist er auf unterdrückte und verdrängte Stimmen und Geschichten, die nicht zu Wort kommen können, die sich nicht mitteilen können und daher nicht gehört werden. Mit Frantz Fanon stimmt er darin überein, dass diese verdrängten Stimmen ihren Geschichten auch Gehör verschaffen dürfen. In Anlehnung an Fanon warnt er aber vor jeder Überglorifizierung oder Fixierung sogenannter „indigenous cultural traditions“ 683 . Bhabha unterstreicht vielmehr das Moment der Grenzverwischung, des Ineinanderverwoben-Seins vom Selbst und Anderen. Dies scheint die andere für ihn tiefere und vertretbare Dimension der Kategorie des Unheimlichen zu sein. „To be unhomed is not to be homeless, nor can the ´unhomely´ be easily accommodated in that familiar division of social life into private and public spheres.” 684 In Bhabhas Beschäftigung mit dem Unheimlichen rückt jener Kreuzungspunkt besonders in den Vordergrund, an dem Privates und Öffentliches, das Eigene und das Fremde ineinanderfließen, ununterscheidbar werden. Bhabha greift auf ein Bild aus Henry James´ Roman The Portrait of a Lady zurück, um die Erfahrung des Unheimlichen anschaulich zu machen. Die Figur Isabel Archer wird in ihrer Privatsphäre, in ihrem geheimen Inneren bzw. in ihrem abgeschiedenen Ort, mit einem unfassbaren Schrecken konfrontiert. 685 Es ist eben in diesem Augenblick, dass Isabel Archer fühlt, wie die Welt ihr zugleich eng und ungeheuer breit wird. 686 Bhabha schreibt: The recesses of the domestic space become sites of history´s most intricate invasions. In that displacement, the borders between home and world become confused; and uncannily, the private and the public become part of each other, forcing, upon us a vision that is as divided as it is disorienting. 687 Diese Erfahrung der Grenzverwischung zwischen Privatem und Öffentlichem wirkt sich auf das Subjekt in Form einer Spaltung des Selbst, einer Desorientierung aus. Die Figur Aila aus Nadine Gordimers My Son´s Story wird para- 682 Vgl. Homi K. Bhabha, The Location of Culture (Anm. 365), S. 10. Kursiv Geschriebenes ist eine Hervorhebung i.O. Dabei hinterfragt Homi Bhabha Hannah Arendts Beschreibung des Privaten und Öffentlichen als voneinander scharf getrennte und zu trennende Sphären. Vgl. ebd. S. 10. In Vita Activa stellt Hannah Arendt ihre Theorie des privaten und des öffentlichen Bereichs auf. Arendt plädiert gegen jegliche Familiarisierung der Politik, spricht gegen die Vorstellung der Nation als großer Familie und des Staatsoberhauptes als sorgenden Vaters, für eine Trennung von Polis und Haushalt. Näheres dazu vgl. Hannah Arendt, Vita Activa oder vom tätigen Leben, München, Zürich: Piper Verlag 1967, S. 27-76. 683 Homi Bhabha, The Location of Culture (Anm. 365), S. 9. 684 Ebd. 685 Vgl. ebd. 686 Vgl. ebd. 687 Ebd. 2.1 Sigmund Freud, Julia Kristeva und Homi Bhabha über das Unheimliche 147 digmatisch als eine Figur zitiert, die diese Spaltung des Selbst gerade in dem Moment erfährt, in dem sie ihre eigene Wohnung betritt. Ihre eigene Wohnung kommt ihr plötzlich unheimlich vor. 688 Bhabhas Kategorie des Unheimlichen vollzieht eine Dekonstruktion der ambivalenten Struktur der Gesellschaft in eine private und eine öffentliche Sphäre. Beide sind miteinander verflochten. Dies verweist zugleich auf bestimmte Konstellationen, in denen sich das Individuum in der (post-)modernen und (post-)kolonialen Welt befindet. Die im Exilzustand vorherrschenden Konstellationen geraten dabei in den Blickpunkt. Die Situation des Exils ist zugleich ein privat und öffentlich motivierter Akt. Das Exil lässt sich insofern als einen privat motivierten Akt begreifen, als es aus einer Selbstentscheidung des Individuums hervorgeht. Das Individuum kann aus rein subjektiven Gründen die Entscheidung treffen, sich anderswo niederzulassen und sein Leben dort neu bzw. anders zu organisieren. Aber solch eine Entscheidung könnte auch durch bestimmte Vorkommnisse in der öffentlichen Sphäre herbeigeführt werden. Dies könnten soziopolitische Konstellationen - z.B. die Verschiebung von Machtverhältnissen in einem Land - sein, die ein Individuum dazu führen, die Entscheidung zu treffen, ins Exil zu gehen, zu flüchten. Gerade diese Verwobenheit von Privatem und Öffentlichem macht den unheimlichen Charakter des Exilzustands aus. Im Exil wird das private Leben des Individuums von seinem öffentlichen Status bestimmt. Mit der Kategorie des „Unheimlichen“ deutet Bhabha u.a. auf einen Grundzug des Lebens in der postmodernen Weltordnung hin. Für Bhabha lebt das Individuum in einer ihm unheimlich werdenden und gewordenen Welt. In dieser Hinsicht spricht er von „the unhomely condition of the modern world“. 689 Seine Kategorie des Unheimlichen schließt Phänomene wie Diaspora, Reise, Migration, Krieg und Exil mit ein. Eine Erscheinungsform des unheimlichen Lebens wird von Bhabha in Bezug auf die Erfahrungen von Figuren aus Nadine Gordimers My Son´s Story folgendermaßen geschildert: „‘[...] [F]amilies are fragmented in the Diaspora of exile, code names, underground activity, people for whom a real home and attachment are something for others who will come after.’“ 690 Der feministische Diskurs eignete sich Bhabhas Kategorie des „Unheimlichen“ an, um den männlich dominierten Charakter der zivilen Gesellschaft zu subvertieren. 691 Die eheliche Beziehung, eine intime private Beziehung zwi- 688 Vgl. ebd. S. 10. 689 Ebd. S. 11. 690 Nadine Gordimer, My son´s story, zitiert nach Homi Bhabha, ebd. S. 13. 691 Dazu äußert sich Bhabha wie folgt: „By making visible the forgetting of the ´unhomely´ moment in civil society, feminism specifies the patriarchal gendered nature of civil society and disturb the symmetry of private and public which is now shadowed, or uncannily doubled, by the difference of genders which does not neatly map on to the private and the public, but becomes disturbingly supplementary to them. “ Homi Bhabha, ebd. S. 10f. Mit der Kategorie des ›Unheimlichen‹ betreibt der feministische Diskurs eine Dekonstruktion der binären Opposition privat/ öffentlich. 2. Unheimliches Leben: zu den Erscheinungsformen der Marginalität … 148 schen einer Frau und einem Mann, wird von Gesetzen bzw. von Prinzipien regiert, die in und von der öffentlichen Sphäre festgelegt werden. Auch in diesem Fall hat man mit einer Verwobenheit von privater und öffentlicher Sphäre zu tun. Beim feministischen Diskurs steht die Kategorie des Unheimlichen für die geistige Erfahrung, die die Frau in der phallokratischen Gesellschaft durchmacht, nämlich die Erfahrung der problematischen Verflechtung von privater und öffentlicher Sphäre in der ehelichen Konstellation. 692 In Bezug auf die Stellung des Subjekts im ehelichen Leben sowie im Exilzustand, hinsichtlich der Grenzverwischung zwischen Privatem und Öffentlichem lassen sich Bhabhas und Freuds Kategorie des „Unheimlichen“ als Metapher für eine soziopolitische Wahrnehmung der Wirklichkeit lesen. In Anlehnung an Bhabha sehe ich in der Kategorie des „Unheimlichen“ bestimmte soziopolitische Konstellationen ausgedrückt, die sich durch eine vielschichtige Verflechtung von privater und öffentlicher Sphäre auszeichnen. Die Kastrationsangst, von der bei Freud die Rede ist, 693 hat sowohl mit Schicksalsschlägen als auch mit den ›Schlägen‹ gesellschaftlicher Machtdispositive zu tun, die Subjekte vielfältig ›zeichnen‹. Es handelt sich um Konstellationen, die auf das Individuum einwirken. Eine solche theoretische Grundlage impliziert, dass Aspekte deutlich präzisiert werden, auf die man sich bei der Rekonstruktion der Marginalität von Roths Hauptgestalten stützen kann. Um die Erscheinungsbzw. Ausdrucksformen der Marginalität, des unheimlichen Lebens von Roths Hauptgestalten zu rekonstruieren, wird die Aufmerksamkeit auf die Daseinsformen, auf die Existenzformen dieser Gestalten gelenkt: auf deren Desorientierung, innere Spaltung, Entfremdung, Ausweglosigkeit, Hauslosigkeit, Unbehaustheit, deren schlagartige Verwandlungen sowie auf deren Umgang mit deren Umwelt. Im Mittelpunkt stehen Eines der Anliegen des feministischen Diskurses besteht darin, zu zeigen, inwieweit die männlich dominierte Gesellschaft dem unheimlichen Augenblick wenig bis fast keinen Platz einräumt. Der feministische Diskurs verfolgt das Ziel, den unheimlichen Augenblick aus der Vergessenheit herauszuziehen, in die er in der zivilen Gesellschaft gerät. 692 Sich auf Simone de Beauvoir stützend, lässt die Literaturwissenschaftlerin Lena Lindhoff den Sonderstatus der Frauen in ihrer unterschiedlichen Beziehungen zu den Männern besonders hervortreten: „Sie leben verstreut unter den Männern, durch Wohnung, Arbeit, wirtschaftliche Interessen, soziale Stellung mit einzelnen von ihnen - Mann oder Vater enger verbunden. […] Das Band, das sie an ihre Unterdrücker fesselt, kann mit keinem anderen verglichen werden.“ Simone de Beauvoir, zitiert nach Lena Lindhoff, Einführung in die feministische Literaturtheorie, Stuttgart: Metzlersche und Carl Ernst Poeschel Verlag 1995, S. 3. Hervorhebung v. mir. Mit der Bezeichnung ›das Band‹ wird implizit auf die privat bzw. öffentlich motivierten Prinzipien und Gesetze hingewiesen, die die vielfältigen Beziehungen der Frauen zu den Männern zu legitimieren scheinen, bzw. auf die enge Verbindung, die problematische Verwechslung zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen in den unterschiedlichen Beziehungen zwischen Frauen und Männern. 693 In dieser Arbeit auf S. 143ff erörtert. 2.2 Zum unheimlichen Leben der Figur Andreas Pum aus 149 folgende Texte: die Romane Die Rebellion; Hiob, Roman eines einfahren Mannes und Die Legende vom heiligen Trinker. Was diese in diesem Teil der Arbeit in die Diskussion einbezogenen Texte Roths auszeichnet, ist erstens deren räumliche und zeitliche Situiertheit in das ereignisvolle 20. Jahrhundert und zweitens die realen und vorgestellten geographischen Räume, auf die sie verweisen. Die Handlung in Die Rebellion spielt in Europa der Zwischenkriegszeit, während der Roman Hiob räumlich und zeitlich zwischen europäischen und amerikanischen Verhältnissen während und nach dem Ersten Weltkrieg angesiedelt werden kann. Paris der Zwischenkriegszeit stellt den symbolischen Raum dar, in dem sich die Handlung von Die Legende vom heiligen Trinker bewegt. Diese erwähnten Tatsachen unterstreichen u.a. deren globale Dimension und machen sie für die Analyse des weltweiten Phänomens der Marginalität besonders geeignet. 2.2 Zum unheimlichen Leben der Figur Andreas Pum aus Die Rebellion 694 2.2.1 Andreas Pum: einfältiger, unkritischer Patriot Der Roman Die Rebellion wurde in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, genauer in den 1920ern, verfasst, also zum selben Zeitpunkt, als Joseph Roths Zeitungsbeiträge über die imperiale Begegnung zwischen Europa und Afrika erschienen sind. Die Schicht des Romans, die in dieser Untersuchung besonders in den analytischen Mittelpunkt gerückt wird, ist das unheimliche, marginale Leben der Figur Andreas Pum. Andreas Pum durchläuft die verschiedensten Entwicklungsstadien, von der einfältigen bis zur kritischdenkerischen Phase. Die Handlung des Romans, die aus Andreas Pums Perspektive erzählt wird, spielt im Europa der Nachkriegszeit (1919). In welchem Land genau die Erzählung angesiedelt ist, wird durch die „aphoristische Energie“ 695 des Textes unterwandert. Andreas Pum, einbeiniger Kriegsinvalide ohne Angehörige (JRW 4, 294, 257), besitz- und obdachlos, ist mit dem bitteren Nachkriegsalltag konfrontiert. In seiner neuen Existenzform, als einbeiniger Kriegsinvalide, ist Andreas Pum darum bemüht, Staat und Gott gegenüber Loyalität zu bezeugen. Im Winter wohnt er in den Baracken eines Kriegsspitals, das im Text als Kriegsspital „Numero XXIV“ etikettiert wird (JRW 4, 245). Im Sommer verbringt er seine Zeit als Hausierer, wenn es dort keinen „scharf[en] Hund“ (JRW 4, 254) oder keinen „knurrig[en] Hausbesorger“ (ebd.) gibt. Er schlägt sich durch, um eine Lizenz als Leierkastenspieler von der Regierung zu erhalten. Dadurch rettet er sich davor, in der Welt der Bettler, Diebe und Landstreicher 694 Joseph Roth, Die Rebellion, in: JRW, Band 4, Romane und Erzählungen 1916-1929, S. 243-332. Im Folgenden zitiert als JRW mit Angabe des Bandes und der Seitenzahl. 695 Jacques Derrida, Grammatologie (Anm. 219), S. 35. 2. Unheimliches Leben: zu den Erscheinungsformen der Marginalität … 150 zu landen. Seinen Leierkastendienst fasst er als ›Staatsdienst‹ auf. An Plätzen und Straßenecken deklamiert er die Nationalhymne und Marschlieder; in der Regierung sieht er nichts anderes als die Verkörperung einer göttlichen Ordnung auf Erden: Es gibt Kameraden, die auf die Regierung schimpfen. Ihrer Meinung nach geschieht ihnen immer Unrecht. Als ob der Krieg nicht eine Notwendigkeit wäre! Als ob seine Folgen nicht selbstverständlich Schmerzen, Amputationen, Hunger und Not sein müßten! Was wollten sie? Sie hatten keinen Gott, keinen Kaiser, kein Vaterland. Sie waren wohl Heiden (JRW 4, 245f). Andreas Pum entpuppt sich als egozentrischer, opportunistischer und geistig beschränkter Mensch. Seine geistige Beschränktheit ist aber nicht ›naturwissenschaftlich‹ auf seine körperliche Behinderung, sondern strukturell auf seine Lebensumstände, auf die Konstellationen seiner Gesellschaft zurückzuführen. Andreas ist in einem ›armen‹ Denken gefangen, in un- oder kontraproduktiven binären Oppositionen: krank vs. gesund; Heiden vs. Christen. „‘Heiden’ ist der beste Ausdruck für Leute, die sich gegen alles wehren, was von der Regierung kommt“ (JRW 4, 246). Der Begriff ›Heide‹ wird hier durch Andreas Pums Perspektive geprägt, ›Heide‹ ist für ihn eine Kategorie für Gesetzesverdreher, Räuber, Deserteure, Diebe und Mörder, eine abschätzige Bezeichnung für all diejenigen, die sich im gesellschaftlichen Abseits befinden (vgl. ebd.). Bei näherer Betrachtung aber bedient sich Andreas Pum dieser Kategorie, um sich mit der eigenen Existenzgrundlage auseinanderzusetzen. Das Wort genügte ihm, es befriedigte seine kreisenden Fragen und gab Antwort auf viele Rätsel. Es enthob ihn der Verpflichtung, weiter nachdenken und sich mit der Erforschung der anderen abquälen zu müssen. Andreas freute sich über das Wort. Zugleich verlieh es ihm das Gefühl der Überlegenheit über die Kameraden, die auf den Banken saßen und schwatzten. Sie hatten zum Teil schwerere Wunden und keine Auszeichnungen (ebd.). Dabei ist festzuhalten, dass Andreas Pum das Zimmerkommando in einer Abteilung des Kriegsspitals führt (vgl. JRW 4, 248). Den Übeln und Qualen seiner Mitmenschen gegenüber verhält er sich blind und taub. Er nutzt die ›kulturelle Differenz‹ aus, die es zwischen ihm und den Leidensgenossen gibt, um sich ein kohärentes, präsentes und vor allem tröstliches Bild von sich selbst zu machen, um über die eigene Behinderung oder Beschränktheit hinwegzusehen. Andreas Pum macht die Erfahrung des Unheimlichen, der Spaltung des Selbst. Er will seine Überlegenheit aus den Leiden der anderen gewinnen. Durch den Vergleich des Grades seiner körperlichen Behinderung mit den Behinderungen seiner Unheilsgenossen vermag er sein Körperbild sowie das Leben, wie es ihm geboten wird, zu verschmerzen: „Sie hatten zum Teil schwerere Wunden und keine Auszeichnungen“ (JRW 4, 246). Andreas Pum ist ein Mensch, der sich selbst täuscht, um überhaupt existieren zu können. Seine einfältigen Gedankenflüge lassen sich weiter in Szene setzen: 2.2 Zum unheimlichen Leben der Figur Andreas Pum aus 151 Wieviel Beispiele konnte Andreas aus seiner Spitalzeit nur anführen, wie wimmelte es unter den Kranken von Heiden! Wieviel hatten häßliche, entstellende und ansteckende Krankheiten! Die armen Weiber! Sie wußten ja gar nicht, wem sie sich auslieferten! Aber Andreas war rein an Körper und Seele, wie geimpft gegen Sünden und Leiden durch das Leben gegangen, ein gehorsamer Sohn seines Vaters und später ein gern gehorchender Untergebener seiner Vorgesetzten (JRW 4, 268). Gefangen im Spital, wie die anderen Notleidenden, belügt er sich selbst, indem er sich als Günstling und deshalb als Mitglied der Regierung begreift und konstruiert. Es wäre in diesem Fall nicht übertrieben, von einem gewissen Selbsthass zu sprechen. Das herrschende Machtdispositiv hat ihn dazu gebracht, bewusst oder unbewusst sich selbst zu sabotieren 696 und mithin seine Leidensgenossen zu verachten. Geschah ihnen nicht recht? Weshalb schimpften sie? Warum waren sie unzufrieden? Fürchteten sie um ihre Zukunft? Wenn sie weiter in ihrem Trotz verharrten, dann hatten sie wohl recht, um ihre Zukunft bang zu sein. Sie schaufelten sich ja selbst ihre Gräber! Wie sollte sich die Regierung ihrer Feinde annehmen? Ihn, Andreas Pum dagegen, wird sie schon versorgen 697 (JRW 4, 246). Solche peinlichen Selbstbefragungen entlarven das Bewusstsein eines Subjekts, das sich über die eigenen Existenzgrundlagen schlüssig oder unschlüssig ist und in seinem Bewusstsein vernebelt. Von der Regierung bekommt Andreas eine Wächterstelle in einem Museum (vgl. JRW 4, 246f). Eine gewisse Prinzessin Mathilde - sie verkörpert die herrschenden Strukturen - stattet den Invaliden einen Besuch in jenem Kriegsspital ab, in dem auch Andreas untergebracht ist. Dessen Unheilsgenossen ergreifen die Gelegenheit, um ihrer Wut gegen die herrschende Ordnung freien Lauf zu lassen: „‘Alte Nutte! ’, sagte ein Mann von der zweiten Bettreihe. ‘Unverschämt! ’ 696 In den Worten von Albert Memmi, der in Portrait du colonisé die koloniale Situation, den Kolonisierten und den Kolonialherrn diagnostiziert, lässt sich Andreas Pums Selbsthass wie folgt fassen: „Le phénomène est comparable à la négrophobie du nègre ou à l´ antisémitisme du juif.“ Albert Memmi, Le portrait du colonisé (Anm. 610), S. 131. Das Phänomen ist mit der Negerfeindlichkeit des Negers oder mit der Judenfeindlichkeit des Juden vergleichbar (übersetzt von mir). Das Bedenkliche in Memmis Analyse der kolonialen Situation ist, dass er diese als einen einseitigen und totalen Monolog des Kolonialherrn erscheinen lässt. Frantz Fanon beleuchtet ebenfalls den durch das koloniale Machtdispositiv verursachten Selbsthass sowie die Selbstzerstörung des Kolonisierten. Nur Fanon, im Gegensatz zu Memmi, weist jede Theorie einer totalen und absoluten Unterdrückung der Kolonisierten durch den Kolonisator zurück. Beide Protagonisten sind Kolonialsubjekte, jedoch jeder auf eigene Weise. Beide sind dennoch vom neurotisch-psychotischen Schauer der kolonialen Situation umhüllt und getroffen. Vgl. Frantz Fanon, Les damnés de la terre (Anm. 177). Vgl. ders. Peau noire, masques blancs (Anm. 75). 697 Hervorhebung v. mir. 2. Unheimliches Leben: zu den Erscheinungsformen der Marginalität … 152 schrie Andreas“ (JRW 4, 248). Andreas tut sich hier als Handlanger des herrschenden Machtdispositivs hervor. Der einarmige Ingenieur Lang versucht, ihn auf den Boden der Tatsachen zurückzubringen: „‘Reg dich nicht auf, Andreas, wir sind ja alle arme Teufel! ’“ 698 (ebd.). „‘[…] Denn es gibt, müßt ihr wissen, schon mehr Krankenhäuser als Prinzessinnen und mehr Kranke als Gesunde. Auch die scheinbar Gesunden sind krank, viele wissen es nur nicht. Vielleicht machen sie bald Frieden’“ (ebd.). Die machtpolitisch und kolonialistisch bestimmte Grenze zwischen Gesunden und Kranken wird von Ingenieur Lang hinterfragt. Denn auch die scheinbar Gesunden sind Kranke, die sich ihrer Krankheit noch nicht bewusst sind. Es geht hier um die scharfsinnige Diagnose einer scheinbar gesunden, aber tatsächlich krankhaften Gesellschaftsordnung. ›Prinzessinnen‹ sowie ›Knechte‹ sind alle in dieser Ordnung gefangen, von dieser Ordnung erfasst. Auch physisch gesund wirkende Menschen sind vom psychisch anstrengenden Alltag getroffen und betroffen. Klara und Willi teilen einen engen Raum mit Andreas Pum. An den Rand der Gesellschaft gedrängt, führt das Paar ein kümmerliches Dasein: Sie [Klara] war stellvertretende Kassierin in einem kleinen Kaffeehaus und er ein arbeitsloser Metalldreher. Willi arbeitete nur einmal in der Woche, und auch dann nicht in seinem Berufe. Er führte einen Handwagen durch die Straßen, um Zeitungspapier einzukaufen. Am Abend brachte er seine Waren dem Althändler. Von jedem Pfund erhielt Willi ein Drittel. Denn auch das geringe Betriebskapital lieh ihm der Althändler. Es war klar, daß Willi von seinen Einnahmen nicht leben konnte (JRW 4, 255). Willi muss trotz brennender Eifersucht Klaras „Nebenverdienste“ (ebd.) akzeptieren. Er selbst ist arbeitslos und tut sich besonders durch seine Diebstähle hervor. Von einer Intimsphäre für Klara kann im engen Wohnraum überhaupt nicht die Rede sein. Denn Andreas behagt es, von Zeit zu Zeit heimlich den nackten Körper Klaras zu betrachten. „Sein Blick angelte nach ihrer freien Brust, und sein Herz klopfte in der Hoffnung, ein Schulterband würde sich lösen. Dann hörte er Küsse und Umarmungen und schlief ein, von kräftigen, breithüftigen Witwen mit vorgewölbten Busen träumend“ (JRW 4, 256f). Der Roman stellt die Diagnose einer ›krankhaften‹ europäischen Nachkriegsgesellschaft, die mehrheitlich von Invaliden (Blinden, Erlahmten, Einbeinigen, Einarmigen, seelisch Kranken), von Witwen und Waisenkindern bevölkert ist, die die Wunden des Krieges auf Körper und Psyche tragen. 699 Die Auswanderung wird als Rettung aus dieser Misere in Aussicht gestellt. Der ebenfalls hospitalisierte Invalide Lang hat zum Beispiel vor, Europa zu verlassen. „‘Wenn die Grenzen wieder offen sind, fahre ich weit weg. Es wird nichts mehr zu holen sein in Europa’“ (JRW 4, 248). An diesen Gedanken an eine Flucht ins Exil, an ein anderes, besseres, würdiges Leben weit weg in 698 699 Hervorhebung v. mir. Joseph Roths Texten wimmelt von solchen Figuren. 2.2 Zum unheimlichen Leben der Figur Andreas Pum aus 153 einem fernen Erdteil (Afrika, Amerika oder Asien) lässt sich die unheimliche Seite des Lebens dieser seelisch und körperlich gezeichneten Figuren ablesen. Die unheimliche Dimension des Lebens dieser Figuren zeigt sich außerdem in der Art und Weise, wie ihr privates und öffentliches Leben ineinander verwoben ist. Aus ganz privaten Gründen hegen diese Protagonisten den Wunsch auszuwandern. Sie träumen von einem anderen würdigen Leben in einem fernen Land. Aber diese Auswanderungsträume sind unzertrennlich mit Machtverhältnissen verbunden, in die sie jetzt verwickelt sind. Viele sind Kriegsinvalide und ernten vom Staat und den Mitbürgern nur Undank für ihre im Namen des Vaterlandes oder der Nation geopferten Körperteile, ihr aufs Spiel gesetztes Leben, ihre verspielte Existenz. 700 Die ›schwefelhaltige Atmosphäre‹, die in Europa zwischen 1914 und 1945 herrschte, führt eine Unmenge von Menschen dazu, ihr Heil in die Emigration zu suchen. Zahlreiche europäische Bürger träumen von einem neuen Leben außerhalb eines kriegerischen und totalitären Europas. Der Erste Weltkrieg verwandelte den Kontinent in ein Herz der Finternis 701 . Afrika, Asien oder Südamerika werden auch zu begehrten Auswanderungszielen. Mr Howland, eine Figur aus Ngugi wa Thiong´os Roman Weep not Child, nimmt Kenia schon als seine Wahlheimat wahr: He [Mr Howland] was a product of the First World War. After years of security at home, he had been suddenly called to arms and he had gone to the war with the fire of youth that imagines war a glory. But after four years of blood and terrible destruction, like many other young men he was utterly disillusioned by the ‘peace’. He had to escape. East Africa was a good place. Here was a big trace of wild country to conquer. 702 „My home is here! “, 703 bekräftigt Mister Howland. Die Grausamkeiten und Gräueltaten jenes Krieges sind Mr Howland unvergesslich im Gedächtnis geblieben. Andreas Pum, die Figur aus Roths Roman Die Rebellion, lebt in 700 Das Nach Amerika. Die Geschichte der deutschen Auswanderung betitelte Buch von Bernd Brunner unterstreicht die starke Faszination, die die Vereinigten Staaten von Amerika bei deutschen Auswanderern über Jahrhunderte hinweg ausgeübt hatten. Verfolgt werden nicht nur die historische Entwicklung der Auswanderungsbewegung seit dem 17. Jahrhundert bis zur Periode der Massenauswanderung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, sondern vor allem auch die vielfältigen historisch differierenden Gründe (politischen, wirtschaftlichen und persönlichen), die die deutsche/ europäische Bevölkerung dazu veranlasste, Europa zu verlassen. Nähere Aufschlüsse sind ebd zu erhalten. Bernd Brunner, Nach Amerika. Die Geschichte der deutschen Auswanderung, München: Verlag C.H. Beck 2009. 701 Mit dieser Bezeichnung wird auf den gleichnamigen Roman Heart of darkness (1899) des - von der Herkunft her - mitteleuropäischen Staatsbürgers jüdisch-polnischukrainischer Herkunft, Joseph Conrad, hingewiesen. 702 Ngugi wa Thiong´o, Weep not child (Anm. 600), S. 30. In Klammern Stehendes ist eine Hervorhebung v. mir. 703 Ebd. S. 32, Hervorhebung v. mir. 2. Unheimliches Leben: zu den Erscheinungsformen der Marginalität … 154 gleicher Weise mit grausamen Bildern des Krieges, und nicht, weil Andreas Pum „Lust an verinnerlichten Bildern“ 704 hat, sondern weil solche Bilder vor allem unauslöschliche Bestandteile seiner psychischen Welt bilden. Die Musik, die Pum an öffentlichen Plätzen vorspielt, ist ihm gleichzeitig Verdienstquelle und Zufluchtsort, ein Mittel, um die Trauer seiner Seele zu verkraften. Die Musik, die Welt der Kunst im Allgemeinen und die Malerei im Besonderen sind ihm Räumlich- und Zeitlichkeiten, in denen er den nervenauftreibenden Alltag geistig zu verarbeiten, zu bewältigen sucht. Wollte er sich zerstreuen, so betrachtete er die bunte Malerei auf der Rückwand des Leierkastens. Das Bild stellte die Szenerie eines Puppentheaters dar und einen Teil eines Stehparketts. Blonde und schwarze Kinder spähten in die Richtung der Bühne, auf der sich spannende Ereignisse vollzogen. Eine grau- und wirrhaarige Hexe hielt eine Zaubergabel in der Hand. Vor ihr standen zwei Kinder, auf deren Köpfen Geweihe wuchsen. Über den Kindern weidete eine Hirschkuh. Es war kein Zweifel, daß dieses Bild eine Verzauberung menschlicher Wesen durch ein böses Weib darstellen sollte (JRW 4, 255). Andreas zeigt sich von diesem Werk besonders entzückt und begeistert. Auffallend an diesem Bild ist dessen katachretische Struktur. 705 Das Bild ist in seiner Einheit entstellt und wirkt ›surrealistisch‹: eine Mischung von Elementen aus unterschiedlichen Bereichen. Auf Kinderhäuptern wachsen Hörner. Über diesen Kindern grast eine Hirschkuh. Dazu kommen die Gestalten einer grauen, ›wirrhaarigen‹ Hexe und deren Zaubergabel. Die Harmonie des Bildes - unschuldige, in dieselbe Richtung blickende, schwarze und blonde Kinder sowie durch „die bunten Farben“ (ebd.) Schwarz, Blond, Rot, Orange - gerät anscheinend durch die ›heil- oder unheilvolle‹ Wirkung der ›wildhaarigen‹ Hexe aus den Fugen. Sie scheint diejenige zu sein, die mithilfe ihrer Zaubergabel Hörner auf den Häuptern der ›unschuldigen Kinder‹ wachsen lässt. Die Hirschkuh, die eine andere Erscheinungsform, annahmsweise ›ein Totem‹, der bedrohlich wirkenden Hexe sein könnte, erweist sich als potenzielle Bedrohung für die Kinder. Die Zaubergabel wirkt in dieser Konstellation sogar wie eine Angriffswaffe. Es lässt sich dennoch fragen, was Andreas Pum an so einem schreckenerregenden Bildnis überhaupt ergötzt? Wunderbarer als der Vorgang selbst waren die bunten Farben, in denen er dargestellt erschien. Andreas´ Augen tranken die ölige Sattheit dieser Farben, 704 Wolfgang Müller-Funk, Joseph Roth, München 1989, S. 14. 705 Wolfram Groddeck definiert die Kathachrese als eine Bildvermengung, die gegen die Einheit eines Bildes oder eines Textes durch Vermischung von Elementen aus unterschiedlichen Lebens- oder [Fach]bereichen verstößt. Vgl. Wolfram Groddeck, Reden über Rhetorik. Zu einer Stilistik des Lesens, Basel, Frankfurt/ Main: Stroemfeld Verlag 1995, S. 259f. Die Figur der Katachrese wird in dieser Arbeit am Beispiel der Figur des ›blonden Negers‹ im Untertitel „3.8. Differenz und Interdependenz: Zur katachretischen oder dezentrierenden Figur ›des blonden Negers‹ aus Joseph Roths Essay Der blonde Neger Guillaume“ eingehend noch behandelt. 2.2 Zum unheimlichen Leben der Figur Andreas Pum aus 155 und es berauschte sich seine Seele an der klangvollen Harmonie, mit der ein blutendes Rot in ein sehnsüchtiges Orange des Abendhimmels im Hintergrund verfloß 706 (ebd.) Andreas ist über die Buntheit des Bildnisses besonders entzückt. Der Farbenreichtum des Gemäldes wirkt keineswegs disharmonisch, denn er nimmt dem geschilderten Vorgang seine Tragik und verwandelt den impliziten tragischen Gehalt des Bildes in eine ›klangvolle Harmonie‹. Die Bedeutung dieses Gemäldes lässt sich noch weiter hinterfragen. Die Farbenvielfalt - durch das Zusammenwirken unterschiedlicher Farben (Blond, Schwarz, Rot, Orange, Grün, Grau etc.) erzeugt - könnte nämlich auch für eine signifikante interkulturelle Begegnung stehen, in der kulturelle Differenzen keineswegs von vornherein als Konfliktpotenziale auftreten. Die ›bedrohliche Präsenz‹ dieser Hexe würde nahelegen, dass es Menschen, Instanzen oder Dispositive sind, die aus geheimnisvollen Gründen Differenzen instrumentalisieren, strategisch ausnutzen und inszenieren. Für Andreas stellt dieses Bild eine „unvollendete Verzauberung“ (JRW 4, 256) dar und Andreas hätte gerne weitergemalt. Er hätte auch die zwei noch in menschlicher Gestalt lebenden Kinder in Hirschkühe verwandelt oder in andere Tiere. Es ergaben sich viele Möglichkeiten. Konnte man Kinder nicht in Ratten verwandeln? Huh! Ratten! Oder in Katzen; in junge Löwen; in kleine, niedliche Krokodile; in Eidechsen; in Bienen; in Vögeltirili! In Vögel. Ein guter Maler, der mit Pinsel und Farben umzugehen verstand, könnte das Bild fortsetzen (ebd.). Das malerische Bildnis auf dem Rücken des Leierkastens wird zu einem symbolischen Territorium, in dem Andreas Pum dann und wann Zuflucht findet, um dem bitteren Alltag dieser ›krankhaften Gesellschaft‹ zu entfliehen. 2.2.2 Die Figur des ›zitternden Italieners‹ Bossi als Allegorie einer krankhaften Gesellschaft Unter den Kriegsinvaliden aus Die Rebellion befindet sich noch eine weitere aufschlussreiche Figur namens Bossi. Er war ein Schmied namens Bossi, italienischer Abkunft, schwarz, breitschultrig, finster. Sein Haar wuchs schwer über den Augen und drohte, sich über das ganze Angesicht auszubreiten, die schmale Stirn zu überwuchern und, die Wangen bedeckend, eine Vereinigung mit dem wilden Bart zu finden (JRW 4, 250). Diese Beschreibung lässt die Figur als eine ›metonymisch-katachretische Konstruktion‹ erscheinen. Die Farbe eines Körperteils bzw. der Haare wird metonymisch auf den ganzen Körper übertragen, wird als seine Hautfarbe 706 Hervorhebung v. mir. 2. Unheimliches Leben: zu den Erscheinungsformen der Marginalität … 156 dargestellt. Diese ›zitternde Figur‹ strahlt gleichzeitig Vitalität und Morbidität aus. Die Fähigkeit, deutlich zu sprechen, wird ihm völlig abgesprochen. Er spricht nicht, sondern „[e]r sprudelte halbe Sätze hervor, spuckte ein Wort aus, blieb eine Weile stumm und setzte wieder an“ (ebd.). Der schwankende Koloss Bossi ist eine Gestalt, die gleichzeitig Mitleid, Furcht, aber auch Neid bei den anderen Invaliden erregt. Auch der auf sich selbst bezogene Andreas ist aus „unbestimmten Gründen“ auf Bossi neidisch (JRW 4, 251). „Neid erfaßte ihn und zum erstenmal Bitterkeit gegen die Regierung, die just Zitterer belohnen wollte und keine anderen“ (ebd.). Über die Neidgefühle der einen und anderen Invaliden hinweg steht die zitternde Figur Bossi für das allegorische Bild einer kranken, zusammengebrochenen, hinkenden Gesellschaft, die trotzdem weiterlebt oder weiterbesteht. „Er war wie ein schwankender Koloß auf unsicherem Grunde. Er hielt alle in der Erwartung seines bald erfolgenden Zusammenbruchs und brach dennoch nicht nieder“ (JRW 4, 250f). Die Texte von Roth sind von solchen häretischen Figuren wie diesem Zitternden besetzt, Figuren, die aus Gegensätzen bestehen und deren Präsenz oder Absenz Roths Texten eine andere Aussagekraft verleihen, andere Dimensionen erschließbar machen. 707 Inmitten dieser Misere führt Andreas dennoch ein Leben als gut versorgter Invalide mit Pension und ist sogar auf der Suche nach einer Frau, um sein ›Glück‹ zu vervollkommnen (vgl. JRW 4, S. 259f). 2.2.3 Andreas Pums Begegnung mit der Witwe Blumich: eheliches Leben als unheimliches Leben? Eine Frau an seiner Seite zu haben, würde Andreas’ eintönigem Leben ›Farbe geben‹, würde ihm, dem Einsamen und Alleinstehenden, ›Kraft‹, ›Mut‹ und ›Geborgenheit‹ bringen. Damit Andreas Pum eine Frau findet, kommt er zu der Einsicht, dass er nachweisen muss, zumindest im Besitz von einem bestimmten symbolischen Kapital zu sein. Er verlässt sich auf seine musikalische Ader. Dazu kommt, dass er von der Regierung eine Lizenz erhalten hat, die ihn ermächtigt, „zu spielen, wo und zu welcher Zeit immer es ihm behagte“ (JRW 4, 257). Als zusätzliches Kapital kommt die Tatsache hinzu, dass er für das Vaterland geblutet hat. Außerdem steht sein musikalischer Zeitvertreib unter dem Zeichen der Huldigung des ›Vaterlandes‹. An Straßenecken spielt er gerne Marschmelodien. Zahlreiche Menschen sind von seinem musikalischen Talent entzückt und spenden großzügig Almosen. Die ›blonde‹ Witwe Blumich gehört zu seinen ›Anbeterinnen‹. Die Witwe kommt zu Andreas und bittet ihn darum, etwas Melancholisches für ihren im Krieg gefallenen Mann zu spielen. Andreas spielt die „‘Lorelei’“ (JRW 4, 259) mit einem melancholischen Rhythmus. Und am Ende der Aufführung beschert ihm die 707 Vgl. z.B. die katachretische Figur des ›blonden Negers‹. Siehe Unterteil 3.8, in Teil 3 dieser Arbeit. 2.2 Zum unheimlichen Leben der Figur Andreas Pum aus 157 Witwe Kuchen, Brot, Früchte und stellt sich gleichzeitig vor: „‘Mein Name ist Blumich, geborene Menz. Kommen Sie nach dem Leichenbegräbnis wieder’“ (ebd.). Die Wirkung der Frau Blumich lässt nicht lange auf sich warten. Andreas findet wieder Gefallen daran, sein Äußeres zu pflegen. Er traut sich erneut zu, in den Spiegel zu blicken, begibt sich in die Barbierstube und stellt sich sein körperliches Schema anders vor (JRW 4, 261f). Er hält sich selbst nicht mehr für körperlich behindert, sondern für einen kerngesunden Mann: Gesund konnte man ihn wohl nennen, obwohl das fehlende Bein manchmal vor den Regentagen schmerzte. Das aber hing mit dem schlechten Leben zusammen. Er war stramm, er hatte breite Schultern, eine imponierende schmale und knöcherne Nase, schwellende Muskeln, dichtes, braunes Haar und, wenn er nur wollte und sein Angesicht straffte, den kühnen Adlerblick eines Kriegsmannes, besonders, wenn der dunkle, noch lange nicht graue Schnurrbart nach beiden Enden hin flott gezogen war und mit Vaseline gefettet. Auch war er in Dingen der Liebe kein unerfahrener Knabe mehr, und gerade jetzt, nach langer Enthaltsamkeit, von vielversprechender Manneskraft gefüllt. Er war der Mann, eine anspruchsvolle Witwe zufriedenzustellen (JRW 4, 261). Andreas Pum ist darum bemüht, sein Körperbild neu zu gestalten und zu entwerfen. Beim Leierkastenspielen wird reichlich gespendet wie nie zuvor. Frau Blumich schwankt zwischen Andreas Pum und dem schlanken Unterinspektor Vincenz Topp. Aber die Witwe Blumich zieht den Krüppel Andreas Pum dem ›verführerischen‹ Unterinspektor vor. Ihr kommt es bei ihrer Wahl darauf an, ihre Autorität als Frau zu bewahren, die Oberhand im Haushalt zu behalten. Es scheint ihr praktischer - wie sie selbst meint -, „ein Wesen aus tieferer Sphäre zu sich emporzuziehen als selbst emporgezogen zu werden“ (JRW 4, 265). „Aus diesem Grunde verzichtete Frau Katharina Blumich auf den Unterinspektor Vinzenz Topp“ (ebd.). Der Eintritt von Frau Blumich in Andreas Pums Leben scheint auch den ›Eintritt des Glückes‹ zu bedeuten. Der auf sich selbst überstolze Pum betrachtet sich als Hauptschmied: „Jeder ist seines Glückes Schmied“ (JRW 4, 268). Um sich selbst vom ›errungenen Glück‹ zu überzeugen, stellt er - wie üblich - Vergleiche mit anderen Invaliden an. „Ihn aber, Andreas Pum, unter tausend Invaliden, hatte die Witwe Katharina Blumich erwählt“ (JRW 4, 267). Die Witwe hat eine Tochter namens Anna, die den ›hölzernen‹ neuen Mann ihrer Mutter widerspruchslos toleriert. Sie wird umgekehrt von Andreas mit väterlicher Liebe aufgenommen. In Frau Blumich glaubt Andreas Pum das lang gesuchte ›Obdach‹ gefunden zu haben. Beide denken schon daran, als Braut und Bräutigam zusammenzuziehen, und setzen es schließlich durch (vgl. ebd.). Sie schmieden weitere gemeinsame Zukunftspläne. Der Tag ihrer Heirat soll das ›sommerliche Glück‹ des Paares besiegeln. Pums Resozialisierungsbemühungen werden durch die Hochzeit mit der hübschen Witwe Blumich gekrönt. Die Heirat verleiht ihm gleichzeitig einen bürgerlichen Status, so dass die Begegnung mit der Witwe Blumich einen Höhepunkt in Andreas´ Leben darstellt. An 2. Unheimliches Leben: zu den Erscheinungsformen der Marginalität … 158 einem Novembertag im Herbst findet die Hochzeit statt - der letzte Herbsttag des Jahres, an dem die Sonne wirklich warm glänzte (vgl. JRW 4, 271). Dadurch werden das Ende der Sommerseite dieser Liebesbeziehung und der Beginn von deren Winterseite angekündigt. Aus diesem Jahreszeitwechsel zeichnet sich zudem eine sentimentale Verschiebung ab, die einer Machtverschiebung im Haushalt von ›hölzernem‹ Andreas und ›blonder‹ Katharina gleichkommt. Wie kommt es, dass aus einem, der eingangs Gesetzestreue, Gottesfurcht und Patriotismus an den Tag legt und um Anpassung bemüht ist, ein Rebell wider Willen wird? Wie lässt sich dieser Umschlag erklären? 2.2.4 Andreas Pums Erfahrung der ›(més-)alliance‹ Andreas´ Ehebündnis mit der Witwe Blumich könnte parallel zu seiner Staatstreue gestellt werden. Er hat sich aber mit fremden Federn geschmückt, um ›das Herz‹ sowohl der Witwe als auch der Machtdispositive zu ›erobern‹. Das spürt er schon am eigenen Leib und zwar in jenem Augenblick, als er einem gewissen Herrn Arnold begegnet. Der „Posamenteriehändler“ (JRW 4, 272) Arnold, ein ›ordnungsliebender‹, ›großer‹, ›gesunder‹ und ›satter‹ Herr von der ›Ersten‹ Welt, will sagen, von der wohlhabenden Welt, steht in dem berühmt-berüchtigten Ruf, ein Frauenheld zu sein. Neben seinem materiellen Besitztum hat er eine hübsche Frau und zwei niedliche Kinder (vgl. ebd.). „Dennoch litt Herr Arnold an einer chronischen und, wie man sieht, unbegründeten Unzufriedenheit“ (JRW 4, 273). Er erlaubt sich dann und wann Seitensprünge und vergeht sich an seiner Arbeitskollegin, Fräulein Veronika Lenz, die schon „so gut wie verlobt“ (ebd.) ist. Diese ironische Darstellung der Figur Arnolds entspricht einer Ironisierung der wohlhabenden Gesellschaft. Die ›Vergewaltigung‹ der Sekretärin versinnbildlicht die Unersättlichkeit, die Hab- und Machtgier einer Gesellschaftsschicht, die sich unantastbar und unberührbar fühlt. Arnold steht paradigmatisch für die Tyrannei und patriarchale Arroganz ›der Mächtigen‹. Er wird nach dieser beschämenden Tat zwar von Gewissensbissen geplagt, weiß aber, wie er in aller Seelenruhe seinen Kopf aus der Schlinge ziehen wird. „Er wollte ihr sofort eine größere Summe anweisen lassen. […] Man kommt über alles hinweg“ (JRW 4, 276). Arnold hat sich seines gesellschaftlichen Status bedient, um ein Sexualverbrechen an der aus kleinen Verhältnissen kommenden, schutzlosen jungen Sekretärin zu verüben. Hätte sich Arnold genauso verhalten, wenn es „die Braut eines Geschäftsfreundes, eines Rechtsanwalts, eines Studenten oder eines Offiziers“ (JRW 4, 277) gewesen wäre? Dies lässt ihn Luis Bernotat, der Bräutigam von Fräulein Lenz, wissen, der jetzt eine Entschädigung verlangt. Ob er diese bekommt oder nicht, bleibt im Text dahingestellt. Es hinterlässt aber den Eindruck einer Erpressung (vgl. ebd.). Die Geschichte des Herrn Arnold bringt klar an den Tag, dass sogar der Besitz von materiellen Reichtümern keineswegs immun gegen die bohrende Erfahrung des Unheimlichen, der Marginalität macht. 2.2 Zum unheimlichen Leben der Figur Andreas Pum aus 159 Fünfundvierzig Jahre eines anständigen Lebenswandels, eines tadellosen Rufes, eines glänzenden Geschäftsganges waren gefährdet. Und, ohne lange zu überlegen, fuhr er zu seinem Rechtanwalt. Freilich war dieser abwesend und beim Gericht. Ein Narr, wer es anders erwartet hätte! Wozu haben wir eigentlich unsere Rechtsanwälte? Damit sie verschwinden, sobald wir ihren Rat gebrauchen. Unsere Hausärzte? Sie kommen erst, wenn wir gestorben sind, und schreiben unsere Totenscheine. Unsere Büromädchen? Sie bringen uns eines dummen Witzes wegen in die allergrößte Verlegenheit. Unsere Frauen? Mit ihnen können wir überhaupt nicht sprechen, wenn unser Herz voll ist; unser Unglück löscht nur ihren ewigen Rachedurst. Unsere Kinder? Sie haben ihre eigenen Sorgen, und wir Väter sind womöglich ihre Feinde (JRW 4, 278). Arnold durchläuft die Erfahrung des Unheimlichen bzw. der Spaltung des Selbst. Er verspürt plötzlich eine Öde um und in sich: das schmerzvolle Gefühl, ein Niemand zu sein. „Mit jedem Schritt merkte er, bitter und dem Weinen nahe, wie wenig er eigentlich bedeutete. Man geht so durch die Welt, durch sein eigenes Land, durch seine Heimat, für die man fünfundvierzig Jahre geschuftet hat - und ist ein Niemand“ 708 (JRW 4, 279). Daraus geht deutlich hervor, dass der auf die schiefe Bahn geratene Arnold kein einheitliches Subjekt, sondern innerlich fragmentiert ist. Er verkörpert tyrannischkonservative Mächte dieser Gesellschaft, stößt aber zunehmend auf Anzeichen einer nahenden Rebellion. Gemeine Menschen aus den unteren Schichten des Volkes, versoffen und zerlumpt, gehen uns nicht aus dem Wege. Geschäftsdiener mit Gepäckstücken stoßen uns an. Sechszehnjährige Burschen bitten mit der Miene ernster Männer um Feuer für ihre Zigarette […] Auf Schritt und Tritt erkennt man die zersetzenden Tendenzen dieser Zeit. Dieser gottverlassenen Gegenwart (ebd.). Arnolds Aussagen lassen ein faschistisch-antisemitisches Bewusstsein vermuten. Er spricht von Anarchismus und Zersetzung. 709 Einige Zeilen weiter 708 Hervorhebung v. mir. 709 Das Wort ›Zersetzung‹ ist ein in der nationalsozialistischen Rhetorik und Politik der Vernichtung geprägtes Wort und weist auf das Judentum, das Slawentum sowie auf den Marxismus hin, die in Adolf Hitlers völkischem Programm als bedrohend und vernichtend für die Reinheit ›arischer Leitkultur‹ hingestellt wurden. „Nun wäre aber der Zeitpunkt gekommen gewesen, gegen die ganze betrügerische Genossenschaft dieser jüdischen Volksvergifter vorzugehen. Jetzt mußte ihnen kurzerhand den Prozeß gemacht werden, ohne die geringste Rücksicht auf etwa einsetzendes Geschrei oder Gejammer. Im August des Jahres 1914 war das Gemauschel der internationalen Solidarität mit einem Schlage aus den Köpfen der deutschen Arbeiterschaft verschwunden […]“ Adolf Hitler, Mein Kampf (Anm. 548), S. 185. Diese Passage kommt im fünften Kapitel „Der Weltkrieg“ vor, in dem Hitler den Krieg von 1914- 1918 als längst herbeigewünchten und willkommenen Anlass betrachtet, um die sogenannten Feinde der deutschen Nation - Juden, Slawen, Marxisten, Kommunisten, Pazifisten usw. - „unbarmherzig auszurotten“. Ebd. 2. Unheimliches Leben: zu den Erscheinungsformen der Marginalität … 160 stempelt er demonstrierende Invalide als „russische Juden“, „Tagediebe, Bettler, Gesindel“ ab (JRW 4, 280), die Schmerzen simulieren. Wie kommt es schließlich dazu, dass sich die Wege von Andreas Pum und Herrn Arnold kreuzen? In Herrn Arnolds Begegnung mit den streikenden ›Krüppeln‹ zeichnet sich schon das Zusammentreffen mit Andreas Pum ab, obwohl dieser nicht an der Demonstration beteiligt ist. Die folgenden Gedankengänge Arnolds, der Andreas Pum das erste Mal in der Straßenbahn begegnet, belegen dies eindeutig: Das ist so ein Invalide. Ein Simulant. Das andere Bein hat er sorgfältig verborgen. Ein Soldat! Ha - ha! Das kennen wir. Diese Kerle schämen sich nicht, die Uniform zu entehren. Eine Auszeichnung! Welch ein gottloser Schwindel! Der kommt aus der Versammlung der Invaliden, die ich gerade gesehen habe. Die Herren Genossen! Man tut nicht genug für sie (JRW 4, 281). Die Begegnung zwischen beiden Figuren vollzieht sich zunächst durch Gedankenübertragung. Beim Anblick des gesunden, satten, schmuck gekleideten Herrn Arnold wird Andreas von Erbitterung und Empörung übermannt. Längst hatte er sich damit abgefunden - ja, es war ihm kaum jemals eingefallen, darüber empört zu sein, daß andern Menschen kein Bein fehlte. Aber die körperliche Unversehrtheit dieses einen Herrn verdroß Andreas. Es war ihm, als machte er jetzt erst die Entdeckung, daß er ein Krüppel und die andern Menschen gesund waren (JRW 4, 282). Die latente, konfliktgeladene Stimmung in der Straßenbahn artet unvermeidlich in einen heftigen Wortwechsel aus, wenn der ›pingelige‹ Arnold sich vertraulich bei einer Straßenbahninsassin höhnisch über Andreas Pum und dessen Leidensgenossen, wie folgt, äußert: ‘Diese Invaliden sind gefährliche Simulanten. Ich war gerade jetzt in ihrer Versammlung. Alle natürlich Bolschewiken. Ein Redner gab Anleitungen. Die Blinden sind nicht blind, die Lahmen sind gar nicht lahm. Alles Schwindel’ (JRW 4, 282). Andreas Pums Gegenschlag lässt nicht auf sich warten: „‘Sie Fettbauch, Sie! ’“ (Ebd.), entgegnet Andreas. Der Konflikt zwischen der Welt der ›Gesunden‹ und der der ›Kranken‹ wird öffentlich. Die kolonial und machtpolitisch aufgezogene Grenze, die beide Welten voneinander trennt, gerät ins Wanken. Derartige gesellschaftliche Krisensituationen erinnern an Homi Bhabhas Anatomie der Ambivalenz des Begriffs Nation. Homi Bhabha spricht von the unheimlich terror of the space or race of the Other; the comfort of social belonging, the hidden injuries of class; the customs of taste, the powers of political affiliation; the sense of social order, the sensibility of sexuality; the blindness of bureaucracy, the strait insight of institutions; the quality of jus- 2.2 Zum unheimlichen Leben der Figur Andreas Pum aus 161 tice, the common sense of injustice; the lange of the law and the parole of people. 710 Pums Aufschrei ist der Auftakt seiner Rebellion. Er selbst ist sich darüber im Unklaren, „wie er zu diesem Schrei gekommen war“ (ebd.). Die Fettleibigkeit des unverschämten Mannes, die hier an den Pranger gestellt wird, steht metaphorisch für die ausbeutenden, unterdrückenden Strukturen dieser Gesellschaft. Bloßgelegt wird auch die gleichgültige Haltung zuschauender Zuginsassen, die sich dadurch als lethargische Mitläufer ›reaktionärer Mächte‹ profilieren. […] Menschen, die durch die Ereignisse der Revolution verschüchtert, gedrückt, aber nicht minder erbittert, einen zähen Kampf gegen die Gegenwart führten, mit zusammengebissenen Zähnen und würgenden Tränen im Halse rückwärts sahen, in die strahlende Vergangenheit ihres Landes und denen das Wort Bolschewik nichts anderes bedeutete als Raubmörder (JRW 4, 282f). In diesem bestimmten Augenblick tut Andreas Pum seine Sympathie für die russische Revolution kund. 711 Schlussendlich entlädt sich die Wut der Masse auf ihn: „‘Ein Simulant! Ein Bolschewik! Ein Russe! Ein Spion! ’ riefen einige Stimmen durcheinander“ (JRW 4, 283). „Es wird ein Jude sein! “ (Ebd.). Andreas sieht sich zur Selbstverteidigung genötigt, da der Schaffner und Herr Arnold ihn gewaltsam aus der Bahn hinauszuweisen suchen. „Da schlug Andreas mit der Krücke seines Stocks blindlings los. Er sah nicht mehr. Runde Flammen kreisten vor seinen Augen. Er traf das Ohr des Herrn Arnold und die Mütze des Beamten“ (JRW 4, 284). Ein Polizist, der der Rauferei ein Ende setzen wollte, wird auch von Andreas´ Krücke getroffen. Die Lizenz zum Leierkastenspielen wird ihm unverzüglich entzogen. Andreas Pum, vom Krieg als Invalide heimgekehrt, begegnet die Unerbittlichkeit, Undankbarkeit und Härte der Bevölkerung. Mit solcher Härte und Gleichgültigkeit sind auch die anonymen deklassierten Massen von Heimkehrern in Joseph Roths Roman Hotel Savoy konfrontiert. Hotel Savoy 712 schildert die verkommenen Existenzen der grauen 710 Homi K. Bhabha, „Introduction: narrating the nation“, in: ders. (Hg.), Nation and Narration (Anm. 4), S. 2. Kursivschrift ist eine Hervorhebung i.O. 711 Andreas Pum ist nicht die einzige Figur aus Joseph Roths Texten, die mit der russischen Revolution in Berührung kommt und mit ihr sympathisiert. In seinem Roman Die Flucht ohne Ende gerät die Figur Franz Tunda in russische Gefangenschaft und wird in die marxistische Ideologie eingeschult, was aus ihm ›ein scharfsinniges, kritisch denkendes Subjekt‹ macht, das früher auch ein ergebener Untertan des Kaisers war. Die Figur Gabriel Dan sowie die Kriegsheimkehrer aus dem Roman Hotel Savoy werden von der ausbeuterischen wirtschaftlichen Elite der Grenzstadt Savoy gefürchtet und deswegen überwacht und bestraft, weil sie im Krieg mit den gesellschaftskritischen Gedanken der russischen Revolution in Berührung gekommen sind. 712 Joseph Roth, Hotel Savoy, in: JRW, Band 4, S. 147-242. Im Folgenden als JRW mit Angabe des Bandes und der Seitenzahl zitiert. 2. Unheimliches Leben: zu den Erscheinungsformen der Marginalität … 162 Masse von Kriegsheimkehrern, die unterschwellig in dieser Grenzstadt als Fremdkörper in Barackenlager zusammengepfercht werden. Denn das wirtschaftliche Machtdispositiv will in ihnen potenzielle Sozialagitatoren, Unruhestifter sehen, „die den ‘Bazillus der Revolution in das keimfreie Land’ verschleppten“ (JRW 4, 234). So steht es in einer dem Stadt-Establishment zugeneigten Zeitung fettgedruckt. Das Wort Revolution ist ein Hinweis auf die Verhältnisse im benachbarten Russland. Die meisten Heimkehrer haben die Grauen des Krieges und diese Ereignisse der russischen Revolution erlebt und sind als veränderte Menschen zurückgekehrt. An ihnen erkannte man nicht mehr die Patrioten, die voller Begeisterung in den Krieg gezogen und bereit waren, für das Vaterland ihr Blut zu vergießen. Jetzt werden sie als Fremdkörper, als Krankheitserreger, als Gefahr für die soziale Sicherheit betrachtet. Die konservativen Zeitungen sprechen oder schreiben von der Flut der Heimkehrer, die „sich mit frischer Gewalt heranwälzt“ (JRW 4, 234). „Rußland, das große, schüttet sie aus. Sie nehmen kein Ende. Sie kommen alle denselben Weg, in grauen Kleidern, den Staub zerwanderter Jahre auf Gesichtern und Füßen. Es ist, als hingen sie mit dem Regen zusammen. Grau wie er sind sie und beständig wie er“ (ebd.). Die Kriegsheimkehrer finden kein Heim mehr. Das Heim, das sie bei Kriegsausbruch stolz verließen und in das sie jetzt zurückkehren wollen, stößt sie ab. Die Figur Gabriel Dan - ein Bestandteil dieser dunklen Masse - schafft es, eine Unterkunft im Hotel Savoy zu finden. Von außen betrachtet strahlt das Hotel ein scheinheiliges Bild aus: „Da war dieses Hotel Savoy - ein prachtvolles Hotel, mit einem livrierten Portier, mit goldenen Schildern, es versprach Lift, reinliche Stubenmädchen in weiß gestärkten Nonnenhauben“ (JRW 4, 186). Als Bewohner des Hotels entdeckt Gabriel die chaotischen und verkommenen Verhältnisse dieses Hotels, die bei ihm Entsetzen und Ernüchterung auslösen. „[…] offen stehn die Türen, dargeboten ist dem Blick alle kümmerliche Häuslichkeit, eilig zusammengeraffte Bündel, Haufen von Zeitungspapier über verbotenen Gegenständen“ (JRW 4, 166). Niemand kannte den Hotelbesitzer, einen gewissen Herrn Kaleguropulos. Das Hotel Savoy entpuppt sich auch als ein Freudenhaus, in dem nackte Mädchen nächtlich erotische Tänze aufführen, männliche Gäste unterhalten. 713 Solche Tanzvorführungen gehörten u.a. zu den in diesem Hotel üblichen Praktiken und Taktiken, um Gäste anzulocken (JRW 4, 173). 714 Es ist zugleich ein Ort bacchantischen Lebens, aber auch ein 713 Das Bild der Frau - als Unterhaltungsobjekt in der männlichen, patriarchalischen, phallogozentrischen Ordnung der Dinge -, das in manchen Texten Joseph Roths vorkommt, kehrt auch in Hotel Savoy wieder. Die Frau wird in der Welt des Hotel Savoy als käuflicher Gegenstand dargestellt, über den das Establishment - Fabrikanten, Ingenieure, Banker, Architekten, Geschäftsleute usw. - dieser ›Grenzstadt‹ im Namen von dessen Kaufkraft nach Gutdünken verfügen können. 714 Zu weiteren Taktiken der Fesselung von Hotelbewohnern gehören die Verpfändung von Habseligkeiten und das Geldleihen. Die rätselhafte Figur Ignatz - der Hotelliftboy - pflegt die Koffer von säumigen Zahlern mit einem Patent zu belegen und mit einer 2.2 Zum unheimlichen Leben der Figur Andreas Pum aus 163 Ort systematischer Tötung. Der Fall des Hotelbewohners Nummer 748 Namens Wladimir Santchin, der schwerkrank im Bett liegt, ist selbstredend. Der Arzt, der herbeigeholt wird, um den Fall von Santchin zu klären, wendet eine verblüffende Therapie an, ohne Santchins Krankheit überhaupt erkannt und diagnostiziert zu haben (JRW 4, 177). „‘Nur der Süden kann Sie retten’, sagt der Doktor. ‘Aber wenn sie nicht nach dem Süden gehen, muss der Süden zu Ihnen kommen, warten Sie.’“ (Ebd.). Was versteht dieser Doktor überhaupt unter `dem Süden´? Er lässt sich die Weinkarte bringen und gibt eine Bestellung auf: „‘Eine Flasche Malaga und fünf Gläser, auf meine Rechnung! ’“ (JRW 4, 178). Und die wortwörtliche Therapieanweisung des lachhaften Arztes lautet: „‘Die einzige Medizin’ […] ‘Jeden Tag drei Gläschen Wein, verstehen Sie mich? ’“ (Ebd.). Auf Santchins Gesundheit wird angestoßen. Die Erzählerinstanz gibt aber zu verstehen, dass das ganze makabre Szenario vielmehr wie „ein fröhlicher Leichenschmaus“ (ebd.) aussieht. Nicht auf Santschins Gesundheit, sondern eher auf seinen unaufhaltsamen Tod wird angestoßen. Das ist ein eklatanter Verstoß gegen den Eid des Hippokrates, der jeden Arzt zum ethischen Handeln verpflichtet. Die Praktiken des Hotels bereiten den Hotelbewohnern einen langsamen, aber sicheren Tod. Im Hotel Savoy wird jedoch keine Leiche geduldet. „Santschin lag drei Tage aufbewahrt im Varieté, weil das Hotel Savoy ja kein Hotel für Tote ist, sondern für Springlebendige. Er lag hinter der Bühne in einer Garderobezelle, und seine Frau saß bei ihm, und ein armer Küster betete“ (JRW 4, 180). Santschins Tod bietet Gabriel Dan die Gelegenheit, sich Klarheit über die in diesem Hotel herrschenden Verhältnisse zu verschaffen und gründlich über sein Dasein in diesem Hotel nachzudenken: Nun fühle ich, wie Haß in mir aufstieg gegen das Hotel Savoy, in dem die einen lebten und die andern starben, in dem Ignaz Koffer pfändete und die Mädchen sich nackt ausziehen mußten vor Fabrikanten und Häusermaklern. Ignatz war wie ein lebendiges Gesetz dieses Hauses, Tod und Liftknabe. Ich eisernen Kette zu versperren. Unter Druck gesetzt sehen sich die Hotelbewohner vor die abgekartete Tatsache gestellt, Geld bei Ignatz zu leihen. In den Maschen dieses Schulden- oder Spinnennetzes stecken sämtliche Hotelbewohner. „Er [Ignatz] hat dabei ein wollüstiges Gesicht, als fesselte er Stasia und nicht ihr Gepäck. Er hängt an die Kettenenden ein kleines Schloß, faltet die Rechnung und birgt sie in seiner abgegriffenen Brieftasche.“ Joseph Roth (JRW 4, 168). Hinzufügung v. mir. Die Variété-Tänzerin Stasia ebenso wie die übrigen Hotelbewohner leben in diesem Hotel mit der bohrenden existenziellen Angst vor unbeglichenen sich immer anhäufenden Rechnungen (vgl. ebd.). Strategisch werden sie in die Schuldenfalle gelockt. „Ignatz leiht jedem Geld, der Koffer hat. Er bezahlt die Rechnungen der Parteien, die ihm ihre Gepäckstücke verpfänden. Die Koffer bleiben in den Zimmern der Besitzer, sie sind von Ignatz versperrt und können nicht geöffnet werden. Das Patentschloss hat Ignatz selbst erfunden. Er kommt jeden Morgen nachsehen, ob ‘seine’ Koffer unberührt sind.“ (ebd.). Stasia sitzt auf dem Trockenen und „begnügt sich mit zwei Kleidern“ (ebd.). 2. Unheimliches Leben: zu den Erscheinungsformen der Marginalität … 164 werde mich nicht durch Stasia verlocken lassen hierzubleiben, denke ich (JRW 4, 183). Die chaotischen Verhältnisse im Hotel Savoy lassen bei Gabriel Dan ein Gefühl des Unbehagens entstehen. Seine anfängliche Euphorie ist in Desillusion umgeschlagen. Mir gefiel das Hotel nicht mehr: die Waschküche nicht, an der die Menschen ersticken, der grausam wohlwollende Liftknabe nicht, die drei Stockwerke Gefangener. Wie die Welt war dieses Hotel Savoy, mächtigen Glanz strahlte es nach außen, Pracht sprühte aus sieben Stockwerken, aber Armut wohnte drin in Gottesnähe, was oben stand, lag unten, begraben in luftigen Gräbern, und die Gräber schichteten sich auf den behaglichen Zimmern der Satten, die unten saßen, in Ruhe und Wohligkeit, unbeschwert von den leichtgezimmerten Särgen 715 (JRW 4, 168). Die im Hotel herrschenden Verhältnisse versetzen Dan in eine tiefe metaphysische Krise. An der von Dan geschilderten Struktur des Hotels wird erkennbar und sichtbar, wie die Polaritäten oben vs. unten, reich vs. arm auf den Kopf gestellt und in den Grundfesten erschüttert sind. Aus Gabriel Dans ernüchternder Selbstbefragung geht hervor, dass die Bezeichnung ›Hotel Savoy‹ als eine metaphorische Bezeichnung für die Welt und das Leben fungiert: Hotel Savoy als Mikrokosmos. Das Hotel Savoy wird zu Metapher für die Ambivalenzen, Kontingenzen und Kontiguitäten des Alltags, die Metapher der Spaltung des Subjekts zwischen Sein und Nicht-Sein, zwischen Sein und Nichts - das Leben als ein Hotel Savoy. Der Roman Hotel Savoy macht das anschaulich, was Bhabha als Third space bezeichnet. Es zeigt sich als ein Erfahrungsraum, an dem die Bewohner verschiedener Stockwerke aneinandergeraten, an dem die Grenzen zwischen den Etagen unterlaufen werden. Die Stockwerke dieses Hotels stehen paradigmatisch für die gesellschaftlichen Klassen oder Schranken. Gabriel Dan entdeckt das Hotel von dessen unheimlicher Seite her. In den drei höheren Stockwerken zum Beispiel habe es überhaupt keine Namen gegeben. „Alle hießen nach den Zimmernummern“ (JRW 4, 176). Das Hotel Savoy bildet eine Insel ›des Reichtums‹ in einem Ozean von Armut. Die graue Luft, die die Zimmer des Hotels beherrscht, umhüllt die ganze Stadt. Der Dunst strömt aus der Hotelwaschküche und vorwiegend aus der benachbarten „Gegend der Fabriken“ (JRW 4, 187), in der schlechtbezahlte Fabrikarbeiter - vorwiegend Kriegsheimkehrer - als Tagelöhner ihr Dasein fristen und deren Familien von der Armenküche leben. Die meisten Heimkehrer leben unter kümmerlichen und demütigenden Bedingungen in Baracken zusammengepfercht. „[…] Kartoffelschalen liegen vor den Türen, Fruchtkerne und faule Kirschen - und Wäsche flattert (sic) auf ausgespannten Schnüren.“ (JRW 4, 203) 715 Hervorhebung v. mir. 2.2 Zum unheimlichen Leben der Figur Andreas Pum aus 165 Man sah bettelnde Heimkehrer, sie schämten sich nicht. Ausgezogen waren sie als kräftige und stolze Männer, und jetzt konnten sie sich nicht mehr das Betteln abgewöhnen. Nur wenige suchten Arbeit. Bei den Bauern stahlen sie, gruben Kartoffeln aus dem Boden, schlugen Hühner tot und erwürgten Gänse und plünderten Heuschober aus. Alles schleppten sie in die Baracken, sie kochten dort, aber gruben keine Latrinen aus, man konnte sie an den Wegrändern hocken und ihre Notdurft verrichten sehn (ebd.). Die Stadt Savoy wird als eine gottverlassene Gegend beschrieben und mit den einstigen biblischen Städten Sodom und Gomorrha gleichgesetzt. Die Stadt die keine Kanäle hatte, stank ja ohnehin. An grauen Tagen sah man am Rand des hölzernen Bürgersteigs, in den schmalen, unebenen Rinnen schwarze, gelbe, lehmdicke Flüssigkeit, Schlamm aus Fabriken, der noch warm war und Dampf aushauchte. Es war eine gottverdammte Stadt. Es roch, als wäre hier der Pech- und Schwefelregen niedergegangen, nicht über Sodom und Gomorra. Gott strafte diese Stadt mit Industrie. Industrie ist die härteste Strafe Gottes (ebd.). Henry Bloomfield, ein Sohn der Stadt, der nach Amerika ausgewandert ist und es dort zum Millionär gebracht hat, wird messianisch in seiner Geburtsstadt erwartet, um diese vor dem Zusammenbruch zu retten. Bloomfield trifft in der Stadt ein. Dennoch geht er während seines ganzen Aufenthalts auf keine der vielfältigen Geschäftsideen ein, die ihm vorgetragen werden. Alle Bedingungen, die eine soziale Umwälzung in der Stadt auslösen konnten, waren vorhanden. Die anonyme Masse der Heimkehrer brauchte nur einen Wegbereiter. Zwonimir Pansir, Gabriel Dans Leidensgenosse, der lange auf diese Gelegenheit gelauert hatte, packt sie beim Schopf und spricht die Heimkehrer an (vgl. JRW 4, 233). Binnen kürzester Zeit kippt die ganze Atmosphäre in der Stadt um. Eine Typhus-Epidemie bricht aus, der Heimkehrerstrom ist nicht mehr in den Griff zu bekommen, die wirtschaftliche Elite sucht die Rettung im Ausland. Eine Aufruhrstimmung beherrscht die ganze Stadt (vgl. JRW 4, 237). Ohne sich zu verabschieden, ergreift Bloomfield, der Hoffnungsträger, die Flucht im Dunkel der Nacht. „Mit abgeblendeten Scheinwerfern, auf lautlosen Rädern, ohne Hupenschrei. Im Dunkel der Nacht floh Bloomfield vor dem Typhus, vor der Revolution (vgl. JRW 4, 237f). Aufgebrachte Fabrikarbeiter und ausgehungerte Heimkehrer belagern und stürmen das Hotel Savoy, den Tempel der Ausbeutung. Das Hotel fängt Feuer oder wird in Brand gesteckt. Von wem genau, von den Streikenden oder von Kaleguropulos, dem Hoteldirektor selbst, darüber schweigt der Text. Am Ende wird Ignatz´ Doppelgängerrolle entlarvt. Es stellt sich heraus, dass er eigentlich Kaleguropulos ist (vgl. JRW 4, 242). Letztendlich stirbt er zusammen mit anderen Hotelbewohnern in den höllischen Flammen. Der Aufruhr wird durch Soldaten blutig niedergeschlagen (vgl. JRW 4, 241f). „In den grauenden Morgen ragen halbverkohlte Reste des Hotels. Die Nacht war kühl und windig und hat das Feuer geschürt. Der Morgen bringt grauen, schrägen 2. Unheimliches Leben: zu den Erscheinungsformen der Marginalität … 166 Regen, er löscht verborgene Gluten“ (JRW 4, 242). Die Stadt endet wie die alttestamentarischen Städte Sodom und Gomorrha. 716 Die wenigen Überlebenden, darunter Gabriel Dan, verlassen die verkohlte Stadt und grübeln unterwegs über eine mögliche Auswanderung nach Amerika. Joseph Roths Romane Hotel Savoy und Die Rebellion thematisieren u.a. die Deklassierung menschlicher Gruppen. Zum Thema ›Deklassierung von Offizieren und Soldaten in der Zwischenkriegszeit‹ nimmt Johann Sonnleitner Stellung. Er schreibt: Den Verlust ihrer gesellschaftlichen und ökonomischen Position erlitten allen voran die heimgekehrten und pensionierten Offiziere, die häufig als Protagonisten die Zeitromane bevölkern. Verschärft wurde diese Erfahrung des sozialen Positionsverlustes durch die Auflösung der Monarchie, die das Identifikationspotential eliminierte, welches das Standesbewusstsein der Offiziere begründet hatte. Der Verfall der Kriegsanleihen, die niedrigen Pensionen für abgebaute Offiziere und Beamte und die Inflation verstärkten das ökonomische Elend, so daß beinahe von einer kollektiven Deklassierung der staatstragenden Schicht der Monarchie in der Republik gesprochen werden kann. 717 Dem deklassierten Soldaten Andreas Pum aus Die Rebellion geht allmählich ein Licht über die eigentlich herrschenden Verhältnisse auf. Bis zu der Rauferei, in die er in der Straßenbahn geriet, hat sich Andreas selbst betrogen und belogen. Nach dem denkwürdigen Ereignis vollzieht sich eine Wandlung in ihm: eine Wandlung von einem einfältigen zu einem selbstbewussten Subjekt. Er bekommt regelrecht einen ›Schlag auf den Schädel‹. Ab diesem Zeitpunkt geht Andreas Pum die bohrende existenzielle Frage nach seinem Krüppel- Dasein in dieser Gesellschaft nicht mehr aus dem Sinn. Er, der sich nach der ›Vermählung‹ mit der Frau Blumich eingebildet hat, eine Heimat, einen festen Boden unter den Füßen gefunden zu haben, nimmt nun wahr, dass er in einer unheimlichen Leere schwebt. „Er war auf einmal ein Lebender ohne Recht zu leben. Er war gar nichts mehr! Als wenn er aus einem Schiff in den großen Ozean geworfen wäre, so begann seine Seele die verzweifelten Anstrengungen eines Ertrinkenden zu machen […]“ (JRW 4, 285). Andreas Pum kommt sich wie ein Totlebender oder Lebendtoter vor. Er hofft auf „die Klugheit, die Güte, die Liebe seiner Frau“ (ebd.). Darin hat sich Andreas Pum 716 Nach einer Erzählung im Alten Testament wurden die Städte Sodom und Gomorrha unter einem Regen aus Feuer und Schwefel dem Erdboden gleichgemacht. Offenbar eine Strafe Gottes wegen des ausschweifenden, liederlichen und gottlosen Lebens, das die Bewohner dieser Städte führten. Näheres zu dieser Erzählung vgl. Diego Arenhoevel/ Alfons Deissler/ Anton Vögte, „Die Zerstörung von Sodom“, in: Dies. (Hg.), Die Bibel: Die heilige Schrift des alten und neuen Bundes, deutsche Ausgabe mit den Erläuterungen der Jerusalemer Bibel, Freiburg, Basel, Wien: Verlag Herder 1968, Genesis 19, Vers 1-38, S. 33-34. 717 Johann Sonnleitner, „Macht, Identität und Verwandlung. Joseph Roths frühe Romane“, in: Helen Chambers (Hg.), Co-existent contradictions: Joseph Roth in retrospect (Anm. 36), S. 167. 2.2 Zum unheimlichen Leben der Figur Andreas Pum aus 167 jedoch gewaltig geirrt, denn bei ihr erntet er Kälte, spöttische Blicke, Erniedrigungen und Beschimpfungen (vgl. ebd.f). Ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, in dem Andreas Pum die Rückenstärkung seiner Frau erwartet, wird er von ihr im Regen stehen gelassen. Plötzlich war es ihm, als stünde vor ihm ein fremdes Weib, das er nicht kannte und das fürchterlich war. Zum erstenmal machte Andreas die Entdeckung, daß ein menschliches Angesicht ganz anders aussehen kann, wenn man es von unten betrachtet (JRW 4, 286). Eine Art Kluft bildet sich zwischen Andreas Pum und Katharina Blumich heraus. „Andreas fürchtete sich vor seiner Frau“ (ebd.). Er brach mitten in der Erzählung ab. Katharina rückte einen Schritt von ihm weg, und ihm schien es, als schrumpfte es zusammen und würde klein, ganz klein, und sähe vor sich seine Frau, nur wie man einen riesigen Kirchturm mehr ahnt als sieht, wenn man sich sehr nahe vor ihm befindet (ebd.). Gerade in diesem Augenblick sieht Andreas ein, dass sich das eheliche Leben mit der ›erfahrenen‹ Frau Blumich als ein kompliziertes, machtpolitisches Feld heraustellt. In diesem Feld bekommt er auf unerwartete und bittere Weise die Erfahrung des Unheimlichen mit voller Wucht zu spüren. „‘Elender Krüppel! ’, kreischte sie“ (ebd.). ‘[…] Man wird dich einsperren, bei Wasser und Brot wirst du sitzen, und ich muß deinen Namen tragen. Pfui! Pfui! Pfui! ’ Und dreimal spuckte Frau Katharina aus. Einmal traf sie die Hose ihres Mannes. Andreas wischte den Speichel seiner Frau mit zitterndem Handrücken weg (JRW 4, 287). Die Machtverhältnisse haben sich jäh verschoben. Andreas muss sich selbst Essen aus den Töpfen der Küche besorgen. Er, der einst wie ein ›Ehemann‹ aufgenommen wurde, erinnert sich bitterkeitserfüllt an jenen Sommer: Oh, wunderbar war der Sommer, eine kostbare Schnur glücklicher Tage, Tage der Sonne und der Freiheit, der alten Lindenbäume in den gastfreundlichen Höfen. Die Fenster in allen Stockwerken flogen auf, rundliche rote Freudengesichter steckten die Mädchen wie festliche Lampions zu den Küchen hinaus, und der Duft guter Speisen sättigte die Nase. Lachende Kinder tanzten um die Musik, das Kreuz blinkte in der Sonne, die Uniform, heute von Stroh und Unrat beschmutzt, wie sauber und ehrfurchterregend war sie damals! (JRW 4, 291). Andreas bekommt auch diese Machtverschiebung zu spüren, wenn sie gemeinsam bei Tisch sitzen, was übrigens immer seltener vorkommt. Sie [Katharina] stellte wortlos und mit einem heftigen Ruck eine irdene Schüssel auf seinen Platz. Er kannte diese kleine Schüssel mit der schadhaften Glasur. Manchmal bekamen ein alter Bettler, eine verirrte Katze, ein zugelaufener Hund aus ihr zu essen. Katharina selbst schlürfte die Suppe aus einem rotgeränderten Porzellanteller. Auch hatte sie den Kohl von den Kartof- 2. Unheimliches Leben: zu den Erscheinungsformen der Marginalität … 168 feln gesondert vor sich aufgestellt. Aber in der kleinen Schüssel Andreas´ mischte sich alles, und ein großer Knochen ragte zwischen dem Mischmasch wie ein Dachtrümmerstück im Schutt eines zerfallenen Hauses 718 (ebd.). In diesem Haushalt bezieht er nun die subalterne Stellung eines Hundes. Die Witwe Blumich lässt ihn ihre Macht spüren. „Was sollte er tun? Er aß und wurde demütig und richtete von Zeit zu Zeit sein Auge auf Katharina“ (ebd.). Sie bereut es, Andreas zuungunsten des „schmucken, schlanken Unterinspektor[s] der Polizei“ (JRW 4, 287) „aufgenommen“ (ebd.) zu haben. Frau Blumich nimmt sich vor, ihre alte Beziehung mit Vinzenz Topp wiederaufzubauen. Unter dem geschickten Vorwand, nach juristischem Rat zu suchen, meldet sie sich beim Inspektor, der ahnungslos dabei ist, seine morgendliche Dusche zu nehmen. Eigentlich liefert sich Frau Katharina dem Unterinspektor billig aus (vgl. JRW 4, 288). Andreas wird zum Gegenstand allgemeinen Spotts. Die veränderten Verhältnisse führen auch eine Veränderung in Andreas´ Selbstwahrnehmung herbei: „Sein fehlendes Bein schmerzte wieder, nach langer Zeit“ (JRW 4, 289). Dieser wieder einsetzende, sich verstärkende Schmerz rüttelt Andreas Pums Bewusstsein gleichzeitig auf. Andreas´ maßlose Ehrfurcht der geistlichen und staatlichen Obrigkeit gegenüber wird auch in Johann Sonnleitners Aufsatz „Macht, Identität und Verwandlung. Joseph Roths frühe Romane“ hervorgehoben. 719 Sonnleitner charakterisiert Andreas Pum als eine Figur, die an ihrer Ich-Schwäche zugrunde gehe und die zu einer genuinen Aneignung der Welt sowie zu autonomen Reflexionsleistungen nicht fähig sei. 720 „Die für Konfliktsituationen nötige Flexibilität fehlt ihm, der starr an seiner Identität des von den Behörden ausgezeichneten und geachteten Invaliden festhält“ 721 , führt Sonnleitner fort. In Sonnleitners Analyse des psychisch-sozialen Verhaltens von Andreas Pum wird ausschließlich der einfältigen Phase dieser Figur großer Wert beigemessen. Die differenzierte Weltwahrnehmung, die Andreas allmählich an den Tag legt, wird von Sonnleitner als simple verzweifelte, trotzige Haltung heruntergespielt. 722 Das Einfältig-Sein wird dadurch unbewusst zur Essenz des Subjekts Andreas Pum gemacht. Verdrängt oder verleugnet bleibt Andreas Pums denkerisch kritische Phase, auf die im Folgenden umso mehr Gewicht gelegt wird, als es darauf ankommt, das Wesen der Marginalität oder 718 Hervorhebung v. mir. 719 Näheres dazu vgl. Johann Sonnleitner, „Macht, Identität und Verwandlung. Joseph Roths frühe Romane“, in: Helen Chambers (Hg.), Co-existent contradictions (Anm. 36), S. 179f. In diesem Aufsatz betrachtet Sonnleitner Joseph Roths frühe Romane aus der Perspektive von Macht- und Identitätsverlust sowie von Verwandlungsbzw. Flexibilitätsfähigkeit. Im Mittelpunkt der Analyse stehen u.a. die Figuren Theodor Lohse aus Das Spinnennetz, Andreas Pum aus Die Rebellion, Gabriel Dan aus Hotel Savoy, Nikolaus Brandeis aus Rechts und links. Näheres dazu ist ebenda zu erhalten. 720 Johann Sonnleitner, ebd. S. 183. 721 Ebd. 722 Ebd. S. 182. 2.2 Zum unheimlichen Leben der Figur Andreas Pum aus 169 des unheimlichen Lebens der Figur Andreas Pum auf den Grund zu gehen. Ist Andreas Pum per se zum selbstständigen Denken, zum Nachdenken, zum Querdenken bzw. zum Mitdenken ungeeignet? Es wird sich zeigen, inwiefern sich die These belegen lässt, dass er das Konstrukt eines Machtdispositivs sei. 2.2.5 Andreas Pum, ein kritisch denkender Mensch 2.2.5.1 Aufbegehren gegen die weltliche und göttliche Ordnung Der ganze Roman funktioniert nach einer gewissen kolonialen Geographie, nach einer binären Opposition: Einbeinige vs. Zweibeinige, Invalide vs. Valide. Andreas Pum, der jetzt am eigenen Leibe die Ungerechtigkeit erfährt, ist bestrebt, die ›blutige koloniale Grenze‹ zwischen Invaliden und Validen kritisch neu und anders zu ziehen. Dies ist an der auffälligen Verwendung des Demonstrativpronomens ›unser‹ bemerkbar. Die Zweibeinigen sind unsere Feinde. Zweibeinig ist der schiefnasige Herr auf der Plattform. Zweibeinig ist der polternde Schaffner. Zweibeinig ist der respektlose Polizist. Zweibeinig ist der Kommissär mit dem spitzen Kinn. Zweibeinig ist Katharina. […] Die Zweibeinigen sind die Heiden (JRW 4, 300). Das Pronomen ›unser‹ verwandelt sich - in diesem Kontext - in einen Signifikanten für eine ›Gemeinschaft‹, die sich Andreas jetzt in Abgrenzung von den Gesunden vorstellt, zu denen er sich zuvor gehörig fühlte und erklärte. Das Gefühl, von seiner Frau in dieser Notsituation in der Schwebe stehen gelassen worden zu sein; die Gleichgültigkeit der Öffentlichkeit oder Gesellschaft; die nachträgliche Einsicht in die eigene Stumpfsinnigkeit usw. - All das und vieles noch, was Andreas widerfährt (gerichtliche Ladung, Inhaftierung usw.), stachelt seinen Widerstand gegen das herrschende Machtdispositiv an. Andreas Pum stellt seine kreatürliche Misere fest und beklagt sich lauthals darüber: „Wohnte Gott hinter den Sternen? Sah er den Jammer eines Menschen und rührte sich nicht? Was ging hinter dem eisigen Blau vor? Thronte ein Tyrann über der Welt, und seine Ungerechtigkeit war unermeßlich wie sein Himmel? “ (JRW 4, 290). Diese Fragen, die die Figur des Andreas Pum aufwirft, rufen die metaphysische Frage der Theodizee in Erinnerung: Wie kann Gott, der Allmächtige, Allwissende, Allgegenwärtige, es erlauben, dass der Gottesfürchtige gemartert wird, während es dem Gotteslästerer anscheinend gut geht? Wie kann Gott Leid zulassen? Wie kann Gott die gepeinigte Menschheit bzw. die nach ihm Suchenden im Stich lassen? 723 Diese Fragen 723 Joseph Roths Texte lassen sich auch aus dem Blickwinkel der Theodizee-Frage erschließen. Es ist dennoch nicht das Ziel dieser Arbeit, in diese Richtung zu vertiefen. 2. Unheimliches Leben: zu den Erscheinungsformen der Marginalität … 170 machen das Vordringen des Religiösen ins Feld des Politischen feststellbar. Der religiöse Diskurs wird zum Bestandteil des Machtdispositivs. Der Glaube an die Güte, Allmacht, Allwissenheit Gottes an die stellvertretende Funktion des religiösen Diskurses wird in deren Grundfesten erschüttert. Der religiöse Diskurs - als Meistererzählung verstanden - implodiert in Joseph Roths Texten infolge der Erfahrungen der Figuren. Steht Gott am Rande? Gott wird ebenso wie der Staat dezentriert. Religiöse und staatliche Diskurse geraten in eine Randposition. 724 Andreas Pums kritische Selbstreflexion ist eine Art und Weise, sich selbst Klarheit über die unverhoffte Wandlung der Verhältnisse zu verschaffen. Aber dabei wird deutlich, dass Andreas nicht wahrhaben will, dass er sich dauernd selbst getäuscht hat, dass er bisher in einer Illusionsblase gelebt hat. Jetzt ist er ›mit dem Stumpf seines amputierten Beines‹ auf den harten Boden der Tatsachen zurückgefallen. Andreas spricht aber nicht für sich allein. Er macht sich nunmehr zum Sprachohr marginalisierter, bedrängter, entrechteter Kriegsinvalider: Weshalb straft er uns mit plötzlicher Ungnade? Wir haben nichts verbrochen und nicht einmal in Gedanken gesündigt. Im Gegenteil: wir waren immer fromm und ihm ergeben, den wir gar nicht kannten, und priesen ihn unsere Lippen auch nicht alle Tage, so lebten wir doch zufrieden und ohne frevelhafte Empörung in der Brust als bescheidene Glieder der Weltordnung, die er geschaffen. Gaben wir ihm Anlaß, sich an uns zu rächen? Die ganze Welt so zu verändern, daß alles, was uns gut in ihr erschienen, plötzlich schlecht ward? Vielleicht wußte er von einer verborgenen Sünde in uns, die uns selbst nicht bewußt war? 725 (Ebd.). Aus dieser Perspektive ist zu entnehmen, dass die Marginalisierten in diesem Text von Roth nicht ausschließlich national, sondern auch unbewusst global verstanden werden könnten. Dies lässt sich aus der nachdrücklichen Wiederholung des Personalpronomens ›wir‹ sowie aus den Begriffen ›Welt‹ oder ›Weltordnung‹ schließen. Andreas scheint hier diejenigen zu bejahen, die er ›gestern‹ missachtet und verleugnet hat. Er kommt zur Einsicht, dass er im selben Boot wie die ›anderen‹ Notleidenden sitzt. Er macht sich deshalb dezidiert zum Sprachrohr bzw. zur Stimme der Stimmlosen. Andreas Pum lässt u.a. an die Stimme des dichterischen Ich aus Aimé Césaires Cahier d´un retour au pays natal (Zurück in das Land der Geburt) denken: „‘Ma bouche sera la bouche des mahleurs qui n´ont point de bouche; ma voix, la liberté de 724 Dies lässt sich am Beispiel der Erfahrungen des gottesfürchtigen Mendel Singer aus dem Roman Hiob (siehe in diesem Teil der Arbeit) sowie am Beispiel des gestrandeten Lebens der Figur Andreas Kartak aus Die Legende vom heiligen Trinker (siehe in diesem Teil der Arbeit) veranschaulichen. 725 Hervorhebung v. mir 2.2 Zum unheimlichen Leben der Figur Andreas Pum aus 171 celles qui s´affaissent au cachot du désespoir.’“ 726 Im Unterschied zur Figur aus Césaires Gedicht arbeitet Andreas Kartak allerdings nicht explizit daran, diese Marginalisierten dazu zu bringen, sich des ausbeutenden Charakters des Regimes bewusst zu werden und dieses infrage zu stellen. Dennoch kann man im Hinblick auf Andreas Pum von einer Art ›Rückkehr ins Land der Geburt‹ sprechen. Roths Roman und Césaires Gedicht spielen zwar in unterschiedlichen kulturellen Räumen, zum einen im kontinentalen Europa, zum anderen auf den tropischen Antillen, sprich in den französischen Kolonialgebieten. Aber beide Texte sind - trotz räumlicher Differenzen - zeitlich in das 20. Jahrhundert eingebettet, das in die Geschichte als Höhepunkt der europäischen imperialen Expansion eingegangen ist. Dieser Imperialismus hat auch dessen binneneuropäische Spielart hervorgebracht. 727 So ist zum Beispiel die Handlung in Franz Kafkas Erzählung In der Strafkolonie 728 in die Tropen verlagert, aber die kritische Geste der Erzählung bezieht sich wohl auch auf das damalige ›strafkoloniale Europa‹. 729 Dieses Moment der Verschränkung von binnen- und außereuropäischen Kolonialverhältnissen ist auch in den Texten von Joseph Roth vorhanden. Im Folgenden geht es darum, der Frage nachzugehen, inwiefern Andreas Pums aufbegehrendes Verhalten ihn immer mehr ins Visier des Machtdispositivs geraten lässt. 2.2.5.2 ›Das Subjekt/ Objekt‹ Andreas Pum im Räderwerk des Staates verfangen In den Texten von Roth wimmelt es von Allegorien staatlicher und gesetzlicher Gewalt. An folgender Stelle des Romans Die Rebellion wird der Staat samt dessen Strukturen ironisch-allegorisch als eine mit Rädern versehene Maschine dargestellt, die die Bürger zermahlt: „Er [Andreas] wußte nicht, 726 .Aimé Césaire, Cahier d´un retour au pays natal, Paris: Éditions Présence africaine 1983, S. 22. „‘Mein Mund sei der Mund des Mißgeschicks, das keinen Mund hat; meine Stimme sei die Freiheit der Stimmen, die dahinwelken im Verlies der Verzweiflung.’“ Aimé Césaire, Zurück ins Land der Geburt (Anm. 325), S. 29. Césaires Gedicht spielt auf den kolonialen Antillen, und zwar auf der Insel Martinique. An dieser zitierten Stelle des Gedichts bekennt sich das lyrische Ich zu den durch das koloniale System ausgebeuteten, unterdrückten Schwarzen. Césaires Cahier bettet sich in sein Negritude-Projekt der Herausbildung und Stärkung eines schwarzen Selbstbewusstseins ein. Näheres über dieses Projekt ist auch in folgender Quelle zu erhalten. Vgl. Aimé Césaire, Discours sur le colonialisme. Suivi de Discours sur la Négritude, Paris: Editions Présence africaine 1955 et 2004. 727 Nähere Aufschlüsse über diesen Punkt sind im ersten Teil (theoretischen Teil) dieser Arbeit, zu erhalten. 728 Franz Kafka, In der Strafkolonie, in: Roger Hermes (Hg.), Franz Kafka. Die Erzählungen und ausgewählte Prosa, Frankfurt/ Main: Fischer 2007, S. 164-198. 729 Franz Kafkas In der Strafkolonie hat eine visionäre Dimension, denn Kafka schreibt diesen Text im Jahre 1914. Damals gab es noch kein faschistisches Europa. Jedoch war die europäische Kolonialexpansion in Übersee voll im Gange. 2. Unheimliches Leben: zu den Erscheinungsformen der Marginalität … 172 daß die gut geölten Räder dieser Maschine auch manchmal - und besonders in kleinen Fällen - sich unabhängig voneinander drehten und, jedes für sich, das Opfer zermahlten, das ihnen der Zufall ausgeliefert hatte“ 730 (JRW 4, 296). An einer anderen Stelle wird das allegorische Bild eines Spinnennetzes als Verweis auf Machtdispositive - auf den Staat, das Gesetz, den Beamtenapparat - verwendet: „Wie Spinnen sitzen die Behörden, lauernd in den feinmaschigen Geweben der Verordnungen, und es ist nur eine Frage der Zeit, wann wir ihnen anheimfallen. Und es ist nicht genug daran, daß wir einmal ein Bein verloren haben. Wir müssen unser Leben verlieren“ 731 (JRW 4, 310). Andreas Pum bereitet sich auf den Prozess vor. Gedanklich rekonstruiert er das ganze Vorkommnis und fühlt sich im Recht. Er hat jedoch keinerlei Ahnung von dem, was sich vor Gericht abspielen wird. Vielmehr malt er sich eine auf seine Situation zugeschnittene Vorstellung von Gerechtigkeit und Gerichtshöfen aus: „Die Gerechtigkeit leuchtet über den Sälen der Gerichtshöfe. Weise, noble Männer in Talaren sehen mit klugem Blick in das Innere des Menschen und sondern mit bedächtigen Händen die Spreu vom Weizen“ (JRW 4, 292). Was Andreas Pum noch nicht ahnt, ist, dass er schon in den Maschen des gesetzlichen Netzes steckt (vgl. ebd.). Denn er bekommt am darauffolgenden Tag ein Schreiben über seine gerichtliche Vorladung, in der er kurzerhand als „‘Beschuldigter’“ und „‘Bestrafter’“ (JRW 4, 293) abgestempelt wird. Andreas erforscht ergebnislos die Zeilen des Schreibens nach Spuren einer Unschuldsvermutung. Diese gilt für ihn jedoch nicht. Er sucht nach einem geistigen Anhaltspunkt in jenem jetzt aber unheimlich leeren Kirchensaal, in dem seine Trauung einst stattgefunden hatte. Andreas faltete die Hände, kniete nieder und sagte mit der dünnen Stimme, mit der er als Schulknabe vor dem Unterricht gebetet hatte, drei, vier, fünf Vaterunser auf. Hierauf fühlte er sich beruhigt, gesichert vor böser Überraschung, vor dem gerichtlichen Urteil, das im Schoße des Morgen lag (JRW 4, 293). Andreas Pum spürt die Gräuel des staatlichen Räderwerkes am eigenen Leibe. Zu seinem Erstaunen wird er zur Polizeistation gebracht und dort von einem Zimmer zum anderen geschleppt, bis er endlich den Kommissär zu Gesicht bekommt. Im Schreiben steht ›schwarz auf weiß‹, dass er sich nicht der Polizei, sondern dem Gericht stellen solle. Er wird aber von einem Polizeikommissär vernommen, der ihm keine Möglichkeit einräumt, sich zu verteidigen bzw. seine Sicht der Dinge darzulegen (vgl. JRW 4, 298). Dem Wenigen, was er aussagt, wird kein Gehör geschenkt. Denn dem Polizeikommissär geht es vorwiegend darum, ihn zu „erledigen“ (ebd.). Während der Vernehmung wird Andreas niederträchtig behandelt. Die Situation eskaliert in einer zweiten 730 In eckigen Klammern Stehendes ist eine Hervorhebung v. mir. 731 Hervorhebung v. mir. Diese Spinnennetz-Metapher könnte als ein dialogischer Verweis auf Roths sozialkritischen Roman Das Spinnennetz (1923) gedeutet werden. 2.2 Zum unheimlichen Leben der Figur Andreas Pum aus 173 Rauferei 732 , weil sich Andreas angemaßt hat, über die Dauer der Bearbeitung seines Falls nachzufragen. „Wie lange dauert es? “ (Ebd.). Diese Frage wird vom zornerfüllten Polizeibeamten als ›Majestätsverbrechen‹ eingestuft. Andreas lässt es sich jedoch nicht mehr gefallen. „Speichel floß in seinem Mund zusammen. Er spuckte aus“ (ebd.). Er bespuckt die Strukturen des Gesetzes und wird ins Gefängnis geworfen. „Ihnen geschieht nichts! “ (JRW 4, 297). Mit diesen Worten hat ihn doch ein paar Minuten zuvor jener Polizist trösten oder beruhigen wollen, der ihn zum Gewahrsam abgeführt hat. Ihm wird klar, „daß die gut geölten Räder dieser Maschine auch manchmal - und besonders in kleinen Fällen - sich unabhängig voneinander drehten und, jedes für sich das Opfer zermahlten, das ihnen der Zufall ausgeliefert hatte“ (JRW 4, 296). Die ironische Darstellung der Strukturen des Gesetzes ist ein Motiv, das auch bei zeitgenössischen Autoren zu finden ist. In Franz Kafkas Erzählung In der Strafkolonie werden der Staat und dessen Strukturen bildlich als eine ungeheuerliche Maschine dargestellt, die das Subjekt psychisch und körperlich zeichnet. ‘Ja die Egge’, sagte der Offizier, ‘der Name passt. Die Nadeln sind eggenartig angeordnet, auch wird das Ganze wie eine Egge geführt, wenn auch bloß auf einem Platz und viel kunstgemäßer. Sie werden es übrigens gleich verstehen. Hier auf das Bett wird der Verurteilte gelegt. […] - Ich will nämlich den Apparat zuerst beschreiben und dann die Prozedur selbst ausführen lassen. Sie werden ihr dann besser folgen können. Auch ist ein Zahnrad im Zeichner zu stark abgeschliffen; […] Ersatzteile sind hier leider nur schwer zu beschaffen. - Also hier ist das Bett, wie ich sagte. Es ist ganz und gar mit einer Watteschicht bedeckt; den Zweck dessen werden sie noch erfahren. Auf diese Watte wird der Verurteilte bäuchlings gelegt, natürlich nackt; hier sind für die Hände, hier für die Füße, hier für den Hals Riemen, um ihn festzuschnallen […]’ 733 Der Offizier, der gerade im Begriff ist, den ›Verurteilten‹ hinzurichten, beschreibt einem Forschungsreisenden, der sich auf der Kolonie aufhält, die Funktionsweise des grausamen Apparats. Dieser Apparat steht sinnbildlich für das staatliche Machtdispositv, das den unten in der Gesellschaftsskala Stehenden oder Liegenden zu einem Gefangenen, einem reell oder symbolisch Getöteten macht. Dass das Subjekt ein Gefangener der Machtdispositive ist, 734 geht eben auch aus Andreas Pums Gedankengang deutlich hervor: Man ist auch so ein Gefangener, Andreas Pum! Wie Fangeisen liegen die Gesetze auf den Wegen, die wir Armen gehen. Und wenn wir auch eine Lizenz haben, so lauern doch die Polizisten in den Winkeln. Wir sind immer gefan- 732 Die erste Rauferei hat in der Straßenbahn stattgefunden. Vgl. JRW 4, 284f. 733 Franz Kafka, In der Strafkolonie (Anm. 728), S. 167. 734 Diese dialogische Parallele zwischen Joseph Roth und Franz Kafka erklärt sich dadurch, dass beide Schriftsteller in ihren Texten binneneuropäische Kolonialverhältnisse thematisieren. 2. Unheimliches Leben: zu den Erscheinungsformen der Marginalität … 174 gen und in der Gewalt des Staates, der Zweibeinigen, der Polizei, der Herren auf den Plattformen der Straßenbahn, der Frauen […] (JRW 4, 302). Andreas Pum geht von dem aus, was ihm widerfahren ist. Er kehrt den asymmetrischen Moment besonders hervor, der zwischen den ›Validen‹ und ›Invaliden‹, zwischen ›Unterdrückern‹ und ›Unterdrückten‹ vorherrscht. Daraus ergibt sich auch, dass das Subjekt, wie Foucault es schon feststellt, ein von der Macht kontrolliertes Wesen ist. 735 An diesen Machtstrukturen haben auch einzelne Subjekte teil, die als nomadische Einzelgänger bewusst oder unbewusst agieren und zu Tätern gemacht werden. Die Witwe Blumich wird zu diesen unterdrückenden Strukturen hinzugezählt. 736 Es sei an dieser Stelle anzumerken, dass die Figur der Frau in diesem Text von Roth (sowie in anderen) eine ambivalente Stellung bezieht. Bald erscheint sie als ›femme fragile‹ (gebrechliches Wesen), als marginale Figur, bald als ›femme fatale‹ (verhängnisvolles Wesen). 737 Wenn aber in Betracht gezogen wird, dass Andreas auch als Unterdrücker bewusst oder unbewusst agiert hat, 738 dann stellt sich heraus, dass gesund oder krank, unterdrücken oder unterdrückt werden keine ontologischen, unabänderlichen, sondern eher psychisch-soziopolitische, austauschbare Momente oder Rollen unter gesellschaftlichen Akteuren sind. Das Bild des Staates und des Gesetzes als eines tödlichen Räderwerkes oder Spinnennetzes lässt an eine implizite Anspielung auf die nationalsozialistische Tötungsmaschinerie sowie an die grausame nationalsozialistische Technik von Gas- und Verbrennungskammern denken, die nach Hitlers Machtergreifung im Jahre 1933 institutionalisiert wurden. Sowohl das Gefängnis als auch das Lager bilden unausbleibliche Bestandteile dieser Maschinerie. 735 Vgl. Michel Foucault, Überwachen und Strafen (Anm. 371). „Ich glaube, die Individualität ist heute vollständig von der Macht kontrolliert, und ich glaube, dass wir im Grunde durch die Macht selbst individualisiert sind. Anders gesagt glaube ich ganz und gar nicht, dass die Individualisierung in einem Gegensatz zur Macht steht; ich würde vielmehr im Gegenteil sagen, dass unsere Individualität, die vorgeschriebene Identität eines jeden, Effekt und Instrument der Macht ist, und was die Macht am meisten fürchtet, ist die Kraft und die Gewalt von Gruppen. Sie versucht, sie durch Techniken der Individualisierung zu neutralisieren […]“ Vgl. ders. Histoire de la sexualité I. La volonté de savoir, Paris: Éditions Gallimard 1976. 736 Es sei an dieser Stelle nochmals darauf aufmerksam gemacht, dass Andreas Pum selbst als Handlanger des unterdrückenden Systems tätig war. Näheres dazu siehe Unterteil „2.2.1. Andreas Pum: einfältiger Patriot“. 737 Zu diesem althergebrachten dichotomischen Frauenbild in Joseph Roths Texten äußert sich Helen Chambers polemisch: „There is truth in both views, but closer scrutiny yields a more complex picture.“ Helen Chambers, „Predators or Victims? - Women in Joseph Roth´s Works“, in: Helen Chambers (Hg.), Co-existent contradictions (Anm. 36), S. 107-127, hier S. 107. In diesem Aufsatz ist Helen Chambers darum bemüht, dieser Komplexität auf die Spur zu kommen. 738 Dass Andreas Pum auch einmal mit dem herrschenden Dispositiv zusammengearbeitet hat und deswegen ein Element des unterdrückenden Dispositivs gewesen ist, hat sich in seiner unkritischen einfältigen Phase gezeigt. 2.2 Zum unheimlichen Leben der Figur Andreas Pum aus 175 Andreas Pum wird in ein Lager eingesperrt. Seine Inhaftierung kommt ihm nicht anders als ein beginnender Tod vor. „Er war wie tot. Ausgelöscht war die Sonne. Endgültig verronnen waren die Tage, unauffindbar verschüttet wie große verlorene, auseinandergerollte Perlen. Das Leben kehrte nicht mehr wieder. Es war vertan“ (JRW 4, 299). Andreas zeichnet rückblickend die Kurve seines Lebens nach, eine teleologische Kurve, die nach erreichtem Höhepunkt jetzt steil bergab stürzt. Er wirft einen selbstkritischen Blick auf sein vergangenes, egozentrisches Leben zurück. Früher hat er andere Leidensgefährten schadenfroh als ›Heiden‹ abgestempelt. „Ein Heide ist er jetzt Andreas selbst“ (JRW 4, 300). Die Bedeutung des Wortes ›Heide‹ hat sich verlagert. 739 Andreas bekundet sein Zusammengehörigkeitsgefühl mit denjenigen, auf die er zuvor herabgeschaut hat: Räuber, Gottlose, Andersdenkende, Deserteure, Bettler, Tagediebe, die jetzt mit ihm in der finsteren Zelle sitzen. Die Solidarisierung mit den Mithäftlingen fällt Andreas Pum am Anfang nicht leicht. Er findet dort Menschen, die ihn über seinen Fall ausfragen und die bei ihm den Eindruck erwecken, sich in Rechtsangelegenheiten auszukennen (vgl. JRW 4, 302). Sechs Wochen lang soll Andreas Pum im Lager gesessen haben. Die Schilderung von Pums Haftzeit im Roman ist unterbrochen von einer anderen Lebensphase, nämlich von der Zeit seines Gefängnisausbruchs bzw. seiner vermeintlichen Freilassung. So wenigstens nimmt es der Leser wahr. Der Text lässt beim Leser das Gefühl des Unheimlichen entstehen. Ist Andreas Pum freigelassen worden oder ist er ausgebrochen? Im Text wird eine Freilassung simuliert: „Andreas wollte gern sechs Wochen und noch länger sitzen. Er will lebenslänglich eingesperrt sein“ (JRW 4, 302), steht es im Text zu lesen. Aber bestimmte Aspekte dieser Freilassung bleiben dem Leser umso rätselhafter, als die Erzählerfigur ihn - vermutlich absichtlich - im Dunkeln tappen lässt. Hat die Erzählerfigur selbst die Macht über die Erzählung verloren? 2.2.5.3 Andreas Pums Haftentlassung oder Gefängnisausbruch? Der Leser erfährt nichts über die administrative Prozedur der Freilassung. Es entsteht die Frage, ob Andreas Pum einfach aus dem Gefängnis entflohen oder ob er auf Bewährung freigelassen worden ist. Tatsache bleibt, dass er keinen schriftlichen Bescheid bei sich hat. Der Augenblick im Roman, 740 in dem der Leser unerwartet und zum ersten Mal von Andreas Pums Freilassung oder Ausbruch erfährt (vgl. JRW 4, 302-305), hätte auch im Handlungsverlauf chronologisch zu einem Zeitpunkt stattfinden können, als Andreas Pum sein verfallenes, physisches Spiegelbild entdeckt 741 (vgl. JRW 4, 317). Dies führt zu der Frage, ob der Leser hier nicht mit einem rebellischen, widerständigen Text zu tun hat und ob nicht die Rebellion selbst schon in dem Text 739 Auf diese Bedeutungsverlagerung wird noch in dieser Arbeit eingegangen. 740 Vgl. Kapitel XIII in Die Rebellion. 741 Dies kommt in Kapitel XVI des Romans Die Rebellion vor. 2. Unheimliches Leben: zu den Erscheinungsformen der Marginalität … 176 eingeschrieben ist, der sich dem Zugriff des Lesers entzieht, der ihn verwirrt und dazu zwingt, den Handlungsverlauf selbst zu organisieren. Der jetzt als freigelassen präsentierte Andreas Pum wird aber stärker und härter als je zuvor vom Gefühl des Unheimlichen übermannt. Die Welt draußen hat sich unterdessen verändert und verwandelt. Als Andreas die Straße betrat, glaubte er, die Welt wäre neu angestrichen und renoviert, und er fühlte sich nicht mehr in ihr zu Hause; wie man fremd ist in einem Zimmer, in das man wiederkehrt, nachdem seine Wände eine neue Farbe erhalten haben. Fremd und unverständlich waren die Bewegungen der Menschen, der Gefährte und der Hunde. Sehr merkwürdig nahmen sich in dem Gewimmel eines belebten Platzes die Radfahrer aus, wie helle Grasmücken zwischen den großen Autobussen und Bahnen, den Lastwagen und den schwarzen, gedeckten Droschken. Ein knallgelbes Automobil schlenkerte, rasselte, wütete über den Platz. An seinen Wänden brannte lichterloh die rote Reklame: ‘Raucht nur Jota.’ Es war der Wagen des Wahnsinns. Der saß im Innern zwischen vier knallgelben und rotbemalten Wänden, und sein Atem wehte verderblich aus dem kleinen Gitterfenster. Wie merkwürdig, daß ich jetzt erst die Zusammenhänge sehe, denkt Andreas. Aus diesem Wagen breitet sich die Verrücktheit über die Welt. Tausendmal ist der Wagen an mir vorbeigefahren. Wie dumm war ich! Das kann kein Postwagen sein! (JRW 4, 302f). Diese Passage enthüllt, was in Andreas Pum unmittelbar nach der Freilassung oder dem Gefängnisausbruch vor sich geht. Andreas macht eine Orientierungskrise durch. Die neuen leuchtenden Farben der Stadt, Rot, Gelb, Grün, Schwarz usw., erwecken bei ihm den Eindruck, ein renoviertes Haus, eine fremde Welt zu betreten. Diese räumliche Veränderung impliziert auch eine Veränderung in der Art und Weise, wie sich Menschen, Tiere und Gegenstände bewegen. Und genau die Dynamik und Vitalität dieser Welt bringt Andreas Pum aus der Fassung. Die Radfahrer, die sich in einem atemberaubenden Tempo in dem dschungelartigen Verkehrsnetzwerk fortbewegen, werden mit Grasmücken gleichgesetzt. Diese Inszenierung der Dschungelmetapher im Text macht die chaotische, labyrinthische, irrgartenartige Dimension dieses verwandelten Raumes anschaulich. Und diese chaotische Situation spiegelt die Art und Weise wider, wie Andreas Pum diesen Raum wahrnimmt, und zwar chaotisch. Ein heterogenes, hybrides Gemisch von Farben, Lärm, Gerüchen und Gerüchten, von unterschiedlichen formlosen Gestalten. Es ist etwa die Rede von einem Automobil, dessen Wände brennen. Es fällt Andreas Pum schwer, Fahrzeuge von Häusern zu unterscheiden. Pums sinnfälliges Unvermögen, sich in diesen beweglichen Raum einzuordnen, zeugt davon, dass es nicht nur draußen, sondern vor allem in seinem Inneren ›brennt‹. Der brennende Wagen, von dem hier die Rede ist, scheint sich allegorisch auf nichts anderes zu beziehen als auf Andreas Pum selbst. Die Thematisierung der Ich-Krise bildet u.a. eines der Motive, die Joseph Roth mit seinen Zeitgenossen, den literarischen Expressionisten, verbindet. Im Mittelpunkt von Alfred Döblins Großstadtroman Berlin Alexanderplatz (1929) steht 2.2 Zum unheimlichen Leben der Figur Andreas Pum aus 177 die Ich-Dissoziation der Figur Franz Biberkopf. Bei der Entlassung nach einer vierjährigen Haft kann Biberkopf nicht mehr Fuß in der verwandelten Welt außerhalb des Gefängnisses Tegel fassen. Ihm scheint der Kopf zu platzen. Der Haftaufseher hilft ihm, die richtige Haltestelle zu finden und in die richtige Straßenbahn einzusteigen. Beim Ausstieg findet sich Biberkopf überhaupt nicht zurecht. Er dreht sich um denselben Punkt, kommt nicht weiter. Die Stadt, gegen die Biberkopf kämpft, kommt ihm wie ein unendliches Labyrinth, wie ein Irrgarten vor. Die Wagen tobten und klingelten weiter, es rann Häuserfront neben Häuserfront ohne Aufhören hin. Und Dächer waren auf den Häusern, die schwebten auf den Häusern, seine Augen irrten nach oben: wenn die Dächer nur nicht abrutschten, aber die Häuser standen grade. Wo soll ich armer Deibel hin, er latschte an der Häuserwand lang, es nahm kein Ende damit. 742 Die Figur Andreas Pum aus Roths Die Rebellion macht eine ähnliche Krise wie Franz Biberkopf durch, die bei Pum als ein inneres Brennen erlebt wird. Es kann in diesem Zusammenhang keineswegs die Erfahrung eines Wagens oder Dinges sein, sondern zunächst und hauptsächlich die eines Subjektes. Dieses Subjekt profiliert sich als Andreas Pum. Nicht der Wagen raucht Zigaretten, sondern Andreas. Nicht der Wagen sitzt zwischen vier knallgelb und rot bemalten Wänden mit kleinem Gitterfenster, sondern Andreas. „Das kann kein Postwagen sein! Was hätte die Post mit roten Jotazigaretten zu tun? Was geht das die Post an, was die Menschen rauchen? “ (JRW 4, 303). Durch solche rhetorische Fragen stellt Andreas Pum seine ›Borniertheit‹ fest, nicht begriffen zu haben, dass es nicht der Postwagen ist, der Zigaretten raucht, sondern Menschen beziehungsweise er selbst. Aber diese rhetorische Frage richtet sich auch an den Leser. Denn aus Andreas Pums Perspektive wäre 742 Alfred Döblin, Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte vom Franz Biberkopf, Olten und Freiburg im Breisgau: Walter-Verlag 1961, S. 15. David Bronsen nennt Berlin der 20er Jahre eine „Moloch-Großstadt“. David Bronsen, Joseph Roth: eine Biographie (Anm. 10), S. 210. „Eine Stadt, die ihre Riesenarme immer weiter ausbreitete, dafür aber, im Gegensatz zu Wien, für das Neue und Experimentelle aufgeschlossen war“ (ebd). Ein „[…] penibles Konglomerat von Plätzen, Straßen, Mietkasernenwürfeln, Kirchen und Palästen. Eine ordentliche Verworrenheit; eine planmäßig exakte Willkür, eine Ziellosigkeit von zweckhaft scheinendem Aspekt. Noch nie ward so viel Ordnung auf Unordnung verwandt …“ (Ebd). Joseph Roth machte in Berlin die Erfahrung der Spaltung des Selbst, die Erfahrung der Marginalität, des Unheimlichen. Gespalten zwischen „schwarzen Depressionen und hymnischer Begeisterung“ (ebd.). Die dissoziierte Realitätswahrnehmung in der Großstadt gehört zu den literarischkünstlerischen Motiven expressionistischer Literatur und Kunst. Vgl. Philip Ajouri, Literatur um 1900. Naturalismus - Fin de Siècle - Expressionismus (Anm. 56), S. 193- 195. Vgl. Franz Matsche, „Großstadt in der Malerei des Expressionismus am Beispiel E.L.Kirchners“, in: Thomas Anz/ Michael Stark (Hg.), Die Modernität des Expressionismus (Anm. 56), S. 95-119. Vgl. Peter Bekes (Hg.), Arbeitstexte für den Unterricht. Gedichte des Expressionismus, Stuttgart: Philipp Reclam 1991. 2. Unheimliches Leben: zu den Erscheinungsformen der Marginalität … 178 jener Leser ›dumm und verrückt‹ zu nennen, der glauben würde, dass in dem Fall ein tatsächlicher Wagen gemeint wird, der raucht. Aus den rhetorischen Fragen lässt sich ein Ton des Aufbegehrens heraushören. Die Figur Andreas Pum vermittelt dadurch den Eindruck, gegen den Leser zu rebellieren, indem sie ihn willentlich oder unwillentlich in die Irre führt und sogar beschimpft. Andreas fordert nicht nur das ›strafkoloniale System‹ seiner Gesellschaft, sondern auch den Leser heraus. Durch die Haltung der personalen Erzählerinstanz scheint der Text dem - nach einer Präsenz vom Sinn - suchenden Leser die Möglichkeit zu verwehren, das Geschehen sowie den Handlungsverlauf in eine nachvollziehbare Ordnung zu bringen. Andreas kämpft gegen ein System, gegen die Stadt und anscheinend gegen den Leser. Er sieht im ›strafkolonialen‹ System sowie in dessen Neugestaltung des städtischen Raumes ein „Zeichen des allgemeinen Wahnsinns […] Was ist denn es sonst? “ (Ebd.). Die Bezeichnung Wahnsinn bezieht sich - wie schon erläutert - auf das, was sich in Andreas´ Innerem abspielt, nämlich auf die Metamorphose der ganzen Gesellschaft in ein großes, allumspannendes Gefängnis. 743 Andreas scheint erst ab diesem Zeitpunkt die Zusammenhänge zu durchschauen. „Wie merkwürdig, daß ich jetzt erst die Zusammenhänge sehe, denkt Andreas […] Wie dumm war ich! “ (Ebd.). Wie schaut jetzt der Rebell Andreas aus? Wie verhält er sich den Strukturen des Gesetzes künftighin gegenüber? Das Wort ›Heide‹, dessen er sich früher bediente, um sich von anderen Notleidenden abzugrenzen, eignet er sich jetzt trotzig an und versieht es dadurch mit einer subversiven Bedeutung. Andreas Pum erklärte sich als einen Heiden. Schon zählte er sich mit Übermut der Gilde der Verbrecher zu. Und sein Schritt wurde scheu, und sein Blick wurde lauernd, wenn ein Polizist vorbeiging. Als wäre er ein steckbrieflich verfolgter Mörder, so schlich Andreas durch die Seitengassen der Stadt (JRW 4, 303f). 743 Das Subjekt im Kampf gegen die Stadt oder gegen die Machtstrukturen gehört u.a. zu den Motiven des literarischen Expressionismus. Joseph Roth hat sich nie als Expressionist bezeichnet oder empfunden. Aber die künstlerisch literarische Bewegung des Expressionismus (1910-1920) war eine zeitgenössische Bewegung. Und bewusst oder unbewusst schleichen sich einige ihrer Motive in Joseph Roths Texte ein, wie es hier der Fall ist. Der Kampf des Individuums mit der Stadt, das Gefühl des Verlustes geistiger Orientierungsmarken angesichts der Dynamik und des Chaos des Großstadtslebens, die Ich-Krise - das sind unter anderen Themen, die in Alfred Döblins Roman Berlin Alexanderplatz, im Gedicht von Ernst Blass Der Nervenschwache, in Van Hoddis´ Weltende, in Alfred Wolfensteins Städter, in Georg Trakls Vorstadt im Föhn sowie in Paul Boldts Auf der Terrasse des Café Josty behandelt werden. Näheres über die künstlerisch-literarische Bewegung des Expressionismus ist unter anderen in folgenden Werken zu erhalten: Otto F. Best (Hg.), Theorie des Expressionismus (Anm. 56). Vgl. dazu Wolfgang Beutin et al. (Hg.), Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, 6. verbesserte und erweiterte Auflage, Stuttgart: Metzler 2001. 2.2 Zum unheimlichen Leben der Figur Andreas Pum aus 179 Der Signifikant ›Heide‹ erfährt eine Bedeutungsverschiebung. Zuvor als abtrünnige Kategorie gesellschaftlicher Ausgrenzung eingesetzt, klingt es im jetzigen Gebrauch solidarisch und kampfbetont und wird positiv konnotiert. Das Wort ›Heide‹ - wie es von der Figur Andreas verwendet wird - artikuliert die Austauschbarkeit von Opfer- und Täterschaft. Als er ursprünglich in den Baracken „des Kriegsspitals Numero XXIV“ (JRW 4, 246) mit dem System sympathisierte, war dieses Wort eine Bezeichnung für die Anderen, die als ›nicht-dazu-gehörig‹ eingestuft wurden. Nach erlebten Enttäuschungen sowie nach dem Aufenthalt im Gefängnis aber bezieht er diese Bezeichnung sowohl auf sich selbst als auch auf die ›Zweibeinigen‹: „Die Zweibeinigen sind die ‘Heiden’“ (JRW 4, 300). Es ist nicht banal, die dezentrierende Kraft der Signifikanten ›zweibeinig‹ und ›einbeinig‹ zu unterstreichen, die an den Signifikanten vierbeinig denken lassen und dadurch gleichzeitig eine Grenzverwischung zwischen Menschlichem und Animalischem, zwischen Kultur und Natur, zwischen Sakralem und Profanem signalisieren. Durch diese Bewegung der Grenzverwischung wird der Prozesscharakter des Lebens, das Unbeständige im Leben in den Vordergrund gestellt. Andreas Pum verhält sich wie einer, der aus ›der Haft‹ ausgebrochen ist. Er trägt kein Ordenskreuz mehr an der Brust wie vor seiner Inhaftierung. Warum versteckt er sich? Warum belauert er die Polizisten? Warum schlägt er jetzt lieber dunkle Seitengassen ein? Er, der früher gern an bevölkerten Plätzen Musik vorspielte. Zum ersten Mal hegt Andreas Pum Auswanderungspläne: Amerika, Australien, Afrika? Er wollte am liebsten fliehen. Die ganze Unermeßlichkeit der Welt war plötzlich vor ihm aufgetan, er sah Amerika, Australien, [Afrika, Ozeanien], die fremden Gestade der Erde, und als wäre seine neugewonnene Freiheit noch ein Kerker, so empfand er das Land, in dem er lebte und in dem ihm Leid angetan war , als einen Gefängnishof, in dem er provisorisch frei spazieren durfte, um wieder in die Zelle zurückzukehren 744 (JRW 4, 317). Zudem bekennt er sich zur Zunft der Verbrecher. Der aus der ›Haft entflohene oder entfliehende‹ Andreas sucht und findet Zuflucht bei seinem alten Kumpan Willi. Diese Rückkehr in die ›alte Wohnung‹ kommt Andreas fast wie eine ›Rückkehr ins Land der Geburt‹ vor. Seit langem hat er sich nicht mehr so heimlich oder heimisch gefühlt, wie in diesem Augenblick des Wiedertreffens mit Willi (vgl. JRW 4, 304f). Das Paar Willi und Klara, die wie Pech und Schwefel den Strukturen der Unterdrückung zum Trotz zusammenhalten, erweist sich in diesem Augenblick als der einzige Hafen, in dem sich Andreas sicher fühlt und seine Geschichte erzählen, sich artikulieren, sich mitteilen kann. Dieses Willi-Klara-Paar, das in dieser Gesellschaft von Anfang an in der Subversion, in der Rebellion lebt, bringt Andreas Pum unbedingtes Mitgefühl entgegen. Andreas wird aber intensiv von der Kriminalpo- 744 Hinzufügung v. mir. 2. Unheimliches Leben: zu den Erscheinungsformen der Marginalität … 180 lizei gesucht, die ihn letztendlich ausfindig macht. Er landet erneut im Gefängnis. Von diesem Gefängnis ist zu erfahren, dass es das Land reell wie symbolisch beherrscht: „heilig wie eine Kirche und finster wie ein gemauertes Gesetz“ (JRW 4, 305). Daraus ist zu entnehmen, dass die Kirche und der Staat Machtdispositive konstituieren, die dieses hier nicht präzis genannte Land in eine ›Strafkolonie‹ verwandeln. Aus dem Text entfaltet sich eine Revolte, eine „aphoristische Energie“ 745 , ein Protest gegen jene gesellschaftlichen Machtdispositive, die das Subjekt aus seinem psycho-affektiven Gleichgewicht bringen. Im Folgenden wird der Frage nachgegangen, inwieweit Andreas Pums Gefangenschaft auf die Verwandlung seiner Subjektivität einwirkt und dabei sein kritisches Bewusstsein schärft. 2.2.5.4 Andreas Pums Gefangenschaft oder die Metamorphose des Subjekts Andreas Pum wird in ein lagerähnliches Gefängnis eingewiesen (vgl. JRW 4, 299f) und in einer dunklen, feuchten und kalten Zelle unter erbärmlichen Bedingungen festgehalten. „Er lernte die Stimme der Finsternis kennen und den Gesang der lautlosen Dinge, deren Stummheit zu klingen beginnt, wenn die polternden Tage vergehn“ (JRW 4, 305). Aus der Perspektive der Zelle lernt Andreas allmählich die Welt dies- und jenseits des Lagers anders wahrzunehmen. Er ist zwar physisch von der Außenwelt abgeschnitten, schafft es aber trotzdem, geistig eine Brücke über diese Welt zu schlagen. An den feinsten Unterschieden ihrer Laute erkannte er Wesen und Gestalt und Ausmaß der Dinge. Er wußte, ob ein vornehmer Privatwagen draußen vorbeisauste oder nur eine gutgebaute Droschke; ob ein Pferd die zarten Gelenke adeliger Zucht besaß oder die breiten Hufe des billigen Nützlichkeitsgeschlechts; […] Er konnte mit dem Ohr einen Spaziergänger von einem Wanderer unterscheiden; den Zartgebauten von dem Vierschrötigen; den Kräftigen von dem Schwachen. Er bekam die zauberhaften Gaben eines Blinden. Sein Ohr wurde sehend (JRW 4, 305f). Andreas Pum entwickelt synästhetische Fähigkeiten, die ihn im Gefängnis seelisch lebendig halten. Seine Ohren werden sehend, seine Augen werden hörend. Eine Verschmelzung von Sinnesbereichen findet statt. Der karge, „kurze Ausblick in die Welt durch das schmutzige Glas hinter den engen Quadraten“ (JRW 4, 306) bringt seiner Seele Erfrischung und Kraft. Das Wachrufen längst verschütteter Erlebnisse ins Gedächtnis - Kindheitssowie Naturerlebnisse - erweist sich als eine der Strategien, mit deren Hilfe Andreas symbolischen Widerstand gegen die Dunkelheit und die Kälte der Zelle leistet. Naturerscheinungen wie Regen, Vogelgezwitscher, Morgendämmerung erwecken in ihm eine Fülle von Erinnerungen. Erst in der Zelle lernt Andreas das Leben und die Freiheit zu schätzen, die er in den im Lagerhof 745 Jacques Derrida, Grammatologie (Anm. 219), S. 35. 2.2 Zum unheimlichen Leben der Figur Andreas Pum aus 181 zwitschernden Vögeln verkörpert sieht (vgl. JRW 4, 312). Von derselben dunklen Zelle aus scheint Andreas in einem stillen Widerstand das System herauszufordern, das seinen Körper einsperrt oder einsperren kann, 746 seinen Geist, seine Gedanken aber nicht. Das Gefängnis entpuppt sich daher als der eigentliche Raum, in dem er sich selbst und die Welt wiederentdeckt. Es sei an dieser Stelle erwähnt, dass Andreas Pum schon den Verlust seines Beines erfolgreich verschmerzt und geistig bewältigt hat. Es ist ihm gelungen, optimistisch in die Zukunft zu schauen, dem Leben mutig zu begegnen, sich nicht aus dem Takt bringen zu lassen. Eine Lebenseinstellung, die er selbst, wie folgt, auf den Punkt bringt: „Man kann ein gewichtiges, wertvolles, unbedingt notwendiges Stück seiner selbst verlieren und dennoch weiterleben. Man geht auf zwei Beinen, verliert unterwegs ein halbes aus dem losen Kniegelenk, wie ein Federmesser aus der Tasche, und geht weiter“ (JRW 4, 300). Das Leben und das Selbst schauen - aus der Perspektive eines Gefangenen oder des Gefängnisses betrachtet - anders aus. Andreas Pum macht aus der Notlage eine Tugend. Er wirft einen kritischen Blick auf die Zwischenfälle zurück, die ihn in diese Lage haben stürzen lassen, unter anderen das heilvolle oder unheilvolle Zusammentreffen mit der Witwe Blumich. So fällt ihm seine Einfältigkeit und ›geistige Kurzsichtigkeit‹ sowohl in der Einschätzung dieser Frau als auch in seinem blinden Glauben an die Dispositive der Macht - die Kirche und den Staat - auf: Im Kriege verlor er sein Bein. Er bekam eine Auszeichnung. Nicht einmal eine Prothese verschafften sie ihm. Jahrelang trug er das Kreuz mit Stolz. Seine Lizenz, die Kurbel eines Leierkastens in den Höfen zu drehen, schien ihm höchste Belohnung. Aber die Welt erwies sich eines Tages nicht so einfach, wie er sie in seiner frommen Einfalt gesehen hatte. Die Regierung war nicht gerecht. Sie verfolgte nicht nur die Raubmörder, die Taschendiebe, die Heiden. Offenbar geschah es, daß sie sogar einen Raubmörder auszeichnete, da sie doch Andreas, den Frommen, ins Gefängnis schloß, obwohl er sie verehrte. So ähnlich handelte Gott: Er irrte sich. War Gott noch Gott, wenn er sich irrte? (JRW 4, 307f). Der Leser erlebt einen ernüchterten Andreas, der in seiner kritischen Selbstanalyse die Diskrepanz zwischen seinen Träumen und der harten, unerbittlichen Wirklichkeit einsieht. Er fühlt sich ungerecht von der Regierung sowie von Gott behandelt. Staat und Gott haben in Andreas Pums Vorstellungswelt - bis vor kurzem zumindest - als einheitliche, unbefleckte Instanzen, als ›Horte der Gerechtigkeit‹ existiert. Künftighin aber wird die ›Heiligkeit‹ dieser Instanzen infrage gestellt. Gott und Staat erscheinen Andreas als menschliche Institutionen, die sich wie der Mensch auch irren können. Staats- und Gottfeindlichkeit kristallisieren sich im Text als Wesenszüge der Rebellion heraus: ein Aufbegehren gegen Instanzen, die das Subjekt ständig überwa- 746 Hingewiesen wird zum Beispiel auf sein im Krieg für ›das Vaterland‹ geopfertes linkes Bein. 2. Unheimliches Leben: zu den Erscheinungsformen der Marginalität … 182 chen und strafen. Dass Andreas eine geistige Wandlung in der Zelle durchläuft, zeigt sich an seinem erwachten und wachsenden Interesse am Lesen. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem Andreas ein Stückchen Zeitungspapier auf dem Innenhof des Lagers aufgehoben und heimlich in der Dunkelheit der Zelle gelesen hat (vgl. ebd.), hat er sich als ungebildet, roh und unwissend präsentiert. Der Textbrocken im vorgefundenen Zeitungspapierstück schildert Lebensabschnitte von gebildeten, vornehmen Männern und Frauen: Professoren, Doktoren, Ärzten, Rechtanwälten, Assessoren, Bankdirektoren. Die Namen im Zeitungsfragment, die diese Titel führen, kommen Andreas sinnbildlich wie eine Geheimgesellschaft von einflussreichen Menschen vor, deren Mitglieder einander helfen und unterstützen. Hätte er Bekanntschaften in solchen Kreisen gehabt, wäre er vielleicht nicht da gelandet, wo er derzeit ist. Ähnliche und andere Gedanken beschäftigen Andreas Pum: „Er stellte sich die Gesellschaft sehr glänzend vor. Es schien ihm, daß er hinter das Geheimnis der Welt gekommen war. Er glaubte zu wissen, daß er in der Zelle saß, weil er keinen von diesen Verlobten, Geborenen und Verstorbenen kannte“ (JRW 4, 309f). Im Gegensatz zu den Titelträgern, die im Zeitungsfragment stehen, kommt Andreas aus niedrigen unbekannten und unbedeutenden Verhältnissen. Ohne Familie, ohne Papiere kann er keine Herkunft, keinen gesellschaftlichen Stand oder Status aufweisen. Ohne Papiere kommt sich Andreas wie ein Nichts, wie ein Niemand vor. Die Lehre oder Leere, die eben aus dem Textbrocken herausspringt, ist, dass Herkunft, gesellschaftlicher Stand und Besitz über ›Sein‹ oder ›Nicht-Sein‹ (›to be or not to be‹) entscheidend sind. Andreas Pums Geschichte gehört zu den verdrängten, unerzählten Narrativen dieser Gesellschaft, die aufgrund von Pums Klasse und Herkunft nie in den Kolumnen einer Zeitung hätte stehen können, müssen oder dürfen. Allgemein bekannt ist, dass er von Sozialhilfe lebte. „Weshalb stand es nicht gedruckt, daß Herr Andreas Pum, Lizenzinhaber, nach ungerechter Behandlung und ohne gehört zu werden, zu sechs Wochen verurteilt war? “ (JRW 4, 310). Die Medien - allen voran die Zeitungen - werden als Bestandteile des Machtdispositivs entlarvt. Sie stehen im Dienste der Mächtigen. Andreas Pums Bitterkeit dem System gegenüber, das ihn zurückgesetzt hat, ist umso nachvollziehbar, als er - als Patriot - auf eine glänzende Karriere gehofft und sich entsprechend darauf vorbereitet hatte. Auf so eine Desillusion war er keinesfalls gefasst. Daß man gerade ihn eingesperrt hatte, daß man gerade ihn zum Heidentum zwang, war eine Ungerechtigkeit, grausam, unentschuldbar und verbrecherisch. Wie lange war es denn überhaupt her, daß er, fast mit der Würde eines Beamten, jedenfalls aber mit dem gottesfürchtigen Sinn eines Priesters, die Lizenz in der Tasche, an einer belebten Straßenecke die Nationalhymne spielte und die Leute zur Vaterlandsliebe fast ebensosehr anspornte wie zur Wohltätigkeit? (Ebd.) 2.2 Zum unheimlichen Leben der Figur Andreas Pum aus 183 Andreas versucht sich Klarheit darüber zu verschaffen, warum und wie es überhaupt dazu gekommen ist, dass er jetzt im Gefängnis sitzt. Er begreift sich nun als einen von den Machtstrukturen gedemütigten, gebrochenen Menschen. Das Leben im Gefängnis schärft sein kritisches Bewusstsein, macht ihn reifer und umsichtiger. Erst in der Dunkelheit des Kerkers gehen ihm nach vierzig Lebensjahren die Augen auf. „Ach! daß ich länger als vier Jahrzehnte leben mußte, um einzusehen, daß ich blind gewesen war im Lichte der Freiheit, und daß ich erst sehen lernte in der Dunkelheit des Kerkers! “ (JRW 4, 316). Andreas gerät in eine Auseinandersetzung mit der Verwaltung des Lagers, die sein eingereichtes Gesuch, Vögel aus dem Fenster seiner Zelle füttern zu dürfen, abschlägig bescheidet (vgl. JRW 4, 314). ›Der Doktor‹, der bestellt wird, um Andreas Pums psychischen Zustand festzustellen, geht mit ihm wie mit einem Geisteskranken um. 747 „‘Es ist nicht gesund ein Philosoph zu sein. Dazu reicht Ihre Kraft nicht. Man muß glauben, lieber Freund! ’“ (Ebd.). Aus dieser Aussage des Gefängnispsychologen, dessen Name verschwiegen, dessen Doktortitel aber in den Vordergrund gestellt wird, geht deutlich hervor, dass er eine Masche des gesetzlichen Spinnennetzes bildet. Mit den Aussagen dieses ›Doktors‹ offenbart sich ein anderes - vielleicht das ›ungeschminkte‹ - Gesicht dieses Systems, das kritisches Denken degradiert, als pathologische Erscheinung abtut und blinden, kadavergehorsamen Glauben, Einfältigkeit und Dummheit aber als ›höchste Tugend‹ verherrlicht. Die Diagnose des Psychologen beschreibt Andreas als geisteskrank, weil er um die Erlaubnis gebeten hat, sein Brot mit den Vögeln zu teilen, und damit die Fähigkeit Gottes infrage stellt, Tiere - geschweige denn Menschen - ausreichend zu versorgen. Ungeachtet dieser einseitigen Diagnose wird der Leser von Andreas Pums erwachter Liebe zu den Tieren beeindruckt. Es ist eine Liebe, die mit ›Nächstenliebe‹ gleichgestellt werden könnte und die einer Rehabilitierung des Anderen im Selbst gleichkommt. Und die stumme Ansprache, die er an die Vögel hält, lässt sich als Schuldbekenntnis, als innere Bekehrung verstehen: Meine kleinen, lieben Vögel, lange Jahrzehnte war ich euch fremd, und ihr wart mir gleichgültig wie der gelbe Pferdekot in der Straßenmitte, von dem ihr euch nährt. Wohl hörte ich euch zwitschern, aber mir war es gleich wie das Summen der Hummeln. Ich wußte nicht, daß ihr Hunger haben könntet. Ich wußte kaum, daß Menschen, also meinesgleichen, Hunger haben. Ich wußte kaum, was der Schmerz ist, obwohl ich im Krieg war und ein Bein verlor, aus dem Kniegelenk fallen ließ. Ich war vielleicht kein Mensch. […] Eigene Gedanken dachte mein armer Kopf nicht. Denn ich bin von der Natur nicht mit scharfer Einsicht gesegnet, und mein schwacher Verstand wurde betrogen von meinen Eltern, von der Schule, von meinen Lehrern, vom Herrn Feldwebel und vom Herrn Hauptmann und von den Zeitungen, die man mir zu lesen gab. Kleine Vögel seid mir nicht böse! Ich beugte mich 747 Denn die Lagerverwaltung hielt Andreas Pum für geistig verstört. 2. Unheimliches Leben: zu den Erscheinungsformen der Marginalität … 184 den Gesetzen meines Landes, weil ich glaubte, eine größere Vernunft als die meinige hätte sie ersonnen, und eine große Gerechtigkeit führte sie aus im Namen des Herrn, der die Welt erschaffen. Ach! daß ich länger als vier Jahrzehnte leben mußte, um einzusehen, daß ich blind gewesen war im Lichte der Freiheit, und daß ich erst sehen lernte in der Dunkelheit des Kerkers! Ich wollte auch füttern, aber man verbietet es mir. Weshalb? […] Ich weiß auch, weshalb ich euch nicht kannte, als ich selbst noch frei war. Denn damals war ich, obwohl einbeinig, dumm und alt […] 748 (JRW 4, 315f). Die ›Philosophie‹, die sich aus den Gedanken des desillusionierten Andreas ergibt, ist tiefgründig. Hier betreibt ein Mensch eine schonungslose selbstkritische Analyse. Er bringt die verborgenen, verschütteten Schichten, das dauernd Verdrängte zur Sprache. Nicht nur ein Subjekt, sondern auch ein Gesellschaftssystem wird dabei infrage gestellt. Die Schule, das Lazarett, die Eltern, die Lehrer, die Armee und die Medien, sie alle gelten als Institutionen der Disziplinarmacht 749 , als Handlanger eines Systems, das an Andreas Pums physischen und psychischen Deformierungen die Hauptschuld trägt. Die Macht dieses Systems gründet auf der Demütigung und Erstickung des Subjekts. Es schläfert Andreas Pum ein und bringt ihn dazu, sich selbst zu sabotieren, sich in Formen der Negativität aufzufassen. Andreas Pums Ansprache an die Vögel übernimmt die Züge einer Rede an ein Alter Ego. Er wird zwar freigelassen, aber diese Freilassung erfolgt, so Andreas Pum, gegen den Willen der Vertreter des Gesetzes (vgl. JRW 4, 317). Der Leser erlebt ein vollkommen verändertes Subjekt, einen kritisch denkenden Menschen. „Er liebte seine Qualen wie treue Feinde. Er haßte seine verlebten Jahre wie verräterische Freunde“ (JRW 4, 314). Die neu gewonnene Freiheit empfindet er als Kerker. Genau „so empfand er das Land, in dem er lebte und in dem ihm Leid angetan war, als einen Gefängnishof, in dem er provisorisch frei spazieren durfte, um wieder in die Zelle zurückzukehren“ (JRW 4, 317). Andreas Pums Leben nach der ›Freilassung‹ steht unter dem Zeichen der Rebellion. In der Straßenbahn sitzt er - den gut gekleideten Passagieren Paroli bietend - in der ersten Klasse, obwohl er dazu nicht berechtigt ist (vgl. ebd.). Auf diese Umgehung der „ungeschriebenen dennoch heiligen Gesetze der irdischen und der Bahnordnung“ (ebd.) ist er besonders stolz. Zu den Strukturen des Gesetzes steht er in einem Verhältnis des erbitterten Kampfes. Von besonderer Bitterkeit ist Andreas Pum erfüllt, wenn er in der Toilette einer Straßenbahn vor seinem verzerrten Spiegelbild zurückschreckt. Aus dem schmalen Spiegel gegenüber der Tür blickte ihm ein weißbärtiger Greis entgegen, mit einem gelben Gesicht und unzähligen Runzeln. Dieser Greis erinnerte an einen bösen Zauberer aus den Märchen, der Erfurcht und 748 Hervorhebung v. mir. 749 Der Begriff Disziplinarmacht wird hier in Anlehnung an Michel Foucault verwendet. Näheres zu diesem Begriff ist in dieser Arbeit von S. 77-79 zu erhalten. Vgl. Michel Foucault, Überwachen und Strafen (Anm. 371). 2.2 Zum unheimlichen Leben der Figur Andreas Pum aus 185 Furcht erweckt und dessen weißer Großvaterbart wie die Abzeichen einer verräterischen Liebe ist, einer heuchlerischen Güte und einer falschen Ehrlichkeit. Andreas glaubte, sich an die Farbe seiner Augen zu erinnern: Waren sie nicht einmal blau gewesen? Jetzt schillerten sie in grünlicher Bosheit. Änderte sich auch die Farbe der Augen in der Luft der Zelle? (Ebd.). Es sind Jahre, nicht sechs Wochen, die Andreas im Gefängnis verbracht hat. Sein bis zur Unkenntlichkeit verunstaltetes und schreckenerregendes Spiegelbild scheint ihm selbst dieses systembedingte Geheimnis zu lüften. Andreas muss in der Zelle jegliches Zeitgefühl verloren haben. Sein Großvaterbart, seine zuvor veilchenblau, aber jetzt grün gefärbten Augen, sein runzeliges Gesicht enthüllen ihm die nackte Wahrheit (vgl. ebd.). „In kurzen Wochen? Bewies ihm nicht gerade diese ehrwürdige Haarfarbe, daß er lange Jahre in der Zelle zugebracht hatte? “ (Ebd.). Andreas Pums Selbstbefragung lässt vermuten, dass er jetzt den Trick durchschaut. Das System hat ihn ausgebeutet, wie eine Zitrone ›zusammengepresst‹ und dann weggeworfen. „Jetzt war er ein Greis, unfähig, ein neues Leben zu beginnen, und dem Tode nah“ (JRW 4, 318). Andreas bleibt aber kämpferisch und trotzig dem Staat und Gott gegenüber. „Todgeweiht, blieb er am Leben, um zu rebellieren: gegen die Welt, die Behörden, gegen die Regierung und gegen Gott“ (ebd.). Andreas Pum fasst sich als Lebendtoter, als Totlebender auf. Diese Art und Weise, sich selbst zu definieren, verwundert nicht, denn so begreift er sich selbst, seitdem er im Zwist mit dem System liegt. Wenn er sich seine subalterne Stellung vor Augen führt, dann betont er auch seine feste Absicht, mit dem System abzurechnen. Andreas kann in seiner Entrüstung nichtsdestotrotz auf die Unterstützung eines alten Schicksalsgenossen namens Willi zählen. 2.2.6 Der neureiche Willi als häretische Figur? Sein Kamerad namens Willi, der Andreas Pum nach wie vor in bedingungsloser Freundschaft verbunden ist, hat es trotz seiner Perspektivlosigkeit zum erfolgreichen Unternehmer gebracht. Jahrelang hat er von Gelegenheitsjobs, Diebstählen und vor allem von den Nebentätigkeiten seiner Freundin Klara gelebt. Der gealterte Andreas Pum entdeckt einen verwandelten Willi. Ein Zufall rüttelte Willi auf. Er hatte immer Unternehmungsgeist besessen. Er war sich seiner Gaben bewußt. Er hatte schon oft daran gedacht, die Konjunktur dieser Zeit auszunützen. Er sah, wie junge Leute mit stumpfen Hirnen und nur mit dem Willen, Geld zu verdienen, eine gleichgültige Sache anfingen, einen Handel mit Streichhölzern oder Toilettenseife zum Beispiel, und wie sie es zu einem Vermögen brachten. Er hatte es nicht nötig, sich wegen seiner alten Sünden vor der Polizei ewig verborgen zu halten. Er besaß die Fähigkeit, Pässe zu fälschen, und er sah längst nicht mehr so aus wie vor vier Jahren, als er in der Basteistraße eingebrochen war. Heute klebte übrigens sein Bild nicht mehr an den Litfaßsäulen der Stadt. Er brauchte nichts mehr zu fürchten (JRW 4, 319). 2. Unheimliches Leben: zu den Erscheinungsformen der Marginalität … 186 Der neureiche Willi und der Willi der Unterwelt, diese zwei Bilder des Freundes werden einander gegenübergestellt. Aber der Willi der ›Verbrecher- Jahre‹ könnte nun auch als jemand angesehen werden, der durch die verübten Taten im Widerstand gegen das System stand. Sein unternehmerischer Erfolg basiert auf der einfachen Idee, die Toiletten in Kaffeehäusern sauber zu halten und der Garderobedienst zu organisieren (vgl. JRW 4, 320). Mit dieser Idee schafft er Arbeitsplätze für Invalide und Nichtstuer. Willi ist es gelungen, woran Staat und Kirche gescheitert sind: die Schaffung von Arbeitsplätzen, den psychisch zusammengebrochenen Subjekten wieder Hoffnung zu geben. Willi hat sich einen „noblen Namen“ (JRW 4, 320) bzw. einen pompösen Titel gekauft und lässt sich künftighin „Herr Wilhelm von Klinckowström“ (ebd.) nennen. Über diesen Namen erfährt der Leser, dass dieser „eigentlich einem gefallenen Soldaten gehörte, dessen Militärpapiere sich Willi gesichert hatte“ (ebd.). Er zieht in ein vornehmes Viertel ein, hat seine alte Freundin Klara geheiratet und führt ein pompöses Leben. Von Diebstählen der ›bitteren Jahre‹ hat er sich verabschiedet. Zudem setzt er alles daran, um dieses dunkle Kapitel seiner Geschichte zu verdrängen. Er gibt sich pedantisch als gebürtigen Brasilianer aus. „Er schilderte haarklein das Leben in Brasilien und malte das Land so wunderbar, daß er immer Sehnsucht verspürte auszuwandern“ (JRW 4, 321). „Er liebte Südfrüchte. Er rauchte Brasilzigarren“ (ebd.). Willis Begeisterung für die Dritte Welt ist von exotischen, ›kapitalistischen‹ Projektionen begleitet. Er konsumiert teure Zigarren aus Brasilien und möchte dadurch seine Zugehörigkeit zur vornehmen Gesellschaft kenntlich machen. Brasilien-Zigarren und Südfrüchte werden zu machtpolitischen Signifikanten des neuen gesellschaftlichen Status. In diesem Zusammenhang sei auf eine Grundthese des Philosophen und Soziologen Jean Baudrillard verwiesen. In seinem Buch Pour une critique de l´économie politique du signe plädiert Baudrillard für die Verabschiedung einer - seiner Meinung nach - einfältigen Sichtweise, die in den Dingen, in den Gegenständen des Alltags lediglich Gebrauchsgegenstände sehen will, die einfach der Befriedigung menschlicher, körperlicher und geistiger Bedürfnisse dienen. Wenn Baudrillard von Dingen spricht, meint er sowohl materielle als auch immaterielle Gegenstände, die den Alltag des Menschen begleiten. Baudrillard geht von der These aus, dass jedem Konsum oder jedem menschlichen Umgang mit Dingen oder Konsumgütern eine Ideologie zugrunde liegt, die das Konsumverhalten bewusst oder unbewusst steuert. Eine der Grundannahmen Baudrillards ist, Konsumgüter seien politische Signifikanten. Sie fungieren als Zeichen, aus denen sich der gesellschaftliche Status bzw. der Stand eines Individuums ablesen lassen könnte. Diesen politischen Signifikanten liegt - Baudrillard zufolge - eine soziale Logik, eine Ideologie zugrunde, die bewusst oder unbewusst den Umgang mit Dingen je nach Gesellschaftsschicht regelt oder zu 2.2 Zum unheimlichen Leben der Figur Andreas Pum aus 187 regeln scheint. 750 Baudrillard schreibt Konsumgütern, Gegenständen und dem menschlichen Umgang damit keine bloße funktionale, pragmatische Rolle zu: Sous leur évidence concrète, les besoins et les fonctions ne décrivent au fond qu´un niveau abstrait, un discours manifeste des objets, en regard duquel le discours social, largement inconscient, apparaît comme fondamental. Une véritable théorie des objets et de la consommation se fondera non sur une théorie des besoins et de leur satisfaction, mais sur une theorie de la prestation sociale et de la signification. 751 Baudrillard geht es um eine doppelte Analyse: erstens um die Untersuchung der gesellschaftlichen Funktion materieller (und immaterieller) Konsumgüter, zweitens um die Beleuchtung der politischen Ideologie, die dem Konsum zugrunde liegt. 752 Unter Bezugnahme auf die Funktionsweise rezenter Gesellschaften macht Baudrillard darauf aufmerksam, dass der Konsum, der Verzehr von besonders wertvollen Lebensmitteln (z.B. Wildfleisch, Öl, kostbare Nüsse usw.) sich nicht nach einer individuellen Ökonomie von Bedürfnissen richtet, sondern „elle [la consomation] est une fonction sociale de prestige et de distribution hiérarchique. Elle ne se révèle pas d´abord de la nécessité vitale ou du ‘droit naturel’, mais bien d´une contrainte culturelle.“ 753 Baudrillard gibt hiermit zu verstehen, dass man in diesen Gesellschaften einer bestimmten gesellschaftlichen Hierarchie zugehörig sein soll oder muss, um überhaupt zum Genuss etwa von Wild zu kommen. Anders formuliert: An dem, was sich ein Subjekt leisten kann, lässt sich sein gesellschaftlicher Status ablesen. Durch den Konsum von tropischen Zigarren und Früchten artikuliert der neureiche Willi implizit seinen neuen errungenen Status und seine Machtstellung. Er ist weit davon entfernt, sich überhaupt das Leid derjenigen Menschen (Männer, Frauen und Kinder) in den ›harten Tropen‹ auszumalen, die am Prozess der Herstellung dieser begehrten Konsumgüter beteiligt sind. Im Roman wird auf das Lumpenproletariat in den Hauptstädten Afrikas, Asiens und Mittel- und Südamerikas sowie auf die armen Lumpenbauern in manchen entlegenen Gebieten erwähnter Erdteile hingewiesen. Die Geschäftshäuser im Roman florieren u.a. mit dem Handel von Kaffee sowie von anderen im Text nicht erwähnten Delikatessen aus den Tropen. Willis Geschäft blüht auch in dieser Kaffeehauskultur. Kaffee, Kakao, Tabak, Tee, Bananen, Orchideen usw. - all diese Produkte stehen in Verbindung mit den Leiden der Menschen in den Tropen. Über all diese Tatbestände sind weder der Betreiber Willi noch seine Kundschaft beunruhigt. Willi hat sich zu einer gesellschaftlich imposanten Figur emporgearbeitet, die sich nicht alles, aber doch vieles leisten kann. Er kann die Polizei- und die 750 Vgl. Jean Baudrillard, Pour une critique de l´économie politique du signe, Paris: Éditions Gallimard 1972, S. 8. 751 Ebd. 752 Ebd. S. 7. 753 Ebd. S. 8. 2. Unheimliches Leben: zu den Erscheinungsformen der Marginalität … 188 Regierungsbeamten bestechen. Aufgrund seiner Machtstellung verhilft er Andreas Pum teilweise zu seinem Recht. Er rechnet mit jenem Unterinspektor Vinzenz Topp ab, dem Andreas Pum u.a. sein eheliches Debakel zu verdanken hat, indem er energisch die unverzügliche Rückgabe von Andreas Pums Habseligkeiten einfordert. Was Willi jedoch in Wahrheit zurückhaben möchte, ist Pums Soldatenuniform. Andreas Pum wird als Toilettenwächter angestellt. Der ›Herr Willi von Klinckowström‹ besteht darauf, dass Andreas seinen Dienst in der Toilette mit der Uniform antritt. Er kannte die geheimen Zusammenhänge zwischen Bedürfnisanstalten und Patriotismus und wußte die ornamentale Wirkung eines dekorierten Invaliden im Klosett zu schätzen. Am nächsten Morgen kaufte er in einem Ordenladen fünf Auszeichnungen, darunter einen Stern aus Gold und Silberflitter an blauroten, rotweiß gestreiften und knallroten Bändern. Das mußte Andreas an die Brust nähen (JRW 4, 323). Andreas tritt - wie von Willi gewünscht - seinen Dienst als Toilettenwächter mit seiner mit gekauften Orden versehenen alten Soldatenuniform an. Diese Uniform bleibt Maske und Mimikry, denn Andreas Pum hat längst dem Patriotismus den Rücken gekehrt. Dieser Antipatriotismus wird im Text durch das Bild eines musikalischen Papageis zum Ausdruck gebracht und kenntlich gemacht, dessen buntes Gefieder sich sträubt, sobald er etwa Klänge der Nationalhymne und kriegerische Märsche hört (vgl. JRW 4, 324). Darüber freute sich Andreas im stillen (sic). Denn auch er liebte die patriotische Musik nicht mehr, und er dachte mit bitterem Hohn an jene Zeit zurück, in der er selbst noch durch seinen Leierkasten diese Melodien verbreitet hatte. (Ebd.). Der Papagei, den sich Andreas Pum angeschafft hat, um sein Leben in der Toilette aufzuheitern, ist zum Gesinnungsgenossen geworden. Ja, ja Ignatz, wir sind Rebellen, wir beide. Leider kann es uns nichts nützen. Denn ich bin ein alter Krüppel, und du bist ein ohnmächtiger Vogel, und wir können die Welt nicht ändern. Wenn ich dir erzählen wollte, wieviel ich im Leben gelitten, was ich im Krieg durchgemacht habe und im Gefängnis, wie mir in der Zelle die Augen aufzugehen begannen und wie ich endlich entschlossen war, ein kräftiger, tätiger Heide zu werden, bis ich im Spiegel des Vorortzuges einsehen mußte, daß ich zu alt geworden war! Alle meine Freunde leben noch und sind kräftig und jung. Ich aber bin dem Tode verfallen, und wenn du mit deinen Flügeln so wild um dich schlägst, so glaube ich schon, sein Rauschen hinter meinem Rücken zu hören (ebd.f). Trotz seines rebellischen Geistes bleibt Andreas Pums Intelligenz vom Pessimismus überschattet. Beim nahenden Tod sieht Andreas die Unzulänglichkeiten seiner Rebellion ein. Ihm fehlt der Mut, einen breiten Kreis von Menschen für seine gesellschaftskritischen Gedanken zu gewinnen. So wie ihm 2.2 Zum unheimlichen Leben der Figur Andreas Pum aus 189 der Spiegel im Zugabteil sein gebrochenes körperliches Schema ›verraten‹ hat (vgl. JRW 4, 317), so ist Andreas auch psychisch gebrochen. Es ging abwärts mit Andreas. Er sah aus wie ein Siebzigjähriger. Sein weißer Bart reichte knapp bis zu den bunten Ordensbändern auf seiner Brust, die ihm das Ansehen eines alten Schlachtenlenkers verliehen. Weißes Moos wucherte in seinen Ohren. Er hustete laut und trocken und war nach jedem Hustenanfall matt wie ein fieberkrankes Kind und einer Ohnmacht nahe (JRW 4, 325). Ins Bild rückt ein physisch erheblich angeschlagenes Subjekt/ Objekt, dessen körperliche Kräfte allmählich schwinden. An den anhaltenden und sich wieder erstarkenden Schmerzen erkennt er, dass er noch lebt. Andreas denkt tief über die „Ungerechtigkeit Gottes und seine Irrtümer“ (JRW 4, 326) sowie über „die Möglichkeit einer Wiedergeburt“ (ebd.) nach, „um die verletzte Gerechtigkeit zu sühnen“ (ebd.). Er schwebt zwischen Traum und Wirklichkeit. Andreas wünscht sich eine Wiedergeburt in der Gestalt eines Weltverbesserers und freut sich, wenn er von Diebstahl, Einbruch und Mord in der Zeitung liest. Gesellschaftliche Außenseiterfiguren wie Diebe, Einbrecher und Mörder gewinnen zunehmend an Bedeutung in seiner Vorstellungswelt. Andreas erhält eine zweite gerichtliche Vorladung. Denn es gibt anscheinend keinen Winkel, der dem allumfassenden, -wissenden, -mächtigen und gegenwärtigen Blick des Gesetzes entgeht. 2.2.7 Zweite oder virtuelle gerichtliche Vorladung: Andreas dies- und jenseitige Abrechnung mit dem Machtdispositiv Andreas wird beim stillen Widerstand gegen das Machtdispositiv erwischt. Die ›zweite gerichtliche Vorladung‹, die er für einen willkommenen Anlass hält, mit dem Dispositiv endgültig abrechnen zu können, soll den Beleg dafür erbringen. Auf diese Auseinandersetzung bereitet er sich vor. Die Rede, an der er arbeitet, entsteht an der Grenze zwischen Wach- und Schlafzustand, zwischen Wirklichkeit und Traum, zwischen Leben und Tod. Sie klingt wie sein Schwanengesang. „‘Hoher Gerichtshof’“ (JRW 4, 327). ‘Ich bin ein Opfer dieser Verhältnisse, die Sie selbst geschaffen haben. Verurteilen Sie mich. Ich gestehe, daß ich ein Rebell bin. Ich bin alt, ich habe nicht lange mehr zu leben. Ich aber würde mich auch nicht fürchten, selbst, wenn ich jung wäre.’ (Ebd.). Die Einübung dieser Rede wird plötzlich unterbrochen. Bei näherer Betrachtung erweist sich nämlich die sogenannte ›zweite Vorladung‹ als eine andere Bezeichnung für Andreas Pums Tod. Denn nach dem ›Erhalt des Briefes‹ und genauer nach der Unterbrechung der in Vorbereitung stehenden Verteidigungsrede scheint Andreas Pum in eine andere Welt versetzt worden zu sein, die von der Welt der Lebenden getrennt ist. Er reagiert weder auf die Wünsche der Toilettenbesucher, weder auf das Flattern des Papageis Ignatz, weder auf die Schläge der Turmuhren noch auf die Glockenschläge. Der Leser erlebt 2. Unheimliches Leben: zu den Erscheinungsformen der Marginalität … 190 einen Andreas Pum, der schon vor dem ›Hohen Gerichtshof‹ im Jenseits steht und sich den Fragen stellt. Die Wände des Gerichtssaales ähneln merkwürdigerweise denen der Toiletten: Sie sind „aus blaßblauen Kacheln“ (JRW 4, 329). Dieser rätselhafte Saal kommt ihm gleichzeitig wie ein Kirchensaal vor (vgl. JRW 4, 330). In diesem Augenblick „begriff Andreas, daß er tot war und vor dem himmlischen Richter“ stand. Andreas ist tot, aber sein Bewusstseinstrom wird als noch lebendig dargestellt. Er denkt weiter und erinnert sich an jene fragmentarisch gebliebene Rede, die er als noch lebendes Wesen vorzubereiten im Begriff war. Ein starker Zorn wuchs in ihm, sein Angesicht flammte, und seine Seele gebar Worte, zornige, purpurne Worte, tausend, zehntausend, Millionen Worte. Nie hatte er sie gehört, gedacht oder gelesen. Tief in ihm hatten sie geschlafen, gebändigt von dem armseligen Verstand, verkümmert unter der grausamen Hülle des Lebens. Jetzt sprossen sie auf und fielen von ihm ab wie Blüten von einem Baum. Im Hintergrund klang leise und in feierlicher Wehmut die Musik (ebd.). Andreas Pums abrechnende und zornerfüllte Rede lautet wie folgt: Aus meiner frommen Demut bin ich erwacht zu rotem, rebellischem Trotz. Ich möchte Dich leugnen, Gott, wenn ich lebendig wäre und nicht vor Dir stünde. Da ich Dich aber mit meinen Augen sehe und mit meinen Ohren höre, muß ich Böseres tun als Dich leugnen: Ich muß Dich schmähen! Millionen meinesgleichen zeugst Du in Deiner fruchtbaren Sinnlosigkeit, sie wachsen auf, gläubig und geduckt, sie leiden Schläge in Deinem Namen, sie grüßen Kaiser, Könige und Regierungen in Deinem Namen, sie lassen sich von Kugeln eiternde Wunden in die Leiber bohren und von dreikantigen Bajonetten in die Herzen stechen, oder sie schleichen unter dem Joch Deiner arbeitsreichen Tage, sonntägliche, saure Feste umrahmen mit billigem Glanz ihre grausamen Wochen, sie hungern und schweigen, Ihre Kinder verdorren, ihre Weiber werden falsch und häßlich, Gesetze wuchern wie tückische Schlingpflanzen auf ihren Wegen, ihre Füße verwickeln sich im Gestrüpp deiner Gebote, sie fallen und flehen zu Dir und Du hebst sie nicht auf. Deine weißen Hände müßten rot sein, Dein steinernes Angesicht verzerrt, Dein gerader Leib gekrümmt, wie die Leiber meiner Kameraden mit Rückenmarkschüssen. Andere, die Du liebst und nährst, dürfen uns züchtigen und müssen Dich nicht einmal preisen. Ihnen erläßt Du Gebete und Opfer, Rechtschaffenheit und Demut, damit sie uns betrügen. Wir schleppen die Lasten ihres Reichtums und ihrer Körper, ihrer Sünden und ihrer Strafen, wir nehmen ihnen den Schmerz und die Sühne ab, ihre Schuld und ihre Verbrechen, wir morden uns selbst, sie brauchen es nur zu wünschen; sie wollen Krüppel sehen, und wir gehen hin und verlieren unsere Beine aus den Gelenken; sie wollen Blinde sehen, und wir lassen uns blenden; sie wollen nicht gehört werden, also werden wir taub; sie allein wollen schmecken und riechen und wir schleudern Granate gegen unsere Nasen und Münder; sie allein wollen essen und wir mahlen das Mehl. Du aber bist vorhanden und rührst Dich nicht? Ge- 2.2 Zum unheimlichen Leben der Figur Andreas Pum aus 191 gen Dich rebelliere ich, nicht gegen jene. Du bist schuldig, nicht Deine Schergen. Hast du Millionen Welten und weißt Dir keinen Rat? Wie ohnmächtig ist Deine Allmacht! Hast du Milliarden Geschäfte und irrst Dich in den einzelnen? Was bist Du für ein Gott! Ist Deine Grausamkeit Weisheit, die wir nicht verstehen - wie mangelhaft hast Du uns geschaffen! Müssen wir leiden, weshalb leiden wir nicht alle gleich? Hast Du nicht genug Segen für alle, so verteile ihn gerecht! Bin ich ein Sünder - ich wollte Gutes tun! Weshalb ließest Du mich die kleinen Vögel nicht füttern? Nährst Du sie selbst, dann nährst Du sie schlecht. Ach, ich wollte, ich könnte Dich noch leugnen. Du aber bist da. Einzig, allmächtig, unerbittlich, die höchste Instanz, ewig - und es ist keine Hoffnung, daß Dich Strafe trifft, daß Dich der Tod zu einer Wolke zerbläst, daß Dein Herz erwacht. Ich will Deine Gnade nicht! Schick mich in die Hölle! 754 (Ebd.f). Andreas Pum sieht die Ursachen des Untergangs der verdammten Kriegsinvaliden in der Ungerechtigkeit herrschender Machtstrukturen und entwickelt in dieser eindrucksvollen Schlussapotheose eine Philosophie der Gottverlassenheit. Pum rebelliert gegen die weltlichen und zeitlichen Mächte. In einem emphatischen Ton macht er seiner aufgestauten Bitterkeit gegen ›Gott‹ und ›Kaiser‹ Luft. Beide Machtinstanzen werden symbolisch entthront. Die himmlische Gerichtsverhandlung verwandelt sich in einen Prozess gegen die weltliche und die zeitliche Ordnung. ›Gott‹ wird für die Ungleichheiten zwischen den Menschen verantwortlich gemacht. Ihm wird der Kampf angesagt. Aus Andreas Pums Perspektive ist ›Gott‹ auf die Leiden der Menschen angewiesen. Er ist stark und mächtig, weil - so Pum - die Menschheit leide und seufze. Die Rollen in der ›Gerichtsverhandlung‹ verschieben sich. Andreas wirkt wie ein Richter. ›Gott‹, ›Kaiser‹, ›Könige‹ und ›Regierungen‹ sitzen auf der Anklagebank. Andreas Pum hat überdies schon das Urteil gefällt: ›Du bist schuldig, nicht Deine Schergen.‹ Die Fundamente der göttlichen und der irdischen Ordnung werden erschüttert. Indem der Rebell Andreas durch die Bezeichnung ›ohnmächtige Allmacht‹ die göttliche Allmacht auflöst, bringt er die Asymmetrien von Gott und Mensch ins Wanken, unterminiert die imperialistisch und hegemonial gezogenen Grenzen zwischen Oben und Unten, Zentrum und Peripherie, Kaiser und Untertan, Erster und Dritter Welt. Schlussendlich sieht er dennoch ein, dass er sich der göttlichen Allmacht nicht entledigen kann. Andreas Pums Leiche wird einem „Anatomische[n] Institut“ unter derselben Nummer 73 übergeben, die er als „Häftling Andreas getragen hatte“ (JRW 4, 332). Dieser numerische Zufall legt nahe, dass Andreas Pums Leben - aus einer psychoanalytischen Sicht betrachtet - unter dem Zeichen des Unheimlichen steht. Diese Wiederkehr der Zahl 73 könnte hier symptomatisch für das stehen, was Freud als „die Wiederkehr des Glei- 754 Hervorhebung v. mir. 2. Unheimliches Leben: zu den Erscheinungsformen der Marginalität … 192 chen“ 755 nennt, im Zusammenhang mit den Erscheinungsformen des Unheimlichen. Andreas Pums Tod wird von niemandem beweint. Deshalb wird ihm die Zugehörigkeit zur Welt der Toten abgesprochen. Es wird ihm keine Sterbeurkunde ausgestellt. Er bekommt kein staatliches Begräbnis, obgleich er für sein Vaterland geblutet hat. Der sog. ›Widerstand im Stillen‹ muss - im Falle Willis - an dieser Stelle einer Differenzierung unterzogen werden. Aufgrund der Machtposition, die er mittlerweile erworben hat, hätte der Leser von ihm erwartet, dass er nicht einfach untätig zuschaut. Er verfügt doch über eine Handlungsmacht, die es ihm ermöglicht, die Grundfesten des Systems zu erschüttern. Was ihn am meisten zu interessieren scheint, sind indes seine Umsätze. In der Schlussszene, in der Andreas Pums Leiche in ein anatomisches Institut zum Sezieren gebracht wird (vermutlich wird seine Leiche anschließend für die Verbrennung in einem Krematorium vorbereitet), fällt Willi durch verblüffende Gleichgültigkeit auf. „Ehe man die Leiche in den Seziersaal trug, kam Willi, um Abschied zu nehmen. Er wollte gerade anfangen zu weinen. Da fiel ihm schnell das Lied ein, das er immer zu pfeifen pflegte. Und pfeifend ging er, einen Greis für die Toilette suchen“ (ebd.). Ganz unbeachtet ist Andreas Pum von der Welt geschieden, aber vielleicht mit dem ruhigen Gewissen, dem System seine Meinung gesagt zu haben. In einem globalen Zusammenhang betrachtet, steht der Titel Die Rebellion metaphorisch für die Rebellion der ›Verdammten dieser Erde‹ gegen unterdrückende, ausbeutende und ausgrenzende Dispositive. Frantz Fanon - in Les damnées de la terre und im Rahmen seines politischen Programms der geistigen Dekolonisierung - ist u.a. darum bemüht, den kolonialen Manichäismus 756 nicht nur in den klassischen Kolonien bzw. in der kolonial gespaltenen Dritten Welt, sondern vor allem auch auf der globalen Skala in den ehemaligen, aber weiterhin fortbestehenden ›Mutterländern/ Metropolen‹ zu dekonstruieren. Und die Welt des Romans Die Rebellion ist von einer manichäischen Koloniallogik besetzt und beherrscht, die ständig versucht, eine machtpolitische Grenze zwischen einer kranken Welt einerseits und einer gesunden Welt andererseits aufzuziehen, und die dadurch eine logozentrische Ordnung der Dinge herrschen lässt. 755 Näheres über Freuds Begriff des Unheimlichen ist in dieser Arbeit von S. 131 bis 142 zu erhalten. 756 Frantz Fanons politisches Programm der geistigen Dekolonisierung ist vor allem lokal, aber auch global gedacht. Unter kolonialem Manichäismus versteht Fanon - im Hinblick nicht nur auf klassische koloniale Situationen, sondern auch auf jegliche Form machtpolitischer Unterdrückung - die Teilung der kolonialen Welt in zwei entgegengesetzte Welten, die Stadt der Kolonialherren oder der Reichen einerseits und die der Kolonisierten oder der Armen andererseits. Besonders kritischen Blick lenkt Fanon auf das koloniale Machtdispositiv, das zur Aufrechterhaltung dieser machtpolitischen Geographie beiträgt. Vgl. Frantz Fanon, Les damnés de la terre (Anm. 177), S. 5-52. Nähere Aufschlüsse über Fanons Beschreibung des kolonialen Manichäismus sind bei Frantz Fanon ebenda zu erhalten. 2.2 Zum unheimlichen Leben der Figur Andreas Pum aus 193 2.2.8 Zur machtpolitisch gezogenen Grenze zwischen einer kranken und gesunden Welt Die Baracken eines Lazaretts bilden die Eröffnungsszene des Romans. Sie befinden sich am Rande der Stadt. Die räumliche Positionierung, am Rande, in der Peripherie, hat eine geopolitische Bedeutung. Es wäre nicht übertrieben, dieses Spital mit einem Gefängnis, mit einem Disziplinarraum gleichzusetzen. 757 Das Lazarett, von dem in Roths Roman die Rede ist, ist gesellschaftlich in eine Art Logik der Überwachung und Trennung verwickelt: die koloniale Trennung von ›kranken‹ und ›gesunden Menschen‹. „Die Straßenbahn führte in die Welt, in die große Stadt, in das Leben. Aber die Insassen des Kriegsspitals Numero XXIV konnten die Endstation der Straßenbahn nicht erreichen“ 758 (JRW 4, 245). Die Insassen des Lazaretts können die Endstation nicht nur aufgrund ihrer physischen Behinderungen nicht erreichen, sondern sie dürfen anscheinend zu dieser Endstation nicht beliebig oder unerlaubt gelangen. Was ins Auge springt, ist auch die Architektur des Spitals. Es sind Baracken und das Spital trägt keinen Namen, sondern eine Nummer. Die Reduzierung dieser Krankenanstalt auf eine Nummer ist eine Art und Weise, die Menschen oder ›Unmenschen‹, die sich in diesem Spital aufhalten symbolisch zu töten. Die Reduzierung von KZ-Häftlingen auf Nummern bildete eine der geheimnisvollen nationalsozialistischen Techniken und Technologien der Auslöschung des Subjektes. 759 Dies gibt implizit zu verstehen, dass die in Roths Die Rebellion auf Nummern reduzierten Kriegsinvaliden ebenfalls symbolisch ausgelöscht werden. Die Nummern, die sie tragen, stellen Chiffren der Entpersönlichung dar. 760 Es sind Menschen, denen jede Menschlichkeit abgesprochen wird. Ihnen werden nur Eigenschaften zugesprochen, die von ihren sichtbaren körperlichen Behinderungen abgeleitet werden: arm- 757 Zu den, laut Foucault, „gewaltigen Disziplinarordnungen“ zählen Gefängnisse, Schulen, Spitäler, Kasernen, Werkstätten, Städte, Gebäude und Familien. Michel Foucault, Analytik der Macht, herausgegeben von Daniel Defert und Francois Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange, übersetzt von Reiner Ansén et al., Frankfurt/ Main: Suhrkamp Verlag 2005, S. 77. Vgl. ders. Überwachen und Strafen (Anm. 371), S. 181, 184. 758 Hervorhebung v. mir. 759 Vgl. Peter Weiss, Die Ermittlung. Oratorium in 11 Gesängen, mit Beiträgen von Walter Jens und Ernst Schumacher, Frankfurt/ Main: Suhrkamp Verlag 1965. Vgl. Jean Améry, Jenseits von Schuld und Sühne: Bewältigungsversuche eines Überwältigten, München: Szczesny Verlag 1966. 760 Dies erinnert an eine Aussage des Germanisten und Religionswissenschaftlers Schalom Ben-Chorin, der sich zeitlebens um einen jüdisch-christlichen Dialog bemüht und Gedanken über die Möglichkeit einer Theologie nach Auschwitz gemacht hat. In diesem Zusammenhang schreibt er: „Und doch kenne ich in dieser Stadt Menschen, die ungetröstet ihr Leben weiterführen im Schatten ihrer nicht zu bewältigenden Vergangenheit. Sie tragen das Brandmal der Nummer ihrer Entpersönlichung am Unterarm und das Brandmal ihres Schmerzes im Herzen.“ Schalom Ben-Chorin, Als Gott schwieg, ein jüdisches Credo, Mainz: Mathias-Grünewald-Verlag 1986, S. 30. 2. Unheimliches Leben: zu den Erscheinungsformen der Marginalität … 194 und beinlose Menschen, Menschen mit kaputtem Rückgrat, Blinde, Lahme, Zitternde usw. Von diesen körperlichen Behinderungen wird kurzerhand auf geistige Mängel geschlossen. Die Welt der Kranken vs. die der Gesunden - die ganze Handlung des Romans scheint sich in dem Raum zwischen diesen binären Polen zu entfalten. Das Spital steht hier metaphorisch für die Welt der Kranken, der Ausgegrenzten, Ausgestoßenen und Marginalisierten. Die Welt des Spitals versinnbildlicht nicht nur die Welt des Todes, sondern schlimmer noch: eine Nicht-Welt. Das Lazarett als Nicht-Welt ist eben das Bild, das aus dem obigen Zitat hervorgeht. Die Nicht-Welt, die dieses Spital verkörpert, ist nichts anderes als eine Art Nicht-Ort zwischen der Welt der Lebenden und der der Toten. Daraus geht hervor, dass die Patienten dieses Kriegsspitals strukturell von der anderen Welt getrennt sind. Dass eine Art koloniale Dichotomie in der Welt des Romans zwischen sog. Kranken und Gesunden besteht, lässt sich auch an der Art und Weise überprüfen, wie der ›gesunde Bevölkerungsteil‹ mit den Invaliden umgeht. Sie (›die sog. Gesunden‹) lassen Andreas ihre Almosen zukommen, indem sie ihre Münzen durchs Fenster werfen. Er muss sich bücken, um die Münzen vom Boden aufzuheben. Es sieht so aus, als ob keiner mit diesem ›Abschaum der Gesellschaft‹ in Berührung kommen will. Auch die Häuser der Stadt tragen Nummern. Diese Nummern sollen zwar die Lokalisierung von Häusern, die Bewegung in der Stadt erleichtern, aber die bedenkliche Seite dieser Nummern liegt trotzdem darin, dass sie gleichzeitig geheime Chiffren darstellen und in eine Strategie des Überwachens und Strafens eingebettet sind. Sie führen das Vorhanden-Sein solch einer Strategie vor Augen. Aufgrund der Tatsache, dass Andreas Pum keine Adresse und keinen Titel besitzt, gehört er zu jenem Rest der Einwohner, die an einer Textstelle vom Machtdispositiv als die „vielen anderen Unkontrollierbaren“ 761 (JRW 4, 268) bezeichnet werden. Joseph Roths Roman Die Rebellion stellt nicht den einzigen Ort dar, in dem Machtdispositive beim Individuum das Gefühl des Unheimlichen entstehen lassen. Der Roman Hiob profiliert sich auch als so ein Raum, in dem Menschen mit unheimlichen Lebenssituationen konfrontiert sind. 2. 3 Zum unhei mlichen Lebe n der Fa milie Mendel Singer … 761 Hervorhebung v. mir. 2. 3 Zum unheimlichen Leben der Familie Mendel Singer … 195 2.3 Zum unheimlichen Leben der Familie Mendel Singer aus Joseph Roths Roman Hiob. Roman eines einfachen Mannes 762 2.3.1 Ein Leben unter dem Zeichen materieller Bedürftigkeit Joseph Roths Roman Hiob erscheint, genauso wie seine essayistischen Texte über die imperiale Begegnung zwischen Europa und Afrika, in der Zwischenkriegszeit. Die Handlung des Romans, die aus der Perspektive einer allwissenden Erzählerfigur geschildert wird, spielt teils im europäischen Teil Russlands, teils in Amerika, vor und nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Die Welt des Romans Hiob ist (wie andere Romane Roths) von heruntergekommenen Existenzen bevölkert. Das Augenmerk der Analyse wird vorwiegend auf die Erscheinungsformen des unheimlichen Lebens der Familie Mendel Singer liegen. Das Leben des Thoralehrers Mendel Singer samt dessen fünfköpfiger Familie grenzt an krasse Armut (vgl. JRW 5, 3). Von bescheidenen Verhältnissen kann hier keineswegs die Rede sein. Sein Haus besteht nur aus einer geräumigen Küche. Die kümmerlichen Verhältnisse, unter denen er und seine Nachkommenschaft leben (vgl. ebd.), lassen sich aus seiner physischen Erscheinung ablesen, ein physisches Bild, das vom überwachenden und strafenden Blick der Erzählerfigur aufgebrochen wird: Unbedeutend wie sein Wesen war sein blasses Gesicht. Ein Vollbart von einem gewöhnlichen Schwarz umrahmte es ganz. Den Mund verdeckte der Bart. Die Augen waren groß, schwarz, träge und halb verhüllt von schweren Lidern. Auf dem Kopf saß eine Mütze aus schwarzem Seidenrips, einem Stoff, aus dem manchmal unmoderne und billige Krawatten gemacht werden (ebd.). Aufgrund dieser physischen Depravierung erscheint Mendel Singer als ein grotesk wirkendes Wesen, das nicht nur Elend, sondern auch ein eintöniges und freudloses Leben repräsentiert. Mendel ist ein Mensch, der vom Pech verfolgt ist. Durch die Überbetonung der Farbe ›Schwarz‹ vermittelt die Erzählinstanz, dass Mendel Singer ein Schattendasein führt. Die Farbe ›Schwarz‹ wird zum Signifikanten für Elend und Unglück. Die Erzählerfigur, die anscheinend zu den sichtbaren oder unsichtbaren Machtstrukturen dieser Gesellschaft gehört, nennt ihn nicht mehr ›Mendel Singer‹, sondern einfach und herablassend „Singer“ (ebd.). ›Singer‹ wird als eine Figur dargestellt, der sich das Leben nur von der bitteren, sauren Seite zeigt. 762 Joseph Roth, Hiob, Roman eines einfachen Mannes (1930), in: JRW, Band 5, Romane und Erzählungen 1930-1936, S. 1-136. Künftighin im Fließtext als JRW mit Angabe des Bandes und der Seitenzahl zitiert. 2. Unheimliches Leben: zu den Erscheinungsformen der Marginalität … 196 Gewiß war sein Leben ständig schwer und zuweilen sogar eine Plage. Eine Frau und drei Kinder mußte er kleiden und nähren. (Mit einem vierten ging sie schwanger.) Gott hatte seinen Lenden Fruchtbarkeit verliehen, seinem Herzen Gleichmut und seinen Händen Armut. Sie hatten kein Gold zu wägen und keine Banknoten zu zählen. Dennoch rann sein Leben stetig dahin, wie ein kleiner, armer Bach zwischen kärglichen Ufern (ebd.). Die auktoriale Erzählerinstanz richtet die ›Scheinwerfer‹ besonders auf Mendel Singers Privatsphäre. Mendel Singer ist Vater von drei Kindern (Jonas, Schemarjah und Mirjam) und seine Frau ist hochschwanger. Schafft er es überhaupt, ›diese Kinderschar‹ zu ernähren, zu kleiden, zu erziehen und zu pflegen? Das ist die grundlegende Frage, die hinter dieser Darstellungsweise stecken könnte. Das Schlafen und Beten scheinen die einzigen, aber vergänglichen Momente zu sein, aus denen ›Singer‹ das Leben von der sonnigen Seite zu genießen bekommt. Seine Frau wird hier nicht als Frau, sondern als ›Weib‹ bezeichnet: „Er liebte sein Weib und ergötzte sich an ihrem Fleische“ (ebd.). Das ganze ›nackte Leben‹ der Familie gerät in den überwachenden und strafenden Blick der Machtstrukturen, wird von den Machtstrukturen vereinnahmt, die durch die allmächtige, allgegenwärtige, allwissende Erzählerfigur vertreten sind. „Aber das Jüngste, die Tochter Mirjam, liebkoste er häufig. Sie hatte sein schwarzes Haar und seine schwarzen, trägen und sanften Augen. Ihre Glieder waren zart, ihre Gelenke zerbrechlich. Eine junge Gazelle“ (JRW 5, 4). Nicht Mendel Singer bezeichnet seine Tochter als ›junge Gazelle‹, sondern der überwachende Blick des Machtdispositivs. Mirjams Körper wird hier ›erotisiert‹. An dieser Stelle zeigt sich ein biopolitischer Moment nämlich, der Augenblick, in dem das biologische Leben, das sexuelle Leben der Familie Singer in den überwachenden Blick des Machtdispositivs gerät. In Michel Foucaults Analytik der Macht gehört die Erotisierung des Körpers zu den von Kontrollinstanzen eingesetzten Techniken zur Vereinnahmung des Körpers. 763 Als Vater, Thora- und Talmudlehrer sieht Mendel Singer seine Rolle darin begründet, den ›Familienkörper‹ - im reellen sowie im symbolischen Sinne des Wortes - zu hüten. Das Leben verteuerte sich von Jahr zu Jahr. Die Ernten wurden ärmer und ärmer. Die Karotten verringerten sich, die Eier wurden hohl, die Kartoffeln erfroren, die Suppen wässerig, die Karpfen schmal und die Hechte kurz, die Enten mager, die Gänse hart und die Hühner ein Nichts (ebd.). Diese bedrückende Bedürftigkeit stellt Mendel Singers Vater- und Lehrerrolle auf eine harte Probe. Die Gewissenhaftigkeit, mit der er seine Vater- und 763 Sonnenbräunungsanstalten sowie Pornofilme bilden beispielsweise eine der konkretesten Erscheinungsformen dieser Techniken. Vgl. Michel Foucault, Analytik der Macht (Anm. 757), S. 76. „‘Zeige dich nackt … aber sei schlank, schön und gebräunt! ’“ Ebd. Vgl. Michel Foucault, Histoire de la sexualité I. La volonté de savoir (Anm. 735). 2. 3 Zum unheimlichen Leben der Familie Mendel Singer … 197 Lehrerpflicht erfüllt, ist nicht anzuzweifeln. Die Art und Weise, wie er zuweilen mit seinen Söhnen bzw. Schülern umgeht, gibt freilich zu denken. Mendel Singer selbst wirkt als eine Instanz, die den Körper seiner Frau, Tochter, Söhne und Schüler durch einen Komplex aus Thora- und Talmudwissen bzw. macht besetzt, um bestimmte Subjekte zu produzieren. Seine Söhne Jonas und Schemarjah werden von Zeit zu Zeit gezüchtigt. Dieser Akt der körperlichen Züchtigung ist nichts anderes als eine Art und Weise, den ›symbolischen Körper der Familie‹ zu überwachen und zu strafen. Mendel Singer ergriff mit beiden Händen seine Söhne, Jonas und Schemarjah. Mirjam, das Mädchen, flüchtete zur Mutter. Mendel kniff seine Söhne in die Ohren. Sie heulten auf. Er schnallte den Hosengurt ab und schwang ihn durch die Luft. Als gehörte das Leder noch zu seinem Körper, als wäre es die natürliche Fortsetzung seiner Hand, fühlte Mendel Singer jeden klatschenden Schlag, der die Rücken seiner Söhne traf. Ein unheimliches Getöse brach los in seinem Kopf. Die warnenden Schreie seiner Frau fielen in seinen eigenen Lärm, unbedeutend vergingen sie darin. Es war, als schüttete man Gläser Wasser in ein aufgeregtes Meer […] Er fühlte nicht, wo er stand. Er wirbelte mit dem schwingenden, knallenden Gürtel umher, traf die Wände, den Tisch, die Bänke und wußte nicht, ob ihn die verfehlten Schläge mehr freuten oder die gelungenen (JWR 5, 11f). 764 David Bronsen sieht in Mendel Singers strengem Umgang mit seinen Söhnen und Thoraschülern den Versuch, deren Alltag nach traditionellen Prinzipien des Chassidismus zu gestalten. 765 Dennoch führen die Verhältnisse in der Familie Singer sowie die Erfahrungen der Familie im amerikanischen Exil Mendel Singers chassidische Lebensauffassung in eine Krise. Durch die alltägliche Wiederholung chassidischer Rituale versucht Mendel Singer, die dramatisch bedrohte Einheit der Familie zu retten. Aber diese Einheit ist schon im Schtetl Zuchnow auf eine harte Probe gestellt. Die Kinder entwickeln andere Neigungen. Sie lehnen ein asketisch-chassidisches Leben ab. Die Verhältnisse, unter denen die Familie Mendel Singer lebt, ähneln einer kolonialen Situation. Dazu gehören auch die korrupten, perfiden Praktiken der Beamten. Das Schtetl Zuchnow liegt zwar nicht in einem klassischen Kolonialgebiet, etwa in Afrika, sondern in Europa. Faktum ist aber, dass sich die Familie Singer mitten in unterdrückenden, gewaltvollen Machtdispositiven gefangen befindet, die letztendlich psychotisch und neurotisch wirken. Die Familie steht einer strukturellen Gewalt gegenüber. Dabei kann durchaus 764 Karl Emil Franzos, den Ritchie Robertson als „the master of ghetto fiction“ nennt, schildert in seinen Texten die Lebenswelten des europäischen Ostjudentums. Ritchie Robertson, „Roth´s Hiob and the Traditions of Ghetto Fiction“, in: Helen Chambers, (Hg.), Co-existent contradictions (Anm. 36), S. 185-200, hier S. 190. 765 Laut David Bronsen stand das chassidische Judentum unter dem Verdacht, jegliche Art westeuropäischer Kultur abzulehnen. Vgl. David Bronsen, Joseph Roth: eine Biographie (Anm. 10), S. 77. 2. Unheimliches Leben: zu den Erscheinungsformen der Marginalität … 198 auch von ›Gewalt im kolonialen Kontext‹ 766 die Rede sein. Dies lässt sich dialogisch am Beispiel der gleichnamigen Figur Mendel Singer aus Joseph Roths Roman Das falsche Gewicht 767 veranschaulichen. Von einer bestimmten jüdischen Familie Mendel Singer, die im habsburgischen Machtgebiet Zlotogrod ein kümmerliches Dasein fristet, ist in Das falsche Gewicht die Rede (JRW 6, 208-211). Die Familie Mendel Singer aus Zlotogrod im Roman Das falsche Gewicht - genauso wie die Singers aus dem Schtetl Zuchnow im Roman Hiob - werden als pauperisierte Familie dargestellt. In beiden Texten hat es der Leser mit einem Thorakundigen, dem „Gelehrten und Gerechten“ Mendel Singer, zu tun (vgl. JRW 6, 209). Dieses symbolische Kapital macht dem Singer in Das falsche Gewicht, trotz seiner materiellen Bedürftigkeit, zu einer geachteten und gefürchteten Persönlichkeit. In diesem Punkt unterscheidet sich dieser Mendel Singer grundlegend von jenem aus dem Roman Hiob. Die Singers aus dem Bezirk Zlotogrod haben aber keineswegs die Hände in den Schoß gelegt. Sie entwickeln Strategien, um sich aus dem Teufelskreis der Armut herauszuarbeiten. Die Familie führt deshalb einen Lebensmittelladen, der aus der imperialen Perspektive des Eichmeisters als armselig hingestellt wird: Ach! Welche Waren! Man bekam Zwiebeln, Milch, Käse, Eier, Knoblauch, getrocknete Feigen, Rosinen, Mandeln, Muskatnüsse und Safran. Aber wie winzig waren die Mengen, und wie furchtbar war die Beschaffenheit dieser Lebensmittel! In der kleinen, dunkelblau getünchten Küche mischte sich alles. Es sah aus, als wenn Kinder Verkäufer spielten. Das Säckchen mit den Zwiebeln und dem Knoblauch ruhte auf dem großen Eimer, in dem sich die saure Milch befand. Rosinen und Mandeln standen in Häufchen über dem Weißkäse, durch ein Fettpapier von ihrem Untergrund geschieden. Neben den zwei Rahmtöpfchen hockten, eine Art von Wachlöwen, die zwei gelben Katzen. In der Mitte, vom Plafond herab, hing an einem schwarzen, hölzernen Haken eine große, verrostete Waage. Und die Gewichte standen auf dem Fensterbrett (JRW 6, 210). Der Laden wird vom staatlichen Eichmeister auf die Richtigkeit der Messgeräte und Qualität der Waren geprüft. Wer gegen die Gesetze verstößt, wird mit der Schließung des Geschäftes bestraft. Dieser Lebensmittelladen wird aus einer Perspektive beleuchtet, die das Elend sichtbar werden lässt. Wenn solche Lebensmittelläden aber kurzerhand als Sinnbild von Elend und Armut qualifiziert werden, führt dies vor Augen, wie herausfordernd es ist, mit solchen Bildern umzugehen bzw. über solche ›Bilder des Elends‹ nachzudenken. 766 Es geht hier um eine Anregung aus dem Kapitel „De la violence“ aus Frantz Fanons Les damnés de la terre (Anm. 177). Worauf es Fanon in diesem Kapitel grundsätzlich ankommt, ist in fortfolgenden Seiten zu erfahren. 767 Vgl. Joseph Roth, Das falsche Gewicht (1937), in: JRW, Band 6, Romane und Erzählungen 1936-1940, S. 127-223. Künftighin im Fließtext als JRW mit Angabe des Bandes und der Seitenzahl zitiert. 2. 3 Zum unheimlichen Leben der Familie Mendel Singer … 199 Dem Eichmeister fällt das Nachdenken über solche Bilder umso schwerer, als er sich damit von oben herab beschäftigt. Trotz der Versuche der Imperialmacht, den Mut zunichtezumachen, den die Familie Singer an den Tag legt, um die Grundlagen ihrer Existenz zu ändern, kommt der kritische Leser nicht umhin, die ›Intelligenz‹ der Familie Singer in ihrem ›Kampf‹ gegen strukturelle Armut zu würdigen. Man könnte zwar einräumen, dass es den staatlichen Strukturen obliegt, die gesundheitliche und rechtliche Beschaffenheit der Lebensmittel zu prüfen. Aber das Recht sollte nicht dazu angewendet werden, um die Menschen psychisch zu brechen. Denn die Familie Mendel Singer im Schtetl Zuchnow - wenn man jetzt beide Mendel-Singer-Familien dialogisch betrachtet 768 - bietet das Bild einer - durch das Machtdispositiv - gedemütigten, psychisch gebrochenen Familie. Der Raum zwischen geistigem Reichtum und materieller Bedürftigkeit stellt die Schnittstelle, den Dritten Raum dar, in dem sich beide Familien Singer symbolisch treffen. Aus diesem Hintergrund lässt sich ablesen, dass die Wutanfälle von Mendel Singer - im Roman Hiob - auch als eine Reaktion auf die strukturelle Gewalt im quasi-kolonialen Zuchnow betrachtet werden könnten. Sogar die Hinwendung zur Thoralehrtätigkeit scheint eine andere Erscheinungsform dieser Gegengewalt zu sein. Endlich klang es drei von der Wanduhr, die Stunde, in der sich die Schüler am Nachmittag versammelten. Mit leerem Magen - denn er hatte nichts gegessen -, die würgende Aufregung noch in der Kehle, begann Mendel, Wort für Wort, Satz für Satz aus der Bibel vorzutragen. Der helle Chor der Kinderstimmen wiederholte Wort für Wort, Satz für Satz, es war, als würde die Bibel von vielen Glocken geläutet. Wie Glocken schwangen auch die Oberkörper der Lernenden vorwärts und zurück […] (JRW 5, 12). Es ist an dieser Stelle aufschlussreich, noch einmal auf das Denken von Frantz Fanon - der Symbolfigur des antikolonialen Kampfes in ›der globalen Dritten Welt‹ - einzugehen. 769 Fanon diagnostiziert in Les damnés de la terre die ›globale Marginalität‹. Dabei geht er dem Verhältnis von Gewalt und Gegengewalt im kolonialen und postkolonialen Kontext auf den Grund. 770 768 Gemeint ist die Familie Singer jeweils aus Joseph Roths Romanen Das falsche Gewicht und Hiob. 769 Fanons Werk spielt zwar in einer anderen Raumzeit und zwar im kolonialen und postkolonialen Afrika. Joseph Roths Texte lassen sich im Hinblick auf bestimmte Thesen Fanons aber auch beleuchten umso mehr, als Roth in seinen Texten u.a. Subjekte schildert, die vielschichtigen asymmetrischen Machtverhältnissen, unterdrückenden Machdispositiven ausgeliefert sind. Darüber hinaus ist die Tatsache nicht außer Acht zu lassen, dass seine Texte - zumindest diejenigen, die in diese Untersuchung einbezogen werden - in der Zwischenkriegszeit spielen, eine Zeit, in der binnen- und außereuropäische Kolonialverhältnisse parallel verliefen. Darauf ist im ersten Teil dieser Arbeit eingegangen worden. Vgl. S. 115-119 in dieser Arbeit. 770 Vgl. Frantz Fanon, „De la violence“, in: ders. Les damnés de la terre (Anm. 177), S. 7-21f. 2. Unheimliches Leben: zu den Erscheinungsformen der Marginalität … 200 Laut Fanon entsteht die Gegengewalt der Unterdrückten im kolonialen Kontext als Reaktion auf die strukturelle Gewalt, auf das gewaltvolle Machtdispositiv der kolonialen Situation. Diese Gegengewalt kann sich in unterschiedlicher Weise manifestieren. Ermordungen, Selbstzerstörung und Selbstsabotage stellen die extremsten Erscheinungsformen solcher Gegengewalt dar, was Fanon übrigens nicht bejaht oder gar verherrlicht. 771 Die Hinwendung zur Religion oder zu mystisch-magischen Strukturen bildet ebenfalls Erscheinungsformen dieser Gegengewalt. 772 Fanon macht aber auch auf die unterdrückende, kolonisierende Dimension solch magischer Strukturen aufmerksam, die das koloniale Subjekt geistig gefangen halten. 773 Auf die Situation der Familie Singer übertragen, die mit einer imperialkolonialen Situation vergleichbar ist, ist man dazu geneigt zu fragen, ob Mendel Singers Hinwendung zum Thorastudium nicht gleichzeitig eine therapeutische und unterdrückende Dimension einschließt. Mendel Singer begreift sich und seine Familie als Opfer göttlicher, d.h. auch staatlicher oder struktureller, Gewalt. Er ist von Gott und dem Staat gestraft und hilflos auf sich selbst gestellt. Dies ist eine Dimension von Roths Hiob-Roman, die zum Beispiel in Ritchie Robertsons Betrachtungsweise völlig ausgeblendet wird. Robertson bettet Joseph Roths Hiob in die Tradition der deutsch-jüdischen „ghetto-fiction“ 774 ein. In der literarischen Darstellung der ostjüdischen Ghetto-Welt unterscheidet Robertson zwei Tendenzen: eine nostalgische oder romantische Tendenz 775 und eine kritische Tendenz. In der Letzteren werden die Lebenswelten des ostjüdischen Judentums kritisch betrachtet. 776 Mit Bezug auf den Roman Hiob rechnet Robertson Joseph Roth dem nostalgischen Lager zu. 777 Die Roman-Welt wird in dieser Interpretation auf die Welt des 771 In Jean Paul Sartres berühmt-berüchtigtem Vorwort zu Les damnés de la terre wird Fanons Buch als die Bibel der Gewalt präsentiert. Vgl. Jean Paul Sartre, „Vorwort“, in: Frantz Fanon, Die Verdammten dieser Erde (Anm. 601), S. 7-25. Dennoch verliert Sartres Kritik an Schärfe, wenn man genau verfolgt, wie Fanon die koloniale Situation dekonstruiert. 772 „Le colonisé réussit également, par l´ intermédiaire de la religion, à ne pas tenir compte du colon. Par le fatalisme, toute initiative est enlevée à l´oppresseur, la cause des maux, de la misère, du destin revenant à Dieu. L´individu accepte ainsi la dissolution décidée par Dieu, s´aplatit devant le colon et devant le sort et, par une sorte de rééquilibration intérieure, accède à une sérénité de pierre.“ Frantz Fanon, Les damnées de la terre (Anm. 177), S. 20. 773 Vgl. ebd. S. 21. 774 Ritchie Robertson. „Roth´s Hiob and the traditions of Ghetto-Fiction“, in: Helen Chambers (Hg.), Co-existent contradictions (Anm. 36), S. 190. 775 Vgl. ebd. 776 Vgl. ebd. 777 Ebd. S. 187, 191. „The message of Hiob, however, is a more radical nostalgia. Mendel Singer is only one central figure of the book; the other is the wunderrabbi whose prophecy is fulfilled at the end, and who thus gives the novel its artistic unity. “ Ebd. S. 200. Kursivschrift ist eine Hervorhebung i. O. 2. 3 Zum unheimlichen Leben der Familie Mendel Singer … 201 Ostjudentums beschränkt. Die Umwelt der ostjüdischen Ghetto-Welt, die multikulturelle US-amerikanische Gesellschaft, findet dabei kaum Berücksichtigung. Auf die US-amerikanischen gesellschaftlichen Verhältnisse vor und nach dem Ersten Weltkrieg bzw. der Periode, in der die Singers nach Amerika auswandern, wird in einer späteren Argumentationsphase eingegangen. 778 Dass der Roman Hiob das jüdische Ghetto-Leben inszeniert, bleibt unbestreitbar, dennoch lässt sich die Tatsache schwerlich bestreiten, dass Mendel Singer in bestimmte sozio-politische Verhältnisse verstrickt ist, die ihn dazu zwingen, das Leben hinzunehmen, wie es sich ihm und seiner Familie bietet. Deborah, Mendel Singers Frau, ist nicht mehr bereit, weiter unter solchen qualvollen Verhältnissen zu leiden. Ihre zwei Söhne, Jonas und Schemarjah, sind wider Willen in die Armee eingerückt und stehen künftighin unter dem Dienst des Zaren. Beim Anblick ihrer jetzt uniformierten, zu kadavergehorsamen Untertanen des Zaren gewordenen Söhne stößt Deborah einen gellenden Schrei der Ohnmacht aus: „‘Mendel, geh, lauf und frag die Leute um Rat! ’“ (Vgl. JWR 5, 24). Mendel Singer ist leider felsenfest von seiner Machtlosigkeit überzeugt. Er scheint sich mit seiner subalternen Position abgefunden zu haben. ‘Was willst du, Deborah’, sagte Mendel Singer, ‘die Armen sind ohnmächtig, Gott wirft ihnen keine goldenen Steine vom Himmel, in der Lotterie gewinnen sie nicht, und ihr Los müssen sie in Ergebenheit tragen. Dem einen gibt Er, dem andern nimmt Er. Ich weiß nicht, wofür Er uns straft […] Man soll sein Schicksal tragen! Laß die Söhne einrücken sie werden nicht verkommen! Gegen den Willen des Himmels gibt es keine Gewalt. ›Von ihm donnert es und blitzt es, er wölbt sich über die ganze Erde, vor ihm kann man nicht davonlaufen‹ - so steht es geschrieben.’ 779 (JWR 5, 26). Mendel Singer sagt wortwörtlich und einfältig Passagen aus der Thora her, die er aus seiner jahrelangen Thoralehrtätigkeit auswendig kennt; Deborah stemmt sich gegen den religiös begründeten Pessimismus ihres Mannes. Für sie ist Mendel Singer nichts anderes als ein Taugenichts. ‘Der Mensch muß sich zu helfen wissen suchen, und Gott wird ihm helfen. So steht es geschrieben, Mendel! Immer weißt du die falschen Sätze auswendig. Viele tausend Sätze sind geschrieben worden, die überflüssigen merkst du dir alle! Du bist so töricht geworden, weil du Kinder unterrichtest! Du gibst ihnen dein bißchen Verstand, und sie lassen bei dir ihre ganze Dummheit. Ein Lehrer bist du, Mendel, ein Lehrer! ’ (Ebd.) Die Bedürftigkeit der Singers ist im gesamten Roman durch die soziale Struktur bedingt. Dies scheint Deborah aus den Augen verloren zu haben. Über Frau Mendel Singer wird etwa Folgendes erzählt: 778 Siehe „2.3.4.2 Abschied von Russland oder von Europa: Amerika-Reisevorbereitungen und Träume vom paradiesischen Leben.“ 779 Hervorhebung v. mir. 2. Unheimliches Leben: zu den Erscheinungsformen der Marginalität … 202 Sie war ein Weib, manchmal ritt sie der Teufel. Sie schielte nach dem Besitz Wohlhabender und neidete Kaufleuten den Gewinn. Viel zu gering war Mendel Singer in ihren Augen. Die Kinder warf sie ihm vor, die Schwangerschaft, die Teuerung, die niedrigen Honorare und oft sogar das schlechte Wetter 780 (JRW 5, 4). Im Roman werden die Verhältnisse in Mendel Singers Privatsphäre ausführlich beleuchtet. Dass diese Verhältnisse durch ein gesellschaftliches Machtdispositiv mitbedingt sind, wird in der ›unheimlichen‹ Dimension von Singers Leben sinnfällig. Das unheimliche Leben des Mendel Singer erscheint daher nicht als etwas einseitig durch die Machtdispositive öffentlich Motiviertes, sondern vor allem auch als etwas privat Motiviertes. Es ist die Verflechtung von Privatem und Öffentlichem, die Mendel Singers unheimliches Leben ausmacht. Obwohl Mendels Frau Deborah genauso wie die übrigen Familienangehörigen von diesem unheimlichen Leben nicht verschont bleiben, entpuppt sich Mendel Singer als der Einzige, der von dieser Erfahrung am härtesten ge- oder betroffen zu sein scheint. Denn die übrigen Angehörigen scheinen von ihm die magische, kabbalistische Formel zu erwarten, die die Familie aus dem Teufelskreis der Armut herauskatapultieren wird. Die Singers sind in soziokulturelle und politische Verhältnisse verwickelt, in denen das, was Gesellschaft genannt wird, durch die Wirkung sichtbarer sowie unsichtbarer Machtdispositive als von vornherein gegeben, fixiert und fertig ausgegeben wird. Es handelt sich um Machtdispositive, die den Zusammenhalt, die zerbrechliche Harmonie der Familie zu zersprengen drohen und die Familie Mendel Singer an den Rand drängen. Sobald die erste Dämmerung an das Fenster hauchte, zündete Deborah die Kerzen an, in Leuchtern aus Alpaka, schlug die Hände vors Angesicht und betete. Ihr Mann kam nach Hause, in seidigem Schwarz, der Fußboden leuchtete ihm entgegen, gelb wie geschmolzene Sonne, sein Angesicht schimmerte weißer als gewöhnlich, schwärzer als an Wochentagen dunkelte auch sein Bart. Er setzte sich, sang ein Liedchen, dann schlürften die Eltern und die Kinder die heiße Suppe, lächelten den Tellern zu und sprachen kein Wort. Wärme erhob sich im Zimmer. Sie schwärmte aus den Töpfen, den Schüsseln, den Leibern […] Die Kinder legten sich auf die Strohsäcke in der Nähe des Ofens, die Eltern saßen noch und sahen mit bekümmerter Festlichkeit in die letzten blauen Flämmchen, die gezackt aus den Höhlungen der Leuchter emporschossen und sanft gewellt zurücksanken, ein Wasserspiel aus Feuer. Das Stearin schwelte, blaue, dünne Fäden aus Rauch zogen von den verkohlten Dochtresten aufwärts zur Decke. ‘Ach! ’ seufzte die Frau. ‘Seufze nicht! ’ gemahnte Mendel Singer. Sie schwiegen. ‘Schlafen wir Deborah! ’ befahl er. Und sie begannen, ein Nachtgebet zu murmeln 781 (JWR 5, S. 4f). 780 Es ist notwendig zwischendurch darauf aufmerksam zu machen, wie die Frau hier als dem Mann an ›Intelligenz unterlegenes Wesen‹ konstruiert wird. 781 Hervorhebung v. mir. 2. 3 Zum unheimlichen Leben der Familie Mendel Singer … 203 Zwischen Mendel Singer und seine Frau Deborah entsteht eine Art Hassliebe, die durch die bitteren Verhältnisse verschärft und genährt wird. Hassliebe ist ein Begriff, der die Stimmung umschreibt, die innerhalb der Familie Mendel Singer herrscht: Wie zwei Menschen gleichen Geschlechts gingen sie schlafen, durchschliefen sie die Nächte, erwachten sie des Morgens. Sie schämten sich voreinander und schwiegen wie in den ersten Tagen ihrer Ehe. Die Scham stand am Beginn ihrer Lust, und am Ende ihrer Lust stand sie auch (JRW 5, 15). Das fortschreitende Altern beider Ehepartner verstärkt dieses Gefühl der Hassliebe. Mendel Singer wandelt sich von einem liebevollen in einen hasserfüllten Ehegatten: Es war wie eine zweite, eine wiederholte Ehe, diesmal mit der Häßlichkeit, mit der Bitterkeit, mit dem fortschreitenden Alter seiner Frau. Näher empfand er sie zwar, beinahe ihm einverleibt, untrennbar und auf ewig, aber unerträglich, quälend und ein bißchen auch gehaßt. Sie war aus einem Weib, mit dem man sich nur in Finsternis verbindet, gleichsam eine Krankheit geworden, mit der man Tag und Nacht verbunden ist, die einem ganz angehört, die man nicht mehr mit der Welt zu teilen braucht und an deren treuer Feindschaft man zugrunde geht (JRW 5, 27). Diese strukturell bedingte ›Gehässigkeit‹ zwischen den Partnern vollzieht sich parallel zu den Verbitterungen des Alltags. Deborah kommt Mendel Singer in solchen Augenblicken deswegen abstoßend vor, weil sich ihm und der ganzen Familie das Leben von der bitteren, verabscheuenswerten Seite zeigt. Der Leser ist einigermaßen geneigt zu fragen, was die Singers daran hindert, sich energisch gegen diese widrigen Lebensverhältnisse zu stemmen. Anstatt mit vereinten Kräften der Situation zu begegnen, zieht es jeder Familienangehörige anscheinend vor, seinen/ ihren eigenen Weg zu gehen. Es drängt sich an dieser Stelle die Frage auf, welche Stellung die Figur Menuchim in der gesamten Familien- oder Machtkonstellation einnimmt. 2.3.2 Das ›Krüppelkind‹ Menuchim als Außenseiter der Familie Mendel Singer Deborah gebiert ein viertes Kind, das als Krüppel auf die Welt kommt. Im dreizehnten Monat nach der Geburt bleibt es immer noch auf Muttermilch angewiesen. Sein großer Schädel hing schwer wie ein Kürbis an seinem dünnen Hals. Seine breite Stirn fältelte und fürchte sich kreuz und quer wie ein zerknittertes Pergament. Seine Beine waren gekrümmt und ohne Leben wie zwei hölzerne Bögen. Seine dürren Ärmchen zappelten und zuckten. Lächerliche Laute stammelte sein Mund (JWR 5, 6). 2. Unheimliches Leben: zu den Erscheinungsformen der Marginalität … 204 Mendel Singer begegnet dieser unheimlichen Situation mit dem ruhigen Kopf eines Gottesfürchtigen. Nichtsdestotrotz kann man nicht umhin festzustellen, dass Menuchims körperliche und geistige Missbildungen aus ihm einen Außenseiter sowohl in der Familie als auch im Schtetl Zuchnow machen. Dies erinnert an die Figur des Gregor Samsa aus Franz Kafkas Erzählung Die Verwandlung. Der Versicherungsangestellte Gregor Samsa wacht eines Morgens auf und findet sich in einen stinkenden Fäkalienkäfer verwandelt. Diese Verwandlung drängt ihn an den Rand der Familie und der Gesellschaft. 782 Im Gegensatz zur Figur Gregor Samsa, die den finanziellen Aufwand der ganzen Familie trägt 783 und deren Metamorphose im Erwachsenenalter auftritt, ist Menuchim, die Figur aus Joseph Roths Hiob, als ›Krüppelkind‹ auf die Welt gekommen. Franz Kafkas Roman Die Verwandlung ist auch ein impliziter Hinweis auf die Unvorhersehbarkeit und Unberechenbarkeit des Lebens. Die Familie Mendel Singer lebt schon am Rande. Innerhalb der Familie aber lebt Menuchim an den äußersten Rand gedrängt. Dass Menuchim im Abseits innerhalb der Außenseiter-Familie steht, zeigt sich z.B. in der Art und Weise, wie seine Geschwister mit ihm umgehen. Für sie ist jeder gemeinsame Augenblick mit ihm eine Qual, eine Marter. Sie schleppten Menuchim wie ein Unglück durch die Stadt, sie ließen ihn liegen, sie ließen ihn fallen. Sie ertrugen den Hohn der Altersgenossen schwer, die hinter ihnen herliefen, wenn sie Menuchim spazierenführten. Der kleine mußte zwischen zweien gehalten werden. Er setzte nicht einen Fuß vor den andern wie ein Mensch. Er wackelte mit seinen Beinen wie mit zwei zerbrochenen Reifen, er blieb stehen, er knickte ein. Schließlich ließen ihn Jonas und Schemarjah liegen. Sie legten ihn in eine Ecke, in einen Sack. Dort spielte er mit Hundekot, Pferdeäpfeln, Kieselsteinen. Er fraß alles (JRW 5, 13). Auch die Schwester Mirjam empfindet die Augenblicke mit dem ›verkrüppelten‹ Bruder als regelrechte Folter: Zart kokett, mit hüpfenden dünnen Beinen, einen häßlichen und hassenden Abscheu im Herzen, näherte sie sich ihrem lächerlichen Bruder. Die Zärtlichkeit, mit der sie sein aschgraues, verknittertes Angesicht streichelte, hatte et- 782 „[E]r lag schief in der Türöffnung, seine Flanke war ganz wundgerieben, an der weißen Tür blieben häßliche Flecken, bald steckte er fest und hätte sich allein nicht mehr rühren können, die Beinchen auf der einen Seite hingen zitternd oben in der Luft, die auf der anderen waren schmerzhaft zu Boden gedrückt - da gab ihm der Vater von hinten einen jetzt wahrhaftig erlösenden starken Stoß, und er flog, heftig blutend, weit in sein Zimmer hinein. Die Tür wurde noch mit dem Stock zugeschlagen, dann war es endlich still.“ Franz Kafka, Die Verwandlung und andere Erzählungen, München: Herbig Verlag 1995, S. 44. Erstausgabe 1915. Gregor Samsas Verwandlung führt zu seiner gesellschaftlichen Isolierung. Für die ganze Familie wird der Anblick von Gregors Metamorphose psychisch immer belastender und herausforndernder. Der Vater, die Mutter, die Schwester und die Arbeitskollegen müssen sich überwinden (vgl. ebd. S. 55). 783 Vgl. ebd. S. 51. 2. 3 Zum unheimlichen Leben der Familie Mendel Singer … 205 was Mörderisches. Sie sah sich vorsichtig um, nach rechts und links, dann kniff sie ihren Bruder in den Schenkel. Er heulte auf, Nachbarn sahen aus den Fenstern. Sie verzerrte das Angesicht zur weinerlichen Grimasse. Alle Menschen hatten Mitleid mit ihr und fragten sie aus (ebd.). Die Zärtlichkeit, die Mirjam gleichwohl ihrem Bruder entgegenbringt, wird als mörderisch qualifiziert. Dieser Widerspruch veranschaulicht nicht nur Mirjams Bewusstseinsspaltung, sondern vor allem die der ganzen Familie: die Spaltung zwischen Hass und Liebe. Menuchims Geschwister erblicken in ihm eine Schande, eine unerträgliche Bürde. Bestimmte Experimente, auf die sich die Geschwister einlassen, geben unmissverständlich zu erkennen, dass der unausgesprochene Wunsch in der Familie bewusst oder unbewusst vorhanden ist, Menuchim endlich loszuwerden, sich ihn vom Halse zu schaffen. Eines Tages im Sommer, es regnete, schleppten die Kinder Menuchim aus dem Haus und steckten ihn in den Bottich, in dem sich Regenwasser seit einem halben Jahr gesammelt hatte, Würmer herumschwammen, Obstreste und verschimmelte Brotrinden. Sie hielten ihn an den krummen Beinen und stießen seinen grauen, breiten Kopf ein dutzendmal ins Wasser. Dann zogen sie ihn heraus, mit klopfenden Herzen, roten Wangen, in der freudigen und grausigen Erwartung, einen Toten zu halten. Aber Menuchim lebte. Er röchelte, spuckte das Wasser aus, die Würmer, das verschimmelte Brot, die Obstreste und lebte. Nichts geschah ihm. Da trugen ihn die Kinder schweigsam und voller Angst ins Haus zurück (ebd.). Es gelingt zwar nicht, Menuchim physisch auszulöschen, aber dieser ›Krüppel‹ ist in der Familie schon symbolisch tot oder getötet. 784 Menuchim wird als eine Figur dargestellt, die seit der Geburt die zerbrechliche Harmonie in der Familie bedroht. Die Freude wird zum Kummer, die „Feste“ werden zu „Qualen“, die Feiertage zu „Trauertagen“. Es ist das ganze Jahr hindurch „Winter“ bei den Singers (vgl. JRW 5, 59). „Die Sonne ging auf, aber sie wärmte nicht“ (JRW 5, 60). Menuchim besetzt die unterste Stellung eines ›Untoten‹ in der Familie. Er ist eine Spielart der Figur des ›Totlebenden‹, die auch in anderen Texten von Joseph Roth auftritt; zu denken ist etwa an Andreas Pum aus Die Rebellion und an Andreas Kartak aus Die Legende vom heiligen Trinker. Die Außenseiterposition der Figur Menuchim zeigt sich nicht nur in der Art und Weise, wie andere Menschen mit ihm umgehen, 785 784 Vgl. Michel Foucault, Histoire de la Sexualité I (Anm. 735). 785 Dies lässt sich an der Art und Weise merken, wie der Amerikaner namens Mac, der der Familie Singer einen Brief und Fotos vom ausgewanderten Sohn Schemarjah überbringt, Menuchim behandelt: „Menuchim hob er mit einem hastigen Ruck in die Höhe, betrachtete den schiefen Kopf, den dünnen Hals, die blauen und leblosen Hände und die krummen Beine und setzte ihn mit einer zärtlichen und besinnlichen Geringschätzung auf den Boden, als wollte er so ausdrücken, daß merkwürdige Geschöpfe auf der Erde zu kauern haben und nicht an den Tischen zu stehn“ (JRW 5, 40). 2. Unheimliches Leben: zu den Erscheinungsformen der Marginalität … 206 vielmehr tritt diese Randstellung in dem Augenblick umso dramatischer zutage, als die Familie ihre Ausreise nach Amerika auf Einladung des ausgewanderten Sohnes Schemarjah vorbereitet. Die Frage, ob Menuchim mitreisen darf oder nicht, wird zur Nervenprobe in der Familie. Der Fall Menuchim entwickelt sich zu einem biopolitischen Fall. In der Stadt herrscht eine Pockenepidemie. Von schwerbewaffneten Polizisten begleitet, durchkämmen Ärzte jüdische Stadtviertel, um „Impfungen vorzunehmen“ (JRW 5, 6). Der überwachende klinisch-psychiatrische Blick des Doktors Soltysiuk „fiel auf den kleinen Menuchim, er hob den Krüppel hoch und sagte: ‘Er wird ein Epileptiker’ […] ‘Aber ich könnte ihn vielleicht gesund machen. Es ist Leben in seinen Augen’“ (JRW 5, 7). Es ist der klinische Blick, der über Leben und Tod entscheidet. Die Aussagen des Doktors klingen wie eine Strafe. Diese führen Mendel Singer und dessen Frau dazu, das erste Mal offen Widerstand zu leisten. Mendel Singer weigert sich, sein Kind dem Spital auszuliefern. „Wie ein Held hielt Mendel seinen dürren, weißen Arm zum Impfen hin. Menuchim aber gab er nicht fort“ (ebd.). Das russischukrainisch-jüdische Dorf wird durch die klinische Diagnostik zum Pockenherd erklärt. Deshalb schreibt die Regierung Impfungen vor, und sie erlaubt den Ärzten, uneingeschränkt in die Privatsphäre der jüdischen Bevölkerung einzugreifen (vgl. ebd.). Deborah hofft darauf, dass das Heil ihres Kindes nicht von weltlichen, sondern von zeitlichen Mächten kommen wird. Sie begibt sich in ein benachbartes Dorf namens Kluczýsk, um den Fall Menuchim mit einem Rabbi zu besprechen (vgl. JRW 5, 8). Beim Wunderrabbi angekommen, ist Deborah von dem Schauspiel verblüfft, das sich vor ihren Augen abspielt: Ringsum, in den tausend kleinen Häuschen, waren Ankömmlinge untergebracht. Sie schliefen auf Pritschen neben den Betten der Einheimischen, die Siechen, die Krummen, die Lahmen, die Wahnsinnigen, die Idiotischen, die Herzschwachen, die Zuckerkranken, die den Krebs im Leibe trugen, deren Augen mit Trachom verseucht waren, Frauen mit unfruchtbarem Schoß, Mütter mit mißgestalteten Kindern, Männer, denen Gefängnis oder Militärdienst drohte, Deserteure, die um eine geglückte Flucht baten, von Ärzten Aufgegebene, von der Menschheit Verstoßene, von der irdischen Gerechtigkeit Mißhandelte, Bekümmerte, Sehnsüchtige, Verhungernde und Satte, Betrüger und Ehrliche, alle, alle, alle … (JRW 5, 9). Die wartende Menschenschar, die sich hauptsächlich aus gesellschaftlich marginalisierten Subjekten zusammensetzt, erhofft sich eine Prophezeiung, der ihr ›gestrandetes Leben‹ in etwas Heiteres verwandeln könnte. Deborah hat sich mit zusammengebissenen Zähnen durch das Menschengedränge hart durchkämpfen müssen, um endlich den Rabbi zu Gesicht zu bekommen. Die Weissagung des Rabbiners über die Zukunft Menuchims macht die Mutter Deborah zunächst stutzig. 2. 3 Zum unheimlichen Leben der Familie Mendel Singer … 207 ‘Menuchim, Mendels Sohn, wird gesund werden. Seinesgleichen wird es nicht viele geben in Israel. Der Schmerz wird ihn weise machen, die Häßlichkeit gütig, die Bitternis milde und die Krankheit stark. Seine Augen werden weit sein und tief, seine Ohren hell und voll Widerhall. Sein Mund wird schweigen, aber wenn er die Lippen auftun wird, werden sie Gutes künden. Hab keine Furcht, und geh nach Haus! ’ (JRW 5, 11). ‘[…] Verlaß deinen Sohn nicht, auch wenn er eine große Last ist, gib ihn nicht weg von dir, er kommt aus dir, wie ein gesundes Kind. Und geh! ’ (Ebd). Deborah fühlt sich durch die Weissagung des Wunderrabbis innerlich gestärkt. David Bronsen schreibt über die beherrschende Rolle der Figur des Wunderrabbis im Judentum chassidischer Prägung: Dieser [Wunderrabbi] wurde, von seinem Hofstaat umgeben, von pilgernden Siechen, Hilfeflehenden, Segenerbittenden, Kinderlosen und all denjenigen, die nach Trost und Rat dürsteten, aufgesucht. Der Zaddik, so glaubten seine Anhänger, stehe in direkter Beziehung zu Gott und habe durch die Macht seines Glaubens und seiner Kenntnis der Kabbala unmittelbar Einfluß auf ihn, wodurch man Wunder erhoffte. 786 Die Herausforderungen des Alltags haben die Grundfesten von Mendel Singers Chassidismus erschüttert. Er begegnet den Weissagungen des Wunderrabbis mit großer Skepsis: „‘Der bleibt ein Krüppel’, sagten alle Nachbarn“ (JRW 5, 60). Hier zeigt sich die Skepsis eines Menschen, der sich dessen bewusst ist, dass Gott und der Staat ihm den Rücken gekehrt haben. „Er lächelte über den Glauben seiner Frau an den Rabbi.“ 787 (JRW 5, 11). Die wundersame Wende in dieser bislang unheimlich dunklen Welt der Singers manifestiert sich in jenem Augenblick, als Menuchim das erste Mal seit seiner Geburt das Wort ›Mama‹ ausstößt: „Plötzlich, eines Morgens, stieß er [Menuchim] einen nie gehörten, schrillen Schrei aus. Dann blieb er still. Eine Weile später sagte er, klar und vernehmlich: ‘Mama’“ 788 (JRW 5, 16). Dass der Junge spricht, wird als ein ›Sonnenaufgang‹ in der Familie erlebt. Menuchims Akt der Selbstartikulierung bedeutet für die Familie und vor allem für Deborah den ›Ausgang von einem schattigen Leben‹. Es war mehr als die Gesundheit der gesunden Kinder. Es bedeutete, daß Menuchim stark und groß, weise und gütig werden sollte, wie die Worte des 786 David Bronsen, Joseph Roth: eine Biographie (Anm. 10), S. 76. Hervorhebung v. mir. 787 Mendel Singers Skepsis gegenüber den Weissagungen des Rabbiners erinnert an einen Text, Der Pojaz, des Schriftstellers Karl Emil Franzos. In diesem Text lässt Franzos die Figur des Wunderrabbis bzw. die Figur des Tsaddiks im Licht eines Scharlatans, einer ironischen Gestalt, erscheinen, die keineswegs im Besitz übernatürlicher Kräfte ist, sondern ganz im Gegenteil durch den gottlosen Streich seines Schülers namens Mendele zum Gegenstand des allgemeinen Spottes wird. Vgl. Karl Emil Franzos, Der Pojaz, Eine Geschichte aus dem Osten, mit einem Nachwort von Jost Hermand, Frankfurt/ Main: Athenäum 1988, S. 18-20. 788 In Klammern Stehendes ist eine Hervorhebung v. mir. 2. Unheimliches Leben: zu den Erscheinungsformen der Marginalität … 208 Segens gelautet hatten […] Obwohl er nur dieses Wort bei jeder Gelegenheit sagte, erschien er seiner Mutter Deborah beredt wie ein Prediger und reich an Ausdruck wie ein Dichter (ebd.). Die innerlich gestärkte Deborah setzt alles daran, um dem Leben der Familie eine ›andere Farbe‹ zu geben. Ihre Unternehmungen lassen sich einigermaßen auch als ein subtiler Widerstand gegen die herrschenden Strukturen lesen. 2.3.3 Deborahs Kontaktaufnahme mit dem (Erz-)Schmuggler Kapturak als subversiver Akt Die Figur Kapturak ist eine Figur, die in vielen Texten Joseph Roths anzutreffen ist. Sie wird als eine wiederkehrende Gestalt inszeniert, die die Strukturen des Gesetzes fortwährend herausfordert und unterwandert. 789 Im Roman Hiob wird Kapturak als „ein Mann ohne Alter, ohne Familie, ohne Freunde, flink und vielbeschäftigt und mit den Behörden vertraut“ (JRW 5, 26) definiert. Deborah trifft ihn an der Grenzschenke (vgl. JRW 5, 30). Die Grenzschenke fungiert in Roths Texten als Raum des Ausnahmezustandes par excellence. Es handelt sich um einen Ort, an dem die herrschafts- und machtpolitisch gezogenen Grenzen zwischen Oben und Unten, zwischen Zentrum und Peripherie, zwischen sakraler und profaner Welt, zwischen ›Erster‹ und ›Dritter‹ Welt verschwimmen und zugleich konfliktuell ineinandergeraten. Die Grenzschenke zeigt sich als der Raum, wo sich die Handlungsfähigkeit der Marginalisierten aus Joseph Roths Texten artikuliert und die imperiale Macht ihre Krise erfährt. Die Grenzschenke ist ein zentraler Ort für den Schmuggel von Menschen, Waren und Gedanken. 790 „[…] [E]in Haus in der Stille der Nacht, 789 Diese subversive Figur ist auch in Das falsche Gewicht, Der Leviathan, Der blinde Spiegel sowie in Radetzkymarsch anzutreffen. „Kapturak ist ein kleiner Mann von unbedeutendem Angesicht. Gerüchte huschen um ihn, fliegen ihm auf seinen gewundenen Wegen voran und folgen den kaum merklichen Spuren, die er hinterlässt. Er wohnt in der Grenzschenke. Er verkehrt mit den Agenten der südamerikanischen Schifffahrtsgesellschaften, die jedes Jahr Tausende russischer Deserteure auf ihren Dampfern nach einer neuen und grausamen Heimat befördern.“ JRW 5, 300f. 790 Die Dynamik der Menschen an der Grenzschenke bzw. an der Grenze und die subversive Kraft, die sich an/ in diesem Ort entfaltet, wird auch in Joseph Roths Roman Radetzkymarsch artikuliert. „Sie handelten übrigens mit Korallen für die Bäuerinnen der umliegenden Dörfer und auch für die Bäuerinnen, die jenseits der Grenze, im russischen Lande, lebten. Sie handelten mit Bettfedern, mit Roßhaaren, mit Tabak, mit Silberstangen, mit Juwelen, mit chinesischem Tee, mit südländischen Früchten, mit Pferden und Vieh, mit Geflügel und Eiern, mit Fischen und Gemüse, mit Jute und Wolle, mit Butter und Käse, mit Wäldern und Grundbesitz, mit Marmor aus Italien und Menschenhaaren aus China zur Herstellung von Perücken, mit Seidenraupen und mit fertiger Seide, mit Stoffen aus Manchester, mit Brüsseler Spitzen und mit Moskauer Galoschen, mit Leinen aus Wien und Blei aus Böhmen. Keine von den wunderbaren und keine von den billigen Waren, an denen die Welt so reich ist, blieb den Händlern und Maklern dieser Gegend fremd. Was sie nach den bestehenden Gesetzen nicht bekommen oder verkaufen konnten, verschafften sie sich und verkauften sie gegen 2. 3 Zum unheimlichen Leben der Familie Mendel Singer … 209 stumm, finster, mit abgedichteten Fenstern, hinter denen kein Leben zu ahnen war. Millionen Grillen umzirpten es unaufhörlich, der wispernde Chor der Nacht“ (JRW 5, 34). Die Grenzschenke sieht unauffällig aus. Sie ist dennoch mehr als das Bild eines finsteren Hauses. 791 Deborah nimmt Kontakt mit dem Schmuggler Kapturak auf, um zu verhindern, dass ihre Söhne in die zaristische Armee zwangsrekrutiert werden. Die Kontaktaufnahme mit dem Schmuggler steht also im Zeichen des Widerstands gegen ein Machtdisposititiv. In Mendel Singers wie in Deborahs Bewusstsein gilt die Militärkaserne des Dorfes Zuchnow als eine ›Kolonie von Kosaken‹ 792 , als die Verkörperung von Barbarei, Rohheit, Wildheit und geistiger Verblödung. Davor versuchen beide ihre Söhne zu schützen. Die Armee erscheint in Joseph Roths Texten, z.B. im Roman Radetzkymarsch, als eine überwachende und strafende Instanz mit ›barbarischen Praktiken‹. Joseph Roths Radetzkymarsch schildert nicht nur das Leben der Trottas und der Kaiserfamilie, sondern verschafft auch Einblick in die Verhältnisse innerhalb der k.u.k. Armee. Die k.u.k. Armee profiliert sich als Ort der Disziplinierung. 793 Sie erweist sich gleichzeitig aber als Ort der Indiszipliniertheit (vgl. JRW 5, 235). 794 jedes Gesetz, flink und geheim, mit Berechnung und List, verschlagen und kühn. Ja manche unter ihnen handelten mit Menschen, mit lebendigen Menschen. Sie verschickten Deserteure der russischen Armee nach den Vereinigten Staaten und junge Bauermädchen nach Brasilien und Argentinien. Sie hatten Schiffsagenturen und Vertretungen fremdländischer Bordelle.“ JRW 5, 237f. 791 Die subversive Bedeutung der Grenzschenke in Joseph Roths Texten wird noch in diesem Teil der Arbeit anhand des Romans Das falsche Gewicht erörtert. 792 Abschätzige Bezeichnung für Soldaten der russisch-zaristischen Armee. Eine Bezeichnung, die auch im Roman Radetzkymarsch vorkommt und auf die erwähnten Soldaten hinweist (vgl. JRW 5, 441). 793 Eine Disziplinierung, die auch im Kreis der Familie Trotta allgegenwärtig ist. Disziplinierung im doppelten Sinne von Wissens- und Militärmacht. Verwiesen wird auf jene Stelle im Text, wo der fünfzehnjährige Carl Joseph von Trotta, Schüler der Kavalleriekadettenschule, die Sommerferien bei seinem Vater, dem Herrn Bezirkshauptmann Franz Freiherrn von Trotta und Sipolje verbringt und einer regelrechten Prüfung unterzogen wird. Der Vater prüft den Wissensstand des Sohnes in Literatur sowie in Militärwesen unter anderem. „‘Was ist Subordination? ’ ‘Subordination ist die Pflicht des unbedingten Gehorsams’, deklamierte Carl Joseph, ‘welchen jeder Untergebene seinem Vorgesetzten und jeder Niedere …’ ‘Halt! ’ unterbrach ihn der Vater und verbesserte: ‘…. sowie auch jeder Niedere dem Höheren’ - und Carl Joseph fuhr fort: ‘zu leisten schuldig ist, wenn …’ - ‘sobald’, korrigierte der Alte, ‘sobald diese die Befehlsgebung ergreifen.’ Carl Joseph atmete auf. Es schlug zwölf.“ (JRW 5, 159f). Kursiv Geschriebenes ist eine Hervorhebung i.O. 794 „Wie unbegreifliche Anbeter einer fernen, grausamen Gottheit, deren buntverkleidete und prachtgeschmückte Opfertiere sie gleichzeitig waren, gingen die Offiziere umher. Man sah ihnen nach und schüttelte die Köpfe. Man bedauerte sie sogar. Sie haben viele Vorteile, sagten sich die Leute. Sie können mit Säbeln herumgehn und Frauen gefallen, und der Kaiser sorgt für sie persönlich, als wären sie seine eigenen Söhne. Aber eins, zwei, drei, hast du nicht gesehn, fügt einer dem andern eine Kränkung zu, 2. Unheimliches Leben: zu den Erscheinungsformen der Marginalität … 210 Daher verwundert es nicht, dass es in Joseph Roths Texten von Deserteuren wimmelt, von Menschen, die die imperiale Institution der Armee infrage stellen. Es sind sowohl Deserteure der k.u.k. als auch der russischen Armee. Familien versuchen alles Mögliche, um das Zwangseinrücken ihrer Söhne ins Militär zu vereiteln. Dies bedeutet aber keineswegs, dass beide Armeen hier gleichgesetzt werden. Bezüglich des allgemein verbreiteten Widerwillens gegen das Militär ist von der Erzählerfigur aus Joseph Roths Erdbeeren Folgendes zu erfahren: Ja, bei einigen war der Widerwille gegen das Militär so groß, daß sie sich die Füße verkrüppeln und Finger abhauen ließen. Ich kannte einen rothaarigen Schlosser, der sich die Sehnen an den Füßen hatte durchschneiden lassen. Er war sein Leben lang lahm. Ich kannte einen Dachdecker, der sein linkes Auge so lange mit scharfen Flüssigkeiten behandelt hatte, bis es blind geworden war. Die [Musterungs-]Kommission kam jedes Jahr im März, sie kam, wie in den Bergen ein Föhn kommt, um den Frühling anzukündigen. Dann begannen die jungen Männer, die sich auf den Grafen nicht verließen, schwarzen Kaffee zu trinken, mit Mädchen zu schlafen, die Nächte über zu wandern. Manche badeten im kalten Wasser, bekamen eine Lungenentzündung, die Schwindsucht, sie starben plötzlich oder langsam. Aber sie wurden keine Soldaten. Die Klügsten wanderten nach Amerika aus. 795 Auch das Motiv der Auswanderung spielt eine wichtige Rolle in Roths Oeuvre. In Hiob ist unter anderen von der jüdischen Familie Billes die Rede, einer mit der Familie Singer befreundeten Familie, deren drei Söhne vor dem Militärdienst geflohen sind: „der eine nach Hamburg, der andere nach Kalifornien, der dritte nach Paris“ (JRW 5, 64). Schon hier findet sich die von Bhabha erwähnte Fragmentierung von Familien und menschlichen Gemeinschaften. Sie ist die Folge von Exil, Migration, diasporischen Bewegungen, Kriegen und sozialen Notlagen. Die widersprüchlichen Erfahrungen und Interessen, mit denen Familienmitglieder manchmal konfrontiert sind, spielen auch eine gewichtige Rolle in diesem Prozess der Fragmentierung oder Auflösung. Die Familie Singer kann als ein exemplarisches Beispiel dienen. Denn die Bewusstseinsspaltung, die die Daseinsform der Mitglieder der Familie Singer ausmacht, findet ihren krassesten Ausdruck in der sozialen Spaltung oder Zersplitterung der Familie. Trotz Deborahs Kampf gegen das Einrücken der Söhne verlässt der älteste Sohn Jonas die Familie, um Soldat zu werden. „‘Grüß Vater und Mutter. Ich bin bei Sameschkin, vorläufig, bis ich einrücke. Sag, ich konnte es nicht bei euch aushalten, aber ich hab’ euch alle ganz gern! ’“ (JRW 5, 31f). Mit diesen Aussagen verdeutlicht der ange- und das muß mit rotem Blut abgewaschen werden! …“ (JRW 5, 243). Näheres über die Disziplin in der k.u.k Armee ist ebenda zu erhalten. 795 Joseph Roth, Erdbeeren (1929), in: JRW, Band 4, S. 1008-1036, hier S. 1020. In Klammern Stehendes ist eine Hinzufügung v. mir. 2. 3 Zum unheimlichen Leben der Familie Mendel Singer … 211 hende Soldat Jonas seinen Abschied von den traditionellen Überzeugungen seiner Familie. Diese Aussagen machen den Prozess der inneren Spaltung der Singers wahrnehmbar. Dies stellt auch eine Dimension des Unheimlichen dar, wie sie von Bhabha analysiert worden ist. 796 Jonas lebt im Bewusstsein seiner Eltern und Geschwister fortan in der Gestalt einer traurigen Erinnerung an einen ›verlorenen Sohn‹ fort. Vor der Hütte Sameschkins saß Jonas und spielte Ziehharmonika. Er war sehr betrunken, und er erkannte seinen eigenen Vater nicht, der manchmal zögernd vorbeischlich, ein Schatten, der sich vor sich selbst fürchtete, ein Vater, der nicht aufhörte zu staunen, daß dieser Sohn seinen eigenen Lenden entsprossen war (JRW 5, 32). Doch an dieser inneren Spaltung der Familienmitglieder lässt sich auch etwas anderes ablesen, was in dieser Arbeit als ›die ständige Suche nach der différance‹ bezeichnet wird. Durch Jonas wird das gängige Stereotyp des arbeitsscheuen Juden, der körperliche Arbeit vermeidet, infrage gestellt. 797 796 Vgl. Homi K. Bhabha, The Location of Culture (Anm. 365), S. 13f. Vgl. in dieser Arbeit, S. 133ff. 797 Darin stimmt auch Ritchie Robertson überein, wenn er schreibt: „However, Jonas, on being accepted, is glad to become a soldier. The physically strong Jew serves to counteract the stereotyped view of Jews as puny and fit only for commerce.“ Ritchie Robertson, „Roth´s Hiob and the Traditions of Ghetto Fiction“, in: Helen Chambers (Hg.), Co-existent contradictions (Anm. 36), S. 195. Auch in Karl Emil Franzos´ Roman Moschko erfährt das Stereotyp vom arbeitsscheuen, körperlich schwachen Juden eine Differenzierung. Die gleichnamige Hauptgestalt des Romans Moschko - auch Mosche genannt - wird von der Erzählerfigur als ein starker und breiter Kerl aus niedrigen und kümmerlichen jüdischen Verhältnissen bezeichnet, „emporgewachsen unter Not und Schlägen“. Karl Emil Franzos, Moschko von Parma. Drei Erzählungen, Berlin: Rütten und Loening 1972, S. 9. Die harten Lebensbedingungen machen aus Moschko einen körperlich Tüchtigen. „Er ward stark, weit über seine verkümmerte Rasse, weit über sein Alter hinaus. Er ward stark, und alles, was löblich und tadelnswert an ihm war, wurzelte in dieser Eigenschaft. Darum war er mutig - was konnte ihm auch geschehen? - und hieb gern um sich, nicht trotzig und frech, sondern mit einer Art stillen Behagens. Und mit demselben Behagen half er unermüdlich den Holzhauern und Fleischerknechten des Städtchens bei ihrer schweren Arbeit, weil solche Anstrengung den jungen Sehnen wohltat.“ Ebd. S. 10. Moschko ist aber mit dem Neid bzw. der Feindschaft seiner Umwelt konfrontiert, die in ihm ›Gescheitheit‹, sogenannte Eigenschaft jedes Judenjungen, nicht verwirklicht sehen wollen, sondern vielmehr ›Dummheit‹, sogenannte Eigenschaft jedes Christenbuben (vgl. ebd. S.10f). Das Stereotyp des gescheiten jüdischen Kindes kommt zum Beispiel auch in Joseph Roths Das Spinnennetz in der Gestalt der Kinder des jüdischen Geschäftsmanns Effrusi vor, bei dem Theodor Lohse als Hauslehrer beschäftigt ist. Näheres dazu vgl. Joseph Roth, Das Spinnennetz (1923), in: JRW. Band 4. Romane und Erzählungen 1916-1929, S. 63-146. 2. Unheimliches Leben: zu den Erscheinungsformen der Marginalität … 212 2.3.4 Die Suche nach der différence/ différance (Differenz) Derrida bedient sich des Kunstwortes différance, um in Anlehnung an die prozessartige Unabschließbarkeit kultureller Zeichenaktivität 798 die Spaltung des Subjekts sowie seine Verwicklung in einen unendlichen Prozess der Differenzialität anschaulich zu machen. Da die Welt der Raum der Distribution und Zirkulation von Zeichen ist, ist das Subjekt selbst als ein Zeichenkonstrukt anzusehen. 799 Wendet man Derridas Differenz-Denken - auf Roths Text (und besonders auf die in der Familie Singer herrschenden Konstellationen) an, dann lässt sich von einer Suchbewegung, von einer Sehnsucht nach einem (Was-)Anderen und einem Wo-Anders, außerhalb und jenseits des bitteren Familienalltags sprechen. „Leben - ist das nicht gerade ein Anderssein-wollen, als diese Natur ist? Ist Leben nicht Abschätzen, Vorziehn, Ungerechtsein, Begrenzt-sein, Different-sein-wollen? “ 800 Diese rhetorische Frage, die Friedrich Nietzsche ironisch an die Stoiker 801 richtet, lässt sich auf Roths Romane beziehen. Es ist gerade der Drang des Anders-sein-wollens, der die Familie Singer aufrüttelt. Die ganze Familie Singer scheint von dieser Kraft angetrieben zu sein. Alle sehnen sich nach einem anderen, besseren Leben. Das Einrücken in die Armee bedeutet für Jonas ›Rettung‹ bzw. ›Flucht‹ aus der familiären Misere. Es bedeutet für ihn einen gesellschaftlichen Aufstieg und gleichzeitig eine Loslösung von der väterlichen Ordnung. Dennoch ist Jonas´ errungene Freiheit sehr ambivalent, denn sie schließt Desorientierung, Verzweiflung und Perspektivlosigkeit mit ein. Von nun an war er Pferdeknecht beim Fuhrmann Sameschkin. Er striegelte den Schimmel und den Braunen, schlief bei ihnen im Stall, sog mit offenen, genießenden Nasenlöchern ihren beizenden Urinduft ein und den sauren Schweiß. Er besorgte den Hafer und den Tränkeimer, flickte die Koppeln, beschnitt die Schwänze, hängte neue Glöckchen an das Joch, füllte die Tröge, wechselte das faule Heu in den zwei Fuhren gegen trockenes aus, trank Samogonka mit Sameschkin, war betrunken und befruchtete die Mägde (JRW 5, 32). Für Jonas kommt es darauf an, ein selbstständiges Leben zu beginnen und dadurch nicht mehr mit der Familie identifiziert zu werden. Auch der kleine Bruder Schemarjah sucht sich einen Ausweg. Dass die Helden in Roths Texten jemand anderer werden wollen, wird auch von Müller-Funk bekräftigt. 802 798 Jacques Derrida. Grammatologie (Anm. 219), S. 30, 87. Und diese Zeichenaktivität wird am Beispiel des Kunstwortes différance oder différence veranschaulicht. Vgl. ebd. S. 44. 799 Vgl. ebd. S. 78. 800 Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse (Anm. 237), S. 13. 801 Die philosophische Schule der Stoiker, an die sich Nietzsche richtet, gab vor, gemäß der Natur zu leben bzw. leben zu wollen. In diesem Imperativ sieht Nietzsche einen Selbstbetrug. Näheres dazu vgl. ebd.f. 802 Vgl. Wolfgang Müller-Funk, Joseph Roth (Anm. 21), S. 8. 2. 3 Zum unheimlichen Leben der Familie Mendel Singer … 213 Dies trifft nicht nur auf die Protagonisten der Familie Singer zu. Die meisten Figuren aus Roths Texten sind unaufhörlich auf der Suche nach einem symbolischen oder reellen Raum der ›Freiheit‹ und der ›Selbstverwirklichung‹. Dies lässt sich beispielweise auch anhand der Figuren Franz Tunda aus dem - mit beredetem Titel versehenen - Roman Die Flucht ohne Ende, Andreas Pum aus Die Rebellion sowie Andreas Kartak aus Die Legende vom heiligen Trinker nachvollziehen. 2.3.4.1 Schemarjahs Flucht ins amerikanische Exil Die vom allgegenwärtigen Schmuggler Kapturak unterstützte Flucht Schemarjahs ins amerikanische Exil bringt die Suche nach Differenz zum Ausdruck. Im Roman Das falsche Gewicht wird Kapturak als ein Mensch dargestellt, der mit allem Handel treibt, aus dem Leid der Deserteure Profit schlägt und den Maschen des Gesetzes zu entkommen weiß. Außerdem spielt er „Tarock“ (JRW 6, 176) mit den Vertretern und Strukturen des Gesetzes. Es erschien dem Eichmeister ungerecht, daß Jadlowker verurteilt war, während Kapturak frei herumlief. Schade, daß Kapturak keinen Anhalt bot, einer Gesetzübertretung überführt zu werden. Er hatte keinen offenen Laden, keine Waagen, keine Gewichte. Eines Tages aber würde man ihn trotzdem noch fassen (JRW 6, 178). Der Eichmeister Eibenschütz träumt von einer Festnahme Kapturaks. In Joseph Roths Hiob aber geht der Schmuggler Kapturak seinen Geschäften unbehelligt nach. Denn Schemarjah wird von Kapturak nächtlich über die Grenze ins Ausland geschmuggelt. 803 (Vgl. JRW 5, 33f.) Aus Martin Pollacks Roman geht hervor, dass die Emigration in der österreichisch-ungarischen Monarchie zwar nicht verboten gewesen sei, aber die Agenten, die ohne Konzession Auswanderungspropaganda betrieben, setzten sich einer gesetzlichen Strafe aus. 804 Besonders hart wird bestraft, wer Männer im wehrfähigen Alter, die kein Entlassungszeugnis aus dem Militärverband vorweisen können, zur Auswanderung überredet oder in dieser Absicht unterstützt. Das wird als Beihilfe zur Desertion gewertet und entsprechend scharf geahndet. Pavol Popovic und Jan 803 David Bronsen situiert die schmugglerischen Praktiken, die in Roths Texten unterschiedlich dargestellt werden, in deren soziohistorischen Kontext. „Die Juden Rußlands standen unter Auswanderungsverbot, und einen Reisepaß konnten sie sich nicht leisten. Manche wollten um jeden Preis dem Militärdienst, der alle Religionen negierte, entkommen. So wandten sie sich an einen Kapturak und gelangten bei Nacht und Nebel über die Grenze […] und Brody bildete eine der Etappen auf der langen Reise nach Amerika.“ Leo Herzberg-Fränkkel, „Aus der vergangenen Zeit“, in: Polnische Juden. Geschichte und Bilder, Wien 1867, zitiert nach David Bronsen, Joseph Roth: eine Biographie (Anm. 10), S. 52. 804 Vgl. Martin Pollack, Kaiser aus Amerika. Die große Flucht aus Galizien, Wien: Paul Zsolnay Verlag 2010, S. 13f. 2. Unheimliches Leben: zu den Erscheinungsformen der Marginalität … 214 Virosztek sind noch militärpflichtig, ein Entlassungszeugnis können sie jedenfalls nicht vorlegen. 805 Dies trifft auch auf die emigrierende Familie Singer aus Hiob zu. Gemeinsam mit Schemarjah flüchten zahlreiche wehrfähige Männer mit verdeckten Identitäten aus sozialen und politischen Gründen nach Amerika. Amerika wird zur Chiffre für die Suche nach der Differenz. Die Auswanderung entvölkerte zahlreiche Ortschaften der Donaumonarchie, unzählige arbeitsfähige Männer ließen ihre Frauen und Scharen von Kindern zurück. 806 Die Auswanderung nach Amerika, wie sie in Joseph Roths Hiob dargestellt wird, gründet auf den positiven Bildern, die über Amerika in Umlauf gebracht werden. Diese spielen in Bernd Brunners Nach Amerika: Die Geschichte der deutschen Auswanderung sowie in Martin Pollacks Kaiser von Amerika. Die große Flucht aus Galizien eine große Rolle. Das Wissen der Auswanderer über die unbekannte ›Neue Welt‹ beruhte dabei vorwiegend auf Hörensagen oder auf Schriften und Erzählungen von Agenten. Da die Werber durch den engen Kontakt mit den Auswanderern deren Nöte und Sorgen gut kannten, waren sie nicht verlegen, ein Bild von Amerika zu zeichnen, in dem es genau die von vielen beklagten Übel nicht gab, und sie bedienten sich dabei oft gefälschter Schriften, um ihre Position zu untermauern. 807 Martin Pollack verarbeitet in seinem Roman, Kaiser von Amerika. Die große Flucht aus Galizien, die Auswanderung von Menschen aus der Habsburgischen Doppelmonarchie nach Amerika um die Jahrhundertwende literarisch. Vier Slowaken (Mathias Komara, Pál Popovic, Jan Virosztek und Jakob Komara) aus dem Dorf Brutovce in der Zips machen sich mittellos und lediglich mit dem Segen ihrer Verwandten ausgestattet auf den gefahrvollen Weg nach Amerika. „Doch wer hat die einfachen Leute aus Brutovce überhaupt auf die Idee gebracht, nach Amerika zu gehen, um dort ihr Glück zu suchen? “, 808 fragt die Erzählerfigur. Der Beitrag von Zeitungen oder Broschüren zur Begeisterung von Auswanderern wird vom Erzähler heruntergespielt, zumal da „die slowakischen Kleinbauern und Tagelöhner in der Zips […] wie die Landbevölkerung im benachbarten Galizien, mehrheitlich Analphabeten“ 809 gewesen seien. Der Akzent wird dabei hauptsächlich auf die narkotisierenden und realitätsentstellenden Erzählungen von Auswanderungsagenten gelegt. Ein alter Auswanderer aus Brutovce, ein katholischer Priester, erzählt in den USA kurz vor seinem Tod, Agenten seien ins Dorf gekommen, um Leute für 805 Ebd. S. 14. 806 Vgl. ebd. S. 16. 807 Bernd Brunner, Nach Amerika: die Geschichte der deutschen Auswanderung (Anm. 700), S. 62. 808 Martin Pollack, Kaiser von Amerika (Anm. 804), S. 12. 809 Ebd. 2. 3 Zum unheimlichen Leben der Familie Mendel Singer … 215 die Fahrt nach Amerika anzuwerben. Eine alltägliche Geschichte. Auch in anderen Dörfern der Zips tauchen fremde Agenten auf und erzählen den staunenden Bewohnern wunderbare Geschichten vom reichen Kontinent, in dem das Gold auf der Straße liegt, man brauche sich nur zu bücken und es aufzuklauben. 810 Ebenfalls wird Amerika den Deserteuren und Durchschnittsmenschen im Hiob als ein Ort vorgegaukelt, wo „Milch und Honig fließt“ (JRW 5, 38). Auf jenem Schiff, das Schemarjah in ›das amerikanische Paradies‹ bringt, wird er als Unteragent dieser Auswanderungsagentur angestellt. Seine Aufgabe besteht darin, die Deserteure sowie alle, die Europa verlassen wollen, mit dem trügerischen Bild eines paradiesischen Amerikas zu verführen und Gewinne einzutreiben. In Wahrheit ist die nicht benannte Schifffahrtsagentur mehr auf Profit erpicht als auf das wirkliche Leiden der Auswanderer bedacht. 811 Die Schilderung in Hiob rückt das historische weltweite bis heute anhaltende Phänomen der Migration in seiner doppelten Sichtweise, nämlich als Aus- und als Einwanderung, in den Mittelpunkt. Menschen ziehen wegen Krieg, Armut, Hunger, Krankheit, bewaffneten Konflikten, Bürgerkriegen, Ausweglosigkeit und Naturkatastrophen usw. in andere Weltgegenden, wo sie ein Leben in Würde und Sicherheit anfangen können und wollen. Diese weltweite Bewegung wird erheblich von bestimmten medialen geopolitischen Darstellungen genährt. Im Roman Hiob wird zum Beispiel auf die maßgebliche Wirkung von Medien - Briefen, Zeitungsartikeln, Reiseberichten - (vgl. JRW 5, 38) sowie von bebilderten Prospekten über ferne exotische Landschaften und Völker verwiesen. 812 Die Briefe „von bereits Weggezogenen an die Verwandten und Freunde in der Heimat“ 813 haben einen maßgeblichen Anteil an der Verbreitung eines klischeehaften Amerika-Bildes. In den ersten Briefkontakten, die Schemarjah mit seiner in Russland gebliebenen Familie aufnimmt, reproduziert er nolens volens diese positiven Amerika-Bilder, wie sie ihm auf dem Schiff bei der Hinreise eingehämmert wurden. Dass der Bote, der der Familie Singer ein Päkchen, einen Brief und Schemarjahs Fotos, überbringt, 810 Ebd. S. 13. 811 Martin Pollack hingegen benennt die Schifffahrtsagenturen, die damals um das Monopol über die Beförderung von Auswanderern und Waren nach Amerika miteinander wetteiferten: die „‘Hamburg-Amerikanische Packetfahrt-Actien- Gesellschaft’, kurz Happag genannt“ und deren Rivalen den „Bremer Norddeutschen Lloyd“. Ebd. S. 15. 812 Vgl. ebd. 813 Bernd Brunner, Nach Amerika (Anm. 700), S. 83. Die Bedeutung von solchen Briefen wird auch von Martin Pollack herausgestrichen: „Eine wichtige Rolle spielen Briefe schreibkundiger Auswanderer, in denen sie das Leben in der Fremde in verlockenden Farben schildern, manchmal schicken sie auch kleine Beträge nach Hause, einen Dollar oder zwei, obwohl die Scheine aus einem Brief leicht gestohlen werden können.“ Martin Pollack, Kaiser von Amerika (Anm. 804), S. 12. Übrigens waren die meisten Briefe von Agenten selbst fingiert. Vgl. ebd. 2. Unheimliches Leben: zu den Erscheinungsformen der Marginalität … 216 „Mac“ 814 (JRW 5, 37) heißt und direkt aus Chicago kommt, ist natürlich kein Zufall. Mac, Schemarjahs Geschäftsfreund, ist ein Einwanderer irischer Herkunft. Bei einem Ausflug nach Long Island hat ihn Schemarjah kennengelernt (JRW 5, 38). Schemarjah, der jetzt in Amerika den Namen Sam führt, schildert in dem Brief, wie er sich seinen Teil ›vom amerikanischen Glück‹ aneignet. Schemarjah/ Sam vermittelt den Eindruck, Fuß in der amerikanischen Gesellschaft gefasst zu haben. Er sei, so schreibt er, verheiratet und als Versicherungsmakler tätig (vgl. ebd.). Darüber hinaus verspricht er der ganzen Familie, sie nach Amerika zu holen. „Denn bald schicke ich Euch Schiffskarten, mit Gotteshilfe. Ich umarme und küsse Euch alle“ (ebd.). So endet der Amerika-Brief des Neureichen Sam. Der Briefbote Mac überreicht der Familie Singer einen Zehndollarschein von Schemarjah, ein sinnfälliges Symbol des amerikanischen Traumes (vgl. JRW 5, 39). Bei den Singers herrscht eine ambivalent heitere Stimmung, die im Roman nicht zufällig als „klingendes Schweigen“ (JRW 5, 39) bezeichnet wird. Es handelt sich um die einsetzende Amerika-Begeisterung, die bei Deborah und Mendel Singer noch undeutlich, bei Mirjam aber schon unmissverständlich zu bemerken ist. Angesichts dieser beginnenden Amerika-Euphorie ist es nicht erheblich, das Amerika-Bild, wie es im Roman Hiob vorkommt, kritisch zu beleuchten. Bevor auf dieses Amerika-Bild eingegangen wird, wird im Folgenden nachgefragt, wie sich Mirjams Suche nach Differenz äußert. Mendel Singer und seine Frau Deborah stellen zu ihrem Schrecken fest, dass ihre Tochter Mirjam sich mit Soldaten einer nahe liegenden Kaserne einlässt. Im Roman ist abschätzig von Kosaken die Rede. Diese für Mendel Singer und Deborah schockierende, verletzende und demütigende Entdeckung bestärkt das Ehepaar in dem Vorsatz, nach Amerika auszuwandern: „‘Wir werden nach Amerika fahren. Menuchim muß zurückbleiben. Wir müssen Mirjam mitnehmen. Ein Unglück schwebt über uns, wenn wir bleiben’“ (JRW 5, 47). Das Ehepaar Mendel steht den Eskapaden der Tochter hilflos gegenüber. Mirjams Affäre mit den Soldaten verleiht ihr nämlich eine gewisse Macht, „als stünde die Tochter schon unter dem Schutz der fremden und wilden Kaserne“ (JRW 5, 61). Dies geht aus dem Gespräch hervor, das Mutter Deborah und Tochter Mirjam bei untergehender Sonne führen. Brennende Momentaufnahmen dieses Gesprächs werden in der Folge inszeniert: „‘Der Vater ist bös, Mirjam! ’ sagte Deborah.“ (Ebd.). „‘Laß ihn böse sein’, erwiderte Mirjam, ‘deinen Mendel Singer.’“ „‘[…] Was soll ich ihm sagen, Mirjam? Soll ich ihm sagen, daß wir deinetwegen wegfahren müssen, weil du, weil du ---’“ (JRW 5, 62). Die Stimmung bei Sonnenuntergang, in der der heftige Wortwechsel stattfindet, führt die Verschiebung der Machtverhältnisse vor Augen. Die materielle Bedürftigkeit der Eltern Singer mündet in ihrem Macht- und Autoritätsverlust innerhalb der Familie. Sie unterminiert die Autorität der Eltern über die Kinder. Dieser Autoritätsverlust lässt sich an der 814 Hervorhebung v. mir. 2. 3 Zum unheimlichen Leben der Familie Mendel Singer … 217 stotternden Frage von Deborah an Mirjam wahrnehmen, die wiederum heißblütig ihrer Mutter ins Wort fällt, um ihrer Sicht der Dinge Geltung zu verschaffen: ‘Weil ich mich mit Kosaken abgebe’, ergänzte Mirjam, ohne sich zu rühren. Und sie fuhr fort: ‘Sag ihm, was du willst, es soll mich gar nichts angehn. In Amerika werde ich noch eher tun, was ich will. Weil du einen Mendel geheiratet hast, muß ich nicht auch einen heiraten. Hast du denn einen bessern Mann für mich, was? Hast du eine Mitgift für deine Tochter? ’ (Ebd.) Mirjam nützt die strukturelle Schwäche ihrer Eltern aus, um ihr Verhalten, ihre Macht oder Ohnmacht zu rechtfertigen. Mirjam befindet sich mitten in der Pubertät, ihr leichtfertiges, loses Leben dokumentiert zugleich ihre Ausweglosigkeit, ihre Orientierungslosigkeit und ihre Verzweiflung. Sie versucht sogar, ihre Mutter für ihre egoistische Sichtweise zu gewinnen. Am Beispiel der Familie Mendel Singer zeigt sich erneut, dass das Familiensowie das eheliche Leben komplexe machtpolitische Felder darstellen. 815 2.3.4.2 Abschied von Russland oder von Europa: Amerika- Reisevorbereitungen und Träume vom paradiesischen Leben Bei den Singers herrscht ein regelrechtes ›Amerika-Fieber‹. Deborah stellt sich schon ein anderes Leben in ›Reichtum‹, ›Überfluss‹ und ›Würde‹ im fernen Amerika vor. Deborah geht auf und ab, auf und ab vor Sameschkins Hütte, sie denkt nur an Amerika. Ein Dollar ist mehr als zwei Rubel, ein Rubel hat hundert Kopeken, zwei Rubel enthalten zweihundert Kopeken, wieviel, um Gottes Willen, enthält ein Dollar Kopeken? Wieviel Dollar ferner wird Schemarjah schicken? Amerika ist ein gesegnetes Land (JRW 5, 48). Die Reiseplanung beschränkt sich aber nicht nur auf die Beschaffung von Papieren und Dokumenten, sie ist vor allem auch eine geistige Vorbereitung. Dabei wird das Herkunftsland (Russland) oder der europäische Kontinent verteufelt und das Aufnahmeland (Amerika) verklärt und glorifiziert. Das Wissen der Familie Singer über den amerikanischen Kontinent ist einseitig und vor allem auf die Beschreibungen aus Sams Brief angewiesen. Keiner hat ein Bild vom konkreten Alltag in einer amerikanischen Stadt oder von den dortigen Verhältnissen. Deborah wird beim Entwurf ihrer Übersee-Träume erwischt: „Mirjam geht mit einem Kosaken, in Rußland kann sie es wohl, in Amerika gibt es keine Kosaken. Rußland ist ein trauriges Land, Amerika ist ein freies Land, ein fröhliches Land. Mendel wird kein Lehrer mehr sein, der 815 Dies hat sich auch bei der Analyse der ehelichen Beziehung zwischen Andreas Pum und der Witwe Katharina Blumich in Die Rebellion herausgestellt. Siehe Abschnitt „2.2.4. Andreas Pums Erfahrung der ›(més-)alliance‹“. in dieser Arbeit. Die Familie als machtpolitisches Feld - dies ist auch eine These, die bei Foucault anzutreffen ist. Vgl. Michel Foucault, Analytik der Macht (Anm. 757), S. 77. 2. Unheimliches Leben: zu den Erscheinungsformen der Marginalität … 218 Vater eines reichen Sohnes wird er sein“ (ebd.). Deborahs Vorstellungen über amerikanische Verhältnisse erweisen sich als Hirngespinste, die ihren Ängsten und Träumen entspringen: die Angst vor einer möglichen ›Entehrung‹ der Familie durch die Tochter Mirjam einerseits sowie der Traum von einem Leben im amerikanischen Überfluss andererseits. Was würde denn passieren, falls sich Mirjam in Amerika mit einem ›Indianer‹, einem ›Schwarzen‹ oder einem ›Südamerikaner‹ abgeben würde? Denn Mirjam wird als ein Mädchen präsentiert, das vor allem an geschlechtlicher Liebe interessiert ist. „Sie liebte alle Männer […]“ (JRW 5, 51). „In Amerika gab es noch viel mehr Männer“ (ebd.). Amerika gilt in Mirjams Vorstellungswelt als das Land „von der Freiheit der Liebe […] zwischen den hohen Häusern, die noch besser verbargen als die Kornähren im Feld […]“ (Ebd.). Aber die Träume der Singers stoßen zunächst auf die harte Wirklichkeit der ›korrupten‹ russischen Beamtenwelt. Die Beschaffung der für die Reise nötigen Dokumente ist keine selbstverständliche Angelegenheit. Mendel Singer wird mit den Strukturen der Macht konfrontiert: Türstehern, überfüllten ungastlichen Warteräumen, blau uniformierten Männern, Schreibern usw. (vgl. JRW 5, 53f). In einem Büro, „[g]enau unter dem Bild des Zaren saß der Beamte. Er bestand aus einem Schnurrbart, einem kahlen Kopf, Epauletten und Knöpfen“ 816 (JRW 5, 54). Bemerkenswert ist die karikierte Darstellung der Machtstrukturen: 817 Die Papiere raschelten. Manchmal sann der Beamte eine Weile nach, blickte in die Luft und haschte plötzlich mit der Hand nach einer Fliege. Er hielt das winzige Tier in seiner riesigen Faust, öffnete sie vorsichtig, zupfte einen 816 Hervorhebung v. mir. 817 Dass Joseph Roths Texte die Strukturen des Gesetzes ironisch darstellen, darauf weist auch Telse Hartmann am Beispiel des Romans Das falsche Gewicht - und genauer bei der Rekonstruktion der Herrschaftstechniken der Habsburgermonarchie - hin. Vgl. Telse Hartmann, Kultur und Identität (Anm. 32), S. 51-65. Auch in Roths Romanfragment Erdbeeren entpuppt sich Galizien als jene Region, in der der habsburgische Kulturimperialismus seine Zerrissenheit erfährt. Roth gibt dies durch eine ironische Darstellung der Strukturen des Gesetzes zu erkennen und zu verstehen. Galizien wird als gesetzlose Gegend präsentiert, wo Steuerhinterziehung und Bestechung keineswegs als Verbrechen angesehen wird (vgl. JRW 4). Der Bürgermeister, der Förster, die Grenzgendarmen und -polizisten verkörpern diese Strukturen des Gesetzes. Über den galizischen Bürgermeister äußert sich die Erzählerfigur wie folgt: „Dem Bürgermeister putzte ich die Stiefel, als ich sechs Jahre alt war. Als ich zwölf alt wurde, kam ich zu einem Barbier. Da seifte ich den Bürgermeister ein. Mit fünfzehn Jahren wurde ich ein Kutscher und fuhr den Bürgermeister am Sonntag spazieren. Wir hatten dreizehn Polizisten. Mit allen trank ich Schnaps“ (JRW 4, 1009). Die ironische Darstellung der Strukturen des Gesetzes ist ein in Joseph Roths Texten beliebtes Motiv. Es ist z.B. auch in den Texten Radetzkymarsch, Das falsche Gewicht, Die Rebellion, usw. unterschiedlich anzutreffen. Hervorhebung v. mir. 2. 3 Zum unheimlichen Leben der Familie Mendel Singer … 219 Flügel ab, dann den zweiten und sah noch ein bißchen zu, wie das verkrüppelte Insekt auf dem Schreibtisch weiterkroch 818 (JRW 5, 55). Dieser ›hochwohlgeborene‹ Beamte geht mit Mendel Singer genauso brutal und respektlos um, wie er es zuvor mit der wehrlosen Fliege getan hat: ‘Das weiß ich, du Tepp, daß du nicht schreiben kannst! Ich habe nicht nach deinem Schulzeugnis gefragt, sondern nach deinem Gesuch. Und wozu haben wir Schreiber? […] Wozu erhält der Staat einen Schreiber? Für dich, du Esel, weil du eben nicht schreiben kannst. Also geh auf Nummer 3. Schreib das Gesuch. Sag, ich schicke dich, damit du nicht zu warten brauchst und gleich behandelt wirst. Dann kommst du zu mir. Aber morgen! Und morgen nachmittag kannst du meinetwegen wegfahren! ’ 819 (Ebd.). Mendel Singers Anliegen findet kein Gehör bei den Beamten. Er wird im Gegenteil Opfer der korrupten Taktiken des Schreibers, der Mendel Singers Dokumente missbräuchlich bei sich behält und ihn zu einem außerordentlichen Termin zwingt. „Weißt du was? Morgen früh um neun Uhr kommst du her! Da sind wir allein. Da können wir ruhig miteinander sprechen. Deine Papiere sind hier bei mir. Du holst sie morgen ab. Den Zettel zeigst du vor! “ (JRW 5, 56). Zum Schluss wirft Mendel Singer das Handtuch und greift eher auf die Dienste des Schmugglers Kapturak zurück. Dank des schmugglerischen Geschicks Kapturaks verschafft sich die Familie Singer alle Dokumente für die Amerika-Reise: Pässe, Visa, Schiffskarten - alles von Schemarjah zugesandt. 2.3.5 Sam in ›Uncle Sam’s‹ Land Sowohl in die populäre als auch in die elitäre Kultur ist die Bezeichnung Uncle Sam als allegorisches Bild der Vereinigten Staaten von Amerika eingegangen: die Abbildung eines alten Mannes auf einem Rekrutierungsplakat mit langen schneeweißen Haaren, Spitzbart, mahnendem Gesicht und gebieterischem Zeigefinger, in amerikanischen Nationalfarben gekleidet, einer dunkelblauen Jacke mit rot-weiß gestreifter Hose. Auf seinem Kopf sitzt ein mit Sternen dekorierter Zylinderhut. Dieses Bild datiert aus der Periode des Ersten Weltkriegs und wurde damals zu Rekrutierungszwecken von der amerikanischen Armee entworfen. 820 Heutzutage ist ›Uncle Sam‹ zu einer globalen Ikone geworden. Durch seinen neuen Namen ›Sam‹ bekennt sich Schemarjah zur amerikanischen Staatsbürgerschaft. Die bedenkliche Seite dieser Allegorie ist, dass sie ein idyllisches Bild der Vereinigten Staaten verbreitet und dadurch die inneren Asymmetrien der amerikanischen Gesellschaft verschlei- 818 Hervorhebung v. mir. 819 Hervorhebung v. mir. 820 Vgl. Michael Sauer, „Historische Plakate“, in: Webseite der Bundeszentrale für politische Bildung, http: / / www.bpb.de/ themen/ , Februar 2007, S. 1-5, hier S. 3. Vgl. dazu http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Uncle_Sam 2. Unheimliches Leben: zu den Erscheinungsformen der Marginalität … 220 ert, nämlich die paradoxe Gleichzeitigkeit von Freiheit, Rassendiskriminierung und Ausgrenzung von Minderheiten, die in der Periode der massenhaften Auswanderungen nach Amerika eine der empörenden dunklen Tatsachen dieser Gesellschaft ausmachte. Die Vereinigten Staaten als Land der Freiheit werden einerseits besungen, andererseits aber wurden die freigelassenen Schwarzen und ›Mulatten‹ in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den nordamerikanischen Provinzen, in denen die Sklaverei abgeschafft wurde, brutal und rücksichtslos behandelt. 821 In einer Denkschrift von Heinrich Heine und Ludwig Börne steht Folgendes zu lesen: […] Ihr lieben deutschen Bauern! geht nach Amerika! dort gibt es weder Fürsten noch Adel, alle Menschen sind dort gleich, gleiche Flegel … mit Ausnahme freilich einiger Millionen, die eine schwarze oder braune Haut haben und wie die Hunde behandelt werden! Die eigentliche Sklaverei, die in den meisten nordamerikanischen Provinzen abgeschaft, empört mich nicht so sehr wie die Brutalität, womit dort die freien Schwarzen und die Mulatten behandelt werden. Wer auch nur im entferntesten Grade von einem Neger stammt, und wenn auch nicht mehr in der Farbe, sondern nur in der Gesichtsbildung eine solche Abstammung verrät, muß die größten Kränkungen erdulden, Kränkungen, die uns in Europa fabelhaft dünken. Dabei machen diese Amerikaner großes Wesen von ihrem Christentum und sind die eifrigsten Kirchengänger. Solche Heuchelei haben sie von den Engländern gelernt, die ihnen übrigens ihre schlechtesten Eigenschaften zurückließen … Ich glaube, es war in New York, wo ein protestantischer Prediger über die Mißhandlung der farbigen Menschen so empört war, daß er, dem grausamen Vorurteil trotzend, seine eigene Tochter mit einem Neger verheuratete. Sobald diese wahrhaft christliche Tat bekannt wurde, stürmte das Volk nach dem Hause des Predigers, der nur durch Flucht dem Tode entrann; aber das Haus ward demoliert, und die Tochter des Predigers, das arme Opfer, ward vom Pöbel ergriffen und mußte seine Wut entgelten. She was flinshed, d.h., sie ward splitternackt ausgekleidet, mit Teer bestrichen, in den aufgeschnittenen Federbetten herumgewälzt, in solcher anklebenden Federhülle durch die ganze Stadt geschleift und verhöhnt … O Freiheit du bist ein böser Traum.’ 822 821 Vgl. Bernd Brunner, Nach Amerika (Anm. 700), S. 109. Vgl. u.a. Morgan Kenneth, Slavery and servitude in North America. 1607-1800, Edinburgh: Edinburgh University Press 2000. 822 Heinrich Heine, Ludwig Börne. Eine Denkschrift, zweites Buch (Brief aus Helgoland, den 1. Julius 1830), in: ders. Werke und Briefe, Band 6, über die französische Bühne, Ludwig Börne, Lutetia, Berlin, Weimar: Aufbau Verlag 1980, S. 114-118, hier S. 117f. Bernd Brunner bezieht sich in seiner Beweisführung auch auf diese Passage aus Heinrich Heines Text. Vgl. Bernd Brunner, Nach Amerika (Anm. 700), S.109. Brunner geht von dieser Schilderung der Stellung von Schwarzen und Mulatten in Amerika des 19. Jahrhunderts aus, um sie mit der Stellung des Schwarzen in Europa in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu vergleichen. „Schwarze gab es auch in Europa, aber ihr Wirkungskreis war dort auf aristokratische Haushalte beschränkt, wo sie als privilegierte Exoten, oft in farbenprächtigen Kostümen, beschäftigt waren. Als die 2. 3 Zum unheimlichen Leben der Familie Mendel Singer … 221 Dieses andere Gesicht Amerikas kommt in Hiob überhaupt nicht zur Sprache. Freilich spielt die Handlung des Romans nicht im 19. Jahrhundert, sondern in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Aber die amerikanischen Verhältnisse, wie sie etwa bei Bernd Brunner beschrieben werden, prägten auch noch die amerikanische Gesellschaft der zwanziger und dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts. Hinzu kommt, dass unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg wegen der andauernden rassischen Unterdrückung eine Welle von Unruhen zahlreiche US-amerikanische Südstaaten erfasste. 823 Die Großstädte Chicago und Detroit bildeten sich zu kulturellen Zentren afroamerikanischer Kreativität heraus. 824 Die künstlerisch-intellektuelle Bewegung der Harlem-Renaissance - nach einem New Yorker Stadtviertel benannt und vertreten durch Persönlichkeiten wie Marcus Garvey, Langston Hugues, Countee Cullen, Claude Mckay, Louis Armstrong oder Josephine Baker - stärkte durch ihre künstlerische, literarische und intellektuelle Arbeit das Selbstbewusstsein der Afroamerikaner. 825 Der gemeinsame Nenner dieser Persönlichkeiten liegt darin, dass sie zumeist aus bedürftigen Verhältnissen stammten und zu Hoffnungsträgern für die strukturell verarmte Bevölkerung der sogenannten ›Neuen Welt‹ avancierten. 826 Die Harlem Renaissance bereitete den Weg für die späteren afroamerikanischen Menschen- und Bürgerrechtsbewegungen sowie für Bewegungen wie den Panafrikanismus und die Négritude-Bewegung, die sich politisch - das heißt auch philosophisch, literarisch und kulturell - auf einer globalen Ebene sehr stark für das Selbstbewusstsein schwarzer, unterdrückter, erniedrigter, marginalisierter Subjekte einsetzte. 827 Sam, der eingebürgerte Amerikaner aus Joseph Roths Hiob, schildert die amerikanischen Verhältnisse aber ausschließlich aus der Perspektive eines ›Passagiers der ersten Klasse‹. Die historisch-kulturelle Vielfalt, die die amerikanische Gesellschaft ausmacht, sowie die Ungereimtheiten und Ambivalenzen, die von dieser Ge- Einwanderer nun Schwarzen in den amerikanischen Hafenstädten begegneten, waren sie oft über deren erbarmungswürdigen Zustand erschrocken.“ Ebd. S. 109. Bernd Brunner hebt die Tatsache deutlich hervor, dass die Stellung von Afrikanern in Europa weit besser als in der amerikanischen Gesellschaft war. Heruntergespielt wird dennoch die subalterne Stellung dieser auf Exponate reduzierten farbigen Menschen in europäischen aristokratischen Kreisen. Vgl. Joachim Zeller, Weiße Blicke - Schwarze Körper. Afrikaner im Spiegel westlicher Alltagskultur (Anm. 137). 823 Arna Bontemps (Hg.), „Le reveil: souvenirs“, in: ders. La renaissance de Harlem. Ecrivains noirs des années 20. Essais Réunis par Arna Bontemps, France: Editions France-Empire Nouveaux Horizons 1975, S. 9-43, hier S. 15. 824 Ebd. S. 9f. 825 Vgl.ebd. 826 Vgl. ebd. 827 Vgl. ebd. Weiterführende Texte vgl. u.a. George Hutchinson, The Harlem Renaissance in Black and White, Cambridge, Massachusetts, London: Harvard University Press 1995. Vgl. Cary D. Wintz/ Paul Finkelman (Hg.), Encyclopedia of the Harlem Renaissance, Volume 1, A-J, New York, London: Routledge 2004, S. 463-528. 2. Unheimliches Leben: zu den Erscheinungsformen der Marginalität … 222 sellschaft strukturell generiert wurden oder werden, werden verdrängt, um die Illusion, den Mythos eines ›amerikanischen Paradieses‹ aufrechtzuerhalten. Diejenigen Passagiere des ›amerikanischen Schiffes‹, 828 die an den Rand der amerikanischen Gesellschaft gedrängt werden, werden im Text durch eine solche Darstellungslogik strategisch zum Schweigen gebracht und mithin symbolisch getötet. Die Sklaven, die aus afrikanischen Küsten nach Amerika verschifft wurden, gehörten überhaupt keiner Klasse in der Hierarchie des ›Sklavenschiffes‹ an. Sie liegen tief unten im amerikanischen Schiffsraum zusammengepfercht. Diese Rangordnung wurde auch in der amerikanischen Gesellschaft aufrechterhalten. Der ganze amerikanische Kontinent hat dem ›Blut und Schweiß‹ dieser ›schwarzen Passagiere‹ viel zu verdanken. 829 Die Vorbereitung der Amerika-Reise ist für die Familie Singer eine spannungsreiche Zeit. Denn die Idee, Menuchim nicht mitnehmen zu können oder zu dürfen, peinigt bzw. entzweit Mendel und seine Frau. Der endgültige Abschied vom Dorf Zuchnow und mithin vom ›Krüppelkind‹ Menuchim ist emotionsgeladen und nicht ohne Bitterkeit (vgl. JRW 5, 68). Als strapaziös und beschwerlich stellt sich die Reise heraus. Sie fahren von Zuchnow aus mit der Kutsche bis an die Grenze und von der Grenze drei Tage lang mit dem Zug über Bremen nach Hamburg. In Hamburg ist die Familie Singer (Mirjam, Deborah und Mendel) gemeinsam mit acht anderen Familien in einer zerfallenden Baracke im Hafenbereich untergebracht (vgl. JRW 5, 69). Am darauffolgenden Tag verlassen die Familien Bremerhaven an Bord des Dampfers „‘Neptun’“ (JRW 5, 70) Richtung Amerika. Die Seereise dauert vierzehn Tage und die ermatteten Passagiere können schon freudvoll die ›Freiheitsstatue‹ - auch eine der wichtigsten Nationalallegorien der Vereinigten Staaten von Amerika - erblicken, bewundern und ›aufatmen‹. ‘[D]ie Freiheitsstatue. Sie ist hunderteinundfünfzig Fuß hoch, im Innern hohl, man kann sie besteigen. Um den Kopf trägt sie eine Strahlenkrone. In der 828 Das Wort ›Schiff‹, das sich als klassische Metapher für die staatliche Führung etabliert hat, wird hier als Metapher für amerikanische Verhältnisse verwendet. 829 Hingewiesen wird hier auf das historische Phänomen des globalen Sklavenhandels, ein Phänomen, das auch eine binnenafrikanische Dimension aufwies. Näheres über dieses Phänomen vgl. u.a. Jochen Missner/ Ulrich Mücke/ Klaus Weber, Schwarzes Amerika. Eine Geschichte der Sklaverei, München: Verlag C. H. Beck 2008. Vgl. Linda M. Heywood/ John K. Thornton, Central Africans, Atlantic Creoles, and the Foundation of the Americas, 1585-1660, Cambridge, New York, Melbourne u.a.: Cambridge University Press 2007. Vgl. Kenneth Morgan, Slavery and the British Empire: from Africa to America, Oxford, New York: Oxford University Press 2007. Vgl. ders. Slavery and Servitude in North America 1607-1800, Edinburgh: University Press 2000. Vgl. Robin Law/ Kenneth Morgan (Hg.), The operation of slave trade in Africa, London: Pickering and Chatto 2003. Vgl. John Asworth, Slavery, capitalism and politics in the antebellum Republic, Volume1: Commerce and Compromise 1820-1850, Cambridge: Cambridge University Press 1995. Vgl. Randall M. Miller/ John David Smith (Hg.), Dictionary of Afro-American Slavery, New York, Westport, Connecticut, London: Grennwood Press 1988. 2. 3 Zum unheimlichen Leben der Familie Mendel Singer … 223 Rechten hält sie eine Fackel. Und das schönste ist, daß diese Fackel in der Nacht brennt und dennoch niemals ganz verbrennen kann. Denn sie ist nur elektrisch beleuchtet. Solche Kunststücke macht man in Amerika.’ (JRW 5, 71) Diese allzu romantische Beschreibung aus der Perspektive eines Passagiers sowie die klingende Bezeichnung ›Freiheitsstatue‹ lassen Amerika als ein idyllisches Land erscheinen. 2.3.5.1 Ein Leben unter dem Zeichen des Unheimlichen: Die Stacheln des Paradieses Dass die Linse, durch die Mac und Sam die Familie Singer schauen lassen, manche Tatsachen Amerikas entstellt, bekommen die Singers am eigenen Leib zu spüren. Das Leben in Amerika fängt nämlich nicht idyllisch an. Die Familie Singer muss in Quarantäne, 830 in eine Art Gefangenschaft, obwohl sie kurz zuvor von Sam/ Schemarjah die mündliche Zusage erhält, dass sie dank des Einflusses von Mac, Sams Freund, nicht in das Lager kommen wird. Das „süße Backwerk“ (JRW 5, 72), das Mac in diesem Augenblick eifrig verteilt und selbst verzehrt, wird nur aus dem Grund ausgegeben, das Schockerlebnis bei der Ankunft zu versüßen. Mac und Sam gaukeln der Familie Singer ein einseitiges Amerika-Bild vor, und zwar jene Ansicht, die der Klasse entspricht, zu der sie sich zugehörig fühlen bzw. zu der sie gehören möchten. Beide bedienen sich einer geschickten Darstellungsstrategie, die darin besteht, die dunklen Seiten der amerikanischen Gesellschaft zu verschleiern und zu vertuschen. Wie gelingt es nun dem Mac die Familie Singer aus dem Lager zu befreien? Diese Einzelheit wird dem Leser verheimlicht. „Denn es gehörte zu Macs Eigenschaften, daß er mit großem Eifer Dinge erzählte, die er erfunden hatte; und daß er Dinge verschwieg, die sich wirklich zugetragen hatten“ (JRW 5, 73). Das Leben der Singers in Amerika steht unter dem Zeichen des Unheimlichen. Schon am Hafen (beim allerersten Treffen mit Schemarjah) erfahren fast alle Familienglieder eine Art Spaltung ihres Selbst. „Sie sahen gleichzeitig ihr altes Häuschen wieder, den alten Schemarjah und den neuen Schemarjah, genannt Sam. Sie sehen Schemarjah und Sam zugleich, als wenn Sam über einen Schemarjah gestülpt worden wäre, ein durchsichtiger Sam“ (JWR 5, 71). Diese Spaltung des Selbst manifestiert sich in der Gestalt der Gleichzeitigkeit von ungleichzeitigen Lebensspuren. Insbesondere die Figur Schemarjah versinnbildlicht diese Spaltung. Am zerbrochenen physischen und psychischen Bild des Schemarjah/ Sam lässt sich auch die symbolische Spaltung der Familie Singer ablesen. Es war zwar Schemarjah, aber es war Sam. Es waren zwei. Der eine trug eine schwarze Mütze, ein schwarzes Gewand und hohe Stiefel, und die ersten 830 Auf die Praxis der Quarantäne, wie sie behördlich bei der Ankunft in Amerika durchgeführt wurde, wird in einem späteren Punkt in dieser Arbeit eingegangen. 2. Unheimliches Leben: zu den Erscheinungsformen der Marginalität … 224 flaumigen, schwarzen Härchen sprossten aus den Poren seiner Wangen. Der zweite trug einen hellgrauen Rock, eine schneeweiße Mütze wie der Kapitän, breite, gelbe Hosen, ein leuchtendes Hemd aus grüner Seide, und sein Angesicht war glatt wie ein nobler Grabstein. Der zweite beinahe Mac. Der erste sprach mit seiner alten Stimme - sie hörten nur die Stimme, nicht die Worte. Der zweite schlug mit einer starken Hand seinem Vater auf die Schulter und sagte, und jetzt erst hörten sie die Worte: ‘Hallo old chap! ’ - und verstanden nichts (JRW 5, 72). Hervorgehoben werden vor allem die physischen und die psychischen Veränderungen, die Sam durchlaufen hat. Dennoch tut sich Mendel Singer - in krassem Gegensatz zu Sam - besonders schwer, im amerikanischen Glück oder Unglück Fuß zu fassen. 2.3.5.2 Mendel Singer: Anpassungsschwierigkeiten oder Identitätskrise? Dass Mendel Singer Schwierigkeiten hat, sich in den urbanen Raum New Yorks einzuordnen, fällt bei der allerersten Stadtbesichtigung auf, die Mac und Sam vornehmen. Der Ablauf der Führung wird aus Mendel Singers Perspektive ausführlich geschildert (vgl. JRW 5, 73f). Die subversive Dimension dieser Beschreibung liegt jedoch darin, dass sie über die einfache Beschreibung des Verlaufs einer Stadtführung hinaus vielmehr das sichtbar und begreifbar macht, was in Mendel Singer vor sich geht, wie er das amerikanische Paradies wahrnimmt. Mendel Singer hat das Gefühl, in eine brennende Hölle geraten zu sein. Seine innere Zerrissenheit wird durch das Wortfeld des Feuers sinnlich fassbar gemacht: Der lederne Sitz brannte unter Mendels Körper, wie ein heißer Ofen […] Er trug heimatliche Galoschen aus Gummi an den schweren Stiefeln, und seine Füße brannten wie in einem offenen Feuer. Krampfhaft zwischen die Knie geklemmt hatte er seinen Regenschirm, dessen hölzerner Griff heiß war und nicht anzufassen, als wäre er aus rotem Eisen. Vor den Augen Mendels wehte ein dicht gewebter Schleier aus Ruß, Staub und Hitze. Er dachte an die Wüste, durch die seine Ahnen vierzig Jahre gewandert waren. Aber sie waren wenigstens zu Fuß gegangen, sagte er sich. Die wahnsinnige Eile, in der sie jetzt dahinrasten, weckte zwar einen Wind, aber es war ein heißer Wind, der feurige Atem der Hölle. Statt zu kühlen glühte er 831 (ebd). Ebenfalls ausführlich werden die physischen und psychischen Einwirkungen dieser brütenden Hitze auf Mendel Singer beschrieben. Die Muskeln seines Angesichts waren erstarrt. Er hätte lieber geweint wie ein kleines Kind. Er roch den scharfen Teer aus dem schmelzenden Asphalt, den trockenen und spröden Staub in der Luft, den ranzigen und fetten Gestank aus Kanälen und Käsehandlungen, den beizenden Geruch von Zwiebeln, den süßlichen Benzinrauch der Autos, den fauligen Sumpfgeruch aus 831 Hervorhebung v. mir 2. 3 Zum unheimlichen Leben der Familie Mendel Singer … 225 Fischhallen, die Maiglöckchen und das Chloroform von den Wangen seines Sohnes. Alle Gerüche vermengten sich im heißen Brodem, der ihm entgegenschlug, mit dem Lärm, der seine Ohren erfüllte und seinen Schädel sprengen wollte. Bald wußte er nicht mehr, was zu hören, zu sehen, zu riechen war. Er lächelte immer noch und nickte mit dem Kopfe. Amerika drang auf ihn ein, Amerika zerbrach ihn, Amerika zerschmetterte ihn. Nach einigen Minuten wurde er ohnmächtig 832 (JRW 5, 74). An dieser Textpassage lässt sich ablesen, dass Mendel Singer das neue Leben im ›amerikanischen Paradies‹ als eine Wanderung durch die Wüste, als eine brennende Hölle wahrnimmt - in Anlehnung an das biblische Motiv der Flucht des hebräischen Volkes aus der ägyptischen Sklaverei in die Wüste und seine Suche nach dem Gelobten Land. Die Glut der amerikanischen Hitze, der betäubende Lärm der ›Streets‹ und die Gerüche der amerikanischen Stadtviertel dringen auf Mendel Singer in einem synästhetischen Durcheinander ein. Daher ist es wenig verwunderlich, weshalb er in Ohnmacht fällt. Das Ohnmächtig-Werden enthüllt die geheime Sprache von Mendel Singers Unbewusstem. Der ohnmächtig gewordene Jude ist auf der Suche nach einem Anderswo und einem Anderen: die Suche nach Differenz. Mendel Singers Sinne geraten so durcheinander, dass er sich selbst fremd vorkommt. Nach der Wiederbelebung blickt er in einen Spiegel, als ob er sein körperliches und geistiges Schema nach etwas überprüfen will. Er „glaubte im ersten Augenblick, Bart und Nase gehörten einem andern. Erst an seinen Angehörigen, die ihn umringten, erkannte er sich selbst wieder“ 833 (ebd). Das Spiegelbild, durch das Mendel Singer die Einheit seines gebrochenen Ich psychisch zu rekonstruieren sucht, verstärkt hingegen das Gefühl der Ich-Dissoziation in ihm. Der Anblick des anderen Ich - seiner Angehörigen, die ihn umgeben, verhilft ihm zu einer Art Selbstfindung. Mendel Singers Erfahrung des Unheimlichen, der Spaltung des Selbst, nimmt die Form einer Identitätskrise an. Ihm fällt es äußerst schwer, sowohl das Bild seines Selbst als auch das seiner Familie (Deborah, Mirjam, Schemarjah/ Sam, Mac) wiederzuerkennen. Mendel Singers erkennt die Fragmentierung seines Selbst: Ist das noch meine Familie? Bin ich noch Mendel Singer? Wo ist mein Sohn Menuchim? Es war ihm, als wäre er aus sich selbst herausgestoßen worden, von sich selbst getrennt, würde er fortan leben müssen. Es war ihm, als hätte er sich selbst in Zuchnow zurückgelassen, in der Nähe Menuchims […] Schon war er einsam, Mendel Singer: schon war er in Amerika… 834 (JRW 5, 75) Mendels innere Spaltung spiegelt - metonymisch oder metaphorisch gesehen - die Spaltung einer ganzen Familie wider. 835 Die Erzählerfigur lässt aber 832 Hervorhebung v. mir 833 Hervorhebung v. mir. 834 Hervorhebung v. mir. 835 Vgl. Hans-Jürgen Blanke, Joseph Roth, Hiob: Interpretation von Hans-Jürgen Blanke, München: Oldenburg 1993, S. 71. 2. Unheimliches Leben: zu den Erscheinungsformen der Marginalität … 226 diese Spaltung der Familie Singer als ein Schamgefühl bei der Ankunft erscheinen. So heißt es im zweiten Teil des Buches, dass Mendel Singer „nach einigen Monaten in New York zu Hause war“ (JRW 5, 78). Ja, er war beinahe heimisch in Amerika! Er wußte bereits, daß old chap auf amerikanisch Vater hieß und old fool Mutter, oder umgekehrt. Er kannte ein paar Geschäftsleute aus der Bowery, mit denen sein Sohn verkehrte, die Essex Street, in der er wohnte, und die Houston Street, in der das Kaufhaus seines Sohnes lag, seines Sohnes Sam. Er wußte, daß Sam bereits ein American boy war, daß man good bye sagte, how do you do und please, wenn man ein feiner Mann war, daß ein Kaufmann von der Grand Street Respekt verlangen konnte und manchmal am River wohnen durfte, an jenem River, nach dem es auch Schemarjah gelüstete. Man hatte ihm gesagt, daß Amerika God´s own country hieß, daß es das Land Gottes war, wie einmal Palästina, und New York eigentlich the wonder city, die Stadt der Wunder, wie einmal Jerusalem. Das Beten dagegen nannte man service und die Wohltätigkeit ebenso. […] (JRW 5, 76) Aber Mendel Singers Wissen über die amerikanischen Verhältnisse geht nicht über die Klichees des normalen Ausbzw. Einwanderers hinaus. Er erlebt und schildert die amerikanische Gesellschaft aus der Perspektive eines Passagiers, der die sogenannte ›erste Klasse‹ nicht bewohnt, sondern sich dort lediglich ›eingenistet‹ hat. Denn das Leben, das er und seine Familie dort in der vermeintlichen ›Welt der ersten Klasse‹ führen, kann keineswegs als erstklassig bezeichnet werden. Obgleich Mendel Singer des Englischen in einer gehobenen Variante zwar nicht mächtig ist, hat er sich dennoch im Laufe der Zeit Bruchstücke dieser Sprache angeeignet, die sich mit seinen Jiddischkenntnissen dialogisch vermischt haben und ihn in die Lage versetzen, zumindest zu kommunizieren und sich auszutauschen. Telse Hartmann stellt indes fest, dass Mendel Singer kein Englisch spreche. 836 ›Um zu lernen, ist niemand zu alt‹, pflegt man formelhaft zu betonen. Es wäre jedoch illusorisch, von Mendel Singer - in seinem Alter - zu erwarten, dass er das Englische beherrscht. Man sollte auch nicht die Tatsache aus den Augen verlieren, dass das Erlernen einer Fremdsprache eine beträchtliche psychisch-affektive Stabilität zur Voraussetzung hat. Im jüdischen New Yorker Ghetto durchleben Mendel Singer und die anderen Familienangehörigen einen Zustand psychischer Zerrissenheit. Es ist diese Zerrissenheit, die dafür verantwortlich ist, dass er den Kontakt zu seiner Umwelt und seinen Mitmenschen aufkündigt. Wie kann man von einem psychisch gestörten Einwanderer erwarten, dass er die Sprache des Aufnahmelandes lernt oder beherrscht, zumal in Joseph Roths Hiob-Roman nicht die Rede ist von der Existenz von Strukturen, die Einwanderern die Eingliederung in die amerikanische Gesellschaft erleichtern sollen - weder im Herkunftsnoch im Aufnahmeland. 836 Vgl. Telse Hartmann, Kultur und Identität (Anm. 32), S. 154. 2. 3 Zum unheimlichen Leben der Familie Mendel Singer … 227 Das Schicksal der auswandernden Figuren aus Martin Pollacks Roman Kaiser von Amerika könnte in diesem Zusammenhang dialogisch zum Vergleich herangezogen werden. Der Roman handelt unter anderen von der Desillusion zahlreicher Auswanderer, die Europa mit Träumen von einem Leben im amerikanischen Überfluss verließen. 837 Die Beschäftigungsverhältnisse und die Lebensbedingungen in der erträumten ›Neuen Welt‹ sprechen jedoch eine völlig andere Sprache. Viele Slowaken finden Beschäftigung in Gruben und Hüttenwerken in Pennsylvania, wo sie für niedrige Löhne und unter gefährlichen Bedingungen malochen. Sie werden in Massenquartiere gepfercht, dunkle, stickige Löcher, die Arbeitsbedingungen sind hart und unfallsträchtig, der Lohn für einen zwölfstündigen Arbeitstag beträgt in der Regel einen Dollar. Das erscheint ihnen anfangs ein Vermögen im Vergleich zu dem, was sie zu Hause verdienen oder hin und wieder von den Eltern zugesteckt bekommen. 838 Martin Pollack zufolge waren in Amerika viele Auswanderer „unerwünschte Fremde“. 839 Die am Auswanderungsgeschäft beteiligten Agenten und Schifffahrtsagenturen speisten die Auswanderer mit leeren Versprechungen ab. Martin Pollack veranschaulicht dies am Beispiel der Figur Mendel Beck. - Ein fünfundzwangzigjähriger wehrfähiger junger Mann aus den Karpaten, Flickschuster von Beruf. 840 Jahrelang habe er eifrig gespart, Annoncen in Zeitungen zerpflückt und sich beraten lassen. Er begibt sich endlich auf den Leidensweg nach Amerika, macht dabei die Nervenzerreißprobe unendlichen Umsteigens und Wartens durch. 841 Im Gegensatz zur neutralen Erzählerfigur aus Roths Hiob-Roman, der die Überfahrt des Atlantischen Ozeans aus einer romantischen Perspektive schildert, vermittelt der homodiegetische Erzähler Mendel Beck in Kaiser von Amerika ein kritisches Bild der beschwerlichen Überfahrt. Die Tatsache, dass die ‘Suevia’ 600 Zwischendeckpassagieren, wie beim Stapellauf vorgesehen, fast doppelt so viele befördert, lässt die Zustände erahnen, die Mendel Beck und seine Begleiter im Zwischendeck vorfinden. Menschen verschiedenster Nationen, Religionen und Sprachen, die sich untereinander nur mit Mühe verständigen können, auf engstem Raum zusammengepfercht, Frauen, Männer, Kinder bunt durcheinander, lediglich Waschräume und Toiletten sind getrennt. Nach kurzer Zeit befinden sie sich in einem unbeschreiblichen Zustand. Beck muss sich überwinden, das Essen hinunterzuwürgen, das 837 „Sie träumen von einem besseren Leben in Amerika, von gutem Lohn […]“ Martin Pollack, Kaiser von Amerika (Anm. 804), S. 19. 838 Ebd. S. 18f. 839 Ebd. S. 22. Was unter der Bezeichnung ›unerwünschte Fremde‹ in damaligen amerikanischen Verhältnissen zu verstehen war, wird in dieser Arbeit - in Anlehnung an Martin Pollack - in der Fußnote 844 erläutert. 840 Ebd. S. 24. 841 Vgl. ebd. S. 22. 2. Unheimliches Leben: zu den Erscheinungsformen der Marginalität … 228 ein Mitglied der Besatzung aus einem riesigen Kessel in seine blecherne Menageschale schöpft, die er vor der Abfahrt in Hamburg gekauft hat. 842 Einige Zeilen weiter heißt es: In den niedrigen, schlecht beleuchteten Räumen, voll gestellt mit Stockbetten, zwischen denen nur schmale Gänge frei bleiben, stinkt es nach menschlichen Ausdünstungen, ungewaschenen Kleidern und Körpern, verdorbenen Lebensmitteln, Erbrochenem, Urin und Exkrementen. 843 Der homodiegetische Erzähler in Martin Pollacks Roman betont, dass Angehörige der amerikanischen Gesellschaft den „ungehinderten Zustrom von Einwanderern aus den ärmeren Regionen Europas“ 844 als eine Gefahr „einmal für die Demokratie in den Vereinigten Staaten im allgemeinen, insbesondere aber für ihren eigenen Wohlstand und ihre Sicherheit“ 845 sahen. Paradox ist aber die Binsenwahrheit, dass die amerikanische Gesellschaft die billige und anspruchslose Arbeitskraft aus Europa damals dringend benötigte, um die schweren (Bau-)Arbeiten in den Gruben und beim Eisenbahnbau zu verrichten. 846 Es sei dazu angemerkt, dass es nicht genügte, sich nach Amerika einzuschiffen. Jeder Einwanderer musste auf Castle Garden 847 die Quarantäne, „Untersuchungen und Befragungen über sich ergehen lassen, um schließlich für gesund und kräftig genug befunden zu werden, in Amerika als ungelernte Arbeitskräfte zu schuften“. 848 Aus den Ausführungen Pollacks geht hervor, dass die amerikanische Auswanderungspolitik ambivalent war. Einerseits brauchte man billige Arbeiter aus armen Ländern Europas, um die amerikanische Industrie in Schwung zu halten, andererseits wurde versucht, diese Ar- 842 Ebd. S. 26. 843 Ebd. S. 27. 844 Ebd. S. 32. Martin Pollack gibt Einsicht in die Vereinigung der „sogenannten nativist, Nativisten, angelsächsische, in Amerika geborene Protestanten, in Vereinigungen, die es als ihre Aufgabe betrachten, den Zustrom unerwünschter Elemente aus Europa, Fremder, einzudämmen. Unerwünschte Fremde sind für sie alle, die anders sind als sie, andere Sitten mitbringen, anders denken, anders beten, anders reden, anders fluchen. Iren und Italiener, Katholiken und Juden - manche nativists sind davon überzeugt, dass der Papst in Rom ein Komplott schmiedet, um Amerika zu übernehmen. Später richten sich ihre Vorurteile auch gegen die meist ungebildeten und mittellosen Zuwanderer aus Osteuropa, egal welcher Nationalität oder Religion sie angehören. Amerika den Amerikanern.“ Ebd. S. 32. Kursivschrift wie i.O. 845 Ebd. S. 31f. 846 Vgl. ebd. S. 34. 847 „Castle Garden, eine alte Befestigungsanlage auf einer Insel am südlichen Zipfel von Manhattan, wo sich heute der Battery Park befindet, wurde 1855 als Einwanderungsstation eingerichtet. Allerdings erwies sich die Anlage schon bald als zu klein, um den Ansturm aufzunehmen, weshalb sie im April 1890 geschlossen wurde. Im Jänner 1892 wird dann das großzügiger angelegte, moderner eingerichtete Immigration Center in Ellis Island eröffnet. Die Prozedur bleibt im Prinzip die gleiche.“ Ebd. S. 33. 848 Ebd. S. 34. 2. 3 Zum unheimlichen Leben der Familie Mendel Singer … 229 beiter von der Teilhabe am Wohlstand fernzuhalten, zu dessen Entstehung sie jedoch in beträchtlichem Maße beitrugen. Unter solchen Konstellationen war es kaum von Belang, ob der Einwanderer ›Harvard Englisch‹ konnte oder nicht. Dies sind Aspekte, die in Joseph Roths Hiob-Roman zu kurz kommen; vor diesem Hintergrund lassen sich die gebrochenen Englischkenntnisse der Familie Mendel Singer aber besser verstehen. Sich an eine Gesellschaft anpassen bedeutet nicht, dass ein Subjekt seine sprachlichen Kompetenzen und all die kulturellen Erfahrungen, die es gemacht hat, einfach aufgeben kann. Zweifelsohne muss es Kompromisse eingehen, sich zu bestimmten Spielregeln bekennen, um ›akzeptiert‹ werden zu können. Dennoch stellen die früheren Erfahrungen lebenswichtige Ressourcenpotenziale dar, aus denen das Subjekt und die Aufnahmegesellschaft schöpfen können, vor allem wenn die Aufnahmegesellschaft Strukturen zur Förderung mitgebrachter Fähigkeiten auf die Beine stellt und nicht einbahnstraßenartig das Erlernen des Englischen zur Richtschnur der Anerkennung erhebt. Deswegen verwundert es kaum, warum die ostjüdischen New Yorker aus dem Roman Hiob es vorziehen, unter sich zu bleiben. Telse Hartmann untersucht die Krise, die Mendel Singer in Amerika durchmacht, als eine bewusst inszenierte Widerstandsstrategie. Sie unterscheidet im Roman Hiob zwei sich überkreuzende Zeitlichkeiten: die vertikale diasporische Zeit einerseits, die nationale, moderne, horizontale Zeit andererseits. Beide Zeitlichkeiten, vertikal und horizontal, konkurrieren miteinander und stehen in einer paradoxen Beziehung zueinander. 849 Die Zeit der Nation stellt eine radikale Unterbrechung der jüdischen Zeit der Diaspora dar. In der Durchsetzung der Militärpflicht etwa greift sie in das Leben ihrer Mitglieder ein, ohne Rücksicht auf diejenigen, die sich einem anderen Rhythmus und einem anderen Lebensplan unterworfen haben. […] Die nationale Zeit lässt die jüdische Zeitwahrnehmung aussetzen - sie bringt sie zum ‘Schweigen’- und macht sich im weiteren Verlauf die Lebenszeit der beiden Juden zur ‘Beute’. An Jonas, der sich vom russischen Militär einziehen lässt, exemplifiziert der Roman eine östliche Assimilationsgeschichte, an Schemarjah demgegenüber eine westliche. 850 Laut Telse Hartmann ist Mendel Singer die einzige Figur im Roman, die bewusst gegen die moderne repressive Zeitlichkeit Widerstand leistet. 851 Mendel Singer versucht, eine Assimilation an die moderne Zeit der Nation zu vermeiden und die religiöse Temporalität der Diaspora in Amerika zu bewah- 849 Vgl. Telse Hartmann, Kultur und Identität (Anm. 32), S. 146f., 150. 850 Ebd. S. 150-151. 851 Vgl. ebd. S. 153. 2. Unheimliches Leben: zu den Erscheinungsformen der Marginalität … 230 ren, indem er sich mit wachsender Ausschließlichkeit an der Vergangenheit orientiert. 852 Hartmanns These lässt sich freilich in Zweifel ziehen. Denn es muss daran erinnert werden, dass Mendel Singer im Schtetl Zuchnow auch von einer Amerika-Euphorie übermannt wurde, zumal da er und seine Gattin sich durch die Auswanderung erhofften, Mirjams Liebschaften mit den Soldaten der russischen Armee ein Ende zu setzen. Von daher übernimmt Mendels „verstärkte Rückwendung zur Vergangenheit“ 853 , die Telse Hartmann als eine von Mendel Singer bewusst inszenierte und artikulierte Widerstandsstrategie deutet, 854 vielmehr Züge der Desillusion an. Erst als sich das Leben der Singers in Amerika anders gestaltet als erhofft, reagiert Mendel mit passivem persönlichem Widerstand. Die Zeit unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg, in der die Familie Singer nach Amerika auswandert, ist eine Epoche, in der die Rassentrennung (Racial Segregation) die amerikanische Gesellschaft prägte. Die Ära der großen afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegungen, die sich in den Zwanzigern und Dreißigern gegen den anhaltenden Rassismus und die soziale Unterdrückung auflehnten, bahnte sich erst an. Gerade die Großstadt Chicago, in der sich die Familie Singer niedergelassen hat, bildete einen Hort institutionalisierter Diskriminierung, wo eine beträchtliche Anzahl von Afroamerikanern, Indianern und Südamerikanern perspektivlos in Ghettos krepierte. 855 Ein Großteil der Romanhandlung spielt sich zwar in Amerika ab, aber, ethnisch betrachtet, hauptsächlich im jüdischen Ghetto. Telse Hartmann schildert die Lebensformen von Mendel Singers New Yorker Ghetto-Mitbewohnern am Beispiel der traditionellen chassidischen Gebetsrituale, des Lebens am Hof des Wunderrabbiners sowie der Pflege der jiddischen Sprache, von Tanz und Rausch. 856 Sie sieht im Ghetto einen transitorischen Raum, weniger einen Raum der Sesshaftigkeit, und in den (ost-)jüdischen Subjekten, die diesen Raum bewohnen, transitorische Subjekte. 857 Sie leben demzufolge in einem ›imaginären‹ Raum und begreifen sich keineswegs als sesshafte Bürger. Telse Hartmann belegt dies anhand einer Textstelle, in der sich Singers Ghetto- Mitbewohner mit Hilfe biblischer Erzählungen bemühen, bei dem von Schicksalsschlägen gebeutelten Mendel eine lebensbejahende Haltung her- 852 Ebd. S. 155. 853 Ebd. S. 153. 854 Ebd. 855 Martin Pollack erwähnt zum Beispiel eine Protestkundgebung revolutionärer Arbeiter am Haymarket Square in Chicago am 4. Mai 1886, wobei ein Unbekannter eine Rohrbombe in die Reihen der Polizei warf, die darauf wahlos in die Menge der Demonstranten schoss. Es gab zahlreiche Tote, Gefangene und zum Tode Verurteilte. Vgl. Martin Polack, Kaiser von Amerika (Anm. 804), S. 32f. Diese Ausschreitungen sind in die Geschichte als „Haymarket- Massaker“ eingegangen (ebd. S. 33). 856 Vgl. Telse Hartmann, Kultur und Identität (Anm. 32), S. 138. 857 Vgl. ebd. S. 139. 2. 3 Zum unheimlichen Leben der Familie Mendel Singer … 231 vorzurufen. 858 Hartmann übersieht das Verhältnis dieses ostjüdischen Ghettos zu den anderen ethnischen und kulturellen Minderheiten der USamerikanischen Gesellschaft. Wenn Telse Hartmann auch zu verstehen geben will, dass die im Ghetto oder Schtetl lebenden und in Roths Texten dargestellten Juden nach keiner irgendwo unveränderlich verankerten Tradition leben, sondern ihr Leben alltäglich neu erfinden müssen, 859 und darauf hinweist, dass die Signifikanten der jiddischen Sprache in eine produktive Beziehung mit jenen der jeweiligen Aufnahmegesellschaften treten, 860 wird das Amerika-Bild, wie es auch in Roths Hiob-Roman dominiert, nicht hinterfragt. Die Marginalität oder Zentralität des jüdischen New Yorker Ghettos wird zum springenden Punkt im Text. Die anderen marginalen Räume der amerikanischen Gesellschaft werden im Text heruntergespielt. Obschon die Indianer, die Nachkommen afrikanischer Sklaven, die spanischen und portugiesischen Migranten aus den süd- und mittelamerikanischen Nachbarländern sowie die unzähligen Vertriebenen und Ausgewiesenen, die den europäischen Kontinent für ein würdevolles Leben in Amerika verließen, Erwähnung finden, erweist sich Amerika als ein Raum der Marginalisierten, innerhalb dessen es aber eine Hierarchie der Marginalität gibt. Die Darstellungsweise im Roman Hiob macht das jüdische New Yorker Ghetto bzw. die europäischen Auswanderer zum Zentrum, zum transzendentalen Signifikat, zum kulturell ›reinen, unbefleckten Ort‹. Das New Yorker jüdische Ghetto in Joseph Roths Hiob wird also als ein kulturell homogener Raum geschildert, eine Darstellungsweise, die Bernd Brunner in seinem Buch Nach Amerika, das sich der Auswanderung der Deutschen nach Amerika vom 19. bis zum 20. Jahrhundert widmet, auf den Kopf stellt. Es ist unbestreitbar, dass der Leser in Hiob nicht mit ›deutschen Juden‹, sondern mit ›russischen Juden‹ konfrontiert ist. Dass es sich im Roman Hiob aber um russische und nicht um deutsche Juden handelt, spielt keine entscheidende Rolle. Denn, wie Telse Hartmann in ihrer Arbeit sichtbar macht, dekonstruieren Roths Texte jede Auffassung von Identität als Präsenz. 861 In Roths Texten ist eine deplatzierende Kraft am Werk, die jegliche Auffassung von Identität als etwas von vornherein Gegebenes unterminiert. 862 So wird in Hiob die Familie Singer als eine russisch-jüdische Familie konstruiert, in Das falsche Gewicht wird jedoch eine gleichnamige Familie Singer als eine deutsch-jüdische Familie dargestellt (vgl. JRW 6, 208f.). Bemerkenswert ist auch, dass die Familie Singer in Joseph Roths Hiob aus soziopolitischen Gründen nach Amerika auswandert und wie Sam die 858 Vgl. ebd. S. 135, 136, 137, 138f. 859 „Was in den östlichen und westlichen jüdischen Diasporagemeinden stattfindet, ist ein kontinuierlicher Prozess der Erfindung von dezidiert jüdischen Traditionen, die allerdings von intensivem Kontakt mit der jeweiligen mainstream Kultur geprägt sind.“ Ebd. S. 140. Kursivschrift ist eine Hervorhebung i.O. 860 Vgl. ebd. S. 139f. 861 Vgl. ebd. 862 Vgl. ebd. 2. Unheimliches Leben: zu den Erscheinungsformen der Marginalität … 232 amerikanische Staatsbürgerschaft annimmt, sich aber nicht von ihrem russisch-jüdischen kulturellen Hintergrund verabschieden kann. Eine entessentialisierte Identitätsauffassung ist in Bernd Brunners Text am Werk. Brunner beleuchtet besonders den New Yorker und Chicagoer Raum in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Ihm zufolge kann bei den deutschen Juden von Homogenität ebenso wenig die Rede sein wie bei den deutschen Christen. 863 Problematisiert wird auch die Tatsache, dass die meisten aus Deutschland nach Amerika kommenden Juden, „‘[…] sich von selbst absonder[n], und keine Deutsche sein wollen, obgleich sie diese Sprache am richtigsten sprechen’“. 864 Besonders auffallend ist bei Brunner dessen Vorliebe für die Bezeichnung ›deutsche Juden‹. Damit meint er undifferenziert all jene Juden, die aus dem deutschsprachigen Raum stammen. Brunners Verwendung dieser Bezeichnung legt nahe, dass die jüdischen Gemeinschaften in Amerika als kulturelle Räume betrachtet werden, keine ›reinen Orte‹, sondern von anderen kulturellen Einflüssen durchdrungen sind. Nicht nur das jüdische Brauchtum färbt deren Alltag, sondern zum Beispiel auch die deutsche, englische und sonstige Sprache sowie die deutschen und amerikanischen Essgewohnheiten. Die Bezeichnung ›deutsche Juden‹ gibt außerdem zu erkennen, dass der Alltag von Deutschen in Amerika auch von jüdischen Kulturkomponenten durchsetzt war. Brunner untergräbt die im verlassenen Deutschland damals gepflegten Grenzziehungspraktiken zwischen Deutschen und Juden, zwischen Bürgern erster und zweiter Klasse, obwohl es sogar in Deutschland Beweise genug gab, dass beide kulturellen Gemeinschaften trotz ihrer Differenzen in einem unhintergehbaren Interdependenzverhältnis standen. Der Verfasser verwendet gezielt auch die Bezeichnung „europäische Juden“ 865 , um eine Grenzverwischung zu signalisieren. Anders ausgedrückt, was auf die deutschsprachigen Juden zutraf, galt auch für die Juden aus anderen europäischen Ländern - England, Irland, Frankreich, Polen, Ungarn, Österreich, Russland oder der Schweiz -, die sich für ein ›neues‹ Leben in Amerika entschlossen. Brunner sprengt die Illusion der kulturellen Reinheit. Für die Neueinwanderer war Amerika nicht nur ein Aufnahmeland, es verwandelte sich auch in ein Problemgebiet. Brunner macht auf den Konflikt zwischen West- und Ostjuden aufmerksam, der nach Amerika eingeschleppt wurde: „Das Verhältnis zwischen den europäischen Juden war nicht ohne Konflikte, viele schauten auf die ‘Ostjuden’ herab, und in vielen Fällen gab es zwei oder mehr Synagogen, weil der Gottesdienst getrennt abgehalten wurde.“ 866 Joseph Roths Essay 863 Vgl. Bernd Brunner, Nach Amerika (Anm. 700), S. 159f. Näheres ist ebenda zu erhalten. 864 Ebd. S. 162. 865 Ebd. S. 163. 866 Ebd. Brunner erwähnt sowohl das konfliktgeladene „Verhältnis zwischen den früher eingewanderten Deutschen und den Neuankömmlingen“ (ebd. S. 165f) als auch die „starke[n] Spannungen zwischen den alteingesessenen New Yorkern und den Neueingewanderten“. Ebd. S. 166. 2. 3 Zum unheimlichen Leben der Familie Mendel Singer … 233 Juden auf der Wanderschaft gibt einen Einblick in eine Erscheinungsform dieses Konfliktes in der imperialen Stadt Wien des 20. Jahrhunderts: 867 Die Leopoldstadt ist ein armer Bezirk. Es gibt keine Wohnung, wo sechsköpfige Familien wohnen. Es gibt kleine Herbergen, in denen fünfzig sechzig Leute auf dem Fußboden übernachten. Im Prater schlafen die Obdachlosen. In der Nähe der Bahnhöfe leben die ärmsten aller Arbeiter. Die Ostjuden leben nicht besser als die christlichen Bewohner dieses Stadtteils. Sie haben viele Kinder, sie sind an Hygiene und Sauberkeit nicht gewohnt, und sie sind gehasst. Niemand nimmt sich ihrer an. Ihre Vettern und Glaubensgenossen, die im ersten Bezirk in den Redaktionen sitzen, sind ‘schon’ Wiener, und wollen nicht mit Ostjuden verwandt sein oder gar verwechselt werden. 868 Nicht zu übersehen ist die Stellung der Frau im jüdischen Ghetto. Das jüdische Ghetto stellt sich als eine patriarchale Ordnung dar, in der die Männer eine zentrale übergeordnete, die Frauen jedoch eine subalterne Stellung einnehmen. Dies lässt sich in der Art und Weise nachprüfen, wie sich Mendel Singer über Vega, die Frau von Sam, äußert: „Blond ist sie und sanft, mit blauen Augen, die Mendel Singer mehr Güte als Klugheit verraten. Mag sie dumm sein! Frauen brauchen keinen Verstand, Gott helfe ihr, amen! “ (JRW 5, 76). Die Frau wird als defizitäres, dem Mann an Verstand unterlegenes Wesen verstanden. Diese Haltung von Ghetto-Männern gegenüber ihren Frauen verschleiert eine gewisse machtpolitische Unruhe. Die Idee des Vorhanden-seins einer patriarchalen Unruhe findet eine Bekräftigung in der Analyse von Bernd Brunner. In der ›Neuen Welt‹ angekommen, wurden die Auswanderer mit einer anderen Wirklichkeit konfrontiert. Die klimatischen Verhältnisse und die Sitten stachen von denen in Europa ab. 869 Als Bedrohung empfanden viele eingewanderte Deutsche „die freiere gesellschaftliche Stellung der Frauen und die abweichende Rollenverteilung. Dem Stereotyp der deutschen Frau als häuslich, fleißig und pflichtbewußt stand jenes der um ihr Äußeres besorgten und verwöhnten Amerikanerin gegenüber.“ 870 Sogar unter den Frauen selbst herrscht in Roths Roman kein ›Frieden auf der ganzen Linie‹. So beklagt sich Deborah darüber, dass ihre Schwiegertochter Vega im Luxus lebt (vgl. JRW 5, 77). Es sind ähnliche machtpolitische Verhältnisse, die Simone de Beauvoir Das Andere Geschlecht zu der Feststellung führen, dass die Frauen über keine Handlungsfähigkeit und -macht verfügen: 867 Auch Roths Fragment gebliebener Roman Erdbeeren sowie der Essay Juden auf der Wanderschaft handeln u.a. von diesem Konflikt. 868 Joseph Roth, Juden auf der Wanderschaft, in: JRW, Band 2, S. 827-902, hier S. 857. Joseph Roth macht hiermit auf die nicht reibungslosen Verhältnisse zwischen West- und Ostjuden nicht nur in der damaligen Donaumonarchie, sondern vor allem auch europaweit aufmerksam. Näheres über die kümmerlichen Verhältnisse des Ostjudentums in Europa ist ebenda zu erhalten. 869 Vgl. Bernd Brunner, Nach Amerika (Anm. 700), S. 102f. 870 Ebd. S. 104. 2. Unheimliches Leben: zu den Erscheinungsformen der Marginalität … 234 Sie haben keine eigene Vergangenheit, Geschichte oder Religion. Sie bilden im Gegensatz zu den Proletariern keine Arbeits- und Interessengemeinschaft. Zwischen ihnen gibt es nicht einmal das räumliche Miteinander, das die amerikanischen Schwarzen, die Juden in den Gettos, die Arbeiter von Saint-Denis oder die der Renault-Werke zu einer Gemeinschaft macht. Sie leben verstreut unter den Männern, sind durch Wohnung, Arbeit, ökonomische Interessen und soziale Stellung enger mit bestimmten Männern - sei es der Vater oder der Ehemann - verbunden als mit den anderen Frauen. Als bürgerliche Frauen, sind sie solidarisch mit den bürgerlichen Männern und nicht mit den Frauen des Proletariats, als Weiße mit den weißen Männern und nicht mit den schwarzen Frauen. 871 Deborah, Frau Skowronek, Vega und Mirjam leben verstreut unter den Männern in jüdischer männlich dominierter Ghetto-Ordnung. Keine dieser Frauen versucht, in Kontakt etwa mit schwarzamerikanischen oder indianischen Frauen zu treten. Im ganzen Text werden die Stimmen von Indianerinnen, Schwarz- und Südamerikanerinnen verdrängt. Diese Frauen besetzen eine subalternere Stellung im Raum der Marginalität, als ihn die Frauen im Hiob- Roman verkörpern. In einer solchen Konstellation bilden die ausgewanderten jüdisch-christlich-europäischen Frauen aus Europa eine Art Frauenelite. Im Folgenden wird am Beispiel einer Frühstücksszene veranschaulicht, wie sich die Familie Singer ihr Stück vom amerikanischen ›Wohlstand‹ aneignet. 2.3.5.3 (Bananen-)Konsum als politischer Signifikant des gesellschaftlichen Aufstiegs? Um seinen gesellschaftlichen Aufstieg zu zelebrieren, lädt Schemarjah/ Sam seinen Vater Mendel Singer zum „breakfast“ ein (JRW 5, 79). Besonders frappant ist dabei jener Augenblick, in dem Sam seinem Vater eine Banane zum Essen anbietet: „[E]r schlug sich auf die Stirn, als ob er Mac wäre, und sagte: ‘Ach so! Ich habe vergessen! Aber eine Banane wirst du essen, Vater! ’ Und er ließ dem Vater eine Banane bringen“ (JRW 5, 80). Merkwürdig ist die räumlich-zeitliche marginale Stellung dieser Passage im Gesamttext. Diese marginale Stellung macht die Banane indes zum springenden Punkt. Die Banane, die Sam seinen Vater konsumieren lässt, wird nicht etwa angeboten, um den Hunger des Vaters zu stillen. Die Frucht, Banane, fungiert vielmehr als Signifikant einer gesellschaftlichen Stellung. Dieser Signifikant wird strategisch vom Sohn zur Schau gestellt, um nicht nur den leiblichen Vater, sondern vor allem auch sich selbst und die ganze Gesellschaft vom erkämpften gesellschaftlichen Status zu überzeugen. Sam/ Schemarjah konsumiert und lässt gleichzeitig konsumieren. Dadurch baut er soziales bzw. symbolisches Kapital auf. Dies geht aus der Art und Weise hervor, wie Mendel Singer die 871 Simone de Beauvoir, Das Andere Geschlecht (Anm. 547), S. 15. 2. 3 Zum unheimlichen Leben der Familie Mendel Singer … 235 Banane genießt und seinen Sohn feiert. Er sieht in ihm künftighin einen „Boß“ (JRW 5, 80) bzw. einen Mann aus der vornehmen Gesellschaft. Die Familie Mendel Singer lernt mit ihrer neuen sozialen und sprachlichen Umwelt umzugehen. Jeder macht sich mit der amerikanischen Umgangssprache vertraut, die althergebrachte Lebensweise der Familie verändert sich. Debohrah war schon zehnmal im Kino und dreimal im Theater. Sie hat ein seidenes, dunkelgraues Kleid. Sam hat es ihr geschenkt. Eine große goldene Kette trägt sie um den Hals, sie erinnert an eines der Lustweiber, von denen manchmal die heiligen Schriften erzählen. […] Mirjam war ein nobles Fräulein, mit Hut und Seidenstrümpfen. Brav war sie geworden. Geld verdiente sie auch. Mac gab sich mit ihr ab, besser Mac als die Kosaken (JRW 5, 77-78). Ein Leben nach traditionellen jüdischen Vorschriften kommt bei der einst frommen Familie Singer unter diesen Umständen der amerikanischen „prosperity“ (JRW 5, 77) nicht mehr infrage. „Früher hatte er von einem Samstag zum andern gelebt, jetzt lebte er von einem Sonntag zum nächsten“ (JRW 5, 92). Aber dieses Leben im ›amerikanischen Paradies‹ hat auch seine Schattenseiten. Denn trotz des relativen Wohlstands findet Deborah immer einen Grund zum Jammern. „Zehn Dollar in der Woche gibt Sam. Dennoch ist Deborah aufgebracht. Sie ist ein Weib, manchmal reitet sie den Teufel“ (JRW 5, 77). Die Grenzen des genießerischen Lebens, das Deborah bisher in Amerika geführt hat, werden allmählich sichtbar. Der Augenblick der Desillusionierung muss kommen. Die Erwartungen und Träume, die sie mit Amerika verbunden hat, gehen nicht in Erfüllung, obwohl sie in einem relativen Überfluss lebt. „Sie wußte nicht genau, was ihr fehlte. Vielleicht hatte sie gehofft, in Amerika eine ganz fremde Welt zu finden, in der es möglich gewesen wäre, das alte Leben und Menuchim sofort zu vergessen. Aber dieses Amerika war keine neue Welt“ 872 (JRW 5, 78). Die Auswanderung der Familie Singer nach Amerika steht unter dem Zeichen einer Suche nach Differenz bzw. einer Suche nach einem Etwas- Anderen und einem Wo-Anders. In Amerika muss jedes Familienmitglied auf seine Art und Weise feststellen, dass das absolut Andere eine Illusion ist. Denn mitten in diesem ›amerikanischen Wohlstand‹ herrschen doch auch Verhältnisse, die an das Leben in der verlassenen ›russischen bzw. europäischen Dritten Welt‹ erinnern. Es gab mehr Juden hier als in Kluczýsk, es war eigentlich ein größeres Kluczýsk. Hatte man den weiten Weg über das große Wasser nehmen müssen, um wieder nach Kluczýsk zu kommen, das man in der Fuhre Sameschkins hätte erreichen können? Die Fenster gingen in einen finsteren Lichthof, in dem Katzen, Ratten und Kinder sich balgten, um drei Uhr nachmittags, auch im Frühling, mußte man die Petroleumlampe anzünden, nicht einmal elektri- 872 Hervorhebung v. mir. 2. Unheimliches Leben: zu den Erscheinungsformen der Marginalität … 236 sches Licht gab es, ein eigenes Grammophon hatte man auch noch nicht. Licht und Sonne hatte Deborah wenigstens zu Hause gehabt (JRW 5, 78). Die schwärmerische Darstellung der elektrisch beleuchteten amerikanischen Freiheitsstatue, die Mendel Singers Ankunft in Amerika begrüßt hat, wird hier implizit unterwandert. Deborahs Desillusionierung veanschaulicht die Erfahrung der Familie, mitten im amerikanischen Wohlstand in der Leere zu schweben bzw. im Dunkel zu tappen. Mit dem Geld kam Deborah auch hier nicht aus. Das Leben verteuerte sich zusehends, vom Sparen konnte sie nicht lassen, das gewohnte Dielenbrett verdeckte bereits achtzehnundeinhalb Dollar, die Karotten verringerten sich, die Eier wurden hohl, die Kartoffeln gefroren, die Suppen wässerig, die Karpfen schmal und die Hechte kurz, die Enten mager, die Gänse hart und die Hühner ein Nichts (ebd.). Auch in Amerika bekommt Mendel Singer das Elend mit voller Wucht zu spüren. Die Zufriedenheit trug er wie ein fremdes, geborgtes Kleid. Sein Sohn übersiedelte in die Gegend der Reichen, Mendel blieb in seiner Gasse, in seiner Wohnung, bei den blauen Petroleumlampen, in der Nachbarschaft der Armen, der Katzen und der Mäuse (JRW 5, 85). Inmitten dieses ›amerikanischen Reichtums‹ kommt sich Mendel Singer bitterarm vor. Besonders der Gedanke an den zurückgebliebenen Sohn Menuchim quält und peinigt das Paar so sehr, dass Mendel Singer mit dem Gedanken ringt heimzukehren. Das Unheimliche drückt sich in dieser ständigen Sehnsucht nach der zurückgebliebenen Heimat aus. Gerade in diesem Augenblick nimmt Deborah wahr, dass das Leben im Herkunftsland auch seine guten Seiten hatte. „Licht und Sonne hatte Deborah wenigstens zu Hause gehabt“ (JRW 5, 78). Der zurückgebliebene Menuchim wird dabei als eine dieser goldenen Seiten hingestellt (vgl. ebd.f). 2.3.6 Vom marginalen Objekt zum zentralen Subjekt: Menuchims Wunderheilung Mendel Singer erhält einen Brief, in dem es heißt, „daß Menuchim plötzlich zu reden angefangen hatte“ (JRW 5, 83). Die Prophezeiung des Rabbis soll eingetreten sein. Deborah ruft sich die Worte des Rabbis in Erinnerung. „‘Der Schmerz wird ihn weise machen, die Häßlichkeit gütig, die Bitternis milde und die Krankheit stark’“ (JRW 5, 84). Die ganze Familie jubelt. Aber die Heiterkeit der Singers ist nur von kurzer Dauer, sie schlägt plötzlich in Bitterkeit um, als sie die Nachricht erhalten, dass in Europa der Erste Weltkrieg ausgebrochen ist (vgl. JRW 5, 88). In Europa befinden sich Menuchim und Jonas. Jonas kämpft auf der Seite der russischen Streitkräfte. Auch Sam und Mac sind als amerikanische Staatsbürger in den Krieg gezogen. Mendel kommt sich wie ein Vater vor, der den Boden unter den Füßen verloren hat. 2. 3 Zum unheimlichen Leben der Familie Mendel Singer … 237 Jonas wird vom Roten Kreuz für verschollen erklärt (vgl. JRW 5, 90). Dazu kommt die unerwartete Nachricht von Sams Tod an der Front, die den Eltern einen schweren Schlag versetzt (vgl. JRW 5, 94f). Plötzlich beginnt Deborah, sich ganz langsam, mit schleichenden Fingern, die Haare zu raufen. Sie zieht eine Haarflechte nach der andern über das Gesicht, das bleich ist und ohne Regung wie aufgequollener Gips. Dann reißt sie eine Strähne nach der andern aus, fast in demselben Tempo, in dem draußen die Schneeflocken niederfallen. Schon zeigen sich zwei, drei weiße Inseln inmitten des Haars, ein paar talergroße Flecken der nackten Kopfhaut und ganz winzige Tröpfchen roten Blutes. Niemand rührt sich. Die Uhr tickt, der Schnee fällt, und Deborah reißt sich die Haare aus (ebd.). Deborah stirbt infolge dieser psychischen Krise (vgl. JRW 5, 95). Sieben Tage lang trauert Mendel Singer um seine tote Frau. Aus dem Totengebet, das er für die Seele seiner Frau spricht, ist zu entnehmen, dass das Leben des Ehepaars Singer nach wie vor unter dem Zeichen des Unheimlichen gestanden hat: Voller Not und ohne Sinn war dein Leben. In jungen Jahren habe ich dein Fleisch genossen, in spätern Jahren habe ich es verschmäht. Vielleicht war das unsere Sünde. Weil nicht die Wärme der Liebe in uns war, sondern zwischen uns der Frost der Gewohnheit, starb alles rings um uns, verkümmerte alles und wurde verdorben. Du hast es gut, Deborah. Der Herr hat Mitleid mit dir gehabt. Du bist eine Tote und begraben. Mit mir hat Er kein Mitleid. Denn ich bin ein Toter und lebe […] Ich bin nicht Mendel Singer mehr, ich bin der Rest von Mendel Singer. Amerika hat uns getötet. Amerika ist ein Vaterland, aber ein tödliches Vaterland. Was bei uns Tag war, ist hier Nacht. Was bei uns Leben war, ist hier Tod (JRW 5, 95f). Mendel Singer kommt sich selbst als lebender Toter vor. Aber ein Schicksalsschlag folgt dem nächsten. Denn kaum hat Mendel Singer seine Frau beweint, trifft eine andere niederschmetternde Botschaft ein. Seine Tochter Mirjam ist vom Wahnsinn befallen und wird in eine Irrenanstalt eingeliefert (vgl. JRW 5, 96f). Mendel Singer schottet sich von seiner Umwelt ab und stimmt lautstark einen zornigen Gesang gegen seinen Gott und dessen Weltordnung an. ‘Aus, aus, aus ist es mit Mendel Singer! ’ […] ‘Er hat keinen Sohn, er hat keine Tochter, er hat kein Weib, er hat keine Heimat, er hat kein Geld. Gott sagt: ich habe Mendel Singer gestraft. Wofür straft er, Gott? Warum nicht Lemmel, den Fleischer? Warum straft er nicht Skowronnek? Warum straft er nicht Menkes? Nur Mendel straft er! Mendel hat den Tod, Mendel hat den Wahnsinn, Mendel hat den Hunger, alle Gaben Gottes hat Mendel. Aus, aus, aus, ist es mit Mendel Singer! ’ (JRW 5, 101). 2. Unheimliches Leben: zu den Erscheinungsformen der Marginalität … 238 Mendel Singer ist nicht die einzige Figur aus Roths Texten, die aufgrund existentieller Erfahrungen gottesfeindliche Gedanken entwickelt. 873 Mithilfe solcher Gedanken sucht Mendel Singer, sich Klarheit über seine Existenzgrundlagen zu verschaffen. Er befragt und hinterfragt die Grundlage seines Lebens. Mendel Singer nimmt seine kreatürliche Misere wahr und ist im Begriff, die Thora samt Gebetsutensilien zu verbrennen. „‘Gott will ich verbrennen’“ (JRW 5, 102), schreit Mendel Singer entsetzt auf. Die Kette von (Schicksals-)Schlägen, die Mendel Singer ertragen musste, erschüttern seinen Glauben so tiefgreifend, dass er anfängt, über Gott zu lästern. ‘Gott ist grausam, und je mehr man ihm gehorcht, desto strenger geht er mit uns um. Er ist mächtiger als die Mächtigen, mit dem Nagel seines kleinen Fingers kann er ihnen den Garaus machen, aber er tut es nicht. Nur die Schwachen vernichtet er gerne. Die Schwäche eines Menschen reizt seine Stärke, und der Gehorsam weckt seinen Zorn. Er ist ein großer, grausamer Isprawnik. Befolgst du die Gesetze, so sagt er, du habest sie nur zu deinem Vorteil befolgt. Und verstößt du nur gegen ein einziges Gebot, so verfolgt er dich mit hundert Strafen. Willst du ihn bestechen, so macht er dir einen Prozeß. Und gehst du redlich mit ihm um, so lauert er auf die Bestechung. In ganz Rußland gibt es keinen böseren Isprawnik! ’ (JRW 5, 102f.). Der Mensch ist hier ein der göttlichen Allmacht ausgeliefertes Wesen. Aber Mendel Singers Gotteslästerung ist ambivalent denn, in ihr lässt sich zugleich ein Moment von Gottesfürchtigkeit erkennen. Darüber hinaus sind seine Freunde darum bemüht, ihn zu trösten und zur Vernunft zu bringen. Ihm wird die biblische Geschichte des gerechten und mächtigen Hiobs aus Dem Alten Testament in Erinnerung gerufen, der auch hart von Gott geprüft wurde 874 (vgl. JRW 5, 103). Trotz der Versuche seiner Glaubensgenossen, Mendel Singer seelisch aufzurichten, fühlt er sich nach wie vor ungerecht von Gott gestraft. Dennoch bejaht er das Leben und kommt zu dem Schluss, sich nicht durch die Schläge des Schicksals verbittern und zerbrechen zu lassen. ‘[…] Nein, meine Freunde! Ich bin allein, und ich will allein sein. Alle Jahre habe ich Gott geliebt, und er hat mich gehaßt. Alle Jahre hab´ ich ihn gefürchtet, jetzt kann er mir nichts mehr machen. Alle Pfeile aus seinem Köcher haben mich schon getroffen. Er kann mich nur noch töten. Aber dazu ist er zu grausam. Ich werde leben, leben, leben’ (JRW 5, 105). Diese lebensbejahende Haltung fällt zeitgleich mit dem Aufbegehren gegen Gott zusammen. Mendel Singer fasst den Entschluss, Widerstand gegen Gott 873 Vgl. Andreas Pum in Die Rebellion (JRW 4, 326ff), Franz Tunda in Die Flucht ohne Ende (JRW 4, 456) sowie Andreas Kartak in Die Legende vom heiligen Trinker (JRW 6, 528). 874 Näheres über die aufsehenerregende Prüfung der untadeligen, rechtschaffenen, gottesfürchtigen und mächtigen alttestamentarischen Gestalt Hiob durch Gott, vgl. Diego Arenhoevel/ Alfons Deissler/ Anton Vögte, „Das Buch Ijob“, in: dies., (Hg.), Die Bibel: Die heilige Schrift des alten und neuen Bundes (Anm. 716), S. 834-873. 2. 3 Zum unheimlichen Leben der Familie Mendel Singer … 239 zu leisten. Künftighin führt er ein allzu weltliches Leben. Er betet nicht mehr; überdies isst er nun Schweinefleisch. „Aber es tat ihm weh, daß er nicht betete. Sein Zorn schmerzte ihn und die Machtlosigkeit dieses Zorns. Obwohl Mendel mit Gott böse war, herrschte Gott noch über die Welt“ (JRW 5, 107). Mendel Singer kommt zur Einsicht, dass er - trotz seines Aufbegehrens - der göttlichen Gewalt nicht entkommen kann. 875 Doch er gerät in den Sog eines gesellschaftlichen Abstiegs. Dieser Verfall ist auch an seiner physischen Erscheinung ablesbar: Die Schöße seines Rockes wurden länger und länger und berührten, wenn Mendel ging, nicht mehr die Schäfte der Stiefel, sondern fast schon die Knöchel. Der Bart, der früher nur die Brust bedeckt hatte, reichte bis zu den letzten Knöpfen des Kaftans. Der Schirm der Mütze aus schwarzem, nunmehr grünlichem Rips war weich und dehnbar geworden und hing schlaff über Mendel Singers Augen, einem Lappen nicht unähnlich. In den Taschen trug Mendel Singer viele Sachen: Päckchen, um die man ihn geschickt hatte, Zeitungen, verschiedene Werkzeuge, mit denen er die schadhaften Gegenstände bei Skowronneks reparierte, Knäuel bunter Bindfäden, Packpapier und Brot. Diese Gewichte beugten den Rücken Mendel noch tiefer, und weil die rechte Tasche gewöhnlich schwerer war als die linke, zog sie auch die rechte Schulter des Alten hinunter. Also ging er schief und gekrümmt durch die Gasse, ein baufälliger Mensch, die Knie geknickt und mit schlurfenden Sohlen. Die Neuigkeiten der Welt und die Wochentage und Feste der andern rollten an ihm vorbei wie Wagen zu einem alten abseitigen Haus (JRW 5, 111). Mendel Singers physische Verfallserscheinungen zeugen auch von einer fortschreitenden geistigen Verkümmerung. Die Menschen, die am Anfang freundlich zu ihm waren, zeigen allmählich ihr wahres Gesicht. Das ist auch bei Frau Skowronnek der Fall, die Mendel Singer von da an herablassend behandelt. Je älter er wurde, desto geringer wurde ihr Mitleid für ihn. Allmählich vergaß sie auch, daß Mendel ein wohlhabender Mann gewesen war, und ihr Mitgefühl, das sich von ihrem Respekt genährt hatte (denn ihr Herz war klein), starb dahin. Sie nannte ihn auch nicht mehr wie am Anfang Mister Singer, sondern einfach Mendel wie bald alle Welt (JRW 5, 114). 875 Hiermit zeigt sich, dass Andreas Pum aus Die Rebellion und Mendel Singer einigermaßen als Schicksalsgefährten zu betrachten sind, die sich im Unglück bzw. im Raum der Abseitigkeit begegnen, obwohl beide Figuren sich stark voneinander unterscheiden. Andreas Pum war ehemaliger Soldat, fanatischer Patriot und Christ ohne Familie im Nachkriegseuropa, der später desillusioniert wird. Mendel Singer hat zeitlebens in einem zwiespältigen Verhältnis zum Militär bzw. zum Machtdispositiv gestanden. Er und seine Familie glauben die Rettung im amerikanischen Exil gefunden zu haben, aber die ganze Familie erfährt auch diese Desillusion, obwohl der Roman Hiob ›happy‹ zu enden scheint. Man könnte aber als Leser die Frage stellen: zu welchem Preis? 2. Unheimliches Leben: zu den Erscheinungsformen der Marginalität … 240 Die Tatsache, dass Mendel Singer jetzt viel häufiger durch bloßen Vornamen Mendel von Leuten angesprochen wird, die ihn zuvor ehrfurchtsvoll Mister Singer nannten, zeigt, dass er an Ansehen erheblich eingebüßt hat und wie tief er ›gesunken‹ ist. Diese Machtverschiebung lässt sich aus folgender rhetorischer Aussage von ›Mister‹ Frisch, dem Besitzer eines Eiscreme-Salons, heraushören: „Gestern, Mister Singer, war ich, wie Sie wissen, beim Konzert“ (JRW 5, 118). Durch die Satzfigur der Umstellung werden strategisch die Temporaladverbialbestimmung ›gestern‹ und die Apposition ›Mister Singer‹ in den Mittelpunkt gerückt. Der Konzertbesuch tritt dadurch in den Hintergrund. Diese Umstellung lässt den Satz anders klingen bzw. ihn etwas anderes aussagen. In der Tat ist es lange her, dass jemand Mendel Singer mit dem Titel ›Mister‹ angesprochen hat. Zu diesem Zeitpunkt lebt er von „Almosen und kleinen Vergütungen für seine Arbeiten in den Häusern“ (JRW 5, 116). Mendel Singer führt ein Schattendasein in den New Yorker Gassen, von allen verlassen und verspottet. Er sehnt sich nach Russland und Europa. Am Ende ereignet sich dann aber ein Wunder. Er wird von ›Mister‹ Frisch eingeladen, der ihm die gute Botschaft überbringt, dass ein gewisser Alexej Kossak, Kapellmeister und genialer Komponist (angeblich ein Verwandter Deborahs) aus Zuchnow, ihn, ›Mister‹ Mendel Singer, treffen wolle (vgl. JRW 5, 119). Alles wird so organisiert, dass beide bei Skowronnek zusammenkommen. Der Gast stellt sich ausführlich vor. Mendel Singer quält aber die Frage, die er dem Gast unbedingt stellen möchte, und zwar, ob Menuchim noch lebe. Zum wiederholten Mal aber traut er sich nicht, sich zu erkundigen. Skowronnek ahnt, was in Mendel Singer in diesem bestimmten Augenblick vorgeht, und übernimmt deswegen die Verantwortung, selbst die Frage nach dem Befinden von Menuchim zu stellen (vgl. JRW 5, 128). Der geheimnisvoll wirkende Fremde antwortet bejahend, aber unbestimmt: „Menuchim lebt, er ist gesund, es geht ihm sogar gut! “ (JRW 5, 129). Letztendlich enthüllt der Gast aber seine Identität: „‘Ich selbst bin Menuchim’“ (ebd.). Es ist ein großes Ereignis in der ganzen Gasse. Mendel Singer gerät in einen Glücksrausch: Kümmerlich und gebeugt, im grünlich schillernden Rock, das rotsamtene Säckchen im Arm, betrat Mendel Singer die Halle, betrachtete das elektrische Licht, den blonden Portier, die weiße Büste eines unbekannten Gottes vor dem Aufgang zur Stiege und den schwarzen Neger, der ihm den Sack abnehmen wollte. Er stieg in den Lift und sah sich im Spiegel neben seinem Sohn, er schloß die Augen, denn er fühlte sich schwindlig werden (JRW 5, 131f). Mendel fühlt sich wieder der vornehmen jüdischen Gesellschaft in Amerika zugehörig. Besonders auffallend ist der allererste Auftritt eines Schwarzen in der ganzen amerikanischen Welt, so wie sie aus der Perspektive Singers erscheint. Der Pleonasmus ›schwarzer Neger‹, von dem Mendel Singer unhinterfragt Gebrauch macht, drückt zweierlei aus: erstens ein gewisses machtpolitisches Bewusstsein, das Bewusstsein der eigenen Überlegenheit; zweitens gibt diese rhetorische Figur Aufschluss über eine gewisse sprachliche ›Apart- 2. 3 Zum unheimlichen Leben der Familie Mendel Singer … 241 heid-Kultur‹, die offenkundig in der damaligen US-amerikanischen Gesellschaften vor und nach dem Ersten Weltkrieg gepflegt wurde und die zur Aufrechterhaltung und Festigung einer schwarz-weißen, manichäischen Ordnung der Dinge beitrug. Die weitere Bezeichnung ›blonder Portier‹ bezieht sich eben immer auf einen farbigen Türsteher. Durch die unkritische Adaption dieser Ausdrücke übernimmt Mendel Singer unbewusst die Stellung eines ›Sklavenhalters‹ bzw. eines im Überfluss lebenden Meisters, der von seiner ›Balkonbzw. Aufzug-Perspektive‹ aus auf den ausgebeuteten Anderen hinabschaut und ihn durch einen kolonialen rassistischen Blick zu fixieren versucht. Dieser ›schwarze Neger‹ wird in dieser Konstellation als Subalterner konstruiert. Der ›Schwarze‹ als Lastenträger und Türsteher, diese und andere machtpolitische Bilder sind bewusst oder unbewusst im Roman Hiob am Werk. Ausgerechnet in dem Augenblick, als der Leser einen Mendel Singer erlebt, der wieder Fuß fasst im Leben, macht sich diese einseitige Darstellungsweise besonders auffällig breit. 876 Es ist jedoch spannend, die Figur Mendel Singer in ihrer Verwandlung zu erleben, wie diese in folgenden Stellen artikuliert wird: Dem Fenster gegenüber, an dem Mendel lehnte, erschien jede fünfte Sekunde das breite, lachende Gesicht eines Mädchens, zusammengesetzt aus lauter hingesprühten Funken und Punkten, das blendende Gebiß in dem geöffneten Mund aus einem Stück geschmolzenen Silbers. Diesem Angesicht entgegen schwebte ein rubinroter, überschäumender Pokal, kippte von selbst um, ergoß seinen Inhalt in den offenen Mund und entfernte sich, um neu gefüllt wieder zu erscheinen, rubinrot und weißgischtig überschäumend. Es war eine Reklame für eine neue Limonade. Mendel bewunderte sie als die vollkommenste Darstellung des nächtlichen Glücks und der goldenen Gesundheit. […] Und sie [Mendel Singer und seinen Sohn Menuchim] gelangten in eine Welt, wo der weiche Sand gelb war, das weite Meer blau und alle Häuser weiß. Auf der Terrasse vor einem dieser Häuser, an einem kleinen, weißen Tischchen, saß Mendel Singer. Er schlürfte einen goldbraunen Tee. Auf seinen gebeugten Rücken schien die erste warme Sonne dieses Jahres (JRW 5, 132-134). Diese Bilder einer idyllischen Welt sind im Grunde Bilder des Jenseits, die zu erkennen geben, dass Mendel Singer sich bereits im Jenseits befindet. Dies wird von der Erzählstimme bestätigt: „Und er ruhte aus von der Schwere des Glücks und der Größe der Wunder“ (JRW 5, 136). Wie die alttestamentarische Figur Hiob wird Mendel Singer als glücklicher Sterbender dargestellt. Mendel Singer erfährt unendliches Glück im Jenseits. In diesem Zusammenhang drängt sich die Frage auf, ob es nur der Tod ist, der den Menschen aus der Marginalität befreien kann. Der Stellenwert dieser Frage zeigt sich vor 876 Auf diese auffällig einseitige Darstellung der US-amerikanischen Welt im Roman Hiob ist in dieser Arbeit an früheren Stellen schon eingegangen. 2. Unheimliches Leben: zu den Erscheinungsformen der Marginalität … 242 allem, wenn die dornigen Wege beschrieben werden, die Mendel Singer, Andreas Pum und später Andreas Kartak durchschreiten. Im Falle Mendel Singers wird suggeriert, dass er sein jenseitiges Glück einem Wunder verdankt. Dies würde bedeuten, dass Andreas Pum aus Die Rebellion als unglücklicher Mensch gestorben ist, weil ihm kein ›Wunder‹ widerfahren ist. Wenn das Leben oder das Überleben eines Subjektes dem Wunder, das heißt auch dem Zufall, überlassen wird, wird erneut die Frage des Unheimlichen bzw. die Frage der Marginalität aufgeworfen. Solche Sichtweise lässt das Leben als den ›Raum der Marginalität‹ überhaupt erscheinen, einen Zwischenraum, in dem sich Marginalität - als unheimliche, psychoaffektive und soziopolitische Erfahrung verstanden - in ihren mannigfaltigen Erscheinungsformen abspielt. Und in Joseph Roths Text Die Legende vom heiligen Trinker wird der Protagonist Andreas Kartak als jemand präsentiert, der vom Wunder lebt oder überlebt. In der Folge wird den Erscheinungsformen des unheimlichen Lebens dieser Figur auf den Grund gegangen. 2.4 Zum unhei mlichen Lebe n der Fi gur A ndreas Karta k… 2.4 Zum unheimlichen Leben der Figur Andreas Kartak aus Die Legende vom heiligen Trinker 877 Andreas Kartak ähnelt jener postkolonialen Konfigurationen, die Homi Bhabha „the indentured“ 878 nennt. Unter dieser Figur subsumiert Bhabha jene Menschen, die in der historischen Moderne des 19. Jahrhunderts als aussätzige und lebensunwerte Wesen angesehen wurden. 879 In Bhabhas Verwendung der Bezeichnung ›indentured‹ schwingt ein Verweis auf die in der Diaspora lebenden migrierten oder vertriebenen Bevölkerungsgruppen, deren Überleben zur bloßen Arbeits- oder Muskelkraft verdammt ist und die auf ein Wunder warten. „Paris may be a capital famous for cosmopolitan exiles, but it is also a city where unknown men and women have spent years of miserable loneliness: Vietnamese, Algerians, Cambodians, Lebanese, Senegalese, Peruvians“ 880 , schreibt Said. Die Figur Andreas Kartak in Die Legende vom heiligen Trinker ist auch zu jenen Figuren zu zählen, auf die Said und Bhabha 877 Joseph Roth, Die Legende vom heiligen Trinker (1939), in: JRW, Band 6, S. 515-543. Künftighin im Fließtext als JRW mit Angabe des Bandes und der Seitenzahl zitiert. 878 Homi K. Bhabha, The Location of Culture (Anm. 365), S. 139. 879 Zu diesen - durch den logozentrischen Historizismus des 19. Jahrhunderts - als geschichtslos konstruierten Figuren zählen Bhabha zufolge Frauen, Kolonisierte und Sklaven. Vgl. Homi K. Bhabha, „The postcolonial and the postmodern: the question of agency”, in: ders. The Location of Culture, ebd. S. 171-197, hier S. 196. Übrigens werden die „grand narratives of nineteenth-century historicism” (ebd, S. 195) - „evolutionism, utilitarianism, evangelism“ (ebd.) sowie Sozialdarwinismus -, die Bhabha als “technologies of colonial and imperial governance” (ebd.) bezeichnet und betrachtet, einer scharfen Dekonstruktion unterzogen. Näheres dazu ist ebenda auf der S. 195 zu erhalten. 880 Edward W. Said, „Reflections on exile“, in: ders. (Hg.), Reflexion on exile and Other Essays (Anm. 476), S. 176. 2.4 Zum unheimlichen Leben der Figur Andreas Kartak … 243 hinweisen. Die Handlung der Erzählung spielt in Paris der 1930er Jahre und wird teils aus der Perspektive eines Migranten, teils aus der des Machtdispositivs erzählt. Geschildert wird die Unterwelt der Pariser Obdachlosen, zu denen der (Arbeits-)Migrant Andreas Kartak gehört: Er wird als Alkoholiker beschrieben. Was macht Andreas Kartaks Marginalität und sein unheimliches Leben aus? Der Text beginnt mit der Geschichte eines Herrn, der als „der ältere wohlgekleidete Herr“ (JRW 6, 515) bezeichnet wird. Dieser wohlgekleidete Mann geht Treppen hinunter, die unter die Brücke der Seine führen: Dort befindet sich die Welt der Obdachlosen. Unter der Brücke spricht er jemanden mit dem Wort „Bruder“ an, den der Leser später als Andreas Kartak „der Verwahrloste“ kennenlernen wird. Stilistisch zu beobachten ist die Verwendung von substantivierten Eigenschaftswörtern, um Menschen zu bezeichnen und voneinander zu unterscheiden. Diese Privilegierung von Eigenschaftswörtern gibt zu erkennen, wie sozialer Stand, Herkunft, materielles und immaterielles Kapital ausschlaggebend für die soziale Positionierung sind. An der Begegnung zweier Figuren verschiedenen gesellschaftlichen Standes lässt sich die Existenz konträrer Welten ablesen. Aber kommt es überhaupt zu einer Begegnung zwischen dem wohlgekleideten Herrn und dem ›verwahrlosten Andreas Kartak‹, obwohl der ›wohlgekleidete Herr‹ ihn ›Bruder‹ nennt? Der ›wohlhabende Herr‹ macht einen zwiespältigen Eindruck: Er begibt sich zu den Armen, um ihnen entweder einen Auftrag zu geben oder sie um Hilfe zu bitten. Er präsentiert sich dem ›Verwahrlosten‹ gegenüber als Wohltäter, schafft dadurch bewusst oder unbewusst eine Machtasymmetrie: „‘Ich sehe, zwar, daß sie manche Fehler machen. Aber Gott schickt Sie mir in den Weg. Gewiß brauchen Sie Geld, nehmen Sie mir diesen Satz nicht übel! Ich habe zuviel. Wollen Sie mir aufrichtig sagen, wieviel Sie brauchen? Wenigstens für den Augenblick? ’“ (JRW 6, 516). Der ›Wohltäter‹ stellt sich selbst als jemand vor, der christliche Wertvorstellungen (u.a. Nächstenliebe, Barmherzigkeit, Aufopferungsbereitschaft) vertritt: ‘[…] Ich bin nämlich ein Christ geworden, weil ich die Geschichte der kleinen heiligen Therese von Lisieux gelesen habe. Und nun verehre ich insbesondere jene kleine Statue der Heiligen, die sich in der Kapelle Ste Marie des Batignolles befindet und die Sie leicht sehen werden. Sobald Sie also die armseligen zweihundert Francs haben und Ihr Gewissen Sie zwingt, diese lächerliche Summe nicht schuldig zu bleiben, gehen Sie bitte in die Ste Marie des Batignolles, und hinterlegen Sie dort zu Händen des Priesters, der die Messe gerade gelesen hat, dieses Geld. Wenn Sie es überhaupt jemandem schulden, so ist es die kleine heilige Therese. Aber vergessen Sie nicht: in der Ste Marie des Batignolles’ (JRW 6, 316). Andreas Kartak nimmt den Auftrag an, ahnt aber nicht, wie schwer sich die Durchsetzung dieses Auftrages, die Einhaltung des Versprechens gestalten wird. Der reiche Mann ist sofort „in der tiefen Dunkelheit“ (JRW 6, 517) verschwunden. Er hat ein gutes Gewissen, zwei Fliegen mit einer Klappe 2. Unheimliches Leben: zu den Erscheinungsformen der Marginalität … 244 geschlagen zu haben, in dem er einem Obdachlosen geholfen und der Kirche Geld gespendet hat. Allem Anschein nach hat der wohlhabende Herr einen karitativen Akt vollzogen, um sich inneren Frieden zu verschaffen, um mit sich selbst im Reinen zu sein. Im Essay Juden auf der Wanderschaft äußert sich Joseph Roth im Übrigen kritisch über die Wohltätigkeit. Er schreibt: „Die Wohltätigkeit befriedigt in erster Linie die Wohltäter“ (JRW 2, 858). Die Geldspende- oder Wohltätigkeitsszene in Die Legende vom heiligen Trinker macht auf den ersten Blick die machtpolitischen Konstellationen einer Gesellschaft deutlich, die Spaltung zwischen denjenigen, die ›haben‹, und denen, die ›nichts haben‹. Aber wer ist überhaupt dieser Spender? Die Erzählerfigur scheint das Geheimnis über den Spender zu lüften: „Auch der wohlgekleidete Herr verschwand in der Finsternis. Ihm war in der Tat das Wunder der Bekehrung zuteil geworden. Und er hatte beschlossen, das Leben der Ärmsten zu führen. Und er wohnte deshalb unter der Brücke“ (JRW 6, 517). Der als wohlgekleidet präsentierte Herr soll auf die Privilegien seiner Gesellschaft verzichtet haben, um das Leben der Ärmsten zu teilen. Reicht überhaupt die Tatsache aus, Geld grenzenlos zu spenden, um den Eindruck zu erwecken, dass man vornehmen Verhältnissen entstammt? Macht der Besitz von Geld überhaupt glücklich? Wenn ja, warum tauscht dieser rätselhafte Spender ›sein Paradies‹ mit der Hölle der Obdachlosen? Handelt es sich hier nicht um einen Obdachlosen, der durch die Spenden vortäuscht, aus guten Verhältnissen zu kommen? Anders formuliert, gibt diese rätselhafte Figur nicht etwa zu verstehen und zu erkennen, dass Reiche und Arme, Wohlhabende und Verwahrloste einigermaßen im selben Boot sitzen? Solche Fragen kann sich das Lesepublikum stellen. Tatsache ist, dass der wohlgekleidete Herr als eine Person dargestellt wird, die Unmengen Geld besitzt und dadurch als wohlhabend konstruiert wird. Die anderen, die Geld von ihm bekommen, werden als bedürftig und arm hingestellt. Die Angaben der Erzählstimme über den geheimnisvollen Spender stillen den Wissensdurst des Lesers überhaupt nicht. Ganz im Gegenteil: Der Leser wird im Dunkel gelassen und vielmehr mit Eigenschaftswörtern, mit leeren Wörtern abgespeist 881 , und zwar in der Art des dunklen Spenders, der Andreas Kartak mit Geld überschüttet, ihn aber unmittelbar danach im Dunkeln tappen lässt und selbst in der Dunkelheit der Brücke verschwindet. Nichtsdestotrotz rufen die Geldscheine in der Tasche beim (Arbeits-)Migranten Kartak ein gewisses Selbstwertgefühl hervor. 2.4.1 Migrantenleben, ›Kapitalbesitz‹ und Selbstwertgefühl Es dauert nicht lange, bis Andreas Kartak die schwere, bittere Seite des Auftrags am eigenen Leibe zu spüren beginnt. Er vermag der Versuchung nicht 881 Zum Beispiel „der Wohlgekleidete“, „der Trinker“, „der Verwahrloste“, „der Wohlhabende“ usw. 2.4 Zum unheimlichen Leben der Figur Andreas Kartak … 245 zu widerstehen, die die zweihundert Francs darstellen und fühlt sich erneut als Mensch und als Bestandteil der Gesellschaft. Seit Monaten hat er sich nicht mehr gewaschen. Jetzt denkt er daran und setzt es auch in die Tat um (vgl. JRW 6, 518). Dies zeigt, wie tief das Leben in äußerst kümmerlichen Verhältnissen Andreas´ Selbstbewusstsein erschüttert hat. Bestimmte alltägliche Gesten - sich waschen, Zähne putzen, Kleider reinigen, den eigenen Körper pflegen - waren keine Selbstverständlichkeiten mehr für ihn. Dadurch dass sich Andreas Kartak jetzt entschließt, seinen Körper wieder zu pflegen, überschreitet er implizit eine Grenze, die ihm das Machtdispositiv aufgenötigt hat. Der Migrant Andreas hat sich bisher nicht zugetraut, mit den ›normalen‹ Menschen in Paris in Kommunikation zu treten, was ihn de facto ins soziale Abseits stellt. Das kleine, reale und symbolische Kapital von zweihundert Francs, das in seiner Tasche steckt, scheint ihn zu ermutigen, sich unter die Menschen zu mischen. Vom bloßen Besitz des Geldes gestärkt, traut sich Andreas Kartak zu, die gesellschaftlich konstruierte Grenze zwischen der Welt der ›Armen‹ und der der ›Reichen‹ zu überschreiten. Er ging in den Tag hinein, in einen seiner Tage, die er seit undenklichen Zeiten zu vertun gewohnt war, entschlossen, sich auch heute in die gewohnte Rue des Quatre Vents zu begeben, wo sich das russisch-armenische Restaurant Tari-Bari befand und wo er das kärgliche Geld, das ihm der tägliche Zufall beschied, in billigen Getränken anlegte. Allein an dem ersten Zeitungskiosk, an dem er vorbeikam, blieb er stehen, angezogen von den Illustrationen mancher Wochenschriften, aber auch plötzlich von der Neugier erfaßt, zu wissen, welcher Tag heute sei, welches Datum und welchen Namen dieser Tag trage. Er kaufte also eine Zeitung und sah, daß es ein Donnerstag war, und erinnerte sich plötzlich, daß er an einem Donnerstag geboren worden war, und ohne nach dem Datum zu sehen, beschloß er, diesen Donnerstag gerade für seinen Geburtstag zu halten 882 (JRW 6, 518). Allmählich erwacht in Andreas wieder der Sinn für ein bürgerliches Leben. Er zeigt erneut Interesse für die Ereignisse des öffentlichen Lebens, er erinnert sich daran, dass er seinen Geburtstag vergessen hat: Er ging also, selbstbewußt, trotz seiner zerlumpten Kleidung, in ein bürgerliches Bistro, setzte sich an einen Tisch, er, der seit so langer Zeit nur an der Theke zu stehen gewohnt war, das heißt: an ihr zu lehnen. Er setzte sich also. Und da sich seinem Sitz gegenüber ein Spiegel befand, konnte er auch nicht umhin, sein Angesicht zu betrachten, und es war ihm als machte er jetzt aufs neue mit sich selbst Bekanntschaft. Da erschrak er allerdings. Er wußte auch zugleich, weshalb er sich in den letzten Jahren vor Spiegeln so gefürchtet hatte. Denn es war nicht gut, die eigene Verkommenheit mit eigenen Augen zu sehen. Und solange man es nicht anschauen mußte, war es beinahe so, als hätte man entweder überhaupt kein Angesicht oder noch das alte, das herstammte aus der Zeit vor der Verkommenheit (JRW 6, 519). 882 Kursiv Geschriebenes ist eine Hervorhebung i.O. 2. Unheimliches Leben: zu den Erscheinungsformen der Marginalität … 246 Andreas Kartak erfährt die Gespaltenheit seines Selbst vor einem schreckenerregenden Spiegelbild. Dies war schon bei Andreas Pum in Die Rebellion (vgl. JRW 4, 317) und bei Mendel Singer in Hiob (vgl. JRW 5, 74) der Fall - ein eindeutiges Zeichen der Erfahrung des Unheimlichen, die Erfahrung der Spaltung des Subjekts. 883 Die bloße Tatsache, Kapital in Form von Geldscheinen bei sich zu haben, stärkt Andreas Kartaks Selbstbewusstsein. Er kommt immer mehr in den Genuss von bürgerlichen Konsumgütern und erlebt ein Wunder nach dem anderen. Von einem Herrn, den er in einer Taverne trifft, erhält er ein Anstellungsangebot, das ihm zusätzliche „zweihundert Francs“ (JRW 6, 520) einbringen soll. Andreas führt ein genießerisches, lustvolles Leben und leistet sich dann und wann teure Hotels. Ihm ist es aber auch vollkommen bewusst, dass er der heiligen Therese eine Spende von zweihundert Francs schuldig ist. Immer wieder kommt ihm etwas Unvorhergesehenes dazwischen, wenn er sich vornimmt, in die Kapelle zu gehen, um ›die Schuld‹ zu begleichen. Das erste Mal ist es die Stimme einer ihm altbekannten Frau, derentwegen Andreas „im Gefängnis gesessen war. Es war Karoline“ (JRW 6, 524). Andreas leistet stillen Widerstand gegen Karolines alte Gewohnheit, ihn zu lenken. In einem Restaurant, in dem sich beide aufhalten, lässt Andreas keineswegs zu, dass Karoline für ihn die Rechnung begleicht. Dadurch wird das alte asymmetrische Verhältnis wiederhergestellt. Er bringt den Mut auf, den Kellner als Erster zu rufen, und der erfahrene Kellner gibt ihm recht: „‘Der Herr hat zuerst gerufen’“ (JRW 6, 525). Die Spendengelder, die er der heiligen Therese schuldet, tragen also dazu bei, dass zwischen Karoline und ihm die alte Machtasymmetrie wieder aufbricht. Andreas Kartak ist einem sichtbar-unsichtbaren Machtdispositiv ausgeliefert, das ihn zum heiligen Trinker macht. Er selbst bezeichnet sich an keiner Stelle des Textes als solchen. Was der kritische Leser nicht aus den Augen verlieren soll, ist, dass Andreas Kartaks privates Leben unzertrennlich mit seinem öffentlichen Status verbunden ist. Die ›Spende‹, die er bekommt, führt das Ausmaß seines Ausgeliefert-Seins gegenüber den Machtstrukturen, die in diesem Zusammenhang durch die ›zweihundert Francs‹ bzw. durch das Geld symbolisiert sind, vor Augen. Das Geld fungiert im ganzen Text als Bestandteil des Machtdispositivs. Der ›Wohltäter‹, der vermeintlich der heiligen Therese Geld spendet, indem er den Obdachlosen Andreas Kartak beauftragt, kann sich überhaupt nicht ausmalen, was er dem arbeitslosen Obdachlosen antut. Ohne Geld keine Anerkennung, keine Bekanntschaft, nur eingeschränkte Handlungsmacht. Dies scheint ein geheimes Gesetz der harten Pariser 883 Naheres dazu siehe die Auslegung des Begriffs Unheimliches nach Freud, Bhabha und Kristeva in dieser Arbeit auf (Teil 2). Der Blick in den Spiegel bedeutet die Begegnung mit dem eigenen Ich und die damit einhergehende Erfahrung der Spaltung des Selbst. Diese Erfahrung machen auch die Figuren Andreas Pum (vgl. JRW 4, 317) und Mendel Singer (vgl. JRW 5, 74). 2.4 Zum unheimlichen Leben der Figur Andreas Kartak … 247 Wirklichkeit zu sein, mit der sich Andreas Kartak auseinandersetzen muss. Diese Wirklichkeit ist umso härter, als Andreas nur über höchst mangelhafte Französischkenntnisse verfügt. Andreas Kartaks Entschluss, nach Frankreich zu reisen, hatte einen wirtschaftlichen Hintergrund. Er selbst erinnert sich daran, „daß er eines Tages, vor vielen Jahren, hierhergekommen war, weil man in der Zeitung kundgemacht hatte, daß man in Frankreich Kohlenarbeiter suche“ (JRW 6, 527). Andreas Kartak ist also ein (Arbeits-)Migrant, obwohl er keinen offiziellen Einladungsbrief von der Pariser Stadtverwaltung bekommt, könnte er auch als Gastarbeiter bezeichnet werden, vor allem wenn man die Tatsache berücksichtigt, dass er in einer Zeitung die Information erhält, dass Arbeitskräfte in Frankreich gesucht werden. Aufgrund der Dienste, die er geleistet hat, hätte er mit einer Förderung seitens der Pariser Stadtverwaltung rechnen können. Wie lässt es sich erklären, dass Andreas Kartak in der Illegalität landet? Und er hatte in den Gruben von Quebecque gearbeitet, und er war einquartiert gewesen bei seinen Landsleuten, dem Ehepaar Schebiec. Und er liebte die Frau, und da der Mann sie eines Tages zu Tode schlagen wollte, schlug er, Andreas, den Mann tot. Dann saß er zwei Jahre im Kriminal. Diese Frau war eben Karoline (ebd.). Das Zitat illustriert nicht nur, wie Andreas zum Kriminellen wurde, sondern auch, wie das Private und das Öffentliche in Kartaks Exilsituation ineinander verwoben sind. Andreas lebt in einem Zustand sozio-psychischer Erschütterung. Er ist von dem von ihm begangenen Mord und vom Leben in der Leere gezeichnet: Er hat keine Frau, keine Freunde, keinen Halt. Er hat jedwede Orientierung verloren. Lange schon hatte Andreas vergessen, wie er mit Vatersnamen hieß. Jetzt aber, nachdem er soeben seine ungültigen Papiere noch einmal gesehen hatte, erinnerte er sich daran, daß er Kartak hieße: Andreas Kartak. Und es war ihm, als entdeckte er sich selbst erst seit langen Jahren wieder (JRW 6, 528). Andreas Kartak führt ein geographisch, gesellschaftlich und innerlich entwurzeltes, zerrissenes Dasein. Es ist so ›zerknüllt‹ wie seine längst ungültig gewordenen Papiere. Weshalb aber bietet ihm nicht die Kirche jenen Halt bzw. jene Orientierung, nach der er sich sehnt? Die Figur des Andreas Kartak erinnert an das Schicksal der globalen ›Arbeitsmigranten‹ von heute, die die Gesellschaften in den Empfangsländern sinnvoll gestalten möchten, aber auf vielfältige Ein- und Ausgrenzungsmechanismen stoßen. Andreas Kartak entspricht jener inflationär dargestellten klassischen Migrantenfigur, die angeblich immer die Peripherie, die ›Dritte Welt‹ ›angeblich hauptsächlich aus wirtschaftlichen Gründen‹ verlässt oder verlassen muss, 884 um das Zentrum, die ›Erste Welt‹ bzw. die Metropolen des 884 So wird die Migrantenfigur in den logozentrisch dominierten Migrationsdebatten in nördlicher sowie südlicher Hemisphäre der Erdkugel meistens konstruiert. 2. Unheimliches Leben: zu den Erscheinungsformen der Marginalität … 248 „globalen Nordens“ 885 , durch ihre ›barbarische‹, ›parasitäre‹ Präsenz zu bedrohen. 886 Die Migration, die historische weltweite Mobilität ist ein Bestandteil der Moderne und der Postmoderne. Die ›Menschenströme‹, die, wie aus bestimmten alarmierenden populistischen Diskursen regelmäßig herauszulesen und herauszuhören ist, vermeintlich heute Metropolen im Norden und im Süden der Erdkugel zu ›überfluten‹ drohen, setzen eine Bewegung fort, deren Ursprünge in die Geschichte der imperialen Bewegung bzw. Begegnung weit zurückreichen und von europäischen Entdeckungsreisenden initiiert wurde. Dafür spricht die Art und Weise, wie sich die westlich-neuzeitlichen Weltbürger, Kolonialgouverneure, Forscher, Wissenschaftler, Buchhalter 887 , Schatzgräber, Abenteurer, darstellten - zum Beispiel durch Kleidung, bestimmte Umgangsformen, die Beherrschung der Schrift- und Lesekunst. Dadurch ließen sie Europa bewusst und unbewusst als paradiesischen Erdteil erscheinen. In seinem Roman Heart of darkness schildert Joseph Conrad u.a. die zivilisatorische Grausamkeit mitten im afrikanischen Urwald mit Praktiken, die an Sklaverei grenzen. These moribund shapes were free as air - and nearly as thin. I began to distinguish the gleam of the eyes under the trees. Then, glancing down, I saw a face near my hand. The black bones reclined at full length with one shoulder against the tree, and slowly the eyelids rose and the sunken eyes looked up at me enormous and vacant, a kind of blind, white flicker in the depths of the orbs, which died out slowly. The man seemed young - almost a boy - but you know with them it´s hard to tell. I found nothing else to do but to offer him one of my good Swede´s ship´s biscuits I had in my pocket. 888 Von diesen schrecklichen Bildern des Horrors und des Schattens erschüttert, nimmt sich die Erzählerfigur Marlow vor, die Kolonialstation aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. I didn´t want any more loitering in the shade, and I made haste towards the station. When near the buildings I met a white man, in such an unexpected el- 885 Diese Bezeichnung ist eine Entlehnung aus Leonardo Boffs Geopolitik, der damit sowohl die Reichen des nördlichen als auch die des südlichen Teils des Globus erfassen will. Dem sogenannten globalen Norden stellt Boff einen sog. globalen Süden gegenüber. Leonardo Boff, „Christentum in der Globalisierung“, in: Leo Gabriel (Hg.), Die Globale Vereinnahmung (Anm. 176), S. 183-190, hier S. 186. 886 Vgl. die Berichterstattungen zahlreicher konservativer Blätter in den Metropolen des globalen Nordens und Südens. Was in manchen einseitig geführten Debatten immer zu kurz kommt oder fast kaum berücksichtigt wird, ist, Massen von Menschen aus ›der globalen Ersten Welt‹ 886 reisen - im eigentlichen oder im übertragenen Sinne des Wortes - aus unterschiedlichen soziopolitischen Gründen kurz- oder langfristig in ›die globale Dritte Welt‹. Diese andere Seite der Migrationsbewegung muss auch beleuchtet werden. 887 Vgl. Joseph Conrad, Heart of darkness (Anm. 1), S. 17. 888 Ebd. S. 16f. 2.4 Zum unheimlichen Leben der Figur Andreas Kartak … 249 egance of get-up that in the first moment I took him for o sort of vision. I saw a high starched collar, white cuffs, a light alpaca jacket, snowy trousers, a clear necktie, and varnished boots. No hat. Hair parted, brushed, oiled, under a green-lined parasol held in a big white hand. He was amazing, and had a penholder behind his ear. […] Moreover, I respected the fellow. Yes; I respected his collars, his vast cuffs, his brushed hair. His appearance was certainly that of a hairdresser´s dummy; but in the great demoralisation of the land he kept up his appearance. 889 Der gepflegte Anblick des Buchhalters mitten unter diesen sterbenden Leichen, mitten in dieser Hölle und Trostlosigkeit verblüfft und entsetzt Marlow. Die Szene ruft manche foto- und kinematographischen Bilder aus dem Zeitalter europäischer Expansion nach Afrika ins Gedächtnis, in denen der Kontrast zwischen den gewöhnlich in glänzender Paradeuniform gekleideten, sauber geputzten Kolonialherren und ihren zumeist barfüßigen, halbnackten, zerlumpten, farbigen Lastenträgern deutlich hervortritt. 890 Im Grunde verdankt der erwähnte Buchhalter aus Heart of darkness sein gepflegtes Äußeres den Diensten einer einheimischen Zimmerbzw. Putzfrau, der er insgeheim beibringt, wie man Kleider sauber hält und bügelt. 891 Die Stimme dieser Frau wird, genauso wie die Stimmen der Kongo-Urwaldbewohner, in der ganzen Erzählung strukturell zum Schweigen gebracht. Die strategische Auslassung und symbolische ›Tötung‹ der lokalen männlichen und weiblichen Stimmen, wie sie in Joseph Conrads Roman vorkommt, gehört zu jenen nichtdiskursiven Mitteln, die zum Zweck der kolonialen Unterdrückung implizit eingesetzt wurden, um die Grenzlinie zwischen dem Kolonialherrn und dem Kolonisierten punktgenau zu markieren. Fanon nennt solche nicht-diskursive Bestandteile des kolonialen Machtdispositivs „ästhetische Formen des Respekts vor der etablierten Ordnung“. 892 Nicht von geringer Bedeutung war die 889 Ebd. S. 17. Hervorhebung v. mir. 890 Das Buch Weiße Blicke - Schwarze Körper. Afrikaner im Spiegel westlicher Alltagskultur von Joachim Zeller liefert ein Panorama solcher Bilder. Vgl. Joachim Zeller, Weiße Blicke - Schwarze Körper. Afrikaner im Spiegel westlicher Alltagskultur (Anm. 137). Alain Patrice Nganang unterstreicht gerade „die piktorale Aggressivität“, die solche fotosowie kinematographischen Afrika-Bilder ausstrahlen. Vgl. Alain Patrice Ngagang, „Der koloniale Sehnsuchtsfilm. Vom lieben ‘Afrikaner’ deutscher Filme in der NS-Zeit“, in: Susan Arndt (Hg.), Afrika-Bilder. Studien zu Rassismus in Deutschland, herausgegeben unter der Mitarbeit von Heiko Thierl und Ralf Walther, Münster: Unrast-Verlag 2001, S. 232-252, hier S. 242. Vgl. dazu Joachim Zeller, Weiße Blicke - Schwarze Körper (Anm. 137), S. 20. 891 „I could not help asking him how he managed to sport such linen. He had just the fainted blush, and said modestly, „‘I’ve been teaching one of the native women about the station. It was difficult. She had a distance for the work.’“ Joseph Conrad, Heart of darkness (Anm. 1), S. 18. 892 Frantz Fanon, Die Verdammten dieser Erde (Anm. 601), S. 29. 2. Unheimliches Leben: zu den Erscheinungsformen der Marginalität … 250 Ausbildung von einheimischen ›Eliten‹ und deren Einbeziehung als Vermittler oder subalterne Arbeiter in das imperiale Unternehmen. Zu solchen kolonialen Herrschaftspraktiken merkt der Politikwissenschaftler Achille Mbembe Folgendes an: On doit également considérer le régime colonial comme un régime des objets, une vaste syntaxe, faite de cérémonial, de formalités publiques, des hierarchies, de differents rôles et places, de signes de prestige, de pensions, rétributions et gratifications, de régularités: pas seulement une ‘dogmatique’ mais aussi une ‘prosaїque’. Et encore: un ‘savoir-vivre’, des manières de se présenter en public, un ordre particulier de ‘politesses’ et de ‘convenances’, une économie spécifique du besoin, de l´envie, du désir et de la parure. Et c´est à l´interieur de cette unité de domination que se constituait l´identité du colonisé: ce que l´on pourrait nommer sa qualité sociale. Les prohibitions et les normes devaient être inculquées à l´ autochtone de telle manière qu´ interiorisées elles transforment non seulement ses ‘moeurs’, mais l´ ensemble de son économie psychique et, dans la sphère publique, contribuent à la constitution d´ une forme d´ ‘urbanité’ faite de violence, une civilité bien spécifique: la civilité coloniale. 893 Die Handlung in Joseph Roths Die Legende vom heiligen Trinker spielt zwar nicht in Afrika, dennoch bleibt die Tatsache unverkennbar, dass der Protagonist Andreas Kartak aus Polen, und damit einem Land stammt, das in der europäischen Geopolitik der Vor- und Nachkriegszeit als peripher betrachtet wurde. Polen gehört zu den armen ost- oder zentraleuropäischen Ländern, in denen die Menschen auch die Erfahrung von Herrschaft und Macht gemacht haben. 894 Aufgrund bestimmter soziopolitischer Verhältnisse sahen sich die Menschen in diesem - wie in anderen europäischen wie außereuropäischen Ländern - dazu gezwungen ihr Heil in der Auswanderung zu suchen. Die Suche nach neuen Perspektiven ist die Schnittstelle, die Andreas Kartak etwa mit den Migranten aus Martin Pollacks Kaiser von Amerika verbindet. Der Unterschied besteht darin, dass Andreas Kartak ein Arbeitsangebot aus Frankreich erhalten hat und ›legal‹ auswandert. Er steht paradigmatisch für die weltweiten Arbeitssuchenden sowie für die mannigfaltigen Herausforderungen, die mit dieser Daseins-Form zusammenhängen. 895 Aus der Gestalt 893 Achille Mbembe, La naissance du maquis dans le Sud-Cameroun (1920-1960) (Anm. 507), S. 9. Kursivschriften sind Hervervorhebungen i.O. 894 Unter den bedrängten Menschen, die in Martin Pollacks Roman Kaiser von Amerika die Rettung aus der europäischen Misere in der Flucht nach Amerika suchen, befinden sich auch Polen. Vgl. Martin Pollack, Kaiser von Amerika (Anm. 804), S. 24 und 26. Vgl. Walter H. Pehle, Der Judenpogrom 1938. Von der ‘Reichskristallnacht’ zum Völkermord, Mit Beiträgen von Uwe Dietrich Adam, Avrahan Barkai, Wolfgang Benz, Hermann Graml, Konrad Kwiet, Trude Maurer, Hans Mommsen, Jonny Moser, Abraham J. Peck und Wolf Zueler, Frankfurt/ Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1988. 895 Vermieden wird hier die Verwendung der Bezeichnungen ›Arbeitsmigrant‹ oder ›Wirtschaftsflüchtling‹, weil sie m.E. Figuren wie Andreas Kartak als 2.4 Zum unheimlichen Leben der Figur Andreas Kartak … 251 Andreas Kartak lässt sich ablesen, dass die Menschen weltweit mobiler geworden sind. Sie sammeln dadurch Erfahrungen und definieren sich neu beziehungsweise werden neu definiert. Die Migrationsfrage bildet zwar nicht die zentrale Fragestellung dieser Untersuchung, aber die Auseinandersetzung mit dem Migrantenleben der Figur Andreas Kartak in Joseph Roths Die Legende vom Heiligen Trinker hat dieses Fenster geöffnet. Eine der Eigentümlichkeiten von Roths Texten besteht eben darin, Debatten zu öffnen, die es verdienen, kritisch weiter diskutiert zu werden. Das ist unter anderen eine der Aufgabenstellungen dieser Untersuchung. Es ist an dieser Stelle nötig daran zu erinnern, dass es eben die Feststellung seiner Gefangenschaft in einem durch das Geld verkörperten Machtdispositiv, die Andreas Kartak anspornt, einen kritischen Blick in sein Migrantenleben zu werfen. Dennoch stellt sich neben der machtpolitischen Dimension des Geldes die Institution Kirche, die in Die Legende vom heiligen Trinker die Züge vom Andreas Kartaks Gewissen annimmt, als Bestandteil des Machtdispositivs heraus. 2.4.2 Die Kirche, das Gewissen oder das Gesetz als Institution und Andreas Kartaks unbewusster Widerstand David Bronsen stellt die These auf, dass Andreas Kartak „die theologischen Tugenden, die zur Definition eines Heiligen gehören, nämlich spes (Hoffnung), fides (Glaube) und caritas (Nächtensliebe)“ 896 erfülle. Darüber hinaus versucht Bronsen, bei Andreas Kartak die Eigenschaften des Trinkers zu identifizieren. Andreas Kartak wird vorschnell als jemand hingestellt, der an der Erfüllung eines Auftrags, an der Erfüllung seiner Existenz gescheitert ist. 897 Dass die Kirche und das Geld Bestandteile des unsichtbar wirkenden Machtdispositivs sind, bleibt bei David Bronsens Analyse unberücksichtigt. Laut Auftrag soll Andreas Kartak dem Priester die ›zweihundert Francs‹ Unsicherheitsfaktoren implizit hinstellen und den Potenzialitäten solcher Figuren nicht gerecht werden. Homi Bhabha weist u.a. auch auf solche unheimlichen Lebensformen hin, indem er auf die Schicksale von Migranten, Flüchtlingen, Asylanten, Exilierten und Deportierten in den Empfangsländern aufmerksam macht: „I have lived that moment of the scattering of the people that in other times and other places, in the nations of others, becomes a time of gathering. Gatherings of exiles and émigrés and refugees; gathering on the edge of ´foreign´ cultures; gathering at the frontiers; gatherings in the ghettos or cafés of city centres; gathering in the half-life, half-light of foreign tongues, or in the uncanny fluency of another´s language; gathering the signs of approval and acceptance, degrees, discourses, disciplines; gathering the memories of underdevelopment, of other worlds lived retroactively; gathering the past in a ritual of revival; gathering the present.“ Homi K. Bhabha, „Time, narrative and the margins of the modern nation“, in: ders. The Location of Culture (Anm. 365), S. 139-170, hier S. 139. 896 David Bronsen, Joseph Roth: eine Biographie (Anm. 10), S. 583. Hervorhebung i.O. 897 Vgl. ebd. S. 586. 2. Unheimliches Leben: zu den Erscheinungsformen der Marginalität … 252 unmittelbar nach der Messe aushändigen. Andreas scheint aber unbewusst Widerstand gegen das Gewissen, gegen die Kirche zu leisten, die ebenfalls ein Moment des gewaltvollen Dispositivs bildet. 898 Aus einem Zitat, das Foucault in Überwachen und Strafen anführt 899 - nicht um die Religion, sondern um die Wende zu analysieren, die sich in Europa zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert in der Rechtfertigung der Strafe vollzog -, geht hervor, dass die Religion unter anderem das Ziel verfolgt, die wölfischen, dämonischen Triebe des Menschen zu zähmen und zu bändigen. Der Religion wird fast eine kathartische, zivilisatorische Mission zugeschrieben sie wird daher der Vernunft gleichgesetzt und mithin als dem Wahnsinn, dem Anderen der Vernunft zuwider betrachtet. Der Begriff Vernunft bei Foucault steht paradigmatisch für jene Mechanismen und Dispositive, die die positive Gesellschaft, die aufgeklärt-rationale Gesellschaft vor bedrohenden, abnormalen Erscheinungen schützen soll. 900 Aus dieser Perspektive wird unter anderem eine religiöse Erscheinung wie das Christentum 901 , mit dem Andreas Kartak konfrontiert ist, 898 Im Roman Die Rebellion setzt Andreas Pum das Gefängnis und die Kirche - im Foucault’schen Sinne als Bestandteile des Machtdispositivs als überwachende und strafende Strukturen - gleich: „So lag das Gefängnis, das Land beherrschend, heilig wie eine Kirche und finster wie ein gemauertes Gesetz“ (JRW 4, 305). 899 „Ich kann nur hoffen, daß die Zeit nicht mehr fern ist, in der die Galgen, der Pranger, das Schafott, die Peitsche und das Rad in der Geschichte der peinlichen Strafen als Zeichen der Barbarei von Jahrhunderten und Ländern betrachtet werden und als Beweise dafür, wie schwach der Einfluß der Vernunft und der Religion auf den menschlichen Geist ist.“ „B. Rush vor der Society for promoting political enquiries“, in: N. K. Teeters, The Cradle of the penitentiary, 1935, S. 30. Zitiert nach Michel Foucault, Überwachen und Strafe (Anm. 371), S. 18. 900 Wie Subjekte durch die und in der positive(n) moderne(n) Gesellschaft in normale und anormale Erscheinungen unterschieden werden, und vor allem wie diese Subjekte kontrolliert, bestraft, produziert, ein- und ausgeschlossen werden, untersucht Michel Foucault in zahlreichen Texten u.a. vgl. Michel Foucault, Überwachen und Strafen, ebd. Vgl. ders. Das Leben der infamen Menschen (Anm. 415). Vgl. ders. Die Anormalen, Vorlesung am Collège de France (1974-1975), aus dem Französischen von Michaela Ott und Konrad Honsel, Frankfurt/ Main: Suhrkamp Verlag 2003. Titel der französischen Originalausgabe: Les anormaux, Cours au Collège de France (1974-1975), Paris: Seuil/ Gallimard 1999. Vgl. ders. Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, aus dem Französischen von Walter Seitter, Frankfurt/ Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1988. Titel der französischen Originalausgabe: Naissance de la clinique, Presses Universitäires de France 1963. Vgl. ders. Die Macht der Psychiatrie, Vorlesung am Collège de France 1973-1974, herausgegeben von Jacques Lagrange, aus dem Französischen von Claudia Brede- Kronersmann und Jürgen Schröder, Frankfurt/ Main: Suhrkamp Verlag 2005. Originalausgabe: Le pouvoir psychiatrique, Paris: Gallimard/ Seuil 2003. Vgl. ders. Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit, erster Band, übersetzt von Ulrich Raulf und Walter Seitter, Frankfurt/ Main: Suhrkamp Verlag 1977. Vgl. ders. Die Sorge um sich. Sexualität und Wahrheit, dritter Band, übersetzt von Ulrich Raulff und Walter Seitter, Frankfurt/ Main: Suhrkamp Verlag 1986. 901 An diese Stelle könnte auch irgendeine Religion auftreten. 2.4 Zum unheimlichen Leben der Figur Andreas Kartak … 253 zum Moment des Dispositivs. Andreas Kartak ist ein Gläubiger im doppelten Sinn des Wortes, erstens, dass er an Gott glauben kann oder nicht, zweitens, dass er auch ein Schuldner Gottes sei. So betrachtet, schuldet Andreas Kartak nicht der heiligen Therese, sondern Gott Geld. Die Religion - wie das Geld - stellt ein Dispositiv in sich dar. Geld ist zur Glaubenssache geworden. Es steht in Konkurrenz zur Religion und zu Gott. Andreas setzt das für die Kirche gespendete Geld in eigene Bedürfnisse um. Immer wieder widerfährt ihm ein Wunder, nachdem er die ›zweihundert Francs‹ verprasst hat. Er lebt im bewussten oder unbewussten Widerstand gegen die Machtstrukturen, gegen sein Gewissen, gegen die Kirche und gegen das Gesetz, gegen eine Vor-Schrift, die im ganzen Text in der Gestalt der allgegenwärtigen, allmächtigen Stimme des Auftraggebers präsent und absent ist: die Stimme ›Gottes‹. Von unbewusstem Widerstand kann wohl deswegen die Rede sein, weil er sich gerne an jenen Orten - Bars, Tanzlokalen, Kinos, Kneipen, Tavernen - aufhält, die dem ›sakralen Ort‹ Kirche gegenüber als ›profane Räumlichkeiten‹ bezeichnet werden könnten. Die Erzählerfigur nimmt Andreas’ Widerstand wahr und empfindet ihm nach: So sind die Menschen - - und was wollten wir anderes von Andreas erwarten? Den Rest des Tages verbrachte er also in verschiedenen anderen Tavernen, und er gab sich bereits damit zufrieden, daß die Zeit der Wunder, die er erlebt hatte, vorbei sei, endgültig vorbei sei, und seine alte Zeit nun wieder begonnen habe. Und zu jenem langsamen Untergang entschlossen, zu dem Trinker immer bereit sind - Nüchterne werden das nie erfahren! (JRW 6, 528). Die rhetorisch gestellte Frage und der Ton der ganzen Aussage lassen die Frage zu, ob die Erzählerfigur ein Auge des Machtdispositivs sein könnte oder ob diese transzendentale Figur Andreas Kartak bemitleidet bzw. mit ihm sympathisiert. Was Andreas braucht, ist weder Mitleid noch Sympathie, sondern eine Rettung aus der endlosen, erniedrigenden Arbeitslosigkeit, eine Rettung aus seinem marginalen Leben. Er ist sichtlich ›seinem Schicksal‹ machtlos überlassen. Die Erzählerfigur, die aus der Perspektive von Andreas Kartak zu sprechen scheint, gibt implizit zu verstehen, dass er sich vielmehr - und vielleicht lieber - zum Trinker-Dasein als zum Christentum bekennt. Durch den Alkoholkonsum, durch das Aufsuchen solcher Orte oder Nicht- Orte versucht Andreas, seinem Leben einen oder/ und keinen Sinn zu geben. Das Trinken von Alkohol oder der Tavernenbesuch bedeutete für ihn einen Augenblick der Selbstartikulierung. Die Brücken des Pariser Flusses ›Seine‹ 902 stellen wiederum bedeutende Räume der Selbstartikulierung sowie der 902 Ein Fluss, der dialogisch an den Londoner Fluss Themse aus Joseph Conrads Heart of darkness erinnert, der als Fluss des Lichtes, als ›Fluss-emeritus‹ im Gegensatz zu dem Fluss Kongo dargestellt wird. Wobei dieser letztere Fluss aus der kolonialen Perspektive der Erzählerfigur Marlow unter dem Zeichen der Dunkelheit bzw. der Finsternis steht. Vgl. Joseph Conrad, Heart of darkness (Anm. 1), S. 4. 2. Unheimliches Leben: zu den Erscheinungsformen der Marginalität … 254 Subversion etablierter Ordnung dar. Die Bewohner der Brücke, Andreas Kartaks Unheilgenossen, gehen nicht in die Kirche. Ein alternativer Titel für diesen Text könnte also auch Die Rebellion lauten. Es wird hier dialogisch auf Andreas Pums Aufbegehren gegen weltliche und zeitliche Mächte in Roths Roman Die Rebellion sowie auf die Rebellion der Figur Mendel Singer aus dem Roman Hiob verwiesen. Andreas Pum aus Die Rebellion, Andreas Kartak aus Die Legende vom heiligen Trinker und Mendel Singer aus Hiob werden in dieser intertextuellen Lesart zu Brüdern in ihrem jeweiligen Aufbegehren gegen weltliche und zeitliche Mächte. Eine weitere Stelle, die Andreas Kartaks geistige Einstellung gegenüber der etablierten Ordnung deutlich macht, ist die in den Text eingebaute filmische Szene, nämlich der „Film vom Mann, der durch die sonnverbrannte Wüste geht“ (JRW 6, 531), den sich Andreas Kartak im Kino ansieht und der in Form einer Erzählung in den Text einmontiert ist. Es handelt sich um einen Mann, der durch die sengende Wüstensonne geht und dem Tod nahe ist. Andreas Kartak ist im Begriff, dem Helden eine gewisse Sympathie entgegenzubringen (vgl. ebd.), als plötzlich das Kinostück eine unerwartet glückliche Wendung nahm und der Mann in der Wüste von einer vorbeiziehenden wissenschaftlichen Karawane gerettet und in den Schoß der europäischen Zivilisation zurückgeführt wurde. Hierauf verlor Andreas jede Sympathie für den Helden des Films (ebd.). Dieser Moment der Intermedialität im Text gibt Aufschluss über Andreas Kartaks geistige Verfassung. Er befindet sich im Widerstand gegen die etablierte Ordnung bzw. gegen den europäischen, kapitalistischen Kulturimperialismus, obwohl er selbst die Erfahrung macht, dass ein gewisses symbolisches Kapital auch dazu gehört. Es gilt die orientalische bzw. koloniale Struktur aufzudecken, die in diesem eingebauten filmischen Moment am Werk ist. Die Wüste wird als lebensfeindlicher und barbarischer Ort konstruiert und binär der ›europäischen Zivilisation‹ gegenübergestellt. Die Wüste, von der es hier die Rede ist, scheint ein Index für die afrikanische Sahara-Wüste zu sein. Denn der Leser erfährt von einer wissenschaftlichen Karawane, die durch diese Wüste zieht. Dieses bunte Bild erinnert an die Epoche des Wettlaufs um Afrika im 19. und 20. Jahrhundert. Eine Unmenge von Forschern, Wissenschaftlern, darunter auch Abenteurer, ließ sich auf den ›dunklen‹ Kontinent ein, um Land, Menschen und Umwelt zu erforschen bzw. zu ›zivilisieren‹, wie es im vorhin erwähnten Film suggeriert wird. Dass ein gewisses symbolisches Kapital nicht kurzerhand über Bord geworfen werden kann, lässt sich am Beispiel von Andreas Kartak selbst und vor allem von Kanjak, Andreas Kartaks ehemaligem Schulfreund, feststellen, der sich zu einer berühmten globalen Fußballikone emporgespielt hat. Andreas Kartak ist nämlich im Besitz von „neunhundertachtzig Francs“ (ebd.) und zahlt seine Schulden trotzdem nicht zurück. Der Besitz dieser Summe stärkt 2.4 Zum unheimlichen Leben der Figur Andreas Kartak … 255 sein Selbstwertgefühl sowie sein Selbstbewusstsein. Er macht sich lieber auf die Suche nach Kanjak, der sich laut Kinoberichten in Paris aufhalten soll (vgl. ebd.f). Den Schulfreund findet Andreas Kartak schließlich „in einem Hotel in den Champs-Elysées“ (ebd.). Kartaks elendes Äußeres fällt Kanjak auf den allerersten Blick auf. Andreas zieht in ein Zimmer ein, dessen Miete von Kanjak bezahlt wird, „‘[…] einfach zu dem Zweck dir einen Anzug schenken zu können. Komm! ’“ (JRW 6, 532). Künftighin hat Kartak eine feste Wohnadresse und zum ersten Mal ein eigenes Zimmer, ein Luxuszimmer sogar: „Nummer neunundachtzig“ (JRW 6, 533), „im fünften Stock gelegen“, „in der Nähe der großartigen Kirche von Paris, die unter dem Namen ‘Madeleine’ bekannt ist“ (JRW 6, 532). Andreas genießt das Hotelleben. Er flirtet mit dem Mädchen des Zimmers Nummer siebenundachtzig, einer Kasinotänzerin namens Gabby, die überdies einen Teil seines Geldes stiehlt (vgl. JRW 6, 535f). Andreas ist sich vollkommen bewusst, dass dieses aufwendige Leben ihn daran hindert, seinen Auftrag zu erfüllen. Zum wiederholten Mal versucht er in die Kirche zu gehen, kommt aber immer knapp nach Beginn oder Ende der Messe. Immer wieder tritt Unvorhergesehenes ein, was ihn von der Erfüllung des Auftrags ablenkt. Dieses Unvorhergesehene ist in seinen Erscheinungsformen vielfältig, der Anblick einer Kneipe oder einer Taverne, die Begegnung mit altbekannten Freunden bzw. Freundinnen (Karoline, Kanjak, Woitech) oder zufällige Treffen mit Menschen (der Tänzerin Gabby). Andreas schafft es sogar, den Kirchensaal zu betreten. Aber ausgerechnet mitten in der Messe wird er von Woitech, einem alten Leidensgenossen, angesprochen, der ihn anfleht, ihn mit hundert Francs finanziell unter die Arme zu greifen, damit auch er eine alte Schuld zurückzahlen kann, denn sonst käme er ins Gefängnis (vgl. JRW 6, 538f). Andreas kommt seinem Genossen zu Hilfe, indem er ihm „die ganzen Zweihundertscheine“ spendet (JRW 6, 539). Nichts verbindet Andreas Kartak mit der Institution Kirche außer dieser Schuld. Darüber hinaus fühlt er sich weniger der Kirche als vielmehr der kleinen heiligen Thérèse gegenüber schuldig. Er verlässt sofort die Messe, um sich zu Woitech in der gegenüberliegenden Kneipe zu gesellen (vgl. ebd.). Im Grunde hat Woitech Andreas Kartak betrügerisch um sein Geld gebracht. Er schuldet nämlich in Wirklichkeit niemandem etwas. Mit dem erschwindelten Geldbetrag lädt er Kartak unbekümmert zu einem Trunk und zum Bordellbesuch ein (vgl. ebd.). Die letzte Szene der Erzählung zeigt einen Andreas, der wie zu Anfang ein Wunder erlebt. Die allerletzten Geldscheine bekommt Andreas geschenkt von einem kleinen Mädchen namens Thérèse, das Andreas zufällig in der Nähe der Kapelle trifft. Andreas sieht in dem Mädchen die Verkörperung der ›heiligen Thérèse von Lisieux‹ und spricht sie wie folgt an: „‘[…] Ich bin Ihnen seit langem zweihundert Francs schuldig. Und ich bin nicht mehr dazu gekommen, sie Ihnen zurückzugeben, heiliges Fräulein! ’“ (JRW 6, 543). Das Mädchen, das angeblich auf ihre Eltern wartet, will in Andreas einen verwirrten Hilfsbedürftigen sehen. Deshalb gibt es ihm Geld. Unmittelbar nach dieser Begegnung mit dem geheimnisvollen Fräulein fällt 2. Unheimliches Leben: zu den Erscheinungsformen der Marginalität … 256 Andreas mitten im Bistro um. Sein Körper wird in die Sakristei einer nahe liegenden Kapelle geschleppt, in der er stirbt - mit dem geschuldeten Geld in der Tasche. Es lässt sich fragen, ob Andreas Kartaks plötzlicher Tod mitten in einem Bistro als eine göttliche Strafe, eine Strafe des Machtdispositivs aufzufassen ist: Strafe für die Nicht-Einlösung der Vor-Schrift bzw. des Gesetzes. 2.4.3 Zur Vielschichtigkeit und Vielfältigkeit des Raumes der Marginalität Sowie es in Derridas Dekonstruktion der logozentrischen Tradition keineswegs darum geht, „die Schrift von Schuld reinzuwaschen“, 903 geht es in Joseph Roths Texten - sowie in dieser Arbeit - nicht darum, eine in Marginalisierte und Maginalisierende geteilte Welt zu schildern. Was sich aus den analysierten Texten Roths - Die Legende vom heiligen Trinker, Die Rebellion und Hiob - und vornehmlich aus der Erschließung der psycho-sozioaffektiven Welt der Figuren - Andreas Kartak, Andreas Pum, Mendel Singer - ableiten lässt, ist, dass der Raum der Marginalität ein vielschichtiger, komplexer, ambivalenter Raum ist. Was man als Raum der Marginalität bezeichnet oder bezeichnen könnte, sieht - von einem Land zum anderen, von einer Gesellschaft zur anderen, von einer Familie zur anderen, von einem Subjekt zum anderen - unterschiedlich aus. Marginalität lässt sich daher nicht als Essenz definieren, sondern vielmehr als etwas Relationales, als etwas soziopolitisch von Machtbzw. Wissensdispositiven Konstruiertes. 904 In seiner Machtanalyse lehrt uns Foucault, dass die Macht nicht nur unterdrückt, sondern dass sie auch produziert. Sie produziert das Wirkliche und das Subjekt. 905 Die produktive Dimension der Macht lässt sich m.E. keinesfalls auf die Tatsache beschränken, dass es das Wirkliche, das Individuum produziert. Die Produktivität der Macht lässt sich auch dadurch wahrnehmen, dass sie die 903 Jacques Derrida, Grammatologie (Anm. 219), S. 66. 904 Eine Anregung von Michel Foucault, der die Macht als etwas Relationales, Dezentrales, Geflechtartiges, Produktives und vor allem Ambivalentes definiert. Vgl. ders, Überwachen und Strafen (Anm. 371), S. 38f., 80f., 105f., 174f., 249f. Vgl. ders. Analytik der Macht (Anm. 757), S. 69-73f. Vgl. ders. Von der Subversion des Wissens, herausgegeben und aus dem Französischen und Italienischen übertragen von Walter Seitter, München: Fischer Taschenbuch Verlag 1987, S. 112. Foucault weist jene Machttheorie zurück, die einem Monolog der souveränen Macht den Vorrang gibt. „On demeure attaché à une certaine image du pouvoir-loi, du pouvoir-souveraineté que les théoriciens du droit et l´institution monarchique ont dessinée. Et c´est de cette image qu´il faut s´ affranchir, c´est-à-dire du privilège théorique de la loi et de la souveraineté, si on veut faire une analyse du pouvoir dans le jeu concret et historique de ses procédés. Il faut bâtir une analytique du pouvoir qui ne prendra plus le droit pour modèle et pour code.“ Michel Foucault, Histoire de la sexualité I (Anm. 735), S. 118f. Foucaults genealogisches Denken und Schreiben lässt sich, anders ausgedrückt, als eine Auseinandersetzung mit der Phänomenologie der Macht deuten. 905 Vgl. Michel Foucault, Überwachen und Strafen, ebd. S. 249f. 2.4 Zum unheimlichen Leben der Figur Andreas Kartak … 257 Subjekte, die sie produziert, ständig in das gesellschaftliche Kräfteverhältnis platziert und de-platziert. Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, wird die Erfahrung der Marginalität bzw. des Unheimlichen als etwas Relationales bestimmt. Der Ansatz der Relationalität der Marginalität eröffnet den Blick auf die kritische Perspektive von Gayatri Chakravorty Spivak. Spivak warnt davor, die Schlagworte ›Marginalität‹ oder ›Dritte Welt‹, die in der postkolonialen Kulturtheorie zu zentralen Forschungsgegenständen geworden sind, in neue orientalische Konstruktionen zu verwandeln. 906 Um jede essentialistische Auffassung von Marginalität zurückzuweisen, bezeichnet Gayatri Spivak Marginalität als „a position without identity“. 907 „‘Marginality’ […] is in fact the name of a certain constantly changing set of representations that is the condition and effect of it“ 908 , verdeutlicht Spivak. Dazu schreibt Homi Bhabha: „The marginal or ‘minority’ is not the space of a celebratory, or utopian selfmarginalization.“ 909 Der Raum der Marginalität wird zu einem Raum, den ein Subjekt augenblicklich bewohnen und aufgrund veränderter Machtkonstellationen auch verlassen kann. Man kann in ihn hineingeraten und gleichzeitig sich wieder herausarbeiten. Dabei spielen nicht nur ›subjektive Kräfte‹ des Individuums eine Rolle, sondern vor allem auch die Machtdispositive. Denn ›subjektive Kräfte‹ werden mehr oder weniger von Machtdispositiven strukturiert. Wenn Foucault in Analytik der Macht den Wahnsinn analysiert, spielt er auf eine Erscheinungsform der Marginalität an. Foucault merkt an: Inmitten der abgeklärten Welt der Geisteskrankheit kommuniziert der moderne Mensch nicht länger mit dem Wahnsinnigen: Auf der einen Seite gibt es den Menschen der Vernunft, der für den Wahnsinn den Arzt abstellt und damit nur durch die abstrakte Universalität der Krankheit einen Bezug zu ihm gestattet; auf der anderen Seite gibt es den Menschen des Wahnsinns, der mit dem anderen allein vermittels einer ganz ebenso abstrakten Vernunft kommuniziert, welche Ordnung, physischer und moralischer Zwang, anonymer Druck der Gruppe und Forderung nach Konformität ist. Eine gemeinsame Sprache, 906 Spivak schreibt: „we are now involved in the construction of a new object of investigation - ‘the third world’, ‘the marginal’ - for institutional validation and certification. One has only to analyse carefully the proliferating but exclusivist ‘Third World-ist’ job descriptions to see the packaging at work. It is as if, in a certain way, we are becoming complicitious in the perpetration of a ‘new orientalism’.“ Gayatri Chakravorty Spivak, „Poststructuralism, Marginality, Postcoloniality and Value“, in: Peter Collier/ Helga Geyer-Ryan (Hg.), Literary theory today (Anm. 524), S. 222.. 907 Aus der Rede von Gayatri Schakravorty Spivak, „ The subaltern and the popular. The trajectory of the subaltern in my Work “ , gehalten im Rahmen der Sendung „ Voices “ , eine Sendung der University of California Television San Diego September 2004, hochgeladen in YouTube von UCTelevision am 7. Februar 2008. 908 Gayatri Chakravorty Spivak, „Poststructuralism, Marginality, Postcoloniality and Value“ (Anm. 524), S. 227. 909 Homi K. Bhabha, „Introduction: narrating the nation“, in: ders. (Hg), Nation and Narration (Anm. 4), S 4. 2. Unheimliches Leben: zu den Erscheinungsformen der Marginalität … 258 dergleichen gibt es nicht, oder besser, es gibt sie nicht mehr; die Konstitution des Wahnsinns als Geisteskrankheit am Ende des 18. Jahrhunderts macht die Feststellung eines abgebrochenen Dialogs geltend, gibt die Trennung als bereits vollzogen aus und verschlägt all jene nicht perfekten, ohne feste Syntax und ein wenig stammelnd gebildeten Wörter, in denen der Austausch zwischen Wahnsinn und Vernunft erfolgte, ins Vergessen. Die Sprache der Psychiatrie, die ein Monolog der Vernunft über den Wahnsinn ist, konnte allein auf einem solchen Schweigen errichtet werden. 910 Foucaults Darstellung geht über eine einfache Anspielung auf eine Erscheinungsform der Marginalität hinaus; es geht ihm eher darum, die Relationalität von Wahnsinn und Nicht-Wahnsinn, von Unvernunft und Vernunft sichtbar zu machen. Marginalität wird als eine Relation verstanden. Dabei besteht die Relationalität bzw. das Verhältnis des Wahnsinnigen zum Nicht- Wahnsinnigen unter anderem darin, dass ihr Verhältnis zueinander von der monologischen Sprache der Psychatrie bedingt, bestimmt und festgelegt wird. Wenn Foucault von Psychiatrie spricht, wird sowohl die Disziplin als auch die ›zivilisierte Gesellschaft‹ mit deren jeweiligen Praktiken mitgemeint. Foucaults Überlegungen ermöglichen einen Brückenschlag zu Joseph Roths Gesellschaftsdiagnose in Die Rebellion, Hiob, Die Legende vom Heiligen Trinker usw. Joseph Roth liefert durch seinen Roman Die Rebellion die Diagnose einer Gesellschaft, die sich über ihre eigenen Behinderungen und Probleme im Unklaren ist. Im Unklaren stehen Menschen, die ihr Leben für die ›Nation‹ geopfert haben und es weiter tun. In dieser desolaten Welt wird Andreas Pum zu Beginn des Romans als Nutznießer umso mehr dargestellt, als er die unter den Kriegsinvaliden herrschenden inneren, strukturell bedingten Asymmetrien ausnutzt, um sich zu positionieren. Andreas Pum verabschiedet sich aber von seinen Illusionen und begehrt gegen das Machtdispositiv erst auf, als er vom Räderwerk des Gesetzes erfasst wird. Aus dieser von Pum erlebten Erfahrung zeigt sich, dass Marginalität einerseits ein Standort sein könnte. Mit dieser Bezeichnung wird erstens eine Stellung artikuliert, die das Subjekt willentlich strategisch einnehmen kann: strategische Marginalität oder strategische Selbstmarginalisierung, zweitens wird auf einen unbewussten Widerstandsakt verwiesen, drittens auf die Möglichkeit einer Wiederholung, nämlich die Wiederholung der strategischen Selbstmarginalisierung. Andererseits zeigt sich Marginalität als eine Stellung, in die das Subjekt unwillentlich durch die Machtdispositive gedrängt werden kann: strukturelle Marginalität oder strukturelle Marginalisierung. 910 Michel Foucault, Analytik der Macht (Anm. 754), S. 8. Die unter dem Titel Analytik der Macht zusammengestellten Texte sind erstmals in der Ausgabe der Dits et Ecrits. Schriften in vier Bänden (2001-2005) erschienen. Die französische Originalfassung dieser Texte erschien in Editions Gallimard: Paris 1994. 2.4 Zum unheimlichen Leben der Figur Andreas Kartak … 259 Im Roman Hiob erlebt der Leser die Figur Mendel Singer in unterschiedlichen Phasen. In Zuchnow zeigt sich Mendel Singer niedergeschlagen. Er gehört zu den Subalternen der russisch-europäischen Gesellschaft. Um die Grundlagen ihres Lebens zu ändern, fasst die Familie den Entschluss, nach Amerika auszuwandern. Dies gelingt ihr dank der Hilfe des Sohnes Schemarjah/ Sam, der der Familie nach Amerika vorangereist ist und dort in die New Yorker Mittelschicht avanciert. Die Familie Mendel Singer erlebt die amerikanische Gesellschaft aus jener Position, die sich Schemarjah und dessen Geschäftspartner Mac geschaffen haben. Sam und Mac arbeiten hart. Sie konsumieren und lassen konsumieren. Auf einmal hat die ganze Familie den Eindruck, ihre einstige gesellschaftliche Randstellung verlassen zu haben. Die Familie ist aber allmählich mit Herausforderungen konfrontiert, die alle Angehörigen treffen und vor allem Mendel Singer zu der Einsicht führen, dass sich die Familie einigermaßen getäuscht hat. Die Grenze zwischen dem kümmerlichen Leben im jüdischen Ghetto im Schtetl Zuchnow sowie später im New Yorker jüdischen Ghetto in der Essex Street erweist sich als sehr schmal. Diese Einsicht der Selbsttäuschung bzw. der Desillusion wird umso schärfer und schmerzvoller, als die Nachricht von Sams Tod an der Front die Familie Mendel Singer erreicht. Deborah fällt in Ohnmacht und stirbt. Beide Zwischenfälle verwirren Mirjam, die in eine Irrenanstalt eingeliefert wird. Mendel Singer steht am Rande des Abgrunds, lästert gegen Gott und hegt Selbstmordgedanken. Seine Umwelt stärkt ihm den Rücken, aber gleichzeitig lässt sie ihn spüren, dass sich die Verhältnisse verschoben haben, bis ein Wunder geschieht: das unverhoffte Wiedersehen von Vater und Sohn. Menuchim, der Sohn, der aufgrund seiner körperlichen und geistigen Behinderungen an den äußersten Rand von Familie und Gesellschaft gedrängt wurde, ist auf wundersame Weise geheilt und befreit den Vater und die ganze Familie durch seine Tätigkeit aus dem marginalen Raum. Aus Menuchim ist ein begabter und weltberühmter Komponist geworden. Die Machtverhältnisse haben sich erneut verschoben und Mendel Singer kann die Gesellschaft wieder aus einer privilegierten Position betrachten. Man kommt dabei nicht umhin, zu erkennen, dass die jüdische Gemeinde selbst eine marginale Stellung in dieser New Yorker Gesellschaft besetzt. Die meisten von ihnen sind Schuster, Krämer, Ladenbesitzer, Salonbesitzer, Friseure, Lebensmittelhändler, Kleinhändler; sie bewohnen eine dunkle Gasse. Der verstorbene Sam scheint der Einzige zu sein, der es geschafft hatte, sich als Geschäftsmann durchzusetzen. Dass der Raum der Marginalität etwas strukturell Bedingtes sein könnte, dafür bringt die Figur Andreas Kartak - aus Die Legende vom heiligen Trinker - den krassen Nachweis. Andreas lebt in Frankreich ohne Papiere. Dennoch ist er als Kohlenarbeiter ausgewiesen, „er war als Kohlenarbeiter nach Frankreich gekommen, und er stammte aus Olschowice, aus dem polnischen Schlesien“ (JRW 6, 527). Das Selbstwertgefühl des Migranten Kartak sinkt und steigt mit dem Besitz oder Nicht-Besitz von Geld: 2. Unheimliches Leben: zu den Erscheinungsformen der Marginalität … 260 Und auf einmal begann er, der niemals auf Geldbesitz Wert gelegt hatte, den Wert des Geldes zu schätzen. Auf einmal fand er, daß der Besitz eines Fünfzigfrancsscheins lächerlich sei für einen Mann von solchem Wert und daß er überhaupt, um auch nur über den Wert seiner Persönlichkeit sich selbst klarzuwerden, es unbedingt nötig habe, über sich selbst in Ruhe bei einem Glas Pernod nachzudenken (ebd.). Andreas macht nunmehr sein Glücksgefühl vom Besitz von Geldscheinen abhängig. Geld- und Alkoholsucht verlaufen parallel und überkreuzen sich. Sobald er die Scheine in seiner Tasche nicht mehr spürt, fällt er in das alte geistige Elend zurück und wird darüber hinaus von Gewissensbissen geplagt, seine Schuld der ›heiligen Therese‹ gegenüber nicht beglichen zu haben. Die gesellschaftlichen Verhältnisse schränken die Möglichkeiten des Migranten Andreas Kartak erheblich ein. Er lebt von Gelegenheitsjobs und sieht sich dazu gezwungen, von der Hand in den Mund zu leben. Der Zugang zum Arbeitsmarkt ist ihm aufgrund der Tatsache verwehrt, dass er keine gültige Aufenthaltserlaubnis mehr besitzt, seitdem er einen Mord an seinem Gastgeber verübt hatte und dafür zwei Jahre im Gefängnis sitzen musste. Dazu kommt, dass er wegen der Etikettierung als Krimineller juristisch und gesellschaftlich als vorbelastet gilt. Dies könnte einer der Gründe sein, warum er in der Welt der Obdachlosen gelandet, der Trunksucht und vor allem in den Teufelskreis der finanziellen Misere verfallen ist. Dass Marginalität eine vom Subjekt bewusst ausgewählte politische Strategie sein kann, lässt sich anhand des Kriegsheimkehrers Gabriel Dan aus Roths Frühwerk Hotel Savoy (1924) veranschaulichen, der laut Ulrich Greiner sich auch, wie zahlreiche andere Roth-Figuren, 911 den süßen Schmerz der Einsamkeit zufügt. 912 Der Begriff Marginalität umfasst hier das gesellschaftpolitische, psychoaffektive Phänomen der Einsamkeit. Und die Einsamkeit bei Joseph Conrad ist genau der Moment, in dem der Mensch sich selbst und seine Umwelt neu entdeckt, seine Stärken und Schwächen kennen- und schätzen lernt. Die Analyse der Texte Die Rebellion, Hiob und Die Legende vom heiligen Trinker hat ergeben, dass diese Texte keineswegs eine schwarz-weiße Welt, keine in Marginalisierte und Marginalisierende geteilte Welt malen. Die Verhältnisse sind umso komplexer, als es sogar unter denjenigen, die den Raum der Marginalität symbolisch bewohnen, Machtasymmetrien gibt. Der am Anfang patriotisch gesinnte Andreas Pum belegt dies durch sein Verhalten am deutlichsten. Er sitzt im selben Boot wie die anderen Invaliden. Darüber hinaus lässt sich am Beispiel des Posamenteriehändlers Arnold bekräftigen, dass der Besitz materieller Reichtümer bzw. der Besitz eines Machtplus nicht 911 Carl Joseph Trotta, Andreas Kartak, Anselm Eibenschutz, Andreas Pum, Mendel Singer, Graf Morstin, Die Kaiser-Figur, Franz Ferdinand Trotta, Franz Tunda, usw. 912 Vgl. Ulrich Greiner, „Joseph Roth“, in: Daniel Keel et al., Joseph Roth. Leben und Werk (Anm. 53), S. 226. 2.4 Zum unheimlichen Leben der Figur Andreas Kartak … 261 gegen die Erfahrung des Unheimlichen immun macht. 913 Arnold, der sich an seiner Sekretärin, einer Frau aus kleinen Verhältnissen, vergreift und sich für unantastbar glaubt, ist mit den ersten Anzeichen einer aufkeimenden Rebellion konfrontiert und stellt letztendlich fest, dass er ein ›Niemand‹ ist (vgl. JRW 4, 279). 914 In Bezug auf die Ein- und Ausgrenzungspraktiken, mit denen europäische ostjüdische Migranten konfrontiert waren, stellt Joseph Roth - in Juden auf der Wanderschaft - die radikale These auf, „daß unser ganzes Leben eine Quarantäne ist und alle unsere Länder Baracken und Konzentrationslager, allerdings mit modernstem Komfort“ (JRW 2, 832). Trotz des bedingungslosen Tons dieser Aussage profiliert sich Joseph Roth keineswegs als ein radikaler Schriftsteller oder Denker. Der Raum der Marginalität, in der sich Roths Figuren bewegen, stellt sich nicht als einheitlicher, homogener oder exklusiver Raum heraus. Er zeichnet sich vielmehr durch Ambivalenz der Machtpositionen aus. Die Verhältnisse zwischen dem Ehepaar Andreas Pum und Katharina Blumich einerseits und in der Familie Mendel Singer andererseits sprechen Bände. In der Familie Singer z.B. lösen sich die Kinder von der elternlichen Autorität los. Mendel Singer und Deborah sehen sich dadurch in eine gewisse Marginalität gedrängt. Man kann in den sog. Raum der Marginalität - gemäß den Konstellationen - zu einer Machtposition kommen, die aber dennoch brüchig ist und gültig bleibt, solange das herrschende Dispositiv die errungene Machtstellung unterstützen kann. In dieser Hinsicht erweist sich das Leben als Raum der Marginalität schlechthin, in dem erstens keiner oder keine sich einer erkämpften oder umkämpften Machtposition hundertprozentig sicher sein kann und zweitens das Subjekt ständig mit der existenziellen Angst lebt, diese Machtposition zu verlieren. Es handelt sich um einen Raum, in dem sich das Subjekt fortwährend mit Erfahrungen konfrontiert sieht, die seine Machtposition erschüttern und aufzubrechen drohen. In dieser Hinsicht wird im Folgenden versucht, den Raum der Marginalität - auch in dieser Untersuchung als Raum dialogischer Begegnungen bezeichnet - anschaulich zu machen, zu dessen Sichtbar-Machen Joseph Roths Texte einen Beitrag leisten . 913 Dies lässt sich auch am Beispiel von zahlreichen Figuren aus Joseph Roths Texten nachweisen, u.a. von der Figur Theodor Lohse aus Das Spinnennetz, der Kaiser-Figur aus Radetzkymarsch, dem Korallenhändler Nissen Pisczenik aus Der Leviathan, dem Oberst Tarabas aus Tarabas, ein Gast auf dieser Erde, dem Grafen Morstin aus Die Büste des Kaisers, dem Eichmeister Eibenschutz aus Das falsche Gewicht, der Figur Nikolas Brandeis aus Rechts und Links sowie am Beispiel von der als ›wohlgekleidetem Herrn‹ bezeichneten Figur aus Die Legende vom heiligen Trinker usw. Diese Auflistung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. 914 Näheres über die Desillusion des Posamenteriehändlers Arnold (vgl. JRW 4, 279), S. 147ff in dieser Arbeit. 2. Unheimliches Leben: zu den Erscheinungsformen der Marginalität … 262 2.5 Zu Joseph Roths Darstellung von Räumen dialogischer Begegnungen zwischen Zentren und Peripherien, zwischen ›Erster und Dritter Welt‹: Wie die Peripherie die offizielle Ordnungskultur dezentriert. Aus den analysierten Texten Joseph Roths ergibt sich, dass der sogenannte Raum der Marginalität kein essentieller, exklusiver Raum ist, vielmehr zeichnet sich dieser durch Ambivalenz und Instabilität aus. Von dieser Ambivalenz sind nicht nur die Protagonisten aus sog. kleinen Verhältnissen betroffen, sondern - auf eine spezifische Weise - auch die übrigen Gesellschaftsakteure umso mehr, als das gesellschaftliche Feld den Zeitraum darstellt, in dem sich diese Instabilität abspielt. Diese produktive Instabilität wird m.E., durch den unhintergehbaren Prozess der ›dialogischen Begegnung‹ ausgelöst und vorangetrieben. Was in diesem Zusammenhang als ›dialogische Begegnung‹ postuliert wird und was eine als ›dialogisch‹ bezeichnete Begegnung für die Figur der Marginalität zu bedeuten hat, wird in der Folge am Beispiel von Roths Texten auf den Grund gegangen - mit Michail Bachtins ›Karneval- Denken‹ als Hintergrund. In seinem Rabelais-Buch profiliert sich der russische Literatur- und Kulturwissenschaftler Michail Bachtin als Denker des dialogischen Raumes. Er betreibt eine Relektüre von Rabelais´ Gargantua und Pantagruel im Sinnzusammenhang der Renaissance. Grundlegend in diesem Buch ist der Karneval (und besonders das Lachen), ein wesentlicher Bestandteil der Volkskultur in der Renaisssance, der sich zu einem Schlüsselbegriff Bachtins Schreiben und Denken herausgebildet hat. Mit dem Begriff Karneval verweist Bachtin auf unterschiedliche Ausdrucksformen der mittelalterlichen volkstümlichen Lachkultur, nämlich erstens auf rituell-szenische Formen (Feste vom Typ des Karnevals), zweitens auf komische Formen (parodistische Texte, mündliche, schriftliche, lateinische und volkssprachliche Texte) und drittens auf Gattungen der familiären Rede des Marktplatzes (Schimpfwörter, Schwüre, Flüche, volkstümliche Scheltgedichte usw.). 915 Diese Grundformen sind miteinander verbunden und stellen (Bachtin zufolge) den Lach-Aspekt der Welt dar. Es sind Lach-Formen und Äußerungen, die im Gegensatz zum Ton in der offiziellen seriösen Kultur des klerikalen und feudalen Mittelalters standen. 916 Bachtin sieht das Gegenkulturelle dieser komischparodistisch-rituellszenischen, karnevalesken Lachformen in deren ambivalenter Kraft, in der 915 Vgl. Michail Bachtin, Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur, herausgegeben und mit einem Vorwort versehen von Renate Lachmann, übersetzt von Gabriele Leupold, Frankfurt/ Main: Suhrkamp Verlag 1987, S. 52f. Näheres über diese volkstümlichen, lachkulturellen Elemente ist ebenda zu erhalten. 916 Ebd. S. 52. … 263 Doppelheit der Wahrnehmung der Welt und des menschlichen Lebens verortet, die 917 in diesen Formen am Werk ist. 918 Der Karneval kennt keine Unterscheidung zwischen Darstellern und Zuschauern. Er kennt keine Rampe, nicht einmal in der rudimentärsten Form. Die Rampe würde den Karneval zerstören (wie umgekehrt die Abschaffung der Rampe das Theater zerstören würde). Den Karneval schaut man sich nicht an, man lebt ihn, alle leben ihn, denn er ist von der Idee her dem ganzen Volk gemeinsam. Solange der Karneval andauert, hat niemand einen anderen Lebensinhalt. Man kann vor ihm nicht weglaufen, denn er kennt keine räumlichen Grenzen […] 919 Bachtin setzt das Leben mit dem Karneval gleich. Er sieht das Prinzip des Karnevals im Leben verankert: „Im Grunde ist er das Leben selbst […]“ 920 „So spielt im Karneval das Leben selbst […] festliches Leben.“ 921 Das karnevaleske Lebensgefühl, wie Bachtin es auffasst, ist eine zeitweilige Befreiung, Loslösung von den Ketten und Zwängen der offiziellen Ordnungskultur, eine „zeitweilige ideal-reale Aufhebung der hierarchischen Beziehungen zwischen den Menschen“. 922 Wesentlich für das karnevaleske Lebensgefühl war die Schaffung besonderer Arten der Kommunikation, „die keine Distanz zwischen den Kommunizierenden zuließen und die gewöhnlichen (außerkarnevalesken) Normen der Etikette und Schicklichkeit außer Kraft setzten. Es entstand ein bestimmter karnevalesker Marktplatzstil der Rede, für den wir bei Rabelais zahllose Beispiele finden.“ 923 Es ist ein Kommunikationstyp, der zeitweise alle hierarchischen Unterschiede und Schranken zwischen den Menschen aufhebt. 924 Das Lachen, das ein zentrales Moment des Karnevals bildete, wurde inszeniert, um die Hochkultur zu parodieren. Dabei wird die Logik des Karnevalslachens besonders hervorgehoben: Seine Logik ist die der ‘Umkehrung’ (à l´envers), des ‘Gegenteils’, des ‘Auf-den-Kopf-Stellens’, eine Logik der ständigen Vertauschung von Oben und Unten (wie beim ‘Rad’, von Gesicht und Hintern; ihre charakteristischen Ausdruckformen sind die verschiedensten Varianten von Parodie und Travestie, Degradierung und Profanierung, närrischer Krönung und Entthronung. 925 Auf Bachtins gesellschaftlichen Kontext übertragen, lässt sich sagen, dass sein Konzept des Karnevals und der Lachkultur eine Kritik am Stalinismus 917 Die Ambivalenz. 918 Vgl. ebd. S. 53. 919 Ebd. S. 55. Hervorhebung i.O. 920 Ebd. 921 Ebd. S. 56. 922 Ebd. S. 59. 923 Ebd. 924 Vgl. ebd. S. 65. 925 Ebd. S. 59f. Hervorhebung i.O. 2. Unheimliches Leben: zu den Erscheinungsformen der Marginalität … 264 war, ein Aufbrechen der „rigiden Trennung von oben und unten, von sakraler Person (Stalin), sakralem Ort (Kreml) […] und dem Profanen des sowjetischen Alltags […]“ 926 In den kulturellen Orten der offiziellen Ordnung (nämlich in Chören, Bühnenaufführungen, Opernhäusern, Uniformen, Arbeitskleidungen usw.) sieht Bachtin nichts anderes als folkloristische Orte, in denen das volkstümliche Lachen erstickt wird. 927 Bachtin unterstreicht aber vor allem die kulturübergreifende Dimension des karnevalesken Lachens. Er bezieht die lachkulturellen Elemente anderer Kulturen (Tänze, Erntefest und sonstige Festlichkeiten) mit ein, obschon die europäische Renaissance seinen Referenzrahmen bildet. Unzertrennlich verbunden mit Bachtins karnevalesker Welterfahrung ist die groteske Körperkonzeption. Die groteske Körperkonzeption ist eine Spielart dieser Erfahrung. Dem offiziellen „funktionalen Körper“ 928 (des uniformierten Soldaten, des Offiziers, des Arbeiters oder des Monuments) stellt Bachtin (in Anlehnung an Rabelais) den „grotesken Körper“ 929 bzw. den entblößten Körper eines Trinkers oder Betrunkenen gegenüber. 930 Bachtin eignet sich Rabelais´ „Körper-Poetik“ 931 an, die er als „grotesken Realismus“ 932 bezeichnet in Abgrenzung zum „sozialistischen Realismus“ 933 der Stalinzeit, „dem offiziellen Körperbild“. 934 Auffallend in Rabelais´ Werk sind Motive des Körpers, Essens, Trinkens, Ausscheidens und der Sexualitäten, die in hyperbolisierten, übermäßigen und überflüssigen Formen auftreten. 935 Rabelais´ groteske Körperkonzeption lässt sich als Subversion des offiziellen, asketischen Körperbildes der mittelalterlichen Kultur lesen bzw. als einen Widerspruch zu neuzeitlichen Kanons der Körperdarstellung in Literatur und bildender Kunst der ›klassischen‹ Antike 936 : der Körper als etwas streng Abgeschlossenes, Fertiges, von anderen 926 Renate Lachmann, „Vorwort“, in: Michail Bachtin, Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur, ebd. S. 7-46, hier S. 9. 927 Vgl. ebd. 928 Ebd. 929 Ebd. 930 Vgl. ebd. 931 Ebd. S. 10. 932 Michail Bachtin, Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur (Anm. 915), S. 69. Der Begriff ›grotesker Realismus‹ steht auch für die ästhetische Konzeption der Renaissance, deren prominente Vertreter u.a. Boccaccio, Shakespeare, Cervantes und Rabelais darstellen (vgl. ebd. S. 68f). 933 Renate Lachmann, „Vorwort“, in: Michail Bachtin, Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur, ebd. S. 10. 934 Ebd. S. 10. Renate Lachmann zufolge bildet der „groteske Realismus“ einen wesentlichen Bestandteil der avantgardistischen Literatur der zwanziger Jahre. Vgl. Ebd. S. 10. „Die groteske Weltsicht erlaubt es, die Grenze zwischen Körper und Welt anders zu ziehen, als es die natürliche zulässt.“ Ebd. S. 36. 935 Vgl. Michail Bachtin, Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur (Anm. 915), S. 345f. 936 Vgl. ebd. S. 79. … 265 Körpern geschlossen und abgegrenzt. 937 Die groteske Körperkonzeption zeigt das Leben in seiner ambivalenten, innerlich widersprüchlichen Prozesshaftigkeit, in seiner Unabgeschlossenheit. 938 Damit wird „nicht nur das Tauschgeschäft zwischen Körper und Welt, sondern auch der Grenzhandel [die Grenzverwischung] zwischen innen und außen, ich und wir, Identität und Alterität“ 939 beschrieben. Genauso wie Rabelais erschließt Bachtin in seinem Buch den Raum, wo das Sakrale und das Profane aufeinander treffen. Dieser Raum könnte auch dialogischer Raum genannt werden, „‘[…] de[r] Raum (interface), wo ein von oben diktierter Stillstand und das Verlangen nach Wandel von unten, alt und neu, offiziell und inoffiziell aufeinander treffen’“. 940 Nicht nur Bachtins Rabelais-Buch, sondern sein ganzes Werk könnte als umfangreiche Inszenierung dialogischer Begegnungen bzw. eine Inszenierung der Dialogizität gelesen werden. 941 Bachtins Vorstellung von Volkskultur als Gegenkultur ist ein Denken der Grenzüberschreitung bzw. Grenzverwischung, ein Denken der Ambivalenz: die Überschreitung der willkürlich durch die offizielle Kultur gezogenen Grenzen zwischen Wildnis und Zivilisation; Natur und Kultur; Westen und Nicht-Westen; Okzident und Orient; schwarz und weiß; Mann und Frau usw. Die Einbeziehung von Bachtins Denken an dieser Stelle der Arbeit verfolgt das Ziel, bestimmte Momente der analysierten Texte Joseph Roths im Hinblick auf Bachtins dialogische Lebensauffassung sichtbar zu machen, und 937 Vgl. ebd. 938 Vgl. ebd. S. 76. 939 Renate Lachmann, „Vorwort“, in: Michail Bachtin, Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur, ebd. S. 39. In eckigen Klammern Stehendes ist eine Hervorhebung v. mir. 940 Zitiert nach Renate Lachmann, ebd., S. 8. 941 Laut Renate Lachmann hat Bachtin nicht nur sein Rabelais-Buch, sondern auch seine anderen Werke aus der Perspektive eines Marginalen, eines vom „Zentrum Weggedrängten“ (ebd. S. 7) geschrieben. Bachtin schreibt sein Buch beflügelt von der gleichzeitigen bzw. ungleichzeitigen Erfahrung der Revolutionseuphorie „mit ihren kulturellen und textuellen Praktiken, welche Öffnung, Mischung, Dehierarchisierung nicht nur verhießen, sondern exertierten“ (ebd. S. 9) und des darauffolgenden, hierarchisierenden, stalinischen Systems (vgl. ebd. S. 8). Vor diesem Hintergrund entwickelte er die Vorstellung eines „kulturellen Mechanismus“ (ebd. S. 7), ein Mechanismus, der durch den Widerstreit, die Spannung zweier Kräfte bestimmt sei, und zwar der zentripetalen und zentrifugalen Kräfte. Wobei die zentrifugalen Kräfte, die vom Zentrum wegdrängenden Kräfte, als jene Kräfte aufgefasst werden, die die Pluralität von Welten, die Kreuzung von Kulturen und Sprachen, von Texten und Gattungen zulassen (vgl. ebd. S. 8), während die zentripetalen Kräfte jene Kräfte darstellen, die zur Vereindeutigung, Schließung und Vereinheitlichung des Systems zwingen (vgl. ebd. S. 7f). Er lese Rabelais als den Spiegel eines Umbruchs, in dem er seine eigene Zeit erkennt. Die Verwandtschaft zwischen Rabelais´ Gargantua und Pantagruel und Bachtins Rabelais und seine Welt sei nicht nur die eines Textes über einen Text, sondern die einer Verwandtschaft. Beide entstammen einer revolutionären Tradition (vgl. ebd. S. 8). 2. Unheimliches Leben: zu den Erscheinungsformen der Marginalität … 266 zwar in der Betrachtung kultureller Begegnungen als dialogische Begegnungen von Zentren und Peripherien, von profaner Welt mit der kaiserlichsakralen Welt. Diese Begegnung wird auch als Hinweis auf das Ineinanderfließen von ›Erster‹ und ›Dritter Welt‹ betrachtet. Die Räume dialogischer Begegnungen in Roths Texten sind solche Räume der Differenzerfahrung, wo die Welten aufeinandertreffen, ineinandergeraten. Von dialogischen Begegnungen ist deswegen auch die Rede, weil die Akteure sich nicht unbedingt auf derselben ›Wellenlänge‹ befinden und aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Räumen, mit abweichenden Erfahrungen, Geschichten und subjektivitätskonstituierenden Narrativen kommen. Es sind vor allem auch Räume, in denen sich Formen von Interdependenzen zeigen. Von einer dialogischen Begegnung kann - in Bezug auf Joseph Roths Die Rebellion - die Rede sein. Der heftige Wortwechsel und die Rauferei, die in der Straßenbahn zwischen dem ›gutaussehenden‹ Posamenteriehändler Arnold und dem einbeinigen Andreas Pum ausbricht - dabei hat sich Andreas Pum gleichzeitig die Feindlichkeit des Schaffners und eines Polizisten zugezogen (vgl. JRW 4, 284) -, steht symptomatisch für den entscheidenden Zeitpunkt, an dem die Welten der Gesunden und der Kranken aneinandergeraten. Selbstverständlich zieht sich diese Verschränkung beider Welten durch den ganzen Text. Andreas Pums verunstaltetem Körperbild, das sozusagen paradigmatisch für einen grotesken Körper steht, wird vom Machtdispositiv ein offizielles Körperbild gegenübergestellt, nämlich der schlanke, gelehrige, ›gesunde‹ Körper des uniformierten Polizeiinspektors Vinzenz Topp (vgl. JRW 4, 288). Dieser ›gesunde‹ Körper wird in den unterschiedlichen Erscheinungsformen der Figur des Beamten - bzw. des Militär-, Polizei-, Gerichts- oder Verkehrsbeamten - anschaulich gemacht. Der Körper von Andreas Pum und die seiner Kameraden sind aus Prothesen, „lahmen Gliedmaßen“ (JRW 4, 245), „zerschossene[m] Rückgrat“ (ebd), fehlenden und wunden Körperteilen zusammengesetzt. Die ewig zitternde Figur namens Bossi könnte als Allegorie dieser grotesken Körperkonstruktion angeführt werden (vgl. JRW 4, 250). 942 Schließlich nimmt Andreas Pums Abrechnungsrede vor dem himmlischen Gerichtshof die Züge einer Unterwanderung, Unterminierung der machtpolitisch aufgezogenen Grenze zwischen Kranken und Gesunden, zwischen Zentrum und Peripherie, zwischen ›Erster‹ und ›Dritter Welt‹ an (vgl. JRW 4, 330f). 943 942 Siehe Abschnitt „2.2.2. Die Figur des ›zitternden Italieners‹ Bossi als Allegorie einer krankhaften Gesellschaft“ in dieser Arbeit. 943 Solche subversive Momente könnten anhand weiterer Texte Roths sichtbar gemacht werden. Im Roman Hiob z.B. erfährt auch der offizielle, staatliche Körper eine ›Dekonstruktion‹, und zwar durch eine ironische Darstellung von dessen Vertretern und Strukturen. Hingewiesen wird z.B. auf jene Stellen, wo sich Mendel Singer bemüht, sich Papiere für eine bevorstehende Auswanderung nach Amerika zu verschaffen. Mendel Singer fällt den Schikanen der Beamtenwelt zum Opfer und lässt gleichzeitig diese Welt aus einer ironisch-kritischen Perspektive durchleuchten. Der … 267 Der durch den Besitz von ›Kapital‹ selbstbewusst gewordene Andreas Kartak sitzt und trinkt in einem „bürgerliche[n] Bistro“ (JRW 6, 519) trotz der „Zerlumptheit der Kleider“ (ebd.). Obwohl das Trinken in einer Kneipe für ihn Erneuerung und vor allem augenblicklichen Ausgang vom Randleben bedeuten mag, ist sein ›Frühlingserwachen‹ gleichzeitig mit einer Provokation bzw. einer Unterwanderung der binären Opposition arm vs. reich unzertrennlich verbunden. Dieser Akt des unerlaubten Eindringens bzw. Betretens eines bürgerlichen Bistros in zerlumpter Kleidung beinhaltet ein unübersehbares subversives Potenzial. Mit „zerschlissene[r] Hemdbrust“, einer „rotweiß gestreifte[n] Krawatte, geschlungen um den Kragen mit rissigem Rand“ (ebd.) sitzt Andreas Kartak im Bistro (Lokal) und fordert das offizielle Körperbild heraus. Die Novelle Die Büste des Kaisers 944 macht anschaulich, wie der moderne Nationsbegriff, wie er sich nach dem Ersten Weltkrieg durchsetzte, eine große Anzahl von Menschen, die sich „die Sprache und Kultur des politisch und ökonomisch weit fortgeschrittenen Zentrums“ 945 angeeignet hatten, zu Staa- ›satte‹, uniformierte Beamtenkörper wird in seine Bestandteile zerlegt (vgl. JRW 5, 54f). Die ironische Darstellung der Strukturen des Gesetzes gehört zu den beliebtesten Motiven in Roths Texten. 944 Joseph Roth, Die Büste des Kaisers (1935), in: JRW. Band 5, S. 655-676. Künftighin im Fließtext als JRW mit Angabe des Bandes und der Seitenzahl zitiert. 945 Telse Hartmann, Kultur und Identität (Anm. 32), S. 42. Telse Hartmann liest Joseph Roths Roman Die Büste des Kaisers im Hinblick auf die Problematik nationaler Grenzziehungspraktiken nach dem Ersten Weltkrieg. Dabei geht es Telse Hartmann u.a. darum, Benedict Andersons strukturale Analyse des Nationsbildungsprozesses - als imaginierter Gemeinschaft - zu differenzieren. Laut Anderson tragen alltägliche Rituale wie etwa das Zeitungslesen, Radio- oder Fernsehnachrichten hören sowie eine gezielte Gestaltung des Curriculums im Schulwesen zur Herausbildung dieser „imagined community“ bei. Vgl. Telse Hartmann Kultur und Identität (Anm. 32), S. 40f. Telse Hartmann weist auf die Landbevölkerung aus Joseph Roths Die Büste des Kaisers hin, bei denen ein derart entstandenes oder entstehendes Nationalbewusstsein nachweislich nicht vorhanden ist. Praktiziert wird „die Lektüre der Zeitung keineswegs mit dem Bewusstsein einer den eigenen Gesichtskreis transzendierenden Kollektivität dieses Handelns. Weil nicht das Schicksal des horizontal ausgestreckten Nation- Raumes, sondern einzig der Alltag in der vertikal-hierarchisch geordnete Region vom Novellenpersonal als Wirklichkeit wahrgenommen wird […]“ Ebd. S. 40. Benedict Anderson argumentiert dennoch mit dem Bewusstsein, dass der Nationsbildungsprozess kein isomorphes, sondern vielmehr ein polymorphes Phänomen darstellt. Denn er schreibt: „Yet it is obvious that while today almost all modern self-conceived nations - and also nation-states - have ‘national printlanguages’, many of them have these languages in common, and in others only a tiny fraction of the population ‘uses’ the national language in conversation or on paper. The nation-states of Spanisch America or those of the Anglo-Saxon family are conspicuous examples of the first outcome; many ex-colonial states, particularly in Africa, of the second. In other words, the concrete formation of contemporary nation-states is by no means isomorphic with the determinate reach of particular print-languages.“ Benedict Anderson, Imagined communities: reflections on the origin and spread of nationalism, 2. Unheimliches Leben: zu den Erscheinungsformen der Marginalität … 268 ten- und Nationslosen machte, „obwohl sie von diesem gar nicht durch Kommunikationsschranken getrennt“ 946 waren. In solchen Menschen ist die Figur der Marginalität verankert. - Marginalität als Hinweis auf jene Unterschichten der Habsburgischen Monarchie, die wegen des modernen Nationalitätsprinzips auf der Strecke geblieben waren. 947 Der Roman Die Büste des Kaisers ist dennoch nicht nur ein Ort, in dem der moderne Nationsbegriff ins Wanken gerät. Wie Telse Hartmann es anschaulich macht, ist er demgemäß auch ein Ort, an dem die Machtsymbole ironisiert werden. Nach dem Ersten Weltkrieg verlässt Graf Morstin sein Herrschaftsgebiet (Lopatany) „in der Hoffnung, draußen, in andern Ländern, einen Teil jener alten Wirklichkeit zu finden, in der er vor dem Kriege gelebt hatte [...]“ (JRW 5, 663). Er „fuhr zuerst in die Schweiz, in das Land, von dem er glaubte, daß in ihm allein noch der alte Friede zu finden wäre, einfach weil es nicht in den Krieg mitgemacht hatte“ (ebd). In der vom Krieg verschonten Schweiz aber erlebt Morstin einen Vorfall, der ihn dazu zwingt, in das polnisch gewordene Dorf Lopatany zurückzukehren. In einer Zürcher Bar namens „American Bar“ 948 (JRW 5, 666), in der Morstin seine seelischen Wunden zu heilen sucht, wird jede Nacht karnevalistisch mit den Krönungsinsignien des habsburgischen und russischen Reiches getanzt. Morstin erkannte die „Stephanskrone“ (ebd.) sowie die „Zarenkrone“ (ebd.) „auf dem kahlen Schädel [eines] krummbeinigen tänzelnden Mannes“ (ebd.). 949 Die ungarische Stephanskrone steht hier für eine der bedeutendsten Krönungsinsignien der österreichisch-ungarischen Monarchie, während die Zarenkrone ein anerkanntes Machtsymbol des russischen Kaiserreiches darstellt. Statt in einem Museum, einem Kaiser- oder Zarenpalast befinden sich diese Machtinsignien in einer Bar in den Händen und ironischerweise auf den Schädeln profaner Durchschnittsmenschen. Morstin kann sich nicht mehr beherrschen. Um diese Symbole der Macht vor dieser Profanierung zu retten, greift er die ›Kronenschänder‹ an (vgl. JRW 5, 667f). Die Versuche, die Machtsymbole zu retten, scheitern. Das Tanzen mit den Krönungsinsignien ist ein symbolträchtiger, subversiver, enthierarchisierender, dezentrierender Akt. Die Bar, dieser Ort und Nicht-Ort, an dem die sakrale kaiserlich-zaristische Welt und die profane Welt des Alltagsmenschen konfliktreich aufeinandertreffen, verwandelt sich in einen dialogischen Raum. revised and extended edition, second edition, London: Verso 1991, S. 46. Bedenklich in Benedict Andersons Beispielen ist, dass sie eine Tatsache vernebeln, nämlich dass auch in sogenannten „modern self-conceived nations“ ein Bruchteil der Bevölkerung regionale Gebärdensprachen im alltäglichen Miteinander bevorzugt zuungunsten der nationalen Sprache. Dies ist heutzutage feststell- und erlebbar in Nord-, Süd-, West-, und Ostfrankreich, in Nord-, Süd-, West- und Ostdeutschland sowie in Ober-, Nieder-, West- und Ostösterreich, um nur paar Beispiele zu nennen. 946 Ebd. S. 42. Näheres dazu ist ebenda zu erhalten. 947 Vgl. ebd. S. 42. 948 Kursivschrift wie i.O. 949 Hervorhebung v. mir. … 269 Dabei wird die transzendentale Bedeutung sakraler Machtsignifikanten unterlaufen, die hegemonial aufgezogene Grenze zwischen oben und unten, Zentrum und Peripherie, Sakralem und Profanem, Kaiser und Untertan bzw. Zar und Untertan gerät ins Wanken. Als subversiver bzw. dialogischer Raum fungiert auch die galizische Grenzschenke. 950 Galizien, die östliche marginale Grenzgegend der alten Donaumonarchie, war größtenteils von Juden bevölkert, 951 die u.a. die bittere Erfahrung des europäischen kontinentalen Imperialismus, sprich des Nationalsozialismus und des Stalinismus, machten. 952 In Joseph Roths Roman Das falsche Gewicht wird Galizien, und zwar der Bezirk Zlotogrod, aus der imperialen Perspektive des Eichmeisters Anselm Eibenschütz als ›giftige‹ unwirtliche lebensfeindliche Gegend konstruiert (vgl. JRW 6, 223). Der Eichmeister, Oberkommandant auf der galizischen Strafkolonie, „zwölf Jahre in seiner dunkelbraunen Artillerie-Uniform“ (JRW 6, 134) fungiert als eine Struktur des Gesetzes an der galizischen Grenze, „im fernen Osten der Monarchie“ (JRW 6, 131). Seine Aufgabe bestand darin, die Maße und die Gewichte der Kaufleute im ganzen Bezirk zu prüfen. In bestimmten Zeiträumen geht Eibenschütz also von einem Laden zum andern und untersucht die Ellen und die Waagen und die Gewichte. Es begleitet ihn ein Wachmeister der Gendarmerie in voller Rüstung (JRW 6, 129). 950 Vgl. Daniel Romuald Bitouh, „Liminalität, Hybridität und Identität. Zu Joseph Roths Inszenierung der Grenze als Subversion der Metaphysik von Identität“, in: Anna Babka/ Julia Malle/ Matthias Schmidt (Hg.), Dritte Räume. Homi K. Bhabhas Kulturtheorie. Krititk. Anwendung. Reflexion (Anm. 563). Vgl. Telse Hartmann, Kultur und Identität (Anm. 32), S. 57. Die Herstellung einer Korrespondenz zwischen Joseph Roth und Joseph Conrad kommt auch in der Arbeit von Telse Hartmann vor. Die Verfasserin analysiert die physische, geistige, intellektuelle und ethische Krise des Eichmeisters Eibenschütz - aus dem Roman Das falsche Gewicht - an der östlichen Grenze der Donaumonarchie in Hinblick auf die Verwandlung des Obersts Kurtz, des Protagonisten aus Joseph Conrads Roman Heart of darkness - in Kongo oder Afrika. Vgl. ebd. S. 56-65. 951 Von dieser Gegend ist auch die Rede in Joseph Roths Roman Erdbeeren. „Unsere Stadt war arm. Ihre Einwohner hatten kein geregeltes Einkommen. Sie lebten von Wundern. Es gab viele, die sich mit nichts beschäftigten. Sie machten Schulden. Bei wem aber liehen Sie? Auch die Geldverleiher hatten kein Geld. Man lebte von guten Gelegenheiten“ JRW 4, 1030. Aufschlüsse über Joseph Roths Geburtsort in Galizien vgl. u.a. David Bronsen, Joseph Roth: eine Biographie (Anm. 10). Vgl. Helmuth Nürnberger, Joseph Roth in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek bei Hamburg: Rowohl Bildmonographien 1981. Vgl. Stefan H. Kaszynski, Galizien, eine literarische Heimat, Poznan 1987. 952 Joseph Roths Galizienbeschreibungen sprengen den engen Rahmen eines Biographismus. Sie lassen sich interessanterweise auf einen politischen Diskurs bzw. auf kulturwissenschaftliche Aspekte erweitern. 2. Unheimliches Leben: zu den Erscheinungsformen der Marginalität … 270 Der Eichmeister reist in die galizischen ›Tropen‹ 953 mit dem Vorsatz, Menschen zu richten und zu ›zivilisieren‹, dem Gesetz Respekt zu verschaffen. Galizien wird topographisch als eine Gegend dargestellt, die von ›unberechenbaren Wetterzonen‹ und von Sümpfen beherrscht ist: eine klimatische Hölle (vgl. JRW 6, 202f). Die klassische Erdkunde definiert die geographischen Tropen, jenes klimatische Gebiet an den Randzonen des Äquators u.a. als eine niederschlagsreiche Gegend, als eine Gegend, die an Sümpfen reich ist. Galizien befindet sich nicht in den klassischen Tropen, wird in Roths Text aber als eine Art tropische Gegend konstruiert, als eine „eisige Wüste“ (JRW 6, 191), in der Cholera- und Schwindsucht wüten (vgl. JRW 6, 134, 192f). „Die Ärzte sagten, es sei die Cholera, aber die Leute in der Gegend behaupteten es wäre die Pest“ (JRW 6, 192). Der Signifikant ›Cholera‹ könnte in diesem Zusammenhang als eine Metapher für die habsburgische imperiale Macht in der galizischen Peripherie wahrgenommen werden, deren Stellvertreter der Eichmeister Eibenschütz ist. Alle Menschen fragten sich, warum die Cholera nicht den Eichmeister Eibenschütz getroffen hatte. Denn er wütete schlimmer als die Cholera. Durch ihn kam der Korallenhändler Nissen Piczenik ins Kriminal, der Tuchhändler Tortschiner, der Milchhändler Kipura, der Fischer Gorokin, die Geflügelverschleißerin Czaczkes und viele andere (JRW 6, 206). 954 Nach der Einkerkerung von Leibusch Jadlowker, dem als König der Verbrecher und Fälscher bezeichneten früheren Besitzer der Grenzschenke, 955 fällt die Verwaltung der Grenzschenke in die Hand des Eichmeisters bzw. in die Hand der Imperialmacht (vgl. JRW 6, 164). Man muß wissen, daß die Grenzschenke in Szwaby keine gewöhnliche Schenke war. Um diese Grenzschenke kümmerte sich sogar der Staat. Es war offenbar für den Staat wichtig zu wissen, wie viele und welche Deserteure aus Rußland jeden Tag ankamen (JRW 6, 173). Im Bezirk ist er aber nicht willkommen, sondern allenfalls gelitten; er ist unbeliebt und wird als Störenfried wahrgenommen. Regelmäßig bekommt er Drohbriefe. Eibenschütz sieht sich nicht nur mit der Feindschaft der Bewoh- 953 Telse Hartmann spricht vom „galizische[n] Herz der Finsternis“. Telse Hartmann, Kultur und Identität (Anm. 32), S. 51. Sie bezieht sich auf die Reise von Hauptmann Marlow und Oberst Kurtz - Figuren aus Joseph Conrads Roman Heart of darkness. 954 Die Figur des Korallenhändlers Nissen Piczenik kommt auch in Joseph Roths Novelle Der Leviathan (1940), JRW 6, 544-574, vor. 955 Jadlowker musste sich vor Gericht wegen „Ehrenbeleidigung“, „Amtsbeleidigung“, „gewaltigen Widerstandes gegen die Staatsgewalt“ und „Gotteslästerung“ verantworten (JRW 6, 167f). Während des Prozesses, der Jadlowker anhängig gemacht wird, stellt sich durch die belastenden Kronzeugenaussagen heraus, dass sein eigentlicher Name Kramrisch gewesen sein soll (JRW 6, 169) und er ein Mehrfachmörder ist (vgl. ebd.). Näheres über Jadlowkers verfälschte Identität ist ebenda zu erhalten. … 271 ner dieser verlassenen Gegend, sondern vor allem auch mit der Härte der Natur konfrontiert: Er verstand die Sprache des Landes zwar, aber es ging ja gar nicht so sehr darum, zu verstehen, was die Menschen sagten, sondern, was das Land selber sprach. Und das Land redete fürchterlich: es redete Schnee, Finsternis, Kälte und Eiszapfen, obwohl der Kalender den Frühling erzählte […] (JRW 6, 132). Einsam und heimatlos fühlt er sich in dieser Gegend. „Niemals vorher hatte man einen dem Staat, dem Gesetz, dem Gewicht und dem Maß so ergebenen Eichmeister gesehen in dieser Gegend“ (JRW 6, 135). Der Eichmeister wird als ein Subjekt präsentiert, das gleichzeitig „einem Nordwind und einem Südwind“ (JRW 6, 173) ausgeliefert ist. Einsam ist er sogar inmitten der Beamten, die als korrupt und gesetzlos dargestellt werden. Der Eichmeister erliegt der verführerischen Kraft dieser Gegend. „Der Eichmeister Eibenschütz war auch nur ein Mensch“ (JRW 6, 161). Die Besuche in der Grenzschenke häufen sich. Der dem Gesetz und der staatlichen Ordnung ergebene Eichmeister fängt an ein loses Leben zu führen. Er versinkt, wie sein Vorgänger, im Alkohol, lässt sich durch die Zigeunerin Euphemia Nikitsch verführen und gibt Euphemia zuliebe Frau und Kind auf (vgl. JRW 6, 186). 956 In Übereinstimmung mit Telse Hartmann sehe ich in der Figur der Euphemia Nikitsch eine Verkörperung der Rätselhaftigkeit Galiziens, 957 die paradigmatisch für die Figur der Grenze zu sehen ist. Die Bewohner Galiziens waren Grenzvölker. Sie lebten nicht nur an einer Grenze, sondern machten auch die Erfahrung der Grenze, der Spaltung des Selbst. Ihr Leben war eine Kunst des Überlebens. Sie wussten sich zu helfen, schlugen sich durchs Leben, feilschten um den Lebensunterhalt, 958 um ihr Dasein zu fristen. Der Schmuggler, der Fälscher und der Deserteur - diese Figuren aus Roths Texten stehen paradigmatisch für diese Kunst des Überlebens, die im/ am Raum der Liminalität entfaltet wird. Es sind Figuren, die die Grenze in einen ambivalenten Ort verwandeln und umgekehrt die Erfahrung der Grenze machen. Galizien war als Schmuggler- und Fälschernest allgemein bekannt und verpönt. 959 Der Schmuggel und das Fälschen hatte nicht nur eine wirtschaftliche und soziale Bedeutung, sondern auch eine machtpolitische Relevanz. Die Schmuggler und Fälscher betrieben ihre Geschäfte meistens unter dem Segen und Deckmantel der Grenzpolizisten, die manchmal ein Auge zudrücken mussten. 956 Vgl. Daniel Romuald Bitouh, „Liminalität, Hybridität und Identität. Zu Joseph Roths Inszenierung der Grenze als Subversion der Metaphysik von Identität“, in: Anna Babka/ Julia Malle/ Matthias Schmidt (Hg.), Dritte Räume. Homi K. Bhabhas Kulturtheorie. Krititk. Anwendung. Reflexion (Anm. 563), S. 178f. 957 Vgl. Telse Hartmann, Kultur und Identität (Anm. 32), S. 58. 958 David Bronsen, Joseph Roth: eine Biographie (Anm. 10), S. 22. 959 Vgl. ebd. S. 23. 2. Unheimliches Leben: zu den Erscheinungsformen der Marginalität … 272 Denn die waren auch auf diese armen Menschen angewiesen und von der Kontingenz des Lebens an der Grenze auf eine Art und Weise betroffen. 960 Tabakschmuggler, so lautet die oft wiederholte Geschichte, hatten mit der Finanzbehörde und den Zollbeamten in Brody vereinbart, die Behörden sollten sie gegen gehörige Schmiergelder darüber unterrichten, wo und wann sie schmuggeln könnten. Aber eine strenge Bedingung sei dabei zu beachten: sollten die Schmuggler mit ihren Waren nach Brody kommen, so sei der Tabak ihnen verfallen. 961 Der Schmuggel war eine von der Bevölkerung strategisch eingesetzte Überlebensmethode, um die Strukturen des Gesetzes umgehen zu können. Die Figur der Grenze und die Figur des Schmugglers aus Roths Texten machen das sichtbar, was in Anlehnung an Michel Foucault als die Relationalität oder die Dialogizität der Macht genannt werden kann. Die Grenze bei Joseph Roth ist nicht nur ein geographischer Raum, materialisiert durch Szenarien an den Grenzschenken oder durch imperiale Kriege, wie sie in den Romanen Radetzkymarsch, Die Kapuzinergruft, Die Flucht ohne Ende, Hiob usw. thematisiert werden, sondern sie stellt sich vor allem als ein Dritter Raum im Sinne von Homi Bhabha als Erfahrungsraum des gespaltenen Selbst 962 dar: Das Subjekt ist mit Machtstrukturen konfrontiert, die es um sein psycho-affektives Gleichgewicht zu bringen drohen und das Subjekt ständig an den Rand drängen. Umgekehrt erfahren solche Machtstrukturen ihre Krise in der Auseinandersetzung mit dem Unvorhergesehenen an/ in diesem Dritten Raum. Die Grenze erweist sich für Anselm Eibenschütz als ein unheimlicher Ort, an dem sich Privates und Öffentliches, Falsches und Richtiges in oder an einem Punkt der Ununterscheidbarkeit verschränken. 963 Eibenschütz bewegt sich in der Grenzschenke, einem ambivalenten Raum, wo die Welt des Eichmeisters und die der Bewohner der Schenke ineinandergeraten. In dem Versuch des Eichmeisters, die Gegend zu gestalten, wird er selbst gestaltet. Der Marktplatz gehört zu jenen lokalen und globalen Räumen dialogischer Begegnung, an dem sich Kolonialherren und Kolonisierte, Unterdrücker und Unterdrückte treffen. 964 Der bevölkerte Marktplatz wird zum allegorischen 960 Vgl. ebd. S. 25. 961 Ebd. S. 23. 962 Vgl. Homi K. Bhabha, „On cultural Hybridity - Tradition and Translation“ (Anm. 140). 963 Vgl. Daniel Romuald Bitouh, „Liminalität, Hybridität und Identität. Zu Joseph Roths Inszenierung der Grenze als Subversion der Metaphysik von Identität“, in: Anna Babka/ Julia Malle/ Matthias Schmidt (Hg.), Dritte Räume. Homi K. Bhabhas Kulturtheorie. Krititk. Anwendung. Reflexion (Anm. 563), S. 179. 964 Vgl. die Marktplatzszenarien etwa in den Romanen Ville cruèlle von Mongo Beti sowie in Le Vieux nègre et la médaille von Ferdinand Oyono. Vgl. Mongo Beti, Ville cruèlle (Anm. 168), besonders im Kapitel IV, S. 32-51. Vgl. Ferdinand Léopold Oyono, Le Vieux Nègre et la médaille, Paris: Julliard 1956. … 273 Bild der Welt. Der Eichmeister - immer von einem Gendarmerie- Wachtmeister flankiert - versucht den galizischen Marktplatz, diesen Ort des Dialogs und der Stimmenvielfalt per se, in einen Ort des imperialen Monologs zu verwandeln. Die imperiale Herrschaft des Eichmeisters gerät aber in Konflikt mit der Indisziplin der Menschen sowie der Umwelt am galizischen Marktplatz: Als das gelbe Wägelchen am Grenzrand des Marktfleckens erschien, schrie jemand, ein Junge, den man als Posten aufgestellt hatte: ‘Sie kommen! Sie kommen! ’ Die Weiber ließen die Fische, die sie eben hatten kaufen wollen, wieder in die Bottiche fallen. Die frischgeschlachteten, noch blutenden Hühner fielen mit hartem Schlag auf die Tische der Verkaufsstände zurück. Das noch lebende Geflügel selbst schien zu erschrecken. Hühner, Gänse, Enten und Puten rannten zappelnd, krähend, schnatternd, schwerfällig und hastig die Flügel schlagend, durch die breite, kotige Fahrbahn, an deren beiden Seiten die Verkaufsstände aufgestellt waren. Während die Käufer, die doch gar keinen Anlaß hatten, vor der Behörde zu fliehen, es lediglich aus Torheit taten, aus Haß und Mißtrauen und aus unbestimmter Furcht, überlegten die Händler, die ihre Standplätze nicht verlassen durften, weil sie sich ja sonst erst recht verdächtig gemacht hätten, was zu unternehmen sei. Zuerst schmissen sie ihre Gewichte in die Straßenmitte, in den silbergrauen Schlamm. Es sah fast aus wie eine Schlacht und als bekämpften sie sich zu beiden Seiten der Marktgasse mit ihren schweren Gewichten (JRW 6, 161). Die Verkäufer versuchen alle Beweismittel zu vernichten. Diese Gewalt, die sie gegen sich selbst richten und die sich mittelbar gegen das imperiale System wendet, kann mit Insubordination oder mit der Verweigerung von Disziplin im ›kolonialen Kontext‹ verglichen werden. An der Grenze durchlebt Eibenschütz seine Grenzerfahrung. Eine Stelle des Textes zeigt den Eichmeister als Gehilfen hinter dem Schanktisch der Grenzschenke. Er steht nun unter der Macht der gebieterischen Euphemia Nikitsch: Viele Bauern und Juden warteten in dem kleinen Laden. Sie wollten Terpentin, Wachs, Apollokerzen, Schmiergelpapier, Tabak, Heringe, Sprotten und blaue Tünche. Der Eichmeister Eibenschütz, der so oft hierhergekommen war, dienst- und pflichtgemäß, als Vollstrecker unerbittlicher Gesetze, um Waagen und Maße und Gewichte zu prüfen, befand sich unversehens hinter dem Ladentisch neben Euphemia. Und als wäre er ihr Lehrling, befahl sie ihm, dies und jenes zu holen, dies und jenes zu wägen, dies und jenes zu füllen, diesen und jenen zu bedienen. Der Eichmeister gehorchte. Was sollte er tun? Er wußte nicht einmal, daß er gehorchte (JRW 6, 179). Diese Veränderungen an der Grenzschenke sowie in der Persönlichkeit des Eichmeisters zeugen von einer inneren Spaltung, von einem Ineinanderübergehen von Zentrum und Peripherie, von Kultur und Natur. 2. Unheimliches Leben: zu den Erscheinungsformen der Marginalität … 274 Inzwischen gelingt es dem verhafteten ›Leibusch Kramrisch Jadlowker‹, mit der Hilfe von Kapturak aus dem Gefängnis zu flüchten. 965 Eine Choleraseuche hat die Gegend Zlotogrod erfasst. Aus Angst vor Ansteckungen lässt der Staat die Leichen von Cholerakranken durch Sträflinge bestatten, die bei dieser Arbeit selbst angesteckt werden oder Ansteckungen simulieren (vgl. JRW 6, 199f). Zu diesen Häftlingen, die eine Infizierung vortäuschen, zählt Jadlowker. Kapturak lässt die Gemeindeschreiber einen falschen Totenschein auf den Namen Jadlowker ausstellen (vgl. ebd.). Von den Cholerakranken im Spital starb nach drei Tagen einer, es war der Bauer Michael Chomnik, um den kein Mensch sich kümmerte. Kein Hahn krähte nach ihm, und ihn begrub man unter dem Namen Leibusch Jadlowker, zweiundvierzig Jahre alt, Beruf Gastwirt, geboren in Kolomea. Nebenbei gesagt, waren auch diese Angaben falsch. Jadlowker hieß nicht Jadlowker, er war nicht zweiundvierzig Jahre alt und auch nicht in Kolomea geboren. Unter dem Namen Michael Chomnik wurde Jadlowker aus dem Spital entlassen, als geheilt (JRW 6, 200). Leibusch Kramrisch Jadlowker alias Michael Chomnik rächt sich später an dem Eichmeister, indem er ihn ermordet. Der Eichmeister wird dadurch in seinen allerletzten Stunden in eine andere Welt versetzt. In dieser Welt findet er sich selbst als einen Händler, der mit falschen Gewichten hantiert und vom „‘[…] Große[n] Eichmeister’“ (JRW 6, 222) geprüft wird. Das Urteil des Großen Eichmeisters klingt aber sehr mild: „‘Alle deine Gewichte sind falsch, und alle sind dennoch richtig. Wir werden dich also nicht anzeigen! Wir glauben, daß alle deine Gewichte richtig sind. Ich bin der Große Eichmeister’“ (ebd). Diesem Urteil ist zu entnehmen, dass die Vielschichtigkeit der Grenze nicht durch einfache, billige Bipolarisierungen auseinandergesetzt werden kann: richtig/ falsch; Christ/ Jude, schwarz/ weiß; Mann/ Frau; West/ Nicht-West usw. „‘Wer regiert denn überhaupt die Welt? ’“ (JRW 6, 187). Diese rhetorische Frage macht die geistige Krise wahrnehmbar, die den Eichmeister Eibenschütz erschüttert. 966 Galizien - oder die Figur der Grenze 965 Vgl. Daniel Romuald Bitouh, „Liminalität, Hybridität und Identität. Zu Joseph Roths Inszenierung der Grenze als Subversion der Metaphysik von Identität“, in: Anna Babka/ Julia Malle/ Matthias Schmidt (Hg.), Dritte Räume. Homi K. Bhabhas Kulturtheorie. Krititk. Anwendung. Reflexion (Anm. 563), S. 179 966 Die Figur Anselm Eibenschütz ist nicht die einzige, die an der Grenze die Erfahrung der Spaltung durchmacht. Ähnliches geschieht auch den Figuren Kargan aus Der blinde Spiegel, Carl Joseph Trotta aus Radetzkymarsch sowie allen Bewohnern der Grenze in Joseph Roths Texten. Vgl. Joachim Beug, „Die Grenzschenke. Zu einem literarischen Topos“, in: Helen Chambers (Hg.), Co-existent contradictions (Anm. 36), S. 155f. Laut Joachim Beug habe die Grenze an dem teil, „was Grenzen kennzeichnet: das ‘neither here nor there’ […]“ Joachim Beug, ebd. S. 149. „Die Grenzschenke partizipiert - zumindest virtuell - an der Bedeutung von Grenzen im weiteren und auch im übertragenen Sinn und damit an der Möglichkeit der Grenzüberschreitung: Grenzen zwischen Licht und Dunkel, Tag und Nacht, zwischen Flüssigem und Festem, um mit … 275 - entpuppt sich als liminaler Raum, als Schwellenraum der Grenzverwischung, an oder in dem Macht, Herrschaft und Autorität hybridisiert, unterlaufen wird und Identität als ein unabgeschlossener Prozess kultureller Differenzen erscheint. Die Figur der Grenze zählt zu den grundlegenden Figuren in Bhabhas postkolonialem Denken. Diese Figur zeigt sich als eine Metapher, die sowohl den Zustand unserer als postkolonial bezeichneten Welt als auch die Stellung des Menschen in der heutigen Welt verdeutlicht und veranschaulicht 967 Bhabha schreibt: Beginnings and endings may be the sustaining myths of the middle years; but in the fin de siecle, we find ourselves in the moment of transit where space and time cross to produce complex figures of difference and identity, past and present, inside and outside, inclusion and exclusion. 968 Die Grenzerfahrung erscheint als grundlegende Erfahrung menschlichen Seins. Die Grenze als hybrider Raum stellt eine Übergangszone bzw. einen Schwellenpunkt dar, wo Zeit und Raum ineinanderfließen und vielgestaltige Figuren von Differenz und Identität erzeugt werden. Es handelt sich um eine Schnittstelle, in der Identitäten zwischen Absenz und Präsenz pendeln. Die Figur der Grenze steht für diesen Ort, in oder an dem jegliche Vorstellung von Identität als etwas Stabiles und Fertiges unterlaufen wird. Bhabha fasst die Grenze als Raum des Dazwischens bzw. als Raum einer schöpferischen Begegnung von Differenzen auf. 969 „Was sich in oder an dieser Figur der Grenze abspielt, schildert Bhabha mithilfe seines mimicry-Konzeptes.“ 970 den Grenzziehungen des ersten Schöpfungstages zu beginnen; aber auch die Grenzen der menschlichen Körperlichkeit, Innen und Außen, Grenzen des Bewusstseins und der Wahrnehmung, Grenzen zwischen Menschen, die Grenzen zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen Leben und Tod. In allen Fällen kann man die scharfe Trennung und auch die Vermischung der Bereiche denken.“ Ebd. S. 149f. Die Veränderungen, die an der Grenze lebende Protagonisten durch das Treiben an der Grenzschenke durchgehen, zeugen davon, dass die Grenzschenke nicht nur virtuell oder symbolisch an der Bedeutung von Grenzen partizipiere, wie Joachim Beug es zu verstehen gibt, sondern diese Partizipation auch in den Bereich des Realen umso mehr anzusiedeln ist, als das Subjekt in seiner alltäglichen Kontiguität mit dem Anderen diese Grenzerfahrung durchmacht. 967 Daniel Romuald Bitouh, „Liminalität, Hybridität und Identität. Zu Joseph Roths Inszenierung der Grenze als Subversion der Metaphysik von Identität“, in: Anna Babka/ Julia Malle/ Matthias Schmidt (Hg.), Dritte Räume. Homi K. Bhabhas Kulturtheorie. Krititk. Anwendung. Reflexion (Anm. 563), S. 170. 968 Homi K. Bhabha, The Location of Culture (Anm. 365), S. 1. 969 Vgl. Daniel Romuald Bitouh, „Liminalität, Hybridität und Identität. Zu Joseph Roths Inszenierung der Grenze als Subversion der Metaphysik von Identität“, in: Anna Babka/ Julia Malle/ Matthias Schmidt (Hg.), Dritte Räume. Homi K. Bhabhas Kulturtheorie. Krititk. Anwendung. Reflexion (Anm. 563), S. 170. 970 Ebd. Bhabhas mimicry-Konzept weist zwei Dimensionen auf. Erstens erscheint mimicry als eine Strategie kolonialer Kontrolle: „(…) colonial mimicry is the desire for a re- 2. Unheimliches Leben: zu den Erscheinungsformen der Marginalität … 276 Homi Bhabha diagnostiziert vergangene wie auch fortbestehende Kolonialismen. Darin liegt m.E. die intertextuelle Brücke, die ihn mit Joseph Roths verbindet. Joseph Roth thematisiert in seinen Texten nicht nur binneneuropäiformed recognisable other as a subject of a difference that is almost the same but not quite.“ Homi K. Bhabha, The Location of Culture (Anm. 365), S. 86. Kursivschrift i.O. Mimicry (in diesem ersten Sinne) weist auf das Begehren des Kolonisierenden hin, einen nach den Vorstellungen des Kolonisierenden reformierten erkennbaren Anderen zu gestalten. Erzielt wird keine Gleichsetzung des kolonisierten Anderen mit dem Kolonisierenden, sondern ein Subjekt, das dem Kolonisierenden fast ähnelt, aber das ihm immer unterworfen bleibt: ›a subject of difference that is almost the same but not quite‹. Es handelt sich um eine bestimmte Konstruktion, eine Limitierung des kolonisierten Subjektes. Es wird versucht, dieses Subjekt als „ a ´partial´ presence“ (ebd. S. 86.), will sagen, als eine virtuelle und unvollständige Präsenz durch Mechanismen der An- und Aberkennung, des Ein- und Ausschlusses zu fixieren. Bhabha führt Charles Grants Artikel „Observations on the state of society among the Asiatic subjects of Great Britain“ (1792) und Macaulays Schrift „Minute on education“ (1835) als anscheinend unschuldige Textbeispiele über Erziehung und Religion an, in denen mimicry - als Strategie kolonialer Kontrolle verstanden - zum Ausdruck kommt. Im Rahmen seiner Missionserziehung in Indien setzt sich Charles Grant (1778-1866) zum Ziel, nach dem Christentum ausgerichtete politische Reformen einzuführen. Grants Projekt ist dennoch ambivalent besetzt: „Caught between the desire for religious reform and the fear that the Indians might become turbulent for liberty, Grant paradoxically implies that it is the ´partial´ diffusion of Christianity, and the ´partial´ influence of moral improvments which will construct a particularly appropriate form of colonial subjectivity.“ Ebd. S. 87. Grants Reformen suchen, ein für die Kolonialmacht gefügiges indisches Kolonialsubjekt zu konstruieren und festzulegen. Nur solche Strategien kolonialer Subjektivitätskonstruktionen werden dennoch durch die von Kolonialsubjekten bewusst oder unbewusst entfalteten Widerstandsstrategien unterlaufen. Und damit wird die zweite Dimension von Bhabhas mimicry-Konzept eingeführt: mimicry als Mittel strategischer Tarnung, als eine immanente Bedrohung. Denn aus dem kolonisierten Subjekt kann nie ein Abbild des Kolonisierenden werden oder gemacht werden. Das kolonisierte Subjekt erweist sich vielmehr als ein Zerrbild: „[…] to be Anglicised is emphaticaly not to be English.“ Ebd. S. 87. Kursivschrift i.O. Um Bhabhas mimicry-Konzept nachvollziehen zu können, muss die Tatsache berücksichtigt werden, dass Bhabha stark aus der Sprache und Figuren der Freud’schen und Lacan’schen Psychoanalyse schöpft. Mimicry ist nicht unbedingt als eine vom kolonisierten Subjekt ganz bewusst ausgewählte und eingesetzte Widerstandsstrategie aufzufassen. Es handelt sich um einen Widerstand, der aus den Tiefen des Unbewussten kommt. Diese Annahme wird von David Huddart bekräftigt: „[…] one explanation of mimicry as a strategy would suggest that it is an unconscious strategy. Not all forms of resistance are actively choosen or visibly oppositional: some resistance is subtle or indeed unconscious. For Bhabha, that it is a resistance at all is more important than the degree to which it is an actively pursued strategy.“ David Huddart, Homi K. Bhabha (Anm. 453), S. 62. Hervorhebung v. mir. Diese Erläuterung des mimicry-Konzeptes ist aus Daniel Romuald Bitouh, „Liminalität, Hybridität und Identität. Zu Joseph Roths Inszenierung der Grenze als Subversion der Metaphysik von Identität“, in: Anna Babka/ Julia Malle/ Matthias Schmidt (Hg.), Dritte Räume. Homi K. Bhabhas Kulturtheorie. Krititk. Anwendung. Reflexion (Anm. 563), S. 170f übernommen. … 277 sche, sondern auch außereuropäische Kolonialverhältnisse im Hinblick auf die imperiale Begegnung zwischen Europa und Afrika umso mehr, als er beide Kolonialismen als dialogisch ineinander verschränkt betrachtet. Die imperiale Begegnung zwischen Europa und Afrika ist aber ein bisher in der Roth-Forschung fast verdrängter Aspekt geblieben, der in Roths klassischen Romanen spärlich bis fast nicht anzutreffen, aber trotzdem präsent in Form einer marginalen Spur ist. Dennoch wird in bestimmten Essays Joseph Roths, die in der Zwischenkriegszeit verfasst worden sind, 971 diese Begegnung in den Mittelpunkt gerückt. Der folgende Teil dieser Arbeit geht daher den Fragen nach, wie Joseph Roth die imperiale Begegnung zwischen Europa und Afrika in seinen Texten darstellt, welche kulturwissenschaftlich relevante Aspekte aus dieser Darstellung entstehen und wie sich Joseph Roth zu dieser Begegnung einstellt? 971 Es handelt sich um folgende ausgewählte Essays Die Rehabilitierung der Schwarzen, Die Schwarzen im Ruhrgebiet und Der blonde Neger Guillaume, die u.a. den Gegenstand des dritten Teils dieser Arbeit bilden. 3. Joseph Roth und die Frage der imperialen Begegnung zwischen Europa und Afrika: Zu weiteren Dimensionen der Verschränkung von binnen- und äußereropäischem Kolonialismus Die Analyse der Texte Die Legende vom heiligen Trinker Die Rebellion und Hiob u.a. hat es ermöglicht, unheimliche binneneuropäische Kolonialverhältnisse auszuloten, in die sich manche Figuren Roths verwickeln. Andreas Kartak, Andreas Pum, Mendel Singer, Anselm Eibenschütz, der Graf Morstin, all diese Figuren machen - jede auf ihre Weise - die Erfahrung der Marginalität bzw. des Unheimlichen, die Erfahrung der Spaltung des Selbst. Von dieser Erfahrung geprägt, sind dennoch auch jene von Roth geschilderten Figuren, die in außereuropäische imperial-kolonialistische Verhältnisse verstrickt sind. Daher nimmt sich dieser Teil vor, Joseph Roths re-lecture und ré-écriture der imperialen Begegnung zwischen Europa und Afrika, wie diese in den hier zu behandelnden Texten vorkommt, gegen den äußeren Schein zu lesen. Im Zentrum stehen jene Texte, in denen die imperiale Begegnung zwischen Europa und Afrika explizit thematisiert wird. Hingewiesen wird auf den Roman Die Flucht ohne Ende (1927) sowie auf die Essays Die Rehabilitierung der Schwarzen, Die Schwarzen im Ruhrgebiet und Der blonde Neger Guillaume. Diese Texte sind in den 1920ern erschienen und das Thema der imperialen Begegnung zwischen Europa und Afrika tritt darin deutlich zu Tage. Auf diesen Überschneidungspunkt wird besonderes Gewicht gelegt. Die Analyse zielt darauf ab, Mehrstimmigkeiten und Gegenstimmen nachzuspüren, mit dem Ziel, alternative Schichten erwähnter Texte sichtbar zu machen. Kulturwissenschaftlich relevante Fragen, die diese Texte aufwerfen, werden produktiv weiterverfolgt, insbesondere Fragen der machtpolitischen Dimension des Begriffs Kultur, Fragen des kolonialen Blickes sowie Fragen der Differenz und Interdependenz. Die Zwischenkriegszeit ist eine Periode, in der zahlreiche Autoren afrikanischer Herkunft sich literarisch und essayistisch mit der Frage der Begegnung von Europa und Afrika auseinandersetzen. Demgemäß werden - im Sinne eines literarischen Dialogs und vor allem im Sinne einer produktiven Erweiterung der in Roths Texten angeschnittenen Fragen - Texte afrikanischer Autoren für die Beweisführung herangezogen. Es handelt sich um einen Dialog, der nicht mit oder in diesem Teil beginnt, sondern die ganze Arbeit durchzieht. Joseph Roths Text Die Flucht ohne Ende, der im Folgenden im Zentrum der Analyse steht, stellt unter anderen einen der Texte dar, in denen die imperiale Begegnung zwischen Europa und sogenannter Dritter Welt zur Sprache kommt. 3. 1 Franz Tundas kritische Betrachtungen über die imperiale Begegnung … 279 3. 1 Franz Tundas kritisc he B etrachtungen über die i mperiale B egegnung … 3.1 Franz Tundas kritische Betrachtungen über die imperiale Begegnung zwischen Europa und Afrika David Bronsen sieht in Leutnant Franz Tunda aus Die Flucht ohne Ende 972 nichts anderes als eine Projektionsfläche für manche Kriegserlebnisse Joseph Roths. In dem Offiziersrang, den Tunda führt, will David Bronsen eine Erinnerung an den phantasierten Offizierstitel, den Roth zeitlebens sich eigenmächtig zuerkannte, 973 ausmachen. Nach dem Kriegsdienst in der k.u.k. Armee 974 war Joseph Roth einer Zwangsrekrutierung in „die seit November 1918 bestehende Armee der Westukrainischen Republik“ 975 zweimal knapp entkommen: das erste Mal im von Ukrainern besetzten Galizien, das zweite Mal auf seinem Rückweg nach Wien in den Karpaten. 976 Auf dem Rückweg nach Wien gerät Franz Tunda in russische Gefangenschaft. Es gelingt ihm die Flucht. Er gerät erneut in eine andere Gefangenschaft, diesmal in die Hände der Russen, und wird dabei in die russische revolutionäre Armee zwangseingereiht. Eine Bewegung über diese rein biographische Stufe hinaus eröffnet jedoch den Blick zu neuen Dimensionen dieses Textes. Joseph Roths Text Die Flucht ohne Ende, den er „ein[en] Bericht“ nennt (JRW 4, 389), 977 schildert die geistige Entwicklung von Franz Tunda, der sich von einem naiven Untertanen des österreischich-ungarischen Kaisers zu einem selbstbewussten Subjekt entwickelt, das anfängt, die globalen asymmetrischen Verhältnisse kritisch zu betrachten. Was in Die Flucht ohne Ende besonders auffällt, ist dessen zeitkritische Dimension. 978 Die Rekonstruktion der Laufbahn Franz Tundas zeigt eindeutige Momente einer Thematisierung und Problematisierung der imperialen Begegnung zwischen Europa und Afrika. Franz Tunda führt ein spannungsreiches Leben. Als Oberleutnant in der rot-weiß-roten Armee zieht er als Untertan des öster 972 Joseph Roth, Die Flucht ohne Ende (1927), in: JRW, Band 4, S. 389-499. Künftighin im Fließtext als JRW mit Angabe des Bandes und der Seitenzahl zitiert. 973 Vgl. David Bronsen, Joseph Roth: eine Biographie (Anm. 10), S. 176f. 974 „Zurückgekehrt war er Mitte Dezember 1918, wenige Wochen nach Kriegsende.“ Ebd. S. 186. 975 Ebd. S. 191. 976 Ebd. 977 Joseph Roth präsentiert diesen Text als eine Nichtfiktion. Diese Annahme erweist sich dennoch als eine Fiktion, denn im Text selbst wimmelt es von poetischen Momenten. Vgl. Ulrich Greiner, „Joseph Roth“, in: Daniel Keel et al. (Hg.), Joseph Roth. Leben und Werk (Anm. 53), S. 222 und 224. Auch im Roman Zipper und sein Vater (1928) erlebt der Leser einen Ich-Erzähler, der den Eindruck erweckt, kurzerhand die Lebensgeschichte seines Freundes Arnold Zipper zu berichten. Vgl. Ulrich Greiner, „Joseph Roth“, ebd. Näheres über Roths antipoetischen Anspruch ist ebenda, S. 223f zu erhalten. 978 Vgl. Ulrich Greiner, ebd. S. 222. Zu der Kategorie Zeitkritik zählen ebenfalls die Romane Rechts und links (1929), Zipper und sein Vater (1928), Das Spinnennetz (1923). Vgl. ebd. S. 224. 3. Joseph Roth und die Frage der imperialen Begegnung … 280 3. Joseph Rot h und die Frage der i mperia len B egegnung … reichischen Kaisers freiwillig in den Ersten Weltkrieg. Er wird aber wegen Verdachts einer Geisteskrankheit aus der k.u.k. Armee gewiesen (vgl. JRW 4, 394). Danach gerät er in russische Gefangenschaft. Ihm gelingt es trotzdem auszubrechen. Er lebt mit falschen Papieren unter dem Namen Baranowicz, einer neuen öffentlichen Identität (vgl. JRW 4, 393). Auf seinem Heimweg nach Wien streift er durch einen Teil des im Revolutionsfieber befindlichen Russlands und gerät in die Hände einer revolutionären Gruppe, die von der rebellischen Natascha Alexandrowna angeführt wird (vgl. JRW 4, 402). Franz Tunda verliebt sich in die Rotgardistin Natascha, die ihn mit marxistischen Idealen vertraut macht, seine bürgerlichen Vorstellungen über die Frau - auf die Begriffe Kinder, Küche und Kirche beschränkt - sowie über Liebe dekonstruiert (vgl. JRW 4, 404f). 979 Natascha wird zu Franz Tundas geistiger Wegbereiterin. Die Liebe zu dieser Frau verwandelt sich in eine Liebe zur Revolution bzw. in eine Liebe zur marxistischen Ideologie. „Er wurde ein Revolutionär, er liebte Natascha und die Revolution“ (JRW 4, 404). Und gerade in dieser Erwähnung des Marxismus kann man auf eine mögliche Annäherung an die global gefasste Dritte Welt schließen, als das Kokettieren mit dem Marxismus gewissermaßen sein kritisches Bewusstsein schärft. Über eine Ost-West-Bipolarität 980 hinweg, die in der Auseinandersetzung zwischen Natascha und Franz Tunda zum Vorschein kommt, beinhalten Franz Tundas Aussagen eine kulturelle Grenzen überschreitende Kraft. Bei Tunda setzt ein Umdenkprozess ein. Er hinterfragt die Wertvorstellungen seiner alten Welt und tritt zunehmend für die Anliegen von Ausgegrenzten, Entrechteten und Marginalisierten, für alternative unterdrückte Stimmen und Geschichten ein. Besondere Aufmerksamkeit wird hier auf das Phänomen der textuellen Verräumlichung und Verzeitlichung gelenkt, das im Roman Die Flucht ohne Ende inszeniert wird. Darunter ist die gleichzeitige Erwähnung oder Inszenierung von ungleichzeitigen Räumlichsowie Zeitlichkeiten zu verstehen. Die Stelle aus dem Roman, in dem die Gebrüder Franz und Georg Tunda eine intensive Debatte führen, in der u.a. die brennende Frage der imperialen Begegnung zwischen Europa und Afrika angeschnitten wird, ist ein deutliches Beispiel dafür. 981 Franz und Georg Tunda werden als feindliche Brüder dargestellt, deren Rivalität im Elternhaus ihren Anfang genommen hat (vgl. JRW 4, 433f). Wegen einer Invalidität physischer Natur besucht Georg Tunda, der von seinem Vater gefordert und von seiner Mutter besonders verwöhnt wird, eine Musikakademie, während sein Bruder Franz eine militärische Laufbahn in einer 979 Näheres über das rebellische Handeln der Figur Natascha ist in den Kapiteln III, IV und V in Die Flucht ohne Ende zu erhalten. 980 David Bronsen beschränkt den Antagonismus, der sich in Die Flucht ohne Ende abspielt, auf einen Ost-West- Antagonismus. Vgl. David Bronsen, Joseph Roth: eine Biographie (Anm. 10), S. 291f. Übersehen wird eine andere Polarität, die den ganzen Text besetzt und zwar die Europa-Afrika-Polarität. 981 Siehe Kapitel XX in JRW 4, 454-456. 3. 1 Franz Tundas kritische Betrachtungen über die imperiale Begegnung … 281 Kadettenschule einschlagen muss, wie es sich sein Vater wünscht (vgl. ebd.). Dieses elterliche Machtdispositiv prägt maßgeblich die Zukunft der Brüder Tunda. Georg wird Kapellmeister und führt ein sesshaftes Leben in Deutschland (vgl. JRW 4, 438). Franz Tunda hingegen fristet ein nomadisches Dasein, das mit einer Teilnahme am Krieg begann und durch fortwährende Wanderungen kein Ende nimmt. Joseph Roth, der in diesem Text selbst als eine Art Figur, als eine Art Vermittler zwischen den verfeindeten Brüdern einschreiten will, 982 gibt sich für denjenigen aus, der Georg Tunda von der Heimkehr seines Bruders Franz informiert. Fünfzehn Jahre lang haben die Brüder Tunda kein Wort ausgetauscht. Franz Tunda erhält eine Einladung von seinem Bruder Georg und macht sich mit dem Zug auf den Weg ins Rheinland (vgl. ebd.f). In der nicht eindeutig benannten Großstadt am Rhein angekommen, wird Franz Tunda von Klara, der Frau des Kapellmeisters Georg Tunda, vom Bahnhof abgeholt. Die dynamische labyrinthische großstädtische Landschaft, die sich vor Franz Tundas Augen ausbreitet, löst in ihm kurzfristig das Gefühl des Verloren-Seins aus. Er fühlt sich in eine ganz und gar ungewohnte Welt versetzt. [E]in Gewimmel von Drähten, Bogenlampen, Automobilen, in der Mitte einen Schutzmann, der wie ein Automat die Arme streckt, rechts, links, aufwärts, abwärts, gleichzeitig aus einer Trillerpfeife Signale gab und so aussah, als würde er im nächsten Augenblick auch noch seine Beine für die Verkehrsregelung in Anspruch nehmen müssen. Tunda bewunderte ihn. Aus einigen Kneipen tönte Musik, sie füllte die Pausen, die der Verkehrslärm gelegentlich offenließ, es war eine Atmosphäre von Sonntagsfreude, Becherklang, Steinkohle, Industrie, Großstadt und Gemütlichkeit (JRW 4, 443). Ganz ähnlich ergeht es Andreas Pum in Die Rebellion nach seiner Haftentlassung. Er wird mit der modernen großstädtischen Wirklichkeit konfrontiert, die ihn überwältigt. 983 Franz Biberkopf in Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz (1929) macht nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis Tegel eine ähnliche Erfahrung. 984 Franz Tunda wird dieses mulmige Gefühl, sogar in den Mauern der prunkvollen Villa des Bruders, nicht los. Er bezeichnet die Verhältnisse der Familie Georg Tunda als reich (vgl. JRW 4, 443). „‘Nicht reich! ’ lächelte Klara verzeihend, deren soziales Gewissen sich mehr gegen das Wort als gegen den Zustand empörte: Wir leben nur kultiviert. […]“ (Ebd.). Was ist hier unter kultiviertem Leben zu verstehen? Bei näherer Betrachtung vermittelt die Villa des Kapellmeisters den Eindruck, als ob sie Sammelstelle von 982 Die Aussage, die Roth im Vorwort voranschickt, ist aufschlussreich: „Im Folgenden erzähle ich die Geschichte meines Freundes, Kameraden und Gesinnungsgenossen Franz Tunda. Ich folge zum Teil seinen Aufzeichnungen, zum Teil seinen Erzählungen“ (JRW 4, 391). 983 Vgl. Kapitel XIII, in JRW 4, 302-305. 984 Vgl. Alfred Döblin, Berlin Alexanderplatz (Anm. 742). 3. Joseph Roth und die Frage der imperialen Begegnung … 282 „‘halb umsonst’“ erworbenen „kostbare[n] Geräte[n] von künstlerischem Wert“ ist (JRW 4, 444), wie Franz Tunda feststellt: „Der Kapellmeister hatte vor Jahren von russischen Flüchtlingen einen silbernen Samowar gekauft, als Kuriosität. Zu Ehren des Bruders […]“ (JRW 4, 443). „Übrigens gab es in anderen Zimmern auch Buddhas, obwohl weit und breit am Rhein keine Buddhisten leben, es gab auch alte Handschriften von Hutten, eine Lutherbibel, katholische Kirchengeräte, Madonnen aus Ebenholz und russische Ikonen“ (JRW 4, 444). Ein Spaziergang, den Franz Tunda ohne Führung durch die Großstadt unternimmt, lässt ihn die ›manichäische‹ Struktur dieser Großstadt entdecken: einerseits der hochmoderne Stadtteil, der Stadtteil des politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Establishments. „Er ging durch stille Gartenstraßen, in denen gut gekleidete Knaben und Mädchen auf Fahrrädern schön geschlungene Schleifen machten. Dienstmädchen kehrten vom Gottesdienst heim und kokettierten. Stolze Hunde lagen wie Löwen hinter Gittern.“ (Ebd.). Andererseits der alte, heruntergekommene, plebejische Stadtteil: zwischen bunte Giebel, zwischen Weinstuben mit mittelhochdeutschen Namen; armselig gekleidete Männer kamen ihm entgegen, offenbar Arbeiter, die zwischen gotischen Buchstaben wohnten, aber wahrscheinlich in Bergwerken internationaler Besitzer ihr Brot verdienten (JRW 4, 445). Besonders hervorgehoben wird die hässliche Architektur beider Stadtteile: einerseits eine Architektur, die Wohlstand und Leben im Überfluss ausstrahlt, andererseits eine Architektur des Zusammengepfercht-Seins. Bei jenem Fest, das Georg Tunda zu Ehren seines Bruders veranstaltet und zu dem ausschließlich Klubmitglieder zugelassen sind, hat Franz die Gelegenheit, mit ein paar Gästen ins Gespräch zu kommen. Franz Tundas Wissen über russische Verhältnisse wird dabei einer Prüfung unterzogen. Das Gespräch übernimmt die Züge einer kulturellen Konfrontation: „‘Liest man Ilja Ehrenburg in Rußland? ’ fragte die kleine Schauspielerin. ‘Er ist ein Skeptiker’“ (JRW 4, 449). Da muss Franz Tunda einsehen, wie begrenzt sein Wissen über manche Tatsachen ist. Zumindest lassen seine Gesprächspartner bei ihm dieses Gefühl entstehen. Während des Gesprächs „fühlte [er], wie er den Boden verlor“ (JRW 4, 449). Ein Fabrikant, der als Gesprächsleiter wirkt. - „Immer war er es, der dem zerfallenden Gespräch ein neues Zentrum zu geben verstand.“ (JRW 4, 450). -, bemerkt Franz Tundas Unbehagen. Er fasst den Entschluss, ihm das wahre Gesicht der Klubmitglieder zu zeigen. Aus der Sicht des Fabrikanten sind nämlich sämtliche Klubmitglieder Lügner. „Die Haut in der jeder steckt, ist nicht seine eigene. Und wie in unserer Stadt ist es in allen, wenigstens in hundert größeren Städten unseres Landes“ (JRW 4, 452). Die Gäste verlassen das Wohnwesen des Kapellmeisters; die Brüder Tunda finden endlich eine Gelegenheit, miteinander zu reden. Die Gebrüder Tunda debattieren u.a. über die imperiale Begegnung zwischen Europa und Afrika. Die Handlung verschiebt sich vom intersubjektiven Bereich auf die interkulturelle Ebene, wobei Franz Tunda die These vertritt, 3. 1 Franz Tundas kritische Betrachtungen über die imperiale Begegnung … 283 dass Europa keine absolute und ›reine‹ Kultur ist und sich nicht zum absoluten Maßstab für andere Kulturen aufwerfen soll, sondern ein Gewebe aus produktiven Einflüssen unterschiedlicher Kulturen bildet. Georg Tunda wirft seinem Bruder vor, „[…] keine europäischen Anschauungen mehr […]“ zu vertreten (JRW 4, 455). Genau in diesem Augenblick zeigt sich, inwieweit Georg in eine teleologische 985 Kultur- und Geschichtsauffassung verstrickt ist: ‘Ähnliche Anschauungen haben leider auch schon einen großen Teil von Deutschland ergriffen. Sie gehen von Berlin aus. Aber hier am Rhein gibt es noch ein paar alte Festungen der alten bürgerlichen Kultur. Unsere Traditionen reichen vom Altertum über das katholische Mittelalter, den Humanismus, die Renaissance, die deutsche Romantik. - -’ (JRW 4, 455f). Georg Tunda erhebt das Altertum, das Mittelalter, den Humanismus, die Renaissance, die deutsche Romantik und Klassik sowie die Aufklärung - Epochen der europäischen Kultur- und Geistesgeschichte - zu transzendentalen Kategorien, zum Triumph Europas über den Rest der Welt. Er vertritt eine klassische Kulturauffassung, in der die europäische Kultur als rein, ursprünglich und einheitlich ausgegeben wird. 986 Der Kapellmeister Georg Tunda inszeniert sich selbst als eine Art Instanz, die einen Meisterdiskurs über die Menschheit und die Weltgeschichte reproduziert und festigt. Seine Kapellmeisteruniform macht ihn zu einer politischen und kulturellen Autorität. Denn die Kirche, die den Mittelpunkt seiner kulturellen Tätigkeit bildet, offenbart sich im Laufe der abendländischen Kulturgeschichte nicht nur als der Ort, in dem der Gottesdienst abgehalten wird, sondern vor allem auch als eine kulturelle Institution, als ein Machtdispositiv, das aus der Sicht des Kapellmeisters den kulturellen Vorsprung Europas ausstrahlen soll. Die Institution Kirche wirkt hier als Disziplinarmacht im doppelten Foucault’schen Sinne von strafender Disziplinierung und Wissensdisziplinierung. 987 Sie übte in den europäischen Mutterländern eine disziplinierende Wirkung aus. In der teleologischen Weltsicht Georg Tundas stehen das Altertum, das katholische Mittelalter, der Humanismus, die Renaissance, die Aufklärung sowie die deutsche Romantik und Klassik als Meilensteine einer aufstrebenden europäischen Kulturgeschichte, wie sie in manchen Meistererzählungen über 985 Unter Teleologie ist eine Lebens- und Weltauffassung zu verstehen, die das Leben als eine Bewegung hin zu einem telos bzw. zu einem Ziel, zu einem Endzweck definiert. In der Logik dieser Auffassung werden Prozesse wie ›Entwicklung‹ oder ›Kultur‹ vielmehr als fixe Punkte vor- und dargestellt. Ein Subjekt/ Objekt, das diesen Punkt erreicht wird als entwickelt oder kultiviert eingestuft. Diese Teleologie spiegelt sich zum Beispiel in den binären Oppositionen entwickelt vs. unterentwickelt; Erste Welt vs. Dritte Welt; Natur vs. Kultur usw. wider. Vgl. Ulrich Muhlack, „Fortschritt und Geschichte“, in: Rüdiger Bubner/ Konrad Kramer/ Reiner Wiehl, Teleologie, Vandenhoec, Ruprecht, Göttingen: Verlagsdruckerei R. Rieder 1981, S. 124-139. 986 Zum Begriff Writting-Culture siehe Fußnote 97 in dieser Arbeit. 987 Vgl. Michel Foucault, Überwachen und Strafen (Anm. 371). 3. Joseph Roth und die Frage der imperialen Begegnung … 284 die Weltgeschichte vorkommt, die bewusst oder unbewusst alternative Geschichten verdrängen und unterdrücken. Im Anschluss an Joseph Roths Essay Die weißen Städte 988 verfolgt Telse Hartmann die Frage nach der Selbstdefinition Europas. Die weißen Städte sind eine Sammlung von Joseph Roths literarischen Bildern südfranzösischer Städte - u.a. Lyon, Vienne, Tournon, Avignon, Les Beaux, Nîmes, Arles, Tarascon, Beaucaire, Marseille usw. -, die er 1925 im Auftrag der Frankfurter Zeitung bereiste. 989 Joseph Roths Reisereportage zeichnet sich durch eine Verschränkung von journalistischem und literarischem Schreiben aus. 990 In der Vorstellungswelt der Erzählerfigur stehen die erwähnten südfranzösischen Städte für ein harmonisches Europa, in dem die griechische Antike, das Mittelalter, die Renaissance, die Epoche der Romantik und der Klassik als Essenzen zum Vorschein kommen. 991 Sie werden als Sinnbilder geschichtlicher, religiöser und ethnischer Grenzaufhebungen hingestellt. 992 In der Darstellungsweise der weißen Städte vermittelt der Ich-Erzähler die Illusion einer natürlichen Verbindung zwischen der malerischen südfranzösischen bzw. südeuropäischen Landschaft im Hinblick auf die erwähnten Epochen der europäischen Geschichte. Das konstruierte Moment wird dabei völlig ausgeblendet. In Anlehnung an den Literatur- und Kulturwissenschaftler Paul Michael Lützeler kommt Telse Hartmann zu dem kritischen Schluss, dass die Idee Europas in Joseph Roths südfranzösischen Reportagen auf einer „Einheitsutopie“ 993 fußt. Sie „rückt […] Roths Text in die Tradition des romantischen Europadiskurses, für den insbesondere Novalis´ Essay ‛Die Christenheit oder Europa’ repräsentativ ist“. 994 Telse Hartmann merkt aber an, dass sich Roths Südfrankreich-Schilderungen von Novalis Europadiskurs dadurch unterscheiden, dass sie die metaphysische „Präsenz aller Zeiten, Ethnien und Kulturen in den südfranzösischen Städten“ 995 unterminieren, indem kulturelle Ambivalenzen, interne Differenzierungen in den Mittelpunkt gerückt werden. 996 Sie bezieht sich dabei auf die Brandungsmetapher im letzten Abschnitt vom Joseph Roths Essay Die weißen Städte. 997 Telse Hartmann vertritt die Auffassung, dass Roths Kritik an 988 Joseph Roth, Die weißen Städte, in: JRW, Band 2, Das journalistische Werk 1924- 1928, S. 451-506. Künftighin im Fließtext als JRW mit Angabe des Bandes und der Seitenzahl zitiert. 989 Vgl. Telse Hartmann, Kultur und Identität (Anm. 32), S. 79. 990 Vgl. ebd. 991 Vgl. ebd. 992 Vgl. ebd. S. 80-85. 993 Paul Michael Lützeler (Hg.), Analysen und Visionen der Romantiker, Frankfurt/ Main: Insel Verlag 1982. S. 9-53. Zitiert nach ebenda. S. 84. 994 Paul Michael Lützeler, Schriftsteller und Europa. Zitiert nach ebenda. S. 84. 995 Ebd. S. 86. 996 Vgl. ebd. S. 86f. 997 Vgl. ebd. S. 86. „Hier löst sich alles scheinbar Bleibende auf. Hier schließt es sich zusammen. Hier ist fortwährender Aufbau und Zerstörung. Keine Zeit, keine Macht, kein Glaube, kein Begriff ist hier ewig. Was nenn’ ich Fremde? Die Fremde ist nah. 3. 2 Zur machtpolitischen Dimension des Begriffs Kultur … 285 einer Logik der Grenzziehungen einer Programmatik der Entgrenzung gleichkommt, 998 die kulturelle und subjektive Ebenen mit einschließt. Als paradigmatisches Beispiel einer subjektiven Grenzverwischung führt Telse Hartmann Joseph Roths im Jahre 1923 veröffentlichten Essay Der blonde Neger Guillaume an. Sie unterstreicht insbesondere die Eigenart dieser Figur, die jedes auf Exklusionen basierte Identitätskonzept ins Wanken bringt. 999 Im Sinne eines produktiven Dialogs mit Telse Hartmann werden in dieser Arbeit nicht nur die Figur ›des blonden Negers‹, sondern auch Joseph Roths Text - Der blonde Neger Guillaume - im Unterteil „3.8. Differenz und Interdependenz“ 1000 einer kontrapunktischen Lektüre unterzogen. Dabei werden weitere - bei Telse Hartamnn - marginal erwähnte Schichten dieses Textes ausgegraben. Die Figur ›des blonden Negers‹ und der Essay selbst werden nach deren Machtart und Konstituiertheit hinterfragt. Diese Figur genauso wie die Struktur des ganzen Textes werden hypothetisch als katachretische bzw. dezentrierende Konstruktionen hingestellt, die aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive zur Begründung und Erläuterung der alltäglichen Kontiguität von Differenz und Interdependenz herangezogen werden. In der Folge wird eine weitere Dimension der Gebrüder-Tunda-Debatte erschlossen: die Frage der machtpolitischen Dimension des Begriffs ›Kultur‹. 3. 2 Zur macht politische n Di mensio n des B egriffs K ult ur … 3.2 Zur machtpolitischen Dimension des Begriffs Kultur (Aneignung und Verdrängung) Dass der schillernde Begriff ›Kultur‹ eine machtpolitische Dimension beinhaltet, ist schon vielfältig in kulturwissenschaftlichen Debatten erörtert worden und wird es immer wieder. 1001 Gerade von der vielschichtigen Gestalt des Begriffs Kultur sowie vom inflationären Charakter der Debatte geht Wolfgang Müller-Funk aus, um „eine narrative Theorie von Kultur“ 1002 zu begründen, bzw. um „Kulturen als Erzählgemeinschaften anzusehen, die sich gerade im Hinblick auf ihr narratives Reservoir unterscheiden. Das gilt für die Mythen traditioneller Gemeinschaften ebenso wie für die modernen großen Er- Was nenn’ ich Nähe? Die Welle trägt es fort. Was ist das Jetzt? Schon ist es vergangen. Was ist das Tote? Schon schwimmt es wieder heran.“ JRW 2, 502. 998 Vgl. Telse Hartmann, Kultur und Identität (Anm. 32), S. 89. 999 Vgl. ebd. 1000 Ab S. 320 in dieser Arbeit. 1001 Vgl. u.a. Homi K. Bhabha, The Location of Culture (Anm. 365). Vgl. Edward W. Said, Orientalism (Anm. 460). Ders. Culture and Imperialism (Anm. 2). Wolfgang Müller- Funk/ Birgit Wagner (Hg.), Eigene und andere Fremde, „postkoloniale“ Konflikte im europäischen Kontext (Anm. 75). Vgl. Wolfgang Müller-Funk, Die Kultur und ihre Narrative: eine Einführung, Wien, New York: Springer Verlag 2008. 1002 Wolfgang Müller-Funk, Die Kultur und ihre Narrative, ebd. S. 14. Müller-Funk merkt dabei an, dass eine narrative Theorie von Kultur nicht die einzig mögliche sei, weil Kultur selbst ein plurales und unübersichtliches Gebilde darstelle. Vgl. ebd. 3. Joseph Roth und die Frage der imperialen Begegnung … 286 zählungen.“ 1003 Müller-Funks Gedanken implizieren die Frage, in welchem Machtverhältnis die Erzählungen in einer Gemeinschaft stehen. 1004 Denn es gibt Erzählungen, die mit einem symbolischen Machtplus und andere mit einem Machtminus versehen zu sein scheinen. Auf die Begegnung der Brüder Tunda übertragen - eine Begegnung, die sich auch als Begegnung von differenten Deutungsweisen von Erzählungen verstehen lässt -, stellt sich die Frage, wie diese machtpolitische Dimension des Begriffs Kultur bei Roth zum Ausdruck kommt und wie er sie thematisiert. Die Diskussion, die die Brüder Tunda führen, gibt Aufschlüsse darüber. „‘Ist das europäische Kultur? ’“ (JRW 4, 456). Durch diese rhetorische Frage bringt Franz Tunda die von seinem Bruder verbreiteten Reinheit-, Einheits- und Ursprünglichkeitsutopien über das Wesen der europäischen Kultur ins Wanken. ›Was ist europäische Kultur? ‹ Diese Frage ruft u.a. den - „Entgrenzungen: Ein Europa der ‘verwischten Grenzen’“ 1005 - betitelten Textabschnitt aus Telse Hartmanns Buch ins Gedächtnis. Die Verfasserin vertritt die These, dass Europa eine Idee, eine Konstruktion sei 1006 und schildert die Konstruiertheit Europas. Nicht nur „in Roths literarischen und journalistischen Texten über die östlichen Gebiete des aufgelösten Habsburgerreiches“, 1007 sondern auch in den unterschiedlichen Weltkarten wird ein Europa mit seinen Grenzen als Territorium markiert. Aber Europa - als Idee, als Konzept, als Konstrukt - lässt sich nicht durch territoriale Markierungen limitieren. Telse Hartmann unterstreicht eben die zentrale Relevanz der „Außengrenzen Europas“ 1008 „für die geographische“ 1009 und m.E. auch für die kulturelle „(Selbst)Definition Europas“. 1010 Sie fokussiert vornehmlich die Habsburgische Ostgrenze, und zwar auf Galizien, Lodomerien und die Bukowina. 1011 Aber diese Außengrenzen umfassen ebenfalls den „zerbrochenen Spiegel [Europas] kolonialer Ränder“. 1012 ›Was ist europäische Kultur? ‹ Franz Tunda wirft eine grundlegende Frage über das Wesen der europäischen Kultur auf. Er scheint davon überzeugt zu sein, dass sie sich keineswegs als fensterlose Monade herausgebildet hat und herausbilden kann. Franz ist darum bemüht, für diese These einen Beleg zu erbringen. Er „zeigte auf die Buddhas, die Polster, die breiten und tiefen 1003 Ebd. 1004 Vgl. ebd. 1005 Telse Hartmann, Kultur und Identität (Anm. 32), S. 66-90. 1006 Vgl. ebd. S. 66-90. 1007 Ebd. S. 67. 1008 Ebd. 1009 Ebd. 1010 Ebd. 1011 Vgl. ebd. S. 68. 1012 Robert Weimann (Hg.), Ränder der Moderne. Repräsentation und Alterität im (post)kolonialen Diskurs, unter Mitarbeit von Sabine Zimmermann, Frankfurt/ Main: Suhrkamp Verlag 1997, S. 2. 3. 2 Zur machtpolitischen Dimension des Begriffs Kultur … 287 Sofas, die orientalischen Teppiche“ (JRW 4, 456). 1013 ›Die europäische Kultur‹ - wie jede Kultur - stellt sich eher als etwas Gewebeartiges heraus, das sich aus unterschiedlichen Einflüssen und Schichten zusammensetzt. Franz Tunda sagt: ‘Ihr habt, scheint es mir, einige Anleihen gemacht. Deine Gäste haben heute einige Negertänze getanzt, die wahrscheinlich nicht im ›Parsifal‹ vorkommen. Ich verstehe nicht, wie du noch von europäischer Kultur sprechen kannst. Wo ist sie? In den Kleidern der Damen? Hat der Fabrikant, der heute bei dir war, europäische Kultur? […]’(JRW 4, 456). Diese Gewebe-Metapher wird durch das Gedankenbild der Zusammenführung von Negertänzen und dem Parsifal anschaulich gemacht (vgl. ebd.). Obwohl Franz Tunda das Wort ›Neger‹ nicht ausdrücklich problematisiert, beinhaltet seine Verwendung eine Aufwertung des kulturell Anderen. Kultur wird zum Text erhoben. In dieser Sinnrichtung entwickelt Franz Tunda die Vorstellung eines durchlöcherten europäischen Textes. Diese alte Kultur hat tausend Löcher bekommen. Ihr stopft die Löcher mit Anleihen aus Asien, Afrika, Amerika. Die Löcher werden immer größer. Ihr aber behaltet die europäische Uniform, den Smoking und die weiße Hautfarbe und wohnt in Moscheen und indischen Tempeln. Wenn ich du wäre, würde ich ein Burnus tragen (ebd.). Diese Vorstellung des europäischen Textes als durchlöchertes Gewebe lässt sich als allegorisches Bild der kulturellen Unreinheit bzw. Ursprungslosigkeit ablesen. Aufgrund seiner Vorstellungen und Gedanken setzt sich Franz Tunda der nicht unbegründeten Kritik aus, ein „moderne[r] Romantiker“ 1014 zu sein, „der einsam und frei das Panorama der Städte und Gesellschaften durchstreift und nirgends eine Heimat findet“. 1015 Nichtsdestotrotz lässt seine Romantik - über die Thematik einer Heimatsuche hinaus - neue Perspektiven zu. Seine 1013 Fanon weist nach, dass die europäische Kultur der sogenannten Dritten Welt viel zu verdanken hat. Fanon schreibt: „La richesse des pays impérialistes est aussi notre richesse. Sur le plan de l´universel, cette affirmation, on s´en doute, ne veut absolument pas signifier que nous nous sentons concernés par les créations de la technique ou des arts occidentaux. Très concrètement l´Europe s´est enflée de façon démesurée de l´or et des matières premières des pays coloniaux: Amérique latine, Chine, Afrique. De tous ces continents, en face desquels l´Europe aujourd´hui dresse sa tour opulente, partent depuis des siècles en direction de cette même Europe les diamants et le pétrole, la soie et le coton, les bois et les produits exotiques. L´ Europe est littéralement la création du tiers monde. Les richesses qui l´étouffent sont celles qui ont été volées aux peuples sous-développés. Les ports de la Hollande, Liverpool, les docks de Bordeaux et de Liverpool spécialisés dans la traite des nègres doivent leur renommée aux millions d´esclaves déportés.“ Frantz Fanon, Les damnés de la terre (Anm. 177), S. 59. 1014 Ulrich Greiner, „Joseph Roth“, in: Daniel Keel et al. (Hg.), Joseph Roth. Leben und Werk (Anm. 32), S. 224. 1015 Ebd. 3. Joseph Roth und die Frage der imperialen Begegnung … 288 Gedanken rufen manche positiven ›Dritte Welt‹-Klischees ins Gedächtnis, die auch in bestimmten positiven Afrika- oder Asien-Diskursen vorkommen, 1016 um die Differenz, aber vor allem auch die Interdependenz zwischen beiden kulturellen Räumen hervorzukehren. Tundas Invektiven lassen sich ferner in die heutige Globalisierungsbzw. (Post-) Modernitätsdebatte einbetten. Er hinterfragt die weltweiten Folgen der politischen Bedingungen der westlichen Modernität. Diese Modernität und die heutige Globalisierung scheinen auf einer strategischen ›einschließenden Verdrängung‹ bzw. auf einer ›verdrängenden Einschließung‹ kultureller Er- 1016 Beispielhaft können die ethnographischen Arbeiten von Leo Frobenius angeführt werden, aus denen die Négritude-Diskurse von Aimé Césaire und Léopold Sédar Senghor Anregungen schöpfen. Leo Frobenius tritt in und durch seine(n) ethnographische(n) Texte(n) für eine differenzierte Sicht- und Darstellungsweise des afrikanischen Kontinents samt dessen Menschen und Landschaften gegen einen starren Eurozentrismus ein. „Denn unserem Lebensgefühl entsprechend bilden wir Begriffe, das heißt: wir machen uns die Umwelt zu eigen und ordnen sie dem Verstande unter, während jene in Ergriffenheiten Leben, d.h. ständig bereit sind, sich dem Wesen der Umwelt ohne Anspruch an den Verstand unterzuordnen, - d.h. eben sich ergreifen zu lassen. Oder anders ausgedrückt: wir urteilen, messen und gliedern nach festem Schema, nach festgesetztem Maß und nach der Spurenweite von Geleisen, welche wir jeweilig befahren, anwenden und als abgeschlossenen Wahrheitsbegriff erachten, - oder aber endlich: jede Betrachtung geht von der Voraussetzung aus, daß die Welt nach unserem Bilde gebaut ist, - daß alles so zweckmäßig denkt, fühlt und spuckt wie wir. Und nur der Künstler hat bei uns beruflich das Recht, - dieser sogar die Pflicht - sich in Ergriffenheit unterzuordnen; - der Mode nämlich oder als Harlekin der Gesellschaft.“ Leo Frobenius, Monumenta Africana. Der Geist eines Erdteils, Frankfurt/ Main: Frankfurter Societäts-Druckerei 1929, S. 26f. Hervorhebung i.O. Leo Frobenius´ Denkweise ist in der Binarität Verstand vs. Gefühl gefangen. Diese Binarität prägt auch das Negritude-Denken eines Léopold Sédar Senghors, der schreibt: „L´émotion est nègre, comme la raison est hélène.“ Léopold Sédar Senghor, Liberté I: Négritude et humanisme, Paris: Édition du Seuil 1964, S. 24. Kritiker der Négritude-Bewegung gehen u.a. von solchen Binaritäten aus, um die Négritude- Bewegung als einen Europadiskurs abzustempeln. Ungeachtet der Tatsache, dass Leo Frobenius´ Texte einigermaßen eurozentristisch besetzt bleiben, kann man nicht umhin festzustellen, dass seine ethnographischen Arbeiten einen unverkennbaren Beitrag zum Sichtbarmachen kultureller Leistungen Afrikas und mithin zur wechselseitigen kulturellen Verständigung leisten. Näheres zu Frobenius Arbeiten vgl. u.a. Leo Frobenius, Auf dem Wege nach Atlantis: Bericht über den Verlauf der zweiten Reise- Periode der deutschen inner-afrikanischen Forschungsexpedition, Berlin- Charlottenburg: Vita Deutsches Verlagshaus 1911. Ders. Der Handel im Kongobecken. Deutsche geographische Blätter. Band XVII. Heft 3. 1894. Ders. Vom Schreibtisch zum Äquator. Planmässige Durchwanderung Afrikas. Frankfurt/ Main: Frankfurter Societäts-Druckerei 1925. Ders. Paideuma. Umrisse einer Kultur- und Seelenlehre, München: C. H. Beck 1921. Ders. Afrique. Leo Frobenius - Henri Breuil, Paris: Éditions Cahiers d´Art 1931. Ders. Geographische Kulturkunde: Eine Darstellung der Beziehungen zwischen der Erde und der Kultur nach älteren und neueren Reiseberichten zur Belebung des geographischen Unterrichts, Leipzig: Friedrich Brandstetter 1904. 3. 2 Zur machtpolitischen Dimension des Begriffs Kultur … 289 scheinungen der außereuropäischen Welt zu beruhen. Genau auf diese und andere subtile Abschottungsmechanismen macht Franz Tunda aufmerksam. Georg Tunda hingegen kanzelt solche Aneignung fremdkultureller Elemente kurzerhand als „‘[…] ein paar Konzessionen’“ (JRW 4, 456) ab. Er fährt fort: „Die Welt ist kleiner geworden, Afrika, Asien und Amerika sind uns näher. Man hat zu allen Zeiten fremde Sitten übernommen und sie der Kultur eingefügt“ (ebd.). Unter ›die Kultur‹ subsumiert Georg eigentlich ›die europäische Leitkultur‹. Der Kulturbegriff, den er in Umlauf bringt, weist eindeutig repressive, homogenisierende, nivellierende und logozentrische Züge auf. Dieser Kulturbegriff macht das sichtbar, was in diesem Zusammenhang als ›einschließende Verdrängung‹, bzw. als ›verdrängende Einschließung‹ bezeichnet wird. Am Beispiel der Figur Georg Tunda machen sich zwei kulturell ambivalente Momente Europas - als kultureller Konstruktion verstanden - bemerkbar: erstens eine Aneignung fremdkultureller Elemente, zweitens eine strukturelle Verdrängung des Fremden oder des kulturell Anderen. Der Kapellmeister Georg Tunda führt ein Klosterleben, verschlossen oder eingesperrt in einer Art kulturellem Elfenbeinturm. Er pflegt keinen Kontakt zu Durchschnittsmenschen. „‘Ich gehe niemals auf die Straße’“ (JRW 4, 457), „Ich lese keine Zeitungen“ (ebd.), „Ich lese nur musikalische Angelegenheiten“ (ebd.), präzisiert der Kapellmeister. Dieser einseitigen, elitären Lebensform stellt Franz Tunda den Umgang mit Menschen aus niedrigen Verhältnissen - als alternative Lebensform - gegenüber. „‘Warum nicht? Es interessiert dich nicht? Paßt es dir nicht, weil du ein Priester der Kunst bist, dich unter das Volk zu mischen? Bist du zufrieden zwischen deinen Weihbecken und Bildern und deiner alten Kultur? […]“ (Ebd.). Von der Eintönig- und Einseitigkeit dieses Lebens war sowohl der Kapellmeister als auch dessen Frau überzeugt. „‘Er muss Klimawechsel haben, der arme Georg,’ sagte Klara.“ (Ebd.). „‘Ich brauche Entspannung,’ sagte der Kapellmeister.“ (Ebd.). Die im Haus des Kapellmeisters herrschenden Essgewohnheiten vermitteln ein Bild von der waltenden Eintönigkeit. „Man aß im Hause des Kapellmeisters viel Gemüse und Eier, Rahm und Früchte und manche Süßspeisen, die nach Papier schmecken“ (JRW 4, 458). Die kritische Beleuchtung der freudlosen und monotonen Lebensweise des Kapellmeisters ist auch als eine Entlarvung der spießbürgerlichen Verhältnisse zu verstehen: die Demaskierung einer Kultur des Elfenbeinturmes, die Demontage einer Kunst, die hauptsächlich um der Kunst willen betrieben wird. Die Welt des Georg Tundas ist aber eine sonderbare Welt. Wer in dieser Welt nicht über Geld und symbolisches Kapital verfügt, hat keine Daseinsberechtigung. Dies erfährt Franz Tunda am eigenen Leibe: ‘[…] In dieser Weltordnung ist es nicht wichtig, daß ich arbeite, aber es ist umso nötiger, daß ich Geld einnehme. Ein Mensch ohne Einkommen ist wie ein Mann ohne Namen oder wie die Schatten ohne Körper. Man kommt sich vor wie ein Gespenst. Das ist kein Widerspruch zu dem, was ich oben geschrieben habe. Ich habe keine Gewissensbisse wegen meiner Untätigkeit, 3. Joseph Roth und die Frage der imperialen Begegnung … 290 sondern weil meine Untätigkeit kein Geld einbringt, während die Untätigkeit aller anderen gut bezahlt ist. Geld allein verleiht Existenzberechtigung’ (JRW 4, 462). Inwiefern der Besitz von Geld oder materiellen Reichtümern beim Subjekt paradoxerweise zugleich das ambivalente Gefühl des Mächtigbzw. Ohnmächtig-Seins auslöst, hat sich am Beispiel der Figur Andreas Kartak herausgestellt. Dieser Tatbestand lässt sich auch anhand der Figur Franz Tunda nachweisen. Die Kultur des Kapitals, aus Franz Tundas Perspektive betrachtet, bildet eines der vielfältigen Kostüme, die sich die ›europäische Kultur‹ maskenartig auf- und absetzt. 3.3 ›Europäische Kultur‹ als Maske und Kostüm „Ihr aber behaltet die europäische Uniform, den Smoking und die weiße Hautfarbe und wohnt in Moscheen und indischen Tempeln“ (JRW 4, 456). „Das ist ja ein Maskenfest und keine Wirklichkeit! Ihr kommt ja aus den Kostümen nicht heraus.“ (Ebd.). Auf solche Maskenspiele macht Homi Bhabha aufmerksam, wenn er in Anlehnung an Hannah Arendts Politik der globalen Bewusstseinsnahme 1017 die These einer abstrakten Nacktheit des Menschen vertritt. 1018 Frantz Fanons metaphorischer Titel Peau noire, masques blancs (Schwarze Haut, weiße Masken), der ebenfalls die vielfältigen Maskenspielereien bzw. die Ambivalenzen unserer Welt fokussiert, 1019 geht weit über eine billige Schwarz-Weiß-Malerei hinaus. Die kulturell organisierten und instrumentalisierten phänotypischen Merkmale, etwa die Farben (Weiß, Schwarz, Gelb, Rot, Grün usw.) erweisen sich als Masken oder Schleier für verborgene geheimnisvolle Seiten des Menschen. Das Wesentliche liegt im Verborgenen oder im Unbewussten, um einen psychoanalyti- 1017 Neben dem Hegemoniekampf um die binneneuropäische Macht, den sich die Panbewegungen (Pangermanismus und Panslawismus) lieferten, und der Gleichzeitigkeit des europäischen, überseeischen und kontinentalen Imperialismus dokumentiert Arendts Hauptwerk Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft außerdem das Schicksal von Millionen von Menschen, die Techniken der Totalisierung zum Opfer fielen und die staaten- und heimatlos ein Dasein als „Nation der Minderheiten“ (Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (Anm. 510), S. 426) deswegen fristen mussten, weil sie als Opfer der bedenklichen Seiten europäischer Nachkriegsfriedenspolitik „in keinem Lande der Welt Aufenthaltsrecht hatten“. Ebd. S. 435. Näheres dazu ist ebenda und besonders im ganzen neunten Kapitel „Der Niedergang des Nationalstaates und das Ende der Menschenrechte“, S. 422-470 zu erhalten. Einer globalen Politik der Ambivalenz setzt Arendt eine Politik der globalen Bewusstseinsnahme entgegen. Arendt plädiert für „[…] ein Recht, Rechte zu haben […]“ Ebd. S. 462. 1018 Vgl. Homi K. Bhabha, „On cultural Hybridity - Tradition and Translation“ (Anm. 140). 1019 Ders. „Remembering Fanon“ (Anm. 179). 3.3 ›Europäische Kultur‹ als Maske und Kostüm 291 schen Terminus zu gebrauchen. Die Aufmerksamkeit gilt dennoch jenen Orten der abstrakten Nacktheit der Menschheit, Orte, in denen alle Menschen - abgesehen von unterschiedlichen kulturellen Masken - zusammentreffen, oder zusammentreffen können, etwa bei Naturkatastrophen, Kriegen, Hungersnöten, Pandemien usw. Bestimmte subjektiv oder kollektiv erfahrene herausfordernde Momente im Leben lassen den Menschen diesen Raum der abstrakten Nacktheit erfahren, den Homi Bhabha metaphorisch auch als third space oder hybridity umschreibt. Die kulturellen Farben oder Masken verlieren dabei an Schärfe und Bedeutung. Es ist in der Diskussion zwischen den Gebrüdern Tunda auch von einer gewissen „‘[…] europäische[n] Uniform […]’“ (JRW 4, 456), einer kulturellen Uniform die Rede. Dies erinnert an die Uniform des Kolonialoffiziers aus Franz Kafkas Erzählung In der Strafkolonie. Die Handlung der Erzählung spielt in einem beliebigen französischen Kolonialgebiet. Ein Forschungsreisender, der sich in dieser Gegend aufhält, wird vom Kommandanten aufgefordert, der Hinrichtung eines farbigen Soldaten beizuwohnen, dem „Ungehorsam und Beleidigung des Vorgesetzten“ 1020 vorgeworfen wird. Der Kommandant lässt sich durch einen Offizier vertreten. Im Grunde genommen versucht der Offizier den Reisenden für das Überwachungs- und Strafsystem in der Kolonie zu gewinnen. In einem kritischen Moment merkt der Reisende - zur Überraschung des Offiziers, der damit nicht gerechnet hat - an: „Diese Uniformen sind doch für die Tropen zu schwer.“ 1021 Der Reisende weist auf die Kaki-Uniformen, die die Wachmannschaft ungeachtet der sengenden tropischen Hitze anhat. Die Entgegnung des erläuternden Offiziers lässt nicht lange auf sich warten: „ [A]ber sie bedeuten die Heimat; wir wollen nicht die Heimat verlieren.“ 1022 Die Kaki-Uniform wird zum imperialen Signifikanten, für die Kolonialsubjekte - für die Strafenden wie für die Bestraften. Das koloniale Strafsystem sieht darin nicht nur das Emblem der Heimat, sondern vor allem die unterdrückende Imperialmacht verkörpert. Die Uniform des Kommandanten, die europäische Uniform, gehört zu den nicht-diskursiven Mitteln, die die Wirklichkeit der kolonialen Situation in einer Art und Weise strukturieren. Durch diese Uniform-Metapher wird Afrika zugleich zum textuellen Niemandsland. Diese Konstruktion Afrikas bildet nicht zuletzt den Diskussionsstoff, mit dem die Brüder Tunda beschäftigt sind. 1020 Franz Kafka, In der Strafkolonie (Anm. 728), S. 164. 1021 Ebd. 165. 1022 Ebd. 3. Joseph Roth und die Frage der imperialen Begegnung … 292 3. 4 Kriti k an der europäischen Kons tru kti on der nichtwest lichen Welt … 3.4 Kritik an der europäischen Konstruktion der nichtwestlichen Welt als textuelles Niemandsland in Kunst und Literatur oder die Dekonstruktion einer marginalisierenden Ästhetik Der Kapellmeister Georg Tunda verkörpert gewissermaßen jenen Autoritätsdruck, der durch Europas ästhetisches Projekt auf die literarischen und künstlerischen Erscheinungen des Restes der Welt ausgeübt wird. Diese Erscheinungen werden eben wegen dieses Druckes in eine Randexistenz gedrängt. Franz Tunda hat als Zuschauer an einer Inszenierung des Parsifals durch seinen Kapellmeister Bruder teilgenommen und diese genau verfolgt. Nach der Aufführung kommt Franz Tunda kritisch auf einen bestimmten Moment der Inszenierung zurück, nämlich auf jene Szene, in der Negertänze auf die Bühne gebracht werden. Franz spricht absichtlich von Negertänzen, um die herabsetzende Betrachtungsweise des Kapellmeisters zu konterkarieren. Europäische kulturelle Instanzen wie Goethe, Shakespeare, Rousseau und die anderen französischen und englischen Enzyklopädisten, die bei Lehrveranstaltungen an universitären Institutionen in Europa sowie in Afrika im Mittelpunkt stehen, stellen einerseits zwar ein Moment des weltweiten kulturellen Austausches bzw. der kulturellen Begegnung dar; sie wirken andererseits aber gleichzeitig als Dokumente eines Kulturimperialismus. Edward Said, Homi Bhabha und Gayatri Spivak stimmen darin überein, dass die europäische Literatur ein Moment des europäischen kulturimperialistischen Projekts darstellt. 1023 Said, Bhabha und Spivak setzen sich alle für eine differenzierte weltliterarische Konstellation ein: „a ´worlding´ of literature“, „This act of writing the world […]“ 1024 Der Begriff ›worlding‹ kommt auch in Spivaks postkolonialem Denken zur Sprache. Damit meint er eine differenzierte textuelle Praxis, die sich sowohl mit Lebewesen nicht nur in Bibliotheksregalen, sondern vor allem mit Lebewesen in der Kontiguität des Alltags befasst. Gayatri Spivak fasst dieses Anliegen, wie folgt, in Worte: As far as I understand it, the notion of textuality should be related to the notion of the worlding of a world on a supposedly uninscribed territory. When I say this, I am thinking basically about the imperialist project which had to assume that the earth that it territorialised was in fact previously uninscribed. So then a world, on a simple level of cartography, inscribed what was presumed 1023 Vgl. Edward W. Said, Orientalism (Anm. 460). Vgl. ders. Culture and Imperialism (Anm. 2), S. xiif. „Life in one subordinate realm of experience is imprinted by the fictions and the follies of the dominant realm.“ Ebd. S. xix. Vgl. Homi K. Bhabha, The Location of Culture. (Anm. 365). Vgl. Gayatri Schakravorty Spivak, „Three Women's Texts and a Critique of Imperialism”, in: Louis Henry Gates (Hg.), ‘Race’, Writing and Difference, Chicago, London: University of Chicago 1986, S. 262-280, hier S. 262. 1024 Homi K. Bhabha, The Location of Culture (Anm. 365), S. 12. 3. 293 to be inscribed. Now this worlding actually is also a texting, textualising, a making into art, a making into an object to be understood. 1025 In einem Die Rehabilitierung der Schwarzen betitelten Essay teilt Joseph Roth nachweislich die Ansicht, dass die Inszenierung kanonischer Texte europäischer Literaturen mit einem machtpolitischen Gedächtnisdiskurs einhergehen, wenn er zum Beispiel schreibt: Die Schwarzen haben allerdings keinen Goethe, keinen Shakespeare, keinen Rousseau hervorgebracht. Aber auch die drei andern nicht. Zur Entschuldigung der Schwarzen führe ich an: daß sie keine Monokel tragen, keine Maschinengewehre erfinden, keine Hetzartikel verfassen, keine Dynamitattentate vollführen, keine Reden halten, kein Hakenkreuz an die Wände malen, nie schieben, kein Geld auf Zinsen leihen und keine Memoiren schreiben. Ich könnte die Zahl der Entschuldigungsgründe beliebig vergrößern (JRW 1, 560). Joseph Roth führt fort: „Die Weißen tun dies alles. Und können sich nur mit Goethe, Shakespeare und Rousseau entschuldigen. (Die es übrigens gelegentlich auch bedauert haben, Weiße zu sein.)“ (Ebd.). Unterstrichen wird die strategische Wegstreichung der Stimme des Anderen. Die Texte von Goethe, Shakespeare oder Rousseau u.a. werden zu ›heiligen Schriften‹ erhoben. Die literarischen ›Lehrmeister‹ und die ›Leser‹ aus europäischen Metropolen werden ipso facto zu Legitimationsinstanzen. 1026 Es handelt sich um Techni- 1025 Gayatri Chakravorty Spivak, „Criticism, Feminism and the Institution - with Elizabeth Grosz“, in: Dies. Interviews, Strategies and the Institution, edited by Sarah Harasym, New York, London: Routledge 1990, S. 1-15, hier S. 1. 1026 Dies erinnert an einen Standpunkt von Alain Patrice Nganang, der in der Verbreitung und Rezeption kanonischer Texte der europäischen Literatur in Afrika die Wiederholung einer andauernden Machtausübung auf ästhetischer Ebene sieht. Daher rückt er Wole Soyinka als denjenigen afrikanischen Schriftsteller und Literaturkritiker in den Mittelpunkt, der am Beispiel von dessen Bearbeitung der Stücke von Bertolt Brechts Stücke und genauer durch die Art und Weise, wie er die Mythen des Yorubalandes gegen die epische Theaterform Bertolt Brechts setzt, nicht nur zur Interkulturalität beiträgt, sondern vor allem die Autorität des europäischen Theaterdiskurses - bzw. des europäischen ästhetischen Diskurses - dezentriert und unterminiert. Nganang schreibt: „Es geht ihm [Soyinka] nämlich weniger darum, einem sichtbaren und einheitlichen Europa zu begegnen […] Vielmehr geht es ihm darum, den unterschiedlichen Strategien der politischen, ökonomischen und kulturellen Entfremdung des Afrikaners, die mit der Kolonisation eingeleitet wurde und sich bis heute immer weiter verbreitet, einen Gegenpol in Form einer schrittweisen Desalienation in der Kunst entgegenzusetzen. Es geht ihm darum, die Kunst als Mittel zur unmittelbaren Bezugnahme auf den afrikanischen Kontinent und zur ‘Dekolonisierung’ des Geistes der Afrikaner zu verstehen. So widersprüchlich es auch klingen mag, auch eine genaue Auseinandersetzung mit europäischen Texten liefert ihm die Möglichkeit zu dieser Dekoloniesierung.“ Alain Patrice Nganang, Interkulturalität und Bearbeitung: Untersuchung zu Soyinka und Brecht, München: Iudicium 1998, S. 17f. Kursiv Geschriebenes ist eine Hervorhebung i.O. 3. Joseph Roth und die Frage der imperialen Begegnung … 294 ken der symbolischen Tötung. Wenn Foucault in La volonté de savoir (Der Wille zum Wissen) von „le droit de vie et de mort“ 1027 oder von „le droit de faire mourir ou laisser vivre“ 1028 spricht, deutet er eben auf die symbolische Tötung hin - verstanden als eine Machtform. 1029 Joseph Roth scheint solche textuellen Strategien der Verdrängung der Stimme des Anderen durchschaut zu haben. Und zu den marginalisierenden Momenten des europäischen ästhetischen Unternehmens zählt - aus Joseph Roths Perspektive - auch die Technik. 3. 5 Joseph Roths Kritik a n der margi nalisierenden, kulturi mperialisti schen … 3.5 Joseph Roths Kritik an der marginalisierenden, kulturimperialistischen und machtpolitischen Seite des wissenschaftlich-technischen Fortschritts 1030 Wenn von einer Ästhetik der Marginalität im Werk Joseph Roths die Rede ist, geraten auch seine Fokussierung jener Abschottungs- und Ausgrenzungsmechanismen ins Blickfeld, die mit dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt der „Industriewelt des 20. Jahrhunderts“ 1031 einhergehen. Dies erinnert an die technisch-technologische „Minderkompetenz“ 1032 , eine Spielart des Inferioritätsaxioms, das laut Herbert Uelings den Kern des heterogenbesetzten kolonialen Diskurses ausmacht. 1033 Zu Joseph Roths Lebzeiten war noch nicht ausdrücklich von Globalisierung die Rede. Aber die Beschleunigung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts, deren Gipfelpunkt der Erste Weltkrieg 1034 darstellte, war bereit ein Moment der kommenden Globalisierung. Gegenüber dem Beitrag von Technik und Wissenschaft zur Besserung der Lebensbedingungen bleibt Joseph Roth keineswegs gleichgültig. Was Joseph Roth indes besonders geißelt, ist die ausgrenzende und marginalisierende Dimension des wissenschaftlich-technischen Fortschritts, der - genau betrachtet - nicht allen Menschen in gleicher Weise zugutekommt und kommen kann. Der Begriff Wissenschaft ist hier nicht auf die Naturwissenschaften begrenzt, sondern umfasst auch die Humanwissenschaften, die ebenfalls zu kulturimperialistischen, d.h. zu machtpolitischen Zwecken eingesetzt werden 1027 Michel Foucault, Histoire de la Sexualité I (Anm. 735), S. 177f. 1028 Ebd. S. 178. Kursivschrift ist eine Hervorhebung i.O. 1029 Vgl. ebd. S. 177f. 1030 Wie schon erwähnt handelt es sich hier um einen der Punkte, in denen sich Joseph Roth und Joseph Conrad überschneiden. 1031 Karlheinz Rossbacher, „‘Der Merseburger Zauberspruch’: Joseph Roths apokalyptische Phantasie.“, in: Helen Chambers (Hg.), Coexistent contradictions (Anm. 36), S. 78-106, hier S. 91. 1032 Herbert Uerlings, „Kolonialer Diskurs und Deutsche Literatur. Perspektiven und Probleme“, in: Axel Dunker (Hg.), (Post-)Kolonialismus und Deutsche Literatur (Anm. 183), S. 18. 1033 Vgl. Herbert Uerlings, ebd. S. 18. 1034 Der Erste Weltkrieg war auch ein wissenschaftlich-technischer Krieg. 3. 5 Joseph Roths Kritik an der marginalisierenden, kulturimperialistischen … 295 können. Als Publizist und Schriftsteller hat Joseph Roth über und gegen jene Machtdispositive geschrieben, die beim Menschen das Gefühl erwecken, Herr und Meister über die Dinge zu sein: Geld, übermäßige materielle Besitztümer, wissenschaftlich-technische Errungenschaften. Joseph Roth hat den Geist seiner Zeit, den „Aberglauben an den Fortschritt“ 1035 , infrage gestellt. Unter Aberglauben an den Fortschritt ist hier „der Glauben an die rein menschliche Vernunft“ 1036 zu verstehen, der den Menschen verspricht, aus ihm den Herrn und Meister des Universums zu machen. Joseph Roth würdigt die Errungenschaften des technisch-wissenschaftlichen Fortschritts, macht jedoch auf einen Fehler aufmerksam, den die menschliche selbstsichere Vernunft begeht: Aber die Probleme der Menschheit sind … nicht horizontale, sondern vertikale. Deshalb sind auch die heutzutage üblichen politischen Begriffe: Rechts und Links so bedeutungslos und so schnell abgenutzt. Der Begriff: ‘Fortschritt’ allein setzt bereits die Horizontale voraus. Er bedeutet ein Weiterkommen und kein Höherkommen. 1037 In dieser Textpassage wird der logozentrische Fortschrittsgedanke konsequent abgelehnt. Joseph Roths Plädoyer gegen eine horizontale, verflachende, materialistische Tendenz des faschistischen Zeitalters ist in einen Kampf gegen die Mechanisierung und Degradierung des Lebens durch die kalte faschistische Vernunft eingebettet. Simone Weil, jüdischer Herkunft, eine Zeitgenossin Joseph Roths, scheint mit ihm in diesem Punkt übereinzustimmen: „‘[…] l´idée athée par excellence est l´idée de progrès … Toute la science moderne concourt à la déstruction (sic) de l´idée de progrès et à établir que tout progrès vient du dehors.’“ 1038 Joseph Roth tritt entschieden gegen alles Seelenlos- Maschinisierte im Leben ein. Den Kontakt der Menschen zueinander schätzt er indessen hoch ein. 1039 Roth ist darum bemüht, die Paradoxie des Lebens, den Ort der menschlichen Ohnmacht, wahrnehmbar zu machen. Dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt stellt er die Paradoxie des menschlichen Lebens gegenüber. „Außerhalb deines Lebens werden Gesetze erdacht und ausgeführt.“ 1040 David Bronsen zufolge machte Joseph Roth gern vom Paradoxon Gebrauch, weil er darin das geeignetste Sprachmittel entdeckte, die paradoxe Seite der wissenschaftlich-technischen Beschleunigung anschaulich zu machen. Wenn Joseph Roth und Aimé Césaire die Schwarzen als diejenigen bezeichnen, die nichts erfunden haben (vgl. JRW 1, 560), oder als „jene, die 1035 David Bronsen, Joseph Roth: eine Biographie (Anm. 10), S. 455. 1036 Ebd. 1037 Joseph Roth, „Glauben und Fortschritt“, ein Vortrag, gehalten am 12. 6. 1936, zitiert nach David Bronsen, ebd. S. 652. 1038 Marie Magdeleine Davy, Simone Weil, Paris 1956, S. 73. Zitiert nach ebd. S. 456. 1039 Vgl. ebd. S. 545. 1040 Joseph Roth, „Verkehrte Welt“, in: JRW I, 284. Zitiert nach ebd. S. 217. 3. Joseph Roth und die Frage der imperialen Begegnung … 296 nicht den Dampf bezwangen und nicht die Elektrizität“, 1041 machen sie vor allem auf die ausgrenzenden Mechanismen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts aufmerksam. Der Dichter aus Martinique und Begründer der Négritude-Bewegung 1042 Aimé Césaire beanstandet aufs Schärfste die ausgrenzende Seite des wissenschaftlich-technologischen Fortschritts. Joseph Roth und Aimé Césaire können nicht gleichgesetzt werden. Ungeachtet dessen bildet die Rehabilitierung des Menschen einen Überschneidungspunkt zwischen beiden. Joseph Roths Kulturpessimismus und Zivilisationskritik lässt sich auch als eine Kritik an der kalten Rationalität verstehen, die aus Sicht von Albrow im Dienste der kulturimperialistischen Macht gestanden hat. 1043 Roths Entrüstung über den Kulturimperialismus sowie über eine exklusive Zivilisation kommt einer Kritik an außersowie binneneuropäischen Kolonialverhältnissen gleich. Karlheinz Rossbacher verbindet Joseph Roths ablehnende Haltung gegenüber der Technisierung und Mechanisierung der Welt mit dessen Kampf gegen den Nationalsozialismus. Laut Rossbacher hat er „die Hochtechnisierung mit ihrem zerstörerischen Potential als bereits in den Händen des Nationalsozialismus imaginiert“. 1044 Joseph Roth hat den Technisierungs- und Modernisierungswahn des Nationalsozialismus vorausgesehen und durchschaut. 1045 Roth sieht eine enge Verbindung zwischen Wirtschaft, technischem Fortschritt und Imperialismus. 1046 Dies ruft Michel Leiris´ Hervorhebung der kulturimperialistischen Dimension der technisch-technologischen Zivilisation 1041 Aimé Césaire, Zurück ins Land der Geburt (Anm. 525), S. 69. 1042 Auf diese Bewegung wird noch näher eingegangen. Siehe Fußnote 1058. 1043 Martin Albrow, „Rationality in the service of power“, in: Martin Albrow (Hg.), The Global Age, Cambridge: Polity Press 1996, S. 34-38. 1044 Karlheinz Rossbacher, „‘Der Merseburger Zauberspruch’: Joseph Roths apokalyptische Phantasie“ (Anm. 149), S. 105. 1045 Vgl. Frank Trommler, „Joseph Roth und die Neue Sachlichkeit“, in: David Bronsen (Hg.), Joseph Roth und die Tradition. Aufsatz- und Materialsammlung, Darmstadt: Agora Verlag 1975, S. 276-304, hier S. 280. 1046 Vgl. Frantz Fanon, Les damnées de la terre (Anm. 177), S. 9. Vgl. Rada Ivecovic, „Die Spaltung der Vernunft und der postkoloniale Gegenschlag“, in: Wolfgang Müller-Funk/ Birgit Wagner (Hg.), Eigene und andere Fremde (Anm. 75), S. 48-64, hier S. 58. Maria do Mar Castro Varela et al. weisen zum Beispiel auf den sogenannten „‘Dreieckshandel’“ hin: „An der afrikanischen Küste wurden europäische Manufakturwaren (Werkzeuge, Waffen, Textilien, Glas etc.) gegen Sklaven und Sklavinnen eingetauscht, diese wurden nach Westindien transportiert und dort gegen Zucker, Tabak und Gewürze eingelöst, die dann in Europa mit großem Profit verkauft wurden. Daneben wurden Menschen und Waren auch von einer Kolonie in die andere verschoben, so dass koloniale Subsysteme entstanden: Sklaven und Sklavinnen von Afrika wurden in die westindischen Plantagen transportiert, um dort beispielweise Zucker und Kaffee für den Konsum in Europa zu produzieren.“ Maria do Mar Castro Varela, Nikita Dhawan, Postkoloniale Theorie: eine kritische Einführung (Anm. 312), S. 15. 3. 5 Joseph Roths Kritik an der marginalisierenden, kulturimperialistischen … 297 in Erinnerung. 1047 Denn die wirtschaftliche Nutzbarmachung von Kolonien durch Eisenbahn- und Straßenbau zielte nicht in erster Linie darauf ab, die Lebensbedingungen der Kolonisierten zu verbessern, sondern vor allem darauf, den Zugang zum Hinterland bzw. zu den Rohstoffen und deren Ausfuhr in die Metropolen zu erleichtern. 1048 In Anlehnung an Bourdieu schreibt Homi Bhabha: „[T]he West carries and exploits what Bourdieu would call its symbolic capital.” 1049 Zur symbolischen Macht der Figuren Kurtz, Marlow sowie der Matrosen aus Joseph Conrads Heart of darkness gehört das technische Wissen und Können, das sie in den Kongo mitbringen. Marlow fasst sich selbst als jemand auf, der in ›die afrikanische Finsternis‹ mit einem symbolischen ›Kapital‹ fährt. Er hat das Gefühl ein Erleuchteter zu sein, der Licht ins Dunkel zu bringen hat. „[…] I was also one of the Workers, with a capital - you know. Something like an emissary of light, something like a lower sort of apostle.” 1050 Mit symbolischem Kapital ist hier materielles sowie immaterielles Kapital gemeint: das Geld, das Wissen, die Beherrschung der englischen, französischen oder deutschen Sprache, ein bestimmter gesellschaftlicher Status, das Bewusstsein, aus der ›Ersten Welt‹ zu kommen und von den Errungenschaften dieser Welt getragen zu sein. All dies macht das symbolische Kapital von Marlow und Kurtz aus. Dazu kommt der Traum, dieses Kapital in Afrika bestmöglich einzusetzen und zu vermehren. 1051 Die ausgrenzende marginalisierende Technik, die von Joseph Roth hinterfragt wird, erweist sich bei näherer Betrachtung als ein menschliches Erzeugnis. „[N]othing to boast of, when you have it, since your strength is just an accident arising from the weakness of others.“ 1052 In Heart of darkness wimmelt es von solchen iro- 1047 Michel Leiris, „Ethnographie und Kolonialismus“, in: ders. Die eigene und die fremde Kultur. Ethnologische Schriften, aus dem Französischen von Rolf Wintermeyer, herausgegeben und mit einer Einleitung von Hans-Jürgen Heinrichs, Frankfurt/ Main: Syndikat 1977, S. 53-71. 1048 Vgl. Achille Mbembe, „Chapitre I. Du domaine colonial“, in: ders. La naissance du Maquis dans le Sud-Cameroun (1920-1960) (Anm. 507), S. 41-68. In diesem Kapitel diagnostiziert Achille Mbembe die Landgutverwaltung durch das Machtdispositiv im kolonialen Kamerun. Fokussiert werden u.a. die Ausweitung des primären Verkehrsnetzwerkes (Pisten, befahrbare Gewässer, Eisenbahn), um die Güter des Hinterlandes erreichen und ausnützen zu können; eine gezielte volks- und landwirtschaftliche Organisation der Bevölkerung durch die Gründung von Kolonialplantagen - Bananen, Kakao, Kaffee, Tee, Gummi, Palmöl -, um Haushalte in europäischen Metropolen zu versorgen. 1049 Homi K Bhabha, The Location of Culture (Anm. 365), S. 21. 1050 Joseph Conrad, Heart of darkness (Anm. 1), S. 12. 1051 Die Figur Gottschalk, ein Protagonist aus Uwe Timms Roman Morenga, ist mit anderen Schutztrupplern unterwegs nach Deutsch-Südwestafrika (dem heutigen Namibia) auf einem Schiff der deutschen Kolonialmarine und hegt solche Träume. „Wonach Gottschalk Ausschau hielt, war Farmland, auf dem er, in einigen Jahren, mit seinem ersparten Geld Rinder und Pferde züchten wollte.“ Uwe Timm, Morenga (Anm. 598), S.21 1052 Joseph Conrad, Heart of darkness (Anm. 1), S. 6. 3. Joseph Roth und die Frage der imperialen Begegnung … 298 nisch selbstkritischen Momenten, die den patriarchalischen Ton im Text verdoppeln, unterminieren und hybridisieren - selbstreflexive, selbstkritische Momente, die den kolonialen Blick erschüttern. „Joseph Conrad and Joseph Roth as authors of homlessness par excellence“ 1053 , so stellt Müller-Funk einen der Überschneidungspunkte zwischen Joseph Roth und Joseph Conrad auf. 1054 Conrad thematisiert u.a. die Einsamkeit des Menschen in einer rätselhaften Welt, die ihm unergründlich unheimlich bleibt. Das dunkle Meerwasser steht symbolhaft für die Rätselhaftigkeit und Unergründlichkeit des Lebens. Roths Figuren werden nicht auf die offene See verschlagen, sondern auf das Festland. Sie gleiten trotzdem auch auf dem ›dunklen Wasser‹ des Alltags in einer Welt dahin, die ihnen unergründlich unheimlich bleibt. Übrigens macht Conrad keinen Unterschied zwischen offener See und Festland. 1055 Seine kritische Haltung der europäischen zivilisatorischen Arroganz gegenüber 1056 findet ihre Spielart bei Joseph Roth: 1053 Aus der Rede von Wolfgang Müller-Funk anlässlich der von Homi Bhabha in Wien gehaltenen Vorlesung. Vgl. Homi K. Bhabha, „On cultural hybridity - Tradition and translation“ (Anm. 140). 1054 Schreiben war Joseph Conrad, genauso wie Joseph Roth, eine Kategorie des inneren Widerstreits, ein Ort, in dem Fiktion und Wirklichkeit konfliktuell aneinandergeraten. Samuel Stynes merkt dazu an: „In the writing of the tales, experience and art made their conflicting demands, stretching Conrad between fact and invention, between clarity and obscurity, between plain sea-going words and literary rhetoric, in a struggle that left him exhausted, often ill, in despair. The tracks of his struggle are everywhere in the tales: in the intricacies of narration, the nervous reluctance to march to a resolution, the instabilties of language, the shadows that fall across the brightest scenes.“ Samuel Hynes, „The art of telling. An Introdution to Conrad´s tales“, in: ders. (Hg.), Joseph Conrad, The complete short fiction, Heart of darkness and other tales, Volume 3, London: William Pickering 1993, S. xi-xviii, hier S. xiii. Auf die Frage, was Schreiben Roth bedeutete, ist in dieser Arbeit gegen Ende des Teils 1 schon eingegangen worden. Joseph Conrad gehört zu jenen Klassikern der europäischen Literatur, von denen Joseph Roth schöpferische Anregungen bekommen hat. Vgl. David Bronsen, Joseph Roth: eine Biographie (Anm. 10), S. 87 bis 142. Über Joseph Conrads Bücher soll Joseph Roth geschrieben haben: „Sie sind bewegt wie das Meer und ruhig wie das Meer und tief wie das Meer.“ Zitiert nach ebd. S. 142. 1055 „The sea and the earth are unfaithfull to their children […]“ Aus einem Brief von Joseph Conrad an R.B. Cunninhame Graham, zitiert nach Norman Sherry, „Introduction“, in: Joseph Conrad, The Nigger of the ‘Narcissus’, Typhoon, Amy Foster, Falk, Tomorrow, London, Melbourne, Toronto: Everyman´s Library, S. v-xvii, hier S. xii. 1056 In Heart of darkness wimmelt es - ohne Zweifel - von bedenklichen Passagen und Bildern, die etwa den Schriftsteller Chinua Achebe dazu veranlasst haben, dessen Autor als Rassist abzustempeln und in diesem Roman das Manifest eines „in der westlichen Psychologie“ tiefsitzenden Verlangens zu sehen, „Afrika als Folie für Europa auszugeben, als Ort der Negationen, zugleich entlegen und doch irgendwie vertraut, vor der Europas eigener Stand spiritueller Gnade sich abhebt.“ Chinua Achebe, „Ein Bild von Afrika: Rassismus in Conrads ‘Herz der Finsternis’ “, in: ders. Ein Bild von Afrika: Rassismus in Conrads „Herz der Finsternis“, Essays, zweite erweiterte Auflage, Berlin: Alexander Verlag, S. 7-41, hier S. 9. Nur eines der 3. 5 Joseph Roths Kritik an der marginalisierenden, kulturimperialistischen … 299 Noch mehr als Haß und Rache gegeneinander erfüllt uns Weiße der Zivilisationshochmut. Weil wir statt der Sonne eine Bogenlampe, statt des Himmels eine Kulisse, statt des Glaubens die Theologie und anstelle Gottes einen ordentlichen Professor zu erzeugen vermögen, glauben wir, mehr zu sein denn jene, die in schlummernder Unschuld elementare Naturträume erleben, in den feuchtkühlen Schatten ehrfürchtiger Urwälder, Kinder Pans, dem Pan huldigen, unschuldig sind, selbst wenn sie töten. Göttlich, wenn sie lieben. Wahre, durch Bart und Brille und Monokel noch nicht entstellte Ebenbilder Gottes, tief in die Schatten der ersten Schöpfungstage gedrückt. Ihre Kinder hängen mit Affen an seltsamen, urschönen Gummigutbäumen, räkeln sich im Sand, spielen nicht Tennis und sammeln keine Briefmarken. Ihre Jünglinge fechten nicht auf Mensurböden und saufen kein Bier. Sie zittern vor dem Blitz und hören Gottes Ruf durch den Donner. Und wir haben nur einen Blitzableiter (JRW 1, 561). Joseph Roth zeichnet ein verklärtes Bild der Schwarzen als Naturvölker, die im idyllischen Naturzustand und in Harmonie mit sich selbst und der Umwelt leben. Er reproduziert bewusst oder unbewusst Momente des rousseauistischen Diskurses. Dass Joseph Roth auf den rousseauistischen Diskurs zurückgreift, zeigt, dass er ein Kind seiner Zeit ist und mithin in einer kulturimperialistischen Darstellungsweise gefangen bleibt. Es ist notwendig, die Ambivalenz einer solchen stereotypischen Darstellungsweise zu entwirren. Joseph Roth will in schwarzen Subjekten ›unschuldige Kinder‹ sehen. Aber indem er seine Anteilnahme den Schwarzen gegenüber bezeugt, bringt er gleichzeitig einen teleologischen Diskurs in Umlauf und einen Patriarchalismus zum Ausdruck. Joseph Roths Aussagen zeichnen sich durch eine Ambivalenz aus: zwischen einer Demontage gängiger stereotypischer Diskurse über den Schwarzen und einer Gefangenschaft in einer Metaphysik der Präsenz. Roths Anwaltschaft entpuppt sich sozusagen als ein ambivalenter Diskurs, der zwischen An- und Aberkennung pendelt. Diese dikursive Zwiespäl- Kennzeichen von Conrads Roman liegt in dessen Vielschichtigkeit. Denn selbstreflexive und ironische Momente ziehen sich durch den ganzen Text. Homi Bhabha geht gerade von solchen selbstreflexiven und ironischen Momenten aus, um Heart of darkness als einen Text zu lesen, der die chaotischen Zu-, Um- und Missstände unserer Welt schildert. Vgl. Homi K. Bhabha, „On cultural Hybridity - Tradition and Translation“ (Anm. 140). Hierdurch grenzt sich Bhabha von einer althergebrachten Leseweise, die in Heart of darkness einen einseitigen Hinweis auf Afrika sehen will, ab. „[N]othing to boast of, when you have it, since your strength is just an accident arising from the weakness of others.“ Joseph Conrad, Heart of darkness (Anm. 1), S. 6. Die Frage des kolonialen Blickes, der den Körper des Kolonisierten aufbricht; die Kritik an der kulturimperialistischen Dimension des technischen Fortschritts des Westens sowie die Kritik am kolonialistischen Einsatz dieses technischen Vorsprungs, um sogenannte technisch, ökonomisch und militärisch unterlegene Völker unter dem Deckmantel einer ›strafkolonialen zivilisatorischen Mission‹ (mission civilisatrice) auszubeuten - dies stellt eine weitere Schnittstelle dar, in der Joseph Conrad und Joseph Roth zusammentreffen. 3. Joseph Roth und die Frage der imperialen Begegnung … 300 tigkeit könnte als die Spur einer unbewussten Unruhe, im Sinne Derridas, gedeutet werden. Joseph Roth Rehabilitierungsarbeit weist bedenkliche Seiten auf. Denn durch derartige Darstellungsweisen werden unbewusst logozentrische Bilder über Afrika reproduziert, und zwar Afrika als textuelles Niemandsland, als terra nullius. Roths Texte, in denen thematische Spuren der imperialen Begegnung zwischen Europa und Afrika vorkommen, wurden jedoch in der Zwischenkriegszeit verfasst, 1057 in der zahlreiche afrikanische Schriftsteller und Denker literarisch und diskursiv einen symbolischen Widerstand gegen die koloniale Unterdrückung und Ausbeutung leisteten. Angespielt wird beispielweise auf Denker der Négritude-Bewegung 1058 (wie u.a. Aimé Césaire, Léopold Sédhar 1057 Hingewiesen wird u.a. auf jene Texte, die in dieser Arbeit analysiert werden. Näheres dazu ist in der Einführung dieser Arbeit zu erhalten. 1058 Der Begriff „Négritude“ erscheint das erste Mal in Aimé Césaires Gedicht Cahier d´ un retour au pays natal (vgl. Aimé Césaire, Zurück ins Land der Geburt (Anm. 525), S. 35 und 73, Titel der französischen Originalausgabe Cahier d´un retour au pays natal (1939)), und wird zum programmatisch-operativen Konzept der in Paris der 1930er Jahre von Aimé Césaire aus Martinique, Léopold Sédar Senghor aus Senegal und Léon Gontran Damas aus Guyana gegründeten gleichnamigen Bewegung. Es handelt sich um französischsprachige Studenten aus Frankreichs Kolonien, die in Paris zusammengetroffen sind und zu einem produktiven intellektuellen und geistigen Dialog gekommen waren. Die Bewegung setzte sich für ein starkes Selbstbewusstsein ›schwarzer bzw. unterdrückter Subjekte‹, für die Rehabilitierung des Menschen gegen die Herrschaft rassistischer versklavender Klischeevorstellungen ein. Vgl. Léopold Sédar Senghor, Négritude et modernité ou la négritude est un humanisme du xx e siècle, 1970. Geistig beflügelt wurde die Bewegung durch die Schriftsteller der ›Harlem Renaissance‹ und vor allem durch afroamerikanische Autoren wie u.a. Richard Wright, Langston Hughes, Web du Bois, Claude McKay, Countee Cullen, Sterling Brown, deren Werke sich mit ›Blackness‹ und ›Rassismus‹ befassen. Vgl. Aimé Césaire, Nègre je suis, nègre je resterai (Anm. 726), S. 25f. Vgl. ders. Discours sur le colonialisme (Anm. 726), S. 82 und 88. Die Bewegung hatte nicht zuletzt auch schöpferische Anregungen von positiven sowie negativen Afrika-Stereotypen im europäischen Diskurs über Afrika bekommen. Hingewiesen wird beispielsweise auf das Werk des deutschen Ethnologen Leo Frobenius. Diese Bewegung hatte einen anregenden Einfluss auf zahlreiche Denker und Schriftsteller weltweit. Der Surrealismus sowie der Marxismus bilden weitere geistige Quellen, aus denen die Négritude-Bewegung Impulse erhielt (ebd. S. 27f). Und umgekehrt hat die Dichtung der Négritude- Bewegung, etwa die Dichtung von Aimé Césaire, die surrealistische Bewegung eines André Breton beeinflusst. „La parole d´Aimé Césaire, belle comme l´oxygène naissant.“ André Breton, „Un grand poète noir. Préface à l´édition de 1947“, in: Aimé Césaire, Cahier d´un retour au pays natal (Anm. 726), S. 77-87, hier S. 87. André Breton entdeckt in Césaires dichterischem Umgang mit Buchstaben der französischen Sprache surrealistische Praktiken: Eine Dichtung gegen den logozentrisch bestimmten Menschen der Aufklärung und für den Menschen allgemein. Vgl. André Breton, ebd. Vgl. Janheinz Jahn, „Nachwort“, in: Aimé Césaire, Zurück ins Land der Geburt (Anm. 525), S. 111. Näheres über die Négritude-Bewegung lässt sich u.a. in folgenden Quellen erschließen: Vgl. Jürgen von Stackelberg, Klassische Autoren des schwarzen 3. 5 Joseph Roths Kritik an der marginalisierenden, kulturimperialistischen … 301 Senghor, Léon Gontran Damas, Alioune Diop), auf die unterschiedlichen Spielarten dieser Bewegung im kolonialen und postkolonialen Afrika, getragen von intellektuellen Figuren wie Frantz Fanon, Amilcar Cabral, Réné Maran, Mongo Beti, Ézékiel Mphalélé, Ferdinand Léopold Oyono, Chinua Achebe, Wole Soyinka unter anderen. Solche Auflistungen bergen die Gefahr in sich, die ›großen Klassiker‹ der afrikanischen Literatur - zuungunsten einer mannigfaltigen afrikanischen literarischen Landschaft - zu bevorzugen. Die Texte dieser Schriftsteller lassen sich als Poetiken der Hybridität lesen, in der die Signifikanten des Kolonisierten und die des Kolonialherrn produktiv aufeinandertreffen und Bedeutungen, Identitäten neu ausgehandelt werden. James Clifford sieht dieses Potenzial in den Texten von Aimé Césaire - dem Dichter aus der Insel Martinique - enthalten und verwirklicht. Hierzu merkt Clifford an: „Césaire does not restore the ‘meanings’ of language, culture, and identity; he gives them a turn.“ 1059 Césaires Poetik der Hybridität eröffnet ein differenziertes Kulturmodell, jenseits von Festlegungen und Fixierungen. In seinen Texten erfahren die kolonialen Signifikanten ihre Grenzen. Die Texte afrikanischer Schriftsteller stellen ähnliche „hybride Deplatzierungen“ 1060 dar, die nicht nur „am Prozeß subversiver und hybrider Bedeutungsproduktion im Kontext von Kolonialisierung und Dekolonialisierung“ 1061 teilgehabt haben, sondern weiterhin dazugehören. Im Dialog mit Joseph Roth, der sich vornimmt, das ›schwarze Subjekt‹ zu rehabilitieren, ist es sinnvoll und produktiv, afrikanische Textualitäten im Sinne einer ›natives response to Empire‹ - bzw. einer anderen Geschichtsschreibung - in die Diskussion einzubeziehen. Auch Joseph Roth hinterfragt die verlogene Grenze zwischen Erdteils. Die französischsprachige Literatur Afrikas und der Antillen (Anm. 167), vor allem auf den Seiten 19 bis 28. Vgl. Janheinz Jahn, „Nachwort“, in: Aimé Césaire, Zurück ins Land der Geburt (Anm. 525), S.107-113. Vgl. Hans-Jürgen Heinrichs, „SPRICH DEINE EIGENE SPRACHE AFRIKA! “ Von der Négritude zur afrikanischen Literatur der Gegenwart (Anm. 167). Vgl. Mongo Beti/ Odile Tobner, Dictionnaire de la négritude, Paris: Éditions L´Harmattan 1989. Vgl. Jacques Chevrier, Littérature nègre: Afrique, Antilles, Madagascar, seconde édition, Paris: Armand Colin 1974. Vgl. Belinda Elizabeth Jack, Negritude and literary criticism: the history and theory of „Negro-African literature in French, Westport, Connecticut, London: Greenwood Press 1996. Vgl. Michel Hausser, Pour une poétique de la négritude, Tome I, Paris: Éditions silex 1988. 1059 James Clifford, „A politics of Neologism: Aimé Césaire“, in: ders. (Hg.), The Predicament of Culture, (Anm. 525), S. 175-181, hier S. 177. „[…] Césaire still sends readers to dictionaries in several tonges, to encyclopedias, to botanical reference works, histories, atlases. He is attached to the obscure, accurate term and to the new word. He makes readers confront the limits of their language, or of any single language. He forces them to construct readings from debris of historical and future possibilities. His world is Caribbean - hybrid and heteroglot“ Ebd. S. 175. Kursivschrift ist eine Hervorhebung i.O. „With Césaire we are involved in a poetics of cultural invention.“ Ebd. S. 176. 1060 Telse Hartmann, Kultur und Identität (Anm. 32), S. 7. 1061 Ebd. 3. Joseph Roth und die Frage der imperialen Begegnung … 302 Literatur des Zentrums und Literatur der Peripherie. 1062 Wie im ersten Teil dieser Arbeit gezeigt wurde, hat die Unterdrückung und Ausbeutung von Juden im binneneuropäischen Raum durch den Nationalsozialismus und den Stalinismus parallel zur kolonialen Übersee-Expansion klassischer Kolonialmächte wie Frankreich, England, Portugal und Spanien stattgefunden. Die Erfahrungen, die die Menschen in diesen Räumen gemacht hatten, waren Erfahrungen der Macht, der Herrschaft, der Differenz und der Interdependenz. Daher schlagen Joseph Roths Texte dialogisch eine Brücke zu anderen Schriften, zum Beispiel zu Texten afrikanischer Schriftsteller, die ebenfalls aus Grenzerfahrungen und Grenzsituationen schreiben. Auf die literatur- und kulturwissenschaftliche Praxis übertragen, könnte dies auch bedeuten, dass die Texte afrikanischer Schriftsteller als Orte neuer Formen kultureller Aushandlung wiederentdeckt werden können und müssen. Während der Zwischenkriegszeit verarbeiteten zahlreiche afrikanische Schriftsteller die imperiale Begegnung zwischen Europa und Afrika literarisch. Die Debatte über die Rehabilitierung schwarzer Subjekte, die Joseph Roth eröffnet, könnte daher produktiv weiterentwickelt werden, indem die Texte afrikanischer Schriftsteller arbeitshypothetisch als Gegengeschichtsschreibung postuliert werden. 3. 6 The Ot her or Native respo nse … 3.6 The Other or Native response: die Texte afrikanischer Schriftsteller als postkoloniale Literatur bzw. als Gegengeschichtsschreibung Der Begriff postkolonial wird in diesem Zusammenhang in Anlehnung an Bill Ashcroft, Gareth Griffiths und Helen Tiffin verwendet, und zwar nicht als einseitiger Hinweis auf die Periode nach der Unabhängigkeit ehemaliger Kolonien, sondern vielmehr auf „all the culture affected by the imperial process from the moment of colonization to the present day.“ 1063 Miteinbezogen werden sowohl die Kolonialzeit, die Zeit nach den Unabhängigkeitserklärungen früherer Kolonien, als auch die gegenwärtigen und zukünftigen Beziehungen zwischen sogenannten Dritte-Welt-Ländern und sogenannten Ländern der Ersten Welt. Es wird davon ausgegangen, dass koloniale Verhältnisse in unserer heutigen Welt in verschobenen Formen fortbestehen. 1064 Die Literatur Afrikas gehört zu jenen Literaturen, die als „post-colonial literatures“ 1065 1062 Näheres dazu ist in der Einführung dieser Arbeit S. 35ff zu erhalten. Vgl. David Bronsen, Joseph Roth: eine Biographie (Anm. 10), S. 295. 1063 Bill Ashcroft/ Gareth Griffiths/ Helen Tiffin, The Empire writes back (Anm. 448), S. 2. 1064 „This is because there is a continuity of preoccupations throughout the historical process initiated by European imperial aggression.“ Bill Ashcroft et al., ebd. 1065 Darunter verstehen Bill Ashcroft et al. „[…] [T]he literatures of African countries, Australia, Bangladesh, Canada, Carribean countries, India, Malaysia, Malta, New Zealand, Pakistan, Singapore, South Pacific, Island countries […]” Ebd. S. 2. Die Literatur aus den USA wird in dieser Kategorisierung wegen ihrer gegenwärtigen 3. 6 The Other or Native response … 303 bezeichnet werden können. Der Überschneidungspunkt dieser Literaturen liegt darin, dass sie sich aus der historischen Erfahrung der imperialen Begegnung mit Europa profilieren. Diese Literaturen zeigen die Ambivalenzen der kolonialen Macht auf, dekonstruieren dadurch den kolonialen Diskurs und erwecken ein weltweites Bewusstsein für kulturelle Differenzen. Gerade in diesen erwähnten Wesenszügen sehen Bill Ashcroft, Gareth Griffiths und Helen Tiffin die Postkolonialität dieser Literaturen begründet: What each of these literatures has in common beyond of their special and distinctive regional characteristics is that they emerged in their present form out of the experience of colonization and asserted themselves by foregrounding the tension with the imperial power, and by emphasizing the differences from the assumptions of the imperial centre. It is this which makes them distinctively post-colonial. 1066 Bill Ashcroft lenkt das Augenmerk auf den Akt der Gegengeschichtsschreibung, der in diesen Texten enthalten ist. 1067 Als Avantgarde einer solchen Gegengeschichtsschreibung gelten die Begründer der Négritude- Bewegung. 1068 Diese Bewegung ist aber nicht nur aus einer intensiven Auseinandersetzung mit europäischen Schriften über Afrika entstanden, sondern vor allem auch aus den historischen Erfahrungen, die diese karibischen und schwarzafrikanischen Studenten in Paris durchgemacht hatten: die Erfahrung Machtstellung, ihrer neokolonialen Rolle weltweit sowie deren enger Beziehungen mit den metropolischen Zentren fast ausgeschlossen. Vgl. ebd. S. 2. Vgl. Axel Dunker, „Einleitung”, in: ders. (Hg.), (Post-)Kolonialismus und Deutsche Literatur (Anm. 183), S. 13. 1066 Bill Ashcroft et al., The Empire writes back (Anm. 448), S. 2. 1067 Vgl. Gayatri Chakravorty Spivak, „Three Women's Texts and a Critique of Imperialism“ (Anm. 1025)., S. 262. Den Literaturen der europäischen kolonisierenden Kultur setzt Spivak jene Literaturen aus sogenannten Dritte-Welt-Ländern (Third World countries) entgegen. In diesen Literaturen und durch diese Literaturen sieht Spivak einen Akt der Gegengeschichtsschreibung im Gang. Spivak schreibt: „If these ‘facts’ were remembered, not only in the study of British literature but in the study of the literatures of the European colonizing cultures of the great age of imperialism, we [the literatures of the so called third world countries] would produce a narrative, in literary history, of the ‘worlding’ of what is now called ‘the third world’. To consider the Third World as distant cultures, exploited but with rich intact literary heritages waiting to be recovered, interpreted and curricularised […] fosters the emergence of ‘the Third World’ as a signifier […]“. Ebd. In eckigen Klammern Stehendes ist eine Hervorhebung v. mir. Spivaks Anmerkungen erinnern an eine im Rahmen der USamerikanischen Kulturanthropologie entstandene selbstkritische Writing-Culture- Debatte. Näheres über diese Debatte ist in dieser Arbeit auf S. 25f Fußnote 96 zu erhalten. Vgl. Telse Hartmann. Kultur und Identität (Anm. 32), S. 1-21. 1068 Das Augenmerk wird deshalb auf die Négritude-Bewegung gelenkt, weil diese Bewegung literarisch und philosophisch ›den Kampf‹ um das Sichtbarbzw. Hörbarmachen unterdrückter alternativer Stimmen und Geschichten auf ihre Fahnen geschrieben hatte. 3. Joseph Roth und die Frage der imperialen Begegnung … 304 der Entfremdung in europäischen Metropolen, die weltweit kolportierten Bilder über Afrika durch die Meisterdiskurse über die Weltgeschichte, 1069 die innerrassischen Hierarchien 1070 usw. Die Dichtung von Aimé Césaire in Cahier d´un retour au pays natal (Zurück ins Land der Geburt) lässt sich daher als einen revolutionären Schrei bzw. als ein Zu-Wort-Kommen unterdrückter, marginaler Geschichten und Stimmen lesen. […] Und die Stimme spricht, daß Europa uns jahrhundertelang mit Lügen gemästet, mit Irrlehren angefüllt hat, denn es ist nicht wahr, daß das Werk des Menschen getan ist daß wir nichts mehr zu tun hätten auf der Welt daß wir die Schmarotzer seien der Welt daß wir uns dem Gang der Welt nur anpassen müßten das Werk des Menschen hat gerade erst begonnen der Mensch muß erst die Verbote niederreißen, die rings um seinen Liebeseifer aufgepflanzt sind keine Rasse besitzt das Monopol der Schönheit, der Intelligenz, der Kraft für alle ist Platz beim Stelldichein des Sieges und wir wissen jetzt, daß die Sonne die Erde umkreist und die Stelle bestrahlt, die allein unser Wille festgesetzt hat, und daß jeder Stern vom Himmel zur Erde stürtzt auf unseren grenzenlosen Befehl. 1071 An der Négritude-Bewegung wurde vehemente Kritik geübt. Die Liste der Kritiker erstreckt sich von Frantz Fanon über Ezekiel Mphalélé, Wole Soyinka bis zu Stanislas Adoveti. Frantz Fanon scheint in bestimmten Momenten seines Werkes Peau noire, masques blancs, seinen geistigen Mentor und Kampfgenossen Aimé Césaire und besonders den Dichter und ehemaligen 1069 Ein Hinweis auf Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte und genauer auf einen Abschnitt über Afrika. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Band 12, Frankfurt/ Main: Suhrkamp Verlag 1970, S. 120-129. 1070 Auf das Spannungsverhältnis zwischen Schwarzafrikanern und Schwarzen aus den karibischen Inseln machen Césaire und Fanon aufmerksam. Der Schwarze aus der Karibik bildet sich ein, dem Weißen näher zu sein als der Schwarzafrikaner. Fanon spricht von Afrikanern, die sich für Martiniquais oder Guadeloupeen ausgeben. Er erwähnt auch die Schwarzen aus Martinique, die sich für zivilisierter als diejenigen aus Guadeloupe halten und sich darüber ärgern, dass man sie verdächtigt, senegalesischer Herkunft zu sein. Vgl. Frantz Fanon, Peau noire, masques blancs (Anm. 75), S. 20f. Vgl. Aimé Césaire, Nègre je suis, nègre je resterai (Anm. 608). 1071 Aimé Césaire, Zurück ins Land der Geburt (Anm. 525), S. 89-91. 3. 6 The Other or Native response … 305 Präsidenten Senegals Léopold Sédar Senghor an den Pranger zu stellen. 1072 Dass die Négritude-Bewegung ein Europadiskurs sei, bildet den Gipfelpunkt der gesamten Vorwürfe gegen diese Bewegung. Die Begründer haben zwar Anregungen vom europäischen Diskurs über Afrika bekommen, aber es klingt allzu zynisch, wenn diese wissenschaftliche Tatsache als strategische Waffe gegen diese Bewegung angewendet wird. Für die geistige Dekolonisierung ›schwarzer‹, ›weißer‹, ›gelber‹ oder roter Subjekte, wie man sie auch bezeichnen mag, hat sich die Négritude-Bewegung intensiv eingesetzt. Die Denker und Dichter der Négritude-Bewegung führten einen literarischphilosophisch-politischen ›Kampf‹ nicht ausschließlich ethnozentrisch für die Rehabilitierung des Schwarzen, sondern einschließlich für die Rehabilitierung ausgegrenzter, unterdrückter, marginalisierter Menschen weltweit, gegen rassische Diskriminierungen und alle Formen kolonialer Ausgrenzung und Ausbeutung, „denn was ich will / ist, für den Hunger der Welt / für den Durst der Welt […],“ 1073 betont Césaire. Das Schreiben und Denken der Négritude- Denker - zumindest wie es bei Aimé Césaire vorkommt - ist keineswegs eine sklavische Wiederholung eines Europadiskurses, geschweige denn die Beförderung eines Anti-Weißen-Rassismus, sondern eher eine Poesie und Philosophie der Befreiung des Menschen allgemein. Dieser Bewegung ging es um die Aushandlung eines Raumes, der dem unterdrückten und ausgebeuteten schwarzen (oder jüdischen) Subjekt abgesprochen wurde oder wird. Der Begriff ›Négritude‹, um wie Janheinz Jahn zu sprechen, bezeichnet keinen umgedrehten Rassenwahn, sondern, wie Césaire nicht müde wird zu betonen, einen erweiterten, nicht mehr auf Europa zentrierten Humanismus. Hatte man bis dahin fast alles, was im kolonialisierten Räume geschrieben war, der europäischen Elle unterworfen, hatte Europa bis dahin mit seiner Schrift und seiner Sprache auch die Muster geliefert, nach denen zu denken, nach denen zu schreiben war, so warf Césaire hier als erster die europäischen Maßstäbe und Vorbilder ab. Er erlaubte sich, auf afrikanische Weise Bilder zu setzen, zu rhythmisieren, die Wortmagie afrikanischer Zauberer in seinen französischen Versen Beispiel werden zu lassen. 1074 Diese Würdigung Césaires poetischer Leistungen bleibt dennoch in gängigen Stereotypen über Afrika stecken. Césaires Denken und Schreiben wird auf ein magisches bzw. animistisches Denken reduziert. Derartige stereotypische Reduzierung wird Aimé Césaires Texten nicht gerecht. Seine Texte, seien sie poetisch, essayistisch, dramatisch - oder was auch immer - verwandeln sich 1072 „[D]es Noirs veulent démontrer aux Blancs coûte que coûte la richesse de leur pensée, l´égale puissance de leur esprit.“ Frantz Fanon, Peau noire, masques blancs (Anm. 75), S. 7. „Ma vie ne doit pas être consacrée à faire le bilan des valeurs nègres.“ Ebd. S. 186. 1073 Aimé Césaire, Zurück ins Land der Geburt (Anm. 525), S. 79. 1074 Janheinz Jahn, „Nachwort“, in: Aimé Césaire, Zurück ins Land der Geburt (Anm. 525), S. 112. 3. Joseph Roth und die Frage der imperialen Begegnung … 306 in ein umkämpftes Terrain kolonialer Befreiung: die Befreiung aus den Klauen des kolonialen Signifikanten. Diese textuelle bzw. symbolische Befreiung hat ihre Spielart in den Texten zahlreicher afrikanischer SchriftstellerInnen. Denn neben den Texten Aimé Césaires, die in der Zwischenkriegszeit spielen, d.h. zeitlich in derselben Periode, wie Joseph Roths essayistische Texte, datieren die Texte z.B. von Frantz Fanon, Albert Memmi, sowie die Texte von Autoren wie Mongo Beti, Chinua Achebe, Cheikh Hamidou Kane oder Ngugi wa Thiong´o auf die 1950er und 1960er Jahre zurück. Die Erwähnung dieser afrikanischen Autoren erfolgt erstens im Sinne eines in der Einführung dieser Arbeit angekündigten nachträglichen Dialogs zwischen Joseph Roths Texten und Texten afrikanischer Schriftsteller, zweitens lässt sich diese Heranziehung afrikanischer Autoren durch den Raum des Schweigens begründen, den Joseph Roths Texte über die imperiale Begegnung zwischen Europa und Afrika eröffnen, drittens ermöglichen diese afrikanischen Textualitäten eine dialogische Weiterführung der in Joseph Roths Texten entfesselten Fragen: Fragen zu einer Gegengeschichtschreibung, Fragen zu einer Rehabilitierung des schwarzen Subjektes sowie Fragen zur geistigen Dekolonisierung. Die Romane Ville Cruèlle (Grausame Stadt) und Mission Terminée (Besuch zu Kala oder wie ich eine Braut empfing) des Kameruner Schriftstellers Mongo Beti lassen sich auch als Gegengeschichtschreibung, erfassen. Diese symbolische Befreiung lässt sich am Beispiel von Banda, dem Hauptprotagonisten von Ville Cruèlle, einerseits und Jean-Marie Medja, der Hauptfigur in Mission Terminée, andererseits veranschaulichen. Die Handlung in Ville cruèlle spielt in der Kolonialzeit ab und schildert u.a. die Ambivalenzen des europäischen Kolonialismus in Kamerun des 19. und 20. Jahrhunderts sowie die von dieser imperialen Begegnung errichtete Weltordnung. Im Mittelpunkt von Ville cruèlle steht die Figur Banda. Die Bindung zu Mutter bedeutet dem verwöhnten Waisendkind Banda ein Leben in Harmonie mit sich selbst und mit seiner Umwelt. „J´aime ma mère. Aie! Je l´aime comme tu ne peux pas savoir.“ 1075 Die Mutter gab ihm körperliches und seelisches Gleichgewicht. Das Leben im Dorf nach dem Tod des Vaters ist für beide ein Leidensweg. Schutzlos sind beide der Willkür der Gebrüder des verstorbenen Vaters ausgeliefert. 1076 Im ganzen Dorf ist Banda unbeliebt, weil er immer wieder versucht, seine Mutter vor den Angriffen und Belästigungen anderer Bewohner zu schützen. Banda macht sich die Rebellion zum Lebensprinzip und ist sogar stolz darauf. Er prahlt mit seiner körperlichen Kraft und zieht sich deshalb Unannehmlichkeiten aller Arten zu. „J´ étais fort… résultat: tout le monde me deteste maintenant dans mon village, ce dont je suis heureux“. 1077 Er stand in einem gestörten Verhältnis zur Welt der 1075 Mongo Beti, Ville cruèlle (Anm. 168), S. 10. „Ich liebe meine Mutter. Ach! Ich liebe sie, wie du dir es nicht vorstellen kannst.“ Übersetzung von mir. 1076 Vgl. ebd. 1077 Ebd. S. 13. 3. 6 The Other or Native response … 307 Väter. Zu dieser Welt gehört die Schule. Die - als koloniale Institution verstanden - wird als fremdkulturelles Element angeführt, das die Harmonie dieser verklärten Mutterwelt bricht. [M]a mère était allée m´inscrire à l´école de la ville. Désormais cinq jours sur sept, je serai séparé d´elle. J´ ai pleuré ce jour-là comme jamais plus je ne pourrai le faire. 1078 Je trimais depuis huit ans dans leur école à planter, à arracher des pommes de terre, et jamais à faire ce qu´on fait habituellement dans une école, quand ils s´avisèrent que j´étais vraiment trop grand et me boutèrent à la porte, sans aucun diplôme naturellement. 1079 Jean-Marie Medja hat die mündliche Matura-Prüfung nicht geschafft. Die Schule, die in Mission Terminée für die koloniale patriarchale Ordnung steht, hat er unter dem Druck seines autoritären Vaters besucht. „Envolée ma jeunesse… Je payais une terrible rançon. [...] Rançon d’être allé à l´école par la volonté de mon père omnipotent“. 1080 Medja will andere Horizonte erschließen. Er fasst den Entschluss, seine Ferien bei seinem Onkel auf dem Dorf „Vimili“ zu verbringen und dadurch der väterlichen Autorität zeitweilig zu entkommen. Von den Ältesten des Dorfes wird er damit beauftragt, ins benachbarte Dorf „Kala“ eine Frau zurückzuholen, die ihren Haushalt verlassen hat. 1081 Im Dorf „Kala“ ist Medja von jungen Frauen begehrt, von Gleichaltrigen gefürchtet und von Erwachsenen und Greisen verehrt. 1082 In diesem Milieu macht Medja seine ersten Liebeserfahrungen, eine andere Schule, durch. 1083 Liebesphantasien durchziehen den Roman und zeugen von dem Willen des Sohnes sich von der väterlichen Autorität und von einem fremdbestimmten Dasein zu emanzipieren. 1084 Aufgrund seiner Matura-Ausbildung und aufgrund der Tatsache, dass er aus der Stadt kommt, wirkt er als eine Autorität. 1085 Aus der Sicht der Dorfbewohner verkörpert Medja die begehrte Welt des weißen Kolonialherrn. Das Bewusstsein seiner privilegierten bzw. autoritären gesellschaftlichen Stellung wird ihm sogar anerzogen. 1078 Ebd. S. 12. „Meine Mutter begab sich in die Stadt, um mich in die Schule einzuschreiben. An jenem Tag habe ich geweint, wie ich es nie mehr tun könnte.“ Übersetzung von mir. 1079 Ebd. S. 13. „Seit acht Jahren schufte ich in ihrer Schule, indem ich Kartoffeln pflanzte und ausriss. Ich machte aber nie das, was man in einer Schule gewöhnlich zu machen pflegt. Als sie feststellten, dass ich schon zu alt war, schmissen sie mich raus. Natürlich ohne Abschlußzeugnis.“ Übersetzung von mir. 1080 Mongo Beti, Ville cruèlle (Anm. 168), S. 10. 1081 Vgl. ebd. 1082 Ebd. S. 13. 1083 Ebd. S. 12. „Meine Mutter begab sich in die Stadt, um mich in die Schule einzuschreiben. An jenem Tag habe ich geweint, wie ich es nie mehr tun könnte.“ Übersetzung von mir. 1084 Vgl. S. 94f. 1085 Vgl. ebd. S. 72. 3. Joseph Roth und die Frage der imperialen Begegnung … 308 Mais tu es un homme térrible! Et tu parles toi aussi avec la voix du tonnerre. Et tu ne soupçonnes même pas ta puissance! Ta voix du tonnerre, sais-tu ce que c´est? Tes diplômes, ton instruction, ta connaissance des choses des Blancs. Sais-tu ce que s´imaginent sérieusement ces bushmen de l´arrièrepays? Qu´il te suffirait d´adresser une lettre écrite en français, de parler en Français au chef de la subdivision la plus proche, pour faire mettre en prison qui tu voudrais ou pour lui faire obtenir n´importe quelle faveur… Voilà ce que s´imaginent ces péquénots chez lesquels nous t´envoyons… 1086 Besonders auffallend ist die verinnerlichte koloniale Rhetorik die hier von den Kolonisierten selbst in Umlauf gebracht wird: „bushmen“, „arrière-pays“, „péquénots“. Dabei wird Medja als eine Instanz inszeniert, die ›Licht‹ in diese ›dunkle Gegend‹ bringen soll. Die Dorfbewohner stürmen Medja mit unendlichen bohrenden Fragen über den Gegenstand westlicher Schule. „Et qu´est ce que les blancs vous enseignent au juste? […]“, 1087 fragt ein Dorfbewohner. Eine Frage, die Medja in tiefe Verlegenheit bringt und die in ihm das Gefühl entstehen lässt, ein fremdbestimmtes Dasein zu führen bzw. einen falschen Weg eingeschlagen zu haben. Mit missglückten, unpräzisen Worten und Ausdrücken aus der Ewondo-Sprache 1088 versucht er den Dorfbewohnern, das zu erklären, was „cosmographie“, „sociologie“, „trigonometrie“ oder „geographie“ ist. 1089 Medja nimmt seine Entfremdung sowie die Grenzen seines schulischen Wissens wahr. Seine Versuche, den Begriff Geographie auf Ewondo den Fragenden verständlich zu machen, bleiben umsonst. Er wird von einem merkwürdigen Gefühl der Leere übermannt: J´ ai énoncé de la géographie la définition la plus pénible et très certainement la plus discutable qui en ait jamais été donnée : n´en ayant appris aucune dans ma langue maternelle, force m´a été d´en fabriquer rapidement une devant un auditoire suspendu à mes lèvres. 1090 „La Grande Royale“, eine Figur aus Cheikh Hamidou Kanes Roman L´aventure ambiguё beteuert dennoch: „L´école étrangère est la forme nouvelle de la guerre que nous font ceux qui sont venus, et il faut y envoyer notre élite.“ „[…] Il faut aller apprendre chez eux l´art de vaincre sans avoir raison.“ 1091 Der Afrikaner sollte sich der Schule westlicher Prägung nicht ver- 1086 Ebd. S. 31. Hervorhebung von mir. 1087 Ebd. S. 96. 1088 Die Ewondo-Sprache ist eine Spielart der in Südkamerun gesprochenen Beti-Sprache. Es ist schwer vorstellbar, dass der durchgefallene Maturant Medja diese Gespräche mit den Dorfbewohnern auf Französisch führte. Denn die meisten von ihnen hatten keine Schule besucht. Und dies lässt sich sogar an den Fragen erkennen, die sie Medja stellen. 1089 Vgl. ebd. S. 73 und 96f. 1090 Ebd. S. 96. 1091 Cheikh Hamidou Kane, L´aventure ambiguё (Anm. 615), S. 47. Zu der - im Cheikh Hamidou Kanes Roman L´ aventure ambiguë - grundlegenden Frage der Begegnung zwischen einer afrikanisch-traditionsgewandten und einer europäisch geprägten Schule 3. 6 The Other or Native response … 309 schließen. Der gefürchtete Maître Thierno aus Hamidou Kanes L´aventure ambigue, Leiter und Befürworter der traditionsgewandten Koranschule, kontert aber: Si je leur dis d´aller à l´ école nouvelle, ils iront en masse. Ils y apprendront toutes les façons de lier le bois au bois que nous ne savons pas. Mais, apprenant, ils oublieront aussi. Ce qu´ ils apprendront vaut-il ce qu´ils oublieront ? 1092 Hervorgehoben wird die kulturimperialistische Dimension westlichorientierter Schule, die sich durch die Verdrängung alternativer Wissensformen auszeichnet. Die von Maître Thierno geleitete Koranschule könnte in dieser Hinsicht als Brutstätte des antikolonialen Widerstands betrachtet werden. Dennoch das Abenteuer der westlichen Schule in Afrika ist alles andere als ein einseitiger Monolog. Der Romantitel L´aventure ambiguё (das zwiespältige Abenteuer) könnte m.E. metaphorisch auch für das zwiespältige Abenteuer der westlichen Schule in Afrika stehen. Es handelt sich um eine Erfahrung der Hybridität bzw. der Fragmentierung des Selbst. In dieser imperialen Begegnung wird nicht nur der Afrikaner, sondern vor allem auch die westliche Schule von dieser Zwiespältigkeit betroffen bzw. getroffen. Wenn von Schule die Rede ist, wird vor allem auf die europäischen Sprachen hingewiesen, die im Mittelpunkt dieses Wissensvermittlungsunternehmens stehen. Folgende Aussage der Figur Pierre Louis in L´aventure ambiguё legt Zeugnis dafür ab: Tous les Noirs devraient étudier le droit des Blancs: français, anglais, espagnols [allemands], le droit de tous les colonisateurs, ainsi que leurs langues. Vous devriez étudier la langue française … je veux dire profondément. […] Car, savez-vous: ils sont tous là, tout entiers, dans leur droit, leur langue constituent la texture même de leur génie, dans ce qu´il y a de plus grand et de plus néfaste. 1093 Es ist aber notwendig zu unterstreichen, dass die europäischen Sprachen ihre Grenzen in der Begegnung mit afrikanischen Sprachen erfahren. Sogar Fanon scheint dieser Aspekt - im Kapitel „Le Noir et le langage“ 1094 - außer Acht spricht la Grande Royale - eine Figur aus dem Roman - Klartext: „[…] il faut aller apprendre chez eux l´art de vaincre sans avoir raison“. Ebd. S. 55. „‘Je viens vous dire ceci: moi, Grande Royale, je n´aime pas l´école étrangère. Je la déteste. Mon avis est qu´ il faut y envoyer nos enfants cependant.’“ Ebd. S. 56. Die Meinung der Grande Royale stößt dennoch auf die tiefe Hinterfragung des Meisters Thierno, des sogenannten ›Hüters der Tradition‹, der in dieser kulturellen Begegnung eine Art Selbstauslöschung sehen will. 1092 Ebd. S. 44. 1093 Ebd. S. 143f. In eckigen Klammern fettmarkiert Stehendes ist eine Hinzufügung v. mir. 1094 Frantz Fanon, „Le Noir et le langage “, in: ders, Peau noire, masques blancs (Anm. 75), S. 12-32. 3. Joseph Roth und die Frage der imperialen Begegnung … 310 gelassen zu haben. Bhabha beschreibt die Art der Aneignung der Zeichen des Kolonialherrn durch die Kolonisierten. Es geht um eine Aneignung, die die monologischen logozentrischen Bedeutungen dezentriert und deplatziert. Bhabha verdeutlicht dies anhand von Auszügen aus Derek Walcotts Gedicht Sainte Lucie: […] Being men they could not live Except they first presumed The right of everything to be a noun. The African acquiesced, Repeated and changed them. Listen my children, say: moubain: the hogplum, cerise: the wild cherry, baie-la: the bay with the fresh green voices they were once themselves in the way the wind bends our natural inflections […] au bord de la ouvriere. Come back to me, Come back cacao grigri, solitaire, […] Moi c´est gens Ste. Lucie c´est le moi sorti is there that I born. 1095 1095 Derek Walcott, Sainte Lucie, zitiert nach Homi K. Bhabha, „How newness enters the world. Postmodern space, postcolonial times and the trials of cultural translation“, in: ders. The Location of Culture (Anm. 365), S. 232f. 3. 6 The Other or Native response … 311 Homi Bhabha liest Derek Walcotts Gedicht als eine poetische Dekonstruktion des imperialen Signifikanten. Die Poesie von Aimé Césaire lässt sich ebenfalls unter diesem Blickwinkel lesen. Besonders hervorgehoben werden jene Momente der Entstellung, der Deplatzierung kolonialer Signifikanten bei der Aneignung des imperialen Zeichens durch den Kolonisierten. Diese Entstellung bzw. Deplatzierung des imperialen Signifikanten ist als der Ausdruck eines unbewussten Widerstands gegen den patriarchalen, autoritären, kolonialen Signifikantenprozess anzusehen. Bhabha zufolge geht Walcott über die billige Binarität asymmetrischer Machtverhältnisse hinaus, um vielmehr jenen Raum zu beleuchten, in dem die Signifikanten des Kolonialherrn und die des Kolonisierten aufeinander treffen und in dem Bedeutungen neu ausgehandelt werden. Auf Bhabhas Beweisführung bezugnehmend lassen sich z.B. auch die Texte afrikanischer Schriftsteller als Orte der Aushandlung von Bedeutung bzw. als Dritte Räume von produktiven Begegnungen zwischen afrikanischen und europäischen Sprachen auffassen. Mongo Betis Texte z.B. bilden solche Orte der Subversion des imperialen Signifikanten. Die Namen von Betis Figuren kommen aus der Beti-Fang-Weltauffassung. 1096 Der Signifikant Koumé z.B. ist eine verfremdete Form des der Ewondo-Sprache entnommenen Substantivs ékoùm. Und der Signifikant ékoùm steht für diesen vom Baumrumpf getrennten Teil eines Baumes, der gewöhnlich fest in die Erde verwurzelt bleibt, nachdem der Baum gefällt ist. Und diese tief verwurzelten Baumreste machen Feldarbeitern das Beackern von Feldern mühevoller. Der Signifikant ékoùm verweist implizit auch auf eine bestimmte Baumart und zwar auf den doúm, einen riesigen harten majestätischen langlebigen Baum, der in tropischen Wäldern Kameruns wächst. In Mongo Betis Remember Ruben betiteltem Roman spielt die Handlung eben auf einem Dorf namens ékoùmdoúm. 1097 Aber die Figur Koumé gehört zu den Protagonisten des Romans Ville cruèlle. Das Wort ›Koumé‹ ist ein Hinweis auf eine Eigenschaft des Doùm- Baumes und zwar auf seine Härte und Standfestigkeit. Es ist an dieser Stelle anzumerken, dass diese stichprobeartige re-lecture einiger afrikanischer Textualitäten von einem Raum des Schweigens ausgegangen ist, den Joseph Roths Texte über die imperiale Begegnung zwischen Afrika und Europa eröffnen. Und diese re-lecture erfolgt im Sinne eines in der Einführung dieser Arbeit angekündigkten nachträglichen Dialogs zwischen Joseph Roths Texten und Texten afrikanischer Schriftsteller. 1098 Neben den Texten Aimé Césaires, die in der Zwischenkriegszeit spielen, d.h. zeitlich in derselben Periode wie Joseph Roths essayistische Texte, datieren die Texte 1096 Näheres über die Beti-Fang-Weltauffasung vgl. Sévérin Cécile Abega, Contes du Cameroun. Beme et le fétiche de son père, Postface par Jacques Fédry, Paris: Éditions Karthala et Unesco 2002. Vgl. Bonaventure Mve Ondo, Sagesse et initiation à travers les contes, mythes et légendes fang, Découvertes du Gabon, illustrations de Prosper Ekore, Libreville, Paris: Centre Culturel Français Saint-Exupéry - Sépia 1991. 1097 Vgl. Mongo Beti, Remember Ruben, Paris: Le serpent à Plumes 2001. 1098 Siehe S. 44 in dieser Untersuchung. 3. Joseph Roth und die Frage der imperialen Begegnung … 312 etwa von Mongo Beti, Frantz Fanon, Albert Memmi sowie von Autoren wie Chinua Achebe, Cheikh Hamidou Kane oder Ngugi wa Thiong´o aus den 1950er und 1960er Jahren. Die Erwähnung dieser afrikanischen Autoren erfolgt erstens im Sinne eines in der Einführung dieser Arbeit angekündigten Dialogs, 1099 zweitens lässt sich diese Heranziehung afrikanischer Autoren durch den Raum des Schweigens begründen, den Joseph Roths Texte über die imperiale Begegnung zwischen Europa und Afrika eröffnen, drittens ermöglichen diese afrikanischen Textualitäten eine dialogische Weiterführung der in Joseph Roths Texten aufgeworfenen Fragen: Fragen zu einer Gegengeschichtsschreibung, Fragen zu einer Rehabilitierung des schwarzen Subjektes sowie Fragen zur geistigen Dekolonisierung. 3. 7 Zu J oseph Rot hs ›Reha bilitierung der Sc hwarze n‹ … 3.7 Zu Joseph Roths ›Rehabilitierung der Schwarzen‹: eine Art re-lecture und ré-écriture der Geschichte Joseph Roths Argumente zur Rehabilitierung des schwarzen Subjektes stehen sozusagen im Zusammenhang mit sogenannter ›Schwarze-Schmach- Problematik‹ 1100 . Die ›schwarze Schmach‹, ein in der deutschen Öffentlichkeit der 1920er Jahre geprägter Ausdruck, steht für die während des Ersten Weltkriegs und unmittelbar danach historische „Verwendung schwarzer Truppen im Kampf gegen Europäer und in der Besatzung europäischer Gebiete“ (JRW I, 559). ›Schwarze Schmach‹ ist ein Begriff für den Einsatz schwarzafrikanischer Kolonialtruppen zunächst im Ersten und später im Zweiten Weltkrieg - durch die alliierten Streitkräfte im Allgemeinen und durch Frankreich im Besonderen, zuerst bei der Besatzung des Rheinlandgebietes. In der deutschen Öffentlichkeit löste diese Besatzung europäischen Bodens durch französische, englische und belgische Kolonialtruppen Empörung und Entsetzen aus und wurde als Schande empfunden und genauer als ›schwarze Schmach‹ wahrgenommen und qualifiziert. 1101 Joseph Roth liest dieses historische Ereignis aber gegen den Strich und zwar in kritischer Abgrenzung von der damals in der deutschen bzw. europäischen Öffentlichkeit allgemein verbreiteten Meinungen. 1102 Er schreibt: „Keinem fällt es ein, sie eine ‘weiße Schmach’ zu nennen. Die Besetzung durch die Schwarzen emp- 1099 Siehe S. 32 in dieser Untersuchung. 1100 Eine Problematik, die auch in den Essays Die Schwarzen im Ruhrgebiet und Der blonde Neger Guillaume vorkommt. 1101 Näheres über diese Frage lässt sich bei Reiner Pommerin nachlesen. Vgl. Reiner Pommerin, „Sterilisierung der Rheinlandbastarde“. Das Schicksal einer farbigen deutschen Minderheit 1918-1937. Düsseldorf: Droste Verlag 1979 1102 Vgl. Christian Koller, „Von Wilden aller Rassen niedergemetzelt“ (Anm. 136). Vor allem in Teil 3 „Schwarze am Rhein - ein Kolonialtruppendiskussion der zwanziger Jahre“, S. 199-341. In diesem Teil befasst sich Koller mit der europäischen und weltweiten Dimension der Diskussion über die Kolonialtruppen. 3. 7 Zu Joseph Roths ›Rehabilitierung der Schwarzen‹ … 313 findet man besonders schwer und nennt sie zwecks doppelter Unterstreichung des Schmachbegriffes: ‘schwarz’“ 1103 (JRW I, 559). Dem Begriff ›schwarze Schmach‹ stellt er polemisch den Gegenbegriff „weiße Schmach“ (ebd.) entgegen. Eine Dimension dessen, was Roth als ›weiße Schmach‹ bezeichnet, wird in Ngugi wa Thiong´os Roman Weep not child geschildert. Weep not child behandelt ein ähnliches Thema wie Roths ›weißer bzw. schwarzer Schmach‹. Es geht um Europäer und Afrikaner, die in die Feldschlachten des Ersten und Zweiten Weltkrieges auf Seiten europäischer Streitkräfte verwickelt waren. 1104 Ngotho, ein gebürtiger Kenianer, wird im Krieg von englischen Streitkräften eingesetzt und erinnert sich an das, was er damals erlebt hat: ‘Then came the war. It was the first big war. I was then young, a mere boy, although circumcised. All of us were taken by force. We made roads and cleared the forest to make it possible for the warring white man to move more quickly. The war ended. We were all tired. We came home worn out but very ready for whatever the British might give us as a reward. But, more than this, we wanted to go back to the soil and court it to yield, to create, not to destroy. But Ng´o! The land was gone. My father and many others had been moved from our ancestral lands. He died lonely, a poor man waiting for the white man to go […] The white man did not go and he died a Muhoi on his very land. It then belonged to Chahira before he sold it to Jacobo. I grew here, but working … (here Ngotho looked all around the silent faces and then continued) … working on the land that belonged to our ancestors. …’ 1105 1103 Kursivschrift ist eine Hervorhebung i.O. 1104 Die Handlung in Weep not, child spielt im kolonialen Kenia und thematisiert den Widerstandskampf der Bevölkerung Kenias gegen die kolonialen Landenteignungen und für die Unabhängigkeit. Jomo Kenyatta, eine bedeutende Persönlichkeit in der Geschichte Kenias, die auch im Roman als gleichnamige Figur auftaucht, kehrte - nach seinem Studium in England - im Jahre 1946 nach Kenia zurück und wurde zum Präsidenten der Kenya African Union (K.A.U), einer revolutionären Partei, die u.a. die Rückerstattung der kolonialbesetzten bebaubaren Ackerländer und die Unabhängigkeit auf ihre Fahnen geschrieben hatte. Diese Partei trat auch für die Abschaffung der Rassentrennung auf öffentlichen Plätzen ein. Die Förderungen der K.A.U waren nicht selten von Gewalttaten begleitet, etwa von Ermordungen von Kolonialkollaborateuren. Dies führte die englische Kolonialmacht am 20. Oktober 1952 dazu, Jomo Kenyatta samt einigen Kampfgenossen zu Sozialagitatoren zu erklären und festzunehmen. Jomo Kenyattas Festnahme forderte die Mao-Mao-Widerstandsbewegung zu Tage, eine mehrheitlich von Gikuyu-Stammesangehörigen geprägte Bewegung, die zwischen 1952 und 1960 zu den Waffen griff und den Urwald zum Rückzug- und Kampfgebiet machte. Vgl. Ime Ikiddeh, „Introduction“, in: Ngugi wa Thiong´o, Weep not child (Anm. 600), S. viii. Näheres dazu ist ebd zu erhalten. 1105 Ngugi wa Thiong´o, Weep not child (Anm. 600), S. 25f. Kursiv geschriebenes Wort ist eine Hervorhebung i.O. Es ist aus der Gikuyu-Sprache entlehnt und bedeutet so viel wie ›Landknecht‹, „one who has acquired the privilege to cultivate or live on another man´s land without payment“ (ebd. S. 138). 3. Joseph Roth und die Frage der imperialen Begegnung … 314 Von der Front heimgekehrt, stellt Ngotho desillusioniert fest, dass die europäischen Siedler die Einheimischen enteignet und zwangsumgesiedelt haben. Es handelt sich hier um eine Spielart der ›weißen Schmach‹, unter der schwarzafrikanische Kriegsveteranen nicht nur an der Front, sondern auch in den Kolonien gelitten haben. Ngothos Klage ist ein Schrei des Entsetzens, der Ratlosigkeit und Verzweiflung. Ngotho erinnert sich an die Art und Weise, wie seine Vorfahren um deren Grundbesitz gebracht wurden. Heute ist er dazu ›verurteilt‹, als Landknecht unter dem Dienst des britischen Siedlers und Grundbesitzers Mr Howland zu stehen. Ngotho hat zwei Frauen und zahlreiche Kinder. Die Familie schlägt sich mühsam durch, um überhaupt überleben zu können. In diesem Zusammenhang wird die westliche Schule, in die Njoroge, einer der Söhne Ngothos, geschickt wird, als Allheilmittel angesehen, um die Familie aus der Armut zu retten. „‘We are poor. You know that’“ 1106 , hämmert Mutter Nyokabi ihrem Sohn Njoroge jeden Tag ein. „‘You won’t bringt shame to me by one day refusing to attend school? ’“ 1107 Die Schule wird als wirksamste Möglichkeit gesehen, um die materiellen und geistigen Lebensgrundlagen der ganzen Familie nachhaltig zu verbessern. Dass das Land, auf dem sein Vater als Leibeigener arbeitet, ursprünglich Eigentum seiner Familie war, ist eine bestürzende Offenbarung für Njoroge. „For Njorogue, it was a surprising revelation, this knowledge that the land occupied by Mr Howlands originally belonged to them.“ 1108 Der Erste und Zweite Weltkrieg lösen bei Afrikanern wie bei Europäern Bestürzung, Qual und Desillusion aus. Unzählige Europäer sehen sich dazu genötigt, Europa zu verlassen und sich anderswo niederzulassen. 1109 Dies ruft den Protagonisten Howland in Ngugi wa Thiong´os Roman in Erinnerung. 1110 Die Grausamkeiten und Gräueltaten jenes Krieges sind dem Deserteur Howland als traumatische Narben unvergesslich im Gedächtnis geblieben. 1111 In 1106 Ngugi wa Thiong´o, Weep not child (Anm. 600), S. 3. 1107 Ebd. S. 3. 1108 Ebd. S. 26. 1109 „Then after the First World War, the British Government had to resettle a large number of disbanded soldiers and Kenya was chosen for the purpose.“ Ime Ikiddeh, „Introduction“, in: Ngugi wa Thiong´o, Weep not, child (Anm. 600), S. vii. Dies trifft auch auf andere europäische Streitkräfte zu, die sich an den Weltkriegen beteiligt hatten. 1110 Vgl. Ngugi wa Thiong´o, Weep not child, ebd. S. 30. 1111 Vgl. ebd. In der Welt von Joseph Roths Texten wimmelt es auch von Deserteuren, die sich meistens im Grenzschenke-Transitraum aufhalten und einen Ausweg in der Auswanderung suchen. Dies ist der Fall der Figur Schemarjah, die mithilfe seiner Eltern und vor allem des Schmugglers Kapturak dem Zwangseinrücken in die zaristische Armee knapp entkommt, während sein Bruder Jonas es nicht schafft. Im Übrigen schafft die ganze Familie Mendel Singer die Auswanderung nach Amerika außer Jonas, der in Europa zurückbleibt und als Streitkraft in den Reihen des russischen Heeres in den Ersten Weltkrieg zieht und später vom Roten Kreuz zum Verschollenen erklärt wird. 3. 7 Zu Joseph Roths ›Rehabilitierung der Schwarzen‹ … 315 Howlands Bewusstsein erscheint Europa unter dem Bild einer chaotischen Vergangenheit. Kenia und Afrika insgesamt stehen hingegen unter dem Zeichen einer verheißungsvollen Zukunft. 1112 Warum europäische Streitkräfte gegeneinander Krieg führten, können die in die Feindseligkeiten verwickelten Kolonialsoldaten nicht nachvollziehen. Folgende Selbstbefragung der Figur Ngotho ist selbstredend. Why should the white men have fougth? Aaa! You could never tell what these people would do. In spite of the fact that they were all white, they killed one another with poison, fire and big bombs that destroyed the land. They had even called the people to help them in killing one another. 1113 Dem ist zu entnehmen, dass es vielen beteiligten afrikanischen Soldaten damals nicht klar war, warum Europa im Krieg stand, geschweige denn weshalb beteiligte europäische Streitkräfte Völker aus den Kolonien in den Krieg hineinzogen. Bekanntlich stand die Teilnahme der Kolonien am Krieg unter dem Zeichen der Loyalität dem ›Mutterland‹ gegenüber sowie unter dem Zeichen europäischer hegemonialer Kämpfe. Der Kriegsveteran Ngotho, dessen Söhne im Zweiten Weltkrieg zwangseingerückt waren, erinnert sich daran, dass unter der Bevölkerung Kenias das Gerücht verbreitet wurde, dass der Erste Weltkrieg deswegen hauptsächlich gegen die Deutschen geführt wurde, weil diese angeblich vorhätten, aus den Schwarzen Sklaven zu machen. Im Text heißt es wörtlich: „The First one [the First World War] was to drive away the Germans who had threatened to attack and reduce the black people to slavery. Or so the people had been told.“ 1114 Diese Aussage legt nahe, dass das Wissen der Durchschnittsmenschen in den Kolonien über die Ursachen des Ersten und Zweiten Weltkriegs klischeehaft waren und teilweise auf Hörensagen beruhten. Jedenfalls war die ›Besatzung‹ europäischer Gebiete durch schwarzafrikanische Kolonialtruppen nichts anderes als das andere Gesicht des europäischen Imperialismus. In der Aussage Ngothos schwingt dieser Aspekt mit. Genau auf diesen Punkt legt Joseph Roth sein Hauptaugenmerk. Dass Menschen aus Afrika in die innereuropäischen Streitigkeiten hineingezogen wurden, ist die eigentliche schwarze Schmach, die Misshandlung der Schwarzen. Joseph Roth scheint sich der Gefahr einer einfältigen Parteiergreifung bewusst zu sein. Er schränkt ein: Hier aber stocke ich bereits in der Verteidigung der Schwarzen; denn ich entsinne mich des Films: Da sah man schwarze Männer weiße Mädchen zu Tod und Schimpfhetzen. Wer waren diese Schwarzen? Geschminkte Europäer? - Nein. Es waren Schwarze. 1112 Vgl. ebd. 1113 Ebd. S. 6. 1114 Ebd. S. 5. In eckigen Klammern Stehendes ist eine Hinzufügung von mir. 3. Joseph Roth und die Frage der imperialen Begegnung … 316 Es gibt also auch schwarze Filmschauspieler, die sich dazu hergeben, die erlogenen Schandtaten ihrer Rasse darzustellen. Schwarze Liftboys kannte ich schon lange. Schwarze Weiße aber kenne ich erst jetzt. Und ich sehe trauernd, dass die weiße Schmach gesiegt hat. Ich sehe die langsame, aber unaufhaltsame Assimilation der Schwarzen an die Weißen. Schwarze Boxer, schwarze Filmschauspieler, schwarze Filmdiven. Der Erfinder des nächsten Prima- Stickgases wird ein Schwarzer sein (JRW 1, 561f). Joseph Roths Gedanken rufen Frantz Fanons Kritik an der kolonialen und postkolonialen afrikanischen intellektuellen Elite ins Gedächtnis. Im Kapitel „Le Noir et le langage“ 1115 entfaltet Fanon eine Psychoanalyse des Verhältnisses vom kolonisierten Schwarzen zur Sprache des europäischen Kolonialherrn mit dem erklärten Ziel, der ›Schwarze‹ und der ›Weiße‹ - beide Kolonialsubjekte - aus deren jeweiligen geistigen Gefangenschaften zu befreien. 1116 Was heißt für einen Menschen sprechen? Was heißt für einen kolonisierten Schwarzen überhaupt sprechen? Fanons Antwort lautet: „[…] sprechen heißt, absolut für den anderen existieren.“ 1117 Einige Zeilen weiter ist zu lesen: „Sprechen heißt imstande sein, sich einer bestimmten Syntax zu bedienen, über die Morphologie dieser oder jener Sprache zu verfügen, vor allem aber, eine Kultur auf sich zu nehmen, die Last einer Zivilisation zu tragen.“ 1118 Die Beherrschung kultureller Werte der Metropole oder des Mutterlandes hat etwas mit Sozialprestige zu tun. Fanon führt dies am Beispiel der ›Senegal-Schützen‹ aus. In den Schützenregimenten der französischen Kolonialarmee spielten die einheimischen Soldaten meistens die Rolle von Dolmetschern. Sie fungierten als Vermittler zwischen dem Kolonialherrn und den eigenen Artgenossen. In dieser und durch diese Rolle gewannen sie zusätzlich an Ansehen und Prestige. 1119 Was Fanon ebenfalls beschäftigt, ist das Bild des Mutterlandes im Bewusstsein bzw. im Unbewussten des Kolonisierten. „Connaître Paris et mourir“ 1120 - „Paris sehen und sterben.“ 1121 Das war, so Fanon, der Traum jedes Schwarzen aus den Antillen oder aus Afrika. Diagnostiziert wird die psychische Besessenheit des Schwarzen durch seine Vorstellungen über die Metropole. Der Aufenthalt dort wird als eine Art sozi- 1115 Frantz Fanon, Peau noire, masques blancs (Anm. 75), S. 13-32. Es sei hier angemerkt, dass Fanon mit der Bezeichnung ›Le Noir‹ sowohl die Schwarzen aus den Antillen als auch die Schwarzafrikaner meint. 1116 Vgl. ebd. S. 6 und 187, „Der Neger ist nicht. Ebensowenig der Weiße. Beide müssen wir die unmenschlichen Wege unserer Vorfahren verlassen, damit eine wirkliche Kommunikation entstehen kann.“ Frantz Fanon, Schwarze Haut, weiße Masken (Anm. 75), S. 165. 1117 Ebd. S. 14. Vgl. ders. Peau noire, masques blancs (Anm. 75), S. 13. 1118 Ebd. 1119 Vgl. ders. Schwarze Haut, weiße Masken, ebd. S. 15. Vgl. ders. Peau noire, masques blancs, ebd. S. 14. 1120 Frantz Fanon, Peau noire, masques blancs, ebd. S. 15. 1121 Ders. Schwarze Haut, weiße Masken, ebd. S. 15. 3. 7 Zu Joseph Roths ›Rehabilitierung der Schwarzen‹ … 317 alen Aufstiegs angesehen. Der Schwarze, der diese Woche nach Frankreich reist, verbreitet eine magische Aura um sich, in der die Wörter Paris, Marseille, La Sorbonne einen rätselhaften Klang haben. Er nimmt seine Macht in den Augen derjenigen wahr, die ihn zum Flughafen begleiten. 1122 Fanon nimmt auch die Persönlichkeitsveränderung des heimgekehrten Schwarzen kritisch unter die Lupe. Dieser spricht ausschließlich Französisch und will das Kreolische oder die lokalen Sprachen nicht mehr verstehen. Fanon listet weitere Verdrängungsmechanismen auf: die Nachahmung des europäischen Kleidungsstils und der Umgangsformen des Europäers, die Pflege einer schwülstigen und bombastischen Redeweise, das Verschönern des einheimischen Dialekts mit französischen Ausdrücken. Im Grunde werden all diese Mittel, laut Fanon, vom schwarzen Intellektuellen eingesetzt, um sich selbst von seiner Ebenbürtigkeit gegenüber dem Weißen zu überzeugen. 1123 Für Fanon ist der Schwarze eine Konstruktion der patriarchalen logozentrischen kolonialen Logik, ein fremdbestimmtes Wesen, ein entpersonalisiertes Wesen. Das Machtdispositiv der situation coloniale hat den schwarzen Kolonisierten dazu gebracht, sich auf eine bestimmte Weise zu begreifen, nämlich als ewiges Kind, als den ewigen Dummen, als ein defizitäres Wesen. Außerdem spielt Fanon auf manche Zeichentrickfilme an, in denen die Schwarzen gewöhnlich als Figuren dargestellt werden, die sich alles in den Mund stopfen. 1124 Wenn Joseph Roth von „ […] schwarze[n] Filmschauspielern, die sich dazu hergeben, die erlogenen Schandtaten ihrer Rasse darzustellen,“ (JRW I, 561) spricht, deutet er nicht nur auf Filme hin, die die Besatzung des Rheinlandes thematisieren, sondern weist auch auf manche Zeichentrick- und Spielfilme sowie auf Missions- oder Kolonialfilme hin, die gedreht wurden und werden, um das europäische Publikum gegen die Schwarzen zu mobilisieren. 1125 Joseph Roth gibt gleichzeitig zu verstehen und zu erkennen, dass die Medien Film und Literatur auch in den Dienst des europäischen imperialen Projekts gestellt wurden. „‘[D]as imperiale Auge’“ 1126 der Kinemato- und 1122 Vgl. ebd, S. 19. Vgl. ders. Peau noire, masques blancs (Anm. 75), S. 18f. 1123 Vgl. ders. Peau noire, masques blancs, ebd. S. 20. Vgl. ders. Schwarze Haut, weiße Masken (Anm. 75). S. 20. 1124 „Regardez les illustrés pour enfants, les nègres ont tous à la bouche le ‘oui Missié’ rituel.“ Frantz Fanon, Peau noire, masques blancs, ebd. S. 27. Vgl. ders. Schwarze Haut, weiße Masken, ebd. S. 27. 1125 Patrice Nganang stimmt mit dieser Sichtweise überein, denn er denkt, „dass die westlichen Filme über Afrika gar nicht mit Afrika selbst und den Afrikaner/ innen zu tun haben, sondern vor allem westliche, und im besonderen Fall der Filme der NS-Zeit, deutsche Geschichte darstellen. Dabei gleichen sie in ihrer ekelhaften Unvernunft den zahlreichen Orientalismen und Afrikanismen, mit denen der westliche Diskurs seine Erfindungen des Anderen bekleidet.“ Alain Patrice Ngagang, „Der koloniale Sehnsuchtsfilm. Vom lieben ‘Afrikaner’ deutscher Filme in der NS-Zeit“, in: Susan Arndt (Hg.), Afrika-Bilder. Studien zu Rassismus in Deutschland (Anm. 890), hier S. 242. 1126 Joachim Zeller, Weiße Blicke - Schwarze Körper (Anm. 187), im Vorwort. 3. Joseph Roth und die Frage der imperialen Begegnung … 318 Fotographie hat maßgeblich zur binären Konstruktion Weiß und Schwarz in europäischen Metropolen wie in den Kolonien beigetragen. 1127 Der Einsatz der visuellen Medien im Dienst des kolonialen Unternehmens ging mit einem Akt der Gewalt einher. Es ging zweifelsohne einerseits darum, philanthropische Herzen in den Metropolen für den afrikanischen Kontinent zu gewinnen, andererseits aber auch darum, Afrika zu exotisieren und konsumierbar zu machen. 1128 Bei Fanon geht es, wie gesagt, um eine doppelte Befreiung. „Le Noir est enfermé dans sa noirceur. Le Blanc dans sa blancheur.“ 1129 Die vom ›Schwarzen‹ internalisierten Minderwertigkeitsgefühle sowie der vom ›Weißen‹ gepflegte Überlegenheitsdünkel stellen Formen einer geistigen Gefangenschaft, einer geistigen Kolonisierung dar. Fanon betreibt eine Dekolonisierung des Geistes sowohl des Schwarzen als auch des Weißen durch eine psychoanalytische Dekonstruktion der kolonialen Situation, durch eine Entessentialisierung binärer Oppositionen ›schwarz‹ vs. ›weiß‹, ›reich‹ vs. ›arm‹, Erste vs. Dritte Welt. Billige Binaritäten sind erkennbar, die ein armes, manichäisches Weltbild walten lassen. „Je veux vraiment amener mon frère, Noir ou Blanc, à secouer le plus énergiquement la lamentable livrée édifiée par des siècles d´ incompréhension.“ 1130 Joseph Roth geht es - wie Fanon - nicht um eine Schwarz-Weiß-Malerei, nicht um binäre Oppositionen und billige Kausalerklärungen. Roth führt vielmehr einen geistigen Kampf um die Rehabilitierung des Menschen schlechthin. Sein Schreiben ist vom Willen der Dekolonisierung des Geistes getragen. Joseph Roth und Frantz Fanon haben unterschiedliche Erfahrungen 1127 Vgl. Susan Arndt (Hg.), Afrika-Bilder. Studien zu Rassismus in Deutschland (Anm. 890). Vgl. Alain Patrice Ngagang, „Der koloniale Sehnsuchtsfilm. Vom lieben ‘Afrikaner’ deutscher Filme in der SN-Zeit“, in: Susan Arndt (Hg.), Afrika-Bilder, ebd. S. 232-252. Vgl. Martin Baer, „Von Heinz Rühmann bis zum Traumschiff. Bilder von Afrika im deutschen Film“, in: Susan Arndt (Hg.), Afrika-Bilder, ebd. S. 253-270. Peter G. Bräunlein, „Die ‘unterbrochene Lektion’. Deutsche Schwierigkeiten im Umgang mit afrikanischer Literatur“, in: Susan Arndt (Hg.), ebd. S. 309-328. Vgl. Peter Ripken, „Wer hat Angst vor afrikanischer Literatur? Zur Rezeption afrikanischer Literatur in Deutschland“, in: Susan Arndt (Hg.), ebd. S. 329-350. Vgl. Paola Ivanov, „Aneignung, Der museale Blick als Spiegel der europäischen Begegnung mit Afrika“, in: Susan Arndt (Hg.), ebd. S. 351-371. Vgl. Peter G. Bräunlein, „Von Peter Moor zu Kariuki. Afrika, Afrikaner und Afrikanerinnen in der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur“, in: Susan Arndt (Hg.), ebd. S. 271-308. 1128 Joachim Zeller, Weiße Blicke - Schwarzer Körper (Anm. 137), S. 7. 1129 Frantz Fanon, Peau noire, masques blancs (Anm. 75), S. 7. „Der Weiße ist in seine Weißheit eingesperrt. Der Schwarze in seine Schwarzheit.“ Ders. Schwarze Haut, weiße Masken (Anm. 177), S. 9. 1130 Ders. Peau noire, masques blancs (Anm. 75), S. 10. „Ich will wirklich meinen Bruder, sei er schwarz oder weiß, dazu bewegen, die jämmerliche Livrée, die ihm viele Jahrhunderte des Unverständnisses geschneidert haben, energisch abzuschütteln.“ Ders. Schwarze Haut, weiße Masken (Anm. 177), S. 11. 3. 8 Differenz und Interdependenz 319 von Ausgrenzung und Diskriminierung gemacht, Joseph Roth als Jude aus Galizien, aus der Peripherie der habsburgischen Monarchie und Fanon als Schwarzer aus dem französichen ›Département d´Outre Mer‹ (Übersee- Departement) Martinique. „Ich traf mich mit den Juden, Brüdern im Unglück! “, 1131 beteuert Fanon, der in Anlehnung an Jean Paul Sartre eine Verwandtschaft zwischen der Haltung des Antisemiten und der des Negrophoben sieht. 1132 Die Dekolonisierung des Geistes im Sinne einer Rehabilitierung des Menschen stellt den Dritten Raum dar, in dem Joseph Roth und Fanon aufeinandertreffen. Denn der binnen- und außereuropäische Kolonialismus in all seinen Spielarten bildet die „[…] einzige große Menschenschmach“ 1133 (JRW 1, 562). Joseph Roth setzt sich für die Völkerverständigung gegen jeglichen Ethnozentrismus ein (vgl. JRW 1, 561). Sein Schreiben und Denken belegt, dass er sich der Vielfalt und vor allem der Differenzen und Interdependenzen unserer Welt bewusst ist. Dies wird im Folgenden am Beispiel der katachretischen bzw. dezentrierenden Figur ›des blonden Negers‹ aus dem Essay Der blonde Neger Guillaume veranschaulicht. 3. 8 Differenz und Interdepe nde nz 3.8 Differenz und Interdependenz: Zur katachretischen oder dezentrierenden Figur ›des blonden Negers‹ aus Joseph Roths Essay Der blonde Neger Guillaume 1134 Der Essay Der blonde Neger Guillaume ist in der Zwischenkriegszeit verfasst worden und zählt zu jenen Texten Joseph Roths, die sich mit der imperialen Begegnung zwischen Europa und Afrika befassen. In der Zeit nach Ende des 1131 Ders. ebd. S. 88. In derselben Sinnrichtung überlegend, sieht Homi Bhabha im Juden und Schwarzen zwei Mitglieder der weltweit historisch differierenden ›Mannschaft‹ der Marginalisierten. „To be amongst those whose very presence is both ´overlooked´ - in the double sense of social surveillance and psychic disavowal - and, at the same time, overdetermined - psychically projected, made stereotypical and symptomatic.“ Homi K. Bhabha, The Location of Culture (Anm. 365), S. 236. Fanon macht dennoch den grundlegenden Unterschied zwischen dem Juden und dem Schwarzen deutlich. „Der Jude wird von dem Augenblick an nicht geliebt, da man ihn aufgespürt hat. Aber bei mir erhält alles ein neues Gesicht. Mir ist keine Chance erlaubt. Ich bin von außen überdeterminiert.“ Frantz Fanon, Schwarze Haut, weiße Masken (Anm. 177), S. 84. 1132 „Il y a un dégoût du juif, comme il y a un dégoût du chinois ou du nègre chez certaines gens.“ Jean Paul Sartre, Réflexions sur la question juive, Paris: Éditions Gallimard 1954, S. 11. 1133 Kursivschrift ist eine Hervorhebung i.O. 1134 Unter diesem Titel ist dieser Unterteil der Arbeit im Rahmen eines Sammelbandes publiziert worden. Vgl. Daniel Romuald Bitouh, „Differenz und Interdependenz: Zur katachretischen/ katakretischen bzw. dezentrierenden Figur ›des blonden Negers‹ aus Joseph Roths Essay Der Blonde Neger Guillaume“, in: Daniela Finzi/ Ingo Lauggas et al. (Hg.), Kulturanalyse im zentraleuropäischen Kontext, Tübingen: Narr Francke Attempo Verlag 2011. S. 33-44. 3. Joseph Roth und die Frage der imperialen Begegnung … 320 Ersten Weltkriegs herrschte in der deutschen Öffentlichkeit großen Unmut wegen des Versailler Friedensvertrags, Unmut wegen der Besatzung des Rheinlandgebietes durch ›schwarze oder farbige‹ Soldaten aus französischen Kolonien und Unmut wegen durch den Krieg herbeigeführten kulturellen Grenzverwischungen. Zu erwähnen sind hier auch jene Kinder, die aus den Verbindungen zwischen den auf dem Rheinlandgebiet stationierten Kolonialsoldaten und deutschen Frauen hervorgegangen sind, Kinder, die in nationalvölkischen Kreisen der deutschen Bevölkerung als ›Rheinlandbastarde‹ kriminalisiert wurden. 1135 Dementsprechend nimmt Joseph Roths katachretische, dezentrierende Figur des ›blonden Negers‹ eine signifikante Stellung in dieser Darstellung ein. Ich möchte im Folgenden Differenz und Interdependenz am Beispiel der Figur des ›blonden Negers‹ sichtbar machen. Die Momente des Textes, die in dieser Darstellung besonders zur Sprache kommen werden, sind die der Antisemitismuskritik, der Verortung, der Dezentrierung und des kolonialen Blickes. In die Beweisführung werden andere Texte und Kontexte dialogisch einbezogen. Der Text Der blonde Neger Guillaume erzählt von einem Menschen, dessen Vornamen bald auf Französisch (Guillaume Tiele) bald auf Deutsch (Wilhelm Tiele) auftaucht und der als blonder Neger beschrieben wird. Er sitzt in einem Zug, der von Wiesbaden nach Koblenz fährt. Im Text kommt ein virtueller Dialog zwischen diesem ›blonden Neger‹ und den anderen Zuginsassen, die sich „gute Bürger“ (JRW 1, 1092) nennen, in Gang. Dieser vermeintliche Dialog vollzieht sich aber vermittels einer dominanten Erzählerfigur, die sich in der ersten Person ins Zentrum der Erzählung stellt und sowohl die Stimme der ›guten Bürger‹ als auch die des ›blonden Negers‹ übernimmt. Sie beschreibt die physische Erscheinung des ›blonden Negers‹ aus der Perspektive der anderen Zuginsassen, wechselt dann und wann zur Perspektive des ›blonden Negers‹ über. Die Erzählerinstanz stilisiert sich folglich als Meistererzählerin, die mehr als die übrigen Figuren aussagen kann oder will. Aber in dem Willen oder Unwillen, ihr Mehr-Wissen zur Schau zu stellen, vermengt sie unterschiedliche diskursive Bereiche - Literatur, Geschichte, Kulturanthropologie und Geographie -, was zur Unreinheit, Uneinheitlichkeit, zur katachretischen Struktur des Textes beiträgt. Joseph Roths Text befindet sich an der Schnittstelle zwischen Fiktion und Sachlichkeit. Der ›blonde Neger‹ aus Joseph Roths Text steht paradigmatisch für diese Figur der Katachrese. 1135 Vgl. Joachim Zeller, Weiße Blicke - Schwarze Körper (Anm. 137), S. 175-187. Die Arbeiten von Christian Koller und Reiner Pommerin befassen sich eingehend mit dem Einsatz von Kolonialsoldaten in Europa im Ersten Weltkrieg sowie mit den durch diesen Einsatz europa- und weltweit entfesselten Diskussionen. Vgl. Reiner Pommerin, „Sterilisierung der Rheinlandbastarde“ (Anm. 1101). Vgl. Christian Koller, „Von Wilden aller Rassen niedergemetzelt“ (Anm. 136). 3. 8 Differenz und Interdependenz 321 Der Mann hatte aufgeworfene Lippen, schöne weiße Zähne, starke Backenknochen, aber veilchenblaue Augen und blondes gekräuseltes Haar (JRW 1, 1093). Ein Neger und blond und blauäugig, aus lauter Gegensätzen zusammengesetzt. Ein politisches, ein ethnologisches Paradox, ein französischer blonder deutscher Schwarzer (ebd.). Es handelt sich um eine Bildvermengung, um einen Verstoß gegen die Einheit eines Bildes oder eines Textes durch Vermischung von Elementen aus unterschiedlichen Lebens- oder [Fach]bereichen. 1136 Die Figur der Katachrese 1137 , die schon im Titel „Der blonde Neger Guillaume“ sowie in der physischen Erscheinung der gleichnamigen Figur sichtbar ist, kontaminiert und durchzieht den ganzen Text. Der Text wirkt instabil und brüchig. 1138 Dennoch geht die Figur der Katachrese, wie sie hier artikuliert wird, über rein rhetorische Betrachtungen hinaus; sie rückt nämlich das Leben - „the hybrid moment outside the sentence“ 1139 , den Raum der Dialogizität - in den Mittelpunkt. In Anlehnung an Spivak begreift und beschreibt Homi Bhabha den Raum jenseits des logozentrischen Satzes als „a catachrestic space: words or concepts wrested from their proper meaning, ´a concept-metaphor without an adequate referent´ that perverts its embedded context“. 1140 Dieser Raum jenseits des logozentrischen Satzes ist nichts anderes als das Leben, der chaotische soziale Text, in dem das Subjekt eingebettet und eingeschrieben ist. In einen solchen sozialen Text sahen sich sowohl Subjekte in Europas afrikanischen, lateinamerikanischen und asiatischen Kolonialherrschaftsgebieten als auch zentraleuropäische Völker versetzt. 1141 1136 Vgl. Wolfram Groddeck, Reden über Rhetorik (Anm. 705), S. 259f. 1137 Aufgrund der scheinbar einander ausschließenden Begriffe ›blond‹ und ›Neger‹ könnte auch von Oxymoron die Rede sein, dessen Spielart die Katachrese bildet. Vgl. Ivo Braak, Poetik in Stichworten. Literaturwissenschaftliche Grundbegriffe. Eine Einführung, 8. überarbeitete und erweiterte Auflage von Martin Neubauer, Berlin, Stuttgart: Gebrüder Boerntraeger Verlag 2001, S. 64f. 1138 Diese Instabilität des Erzählens kommt auch in anderen Texten Roths vor. Hingewiesen wird u.a. auf die Romane Die Rebellion (1924) sowie Die Flucht ohne Ende (1927). 1139 Homi K. Bhabha, The Location of Culture (Anm. 365), S. 184. 1140 Ebd. S. 183. „A concept-metaphor without an adequate referent is a catachresis. These claims for founding catachreses also make postcoloniality a deconstructive case.“ Vgl. Gayatri Chakravorty Spivak, „Poststructuralism, Marginality, Post-coloniality and Value“, in: Peter Collier/ Helga Geyer-Ryan (Hg.), Literary theory today (Anm. 524), S. 225. 1141 Hingewiesen wird auf den Dualismus von Pangermanismus und Panslawismus in Europa der Zwischenkriegszeit. Der binnen- und außereuropäische Imperialismus waren herrschaftspolitische Phänomene, die parallel verliefen. Vgl. Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (Anm. 590), S. 358-366. Vgl. Wolfgang Müller-Funk/ Birgit Wagner, „Diskurse des Postkolonialen in Europa“, in: Wolfgang Müller-Funk/ Birgit Wagner (Hg.), Eigene und andere Fremde (Anm. 75), S. 13f. Vgl. 3. Joseph Roth und die Frage der imperialen Begegnung … 322 3.8.1 Antisemitismuskritik? 1142 Die Figur des ›blonden Negers‹ kann auch im Hinblick auf Joseph Roths Kritik am nationalsozialistischen Rassenwahn sowie als eine Kritik am Antisemitismus gelesen werden. Dabei rückt die Bezeichnung ›blonder Neger‹ jene Kinder aus damals sogenannten ›Mischehen‹ sowohl zwischen Juden und Deutschen als auch zwischen Schwarzen und Weißen ins Blickfeld, Kinder, die durch die nationalsozialistischen Nürnberger Rassengesetze kriminalisiert wurden. 1143 Rassenpolitische Passagen aus Adolf Hitlers Mein Kampf sowie aus den Nürnberger Rassengesetzen beziehen sich nicht nur auf die Juden, sondern sie zielen auch auf die farbigen Kinder im besetzten Rheinlandgebiet an. 1144 Jede Kreuzung zweier nicht ganz gleich hoher Wesen gibt als Produkt ein Mittelding zwischen der Höhe der beiden Eltern. Das heißt also: das Junge wird wohl höher stehen als die rassisch niedrigere Hälfte des Elternpaares, allein nicht so hoch wie die höhere. 1145 Die geschichtliche Erfahrung bietet hierfür zahllose Belege. Sie zeigt in erschreckender Deutlichkeit, dass bei jeder Blutsvermischung des Ariers mit niedrigeren Völkern als Ergebnis das Ende des Kulturträgers herauskam. Nordamerika, dessen Bevölkerung zum weitaus größten Teile aus germanischen Elementen besteht, die sich nur sehr wenig mit niedrigeren farbigen Völkern vermischten, zeigt eine andere Menschheit und Kultur als Zentral- und Südamerika, in dem die hauptsächlich romanischen Einwanderer sich in manchmal großem Umfange mit den Ureinwohnern vermengt hatten. An diesem einen Beispiel schon vermag man die Wirkung der Rassenvermischung klar und deutlich zu erkennen. 1146 Durch die Nürnberger Rassengesetze institutionalisierten die Nazis ihre rassistisch-antisemitische Ideologie auf juristischer Basis. Denn sowohl Kinder aus sogenannten ›Mischehen‹ als auch Juden existierten in der nationalsozialistischen Rechtsordnung in Form des Ausschlusses. Joseph Roths Figur des ›blonden Negers‹ könnte parallel zu Giorgio Agambens Figur des „Homo Clemens Ruthner, „‘K.(u.)K. postkolonial’? Für eine neue Leseart der österreichischen (und benachbarter) Literatur/ en“, in: Wolfgang Müller-Funk/ Peter Plener/ Clemens Ruthner (Hg.), Kakanien revisited (Anm. 555), S. 98. 1142 Die Antisemitismuskritik stellt von den Frühbis zu den Spätwerken einen entscheidenden Faden in Roths Schaffen dar. Vgl. u.a. Katharina Ochse, Joseph Roths Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus (Anm. 40). Vgl. Hansotto Ausserhofer, Joseph Roth und das Judentum (Anm. 33). 1143 Rudolf Beyer (Hg.), Die Nürnberger Gesetze (Anm. 548). Näheres zu diesen Rassengesetzen ist ebenda hauptsächlich von S. 58-66 und von S. 67-108 zu erhalten. 1144 Reiner Pommerin, „Sterilisierung der Rheinlandbastarde“ (Anm.136), S. 87. 1145 Adolf Hitler, Mein Kampf (Anm. 548), S. 312. 1146 Ebd. S. 313. 3. 8 Differenz und Interdependenz 323 sacer“ 1147 gelesen werden, obwohl sich beide Figuren historisch und soziopolitisch in differenten Räumen abspielen. Unter „Homo sacer“ versteht Agamben eine rätselhafte Figur aus dem archaischen römischen Recht, die widersprüchliche Züge aufweist. Diese Figur wird für heilig erklärt, zugleich wird deren Tötung nicht bestraft, obgleich es nicht erlaubt ist, sie zu opfern. 1148 Dementsprechend erscheint der „Homo sacer“ als ein Begriff für „einen schlechten und unreinen Menschen“ 1149 , der infolge der gesetzlichen Ordnung eine Ausschließung erfährt, die auf paradoxe Weise zugleich Einschließung bedeutet. Um den Standort des „Homo sacer“ deutlich zu machen, greift Agamben auf Alain Badious politische Begrifflichkeit zurück. Alain Badiou übersetzt die Kategorien Zugehörigkeit, Einschließung und Ausschließung - grundlegende Kategorien der Mengenlehre - in politische Begriffe. Badiou unterscheidet drei Konfigurationen in der Gesellschaft: Erstens ein normales Glied, ein Individuum, „das zugleich präsentiert und repräsentiert wird (das heißt dazugehört und eingeschlossen ist)“. 1150 Zweitens eine Exkreszenz: „ein Glied, das repräsentiert, aber nicht präsentiert wird, (also in eine Situation eingeschlossen jedoch nicht dazugehört)“. 1151 Drittens, ein singuläres Glied: ein Individuum, „das präsentiert, aber nicht repräsentiert wird“ 1152 - dazugehört, ohne eingeschlossen zu sein. Demgemäß nimmt die Figur des „Homo sacer“ die Stellung eines singulären Wesens ein. Sie ist „eine Form der Zugehörigkeit ohne Einschließung“, 1153 eine unrepräsentierbare, nicht eingeschlossene Figur, die nur in der Form der Ausnahme eingeschlossen wird. Im Hinblick auf Agambens Figur des Homo sacer übernimmt Joseph Roths Protagonist des ›blonden Negers‹ die Züge einer soziopolitischen Kategorie, die in der nationalsozialistischen Ordnung der Dinge in Form des Ausschlusses eingeschlossen war. In Roths Text erscheint der ›blonde Neger‹ als „ein politisches, ein ethnologisches Paradox“ (JRW 1, 1093). In diesem politisch paradoxen Phänomen des Ein- und Ausschlusses, das sowohl auf Agambens Homo sacer als auch auf Joseph Roths ›blonden Neger‹ zutrifft, artikulieren sich Differenz und Interdependenz. Agamben interessiert sich für das historische Phänomen des Konzentrationslagers. Dieses begreift er als ein vielschichtiges, biopolitisches Feld, als Moment der Technologien der Subjektivierung bzw. des kolonialen Dispositivs, in dem man feststellen kann, dass es zwar Differenzen zwischen dem KZ-Personal und den KZ-Häftlingen gab, dass aber auch Interdependenzen zwischen dem unterdrückenden Personal und den Häftlingen bestanden. Diese Interdependenz liegt nicht so sehr darin, dass das Lagerpersonal durch die 1147 Vgl. Giorgio Agamben, Homo Sacer (Anm. 417). 1148 Vgl. ebd. S. 81. 1149 Ebd. 1150 Ebd. S. 34. 1151 Ebd. 1152 Ebd. 1153 Ebd. 3. Joseph Roth und die Frage der imperialen Begegnung … 324 leidenden Häftlinge einen ›fixen Job‹ hat, sondern darin, dass dieses Personal durch die alltäglichen Lagerbilder, deren Architekten sie auch waren, auf vielfältige Weise auch gezeichnet wurden. Peter Weiss´ Drama Die Ermittlung ist der Versuch, eine Gerichtsverhandlung über den Auschwitz-Prozess zu rekonstruieren. Zeugen und Angeklagte treten in Rede und Gegenrede auf. Auf die Frage des Richters, ob er sich nicht darum bemüht habe, vom Rampendienst entbunden zu werden, antwortet ein Angeklagter wie folgt: Ich war deshalb beim Standortarzt Dr. Wirth vorstellig Ich bekam nur zur Antwort Der Dienst im Lager ist Frontdienst Jede Verweigerung wird als Fahnenflucht bestraft 1154 Die Figur des ›blonden Negers‹ wohnt aber sowohl innerhalb als auch außerhalb des Lagers. Die Bewohner und Bewohnerinnen des Lagers - gemeint sind das Personal und die Häftlinge - waren zweifelsohne jeder und jede auf eigene Weise in diese Technologie der Subjektivierung einbezogen. Dies kann auch am Beispiel des strafenden Offiziers aus Franz Kafkas Erzählung In der Strafkolonie veranschaulicht werden. Die tödliche Maschine, unter der ein farbiger Gefangener liegt und die dessen Körper tödlich be-schreibt, beschreibt auch den Körper des exekutierenden Offiziers. Nur so lässt es sich erklären, dass sich dieser allmächtige Offizier schlussendlich selbst unter die Todesmaschine legt. 1155 In Franz Kafkas Erzählung steht vor allem auch das ›strafkoloniale‹ Zentraleuropa im Visier. Die Figur des ›blonden Negers‹ gehört zur Kategorie von Figuren, die in der nationalsozialistischen Kulturanthropologie als asozial eingestuft wurden und entsprechend in den Konzentrationslagern landeten. Dies wirft wiederum die Frage der Verortung dieser Figur auf. 3.8.2 Herkunft und Sprache Die Figur Guillaume/ Wilhelm Tiele als ethnologisches und politisches Paradox zu bezeichnen, wirft implizit die Frage nach deren kultureller Verortung 1154 Peter Weiss, Die Ermittlung (Anm. 759), S. 27. Unter anderen Texten, die sich mit dem Drama des KZ-Lager-Raumes befassen, vgl. Jean Amery, Jenseits von Schuld und Sühne (Anm. 759). Vgl. Primo Levi, Ist das ein Mensch? Die Atempause, mit einem Nachwort von Cordelia Edvardson, München, Wien: Carl Hanser Verlag 1988. Vgl. Hannah Arendt, „Wir Flüchtlinge“, in: dies. Zur Zeit: Politische Essays, aktualisierte, erweiterte Neuausgabe, herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Marie Luise Knott, aus dem Amerikanischen übersetzt von Eike Geisel, Hamburg: Rotbuch Verlag 1986. S. 7-22. 1155 Vgl. Franz Kafka, In der Strafkolonie (Anm. 728), S. 193f. 3. 8 Differenz und Interdependenz 325 auf. Die Antwort auf diese Frage erfordert, deren Genealogie gegen den Strich zu lesen. Sein Vater war ein Fremdenlegionär, seine Mutter eine Schwarze. Vom Vater hat er also das blonde Haar, seine Muttersprache ist Deutsch. Seine Mutter lebte eine Zeitlang in München und war Stenotypistin in einem großen Bankgeschäft. Er blieb indessen bei seinen Großeltern. Er ist nicht nur ein Deutscher, er ist ein Süddeutscher. Gelegentlich sagte er ‘nit’. […] Dieser Mann [sein Vater] war in Frankreichs Diensten gestorben. (JRW 1,1093) 1156 Der Akzent wird auf den Assimilationsgrad dieser Figur sowie auf die binären Achsen Deutschland vs. Frankreich und Weiß vs. Schwarz gelegt. Besonders auffallend ist die koloniale Besetzung des Begriffs ›Muttersprache‹, der sich fast deckungsgleich im selben Feld mit den Begriffen ›Mutterland/ Metropole‹ bewegt. Deutsch, die Sprache des Vaters beziehungsweise die Sprache des Herrn, wird als Muttersprache, als die Sprache des Mutterlandes, bezeichnet. Dabei wird die Sprache der leiblichen Mutter strukturell verdrängt oder unterdrückt. Hervorgehoben wird vielmehr ihr Beruf. Sie ist Stenotypistin in einem großen Bankgeschäft. Dadurch wird der Akzent darauf gelegt, was aus dieser Frau in der ›Ersten Welt‹ geworden ist, das sie in der ›Dritten Welt‹ nicht hätte werden können. Aus welchem Land kommt der Vater? Aus welchem Land die Mutter? Wie ist er der französischen Armee beigetreten? Wie kommt es, dass er deutsche Großeltern hat? Wo ist er auf die Welt gekommen? In einer afrikanischen Kolonie oder in Europa? Die ganze genealogische Darstellung verfängt sich in Widersprüchen und bekräftigt die These einer katachretischen Darstellungsweise. Diese Figur ist nicht eindeutig zu verorten, sie bewohnt einen Nicht-Ort, verkörpert dadurch eine Art Spaltung des Subjekts und stellt jedwede Vorstellung von Homogenität und Identität als „einem vergemeinschafteten Gut […], das einheitlich und starr in uns als unsere Identität ruht“ 1157 infrage. Guillaume/ Wilhelm Tiele lebt in einer gespaltenen Identität, zwischen „bios“ (nacktem Leben) und „zoé“ 1158 (vergesellschaftetem Wesen). Im impliziten Dialog, der in diesem Text inszeniert wird, besitzt die Figur Guillaume/ Wilhelm Tiele eine Art subalterne Position. Er kommt nicht ausdrücklich zu Wort, sondern seine Stimme wird von der transzendentalen Stimme der Erzählerfigur vertreten. 1156 Hervorhebung i.O. 1157 Kien Nghi Ha, Ethnizität und Migration Reloaded. Kulturelle Identität, Differenz und Hybridität im postkolonialen Diskurs, überarbeitete und erweiterte Neuausgabe, Berlin: wissenschaftlicher Verlag 2004. S. 16. Kursivschrift ist eine Hervorhebung i.O. 1158 In Anlehnung an die griechische politische Philosophie macht Agamben von den Begriffen ›bios‹ und ›zoé‹ Gebrauch, um die gespaltene Identität der Figur des Homo sacer - zwischen nacktem Leben und vergesellschaftetem Wesen - sichtbar zu machen. Vgl. Agamben, Homo sacer (Anm.417), S. 11-15. 3. Joseph Roth und die Frage der imperialen Begegnung … 326 Das Problem, die Figur des blonden Negers zu verorten, lässt sich nicht lösen, ohne die Frage der Sprache ins Spiel zu bringen. Welche Sprache spricht diese Figur? Verfügt sie über eine Sprache in ihrem durch Diaspora, Krieg, Migration und Exil geprägten Leben? Was heißt an dieser Stelle sprechen? Hier gilt es zu bedenken, wie diese Figur dargestellt wird und wie sie sich selbst inszeniert, nämlich als leeres, unbeschriebenes Blatt, als ein textuelles Niemandsland, in dem die imperialen Signifikanten als monologische Instanzen vorherrschen. Sie selbst versucht nicht, diese Darstellungsweise bewusst zu subvertieren. Guillaume/ Wilhelm Tiele gibt sich als Goethe- Kenner, als Meister der europäischen Literatur aus. „Unter seinen Kameraden halte er Vorträge. Er lese ihnen manchmal aus Goethe vor. Sein Lieblingsdichter ist Lenau“ (JRW 1, 1093). 1159 Er inszeniert sich als literarischer Lehrmeister und konstruiert dadurch unbewusst Afrika als textuelles Niemandsland. Afrika stellt dennoch auch eine Dimension seines Selbst dar. Aus dem Zusammenhang geht nicht hervor, was für den ›blonden Neger‹ Deutsch- Sprechen oder Lesen-Können bedeutet. Frantz Fanon spricht in dem Kapitel „Der Schwarze und die Sprache“, das im französischen Original den viel präziseren Titel „Le Noir et le langage“ trägt, die Erfahrungen solcher Menschen an. Fanon geht dem Verhältnis des Schwarzen zur Sprache des Kolonialherrn mit dem erklärten Ziel nach, die Entfremdung des schwarzen Subjektes aufzudecken. Was heißt es für einen Menschen zu sprechen? Was heißt es für einen kolonisierten Schwarzen im Besonderen zu sprechen? Fanons Antwort lautet: [S]prechen heißt, absolut für den anderen existieren […]“ 1160 Einige Zeilen weiter führt der Autor fort: „Sprechen heißt imstande sein, sich einer bestimmten Syntax zu bedienen, über die Morphologie dieser oder jener Sprache zu verfügen, vor allem aber, eine Kultur auf sich zu nehmen, die Last einer Zivilisation zu tragen“. 1161 Fanon verdeutlicht die intersubjektive Dimension der Sprache. Die Sprache verbindet mich mit dem Anderen. Eine Sprache beherrschen bedeutet nicht nur, die Morphologie und die Syntax dieser Sprache zu kennen oder können, sondern vor allem auch über die mit dieser Sprache implizierte Weltanschauung zu verfügen: „Ein Mensch, der die Sprache besitzt, besitzt auch die Welt, die diese Sprache ausdrückt und 1159 Kursivschrift i.O. Nikolaus Lenau (1802-1850), österreichisch-ungarischer Lyriker der Biedermeier-Epoche ist als Lyriker des Weltschmerzes in die Weltliteratur eingegangen. Näheres zu Nikolaus Lenau vgl. Antal Mádl, Auf Lenaus Spuren. Beiträge zur österreichischen Literatur, Budapest: Akadémiai Kiadó 1982. Carl Gibson, Lenau. Leben - Werk - Wirkung, Heidelberg: Car Winter Verlag 1989. Vgl. Günter Kunert, Entdeckt Nikolaus Lenau, Hamburg, Wien: Europa Verlag 2001. Vgl. Antal Mädl/ Anton Schwob (Hg.), Vergleichende Literaturforschung. Internationale Lenau-Gesellschaft 1964 bis 1984, im Auftrag der Internationalen Lenau-Gesellschaft, Wien: Österreichischer Bundesverlag 1984. 1160 Frantz Fanon, Schwarze Haut, weiße Masken (Anm. 177), S. 14. Vgl. ders. Peau noire, masques blancs (Anm. 75), S. 13. 1161 Ders. Schwarze Haut, weiße Masken, ebd. Vgl. ders. Peau noire, masques blancs, ebd. 3. 8 Differenz und Interdependenz 327 impliziert.“ 1162 Für einen Kolonisierten würde dies bedeuten, die Art und Weise zu internalisieren und hinzunehmen, wie sein Dasein in dieser Sprache artikuliert und konstruiert wird. Am Ausmaß der Beherrschung der Sprache des Kolonialherrn misst der Schwarze (aus den Antillen oder aus Afrika) den Grad seiner Verwandlung in einen ›Weißen‹, in einen „wahren Menschen“ 1163 . Trotz der Masken, die sich Guillaume/ Wilhelm Tiele freiwillig oder strukturell aufsetzt, bleibt er in der ›Schusslinie‹ des kolonialen Blickes. 3.8.3 Kolonialer Blick Es handelt sich um einen überwachenden und strafenden Blick, der den Körper des Kolonisierten aufbricht, zerbröckelt, auseinandernimmt: „Der Mann hatte aufgeworfene Lippen, schöne weiße Zähne, starke Backenknochen, aber veilchenblaue Augen und blondes gekräuseltes Haar“ (JRW 1, 1093). Dieser Blick kann mit einem kollektiven Akt der Entblößung oder der Enteignung gleichgesetzt werden. Frantz Fanon beschreibt diesen Blick in Anlehnung an Jean Paul Sartres Phänomenologie des Angeblicktswerdens. Er schildert u.a. ein Erlebnis, das er selbst gemacht hatte: In der Eisenbahn überließ man mir nicht einen, sondern zwei, drei Plätze. Schon amüsierte ich mich nicht mehr. Ich entdeckte keine fiebernden Koordinaten der Welt. Ich existiere dreifach: ich nahm Platz ein. Ich ging auf den anderen zu …, und der andere verflüchtigte sich, feindselig, aber nicht greifbar, durchsichtig, abwesend. Der Ekel… 1164 Eingeschlossen in dieser erdrückenden Objektivität, wandte ich mich flehend an meinen Nächsten. Sein befreiender Blick, an meinem Körper entlanggleitend, der plötzlich keine Unebenheiten mehr hat, gibt mir eine Leichtigkeit zurück, die ich verloren glaubte, gibt mich, indem er mich der Welt entfernt, der Welt zurück. Aber da unten, direkt am Steilhang, strauchle ich, und der andere fixiert mich durch Gesten, Verhaltensweisen, Blicke, so wie man ein Präparat mit Farbstoff fixiert. Ich wurde zornig, verlangte eine Erklärung … Nichts half. Ich explodierte. Hier die Scherben, von einem anderen Ich aufgelesen. 1165 Laut Fanon zählt der koloniale Blick zu den Mechanismen der Entpersönlichung und Degradierung, die das schwarze Objekt/ Subjekt um sein psychoaffektives Gleichgewicht bringen. Ein gewalttätiger Blick, der erdrückt und einsperrt, schlägt, peitscht, foltert, desorientiert, ausbootet. Er kann das Subjekt dazu führen, sich selbst zu sabotieren, zu zerstören, zu verachten. 1162 Ders. Schwarze Haut, weiße Masken, ebd. 1163 Ebd. S. 10 und 15. 1164 Ebd. S. 81. 1165 Ebd. S. 79. 3. Joseph Roth und die Frage der imperialen Begegnung … 328 Mit ähnlichem Blick wird der ›Neger‹ in Roths Text konfrontiert. Der sitzt auch in einem Zug, in dem dieser Blick eine symbolisch koloniale Topographie etabliert. „Es saßen viele gute Bürger im Zug, und in der Ecke am Fenster saß der Neger“ (JRW 1, 1093). Auf der einen Seite die ›guten Bürger‹, auf der anderen der ›blonde Neger‹, der in dieser Konstellation bzw. in dieser Konnotation als ›schlechter Bürger‹ erscheint. Es gibt aber auch Spuren in Joseph Roths Text Der blonde Neger Guillaume, die die Ambivalenz eines solchen Blickes verdeutlichen. Im Text steht folgendes zu lesen: „Er trug eine französische Uniform und las ein Buch. Es war ein deutsches Buch“ (JRW 1, 1092). Daraus lässt sich die Spaltung dieses Blickes ablesen: eine Spaltung zwischen Angst, Unruhe und Tod einerseits, Geburt, Freude und Erneuerung andererseits. Der symbolische Tod der Autorität, von dem hier die Rede ist, ist kein vernichtender, sondern ein symbolisch gebärender Tod, der ein differentes Aushandlungsfeld entstehen lässt. Michail Bachtins Denken über den Karneval ist hier heranzuziehen als ein historisch wichtiges volkstümliches Element europäischer sowie außereuropäischer Kulturen. In seinem Buch Rabelais und seine Welt entwickelt Bachtin u.a. die Vorstellung einer dialogischen Begegnung mit Bezug auf den Karneval. 1166 Dialogische Begegnung bezeichnet den Moment im Karneval, in dem die kulturell konstruierten Grenzen zwischen Oben und Unten, Zentrum und Peripherie, sakraler und profaner Welt, Erster und Dritter Welt schwammig werden. Das Zugabteil in Joseph Roths Text kann auch als so ein Raum dialogischer Begegnungen verstanden werden, in dem sich die Betrachter (die Erzählerfigur und die anderen Zuginsassen) und der Betrachtete (Guillaume/ Wilhelm Tiele) in einem vielschichtigen, ambivalenten Machtfeld befinden, in dem die scharf gezogenen Grenzen brüchig werden und das koloniale Machtdispositiv (im Zug) symbolisch unterlaufen wird. Bezugnehmend auf diese Gedanken wird in der Folge versucht, die Figur des ›blonden Negers‹ in einen neuen Zusammenhang zu rücken, in dem sie als Verkörperung einer dezentrierenden Andersheit postuliert wird. 3.8.4 Der Migrant Wilhelm Tiele als Verkörperung einer provozierenden und dezentrierenden Andersheit Es ist an dieser Stelle anzumerken, dass die Figur Wilhelm Tiele mit der Figur des Migranten überhaupt gleichgesetzt werden könnte. Aber in Abgrenzung von jedem Kult der Figur des Migranten, und zwar von jener klassischen, vereinseitigenden Darstellung einer Migrantenfigur, die immer die sogenannte Peripherie oder Dritte Welt zu verlassen hat, um das Zentrum, die sogenannte Erste Welt, zu ›bedrohen‹, ist es sinnvoll (im Sinne eines Um- und Überdenkens), die umgekehrte Bewegung dialogisch zu beleuchten. Auf- 1166 Vgl. Michail Bachtin, Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur (Anm. 915), S. 55. 3. 8 Differenz und Interdependenz 329 grund soziopolitischer Verhältnisse sehen sich Menschen dazu gezwungen, sich von einem Ort zu einem anderen zu bewegen, um nach neuen Perspektiven zu suchen, um Kontakte zu knüpfen usw. In Joseph Roths Roman Die Rebellion - zum Beispiel - wollen sowohl ›valide‹ als auch durch den Krieg invalid gemachte Menschen das als Strafkolonie wahrgenommene Europa verlassen. Der einbeinige Kriegsinvalide Andreas Pum, der inhaftierte Ingenieur Lang, der neue Reiche Willi, sie alle hegen Auswanderungspläne. Der Roman endet mit dem Tod der Hauptfigur Andreas Pum. Aber man könnte sich durchaus eine Fortsetzung der Handlung des Romans vorstellen, in der diese Figuren in den jeweiligen Empfangsländern dargestellt werden, konfrontiert mit den dortigen Politiken des Ein- und Ausschlusses. Die Spuren einer kolonialen Unruhe sind schon im Titel des Textes Der blonde Neger Guillaume enthalten. Der blonde Neger Guillaume bewegt sich in dem Raum des „almost the same but not quite“. 1167 Homi Bhabhas mimicry-Konzept artikuliert die globale Kulturgeschichte des Ein- und Ausschlusses. Guillaume/ Wilhelm Tiele fällt nicht nur durch seine körperlichen Besonderheiten, sondern vor allem auch durch sein literarisches Wissen auf. Durch seine auffälligen sprachlichen und literarischen Fähigkeiten erkauft er sich eine Art Bürgerbrief, besser: Er lässt sich eine Art Bürgerbrief erteilen. Dies kann man aus folgender Aussage der Erzählerfigur schließen, die eine Dimension der Stimme der ›guten Bürger‹ darstellt: Und nach einer Viertelstunde sah ich, daß dieser Neger nicht nur weit mehr wußte als Hitler aus dem Negerstamm der Oberösterreicher, sondern sogar, daß er eine intuitiv tiefere Verbundenheit mit dem deutschen Wesen besaß als zum Beispiel ein Professor von Freytag-Loringhofen oder Röthe; daß dieser Neger Guillaume in der Reinheit seiner Seele weit über der angeblichen Rassenreinheit Dinters stand und daß er der blauen Augen und der blonden Haare gar nicht bedurft hätte, um ein Deutscher zu sein (JRW 1, 1093). Bemerkenswert ist der ironisch-kritische Ton der Aussage. Die Beherrschung der deutschen Sprache verleiht diesem blonden Neger ein symbolisches Kapital und symbolische Macht: „[D]er Besitz der Sprache bedeutet ungewöhnliche Macht“ 1168 und „Nichts Sensationelles als ein Schwarzer, der sich korrekt ausdrückt, denn er nimmt wirklich die weiße Welt auf sich“, 1169 beteuert Fanon. Er unterstreicht aber auch, dass ein Schwarzer, der in bestimmten Kreisen oder Konstellationen z.B. Montesquieu zitiert, genauso verdächtig wirke wie ein Jude, der Geld mit vollen Händen ausgebe. 1170 Guillaume/ Wilhelm Tiele wird als verdächtige feindliche Figur konstruiert und hin- 1167 Homi K. Bhabha, The Location of Culture (Anm. 365), S. 89. 1168 Frantz Fanon, Schwarze Haut, Weiße Masken (Anm. 177), S. 15. Vgl. ders. Peau noire, masques blancs (Anm. 75), S. 14. 1169 Ders. Schwarze Haut, weiße Masken, ebd. S. 28. Vgl. ders. Peau noire, masques blancs, ebd. S. 28. 1170 Vgl. Schwarze Haut, weiße Masken, ebd. Vgl. Peau noire, masques blancs, ebd. S. 27. 3. Joseph Roth und die Frage der imperialen Begegnung … 330 gestellt, nicht zuletzt auch, weil er der Okkupationsarmee angehört. Die Okkupation ist nicht nur körperlich, sondern auch geistig. Die dezentrierende, irritierende Dimension dieser Figur zeigt sich in dem Maße, wie sie die kolonialistisch festgefügten, rassischen Werte und Normen ins Wanken bringt. Joseph Roths Text beleuchtet aber nicht nur die Spaltung eines Individuums, sondern vielmehr auch die Differenz- und Interdependenzerfahrung, die Hybridität eines Kollektivums. Der blonde Neger gehört zu jenen Figuren in Roths Texten, die die Erfahrung des Unheimlichen, die Erfahrung der Spaltung des Selbst (verstanden als die Erfahrung des ›Dritten Raumes‹) durchlaufen. Der Dritte Raum, von dem bei Homi Bhabha leitmotivisch die Rede ist, ist „the experience of a deep crisis within the self. The self caught between to be and not to be, to want and not to want, identity and hybridity.” 1171 An der katachretischen Struktur des Textes sowie der Figur des ›blonden Negers‹ lässt sich auch eine der wichtigsten Schichten der Theorie der Hybridität ablesen, nämlich Differenz und Interdependenz. Im Rekurs auf den Sprach- und Literaturtheoretiker Michail M. Bachtin unterscheidet Telse Hartmann zwischen Hybriditätsmodellen, die in den postcolonial studies zur Sprache kommen: einerseits ein auf „métissage oder Kreolisierung“ 1172 ausgerichtetes Hybriditätsmodell. Zwei oder mehrere Sprachen/ Kulturen vermischen sich und daraus entsteht „eine harmonische neue Form […], in welcher Spuren der vorherigen Differenzen getilgt sind […]“ 1173 Andererseits „eine widerspruchsvolle Hybridität, bei der sich die verschiedenen Kulturen oder Positionen nicht vermischen, sondern in einer konfliktuösen Struktur miteinander interagieren“. Telse Hartmann bezieht sich dabei auf Youngs Colonial Desire. 1174 Nur das erstere Hybriditätsmodell vermittelt den Eindruck, dass ein Friedhoffrieden gefordert und gefördert wird, während das letztere Modell als eine Kultur des Konflikts präsentiert wird und wirkt. Im Gegensatz zu Telse Hartmann, die in Anlehnung an Young die These vertritt, dass die postcolonial studies jenem Hybriditätsmodell den Primat geben, in dem Konfliktuöses im Mittelpunkt steht, gerät in Homi Bhabhas Hybriditätsauffassung nicht nur das Moment der Differenz, sondern zunehmend die, infolge der Interdependenzerfahrung, Dialogizität in den theoretischen Blickpunkt. In Bhabhas postkolonialer Perspektive erfahren die Einseitigkeiten der auf métissage, auf Unterdrückung sowie auf Konflikt ausgerichteten Hybriditätsmodelle eine kritische Differenzierung. Was sich aus dem komplexen und vielschichtigen Hybriditätskonzept ablesen lässt, ist nicht nur der leitmotivische Hinweis auf kulturelle Differenzen, sondern auch auf die unumgänglichen Interdependenzen. Und diese Interde- 1171 Homi K. Bhabha, „On cultural Hybridity - Tradition and Translation“ (Anm. 140). 1172 Telse Hartmann, Kultur und Identität (Anm. 32), S. 84. 1173 Ebd. S. 84. 1174 Vgl. ebd. S. 85. 3. 8 Differenz und Interdependenz 331 pendenzen zeigen sich nicht nur in dem, was die Menschen teilen, oder an dem, woran sie gemeinsam teilhaben, sondern eben in dialogischkonfliktuellen Momenten, in Momenten der Irritation des Selbst. Ein Subjekt konstruiert sich zumeist als wesentlich in Abgrenzung zum bzw. vom Anderen, der/ das hingegen als unwesentlich hingestellt wird. Zumeist setzt sich der Mensch, indem es sich entgegen setzt. Derselbe Mensch versucht manchmal, sich mit einer Gemeinschaft zu identifizieren. Diese unterschiedlichen Momente der Irritation des Selbst, die auch produktive Dimensionen beinhalten, stellen Momente dar, in denen der Mensch feststellen und gleichzeitig nicht feststellen kann, dass er auf den Anderen angewiesen, in den Anderen nolens volens dialogisch verwoben ist, weil er ohne diesen Anderen nichts über sich selbst aussagen kann, nichts mit sich selbst anfangen kann. Schlussbemerkung Die vorliegende Arbeit hatte sich vorgenommen, den Afrikabzw. Dritte- Welt-Bezug von Roths Texten zu erschließen, wobei die Kernfrage der Darstellungsweise der imperialen Begegnung zwischen Europa und Afrika in Roths Werk im Mittelpunkt stand. Diese Problemstellung ließ sich gemäß der Logik dieser Arbeit in folgende Fragen übersetzen: Was ist Marginalität bei Joseph Roth? Wie kommt die Marginalität von Roths Gestalten zum Vorschein? Inwiefern lässt sich diese Marginalität auf einen globalen Zusammenhang übertragen? Ausgewählte Texte Joseph Roths nämlich Die Rebellion, Hiob, Die Legende vom heiligen Trinker, Die Flucht ohne Ende, Die Rehabilitierung der Schwarzen, Der blonde Neger Guillaume und andere sind unter diesen Aspekten und vor allem mit Kategorien der postkolonialen Literatur- und Kulturtheorie befragt und hinterfragt worden. Die Analyse hat besonderes Augenmerk auf Fragen der Marginalität, der dritten Räume, der Identität, der Differenz und Interdependenz gelegt. Deshalb bestand das Hauptanliegen des Teils 1 darin, den Begriff Marginalität im postmodernen und postkolonialen Diskurs zu begründen. Unter den angeführten postmodernen und postkolonialen Thesen wurde Derridas Theorie und Verfahren der Dekonstruktion als hypothetischer Ausgangspunkt gewählt, weil sein Konzept der Dekonstruktion am Prozess einer Rehabilitierung der Ränder abendländischer Moderne - im Sinne eines Brückenschlags zwischen sogenanntem westlichem Zentrum und sogenannter nichtwestlicher Peripherie - einen maßgeblichen Anteil hat. Zahlreiche Autoren, die an diesem Prozess beteiligt sind, wurden in dieser Arbeit einbezogen. Hingewiesen wird beispielsweise auf Michel Foucaults Machtkonzept, wie er dieses vor allem in Überwachen und Strafen ausgearbeitet hat. Diese dialogische Zusammenführung von Derrida und Foucault hat dazu beigetragen, nachzuvollziehen und nachzuspüren, wie sich manche Vertreter der postkolonialen Literatur- und Kulturtheorie Überlegungen aus Texten dieser Autoren zu eigen machen und deren Grenzen hinterfragen. In Anlehnung an Homi Bhabha ist daher auf die Bewegung vom Postmodernismus zum Postkolonialismus und vor allem auf die Übertragung der postkolonialen Perspektive auf einen binneneuropäischen Kontext eingegangen worden. Es hat sich herausgestellt, dass Postkolonialität keineswegs als räumlich oder zeitlich fest umrissenes Phänomen aufzufassen ist. Teil 2 hat sich zum Ziel gesetzt, die marginalen bzw. unheimlichen Daseinsformen der Figuren Andreas Pum aus Die Rebellion, Mendel Singer aus Hiob und Andreas Kartak aus Die Legende vom heiligen Trinker zu erschließen. Dabei ist Sigmund Freuds und Homi Bhabhas Kategorie des Unheimlichen als Fokus herangezogen worden. Das analytische Augenmerk Schlussbemerkung 333 Schl uss be mer kungen und Aus blic k wurde auf die Desorientierung, die inneren Spaltungen, die Entfremdung, Ausweglosigkeit und Unbehaustheit dieser Figuren gelenkt. Roths Protagonisten führen ein unheimliches Leben, sie erleiden Schicksalsschläge und teilen selbst Schläge aus. Am Ende sterben sie. In diesem Wesenszug der Roth’schen Gestalten sieht David Bronsen ein Grundmotiv, das sich durch sein literarisches Schaffen durchziehe: „Das Leben sei ein Kerker und der Mensch ‘Ein Gast auf der Erde.’“ 1175 Tarabas. Ein Gast auf dieser Erde (1934) - dieser Titel eines Romans Joseph Roths nimmt - aus dieser Perspektive betrachtet - eine programmatische Dimension an. Der Ausdruck „Gast auf dieser Erde“ fungiert hier als eine verdichtete Formel von Joseph Roths Ästhetik der Marginalität. In seinen Texten profiliert sich das Leben überhaupt als der eigentliche Raum der Marginalität bzw. des Unheimlichen. Wie es sich aus der postkolonialen Analyse von Joseph Roths Texten ergibt, deutet Marginalität nicht einfach auf eine Erscheinungsform sozialen Unterdrückt-Seins hin - wie der positivistisch konnotierte Terminus ›Marginalisierung‹ es zu verstehen gibt. Durch den Begriff Marginalität werden vielmehr existenzielle Erfahrungen des Subjektes im postmodernen bzw. postkolonialen Zeitalter artikuliert. Das Erlebnis von Krieg, von Konzentrations- und Internierungslagern, von Exil, von sozialer Deklassierung, Perspektivlosigkeit und Abseitigkeit - Erfahrungen, die manche Figuren in Roths Texten durchleben - stehen paradigmatisch für die Erfahrung der Marginalität. Schlussbe mer kungen und A us blic k Der Besitz von Kapital, sei es nun in Form von Geld, von Wissen oder von materiellem Besitztum, macht keineswegs gegen diese Erfahrung immun, wie sich am Beispiel von Andreas Pum, Mendel Singer, Andreas Kartak und weiterer Figuren in Roths Texten zeigen lässt. Dieser Raum der Marginalität erinnert an Homi Bhabhas Dritten Raum, einen Erfahrungsraum - im doppelten Sinne von Differenz- und Interdependenzerfahrung - einen Raum der Ambivalenz und der Spaltung des Subjekts. Diese Ambivalenz kommt in Roths textuellen Strategien in der Gestalt einer wechselseitigen Durchdringung und Befruchtung von Fiktion und Wirklichkeit, von profaner und sakraler Welt, von Erster und Dritter Welt zum Ausdruck vor. Diese Grenzverwischung gewährt Einsicht in Joseph Roths Subjekt- und Realitätsauffassung, die sich durch folgende Formel umschreiben lassen könnte: Das Subjekt und die Realität sind fiktive Konstrukte. In Teil 3 steht eine weitere Dimension von Joseph Roths Ästhetik der Marginalität im Mittelpunkt, nämlich die imperiale Begegnung zwischen Europa und Afrika. Joseph Roth betrachtet das Phänomen des binnen- und außereuropäischen Kolonialismus als verschränkt. Menschen sowohl in Afrika als auch in Zentraleuropa machten während des europäischen Imperialismus im 19. und 20. Jahrhundert Erfahrungen von Macht, Herrschaft und Differenz durch. Wie in der Einführung bereits erwähnt, kommt Afrika in Joseph Roths Texten als marginaler Punkt vor. In den Romanen Die Rebellion, Hiob 1175 David Bronsen, Joseph Roth: eine Biographie (Anm. 10), S. 253. Schlussbemerkung 334 und Die Legende vom heiligen Trinker ist an keiner Stelle explizit von Afrika oder von der imperialen Begegnung zwischen Europa und Afrika die Rede. Das Thema „imperiale Begegnung zwischen Europa und Afrika oder Außereuropa“ wird erst in der Debatte angeschnitten, die die Figuren Georg und Franz Tunda in Die Flucht ohne Ende miteinander führen. Die essayistischen Texte Die Rehabilitierung der Schwarzen, Die schwarze Schmach, Die Schwarzen im Ruhrgebiet und Der blonde Neger Guillaume stellen die eher seltenen Textbeispiele dar, in denen dieses Thema explizit behandelt und in den Mittelpunkt gestellt wird. Diese marginale Position Afrikas in Joseph Roths Werk hat dazu geführt, dass Afrika in der klassischen Roth-Forschung als ein nebensächliches Phänomen gesehen wurde. Eine der Zielsetzungen dieser Arbeit hat daher darin bestanden, Joseph Roths Texte von diesem marginalen Punkt aus neu zu lesen, indem manche von Roth aufgeworfenen Fragen zur imperialen Begegnung zwischen Europa und Afrika dialogisch mit Texten afrikanischer Autoren diskutiert wurden. Dieser von mir inszenierte textuelle Dialog leistet zum Einen einen Beitrag zur Aufdeckung der Grenzen von Joseph Roths Texten, zum anderen aber macht er den bisher in der klassischen Roth-Forschung vernachlässigten Dritte-Welt-Bezug sichtbar. Dieser Dialog leistet zum Zweiten einen Beitrag zu einer differenzierten Betrachtung der in der klassischen postkolonialen Diskussion dargestellten Figur des Migranten. Die aktuelle Relevanz einer solchen Untersuchung des Phänomens der Marginalität, wie dies in den ausgewählten Texten Joseph Roths vorkommt, liegt darin, dass sie einen differenzierten Blick auf diesen Aspekt wirft. Sie zieht eine psychoanalytisch-dekonstruktivistische Perspektive jenseits von positivistisch-soziologischen Betrachtungsweisen heran, die dazu neigen, die Komplexität und Ambivalenz des gesellschaftlichen Feldes sowie die ebenfalls ambivalenten, intersubjektiven, interkulturellen Beziehungen durch binäre Oppositionen und eine vorwiegend naturwissenschaftlich statistische Sprache zu erörtern. Dabei wird, bewusst und unbewusst, das Trennende zwischen den Menschen und Kulturen in den Vordergrund gerückt. Aus der Auseinandersetzung mit Joseph Roths Texten geht eindeutig hervor, dass das Leben bzw. das gesellschaftliche Feld den Raum der Marginalität, den Raum des Unheimlichen bzw. den unheimlichen Raum darstellt. Kein Subjekt ist gegen die Erfahrung der Marginalität, gegen die Erfahrung des Unheimlichen gefeit, sofern man Marginalität als Erfahrung der Spaltung des Selbst bzw. als Differenz- und Interdependenzerfahrung begreift. 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Narrative im (post)imperialen Kontext Literarische Identitätsbildung als Potential im regionalen Spannungsfeld zwischen Habsburg und Hoher Pforte in Zentral- und Südosteuropa 2015, 264 Seiten €[D] 64,99 ISBN 978-3-7720-8547-5 Band 22 Vahidin Preljevi ć / Clemens Ruthner (Hrsg.) „The Long Shots of Sarajevo“ 1914 Ereignis - Narrativ - Gedächtnis 2016, 702 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-7720-8578-9 ISBN 978-3-7720-8520-8 Ausgehend von der Frage des Dritte-Welt- oder Afrika-Bezugs in Joseph Roths Texten untersucht die Arbeit die Marginalität von dessen Hauptgestalten am Beispiel ausgewählter Romane und essayistischer Texte. Die Kernfrage der Untersuchung lautet, wie die imperiale Begegnung zwischen Europa und Afrika in Roths Werk thematisiert und dargestellt wird, eine Frage, die sich in folgende Fragen übersetzen lässt: Was ist Marginalität bei Joseph Roth? Wie kommt die Marginalität von Roths Gestalten zum Vorschein? Inwiefern lässt sich diese Marginalität auf einen globalen Zusammenhang übertragen?