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Argumentation

2018
978-3-8233-9027-5
Gunter Narr Verlag 
Kati Hannken-Illjes

Das Buch bietet eine Einführung in theoretische Konzepte und analytische Ansätze zur Argumentation. Ausgangspunkt sind drei unterschiedliche Perspektiven: die logische, die dialektische und die rhetorische Perspektive. Dabei liegt der Schwerpunkt auf dialektischen und rhetorischen Ansätzen. Die Fragen: Welche Form hat ein Argument? Welche Funktion hat Argumentation? Wie bestimmt sich die Geltung von Argumenten/ Argumentation? leiten durch die Darstellungen und Diskussionen. Der Band umfasst drei Abschnitte: I) die verschiedenen Perspektiven auf Argumentation und die relevanten Theorien, II) die Möglichkeiten der Analyse von Argumentation und aktuelle Fragen innerhalb der Argumentationswissenschaft sowie III) aktuelle Forschungsthemen, hier das Verhältnis von Narration und Argumentation, die Multimodalität von Argumentation und das Problem fundamentalen Dissenses (,Deep Dissensus'). Er richtet sich an Studentinnen und Studenten der Rhetorik, Linguistik, Sprechwissenschaft, Philosophie und Sozialwissenschaft sowie an alle am Gegenstand der Argumentation interessierten Leserinnen und Leser.

ISBN 978-3-8233-8027-6 Das Buch bietet eine Einführung in theoretische Konzepte und analytische Ansätze zur Argumentation. Ausgangspunkt sind drei unterschiedliche Perspektiven: die logische, die dialektische und die rhetorische Perspektive. Dabei liegt der Schwerpunkt auf dialektischen und rhetorischen Ansätzen. Die Fragen: Welche Form hat ein Argument? Welche Funktion hat Argumentation? Wie bestimmt sich die Geltung von Argumenten/ Argumentation? leiten durch die Darstellungen und Diskussionen. Der Band umfasst drei Abschnitte: I) die verschiedenen Perspektiven auf Argumentation und die relevanten Theorien, II) die Möglichkeiten der Analyse von Argumentation und aktuelle Fragen innerhalb der Argumentationswissenschaft sowie III) aktuelle Forschungsthemen, hier das Verhältnis von Narration und Argumentation, die Multimodalität von Argumentation und das Problem fundamentalen Dissenses (‚Deep Dissensus‘). Er richtet sich an Studentinnen und Studenten der Rhetorik, Linguistik, Sprechwissenschaft, Philosophie und Sozialwissenschaft sowie an alle am Gegenstand der Argumentation interessierten Leserinnen und Leser. Hannken-Illjes Argumentation Argumentation Kati Hannken-Illjes Einführung in die Theorie und Analyse der Argumentation Kati Hannken-Illjes Argumentation Einführung in die Theorie und Analyse der Argumentation © 2018 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr-studienbuecher.de E-Mail: info@narr.de Satz: pagina GmbH, Tübingen Printed in Germany ISSN 0941-8105 ISBN 978-3-8233-9027-5 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. 5 Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Das Vorgehen in diesem Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 2 Was ist Argumentation? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 2.1 Grundlagen des Argumentationsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 2.1.1 Strittigkeit und Geltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 2.1.2 Was ist ein Argument? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 2.1.3 Die Funktionen von Argumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 2.1.4 Argumentieren und Erklären . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 2.1.5 Status von Argumentation: Funktion oder Textsorte? . . . . . . . . . . . . . . . 27 2.2 Wenzels Modell der drei Perspektiven auf Argumentation . . . . . . . . . . . . . . . . 28 2.2.1 Die Entwicklung des Modells der drei Perspektiven auf Argumentation 28 2.2.1.1 Die drei Perspektiven bei Aristoteles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 2.2.1.2 Von einer zu drei Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 2.2.1.3 Der Sonderfall argument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 2.2.1.4 Argument 1 und Argument 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 2.2.2 Die drei Perspektiven auf Argumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 2.3 Die logische Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 2.4 Die dialektische Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 2.5 Die rhetorische Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 2.6 Probleme der Unterteilung in die logische, dialektische und rhetorische Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 3 Die dialektische Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 3.1 Informelle Logik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Exkurs: Kritisches Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 3.2 Fehlschlüssigkeit und Fehlschlüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 3.3 Die Diskurstheorie Habermas’ und sein Blick auf Argumentation . . . . . . . . . . 52 3.4 Die normative Pragmatik und die Theorie von Präsumtionen und Beweislast 56 3.5 Arne Naess’ Normen für Diskussionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 3.6 Die Pragma-Dialektik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 3.7 Die Verbindung von dialektischer und rhetorischer Perspektive . . . . . . . . . . . 70 3.7.1 Die Pragma-Dialektik und das Strategische Manövrieren . . . . . . . . . . . 70 3.7.2 Tindales Integration von dialektischem und rhetorischem Argumentationsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 4 Die rhetorische Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 4.1 Rhetorisch überzeugen und beweisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 4.1.1 Die rhetorischen Überzeugungsmittel: Ethos, Logos und Pathos . . . . . 76 4.1.2 Das Paradigma und das Enthymem als rhetorische Schlüsse . . . . . . . . . 78 6 Inhalt 4.2 Die rhetorische Wende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 4.2.1 Der argumentationstheoretische Ansatz Toulmins . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 4.2.1.1 Das Toulmin-Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 4.2.1.2 Kritik am Toulmin-Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 4.2.1.3 Der Feldbegriff bei Toulmin und darüber hinaus . . . . . . . . . . . 90 4.2.2 Perelman / Olbrechts-Tyteca und die Neue Rhetorik . . . . . . . . . . . . . . . . 95 4.2.2.1 Perelman / Olbrechts-Tytecas partikulares und universelles Publikum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 4.3 Die Topik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 4.3.1 Formale und materiale Topoi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 4.3.2 Topos als generative Kategorie oder Oberflächenphänomen . . . . . . . . . 102 4.3.3 Aristoteles’ „Topik“ und „Rhetorik“ als Ausgangspunkte . . . . . . . . . . . . 103 4.3.4 Status und Topos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 4.3.5 Die Argumentationsschemata in Perelman / Olbrechts-Tytecas „Die Neue Rhetorik“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 4.3.6 Kienpointners Alltagslogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 4.3.7 Topik und Geltung / Topik und Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 5 Argumentation analysieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 5.1 Die Analyse von Streitfrage und Status . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 5.2 Die funktionale Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 5.2.1 Funktionale Analyse auf der Mikroebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Exkurs: Das Rekonstruieren impliziter Aussagen und die Position der Analysierenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 5.2.2 Die makrostrukturelle Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 5.2.3 Das pragma-dialektische Analysemodell zwischen Mikro- und Makroanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 5.3 Analyse der Topoi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 5.3.1 Analyse der Argumentationsschemata (der formalen Topoi) . . . . . . . . . 131 5.3.2 Analyse der materialen Topoi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 5.4 Die gesprächsanalytische Argumentationsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 5.4.1 Die Ebenen der Handlungskonstitution nach Kallmeyer . . . . . . . . . . . . 136 5.4.2 Argumentation aus gesprächsanalytischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 5.4.3 Gesprächsanalyse und Argumentation: ein schwieriges Verhältnis . . . . 141 5.5 Ethnografie der Argumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 5.5.1 Ethnografie der Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 5.5.2 Ethnografie des Wissens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 5.5.3 Die Ethnografie der Argumentation zwischen Produkt- und Prozessperspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 5.5.3.1 Die Analyseeinheit: Topos-- Thema-- Argument . . . . . . . . . . . 148 5.5.3.2 Teilnehmen-- aber wo? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 5.5.3.3 Praktiken des Argumentierens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 7 Inhalt 6 Aktuelle Fragestellungen in der Argumentationswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 6.1 Argumentation und Narration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 6.1.1 Narration und Argumentation in der klassischen Rhetorik . . . . . . . . . . 155 6.1.2 Narration und Argumentation in der modernen Rhetorik und Argumentationstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 6.1.3 Narration und Argumentation im Recht: die Blaupause . . . . . . . . . . . . . 159 6.1.4 Abstraktionsebenen des Erzählens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 6.1.5 Faktualität und Fiktionalität von rhetorischen und argumentativen Narrationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 6.2 Multimodalität der Argumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 6.2.1 Visuelle Argumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 6.2.2 Stimme und Körper in der Argumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 6.2.3 Dinge in der Argumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 6.2.4 Weiterführende Forschungsaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 6.3 Grenzen der Argumentation? Inkommensurabilität und deep disagreement . . 172 6.3.1 Die These der Inkommensurabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 6.3.2 Das Problem der Metaregel und die Rhetorik als Lösung . . . . . . . . . . . . 174 6.3.3 Weiterführende Forschungsaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Filme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 „To argue is inherently to risk failure“ (Henry W. Johnstone Jr.) 11 1 Einleitung Argumentieren ist riskant, weil ich im Geben und Nehmen von Gründen in Betracht ziehen muss, dass auch mein Gegenüber gute Gründe vorbringt und ich möglicherweise erkenne, dass die Gründe meines Gegenüber „besser“ sind und ich in der Folge meine Position aufgeben muss. Dieses Risiko, selbst überzeugt zu werden, liegt unter jeder Argumentation: „An argument we are guaranteed to win is no more a real argument than a game we are guaranteed to win is a real game“ (Johnstone, 1965, S. 1). Argumentieren gibt aber auch Sicherheit, weil ich im Geben und Nehmen von Gründen immer wieder offenlege, was ich für wahr halte, während mein Gegenüber dasselbe tut. Damit ist jede Argumentation ein Abgleich über unser Verständnis von Ausschnitten der Welt. So kann Argumentation Verständigung ermöglichen. Dieses Studienbuch gibt eine Einführung in die Hauptströmungen der Argumentationstheorie, der Argumentationsanalyse und der aktuellen Forschungsfragen in der Argumentationswissenschaft. Die Konzentration liegt dabei auf dialektischen und rhetorischen Ansätzen. Mit der rhetorischen Wende Ende der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts hat die Argumentationstheorie einen starken Wandel erlebt: weg von rein logischen Beschreibungen der Argumentation, hin zur Einbeziehung natürlicher Sprache, einer dialogischen Sicht auf Argumentation und einer Wiederaufnahme von rhetorischen Konzepten wie der Topik und dem Publikum. Neben der Philosophie waren und sind nun die Rhetorik, die Rechtswissenschaft, die Linguistik, die Sprechwissenschaft und andere Disziplinen in die Bearbeitung argumentationstheoretischer Fragen einbezogen. In den USA hat die praktische Auseinandersetzung mit Argumentation in den Debattenteams der Universitäten die Theoriebildung stark vorangebracht und in der Philosophie die „critical thinking“-Bewegung. In Deutschland hat die Argumentationsforschung Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts eine erste Hochzeit erlebt, besonders beeinflusst durch die Konzeption von Argumentation bei Jürgen Habermas. Seit der ersten Konferenz der International Society for the Study of Argumentation 1986 hat sich das Feld immer weiter entwickelt und integriert mittlerweile verschiedenste Disziplinen und Sichtweisen. Die wissenschaftliche Befassung mit der Argumentation hat sich so weit entwickelt, dass man beginnen könnte, von einer Argumentationswissenschaft zu sprechen. Auch wenn das Feld sich aus vielen disziplinären Quellen speist, so hat es sich in den letzten 30 Jahren doch auch immer stärker als eigenes Feld mit einer eigenen akademischen Öffentlichkeit etabliert: mit eigenen Fachgesellschaften, Konferenzen, Zeitschriften und Studiengängen. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Argumentation steht vor derselben Herausforderung wie die Erforschung anderer Gegenstände, die im Englischen mit dem Begriff der „Studies“ versehen ist: Es handelt sich zunehmend um einen Gegenstand eigenen Rechts, auch wenn er noch nicht disziplinär selbstständig ist. Diese Einführung will das Feld der Argumentation ordnen, indem sie Grundströmungen, zentrale Ansätze, Möglichkeiten der Analyse und aktuelle Forschungsfragen in den Blick nimmt. Eine Einführung steht immer vor dem Dilemma, zum einen leicht zugänglich sein zu wollen und zur selben Zeit so umfassend als möglich. Der Schwerpunkt dieser Einführung 12 1 Einleitung liegt stärker auf der Zugänglichkeit. Sie behandelt die wichtigsten Ansätze in der Dialektik und Rhetorik der Argumentation. Die Lücken, die dieser notwendige Auswahlprozess hinterlässt, sind seit ein paar Jahren ganz hervorragend zu kompensieren: 2014 haben van Eemeren, Garssen, Snoeck Henkemans, Krabbe und Wagemans ein umfassendes Handbuch der Argumentationstheorie veröffentlicht, das sich sehr gut als weiterführende Lektüre eignet. Neben diesem Handbuch sei auch auf die einschlägigen Zeitschriften der Argumentationswissenschaft verwiesen: Argumentation, Argumentation in Context, Informal Logic, Cogency und Argumentation and Advocacy. Eine weitere wichtige Quelle für die, die sich weitergehend für die Argumentation interessieren, sind die verschiedenen Tagungen und Konferenzen zur Argumentation: u. a. die Konferenz der International Society for the Study of Argumentation in Amsterdam, die Tagung der Ontario Society for the Study of Argumentation in Windsor, Language and Argumentation, die Alta Conference on Argumentation in Utah als Konferenz der American Forensic Association, die Tokyo Conference on Argumentation, die Konferenzen der Wake Forest University in den USA und Venedig. Zu vielen dieser Tagungen erscheinen Proceedings-- Tagungsbände--, die einen guten Einblick zum Stand der Argumentationswissenschaft geben können. Mein herzlicher Dank geht an Carmen Harsch für die tatkräftige Unterstützung an diesem Studienbuch von Anfang bis Ende und an Cornelius Filipski für das Lesen und Diskutieren. Das Vorgehen in diesem Buch Diese Einführung bietet einen systematischen Zugang und orientiert sich an der Dreiteilung der Perspektiven auf Argumentation in die logische, dialektische und rhetorische Perspektive. Leitend für die Vorstellung und Diskussion der verschiedenen Ansätze sind drei Gesichtspunkte: Unabhängig vom Zugang, den ein bestimmter Ansatz wählt, liegt ihm eine Vorstellung davon zu Grunde, welche Funktion Argumentation hat, welche Form ein Argument hat und was die Geltung eines Arguments bestimmt. Diese drei Aspekte: Form, Funktion und Geltungsbedingungen sind grundlegend für die Diskussion. Sie führen zu folgenden Leitfragen: Was ist nach diesem Ansatz die Form eines Arguments? Was ist nach diesem Ansatz die Funktion von Argumentation? Was bestimmt nach diesem Ansatz die Geltung von Argumenten? Im Onlinematerial zu diesem Buch befindet sich eine umfassende Matrix, die die verschiedenen Ansätze orientiert an den drei Leitfragen einordnet. Damit die Zusammenhänge und Differenzen der verschiedenen Perspektiven und Ansätze deutlich werden, wird ein Beispiel durch alle Kapitel geführt. Das Beispiel stammt aus dem Stück „Twelve Angry Men“ (deutsch: „Die zwölf Geschworenen“) von Reginald Rose. Es wurde 1957 von Sidney Lumet mit Henry Fonda verfilmt, 1963 folgte eine deutsche Verfilmung von Günter Gräwert. Dieses Kammerspiel dreht sich um die Juryberatung in einem Strafverfahren in den USA . Die zwölf Jurymitglieder müssen die Entscheidung treffen, ob ein 19jähriger Mann seinen Vater erstochen hat und des Mordes schuldig ist. Dem jungen 13 Das Vorgehen in diesem Buch Mann droht die Todesstrafe. Das Stück nimmt ausschließlich die Beratung der Jury in den Blick, eine Beratung, die überhaupt nur stattfindet, weil Juror 8 in der ersten Abstimmung für nicht schuldig plädiert und damit einen sofortigen Schuldspruch unmöglich macht. Die Beispielsequenz, mit der ich in diesem Buch arbeite, ist ein Auszug aus dem Beginn der Beratung. Sie soll hier einmal in Gänze vorgestellt werden, in den folgenden Kapiteln werde ich dann nur mit einzelnen Aspekten arbeiten. Grundlage für die Analyse des Beispiels ist die deutsche Fassung des Theaterstücks von Horst Budjuhn. Im Original werden die einzelnen Geschworenen nur mit Nummern kenntlich gemacht, für die Nutzung in diesem Buch erschien es passender, sie mit „Juror X“ und nicht mit „Nummer X“ zu benennen. Kleinere Regieanweisungen, die für die Analyse irrelevant sind, werden stillschweigend ausgelassen. Der gesamte Film (der amerikanische wie der deutsche) sei allen Argumentationsinteressierten sehr empfohlen. JUROR 1: Also elf Stimmen für „schuldig“. In Ordnung. - „Nicht schuldig“? (Juror 8 hebt langsam die Hand.) Eine. - Klar, 11: 1 für „schuldig“. Jetzt wissen wir wenigstens, woran wir sind. … JUROR 3: Seien wir doch mal vernünftig! Sie haben im Gerichtssaal gesessen und genau die gleichen Dinge gehört wie wir alle. Der Bursche ist ein gemeingefährlicher Mörder. Das haben Sie ihm doch angesehen. JUROR 8: Er ist neunzehn Jahre alt. JUROR 3: Alt genug, um seinen Vater zu erstechen! Zehn Zentimeter tief in die Brust! JUROR 6: Der Fall liegt eigentlich klar, ich war eigentlich … ja, ich war vom ersten Tag an überzeugt, daß - JUROR 3: Sie waren nicht der einzige! Der Fall ist nun wirklich bis in die letzte Einzelheit aufgeklärt. Die haben sich so viel Mühe gegeben, es uns zu beweisen. Wieder und wieder. Ja, soll ich am Ende gescheiter sein als die studierten Richter. JUROR 8: Niemand verlangt es von Ihnen. JUROR 10: Ja, was wollen Sie dann noch? JUROR 8: Ich möchte nur darüber sprechen. JUROR 7: Und was soll dabei rauskommen? Elf der Anwesenden sprechen ihn schuldig. Das ist genug gesprochen! Nicht einer hat das geringste Bedenken - bis auf Sie! JUROR 10: Nur eine Frage. JUROR 8: Bitte. JUROR 10: Glauben Sie dem Jungen ein Wort? JUROR 8: Ich weiß nicht, ob ich ihm glaube. Vielleicht glaube ich ihm nicht. JUROR 7: Dann verstehe ich noch weniger, warum Sie für „nicht schuldig“ gestimmt haben! JUROR 8: Elf haben ihn schuldig gesprochen. Ich kann nicht so einfach meine Hand heben und jemanden in den Tod schicken. Ich muß erst darüber sprechen. JUROR 10: Sie hören sich wohl gerne selber reden? … 14 1 Einleitung JUROR 7: Na, sehen Sie! Und was ist [! ] für ein Unterschied, wie lange ich dazu brauche? Ich hebe meine Hand hoch, weil ich überzeugt bin. Wir alle sind einfach überzeugt. Ich brauche dazu nicht mal fünf Minuten. - JUROR 8: Ich brauche vielleicht eine Stunde. - Das Baseball-Match fängt ja nicht vor acht Uhr an. … JUROR 9: Ich habe nichts dagegen, daß wir eine Stunde hier bleiben. JUROR 10: Idiot! - Entschuldigen Sie, es ist mir so rausgerutscht! JUROR 9: Bitte, bitte, tun Sie sich keinen Zwang an. JUROR 10: Ich nehme Sie beim Wort. Gestern abend habe ich einen guten Witz gehört … JUROR 8: Dazu sind wir nicht hier. JUROR 10: Gut, gut, gut, dann klären Sie mich auf, warum wir hier sind. Oder wissen Sie es selber nicht? JUROR 8: Ich weiß nur, daß dieser Junge sein ganzes Leben herumgestoßen wurde. Er ist in einem Elendsviertel aufgewachsen, hat früh seine Mutter verloren. Damals war er neun Jahre alt. Für anderthalb Jahre hat man ihn in ein Waisenhaus gesteckt, weil sein Vater eine Gefängnisstrafe absitzen mußte. Wegen Scheckfälschung, stimmt’s? Ja, das ist kein gutes Sprungbrett fürs Leben. Wie sagten Sie noch - auf freier Wildbahn gegrast? Man hätte sich eben mehr um ihn kümmern sollen. JUROR 3: Unsere Waisenhäuser sind okay. Wir zahlen Steuern dafür. … JUROR 8: Und wissen Sie auch, wer ihn geschlagen hat? Nicht nur sein eigener Vater, nicht unsere sogenannten Erzieher, nicht der Waisenhausvater, nein, meine Herren - JUROR 7: Jetzt bin ich aber gespannt. JUROR 8: Wir. - Neunzehn erbärmliche Jahre sind an diesem Jungen nicht spurlos vorübergegangen. Er ist verbittert. Und deshalb - denke ich, schulden wir ihm ein paar Worte. - Das ist alles. JUROR 10: Ich bin gerührt. Denken Sie von mir was Sie wollen! Aber wir schulden ihm nicht so viel. - Er hat ein saubres Verfahren bekommen. Glauben Sie das ist umsonst? […] Er kann froh sein, daß wir so freigiebig waren. Stimmt’s? Wir sind doch keine Quäker! Wir haben die Tatsachen gehört - und jetzt wollen Sie uns weismachen, daß wir dem Bürschlein glauben sollen! Mir kann der nichts vormachen, nicht so viel - nicht das Schwarze unter dem Nagel glaube ich dem. Ich habe lange genug unter ihnen gelebt, ich kenne sie in- und auswendig. Die sind geborene Verbrecher, alle durch die Bank! Untermenschen! JUROR 11: Untermenschen. JUROR 10: Mir können Sie das glauben! 15 Das Vorgehen in diesem Buch JUROR 9: Es ist möglich … aber es ist entsetzlich, so was zu glauben. Gibt es tatsächlich geborene Verbrecher? - Ist das Verbrechen denn typisch für eine bestimmte Klasse? Seit wann? Und wer, sagen Sie mir das bitte, hat schon ein Monopol auf die Wahrheit? Wer? Sie vielleicht? JUROR 3: Papperlapapp, wir brauchen keine Sonntagspredigt! JUROR 9: Entschuldigen Sie, aber die Ansichten dieses Herrn erscheinen mir denn doch gefährlich - … JUROR 12: Lassen Sie mich eine Sekunde nachdenken - ja, natürlich, es ist unsere Aufgabe, diesen Herrn zu überzeugen, daß wir im Recht sind und er im Unrecht. Vielleicht könnte jeder von uns ein bis zwei Minuten darauf verwenden. Wie finden Sie das? … JUROR 1: Also einmal reihum! […] JUROR 1: Zwei Minuten pro Kopf. Sie sind der erste. JUROR 2: Ja … was soll ich sagen … das ist gar nicht so leicht … ich … ja er ist sicher schuldig. Das ist doch von Anfang an klar gewesen … einen Gegenbeweis hat bisher niemand erbracht. JUROR 8: Den braucht auch niemand zu erbringen. Die Beweislast obliegt allein dem Gericht. So steht es in unserer Verfassung. Sie brauchen nur nachzulesen. JUROR 2: Jaja, das weiß ich schon … ich wollte auch nur sagen … na eben, der Mann ist schuldig. Es gibt doch jemand, der die Tat gesehen hat - JUROR 3: Endlich! Sprechen wir endlich über Tatsachen! Lassen wir die persönlichen Gefühle zu Hause! Da ist ein alter Mann, der im zweiten Stock wohnt, direkt unter dem Mordzimmer. Er hat ausgesagt, es habe sich wie ein Kampf angehört, und dann habe der Junge laut gerufen: „Ich bring dich um! “ Er hat es deutlich verstanden! Eine Sekunde später fiel ein Körper zu Boden, und er lief zur Wohnungstür, sah hinaus - und was sah er? Das Bürschlein rannte die Treppe runter und aus dem Haus. Dann holte er die Polizei. Sie fanden den Vater mit einem Messer in der Brust … und der Gerichtsarzt stellte fest, daß der Tod um Mitternacht eingetreten sein muß. - Das sind Tatsachen. Tatsachen lassen sich nicht widerlegen. Der Junge ist schuldig! Daran gibt’s nicht zu rütteln. Ich bin nicht so sentimental wie ein gewisser Herr. Mir ist auch bekannt, daß der Junge erst neunzehn ist, aber das schützt ihn nicht davor, daß er für seine Tat bezahlen muß! JUROR 7: Ganz Ihrer Meinung! JUROR 1: Danke. Der nächste. JUROR 4: Für mich hat nie ein Zweifel bestanden, daß die ganze Geschichte, die uns der Junge aufgetischt hat, doch reichlich fadenscheinig ist. Er behauptet, er sei zur Zeit des Verbrechens im Kino gewesen, und schon eine Stunde später hat er sich nicht mehr erinnern können, welche Filme er gesehen hatte. Ja, sogar die Namen der Stars waren ihm entfallen. Ein bißchen merkwürdig, nicht wahr? 16 1 Einleitung JUROR 3: Bitte, da hören Sie es! Sie haben völlig recht. JUROR 10: Und was ist mit der Frau auf der andern Straßenseite? Wenn ihre Aussage nichts beweist, dann können mir alle Beweise gestohlen bleiben. JUROR 11: Ja, allerdings - die Frau hat als einzige den Mord mitangesehen. JUROR 1: Der Reihe nach, wenn ich bitten darf. JUROR 10: Moment, hier ist eine Frau, die im Bett liegt und nicht einschlafen kann. JUROR 7: Wo? Der Frau kann geholfen werden! JUROR 10: Sie erstickt fast vor Hitze. So war’s doch? Jedenfalls blickt sie aus dem Fenster und sieht gerade noch, wie das Söhnchen das Messer in seinen Vater stößt. Es ist zehn Minuten nach Mitternacht, auf die Sekunde. Der Beweis ist lückenlos. Die Frau hat den Burschen seit seiner Geburt gekannt. Sein Fenster liegt schräg gegenüber auf der andern Straßenseite, jenseits der Schienen der elektrischen Hochbahn. Und sie hat unter Eid ausgesagt, daß sie den Mord gesehen hat. JUROR 8: Durch die Fenster eines vorbeifahrenden Hochbahnzuges. JUROR 10: Richtig. Aber der Zug war leer und fuhr in Richtung City. Er war auch unbeleuchtet, wenn Sie sich erinnern. Und die Sachverständigen haben uns bewiesen, daß man bei Nacht durch die Fenster eines vorbeifahrenden Hochbahnzuges sehen kann, was auf der anderen Seite vorgeht. Sie haben es bewiesen! JUROR 8: Eine Frage. Sie trauen dem Jungen nicht. Was veranlaßt Sie, der Frau zu trauen? Sie stammt doch aus demselben Milieu? JUROR 10: Ach Sie - Sie sind ein ganz geriebener Gauner … JUROR 1: Aber, aber, meine Herren! Immer mit der Ruhe! JUROR 7: Lassen Sie ihn doch reden! Tief durchatmen, entspannen! JUROR 10: Er hat die Weisheit mit Löffeln gefressen, Sie werden schon sehen - JUROR 1: Gut, gut, wir sind doch nicht da, um uns zu streiten. Wer kommt dran? … JUROR 6: Ich weiß nicht … vorhin war ich ganz sicher, ich frage mich bloß … das Motiv ist schließlich die Hauptsache, denke ich. Wo es kein Motiv gibt, gibt’s auch keinen Fall. Oder? Das Motiv beschäftigt mich. Zum Beispiel die Aussage der Leute, die Flur an Flur mit dem Burschen wohnen … das hat mich immerhin überzeugt. Die sagten doch etwas von einer Auseinandersetzung zwischen dem Vater und dem Jungen - so gegen sieben Uhr abends. Ich kann mich auch irren. JUROR 11: Es war acht Uhr, nicht sieben. JUROR 8: Ja, acht Uhr abends. Die Nachbarn hörten einen Streit, aber sie konnten nicht verstehen, worum es ging. Dann wollten sie auch noch gehört haben, daß der Vater den Jungen ins Gesicht schlug, zweimal, und zuletzt sahen sie den Jungen wütend die Wohnung verlassen. Was beweist das? JUROR 6: Genaugenommen - nichts. Ich habe ja nicht gesagt, daß es was beweist. Aber es ist nicht alles - 17 Das Vorgehen in diesem Buch (Rose, 1982, S. 17-26, für die deutsche Bühne dramatisiert von Horst Budjuhn) JUROR 8: Sie haben gesagt, daß sich ein Motiv für den Mord daraus ergeben könnte. Genau wie der Staatsanwalt. Nur, ich habe den Eindruck, daß es kein sehr stichhaltiges Motiv ist. Der Junge ist so oft in seinem Leben geprügelt worden, daß Prügel sozusagen sein tägliches Brot waren. Es überzeugt mich nicht, daß ihn plötzlich zwei Ohrfeigen so reizen sollen, daß er deswegen gleich zum Mörder wird. JUROR 4: Es können zwei zuviel gewesen sein. Bei jedem ist das Maß einmal voll. 19 2.1 Grundlagen des Argumentationsbegriffs 2 Was ist Argumentation? Dieses Kapitel führt grundlegende Begriffe ein, die in den folgenden Kapiteln aus der Perspektive verschiedener theoretischer Ansätze näher ausbuchstabiert und diskutiert werden. Zudem wird mit Wenzels Ansatz der drei Perspektiven auf Argumentation das Modell erläutert, an dem sich diese Einführung in die Argumentation orientiert. 2.1 Grundlagen des Argumentationsbegriffs 2.1.1 Strittigkeit und Geltung Wenn Menschen argumentieren, tauschen sie Gründe aus. Spezifisch für das Begründungshandeln in einem argumentativen Rahmen ist, dass hier Gründe eingefordert oder gegeben werden, weil etwas strittig geworden ist, d. h. die Geltung einer Aussage bestritten wird. Um von Argumentation zu sprechen, müssen also nicht nur Gründe gegeben (und genommen) werden; diese Gründe müssen sich auch auf einen strittigen Sachverhalt beziehen. Die meisten Ansätze zur Argumentation gehen davon aus, dass das Bestehen einer Streitfrage konstitutiv ist für Argumentation und dass Argumentation sich durch dieses Merkmal auch von anderen Formen des Begründungshandelns wie Erklären-warum unterscheiden lässt. Strittigkeit kann allerdings in verschiedenen Formen auftreten: Sie kann von den Argumentationspartnerinnen angenommen werden, ohne dass sie direkt geäußert wird, oder sie kann direkt hergestellt werden, wie im folgenden Beispiel. Hier begründet Juror 2 seine Position, dass der Angeklagte schuldig ist, und Juror 8 bestreitet die Geltung dieser Aussage. JUROR 1: Zwei Minuten pro Kopf. Sie sind der erste. JUROR 2: Ja … was soll ich sagen … das ist gar nicht so leicht … ich … ja er ist sicher schuldig. Das ist doch von Anfang an klar gewesen … einen Gegenbeweis hat bisher niemand erbracht. JUROR 8: Den braucht auch niemand zu erbringen. Die Beweislast obliegt allein dem Gericht. So steht es in unserer Verfassung. Sie brauchen nur nachzulesen. JUROR 2: Jaja, das weiß ich schon … ich wollte auch nur sagen … na eben, der Mann ist schuldig. Es gibt doch jemand, der die Tat gesehen hat - Juror 2 begründet hier, warum er glaubt, dass der Angeklagte schuldig ist. Diese Begründung („einen Gegenbeweis hat bisher niemand erbracht“) wird von Juror 8 nicht akzeptiert und er begründet auch, warum er sie nicht akzeptiert („Die Beweislast obliegt allein dem Gericht“). Juror 2 reagiert darauf mit einer etwas vagen Rücknahme seiner Aussage: Er nimmt sie implizit zurück („Jaja, das weiß ich schon“) und bietet eine andere Begründung an („Es gibt doch jemand, der die Tat gesehen hat“). 20 2 Was ist Argumentation? Dieses Beispiel zeigt, dass unterschieden werden kann zwischen zwei Formen des Bestreitens. Zum einen kann die Aussage an sich bestritten werden, zum anderen die Geltung der Aussage in einem bestimmten Kontext. Juror 8 bestreitet nicht, dass niemand den Gegenbeweis angetreten hat, die Verteidigung konnte tatsächlich nicht beweisen, dass der Angeklagte unschuldig ist. Aber diese Aussage hat keine Relevanz für die Fragestellung, ob die Schuld des Angeklagten zweifelsfrei erwiesen ist, und kann daher keine Geltung beanspruchen, auch wenn die Aussage faktisch richtig ist. Das Beispiel zeigt außerdem, dass innerhalb von Argumentation oft mehrere Streitfragen auf unterschiedlichen Ebenen behandelt werden. In dem kurzen Beispiel liegen mindestens zwei Streitfragen vor: Ist der Angeklagte schuldig oder nicht? Ist der Mangel an Gegenbeweisen ein guter Grund? Weil es häufig mehrere Streitfragen gibt, kann die Analyse von Argumentation sehr komplex werden (vgl. Kapitel 5). Argumentation ist die Bearbeitung einer Streitfrage durch das Geben und Nehmen von Gründen. Argumentation beruht aber nicht nur auf Strittigkeit, sondern auch auf der Annahme von Übereinstimmung. Durch Argumentation wird Strittigkeit bearbeitet, indem Aussagen- - implizit und explizit- - angeführt werden, von denen die Argumentationspartnerinnen 1 annehmen, dass ihr Gegenüber diese akzeptiert oder akzeptieren muss / sollte. Damit beruhen Gründe auf Aussagen, die selbst nicht strittig sind, sondern als geltend angenommen werden. Im Beispiel ist dies der Verweis auf die Verfassung. Innerhalb von Argumentation wird also nicht nur deutlich, worüber es divergierende Ansichten gibt. Deutlich wird auch, was die Teilnehmerinnen einer Argumentation als gemeinsame Geltungsbasis ansehen. Diese Aussagen- - die strittige und die geltende- - befinden sich auf zwei unterschiedlichen Ebenen: zum einen der Ebene dessen, was als Grund in Bezug auf die Streitfrage angegeben wird und zum anderen auf der Ebene des Übergangs vom Grund zur Konklusion. Dabei bleibt der Übergang vom Grund zur Konklusion oft implizit. Auch das lässt sich im Beispiel gut sehen: Juror 2 führt an, dass niemand einen Gegenbeweis geführt hat. Dies wird in der Runde nicht bestritten, kann also von da an als geteiltes Wissen dieser Teilnehmer angesehen werden. Implizit äußert Juror 2 aber auch, dass dies ein guter Grund dafür ist, dass der Angeklagte schuldig ist. Diese Aussage ließe sich in einer starken Form rekonstruieren als: Wer die eigene Position (Unschuld) nicht beweisen kann, muss die Position der Gegenseite übernehmen (Schuld). Auch diese Aussage wird von Juror 2 als potenziell geteiltes Wissen eingeführt, von Juror 8 aber explizit abgelehnt. Damit wird in der Argumentation nicht nur markiert, was strittig ist, sondern auch, was gilt. Argumentation hat also grundlegend nicht nur die 1 Eine kurze Bemerkung zur gendersensiblen Sprache: Dieses Buch folgt dem Beispiel einiger englischschreibenden Kolleginnen und der Einführung in die interaktionistische Ethnografie von Dellwing und Prus (2012) und nutzt die männliche und die weibliche Form abwechselnd und durcheinander. Dies soll die Anstrengung umgehen, die mit inklusiven Formen verbunden ist, ohne die Geschlechtergerechtigkeit über Bord zu werfen. 21 2.1 Grundlagen des Argumentationsbegriffs Funktion Strittigkeit / Dissens zu bearbeiten, sondern sie hat auch eine epistemische, also auf Wissen bezogene Dimension: Argumentation etabliert was gilt. Sie ist deshalb immer auch „Reden über die Geltungsbedingungen von Äußerungen“ (Kopperschmidt, 1989, S. 26). Ob Argumentation möglich ist, wenn kaum oder keine geteilte Geltungsbasis besteht, ist eine der aktuellen Fragen innerhalb der Argumentationswissenschaft und wird unter der Überschrift des deep dissensus oder dem Problem der Inkommensurabilität diskutiert (vgl. Kapitel 6). Eine Definition, die die Aspekte der Strittigkeit oder Dissensbearbeitung und der Etablierung von Geltung verbindet, ist die von Wolfgang Klein (1980). Er fasst Argumentation als den Versuch „mit Hilfe des kollektiv Geltenden etwas kollektiv Fragliches in etwas kollektiv Geltendes zu überführen“ (Klein, 1980, S. 19). Damit beinhaltet diese Definition den Aspekt der Strittigkeit (bzw. etwas weniger stark: Fraglichkeit). Etwas ist (kollektiv) fraglich, wird dann aber mit Hilfe von Gründen (dem kollektiv Geltenden) in etwas kollektiv Geltendes überführt. Argumentation hat also auch bei Klein immer beide Funktionen: die Bearbeitung von Strittigkeit und die Etablierung von Geltung. Argumentation hat immer zwei Funktionen. Durch Argumentation wird 1) Strittigkeit bearbeitet und 2) Geltung hergestellt. 2.1.2 Was ist ein Argument? Wenn Argumentieren heißt, eine Streitfrage durch das Geben und Nehmen von Gründen zu bearbeiten, was ist dann ein Argument? Wie ist ein Argument aufgebaut? Die Unterscheidung von Argumentation und Argument ist in den verschiedenen Ansätzen zur Argumentation nicht einheitlich. Hier soll Argumentation verstanden werden als die Abfolge und Kopplung verschiedener Argumente in Bezug auf eine Streitfrage. Diese Abfolge kann in verschiedenen Interaktionsformen auftauchen und verschiedene Grade von Komplexität haben. Aber was ist nun ein einzelnes Argument? Ein Argument ist die Grundeinheit innerhalb einer Argumentation. Dabei ist ein Argument nicht das Gleiche wie ein Grund, auch wenn beide Begriffe alltagssprachlich oft synonym verwendet werden. Das Argument bezieht sich immer schon auf eine Streitfrage und beinhaltet Aussagen, die den Übergang vom Grund zur Konklusion legitimieren. Ein Grund ist also eine Aussage innerhalb eines Arguments. Ein Argument beinhaltet demnach drei Aussagen mit unterschiedlichen Funktionen. Diese Grundeinheit wird seit den Anfängen der Rhetorik als dreiteiliges Modell dargestellt. 22 2 Was ist Argumentation? Oder übertragen von der Funktion in Positionsbegriffe: Die einzelnen Funktionen und Positionen dieser dreiteiligen Grundform werden je nach Ansatz unterschiedlich benannt, die entsprechende Terminologie wird in den Abschnitten zu den einzelnen Ansätzen eingeführt. Daher ist die Position, von der aus begründet wird, noch recht allgemein mit „Grund“ benannt. Die Position des Übergangs ist in Anführungsstriche gesetzt, da dieser Begriff an sich in keinem Modell genutzt wird: In den verschiedenen theoretischen Ansätzen hat sie verschiedene Bezeichnungen-- Schlussregel, Topos, Oberprämisse, Schlusspräsupposition--, Abstraktionsgrade und theoretische Fundierungen. Ihre Funktion ist immer gleich: die Kopplung des Grundes an die Konklusion. Ein Argument lässt sich also darstellen als die Verbindung einer Konklusion mit einem Grund auf Basis eines Übergangs. Das heißt aber nicht, dass immer alle Teile dieses Modells in einem Text, in einer Interaktion wirklich auftreten. Häufig, insbesondere in Alltagsargumentationen, werden eine oder zwei Funktionen nicht besetzt (vgl. Kapitel 4.1.2 zum Enthymem). Allerdings können sie auf Nachfrage besetzt werden, ja sie müssen dann gefüllt werden können oder das Argument muss zurückgezogen werden. Wie man bei der Analyse von Argumentation diese grundlegende Form ermittelt, wird deutlich, wenn man das Kriterium der Strittigkeit hinzunimmt: Argumentation wird nur notwendig, wenn etwas bestritten wird. So lassen sich die drei Funktionen des Modells durch das Bestreiten einzelner Teile herausarbeiten. Eine kurze Sequenz aus dem Beispiel macht dies deutlich: 23 2.1 Grundlagen des Argumentationsbegriffs JUROR 8: Ich weiß nur, daß dieser Junge sein ganzes Leben herumgestoßen wurde. Er ist in einem Elendsviertel aufgewachsen, hat früh seine Mutter verloren. Damals war er neun Jahre alt. Für anderthalb Jahre hat man ihn in ein Waisenhaus gesteckt, weil sein Vater eine Gefängnisstrafe absitzen mußte. Wegen Scheckfälschung, stimmt’s? Ja, das ist kein gutes Sprungbrett fürs Leben. Wie sagten Sie noch - auf freier Wildbahn gegrast? Man hätte sich eben mehr um ihn kümmern sollen. JUROR 3: Unsere Waisenhäuser sind okay. Wir zahlen Steuern dafür. Die argumentative Äußerung von Juror 3 lässt sich in der dreiteiligen Form folgendermaßen darstellen. Die Aussage, die begründet werden muss, ist, dass Waisenhäuser okay sind. Denn Juror 8 hat eine gegenteilige Aussage gemacht, indem er festgestellt hat, dass der Angeklagte in einem Waisenhaus gelebt hat („hineingesteckt wurde“) und dass dies kein gutes Sprungbrett für das Leben sei. Juror 3 widerspricht nicht nur der Aussage von Juror 8, er stellt eine Gegenbehauptung auf und er liefert auch gleich den Grund dazu. Warum sind unsere Waisenhäuser okay? Weil wir Steuern dafür zahlen. Es fehlt noch die dritte Funktion innerhalb des dreistelligen Modells: der Übergang von Grund zu Konklusion. Kann man, um auf die Funktion des Grundes zu kommen, fragen, warum die Aussage gilt (Unsere Waisenhäuser sind okay! Warum? Weil wir Steuern dafür zahlen), so gelangt man zum Übergang, indem man nach der Relevanz fragt: Was hat das eine mit dem anderen zu tun? Was hat die Tatsache, dass wir Steuern für Waisenhäuser zahlen, damit zu tun, dass sie okay sind? Dieser Übergang bleibt im Beispiel implizit. Hier wird deutlich, dass die Rekonstruktion von impliziten Anteilen wie „denn die Dinge, für die wir Steuern zahlen, sind okay“ nicht 24 2 Was ist Argumentation? immer einfach und vor allem nicht immer eindeutig ist. Man könnte z. B. den Übergang hier auch allgemeiner fassen: Dinge, für die sich die Gesellschaft engagiert, sind gut / Dinge, für die sich die Gesellschaft engagiert, sind ausreichend für alle Mitglieder der Gesellschaft. Sobald der Übergang aber auf einer allgemeineren Ebene rekonstruiert wird, ergeben sich noch mehr Möglichkeiten. So ließe sich der Übergang rekonstruieren als „Dinge, für die sich die Gesellschaft engagiert, sind gut“, aber auch als „Alles, für das man bezahlt, ist gut“. Hier wird bereits ein Aspekt deutlich, der in der Entwicklung der Argumentationstheorie und der Argumentationsanalyse immer wieder relevant wird: das Verhältnis zwischen normativen Modellen und der Beschreibung natürlicher (im Gegensatz zu für die Analyse konstruierter) Argumentation. Konstruierte Beispiele haben den Vorteil, passgenau für ein Modell konzipiert zu sein und damit das Modell auch zutreffend erläutern zu können. Natürliche Argumentation ist häufig schwieriger zu analysieren, u. a. da Aussagen implizit bleiben und sie sich so nicht immer klar in vorgegebene Muster fassen lassen. Das kann man bedauern, man kann es aber auch als das eigentlich Interessante an der Argumentation verstehen. Wer argumentiert, muss oft zwei Aufgaben zugleich bearbeiten: die Aufgabe, Argumente vorzubringen, von denen sie glaubt, dass sie belastbar sind und die Aufgabe, Argumente vorzubringen, von denen sie glaubt, dass das Gegenüber sie akzeptieren wird. Hinzu kommt außerdem, dass Argumentation in der Regel in Interaktionen eingebettet ist und damit auch interaktionale Anforderungen (das Gesicht wahren, die Beziehung zum anderen aufrecht erhalten etc.) bearbeitet werden müssen. Diese verschiedenen Aufgaben werden in Kapitel 5.4 zur Gesprächsforschung und Argumentationsanalyse in den Blick genommen. 2.1.3 Die Funktionen von Argumentation Nachdem nun die Grundeinheit der Argumentation mit dem dreistelligen Argumentmodell beschrieben ist, soll der Blick vom Argument zur Argumentation gehen: Welche Funktionen hat Argumentation? Warum und wozu argumentieren wir? JUROR 7: Und was soll dabei rauskommen? Elf der Anwesenden sprechen ihn schuldig. Das ist genug gesprochen! Nicht einer hat das geringste Bedenken - bis auf Sie! JUROR 10: Nur eine Frage. JUROR 8: Bitte. JUROR 10: Glauben Sie dem Jungen ein Wort? JUROR 8: Ich weiß nicht, ob ich ihm glaube. Vielleicht glaube ich ihm nicht. JUROR 7: Dann verstehe ich noch weniger, warum Sie für „nicht schuldig“ gestimmt haben! JUROR 8: Elf haben ihn schuldig gesprochen. Ich kann nicht so einfach meine Hand heben und jemanden in den Tod schicken. Ich muß erst darüber sprechen. 25 2.1 Grundlagen des Argumentationsbegriffs Juror 8 will nicht einfach nur sprechen: Er fordert Gründe ein und will selber Gründe liefern, um die Frage „Ist der Junge schuldig“, in dieser Sequenz gefasst als „Glauben Sie dem Jungen ein Wort? “, zu beantworten. Dabei ist sein Ziel nicht, die anderen von der Unschuld des Jungen zu überzeugen; zur übergreifenden Streitfrage („Ist der Junge schuldig“) formuliert er selbst keinen eigenen Standpunkt (keine eigene Konklusion). Zu Argumentieren-- und wenn nur für eine Stunde-- hat hier die Funktion, eine Entscheidung, die getroffen werden muss, zu einer fundierten, argumentativ gesicherten Entscheidung zu machen. Es geht hier (auch) um die Legitimation einer Entscheidung. Argumentation wird in vielen theoretischen Ansätzen über ihre Funktion gefasst. Dabei lassen sich, wie oben eingeführt, zwei Funktionen von Argumentation unterscheiden: die Bearbeitung von Dissens oder Strittigkeit und die Funktion der Geltungsetablierung. Diese Funktionen schließen einander nicht aus, sondern bedingen einander und sind eng gekoppelt. Die epistemische Funktion, die Funktion Geltung zu etablieren, ist oben schon kurz beleuchtet worden. Sie betrifft vor allem den „Übergang“, die Herstellung von Relevanz zwischen Grund und Konklusion, von der die Sprecherin annimmt, dass sie vom Gegenüber geteilt wird. Diese Funktion findet sich in der Argumentationstheorie vor allem unter den Überschriften Topik und Argumentationsschemata wieder (vgl. Kapitel 4.3). Die Funktion der Bearbeitung von Strittigkeit soll hier noch einmal genauer betrachtet werden, da sie selbst nicht ganz unstrittig ist. Was bedeutet es, „Strittigkeit zu bearbeiten“, was genau ist das Ziel von Argumentation? Eine gemeinsame Lösung, einen Konsens oder Kompromiss zu erlangen und am Ende den bestehenden Dissens aufgelöst zu haben? Oder kann auch eine Verschärfung des Dissenses Ziel einer Argumentation sein? Es gibt einige Ansätze, die den Konsens als Ziel von Argumentation sehen (so z. B. die Theorie kommunikativen Handelns von Habermas, vgl. Kapitel 3.3) oder zumindest das Zurückziehen entweder der Problematisierung oder des Standpunktes nach einer argumentativen Phase (so z. B. die Pragma-Dialektik, vgl. Kapitel 3.6). Andere Ansätze sehen die Verschärfung einer Streitfrage durchaus auch als Ziel von Argumentation. Völzing (1979) stellt fest: „Es ist die Funktion von Argumentationen, in Konflikten dazu zu dienen, gegenteilige Meinungen oder Ansichten herauszuarbeiten, per Kompromiß oder Konsens Lösungsmöglichkeiten anzubieten, aber auch Potential zur Verschärfung eines Konflikts bereitzuhalten“ (Völzing, 1979, S. 12). Hier dient Argumentation also nicht ausschließlich der Lösung von Konflikten, sondern kann auch der Zuspitzung von Gegensätzen dienen, ohne einen direkten Einigungswillen. So sind beispielsweise parlamentarische Debatten oder politische Talkshows nicht darauf ausgelegt, Konsens zu erzielen, sondern vielmehr darauf, gegensätzliche Positionen vor einem Publikum aufzuführen. Vertreterinnen einer Konsensorientierung der Argumentation würden an dieser Stelle aber vermutlich argumentieren, dass die Verschärfung ein Zwischenstadium ist, um für einen Zeitraum unterschiedliche Positionen auszustellen und zu pointieren und damit ein Publikum in die Lage zu versetzen, eine fundierte Entscheidung zu treffen. Wie Klein (2001) treffend sagt, besteht in Situationen, in denen die Argumentierenden sich aufeinander beziehen, aber den Dissens nicht lösen können, „die Chance, dass aus unbegriffenem Dissens begriffener Dissens wird- - was bei 26 2 Was ist Argumentation? der Vorbereitung von Entscheidungen häufig notwendige Bedingung für tragfähige Kompromisse ist“ (S. 1311). Inwieweit ein argumentativer Austausch auf einen Konsens orientiert ist, hängt vom Argumentationskontext und speziell vom Grad an Agonalität ab. Im Beispiel des Ausschnitts aus „Die zwölf Geschworenen“ ist dies ein Kontext, in dem zwei Parteien-- Anklage und Verteidigung-- einander gegenüberstehen und eine Entscheidung nach bestimmten Verfahrensregeln getroffen werden muss. Zugleich rahmt Juror 8 die Situation eher als gemeinsames Problemlösen: Er hat noch keinen eigenen Standpunkt, formuliert Zweifel an dem geäußerten Standpunkt und will über das Abwägen von Gründen zu einer fundierten, legitimen Entscheidung kommen. Der Grad an Agonalität ist hier deutlich geringer als in einer Konfrontation zwischen unterschiedlichen, klar formulierten Positionen. Agonalität bestimmt Situationen, die auf einen Wettkampf oder eine kämpferische Auseinandersetzung bezogen sind. Lyotard (1989) nutzt den Begriff Agonistik in Bezug auf die argumentative Auseinandersetzung zwischen zwei Parteien mit einer dritten, beobachtenden Partei als Entscheidungsinstanz. Die Differenzierung zwischen verschiedenen Graden von Agonalität ist eine Frage, die momentan wieder stärker in den Fokus rückt. So kontrastiert Ehlich (2014, S. 41) exploratives und persuasives Argumentieren. Dabei geht er, im Anschluss an Trautmann (2004), davon aus, dass Argumentation eine Form der Wissensbearbeitung darstellt: Argumentation wird dann notwendig, wenn sich Differenzen zwischen den Wissenssystemen der Gesprächspartnerinnen ergeben (vgl. Ehlich, 2014, S. 45). Die Grundannahme ist hier, wie in fast allen Argumentationstheorien, dass Argumentation dann genutzt wird, wenn die Kommunikation zwischen den Partnern nicht mehr glatt verläuft, also Problematisierungen auftreten. Ehlich differenziert zwischen verschiedenen Arten der Differenzen zwischen den Wissenssystemen: Im persuasiven Argumentieren versuchen Gesprächspartnerinnen „interessebezogen die eigene Position in Bezug auf etwas gemeinschaftlich Fragliches zur Geltung zu bringen“ (S. 46), in explorativer Argumentation geht es „primär um eine gemeinsame Weiterentwicklung von Wissen als Umwandlung von präzisiert Unbekanntem in Bekanntes“ (S. 47). Eine Weiterentwicklung dieser Differenzierung steht noch aus. Als theoretische Setzung gilt für so gut wie alle argumentationstheoretischen Ansätze, dass auch für Argumentation mit einem geringen Grad an Agonalität Strittigkeit gegeben ist, wenn auch nur implizit. Strittigkeit ist damit konstitutiv für Argumentation. Argumentation hat also zwei Funktionen: Die Bearbeitung von Strittigkeit und die Etablierung von Geltung. Je nach argumentativer Situation kann eine der Funktionen im Vordergrund stehen, ohne dass dann die andere Funktion gänzlich fehlt. 27 2.1 Grundlagen des Argumentationsbegriffs 2.1.4 Argumentieren und Erklären Der Grad an Agonalität zwischen verschiedenen Formen der Argumentation kann variieren und Strittigkeit auch implizit angenommene Strittigkeit sein. Aber wie unterscheiden sich dann Argumentieren und Erklären? Ist Begründen innerhalb einer Argumentation nichts anderes als die Erklärung, warum die Konklusion zu Recht besteht? Wenn man Erklären und Argumentieren in Verbindung bringt, dann ist Argumentation eine spezifische Form des Erklärens, die Klein (2001) als „Erklären-warum“ bezeichnet. Aus Perspektive der Sprechakttheorie gleichen sich Erklären-warum und Argumentieren dahingehend, dass beide konklusive Sprechhandlungen vollziehen (S. 1309), d. h. sie etablieren Schlüsse zwischen verschiedenen Aussagen. Sie unterscheiden sich aber, so Klein (2001), in ihrer pragmatischen Funktion. So geht es beim Erklären-warum um das „Explizieren des Zustandekommens von Sachverhalten“ (S. 1316), wohingegen Argumentieren auf „problematische Geltungsansprüche“ (S. 1316) bezogen ist. Nach Morek (2012) unterscheiden sich beide Formen durch die epistemische Haltung, die die Beteiligten zu ihren Aussagen einnehmen: Beim Erklären ist diese durch Gewissheit gekennzeichnet, beim Argumentieren durch Verhandelbarkeit. Allerdings ist die klare Bestimmung von Äußerungen als Argumentation oder Erklärenwarum nicht immer möglich. Äußerungen können durchaus beide Funktionen vereinen. Deppermann (2006, S. 14) betont, dass sich die verschiedenen Bereiche Argumentieren, Erklären und semantisches Explizieren häufig nicht klar trennen lassen bzw. Äußerungen sich mehreren Kategorien zuordnen lassen. Analytisch sind Erklären-warum und Argumentieren also möglicherweise durchaus trennscharf, empirisch ist das nicht immer gegeben (für die Verbindung von Erklären und Argumentieren siehe weiterführend Antaki, 1994). 2.1.5 Status von Argumentation: Funktion oder Textsorte? In der Unterscheidung von Argumentieren und Erklären wird eine weitere grundlegende Frage in der Untersuchung von Argumentation deutlich: Lässt sich Argumentation an Hand textueller Merkmale oder über die Funktion eines Textes bestimmen? In der Linguistik befassen sich in erster Linie die Pragmatik und die Textlinguistik mit Argumentation. Dabei wird Argumentation unterschiedlich eingeordnet: als Diskurseinheit (Hausendorf & Quasthoff, 1996), als Form der Themenentfaltung (Brinker & Sager, 2006) oder auch als Vertextungsmuster (Eggs, 2008). Argumentation wird dann als ein Vertextungsmuster neben den anderen Mustern Narration, Deskription und Explikation gesehen (vgl. Brinker, Antos, Heinemann et al., 2008). Grundlegend für die Einordnung von Argumentation als ein Vertextungsmuster ist die Annahme, dass Argumentation durch spezifische sprachliche Verfahren gekennzeichnet ist. Als sprachliche Indikatoren für Argumentation werden häufig Konnektoren wie „weil“, „daher“, „da“, „deshalb“ etc. genannt. Diese markieren die Verbindung von einzelnen Aussagen im Sinne einer argumentativen Verknüpfung als Grund und Konklusion. Dabei ergeben sich allerdings einige Probleme. In natürlicher Argumentation bleiben, wie bereits dargelegt, einzelne Anteile einer Argumentation oft implizit, so dass einzelne Aussagen zwar als Teile einer Argumentation fungieren, aber nicht als solche markiert 28 2 Was ist Argumentation? werden. Im Beispiel der „zwölf Geschworenen“ ist die grundlegende Frage, auf die sich die meisten Äußerungen beziehen, ob der Junge schuldig ist oder nicht. Diese Konklusion wird aber nicht in jedem Fall geäußert. Doch auch wenn Grund und Konklusion einer Äußerung explizit geäußert werden, müssen sie nicht durch sprachliche Konnektoren verbunden sein, um als argumentativer Text kenntlich zu sein. Dies zeigt sich im folgenden Beispiel: JUROR 3: Unsere Waisenhäuser sind okay. Wir zahlen Steuern dafür. Diese Äußerung lässt sich klar als ein Komplex von Konklusion und Grund analysieren: Unsere Waisenhäuser sind okay, denn wir zahlen Steuern dafür. Dies wird aber nicht sprachlich markiert. Zudem sind sprachliche Konnektoren, wenn sie auftreten, oft vage (eine argumentative Verbindung kann durch sprachliche Konnektoren markiert werden, diese Markierung ist aber nicht hinreichend, um den Text sicher als Argumentation zu identifizieren) und polyfunktional (durch einen sprachlichen Indikator kann eine argumentative, aber auch eine explikative Verbindung angezeigt werden) (vgl. Deppermann, 2006). Die Bestimmung von Argumentation als Vertextungsmuster oder Funktion von Texten ist wichtig für verschiedene aktuelle Forschungsfragen in der Argumentationswissenschaft. Dieser Aspekt wird in Kapitel 6.1 noch einmal genauer aufgenommen, wenn das Verhältnis von Argumentation und Narration diskutiert wird. 2.2 Wenzels Modell der drei Perspektiven auf Argumentation Um das Feld stärker zu ordnen, bevor in den folgenden Kapiteln dann einzelne Ansätze genauer vorgestellt werden, soll hier das Modell der drei Perspektiven auf Argumentation von Wenzel (1980) eingeführt werden. Es wird in der Argumentationswissenschaft- - nur halb im Scherz-- oft auch die „Heilige Dreifaltigkeit der Argumentationstheorie“ genannt. Dieses Modell ist als Heuristik zu verstehen, d. h. es bietet klare analytische Abgrenzungen zwischen verschiedenen Bereichen. Diese Abgrenzungen sind in der Analyse natürlicher Argumentation nicht mehr so leicht zu ziehen und können verwischen. 2.2.1 Die Entwicklung des Modells der drei Perspektiven auf Argumentation Für die Einführung des Modells von Wenzel ist es sinnvoll, sowohl einen kurzen Abriss seiner Entwicklung zu geben als auch einen historischen Rückgriff auf seine Grundlagen zu unternehmen. 29 2.2 Wenzels Modell der drei Perspektiven auf Argumentation 2.2.1.1 Die drei Perspektiven bei Aristoteles Das Modell der drei Perspektiven lässt sich zurückbinden an die drei Schriften, in denen Aristoteles sich zur Argumentation äußert. Von Aristoteles liegt zur Argumentation keine eigene, umfassende Beschreibung oder Theorie vor. Er thematisiert das, was wir heute unter Argumentationswissenschaft fassen, in drei seiner Schriften: der „Analytik“, der „Topik“ und der „Rhetorik“. In der „Analytik“ behandelt Aristoteles logische Schlüsse, in der „Topik“ die dialektische Methode und die unterschiedlichen Topoi, die der Argumentation zu Grunde liegen können, und in der „Rhetorik“ schließlich werden das Enthymem und Paradigma als rhetorische Schlussverfahren sowie wiederum die Topik, hier mit der Unterscheidung in allgemeine und spezielle Topoi, behandelt. Dies korrespondiert begrifflich und konzeptionell mit der Unterscheidung der drei Perspektiven, die Wenzel vorgeschlagen hat. Wichtig ist aber, dass diese Unterscheidung keine aristotelische ist! Aristoteles behandelt Argumentation in den drei Werken „Analytik“, „Topik“ und „Rhetorik“. Er verfasste aber keine eigene, umfassende Theorie der Argumentation. 2.2.1.2 Von einer zu drei Perspektiven Das Modell der drei Perspektiven auf Argumentation hat eine Entwicklungsgeschichte, die zugleich einiges über die verschiedenen Ansätze der Argumentationswissenschaft erzählt. Daher soll die Geschichte des Modells der drei Perspektiven hier etwas ausführlicher an Hand von drei Aufsätzen dargestellt werden. Interessanterweise kommen die Autoren dieser Aufsätze alle aus derselben Disziplin, den Communication Studies. Diese firmierte bis in die 90er Jahre des 20. Jahrhunderts als Speech Communication und ist die deutlich größere und stärker differenzierte Schwesterdisziplin der Sprechwissenschaft. Eine Teildisziplin der Speech Communication (wie der Sprechwissenschaft) ist die Rhetorik. Zudem waren alle drei Autoren- - wie auch der Großteil der anderen rhetorisch geprägten Argumentationswissenschaftlerinnen in den USA -- Leiter akademischer, universitärer Debattenteams und hatten dadurch nicht nur einen theoretischen, sondern auch einen spezifisch praktisch ausgerichteten Blick auf Argumentation. 2.2.1.3 Der Sonderfall argument 1974 hielt Wayne Brockriede einen Vortrag auf der Alta Conference mit dem Titel „Where is Argument? “. Der Vortrag (und der daraus resultierende Artikel) verortet argument an sechs Stellen. Argument ist demnach 1. „an inferential leap from existing beliefs to the adoption of new beliefs or the reinforcement of an old one“ 2. „a perceived rationale to support that leap“ 3. „a choice among two or more competing options“ 30 2 Was ist Argumentation? 4. „a regulation of uncertainty“ 5. „a willingness to risk confrontation of a claim with peers“ 6. „a frame of reference shared optimally“ In Brockriedes Ansatz wird deutlich, was weiter oben schon betont wurde. Argumentation ist immer zweierlei: die Bearbeitung von Dissens und die Verhandlung von Geltung. Insbesondere Punkt 1, 2 und 6 beziehen sich auf geteiltes Wissen und die Etablierung von Geltung, wohingegen sich 3, 4 und 5 eher auf die Bearbeitung von Strittigkeit beziehen. Zudem ist der Aufsatz von Brockriede exemplarisch für das terminologische Problem, das der englische Begriff argument mit sich bringt. Nicht alle der sechs Punkte beziehen sich auf Argumentation im Sinne von Begründungshandeln. So lassen sich die Punkte 3 bis 6 zwar auf Argumentation beziehen, sie sind aber nicht spezifisch für Argumentation. Sie lassen sich allgemein auf rhetorisches Handeln beziehen, innerhalb dessen argumentiert werden kann, aber nicht muss. Nun nimmt Brockriede auch nicht in Anspruch, dass die sechs Punkte Argumentation und Argumentieren abschließend definieren, dass es sich also hier um die notwendigen und hinreichenden Bedingungen handelt, um von argument zu sprechen. Die Unklarheit in Bezug auf die sechs Punkte beruht auf der semantischen Breite des Begriffs argument im Englischen, der neben Argument oder Argumentation auch agonale Interaktionsformen wie Streit oder Auseinandersetzung einbezieht. Der englische Begriff argument hat eine semantische Breite, die im Deutschen nicht gegeben ist. Argument bezieht sich auf eine Interaktionsform und kann weitestgehend mit Streit übersetzt werden. Innerhalb eines argument kann argumentiert werden, dies ist aber nicht notwendigerweise der Fall. Diesen Unterschied aufs Unterhaltsamste deutlich gemacht haben Monty Python mit dem Sketch „The argument clinic“. Das ist konzentrierte Argumentationstheorie. 2.2.1.4 Argument 1 und Argument 2 Drei Jahre später reagiert Daniel O’Keefe (1977) auf Brockriede mit seinem Vortrag „Two Concepts of Argument“. O’Keefe kritisiert Brockriede wegen der unklaren Begrifflichkeit, die sich durch die unterschiedlichen Bedeutungen von argument ergeben kann. O’Keefe führt eine Unterscheidung ein, die in der nicht-englischsprachigen Literatur nicht notwendig wäre, im angloamerikanischen Raum aber zu einer immer noch so benannten Unterscheidung in argument 1 und argument 2 führt. O’Keefe (1977) versteht unter argument 1 „a kind of utterance or a sort of communicative act“ (S. 121). Dies entspricht damit dem Verständnis von Argumentation als Begründungshandeln. Argument 2 auf der anderen Seite ist „a particular kind of interaction“ (S. 121), ein Verständnis, das vom deutschen Begriff Argumentation nicht abgedeckt ist. O’Keefe formuliert den Unterschied so: „An argument 1 is something one person makes (or gives or presents or utters), while an argument 2 is something two or more persons have (or engage in)“ (S. 121). Nun sind Streit und Dissens Kontexte, die Argumentation zu 31 2.2 Wenzels Modell der drei Perspektiven auf Argumentation einem möglichen und vielleicht sogar erwartbaren, aber eben nicht notwendigen Verfahren machen. Diese Unterscheidung von O’Keefe ist vor allem im englischsprachigen Raum bis heute präsent. Interessant ist, dass O’Keefe Brockriede zwar kritisiert, aber auch anerkennt, dass die Begriffsverwirrung einem Perspektivwechsel auf Argumentation entstammt: einer Abwendung von Argumentation als logischem Schlussverfahren und einer Hinwendung zu sozialer Interaktion, in der Argumente ausgetauscht werden, in der argumentiert wird. 2.2.2 Die drei Perspektiven auf Argumentation 1980 dann schlägt Wenzel eine Dreiteilung des Argumentationsbegriffs vor: Argumentation lässt sich, so Wenzel, aus einer rhetorischen, dialektischen und logischen Perspektive betrachten. Er schließt mit diesem Konzept explizit an die Aufsätze von Brockriede (1975) und O’Keefe (1977) an, die er als Bemühungen sieht, die konzeptionelle und terminologische Unordnung innerhalb der Argumentationswissenschaft zu ordnen. Den Grund dieser Unordnung sieht Wenzel in der Wende in der Argumentationswissenschaft, weg von formal-logischen Auffassungen von Argumentation, hin zur Untersuchung natürlich-sprachlicher Argumentation, und damit weg von ent-situierten, konstruierten Beispielen hin zu Argumentation in sozialer Interaktion. Die Perspektiven in Wenzels Konzept-- Logik, Dialektik, Rhetorik-- korrespondieren wie beschrieben mit den Werken des Aristoteles, in denen er sich zur Argumentation äußert. Wenzel benennt diese drei Perspektiven als Prozess- (Rhetorik), Prozedur- (Dialektik) und Produkt- (Logik) Perspektive. Dabei handelt es sich nach Wenzel nicht um einander ausschließende Herangehensweisen, sondern um komplementäre Perspektiven, die abhängig sind vom Argumentationsverständnis und vor allem dem Erkenntnisinteresse der Forscherinnen. Die meisten Argumentationswissenschaftlerinnen werden Argumentation vorrangig aus einer Perspektive betrachten und bearbeiten, zugleich würden die meisten von ihnen aber zugestehen, dass alle drei Perspektiven nicht nur legitim sind, sondern ihre Kopplung und Integration produktiv sein kann, um Argumentation umfassend zu beschreiben und zu analysieren. Im Folgenden sollen diese drei Perspektiven näher dargestellt und am Beispiel der „Zwölf Geschworenen“ veranschaulicht werden. Die leitenden Fragen sind dabei für jede Perspektive: Was konstituiert ein Argument? (formaler Aspekt) Welche Funktion hat Argumentation? (funktionaler Aspekt) Was konstituiert Gültigkeit / Geltung? (Geltungsaspekt) 32 2 Was ist Argumentation? 2.3 Die logische Perspektive Logik betrachten viele Autorinnen als fundamental für Argumentation, als „grundlegenden Teil der Lehre von den Methoden, Prinzipien und Kriterien-[…], mit deren Hilfe man gute von schlechten Argumenten unterscheiden kann“ (Beckermann, 2011, S. 2). Und auch wenn die vorliegende Einführung in die Argumentation sich stärker auf die dialektische und vor allem die rhetorische Perspektive in der Argumentationswissenschaft konzentriert, so ist die Logik doch wichtiger Bestandteil jeder Form von Argumentationswissenschaft; nicht zuletzt, weil zentrale Begriffe, mit denen Argumente und Argumentation beschrieben werden, aus der Logik stammen. Die logische Perspektive thematisiert Argumentation aus einer Produktperspektive. Danach ist ein Argument eine Verbindung von Aussagen / Propositionen in der Weise, dass bestimmte Aussagen so verknüpft sind, dass sie eine weitere Aussage belegen können. Damit sieht eine logische Perspektive auf Argumentation auch vom Kontext ab, in dem argumentiert wird. Zudem werden Aussagen innerhalb formallogischer Argumentationstheorien von natürlicher Sprache in ein formales Zeichensystem übertragen. JUROR 8: Ich weiß nur, daß dieser Junge sein ganzes Leben herumgestoßen wurde. Er ist in einem Elendsviertel aufgewachsen, hat früh seine Mutter verloren. Damals war er neun Jahre alt. Für anderthalb Jahre hat man ihn in ein Waisenhaus gesteckt, weil sein Vater eine Gefängnisstrafe absitzen mußte. Wegen Scheckfälschung, stimmt’s? Ja, das ist kein gutes Sprungbrett fürs Leben. Wie sagten Sie noch - auf freier Wildbahn gegrast? Man hätte sich eben mehr um ihn kümmern sollen. JUROR 3: Unsere Waisenhäuser sind okay. Wir zahlen Steuern dafür. Dieses Beispiel ist in natürlicher Sprache formuliert. Das Argument lässt sich bereits identifizieren, steht aber noch in seinem Kontext. Eine Rekonstruktion in der dreistelligen Argumentform würde folgendermaßen aussehen: Übertragen in eine logische Formsprache könnten die Aussagen folgendermaßen ersetzt werden: 33 2.3 Die logische Perspektive Damit reduziert sich das natürlichsprachliche Argument auf eine Schlussformel, die dem Kontext des Gesprächs enthoben ist. Diese ließe sich folgendermaßen formulieren: Wenn p, dann q. p! Also q. Diese Umwandlung zeigt zwei Aspekte auf, die immer wieder an formallogischen Herangehensweisen kritisiert wurden. Zum einen entsteht durch die Übertragung von natürlicher in logische Sprache eine Reduzierung der Bedeutung. Aus potenziell vagen, mehrdeutigen Äußerungen werden eindeutige Zeichen. So steht q jetzt für die Äußerung „Waisenhäuser sind okay“. Schon diese Reduktion des ursprünglichen Textes ist nicht unproblematisch, mag in diesem Fall aber stimmig sein und ist angesichts der kurzen Äußerung wohl möglich (wobei das „unsere“ hier schon verschwunden ist und man sich streiten könnte, ob es nicht zum Argument dazugehört). Die Reduktion dieser Aussage nun auf „q“ wandelt etwas Mehrdeutiges (was genau heißt okay? Ist es das Gleiche wie gut? Oder gut genug? Und wer sind genau diese „wir“, die die Steuern zahlen? Alle im Raum? Alle Amerikaner? Alle guten Amerikaner? ) in etwas Eindeutiges. Allerdings ist damit ein Einwand benannt, der nur bedingt trifft: Es geht an dieser Stelle der logischen Perspektive um die Beziehung zwischen den Aussagen, nicht um die Aussagen selbst. Hier setzt auch die nächste Kritik-- möglicherweise dann nicht ganz zu Recht-- an. Die logische Perspektive trifft keine Aussage über die Wahrheit oder Wahrscheinlichkeit der Prämissen, sondern nur über die Beziehung der Prämissen untereinander. Häufig ist es aber der Inhalt der Aussagen-- in seiner Vagheit und Mehrdeutigkeit--, der die Probleme bereitet. So könnte Juror 8 hier entgegnen: Was meinen Sie denn mit okay? Die logische Perspektive kann Argumentation nicht in Bezug auf ihren Inhalt und die daraus resultierende Überzeugungskraft untersuchen und nimmt dies für sich auch nicht in Anspruch. Zur logischen Argumentationstheorie liegen eine Vielzahl von sehr guten Einführungen vor, so z. B. Bayer (2007), der auch Alltagsargumentation in seine Überlegungen einbezieht, Bühler (1992), Tetens (2006) zur philosophischen Argumentation, Wolff (2006) oder Walter / Wenzl (2016) in einer sehr praktischen Heranführung. Die vorliegende Einführung stellt daher die dialektische und rhetorische Perspektive in den Vordergrund. Dennoch kommt auch sie ohne grundlegende Begriffe der Logik nicht aus: So wird in der Logik in der Regel nicht von einer argumentativen Äußerung, sondern einer Aussage gesprochen. Häufig wird auch der Begriff der Prämisse genutzt. Grundlegende logische Schlussverfahren wie deduktive und induktive Schlüsse sind auch für die dialektische und rhetorische Argumentationstheorie relevant. Daher folgt hier eine Erläuterung einiger zentraler argumentationswissenschaftlicher Begriffe aus der Logik. 34 2 Was ist Argumentation? Prämisse: Eine gegebene Aussage, rekonstruierbar aus einer Äußerung innerhalb einer Argumentation. Diese Aussage wird als wahr gesetzt. Syllogismus (manchmal auch deduktiver Syllogismus): Ein analytischer Schluss bestehend aus Oberprämisse, Unterprämisse und Konklusion. Teilweise findet sich auch die Terminologie Obersatz, Untersatz, Konklusion. Die Prämissen werden als wahr behandelt. Dabei formuliert die Oberprämisse einen allgemein geltenden Satz, die Unterprämisse einen spezifischen Fall. Aus beiden folgt zwingend die Konklusion, d. h. die Prämissen beinhalten bereits die Konklusion. Ein deduktiver Syllogismus kann in der Konklusion also keine Informationen bringen, die in den Prämissen nicht schon enthalten gewesen wären. Das wohl bekannteste Beispiel ist die Sterblichkeit Sokrates’: Oberprämisse: Alle Menschen sind sterblich. Unterprämisse: Sokrates ist ein Mensch. Konklusion: Also ist Sokrates sterblich. Der Syllogismus ließe sich auch in der dreistelligen Form des Arguments wiedergeben, mit der Unterprämisse als Grund, der Oberprämisse als Übergang und der Konklusion. Deduktion: Ausgehend von einem allgemeinen Satz wird ein Schluss für einen speziellen Fall gezogen. Wenn im Beispiel Juror 10 argumentiert, dass der Junge ein Verbrecher ist, weil alle von „ihnen“, den Menschen aus dem Slum, geborene Verbrecher sind, ist das ein deduktiver Schluss. Induktion: Ausgehend von einem spezifischen Satz oder einer einzelnen Beobachtung / Erfahrung wird ein Schluss für einen allgemeinen Fall gezogen. Wenn die Geschworenen einzelne Indizien und Zeugenaussagen zusammentragen, soll aus einzelnen Beobachtungen eine Aussage für den gesamten Fall konstruiert werden: Der Junge ist schuldig / nicht schuldig. Dies ist ein induktives Schlussverfahren, allerdings nicht mit dem Ziel eine allgemeingültige Regel aufzustellen, sondern einen Schluss für diesen konkreten Fall zu finden. Abduktion: Die Abduktion ist ein Schlussverfahren, das im Gegensatz zu Induktion und Deduktion neue Erkenntnis ermöglicht. Ein überraschendes Phänomen wird mit einer neuen, allgemeinen Regel erklärt (Deduktion), die dann über Beobachtung und Erfahrung verifiziert wird (Induktion). Für die Wissenschaftstheorie hat Charles Saunders Peirce diesen Begriff aus der antiken Analytik nutzbar gemacht. Fehlschluss: Auch Trugschluss oder Fallazie genannt. Die Standarddefinition eines Fehlschlusses ist: Ein Schluss der valide erscheint, es aber nicht ist. Fehlschlüsse werden gesondert im Kapitel zur Dialektik (3.2) behandelt. 35 2.4 Die dialektische Perspektive Was würde es nun bedeuten, das Stück „Die zwölf Geschworenen“ aus einer logischen Perspektive zu betrachten? Wie oben gesehen, beinhaltet eine Produktperspektive auf Argumentation eher eine Perspektive auf das einzelne oder die einzelnen Argumente. Es setzt diese einzelnen Argumente nicht in Beziehung zum Kontext und zu den Teilnehmern oder dem Publikum der Argumentation. Wenzel (1980) meint mit einer logischen Perspektive auf Argumentation aber nicht unbedingt ein formallogisches Vorgehen, sondern vor allem eine Konzentration auf die Beziehung zwischen den einzelnen Aussagen. Ein gutes / geltendes / valides Argument ist demnach eins, das einen gültigen Schluss vollzieht, in dem Sinn, dass die Verbindung von Prämisse zu Konklusion einem akzeptierten Muster folgt, beziehungsweise die Prämissen die Konklusion beinhalten, so dass der Schluss von beiden Prämissen auf die Konklusion zwingend ist. Im Folgenden wird jeder grundlegende Ansatz zunächst in Bezug auf die oben genannten drei Grundfragen (formaler Aspekt, funktionaler Aspekt, Aspekt der Geltung) betrachtet (vgl. auch das Onlinematerial zu diesem Buch). Für die drei Perspektiven hat Wenzel (1980, S. 124) selbst eine deutlich umfassendere Matrix konstruiert, auf die ich mich für diese drei Perspektiven beziehe. Perspektive / Modell / Ansatz Formaler Aspekt: Wie ist ein Argument aufgebaut? Funktionaler Aspekt: Welche Funktion hat Argumentation? Gute Gründe: Wie bestimmt sich die Geltung / Gültigkeit eines Arguments? Logische Perspektive Aus wahren Prämissen Von wahren Aussagen auf wahre Konklusionen zu schließen Validität bezogen auf inferentielle Regeln 2.4 Die dialektische Perspektive Die dialektische Perspektive betrachtet Argumentation aus einer Verfahrensperspektive. Sie fragt nach der Lauterkeit der genutzten Argumente, der genutzten Verknüpfung und des Ablaufs des argumentativen Austauschs. Aristoteles (1995b) führt die Dialektik in der „Topik“ ein und bestimmt sie als „eine Methode-(…), nach der wir über jedes aufgestellte Problem aus wahrscheinlichen Sätzen Schlüsse bilden können und, wenn wir selbst Rede stehen sollen, in keine Widersprüche geraten“ (100a118). Das Hauptaugenmerk der dialektischen Perspektive ist entsprechend auf die Argumentation als Verfahren und dialogischen Austausch gerichtet, nicht auf das einzelne Argument. Zudem befasst sich die Dialektik-- ebenso wie die Rhetorik-- mit Schlüssen aus der Wahrscheinlichkeit, nicht der Wahrheit. Der Fokus auf das Verfahren der Argumentation beinhaltet die Annahme, dass Argumentation im Dialog zwischen Proponenten und Opponenten entsteht, wenn eine Aussage strittig wird. Wenzel (1980, S. 115) betont, dass aus einer dialektischen Perspektive Proponent und Opponent in zweierlei Hinsicht kooperativ agieren: zum einen, indem sie sich auf gemeinsame Verfahrensregeln einigen, zum anderen dahingehend, dass das Ziel ihres argumentativen Austauschs eine Einigung oder die Lösung eines Problems ist. Damit ist noch keine Aussage darüber getroffen, 36 2 Was ist Argumentation? ob diese Einigung faktisch auch eintritt. Geltung kann ein Argument aus der dialektischen Perspektive dann beanspruchen, wenn die Teilnehmerinnen bestimmten Regeln zum Ablauf von Argumentation folgen. Der Bruch dieser Regeln wird dann in vielen Ansätzen als Trugschluss markiert. Die Regeln hängen von der theoretischen Ausrichtung ihrer Autorinnen ab. In Kapitel 3 werden verschiedene Ansätze aus der dialektischen Perspektive vorgestellt und diskutiert. Das Beispiel aus den „Zwölf Geschworenen“ aus dialektischer Perspektive zu betrachten, würde also heißen: zu untersuchen, ob Proponent und Opponent sich an bestimmte Verfahrensregeln halten. JUROR 8: Ich weiß nur, daß dieser Junge sein ganzes Leben herumgestoßen wurde. Er ist in einem Elendsviertel aufgewachsen, hat früh seine Mutter verloren. Damals war er neun Jahre alt. Für anderthalb Jahre hat man ihn in ein Waisenhaus gesteckt, weil sein Vater eine Gefängnisstrafe absitzen mußte. Wegen Scheckfälschung, stimmt’s? Ja, das ist kein gutes Sprungbrett fürs Leben. Wie sagten Sie noch - auf freier Wildbahn gegrast? Man hätte sich eben mehr um ihn kümmern sollen. JUROR 3: Unsere Waisenhäuser sind okay. Wir zahlen Steuern dafür. Aus dialektischer Perspektive würde dieser Auszug daraufhin untersucht und bewertet werden, ob er bestimmten Regeln guten Argumentierens folgt. Diese beziehen sich sowohl auf die gegebenen Gründe und die Übergänge von Grund zu Konklusion als auch auf den Ablauf der Argumentation zwischen den Teilnehmerinnen. Ist die Entgegnung von Juror 3 also auf das Argument von Juror 8 bezogen? Können alle Teilnehmer Argumente vorbringen? Sind alle Teilnehmer bereit, wenn gefordert, Argumente zu präsentieren? Damit nimmt die dialektische Perspektive immer einen normativen Blick ein und zielt auf eine Kritik argumentativen Austauschs. Die Art dieser Kritik hängt von den zu Grunde liegenden Regeln ab. In der Matrix lässt sich die dialektische Perspektive folgendermaßen darstellen: Perspektive / Modell / Ansatz Formaler Aspekt: Wie ist ein Argument aufgebaut? Funktionaler Aspekt: Welche Funktion hat Argumentation? Gute Gründe: Wie bestimmt sich die Geltung / Gültigkeit eines Arguments? Logische Perspektive Aus wahren Prämissen Von wahren Aussagen auf wahre Konklusionen zu schließen Validität bezogen auf inferentielle Regeln Dialektische Perspektive Aus wahrscheinlichen Aussagen Die rationale Lösung einer Kontroverse zu erreichen Das Befolgen von Verfahrensregeln 37 2.5 Die rhetorische Perspektive 2.5 Die rhetorische Perspektive Rhetorik kann verstanden werden als die Praxis und Theorie der Überzeugung anderer. Dies ist insbesondere in Situationen notwendig, in denen keine sichere Entscheidungsgrundlage zur Verfügung steht und Entscheidungsdruck herrscht. Nach Aristoteles (2002) beschreibt Rhetorik „die Fähigkeit, bei jeder Sache das möglicherweise Überzeugende zu betrachten“ (1355b26-27). Die rhetorische Perspektive untersucht Argumentation aus einem Prozessblick. Argumentation wird danach verstanden als ein kommunikatives Verfahren in Rede- oder Gesprächssituationen, das durch Begründungshandeln entweder Überzeugung beim Gegenüber oder aber auch die Verschärfung von Streitpunkten erreichen will. Argumentation dient aus diesem Blickwinkel der Persuasion eines Publikums oder von Interaktionsteilnehmerinnen. Persuasion bezeichnet „bewusste Versuche, Verhalten mit Hilfe von Zeichen zu beeinflussen“ (Schönbach, 2016, S. 17). Anzufügen wäre hier, dass es nicht nur um die Beeinflussung von Verhalten, sondern auch von Einstellungen gehen kann. Der Begriff der Persuasion umfasst zwei Bedeutungen und Konzepte: das Konzept des Überredens und das des Überzeugens. Die Unterteilung in Überreden und Überzeugen bringt immer eine Wertung mit. Unter Überzeugen kann man die Form der Persuasion verstehen, die auch vom Rezipienten reflektiert wird. Überreden wird hingegen in der Regel als ein Persuasionsprozess verstanden, in dem „das Bezugssystem des Hörers kurzgeschlossen wird“ (Geißner, 1988, S. 154). Das heißt, die Hörerin ändert zwar kurzfristig ihre Einstellung und / oder ihr Verhalten, sollte es jedoch zu einer genaueren Prüfung kommen, revidiert sie die Änderung in Einstellung und / oder Verhalten möglicherweise schnell wieder (wenn sie sie nicht ändert, ist sie nun überzeugt). Diese Unterscheidung von Überreden und Überzeugen wird in der Diskussion der einzelnen rhetorischen Ansätze noch relevant werden. Ein gutes Argument ist aus rhetorischer Sicht ein effektives Argument, eines mit dem die Sprecherin ihre Ziele erreicht. Das Interesse der rhetorischen Perspektive wäre nun zu analysieren, welche argumentativen Verfahren Teilnehmerinnen nutzen, um möglichst erfolgreich zu agieren. JUROR 8: Ich weiß nur, daß dieser Junge sein ganzes Leben herumgestoßen wurde. Er ist in einem Elendsviertel aufgewachsen, hat früh seine Mutter verloren. Damals war er neun Jahre alt. Für anderthalb Jahre hat man ihn in ein Waisenhaus gesteckt, weil sein Vater eine Gefängnisstrafe absitzen mußte. Wegen Scheckfälschung, stimmt’s? Ja, das ist kein gutes Sprungbrett fürs Leben. Wie sagten Sie noch - auf freier Wildbahn gegrast? Man hätte sich eben mehr um ihn kümmern sollen. JUROR 3: Unsere Waisenhäuser sind okay. Wir zahlen Steuern dafür. 38 2 Was ist Argumentation? Aus Sicht der rhetorischen Perspektive ist hier interessant, dass Juror 3 sich nur auf einen Teil der Argumentation von Juror 8 bezieht und ihn versucht zu entkräften, nicht aber auf die anderen Teile, die ebenso die Konklusion von Juror 8 stützen: „das ist kein gutes Sprungbrett für’s Leben“. Allerdings macht Juror 3 auch nicht explizit, ob er meint, dass durch dieses Gegenargument das gesamte Argument von Juror 8 oder nur ein Teil als widerlegt zu gelten hat. Die Frage, was aus einem Grund einen guten Grund macht, ist für die rhetorische Perspektive nicht einfach zu beantworten. Es ist eine Frage, die Rhetorikerinnen in der Argumentationswissenschaft immer wieder umtreibt. Einerseits könnte man sagen, dass die rhetorische Perspektive ein klares Kriterium vorgibt: die Akzeptanz durch das Gegenüber. Wenn das Gegenüber das Argument akzeptiert und daraufhin seine eigene Position korrigiert, war die Argumentation effektiv. Ein Argument, das vom Gegenüber nicht akzeptiert oder zumindest als relevant eingeordnet wird, kann keine Wirkung entfalten, wäre also ineffektiv. Dies würde aber andererseits auch bedeuten, dass Argumente, die auf Lügen, persönlichen Angriffen oder Drohungen beruhen, als „geltend“ eingeordnet würden, nur weil sie akzeptiert werden. Wirksamkeit und Geltung würden so gleichgesetzt, eine Gleichsetzung, die zumindest dann problematisch ist, wenn Argumentation als besonderes kommunikatives Mittel zur Entscheidungsfindung gilt. Fast alle Theoretikerinnen rhetorischer Ansätze haben sich mit diesem Problem auseinandergesetzt und Lösungen entwickelt: Toulmin (1958) mit dem Feldkonzept, Perelman und Olbrechts-Tyteca (2004a, 2004b) mit dem Konzept des Universellen Publikums und Habermas (1981) mit dem Konzept der Idealen Sprechsituation. Zugleich ist der Ansatz, Argumentation aus einer Prozesssicht so zu beschreiben, wie sie auftritt, ohne sie sofort in ein normatives Modell einzuordnen, wichtig. Nur so können Theorien zur Argumentation für die Analyse von authentischem, argumentativem Diskurses relevant gemacht werden. Perspektive / Modell / Ansatz Formaler Aspekt: Wie ist ein Argument aufgebaut? Funktionaler Aspekt: Welche Funktion hat Argumentation? Gute Gründe: Wie bestimmt sich die Geltung / Gültigkeit eines Arguments? Logische Perspektive Aus wahren Prämissen Von wahren Aussagen auf wahre Konklusionen zu schließen Validität bezogen auf inferentielle Regeln Dialektische Perspektive Aus wahrscheinlichen Aussagen Die rationale Lösung einer Kontroverse zu erreichen Das Befolgen von Verfahrensregeln Rhetorische Perspektive Aus wahrscheinlichen Aussagen Die Überzeugung / Überredung des Gegenüber Durch Akzeptanz? Ja, aber nicht nur … 2.6 Probleme der Unterteilung in die logische, dialektische und rhetorische Perspektive Die Schwierigkeit, den Status von argumentativer Geltung aus der rhetorischen Perspektive genau zu benennen, weist auf ein Problem des heuristischen Modells der drei Perspektiven auf Argumentation hin. Auch wenn es möglich ist, die drei Ebenen analytisch zu trennen, so werden die Grenzen in der Praxis doch immer wieder verwischen. In der Analyse von 39 2.6 Probleme der Unterteilung in die logische, dialektische und rhetorische Perspektive authentischer Argumentation ist oft insbesondere zwischen rhetorischer und dialektischer Perspektive nicht klar zu unterscheiden. Die Differenzierung des Argumentationsbegriffs in drei Perspektiven ist nicht unumstritten. Sie ist kritisiert worden, da sie suggerieren könnte, es gäbe nur drei Perspektiven, aus denen Argumentation untersucht werden kann und diese drei seien in sich geschlossen (Gilbert, 2014; Johnson, 2009). So gibt es sicher nicht nur eine rhetorische, eine dialektische oder eine logische Perspektive, sondern innerhalb dieser Trias wiederum verschiedene, auch widerstreitende Ansätze. Zudem sind die verschiedenen Ansätze in sich nicht klar abgeschlossen, wie später in den Kapiteln zu dialektischen und rhetorischen Ansätzen zu sehen sein wird. Blair (2012) hat die Einteilung grundsätzlich kritisiert, da er zum einen davon ausgeht, dass die Perspektiven sich nicht genau trennen lassen, zum anderen feststellt, dass einige Autorinnen beispielsweise unter „rhetorischer Argumentation“ eher einen bestimmten thematischen Bereich und keine analytische Perspektive verstehen: Diskurse, in denen die Wahrscheinlichkeit von Aussagen dominiert und dennoch Entscheidungen getroffen werden müssen, wie im politischen Diskurs. Blair selbst vertritt die Sichtweise, dass die rhetorische Perspektive auf die Rede und die dialektische Perspektive auf das Gespräch bezogen sein sollte und die Logik in beiden Bereichen die Normen bereitstellt, nach denen die Geltung der Argumente analysiert werden kann (vgl. Blair, 2012, S. 13). Jørgensen (2014), Vertreterin einer eher rhetorischen Sichtweise, antwortete darauf mit der Feststellung, dass insbesondere die Charakterisierung der rhetorischen Situation durch die Rede sowie die eher antiquiert wirkende Beschreibung von Redesituationen als monologisch und nicht-interaktional einem modernen Rhetorikverständnis und Verständnis von öffentlicher Rede nicht gerecht werden. Zugleich lehnt aber auch Jørgensen den Begriff der Perspektive ab, zumindest soweit er einen essentiellen Unterschied zwischen den einzelnen Perspektiven festschreibt (vgl. Jørgensen, 2014, S. 153). Jørgensen schlägt vor den Begriff der Perspektive durch den des Feldes zu ersetzen, im Sinne eines logischen, dialektischen und rhetorischen Feldes (vgl. S. 154, 162). Nun ist der Feldbegriff in der Argumentationswissenschaft klar besetzt durch den Feldbegriff bei Toulmin (siehe Kapitel 4.2.1). Davon abgesehen erlaubt der Begriff der Perspektive aber auch einen analytischen Zugriff, der in der Behandlung des Beispiels deutlich geworden ist: Derselbe Text, dasselbe Gespräch, dieselben Aussagen können aus verschiedenen Blickwinkeln mit den dazugehörigen theoretischen Implikationen untersucht werden, ohne dass eine Perspektive besser oder angemessener wäre. Es ist aber durchaus möglich, dass eine Perspektive sich in einem bestimmten Fall als „interessanter“ herausstellt, d. h. neue Erkenntnisse bringt. Aus dieser Sicht ist die Heuristik der drei Perspektiven hilfreich, um einen Zugang zur Argumentationswissenschaft zu ermöglichen und das Feld zu ordnen, um den eigenen analytischen Zugang zu klären und um die scheinbare Inkompatibilität verschiedener Ansätzen aufzulösen. Gleichwohl bleibt es eine Heuristik. 41 3.1 Informelle Logik 3 Die dialektische Perspektive Aus der dialektischen Perspektive wird Argumentation als dialogisch gesehen (im Gegensatz zur logischen Perspektive) und ist bestimmt durch eine normative Herangehensweise, die authentische Argumentation nach externen Maßstäben und Regelkatalogen einordnet und bewertet (im Gegensatz zur rhetorischen Perspektive). Die Art dieser Regeln ist je nach Ansatz unterschiedlich, wobei es breite Überschneidungen gibt. Im Folgenden sollen die Hauptströmungen der dialektischen Perspektive vorgestellt werden: die Informelle Logik und daran anschließend die Theorie der Fehlschlüsse, die Diskurstheorie Habermas’, die Normative Pragmatik, die Normen für Diskussionen bei Naess und die Pragma-Dialektik. Wie im vergangenen Kapitel ausgeführt, sind die drei Perspektiven auf Argumentation- - Logik, Dialektik und Rhetorik-- nicht immer trennscharf. Hinzu kommt, dass einige Ansätze um eine Verbindung und Integration von dialektischem und rhetorischem Zugriff bemüht sind. Diese „verbindenden“ Ansätze-- zum einen das Konzept des strategic maneuvering aus der Pragma-Dialektik und zum anderen die Verbindung von Informeller Logik und Rhetorik bei Tindale-- werde ich am Ende des Kapitels vorstellen. 3.1 Informelle Logik Die Wurzeln der Informellen Logik liegen in der Praxis des Unterrichtens von Argumentationstheorie. Ihr Ansatz hat sich in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts innerhalb der Philosophie in Abgrenzung zur formallogischen Analyse von Argumentation entwickelt. Neben dem didaktischen Gründungsimpuls identifizieren Blair / Johnson (1987) mit den Argumentationstheorien von Stephen Toulmin sowie Chaim Perelman und Lucie Olbrechts- Tyteca noch einen zweiten. Diese Ansätze markieren eine rhetorische (oder dialektische, doch dazu später) Wende in der Argumentationswissenschaft, indem sie abkehren von der Beschreibung und Analyse von Argumentation aus Sicht der Formalen Logik (für eine weitere Diskussion vgl. Kapitel 4.2). Die Informelle Logik folgt diesen Ansätzen in ihrem Statement „that formal deductive logic is not the logic of argumentation“ (Blair & Johnson, 1987, S. 147). Der Impuls für die Etablierung der Informellen Logik war also die Unzufriedenheit einiger Wissenschaftlerinnen mit den Methoden, die die Formale Logik zur Analyse natürlichsprachlicher und authentischer Argumentation bietet. Dieser Impuls, zentral getragen von J. Anthony Blair und Ralph Johnson, entsprang den Seminarräumen der US -amerikanischen und kanadischen Universitäten. Blair / Johnson (1987) definierten die Informelle Logik anfangs folgendermaßen: „We believe that informal logic is best understood as the normative study of argument. It is the area of logic which seeks to develop standards, criteria and procedures for the interpretation, evaluation and construction of arguments and argumentation used in natural language“ (S. 148). Diese schon ältere, aber bei Weitem nicht veraltete Definition- - Blair / Johnson (2000) nennen sie genauso in einem späteren Überblicksartikel- - macht deutlich, warum die Informelle Logik in den Bereich der dialektischen Perspektive auf Argumentation ein- 42 3 Die dialektische Perspektive geordnet wird. Es geht ihr um die Untersuchung des Verfahrens und damit um die Entwicklung von Normen für gültige, natürlichsprachliche Argumentation. Zugleich beschreiben Blair / Johnson (1987) die Informelle Logik aber auch als einen Zweig der Logik. Auch Pinto (2009) ordnet die Informelle Logik in die logische Perspektive ein. Tindale (2013, S. 10) folgt in seiner sehr zu empfehlenden Einführung in die Informelle Logik weitestgehend der Bestimmung von Blair / Johnson (1987), wenn er die Position der Informellen Logik mit folgenden Forschungsinteressen beschreibt: ▶ das Interesse an Alltagsargumentation, ▶ das Interesse an den Kriterien für gute Argumente und Argumentation, ▶ das Interesse für die Theorie der Fehlschlüsse ▶ sowie das Interesse für die Verpflichtungen der Teilnehmer innerhalb einer Argumentation. Der letzte Punkt macht deutlich, dass die Informelle Logik, im Gegensatz zur Formalen Logik, Argumentation grundsätzlich als dialogisch konzipiert: Argumentieren ist hier etwas, das mindestens zwei Personen miteinander tun. Das Ziel von Ansätzen innerhalb der Informellen Logik ist also immer ein Abgleich von natürlichsprachlicher Argumentation mit Normen oder Standards guter Argumentation. Gute Argumentation wird dabei, anders als in den logischen Ansätzen, nicht mehr über formallogische Validität der Schlussverfahren bestimmt, sondern über drei Kriterien (vgl. Tindale 2013): ▶ Relevanz ▶ Hinlänglichkeit ▶ Akzeptabilität Ein gutes Argument, eingebettet in einen argumentativen Austausch, muss relevant sein in Bezug auf die Fragestellung, ausreichend sein in der Stützung der Konklusion und es muss akzeptabel sein. Hier ließe sich die Frage anschließen: Akzeptabel für wen? Diese Diskussion wird in 3.7 wieder aufgenommen. Die Hinwendung zu der Frage, wie Geltung in natürlicher Argumentation beschaffen sein kann, hat in der Informellen Logik zu einer starken Beschäftigung mit der Theorie der Fehlschlüsse geführt. Diese ist einer der zentralen Bereiche der Informellen Logik geworden. Dabei ist zum einen die Diskussion der einzelnen Arten von Fehlschlüssen von Interesse, zum anderen aber auch die Frage, was die Fehlschlüssigkeit eines Arguments ausmacht (siehe dazu Kapitel 3.2). Die Informelle Logik ist ein normativer Ansatz. Sie entwickelt Standards und Normen für natürlichsprachliche Argumentation. Ein Hauptgegenstandsbereich ist die Forschung zu Fehlschlüssen. Da sich die Informelle Logik auf natürliche Argumentation und den Austausch von Argumenten konzentriert, bekommt die Dialogizität von Argumentation eine besondere Bedeutung, 43 3.1 Informelle Logik die sie in der Formalen Logik nicht hat. Eine Ausnahme in der Formalen Logik bildet das Konzept der Dialogischen Logik von Lorenzen und Lorenz (1978), das Argumentation innerhalb der Logik als dialogisch, mit einem Opponenten und Proponenten modelliert, sich aber nicht auf natürlichsprachliche und alltagssprachliche Argumentation konzentriert. Doch grundsätzlich ist das dialogische Prinzip ein Merkmal, durch das sich Ansätze zur Argumentation von der Formalen Logik abgrenzen. Das dialogische Prinzip verbindet die Informelle Logik mit anderen dialektischen Ansätzen. Innerhalb der Informellen Logik ist daher auch der Dialog als Ort der Argumentation ausgearbeitet und weiter spezifiziert worden. Beispielhaft soll dazu das Dialog-Modell von Douglas Walton (2010) vorgestellt werden. Walton führt 1995 gemeinsam mit Krabbe ein Modell von sechs Dialogtypen ein, die mit bestimmten Zielen und Formen der Beweispflicht verbunden sind. Ein Dialog bestimmt sich dabei nach Walton durch einen Ablauf in drei Schritten: einer Eröffnungsphase, einer argumentativen Phase und einer Abschlussphase (vgl. 2010, S. 1). In der Publikation von 2010 bezieht Walton einen siebten Dialogtypus ein. Die gesamte Einteilung ist theoretisch begründet und normativ konstruiert. Walton unterscheidet hier zwischen den Zielen der Teilnehmerinnen an einem Dialog und der Funktion der Dialogform. Waltons (2010) sieben Dialogtypen mit ihren verschiedenen Aufgaben und Zielen: Type of Dialogue Initial Situation Participant’s Goal Goal of Dialogue Persuasion Conflict of opinions Persuade other party Resolve or clarify issue Inquiry Need to have proof Find and verify evidence Prove (disprove) hypothesis Discovery Need to find an explanation of facts Find and defend a suitable hypothesis Choose best hypothesis for testing Negotiation Conflict of interest Get what you most want Reasonable settlement both can live with Information-Seeking Need information Acquire or give information Exchange information Deliberation Dilemma or practical choice Co-ordinate goals and actions Decide best available course of action Eristic Personal conflict Verbally hit out at opponent Reveal deeper basis of conflict Abb. 1 Dialogtypen nach Walton (2010, S. 13) Die Typologie trägt der Tatsache Rechnung, dass nicht alle Diskursformen, in denen argumentiert wird, den gleichen Bedingungen unterliegen. Interessant sind an diesem Modell möglicherweise weniger die Typen an sich, sondern die Übergangsbereiche zwischen den einzelnen Typen. Genau an den Übergangsstellen können Probleme in der Argumentation auftreten. Dies lässt sich an einem Ausschnitt des Beispiels zeigen. 44 3 Die dialektische Perspektive JUROR 10: Richtig. Aber der Zug war leer und fuhr in Richtung City. Er war auch unbeleuchtet, wenn Sie sich erinnern. Und die Sachverständigen haben uns bewiesen, daß man bei Nacht durch die Fenster eines vorbeifahrenden Hochbahnzuges sehen kann, was auf der anderen Seite vorgeht. Sie haben es bewiesen! JUROR 8: Eine Frage. Sie trauen dem Jungen nicht. Was veranlaßt Sie, der Frau zu trauen? Sie stammt doch aus demselben Milieu? JUROR 10: Ach Sie - Sie sind ein ganz geriebener Gauner … JUROR 1: Aber, aber, meine Herren! Immer mit der Ruhe! JUROR 7: Lassen Sie ihn doch reden! Tief durchatmen, entspannen! JUROR 10: Er hat die Weisheit mit Löffeln gefressen, Sie werden schon sehen - JUROR 1: Gut, gut, wir sind doch nicht da, um uns zu streiten. Wer kommt dran? Der Dialog entspricht wohl am ehesten dem Typus der Beratung (deliberation), da es darum geht, eine Entscheidung zu treffen. Man könnte auch dafür argumentieren, dass es sich eher um eine Untersuchung (inquiry) handelt. Allerdings liegen in einer Beratung von Geschworenen die Beweise bereits vor und müssen von ihnen „nur noch“ gewichtet werden. Interessant ist jetzt die Äußerung von Juror 10, der Juror 8 vorwirft ein „ganz geriebener Gauner“ zu sein. Hier könnte die Beratung (deliberation) in einen eristischen Dialog umschlagen. Das scheint auch Juror 1 zu befürchten, wenn er die Juroren zur Ordnung ruft und etwas später sagt: „Wir sind doch nicht da, um uns zu streiten.“ Die Äußerung des Jurors 10 könnte also als Versuch gesehen werden, den Dialogtypus zu ändern bzw. Anteile eines anderen Typus in den der Beratung zu implementieren. Die Nutzung von Äußerungen im „falschen“ Dialogtyp würde nach Walton einen Fehlschluss darstellen. Damit ist Fehlschlüssigkeit nicht durch die spezielle Form eines Argumentes bestimmt, sondern dadurch, dass ein Argument im „falschen“ Dialogtyp genutzt wird. Was innerhalb der Informellen Logik unter Argumentation verstanden wird, ist am Beispiel der Dialogtheorie Waltons deutlich geworden: Argumentation ist dialogisch, findet zwischen verschiedenen Beteiligten statt, ist aber normativ eingebettet in bestimmte Verfahrensregeln. Die Frage, wie sich Geltung konstituiert, ist für die Informelle Logik nicht insgesamt zu beantworten, sondern wird stark diskutiert. Welche Rolle spielen die Kriterien Relevanz, Hinlänglichkeit und Akzeptabilität, die oben bereits genannt wurden? Welche Rolle spielen Wahrheit und Effektivität in diesem Zusammenhang? Diese Diskussion soll am Beispiel der Debatte um Johnsons Veröffentlichung „Manifest Rationality“ (2000) dargestellt werden. Johnson, eine der Gründungsfiguren der Informellen Logik, entwickelt in seinem Buch, auf der Grundlage der Geschichte der Informellen Logik, eine Theorie der Argumentation, die zentral auf dem Begriff der dialectical tier fußt. Dieser lässt sich am besten übersetzen als ‚dialektische Ebene‘ innerhalb der Argumentation. Diese dialektische Ebene bezieht sich darauf, dass Argumentationspartnerinnen innerhalb ihrer Argumentation die möglichen Einwände und Gegenargumente einbeziehen müssen. Dieses Einbeziehen möglicher Gegenargumente bestimmt die Qualität der eigenen Argumente. Johnson (2000) definiert Argument folgendermaßen: 45 3.1 Informelle Logik An argument is a type of discourse or text-- the distillate of the practice of argumentation-- in which the arguer seeks to persuade the Other(s) of the truth of the thesis by producing the reasons that support it. In addition to this illative core, an argument possesses a dialectical tier in which the arguer discharges his dialectical obligations (S. 168). Ein Argument ist hier also das Produkt-- distillate-- von Argumentation. Es bestimmt sich nicht nur durch die Schlussbeziehung (illative core), sondern auch durch dialektische Verpflichtungen. Diese sind, wie oben beschrieben, gefasst als die Aufnahme von Gegenargumenten in die eigene Argumentation, eine Aufnahme, die, so Johnson (2000, S. 166), die erwartbaren Gegenargumente (standard objections) berücksichtigen muss. Wichtig ist hier, dass sich ein Argument nicht durch die dialektische Ebene von anderen Argumenten abgrenzt, sondern durch diese Ebene erst zu einem guten Argument wird. Weiterhin wird Wahrheit zu einem wichtigen Kriterium für Argumentation. Die Teilnehmerinnen wollen einander nicht von der Plausibilität oder Akzeptabilität ihrer Thesen überzeugen, sondern von deren Wahrheit. Tindale (2002) kritisiert an Johnsons Ansatz, dass hier die Kriterien für gute Argumente innerhalb der Informellen Logik-- Relevanz, Hinlänglichkeit und Akzeptabilität-- um Wahrheit erweitert werden (vgl. S. 303). Man könnte sagen, dass Johnson damit das Konzept argumentativer Geltung stärker in Richtung der Formalen Logik bewegt und damit weg von eher rhetorischen Konzepten. Zudem ist bemerkenswert, dass bei ihm nur schriftlicher Diskurs in den Bereich der Argumentation einbezogen wird, was große Bereiche-- Alltagsgespräche und auch politische Debatten-- außen vor lässt. Sicher lassen sich mündliche und schriftliche Argumentation voneinander unterscheiden, mit der Definition Johnsons wird der mündliche Bereich des Begründungshandelns in Bezug auf einen strittigen Punkt aber als nicht-argumentativ etikettiert (vgl. zu einer weiterführenden Kritik auch Tindale, 2002). Diese Diskussion mag andeuten, dass es nicht möglich ist, zu sagen, wie Geltung innerhalb der Informellen Logik insgesamt bestimmt wird, sondern „nur“, welche Diskussionslinien sich zu diesem Thema ausmachen lassen. Exkurs: Kritisches Denken Zeitlich parallel und auch in starker Verbindung mit der Informellen Logik entwickelte sich in den USA und Kanada eine pädagogische Strömung, die das critical thinking ins Zentrum des Curriculums stellte. Kritisches Denken ist dabei nicht an eine Disziplin gebunden-- auch wenn die meisten Autorinnen in diesem Feld aus der Philosophie kommen--, sondern bestimmt sich durch die Herangehensweise an Fragestellungen in jeder beliebigen Disziplin (vgl. van Eemeren, Grootendorst & Snoeck Henkemans, 1996, S. 165). Ennis (2011) definiert Kritisches Denken dann auch relativ weit als „reasonable and reflective thinking focused on deciding what to believe or do“ (ohne Seitenangabe). Kritisches Denken ist nicht die Anwendung Informeller Logik oder eines anderen argumentationswissenschaftlichen Ansatzes; Argumentation und Argumentationsanalyse sind aber wichtige Bestandteile des Kritischen Denkens. Da das Kritische Denken aber sehr eng mit der Entwicklung der Informellen Logik verbunden ist, soll es hier kurz näher betrachtet werden. 46 3 Die dialektische Perspektive Ennis (2011) nennt 12 Fähigkeiten, über die „Kritische Denkerinnen“ verfügen sollten: ▶ Focus on a question ▶ Analyze arguments ▶ Ask and answer clarification and / or challenge questions ▶ Judge the credibility of a source ▶ Observe, and watch observation reports ▶ Deduce and judge deduction ▶ Make material inferences ▶ Make and judge value judgements ▶ Define terms and judge definitions, using appropriate criteria ▶ Attribute unstated assumptions ▶ Consider and reason from premises ▶ Integrate dispositions and other abilities in making and defending a decision Kritisches Denken besteht also aus wichtigen Aspekten der Argumentation: die Konzentration auf eine klar bestimmte Fragestellung, die Fähigkeit, Argumente analysieren zu können, ungeäußerte, implizite Annahmen zu identifizieren und zuzuordnen. Aus dieser Liste wird deutlich, dass das Modell des Kritischen Denkens keine Praxis der Argumentation ist und auch nicht die praktische Umsetzung der Informellen Logik. Zugleich sind argumentative Fähigkeiten aber essentiell für Kritisches Denken. „Argument analysis, I contend, is but one important part of critical thinking“ (Govier, 1989, S. 117). Die Analyse von Argumentation ist immer Kritisches Denken, aber nicht jede Form von Kritischem Denken besteht in der Analyse von Argumentation (Govier, 1987, S. 238). Kritisches Denken soll es ermöglichen, verschiedene Fragen zu untersuchen und so informierte, fundierte Entscheidungen zu treffen. Eine ausgeprägte Argumentationsfähigkeit ermöglicht damit auch gesellschaftliche Teilhabe. 3.2 Fehlschlüssigkeit und Fehlschlüsse Die Informelle Logik hat sich in den vergangenen Jahrzehnten als ein enorm fruchtbares Feld der Argumentationsforschung etabliert. Ein zentraler Gegenstand dieses Feldes ist die Forschung zu den Fehlschlüssen. Den Ausgangspunkt dafür bietet wieder einmal eine Schrift von Aristoteles, die „Sophistischen Widerlegungen“. Nimmt Aristoteles die Fehlschlüsse auch in der „Analytik“ und der „Rhetorik“ wieder auf, so scheinen die „Sophistischen Widerlegungen“ doch die Grundlage für das Verständnis der Fehlschlüsse zu bilden (vgl. Tindale, 2010). Um diese Einordnung nachvollziehbar zu machen, ist es wichtig zu beleuchten, wer die Sophisten waren und wie sie beurteilt wurden. Der Platz der Sophisten ist eigentlich in der Rhetorik und in der rhetorischen Perspektive auf Argumentation. Sie waren Gelehrte und Redelehrer im antiken Griechenland. Sie unterrichteten Rhetorik-- Rede und Argumentation. Die Auffassungen der Sophisten zur Rhetorik waren an die Praxis der öffentlichen Rede gebunden. Sie gingen von der wichtigen epistemologischen Prämisse aus, dass die Rhetorik sich nicht mit wahren Aussagen (wie die Analytik), sondern mit wahrscheinlichen Aussagen befasst. Die Aufgabe des Redners ist es, die Wahrscheinlichkeit einer These, einer Aussage 47 3.2 Fehlschlüssigkeit und Fehlschlüsse plausibel zu machen. Dies wird dann besonders relevant, wenn man sich vor Augen hält, dass rhetorisches Handeln notwendig wird, wenn es um Entscheidungen geht, die auf Grund begrenzten Wissens getroffen werden müssen. Hier haben die Teilnehmerinnen nicht immer die Möglichkeit alle Fragen bis in den letzten Aspekt zu klären. Zudem handelt es sich häufig um Fragestellungen, die eher Werturteile berühren und weniger Fakten. So wird in „Die zwölf Geschworenen“ diskutiert, ob die Gesellschaft den Jungen im übertragenen Sinne „geschlagen“ habe. Diese Frage lässt sich nicht auf der Basis von Faktenwissen beantworten, sondern bezieht Überzeugungen darüber ein, in welchem Verhältnis die Gesellschaft und das Individuum zueinander stehen und stehen sollten. Drei zentrale Figuren der Sophisten waren Gorgias, Protagoras und Isokrates. Besonders die wenigen überlieferten Aussprüche von Protagoras machen die Denkweise der Sophisten deutlich. Zum einen die Aussage, dass es zu jeder Streitfrage zwei Seiten gibt, und dass die Rhetorik die Kunst ist, die eine Seite zu erheben und die andere niederzuwerfen. Auf Grund dieser Aussage wird Protagoras auch häufig Vater der Debatte genannt. Protagoras drückt die Überzeugung aus, dass eine Aussage nicht per se zustimmungsfähig ist, sondern dass Zustimmungsfähigkeit durch den Redner hergestellt werden muss. Das beinhaltet auch, dass eine Aussage nicht a priori einen höheren Wahrheitsgehalt hat als eine andere. Zum anderen bestimmt Protagoras durch den homo-mensura-Satz die epistemologische Grundhaltung zumindest einiger Sophisten: „Der Mensch ist das Maß aller Dinge. Der seienden, dass sie sind und der nicht-seienden, dass sie nicht sind.“ Lesen lässt sich dieser Satz als eine relativistische erkenntnistheoretische Position. Erkenntnis ist nur möglich und wird gefiltert durch die Wahrnehmung des Menschen, es gibt keine objektive Erkenntnis. Erfahrungen sind immer Erfahrungen für jemanden. Für die Rhetorik und die Argumentationswissenschaft ist diese Auffassung wichtig, da in Entscheidungssituationen nicht auf das objektiv Gegebene zurückgegriffen werden kann, sondern zwischen verschiedenen Wahrnehmungen vermittelt werden muss. Diese Vermittlung muss symbolisch, muss sprachlich geschehen. Die Rolle der Sophisten für die Rhetorik und die Philosophie ist umstritten. Über lange Zeit galten sie als Überredungskünstler, die ihre Kunst gegen Geld verkauften, damit aber keinen Beitrag zur Wahrheitsfindung lieferten, sondern diese vielmehr korrumpierten. In der modernen Rezeption der Sophisten bekommen sie zunehmend die Position von Rhetorikern im besten Sinne, die sowohl die Praxis der Rede beherrschten und lehrten als auch wichtige Grundannahmen anboten, wie unter den Bedingungen von Unsicherheit Entscheidungen getroffen werden können. So sind die Sophisten zwar für die Rhetorik weitgehend rehabilitiert, aber nicht notwendigerweise auch für die Argumentationswissenschaft. Wie Tindale (2010, S. 3) feststellt, wird sophistisches Argumentieren immer noch mit Fehlschlüssigkeit gleichgesetzt. Wenn Aristoteles seine „Sophistischen Widerlegungen“ schreibt, so nutzt er den Begriff „sophistisch“ pejorativ, impliziert damit also eine Abwertung. Unter sophistischem Handeln versteht Aristoteles Wortgeklingel, das über die eigentlichen Absichten und die miserablen Gründe für diese Absichten hinwegtäuschen soll. Die Sophisten sind solche, „die nur des Zankes und Streites wegen disputieren“ (Aristoteles, 1995a, 1655b), „der Sophist (ist) ein Mensch, der mit scheinbarer, nicht wirklicher Weisheit Geschäfte macht“ (Aristoteles, 1995a, 48 3 Die dialektische Perspektive 1655a). Aristoteles rückt sophistisches Argumentieren in die Nähe eristischer Argumentation, also einer Argumentation, die bewusst fehlleiten will. Bei Aristoteles haben die Fehlschlüsse ihren Platz im dialogischen Austausch und sind nicht Eigenschaften eines Arguments. Er unterscheidet zwischen Fehlschlüssen sprachlicher und nicht-sprachlicher Natur. Da diese Systematik für uns heute nicht mehr aktuell ist, sollen hier allerdings nicht alle Fehlschlüsse nach Aristoteles aufgeführt werden. Im 17. Jahrhundert führt Locke eine Kategorisierung von Fehlschlüssen ein, bekannt als ad-Fehlschlüsse (ad hominem, ad bacculum, ad misericordiam etc.). Van Eemeren et al. (2014) stellen heraus, dass sich in der folgenden Zeit Fehlschlüssigkeit zunehmend auf die Verbindung von Aussagen bezogen hat und so weder an den dialogischen Austausch noch an einen bestimmten Kontext gebunden war (vgl. S. 25). Dadurch wird und wurde es zunehmend schwierig zu erklären, was wirklich die Fehlschlüssigkeit eines Arguments ausmacht. Mit Fehlschlüssen sind dabei nicht in erster Linie logische Fehler gemeint, also nicht das Ziehen einer falschen Konklusion beispielsweise durch falsche Generalisierung. Ein bekanntes Beispiel dafür ist die Verbindung von Regen und nasser Straße. Obwohl das Argument „Immer wenn es regnet, ist die Straße nass. Es regnet. Also ist die Straße nass“ formallogisch korrekt ist, ist die Umkehrung „Immer wenn es regnet, ist die Straße nass. Die Straße ist nass. Also regnet es“ formallogisch nicht korrekt. Diese Art von logischen Fehlern ist aber nicht der Hauptgegenstand der Arbeiten zu Fehlschlüssen, sondern vielmehr die Argumente oder Argumentation, die die Gefahr bergen, den argumentativen Austausch zu erschweren, ob vorsätzlich oder fahrlässig. Dieses Problem wird auch deutlich, wenn man betrachtet, was Hamblin bereits 1970 als die „Standarddefinition“ (standard treatment) eines Fehlschlusses nennt: Ein Fehlschluss ist ein Argument, das gültig erscheint, es aber nicht ist (vgl. auch Tindale, 2013, S. 109). Diese Definition ist in vielerlei Hinsicht problematisch. Zum einen muss der Begriff der Gültigkeit bestimmt werden. Wenn man formallogische Gültigkeit annimmt, wäre ein Zirkelschluss (petitio principii) nicht notwendigerweise ein Fehlschluss, da aus den Prämissen die Konklusion folgt. Dennoch würde man einer Diskussionspartnerin, die sich auf Zirkelschlüsse verlegt, schlechte Argumentation vorwerfen, da ihre Argumente keine neuen Aspekte zur Bearbeitung der Streitfrage beitragen. Die Standarddefinition wird also nicht allen Formen problematischen Argumentierens gerecht. Dies ist sicher auch darauf zurückzuführen, dass sie Argumentation aus einer logischen Perspektive betrachtet: also als Produkt und damit entsituiert. Alternativen zu dieser Sicht kommen aus verschiedenen Richtungen: der Pragma-Dialektik der Amsterdamer Schule (siehe Kapitel 3.6), dem Modell der Dialogtypen bei Walton (siehe Kapitel 3.1) und der Informellen Logik bei Tindale. Gemeinsam ist diesen Ansätzen, dass sie die Fehlschlüssigkeit nicht im entsituierten Argument, sondern im Ablauf der Argumentation lokalisieren: Fehlschlüssigkeit ist hier immer an den Dialog gebunden. Die Analyse von Fehlschlüssen ist ein zentraler Gegenstand der Informellen Logik. Tindale (2013) führt die Fehlschlüsse unter der Überschrift „schlechtes Begründen“ ein (S. 109). Wenn dieses Thema auch in anderen Ansätzen wieder auftauchen wird (Perelmans Argumentati- 49 3.2 Fehlschlüssigkeit und Fehlschlüsse onsschemata, Toulmins Schlussregeln, der Regelbruch in der Pragma-Dialektik), so soll doch hier die eingehende Auseinandersetzung mit den Trugschlüssen stattfinden. Der englische Begriff „fallacy“ wird im Deutschen oft als Trugschluss übersetzt, im „Historischen Wörterbuch der Rhetorik“ bei Löhner (1996) auch als Fallazie. Löhner unterscheidet dann zwischen dem Fehlschluss als ungültiger Form eines Arguments und dem Trugschluss als bewusstem Einsatz eines Fehlschlusses. Der Trugschluss beinhaltet damit auch eine ethische Dimension. Diese sollte aber nicht mit der Diskussion und Analyse von bestimmten Schlussschemata verwoben, sondern von ihr getrennt werden. Im Folgenden wird daher ausschließlich von Fehlschlüssen im Sinne ungültiger Argumente die Rede sein. Es bestehen verschiedene Kataloge zu den vielfältigen Fehlschlüssen, die sich unterscheiden lassen. Zugleich gibt es aber einige Fehlschlüsse, die grundlegend sind. Dazu zählen Fehlschlüsse in Bezug auf die Relevanz und Fehlschlüsse in Bezug auf die Person. Diese sollen im Folgenden eingeführt und erläutert werden. Es handelt sich dann um Fehlschlüssigkeit, die sich über das Argument (aus einer Produktperspektive) bestimmt, nicht über Argumentation als dialogischem und dialektischem Verfahren (aus einer Prozedurperspektive). Ignoratio elenchi Die ignoratio elenchi ist ein Fehlschluss, bei dem die Relevanz der Argumentation für die Streitfrage und den Kontext nicht gegeben ist. Einer der wichtigsten Fehlschlüsse ist hier die Verschiebung der Streitfrage (red herring). Die Verschiebung der Streitfrage geschieht gerade in Alltagsargumentation sehr häufig. Oft ist auch gar nicht klar bestimmbar, was die eigentliche Streitfrage ist. JUROR 6: Der Fall liegt eigentlich klar, ich war eigentlich … ja, ich war vom ersten Tag an überzeugt, daß - JUROR 3: Sie waren nicht der einzige! Der Fall ist nun wirklich bis in die letzte Einzelheit aufgeklärt. Die haben sich so viel Mühe gegeben, es uns zu beweisen. Wieder und wieder. Ja, soll ich am Ende gescheiter sein als die studierten Richter. JUROR 8: Niemand verlangt es von Ihnen. JUROR 10: Ja, was wollen Sie dann noch? JUROR 8: Ich möchte nur darüber sprechen. Juror 3 verweist darauf, dass die Staatsanwaltschaft sich Mühe gegeben hat, die Schuld zu beweisen, und fragt dann, ob er denn gescheiter sein solle als all die studierten Richter. Diese Frage-- sind Laien besser in der Lage ein Urteil zu fällen als professionelle Juristen-- ist aber im Rahmen der Frage „Ist der Junge schuldig oder nicht? “ irrelevant, zumindest wird sie von Juror 8 als irrelevant markiert: „Niemand verlangt es von Ihnen“ und Juror 3 hakt an dieser 50 3 Die dialektische Perspektive Stelle nicht nach. (Der Frage, ob die Äußerung von Juror 3 in jedem Fall als ignoratio elenchi verstanden werden muss, widmet sich der Abschnitt zur Statuslehre Kapitel 4.3.4.) Eine der ignoratio elenchi verwandte Form ist das Strohmann-Argument: Eine Position, die niemand vorher eingenommen hat, wird widerlegt, um so die eigene Position als verteidigt erklären zu können. In dem Beispiel findet sich ein solches Argument nicht. Vorstellbar wäre aber, dass ein Geschworener Juror 8 entgegnet: Sie wollen also, dass alle straffälligen Jugendlichen mit Sozialarbeit beglückt werden und nicht bestraft werden. Aber dann werden wir irgendwann eine Generation verantwortungsloser, verwahrloster junger Männer haben. Juror 10 wäre jemand, der eine solche Ansicht äußern könnte. Hier würde er eine Position von Juror 8 konstruieren, die dieser gar nicht einnimmt, um dann gegen sie zu argumentieren und Recht zu haben. Non sequitur Das non sequitur bezieht sich auf die innere Relevanzbeziehung zwischen den einzelnen Aussagen. Die Frage ist: Folgt aus den Aussagen die Konklusion? Es gibt verschiedene Formen der Fehlschlüsse, die in den Bereich des non sequitur gehören. Immer basieren sie darauf, dass plausible Aussagen „falsch“ miteinander verknüpft werden. Ein solcher Fehlschluss ist der der kausalen Verknüpfung post hoc ergo propter hoc. In diesem Fehlschluss wird angenommen, dass das, was zeitlich aufeinander folgt, auch kausal verknüpft ist. JUROR 6: Ich weiß nicht … vorhin war ich ganz sicher, ich frage mich bloß … das Motiv ist schließlich die Hauptsache, denke ich. Wo es kein Motiv gibt, gibt’s auch keinen Fall. Oder? Das Motiv beschäftigt mich. Zum Beispiel die Aussage der Leute, die Flur an Flur mit dem Burschen wohnen … das hat mich immerhin überzeugt. Die sagten doch etwas von einer Auseinandersetzung zwischen dem Vater und dem Jungen - so gegen sieben Uhr abends. Ich kann mich auch irren. JUROR 11: Es war acht Uhr, nicht sieben. JUROR 8: Ja, acht Uhr abends. Die Nachbarn hörten einen Streit, aber sie konnten nicht verstehen, worum es ging. Dann wollten sie auch noch gehört haben, daß der Vater den Jungen ins Gesicht schlug, zweimal, und zuletzt sahen sie den Jungen wütend die Wohnung verlassen. Was beweist das? JUROR 6: Genaugenommen - nichts. Ich habe ja nicht gesagt, daß es was beweist. Aber es ist nicht alles - In dieser Sequenz wird darüber verhandelt, ob es sich um ein post hoc ergo propter hoc- Argument handelt. Erst gab es einen Streit zwischen Vater und Jungen, vier Stunden später wird der Vater ermordet. War der Streit der Grund bzw. das Motiv für den Tod des Vaters (von der Hand des Jungen)? Obwohl die zeitliche Abfolge unstrittig ist, folgt die kausale Beziehung daraus nicht zwingend. 51 3.2 Fehlschlüssigkeit und Fehlschlüsse Ad hominem Ein weiterer wichtiger Fehlschluss ist das ad hominem-Argument. Dieses Argument richtet sich nicht auf die Sache, sondern auf die Person. Ein Argument ist gültig, weil es an die Glaubwürdigkeit, das Ethos, einer Person gebunden ist. Oder umgekehrt, ein Argument ist nicht gültig, weil die Person nicht gut oder glaubwürdig ist. JUROR 10: Ich bin gerührt. Denken Sie von mir was Sie wollen! Aber wir schulden ihm nicht so viel. - Er hat ein saubres Verfahren bekommen. Glauben Sie das ist umsonst? […] Er kann froh sein, daß wir so freigiebig waren. Stimmt’s? Wir sind doch keine Quäker! Wir haben die Tatsachen gehört - und jetzt wollen Sie uns weismachen, daß wir dem Bürschlein glauben sollen! Mir kann der nichts vormachen, nicht so viel - nicht das Schwarze unter dem Nagel glaube ich dem. Ich habe lange genug unter ihnen gelebt, ich kenne sie in- und auswendig. Die sind geborene Verbrecher, alle durch die Bank! Untermenschen! Juror 10 argumentiert hier, dass man dem Angeklagten nicht glauben kann, da er einer von „ihnen“ (Menschen aus Elendsvierteln) ist. Das Argument richtet sich ausschließlich gegen die Glaubwürdigkeit des Angeklagten im Allgemeinen, nicht gegen seine spezifischen Aussagen. Dieses Argument wird im Stück direkt in Zweifel gezogen durch Juror 9 („aber es ist entsetzlich, so was zu glauben. Gibt es tatsächlich geborene Verbrecher? -- Ist das Verbrechen denn typisch für eine bestimmte Klasse? Seit wann? “). Juror 9 macht hier keine Aussage dazu, ob der Junge schuldig ist oder nicht-- er selbst hat für schuldig gestimmt--, er lehnt aber dieses Argument zur Stützung der Schuldvermutung ab. Zugleich muss ein ad hominem-Argument nicht automatisch fehlschlüssig sein. So ist das argumentum ad verecundiam, das Autoritätsargument, zentral in wissenschaftlichem Diskurs, aber auch in öffentlichem Diskurs, in dem Expertenmeinungen relevant sind. Zu sagen, dass der Klimawandel real ist, da fast alle Experten davon ausgehen, dass er real sei, ist ein ad hominem-Argument, da es die Aussagen mit Einschätzungen über die Glaubwürdigkeit der Sprecherinnen stützt. Vom allgemeineren ad hominem lässt sich das spezifischere ad personam unterscheiden. Der Begriff ad personam wird in der Regel dann gebraucht, wenn betont werden soll, dass es sich um einen Angriff auf die Person handelt. JUROR 10: Glauben Sie dem Jungen ein Wort? JUROR 8: Ich weiß nicht, ob ich ihm glaube. Vielleicht glaube ich ihm nicht. JUROR 7: Dann verstehe ich noch weniger, warum Sie für „nicht schuldig“ gestimmt haben! JUROR 8: Elf haben ihn schuldig gesprochen. Ich kann nicht so einfach meine Hand heben und jemanden in den Tod schicken. Ich muß erst darüber sprechen. JUROR 10: Sie hören sich wohl gerne selber reden? 52 3 Die dialektische Perspektive Wenn man die Äußerung von Juror 10 als Argument rekonstruiert: Sie wollen über etwas Offensichtliches sprechen. Wer über Offensichtliches sprechen will, ist eitel. Sie sind eitel. Auch wenn diese Äußerung sich als Argument rekonstruieren lässt, ist ihre wichtigste Funktion doch die Glaubwürdigkeit des Gegenübers zu kompromittieren, um den Argumenten des Gegenübers die Wirkung zu nehmen. Ob das ad personam allerdings selbst ein Argument ist oder nicht eher eine kommunikative Strategie innerhalb von Argumentation, ist fraglich. Diese Diskussion grundlegender Fehlschlüsse soll einen ersten Einblick geben. Die Frage, was Fehlschlüssigkeit bestimmt, wird auch im Ansatz der Pragma-Dialektik (Kapitel 3.6) wieder aufgenommen werden. Dort ist Fehlschlüssigkeit dann über den Dialog, nicht das Argument als Produkt, gefasst. Im Folgenden soll nun der Ansatz zur Argumentation von Habermas dargestellt und diskutiert werden. Dieser Ansatz nutzt die Informelle Logik als zentrale Referenz. 3.3 Die Diskurstheorie Habermas’ und sein Blick auf Argumentation Einer der einflussreichsten Beiträge zur modernen Argumentationstheorie kommt von Jürgen Habermas, formuliert in den Arbeiten der Theorie des kommunikativen Handelns in den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts. Verschiedene Autoren, so z. B. Alexy für die Rechtswissenschaft und Kopperschmidt für die Argumentationstheorie, haben die Habermas’sche Theorie weitergeführt, Goodnight hat sich in seinen Arbeiten zu spheres of argument stark auf Habermas bezogen (vgl. Kapitel 4.2.1) und in jüngeren Debatten um die Verbindung von Argumentation und Publikum (vgl. Tindale, 2015) spielt der Ansatz eine große Rolle. Darüber hinaus ist die Theorie kommunikativen Handelns und kommunikativer Rationalität insgesamt sehr breit rezipiert worden, wenn auch nicht immer als Argumentationstheorie. Habermas hat zentrale Begriffe geprägt und grundlegende Überlegungen für die Funktion von Argumentation angestellt. Diese hat er explizit in eine Nachbarschaft zur Informellen Logik gestellt, die sich zu derselben Zeit entwickelte. Damit hat er den lebhaften Diskurs über Argumentation Ende der 70er und Anfang der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts insbesondere in der Linguistik und Rhetorik mit angefacht und mitbestimmt. Argumentation ist nach Habermas dann notwendig, wenn kommunikatives Handeln unterbrochen und ein Geltungsanspruch strittig wird. Kommunikatives Handeln ist die Form von Kommunikation, in der nichts strittig wird, was für die meisten Fälle von alltäglicher 53 3.3 Die Diskurstheorie Habermas’ und sein Blick auf Argumentation Kommunikation zutrifft. Während wir kommunikativ handeln, erheben wir parallel auch verschiedene Geltungsansprüche: d. h. eine Sprecherin macht nicht nur eine Äußerung, sondern sie äußert zugleich, dass sie bereit ist, die Geltung dieser Äußerung herzustellen, sollte die Geltung bezweifelt werden. Dieses Anzweifeln der Geltung wird in der Regel beschrieben als: „ein Geltungsanspruch wird strittig“. Wenn ein Geltungsanspruch strittig wird, wird das kommunikative Handeln unterbrochen und der Sprecher muss den Geltungsanspruch durch Argumente einlösen. Die Phase, die das kommunikative Handeln dafür unterbricht, bezeichnet Habermas als Diskurs. Daher wird bei der Einlösung von Geltungsansprüchen durch Argumente auch von einer diskursiven Einlösung gesprochen. Während wir kommunizieren-- kommunikativ handeln--, erheben wir demnach implizit mit jeder Äußerung den Anspruch, dass die Äußerung gilt. Wenn also ein Geschworener sagt: „der Junge ist schuldig“, macht er damit nicht nur eine Aussage über die Welt, sondern auch eine Aussage über die Aussage: diese Aussage gilt. Geltungsanspruch: „Ein Geltungsanspruch ist äquivalent der Behauptung, daß die Bedingungen für die Gültigkeit einer Äußerung erfüllt sind.“ (Habermas, 1995a, S. 65, Hervorhebung im Original) Argumentation ist demnach ein Mittel, wenn Geltungsansprüche bestritten werden. Im Beispiel der zwölf Geschworenen ist nun fast das gesamte Gespräch dadurch geprägt, dass ein Geltungsanspruch strittig geworden ist. JUROR 1: Also elf Stimmen für „schuldig“. In Ordnung. - „Nicht schuldig“? (Juror 8 hebt langsam die Hand.) Eine. - Klar, 11: 1 für „schuldig“. Jetzt wissen wir wenigstens, woran wir sind. Ausgangspunkt ist die Abstimmung darüber, ob der Junge schuldig ist, seinen Vater ermordet zu haben. Wäre die Abstimmung 12: 0 ausgegangen, wäre das kommunikative Handeln nicht unterbrochen worden, die Geschworenen hätten ihre Entscheidung mitgeteilt und der Strafprozess wäre abgeschlossen worden. Die Meldung von Juror 8 bei „nicht schuldig“ markiert aber den Geltungsanspruch, der der Aussage „der Junge ist schuldig“ unterliegt, als strittig. Dies ist der Punkt, an dem das kommunikative Handeln durch die Problematisierung eines Geltungsanspruchs zum Diskurs wird: Gegenstand der folgenden Kommunikation ist nun die Geltung von Aussagen, nicht der Austausch von Informationen über die Welt. Da man sich Argumentation hier als Unterbrechung von kommunikativem Handeln vorstellen kann, haben einige Autoren Argumentation in Anschluss an Habermas auch als Metakommunikation bezeichnet (vgl. Völzing, 1979). Ausgehend von der Sprechakttheorie unterscheidet Habermas Sprechakte, denen je unterschiedliche Geltungsansprüche zugeordnet sind. Habermas unterscheidet vier Arten von Geltungsansprüchen: 54 3 Die dialektische Perspektive Verständlichkeit: dieser Geltungsanspruch wird mit jeder Äußerung erhoben. Sollte er bestritten werden, kann er nicht durch Argumentation bearbeitet werden, sondern dadurch, dass das Gegenüber zur Erläuterung aufgefordert wird. Wahrheit: dieser Geltungsanspruch bezieht sich auf die Wahrheit der Äußerung, also ob der propositionale Gehalt als richtig oder nicht richtig einzustufen ist. Dieser Geltungsanspruch muss argumentativ eingelöst werden. Richtigkeit: dieser Geltungsanspruch bezieht sich auf die Richtigkeit des Handelns, das mit der Äußerung vollzogen oder auf das referiert wird. Dieser Geltungsanspruch muss argumentativ eingelöst werden. Wahrhaftigkeit: dieser Geltungsanspruch bezieht sich auf die Grundannahme innerhalb von Kommunikation, dass das Gegenüber aufrichtig ist. Dieser Geltungsanspruch kann nur performativ eingelöst werden. D. h. er muss vollzogen werden und sich in der kommunikativen Praxis zeigen. Argumentation ist also ein Mittel, um strittig gewordene Geltungsansprüche der Wahrheit und der Richtigkeit einzulösen. Dies nennt man die diskursive Einlösbarkeit von Geltungsansprüchen. Die Unterscheidung von Geltungsansprüchen der Wahrheit und der Richtigkeit ist von vielen Autorinnen als grundlegende Unterscheidung verschiedener Formen der Argumentation aufgenommen worden. Argumentation ist aus Sicht von Habermas ein besonderes Mittel, da sich die Teilnehmerinnen im Diskurs außerhalb des kommunikativen Handelns stellen. Diskurs: „Unter dem Stichwort ‚Diskurs‘ führte ich die durch Argumentation gekennzeichnete Form der Kommunikation ein, in der problematisch gewordene Geltungsansprüche zum Thema gemacht und auf ihre Berechtigung hin untersucht werden“ (Habermas, 1984, S. 130). In der „Theorie des kommunikativen Handelns“ (1995a) nennt Habermas noch einen weiteren Geltungsanspruch, den der Angemessenheit von Wertstandards. Der prototypische Fall der Einlösung dieses Geltungsanspruchs ist die ästhetische Kritik (S. 41). Auch Werturteile können reflektiert und begründet werden, jedoch nicht mit dem Ziel eines Konsenses, der als Basis für weiteres kommunikatives Handeln dient. Diese Form der Geltungsansprüche ist, so Habermas, nicht diskursiv einlösbar, allerdings durch Argumentation bearbeitbar. Es handelt sich dann nicht um Argumentation innerhalb eines Diskurses, sondern im Rahmen von „Kritik“. Bis hierher könnte man fragen, warum die Argumentationstheorie Habermas’ der dialektischen Perspektive zugeordnet wird. In der Tat ist die Annahme, dass die Strittigkeit oder die Markierung von Dissens eine Unterbrechung in der laufenden Interaktion bedeutet, weit verbreitet und so auch in rhetorisch einzuordnenden Ansätzen zu finden (vgl. z. B. das Sequenzmodell des Argumentierens bei Spranz-Fogasy, Kapitel 5.4.2). Zudem ordnet Habermas selbst seinen Ansatz in Bezug auf die Trias Prozess, Prozedur, Produkt als Prozessansatz ein. Allerdings fasst er Prozess als „eine unwahrscheinliche, weil idealen Bedingungen hinreichend angenäherte Form der Kommunikation“ (1995a, S. 47). Diese Beschreibung der Prozessperspektive wird von den meisten Autorinnen nicht geteilt. Dialektisch wird das Modell durch 55 3.3 Die Diskurstheorie Habermas’ und sein Blick auf Argumentation zwei Bestandteile, die noch nicht eingeführt wurden: zum einen die Ideale Sprechsituation und zum anderen die Konsensorientierung. Oben wurde gesagt, dass Argumentierende sich im Diskurs außerhalb des kommunikativen Handelns stellen. Dies drückt aus, dass nach Habermas innerhalb von Diskursen spezifische Situationsbedingungen gegeben sind, nämlich die der Idealen Sprechsituation. Die Bedingungen der Idealen Sprechsituation geben Verfahrensregeln vor, die eher deskriptiv als präskriptiv zu verstehen sind. Es handelt sich um Regeln, von denen alle Teilnehmerinnen in einem Diskurs annehmen, dass sie gelten, wohl wissend, dass sie nicht (vollständig) befolgt werden können. Durch diese kontrafaktische Annahme haben die Regeln aber dennoch eine normative Wirkung innerhalb des Diskurses. Allgemein lassen sich die Bedingungen der Idealen Sprechsituation unter der Überschrift „Herrschaftsfreiheit“ fassen. Der Diskurs wird durch keinen anderen Faktor bestimmt als den „zwanglosen Zwang des besseren Arguments“ (Habermas, 1981, S. 194). In einem Aufsatz zur Diskursethik nennt Habermas drei Diskursregeln, die Alexy ausgehend von Habermas’ Theorie entwickelt hat. Diese scheint Habermas als exemplarisch zu sehen. „(3.1) Jedes sprach- und handlungsfähige Subjekt darf an Diskursen teilnehmen. (3.2) a. Jeder darf jede Behauptung problematisieren. b. Jeder darf jede Behauptung in den Diskurs einführen. c. Jeder darf seine Einstellungen, Wünsche und Bedürfnisse äußern. (3.3) Kein Sprecher darf durch innerhalb oder außerhalb des Diskurses herrschenden Zwang daran gehindert werden, seine in (3.1) und (3.2) festgelegten Rechte wahrzunehmen“ (Habermas, 1983, S. 99). Bei diesen Regeln handelt es sich in erster Linie um Beteiligungsregeln. Habermas beschreibt sie als Regeln auf der Prozessebene, da sie aber den Diskurs normieren, lassen sie sich eher dem dialektischen Ansatz zuordnen. Zugleich sind es keine anzustrebenden Bedingungen, die Habermas hier formuliert, sondern gegebene Normen, die jede Argumentation bestimmen, auch wenn die Praxis von ihnen abweichen kann. Es handelt sich, so Habermas, „bei den Diskursregeln nicht einfach um Konventionen-(…), sondern um unausweichliche Präsuppositionen“ (1983, S. 100). Die Bedingungen der Idealen Sprechsituation müssen nach Habermas kontrafaktisch angenommen werden. Die Funktion von Argumentation ist es im Modell von Habermas, die Strittigkeit des Geltungsanspruches in der Art zu bearbeiten, dass wieder der Übergang in das kommunikative Handeln möglich ist. Als Ziel des Diskurses benennt Habermas den Konsens, d. h. Argumentation hat bei ihm immer eine Konsensorientierung. Dieser Konsens wird auch als erreichbar beschrieben, allerdings unter den spezifischen Bedingungen der Idealen Sprechsituation. Die Theorie Habermas’ ist vielfach kritisiert worden, insbesondere in der Argumentationswissenschaft. Ein Kritikpunkt ist, dass sie Argumentation als immer auf Konsens ausgerichtet sieht. Einige Autoren (vgl. z. B. Völzing, 1979) haben darauf hingewiesen, dass Argumentation auch genutzt werden kann, um einen Dissens zu verschärfen, oder dass eine Argumentation beendet werden kann mit dem Wissen, dass man keine Einigkeit erreichen wird. Die Konsensorientierung wird also als idealisierend gesehen und damit als ungeeignet für die Beschreibung und Analyse authentischer Argumentation. Allerdings geht es Habermas mit 56 3 Die dialektische Perspektive seiner Theorie nicht darum, jede Form von Argumentation zu erläutern. So ist das Ziel zum Beispiel nicht, Argumentation in Alltagsgesprächen analysierbar zu machen (auch wenn der Ansatz von Habermas hier durchaus interessante Einblicke geben mag). Es geht vielmehr darum, dass der Austausch von Gründen die privilegierte Form ist, um im öffentlichen Diskurs Konsens zu erreichen. Und die Teilnehmerinnen im öffentlichen Diskurs gehen nach Habermas in den Diskurs mit dem Ziel Konsens-- Verständigung-- zu erreichen. Allerdings ist diese Annahme kontrafaktisch. Wäre das Ziel nicht die Herstellung von Verständigung, würden die Teilnehmerinnen gar nicht in den Diskurs eintreten. Sie tun es mit dem Wissen, dass ein Konsens unwahrscheinlich ist. Das Gleiche gilt für die Ideale Sprechsituation. Auch hier ist die Kritik geäußert worden, dass diese Situation etwas als Grundlage einfordert, das nicht möglich ist: herrschaftsfreier Diskurs. Aber auch das ist als kontrafaktische Annahme zu lesen. Zwar sind die Bedingungen der Idealen Sprechsituation faktisch (meist) nicht gegeben, wir können aber innerhalb von Argumentation gar nicht anders, als sie als Bedingungen anzunehmen. Argumentation ist bei Habermas also nicht einfach eine kommunikative Form neben anderen, sondern sie ist in einer demokratischen, offenen Gesellschaft das privilegierte Mittel, um zu Entscheidungen zu führen und diese zu legitimieren. Dass diese Theorie innerhalb der Argumentationswissenschaft nicht noch eine höhere Wirkmächtigkeit entfaltet hat, mag daran liegen, dass die Argumentation in den Habermas’schen Arbeiten eher angerissen als argumentationstheoretisch weiterentwickelt wurde. Das ist wiederum nachzuvollziehen, ist die Argumentationstheorie für Habermas doch ein Instrument zur Entwicklung seiner Gesellschaftstheorie. Sein Ansinnen ist nicht das eines Argumentationswissenschaftlers, sondern eines Sozialwissenschaftlers. 3.4 Die normative Pragmatik und die Theorie von Präsumtionen und Beweislast Eine weitere Strömung innerhalb der dialektischen Perspektive ist die normative Pragmatik. Unter dieser Überschrift versammeln sich verschiedene Ansätze, die in der Regel von den Grice’schen Konversationsmaximen und dem Kooperationsprinzip ausgehen. Ein Problem, das innerhalb der normativen Pragmatik besonders intensiv diskutiert wird, ist das Verhältnis von Beweislast und Präsumtion (oder auch gleichbedeutend: Präsumption) innerhalb von Argumentation. Die grundlegende Frage ist hier, ob und wie bestimmt wird, welche Argumentationspartnerin innerhalb eines argumentativen Austausches in Beweispflicht steht, von wem also überhaupt Gründe eingefordert werden können und wer aus einer bestimmten Position heraus das Geben von Gründen auch verweigern kann. Dies ist eine grundlegend dialektische Frage: Welche Rechte und Pflichten haben die Teilnehmerinnen einer Argumentation und wie müssen sie diesen gerecht werden. Der Begriff der Präsumtion wird besonders in der Rechtswissenschaft genutzt und meint eine Voraussetzung oder Setzung. Diese Setzung dient dazu, die Entscheidungsfindung zu strukturieren und folglich zu erleichtern. Eine Präsumtion ist damit (aus Sicht vieler, aber nicht aller Autorinnen) ein Schlussverfahren: Solange die Präsumtion nicht widerlegt ist, kann von ihr auf eine Konklusion geschlossen werden. Das klassische Beispiel ist hier die Setzung der Unschuld des Angeklagten bis zum Beweis des Gegenteils. Solange die Schuld nicht bewiesen werden 57 3.4 Die normative Pragmatik und die Theorie von Präsumtionen und Beweislast kann, kann daraus geschlossen werden, dass die Angeklagte unschuldig ist. Auf Grund dieser Setzung liegt die Beweislast im Strafverfahren auf Seiten der Anklage, nicht auf Seiten der Verteidigung. Die Zuweisung von Beweislasten sorgt unter anderem dafür, dass der Schlusspunkt einer Argumentation leichter bestimmt werden kann. In diesem Sinne weisen Präsumtionen also Verantwortlichkeiten im Diskurs zu. Wer muss einen Standpunkt verteidigen, wer nicht? Kauffeld (2002) betont, dass es sich hier um eine normative Beschreibung der Rechte und Pflichten von Teilnehmerinnen einer Argumentation handelt. Auch wenn ein Argumentationspartner von einer Präsumtion ausgehen kann, kann er natürlich dennoch Argumente für seine Position vorbringen, so wie ein Angeklagter Gründe für seine Unschuld vorbringen kann, aber er kann nicht dazu verpflichtet werden. Eine Präsumtion ist eine Setzung, auf deren Basis Schlüsse gezogen werden können. Autorinnen, die dem Ansatz von Whately folgen, gehen von Folgendem aus: Wird die Präsumtion in Zweifel gezogen, liegt die Beweislast bei der Partei, die die Präsumtion bestritten hat. Die vielfach gezogene Analogie zwischen Präsumtionen im Strafverfahren und Präsumtionen in anderen Feldern (politischer Diskurs, Alltagsgespräche, etc.) lehnt Kauffeld (2002) ab und stellt fest, dass Präsumtionen beispielsweise in Alltagsgesprächen nicht die gleiche normative Kraft haben wie in rechtlichen Verfahren. Anstatt die Präsumtion und die daraus resultierende Beweislast als theoretische Setzung zu behandeln, sollten Art und Grad von Annahmen (assumptions) und Präsumtionen (presumptions) empirisch untersucht werden. Kauffeld erläutert dies am Beispiel der Annahme, dass das Gegenüber für seine Äußerung den Anspruch der Wahrheit erhebt, man also davon ausgeht, dass die Äußerungen, die sie tätigt, wahr sind. Diese Annahme ist in den meisten Kommunikationssituationen wirksam. Sie korrespondiert mit der Maxime der Qualität bei Grice (1989), nach der Gesprächspartner aufgefordert sind, Beiträge vorzubringen, die wahr sind. Diese Annahme wird aber deutlich verstärkt und erhält eher den Charakter eine Setzung, wenn in einer Äußerung etwas als Tatsache dargestellt wird, als wenn sie relativiert und vorsichtiger formuliert wird. Kauffeld (2002) regt an zu untersuchen, welche Formen von Präsumtionen in verschiedenen Argumentationsfeldern überhaupt bestehen und wie diese von den Teilnehmern behandelt werden. Damit begibt er sich in einen Bereich zwischen der dialektischen und der rhetorischen Perspektive auf Argumentation. Er geht von normativen Faktoren innerhalb von Argumentation aus, nimmt diese aber nicht als theoretische Setzungen an, sondern versteht sie als Normen, die aus der Praxis der Argumentation rekonstruiert werden müssen. Dazu muss die Praxis der Argumentation erst als Prozess beschrieben werden, um dann die jeweiligen normativen Anteile zu erkennen. 58 3 Die dialektische Perspektive 3.5 Arne Naess’ Normen für Diskussionen Innerhalb einer Einführung für Studentinnen der Philosophie hat Naess (1975) Normen für Diskussionen entwickelt. Diese Normen sind präskriptiv, erheben aber den Anspruch, praxisrelevant zu sein (vgl. S. 162). Naess stellt seine Normen nicht explizit in einen argumentationstheoretischen Kontext, der Bezug wird aber mit Blick auf die Normen deutlich. Zudem ist dieser Ansatz in der Argumentationswissenschaft durchaus rezipiert worden, so z. B. von van Eemeren und Grootendorst (1984) in der Entwicklung der Pragma-Dialektik. Die Regeln, die Naess (1975) aufstellt, sind Unterlassensregeln. Ihnen liegen aber positive Ausgangsformulierungen zu Grunde, die hier aufgeführt und erläutert werden sollen. ▶ „Halte dich an die Sache.“ (S. 164) Beiträge zu einer (argumentativen) Diskussion sollten relevant sein und nicht ablenken. Ein argumentum ad hominem könnte eine solche Ablenkung sein, wenn anstelle der Sachfrage die Person thematisiert würde. Ein weiterer Fehlschluss in Bezug auf diese Norm wäre der red herring, die Einführung eines irrelevanten Themas, um das Ausgangsthema zu ersetzen und damit die Streitfrage zu verschieben. ▶ „Eine Formulierung, deren Zweck es ist, in einer ersthaften Diskussion einen Standpunkt wiederzugeben, muß neutral sein in Bezug auf jeden Streitpunkt.“ (S. 169) Ein Verfahren, dass dieser Norm entgegensteht, ist das Strohmann-Argument: Das Gegenüber formuliert Standpunkt X, die Sprecherin gibt diesen aber als Standpunkt X’ wieder und argumentiert dann dagegen. ▶ „Ein Diskussionsbeitrag soll keine Mehrdeutigkeiten von einer Art aufweisen, welche bei den Zuhörern oder Lesern falsche Vorstellungen darüber erwecken können, wofür die Debattanten einzustehen bereit sein.“ (S. 176) Diese Norm betrifft die Klarheit und Eindeutigkeit im Ausdruck und ist verwandt mit der zweiten Norm. ▶ „Unterstelle dem Gegner keine Standpunkte für die er nicht eintritt.“ (S. 182) Eine Sprecherin sollte den Standpunkt des Gegenübers so klar wie möglich wiedergeben. Diese Norm ist ebenfalls eng mit der zweiten verbunden. ▶ „Eine Darstellung (Bericht oder Theorie) sollte es vermeiden, dem Hörer oder Leser ein schiefes Bild zu vermitteln, das den Interessen der einen Partei auf Kosten der anderen dient.“ (S. 187) Diese Norm betrifft wiederum die klare und redliche Präsentation der Standpunkte und Argumente des Gegenübers. ▶ „Kontext oder äußere Umstände, die nicht mit der Sache zu tun haben, sollten neutral gehalten werden.“ (S. 190) Ein Verfahren, dass der Norm entgegensteht, ist beispielsweise, den Standpunkt oder die Äußerung eines Anderen lächerlich zu machen (argumentum ad absurdo) oder dem Anderen implizit zu drohen (argumentum ad baculum). Alle sechs Normen beziehen sich auf die redliche Darstellung der Streitfrage und Beiträge zu einer Diskussion. Es ließe sich eine Metanorm zu diesen Normen formulieren: Vermeide 59 3.6 Die Pragma-Dialektik Mehrdeutigkeit und Vagheit. Diese Forderung findet sich so in einer Reihe von dialektischen Ansätzen zur Argumentation, insbesondere in Bezug auf die Behandlung (und fehlerhafte Verschiebung) der Streitfrage. Zugleich ist die Feststellung, ob eine Darstellung mehrdeutig oder vage ist, nicht immer klar zu treffen. 3.6 Die Pragma-Dialektik Die Pragma-Dialektik ist ein Ansatz oder vielmehr eine Schule, die sich in den Bereich der normativen Pragmatik einordnen lässt. Die Pragma-Dialektik hat sich in den Niederlanden ab den 70er Jahren etabliert und hat einen großen Einfluss auf die Entwicklung der Argumentationswissenschaft genommen. Verbunden ist dieser Ansatz in erster Linie mit den Namen Frans van Eemeren und Rob Grootendorst, aber gemeinsam und in ihrer Nachfolge auch mit Peter Houtlosser, Fransica Snoeck Henkemans, Agnes van Rees, Bart Garssen, Jose Plug, Eveline Feteris und Jean Wagemans. Gemeinsam mit Tjark Kruiger haben van Eemeren und Grootendorst 1978 das Buch „Argumentatietheorie“ veröffentlicht, es folgte 1984 „Speech Acts in Argumentative Discourse“ von van Eemeren und Grootendorst. Ziel des Ansatzes war und ist die Entwicklung einer umfassenden Theorie der Argumentation als rationale Bearbeitung von Strittigkeit (controversy). Darin aufgehoben ist eine Bearbeitung der verschiedenen Ebenen der Argumentationstheorie: der philosophischen, theoretischen, analytischen, empirischen und didaktischen. Eine besondere Relevanz haben hier die von van Eemeren und Grootendorst entwickelten „Regeln für eine Kritische Diskussion“ erlangt, die weiter unten ausführlich dargestellt werden. Die Bezeichnung des Ansatzes als Pragma-Dialektik referiert zum einen auf die Sprechakttheorie als Grundlage in der Pragmatik und zum anderen auf einen Dialektikbegriff, der vor allem auf die Dialogizität von argumentativem Handeln abzielt. Argumentation wird dabei als sprachliche Praxis innerhalb einer Kritischen Diskussion verstanden, die Kritische Diskussion bildet den (normativen) Rahmen, innerhalb dessen Argumentation auftritt. Der Ausgangspunkt für die Pragma-Dialektik und insbesondere für den Katalog der Regeln für eine Kritische Diskussion ist die Verbindung von zwei linguistischen Regel- / Normkatalogen: den Grice’schen Konversationsmaximen und dem Kooperationsgebot auf der einen und den Searle’schen Gelingensbedingungen für Sprechakte auf der anderen Seite. Dabei hat insbesondere die Sprechakttheorie einen großen Einfluss auf die Entwicklung der Pragma-Dialektik. Van Eemeren und Grootendorst haben schon früh ein Forschungsprogramm für die Pragma-Dialektik beschrieben und in Angriff genommen. Mit diesem Programm verbinden die Autoren den Anspruch, Argumentation umfassend zu beschreiben, zu untersuchen und lehrbar zu machen. Die verschiedenen Phasen-- philosophische Grundlagen, Theoriebildung, empirische Untersuchung, Analyse und Didaktisierung / Praxis-- werden bis heute bearbeitet (vgl. an Eemeren et al., 2014, S. 521). Damit erklärt sich auch, warum die Pragma-Dialektik den dialektischen Ansätzen zugeordnet wird: Sie entspringt einem normativen Impuls zur Modellierung guter Argumentation und formuliert Verfahrensregeln für eine solche gute Argumentation. Die sogenannten metatheoretischen Ausgangspunkte machen das Programm und den normativen Ansatz der Pragma-Dialektik noch einmal deutlich. Es handelt sich um 60 3 Die dialektische Perspektive die Funktionalisierung, die Externalisierung, die Sozialisierung und die Dialektifizierung (van Eemeren et al., 2014, S. 523), die hier kurz erläutert werden sollen. ▶ Funktionalisierung: Die Aussagen bzw. Sprechakte innerhalb einer Kritischen Diskussion werden in ihrer Funktion zur Bearbeitung der Streitfrage verstanden. Das heißt, alle Äußerungen werden als argumentative Äußerungen rekonstruiert. ▶ Externalisierung: Implizite Aussagen werden expliziert. Auf die Schwierigkeiten und Implikationen der Rekonstruktion impliziter Aussagen geht das Kapitel 5 genauer ein. ▶ Sozialisierung: Argumentation wird immer als Teil einer Kritischen Diskussion zwischen verschiedenen Teilnehmerinnen verstanden. Die Pragma-Dialektik geht davon aus, dass zumindest die Rollen von Protagonist und Antagonist identifizierbar sind. ▶ Dialektifikation: Argumentation sollte normativ auf der Basis präskriptiver Normen bewertet werden. Allerdings geht die Pragma-Dialektik davon aus, dass diese Normen als Standards guten Argumentierens auch von Laien geteilt werden. Ob und wie Laien diese Normen teilen, wird im Rahmen verschiedener empirischer Studien untersucht (vgl. van Eemeren, Garssen & Meuffels, 2009). Als grundlegendes Konzept ihrer Theorie entwickelt die Pragma-Dialektik das Modell einer Kritischen Diskussion. Innerhalb dieses Modells unterscheidet sie vier Stufen (vgl. van Eemeren et al., 2014, S. 527): ▶ Konfrontation (confrontation stage): hier wird eine Meinungsverschiedenheit festgestellt, indem ein Standpunkt nicht akzeptiert / bestritten wird. ▶ Eröffnung (opening stage): hier findet die Verteilung der Rollen in Protagonistin und Antagonist statt, wobei der Protagonist gefordert ist, seinen Standpunkt zu verteidigen und die Antagonistin diesen Standpunkt anzweifelt. Zudem werden hier die Ausgangspositionen festgelegt. ▶ Argumentation (argumentation stage): hier ist die Protagonistin bemüht den Antagonisten zu überzeugen, der Antagonist versucht den Protagonist zu kritisieren. ▶ Abschluss (conclusion stage): Protagonist und Antagonistin stellen fest, ob der Standpunkt des Protagonisten ausreichend verteidigt wurde oder ob er zurückgezogen werden muss. Diese verschiedenen Phasen eines argumentativen Austauschs finden sich in ähnlicher Form auch in anderen Ansätzen: beispielsweise im Sequenzmodell des Argumentierens bei Spranz-Fogasy (2006) (vgl. Kapitel 5.4.2). Ausgangspunkt ist hier im Modell der Kritischen Diskussion- - wie auch bei Habermas- - die Strittigkeit einer Äußerung / eines Geltungsanspruchs. Spezifisch für den pragma-dialektischen Ansatz ist aber zum einen, dass die Abfolge präskriptiv gesetzt ist und zum anderen, dass die Rolle der Argumentierenden und die mit ihr verbundene Beweislast festgelegt ist. Aus den Grundannahmen zur Argumentation, dem Modell der Stadien einer Kritischen Diskussion, den Regeln und Gelingensbedingungen sowie den Maximen von Grice haben van Eemeren und Grootendorst 10 Regeln für Kritische Diskussionen entwickelt. Dieser Regelkatalog basiert auf 15 detaillierteren und theoretisch komplexeren Regeln (van Eemeren & Grootendorst, 2009). Von Bihari (2012) liegt eine Übersetzung der Regeln ins Deutsche vor, 61 3.6 Die Pragma-Dialektik die allerdings an einigen Stellen die Regeln vereinfacht darstellt. Biharis Übersetzung bezieht sich auf eine Veröffentlichung von van Eemeren und Grootendorst von 2004. Die Regeln werden im Folgenden in Englisch (kursiv gesetzt, nach van Eemeren & Grootendorst, 2009) und Deutsch (in Orientierung an der Übersetzung von Bihari, 2012) 2 gegeben und am Beispiel des Stücks „Die zwölf Geschworenen“ erläutert und eingeordnet. Diese Darstellung ist relativ ausführlich. Dies scheint aber sinnvoll, da der Ansatz der Pragma-Dialektik und mit ihm diese Regeln in der Argumentationswissenschaft sehr einflussreich sind. JUROR 1: Also elf Stimmen für „schuldig“. In Ordnung. - „Nicht schuldig“? (Juror 8 hebt langsam die Hand.) Eine. - Klar, 11: 1 für „schuldig“. Jetzt wissen wir wenigstens, woran wir sind. […] JUROR 1: Zwei Minuten pro Kopf. Sie sind der erste. JUROR 2: Ja … was soll ich sagen … das ist gar nicht so leicht … ich … ja er ist sicher schuldig. Das ist doch von Anfang an klar gewesen … einen Gegenbeweis hat bisher niemand erbracht. JUROR 8: Den braucht auch niemand zu erbringen. Die Beweislast obliegt allein dem Gericht. So steht es in unserer Verfassung. Sie brauchen nur nachzulesen. JUROR 2: Jaja, das weiß ich schon … ich wollte auch nur sagen … na eben, der Mann ist schuldig. Es gibt doch jemand, der die Tat gesehen hat - JUROR 3: Endlich! Sprechen wir endlich über Tatsachen! Lassen wir die persönlichen Gefühle zu Hause! Da ist ein alter Mann, der im zweiten Stock wohnt, direkt unter dem Mordzimmer. Er hat ausgesagt, es habe sich wie ein Kampf angehört, und dann habe der Junge laut gerufen: „Ich bring dich um! “ Er hat es deutlich verstanden! Eine Sekunde später fiel ein Körper zu Boden, und er lief zur Wohnungstür, sah hinaus - und was sah er? Das Bürschlein rannte die Treppe runter und aus dem Haus. Dann holte er die Polizei. Sie fanden den Vater mit einem Messer in der Brust … und der Gerichtsarzt stellte fest, daß der Tod um Mitternacht eingetreten sein muß. - Das sind Tatsachen. Tatsachen lassen sich nicht widerlegen. Der Junge ist schuldig! Daran gibt’s nicht zu rütteln. Ich bin nicht so sentimental wie ein gewisser Herr. Mir ist auch bekannt, daß der Junge erst neunzehn ist, aber das schützt ihn nicht davor, daß er für seine Tat bezahlen muß! JUROR 7: Ganz Ihrer Meinung! JUROR 1: Danke. Der nächste. 2 Ich möchte mich ganz herzlich bei Frans van Eemeren bedanken, der die deutsche Übersetzung noch einmal durchgesehen und teilweise korrigiert hat. Mögliche Fehler liegen selbstverständlich bei mir. 62 3 Die dialektische Perspektive Regeln für eine Kritische Diskussion (übernommen aus van Eemeren & Grootendorst, 2009 und in der deutschen Übersetzung von Bihari, 2012) Regel 1: Uneingeschränktes Recht Meinung zu äußern Der Sprecher darf nicht gehindert werden, Standpunkte vorzubringen oder Standpunkte anzuzweifeln. Rule 1 a. Special conditions apply neither to the propositional content of the assertives by which a standpoint is expressed, nor to the propositional content of the negation of the commissive by means of which a standpoint is called into question. b. In the performance of these assertives and negative commissives, no special preparatory conditions apply to the position or status of the speaker or writer and listener or reader. Die argumentativen Äußerungen unterliegen keinen spezifischen propositionalen oder sozialen Voraussetzungen: jede Teilnehmerin kann jeden Standpunkt vorbringen oder strittig werden lassen. Für das Beispiel bedeutet das, dass Juror 2 berechtigt ist den Standpunkt „einen Gegenbeweis hat bisher niemand erbracht“ vorzubringen. Regel 2: Recht herauszufordern Der Diskussionsteilnehmer, der den Standpunkt seines Diskussionspartners in Frage stellt, hat das Recht den Partner herauszufordern seinen Standpunkt zu verteidigen. Rule 2 The discussant who has called the standpoint of the other discussant into question in the confrontation stage is always entitled to challenge this discussant to defend his standpoint. Juror 8 bestreitet den Standpunkt von Juror 3 dahingehend, dass diesen Gegenbeweis auch niemand zu bringen brauche. Alternativ hätte er nach der Regel 2 auch insistieren können, dass Juror 3 den Standpunkt begründet (verteidigt). Diese Aufforderung zur Verteidigung darf nicht abgelehnt werden. Diese ersten beiden Regeln ähneln inhaltlich den Bedingungen für die Ideale Sprechsituation bei Habermas (vgl. Kapitel 3.3). Regel 3: Pflicht zur Verteidigung Wer einen Standpunkt vorbringt, ist verpflichtet, diesen zu verteidigen, wenn er herausgefordert wird, dies zu tun. Rule 3 The discussant who is challenged by the other discussant to defend the standpoint that he has put forward in the confrontation stage is always obliged to accept this challenge, unless the other discussant is not prepared to accept any shared premises and discussion rules; the discussant 63 3.6 Die Pragma-Dialektik remains obliged to defend the standpoint as long as he does not retract it and as long as he has not successfully defended it against the other discussant on the basis of the agreed premises and discussion rules. Juror 3 folgt dieser Regel, er zieht den Standpunkt in dem Moment zurück, in dem er ihn nicht mehr argumentativ verteidigt. Interessant ist hier, dass er sich dieser Anforderung auch hätte verweigern können, wenn er davon ausgehen müsste, dass das Gegenüber sich nicht an die Diskussionsregeln hält oder akzeptierte Prämissen nicht teilt. Dann könnten beide nicht von einer gemeinsamen Basis aus in die Argumentation eintreten. Zum Problem der Argumentation ohne gemeinsame Basis bietet Kapitel 6.3 eine tiefere Diskussion. Regel 4: Erhaltung der Rollenverteilung Der Protagonist ist der Sprecher, der in der Eröffnungsphase heraus[ge]fordert wird seinen Standpunkt zu verteidigen, Antagonist ist der Herausforderer; die Rollen dürfen nicht verwechselt werden, es sei denn, beide stimmen einem Rollenwechsel zu. Rule 4 The discussant who in the opening stage has accepted the other discussant’s challenge to defend his standpoint will fulfill the role of protagonist in the argumentation stage, and the other discussant will fulfill the role of antagonist, unless they agree otherwise; the distribution of roles is maintained until the end of the discussion. Diese Rollenverteilung lässt sich im Beispiel recht klar wiederfinden: Juror 8 agiert bei der Abstimmung als Antagonist, indem er den Standpunkt „der Junge ist schuldig“ in Zweifel zieht ohne einen eigenen Standpunkt zu formulieren. Diese Rollen werden festgeschrieben durch das Verfahren, das Juror 12 vorschlägt. JUROR 12: Lassen Sie mich eine Sekunde nachdenken - ja, natürlich, es ist unsere Aufgabe, diesen Herrn zu überzeugen, daß wir im Recht sind und er im Unrecht. Vielleicht könnte jeder von uns ein bis zwei Minuten darauf verwenden. Wie finden Sie das? Damit werden die elf Geschworenen, die für die Schuld gestimmt haben, als Protagonisten dieses Standpunktes positioniert. Interessanterweise lehnt Juror 5 diese Aufgabe ab, indem er sagt: „Ich verzichte, ich gebe das Wort weiter.“ Dies wird von Juror 1 so akzeptiert. Nach den Regeln der Kritischen Diskussion wäre das nicht zulässig, allerdings dringt der Antagonist-- Juror 8-- auch nicht auf eine Verteidigung. Dieses Beispiel zeigt damit auch, dass die Verteilung der Beweislast in natürlicher Argumentation anders verlaufen kann, als es das forensische (rechtliche) Modell vorgibt (vgl. Kapitel 3.4). 64 3 Die dialektische Perspektive Regel 5: Vereinbarung über die Diskussionsregeln Die Diskussionspartner müssen sich vor der Argumentationsphase über die folgenden Regeln einigen. Wie sollen die Diskussionspartner einen Standpunkt angreifen bzw. verteidigen? Und in welchen Fällen gilt ein Angriffsbzw. Verteidigungsversuch als adäquat? Diese Regeln sollen während der ganzen Diskussion beibehalten werden. Rule 5 The discussants who will fulfill the roles of protagonist and antagonist in the argumentation stage agree before the start of the argumentation stage on the rules for the following: how the protagonist is to defend the initial standpoint and how the antagonist is to attack it, and in which case the protagonist has successfully defended the standpoint and in which case the antagonist has successfully attacked it. These rules apply throughout the duration of the discussion, and may not be called into question during the discussion itself by either of the parties. Nur in Teilen machen die Geschworenen die Regeln, nach denen sie vorgehen, explizit. Es gibt den Vorschlag von Juror 12 der Reihe nach Juror 8 zu überzeugen, und es gibt im Laufe der Beratung immer wieder Abstimmungen, in denen weniger und weniger Geschworene ihren Standpunkt verteidigen und in zunehmender Zahl mit „nicht schuldig“ stimmen. Dies sind Verfahrensregeln, die üblich sind, aber hier nicht expliziert werden. Wiederum wäre interessant zu untersuchen, wie und wann in argumentativen Alltagsgesprächen die Regeln der Auseinandersetzung thematisiert werden. Regel 6: Art der Verteidigung / Herausforderung Der Protagonist kann seinen Standpunkt und die Gründe zur Verteidigung des Standpunkts in einem komplexen argumentativen Sprechakt verteidigen, und der Antagonist kann einen Standpunkt angreifen, indem er dessen Aussagegehalt, Beweis- oder Widerlegungskraft in Frage stellt; andere Möglichkeiten sind ausgeschlossen. Rule 6 a. The protagonist may always defend the standpoint that he adopts in the initial difference of opinion or in a sub-difference of opinion by performing a complex speech act of argumentation, which then counts as a provisional defense of this standpoint. b. The antagonist may always attack a standpoint by calling into question the propositional content or the justificatory or refutatory force of the argumentation. c. The protagonist and the antagonist may not defend or attack standpoints in any other way. Diese Regel bestimmt nun, dass innerhalb einer Kritischen Diskussion nur Argumente genutzt werden können, um einen Standpunkt zu verteidigen, und dass ein Standpunkt als verteidigt gilt, wenn er begründet wurde (bis er wieder strittig wird). Die folgenden drei Regeln (7-9) widmen sich der Frage, unter welchen Bedingungen ein Standpunkt als verteidigt gelten kann oder folglich zurückgezogen werden muss. Die Übersetzung von Bihari (2012) verknappt hier etwas und übersetzt die Formulierungen intersubjective identification procedure, intersubjective explication procedure, intersubjective testing procedure 65 3.6 Die Pragma-Dialektik und intersubjective inference procedure nicht mit. Diese Begriffe erscheinen jedoch wichtig für das Verständnis. Die ersten drei Verfahren zielen auf die gemeinsame Herstellung von Standards durch die Teilnehmerinnen der kritischen Diskussion in Bezug auf die akzeptierten Prämissen (Welche Prämissen werden als geltend angesehen und können daher Grundlage für die Argumentation sein? ), auf die Explikation impliziter Anteile (Welche Prämissen blieben implizit und wie sollten sie rekonstruiert / expliziert werden? ) und auf die Frage, welche Argumentationsschemata genutzt werden können (Kann Schema X in dieser kritischen Diskussion genutzt werden? ). Wichtig ist hier, dass die Einigung für die konkrete Diskussion und zwischen den konkreten Teilnehmerinnen passiert. Das vierte Verfahren, das intersubjective inference procedure, unterscheidet sich von den vorausgehenden drei dadurch, dass hier die Argumentation an externen, logischen Validitätsstandards gemessen wird, allerdings unter der Bedingung, dass die Begründung explizit gemacht wurde und dass die Teilnehmerinnen sich verpflichtet haben, diese Standards einzuhalten. Nun weiter zu den Regeln. Regel 7: Erfolgreiche Argumentation Der Protagonist hat seinen Standpunkt erfolgreich verteidigt, wenn der in Frage stehende Standpunkt identisch mit dem ist, der von beiden Parteien angenommen wurde. Der Antagonist hat erfolgreich attackiert, wenn der in Frage stehende Standpunkt nicht mit dem übereinstimmt, der von beiden Parteien angenommen wurde. Rule 7 a. The protagonist has successfully defended the propositional content of a complex speech act of argumentation against an attack by the antagonist if the application of the intersubjective identification procedure yields a positive result or if the propositional content is in the second instance accepted by both parties as a result of a sub-discussion in which the protagonist has successfully defended a positive sub-standpoint with regard to this propositional content. b. The antagonist has successfully attacked the propositional content of the complex speech act of argumentation if the application of the intersubjective identification procedure yields a negative result and the protagonist has not successfully defended a positive sub-standpoint with regard to this propositional content in a sub-discussion. Diese Regel trifft nicht nur Aussagen dazu, ob der propositionale Gehalt des globalen Standpunktes von allen Parteien angenommen wurde, sondern auch darüber, ob dies auch für untergeordnete Aussagen gilt. Es ist möglich, dass sich innerhalb einer Argumentation zeigt, dass auch auf einer untergeordneten Ebene Standpunkte strittig sind; auch diese Strittigkeit muss bearbeitet werden. In der Übersetzung ist die Regel im Präsens formuliert, es handelt sich aber um eine abgeschlossene Argumentation. Daher wurde das Tempus angepasst. Regel 8: Akzeptabilität der Argumentationsmuster Der Protagonist verteidigt seinen Standpunkt erfolgreich, wenn ein Test, der die Akzeptabilität der Anwendung der Argumentschemata prüft, ein positives Ergebnis hat. Der Antagonist 66 3 Die dialektische Perspektive attackiert erfolgreich, wenn ein Test, der die Akzeptabilität der Argumentschemata prüft, ein negatives Ergebnis hat. Rule 8 a. The protagonist has successfully defended a complex speech act of argumentation against an attack by the antagonist with regard to its force of justification or refutation if the application of the intersubjective inference procedure or (after application of the intersubjective explicitization procedure) the application of the intersubjective testing procedure yields a positive result. b. The antagonist has successfully attacked the force of justification or refutation of the argumentation if the application of the intersubjective inference procedure or (after application of the intersubjective explicitization procedure) the application of the intersubjective testing procedure yields a negative result. Juror 3 lehnt explizit ab, das Alter des Jungen als relevant für diesen Fall zu behandeln. Juror 7 schließt sich an. Es findet hier allerdings kein Testverfahren zur Prüfung statt, die Geschworenen diskutieren nicht, ob und wann Alter als relevantes und geltendes Argumentationsschema (bzw. als Topos, vgl. Kapitel 4) eingeführt werden darf. Regel 9: Standpunkte konklusiv angreifen und verteidigen Der Protagonist verteidigt seinen Standpunkt mit einem komplexen Sprechakt erfolgreich, wenn er erfolgreich dessen Aussagegehalt und Beweis- oder Widerlegungskraft verteidigt. Der konklusive Angriff des Antagonisten ist erfolgreich, wenn sein Angriff mindestens gegen den Aussagegehalt oder die Beweis- oder Widerlegungskraft der Proposition erfolgreich ist. Rule 9 a. The protagonist has conclusively defended an initial standpoint or substandpoint by means of a complex speech act of argumentation if he has successfully defended both the propositional content called into question by the antagonist and its force of justification or refutation called into question by the antagonist. b. The antagonist has conclusively attacked the standpoint of the protagonist if he has successfully attacked either the propositional content or the force of justification or refutation of the complex speech act of argumentation. Die Positionen von Protagonistin und Antagonistin bringen unterschiedliche Pflichten zu Verteidigung und Angriff mit. Während der Protagonist sowohl die Geltung des Inhalts als auch die Stärke des Arguments zeigen muss, ist es ausreichend für den Antagonisten eines der beiden zu widerlegen. Im Beispiel scheint das Argument, dass ein Zeuge den Angriff gehört hat und den Täter hat weglaufen sehen, beiden Anforderungen zu genügen. Für die Antagonistin wäre es nun ausreichend entweder zu zeigen, dass der Mann den Kampf gar nicht hören konnte (vielleicht weil er schwerhörig ist) und den Täter gar nicht weglaufen sehen konnte (vielleicht weil er seine Brille nicht mehr trug), oder aber zu zeigen, dass dieser Zeugenbericht die Konklusion nicht stützen kann, weil der Mann eben nur Anzeichen des Mordes gehört und gesehen hat, aber nicht den Mord selbst. 67 3.6 Die Pragma-Dialektik Regel 10: Optimale Anwendung des Rechts herauszufordern Der Antagonist behält sein Recht, Aussagegehalt und Beweis- oder Widerlegungskraft der Standpunkte während der ganzen Diskussion in Frage zu stellen. Rule 10 The antagonist retains throughout the entire discussion the right to call into question both the propositional content and the force of justification or refutation of every complex speech act of argumentation of the protagonist that the latter has not yet successfully defended. Juror 8 kann durchgehend die Argumente der anderen kritisieren und in Frage stellen, solange sie nicht abschließend geklärt sind. So lässt sich im Beispiel sehen, dass Juror 2 ein Argument vorbringt (niemand hat den Gegenbeweis erbracht). Das an sich ist ein Argument, das geeignet wäre, den Standpunkt zu verteidigen, allerdings wird es von Juror 8 in Frage gestellt, weil es nicht relevant ist. Regel 11: Optimale Anwendung des Rechts zur Verteidigung Der Protagonist behält sein Recht, Aussagegehalt und Beweis- oder Widerlegungskraft der Standpunkte während der ganzen Diskussion zu verteidigen. Rule 11 The protagonist retains throughout the entire discussion the right to defend both the propositional content and the force of justification or refutation of every complex speech act of argumentation that he has performed and not yet successfully defended against every attack by the antagonist. Die spiegelbildliche Regel zu Regel 10 in Bezug auf die Protagonistin: auch dies zeigt sich gut im Beispiel. Nachdem das Argument, dass niemand den Gegenbeweis erbracht hat, abgelehnt und auch vom Geschworenen selbst zurückgezogen wurde, bringt er ein weiteres Argument: „Es gibt doch jemand, der die Tat gesehen hat“, woran Juror 3 mit einer Ausführung dieses Argumentes anschließt. Regel 12: Der Protagonist behält sein Recht, komplexe Sprechakte zu widerrufen und sich somit aus der Pflicht zur Verteidigung zu entziehen. Rule 12 The protagonist retains throughout the entire discussion the right to retract any complex speech act of argumentation that he has performed, and thereby to remove the obligation to defend it. Juror 2 zieht den Geltungsanspruch für die Äußerung, dass niemand den Gegenbeweis erbracht hat, zurück („Jaja, das weiß ich schon“). Damit zieht er aber seinen Standpunkt nicht zurück, sondern betont ihn noch einmal und begründet ihn neu. 68 3 Die dialektische Perspektive Regel 13: Verhaltensvorschrift der ordentlichen Diskussion Protagonist und Antagonist dürfen denselben (komplexen) Sprechakt mit derselben Diskussionsregel nur einmal in der gleichen Diskussion ausüben. Diskussionspartner sind verpflichtet, (komplexe) Sprechakte auszuüben, die eine bestimmte Rolle in der Diskussion haben. Protagonist und Antagonist dürfen in einem Stück nur einen (komplexen) Sprechakt ausüben. Rule 13 a. The protagonist and the antagonist may perform the same speech act or the same complex speech act with the same role in the discussion only once. b. The protagonist and the antagonist must in turn make a move of (complex) speech acts with a particular role in the discussion. c. The protagonist and the antagonist may not perform more than one move of (complex) speech acts at one time. Diese Regel bezieht sich auf mögliche Redundanz: die Wiederholung der gleichen Äußerungen und die Verquickung unterschiedlicher Sprechakte, die die Argumentation vernebeln könnte, sollten nach dieser Regel vermieden werden. Regel 14: Der Protagonist ist verpflichtet, seinen Standpunkt zu widerrufen, wenn der Antagonist den Standpunkt gemäß Regel 9 in der Argumentationsphase resultativ angegriffen hat. Der Antagonist ist verpflichtet, seinen Zweifel bezüglich des Standpunkts zu widerrufen, wenn der Protagonist den Standpunkt gemäß Regel 9 in der Argumentationsphase resultativ verteidigt hat. In anderen Fällen ist der Protagonist nicht verpflichtet seinen Standpunkt zu widerrufen. Rule 14 a. The protagonist is obliged to retract the initial standpoint if the antagonist has conclusively attacked it (in the manner prescribed in rule 9) in the argumentation stage (and has also observed the other discussion rules). b. The antagonist is obliged to retract the calling into question of the initial standpoint if the protagonist has conclusively defended it (in the manner prescribed in rule 9) in the argumentation stage (and has also observed the other discussion rules). c. In all other cases, the protagonist is not obliged to retract the initial standpoint, nor is the antagonist obliged to withdraw his calling into question the initial standpoint. Dies kann in dem Beispiel an vielen Stellen beobachtet werden. Wenn einzelne Geschworene ihren Standpunkt nicht mehr verteidigen können, wechseln sie ihn und stimmen in der folgenden Abstimmung für nicht schuldig. Regel 15: Die Diskussionspartner sind berechtigt, in jeder Stufe der Diskussion Gebrauchs-Deklarativa auszuführen oder anzufordern. 69 3.6 Die Pragma-Dialektik Rule 15 a. The discussants have the right at every stage of the discussion to request the other discussant to perform a usage declarative and to perform one themselves. b. The discussant who is requested to perform a usage declarative by the other discussant is obliged to act accordingly. Gebrauchs-Deklarativa sind die Sprechakte, die eine Handlung vollziehen, indem sie bestimmen, wie ein spezifischer Ausdruck verstanden werden soll. Der Begriff ist von van Eemeren und Grootendorst eingeführt worden. Die fünfzehn Regeln sind grundlegend für den Ansatz der Pragma-Dialektik, weshalb sie hier so ausführlich dargestellt wurden. Die Pragma-Dialektik ist klar ein normativer Ansatz. Anders als bei der Diskursethik von Habermas handelt es sich bei den fünfzehn Regeln jedoch nicht um kontrafaktisch anzunehmende Bedingungen, sondern vielmehr um Vorgaben für Verhaltensweisen, von denen die Autoren annehmen, dass Argumentierende sie selbst anerkennen und auch einhalten können (und sollten). Ein letzter wichtiger Aspekt zur Einführung der Pragma-Dialektik ist ihr Konzept von Fehlschlüssigkeit. Diesbezüglich verfolgt die Pragma-Dialektik folgenden Ansatz: Ein Fehlschluss wird in der Theorie gefasst als ein Verstoß gegen eine der Regeln für eine Kritische Diskussion. Damit ist ein Fehlschluss nicht gebunden an die Form des Arguments, sondern an das Brechen einer Regel im Dialog. So wären zum Beispiel der Fehlschluss des ad baculum (die Drohung mit dem Stock, d. h. die Androhung von Gewalt) ebenso ein Verstoß gegen Regel 1 wie das argumentum ad misericordiam (der Appell an das Mitleid), da beide dazu genutzt werden können, um das Gegenüber davon abzuhalten, einen Standpunkt vorzubringen. Eine Verschiebung der Beweislast (z. B. ignoratio elenchi) würde gegen Regeln 2-5 verstoßen, Fehlschlüsse, die Doppeldeutigkeiten thematisieren (semantisch oder syntaktisch), gegen die Absicht von Regel 15 und Fehlschlüsse der Geltung (z. B. Bestätigung der Konsequenz, voreilige Verallgemeinerung, post hoc ergo propter hoc) gegen die Regeln 7 und 8. Für eine ausführliche Zuordnung und Diskussion sei hier auf das Buch „Argumentation, Communication and Fallacies“ (van Eemeren & Grootendorst, 1992) verwiesen. Diese Konzeption von Fehlschlüssen als Regelbrüchen bietet einen geschlossenen Ansatz in Bezug auf das komplizierte Thema Fehlschlüsse. Kritisiert worden ist diese Konzeption dafür, dass dadurch die Frage, was als Fehlschluss gilt, nicht klar beantwortbar ist und die Konzeption als Regelverstoß in einem Spannungsverhältnis zu den „traditionellen“ Fehlschlüssen steht (vgl. Tindale, 1999, S. 54 ff.). Wie oben gesehen, kann die Regel 1 durch verschiedene traditionelle Fehlschlüsse gebrochen werden. Handelt es sich dann bei den verschiedenen traditionellen Fehlschlüssen, die für den Bruch einer Regel genutzt werden können, eigentlich um einen Fehlschluss? Die Pragma-Dialektik ist in ihren Anfängen insbesondere für den stark normativen Zugang zur Argumentation kritisiert worden, der sich z. B. in der klaren Zuweisung der Rollen von Antagonist und Protagonist wiederfindet. Zugleich hat die Pragma-Dialektik eine enorme Wirkung auf die Argumentationswissenschaft gehabt und es ist nicht zuletzt den Protago- 70 3 Die dialektische Perspektive nistinnen der Amsterdamer Schule zu verdanken, dass die Argumentationswissenschaft insgesamt den Status erreicht hat, den sie momentan in einem diversen, aber nicht disparaten Feld hat. Es ist der Amsterdamer Schule gelungen, eine kohärente, umfassende Theorie und Modellierung von Argumentation zu entwickeln. Und was noch schwerer wiegt: Es ist den Vertretern der Pragma-Dialektik immer wieder gelungen, Kritik und alternative Ansätze aufzunehmen und das Modell weiterzuentwickeln. In den letzten Jahren hat sich die pragma-dialektische Forschung deutlich der Beschreibung von verschiedenen argumentativen Situationen zugewandt und integriert auch andere Aspekte von kommunikativer Interaktion in ihre Beschreibung von Argumentation. 3.7 Die Verbindung von dialektischer und rhetorischer Perspektive Innerhalb der letzten Jahre gibt es zunehmend den Versuch, dialektische und rhetorische Ansätze zu verbinden und zu integrieren. Dies soll im Folgenden beispielhaft an zwei Ansätzen gezeigt werden, dem Strategischen Manövrieren in der Pragma-Dialektik und der Integration eines Konzeptes von Publikum in Ansätze Informeller Logik bei Tindale. 3.7.1 Die Pragma-Dialektik und das Strategische Manövrieren In der Pragma-Dialektik hat sich in den letzten gut zwanzig Jahren das Konzept des strategic manouvering entwickelt. Es ist der Versuch einer Integration rhetorischer Konzepte in das dialektische Modell der Pragma-Dialektik. Strategisches Manövrieren nennen van Eemeren und Houtlosser den Versuch einer Akteurin, zeitgleich ein dialektisches und ein rhetorisches Ziel zu verfolgen. Hier wird, so van Eemeren et al. (2014, S. 553), die Dimension der Vernünftigkeit (dialektisch) um die der Effektivität (rhetorisch) ergänzt. Das Rhetorikverständnis innerhalb der Pragma-Dialektik ist stark von der Kopplung an Effektivität bestimmt: Eine rhetorische Perspektive richtet sich einzig darauf, dass ein Argument effektiv ist, also von einem Publikum akzeptiert wird. In Kapitel 4 wird eine Reihe von rhetorischen Ansätzen eingeführt, die diese klare Fokussierung nicht teilen. Das Model des Strategischen Manövrierens geht nun davon aus, dass Rednerinnen im Rahmen der Regeln für eine Kritische Diskussion (vgl. Kapitel 3.6) bemüht sind, mit ihren Argumenten oder der Wahl des Themas die größtmögliche Akzeptanz beim Publikum (oder einfach dem Gegenüber) zu erreichen. Es werden drei Aspekte benannt, in denen sich die Verbindung von dialektischer und rhetorischer Perspektive zeigt: im Bereich des topischen Potenzials (welche Topoi wählt ein Redner aus verschiedenen möglichen), bei der Anpassung an die Bedürfnisse des Publikums (welche Vorannahmen, welches Vorwissen bringt das Publikum mit) und in den stilistischen Mitteln (mit welchen stilistischen Mitteln können die anderen beiden Aspekte transportiert werden) (vgl. van Eemeren et al., 2014, S. 554). Als eines der Argumente für die Schuld des Angeklagten bringt Juror 10 die Zeugenaussage einer Frau vor. 71 3.7 Die Verbindung von dialektischer und rhetorischer Perspektive JUROR 1: Der Reihe nach, wenn ich bitten darf. JUROR 10: Moment, hier ist eine Frau, die im Bett liegt und nicht einschlafen kann. JUROR 7: Wo? Der Frau kann geholfen werden! JUROR 10: Sie erstickt fast vor Hitze. So war‘s doch? Jedenfalls blickt sie aus dem Fenster und sieht gerade noch, wie das Söhnchen das Messer in seinen Vater stößt. Es ist zehn Minuten nach Mitternacht, auf die Sekunde. Der Beweis ist lückenlos. Die Frau hat den Burschen seit seiner Geburt gekannt. Sein Fenster liegt schräg gegenüber auf der andern Straßenseite, jenseits der Schienen der elektrischen Hochbahn. Und sie hat unter Eid ausgesagt, daß sie den Mord gesehen hat. JUROR 8: Durch die Fenster eines vorbeifahrenden Hochbahnzuges. JUROR 10: Richtig. Aber der Zug war leer und fuhr in Richtung City. Er war auch unbeleuchtet, wenn Sie sich erinnern. Und die Sachverständigen haben uns bewiesen, daß man bei Nacht durch die Fenster eines vorbeifahrenden Hochbahnzuges sehen kann, was auf der anderen Seite vorgeht. Sie haben es bewiesen! JUROR 8: Eine Frage. Sie trauen dem Jungen nicht. Was veranlaßt Sie, der Frau zu trauen? Sie stammt doch aus demselben Milieu? JUROR 10: Ach Sie - Sie sind ein ganz geriebener Gauner … Das Argument von Juror 8 weist auf einen Fehlschluss von Juror 10 hin. Juror 10 hatte vorher ad hominem argumentiert, dass allen Menschen im Elendsviertel der Stadt nicht zu trauen sei, folglich auch nicht dem jungen Angeklagten. Juror 8 weist nun auf die Diskrepanz hin, dass Juror 10 aber bereit ist, der Frau als Zeugin zu glauben, obwohl sie „doch aus demselben Milieu“ stamme. Er tut dies durch eine Frage. Ebenso gut hätte er auf die Darstellung der Zeugenaussage anders reagieren und argumentieren können, dass man durch die Fenster eines fahrenden Zuges nichts sehen kann (was er später auch noch tun wird). Durch den Hinweis auf den Fehlschluss von Juror 10 erreicht er aber gleichzeitig das rhetorische Ziel, dass dieser in seiner Glaubwürdigkeit erschüttert ist, da er nachweislich unterschiedliche Standards anlegt. Dies wäre ein Beispiel für Strategisches Manövrieren. 3.7.2 Tindales Integration von dialektischem und rhetorischem Argumentationsbegriff Auch aus der Informellen Logik kommend gibt es mit Tindale einen Wissenschaftler, der dialektische (informal-logische) und rhetorische Sichtweisen integriert. Wesentlich für diesen Versuch ist die Rolle des „Anderen“ innerhalb des argumentativen Austauschs. Dialektische Modelle gehen von Argumentation als einem Dialog zwischen Teilnehmerinnen aus. Zugleich werden externe Kriterien an diese Dialoge herangetragen, wenn es zum Beispiel darum geht, ob ein bestimmter Fehlschluss legitim ist oder nicht. Tindale problematisiert nun die Art dieser externen Instanz: Aus logischer Perspektive bestände sie in den objektiven Regeln 72 3 Die dialektische Perspektive logischen Schließens, die von Kontext und Teilnehmerinnen absehen. Eine solche Instanz-- wenn auch Teil verschiedener dialektischer Ansätze-- scheint unpassend für die dialektische Perspektive auf Argumentation, die ja den Blick gerade auf den Austausch zwischen Argumentierenden richten will. Eine andere Möglichkeit, einen externen Blickpunkt auf Argumentation zu ermöglichen, wäre aus Tindales Sicht die Einbeziehung des Publikums. Diese Einbeziehung des Publikums als externe Perspektive markiert den Umschwung von einer dialektischen Perspektive, die das Publikum als Teilnehmerinnen fasst, zu einer rhetorischen Perspektive, die das Publikum als Zuschauer fasst (audience-as-participant vs. audience-asspectator, vgl. Tindale, 1999, S. 64). Tindale (1999) führt drei Aspekte als spezifisch rhetorisch an: die Rolle von Emotionen in der Argumentation, den Kontext und das Publikum. Dabei nimmt die Publikumsorientierung die Hauptstellung ein. Tindale unternimmt damit eine Integration der Aristotelischen Überzeugungsmittel ethos, logos und pathos in die Argumentationstheorie. Auf die Überzeugungsmittel und die aristotelische Sicht auf rhetorische Argumentation geht das Kapitel 4.1.1 genauer ein. Ob Emotionen einen Anteil an Argumentation haben sollten, ist umstritten. Zum einen können sie als irrational eingeordnet werden, womit sie sich dialektischer Regeln entziehen würden. Zum anderen können Emotionen nicht kategorisch von Argumentation getrennt werden, jedes rationale Entscheidungsverfahren ist auf Seiten der Argumentierenden auch mit Emotionen verbunden. Tindale (1999, S. 72 f.) folgt letzterer Auffassung. Dabei nutzt er als Grundlage eine Unterscheidung von Brinton zur Rolle von Emotionen in der Argumentation: Argumentation kann danach darauf zielen Emotionen zu evozieren (also Emotionen als Konklusion anzuführen und damit beim Publikum hervorzurufen) oder Emotionen zu invozieren (also Emotionen als Grundlage für eine Konklusion anzuführen). Die komplexe Verbindung von Emotion und Argumentation kann in dieser Einführung nur am Rande betrachtet werden; als weiterführende Literatur sei hier genannt Waltons (1992) „The place of emotion in argumentation“ und Gilberts Konzept der coalescent argumentation (1995). In Anlehnung an Billig fasst Tindale (1999) Argumentation folgendermaßen: „Argumentation is a feature of social relations and shares in the complexity of those relations” (S. 75). Damit hat die soziale Situation Einfluss auf die Argumentation. Wer argumentiert mit wem wo, wann, aus welcher Motivation, mit welchem Ziel? Die Bedeutung des Kontexts setzt Tindale in Bezug zur Rolle des Publikums und der Publikumsorientierung in der Argumentation. Die Orientierung auf ein Publikum ist einer der zentralen Aspekte rhetorischer Ansätze. Als Bezugspunkt seiner Verbindung von Dialektik und Rhetorik nutzt er vor allem den Ansatz der Neuen Rhetorik von Perelman und Olbrechts-Tyteca. „The new rhetoric is a model of argumentation that collapses Aristotle’s distinction between rhetoric and dialectic (Arnold 1982, ix) and, as we have seen, further embraces logic“ (Tindale, 1999, S. 70). Der Ansatz von Perelman und Olbrechts-Tyteca und seine Aufnahme durch Tindale werden in Kapitel 4.2.2 näher ausgeführt. Die Zusammenführung dialektischer und rhetorischer Konzepte von Argumentation betrifft vor allem die Frage der Geltung von Argumentation. Innerhalb von dialektischen Ansätzen kann ein Argument dann Geltung beanspruchen, wenn es den jeweiligen Regeln 73 3.7 Die Verbindung von dialektischer und rhetorischer Perspektive folgt, seien es nun die Regeln der Idealen Sprechsituation, der Kritischen Diskussion oder Normen der Diskussion. Rhetorische Ansätze hingegen-- wenn man der Unterscheidung in drei Perspektiven von Wenzel folgt-- bestimmen sich durch die Akzeptanz der Argumente durch das Publikum. Wie kann also in Bezug auf die Geltung von Argumenten eine Verbindung von dialektischen und rhetorischen Ansätzen aussehen? In seinem Lehrbuch zur Informellen Logik bietet Tindale (2013) eine Lösung dieses Problems an. Allerdings spricht er in diesem Zusammenhang nicht von Gültigkeit oder Geltung, sondern von der Güte eines Arguments. Unter der Überschrift „Gutes Begründen“ nennt der Autor zentrale Gütekriterien für gute Argumente. „Ein gutes Argument sollte akzeptable Prämissen aufweisen, die für die Konklusion, die sie stützen sollen, relevant sind, und es sollte genug dieser akzeptablen und relevanten Prämissen geben, um das angesprochene Auditorium von dem zu überzeugen, was durch die Hauptkonklusion transportiert wird“ (Tindale, 2013, S. 93, Hervorhebungen im Original). Damit benennt Tindale drei Kriterien für ein gutes Argument: die Akzeptabilität für ein Publikum, die Relevanz in Bezug auf die Streitfrage und die Quantität an Argumenten. Diese drei Kriterien werden auch von anderen Autorinnen innerhalb der Informellen Logik geteilt, allerdings betont Tindale die Bedeutung der Akzeptabilität. Von den drei Kriterien lässt sich die Relevanz am ehesten als dialektisch einordnen und die Akzeptabilität am ehesten rhetorisch. Die Frage der hinreichenden Stützung bezieht sich auf die Stärke der Behauptung für die Konklusion: wird formuliert, dass die Konklusion sicher aus der Prämisse folgt oder nur möglicherweise? Diese Differenzierung von verschiedenen Stärken von Argumenten findet sich bei Toulmin wieder, dessen Modell im folgenden Kapitel (siehe 4.2.1) eingeführt wird. In der Bestimmung der Güte von Argumenten zeigt sich, dass die Unterscheidung in die drei Perspektiven auf Argumentation zwar hilfreich ist, wenn es darum geht das Feld der Argumentationswissenschaft zu ordnen, die Unterscheidung aber verschwimmt, wenn man tiefer in die einzelnen Fragen einsteigt. Das gilt insbesondere für die Unterscheidung von rhetorischer und dialektischer Perspektive. Diese Verbindungen und Unterschiede zwischen der rhetorischen und der dialektischen Perspektive werden klarer, wenn im folgenden Kapitel die rhetorische Perspektive stärker in den Blick genommen wird. 75 4.1 Rhetorisch überzeugen und beweisen 4 Die rhetorische Perspektive Rhetorik setzt voraus, dass eine Wahl zwischen verschiedenen Möglichkeiten gegeben ist und wird relevant, wenn wir über Fragen zu entscheiden haben, für die wir keine sicheren Annahmen haben. Argumentation ist ein Verfahren, um verschiedene Positionen darzustellen und zwischen verschiedenen Positionen zu vermitteln und zu einer Entscheidung zu kommen. Die rhetorische Perspektive auf Argumentation ist nach Wenzel (1980) durch einen Schwerpunkt auf den Prozess der Argumentation (im Gegensatz zum Produkt oder zur Prozedur) bestimmt. Weiterhin ist für die Argumentation aus einer rhetorischen Perspektive grundlegend, dass sie auf wahrscheinlichen Annahmen, nicht auf wahren Sätzen beruht. Rhetorische Argumentation besteht folglich aus Schlüssen aus der Wahrscheinlichkeit. Geltung bestimmt sich aus dieser Perspektive dadurch, so Wenzel, dass die Argumentation effektiv ist und damit die Funktion erfüllt, das Gegenüber zu überzeugen / zu überreden. Argumentation dient aus rhetorischer Perspektive also der Persuasion. Die Frage, wie sich Geltung bestimmt, ist für die rhetorischen Ansätze zur Argumentation häufig kompliziert. Zum einen bestimmen fast alle Ansätze die Geltung über eine Form der Zustimmung des Gegenübers, zum anderen formulieren fast alle Ansätze ein Unbehagen bezüglich der Annahme, dass ein effektives (d. h. akzeptiertes) Argument ein geltendes Argument ist. Die verschiedenen Konzepte, die im Folgenden vorgestellt und diskutiert werden sollen, widmen sich fast alle diesem Unbehagen und nehmen es in ihre Modelle auf. In diesem Kapitel werden die zentralen Theorien der rhetorischen Wende erläutert und von dort aus einige Kernkonzepte dieser Ansätze eingeführt: das Feld, das Publikum, die Topik und der Status. 4.1 Rhetorisch überzeugen und beweisen Für viele Arbeiten im Feld der Argumentation sind die Schriften von Aristoteles ein wichtiger Referenzpunkt. Schon die Unterscheidung der drei Perspektiven auf Argumentation wird häufig zurückgebunden an die drei Bereiche, in denen sich Aristoteles mit der Argumentation beschäftigt: die Analytik, die Topik und die Rhetorik. Für die rhetorische Perspektive sind vor allem zwei Gesichtspunkte der Rhetorik von Aristoteles wichtig: die Überzeugungsmittel und die Beweismittel. Aristoteles selbst stellt in seiner „Rhetorik“ eine enge Verbindung von Dialektik und Rhetorik her, da sie sich beide dem gleichen Gegenstand widmen. So beginnt die „Rhetorik“ mit folgendem Satz: „Die Rhetorik ist ein Gegenstück zur Dialektik; beide handeln nämlich von solchen Dingen, die zu erkennen auf gewisse Weise allen gemeinsam und nicht Sache einer begrenzten Wissenschaft ist. Deshalb haben auch alle auf gewisse Weise an beiden Anteil; alle haben nämlich zu einem gewissen Grad damit zu tun, ein Argument zu prüfen und zu stützen, sich zu verteidigen und anzuklagen“ (Aristoteles, 2002, 1354a1-7). Dialektik und Rhetorik werden hier als wissenschaftsübergreifend beschrieben. Sie sind nicht an eine bestimmte 76 4 Die rhetorische Perspektive Disziplin gebunden, sondern sind Verfahren, die in allen Disziplinen und Wissensbereichen angewendet werden können. Beide Verfahren bindet Aristoteles an Argumentation. Aus rhetorischer Sicht steht die Frage im Zentrum, wie-- auch durch Argumentation-- ein Publikum überzeugt werden kann. So definiert Aristoteles die Rhetorik auch folgendermaßen: „Es sei also die Rhetorik eine Fähigkeit, bei jeder Sache das möglicherweise Überzeugende zu betrachten“ (Aristoteles, 2002, 1355b26-27). Im Kontrast dazu widmet sich die Dialektik eher dem Austausch von Argumenten zwischen den Streitparteien. Auch konzentriert die Dialektik sich stärker auf die Argumentation als zentralen Gegenstand, wohingegen die Rhetorik auch andere Mittel der Persuasion einbezieht. Diese Mittel fasst Aristoteles zusammen unter den Überzeugungsmitteln. 4.1.1 Die rhetorischen Überzeugungsmittel: Ethos, Logos und Pathos Aristoteles unterscheidet in seiner „Rhetorik“ zuerst zwei Arten von Überzeugungsmitteln: die inartifiziellen und die artifiziellen. Die inartifiziellen werden nicht mit Hilfe der Rhetorik hergestellt, sondern liegen vor; wie beispielsweise Urkunden oder Indizien. Die artifiziellen Überzeugungsmittel werden durch die Rednerin selbst produziert und sind Gegenstand der Rhetorik. Aristoteles unterscheidet drei artifizielle Überzeugungsmittel, die auch in den rhetorischen Argumentationstheorien immer wieder aufgenommen werden (vgl. Kap 3.7.2): Ethos, Pathos und Logos. Diese beziehen sich auf die Person des Redners, die Erzeugung von Emotionen im Publikum und den Inhalt der Rede. „Von den Überzeugungsmitteln, die durch die Rede zustande gebracht werden, gibt es drei Formen: Die ersten liegen im Charakter des Redners, die zweiten darin, den Zuhörer in einen bestimmten Zustand zu versetzen, die dritten in dem Argument selbst, durch das Beweisen oder scheinbare Beweisen“ (Aristoteles, 2002, 1356a1-5). Aristoteles unterscheidet drei Überzeugungsmittel Ethos: Das Überzeugen durch den Charakter des Redners Pathos: Das Überzeugen durch die Emotionen, die im Publikum ausgelöst werden Logos: Das Überzeugen durch den Inhalt / durch die Argumente Durch das Mittel des Ethos überzeugt die Rednerin das Publikum durch ihren Charakter und damit durch die eigene Glaubwürdigkeit. Diese Glaubwürdigkeit kann entweder als gegeben angenommen werden oder als etwas, das die Rednerin selbst in der Rede herstellen muss, indem sie sich als besonders glaubwürdig präsentiert (vgl. Mouchel, Fortenbaugh & Robling, 1994, S. 1517 ff.). Aristoteles nennt drei Eigenschaften, durch die die Rednerin Glaubwürdigkeit erlangt: Weisheit, Tugend und guten Willen (vgl. Aristoteles, 2002, 1378a6-19). Das Pathos basiert auf Emotionen und überzeugt, indem es das Publikum in bestimmte Emotionen versetzt, z. B. in Wut oder Mitleid. Pathos bezieht sich dabei auf zweierlei: die Nutzung von sprachlichen und sprecherischen Mitteln, um eine bestimmte Emotion dar- 77 4.1 Rhetorisch überzeugen und beweisen zustellen-- ist hier also Teil der Rede--, und die Emotion, die das Publikum selbst erfährt und aus der heraus es Entscheidungen trifft. Der Logos bezieht sich als Überzeugungsmittel auf den Inhalt, den Gedanken, mit dem das Publikum überzeugt werden soll. Er kann enger gefasst werden, als „sachbezogenes, intellektuelles Überzeugungsmittel neben Ethos und Pathos“ (Kraus, 2001, S. 626) und damit eher auf Argumentation ausgerichtet sein. Er kann aber auch weiter gefasst werden als der gedankliche Inhalt einer Rede und umfasst dann auch erzählende und beschreibende Formen (vgl. ebd.). Das Verhältnis der drei Überzeugungsmittel zueinander wird je nach Epoche und Autoren unterschiedlich beurteilt. Bei Aristoteles scheinen alle drei gleichwertig zu sein und zu gleichen Teilen zur Überzeugung beizutragen. Zugleich spricht Aristoteles dem Enthymem, und damit dem Logos, eine besondere Rolle zu. Später, insbesondere in der römischen Rhetorik, werden Ethos und Pathos oft zusammengefasst und als Mittel für den Redebeginn und das Redeende genannt. Für den Bereich der Argumentation sind die drei Überzeugungsmittel in unterschiedlicher Weise relevant. Zum einen könnte man den Standpunkt vertreten, dass nur der Logos Teil der Argumentation ist, da er die Beweisführung und gedankliche Strukturierung darstellt. Zum anderen gibt es einige Argumentschemata, die sich auf das Ethos und Pathos beziehen. Diese Verbindung von Ethos, Pathos und Logos lässt sich am Beispiel des Stücks „Die zwölf Geschworenen“ gut darstellen. JUROR 6: Der Fall liegt eigentlich klar, ich war eigentlich … ja, ich war vom ersten Tag an überzeugt, daß - JUROR 3: Sie waren nicht der einzige! Der Fall ist nun wirklich bis in die letzte Einzelheit aufgeklärt. Die haben sich so viel Mühe gegeben, es uns zu beweisen. Wieder und wieder. Ja, soll ich am Ende gescheiter sein als die studierten Richter. Juror 3 folgt Juror 6 in der Feststellung, dass der Fall klar sei und er überzeugt sei. Er begründet dies damit, dass „die“ sich so viel Mühe gegeben haben. Die letzte Äußerung bezieht sich auf das Ethos der „Richter“ (oder wahrscheinlich eher des Staatsanwaltes), die Glaubwürdigkeit speist sich hier aus der Ausbildung dieser Richter („studiert“). Damit nutzt Juror 6 das argumentum ad verecundiam, das Autoritätsargument. Ethos und Logos sind hier eng verbunden. 78 4 Die rhetorische Perspektive JUROR 8: Und wissen Sie auch, wer ihn geschlagen hat? Nicht nur sein eigener Vater, nicht unsere sogenannten Erzieher, nicht der Waisenhausvater, nein, meine Herren - JUROR 7: Jetzt bin ich aber gespannt. JUROR 8: Wir. - Neunzehn erbärmliche Jahre sind an diesem Jungen nicht spurlos vorübergegangen. Er ist verbittert. Und deshalb - denke ich, schulden wir ihm ein paar Worte. - Das ist alles. JUROR 10: Ich bin gerührt. Denken Sie von mir was Sie wollen! Aber wir schulden ihm nicht so viel. - In diesem Austausch lässt sich die Verbindung von Pathos und Logos gut zeigen. Juror 8 argumentiert, dass die Gesellschaft- - und die zwölf Geschworenen als Repräsentanten der Gesellschaft- - eine Verantwortung für den Angeklagten haben, da auch die Gesellschaft diesen Jungen geschlagen hat, wenn auch im übertragenen Sinne. Juror 10 antwortet auf dieses Argument mit der Äußerung „Ich bin gerührt“. Dies ist an dieser Stelle klar ironisch, weist aber auf den Aspekt des Pathos in der Argumentation hin. Juror 10 markiert die Argumentationsstrategie von Juror 8 als emotional, als eine, die bei den Zuhörern Mitleid erzeugen will, dieses Ziel bei ihm aber nicht erreicht. Damit erklärt Juror 10 das Argument zum argumentum ad misericordiam, zum Appell an das Mitleid (unabhängig davon, ob Juror 8 es so intendiert hat). Insbesondere die Verbindung von Emotion und Argumentation ist in der aktuellen Argumentationsforschung ein wichtiger Gegenstand und auch zentral in der Verbindung dialektischer und rhetorischer Perspektiven auf Argumentation (vgl. Kapitel 3.7.2, Tindale). 4.1.2 Das Paradigma und das Enthymem als rhetorische Schlüsse Neben den drei Überzeugungsmitteln führt Aristoteles in seiner Schrift „Rhetorik“ auch Beweismittel ein. Diese beziehen sich im engeren Sinne auf Argumentation. Aristoteles unterscheidet auch hier drei Formen: das Enthymem, das Paradigma und die Sentenz. Für die rhetorische Argumentationsforschung sind das Enthymem und das Paradigma besonders relevant. Dabei sind besonders der Status und die Definition des Enthymems in der Argumentationsforschung stark umstritten. Um die Diskussion etwas zu ordnen, beginnt dieses Kapitel mit der Darstellung der Sichtweise, die sich als Hauptrichtung in den meisten Arbeiten zur Argumentation findet. Daran anschließend wird diese Sichtweise kritisch betrachtet. Die beiden rhetorischen Beweismittel Paradigma und Enthymem werden häufig korrespondierend zu den Beweisen in der „Analytik“, der logischen Betrachtung von Schlussverfahren und der „logischen Perspektive“ bei Aristoteles, betrachtet (vgl. 2.2.1.1). Demnach wären das Paradigma und das Enthymem die rhetorische Form der analytischen Induktion und Deduktion. 79 4.1 Rhetorisch überzeugen und beweisen Die zentralen rhetorischen Beweismittel sind das Paradigma und das Enthymem. Beide gründen auf wahrscheinlichen Sätzen. Eine weit verbreitete Begriffsbestimmung ist: Das Paradigma ist ein Beispielbeweis und entspricht der rhetorischen Induktion. Das Enthymem ist ein deduktives Verfahren und entspricht dem rhetorischen Syllogismus. Beim Paradigma, der rhetorischen Induktion, handelt es sich um einen Beispielbeweis, für den Aristoteles drei verschiedene Arten unterscheidet: historische Ereignisse, Gleichnisse und Analogien sowie Fabeln. Diese drei Arten unterscheiden sich in ihrer Überzeugungskraft: Historische Ereignisse, also faktuale Erzählungen, wirken, so Aristoteles, überzeugender als fiktionale Erzählungen. Aristoteles setzt die Überzeugungskraft der verschiedenen Arten des Beispielbeweises auch mit dem Bildungsstand des Publikums in Zusammenhang. So beschreibt er die Fabel als besonders wirksam bei weniger gebildeten und die Erzählung wahrer Ereignisse als überzeugender bei besser gebildeten Menschen. Interessant ist, dass der Beispielbeweis eine narrative Form- - oder eine potenziell narrative Form- - des Beweisens darstellt. Auf Basis einer Begebenheit als Prämisse wird ein Schluss gezogen, und diese Begebenheit kann faktual oder fiktional sein. Zudem kann diese Erzählung illustrativ genutzt werden-- wenn der Schluss auch ohne das Beispiel zustande käme-- oder aber substanziell. Dann beruht der Schluss auf dem Beispiel und der (möglichen) Erzählung. Das Verhältnis von Erzählen und Argumentieren ist eines der aktuellen Forschungsfelder der Argumentationswissenschaft, auf das in Kapitel 6.1 genauer eingegangen wird. In Bezug auf die Überzeugungskraft des Paradigmas stellt Aristoteles aber auch fest, es sei wirksamer, ein Argument allgemein aufzubauen und das Beispiel illustrativ nachzusetzen als es voranzustellen, denn die Überzeugungskraft von einzelnen Beispielen sei fraglich. Neben dem Paradigma beschreibt Aristoteles das Enthymem als Beweismittel. Dieses ist das zentrale Beweismittel für ihn. Dies soll in einem längeren Zitat gezeigt werden, auch um einen Eindruck von Form und Stil der aristotelischen Rhetorik zu geben. Weil es die kunstgemäße Methode offensichtlich mit den Formen der Überzeugung zu tun hat, die Überzeugung aber eine Art von Beweis ist-- wir sind nämlich dann am meisten überzeugt, wenn wir annehmen, dass etwas bewiesen wurde--, weil aber der rhetorische Beweis ein Enthymem ist, und dies ist, um es geradeheraus zu sagen, das wichtigste der Überzeugungsmittel, das Enthymem aber eine Art Deduktion ist- - die Untersuchung von jeder Art von Deduktion aber obliegt ohne Unterschied der Dialektik, entweder ihr als ganzer oder einem Teil von ihr--, dann müsste offenbar derjenige, der am besten in der Lage ist zu betrachten, woraus und wie die Deduktion entsteht, auch am besten mit der Deduktion vertraut sein, wenn er außerdem erfasst hat, mit was für einer Art von Dingen es das Enthymem zu tun hat und welche Unterschiede es zu den Deduktionen der Logik aufweist (Aristoteles, 2002, 1355b4-15). Das Enthymem ist also nicht nur das wichtigste Beweismittel, es ist zudem deduktiv organisiert und scheint an dieser Stelle in einer Korrespondenz zur Deduktion in der Logik zu stehen. Allerdings stellt Aristoteles fest, dass es Unterschiede zwischen der Deduktion in der 80 4 Die rhetorische Perspektive Logik und der Rhetorik gibt. Das Enthymem wird häufig als rhetorischer Syllogismus beschrieben, der sich durch zwei Charakteristika bestimmt: die Schlüsse aus dem Wahrscheinlichen (im Gegensatz zu Schlüssen aus der Wahrheit in der Analytik / Logik) und die Tatsache, dass Prämissen implizit bleiben. Das Enthymem würde zu einem „verkürzten Syllogismus“, in dem Prämissen ausgelassen und durch das Publikum ersetzt werden. JUROR 8: Eine Frage. Sie trauen dem Jungen nicht. Was veranlaßt Sie, der Frau zu trauen? Sie stammt doch aus demselben Milieu? Betrachtete man diesen kurzen Auszug als Enthymem im Sinne eines rhetorischen Syllogismus, so würde man zum einen feststellen, dass der Übergang vom Grund zur Konklusion implizit bleibt und durch die Hörerin eingesetzt werden muss. Junge und Frau stammen aus dem gleichen Milieu, wenn zwei Menschen aus dem gleichen Milieu stammen, so gelten für sie die gleichen Eigenschaften, daher wäre auch der Frau nicht zu trauen. Die Aussage, dass, wenn zwei Menschen aus dem gleichen Milieu stammen, ihnen auch die gleichen Eigenschaften zukommen, muss von den Hörerinnen ergänzt werden. Nun liegt die Überzeugungskraft dieses Argumentes möglicherweise gerade darin, dass dieser Übergang nicht explizit formuliert werden muss, sondern die Hörer selbst ergänzen müssen, dass eine Form von Vergleichbarkeit besteht. Diese wird aber nicht konkret formuliert und damit auch nicht Gegenstand der Argumentation. Das Enthymem arbeitet also damit, dass die Hörer einsetzen können, was sie selbst bereits für richtig, plausibel, wahr halten. Nun wurde eingangs festgestellt, dass der Begriff des Enthymems nicht ganz so unproblematisch ist, wie es die Bestimmung als rhetorischer Syllogismus scheinen lässt. Aristoteles selbst nutzt den Begriff in widersprüchlicher Weise. So wird das Enthymem teilweise als Gegensatz zum Beispielbeweis genannt, teilweise wird aber auch der Beispielbeweis selbst Enthymem genannt. Eggs (1992) stellt fest, dass der Beispielbeweis (Paradigma) und das Enthymem in einer Antonymiebeziehung stehen. Wenn Aristoteles das Enthymem und das Paradigma kontrastiert, dann meint er mit Enthymem den deduktiven Schluss. In neutralisierter Position ohne Gegensatz zu einem anderen Begriff kann der Begriff Enthymem jede Form schlussfolgender Argumentation meinen (vgl. S. 918). Auch Tindale (1999) bemerkt kritisch, dass das Enthymem häufig als verkürzter Syllogismus behandelt wird, also als Syllogismus, in dem eine Prämisse implizit bleibt. Auch wenn dies häufig der Fall sei, so sei es doch nicht die Definition des Enthymems. Entscheidend sei, dass sich das Enthymem am Publikum orientiert und seine Annahmen und sein Wissen über das Publikum in die Argumentation integriere (vgl. S. 9, Tindale bezieht sich hier auf die Lesart Kennedys). Burnyeat (1994, 10) argumentiert in eine ähnliche Richtung, indem er darauf verweist, dass Aristoteles den Begriff Enthymem im Prinzip ohne Erklärung einführt. Dies deutet darauf hin, dass sein Publikum schon wusste, was damit gemeint war, Aristoteles sich also auf ein alltagsweltliches Verständnis von Enthymem bezieht. Im alltagsweltlichen Verständnis bedeutete Enthymem: Ideen und Gedanken, die ein Sprecher kommunizieren will. 81 4.2 Die rhetorische Wende Es rückt erst dadurch in die Nähe des Syllogismus, dass es eine Art von Argument ist. Da durch Enthymeme Argumente vorgebracht werden, haben sie eine ähnliche Funktion wie der Syllogismus. Ähnlich argumentiert auch Rapp in seiner Erläuterung zu Aristoteles’ „Rhetorik“ (vgl. Aristoteles, 2002, S. 358 ff.), dass das Enthymem nicht als Syllogismus verstanden werden sollte, sondern eher als Schlussverfahren eigenen Rechts. Für die rhetorische Argumentationstheorie ist diese Diskussion relevant, denn hier wird die Frage mitdiskutiert, ob Argumentation aus einer rhetorischen Perspektive eine Form defizitärer Logik ist (die Aussagen sind nur wahrscheinlich und werden dann noch nicht einmal expliziert) oder ob innerhalb einer rhetorischen Perspektive ein Argumentationsbegriff eigenen Rechts besteht und bestehen kann. 4.2 Die rhetorische Wende Ende der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts erscheinen unabhängig voneinander drei Arbeiten zur Argumentation, die eine Bewegung weg von logischen, hin zu rhetorischen Ansätzen einleiten. Diese sind im Jahr 1953 Theodor Viehweg mit „Topik und Jurisprudenz“, ein Buch, das insbesondere in der Rechtswissenschaft Einfluss ausgeübt hat, im Jahr 1958 Stephen Toulmin mit „The Uses of Argument“ und ebenso im Jahr 1958 Chaim Perelman und Lucie Olbrechts- Tyteca mit dem Werk „La Nouvelle Rhétorique“. Alle drei Werke entspringen einer ähnlichen Unzufriedenheit mit der formalen Logik als Argumentationstheorie und der Erkenntnis, dass die formale Logik nicht das richtige Instrument ist, um Argumentation in natürlicher Sprache zu analysieren und zu kritisieren. Zudem wächst nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und dem Ende der Naziherrschaft die Erkenntnis, dass Argumentation ein zentrales Instrument für den öffentlichen Diskurs im demokratischen Gemeinwesen ist. Im öffentlichen, politischen Diskurs unterliegt Argumentation spezifischen Bedingungen. Da es im öffentlichen Diskurs häufig um Fragen der Richtigkeit von Handlungen geht, sind die vorgebrachten Gründe wahrscheinlich, aber nicht wahr. Zudem besteht zwar eine Wahl zwischen konkurrierenden Positionen, dies allerdings unter Entscheidungsdruck: Entscheidungsverfahren, ob politisch oder rechtlich, müssen abgeschlossen werden. Diesen Bedingungen natürlicher Argumentation wurde aus Sicht der Autoren der logische Ansatz zur Argumentation nicht gerecht. Damit ist die Motivation dieser drei Ansätze nicht so weit entfernt von den Theorien, die unter der Überschrift des dialektischen Verständnisses eingeführt wurden. Nicht umsonst werden als Ausgangspunkte der Informellen Logik neben den Arbeiten zu Trugschlüssen vor allem die Ansätze von Toulmin und Perelman / Olbrechts-Tyteca genannt. Die drei Werke entspringen nicht nur dem gleichen Impuls, sie nutzen auch den gleichen Ausgangspunkt für ihre Theoriebildung: den Rechtsstreit. Der Rechtsstreit, die Gerichtsrede, wird zur Blaupause für diese Argumentationsmodelle. Damit stellen sich diese Theorien in die Tradition der klassischen Rhetorik, die ihren Ursprung im 5. Jahrhundert vor Christus in Griechenland unter anderem in der Notwendigkeit hatte, rechtliche Fragen mündlich vor einem Richter verhandeln zu müssen. Auch ist die Gerichtsrede neben der politischen Rede und der Festrede eine der drei Redearten, die Aristoteles unterschieden hat. Dass der Rechtsstreit auch den modernen Arbeiten als Blaupause dient, mag zum einen daran liegen, 82 4 Die rhetorische Perspektive dass in Rechtsstreitigkeiten immer eine klare Streitfrage vorliegt und für die verschiedenen Positionen Gründe vorgebracht werden müssen. Zum anderen bestimmt sich ein Rechtsstreit auch darüber, dass er enden muss. Ähnlich wie im politischen Diskurs muss zu einem bestimmten Zeitpunkt eine Entscheidung getroffen werden in einer Frage, die nicht aus sich selbst heraus schon eine klare Entscheidung vorgibt. Die zwölf Geschworenen in dem Beispiel können sofort entscheiden, sie können sich die Stunde nehmen, die der Geschworene Nummer 8 einfordert, sie können sich auch mehr Zeit lassen, aber sie müssen die Beratung irgendwann abschließen: mit einem Schuldspruch, einem Freispruch oder dem Eingeständnis, dass sie zu keinem Schluss kommen werden (einer hung jury). Der Rechtsstreit ist nicht nur die Blaupause der Argumentationswissenschaft, sondern auch der Rhetorik. Rhetorisches Handeln ist der Versuch, auf ein Gegenüber mit Hilfe von Symbolen einzuwirken, der dann notwendig wird, wenn es keine Sicherheit der Entscheidung gibt, aber eine Entscheidung notwendig ist. Allerdings ist dieses forensische Paradigma nicht ohne Probleme. So wurde im Kapitel 3 zur dialektischen Perspektive der Ansatz zur Präsumtion von Kauffeld (1998) eingeführt. Kauffeld kritisiert- - in Bezug auf die Stellung von Präsumtionen und Beweislasten-- die Analogie zwischen juristischem und öffentlichem Diskurs. Zudem bezieht das forensische Paradigma Kontexte mit einem geringen Grad an Agonalität (vgl. Kapitel 2.1) nur bedingt mit ein. Die Kritik am forensischen Paradigma ist auch einer der Ausgangspunkte für die Frage zu den Grenzen von Argumentation und zur Inkommensurabilität von Diskursen (vgl. Kapitel 6.3), da die Modellierung jeder Form argumentativen Austauschs als Rechtsstreit möglicherweise einige Formen unberücksichtigt lässt oder unangemessen rahmt. 4.2.1 Der argumentationstheoretische Ansatz Toulmins Stephen Toulmin war kein Rhetoriker, sondern Philosoph. So ist sein Interesse an Argumentation auch philosophisch und ethisch begründet. Toulmin interessierte, wie sich Rationalität konstituiert und welchen Kriterien Rationalität folgt. Grundlegend für seine Abkehr von formallogischen Ansätzen zur Argumentation ist die Unterscheidung in analytische Argumentation und substanzielle Argumentation (vgl. Toulmin, 2003, S. 116). Analytische Argumente sind solche, bei denen die Konklusion zwingend aus Daten und Schlussregel folgt. Also Fälle, in denen Daten und Schlussregel die Konklusion bereits beinhalten. Dies ist beispielsweise im deduktiven Syllogismus der Fall. Substanzielle Argumente hingegen fügen durch den Prozess der Begründung neue Informationen hinzu, der Schluss folgt nicht zwingend aus Daten und Schlussregel. In Toulmins eigenen Worten: 83 4.2 Die rhetorische Wende Eine von D zu K führende Argumentation heißt analytisch genau dann, wenn die Stützung für die Schlußregel, die die Argumentation ermöglicht, explizit oder implizit die Information enthält, die in der Schlußfolgerung selbst übermittelt wird. Wenn dies der Fall ist, ist die Aussage „D; S; und außerdem K“ in der Regel tautologisch. (Diese Regel hat aber einige Ausnahmen, die wir in Kürze untersuchen werden.) Wenn die Stütze für die Schlußregel nicht die Information enthält, die in der Schlußfolgerung mitgeteilt wird, ist die Aussage „D; S; und außerdem K“ niemals tautologisch, und die Argumentation ist substantiell. (Toulmin, 1975, S. 113) Damit nimmt er eine Kernfrage der Argumentationswissenschaft auf: Wie erlangen Gründe Geltung? Im Jahr 1958, nach vorangegangenen Arbeiten zur ethischen Argumentation und Philosophie der Wissenschaft, schreibt Toulmin „The Uses of Argument“. Er erhält darauf aber kein besonders starkes Echo. Es ist einer der Gründungsmythen der modernen Argumentationswissenschaft: Toulmin erzählte, dass es auf seine Arbeit innerhalb der Philosophie kaum eine Respons gab, schon gar keine positive. Daher war er sehr überrascht, als er sah, dass die Verkaufszahlen seines Buches in die Höhe gingen. Dies lag nicht an den Philosophen, sondern an den US -amerikanischen Rhetorikern und besonders den Debatten-Coaches, die seine Modelle begierig aufnahmen und weiterentwickelten. „It was, in the event, to my great advantage that The Uses of Argument found way so quickly into the world of Speech Communication. The rightly named ‚analytical‘ philosophers in the Britain and America of the late 1950s quickly smelled an enemy. The book was roundly damned by Peter Strawson in the B. B. C.’s weekly journal, The Listener; and for many years English professional philosophers ignored it“ (Toulmin, 2003, S. viii). So verlief die Rezeption von Toulmins Arbeit über Umwege von der Philosophie über die amerikanischen Rhetorikerinnen und universitären Debattenclubs durch die Rezeption in der Informellen Logik wieder zurück in die Philosophie. Toulmins Ansatz ist durch zwei Aspekte bestimmt: den formalen Aspekt des Argumentmodells und den inhaltlichen des Feldbegriffs. Am bekanntesten ist sicher das Argumentmodell geworden. Toulmin geht davon aus, dass jedem Argument eine universelle Form zu Grunde liegt, die sich rekonstruieren lässt. Er nimmt zudem an, dass inhaltlich unterschiedliche Argumente verschiedenen Feldern zugehören können und damit nicht jedes Argument für jede Frage relevant ist (auch wenn es sich formal problemlos rekonstruieren lässt). Toulmin geht also von einer universellen Form und von relativer Geltung von Argumenten aus. 4.2.1.1 Das Toulmin-Modell Das Argumentmodell Toulmins hat sich in den letzten sechzig Jahren als das zentrale Modell etabliert. Dabei ging es Toulmin selbst nicht darum, ein analytisches Modell zu konzipieren. „In no way had I set out to expound a theory of rhetoric or argumentation: my concern was with twentieth-century epistemology, not informal logic. Still less had I in mind an analytical model like that which, among scholars of Communication, came to be called ‚the Toulmin model‘“ (Toulmin, 2003, S. vii). 84 4 Die rhetorische Perspektive Das Toulmin-Modell besteht erst einmal aus den gleichen drei Komponenten wie das dreistellige Ausgangsmodell. Es gibt eine Konklusion. Diese bezieht sich auf Gründe bzw. Daten, wie Toulmin es nennt. Den Übergang von Datum zur Konklusion sichert die Schlussregel. Toulmin nutzt zur Einführung dieses Modells ein Beispiel, das mittlerweile den Rang eines Klassikers hat. Um der Wiedererkennbarkeit willen soll es auch hier genutzt werden. Harry von den Bermudas: Harry ist britischer Staatsbürger (Konklusion), denn er ist auf den Bermudas geboren (Datum). Vorausgehen müsste hier eigentlich noch das Bestreiten der Konklusion bzw. die Formulierung der Konklusion als Quaestio (Streitfrage): Ist Harry wirklich britischer Staatsbürger? Ja, denn er ist auf den Bermudas geboren. Die Verbindung von Datum und Konklusion geschieht durch die Schlussregel: Alle Menschen, die auf den Bermudas geboren sind, sind britische Staatsbürger. Auf diese Schlussregel kommt man, indem man nach dem Vorbringen des Grundes fragt: Was hat denn das mit der Frage zu tun? Bis hierher bringt das Toulmin’sche Modell nichts Neues. Die Funktionen, die über das klassische dreistellige Modell hinausgehen, sind die folgenden. Toulmin fügt einen Modaloperator (qualifier) ein, der die Stärke des Datums für die Konklusion angibt. Da Harry auf den Bermudas geboren ist, ist er sicher / recht wahrscheinlich / möglicherweise / vielleicht britischer Staatsbürger. Nicht jedes Datum führt also mit der gleichen Stärke zur Konklusion. Der Modaloperator ist dabei eng gebunden an die weitere neue Funktion, die Ausnahmebedingung (rebuttal). Diese Funktion benennt die Fälle, in denen das Datum nicht als Grund für die Konklusion gelten kann. Beispielsweise, wenn in diesem Beispiel beide Eltern Ausländer sind. Daraus folgt also: Da Harry auf den Bermudas geboren wurde, ist er sehr wahrscheinlich Brite, es sei denn beide Eltern waren Ausländer. 85 4.2 Die rhetorische Wende Nun fehlt noch eine letzte neue Funktion bei Toulmin: die Stütze (backing). Die Stütze gibt an, woraus die Schlussregel sich speist. Im Harry-Beispiel sind es Gesetzestexte, genauer das Staatsbürgerschaftsrecht. Wenn ich also sage: Alle Menschen, die auf den Bermudas geboren sind, sind britische Staatsbürger (Schlussregel), könnte mein Gegenüber fragen, wie ich darauf komme. Meine Antwort darauf könnte sein: Das steht in folgendem Gesetz. Das Modell sieht dann in seiner vollen Form so aus: Die Stütze ist es wert, noch einmal genauer betrachtet zu werden. Wenn für die Stütze eingesetzt wird „das steht im Staatsbürgerschaftsgesetz“, dann bewegt sich das Argument im rechtlichen Feld. Diese Art der Argumente kann in bestimmten Diskursen relevant sein (z. B. vor Gericht) oder irrelevant (z. B. in der Kirche). Wie das Modell auf komplexere und nicht für die Argumentationstheorie hergestellte argumentative Sequenzen angewendet werden kann, soll hier einmal am Beispiel von „Die zwölf Geschworenen“ gezeigt werden. 86 4 Die rhetorische Perspektive JUROR 7: Na, sehen Sie! Und was ist [! ] für ein Unterschied, wie lange ich dazu brauche? Ich hebe meine Hand hoch, weil ich überzeugt bin. Wir alle sind einfach überzeugt. Ich brauche dazu nicht mal fünf Minuten. - JUROR 8: Ich brauche vielleicht eine Stunde. - Das Baseball-Match fängt ja nicht vor acht Uhr an. … JUROR 8: Und wissen Sie auch, wer ihn geschlagen hat? Nicht nur sein eigener Vater, nicht unsere sogenannten Erzieher, nicht der Waisenhausvater, nein, meine Herren - JUROR 7: Jetzt bin ich aber gespannt. JUROR 8: Wir. - Neunzehn erbärmliche Jahre sind an diesem Jungen nicht spurlos vorübergegangen. Er ist verbittert. Und deshalb - denke ich, schulden wir ihm ein paar Worte. - Das ist alles. In beiden Beispielen ist die Konklusion dieselbe: und deshalb sollten wir uns eine Stunde Zeit nehmen, um den Fall zu besprechen. Die Daten aber unterscheiden sich nicht nur hinsichtlich ihrer Formulierung, sondern auch hinsichtlich ihres Feldes. Dies wird in den folgenden beiden Modellen gezeigt. 87 4.2 Die rhetorische Wende Beide Argumente lassen sich formal rekonstruieren und sind so auch in sich schlüssig (auch wenn man sich über die Rekonstruktion der Schlussregel im ersten Fall vielleicht streiten kann). Trotz der fast gleichen Konklusionen- - wir sollten uns Zeit nehmen, über den Fall zu reden-- nutzen sie unterschiedliche Daten und nicht nur das, sie beziehen sich auch auf unterschiedliche Felder, wie in den Stützen deutlich wird. Diese unterschiedlichen Felder scheinen abgestimmt auf die Relevanzsetzung, die von den Adressaten der Argumentation vorgenommen wird. Juror 7 scheint sich eher über den Bezug auf das Baseballspiel überzeugen zu lassen. Das zweite Argument richtet sich nicht mehr nur an Juror 7, sondern an die gesamte Runde. Dieser Adressatenbezug wird im Kapitel zu Perelman / Olbrechts-Tyteca und dem Konzept verschiedener Publika noch einmal wichtig. 4.2.1.2 Kritik am Toulmin-Modell Das Toulmin-Modell ist trotz oder wegen seiner Wirkmächtigkeit vielfach kritisiert worden. Ein Kritikpunkt ist dabei, dass das Modell dem Epicheirem, einem fünfstelligen Modell, das sich schon für die Argumentation in der klassischen Rhetorik findet, sehr stark ähnelt und so kaum Neuerungen bringt (vgl. Kienpointner, 1992, S. 23). Um diesen Kritikpunkt nachzuvollziehen, muss zuerst das Epicheirem vorgestellt werden; es ist nicht ganz identisch mit dem Toulmin-Modell. So unterscheidet Klein (1994) drei Verwendungsweisen des Epicheirems: 1) die Expansion der Grundform des dreistelligen Arguments durch jeweils ein Stützargument für die einzelnen Funktionen, 2) eher vager Begriff für eine Argumentform, die auch über „Ausschmückungen“ verfügt und 3) Oberbegriff sämtlicher rhetorischer Argumentformen. Im Epicheirem im engeren Sinne, bei Klein (1994) das erste Verständnis, finden sich die stützenden Funktionen, die Toulmin mit der Stütze einführt, für die Schlussregel ebenso wie für das Datum. Für das Harry-Beispiel hieße das, dass „er ist auf den Bermudas geboren“ extra abgestützt werden müsste („denn so steht es in seiner Geburtsurkunde“). Zudem sind die Stützen im Epicheirem besonderer Natur. Sie bilden Beispiele und Konkretisierungen für die eher allgemeinen Sätze in Datum und Schlussregel. Damit hat insbesondere das stützende Beispiel für die Schlussregel im Epicheirem eine andere Funktion als die Stütze bei Toulmin. 88 4 Die rhetorische Perspektive Erstere dient der Anschaulichkeit und der Konkretisierung im Beispiel, Letztere bietet die allgemeine Verortung des Arguments im Diskurs. Auf ein konkretes Beispiel übertragen würde das Epicheirem folgendermaßen aussehen. JUROR 7: Na, sehen Sie! Und was ist [! ] für ein Unterschied, wie lange ich dazu brauche? Ich hebe meine Hand hoch, weil ich überzeugt bin. Wir alle sind einfach überzeugt. Ich brauche dazu nicht mal fünf Minuten. - JUROR 8: Ich brauche vielleicht eine Stunde. - Das Baseball-Match fängt ja nicht vor acht Uhr an. … JUROR 8: Und wissen Sie auch, wer ihn geschlagen hat? Nicht nur sein eigener Vater, nicht unsere sogenannten Erzieher, nicht der Waisenhausvater, nein, meine Herren - JUROR 7: Jetzt bin ich aber gespannt. JUROR 8: Wir. - Neunzehn erbärmliche Jahre sind an diesem Jungen nicht spurlos vorübergegangen. Er ist verbittert. Und deshalb - denke ich, schulden wir ihm ein paar Worte. - Das ist alles. 89 4.2 Die rhetorische Wende Das Beispiel zeigt, dass, wenn auch das Toulmin-Schema große Ähnlichkeit zum Epicheirem aufweist, es doch ganz unterschiedliche Funktionen besetzt. Die weiteren Kritikpunkte am Toulmin-Modell sind theoretisch interessanter. Der erste ist, dass das Modell nicht deutlich macht, welche Ebene von Argumentation es genau beschreibt. Argumentation auf der Mikro- oder auf der Makroebene? Bezieht sich die Analyseebene auf ein einzelnes Argument oder auf eine Folge von Argumenten und damit auf Argumentation? Bei einer Konzentration auf die Mikroperspektive wäre zu erwarten, dass in natürlichsprachlicher Argumentation einige Funktionen implizit bleiben und im Rahmen einer Argumentationsanalyse rekonstruiert werden müssten. Würde eine Makroperspektive eingenommen, ließen sich möglicherweise alle Funktionen über eine längere Sequenz hinweg füllen (zur Unterscheidung von Mikro- und Makroebene der Argumentation vergleiche auch Kapitel 5.2). Eng mit dem ersten verknüpft ist ein zweiter Kritikpunkt. Das Toulmin-Modell macht nicht klar, ob es dialogisch oder monologisch angelegt ist. Diese Frage ergibt sich vor allem aus der Funktion der Ausnahmebedingung. Die Einführung dieser Funktion erlaubt zum einen die Deutung, dass das Modell nicht nur ein einzelnes Argument beschreibt. Durch die Ausnahmebedingung erhält das Modell einen dialogischen Charakter, da eine Ausnahmebedingung ja ein potenzielles Gegenargument wäre. Nun ließe sich einwenden, dass dann jede Argumentation und das Vorbringen eines einzelnen Arguments das Einbeziehen von Gegengründen schon beinhaltet. Dennoch bleibt der Status der Ausnahmebedingung ambig; stützt sie ausschließlich den Modaloperatoren ab oder ist sie eine echte, dialogische Entgegnung? Ein dritter Kritikpunkt lässt sich prinzipiell an jedes Argumentationsmodell richten, das über die dreistellige Grundstruktur hinausgeht: Ist das Modell nicht immer auf die potenzielle Dreistelligkeit von Argumenten rückführbar? So kritisiert Kienpointner (1992) auch, dass es sich bei dem Toulmin-Modell um ein „nicht-elementares“ Schema handelt (S. 28). Denn auch der Übergang zwischen Schlussregel und Stütze müsste und könnte wiederum über eine Schlussregel hergestellt werden. In dem Fall würde die Schlussregel den Status einer Konklusion einnehmen. Zwar hat diese Kritik einiges für sich, sie verschleiert aber den Unterschied der 90 4 Die rhetorische Perspektive Abstraktionsebenen, auf denen sich die Schlussregel und die Stütze befinden. Ist die Schlussregel relativ konkret auf die Fragestellung ausgerichtet, so ist die Stütze deutlich abstrakter, auch wenn sie aus dem gleichen Feld, dem gleichen Wissensbereich wie die Stütze stammt. Damit wird die Unterscheidung in Stütze und Schlussregel epistemologisch relevant. Die Analyse dieser Funktionen sagt etwas darüber aus, aus welchem Feld jemand seine Argumente nimmt und was sie damit als relevant in Bezug auf die Fragestellung versteht. Kurz, was er als kollektiv Geltendes nach Klein (1980) sieht. Dieser Aspekt führt direkt zu zwei zentralen Bereichen der rhetorischen Argumentationswissenschaft: dem Feldbegriff und der Topik. Erstere soll jetzt in Bezug auf Toulmin eingeführt werden, Letztere in Zusammenhang mit der Arbeit von Perelman / Olbrechts-Tyteca. 4.2.1.3 Der Feldbegriff bei Toulmin und darüber hinaus Die Frage, ob ein Argument Relevanz beanspruchen kann, beantwortet Toulmin mit seinem Konzept des Feldes. Der Feldbegriff bei Toulmin (1958) ist nicht ganz so stark rezipiert worden wie das Argumentmodell. Zugleich lässt sich die Relevanz des Modells ohne den Feldbegriff kaum erfassen. Durch den Feldbegriff bearbeitet Toulmin die Frage unterschiedlicher Geltungsstandards. Nach Toulmin ist das, was es einem Argumentierenden erlaubt, vom Datum auf die Konklusion zu schließen (die Schlussregel und die Stütze, die die Schlussregel an ein bestimmtes Feld bindet), feldabhängig und damit Gegenstand unterschiedlicher Logiken. Two arguments will be said to belong to the same field when the data and the conclusions in each of the two arguments are, respectively, of the same logical type: they will be said to come from different fields when the backing or the conclusions in each of the two arguments are not of the same logical type (Toulmin, 1958, S. 14). Toulmin versteht „logical type“ als eine epistemologische Kategorie, die sich auf verschiedene Wissensbereiche bezieht. In diesem Sinne gehört ein mathematischer Beweis einem anderen Feld an als eine Zeugenaussage, die sich wiederum von einer taxonomischen Aussage unterscheidet. An dem folgenden Auszug lässt sich zeigen, wie von Gründen aus unterschiedlichen Feldern auf dieselbe Konklusion argumentiert werden kann. Beide Argumente zielen auf die Konklusion, dass über den Fall zuerst gesprochen werden sollte. Sie tun dies aber mit sehr unterschiedlichen Begründungen. 91 4.2 Die rhetorische Wende JUROR 7: Na, sehen Sie! Und was ist [! ] für ein Unterschied, wie lange ich dazu brauche? Ich hebe meine Hand hoch, weil ich überzeugt bin. Wir alle sind einfach überzeugt. Ich brauche dazu nicht mal fünf Minuten. - JUROR 8: Ich brauche vielleicht eine Stunde. - Das Baseball-Match fängt ja nicht vor acht Uhr an. … JUROR 8: Und wissen Sie auch, wer ihn geschlagen hat? Nicht nur sein eigener Vater, nicht unsere sogenannten Erzieher, nicht der Waisenhausvater, nein, meine Herren - JUROR 7: Jetzt bin ich aber gespannt. JUROR 8: Wir. - Neunzehn erbärmliche Jahre sind an diesem Jungen nicht spurlos vorübergegangen. Er ist verbittert. Und deshalb - denke ich, schulden wir ihm ein paar Worte. - Das ist alles. An dem Beispiel wird auch schon deutlich, wo die Probleme des Feldbegriffs liegen. Toulmin spricht davon, dass ein einzelnes Feld einer gemeinsamen Logik unterliegt. Aber was genau bedeutet gemeinsame Logik? Hier zeigen sich zugleich die Stärke und die Schwäche des Kon- 92 4 Die rhetorische Perspektive zeptes. Mit dem Begriff des Feldes hat Toulmin einen Begriff eingeführt, der eher unscharf ist, wie Zarefsky (1982) feststellt, aber auch sehr anschlussfähig. „There is a certain temptation to throw up one’s hands in the face of conceptual fuzziness and confusion, abandoning the troublesome concept altogether. But the ‚field‘ concept has useful purposes to serve“ (S. 203). Anschlussfähig ist der Begriff vor allem, da er in anderen Disziplinen genutzt wird und dort ähnliches meint. Der Blick auf disziplinspezifische Bedeutungen des Feldbegriffs kann helfen, ihn bei Toulmin klarer zu fassen. Er begegnet in der Physik als Kraftfeld / magnetisches Feld und in der Soziologie als normatives Feld, das Bourdieu (1998, S. 49) mit einem physikalischen Feld vergleicht. Was ein solches normatives Feld ausmacht ist unter anderem, dass es zwar stabil ist, aber auch flexibel bleibt. Eine weitere Disziplin, in der der Feldbegriff zentral ist, ist die Ethnologie und mit ihr die Ethnografie. In der Ethnografie bezieht sich der Feldbegriff auf eine Verbindung kultureller Praktiken, die sich beobachten lassen und die für die Teilnehmerinnen im Feld konstitutiv für bestimmte soziale Bereiche sind. Diese verschiedenen Feldbegriffe verbindet zum einen, dass sie alle den Begriff des Feldes eher weit fassen. Zum anderen sind alle diese Felder durch die normative Kraft von Regeln oder Praktiken gebildet. Auch wenn hier am Anfang der argumentationswissenschaftliche Feldbegriff bei Toulmin steht, werde ich im Kapitel zur Ethnografie (5.5) der Argumentation auf die Verbindung zum soziologischen und ethnografischen Feldbegriff zurückkommen. Das Konzept der Feldabhängigkeit hat in den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts als Katalysator in der Argumentationswissenschaft gewirkt. Hier wurden lebhafte Debatten darüber geführt, was Argumentfelder (oder Argumentationsfelder) sind, was ihre Funktion ist und mit Hilfe welcher Kriterien verschiedene Felder unterschieden werden können. Damit ist der Feldbegriff auch ein gutes Beispiel dafür, dass gerade Konzepte, die nicht ganz klar formuliert und nicht trennscharf zu anderen Begriffen sind, sehr fruchtbare Debatten und Forschung in Gang setzen können. Diese Debatte soll im Folgenden nachvollzogen werden. Ausgangspunkt bei Toulmin ist, dass ein Feld so etwas wie eine (wissenschaftliche) Disziplin ist. Zugleich bleibt vieles ungeklärt, z. B. als wie stabil oder auch flexibel ein solches Feld gesehen werden sollte. Einige Autoren verstehen ein Argumentfeld als stabil und verbinden den Feldbegriff mit akademischen / wissenschaftlichen Disziplinen. So beschreibt Wenzel (1982) Argumentfelder als „an integrated complex of concepts, propositions and arguments, persisting over time, directed to share explanatory goals, embodying shared judgmental standards, held consensually by initiates of a discipline. The arguments comprising a field are public, i. e. available for critical examination, they can be catalogued at a given moment in the history of a discipline, but they are subject to change“ (S. 211). Durch diese Definition beschränkt Wenzel das Konzept des Argumentfeldes auf den öffentlichen und wissenschaftlichen / fachlichen Diskurs. Das Beispiel oben hat aber gezeigt, dass beispielsweise die Begründung, dass das Baseballspiel ja erst um acht Uhr losgehe, sich nur schwer einer wissenschaftlichen Disziplin zuordnen lassen würde. Ausgehend von dieser Bestimmung unterscheidet Wenzel dann auch Argumente in einem Feld von Argumenten im Allgemeinen. Letztere „serve ad hoc purposes, then pass away never to be recalled or employed again“ (S. 208); es handelt sich also Komplexe von Schlussregeln und Stützen, deren Karriere zur Fundierung von Begründungen extrem kurz ist und die keine normative Kraft 93 4.2 Die rhetorische Wende entwickeln. Für Wenzel sind Argumentfelder also übergreifende, stabile Entitäten, die über Diskurse hinaus Bestand haben. Dieser Lesart folgend, gäbe es Argumente, die in einem Feld verankert sind, und solche, die es nicht sind. Ein solches Argumentieren aus einem Feld heraus lässt sich im folgenden Auszug sehen. JUROR 2: Ja … was soll ich sagen … das ist gar nicht so leicht … ich … ja er ist sicher schuldig. Das ist doch von Anfang an klar gewesen … einen Gegenbeweis hat bisher niemand erbracht. JUROR 8: Den braucht auch niemand zu erbringen. Die Beweislast obliegt allein dem Gericht. So steht es in unserer Verfassung. Sie brauchen nur nachzulesen. Juror 8 argumentiert hier mit der Verfassung und damit klar aus dem juristischen Feld. Das heißt, innerhalb des juristischen Feldes hat dieses Argument keine Geltung, in einem anderen Feld muss es aber nicht irrelevant sein. Alltagslogisch mag es völlig plausibel sein, darauf zu verweisen, dass jemand keine Begründung für sein Verhalten vorbringen konnte oder wollte und deshalb nicht glaubwürdig ist. Eine andere Lesart des Feldbegriffs bietet Willard (1992). Er versteht ein Feld eher als eine stabile Praxis denn als Disziplin oder logischen Typus. I want to say that fields exist in and through the ongoing defining activities of their actors, that they are not things (and that any variant of object language is inappropriate to them). Fields, i. e., are traditions of practices, inferences we make about recurring themes in a group’s practices; they are generalizations we make about unifying threads uniting particular activities (1992, S. 439). Zudem unterscheidet Willard zwischen verschiedenen Arten von Feldern, die aber alle eng miteinander verbunden sind. Damit sind Felder nach Willard deutlich flexibler als bei Wenzel. Er unterscheidet zwischen vier Arten von Feldern: ▶ Beziehungsfelder, die durch interpersonale Beziehungen entstehen ▶ Begegnungsfelder, die durch einzelne soziale Begegnungen entstehen ▶ Themenfelder, die Einstellungen zu Themen widerspiegeln ▶ normative Felder, die als Metafeld für die Zusammenführung der drei anderen Felder dienen (vgl. 1983, S. 148). Nach Willard hängt also die Relevanz eines Arguments von den etablierten Praktiken innerhalb der Beziehung, der aktuellen Situation und den generellen Einstellungen der Argumentierenden ab. Innerhalb einer Beziehung etabliert sich, was als guter Grund, also relevantes Argument gilt und was nicht. Diese Bewertung wird auch immer wieder aktualisiert und zumindest implizit ausgehandelt. Dies geschieht aber nicht voraussetzungslos, sondern auf der Basis des schon für-wahr-Gehaltenen (wie man Themenfelder vielleicht übersetzen könnte). Dabei sind Themenfelder nach Willard keine akademischen Disziplinen, sondern eher Denkschulen. Sie sind also eher stabil (im Gegensatz zu Begegnungsfeldern) und haben eine relativ hohe Reichweite (im Gegensatz zu Beziehungsfeldern). Die Beziehung zwischen 94 4 Die rhetorische Perspektive diesen Feldern ist keines der Rivalität, sondern der Integration. Themenfelder entstehen, so Willard, durch die Praktiken in Beziehungs- und Begegnungsfeldern. Daraus folgt, dass Forschung, die sich für den Aufbau von Themenfeldern interessiert, sich auf die Praktiken in den anderen beiden Feldern konzentrieren sollte. „Since issue fields are merely aggregations of encounters and relations, programmatic research into encounters and relations should yield insights into the life processes of issue fields“ (1992, S. 464). Dieser Ansatz von Willard ist in der empirischen Forschung wenig aufgenommen worden, was auch daran liegen mag, dass die Konzepte nicht so klar sind, dass sie sich einfach in die Forschung übertragen lassen; das gilt besonders für die Themenfelder, die Willard sehr weit definiert. Eine weitere Lesart des Feldes bietet Goodnight (1982, 2012) mit seinem einflussreichen Aufsatz zu den verschiedenen Sphären der Argumentation. Goodnight unterscheidet die personalen, technischen und öffentlichen Sphären von Argumentation. Diese Unterscheidung entwickelt er ausgehend von Kenneth Burkes Arbeiten, besonders „Attitudes toward History“, mit einer Unterscheidung in drei Handlungssphären (vgl. Goodnight, 2012, S. 259). Zugleich entwickelt sich das Modell der Sphären auch im Austausch mit Habermas’ Theorie zur Öffentlichkeit. Mit der „Theorie des kommunikativen Handelns“ sieht Goodnight Habermas aber eher als Rezipienten der zeitgenössischen Argumentationstheorie und nicht umgekehrt (vgl. Goodnight, 2012, S. 261-262). Was meint Goodnight nun mit den drei verschiedenen Sphären? Goodnight selbst formuliert es so: Personal arguments are marked by dialogue where relationship hangs in the balance; technical arguments are stamped with procedure and rule where state of the art practice is always at issue; and public arguments are marked by partisan gestures of alliance and opposition which stress lines of cooperation and division among the polity. (Goodnight, 2012, S. 260) Goodnight bezieht also die Unterscheidung in erster Linie auf die unterschiedlichen Beziehungen, in denen sich die Argumentierenden zueinander befinden. Eine weitere Rolle spielt auch die Explizitheit von Verfahrensregeln (und damit auch Argumentationsregeln), die in der technischen Sphäre deutlich stärker ist als in der persönlichen. Für die Argumentation lässt sich das Konzept wiederum auf die Reichweite und Stabilität von Argumenten (oder Schlussregeln und Stützen) anwenden. Van Eemeren et al. (2014, S. 36) verstehen die Trias der Sphären als eine Beschreibung von arguments, die für die drei verschiedenen Kreise relevant sind und damit unterschiedliche Reichweiten haben. Da durch den Feldbegriff beschrieben wird, was in einem bestimmten Feld als relevanter Grund Geltung beanspruchen kann, kann die Feldtheorie auch als ein Rationalitätskonzept gelesen werden; Rationalität konstituiert sich dann dadurch, dass relevante Gründe angeführt werden. Das normative Verständnis des Feldes (vor allem durch Toulmin und Wenzel) unterscheidet sich grundlegend von eher deskriptiv orientierten Ansätzen, die daran interessiert sind, wie Akteure im Feld Rationalität (immer wieder) herstellen. Willard (1983) ist der Auffassung, dass Rationalitätsstandards (erst) durch die argumentative Praxis in einem bestimmten Feld entstehen und auch auf dieses Feld beschränkt bleiben. „Rationality is variously manifested-- it is just what fields say it is“ (Willard, 1983, S. 88). Durch die Argumentation aktualisieren Teilnehmerinnen immer wieder implizit, was sie für geltend halten, 95 4.2 Die rhetorische Wende und können es durch ihre argumentative Praxis auch problematisieren und verändern. Das Konzept der Feldabhängigkeit betont eine „materiale Rationalität“, den Ansatz, dass einige (materiale) Topoi oder Argumentationsthemen akzeptierbar und angemessen sind, in spezifischen Kontexten. Indem sie aus solchen Topoi schöpfen, markieren die Teilnehmerinnen sich selbst als rational und als jemanden, die die Regeln kennt, versteht und anwenden kann. So könnte man ausgehend von dem Konzept „Feld“ unterschiedlich auf das Beispiel der zwölf Geschworenen blicken. Eher normativ gedacht, handelt es sich hier um das juristische Feld. Allerdings ist es ein juristischer Diskurs, der von Laien geführt wird, wenn auch in Hinblick auf die Lösung einer Rechtsfrage. Ein deskriptiver Ansatz würde fragen, wie in der Sitzung der zwölf Geschworenen ausgehandelt wird, was als guter Grund gelten kann und was nicht und mit welcher Begründung etwas als Grund abgewiesen werden kann: nur mit einer juristischen, mit dem Verweis auf die Verfassung? Oder auch mit einer moralischen, mit dem Verweis darauf, dass die Gesellschaft diesem Jungen etwas schuldig ist? Wie Willard (1983) betont, sind Argumentationsfelder nicht isoliert von anderer sozialer Praxis zu betrachten. Argumentative Praxis ist immer verbunden mit sozialer Praxis und kann nur so analysiert werden. Dies zwingt die Argumentationsanalyse dazu, auf die Geltungsstandards zu achten, die in einem bestimmten sozialen / kulturellen Feld in Anwendung sind. Um diese Muster in der Praxis zu beschreiben, kann das Konzept Feld in „topische Regeln“ übersetzt werden (vgl. Hannken-Illjes, 2004). Diese topischen Regeln fungieren als Geltungsstandards. Sie bestimmen welche Topoi (im Sinne materialer, nicht formaler Topoi) in einem bestimmten Feld angemessen sind und welche nicht. In technischen Feldern sind solche Regeln eher explizit und ihre Wirkmächtigkeit bezieht sich auf die gesamte Disziplin. In der öffentlichen „Sphäre“ (vgl. Goodnight, 1982) hat das, was als gute oder zumindest mögliche Gründe gilt, auch einen breiten Wirkungskreis, ist aber schneller wandelbar und dadurch weniger stabil. In interpersonalen Feldern, wie beispielsweise von Slob (2002) thematisiert, sind topische Regeln eher implizit, wahrnehmbar oft nur, wenn sie gebrochen werden und im Wirkungskreis begrenzt. Für die Rhetorik und die rhetorische Perspektive auf Argumentation ist die Idee, dass Geltungsstandards nicht universell sind, sondern von bestimmten Parametern in der aktuellen Argumentation(ssituation) abhängen, grundlegend. Verbunden ist dieses Verständnis mit dem Konzept der Topik, vor allem im Sinne einer materialen Topik. Diese wird in Kapitel 4.3 näher eingeführt. 4.2.2 Perelman / Olbrechts-Tyteca und die Neue Rhetorik Die zweite einflussreiche Veröffentlichung zur Argumentationstheorie erschien 1958 unter dem Titel „La nouvelle Rhétorique“. Die Autoren sind der Philosoph Chaim Perelman und die Soziologin Lucie Olbrechts-Tyteca. Die Nachfolgearbeiten zu diesem Werk sind fast 96 4 Die rhetorische Perspektive ausschließlich von Perelman geschrieben und die Rolle von Olbrechts-Tyteca ist bis heute Gegenstand der Diskussion. Die Einschätzungen bewegen sich hier zwischen einer reinen Hilfstätigkeit bis zur substanziellen Ko-Autorenschaft einer Soziologin, die sich im Folgenden anderen Themen zuwandte. Während Perelman für sein Werk große Beachtung und Aufmerksamkeit erhalten hat, wird Lucie Olbrechts-Tyteca von vielen kaum oder gar nicht genannt. Warnick widmet sich in ihrem Artikel „Lucie Olbrechts-Tyteca ’s Contribution to The New Rhetoric“ (1997) diesem Thema und erläutert die ihrer Ansicht nach substanzielle Rolle Olbrechts-Tytecas. Zwar begleitete Olbrechts-Tyteca Perelman nicht auf seinen Reisen und veröffentlichte ihre eigenen Werke nicht in aller Welt. Sie erarbeitete jedoch die nötige empirische und exemplarische Basis, um Perelmans Theorie zu stützen. Sie wirkte in der gemeinsamen Schaffensphase von 1947 bis ca. 1958 konzeptionell und analytisch und entwickelte die Beschreibung argumentativer Strukturen, welche schließlich zwei Drittel des gemeinsamen Werkes ausmachen sollte. Auch Dominicy (2006) sieht Olbrechts-Tyteca als Entwicklerin bestimmter fundamentaler theoretischer Anteile der Neuen Rhetorik, namentlich der Dissoziation von Begriffen (vgl. S. 119). Wie die Arbeit von Toulmin, so hat auch die Arbeit von Perelman und Olbrechts-Tyteca als Ausgangspunkt die Unzufriedenheit mit den Werkzeugen, die die Philosophie, und besonders die Logik, für die Analyse natürlichsprachlicher Argumentation bereitstellen. Und auch Perelman und Olbrechts-Tyteca nehmen sowohl die Form von Argumenten als auch die Bedingungen für die Geltung von Argumenten in den Blick. Zur Form stellen sie einen Katalog verschiedener Argumentationsschemata vor. Dieser Ansatz soll weiter unten im Kapitel 4.3 über die Topik vorgestellt und diskutiert werden. In der Frage der Geltung arbeiten Perelman und Olbrechts-Tyteca, anders als Toulmin, nicht mit dem Kriterium der Relevanz von Argumenten in spezifischen Feldern, sondern mit der Akzeptanz durch verschiedene Publika. 4.2.2.1 Perelman / Olbrechts-Tytecas partikulares und universelles Publikum Mit dem Konzept des Publikums und insbesondere der Einführung des universellen Publikums als Maßstab für die Geltung von Argumentation führen Perelman und Olbrechts-Tyteca ein Konzept ein, das von der Veröffentlichung bis heute Anlass für unterschiedliche Auslegungen und Debatten bietet. Dabei reichen die Vorwürfe von „relativistisch“ bis „utopistisch“. Zu dieser Verwirrung tragen Perelman und Olbrechts-Tyteca in nicht geringem Maße bei, da die Darstellungen des Konzepts nicht immer klar sind und sehr viel Interpretationsraum offen lassen. Perelman / Olbrechts-Tyteca stellen heraus, dass die Geltung von Argumenten an die Akzeptanz durch ein Publikum gebunden ist. Dies ist eine grundsätzlich rhetorische Sichtweise. Ein Argument, das für das Publikum nicht gilt, nicht zur Persuasion beiträgt, kann keine Wirkung entfalten. Das heißt, ein Argument muss sich an ein Publikum richten und dort Akzeptanz erreichen oder doch zumindest erreichen wollen. Ein Argument muss zustimmungsfähig sein. Dieses Publikum, eine klar benennbare Gruppe von Menschen, nennen Perelman und Olbrechts-Tyteca „auditoire particulier“ oder partikulares Publikum. 97 4.2 Die rhetorische Wende Das Problem an dieser Konzeption wird schnell deutlich. Wenn sich Geltung an der Akzeptanz und Zustimmung eines realen Publikums bemisst, dann bestehen keine übergeordneten, geschweige denn universellen Geltungsstandards für Argumentation. Dieses Problem spiegelt das spannungsreiche Verhältnis von dialektischer und rhetorischer Perspektive in der Argumentationswissenschaft wider. Perelman und Olbrechts-Tyteca bearbeiten dieses Problem, indem sie dem partikularen ein universelles Publikum zur Seite stellen. Beiden Publika ordnen sie auch unterschiedliche Funktionen zu; Argumentation gerichtet an das partikulare Publikum überredet, Argumentation gerichtet an das universelle Publikum überzeugt. Perelman bezeichnet als Funktion des Konzeptes des universellen Publikums die Einhegung eines radikal relativistischen Ansatzes. „Like Johnstone, like Habermas, but with the aid of other criteria, I manage to distinguish manipulative discourse from that which addresses itself to reason, conceived as universal audience, and which cannot be deceptive (although it can be mistaken)“ (Perelman, 1984, S. 194). Perelman und Olbrechts-Tyteca unterscheiden zwei Arten des Publikums, das partikulare und das universelle. Das partikulare Publikum besteht aus den realen Personen, die die Rednerin beeinflussen will. Das universelle Publikum ist die Vorstellung aller rationalen Personen. Perelman und Olbrechts-Tyteca ordnen dem Redner als Ziel bei partikularem Publikum das Überreden zu, beim universalen Publikum das Überzeugen. Die Beschreibung dessen, was das universelle Publikum ist, erweist sich aber als schwierig. Dies ist umso überraschender, als es doch einen zentralen Platz in der Theorie von Perelman und Olbrechts-Tyteca einnimmt. Sie selbst geben keine klare Definition dieses Begriffs, bieten aber drei Sichtweisen an, die einander nicht ausschließen. Die wohl verbreitetste Rezeption des Begriffs des universellen Publikums ist die, dass es „alle vernünftigen Menschen“ umfasst. Von einigen Rezipientinnen ist es sogar als die Formulierung eines normativen Rationalitätsanspruchs gelesen worden (vgl. Perelman, 1984). So geben Foss, Foss und Trapp (1991) folgende Definition: „The universal audience is composed of all reasonable and competent people; a particular audience is any group of people whether or not they are reasonable or competent“ (S. 124, Hervorhebungen im Original). Bezeichnenderweise geben Foss, Foss und Trapp hier keine Quelle an. Denn obwohl sie damit wiedergeben, was in vielen Diskussionen zu Perelmans und Olbrechts-Tytecas Konzept auftaucht, findet sich bei den Autoren selbst diese klare Definition nicht. Später relativieren Foss, Foss und Trapp ihre Bestimmung des universellen Publikums auch etwas. Zwar beschreiben Perelman und Olbrechts-Tyteca in ihrer Unterscheidung von Überreden und Überzeugen Ersteres als ausgerichtet auf ein partikulares Publikum und Letzteres auf alle rationalen Wesen, aber eben ausgerichtet auf alle rationale Wesen, nicht mit dem Anspruch, dass alle rationalen Wesen faktisch zustimmen. Als zweite Lesart schlägt Dominicy folgende vor: „Um diese Schwierigkeit zu meistern, kann man die universale Zuhörerschaft wie eine normative regulierende ‚Rechtsinstanz‘ interpretieren- - die sich von irgendeiner empirischen ‚tatsächlichen‘ Zuhörerschaft unter- 98 4 Die rhetorische Perspektive scheidet-- die sich sogar aus allen vergangenen, präsenten oder kommenden ‚vernünftigen Lebewesen‘ zusammensetzt“ (Dominicy, 2006, S. 112). Ähnlich formulieren es an einer Stelle auch Perelman und Olbrechts-Tyteca: „Wir schlagen also vor, eine Argumentation überredend [persuasiv] zu nennen, wenn sie nur bei einer partikulären Hörerschaft [auditoire particulier] gelten soll, und sie überzeugend [convaincante] zu nennen, wenn sie mit dem Geltungsanspruch auf Zustimmung bei allen vernünftigen Wesen verbunden wird“ (Perelman & Olbrechts-Tyteca, 2004a, S. 37). Hier handelt es sich eben nicht um alle rationalen Menschen, die die Erde bevölkern, wie es bei Foss, Foss und Trapp klingt, sondern um eine Vorstellung des Sprechers. Damit gibt es auch nicht ein universelles Publikum, sondern ebenso viele, wie es Argumentierende und Argumentationen gibt. „Statt an die Existenz einer universellen Hörerschaft wie an einen göttlichen Geist zu glauben, der nur zu ‚der Wahrheit‘ sein Einverständnis geben kann, könnte man viel angemessener jeden Redenden durch sein fiktives Bild von jener universellen Hörerschaft charakterisieren, die er für seine eigenen Ansichten zu gewinnen sucht“ (Perelman & Olbrechts-Tyteca, 2004a, S. 44). Damit ist das universelle Publikum zweitens eine Vorstellung der Argumentierenden, ein Ideal, an dem sie gemessen werden will und kann. Als dritten Aspekt des universellen Publikums benennen Perelman und Olbrechts-Tyteca die Orientierung auf die Mitglieder der eigenen Disziplin; mit Toulmin (1958) könnte man hier von der Feldabhängigkeit des Publikums sprechen. Allerdings bestimmen sie selbst es als eine mögliche Sicht, nicht unbedingt als ihr Konzept. „Jedoch wird diese so begrenzte Hörerschaft im Allgemeinen von dem Gelehrten nicht als eine partikuläre Hörerschaft angesehen, sondern so als wäre sie in Wahrheit die universelle Hörerschaft. Dabei unterstellt er, daß alle Menschen mit derselben Bildung, dem gleichen fachkundigen Vermögen und dem gleichen Wissensstand zu den gleichen Schlüssen kämen" (Perelman & Olbrechts-Tyteca, 2004a, S. 46). Problematisch ist das, weil damit Argumente von außerhalb des Feldes oder der Disziplin, die sich an das Feld richten, irrelevant sind, da ihre Absenderinnen nicht zum universellen Publikum und damit nicht zu denen zählen, mit denen eine Diskussion gesucht wird. Einen Ausweg aus den verschiedenen Sichtweisen bietet die Perspektive auf das universelle Publikum als Vorstellung oder Anspruch der Sprecherin an ihre Argumente. So sagen auch Perelman und Olbrechts-Tyteca: „Auch der einzelne Mensch, der mit sich selbst zu Rate geht [délibère], wird oft als eine Verkörperung der universellen Hörerschaft angesehen“ (2004a, S. 55). Perelman und Olbrechts-Tyteca begründen diese von ihnen nur sehr vorsichtig formulierte Ansicht damit, dass eine Person sich selbst gegenüber immer wahrhaftig sein muss. Unterstützt wird diese Lesart durch eine Klärung des Begriffs, die Perelman (1984) selbst unternommen hat. Er stimmt explizit folgender Lesart des universellen Publikums bei Bitzer und Black (1971) zu: 1) Die verschiedenen Publika sind wichtig für die operative Zustimmung zu Argumenten. 2) Publika sind nicht, sondern werden gemacht. 3) Es gibt viele universelle Publika, allerdings nicht in einer aktuellen Situation. 4) Es geht nicht darum, entweder ein partikulares oder das universelle Publikum zu überzeugen, sondern darum, die verschiedenen Dimensionen spezieller Publika in eine universelle Dimension zu überführen (vgl. Perelman, 1984, S. 192 ff.). Zentral ist an dieser Stelle die Feststellung, dass das Publikum, ob partikular 99 4.2 Die rhetorische Wende oder universell, eine rhetorische Größe ist: Argumentation richtet sich immer an jemanden und will von diesem Zustimmung erhalten. Das Verhältnis von partikularem und universellem Publikum ist damit noch nicht geklärt. Sind es zwei unabhängige Einheiten oder sind sie verknüpft? Und in welchem Verhältnis stehen sie zum realen Publikum oder zu realen Publika? Für Tindale (2004), und im Anschluss an ihn für Jørgensen (2009), konstituiert sich das universelle Publikum grundlegend durch das partikulare Publikum. Innerhalb einer Argumentation richtet sich danach die Sprecherin in der Auswahl ihrer Argumente an das partikulare Publikum, d. h. das reale Publikum, das sie „überreden“ will (um die Zuordnung in überreden / überzeugen von Perelman und Olbrechts-Tyteca aufzunehmen). Um sich an das universelle Publikum zu richten, muss sie nun diese Argumente daraufhin überprüfen, ob sie davon ausgeht, dass diese Argumente die Zustimmung des universellen Publikums erlangen sollten. Sind diese Argumente also der Art, dass die Sprecherin davon ausgeht, dass jedes rationale Wesen diesen Argumenten zustimmen müsste? An dieser Überlegung sind zwei Aspekte wichtig: Zum einen ist damit ein universelles Publikum immer ein transformiertes partikulares Publikum (vgl. Perelman, 1984, S. 192). Es beinhaltet immer einen Rückbezug auf die konkret zu überzeugenden Menschen. Zum anderen bedeutet es, dass der Sprecher kein Argument an ein universelles Publikum richten kann, das er nicht auch an das entsprechende partikulare Publikum richtet-- er kann aber, und wird in vielen Fällen, Argumente für ein partikulares Publikum auswählen, die nicht an das universelle gerichtet werden. Am Beispiel des Arguments zum Baseballspiel in „Die zwölf Geschworenen“ lässt sich das Verhältnis von partikularem und universellem Publikum, wie es hier vorgeschlagen wird, gut zeigen. JUROR 7: Na, sehen Sie! Und was ist [! ] für einen Unterschied, wie lange ich dazu brauche? Ich hebe meine Hand hoch, weil ich überzeugt bin. Wir alle sind einfach überzeugt. Ich brauche dazu nicht mal fünf Minuten. - JUROR 8: Ich brauche vielleicht eine Stunde. - Das Baseball-Match fängt ja nicht vor acht Uhr an. Das Argument, dass das Baseballspiel ja nicht vor acht Uhr beginnt und deshalb eine Stunde Zeit für die Beratung wäre, ist auf das partikulare Publikum-- hier Juror 7-- zugeschnitten, da es sich direkt auf seine Relevanzsetzungen bezieht. Ob es sich auch auf das universelle Publikum bezieht, lässt sich nicht feststellen. Darüber könnte nur Juror 8 Auskunft geben. Wollte man unterstellen, dass er sich auch an das universelle Publikum wendet, so hieße das, dass dieses Argument für ihn allgemein zustimmungsfähig ist. Da er selbst nicht zu solchen Spielen geht (wie er an anderer Stelle im Stück erklärt) und offensichtlich auch die Bedeutung von Baseballspielen nicht so hoch ansetzt wie Juror 7, könnte man hier davon ausgehen, dass er sich eher an das partikulare, aber nicht an das universelle Publikum richtet. Die Geltung innerhalb von Argumentation erfassen Perelman und Olbrechts-Tyteca also über ihr Konzept des partikularen und des universellen Publikums. Neben diesem Konzept 100 4 Die rhetorische Perspektive haben beide in „Die Neue Rhetorik“ aber auch umfassend zur Form von Argumenten gearbeitet und eine Systematisierung verschiedener Argumentationsschemata vorgelegt. Diese Systematisierung steht in der Tradition der Topik und Topoikataloge innerhalb der Rhetorik und wird daher im folgenden Kapitel zur Topik eingeführt und diskutiert. 4.3 Die Topik Ein zentraler Aspekt der Neuen Rhetorik von Perelman und Olbrechts-Tyteca ist neben dem Konzept des Publikums die Sammlung und Kategorisierung verschiedener Argumentationsschemata. Argumentationsschemata beziehen sich auf die Ebene des Übergangs von Grund zur Konklusion (bei Toulmin der Schlussregel). Um diese Aspekte umfassend behandeln zu können, sollen sie in eine Darstellung und Diskussion des übergeordneten Konzeptes gestellt werden: der Topik. Dieser Bereich ist in Teilen schon eingeführt, denn auch die Analyse von Fehlschlüssen (vgl. Kapitel 3.2) bezieht sich in Teilen auf die Argumentationsschemata. In der Topik ist nun die gleiche Vorwarnung notwendig wie schon beim Feldbegriff von Toulmin und dem Publikumsbegriff bei Perelman und Olbrechts-Tyteca. Es ist ein eher unbestimmter, nicht immer trennscharfer Begriff. Schirren (2000) stellt fest, dass diese Unabgeschlossenheit des Konzepts mittlerweile selbst zu einem Topos geworden ist. Zugleich ist diese Unbestimmtheit möglicherweise auch produktiv. Die Unabgeschlossenheit des Topos-Konzeptes hängt mit seiner grundsätzlich interdisziplinären Verankerung zusammen. Die Topik ist neben anderen für die Argumentationswissenschaft, die Rhetorik, die Philosophie, das Recht, die Soziologie, die Linguistik und die Literaturwissenschaft ein relevantes Konzept, wird aber in jeder Disziplin leicht anders gefasst. Für eine umfassende Diskussion des Toposbegriffs aus verschiedenen Disziplinen und theoretischen Richtungen sei auf den Band von Ueding und Schirren (2000) verwiesen. Im Folgenden wird die Topik gebunden an Argumentation betrachtet. Die Topik ist in erster Linie eine Such- und Findekunst. Sie gibt Möglichkeiten an die Hand, um für einen bestimmten Fall die richtigen Argumente zu finden. Sie ist zudem eine ‚Erfindekunst‘. Die Entscheidung, wie verschiedene Topoi auf eine Streitfrage angewandt werden, liegt bei der Rednerin. In den verschiedenen Definitionen zum Topos finden sich immer zwei Charakteristika. Zum einen ist der Topos ein Ort- - für die Argumentationstheorie der Ort, an dem die Argumente aufgefunden werden. Das heißt, die Topik, als Lehre von den Topoi, ist besonders relevant, wenn es darum geht, eine Rede vorzubereiten. In den Stadien der klassischen Redevorbereitung gehört die Topik daher auch in die Inventio. Zum anderen ist ein Topos neutral und gibt an sich keine argumentative Richtung vor und kann so für verschiedene Argumentationsrichtungen genutzt werden. 101 4.3 Die Topik Wenn in „Die zwölf Geschworenen“ die familiären Umstände des Angeklagten eine Rolle spielen - die Tatsache, dass die Mutter die Familie verlassen hat und der Vater ihn schlug -, so kann dies in zwei unterschiedliche Richtungen ausgearbeitet werden: Der Junge hatte eine schwere Kindheit und ist verwahrlost, daher braucht er unser Verständnis oder der Junge hatte eine schwere Kindheit und ist verwahrlost, er ist also nicht resozialisierbar. In der Definition von Argumentation von Klein (1980) nimmt die Topik die Stelle des „kollektiv Geltenden“ ein, mit dessen Hilfe das „kollektiv Fragliche“ in Geltendes überführt wird. Ein Topos ist also immer etwas, von dem die Rednerin annimmt, dass das Gegenüber es akzeptiert. Im obigen Beispiel wird als akzeptiert vorausgesetzt, dass der familiäre Hintergrund überhaupt relevant ist für die Fragestellung. Topoi sind die Orte, an denen Argumente aufgefunden werden. Topoi sind neutral, sie können für jede Richtung einer Streitfrage genutzt werden. Topoi repräsentieren das „kollektiv Geltende“. 4.3.1 Formale und materiale Topoi Im Folgenden sollen einschlägige Arbeiten zur Topik vorgestellt werden. Dabei können zwei Unterscheidungen dazu dienen, die Diskussion zu strukturieren. Zum einen unterscheiden sich verschiedene Topikkonzeptionen danach, ob sie vom Topos als formaler oder materialer Kategorie ausgehen. Ein formaler Topos ist inhaltlich unbestimmt und kann in jedem Themenfeld genutzt werden. Ein Beispiel wäre der Schluss aus der Analogie, wobei die Analogie der zu Grunde liegende formale Topos wäre. Formale Topoi werden häufig auch Argumentationsschemata genannt. Im Kontrast dazu bestimmt sich ein materialer Topos durch seinen Inhalt, der allerdings allgemein gefasst und noch nicht auf eine spezifische Konklusion hin gestaltet ist. So kann Freiheit ein Topos sein, der in derselben Streitfrage für gegenläufige Argumente genutzt wird. Häufig lässt sich in der Analyse sowohl ein formaler als auch ein materialer Topos bestimmen. JUROR 3: Seien wir doch mal vernünftig! Sie haben im Gerichtssaal gesessen und genau die gleichen Dinge gehört wie wir alle. Der Bursche ist ein gemeingefährlicher Mörder. Das haben Sie ihm doch angesehen. JUROR 8: Er ist neunzehn Jahre alt. JUROR 3: Alt genug, um seinen Vater zu erstechen! Zehn Zentimeter tief in die Brust! 102 4 Die rhetorische Perspektive Juror 8 äußert seine Feststellung offensichtlich im Widerspruch zu der Feststellung, dass „der Bursche ein gemeingefährlicher Mörder“ ist. Sie ließe sich rekonstruieren als „der Junge ist kein gemeingefährlicher Mörder, denn er ist erst neunzehn Jahre alt“. Formal handelt es sich hier um einen Topos aus dem Gegensatz: Juror 8 impliziert, dass „gemeingefährlicher Mörder“ und „neunzehn Jahre alt“ gegensätzliche Eigenschaften sind. Material wird hier mit dem Alter argumentiert. Das Alter des Angeklagten wird als relevante Kategorie etabliert, von der ausgehend argumentiert werden kann. Juror 3 akzeptiert hier den materialen Topos-- er selbst argumentiert auch aus dem Alter--, lehnt aber den Topos aus dem Gegensatz an dieser Stelle explizit ab, indem er darauf verweist, dass das „alt genug“ sei. Allerdings ist die Unterscheidung von formalen und materialen Topoi nicht immer einfach und klar zu ziehen. JUROR 8: Ich möchte nur darüber sprechen. JUROR 7: Und was soll dabei rauskommen? Elf der Anwesenden sprechen ihn schuldig. Das ist genug gesprochen! Nicht einer hat das geringste Bedenken - bis auf Sie! Der Topos könnte hier als ein Topos der Mehrheit gefasst werden. „Wovon die meisten überzeugt sind, das ist richtig.“ Dieser Topos lässt sich auf den ersten Blick als formaler Topos einordnen. Zugleich ist er sicherlich an spezifische Argumentationsfelder gebunden, weshalb er in diesem Kontext eigentlich nicht gilt, sonst wäre die Beratung nach der Abstimmung beendet gewesen. Zudem ist die Geltung dieses Topos an ein demokratisches Grundverständnis gebunden, wie Entscheidungen getroffen werden sollen. Der Topos scheint beide Lesarten, als materialer und als formaler Topos, zu erlauben. 4.3.2 Topos als generative Kategorie oder Oberflächenphänomen Die zweite Unterscheidung, die die Darstellung der Topik strukturieren kann, ist die nach der Verortung im Text. Die Bezeichnung des Topos als „Ort“, an dem Argumente gefunden werden, legt nahe, dass der Topos selbst nicht im Text erscheint, sondern vielmehr die Argumente generiert, die dann im Text erscheinen. Das heißt, ein Topos selbst muss nach dieser Auffassung immer rekonstruiert werden, ist immer implizit. So wird im Beispiel oben das Alter als Topos genutzt, das Argument wird dann aber auf den Fall und auf die Konklusion hin formuliert. Dies gilt noch stärker für formale Topoi, die in der Regel nicht expliziert werden (aber natürlich expliziert werden können). Dieser Sichtweise gegenüber stehen Positionen, die Topoi als Phänomene auf der diskursiven Oberfläche sehen, vergleichbar mit Themen. Insbesondere in Bezug auf materiale Topoi (wie oben dem Alter) ist es sicher richtig, dass sich ein materialer Topos inhaltlich auf der Textoberfläche widerspiegeln muss. Die leitende Frage bei der Unterscheidung der beiden Auffassungen ist, welchen Grad an Abstraktion eine Kategorie aufweisen muss, um als Topos zu gelten. Auch bei dieser Unterscheidung zwischen generativer Kategorie und Oberflächen- 103 4.3 Die Topik phänomen handelt es sich aber nicht um einander ausschließende Kategorien. Als Heuristik ist diese Unterscheidung sinnvoll, um in dem an sich unklaren Feld der Topik etwas Klarheit zu schaffen, in der Analyse konkreter Argumentation werden die Unterschiede häufig nicht mehr so klar zu finden sein. 4.3.3 Aristoteles’ „Topik“ und „Rhetorik“ als Ausgangspunkte Zu Beginn dieses Buches, in Kapitel 2, ist die „Topik“ als eines der Werke Aristoteles’, die den Grundstein für spätere Arbeiten zur Argumentation gelegt haben, kurz angesprochen worden. In der Einteilung der drei Perspektiven auf Argumentation wurde die „Topik“ als grundlegende Arbeit zur Dialektik genannt. Aristoteles behandelt die Topik als Gegenstand allerdings an mehreren Stellen. Zum einen in der „Topik“, zum anderen aber auch in der „Rhetorik“. Mit seinem Werk „Topik“ verfolgt Aristoteles das Ziel, eine Methode zu entwickeln, „[…] nach der wir über jedes aufgestellte Problem aus wahrscheinlichen Sätzen Schlüsse bilden können und, wenn wir selbst Rede stehen sollen, in keine Widersprüche geraten“ (Aristoteles, 1995b, 100a 18). Diese wahrscheinlichen Sätze sind die, die „Allen oder den Meisten oder den Weisen wahr scheinen“ (Aristoteles, 1995b, 100b 18). Wahrscheinliche Sätze sind also so etwas wie anerkannte Meinungen (endoxa) und die Grundlage für die rhetorische Argumentation. In der „Topik“ nennt Aristoteles vier Topoi: ▶ den Topos aus der Definition ▶ den Topos aus dem Proprium ▶ den Topos aus der Gattung ▶ den Topos aus der Akzidenz Diese Topoi haben zum Ziel, einen Begriff oder einen Gegenstand zu erfassen. Die Grundfrage ist hier, wie es möglich ist, über einen Gegenstand eine Aussage zu machen. Der Topos der Definition hat dabei eine Doppelrolle inne. Er fungiert zwar als Topos, zugleich ist die Bestimmung, also die Definition, aber auch das Ziel der dialektischen Methode: Darüber Aufschluss zu erhalten bzw. Einigkeit zu erlangen, was etwas ist. „Definition ist eine Rede, die das Wesen anzeigt“ (Aristoteles, 1995b, 102a). Auf dem Weg zur Definition können die drei anderen Topoi genutzt werden. Argumente aus dem Proprium beziehen sich auf die Merkmale, die einem Phänomen spezifisch zukommen: „Eigentümlich, proprium, ist was zwar nicht das Wesen eines Dinges bezeichnet, aber nur ihm zukommt und in der Aussage mit ihm vertauscht wird.“ (ebd.) Der Topos der Gattung trifft Aussagen über die Art. „Gattung ist was von mehreren und der Art nach verschiedenen Dingen bei der Angabe ihres Was oder Wesens prädiziert wird.“ (ebd.) Der Topos aus der Akzidenz bestimmt Merkmale, die auf das zu Definierende zutreffen, es aber nicht von anderem abgrenzen. „Akzidenz ist was keines von diesen ist, nicht Definition, nicht Proprium, nicht Gattung, aber dem Ding zukommt, und was einem und demselben, sei es was immer, zukommen und nicht zukommen kann“ (Aristoteles, 1995b, 102b). Diese vier Topoi sollen konkretisiert werden. 104 4 Die rhetorische Perspektive JUROR 10: Ich bin gerührt. Denken Sie von mir was Sie wollen! Aber wir schulden ihm nicht so viel. […] Ich habe lange genug unter ihnen gelebt, ich kenne sie in- und auswendig. Die sind geborene Verbrecher, alle durch die Bank! Untermenschen! JUROR 11: Untermenschen. JUROR 10: Mir können Sie das glauben! JUROR 9: Es ist möglich … aber es ist entsetzlich, so was zu glauben. Gibt es tatsächlich geborene Verbrecher? - Ist das Verbrechen denn typisch für eine bestimmte Klasse? Seit wann? Und wer, sagen Sie mir das bitte, hat schon ein Monopol auf die Wahrheit? Wer? Sie vielleicht? JUROR 3: Papperlapapp, wir brauchen keine Sonntagspredigt! JUROR 9: Entschuldigen Sie, aber die Ansichten dieses Herrn erscheinen mir denn doch gefährlich - Die Unterscheidung der vier Topoi nach Aristoteles wird in dem Beispiel vor allem an den Stellen deutlich, an denen es darum geht, dass der Angeklagte ein geborener Verbrecher sei. Juror 10 argumentiert, dass der Angeklagte ein geborener Verbrecher ist, da er aus einem bestimmten Stadtteil und einer bestimmten sozialen Gruppe kommt. Dabei argumentiert er ausgehend vom Topos des Propriums. Verbrecher zu sein ist vielleicht nicht die Definition des Jungen, aber eine Charakteristik, die nur ihm zukommt. Juror 9 wendet sich explizit gegen diesen Topos in seiner Gegenrede. Aristoteles führt die Lehre der Topoi auch in der „Rhetorik“ an, dort mit der Unterscheidung von allgemeinen und speziellen Topoi. Unter allgemeinen Topoi versteht Aristoteles, so übersetzt ihn Sievke, den „allgemeinen Gesichtspunkt zur Ermöglichung der Beweisführung“ (Aristoteles, 1993, 1396b). Allgemeine Topoi können für jede Streitfrage genutzt werden, spezielle beziehen sich auf bestimmte Bereiche (Toulmin würde sagen auf bestimmte Felder). Diese Unterscheidung korrespondiert weitestgehend mit der Unterscheidung in formale (allgemeine) und materiale (spezielle) Topoi. Aristoteles nennt in der „Rhetorik“ 28 allgemeine Topoi (vgl. Aristoteles, 2002, 1397a6-1400b24): 1. Aus dem Gegensätzlichen 2. Aus den gleichen Fällen 3. Aus der wechselseitigen Relation von Bedingungen 4. Aus dem Mehr und Minder 5. Aus dem Umstand der Zeit 6. Etwas gegen den Redner verwenden 7. Definition 8. Aus der Frage auf wievielerlei Art 9. Aus der Unterteilung des Genus in seine Spezies 10. Induktion 11. Aus dem maßgeblichen Urteil über den gleichen, einen ähnlichen oder über einen entgegengesetzten Sachverhalt 105 4.3 Die Topik 12. Von den Teilen auf das Ganze 13. Aus der Konsequenz 14. Aus der Konsequenz bei zwei Dingen, die gegeneinander stehen 15. Daraus, dass die Menschen nicht ein und dasselbe öffentlich und im Geheimen loben 16. Daraus, das eine von beidem zu folgern 17. Aus der Analogie der Verhältnisse 18. Darauf, dass wenn die Voraussetzungen dieselben sind, auch die Ergebnisse dieselben sind 19. Daraus, dass man nicht immer dasselbe später für sich wählt wie früher 20. Daraus, dass wenn etwas als Grund geschehen könnte es auch als Grund geschieht 21. Die Gründe des Für und Wider betrachten 22. Daraus, dass nach vorherrschender Meinung Dinge geschehen, obwohl sie an sich unglaublich sind 23. Daraus, Widersprüche ins Auge zu fassen 24. Aus dem Begriff der Ursache 25. Daraus, ob es möglich war oder ist, auf eine bessere Weise zu handeln 26. Daraus, beides zugleich im Auge zu behalten 27. Aus der Auswertung begangener Fehler 28. Bedeutung des Namens Geht man die Liste durch, so wird deutlich, dass die Topoi sich hinsichtlich ihrer Allgemeinheit unterscheiden: So setzt Topos 25 voraus, dass Gegenstand der Streitfrage das Handeln einer Person war, und ist damit auf deutlich weniger Fälle anwendbar als Topos 17, der Topos der Analogie, oder Topos 7, der Topos der Definition, der sich wahrscheinlich für jede Streitfrage nutzen lässt. Von den allgemeinen Topoi unterscheidet Aristoteles die speziellen Topoi. Auch zu diesen findet sich bei ihm keine einheitliche Behandlung. Gemeint sind solche Topoi, oder in der Übersetzung Rapps „Topen“, die nur in einem bestimmten Bereich, einem bestimmten Feld Geltung haben. Dies sind die Topen, die gemeinsam über Fragen der Gerechtigkeit, der Naturwissenschaft, der Politik und vieler anderer, der Art nach unterschiedener Dinge handeln-… Eigentümliche (Topen nenne ich die), welche aus Sätzen über eine einzelne Art oder eine einzelne Gattung herrühren, wie es etwa Sätze über naturwissenschaftliche Fragen gibt, aus denen weder ein Enthymem noch eine Deduktion über ethische Fragen zustande kommt, und wie es über ethische Fragen andere Sätze gibt, aus denen kein Schluss über naturwissenschaftliche Fragen möglich sein wird. (Aristoteles, 2002, 1358a 12) So kann Gerechtigkeit ein Topos in ethischen Argumentationen sein, aber nicht notwendigerweise in naturwissenschaftlichen. Hier wird relevant, wie eine Streitfrage innerhalb eines argumentativen Austauschs gerahmt wird. Im Beispiel oben setzt Juror 10 Menschen aus einem bestimmten Stadtteil und damit einer bestimmten sozialen Gruppe gleich mit „geborenen Verbrechern“ und „Untermenschen“. Juror 9 antwortet damit, dass diese Äußerung gefährlich sei 106 4 Die rhetorische Perspektive und rahmt damit diese Frage eher als ethische denn als biologische. Das heißt, welche speziellen Topoi genutzt werden können und greifen, hängt davon ab, wie eine Streitfrage gerahmt wird. 4.3.4 Status und Topos In der klassischen Rhetorik haben sich insbesondere in der römischen Rhetorik Kataloge von Topoi entwickelt. Eine grundlegende Unterscheidung, eingeführt durch Cicero in „De inventione“ (2011) ist die zwischen loci (der lateinischen Entsprechung der Topoi) a re und loci a personam, also Topoi, die sich auf die Sache und solche, die sich auf die Person beziehen. Diese Unterscheidung bezieht sich in erster Linie auf den forensischen Kontext, also die Gerichtsrede. Ebenso für die Gerichtsrede relevant ist die Suchformel quis-- quid-- ubi-- quibus auxiliis-- cur-- quomodo-- quando (Wer? Was? Wo? Wodurch? Warum? Wie? Wann? ), ein Fragenkatalog, den die Verteidigerin abarbeiten kann, um für ihren Fall die passenden Argumente zu finden. Um die „richtigen“ Topoi für eine Streitfrage zu finden, ist der Status dieser Streitfrage von großer Bedeutung. Der Status (manchmal auch mit dem griechischen Begriff Stasis benannt) bestimmt die Art der Streitfrage. Er ist besonders im juristischen Diskurs von Bedeutung, aber nicht nur auf diesen begrenzt. „Die Statuslehre ist die Kunst der Reduktion komplexer Streitgespräche auf einen oder mehrere ihrer relevanten Kernstreitpunkte“ (Hoppmann, 2007, S. 1327). Ähnlich dem Konzept des Topos entsteht auch das Konzept des Status in der klassischen Rhetorik. Am bekanntesten ist wohl die Unterteilung von Hermagoras in vier Status: ▶ der Streitpunkt der Faktizität ▶ der Streitpunkt der Definition ▶ der Streitpunkt der Qualität ▶ der Streitpunkt der Kompetenz Angewendet auf das Beispiel lassen sich die vier Status folgendermaßen fassen: ▶ Der Streitpunkt der Faktizität. Ausgehend von diesem Status würde ein Verteidiger des Angeklagten argumentieren, dass die Tat nicht stattgefunden hat, also der Angeklagte den Vater nicht erstochen hat. ▶ Der Streitpunkt der Definition. Hier würde der Verteidiger argumentieren, dass der Angeklagte zwar durch seine Handlung den Tod des Vaters herbeigeführt hat, aber dass es sich beispielsweise nicht um Mord, sondern um Totschlag handelt, da der Junge im Affekt und ohne Vorsatz gehandelt hat. D. h. die Handlung an sich ist nicht mehr strittig, wohl aber die rechtliche Einordnung. ▶ Der Streitpunkt der Qualität. Auch hier ist das Geschehen an sich unstrittig, aber es werden Gründe vorgebracht, die das Geschehen in einem neuen Licht erscheinen lassen. Juror 8 führt an, dass der Junge sein Leben lang herumgeschubst wurde. Diese schwierige Kindheit könnte es ermöglichen, die Qualität der Tat neu zu bewerten. 107 4.3 Die Topik ▶ Der Streitpunkt der Kompetenz. Dieser unterscheidet sich deutlich von den anderen dreien. Hier geht es nicht darum, ob die Tat stattgefunden hat und wie sie rechtlich einzuordnen ist, sondern ob die Tat vor diesem Gericht überhaupt verhandelt werden kann. Es wird an dem Beispiel deutlich, dass die Status hierarchisch geordnet sind. Sich auf den Status der Faktizität zu berufen, erlaubt immer noch, später auf den Status der Definition umzuschwenken. Andersherum ist dies hingegen nicht möglich, da der Status der Definition schon zugesteht, dass die Tat begangen wurde. Die Statuslehre ist auch in der zeitgenössischen Argumentationswissenschaft aufgenommen worden. Hoppmann (2014) nimmt für sein Statusmodell eine Zweiteilung vor in den Status der Existenz und den Status der Verbindung (vgl. S. 281). Die Status der Existenz setzen sich aus drei Status zusammen, der Dreiteilung von Tat, Norm und Person. Die Status der Verbindung verknüpfen dann einzelne Status der Existenz. Es liegt hier eine doppelte Belegung des Begriffs „Status“ vor. Davon abgesehen liefert das Modell aber eine gute Analysegrundlage. Alle drei Bestandteile müssen nach Hoppmann gegeben sein, um für einen Fall eine argumentative Strategie entwickeln zu können. Abb. 2 Statusmodell nach Hoppmann (2014, S. 282) Diese drei Status werden bei Hoppmann noch einmal in qualitativer Hinsicht unterteilt: ▶ Status der Norm ▷ Existiert die Norm? ▷ Welcher Qualität ist die Norm? ▶ Status der Tat ▷ Existiert eine Tat? ▷ Welcher Qualität ist die Tat? 108 4 Die rhetorische Perspektive ▶ Status der Person ▷ Existiert eine Person? ▷ Welcher Qualität ist die Person? Neben den drei Status der Existenz benennt Hoppmann (2014) vier Status der Verbindung, die die einzelnen Status der Existenz in Beziehung zueinander setzen, und unterteilt die Beziehungen weiter: ▶ Status der Tat-Norm-Beziehung: Verletzt die Tat eine Norm? ▷ Status der Subsumtion ▷ Status der Rechtfertigung ▷ Status der Billigkeit (equity) ▶ Status der Akteur-Norm-Beziehung: Unterliegt die Akteurin der Norm? ▷ Status der Beziehung von Person und spezifischer Norm ▷ Status der Beziehung von Person und Normsystem ▶ Status der Akteur-Tat-Beziehung: Hat die Person die Tat vollzogen? ▶ Status der Tat-Person-Beziehung: Ist die Person verantwortlich für die Tat? (vgl. Hoppmann, 2014, S. 282) Den Status der Kompetenz nennt Hoppmann, klassifiziert ihn aber als prestasis, also als eine Fragestellung, die den anderen vorgelagert sein kann. Das Konzept des Status als Analyseinstrument wird in Kapitel 5 weiter ausgeführt. 4.3.5 Die Argumentationsschemata in Perelman / Olbrechts-Tytecas „Die Neue Rhetorik“ Wie oben eingeführt, haben Perelman und Olbrechts-Tyteca in ihrer Arbeit zwei Schwerpunkte: Zum einen haben sie die Frage der Geltung von Argumentation durch die Konzepte des partikularen und des universellen Publikums bearbeitet, zum anderen haben sie eine Systematisierung von Argumentationsschemata-- die sie explizit als Topoi benennen-- vorgenommen. Um ihre Systematisierung der Argumentationsschemata soll es im Folgenden gehen. Perelman und Olbrechts-Tyteca unterscheiden in ihrer Arbeit grundlegend Argumente, die über Dissoziation arbeiten, und solche, die über Assoziation funktionieren. Assoziative Schemata bringen verschiedene Aspekte zusammen, so beispielsweise, wenn ein Vergleich gezogen oder eine Analogie hergestellt wird. Im Gegensatz dazu trennen dissoziative Schemata einen einheitlichen Aspekt in verschiedene Einzelaspekte auf, so z. B. einen Begriff in verschiedene Bestandteile einer Definition. In den Arbeiten zu der Systematisierung von Perelman und Olbrechts-Tyteca werden in der Regel nur die assoziativen Schemata behandelt, da die dissoziativen nicht so klar definiert und kategorisiert sind (vgl. Kienpointner, 1992, S. 188-189). Auch van Eemeren et al. (2014, S. 20) stellen fest, dass die Argumentationsschemata auf Assoziation beruhen, und konzentrieren sich in ihrer Darstellung auf diese. Perelman und Olbrechts-Tyteca unterscheiden drei Gruppen von Argumentationsschemata. Dabei erhebt ihre Aufstellung nicht den Anspruch abschließend zu sein. Und auch wenn 109 4.3 Die Topik die meisten der aufgeführten Schemata sich als formale Topoi beschreiben lassen, sind einige eher material. Die drei Gruppen sind ▶ Quasi-logische Argumente. Diese Argumentationsschemata „beuten“ die Überzeugungskraft von logischen Beweisen „aus“, indem sie ähnlich konstruiert sind und an logische oder mathematische Formeln erinnern. Als spezifische Schemata benennen Perelman und Olbrechts-Tyteca das Argument der Reziprozität, die Einbettung der Teile ins Ganze oder das Wahrscheinlichkeitsargument. ▶ Argumente, die auf der Struktur des Wirklichen gründen. Diese Schemata beruhen darauf, dass Annahmen, die bereits etabliert sind, dazu dienen neue Annahmen zu stützen. ▶ Verbindungen zur Begründung einer Wirklichkeitsstruktur. Dies sind insbesondere Beispielbeweise, die durch Induktion erst „Realität“, also geltende Annahmen über die Welt etablieren. Ein wichtiger Unterschied besteht hier zwischen Beispielbeweisen, die solche neuen Annahmen etablieren, und Beispielen in der Argumentation, die die schon geltende Annahme illustrieren. Neben dem Beispiel gehört die Analogie nach Perelman und Olbrechts-Tyteca in diese Gruppe. Eine Analogie vergleicht nicht zwei Phänomene miteinander, sondern das Verhältnis von verschiedenen Phänomenen zueinander. Die einfachste Form einer Analogie wäre A verhält sich zu B wie C zu D. Kienpointner (1992) bietet folgende graphische Darstellung der Argumentationsschemata und ihrer Systematisierung bei Perelman und Olbrechts-Tyteca: 110 4 Die rhetorische Perspektive Argumentationsschemata I. Die quasi logischen Argumente 1. Widerspruch und Unvereinbarkeit 2. Identität und Definition 3. Tautologie 4. Die Gerechtigkeitsregel 5. Das Argument der Reziprozität 6. Argumente der Transitivität 7. Der Einschluss des Teils im Ganzen 8. Die Zerlegung des Ganzen in seine Teile 9. Die Argumente des Vergleichs 10. Das Argument des Opfers 11. Wahrscheinlichkeiten II. Argumente, die auf der Struktur des Wirklichen gründen A. Die Sequenzverbindungen 1. Die Kausalverbindung und die Argumentation 2. Das pragmatische Argument 3. Der Zweck und die Mittel 4. Das Argument der Verschwendung 5. Das Argument der Richtung 6. Die Überschreitung B. Die Koexistenzverbindungen 1. Die Person und ihre Handlungen 2. Das Autoritätsargument 3. Die Rede als Handlung des Redenden 4. Die Gruppe und ihre Mitglieder 5. Handlung und Wesen 6. Die symbolische Verbindung C. Das Argument der doppelten Hierarchie in der Anwendung auf die Sequenz- und Koexistenzverbindungen D. Grad- und Ordnungsunterschiede betreffende Argumente III. Verbindungen zur Begründung einer Wirklichkeitsstruktur A. Die Begründung durch den Einzelfall 1. Die Beispielargumentation 2. Das anschauliche Beispiel 3. Das Vorbild und das abschreckende Vorbild B. Der Analogieschluss 1. Analogie 2. Metapher Abb. 3 Argumentationsschemata nach Perelman / Olbrechts-Tyteca (Kienpointner, 1992, S. 190, Übersetzung orientiert an Perelman & Olbrechts-Tyteca, 2004a) 4.3.6 Kienpointners Alltagslogik Anknüpfend an die Argumentationsschemata bei Perelman und Olbrechts-Tyteca (2004a, 2004b) hat Kienpointner eine Einteilung von Argumentationsschemata entwickelt. Anders als die Kategorisierung von Perelman und Olbrechts-Tyteca ist diese stärker empirisch begründet. Grundlegend für die Entwicklung der Systematik war die Verbindung einer Korpusanalyse mit Befragungen. Auch Kienpointner (1992, S. 246) unterscheidet drei grundlegende Kategorien: 1) die Schlussregel-benützenden Schemata, 2) die Schlussregel-etablierenden Schemata und 3) die Schemata, bei denen weder das Erste noch das Zweite der Fall ist. Die erste Kategorie umfasst dabei weitestgehend die ersten beiden Kategorien bei Perelman und Olbrechts-Tyteca, die zweite entspricht der Gruppe, die die Struktur der Realität etablieren und die dritte findet bei Perelman und Olbrechts-Tyteca keine Entsprechung. 111 4.3 Die Topik Die Schlussregel-benützenden Schemata fächert Kienpointner weiter auf in Einordnungschemata, Vergleichsschemata, Gegensatzschemata und Kausalschemata, denen dann wieder einzelne Schemata zugeordnet sind (siehe Abbildung 4). Die Schlussregel-etablierenden Schemata bestehen aus einer Form der induktiven Beispielargumentation. In die dritte Gruppe ordnet Kienpointner die illustrative Beispielargumentation, die Analogie und die Autoritätsargumentation. Die Einordnung der Analogieargumentation in die dritte Gruppe und nicht unter die Vergleichsschemata aus Gruppe eins mag überraschen, basiert die Analogie doch auf dem Vergleich von Relationen zueinander, in der Regel über zwei unterschiedliche Felder hinweg. Kienpointner (1992) argumentiert, dass Analogieargumentation sich in der Regel auf Einzelfälle bezieht und damit keine allgemeine, vergleichende Schlussregel zu Grunde liegt, führt aber auch an, dass die Abgrenzung oft nicht leicht zu ziehen ist zwischen Einzelfallargumentation und Argumentation, die sich auf allgemeine Schlussregeln stützt (vgl. S. 384 ff.). Typologie I. SR-benützende Arg.schemata II. SR-etablierende Arg.schemata III. Arg.schemata, die weder die SR in I. einfach benützen noch SR wie in II. induktiv etablieren a. Definition b. Genus - Spezies c. Ganzes - Teil a. Gleichheit b. Ähnlichkeit c. Verschiedenheit d. a maiore a minore a. kontradiktorisch b. konträr c. relativ d. inkompa- tibel a. Ursache b. Wirkung c. Grund d. Folge e. Mittel f. Zweck 1. induktive Beispiel argumentation 1. illustrative Beispielargumentation 2. Analogieargumentation 3. Autoritätsargumentation SR = Schlussregel 1. Einordnungs- schemata 2. Vergleichsschemata 3. Gegensatz- schemata 4. Kausal- schemata Abb. 4 Argumentationsschemata nach Kienpointner (1992, S. 246) Mit dieser Typologie hat Kienpointner eine wichtige und umfassende Systematisierung von Argumentationsschemata vorgelegt. In Kapitel 5.3.1, dem Kapitel zur Argumentationsanalyse, 112 4 Die rhetorische Perspektive werden diese Schemata auch in die Analyse eingebunden. Daher bleiben Darstellung und Diskussion hier recht knapp. 4.3.7 Topik und Geltung / Topik und Wissen Zu Beginn dieses Buches wurden zwei Funktionen von Argumentation genannt: die Bearbeitung von Dissens (Strittigkeit) und die Etablierung von Geltung. Die zweite Funktion steht in einer engen Verbindung zur Topik, da Topoi das „kollektiv Geltende“ sind, mit dessen Hilfe ein Dissens überwunden werden soll. Das heißt auch, dass durch Argumentation nicht nur deutlich wird, worüber Dissens besteht, sondern auch, was zwischen Argumentierenden gilt und was als geteiltes Wissen vorhanden ist. Damit aktualisiert (und ratifiziert) jede Argumentation, welche Aussagen Geltung beanspruchen können. Um diesen Aspekt der Topik hier einzuführen, sollen zwei Ansätze besprochen werden; der des Literaturwissenschaftlers Bornscheuer (1976), dessen Topik aus den 70er Jahren immer noch eine zentrale Referenz ist, und der des Soziologen Knoblauch (2000), der die Topik mit zeitgenössischen wissenssoziologischen Themen verbindet. Bornscheuer (1976) unternimmt den Versuch einer allgemeinen Bestimmung des Toposbegriffs, die dann innerhalb der Einzelwissenschaften näher ausgeführt werden kann und muss (vgl. S. 93). Er bestimmt den Toposbegriff durch vier Strukturmomente: die Habitualität, die Potenzialität, die Intentionalität und die Symbolizität. Die Habitualität bezieht sich auf tradierte Denkmuster und auf die Inhalte und Meinungen, die in einer Gesellschaft vorherrschen (die endoxa). Diese sind in sprachlichen Formen vorstrukturiert und damit habitualisiert. Habitualität kann sich in Sprichwörtern und Sentenzen, aber auch auf einer höheren Abstraktionsstufe in materialen Topoi zeigen. Wenn im Beispiel der Topos der sozialen Herkunft genutzt wird, dann ist dies möglich, weil soziale Herkunft anerkannt ist als möglicher Ort von Argumenten. Wir wissen, dass dies eine relevante Perspektive auf ein Problem sein kann. Für die Verbindung von Topik und Wissen ist das Moment der Habitualität besonders interessant. Bornscheuer benennt die Habitualität auch als „strukturellen Wesenskern des Topos“ (S. 107). JUROR 8: Und wissen Sie auch, wer ihn geschlagen hat? Nicht nur sein eigener Vater, nicht unsere sogenannten Erzieher, nicht der Waisenhausvater, nein, meine Herren - JUROR 7: Jetzt bin ich aber gespannt. JUROR 8: Wir. - Neunzehn erbärmliche Jahre sind an diesem Jungen nicht spurlos vorübergegangen. Er ist verbittert. Und deshalb - denke ich, schulden wir ihm ein paar Worte. - Das ist alles. 113 4.3 Die Topik JUROR 10: Ich bin gerührt. Denken Sie von mir was Sie wollen! Aber wir schulden ihm nicht so viel. - Er hat ein saubres Verfahren bekommen. Glauben Sie das ist umsonst? […] Er kann froh sein, daß wir so freigiebig waren. Stimmt’s? Wir sind doch keine Quäker! Wir haben die Tatsachen gehört - und jetzt wollen Sie uns weismachen, daß wir dem Bürschlein glauben sollen! Mir kann der nichts vormachen, nicht so viel - nicht das Schwarze unter dem Nagel glaube ich dem. Ich habe lange genug unter ihnen gelebt, ich kenne sie in- und auswendig. Die sind geborene Verbrecher, alle durch die Bank! Untermenschen! JUROR 11: Untermenschen. JUROR 10: Mir können Sie das glauben! JUROR 9: Es ist möglich … aber es ist entsetzlich, so was zu glauben. Gibt es tatsächlich geborene Verbrecher? - Ist das Verbrechen denn typisch für eine bestimmte Klasse? Seit wann? Und wer, sagen Sie mir das bitte, hat schon ein Monopol auf die Wahrheit? Wer? Sie vielleicht? JUROR 3: Papperlapapp, wir brauchen keine Sonntagspredigt! JUROR 9: Entschuldigen Sie, aber die Ansichten dieses Herrn erscheinen mir denn doch gefährlich - Im Beispiel nutzen beide, Juror 8 und Juror 10, den gleichen Topos der sozialen Herkunft, auch wenn sie ihn für ihre Argumentation unterschiedlich konkretisieren und zu gegenläufigen Konklusionen kommen. Beide Männer aktualisieren damit aber auch, dass die soziale Herkunft ein relevanter Faktor für die Entwicklung eines Menschen ist. Die Potenzialität bezieht sich auf die Neutralität von Topoi oder, wie Bornscheuer sagt, auf „die Offenheit gegenüber jeder Problemfrage“ (1976, S. 97). Ein Topos kann auf unterschiedliche Probleme angewandt werden und er kann auch in derselben Streitfrage für widerstreitende Positionen eingesetzt werden. Auch gibt es keine Hierarchie von Topoi, nur eine Differenzierung bezüglich ihrer Konkretheit und die Unterscheidung in formale und materiale Topoi. Ein Topos ermöglicht unterschiedlichste Behandlungen einer Streitfrage. Im Beispiel ist die soziale Herkunft als Topos noch nicht an eine bestimmte Konklusion gebunden und wird in verschiedene Richtungen genutzt. Auch ist der Topos der sozialen Herkunft in Strafverfahren nicht ungewöhnlich und kann auf beliebige andere Fälle angewendet werden. Die Intentionalität bezieht sich auf die persuasive Ausrichtung von Topoi. Ein Topos wird (als kollektiv Geltendes nach Klein, 1980) genutzt, um ein Gegenüber von etwas zu überzeugen. Dies beschreibt Bornscheuer (1976) als „Argumentationsfunktion“ (S. 100). Diese Funktion ist nun wiederum eng an die Habitualität gebunden, weil durch Topoi tradiertes Wissen aufgerufen wird. Im Beispiel wird der Topos genutzt, um den jeweils anderen zu überzeugen. Juror 8 nutzt ihn, um die anderen davon zu überzeugen, dass über den Fall gesprochen werden sollte, Juror 10 nutzt ihn, um Juror 8 davon zu überzeugen, dass hier nicht mehr gesprochen werden muss, da der Fall klar liegt. Die Symbolizität als viertes Moment bezieht sich auf den „Elementarcharakter“ (Bornscheuer, 1976, 103) von Topoi. Sie sind abstrakt und ausdeutbar, zugleich aber konkret genug, um in bestimmten sprachlichen Formen erkennbar zu sein. Wenn Juror 10 von „geborenen 114 4 Die rhetorische Perspektive Verbrechern“ oder „Untermenschen“ spricht, dann referiert er damit auf den zu Grunde liegenden Topos, der sich in verschiedenen sprachlichen Formen manifestieren kann. Die vier Strukturmomente bei Bornscheuer haben wie gesagt den Anspruch, auf alle speziellen Topiken- - im Recht, in der Literatur, in der Rhetorik etc.- - anwendbar zu sein. Schwarze (2010, S. 32) fasst diese vier Merkmale zusammen mit den Verben: erkennen-- auslegen-- anwenden-- gestalten. Diesen vier Aufgaben stellen sich Argumentationspartnerinnen in der Topik. Die Verbindung von Topik und Wissen ist auch innerhalb der Soziologie aufgenommen worden. Knoblauch (2000) fasst unter der Überschrift einer kommunikativen Topik die Topik als das „was innerhalb bestimmter sozialer Gruppen für wahr gehalten wird“ (S. 653). Die Topik ist demnach darauf ausgerichtet, was für jemanden als wahrscheinlich gilt, und bezieht sich immer auf soziale Gruppen und Institutionen. Das Konzept des Topos, so Knoblauch, überschneidet sich mit dem Wissensbegriff in der Soziologie (vgl. ebd.). Die Toposanalyse wäre dann ein Verfahren, um zu untersuchen, was als Wissen gilt und wie es genutzt wird. Eine Toposanalyse würde zur Wissensanalyse. Bei einem solchen Toposverständnis steht der Topos als materialer Topos im Zentrum. Ausgangspunkt bei Knoblauch ist die Kritik der ‚Tiefenmetaphorik‘ (vgl. S. 658), die innerhalb der Topikforschung vorherrsche. Damit beschreibt er die Annahme, dass der Topos auf einer tiefen-- oder abstrakten-- diskursiven Ebene liegt und zwar Argumente und Teile des Diskurses generiert, aber selbst nicht an der Oberfläche erscheint. Innerhalb der kommunikativen Topik geht Knoblauch (2000) davon aus, dass in der sozialen Interaktion und Kommunikation Sinn gemeinschaftlich produziert wird und nicht auf eine eigentliche Bedeutung, die hinter dem kommunikativen Handeln liegt, zurückgegriffen wird. Die kommunikative Topik betont so den Aspekt der Habitualität-- wie auch schon bei Bornscheuer (1976)-- in dem Sinne, dass Topoi verfestigte, thematische Routinen sind. Dies hat für die Interaktionsteilnehmerinnen eine Entlastungsfunktion. Was als gemeinsames Wissen gilt, muss nicht immer wieder aufs Neue hergeleitet und etabliert werden. Zugleich muss aber dieses Gegebene auch immer wieder in der Interaktion aktualisiert werden. Ein Topos ist aus dieser Sicht etwas, das an der ‚diskursiven Oberfläche‘, im Text, verfügbar wird. Knoblauch (2000) spricht davon, dass der „gesellschaftliche Wissensvorrat-- oder zumindest dessen Kernbestände-- kommunikativ verflüssigt“ wird (S. 665). Diese Verflüssigung meint, dass Wissen-- in Form von Topoi-- kommunikativ hergestellt und aktualisiert wird und nicht als Grundlage unveränderlich zur Verfügung steht. Diese Auffassung Knoblauchs-- hier kurz skizziert-- findet sich ähnlich in Analyseansätzen zur Topik aus einer gesprächsanalytischen Sichtweise wieder. Darauf gehen Kapitel 5.4 und 6.2 näher ein. 115 4.3 Die Topik 5 Argumentation analysieren Die Darstellung und Diskussion der Theorien zur Argumentation waren bis hierher durch Beispiele gestützt. Die Analyse einzelner Argumente sollte die Theorie illustrieren. Die Argumentationsanalyse als Methode ist dabei noch nicht explizit Gegenstand geworden. Dies soll sie nun in diesem Kapitel werden. Die Argumentationsanalyse ist eine Möglichkeit der Text- und Diskursanalyse, die, entsprechend der verschiedenen Perspektiven auf Argumentation, verschiedene Aspekte der Argumentation in den Blick nehmen kann. Sie kann dabei ganz unterschiedliche Ziele haben und verschiedene Fragen verfolgen: Wird überhaupt argumentiert? Wie wird die Streitfrage formuliert, verändert und so die Argumentation gerahmt? Welche Topoi und Argumentationsschemata werden in einem bestimmten Feld genutzt? Was wird als gemeinsames Wissen hergestellt? Was wird als Fehlschluss behandelt? Wie wird eine Lösung erreicht? Welche anderen kommunikativen Faktoren beeinflussen die Argumentation? Wie entwickeln sich bestimmte Argumente über die Zeit? Woran scheitert Argumentieren? Das folgende Kapitel konzentriert sich auf fünf verschiedene Aspekte bzw. Ansätze. 1. Die Analyse von Streitfrage und Status. Diese bieten einen analytischen Zugriff auf den Ausgangspunkt und die grundlegende Strategie der Argumentation. 2. Die funktionale Analyse auf der Mikro- und Makroebene der Argumentation. Diese soll Möglichkeiten zeigen, wie auf der Mikroebene einzelne Aussagen sequenziert, dem Toulmin-Modell folgend analysiert werden können und auf der Makroebene eine Argumentation kartiert werden kann. Dabei werden also auch Möglichkeiten der graphischen Darstellung vorgestellt. 3. Die Analyse der Argumentationsschemata und Topoi: eine Form der materialen Argumentationsanalyse. Diese ersten drei Analyseaspekte gehören seit jeher zum Kerngeschäft der Argumentationsanalyse und sind etablierte Verfahren in der Argumentationswissenschaft. Zu vielen Aspekten dieser Analyse liegt u. a. mit Kopperschmidts Methodik der Argumentationsanalyse (1989) bereits ein umfassender und sehr gut anwendbarer Ansatz vor. Die zwei weiteren Ansätze zur Argumentationsanalyse, die hier vorgestellt werden sollen, gehen von anderen methodologischen und theoretischen Annahmen aus als die drei vorhergehenden. 4. Das gesprächsanalytische Vorgehen, das in der Argumentationswissenschaft zunehmend an Relevanz gewinnt. Argumentation ist für die Gesprächsanalyse kein unproblematischer Gegenstand, da die Argumentationsanalyse oft auf die Rekonstruktion impliziter Standpunkte und Aussagen zurückgreift, die Gesprächsanalyse sich aber an den aktuellen Äußerungen und damit der Oberfläche des Diskurses orientiert. Die Grundannahmen des Ansatzes und mögliche Formen des Vorgehens sollen in diesem Kapitel dargestellt werden. 5. Mit der Ethnografie der Argumentation hat sich eine neue Form der Argumentationsanalyse etabliert, die sich auf die Entwicklung von Argumenten und Argumentation 116 5 Argumentation analysieren und ihre kulturelle Gebundenheit konzentriert. Insbesondere der Ethnografie der Argumentation soll hier mehr Platz eingeräumt werden, da es zu ihr bisher keine umfassende Darstellung und Diskussion gibt. Zugleich erscheint dieser Zugriff auf Argumentation für eine Reihe von Fragestellungen sehr produktiv zu sein. 5.1 Die Analyse von Streitfrage und Status Die Analyse der Streitfrage / der Quaestio kann sowohl ein erster Schritt in einer umfassenden Argumentationsanalyse sein als auch eine in sich abgeschlossene Analyse eigenen Rechts. Die Streitfrage ist die Frage, auf die die Argumentation eine Antwort geben soll. Es handelt sich also um den inhaltlichen Aspekt einer Frage. Etwas ist strittig geworden und dieses Strittige wird verhandelt. Häufig wird die Streitfrage nicht explizit formuliert. Sie lässt sich rekonstruieren, indem die übergreifende Konklusion einer Beteiligten als Antwort auf eine Frage verstanden wird. Der Status (alternativ auch griechisch Stasis) bestimmt die Art und Weise, wie die Streitfrage argumentativ gerahmt wird und welche grundlegende argumentative Strategie verfolgt wird. So kann ich in Bezug auf einen Sachverhalt argumentieren, dass er gar nicht stattgefunden hat oder aber, dass er auf eine bestimmte Art und Weise zu werten ist. Diese grundlegende Strategie ermöglicht und erschwert damit auch bestimmte untergeordnete argumentative Strategien (vgl. auch Kapitel 4.3.4). Die Analyse der Streitfrage und des Status fragt nach dem Ausgangspunkt / den Ausgangspunkten der Argumentation. Vor die Analyse der Streitfrage und des Status kann noch eine Analyse der Situation gestellt werden. Je nach Analysefrage muss diese sehr ausführlich verlaufen oder kann knapp gehalten werden. In der Analyse von Argumentation im rechtlichen Feld beispielsweise sollte die Analysierende Wissen über dieses Feld haben und die impliziten und expliziten Regeln kennen, an denen sich Argumentation in diesem Feld orientiert. Ohne dieses Wissen kann Argumentation nicht immer adäquat beschrieben und analysiert werden. JUROR 1: Also einmal reihum! […] Zwei Minuten pro Kopf. Sie sind der erste. JUROR 2: Ja … was soll ich sagen … das ist gar nicht so leicht … ich … ja er ist sicher schuldig. Das ist doch von Anfang an klar gewesen … einen Gegenbeweis hat bisher niemand erbracht. JUROR 8: Den braucht auch niemand zu erbringen. Die Beweislast obliegt allein dem Gericht. So steht es in unserer Verfassung. Sie brauchen nur nachzulesen. Das Argument, das Juror 2 hier vorbringt, wäre in anderen Kontexten möglicherweise plausibel, in einem Strafverfahren ist es als Argument aber explizit ausgeschlossen. Eine Analyse der 117 5.1 Die Analyse von Streitfrage und Status Situation und des Kontextes lässt sich unterschiedlich aufbauen. Eine Möglichkeit bietet die Situationsanalyse nach Geißner (1986, S. 38-39). Diese beinhaltet eine Reihe von W-Fragen, ähnlich der rhetorischen Suchformel (vgl. Kapitel 4.3.4): wer- - wo- - wann- - was- - wie- - worüber-- warum-- wozu-- mit wem. Eine Beantwortung dieser Fragen für jede Teilnehmerin einer Argumentation kann eine gute Grundlage für die weiterführende Analyse bieten. Ist der Kontext, innerhalb dessen argumentiert wird, analysiert, können in der Analyse der Streitfrage verschiedene Fragen relevant werden: ▶ Ob die Argumentierenden von der gleichen Streitfrage ausgehen bzw. auf die gleiche Streitfrage hin argumentieren. ▶ Ob nur eine oder mehrere Streitfragen innerhalb einer Argumentationssequenz bearbeitet werden. ▶ Ob die Streitfrage sich während der Argumentation verändert und verschoben wird. Häufig können innerhalb einer Argumentation mehrere Streitfragen auf unterschiedlichen Ebenen aufgefunden werden. So lassen sich oft neben globalen auch untergeordnete Streitfragen finden. Die globale Streitfrage bestimmt die gesamte Argumentation. Im Beispiel des Stücks „Die zwölf Geschworenen“ ist dies die Frage „Ist der Angeklagte des Mordes schuldig oder nicht? “ Dieser Frage untergeordnet werden von den Beteiligten aber noch weitere Fragen bearbeitet: ob man dem Angeklagten etwas schuldet, ob man durch einen fahrenden leeren Zug auf die andere Seite sehen und dort einen Mord beobachten kann etc. Allein für den Beginn des Ausschnitts bis zum Vorschlag, den Juror Nummer 8 zu überzeugen, lassen sich folgende Streitfragen identifizieren: (Globale Streitfrage) Ist der Junge schuldig oder nicht? In den Variationen: Ist er ein gemeingefährlicher Mörder? Hat der Junge die Wahrheit gesagt? (Untergeordnete Streitfragen) Sind die Geschworenen klüger als die Richter? Ist genug gesprochen worden oder nicht? In der Variation: Warum sind wir hier? Was ist die Gesellschaft dem Jungen schuldig? Sind die Waisenhäuser okay? Gibt es geborene Verbrecher? Diese Fragen sind nicht nur auf verschiedenen Ebenen angesiedelt, in ihnen werden auch verschiedene Arten von Geltungsansprüchen strittig. Geltungsansprüche der Wahrheit (Sind die Waisenhäuser okay? ) oder der Richtigkeit (Schuldet man einem Angeklagten etwas und wenn ja, was? ). Dies sind die strittigen Fragen, die innerhalb kurzer Zeit zu Beginn von „Die zwölf Geschworenen“ auftauchen und in Teilen bearbeitet werden. Die meisten der untergeordneten Streitfragen lassen sich auf die Hauptstreitfrage beziehen. In dieser Hauptstreitfrage wird ein Geltungsanspruch der Wahrheit bearbeitet. Da es sich bei diesem Beispiel um 118 5 Argumentation analysieren ein Strafverfahren handelt, hat die Feststellung der Wahrheit oder Falschheit des Geltungsanspruchs sogar eine performative Wirkung. Durch einen Schuldspruch wird der Angeklagte zu einem Verurteilten und die Tat wird ihm faktisch zugerechnet. Schuldsprüche verändern so die Wirklichkeit. Im Gegensatz dazu ist die Frage, ob die Gesellschaft dem Jungen etwas schuldig ist, nicht als Frage der Wahrheit, sondern der Richtigkeit zu bearbeiten, werden hier doch Aussagen über das Sollen getroffen. An dem Beispiel lässt sich auch sehen, dass die genaue Festlegung der Streitfrage nicht immer ohne Probleme ist und dass innerhalb von Argumentation die Streitfrage häufig leicht variiert oder verschoben wird. Im Beispiel ist die Streitfrage klar: Ist der Junge schuldig? Sie wird aber über die gesamte Zeit von den Geschworenen variiert, wie oben und durch das ganze Beispiel zu sehen ist. Durch eine leichte Variation der Streitfrage wird aus dem Angeklagten je nach Sprecher ein gemeingefährlicher Mörder, ein neunzehnjähriger Junge, der sein Leben lang geschlagen wurde, ein Bürschlein, dem man nicht glauben sollte und ein Mann, der vermutlich schuldig ist. Diese Variation kann auch als Teil einer rhetorischen Strategie betrachtet werden, die in die Formulierung der Streitfrage schon die mögliche Konklusion einwebt (vgl. strategic maneuvering, Kapitel 3.7.1). Die Ausgangsfrage für einen Streitfall ist seit der Antike Gegenstand der Statustheorie. Diese befasst sich mit dem Ausgangspunkt einer Kontroverse und klassifiziert verschiedene Arten des Status, um die „relevanten Kernstreitpunkte“ (Hoppmann, 2007, S. 1327) zu ermitteln. Die Grundlagen der Statustheorie sind bereits in Kapitel 4.3.4 behandelt worden, daher soll hier nur kurz der zentrale Ausgangspunkt genannt werden. Beheimatet vor allem in der Gerichtsrede, wird mit dem Status auch die grundlegende Verteidigungsstrategie festgelegt. Die Statuslehre ist dabei auch eine produktive und nicht nur eine analytische Kategorie. Die Festlegung des Status hilft der Rednerin ihre Strategie zu klären und die passenden Topoi zu wählen, um die Strategie auszufüllen. In der Antike wurden verschiedene Statusmodelle entwickelt, die eine Reihe von Überschneidungen untereinander aufweisen. Als einer der bekanntesten Autoren eines Statusmodells gilt sicher Hermagoras von Temnos. Die von ihm überlieferte Unterteilung in vier Status / Streitpunkte soll hier noch kurz einmal angeführt werden, um dann die Analysemöglichkeiten am Beispiel zu zeigen. ▶ Streitpunkt der Faktizität: Ist eine Tat begangen worden oder nicht? ▶ Streitpunkt der Definition: Um was für eine Tat handelt es sich? ▶ Streitpunkt der Qualität: Wie lässt sich die Tat bestimmen und gab es rechtfertigende Umstände? ▶ Streitpunkt der Kompetenz: Wird die Tat auf die richtige Weise und vor der richtigen Instanz bearbeitet? In dem Stück „Die zwölf Geschworenen“ geht es auf globaler Ebene um die Frage, ob der Angeklagte schuldig ist oder nicht. Die Geschworenen rahmen die Frage als Status der Faktizität: Hat der Junge die Tat begangen oder nicht? Zugleich wird aber auch aus den anderen Status argumentiert. Im folgenden Abschnitt scheint Juror 8 aus dem Status der Qualität heraus zu argumentieren, indem er etabliert, dass die Umstände, unter denen der Junge gelebt hat, die Tat neu rahmen können. 119 5.1 Die Analyse von Streitfrage und Status JUROR 8: Und wissen Sie auch, wer ihn geschlagen hat? Nicht nur sein eigener Vater, nicht unsere sogenannten Erzieher, nicht der Waisenhausvater, nein, meine Herren - JUROR 7: Jetzt bin ich aber gespannt. JUROR 8: Wir. - Neunzehn erbärmliche Jahre sind an diesem Jungen nicht spurlos vorübergegangen. Er ist verbittert. Und deshalb - denke ich, schulden wir ihm ein paar Worte. - Das ist alles. Juror 8 hat bis hierher nicht vom Status der Faktizität aus argumentiert und wird es auch das ganze Stück hindurch selbst nicht tun. Bis zuletzt betont er, dass er nicht sicher ist, ob der Junge unschuldig ist. Er klassifiziert diese Frage aber auch als irrelevant im Sinne des in dubio pro reo. Die Jury muss nicht etablieren, dass ein Angeklagter unschuldig ist, um ihn nicht schuldig zu sprechen, sie muss darstellen, dass es vernünftige Zweifel, reasonable doubt, an der Schuld geben kann. Aber auch der Logik der Statuslehre folgend könnte Juror 8, nachdem er vom Status der Qualität aus argumentiert hat, nicht vom Status der Faktizität aus argumentieren. Denn die Status sind hierarchisch aufgebaut. Argumentiert man als Verteidigung vom Status der Qualität und bringt Rechtfertigungsgründe vor, wie die Tatsache, dass jemand in der Kindheit misshandelt wurde, so kann man nicht später darauf zurückfallen, aus dem Status der Faktizität zu argumentieren. Ein Status der Definition lässt sich im Beispiel nur auf den zweiten Blick und eher als potenzieller Status finden. So scheint Juror 3 eine Version der Tat zu schildern, die durchaus für eine Handlung im Affekt sprechen würde. JUROR 3: […] Da ist ein alter Mann, der im zweiten Stock wohnt, direkt unter dem Mordzimmer. Er hat ausgesagt, es habe sich wie ein Kampf angehört, und dann habe der Junge laut gerufen: „Ich bring dich um! “ Er hat es deutlich verstanden! Eine Sekunde später fiel ein Körper zu Boden, und er lief zur Wohnungstür, sah hinaus - und was sah er? Das Bürschlein rannte die Treppe runter und aus dem Haus. Juror 3 argumentiert dann nicht weiter vom Status der Definition, sondern vom Status der Faktizität: auf Grund der Schilderung hätte sich hier ergeben, zu argumentieren, dass der Junge zwar Handlungen ausgeführt hat, die zum Tod seines Vaters führten, diese aber auf Grund des Affektes nicht als Mord zu werten wären. Zu Beginn des Ausschnitts findet sich auch eine kurze argumentative Sequenz, die dem Status der Kompetenz zugeordnet werden könnte. 120 5 Argumentation analysieren JUROR 6: Der Fall liegt eigentlich klar, ich war eigentlich … ja, ich war vom ersten Tag an überzeugt, daß - JUROR 3: Sie waren nicht der einzige! Der Fall ist nun wirklich bis in die letzte Einzelheit aufgeklärt. Die haben sich so viel Mühe gegeben, es uns zu beweisen. Wieder und wieder. Ja, soll ich am Ende gescheiter sein als die studierten Richter. JUROR 8: Niemand verlangt es von Ihnen. Durch den Verweis von Juror 3, dass in der Hauptverhandlung alles klar zu Tage trat und er bzw. die Jury ja nicht gescheiter ist als die studierten Richter, könnte man folgern, dass die Anwesenden nicht die richtigen Personen sind, um über die Schuld des jungen Mannes zu befinden. Dieses Argument wird von Juror 3 nicht weiter geführt, es hätte wohl auch wenig Aussicht auf Erfolg, hat doch die Beratung der zwölf Geschworenen genau diese Funktion: über die Schuld zu beraten und zu entscheiden. Für eine weitergehende Statusanalyse ließe sich auch Hoppmanns (2008) System anwenden, obwohl dies komplexer ist als die Systematik von Hermagoras. Die Analyse der Status einer Argumentation ist immer dann sinnvoll, wenn ein längerer Diskurs untersucht werden soll, insbesondere in institutionalisierten Diskursen wie der Gerichtsrede. Besonders interessant kann hier der Wechsel zwischen den Status sein oder auch, wie die parallele Nutzung von verschiedenen Status durch die Rednerin organisiert wird. 5.2 Die funktionale Analyse Die wohl geläufigsten Formen der Argumentationsanalyse sind die funktionalen Rekonstruktionen einzelner Aussagen und ihrer Beziehung zueinander, also die Rekonstruktion von Aussagen als Gründe, Konklusionen und Übergänge. Auf der Mikroebene bezieht sich diese Analyse auf das einzelne Argument, auf der Makroebene auf eine oder mehrere Argumentationssequenzen, die miteinander gekoppelt sein können. Mikro- und Makroebene sollen hier gemeinsam unter der Überschrift „funktionale Analyse“ behandelt werden, da Funktionen innerhalb der Argumentation doppelt belegt sein können; so kann zum Beispiel ein Grund zur Konklusion werden. Die funktionale Analyse fragt nach der Verbindung einzelner Aussagen in einem Argumentmodell und der Funktion einzelner Aussagen in diesem Modell. Diese Form der Analyse ist ähnlich wie die Analyse der Streitfrage grundlegend für fast jede Form von Argumentationsanalyse. Sie hat allerdings je nach methodologischer Ausrichtung unterschiedliche Bedeutungen und Formen. Für die Mikroanalyse kann eines der Argumentmodelle leitend sein, für die Makroanalyse liegen mit Diagrammen, Netzwerken, Baumgraphen u. a. ganz unterschiedliche Darstellungsformen vor. Die Darstellung von Argumenten und Argumentation in Form von Diagrammen und Graphen ist insbesondere 121 5.2 Die funktionale Analyse in rhetorischen Ansätzen nicht unumstritten und spiegelt eher eine Produktsicht als eine Prozess- oder Prozedursicht auf Argumentation wider. 5.2.1 Funktionale Analyse auf der Mikroebene Gemeinsam ist den Ansätzen zur funktionalen Analyse, dass sie eine Argumentationssequenz in einzelne Aussagen unterteilen und diese entsprechend ihrer Funktion innerhalb eines Modells zuordnen. Wie die einzelnen Positionen benannt werden, richtet sich nach dem theoretischen Ausgangspunkt der Analyse. In logischen Ansätzen werden die einzelnen Funktionen als Prämissen und Konklusionen bezeichnet, in Modellen, die sich an Toulmin orientieren, als Daten, Schlussregeln und Konklusionen (und Stützen, Ausnahmebedingungen und Modaloperator), in manchen rhetorischen Ansätze ist von Gründen, Konklusionen und Topoi die Rede. Die funktionale Analyse auf der Mikroebene ordnet die einzelnen Aussagen den Positionen eines Argumentmodells zu. Um eine funktionale Analyse auf der Mikroebene durchführen zu können, muss ein Schritt vorgeschaltet werden: die Segmentierung der einzelnen argumentativen Redebeiträge bzw. der einzelnen Äußerungen (vgl. Kopperschmidt, 1989, S. 210, 221). Im Onlinematerial zu diesem Buch findet sich zum gesamten Beispiel aus „Die zwölf Geschworenen“ eine Aufschlüsselung der einzelnen Äußerungen nach ihren Funktionen. Hier soll dieser Vorgang nur an einem Beispiel vorgeführt werden. So lässt sich der Beitrag von Juror 2 im folgenden Ausschnitt folgendermaßen segmentieren: JUROR 1: Zwei Minuten pro Kopf. Sie sind der erste. JUROR 2: Ja … was soll ich sagen … das ist gar nicht so leicht … ich … ja er ist sicher schuldig. Das ist doch von Anfang an klar gewesen … einen Gegenbeweis hat bisher niemand erbracht. 1. Der ist sicher schuldig 2. Das war von Anfang an klar 3. Niemand hat den Gegenbeweis erbracht Zu diskutieren wäre hier, ob die Aussage 2 überhaupt als argumentativ gewertet und daher mit segmentiert werden sollte. Es handelt sich hier um einen Zirkelschluss, denn es werden keine neue Informationen in die Argumentation eingebracht: etwas ist so (Konklusion), weil es von Anfang an klar gewesen ist (Grund) denn etwas ist der Fall, wenn es von Anfang an klar ist (Schlussregel). Juror 2 bringt diese Aussage als Argument vor und sie wird von den anderen Geschworenen nicht als fehlschlüssig markiert. Allerdings wird sie im weiteren Verlauf der Argumentation auch nicht weiter behandelt. Wenn man sich die Äußerung genauer 122 5 Argumentation analysieren anschaut, scheint sie eher eine Durchgangsposition zu sein: Juror 2 markiert, dass an dieser Stelle ein Grund kommen soll, hat ihn aber noch nicht zur Hand, sondern liefert ihn erst im zweiten Anlauf mit dem Verweis auf den fehlenden Gegenbeweis. Nun von der Segmentierung zur funktionalen Analyse. Im Analysemodell von Kopperschmidt (1989) wird die funktionale Analyse nach dem Toulminmodell durchgeführt. Ob dies sinnvoll ist, entscheidet die Fragestellung, die für die spezifische Analyse leitend ist. Alternativ lassen sich andere Argumentmodelle nutzen. Die funktionale Analyse weist also den einzelnen Äußerungen die Funktionen innerhalb eines Modells zu. Aussage 1 erfüllt in dieser Sequenz die Funktion der Konklusion. Aussage 3 dient als Datum bzw. Grund. Aussage 1 enthält eine weitere Funktion des Toulmin’schen Modells, den Modaloperator „sicher“. Als Diagramm lässt sich dieses Argument folgendermaßen darstellen, wenn nur die Äußerungen einbezogen werden, die Juror 2 explizit macht. Eine Ausnahmebedingung wird nicht genannt und ist durch die Stärke des Modaloperators „sicher“ auch nicht gegeben. Die Schlussregel bleibt implizit und ließe sich rekonstruieren als: Was nicht widerlegt ist, gilt als bewiesen. Als Stütze ließen sich Alltagswissen oder Erfahrungswissen einsetzen. Die rekonstruierte Schlussregel widerspricht allerdings den Grundsätzen eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens, nach dem eine Angeklagte so lange als unschuldig gilt, bis die Schuld bewiesen wurde (siehe dazu auch die Ausführungen zu Beweislast und Präsumtion in Kapitel 3.4). Genau diese Schwäche des Arguments thematisiert Juror 8 mit seinem Hinweis auf die Verfassung. Die Kopplung dieser Aussagen soll weiter unten im Abschnitt zur Makroanalyse von Argumentation betrachtet werden. Exkurs: Das Rekonstruieren impliziter Aussagen und die Position der Analysierenden In die funktionale Analyse gingen bis hierher nur Äußerungen ein, die Juror 2 gemacht hat, die also an der diskursiven Oberfläche erscheinen. Es lassen sich hier aber auch die impliziten Anteile rekonstruieren. Diese Rekonstruktion impliziter Aussagen ist eine der zentralen Aufgaben einer Argumentationsanalyse und zugleich eine der problematischsten, weil diese Rekonstruktion in Teilen immer interpretativ bleibt und weil die Wirkung mancher Argumente genau darin gründet, dass Teile der Argumentation implizit bleiben und unterschiedlich rekonstruiert werden können (vgl. Kapitel 4.1.2). Die Position der Analysierenden ist hier also schwierig, da sich Argumente oft nicht ein-eindeutig analysieren lassen. Eine Möglichkeit mit diesem Problem umzugehen ist, die 123 5.2 Die funktionale Analyse Argumente aus einer logischen Perspektive und mit Hilfe formallogischer Schlussverfahren zu rekonstruieren und damit eine „objektive“ Position zur Argumentation einzunehmen, die vom Kontext abstrahiert. Diese Position führt aber unter anderem dazu, dass mehrdeutige Aussagen vereindeutigt werden und damit ihre Kraft innerhalb der Argumentation nicht adäquat beschrieben werden kann. Eine andere dem „Objektivieren“ entgegengesetzte Möglichkeit ist, sich ausschließlich oder in erster Linie auf die getätigten Äußerungen zu konzentrieren und zu analysieren, wie die einzelnen Äußerungen im Verlauf der Argumentation von den Teilnehmerinnen der Argumentation selbst behandelt werden. Nehmen sie bestimmte Äußerungen als Gründe auf ? Welche Schlussregeln unterstellen sie explizit? Dabei werden implizite Anteile nicht rekonstruiert und analysiert. Ein solcher Blick auf Argumentation, der die Teilnehmerperspektive ins Zentrum rückt, wird unten (Kapitel 5.4) in der Beschreibung des gesprächsanalytischen Zugangs ausführlich dargestellt. Der Nachteil dabei ist, dass Argumentation ja gerade durch die impliziten Anteile bestimmt sein kann, diese dann in die Analyse aber keinen Eingang finden. Eine dritte Position skizziert Kopperschmidt (1989, S. 79 ff.) in Anlehnung an Habermas: die Position eines virtuellen Teilnehmers. In dieser Position wird die Analysierende insofern zur Teilnehmerin, als sie die Gründe als Gründe bewertet und „sich in den zu interpretierenden Argumentationszusammenhang einfädel[t]“ (S. 80). Sie stellt sich nicht außerhalb des Argumentationszusammenhangs, sondern versteht sich selbst als Teilnehmerin und analysiert wie eine solche. Dies beinhaltet die Analyse impliziter Anteile. Der Unterschied zwischen einer aktuellen und einer virtuellen Teilnahme besteht darin, dass die virtuelle Teilnahme handlungsentlastet ist. Die Argumentation hat Konsequenzen für die aktuellen Teilnehmer, nicht aber für den virtuellen Teilnehmer, weder in Bezug auf Handlungsänderungen noch Einstellungsänderungen. Dies erlaubt, so Kopperschmidt, „Verständigungsbeschränkungen und -hemmnisse eher (zu) bemerken“ (S. 81). Daraus folgt dann eine reflektierte Analyse impliziter Aussagen. Implizite Aussagen werden rekonstruiert, aber die Probleme dieser Rekonstruktion werden offengelegt. Abschließend lässt sich sagen, dass die funktionale Mikroanalyse über das einzelne Argument hinausgeführt werden kann, indem längere Argumentationssequenzen rekonstruiert werden. Dabei werden die Beziehungen zwischen einzelnen Aussagen analysiert. Bezugspunkt ist hier in der Regel die Konklusion, also die Antwort auf die globale Streitfrage. Die Analyse der Argumentationsstruktur fragt nach der Verknüpfung verschiedener Argumente innerhalb eines Gesprächs oder eines Diskurses. 5.2.2 Die makrostrukturelle Analyse In diesem Analyseschritt wird zwischen verschiedenen Strukturen der Argumentation unterschieden. Dabei steht im Mittelpunkt, wie einzelne Sequenzen verknüpft und geordnet sind. Grundsätzlich zu unterscheiden in der Analyse von Argumentationssequenzen sind unterordnende und nebenordnende Strukturen. In unterordnenden Strukturen werden Gründe 124 5 Argumentation analysieren durch weitere Gründe gestützt. Folgender Ausschnitt bietet ein Beispiel dafür. Es geht um die Zeugin, die den Mord gesehen haben will. JUROR 10: Sie erstickt fast vor Hitze. So war’s doch? Jedenfalls blickt sie aus dem Fenster und sieht gerade noch, wie das Söhnchen das Messer in seinen Vater stößt. Es ist zehn Minuten nach Mitternacht, auf die Sekunde. Der Beweis ist lückenlos. Die Frau hat den Burschen seit seiner Geburt gekannt. Sein Fenster liegt schräg gegenüber auf der andern Straßenseite, jenseits der Schienen der elektrischen Hochbahn. Und sie hat unter Eid ausgesagt, daß sie den Mord gesehen hat. JUROR 8: Durch die Fenster eines vorbeifahrenden Hochbahnzuges. JUROR 10: Richtig. Aber der Zug war leer und fuhr in Richtung City. Er war auch unbeleuchtet, wenn Sie sich erinnern. Und die Sachverständigen haben uns bewiesen, daß man bei Nacht durch die Fenster eines vorbeifahrenden Hochbahnzuges sehen kann, was auf der anderen Seite vorgeht. Sie haben es bewiesen! Juror 8 macht hier eine Äußerung, die als Problematisierung der Argumentation von Juror 10 interpretiert werden kann. Juror 10 geht auf die Problematisierung ein, indem er darauf verweist, dass es möglich ist, durch die Fenster eines solchen Zugs zu schauen, wenn er leer und unbeleuchtet ist. Das Argument, dass die Frau den Mord gesehen hat, wird also gestützt durch das Argument, dass man durch die Fenster unbeleuchteter Hochbahnen durchschauen kann. Es handelt sich um einen einzelnen Argumentationsstrang. In nebenordnenden Strukturen wird die Konklusion von verschiedenen Gründen gestützt, die auch als einzelne Gründe die Konklusion stützen könnten. 125 5.2 Die funktionale Analyse JUROR 2: Jaja, das weiß ich schon … ich wollte auch nur sagen … na eben, der Mann ist schuldig. Es gibt doch jemand, der die Tat gesehen hat - JUROR 3: Endlich! Sprechen wir endlich über Tatsachen! Lassen wir die persönlichen Gefühle zu Hause! Da ist ein alter Mann, der im zweiten Stock wohnt, direkt unter dem Mordzimmer. Er hat ausgesagt, es habe sich wie ein Kampf angehört, und dann habe der Junge laut gerufen: „Ich bring dich um! “ Er hat es deutlich verstanden! Eine Sekunde später fiel ein Körper zu Boden, und er lief zur Wohnungstür, sah hinaus - und was sah er? Das Bürschlein rannte die Treppe runter und aus dem Haus. Dann holte er die Polizei. Sie fanden den Vater mit einem Messer in der Brust … und der Gerichtsarzt stellte fest, daß der Tod um Mitternacht eingetreten sein muß. - Das sind Tatsachen. Tatsachen lassen sich nicht widerlegen. Der Junge ist schuldig! Daran gibt’s nicht zu rütteln. Ich bin nicht so sentimental wie ein gewisser Herr. Mir ist auch bekannt, daß der Junge erst neunzehn ist, aber das schützt ihn nicht davor, daß er für seine Tat bezahlen muß! JUROR 7: Ganz Ihrer Meinung! JUROR 1: Danke. Der nächste. JUROR 4: Für mich hat nie ein Zweifel bestanden, daß die ganze Geschichte, die uns der Junge aufgetischt hat, doch reichlich fadenscheinig ist. Er behauptet, er sei zur Zeit des Verbrechens im Kino gewesen, und schon eine Stunde später hat er sich nicht mehr erinnern können, welche Filme er gesehen hatte. Ja, sogar die Namen der Stars waren ihm entfallen. Ein bißchen merkwürdig, nicht wahr? JUROR 3: Bitte, da hören Sie es! Sie haben völlig recht. JUROR 10: Und was ist mit der Frau auf der andern Straßenseite? Wenn ihre Aussage nichts beweist, dann können mir alle Beweise gestohlen bleiben. Drei der Geschworenen (Juror 3, 4 und 10) bringen je ein Argument für die Schuld des Jungen vor. Diese drei Argumente sind (eigentlich) voneinander unabhängig. Der alte Mann hat den Kampf gehört und den Jungen rennen gesehen, der Junge weiß nicht mehr in welchem Film er war und die Frau auf der anderen Straßenseite hat den Jungen gesehen. Interessant ist, dass Juror 10 der Aussage der Frau einen höheren Stellenwert einräumt. Dies korrespondiert aber nicht mit einer inhaltlichen Verbindung oder Abhängigkeit zwischen den einzelnen Argumenten. Bei nebengeordneten Argumenten unterscheiden van Eemeren und Snoeck Henkemans (2017, S. 60) weiter zwischen multipler und koordinierter Argumentation. In multipler Argumentation sind ähnlich starke Argumente nebeneinander geordnet; sollte ein Grund widerlegt werden können, folgt daraus noch nicht, dass die Argumentation an sich widerlegt ist bzw. die Konklusion nicht mehr gezogen werden kann. In koordinierter Argumentation hingegen sind die verschiedenen nebengeordneten Gründe an sich nicht stark genug, um die Konklusion zu stützen; fällt ein Grund weg, kann die gesamte Argumentation nicht aufrecht erhalten werden. Die Unterscheidung zwischen multipler und koordinierter Argumentation ist nicht immer einfach, wie van Eemeren und Snoeck Henkemans selbst einräumen (vgl. S. 63). Sie greifen für die Analyse in erster Linie auf die sprachlichen Verknüpfungen 126 5 Argumentation analysieren zwischen den einzelnen Aussagen zurück. Die Analyse nimmt also in den Blick, wie stark die Sprecherin die einzelnen Aussagen verknüpft und in welchem Verhältnis sie sie darstellt. Van Eemeren und Snoeck Henkemans (2017) wählen eine einfache diagrammatische Form zur Darstellung dieser Beziehungen zwischen Aussagen, die hier auf das Beispiel der „Zwölf Geschworenen“ übertragen ist. Eine weitere Darstellungsform einer makrostrukturellen Argumentationsanalyse bietet der Baumgraph, den Klein (1980) aus der Linguistik, genauer aus der Syntaxtheorie entlehnt. Im Baumgraph stellt die Spitze die Wurzel dar, das heißt, der obere Teil entspricht dem unteren eines natürlichen Baumes. Dort steht die Antwort auf die Quaestio, also die übergeordnete Konklusion. Im Beispiel könnte ein Baumgraph orientiert sein auf die Konklusion: Der Junge ist schuldig. Der Wurzel untergeordnet sind die Knoten des Baumes, einzelne Aussagen der Argumentation, die auf verschiedene Weise koordiniert und über Kanten verbunden sind. Dabei stellt eine Kante (Verbindung zwischen Knoten) bei Klein (1980, S. 26) die stützende 127 5.2 Die funktionale Analyse Funktion einer Aussage für die folgende dar. Für die Darstellung werden in der Regel die Aussagen durch Symbole ersetzt und auf Basis der Segmentierung der einzelnen Aussagen (siehe unten) nummeriert. Diese Nummerierung ist hier von Klein übernommen; sie wird dort ohne aktuelle Datengrundlage beispielhaft genutzt. Abb. 5 Baumgraph nach Klein (1980, S. 26) Was der Baumgraph nicht leistet, ist die Darstellung von Gegenargumentationen. Gegenargumente spielen aber in vielen, vor allem stärker agonal ausgerichteten, Argumentationen eine zentrale Rolle. Gegenargumente werden von Argumentierenden häufig eingeführt und widerlegt, um die eigene Konklusion zu stärken. Pragmatisch hat dies eine wichtige Funktion, die sich mit dem Baumgraph aber nicht abbilden lässt. Wunderlich (1980) bietet eine Weiterentwicklung, in der er Ansätze von Naess (1975) und Klein (1980) aufnimmt. Diese Darstellung bezieht auch die Argumente der Opponentin mit ein. Die Konklusion der Opponentin ist mit ~q gekennzeichnet, ihre Aussagen mit c 1 , c 2 ,-…. c n . Wie oben bei Klein ist auch hier die Nummerierung als Beispiel zu verstehen. 128 5 Argumentation analysieren Abb. 6 Baumgraph nach Wunderlich (1980, S. 112) Für das Beispiel aus „Die zwölf Geschworenen“ sind Baumgraphen relativ leicht zu konstruieren, da es eine klare Entscheidungsfrage gibt, auf die die Teilnehmer eine Antwort finden müssen: Schuldig oder nicht? Bei Argumentation in anderen Feldern ist das nicht immer so leicht, da sich häufiger Quaestioverschiebungen finden lassen. Eine ähnliche Form der Analyse von Argumentationssequenzen bietet Kopperschmidts Modell unter der Überschrift „Makrostrukturelle Analyse“. Hier werden einzelne Argumentationsstränge in einer Verbindung von Baumgraph und Symbolen für die „Argumentationsverhältnisse“ (Kopperschmidt, 1989, S. 218) dargestellt. Dabei führt er Symbole ein, die die Verhältnisse zwischen den Aussagen darstellen: Pfeile für stützende Beziehungen und invertierte Pfeile für schwächende Beziehungen. Das Beispiel zeigt eine Verbindung von Argumentationssträngen und damit nicht nur eine makrostrukturelle Analyse, sondern eine, so Kopperschmidt, „Rekonstruktion der Globalargumentation“ (1989, S. 227). Das Beispiel zeigt zwei Argumentationsstränge, die als Gegenargumentation zu Aussage 1 dienen, daher die invertierten Pfeile, die auf Aussage 1 weisen. Hier beziehen sich die Nummern auf das Beispiel im Original bei Kopperschmidt. 129 5.2 Die funktionale Analyse Abb. 7 Rekonstruktion der Globalargumentation nach Kopperschmidt (1989, S. 227) Neben diesen analogen Möglichkeiten der graphischen Darstellung von Argumentationssequenzen, gibt es seit ein paar Jahren eine computergestützte Variante. Mit dem Computerprogramm argunet (www.argunet.org) liegt ein Modell zur Argumentationsanalyse von Gregor Betz, David Schneider und Christian Voigt (2007) vor. Eine Darstellung des gesamten Beispiels in Form einer makrostrukturellen Analyse findet sich im Onlinematerial für dieses Studienbuch. Für die Darstellung der Makrostruktur der Argumentation gilt, dass sie die Argumentation insoweit ent-situiert, als die zeitliche Abfolge sich darin nicht mehr darstellen lässt. Damit bietet diese Darstellung zwar einen Blick auf Argumentation, aber immer nur als Produkt: eine Sicht aus der logischen Perspektive nach Wenzel (1980). 130 5 Argumentation analysieren 5.2.3 Das pragma-dialektische Analysemodell zwischen Mikro- und Makroanalyse Die Pragma-Dialektik bietet einen in sich geschlossenen Ansatz zur Argumentationsanalyse, der die Mikro- und Makroanalyse der Argumentation koppelt. Dieser Ansatz kann hier nicht vollständig dargestellt werden (vgl. aber van Eemeren & Snoeck Henckemans, 2017), soll aber kurz in seinen Grundlagen umrissen werden. Für die Pragma-Dialektik formulieren van Eemeren und Grootendorst vier Grundlagen der Argumentationsanalyse, die sich auf die funktionale Analyse von Argumenten beziehen lassen. Sie fassen diese vier Analyseschritte als dialektische oder rekonstruktive Transformationen. Dargestellt und exemplarisch durchgeführt wird die Analyse innerhalb des pragma-dialektischen Rahmens u. a. in van Eemeren, Grootendorst, Jackson und Jacobs (1993). Diese Arbeit ist deshalb besonders interessant, weil sie versucht, konversationsanalytische und normativ-dialektische Ansätze zu verbinden. Die vier grundlegenden Operationen der Argumentationsanalyse nach pragma-dialektischem Muster sind: ▶ Deletion / Löschung ▶ Addition / Hinzufügung ▶ Permutation / Neuordnung ▶ Substitution / Ersetzung (vgl. van Eemeren et al., 1993, S. 61 f.) Mit Löschung ist gemeint, dass in die Analyse nur die Äußerungen aufgenommen werden, die sich auf die Lösung der Streitfrage und auf den Prozess der Kritischen Diskussion beziehen. Mehrfach geäußerte Aussagen und nicht-argumentative Anteile werden aus der Analyse getilgt. Durch die Hinzufügung werden implizite Aussagen rekonstruiert und in die Analyse eingesetzt. Die Neuordnung bringt die einzelnen Aussagen in den funktionalen Zusammenhang und ordnet sie nach dem Modell der Kritischen Diskussion. Damit entspricht die Abfolge von Aussagen in der Analyse nicht notwendigerweise der im Ausgangsmaterial. Im Prozess der Ersetzung schließlich werden die Aussagen in Bezug auf ihre Funktion innerhalb der Argumentation und der Kritischen Diskussion reformuliert. Das umfasst auch die Reformulierung von ambigen und vagen Formulierungen: „Ambiguous or vague formulations are replaced by well defined and more precise standard phrases, giving elements that fulfill exactly the same function in the discourse but are phrased differently the same formulation“ (van Eemeren, 2007, S. 364). Auch wenn dieses Modell linear anmuten mag, so betont van Eemeren (ebd.) doch, dass es sich um ein zyklisches Vorgehen handelt, in dem alle Phasen immer wieder miteinander in Bezug gesetzt werden. Dieses Analysemodell orientiert sich an dem Modell der Kritischen Diskussion. Diese Orientierung hilft bei der Aufgabe, implizite Anteile zu rekonstruieren, da sie im Sinne des Modells rekonstruiert werden können. Damit handelt es sich um eine normative Form der Analyse. Dies wird besonders deutlich im ersten Schritt, der Löschung. Dieser Analyseschritt ist aus Sicht des pragma-dialektischen Modells folgerichtig, für andere Analyseansätze wie dem gesprächsanalytischen hingegen würde etwa die Mehrfachnennung eines Arguments beispielsweise als bedeutsames Insistieren eines Gesprächspartners in die Analyse einbezo- 131 5.3 Analyse der Topoi gen. Für die umfassende Einführung in das Analysemodell der Pragma-Dialektik sei hier auf das Buch „Argumentation. Analysis and Evaluation“ von van Eemeren und Snoeck Henkemans (2017) verwiesen, das den Charakter eines Einführungs- und Übungsbuches hat. 5.3 Analyse der Topoi In Kapitel 4 wurde im Rahmen des rhetorischen Argumentationsverständnisses die Topik eingeführt, mit der zentralen Unterscheidung in formale und materiale Topoi. Formale Topoi sind unabhängig vom Gegenstand der Argumentation und können in jeder Argumentation verwendet werden, materiale Topoi sind an bestimmte Argumentationsfelder gebunden und stellen inhaltliche Kategorien dar. Die formalen Topoi werden häufig auch Argumentationsschemata genannt. So ergeben sich zwei verschiedene Analysemöglichkeiten: die Analyse der Argumentationsschemata und die Analyse der materialen Topoi, der inhaltlichen Konzepte. Damit bewegt sich die topische Analyse zwischen der Mikro- und der Makroebene der Argumentation. Zur Mikroebene gehört sie, wenn die Analyse sich auf das einzelne Argument konzentriert, zur Makroebene, wenn die Topoi innerhalb einer längeren Argumentationssequenz untersucht werden. In der Arbeit zur Argumentationsanalyse von Kopperschmidt (1989) wird die Topik in zwei Abschnitten behandelt und korrespondiert mit der formalen und der materialen Argumentationsanalyse. Dabei untersucht die formale Analyse die Argumentationsschemata, die materiale die materialen Topoi. Beide Ebenen fragen nach der Möglichkeit des Übergangs vom Grund zur Konklusion: Welche formale und / oder inhaltliche Struktur verbindet diese beiden Funktionen? Damit ist die topische Analyse der Argumentation innerhalb der funktionalen Analyse häufig in der Rekonstruktion impliziter Aussagen aufgehoben. Die Analyse der Topoi fragt nach den formalen Übergangsbedingungen zwischen Grund und Konklusion (Argumentationsschemata) und nach der inhaltlichen / konzeptionellen Verbindung von Grund und Konklusion (materiale Topik). In den folgenden zwei Kapiteln wird die Analyse der formalen und materialen Topoi getrennt voneinander behandelt. Wichtig ist, dass sich innerhalb derselben argumentativen Sequenz häufig sowohl ein materialer als auch ein formaler Topos rekonstruieren lassen. 5.3.1 Analyse der Argumentationsschemata (der formalen Topoi) Die Basis für die Analyse der Argumentationsschemata kann eines der Systeme sein, die in Kapitel 4.3.5 vorgestellt wurden, beispielsweise die Systematisierung nach Perelman und Olbrechts-Tyteca (2004a, 2004b) oder Kienpointner (1992). Hier soll ein Auszug der Systematisierung Kienpointners analysiert werden. 132 5 Argumentation analysieren JUROR 8: Sie haben gesagt, daß sich ein Motiv für den Mord daraus ergeben könnte. Genau wie der Staatsanwalt. Nur, ich habe den Eindruck, daß es kein sehr stichhaltiges Motiv ist. Der Junge ist so oft in seinem Leben geprügelt worden, daß Prügel sozusagen sein tägliches Brot waren. Es überzeugt mich nicht, daß ihn plötzlich zwei Ohrfeigen so reizen sollen, daß er deswegen gleich zum Mörder wird. JUROR 4: Es können zwei zuviel gewesen sein. Bei jedem ist das Maß einmal voll. Juror 8 stellt fest, dass der Junge oft geschlagen wurde (Grund) und damit das Schlagen nicht der Auslöser, das Motiv für einen vermeintlichen Gewaltakt sein könne (Konklusion). Frei formulieren ließe sich der Übergang als „wenn jemand häufig etwas erlebt und dies zu einem bestimmten Handeln führt, wird das gleiche Erleben auch weiterhin zu diesem Handeln führen“. Das Handeln wäre in diesem Fall das Ausbleiben einer Folge: Die Tatsache, dass der Junge seinen Vater nicht angreift, nachdem dieser ihn geprügelt hat. Nach Kienpointner (1992, S. 337) handelt es sich hier um ein Schlussregel-benützendes Schema und genauer um ein Kausalschema der Vorhersagen im Sinne des Schlusses von Handlungen auf die Folgen. Juror 8 nutzt dieses Schema und unterstellt damit das regelmäßige Verhältnis von Handlung (Schlagen) und Folge (keine Reaktion). Juror 4 problematisiert dieses Schema (für diesen Fall), strittig wird also nicht der gegebene Grund, sondern der Übergang. Juror 4 argumentiert mit dem Phraseologismus „Bei jedem ist das Maß einmal voll“. Damit nutzt er auch ein Schlussschema von Handlungen auf Folgen, allerdings mit einer qualitativen Bestimmung. Je öfter etwas geschieht, desto wahrscheinlicher ist es, dass es eine Wirkung zeigt. Die Redewendung, dass „bei jedem einmal das Maß voll ist“, impliziert sogar einen punktuellen Umschwung im Handeln. Eine Analyse der Argumentationsschemata könnte nun für eine zu untersuchende argumentative Sequenz die verschiedenen Argumentationsschemata rekonstruieren und sie zu anderen Parametern ins Verhältnis setzen (zum Feld, zum Kontext, zum Thema, zur Phase der Argumentation u. ä.). So unterscheidet beispielweise Schwarze (2010) in einer Toposanalyse von Mutter-Tochter-Konfliktgesprächen zwischen Topoi, die gemeinsam durch die Teilnehmerinnen produziert werden, und solchen, die individuell vorgebracht werden. 5.3.2 Analyse der materialen Topoi Die Analyse der materialen Topoi bezieht sich auf die inhaltliche Dimension der Argumentation. Kopperschmidt (1989) bezeichnet sie als die „Rekonstruktion des kategorialen Sprachsystems, dem eine Problemreflexion immer schon angehört“ (S. 143). Damit beschreibt die materiale Analyse das Feld bzw. die Felder von denen aus argumentiert wird. Im Beispiel argumentieren die Geschworenen 8 und 3, die insbesondere zu Beginn Antagonisten sind, von dem gleichen materialen Topos aus: der Herkunft. 133 5.3 Analyse der Topoi JUROR 8: Ich weiß nur, daß dieser Junge sein ganzes Leben herumgestoßen wurde. Er ist in einem Elendsviertel aufgewachsen, hat früh seine Mutter verloren. Damals war er neun Jahre alt. Für anderthalb Jahre hat man ihn in ein Waisenhaus gesteckt, weil sein Vater eine Gefängnisstrafe absitzen mußte. Wegen Scheckfälschung, stimmt’s? Ja, das ist kein gutes Sprungbrett fürs Leben. Juror 8 führt an, dass die Herkunft des Jungen und die Art wie er aufgewachsen ist relevant sind für die Bewertung des Falles und die Entscheidung. Er argumentiert nicht dafür, dass der Junge unschuldig ist. Vielmehr prüft Juror 8 mit diesen Argumenten, ob er wirklich schuldig ist. Mit diesem Argument setzt er die Herkunft des Jungen relevant und führt sie als geltend ein. Dies wird in der Runde aufgenommen, aber auch für die Konklusion verwendet, dass der Junge schuldig ist. JUROR 10: Ich bin gerührt. Denken Sie von mir was Sie wollen! Aber wir schulden ihm nicht so viel. - Er hat ein saubres Verfahren bekommen. Glauben Sie das ist umsonst? […] Er kann froh sein, daß wir so freigiebig waren. Stimmt’s? Wir sind doch keine Quäker! Wir haben die Tatsachen gehört - und jetzt wollen Sie uns weismachen, daß wir dem Bürschlein glauben sollen! Mir kann der nichts vormachen, nicht so viel - nicht das Schwarze unter dem Nagel glaube ich dem. Ich habe lange genug unter ihnen gelebt, ich kenne sie in- und auswendig. Die sind geborene Verbrecher, alle durch die Bank! Untermenschen! Beide Geschworenen teilen also die Annahme, dass die Herkunft des Jungen relevant ist, nur fassen sie diese Kategorie sehr unterschiedlich. Juror 8 fasst die Herkunft als die Situation, in der jemand heranwächst, Juror 3 fasst die Herkunft als ein essentielles Merkmal einer Person. Eine weitergehende Analyse könnte die Frage stellen, wie die Herkunft des Angeklagten in der Beratung argumentativ genutzt wird und wie sich dieser Topos im Gespräch entwickelt. Er ließe sich also durch den Diskurs verfolgen (vgl. dazu auch Kapitel 5.5 Ethnografie der Argumentation). Im Beispiel oben ziehen die beiden Geschworenen zwar widerstreitende Konklusionen aus demselben Topos, die Relevanz des Topos wird aber nicht strittig. Eine materiale Analyse kann auch darauf fokussieren-- oder bei der Analyse darüber stolpern--, wie Topoi abgelehnt werden und damit verhandelt wird, was in einem Feld gilt. Topoi aus verschiedenen Feldern können innerhalb eines Diskurses in unterschiedlichen Verhältnissen zueinander stehen (vgl. Hannken-Illjes, 2006a). Das Beispiel oben zeigt, wie aus einem Feld heraus argumentiert wird. Es können aber auch unterschiedliche Felder aufeinandertreffen, wie im folgenden Beispiel zu sehen ist. 134 5 Argumentation analysieren JUROR 2: Ja … was soll ich sagen … das ist gar nicht so leicht … ich … ja er ist sicher schuldig. Das ist doch von Anfang an klar gewesen … einen Gegenbeweis hat bisher niemand erbracht. JUROR 8: Den braucht auch niemand zu erbringen. Die Beweislast obliegt allein dem Gericht. So steht es in unserer Verfassung. Sie brauchen nur nachzulesen. Juror 2 argumentiert alltagslogisch durchaus plausibel. Da die Regeln der Beweislast im Strafverfahren sich nicht auf Alltagsargumentation übertragen lassen (vgl. Kauffeld zu Präsumtionen, Kapitel 3.4), wäre ein solches Argument außerhalb des Gerichtssaals durchaus relevant (zumindest nicht klar irrelevant). Im rechtlichen Feld und speziell im Strafverfahren kann es keine Geltung beanspruchen. Damit treffen hier zwei Felder aufeinander. In der Argumentation wird mit der Verhandlung, welcher Topos gilt, auch implizit verhandelt, aus welchem Feld heraus argumentiert wird. Die materiale Analyse changiert zwischen Mikro- und Makroanalyse. Sie ist dann relevant, wenn die Analysierende sich für die Geltungsbasis innerhalb einer Argumentation interessiert. Was nehmen die Argumentierenden als geltend an, aus welchem Feld heraus argumentieren sie? Damit startet eine solche Analyse immer von einer Mikroanalyse, denn der Topos ist ja im einzelnen Argument aufzufinden, zugleich wird eine materiale Toposanalyse dann interessant, wenn die verschiedenen Topoi kartiert und in Beziehung gebracht werden. 5.4 Die gesprächsanalytische Argumentationsanalyse Einen grundsätzlich anderen, in den letzten Jahren immer einflussreicheren Ansatz zur Analyse von Argumentation bieten die Gesprächsforschung und die Gesprächsanalyse. Die Gesprächsanalyse untersucht natürlichsprachliche Argumentation in Interaktionen. In der Regel arbeitet sie dabei mit natürlichen Daten, d. h. Daten die auch ohne das Zutun der Forscherin entstanden wären (im Gegensatz zu elizitierten-- hervorgerufenen-- Daten). Gesprächsanalytische Arbeiten interessieren sich für das Argumentieren in Gesprächen und nehmen explizit eine Prozessperspektive für sich in Anspruch. Sie sind damit in erster Linie der rhetorischen Perspektive zuzuordnen. So gut wie allen gesprächsanalytischen Studien zur Argumentation ist gemein, dass sie auf das Empiriedefizit der Argumentationswissenschaft verweisen. War dieser Befund in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts sicher noch richtig, so finden in den letzten Jahren immer stärker empirische Arbeiten Eingang in die Argumentationswissenschaft. Dies ist nicht zuletzt das Verdienst der Gesprächsforscher selbst, die sich der Argumentation gewidmet haben. Die gesprächsanalytische Argumentationsanalyse liegt quer zu den bisher eingeführten analytischen Ansätzen. Denn sie untersucht alle Bereiche der Argumentation: die Konstitution der Quaestio, die Topoi, die Makrostruktur einer längeren Sequenz etc. Spezifisch ist ihre methodische Herangehensweise, nicht ein spezieller Fokus innerhalb der Argumentation. 135 5.4 Die gesprächsanalytische Argumentationsanalyse Die Gesprächsanalyse untersucht natürlichsprachliche Argumentation in Interaktionen. Gesprächsanalytische Arbeiten interessieren sich für das Argumentieren in Gesprächen und nehmen eine Prozessperspektive ein. Die vorliegende Einführung bietet nicht den Raum, zugleich eine Einführung in die Gesprächsforschung und Gesprächsanalyse zu geben. Ein kurzer Abriss mit Verweis auf die weiterführende Literatur scheint zur Einordnung aber dennoch sinnvoll. Die Gesprächsanalyse ist methodologisch eng verwandt, und für manche Autoren auch deckungsgleich, mit der Konversationsanalyse. Die Konversationsanalyse wiederum ist ethnomethodologisch fundiert und firmiert häufig unter dem Label „ethnomethodologische Konversationsanalyse“. Die Ethnomethodologie-- eingeführt durch Garfinkel (1967) und in Richtung der Konversationsanalyse entwickelt von Sacks, Schegloff und Jefferson (vgl. u. a. 1974)-- ist eine soziologische Vorgehensweise, die implizite soziale Methoden und Regeln auffinden will, welche von Teilnehmerinnen genutzt werden, um soziale Ordnung herzustellen. Der Fokus liegt dabei in der Regel auf einer mikrosoziologischen Perspektive. Es wird also soziale Interaktion im Alltag untersucht. Soziale Ordnung wäre damit nichts a priori Gegebenes, sondern müsste immer wieder durch spezifische Praktiken vollzogen werden. Am Beispiel der zwölf Geschworenen könnte man analysieren, wie Juror 1 seine Rolle als Obmann und damit Leiter der Diskussion herstellt. Wie genau geht er vor, um diese Rolle auszufüllen und diese Position zu behaupten? Ethnomethodologische Fragen sind häufig Wie-Fragen. Aus einer ethnomethodologischen Sicht interessiert die Forscherin also nicht so sehr warum jemand etwas tut, sondern wie jemand etwas tut: Wie alltägliche Handlungen vollzogen werden, wie und als was die Teilnehmerinnen diese Handlungen bearbeiten und welche Regeln sich daraus ableiten lassen. Zu Grunde liegt hier die Annahme, dass alle Teilnehmerinnen in sozialen Situationen über Methoden verfügen, um alltägliche Probleme zu lösen. Damit fragt die Ethnomethodologie nach Phänomenen, die für die Teilnehmer eigentlich unproblematisch sind, solange die Ordnung nicht irritiert wird. Irritation bietet die Möglichkeit, Regeln und Methoden zu explizieren. Diese Irritation hat Garfinkel (1967) mit sogenannten Krisenexperimenten provoziert. Implizite, soziale Regeln lassen sich unter anderem dadurch beobachten, dass sie gebrochen und dadurch andere Teilnehmer verunsichert werden. Im Beispiel findet sich eine solche Irritation. 136 5 Argumentation analysieren JUROR 8: Ich brauche vielleicht eine Stunde. - Das Baseball-Match fängt ja nicht vor acht Uhr an. … JUROR 9: Ich habe nichts dagegen, daß wir eine Stunde hier bleiben. JUROR 10: Idiot! - Entschuldigen Sie, es ist mir so rausgerutscht! JUROR 9: Bitte, bitte, tun Sie sich keinen Zwang an. JUROR 10: Ich nehme Sie beim Wort. Gestern abend habe ich einen guten Witz gehört … JUROR 8: Dazu sind wir nicht hier. JUROR 10: Gut, gut, gut, dann klären Sie mich auf, warum wir hier sind. Oder wissen Sie es selber nicht? Juror 8 stellt fest, dass er nicht weiß, ob der Angeklagte schuldig ist oder nicht, dass er aber einfach über die Gründe, die dafür und dagegen stehen, sprechen will. Für eine Stunde. Nach der Bestätigung von Juror 9, dass auch er bereit wäre, für eine Stunde zu bleiben, beginnt Juror 10 einen Witz zu erzählen. Dies wird von Juror 8 als unangemessen markiert: eine Jury- Beratung ist nicht der Ort zum Erzählen von Witzen. 5.4.1 Die Ebenen der Handlungskonstitution nach Kallmeyer Die Grundlage für die Gesprächsanalyse ist also das Interesse daran, wie Menschen Gespräche organisieren. Die Gesprächsanalyse bestimmt sich durch einen spezifischen Blick auf das Gespräch und leitet daraus ab, wie Gespräche untersucht werden sollten, um die Funktion verschiedener sprachlich-kommunikativer Formen zu analysieren. Ein Gespräch bestimmt sich in fast allen Definitionen grundlegend dadurch, dass mehr als eine Person das Rederecht beanspruchen kann, also ein Wechsel der Sprecher- und Hörerinnenrolle auftritt, und dass es eine thematische Zentrierung gibt. Als Grundannahmen der Gesprächsanalyse nennt Kallmeyer (1996) die folgenden Gesichtspunkte: ▶ „Das individuelle Handeln ist prinzipiell abhängig von der Kooperation anderer. ▶ Interaktion hat Prozeßcharakter und beinhaltet grundsätzlich die Möglichkeit zu ‚situationsemergenten‘ Entwicklungen. ▶ Die Beteiligten verstehen das laufende Geschehen im Prinzip nur partiell. ▶ Ihre Möglichkeiten, das Geschehen zu kontrollieren, sind prinzipiell begrenzt.“ (Kallmeyer, 1996, S. 9) Diese vier Aspekte stehen in deutlichem Kontrast zu anderen rhetorischen Sichtweisen, die davon ausgehen, dass die Rednerin durch bestimmte rhetorische Verfahren in der Lage ist, eine Situation zu kontrollieren und dadurch ein angestrebtes kommunikatives Ziel zu erreichen (vgl. z. B. Knape, 2009). Die Grundannahmen des gesprächsanalytischen Vorgehens werden noch einmal deutlich mit Blick auf die Merkmale von Gesprächen, wie Deppermann (2008) sie formuliert: 137 5.4 Die gesprächsanalytische Argumentationsanalyse ▶ „Konstitutivität: Gesprächsereignisse werden von den Gesprächsteilnehmern aktiv hergestellt. ▶ Prozessualität: Gespräche sind zeitliche Gebilde, die durch die Abfolge von Aktivitäten entstehen. ▶ Interaktivität: Gespräche bestehen aus wechselseitig aufeinander bezogenen Beiträgen von Gesprächsteilnehmern. ▶ Methodizität: Gesprächsteilnehmer benutzen typische, kulturell (mehr oder weniger) verbreitete, d. h. für andere erkennbare und verständliche Methoden, mit denen sie Beiträge konstruieren und interpretieren sowie ihren Austausch miteinander organisieren. ▶ Pragmazität: Teilnehmer verfolgen in Gesprächen gemeinsame und individuelle Zwecke, und sie bearbeiten Probleme und Aufgaben, die unter anderem bei der Organisation des Gesprächs selbst entstehen.“ (Deppermann, 2008, S. 8 f.) Ein wichtiger Aspekt in der Argumentationsanalyse aus gesprächsanalytischer Sicht ist, dass Argumentation hier nicht isoliert von anderen kommunikativen und interaktionalen Phänomenen behandelt wird. Kallmeyer (1985) formuliert sechs Ebenen der Interaktionskonstitution, auf die in der Literatur Bezug genommen wird. Diese Ebenen zeigen zum einen die Bereiche, die Teilnehmer in einem Gespräch bearbeiten müssen. Zum anderen machen sie aber auch eine Grundannahme ethnomethodologischer und gesprächsanalytischer Forschung deutlich: In Alltagssituationen sind wir ständig mit impliziten Aufgaben konfrontiert-- man könnte schärfend von Problemen sprechen- -, die wir bearbeiten müssen. Überlicherweise fallen uns weder die Aufgaben noch ihre Bearbeitung auf, noch werden sie von uns reflektiert. Die Ebenen der Interaktionskonstitution nach Kallmeyer sind (vgl. Kallmeyer, 1985): ▶ die Ebene der Gesprächsorganisation ▶ die Darstellung von Sachverhalten ▶ das Handeln ▶ soziale Beziehungen und Identitäten ▶ die Modalität ▶ die Herstellung von Reziprozität Auf der Ebene der Gesprächsorganisation bearbeiten Teilnehmerinnen die formalen Abläufe des Gesprächs, wie zum Beispiel den Sprecherwechsel. Diese Ebene ist in der Argumentationstheorie häufig Gegenstand dialektischer Regeln. Die Ebene der Sachverhaltsdarstellung betrifft die Themenbearbeitung und -entfaltung durch verschiedene Vertextungsformen wie Erzählen, Argumentieren und Beschreiben. Diese Ebene ist damit für das Argumentieren besonders relevant. Das Handeln bezieht sich auf die Ziele des Gesprächs, die die einzelnen Teilnehmerinnen, aber auch die Teilnehmer gemeinsam verfolgen. Diese Ebene ist für die rhetorische Perspektive besonders relevant. Eine weitere Ebene, die bearbeitet werden muss, ist die der Beziehung und der Identitäten. Die Teilnehmer müssen im Gespräch ihre Beziehung zueinander definieren und sich selbst und die anderen „als jemanden“ positionieren. Dieser Aspekt ist insbesondere im Verhältnis zu dialektischen Perspektiven interessant, da hier häufig spezifische Rollen vorgegeben werden: Proponent und Opponent 138 5 Argumentation analysieren in der Pragma-Dialektik, die Annahme der Einebnung von Hierarchien im Diskurs in der Idealen Sprechsituation bei Habermas. Im Gegensatz zu diesen dialektischen Ansätzen beschreibt die Gesprächsanalyse, welche Beziehungen und Identitäten sich innerhalb eines Gesprächs konstituieren, nicht welche sich konstituieren sollten. Dennoch kann eine Kombination beider Blickwinkel durch den Abgleich von normativem Anspruch und aktuellem Verhalten fruchtbar sein. Die Ebene der Modalität betrifft die Art des Realitätsbezugs und die emotionale Beteiligung. Insbesondere die Emotionen können für die Argumentation relevant sein (vgl. u. a. Gilbert, 1997). Die Herstellung der Reziprozität schließlich ist zentraler Gegenstand der Argumentation: die Herstellung von Verständigung und Kooperation. Der Grad der Herstellung von Kooperation hängt hier vom Ziel der Argumentation ab. Wenn die Argumentation darauf zielt eine Streitfrage zu schärfen, wird diese Ebene anders bearbeitet werden als in einer lösungsorientierten, explorativen Argumentation. Agonalität wird hier also nicht a priori für jede Form von Argumentation angenommen, sondern muss von den Teilnehmerinnen selbst hergestellt werden. 5.4.2 Argumentation aus gesprächsanalytischer Sicht Nach diesen grundlegenden Bemerkungen zur Gesprächsanalyse im Allgemeinen soll nun der Blick auf die Untersuchung der Argumentation innerhalb der Gesprächsanalyse gerichtet werden. Die Aufgaben auf den Ebenen nach Kallmeyer müssen die Gesprächsteilnehmerinnen immer parallel bearbeiten, wobei einzelne Ebenen im Vordergrund stehen können. Argumentieren im Gespräch bezieht sich in erster Linie auf die zweite Ebene: die Sachverhaltsdarstellung, da Argumentation dann ein relevantes Mittel wird, wenn eine Äußerung bestritten wird. Argumentation dient dazu, darzustellen, dass ein Sachverhalt plausibel ist. Doch wenn Argumentation im Gespräch auch vorrangig dieser Ebene zuzuordnen ist, so müssen auch während des Argumentierens die anderen Ebenen mit bearbeitet werden und können für eine Argumentationsanalyse sehr relevant sein. JUROR 1: Also einmal reihum! […] Zwei Minuten pro Kopf. Sie sind der erste. JUROR 2: Ja … was soll ich sagen … das ist gar nicht so leicht … ich … ja er ist sicher schuldig. Das ist doch von Anfang an klar gewesen … einen Gegenbeweis hat bisher niemand erbracht. JUROR 8: Den braucht auch niemand zu erbringen. Die Beweislast obliegt allein dem Gericht. So steht es in unserer Verfassung. Sie brauchen nur nachzulesen. JUROR 2: Jaja, das weiß ich schon … ich wollte auch nur sagen … na eben, der Mann ist schuldig. Es gibt doch jemand, der die Tat gesehen hat - Dieser gesamte Gesprächsausschnitt ist klar als Argumentation gekennzeichnet, er wurde in diesem Buch auch schon einige Male als Beispiel analysiert. Die Mitglieder der Jury gehen reihum, um Juror 8 davon zu überzeugen, dass der Angeklagte schuldig ist. Juror 2 versucht dies mit dem Verweis darauf, dass der Gegenbeweis nicht erbracht wurde. Dieses Argument 139 5.4 Die gesprächsanalytische Argumentationsanalyse wird von Juror 8 abgelehnt, mit dem Verweis auf die Verfassung, in der dies auch nachzulesen sei. Dies lässt sich nun als Gesprächsarbeit auf der Ebene der Sachverhaltsdarstellung sehen (Ist er schuldig? Welche Gründe können dafür angeführt werden? Welche nicht? ), zugleich scheint Juror 2 die Äußerung von Juror 8 als Gesichtsbedrohung zu sehen. Er nimmt seinen Einwand schnell zurück, im Film spricht die Figur leise, hält keinen Blickkontakt. Darauf folgt dann ein weiterer Grund, der von Juror 3 sofort übernommen wird. Man könnte also sagen, dass hier zum einen die Ebene der Sachverhaltsdarstellung im Vordergrund steht, aber auch die Verhandlung sozialer Positionen und Identitäten eine Rolle spielt. Nun soll nur die Argumentation in den Blick genommen werden. Für die Argumentation innerhalb des Gesprächs hat Spranz-Fogasy (2006) ein Modell vorgelegt, das den sequentiellen Ablauf von Argumentation im Gespräch nachvollzieht. Dabei resultiert Argumentation aus seiner Sicht aus einem Darstellungsdefizit innerhalb eines übergeordneten Handlungsrahmens. Durch Argumentation wird das Verfolgen der eigentlichen Handlung unterbrochen. Abb. 8 Sequenzschema der Argumentation nach Spranz-Fogasy (2006, S. 31) Argumentation ist hier ein Reparaturmechanismus, wenn Handeln nicht weiter möglich ist. Auch wenn Spranz-Fogasy diese Verbindung selbst nicht herstellt, so erinnert diese Einbettung doch an Habermas’ Unterscheidung von kommunikativem Handeln und Diskurs: Kommunikatives Handeln wird unterbrochen, wenn ein Geltungsanspruch strittig wird (hier bei Spranz-Fogasy: ein Darstellungsdefizit auftritt). Dieser Geltungsanspruch kann-- je nach Art-- diskursiv eingelöst werden, also durch Argumentation bearbeitet werden. Erst wenn dies geschehen ist, kann wieder auf die Ebene des kommunikativen Handelns gewechselt werden. Damit soll nicht unterstellt werden, dass das Modell Spranz-Fogasys eine Variante der Theorie Habermas’ in neuer Terminologie wäre. Dazu sind die methodologischen Grundannahmen zu weit voneinander entfernt. Vielmehr machen diese Parallelen deutlich, dass 140 5 Argumentation analysieren Argumentation eine besondere Funktion einnimmt: die (Wieder-)Herstellung von Geltung in einem Feld. Diese Funktion ist unabhängig vom theoretischen Ansatz, den man wählt. Die interne Struktur des Argumentierens umfasst bei Spranz-Fogasy (2006, S. 32 f.) fünf Schritte: 1. Die Auslösehandlung: die Handlung, die von einer anderen Teilnehmerin problematisiert wird. 2. Die Dissensmarkierungsbzw. Auslösehandlung: die Handlung, die den Dissens in Bezug auf 1. ausdrückt. Spranz-Fogasy spricht von einer verbalen Handlung, Dissens kann aber auch extraverbal ausgedrückt werden. 3. Die Darlegungshandlung: die Kernhandlung der Argumentationsstruktur, das Geben und Nehmen von Gründen. Diese kann einfach sein (bsp. eine einzelne Begründung), kann aber auch expandieren zu längeren, auch komplexer konstruierten Darlegungshandlungen in Bezug auf die strittige Position. 4. Die Akzeptanz: die Übernahme einer bis dahin strittigen Position. 5. Die Ratifikation: die „Positionsinhaberin“ ratifiziert die Akzeptanz, die Position ist im lokalen Gesprächskontext gültig. Im Beispiel findet sich nur ein Abschnitt, an dem sich die volle Form zeigen lässt. In den anderen Abschnitten befinden sich die Teilnehmer noch in der Darlegungsphase. JUROR 1: Zwei Minuten pro Kopf. Sie sind der erste. JUROR 2: Ja … was soll ich sagen … das ist gar nicht so leicht … ich … ja er ist sicher schuldig. Das ist doch von Anfang an klar gewesen … einen Gegenbeweis hat bisher niemand erbracht. JUROR 8: Den braucht auch niemand zu erbringen. Die Beweislast obliegt allein dem Gericht. So steht es in unserer Verfassung. Sie brauchen nur nachzulesen. JUROR 2: Jaja, das weiß ich schon … ich wollte auch nur sagen … na eben, der Mann ist schuldig. Es gibt doch jemand, der die Tat gesehen hat - Die Auslösehandlung ist hier die Aussage „einen Gegenbeweis hat bisher niemand erbracht“. Darauf folgt die Dissensmarkierung „Den braucht auch niemand zu erbringen“. Die Auslösehandlung lässt sich als solche also nur retrospektiv erkennen, wenn eine Dissensmarkierung erfolgt. Die Darlegungshandlung ist recht kurz: „Die Beweislast obliegt allein dem Gericht. So steht es in unserer Verfassung“. Die Akzeptanz folgt sofort mit der Äußerung „Jaja, das weiß ich schon“. Damit ist der lokale Dissens in Bezug auf den nicht notwendigen Gegenbeweis aufgelöst, aber noch nicht der globale in Bezug auf die Frage, ob der Junge schuldig ist oder nicht. Eine Ratifikation findet im Film nonverbal statt: Juror 8 nickt, während Juror 2 darauf verweist, dass er das schon weiß. So ließe sich also eine argumentative Sequenz aus gesprächsanalytischer Sicht fassen. 141 5.4 Die gesprächsanalytische Argumentationsanalyse 5.4.3 Gesprächsanalyse und Argumentation: ein schwieriges Verhältnis Dass Gesprächsanalyse und Argumentationswissenschaft so lange gefremdelt haben, wird plausibel, wenn man sich die unterschiedlichen Grundannahmen der mehrheitlich eher rhetorisch und philosophisch orientierten Argumentationswissenschaft und der ethnomethodologischen Gesprächsforschung ansieht. Deppermann (2006) konstatiert sechs Desiderata im Verhältnis von Gesprächsforschung und Argumentationswissenschaft. Diese Desiderata spiegeln eine Reihe von Diskussionspunkten wider, die in diesem Buch schon thematisiert wurden. Alle sind bis heute wenn noch nicht abschließend bearbeitet, so doch in Bearbeitung und bestimmen die gesprächsanalytische Beschäftigung mit Argumentation. Sie umfassen: 1. „die Frage der Gegenstandskonstitution 2. die Frage nach sprachlichen Argumentationsindikatoren 3. die Frage nach dem Verhältnis von Normativität und Deskription bei der Argumentationsanalyse 4. die Frage des Verhältnisses von Argumentationsstruktur und Argumentationsprozess 5. die Frage der pragmatischen Einbettung von Argumentieren 6. die Frage der typologischen Differenzierung von Argumentationsformen“ (Deppermann, 2006, S. 14) Diese sechs Desiderata beziehen sich alle auf Grundfragen der Argumentationswissenschaft. Daher sollen sie hier im Folgenden ausführlicher erläutert werden. Die Frage der Gegenstandskonstitution (1) bezieht sich auf die Identifikation von Argumentation. Da innerhalb von Argumentation einzelne Aussagen in der Regel implizit bleiben und auch die Streitfrage in Alltagsgesprächen nicht immer klar formuliert ist und / oder sich im Laufe des Gesprächs verschiebt, ist Argumentation nicht immer klar an der Oberfläche zu identifizieren. Auch die Zuordnung, ob es sich um Argumentation oder Erklären handelt, ist nicht immer klar zu treffen (Deppermann, 2006, S. 14, vgl. auch Kapitel 2.1.4). Eng damit im Zusammenhang steht das Problem, dass Argumentation häufig nicht durch sprachliche Indikatoren wie kausale Marker kenntlich ist (2) oder diese polyfunktional oder vage sind (vgl. Deppermann, 2006, S. 17). Das Verhältnis von Normativität und Deskription (3) berührt eine argumentationswissenschaftliche Grundfrage, die sich schon in der Kontrastierung von dialektischer und rhetorischer Perspektive zeigt. Ein deskriptiver Ansatz, der völlig auf die Annahme bestimmter Normen verzichtet, wird wahrscheinlich dem spezifischen Status des Argumentierens zur Bearbeitung von Dissens nicht gerecht. Zudem ist eine Analyse von Topoi auch gesprächsanalytisch kaum zu machen ohne die Annahme bestimmter vorgeformter Kategorien, die ja gerade nicht an der Oberfläche erscheinen. So hat Schwarze (2010) in ihrer Arbeit zu Topoi im Gespräch Topoikataloge als Ausgangspunkte für die Analyse von Mutter-Tochter-Gesprächen genommen. Dabei hat sie aber nicht die Gespräche „einfach“ nach diesen Topoi abgesucht, sondern den Katalog als vorläufiges Modell behandelt, das am Gesprächsmaterial weiterentwickelt wurde. Als weiteres Problem zeigt sich hier die Frage, ob Argumentation eigentlich eine Teilnehmerinnenkategorie ist; handelt es sich beim Konzept „argumentieren“ um eines, das Teilnehmer im Gespräch selbst nutzen, um zu beschreiben was sie tun? Die Gesprächs- 142 5 Argumentation analysieren analyse gründet darauf, Gespräche aus einer Teilnehmerperspektive und mit Hilfe von Teilnehmerkategorien zu rekonstruieren. Teilnehmerkategorien in argumentativen Gesprächen sind aber möglicherweise eher streiten, diskutieren oder verhandeln. Das Verhältnis von Argumentationsstruktur und Argumentationsprozess (4) thematisiert das Verhältnis von verschiedenen analytischen (und theoretischen) Ansätzen zur Relevanz der Zeitlichkeit in der Argumentation: Ist es für die Analyse relevant, wie Argumentation sich sequentiell entwickelt, ob also die Konklusion vor den Gründen angeführt wird oder umgekehrt, oder ob ein Grund mehrfach an verschiedenen Punkten im Gespräch vorgebracht wird? Oder ist es in der Rekonstruktion von Argumenten egal, wann sie im Gespräch geäußert werden? Letztere Sicht findet sich z. B. in den oben ausgeführten Ansätzen von Kopperschmidt (1989) und van Eemeren und Snoeck Henkemans (2017). Ersteres Vorgehen ist für gesprächsanalytische und auch ethnografische Zugänge zur Argumentation typisch. Die pragmatische Einbettung von Argumentation (5) konzentriert sich darauf, dass Argumentation in einem übergeordneten Handlungszusammenhang gesehen wird. „Die pragmatischen Aspekte des Argumentierens (legen) einen rhetorischen Zugang nahe, der Situiertheit, Funktionalität beziehungsweise Zielorientierung und den je spezifischen Adressatenbezug als Grundkoordinaten des Argumentierens erkennt“ (Deppermann, 2006, S. 23, Hervorhebung im Original). Der sechste Aspekt, die typologische Differenzierung (6) von Argumentationsformen, beinhaltet die Aufforderung an die gesprächsanalytische Forschung, jenseits normativer Modelle Form-Funktions-Muster in Gesprächen zu beschreiben und zu typologisieren. Dieses Unternehmen ist durchaus in Angriff genommen, wobei auch ein deskriptiver Ansatz in der Untersuchung von Argumentation nicht ohne theoretische Vorannahmen auskommt. Die gesprächsanalytische Untersuchung von Argumentation bietet einen wichtigen Ansatz, der insbesondere in den letzten zwanzig Jahren immer stärker geworden ist. Dabei ist insbesondere die Auseinandersetzung von traditioneller Argumentationsanalyse und der Gesprächsanalyse sehr fruchtbar, trotz oder gerade wegen der Desiderata. 5.5 Ethnografie der Argumentation Die Ethnografie der Argumentation ist ein Analysezugang, der noch in seinen Anfängen steckt. Er ist von verschiedenen Autorinnen in Ansätzen, aber noch nicht als geschlossenes methodisches Programm formuliert worden. Dies ist neben anderem sicher auch der grundsätzlichen Offenheit einer ethnografischen Perspektive geschuldet; es ließe sich debattieren, ob es sich bei der Ethnografie überhaupt um eine Methode handelt oder nicht eher um einen grundsätzlichen Zugang, der sich dann in verschiedenen Methoden zeigt (vgl. Dellwing & Prus, 2012, S. 12). Für die Ethnografie ist charakteristisch, nicht mit einem fertigen Set an Methoden in ein Feld zu gehen und Daten zu erheben, sondern die Methoden im Kontakt mit dem Feld auszuwählen und zu entwickeln. Zentral für jede Form der Ethnografie ist das Dabeisein im Feld, die teilnehmende Beobachtung, das Rumhängen (vgl. Dellwing & Prus, 2012, S. 9), um dann auf der Grundlage dieser teilnehmenden Beobachtung kulturelle Praxis-- in diesem Fall argumentative Praxis-- zu beschreiben. Da der Ansatz der Ethnografie 143 5.5 Ethnografie der Argumentation der Argumentation bisher nicht vollständig ausbuchstabiert worden ist, soll ihm in diesem Studienbuch etwas mehr Platz eingeräumt werden als den anderen, gut etablierten Ansätzen. Der Begriff der Ethnografie der Argumentation erscheint an verschiedenen Stellen, so bei Krummheuer (1995) in Arbeiten zur Mathematikdidaktik, bei Prior (2005) in didaktischen Kontexten und bei Hannken-Illjes (2006b, 2007) in Bezug auf die Argumentation im juristischen Feld. Die grundlegenden Fragestellungen eines ethnografischen Zugangs zur Argumentation sind: ▶ Wie ist es überhaupt möglich, dass etwas als Argument genutzt wird? ▶ Wie entwickelt sich eine Aussage im Diskurs hin zu einer Prämisse? ▶ Durch welche Praktiken werden Aussagen mobilisiert, so dass sie als Argumente genutzt werden können? Diese Fragen haben eine wissenstheoretische (epistemologische) und eine methodologische Dimension. Teilnehmerinnen verhandeln in Argumentationen immer auch, was als Wissen gelten kann. Damit kann eine Argumentationsanalyse zeigen, was in einem Feld gilt und was nicht. Das an sich ist nicht neu (s. Kapitel 5.3). Die Ethnografie der Argumentation fragt aber weitergehend danach, wie eine Aussage diese Geltung bekommt. Die Frage „Wie ist es möglich, dass etwas als Argument genutzt wird? “ verbindet eine rhetorische Perspektive auf Argumentation mit wissenssoziologischen Fragestellungen. Zugleich konzentriert sie sich, wie die gesprächsanalytische Argumentationsanalyse, auf Fragen des „Wie? “ und fragt nach dem Vollzug, weniger nach Motivationen der Sprecherinnen. Die Ethnografie der Argumentation untersucht, wie Argumente innerhalb eines bestimmten Feldes entstehen und beantwortet die Frage: Wie ist es möglich, dass etwas als Argument genutzt werden kann? Aus der grundlegenden Fragestellung folgen weitere: Wie häuft eine Aussage Geltung an? Welche Karriere machen Argumente in einem Diskurs, in einem Feld? Wie reisen (scheinbar) gleiche Argumente durch verschiedene Texte, verschiedene Materialität und verschiedene Logiken? Wie werden Argumente wem verfügbar gemacht? 144 5 Argumentation analysieren Am Beispiel der „Zwölf Geschworenen“ kann man eine solche Analyse nicht durchführen, da hier keine teilnehmende Beobachtung möglich ist. Es handelt sich um ein Theaterstück und bietet daher keinen Zugang zum rechtlichen Feld. Es lässt sich aber zeigen, wie ein ethnografischer Ansatz hier aussehen könnte. Die Forscherin könnte sich in den Gerichtssaal, in die Verhandlung setzen und die Argumente aufnehmen, die von der Anklage und der Verteidigung vorgebracht werden. Sie könnte dann den Geschworenen in die Beratung folgen und schauen, welche Argumente genutzt werden, welche weiter entwickelt werden, welche gar nicht mehr erscheinen. Sie könnte einem Topos, der ihr besonders relevant erscheint, wie z. B. der Herkunft des Jungen, durch das Verfahren folgen und beschreiben, wie dieser Topos von wem genutzt wird und wie er am Ende in die Urteilsfindung eingeht. Nun ist der Zugang zur Beratung der Geschworenen in amerikanischen Strafverfahren ebenso verschlossen wie zu der richterlichen Beratung im deutschen Strafverfahren. Aber auch das ist aus der Sicht einer Ethnografie der Argumentation relevant. An welchen Stellen wird öffentlich zugänglich argumentiert, an welchen nicht? Auffällig im Strafverfahren ist, dass die Stelle im Verfahren, an der die Argumente für die Entscheidung abgewogen werden, nicht zugänglich ist. Wie gesagt, obwohl die Ethnografie häufig als Methode firmiert, handelt es sich eigentlich eher um eine Forschungsstrategie. Das Ziel ethnografischer Studien ist die Beschreibung und das Verstehen sozialer Praktiken. Es gilt das Wissen der Teilnehmerinnen im Feld zu beschreiben und zu verstehen und dieses an wissenschaftliche Interessen und Theorien zurückzubinden. „Ethnografische Forschung will Prozesse kartographieren, in und mit denen Menschen ihre Welt machen“ (Dellwing & Prus, 2012, S. 53). Zugleich ist die Ethnografie bestimmt durch die Abwesenheit eines klaren Methodeninventars. „Ethnography cannot be assumed to be something already complete“ (Hymes, 1996, S. 4). Ähnlich stellen Dellwing / Prus (2012) fest: „Die ethnografische Methode als Set von Regeln und Vorgaben existiert nicht, jedenfalls nicht in dem strengen Sinne, in dem der Begriff Methode häufig verstanden wird“ (S. 11). Ein ethnografischer Zugang nimmt für sich in Anspruch, offen zu bleiben für die Logik des Feldes das untersucht wird. Hirschauer / Amann (1997) beschreiben die zu Grunde liegende Forschungsposition als eine des „Entdeckens“ (S. 8). Dieses Entdecken muss auf die Phänomene, auf die es im Feld trifft, reagieren können und sollte daher nicht durch vorher festgelegte Methoden eingeschränkt sein, sondern offen bleiben für die Impulse des Feldes. „Dafür setzt die Ethnografie auf einen ‚weichen‘ Methoden-, aber ‚harten‘ Empiriebegriff. Dessen Prämisse ist die Unbekanntheit gerade auch jener Welt die wir bewohnen“ (Hirschauer & Amann, 1997, S. 9). Hammersley / Atkinson (1995) bestimmen Ethnografie folgendermaßen: In its most characteristic form it [ethnography, KHI ] involves the ethnographer participating, overtly or covertly, in people’s daily lives for an extended period of time, watching what happens, listening to what is said, asking questions-- in fact collecting whatever data are available to throw light on the issues that are the focus of the research (S. 1). 145 5.5 Ethnografie der Argumentation So gut wie alle ethnografischen Ansätze nennen Beobachtung und Teilnahme als die beiden zentralen Bestandteile. Dies beinhaltet auch, dass die Teilnahme über eine gewisse Zeit andauern sollte, um nicht nur kurze Eindrücke zu bekommen, sondern Entwicklungen folgen zu können und damit eine „dichte Beschreibung“ (Geertz, 1987) zu ermöglichen. Ethnografische Ansätze haben sowohl in der Linguistik (vgl. u. a. Bauman & Sherzer, 1975; Hymes, 1996; Tracy, 2005) als auch in Rhetorik, Performance Studies und Kommunikationswissenschaft (vgl. u. a. Conquergood, 1992; Endres & Senda-Cook, 2011; Hess, 2011; Simonson, 2014) in den letzten Jahrzehnten immer stärkere Aufmerksamkeit erfahren. Grundlegend für diese Ansätze ist die Ethnografie der Kommunikation. 5.5.1 Ethnografie der Kommunikation Die Untersuchung von Argumentation hat sich bis hierher auf die beiden Hauptfunktionen der Argumentation konzentriert: die Bearbeitung von Dissens und die Bearbeitung von Wissen (vgl. Kapitel 2.1). Auch wenn diese beiden Funktionen fast immer miteinander verbunden sind und die Unterscheidung vornehmlich heuristischen Wert hat, so verbindet sie die Ethnografie der Argumentation doch mit zwei unterschiedlichen etablierten ethnografischen Ansätzen: der Ethnografie der Kommunikation und der Ethnografie des Wissens. Aus einem ethnografischen Verständnis kann Argumentation nicht isoliert analysiert werden, sondern als Verfahren, das eingebettet ist in eine konkrete Situation und das in einem Zusammenspiel kultureller und damit auch kommunikativer Praktiken auftritt. Damit ist die Ethnografie der Kommunikation ein wichtiger Ausgangspunkt für die Ethnografie der Argumentation. Die Ethnografie der Kommunikation entspringt dem, was sowohl Hymes (1962) als auch Baumann / Sherzer (1975) die Ethnografie des Sprechens genannt haben. „The ethnography of speaking is part of linguistic anthropology, arising out of the traditional anthropological concern with the interrelationships among language, culture and society“ (Bauman & Sherzer, 1975, S. 95), und weiter: „its subject matter is speaking, the use of language in the conduct of social life“ (S. 96, Hervorhebung im Original). Hymes (1964) verschiebt mit seinem weit rezipierten Aufsatz „The Ethnography of Communication“ den Schwerpunkt von ausschließlich linguistischen hin zu soziologischen und soziolinguistischen Fragestellungen. Keating (2002) sieht diese Verschiebung des Fokus auf die Soziolinguistik als Antwort auf die Linguistik Chomskys und seiner Anhänger, die in der Untersuchung von Sprache vor allem auf das Sprachsystem zielten und so die Linguistik aus den Geisteswissenschaften herausgeführt hatten (vgl. S. 285). Die Analyseeinheit ist bei Hymes dann nicht mehr der Satz, sondern „the speech event, speech situation and speech community“ (S. 288). Der Ansatz einer Ethnografie der Kommunikation wurde nicht nur von Soziolinguisten befördert, sondern hat Wissenschaftlerinnen verschiedener Richtungen mit einem Interesse an Sprache im praktischen Vollzug und in der Interaktion zusammen gebracht. Das Ziel war und ist die Beschreibung von Praktiken und die Identifikation von spezifischen Verfahren und Mustern in Kommunikationssituationen. Keating (vgl. 2002, S. 286) betont, dass die Ethnografie der Kommunikation dabei eng mit der Interaktionsforschung von Goffman und der Analyse von Alltagskommunikation, der pragmatischen Wende durch die Sprech- 146 5 Argumentation analysieren akttheorie und Garfinkels Ethnomethodologie und deren linguistischer Verwandten, der Konversationsanalyse, verbunden ist. 5.5.2 Ethnografie des Wissens Der Gegenstand der Ethnografie des Wissens ist die Frage, wie Wissen hergestellt wird. Dieses „Herstellen“ findet sich auch unter den Begriffen „Konstruktion“ oder „Fabrikation“. Damit ist aber nicht notwendigerweise gemeint, dass das Wissen, das von Akteurinnen in sozialen Situationen produziert wird, „nur konstruiert“ und damit nicht gültig sei. Vielmehr geht es darum zu zeigen, dass die Produktion von Wissen alltäglichen Praktiken unterliegt, die aber in dem Wissensprodukt später nicht mehr nachzuvollziehen sind. Studien, die sich in einen solchen Ansatz einordnen lassen, sind in der Regel in der Soziologie und hier vor allem in der Wissenssoziologie beheimatet. Zudem sind sie häufig durch die Ethnomethodologie beeinflusst. Beispielhaft soll hier auf die Laborstudien von Latour eingegangen werden. Unter Laborstudien werden soziologische und diskursanalytische Studien gefasst, die (in erster Linie) naturwissenschaftlich-experimentelle Forschung dahingehend untersuchen, wie hier Wissen konstruiert wird. Die Ausgangsüberlegung ist, dass auch scheinbar objektive wissenschaftliche Verfahren interpretative und konstruktive Anteile aufweisen. Latour hat 1987 in seinem Buch „Science in Action“ vorgeschlagen, die Karriere oder Geschichte von Wissensprodukten- - das heißt Wissen, das keine Spuren seiner Produktion mehr trägt- - zurückzuverfolgen und damit zu untersuchen, wie Wissen hergestellt wird und welche Interaktionen verschiedener Faktoren (Dinge und menschliche Akteure) dazu notwendig sind. Latour interessiert sich als Wissenschaftssoziologe für die Produktion von Wissen- - für „science in action“- - und verfolgt die These, dass die Produktionsbedingungen, die Geschichte des Werdens von kulturellen Artefakten, von den Artefakten selbst abgetrennt wird: dass es black boxed wird. Mit diesem Ausdruck aus der Wissenschaftssoziologie ist das Unsichtbarmachen wissenschaftlicher und technischer Arbeit durch ihren eigenen Erfolg gemeint. Wenn eine Maschine reibungslos läuft, wenn eine Tatsache feststeht, braucht nur noch auf Input und Output geachtet werden, nicht mehr auf ihre interne Komplexität. Daher das Paradox, je erfolgreicher Wissenschaft und Technik sind, desto undurchsichtiger und dunkler werden sie. (Latour, 2002, S. 373) Latour selbst hat mikrosoziologische Studien zu Arbeiten in Laboren, an Verkehrsprojekten und im Gericht vorgelegt. Das Interesse des Wissenschaftssoziologen ist das Öffnen der Black Boxes, den Weg zu verfolgen, wie-- in einem bestimmten Feld-- eine Aussage, eine Tatsache von ihren Entstehungsbedingungen abgekoppelt werden kann. Auf dieser Grundlage kann dann beschrieben werden, welchen Bedingungen die Produktion von bestimmten Produkten (z. B. Argumenten) unterliegt. Das heißt nicht, dass Latour davon ausgeht, dass jede Form von Wissen ein soziales Konstrukt ist und nicht mit der Wirklichkeit korrespondiert, sondern dass er davon ausgeht, dass jede Form von Forschung durch bestimmte soziale Praktiken bestimmt ist, die zwar im „Endprodukt“ (einer Aussage, einer Tabelle) nicht mehr zu sehen sind, es aber beeinflussen. Das Anliegen einer Ethnografie der Argumentation ist ähnlich: 147 5.5 Ethnografie der Argumentation das Öffnen von Produkten (hier dann Prämissen) und die Frage, wie es gelungen ist, diese Aussagen als Produkte zu nutzen. Eine Ethnografie der Argumentation fragt also: Wie wird in einem bestimmten Feld eine Aussage als Grund, als Prämisse verfügbar gemacht? In Anschluss an Latour schlug Prior in seinem Aufsatz „Toward the ethnography of argumentation“ vor, „[to] give the diagrams a bit of a rest and consider seriously the implications of seeing argumentation as sociohistoric practice, to ask how pedagogies can help attune students to the work of appropriating situated knowledge practices, to open up the ethnography of argumentation ( EOA ) as a branch of the larger ethnography of communication“ (2005, S. 133). Der Vorschlag, den Diagrammen „eine Ruhepause zu gönnen“ in der Analyse der Argumentation, speist sich bei Prior zuerst aus einem pädagogischen Impuls. Als Referenzfelder nennt Prior zum einen die interaktionalen Ansätze zur Untersuchung von Argumentation und zum anderen die soziologisch und diskursanalytisch geprägten Laborstudien. Gemeinsam ist beiden Feldern der Schwerpunkt auf den Praktiken der Argumentation. Dazu gehört auch das Interesse daran, wie Äußerungen überhaupt in die Position gebracht werden, als Prämissen fungieren zu können: Wie werden in einem Feld Prämissen und damit Geltung etabliert, die dann in der Argumentation genutzt werden können? Damit handelt es sich bei Prior um einen Ansatz aus der rhetorischen Perspektive auf Argumentation. Eine zweite Publikation, die explizit von der Ethnografie der Argumentation spricht, stammt aus der Mathematik-Didaktik von Krummheuer (1995). Er untersucht wie Kinder argumentieren, wenn sie mathematische Probleme lösen. Diese Verfahren fasst er als argumentative Verfahren auf und bezeichnet ihre Funktion als Etablierung von Geltung (vgl. S. 232). If one or several participants accomplish an assertion like ‚4 X 10-= 10 X 4‘ they do not only produce a sentence; rather they make a declaration inasmuch as they claim such a statement to be valid. By proposing it they are not only indicating that they try to act rationally, but also that they could establish this claim in more detail, if desired. Usually, these techniques or methods of establishing the claim or statement are called an argumentation. (S. 232, Hervorhebung im Original) Das heißt, in der argumentativen Erarbeitung einer Lösung konzentriert sich die Argumentationsanalyse bei Krummheuer darauf, wie bestimmte kommunikative und argumentative Praktiken genutzt werden, um diese Aufgabe zu lösen. 5.5.3 Die Ethnografie der Argumentation zwischen Produkt- und Prozessperspektive Die Ethnografie der Argumentation arbeitet damit aus einer Prozess- und nicht aus einer Produktperspektive. Allerdings ist hier die Prozessperspektive noch radikaler verstanden als in Wenzels (1980) grundlegender Unterscheidung der verschiedenen Perspektiven auf Argumentation (vgl. Kapitel 2.2). Wo die Prozessperspektive bei Wenzel Argumentation als rhetorischen, interaktionalen, auf Persuasion ausgerichteten Prozess versteht, konzentriert sich die Ethnografie der Argumentation auf die Art und Weise, wie Argumentation überhaupt erst ermöglicht wird. Krummheuer (1995) weist jedoch zu Recht darauf hin, dass diese Konzentration auf die alltäglichen Praktiken des Begründens im Grunde sowohl Prozessals auch 148 5 Argumentation analysieren Produktperspektiven in den Blick nimmt. In Bezug auf seine Forschung zum Argumentieren im Mathematikunterricht in der Grundschule schreibt er: „For the purpose of this chapter both aspects-- argument as outcome of an argumentation and argument as a part of a complex argumentation- - are of importance, although the foremost interest in analysing the interactional structuring of argumentations favors the first conceptualization“ (S. 235). Für die Ethnografie der Argumentation sind drei Aspekte besonders relevant: Was kann die Analyseeinheit eines solchen Verfahrens sein? Was ist in diesem Rahmen ein Feld und wie kann Feldzugang hergestellt werden? Und wie nimmt die Analysierende die Praktiker in den Blick? 5.5.3.1 Die Analyseeinheit: Topos - Thema - Argument Die Analyseeinheit innerhalb der Ethnografie der Argumentation ist die Aussage, die potentiell argumentativ eingesetzt werden kann, und diese argumentative Aussage in ihrer Entwicklung. In der Kopplung an die Wissenskommunikation geht es damit um das Verhältnis von Topoi und Argumenten. Wie werden an welcher Stelle in einem Diskurs Aussagen gemacht (die sich aus bestimmten Topoi speisen) und dann als Argumente genutzt, gestärkt, geschwächt etc. Auch wenn das Beispiel des Stücks „Die zwölf Geschworenen“ sich für die Explikation dieser Methode eigentlich nicht eignet, da eine teilnehmende Beobachtung nicht möglich ist, lässt sich dennoch daran erklären, wie eine Ethnografie der Argumentation hier aussehen könnte. Angenommen Sie möchten untersuchen, wie sich das Argument der sozialen Herkunft des Angeklagten im Laufe des Verfahrens entwickelt, so wäre zuerst zu klären, zu welchem Zeitpunkt Sie das Feld betreten. Nehmen wir an, Sie können schon von Beginn des Verfahrens an auf Seiten der Verteidigung die Vorbereitung miterleben. Sie beobachten dann, ob dieser Topos überhaupt genutzt wird und wo er in welcher Form das erste Mal auftaucht. Vielleicht schon im Vorverfahren, vor der eigentlichen Gerichtsverhandlung in einer Aussage des Angeklagten? Vielleicht in der Anklage? Vielleicht in Zeugenaussagen? Vielleicht hat der Verteidiger eine Notiz an einem Schriftstück gemacht oder ein Ausrufezeichen und sie so relevant gemacht für die Verteidigungsstrategie. Vielleicht sagt der Angeklagte in einer ersten Aussage: „Ich war es nicht, aber sie werden mir ja sowieso nicht glauben, weil sie Leuten wie mir, die nicht viel Geld haben und sich nicht so schick ausdrücken können, nie glauben.“ Sie können dann im Gerichtssaal sitzen während der Verhandlung und verfolgen, wann die Argumente, die sich auf den Topos „soziale Herkunft“ beziehen, wie von wem vorgebracht werden und wie die Gegenseite darauf reagiert. Akzeptiert sie den Topos und das daraus entstandene Argument („Ja, es stimmt schon, Sie haben es schwerer Gehör zu finden als Menschen anderer Herkunft“), markiert sie es als irrelevant („Das hier ist ein faires Verfahren und Ihre soziale Stellung hat weder etwas mit der Anklage noch mit diesem Gerichtsverfahren zu tun“) oder wird der Topos angenommen, aber gegen den Angeklagten gewendet („Leute wie Sie machen immer nur andere für ihr eigenes Verhalten verantwortlich“). 149 5.5 Ethnografie der Argumentation Der Topos der sozialen Herkunft wird hier für beide Positionen eingesetzt. Nachdem Juror 8 ihn auch in Bezug auf die Frau genutzt und mit einem Vergleichsschema an die Anwendung des Topos auf den Jungen gekoppelt hat (wenn für alle Menschen aus einer bestimmten Gegend gilt, dass sie Verbrecher sind, und die Frau aus der gleichen Gegend kommt wie der Junge, so muss für sie die gleiche Annahme gelten). Interessant an diesem Beispiel ist, dass sich eine Kategorie zwischen Topos und Argument zu etablieren scheint: Der Topos hier wäre ein Topos der Herkunft / sozialen Stellung. Er wird aber im konkreten Fall selbst genauer gefasst und konkretisiert als „unter ihnen“ und damit auf eine bestimmte soziale Gruppe bezogen, die offensichtlich auch an einem bestimmten Ort lebt: einem Slum oder Ähnlichem. „Einer von ihnen“ zu sein, wird hier also zur Konkretisierung des Topos und ist so auch an der diskursiven Oberfläche zu beobachten. Zugleich ist diese Konkretisierung aber immer noch nicht das Argument, denn diese Aussage ist weiterhin neutral (und bleibt ja auch vage, da nie so ganz klar ist, wer „sie“ denn genau sind). Man könnte diese Zwischenstufe zwischen Topos und Argument als Thema beschreiben (vgl. Hannken-Illjes, 2008). Dann würden Sie den Geschworenen in die Beratung folgen - was nicht möglich wäre, Juryberatungen ebenso wie Beratungen der Richter und Schöffen sind für Außenstehende nicht zugänglich - und beobachten, ob und wie sie diesen Topos argumentativ aufnehmen. Hier wäre interessant zu sehen, ob er überhaupt eine Rolle spielt und wenn ja, wie er von wem für welche Konklusion eingesetzt wird. JUROR 10: Ich bin gerührt. Denken Sie von mir was Sie wollen! Aber wir schulden ihm nicht so viel. - Er hat ein saubres Verfahren bekommen. Glauben Sie das ist umsonst? […] Er kann froh sein, daß wir so freigiebig waren. Stimmt’s? Wir sind doch keine Quäker! Wir haben die Tatsachen gehört - und jetzt wollen Sie uns weismachen, daß wir dem Bürschlein glauben sollen! Mir kann der nichts vormachen, nicht so viel - nicht das Schwarze unter dem Nagel glaube ich dem. Ich habe lange genug unter ihnen gelebt, ich kenne sie in- und auswendig. Die sind geborene Verbrecher, alle durch die Bank! Untermenschen! JUROR 11: Untermenschen. JUROR 10: Mir können Sie das glauben! … JUROR 10: Richtig. Aber der Zug war leer und fuhr in Richtung City. Er war auch unbeleuchtet, wenn Sie sich erinnern. Und die Sachverständigen haben uns bewiesen, daß man bei Nacht durch die Fenster eines vorbeifahrenden Hochbahnzuges sehen kann, was auf der anderen Seite vorgeht. Sie haben es bewiesen! JUROR 8: Eine Frage. Sie trauen dem Jungen nicht. Was veranlaßt Sie, der Frau zu trauen? Sie stammt doch aus demselben Milieu? JUROR 10: Ach Sie - Sie sind ein ganz geriebener Gauner … 150 5 Argumentation analysieren 5.5.3.2 Teilnehmen - aber wo? Um diese Entwicklung von Topoi und Argumenten beobachten zu können, muss die Forscherin Zugriff auf Daten haben. Das zentrale Merkmal ethnografischer Arbeit ist die Teilnahme im Feld, das Dortsein. Anders als andere wissenschaftliche Ansätze zielt die Ethnografie nicht auf Aussagen, die möglichst stark objektivierbar sind und damit auch eine größtmögliche Distanzierung zum Gegenstand aufweisen. Sie zielt auf ein Verstehen des Feldes, um eine Position zu erreichen, aus der heraus es dann möglich ist, dieses Verstehen mit Theorien und empirischen Befunden aus anderer Forschung in Beziehung zu setzen. Damit wird die Forscherin im Feld das, was Kopperschmidt (1989) für den Analysierenden in der Argumentationsanalyse in Anspruch genommen hat: Eine virtuelle Teilnehmerin der Argumentation, die diese Teilnehmerrolle auch nicht verlassen kann und verlassen sollte (vgl. S. 79). Dies heißt nicht, dass die Nähe zum Feld zu einer Distanzlosigkeit wird, eine Ethnografin sollte sich immer der Gefahr des „going native“, des vollkommenen Übernehmens der Logiken des Feldes bewusst sein. Insbesondere bei ethnografischen Projekten in der eigenen Kultur muss die Forscherin das Feld auch immer wieder „befremden“ (Hirschauer & Amann, 1997), das Bekannte und Gewohnte (und damit oft Unproblematische) distanziert und aus einer fremden Perspektive betrachten, „making the familiar strange“ (Pollner & Emerson, 2002, S. 121). Die Betonung darauf, das Bekannte zu befremden verbindet die Ethnografie und die (ethnomethodologische) Gesprächsanalyse (vgl. Kap 5.4.) Zugang zum Feld zu erlangen ist in der ethnografischen Forschung eines der wichtigsten und häufig schwierigsten Unterfangen. Das hängt damit zusammen, dass Zugang oft auf Vertrauen aufbaut und für dieses Vertrauen Zeit nötig ist. Zugleich kann es sein, dass an der Oberfläche zwar Zugang gewährt wurde, damit aber noch kein Zugang zu den Praktiken und Phänomenen entsteht, die im Fokus der Forschung stehen. Damit ist Feldzugang keine Aufgabe, die einmalig bewältigt werden kann, sondern ein laufender Prozess, in dem die Form des Zugangs immer wieder neu ausgehandelt werden muss (vgl. Kozin, Hannken-Illjes & Scheffer, 2009). Bis hierher ist „Feld“ als ein relativ unproblematisches Konzept behandelt worden. Das Feld scheint da zu sein, wo die zu untersuchenden Praktiken und Phänomene sich finden lassen. Der Begriff des Feldes wird aber spätestens dann problematisch, wenn Feld nicht unbedingt das Gleiche ist wie ein klar umrissener Ort. Der Begriff des Feldes soll für die Ethnografie der Argumentation deshalb in zweierlei Hinsicht eingeführt werden: im Sinne einer translokalen (multi-sited) Ethnografie, wie sie von Marcus (1995) beschrieben ist, und im Sinne des Toulmin’schen Feldbegriffs. Marcus (1995) unterscheidet zwischen a) dem traditionellen ethnografischen Ansatz, einen einzigen Schauplatz zu untersuchen und b) einem Ansatz, der die Annahmen über den Wandel kultureller Formen einbezieht und davon ausgeht, dass diese nur verstanden werden können, wenn man über die Konzentration auf den einzelnen Ort, den einzelnen Schauplatz hinausgeht. The other, much less common mode of ethnographic research self-consciously embedded in a world system, now often associated with the wave of intellectual capital labeled postmodern, moves out from the single sites and local situations of conventional ethnographic research designs to examine 151 5.5 Ethnografie der Argumentation the circulation of cultural meanings, objects, and identities in diffuse time-space. This mode defines for itself an object of study that cannot be accounted for ethnographically by remaining focused on a single site of intensive investigation. (S. 96) Marcus nennt diesen Ansatz „multi-sited ethnography“, im Deutschen nutzt Lauser (2005) den Begriff translokale Ethnografie. Diese Forschungsstrategie beruht darauf, Phänomenen durch die verschiedenen Schauplätze zu folgen. „Strategies of quite literally following connections, associations, and putative relationships are thus at the very heart of designing multisited ethnographic research“ (S. 97). Bei diesen zu verfolgenden Phänomenen kann es sich um Menschen, Dinge, Metaphern, Plots, Geschichten, Allegorien, Leben und Biografien oder auch Konflikte handeln (vgl. Marcus, 1995, S. 105 ff.). Die translokale Perspektive beinhaltet zwei wichtige Aspekte. Sie versteht die Analyseeinheit-- das könnte ein Topos sein, ein Thema, ein Begriff-- als etwas das gleich bleibt (sonst könnte man ihm nicht folgen) und zugleich Wandel unterworfen ist durch die Aufnahme in unterschiedlichen sozialen Situationen (sonst wäre das Folgen nicht interessant). Dieses Oszillieren zwischen dem Stabilen und dem Wandelbaren wird dabei nicht als problematisch erachtet, auch wenn es sich in der Forschungspraxis als problematisch für die Forscherin erweisen mag. Es ist ein Aspekt, der neue Einblicke in einen Phänomenbereich erlaubt, es erlaubt zu verstehen, wie ein Argument genutzt wird, wie es in unterschiedlichen Situationen verwendet und von den Teilnehmern im Feld immer noch als das Gleiche gesehen und behandelt wird. Damit kann diese Perspektive helfen zu verstehen, wie argumentative Aussagen etabliert werden und Geltung hergestellt wird. Allein die Frage, wann ein Argument als „das Gleiche“ und wann als „etwas anderes“ behandelt wird, kann aufschlussreich sein. Der Toulmin’sche Feldbegriff ist in Kapitel 4.2.1.3 bereits eingeführt worden. Er lässt sich mit dem Feldbegriff der Ethnografie sehr gut verbinden. Hier kann insbesondere auch die Weiterführung des Feldbegriffs bei Willard (1992) sehr produktiv sein, da er das Feld eher über die konkrete Argumentationspraxis versteht, die dann eine normative Wirkung entfaltet. Da das Feld eben nicht mehr nur lokal bestimmt werden muss und für das spezifische Forschungsinteresse auch nicht nur lokal bestimmt werden kann, bietet es sich an, mit einer Konzeption des Feldes zu arbeiten, die gemeinsame Rationalitätsstandards beschreibt. 5.5.3.3 Praktiken des Argumentierens Mit der Ethnografie der Argumentation sollen argumentative Verfahren als kulturelle Praktik beschrieben werden, eingebettet in andere Praktiken. 152 5 Argumentation analysieren Da das Beispiel der „Zwölf Geschworenen“ sich hier nur bedingt eignet, ein Beispiel aus der eigenen Forschung: In einem Projekt haben drei Forscherinnen die Karriere von Aussagen in Strafverfahren in drei verschiedenen Ländern untersucht (vgl. Scheffer, Hannken-Illjes & Kozin, 2010). Ausgangspunkt waren die Kanzleien von Strafverteidigerinnen. Von hier aus sind wir Fällen gefolgt, d. h. wir haben Akten gelesen, in Mandantenbesprechungen gesessen, den Fall mit dem Anwalt besprochen, an der Hauptverhandlung vor Gericht teilgenommen und die Urteile gelesen. Für das deutsche Strafverfahren erwies sich eine Form der Entwicklung von Argumenten als besonders interessant: das Verhältnis von Erzählen und Argumentieren. Also lag ein Fokus darauf, an welchen Stellen im Verfahren ein Thema / ein Topos als Narration oder als Argument erschien und wie und von wem es mit welcher Funktion geäußert wurde. Diese Verbindung von Erzählen und Argumentieren wurde auch von den Teilnehmern im Feld als wichtig eingeschätzt für die Vorbereitung und Verhandlung von Straffällen. Was genau die Analyseeinheit innerhalb einer Ethnografie der Argumentation wird, ergibt sich aus dem Kontakt mit dem Feld und kann nicht vorher festgelegt werden, auch wenn der Forscher natürlich Vermutungen hat. Die Offenheit des ethnografischen Zugriffs ermöglicht es, natürliche Argumentation zu beschreiben, an die Theoriebildung zurückzubinden und so die Praxis der Argumentation besser zu verstehen und die theoretischen Modelle der Argumentation weiterzuentwickeln. 153 6.1 Argumentation und Narration 6 Aktuelle Fragestellungen in der Argumentationswissenschaft Diese Einführung in die Argumentationswissenschaft hat bis hierher die verschiedenen größeren Stränge der Argumentationsforschung in Theorie und Analyse dargestellt. Nun sollen auch die aktuellen Forschungsfragen vorgestellt und diskutiert werden. Im Folgenden stelle ich drei Fragestellungen näher vor: das Verhältnis von Argumentieren und Erzählen, die Multimodalität des Argumentierens und die Grenzen der Argumentation bei tiefgreifendem Dissens (das Problem der Inkommensurabilität). Diese drei Fragestellungen können natürlich nur eine Auswahl sein, um die Forschungslandschaft zu skizzieren. 6.1 Argumentation und Narration Erzählen kann als rhetorische Strategie genutzt werden, um Zustimmung zu erreichen und zu überzeugen. In der Werbung soll die Geschichte der heilen Familie zum Abschluss eines Bausparvertrages animieren, die Homestory einer Politikerin soll sie nahbar und glaubwürdig erscheinen lassen. Aber kann man durch erzählen auch argumentieren? Kann eine Erzählung als Prämisse gesehen werden? Und wenn ja, welche besonderen Merkmale hat narratives Argumentieren? Die Frage nach dem Verhältnis von Argumentation und Narration ist so alt wie die Rhetorik selbst. Schon in der klassischen (Gerichts-)Rede sind narratio und argumentatio eng miteinander verbunden und ihre Verbindung ist auch Diskussionsgegenstand. Im 20. Jahrhundert lebt das Interesse an dieser Verbindung im Rahmen des narrative turn stärker wieder auf. Damit Hand in Hand geht in der Erzählforschung ein gesteigertes Interesse an nicht-literarischem Erzählen: dem Erzählen in Alltagsgesprächen (vgl. Labov & Waletzky, 1967 / 1997), in der Geschichtswissenschaft (vgl. H. White, 1973), in der Rhetorik (vgl. Fisher, 1987), der Verbindung von biografischem Erzählen und Identität (vgl. Ricoeur, 1991) und dem Erzählen als grundlegende Form der Sinnkonstitution (vgl. MacIntyre, 1981). Dieses Kapitel bietet einen Überblick über die Ansätze zur Verbindung von Narration und Argumentation, zeigt auf, welchen besonderen Status Erzählungen innerhalb von Argumentation haben können und welche Fragen in diesem Bereich gerade aktuell werden. Auch wenn verschiedene Ansätze Narration unterschiedlich fassen, so gibt es doch Aspekte, die grundlegend sind. Eine Narration umfasst eine zeitliche Abfolge von Ereignissen und innerhalb dieser Abfolge muss es zu einer Statusveränderung kommen, d. h. es muss etwas passieren. Zudem wird diese Abfolge von Ereignissen als abgeschlossen und in der Vergangenheit liegend konstruiert (vgl. Gülich, 2004, S. 1). Damit ist Erzählen eine Methode, die Zugriff auf Vergangenes erlaubt, auch da, wo dieses sonst nicht mehr zugänglich wäre. Handelnde innerhalb einer Erzählung sind in der Regel menschliche oder aber anthropomorphisierte Akteure. Gülich / Hausendorf (2000) unterscheiden drei narrative Beschreibungsebenen: die Interaktion innerhalb der erzählt wird, den Erzähltext, der innerhalb der Interaktion produziert wird und die Geschichte als Inhaltsaspekt dessen, was erzählt wird (vgl. ebd., S. 371). Diese Differenzierung korrespondiert mit Genettes Unterscheidung von discours, histoire und recit 154 6 Aktuelle Fragestellungen in der Argumentationswissenschaft (vgl. Genette, 2010, S. 11 f.), die vor allem für die Literaturwissenschaft prägend ist. Discours meint hier „die narrative Aussage, den mündlichen oder schriftlichen Diskurs“ (ebd.), histoire die Geschichte als „Abfolge der realen oder fiktiven Ereignisse, die den Gegenstand dieser Rede ausmachen“ (ebd.) und recit die Geschichte als erzählte Geschichte, „den Akt der Narration selber“ (ebd.). Erzählungen sind bestimmt durch eine Abfolge von Ereignissen, innerhalb derer es zu einer Veränderung kommt. Sie weisen einen wohldefinierten Anfang und ein wohldefiniertes Ende auf und werden damit als abgeschlossen konstruiert. Für Alltagserzählungen haben Labov / Waletzky (1967 / 1997) ein Modell entworfen, das auch heute noch als Referenzpunkt vieler linguistischer Studien zum Erzählen dient. Danach besteht eine Alltagserzählung aus einem Abstract, einer Orientierung, einer Komplikation, einem Resultat (der Auflösung der Komplikation) und einer Coda. Hinzu kommt die Evaluation, die die Autoren ursprünglich als eigenen Teil sehen, später aber als die Erzählung übergreifend fassen. Diese Struktur lässt sich am besten an einem Beispiel erläutern. Der Zeilensprung markiert die einzelnen Teile. JUROR 3: [Abstract] || Endlich! Sprechen wir endlich über Tatsachen! Lassen wir die persönlichen Gefühle zu Hause! [Orientierung] || Da ist ein alter Mann, der im zweiten Stock wohnt, direkt unter dem Mordzimmer. [Komplikation] || Er hat ausgesagt, es habe sich wie ein Kampf angehört, und dann habe der Junge laut gerufen: „Ich bring dich um“! Er hat es deutlich verstanden! Eine Sekunde später fiel ein Körper zu Boden, und er lief zur Wohnungstür, sah hinaus - und was sah er? Das Bürschlein rannte die Treppe runter und aus dem Haus. Dann holte er die Polizei. Sie fanden den Vater mit einem Messer in der Brust … und der Gerichtsarzt stellte fest, daß der Tod um Mitternacht eingetreten sein muß. [Evaluation] || Das sind Tatsachen. Tatsachen lassen sich nicht widerlegen. [Auflösung] || Der Junge ist schuldig! Daran gibt’s nichts zu rütteln. [Coda] || Ich bin nicht so sentimental wie ein gewisser Herr. Mir ist auch bekannt, daß der Junge erst neunzehn ist, aber das schützt ihn nicht davor, daß er für seine Tat bezahlen muß. Ein Abstract ist in dieser Erzählung der Zeugenaussage eigentlich nicht notwendig, da der Sprecher nicht erläutern muss, worum es geht, denn dies ist kontextuell gegeben. Es geht darum, Gründe für und gegen die Schuld des Angeklagten vorzubringen. Allerdings lassen sich die ersten drei Sätze als eine Form des Abstracts sehen: die Neurahmung von Gefühlen auf Fakten. Die Orientierung dient dazu die Hörerin in Bezug auf die erzählte Situation zu 155 6.1 Argumentation und Narration informieren. Im vorliegenden Beispiel fällt sie sehr knapp aus, sie umfasst nur einen Satz. Dann folgt eine längere Komplikation. Mit dem Hören des vermeintlichen Kampfes und dem Wegrennen des Jungen passiert etwas, das nicht erwartbar war und ungewöhnlich ist. Darauf folgt die Feststellung, dass es sich hier um Tatsachen handelt. Dies kann als Evaluation gewertet werden. Auch das Resultat, die Auflösung, ist sehr knapp: Der Junge ist schuldig. Diese Äußerung ist eigentlich schon eine Weiterführung des eigentlichen Resultats in der Geschichte: Der Junge hat seinen Vater umgebracht. Mit der Coda holt der Sprecher die Perspektive wieder aus der erzählten Situation in das Hier und Jetzt. Ursprünglich hatten Labov / Waletzky (1967 / 1997) auch den Aspekt der Evaluation zwischen Komplikation und Auflösung platziert. Die Evaluation bewertet das Erzählte und teilt so auch der Rezipientin mit, wie sie das Erzählte einschätzen soll. Damit kann die Evaluation für die argumentative Funktion von Erzählungen von besonderer Bedeutung sein. Diese Funktion haben die Autoren später allen Teilen der Erzählung zugeordnet, als eine Aufgabe, die durchgehend bearbeitet werden muss. Zudem sollte die Erzählerin in der Lage sein, die Relevanz der Geschichte-- ihre tellability oder Erzählwürdigkeit-- innerhalb des Erzählens herzustellen. In Gesprächen beansprucht das Erzählen einer Geschichte in der Regel einen vergleichsweisen langen Zeitraum. Dies muss der Erzähler dadurch „rechtfertigen“, dass er etwas Neues, Interessantes, Ungewöhnliches erzählt. Dieses Modell der Struktur von Alltagsgeschichten ist wie gesagt vor allem in der linguistischen Forschung sehr einflussreich. Es wurde aber auch kritisiert, insbesondere in Bezug auf die Daten, auf die sich die Analyse von Labov / Waletzky (1967 / 1997) stützt. Grundlage ihrer Analyse sind elizitierte, also hervorgerufene, Geschichten. Diese Geschichten sind die Antwort der Probanden auf die Frage der Forscher „Were you ever in a situation where you thought you were in serious danger of getting killed? “ Durch diese Frage werden Geschichten erhoben, die einen starken Wendepunkt haben (also den Umschlag von Komplikation zu Auflösung) und die vollständig erzählt werden. Gerade Letzteres ist in Alltagserzählungen oft nicht der Fall, aber auch in institutionellen Erzählungen werden Geschichten oft nur aufgerufen und nicht vollständig erzählt (vgl. Kapitel 6.1.4 zu Abstraktionsgraden der Narration). 6.1.1 Narration und Argumentation in der klassischen Rhetorik Narration und Argumentation sind neben der Einleitung und dem Schluss die Hauptbestandteile des klassischen Redeaufbaus. Schon in der klassischen Rhetorik werden die zwei Redeteile eng verbunden und dienen der Persuasion, sie sind auf ein Publikum gerichtet. „Denn die Erzählung ist ja nicht dazu erfunden, daß der Richter eine Sache nur kennenlernt, sondern weit mehr dazu, daß er ihr zustimmt“ (Quintilianus, 2011, IV 2, 21). Diese persuasive Funktion der Narration zeigt sich in ihrem Platz im Redeaufbau: Die narratio soll die argumentatio vorbereiten, ist aber oft auch eng mit ihr verbunden. Knape (2003) fasst die rhetorische narratio als einen Text, in dem „ein als Handlungsablauf faßbares Geschehen mitgeteilt“ (S. 98) wird. Weiter schreibt Knape: „Ihre Funktion besteht darin, erzählerisch die Ausgangsereignisse, d. h. jenes Geschehen zu vergegenwärtigen, auf das sich die folgende, logisch-syllogistisch strukturierte, beweisende Argumentation bezieht“ (2003, S. 98). In diesem Sinne wäre die 156 6 Aktuelle Fragestellungen in der Argumentationswissenschaft narratio nicht selbst argumentativ, würde die Argumentation aber vorbereiten und rahmen. Allerdings sind narratio und argumentatio auch nicht immer klar voneinander abgegrenzt, beide Redeteile können miteinander verwoben sein. In der klassischen Rhetorik werden drei Anforderungen an die narratio gestellt: Sie soll kurz, klar und wahrscheinlich sein. Anaximenes führt diese Anforderungen folgendermaßen aus: Wenn man von sich aus als Versammlungsredner Geschehenes zu berichten, Gegenwärtiges zu klären, Kommendes auszusagen hat, soll man dies kurz, klar und überzeugend tun, klar, damit man erkennt, worum es sich handelt, kurz, damit man es auch behalten kann, was gesagt wurde, überzeugend, damit die Zuhörer nicht unsere Ausführungen abfällig beurteilen, bevor wir unsere Gedanken durch Überzeugungsmittel und Rechtfertigungen gesichert haben. (Anaximenes, 1959, S. 31) Auch Quintilian stellt fest, die Erzählung „solle klar, kurz und wahrscheinlich sein“ (Quintilianus, 2011, IV 2, 31). Das Kriterium der Wahrscheinlichkeit ist dabei besonders wichtig, wenn die argumentative Funktion der Narration besprochen wird. So unterscheidet Aristoteles die Eignung von Erzählungen für die Überzeugung nach ihrer Wahrscheinlichkeit (vgl. Kapitel 6.1.4). 6.1.2 Narration und Argumentation in der modernen Rhetorik und Argumentationstheorie In der modernen Rhetorik hat die Verbindung von Narration und Argumentation insbesondere durch Walter Fisher (1987) mit seinem Konzept der narrativen Rationalität und der Formulierung eines narrativen Paradigmas Aufwind bekommen. Dieser Ansatz ist im engeren Sinne nicht argumentationswissenschaftlich, aber sehr einflussreich. Fisher selbst beschreibt seinen Ansatz als relevant für Rhetorik und Argumentation (vgl. Fisher, 1987, S. 58). Ausgangspunkt für Fisher ist die Annahme, dass Menschen ihr Leben und ihre Erfahrungen mit der Welt grundsätzlich als Geschichten verstehen. Erzählen ist demnach die grundlegende Tätigkeit und der grundlegende Verstehensmodus des Menschen. „Humans are essentially storyellers“ (Fisher, 1987, S. 64). In Anschluss an MacIntyre (1981) spricht Fisher vom homo narrans. Er möchte durch das Konzept der Narration eine Verbindung von Logik und Rhetorik erreichen. Diese Verbindung von technischer Rationalität (‚Logik‘) und narrativer Rationalität (‚Rhetorik‘) versteht er dabei als eine Wieder-Verbindung zweier Konzepte, deren Trennung ein Produkt der Kritik an der Rhetorik seit der Zeit der Sophisten im 5. Jahrhundert vor Christus sei. Logik definiert Fisher folgendermaßen: „I use ‚logic‘ here to designate a systematic set of procedures that will aid in the analysis and assessment of elements of reasoning in rhetorical interactions“ (1987, S. 106). Den Ursprung dieser technischen Rationalität verortet er in der Analytik und Dialektik Aristoteles’. Aber auch die narrative Rationalität und die rhetorische Logik sind bei Fisher Bereiche der Argumentationswissenschaft. Durch die Bezugnahme auf die Arbeiten von Perelman / Olbrechts-Tyteca (2004a, 2004b) und Toulmin (2003) gründet Fisher seine Ausführungen zur Narration auch auf argumentationswissenschaftlichen Theorien. 157 6.1 Argumentation und Narration Narrative Rationalität ist nach Fisher (1987) durch zwei Gesichtspunkte bestimmt: Die narrative Kohärenz (coherence) und die narrative Erklärmächtigkeit (fidelity). Geschichten müssen entsprechend in sich kohärent sein, um zu überzeugen. Sie müssen aber auch zu den Geschichten passen, die die Adressatinnen bereits für wahr halten. Dieses Postulat der narrativen Erklärmächtigkeit bietet Verbindungen zum Enthymem als rhetorischem Beweismittel. Die Adressaten setzen bei Leerstellen das ein, was sie selbst wissen und für wahr halten (vgl. Kapitel 4.1.2). Durch Narrationen selbst werden, so Fisher, gute Gründe gegeben. Dieser scheinbar alltagssprachliche Begriff ist von Wallace (1963) eingeführt worden. Die guten Gründe beziehen sich auf die einzelnen Geltungsansprüche, die mit einer Narration verbunden sind (Fisher, 1987, S. 105); „those elements that provide warrants for accepting or adhering to the advice fostered by any form of communication that can be considered rhetorical“ (S. 107). Gute Gründe in Wallaces Sinne beziehen sich auf Werte-Entscheidungen, nicht auf die Entscheidung über Faktizität (vgl. Wallace, 1963, S. 240). In Anlehnung daran nennt Fisher (1987) fünf Punkte zur Evaluation narrativer Rationalität. Mit ihrer Hilfe lassen sich Narrationen innerhalb von Rhetorik und Argumentation evaluieren und kritisieren. ▶ „Question of fact: What are the implicit and explicit values embedded in a message? ▶ Question of relevance: Are the values appropriate to the nature of the decision that the message bears upon? ▶ Question of consequence: What would be the effects of adhering to the values? ▶ Question of consistency: Are the values confirmed or validated in one’s personal experience? ▶ Question of transcendent issue: Even if a prima-facie case exists or a burden of proof has been established, are the values the message offers those that, in the estimation of the critic, constitute the ideal basis for human conduct? “ (Fisher, 1987, S. 109) Dabei ist zu bemerken, dass diese Fragen nicht nur an Erzählungen, sondern auch an die nicht-narrativen Teile eines Diskurses gestellt werden können, sie also nicht spezifisch sind für eine narrative Rationalität. Wichtig für den Ansatz Fishers ist aber, dass er Fragen über Wertentscheidungen grundsätzlich als rhetorisch (und nicht logisch-analytisch) zu entscheidende Fragen fasst, die auf Grundlage einer narrativen Rationalität entschieden werden müssen. Welche Geschichte ist in sich kohärent und überzeugend und welche passt am besten zu der Geschichte, die ich schon für wahr halte? Dem Ansatz Fishers folgend, wäre jede Argumentation erzählend. Die Reaktion auf Fishers Ansatz fiel gemischt aus. Ein Kritikpunkt war und ist, dass das zentrale Konzept des Ansatzes-- die Narration-- nicht klar definiert ist. Fisher fasst Narration folgendermaßen: „By ‚narration‘ I mean symbolic actions-- words and / or deeds-- that have sequence and meaning for those who live, create, or interpret them.“ (1987, S. 58) Diese Beschreibung umfasst abgesehen von dem von Fisher genannten Kriterium einer zeitlichen Dimension (sequence) nicht die oben genannten grundlegenden Kriterien für eine Narration. Eine klare Definition ist aber notwendig, gerade bei einem so weit genutzten Begriff wie dem der Narration. Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass Fisher seinen Ansatz einen Paradigmenwechsel nennt und damit mehr für ihn in Anspruch nimmt, als die meisten Autorinnen ihm 158 6 Aktuelle Fragestellungen in der Argumentationswissenschaft zugestehen wollen: ein interessanter theoretischer Ansatz ja, ein Paradigma nein. Daran anschließend wird herausgestellt, dass die Narration in der klassischen Rhetorik immer schon eine wichtige Position im Überzeugungsprozess hatte. In jedem Fall hat Fisher mit seinem Ansatz den Gegenstand der Narration stärker in den Fokus der Argumentationswissenschaft gerückt und eine Reihe von Forschungsarbeiten inspiriert. Neben der grundlegenden Arbeit von Fisher gibt es weitere Ansätze zur Verbindung von Argumentation und Narration. Eine zentrale Frage ist dabei jeweils, in welchem Verhältnis Argumentation und Narration stehen. In der Linguistik werden Narration und Argumentation (neben Deskription) häufig als distinkte Textsorten oder Diskursstrukturen verstanden (vgl. Kapitel 2.1.5). Allerdings bringt der Begriff des Erzählens, ähnlich wie der des argument im Englischen, eine gewisse Unschärfe mit. So kann Erzählen als übergeordneter Begriff für verschiedenste sprachliche Verfahren genutzt werden, kann aber auch in Opposition zu beispielsweise Berichten, Erklären etc. Verwendung finden (vgl. Gülich & Hausendorf, 2000, S. 370). In der Interaktionslinguistik und in der Gesprächsanalyse ist das Verhältnis von Argumentation und Narration durchaus schon thematisiert worden. So gehen Deppermann / Lucius-Hoene (2006) weniger von Argumentation und Narration als zwei unterschiedlichen Textsorten aus, vielmehr fassen sie Argumentation als die mögliche Funktion narrativer Texte. Einen weiteren Ansatz zu Verbindung von Argumentation und Narration hat Korsten (1998) vorgelegt. Er analysiert kulturwissenschaftliche Arbeiten aus narrativer und argumentativer Perspektive. Für die letztere folgt er dem Modell der Pragma-Dialektik. Seine Arbeit unterscheidet klar zwischen Narration und Argumentation als unterschiedlichen Vertextungsmustern: In a narrative an agent is narrating, by means of which activity this agent is giving his or her vision of an ordered sequence of actions leading to events. In an argument an agent is proposing something, by means of which activity this agent is giving his or her vision of a reasonably coherent constellation of propositions which are adduced for a standpoint (Korsten, 1998, S. 13). Diese unterschiedlichen Muster interagieren nun, so Korsten, in dreierlei Hinsicht: Narration und Argumentation können sich wechselseitig rahmen, indem ein Muster dominiert. Zwischen dem semantischen Gehalt von Argumentation und Narration kann es zu Konvergenz oder Diskrepanz kommen, da Narrationen „subservient“ oder subversiv sein können, also die Argumentation unterstützen oder gegenläufig zu ihr sein können. Und als Drittes gilt Argumentation eher als rationales Verfahren, Narration eher als irrationales (vgl. Korsten, 1998, S. 8). Damit beschreibt Korsten das Verhältnis von Argumentation und Narration als Interaktion, aber als Interaktion von distinkten Strukturen. Stärker argumentationswissenschaftlich fundiert ist der Ansatz Lo Cascios. Lo Cascio (2003) vergleicht Narration und Argumentation in Bezug auf strukturelle Merkmale und den epistemischen Status verschiedener Textteile. Wenn er in seiner Zusammenfassung auch eher zu den schon bekannten Befunden kommt, dass Narrationen argumentativ unterstützend sein können und innerhalb von Narrationen argumentiert wird (vgl. Lo Cascio, 2003, S. 689), beschreibt Lo Casico doch einige interessante Aspekte bei der Veränderung 159 6.1 Argumentation und Narration von Textbestandteilen in Bezug auf ihren epistemischen, auf Wissen bezogenen, Status, je nachdem ob sie erzählend oder argumentierend sind. So beschreibt er Narration als bestimmt durch die temporale Verknüpfung zweier Ereignisse. Diese Ereignisse wiederum sind situiert und die Situation ist im Gegensatz zum Ereignis temporal offen. Die Situation kann allerdings als potenzielles, aber schon bekanntes Ereignis gesehen werden. Ähnlich kann ein Ereignis für die weiterführende Erzählung die Funktion der Situierung übernehmen und bildet dann die Hintergrundinformation (vgl. Lo Cascio, 2003, S. 686 f.), auf der neue Ereignisse zu verstehen sind. Damit ändert sich auch der epistemische Status von Nicht-mehr-Ereignissen zu Situationen. „The events changing into situation in the world become, so to say, part of the memory of that world where they have left a trace“ (Lo Cascio, 2003, S. 686) und „The epistemic modality changes narration into argumentation! “ (S. 687) Narrationen können also als Argumente behandelt werden und werden damit aus ihrer situativen und zeitlichen Verbindung herausgelöst. Das Verhältnis von Erzählen und Argumentieren ist bis hierher aus argumentationswissenschaftlicher Sicht betrachtet worden. Und zwar mit der leitenden Fragestellung: Unter welchen Bedingungen können bestimmte narrative Formen eine argumentative Funktion haben? Die Verbindung von Narration und Argumentation umfasst aber auch die Frage nach der argumentativen Struktur von Narrationen. So stellt Carranza (2015) einen Ansatz vor, der das Verhältnis von Argumentation und Narration in beiderlei Hinsicht untersucht: Narrationen als Argumentation und die argumentative Struktur von Narrationen. Dabei scheint für sie der Begriff der „argumentativity“ leitend zu sein, der ähnlich dem der Narrativität Texten verschiedene Grade an argumentativer Kraft zuordnet. „Argumentativity is a question of degree, and that manifestations of the argumentative mode of discourse can be examined both at the level of the genre and at the level of the textual surface“ (Carranza, 2015, S. 58). Narrativität und Argumentativität werden hier zu Tendenzen innerhalb eines Textes. Dass Erzählungen als Gründe angeführt werden und die Funktion von Prämissen übernehmen, also nicht illustrierend, sondern substanziell für die Argumentation sind, ist insbesondere für das juristische Feld gezeigt worden. Das juristische Feld und der juristische Fall eignen sich deshalb besonders gut für eine Analyse von Narration und Argumentation, da alle in einen Fall eingeführten Aussagen Teil einer argumentativen Strategie sind und auf eine Konklusion hinführen. 6.1.3 Narration und Argumentation im Recht: die Blaupause Den Protagonisten der rhetorischen Wende in der Argumentationstheorie Ende der 1950er Jahre war eines gemeinsam, sie wählten den Rechtsstreit als Blaupause für die Entwicklung ihres Ansatzes (vgl. auch Kap 4.2). Die paradigmatische Funktion des Rechtsstreits, die auch andere Bereiche der Rhetorik betrifft, ist förderlich, um das Verhältnis von Narration und Argumentation zu untersuchen, da beide Formen einen wichtigen Platz im Rechtsstreit einnehmen. Schon Aristoteles verweist darauf, dass die rhetorische Narration ihren Platz wohl in erster Linie in der Gerichtsrede habe (Aristoteles, 2002, 1414a). 160 6 Aktuelle Fragestellungen in der Argumentationswissenschaft Im Rahmen des narrative turn hat sich die zeitgenössische juristische Rhetorik zunehmend dem Erzählen im Recht zugewendet. So argumentiert White (1987), dass die Tätigkeit von Verteidigerinnen, und darüber hinaus das Recht an sich, von Natur aus narrativ sind. At its heart it [the law] is a way of telling a story about what has happened in the world and claiming a meaning for it by writing an ending to it. The lawyer is repeatedly saying, or imaging himself or herself saying: „Here is ‚what happened‘; here is ‚what it means‘, and here is ‚why it means what I claim‘.“ (White, 1987, S. 305) White bindet hier das Erzählen von Geschichten nicht nur an Persuasion, sondern auch an Argumentation. Geschichten werden argumentativ genutzt. Hoffmann (1980) schreibt in einer Erzählanalyse zu der Verbindung von Argumentation und Erzählen: Typisch für diese Erzählform ist, daß alle Elemente des narrativen Kerns zu Prämissen oder Konklusionen für verfahrensrelevante Schlüsse werden können. Oft sind bestimmte Prämissen, Zwischenschritte oder Schlußregeln ausgelassen-- manchmal aus strategischen Gründen, um sie nicht explizit behaupten oder verteidigen zu müssen--, so daß man von ‚enthymemisch-argumentativen Erzählstrukturen‘ reden könnte. (Hoffmann, 1980, S. 41) Hier bekommt die Erzählung damit den Status einer Prämisse (und einer Konklusion), denn durch das Erzählen wird zumindest eine Konklusion impliziert, die der argumentativen Strategie der Rednerin entspricht. Wenn im Rechtsstreit professionelle Akteure (Richter, Staatsanwälte, Verteidigerinnen) oder sehr geübte Laien vor Gericht erzählen, kommt hinzu, dass sie implizit Rechtsnormen aufrufen, unter die die Geschichte als konkrete Fallerzählung subsumiert werden könnte. Zudem haben Aussagen im rechtlichen Feld-- zumindest diejenigen von Zeugen-- einen besonderen Anspruch auf Faktizität, der im Strafrecht mit der Aufgabe der Wahrheitsfindung korrespondiert. „Charakteristisch für die Erzählform ist jedenfalls die Erstreckung des Wahrheitsanspruchs auf die erzählten Sachverhalte und die in einer Kommentierung gegebene oder zu folgernde Einschätzung durch den Betroffenen“ (ebd.). Die Äußerungen beziehen sich auf eine Streitfrage und bearbeiten diese. Mit einem Interesse an den Karrieren von Aussagen im Straffall hat Hannken-Illjes (2006b, 2007) das Verhältnis von Argumentation und Narration als ein Wechselspiel von narrativem Öffnen von Prämissen und argumentativem Schließen von Erzählungen beschrieben. Dabei weist das Verfahren im deutschen Strafrecht Punkte auf, an denen narrative Beiträge (Zeugenaussagen, Beschuldigtenvernehmungen) in Prämissen überführt werden, die dann als Basis für rechtliche Schlüsse dienen. Damit werden vormals personal und temporal situierte, spezifische Darstellungen von Ereignissen ent-situiert und als Prämissen nutzbar gemacht. So werden im Strafverfahren von Zeugen und von Beschuldigten anfangs Geschichten erzählt, die dann in einem nächsten Schritt in einer verdichteten Erzählung als Prämisse für die Anklage dienen. Wie Lo Cascio (2003) feststellt: „Narration is primarily dominated by the temporal and by the aspectual modality. Argumentation is dominated by the sequential order of the two categories: standpoint-justification“ (S. 688). In der Hauptverhandlung wird diese kondensierte narrative Prämisse wieder geöffnet, indem sie von verschiedenen Per- 161 6.1 Argumentation und Narration sonen (als Zeugen) als eigene Geschichte wieder erzählt werden muss. Dabei unterscheiden sich in den Arbeiten zur Narration im Recht die untersuchten Ebenen der Narration je nach Ansatz. Konzentrieren sich einige Ansätze auf die kognitive Geschichte, die sich in der Vorstellung der Jury und des Gerichts aus den verschiedenen einzelnen Aussagen und Beweisen ergibt, so fokussieren andere Ansätze eher die verschiedenen (Mikro-) Geschichten, die von den verschiedenen Teilnehmerinnen erzählt werden und einander durchaus widersprechen können. Hinzu kommt eine narrative Ebene, auf der die einzelne Geschichte nicht auserzählt, sondern als Fragment präsentiert oder aufgerufen wird (vgl. Hannken-Illjes, 2006b), eine Ebene ähnlich der, die Georgakopoulou (2006) mit ihrem Konzept der small stories bearbeitet. Diese Frage nach den Abstraktionsebenen des Erzählens in der Argumentation ist gemeinsam mit der Frage nach der Faktualität und Fiktionalität eine der interessantesten Forschungsfragen momentan, beide sollen hier im Folgenden ausgeführt werden. 6.1.4 Abstraktionsebenen des Erzählens In der Darstellung und Diskussion der Verbindung von Argumentation und Narration zeigte sich, dass Erzählen auf unterschiedlichen Abstraktionsstufen verortet wird. Eine zentrale Frage ist deshalb, welche Abstraktionsebene die Erzählung aufweist. So geht Fisher (1987) eher von einer Erzählung als Metanarrativ aus, einer Geschichte, die sich aus dem Diskurs rekonstruieren lässt, aber nicht vollständig auserzählt wird und eher auf einer höheren Abstraktionsebene angesiedelt ist. Eine solche Geschichte wäre die Geschichte des Rechtsstaates oder der Annahme, dass ein Angeklagter unschuldig ist, bis seine Schuld bewiesen ist. Beides lässt sich als Narration denken, wird aber im Diskurs in der Regel nicht explizit erzählt. Auf dieser Abstraktionsstufe hat die Narration starke Verbindungen zum Topos und seiner argumentativen Funktion. Eine darunter angesiedelte Abstraktionsebene ist die kognitive Geschichte, wie sie von Quasthoff (1980) eingeführt wurde. Diese fasst ein Ereignis als Geschichte auf, aber so, wie es die Erzählerin verarbeitet und sich gemerkt und damit auch schon mit Bewertungen verbunden hat. Zudem kann die kognitive Geschichte als das gesehen werden, was von den Beteiligten innerhalb einer Erzählsituation als Geschichte konstruiert wird, ohne dass notwendigerweise die gesamte Geschichte erzählt wird. Im Gerichtssaal beispielsweise bildet sich eine solche Geschichte des Tathergangs im Kopf der Hörerinnen, hervorgerufen durch die einzelnen Geschichten, die von verschiedenen Personen erzählt werden. JUROR 3: Seien wir doch mal vernünftig! Sie haben im Gerichtssaal gesessen und genau die gleichen Dinge gehört wie wir alle. Der Bursche ist ein gemeingefährlicher Mörder. Das haben Sie ihm doch angesehen. 162 6 Aktuelle Fragestellungen in der Argumentationswissenschaft Wenn Juror 3 hier darauf verweist, dass sie doch alle das Gleiche gehört haben und deshalb doch auch die gleiche Geschichte der Tat konstruiert haben müssten, verweist er auf eine solche kognitive Geschichte. Unterhalb dieser Formen lassen sich Mikroerzählungen ansiedeln, die in sich abgeschlossen von einer Begebenheit erzählen. Dies wären Erzählungen im Sinne des Modells von Labov / Waletzky (1967 / 1997) oder auch die einzelnen Zeugenaussagen in einem Fall. Nun werden allerdings häufig Erzählungen im Diskurs nicht voll auserzählt, sondern eher aufgerufen oder anerzählt. Die Erzählung taucht dann eher als Fragment denn als geschlossene Form auf. JUROR 10: Und was ist mit der Frau auf der andern Straßenseite? Wenn ihre Aussage nichts beweist, dann können mir alle Beweise gestohlen bleiben. JUROR 11: Ja, allerdings - die Frau hat als einzige den Mord mitangesehen. JUROR 1: Der Reihe nach, wenn ich bitten darf. Juror 10 ruft hier eine Geschichte auf, die die anderen kennen. Dadurch erzählt er nicht vollständig, nutzt die Geschichte aber als eine argumentative Ressource. Georgakopoulou (2006) und Bamberg / Georgakopoulou (2008) nennen diese Form der Erzählungen „narratives-in-interaction“ oder „small stories“. Aus argumentationswissenschaftlicher Sicht ist interessant wie die verschiedenen Ebenen interagieren und welche der Abstraktionsebenen von Narrationen für die Argumentation besonders relevant sind. 6.1.5 Faktualität und Fiktionalität von rhetorischen und argumentativen Narrationen Eine weitere aktuelle Frage im Verhältnis von Narration und Argumentation ist die nach dem Wirklichkeitsbezug der Narration. Die von der rhetorischen Erzählung geforderte Wahrscheinlichkeit sollte nicht mit einem Anspruch auf Wahrheit oder auf Repräsentation der Wirklichkeit verwechselt werden. Dies wird schon bei Aristoteles deutlich, wenn er die Fabel als eine der narrativen Formen nennt, die in der Rede genutzt werden können. Aristoteles unterscheidet bei der Erzählung, die Überzeugung hervorrufen soll, drei Formen: die historischen Erzählungen als faktuale, und die Parabel und die Fabel als fiktionale Erzählungen (vgl. Aristoteles, 2002, 1392b). Dabei weisen diese narrativen Formen nach Aristoteles eine sinkende Plausibilität auf. Die historische Erzählung wird als die „wahrscheinlichste“ betrachtet und ist damit am besten geeignet, Überzeugung hervorzurufen. Dies hängt nach Aristoteles allerdings auch vom Publikum ab, so schreibt er: Die Fabeln sind für die Rede vor der Menge geeignet, und sie haben den Vorteil, dass es schwierig ist, ähnliche Dinge, die tatsächlich geschehen sind, zu finden, Fabeln (zu erfinden) aber einfach.-… Leichter verfügbar sind also die durch Fabeln erbrachten Beispiele, nützlicher für das Beraten sind 163 6.1 Argumentation und Narration aber die Beispiele aufgrund von tatsächlich Geschehenem; in der Regel ist nämlich das, was künftig geschehen wird, dem schon Geschehenen ähnlich. (Aristoteles, 2002, 1394a) Auch wenn die faktuale Erzählung vorzuziehen ist, so kann nach Aristoteles auch die fiktionale Erzählung Überzeugung erreichen. Bei Erzählungen im juristischen und auch im politischen Raum handelt es sich um das, was Klein und Martínez „Wirklichkeitserzählungen“ nennen. „Anders als in den erfundenen Geschichten der Literatur bezieht man sich in diesen Erzählungen direkt auf unsere konkrete Wirklichkeit und trifft Aussagen mit einem spezifischen Geltungsanspruch: ‚So ist es (gewesen)‘.“ (Klein & Martínez, 2009, S. 1) Dabei entscheiden sich Klein / Martínez, angelehnt an Genette, für die Unterscheidung in faktual / fiktional und nicht in real / fiktiv. Wo die zweite Unterscheidung „auf den ontologischen Status der dargestellten Sachverhalte zielt“ (S. 2), unterscheidet die erste nach Realitätsbezug und Geltungsanspruch für diese Realität. Faktuale und fiktionale Erzählungen unterscheiden sich vor allem durch die Zurechenbarkeit von Geltungsansprüchen. Textpragmatisch zeichnen sich faktuale Erzählungen im Gegensatz zu fiktionalen dadurch aus, dass der Autor zugleich auch Erzähler seines Textes ist. Er muss für die Wahrheit der vorgebrachten Behauptungen einstehen. Verfasser faktualer Texte schließen mit ihren Lesern eine Art Abkommen. In dem sie ihren Text als faktual markieren, sichern sie zu, dass sie wahrhaftig, knapp, klar und relevant berichten (Klein & Martínez, 2009, S. 3). Damit nehmen Klein / Martínez für faktuales Erzählen die klassischen Ansprüche an rhetorische Erzählungen auf. Die (angenommene) Faktualität oder Wahrscheinlichkeit der Erzählung ist die Grundlage ihrer argumentativen Verwendung. Die Erzählstrategien innerhalb von Wirklichkeitserzählungen variieren aber. So findet sich im juristischen Kontext ein erzähltes Geschehen häufig in Berichtsform als narrativem Register. Auf der anderen Seite finden sich auch in faktualen Erzählungen fiktionale Erzählverfahren (vgl. Klein & Martínez, 2009, S. 4). Dabei ist die Frage, ob es textuelle Hinweise oder Zeichen für die Fiktionalität oder Faktualität eines Textes gibt, Gegenstand der Diskussion (vgl. Lagoni, 2016, S. 9 ff.). Interessant ist dabei, dass es, so Lagoni, zwar eine lebhafte Debatte darüber gibt, ob Fiktionalität an bestimmte textuelle Verfahren gebunden ist, aber so gut wie nie thematisiert wird, welche Anzeichen es eigentlich für Faktualität, für Wirklichkeitserzählungen gibt (vgl. S. 11). Insbesondere für die Analyse politischen Diskurses kann die Unterscheidung von faktualer und fiktionaler Narration und ihrer argumentativen Funktion interessant sein. Die argumentative Funktion von Narrationen findet sich in verschiedenen rhetorischen Feldern bzw. Argumentationsfeldern. Ob und vor allem wie Erzählungen unterschiedlich als Argumente genutzt werden, ist bisher kaum vergleichend untersucht worden. Wenn man aber die Einschätzung teilt, dass das Erzählen einen besonderen Zugriff auf menschliche Erfahrung eröffnet und dass Menschen ihre Erfahrungen narrativ organisieren, dann ist diese Verbindung sehr relevant. 164 6 Aktuelle Fragestellungen in der Argumentationswissenschaft 6.2 Multimodalität der Argumentation Argumentation wird in der Regel als verbales Phänomen gesehen: Argumentieren konstituiert sich sprachlich. In den letzten Jahrzehnten sind aber immer mehr Arbeiten zu anderen Formen-- anderen Modalitäten-- der Argumentation entstanden. Die Ansätze zur Multimodalität der Argumentation zielen darauf, Argumentation und Argumentieren möglichst umfassend und ganzheitlich zu erfassen. So kann im Gespräch die Betonung einer Äußerung, aber auch die Organisation des Blickkontaktes für den Argumentationsprozess wichtig sein. Ebenso wird man viele wissenschaftliche Vorträge nicht befriedigend auf ihre Argumentation hin analysieren können, wenn man die gezeigten Folien oder das präsentierte Exponat nicht in die Analyse einbezieht. Groake (2015) nennt als nicht-verbale Modalitäten-- ohne Anspruch auf Vollständigkeit-- „pictures, maps, sounds, diagrams, smells, video-clips, and other nonverbal phenomena which are not propositional in the way that verbal statements are“ (S. 135). Der Begriff der Modalität ist in die Argumentationswissenschaft von Gilbert (1997) eingeführt worden. Er unterscheidet vier Modalitäten: die logische, die emotionale, die körperliche (visceral) und die energetische (kisceral) (vgl. S. 79). Die logische Modalität bezieht sich auf Argumente als verbale, propositionale Einheiten, die emotionale auf den Bereich der Gefühle, die körperliche auf den Bereich von Körper und Stimme und die energetische auf Intuition und nicht sinnlich Erfahrbares. Diese Unterteilung ist nicht unproblematisch. So kann Emotion sowohl sprachlich als auch nicht-sprachlich ausgedrückt werden, überlappt also mit der logischen und der körperlichen Ebene. Zudem ist fraglich, ob Intuition Gegenstand einer Argumentation sein kann oder sich nicht gerade dem argumentativen Austausch entzieht. Sicher kann Intuition persuasiv wirken, aber Persuasion ist nicht deckungsgleich mit Argumentation. Auf Grund dieser begrifflichen Unklarheiten übernehme ich die Einteilung von Gilbert (1997) nicht. Wenn im Folgenden von Modalitäten die Rede ist, sind damit unterschiedliche, auch nicht-verbale Formen gemeint, die entweder eine argumentative Funktion einnehmen oder Argumentation rahmen. Diese Modalitäten können entweder mit verbaler Argumentation gekoppelt sein oder eigenständig auftreten. Modalitäten sind unterschiedliche, auch nicht-verbale Formen, die entweder eine argumentative Funktion einnehmen oder Argumentation rahmen. Diese Modalitäten können entweder mit verbaler Argumentation gekoppelt sein oder eigenständig auftreten. Mit der Frage nach verschiedenen Modalitäten kommen die Materialitäten der Kommunikation und der Argumentation in den Blick: die Leinwand, auf die ein Bild gemalt ist, das Ensemble von Computer, Beamer und Leinwand bei einer Präsentation, die Stimme in mündlicher Argumentation. Diese verschiedenen Materialitäten bringen je eigene „argumentative Möglichkeiten“ mit. Ein Exponat, das im Publikum herumgereicht wird, kann angefasst und erspürt werden, ein Film muss visuell und auditiv rezipiert werden. Mit der Einbeziehung anderer symbolischer Formen und Ausdrucksebenen stellt sich aber auch die Frage, welche jeweilige Bedeutung sie für die Argumentation haben. Begleiten und rahmen 165 6.2 Multimodalität der Argumentation sie Argumentation oder fungieren sie als Gründe? Kann ein Bild, eine Körperbewegung, ein Gegenstand ein Argument, eine Begründung sein? Es gibt eine Reihe von Arbeiten zur Verbindung von Argumentation und den verschiedensten nicht-sprachlichen Bereichen: Architektur, Tanz, Musik, um nur einige zu nennen. Drei Bereiche sind allerdings in den letzten Jahren und Jahrzehnten besonders beachtet worden: die visuelle Argumentation, die Stimme und der Körper als Mittel im argumentativen Austausch sowie die Rolle, die Dinge in der Argumentation spielen können. 6.2.1 Visuelle Argumentation Kjeldsen (2015, S. 115) nennt das Jahr 1996 als das Geburtsjahr der visuellen Argumentation bzw. der argumentationswissenschaftlichen Beschäftigung mit Bildern und visuell Wahrgenommenem. Die Hauptgenres der visuellen Argumentation sind nach Kjeldsen (2015, S. 120) Werbung, Cartoons und Abbildungen in wissenschaftlicher Kommunikation. Diese Genres bieten sich deshalb besonders an, da sie persuasive Genres sind. Obwohl die Feststellung, dass Bilder eine argumentative Funktion haben können, auf den ersten Blick plausibel zu sein scheint, stellt sich bei genauerem Hinsehen heraus, dass „Bild“ als Kategorie wahrscheinlich deutlich zu weit gefasst und zu unbestimmt ist. Das Foto vom Tatort im Rahmen eines Strafverfahrens, ein Diagramm innerhalb eines wissenschaftlichen Vortrags und das Bild einer lachenden Familie in einer Margarinewerbung unterscheiden sich sowohl in der Art des Bildes als auch in der argumentativen Funktion. Gronbeck (2007) bietet in seiner Arbeit zur visuellen Argumentation eine theoretische Einbettung und Differenzierung, die für die Beschäftigung mit Bildern als Argumenten sehr produktiv ist. Er entwickelt diesen Ansatz im Rahmen einer Fallstudie zu den Fotografien von Jacob Riis. Riis hat im ausgehenden 19. Jahrhundert Einwanderer in New York fotografiert: in ärmlichen Verhältnissen, bei Nacht, große Familien beengt in einem Zimmer, unnatürlich erleuchtet durch den starken Blitz des Fotografen. Die Karriere dieser Bilder hat Gronbeck fasziniert. Er stellt fest, dass die Rolle von Bildern und speziell von Fotos für die Argumentation von der Beziehung dieser Objekte zu anderen Aspekten des Diskurses abhängt: von den theoretischen Ansätzen der Argumentierenden, von den materialen Charakteristika des Bildes und von den Konzepten von Visualität und „Bild“, denen die Argumentierenden im Allgemeinen folgen. Dabei unterscheidet Gronbeck den semiotisch-strukturalistischen, den phänomenologischen und den kulturkritischen Ansatz. Diese drei Ansätze, so Gronbeck, unterscheiden sich hinsichtlich dessen, was sie als den zu untersuchenden Text fassen, wenn sie Visuelles analysieren. ▶ Der semiotisch-strukturalistische Ansatz versteht das Bild als Text und untersucht es in Bezug auf seine symbolische Struktur. In welchem Verhältnis stehen die Zeichen des Bildes zu bestimmten Bedeutungen, die das Bild vermittelt? ▶ Der phänomenologische Ansatz hingegen konzentriert sich auf das subjektive Erleben der Rezipienten. Was erlebe ich als Betrachterin im Betrachten, was nehme ich wahr, wie lässt sich diese Wahrnehmung beschreiben? Der Text ist hier die Betrachterin selbst. 166 6 Aktuelle Fragestellungen in der Argumentationswissenschaft ▶ Die kulturalistische Perspektive schließlich konzentriert sich auf die Bilder als Zeugnisse gesellschaftlicher und kultureller Vorgeformtheit unserer Wahrnehmung. Als Text fungieren hier die sozio-politischen Normen, die aus dem Bild rekonstruiert werden können. Gronbeck (2007) folgert aus dieser Aufschlüsselung von Perspektiven, dass Bilder auch innerhalb der Argumentation ganz unterschiedliche Funktionen erfüllen können: ▶ als Evidenz, wenn das Bild eine Prämisse ersetzt ▶ als Illustration, wenn es einen Sachverhalt veranschaulichen soll ▶ als Artefakt, wenn das Bild als künstlerische Form behandelt wird ▶ als Datum / Datenmaterial, wenn das Bild dazu dient, eine These zu unterstützen oder zu widerlegen Wenn man Gronbeck (2007) folgt, ist also die Frage, ob Bilder Argumente sein können und eine argumentative Funktion erfüllen können, zu kurz gegriffen: „The social contexts or perceptual fields within which photos are put not only make them into different objects but also enable them to do different argumentative work“ (S. 546). Gronbeck (2007) fordert eine stärkere, auch theoretische Differenzierung des Gegenstandes „Bild“, ist aber zugleich einer der Vorreiter in der Verbindung von visueller Kommunikation und Argumentation. Innerhalb der Argumentationswissenschaft gibt es aber deutliche Kritik an dem Ansatz der visuellen Argumentation. Sollten Bilder überhaupt in den Bereich der Argumentation und der Argumentationstheorie einbezogen werden? Kjeldsen (2015) identifiziert zwei Formen des „Widerstandes“ gegen das Konzept visueller Argumentation: eine passive und eine aktive. Als passive versteht Kjeldsen die, die von Argumentation als rein verbaler Aktivität ausgeht. Darunter zählt er Wissenschaftlerinnen wie Toulmin und Perelman / Olbrechts-Tyteca. Dies scheint eine etwas unfaire Einordnung zu sein, da sie unterstellt, dass diese Autoren sich gegen etwas implizit gewehrt haben, was zur Zeit ihres Wirkens noch gar nicht Teil des argumentationswissenschaftlichen Diskurses war. Der aktive Widerstand ist interessanter und wirft auch Fragen auf, die argumentationstheoretisch deutlich wichtiger sind. So ist eine wichtige Frage an Ansätze zur visuellen Argumentation, ob Bilder als Propositionen gesehen werden können und ob der Status als Proposition notwendig ist, um als Bestandteil eines Arguments eingeordnet werden zu können. Groake (2015, S. 138) betont, dass nicht-verbale Argumente als Prämissen fungieren, ohne aber in eine verbale Form umgewandelt zu werden. Hier kann diskutiert werden, ob Bilder nicht eher mehrdeutig und ambig sind (und sich genau dadurch ihre persuasive Kraft bestimmt), im Gegensatz zu sprachlichen Äußerungen, denen klarer-- wenn auch nicht eindeutig-- eine Bedeutung zugewiesen werden kann. 167 6.2 Multimodalität der Argumentation 6.2.2 Stimme und Körper in der Argumentation Mündliche Argumentation beinhaltet immer auch die paraverbale (Melodieverlauf, Rhythmus, Lautheit, Stimmklang, etc.) und die extraverbale (Mimik, Gestik, Blick, Verhalten im Raum) Ebene. In diesem Sinne wird Multimodalität in der Sprechwissenschaft und der Gesprächsforschung häufig als die Verbindung von verbaler, paraverbaler und extraverbaler Ebene gesehen. „‚Multimodale Kommunikation‘ bezeichnet eine Konzeption, die Kommunikation als einen ganzheitlichen und letztlich von der Körperlichkeit der Beteiligten nicht zu trennenden Prozess begreift“ (Schmitt, 2005, S. 18-f.). Eine Modalität ist in diesem Sinne eine Ausdrucksform oder Ausdrucksebene, die kommunikative Relevanz hat oder haben kann. Schmitt (2005) nennt für die Gesprächsanalyse folgende relevante Modalitäten: „Verbalität, Prosodie, Blickverhalten, Mimik, Gestik, Körperpositur, Körperkonstellation und Körperbewegung“ (S. 19). Ähnlich wie schon für die visuelle Argumentation stellt sich auch hier die Frage, ob Sprechausdruck und Körperausdruck eine rhetorische Wirkung haben, wie diese zu beschreiben ist und ob sie zudem in einer spezifisch argumentativen Funktion identifiziert werden kann. Rhetorisch lässt sich die Multimodalität im Sinne von Sprech- und Körperausdruck unter dem Stichwort der körperlichen Beredsamkeit fassen. Die Stimme (und der Körper) hatten immer schon einen Platz in der Rhetorik (vgl. Schulz, 2014). Beide fallen in den Bereich der actio, des letzten der fünf Bearbeitungsstadien der klassischen Rede. Der actio wurde über lange Zeit in der Rhetorik eher wenig Beachtung geschenkt. So greift im 19. Jahrhundert Müller den alten Topos des Demosthenes wieder auf, demzufolge gerade die actio, der Vortrag, „das erste und wichtigste Erfordernis der Beredsamkeit sei“ (Steinbrink, 1992, S. 68). Die Stimme ist in der Rhetorik eng an den Ausdruck von Affekt und damit an das Pathos als Überzeugungsmittel gekoppelt. So konzentriert sich Quintilian, wenn er sich der Stimme widmet, auf ausdruckspsychologische Fragen und spricht der Stimme in der Rhetorik vor allem die Funktion der Affektion zu: „Ihre Funktion liegt somit nicht nur in der Vermittlung von Stimmungen, sondern sie selbst ruft diese erst hervor“ (Campe, 2009, S. 86). Zugleich kann die Stimme auch die Funktion der Selbst-Affektion haben. Stimmliches, das ich als Produzentin sende, höre ich auch als Rezipientin (wenn auch in spezifischer Weise)-- ich höre mich selbst und damit wirkt meine Stimme auf mich zurück. Dadurch wird die Stimme als Teil der körperlichen Beredsamkeit wichtig für das Überzeugungsmittel Pathos. Die „Regung des Gemüts muss sich in Stimme, Mimik, Gestik niederschlagen“ (Steinbrink, 1992, S. 43), und sie muss es angemessen tun, um auch die Affekte im Publikum hervorrufen zu können. Die Relevanz der Frage nach der Rhetorizität der Stimme wird besonders in der Betrachtung von Kolesch / Krämer (2006a) deutlich, wenn sie die Stimme als Schwellenphänomen beschreiben. Die Stimme- […] ist immer zweierlei: Sie ist sinnlich und sinnhaft; Soma und Semantik, aisthesis und logos vereinigen sich in ihr. Die Stimme ist aber auch diskursiv und ikonisch; sie sagt und sie zeigt zugleich, in ihr mischen sich Sprachliches und Bildliches. Sie ist überdies physisch und psychisch; Körper und Seele, Materie und Geist bringen beide in ihr sich zur Geltung und prägen ihre phänomenalen Eigenschaften. Schließlich wirkt die Stimme indexikalisch und symbolisch; sie ist 168 6 Aktuelle Fragestellungen in der Argumentationswissenschaft einerseits unverwechselbares Indiz der Person wie andererseits Träger konventionalisierten Zeichengehalts. Die Stimme ist also individuell und sozial (Kolesch / Krämer, 2006a, S. 12, Hervorhebungen im Original). Wenn die beiden Autorinnen von der Stimme als einem Schwellenphänomen sprechen, so referieren sie auf das beständige Hin- und Herschalten zwischen verschiedenen Ebenen, wenn wir Stimmen hören. Wir hören was jemand sagt, die Stimme wirkt aber auch sinnlich auf uns, erzeugt Emotionen. Zudem ist die Stimme indexikalisch, d. h. wir vermuten immer eine Person hinter der Stimme. Damit kommt neben Pathos noch ein weiteres klassisches Überzeugungsmittel in den Blick: Ethos, die Überzeugungskraft, die aus der Person der Rednerin geschöpft wird. Folgt man Kolesch / Krämer (2006a), dann pendelt die Hörerin zwischen Materialität der Stimme und Symbolgehalt des Gesagten hin und her und bezieht beides in ihre Rezeption ein. Durch die Besonderheit dieses ständigen Dazwischen produziert die Stimme ein „Mehr“, das nicht reduzierbar ist auf Bedeutungs- und Inhaltsaspekte: es bleibt ein „Erfahrungsrest“, ein materialer Rest. Dass der Sprech- und Körperausdruck für die Rhetorik, also die Überzeugungsprozesse, relevant sein kann, würde wahrscheinlich kaum jemand in Frage stellen. Ihre Relevanz für die Argumentation wird aber erst in den letzten Jahren in den Blick genommen (vgl. Eckstein, 2017). Hier stellt sich, wie für die visuelle Argumentation, die Frage, ob das Nicht-Sprachliche substanziellen Anteil an der Argumentation hat-- und also auch den Status von Prämissen einnehmen kann-- oder ob es eher illustrierend und rahmend wirkt. Beide Ansätze finden sich in der Literatur, allerdings sind in den meisten die Stimme und der Sprech- und Körperausdruck vor allem als Rahmung relevant. Ein Beispiel für die Verbindung von Stimme, Sprechausdruck und Körperausdruck bietet die Arbeit von Bose und Hannken-Illjes. Beide untersuchen gemeinsam die Entwicklung argumentativer Fähigkeiten bei Vorschulkindern an Hand natürlicher Kind-Kind-Kommunikation im Spiel. Auf der Grundlage von Videoaufnahmen von Kindern in Bau- und Rollenspielen unternehmen sie eine multimodale Analyse und beziehen insbesondere den Sprechausdruck in die Analyse ein. Auffällig in diesen Spielen ist, dass die Kinder in ganz unterschiedlichen Settings Begründungen geben und damit Vorformen der Argumentation zeigen. Zum einen in kooperativen Situationen, in denen kein offener Dissens herrscht; hier hat die Argumentation vermutlich vorrangig eine epistemische Funktion und etabliert was gilt. Zum anderen in Situationen, in denen ein offener Dissens besteht. Im Fall der Dissensbearbeitung ist Argumentation allerdings häufig kein Mittel, das den Konflikt wirklich löst. Für die Lösung greifen die Kinder auf wirkungssicherere Mittel zurück, wie den Einsatz physischer Gewalt, Weggehen oder Erwachsene holen. In der Kommunikation von Klein- und Vorschulkindern sind Stimm-, Sprech- und Körperausdruck zentral für die Kommunikation (und damit auch Argumentation), da die Kinder ihre verbalen Ausdrucksmittel erst entwickeln und fehlende verbale Möglichkeiten häufig durch andere Ausdrucksebenen kompensieren. Bose und Hannken-Illjes (2016) vermuten, dass der Sprechausdruck zwei verschiedene Funktionen innerhalb erster Begründungsstrukturen haben kann. Zum 169 6.2 Multimodalität der Argumentation einen rahmt der Sprechausdruck die Argumentation in dem Sinne, dass er den Grad an Konfrontation oder Kooperation reguliert. So kann ein argumentativer Austausch als kooperativ gerahmt werden, wenn die Kinder eher leise sprechen, längere Pausen machen und mit einer eher geringen Interaktionsspannung einander zugewandt bleiben. Ebenso kann ein argumentativer Austausch als konfrontativ gerahmt werden, wenn die Interaktionsspannung hoch ist, die Kinder eher laut und schnell sprechen. Die genauere Beschreibung der Funktion von bestimmten Merkmalen des Stimm-, Sprech- und Körperausdrucks steht momentan am Anfang. Die Rolle, die der Sprech- und Körperausdruck für die Argumentation spielen, geht über eine illustrative Funktion hinaus: Das Begründungshandeln wird gerahmt und damit möglicherweise der Grad an Agonalität oder Kooperativität angezeigt. Zum anderen können Sprech- und Körperausdruck auch, ähnlich wie oben für Bilder diskutiert, an Stelle von Prämissen auftreten, wie Bose und Gutenberg auch am Beispiel von Kind-Kind-Spielkommunikation gezeigt haben (vgl. Bose & Gutenberg, 2003). Nicht nur Stimme und Sprechausdruck, auch der Körper kann als Ausdruckressource für die Argumentationsanalyse relevant sein. So untersucht Jacquin (2015) in einer multimodalen Argumentationsanalyse speziell den Blick und die Zeigegeste in ihrer Bedeutung für die Argumentation. Am Beispiel einer Arbeitsbesprechung zeigt er einen systematischen Zusammenhang zwischen verbalem Nichteinverständnis und dem Einsatz von Zeigegesten sowie der Blickrichtung. Insbesondere der Blick dient hier dazu verbale Äußerungen, die eher mehrdeutig sind und keine klare Opposition formulieren, zu vereindeutigen (vgl. ebd., S. 159). Insgesamt ist das Feld der multimodalen Analyse in Bezug auf Stimme, Sprech- und Körperausdruck ein neues, in dem momentan Fragen und erste Analysen dominieren. Zugleich kann es durch diesen Ansatz gelingen, Argumentation stärker in Interaktionskontexten zu beschreiben. Die Forderung nach mehr empirischer Forschung wird in der Argumentationswissenschaft seit einigen Jahren lauter, die multimodale Analyse ist sicher eine Antwort auf diese Forderung. 6.2.3 Dinge in der Argumentation Neben Bildern, Stimme, Sprechausdruck und Körperausdruck soll noch ein letzter Aspekt der Multimodalität der Argumentation eingeführt werden: die Rolle von Objekten, von Dingen. Dinge können als inartifizielle Überzeugungsmittel im Sinne Aristoteles’ gesehen werden. Sie wirken persuasiv, sind aber nicht von der Rednerin selbst produziert. Diese inartifiziellen Überzeugungsmittel können eng mit den artifiziellen verbunden sein und damit auch mit der Argumentation innerhalb eines Diskurses. Dinge bestimmen sich innerhalb von Argumentation oft dadurch, dass sie keine oder keine ausschließliche symbolische Bedeutung haben. Sie referieren auf nichts als sich selbst. Ähnlich wie für die anderen Dimensionen der Multimodalität haben die Dinge eine Ebene, auf der sie sinnlich erfahrbar sind für die Rezipientin. Ähnlich wie Kolesch und Krämer (2006b) es für die Stimme festgestellt haben, können auch Dinge im Diskurs hin- und herkippen zwischen Präsenz und Repräsentation. Das Interesse an Dingen im Diskurs speist sich aus zwei Richtungen. Zum einen aus dem Interesse an der Materialität der Kommunikation, wie es von Gumbrecht und Pfeiffer (1988) 170 6 Aktuelle Fragestellungen in der Argumentationswissenschaft in einem Sammelband formuliert worden ist. Die Materialität der Kommunikation, das Material, durch das Kommunikation stattfindet, kann nicht nur verstanden, es kann auch sinnlich erfahren werden; diese sinnliche Erfahrung fügt etwas zur Kommunikation hinzu. Zudem hat die Materialität auch Einfluss darauf, was kommuniziert werden kann. Zum anderen kommt das Interesse an Dingen im Diskurs aus der Wissenssoziologie und hier u. a. aus den Arbeiten von Latour zur Akteur-Netzwerk Theorie. Latour (2002) befasst sich mit der Frage, wie Wissensprodukte (Theorien, Prämissen, Dinge) entstehen und betrachtet diesen Produktionsprozess als eine Verschränkung bzw. Kopplung von Dingen und Menschen, die interagieren, wobei auch Dinge den Status eines Akteurs erhalten, auch Dinge „handeln“. Allerdings nutzt Latour hier einen eher schwachen Handlungsbegriff. Er unterstellt nicht, dass Dinge Intentionen haben, aber dass durch die Interaktion von Mensch und Ding das Ding so eingebunden wird in die sozialen Praktiken, dass es selbst Einfluss auf die Praktiken und den Diskurs nimmt. Da in dem Ausschnitt aus „Die zwölf Geschworenen“, mit dem dieses Buch bis hierher gearbeitet hat, kein Ding argumentativ eingebunden wird, soll hier als Beispiel eine Studie zum Protest gegen Stuttgart 21 (vgl. Hannken-Illjes, 2014) die Rolle von Dingen deutlich machen. 1995 beschlossen die Deutsche Bahn, die Bundesregierung, das Land Baden-Württemberg und die Stadt Stuttgart, den Stuttgarter Hauptbahnhof umzubauen von einem Kopfbahnhof zu einem Durchgangsbahnhof, der dann unterirdisch liegen soll. Von Beginn an haben verschiedene Gruppen, in erster Linie aus der Umweltschutzbewegung, das Projekt aus verschiedenen Gründen in Frage gestellt. Über einige Jahre blieb der Protest in kleinen Zirkeln und war wenig öffentlich. Mit den ersten Abrissarbeiten wurde aber auch der Protest sichtbarer. Am 30. September 2010 protestierten tausende Menschen, in erster Linie Schülerinnen, gegen die Fällung der Bäume im Schlossgarten. Am 1. Oktober demonstrierten zwischen 50.000 und 100.000 Menschen gegen Stuttgart 21 (S21). Der 30. September brachte Veränderungen im Protest. Einige Gegner besetzten die verbliebenen Bäume im Schlossgarten und bauten Baumhäuser und Zeltunterkünfte. Nach einem Volksentscheid, der zugunsten der Befürworterinnen von S21 ausging, wurden 2012 im Mittleren Schlossgarten weitere 250 Bäume gefällt. Der Baum ist eine zentrale Metapher und materialer Topos. Er steht in unserer Kultur für Leben, für Dauer, für Schutz. Als Topos oszilliert er zwischen Botanik und Humanität. Bäumen, so scheint es, werden oft der Status und die Eigenschaften von Personen zugestanden und zugeschrieben. Einige Kommentare der „Baumpaten“-- einer Protestgruppe gegen Stuttgart 21-- weisen darauf hin: „Ein Baum ist ein Lebewesen wie du und ich.“ „Das Tier, der Mensch, der Baum, sie alle teilen denselben Atem“. „Wer einen Baum fällt- - tötet- - ist ein Frevler“. Würde man eine klassische Argumentationsanalyse unternehmen, so ließen sich eine Reihe von Argumenten finden, die den Baum als Topos nutzen oder das Thema „Baum“ aufnehmen: Der Baum erscheint hier argumentativ als Habitat (Bäume müssen geschützt werden, denn sie sind Lebensraum für Insekten) und als allgemein nützlich (frische Luft). Besonders interessant sind aber die Argumente, die sich um die materialen, konkreten Bäume im Schlossgarten drehten. Das erste Argument, das auf die konkreten Bäume hinführt, ist das des Baumes als Überlebendem. Hier führten die Gegner von S21 an, dass die Bäume im Schlossgarten sogar in 171 6.2 Multimodalität der Argumentation den beiden Hungerwintern nach dem Zweiten Weltkrieg stehen gelassen wurden, obwohl die Stuttgarter damals so ziemlich alles verbrannten, was sich irgendwie verbrennen ließ. Formal handelt es sich hier um den Topos des Mehr oder Minder. Zugleich geht es aber nicht mehr um Bäume im Allgemeinen, sondern um spezifische Bäume mit ihrer eigenen Geschichte, die mit der Geschichte der Stuttgarterinnen verbunden ist. Der konkrete Baum wird als unersetzbar verstanden und wird zugleich anthropomorphisiert, vermenschlicht. Noch deutlicher wird die argumentative Einbindung der Bäume als „Dinge“, wenn man den Schlossgarten als Ort der Bäume und des Protestes betrachtet. Ab Mitte 2010 begannen Gegner von S21 den Schlossgarten und die Bäume zu besetzen. Es wurden Baumhäuser gebaut und dauerhaft bewohnt. Die Bäume wurden geschmückt, es wurden Zeltlager unter den Bäumen aufgebaut, um die Bäume wurde getanzt, gebetet und gefeiert. In diesem Bild des besetzten Baumes verbinden sich zwei Argumente, die auf den ersten Blick gegensätzlich erscheinen mögen: der Baum als Schutzraum und der Baum als schutzbedürftig. Die Besetzung macht den Topos des Baumes als Schutz aber nun erfahrbar. Anders als das verbale, diskursive Argument, dass die Bäumen einen Schutz für Insekten bieten, kann dieser Schutz hier gesehen und erlebt werden. Jeder kann hineinsteigen und erfahren, was es bedeutet, von einem Baum beschützt zu werden. Diese Bäume waren nicht wie Unterkünfte, sie waren Unterkünfte, sie boten Schutz. Die Protestierer in den Bäumen sagten nicht nur, dass Bäume schützen, sie zeigten es. Zugleich wurden diese schützenden Bäume aber auch als schutzbedürftig markiert. Die Mitglieder der Protestgruppe „Baumpaten“ waren nicht „wie ein Pate“, sie waren Paten. Dies wird durch ihr Gelübde deutlich: „Dieser Baum hat einen Paten. Ich erlaube jedem, meinen Patenbaum aufzusuchen, sich in seinem Schatten auszuruhen, sich mit anderen dort zu treffen, dort zu feiern, singen, lachen, schlafen, einfach zu tun was gefällt. Ich freue mich über weitere Paten. Ich bitte jeden, meinen Patenbaum nach besten Kräften zu schützen. Es ist verboten meinem Patenbaum Schaden zuzufügen“ (Baumpaten, 2013, Netzseite existiert nicht mehr). Hier wird eine sehr enge Verbindung von Individuum und spezifischem, konkretem Baum aufgebaut. Durch die Bindung der Argumentation an die konkreten Bäume wird die Interaktion zweier scheinbar gegenläufiger Argumente möglich: Der Baum als Schutzraum / der Baum als schutzbedürftig. Diese Spannung ist nur aufrechtzuerhalten, weil der materiale Baum beides ermöglicht. Was gedanklich widerstreitend oder inkompatibel zu sein scheint, wird durch die Materialität der Bäume selbst zusammengeführt. Im Februar 2012 wurden 250 Bäume im Mittleren Schlossgarten gefällt, sie entfielen damit auch als der dingliche, erfahrbare Anteil einer zentralen Argumentationslinie im Protest. Das Beispiel der Bäume zeigt, dass manche Argumentationsanalyse über die Texte und Propositionen hinausgehen sollte, um eine adäquate Beschreibung zu erreichen. Allerdings stellt sich bei Dingen und bei anderen Modalitäten die Frage, ob sie wirklich den Status einer Prämisse einnehmen oder ob sie nicht vielmehr die entsprechende Argumentation rahmen. 172 6 Aktuelle Fragestellungen in der Argumentationswissenschaft 6.2.4 Weiterführende Forschungsaufgaben Eine praktische Frage, mit der alle multimodalen Ansätze zur Argumentation konfrontiert sind, ist, wie die Argumente und argumentativen Sequenzen rekonstruiert werden sollen. Für die gemeinsame Analyse von verbalen und paraverbalen Mitteln bietet beispielsweise das gesprächsanalytische Transkriptionssystem GAT 2 (Selting et al., 2009) Notationsmöglichkeiten, doch spätestens wenn auch körperliche Formen einbezogen werden, stellt sich die Frage nach der Lesbarkeit und Nachvollziehbarkeit solcher Notationen. Auch sind die multimodalen Formen zunächst noch nicht argumentationsspezifisch, setzen die Äußerungen also nicht in Beziehung zu ihrem Status als Gründe, Schlussregeln / Topoi und Konklusionen. Groake (2015) schlägt eine Analyseform im Diagramm vor, die allerdings den Prozessaspekt und die Sequentialität von Argumentation nicht abbilden kann. Die Notation ist dabei auch nicht nur eine praktische Herausforderung, bildet sie doch auch theoretische Annahmen und Konzepte ab. Die Frage der Notation bleibt Forschungsgegenstand. Die übergreifende Frage, mit der multimodale Ansätze zur Argumentation konfrontiert sind, ist aber, ob nicht-verbale Formen sich wirklich als Prämissen, als Gründe fassen lassen. Viele nicht-verbale Formen sind nicht in der Weise kritisierbar, wie es bei verbalen der Fall ist. Sie können nicht wie verbale Argumente mit Gegenargumenten beantwortet werden. So gut wie alle argumentationstheoretischen Ansätze gehen davon aus, dass Argumente und Argumentation kritisierbar sein müssen, und dass auf ein Argument ein Gegenargument folgen können muss. Wie können Gegenargumente in nicht-verbalen Formen aussehen? 6.3 Grenzen der Argumentation? Inkommensurabilität und deep disagreement Gibt es Situationen, in denen Argumentation keine Wirkung hat, haben kann? Gibt es Situationen, in denen die verschiedenen Parteien gar keine gemeinsame Geltungsbasis mehr haben und so keine Basis für Argumentation mehr vorhanden ist? Diese Frage wird in der Argumentationstheorie seit längerer Zeit unter verschiedenen Überschriften diskutiert: als These der Inkommensurabilität, deep dissensus oder deep disagreement. Die Antwort auf die Frage ist nicht nur theoretisch, sondern auch argumentationspraktisch von Bedeutung. Wenn keine gemeinsame Geltungsbasis besteht und zwischen verschiedenen Sichtweisen und Standpunkten keine argumentative Vermittlung möglich sein sollte, dann verliert Argumentation ihre spezifische Funktion, und das hat Konsequenzen für das Gemeinwesen. Verknappt: Was tut man, wenn Argumentation das zentrale Mittel zur demokratischen Entscheidungsfindung ist, man sich aber mit Fundamentalisten verschiedener Art auseinanderzusetzen hat, die eine immer größere Rolle spielen und mit denen man nicht argumentieren kann? 6.3.1 Die These der Inkommensurabilität Der Begriff der Inkommensurabilität wird in verschiedenen Disziplinen genutzt und bedeutet so viel wie Unübersetzbarkeit durch das Fehlen eines gemeinsamen Maßes. Kuhn (1976) hat den Begriff der Inkommensurabilität in die Wissenschaftstheorie eingeführt und meint 173 6.3 Grenzen der Argumentation? Inkommensurabilität und deep disagreement damit, dass sich zwei Perspektiven (bzw. zwei wissenschaftliche Paradigmen) ausschließen und nicht ineinander übersetzbar sind. Als Beispiel dienen ihm die Vexierbilder bzw. Kippfiguren, in denen zwei unterschiedliche Figuren zu erkennen sind, je nach Orientierung der Schauenden. Es ist nicht möglich beide Figuren zugleich zu sehen. Die Figuren sind ineinander unübersetzbar und können nicht nebeneinander bestehen. Kuhn (1976) wendet dieses Bild auf die Ablösung eines wissenschaftlichen Paradigmas durch ein neues an. Innerhalb der Argumentation beschreibt die These der Inkommensurabilität die Unmöglichkeit über Diskursgrenzen hinweg zu argumentieren, da die Diskurse nicht ineinander übersetzbar seien. Diese These ist von Lyotard (1989) und in etwas anderer Form auch von Rorty (1999) vorgebracht worden. Sie ist auch schon in einem der Punkte bei Brockriede (1975) enthalten, wenn er fragt: where is argument? In seiner Antwort unter Punkt 6 stellt er fest, dass die Argumentationspartner von einer gemeinsamen Basis aus argumentieren müssen (vgl. Kapitel 2.2.1.3). Lyotard (1989) schreibt gleich zum Eingang seines Buches „Der Widerstreit“ als „Merkzettel zur Lektüre“, „daß eine universale Urteilsregel in bezug auf ungleichartige Diskursarten im allgemeinen fehlt“ (S. 9) und sich daher unterschiedliche Diskurse nicht ineinander übersetzen lassen. Die Konsequenz wäre, so Lyotard, dass die Auflösung eines Widerstreits für die aus der einen Diskursart heraus Argumentierenden zum Unrecht wird, sie ins Unrecht setzt, da ihr Geltungssystem für irrelevant erklärt wird. Was genau meint Lyotard mit Diskursart? Das wird nicht immer klar. Er verbindet den Begriff mit sprachlichen Regelsystemen, also Regeln dazu, welche Arten von Sätzen miteinander verbunden werden können. In diesem Sinne wären zum Beispiel Narration und Argumentation unterschiedliche Diskursarten. Zugleich scheint der Begriff der Diskursarten aber auch eng am Begriff des Feldes von Toulmin zu liegen. Ja, bis hierher kann es so scheinen, als gehe es bei der Inkommensurabilitätsthese in der Argumentationswissenschaft um eine Art Feldtheorie (vgl. Kapitel 4.2.1.3). Das ist nicht ganz falsch. Ein Argument, das in einem Feld Geltung beanspruchen kann, kann in einem anderen irrelevant sein. Allerdings geht der Feldbegriff von Toulmin nicht unbedingt davon aus, dass Argumentieren aus verschiedenen Feldern unmöglich ist und verschiedene Felder einander ausschließen. Was passiert, wenn man vor Gericht moralische Gründe vorbringt, die innerhalb des rechtlichen Feldes nicht relevant sind? Sind dann beide Diskurse-- der moralische und der rechtliche- - inkommensurabel und der Dissens unauflösbar? Was passiert, wenn so radikal unterschiedliche Diskurse wie der des Kreationismus und der der Evolutionsbiologie aufeinandertreffen? Ist ein argumentativer Austausch dann unmöglich? Lyotard (1989) postuliert, dass zwischen verschiedenen Diskursen keine Verbindung gegeben ist. Als Begründung führt er an, dass es keine Metaregel gäbe, die die Verständigung über die Diskurse hinweg ermögliche. Durch das Fehlen einer Metaregel wird ein Diskurs nach den Geltungsstandards eines anderen beurteilt. Lyotard kritisiert in erster Linie, dass alle Formen der Dissensbearbeitung als Rechtsstreit gerahmt werden. Er setzt dem Rechtsstreit den Widerstreit entgegen. „Im Unterschied zu einem Rechtsstreit [litige] wäre ein Widerstreit [differend] ein Konfliktfall zwischen (wenigstens) zwei Parteien, der nicht angemessen entschieden werden kann, da eine auf beide Argumentationen anwendbare Urteilsregel fehlt“ (S. 9). Würde die Inkommensurabilitätsthese der Argumentation so Geltung beanspruchen 174 6 Aktuelle Fragestellungen in der Argumentationswissenschaft können, wie Lyotard sie formuliert, so wäre eine der grundlegenden Annahmen für die Bedeutung von Argumentation hinfällig: dass Argumentation ein emanzipatorisches Mittel ist, das zur kritischen Teilnahme am öffentlichen Diskurs beitragen kann. 6.3.2 Das Problem der Metaregel und die Rhetorik als Lösung Eine zentrale Kritik, die sich an die Theorie der Inkommensurabilität richtet, ist, dass sie die Notwendigkeit einer Metaregel für die Verständigung annimmt, einer Metaregel, die zwischen unterschiedlichen Diskursen vermittelt. So widerspricht Lueken (1995) der Inkommensurabilitätsthese und argumentiert, dass beide Ansätze, die Inkommensurabilitätsthese und der von ihr kritisierte Ansatz des forensischen Paradigmas, durch die Fixierung auf eine Metaregel bestimmt sind. Damit gehen die Autoren der Inkommensurabilitätsthese, so Lueken (1992), von dem gleichen Konzept aus wie die Ansätze, die sie kritisiert. Lyotard (1989) und andere gehen davon aus, dass eine universelle Regel nicht existieren kann, Habermas (1995b) beispielsweise versteht sie als grundlegend für die Möglichkeit der Verständigung. Aber ist eine solche Metaregel als Konzept notwendig? Lueken (1995) bewertet die Fixierung als problematisch, da sie in beiden Fällen unparteiische, distanzierte Beobachter voraussetzt. Er entkräftet das Argument der notwendigen Metaregel mit dem Hinweis, dass Regeln sich in der Praxis bilden und umbilden (vgl. S. 365). Statt die Argumentationspraxis primär als eine regelgeleitete Prozedur zur Entscheidung zwischen mehr oder weniger festen Positionen zu betrachten, sollte sie teilnehmend als ein dynamischer Prozeß der Bildung und Veränderung bis hin zur Umwandlung von Orientierungen erforscht werden, in dem neben dem Regelbefolgen auch das Verletzen, Verändern und Erfinden von Regeln seinen Platz hat (Lueken, 1995, S. 374, Hervorhebung im Original). Lueken argumentiert hier von einer Prozessperspektive aus. Einen ähnlichen Ansatz wie Lueken verfolgt auch Heidlebaugh (2001), allerdings aus einer rhetorischen Perspektive. Auch sie nimmt das Problem der Inkommensurabilität als ein unterstelltes, konstruiertes an, da sowohl die Theoretiker der Inkommensurabilität als auch die der Universalität von einer gemeinsamen Position ausgehen. „Our moral and practical talk today shows vividly that incommensurability exists as a presumed barrier to serious discourse largely because we accept a modern dilemma: the notion that judgement consists in and only in applying unassailable standards, but that we can never have them“ (S. 16, Hervorhebung im Original). Diese Annahme drückt sich, so Heidlebaugh, dadurch aus, dass diese Ansätze davon ausgehen, dass Teilnehmerinnen etwas bewerten (eine Fragestellung, eine Situation), dann eine Position einnehmen, und dann von dieser Position aus sprechen. Das wäre ein sehr starres Vorgehen. Zur Auflösung des Problems der Inkommensurabilität schlägt Heidlebaugh „active, artistic judgement“ (S. 20) vor. Nicht der Versuch der Übersetzung zwischen zwei starren Diskursen oder Vokabularen ist die Lösung, sondern das Entwickeln eines Zwischenraumes zwischen zwei vermeintlich inkommensurablen Diskursen. Als Mittel zieht sie hier das topische Denken und die Theorie der Stasis (der Statustheorie) in der antiken Rhetorik heran. Als zentrale Metapher für dieses Verfahren sieht sie „stitching and weaving“ (S. 138), 175 6.3 Grenzen der Argumentation? Inkommensurabilität und deep disagreement das langsame, kunstvolle Verbinden von vormals Unverbundenem. Auch Koller (1999) versucht eine Lösung für das Problem der Inkommensurabilität zu geben. Zwar knüpft er an Lyotard dahingehend an, dass der Widerstreit nicht auflösbar ist, da eine diskursübergreifende Urteilsregel fehlt (vgl. S. 176). Dieser Mangel kann nach Koller allerdings durch rhetorische Figuren kompensiert werden, die einen „Überschuss an Sinn“ (S. 182) produzieren und somit Dinge in einen Diskurs hineintragen können, die dort nicht enthalten sind (vgl. S. 184). Ähnlich sieht auch Doxtader (1991) Rhetorik als Mittel zum Überschreiten von Diskursgrenzen. In seiner Auseinandersetzung mit Fishs Annahme der ersten Prämissen, die die Grundlage von Denksystemen sind und daher nicht selbst gestützt werden können, so dass Argumentation an ihre Grenzen kommt, stellt Freeman (2012) die Frage: Is this true? Suppose one’s experience leads to forming an inferential belief-habit expressible as a warrant. Suppose one meets another whose stock of inference habits does not include this warrant. If one presents the evidence or paradigm instances of the evidence which led to the forming of one’s belief habit, why cannot the other appreciate that they constitute positive evidence for that warrant, and indeed may even constitute sufficient evidence for acceptance? How is some essential axiom necessary to recognize this evidence as evidence? (S. 69, Hervorhebung im Original) Freeman (2012) weist hier, wie auch Lueken (1995), Heidlebaugh (2001) und Dörpinghaus (1999), auf einen zentralen Punkt der Auseinandersetzung mit dem Problem der Inkommensurabilität oder des deep dissensus hin: Wenn auch als theoretisches Konzept schlüssig, so scheint es doch unserer Argumentationspraxis zu widersprechen. Ist das wirklich so? Kommen wir wirklich in Situationen, in denen Argumentation unmöglich wird und wir einen Diskurs nicht in den anderen übersetzen können? Diese Frage kann man nun natürlich versuchen wiederum theoretisch zu bearbeiten. Einige Autoren haben bereits argumentiert, dass es sich beim Problem der Inkommensurabilität um ein theoretisches Problem handelt, das Teilnehmer im Diskurs aber praktisch lösen. Ähnlich wie Lueken betont auch Dörpinghaus (1999), dass Argumentation zwar als sprachspielgebunden betrachtet werden kann, diese Sprachspiele aber nicht inkompatibel sind. „In einem Akt des Übertragens kann bereichsspezifisches Wissen eines Wirklichkeitszugriffs zu einem Argument innerhalb einer bereichsfremden Argumentation formiert werden und für den Aufschluß über einen einer anderen Disziplin zugeordneten Sachverhalt von Nutzen sein.“ (S. 89) Dies ist eine Strategie, die auch Zarefsky (2012) unter insgesamt acht Strategien des Umgangs mit Inkommensurabilität nennt. Diese acht Strategien benennt er als rhetorische Strategien, denn, so Zarefsky in Rückgriff auf Heidlebaugh: „But if incommensurability makes further discussion impossible for the logician, she says, for the rhetorician the fun is just beginning“ (S. 79). Zarefsky nennt dann die folgenden rhetorischen Strategien, die geeignet sind, Inkommensurabilität zu umgehen. ▶ Inkonsistenz (inconsistency) ▷ Scheinheiligkeit (hypocrisy) ▷ Ad Hominem der Umstände (circumstantial ad hominem) 176 6 Aktuelle Fragestellungen in der Argumentationswissenschaft ▶ Verpacken (packeging) ▷ Einbeziehung (incorporation) ▷ Subsumtion (subsumtion) ▶ Zeit (time) ▷ Ermüdung (Exhaustion) ▷ Dringlichkeit (urgency) ▶ Veränderung der Ausgangsbasis (Changing the ground) ▷ Inter-Feld borgen (Interfield borrowing) ▷ Rahmenwechsel (frame shifting) Diese Strategien sollen hier nicht im Einzelnen beschrieben werden. Im Beispiel des Stücks „Die zwölf Geschworenen“ finden sich einige dieser Strategien. Allerdings liegt dort kein deep dissensus vor. JUROR 8: Ich brauche vielleicht eine Stunde. - Das Baseball-Match fängt ja nicht vor acht Uhr an. Wenn Juror 8 dafür eintritt, sich eine Stunde Zeit zu nehmen, dann ist dies zwar möglicherweise keine Strategie, die zur Ermüdung der anderen Teilnehmerinnen führt, aber doch Raum öffnet für den Austausch. JUROR 8: Eine Frage. Sie trauen dem Jungen nicht. Was veranlaßt Sie, der Frau zu trauen? Sie stammt doch aus demselben Milieu? JUROR 10: Ach Sie - Sie sind ein ganz geriebener Gauner … Wenn Juror 10 die Aussage der Zeugin, die den Mord durch einen Vorortzug hindurch beobachtet haben will, verteidigt und Juror 8 in fragt, warum die Frau, aber nicht der Junge glaubwürdig seien, stellt er eine Inkonsistenz heraus und beschuldigt Juror 10 implizit der Scheinheiligkeit. JUROR 8: Und wissen Sie auch, wer ihn geschlagen hat? Nicht nur sein eigener Vater, nicht unsere sogenannten Erzieher, nicht der Waisenhausvater, nein, meine Herren - JUROR 7: Jetzt bin ich aber gespannt. JUROR 8: Wir. - Neunzehn erbärmliche Jahre sind an diesem Jungen nicht spurlos vorübergegangen. Er ist verbittert. Und deshalb - denke ich, schulden wir ihm ein paar Worte. - Das ist alles. 177 6.3 Grenzen der Argumentation? Inkommensurabilität und deep disagreement Wenn Juror 8 betont, dass nicht nur der Vater den Jungen geschlagen hat, sondern auch die Gesellschaft, dann rahmt er hier eine eigentlich rechtliche Diskussion als sozialpolitische. Wie gesagt, in dem Beispiel finden sich kein grundsätzlicher deep dissensus, die Strategien, die Zarefsky nennt, haben aber auch hier die Wirkung, verschiedene Positionen nicht-argumentativ zu bearbeiten. Über die Lauterkeit dieser Strategien ist damit natürlich noch nichts gesagt. 6.3.3 Weiterführende Forschungsaufgaben Die Arbeiten zum Problem der Inkommensurabilität und des deep disagreements sind mehrheitlich theoretische Arbeiten. Auch die Arbeiten, die betonen, dass Inkommensurabilität ein theoretisches Problem ist, das Teilnehmerinnen in der Argumentationspraxis auflösen, bieten selbst keine Studien zur Praxis des Argumentierens unter den Bedingungen der fehlenden gemeinsamen Geltungsbasis. Auch wenn Zarefsky (2012) Möglichkeiten nennt, so sind diese doch nicht umfassend empirisch begründet, sondern aus Fallstudien und aus den Möglichkeiten, die die Rhetorik bietet, plausibel hergeleitet. Wichtig wären hier Untersuchungen von Diskursen unter der Fragestellung, wie Teilnehmerinnen selbst mit dem Problem der fehlenden Geltungsbasis umgehen. Solche Untersuchungen wären nicht nur argumentationstheoretisch interessant, sondern auch für die Bedeutung der Argumentation als Mittel der gesellschaftlichen Verständigung zentral. 179 Literatur Literatur Alexy, Robert. (1983). Theorie der juristischen Argumentation. Die Theorie des rationalen Diskurses als Theorie der juristischen Begründung. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Amann, Klaus, & Hirschauer, Stefan. (1997). Die Befremdung der eigenen Kultur. Ein Programm. In: Klaus Amann & Stefan Hirschauer (Hg.), Die Befremdung der eigenen Kultur: zur ethnographischen Herausforderung soziologischer Empirie, 7-52. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Anaximenes, Lampsacenus. (1959). Rhetorik an Alexander (übers. von Paul Gohlke). Paderborn: Schönigh. Antaki, Charles. (1994). Explaining and Arguing: The Social Organization of Accounts. London: Sage. Aristoteles. (1993). Rhetorik (übers. von Franz Sieveke). München: Wilhelm Fink. Aristoteles. (1995a). Philosophische Schriften. 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Reginald Rose & Henry Fonda (Produzenten). 189 Abbildungsverzeichnis Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Dialogtypen nach Walton 43 Abb. 2: Statusmodell nach Hoppmann 107 Abb. 3: Argumentationsschemata nach Perelman & Olbrechts-Tyteca 110 Abb. 4: Argumentationsschemata nach Kienpointner 111 Abb. 5: Baumgraph nach Klein 127 Abb. 6: Baumgraph nach Wunderlich 128 Abb. 7: Rekonstruktion der Globalargumentation nach Kopperschmidt 129 Abb. 8: Sequenzschema der Argumentation nach Spranz-Fogasy 139 191 Sachregister Abduktion 34 Agonalität 26 f., 82, 138, 169 Agonistik 26 Akzeptabilität 42, 44 f., 65, 73 Alltagsargumentation 22, 33, 42, 49, 134 Antagonist 60, 69 argument 29 f. argumentatio 153, 155 Argumentation analytische 82 epistemische Funktion 21, 25, 168 koordinierte 125 multiple 125 substanzielle 82 Argumentationsschema 25, 48, 65, 96, 100 f., 108-111, 115, 131 f. Argumentieren exploratives 26, 138 persuasives 26 Ausnahmebedingung 84, 89, 121 f. BBaumgraph 120, 126 ff. Befremden 150 Begründung 82, 109, 165 Begründungshandeln 19, 30, 45, 169 Beispielbeweis 79 f., 109 Beweislast 56 f., 60, 63, 69, 82, 134 Beweismittel 75, 78 f., 157 black boxed 146 DDatum 84, 87, 122, 166 Deduktion 34, 79, 105 deep dissensus 21, 172, 175, 177 Dialog 35, 43, 48, 52, 69, 71 Dialogtypen 43, 48 Diskurs in der Theorie des kommunikativen Handelns 53 Diskursart 173 diskursive Einlösung 53 Dissens 21, 25, 30, 54 f., 112, 140 f., 145, 153, 168, 173 Dissensbearbeitung 168, 173 Dissensmarkierung 140 Dreistelligkeit 89 EEffektivität 44, 70 Emotion 72, 76 ff., 138, 164, 168 Enthymem 22, 29, 77-81, 105, 157 Epicheirem 87 ff. Erklären 19, 27, 141, 158 Erzählen 77, 79, 137, 152-156, 158-161, 163 Erzählung 79, 153-157, 159-163 Alltags- 154 f. faktuale 79, 162 f. fiktionale 79, 162 f. Ethnografie 92, 142, 144, 150 f. der Argumentation 115 f., 133, 142-148, 150 ff. der Kommunikation 145 des Sprechens 145 des Wissens 145 f. translokale 150 f. Ethnomethodologie 135, 146 Ethos 51, 72, 76 f., 168 FFaktualität 161, 163 Fallazie 34, 49 Fehlschluss 34, 44, 48-51, 58, 69, 71, 115 Fehlschlüssigkeit 42, 44, 47 f., 52, 69 Feld 92, 94 f., 98, 102, 105, 111, 115 f., 128, 131-134, 140, 143, 146 f., 150 ff., 163, 176 Begegnungs- 93 Beziehungs- 93 Ethnografie 92, 142, 144, 148, 150 f. normatives 92 f. Themen- 93 Toulmin 38 f., 75, 83, 85 ff., 90 ff., 100, 104, 150 f., 173 Feldabhängigkeit 90, 92, 95, 98 Feldzugang 148, 150 Fiktionalität 161, 163 Forensisches Paradigma 82, 174 GGelingensbedingungen 59 f. Geltungsanspruch 52-55, 60, 67, 98, 117 f., 139, 163 192 Sachregister Gesprächsanalyse 115, 134 ff., 138, 141 f., 150, 158, 167 HHinlänglichkeit 42, 44 f. IIdeale Sprechsituation 55 f., 62 Induktion 34, 78 f., 105, 109 Informelle Logik 41-44, 46, 52 Inkommensurabilität 82, 153, 172-175, 177 Interaktionskonstitution 137 KKommunikatives Handeln 52, 54, 139 Konflikt 25, 151, 168, 173 Konnektoren 27 f. Konsens 25, 54 ff. Konsensorientierung 25 f., 55 Konversationsmaximen 56, 59 Kooperation 136, 138, 169 Kooperationsprinzip 56, 59 Kooperativität 169 Körperliche Beredsamkeit 167 Kritik 36 in der Theorie des kommunikativen Handelns 54 Kritische Diskussion 59 f., 69 f. Kritisches Denken 45 f. Lloci a personam 106 a re 106 Logik dialogische 43 formale 41, 81 Logos 72, 76 ff. MMetanarrativ 161 Metaregel 173 f. Modalität 137 f., 164, 167, 171 Modaloperator 84, 89, 121 f. Multimodalität 153, 164, 167, 169 Nnarratio 155 f. Narration 27 f., 152-163, 173 Normative Pragmatik 41, 56 OObersatz 34 Opponent 35 f., 43, 127, 137 PParadigma 80 als Schlussverfahren 29, 78 ff. Pathos 72, 76 ff., 167 f. Persuasion 37, 43, 75 f., 96, 147, 155, 160, 164 Prämisse 33-36, 38, 48, 63, 65, 73, 79 f., 121, 143, 147, 153, 159 f., 166, 168-172 Präsumption Siehe-Präsumtion Präsumtion 56 f., 82, 134 Proponent 35 f., 43, 137 Protagonist 60, 63-69 Publikum partikulares 96-99, 108 universelles 97 ff. QQuaestio 84, 116, 126, 134 Quaestioverschiebung 128 RRationalität 52, 82, 94 f., 97, 151, 156 f. Rechtsstreit 81 f., 159 f., 173 Relevanz 20, 23, 25, 42, 44 f., 49 f., 73, 87, 90, 93, 96, 133 Reparatur 139 SSachverhaltsdarstellung 137 ff. Schlussregel 22, 82, 84 f., 87, 90, 100, 110 f., 121 f., 132 small stories 161 f. Sprechakttheorie 27, 53, 59, 145 Standpunkt 25 f., 57 f., 60, 62-69, 77 Stasis Siehe-Statuslehre Statuslehre 50, 106 f., 118 f. strategic maneuvering 41, 118 Streitfrage 19 ff., 25, 47 ff., 58 ff., 73, 82, 84, 100 f., 104 ff., 113, 115-118, 120, 123, 130, 138, 141, 160 Strittigkeit 19-22, 25 ff., 30, 54 f., 59 f., 65, 112 Stütze 83, 85, 87, 90, 92, 121 Syllogismus 34, 79-82 TTeilnehmende Beobachtung 142, 144, 148 Textsorte 158 Topik 11, 25, 29, 35, 75, 81, 90, 95 f., 100-103, 112, 114, 131 Trugschluss 34, 36, 49 U 193 Sachregister Überreden 37, 75, 97 ff. Überzeugen 37, 45, 75 f., 79, 97 ff., 113, 153, 157 Überzeugungsmittel 72, 75-79, 156, 167 ff. Untersatz 34 Unübersetzbarkeit 172 V Validität 35 f., 38, 42, 65 Vernünftigkeit 70 Vertextungsmuster 27 f., 158 WWahrheit 33, 35, 44 f., 54, 57, 80, 117 f., 162 Wahrscheinlichkeit 33, 35, 39, 46, 75, 156, 162 f. ISBN 978-3-8233-8027-6 Das Buch bietet eine Einführung in theoretische Konzepte und analytische Ansätze zur Argumentation. Ausgangspunkt sind drei unterschiedliche Perspektiven: die logische, die dialektische und die rhetorische Perspektive. Dabei liegt der Schwerpunkt auf dialektischen und rhetorischen Ansätzen. Die Fragen: Welche Form hat ein Argument? Welche Funktion hat Argumentation? Wie bestimmt sich die Geltung von Argumenten/ Argumentation? leiten durch die Darstellungen und Diskussionen. Der Band umfasst drei Abschnitte: I) die verschiedenen Perspektiven auf Argumentation und die relevanten Theorien, II) die Möglichkeiten der Analyse von Argumentation und aktuelle Fragen innerhalb der Argumentationswissenschaft sowie III) aktuelle Forschungsthemen, hier das Verhältnis von Narration und Argumentation, die Multimodalität von Argumentation und das Problem fundamentalen Dissenses (‚Deep Dissensus‘). Er richtet sich an Studentinnen und Studenten der Rhetorik, Linguistik, Sprechwissenschaft, Philosophie und Sozialwissenschaft sowie an alle am Gegenstand der Argumentation interessierten Leserinnen und Leser. Hannken-Illjes Argumentation Argumentation Kati Hannken-Illjes Einführung in die Theorie und Analyse der Argumentation