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Objektivität und literarische Objektivierung seit 1750

2010
978-3-8233-7583-8
Gunter Narr Verlag 
Niklas Bender
Steffen Schneider

Objektivität ist seit der Aufklärung ein Leitbegriff der Naturwissenschaft und hat die Literatur der Moderne geprägt - trotzdem widmet sich ihm bisher keine literaturwissenschaftliche Untersuchung. Der Bandanalysiert wesentliche Entwicklungen von Objektivität, v.a. in der französischen Literatur: Objektivität zeigt sich in der Literatur des 19. Jahrhunderts als dialektischer Gegenspieler von Subjektivität, im 20. Jahrhundert kommt es zu komplexen Steigerungsformen, ja zur Infragestellung - das Konzept wird jedoch nicht aufgegeben, sondern als Reflexionsbegriff weiterentwickelt. Zwölf Beiträge untersuchen auf methodisch und inhaltlich kohärente Weise Objektivität in zentralen Werken der Moderne.

edition lendemains 22 Niklas Bender / Steffen Schneider (Hrsg.) Objektivität und literarische Objektivierung seit 1750 Objektivität und literarische Objektivierung seit 1750 edition lendemains 22 herausgegeben von Wolfgang Asholt (Osnabrück) und Hans Manfred Bock (Kassel) Niklas Bender / Steffen Schneider (Hrsg.) Objektivität und literarische Objektivierung seit 1750 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. Die Herausgeber danken Frau Prof. Dr. Maria Moog-Grünewald und dem Universitätsbund Tübingen e.V. der Eberhard Karls Universität Tübingen für ihre äußerst großzügige Unterstützung bei der Finanzierung des vorliegenden Bandes. © 2010 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.narr.de E-Mail: info@narr.de Printed in Germany ISSN 1861-3934 ISBN 978-3-8233-6583-9 Inhaltsverzeichnis Niklas Bender/ Steffen Schneider Einleitung ................................................................................................................ 7 I. V OR DER O BJEKTIVITÄT Torsten König Transsubjektives Wissen in Naturgeschichte und Ästhetik des 18. Jahrhunderts - Buffon und Diderot ...................................................... 17 Konstanze Baron Moral und/ als Fiktion: Zur Objektivierung des moralischen Urteils in Diderots Erzählungen ........ 31 II. W ISSENSCHAFTLICHE O BJEKTIVITÄT Henning S. Hufnagel Entsubjektivierung und Objektivierungsstrategien in der Lyrik der Parnassiens ............................................................................... 53 Niklas Bender Die Objektivität der modernen Lyrik (Baudelaire, Rimbaud, Mallarmé)..... 73 Steffen Schneider Enzyklopädie, wissenschaftliche Beobachtung, Beschreibung: Drei Formen von Objektivität und ihre ironische Vermittlung in Jules Vernes Romanen De la Terre à la Lune und Autour de la Lune .......... 99 Georges Felten Ces obscurs objets du désir... Inszenierung und Infragestellung mechanischer Objektivität bei Peter Weiss und Alain Robbe-Grillet.......... 121 III. O NTOLOGISCHE O BJEKTIVITÄT Jan Söffner Der Mensch ohne Objekte und der objektive Zufall Weltoffenheit in Bretons Nadja .......................................................................... 139 Maria Moog-Grünewald Vom ‚objet‘ zum ‚objeu‘ Anmerkungen zur objektiven Poiesis Francis Ponges................................... 159 Katharina Münchberg Kindheit und Sprache in Elsa Morantes La Storia .......................................... 169 Inhaltsverzeichnis 6 IV. O BJEKTIVITÄT ZWEITER O RDNUNG Barbara Ventarola „fantástico pero no sobrenatural“ Irrealisierung und Objektivität bei Jorge Luis Borges ................................... 181 Markus Messling Der ‚Tod‘ des Autors und die Willkür des Lesers Objektivierungsstrategien bei Roland Barthes .............................................. 207 Veronika Thiel Von der Selbstzensur zur Selbstbehauptung Repräsentationskrise und narrative Objektivierungsstrategien in Le Temps de Tamango von Boubacar Boris Diop .......................................... 225 Niklas Bender und Steffen Schneider Einleitung Der Begriff der Objektivität besitzt eine Kernfunktion für Wissens- und Erkenntnisformen, von denen die Literatur seit dem Beginn poetologischer Reflexion - im Abendland also seit Platon - stets abgegrenzt wurde: die Geschichtsschreibung etwa, die Rechtsprechung oder die Naturwissenschaften kommen ohne die Referenz auf eine transsubjektiv verbindliche Wirklichkeit nicht aus. Literatur wird dagegen auf Wahrscheinlichkeiten und das Spiel mit ihnen festgelegt - auf eine Wirklichkeit, wie sie sein könnte oder sein soll, wie sie subjektiv erlebt, erinnert und imaginiert wird, auf ihre eigene Wirklichkeit schließlich, die sie autopoetisch erzeugt und reflektiert. Zwar kann man sagen, dass auch Wahrscheinlichkeit ein Element von Verbindlichkeit enthält - ‚wahrscheinlich‘ ist, was innerhalb einer bestimmten Gesellschaft als plausibel, also möglich, erscheint - aber sie besitzt doch nicht dasselbe Maß an verpflichtender Kraft, das dem Terminus der ‚Objektivität‘ innewohnt. Die ästhetisch-poetologischen Begriffe der Subjektivität, der Fiktionalität, der Autoreferentialität, des Spiels implizieren alle einen individuellen Freiraum der Leserinnen und Leser, deren Reaktion auf das Gelesene nicht festgelegt werden kann und deren Interpretationen so vielfältig sind wie ihre Lektüren. Es liegt sicher an der angedeuteten Tradition poetologischer Reflektion, dass Objektivität in der Literaturwissenschaft nicht sehr prominent ist. 1 Im Gegenteil, gerade in den vergangenen Jahrzehnten waren es das Paradigma der Subjektivität, das nicht zuletzt in der Rezeptionsästhetik Konstanzer Prägung vorherrschte, sowie die postmoderne Präferenz für Beliebigkeit, die ein Nachdenken über Objektivität verhinderte. Auch und gerade weil diese beiden Paradigmen heutzutage (zu Recht) hinterfragt werden, schien es den Herausgebern dieses Bandes an der Zeit, das vernachlässigte Thema ‚Objektivität‘ in den Blick zu nehmen. Dabei knüpfen sie an gegenwärtige Entwicklungen der literaturtheoretischen Diskussion an: Es handelt sich einerseits um wissenschaftsgeschichtliche Ansätze und andererseits um postkoloniale Fragestellungen: Beide rekurrieren nämlich auf Objektivität - im ersten Fall, indem sie nach den unterschiedlichen Verwendungsweisen von Wissen in 1 Cf. Norbert Christian Wolf: „Ästhetische Objektivität. Goethes und Flauberts Konzept des Stils“, in: Poetica. Zeitschrift für Sprach- und Literaturwissenschaft, 34/ 1, 2002, 125-169. Niklas Bender/ Steffen Schneider 8 den Naturwissenschaften und der Literatur fragen, im zweiten, indem sie implizit oder explizit die Möglichkeit hervorheben, dass literarische Texte eine Form von kultureller Verbindlichkeit und Kohärenz erzeugen können. Es ist das Ziel der hier versammelten Beiträge, den in den untersuchten literarischen Texten jeweils zu Grunde liegenden, expliziten oder impliziten Objektivitätsbegriff zu analysieren und seine Beziehung zur wissenschaftlichen und wissenschaftstheoretischen Objektivitätsdiskussion zu erläutern. Ein weiteres zentrales Anliegen liegt in der historischen Profilierung, die dieses Vorgehen ermöglicht: Die Auseinandersetzung der Literatur mit ‚Objektivität‘ erweitert wie gesagt das Nachdenken über Fiktion über den Begriff des Wahrscheinlichen hinaus. Für diese Auseinandersetzung ist - wie gleich auszuführen sein wird - vor allem der Objektivitätsbegriff in seiner modernen Fassung relevant. Daher stellen die Texte dieses Bandes, so die Hoffnung der Herausgeber, zumindest im Ansatz heraus, welcher Art der Beitrag ist, den die Moderne zum Verständnis von Literatur, i.e. zur Einschätzung und Erweiterung ihrer Aussagefähigkeiten, geleistet hat. Die Entscheidung, die Beziehungen zwischen Literatur und Objektivitätsbegriff zu untersuchen, brachte, wie soeben angedeutet, eine historische Begrenzung des Vorhabens mit sich: Kulturen sind zwar zu allen Zeiten auf gemeinschaftsstiftende und verbindliche Normen angewiesen; Objektivität aber ist kein Oberbegriff für Verbindlichkeit, sondern ein historischer Sonderfall; sie hat eine begrenzte und überschaubare Geschichte, die zunächst in aller Kürze skizziert sei. Das moderne Verständnis von Objektivität wurde von Alexander Gottlieb Baumgarten und Immanuel Kant geprägt. 2 Seit Baumgarten kann nämlich Objektivität als „Übereinstimmung mit der Sache unter Ausschaltung aller ‚Subjektivität‘, d.h. als Sachgemäßheit oder Gegenstandsorientiertheit“ bestimmt werden. 3 Nicht objektiv sind demnach subjektiv, also von persönlichen Stimmungen und Vorlieben, oder - schlimmer noch - ideologisch gefärbte Urteile. Kant hat dem Begriff eine transzendentalphilosophische Wendung gegeben: Er behauptet also nicht mehr, dass ein Urteil der Sache an sich entspricht, denn das Ding an sich ist nach Kant dem Menschen nicht zugänglich; die Welt kann ja nur in den Kategorien des 2 Zur vormodernen Semantik des Begriffs sei nur festgehalten, dass sie der modernen fast diametral entgegengesetzt ist: In der Terminologie der scholastischen Philosophie, die ja bis in 18. Jahrhundert hinein wirksam war, ist ‚objektiv‘ seit Duns Scotus das, was dem Geist ein Objekt ist (‚objectum ut cogitatum‘ und daher ‚in mente‘). Cf. Eintrag „objektiv/ Objektivität“ in: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, vier Bände, ed. Jürgen Mittelstraß, Mannheim/ Wien/ Zürich, Bibliographisches Institut, 1980-1996, Bd. II (H-O), 1052-1054, 1053. 3 Ibid. Einleitung 9 menschlichen Verstandes wahrgenommen werden. 4 Objektivität gibt es nach Kant gleichwohl, nämlich in dem Sinne, dass objektive Urteile allgemeine Gültigkeit haben - es handelt sich um den Unterschied zwischen Wahrnehmungs- und Erfahrungsurteilen: E m p i r i s c h e U r t e i l e , s o f e r n s i e o b j e k t i v e G ü l t i g k e i t h a b e n , sind E r f a h r u n g s u r t e i l e ; die aber, so n u r s u b j e k t i v g ü l t i g sind, nenne ich bloße W a h r n e h m u n g s u r t e i l e . […] Die erstern aber erfordern jederzeit, über die Vorstellungen der sinnlichen Anschauung, noch besondere, i m V e r s t a n d e u r s p r ü n g l i c h e r z e u g t e B e g r i f f e , welche es eben machen, daß das Erfahrungsurteil o b j e k t i v g ü l t i g ist. 5 Das Objekt bleibt an sich selbst immer unbekannt; wenn aber durch den Verstandesbegriff die Verknüpfung der Vorstellungen, die unsrer Sinnlichkeit von ihm gegeben sind, als allgemeingültig bestimmt wird, so wird der Gegenstand durch dieses Verhältnis bestimmt, und das Urteil ist objektiv. 6 Wichtig für die weitere Entwicklung ist, dass der Begriff bei Kant eine kritizistische - man könnte auch sagen: methodische - Wendung erhält; dadurch kommt ein zweiter, für die Moderne zentraler Aspekt des Objektivitätsbegriffs zum Tragen, nämlich Objektivität als Ergebnis eines bestimmten Verfahrens oder als Erfüllung bestimmter notwendiger Bedingungen. Innerhalb der Wissenschaftsgeschichte erhält Objektivität im Kantischen Sinne dann eine zugespitzte Bedeutung. Grundlegend für deren Verständnis ist die Untersuchung Objektivität von Lorraine Daston und Peter Galison. 7 Die Autoren stellen Kants Betonung von Verfahren auf den Boden wissenschaftsgeschichtlicher Forschung und zeigen, dass sich die Naturwissenschaftler des 19. Jahrhunderts dem Objektivitätsideal vollständig unterwarfen: Es handelt sich also nicht nur um einen abstrakten Wert, sondern um eine ‚epistemische Tugend‘, die ganz bestimmte Lebensweisen, Affektregulierungen, Techniken der Wissensgewinnung und -reproduktion erforderte. Viele der großen Naturwissenschaftler des 19. Jahrhunderts verstanden sich ganz bewusst als Heroen der Objektivität und wurden als solche sogar zu literarischen Helden, z.B. in den Texten Jules Vernes, während sich ein Großteil der Literaten und Ästheten dagegen der Pflege eines Subjek- 4 Trotz der transzendentalphilosophischen Wende bewahrt Kant die Bedeutung von ‚dem Objekt entsprechend‘ für den Begriff ‚objektiv‘: „[…] diese beiden Vorstellungen sind im Objekt, d.i. ohne Unterschied des Zustandes des Subjekts, verbunden, und nicht bloß in der Wahrnehmung (so oft sie auch wiederholt sein mag) beisammen.“ Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, in: ders.: Theorie-Werkausgabe, zwölf Bände, ed. Wilhelm Weischedel, Bd. III: Kritik der reinen Vernunft I, Frankfurt/ M., Suhrkamp/ Insel, 1956, Transzendentale Analytik, § 19, 143 (B 143). 5 Immanuel Kant: Prolegomena zu einer jeden zukünftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, in: ders.: Theorie-Werkausgabe, Bd. V: Schriften zur Metaphysik und Logik I, 109-264, § 18, 163 (A 78). 6 Ibid., § 19, 164 (A 80). 7 Lorraine Daston/ Peter Galison: Objektivität, aus dem Amerikanischen von Christa Krüger, Frankfurt/ M., Suhrkamp, 2007. Niklas Bender/ Steffen Schneider 10 tivitätsideals widmeten. Ein Verdienst des Werks von Daston/ Galison besteht darin, dass es ihnen gelingt, die Wandelbarkeit wissenschaftlicher Objektivität zu zeigen: Objektivität behält seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ungebrochen ihren hohen Wert für die Wissenschaften, aber sie bleibt sich nicht gleich, muss immer wieder neu und anders konzipiert und vor allem praktiziert werden. Versuchten die Pioniere der objektiven Naturwissenschaften noch, die Natur unter Ausschaltung aller Subjektivität aufzuzeichnen, wie sie war, ohne vorgängige Wahrnehmungsfilter, so führte dies schnell in Aporien: Ohne das geschulte Urteil von Wissenschaftlern ließen sich z.B. wertvolle Informationen gar nicht von nutzlosen trennen. Lässt man sich von dieser Studie anregen und befragt man die Literaturgeschichte danach, in welcher Weise die Literaten auf den Aufstieg der Objektivität reagieren, so zeigen sich durchaus gewisse Übereinstimmungen, aber auch charakteristische Differenzen 8 . Zunächst hat es den Anschein, dass die Autoren des 19. Jahrhunderts - die Parnassiens, Jules Verne, natürlich ein Autor wie Gustave Flaubert 9 aber auch, was überraschender sein dürfte, große Lyriker wie Charles Baudelaire - das neue Paradigma durchaus in mancher Hinsicht akzeptieren und es vor allem dazu einsetzen, um die Romantik hinter sich zu lassen. Hier erweist sich wissenschaftlich verstandene Objektivität als ein wesentliches Konzept in der Etablierung eines neuen Literaturverständnisses, das gerade in der Auslöschung von Subjektivität wurzelt 10 . Doch es zeigt sich bald auch, dass sich die Literatur auf die Suche nach einer eigenen Objektivitätskonzeption begibt. Insbesondere Autoren der klassischen Moderne und der Avantgarden (André Breton, Francis Ponge, Alain Robbe-Grillet, Peter Weiss) scheinen eher auf einer Objektivität der Dinge und einer dinglichen Evidenz der Sprache zu bestehen, welche die wissenschaftliche Objektivität geradezu zu unterminieren beginnt. Und schließlich verkomplizieren sich die Verhältnisse noch einmal, als sich in den avanciertesten Gebieten der Naturwissenschaft und der Erkenntnistheo- 8 Dass Daston/ Gallison einen recht eingeschränkten Objektivitätsbegriff verwenden, der die geisteswissenschaftliche Geschichte des Konzepts kaum in den Blick nimmt, ist ein Mangel dieser interessanten Studie. 9 Dass Balzac, Flaubert und Zola in diesem Band nicht vertreten sind, liegt am Zufall der Themen- und Beiträgerverteilung; von zwei projektierten Flaubert-Beiträgen hat es keiner in den Band geschafft. Allerdings lässt sich die Verbindung auf Grund der evidenten Hinwendung dieser Autoren zu den exakten Wissenschaften recht leicht herstellen, so dass dieser Mangel (hoffentlich) zu verschmerzen ist. 10 So ein wesentlicher Aspekt des modernen Verständnisses von Objektivität. Vor allem dieses negative Verständnis - „Qualité de ce qui est exempt de partialité, de préjugés“ -, Objektivität als Gegenbegriff zu Subjektivität also, ist, Le Grand Robert zu Folge, der geläufige Sinn des französischen Begriffes „objectivité“ seit 1838 (der älteste hier gelieferte Nachweis im Französischen ist von 1801). Cf. Le Grand Robert de la langue française (Dictionnaire alphabétique et analogique de la langue française), sechs Bände, ed. Alain Rey, Paris, Dictionnaires le Robert, 2 2001, Bd. IV (Inco-Orga), 2043. Einleitung 11 rie die Einsicht durchsetzt, dass der Beobachterstandpunkt die Beobachtungen in irreduzibler Weise prägt - eine Einsicht, die zur Notwendigkeit führt, eine Objektivität zweiter Ordnung zu entwickeln. Aus dieser Perspektive beleuchtet, können einige Experimente der Literatur, die man gewöhnlich einer postmodernen ‚Beliebigkeit‘ zurechnet, viel eher als Versuch gelesen werden, zu einer der Komplexität gegenwärtiger Gesellschaften angemessenen Form der Objektivität zu gelangen, die man als eine Objektivität zweiter Ordnung bestimmen könnte. Indem die Beiträgerinnen und Beiträger dieses Bandes die Geschichte der Wechselwirkungen des wissenschaftlichen und philosophischen Begriffs der Objektivität mit der Literatur nachzeichnen, geht es nicht nur um eine Frage der Rezeption von kulturellen Entwicklungen durch literarische Texte. Vielmehr steht die Frage im Mittelpunkt, wie Literatur, in einer zweifellos unübersichtlichen Welt, eine gewisse Verbindlichkeit erreichen und durchsetzen kann bzw. deren Möglichkeit wenigstens im Modus der Fiktion zu reflektieren vermag. 11 Torsten Königs Beitrag setzt vor der Objektivität an: Er beschäftigt sich mit der Legitimation von überindividuell gültigem Wissen im 18. Jahrhundert am Beispiel von Buffon und Diderot, Vertretern zentraler Wissensbereiche der Zeit, nämlich der Naturgeschichte und der Theorie der Kunst bzw. des Schönen. Es wird gezeigt, dass für diese Zeit Objektivität als erkenntnistheoretische Kategorie keine Rolle spielt und an deren Stelle andere epistemische Tugenden stehen; diese prägen die beiden untersuchten Wissensbereiche gleichermaßen. Mit ihrer zunehmenden Konzentration auf das Subjekt im Erkenntnisprozess erscheint die ästhetische Theorie als bestimmend für Entwicklungen, als deren Konsequenz sich die Objektivität etabliert. Konstanze Baron wendet sich Diderot als Erzähler zu: Ihr Beitrag untersucht die Verhandlung des moralischen Urteils in einer Reihe von Erzählungen, die in den 1770er Jahren verfasst wurden, und thematisiert dabei die Rolle der Objektivität im Bereich der Ethik. Diderot vereint eine Kritik der Fiktion mit einer kritischen Philosophie; er verfolgt dabei das Ziel, die willkürliche (da subjektive) Natur jedes moralischen Urteils zu entlarven. Der Beitrag untersucht sowohl die narrativen Techniken dieser Kritik als auch die literarischen, philosophischen und ästhetischen Konsequenzen, die sich aus ihr ergeben. Zwar sucht Diderot der Moral eine objektive Basis zu geben, indem er ihren Ursprung direkt im menschlichen Charakter verortet. Dennoch kommt die Objektivität an ihre Grenze: Die Subjektivität der Erfahrung und des Urteils, die unvorhersehbare Weiterverarbeitung des Ge- 11 Hier berühren sich die Überlegungen dieses Bandes mit denen von Andreas Kablitz, der sich allerdings mit dem Problem historischer Objektivität befasst. Cf. Andreas Kablitz: „Geschichte? Tradition? Erinnerung? Wider die Subjektivierung der Geschichte“, in: Geschichte und Gesellschaft, 32, 2006, 220-237. Niklas Bender/ Steffen Schneider 12 lesenen durch den aufgeklärten Leser sowie schließlich die Ironie beschränken die Verbindlichkeit moralischer Überlegungen, so dass die Texte letzten Endes eine Oszillationsbewegung zwischen Subjektivität und Objektivität vollführen. Nach Diderot erfolgt ein doppelter Sprung, von der Prosa zur Lyrik und vom 18. in das 19. Jahrhundert: In Frontstellung zur Romantik streben die Parnassiens eine Erneuerung der Lyrik durch deren Entsubjektivierung an. Henning S. Hufnagels Beitrag zeigt, wie sie das Subjekt als Beglaubigungsinstanz für Wert und Wahrheit eines Gedichts ersetzen. Er arbeitet die Strategien heraus, mit denen die Parnassiens den lyrischen Diskurs zu objektivieren - u.a. durch die Inszenierung von Objektreferenz und -evidenz sowie die Integration von wissenschaftlich beglaubigten Wissensbeständen. Der Beitrag von Niklas Bender schließt an Hufnagels Reflexionen zum Thema Objektivität und Lyrik an. Einer weit verbreiteten Einschätzung zu Folge wird Lyrik entweder als die literarische Gattung der Subjektivität schlechthin oder aber als Ort rein sprachimmanenter Ästhetisierung begriffen. Dieser Beitrag hingegen versucht zu zeigen, dass Baudelaire, Rimbaud und Mallarmé, die drei Begründer der modernen Lyrik, sich gerade in ihrer Abwendung von einer romantisch geprägten Subjektivität wissenschaftlichen Modellen, Verfahren und Erkenntnissen öffnen; sie stehen folglich in überraschender Nähe zum zeitgenössischen Roman des Realismus und des Naturalismus. Wissenschaftlich verstandene Objektivität liefert, so der Schluss, einen (wenn auch nicht den einzigen) zentralen Schlüssel zum Verständnis der modernen Lyrik. Steffen Schneider hingegen wendet sich einem nur scheinbar evidenten Beispiel für die Darstellung wissenschaftlicher Objektivität in der Literatur zu: Dass das Konzept in Jules Vernes Voyages extraordinaires eine zentrale Rolle spielt, mag angesichts der Bedeutung der Wissenschaften für diesen Autor zunächst nicht überraschen. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich aber, dass Verne souverän mit wissenschaftlicher Objektivität umgeht und ihr eine eigene Objektivität der Literatur gegenüberstellt. So lassen sich in seinen beiden Romanen De la Terre à la Lune und Autour de la Lune mehrere Formen von Objektivität nachweisen, die in einer spannungsvollen Beziehung zueinander stehen und sich gegenseitig erläutern. Vernes Texte intendieren über die bloß enzyklopädische Vermittlung von Wissen hinaus den Gegensatz von Naturwissenschaft und Literatur in der Beschreibungstechnik - einer Form ästhetischer Objektivität - zu versöhnen: Seine Beschreibungen bewahren bis zu einem gewissen Grad die Exaktheit wissenschaftlicher Aufzeichnungen, versuchen aber zugleich, die Phänomenalität der Welt in ihrer Beziehung zum wahrnehmenden Subjekt zu retten. Georges Feltens Beitrag schließlich zeigt einen Endpunkt der Objektivitätsdarstellung auf. Er zeigt, wie die epistemische Tugend der mechanischen Objektivität auch noch für die Konstitution der Erzählinstanz aus Peter Weiss Der Schatten des Körpers des Kutschers und Alain Robbe-Grillets La Einleitung 13 Jalousie fruchtbar gemacht werden kann. Sie wird nämlich einerseits als Beglaubigungsverfahren verwendet und anderseits von der jeweiligen auktorialen Instanz hinterfragt. Bei Weiss mutiert der im Zeichen der Selbstvergessenheit operierende Ich-Erzähler zu einem fotomechanischen Aufzeichnungsgerät, während die Mehrdeutigkeit der Signifikanten das von ihm verdrängte sinnliche Begehren verrät. Bei Robbe-Grillet dagegen wird ein ironisches Kippspiel inszeniert, durch das die Erzählinstanz zwischen den Funktionen ‚wissenschaftlicher Beobachter‘ und ‚eifersüchtiger Ehemann‘ hin- und herchangiert. Sodann unternimmt Jan Söffners Beitrag zeitlich einen Schritt zurück und greift die philosophischen Diskussionen der 1920er und 30er Jahre auf: Für diese ist die Frage nach der ‚Weltoffenheit‘ des Menschen prägend. Entscheidend ist in dieser Diskussion, den Menschen als ein nicht festgelegtes Tier zu beschreiben, ein Tier, das von seinen Instinkten und Reflexen nicht bestimmt und durch sein Milieu nicht bedingt ist: Die Freiheit des Menschen erhebt ihn über seine objektive Bedingtheit und eröffnet ihm die Welt. Die Aufgabe, die sich dieser Beitrag stellt, ist ein avantgardistisches Gegenmodell von Weltoffenheit und Freiheit nachzuzeichnen. Vor allem im Surrealismus, so die These, wird gerade die Subjektivität eines Ichs als beschränkt und unfrei wahrgenommen - die objektiven Bedingtheiten (vor allem der objektive Zufall und die psychischen Automatismen) werden hingegen als Befreiung und Öffnung theoretisiert. Dies wird an André Bretons Werk Nadja nachgezeichnet. Diese Überlegungen, die u.a. phänomenologisch und ontologisch argumentieren, kann man als Analyse einer intellektuellen Situation begreifen, von welcher der folgende Beitrag ausgeht: Maria Moog-Grünewald wendet sich der ganz besonderen ‚Objektivität‘ im Werk Francis Ponges zu. Trotz ihrer Eigenart vollzieht Ponge doch eine für die moderne Dichtung typische Volte: Der Dichter wendet sich in einem ersten, phänomenologisch inspirierten Schritt den ‚objets‘ als solchen zu. In einem zweiten Schritt jedoch rücken die Worte selbst in den Fokus des poiëtischen Verfahrens; die Versprachlichung der Sache versachlicht die Sprache, die ein von der Referenz weitgehend unabhängiges Eigenleben entwickelt. Im Kern steht folglich ein paradoxer Sachverhalt, nämlich dass die dichterische Sprache sich immanent zu übersteigen sucht - das ‚objet‘ wird zum ‚objeu‘. Obwohl Kind und Kindheit grundlegende Themen in Elsa Morantes Werk sind, ist das Thema von Katharina Münchbergs Beitrag ganz und gar nicht dem jeu verpflichtet: In dem Roman La Storia erzählt Morante die Geschichte eines Kindes, das aufgrund einer traumatischen Kriegserfahrung psychisch zerbricht und stirbt. Sie versucht, ein ‚kindliches Schreiben‘ zu praktizieren, das sich aus der Gewalt der gesellschaftlich funktionalisierten Sprache befreit, um die Bedingungen der Möglichkeit der Sprache am Ursprung der Kindheit wieder zu finden. Morantes Frage nach dem, was Kind und Kindheit sind, verweist in eine ontologische Dimension. Kindheit Niklas Bender/ Steffen Schneider 14 ist das, was der Objektivität des Wissens und der Subjektivität des Fragenden vorangeht. Die Differenz von Objektivität und Subjektivität entsteht aus der Kindheit und ist das Ende der Kindheit. In Abgrenzung gegen den nouveau roman wendet sich Elsa Morante einem neuen Realismus des erzählenden Textes zu, um die kindliche Erfahrungsdichte am Nullpunkt der Sprache, der gleichzeitig der Nullpunkt von Objektivität und Subjektivität ist, zu erfassen. Von diesem Nullpunkt des Wissens wendet sich Barbara Ventarola hin zu seiner überreichen Repräsentation: Ihr Beitrag, der methodisch im Schnittfeld zwischen postkolonialer Theorie und Wissenschaftsgeschichte situiert ist, unternimmt eine Neulektüre des fantastischen Werks von Jorge Luis Borges. Ventarola führt zunächst vor, wie die zeitgenössischen naturwissenschaftlichen Umwälzungen, vor allem die quantenphysikalische Entdeckung einer Unbestimmtheit und ‚Fantastik‘ der Realität, einen bislang weitgehend unberücksichtigten Strang der Konzeptualisierung von Objektivität ermöglicht, der sich zwischen der gängigen (eurozentristischen) Alternative Objektivismus vs. Anti-Objektivismus verortet. Dies wird möglich, indem Objektivität, Pluralismus und Performanz zusammengeführt und so das Potential für neue Formen interkultureller Gerechtigkeit entfaltet werden. In diesen Horizont wird Borges’ Œuvre gestellt, um seine Verfahren der Irrealisierung einer neuen Deutung zuzuführen: Sie nun geben sich als Organon einer Textpragmatik zu erkennen, die darauf abzielt, die Leserschaft in eine neue, transklassische Objektivitätskonzeption einzuüben. Markus Messlings untersucht ebenfalls Objektivität im Rahmen (post-)moderner Theoriebildung. Seine Untersuchung von Roland Barthes Texttheorie verhandelt Objektivität auf der Ebene der Textanalyse und geht hierbei von einem Vorwurf gegen das Denken der Postmoderne, insbesondere die Dekonstruktion, aus: Es hätte einer interpretativen Willkür, einer „Ekstase der Subjektivität“ (Hans Ulrich Gumbrecht) Vorschub geleistet. Gerade Jürgen Habermas hat in der Verschmelzung von Philosophie und Texttheorie im Denken von Jacques Derrida und anderen eine Vernunftkritik ausgemacht, in der das Projekt der Aufklärung aufgegeben worden sei. Messling zeigt, dass diese Haltung Roland Barthes’ nicht-hermeneutischem Projekt nicht gerecht wird. Einerseits weil Barthes mit dem ‚Tod‘ des Autors als Verständnisdeterminante einen Prozess der Demokratisierung anvisiert habe, der gerade aus einer neu gewonnenen Objektivität in der Textlektüre resultiere. Andererseits folgt Messling Tzvetan Todorov, dem zu Folge gerade in der Wende zur radikalen Subjektivität in Leçon (1977) ein Anspruch der Verobjektivierung auszumachen sei. So verabschiede sich Barthes’ Denken und Schreiben zwar von einer spezifischen Tradition europäischer Rationalität; es wolle aber einen lebensnäheren Zugang zum Subjekt finden, in dem dessen Bedingtheit und Freiheit, das ‚Eigentliche’ des Subjekts, performativ in der Spracharbeit ausgelotet und erfahren würde. Einleitung 15 Veronika Thiel schließlich wendet sich erneut der Literatur, und zwar jener der Gegenwart, zu: Ihr Beitrag thematisiert die Selbstreflexion in Le Temps de Tamango von Boubacar B. Diop. Dieser Roman bringt ein antimimetisches Repräsentationsverständnis zum Ausdruck: Die Korrespondenz von Darstellung und Realität wird strikt verneint. Wahrheitsansprüche können sich somit nicht mehr auf Objektivität im Sinne der Qualität einer Aussage stützen, die sich ausschließlich auf Eigenschaften des Objektes beschränken würde. Vielmehr rückt die pragmatische Dimension in den Vordergrund der Selbstreflexion und mit ihr werden die Machtverhältnisse sichtbar, mittels derer Geltungsansprüche durchgesetzt werden. Die unweigerliche Verknüpfung von Darstellung und Macht wirft schließlich die Frage nach einer verantwortlichen Form und damit nach Strategien der Objektivierung auf, um zum einen die konstitutive Subjektivität von Repräsentationen zu vergegenständlichen, und zum anderen zu ermöglichen, sich der der Sprache inhärenten Logik von Machtausübung zu entziehen. So zeigt sich in der Gegenwart eine Rückwendung zur Objektivität unter dem Vorzeichen moralischer Verantwortung. Torsten König Transsubjektives Wissen in Naturgeschichte und Ästhetik des 18. Jahrhunderts: Buffon und Diderot Ziel des Erkenntnisstrebens zu allen Zeiten ist es, Urteile und Wissen von universeller, d.h. überindividueller oder transsubjektiver 1 Gültigkeit zu erlangen. Das, was wir unter Objektivität verstehen, ist nicht mit diesem Ziel zu verwechseln. Objektivität ist nur ein möglicher Weg zu ihm, der ab dem 19. Jahrhundert als der erfolgversprechendste erachtet wird. Sie tritt erst in dieser Zeit als wissenschaftstheoretische Kategorie ins kollektive Bewusstsein. In vorangehenden Epochen existiert Objektivität weder als Begriff im heute gebräuchlichen Sinne noch als äquivalentes Phänomen avant la lettre. 2 Erst durch Immanuel Kants Bestimmung von Funktionsweise und Grenze des menschlichen Erkenntnisvermögens rückt die bestimmende Rolle des Subjekts beim Erkenntnisvorgang ins wissenschaftstheoretische Bewusstsein. Die mit einem solchen Subjekt verbundenen Probleme rufen die 1 Cf. zum Begriff „transsubjektives Wissen“ als Ziel des Erkenntnisstrebens im Allgemeinen und der Wissenschaften im Besonderen Peter Janich: Kleine Philosophie, 41sq. 2 Gleichwohl finden sich vor dieser Zeit die Begriffe ‚Objekt‘ und ‚objektiv‘, allerdings mit wandelnden Bedeutungen. Sie sind unabhängig von der ‚Objektivität‘ zu betrachten. Vom Mittelalter bis zu Kant tauchen sie als Gegenpol zu ‚Subjekt‘ und ‚subjektiv‘, wenngleich selten und ohne eine wichtige Rolle zu spielen, in der Ontologie auf. Ihre Bedeutung ist jedoch der heutigen Verwendung genau entgegengesetzt: ‚Objektiv‘ ist das Ding, wie es sich dem Bewusstsein darstellt, ‚subjektiv‘ das Ding, wie es für sich, unabhängig vom Bewusstsein existiert. Erst mit Kant erfahren die Kategorien eine Renaissance, wobei bei ihm mit ‚objektiv‘ die Formen der Sinnlichkeit, also Zeit, Raum, Kausalität, als Bedingung möglicher Erfahrung bezeichnet werden. ‚Objektiv‘ ist damit dem Allgemeinen zugeordnet, ‚ subjektiv‘ dagegen dem Einzelnen. Gewissermaßen in einer Fehlinterpretation der äußerst populären Kategorien Kants, wurden sie ab Mitte des 19. Jahrhunderts im heute geläufigen Sinne etabliert: ‚subjektiv‘ auf Bewusstseinsleistungen bezogen, ‚objektiv‘ auf Gegenstände, die als unabhängig vom Bewusstsein existierend begriffen werden. Cf. zu diesen Entwicklungen Daston/ Galison: Objektivität, 28-37 zur These, Objektivität werde erst ab dem 19. Jahrhundert zur zentralen wissenschaftstheoretischen Kategorie zusammenfassend ibid., 17-58 sowie vertiefend ibid., 121-326. Torsten König 18 Objektivität als epistemische Tugend auf den Plan. 3 Diese Tugend besteht in der Auslöschung bzw. Vermeidung aller Spuren, die das erkennende Subjekt auf dem Gegenstand der Erkenntnis hinterlassen kann, denn sie werden als mögliche Quelle der Verunreinigung der Erkenntnis identifiziert. Ihre Bedeutung wächst im 19. Jahrhundert soweit, dass sie mit Wissenschaftlichkeit schlechthin identifiziert wird. 4 Die Historizität der Strategien zur Legitimierung transsubjektiven Wissens wird sichtbar, stellt man diese, aus unterschiedlichen Epochen kommend, einander gegenüber. Unter dieser Prämisse sollen im Folgenden zentrale epistemische Tugenden in den Blick gerückt werden, die im 18. Jahrhundert in Frankreich an Stelle der Objektivität das Wissenschaftsverständnis prägen. Zwei Wissensbereiche stehen dabei im Fokus der Aufmerksamkeit: einmal die Naturgeschichte bzw. histoire naturelle, also die systematische Erforschung der natürlichen Welt als entfernte Vorläuferin der Naturwissenschaft, zum anderen die Kunstkritik, la critique du goût, verbunden mit der Theorie des Schönen. Ihr Vergleich wird zeigen, dass die Wege zu transsubjektivem Wissen im angegebenen Zeitraum durch die gleichen Erkenntnisdispositive determiniert sind, was wiederum eine Reihe von Schlussfolgerungen hinsichtlich der Interdependenzen beider Bereiche zulässt. Die dem Vergleich zugrunde gelegten, exemplarischen Lektüren werden sich auf zwei Autoren konzentrieren, die in Frankreich und Europa jeweils einen der Bereiche paradigmatisch repräsentieren: Georges Louis Marie Leclerc, Comte de Buffon für die Naturgeschichte und Denis Diderot für die Theorie des Schönen und der Kunst. I. L A VÉRITÉ PHYSIQUE - D IE W AHRHEIT DER N ATURGESCHICHTE Im Jahr 1749 erscheinen die ersten drei Bände von Buffons monumentaler Histoire naturelle, générale et particulière. Ziel des Werkes, das unter Mitarbeit von Louis Jean-Marie Daubenton in den folgenden Jahren auf sechs- 3 Ibid., 208-216. Kants Bestimmung der starken Rolle des Subjekts im Erkenntnisprozess erfolgt an prominentester Stelle in der Kritik der reinen Vernunft (1781/ 87) im Abschnitt über die transzendentale Ästhetik. Kant entwickelt dort seine bekannte These, man erkenne nicht das Ding an sich, sondern nur dessen Erscheinung. Insofern die Gegenstände, wie sie erscheinen, aber durch die Beschaffenheit des Anschauungsvermögens, genauer durch die apriorischen Sinnlichkeitsformen des Erkennenden bestimmt sind, ist deren Erkenntnis eine subjektabhängige. Das Subjekt wird damit zur zentralen Instanz im Erkenntnisvorgang. 4 Der Prozess des Aufstieges der Objektivität zur zentralen Kategorie moderner Wissenschaftstheorie und seine Determinanten werden beschrieben ibid., 121-200. Daston/ Galison prägen in diesem Zusammenhang den Begriff der „mechanischen Objektivität“. Er verweist auf die Bevorzugung mechanischer Verfahren bei der Erhebung von Daten zur Natur mit dem Ziel die fehlbaren subjektiven Sinne hierbei auszuschalten. Transsubjektives Wissen 19 unddreißig Bände anwächst, ist eine vollständige Beschreibung der natürlichen Welt. 5 Die Histoire naturelle birgt nicht nur Bestandsaufnahmen und Analysen zu den Phänomenen der Natur, sondern auch umfangreiche Reflexionen zu den Methoden der Naturforschung, an denen die ersten Bände von 1749 besonders reich sind. Für die hier interessierende Problematik sehr aufschlussreiche und repräsentative Passagen finden sich schon ganz am Anfang des Werkes, im bekannten Premier discours. De la manière d’étudier et de traiter l’histoire naturelle. Buffon erörtert dort Grundfragen des Studiums der Naturgeschichte. Naturgeschichte, daran sei noch einmal erinnert, bedeutet nicht das Studium der historischen Dimension der natürlichen Welt, sondern die systematische, ordnende Bestandsaufnahme der als statisch begriffenen Natur. 6 Zentrales Thema Buffons im Premier discours ist die Kritik am für das 18. Jahrhundert gängigen Modus dieser Bestandsaufnahme, den botanischen und zoologischen Nomenklaturen. Diese seien, so das Argument Buffons, als spekulative Systeme, die nach Identität oder Differenz einzelner, dekontextualisierter Elemente fragen, nicht in der Lage, den Gesamtzusammenhang der Natur und damit ihre Komplexität abzubilden. Renommiertester Repräsentant der taxonomischen Systeme in der Zeit ist Carl von Linné, gegen den sich Buffons Angriff denn auch richtet. Buffon schlägt im Gegenzug neue Beschreibungsmethoden vor, die der Vernetzung der Naturphänomene gerecht werden sollen und u.a. entwicklungsgeschichtliche Perspektiven implizieren. Damit weisen sie wissenschaftsgeschichtlich in die Zukunft. 7 Wenn Buffon in der Frage nach der Entwicklungsfähigkeit der Natur seinem Konkurrenten Linné voraus ist, erweist er sich in einer anderen ganz als Mann seiner Zeit, die bis zum Ende des Jahrhunderts dauern wird: Es ist die allgemeinere Frage nach der Existenz einer vom Beobachter unabhängigen Naturwahrheit und den Möglichkeiten ihrer Erkenntnis. Buffon unterscheidet bei den möglichen Wahrheiten, derer der Mensch habhaft werden kann, zwischen solchen, die ihren Ursprung ausschließlich im Verstand haben - „les vérités mathématiques“ - und solchen, die subjektunabhängig, in den Dingen liegend gegeben sind. Er nennt letztere „les vérités physiques“: „Les vérités physiques […] ne dépendent point de nous, au lieu d’être fondées sur des suppositions que nous ayions faites, elles ne sont appuyées que sur des faits […].“ Dieser Unterteilung entsprechend definiert Buffon die Wissenschaften, deren Erkenntnisgegenstand nicht die subjektunabhängige Wirklichkeit ist, sondern reine Ideen als „sciences abstraites“. Diejenigen dagegen, die auf die in der Natur gegebenen Fakten gerichtet sind, bezeichnet er als „sciences réelles“. Sein Verständ- 5 Zur Anlage der Histoire naturelle von Buffon cf. Cherni: Buffon. 6 Cf. zu den Merkmalen der Naturgeschichte im 18. Jahrhundert Wolf Lepenies: „Das Ende der Naturgeschichte.“ 7 Zur Kritik Buffons an den taxonomischen Systemen cf. Candler Hayes: Reading, 26-39. Torsten König 20 nis von Naturgeschichte ist den „sciences réelles“ verpflichtet. 8 Dass die vérité physique als Ziel der Naturgeschichte gleichwohl keine Qualität besitzt, die dem entspricht, was der moderne Begriff objectif meint, wird nicht nur durch den Umstand belegt, dass der Begriff in der gesamten Histoire naturelle nicht vorkommt. Die Irrelevanz dieser Kategorie für Buffons Wissenschaftsverständnis zeigt sich vielmehr im methodischen Zugang zur vérité physique, den er entwickelt. Er beruht für den Empiriker zunächst auf minutiöser und umfänglicher Beobachtung. Ziel der Beschreibung auf deren Grundlage ist allerdings ein Naturbild, welches das Charakteristische, das Typische des Beobachteten sichtbar macht. Deshalb muss der Forscher in der Lage sein, nicht nur genau zu beschreiben, sondern auch von der Varianz der Individuen zu abstrahieren: Le premier obstacle qui se présente dans l’étude de l’Histoire Naturelle, vient de cette grande multitude d’objets. Mais la variété de ces mêmes objets […] forme[nt] un autre obstacle à l’avancement de nos connaissances […]. Il ne faut pas s’imaginer […] que dans l’étude de l’Histoire Naturelle on doive se borner uniquement à faire des descriptions exactes et à s’assurer seulement des faits particuliers […] mais il faut tâcher de s’élever à quelque chose de plus grand et plus digne encore de nous occuper, c’est de combiner les observations, de généraliser les faits […]. 9 „Combiner les observations“ und „généraliser les faits“ heißt etwa mit Blick auf Pflanzen- oder Tierarten, eine Reihe von Individuen derselben Art miteinander zu vergleichen und auf dieser Grundlage einen Archetyp eben dieser Art zu erstellen. Die vérité physique ist damit nicht im individuellen Phänomen greifbar, sondern es handelt sich um ein verallgemeinerndes Ideal, welches ermöglicht, Gattungen, Arten, kurz eine Ordnung der Natur zu etablieren. Buffon definiert diese Naturwahrheit 10 als eine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit: […] une suite de faits semblables ou, si l’on veut, une répétition fréquente et une succession non interrompue des mêmes événements, fait l’essence de la vérité physique: ce qu’on appelle vérité physique n’est donc qu’une probabilité, mais une probabilité si grande qu’elle équivaut à une certitude. 11 Während das Subjekt der objektivistisch argumentierenden Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts im Erkenntnisprozess, soweit es möglich ist, eliminiert werden soll, erscheint es hier geradezu als Garant für die Erkenntnis der vérité physique. Daher hängt die Qualität der Naturerkenntnis auch 8 Cf. Buffon : Histoire naturelle, 61. 9 Ibid., 29, 58. 10 Daston/ Galison, Objektivität, 59-120, verwenden den Begriff der „Naturwahrheit“, um die epistemische Kategorie zu bezeichnen, die im 18. Jahrhundert die transsubjektive Gültigkeit von Wissen über die Natur garantiert. Buffon gehört bei ihnen zu den Autoren, die diese repräsentieren. 11 Buffon, Histoire naturelle, 61. Transsubjektives Wissen 21 wesentlich von der Begabung der Forscherpersönlichkeit ab. Es ist wohl nicht zufällig gerade der Artikel „génie“ der Encyclopédie, in dem sich eine entsprechende Bestimmung der notwendigen Fähigkeiten des forschenden Geistes findet: Er müsse in der Lage sein, Wahrnehmungen miteinander zu vergleichen, zu suchen, was verschiedene Gegenstände gemeinsam haben und daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen. 12 Buffon nennt die nur Wenigen gegebene Fähigkeit zur Synthese der Variabilität „coup d’œil“, was bei ihm etwa so viel meint wie „mit einem Blick erfassen“. 13 Am Beispiel eines repräsentativen Vertreters der Naturgeschichte des 18. Jahrhunderts wird hier deutlich, dass diese zwar das Problem einer vom Beobachter unabhängigen Wirklichkeit kennt, sich aber, was die Zugangsmöglichkeiten zu ihr betrifft, grundlegend vom Wissenschaftsverständnis der folgenden Jahrhunderte unterscheidet. An Stelle der epistemologischen Tugend der Objektivität, welche diese prägt, findet sich im 18. Jahrhundert die Fähigkeit, in der Variabilität der Natur Konstanten zu erblicken und zu beschreiben. Diese Fähigkeit ist die Möglichkeitsbedingung für eine klassifizierende Ordnung, die für Buffon bei aller Kritik an den Nomenklaturen genauso wie für Linné die zentrale Aufgabe der histoire naturelle war. Beide gehören hinsichtlich der Legitimationsstrategien transsubjektiven Wissens demselben epistemischen Paradigma an. 14 Problematisch war hierbei nicht der Einfluss des Subjektes, sondern die Bändigung der Vielfalt der Natur. Dass das 18. Jahrhundert die Frage der Unterscheidung zwischen bewusstseinsunabhängiger Welt und Bewusstsein von dieser nicht notwendigerweise mit einem modernen Objektivitätsbegriff verbindet, wird bei der Betrachtung eines anderen Wissensbereiches noch deutlicher: der Theorie des Schönen und der Schönen Künste. 12 Cf. Diderot (? ): „génie“, 583. 13 Cf. Buffon, Histoire naturelle, 30: „[...] l’amour de l’étude de la Nature suppose dans l’esprit deux qualités qui paraissent opposées, les grandes vues d’un génie ardent qui embrasse tout d’un coup d’œil, et les petites attentions d’un instinct laborieux qui ne s’attache qu’à un seul point.“ Sowie ibid., 59, zur Fähigkeit von der Heterogenität der Einzelphänomene das Typische einer Art zu abstrahieren: „Une grande mémoire, de l’assiduité et de l’attention suffisent pour arriver au premier but [i.e. faire des descriptions exactes et s’assurer seulement des faits particuliers ] ; mais il faut ici quelque chose de plus, il faut des vues générales, un coup d’œil ferme et un raisonnement formé plus encore par la réflexion que par l’étude.“ 14 Das wird im Übrigen auch bei der Gegenüberstellung ihrer in das Medium graphischer Illustrationen transponierten Bestandsaufnahmen evident. Die Abbildungen in Buffons Histoire Naturelle des Oiseaux (1779) beispielsweise zeigen die Spezies in ihrem natürlichen Umfeld und illustrieren damit ihre Beziehungen zu anderen Elementen der Natur, beispielsweise den Pflanzen, von denen sie sich ernähren. Die Schautafeln in Linnés Hortus Cliffortianus (1737) dagegen geben die schematisierten Typen eines einzelnen Organs verschiedener Vertreter einer Gattung, wie z.B. unterschiedliche Blattformen, wieder. Gemeinsam ist beiden Darstellungsformen, dass sie Abstraktionen repräsentieren, die versuchen das Typische des jeweiligen Gegenstandes zu erfassen. Torsten König 22 II. L E BEAU UND LA BELLE NATURE - DIE W AHRHEIT DER Ä STHETIK An wenigen Gegenständen lässt sich im 18. Jahrhundert die Diskussion um die Definition der Beziehung zwischen betrachtendem Subjekt und der diesem über die sinnliche Wahrnehmung zugänglichen Objektwelt so gut untersuchen wie an der Frage nach dem Ursprung und dem Wesen des Schönen. Ob dieses eine vom Betrachter unabhängige und damit überzeitlich gültige Qualität der Dinge sei oder wie die Moden veränderlich, welche konkreten Ausformungen es annehmen könne und wie der Betrachter zu seinem Urteil über dieses komme, wurde seit dem 17. Jahrhundert in Europa und in Frankreich heftig diskutiert. 15 Einer der Kronzeugen der Diskussionen, der selber neue Akzente in ihnen setzt, ist Denis Diderot. Dabei sind in seinem Denken entscheidende Entwicklungen auszumachen. 1752 erscheint aus Diderots Feder im zweiten Band der Encyclopédie der Artikel „beau“. 1772 wird der Text unter dem Titel Traité du beau separat ediert. In beiden Formen hat er einen beachtlichen Publikumserfolg. Der Autor positioniert sich mit ihm in den Diskussionen um das Wesen des Schönen. 16 Auf die zentrale Frage, ob das Schöne eine Qualität der Dinge, also unabhängig vom Betrachter gegeben sei, antwortet er mit „ja“. J’appelle donc beau hors de moi, tout ce qui contient en soi de quoi réveiller dans mon entendement l’idée de rapports; et beau par rapport à moi, tout ce qui réveille cette idée. […] Quand je dis tout ce qui contient en soi de quoi réveiller dans mon entendement l’idée de rapports, ou tout ce qui réveille cette idée, c’est qu’il faut bien distinguer les formes qui sont dans les objets, et la notion que j’en ai. Mon entendement ne met rien dans les choses, et n’en ôte rien. Que je pense ou ne pense point à la façade du Louvre, toutes les parties qui la composent n’en ont pas moins telle ou telle forme, et tel ou tel arrangement entreelles: qu’il y eût des hommes ou qu’il n’y en eût point, elle n’en serait pas moins belle. 17 Auf den ersten Blick übernimmt Diderot hier die Bestimmung des Schönen als eine Eigenschaft der Dinge, wie sie durch die klassische Ästhetik des 17. Jahrhunderts vorgenommen wurde. Bei näherer Betrachtung zeigt sich allerdings, dass er die Bedeutung der natura rerum für den Erkenntnisprozess des Schönen relativiert und an deren Stelle die Natur des Menschen rückt. Das „beau hors de moi“ ist zwar als „beau réel“ gegeben, es erweist sich aber insofern von untergeordneter Relevanz, als es allein durch den physiologisch und psychologisch zu seiner Wahrnehmung fähigen Menschen als „beau aperçu“ in Erscheinung tritt: „D’où il s’ensuit que, quoiqu’il n’y ait point de beau absolu, il y a deux sortes de beau par rapport à nous, 15 Cf. für die Entwicklung der Diskussionen in Frankreich erschöpfend Becq: Genèse. 16 Zur Theorie des Schönen und des Geschmacks bei Diderot sowie seiner Stellung in den Debatten cf. Duflo: Diderot, 284-315. 17 Diderot: Traité du beau, 99sq. Die hier zitierte Ausgabe reproduziert den Enzyklopädieartikel von 1752 unter dem Titel der eigenständigen Publikation des Textes von 1772. Transsubjektives Wissen 23 un beau réel, et un beau aperçu.“ 18 Wenngleich Diderot einerseits im Enzyklopädieartikel das klassische Konzept des in den Dingen liegenden „beau absolu“ verwirft, kann er sich andererseits bei aller Relativierung nicht vollständig von der Idee eines den Dingen immanenten Schönen lösen. Sein primäres Interesse ist zwar auf das empfindende und räsonierende Subjekt angesichts des Schönen gerichtet, die rapports als Ursprung von letzterem betrachtet er allerdings als eine Eigenschaft der Dinge: „quoique le rapport ne soit que dans notre entendement, quant à la perception, il n’en a pas moins son fondement dans les choses.“ 19 Schon an dieser Stelle zeigt sich am Beispiel Diderot die im Folgenden noch weiter zu vertiefende Komplexität epistemischer Entwicklungen im 18. Jahrhundert, bei denen sich der Interessenschwerpunkt in der zeitgenössischen Analyse des Erkenntnisprozesses von der Wahrheit in den Dingen hin zum erkennenden Subjekt verlagert. Wenngleich für den Bereich des Kunst- und Naturschönen das empfindende Subjekt zunehmend in das Zentrum der Aufmerksamkeit rückt, kann sich die Ästhetik der Zeit nicht von der Idee eines in den Dingen liegenden Schönen trennen. 20 Dass Probleme der Erkenntnis des solcherart konzipierten Schönen mit den oben beschriebenen der Naturgeschichte konvergieren, wird bei näherer Betrachtung der Theorien zur künstlerischen Nachahmung der Natur in der Zeit deutlich. In ihnen spielt der Begriff der belle nature eine zentrale Rolle. Die Encyclopédie widmet ihm einen von Louis de Jaucourt verfassten Artikel. Demnach ist es Aufgabe der Kunst, die Natur hinsichtlich ihrer Schönheit in der Nachahmung zu perfektionieren. Der Künstler erreiche sein Ziel, indem er eine Auswahl der vollkommensten Teile, die er in der Natur vorfindet, kopiert und zu einem neuen Ganzen zusammensetzt: „Tous ses [i.e. l’artiste ] efforts dûrent nécessairement se réduire à faire un choix des plus belles parties de la nature, pour en former un tout exquis, qui fût plus parfait que la nature elle-même, sans cependant cesser d’être naturel.“ Mit der belle nature schaffe man eine „seconde nature, plus belle sans doute, mais analogue à la première; en un mot, le beau idéal ne doit être que le beau réel perfectionné.“ 21 Mit den von Jaucourt zusammengefassten Merkmalen ist die belle nature im Sinne eines Abbildes der Natur, das diese repräsentiert, 18 Ibid., 100. 19 Ibid., 103. 20 „L’esthétique pré-kantienne ne parvient pas à se défaire de la nostalgie d’un beau immanent aux choses.“, stellt Becq, Naissance, 605, mit Blick auf Diderot und das Fortleben klassischer Auffassungen vom Wesen des Schönen fest. Ausführlich zur Theorie des Schönen bei Diderot in den genannten Texten informiert Chouillet: Formation, 302- 305. Zur Theorie des Schönen zwischen Klassizismus und Moderne cf. Becq, Naissance, 600-607. 21 Jaucourt: „belle nature“, 42, 44. Torsten König 24 wie sie ohne die Fehler und Akzidenzien der Wirklichkeit sein könnte, in den Debatten der Zeit ein verbreiteter Begriff. 22 Das Verfahren zur Erschaffung der belle nature sowie deren Verhältnis zum beau réel der Natur lassen die Parallelen zum Erkenntnisprinzip der Naturgeschichte erkennen, wie es anhand von Buffon entwickelt werden konnte. Genauso wie die vérité naturelle ist die belle nature ein Ideal, das gleichzeitig Typisches abbildet. Es beansprucht, eine höhere Wahrheit der Natur zu repräsentieren, die in ihren akzidentellen Varianten nicht erkenntlich ist. Die angestrebte „perfection“ entspricht der Naturwahrheit der histoire naturelle. Genauso wie für die vérité naturelle besteht das Verfahren zu ihrer Schaffung im Vergleich einer Reihe von Elementen der gleichen Art und dem Erstellen eines Idealtyps auf dieser Grundlage. Ihren Anspruch überindividueller Gültigkeit leitet sie aus dem tatsächlichen Vorhandensein der „plus belles parties“ ab. Grundlegende Tugend des Erkenntnissuchenden im Bereich des Schönen ist die Beobachtung und der Vergleich von Individuen einer Art, einer Klasse, einer Phänomengruppe. Allein auf dieser Basis kann ein ästhetisches Urteil gebildet werden bzw. die belle nature als Nachahmung entstehen. Diderot stellt im Artikel „beau“ der Encyclopédie dahingehend fest: „Le principe de l’imitation de la belle nature demande l’étude la plus profonde et la plus étendue de ses productions en tout genre.“ Ein wenig weiter oben bemerkt er: […] on conçoit qu’il faut avoir vu bien des roses et bien des turbots, pour prononcer que ceux-ci sont beaux ou laids entre les roses et les turbots; bien des plantes et bien des poissons, pour prononcer que la rose et le turbot sont beaux ou laids entre les plantes et les poissons, et qu’il faut avoir une grande connaissance de la nature, pour prononcer qu'ils sont beaux ou laids entre les productions de la nature. 23 Für die Erkenntnis des Schönen bzw. dessen Nachahmung zeichnet sich ein ähnlich gelagertes Problem ab, wie für die der vérité physique: die akzidentelle Varianz des tatsächlich in der Natur gegebenen Gegenstandes, die seine Essenz verdeckt. Auch hier ist nicht, wie hundert Jahre später, die Unzuverlässigkeit des Betrachters das zentrale erkenntnistheoretische Problem, sondern die der konkret sich darbietenden Erscheinung. 22 So z.B. auch im Artikel „Nature“ des Dictionnaire portatif des beaux-arts (1752) von Jacques Lacombe. Das Konzept entsteht mit der Suche nach dem grand beau und ist diesem korrelativ. Es wird von Abbé Charles Batteux in Les Beaux-Arts réduits à un même principe (1746) erstmalig verwendet. Zum Begriff der belle nature cf. Becq, Naissance, 519-523. 23 Diderot, Traité du beau, 101. Transsubjektives Wissen 25 III. L E M ODÈLE IDÉAL Im Salon von 1767 widmet sich Diderot fünfzehn Jahre nach seinem Enzyklopädieartikel in einem umfangreichen Vorwort erneut dem Verhältnis von Kunstwerk und Natur. Er nimmt dazu den Begriff der belle nature auf. Im Vergleich zu dessen Entwicklung in der Encyclopédie findet hier allerdings eine entscheidende Akzentverschiebung statt. Während er dort das Imitationskonzept einer klassischen belle nature vertritt, die aus Versatzstücken der Natur eine höhere Wirklichkeit derselben schafft, stellt er nun auch den Modellcharakter in Frage, den die Natur in Teilen haben soll. Das Kunstwerk wird vollständig seines Imitationscharakters entledigt und erscheint als das alleinige Produkt der schöpferischen Einbildungskraft. Denn das, was die Schönheit eines Kunstwerkes bestimmt, sei ein „modèle idéal de la beauté“. 24 Es findet sich allein in der Vorstellung des künstlerischen Subjekts, das nach ihm seine Kunstwerke schafft: Ce modèle est purement idéal, et […] il n’est emprunté directement d’aucune image individuelle de Nature dont la copie vous soit restée dans l’imagination, et que vous puissiez appeler derechef, arrêter sous vos yeux et recopier servilement. 25 Das ideale Modell hat keinen Inhalt, sondern es erweist sich als eine Struktur, die es ermöglicht, die Regeln zu verstehen, mit denen der Zusammenhalt eines organischen Ensembles erklärt werden kann. Es ist gleichwohl ein Erfahrungsprodukt, zu dem man auf demselben Weg gelangt wie zur vérité physique - durch Beobachtung, Vergleich und Auswahl von Naturgegenständen mit dem Ziel, die Unregelmäßigkeiten, die das Ideal verfremden, zu eliminieren. Mit Blick auf die Entwicklung, die zu den vollkommenen Kunstwerken der alten Griechen geführt haben, bemerkt Diderot: Avec le temps, par une marche lente et pusillanime, par un long et pénible tâtonnement, par une notion sourde, secrète, d’analogie, acquise par une infinité d’observations successives dont la mémoire s’éteint et dont l’effet reste, la réforme s’est étendue à de moindres parties […] effaçant sans relâche et avec une circonspection étonnante les altérations et difformités de Nature viciée […] s’éloignant sans cesse du portrait, de la ligne fausse, pour s’élever au vrai modèle idéal de la beauté […]. 26 24 Zum Konzept des modèle idéal bei Diderot cf. Becq: Naissance, 534-546. Die Theorie des modèle idéal taucht bei Diderot schon 1758 im Discours de la poésie dramatique auf. Er ist in dieser Auffassung des Kunstwerkes möglicherweise von Winckelmann beeinflusst. Der Antikenbezug wird im Salon de 1767 explizit. Zur Winckelmann-Rezeption cf. Becq, Naissance, 520-526, Chouillet, Formation, 482sq., und Thomas Franke: Ideale Natur, 132-143. 25 Diderot: Salon de 1767, 524. 26 Ibid., 525. Torsten König 26 Für Diderot bedarf es eines besonderen Genies, um das modèle idéal zu erkennen und in sich auszuformen, genauso wie für Buffon die vérité physique der Natur nur demjenigen zugänglich ist, der hierfür mit dem entsprechenden Genie begabt ist. Es ist nur Wenigen gegeben. Allerdings kann das Genie nach Diderot nur das realisieren, was in der kulturellen Leistung eines gesamten Volkes und einer Zeit schon angelegt ist. Das modèle idéal ist auf diese Weise mit der kollektiven Erfahrung bzw. dem kollektiven Wissen einer Zeit verbunden: „Je prétends que ce génie s’est fait attendre et qu’il n’a pu faire lui seul ce qui est l’ouvrage du temps et d’une nation entière.“ 27 Damit sind für Diderot drei Aspekte konstituierend für das Schöne: die tatsächlichen rapports zwischen den Dingen sowie die Fähigkeit diese wahrzunehmen und nachzubilden; letztere hängt zum einen vom persönlichen Genie und zum anderen von kulturellen Kontexten ab. Im Horizont der hier interessierenden Fragestellung ist es wichtig festzuhalten, dass auch das Kunstschöne auf der Grundlage des modèle idéal, wenngleich es seinen primären Ursprung im Subjekt hat, als universelle, transsubjektive Wahrheit konzipiert ist. Dieser Anspruch ist aus der Rolle des Erfahrungsgegenstandes Natur und derjenigen der Kultur als kollektives Phänomen bei der Herausbildung des modèle idéal ableitbar. Die Wahrheit des Kunstwerkes ist von derjenigen der Natur ontologisch getrennt, steht aber in einem Verhältnis zu ihr. In den unveröffentlichten Pensées détachées sur la peinture, la sculpture et la poésie bringt Diderot 1781 dieses komplexe Verhältnis auf eine einfache Formel: „Le vrai de la nature est la base du vraisemblable de l’art.“ 28 Die Wahrheit des Kunstwerkes in Form der vraisemblance steht in Verbindung mit der Wahrheit der Natur. In ihrer Bestimmung als Wahrscheinlichkeit konvergiert sie erneut mit Buffons vérité physique, die bei diesem, wie gezeigt wurde, als probabilité definiert ist. Gleichwohl repräsentiert Diderots Salon von 1767 einen weiteren Schritt hin zur Konzentration auf das Subjekt bei der Analyse des Erkenntnisvorgangs. Die epochale Bedeutung zu vertiefen, die Diderot mit seinen Vorstellungen einer von der Naturwahrheit losgelösten Kunstwahrscheinlichkeit sowie dem kreativen Subjekt für die Herausbildung der modernen Kunstästhetik hat, ist nicht Gegenstand dieser Untersuchung. Stattdessen soll an dieser Stelle mit einigen Überlegungen geschlossen werden, welche die im Vorangehenden angedeuteten Probleme und Befunde zusammenfassen. IV. K ONKLUSIONEN Die Lektüren von Buffon und Diderot zeigen exemplarisch, was an anderen Beispielen noch vertieft werden könnte: Die Erkenntnistheorien in Natur- 27 Ibid., 527. 28 Diderot: Pensées détachées, 1040. Transsubjektives Wissen 27 geschichte und Ästhetik sind im 18. Jahrhundert durch dieselben epistemischen Tugenden geprägt, nämlich die Fähigkeit des Subjekts, das Typische, das Charakteristische, das Ideale aus dem Formenreichtum der Natur herauszupräparieren. Diese Tugend garantiert die Einlösbarkeit des Anspruchs auf überindividuelle Gültigkeit des jeweiligen Wissens zu einem Gegenstand. Sie unterscheidet sich wesentlich von der Objektivität des 19. Jahrhunderts, welche dieselbe Funktion hat. Das zentrale erkenntnistheoretische Problem der Zeit ist die Varianz der Natur bzw. der Objektwelt, nicht die Unzuverlässigkeit des Subjekts. Dieser Problemhorizont repräsentiert ein epistemisches Paradigma, in dem sowohl die Naturgeschichte als auch die Ästhetik steht. 29 Die Strategien zur Legitimierung von transsubjektivem Wissen erscheinen angesichts der Befunde als historisch veränderlich, ebenso wie sich die „Objektivität“ als eine Kategorie erweist, die nur für einen bestimmten historischen Zeitraum Gültigkeit beanspruchen kann. Der Vergleich von Kunsttheorie und Naturgeschichte hinsichtlich dieser Legitimierungsstrategien erlaubt weitergehende Schlüsse bezüglich epistemischer Entwicklungen im 18. Jahrhundert. Die Notwendigkeit „Objektivität“ als erkenntnistheoretisches Ideal zu etablieren, erwächst aus dem Bewusstsein um die bestimmende Rolle des Subjekts im Erkenntnisprozess. Dieses Bewusstsein wiederum kann als zentraler Zug moderner Erkenntnistheorie gewertet werden. Die Lektüren Diderots haben gezeigt, dass er sich in der Theorie des Schönen und der Künste zwar noch nicht vollständig von der überkommenen Vorstellung einer im Gegenstand angelegten Wahrheit lösen kann, dass für ihn aber gleichwohl das erkennende (bzw. in diesem Fall empfindende) Subjekt bei der Konstitution dieser Wahrheit eine immer größere Rolle spielt. Was anhand von Diderot deutlich wurde, könnte bei weiteren Autoren der Zeit wie etwa Jean-Jacques Rousseau vertieft werden: die Aufmerksamkeit richtet sich im Bereich ästhetischer Erkenntnis zunehmend auf das empfindende bzw. schöpferische Individuum. Demnach wäre das Wissensfeld der Theorie des Schönen bzw. der Kunsttheorie wesentlich und früh an dem allgemeinen erkenntnistheoretischen Perspektivenwechsel beteiligt, der die Suche nach der Wahrheit in den Dingen obsolet werden lässt und die Rolle des Subjekts im Erkenntnisprozess stärkt. Für die Naturgeschichte bzw. die Naturwissenschaft rückt das Subjekt dagegen erst später als erkenntnisdeterminierende Kraft ins Blickfeld, eine Bewegung, die u.a. durch Kant dokumentiert wird. 30 29 Über entsprechende Konvergenzen zwischen der durch die Objektivität geprägten Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert und dem Wahrheitsanspruch künstlerischer Darstellung dieser Zeit wäre in einem weiteren Schritt nachzudenken. Zumindest für die unter dem Rubrum „realistisch“ geführten Poetiken bzw. kunsttheoretischen Überlegungen zeichnen sich gemeinsame Schnittmengen ab. 30 Cf. Fn 3. Torsten König 28 An Diderot zeigt sich darüber hinaus, dass die Theorie des Schönen in Kunst und Natur der Naturwissenschaft mit ihrer frühen Konzentration auf das Subjekt in der Thematisierung wichtiger Erkenntnisprobleme gewissermaßen voraus ist. So zeichnet sich bei ihm das Problem der Historizität von Wissen, hier in Form ästhetischer Wahrheit, ab. Die möglicherweise im Gegenstand liegende, überzeitlich gültige Wahrheit, deren Existenz Diderot nicht in Abrede stellt, wird insofern zum nachgeordneten Problem, als das erkennende historische Subjekt in den Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit rückt. Da dieses durch wandelnde Kontexte determiniert ist, muss die Wahrheit der Kunst und der schönen Natur als eine historisch veränderliche, als eine relative begriffen werden. Für das ästhetisch urteilende Subjekt scheint seine sich abzeichnende Stärke kein Problem zu sein. Vielmehr ist sie die Voraussetzung für die Wahrheit, die es zu finden beansprucht. Für die Naturgeschichte bzw. die Naturwissenschaften rückt das Problem der Historizität des Wissens demgegenüber verspätet in den Blick. Und seitdem versuchen sie diesen erkenntnistheoretischen Dämon zu bannen, wie die Geschichte der Objektivität im 19. Jahrhundert lehrt. B IBLIOGRAPHIE Primärliteratur Buffon, Georges-Louis Leclerc de: Histoire naturelle, générale et particulière (1749), in: ders., Œuvres, ed. Stéphane Schmitt, Paris, Gallimard (Pléiade), 2007, 29-1190. Diderot, Denis (? ): „génie“, in: Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers par une société de gens de lettres, mis en ordre et publié par M. Diderot […], tome 7, Paris, Briasson, David, Le Breton, Durand, 1757, 582-584. Diderot, Denis: Pensées détachées sur la peinture, la sculpture et la poésie (1782), in: ders., Œuvres IV: Esthétique - Théâtre, ed. Laurent Versini, Paris, Robert Laffont, 1996, 1013-1058. Diderot, Denis: Salon de 1767, in: ders., Œuvres IV: Esthétique - Théâtre, ed. Laurent Versini, Paris, Robert Laffont, 1996, 517-819. Diderot, Denis: Traité du beau, in: ders., Œuvres IV: Esthétique - Théâtre, ed. Laurent Versini, Paris, Robert Laffont, 1996, 81-112. Jaucourt, Louis de: „belle nature“, in: Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers par une société de gens de lettres, mis en ordre et publié par M. Diderot […], tome 11, Paris, Briasson, David, Le Breton, Durand, 1765, 42-44. Sekundärliteratur Becq, Annie: Genèse de l’esthétique française moderne 1680-1840, Paris, Albin Michel, 1994. Transsubjektives Wissen 29 Candler Hayes, Julie: Reading the French Enlightenment. System and Subversion, Cambridge, Cambridge University Press, 1999. Cherni, Amor: Buffon. La nature et son histoire , Paris, Presses universitaires de France, 1997. Chouillet, Jacques: La Formation des idées esthétiques de Diderot, 1745-1763, Paris, A. Colin, 1973. Daston, Lorraine / Galison, Peter: Objektivität, Frankfurt/ M., Suhrkamp, 2007. Duflo, Colas: Diderot philosophe, Paris, Champion, 2003. Franke, Thomas: Ideale Natur aus kontingenter Erfahrung: Johann Joachim Winckelmanns normative Kunstlehre und die empirische Naturwissenschaft, Würzburg, Königshausen & Neumann, 2006. Janich, Peter: Kleine Philosophie der Naturwissenschaften, München, Beck, 1997. Lepenies, Wolf: „Das Ende der Naturgeschichte. Verzeitlichung und Enthistorisierung in der Wissenschaftsgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts“, in: ders., Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. Jahrhunderts, München, Hanser, 1976, 9-132. Konstanze Baron Moral und/ als Fiktion: Zur Objektivierung des moralischen Urteils in Diderots Erzählungen In der Forschungsliteratur hat sich für die Beschreibung von Diderots Erzählungen der Begriff der ‚Problemnovelle‘ durchgesetzt. 1 Wenig Übereinstimmung besteht jedoch hinsichtlich der Frage, was diese Texte eigentlich genau problematisieren. Sind es Themen und Theorien, wie im verwandten conte philosophique? 2 Oder einzelne Situationen und Handlungen, wie im moralischen Kasus? 3 Im Folgenden soll ein Vorschlag unterbreitet werden, der es erlaubt, die spezifisch moralphilosophische Leistung dieser Erzählungen präziser zu fassen. ‚Problematisiert‘, so lautet die hier zu vertretende These, werden in den Erzählungen Diderots in erster Linie moralische Urteile. Die Moral, wie auch die mit ihr verbundenen Wertungsweisen, stellt für Diderot insofern ein Problem dar, als sie die spontanen Regungen der menschlichen Natur in ein schlechtes Licht rückt. Indem sie die natürlichen Gefühle und Handlungen der Menschen einem fremden, artifiziellen und arbiträren Maßstab - nämlich dem Prinzip der Sittlichkeit bzw. der ‚guten Sitten‘ - unterwerfen, produzieren moralische Urteile Verwerfungen, die im Grunde gar nicht notwendig wären: […] j’ai mes idées, peut-être justes, à coup sûr bizarres, sur certaines actions que je regarde moins comme des vices de l’homme que comme des conséquences de nos législations absurdes, sources de mœurs aussi absurdes qu’elles et d’une dépravation que j’appellerais volontiers artificielle. 4 Problematisiert werden, wie dem aufmerksamen Leser nicht entgehen kann, in diesen Erzählungen jedoch auch Geschichten und Produkte der literarischen Kultur selbst. Dieser unverkennbar selbstreflexive Gestus von Diderots Texten ist bislang unter dem Aspekt einer aufgeklärten Kritik der Fiktion verbucht worden. Aufklärung, so heißt es, vollziehe sich bei Diderot 1 Cf. Blüher: Die französische Novelle, 132-139. 2 Ibid., 135. 3 So die Auffassung, die Warning im Anschluss an André Jolles vertritt. Cf. Warning: „Opposition und Kasus. Zur Leserrolle in Diderots Jacques le Fataliste et son maître“. 4 Madame de la Carlière, 575. Konstanze Baron 32 in Form einer „Aufklärung über den (richtigen) Umgang mit Fiktionen“. 5 Tatsächlich hat diese Kritik der Fiktion jedoch nichts von einem Selbstzweck an sich: Sie ist, wie hier gezeigt werden soll, der Kritik des moralischen Urteils untergeordnet oder zumindest eng mit ihr verbunden. Moralische Urteile werden aus genau dem Grunde kritisiert, weil sie die Eigenschaften von Fiktionen aufweisen. Gemäß der klassischen Opposition von physis und nomos, die er von den Sophisten übernimmt, begreift Diderot die Moral als einen Ausdruck von Scheinhaftigkeit: Während die physis die notwendige, allen Menschen gemeinsame Natur bezeichnet, verweist der nomos auf die Kontingenz des Sittlichen, auf die jeweils partikularen Gesetze und Urteile, die dem Bereich der (bloßen) Meinungen zugerechnet werden müssen. Wenn in den Erzählungen Fiktionen problematisiert werden, dann also vor allem deshalb, weil diese den Bereich des Scheinhaften, Willkürlichen und Relativen der Moral verkörpern. 6 Die Moral und ihre Urteile werden einem Prozess der Kritik unterworfen, der hier als ihre Objektivierung bezeichnet werden soll. Damit ist zweierlei gemeint: Zunächst einmal ist es Diderot darum zu tun, die konstitutive ‚Partialität‘ (im doppelten Sinne von ‚Unzulänglichkeit‘/ ‚Unvollständigkeit‘ und ‚Parteilichkeit‘) moralischer Urteile im Verhältnis zu ihrem Gegenstand und referenziellen Bezugspunkt, der menschlichen Natur, herauszustellen. Mit Hilfe von Techniken des selbstreflexiven Erzählens sollen moralische Urteile als kulturelle Artefakte durchsichtig gemacht und somit zumindest teilweise in ihrer Geltungsmacht beschränkt werden. 7 Zu dieser im engeren Sinne kritischen Dimension der Objektivierung gesellt sich jedoch noch eine andere, konstruktive Absicht: Der solchermaßen als subjektiv entlarvten Realität des moralischen Urteils gilt es nämlich, eine realere, wahrere und in gewisser Weise objektivere Sicht der menschlichen Natur zur Seite zu stellen. Der Welt der nomoi, der moralischen Fiktionen sollen die Erzählungen ein Bild der Menschen entgegen halten, welches deren Wesen so abbildet, ‚wie es wirklich ist‘. Zu diesem Zweck tritt Diderot mit dem Gestus eines quasi-wissenschaftlichen Erzählers auf, der mit Hilfe seiner aufklärerischen Erzählexperimente den Gesetzen der menschlichen Natur nachspüren will. Die Objektivierung umfasst also zwei Dimensionen: die Selbstentlarvung moralischer Urteile als scheinbehaftete, willkürliche und kulturell bedingte Konstruktionen einerseits, sowie das Einbringen von empirischem Wissen über Wesen und Natur des Menschen andererseits. Zur Kritik der Fiktion gesellt sich mithin die Anthropologie als deren notwendige Kehrseite bzw. Ergänzung. Nur wenn die Moral tatsächlich in der Natur des Menschen 5 So lässt sich Warnings These zu Diderot resümieren (Illusion und Wirklichkeit, passim). 6 Die Bedeutung von nomos als ‚falscher Schein‘ (im Gegensatz zur ‚absoluten Wahrheit‘ der physis) ist seit Beginn des 4. Jahrhunderts nachweislich. Cf. Heinimann: Nomos und Physis, 152. 7 Zur Funktion der Selbstreflexivität in Diderots Erzählungen cf. Verf.: „Erkenntnis und Interesse. Zur Funktion der Selbstreflexivität in Diderots Novellistik“. Moral und/ als Fiktion 33 selbst begründet ist, kann sie den Anspruch erheben, in der Sache objektiv, richtig und gerecht zu sein. Wenn hier und in der Folge trotzdem von ‚Objektivierung‘ und nicht von ‚Objektivität‘ die Rede sein soll, dann vor allem deshalb, weil Diderot das Ringen um Objektivität in Fragen der Ethik als einen Prozess betrachtet und dementsprechend inszeniert. Objektivität ist für Diderot kein Faktum, auch keine Setzung a priori, sondern das Resultat eines Prozesses, eines Streitfalls, der zwischen der menschlichen Natur auf der einen und den moralischen Urteilen auf der anderen Seite, zwischen Fakten und Fiktionen, anhängig ist. Dieser Prozess ist Gegenstand der Erzählungen und bestimmt - als narratio - zugleich auch deren Form. Die Verfahren, mit denen Diderot die Unterscheidung von physis und nomos in seinen Texten literarisch abbildet, sollen im ersten Teil des vorliegenden Beitrags genauer untersucht werden. Dabei wird sich zeigen, dass Diderot keineswegs nur die strukturelle Nicht-Übereinstimmung dieser beiden Wirklichkeitsbereiche aufzudecken bemüht ist, sondern durchaus auch - im Sinne einer unterschwelligen Ironie der Dinge - gewisse Parallelen sowie eine heimliche Verwandtschaft zwischen ihnen zu entdecken vermag. Im zweiten Teil wird es dann darum gehen, die Konsequenzen zu erhellen, die Diderot aus seiner Kritik des moralischen Urteils zieht. 1. F ORMEN DER K RITIK : D IE O BJEKTIVIERUNG DES MORALISCHEN U RTEILS Die Objektivierung des moralischen Urteils erfolgt in den Erzählungen mit Hilfe von (literarischen) Verfahren der Reflexion. Dafür macht sich Diderot geschickt die formalen Möglichkeiten zunutze, die ihm die Tradition des novellistischen Erzählens bietet, wie zum Beispiel die Unterscheidung von Binnen- und Rahmenhandlung sowie die damit verbundene Multiplikation der Erzählebenen. Das Geschehen der Binnenhandlung wird in den fraglichen Texten durch die sekundäre Erzählebene der Rahmenhandlung gespiegelt, unterbrochen und reflektiert. Zugleich kritisiert Diderot in den fraglichen Texten aber auch traditionelle Formen des Erzählens. Mit der Kritik des moralischen Urteils ist in seinen Texten insofern stets ein Streben nach ästhetischer Erneuerung verbunden, als sich die Infragestellung der Moral auch gegen bestimmte, normativ aufgeladene Formen des Erzählens richtet. Wie dies im Einzelnen aussieht, soll im nun folgenden Abschnitt analysiert werden. Der Übersichtlichkeit halber wird dabei zwischen zwei verschiedenen Formen der Reflexion unterschieden: der dialogischen und der historischen. Während die dialogische Reflexion darauf abzielt, Widersprüche zwischen allgemeinen moralischen Regeln sowie zwischen moralischen Regeln und der Wirklichkeit aufzudecken, bewirkt die historische Reflexion eine Selbst-Entlarvung des moralischen Urteils durch Konstanze Baron 34 Historisierung. Beide Verfahren sollen nun anhand zweier repräsentativer Erzählungen eingehend erläutert werden. a) Die dialogische Reflexion Wie viele andere Erzählungen Diderots ist auch die Erzählung Ceci n’est pas un conte aus dem Jahr 1772 in Dialogform geschrieben. Die Rahmenhandlung besteht aus einem Gespräch zwischen zwei namentlich nicht näher gekennzeichneten Personen, die sich offenbar auf dem Heimweg von einer Abendgesellschaft befinden und die sich nun angeregt über das soeben Erlebte unterhalten. Mit der Wahl einer dialogischen Schreibweise trägt Diderots Erzählung dem im Titel vorerst nur indirekt markierten Anspruch, qualitativ anders und neu - eben nouvelle - zu sein, Rechnung. 8 Die Dialogform entspricht dem Realismus der (oralen) Erzählsituation, in der sich das Erzählen immer als eine lebendige, durch das freie Spiel von Rede und Widerrede gekennzeichnete Interaktion zwischen einem Erzähler und seinem körperlich anwesenden Zuhörer vollzieht. 9 Mit dem Dialog hält darüber hinaus eine (meta-)reflexive Ebene Einzug in die Erzählung: Die Unterhaltung zwischen den beiden Sprechern, dem Erzähler und seinem fiktiven Zuhörer, dient der kritischen Kommentierung und Bewertung des Erzählgeschehens der ersten Ebene, wobei zwangsläufig - der polyphonen Natur des Dialogs entsprechend - immer mehr als nur eine Sicht der Dinge thematisch wird. In dieser oftmals dissonanten Vielstimmigkeit der Ansichten, Meinungen und Bewertungen haben Kommentatoren mit Recht ein zentrales Element von Diderots Schreibweise ausmachen können. 10 Doch so wichtig und markant die Form des Dialogs in Diderots Erzählungen ist, genügt sie doch nicht, um deren aufklärerischen Anspruch - auch und insbesondere im Hinblick auf die Objektivierung des moralischen Urteils - vollständig zu erfassen. Dass es notwendig ist, über die bloße Verwendung der Dialogform hinaus bei Diderot auch strukturell von einem Prinzip der Dialogizität zu sprechen, zeigt die folgende Passage, in welcher der Erzähler sich über die Geschichten äußert, die er auf der besagten Abendgesellschaft vernommen hat: 8 Zu den verschiedenen Möglichkeiten, den Titel der Erzählung auszulegen, cf. die Studie von Fleming: „Ceci n’est pas un conte/ Ceci n’est pas une pipe“. 9 Unter dem Aspekt der Lebendigkeit des Erzählens wird die Einführung einer Zuhörer- Figur auch am Anfang des Textes gerechtfertigt : „Lorsqu’on fait un conte, c’est à quelqu’un qui l’écoute; et pour peu que le conte dure, il est rare que le conteur ne soit interrompu quelquefois par son auditeur. Voilà pourquoi j’ai introduit dans le récit qu’on va lire, et qui n’est pas un conte ou qui est un mauvais conte, un personnage qui fasse à peu près le rôle du lecteur; et je commence.“ Ceci n’est pas un conte, 521. 10 Cf. insbesondere Galle: „Diderot - oder die Dialogisierung der Aufklärung“, aber auch Sherman: Diderot and the Art of Dialogue. Moral und/ als Fiktion 35 Un sujet aussi intéressant devrait mettre toutes les têtes en l’air, défrayer pendant un mois tous les cercles de la ville, y être tourné et retourné jusqu’à l’insipidité, fournir à mille disputes, à vingt brochures au moins et à quelques centaines de pièces de vers pour ou contre; et qu’en dépit de toute la finesse, de toutes les connaissances, de tout l’esprit de l’auteur, puisque son ouvrage n’a excité aucune fermentation violente, il est médiocre et très médiocre. 11 Trotz eines offenkundig für interessant befundenen Sujets bezeichnet der Erzähler die fragliche Darbietung als „médiocre“, weil es ihr nicht gelungen sei, das Publikum zu einer lebhaften und kontroversen Diskussion zu animieren. Als Merkmal einer gelungenen Erzählung gilt ihm im Gegensatz dazu eine Erzählweise, die insofern dialogisch ist, als sie die kontroversen Gesichtspunkte, also das jeweilige pour und contre eines bestimmten Sachverhalts, im Zuge des Erzählprozesses polemisch auseinandersetzt und so dazu beiträgt, die Zuhörer in eine hitzige Debatte zu verstricken. Diderot lässt seine Erzählung also mit einer Art immanenter Literaturkritik beginnen, die das Prinzip der dialogischen Reflexion auf wirkungsästhetischer Ebene geltend macht und die zugleich die implizite Poetik seines eigenen Textes enthält. Es wäre nun aber sicherlich verfehlt, allein auf den formalen Aspekt der Dialogizität abheben zu wollen. Die dialogische Reflexion weist neben der formalen bzw. wirkungsästhetischen Ebene eine dezidiert inhaltliche Komponente auf. Die Kritik des Erzählers entzündet sich nämlich nicht nur an der mangelhaften Ausbzw. Durchführung der fiktiven Geschichten, sondern auch an deren ‚Moral‘, also an den inhaltlichen Aussagen, die in den Erzählungen zutage treten. Diese lassen sich reduzieren auf die simple Feststellung „que l’homme et la femme sont deux bêtes très malfaisantes“. 12 Nicht von ungefähr handelt es sich dabei um eine inhaltlich-wertende Aussage über die menschliche Natur, die noch dazu in der Form eines moralischen Urteils daherkommt. Der Erzähler kritisiert dieses Urteil, weil es ihm zu pauschal, zu abstrakt und allgemein und damit - in Bezug auf seinen Gegenstand - zu lebensfern erscheint. Damit wäre nun der theoretische Anspruch der Diderot’schen Erzählung vollständig skizziert: Die Problemnovelle der Aufklärung strebt nicht nur formal, sondern auch inhaltlich nach Erneuerung, indem sie sich kontrovers mit den normativen Ansichten auseinandersetzt, die in den traditionellen Formen des Erzählens zum Ausdruck kommen. Ziel von Diderots Texten ist die kritische Infragestellung und Reflexion von moralischen Urteilen, die aufgrund ihrer Pauschalität und ihrer übergroßen Abstraktheit der menschlichen Natur nicht gerecht werden und die daher als lebensferne Fiktionen, als ‚contes’ im negativen Sinne, betrachtet werden müssen. In der Binnenhandlung von Ceci n’est pas un conte wird dieses Programm dann auch praktisch umgesetzt, wobei erneut die Dialogizität als Strukturprinzip zur Geltung kommt: Angestachelt durch seinen Zuhörer, der sich nicht mit der 11 Ceci n’est pas un conte, 521. 12 Ibid., 522. Konstanze Baron 36 Kritik fremder Geschichten begnügen will, sieht sich der Erzähler aufgefordert, nun selbst eine - in seinen Augen gelungene - Geschichte vorzutragen. Zwar kommt der Erzähler dem Anliegen seines Begleiters nach, er erzählt dann aber nicht nur eine, sondern gleich zwei Geschichten, die kontrapunktisch arrangiert sind und sich inhaltlich zum Teil deutlich widersprechen. Die erste der beiden Geschichten beginnt mit den Worten: „Il faut avouer qu’il y a des hommes bien bons, et des femmes très méchantes.“ 13 Sie handelt von Madame Reymer, einer ebenso schönen wie hartherzigen Dame aus dem Elsass und ihrem Liebhaber Tanié. Während Tanié in den Kolonien schuftet, wird er von Mme Reymer nicht nur mit anderen Männern betrogen, sondern auch um den Ertrag seiner Arbeit gebracht. Unweigerlich weckt diese Geschichte die Anteilnahme des fiktiven Zuhörers, der Tanié bedauert. 14 Doch statt sich mit diesem Erfolg zu begnügen, fügt der Erzähler sofort eine weitere Geschichte an. Diese handelt erneut von einem (Liebes-) Paar, wird diesmal aber eingeführt mit den Worten: „Et puis s’il y a des femmes très méchantes et des hommes très bons, il y a aussi des femmes très bonnes et des hommes très méchants.“ 15 Hier ist es nun die Frau, Mlle de la Chaux, die sich selbstlos für ihren Geliebten, einen maßlos ehrgeizigen Wissenschaftler namens Gardeil, aufopfert, und der Mann, der sich als besonders hartherzig erweist und der seine Freundin in dem Moment kaltblütig verstößt, wo er sie nicht mehr für seine Zwecke gebrauchen kann. So wenig bemerkenswert jede dieser beiden Geschichten für sich genommen ist, in der Zusammenschau vermitteln sie doch einen guten Eindruck davon, wie sich die dialogische Reflexion des moralischen Urteils in Diderots Texten vollzieht. So exemplifiziert die zweite Geschichte eine Maxime, die der Maxime der ersten Geschichte diametral entgegengesetzt ist und deren Geltung beschränkt. Das allgemeine moralische Urteil (die Natur des Menschen betreffend) wird im Prozess der Narration zwar nicht direkt widerlegt, aber doch inhaltlich relativiert. Aus der einfachen Behauptung („que l’homme et la femme sont deux bêtes très malfaisantes“) wird in der Erzählung ein Kasus konstruiert, ein quasi-juridischer Prozess, der mal für, mal gegen das jeweilige Geschlecht geführt wird. 16 Im Zuge dieses Prozesses wird die Moral der einen Geschichte an der anderen 13 Ibid., 523. 14 „Ce pauvre Tanié! “ (Ibid., 529) 15 Ibid. 16 Ein strukturell ähnliches Verfahren findet sich bereits in der ersten großen französischen Novellensammlung, Marguerite de Navarres Heptaméron; vgl. insbesondere die ersten beiden Novellen, die eine ‚Böse‘ und eine ‚Heilige‘ präsentieren und dabei die Sache der Frauen angreifen bzw. verteidigen. Bei Diderot äußert sich das dialogische Prinzip nicht nur in der binären Anordnung der beiden Teilgeschichten, sondern auch in der Bipolarität der Geschlechter (les femmes, les hommes) und der moralischen Attribute (méchant[e]s, bon[ne]s), die in jeweils unterschiedlichen Konstellationen miteinander kombiniert werden. Moral und/ als Fiktion 37 reflektiert (gespiegelt und gebrochen), mit dem Resultat, dass nicht nur der Zusammenhang zwischen Geschichte und Moral insgesamt fraglich wird (denn jede Geschichte hat hier offenbar ihre eigene Moral), sondern auch die Ausgangsthese von der allgemeinen Verworfenheit der Menschen am Ende nicht mehr haltbar erscheint. Demnach widersprechen sich die beiden (Teil-) Geschichten nicht nur inhaltlich, sondern sie verdeutlichen darüber hinaus ganz grundsätzlich, wie schwierig es ist, der Komplexität der menschlichen Natur in Form eines (einzigen) moralischen Urteils gerecht zu werden. b) Die historische Reflexion Die Erzählung Madame de la Carlière ou Sur l’inconséquence du jugement public sur nos actions particulières schließt inhaltlich und formal nahtlos an Ceci n’est pas un conte an. Die Rahmensituation dieses Textes besteht wieder aus einem Dialog; erneut wohnen wir einem Gespräch zwischen zwei Personen bei, die dem Erzähler und seinem fiktiven Zuhörer aus Ceci n’est pas un conte direkt nachempfunden sind. 17 Auch dieses Gespräch handelt von der Beziehung eines (Liebes-) Paares: Thema der Erzählung ist die Verbindung zwischen Mme de la Carlière und einem galant namens Desroches, genauer gesagt die Ehe dieser beiden sowie ihre Aufsehen erregende Trennung. Stärker noch als Ceci n’est pas un conte jedoch gibt sich Madame de la Carlière als das zu erkennen, was Lester Crocker in seinen Studien eine „expérience morale“ genannt hat: 18 als ein aufklärerisches Erzählexperiment, eine literarische Versuchsanordnung, die beinahe wissenschaftlichen Charakter für sich beanspruchen kann. Illustriert wird dieser wissenschaftliche Duktus gleich zu Beginn des Textes, als der Erzähler und sein fiktiver Zuhörer in einer Weise, die sich deutlich von einer gewöhnlichen Alltagskonversation unterscheidet, über die Entstehung von meteorologischen Phänomenen fachsimpeln. Der Verweis auf zeitgenössische Laborexperimente zeigt zudem, dass Diderot seinen Text als eine experimentelle Studie im engeren Sinne betrachtet wissen will, die sich an den wissenschaftlichen Standards der (aufkommenden) Naturwissenschaften orientiert. 19 Inhaltlich geht es in dieser expérience jedoch weniger um die Gesetze der Natur, als vielmehr um die „causes propres à l’homme“, also um jene spezifisch-menschlichen Faktoren, die das soziale Zusammenleben bestimmen. 17 Der Übergang zwischen den Erzählungen wird von Diderot bewusst in Anlehnung an traditionelle Novellenzyklen konstruiert. Gemeinsam mit dem Supplément au voyage de Bougainville waren die beiden Erzählungen, die in unmittelbarer zeitlicher Nähe zueinander entstanden, als Trilogie konzipiert. 18 Crocker: „Le Neveu de Rameau, une expérience morale“; sowie ders.: „Jacques le Fataliste - An ‚expérience morale‘“. 19 Über das Phänomen der Wolkenbildung sagt der Erzähler: „C’est une opération de nos laboratoires qui s’exécute en grand au-dessus de nos têtes“, und unterstreicht damit sogleich den experimentellen Charakter des Textes (Madame de la Carlière, 549). Konstanze Baron 38 Konkret gesprochen ist es die Meinung der Öffentlichkeit (le jugement public), deren Pertinenz hier in Bezug auf die Handlungen und Charaktere der Menschen kritisch überprüft werden soll. Wie der Titel schon andeutet, hat Diderot es in diesem kleinen Text darauf angelegt, den Einfluss der öffentlichen Meinung auf das Leben der Individuen zurückzuweisen. So wie die Geschichten in Ceci n’est pas un conte als moralische Fiktionen dargestellt wurden, die allenfalls einen partialen Bezug zum Wesen des Menschen aufweisen, so ist ihm nun hier darum zu tun, das Urteil der Öffentlichkeit als grundsätzlich unangemessen darzustellen, wenn es um die Bewertung von menschlichen Charakteren und deren Handlungen geht. Erneut macht sich Diderot dabei jene Mischung aus narrativem Erzählgeschehen und kommentierendem Dialog zunutze, die auch den Erzählprozess von Ceci n’est pas un conte bestimmt. Zu der bereits bekannten dialogischen gesellt sich nun aber noch eine weitere Form der Reflexion, die man als historischgenealogische bezeichnen kann. Im Zentrum des Interesses der beiden Diskutanten steht der Ehemann von Mme de la Carlière, M. Desroches, sowie dessen moralische Bewertung in den Augen der Öffentlichkeit. Desroches wird gleich zu Beginn der Erzählung als ein Charakter mit schlechtem Leumund eingeführt: Er gilt als Lebemann, der fremder Leute Geld verschleudert und sich weder auf einen Beruf noch auf eine Partnerin dauerhaft festlegen kann. Diese Reputation ist auch dem fiktiven Zuhörer bekannt, der Desroches als einen Verrückten bezeichnet. 20 Allerdings ist der fiktive Zuhörer - anders als der Erzähler - mit Desroches persönlich nicht bekannt. Seine Ansichten über Desroches beruhen daher auf dem bloßen Hörensagen, sie sind ein unkritisches Echo dessen, was der Volksmund über Desroches zu sagen weiß. Vom Erzähler auf die Voreiligkeit seines Urteils angesprochen gibt der fiktive Zuhörer unumwunden zu: „Je vous avoue que j’ai jugé Desroches comme tout le monde,“ 21 und gibt damit die Stoßrichtung von Diderots Kritik klar zu erkennen: ausgehend von einem negativen moralischen Diktum ist es das Ziel des erzählerischen Prozesses, das Urteil der Öffentlichkeit als übereilt, als Vor-Urteil zu entlarven und als solches zurückzuweisen. 22 Wie bereits in Ceci n’est pas un conte vollzieht sich die Kritik des moralischen (Vor-) Urteils im dialogischen Erzählprozess zwischen den beiden Sprechern. Auf den voreiligen Ausruf seines Begleiters führt der Erzähler seine eigene Sicht der Dinge an. Demnach müsste Desroches weniger als ein Verrückter, und vielmehr als ein bedauernswertes Opfer der Umstände 20 Madame de la Carlière, 550. 21 Ibid., 551. 22 Die Kritik des Vorurteils bildet bekanntlich ein Hauptanliegen der Aufklärung nicht nur in Frankreich. Zum Vorurteilsdiskurs in Deutschland cf. Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik. Bei Diderot verbindet sich die Kritik des Vorurteils mit dem Problem der (bürgerlichen bzw. vormals höfischen) Reputation. Cf. dazu Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit, 161-224. Moral und/ als Fiktion 39 gelten. 23 Dann berichtet er, wie es zu den Brüchen in Desroches’ Biografie kam. Die Geschichte, die er präsentiert, enthält zahlreiche Informationen über Desroches, die dem fiktiven Zuhörer bislang nicht bekannt waren. Durch die empirisch belegten Hintergrundinformationen des Erzählers werden die Handlungen von Desroches ‚motiviert‘, d.h. sie werden mit guten Gründen versehen und erscheinen dadurch in einem anderen Licht. 24 Dem unfundierten Halbwissen des fiktiven Zuhörers, das allein auf dem Hörensagen beruhte, stellt der Erzähler im Verlauf der Diskussion ein anderes, besser begründetes Wissen entgegen, das die ursprüngliche Aussage, Desroches sei ein unzurechnungsfähiger Verrückter, als ein Vorurteil, als eine moralische Fiktion erkennbar werden lässt. Zwischen der ‚wahren Geschichte‘ des M. Desroches und den (Vor-) Urteilen der öffentlichen Meinung entsteht ein spannungsreicher Kontrast, der - in der Folge - nach einer korrigierenden Auflösung verlangt. 25 Die Strategie des Erzählers beschränkt sich nun aber nicht allein auf die Korrektur des öffentlichen (Vor-) Urteils durch das Anführen von Tatsachenwissen. Vielmehr bemüht er sich, die öffentliche Meinung selbst in ihrer chronologischen Entwicklung durchsichtig zu machen. Weit davon entfernt, stets einmütig und konstant zu sein, erweist sich die öffentliche Meinung bei genauerer Betrachtung als überaus wandelbar. Besonders deutlich wird dies nach der Trennung des Paares: Hatten sich zunächst alle einhellig über Mme de la Carlière empört, die den Seitensprung ihres Mannes, nachdem sie ihm auf die Schliche gekommen war, öffentlich denunziert hatte, ändert sich die öffentliche Meinung bald darauf zu deren Gunsten. Es steht nunmehr vor allem das Leid der betrogenen Ehefrau und ihres Kindes im Zentrum des öffentlichen Interesses. Als dann auch noch die Mutter und der Bruder von Mme de la Carlière unvermutet aus dem Leben scheiden, ist es Desroches, der plötzlich als Verbrecher dasteht: Et voilà qu’on s’écrie de tous côtés: Le malheur est entré dans cette maison avec ce Desroches… A les entendre, on eût cru que le coup dont le jeune officier avait été tué était parti de la main de Desroches. C’était un déchaînement, un déraisonnement aussi général qu’inconcevable. A mesure que les peines de Mme de la Carlière se succédaient, le caractère de Desroches se noircissait, sa trahison s’exagérait, et sans en être ni plus ni moins coupable, il en devenait de jour en jour plus odieux. 26 23 „Sa vie est un tissu d’évènements singuliers. C’est une des plus malheureuses victimes des caprices du sort et des jugements inconsidérés des hommes.“ (Madame de la Carlière, 550) 24 So habe Desroches seinen Richterberuf nur deswegen aufgegeben, weil er sich eines Tages der Fehlbarkeit menschlicher Urteile samt ihrer Konsequenzen bewusst geworden war. Im Angesicht eines zu Tode Verurteilten hatten ihn Zweifel überkommen, ob er zu diesem schwierigen und verantwortungsvollen Amt wirklich berufen sei, woraufhin er beschlossen habe, seine Tätigkeit als Richter aufzugeben. 25 Cf. dazu Abschnitt 2a des vorliegenden Beitrags. 26 Madame de la Carlière, 570. Konstanze Baron 40 Der Umschwung der öffentlichen Meinung ist vollendet, als Mme de la Carlière, von ihrem langen Leiden geschwächt, schließlich eines Tages mitten im Gottesdienst zusammenbricht und stirbt. Nun richtet sich der öffentliche Furor vollends gegen Desroches, der nur knapp einer Hinrichtung durch die aufgebrachte Menge entkommen kann. Es ist mithin kein sehr vorteilhaftes Bild, das die Erzählung von der öffentlichen Meinung zeichnet. Die Öffentlichkeit, die hier als „foule“ bezeichnet wird, ist in ihren Urteilen extrem wandelbar: Sie kippt regelrecht von einem Extrem ins andere, ohne je ein rechtes Maß zu finden. 27 Diese Maßlosigkeit ist durchaus bezeichnend, enthüllt sie doch - in den Augen des Erzählers - die fundamentale Irrationalität der öffentlichen Meinung. Statt in ihren Urteilen den sensus communis zu verkörpern, wie es die Philosophie der Aufklärung eigentlich verlangt, erweist sich die öffentliche Meinung in ihren Verdikten als maßlos überzogen. Zudem treffen ihre Urteile auch gar nicht das Objekt, auf das sie sich beziehen: der „caractère“ (womit hier weniger der Charakter von Desroches als vielmehr das Bild gemeint ist, das sich die Öffentlichkeit von diesem macht) wandelt sich Tag für Tag zum Schlechteren, ohne dass der Betroffene selbst durch seine Handlungen irgendetwas zu diesem Wandel beigetragen hätte. Gegenüber dem Leben und den Taten von Desroches führt die öffentliche Meinung ein mitunter etwas willkürlich anmutendes Eigenleben. Die „inconséquence“, um die es im Titel der Erzählung geht, lässt sich daher nicht nur auf den untreuen Ehemann beziehen, sondern sie kennzeichnet ebenfalls das Verhalten der Öffentlichkeit, die sich anmaßt, über diesen zu Gericht zu sitzen. Ironischerweise ist das Urteil der Menge genauso, wenn nicht in noch stärkerem Maße, unstet wie die Person, auf die es sich bezieht. Während der Erzähler also zunächst darum bemüht ist, das Urteil der Öffentlichkeit inhaltlich zu korrigieren, indem er ihm ein ‚besseres Wissen‘ entgegen stellt, zielt er des Weiteren darauf ab, diesem eine versteckte Ähnlichkeit zu seinem Gegenstand, dem unsteten Charakter des M. Desroches, nachzuweisen. Die Historisierung des öffentlichen Urteils wird hier zu einem Instrument für dessen indirekte (Selbst-) Entlarvung. Doch der Erzähler begnügt sich nicht damit, das öffentliche Urteil einfach in seinem historischen Verlauf zu beschreiben, sondern er analysiert es auch im Hinblick auf seine Gründe. Er macht seinem Zuhörer klar, dass es nicht intrinsisch motiviert ist, sondern von äußerlichen Gegebenheiten abhängt. Es sind „des circonstances tout à fait étrangères à la première origine“, 28 die dazu beigetragen haben, dass sich die öffentliche Meinung plötzlich gegen Desroches wendet, wie zum Beispiel der Tod des Bruders von Mme de la Carlière oder deren spektakulärer Zusammenbruch in der Kirche. Überhaupt ist das Leiden der Mme de la Carlière die ganze Zeit öffentlich gut 27 „Car ils se poussent tous les uns les autres, et comme ils n’ont point de règles dans leurs jugements, ils n’ont pas plus de mesure dans leur expression.“ (Ibid., 574) 28 Ibid., 573. Moral und/ als Fiktion 41 sichtbar, während Desroches im Verborgenen trauert. Auch wenn sein Schmerz darum nicht weniger aufrichtig ist als der seiner Ehefrau, schadet diese Diskretion doch ungewollt seinem öffentlichen Ansehen. „Les absents ont tort“, 29 resümiert der Erzähler diesen Sachverhalt. Offenbar lässt sich der plötzliche Umschwung der öffentlichen Meinung zugunsten von Mme de la Carlière, so irrational er zunächst auch scheinen mag, rational erklären. Dafür sprechen zumindest einige Anmerkungen des Erzählers, wie z.B.: „Dans les circonstances les plus équivoques le parti de l’honnêteté se grossit sans cesse de transfuges.“ 30 Oder: „Le malheur qui dure réconcilie avec les hommes, et la perte des charmes d’une belle femme la réconcilie avec toutes les autres.“ 31 Sah es zunächst noch so aus, als würden auch moralische Faktoren in die Konstitution des öffentlichen Urteils zumindest mit hineinspielen, so wird schnell deutlich, dass in Wahrheit ganz andere Faktoren dessen erstaunliche Wandlung bedingen. So ist es vor allem der Eigenliebe (amour-propre) der Frauen zu verdanken, dass sich der weibliche Teil des Publikums nach einiger Zeit wieder mit Mme de la Carlière versöhnt. Deren anhaltendes Unglück nimmt ihr die Überlegenheit, die zuvor bewirkt hatte, dass sie von den anderen als eine Rivalin wahrgenommen werden konnte. 32 Das Urteil der Öffentlichkeit ist also noch in einer weiteren Hinsicht inkonsequent (im Sinne von ‚nicht stimmig‘): Nicht nur verfehlt es den Charakter derer, über die es urteilt; es ist auch selbst nicht Ausdruck einer moralischen Gesinnung, sondern in erster Linie der Eitelkeit der Urteilenden geschuldet. Alles in allem präsentiert sich die Objektivierung des moralischen Urteils in Madame de la Carlière somit als ein extrem vielseitiger und komplexer Prozess: Zu dem Verfahren der dialogischen Reflexion, das der öffentlichen Meinung eine andere, auf Tatsachen beruhende Version gewissermaßen als Kontrast und externe Richtschnur entgegenstellt, gesellt sich eine weitere Strategie, die auf die (interne) Historisierung des moralischen Urteils abzielt. Der Bericht des Erzählers präsentiert nicht nur die (‚wahre‘) Geschichte von Mme de la Carlière und M. Desroches, sondern setzt diese zugleich in Bezug zur öffentlichen Meinung und deren bizarr anmutenden Wandlungen. Dabei wird deutlich, dass zwischen dem moralischen Urteil der Öffentlichkeit und seinem Gegenstand eine gewisse Homologie besteht. Die öffentliche Meinung, so wird deutlich, ist in Wahrheit genauso unstet und wandelbar wie der Charakter, den sie verurteilt. Die Opposition zwischen Urteil und (menschlicher) Natur, zwischen conte und histoire, die Diderots 29 Ibid., 574. 30 Ibid., 569. 31 Ibid. 32 Es ist wohl kein Zufall, dass der Text hier die sentenzenhafte Form der Maximen La Rochefoucaulds imitiert. Auch inhaltlich weisen die Ansichten Diderots eine gewisse Nähe zu den Thesen des Moralisten auf, z.B. in Bezug auf die Rolle der Eigenliebe und die Dominanz nicht-moralischer Faktoren in der Konstitution des moralischen Urteils. Konstanze Baron 42 Erzählung zunächst zu postulieren schien, wird hier gleichsam wieder eingezogen. Schließlich wird das moralische Urteil noch dahingehend objektiviert, dass die ganz und gar empirischen Faktoren und Gründe, die sein Zustandekommen bedingen, offen benannt werden. Dieses Verfahren, das man - unter Bezugnahme auf La Rochefoucauld - moralistisch oder - mit Nietzsche - genealogisch nennen könnte, trägt dem wissenschaftlichen Anspruch der Erzählung Rechnung. Wie die zunächst erratisch wirkende Entwicklung der Wolken am Himmel mit den Mitteln der Wissenschaft nicht nur erklärt, sondern auch prognostiziert werden kann, so erweisen sich zu guter Letzt auch die extravaganten Formationen der öffentlichen Meinung einer rationalen Erklärung fähig. Diese Erklärung im Gewand der Fiktion zu erproben, anzuwenden und zu überprüfen ist die Absicht von Diderots literarischen Erzählexperiment. 33 2. E RZÄHLEN NACH DER M ORAL : K ONSEQUENZEN DER K RITIK Sowohl die Erzählung Ceci n’est pas un conte als auch Madame de la Carlière inszenieren eine dialogische Prozessführung, deren Gegenstand moralische Urteile bilden. Im Zuge des narrativen Prozesses werden diese Urteile kritisiert, d.h. sie werden objektiviert in dem oben beschriebenen Sinne. Beide Erzählungen haben die Absicht, moralische Urteile als willkürliche Setzungen ohne Substanz, als Artefakte einer fehlgeleiteten moralischen Kultur durchsichtig zu machen. Dem nomos dieser moralischen Kultur steht bei Diderot die - amoralische, bisweilen schlichtweg unmoralische - physis der Charaktere und ihrer Leidenschaften entgegen. Ziel der Kritik ist es, die Partialität der moralischen Urteile zu illustrieren und somit deren Anspruch, das Wesen der Menschen bzw. die menschliche Natur objektiv erfassen zu können, zu diskreditieren. Doch was, so mag man sich fragen, sind die Konsequenzen dieser Kritik? Was ist der positive, der konstruktive Zug der Aufklärung in Diderots Erzählungen? Auf diese Fragen halten die Texte mehrere und zum Teil stark divergierende Antworten bereit. Während eine erste mögliche Variante darin besteht, das moralische Urteil so zu korrigieren, dass es der menschlichen Natur ähnlicher und ihr dadurch in gewisser Weise ‚gerechter‘ wird, zielt eine andere Lösung auf die (ironische) Selbstbehauptung der Fiktion jenseits praktischer Zwecke. Eine dritte und letzte Strategie setzt dagegen wieder verstärkt auf Pragmatisierung: Der 33 Dass er diese Lektion verstanden hat, bekundet der fiktive Zuhörer am Ende der Erzählung, indem er nun den Faden der Geschichte selber hypothetisch weiterspinnt: „Je change la thèse, en supposant un procédé plus ordinaire à Mme de la Carlière. Elle trouve les lettres; elle boude. Au bout de quelques jours l’humeur amène une explication, et l’oreiller un raccommodement, comme c’est l’usage. […] Point de séparation, point d’éclat; ils vivent ensemble comme nous vivons tous; et la belle-mère, et la mère, et le frère et l’enfant seraient morts qu’on n’en aurait pas sonné le mot.“ (Madame de la Carlière, 573sq.) Moral und/ als Fiktion 43 Text delegiert das Urteil an seinen Leser und appelliert damit an den Wert der (subjektiven) Erfahrung. a) Differenzierung Zunächst einmal liegt es nahe, auf die didaktische Natur der Erzählungen Diderots zu verweisen. Diese haben den Zweck, eine aufklärerische Lektion über die Moral zu vermitteln. Anders als die contes moraux Marmontels beispielsweise geht es ihnen dabei aber nicht um die Darstellung eines vorbildhaften Verhaltens, um die Imitation von moralischen Exempla. Ziel der Erzählungen ist es nicht „de rendre la vertu aimable“, wie Diderot noch in seinen Essais sur la peinture schreibt. 34 Es geht nicht um die Vermittlung von typisch-moralischen Einstellungen, sondern um die Einübung eines reflektierten Umgangs mit der Moral. Der Rezipient soll zu einer skeptischen Haltung gegenüber der Moral im Allgemeinen und gegenüber moralischen Urteilen im Besonderen erzogen werden. Die Erziehungsabsicht der Texte ist somit in gewisser Weise eine negative: Nicht die unkritische Übernahme moralischer Einstellungen und Werthaltungen, sondern im Gegenteil deren kritische Infragestellung ist das Ziel des Lernprozesses. Aufklärung, nicht Mimesis, ist der Zweck der Diderot’schen Didaxe. Der Erziehungsprozess wird dabei zunächst einmal im Text abgebildet, richtet sich aber, wie man annehmen darf, darüber hinaus auch an den impliziten (oder realen) Leser. Er wird ihm anhand der Figur des fiktiven Zuhörers gewissermaßen ‚andemonstriert‘. Dass die Figur des fiktiven Zuhörers ein zentrales Element der aufklärerischen Erziehungsbemühungen darstellt, belegt bereits der kleine Vorspann von Ceci n’est pas un conte. Hier wird der fiktive Zuhörer eingeführt als jemand „qui fasse à peu près le rôle du lecteur“. 35 Die Adverbialkonstruktion ‚à peu près‘ macht deutlich, dass es verfehlt wäre, den fiktiven Zuhörer einfach mit dem (impliziten) Leser zu identifizieren. 36 Gerade die strukturelle Nicht-Identität zwischen fiktivem und implizitem Rezipienten ist für die Aufklärung des letzteren von entscheidender Bedeutung. Allerdings verringert sich der Abstand zwischen deren Positionen im Laufe des Erzählprozesses merklich: Repräsentiert der fiktive Zuhörer anfangs noch den naiven Standpunkt der unaufgeklärten doxa, so nähert er sich am Ende immer mehr der souveränen Position des Erzählers an, der seinerseits den Standpunkt der Aufklärung vertritt. Der fiktive Zuhörer macht also im Text einen Lernprozess durch, an dem der 34 Dort heißt es: „Rendre la vertu aimable, le vice odieux, le ridicule saillant, voilà le projet de tout honnête homme qui prend la plume, le pinceau ou le ciseau.“ (Essais sur la peinture, 392) 35 Cf. Anm. 10. 36 Cf. Edmiston: „The role of the listener“. Konstanze Baron 44 Leser von Diderots Erzählung gleichfalls partizipiert, ohne jedoch ganz in ihm aufzugehen. 37 Von entscheidender Bedeutung für diesen Lernprozess sind die rezeptionslenkenden Kommentare des Erzählers. Diese zeigen an, wohin die Reise gehen soll. Im Fall der Erzählung Ceci n’est pas un conte ist das in erster Linie eine Differenzierung des moralischen Urteils. „Vous regardez le méchant, et vous ne voyez pas tout à côté l’homme de bien,“ 38 mahnt der Erzähler seinen Zuhörer, der soeben die allgemeine moralische Verderbtheit des männlichen Geschlechts beklagen wollte. Doch der Verweis auf den „homme de bien“, womit hier der Docteur Le Camus gemeint ist, zeigt, dass die Dinge so einfach nicht sind. Nicht nur ist es nicht richtig, dass alle Frauen grundsätzlich schlecht und alle Männer grundsätzlich gut sind (Maxime der ersten Geschichte); genauso wenig trifft es zu, dass alle Vertreter des männlichen Geschlechts rundum moralisch verderbt sind (Maxime der zweiten Geschichte). Der Hinweis auf den konkreten Einzelfall widerlegt die Regel, die in der (Teil-) Geschichte exemplifiziert wird. Die Aufklärung des (fiktiven) Zuhörers geschieht also in Form einer Sensibilisierung desselben für den Einzelfall, für die Spezifik einer moralischen Situation und der an ihr beteiligten Charaktere. Der Zuhörer muss lernen, sein Urteil nicht an allgemeinen Grundsätzen und Maximen, sondern an den konkreten Gegebenheiten zu orientieren. Auch in der Erzählung Madame de la Carlière geht es in gewisser Weise um die Differenzierung des moralischen Urteils. Diese ist hier allerdings konkret mit einer Kritik der öffentlichen Meinung verbunden. Wenn der fiktive Zuhörer eingesteht: „Je vous avoue que j’ai jugé Desroches comme tout le monde“, dann zeigt er damit, dass er sich der unkritisch-mimetischen Anpassung an das Urteil der Menge schuldig gemacht hatte. Statt auf die Stimme der Vernunft oder den empirischen Augenschein zu hören, hatte er sich allein auf die Autorität der Anderen verlassen. Dementsprechend geht das Bemühen um Differenzierung hier einher mit einer Distanzierung des Einzelnen von der opinion publique. Der (fiktive) Zuhörer wird aufgefordert, dem Urteil der Menge in Zukunft mit einer größeren Reserve zu begegnen: „Mon ami, écoutez-les, s’ils ne vous ennuient pas, mais ne les croyez point et ne les répétez jamais, sous peine d’appuyer une impertinence de la vôtre.“ 39 Aufgeklärtes Urteilen, so wird hier deutlich, impliziert, auf Abstand zur allgemeinen Meinung zu gehen. Es verlangt vom Einzelnen, mündig zu sein 37 Die Unterscheidung zwischen dem impliziten und dem realen Leser erweist sich bei Diderot als schwierig, ist es doch das deklarierte Ziel seines Erzählers, den realen Leser in die Geschichte einzubeziehen (zu implizieren). Doch es empfiehlt sich aus analytischen Gründen, gegenüber der Ebene des fiktiven Zuhörers und der des impliziten Lesers noch eine dritte Ebene anzunehmen, die später in der Pragmatik des moralischen Urteils virulent wird. Siehe dazu auch Abschnitt 2c dieses Beitrags. 38 Ceci n’est pas un conte, 534. 39 Madame de la Carlière, 573. Moral und/ als Fiktion 45 und Verantwortung für sein eigenes Urteil zu übernehmen, statt einfach das seiner Mitmenschen unreflektiert zu übernehmen. Mit der Differenzierung des Urteils ist somit - gewissermaßen als dessen subjektive Kehrseite - auch eine Individualisierung des urteilenden Subjekts verbunden. Wie bereits die Analyse gezeigt hat, geht es in der Erzählung Madame de la Carlière jedoch nicht nur um eine Differenzierung des moralischen Urteils, sondern auch um die Kriterien seines Zustandekommens. Der fiktive Zuhörer, der die Analyse des öffentlichen Urteils am Ende kontrafaktisch weiterspinnt, zeigt, dass er das Prinzip verstanden hat und nunmehr um die Gesetzmäßigkeiten der öffentlichen Meinung und ihr besonderes Verhältnis zu außermoralischen Einflüssen weiß. Auch diese Einsicht kann durchaus als ein Teil seiner ‚Aufklärung’ verstanden werden: Wie die Natur, so unterliegt auch der sozio-moralische Bereich menschlichen Lebens bestimmten Faktoren, deren Zusammenspiel rational erklärt werden kann. Der literarische Text, der diesen Zusammenhang unter Beweis stellt und seinen Rezipienten zugleich darin unterweist, hat folglich den Charakter eines moralischen (Erzähl-) Experiments, einer ‚expérience morale‘. 40 Der (fiktive oder implizite) Zuhörer ist nicht nur Zeuge einer literarischen Versuchsanordnung, eines quasi-wissenschaftlichen Experiments, sondern er wird zugleich in eine gewisse Praxis der Beobachtung und Bewertung initiiert. Durch die Hinweise des Erzählers partizipiert er an dessen Erfahrungshorizont (‚expérience‘) und eignet sich dadurch ein neues Urteilsverhalten an. 41 Die Fiktion wird dabei im Sinne einer Kunst der Hypothesenbildung positiv instrumentalisiert. 42 Als wirklich aufgeklärt kann dieser Logik zufolge nur derjenige gelten, der - wie der fiktive Zuhörer in Madame de la Carlière - die moralischen Fiktion am Ende nicht nur durchschaut, sondern diese im Sinne des literarischen Erzählexperiments auch eigenständig zu manipulieren versteht. b) Ironie vs. Moral Bislang haben wir unterstellt, dass es in den Erzählungen vorrangig um eine Korrektur des moralischen Urteils geht - etwa durch dessen (Binnen-) Differenzierung. Die Berechtigung moralischer Urteile als solcher wurde dadurch nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Doch es finden sich auch 40 Cf. Anm. 19. 41 Die ‚expérience‘ weist also - über die rein gegenständliche Seite hinaus - auch eine subjektive Komponente auf, die sich im Deutschen in der begrifflichen Unterscheidung von ‚Experiment‘ und ‚Erfahrung‘ niederschlägt. 42 Zur Rolle der Hypothese hat sich Diderot in seinen naturphilosophischen Schriften ausführlich geäußert. Da Diderot die Naturphilosophie als „art expérimental“ begreift, erschöpft sich in seinen Augen die Tätigkeit des Naturphilosophen niemals im reinen Beobachten bzw. Sammeln von Fakten, sondern hat immer auch einen kreativspekulativen Aspekt. Pensées sur l’interprétation de la nature, 27, 42, 49 u.a. Konstanze Baron 46 Hinweise in diesen Texten, die über eine bloße Binnenkritik des moralischen Urteils hinausgehen, etwa wenn der Erzähler die verhängnisvolle Macht der Leidenschaften betont. 43 Die Leidenschaften (passions) haben die Qualität von Schicksalsschlägen, die die Menschen überkommen wie eine Naturgewalt, gegen die sie sich nicht wehren können. Im Angesicht einer solchen unausweichlichen Fatalität der Gefühle („la fatale étincelle“) 44 verliert die moralische Perspektive mit ihren Idealen von Zurechenbarkeit und Selbstverantwortlichkeit plötzlich ihre Bedeutung: Wenn es tatsächlich zutrifft, dass wir unseren Gefühlen hilflos ausgeliefert sind, dass wir von ihnen geleitet werden wie von einer höheren Macht, dann hat es auch keinen Sinn, über die moralische Wertigkeit unserer Verbindungen zu streiten. 45 Das Gelingen zwischenmenschlicher Beziehungen ist dann keine Frage der Moral, sondern des Glücks, und alles, was wir tun können ist, die Betroffenen für ihre unseligen Verstrickungen zu bedauern; deplaziert und vermessen wäre es jedoch, sie dafür zu verurteilen. „Plaignons beaucoup les hommes, blâmons-les sobrement“, sagt daher der Erzähler. 46 Das Wissen um die Fatalität der Gefühle, die Unausweichlichkeit der Leidenschaft hat also die Einschränkung der moralischen Perspektive zur Folge. Deren Gültigkeit in Bezug auf das menschliche Leben wird nunmehr ganz grundsätzlich in Frage gestellt. Doch während die Mahnung des Erzählers vor allem zur Nachdenklichkeit anregen soll, zieht der fiktive Zuhörer die Situation ins Komische. Nachdem er auch die zweite Geschichte, die von Gardeil und Mlle de la Chaux vernommen hat, formuliert er seine eigene, etwas sardonische Bilanz: Mais cela est […] dans la règle. S’il y a un bon et honnête Tanié, c’est à une Reymer que la Providence l’envoie. S’il y a une bonne et honnête de la Chaux, elle deviendra le partage d’un Gardeil, afin que tout soit fait pour le mieux. 47 Diese Passage kommt in Ceci n’est pas un conte, zumindest in formaler Hinsicht, wohl dem am Nächsten, was man die ‚Moral‘ der Geschichte nennen könnte; ein resümierendes Fazit, das die Aussage der beiden (Teil-) Erzählungen bündig auf den Punkt bringt. Doch zugleich ist klar, dass von Moral hier im Grunde keine Rede sein kann: Das Schicksal („la Providence“) fügt mit schöner Regelmäßigkeit genau diejenigen Personen (Männer und Frauen) zusammen, die eben nicht zueinander passen, und sorgt so dafür, dass - entgegen der ironischen Feststellung „afin que tout soit fait pour le mieux“ - eben nichts so ist, wie es (nach moralischen Maßstäben betrachtet) 43 Ceci n’est pas un conte, 533. 44 Ibid. 45 Dieser Sachverhalt wird im Text illustriert anhand der Erfahrungen des fiktiven Zuhörers, dem der Erzähler nachweisen kann, dass er sich in eine Frau ohne nachvollziehbare Qualitäten, also ohne jegliches objektives Verdienst („mérite“) verliebt hatte. 46 Ceci n’est pas un conte, 533. 47 Ibid., 546. Moral und/ als Fiktion 47 eigentlich sein sollte. Das Schicksal agiert nicht nach moralischen Kriterien, sondern es setzt seine eigenen, höchst willkürlichen Pointen. Statt der zu erwartenden ‚Moral der Geschichte‘ bleibt also allenfalls eine ‚Ironie des Schicksals‘ zu konstatieren. Mit dem Nachweis der Rolle des Schicksals und seiner ‚unglücklichen Fügungen‘ ist die Überwindung der moralischen Perspektive vollendet. Eine neue Perspektive tut sich auf, die in Konkurrenz tritt zu derjenigen der Moral. Diese wirkt sich auch auf die Rezeption von Diderots Erzählung aus: Jenseits der Intention der moralischen Belehrung kann der Text als ein Kunstwerk eigenen Rechts verstanden werden, dem es allein auf witzige, unvorhersehbare Pointen ankommt. Die Ironie eröffnet, so könnte man sagen, die Möglichkeit einer Lektüre nach außer-moralischen, ästhetischen Gesichtspunkten. Dass Diderot mit dieser Möglichkeit immer schon gespielt hat, zeigt sich in dem kleinen Vorspann der Erzählung. Dessen Formulierung: „le récit qu’on va lire, et qui n’est pas un conte ou qui est un mauvais conte“ 48 ist zumindest zwiespältig, denn „mauvais“ kann der besagte Text allenfalls in dem Sinne sein, dass er sich zu keiner moralischen Aussage, zu keiner stichhaltigen lectio fügen mag. Diese wird, wie wir zu zeigen versucht haben, in Ceci n’est pas un conte durch die Wirkung des Schicksals durchkreuzt. Doch ist die Erzählung darum auch ‚mauvaise‘ in einem literarischästhetischen Sinne? Sicherlich nicht. Im Gegenteil ist zu vermuten, dass der Unterhaltungswert des Textes von den eigensinnigen Wendungen des Schicksals durchaus profitiert. Die Tugend („la vertu“) ist eben nicht immer „aimable“. Delectare und docere, die beiden deklarierten Ziele des aufklärerischen Textes, treten hier erstmals in einen manifesten Widerspruch zueinander und werden autonom. c) Pragmatisierungen Die ironische Auflösung des Kasus führt zu einer Überwindung der moralischen Perspektive und lädt ein zu einer Betrachtung des Textes unter nichtmoralischen, d.h. ästhetischen Gesichtspunkten. Zwischen der aufklärerischen Lektion und dem ironischen Kommentar besteht eine Spannung, die zugunsten der letzteren aufgelöst wird. Nun könnte man meinen, dass damit das letzte Wort gesprochen ist. Doch dem ist nicht so. Am Ende der Diskussion wendet sich der Erzähler noch einmal direkt an den impliziten Leser: Mais on me dira peut-être que c’est aller bien vite que de prononcer définitivement sur le caractère d’un homme d’après une seule action; qu’une règle aussi sévère réduirait le nombre des gens de bien au point d’en laisser moins sur la terre que l’évangile du chrétien n’admet d’élus dans le ciel […]. On me demandera si je n’ai jamais ni trahi, ni trompé, ni délaissé aucune femme sans 48 Ceci n’est pas un conte, 521; Hervorhebung K.B. Konstanze Baron 48 sujet. Si je voulais répondre à ces questions, ma réponse ne demeurerait pas sans réplique, et ce serait une dispute à ne finir qu’au jugement dernier. Mais mettez la main sur la conscience et dites-moi, vous, Monsieur l’apologiste des trompeurs et des infidèles, si vous prendriez le docteur de Toulouse pour votre ami. 49 Den impliziten Leser, dem hier unterstellt wird, dass er Personen wie Mme Reymer und Gardeil vor allzu strengen moralischen Regeln in Schutz nimmt, konfrontiert der Erzähler mit einer Gegenfrage: Ob er sich denn vorstellen könne, den besagten „docteur“ (Gardeil) zum Freund zu haben? Die Antwort fällt offenbar nicht leicht: „Vous hésitez? Tout est dit…“ Auch die Erzählung Madame de la Carlière endet mit einem solchen Appell an das Gewissen. 50 Nachdem die beiden Diskutanten, der Erzähler und sein fiktiver Zuhörer, die moralischen Streitfälle bislang eher abstrakt und auf akademische Weise diskutiert haben, soll nun eine persönliche Stellungnahme (des Erzählers, des Rezipienten) Klarheit schaffen. Damit drängt sich uns eine Frage auf: Kommt es bei Diderot am Ende also doch zu einer Rehabilitierung des moralischen Urteils? Die Antwort auf diese Frage lautet: ja und nein. Einerseits hält der Text tatsächlich an der Notwendigkeit eines Urteils fest - auch wenn dieses zumindest in Ceci n’est pas un conte nicht offen ausgesprochen, sondern gewissermaßen an den Leser delegiert wird. Den Grund für dieses Insistieren kann man nur erahnen: Die Imperative der Praxis, so scheint es, lassen eine Entscheidung des moralischen Kasus trotz aller theoretischer Bedenken erforderlich erscheinen. Die postmoderne Ethik des suspension of judgement ist nicht das, was Diderot in seiner Erzählung vorschwebt. Im Angesicht der Notwendigkeit eines Zusammenlebens von Mann und Frau ist eine gewisse moralische Orientierung in praktischen Fragen unabdingbar. Aus diesem Grund drängt der Erzähler am Ende auf eine Entscheidung, auf ein Urteil. Doch diese Entscheidung, und das ist die Kehrseite des Problems, kann nur bedingt als eine moralische gelten. Die Frage „Prendriez-vous X pour votre ami“ (oder auch: „Donneriez-vous votre fille à Y“) ist eine persönliche Frage, die nach einer persönlichen Antwort verlangt. Als solche entbehrt sie aber der intersubjektiven Verbindlichkeit moralischer Urteile. 51 Die Frage, ob man mit Gardeil befreundet sein wolle oder nicht, ist keiner allgemeingültigen Antwort fähig, sondern hängt letztlich von einer Reihe kontingenter Faktoren ab (wie zum Beispiel caractère, goût, intérêt), die nicht in unserer Hand liegen. Wohl nicht von ungefähr führt Diderots Erzähler hier das Kriterium der Freundschaft ein, um den moralischen Kasus zu 49 Ibid., 546sq. 50 Hier richtet der fiktive Zuhörer die Frage an den Erzähler, der sich zuvor um eine Rechtfertigung des untreuen Ehemanns bemüht hatte: „Mais si vous aviez une fille à marier, la donneriez-vous à Desroches? “ (Madame de la Carlière, 574) 51 Birnbacher zufolge ist der Anspruch auf intersubjektive Verbindlichkeit bzw. auf Allgemeingültigkeit ein unverzichtbares Merkmal moralischer Urteile. Cf. Birnbacher: Analytische Einführung in die Ethik, 13 sowie 24-31. Moral und/ als Fiktion 49 befrieden: Denn im Gegensatz zur erotischen Anziehung ist die Freundschaft nicht der Willkür der Leidenschaften ausgesetzt. Ob sich zwei Personen miteinander vertragen, ist vielmehr eine Frage der rapports, der Harmonie zwischen ihren Charakteren, und daher nicht ganz und gar willkürlich. Und doch bleibt auch in der Freundschaft immer ein Moment von Unbestimmtheit, ein subjektiver Rest: Wer mit wem auskommt, wer sich mit wem versteht, ist letztlich ein Resultat von persönlichen Präferenzen, eine Frage des persönlichen (moralischen) Geschmacks. Der Verweis auf die Freundschaft als Ausdruck eines persönlichen goût moral 52 ist hier also durchaus als eine Alternative zur Moral mit ihren Vorstellungen von Universalität und allgemeiner Gültigkeit zu verstehen. Pragmatisch ist die dritte von Diderot vorgeschlagene Lösung also gleich in einem doppelten Sinne: zum einen, weil sie die Resolution des moralischen Kasus an den Leser delegiert. Der Dialog zwischen dem Erzähler und seinem fiktiven Zuhörer öffnet sich und wird zu einem Dialog zwischen dem Erzähler und dem impliziten Leser. Diesem obliegt das letzte Wort, das „jugement dernier“, das der Text selbst nicht aussprechen kann oder will. Dabei wird nun auch der Unterschied von Diderots Erzählungen zur Pragmatik klassischer Texte deutlich greifbar: An die Stelle einer objektiven Instanz, eines ‚jüngsten Gerichts‘, tritt bei Diderot der Leser, der die moralische Problematik durch seine Entscheidung auflösen muss. Der Leser wird vom Text als zugleich mündiges und selbstverantwortliches Subjekt des Urteils adressiert. Pragmatisch ist diese Lösung zum anderen aber auch deshalb, weil sie sich von den Ansprüchen der Moral auf Objektivität und allgemeine Gültigkeit verabschiedet. Als Grundlage der Entscheidung dient am Ende eine subjektive Präferenz, eine individuelle Zu- oder Abneigung, die der intersubjektiven Verbindlichkeit des moralischen Urteils entbehrt. Das Leser-Subjekt, das vom Text gewissermaßen letztinstanzlich adressiert wird, sieht sich zugleich seiner Allmacht beraubt. Sein Urteil hat den Charakter einer Einzelfallentscheidung, die nicht den Anspruch erheben kann, für mehr als nur sich selbst zu gelten. Bilanzieren wir die ‚Lösungsmodelle‘, die unsere beiden Erzählungen exemplarisch auf die Problematisierung der Moral bereithalten, so ergibt sich ein überaus gemischtes Bild: Am ehesten entspricht die Differenzierung des moralischen Urteils dem Bemühen Diderots um Objektivität in ethischen Belangen. Das Urteil soll durch Reflexion so ausdifferenziert werden, dass es der komplexen Natur der Menschen und ihrer Handlungen möglichst ähnlich wird. Nur ein solchermaßen differenziertes Urteil ist wirklich fundiert - in dem doppelten Sinne von ‚gut begründet‘ und ‚in der Natur 52 Bereits in den Entretiens sur le Fils Naturel definiert Diderot die Tugend als eine Frage des goût: „Je définis la vertu, le goût de l’ordre dans les choses morales.“ (123) Die Verbindung von Moral und Geschmack ist für Diderot also nicht ungewöhnlich, auch wenn er die radikal moral-kritischen Konsequenzen aus dieser Position erst vergleichsweise spät, nämlich in Le Neveu de Rameau, zieht. Konstanze Baron 50 der Dinge (der physis) verankert‘. Einen ganz anderen Weg schlägt dagegen die zweite hier präsentierte Lösung ein: die Ironie. Diese zielt auf die Selbstbehauptung der Fiktion gegenüber der Wirklichkeit und damit auf die Autonomie des Ästhetischen gegenüber der Moral. In ihrer spielerischen Selbstgewissheit erteilt diese Variante dem Streben nach Objektivität - wie überhaupt dem Bemühen um didaktische Belehrung - eine Absage, um sich ganz auf die Selbstzweckhaftigkeit des ästhetisch-literarischen Vergnügens zu beziehen. Diderot ein durchweg negatives Verhältnis zur Fiktion zu unterstellen, wie das in der Sekundärliteratur bisweilen geschieht, 53 griffe daher notwendig zu kurz. Denn auch wenn sich die Fiktion in Diderots Erzählungen mit der Kritik der Moral verbindet und dieser dienlich ist, so bewahrt sie dieser gegenüber doch ihre irreduzible und autonome Identität. In sich selbst noch einmal gebrochen ist schließlich die dritte Lösungsvariante, der Appell an das Gewissen des (fiktiven oder impliziten) Rezipienten. Die Moral übersteht hier die Kritik des moralischen Urteils, wenn auch in stark modifizierter Form. Das moralische Urteil wird an den Leser delegiert, der sich auf der Grundlage seines persönlichen Geschmacks und seiner individuellen Präferenzen eine Meinung über den Streitfall bilden muss. Diderots Texte zielen somit - trotz oder gerade wegen ihres Bemühens um die Objektivierung der Moral - auf die Subjektivierung (des Urteils, des Lesers). Der literarische Text inszeniert zwar eine quasiwissenschaftliche ‚expérience‘, welche die Urteilsbildung des Zuhörers bzw. Lesers unterstützen soll; der performative Gestus der Erzählung, der sich gegenüber seinem Rezipienten öffnen und diesen zu einer praktischen Stellungnahme bewegen will, birgt jedoch immer auch ein Moment von struktureller Unbestimmtheit, das der einzelne Leser durch seine eigene, jeweils subjektive expérience (Erfahrung) überwinden muss. 54 Die Diderot’sche Pragmatik, so scheint es, setzt auf die Selbst-Erfahrung eines mündigen Lesers, der in die Lage versetzt werden soll, moralische Konflikte (für sich) zu entscheiden. Indem Diderot den Entscheid über moralische Fragen nun aber dem Charakter bzw. dem moralischen Geschmack seiner Leser überantwortet, ist für das abschließende Urteil zugleich eine anthropologische, gleichsam materielle Grundlage gefunden. So subjektiv das ‚jugement dernier‘ des Rezipienten daher auch sein mag, so stützt es sich doch immer auf die objektive Grundlage der (a-)moralischen physis. 53 So die Stoßrichtung der Argumentation von Warning („Opposition und Kasus“). Für die Analyse der Erzählungen besitzen die Einsichten Warnings in weiten Teilen Gültigkeit, wenn auch - insbesondere was die Rolle der Fiktion angeht - bisweilen andere Konsequenzen daraus zu ziehen sind. 54 Einer solchen Vermittlung von Erfahrung(en) dient letztlich auch die Fiktion. Diese wird in Diderots Erzählungen nicht nur im Sinne einer Kunst der Hypothesenbildung instrumentalisiert; sie erweist sich darüber hinaus auch als eine unabdingbare Voraussetzung für die imaginative (emotionale, moralische) Anteilnahme des Lesers am literarischen Text. Zur appellativen Funktion der Unbestimmtheit cf. Iser: „Die Appellstruktur der Texte“. Moral und/ als Fiktion 51 Am Ende bleibt somit vor allem die Diagnose einer erheblichen Komplexität im Verhältnis von Subjektivität und Objektivität in Diderots Erzählungen. Die Kritik Diderots an der Moral ist nicht einfach, sondern äußerst differenziert und in sich mehrfach gebrochen. Statt einer starren Opposition ist in den Erzählung eine subtile Dialektik am Werk, die eine eindeutige Zuschreibung und Fixierung der Positionen verhindert. Diese Dialektik schlägt sich auch in den Figuren nieder, die Diderot in seinen Texten als mögliche ‚Lösung‘ für die Kritik des moralischen Urteils anbietet. Genau hierin wäre jedoch unseres Erachtens der eigentlich originelle und konstruktive Beitrag Diderots zur Moraltheorie und Ästhetik der Aufklärung zu sehen: Aufklärung, das bedeutet für Diderot niemals nur die bloße De(kon)struktion von Fiktionen im Namen einer einzig verbindlichen ‚Realität‘, sondern das Aufzeigen einer Dialektik zwischen subjektiven moralischen Urteilen einerseits und objektiver menschlicher Natur andererseits. Nicht die einfache Reduktion von Normativität auf Faktizität, von Moral auf Natur, sondern das spannungsvolle In-, Mit- und Gegeneinander von beiden - bis hin zu ihrer strukturellen Nicht-Unterscheidbarkeit - ist das charakteristische Merkmal von Diderots Erzählungen, und zugleich deren Beitrag zur Diskussion um das schwierige Verhältnis von Objektivität und Literatur. B IBLIOGRAPHIE Primärliteratur Diderot, Denis: Œuvres complètes, 25 Bde., ed. Herbert Dieckmann/ Jean Varloot, Paris, Hermann, 1975-2004. Diderot, Denis: Ceci n’est pas un conte, in: ders.: Œuvres complètes, Bd. XII (Fiction IV), 521-547. Diderot, Denis: Entretiens sur le Fils Naturel, in: ders.: Œuvres complètes, Bd. X (Fiction II), 83-162. Diderot, Denis: Essais sur la peinture, in: ders.: Œuvres complètes, Bd. XIV (Beaux-arts I), 333-411. Diderot, Denis: Madame de la Carlière, in: ders.: Œuvres complètes, Bd. XII (Fiction IV), 549-575. Diderot, Denis: Pensées sur l’interprétation de la nature, in: ders.: Œuvres complètes, Bd. IX (Idées III), 1-111. Sekundärliteratur Baron, Konstanze: „Erkenntnis und Interesse. Zur Funktion der Selbstreflexivität in Diderots Novellistik“, in: Steffen Buch/ Álvaro Ceballos/ Christian Gerth (Ed.): Konstanze Baron 52 Selbstreflexivität. Beiträge zum 23. Forum Junge Romanistik, Bonn, Romanistischer Verlag, 2008, 15-33. Birnbacher, Dieter: Analytische Einführung in die Ethik, Berlin/ New York, de Gruyter, 2003. Blüher, Karl Alfred: Die französische Novelle, Tübingen, Francke/ UTB, 1985. Crocker, Lester G.: „Le Neveu de Rameau, une expérience morale“, in: Cahiers de l’Association Internationale des Études Françaises, 13, 1961, 133-155. Crocker, Lester G.: „Jacques le Fataliste - An ‚expérience morale‘“, in: Diderot Studies, III, 1962, 73-99. Edmiston, William F.: „The role of the listener: Narrative technique in Diderot’s Ceci n’est pas un conte“, in: Diderot Studies, XX, 1981, 61-75. Fleming, John A.: „Ceci n’est pas un conte/ Ceci n’est pas une pipe“, in: Texte, 15-16, 1994, 43-62 Galle, Roland: „Diderot - oder die Dialogisierung der Aufklärung“, in: Jürgen von Stackelberg (Ed.): Europäische Aufklärung III (Neues Handbuch der Literaturwissenschaft 13), Wiesbaden, Akademie-Verlag, 1980, 209-247. Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt/ M., Suhrkamp, 1996 [Luchterhand, 1962]. Heinimann, Felix: Nomos und Physis. Herkunft und Bedeutung einer Antithese im griechischen Denken des 5. Jahrhunderts, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1987. Iser, Wolfgang: „Die Appellstruktur der Texte. Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa“, in: Warning: Rezeptionsästhetik, 228-252. Schneiders, Werner: Aufklärung und Vorurteilskritik. Studien zur Geschichte der Vorurteilstheorie, Stuttgart/ Bad Cannstatt, Frommann-Holzboog, 1983. Sherman, Carol: Diderot and the Art of Dialogue, Genf, Droz, 1976. Warning, Rainer: Illusion und Wirklichkeit in Tristram Shandy und Jacques le Fataliste, München, Fink, 1965. Warning, Rainer (Ed.): Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis, München, Fink, 1975. Warning, Rainer: „Opposition und Kasus. Zur Leserrolle in Diderots Jacques le Fataliste et son maître“, in: ders. (Ed.): Rezeptionsästhetik, 467-490. Henning S. Hufnagel Entsubjektivierung und Objektivierungsstrategien in der Lyrik der Parnassiens Selbstbewusst, mit herrischer Stilgeste und getragen vom stoischen Pathos einer dreifachen Verneinung, eröffnet 1852 ein nicht mehr ganz junger Lyriker das Vorwort zu seinem ersten Gedichtband: „Ce livre est un recueil d’études, un retour réfléchie à des formes négligés ou peu connues. Les émotions personnelles n’y ont laissé que peu de traces; les passions et les faits contemporains n’y apparaissent point.“ 1 Diese Gedichte sind keine Gedichte, sondern historiographische Studien; persönliche Gefühle haben darin, wenn überhaupt, einen bloß marginalen Platz, und die unmittelbare Zeit und Umwelt des Dichters sind als Thema vollends ausgeschlossen. Denn, so fährt Charles Marie René Leconte de Lisle zu Beginn seiner Poèmes antiques fort, alles Subjektive, offen bekannt Persönlich-Individuelle sei ohne Wert: Bien que l’art puisse donner, dans une certaine mesure, un caractère de généralité à tout ce qu’il touche, il y a dans l’aveu public des angoisses du cœur et de ses voluptés non moins amères, une vanité et une profanation gratuites. […] Ceci explique l’impersonnalité et la neutralité de ces études. 2 Das muss revolutionär klingen nach Lamartines Méditations poétiques, nach den Gedichten Mussets, nach Vignys und Hugos ersten Gedichtbänden. Es klingt revolutionär in romantischen Zeiten, nach, wie Joachim Küpper geschrieben hat, der „Proklamation des je unverrechenbar Subjektiven, der noch keiner Regularisierung unterworfenen ‚inneren Stimme‘, nicht nur zu einem möglichen, sondern zum einzig legitimen Gegenstand von Dichtung“. 3 Lamartine erhebt, ebenfalls in einem Vorwort, in seinem Avertissement zu Harmonies, auf das Leconte mit seiner Absage direkt zu antworten scheint, Winfried Engler zufolge die „Ichform“ zum „einzig legitimen poetischen Ausdruck“. 4 Und die Auffassung, ein Gedicht solle die 1 Leconte de Lisle: „[Préface]“, 108sq. 2 Ibid., 109. 3 Küpper: „Zum romantischen Mythos der Subjektivität“, 137. 4 Engler: „Die romantische Lyrik“, 352. Henning S. Hufnagel 54 unmittelbare Expression subjektiver Empfindung, persönlichen Leidens, sein, lassen Alfred de Musset in „La Nuit de mai“ die emblematischen Verse schreiben: „Les plus désespérés sont les chants les plus beaux / Et j’en sais d’immortels qui sont des purs sanglots […]“. 5 Um die Mitte des Jahrhunderts wird diese Beschränkung der poetischen Gegenstände auf den Gefühlsausdruck des Subjekts nicht nur Leconte, sondern auch einigen anderen Lyrikern fragwürdig. In jenem Jahr 1852 macht zusammen mit Lecontes Poèmes antiques die erste Ausgabe von Théophile Gautiers Gedichtband Émaux et Camées Epoche. Die Dichtungsart, die in diesen beiden Bänden der Romantik entgegengesetzt wird, erhält einige Jahre später ihren Namen, bekanntlich abgeleitet von der 1866 gedruckten Anthologie Le Parnasse contemporain, die progammatisch ein Text Gautiers eröffnet und deren zweiter Faszikel ganz Lecontes Gedichten gewidmet ist. 6 Die Autoren, die diese Art von Dichtung praktizieren - vor allem wären noch Théodore de Banville, José-Maria de Heredia, Catulle Mendès zu nennen -, werden entsprechend gemeinhin als „Parnassiens“ bezeichnet. Die Parnassiens, allen voran Leconte, streben eine Erneuerung der Lyrik durch deren Entsubjektivierung an - und finden sich mit dem Problem konfrontiert, wie dies zu leisten ist, ohne nachromantisch den Gegenstand von Dichtung zu verlieren. Was also kann thematisch an die Stelle des Selbstausdrucks treten? Und wie wird dem Text das Subjekt diskursiv ausgetrieben? In einem Problemaufriss will ich im Folgenden zunächst die poetologischen Prinzipien der Romantik skizzieren, von denen sich der Parnasse absetzt. Dann werde ich aufzeigen, dass das Parnasse-Paradigma von Objektivierungstendenzen bestimmt ist: 7 Objektivierung verstanden im doppelten Sinne als Verfahren sowohl der Gegenstandsorientierung wie auch der Entkoppelung von Aussage und individuellem Aussagesubjekt mit dem Ziel, intersubjektiv valide wenn nicht gar allgemeingültige Aussagen zu treffen. 8 Es soll deutlich werden, auf welche Weise Leconte und seine Mitstreiter den lyrischen Diskurs objektivieren und damit das Subjekt als Beglaubigungsinstanz für Wert und Wahrheit eines Gedichts ersetzen. Ich werde hierbei vier Strategien herausstellen: zunächst einmal den Ausschluss des Ich als Erfahrungssubjekt aus dem Text, dann die Inszenierung von 5 Musset: Poésies complètes, 308. 6 Cf. Hempfer: „Konstituenten“, 73. Cf. auch Mortelette: Histoire du Parnasse, 177. 7 Ich schließe hier an Hempfers Bestimmung von „Konstituenten Parnassischer Lyrik“ an, führe jedoch den Begriff der Objektivierung ein. Denn ich lege eine andere Fragestellung an. Hempfer zielt, v.a. anhand Gautiers „Poëme de la femme“, zuletzt auf den Wirklichkeitsbezug parnassischer Lyrik, den er durch die Mediatisierung und gleichzeitige Problematisierung der Mimesisrelation charakterisiert sieht. Mir geht es hingegen um die Strategien, mit denen die Parnassiens lyrisches Schreiben begründen, sobald der unmittelbare Selbstausdruck dafür ausfällt: Diese Strategien, so die These, operieren mit verschiedenen Objektivierungen des lyrischen Diskurses. 8 Cf. Thiel: „objektiv/ Objektivität“. Entsubjektivierung und Objektivierungsstrategien 55 Objektreferenz und Objektevidenz, drittens eine artistische Schreibweise, die die Aufmerksamkeit auf die Kunstmittel der Vertextung lenkt und so den lyrischen Text gewissermaßen selbst zum Objekt werden lässt, und schließlich die Integration von Wissensbeständen, die sich als wissenschaftlich beglaubigt ausweisen, bisweilen gar die Formulierung eigener kognitiver Ansprüche innerhalb lyrischer Texte. Zum Schluss will ich noch einige Schlaglichter auf den Umgang der Parnassiens mit dem Problem der ‚Perspektive‘ bzw. des Beobachters werfen, das sich im Spannungsfeld von Subjektivität und Objektivität notwendig stellt. Als roter Faden in diesem Parcours soll Lecontes bereits zitiertes Vorwort dienen. I Auch wenn das dichterische Subjekt der französischen Romantik den Anspruch hat, allein sein Eigenstes und Innerstes zu vertexten, ist es gleichwohl nicht radikal isoliert, nicht solipsistisch über sich selbst gebeugt. Seine Subjektivität ist vielleicht unverrechenbar, aber keinesfalls inkongruent mit anderen Subjektivitäten. In der französischen Lyrik der Romantik scheint es vor allem zwei einander ergänzende Verfahren zu geben, um solcherart intersubjektive Aussagekraft herzustellen; beide Verfahren bauen auf die Überblendung des lyrischen Ichs mit dem empirischen poète. 9 Zum einen wird das dichterische Subjekt als Seher bzw. vates zum Paradigma der Menschheit erklärt. Das, was der Dichter erfährt, ist für alle Menschen gültig; der Dichter macht es nur für andere verfügbar, indem er sich selbst ausdrückt. Die Struktur der Realität und ihre individuelle Wahrnehmung durch den Dichter sind dabei deckungsgleich. Denn die Subjektivität des poète ist in einer höheren Wahrheit, in Gott, garantiert und damit objektiviert, „auf elementarem, letztlich den Platonismus wiederholendem Niveau“, 10 wie Küpper süffisant anmerkt: Dieses Regime von (ontologischer) Objektivität basiert auf Gottesgnadentum. Aus ihm leitet sich ein Führungs- und Erziehungsanspruch des vates ab. Beispielhaft lässt sich dies an Hugos „Fonction du poète“ ablesen: Peuples! écoutez le poète! Ecoutez le rêveur sacré! Dans votre nuit, sans lui complète, Lui seul a le front éclairé. […] Dieu parle à voix basse à son âme Comme aux forêts et comme aux flots! Wird hier der privilegierte Wahrheitszugang des Dichters etabliert - er ist Teil der elementaren Natur, mit der Gott auf geheimnisvolle Weise direkt 9 Cf. Hempfer: „Konstituenten“, 79. 10 Küpper: „Zum romantischen Mythos der Subjektivität“, 138. Henning S. Hufnagel 56 kommuniziert -, wird er an anderer Stelle mal als prometheischer, mal als christlich-engelhafter Licht- und Wahrheitsbringer eingeführt: Le poète en des jours impies Vient préparer des jours meilleurs. Il est l’homme des utopies, Les pieds ici, les yeux ailleurs. C’est lui qui sur toutes les têtes, En tout temps, pareil aux prophètes, Dans sa main, où tout peut tenir, Doit, qu’on l’insulte ou qu’on le loue, Comme une torche qu’il secoue, Faire flamboyer l’avenir! […] Il rayonne! il jette sa flamme Sur l’éternelle vérité! Il la fait resplendir pour l’âme D’une merveilleuse clarté! Il inonde de sa lumière Ville et déserts, Louvre et chaumière, Et les plaines et les hauteurs; A tous d’en haut il la dévoile; Car la poésie est l’étoile Qui mène à Dieu rois et pasteurs! 11 Das zweite Verfahren stellt weniger auf eine spezielle Positionierung des Dichters ab, insistiert jedoch gleichfalls auf einer besonderen Direktheit. Ging es oben um einen unmittelbaren Zugang zur Wahrheit, wird hier nun ein unmittelbarer Zugang zum eigenen Gefühl und, damit verbunden, eine bestimmte Redeweise postuliert: die der Unverstelltheit des Ausdrucks. Das Subjekt beglaubigt durch seine Authentizität die Wahrheit des im Gedicht Dargestellten; die subjektive Wahrheit des Gefühls garantiert die ontologische Wahrheit der Darstellung. In diesem Zusammenhang lassen sich zwei Sätze Victor Hugos aus dem Vorwort zu seinen Odes et Ballades von 1826 anführen, zwei Sätze, die man sowohl in der von Hugo vorgesehenen als auch in umgekehrter Reihenfolge lesen kann: „Le poète ne doit avoir qu’un modèle, la nature; qu’un guide, la vérité. Il ne doit pas écrire avec ce qui a été écrit, mais avec son âme et avec son cœur“. 12 Nur wenn der Dichter auf sein Gefühl horcht, findet er den unverstellten Zugang zur Natur. Nur wenn er der Natur folgt, so, wie sie ist, dann ist er authentisch. Auch hier ist also der Gedanke von ontologischer Objektivität 11 Hugo: Œuvres poétiques, 1030sq. sowie 1025 und 1031. 12 Ibid., 283. Entsubjektivierung und Objektivierungsstrategien 57 als einer Korrespondenz von Innen und Außen, von subjektiver Erfahrung und äußerer Wirklichkeit wirksam. Diese beiden skizzierten Verfahren, Individuelles zu verallgemeinern, Subjektivität zu objektivieren, werden von den Parnassiens nun radikal verabschiedet. In zahlreichen ihrer Gedichte wird das lyrische Ich als Erfahrungssubjekt eskamotiert, und seine Empfindungen werden als Thema ausgeschlossen. Leconte etwa bedient sich des Musters des romantischen Bekenntnisgedichts nur, um Bekenntnisse zu verweigern, 13 so in dem, auch gattungsmäßig unromantisch, nämlich als Sonett gefassten Gedicht „Les Montreurs“: Tel qu’un morne animal, meurtri, plein de poussière, La chaîne au cou, hurlant au chaud soleil d’été, Promène qui voudra son cœur ensanglanté Sur ton pavé cynique, ô plèbe carnassière! Der confession wird in den Terzetten gleich dreifach - unter dem Schatten eines Grabes, mit der Emphase der Endgültigkeit - Absage erteilt: Dans mon orgueil muet, dans ma tombe sans gloire, Dussé-je m’engloutir pour l’éternité noire, Je ne te vendrai pas mon ivresse ou mon mal, Je ne livrerai pas ma vie à tes huées, Je ne danserai pas sur ton tréteau banal Avec tes histrions et tes prostituées. 14 Bisweilen ist in parnassischen Gedichten das Sprecher-Ich gar bloße Bedingung des Texts, insofern jede Äußerung ein Äußerungssubjekt voraussetzt. In Erscheinung tritt dieser Sprecher nicht, und das Deiktikum ‚ich‘ fehlt in diesen Texten mitunter ganz. 15 Diese Tilgung des personalen Index’ einer Äußerung ist die erste und vielleicht auffälligste Objektivierungsstrategie der Parnassiens. Zum einen suggeriert sie die Unabhängigkeit der Aussage von einem bestimmten Aussagesubjekt und damit deren Allgemeingültigkeit im Sinne einer nackten Faktizität; zum anderen entfallen mit ihr freilich - mangels Subjekt - die unmittelbaren Möglichkeiten, die Einstellung eines solchen Subjekts zum dargestellten Sachverhalt auszudrücken. 16 13 Cf. Hempfer: „Konstituenten“, 80. 14 Leconte de Lisle: Œuvres, Bd. II, 190. 15 Cf. Hempfer: „Konstituenten“, 78. 16 Damit wird die Darstellung dieses Sachverhalts natürlich noch nicht ‚objektiv‘; sie präsentiert sich aber als objektiviert, insofern die Spuren ihres Äußerungskontexts getilgt sind - Spuren, die sich textuell v.a. in den deiktischen bzw. indexikalischen Ausdrücken manifestieren: in jenem „ich-hier-jetzt“, das schon in Bühlers Sprachtheorie jede Äußerung situativ fixiert. Wenn seit Baumgarten Objektivität als Eigenschaft von Aussagen verstanden wird, die durch „ihre Unabhängigkeit von individuellen Umständen, historischen Zufälligkeiten, beteiligten Personen etc.“ (Thiel: „objektiv/ - Objektivität“, 1053) charakterisiert ist, dann lassen sich diese Aussagen (stark) als ‚deindexikalisch‘ oder (schwächer) als ‚deindexikalisiert‘ beschreiben - und eine solche Henning S. Hufnagel 58 Besonders sinnfällig wird diese Abgrenzung vom lyrischen Diskurs der Romantik, wenn man zwei motivisch vielfach analoge Gedichte Lecontes und Vignys einander gegenüberstellt, „L’Incantation du loup“ und „La Mort du loup“: In beiden ist von einer gejagten und getöteten Wolfsfamilie die Rede, und in beiden wird schließlich auf den „tödlich verletzt allein auf dem Schauplatz zurückbleibenden Wolfsvater“ fokussiert. 17 Bei Vigny ist das lyrische Ich sozusagen selbst Teil der Jagdgesellschaft und richtet seinen Blick mitfühlend auf den Wolf, aus dessen Anblick es kommentierend eine Lehre zieht: „Ah, j’ai bien compris, sauvage voyageur, / Et ton dernier regard m’est allé jusqu’au cœur! “ 18 Bei Leconte hingegen ist der Wolf allein auf der Szene; grammatikalische Spuren eines lyrischen Ichs sucht man vergebens; der Text folgt vielmehr einem beschreibenden Gestus, der sich jedes Wolf und Mensch parallelisierenden, moralisierenden Kommentars denn auch enthält. Bisweilen tilgt diese Zurückhaltung sogar die Verben, so dass die Szene in einzelne, distinkt nebeneinanderstehende Informationen zu zerfallen scheint: Les lourds rameaux neigeux du mélèze et de l’aune. Un grand silence. Un ciel étincelant d’hiver. Le Roi du Hartz, assis sur ses jarrets de fer, Regarde resplendir la lune large et jaune. 19 Aufgrund dieser Distanzattitüde negativiert die romantische Literaturkritik die parnassischen Lyriker spöttisch als „l’école des impassibles“. So schreibt der Literaturkritiker Alcide Dusolier im Figaro, kurz nach Erscheinen des Parnasse contemporain: Les impassibles (le mot le dit) excluent la passion des ouvrages d’art et de poésie. ‚Sans insensibilité, point de chef d’œuvre.‘ […] Ce qui rend particulièrement curieux le cas de messieurs les impassibles, c’est qu’ils appliquent leur théorie justement dans la poésie lyrique, tout à fait passionnée de sa nature et dont on pourrait dire qu’elle est la sensibilité mise en strophes. 20 Gerade dass diese Strophen nichts als „sensibilité“ enthalten, macht nach Leconte indessen ihre Bedeutungslosigkeit aus. Die vorgebliche Authentizität des erlebten Gefühls gebe keinen Rechtfertigungsgrund mehr ab, und Deindexikalisierung weisen zahlreiche parnassische Gedichte auf. Dies erstreckt sich auch auf den Paratext: Werden romantische Gedichte häufig durch hintangestellte Jahreszahlen zeitlich oder durch Ortsangaben gar zusätzlich lokal an eine Erlebnissituation rückgebunden, d.h. ‚indexikalisiert‘, fehlen solche Angaben in parnassischen Gedichten in aller Regel. - Zum Konzept der Indexikalität, der in der jüngeren Wissenschaftstheorie Karriere gemacht hat, cf. Kettner/ Pape (Ed.): Indexikalität, Hempfer/ Traninger: „Einführung“, 12-15, sowie Hufnagel: „The fine quality“, 271-273. 17 Lindner: „Intellektualität und Pathos“, 145. 18 Vigny: Poésies complètes, 154. 19 Leconte de Lisle: Œuvres, Bd. III, 62. 20 Alcide Dusolier: „Les impassibles“, Le Figaro, 29.4.1866, 3, zitiert nach Hofmann: Parnassische Theoriebildung, 73. Entsubjektivierung und Objektivierungsstrategien 59 schon gar nicht könne sie noch intersubjektive Relevanz begründen. In seinem Vorwort zu den Poèmes antiques rechnet Leconte mit der romantischen Ausdrucksästhetik ab. So schreibt er beispielsweise, inzwischen diene Dichtung allein dazu, „à ne plus exprimer que de mesquines impressions personnelles“ - die „langue sacrée“ der Dichtung sei „esclave des caprices et des goûts individuels“ 21 geworden. Lecontes Vorwort gehorcht einer Logik der Steigerung in einem Dreischritt, und so kehrt die angestimmte Klage über die „décadence littéraire“ 22 zunächst effektvoll als direkte Apostrophe an die bloß selbstbezogenen und selbstaussagenden Dichter wieder: O Poëtes, […] race inconsistante et fanfaronne, épris de vous-même, dont la susceptibilité toujours éveillé ne s’irrite qu’au sujet d’une étroite personnalité et jamais au profit de principes éternels; […] l’époque ne vous entend plus, parce que vous l’avez importunée de vos plaintes stériles, impuissants que vous étiez à exprimer autre chose que votre propre inanité. 23 Mit seinem dritten Schritt attackiert Leconte schließlich die Grundlage, auf der die Vertextung der „impressions personelles“ gerechtfertigt wird: Er destruiert den Authentizitätsanspruch der Romantiker. Er entlarvt das jeweilig Subjektive als nur vermeintlich irreduzibel, als Imitation und Reproduktion von Subjektivität. Die zeitgenössische, sprich romantische Dichtung wird ihm zur Karikatur eines bestimmten Individuums - Byron: „La Poésie moderne, reflet confus de la personnalité fougueuse de Byron […] se trouble et se dissipe. […] La patience publique s’est lassée de cette comédie bruyante jouée au profit d’une autolâtrie d’emprunt.“ 24 Dadurch, dass Leconte immer wieder die Beschränktheit des Dichter- Individuums auf sich selbst betont, wird deutlich: Die Vermittlung zwischen Subjekt und Absolutem, zwischen Individuum und platonistischer, höherer Wahrheit ist gestört, ja zusammengebrochen. Und dementsprechend, so Leconte, haben die Dichter ihre vates-Rolle verspielt: Ihre Dichtung „n’est plus apte à enseigner l’homme“; 25 die Dichter haben ihre Propheten- Autorität verloren. Leconte spricht ihnen das Recht auf Rolle und Rede, erneut pathetisch gesteigert, in direkter Apostrophe ab: […] ô Poëtes, que diriez-vous, qu’enseigneriez-vous? Qui vous a conféré le caractère et le langage de l’autorité? Quel dogme sanctionne votre apostolat? Allez! Vous vous épuisez dans le vide […]. Instituteurs du genre humain, voici que votre disciple en sait instinctivement plus que vous. 26 21 Leconte des Lisle: „[Préface]“, 110. 22 Ibid. 23 Ibid., 111sq. 24 Ibid., 116. 25 Ibid., 110. 26 Ibid., 111sq. Henning S. Hufnagel 60 II Doch verabschiedet Leconte keineswegs die Poesie an sich. Der zitierte Text ist schließlich das Vorwort zu einer Gedichtsammlung. Leconte hält an Dichtung fest, fordert aber ihre grundsätzliche Erneuerung. Der einzige Weg dazu, so Leconte weiter, führe über ihre Entsubjektivierung. Es bestehe die „nécessité de retremper aux sources éternellement pures l’expression usée et affaiblie des sentiments généraux“, 27 an deren Stelle in der romantischen Dichtung jene „mesquines impressions personnelles“ getreten seien. Zu dieser Entsubjektivierung müsse die Lyrik wahren Sühneanstrengungen, „épreuves expiatoires“, 28 unterworfen werden, weiteren Objektivierungsverfahren, die mit der Streichung des Ich aus dem Lexikon einhergehen und von denen gleich zu sprechen sein wird. Vorgreifend sei nur gesagt, dass dies im Falle Lecontes v.a. die Einfügung epischer Elemente bedeutet. Denn das Epos gilt ihm als Paradebeispiel von Dichtung mit überindividueller Perspektive, indem es Wissen, Traditionen und Selbstverständnis eines Volkes, einer Kultur, einer Epoche transportiert und aktualisiert. Leconte denkt hier in analogen Kategorien wie Hegel in seiner Ästhetik. 29 So restituiert Leconte in zahlreichen, in der Regel mythologischen Langgedichten epische Konventionen wie direkte Rede und Wechselrede der Figuren, die Verwendung der zweiten Person oder die Apostrophe der Gestalten. Der epische Erzähler ist dabei als bloße Sprachfunktion gestaltet und hält sich in kommentarlos-deskriptiver Distanz. 30 Nach einer Renaissance des Überindividuellen in der Poesie kann der Dichter auch wieder Anspruch auf die Propheten- und vates-Rolle erheben, die Leconte keineswegs aufzugeben gewillt ist: 27 Ibid., 117. 28 Ibid., 118. 29 Hegel definiert den Gegenstand des Epos unter Verwendung eines eigenen, auf das Überindividuell-Gemeinsame einer Gruppe bzw. eines Volkes abzielenden Objektivitätsbegriffs folgendermaßen: „Die gesamte Weltanschauung und Objektivität eines Volksgeistes, in ihrer sich objektivierenden Gestalt als wirkliches Begebnis vorübergeführt, macht […] den Inhalt und die Form des eigentlich Epischen aus.“ (Hegel: Ästhetik, 940). - Lecontes Interesse richtet sich gleichwohl nicht auf die eigene Epoche, sondern ist stattdessen als ein stark historisches, rekonstruktives zu bezeichnen. 30 Cf. Scheel: „Leconte de Lisle“, 114sq. Ähnlich entsubjektiviert positioniert sich auch Hegel zufolge der epische Erzähler, den Hegel nicht trennscharf vom epischen Dichter unterscheidet - er trete als Medium, nicht als Gestalter auf: „[Die im Epos dargestellte Welt] trägt nun nicht der Sänger in der Weise vor, daß sie sich als seine eigene Vorstellung und lebendige Leidenschaft ankündigen könnte, sondern der Absänger, der Rhapsode […]. Denn was er erzählt, soll als eine dem Inhalte wie der Darstellung nach von ihm als Subjekt entfernte und für sich abgeschlossene Wirklichkeit erscheinen […]“ (Hegel: Ästhetik, 935). Entsubjektivierung und Objektivierungsstrategien 61 Et plus tard […], quand la méditation des principes négligés et la régénération des formes auront purifié l’esprit et la lettre, dans un siècle ou deux, […] peut-être la poésie redeviendra-t-elle le verbe inspiré et immédiat de l’âme humaine. 31 Zunächst aber handeln sich die Parnassiens mit einer solchen Entsubjektivierung der Lyrik zwei grundlegende Fragen ein: Wenn sie die subjektive Wahrheit des Gefühls verabschieden, was bleibt dann nachromantisch als vertextungswürdiger Gegenstand für Lyrik? Und was garantiert die Wahrheit dieses Gegenstands? Die Parnassiens reagieren darauf mit einer Reihe von Objektivierungsstrategien. Häufig machen sie ganz wörtlich Objekte, vorgängig-gegebene Dinge zum Gegenstand ihrer Gedichte, Dinge, die sich vielfach eindeutig referentialisieren lassen und die stets eine solche Referentialisierbarkeit suggerieren, insbesondere Kunstwerke. Parnassische Gedichte charakterisiert eine Rhetorik der Materialität und ‚Greifbarkeit‘. Entsprechend eignet ihnen, wie bereits angeklungen ist, häufig ein deskriptiver Gestus. Zum einen soll die beschworene Materialität dieser Objekte den Texten evidentia verleihen; die ‚Wahrheit‘ der Texte soll sich an den Objekten gewissermaßen durch den Augenschein überprüfen lassen. Zum anderen wird diesen Gegenständen als bereits gestaltete Wirklichkeit, als Kunst, als Elemente eines Traditionszusammenhangs von vorneherein ein Wert zugesprochen, über den ihre Darstellung in einem Gedicht gerechtfertigt wird. Die Texte partizipieren zum einen also selbst am Wert dieser Gegenstände, zum anderen und vor allem aber suchen sie ihn in der Übertragung durch ihre eigenen Darstellungsmittel - Gautier etwa spricht von „transposition d’art“ 32 - zu erhöhen, also Kunst dadurch zu potenzieren, dass das bereits gestaltete Objekt erneut eine künstlerische Gestaltung erfährt. Extrapoliert man diesen Gedanken, gelangt man zu einer weiteren Objektivierungsstrategie: Die Parnassiens machen die Darstellung schließlich selbst zu einem Träger von Wert, indem sie eine Ethik der „difficulté vaincue“ praktizieren, wofür die Emaillen und Steinschneidearbeiten aus Gautiers Titel Émaux et Camées sinnbildhaft stehen. Entsprechend lautet auch die erste Strophe von Gautiers poetologisch-programmatischem Gedicht „L’Art“, das seinen Band beschließt: Oui, l’œuvre sort plus belle D’une forme au travail Rebelle, Vers, marbre, onyx, émail. 33 So verwenden die Parnassiens ‚schwierige‘, seltene und ausgefallene Formen - zum Beispiel Sonett, Ballade, Rondeau, mitunter gerade auch in der französischen Tradition keineswegs heimische wie die terza rima - und sie 31 Leconte des Lisle: „[Préface]“, 118. 32 Cf. zur „transposition d’art“ z.B. die Beiträge in Hempfer (Ed.): Jenseits der Mimesis. 33 Gautier: Émaux et Camées, 148. Henning S. Hufnagel 62 pflegen, insbesondere Banville, eine Vorliebe für technisch schwierige Reime, etwa auf Eigennamen. 34 Ferdinand Brunetière, jener Literarhistoriker des ausgehenden 19. Jahrhunderts, dessen Aussagen und Wertungen in Frankreich lange „ebensolchen kanonischen Rang beanspruchen konnten wie später die eines Benedetto Croce in Italien“, 35 hat diese Konzentration auf die elocutio prägnant als entsubjektivierende Abgrenzung vom romantischen Paradigma interpretiert: […] si la poésie lyrique se propose d’être quelque chose de plus, ou seulement d’autre que l’expression spontanée d’une émotion personnelle, c’est-à-dire si les choses y reprennent la place dont le moi superbe du poète les avait un temps dépossédées, il est inévitable qu’elle soit conduite à chercher la rénovation de son fond dans les raffinements de la forme. 36 Doch noch einmal zurück zu den Raffinements der thematischen Objekte: Greifbarkeit und Wert - sowohl traditioneller wie materieller Art - vereinen sich in der antiken griechischen Statue, die so zu einem paradigmatischen Gegenstand parnassischer Lyrik wird. Leconte etwa bedichtet die „Vénus de Milo“ als „Du bonheur impassible ô symbole adorable“. 37 Sein längeres Gedicht über den Niobé-Mythos mündet in eine lange Apostrophe der Statue, in die Niobé laut Überlieferung verwandelt wird. 38 Der Debütband Théodore de Banvilles steht unter dem Titel Les Cariatides und enthält ebenfalls ein Gedicht auf die Venusstatue ohne Arme. Und Gautiers „Poëme de la femme“ ist der Untertitel „Marbre de Paros“ beigegeben, so dass es einen kaum wundert, wenn darin ein weißes Hemd auf eine Weise „de l’épaule à la hanche“ 39 rutscht, dass noch einmal eine gewisse Venusstatue evoziert wird. Der Marmor zieht sich durch unzählige parnassische Gedichte, so dass Baudelaire schließlich aufseufzt, „Laissez donc cette vielle locution du marbre“. 40 Doch nicht nur Kunstgegenstände, nicht nur antike Statuen, Gefäße und Medaillen, mittelalterliche Kirchenfenster oder rinascimentale Prunkschwerter können solcherart Objekte der Textarbeit werden, um Beispiele aus Heredias Les Trophées anzuführen, sondern auch andere Texte. Damit meine ich nicht einfach Zitate, Intertextualitätsbeziehungen im Sinne einer Neugestaltung etwa mythologischer Sujets, die nichtsdestoweniger zahlreiche parnassische Gedichte realisieren. Insbesondere Leconte schreibt, wie bereits erwähnt, Langgedichte über mythologische Themen, wovon „Khirôn“ aus den Poèmes antiques eines der bekanntesten sein dürfte. Darin versucht 34 Cf. Hempfer: „Konstituenten“, 87. 35 Neumeister: „Zwischen Hugo und Mallarmé“, 381. 36 Brunetière: „Le Parnasse contemporain“, 212. Cf. Hempfer: „Konstituenten“, 87. 37 Leconte de Lisle: Œuvres, Bd. I, 133. 38 Cf. ibid., 139-160. 39 Gautier: Émaux et Camées, 29. 40 Zitiert nach Neumeister: „Zwischen Hugo und Mallarmé“, 381. Entsubjektivierung und Objektivierungsstrategien 63 Orpheus, den gleichnamigen Zentaur zur Teilnahme am Argonautenzug zu bewegen. 41 Doch, wie angedeutet, nicht nur als intertextuelle Verweisgrößen werden andere Texte Gegenstand parnassischer Gedichte. Vielmehr präsentieren Parnassiens Texte bisweilen in ihrer Materialität, inszenieren sie als Objekte, die realiter, da und dort, auffindbar seien, wofür sich ebenfalls bei Heredia Beispiele finden lassen: Etwa formt er ein Martial-Epigramm in ein Sonett um und setzt seine Quelle mit exakter Stellenangabe ins Epigraph darüber. 42 Diese Skrupulosität im Umgang mit historischem Material führt zur vierten Objektivierungsstrategie, die ich herausstellen möchte: Die Parnassiens greifen auf unterschiedlichste positivistische Wissensbestände zurück und integrieren sie dokumentaristisch in ihre Texte. Brunetière hat die parnassische Lyrik deshalb auch unter der Formel eines „positivisme esthétique“ 43 zu fassen versucht. Kommen wir noch einmal auf Lecontes eingangs zitiertes Vorwort zu den Poèmes antiques und seine Klage über die Dekadenz der Lyrik zurück. Denn um diese Dekadenz aufzuhalten, setzt Leconte explizit auf Wissenschaftlichkeit. Da keine metaphysische Quelle, die durch das Subjekt hindurch wirksam ist, wie noch in Hugos „Fonction du poète“, die Wahrheit von Gegenstand und Gedicht letztgarantiert, soll diese Rolle nun die Wissenschaft übernehmen. Die Garantiebzw. Validierungsinstanz wird also veräußerlicht, geradezu verdinglicht: An die Stelle des subjektiven Innenraums, an die Stelle des Genies, tritt das Dokument, dessen materielle Vorfindlichkeit suggeriert wird. Die Erneuerung von Dichtung, proklamiert Leconte, sei nur durch eine Wiedergewinnung der Tradition zu erreichen, und diese könne nur die Wissenschaft ermöglichen: „En attendant l’heure de la renaissance, il ne lui [i.e. à la poésie] reste qu’à se recueillir et à s’étudier dans son passé glorieux“. 44 Jenes historische Wissen sollen die Philologien, die Philosophie, die Religionsgeschichte bereitstellen. Leconte schreibt: „L’art et la science, longtemps séparés […] doivent donc tendre à s’unir étroitement, si ce n’est à se confondre.“ 45 Einerseits konzipiert Leconte Kunst bzw. Dichtung, noch einmal hegelianisch, als Gerinnungsform der Vorstellungen eines Volkes bzw. einer Epoche: 46 „L’un [l’art] a été la révélation primitive de l’idéal contenu dans la nature extérieure; l’autre en a été l’étude raisonnée et l’exposition 41 Cf. Leconte de Lisle: Œuvres, Bd. I, 184-222. 42 Cf. Heredia: Les Trophées, 95. 43 Brunetière: L’Évolution de la poésie lyrique, 135. 44 Leconte de Lisle: „[Préface]“, 118. 45 Ibid., 118sq. 46 Cf. die ganz ähnliche Formulierung, jedoch ohne Hegel-Bezug, bei Mortelette: Histoire du Parnasse, 133: „Lorsque les poètes de ce mouvement [le Parnasse] s’intéressent aux religions, c’est d’un point de vue sociologique, à l’exemple Leconte de Lisle qui voit en elles les formes idéales des rêves et des croyances d’un peuple“. Henning S. Hufnagel 64 lumineuse.“ 47 Andererseits scheint er seiner Konzeption eine Schillersche Volte zu geben, wenn die verlorene Ursprünglichkeit und Naivität durch Reflexion zurück gewonnen werden soll: Nous sommes une génération savante; la vie instinctive, spontanée, aveuglément féconde de la jeunesse, s’est retirée de nous; tel est le fait irréparable. La Poésie, réalisée dans l’art, n’enfantera plus d’actions héroïques. […] l’art a perdu cette spontanéité intuitive, ou plutôt il l’a épuisé; c’est à la science de lui rappeler le sens de ses traditions oubliées, qu’il fera revivre. 48 Freilich ist das eine idealistische Reminiszenz mit positivistischem Nenner; die Reflexion ist sozusagen archäologisch untermauert und wird historiographisch gestützt. Bewunderungswürdig ist ein Gedicht nicht mehr aufgrund der Authentizität der ‚inneren Stimme‘, die zum Ausdruck gelangt, sondern aufgrund der Authentizität des eingearbeiteten historischen Materials, das anhand von Dokumenten überprüft werden kann. In diese Stoßrichtung zielt Ernest Renan, wenn er schreibt: „Le savant seul a le droit d’admirer“ und „La vraie admiration est historique.“ 49 Dementsprechend übt Leconte an der ahistorischen Vorgehensweise der Romantiker Kritik, sich bei der Behandlung historischer Sujets alle Epochen anzuverwandeln anstatt sie in ihrer Distinktivität wahrzunehmen. Damit zielt er insbesondere auf Victor Hugos La Légende des siècles: [..] il fallait qu’il [Hugo] se fût assimilé tout d’abord l’histoire, la religion, la philosophie de chacune des races et des civilisations disparues; qu’il se fît tour à tour, par un miracle d’intuition, une sorte de contemporain de chaque époque et qu’il y revécût exclusivement, au lieu d’y choisir des thèmes propres au développement des idées et des aspirations du temps où il vit en réalité. Bien qu’aucun siècle n’ait été à l’égal du nôtre celui de la science universelle; bien que l’histoire, les langues, les mœurs, les théogonies des peuples anciens nous soient révélés d’année en année par tant de savants illustres, […] nos grands poètes ont rarement tenté de rendre intellectuellement la vie au passé. 50 Leconte hingegen nutzt diese Quellen intensiv, insbesondere für seine ‚epischen‘ Poeme. 51 Doch soll dieses historische Wissen nicht nur die 47 Leconte de Lisle: „[Préface]“, 118sq. 48 Ibid., 110, 119. 49 Ernest Renan: L’Avenir de la science. Pensées de 1848, Paris, Calmann Lévy, 1890, zitiert nach Mortelette: Histoire du Parnasse, 138, 131, dort ohne Seitenangabe. Renan fährt fort: „La couleur locale a un charme incontestable quand elle est vraie; elle est insipide dans le pastiche“ (ibid.). 50 Leconte de Lisle: „Discours de réception“, 208sq. Cf. auch Mortelette: Histoire du Parnasse, 137 sowie de Mulder: Leconte de Lisle, 337-339. Brunetière folgt Leconte in seiner Einschätzung der Romantiker: „L’antiquité des Odes et Ballades, par exemple, comme l’Orient des Orientales, n’étaient-ils pas encore un Orient et une antiquité de convention? “ (Brunetière: „Le Parnasse contemporain“, 210). 51 Dabei weitet er den Blick über den europäischen Kulturkreis hinaus und arbeitet etwa mit Übersetzungen des Rigveda und der Upanischaden sowie Sekundärliteratur von Orientalisten, cf. Mortelette: Histoire du Parnasse, 155. Entsubjektivierung und Objektivierungsstrategien 65 korrekte „couleur locale“ garantieren; auch die thematische Anlage seiner Gedichte zielt durchaus auf eine kognitiv-wissenschaftliche Aussage; hinter der Vergegenwärtigung der Vergangenheit steht eine analytische Absicht. Damit erhebt Leconte für seine Texte einen Anspruch auf Wissenschaftsanalogie, wie man ihn sonst aus der Narrativik des 19. Jahrhunderts kennt. Bereits bei Brunetière firmieren daher unter der Formel des „positivisme esthétique“ nicht nur die Dichtung der Parnassiens, sondern wegen seines dezidierten Anspruchs, Wirklichkeit wissenschaftsanalog zu reflektieren, auch der realistische und naturalistische Roman. 52 Brunetière hat in der Tat richtig gesehen, dass sich im 19. Jahrhundert also nicht nur die Narrativik, sondern auch die parnassische Lyrik an wissenschaftliche Diskurse anlehnt, um ihren Wahrheitsanspruch zu untermauern - nur stützt sie sich nicht, wie erstere dominant, auf den biologischen oder medizinischen Diskurs, 53 sondern vielmehr auf die humanistisch-historiographischen Diskurse und das Wissen, das in jenen produziert wird. Der Rekurs auf Wissenschaft anstelle von Subjektivität als Validierungsinstanz für Lyrik ist indessen nicht nur Abgrenzung zur Romantik. In ihm spiegelt sich zugleich der Kampf der Parnassiens um die Diskurshoheit über die Literatur. Er dient zur Verteidigung der traditionellen Gattungshierarchien. Angesichts des Aufstiegs der Narrativik wehren sich die Parnassiens gegen eine Marginalisierung der „poésie“, wie sie etwa Zola u.a. in seiner Polemik „Les Poètes contemporains“ vornimmt: Lyrik sei schlicht ein überholter, unzeitgemäß gewordener, da vorwissenschaftlicher Modus literarischen Ausdrucks. 54 Einen analytischen Anspruch erhebt Leconte z.B., wenn er zwei seiner Poèmes antiques im Vorwort folgendermaßen charakterisiert: Das Poem über Helena reflektiere den Mythos als Rechtfertigung von Beutezügen, und das Niobé-Gedicht stelle den Kampf konkurrierender Traditionen dar: Hélène est le développement dramatique et lyrique de la légende bien connue qui explique l’expédition des tribus guerrières de l’Hellade contre la ville sainte d’Ilos. Niobé symbolise une lutte fort ancienne entre les traditions doriques et une théogonie venue de Phrygie. 55 52 Cf. Brunetière: L’Évolution de la poésie lyrique, 135-140, sowie Brunetière: „Le Parnasse contemporain“, 208sq. 53 Cf. dazu z.B. Föcking: Pathologia litteralis und Bender: Kampf der Paradigmen. 54 Cf. Hofmann: Parnassische Theoriebildung, 193-230, cf. außerdem Schulz-Buschhaus: „Esquisse d’une tradition“. Auch Lecontes Bemühungen um die Restitution des Epos deuten in dieselbe Richtung: Das Feld des Erzählerischen soll dem Roman nicht kampflos überlassen werden. 55 Leconte de Lisle: „[Préface]“, 121. - Analog macht Hermann Lindner in dem bereits zitierten Gedicht „L’Incantation du loup“ einen religionsgeschichtlichen, „wissenschaftlichen Kern“ aus (Lindner: „Intellektualität und Pathos“, 152): Wenn am Ende des Gedichts der sterbende Wolf den Mond in Erinnerung an seine erlegten Artgenossen anheule - die ‚Beschwörung‘ des Mondes aus dem Titel -, schildere Leconte, so Henning S. Hufnagel 66 Denselben Anspruch findet man auch bei Heredia, etwa in dem Gedicht „Le Bain“, das zeigt, wie ein Pferd und sein Reiter beim Gang in die Fluten (in der Wahrnehmung eines Beobachters) miteinander zu verschmelzen scheinen, so dass das Gedicht eine Ätiologie des Zentauren liefert. 56 Wie solcherart ‚historisch-archäologisches‘ Wissen in ein Gedicht integriert wird, zeigt besonders eindrücklich Heredias Sonett „La Source“. Darin wird zunächst die Szenerie einer Quelle, eines von der Natur überwucherten und in seiner Funktion vergessenen antiken Weiheorts entworfen: L’autel gît sous la ronce et l’herbe enseveli; Et la source sans nom qui goutte à goutte tombe D’un son plaintif emplit la solitaire combe. […] Dann tritt ein Hirte auf. Er trinkt aus der Quelle, wobei er ein wenig Wasser verschüttet. Unbewusst vollzieht er so die Weihehandlung, deren Sinn seiner Epoche verloren gegangen ist: […] Il boit, et sur la dalle antique du chemin Verse un peu d’eau resté dans le creux de sa main. Il a fait, malgré lui, le geste héréditaire, Et ses yeux n’ont pas vu sur le cippe romain Le vase libatoire auprès de la patère. 57 Das vergessene heidnisch-antike Wissen ist jedoch aufgehoben im Gedicht; der „cippe“, d.h. die gewöhnlich mit einer Weiheinschrift versehene Stele, ist zwar vom Hirten unbeachtet geblieben, ihre Inschrift ist unlesbar geworden - und damit die Bedeutung der Quelle -, doch das Gedicht stellt ihre Lesbarkeit wieder her. Die „source sans nom“ erhält ihren Namen gewissermaßen zurück - und so steht denn auch diese Inschrift, typographisch durch die Großbuchstaben und das römische V anstelle des U als solche kenntlich gemacht, als Epigraph über dem Gedicht: „NYMPHIS AVG[USTIS]. SACRVM.“ Insofern auch die Handlung des Hirten nun ‚lesbar‘ geworden ist, nimmt in „La Source“ Dichtung eine sinnstifterische Funktion aus historischem Geist an. 58 Lindner, am „Fallbeispiel eines ‚primitiven‘ leibseelischen Protagonisten […] die Entstehung von archaischen Totenkulten und numinosen Orten und Instanzen“ (ibid.). 56 Cf. Heredia: Les Trophées, 168, cf. auch Mortelette: Histoire du Parnasse, 143. 57 Heredia: Les Trophées, 108. 58 Wie an der Analyse des Gedichts deutlich geworden sein sollte, lässt sich die Parnasse- Lyrik also nicht, wie häufig versucht, simplistisch über das L’art-pour-l’art-Prinzip bestimmen. Entsubjektivierung und Objektivierungsstrategien 67 III Wissenschaft und Dichtung lassen sich indessen noch auf eine weitere Weise zusammenführen, was nun noch kurz skizziert sein soll: Parnassische Dichtung lehnt sich in ihrem Objektivierungsbestreben auch an wissenschaftliche Diskursformen an, insofern sie sich bemüht, einen bestimmten Blickwinkel einzunehmen, einen Blickwinkel, der, mit Thomas Nagel, einen „Blick von Nirgendwo“ wirft 59 und, mit Lorraine Daston, die „Flucht aus der Perspektive“ antritt, wie es zur selben Zeit, um die Mitte des 19. Jahrhunderts, insbesondere die Naturwissenschaften unternehmen, wenn sie versuchen, „alle Spuren des Persönlichen“, die individuellen Eigenheiten und besonderen Fähigkeiten, die Subjektivität des menschlichen Beobachters und schließlich diesen Beobachter selbst zu eliminieren. 60 In eben diesem Sinne verfahren auch schon für Brunetière die entsubjektivierten Gedichte der Parnassiens wissenschaftsanalog, wie Brunetière deutlich macht, wenn er zwischen einem anthropozentrisch-kommentierenden „point de vue“ und einem ‚wissenschaftlichen‘, vom menschlichen Beobachter abstrahierenden Blickwinkel unterscheidet und letzteren in den parnassischen Texten, insbesondere denen Lecontes, verwirklicht sieht: Messieurs, si nous savons lire, elles [ces poésies] ne traduisent rien de moins en poésie que la grande révolution scientifique du siècle; - et j’entends par ce mot la substitution en tout du point de vue naturaliste au point de vue proprement et uniquement humain. 61 Der Umgang der Parnassiens mit dem Problem der Perspektive mag sich in drei letzten Beispielen schlaglichtartig erhellen lassen. Wenn man sich an Lecontes Bemühungen um das Epos erinnert, ließe sich sagen, er versuche die Perspektive seiner eigenen Epoche zu tilgen in der Rekonstruktion einer jeweiligen Vergangenheit. Ein Kristallisationspunkt dieser Bemühungen ist die Schreibung von Namen: beispielsweise schreibt Leconte den biblischen ‚Kain‘ nicht französischem Usus gemäß ‚Caïn‘, sondern „Qaïn“ 62 , um ihn aus dem - der Gestalt in Jahrhunderten zugewachsenen - jüdisch-christlichtheologischen Traditionszusammenhang herauszulösen. Zuletzt realisiert er Elemente einer positivistisch-dokumentaristischen Objektivität durch das Ausstellen epischer Konventionalitäten. Gautier macht in dem Gedicht „Étude de mains I, Impéria“ die subjektive Perspektive als solche kenntlich und weist alle Eigenschaften, die beim Anblick eines Gipsabgusses einer Hand assoziiert und der Person, zu der diese Hand gehört, zugeschrieben werden, schließlich als subjektive Projektionen aus. Zunächst wird der Blick eines Beobachters markiert: 59 Daston: „Objektivität und die Flucht aus der Perspektive“, 129. 60 Ibid., 131. 61 Brunetière: L’Évolution de la poésie lyrique, 169. 62 Cf. Leconte de Lisle: Œuvres, Bd. II, 1-18. Henning S. Hufnagel 68 Chez un sculpteur, moulée en plâtre, J’ai vu l’autre jour une main D’Aspasie ou de Cléopâtre, Pur fragment d’un chef-d’œuvre humain. Dann wird die Hand in ihrer anatomischen Beschaffenheit beschrieben, um anschließend in Form miteinander verknüpfter Fragen Verhaltensmöglichkeiten anzureißen und Zuschreibungen vorzunehmen: Hat diese Hand in den Locken Don Juans gespielt, einem Sultan den Bart gezwirbelt? Sicher hat sie oft den Löwenrücken einer Chimäre gestreichelt! Dans l’éclat de sa pâleur mate Elle étalait sur le velours Son élégance délicate Et ses doigts fins aux anneaux lourds. Une cambrure florentine, Avec un bel air de fierté, Faisait, en ligne serpentine, Onduler son pouce écarté. A-t-elle joué dans les boucles Des cheveux lustrés de don Juan, Ou sur son caftan d’escarboucles Peigné la barbe du sultan, Et tenu, courtisane ou reine, Entre ses doigts si bien sculptés, Le sceptre de la souveraine Ou le sceptre des voluptés? Elle a dû, nerveuse et mignonne, Souvent s’appuyer sur le col Et sur la croupe de lionne De sa chimère prise au vol. Mit der Chimäre werden die assoziierten Möglichkeiten explizit als bloße Vorstellungen ausgewiesen. Nun wechseln sie immer häufiger und folgen immer schneller aufeinander, werden verblos aufeinander getürmt, bis die Pferde der Phantasie schließlich ungezügelt davon schießen: Impériales fantaisies, Amour des somptuosités; Voluptueuses frénésies, Rêves d’impossibilités, Romans extravagants, poèmes De haschisch et de vin du Rhin, Courses folles dans les bohèmes Sur le dos des coursiers sans frein; On voit tout cela dans les lignes De cette paume, livre blanc Entsubjektivierung und Objektivierungsstrategien 69 Où Vénus a tracé des signes Que l’amour ne lit qu’en tremblant. 63 „Cette paume, livre blanc“ - über den Gegenstand als solchen ist nur ausgesagt, dass er Projektionsfläche ist, eben ein weißes Buch, auf dessen Seiten der Leser die vom eigenen Gefühl (auto)suggerierten Texte liest. Heredia tilgt umgekehrt in seinem Sonett „Le Récif de Corail“ nicht nur alle Ich-Deixis und lässt den Standort, von dem aus das Korallenriff des Titels beschrieben wird, im unklaren, sondern verweigert auch jede Interpretation der visuellen Beschreibung. Damit praktiziert er die „mechanische Objektivität“ 64 eines Kamerablicks: Et tout ce que le sel ou l’iode colore, Mousse, algue chevelue, anémones, oursins, Couvre de pourpre sombre, en somptueux dessins, Le fond vermiculé du pâle madrépore. De sa splendide écaille éteignant les émaux, Un grand poisson navigue à travers les rameaux; Dans l’ombre transparente indolemment il rôde; Et, brusquement, d’un coup de sa nageoire en feu Il fait, par le cristal morne, immobile et bleu, Courir un frisson d’or, de nacre et d’émeraude. 65 Zwischen diesen Polen, zwischen der Kenntlichmachung der Projektion, schließlich auch der Offenlegung des Konstruktcharakters, der Künstlichkeit des Kunstwerks, und umgekehrt der Beschränkung auf einen historischwissenschaftlichen Dokumentarismus, in letzter Steigerung auf der kommentarlosen Darstellung reiner Visualität, bewegt sich die Objektivität der Parnassiens. B IBLIOGRAPHIE Primärtexte Brunetière, Ferdinand: L’Évolution de la poésie lyrique en France au dix-neuvième siècle, Paris, Hachette, 1894, Bd. II. Brunetière, Ferdinand: „Le Parnasse contemporain“, in: ders.: Histoire et Littérature, Paris, Calmann Lévy, 1896, Bd. II, 207-233. Gautier, Théophile: Émaux et Camées, ed. 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Leconte de Lisle, Charles Marie René: Œuvres de Leconte de Lisle, Bd. III, Poèmes tragiques, ed. Edgard Pich, Paris, Les Belles Lettres, 1976. Leconte de Lisle, Charles Marie René: „[Préface des Poèmes antiques]“, in: ders.: Articles - Préfaces - Discours, ed. Edgard Pich, Paris, Les Belles Lettres, 1971, 107- 121. Musset, Alfred de: Poésies complètes, ed. Maurice Allem, Paris, Gallimard, 1957. Vigny, Alfred de: Poésies complètes, ed. Auguste Dorchain, Paris, Garnier, 1943. Sekundärliteratur Bender, Niklas: Kampf der Paradigmen. Die Literatur zwischen Geschichte, Biologie und Medizin, Heidelberg, Winter, 2009. Daston, Lorraine: „Objektivität und die Flucht aus der Perspektive“, in: dies.: Wunder, Beweise und Tatsachen. Zur Geschichte der Rationalität, Frankfurt/ M., Suhrkamp, 2001, 127-155. Engler, Winfried: „Die romantische Lyrik“, in: Dieter Janik (Ed.): Die französische Lyrik, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1987, 342-380. Föcking, Marc: Pathologia litteralis. 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Diese zugegeben etwas überraschende Behauptung werde ich im Folgenden zu belegen suchen. Systematisch betrachtet gilt Lyrik als der Bereich der Literatur, der dem Sprechen in der ersten Person Singular und dem individuellen Gefühl - kurz: der unmittelbaren Subjektivität reserviert ist; in diesem Zusammenhang genügt es, auf Versuche der Gattungsdefinition, etwa auf die von Staiger 1 oder Stierle, 2 zu verweisen. Auch historisch gesehen scheint die Behauptung von lyrischer Objektivität contraintuitiv: Betrachtet man gängige Einteilungen der Lyrik ab 1800, so steht am Anfang die Romantik als Epoche des Subjektiven, Individuellen, Gefühlvollen; die Lyrik wäre die Gattung, welche den Ausdruck dieser romantischen Motive und Tonlagen erlaubt. Mit der Dominanz des Lyrisch-Subjektiven brächen ab der Mitte des 19. Jahrhunderts, so weiter die gängige Einordnung, Symbolisten und Dekadenz: Sie lenkten den Blick auf synkretistische Bilderwelten und pflegten die Kunst um ihrer selbst willen - Sprache wird sich zum ästhetischen Selbstzweck. Dieser Bruch wäre doppelt zu verstehen: Einerseits würden die romantischen Vorgänger desavouiert, andererseits wendete sich die Lyrik programmatisch ab von jeglicher Inanspruchnahme durch die Gesellschaft, bestünde diese auch nur in der Wiedergabe einer, 1 „Einheit der Musik der Worte und ihrer Bedeutung, unmittelbare Wirkung des Lyrischen ohne ausdrückliches Verstehen (1); Gefahr des Zerfließens, gebannt durch den Kehrreim und Wiederholungen anderer Art (2); Verzicht auf grammatischen, logischen und anschaulichen Zusammenhang (3); Dichtung der Einsamkeit, welche nur von einzelnen Gleichgestimmten erhört wird (4): Alles bedeutet, daß in lyrischer Dichtung keinerlei Abstand besteht.“ Staiger: Grundbegriffe der Poetik, 51; Hervorhebung N.B. 2 Stierle betont, dass diese Subjektivität problematisch sei - dies ist eine Nuance, die aber nicht die Stoßrichtung des Definitionsversuches ändert; cf. „Sprache und die Identität des Gedichts. Das Beispiel Hölderlins“, 243-253, besonders 249. Niklas Bender 74 wie auch immer verstandenen, Realität (Realismus, Naturalismus). Diese Sprachimmanenz würde schließlich in der Avantgarde durch politischsoziale Öffnung durchbrochen - ihr Erbe freilich lebte weiter, denn die Reflexion auf das Sprachmaterial ist essentiell für die Literatur des 20. Jahrhunderts. Das hier skizzierte Schema ist karikaturhaft überzeichnet. Ich denke aber, es ist das intellektuelle Substrat, das vielen literarhistorischen Darstellungen und - dies wiegt schwerer - vielen Interpretationen von Lyrik des 19. Jahrhunderts zu Grunde liegt. 3 Mein Anliegen ist wie gesagt zu zeigen, dass sich die Lyrik ab ca. 1850 in zentralen Punkten um eine eigene Ausprägung von Objektivität bemüht, die einem wissenschaftlichen Verständnis von Objektivität näher steht, als es auf den ersten Blick scheint. Damit aber wird eine Öffnung lyrischer Sprache auf körperliche und soziale Realitäten hin behauptet, die der These von ästhetizistischer Immanenz widerspricht. 4 Diese Behauptung allerdings, das sei eingeräumt, wird nicht nur zu belegen, sondern auch zu nuancieren sein. Vorweg seien die Begriffe geklärt: Wie wird Objektivität hier verstanden? Bei wissenschaftlicher Objektivität handelt es sich zunächst um ein Konzept, das sich, wie Lorraine Daston und Peter Galison betont haben, negativ bestimmen lässt, denn bei der Beobachtung, Darstellung und Analyse eines Phänomens soll jeglicher Einfluss von Seiten des Betrachters, jegliche zufällige und subjektive Verformung des Vorgangs ausgeschaltet werden: „Objektiv sein heißt, auf ein Wissen aus zu sein, das keine Spuren des Wissenden trägt - ein von Vorurteil oder Geschicklichkeit, Phantasievorstellungen oder Urteil, Wünschen oder Ambitionen unberührtes Wissen.“ 5 Zugleich kann die Begriffssemantik die real vorhandenen Qualitäten eines Objekts meinen: positive Eigenschaften in dem Sinne, dass sie unabhängig vom Betrachter existieren und jederzeit unter vergleichbaren Konditionen eruiert werden können. Dieser Sinn des Wortes zielt auf den Gegenstand selbst sowie seine Beschaffenheit an sich. Wie vermag Lyrik nun objektiv zu sein? Indem sie sprachliche Kunstwerke von subjektiven Anteilen ‚reinigt‘ und auf unabhängige, eventuell gar 3 Es seien wenige Positionen genannt - aber der Beispielhaftigkeit halber Vertreter diverser Interpretationsrichtungen: Bertrand und Durand: Les Poètes de la modernité, Kap. „Le pur et l’impur“, 15-37; Hempfer: „Vorwort“, in: ders. (Ed.): Jenseits der Mimesis, 7sq.; Stenzel und Thoma: „Einleitung“, in: dies. (Ed.): Die französische Lyrik des 19. Jahrhunderts, 9-30. 4 In dieser Hinsicht ist Paul Bénichous überzeugende Darstellung des Säkularisierungsprozesses, innerhalb dessen die Literatur den traditionellen Platz der Religion auszufüllen sucht, zu ergänzen: Säkularisierung besteht (auch in der Lyrik des 19. Jahrhunderts) in einer Hinwendung zu neuen Denkmodellen und Weltentwürfen - es ist nicht nur eine Lücke zu füllen. Cf. Selon Mallarmé, 491-493. 5 Daston/ Gallison: Objektivität, 17. Die Objektivität der modernen Lyrik 75 sie bedingende Faktoren bezieht. Dies kann auf mehrere Weisen geschehen: Zunächst können Motive und Stillage eines Textes so gewählt werden, dass sie nicht wie der Erguss einer empfindsamen Seele wirken, sondern neutral beobachtend - das scheint mir die schwächst mögliche Ausprägung zu sein. Stärker wäre der Objektivitätsanspruch, wenn Lyrik behauptete, ihr Vorgehen sei objektiver Art: Entweder würde dann dichterische Darstellung demselben Ideal verpflichtet sein, wie eine wissenschaftlich-neutrale Vorgehensweise (Fokus auf dem Verfahren); oder aber der Dichter würde versuchen, die Welt so darzustellen, wie sie unabhängig von seinen Gefühlen existiert - er würde dies zumindest in poetologischen Texten behaupten (Fokus auf dem Gegenstand). Dies kann so weit gehen, dass Lyrik als Resultat von vorgängigen Faktoren begriffen wird, Faktoren die wiederum eher Gegenstand einer wissenschaftlichen Betrachtungsweise wären. Es sei hinzugefügt, dass eine derart objektive Welt auch rein sprachlicher Natur sein könnte - die Behauptung wäre dann, dass Lyrik im Rahmen einer ganz eigenen Gesetzen unterworfenen Zeichenwelt entstünde. Mit einem derart verstandenen Objektivitätsideal kann sehr wohl eine Reflexion auf die immanente Kraft der Sprache einhergehen. Es ist aber offensichtlich, dass Sprache, gerade wenn man sie derart als objektiv gegebenen Gegenstand begreift, nicht notwendiger Weise eine autarke Kunstwelt meint: Es liegt viel näher, und gerade die moderne Dichtung wird dies betonen, sie in ihrer Materialität zu untersuchen. Diese Materialität wiederum baut auf körperlichen Konstanten auf, dem Wahrnehmungs-, dem Reaktions-, dem Sprechvermögen; auch tiefer liegende Faktoren kommen in Betracht, so das Triebleben und das Unbewusste. Alle genannten Aspekte von Objektivität werden in den folgenden Untersuchungen eine Rolle spielen; die historischen und systematischen Vorüberlegungen sollen an Textbeispielen verifiziert und verfeinert werden. Im Folgenden werde ich versuchen, an Dichtungen und poetologischen Texten von Baudelaire, Rimbaud und Mallarmé - dem Dreigestirn, das die moderne Lyrik begründet - nachzuweisen, welche Formen lyrische Objektivität annehmen kann. Die Leistungen der so verstandenen Objektivität für die Herausbildung der literarischen Moderne möchte ich herausarbeiten - und die interpretatorische Relevanz des Konzeptes belegen. Um Missverständnisse auszuschließen, sei präzisiert: Nicht behauptet werden soll, dass die lyrischen und poetologischen Texte der genannten Autoren ausschließlich einem wissenschaftlich verstandenen Objektivitätsideal verpflichtet seien; das wäre offensichtlich falsch und würde in eine Sackgasse führen. Aber das Paradigma der Objektivität ist für die Texte der genannten Autoren relevant, es erlaubt, zentrale Passagen zu erschließen, weil es zum Kern der jeweiligen Ästhetik führt und mitunter dazu dient, ältere Inhalte und Formen der Literatur neu zu beleben - darunter auch ein älteres Objektivitätsideal. Niklas Bender 76 C HARLES B AUDELAIRE Baudelaire gilt als erster moderner Dichter, sein Werk hat paradigmatische Bedeutung für die kommenden 150 Jahre, und zwar weit über Frankreich hinaus - es liegt nahe, mit ihm einzusetzen. Als Exemplum schlage ich eine Interpretation von „Une mort héroïque“ vor, einem der Petits Poèmes en prose aus Le Spleen de Paris (posthum 1869). 6 Auf den ersten Blick scheint der Text denkbar weit von jeder Objektivität entfernt: Es handelt sich um ein Gleichnis, um eine Allegorie, die sich gezielt als solche ausstellt. Berichtet wird nämlich vom namenlosen Herrscher eines kleinen, ebenso namenlosen Landes, dessen Hofnarr Fancioulle den Fehler begeht, an einer Verschwörung gegen seinen „Prince“ (319) teilzunehmen. Die Verschwörung fliegt auf, alle werden zum Tode verurteilt; es geht aber das Gerücht um, die Konspiranten seien begnadigt worden. Ein Indiz hierfür ist, dass der Prince alle an einem „grand spectacle“ teilnehmen lässt (320), den Narren als Schauspieler mit stummen Rollen. Er erfüllt seine Aufgabe mit ungeahntem Talent, das Sprecher-Ich, das nicht näher situiert wird, spricht von einer „parfaite idéalisation“ (321), einem „chef-d’œuvre d’art vivant“ (322). Der Herrscher jedoch lässt ein Signal geben, einen schrillen Pfiff - und Fancioulle, wie aus einem Traum erwacht, fällt tot um. Die anderen Verschwörer werden hingerichtet. Das Interesse dieses Prosagedichtes liegt in den Charakteren und ihrer Konstellation: Es sind also die drei Figuren zu analysieren und ihr Verhältnis zueinander zu bestimmen. Zunächst ist festzuhalten, dass der Herrscher kein gewöhnlicher Monarch ist: „[…] une excessive sensibilité le rendait, en beaucoup de cas, plus cruel et plus despote que tous ses pareils.“ (319f.) Seine Suche nach „voluptés“, seine Angst vor dem „Ennui“ (mit Majuskel), seine Vorliebe für Kunst, ja, sein „génie“ machen ihn zu einem Ästheten (320). Tatsächlich ähnelt das Porträt des Prince in vieler Hinsicht dem, das in der ersten Person sprechende Künstlerfiguren anderer Prosagedichte von sich selbst zeichnen. 7 Dazu gehört moralische Verwerflichkeit (ein „‚monstre‘“ in den Augen der Nachwelt; 320) ebenso wie die Charakterisierung seiner Seele als „curieuse et malade“ (ebd.). Insofern kann man im Herrscher ein despotisches alter ego des Künstlers sehen; der explizite Vergleich mit Nero geht in dieselbe Richtung (ebd.). Der Künstlertyrann nun lässt den verurteilten Narren im Rahmen einer „expérience physiologique“ auftreten (ebd.): Er will sehen, inwiefern die Vermögen des Künstlers in einer Grenzsituation ‚geändert oder gesteigert‘ 6 Baudelaire: Le Spleen de Paris XXVII, in: ders.: Œuvres complètes, Bd. I, 273- 374, 319-323; im Folgenden finden sich die Seitenverweise im Text. 7 Cf. etwa Le Spleen de Paris III, „Le confiteor de l’artiste“ (278sq.). Die Objektivität der modernen Lyrik 77 („les facultés […] altérées ou modifiées“; ebd.) werden; sein Interesse gilt der Erforschung der menschlichen Seele. Die theatralische Darbietung wiederum greift intradiegetisch das Ziel des Experiments auf: Es handelt sich um „drames féeriques dont l’objet est de représenter symboliquement le mystère de la vie“ (321). Um das Geheimnis des Lebens geht es auch dem beobachtenden Herrscher: Die Darstellung des Narren ist eine Allegorie in der Allegorie. Der Hofnarr täuscht den Tod solange es geht. Er scheint seine Existenz ausgeblendet zu haben und steigert Leben und Kunst gerade an der Schwelle zu ihrer Aufhebung bis zur Vollendung, bis zur völligen Identifikation mit seinen Rollen - er erreicht Objektivität: De temps en temps la personnalité disparaît. L’objectivité qui fait certains poètes panthéistiques et les grands comédiens devient telle que vous vous confondez avec les êtres extérieurs. Vous voici arbre mugissant au vent et racontant à la nature des mélodies végétales. So Baudelaire in Du vin et du hachisch (1851) zu den Effekten des Haschischgebrauchs. 8 Genau das hier beschriebene Phänomen tritt betreffs des Narren in Todesangst ein. Die Mischung aber, „un étrange amalgame, les rayons de l’Art et la gloire du Martyre“ („Une mort héroïque“, 321), ist nicht weit von der Poetologie Baudelaires entfernt. Der schauspielernde Narr an der Grenze des Todes ist ein Bild des Dichters, beide teilen ein Ideal von Objektivität im Sinne einer Selbstaufhebung in der Rolle bzw. in der Sprache. Diese Form von Objektivität ist nur entfernt mit derjenigen der Wissenschaft verwandt - es handelt sich eher um Entpersonalisierung im Zustand der Inspiration bzw. im Prozess des Schaffens, weniger um den nüchternen Abstand von sich selbst, den eine beobachtender oder analysierender Wissenschaftler einnimmt. Objektivität scheint hier demnach schwach profiliert, sie ist sowohl derjenigen der idealistischen Ästhetik als auch derjenigen der reinen Medialität (im Sinne eines rituell-religiös inspirierten, also subjektlosen Sprechens) nahe. 9 Dieses Objektivitätsverständnis wird aber nuanciert durch die besagte Parallelsetzung zwischen Rausch und Kunst: Das tertium comparationis ist der Selbstverlust in der Entäußerung, Baudelaire spricht in dem Zusammenhang explizit von „impersonnalité“ (Du vin et du hachisch, 396) als einem Synonym von „objectivisme“ bzw. „objectivité“ (Du vin et du hachisch, 393 und 396). Geschieht dies in Extremsituationen oder durch Drogeneinfluss, so liegt eben kein Zugehen auf das Wesen der Dinge vor, sondern ein „développement excessif de l’esprit poétique“ (396), das auf einer halluzinogenen Substanz aufbaut. Auch ist der Dichter nicht als das Medium einer höheren 8 Du vin et du hachisch, comparés comme moyens de multiplication de l’individualité, in: Baudelaire: Œuvres complètes, Bd. I, 377-398, 393; Hervorhebung N.B. 9 Man könnte eine Abstandnahme von sich im Sinne z.B. von Goethes Stilbegriff vermuten. Cf. Wolf: „Ästhetische Objektivität. Goethes und Flauberts Konzept des Stils“. Niklas Bender 78 Instanz zu verstehen, denn die Droge wird ja nicht im Rahmen eines (religiösen) Rituals zwecks einer als übersinnlich verstandenen Schau, sondern als gezieltes Mittel der Stimulation und der Entindividualisierung eingesetzt. Drogen sind im 19. Jahrhundert vor allem aus dem medizinischen Kontext bekannt: Sie stimulieren oder beruhigen Nerven - oder sie schaffen, wenn sie ihrem Zweck entfremdet werden, eine „sensibilité perfectionnée“, wie es in „La chambre double“ heißt. 10 Grundlage, Kontext und Erklärungsmuster dieser Form von profaner Inspiration aber sind (objektive) physiologische Wirkzusammenhänge. Der Inhalt der Erfahrung mag also in Grenzen an alte Rituale, Erfahrungsweisen und Denkfiguren anknüpfen, die Methode jedoch zielt auf wissenschaftliche Benennung, Absicherung und Erklärung. Der Befund wird auf typische Weise zugespitzt durch die besondere Sensibilität des Narren. Diese manifestiert sich in Reinform, als der Pfiff ihn weckt: Fancioulle, secoué, réveillé dans son rêve, ferma d’abord les yeux, puis les rouvrit presque aussitôt, démesurément agrandis, ouvrit ensuite la bouche comme pour respirer convulsivement, chancela un peu en avant, un peu en arrière, et puis tomba roide mort sur les planches. („Une mort héroïque“, 322) Warum erschreckt der Pfiff derart? Er gleicht einer „désapprobation inattendue“, einem Buhpfiff. Der Effekt ist verheerend: Der Narr erleidet einen Schock, der ein Nervenversagen provoziert, welches stark an eine hysterische Krise erinnert. Darauf weist die Kombination der Symptome hin, als da wären: der Schock, die geweiteten Augen, das spasmische Atmen („convulsivement“; es findet sich bereits früher das entsprechende Verb), das Hintenüberkippen, die finale Starre. Hysterische Elemente aber finden sich oft in der Charakterisierung des Dichters nach Baudelaire: So im „Épigraphe pour un livre condamné“ (einer Ergänzung der dritten Auflage der Fleurs du Mal [1868]), wo die sündentheologische Schulung als Voraussetzung für die richtige Einschätzung der dichterischen Sensibilität gewertet wird, wie die Anrede an den naiven Leser klarstellt: Si tu n’as fait ta rhétorique Chez Satan, le rusé doyen, Jette! tu n’y comprendras rien Ou tu me croirais hystérique. 11 10 Le Spleen de Paris V, 280-282, 281. 11 Baudelaire: Les Fleurs du Mal [Poèmes apportés par la troisième édition, 1868], in: ders.: Œuvres complètes, Bd. I, 135-145, 137; Hervorhebung N.B. Die Objektivität der modernen Lyrik 79 Hysterie als Fehleinschätzung des Dichters: Das meint nicht, dass Baudelaire Hysterie als Beschreibung ablehnt, sondern dass er sie in der negativen Wertung durch den „Lecteur paisible et bucolique / Sobre et naïf homme de bien“ (ebd.) ablehnt. Das belegt eine Selbstbeobachtung aus Hygiène: Au moral comme au physique, j’ai toujours eu la sensation du gouffre, non seulement du gouffre du sommeil, mais du gouffre de l’action, du rêve, du souvenir, du désir, du regret, du remords, du beau, du nombre, etc. J’ai cultivé mon hystérie avec jouissance et terreur. Maintenant j’ai toujours le vertige, et aujourd’hui 23 janvier 1862, j’ai subi un singulier avertissement, j’ai senti passer sur moi le vent de l’aile de l’imbécillité. 12 Ähnlich zwiespältig ist „Le mauvais vitrier“, ein vielzitiertes Stück der Petits Poèmes en prose, 13 in dem das launische Sprecher-Ich einen Glaser quält, ihn sinnlos sechs Stockwerke hochsteigen lässt und ihm die Ware zu Bruch wirft. Motiviert werden seine Handlungen wie folgt: „C’est une espèce d’énergie qui jaillit de l’ennui et de la rêverie […]“ (285). Diese Form von „folie“, die in einem acte gratuit avant la lettre gipfelt, liefert dem Dichter eine unerhörte „jouissance“ (287). Definiert wird sie als „cette humeur, hystérique selon les médecins, satanique selon ceux qui pensent un peu mieux que les médecins“ (286). An beiden Beispielen 14 kann man eine ambivalente Bezugnahme auf den medizinischen Diskurs, besonders die Hysterie betreffend, feststellen, die für Baudelaire typisch ist - die Vorbehalte und Relativierungen ändern jedoch nichts daran, dass der Autor Vokabular und Modell (Verhaltensmuster, Symptome) importiert, um mit ihrer Hilfe die spezifisch dichterische Sensibilität zu beschreiben. 15 Zurück zu „Une mort héroïque“: Von Interesse für die Frage nach Objektivität ist auch die (mit der Hysterie verwandte) Schock-Erfahrung. Sie 12 Baudelaire: Hygiène, in: ders.: Œuvres complètes, Bd. I, 668-675, [I], 668; erste Hervorhebung N.B. 13 Le Spleen de Paris IX, 285-287. 14 In den Fleurs du Mal ist die Hysterie weniger präsent. Eine Ausnahme ist bezeichnender Weise „Le Cygne“, ein Gedicht, das zentral für Baudelaires poetische Darstellung von Großstadterfahrung, ja für seine Repräsentation des Dichters allgemein ist: Der titelgebende Schwan badet seine Flügel „nerveusement“ im Staub (V. 21), weil Paris ihm kein Wasser bietet; es handelt sich um das Sinnbild idealer Schönheit im Schmutz der modernen Welt. Die Schlusszeilen vergleichen den Vogel nicht nur mit dem Menschen, sondern zeigen ihn auch in einer dem Himmel zugewandten Pose: „ […] / Sur son cou convulsif tendant sa tête avide, / Comme s’il adressait des reproches à Dieu! “ (V. 27sq.). Hier werden arc hystérique und metaphysischer spleen zusammengeführt. Cf. Les Fleurs du Mal LXXXIX, in: Baudelaire: Œuvres complètes, Bd. I, 1-145, 85-87, 15 Diese Zuschreibung ist insofern bemerkenswert, als Hysterie im 19. Jahrhundert als typisch weibliche Erkrankung galt. Die Evozierung in der Literatur bringt jedoch häufig eine tendenzielle Verwischung der Geschlechtergrenzen mit sich. Cf. Goldstein: „The Uses of Male Hysteria“, zum Gebrauch des Begriffes Hysterie durch Baudelaire 144sq.; sowie Westerwelle: Ästhetisches Interesse und nervöse Krankheit - Balzac, Baudelaire, Flaubert, 87-104 und 250-254. Niklas Bender 80 ist selten so radikal ausgeprägt wie in diesem Text, zieht sich aber durch das Werk Baudelaires, wie Walter Benjamin betont hat. Meist dient sie, gerade in Gedichten wie „À une passante“, 16 dazu, die Großstadterfahrung zu charakterisieren; 17 die Nähe zum Hysteriesyndrom liegt auf der Hand. Tendenziell führt die Erwähnung beider Zustände dazu, dass ästhetische Fragen und Verhaltensweisen Reiz-Reaktions-Mustern aus dem Bereich der Physiologie angenähert werden. Diese aber sind nicht nur post-subjektiv, da nicht bewusst kontrollierbar, sondern auch - objektivierbar z.B. im Rahmen von Experimenten. Auch aus diesem Grund schien mir der ‚Versuchsaufbau‘ von „Une mort héroïque“ interessant. Schließlich ist der Übergang von Schockzu Rauschzustand fließend: Es scheint sich bei beiden Situationen um eine vergleichbare Beeinflussung von Nerven und Bewusstsein zu handeln. Dies legt „Les sept vieillards“ 18 nahe. Der Sprecher wird von Anfang an als empfindlich beschrieben: „[…] Je suivais, roidissant mes nerfs comme un héros / […] / Le faubourg secoué par les lourds tombereaux.“ (V. 9-12; Hervorhebung N.B.) Die siebenfache Erscheinung eines hässlichen Alten führt dazu, dass er jegliche Selbstkontrolle verliert: Exaspéré comme un ivrogne qui voit double, Je rentrai, je fermai ma porte, épouvanté, Malade et morfondu, l’esprit fiévreux et trouble, Blessé par le mystère et par l’absurdité! Vainement ma raison voulait prendre la barre; La tempête en jouant déroutait ses efforts, Et mon âme dansait, dansait, vieille gabarre Sans mâts, sur une mer monstrueuse et sans bords! (V. 45-52; Hervorhebung N.B.) Man sieht, dass hier der Schock einen der Trunkenheit ähnlichen Zustand provoziert: Es handelt sich um den Eindruck von gestörter Wahrnehmung, ja, von völliger Entsubjektivierung, der auf „Le Bateau ivre“ von Rimbaud voraus zu weisen scheint. Schließlich fehlt in der Analyse von „Une mort héroïque“ noch die dritte Figur im Bunde, nämlich der Zeuge der Vorgänge, der nicht näher 16 In: Baudelaire: Les Fleurs du Mal XCIII, 92sq. 17 Hier findet ein abruptes Treffen („Un éclair... puis la nuit! “; V. 9) mit einer schönen Unbekannten in einem akustisch brutalen Rahmen statt, das dem Sprecher eine körperliche Reaktion aufzwingt: Er ist „crispé comme un extravagant“ (V. 6). Es handelt sich um eine extreme Reaktion auf einen extreme Form des Kontakts: Die Außenwelt wirkt brutal auf eine künstlerische Sensibilität ein, die als nervös, als exzessiv reizbar beschrieben wird - Baudelaire bezeichnet diese Reaktionen in seiner Widmung der Petits Poèmes en prose an Arsène Houssaye als „soubresauts de la conscience“ und führt sie auf „la fréquentation des villes énormes“ zurück (161). 18 Baudelaire: Les Fleurs du Mal XC, 87sq. Die Objektivität der modernen Lyrik 81 charakterisierte Sprecher in der ersten Person; er gibt die Vorgänge im Nachhinein wieder. Seine Beobachtungsgabe ist präzise, und er behauptet, gar in die Seele des Herrschers Einblick zu haben; insofern haben wir es mit einem privilegierten Zeugen zu tun. Das Sprecher-Ich ergänzt die Figurenkonstellation zu einer poetologischen Allegorie: Der Text inszeniert das Aufeinandertreffen zweier Künstlerseelen, das von einem dritten ästhetischen Geist beobachtet wird. Das Prosagedicht entwirft in einer Psychomachie das Wirken und die Selbstbeobachtung des Dichters. Der Narr ist zunächst ein Genie, das in seiner Darstellung, seinem künstlerischen Handeln aufgeht; seine Sensibilität ist der eines großen Dichters ebenbürtig, seine Lage, d.h. sein selbstvergessenes Schaffen am Rande des Todes, stellt im Extrem die Lage jedes ästhetisch Schaffenden dar. Der Herrscher hingegen ist die experimentierende und beobachtende Instanz, die unmittelbar auf den aktiven Part bezogen ist. Das Sprecher-Ich schließlich ist das beide umfassende und analysierende Bewusstsein, das im Nachhinein von Schöpfung und Beobachtung berichtet. Objektivität findet sich hier auf mehreren Ebenen. Zum einen wird dichterische Empfindung und Begabung nicht mehr als subjektives Genie verstanden, sondern tendenziell mit medizinischen Erklärungsmodellen plausibilisiert: Empfindsamkeit ist nervös-hysterische Nervenreizbarkeit, hat zumindest Schnittmengen mit dieser Form von Pathologie; Objektivität ist nicht nur ein Sein in den Dingen, sondern eine Selbstvergessenheit wie im drogenerzeugten Rausch - eine Entpersonalisierung, die als Erfahrung an sich wenig wissenschaftlich ist. Zweitens aber wird das Vorhergehende im Rahmen eines physiologischen Experiments gezielt erzeugt, konstatiert, beschrieben und somit objektiviert. Die subjektive Implikation des Experimentators - der Herrscher ist verraten worden und rächt sich am ‚Objekt Narr‘ - wird dann drittens vom Sprecher-Ich, einem Beobachter zweiter Ordnung, neutralisiert. 19 Damit aber sind sowohl Begabung wie Reaktion darauf weitestgehend objektiv festgehalten. Die Darstellung in Form eines Prosagedichtes wiederum sorgt für den ästhetischen Akzent in der Objektivierung von Inspiration, die diese Allegorie vornimmt - einen schwächeren Akzent, als eine Darstellung in Versen gesetzt hätte. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass „Une mort héroïque“ zentrale Momente der baudelaireschen Poetologie präsentiert: Es findet sich die Groteske im Motiv des Narren, die Spannung zwischen Leben und Kunst, diejenige zwischen Tod (in sehr konkreter Form) und Ideal, schließlich die Modellierungen von Nervosität, Hysterie und Schock. 19 Diese Tendenz zur Entsubjektivierung lässt sich in weiteren Gedichten der Fleurs du Mal beobachten, z.B. durch eine Wendung zum unpersönlichen Personalpronomen „on“, durch die gezielte Tilgung der Spuren der Dichterpersönlichkeit etc. Cf. die Analyse von Brombert: „Lyrisme et dépersonnalisation: l’exemple de Baudelaire (Spleen, LXXV)“, bes. 34 und 36sq. Brombert verweist auf die Aufnahme und Weiterentwicklung der „dépersonnalisation“ bei T.S. Eliot (36sq.). Niklas Bender 82 Zentrale Motive des Textes (das Experiment, der im Rausch entsubjektivierte Schauspieler, die Beobachter) sowie die Gesamtkonstellation verweisen dabei auf den grundlegenden Versuch, der Dichtung eine Form der Objektivität zukommen zu lassen, die eine Gesamttendenz von Baudelaires Dichtung ausmacht und wegweisend für die Lyrik der Moderne sein wird. Es sei nochmals betont, dass die hier ausgemachten Formen von Objektivität auch solche der Ästhetik und gar der Religion bzw. der Metaphysik mit umfasst. Aber, und das ist die Pointe der Ausführungen, das wissenschaftlich verstandene Objektivitätsideal dient der methodischen Absicherung, der Beschreibung und vor allem der Erklärung dieser Erfahrung. A RTHUR R IMBAUD Rimbaud hat ein Werk des Übergangs geschaffen. Es ist von den Parnassiens und von Baudelaire beeinflusst, wie er selbst in den „lettres du voyant“ signalisiert. Zugleich führt die allumfassende Rebellion des Dichters dazu, dass er sich von den Vorbildern entfernt und die sprachlichen Möglichkeiten seiner Zeit ins Extrem treibt - bis hin zu einem Zerstörungsimpetus, der als Sackgasse erscheinen mag. Die Ratlosigkeit der Exegeten legt beredtes Zeugnis davon ab, jeder, der sich an einem der rätselhaften Texte versucht hat, wird zugeben, dass ihnen schwer beizukommen ist; dieser Vorbehalt gelte auch für die folgenden Ausführungen. Objektivität im Sinne von Entsubjektivierung findet sich in Rimbauds Gedichten zweifellos: Sie stellen eine radikale Abwendung von der (romantischen) Subjektivität dar, Sprecher-Instanzen und Gefühlslage sind denkbar unpersönlich. Das bekannteste Beispiel ist natürlich „Le Bateau ivre“, in dem alles Menschliche gleich in der ersten Strophe verabschiedet wird: Comme je descendais des Fleuves impassibles, Je ne me sentis plus guidés par les haleurs: Des Peaux-rouges criards les avaient pris pour cibles Les ayant cloués nus aux poteaux de couleurs. 20 Zum einen erfährt man, dass der ‚Held‘ der folgenden Zeilen ein führerloses Schiff sein wird, denn die Mannschaft wurde hingerichtet; das Schiff kann fortan „insoucieux de tous les équipages“ (V. 5) Flüsse und Meere kreuzen, der Schiffbruch wird zur Befreiung. 21 Zum anderen wird die Menschenlosigkeit durch das Fortbewegungselement gespiegelt: Es handelt sich um 20 Rimbauds Texte werden zitiert nach der neuen Pléiade-Ausgabe: Œuvres complètes, 162-164, V. 1-4; Hervorhebung N.B. 21 Hierin liegt die motivische Originalität von Rimbauds Text; cf. Riedel: Strukturwandel in der Lyrik Rimbauds, 76-81, 80. Die Objektivität der modernen Lyrik 83 „Fleuves impassibles“, um leidenschaftslose Ströme - es besteht eine Kontinuität zwischen Schiff und Wasser, die durch die willenlose Drift des Bootes und durch das Lecken des Schiffskiels (V. 17-20), also die wechselseitige Durchdringung Schiff/ Wasser, betont wird. Damit aber wird eine Welt evoziert, die Erfahrungshorizonte jenseits der menschlichen Subjektivität ermöglicht. Tatsächlich kann das trunkene Schiff behaupten: „Et dès lors, je me suis baigné dans le Poème / De la Mer“ (V. 21f.). Mehr noch: „Et j’ai vu quelquefois ce que l’homme a cru voir! “ (V. 32) Hier werden Bereiche des Unsichtbaren und des Unsagbaren berührt, durch Wendungen wie „d’incroyables Florides“ (V. 45; Hervorhebung N.B.) oder „d’ineffables vents“ (V. 60; Hervorhebung N.B.) eindeutig markiert. Diese Welt des Neuen ist eine Welt der Dichtung, wie die Gleichsetzung von „Poème“ und „Mer“ (beide mit Majuskel) deutlich macht. Bereits die Hinrichtung der Bootsbesatzung hat dieses Element so diskret wie grausam eingeführt: Die Mannschaft wurde an farbige Pfähle genagelt. Damit aber wird die Korrespondenzlehre aus „Voyelles“ evoziert, die den Vokalen Farben zuordnet. 22 Rimbaud versucht dort, in Anknüpfung an Baudelaires „Correspondances“ synästhetisch Farben und Töne zu verbinden; die Durchlässigkeit getrennter Bereiche spiegelt sich stilistisch wider, so in der direkten Nebeneinanderstellung von Vokal und Farbe. Sie skizziert die Möglichkeit von Entsprechungen heterogener Bereiche und legt nahe, dass zumindest in der Kunst ein geordneter Kosmos möglich sei. 23 In „Le Bateau ivre“ wird diese Korrespondenzvorstellung subversiv aufgegriffen: Das gewählte Bild einer Hinrichtung an bunten Pfählen ist denkbar unharmonisch. Vielmehr legt es die Gewalttätigkeit bloß, die dem Procedere innewohnt: Das gewünschte „dérèglement de tous les sens“ zugunsten ungeahnter Synästhesien fordert eine Überwindung bzw. Hinrichtung, nämlich die des Subjekts, seiner gewohnten Denk- und Wahrnehmungsmuster. 24 „Mais il s’agit de faire l’âme monstrueuse […]“, 25 fordert Rimbaud und weiß: „Les souffrances sont énormes […]“. 26 Erst nach Mutation des Dichters gilt Rimbauds berühmter Satz „Je est un autre“ 27 auch im poetischen Sinne: Erst dann kann die fundamentale Einsicht darein, dass wir nur mangelhaften Zugriff auf uns selbst haben, umgemünzt werden in dichterische Schöpfung. Rimbaud beschreibt das entsubjektivierte Schöpfer-Ich mit einer Analogie aus dem Bereich der 22 „A noir, E blanc, I rouge, U vert, O bleu: voyelles, / Je dirai quelque jour vos naissances latentes“; Rimbaud: Œuvres complètes, 167, V. 1sq. 23 So die pythagoreisch inspirierte Passage im Brief an Paul Demeny, wo „Nombre“ und „Harmonie“ der griechischen Poesie gelobt werden; Brief vom 15. Mai 1871, in: Rimbaud: Œuvres complètes, 342-349, 346. 24 Ibid. Es findet sich eine im Wortlaut fast identische Passage im Brief an Georges Izambard vom 13. Mai 1871, in: Rimbaud: Œuvres complètes, 339-341, 340. 25 Brief an Paul Demeny vom 15. Mai 1871, 344. 26 Brief an Georges Izambard vom 13. Mai 1871, 340. 27 Ibid. Niklas Bender 84 Musik: Der ‚entregelte‘ Dichter ist ein Instrument, dem Töne entlockt werden: Je est un autre. Tant pis pour le bois qui se trouve violon, et Nargue aux inconscients, qui ergotent sur ce qu’ils ignorent tout à fait! 28 Car Je est un autre. Si le cuivre - s’éveille clairon, il n’y a rien de sa faute. Cela m’est évident: j’assiste à l’éclosion de ma pensée: je la regarde, je l’écoute: je lance un coup d’archet: la Symphonie fait son remuement dans les profondeurs, ou vient d’un bond sur la scène. 29 Der Mensch ist das Material, aus dem ein Instrument geformt, auf dem gespielt wird 30 - das Bild schließt unmittelbar an das des Schiffes (ebenfalls ein Nutzgegenstand), das vom Meer/ Gedicht („le Poème / De la Mer“; V. 21f.) durchdrungen wird, an. Die in beiden enthaltene radikale Entpersonalisierung meint freilich keine Inspiration im Sinne einer göttlichen Eingebung. Rimbaud ist deutlich genug: „Cet avenir sera matérialiste, vous le voyez […]“, betont er. 31 Die Quelle der dichterischen Eingebung sei eher in den „profondeurs“, in den Unterschichten des Bewusstseins zu suchen: „[Le poète] est chargé de l’humanité, des animaux même; il devra faire sentir, palper, écouter ses inventions; si ce qu’il rapporte de là-bas a forme, il donne forme: si c’est informe, il donne de l’informe. Trouver une langue; “ 32 Zunächst also ist Objektivität in diesem Sinne zu verstehen: eine Entsubjektivierung des Dichters und der lyrischen Sprecher-Instanz. Der Dichter wird in geradezu dinglicher Weise zum Medium einer ihn übersteigenden Erfahrung. 33 Hier kann anscheinend nur von einer entfernten Verwandtschaft mit einem wissenschaftlichen Objektivitätsbegriff, einer eher vagen Analogie gesprochen werden: So, wie im 19. Jahrhundert in wissenschaftlichen Experimenten bzw. in deren Darstellung die Subjektivität als auszuschaltender Störfaktor begriffen wird - der 28 Ibid.; Hervorhebung N.B. 29 Brief an Paul Demeny vom 15. Mai 1871, 343; Hervorhebungen N.B. 30 Das Bild wird erneut benutzt, um die ekstatische Erfahrung des Kindes in „Les Chercheuses de Poux“ zu beschreiben: „Voilà que monte en lui le vin de la Paresse, / Soupir d’harmonica qui pourrait délirer […].“ (V. 17sq.) Rimbaud: Œuvres complètes, 157. Die Verbindung mit dem Delirium wird wieder aufgegriffen werden. 31 Brief an Paul Demeny vom 15. Mai 1871, 346. 32 Ibid. 33 Neben dem Delirium wäre als weitere Form von Transgression des Ich der Bereich der Sexualität zu nennen: In „Les Poètes de sept ans“ werden vorpubertäre Spiele mit „la fille des ouvriers d’à côté“ (V. 37) beschrieben, eine „petite brutale“ (V. 38), die dem lyrischen Sprecher auf den Rücken springt - er wird erniedrigt, trägt aber „la saveur de sa peau“, die von Bissen in ihren Hintern stammt (V. 40-43), mit in sein Zimmer. Nicht zufällig endet das Gedicht dort mit einer Onanieszene (V. 55-64). Rimbaud: Œuvres complètes, 125sq. Die Objektivität der modernen Lyrik 85 Beobachter sollte sich im Ideal einem Photoapparat annähern -, so wird in der Dichtung die betonte Repräsentation subjektiver Erfahrungswelten als Hindernis in der Suche nach dem Unbekannten und neuen Mitteln dichterischer Darstellung begriffen. In diesem Sinne spricht Rimbaud im berühmten Brief an seinen Lehrer Georges Izambard tatsächlich von einer „poésie objective“, die er der „poésie subjective“ Izambards polemisch entgegenstellt. 34 Trotzdem muss - und zwar analog zum Falle Baudelaires - festgehalten werden, dass die hier genannte postsubjektive Erfahrungswelt nicht eine des wissenschaftlichen Denkens oder Experimentierens ist. Sie knüpft an verschiedene Erfahrungsbereiche und Begriffe an, evoziert u.a. die (oft altbekannten) Motive des Sehers, der Schau, 35 des Rausches, des Wahnsinns etc. Wie also soll das poetische „dérèglement“ mit wissenschaftlich verstandenen Kriterien von Objektivität vereinbar sein? Ein „dérèglement“ führt, wie die eben angeführten Motive belegen, zwangsläufig in un-, ja antiwissenschaftliche Erfahrungs- und Kunstwelten, und zwar eben durch das Überschreiten jeder ‚règle‘. Rimbaud wird in Une Saison en enfer seine dichterischen Versuche als „DÉLIRES II Alchimie du verbe“ kennzeichnen - „délire“ bzw. Wahnsinn aber ist das Gegenteil von Wissenschaft; auch die Alchimie ist in der Moderne keine wissenschaftliche Disziplin mehr. Eine erste Antwort auf das Dilemma bietet die genaue Formulierung: „Le Poète se fait voyant par un long, immense et raisonné 36 dérèglement de tous les sens. Toutes les formes d’amour, de souffrance, de folie; il cherche lui-même, il épuise en lui tous les poisons, pour n’en garder que les quintessences.“ 37 Die Entgrenzung der sinnlichen Erfahrung soll ‚raisonnée‘ sein: Das heißt zum einen, dass sie gewollt ist, wie Rimbaud generell einen voluntaristischen Ansatz vertritt. Zum anderen bedeutet es, dass das „dérèglement“ Methode hat. Die Selbsterforschung ist systematisch: „La première étude de l’homme qui veut être poète est sa propre connaissance, entière; il cherche son âme, il l’inspecte, il la tente, l’apprend.“ 38 Zu unterstreichen sind die Begriffe ‚inspecter‘ und ‚tenter‘: Beide meinen eine genaue Untersuchung, wobei 34 „Sans compter que votre poésie subjective sera toujours horriblement fadasse. Un jour, j’espère - bien d’autres espèrent la même chose, - je verrai dans votre principe la poésie objective, je la verrai plus sincèrement que vous ne le feriez! “ (Brief an Georges Izambard vom 13 Mai 1871, 339; Hervorhebung N.B.) Hier ist ‚objektive Poesie‘ offensichtlich als eine übergeordnete Form der Wahrnehmung verstanden, welche die rechte Perspektive auf Welt und Dichtung ermöglicht und das Poetische auch in der „poésie subjective“ erst recht herausstellt. 35 Hier ist das romantische Erbe zu nennen; cf. Bertrand und Durand: Les Poètes de la modernité, Kap. „Rimbaud, hétérodoxe et radical“, 240-258, bes. 243-250. Die Stoßrichtung der Studie entspricht nicht der hier vertretenen. 36 Hervorhebung N.B. 37 Brief an Paul Demeny vom 15. Mai 1871, 344. 38 Ibid., 344; Hervorhebung N.B. Niklas Bender 86 ‚inspecter‘ durchaus im medizinischen Sinne zu verstehen ist. 39 Die Erfahrung in ihrem Gehalt mag irrationale Züge haben, der Verlauf des Prozesses und seine Analyse hingegen sollen rationalen Kriterien gehorchen. Rimbaud wird diesem Anspruch gerecht, er spricht nicht einfach von Wahnsinn. Das macht der spätere Text aus Une Saison en enfer deutlich, denn der Dichter nennt in „DÉLIRES II Alchimie du verbe“ 40 Halluzinationen in einem durchaus wissenschaftlichen Sinne: Je m’habituai à l’hallucination simple: je voyais très franchement une mosquée à la place d’une usine, une école de tambours faite par des anges, des calèches sur les routes du ciel, un salon au fond d’un lac; les monstres, les mystères; un titre de vaudeville dressait des épouvantes devant moi. Puis j’expliquai mes sophismes magiques avec l’hallucination des mots! Je finis par trouver sacré le désordre de mon esprit. 41 Der Begriff „hallucination simple“ ist keine dichterische Schöpfung, sondern ein Klassifikationsbegriff aus Brierre de Boismont, Des Hallucinations ou histoire raisonnée des apparitions, des visions, des songes, de l’extase, du magnétisme et du somnambulisme. 42 Die Abhandlung kann Rimbaud aus mehreren Kontexten bekannt sein. 43 Boismont versteht unter einer Halluzination „la perception des signes sensibles de l’idée“, während die Illusion spiegelbildlich „l’appréciation fausse de sensations réelles“ darstellt (22). Die Halluzinationen können einfach oder kompliziert sein; im Falle der komplizierten kommen sie zu Geisteskrankheiten hinzu (26f.). Interessant ist freilich, dass es für Boismont als harmloseste Variante die „hallucinations compatibles avec la raison“ gibt - diese sind eher relevant, schließlich soll die Halluzination nach Rimbaud ‚vernünftig‘ vonstatten gehen. Es ist eine partielle Form des Wahnsinns, die das Urteilsvermögen nicht stört. Die „hallucination simple“ hingegen meint nach Boismont tatsächlichen Wahnsinn: „La raison, jusqu’alors intacte, va subir l’influence de la folie; 39 So der Herausgeber der zitierten Ausgabe: Anm. 7 zu 344, 992. Auch an anderer Stelle scheinen medizinische Quellen Motiv- und Wortwahl Rimbauds beeinflusst zu haben; cf. Lubienski-Bodenham: „Theology and Medicine in Rimbaud’s Sonnet ‚Voyelles‘“. 40 Une Saison en enfer, in: Rimbaud: Œuvres complètes, 243-286, 263-269. Cf. Anm. 29 zu „Les Chercheuses de Poux“. 41 Ibid., 265; Hervorhebungen N.B. 42 Die erste Auflage erscheint 1845, die zweite 1852, die dritte 1862. 43 Entweder über Baudelaire, der den Text nachweislich kennt und in seiner Abhandlung Du vin et du hachisch daraus schöpft; so Guyaux, Herausgeber der zitierten Pléiade- Ausgabe, in Anm. 7 zu Seite 265, 933. (Boismont verweist auf und zitiert aus Baudelaire in der dritten Auflage von 1862 [183sq.; 189, Anm. 1; 505sq.]). Oder über eine Geschichte der Magie von Éliphas Lévi. Cf. Robert: „Rimbaud lecteur de Brierre de Boismont et de Taine? “, 87/ 92 (Anm. 1). Robert verweist darauf, dass Lévi die Abhandlung von Boismont resümiert in Histoire de la magie, Paris, Germer Ballière, 1860, 136. Jedenfalls handelt es sich um eine im 19. Jahrhundert viel besprochene Studie. Die Objektivität der modernen Lyrik 87 abandonnant les rênes, qu’elle avait si longtemps tenues d’une main ferme, elle va céder la place à l’erreur, dont les volontés, les arrêts seront sans appel.“ (66) Meist sind sich die Kranken ihres Zustandes nicht bewusst (67). Die von Rimbaud gewünschten Halluzinationen hingegen setzen Bewusstsein und Verstand voraus. Die beschriebene dichterische Methode ähnelt also eher dem bei Boismont unter dem Stichwort „hallucinations compatibles avec la raison“ beschriebenen Phänomen. 44 Man mag einwenden, dass zwischen einem unwillkürlichen psychischen Phänomen und einer dichterischen Methode Welten liegen. Tatsächlich aber sieht Boismont eine willentliche Erzeugung partieller Halluzinationen bei Genies ausdrücklich vor (65) 45 - hier mag ein romantisches Erbe in der Medizin vorliegen, welche außergewöhnlichen Geistern außergewöhnliche Fakultäten zuschreibt. Es ändert nichts daran, dass der positivistisch orientierte Boismont das Argument verteidigt. Auch wenn man davon ausgeht, dass Rimbaud erst zur Zeit der Niederschrift von Une Saison en enfer die entsprechende psychiatrisch-medizinische Terminologie zur Bestimmung seiner Vorgehensweise heranzieht, so ist doch auffällig, dass Definition und Bewertung der Methode in der dem Objektivitätsideal verschriebenen Sprache der Wissenschaft stattfinden. Die früheren poetologischen Texte wiederum lassen keinen Zweifel daran, dass es für Rimbaud eine Form der wissenschaftlich inspirierten Methode ist, die zu „les monstres, les mystères“ führt. 46 Beides wäre die zweite Form 44 Warum benutzt Rimbaud den stärkeren, weniger präzisen Begriff? Zum einen kann es sein, dass die Verwendung ungenau ist. Hinzu kommt aber vor allem, dass der zitierte Text aus Une Saison en enfer retrospektiv und im Sinne einer Abrechnung mit einer einstmals fruchtbaren Vorgehensweise geschrieben ist - James spricht von einem „inverse Discours de la méthode“; Cf. Dream, Creativity, and Madness in Nineteenth- Century France, 250-261, 252. Zu dieser Inversion mag eine Abqualifizierung gehören, wie auch der Titel „DÉLIRE“ eine Abwertung nahelegt, die sich aus der Abwendung Rimbauds von der bisher praktizierten Methode erklärt. Schließlich ist unter den einfachen Halluzinationen auch die des Sehens, und in diesem Fall spricht man von „vision“ bzw. von „visionnaire“ (73); ähnlich der Artikel „Hallucination“ des Dictionaire [sic] des sciences médicales (das medizinische Nachschlagewerk des 19. Jahrhunderts), Bd. XX, 64-71, 64sq. Das aber ist ein Begriff, der die Verbindung zum voyant und zum poeta vates ermöglicht, ein Geniekonzept des Dichters, das Rimbaud in der frühen Epoche anscheinend noch verteidigt - so zumindest die nachträgliche Behauptung (dagegen spricht z.B. das erwähnte voluntaristische Element). 45 Cf. auch in der dritten Auflage 28 und 61. 46 Jedenfalls helfen Rimbaud medizinische Motive, Begriffe und Konzepte bei der Entmystifizierung. So wird der Glaube in „Les Pauvres à l’église“ durch die „effarés“ (V. 21), die „épileptiques“ (ibid.), die „aveugles“ (V. 24), besonders aber durch die „malades du foie“ (V. 35), deren „longs doigts jaunes“ (V. 36) dem gelblichen Jesus entsprechen (V. 26sq.), diskreditiert; ähnlich der Einsatz von den „céphalalgies“ in „Les Premières Communions“ (V. 135sq.). Die Dichter der industriellen Moderne werden in „Ce qu’on dit au poète à propos de fleurs“ dafür belacht, dass sie Lilien, „ces clystères d’extases! “ (V. 4), als Motiv verwenden, und als Sänger der Hysterie ridikülisiert (V. 137-140). Cf. Rimbaud: Œuvres complètes, 132sq., 139-143 und 149-154. Niklas Bender 88 der hier zu nennenden Objektivität - genauer: Es handelt sich um eine Objektivierungsstrategie, welche die erste beschriebene Form der Objektivität - das entsubjektivierte Bewusstsein, wie es in „Le Bateau ivre“ zum Ausdruck kommt, das eine dichterische Welt der Analogien betritt - in einem rationalen, objektiven Werten verschriebenen Rahmen zu fassen sucht. 47 Die Erfahrungswelt der Entpersonalisierung ist dabei älteren Motiven und Denkweisen des Ästhetischen, des Religiösen und des Metaphysischen zuzuordnen; sie werden jedoch durch die wissenschaftliche Methode und ihren Bezug auf positive Fakten neu gerahmt, ja allgemein zu neuem Leben erweckt. S TÉPHANE M ALLARMÉ Abschließend sei ein Blick auf Stéphane Mallarmés Werk gestattet. Mallarmé erscheint für die Frage nach Objektivität als Undankbarster der drei Dichter, denn er gilt als Vertreter einer sprachimmanenten Ästhetik, d.h. eines Konzepts von Dichtung, das jede außersprachliche Referenz zurückzunehmen sucht. Mit den Worten des Dichters: Mallarmé sucht „L’œuvre pure“ und damit „la disparition élocutoire du poëte, qui cède l’initiative aux mots“. 48 Statt Natur oder Ich zu schildern, kultiviert sein Werk die Schönheit des Klangs und der innersprachlichen Verweise. Dichterische Sprache genügt sich selbst, erschöpft ihre Bedeutung in ästhetizistischer Unabhängigkeit von jedem Inhalt und jeder Referenz. Nun ist die genannte These aus zwei Gründen zweifelhaft. Der erste wäre: Klangschönheit verweist über die Sprache hinaus auf die Musik, deren Gesetze nicht rein ästhetisch sind - vielmehr muss man von einer Korrelation mit den Grundgegebenheiten der Akustik ausgehen. Die Akustik wiederum umfasst sowohl die Naturgesetze des Schalls als auch die der körperlichen Reaktion darauf. Insofern liegt gerade in der ‚dunklen‘ (und daher musikalischen) Dichtung der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein Objektivierungspotential, das die Forschung längst nicht erschöpft hat. Zweitens gehorcht das Denken der sprachlichen Analogie, das die Referenz der Intention nach ersetzt, Gesetzen, die ihrerseits nicht unbedingt ästhetisch sind. Man denke an die unheimliche Atmosphäre von 47 Damit wende ich mich natürlich gegen Thesen wie jene von Riedel, die in Rimbauds Haltung zur Wissenschaft nur Ablehnung erkennen mögen (sie liest „Ce qu’on dit au poète à propos des fleurs“ als Parodie der Wissenschaftsgläubigkeit). Natürlich erliegt Rimbaud kaum der Versuchung, „Poésie scientifique“ im vulgären Sinne des Wortes zu schreiben; aber wissenschaftliche Konzepte haben durchaus ihre Funktion in seiner Poetologie. Cf. Riedel: Strukturwandel in der Lyrik Rimbauds, 64-76, besonders 73-75. 48 Crise de vers, in: Mallarmé: Œuvres complètes, Bd. II, 204-213, 211. Die Objektivität der modernen Lyrik 89 Mallarmés „Le Démon de l’analogie“: 49 Zwar wird in diesem Prosagedicht ein dichtes Netz ästhetischer Verweise gesponnen. Aber die unheimliche Pointe - der Sprecher ertappt sich dabei, die zu verdrängende „Pénultième“ ausgerechnet vor einem Musikgeschäft zu intonieren (416) - kommt durch unbewusste Mechanismen zustande, die sowohl das Subjektive als auch das Ästhetische übersteigen; sonst handelte es sich in der Tat nur um den im Gedicht abfällig erwähnten „labeur de linguistique“, nicht aber um „une magie aisément déductible et nerveuse“ (417). Erneut möchte ich exemplarisch vorgehen und ein berühmtes Mallarmé- Gedicht, nämlich „L’Après-midi d’vn favne“ untersuchen. 50 Die „Églogve“ (so Mallarmés Gattungszuweisung) ist ein quasi szenischer Text: Ein in der Hitze des Mittags von zwei Nymphen träumender Faun wird vorgeführt, der seine Gedanken und Gefühle in direkter Rede artikuliert. Oft wird das Gedicht in dem Sinne gelesen, dass nicht entscheidbar sei, ob die Nymphen dem Faun tatsächlich kurz zuvor erschienen sind; vielleicht mischten sich lediglich Tagtraum und Erinnerung. Letzten Endes, so der Forschungskonsens, würde im Gedicht die Kunst des Fauns diese Frage übersteigen: Seine Musik verleihe der aufgeladenen Stimmung Ausdruck und kanalisiere die körperliche Hitze. Kurz: Der Trieb werde ästhetisch sublimiert. 51 Tatsächlich ist „L’Après-midi d’vn favne“, wie auch „Hérodiade“, 52 zunächst und vor allem ein Gedicht über den „immortel pubis“, 53 über die Sexualität. Dies legen bereits die mythologischen Referenzen nahe: Neben dem notorisch lüsternen Faun findet sich auf weiblicher Seite der massive, sinnlich konnotierte Bezug auf Venus, die Göttin der Schönheit und der Liebe. Darüber hinaus ist das Gedicht durchzogen von einer doppeldeutigen, sexuell besetzten Sprache, eine Bedeutungsebene, welche die Mehrzahl der Interpreten aus unerfindlichen Gründen unterschlägt. Aus besagter Doppeldeutigkeit ergibt sich nicht nur ein Unterton, nein, das gesamte Gedicht kann gelesen werden als anschwellender Bocksgesang im 49 In: Mallarmé: Anecdotes ou poèmes, in: Œuvres complètes, Bd. I, 411-440, 416-418. 50 In: Poésies, in: Mallarmé: Œuvres complètes, Bd. I, 1-45, 22-25. 51 So etwa Bünde: Imagination und Realität, 51-87, passim. 52 „Hérodiade“ (Mallarmé: Poésies, 17-22) wird oft als Inszenierung der reinen Schönheit verstanden: Die „princesse“ (V. 1) betrachtet die eigene, kalte, selbstgenügsame Schönheit im Spiegel. Gegen diese Deutung muss geltend gemacht werden, dass das Salomé-Motiv auch hier mit sexuellen Konnotationen bedacht wird. Der Ausruf „je fleuris, déserte! “ (V. 86) sowie der Verweis auf die sehnsüchtig erwartete „chose inconnue“ (V. 130) verweisen auf die anstehende Initiation der Jungfrau. Die kalte Schönheit der Kindheit wird verlassen werden zugunsten körperlicher Wärme: „D’une enfance sentant parmi les rêveries / Se séparer enfin ses froides pierreries.“ (V. 133sq.) Das „inconnu“ ist also inhaltlich deutlicher bestimmt als bei Baudelaire. 53 So V. 7 von „Le Tombeau de Charles Baudelaire“, in dem bezeichnender Weise die Prostitution eine Schlüsselrolle spielt; Mallarmé: Poésies, 38sq. Weitere Gedichte, die der Sinnlichkeit mehr oder weniger explizit gewidmet sind, wären z.B. „Quelle soie aux baumes de temps...“, „M’introduire dans ton histoire...“ und „Mes bouquins refermés...“. Cf. Mallarmé: Poésies, 43, 43sq. und 44sq. Niklas Bender 90 konkreten Sinne einer Onanieszene. Inwieweit das Gedicht sodann über die erotische Evokation hinausgeht, wird zu erörtern sein; zunächst sei diese primäre Sinnebene expliziert. Im Vergleich zu Baudelaire und Rimbaud soll der Fokus auf einen neuen Zusammenhang, den von Sprache und erotischer Sinnlichkeit, gelenkt werden, und zwar der thematischen Variation halber; Mallarmés Werk könnte gleichfalls in Hinsicht auf Nervenkrankheit und Hysterie untersucht werden 54 - es ließe sich ein weiterer ‚körperlicher‘ Fokus, etwa der des Verfalls, 55 vorstellen. Der Einstieg formuliert die zwei zentralen Anliegen des Gedichts: „Ces nymphes, je les veux perpétuer.“ (V. 1) Zunächst ist der Satz nach der finiten Verbform eigentlich abgeschlossen: „je les veux“ - der Sinn ist klar. Der Infinitiv führt dann jedoch die Doppelsemantik des Gedichtes ein, denn „perpétuer“ kann man verstehen als ‚maintenir‘ oder als ‚transmettre‘. Im Fall des ersten Synonyms ginge es um die Aufrechterhaltung einer erotischen Illusion und - meine krude Lesart sei vorerst hingenommen - die des männlichen Vigor. Erst in der zweiten Lektüre - als Synonym zu ‚transmettre‘ - wird die ästhetische Form evoziert, die es erlaubt, den Faun- Mythos in die Tradition einzuschreiben, zu ‚perpetuieren‘. Wie diese beiden Sinnebenen, die beide essentiell für das Gedicht sind, sich zueinander verhalten, ist Thema der folgenden Ausführungen. Die erotische Bedeutung wird rasch expliziter, die Nymphen werden als sinnliche Objekte besungen: „Si clair, / Leur incarnat léger, qu’il voltige dans l’air / Assoupi de sommeils toffus. Aimai-je un rêve? “ (V. 1-3) Sicherlich wird hier die Spannung zwischen realer Begegnung und Phantasma eröffnet - die Erotik ist ebenso evident. Die körperlich-geistige Situation des Fauns wird klar benannt: „[…] bien seul je m’offrais / Pour triomphe la faute idéale de roses-“ (V. 6f.; Hervorhebung N.B.) Kurz darauf ist in einer Selbst- 54 Cf. Rommel: „Letternkonzert. Pathologie der Sinnesverknüpfung und Wandel des poetologischen Paradigmas bei Mallarmé“. Einschränkend sei gesagt, dass Rommel nicht eigentlich literarische, sondern v.a. programmatische Texte untersucht; auch sind die Thesen zur Weiterentwicklung Mallarmés nicht durchgängig überzeugend. 55 Es gibt zu dieser Thematik weitere Mallarmé-Gedichte, etwa „À celle qui est tranquille“ und „Les Fenêtres“; cf. Mallarmé: Poèmes retrouvés, in: ders., Œuvres complètes, Bd. I, 63-166, 105 und 117sq. Auf „Les Fenêtres“ sei kurz eingegangen. Das Gedicht scheint auf den ersten Blick programmatisch für eine ästhetizistische Dichtungstheorie: Der lyrische Sprecher vergleicht sich mit einem „moribond“ (V. 4), der in einem „triste hôpital“ (V. 1) den Tod erwartet; die anfängliche Resignation weicht, als er sich ans Fenster schleppt und den Blick genießt - hier ist natürlich das „azur“ (V. 9) des Himmels, Sinnbild des Ideals, ausschlaggebend. Stellt man jedoch die detaillierte Beschreibung körperlicher Gebrechen in Rechung, welche die conditio humana schlagend illustrieren, so kann man das ideale Streben des Sterbenden (und damit das des Dichters) durchaus als recht fadenscheinige Kompensation für die physiologische Hinfälligkeit des Menschen begreifen. . Die Objektivität der modernen Lyrik 91 ansprache von „tes sens fabuleux“ die Rede (V. 9) - ‚fabelhaft‘ ist hier nur mehrdeutig im Sinne von ‚außerordentlich‘ und ‚mythisch‘ bzw. ‚Mythen erzählend‘, alle drei Bedeutungen sind jedoch klar im Bereich imaginär stimulierter Erotik anzusiedeln. Schließlich kommt es zum berühmten Passus, den die Forschung gern verharmlost: […] et le seul vent Hors des deux tuyaux prompt à s’exhaler avant Qu’il disperse le son dans une pluie aride, C’est, à l’horizon pas remué d’une ride, Le visible et serein souffle artificiel De l’inspiration, qui regagne le ciel. (V. 17-22; Hervorhebung N.B.) Der ‚heiße Wind‘ entweicht der Panflöte, klassisches Attribut des Fauns: Eine hitzige Melodie ersetzt das brennende Begehren. Handelt es sich um eine Sublimierung der Erotik in Musik? Mir scheint die Kombination des Instruments mit Hitze und Künstlichkeit durchaus die Doppelkonnotation Kunst/ Onanie zu befördern. Denn ‚Rohre‘ können auch anders verstanden werden, und die ‚pluie‘ ist schon in Ronsards Amours XX der goldene Regen, welchen Jupiter auf Danae niedergehen lässt. Dass diese „pluie“ „aride“ sei und es sich um einen „souffle artificiel / De l’inspiration“ (V. 21f.) handelt, muss nicht verwundern, denn der beschriebene Akt ist einsam, imaginär und fruchtlos. Nun mag man diese Interpretation einer überbordenden Phantasie des Interpreten zuschreiben. Zu meinen Gunsten spricht jedoch die Deutung einer Autorität, und diese sei nun ins Spiel gebracht. Kurz später heißt es nämlich im Gedicht: […] Trop d’hymen souhaité de qui cherche le la: Alors m’éveillerais-je à la ferveur première, Droit et seul, sous un flot antique de lumière, Lys! et l'un de vous tous pour l’ingénuité. (V. 34-37; Hervorhebung N.B.) Diese Stelle könnte erneut idealisierend gelesen werden im Sinne eines „hymen“ welches dem „Lys“, d.h. liliengleicher Reinheit, gleichzusetzen wäre. Tatsächlich wäre dies verkürzend, denn „Lys“ steht als rejet und Exclamatio zu Beginn von V. 37. Niemand geringerer als Huysmans erläutert durch den Mund seines Helden Des Esseintes in À Rebours (1884) den metrischen und semantischen Reichtum des Wortes: Ce vers qui avec le monosyllabe lys! en rejet, évoquait l’image de quelque chose de rigide, d’élancé, de blanc, sur le sens duquel appuyait encore le substantif ingénuité mis à la rime, exprimait allégoriquement, en un seul terme, la passion, l’effervescence, l’état momentané du faune vierge, affolé de rut par la vue des nymphes. 56 56 Huysmans: À Rebours, in: ders.: Œuvres complètes, Bd. VII, 299. Niklas Bender 92 Die folgenden Textstellen mögen als weitere Belege dienen. Zunächst will der Faun den Nymphen weitere ‚Gürtel‘ eben durch seine verbalen, imaginären Schweifzüge rauben: Moi, de ma rumeur fier, je vais parler longtemps Des déesses; et, par d’idolâtres peintures, À leur ombre enlever encore des ceintures […]. (V. 54-56) Sodann beschreibt er den Prozess erneut genauer: „Ô nymphes, regonflons des SOUVENIRS divers.“ (V. 62) Bei allem Respekt vor einer rein idealisierenden Lektüre: Erinnerungen, die erneut anschwellen sollen, werden wohl mit Schwellkörpern in Verbindung stehen. Am eindeutigsten jedoch sind weitere Passagen zu den körperlichen Vorzügen der Nymphen: Je t’adore, courroux des vierges, ô délice Farouche du sacré fardeau nu qui se glisse Pour fuir ma lèvre en feu buvant, comme un éclair Tressaille! la frayeur secrète de la chair: Des pieds de l’inhumaine au cœur de la timide Que délaisse à la fois une innocence, humide De larmes folles ou de moins tristes vapeurs. (V. 75-81; Hervorhebung N.B.) Die heftige körperliche Reaktion auf die genannten Reize - „humide / de larmes folles ou de moins tristes vapeurs“ - bereitet die finale Erfüllung vor: À l’heure où ce bois d’or et de cendres se teinte Une fête s’exalte en la feuillée éteinte: Etna! c’est parmi toi visité de Vénus Sur ta lave posant ses talons ingénus, Quand tonne un somme triste où s’épuise la flamme. Je tiens la reine! […] (V. 99-104; Hervorhebung N.B.) Es wird ein Ausbruch des Ätna beschrieben, ein sprechendes Bild. 57 Mallarmé impliziert, dass der Gott des Vulkans, Hephaestus/ Hephaistos, eben von Venus/ Aphrodite, seiner Gattin, ‚besucht‘ wird. 58 In einer triumphierenden Exclamatio endet das Spiel der Phantasie: „Je tiens la reine! “ Das Bild wird im Moment der Ekstase dem Faun zur Wirklichkeit, bevor schlechtes Gewissen, körperliche Ermattung und verbale Leere zugleich einsetzen: 57 Es ist symptomatisch, dass Anderson, die den sexuellen Charakter des Gedichtes wohl sieht, die hier besprochen Verse nicht zitiert oder diskutiert - nur so lässt sich behaupten, der Faun „reste en deçà de l’accomplissement de l’acte sexuel“ (letzterer ebenfalls verstanden als Onanie); „Paroles creuses: du duo des vierges au solo du Faune“, 247sq. 58 In Venus nur ein Sprachideal zu sehen, wie Bünde das tut, scheint mir die Implikationen des Mythos doch sehr zu verkürzen; cf. Imagination und Realität, 81-84. Die Objektivität der modernen Lyrik 93 Ô sûr châtiment.. Non, mais l’âme De paroles vacante et ce corps alourdi Tard succombent au fier silence de midi: Sans plus il faut dormir en l’oubli du blasphème […] (V. 104-107; Hervorhebung N.B.) Die Kopräsenz der Symptome - „l’âme / De paroles vacante et ce corps alourdi“ - verweist erneut darauf, dass körperliche Erregung und musikalisch inspiriertes Wortkunstwerk hier nicht in einem Substitutionsverhältnis stehen, denn sie erschöpfen sich beide zugleich im Ausbruch des ‚Vulkans‘. Um den Sachverhalt klar zu benennen: Es geht nicht um eine Sublimation physischer Erregung im Gedicht, sondern um eine kongeniale Spannungskurve von physischer und verbaler Verdichtung bzw. Erregung. Das wiederum bedeutet, dass mein Lektürevorschlag keineswegs darauf zielt, „L’Après-midi d’vn favne“ als pornographischen Text zu präsentieren. Vielmehr möchte ich plausibel machen, dass Mallarmé Dichtung und körperliche Reizmuster eng führt und in einer synästhetischen Einheit verschmilzt. Diese ist freilich durch die körperliche Dimension wenn nicht bestimmt, so doch sicherlich entscheidend geprägt, die Dichtung schöpft ihre Kraft ja aus einer sexuellen Phantasie. Abschließend möchte ich darauf hinweisen, dass der Versuch des Fauns, die Nymphen bildlich vor sich zu stellen, eine poetologische und rezeptionsästhetische Aussage über das Gedicht und Dichtung allgemein ist. Seit Edgar Allan Poe, durch Baudelaire ins Französische übertragen, gibt es in der Lyrik die Frage nach den objektiven materiellen Bedingungen eines gelungenen Gedichtes. Nach Poe ist Poesie „The Rhythmical Creation of Beauty“. 59 Sie hat zur Bedingung, dass „the vastly important artistic element, totality, or unity, of effect“ erzielt wird. 60 Die ‚Totalität oder Einheit der Wirkung‘ aber setzt ihrerseits Kürze voraus: „all intense excitements are, through a psychal necessity, brief“. 61 Daraus folgt, „that the brevity must be in direct ratio of the intensity of the intended effect“ - daher, so Poe, habe er nur ca. 100 Zeilen für „The Raven“ gewählt. 62 Lang dürfe, lang könne ein Gedicht überhaupt nicht sein, so Poe in „The Poetic Principle“: „I hold that a long poem does not exist.“ 63 Grund ist, dass der „effect“ bei zu großer Länge verloren gehe. Freilich, Poe sieht das ‚poetische Prinzip‘ in „an elevating excitement of the Soul“ und damit in „the Human Aspiration for Supernal Beauty“. 64 Diese Idealität aber wird, wie gesagt, durch Rhythmus und 59 „The Poetic Principle“, in: Complete Works of Edgar Allan Poe, Bd. XIV-XV: Essays, Miscellanies, Literati, Autography, 266-292, 275. 60 „The Philosophy of Composition“, in: Complete Works of Edgar Allan Poe, Bd. XIV-XV, 193-208, 196. 61 Ibid.; ähnlich in „The Poetic Principle“, 266. 62 „The Philosophy of Composition“, 196f. 63 „The Poetic Principle“, 266. 64 Ibid., 290. Niklas Bender 94 Einheit der Wirkung geschaffen, welche, so Poe, zu neun Zehnteln eine Frage von „mathematics“ seien. 65 Diese Überlegungen erfahren bei Mallarmé - der die Dichtungstheorie Poes kennt, „The Raven“ bewundert und sich der Suche nach dem „effet produit“ verpflichtet sieht 66 - eine Nuancierung. Hauptthema des Gedichtes ist ja die Evokation betörender Phantasien: Der Faun, ein Repräsentant männlicher Sexualität, sucht sich durch möglichst anschauliche mentale Bilder in Ekstase zu versetzen. Der Bogen seiner Aufmerksamkeitsspanne aber, die sich nach psychophysischen Kriterien bemisst, 67 ist zugleich der Spannungsbogen des Textes. So trifft die Erregungsspanne des Fauns mit derjenigen des Gedichts zusammen. Damit aber wird nicht nur die Ästhetik auf die physiologischen Füße gestellt, sondern auch eine mentale Messung durchgeführt - nicht zufällig in etwa 100 Versen. Mathematics, wie Poe sagen würde. K ONKLUSION Die hier vorgeschlagene Untersuchung einiger Texte von Baudelaire, Rimbaud und Mallarmé ist der Anlage nach ein Überblick und muss sich daher auf pars pro toto-Analysen beschränken. Ein derartiges Manko ergibt sich notwendiger Weise, hat man den Anspruch, von einzelnen Œuvres ausgehend eine umfassende historische These zu skizzieren, ohne eine Monographie vorzulegen. Trotzdem dünkt mir das Vorgehen legitim: Die gewählten Texte scheinen relevant genug, die Befunde offensichtlich und multipel; selbstverständlich ist es dem Leser überlassen, den Ansatz 65 „The Rationale of Verse“, in: Complete Works of Edgar Allan Poe, Bd. XIV-XV, 209-265, 209. - Baudelaire sieht in diesem Dichtungskonzept zumindest einen wertvollen Denkanstoß. In einem „Préambule“ zu seiner Übersetzung von „The Raven“ und „The Philosophy of Composition“ stellt er Poes Thesen vor und kommentiert: „Les amateurs du délire seront peut-être révoltés par ces cyniques maximes; mais chacun en peut prendre ce qu’il voudra. Il sera toujours utile de leur montrer quels bénéfices l’art peut tirer de la délibération, et de faire voir aux gens du monde quel labeur exige cet objet de luxe qu’on nomme Poésie.“ Baudelaire: „La génèse d’un poème“, in: ders.: Œuvres complètes, Bd. II, 343-345, 343sq. 66 Cf. den Brief an Henri Cazalis vom 7 (? ) Januar 1864, der das Gedicht „L’Azur“ begleitet; Mallarmé: Correspondance choisie, in: ders.: Œuvres complètes, Bd. I, 633-821, 654sq., bes. 654. Die Tonalität des Gedichts, das ja die Omnipräsenz des Ideals betont, erfährt vor dem Hintergrund der im Brief beschriebenen Dichtungsverfahren eine neue Akzentuierung. 67 Insofern wäre Campions interessanter Versuch, Mallarmé nicht als dunklen Dichter zu begreifen, sondern vielmehr seine „raison poétique“ zu bestimmen, um die besagte körperliche Dimension zu ergänzen; cf. „La raison poétique dans Mallarmé“. Die Objektivität der modernen Lyrik 95 plausibel zu finden und weitere Belege auszumachen, oder aber die (zweifellos vorhandenen) Gegenbeispiele ins Feld zu führen. Abschließend seien die Befunde zusammengefasst und einige weiterführende Überlegungen formuliert. Objektivität ist in mehrerer Hinsicht relevant für das Dreigestirn, das die Grundlagen der modernen Lyrik gelegt hat. Baudelaire, Rimbaud und Mallarmé führen in ihren Texten vor, welche Formen der Sensibilität für Dichtung relevant sind und suchen, diese mittels wissenschaftlich geprägter Begriffe und Beschreibungsmodelle zu erfassen: Sei es durch die Inszenierung eines ‚physiologischen Experiments‘, das die nervös-pathologische Steigerung am existentiellen Abgrund gezielt provoziert, beobachtet sowie mittels wissenschaftlicher Begriffe untersucht und perspektiviert (Baudelaire); sei es durch die bewusst herbeigeführte und psychiatrisch gedeutete Entfesselung postsubjektiver Potentiale (Rimbaud); sei es durch die physiologisch verstandene doppelte Spannungskurve, die sich aus der präzise geplanten Engführung von sinnlicher und poetischer Erfahrung ergibt (Mallarmé). Objektivität im Sinne einer ästhetischen, religiösen oder metaphysischen Überschreitung von Subjektivität ist hier mit evoziert, sie meint die Entgrenzungserfahrung des Dichters und des Lesers. Diese Objektivität wird allerdings nicht ideal verstanden, sie tritt zurück gegenüber den prosaischen Mitteln und Zwecken der in ihr erstrebten Schöpfung - hier kommt wissenschaftliche Objektivität im Sinne der Reduktion auf positive Faktoren zum Einsatz, zu denen Reiz(mittel) und Nervenreaktion, neue Assoziationsfähigkeiten aber auch die Sprache in ihrer Materialität zählen (so besonders bei Mallarmé). Der besagte ältere Sinn von Objektivität wird also gerahmt und interpretiert durch poetologische Methoden und Reflexionen, die sich auf eine wissenschaftlich verstandene Objektivität mit dem Fokus auf dem Verfahren berufen. Die derart geschaute, geschaffene und rezipierte Welt der Dichtung (Fokus auf dem Gegenstand) ist ihrerseits sowohl der alten wie auch der neuen Objektivität verpflichtet. Die präsentierten Befunde zeigen, dass die gängige Einordnung der drei Begründer der modernen Lyrik vorschnell ist. Ihre Werke genügen sich nicht in ästhetizistischer Selbstbespiegelung, sondern sind offen: für Übernahmen aus dem Bereich der Wissenschaften, für die Integration körperlicher Erfahrungswelten. Damit aber liegen große Schnittmengen mit den Autoren des Realismus-Naturalismus vor, die zur selben Zeit wirken, deren Werke man jedoch häufig in Opposition zu denjenigen der so genannten ‚Symbolisten‘ oder ‚Ästhetizisten‘ begreift. Diese Gegenüberstellung lässt sich, so der Schluss, nicht aufrechterhalten: Im 19. Jahrhundert ist selbst die Lyrik von Modellen, Begriffen und Methoden der positiven Wissenschaften sowie der konsequenten Ausbuchstabierung einer neuen, physiologisch geprägten Erfahrung von Immanenz geprägt, auch wenn dieser Einfluss nicht so dominant sein mag wie bei manchen Romanciers. Niklas Bender 96 Die Bedeutung des wissenschaftlichen Objektivitätsparadigmas bei der Begründung der modernen Lyrik ist nicht zu unterschätzen. Es ermöglicht oder erleichtert offensichtlich den Übergang zu einer postromantischen Ästhetik, die Entsubjektivierung und Sprachkritik eben nicht mehr im idealistischen Geiste unternimmt. Die unter diesen Vorzeichen gefundenen Positionen deuten auf einige derjenigen Dichter des 20. Jahrhunderts voraus, die eine postsubjektive Sprach- und Subjektauffassung vertreten - man denke an T.S. Eliot, Gottfried Benn oder Francis Ponge. Dass diese sich dann nicht (mehr) unbedingt am wissenschaftlichen Objektivitätsparadigma orientieren, steht auf einem anderen, auf einem neuen Blatt. B IBLIOGRAPHIE Primärliteratur Baudelaire, Charles: Œuvres complètes, zwei Bände, ed. Claude Pichois, Paris, Gallimard, 1975sq. (Bibliothèque de la Pléiade). Huysmans, Joris-Karl: À Rebours, in: ders.: Œuvres complètes, Paris, ohne Verlag, 1928/ 1934 (Genf, Slatkine Reprints 1972). Mallarmé, Stéphane: Œuvres complètes, zwei Bände, ed. Bertrand Marchal, Paris, Gallimard, 1998 und 2003 (Bibliothèque de la Pléiade). 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V ERNE UND DIE W ISSENSCHAFTEN IN DER E INSCHÄTZUNG DER F ORSCHUNG Jules Vernes Voyages extraordinaires unter der Rubrik ‚Objektivität’ zu behandeln, mag auf den ersten Blick entweder als eine triviale Binsenwahrheit oder als hoffnungslos veraltet erscheinen: Als trivial, weil als allgemein bekannt gilt, dass Jules Verne sich auf den objektiven wissenschaftlichen Kenntnisstand seiner Zeit bezog und den Ehrgeiz hatte, diese Kenntnisse in seinen Romanen einem größeren Publikum bekanntzumachen. Ein solches Projekt muss sich in irgendeiner Weise dem Ideal von Objektivität und Sachlichkeit verpflichtet fühlen. Vernes Vorliebe für Wissenschaft und Technik hat das Vorurteil hervorgebracht, dass sein Werk nichts anderes sei, als die Personifikation des positivistischen und szientistischen Zeitgeists, aus dem es hervorging - ein Vorurteil, das durch die autoritativen Interpretationen Roland Barthes’ 1 und Michel Serres’ 2 verfestigt wurde. Als veraltet mag eine solche Untersuchung dagegen erscheinen, wenn man der neueren Verne- Forschung Glauben schenkt, die, im Anschluss an einen Aufsatz Michel Butors aus dem Jahr 1949 3 und aus wechselnden Perspektiven den litera- 1 Roland Barthes hat sich in dem Kapitel „Nautilus et Bateau ivre“ der Mythologies zu Verne geäußert. Hierauf gehe ich in Abschnitt 3.1 näher ein. Cf. Barthes: Mythologies, 610-612. 2 In Serres: Jouvences, 13, heißt es zusammenfassend über Verne : „Au bout du compte, les Voyages extraordinaires sont le Cours de philosophie positive à l’usage de tous.“ 3 Butor: „Le point suprême“, stellt Jules Verne in die Nähe großer modernistischer Autoren wie Lautréamont etc. Außerdem entdeckt er die Bedeutung mythischer Elemente in dessen Werk. Dieser Spur ist insbesondere Vierne: Jules Verne, gefolgt. Sie erklärt den ästhetischen Reiz der Romane Vernes aus dem Rekurs auf mythologische Steffen Schneider 100 rischen Charakter der Voyages extraordinaires nachwies, wobei sie bei Verne eine eher wissenschaftskritische Haltung zu entdecken glaubte. 4 Bei der Lektüre der entsprechenden Beiträge zur Verne-Forschung drängt sich allerdings der Verdacht auf, als werde dort die literarische Wertschätzung an ideologische Kriterien und besonders an eine Ablehnung von Technik, Wissenschaft und Fortschrittsdenken geknüpft: Um den Autor aufzuwerten, wird einseitig seine vermeintliche oder wirkliche Kritik von Kolonialismus 5 , Technik und Wissenschaft 6 hervorgehoben - durchaus ein wichtiger Aspekt -, während die positive Bedeutung der Wissenschaft und des wissenschaftlichen Fortschritts unterschätzt wird. So entsteht der Eindruck, dass hier ein Autor des 19. Jahrhunderts zu einer Projektionsfläche für Werte und Vorlieben des späten 20. und des 21. Jahrhunderts gemacht wird. Ist demgegenüber ein objektiveres Urteil über Vernes Einschätzung der Wissenschaften möglich? Schließen sich Wissenschaftskritik und Wissenschaftsvertrauen, Wissensvermittlung und literarische Qualität wirklich gegenseitig aus, wie es so häufig implizit oder explizit in der Forschung unterstellt wird? Die Frage nach der Objektivität wird im Folgenden nicht als Frage des methodischen Zugriffs auf die Romane Vernes gestellt; vielmehr ist Objektivität in ihnen selbst ein wichtiges Thema. Sie erscheint dort in drei Formen, die in den folgenden Überlegungen untersucht werden sollen: als enzyklopädische Objektivität, die es sich zur Aufgabe macht, dem Leser den wissenschaftlichen Standard der Zeit zu vermitteln; als Technik wissenschaftlicher Beobachtung, die eine ganz spezifische Disziplinierung des wissenschaftlichen Selbst einschließt; als Beschreibung, in der der Gegenstand wissenschaftlicher Forschung und romantischer Schwärmerei diesseits einseitiger ‚objektiver’ oder ‚subjektiver’ Sinnzuschreibungen in seiner Phänomenalität erscheinen soll. Hinzu tritt als viertes Element die spezifische humoristische Ironie Vernes, welche die Partialperspektiven der Romanfiguren ebenso wie die im Roman repräsentierten Wissensformen in ein dialogisches und bisweilen kritisches Verhältnis zueinander setzt. Es ist die These dieser Erzählmuster: „Le monde moderne ouvrait donc à Jules Verne le champ de ses possibilités techniques et de ses explorations du monde. Mais, et c’est là son génie, cela ne l’empêchait pas de rêver et de faire rêver, et de concevoir ses aventures et leurs héros non seulement comme des conquérants modernes, mais comme les héros des Quêtes mythiques.“ (Ibid., 13) 4 Einen Forschungsüberblick, der sich auf die Wissenschaftsproblematik bei Verne konzentriert, bietet Smyth: „Verne, SF, and Modernity“. 5 So z.B. von Martin: The Mask, demzufolge Verne insbesondere den Kolonialismus Napoléons I. kritisiere (cf. z.B. ibid., 20). 6 Cf. Marcel Raymonds Vorwort in: ders., (Ed.): Jules Verne, 7-17. Er unterstellt Verne eine Kapitalismuskritik: „Verne ridiculise férocement à la fois les prétentions titanesques et les dangers planétaires d’une science appliquée à la balistique et asservie au capitalisme - tout en faisant l’autoparodie non plus de la science elle-même, mais de sa propre entreprise de romancier scientifique et d’auteur de ‘Voyages extraordinaires’“. (Ibid., 9) Drei Formen von Objektivität 101 Interpretation, dass Vernes Romane durch die gegenseitige Spiegelung dieser Objektivitäten nach einer eigenen literarischen Form der Erkenntnis streben und keinesfalls selbstbezügliche postmoderne ludotextes 7 darstellen. Auch bedeutet die durchaus vorhandene Kritik an einer instrumentellen Wissenschaft keine grundsätzliche Ablehnung von Instrumentalität und Technik überhaupt, sondern reflektiert deren Grenzen und Nachteile und bleibt damit durchaus einer Vorstellung von (auch wissenschaftlicher) Objektivität verpflichtet. 2. D ER KÖRPERLOSE B LICK : D IE ENZYKLOPÄDISCHE O BJEKTIVITÄT Jules Verne, der Enzyklopädist: Die Vorstellung, es sei die Absicht Jules Vernes gewesen, aktuelles naturwissenschaftliches Wissen in Form eines gigantischen Romanzyklus zu präsentieren und jugendgerecht aufzubereiten, hat sich insbesondere durch das berühmte Vorwort des Verlegers Jules- Pierre Hetzel zu Vernes Roman Voyages et aventures du capitaine Hatteras von 1867 festgesetzt und ist seitdem auch von bedeutenden Autoren immer wieder zur Charakterisierung der Voyages extraordinaires herangezogen worden. Hetzel schreibt: Quand on voit le public empressé courir aux conférences qui se sont ouvertes sur mille points de la France, quand on voit qu’à côté des critiques d’art et de théâtre, il a fallu faire place dans nos journaux aux comptes rendus de l’Académie des Sciences, il faut bien se dire que l’art pour l’art ne suffit plus à notre époque, et que l’heure est venue où la science a sa place faite dans le domaine de la littérature. Le mérite de Jules Verne, c’est d’avoir le premier et en maître, mis le pied sur cette terre nouvelle. Les œuvres nouvelles de M. Verne viendront s’ajouter successivement à cette édition, que nous aurons soin de tenir toujours au courant. Les ouvrages parus et ceux à paraître embrasseront ainsi dans leur ensemble le plan que s’est proposé l’auteur, quand il a donné pour sous-titre à son œuvre celui des Voyages dans les mondes connus et inconnus. Son but est, en effet, de résumer toutes les connaissances géographiques, géologiques, physiques, astronomiques, amassées par la science moderne, et de refaire, sous la forme attrayante qui lui est propre, l’histoire de l’univers. 8 Glaubt man diesem Zitat, so wollte Jules Verne den Jugendlichen vor allem ein erdkundliches, physikalisches und astronomisches Wissen näherbringen: Die heute so genannten Lebenswissenschaften dagegen sind aus Vernes Kanon ausgeschlossen. Vernes Liebe gilt der Entdeckung des Raumes, nicht der zeitlichen Entfaltung des Lebendigen. Damit ist der Schwerpunkt der Voyages extraordinaires richtig benannt: Wie der Titel des Zyklus schon sagt, stehen die diversen Reisen im Mittelpunkt, und auch der didaktische 7 Als solche bezeichnet sie Compère: Jules Verne, passim. 8 Hetzel: „Avertissement“, 1sq. Steffen Schneider 102 Ehrgeiz Vernes ist kaum übersehbar, der, unbeschadet des von der neueren Forschung so vehement hervorgehobenen literarischen Charakters dieses großen Werks, eine gewisse Eigenständigkeit behält und zu dessen polyphonem Reiz beiträgt. Enzyklopädisch in einem mehr als metaphorischen Sinn des Wortes sind jedoch nur die Stellen des Werks, in denen der Erzähler oder die Figuren des Romans wissenschaftliche Fakten oder Theorien vortragen. An solchen Stellen gehorchen die Romane einer Form von Objektivität, die ich als ‚enzyklopädische Objektivität’ bezeichnen möchte. Darunter verstehe ich die unparteiische Haltung, die den Verfasser bzw. die Verfasserin eines enzyklopädischen Artikels auszeichnen muss und die sich von der wissenschaftlichen Objektivität im Sinne Lorraine Dastons und Peter Galisons erheblich unterscheidet: Der Enzyklopädieartikel basiert nicht auf persönlicher Beobachtung, sondern wertet Auswertungen aus, d.h. er bezieht sich auf schon gedeutete Wirklichkeit und hat dadurch einen gegenüber der primären Beobachtung durch den objektiven Wissenschaftler bereits geminderten Bezug auf die natürliche Realität. Außerdem geht es hier um Vermittlung an ein nicht- oder nicht nur wissenschaftliches Publikum, was die Wahl einer Sprache notwendig macht, die weniger exakt und eindeutig ist als die wissenschaftliche Sprache. Ein Beispiel, das diesen enzyklopädischen Ehrgeiz belegen kann, stellt Kapitel V aus De la Terre à la Lune dar; es heißt: „Le roman de la Lune“. Dieses Kapitel beginnt mit einer großartigen Ursprungsfantasie: Vorgestellt wird ein Beobachter am Anfang der Zeiten, positioniert an einem Nullpunkt, von dem aus sich ihm eine unverstellte Sicht auf die Entstehung der Planeten und Sterne darbietet. In dieser Vision inszeniert Verne das Fantasma der Naturwissenschaft, den Traum, von Anfang an dabei gewesen zu sein und alles gesehen zu haben: Un observateur doué d’une vue infiniment pénétrante, et placé à ce centre inconnu autour duquel gravite le monde, aurait vu des myriades d’atomes remplir l’espace à l’époque chaotique de l’univers. Mais peu à peu, avec les siècles, un changement se produisit; une loi d’attraction se manifesta, à laquelle obéirent les atomes errants jusqu’alors; ces atomes se combinèrent chimiquement suivant leurs affinités, se firent molécules et formèrent ces amas nébuleux dont sont parsemées les profondeurs du ciel. 9 Es handelt sich hier offensichtlich nicht um eine wissenschaftliche Aussage. Formulierungen wie „des myriades d’atomes“, „l’époque chaotique de l’univers“, „une loi d’attraction se manifesta“, „ces atomes se combinèrent chimiquement suivant leurs affinités“ befinden sich in einer reizvollen Schwebe zwischen der Sprache der Physiker - die sich selbstverständlich 9 Verne: De la Terre à la Lune, 39 sq. Im Folgenden abgekürzt TL und mit der Seitenangabe direkt hinter dem Zitat im Haupttext nachgewiesen. Autour de la Lune wird mit der Sigle AT zitiert. Drei Formen von Objektivität 103 nicht mit unklaren Mengenangaben, mysteriösen chemischen Kombinationen und mythischen Ausdrücken, wie die Anspielung auf das Chaos einer ist, zufrieden geben würden - und einer sehr zurückhaltenden Form der Fiktionalisierung, die in dem ganzen Kapitel nur ansatzweise verwirklicht wird. 10 Der Beobachter, der mit dem bloßen Auge Atome sehen kann, hat hier lediglich die Aufgabe, einer zur Entstehungszeit des Romans akzeptierten Vorstellung vom Ursprung des Weltalls eine gewisse Anschaulichkeit zu verleihen. Dieser didaktische Gestus wird durch die beigefügten Illustrationen noch unterstrichen: Die im Text beschriebenen Mondphasen werden ebenso durch eine Illustration erläutert wie die physischen Eigenheiten des Mondes, insbesondere die sogenannten „rainures“ (Einschnitte) (TL 47) in seiner Oberfläche, die in der beigefügten Mondansicht vor allem im oberen Bildbereich gut sichtbar sind. Ganz im Gestus einer ‚enzyklopädischen Objektivität’, die sich dem Ideal einer unparteiischen Wiedergabe der zu einer bestimmten Zeit als wesentlich geltenden Meinungen verpflichtet sieht, stellt Verne fest, dass über den Ursprung dieser „rainures“ noch keine Klarheit herrscht: „Quant à la question de savoir si ces rainures étaient des lits desséchés d’anciennes rivières ou non, ils [ sc. les astronomes, S.S. ] ne purent la résoudre d’une manière complète.“ (TL, 47) Es entspricht ebenfalls der Ordnung einer Enzyklopädie, den gesicherten Wissensstand durch einen Überblick über die Geschichte der Forschung zu ergänzen: So wird das Kapitel gegliedert in die fiktionalisierte Darstellung der gültigen Theorie und in die Geschichte der Mondforschung, wobei die Argumentation am Ende einen perfekten Kreis bildet, weil der geschichtliche Teil schließlich wieder in den modernen Wissensstand mündet. Enzyklopädische Objektivität spielt in Jules Vernes Romanen eine durchaus bedeutende Rolle, und er wendet verschiedene Verfahren der Popularisierung von Wissen an. Besonders häufig findet sich die Personifizierung von Wissenschaft durch Vertreter einer (oder mehrer) Disziplinen, wie in den Mondromanen, wo die Mathematik und Astronomie durch Barbicane und Nicholl vertreten sind. Die Einführung des wissenschaftlichen Laien Michel Ardan, der sich von Barbicane und Nicholl über astronomische Theorien und Fakten aufklären lässt, stellt einen relativ einfachen Kunstgriff dar, der es dem Autor ermöglicht, durch die Gespräche der Figuren eine Belebung der Enzyklopädie zu erreichen. Doch das ist nicht die einzige Funktion der Personifizierung: Sie erlaubt es auch, die enzyklopädische Objektivität zu überschreiten und an die Stelle einer schlichten 10 Man kann diesen Kapitelanfang mit dem Beginn von Italo Calvinos kosmikomischer Geschichte „Tutto in un punto“ vergleichen, um zu verdeutlichen, was ich mit ‚schwacher’ Fiktionsbildung bei Jules Verne meine: Calvinos Erzählung, die sich ganz offensichtlich auf das Kapitel „Roman de la Lune“ als Prätext bezieht, nimmt die Urknalltheorie zum Ausgangspunkt einer fantastischen Geschichte, die den wissenschaftlichen Standard von vorneherein nicht ernst nimmt. Cf. Calvino: Cosmicomiche, 45-50. Steffen Schneider 104 Vermittlung von Wissen eine Beobachtung und Bewertung wissenschaftlichen Handelns zu rücken. 3 B EOBACHTETE O BJEKTIVITÄT 3.1 Unterworfene Natur? Enzyklopädische Stellen wie die genannten haben das Vorurteil befördert, Jules Verne sei der ‚Ideologie des Positivismus’ erlegen 11 und sein Werk eher als ‚Symptom’ oder ‚Mythos’ interessant denn als Literatur. Besonders harsch fiel das Urteil Roland Barthes in den Mythologies aus, der Verne einer ideologischen Kritik unterzieht und ihn als Vertreter einer bourgeoisen Fortschrittsgläubigkeit bezeichnet. Vernes Obsession sei es gewesen, die gesamte Welt zu verdinglichen, um sie sich anzueignen: Verne appartient à la lignée progressiste de la bourgeosie: son œuvre affiche que rien ne peut échapper à l’homme, que le monde, même le plus lointain, est comme un objet dans sa main, et que la propriété n’est, somme toute, qu’un moment dialectique dans l’asservissement général de la Nature. Verne ne cherchait nullement à élargir le monde selon des voies romantiques d’évasion ou des plan mystiques d’infini: il cherchait sans cesse à le rétracter, à le peupler, à le réduire à un espace connu et clos, que l’homme pourrait ensuite habiter confortablement: le monde peut tout tirer de lui-même, il n’a besoin, pour exister, de personne d’autre que l’homme. 12 Glaubt man Roland Barthes, dann zielt Jules Verne, zielen seine Helden - zwischen beiden unterscheidet Barthes nicht - darauf, die Welt zu inventarisieren und zu möblieren. Darin verkörpern die Voyages extraordinaires den positivistischen Geist ihrer Zeit. Diese Beobachtung Barthes’ beschreibt durchaus die Intention vieler Helden Vernes zutreffend. Das gilt auch von den beiden Mondromanen: Ursprüngliches Ziel der Mondinitiative ist es, eine Kugel zum Mond zu schießen, um auf diese Weise mit dem Erdtrabanten in Verbindung zu treten. Die Motivation für diesen Versuch besteht nicht etwa in einer Faszination am Unbekannten - ganz im Gegenteil behauptet Barbicane, der Initiator des Mondunternehmens und Präsident des Gun-Club, dass es auf dem Mond nichts mehr zu entdecken gibt, sei er doch von der Erde aus schon hinreichend untersucht 11 Cf. das Zitat von Michel Serres in Anm. 2. 12 Barthes: Mythologies, 611. Barthes hält übrigens auch den enzyklopädischen Charakter des Verneschen Œuvres fest: „Verne a été un maniaque de la plénitude: il ne cessait de finir le monde et de le meubler, de le faire plein à la façon d’un œuf; son mouvement est exactement celui d’un encyclopédiste du XVIIIe siècle ou d’un peintre hollandais: le monde est fini, le monde est plein de matériaux numérables et contigus.“ Ibid. Drei Formen von Objektivität 105 worden. 13 Anlass ist vielmehr die Untätigkeit, zu der die Mitglieder des Gun-Club nach dem Ende des Amerikanischen Bürgerkrieges verdammt sind: Ballistiker und Artilleristen haben nichts mehr zu tun, nachdem die Kanonen schweigen. Hieraus, und weil kein neuer Krieg in Aussicht steht, erklärt sich die Motivation Barbicanes, nach einer großen Aufgabe für den kriegstechnischen Sachverstand zu suchen. Und so besteht auch die Intention des Unternehmens in der Einverleibung des Mondes, in seiner endgültigen Assimilation ans Vertraute, wie Barbicane in seiner Rede unmissverständlich zu erkennen gibt: Il n’est aucun de vous, braves collègues, qui n’ait vu la Lune, ou tout au moins, qui n’en ait entendu parler. Ne vous étonnez pas si je viens vous entretenir ici de l’astre des nuits. Il nous est peut-être réservé d’être les Colombs de ce monde inconnu. Comprenez-moi, secondez-moi de tout votre pouvoir, je vous mènerai à sa conquête, et son nom se joindra à ceux des trente-six États qui forment ce grand pays de l’Union! (DT, 22) Der Mond soll also zur Zielscheibe einer Kanonenkugel werden - gewissermaßen als Ersatz für die durch den Frieden verlorenen Ziele, aber auch als Steigerung der bisherigen Kriegstechnologie. Und durch den geplanten Treffer soll er sich in den siebenunddreißigsten Staat der USA verwandeln. Dieser Befund bestätigt Barthes’ Analyse zu einem gewissen Teil: Eine solche Unterjochung der Natur kann als das Interesse der Mitglieder des Gun- Club beschrieben werden, die der Präsident Barbicane und sein hitziger Anhänger J.-T. Maston, Sekretär des Klubs und mörderischer Waffenschmied, repräsentieren. 14 Doch zugleich gibt der Erzähler seine Distanz zu diesem Vorhaben zu erkennen, indem er die Kriegsbegeisterung des Gun-Club deutlich ironisiert. So spricht er anlässlich ihrer Versammlung von einer „réunion d’Anges Exterminateurs“ (DT, 9), oder er lässt die durch den Krieg verstümmelten Mitglieder als eine Ansammlung von Ersatzteilen erscheinen: 13 Untersucht wurde natürlich nur die der Erde zugewandte Seite des Mondes. Zumindest von dieser gilt laut Barbicane, dass sie bereits gründlich erforscht war: „On a beaucoup étudié la Lune, reprit Barbicane; sa masse, sa densité, son poids, son volume, sa constitution, ses mouvements, sa distance, son rôle dans le monde solaire, sont parfaitement déterminés; on a dressé des cartes sélénographiques avec une perfection qui égale, si même elle ne surpasse pas, celle des cartes terrestres; la photographie a donné de notre satellite des épreuves d’une incomparable beauté. En un mot, on sait de la Lune tout ce que les sciences mathématiques, l’astronomie, la géologie, l’optique peuvent en apprendre; mais jusqu’ici il n’a jamais été établi de communication directe avec elle.“ (DT, 22) 14 J.-T. Mastons Feuerkünste kosteten bei einem Versuch dreihundertsiebenunddreißig Menschen das Leben: „Il faut mentionner également un mortier formidable inventé par J.-T. Maston, membre distingué et secrétaire perpétuel du Gun-Club, dont le résultat fut bien autrement meurtrier, puisque, à son coup d’essai, il tua trois cent trente-sept personnes - en éclatant, il est vrai! “ (DT, 8) Steffen Schneider 106 Béquilles, jambes de bois, bras articulés, mains à crochets, mâchoires en caoutchouc, crânes en argent, nez en platine, rien ne manquait à la collection, et le susdit Pitcairn calcula également que, dans le Gun-Club, il n’y avait pas tout à fait un bras pour quatre personnes, et seulement deux jambes pour six. (DT, 9) Um ein letztes Beispiel für die Erzählerironie zu nennen, sei sein Bedauern über den Friedensschluss zitiert, mit dem er vorgibt, die Trauer des Gun- Club zu teilen: Un jour, pourtant, triste et lamentable jour, la paix fut signée par les survivants de la guerre, les détonations cessèrent peu à peu, les mortiers se turent, les obusiers muselés pour longtemps et les canons, la tête basse, rentrèrent aux arsenaux [ ... ] . (DT, 9) Die Distanz des Erzählers wird nicht zuletzt auch durch den Ausgang des Romans deutlich: Nachdem die Kanonenkugel durch eine Raumkapsel ersetzt wurde, in der drei Reisende zum Mond unterwegs sind, erreichen diese ihr Ziel nicht, sondern werden vom Erdtrabanten aus seiner Umlaufbahn geworfen und nach Hause geschickt. Es ergeht ihnen dabei wie anderen Helden Jules Vernes: Der Kapitän Hatteras erreicht im gleichnamigen Roman den Pol nur um den Preis seines Lebens, und Professor Lidenbrock und sein Neffe Axel aus Voyage au centre de la Terre gelangen ebenfalls nicht zu ihrem Ziel, weil die Erde sie ausspeit. Auch in der Île mystérieuse zerstört ein Vulkanausbruch am Ende die Insel und damit zugleich den vorbildlichen neuen Bundesstaat, den die ‚Robinsons’ geschaffen haben. In Fällen wie diesen erhalten die Objekte der wissenschaftlichen Begierde eine Handlungsfähigkeit, verfügen über Kräfte der Abwehr, mit denen sie ihr Geheimnis bewahren. Durch die Ironie des Erzählers und das Scheitern der Helden vermeidet es der Autor Verne, seine Voyages extraordinaires zu bloßen Exempeln eines bürgerlich-positivistischen Zeitgeistes werden zu lassen. Sie sind vielmehr als eine ‚Comédie scientifique’ zu lesen, in der wissenschaftliches Verhalten in der Auseinandersetzung mit einer nicht immer gefügigen Natur analysiert, sein gesellschaftlicher und ideologischer Ort sowie seine Konsequenzen aufgezeigt werden. 3.2 Mechanische Objektivität und ihre Beobachtung Jules Vernes Mondromane führen also Wissenschaftler und wissenschaftliches Handeln vor - ein Handeln, das gemäß dem in der Mitte des 19. Jahrhunderts vorherrschenden Ideal wissenschaftlicher Objektivität modelliert ist. Diese These bezieht sich vor allem auf den zweiten Teil der Mondreise, auf Autour de la Lune, was sich aus dem Verlauf der Handlung ergibt. In De la Terre à la Lune werden hauptsächlich die technischen Aspekte der Reise beschrieben, und somit steht die Kunst der Ingenieure im Vordergrund: das Gießen der Kanone, die ballistischen Berechnungen, die Planung des Abschusses. Dann tritt der französische Abenteurer Michel Ardan auf den Plan, der dem Vorhaben eine vollkommen neue Richtung gibt: Er empfiehlt Drei Formen von Objektivität 107 Barbicane, die Kugel durch ein bereisbares Projektil zu ersetzen und schlägt vor, sich darin auf den Mond schießen zu lassen. Diesem tollkühnen Vorhaben schließen sich Barbicane und bald darauf dessen vormals heftigster Widersacher, Kapitän Nicholl, an, nachdem die beiden durch Ardan versöhnt wurden. Somit besteht die Mannschaft aus zwei Wissenschaftlern und einem Abenteurer, dessen Name nicht nur die gleiche Aussprache wie das Adjektiv ‚ardent’ besitzt, sondern zugleich als eine anagrammatische Anspielung dem großen Fotografen und Abenteurer, Vernes Landsmann Nadar, ein Denkmal setzt. 15 In der Fortsetzung Autour de la Lune ist dagegen jede äußere Tätigkeit auf ein Minimum reduziert: Das Leben in der Kapsel ist auf die Beobachtung und deren Analyse beschränkt, und damit wird die Objektivität der Beobachtung zu einem entscheidenden Moment des Romans. Vergleicht man die Darstellung der ‚mechanischen Objektivität’ in Lorraine Daston und Peter Galisons Buch Objektivität mit dem Handeln Barbicanes und Nicholls, so fallen zahlreiche Übereinstimmungen auf, die belegen, dass Jules Verne sich offensichtlich stark an der zur Zeit der Niederschrift seines Romans dominierenden wissenschaftlichen Ideologie orientierte. Laut Daston und Galison handelt es sich bei der wissenschaftlichen Objektivität um eine „epistemische Tugend“ 16 , der sich das wissenschaftliche Subjekt sowohl während der Wissensgewinnung (der Beobachtung) als auch bei der Darstellung von Wissen verpflichten soll. Dabei unterscheiden die beiden Autoren die Objektivität von der ‚Naturwahrheit’, an der sich die Forscher des 18. Jahrhunderts orientierten, und die darauf aus war, in den zufälligen empirischen Phänomenen ideale Typen, Urphänomene und Regelmäßigkeiten festzustellen 17 , und vom ‚geschulten Urteil’, d.h. einer Form wissenschaftlicher Bewertung und Interpretation von mechanisch gewonnenen Abbildungen, die sich im 20. Jahrhundert durchsetzte. 18 Zwischen Naturwahrheit und geschultem Urteil befindet sich die Zeit der Objektivität, die ihrerseits in zwei Phasen bzw. Varianten unterteilt wird 19 : Das Ideal mechanischer Objektivität verlangt, dass der Beobachter zu einem Apparat wird, der die untersuchten Phänomene 15 Sogar die Darstellung Ardans in den Illustrationen von Emile Bayard und Antoine De Neuville gleichen dem historischen Nadar sehr genau. Man kann sich dessen vergewissern, wenn man sie mit einem Selbstporträt des Fotografen vergleicht. 16 Daston/ Galison: Objektivität, 41-44. 17 Cf. hierzu den Beitrag von Torsten König im vorliegenden Band. 18 Zum geschulten Urteil s. Daston/ Galison: Objektivität, 327-441. 19 In Daston/ Galisons Darstellung lösen sich die verschiedenen wissenschaftlichen Ideale Naturwahrheit/ mechanische Objektivität/ strukturelle Objektivität/ geschultes Urteil nicht plötzlich voneinander ab: Sie gehen auseinander hervor, bleiben aber auch bisweilen für längere Zeiträume nebeneinander bestehen. Dass die mechanische Objektivität noch als Folie für Alain Robbe Grillet und Peter Weiss interessant war, zeigt der Beitrag von Georges Felten im vorliegenden Band. Steffen Schneider 108 möglichst genau so sieht und aufzeichnet, wie sie ihm erscheinen; strukturelle Objektivität dagegen ist das Ideal von Wissenschaftlern, die davon überzeugt sind, dass nicht das Beobachten und Aufzeichnen, sondern die Erkenntnis der Strukturen des menschlichen Denkens zu objektiven Ergebnissen führen kann. Was nun die mechanische Objektivität angeht, die uns im Falle Vernes interessiert, so ist diese nicht ohne ihr Gegenstück, die Subjektivität, zu verstehen: Objektivität kann geradezu als Unterdrückung und Ausschaltung von Subjektivität bestimmt werden, da sie vom Wissenschaftler eine extreme emotionale Zurückhaltung, eine Kälte des Blicks und eine Fähigkeit, die körperlichen Bedürfnisse vollständig zurückzudrängen, verlangte, wenn dies für die Beobachtung notwendig war. Zentrale Triebkraft dieser Form der Objektivität war der eiserne Wille, der es dem Wissenschaftler erlaubte, seine Aufmerksamkeit ohne Unterlass auf ein bestimmtes Objekt zu richten und seine Beobachtungen aufzuzeichnen - z.B. in wissenschaftlichen Tagebüchern. Die Aufmerksamkeit des Beobachters wurde von den Wissenschaftlern des 19. Jahrhunderts, die sich dem Ideal der ‚mechanischen Objektivität’ verpflichtet fühlten, als entbehrungsreiche, harte Arbeit empfunden, die nur mit großer Willensstärke durchzuführen war. 20 Der Idealwissenschaftler dieser Zeit war also keineswegs ein von Natur aus phlegmatisches Gemüt, sondern ein Heros, dem es gelang, seine widerstrebenden Neigungen dem Willen zu unterwerfen und sich dadurch zu einem hervorragenden Beobachter zu machen. Der Seite der objektiven Beobachtung entsprach ein an der Fotografie orientiertes Ideal der Darstellung: Die beobachteten Erscheinungen waren ohne jede Idealisierung, in all ihrer Zufälligkeit festzuhalten, außerdem sollte eine möglichst große Fülle solcher Abbildungen erzielt werden. Das Ideal war der wissenschaftliche Atlas, der die Phänomene so zeigte, wie sie waren. Wenn mechanische Objektivität als Kampf gegen Subjektivität - in der Mitte des 19. Jahrhunderts unweigerlich mit Romantik konnotiert - zu verstehen ist, so spiegelt Vernes Roman in seinen Figuren diesen Gegensatz deutlich wider: Barbicane und Nicholl verkörpern die kühle Objektivität, Ardan den hitzigen Subjektivismus. Vernes Kunstgriff besteht darin, diese Gegenüberstellung zur gegenseitigen Ironisierung der Standpunkte zu nutzen. Er erreicht dies durch die Art, mit der er die Figuren charakterisiert: Meistens beschreibt und bewertet er sie aus der Perspektive der entgegengesetzten Figur - d.h. bezogen auf den epistemologischen Gegensatz subjektiv/ objektiv, so dass Barbicane und Nicholl vom Erzähler entweder an Ardan gemessen oder aus Ardans Perspektive beurteilt werden und umgekehrt. Durch diese Technik erreicht es Verne, das Urteil darüber, wel- 20 „Wer die mechanische Objektivität zu seiner Sache machte, mußte den Willen gegen sich selbst richten, ein Opfer, das als Auslöschung des Selbst durch das Selbst, als der vornehmste Willensakt gepriesen wurde [ ... ] .“ Daston/ Galison: Objektivität, 244. Drei Formen von Objektivität 109 che Form des Weltbezugs der Wirklichkeit angemessen ist, in der Schwebe zu lassen. Um die ironische Verschränkung der Perspektiven zu verdeutlichen, werde ich in der folgenden Analyse die Darstellung Ardans auf der einen, Barbicanes und Nicholls auf der anderen Seite nicht nacheinander, sondern kontrastiv abhandeln. Barbicane und Nicholl werden als stolze und kämpferische, ja heroische Charaktere vorgestellt, die sich nicht scheuen, ihr Leben zu riskieren. Doch sind sie nicht tollkühn wie Ardan, da sie im Gegensatz zu diesem über eine enorme Kaltblütigkeit und Disziplin verfügen. Diese Wesenszüge werden gleich zu Beginn von Autour de la Lune herausgearbeitet, als sich die drei Reisenden Nicholl, Barbicane und Ardan in der Kapsel verschließen. Während Michel Ardan bei der Erwartung des unmittelbar bevorstehenden Starts in beständiger aufgeregter Bewegung begriffen ist - „Ardan, ne pouvant rester immobile, tournait dans son étroite prison comme une bête fauve, causant avec ses amis, parlant à ses chiens“ (AL, 18) - zählt Nicholl mit eiserner Geduld die noch verbleibenden Minuten, was Ardan zu folgendem Ausruf veranlasst: „Ce n’est pas un homme que ce Nicholl, s’écria Michel, c’est un chronomètre à secondes, à échappement, avec huit trous...“ (AL, 17). Und der Erzähler fährt fort: Mais ses compagnons ne l’écoutaient plus, et ils prenaient leurs dernières dispositions avec un sang-froid inimaginable. Ils avaient l’air de deux voyageurs méthodiques, montés dans un wagon, et cherchant à se caser aussi confortablement que possible. On se demande vraiment de quelle matière sont faits ses cœurs d’Américains auxquels l’approche du plus effroyable danger n’ajoute pas une pulsation! (AL, 17) Der Erzählerkommentar übernimmt Ardans Perspektive („on se demande vraiment“), und objektiviert sie dadurch, d.h. er legt dem Leser nahe, dieses Urteil zu übernehmen. Diese Objektivierung geht mit einer Ironisierung der beiden Figuren einher: Durch den Vergleich der Wissenschaftler mit ‚methodischen Reisenden’ erscheint ihr Verhalten als der Situation unangemessen und sonderbar. Es ist in diesem Zusammenhang durchaus bedeutungsvoll, dass Jules Verne die Kontrolle über die Emotionen, die für Daston/ Galison die ideale Persönlichkeit des Wissenschaftlers der Zeit ausmacht, als eine Eigenschaft von US-Amerikanern bezeichnet, also mit einem Nationalstereotyp in Verbindung bringt - eine Erklärungsart, die in den beiden Mondromanen und auch sonst in den Voyages extraordinaires des Öfteren vorkommt. Obwohl Objektivität als wissenschaftliche Tugend gerade auch in Europa und nicht zuletzt in Frankreich ihren Ursprung hatte - Daston und Galison zitieren sehr häufig französische Wissenschaftler als Gewährsmänner - gestaltet Jules Verne sie eher als ein für Franzosen untypisches und fremdes Verhalten. Umgekehrt erscheint ihm Michel Ardan, dem es im Unterschied zu den Amerikanern nicht gelingt, seine Gefühle zu beherrschen und seinen Körper zu disziplinieren, als Repräsentant des französischen Geistes: „Dans ce microcosme il représentait l’agitation et la loqua- Steffen Schneider 110 cité française, et l’on est prié de croire qu’elle était dignement représentée.“ (AT, 74) Auch in diesem Kommentar ist die Ironie des Erzählers kaum zu überlesen. Die kühle Beherrschtheit Barbicanes und Nicholls zeigt sich nicht nur angesichts der Gefahren und Risiken der Reise, sondern auch in den Augenblicken, in denen sich durch die Bullaugen der Mondkapsel die überirdische Schönheit der kosmischen Wirklichkeit manifestiert. Als die Reisenden zum ersten Mal den Blick hinaus in das Weltall werfen und den Anblick der Sonne genießen können, entstehen bei allen große Gefühle, aber Barbicane geht sofort zur Niederschrift des Gesehenen über: Les observateurs ne pouvaient détacher leurs regards de ce spectacle si nouveau, dont aucune description ne saurait donner l’idée. Que de réflexions il leur suggéra! Quelles émotions inconnues il éveilla dans leur âme! Barbicane voulut commencer le récit de son voyage sous l’empire de ces impressions, et il nota heure par heure tous les faits qui signalaient le début de son entreprise. Il écrivait tranquillement de sa grosse écriture carrée et dans un style un peu commercial. Pendant ce temps, le calculateur Nicholl revoyait ses formules de trajectoires et manœuvrait les chiffres avec une dextérité sans pareille. (AT 47) Die Objektivität der Wissenschaftler wird in einer Stelle wie dieser nicht als Ausdruck einer persönlichen Gleichgültigkeit, sondern als Ergebnis strenger Disziplinierung lesbar: Barbicane und Nicholl verfügen über ihre Gefühle und über ihre Körper, was Vernes Erzähler im Bild der ‚grosse écriture carrée’, des ‚style un peu commercial’ und der ‚dextérité sans pareille’ veranschaulicht. Im genauen Gegensatz dazu steht Michels Mitteilungs- und Bewegungsdrang, seine stets überschießende Fantasie und sein aus Sicht der Forscher bisweilen unangebrachter Humor: Michel Ardan causait tantôt avec Barbicane qui ne lui répondait guère, tantôt avec Nicholl qui ne l’entendait pas, avec Diane qui ne comprenait rien à ses théories, avec lui-même enfin, se faisant demandes et réponses, allant, venant, s’occupant de mille détails, tantôt courbé sur la vitre inférieure, tantôt juché dans les hauteurs du projectile, et toujours chantonnant. (AT 47) Dieser unterschiedliche Habitus der ‚objektiven’ Wissenschaftler und des ‚subjektiven’ Artisten Michel Ardan prägt auch ihren Beobachtungsstil. Ab einem bestimmten Punkt ihrer Reise, als der Mond immer näher in das Blickfeld der Reisenden tritt, aber noch zu weit entfernt ist, um authentische Beobachtungen zu ermöglichen, benutzt Barbicane seinen Atlas von ‚Beer et Mœdler’ - so nennt Verne die beiden Verfasser des damals gültigen Standardwerks der Selenographie Johann Heinrich Mädler und Wilhelm Beer, um sich mit dessen Hilfe zu orientieren. Mit diesem erzähltechnischen Kunstgriff verschafft sich der Autor die Möglichkeit, seinen Lesern allerhand Informationen über die Selenographie, ihre Geschichte, Technik und die wichtigsten Fakten zu geben. Gleichzeitig konfrontiert er erneut die künstlerisch-subjektive und die szientifisch-objektive Betrachtungsweise der Wirklichkeit. Doch begnügt sich der Erzähler nicht damit, diese beiden Arten des Sehens zu unterscheiden und zu vergleichen, er analysiert Drei Formen von Objektivität 111 darüber hinaus in ihnen zwei verschiedene Formen der Objektivierung von Wissen. Unter Objektivierung verstehe ich hier den Niederschlag von Erkenntnisweisen im oder am Objekt, also das dingliche Korrelat zur subjektiven (auch: kollektiv-subjektiven) Disposition des Erkennenden. Dies wird besonders an der Weise deutlich, in der die beiden sich gegenüberstehenden Gruppen Barbicane/ Nicholl und Michel Ardan die Mondoberfläche mit Bedeutung versehen. 3.3 Die Mondkarte und ihre Semantisierungen In De la Terre à la Lune wird mehrfach hervorgehoben, dass der Mond alles andere als ein unbekanntes Objekt darstellt, ja es scheint so, als seien die noch zu klärenden Fragen von geringem Interesse gegenüber dem bloßen technischen Anreiz, die ungeheure Distanz zu überwinden. 21 Demgegenüber treten in Autour de la Lune die wissenschaftlichen Themen in den Blick: Sie betreffen einerseits mondgeschichtliche Fragen, d.h. es soll herausgefunden werden, ob es eine Atmosphäre, vulkanische Aktivitäten, Wasser, Meere gibt; und andererseits soll die Natur bestimmter selenographischer Strukturen geklärt werden, insbesondere der sogenannten ‚rainures’, also tiefen Furchungen in der Mondoberfläche, sowie der ‚remparts parallèles’, die laut Verne von ‚Professor Gruithuysen’ aus München entdeckt und für von Seleniten erbaute Festungen gehalten wurden. 22 Um diese Ziele zu erreichen, heften sich die drei Reisenden an die Bullaugen ihres Projektils, sobald der Mond in Sicht kommt, und beginnen mit intensiven Beobachtungen: „Tous leurs sentiments se concentraient dans une pensée unique: Voir! “, heißt es und: „Leurs observations, reproduites par Barbicane, furent 21 Cf. hierzu auch folgenden Erzählerkommentar: „Enfin, grâce aux méthodes nouvelles, les instruments plus perfectionnés fouillèrent la Lune sans relâche, ne laissant pas un point de sa face inexploré, et cependant son diamètre mesure deux mille cent cinquante milles, sa surface est la treizième partie de la surface du globe, son volume la quarante-neuvième partie du volume du sphéroïde terrestre; mais aucun de ses secrets ne pouvait échapper à l’œil des astronomes, et ces habiles savants portèrent plus loin encore leurs prodigieuses observations.“ (TL 79) 22 Verne bezieht sich auf Franz Paula von Gruithuisen (1774-1852), seit 1826 ordentlicher Professor der Astronomie in München. Gruithuisen machte insbesondere durch kühne Theorien über die Bewohntheit des Mondes von sich reden. Über ihn heißt es in der Allgemeinen Deutschen Bibliographie, Bd. X, Leipzig, Duncker & Humblot, 1879, 6sq.: „Durch König Ludwig I. wurde er 1826 zum ordentlichen Professor der Astronomie an der Münchener Universität ernannt, gehört aber zu den originellen Astronomen. Er gab sich metaphysischen Spekulationen und Theorien hin, denen jede mathematische Grundlage fehlte und seine lebhafte Phantasie veranlaßte ihn, in den regulären Wällen des Flecken Schröter auf dem Monde Städte und Festungen zu erkennen, deren Beschreibungen er als angebliche Entdeckungen ausgab, woran er noch Hypothesen über Bewohner des Mondes und deren Cultur knüpfte; ja er machte schon über eine Correspondenz mit den Mondbewohnern Vorschläge, die viel Wunderliches und völlig Nutzloses haben.“ Steffen Schneider 112 rigoureusement déterminées. Pour les faire, ils avaient des lunettes. Pour les contrôler, ils avaient des cartes.“ (AT, 111) Teleskope und Karten bilden das Dispositiv der astronomischen Beobachtung: Die Karte soll der Orientierung dienen; die gemachten Beobachtungen sollen dabei helfen, die auf den Karten verzeichneten Phänomene der Mondoberfläche falls möglich genauer zu erklären, als es von der Erde aus möglich ist. Die Erwartungen, die der Erzähler weckt, wenn er die Observationen der Reisenden erwähnt, sind also groß. Doch gerade an dem Punkt der Reise, an dem es möglich wäre, die literarische Imagination durch die Erfindung fantastischer Welten zu entfalten, zieht es Jules Verne vor, sein Interesse ganz auf die Reflexion der zum Wissenserwerb eingesetzten Mittel und der damit verbundenen Habitus oder Mentalitäten zu konzentrieren: Statt der Mondoberfläche rückt zunächst die Lektüre der Karte in den Vordergrund - der Leser wird über die Geschichte der Kartierung des Mondes unterrichtet (AT, 112-114), danach erhält er ausführliche Informationen über die Topographie und Orographie des Himmelskörpers (AT, 119-131). Während Barbicane und Nicholl die Karte als eine auf exakter Beobachtung beruhende Repräsentation der physischen Wirklichkeit der Mondoberfläche auffassen, benutzt Ardan sie, um an ihr seinen Witz zu üben und Ähnlichkeiten zwischen irdischem Leben und Mondgestalt aufzufinden. Es handelt sich dabei um eine intertextuelle Reminiszenz an die berühmte Carte de Tendre, die zuerst in Madeleine de Scudéries Roman Clélie, histoire romaine erscheint, in der die Stationen der Leidenschaften auf einer Karte des fiktiven Landes Tendre eingetragen sind. Ardan versucht, durch den spielerischen Rückgriff auf die Carte de Tendre die nüchterne Objektivität der Mondkarte seinem empfindsamen Gemüt anzupassen; er begreift sie dementsprechend als „carte de la vie, très nettement tranchée en deux parties, l’une féminine, l’autre masculine“ bezeichnet (AT, 117). Die Antwort der beiden Gelehrten hierauf ist nüchtern: „Et quand il parlait ainsi, Michel faisait hausser les épaules à ses prosaïques compagnons. Barbicane et Nicholl considéraient la carte lunaire à un tout autre point de vue que leur fantaisiste ami.“ (AT, 117sq.) Doch der Erzähler schlägt sich hier keinesfalls auf die Seite der Wissenschaftler, im Gegenteil legt sein Kommentar („Cependant leur fantaisiste ami avait tant soit peu raison. Qu’on en juge.“ AT, 118) nahe, dass er den auf das Faktische konzentrierten, von bloßen Tatbeständen besessenen Geist der Wissenschaftler als zwar wissenschaftlich objektiv, aber einseitig charakterisiert und der komplementären ‚poetischen’ Sicht ein Recht einräumt. So führt er im Folgenden denn auch aus, dass in der Tat die Namen der Mondmeere sich als Metaphern für ein typisch weibliches und ein typisch männliches Leben verstehen ließen. Über die ‚weibliche Hälfte’ des Mondes schreibt er: L’hémisphère de droite, ‚dédié aux dames’, renferme des mers plus petites, dont les noms significatifs comportent tous les incidents d’une existence féminine. C’est la ‚mer de la Sérénité’ au-dessus de laquelle se penche la jeune fille, et le ‚lac Drei Formen von Objektivität 113 des Songes’, qui lui reflète un riant avenir! C’est la ‚mer du Nectar’, avec ses flots de tendresse et ses brises d’amour! C’est la ‚mer de la Fécondité’, c’est la ‚mer des Crises’, puis la ‚mer des Vapeurs’, dont les dimensions sont peut-être trop restreintes, et enfin cette vaste ‚mer de la Tranquillité’, où se sont absorbés toutes les fausses passions, tous les rêves inutiles, tous les désirs inassouvis, et dont les flots se déversent paisiblement dans le ‚lac de la Mort’! (AT, 118) Michel Ardan verkörpert ein Denken der Ähnlichkeit. Es basiert im Wesentlichen auf dem Einfall, dem witzigen Aperçu, und intendiert, die fremde Natur, das unbekannte Objekt mit dem Vertrauten in eine Beziehung zu bringen. Ardans ‚subjektives’ Weltverständnis kann man daher auch als zutiefst anthropomorph begreifen: Er schreibt dem Kosmos durch eine solche Herstellung von Ähnlichkeiten eine Funktion für den Menschen zu, die Zurückführung der Erscheinungen auf objektive Tatsachen verachtet er dagegen. 23 Die partielle Bestätigung dieser Auffassung der Wirklichkeit durch den Erzähler weist darauf hin, dass dem objektiven Blick der Wissenschaftler wesentliche Aspekte der Wirklichkeit entgehen. In spiegelbildlicher Entsprechung werden die Leser über die Bedeutung informiert, welche Barbicane und Nicholl demselben Phänomen zuschreiben. Leicht gekürzt liest sich die Wahrnehmung der weiblichen Hälfte des Mondes in der Charakterisierung der Winkel und Durchmesser berechnenden Forscher so: L’hémisphère ‚féminin’, naturellement plus capricieux, se distinguait par des mers plus petites et plus nombreuses. C’étaient, ver le nord, la mer du Froid, Mare Frigoris, par 55˚ de latitude nord et 0˚ de longitude, d’une superficie de soixanteseize mille lieues carrées, qui confinait au lac de la Mort et au lac des Songes; la mer de la Sérénité, Mare Serenitatis, par 25˚ de latitude nord et 20˚ de longitude ouest, comprenant une superficie de quatre-vingt-six mille lieues carrées [ ... ] . (AT, 119) Jules Verne macht sich offensichtlich einen Spaß daraus, die Exaktheit der Zahlen mit den Metaphern des vorherigen Abschnitts zu konfrontieren. Es wird dadurch deutlich, dass der Mond bzw. seine kartografische Repräsentation durch die verschiedenen Betrachtungsarten vollkommen unterschiedlichen Semantisierungen unterworfen und damit auch in je verschiedener Weise als Objekt konstituiert wird. Bei aller Differenz des subjektiven und des objektiven Blicks, der poetisch-metaphorischen und der wissenschaftlichen Methode, haben beide eines gemein: Sie erfassen nur Teilaspekte der Wirklichkeit und daran scheitert ihr Totalitätsanspruch. Dieses Scheitern zeigt sich daran, dass Vernes Text letztlich die Unlesbarkeit der Mondoberfläche behauptet. Das kann an der Interpretation der von Gruithuisen 23 Hiermit kann man auch eine Stelle vom Beginn des Romans vergleichen, an der ein besonderes Lichtphänomen von den Wissenschaftlern dadurch erklärt wird, dass das Sonnenlicht durch das Auftreffen auf kleineren Himmelskörper in besonderer Weise erstrahlt. Ardan dagegen hält nichts von solchen Erklärungen: „Mais Michel Ardan, dédaignant les raisonnement scientifiques, aima mieux croire que la Terre saluait de ses plus brillants feux d’artifices le départ de trois de ses enfants.“ (AT, 35) Steffen Schneider 114 als Indizien für die Bewohntheit des Mondes herangezogenen gebäude- und festungsähnlichen Strukturen verdeutlicht werden, die von den drei Mondfahrern ganz unterschiedlich diskutiert werden. Um besser verstehen zu können, worum es dabei geht, betrachte man Abb. 3. Sie stammt aus dem bereits erwähnten Standardatlas der Selenographie, der 1837 erschienen Mappa selenographica von Johann Heinrich Mädler und Wilhelm Beer. 24 Abb. 1: Auszug aus der General-Karte von Mädler und Beer In dem Ausschnitt aus der Karte kann man zu beiden Seiten des zentralen Lacus Mortis kreisförmige Strukturen (von links nach rechts heißen sie Endymion, Atlas, Hercules, Eudoxus und Aristoteles) sowie Linien erkennen. Solche Strukturen erwecken bei Michel Ardan, dessen Blick auf Ähnlichkeiten fixiert ist, den Eindruck, dass es sich dabei um Überreste der selenitischen Kultur handelt. So kann der folgende Textauszug als eine literarische Ergänzung zu dem präsentierten Bildausschnitt dienen: 24 Die Mappa selenographica erschien zuerst 1834-1836 in vier einzelnen Karten und wurde 1837 in zwei Bänden unter dem Titel General-Karte der sichtbaren Mondoberfläche mit Erläuterungen in Berlin veröffentlicht. Jules Verne würdigt die Leistungen der beiden Autoren ausführlich in Kapitel zehn („Les observateurs de la Lune“) von AT, wo ihre „célèbre Mappa selenographica“ als „le chef-d’œuvre de la cartographie lunaire“ bezeichnet wird. (113) Allerdings irrt sich Verne im Erscheinungsdatum: Er gibt das Jahr 1830 an. Drei Formen von Objektivität 115 Michel Ardan crut pourtant reconnaître une agglomération de ruines qu’il signala à l’attention de Barbicane [ ... ] . Cet amoncellement de pierres, assez régulièrement disposées, figurait une vaste forteresse, dominant une de ces longues rainures qui jadis servaient de lit aux fleuves des temps anté-historiques. [ ... ] Michel Ardan, avec son ardeur accoutumée, soutenait ‚l’évidence’ de sa forteresse. Au-dessous, il apercevait les remparts démantelés d’une ville; ici, la voussure encore intacte d’un portique; là, deux ou trois colonnes couchées sous leur soubassement; plus loin, une succession de cintres qui avaient dû supporter les conduits d’un aqueduc; ailleurs les piliers effondrés d’un gigantesque pont, engagé dans l’épaisseur de la rainure. Il distinguait tout cela, mais avec tant d’imagination dans le regard, à travers une si fantaisiste lunette, qu’il faut se défier de son observation. Et cependant, qui oserait dire que l’aimable garçon n’a pas réellement vu ce que ses deux compagnons ne voulaient pas voir? (AT, 179) Der Erzähler äußert hier nicht nur eine deutliche Kritik an Ardan, sondern auch an den Wissenschaftlern, da er in ihrer Weigerung, bei der Beobachtung Gebrauch von ihrer Imagination zu machen, ein Maß an Willkür erkennt, das der Sache nicht angemessen erscheint. Es hat den Anschein, als wolle er damit unterstellen, dass sich in der ‚mechanischen Objektivität’ Barbicanes und Nicholls ein gewisses Maß an willentlicher Blindheit verbirgt. Diese Kritik wird im unmittelbar anschließenden Kapitel XVIII „Questions graves“ wieder aufgenommen und noch einmal unterstrichen. Hier diskutieren die drei Reisenden die Frage, ob der Mond bewohnt ist oder ob er es einmal war bzw. gewesen sein könnte. Barbicane antwortet auf eine sehr entschiedene, jeden Zweifel ausräumende Weise: Nein, der Mond ist nicht bewohnt, aber er war es einmal. Er begründet diese Ansicht mit wissenschaftlichen Anschauungen, die deshalb eine gewisse Autorität besitzen, weil sie dem allgemeinen Stand der astronomischen Wissenschaft entsprechen - jedenfalls behauptet dies der Erzähler, der die Diskussion so resümiert: Mais pendant cette discussion, féconde en théories un peu hasardées, bien qu’elle résumât les idées générales acquises à la science sur ce point, le projectile avait couru rapidement vers l’équateur lunaire, tout en s’éloignant régulièrement du disque. (AT, 194) In diesem Kommentar wird eine ironische Distanzierung des Erzählers vom Fortschrittsglauben der zeitgenössischen Wissenschaft spürbar, die sich mit der ebenfall ironischen Distanzierung von Michel Ardans Subjektivismus zu einer skeptischen Grundhaltung zu verbinden scheint. Aber worauf zielt diese Skepsis ab? Es wäre kaum eine glaubhafte Annahme, dass Vernes Erzähler einen grundsätzlichen Zweifel an der Erkenntnisfähigkeit der zeitgenössischen Wissenschaften formulierte oder gar sich auf die Seite Ardans schlüge: Denn welchen Sinn hätte dann die ausführliche Repräsentation von wissenschaftlicher Erkenntnis im Roman? Vielmehr zielt die doppelte Ironisierung einerseits auf die Einseitigkeiten beider Pole und versucht, diese zu versöhnen - ein Ziel, das einem familienfreundlichen Verlag wie Steffen Schneider 116 demjenigen Hetzels sicherlich sehr entsprach 25 -, andererseits aber versucht sie, das Objekt ‚Mond’ in seiner ästhetischen Eigenart zu retten, die sowohl durch die vorschnelle Mythisierung und Metaphorisierung von Seiten Ardans als auch durch die Auslöschung der Welt in Zahlen und Maßen bedroht ist. Neben die enzyklopädische Objektivität, die Objektivität wissenschaftlicher Beobachtung und die ironische Objektivität tritt daher als Fluchtpunkt all dieser Erkenntnis- und Wissensformen die Objektivität der Beschreibung oder die ästhetische Objektivität, die nun in einem letzten Schritt zu bestimmen ist. 4. Ä STHETISCHE O BJEKTIVITÄT Zunächst muss vor einem Missverständnis gewarnt werden: ‚Ästhetische’ Objektivität, wie sie in Autour de la Lune vorliegt, hat nichts mit Formen der Ästhetisierung im Sinne einer Überführung von Objekten der Lebenswelt in nur noch Künstlichkeit konnotierende autonome Welten der Dichtung zu tun. Im Gegenteil zielt die ästhetische Objektivität darauf, die Phänomenalität der Weltobjekte wieder herzustellen, indem die verschiedenartigen kulturellen Aneignungen rückgängig gemacht werden: So verstanden konstituiert ästhetische Objektivität keinen unverbindlichen, spielerischen Ludotext im Sinne von Compère, sondern bildet eine eigenständige Erkenntnisform; hierin scheint mir eine besondere Leistung des Schriftstellers Jules Verne und seines großen Romanzyklus zu bestehen. Der eigentliche Ort dieser Form der Objektivität ist die Sprache der Beschreibung, mit der er sowohl die subjektivistischen Klischees als auch die objektivistische Formelhaftigkeit vermeidet, aus denen die Sprache Ardans, Barbicanes und Nicholls besteht. Ästhetische Objektivität enthält bei Verne daher eine sprachkritische Dimension, die sich gegen die szientifischen und ästhetisierenden Semiotisierungen des Mondes richtet. Um die Sprachreflexion in Autour de la Lune in aller Kürze zu analysieren, sei noch einmal an die bisherigen Ergebnisse dieser Analyse erinnert: Es wurde bereits am Beispiel der ‚weiblichen’ Mondhemisphäre gezeigt, dass sowohl der Objektivismus als auch der Subjektivismus sich durch bestimmte sprachliche Klischees objektivieren: Die Mathematiker lösen ihren Gegenstand in Tabellen und geographische Maßeinheiten auf, hinter denen und in denen der Mond unwiederbringlich sein Gesicht verliert. Demgegenüber erweist sich Ardans durchaus witzige ‚Lektüre’ der nördlichen und südlichen Seite der Mondhemisphäre als Biographie einer Durchschnittsfrau und eines Durchschnittsmannes letztlich nicht als Wissensgewinn, sondern lediglich als Festschreibung irdischer Klischees in den Mondsand. An mehreren 25 Zur Darstellung des Verlags und des Magasin d’Education et de Récréation, in dem die meisten Romane vorveröffentlicht wurden, cf. Compère: Jules Verne, 17-21. Drei Formen von Objektivität 117 Stellen des Romans diskutieren auch die Figuren den Gebrauch von Sprache. Ein gutes Beispiel hierfür findet sich in Kapitel V („Les froids de l’espace“), wo Barbicane Michel die Theorie des aus Atomen bestehenden Äthers folgendermaßen erklärt: - [ ... ] Ce sont ces atomes qui, par leur mouvement vibratoire, produisent la lumière et la chaleur, en faisant par seconde quatre cent trente trillions d’ondulations, n’ayant que quatre à six dix-millièmes de millimètres d’amplitude. - Milliards de milliards! s’écria Michel Ardan, on les a donc mesurées et comptées, ces oscillations! Tout cela, ami Barbicane, ce sont des chiffres de savants qui épouvantent l’oreille et ne disent rien à l’esprit. - Il faut pourtant bien chiffrer... - Non. Il vaut mieux comparer. Un trillion ne signifie rien. Un objet de comparaison dit tout. [ ... ] Aussi, je préfère, et de beaucoup, ces vieilles comparaisons du Double Liégeois qui vous dit tout bêtement: Le Soleil, c’est une citrouille de deux pieds de diamètre, Jupiter, une orange, Saturne, une pomme d’api, Neptune une guigne, Uranus, une grosse cerise, la Terre, un pois, Vénus, un petit pois, Mars, une grosse tête d’épingle, Mercure un grain de moutarde, et Junon, Cérès, Vesta et Pallas, de simples grains de sable! On sait au moins à quoi s’en tenir! (AT, 67sq.) Ich habe mir das ausführliche Zitat deshalb erlaubt, weil es für den Roman sehr aufschlussreich ist. Objektivität und Subjektivität stehen sich hier auf sprachlicher Ebene gegenüber: Barbicanes Zahlen spiegeln eine Exaktheit vor, deren Objektivität dadurch verbürgt sein soll, dass jeder anthropomorphe Rest in der Sprache gestrichen wird. Die Frage, die hier zu Recht laut wird, ist, ob in dieser Form der Objektivität nicht das Erfahrungsobjekt, das Phänomen Mond ausradiert wird. Und dies ist in der Tat der Fall: Der rein mathematisch beschriebene Mond hat mit den von den Sinnen normaler Menschen wahrgenommenen Himmelskörpern nur noch wenig gemein. Freilich helfen auch Ardans Trivialitäten nicht weiter; seine Vergleiche erscheinen ihm selbst als stumpf („bêtement“) da sie das Unbekannte mit Bekanntem erläutern wollen, dabei aber dessen reale Dimensionen verharmlosen und es dadurch verfehlen. Ausgehend von diesem Befund stellt sich nun die Frage, ob es eine Möglichkeit gibt, das unbekannte Objekt Mond so darzustellen, dass es vorstellbar wird und doch etwas von seiner verstörenden Fremdheit behält. Man kann diese Frage bejahen, wenn man einige der durchaus zahlreichen Passagen in diesem Roman (wie auch in anderen Romanen Vernes) betrachtet, in denen die Phänomenalität des Mondes diesseits der Diskurse herausgearbeitet wird. Ein besonders eindrückliches Beispiel ist folgende Darstellung des Vulkans Tycho: Ce qu’est cette montagne incomparable, l’ensemble des reliefs qui convergent vers elle, les extumescences intérieures de son cratère, jamais la photographie elle même n’a pu les rendre. En effet, c’est en Pleine-Lune que Tycho se montre dans toute sa splendeur. Or, les ombres manquent alors, les raccourcis de la perspective ont disparu, et les épreuves viennent blanches. Circonstance fâcheuse, car cette étrange région eût été curieuse à reproduire avec l’exactitude Steffen Schneider 118 photographique. Ce n’est qu’une agglomération de trous, de cratères, de cirques, un croisement vertigineux de crêtes; puis, à perte de vue, tout un réseau volcanique jeté sur ce sol pustuleux. On comprend alors que ces bouillonnements de l’éruption centrale aient gardé leur forme première. Cristallisés par le refroidissement, ils ont stéréotypé cet aspect que présenta jadis la Lune sous l’influence des forces plutoniennes. (AT, 185) Die Beschreibung des Bergs Tycho leistet etwas Besonderes: Sie vermittelt einen Eindruck von der geologischen Beschaffenheit des Berges („Ce n’est qu’une agglomération de trous, de cratères, de cirques, un croisement vertigineux de crêtes“), reflektiert aber zugleich die Unverfügbarkeit des Panoramas für jede mechanisch-objektive Wissenschaft, ist es doch nicht einmal von dem im neunzehnten Jahrhundert als Ideal abbildender Exaktheit geltenden Medium der Fotografie darstellbar. Die durch Unterstreichungen markierten Hyperbeln markieren diese Reflexion. Auffällig ist weiterhin, dass es nur wenige Metaphern gibt („jeté“, „bouillonnements“), wodurch die klischeehafte Anthropomorphisierung, die Ardan so liebt, vermieden wird. Doch ein solcher Verzicht auf sprachliche Assimilierung bedeutet nicht, dass das Phänomen überhaupt keine Beziehung mehr zu dem unterhält, der es wahrnimmt. Das wird an den fett markierten Adjektiven deutlich, die eine subjektive Einschätzung eines möglichen Betrachters wiedergeben: Dabei sind insbesondere die beiden Wörter „curieuse, étrange“ interessant, weil sie in die Richtung einer Ästhetik des Wunderbaren weisen, die in den Mondbeschreibungen vor Jules Verne bereits eine lange Tradition hat. Der Begriff des Wunders bzw. des Wunderbaren, der ja bekanntlich vor allem in der Ästhetik des Barock eine bedeutende Stellung besaß, kommt z.B. in Galileo Galileis Sidereus nuncius häufig vor. 26 Bei Galilei wird der ästhetische Diskurs des Wunderbaren auf die Neuheit der Entdeckungen bezogen, die durch den Einsatz des Fernrohres möglich wurden; dies hat v. a. die Funktion, das neue Instrument, dessen Funktionieren vor dem Hintergrund der damals gültigen optischen Theorien nicht erklärbar schien, rhetorisch zu legitimieren. 27 Jules Verne entdeckt das Wunderbare in der irregulären, unübersichtlichen Beschaffenheit der Mondoberfläche. Es steht in engster Beziehung zum Chaos und zur Fremdartigkeit, zwei weiteren Wörtern, die Verne bei der Mondbeschreibung gerne verwendet: 26 Dem ‚merveilleux’ entspricht lateinisch die ‚admiratio’. Cf. Galilei: Sidereus nuncius, 12: „Verum, quod omnem admirationem longe superat, quodve admonitos faciendos cunctos Astronomos atque Philosophos nos apprime impulit, illud est, quod scilicet quatuor Erraticas Stellas, nemini eorum qui ante nos cognitas aut observatas, adinvenimus [ ... ] .“ („Was aber bei weitem jedes Wunder übertrifft und uns dazu antrieb, die übrigen Astronomen und Philosophen zu informieren, ist, dass wir vier Wandelsterne entdeckten, die von niemandem vor uns erkannt noch beobachtet worden sind [ ... ] .“ Übersetzung SS.) 27 Cf. zu diesem Thema Witthaus: Fernrohr. Drei Formen von Objektivität 119 Aux yeux des voyageurs reparaissait cet aspect archaïque des paysages lunaires, crus de tons, sans dégradation de couleurs, sans nuances d’ombres, brutalement blancs et noirs, puisque la lumière diffuse leur manque. Cependant la vue de ce monde désolé ne laissait pas de les captiver par son étrangeté même. Ils se promenaient au-dessus de cette chaotique région, comme s’ils eussent été entraînés au souffle d’un ouragan, voyant les sommets défiler sous leurs pieds, fouillant les cavités du regard, dévalant les rainures, gravissant les remparts, sondant ces trous mystérieux, nivelant toutes ces cassures. (AT, 178) In der Akzentuierung des Chaotischen, Unregelmäßigen behält der Erzähler ein Element der ‚mechanischen Objektivität’ bei, die sich gegen jegliche Typisierung und Idealisierung von Daten wendete. Jedoch geht es ihm darum, die Dimension des phänomenalen Erfahrens vor der Auflösung in Messdaten zu bewahren und in dieser Weise das Objekt ‚Mond’ und sein Geheimnis zu retten, ohne es dabei zu mystifizieren. Bleibt am Ende noch zu fragen, in welcher Beziehung die verschiedenen Formen der Objektivität, die wir in Vernes Roman nachweisen konnten, zueinander stehen. Die ironische Objektivität des Erzählers und die ästhetische Objektivität der Beschreibungen stehen offensichtlich in einer engen Verbindung: Die Ironie zielt darauf, dass sich die beiden Paradigmen mechanische Objektivität und romantische Subjektivität gegenseitig relativieren und dadurch in ihrer defizitären Struktur sichtbar gemacht werden sollen. In den Beschreibungen scheint dagegen die Phänomenalität des Mondes auf. Andererseits ist unübersehbar, dass die ästhetische Objektivität auf den beiden kritisierten Formen der Erkenntnis beruht, dass sie von beiden gewisse Merkmale übernimmt: Dieses sind einerseits der Verzicht auf Metaphern und die Vorliebe für das Irreguläre und Abweichende, andererseits aber die ästhetische Faszination durch den fremden Himmelskörper. Was schließlich die enzyklopädische Objektivität betrifft, so kann sie am besten als eine Funktion der anderen Objektivitäten beschrieben werden: Sie ist in den meisten Fällen in den Beschreibungen wissenschaftlichen Handelns enthalten, folglich durch die Handlungsebene motiviert. Aus dieser ‚Schichtung’ der Objektivitäten ergibt sich, wie man das Verhältnis von ‚Literatur und Wissenschaft’ in Vernes Roman beschreiben kann: Es handelt sich weniger um eine Wissenschaftskritik im heutigen Sinn, d.h. es werden weniger fatale Konsequenzen der Wissenschaft und Technik dargestellt, als vielmehr um eine Korrektur einer rein objektivistischen Betrachtung der Wirklichkeit. 28 Diese Korrektur ist aber der Wissenschaft nicht entgegengesetzt, sondern basiert auf ihr, indem sie die 28 Es gibt allerdings in DT einen Hinweis auf das Gefahrenpotential der Technik: Durch den Abschuss des Projektils wird ein großflächiges Areal zerstört und die Zuschauer befinden sich in Gefahr (DT, 233sqq.). Steffen Schneider 120 von der Wissenschaft gemachten Beobachtungen in phänomenales Erleben transformiert, d.h. die Phänomene sowie die Beziehung der Phänomene zu den menschlichen Subjekten in den Blick zu bringen versucht. B IBLIOGRAPHIE Primärtexte Beer, Wilhelm/ Mädler, Johann Heinrich von: General-Karte der sichtbaren Mondoberfläche mit Erläuterungen, Berlin, 1837. Calvino, Italo: Le Cosmicomiche, Milano, Mondadori, 1993, 45-50. Galilei, Galileo: Sidereus nuncius, in: ders., Opere, Milano, Istituto della Enciclopedia Italiana, 2006, 1-88. Hetzel, Jules Pierre: „Avertissement de l’éditeur“, in: Jules Verne: Voyages et aventures du capitaine Hatteras, Paris, Hetzel, 1867, 1sq. Verne, Jules: Autour de la Lune, Paris, Librairie Générale Française, 2003. Verne, Jules: De la Terre à la Lune. Trajet direct en 97 heures 20 minutes, Paris, Librairie Générale Française, 2001. Verne, Jules: Voyages et aventures du capitaine Hatteras, Paris, Hetzel, 1867. 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Vielmehr soll, um einer solch unterschiedlichen und damit problematischen Gewichtung der beiden Vergleichsglieder zu entgehen, ein anderes tertium comparationis ins Spiel gebracht werden, eine Problematik, mit der sich Der Schatten des Körpers des Kutschers ebenso wie - exemplarisch für die erste Schaffensperiode von Robbe-Grillet - La Jalousie (1957) auf je eigene Weise mit literarischen Mitteln auseinandersetzen: die Objektivität. Auch dies auf den ersten Blick nicht sonderlich originell - handelt es sich doch um das Schlagwort schlechthin, mit dem beide Texte insbesondere in der ersten Rezeptionsphase ad satietatem bedacht worden sind. Anspruch 1 So etwa wurde Der Schatten des Körpers des Kutschers in der Feuilletonkritik anachronistisch als deutsche Antwort auf den nouveau roman gelesen (cf. Neumann: „Robbe-Grillet und der Nouveau Roman“, 130sq.), und der Vergleich ist auch nachher ein beliebter exercice de style der Weiss-Forschung geblieben; während die einen vor allem die Ähnlichkeiten herausstellen (cf. Best: „Vermessung der Hölle“, 47; Vormweg: Peter Weiss, 42sq. und am differenziertesten Witting: „Bericht von der hohen Warte“, 57-61), beharren andere auf grundlegenden Divergenzen (cf. Perry: „Weiss’s Der Schatten des Körpers des Kutschers“ und Esselborn: „Die experimentelle Prosa Peter Weiss’ und der nouveau roman“), mit dem Argument, bei Robbe-Grillet sei ein konstruktivistischer, amimetischer Impuls vorherrschend, bei Weiss’ Text hingegen handle es sich um ein zum Zweck der existenziellen „Selbstvergewisserung“ als Parabel angelegtes „Protokoll eines Augenzeugen“ (Esselborn: „Die experimentelle Prosa Peter Weiss’ und der nouveau roman“, 39); Köppens auf das Gesamtwerk beider Autoren ausgerichteter Aufsatz schließlich schwankt zwischen beiden Positionen (cf. „Peter Weiss und Alain Robbe-Grillet“, v.a. 167-171). Georges Felten 122 auf Innovativität erhebt der vorliegende Aufsatz insofern, als er eben diesen zumeist denkbar diffus gebrauchten Begriff zu schärfen versucht und so insbesondere den Status der Erzählinstanzen beider Texte genauer, als dies in der bisherigen Forschung der Fall gewesen ist, zu erfassen vermag. Was etwa den Schatten des Körpers des Kutschers angeht, gehört es zwar zu den Topoi der Weiss-Forschung, den Text als eine Art wissenschaftliches Experiment zu begreifen; anstatt eine solche Charakterisierung ernst zu nehmen und auf ihre Stichhaltigkeit hin zu überprüfen, geht die Kritik allerdings stets vorschnell zu anderen Problemkomplexen über (z.B. Exil, patriarchalische Gewalt). Anstatt demnach schlicht und ergreifend vom alltäglichen Gebrauchssinn des Wortes ‚Objektivität‘ auszugehen, in dem sich - wie von Lorraine Daston und Peter Galison auf überzeugende Weise dargelegt - Ontologisches, Erkenntnistheoretisches und auf Charaktereigenschaften Bezogenes auf schier unentwirrbare Weise überlagern, 2 scheint es mir angebrachter, in einem engeren, damit aber auch spezifischeren Sinne, von der ‚mechanischen Objektivität‘ auszugehen, die in Dastons und Galisons Standardwerk wie folgt definiert ist: Unter mechanischer Objektivität verstehen wir das entschlossene Bestreben, willentliche Einmischungen des Autors/ Künstlers zu unterdrücken und statt dessen eine Kombination von Verfahren einzusetzen, um die Natur, wenn nicht automatisch, dann mit Hilfe eines strengen Protokolls sozusagen aufs Papier zu bringen (Obj 127). Wie wird diese mechanische Objektivität in den beiden Texten inszeniert und kritisch hinterfragt? Das ist die Frage, der ich in meinem Beitrag nachgehen werde. 3 Von besonderem Belang ist in diesem Zusammenhang der Hinweis von Daston/ Galison darauf, dass die mechanische Objektivität als „epistemische Tugend“ (Obj 17) zu deuten sei. Als solche sei sie die Abgrenzung gegen eine als bedrohlich empfundene Subjektivität, die jederzeit Gefahr laufe, ihre 2 Cf. Daston/ Galison: Objektivität, 402sq. Im Folgenden abgekürzt mit Obj. 3 Vorab möchte ich auf den nahe liegenden Einwand gegen die Anwendung eines solchen Objektivitätsbegriffs auf Texte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eingehen: Diesem Einwand zufolge ist die mechanische Objektivität lediglich im letzten Viertel des 19. und im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts wissenschaftliches Leitparadigma, also lange vor der Entstehungszeit der beiden hier zu besprechenden Texte. Doch wurde dieses Leitparadigma nicht einfach vom Nachfolgemodell, das Daston/ Galison „geschultes Urteil“ taufen (cf. Obj 327-383), restlos abgelöst, sondern spielt auch heute in vielen Wissenschaftszweigen eine erhebliche Rolle (cf. Obj 385-387) - ganz zu schweigen davon, dass diese Verfahrensweise im alltäglichen Sprachgebrauch nach wie vor häufig mit ‚Wissenschaftlichkeit‘ schlechthin assoziiert wird (cf. Obj 395sq.): Genau dieses doppelte Fortbestehen der mechanischen Objektivität - als Wissenschaftspraxis und als Mythologie im Barthes’schen Sinne - belegt ausreichend, dass beide Texte hier nicht einfach auf ein veraltetes Wissenschaftsparadigma rekurrieren. „Ces obscurs objets du désir“ 123 „eigenen vorgefaßten Meinungen und Theorien auf Daten und Bilder“ (Obj 141) zu projizieren. Konstitutiv für die „regulative Idee“ (Obj 128) der mechanischen Objektivität sei also ein paradox anmutender „Wille[] zur Willenlosigkeit“ (Obj 41) beim wissenschaftlichen Selbst. Es ist daher sinnvoll, das Augenmerk in den beiden Texten auf die jeweilige Erzählinstanz zu richten: In beiden Texten spielt nämlich die für die mechanische Objektivität charakteristische „leidenschaftliche Ethik der Selbstverleugnung“ (Obj 132) im Hinblick auf die Erzählinstanz eine tragende Rolle, sodass es der hier vertretene Ansatz erlaubt, beide Texte einer grundlegenden Relektüre zu unterziehen. Zuerst werden wir uns dem Schatten des Körpers des Kutschers zuwenden. Am Status der mechanischen Objektivität lässt sich die Strategie, welche die von der im Text nicht als anthropomorphe Figur entworfene auktoriale Instanz verfolgt, exemplarisch aufzeigen: Die auktoriale Instanz greift gezielt auf Versatzstücke des Modells der mechanischen Objektivität zurück, um den Schreibansatz des autodiegetischen Erzählers sowohl zu veranschaulichen als auch zu problematisieren (und insofern auch Kritik an der mechanischen Objektivität selbst zu üben): Beim Ich-Erzähler, der bestrebt ist, die ‚Kontur‘ des von ihm Wahrgenommenen nachzuzeichnen, wird die Selbstverleugnung in solchem Maße auf die Spitze getrieben, dass er mitunter gar als fotomechanisches Aufzeichnungsgerät, als Allegorie der epistemischen Tugend der mechanischen Objektivität, erscheint. Die mit den Wassern der Psychoanalyse gewaschene und insbesondere mit der Mehrdeutigkeit der vom Ich-Erzähler gebrauchten Signifikanten spielende auktoriale Instanz zeigt ihrerseits zwischen dem Zeilen auf, dass vor allem das vom Schreibansatz des Ich-Erzählers ausgeschlossene sinnliche Begehren mehr und mehr in dessen Text hineindrängt und diesen schließlich sogar abbrechen lässt. In einem zweiten Teil werden wir uns mit La Jalousie befassen. Dort besteht der erzähltechnische Kunstgriff der auktorialen Instanz darin, die Erzählinstanz als ein Beispiel von - wie Daston/ Galison es ausdrücken - „Blindsehen“ (Obj 17) zu präsentieren, anders gesagt: Der Leser hat den Eindruck, dass das „innere[] Auge, das Auge des Geistes“ (Obj 147) der mit der Hauptfigur ineinsfallenden Erzählinstanz „absichtlich geblendet worden“ (Obj 147) ist. Es ist das von der auktorialen Instanz gestaltete ironische Widerspiel der beiden vom Leser zu erschließenden Funktionen ‚detachierter, quasi-wissenschaftlicher Beobachter‘ und ‚eifersüchtiger Ehemann‘, welches den Leser ständig zwischen einer objektivistischen und einer subjektivistisch psychologisierenden Deutung schwanken lässt und aus dem Text buchstäblich eine Kippfigur macht. Georges Felten 124 I. „Tu ne veux pas t’en aller? Alors reste et regarde.“ Conchita (Angela Molina), in: Cet obscur objet du désir, 1977 Weder zeitlich noch geographisch genau verortet, beschränkt sich die fiktionale Welt von Der Schatten des Körpers des Kutschers auf eine abgelegene ländliche Pension und deren nähere Umgebung. Einer von elf mehr oder weniger skurrilen Bewohnern bzw. Gästen ist der Ich-Erzähler; zwölfte Figur ist der gleich zu Beginn erwähnte, 4 aber erst im letzten der elf Textabschnitte auftauchende Kutscher. Der Ich-Erzähler ist innerhalb dieser grotesken Mikrogesellschaft ganz offensichtlich isoliert, er bewohnt als einziger eine Dachkammer und richtet, von einer signifikanten Ausnahme abgesehen (cf. Sch 95sq./ 53), kein einziges Mal auch nur ein Wort an seine Mitbewohner. Er ist also mit den von Gunther Witting unter dem Stichwort der ‚hohen Warte‘ zusammengefassten stereotypen Merkmalen des romantischen Künstlermythos ausgestattet, und dem entspricht auch die Beschäftigung, der er nachgeht: Er schreibt seine Beobachtungen nieder. Allerdings erinnert die von ihm angewandte Methode weniger an ein im stereotypen Sinne ‚künstlerisches‘ Programm - Journalführen als Ausdruck von Subjektivität - als an für die mechanische Objektivität kennzeichnende „Laborprotokolle mit Echtzeiteinträgen“ (Obj 40). 5 Dieser Vergleich drängt sich besonders deshalb auf, weil der Ich-Erzähler in der Eingangsbeschreibung visuelle und auditive Eindrücke separat auflistet, ganz so als ob er geflissentlich das vorgefertigte Raster eines Laborprotokolls ausfüllen würde: Durch die halboffene Tür sehe ich den lehmigen, aufgestampften Weg und die morschen Bretter um den Schweinekofen. Der Rüssel des Schweins schnuppert in der breiten Fuge wenn er nicht schnaufend und grunzend im Schlamm wühlt. Außerdem sehe ich noch ein Stück der Hauswand, mit zersprungenem, teilweise abgebröckeltem gelblichen Putz, ein paar Pfähle mit Querstangen für die Wäscheleinen, und dahinter, bis zum Horizont, feuchte, schwarze Ackererde. Dies sind die Geräusche: das Schmatzen und Grunzen des Schweinerüssels, das Schwappen und Klatschen des Schlammes, das borstige Schmieren des Schweinerückens an den Brettern, das Quietschen und Knarren der Bretter, das Knirschen der Bretter und lockeren Pfosten an der Hauswand, die vereinzelten weichen Pfiffe des Windes an der Ecke der Hauswand und das Dahinstreifen der Windböen über die Ackerfurchen, das Krächzen einer Krähe das von weither 4 Weiss: Der Schatten des Körpers des Kutschers (edition suhrkamp, 53), 8. In der Werkausgabe in sechs Bänden befindet sich der Text in Bd. II, 7-56, 7. Im Folgenden zitiert mit Sch, gefolgt von der Seitenzahl aus der edition suhrkamp und der der Werkausgabe. 5 Der Umstand, dass der Text nicht durchgehend im Präsens gehalten ist, der Abstand zwischen dem Geschehen und dessen Niederschrift im Verlaufe des Textes - abgesehen von den durchweg im Präsens stehenden Landschaftsbeschreibungen - immer größer wird, mag hier außer Acht bleiben; entscheidend für meinen Argumentationszusammenhang ist der vom Incipit hervorgerufene Eindruck. „Ces obscurs objets du désir“ 125 kommt und sich bisher noch nicht wiederholt hat (sie schrie Harm), das leise Knistern und Knacken im Holz des Häuschens in dem ich sitze, das Tröpfeln der Regenreste von der Dachpappe, dumpf und hart wenn ein Tropfen auf einen Stein oder auf die Erde fällt, klirrend wenn ein Tropfen in eine Pfütze fällt, und das Schaben einer Säge, vom Schuppen her. (Sch 7/ 9; Hervorhebungen G.F.) Die lautliche Überformung dieses Passus durch eine Reihe ausgeklügelter Alliterationen zeigt allerdings, dass es sich hierbei keineswegs um eine kunstlose, mechanisch objektive Aufzählung handelt. Das später vom Ich- Erzähler explizit formulierte Schreibprogramm wird auf diese Weise von Beginn an hinter seinem Rücken von der auktorialen Instanz problematisiert. Heinz Drügh hat en détail aufgezeigt, dass die im Incipit dominierenden ‚sch‘- und ‚k‘-Alliterationen klanglich auf den Titel des Textes Bezug nehmen; seiner Deutung, dadurch schlage der Text ins Experimentell-Amimetische um, 6 vermag ich jedoch nicht zu folgen; vielmehr suggerieren besagte Alliterationen, dass der Schatten des Körpers des Kutschers von Beginn an trotz - oder gerade wegen seiner körperlichen Abwesenheit - als begehrtes Sinnliches in das Schreiben des Ich-Erzählers hineinspielt, dieses im Breton’schen Sinne geradezu bespukt. 7 Auf diese Weise legt die auktoriale Instanz auf formaler Ebene nahe, dass das Modell der mechanischen Objektivität nicht einfach vorbehaltlos in den Text eingebaut ist; vielmehr führt sie dem Leser, indem sie auf bestimmte Versatzstücke dieses Modells zurückgreift, das Vorgehen des Ich-Erzählers sowie dessen Ungereimtheiten vor Augen. Die Art und Weise, wie der Ich-Erzähler selbst sein Schreiben thematisiert, ermöglicht es, die eben angeführte These zu vertiefen: Zunächst treten auch hier die Parallelen zur wissenschaftlichen Methode der mechanischen Objektivität hervor. Von grundlegender Bedeutung für das Schreiben des Ich-Erzählers ist nämlich - wie er selbst konstatiert - seine „Selbstvergessenheit“ (Sch 9/ 10). Auch in diesem Fall allerdings weicht das Verhalten des Ich-Erzählers vom methodischen Verfahren der mechanischen Objektivität ab, ist seine ‚Selbstvergessenheit‘ doch nicht als „Wille[] zur Willenlosigkeit“ (Obj 41) zu begreifen, also als Entschluss des Ich-Erzählers, sondern „überk[o]m[mt]“ (Sch 9/ 10) ihn vielmehr unwillkürlich: Der Ich- Erzähler wird buchstäblich à son corps défendant zu einem Vertreter der epistemischen Tugend der mechanischen Objektivität stilisiert. Besonders deutlich wird die differenzierende Schreibstrategie der auktorialen Instanz im Hinblick auf das mimetische, geradezu ikonische Moment im Schriftbegriff des Ich-Erzählers: Geht es dem der mechanischen Objektivität verpflichteten wissenschaftlichen Selbst um die „Korrektheit jeder Linie“ (Obj 156), um die „peinlich genaue Nachzeichnung des […] Objekts“, sodass die „Aufgabe der Hand […] im Prinzip nur die 6 Cf. Ästhetik der Beschreibung, 378sq. 7 Zum Ausdruck ‚hanter‘ aus dem Incipit von Nadja - Peter Weiss’ Lieblingsbuch -, cf. die Ausführungen von Jan Söffner in diesem Band. Georges Felten 126 Nachahmung und Bestätigung dessen [ist], was das Auge s[ieht]“ (Obj 194), so macht der Ich-Erzähler gleichermaßen „das Sehen zu einer Beschäftigung“, wie er in der zentralen programmatischen Stelle des Textes ausführt; er zeichnet „[m]it dem Bleistift die Geschehnisse vor [s]einen Augen nach[]“ (Sch 48/ 30). Gemäß des für die mechanische Objektivität charakteristischen Primats des Visuellen beschränken sich die Äußerungen des Ich- Erzählers zu seinem Schreiben also weitgehend aufs Beschreiben des ‚Gesehenen‘. Signifikanterweise spricht der Ich-Erzähler dabei sogar von ‚Nachzeichnen‘ - und nicht etwa von ‚Niederschreiben‘ -, wodurch auch das zu Beginn dieses programmatischen Abschnitts verwendete Substantiv ‚Aufzeichnungen‘ (cf. Sch 47/ 29) rückblickend in einem anderen Licht erscheint: Pencil of Nature, 8 die zur Blütezeit der mechanischen Objektivität kursierende Metapher für ihr Leitmedium, die Fotografie, wird in Der Schatten des Körpers des Kutschers beim Wort genommen, das nachzeichnende Schreiben begreift sich programmatisch-utopisch als ein ikonisches. Auch hier wiederum liegt allerdings eine auf die übergeordnete, von der auktorialen Instanz verfolgte Schreibstrategie verweisende Abweichung vom Modell der mechanischen Objektivität vor, schreibt der Ich-Erzähler doch in einem der wenigen - und damit umso auffälligeren - Finalsätze des Textes, sein Nachzeichnen verfolge einen bestimmten subjektiven Zweck: Es sei dazu da, „um […] dem Gesehenen eine Kontur zu geben“ (Sch 48/ 30; Hervorhebung G.F.). Zwischen dem vorgeblich bloß nachzeichnenden Schreiben des Ich-Erzählers und dem unleugbar subjektiven Eingriff des Konturengebens gibt es eine Spannung, die der Ich-Erzähler selbst jedoch - und das ist entscheidend - nicht als solche wahrnimmt. Primär ist für ihn, dass er sich „an die Eindrücke h[ä]lt“ (Sch 47/ 29). Er sieht also weiterhin von sich selbst ab, und die grundsätzliche ‚Selbstvergessenheit‘ seines Schreibens wird insofern nicht dementiert, als er nach wie vor insbesondere die eigene Körperlichkeit, das eigene sinnliche Begehren völlig ausklammert. Gerade auf diese nun aber hatte die auktoriale Instanz bereits in der ersten Sequenz, in welcher der Ich-Erzähler zum ersten Mal die von ihm selbst ausgelösten Halluzinationen schildert und in welcher dem Modell der mechanischen Objektivität wiederum eine gewichtige Funktion zukommt, das Augenmerk des Lesers gelenkt, um nahezulegen, dass die Schreibdynamik des Ich-Erzählers in nicht unerheblichem Maße von diesen von ihm verleugneten bzw. verdrängten Momenten abhängt. Ein Vertreter der mechanischen Objektivität hat sich vor allem bei der Selbstbeobachtung, wenn „das Selbst künstlich in einen aktiven Experimentator und einen passiven Beobachter“ (Obj 40) gespalten werden soll, nach Kräften danach zu bemühen, „sich in ein Aufnahmegerät zu verwandeln“ (Obj 148). Und 8 Zu Wilhelm Henry Fox Talbots Schrift The Pencil of Nature, cf. Stiegler: Philologie des Auges, 44-55, v.a. 46: „Der sprichwörtliche Zeichenstift der Natur verleugnet den Zeichencharakter des photographischen Bildes und gibt sich als Natur selbst aus“. „Ces obscurs objets du désir“ 127 genau zu einem solchen stilisiert sich der Ich-Erzähler realiter - allerdings wiederum ohne dies selbst zu erkennen -, wenn er sich in seiner Kammer dem „Erdenken von Bildern“ (Sch 18/ 15) hingibt. Er streut sich dazu Salzkörner in die Augen, um seine „Tränendrüsen zu reizen, und damit [s]einen Blick verschwommen zu machen; die entstehenden Tränenfäden, Lichtpünktchen und anschwellenden und zerfließenden Lichtkeile legen sich über das deutlich in [s]eine Netzhaut eingeätzte Abbild des Raumes“ (ibid.). 9 Die Wahrnehmung der Außenwelt wird also anhand des Modells der Ätzradierung beschrieben - anhand eines Verfahrens, das bei den Verfechtern der mechanischen Objektivität aufgrund seiner zu ausgeprägt künstlerisch-subjektiven Komponente in eher zweifelhaftem Ruf stand. Und das „Erdenken von Bildern“ bzw. die Fantasie, ist seinerseits streng physiologisch nach dem Modell der Fotografie konzipiert: auch dort spielen ja Salzkörner (genauer: Silberhalogenidkristalle) 10 in Verbindung mit einer Wasserlösung (im Weiss-Text wird die Funktion von der Tränenflüssigkeit wahrgenommen) bei der Entwicklung, also dem Sichtbarmachen eines latenten Bildes, eine entscheidende Rolle. 11 Die auktoriale Instanz inszeniert an dieser Stelle den Ich-Erzähler geradezu als Allegorie der epistemischen Tugend der mechanischen Objektivität: Je größer die Gefahr der subjektiven Einmischung in die Wahrnehmung, umso automatisiert mechanischer das Referenzmodell. Der Fortgang des Textes belegt allerdings, dass dieses Ordnungsmodell des Ich-Erzählers nur vorübergehend Bestand hat. Die in Echtzeit aufgezeichnete Halluzination endet mit einem Filmriss - bezeichnender- 9 In mancherlei Hinsicht erinnert dies an die durch elektrische Stimulationen einzelner Gesichtspartien oder mechanischen Druck des Augapfels hervorgerufenen Lichtfiguren von Jan Purkinje, einem Pionier auf dem Gebiet der Sinnesphysiologie aus den 1820er Jahren (cf. Obj 294sq.). Auch Drügh verweist auf Purkinje (cf. Ästhetik der Beschreibung, 398sq.), sieht allerdings an dem scheinbar unerheblichen Detail vorbei, dass der Ich-Erzähler einen anderen Stimulus als Purkinje einsetzt, und deutet die Textsequenz im Sinne seiner These, der Schatten des Körpers des Kutschers sei ein „medienarchäologische[r] Mikro-Roman“ (Ästhetik der Beschreibung, 401), als geglückte Schaffung virtueller Realitäten (cf. Ästhetik der Beschreibung, 397). Diese eskapistische Funktion des ‚Erdenkens von Bildern‘ ist zwar sehr wohl im Text präsent, nur zieht Drügh eigenartigerweise das weiter unten von mir besprochene dysphorische Ende der Sequenz nicht in Betracht und wird damit ihrer Dynamik nur bedingt gerecht. (Cf. auch allgemein die Ausführungen zu den methodisch herbeigeführten Halluzinationen bei Baudelaire, die in Niklas Benders Beitrag zum vorliegenden Band besprochen werden.) 10 Cf. Der Brockhaus in drei Bänden, Bd. I, 754. Strässle deutet das Salz, was die hier besprochene Textsequenz betrifft, als „Regisseur der Bildproduktion“ (Salz , 240) und geht damit an dessen spezifischer Adjuvanten-Funktion vorbei. 11 Angemerkt sei zudem, dass sich Fotografiestudios - zumindest im 19. Jahrhundert - wegen der Lichtverhältnisse oft auf der obersten Etage befanden (cf. Snyder: „Res Ipsa Loquitur“, 206), ebenso wie die Kammer des Ich-Erzählers gleich unter dem Dach liegt. Georges Felten 128 weise gerade dann, als das plötzlich auf einem Altan, „hoch über einer nächtlichen Stadt“ (Sch 20/ 16) stehende Ich per Zoom-Effekt und wie mit einem vertikalen Panorama-Schwenk einen sich auf der Dachterrasse auf der gegenüberliegenden Straßenseite befindenden, teilweise im Schatten liegenden Frauenkörper abtastet: [I]ch beugte mich über die Balustrade, dem weiblichen Körper entgegen; seine Nähe war so stark fühlbar, daß ich die Vorspiegelung mit einer Wirklichkeit verwechselte und eine heftige Bewegung mit meinen Armen vollführte, womit ich unmittelbar das Bild zerriß. (Sch 20/ 17; Ende des dritten Abschnitts) Ob der dem Ich-Erzähler unbewusst bleibenden Realität des Begehrens kommen ganz offensichtlich die vorher nahe gelegten Kategorisierungen durcheinander, und der Ich-Erzähler disqualifiziert sich dadurch als Vertreter der mechanischen Objektivität. Genauso wie hier das ‚Bild zerreißt‘, setzt der Ich-Erzähler dann auch am Ende des Textes, auf das die Altan- Sequenz offensichtlich vorausweist, keinen Schlusspunkt, sodass dieser unvermittelt abbricht (cf. Sch 100/ 56), nachdem er aus seiner Kammer - also, um im Wortfeld der Fotografie zu verbleiben, seiner camera obscura bzw. Dunkelkammer - heraus beschrieben hat, wie die in den Innenhof projizierten Schatten der Haushälterin und des Kutschers miteinander verkehren: Dort ist es also die Wahrnehmung der Außenwelt, die vom unbewusst bleibenden Begehren überwuchert wird. 12 Weiter in Frage gestellt wird das Verhalten und das Schreibprogramm des Ich-Erzählers in dieser Sequenz durch ein von der auktorialen Instanz betriebenes Spiel mit der Mehrdeutigkeit der vom Ich-Erzähler gebrauchten Signifikanten: In der Tat kann man das Sich-Salzkörner-in-die-Augen- Streuen als verdichtete Montage 13 zweier Redewendungen begreifen; angedeutet wird durch diese Überblendung von ‚jemandem Sand in die Augen streuen‘ und von ‚Salz in offene Wunden streuen‘, 14 dass sich der Ich- Erzähler nicht nur auf einem Irrweg befindet, sich selbst blendet, sondern 12 Hensing erkennt zwar, dass der Wahrnehmung der Außenwelt und den Halluzinationen eine gleiche Dynamik zugrunde liegt (cf. „Die Position von Peter Weiss“, 170), sieht aber an deren Spezifizität vorbei. Das hängt insbesondere damit zusammen, dass er der sexuellen Überdeterminierung des gesamten Textes lediglich eine kurze Fußnote widmet (cf. „Die Position von Peter Weiss“, Anm. 44, 187), sie ansonsten aber nicht berücksichtigt. 13 Dass es sich hierbei um ein wichtiges Schreibverfahren des Textes handelt, hat Peter Weiss nicht zuletzt dadurch hervorgehoben, dass er dem Schatten des Körpers des Kutschers 1959, als sich erstmals eine konkrete Veröffentlichungsmöglichkeit abzeichnete, Collagen beigefügt hat. Weiss scheint insofern „zunächst im Text die Ästhetik der Collage zu reflektieren, bevor er sie in Film und Bild realisierte“ (Ivanovic: „Die Ästhetik der Collage“, 73). 14 Darauf hat zuerst Ivanovic hingewiesen (cf. „Die Sprache der Bilder”, 54sq.). Mit ihrer Deutung bin ich jedoch genauso wenig einverstanden wie mit denen von Komfort- Hein (cf. „‚Inzwischenzeit‘“, 355) und Strässle (cf. Salz, 248), die im hier gegebenen Rahmen allerdings nicht en détail diskutiert werden können. „Ces obscurs objets du désir“ 129 seine Lage gar nur noch schlimmer macht: Er streut sich Salz in die offenen, bereits wunden Augen - man denke hier insbesondere an den Ausdruck „eingeätzt“, der im vorhin angeführten Passus im Zusammenhang mit der Raumwahrnehmung vorkommt und ebenfalls der Isotopie der Versehrtheit zuzuordnen ist. Das hier von der auktorialen Instanz angewandte Verfahren ist an die surrealistische Schreibpraxis der Verfremdung von sprichwörtlichen Redensarten und, darüber hinaus, an Freuds Ausführungen aus der Traumdeutung zur Verdichtung angelehnt. 15 So ließe sich zeigen - was im hier vorgegebenen Rahmen selbstverständlich nicht möglich ist -, dass insbesondere das der „Traumarbeit“ gewidmete Kapitel der Traumdeutung nicht nur ein wichtiger Motivspender für die offenkundig sexuelle Dingsymbolik vieler Passagen ist, sondern - weitaus grundlegender - auch die Strukturprinzipien des Textes selbst ‚informiert‘, spielt die auktoriale Instanz doch immer wieder hinter dem Rücken des Ich-Erzählers mit Verschiebungen und Verdichtungen verschiedenster Art, wodurch das Augenmerk des Lesers qua Intertext auf das Unbewusste des Ich-Erzählers gelenkt wird. 16 Ungeachtet der über psychoanalytische und surrealistische Intertexte vermittelten Kritik, die auf der Textebene an dem vom Ich-Erzähler aufgestellten, vom eigenen Innenleben absehenden Schreibprogramm geübt wird, ist es jedoch offensichtlich so, dass dieses Programm für den Ich- Erzähler das einzig mögliche ist, um der als aggressiv erfahrenen, ‚sich aufdrängenden Umgebung‘ (cf. Sch 48/ 29), aber auch dem „Nichts“ (Sch 47/ 29), in das sämtliche vorangegangene, offensichtlich anders ausgerichtete Schreibversuche von ihm eingemündet sind, zu entgehen; es handelt sich für ihn darum, sich überhaupt an etwas festhalten zu können, so „nichtig“ (Sch 48/ 29) es auch sein mag. 17 Hier ist denn auch die fundamentale vom Text aufgeworfene Frage zu suchen. Der Ansatz des Erzähler-Ichs scheint der einzig mögliche - in dieser Hinsicht wird das Erzähler-Ich bezeichnenderweise auch nicht von der auktorialen Instanz desavouiert -, kann aber - so legt die auktoriale Instanz immer wieder nahe - nicht dauerhaft durchgeführt werden, da insbesondere die vom Ich-Erzähler verleugnete Körperlichkeit, das verdrängte Begehren, zusehends in sein Schreiben hineindrängt und es schließlich abreißen lässt. Anders gesagt: Innerhalb des Textes gibt es einen Konflikt zwischen dem 15 Peter Weiss hat sich zu Beginn der 1950er Jahre einer zweiten Psychoanalyse unterzogen und sich eingehend mit psychoanalytischen Schriften auseinandergesetzt (cf. v.a. Schmolke: „Das fortwähende Wirken“, 478-498). 16 Cf. dazu ausführlicher zwei der dem Schatten des Körpers des Kutschers gewidmeten Kapitel meiner Dissertation: „Psychopathologie des Schubkarrens“ und „Vom Kohlenzum Bedeutungstransport“. 17 So auch Vormweg (cf. Peter Weiss, 42), der allerdings übersieht, dass diese Position wiederum von der auktorialen Instanz problematisiert wird. Georges Felten 130 Schreibprogramm des Ich-Erzählers, das dem Leser insbesondere durch Anklänge an die epistemische Tugend der mechanischen Objektivität eindringlich-grotesk vor Augen geführt wird, und einer von der auktorialen Instanz aufgrund der Dynamik des Gesamttextes nahe gelegten Konzeption des Selbst, in die auch das Begehren und die Körperlichkeit eingegliedert sind. Das ausgeklügelte Erzähldispositiv lässt den Schatten des Körpers des Kutschers als ein Oxymoron erscheinen: als ein sachliches Psycho-Drama. II. „Et toi, ce que tu aimes, c’est ce que je te refuse, ce n’est pas moi.“ Conchita (Carole Bouquet), in: Cet obscur objet du désir, 1977 Auch für die Konstitution der Erzählinstanz aus La Jalousie spielt die für die mechanische Objektivität charakteristische Metapher des ‚Blindsehens‘ eine tragende Rolle. Die mit der Hauptfigur ineinsfallende Erzählinstanz ist hier sowohl als detachierter Beobachter als auch als eifersüchtiger Ehemann konzipiert. Genauer gesagt: Sie ist - in ironischer Überspitzung - konstruiert nach dem Modell eines Verfechters der epistemischen Tugend der mechanischen Objektivität, der im paradoxen Selbstexperiment die eigene Eifersucht unter Absehung jeglicher psychologischer Introspektion in Echtzeit aufzeichnet. Durch diesen erzähltechnischen Kunstgriff lässt der Text durchweg sowohl eine ‚objektivistische‘ 18 als auch eine ‚subjektive‘, psychologisierende Lesart 19 zu. Der Text ist so angelegt, dass der Schwerpunkt ständig zwischen der Funktion ‚detachierter Beobachter‘ und der Funktion ‚eifersüchtiger Ehemann‘ hin- und herschwankt; daraus resultiert im ersten Fall, dass das Probandum ‚Eifersucht‘ unter den Gegenstandsbeschreibungen verloren geht; und im zweiten Fall bewirkt dies, dass zwar sämtliche, nunmehr als psychologische Projektionen lesbar werdende Gegenstandsbeschreibungen auf das suspekte Verhalten der Ehefrau A… verweisen, der Ehemann aber nie zu einer eindeutigen 18 Neben Robbe-Grillets eigenen frühen theoretischen Essays wie „Une voie pour le roman futur“ (1956) und „Nature, humanisme, tragédie“ (1958) (cf. Pour un nouveau roman, 15-23, 45-67, besonders 20-22, 47sq., 65sq.) liefert ein Aufsatz von Barthes das sprechendste Beispiel für diese Position (cf. „Littérature objective“). 19 Klassische Beispiele für diese Lesart sind Morrissette (Les Romans de Robbe-Grillet) und Anzieu („Le discours de l’obsessionnel“), und in jüngerer Zeit vor allem Monneyron (L’Écriture de La Jalousie). Aber auch die politischen Lesarten (cf. Leenhardt: Lecture politique du roman und Lane: „The stain, the impotent gaze and the theft of ‚jouissance‘“) bauen auf dieser Hypothese auf. Einen Sonderfall stellt eine vornehmlich auf die Phänomenologie abhebende ideengeschichtliche Lesart dar, da sie sich auf keinen der Pole subjektiv/ objektiv festlegen lässt (cf. zuletzt Sick: „Nathalie Sarraute, Portrait d’un inconnu [1948] und Alain Robbe-Grillet, La Jalousie [1957]“, v.a. 286sq. u. 295sq.). Ihre Schwäche besteht darin, dass sie das ironische und spielerische Moment des gesamten Beobachtungsdispositivs leider geflissentlich übersieht. „Ces obscurs objets du désir“ 131 Gewissheit bezüglich seines Verdachtes gelangt. Komplementär zur Aussparung des Erzähl- und Handlungssubjekts ist also das Sich-Entziehen des jeweilig begehrten Objekts. Welche Lesart nun die richtige ist, muss - so meine These -, wenngleich die psychologisierende im Verlaufe des Textes auch an Plausibilität gewinnt, offen bleiben. 20 Bereits der Titel bringt dies auf den Punkt, bleibt es ja unentscheidbar, ob La Jalousie denn nun im psychologischen Sinne als Eifersucht oder im ‚objektivistischen‘ als Sonnenschutz zu lesen ist. Der gesamte Text ist als Kippfigur konzipiert, 21 und die Figur der Syllepse bildet dementsprechend das wichtigste rhetorische Stilmittel. 22 Im Mittelpunkt der folgenden Analysen soll denn auch die Funktion des Modells der mechanischen Objektivität innerhalb dieses Kipp- Dispositivs stehen. Zunächst lässt sich die von psychologischer Introspektion absehende Erzählweise als ironisch-rigorose Umsetzung eines der Grundprinzipien der epistemischen Tugend der mechanischen Objektivität deuten: Die Funktion ‚detachierter Beobachter‘ blendet - mit Daston/ Galison zu sprechen - ihr „inneres Auge, das Auge des Geistes“ (Obj 147) aus. Diese Selbstverleugnung wird bekanntlich so weit getrieben, dass jeglicher Gebrauch der 1. Person Singular und jeglicher reflexive Bezug der Erzählinstanz zum eigenen Körper 23 aus dem Text getilgt ist; die Präsenz eines mit der 20 In einer leider allzu kursorischen Fußnote merkt Genette an, La Jalousie könne „ad libitum“ (Figures III, Anm. 2, 231) objektivistisch oder psychologisch gelesen werden, geht allerdings weder auf die Strategien ein, mit denen die auktoriale Instanz beide Lesarten als mögliche ausweist, noch auf deren genauen Nexus. Für Küpper ist das Umkippen vom Objektiven ins Subjektive ein sich im Verlaufe des Lesens ein für allemal vollziehender Schwelleneffekt (cf. Ästhetik der Wirklichkeitsdarstellung und Evolution des Romans, 179sq.), während ich demgegenüber zeigen möchte, dass in dem Text ein spielerisches Moment angelegt ist, das ein unablässiges Umkippen in beide Richtungen bewirkt; insofern scheint mir denn auch, dass die ‚Darstellungs‘-Poetik in La Jalousie nicht so sehr dadurch erschüttert wird, dass - wie Küpper argumentiert - die Abwesenheit einer als eifersüchtig konstituierten Figur den Lesereflex der psychologischen Reduktion ins Leere laufen lässt, als dadurch, dass das „je-néant“ (Morrissette, Les Romans de Robbe-Grillet, 112) zur Folge hat, dass der Status des Geschilderten zu keinem Zeitpunkt eindeutig festlegbar ist und in der Schwebe verbleiben muss. 21 Beim Öffnen oder Schließen einer Jalousie kippen deren Lamellen von der Vertikale in die Horizontale - oder umgekehrt. Insofern verweist auch das Denotat der wörtlichen Bedeutung von ‚jalousie‘ auf die Figur der Syllepse. 22 Die für sämtliche Romane Robbe-Grillets maßgebliche Rolle der strukturellen Analogie wurde in vielen Untersuchungen herausgearbeitet (cf. v.a. Ricardou: Problèmes du nouveau roman, 134-136), die der besonders in La Jalousie zum Tragen kommenden Syllepse hingegen erstaunlicherweise überhaupt nicht. So spricht z.B. Baudelle von einer „équivoque“ („La Jalousie d’Alain Robbe-Grillet“, 160), und Vassilev, der noch einige weitere Beispiele aus dem Text anführt, von einer Homonymie (cf. „Fiction théorique“, 309 u. Anm. 33, 312); weil keiner der beiden Autoren die Wortfigur als Syllepse identifiziert, streicht auch keiner ihre grundlegende strukturelle Bedeutung für den gesamten Text hervor. 23 Cf. Kahr: Entpersönlichende Personenerwähnung, 179sq. Georges Felten 132 Erzählinstanz identischen menschlichen Individuums (in Gestalt des Ehemanns) erschließt sich lediglich aus den „temporalen und lokalen Deiktika“ 24 und aus dem situativen Kontext (überzähliges Tischgedeck, überzähliger Stuhl usw.). 25 All dies ist wohl bekannt und oft genug in der Forschung herausgearbeitet worden. Weniger - um nicht zu sagen: überhaupt nicht - wurde hingewiesen auf Sätze wie „l’œil, qui s’accoutume au noir“ 26 oder „le profil vivement éclairé persiste ensuite sur la rétine“ (J 140 [es handelt sich um das Profil von A…]). Beide Sätze kehren die Organizität des Erzählerblicks hervor, der also explizit nicht mit einer fleischlosen Kamera identisch ist. Wie bei den Sinnesphysiologen des 19. Jahrhunderts gelingt es der Erzählinstanz, durch eine „vollständige visuelle Passivität“ (Obj 294) ausschließlich die objektiven visuellen Eindrücke präzise festzuhalten. Allerdings hält die Nachbildwirkung im zuletzt zitierten Satz außerordentlich lange an, wie der Fortgang des Textes zeigt: „Dans la nuit noire où rien ne surnage des objets, même les plus proches, la tache lumineuse se déplace à volonté, sans que sa force s’atténue, gardant la découpure du front, du nez, du menton, de la bouche…“ (J 140sq.). Dies spielt wiederum einer psychologisierenden Lesart in die Hände, die hierin einen Ausdruck der Obsession des sich betrogen wähnenden Ehemanns erkennen mag. Um seine Beobachtungen möglichst wenig durch subjektive Faktoren verzerren zu lassen, greift das wissenschaftliche Selbst der mechanischen Objektivität auf eine Reihe von genormten technischen Hilfsmitteln zurück, so u.a. auf millimeterfeine Gitternetze (cf. Obj 40). Auch dieser Rasterblick findet in La Jalousie eine Entsprechung, wenn die auf der Terrasse sitzende A… oder die tropische Landschaft durch die Lamellen der Jalousie hindurch beobachtet bzw. überwacht werden (cf. J 51sq. u. 180). 27 Das von der Funktion ‚eifersüchtiger Ehemann‘ begehrte Objekt A… ist zwar als Beobachtetes und als Projektionsfigur allgegenwärtig, bleibt jedoch bis zuletzt einer eindeutigen Überführung entzogen. Ironisch kommt dies in der 24 Cf. Kahr: Entpersönlichende Personenerwähnung, 166-170, 166. 25 Cf. Kahr: Entpersönlichende Personenerwähnung, 171-173. 26 Robbe-Grillet, La Jalousie, 29. Im Folgenden abgekürzt mit der Sigle J. 27 Es ist schwer, an dieser Stelle nicht auf das von Michel Foucault beschriebene Überwachungsdispositiv des Panoptikums zu verweisen; die Fenster von dessen zentralem Überwachungsraum sind ja ebenfalls mit „persiennes“ (Surveiller et Punir, 235) - also einer Art Jalousien - versehen, damit der Zelleninsasse jederzeit zu sehen ist, ohne dass er seinerseits den Aufpasser erblicken könnte. Macht wird auf diesem Wege, so führt Foucault aus, automatisiert und entindividualisiert - und genau dies passiert ja auch mit der Erzählinstanz, so wie sie in La Jalousie inszeniert wird. Man denke zudem daran, dass in La Jalousie mehrmals in zweideutigem Sinne von einem „poste d’observation“ (J 13 u. 184) die Rede geht und A…’s Zimmer einmal sogar als „refuge“ (J 187) bezeichnet wird. Für eine politische Lektüre von Robbe-Grillets Text ist die Jalousie demnach ein wesentlicher Bestandteil, wie die - allerdings nicht auf das Panoptikum verweisende - Arbeit von Leenhardt denn auch belegt (cf. Lecture politique du roman, v.a. 61-63). „Ces obscurs objets du désir“ 133 Sequenz zum Ausdruck, in der die Erzählinstanz nicht nur durch das horizontale Raster der Jalousie, sondern zusätzlich durch das vertikale der Balustrade blickt, um sogar noch das in den Blick zu bekommen, was die auf der Terrasse sitzende A… sieht; das Resultat dieser Operation ist denkbar ernüchternd, denn von der tropischen Landschaft wird so bloß noch ein kläglicher Rest, „peut-être le tiers du tiers“ (J 52), erspäht. Dadurch wird die psychologische Binsenweisheit, die Eifersucht, la jalousie, verwehre dem von diesem Affekt Heimgesuchten einen ungetrübten Blick auf die Dinge, von der auktorialen Instanz ironisch beim Wort genommen und ins Trivial- Gegenständliche heruntergebrochen. Der ‚detachierte Beobachter‘ bemerkt seinerseits aufgrund des der epistemischen Tugend der mechanischen Objektivität geschuldeten Imperativs der Nicht-Einmischung in das Experiment nicht, was dieses eigentlich antreibt: Er erkennt nicht, dass es sich dabei um ‚Eifersucht‘ handelt, sondern sieht sich schlicht und ergreifend dem zufällig mit ‚Jalousie‘ zu bezeichnenden Gegenstand gegenüber. Eine der mechanischen Objektivität verpflichtete Wissenschaftshörigkeit wird durch diese durchgehende Doppelbödigkeit von der auktorialen Instanz demnach genauso auf die Schippe genommen wie die auf das Literaturklischee der Eifersucht gerichteten psychologisierenden Erwartungen des Lesepublikums. Dieser Befund wird bestätigt durch eine Sequenz, in der die Erzählinstanz durch das verschlossene Fenster des Speisezimmers in den Vorderhof blickt und dabei die durch die Mängel im Glas verursachten Verzerrungen gewissenhaft beschreibt (cf. J 55, sowie 74), genauso wie das der mechanischen Objektivität verpflichtete wissenschaftliche Selbst von Geräten erzeugte Artefakte, etwa Kratzer auf der Linse oder optische Verzerrungen, nicht wegtilgt, um ja nicht den Verdacht eines subjektiven Eingriffs aufkommen zu lassen (cf. Obj 149, 172 u. 180-182). An einer anderen Stelle lässt die Erzählinstanz dann einen Ölfleck eben dank der Unreinheiten im Glas verschwinden und liefert dem Leser die Beschreibung einer experimentellen Vorgehensweise, die vollkommen von der psychologischen Eifersuchtsdynamik losgekoppelt zu sein scheint, gleich mit: „Il est aisé de faire disparaître cette tâche, grâce aux défauts du verre grossier qui garnit la fenêtre: il suffit d’amener, par tâtonnements successifs, la surface noircie en un point aveugle du carreau“ (J 126sq.). Der Ausdruck ‚point aveugle‘ aus dem Gebiet der exakten Naturwissenschaften lässt aufhorchen. Das beschriebene Verfahren erinnert nämlich zunächst an ein wohlbekanntes Experiment, mit dem der blinde Fleck des menschlichen Auges zu Bewusstsein gebracht werden kann, indem ein schwarzer Punkt durch das Schließen eines Auges zum Verschwinden gebracht wird. Gerade dieser Passus bringt allerdings auch den blinden Fleck des Textes zum Vorschein: die doppelgesichtige Erzählinstanz. Wie eine strukturelle Analogie nahelegt, ist nämlich auch in diesem Fall eine psychologisierende Interpretation alles andere als abwegig, wird der Ölfleck im Hof doch mit Georges Felten 134 den gleichen Worten beschrieben wie die Überreste des Tausendfüßers an der Wand des Speisezimmers; zudem befinden sich letztere genau gegenüber dem Fenster, aus dem die Erzählinstanz hier blickt, und sie bilden - wie Morrissette 28 eindrücklich gezeigt hat - in einer psychologischen Lesart den leitmotivartig wiederkehrenden Ausgangspunkt für die Eifersuchtsphantasien des sich betrogen wähnenden Ehemanns: Franck tritt nämlich durch die resolute Tötung des von A… gefürchteten Tausendfüßers an die Stelle des Ehemanns. Im Gegensatz zum banalen Ölfleck, der vorübergehend dank eines optischen Tricks zum Verschwinden gebracht wird, ist dies beim schwarzen Fleck des Tausendfüßers nicht möglich (cf. J 129-131) - psychologisch gewendet: Der Verdacht ist nicht zu verbannen. Genauso wenig allerdings findet der Ehemann Gewissheit, worauf die Form der Überreste des Tausendfüßers hindeutet - sie bilden einen „point d’interrogation“ (J 56); in der objektivistischen Lesart verweist das gleiche Detail auf die Unfähigkeit des detachierten Beobachters, das Probandum ‚Eifersucht‘ als solches zu identifizieren, es auf den Punkt zu bringen. Die Dynamik des sich so - je nach Lesart verschiedenen - entziehenden Objekts wird von der auktorialen Instanz beim Namen genannt, wenn im achten und vorletzten Abschnitt explizit von einem „objet perdu“ (J 183) die Rede ist, als ein bereits vorher mehrmals beschriebener, auf der Brücke unterhalb des Hauses kniender Eingeborener ins Wasser späht, und im gleichen Abschnitt A… „un objet qui lui échappe“ (J 185) sucht. Auch die eigentümliche, nach dem Paroxysmus des siebten Textabschnitts einkehrende Ruhe in den zwei letzten Abschnitten lässt sich im Sinne der eben dargelegten Interpretationshypothese eines Objektverlustes auf originelle Weise deuten. Zieht man nämlich in Betracht, dass gerade im achten Abschnitt das semantische Feld der ‚Verfolgung‘ zusehends in den Vordergrund rückt, dass z.B. A…’s Zimmer als „refuge“ mit verschiedenen „possibilités de fuite“ (J 187) bezeichnet wird, so wird die Möglichkeit eines (fantasmatischen oder realen) Eifersuchts-Mordes zwischen dem achten und dem neunten Abschnitt angedeutet; 29 dieses Ende stellt eine psychologisch vielfältig interpretierbare Alternative zum im Text dominierenden trivialen Schlussszenario dar, in dem A… sich auf doppelbödige Weise nach der ominösen Reise in die Hafenstadt über Francks mangelhafte Liebeskünste mokiert und Franck nunmehr jeweils den ersten sich bietenden Vorwand wahrnimmt, um sich von A… (und ihrem Ehemann) zu verabschieden. 30 28 Cf. Les Romans de Robbe-Grillet, 143. 29 Bezüglich des im Text sich auf den knienden Eingeborenen beziehenden Verbs ‚guetter‘ (cf. J 183: „Il a l’air de guetter quelque chose“), spricht Morrissette vom „thème vaguement inquiétant d’une noyade possible, qui reflète sans doute un désir inexprimé du narrateur“ (Les Romans de Robbe-Grillet, 124); jedoch systematisiert er diese Hypothese nicht zu der eines (fantasmatischen) Mords, um sich ausschließlich dem versöhnlich-trivialen Ausgang zu widmen. 30 Insofern träfe mutatis mutandis Warnings auf Le Voyeur gemünzte Feststellung auch auf La Jalousie zu: „Der Roman verweigert die Geschichte eines Sexualmordes, um statt „Ces obscurs objets du désir“ 135 Auf die Möglichkeit eines Gewaltverbrechens und damit eines Objektverlusts der etwas anderen Art verweisen ja zudem zwei Bestandteile der Jalousie, die „lames“ und deren „tranchants“ (cf. J 180), wobei die Bedeutung ‚Klinge‘ im Text selbst explizit in der „lame de rasoir“ (J 131) aktualisiert wird, mit der die Erzählinstanz vergeblich versucht, die Überreste des von Franck getöteten Tausendfüßers an der Wand des Speisezimmers wegzukratzen. Vor allem allerdings wird, bezeichnenderweise kurz bevor der Text abbricht, beschrieben, wie von einem der Fensterborde eine „traînée rougeâtre“ (J 210) an der Außenwand entlang hinabfließt. Da der Ausdruck ‚traînée‘ sowohl ‚Rinnsal‘ als auch ‚Schlampe‘ bedeuten kann, eröffnet er zusammen mit dem Farbausdruck ‚rougeâtre‘ die Möglichkeit einer doppelten Lesart: Es könnte sich zunächst um ein Indiz für eine ähnlich wie in Le Voyeur im Text ausgesparte Bluttat bzw. Mordfantasie handeln. Signifikanterweise schlüpft die Funktion ‚detachierter Beobachter‘ nun ihrerseits gerade nicht in die Haut eines Indizien sammelnden Detektivs, dessen Blick ja ebenfalls - zumindest in den Klassikern des Genres - auf entscheidende Weise vom Modell der mechanischen Objektivität beeinflusst ist; 31 in dieser Lesart bezeichnet die ‚traînée rougeâtre‘ nämlich einfach die unter der abgeblätterten Farbe der Fassade zum Vorschein kommende Naturfarbe - „brun rougeâtre“ (J 182) - des Holzes. Schließlich ist die Logik des sich entziehenden Objekts auf einer Meta- Ebene als Aufruf an den Leser zu verstehen, seinerseits das den Status des Textes betreffende Rätsel, auf den insbesondere der von den Überresten des ominösen Tausendfüßers gebildete „point d’interrogation“ (J 56) hinweist, nicht vorschnell aufzulösen, sondern vielmehr dessen genauem Funktionieren nachzuspüren. An einer Stelle des Textes ist nämlich davon die Rede, dass es unmöglich sei, die auf einem Briefpapier von A… stehenden fragmentarischen „anciens caractères“ (J 169) zu rekonstituieren, welche in Analogie zum Fleck des Tausendfüßers mit einem Radiergummi bearbeitet worden sein müssen. Genauso - legt die auktoriale Instanz hier durch den Rückgriff auf eine Syllepse und eine Komponente der mechanischen Objektivität nahe - sollte es dem Leser nicht darum gehen, aus den im Text dargebotenen psychologischen Fragmenten den caractère der Erzählinstanz oder anderer Textfiguren zu rekonstruieren. Und wie es für ein wissenschaftliches Selbst, das dem Ideal der mechanischen Objektivität verpflichtet ist, geradezu einem Verrat gleichkäme, fragmentarisch wahrgenommene, schadhafte, unregelmäßige Beobachtungsobjekte zu etwas Harmonischem zu ergänzen (cf. Obj 11-13), würde der Leser den Text verraten, wenn er ihn zu einer abgerundeten Charakterstudie über Eifersucht stilisierte. dessen in seinen seriellen Deskriptionen immer neu auf diese Thematik anzuspielen“ („Physiognomik und Serialität“, 87). 31 Cf. Nusser: Der Kriminalroman, 42. Georges Felten 136 * Resümieren wir: Das Modell der mechanischen Objektivität ist in beiden Texten von entscheidender Bedeutung für die Konstitution der Erzählinstanz. In Der Schatten des Körpers des Kutschers übernimmt die selbst nicht von der spezifischen, mit der epistemischen Tugend der mechanischen Objektivität einhergehenden, sondern von einer psychoanalytisch eingefärbten Konzeption des Selbst ausgehende auktoriale Instanz der mechanischen Objektivität zuzuordnende Praktiken, um die aus ihrer Sicht problematischen Implikationen des vom Ich-Erzähler vertretenen Schreibansatzes eindringlich-grotesk vor Augen zu führen. In La Jalousie hingegen erlaubt es eine als Leerstelle angelegte Erzählinstanz, die sowohl die Funktion eines sich nach dem Vorbild eines Anhängers der mechanischen Objektivität nicht einmischenden nüchternen Beobachters als auch die eines eifersüchtigen Ehemanns erfüllt, das für den Text charakteristische Kippverfahren zu initiieren, das den Leser beständig zwischen einer objektivistischen und einer psychologisierenden Lesart hin- und herschwanken lässt, wobei sich in beiden Lesarten das jeweilig begehrte Objekt bis zuletzt entzieht. B IBLIOGRAPHIE Primärliteratur Robbe-Grillet, Alain: La Jalousie, Paris, Minuit, 1957. Robbe-Grillet, Alain: Pour un nouveau roman, Paris, Minuit, 1963. Weiss, Peter: Der Schatten des Körpers des Kutschers, Frankfurt/ M., Suhrkamp, 1964 (edition suhrkamp, 53). Weiss, Peter: Werke in sechs Bänden, ed. Suhrkamp Verlag in Zusammenarbeit mit Gunilla Palmstierna-Weiss, Frankfurt/ M., Suhrkamp, 1991. 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Seine Nachmittage in tiefer Langeweile zu verbringen, nennt Breton eines seiner Geheimnisse - und da dieses Geheimnis damit keines mehr ist, geht es ihm mit dem Wort „secret“ wohl nicht um ein Verschwiegenes, sondern um eine esoterische Praxis, die dem Menschsein auf eine bessere Weise gerecht wird als die Geschäftigkeit oder Arbeit. Fast gleichzeitig beschäftigt sich auf der anderen Seite des Rheins auch Martin Heidegger mit dem Thema von Mensch und Langeweile. Er bringt seine Gedanken, ein Jahr nach der Veröffentlichung von Nadja, in seinen Vorlesungen über Die Grundbegriffe der Metaphysik 2 auf den Punkt. Und auch er erläutert die „tiefe“ Form der Langeweile, die für ihn die Grundlage des modernen Mensch-Seins ausmacht, an einem Gang durch die Straßen einer Großstadt. 3 Beide Denker stellen sich damit in die Nachfolge des flaneurs. Doch beide geben dieser Figur auch eine neue Wendung. Sie heben die Emotionalität des den Zwängen der hastenden Stadt enthobenen, beobachtenden statt involvierten Wesens hervor und gewinnen ihr neue Dimensionen ab. Die Emotionalität der nüchternen oder kalten Beobachtung des spleen und des ennui wird bei ihnen zu etwas Unterschwelligem und auf die bloße Teilnahmslosigkeit Reduziertem. Sie wird zu bloßer Langeweile, und zwar einer Langeweile, die ausgeschöpft und nicht durch einen Zeitvertreib verjagt 1 Breton: Nadja, 71. Alle Seitenzahlen ohne bibliographische Angabe beziehen sich auf diese Ausgabe. 2 Heidegger: Grundbegriffe. 3 Cf. ibid., 204. Jan Söffner 140 wird. Ausgerechnet dieser Langeweile unterstellen sie etwas Offenbarendes. Parallel zu Bretons „secret“ sieht Heidegger in der Grundstimmung der Langeweile zudem eine Form der Erschlossenheit des modernen menschlichen Daseins. Parallelen im Denken so verschiedener Charaktere wie Breton und Heidegger brauchen kein hasard objectif zu sein. Es kann auch mit etwas zusammenhängen, das ‚in der Luft liegt‘. Und eine solche Hintergrundorientierung des Denkens lag m.E. in der zeitgenössischen Beschäftigung mit der Gefühlswelt des Menschen. Dass diese essentieller Teil einer ‚innerlichen‘, ‚subjektiven‘ und empfindsamen Seele, dass sie Ausdruck der Überlegenheit des Menschen über die bewusstlosen Tiere sei, ließ sich vor dem Hintergrund der aufkommenden Freud’schen Psychoanalyse (die die Seele auf unbewussten Trieben fußen ließ), von Darwins Evolutionstheorie (die die Emotionalität als etwas Angeborenes, Verkörpertes und Umweltrelationales beschrieben hatte), 4 von William James’ Psychologie (die Emotionen zu einer Frage von Körperzuständen gemacht hatte), 5 und von Ivan Pavlov (der die reflexhafte Bedingtheit und Konditionierbarkeit des Menschen in den Vordergrund rückte), 6 vor diesem Hintergrund kaum noch halten. Der Mensch erscheint in diesen Theorien als körperlich bedingt und qua Instinkt und Milieu festgelegt - seine Innerlichkeit ein bloßer Effekt von Körper und Umwelt. Gegen diese Grundannahme kehren in jener Zeit viele Denker einen „umweltfreien“ (Max Scheler) 7 , „umweltenthobenen“ (Arnold Gehlen) 8 Charakter des Menschen hervor; diskutieren seine „ortlose“ (Helmuth Plessner) 9 Position in der Welt. Mit anderen Worten: Sie legen neu auf, was Giovanni Pico della Mirandola bereits vierhundert Jahre zuvor formuliert hatte. Indem er schrieb, die Eigenschaft des Menschen sei es, keinen festen Ort in der Welt zu haben, sondern sowohl sich selbst als auch die Welt nach eigenem Ermessen formen zu können, 10 wurde der Renaissancehumanist postum zum Ausgangspunkt für moderne humanistische Theorien des Menschlichen. Die Teilhabe und Verortung der Tiere in den physischen Zusammenhängen der Welt, ihre Festgelegtheit und Verschlossenheit wird schon zu dieser Zeit der Mensch als ein Wesen gegenübergestellt, das aus seiner fehlenden Verortung einen Raum der Möglichkeit, eine Offenheit gewinnt. Eine solche Offenheit ist auch für Heidegger der entscheidende Punkt des Menschseins. Sie liegt in seinen Worten in der Fähigkeit ‚weltbildend‘ zu 4 Cf. Darwin: The Expression. 5 James: „What Is An Emotion? “ und ders.: The Principles. 6 Cf. in einer späteren Zusammenschau etwa u.a. Pavlov: Conditional Reflexes. 7 Cf. Scheler: Die Stellung des Menschen. 8 Cf. Gehlen: Der Mensch. 9 Cf. Plessner: Die Stufen. 10 Cf. De hominis dignitate, §5. Cf. hierzu auch Söffner: „Die Macht der Melancholie.“ Der Mensch ohne Objekte 141 sein, d.h. seine Welt als solche auch erleben und konzipieren zu können. Der Mensch ist nicht ‚weltarm‘ wie das Tier, das Heidegger zufolge an der Welt nur dasjenige wahrnehmen und in demjenigen handeln kann, was sein Instinkt es wahrnehmen lässt und wozu er es antreibt. Insofern der Mensch nicht unmittelbar und instinktiv in der Umwelt festgelegt ist, erscheint ihm mehr als diese reduzierte und also ‚arme‘ Welt. Seine Möglichkeiten liegen nicht allein in der Enthemmung von angeborenen und notwendigen Handlungsmustern, sondern gehen darüber hinaus. Genauer: Sie erscheinen ihm überhaupt nur deshalb als Möglichkeiten, weil sie in einer unwillkürlichen Handlung nicht aufgehen. Sie sind damit Möglichkeiten insofern sie nicht verwirklicht werden. Das Paradox der Langeweile als Stimmung 11 zeigt gerade in diesem Brachliegenlassen Parallelen zu diesem Konzept des Menschen als einem weltbildenden Wesen. 12 Ich sage ‚Paradox‘ - denn eine Stimmung ist für Heidegger analog zum Handeln in der Welt nichts Innerliches, sondern etwas Relationales und in der Welt Verortendes. 13 Gestimmt zu sein bedeutet für ihn, von einer Stimmung „durchstimmt“ zu werden, wie er es nennt; mitzugehen mit dem, was sonst noch alles in der Welt ist. Bloß ist die Langeweile in seinen Augen insofern ein spezieller Fall von Stimmung, als sie eine Teilnahme ausgerechnet an einer Teilnahmslosigkeit ist und damit aus einem unmittelbaren Weltbezug enthebt. Der moderne Mensch ist für ihn nur da ganz Mensch, wo er sich langweilt. Auch für Breton ist die teilhabende Relation mit der Welt entscheidend - doch fasst er das Problem der Weltoffenheit ganz anders. Diese Relation als ein Phänomen des Objektiven zu beschreiben ist Anliegen dieses Aufsatzes. Den Begriff der Objektivität möchte ich dabei im Sinne Bretons (wie auszuführen sein wird), nicht nur als Referenz auf Faktisches oder Methode der 11 Cf. Heidegger: Sein und Zeit, 130-148 , (§§ 28-31). 12 Folgt man Giorgio Agambens Lektüre (cf. Agamben: L’Aperto), dann ist dieser Aspekt, der bei Heidegger die Weltoffenheit des Menschen ausmacht, grundsätzlich gleichbedeutend mit demjenigen der Langeweile: Insofern Möglichkeiten in ihrer Nicht-Verwirklichung erst als solche erscheinen können und insofern sie damit als brachliegend wahrgenommen werden können, was sich tatsächlich als ein Phänomen der Langeweile in Heideggers Sinn beschreiben lässt, ist die weltoffene Haltung per se schon eine solche der Langeweile. Diese Lektüre ist durchaus plausibel - doch steht ihr inzwischen nicht allein empirisch ein differenzierteres Wissen über etliche Tiere entgegen, sondern auch das philologische Faktum, dass die Stimmung der Langeweile bei Heidegger als spezifische Zeiterscheinung der Moderne und nicht als Grundstimmung jedweden Humanismus gefasst wird. Klüger ist es daher, wie Michael Theunissen, den Begriff der Ungestimmtheit als „Urbild aller ontologisch relevanten Stimmungen“ zu beschreiben. Cf. Theunissen: Vorentwürfe, 29. 13 Zur Aktualität dieser Konzeption und zu einer interessanten Neubestimmung, die vor allem die Stimmungen als verkörpert erscheinen lässt und sich an die so genannte embodiment-Foschung anschließt, ohne dafür eine Fundamentalontologie in Angriff zu nehmen (cf. Ratcliffe: Feelings of Being). Jan Söffner 142 Erkenntnis von Faktischem verstehen, sondern als eine Form oder Erscheinensweise des Faktischen. Es gibt bei Breton, wie ich ausführen möchte, eine Objektivität als Modus der Darstellung und eine Objektivität als reine Prozessualität, die sich in Automatismen - etwa im Rahmen der écriture automatique, aber auch des hasard objectif - ereignet. 1. B ESPUKT Noch bevor er sein Ich in tiefe Langeweile stürzt, fokussiert Breton auf ein Verhältnis der Teilhabe. Nadja beginnt mit den Sätzen: Qui suis-je? Si par exception je m’en rapportais à un adage: en effet pourquoi tout ne reviendrait-il pas à savoir qui je „hante“? Je dois avouer que ce dernier mot m’égare, tendant à établir entre certains êtres et moi des rapports plus singuliers, moins évitables, plus troublants que je ne pensais. Il dit beaucoup plus qu'il ne veut dire, il me fait jouer de mon vivant le rôle d’un fantôme, évidemment il fait allusion à ce qu'il a fallu que je cessasse d'être, pour être qui je suis. (9) Die Frage nach dem Ich wird ersetzt durch eine solche nach dem Umgang oder besser Umgehen oder noch besser Spuken: Denn, wie Breton sagt, das „hanter“ lässt ihn „jouer de mon vivant le rôle d’un fantôme“. Nicht auf das Wissen über sich selbst als Wissensgegenstand zielt er - sondern er ersetzt die Frage nach dem Sein des Ich (Wer bin ich) sofort durch eine solche der Partizipation (mit wem gehe ich um, wen bespuke ich? ). Die Frage des „Wer bin ich? “ auf diese gespenstische Weise zu stellen, entdeckt in dem , dem „Erkenne dich selbst“ des Delphischen Orakels eine ödipale Dimension: Als Ödipus die Frage der Sphinx 14 nach demjenigen, was morgens auf vier Beinen, mittags auf zweien und abends auf dreien geht, im Sinne eines Gegenstandswissens, eines Wissens über Objekte und auch über sich selbst als Gegenstand seines Wissens beantwortete, übersah er die mythischen Zusammenhänge, mit denen er umging, von denen er bespukt wurde und in denen er spukte. Als er die Antwort gab, es sei der Mensch, hatte sie zwar für die Welt, die er als eine objektive (nämlich als Wissensgegenstand) erkennen wollte, ihre Richtigkeit. Doch verkannte Ödipus, dass es auch um ein enaktives, ein dem Handeln intrinsisches Wissen der Zusammenhänge ging. So sprach er, ohne es zu wissen, nicht nur über den Menschen im Allgemeinen, und auch nicht über sich selbst als ein Exemplar dieser Gattung: Er benannte nicht den Greisenstock im Allgemeinen, den er selbst als alter Mann nach einem ruhmreichen Leben einmal verwendet hätte. Er benannte schon den eigenen Blindenstock als drittes Bein, den er noch im Mannesalter erhalten sollte - und zwar weil die Selbstblendung seine Augen in die Dunkelheit eines vorzeitigen ‚Abends‘ bringen würde. Der Ausspruch und die Lösung des 14 Zu Bretons weiteren Anspielungen auf Ödipus und die Sphinx cf. Wylie: „Breton“, 104. Der Mensch ohne Objekte 143 Rätsels war also seinerseits von dem Mythos bespukt, die Worte, die er sprach, waren nicht im vollen Sinne des Wortes seine eigenen - ihren Sinn gewannen sie nicht als Aussage seines Ich, sondern als intrinsischer Sinn einer mythischen Handlung, die sich selbst erfüllte und in der er nur umging. Oder umgekehrt: Das transpersonale, mythische Wissen hauste fortan unterschwellig in seinem Leben; als ein ihm Unbekanntes (für Breton vermutlich Unbewusstes), das in seinem Umgang mit Jokaste spukte. Dieser Hiatus zwischen subjektiv bezeugter Objektivität und mythischem Wissen als einer nicht-reflexiven Teilhabe an den Zusammenhängen der Welt macht ein ‚Ödipales‘ aus, das durchaus Ähnlichkeiten mit der Analyse Freuds zeigt. Die ödipale Triade von Vater, Mutter und Kind ist vielleicht gar nicht einmal so sehr ‚ödipal‘ wie ein Ich, das sich selbst und das die Welt erkennen will, doch gerade indem es sein Erkennen allein auf Gegenstände des Wissens richtet, sich selbst verkennt. Das bewusste Fragen nach sich selbst bringt Ödipus - wie in einer Freud’schen Neurose - von seiner Wahrheit nur noch weiter ab, bis diese Wahrheit sich rächt. Einem entsprechenden mythischen Spuk stellt sich Breton. Doch als er mit Louis Aragon an einen Ort zurückkommt, wo eine „véritable sphinx sous les traits d’une charmante jeune femme“ (89) sie bereits auf surrealistische Wege gebracht hatte, indem sie gerade die beiden Surrealisten von ihren Fragen an die Passanten ausnahm, und als Breton Nadja gegenüber als „noir et froid comme un homme foudroyé aux pieds du Sphinx“ erscheint (130), da hat er die Frage nach sich selbst bereits anders gestellt als Freud. Erstens will er dem Ich nicht zur Hilfe eilen, sondern vielmehr die Kräfte des Unbewussten freisetzen; 15 und entsprechend kann sich für ihn die Frage nach dem was er ist nicht selbstreflexiv und subjektiv stellen (und schon gar nicht dadurch, die Kontrolle des Subjekts über seine Triebhaftigkeit wiederzugewinnen). Zweitens ist Bretons Unbewusstes nicht innerlich oder persönlich. Wie bei Sophokles die mythischen Zusammenhänge des Ödipus etwas Transpersonales sind, ist auch Bretons Spuk ein Unbewusstes, das nicht auf ein einzelnes Subjekt begrenzt bleibt. Subjektivität wird durch ein Objektives unterlaufen, das nicht nur die objektiven Triebe, sondern - wie sich später zeigen soll - auch die objektiven Zufälle und den Spuk des Umgangs betrifft. Das Selbst wird als Relation konzipiert, die zwischen innerlich-triebhaftem und äußerlich zustoßendem ‚Objektiven‘ nicht maßgeblich unterscheidet. Das Wortspiel von einem Umgehen und einem Spuken bezeichnet genau diese Alternative zu einer Konzeption, die das Ich von der Welt abgrenzt, es ihr gegenüberstehen lässt. Wieder hilft hier der Blick auf die andere Seite des Rheins, denn ein solcher Begriff des ‚hantierenden‘ Selbst erinnert stark an zwei Denkfiguren Heideggers: Einerseits seine Konzeption der existenzialen Zuhandenheit (und ihre Unterscheidung von der existenziellen 15 Cf. hierzu Schlesier: „Drei Visiten.“ Jan Söffner 144 Vorhandenheit); 16 und andererseits das entsprechend gefasste Verhältnis von Selbst und ‚Man‘. 17 Zuhandenheit ist in der Tat eine Form des Hantierens, in der keine Objekte mit Eigenschaften als solche erscheinen, sondern immer nur im (praktischen) Umgang und in einem Zusammenhang gegeben sind: Als ein Objekt, das ein objektiv messbares Gewicht, eine objektiv messbare Form etc. hat, erscheint etwa ein Hammer nicht im Hämmern, wo Gewicht und Form im Zusammenhang einer praktischen Handlung stehen - der Hammer erscheint als ein Objekt mit Eigenschaften nur, wenn er vorhanden, nicht wenn er zuhanden ist - und das heißt, wo er existenziell, nicht existenzial erfasst wird. Das ‚Man‘ ist ebenfalls eine der einschlägigsten Begriffsprägungen aus Sein und Zeit. Heidegger nimmt damit ins Auge, was gesagt wird, wenn es heißt, ‚man‘ mache etwas (nicht) oder etwas müsse ‚man‘ (oder könne ‚man‘ nicht) auf eine bestimmte Weise tun. Es geht beim Man aber nicht um ein Verhältnis von Ich und Anderem, denn das vermeintliche Andere ist nicht einfach etwas, dem das Subjekt als einem Fremden gegenüberstünde. Genauso sehr ist es Teil des Selbst - genauer: Des „Man-selbst“ im Unterschied zum „eigentlichen“ ‚Selbst‘. Oder noch genauer: Das „Man-selbst“ ist das „Selbst des alltäglichen Daseins.“ 18 Der entscheidende Aspekt dieses alltäglichen Daseins ist auch hier der Umgang, oder, eben, ein existenziales Mit-Sein jenseits der Vorhandenheit. Das alltägliche Man-selbst ist nicht Vorhanden, da es nicht als ein Objekt des Denkens erscheint, sondern nur im Zusammenhang jeweiliger Handlungen gegeben ist. Es ist somit auch nicht subjektiv, weil es eben nicht eine Figur der Selbstgewissheit oder zumindest Selbstreflexivität ist, sondern eine solche, deren Gewissheit aus dem Man stammt. „Zunächst ‚bin‘ nicht ‚ich‘ im Sinne des eigenen Selbst“, schreibt Heidegger, „sondern die anderen in der Weise des Man.“ 19 Verkürzt würde dieser Satz lauten: ‚Man bin die anderen‘ - und das kommt Bretons Konzeption des hanter als einer Antwort auf die Frage „Qui suis-je? “ schon sehr nahe. Beide Konzeptionen sind Weiterentwicklungen von Rimbauds bekanntem „Je est un autre“ 20 , und zwar solche, bei denen jeweils der alltägliche Umgang ins Zentrum der Betrachtung rückt - nicht ein diskreter Anderer und ein diskretes Ich. Breton kündigt tatsächlich gleich im zweiten Satz eine Gedankenbewegung an, die ebenfalls auf eine Art Man verweist. Sein „Si par exception je m’en rapportais à un adage“ (9) beschreibt eine Hinwendung zu einem Überpersönlichen common sense, der mehr in Sprichwörtern denkt, als es 16 Heidegger: Sein und Zeit, 63-113 (§§14-24). 17 Ibid., 126-130 (§ 27). 18 Ibid., 129. 19 Ibid. 20 Rimbaud: Œuvres complètes, 250. Der Mensch ohne Objekte 145 einem Surrealisten oder einem Denker der Authentizität lieb sein kann. Dennoch ist Breton dem hanter nicht so feindlich gesonnen wie der auf Authentizität bedachte Heidegger seinem ‚uneigentlichen‘ Man. Das hanter geht schließlich über das Sprichwörtliche hinaus: Indem Breton die Frage des Umgehens nicht allein nach einem allgemeinen überpersönlichen Man stellt, gewinnt er dem transpersonalen Wissen eine körperlichere und auch eine emotionalere Dimension ab. Und er öffnet sie zugleich individualisierend für „rapports plus singuliers, moins évitables, plus troublants que je ne pensais“ (ibid.). Ließe sich der Text vor einem entsprechenden Horizont lesen, dann gäbe diese Konkretisierung dem Heidegger’schen ‚Man‘ eine wichtige Wendung. Wie viele Söhne und Töchter kann man am Telefon zunächst kaum von ihren (spezifischen) Vätern oder Müttern unterscheiden, weil sie von deren Tonfall ‚bespukt‘ werden bzw. mit ihm ‚umgehen‘? Wie viele Menschen nehmen teilweise den Habitus ihrer Nächsten - und das heißt immer auch den emotionalen Habitus - an? Und wie gut würden Menschen überhaupt zum Teil einer Kultur werden und also kommunizieren können, wenn dem nicht so wäre? So verstanden wären Umgang und Spuk entscheidende Formen des menschlichen Daseins und auch der menschlichen Kultur - und zwar gerade insofern sie nicht ‚ödipal‘ sind und nicht in dem Gegenstandswissen eines Ich über sich selbst aufgehen (mit Heidegger wären sie damit existential). 21 Selbst wenn diese Gedanken vielleicht zu konkret sind und über Bretons Konzeption hinausgehen (oder hinter ihr zurückbleiben): Sie teilen mit seinem hanter zumindest eine Figuration, die weder in der Identifikation, noch in der Alterität aufgeht. Das hanter ist kein Zustand, in dem es ein Selbst und ein Anderes als diskrete Einheiten gäbe. Der Spuk ist vielmehr eine Sache des einen im anderen (analog zum jeu de l’un dans l’autre der 21 Auch Objekte könnten in diesem Sinne besessen sein und bespukt werden. Wer das Arbeitszimmer eines kürzlich Verstorbenen betritt, wird oft dessen Präsenz spüren, weil er oder sie dessen faktische Präsenz appräsentiert. Wer enaktiv-emotionalen Umgang des Verstorbenen mit und in seiner Umwelt lang genug miterlebt hat, wird die Objekte als ‚besessen‘ wahrnehmen: Der Tote ‚spukt‘ in ihnen. Mit diesem Phänomen arbeiten - so mutmaße ich zumindest - auch die Photos von Paris, die Breton in den Roman einfließen lässt. Sie sind nicht allein dokumentarisch, sondern stellen Paris als denjenigen Raum dar, den Breton und Nadja teilten und der durch sie besessen ist und bespukt wird. Gleichzeitig tritt an ihnen zutage, dass der ‚objektive‘, technische Blick der Kamera gerade diese Besessenheit und diesen Spuk nicht ablichten, nicht darstellen kann, ebenso wenig wie der Blick eines Fremden oder Unbeteiligten die Präsenz des Verstorbenen im Arbeitszimmer spüren könnte: Die Besessenheit und der Spuk sind nicht Teil der Sinnesdaten. Entsprechend gerät das photographisch erfassbare, das darstellungsobjektive Paris in einen Dialog mit der erzählten Geschichte und deren Postulaten. Und dieser Dialog zeigt vor allem, inwiefern die Logik des Spuks als eine Logik des seinerseits objektiven Umgangs in derjenigen einer objektiven Darstellung nicht aufgeht. Vielmehr brechen sich zwei Objektivitäten aneinander. (Zum Verhältnis einer Darstellungsobjektivität zu einer surrealistischen Objektivität im Rahmen der Poetik des Textes s. u., Abschnitt 2 und 3). Jan Söffner 146 Surrealisten). Dem wird damit in der Frage nach dem hanter diejenige Dimension restituiert, die Ödipus vernachlässigte. Bretons Spuk und sein Umgehen ist eine Sache des dem Handeln intrinsischen enaktiven 22 Wissen, des Wissens, das keine Gegenstände hat (da ein Wissen mit Gegenständen ein ‚innerliches‘ Wissen von einem ‚äußeren‘, einen Gedankengegenstand, von dem, worauf er sich bezieht, ein Modell von einer Realität, ein Signifikat von einem Signifikanten, ein Ich von einem Anderen trennen würde). Ein Wissen, das damit nicht-repräsentational und dem ‚objektiven‘ Umgang innewohnt. 23 Was ihm an diesem Wissen liegt, macht Breton sofort deutlich, indem er drei Anekdoten erzählt, eine über Victor Hugo, und zwei über Gustave Flaubert: An Hugo schätzt er dessen tägliche Spazierfahrt mit Juliette Drouet, die immer an derselben Stelle denselben Dialog vollzog - und er schließt (ohne nachvollziehbare Begründung): „Le plus subtil, le plus enthousiaste commentateur de l’œuvre de Hugo ne me fera jamais rien partager qui vaille ce sens suprême de la proportion“ (13). Es ist also ein gleichermaßen emotionales, wie abstraktes Verstehen, auf das Bretons Hermeneutik hier zielt, ein solches ohne Gegenstand, das sich im Gefühl (und im Spuk? ) zu ereignen hat, nicht im Inhalt des Denkens. Es ist ein nichtrepräsentationales, enaktives Wissen, insofern es im „sens“ als einem sinnlich-emotionalen Erleben intrinsisch gegeben ist - und nicht der Effekt einer vorgängigen Kognition. Die beiden folgenden Anekdoten zu Flaubert bestätigen dies und machen es noch klarer: Mit dem Verfassen von Salammbô sei es Flaubert allein darum gegangen „[de] donner l’impression de la couleur jaune“ und mit Madame Bovary „[de] faire quelque chose qui fût de la couleur des moissures des coins où il y a des cloportes“ (13sq.). Der Punkt ist also eine Art Synästhesie des Werks, nicht dessen Hermeneutik, seine Überführung in ein phänomenales Erleben, nicht ein Verstehen von etwas oder über etwas. Auch diese Form eines Verstehens, das nicht Interpretation, nicht entziffernde Lektüre oder modellbildende Kognition, sondern (syn)ästhetische Teilhabe ist, findet in Heideggers Sein und Zeit eine Parallele - und zwar in dem Konzept der ‚Erschlossenheit‘ als einer Form des impliziten und einer Situation intrinsischen Wissens. Bretons gespenstisches Vokabular hat aber wiederum einen wesentlich esoterischeren, auf den Spuk im Umgang setzenden Zug. Er sieht in dem nicht-repräsentationalen Wissen einen Weg aus der Klemme des auf seine Realität und auf die eigenen Modelle und Kognitionen festgelegten, des kontrollierten Menschen; und er sieht in dem Spuk die Möglichkeit eines Weges in eine höhere Realität: Eine solche, die nicht dargestellt, von der kein Modell gebildet werden kann, sondern die sich in einem ephemeren Aufscheinen und in konvulsiven Entladungen 22 Cf. Varela/ Thompson/ Rosch: The Embodied Mind, oder Menary: Radical Enactivism. 23 Cf. Johnson: The Meaning; Ramsey: Representation. Der Mensch ohne Objekte 147 äußert. Denn, so endet sein Text: „La beauté sera CONVULSIVE ou ne sera pas“ (190). Diesem Konvulsiven möchte ich mich im folgenden Abschnitt widmen. 2 V ERWIRRT Den Begriff des Objektiven verwendet Breton vornehmlich, wenn es um Unwillkürliches geht: um Automatismen sowohl der Psyche als auch der Welt. Die Bedingung für „humour objectif“ oder „hasard objectif“ ist die Ausschaltung subjektiver Kontrolle. Und dies gelingt in überraschenden Momenten im Rahmen einer Emotionalität der kognitiven Überforderung, der Überraschung und der konzeptuellen Verwirrung. Nun ist es für Breton entscheidend, dass sich psychischer/ physischer Automatismus und Automatismus der Welt - als die zwei entscheidenden Formen des ‚Objektiven‘ - treffen, dass sie also keine Dichotomie von Persönlichem und Transpersonalem, von Innen und Außen, von Immateriellem und Materiellem bilden. In einigen Texten zum surrealistischen Objekt (und also auch zum Objektiven) macht Breton dies klar - und zwar u.a. im Rahmen der Beschreibung des Verhältnisses von (innerem) „humour objectif“ und (äußerem) „hasard objectif“. Der objektive Humor, sagt er in einer Prager Rede, „se brise, jusqu’à nouvel ordre, contre les murailles abruptes du hasard objectif.“ 24 Beide Formen der Objektivität - objektiver Humor, objektiver Zufall - stecken sogar gewissermaßen den Rahmen des Surrealismus ab. 25 Und auch der Gedanke an die Sphinx und also die Frage nach dem Ich und dem Menschen bleibt vor diesem Horizont präsent: „Sphinx noir“ (hasard objectif) und „sphinx blanc“ (humour objectif) sollen sich treffen - und „toute la création humaine ultérieure serait le fruit de leur étreinte.“ 26 Die Koinzidenz von Psyche und Welt betrifft aber auch schon den hasard objectif alleine. Er ist: „la forme sous laquelle se manifeste la nécessité extérieure qui se fraie un chemin dans l’inconscient humain.“ 27 Zwar fällt der Begriff des hasard objectif im Text von Nadja nicht, doch ist es sowohl in der Forschung kaum umstritten als auch bei einer Lektüre kaum zu übersehen, dass ‚objektive‘ Koinzidenzen von Psychischem und 24 Breton: Situation, 123. 25 „Humour objectif, hasard objectif: tels sont à proprement parler, les deux pôles entre lesquels le surréalisme croit pouvoir faire jaillir ses plus longues étincelles“, zit. nach Breton: Limites, 20. 26 Breton: Anthologie, 13. Zu weiteren Implikationen des Verhältnisses von „hasard objectif“ und „humeur objectif“ cf. Poivert: „Politique“. Eine umfassende, aber leider zu ausschließlich auf Hegel bezogene (und damit einer m.E. zu dialektischen Dichotomie von Geist und Materie verhaftet bleibende) Darstellung findet sich bei Colombet: L’Humour. 27 Breton: L’Amour, 33. Jan Söffner 148 Faktischem das zentrale Thema des Romans sind. Im Rahmen dieser Koinzidenzen bricht eine ‚realistische‘ Haltung zur Welt zusammen, eine Haltung, die auf einem Wissen und auf Aussagen über die Welt und auf Modellen von ihr basiert. Stattdessen wird das Psychische selbst zum Teil der Welt und sie wird Teil des Psychischen: Wenn etwa Paul Eluard auf einem Spaziergang Nadja die Speisekarten der Restaurants lesen lässt (cf. 121sq.), um mit den Wörtern zu spielen, dann kommt darin schon der Versuch ins Spiel, die Welt gewissermaßen ‚mitdenken‘ zu lassen, indem er Nadja zu einer Muse macht, die sie ihm zuflüstert. Als der ‚Zufall‘ es nun so will, dass der Weg die drei am „Sphinx Hotel“ vorbeiführt, nimmt die Welt selbst, und also nicht ein Autorsubjekt, eine Art ‚Motiv‘ auf, das für den gesamten Zusammenhang von Bretons und Nadjas hanter entscheidend ist. Nadja klärt Breton auf, dass sie bei ihrem ersten Eintreffen in Paris von dieser Aufschrift angezogen worden sei und dort ein Zimmer genommen habe. Auch sie dachte nicht über die Welt nach, sondern dachte mit der Welt und in deren Zusammenhängen - und zwar auch solchen, die sie noch gar nicht kennen konnte, und die sich erst jetzt erfüllen. Sie überließ der Welt das Denken und sie überließ sich selbst einer Art sympathetischer Anziehungskraft. Sehen, denken und Handeln waren eins. Und es ist - aus dieser Warte gesehen - auch kein Zufall, dass Breton sich gerade langweilt („ennuie“, 122), bevor diese Sphinx sich ihm erschließt. Nadja, die - so zeigt sich hier - gewissermaßen im ‚Objektiven‘ wohnt, ist damit eine Sphinx, die auch das Ich des Textes von seiner Form eines subjektiven Verstehens der Welt und von seinem Nachdenken über sie, seinem Lösen von Rätseln abbringt. Stattdessen kommt hier Bretons Variante der ‚Erschlossenheit‘ zum Tragen, nämlich ein Verstehen ohne Gegenstand, ein Verstehen qua Handeln, Wahrnehmen und Fühlen in und mit der Welt, das darin eine ödipale Haltung zur Sphinx überwindet: „Tu [Nadja] n’es pas une énigme pour moi,“ schreibt er gegen Ende des Textes, und fährt fort: „Je dis que tu me détournes pour tousjours de l’énigme“ (187). Rätsel stellen sich nur dort, wo man über etwas nachzudenken hat, nicht, wo das Dasein sich selbst in den Koinzidenzen von Innen und Außen erschließt, und wo das Verstehen im Handeln und Fühlen und Wahrnehmen intrinsisch gegeben ist. Das Rätsel der Sphinx löst man nicht - wie Ödipus -, indem man es beantwortet. Man löst es, indem es sich nicht stellt. Doch liegt auch eine psychoanalytische Dimension in dieser Form der Erschlossenheit sich nicht stellender Rätsel. Schon zu Beginn seines Textes nimmt Breton auf Freuds Konzept der Fehlleistungen Bezug, die er als eine maßgebliche Entdeckung der Psychoanalyse benennt (26). Er führt aber die vermeintliche Eigenschaft der Psychoanalyse „[d’] expulser l’homme de luimême“ (ibid.) weiter. Die ephemeren Momente der Übereinstimmung von psychischem Automatismus und universellem Automatismus, 28 die an eine 28 Cf. Stoltzfus: „La Belle”, 709. Der Mensch ohne Objekte 149 naturphilosophische Annäherung von Mikrokosmos und Makrokosmos erinnern, vereinigt eine umweltrelationale Phänomenologie des hanter mit einer psychoanalytischen Phänomenologie der Fehlleistungen. Entsprechend nimmt Breton nicht allein die Fehlleistungen des Subjekts, sondern auch die Fehlleistungen der Wirklichkeit ernst. Das Moment des Surrealen kommt dabei im Zusammenbruch mentaler Modellbildungen und in einer Art „Ästhetik des Erscheinens“, wie Martin Seel sie gefasst hat, zum Tragen. 29 Das Plötzliche der „rapprochements soudains“ und der „pétrifiantes coïncidences“ und der (Pavlov’schen? ) „réflexes primant tout autre essor du mental“, (20) führt dazu, dass eine andere Haltung als diejenige der unwillkürlichen Erschlossenheit gar nicht mehr möglich wäre. Der hasard objectif unterläuft damit mentale Repräsentationen der Realität und führt eine auf Modellen basierende und Modelle hervorbringende subjektive Kognition genauso an ihre Grenzen, wie eine Freud’sche Fehlleistung, die ihre ‚Wahrheit’ an einer Stelle fände, die das bewusste Denken unterläuft. Der hasard objectif stürzt das ödipale Ich in Verwirrung und öffnet es gerade damit für die unterschwelligen Zusammenhänge des Surrealen, an denen es teilhat. Er ist ein Weg aus der repräsentationalen realistischen Haltung in eine nicht-repräsentationale (und insofern undarstellbare) Teilhabe am Surrealen, als etwas, das nicht in Modellen gebildet oder in Vorstellungen und Darstellungen bezeichnet werden kann (insofern als Modelle, Vorstellungen, Darstellungen und Bezeichnungen immer die Referenz auf etwas Äußerliches, eine Form der Re-Präsentation voraussetzen und kein konvulsives, synästhetisches Verstehen, das mit einer Verwirrung des Ich einhergeht). Der hasard objectif erzielt entsprechend als ‚Fehler der Realität‘ eine Art effet de surréel - um ein Konzept Roland Barthes zu verkehren: Bei Barthes ist der effet de réel ein Fehler in den Konstruktionszusammenhängen eines Romans, ein scheinbar funktionsloses Element, das denken lässt, es könne ob seiner ‚Sinnlosigkeit‘ für die Konstruktion einer Erzählung nicht erfunden sein (ein Effekt, in dem seine eigentliche Funktion für den Sinn des Textes liegt). 30 Der hasard objectif ist indes ein Fehler in der vermuteten Sinnlosigkeit der Realität: ein Element, das ephemere Sinnzusammenhänge aufscheinen, einen koinzidentiellen Sinn aufblitzen lässt - und den Eindruck erweckt, dass etwas gar nicht anders kann, als erfunden zu sein. Es geht bei Breton um solche Momente, die die Welt selbst erscheinen lassen, als sei das objektive Leben die Fiktion eines Autors, als hätte Gott sein Vorsehungsgewerbe in einem ‚creative writing‘-Kurs gelernt. Mit anderen Worten: Breton lässt nicht (wie in Barthes’ Theorie) das Reale im Roman sondern das Romanhafte in der Realität zu Wort kommen. Sind effets de réel Elemente, die eine erfundene Welt als von der Realität infiziert erscheinen lassen, so sind 29 Cf. Seel: Ästhetik. 30 Barthes: „L’Effet”. Jan Söffner 150 effets de surréel Elemente, die die Wirklichkeit als unwirklich oder eben überwirklich, als surreal erscheinen lassen. Entsprechend lassen sich solche Effekte nicht im Rahmen einer sowieso schon erfundenen Welt unterbringen. Dort erschienen sie nur als besondere Eskapaden der Erfindungskraft eines Autors. In diesem Zusammenhang spielt Bretons Poetik eines ‚objektiven‘ Tatsachenberichts entsprechend eine entscheidende Rolle, denn nur so lassen sich die effets de surréel überhaupt darstellen. Gerade aufgrund der authentischen Darstellung von Wirklichkeit ist Nadja damit kein realistischer, ja nicht einmal ein Tatsachenroman. Ein realistischer Roman arbeitet mit dem Modellieren von Möglichem. Er entwirft fiktive Modelle einer Welt, die aber auf vielfältige Weisen in Beziehung zu der ‚realen‘ Welt gestellt werden - wobei es ein maßgebliches Verfahren ist, das Dargestellte als etwas erscheinen zu lassen, das zwar faktisch nicht gegeben war, das aber hätte möglich sein können. Die dargestellte fiktive Wirklichkeit hat damit insofern etwas über die reale Welt zu sagen, als sie deren Möglichkeiten repräsentiert. Ein entsprechender Text referiert nicht auf tatsächliche Begebenheiten, sondern er modelliert, was sich begeben könnte oder begeben haben könnte. Diese mittelbare Referenz auf die Welt kann, um Barthes’ Theorie etwas zu perspektivieren, durchbrochen werden, wenn einzelne Elemente dem Leserbewusstsein suggerieren, es nicht allein mit einem erfundenen Modell, sondern auch teilweise mit einer Niederschrift faktischer Begebenheiten zu tun zu haben. Solche effets de réel durchqueren die Mittelbarkeit fiktionaler Weltreferenz und scheinen sich vielmehr unmittelbar auf die faktische Realität zu beziehen. Breton dreht dieses Schema um und lässt in seinen Effekten des Surrealen nicht wie Barthes das Reale im Roman sondern das Romanhaft- Surreale in der Realität zu Wort kommen. Dafür modelliert er keine Möglichkeiten, sondern berichtet (zumindest anscheinend) Fakten. M.E. hat dies auch einen ganz einfachen psychologischen Grund. Das Modellieren von Möglichkeiten ist notwendig auf ein modellbildendes Bewusstsein angewiesen. Es findet seine Referenz auf die Welt in einer Reflexion über sie. Das gilt zwar auch in einem gewissen Maße für einen Faktenbericht, doch liegt hier ein entscheidender Unterschied vor. In einer fiktional modellierten Welt gibt es keine Zufälle, die nicht zumindest potentiell bereits Teil des Modells, Teil einer entworfenen und angelegten Handlungsführung sind oder als solche wahrgenommen werden. Der erzählte Zufall betrifft hier nur die Welt als dargestellte Welt: Im Bewusstsein des Lesers oder Autors sind die Zufälle damit sozusagen subjektive Zufälle, keine objektiven: Sie sind Teil dessen, was ein Subjekt entworfen hat. Das gilt für den Faktenbericht nur eingeschränkt, insofern seine Zufälle nicht erfunden sind, sondern sich ereignet haben. Und gerade um dieses ‚objektive‘ Moment des Zufalls geht es Breton, denn nur sie entkommen potentiell der Logik subjektiv entworfener Modelle der Wirklichkeit. Der Mensch ohne Objekte 151 Nun kann ein Faktenbericht aber auf diese Zufälle nur referieren - womit sie wiederum Teil einer dargestellten Welt werden. Zwar referiert er auf einem direkteren Wege auf die Welt (er entwirft nicht Möglichkeiten für Faktisches, sondern berichtet die Fakten selbst). Doch damit ist das Problem noch nicht gelöst, insofern es sich weiterhin um ein Modell der Welt und gerade insofern um eine Realität handelt. Das Über-Reale, das berichtet wird, wird im Bericht zur Realität. Es legt weder beim Autor noch beim Leser objektive Automatismen frei, sondern führt zum modellbildenden Verständnis der Wirklichkeit. Es ist durch das Bewusstsein des Autors gegangen und dessen Akt wird nun von einem Leser nachvollzogen. Entsprechend stellt Breton klar, dass es ihm eigentlich gar nicht um die Faktizität, um die objektive Darstellung von Wirklichkeit selbst geht, sondern dass diese nur ein Vehikel ist. Das Entscheidende sind die effets de surréel, das Einbrechen des Surrealen in die Wirklichkeit - und dieses lässt sich zwar benennen und bezeugen, doch verlieren sie im Modus der Darstellung das, was an ihnen surreal ist. Das Einbrechen des Surrealen kann damit zwar berichtet werden - und der Text tut das; aber die objektiven Zufälle brechen nicht in seine eigene Wirklichkeit so ein, wie sie in Bretons Wirklichkeit eingebrochen sind - in einer dargestellten Welt gibt es keine effets de surréel. Stattdessen gleicht jeder Zufall einer Wendung der Handlung, wie sie auch in einem Roman stehen könnte und dort ein Verfahren fiktiver Handlungsführung wäre. Als Dargestelltes verliert das Surreale genau das Esoterische, das nur im intrinsischen Erleben des effet de surréel gegeben wäre. Was in Nadja als einem exoterischen Text und Tatsachenbericht, benannt wird (und benannt werden kann), ist damit genauso wenig das, worum es ‚eigentlich‘ geht, wie eine mystische Erfahrung in ihrer Beschreibung noch eine unio wäre. Damit entfernt sich Breton - gerade im Rahmen der vermeintlich objektiven Darstellung des Textes als einer „maison de verre“ ohne verschleiernde Erfindungen (18) - von einer Poetik darstellender Mimesis. Auch der Gedanke eines Tatsachenromans, eines „nonfiction novel“ avant la lettre ist entsprechend unangemessen, denn Breton verwirklicht nicht einfach eine (vermeintlich) objektive Darstellung. Er spielt vielmehr zwei Formen des Objektiven gegeneinander aus. Einerseits ist da durchaus eine Objektivität, die sich im Verzicht auf subjektive Fiktion, in größtmöglicher Überprüfbarkeit und in der (Selbst-)Kontrolle eines Autors über seine Aussagen manifestiert. Diese Objektivität ist eine solche der Darstellung, und sie ist insofern exoterisch, als sie eine öffentliche Mitteilung der ‚wahren Geschichte‘ von Breton und Nadja an andere Subjekte ist. Das zweite Objektive, das Objektive des Zufalls und der Automatismen hingegen ist nicht darstellend und kommt ohne subjektive Kontrolle aus. An ihm bricht sich die erste Objektivität: Die exoterische Ordnung der Darstellung kann auf diese Objektivität nur verweisen, sie kann sie aber (als Darstellung, Konzeption oder Modell) nicht einholen. Denn die Modellierung setzt eine distanzierte Haltung voraus, welche (wie oben gesehen) Jan Söffner 152 Möglichkeiten als solche erst erscheinen lässt. Wo man also Modelle bilden, an sie glauben und an ihnen zweifeln kann, und nicht in einem intrinsischen Handeln ‚benommen‘ ist - nur da erscheint das Mögliche auch als ein Mögliches. 31 Bretons Anliegen ist es aber im Gegenteil, das Surreale aus seiner Rahmung in begrenzte Enklaven der spielerischen Möglichkeit des Fiktionalen und der objektivierenden Modellbildung als einem Raum der theoretischen Möglichkeit zu befreien: Sein Text siedelt sich dort an, wo es um Möglichkeiten nicht geht, sondern um unmittelbare Transformationen. Breton schreibt damit einen Roman und doch keinen Roman - genauso wie der Surrealismus eine Künstlerbewegung ist und doch keine ist. Der Surrealismus, beschrieben in den exoterischen Manifesten, besteht ebenfalls in dem seinerseits ‚esoterischen‘ Akt, das Künstlerische zu überwinden, indem er mit ihm im Alltag ernst macht, es aus seiner Rahmung in begrenzte Enklaven einer spielerischen Möglichkeit befreit. Der Surrealismus nimmt sich entsprechend diejenigen Freiheiten, die in einem fiktionalen ‚Als-Ob‘ gegeben wären und trägt sie dorthin, wo es kein ‚Als-Ob‘ und kein bloß Mögliches gibt - sondern objektive Automatismen und also Notwendigkeiten die Welt transformieren. Wie gesagt, sahen Theorien der Weltoffenheit des Menschen (und sah auch Heidegger) gerade an dieser Option eines Möglichkeitssinns sowohl das spezifisch Menschliche als auch die Freiheit des Menschen. Insofern wäre die Freiheit der Fiktionalität eine dezidiert humanistische Option. Genau diese Freiheit aber kann ein Surrealist, der die subjektive Kontrolle und das Ich des Menschen als dessen Gefängnis begreift, nicht akzeptieren. An die Stelle einer Freiheit der Möglichkeiten (und damit auch der Fiktion, die diese Möglichkeiten modelliert) tritt bei ihm die ‚Freiheit‘ der intrinsischen Automatismen des ‚Objektiven‘: Ihr unbehindertes Wirken ist eine von der humanistischen Option diametral verschiedene Form der Freiheit, die sich eher als Freisetzung der Objektivität denn als subjektive Freiheit benennen lässt. Der hasard objectif ist eine paradigmatische Form dieser objektiven Freiheit: Es ist für Breton der „lieu géométrique [des] coïncidences […] l’élucidation des rapports qui existent entre la ‚nécessité naturelle‘ et la ‚nécessité humaine‘, corrélativement entre la nécessité et la liberté.“ 32 Im Unterschied zu der subjektiven Freiheit als einer Freiheit des Willens oder der Willkür liegt diese objektive Freiheit somit im Ineinsfallen mit der Notwendigkeit, nicht in ihrer Überwindung (etwa im Rahmen einer fiktionalen Modellierung des Möglichen oder Wahrscheinlichen). Sie geht nicht den Umweg der Möglichkeit und benötigt diese auch nicht als ihr Habitat - so wie dies sich im Fall einer subjektiven Freiheit verhalten würde. 31 Cf. Heidegger: Grundbegriffe, 344-388. 32 Breton: Entretiens, 109. Cf. auch Breton: L'Amour, 25. Der Mensch ohne Objekte 153 Zufälle, die an dem intrinsischen Wirken der Automatismen teilhaben, lassen insofern erkennen, inwiefern die Offenheit dessen, was aus ihnen emergiert, einer humanistischen Weltoffenheit widerspricht. In La Clé des champs definiert Breton den hasard objectif entsprechend als „indice de réconciliation possible des fins de la nature et des fins de l’homme aux yeux de ce dernier.“ 33 Und was kann das anderes heißen, als dass der Mensch seine Weltoffenheit aufgibt - aber dass er gerade dadurch eine eigentliche Offenheit dort findet, wo er nicht aus ihren Zusammenhängen tritt und dieses Zurücktreten als Raum der Möglichkeit entdeckt? 3 G EGENSTANDSLOS Gerade dort, wo eine biologische Reflextheorie ihre instinktiven Automatismen findet, findet der Surrealismus damit eine andere Offenheit des Menschen - eine Offenheit, die er sich durch die selbstbestimmte Kontrolle und durch die Enthobenheit aus den Zusammenhängen der Welt verschlossen hat. Eine Theorie, die eine solche Offenheit konzipierbar macht, entwickelt Breton bereits zu Beginn des ersten Surrealistischen Manifests (1924): „Tant va la croyance à la vie“, hebt er an (meine Hervorhebung), „à ce que la vie a de plus précaire, la vie réelle s’entend, qu’à la fin cette croyance se perd.“ 34 Die Realität ist etwas mit Zuschauer: Damit etwas real ist, muss es jemanden geben, der auf der Grundlagen von Modellen, die er von ihr gebildet hat, Reales von Irrealem, Seiendes von Scheinendem unterscheiden kann. Das Surreale - und das ist vielleicht Bretons basalste Definition dieses Wortes - kennt diese Unterscheidung nicht. Der Glaube kann damit nur einem objektivierenden Wesen wichtig werden - nicht einem Denken und Fühlen und Zufallen, das selbst schon ‚objektiv‘ ist. Und Breton fährt entsprechend fort, indem er den Menschen einen „rêveur définitif“ nennt: Träume sind keine Sache des Glaubens. Sie haben keine Realität, die einem Schein gegenüberstünde. Tatsächlich liegt etwas phänomenologisch sehr Überzeugendes in diesem Gedanken. Träume unterscheiden nicht zwischen ‚wie‘ und ‚als‘ - sie mögen zwar analogisch gebaut sein, doch zu einer metaphorischen oder allegorischen Ordnung, wo sie vermittels dieser Analogien auf etwas anders verweisen würden, finden sie erst in einer Traumdeutung. Als Phänomene sind sie nicht in einem solchen Sinne ‚allegorisch‘ strukturiert. Das andere tritt als das eine in Erscheinung (nicht nur wie es). Insofern gibt es auch gar kein Eines und kein Anderes, sondern nur ein Latentes und ein Manifestes, um Freuds Begriffe zu verwenden. Träume sind damit insofern ‚definitiv‘, als in ihnen weder fiktionale Modellbildung noch fiktionales Spiel am Werk 33 Breton: La Clé, 110. 34 Breton: Manifestes, 13. Jan Söffner 154 sind. Der Mensch ist für Breton also nicht da ganz Mensch, wo er sich langweilt; vor allem ist er dort, wo er nicht spielt. Trägt man den Traum, trägt man diesen Zustand ohne Referentialität ins wache Leben, dann erhält man, was Breton den „rêveur définitif“ nennt: Ein Wesen ohne Möglichkeiten, wohl aber mit Verwandlungen - und insofern ein offenes Wesen. Dieses Wesen ist, gerade indem es ein objektives Wesen ist, auch ein Mensch ohne Objekte. Breton schreibt weiter, der Mensch, dieser Definitivträumer […] de jour en jour plus mécontent de son sort, fait avec peine le tour des objets dont il a été amené à faire usage, et que lui a livrés sa nonchalance, ou son effort, son effort presque toujours, car il a consenti à travailler, tout au moins il n’a pas répugné à jouer sa chance (ce qu’il appelle sa chance! ). 35 Das „faire usage“ der Objekte ist das Gegenteil vom seinerseits objektiven hanter. Beim „faire usage“ geht es um instrumentale Nutzung und nicht um Spuk. Die Arbeit erscheint hier in einem Sinne, wie sie in der kommunistischen Tradition - von Marx und Engels - entworfen wurde: als eine prozessuale Erstellung von Objekten, die als solche nicht nur das Objekt zum Objekt, sondern auch das Subjekt zum Subjekt macht. Breton entwickelt - für so kommunistisch er sich auch halten mag - eine Kritik an dieser Philosophie der Arbeit. Und er findet eine radikalere Lösung: Jede Arbeit ist dem Surrealisten bereits insofern entfremdet, als Arbeit den Menschen zu einem Subjekt mit Objekten macht, die damit nicht mehr ‚objektiv‘ (im oben beschriebenen Sinne), sondern subjektiv sind - egal, ob er sich selbst in der Arbeit verwirklicht oder nicht: Was würde er schon verwirklichen? Bloß ein Ich - keinen arbeitslosen Spuk. Und eine Objektbeziehung - nicht die Gegenstandslosigkeit, die das ephemere Erscheinen des Surrealen begleitet. 4 G ELANGWEILT Gegenstandslosigkeit und Arbeitslosigkeit lassen sich mit einer Stimmung der Langeweile korrelieren - und damit zurück zum Ausgangspunkt dieser Überlegungen. In genau diesem Sinne nimmt Breton seinen Bezug auf die Tradition des ennui (u.a. denjenigen Huysmans; cf. 16): Arbeitslosigkeit und dumpfe Traurigkeit (Breton ist ja „désoeuvré et morne“) spielen in die Langeweile der Eingangspassage von Nadja mit hinein; und sie sind insofern Teil der surrealistischen Initiation. Die Langeweile ist für Breton ebenso sehr eine Schwellenstimmung wie für Heidegger - doch ist die Schwelle eine andere. Sie führt nicht aus einem ‚arbeitsamen‘ Zustand der Zuhandenheit in einen distanzierten Standpunkt der Vorhandenheit. Vielmehr ist sie Bedingung für eine andere, nicht arbeitende, wohl aber ‚hantierende‘ Form 35 Ibid. Der Mensch ohne Objekte 155 der Zuhandenheit, eine solche des surrealistischen Objektiven, das nicht in der Darstellung, sondern in den Automatismen liegt. Bretons Antwort auf die Frage nach der Weltoffenheit des Menschen ist damit antihumanistisch: Sie setzt weder auf eine humanistische Form der Öffnung noch auf die Frage des ‚Weltbildens‘. Sie setzt auf Spuk und Umgang. Gerade dort findet Breton die Freiheit als eine objektive, nicht subjektive. Die Langeweile ist also eine Schwellenstimmung, eine Initiation - nicht weniger, aber auch nicht mehr. In Nadja finden Freiheit und Öffnung ihre eigentliche Emotionalität in der Liebe - einer Liebe allerdings, die nicht die Liebe eines Subjekts zu seinem Liebesobjekt ist, sondern die auf einer Art de-hierarchisierter naturphilosophischer Sympathielehre basiert: Darauf nämlich, dass das Emotionale und Intuitive nicht in Form eines Subjektiv- Innerlichen von der Welt getrennt sind, sondern dass sie an dem teilhaben und teilnehmen, was die Welt zu einer surrealen Welt macht. Dies lässt sich nicht in die Form einer Wissenschaft vom Menschen bringen, die sich in der Nachfolge Descartes’ allein auf die Darstellung und mentale Vorstellung verlegt hat und das Wissen damit nur in der Vorhandenheit verorten kann - ‚implizites‘, enaktives Wissen aber ausblendet oder zu einer Frage ‚bloßer‘ Ästhetik macht. Die Langeweile in der Bücherei der Menschheit zeugt von einer Abscheu gegenüber einem solchen humanistischen Wissen. Doch ist sie darin noch ein Gelangweiltsein mit Gegenstand, ein Gelangweiltsein vom Humanismus. Es geht hier noch nicht - um es mit Heidegger zu sagen - um die tiefe Langeweile, die gegenstandslos wäre. Diese Langeweile wiederum entspricht ziemlich genau Bretons „secret“: das Arbeits- und Gegenstandslose als kultivierte Haltung, die ihn auf die Straße hinaus führt, um sich dort treiben zu lassen. Eine solche tiefe Langeweile lässt Breton die Weile in ihrer Länge auszuschöpfen, neuen Umgang und Spuk finden und öffnet ihn somit für seine Begegnung mit Nadja. Indem seine Langeweile die Arbeit und das Bilden von Subjekten und Objekten als einer dialektischen Relation, indem sie das in der Buchhandlung sich stapelnde Wissen über Gegenstände beiseite lässt, gelangt Breton zu einem Loslassen von den Objektbeziehungen, von Wissensgegenständen, von Gegenständen der Arbeit, aber auch von subjektiven Beziehungen zu einem Sexualobjekt: Die Liebe zu Nadja wird bis auf einen einzigen Kuss nicht physisch; und gerade damit wird Nadja zu etwas anderem als einem Liebesobjekt. Sie ist ein Liebesmedium: ein Umgang und Spuk. Als Spuk, nicht als Subjekt anthropomorphisiert Nadja somit eine Art lose Masche im Netz der Realität und ermöglicht eine sinnliche Relation mit dem Surrealen. Dieses ereignet sich damit nicht in Form eines Offenbarwerdens der Welt als Welt, wie bei Heidegger. Es geht nicht um eine ‚Lichtung‘ des Seins, sondern um eine „profane Erleuchtung“, wie Walter Benjamin es nannte 36 - um „éclairs“ (20). 36 Benjamin: „Der Sürrealismus.“ Jan Söffner 156 Das Problem des Menschen als einer komplexeren Form des Pavlov’schen Hunds, als einem festgelegten, in sich und seiner Umwelt verschlossenen Wesen wird damit von Breton durch eine andere Form der Offenheit überwunden als dies bei Heidegger und als dies in der humanistischen Tradition der Weltoffenheit der Fall war. Gerade in den Automatismen, die Breton etwa in der écriture automatique, dem vom Bewusstsein nicht kontrollierten Schreiben fruchtbar machen will, liegt sie. Die Automatismen gehen dabei nicht in denjenigen eines funktionalen Reflexbogens auf - genauso wenig wie ein Traum, auch der Traum eines rêveur définitif, sich in den Funktionen ‚objektiver‘ Reflexbögen beschreiben ließe. Vielmehr öffnet der Zufall die vermeintliche Festgelegtheit auf viel komplexere Zusammenhänge der Welt, die aus diesen Automatismen emergieren. Und entsprechend dieser Emergenz steht nicht die Funktion, sondern die Phänomenalität im Zentrum des Interesses. Analog zum Traum lässt sich auch der hasard objectif vielleicht als ein ‚bloßer‘ Zufall beschreiben und darstellen - was aus ihm emergiert aber nicht: Denn das folgt der nicht-repräsentationalen Ordnung der „éclairs“. Um diese Emergenz als Tor in eine Überrealität zu begreifen, muss man sie sehr ernst nehmen. Auch Heideggers Ernst war berüchtigt - aber Breton nimmt noch viel ernster. Die Surrealisten nehmen in ihren zahllosen Hypnose- und Traumexperimenten, dem automatischen Schreiben und ihrer Lebensweise geradezu enzyklopädisch all das ernst, was ‚man‘ normalerweise als Wissen nicht ernst nimmt: Sie errichten Experimentalanordnungen, um das Singuläre und den Zufall zu Wort kommen zu lassen, beschäftigen sich mit zahllosen esoterischen Wissensformen, kultivieren dadaistischen Unsinn - und suchen dann das verborgene Wissen darin. Sie kümmern sich um die Emergenz eines unerwarteten Sinns im Immanenten, Enaktiven, Nicht-Reflexiven. Dem also, was nach Heidegger als ein Primordiales vor allem Humanismus stünde. Doch ein solcher Humanismus wäre Breton ja viel zu subjektiv gewesen. Und zu langweilig. Der Mensch ohne Objekte 157 B IBLIOGRAPHIE Primärliteratur Breton, André: L’Amour fou [1937], Paris, Gallimard, 1973. Breton, André: Anthologie d’humour noir, Paris, Folio Essay, 1966. Breton, André: La Clé des champs, Paris, Société nouvelle des éditions Pauvert, 1979. 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Maria Moog-Grünewald Vom ‚objet‘ zum ‚objeu‘ - Anmerkungen zur objektiven Poiesis Francis Ponges Francis Ponge ist radikaler Objektivist - in einem sehr eigenen Sinne: Er hat eine letztlich nur ihm eigene Philosophie und Ästhetik des Objekts herausgebildet - konsistent und konstant, von Beginn seines Schaffens bis zu seinem Ende - in Variationen, ohne wesentliche Modifikationen. Philosophie und Ästhetik des Objekts prägen Poiesis, Poietik und Poetologie gleichermaßen, verbürgen ihre Einheit: Derart begleitet die theoretischpoetologische Reflexion die Dichtung, die Dichtung, der poetische Text, reflektiert die ihm zugrunde liegende Poetologie. Ihr Fokus ist das Objekt. Was ist unter ‚Objekt‘, französisch ‚objet‘ zu verstehen, genauer: was versteht Francis Ponge darunter? Äußerungen zum ‚objet‘ finden sich verstreut in den theoretisch-poetologischen Texten, doch das Verständnis von Begriff und Sache ist eher uneinheitlich, es differiert, erfährt ‚Verschiebungen‘. Mir scheint dies Absicht zu sein. Ausgangspunkt einer klärenden Annäherung kann einer der bekanntesten Texte Ponges sein - My creative method 1 . Er eröffnet den Band Méthodes - Prosatexte, Essays -, der seinerseits der zweite Teil eines Le Grand Recueil betitelten Triptychons ist, umrahmt also von Lyres und Pièces, ihrerseits poèmes en prose. Der etwas mehr als zwanzig Seiten zählende Text My creative method hat die Form von Tagebuchaufzeichnungen - Reflexionen in lockerer Folge über rund fünf Monate hinweg, von Dezember 1947 bis April 1948. Die Reflexionen beginnen mit einer leichten Provokation: „Sans doute ne suis-je pas très intelligent: en tout cas les idées ne sont pas mon fort.“ 2 Die Formulierung mag eine parodierend-inverse Variante des Eröffnungssatzes von Paul Valérys La Soirée avec Monsieur Teste sein - „La bêtise n’est pas mon fort“, weit mehr ist sie eine Polemik gegen Valérys und mehr noch gegen Mallarmés Poietik. Dies wird spätestens dann deutlich, wenn Ponge im nachfolgenden Eintrag in Variation wiederholt und zugleich kontrastiert: „[…] les idées me déçoivent, ne me donnent pas d’agrément 1 Ponge: My creative method. 2 My creative method, 515. Maria Moog-Grünewald 160 […]. Les objets, les paysages, les événements, les personnes du monde extérieur me donnent beaucoup d’agrément au contraire.“ 3 Lassen wir für einen Moment außer acht, dass hier unter ‚objets‘ aisthetisch höchst verschiedene und philosophisch inkompatible Phänomene enumeriert sind - „les paysages, les événements, les personnes du monde extérieur“. Wesentlich ist die entschiedene Kontrastierung von ‚idées‘ und ‚monde extérieur‘, von Vorstellungen einerseits und konkreter Wirklichkeit anderseits, von intelligibler und von sinnlich wahrnehmbarer Welt; wesentlich ist, dass Ponges ästhetischer Objektivismus eine entschiedene Reaktion auf den ästhetischen Subjektivismus und Idealismus mallarméscher Observanz ist. Wir erinnern uns an die markanten Sätze in Crise de vers, ihrerseits Poetologie und Poesie zugleich: „Je dis: une fleur! et, hors de l’oubli où ma voix relègue aucun contour […] musicalement se lève, idée même et suave, l’absente de tous bouquets.“ 4 Die Blume als Gegenstand tritt gänzlich zurück hinter einer Folge von Lauten, die einen musikalischen Eigenwert gewinnen, zugleich jegliche Vorstellung gar eines Blumengebindes auszulöschen intendieren. Der Absenz der Gegenstände („bouquets“) respondiert die Präsenz der „idée même et suave“. Das poietische Verfahren, die Poiesis, ist das der Suggestion: Es besteht in der Annihilation der Mimesis und der komplementären Schaffung einer Semiosis, deren Charakteristikum intratextuelle differentielle Relationen sind, Verschiebungen und Aufschübe auf der Basis von ungewöhnlichen semantischen und phonischen Entsprechungen, auch seltenen etymologischen Verweisen. Ziel ist die ‚notion pure‘: „A quoi bon la merveille de transposer un fait de nature en sa presque disparition vibratoire selon le jeu de la parole, cependant; si ce n’est pour qu’en émane, sans la gêne d’un proche ou concret rappel, la notion pure.“ 5 Gegen das fast gänzliche Verschwinden des „fait de nature“ im Textverfahren zugunsten eines durchaus platonisch-neuplatonischen Absolutums wendet sich Francis Ponge. Er insistiert auf den Objekten, den Gegenständen. Als erklärter Antimetaphysiker hat er in dem Epikuräer Lukrez sein Vorbild und nimmt in der Nachfolge von De rerum natura 6 Partei für die Gegenstände, die - poetisch umstandslos und ohne Skrupel vor definitorischen Unklarheiten - auch ‚Dinge‘ sind, ‚choses‘. So ist programmatisch seine bekannteste Textsammlung - poèmes en prose - Le Parti pris des choses überschrieben. Die Dinge bzw. die Objekte, für die Ponge ‚Partei ergreift‘ 3 My creative method, 517. 4 Mallarmé: Crise de vers, 213; Hervorhebung M.M.-G. 5 Ibid. 6 Ponge: Introduction au „Galet“, in: Proêmes, 201-205, 204: „Ainsi donc, si ridiculement prétentieux qu’il puisse paraître, voici quel est à peu près mon dessein: je voudrais écrire une sorte de De natura rerum. On voit bien la différence avec les poètes contemporains: ce ne sont pas des poèmes que je veux composer, mais une seule cosmogonie.“ Vom ‚objet‘ zum ‚objeu‘ 161 bzw. die selbst ‚Partei ergreifen‘, sind die Zigarette, die Kerze, die Auster, das Brot, der Kieselstein, aber auch das Wasser oder das Moos. Ursache der ‚Wende‘ hin zu den Dingen ist der metaphysische Ekel: Si j’ai choisi de parler de la coccinelle c’est par dégoût des idées. […] … Le chic serait donc de ne faire que de „petits écrits“ ou „Sapates“, mais tels qu’ils tiennent, satisfassent et en même temps reposent, lavent après lecture des grrrands métaphysicoliciens. 7 Und: Je condamne donc a priori toute métaphysique […] Le souci ontologique est un souci vicieux. 8 Im Gegensatz zu den ‚Ideen‘, die - so Ponge - Zustimmung erheischen und auch ohne weiteres erhalten 9 , sind die Gegenstände (objets) eine Herausforderung, nicht zuletzt deswegen, weil sie sichtbar, fassbar sind, für sich existieren, kurz: weil sie sind - und dies unabhängig vom Menschen: Leur présence, leur évidence concrètes, leur épaisseur, leurs trois dimensions, leur côté palpable, indubitable, leur existence dont je suis beaucoup plus certain que de la mienne propre, leur côté: „cela ne s’invente pas (mais se découvre)“, leur côté: „c’est beau parce que je ne l’aurais pas inventé, j’aurais été bien incapable de l’inventer“ […] 10 Wenn Ponge auf der Physis, der Körperlichkeit der Gegenstände (objets) beharrt, ‚ihre Präsenz‘ - wie er sagt -, ‚ihre ganz konkrete Evidenz, ihre Dichte, ihre Dreidimensionalität und haptische Qualität‘ hervorhebt und zum vorfindlichen ‚Prä-Text‘ erklärt, der dem Text zum Modell wird, dann scheint es ihm darum zu gehen, die Gegenstände in ihrer jeweiligen Eigenart in Sprache zu ‚fassen‘, genauer: die Sprache durch die Gegenstände ‚prägen‘ zu lassen: [...] toutefois chaque objet doit imposer au poème une forme rhétorique particulière. […] la forme même du poème soit en quelque sorte déterminée par son sujet. Pas grand-chose de commun entre cela et les calligrammes (d’Apollinaire): il s’agit d’une forme beaucoup plus cachée. … Et je ne dis pas que je n’emploie, parfois, certains artifices de l’ordre typographique; - et je ne dis pas non plus que dans chacun de mes textes il y ait rapport entre sa forme dirai-je prosodique et le sujet traité; … mais enfin, cela arrive parfois (de plus en plus fréquemment). - Tout cela doit rester caché, être très dans le squelette, jamais apparent; ou même parfois dans l’intention, dans la conception, dans le fœtus seulement: dans 7 Ponge: Pages bis, in: Proêmes, 206-222, 213sq. 8 Ibid., 216. 9 Ponge: My creative method, 517. 10 Ibid. Maria Moog-Grünewald 162 la façon dont est prise la parole, conservée, - puis quittée. Point de règles à cela: puisque justement elles changent (selon chaque sujet). 11 Der Gegenstand wird zum Prä-Text 12 , an dem sich der Text auszurichten hat. Es ist mithin der Gegenstand, der die Sprache bestimmt, es sind die res, die die verba freisetzen, die in ihrer objektiven Präsenz die ihnen adäquaten verba buchstäblich und wortwörtlich ‚provozieren‘. Was sich den Anschein avantgardistischer Erneuerung der Sprache im Horizont einer ‚Phänomenologie der Wahrnehmung‘ 13 gibt, ist in Wirklichkeit der - uneingestandene und wohl auch nicht als solcher gesehene - Versuch, einen vormodernen ‚Analogismus‘ zu restituieren: Die verba sollen - wieder - den res entsprechen, idealiter sie selbst sein - auch und gerade in der Vielheit der Benennungen: Tout le secret du bonheur du contemplateur est dans son refus de considérer comme un mal l’envahissement de sa personnalité par les choses. Pour éviter que cela tourne au mysticisme, il faut: 1 ° se rendre compte précisément, c’est-à-dire expressément de chacune des choses dont on a fait l’objet de contemplation; 2° changer assez souvent d’objet de contemplation, et en somme garder une certaine mesure. Mais le plus important pour la santé du contemplateur est la nomination, au fur et à mesure, de toutes les qualités qu’il découvre; il ne faut pas que ces qualités, qui le TRANSPORTENT , le transportent plus loin que leur expression mesurée et exacte. 14 Ganz entsprechend dem mittelalterlichen ‚Analogismus‘ sollen die unterschiedlichen ‚Qualitäten‘ eines Gegenstandes genannt, mithin der Gegenstand nicht auf eine einzige Eigenschaft reduziert werden - wie bspw. die Härte als ‚typische‘ und zum Klischee erstarrte Eigenschaft des Steins 15 . Und so sind die Texte Ponges bestrebt, die ‚Qualitäten‘ eines Gegenstandes sukzessive und in oft überraschender Weise zu ‚benennen‘. Doch - so zeigen die spezifischen Verfahren - entfernen sich die Nominationen in ihrer Folge immer mehr von der ‚Sache‘ und nähern sich dem ‚Wort‘ an - dem Wort in seiner Lautfolge, seiner Bedeutung, seiner Herkunft. Das Wort in seinen 11 Ibid., 533. 12 Ibid., 517: „[…] tout cela est ma seule raison d’être, à proprement parler mon prétexte; et la variété des choses est en réalité ce qui me construit.“ 13 Es ist nicht bekannt, dass Ponge Merleau-Pontys Phénoménologie de la perception, 1945 erstmals erschienen, gekannt oder gar gelesen hätte. Doch war die Phänomenologie - wie Sartres L’Être et le Néant zeigt - die in dieser Epoche dominierende erkenntnistheoretische Position. 14 Ponge: Introduction au „Galet“, in: Proêmes, 203. 15 Ponge: La Pratique de la littérature, 674: „On vous dit: ‚Vous avez le cœur dur comme une pierre.‘ Or les pierres, c’est autre chose, elles ont peut-être le cœur dur, mais aussi d’autres qualités. Mais on entend une fois pour toutes ‚les pierres sont dures‘. C’est fini. C’est fini, on n’en parle plus. Les autres qualités, non. C’est dur.“ Vom ‚objet‘ zum ‚objeu‘ 163 Differenzen und nicht (mehr) so sehr das Wort in Analogie zur Sache wird ausgelotet, und doch bilden die Differenzen einen ‚Analogismus‘: Ein rein intraverbaler ‚Analogismus‘ setzt sich an die Stelle eines vorgeschobenen ‚Analogismus‘ zwischen res und verbum: „En somme voici le point important: PARTI PRIS DES CHOSES égale COMPTE RENDU DES MOTS .“ 16 Und: „Genre choisi: définitions-descriptions esthétiquement et rhétoriquement adéquates.“ 17 In bester Tradition des Strukturalismus und sogar in Vorwegnahme des Poststrukturalismus arbeitet Ponge weniger die Analogien zwischen ‚Wort‘ und ‚Sache‘ heraus, denn die ‚Differenzen’ und die ‚Verschiebungen’ des Wortes. Der vormoderne wird durch einen modernen, ja postmodernen ‚Analogismus‘ restituiert: Les analogies, c’est intéressant, mais moins que les différences. Il faut, à travers les analogies, saisir la qualité différentielle. Quand je dis que l’intérieur d’une noix ressemble à une praline, c’est intéressant. Mais ce qui est plus intéressant encore, c’est leur différence. Faire éprouver les analogies, c’est quelque chose. Nommer la qualité différentielle de la noix, voilà le but, le progrès. 18 Das ‚Ziel‘ und der ‚Fortschritt‘ ist die ‚Nennung‘. Ihr Spezifikum ist eine Semiosis, die als Mimesis getarnt sich als Autopoiesis offenbart. Exemplarisch steht dafür - wie übrigens jedes andere poème aus Le Parti pris des choses - L E C AGEOT : A mi-chemin de la cage au cachot la langue française a cageot, simple caissette à claire-voie vouée au transport de ces fruits qui de la moindre suffocation font à coup sûr une maladie. Agencé de façon qu’au terme de son usage il puisse être brisé sans effort, il ne sert pas deux fois. Ainsi dure-t-il moins encore que les denrées fondantes ou nuageuses qu’il enferme. A tous les coins de rues qui aboutissent aux halles, il luit alors de l’éclat sans vanité du bois blanc. Tout neuf encore, et légèrement ahuri d’être dans une pose maladroite à la voirie jeté sans retour, cet objet est en somme des plus sympathiques, - sur le sort duquel il convient toutefois de ne s’appesantir longuement. 19 Bereits der erste Satz macht implizit wie explizit deutlich, dass der Gegenstand, näher hin das Ding, ‚la chose‘, über das Wort erschlossen wird - über dessen Phoneme und Sememe: ‚Auf halbem Weg‘ zwischen ‚la cage‘ und ‚le cachot‘ ist in der französischen Sprache ‚le cageot‘ situiert. Es hat an beiden Wörtern phonetisch, etymologisch und semantisch teil und bewahrt doch seine Eigenständigkeit, ja Andersartigkeit in seiner phonetischen und semantischen Differenz. Im Unterschied zu ‚la cage‘ und ‚le cachot‘ ist der Spankorb ‚le cageot‘ durchlässig für Licht und Luft: „simple caissette à claire-voie“ nimmt als erläuternde Apposition phonetisch in fortgesetzter 16 Ponge: My creative method, 522. 17 Ibid. 18 Ibid., 536sq. 19 Ponge: Le Parti pris des choses, 18. Maria Moog-Grünewald 164 Alliteration wiederum den dominanten postpalatalen Okklusivlaut ‚k‘ auf, der seinerseits wiederholt wird in ‚suffocation‘ und in ‚à coup sûr‘. Eingestreut - gleichsam als lautliches Gegengewicht zu den Okklusiva - sind die stimmlosen und stimmhaften Fricativa ‚f‘ und ‚v‘. Die Folge der Assonanzen tut ein Übriges, dem Satz Rhythmus und Melos zu verleihen. 20 Semantische Schichtungen werden ent-deckt, (pseudo)etymologische Ableitungen genutzt, phonische Rekurrenzen ins Spiel gebracht. Ein Text entsteht, der L E C AGEOT zum ‚Vorwurf‘ hat, doch nurmehr seinen eigenen - rhetorischen wie poietischen - Regeln folgt und dennoch in eigensinniger Weise auf seinen ‚Vorwurf‘ verwiesen bleibt. Die ihm eigene Anschaulichkeit, ja ‚Gegenständlichkeit‘ ist aber ausschließlich ein Effekt der Sprache, der dadurch erreicht wird, dass der zunehmenden Konkretisierung des Gegenstands durch die beschreibend-bestimmenden Wörter eine sich steigernde Abstraktion in die Wörter korrespondiert, die durch die realisierten Textverfahren wiederum vergegenständlicht werden. So hat die Versprachlichung des Gegenstands die Reifizierung der Sprache zur Folge. Die poietische Unternehmung ist jeweilig und jeweils einmalig - ganz so wie die Wirkung, und sie muss immer von neuem begonnen werden, ohne je ganz zu gelingen. L E C AGEOT , der Gegenstand und der Text, ist daher die ‚Anders-Rede‘ der poietischen Sprache: Er steht für ihre Funktion, ihre Fragilität, ihre ephemere Existenz und ihre jeweilige Einmaligkeit. Ein kurzes Aufleuchten in Weiß geht dem Verschwinden voraus - auf dem Müll: worüber kein weiteres Wort zu verlieren ist. L E C AGEOT : eine Allegorie der modernen Poetologie, zudem ein Exemplum für eine Poiesis, die noch und gerade in der Insistenz auf der Materialität der Sprache, mithin auf ihrer Semiosis, diese zu transzendieren sucht hin auf einen „éclat sans vanité du bois blanc“. Wofür anders wenn nicht für den Effekt der ‚reinen Poesie‘, der ‚poésie pure‘ steht jenes Bild des „éclat sans vanité du bois blanc“ - Mallarmé spricht von einer ‚page blanche‘ als poietischer Intention. Der Gestus der aufgeklärten Abgeklärtheit - „légèrement ahuri d’être dans une pose maladroite à la voirie jeté sans retour, cet objet est en somme des plus sympathiques“ - sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass noch im Scheitern ein Triumph erkannt wird, ein Sieg ‚gegen die Sprache in der Sprache‘. Denn dies ist die Absicht des inversen Verfahrens, die Gegenstände der Sprache vorzuordnen: eine Erneuerung der Sprache in der Auffindung einer Sprache, die ‚gegen die Sprache spricht‘: „parler contre 20 Ponge: Le Savon, 361: „[…] ces façons, ces manières que vous admettez fort bien, n’est-ce pas, en matière de musique: ces répétitions, ces reprises da capo, ces variations sur un même thème, ces compositions en forme de fugues que vous admettez fort bien en musique, que vous admettez et dont vous jouissez - pourquoi seraient-elles, en matière de littérature, interdites? “ Vom ‚objet‘ zum ‚objeu‘ 165 la parole“ ist für Ponge die „raison d’écrire“ 21 . Das ‚Sprechen gegen die Sprache‘ ist zunächst ein Sprechen, das sich gegen das routinierte Sprechen richtet, seine Konventionen und Nachlässigkeiten. Darüber hinaus aber - und dies ist das Entscheidende - ist das ‚Sprechen gegen die Sprache‘ ein Sprechen, das gerade in der Insistenz auf der Materialität der Sprache, auf ihren Wörtern und Lettern, den Phonemen und Sememen, auf Wiederholung und Abfolge, auf Rhythmus und Melodie, eine Metasprache generiert, die ihren eigenen impliziten Regeln, ihrer eigenen sprachlichen Logik folgt und gerade dadurch verweist auf einen Bereich, der sich der Sprache entzieht. Diesen Bereich kennzeichnet Ponge in verräterischer Diktion als ‚meta-logisch‘. In einer Reflexion zu Camus’ Essay über das Absurde 22 merkt Ponge an: Bien entendu le monde est absurde! […] Mais qu’y a-t-il là de tragique? J’ôterais volontiers à l’absurde son coefficient de tragique. Par l’expression, la création de la Beauté Métaphysique (c’est-à-dire Métalogique). Le suicide ontologique n’est le fait que de quelques jeunes bourgeois (d’ailleurs sympathiques). Y opposer la naissance (ou résurrection), la création métalogique (la P OÉSIE ). 23 Die eigene Schöpfung („la création“), die Dichtung, wird unmissverständlich in Opposition zur Metaphysik gebracht, doch ihrerseits als ‚Ausdruck‘, als Schöpfung ‚Metaphysischer Schönheit‘ („Beauté Métaphysique“), näherhin als ‚Metalogische Schönheit‘ („Beauté Métalogique“) apostrophiert. Mit geradezu existentialistischer Verve geriert sich Ponge als prometheischer ‚Schöpfer des Wortes‘ und ‚durch das Wort‘: „[...] refaire le monde, à tous les sens du mot refaire, grâce au caractère à la fois concret et abstrait, intérieur et extérieur du VERBE , grâce à son épaisseur sémantique.“ 24 Die Allusion auf Johannes 1,1 - wiederum in Anknüpfung an Genesis 1 - ist offensichtlich, und sie will deutlich machen, dass die poiëtische Schöpfung an die Stelle der Schöpfung Gottes tritt. Das dichterische Wort ersetzt das Wort Gottes und erhebt den Anspruch, die Welt neu zu schaffen, neu erstehen zu lassen: im Wort und als Wort. Der Begriff allerdings, in dem die poiëtische Schöpfung ihren genuinen - sprachlichen wie ideologischen - ‚Ausdruck’ findet, ist derselbige: le VERBE bzw. lógos. Die Absicht ist evident: Der implizite Verweis auf den Prolog des Evangeliums nach Johannes „Alles ist durch das Wort geworden, [...]“ und „[...] das Wort ist Fleisch 21 Proêmes, 196sq.: „Qu’il faut à chaque instant se secouer de la suie des paroles et que le silence est aussi dangereux dans cet ordre de valeurs que possible. Une seule issue: parler contre les paroles. […] Il n’y a point d’autre raison d’écrire.“ 22 Dieser erste Teil von Pages bis (wiederum Teil der Proêmes) trägt den Titel: Réflexions en lisant l’„Essai sur l’absurde“; cf.: Proêmes, 206-222, 206-209. 23 Pages bis, in: Proêmes, 213. 24 Ibid., 218sq. Maria Moog-Grünewald 166 geworden“ 25 bildet die Folie, vor der der poiëtische Anspruch sich legitimiert und durch die er zugleich seine Nobilitierung erhält, ja mehr noch: seine Gleichrangigkeit postuliert. Die schöpferische Kraft des Logos, hier verstanden als poetisches Wort, als poetische Sprache, tritt in Opposition zur Idea bzw. zu den Ideae, zur Metaphysik tout court. Dennoch bzw. gerade deswegen wird ihr überantwortet, eine Beauté métaphysique im und als sprachlichen Ausdruck zu gestalten - eine Beauté métaphysique 26 , die in nur minimer Varianz als Beauté métalogique näherhin bestimmt ist. Damit ist zwischen den Begriffen ‚métaphysique‘ und ‚métalogique‘ eine doppelte, ja doppelbödige Relation evoziert: Als sprachliche Variante zu ‚métaphysique‘ insistiert der Neologismus ‚métalogique‘ 27 auf der ‚Physis‘, der ‚Materialität‘ der création métalogique: ‚Metálogos‘ ist mithin das andere, das Differente der ‚Metáphysis‘ im herkömmlichen Verständnis. Und doch hat zugleich der Begriff des logos, des verbum, des ‚Worts‘ eine - im herkömmlichen Verständnis - metaphysische Dimension, insofern der logos ja erst in der ‚Fleischwerdung’ seine ihm eigene Physis gewinnt - und auf diesen im Johannes-Evangelium überlieferten ‚Akt Gottes‘ spielt ja die absichtsvolle Verwendung von VERBE an. So gibt denn anderseits der Neologismus ‚métalogique‘, insofern er in Analogie zu ‚métaphysique‘ im Sinne von ‚die Physis übersteigend‘ gebildet ist, zu erkennen, dass die Materialität des Logos, mithin der Sprache, im poiëtischen Prozess trans-zendiert werden soll: keineswegs idealiter, sondern paradoxerweise materialiter. Die ‚Transzendierung‘ vollzieht sich in der Immanenz. 28 Erkenntnistheoretisch stellt diese Volte eine Absurdität dar, und sie kann sich weder auf die platonische 25 Johannes 1,3 und 1,14. Französisch: „Au commencement était le Verbe et le Verbe était avec Dieu et le Verbe était Dieu.“ (Zit. nach La Bible de Jérusalem.) - Lateinisch: „In principio erat verbum, et verbum erat apud Deum, et Deus erat verbum.“ - Griechisch: $En ˜rxñ Ên lógoß, kaì lógoß Ên pròß tón qeón, kaì qeòß Ên lógoß. (Zit. nach Novum Testamentum Graece et Latine, ed. Nestle-Aland.) 26 In einem Brief an Albert Camus vom 12. September 1943 erwähnt Ponge „cette beauté métaphysique (car ici l’ontologie - heureuse légitimement réapparaît, en joie, ordre, beauté) dont parle nostalgiquement Baudelaire, et très consciemment Jean Paulhan à propos des peintres nouveaux“. (Ponge: Œuvres complètes, Bd. I, 986) 27 Ponge hat das Adjektiv ‚métalogique’ abgeleitet von einem Substantiv „attesté par Littré dans le titre d’un ouvrage de Jean de Sarisbery (XII e siècle)“ (ibid.). Es handelt sich dabei um das Hauptwerk Metalogicus (1159) von Johannes von Salisbury, eine Verteidigung der aristotelischen Logik. In diesem Sinne hat Ponge den Begriff ‚métalogique’ nicht verstanden; eher - wenn überhaupt damit vertraut - im Sinne der modernen mathematischen Grundlagenforschung, in der ‚Metalogik’ die Theorie der Syntax und Semantik formaler Sprachen und Systeme bezeichnet. 28 Cf. dazu auch eine weitere ‚Reflexion’, die sich ausdrücklicher noch auf den von Camus thematisierten Aspekt des Absurden bezieht (Ponge, Réflexions en lisant l’„Essai sur l’absurde“, in: Pages bis, in: Proêmes, 216sq.): „L’une des conditions est de se débarrasser du souci ontologique [...]. Il n’est pas tragique pour moi de ne pas pouvoir expliquer (ou comprendre) le Monde. D’autant que mon pouvoir poétique (ou logique) doit m’ôter tout sentiment d’infériorité à son égard. Puisqu’il est en mon pouvoir - métalogiquement - de le refaire.“ Vom ‚objet‘ zum ‚objeu‘ 167 noch die neuplatonische Philosophie berufen. Ästhetisch aber ist sie durch eine eigenwillige Hybridisierung des stoisch-epikureischen Materialismus, demgemäß es kein Seiendes jenseits des Stofflichen gibt, mit dem platonischen und auch dem neuplatonischen Idealismus, näherhin dem Philosophem des Strebens nach dem Absoluten, der absoluten Wahrheit und Schönheit, legitimiert. Nichts könnte dies deutlicher werden lassen als nachfolgende Reflexionen - noch immer in Bezug auf Camus’ Begriff des Absurden: L’homme et son appétit d’absolu - sa nostalgie d’absolu (Camus): Oui, c’est une caractéristique de sa nature. Mais l’autre, moins remarquée, est sa faculté de vivre dans le relatif, dans l’absurde (mais cela n’est jugé que par volonté). […] Qu’est-ce que cet appétit d’absolu? Un reliquat de l’esprit religieux. Une projection. Une extériorisation vicieuse. Il faut réintégrer l’idée de Dieu à l’idée de l’homme. Et simplement vivre. 29 Die Leichthändigkeit, mit welcher der Objektivist Ponge Konzepte des Idealismus verwirft und zugleich für seine eigene Argumentation in Anspruch nimmt, mag irritieren, doch sie ist genaues Indiz dafür, dass noch in der Negation des Metaphysischen dessen Präsenz evoziert wird. Denn sie bildet - eingestandenermaßen oder nicht - Basis und Prinzip der Poetik des ‚Partiprisme‘ 30 , im ganzen einer Poetik der Moderne, der ein Symbolbegriff zugrunde liegt, den bereits der Neuplatoniker Proklos formuliert hat und den sprachlich ‚einzuholen‘ die Dichtung der Moderne eine unendliche Vielfalt an Verfahren entwickelt hat. Ponges ‚Partiprisme‘ realisiert nur eines von vielen möglichen Verfahren. Dass er sich dabei auf die ‚Objekte‘ bezieht, ist Vorwand und Text zugleich, ist Prätext und Text: objet und objeu werden ununterscheidbar. B IBLIOGRAPHIE Primärtexte Mallarmé, Stéphane: Crise de vers, in: ders., Œuvres complètes, zwei Bände, ed. Bertrand Marchal, Paris, Gallimard, 1998 und 2003 (Bibliothèque de la Pléiade), Bd. II, 204-213. Ponge, Francis: My creative method, in: ders., Œuvres complètes, zwei Bände, ed. Bernard Beugnot, Paris, Gallimard, 1999 und 2002 (Bibliothèque de la Pléiade), Bd. I, 515-537. 29 Cf. Notes premières de „L’Homme“, in: Proêmes, 223-230, 228. - Ibid., 225: „Il [sc. l’homme] a sorti de lui-même l’idée de Dieu. Il faut qu’il la réintègre.“ 30 Pages bis, in: Proêmes, 220. Maria Moog-Grünewald 168 Ponge, Francis: Le Parti pris des choses, in: ders., Œuvres complètes, Bd. I, 13-69. Ponge, Francis: Proêmes, in: ders., Œuvres complètes, Bd. I, 163-236. Ponge, Francis: La Pratique de la littérature, in: ders., Œuvres complètes, Bd. I, 670-684. Ponge, Francis: Le Savon, in: ders., Œuvres complètes, Bd. II, 355-421. Katharina Münchberg Kindheit und Sprache in Elsa Morantes La Storia 1. Was ist das Kind? Was ist die Kindheit? - Die Frage nach dem Kind und der Kindheit kann nur eine kindliche Frage sein. Es ist eine Frage, die nicht auf die Objektivität und Diskursivität des Wissens zielen kann, sondern den Fragenden, die Subjektivität des Fragenden selbst betrifft. Die Frage nach dem Kind verweist in eine ontologische Dimension, in der sich das Verhältnis von Objektivität und Subjektivität neu unter dem Aspekt ihrer Herkunft stellt. Die Objektivität des Wissens und die Subjektivität des Fragenden gründen in dem Raum der Kindheit, den sie verabschiedet haben. Der Fragende, der immer schon ein Kind gewesen ist, aber nicht mehr ist, kann die Frage nach der Kindheit nur als die transzendentale Frage nach der Möglichkeit der Frage stellen, nach der Möglichkeit seines Fragens, nach seinem Vermögen zu fragen, zur Frage zu kommen und Fragender zu werden und damit immer auch nach der Unmöglichkeit der Frage, nach seinem eigenen kindlichen Unvermögen zu fragen. Die Frage nach dem Kind kann nur eine kindliche Frage sein, weil sie unmöglich ist, weil sie nicht gestellt werden kann, ohne den Fragenden in den fraglosen Erfahrungsraum der Kindheit zurückzustellen und seine Identität als Fragender damit zu öffnen, zu teilen und zu zerteilen. Dass die kindliche Erfahrung nicht mitteilbar ist, dass das Kind noch nicht sprechen kann, dass es anders spricht, kindlich spricht, bringt einen Bruch hervor zwischen dem Kind und dem Fragenden, zwischen der Erfahrung der Kindheit und dem Sprechen über die Kindheit, zwischen dem Kind-Sein und der Frage nach dem Sein des Kindes. Das Kind, das nicht spricht, sondern erst zum Sprecher wird, ist keine stabile Instanz, es ist noch nicht der Diskursivität, der Psychologisierung oder Politisierung unterworfen. Das Kind hat noch nicht die Präsenz eines Subjekts, das sich den Objekten entgegenstellt, es steht in der Differenz zwischen Subjekt und Objekt, es öffnet sich darauf, grammatisches Subjekt, Subjekt der Sprache und sprechendes Subjekt zu werden. Die Kindheit ist der Raum einer Neutralität, in dem das Kind gleichzeitig Subjekt und Objekt der Sprache ist. Das Kind spricht nicht, in ihm spricht die Sprache und in diesem Sprechen der Sprache wird das Kind zum sprechenden Katharina Münchberg 170 Subjekt. Daher ist die Kindheit ein Erfahrungsraum an der Grenze der Sprache, eine stumme Erfahrung, die immer schon zur Sprache kommt, von der aber nicht gesprochen werden kann. 2. Elsa Morante hat in ihren Romanen und Gedichten gewagt, in den Raum der Kindheit zurückzugehen, in den poetischen Raum einer sprachlosen Erfahrung, die Sprache wird, und sie hat das Kind und die Kindheit davon befreit, eine verschlossene Substanz zu sein, sie hat uns gezeigt, dass die Kindheit die Möglichkeit der Sprache ist, die gleichzeitig Möglichkeit der Gemeinschaft der Sprechenden und damit der politischen Gemeinschaft ist. Was wie eine naive Zuflucht in ein verlorenes Paradies, in eine ursprüngliche Zusammengehörigkeit des sprachlosen Kindes und der sprachlosen Dinge erscheinen könnte, ist vielmehr eine Herausforderung, eine Verweigerung und eine Revolte, es ist ein Widersprechen gegen die Sprache, in der wir sprechen, in der wir sprechende Subjekte sind, um den Ort des Kindes einzunehmen, um das Sprechen im Abgrund der Differenz von Subjekt und Objekt zu positionieren. Das Aushalten dieser Differenz lässt Morantes literarisches Werk zwischen die Grenzen von Subjektivierung und Objektivierung geraten. Elsa Morante erzählt nicht objektiv über das Kind, das noch nicht Subjekt ist, noch schreibt sie subjektiv über ihre eigenen Kindheitserfahrungen. Ihr Schreiben ist vielmehr ein kindliches Schreiben, ein Schreiben jenseits des schreibenden Subjekts, das Schreiben einer kommenden Sprache. Elsa Morante verwirklicht damit eine besondere Variante der neorealistischen Poetik des italienischen Romans der Nachkriegszeit. Der neorealistische Roman versucht, einen subjektlosen Diskurs zu inszenieren, aus dem die Instanz eines zentralen Erzählers verschwunden ist. Er präsentiert eine chaotische Welt aus inkonsistenten, multiplen und seriellen Erzählfragmenten, die zu keiner synthetisierenden Einheit mehr geführt werden. Es gibt kein erzählendes Subjekt, in dessen Bewusstsein sich die Wirklichkeitsaspekte zu einem sinnvollen Ganzen zusammenfügen würden. Dieser Inszenierung einer subjektlosen Wahrnehmung entspricht eine selbstbezügliche Romanstruktur. Der Text wird zu einer eigenen sprachimmanenten Welt von materiellen Zeichen, die keine Vermittlung von Sinn und Sein mehr leisten. Daher lässt sich der neorealistische Roman auch als transzendentaler Roman verstehen. Er stellt die Frage nach den diskursiven Bedingungen der Subjektivität, nach ihrem Ursprung in einer Sprache, die durch politische und ökonomische Machtverhältnisse geprägt ist und das Subjekt in der Gewalt des Diskurses entsubjektiviert. Die doppelte Reflexivität des Romans auf die Sprache als subjektlose Materialität und gleichzeitig als entsubjektivierende Konstitutionsbedingung von Subjektivität ist zur dominanten Signatur des neorealistischen Romans geworden. Kindheit und Sprache 171 Im August 1960 veröffentlicht Elsa Morante in den Nuovi Argomenti ihren Saggio sul romanzo, ein Resümee der poetologischen Reflexionen, die sie anlässlich verschiedener literarischer Interviews gegeben hatte. In diesem Aufsatz entwickelt Morante den Begriff eines poetischen Realismus, den sie als Gegenbegriff zur Poetik des französischen nouveau roman formuliert. Was Morante der subjektlosen écriture des nouveau roman entgegensetzt (und implizit auch dem italienischen Neorealismus), ist der emphatische Appell an die Erfahrungsdichte und emotionale Intensität des erzählenden Textes. Poetischer Realismus heißt für Morante, dass der Roman wesentlich ein Medium der Erfahrung ist, doch nicht nur der persönlichen Erfahrung, sondern auch einer un- und überpersönlichen Erfahrung, die sich in den offenen Raum der Möglichkeiten menschlichen Lebens und Zusammenlebens erstreckt. Realismus ist die Transformation der subjektiven Erfahrung in eine subjektlose poetische Wahrheit, die politisches Gewicht gewinnt: Ma al romanziere (come a ogni altro artista) non basta l’esperienza, contingente della propria avventura. La sua esplorazione deve trasmutarsi in un valore per il mondo: la realtà corrutibile dev’essere trasmutata da lui, in una verità poetica incorrutibile. Questa è l’unica ragione dell’arte, e questo è il suo necessario realismo. 1 Elsa Morantes Begriff des poetischen Realismus scheint auf den ersten Blick hinter die Poetik des nouveau roman und des Neorealismus zu einer konservativen Romanpoetik zurückzugehen. Doch die eigentliche innovative Kraft von Morantes Romanen liegt nicht darin, dass sie auf der Erfahrungsdichte der Erzählung bestehen, sondern dass diese Erfahrung eine kindliche ist, dass es eine Erfahrung am Nullpunkt der Sprache ist. 3. Der Roman La Storia, 1974 erschienen, wird grundlegend durch jene Poetik der kindlichen Erfahrung bestimmt, die Morante bereits in ihrem früheren erfolgreichen Werk, L’Isola di Arturo von 1957, verwirklicht hatte. In L’Isola di Arturo ist die Kindheit ein geschlossener (Zeit-)Raum, der sich von innen her öffnet, der durch die Erfahrung der Liebe gesprengt wird, die Arturo mit der jungen Frau seines Vaters macht. L’Isola di Arturo ist ein Roman über den Limbus, die Schwelle zwischen der kindlichen Erfahrung und dem Wissen des jungen Mannes, der auch das Geheimnis des homosexuellen Vaters und dessen verhüllende Sprache verstehen lernt. Dabei markiert die distanzierte Position des gealterten Ich-Erzählers sehr deutlich, dass zwar eine Rückkehr auf die Insel der Kindheit unmöglich ist, doch dass das Erzählen selbst kindlich werden kann, dass es zu einer Sprache der fraglosen Gewissheit, des sich erfüllenden Versprechens und der magischen Anwesenheit des 1 Morante: Sul romanzo, 49sq. Katharina Münchberg 172 Abwesenden werden kann. In La Storia dagegen gibt es keine Positionierung des Erzählers jenseits der Kindheit mehr. Die Kindheit endet mit dem Tod. Das Kind wird nicht erwachsen, es bleibt Analphabet, es verweigert sich der Schrift, dem Diskurs und der Geschichte. La Storia ist ein chronologisch strukturierter Roman, der in einzelnen Jahresschritten das historische Geschehen von 1941 bis 1947 präsentiert. Innerhalb dieser chronologischen Struktur entfaltet sich die fiktionale Erzählung der verwitweten Halbjüdin Ida Ramundo und ihres Sohnes Giuseppe, die mit der Geburt des kleinen Giuseppe 1941 beginnt und mit dessen Tod 1947 endet. Der Beginn des Romans, der von der Vergewaltigung Idas durch einen jungen deutschen Soldaten berichtet, setzt ein mit einem zufälligen und trivialen Ereignis, das in der Welt faschistischer Macht und Gewalt bedeutungslos erscheint. Es ist eine Welt, in der die Grenze des Menschen zum Tier, die Grenze menschlichen Sprechen-Könnens, die Grenze des Lebens und des Todes überschritten wird. Morante erzählt von dieser Überschreitung, um ihr eine andere Erfahrung mit der Sprache, eine kindliche Erfahrung vorangehen zu lassen, sie erzählt, um den Menschen aus der Inhumanität, aus der Sprachlosigkeit der Gewalt, aus der Stille des Todes herauszuführen, um sein Vermögen zu sprechen freizulegen, um ihm die Verantwortung für seine Sprache und für seine Kindheit zurückzugeben. Ida fällt es nicht schwer, ihre Schwangerschaft vor dem älteren Sohn Nino zu verbergen, da sich das ungeborene Kind durch die Hungersnot des Kriegsjahres 1941 nicht richtig ausbilden kann. Als Giuseppe geboren wird, ist er frühreif und auffallend klein. Das Kind verbringt sein erstes Lebensjahr versteckt in der Wohnung mit der Mutter, dem Bruder und dem Hund Blitz. Es ist vor der menschlichen Gemeinschaft verborgen, weil es sittlich, religiös und politisch ausgegrenzt ist und nicht existieren darf, doch die Verborgenheit des Kindes ermöglicht ihm seine eigene kindliche Zauberwelt zu erschließen und zu entdecken. Außerhalb der Sprache, ausgegrenzt aus der politischen Sprachgemeinschaft spricht das Kind eine andere Sprache, eine nicht kommunikative und nicht prädikative Sprache, eine Sprache der sinnlichen Lust und der Freude: „Non s’era mai vista una creatura piú allegra di lui. Tutto ciò che vedeva intorno lo interessava e lo animava gioiosamente.“ 2 Die ersten Wörter, über die das Kind verfügt, sind keine arbiträren Zeichen, sondern ein Ausruf der Freude, Interjektionen der Lust über die Anwesenheit des Anderen, der Mutter oder des Bruders, es sind Akte, Gesten, Vollzüge sinnlicher Wahrnehmung. Die Worte sind Namen, die den Dingen angehören. Es sind die Namen, durch die die verschiedenen Dinge in eine essentielle Nähe rücken, ohne dass es eine Trennung von Innen und Außen, von Mensch und Tier, von Subjekt und Objekt gibt. Giuseppes erstes Wort ist ttelle, und Sterne sind auch die Lampen, ver- 2 Elsa Morante: La Storia, 120. Alle Belege aus diesem Werk erscheinen im Folgenden in Klammern hinter dem Zitat. Kindheit und Sprache 173 welkten Blumensträuße, Zwiebelschalen und Schwalben: „Una delle prime parole che imparò fu ttelle (stelle). Però chiamava ttelle anche le lampadine di casa, i derelitti fiori che Ida portava da scuola, i mazzi di cipolle appesi, perfino le maniglie delle porte, e in séguito anche le rondini.“ (120) Die kindliche Erfahrung ist eine Erfahrung mit den Dingen, mit den Dingen als Namen und den Namen als Dingen. Es ist eine Erfahrung, die voller Glück ist, dem Glück der ersten Begegnung, das aus der welterschließenden Kraft der Sprache entspringt: Ma piú ancora forse che dalle note, Giuseppe era ammaliato dalle parole. Si capiva che le parole, per lui, avevano un valore sicuro, come fossero tutt’uno con le cose. [...] E perfino capitò a volte che in una parola lui già presentisse l’immagine propria della cosa, pure se questa gli era ignota, cosí da riconoscerla al primo incontro. (130sq.) Auch die durch den Krieg zerstörte Welt ist für das Kind ein offener Erfahrungsraum, in dem sich eine prächtige sinnliche Zauberwelt enthüllt. Weil das Kind noch nicht über die kommunikative Funktion der Frage verfügt, ist die kindliche Erfahrung fragloses Glück: Quel mondo e quella popolazione, poveri, affannosi e deformati dalla smorfia della guerra, si spiegavano agli occhi di Giuseppe come una multipla e unica fantasmagoria, di cui nemmeno una descrizione dell’Alhambra di Granata, o degli orti di Shiraz, né forse perfino del Paradiso Terrestre potrebbe rendere una somiglianza. (122) In dieser Zeit lernt Giuseppe auch seinen eigenen Namen, den er nicht als Eigenname verwendet, nicht als Inbegriff seiner Identität, sondern als Ausdruck seines singulären Daseins, seiner sinnlichen Anwesenheit in der Welt: „Adesso, a chiedergli il suo nome, rispondeva serio: ‚Useppe‘. Davanti uno specchio, ravvisandosi diceva: ‚Useppe‘. E andò a finire che, oltre a suo fratello, anche sua madre si avvezzò a chiamarlo con questo nome inedito.“ (131) Doch 1943, als bei einem Bombenangriff das Haus von Ida zerstört wird, zerbricht für Useppe das essentielle Band zwischen den Wörtern und den Dingen. Als das Sirenengeheul verstummt, tritt Ida mit Useppe aus einem Erdloch auf die Strasse und erblickt zwischen den verbrannten und umgestürzten Bäumen ein totes Pferd. Ida spürt, wie Useppes Höschen nass wird. Aus Angst und aus Scham über seine körperliche Reaktion beim Anblick des Tierkadavers beginnt Useppe zu weinen. Als Ida mit ihm in ihr Haus zurückkehren möchte, steht sie vor einer Trümmerruine. Ida vermag auf Useppes Frage „mà? … casa? ...“ (170) keine Antwort mehr zu geben. Auch Useppes Schrei nach seinem Hund, „Bii! Biii! Biiii! ! “ (170), verklingt, ohne dass Ida darauf reagiert. Erst durch die Erzählung einer Bäuerin, sein Hund hätte Flügel bekommen und sei im Himmel, lässt er sich beruhigen. Es ist dies die erste Szene einer Serie von traumatischen Erfahrungen, in denen die Sprache aussetzt. Es ist die Erfahrung einer Frage, auf die es keine Antwort Katharina Münchberg 174 geben kann, eines Abgrundes der Frage, einer Frage, die nur Sprache ist, aber Sinn und Sein verloren hat. Ida und Useppe ziehen in ein Flüchtlingslager in der Vorstadt von Rom. Doch das Erlebnis des Bombenangriffs hinterlässt seine Spuren in Form von körperlichen Symptomen. In der ersten Nacht weint Useppe im Schlaf. Auch wenn am nächsten Morgen der nächtliche Schrecken vergessen scheint, und Useppe freudig Kanarienvögel in seiner neuen Behausung entdeckt, so schreibt sich der Schrecken doch unwiderruflich in das Körpergedächtnis ein. Und bald macht Useppe eine weitere traumatische Erfahrung. Auf dem Heimweg von einem Einkauf auf dem Schwarzmarkt von Rom, wo Useppe ein Paar Stiefelchen erhält, trifft Ida eine Jüdin aus dem Ghetto, der sie wie zwanghaft auf ein stilles, verlassenes Gleis des Bahnhofs folgt. Das Kind, das sie auf dem Arm trägt, hat sie völlig vergessen. Aus den verschlossenen Türen eines Güterzuges dringt ein Geräusch, das zuerst an das Stöhnen von Tieren erinnert, aber die kollektive Stimme einer zusammengepferchten Menschenmenge ist. Das unsichtbare Geräusch („l’invisibile vocio“, 243) ist ineins ein Gewimmer, ein unverständlicher Wortwechsel, ein Ruf nach der Mutter, nach Wasser und Luft. Plötzlich bemerkt Ida das Herzklopfen des Kindes an ihrem Körper. Mit unbewegtem Gesicht blickt es auf den Wagon. In seinem Blick zeichnet sich ein unbeschreibliches Grauen ab: Useppe si rigirò al suo richiamo, però gli rimaneva negli occhi lo stesso sguardo fisso, che, pure all’incontrarsi col suo, non la interrogava. C’era, nell’orrore sterminato del suo sguardo, anche una paura, o piuttosto uno stupore attonito; ma era uno stupore che non domandava nessuna spiegazione. (247) Die Szene wiederholt einen früheren Besuch auf dem Bahnhof Tiburtina, wo Useppe auf den Schultern von Nino dem Verladen eines Kalbes zugesehen hat, das ruhig dasteht, doch in dessen Augen ein Vorwissen aufscheint. Die Analogie der beiden Szenen, die die Gleichsetzung der Juden mit den (Opfer-)Tieren zeigt, lässt erkennbar werden, dass der Mensch durch seine Gewalt die Differenz zwischen dem Animalischen und dem Humanen, zwischen Stimme und Sprache, zwischen Körper und Person zerstört. 3 Nachdem Useppe mit seiner Mutter in das Lager zurückgekehrt ist, scheint alles vergessen zu sein. Stolz präsentiert er seinen Mitbewohnern die neuen Stiefelchen. Doch wieder hinterlässt der Schrecken seine Spuren im Körpergedächtnis. Nächtliche Ängste quälen Useppe, der im Traum die Wörter cavallo, signori und pupetti ruft. Das angstvolle Erlebnis des Bombenangriffs verbindet sich im Körpergedächtnis mit dem neuen angstvollen Erlebnis auf dem Bahnhof. Die Wörter lösen sich von den Gegenständen, sie werden zu imaginär besetzen Signifikanten, zu Symptomen einer existentiellen Angst, die nicht in Sprache gebracht werden kann. Elsa Morante geht es aber nicht darum, die Unübersetzbarkeit einer traumatischen Erfahrung 3 Zu Morantes Reflexion auf die Differenz von Mensch und Tier cf. d’Angeli: „La presenza“ und Agamben: „La Festa“. Kindheit und Sprache 175 in die Sprache darzustellen. Ihr Anliegen ist vielmehr, in der Sprache jenen sprachlosen Ursprung zu öffnen, der die kindliche Erfahrung ist und der in der Erfahrung der Gewalt pervertiert wird. Denn indem der Mensch zum sprechenden Subjekt wird, unterwirft er sich der Macht und Gewalt des Diskurses, in dessen Ordnung er spricht. Das Kind ist ein neutraler Zeuge der Gewalt, die dem Erwachsenen durch die faschistische Ideologie und Propaganda verdeckt bleibt. Was den poetischen Realismus von La Storia auszeichnet, ist gerade diese Positionierung des Kindes als Zeuge, als ein sprachloser Zeuge der Sprache, der am Ursprung der Sprache steht. Morantes Roman situiert sich zwischen der Sprachlosigkeit der kindlichen Erfahrung und der Sprachmächtigkeit des politischen Diskurses. Er ist ein poetisches Experiment mit der Sprache, deren Möglichkeit zwischen diesen beiden Grenzen ausgelotet wird, die zugleich die Grenzen des sprechenden Subjekts sind. Er durchmisst die Differenz zwischen dem Kind, das noch keine Subjektivierung durch den Diskurs erfahren hat, und dem Erwachsenen, der durch den Diskurs der Macht eine Entsubjektivierung erfährt. 4. In seinem Buch Infanzia e storia schreibt Giorgio Agamben: „Come infanzia dell’uomo, l’esperienza è la semplice differenza fra umano e linguistico. Che l’uomo non sia sempre già parlante, che egli sia stato e sia tuttora in-fante, questo è l’esperienza.“ 4 Mit dem Begriff der in-fanzia will Agamben die Frage nach der Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung stellen. Die Kindheit ist Erfahrung, weil sie reine Semiotik ist, die erst durch den Eintritt in den Diskurs zu Semantik, zur verständlichen Sprache wird. Damit ist die kindliche Erfahrung unsagbar, konstituiert und bedingt aber die menschliche Sprache, indem sie die Differenz von Sprache und Rede öffnet, von Semiotik und Semantik. Die Kindheit ist daher das Archi-Ereignis („archievento“), das die menschliche Rede ermöglicht: È il fatto che l’uomo abbia un’infanzia (che, cioè, per parlare egli abbia bisogno di espropriarsi dell’infanzia per costituirsi come soggetto nel linguaggio) che spezza il „mondo chiuso“ del segno e trasforma la pura lingua in discorso umano, il semiotico in semantico. 5 Dieses Archi-Ereignis ist in seiner Auslöschung der Rede eingeschrieben und hört nicht auf, sich zu ereignen. Erst die Diskontinuität und Differenz zwischen Sprache und Diskurs, Semiotischem und Semantischen aber machen den Menschen zu einem historischen Wesen. Der Mensch wird vom Kind zum sprechenden Subjekt: „È l’infanzia, è l’esperienza trascendentale 4 Agamben: Infanzia, 49. 5 Ibid., 54. Katharina Münchberg 176 della differenza fra lingua e parola, che apre per la prima volta alla storia il suo spazio.“ 6 Bereits Michel Foucault hatte in seinem Buch Histoire de la sexualité I (La volonté de savoir) die These vertreten, dass Subjektivität eine diskursive Tatsache ist und dass das Subjekt durch die Techniken der Macht, die negative Elemente (Repression, Verweigerung, Disqualifizierung) ebenso wie positive Elemente (Anreiz, Intensivierung) umfasst, kontrolliert wird. 7 In ihrem Buch Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung beruft sich Judith Butler auf Michel Foucaults Begriff der diskursiven Subjektivation und schreibt: Die Macht ist dem Subjekt äußerlich, und sie ist zugleich der Ort des Subjekts selbst. Dieser offensichtliche Widerspruch wird sinnvoll, wenn wir uns klarmachen, dass kein Subjekt ohne Macht entsteht, dass aber Subjektwerdung zugleich eine Verschleierung der Macht impliziert, eine metaleptische Umkehrung, in der das durch die Macht hervorgebrachte Subjekt ausgerufen wird, in dem die Macht gründet. 8 In den Adorno-Vorlesungen von 2002, die unter dem Titel Kritik der ethischen Gewalt, erschienen sind, geht Judith Butler zudem auf die Funktion des Erzählens im Rahmen der diskursiven Subjektwerdung ein: Das ‚Ich‘ kann nicht die Geschichte seiner eigenen Entstehung und seiner eigenen Möglichkeitsbedingungen erzählen, ohne in irgendeinem Sinne Zeugnis von einem Zustand abzulegen, bei dem es gar nicht zugegen gewesen sein kann, von einem Zustand vor dem eigenen Werden; es muss also erzählen, was es nicht wissen kann. Die fiktionale Erzählung erfordert keinen Referenten, um als Narration zu funktionieren, und wir können sagen: Dass kein Referent beizubringen ist, dass der Referent zu verschlossen bleibt, das ist eben die Möglichkeitsbedingung für eine Rechenschaft von mir selbst, wenn diese Rechenschaft narrative Form annehmen soll. 9 Und sie fährt fort: Das bedeutet, dass meine Erzählung in medias res beginnt, wenn sich bereits vieles ereignet hat, was mich und meine Geschichte in der Sprache erst möglich macht. Und es bedeutet auch, dass meine Geschichte immer zu spät kommt. 10 Judith Butler formuliert sehr deutlich, dass die Subjektivation des Subjekts in der Sprache geschieht und den Machtstrukturen des gesellschaftlichen Diskurses unterliegt. Ähnlich wie Giorgio Agamben betont sie, dass die Selbstreflexivität des Subjektes in der Sprache immer an einen Punkt der Referenzlosigkeit stößt, an eine Leerstelle, die durch die Kindheit bezeichnet wird. Das Kind wird zum Subjekt, indem es immer schon in der Sprache 6 Ibid., 51. 7 Foucault: Sexualität und Wahrheit I. 8 Butler: Psyche, 20. 9 Butler: Kritik, 50. 10 Ibid., 53. Kindheit und Sprache 177 steht, die dem sprechenden Ich vorangeht und es konstituiert. Zugleich aber ist die Sprache, in der das Subjekt gründet, unvordenklich und immer schon verloren, wenn das Subjekt spricht. Es ist der unendliche Mangel des Subjekts, dass im Sprechen die Sprache immer schon abwesend ist. Das sprechende Subjekt kann daher nie von sich erzählen, ohne dass dieser Mangel seinem Diskurs eingezeichnet bleibt. Wie kann man also von der Kindheit und dem Kind erzählen, ohne von sich zu sprechen, ohne sich selbst an den Ursprung des Erzählens zu setzen und sich doch zu negieren? Wie kann man noch die Negation verneinen, die Polarität von Setzung und Negation auflösen, um das Werden des Kindes zu erzählen? Wie kann man selbst Kind-Werden? 5. Vielleicht ist Elsa Morantes Gestaltung der Erzählinstanz in ihrem Roman keine besonders prägnante und philosophische, aber zumindest eine äußerst tiefsinnige poetische Lösung dieses Problems. Erzählt wird die Geschichte von einem erinnernden Ich, das nur an wenigen Stellen des Romans auf seine - im Grunde unmögliche - Zeugenschaft hinweist. Das erinnernde Ich erscheint als ein leeres Subjekt, das allein durch das grammatische Personalpronomen io markiert ist, aber weder Geschlecht noch personale Identität hat. Es ist eine neutrale Instanz der Beschreibung, die den Bericht über das historische Geschehen und die individuellen Geschichten der Figuren entsubjektiviert, indem sie sich selbst aus dem Raum der Erzählung auslöscht und gerade durch ihr zeitweiliges Auftauchen an divergierenden und diskontinuierlichen Orten, zwischen denen keine menschliche Korrelation bestehen kann, ihre eigene Unmöglichkeit markiert. Das Ich dieses Romans ist keine Person, es ist weder die Autorin noch eine sich erinnernde Romanfigur. Es ist ein unmögliches Ich, das Kind wird, das sich auf der Schwelle zwischen der Erfahrung und der Sprache, zwischen subjektlosem Dasein und grammatischer Subjektivation positioniert. Und dieses unmögliche Ich, das nicht spricht, sondern die doppelte Geschichte, die Geschehen und Erzählung, Ereignis und Sprache ist, selbst sprechen lässt, ihre innere Doppelung aussprechen lässt, übernimmt einen politischen Auftrag. Es ermöglicht in seiner Unmöglichkeit den geschlossenen Raum eines poetischen Textes, der sich der Ordnung der Sprache verweigert, indem er die Sprache wieder an die Erfahrung zurückgibt. Das verratene Glück des Kindes Useppe ergreift den Lesenden, muss ihn ergreifen, weil der Roman mit dieser Ergriffenheit dem Leser eine emotionale Erfahrung zurückgibt, die keine subjektive Erfahrung, sondern kindliche Erfahrung, Erfahrung der ursprünglichen Zauberkraft der Sprache ist. 1945 verlassen Ida und Useppe das Flüchtlingslager, um bei einer römischen Familie einzuziehen. In den Zeitungen werden die ersten Bilder über die Konzentrationslager und den Krieg veröffentlicht. Als Ida Useppe kurz Katharina Münchberg 178 vor einem Laden warten lässt, betrachtet er die Photographien auf der Titelseite der Illustrierten, die auf seiner Augenhöhe ausliegen. Auf einem Photo ist eine Allee zu sehen, in der von jedem Baum ein menschlicher Körper mit durchgeschnittener Kehle herabhängt. Auf einem anderen Photo sieht man eine kahl geschorene Frau, die ein Kind in den Armen hält und von einer Menge verhöhnt wird. Diese Photographien scheinen bei Useppe keine Wirkung zu hinterlassen, denn er lässt sich wortlos von der Mutter wegführen. Wenige Tage darauf will Useppe die Früchte auspacken, die seine Mutter gekauft hat, und hält ein Zeitungsblatt in den Händen, das er verständnislos betrachtet. Darauf abgebildet sind Szenen aus einem Konzentrationslager: ein Haufen ermordeter Gefangener, eine Gruppe von angeketteten leblosen Männerkörpern, ein Verurteilter vor einem Graben, den er selbst ausheben muss. Die Bilder sind mit kurzen Texten versehen, die der Analphabet Useppe nicht lesen kann. Er ist schutzlos der Wucht der gewaltsamen Bilder ausgesetzt. In seinen Augen zeichnet sich erneut ein unbeschreiblicher Schrecken ab. Ida entfernt die Zeitung mit den Worten: „Gettala via, quella cartaccia. È brutta! “ (373), und Useppe scheint sie zu vergessen. Doch im folgenden Jahr wird Useppe durch eine Serie von Alpträumen gequält, in denen er um sich schlägt und ruft: „È bbutto ... È bbutto …“ (395). Die traumatischen Bilder weichen nicht mehr aus dem nächtlichen Traumgedächtnis. Auch bei Tage wird Useppe zunehmend unruhiger und ängstlicher. Als Ida das Kind zu einer Ärztin bringt, diagnostiziert diese eine unheilbare Krankheit. Immer häufiger beginnt Useppe an epileptischen Anfällen zu leiden. Auch wenn Ida versucht, ihm alle Aufregungen fernzuhalten, so erweisen sich doch selbst harmlose Spaziergänge mit dem Hund als verborgener Schrecken. Der Romans schließt mit einer ausführlichen Erzählung der letzten beiden Lebenstage des Kindes: E allora a qualcuno adesso parrà inutile raccontare la restante vita di Useppe, durata ancora poco piú di due giorni, e già sapendone la fine. Ma a me non pare inutile. Tutte le vite, invero, hanno la medesima fine: e due giorni, nella piccola passione di un pischelluccio come Useppe, non valgono meno di anni. (625) Es ist die unbedingte kindliche Glückserfahrung im Schatten des nahen Todes, das Morante beschreiben möchte, nicht den Tod selbst. In einem kleinen Wäldchen am Fluss findet Useppe eine letzte Zuflucht. Eines Tages jedoch sieht er eine Gruppe Jugendlicher vom Fluss herauf kommen und glaubt, eine Bande gefährlicher Piraten würde sich nähern. Er erleidet einen heftigen Anfall, bei dem er bewusstlos wird und stürzt. Als Ida ihn mit Hilfe des Hundes endlich findet, ist er eben aus seiner Ohnmacht erwacht. Am nächsten Tag verbietet Ida ihm, auszugehen. Ida eilt zur Schule, aber nach kurzer Zeit ergreift sie eine unerklärliche Unruhe und sie kehrt nach Hause zurück. Der kleine Useppe liegt mit ausgebreiteten Armen da. Er ist tot. Er hat die Schühchen angezogen und wollte offenbar gerade hinaus, um die sonnige Welt zu entdecken. Unbeweglich verharrt Ida über dem Kind wie Maria über dem toten Christus. Durch die Polizei wird sie schließlich in die Kindheit und Sprache 179 Psychiatrie gebracht, wo sie Jahre später, noch immer in der gleichen Stellung zusammengekauert, stirbt. Die kindliche Erfahrung der Zeit, die Erfahrung einer Gegenwart, die offen auf die Zukunft ist, bildet in dem langsam erzählten Schlusskapitel einen grundlegenden Gegensatz zu der Zeitordnung der Historie, die chronologisch und unpersönlich ist. Die Mutter Ida begreift die Geschichte als unverfügbare mythische Macht, die ihr Kind vernichtet, und der sie passiv unterworfen ist. Useppe dagegen hat weder ein historisches Bewusstsein noch verfügt er über politisches Wissen. Useppe, der Analphabet, der sich der Schule verweigert, ist der Garant einer Zugehörigkeit von Kindheit und Sprache, die der Geschichte vorangeht, und die daher auch die Möglichkeit eröffnet, über die Geschichte hinwegzugehen, die Geschichte zu öffnen, um jenseits der Geschichte das Ereignis der Erzählung geschehen zu lassen. Wenn sich Elsa Morante in ihrem Romanwerk auf die Suche nach dem Glück der Kindheit macht, dann ist das keine nostalgische oder sentimentalische Sehnsucht nach einem verlorenen und wieder gefundenen Ursprung, sondern ein Akt der politischen Verantwortung. Nicht umsonst hat Elsa Morante ihrem berühmtesten Gedichtband den Titel gegeben: Il mondo salvato dei ragazzini. Die Erlösung der Welt ist nur möglich, indem der Mensch eine Kindheit hat, in der er zur Sprache kommt und damit zu einer politischen Gemeinschaft. Es ist das Sprecher-Werden der Kinder, das die Welt erlösen könnte, diese Rettung aber wäre zugleich die Rettung der Sprache vor dem Diskurs, die Rettung der menschlichen Gemeinschaft vor ihrer politischen Inhumanität, eine Rettung, die allein das poetische Werk leisten kann. B IBLIOGRAPHIE Primärliteratur Morante, Elsa: Sul romanzo, in: dies., Pro o contra la bomba atomica e altri scritti, ed. Cesare Garboli, Milano, Adelphi, 1987, 41-74. Morante, Elsa: La Storia, Torino, Einaudi, 2 1995. Sekundärliteratur Agamben, Giorgio u.a. (Ed.): Per Elsa Morante, Milano, Linea d’Ombra, 1993. Agamben, Giorgio: „La Festa del tesoro nascosto“, in: ders. (Ed.): Per Elsa Morante, 137-146. Agamben, Giorgio: Infanzia e storia. Distruzione dell’esperienza e origine della storia, Torino, Einaudi, 2 2001. Katharina Münchberg 180 Butler, Judith: Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, übers. von Reiner Ansén, Frankfurt/ M., Suhrkamp, 2001. Butler, Judith: Kritik der ethischen Gewalt, Frankfurt/ M., Suhrkamp, 2003. d’Angeli, Concetta: „La presenza di Simone Weil ne ‚La Storia‘“, in: Giorgio Agamben u.a. (Ed.): Per Elsa Morante, 109-136. Foucault, Michel: Sexualität und Wahrheit I. Der Wille zum Wissen, Frankfurt/ M., Suhrkamp, 1983. Barbara Ventarola „fantástico pero no sobrenatural“ Irrealisierung und Objektivität bei Jorge Luis Borges 1 1. E INLEITUNG : O BJEKTIVITÄT UND S ELBSTREFERENZ So alt die Geschichte des Bemühens um Objektivität ist - älter in jedem Fall als die reine Begriffsgeschichte -, 2 so ist doch Foucault, Luhmann und Anderen insofern Recht zu geben, als die Massierung des Problems, der Aufstieg der Objektivität zum geradezu obsessiv behandelten Leitkonzept von Wissenschaft und Philosophie just in jenem Moment beginnt, da sich die Erkenntnis der fundamental selbstreflexiven Struktur menschlichen Erkennens mit Macht durchsetzt: 3 Als Teilsystem in größeren System- 1 Die folgenden Überlegungen verstehen sich als ein erstes Impromptu, das der geplanten Ausarbeitung einer neuen Theorie des Objektiven sowie einer neuen Borges-Lektüre präludiert. Die realisierten Textstrukturen ergeben sich aus diesem skizzenhaften Charakter. 2 Der Beginn der engeren Begriffsgeschichte von ‚Objektivität‘ wird i.d.R. in der deutschen Aufklärungsphilosophie verortet, in der das spätmittelalterliche Begriffspaar objectivus/ subjectivus seine heutige Bedeutung zugewiesen bekommt. Cf. hierzu etwa Daston/ Galison: Objektivität, 28-37. Die Geschichte des dahinterstehenden Konzeptgefüges (s. hierzu die nächste Anmerkung) lässt sich m.E. allerdings bis in die antike Epistemologie, etwa von Platon und Aristoteles, zurückverfolgen. Ähnlich sieht dies auch Richard Rorty, wenn er die Geschichte der Objektivität implizit mit jener der Metapher des ‚Spiegels der Natur‘ engführt. Cf. hierzu ders.: Der Spiegel. Siehe auch Rohs: „Können Subjekte? “, 16. 3 Also genau im Gefolge der selbstreflexiven Wende des Denkens, die gemeinhin mit Kants Transzendentalphilosophie assoziiert wird. Cf. dazu etwa. Daston/ Galison: Objektivität, 217-228; Rohs: „Können Subjekte? “. Foucault äußert sich dazu eher implizit, indem er en détail verschiedenen Facetten dieser - von ihm so genannten - „meta-epistemologischen“ Wende (ders., Les Mots et les Choses, 366) nachgeht, wie etwa den intensivierten Reflexionen über den Ursprung und die ‚Wahrheit‘ des Wissens (ibid., Kap. IX.4.-6.), über das Verhältnis zwischen Norm, System, Regel und Funktion (ibid., Kap. X.1.-3.), sowie über die Gültigkeit und Universalität des Wissens (ibid., 382sq.). Dass er diese Fragestellungen durchaus in den Zusammenhang der Barbara Ventarola 182 zusammenhängen, so könnte man diese Erkenntnis zugespitzt resümieren, ist der Mensch mitsamt seiner Beobachtungsleistungen immer nur innerhalb seiner eigenen Systemlogik beschreibbar - die Erkenntnis biegt sich in der letzten Konsequenz notwendig immer auf sich selbst zurück und Objektivität wird zum zentralen Problem. 4 Stark vereinfacht gesagt lassen sich in der Geschichte der Objektivitätskonzepte zwei extreme Formen feststellen, Stellung zu dieser Erkenntnis zu beziehen: 1) Die eine Seite könnte man den Pol der ‚Abwehrstrategen‘ nennen: Im Blumenbergschen Sinne von Theorien als kognitiven Selbstschutzmaßnahmen wird das Wissen um diese Problematik gleichsam abgewehrt, indem immer wieder der Versuch unternommen wird, durch den Rekurs auf Gesetze der (klassischen, aristotelischen) Logik oder der (Keplersch-newtonschen) Physik die Möglichkeit einer ‚reinen‘, strukturinvarianten Objektivität zu begründen. 5 Beispielhaft zu nennen wären zum einen gewisse Theoretiker des Naturalismus und Positivismus, die das Konzept der „mechanischen Objektivität“ (Daston/ Galison) verfolgen, 6 zum anderen aber auch Namen wie Husserl oder Ingarden, die sich darum bemühen, durch verschiedene Verfahren der Purifizierung der Logik und des Subjekts zu einer strengen und universal-objektiven Wissenschaft zu gelangen. 7 2) Die andere Seite verpflichtet sich wesentlich einer Logik der Negation: Die Erkenntnis, wie unmöglich eine solchermaßen begriffene ‚starke‘ Objektivität ist, 8 führt hier dazu, dass schlicht von jedem Bemühen Objektivitätsthematik stellt, macht er in seinem Vorwort explizit (ibid., 13). Cf. auch Luhmann: Die Wissenschaft, 283. Für eine nähere Definition von Objektivität cf. Anm. 8. 4 Cf. hierzu etwa Luhmann: „Erkenntnis“; sowie ders.: „Autopoiesis“. 5 Sowohl der legitimierende Bezug auf die Gültigkeit der klassischen Logik als auch der Verweis auf die physikalischen Naturgesetze gehen auf Kant zurück. Besonders eindringlich lassen sich diese Argumentationsfiguren anhand seiner frühen Schrift Träume eines Geistersehers nachweisen, in der er - in kritischer Auseinandersetzung mit Emanuel Swedenborg - die Prinzipien und Grundpfeiler seines pragmatischen Wissenskonzepts erstmals entwickelt. Cf. etwa ders.: Träume, 24sq., 49sq., 81sq. Siehe auch Daston/ Galison: Objektivität, 220sq.; sowie Rorty: Der Spiegel, 363. Borges setzt sich intensiv mit Kants Frühschrift auseinander. Deshalb im Folgenden hierzu mehr. 6 Cf. Daston/ Galison: Objektivität, Kap. III. Als ein zentrales Konzept des positivistischen Wissenschaftsideals gilt die quasi-photographische (also technisch-mechanische) Wiedergabe der Wirklichkeit, die letztlich an die Gesetze der klassischen Logik und Physik gebunden ist. 7 Cf. etwa Husserl: Logische Untersuchungen; ders.: Cartesianische Meditationen, 166-186; Ingarden: Zur Objektivität, 2sq. Letztlich steht hinter Husserls und Ingardens paradoxem Bemühen, die Subjektivität objektiv zu begründen und damit selbst zum Sachwalter der Objektivität zu machen, das durch nichts beweisbare Axiom eines rationalen und intelligiblen Aufbaus der Welt (sowie des Subjekts), mit dem die klassische Logik zu einem Organon der Wahrheitsteilhabe hochgespielt wird. Wie problematisch dies ist, wird nicht zuletzt Borges vorführen. 8 Für eine Übersicht über die zahlreichen Bedeutungsfacetten von ‚Objektivität‘ cf. etwa Daston/ Galison: Objektivität; Rohs: „Können Subjekte? “; Santo: „Experiment“; Irrealisierung und Objektivität bei Borges 183 darum abgesehen wird. Es ist dies der Traditionsstrang der zahlreichen antiobjektivistischen, irrationalistischen und gegen-aufklärerischen Theorien der Neuzeit, die vor allem mit Namen wie Nietzsche, Mauthner u.a. verbunden sind - und zu denen sich auch der obengenannte frühe Foucault rechnet. 9 In seiner Monumentalstudie Les Mots et les Choses führt er genau das eingangs entwickelte moderne Reflexivwerden am Beispiel der Sprache und des Menschen vor und entwickelt daraus die Methode seiner eigenen Diskursanalyse. 10 Wenn Foucault hierbei als Ausgangspunkt und Sprungbrett den argentinischen Schriftsteller Jorge Luis Borges nennt, 11 so geschieht dies nicht von ungefähr. Denn Borges ist einer der Ersten, die dieses problematische Verhältnis von Selbstreferenz und Objektivität im Raum des Ästhetischen mit allen Konsequenzen durchexerzieren: Nahezu alle seine Texte (die Erzählungen ebenso wie seine Paratexte und Essays) stellen ganz eigene, in sich geschlossene Systeme dar, in denen recht ungewohnte - meist paradoxe und zirkulär-selbstreferentielle - Logiken gelten, und die sich zugleich untereinander (bis ins Unendliche) in selbstreferentiellen Schleifen verschlingen und spiegeln. Die Bewohner, die in diese jede klassischherkömmliche Logik übersteigenden (Erzähl-)Räume geworfen sind, 12 sind gezwungen, sich aus den seltsam-phantastischen Wirklichkeiten, die sie umgeben, einen Reim zu machen und sich damit sowie untereinander zu Archer/ Outhwaite: Defending Objectivity; darin speziell Soper: „Objectivity“; sowie Kobusch: „Objektiv“. Eine Durchschau der genannten Werke enthüllt bei aller Vielfalt schnell einige rekurrente Bedeutungsfacetten, die ich im Folgenden unter dem Epitheton der ‚starken‘ Objektivität zusammenfassen werde. Ausgangspunkt für diese Rekurrenzen (und zwar sowohl in den naturwissenschaftlichen als auch den philosophischen Objektivitätsbegriffen) ist Kants Definition der Objektivität als „Gültigkeit für jedermann und jederzeit“ (zitiert nach Rohs: „Können Subjekte? “, 13), deren Wurzeln freilich unverkennbar in der antiken Definition der theoria als Schau ewig gültiger (und damit statischer) Wahrheiten liegen. Dieser Gedanke einer interpersonalen und intertemporalen Gültigkeit findet sich in der Folgezeit in zwei Ausprägungsformen wieder: 1) als Anspruch auf Wahrheit und Substantialität des Wissens (dies vor allem im philosophischen Diskurs); 2) als beobachterunabhängige Darstellung der Realität (also als eine Darstellung von ‚Wissen‘, die nicht vom Blickpunkt und den Werten bzw. im naturwissenschaftlichen Diskurs von der gewählten Methode und den verwendeten Messinstrumenten abhängt). Die Verfahren, mit denen dieser starke Objektivitätsbegriff trotz der Einsicht in die Selbstreflexivität des menschlichen Erkennens legitimiert wird, werden noch zu besprechen sein. 9 Zur modernen Rationalitätskritik cf. etwa Habermas: Der philosophische Diskurs, 141- 153; sowie Jamme: Grundlinien der Vernunftkritik. 10 Cf. Anm. 3. 11 Foucault: Les Mots et les Choses, 7-16. 12 Die Anspielung auf Heidegger ist gewollt. Das Konzept der Geworfenheit spielt für Borges eine immens große Rolle, wobei er den Heidegger-Bezug mit einer Bezugnahme auf Charles Hintons Wissenschaftliche Erzählungen engführt und so abwandelnd weiterspinnt. Doch hierauf kann ich in diesem Rahmen nicht näher eingehen. Barbara Ventarola 184 arrangieren, indem sie Erkenntnisformen, Gesellschaftsformen, Wissenschaften, Literaturen, Künste und dergleichen mehr ausbilden, über deren Wahrheitsbzw. Adäquatheitsstatus sie niemals Aufschluss erhalten werden. Zugleich sind diese phantastischen Welten über verschiedene Verfahren der Hybridisierung, Grenzperforierung und Interpenetration auch in die ‚real existierenden‘ menschlichen „Realitätssysteme“ 13 integriert, sodass ein ganzes polysystematisches, selbstreferentiell vernetztes Universum aus Systemen entsteht, in dem die Grenze zwischen Fiktion und Realität nivelliert ist und beide denselben ontologischen Status (nämlich jenen der Irrealität) zugewiesen bekommen. Es ist dies die berühmte borgeske Dynamik der Irrealisierung, die deutlich macht, wie ‚substantiell‘ Fiktionen immer schon Teil der sogenannten Realität sind und wie wenig metaphysische Substanz diese letztere besitzt. Ohne Zweifel ist mit dieser ‚irrealisierenden‘ Erschütterung des Vertrauens in die Substantialität der Welt zunächst eine Sinnschicht fundamentaler Objektivitäts- und Rationalitätskritik eingebracht. 14 Konzepten der ontologischen Objektivität ist hier allemal eine Absage erteilt. Aber auch der Gedanke, man könne durch Methoden der klassischen Logik oder Empirie zur Objektivität gelangen, hat angesichts der inszenierten Perpektivengebundenheit allen Wissens sowie der zahlreichen Paradoxien und Ungewissheiten über das Verhältnis zwischen Denken und Materie sein Fundament verloren. Und doch scheint mir, dass Borges hierbei keineswegs stehenbleibt. Der skeptische Nihilismus leitet aus der skizzierten Unmöglichkeit klassischer Objektivität zwei Optionen ab: entweder eine fundamentale, meist gegenaufklärerische Handlungsparalyse und Apologie des Bestehenden, oder umgekehrt - wie etwa Nietzsche - die Lizenz zur rücksichtslosen Durchsetzung von Machtansprüchen, gleichsam eine Form der ‚Pseudo- Objektivierung‘ durch Gewalt. 15 Mit dieser schlichten Alternative macht diese Denktradition sichtbar, dass sie letztlich selbst einen zu starken Begriff von Objektivität zugrundelegt und damit jener unheilvollen Verschlingung von ontologischer und intersubjektiver Objektivität in die Falle geht, die Rorty in Der Spiegel der Natur so scharfsinnig freilegt. 16 13 Zum Begriff des Realitätssystems cf. Durst: Phantastische Literatur, 80-89. 14 So eine weit verbreitete Meinung über Borges. Cf. etwa Lachmann: Erzählte Phantastik, 11-13; sowie Zepp: Borges, v.a. 25, 50, 88. 15 Bei aller bekannten Zwiespältigkeit Nietzsches scheint mir in seiner Philosophie ein gewaltverherrlichendes Moment doch sehr zu überwiegen. Cf. hierzu auch Habermas: Der philosophische Diskurs, 152-157; sowie die umfassende diesbezügliche Studie von Domenico Losurdo (ders.: Nietzsche), die bereits jetzt, kurz nach Erscheinen, als neuer Maßstab der Nietzsche-Forschung gilt. 16 In Der Spiegel der Natur führt Rorty sehr eindringlich vor, wie massiv und unheilvoll ontologische Begründungsschemata selbst noch in den Gedanken der Objektivität als intersubjektive Übereinstimmung hineinspielen, der im Zusammenhang der ‚Selbst- Irrealisierung und Objektivität bei Borges 185 Nicht so Borges, der - so also meine These - vielmehr eine weitere selbstreferentielle Schleife einbaut und gleichsam die Problematik des zu starken Objektivitätsbegriffs selbst reflektiert. Seine Objektivitätskritik geht, wie ich meine, genau nicht bruchlos in Irrationalismus und Gegen-Aufklärung auf, wie bislang meist angenommen, 17 sondern ist in zweierlei Hinsicht differenzierter. Zum einen, weil er - wie gesagt - bei genauem Besehen nicht die Objektivität als solche, sondern ‚nur‘ deren zu enge und starke Konzipierung hinterfragt. 18 Zum anderen, weil er den hierdurch eröffneten Möglichkeitsspielraum umgehend nutzt, um neue - heute würde man sagen: ‚schwache‘ oder ‚transklassische‘ - Rationalitäts- und Objektivitätskonzepte zu evozieren. 19 Hinzu kommt, dass diese experimentelle Auslotung von Denkräumen des Objektiven keineswegs ein ästhetischzweckfreies Spiel bleibt, 20 sondern durchaus ein, um mit Homi Bhabha zu sprechen, „theoretisches Engagement“ und damit eine pragmatisch-utopische Stoßrichtung erkennen lässt. 21 Im Verhältnis zu Kant, dem ‚Vater‘ aller klassisch-modernen Objektivitätskonzepte sowie der engen Verknüpfung von Objektivität und Aufklärung, 22 heißt das, dass die im Folgenden zu zeigende Kritik an dessen Konzept von Objektivität als universelle, referentialisierung‘ des Erkennens entwickelt wird. Cf. ders.: Der Spiegel, 363-372. Auch die paradoxe Verschränkung von Objektivität und Subjektivität, die Descartes’ Wissensbegriff ebenso prägt wie das Konzept der ‚romantischen Objektivität‘, ist letztlich wesentlich ontologisch-metaphysisch begründet. Doch darauf kann ich in diesem Rahmen leider nicht eingehen. 17 Cf. Anm. 14. 18 Mögliche innere Widerstände gegen den Gedanken, ‚Objektivität‘ habe eine Begriffsgeschichte wie andere Konzepte auch, ergeben sich aus dem starken Objektbegriff selbst. Führt man Objektivität mit transtemporaler und translokaler Invarianz eng, dann ist damit eine A-Historizität und Absolutheit in das Konzept eingebracht, die sich nicht mit der Vorstellung historischer Wandelbarkeit verträgt. Dass dieser Zirkelschluss unbedingt aufzubrechen ist, sollen die folgenden Überlegungen zeigen. 19 Zum Konzept einer transklassischen (also nicht mehr streng aristotelischen) Rationalität und Logik cf. etwa die Beiträge in Ziemke/ Kaehr: Realitäten und Rationalitäten; sowie Willaschek: Realismus; und Mitchell: Komplexitäten. Mehr hierzu im Folgenden. 20 Die Annahme, Borges‘ Texte verblieben im Wesentlichen im Modus ästhetischer De- Pragmatisierung, stellt gleichsam das komplementäre Gegenstück zur Nihilismus- These dar. Das Ästhetische (und speziell das Phantastische) wird hier als Raum einer evasiven Kompensation des verlustig gegangenen Rationalitäts- und Wissenschaftsglaubens aufgefasst. So etwa von Lachmann, die damit implizit eine Opposition zwischen Wissenschaft und Phantastik eröffnet. Cf. dies.: Erzählte Phantastik, 8-20. Ähnlich argumentiert auch Zepp: Borges. 21 Cf. hierzu Bhabha: Die Verortung, v.a. Kap. 1. Implizit perspektiviere ich Borges damit als einen Vorläufer der postkolonialen Theorie. Die folgenden Ausführungen können nur einen kursorischen Beleg dieser These erbringen, die m.E. eine systematische Untersuchung verdiente. Erste Ansätze zu einer performativen Re-Lektüre von Borges‘ Texten finden sich etwa bei Rincón: Das Phantastische. 22 Cf. Anm. 3 und 8. Barbara Ventarola 186 invariante Gültigkeit des Wissens auch nicht in eine schlichte oppositive Absage an jede Form einer ‚aufgeklärten‘ Zukunft mündet, sondern vielmehr - zusammen mit der Reform der Konzipierung von Objektivität - in eine Reform des ‚aufklärerischen Denkens‘ selbst. 2. I MMANENTE UND PERFORMATIVE O BJEKTIVITÄT BEI B ORGES Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass ein wesentliches Charakteristikum von Borges’ Texten in ihrer Dynamik der Irrealisierung besteht. Indem er auch die ‚reale‘ Realität in das inszenierte Vexierspiel mit Realitätssystemen hineinzieht und so die Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit immer wieder verschwimmen lässt, erzeugt er zuallererst den Effekt, dass auch alle nicht-fiktionalen Diskurse ihren fiktional-phantastischen Gehalt und ihre letztliche Bodenlosigkeit enthüllen. Wenn Borges in Tlön, Uqbar, Orbis Tertius die Metaphysik als Zweig der phantastischen Literatur bezeichnet, 23 so macht die Rekurrenz des Verfahrens sinnfällig, dass diese Aussage - freilich mutatis mutandis - durchaus auf alle Wissensdiskurse gemünzt ist. Genau diese Dynamik der Irrealisierung möchte ich im Folgenden ins Zentrum stellen, scheint sie mir doch eine wesentliche Funktion für Borges’ Auslotung neuer Objektivitätskonzepte - für den vorangehend skizzierten Umschlag ins Performative also - zu erfüllen. 24 So werde ich zeigen, dass die Irrealisierung allererst die Grundlage für diese performative Wendung bietet und zugleich deren Organon ist. Um diesen zunächst vielleicht etwas überspannt-manieristisch erscheinenden Kurzschluss nachvollziehbar zu machen, werde ich in zwei Schritten vorgehen: Zunächst ist ein etwas genauerer Abgleich seiner Texte mit dem zeitgenössischen wissenschaftsgeschichtlichen Kontext nötig, da genau dort die Fundamente für neue, transklassische Objektivitätskonzeptionen gelegt werden, die zudem wesentlich auf einer Abschwächung der Dualität von ‚Phantastik‘/ ‚Irrealität‘ und Objektivität beruhen. 25 Vor diesem Hintergrund soll sodann Borges’ allgemeine literarische Verfahrenslogik einer erneuten Analyse unterzogen werden. 23 Borges: Ficciones, 26. 24 Performanz begreife ich im Folgenden im Sinne der postkolonialen Weiterführung des performative turn, wie sie etwa von Homi Bhabha vorgenommen wird, also als eine vorführende Inszenierung, ein (sprachliches) Handeln, das dezidiert auch kulturelle Veränderungsprozesse und Deplatzierungen anstoßen möchte. Cf. hierzu Bhabha: Die Verortung, 1-29; Bachmann-Medick: Cultural Turns, 109sq.; Ventarola: „Weltliteratur(en)“. 25 Cf. hierzu auch Santo: „Experiment“. Irrealisierung und Objektivität bei Borges 187 2.1. Borges und die zeitgenössischen (Natur-)Wissenschaften Dass Borges die naturwissenschaftlichen Diskussionen seiner Zeit sehr genau verfolgte und sich in seinen Texten immer wieder auf die zeitgenössische Mathematik und Logik sowie die Physik, die Relativitätstheorie und viele Weitere bezieht, wird von der neueren Forschung mehr und mehr freigelegt. 26 Allerdings scheinen mir die Schlussfolgerungen, die hieraus gezogen werden, nicht immer adäquat zu sein. Denn wenn diese Bezugnahmen meist unter die oben erwähnte Dialektik von (Objektivitäts-)- Kritik und ästhetischem Faszinosum subsumiert werden, 27 dann übersieht die dahinterstehende binäre Frontstellung von Wissenschaft und Ästhetik genau jene erwähnten Umwälzungen im Objektivitätsbegriff, die Borges’ Bezugnahme auf die Wissenschaften in einem ganz neuen Licht erscheinen lassen. Angesichts des umfassenden Charakters der hier angedeuteten ‚Wissenschaftskrise‘ könnte man prinzipiell alle wissenschaftlichen Disziplinen anführen. Ich werde mich im Folgenden auf die Physik, oder genauer: die Quantenphysik konzentrieren, da die Gültigkeit der klassischen physikalischen Naturgesetze spätestens seit Kant die Basis aller bisherigen wissenschaftlichen Objektivitätsbehauptungen abgibt und genau diese durch die Entwicklungen der Quantenphysik massiv hinterfragt wird. 28 Eine knappe 26 Cf. etwa de Toro: Ciencia y filosofía; Martínez: Borges y la matemática; Zepp: Borges. 27 So etwa von Zepp: Borges, z.B. 52. 28 Ich habe bereits angedeutet, dass Kant trotz seiner Erkenntnis der menschlichen Gemachtheit des ‚Wissens‘ (cf. hierzu etwa ders., Kritik der reinen Vernunft, 32sq.) an der Möglichkeit einer ‚starken‘ Objektivität festhält. Dies gelingt ihm mithilfe verschiedener Argumentationsfiguren, mit denen er sich letztlich unlösbare Selbstwidersprüche einhandelt und an deren Basis die klassische Physik steht. So etwa, wenn er trotz seiner Betonung der prinzipiellen menschlichen ‚Nichtwissbarkeit‘ der ‚Weltgesetze‘ seine Aprioris des Raumes und der Zeit entwickelt und damit der Keplerschen Physik und der klassischen Logik letztlich eine unhinterfragbare Gültigkeit zuweist. Auch wenn er Objektivität (als Intersubjektivität) an den sensus communis bindet und diesen wiederum mit dem ‚gesunden Menschenverstand‘ und der Gesichertheit der Sinneserfahrungen begründet (Kant: Träume, 109sq.), verpflichtet er sich letztlich den Axiomen der klassischen Logik und Physik - und fällt zudem unwillentlich in Kongruenzfiktionen zurück (cf. hierzu auch Rohs: „Können Subjekte? “, 17sq.). Wenn er überdies eine christliche Jenseitsteleologie ins Spiel bringt (Kant: Träume, 110) und dort die Grundlage gefunden glaubt, um die kollektive Einstimmigkeit zur Voraussetzung und zum Garanten für die ‚Objektivität‘ des sensus communis machen zu können (ibid., 82), dann bringt dies insgesamt einen impliziten Dogmatismus zum Ausdruck, der die Machtproblematik bei der kollektiven Herstellung von Einstimmigkeit völlig ausblendet und damit prinzipiell dem Programm der Aufklärung widerspricht. Um Missverständnissen vorzubeugen sei betont, dass die hier vorgebrachten Kritikpunkte sich nicht als eine Generalkritik an Kant (oder auch Husserl) verstehen, sondern nur einige uneingestandene Problematiken herausprofilieren, deren Reflexion mir relevant erscheint und die auch Borges bei seinen intertextuellen Dialogen fokussiert. Barbara Ventarola 188 Skizze der wichtigsten quantenphysikalischen Prinzipien mag dies veranschaulichen 29 : Die bahnbrechende, alles Bisherige in Frage stellende Entdeckung ist der sogenannte Welle-Teilchen-Dualismus, also die Erkenntnis, dass die kleinsten Teilchen nicht entweder Materieteilchen oder Energiequanten darstellen, sondern dies nur verschiedene Zustandsformen sind, zwischen denen sie zudem völlig beliebig wechseln können. 30 Aufgrund dieser Unvorhersehbarkeit ihres Verhaltens ist kein Algorithmus entwickelbar, der ihre Zustandsveränderung naturgesetzlich definiert oder gar vorhersagbar macht. 31 Da diese Zustandsveränderung nun immer mit Energieverlusten und damit einer Ortsveränderung einhergeht (nämlich - im Falle der Elementarteilchen - einem Sprung zu einem anderen Orbit um das Positron), 32 ist der Beobachter gezwungen, sich zu entscheiden: Entweder, er kann eine sichere Aussage über die momentane Position des Teilchens machen, dann bleibt seine Zustandsform nur Wahrscheinlichkeitsaussagen zugänglich, oder umgekehrt. Es ist dies die berühmte Unbestimmtheitsrelation Heisenbergs. 33 Dies zwingt zu mehreren Schlussfolgerungen, mit denen die Grundpfeiler der Kantschen Objektivitätskonzeption letztlich ausgehebelt werden: 1. Die erste Feststellung betrifft die Logik: Wenn das kleinste Teilchen sowohl Materie als auch immaterielle Energie sein kann, dann gilt hier weder das Gesetz vom Widerspruch noch jenes vom Ausschluss des Dritten. Die zentralen Axiome der klassischen Logik 34 (in Kants Konzeption von Objektivität von grundlegender Bedeutung) treffen im Mikrobereich unseres Universums nicht zu, sind also keineswegs von universeller Gültigkeit. Vielmehr entpuppen sich die A-Logik, der Zufall und die Paradoxie als integrale, ja basale Bestandteile der Wirklichkeit. Objektivität kann deshalb weder mit Einfachheit noch mit Intelligibilität analogisiert werden, wie es so häufig getan wird. 35 Die zeitgenössische Mathematik bestätigt dies: So vermag Kurt Gödel zu zeigen, dass sich bei hinreichender Komplexität eines logischen Systems zwangsläufig Widersprüchlichkeit einstellt, die A-Logik und Widersprüchlichkeit also gleichsam eine Funktion der Logik selbst 29 Die folgende - stark vereinfachende - Darstellung stützt sich v.a. auf Heisenberg: Quantentheorie; sowie Santo: „Experiment“. 30 Cf. Heisenberg: Quantentheorie, 7sq., 13, 48sq. 31 Ibid., 50; Santo: „Experiment“, 46. 32 Nachdem Max Planck den Welle-Teilchen-Dualismus zunächst nur anhand von Lichtwellen belegt hatte, wurde dieses paradoxe Verhalten kurze Zeit später von de Broglie und Bohr auch für die Elementarteilchen der Materie postuliert (cf. Heisenberg: Quantentheorie, 2-21, v.a. 7sq. und 13). 33 Ausführlicher hierzu Heisenberg: Quantentheorie, 20sq., 42-61; Santo: „Experiment“, 44. 34 Cf. hierzu etwa Lorenz: „Logik“. 35 So bereits in den antiken Konzepten der theoria. Auch Kant fällt mit seinem Vernunftkonzept letztlich in Intelligibilitätsannahmen zurück. Cf. Anm. 28. Irrealisierung und Objektivität bei Borges 189 sind. 36 Dies bedeutet letztlich, dass die Logik selbst reformiert werden muss, was z.B. Gotthard Günther mit seiner transklassischen Stellenwertlogik versucht, womit er im Übrigen in der neueren Systemtheorie ungeahnte Erfolge feiert. 37 2. Eng damit zusammen hängt die zweite Feststellung, die die physikalischen Naturgesetze betrifft. Denn offenbar ist der Mikrobereich gerade nicht durch feste Kausalitätsketten determiniert. 38 Von streng verketteten Naturgesetzen kann hier keineswegs die Rede sein, da oftmals nicht mehr als unbestimmte Wahrscheinlichkeitsaussagen möglich sind. Damit bricht auch der zweite Grundpfeiler von Kants Objektivitätskonzeption weg: die Annahme einer völligen Determiniertheit der Naturgesetze. 39 Im Mikrobereich verleiht der Bezug auf die Physis keinerlei Sicherheiten, und insgesamt steht die Annahme einer Analogie zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos fortan auf sehr tönernen Füßen. Vielmehr muss man nun sagen, dass die physikalische Welt in ihrer Mikrobasis aus Gesetzen besteht, die wir nicht nur nicht verstehen, sondern die nicht zu verstehen sind, da sie gar nicht determiniert bzw. oft schlicht paradox sind. Die Mikrophysik selbst eröffnet folglich einen Raum des Möglichen und (Un-)Wahrscheinlichen, der durchaus ins Phantastische und Irreale hineinspielt. 40 Die Bodenlosigkeit und Phantastik unserer Realität ergibt sich damit aus ihrer Materialität selbst. Was sich hier andeutet, ist die materielle und ganz und gar immanente Faktizität des im herkömmlichen Sinne Unwahrscheinlichen, Phantastischen und Unlogischen selbst. 41 3. Die letzte Feststellung betrifft die Positionsgebundenheit der wissenschaftlich-objektiven Aussage. Aufgrund der oben skizzierten Ortsbezogenheit der Unbestimmtheitsrelation kann die Messanordung bzw. allgemeiner: die Beobachtersituation nicht außen vor gelassen werden, wie es vor allem den naturwissenschaftlichen Objektivitätskonzeptionen als Ideal vorschwebt, 42 sondern ist vielmehr in die mathematische Berechnung unbedingt zu in- 36 Gödel: „Über formal unentscheidbare Sätze“; cf. hierzu auch Krämer: Symbolische Maschinen. 37 Cf. etwa Bammé: „Wider das Ende der Geschichte“. 38 Zur Widerlegung der Maxime „Natura non fecit saltus“ durch den Aufweis einer Diskontinuität der physikalischen Natur cf. Heisenberg: Quantentheorie, 37 und 54sq. 39 Cf. hierzu Kant: Träume, 24. Cf. auch Heisenberg: Quantentheorie, 63sq.; und Santo: „Experiment“, 45. 40 Heisenberg spricht - etwas vorsichtiger - von einer neuen „Art von physikalischer Realität […], die etwa in der Mitte zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit steht.“ (ders.: Quantentheorie, 18). 41 Wenn Borges die literarische Verfahrensweise von Bioy Casares’ ‚wissenschaftsphantastischem‘ Roman La invención de Morel mit dem lobend gemeinten und hier im Titel wiedergegebenen Syntagma „fantástico pero no sobrenatural“ charakterisiert (cf. ders.: Prólogos, 26), so nimmt sich dies wie eine prononcierte Zusammenfassung der oben skizzierten Logik aus. 42 Cf. hierzu etwa Daston/ Galison: Objektivität, Kap. 3; sowie Santo: „Experiment“, 34. Barbara Ventarola 190 tegrieren. Eine beobachterunabhängige Darstellung gerade auch der physikalischen Gesetze ist im Mikrobereich also nicht möglich und würde das Ergebnis umgekehrt sogar verfälschen. Dies wiederum bedeutet, dass die Beobachtersituation keine subjektive Größe ist, sondern ein unbedingt zu berücksichtigendes mathematisch-objektives Faktum. 43 Zunächst zeitigt die Quantentheorie also verheerende Schlussfolgerungen für die Kantsche Objektivitätskonzeption und deren Nachhall sowohl im Positivismus als auch im Idealismus des 19. Jahrhunderts. Es ist dies ein wesentlicher Grund der sogenannten „Krise der europäischen Wissenschaften“, die Husserl in seiner gleichnamigen Studie so eingängig beschreibt. 44 Dass damit allerdings nicht ein Abschied von jeglicher Objektivität nötig ist, sondern gewisse konzeptuelle Veränderungen und vor allem Relativierungen völlig ausreichen, betonen sowohl Heisenberg als auch Einstein, der sich neben seiner makrophysikalischen Relativitätstheorie auch im Mikrobereich der Quantenphysik hervorgetan hat 45 : Die Umwertung von der Relativität der Wahrheit zur Wahrheit der Relativität bedeutet, dass eine Darstellung recht eigentlich erst dann objektiv ist, wenn sie die Messanordnung bzw. Beobachtersituation in die Konzeption der Objektivität selbst integriert und gerade nicht, wenn diese ausgeschlossen wird. 46 Wenn die Objektivität hier - in der Quantentheorie ähnlich wie in der Relativitätstheorie - nur eine solche innerhalb einer Theorie oder eines Systems sein kann, so ist diese Systemimmanenz durch die Berücksichtigung der Beobachtersituationen also durchaus objektivierbar. Dies allerdings genau nicht, indem man Kants Aprioris sowie seinen letztendlichen ‚Begriffsrealismus‘ (oder vorsichtiger: seine Hypostasierung von Begriffen durch die ‚Naturalisierung‘ aristotelischer Logik 47 ) anwendet, sondern indem man von beidem absieht und so auch von seinem unglücklichen Kurzschluss zwischen Objektivität und Universalität abrückt. 48 Objektivität kann letztlich erst dann adäquat konzipiert werden, wenn man eine komplexere Stellenwertlogik zugrunde legt, die diese Positionalität sowie die Faktizität des Paradoxen, Unwahrscheinlichen und Unbestimmten in das logische Kalkül selbst integriert (wie etwa jene von G. Günther 49 ). 43 Cf. Heisenberg: Quantentheorie, 43-61. 44 Cf. Husserl: Die Krise, 2sq. Husserl geht auf die Mathematik und Physik allerdings nur sehr kurz ein, um sich sodann ganz auf den philosophischen und psychologischen Diskurs zu konzentrieren. 45 Heisenberg: Quantentheorie, 69-75. 46 Ibid., 53, 71sq. 47 Eine gründliche Kritik des Kantschen Begriffsrealismus findet sich etwa bei Rorty: „Die abhandengekommene Welt“. 48 Heisenberg: Quantentheorie, 73-75. 49 Cf. Günther: Idee. Irrealisierung und Objektivität bei Borges 191 Heisenberg zeigt sehr eingängig, wie mit diesen Prämissen orts- und zeitgebundenes und durch neue Erkenntnisse veränderbares (physikalisches) Wissen durchaus vorläufig und in begrenzten Räumen „echtes Wissen“ sein kann (und nicht nur als bloßes, subjektives Meinen abqualifiziert werden muss). 50 Bestätigt wird dies dadurch, dass auf paradoxe Weise genau dieses mikrophysikalische Zusammenwirken von Zufall, Paradoxie und Phantastik in unserem ‚Mediobereich‘, wie ich es nennen würde, durchaus zu naturgesetzlichen Stetigkeiten führt und sogar - etwa in der Quanten- und Computertechnik - operationalisierbar ist. Relevant ist nur, wie Heisenberg schreibt: „immer wieder neu (zu) lernen, was das Wort ‚Verstehen‘ bedeuten kann“ 51 - oder anders formuliert: sich immer wieder neu darüber zu verständigen. Für einen Transfer auf geistes- und gesellschaftswissenschaftliche Belange - und damit für den Entwurf einer neuen, anderen Aufklärung - birgt diese Re-Konzeptualisierung physikalisch-naturwissenschaftlicher Objektivität zahlreiche Anschlussmöglichkeiten. Dies beweist nicht erst die aktuelle Theoriebildung, wie etwa bestimmte Spielarten der jüngsten Systemtheorie, die sich auf die oben skizzierte polykontexturale Stellenwertlogik Gotthard Günthers berufen, 52 Richard Rortys Objektivität einer ‚Kultur ohne Zentrum‘ 53 oder Homi Bhabhas Konzept der iterativen Objektivität und objektiven Emergenz. 54 Die Ausschöpfung der eröffneten Potentiale beginnt vielmehr recht umgehend bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Zu nennen wären hier etwa Ortega y Gassets Reform des Verhältnisses zwischen Denken und Logik, 55 William James’ Konzept der 50 Heisenberg: Quantentheorie, 69-75; das Zitat findet sich auf Seite 74. 51 Ibid., 75. 52 Cf. hierzu etwa Esposito: „Die Orientierung“; Bammé: „Wider das Ende der Geschichte“. Zum Konzept selbst cf. Günther: Idee. Günthers transklassische Logik wird auch als polykontextural bezeichnet. Gemeint ist damit eine nicht zweiwertige Logik, die nicht nur einen, sondern gleichzeitig mehrere Bezugsrahmen nutzt. 53 Rorty: Eine Kultur ohne Zentrum, 5-12. 54 Bhabha: Die Verortung, etwa 39sq., 280, 289. Cf. hierzu auch Anm. 94 und 99. 55 Cf. etwa Ortega y Gasset: Apuntes. Ähnlich wie Husserl reflektiert auch Ortega ausgehend von der zeitgenössischen Krise der Wissenschaften über die Möglichkeiten des Denkens und der Objektivität, entwickelt aber letztlich ein konsequenteres und m.E. zukunftsweisenderes Modell einer transzendentalen Phänomenologie, indem er nicht nur die ‚Lebenswelt‘ integriert, wie Husserl, sondern letztlich einer ganz anderen Logik und anderen Formen der Intersubjektivität nachspürt. Cf. auch ders., Deshumanización, 375-377, wo Ortega - im unverkennbaren Bezug auf Nietzsches Schrift Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne - über die Irrealisierungspotenz von ‚Begriffen‘ (im philosophischen Sinne) reflektiert, hieraus mit Blick auf die ‚Objektivität‘ allerdings gänzlich andere, nämlich weniger gewalttätige und machtzentrierte Schlussfolgerungen zieht als jener. Barbara Ventarola 192 pluralistischen Objektivität 56 oder Simmels Konzept der Objektivierung durch Vergegenständlichung und die Überantwortung an die Zirkulation. 57 So sehr sich die genannten Theoriedesigns im Detail unterscheiden, so lassen sich doch einige Gemeinsamkeiten feststellen. Die allen gemeine Umstellung auf Objektivität als Intersubjektivität ist hier gar nicht das wirklich Relevante, denn sie findet in Ansätzen bereits bei Kant oder Husserl statt. 58 Wichtiger ist die Neufassung der Intersubjektivität selbst. Denn vor allem hier werden die Anregungen aus der Quantenphysik aufgegriffen. So etwa, wenn die Logik aus ihrem aristotelisch-klassischen Korsett befreit wird und auch Paradoxien und Unbestimmtheiten Eingang in das Konzept der ‚intersubjektiven Objektivität‘ finden. 59 Oder wenn die Intersubjektivität nicht umstandslos, wie noch bei Husserl, als Einstimmigkeit und wechselseitige Spiegelung des Analogen begriffen wird, 60 sondern stattdessen eher die Differenzen des Denkens fruchtbar gemacht werden. 61 Insgesamt kann man sagen, dass die Objektivität einer generellen Dynamik der Ent-Universalisierung, Ent-Dogmatisierung, Ent- 56 Cf. James: Das pluralistische Universum. Ausgehend vom Grundgedanken des Pluralismus entwickelt James hier das Konzept einer pluralistischen Objektivität, die er der klassisch-universalistischen Rationalität dezidiert entgegenstellt. Es ist mehr als bezeichnend, dass Elena Esposito bei ihrer Weiterentwicklung der polykontexturalen Mehrwertlogik Günthers explizit auf James verweist. Cf. dies: „Die Orientierung“, 162. 57 Cf. Simmel: Die Philosophie des Geldes, Kap. 1, v.a. 28-40. 58 Zu Kant cf. Anm. 28. Damit liefert er letztlich die Vorlage für Husserls berühmte Konzeption der Intersubjektivität, die jener vor allem in seinen Cartesianischen Meditationen entfaltet (cf. Husserl: Cartesianische Meditationen, 166-219). Indem Husserls Konzept der Intersubjektivität von einer zwischenmenschlichen Herstellung von ‚Objektivität‘ ausgeht, die durch gewisse (Vor-)Formen des Aushandelns entsteht, besitzt seine Objektivitätstheorie durchaus performative Aspekte. Ähnliches gilt für Kant, der das Konzept der Intersubjektivität zwar noch nicht benennt, in der Prononcierung der menschlichen Gemachtheit und zyklischen Selbstbezüglichkeit von ‚Wissen‘ allerdings auch auf die kollektiven Aushandlungsprozesse bei der Konstruktion von Objektivität aufmerksam macht - und dies in seinen Träumen weit mehr als in seinen Kritiken. 59 Wie etwa bei Ortega y Gasset: Apuntes. 60 Husserl: Cartesianische Meditationen, 171sq. - Husserl greift nicht nur auf Kant, sondern auch sehr stark auf die Monadenlehre von Gottfried Wilhelm Leibniz zurück. Indem er dessen Gedankengut allerdings weitgehend zur Begründung seines analogischen Einheitsdenkens verwendet, simplifiziert er es bis hin zur Verfälschung. Doch darauf kann ich in diesem Zusammenhang nicht eingehen. 61 Cf. James: Das pluralistische Universum; sowie Ortega y Gasset: Prólogo para Alemanes. Ortega entwickelt hier ein Konzept der gleichsam ‚wechselseitigen Transzendentalität‘, bei dem die Kantsche Denkfigur des Transzendentalen insofern relativiert wird, als damit nun die korrigierende Außenperspektive auf andere, fremde Kulturen gemeint ist. Objektivität ergibt sich somit vor allem im interkulturellen Dialog, der immer wieder erneut zur Selbstkorrektur der eigenen Beobachtungsmodi aufruft. Irrealisierung und Objektivität bei Borges 193 Ideologisierung und Ent-Hierarchisierung unterzogen wird. 62 Die Leistung dieser Theorien besteht also vornehmlich in einer Aufgabe des gedanklichen Dogmatismus im Dienste einer Pluralisierung und Dialogisierung des Wissens. Das Konzept des „geschulten Urteils“, das Daston und Galison ins Feld führen, um die nach-positivistische Objektivitätskonzeption zu charakterisieren, 63 geht meines Erachtens nicht weit genug, da die ‚Schulung‘ im Kontext einer scientific community schnell von Machtstrukturen infiziert wird und in Indoktrination umschlagen kann. Auch mit ihrem Vorschlag einer Ästhetisierung des Wissens 64 machen sie es sich etwas zu leicht, da die Probleme des globalen ‚Imperialismus‘ von Wissen damit allzu nonchalant ausgeblendet werden. Denn die genannte Notwendigkeit der De- Imperialisierung von Objektivität macht verständlich, dass in einem wirklich zukunftsträchtigen Konzept von Objektivität ein gewisses kritisches Engagement nicht fehlen kann, was - wie die oben genannten Theoretiker zeigen - logisch aber auch gar kein Problem darstellen muss. Dass Borges sich in diese Phalanx durchaus einreiht, insinuiert er zum einen durch zahlreiche affirmative Bezugnahmen auf die entsprechenden Denker. 65 Es zeigt sich aber auch bei einer erneuten, genaueren Betrachtung der Verfahrenslogik seiner Texte. 2.2. Irrealisierung und Objektivität. Das Verfahren der Irrealisierung revisited Sieht man genau hin, so sind die soeben entwickelten Konturen einer neuen, schwachen Objektivität in Borges’ Texten geradezu allgegenwärtig. Um der Übersichtlichkeit willen unterscheide ich zwischen verschiedenen Ebenen. Die unterste Ebene würde ich die immanente Objektivität nennen. 2.2.1. Die immanente Objektivität In jenen Forschungstraditionen, die Borges als nihilistischen, eskapistischen Skeptiker perspektivieren, wird immer wieder auf eine inzwischen berühmt 62 Der implizite Dogmatismus Kants wird durchaus schon von einigen seiner Zeitgenossen wahrgenommen. Cf. hierzu etwa die anonyme Besprechung seiner Träume eines Geistersehers im Anhang der zitierten Ausgabe Kant: Träume, 144-156, bes. 148, 152, 156. 63 Dies.: Objektivität, Kap. VI. 64 Ibid., 427-437. 65 Der enge Austausch mit Ortega y Gasset zeigt sich schon allein daran, dass Borges und Ortega als Herausgeber der Zeitschrift Sur in Buenos Aires zeitweilig sehr eng zusammengearbeitet haben. Zu William James cf. etwa Borges: Biblioteca personal, 527sq. Zu Simmel cf. S. 196. Vor allem Borges‘ Ausführungen zu William James sind hier bezeichnend, rühmt er doch besonders dessen pluralistischen Pragmatismus und den daraus erwachsenen Pazifismus sowie die damit einhergehende Umstellung von Autoritätenwissen auf ein dialogisch ausgehandeltes Wissen. Barbara Ventarola 194 gewordene Stelle in seinem Seminar über Fiction verwiesen. Dort betont Borges, er habe sich stets darum bemüht, seine (politisch-ideologischen) Meinungen nicht in seine fiktionalen Texte einfließen zu lassen und sei generell ein „Gegner der littérature engagée“, da hierdurch die Möglichkeiten des Schreibens allzu sehr eingegrenzt würden. 66 Diese Selbstaussagen scheinen meiner These zunächst zu widersprechen. Bei genauem Besehen bildet die damit zum Ausdruck gebrachte Ideologiefreiheit jedoch allererst die logische Grundlage für Borges’ Konzept einer ‚objektiven Performanz‘ bzw. ‚performativen Objektivität‘ - die im Folgenden zu besprechende nächste Ebene also. Denn letztlich wird damit eine Vorurteilsfreiheit und Gerechtigkeit allen Denksystemen gegenüber formuliert, die man durchaus als Hintergrund- oder Untergrundobjektivität bezeichnen könnte. In Borges’ Texten ist diese immanente Hintergrundobjektivität allenthalben spürbar. Kaum zufällig stellt sich deren Lektüre wie eine Reise durch die Wissenssysteme, Mythen, Theologien, Philosophien aller Kulturen und Zeiten der Welt dar: Arabische, altnordische, germanische, griechische, christlichmittelalterliche, südamerikanisch-autochthone, nordamerikanische, fernöstliche und andere Denkformen - sie alle werden vorgeführt und erhalten dasselbe Recht der Selbstdarstellung. Durch die allgegenwärtige Dynamik der Hybridisierung werden sie überdies dezidiert in einen wechselseitigen Dialog bzw. eine Prozessualität der wechselseitigen Beobachtung gebracht. 67 Borges inszeniert seine Texte also gleichsam als Schauräume oder Bühnen dieser jeweiligen Selbstvorführung und realisiert damit eine komparatistische Perspektive, deren Gerechtigkeit und Quasi-Objektivität aus dem beständigen Perspektivenwechsel und den je verschiedenen Zuordnungen überkreuzter Selbst- und Fremdbeobachtungen resultiert. Man könnte hier auch - in Erinnerung an Ortega y Gasset - von der Konstruktion einer ‚wechselseitigen Transzendentalität‘ sprechen. 68 Anders als bei Kant und 66 Borges: Seminar über Fiction, 101. Ich zitiere im Folgenden Borges‘ spanische Texte im Original und seine englischen Texte in der deutschen Übersetzung, da die englischen Originale in Deutschland sehr schwer zugänglich sind. 67 Ein besonders einschlägiges Beispiel liegt in der Erzählung La busca de Averroes vor. Borges ‚berichtet‘ hier von den Verständnisproblemen, vor die sich der arabische Aristoteles-Kommentator Averroes gestellt sieht, als er auf die aristotelische Dramentheorie stößt. Damit wird der europäische Leser gezwungen zu beobachten, wie seine eigene kulturelle Tradition von außen beobachtet wird und wie sich in diesem Zusammenhang die vermeintliche Universalität der aristotelischen Theoriebestände in Nichts auflöst. Im Zentrum der Erzählung steht also die Problematik interkultureller Hermeneutik, die Borges in der Figur des ‚Philologen‘ Averroes gleichsam selbstreferentiell-abismatisch vorführt und im Übrigen mit einer impliziten Xenophopie- Kritik anreichert. Einen ähnlichen Impetus der hybridisierenden Prozessualisierung wechselseitiger Beobachtungen lassen auch sein Libro de sueños, die Historia de la eternidad oder El libro del Cielo y del Infierno erkennen - Borges‘ kosmopolitische Anthologien also, die viel zu selten Gegenstand der wissenschaftlichen Forschung sind. 68 Zu Ortegas Konzept einer wechselseitigen Transzendentalität cf. supra Anm. 61. Irrealisierung und Objektivität bei Borges 195 Husserl, in deren Denken - wie bereits dargestellt - die Figuren der Einstimmigkeit und Identität einen sehr prononcierten Platz einnehmen, wird in Borges‘ Texthybriden der unbeendbare Dialog der Denksysteme gleichsam auf Dauer und wie auf einer Bühne ausgestellt. Indem die Texte als Dialoge zwischen Denksystemen inszeniert sind, macht Borges die objektivitätsunterhöhlende Problematik der ‚Schulung‘ durch ein einziges Kollektiv sichtbar. Damit führt er die Objektivität gleichsam an ihre zweite historische Wurzel zurück: ihre Gleichursprünglichkeit nämlich mit dem Bemühen um eine Demokratisierung des Wissens. Denn wenn im 18. Jahrhundert die massive Aufwertung der Objektivität mit der erwähnten Umstellung auf eine empirische Methodik einhergeht, so ist damit ein Element der Nachvollziehbarkeit eingebracht, das sich sichtlich gegen rein spekulativ gewonnene Autoritätsansprüche von rationalistisch-idealistischen ‚Wissensformen‘ wendet. 69 Durch die Pluralisierung und Auslotung des Verhältnisses zwischen Ähnlichkeit und Differenz (etwa zwischen kulturellen Denkformen) wird diese Demokratisierung allerdings konsequenter umgesetzt als bei Kant oder Husserl, denn Borges wendet sich damit dezidiert auch gegen deren durchaus eurozentristischen und selbstwidersprüchlichen Dogmatismus von Universalitätsansprüchen der Objektivität. Nun führt das konsequente Zu-Ende-Denken der Prämissen der jeweils vorgeführten Denksysteme bei Borges bekanntlich fast immer dazu, dass die inneren Mängel, Paradoxien und ‚Bodenlosigkeiten‘ dieser Systeme zum Vorschein kommen. 70 Zugleich werden die problematischen Trugschlussverfahren enthüllt, die dazu dienen, diese Mängel zu überspielen. 71 Doch 69 Cf. hierzu etwa Danneberg/ Niederhauser: „Darstellungsformen“. 70 Dieses dekonstruierende Zu-Ende-Denken ist in der Forschung bereits gründlich untersucht worden. Cf. hierzu etwa Zepp: Borges; sowie Schulz-Buschhaus: „Borges und die Dédacence“. Besonders sinnfällig wird es in den berühmten Erzählungen Tlön, Uqbar, Orbis Tertius und La biblioteca de Babel. Vor allem die erstere ist hier von Belang, da dort bezeichnenderweise speziell die idealistische und die phänomenologische Philosophie durchleuchtet werden. 71 Cf. hierzu die Parodie auf gängige philosophische Argumentionsverfahren in der Kupfermünzen-Episode von Tlön (Borges: Ficciones, 27sq.). Indem Borges reale historische Argumentationstechniken der Beweisführung aus selbst gesetzten Aprioris auf einen aus unserer Sicht absurden Streitpunkt anwendet, wird deren Absurdität (oder vorsichtiger: letztliche Ungedecktheit) sichtbar, sowie die Hybris, die darin besteht, angesichts des grundsätzlichen menschlichen Nichtwissens selbstmächtig überhaupt Aprioris mit einem starken Wahrheitsanspruch zu setzen. Damit macht er sichtbar, wie die Prämissen der meisten Beweisführungen aus dem Weltmodell herrühren, das sie allererst belegen wollen und knüpft so im Übrigen - in sehr eigenwilliger Weise - an Kants Träume eines Geistersehers an. Kant formuliert sein eigenes Verfahren dort wie folgt: „Es ist bisweilen nötig, den Denker, der auf unrechtem Wege ist, durch die Folgen zu erschrecken, damit er aufmerksamer auf die Grundsätze werde, durch welche er sich gleichsam träumend hat fortführen lassen.“ (Träume, 18). Während Kant sich mit diesem Satz allerdings vor allem auf den mystischen Spiritualismus Sweden- Barbara Ventarola 196 auch dies fügt sich schlüssig in die hier vorgenommene Neuperspektivierung ein. Denn zum einen ist die damit vor Augen geführte ‚Gleich-Unwirklichkeit‘ aller menschlichen Denkformen ja letztlich die unabdingbare Voraussetzung für die anvisierte De-Hierarchisierung des Wissens und tolerante Anerkennung des Fremden. 72 Zum anderen dient sie der Immunisierung gegen ‚wissens-imperialistische‘ Manipulationsstrategien aller Art. 73 Denn dass nicht nur politische Ideologien, Mythen und Religionen, sondern auch die Diskurse der Wissenschaften und der Philosophie eine starke rhetorische, ja nicht selten auch manipulative Komponente borgs bezieht, wendet Borges das Verfahren vor allem auf die syllogistischen Beweisführungen des idealistischen Rationalismus und der Phänomenologie an und kehrt ihn so u.a. auch gegen Kant selbst. Er macht gleichsam sichtbar, dass die Aprioris philosophischer Systeme in der letzten Konsequenz nicht gesicherter sind als jene Swedenborgs. Damit knüpft er zugleich an Kants Offenlegung der vitiösen Selbstlegitimationsrhetorik des philosophischen Diskurses an, die jener zu Beginn des „Zweiten Hauptstücks“ seiner Träume vornimmt: „Da also der Philosoph wohl sahe, daß seine Vernunftgründe einer Seits, und die wirkliche Erfahrung oder Erzählung anderer Seits, wie ein Paar Parallellinien wohl ins Unendliche neben einander fortlaufen würden, ohne jemals zusammenzutreffen, so ist er mit den übrigen, […], übereingekommen, ein jeder nach seiner Art den Anfangspunkt zu nehmen und darauf, […], dadurch daß sie nach dem Ziele gewisser Erfahrungen oder Zeugnisse verstohlen hinschielten, die Vernunft so zu lenken, daß sie gerade dahin treffen mußte, wo der treuherzige Schüler sie nicht vermutet hätte, nämlich dasjenige zu beweisen, wovon man schon vorher wußte, daß es sollte bewiesen werden.“ (Träume, 63sq.). Genau diese manipulative Komponente der philosophischen Rhetorik macht Borges in Tlön sichtbar. Freilich hindert die eigene Enthüllung Kant nicht daran, direkt im Anschluss zur Legitimierung seines eigenen Denkens selbst eine große Zahl an Trugschlüssen zu verwenden und zugleich davon abzulenken, indem er beteuert, nach seinem Enthüllungsschlag davor gefeit zu sein. Die damit angewendete Persuasionsstrategie würde der Rabulistik eines Schopenhauers alle Ehre machen. Indem Borges also in der oben genannten Weise an Kant anknüpft, wendet er ihn gleichsam auf sich selbst an und legt so (auch) dessen skizzierte Problematiken frei. 72 Sobald man Wissen an metaphysische Wahrheits- und Seinsannahmen bindet, entstehen schnell prekäre Hegemonieansprüche, wie sie letztlich auch Kant vertritt und damit seiner Form der ‚Aufklärung‘ die skizzierte Selbstwidersprüchlichkeit einschreibt. Die Postmoderne, die sich wesentlich dem Impetus verdankt, diesen Nexus aufzubrechen, enthüllt sich vor diesem Hintergrund als ein genuin ethisches Projekt (der gerechtigkeitssteigernden Dehierarchisierung des Wissens nämlich), was in den gängigen Pauschalverurteilungen zumeist übersehen wird. In Der Spiegel der Natur umreißt Rorty dieses Projekt in sehr eingängiger Weise, wenn er den Wunsch äußert, „die Werte der Aufklärung zu bewahren“ und zugleich „jede Verbindung dieser Werte mit dem Bild vom Spiegel der Natur zu durchschneiden.“ (Rorty: Der Spiegel, 365). 73 Ein solcher Impetus der Immunisierung lässt sich bezeichnenderweise bereits in barocken Wissensdiskursen nachweisen, was sinnfällig macht, wie komplex und widersprüchlich historische Verlaufslogiken zumeist sind. Cf. hierzu auch Ventarola: „Die Abkürzung“. Irrealisierung und Objektivität bei Borges 197 besitzen, bedarf wohl keines (weiteren) Nachweises und wird von Borges im Übrigen auch in aller Schärfe bloßgelegt. 74 Ein Blick in Borges’ theoretisches Schrifttum bestätigt diesen Impetus einer immanenten Hintergrundobjektivität. Allenthalben appelliert er dort an ein freies, offenes, tolerantes und dennoch kritisches Denken, das sich dazu aufgerufen sehen sollte, historische Ungerechtigkeiten in der Behandlung bestimmter Kulturen und Denkformen zu reduzieren und damit interkulturelle Objektivität und Vorurteilsfreiheit zu praktizieren. 75 Doch wie wird dieser explizite Appell in seinen Texten literarisch umgesetzt? 2.2.2. Objektive Performanz oder performative Objektivität In einem Interview bezeichnet Borges das Lesen einmal als ‚Denken mit fremdem Gehirn‘. 76 Dieser Satz kann als erstes Indiz für den erwähnten performativen Umschlag gelten. Denn wenn Borges das Lesen tatsächlich auf diese Weise perspektiviert, dann scheint es geplant zu sein, dass der Leser - als Zeuge dieser paradoxen, da durchaus kritischen Poetik der 74 Cf. etwa Borges’ Behandlung des enzyklopädischen Diskurses in Tlön: Das ‚Reich‘ Tlön, das zunächst nicht mehr als ein Phantasiereich ist, auf das sich die Literatur von Uqbar bezieht (und es damit allererst hervorbringt, cf. Ficciones, 17), wird im weiteren Verlauf auf eine so subtile Weise zu einer eigenständigen Kultur (incl. einer Geschichte, eigener Wissenschaften, eigener Sprachtraditionen etc.) ‚re-substantialisiert‘, dass man diese Verschiebung bei der ersten Lektüre übersieht und erst später bemerkt, wie man sich durch den enzyklopädischen Duktus hat täuschen und manipulieren lassen. 75 Als besonders ergiebig erweist sich hier Borges’ Autobiographischer Essay. Cf. etwa ibid., 27sq. (über seine erste freidenkerische, pazifistische Phase), 52sq. (über die S.A.D.E. als ‚Bollwerk gegen die Diktatur‘), 55sq. (über seine „literarischen Helden“, die sich allesamt durch einen auffällig offenen Anti-Dogmatismus auszeichnen), 60sq. (über Amerika). Siehe auch seine Besprechungen von Cervantes, Quevedo und Swedenborg in Borges: Prólogos, 45-47 (Lob der Toleranz von Cervantes), 111-117 (Kritik an Quevedos ‚Terrorismus‘ und ‚Willkür‘ des Denkens), 142-150 (Vergleich der Jenseitsreiche Dantes und Swedenborgs mit deutlicher Bevorzugung der letzteren, nicht zuletzt aufgrund ihres ‚humanitären‘ Charakters. Besonders diese Passagen sind sehr relevant, weil Borges hier nicht nur Swedenborgs Konzept des freien Willens explizit gegen den zeitgenössischen südamerikanischen Totalitarismus absetzt (ibid., 146), sondern weil sich die Apologie Swedenborgs bei näherer Betrachtung als ein Gegenentwurf zur recht dogmatischen Kritik an Swedenborg zu erkennen gibt, die Kant in seinen Träumen vornimmt. Die apologetischen Denkfiguren beleuchten nacheinander all jene Aspekte, die Kant an Swedenborg kritisiert und relativieren die Kantsche Kritik insofern, als Borges genau darin das Potential für einen neuen ‚Humanismus‘ ausmacht). Bezeichnend ist auch Borges‘ beständiger Versuch, das altnordische Denken und Dichten aus dem Albtraum der völligen Nicht-Anerkennung seiner historischen Pionierleistungen zu holen. - Nun ist bekannt, dass Borges’ zeitweilig mit Pinochet sympathisierte und damit ein recht unkritisches Verhältnis zu dessen Diktatur offenbart. Eine ausführliche Entkräftung dieses Einwandes kann ich hier nicht leisten und verweise zu diesem Zweck deshalb auf Stolzmann: „Der Dichter“. 76 „[…] leer […] e[s] pensar con un cerebro ajeno“ (Borges/ Ferrari: En diálogo, 265). Barbara Ventarola 198 Anerkennung - die inszenierten immanenten Objektivierungsdynamiken unweigerlich nachvollzieht. Die vor Augen geführten phantastischunwirklichen Welten und die kognitiven Gefangenschaften ihrer Bewohner verweisen über subtile Analogisierungsverfahren ja immer auch auf reale Wissenssysteme ‚unserer‘ Welt. 77 Hierdurch wird der Leser als Beobachter fremder Unwirklichkeit zugleich zum Selbstbeobachter. Die Irrealisierung zwingt geradezu zu einer kritischen Selbstjustierung des Denkens und damit zu einer objektiveren Wahrnehmungshaltung. Somit erzeugen Borges’ Texte eine kritische Rückwendung des Lesers auf sich selbst, bei der jener sich und seine eigenen Blickcodierungen und ideologischen Vorurteile hinterfragen soll und zugleich in die erwähnte Immunisierung gegen rhetorische Manipulationsstrategien eingeübt wird. Doch Borges lässt es sich nicht nehmen, diese performative Objektivitätsebene noch weit sinnfälliger zu inszenieren und auszuformulieren. Zu berücksichtigen ist hierbei freilich, dass es sich - genau aufgrund seines Impetus’ einer Lösung des meist als unlösbar geltenden Bandes zwischen Engagement und Indoktrination - um eine ganz besondere Form der Performanz handeln muss, die ich mit dem Oxymoron ‚performative Objektivität‘ bzw. ‚objektive Performanz‘ bezeichnen würde. Gemeint ist damit die (nur) scheinbare Paradoxie, dass in Borges’ Texten der performative Eingriff in die Realität mit Offenheit und Virtualität verbunden wird. Nur scheinbar ist diese Paradoxie, weil aus der soeben skizzierten Form der immanenten Objektivität logisch eigentlich nur eine solchermaßen offene Performanz resultieren kann. Dogmatische Moral- und Universalitätsansprüche sowie eine Berufung auf die klassisch-aristotelische Logik und die Gesichertheit der physikalischen Naturgesetze (wie noch bei Kant) sind angesichts der Erschütterungen durch die Quantenphysik nicht mehr adäquat und enthüllen ihre inneren Widersprüche mehr als deutlich. Borges ersetzt diese heimliche Dogmatik, wie ich im Folgenden kurz skizzieren werde, durch eine Logik der nicht-indoktrinären Performanz. Wenn man seine Texte also als Handlungsstrukturen begreifen möchte, so liegt ihre Besonderheit darin, dass sie eigentlich eher Induktoren von Handlungsstrukturen sind: Wohl versuchen sie, die Leserschaft durch die skizzierten Verfahren der Irrealisierung und der immanenten Objektivität in den Stand einer eigenmächtigen, kollektiven Objektivierungsfindung zu setzen - vorschreiben können und wollen sie deren präzise Konturen aber nicht. 78 77 Cf. hierzu auch (speziell zu Tlön) Schulz-Buschhaus: „Borges und die Décadence“; sowie Zepp: Borges, 106-117. 78 Dass man diese semantische Offenheit nicht mit amoralischer Beliebigkeit verwechseln darf, ergibt sich aus der spezifischen Ausprägung der immanenten Objektivität selbst. Denn wenn diese, wie oben angedeutet, auf interkulturelle Gerechtigkeit, ethisch-humanitäre Vertretbarkeit und pluralistische Dialogizität abzielt (cf. supra Anm. 75), so sind damit durchaus gewisse Basisvorgaben gemacht, die man meines Erachtens problemlos universell vertreten kann, ohne damit in einen eurozentristischen Im- Irrealisierung und Objektivität bei Borges 199 Ein sehr schönes Beispiel für diese induktive Semiose ist die bereits mehrfach erwähnte Eröffnungserzählung der Ficciones, die Erzählung Tlön, Uqbar, Orbis Tertius. Sie ist nicht nur deshalb so aussagekräftig, weil sie als Eröffnungserzählung einen programmatischen und poetologischen Status besitzt, sondern auch, weil die Funktion der Irrealisierung als Organon der performativen Objektivität hier besonders sinnfällig wird. Bei näherer Betrachtung fällt auf, dass der phantastische und unheimliche Eindruck - und damit steht die Erzählung in Borges’ Œuvre im Übrigen keineswegs alleine da - vor allem dadurch erzeugt wird, dass die Fiktion plötzlich in die Realität ausgreift, ja dass sie sich geradezu zu Materie verdichtet und die Realität durch diese Vergegenständlichung verbiegt. 79 Die Irrealisierung der Realität entsteht also umgekehrt durch eine Realisierung bzw. Materialisierung der Fiktion. perialismus zu verfallen. Das bescheidene elektronische Modell der Induktionsspannung trifft diese Logik der delegierten und damit virtuellen (Objektivierungs-)- Performanz wohl am besten. 79 Borges baut diese ‚Materialisierung‘ der Fiktion sehr stringent auf: Zunächst etabliert er, ganz gemäß den Regeln des phantastischen Diskurses, ein wirklichkeitsnahes Realitätssystem, das in diesem Fall gar mit der durchaus als textextern markierten Realität der Leserschaft verschmilzt (indem ‚Borges‘ als Schriftsteller auftritt und auch seine reale Freundschaft mit Bioy Casares literarisch verwendet, wird ein deutlicher Bezug zur ‚faktischen‘ Realität der Autor-Leser-Kommunikationsebene hergestellt). Sodann findet mit den Unerklärlichkeiten bezüglich des Enzyklopädieartikels über Uqbar der Einbruch der (scheinbar) phantastischen Welt statt, wobei sich der Eindruck des Phantastischen hier vor allem aus der oben skizzierten subtilen Verschiebung bei der Behandlung Tlöns ergibt. Berücksichtigt man, dass Tlön eine reine Imagination (oder eben auch: Fiktion) ist, dann verflüchtigt sich der Eindruck des Phantastischen recht schnell - Tlön gibt sich als Bestandteil jener ‚Verschwörung‘ zu erkennen, die ihrerseits kaum mehr bezeichnet als (freilich in überspitzter Form) jegliche Tätigkeit der Kulturstiftung und des historischen Wandels von Kulturen: Letztlich sind alle Kulturen Materialisationen von zuvor (mal mehr, mal weniger planvoll bzw. systematisch) Erdachtem und jeder historische Wandel ist eine ‚Verbiegung‘ der Realität. Wenn in dem das Rätsel auflösenden Annex also unversehens ‚phantastische‘ Gegenstände auftauchen und die Wirklichkeit verbiegen („Del vasto fondo de un cajón […] iban saliendo finas cosas inmóviles. […] Entre ellas - con un perceptible y tenue temblor de pájaro dormido - latía misteriosamente una brújula. […] Tal fue la primera intrusión del mundo fantástico en el mundo real“ […] „Casi inmediatamente, la realidad cedió en más de un punto“[…] „El contacto y el hábito de Tlön han desintegrado este mundo“ (Ficciones, 36 und 39)), so besitzen diese letztlich keinen anderen Status als der zuvor aufgefundene Enzyklopädieartikel, der ja auch eine vergegenständlichte Imagination darstellt. Die Erzählung selbst, die von all diesen ‚Intrusionen‘ berichtet, ist damit ein Bestandteil Tlöns und führt die ‚Verbiegungen‘ der Realität, indem sie davon berichtet, zugleich fort. Bereits der Titel Tlön, Uqbar, Orbis Tertius, dessen Anordnung der drei ‚Reiche‘ so auffällig nicht deren Auftreten im Text entspricht, kündigt an, dass das Reich Orbis Tertius höchstwahrscheinlich die solchermaßen durch die Fiktion verbogene (oder schlicht: veränderte) Realität der Leser selbst sein wird. - Eine ganz ähnliche Struktur weist etwa auch die ‚Anthologie‘ Libro de sueños auf. Barbara Ventarola 200 Bereits dies ist aber ein objektivitätstheoretisches Signal, denn laut Simmel oder Heidegger, denen sich auch Foucault in Les Mots et les Choses anschließt, ist die Vergegenständlichung (etwa von Sprache) bereits eine Form der Objektivierung. 80 Borges formuliert diese Vergegenständlichung - in diesem Fall bezogen auf Literatur - vielmals, in seinen theoretischen Texten ebenso wie in seinen fiktionalen Erzählungen. So etwa in seiner ersten Harvard-Vorlesung The Riddle of Poetry, wo er ein Buch explizit als einen physischen Gegenstand betrachtet sehen möchte, 81 oder in seiner Historia de la eternidad, wo er Metaphern als Verbalgegenstände bezeichnet und mit einem Kristall oder Silberring vergleicht; 82 oder eben auch in Tlön selbst, denn die geheimnisvollen hrönir, die die Wirklichkeit auf so vielfältige Weise verdoppeln, 83 sind nichts anderes als eine Verklausulierung der zu Materie (oder eben: Kunst) geronnenen Imagination. 84 Mit diesen hrönir stellt Borges zudem einen dezidierten Bezug zur Frage der Performanz her, liegt deren Besonderheit doch darin, dass sie die Wirklichkeit nicht nur verdoppeln, sondern genau mit dieser Verdoppelung zugleich zu verbiegen vermögen. 85 Dass Borges genau in diesem Zusammenhang auf Vaihingers Philosophie des Als-Ob anspielt, 86 vermag diese Lesart nur zu unterstützen. 87 In Tlön wird die Literatur - als ‚objektiviertes Artefakt‘ - also auch handlungstheoretisch in die Realität eingegliedert. Während Henry James in seiner berühmten Metapher des house of fiction nur Fenster zwischen Fiktion und Realität annimmt, 88 baut Borges durch Zeitlichkeit und Performanz dezidiert Türen zwischen ihnen ein. Dass diese 80 Zu Simmel cf. supra Anm. 57. Zu Heidegger cf. etwa Bammé: „Wider das Ende“, 301sq. Foucault äußert sich hierüber in Les Mots et les Choses, 309. 81 „Ein Buch ist ein physisches Objekt in einer Welt physischer Objekte“ (zitiert aus Borges: Das Handwerk, 9). 82 „Son, para de alguna manera decirlo, objetos verbales, […] como un cristal o como un anillo de plata“ (Borges: Obras completas, Bd. I, 382). 83 „Esos objetos secundarios se llaman hrönir“ […] „Más extraño y más puro que todo hrön es a veces el ur: la cosa producida por sugestión, el objeto educido por la esperanza“ […] „Las cosas se duplican en Tlön“(Borges: Ficciones, 31 und 33). 84 Ich kann dies hier nicht ausführlich belegen. Es wird aber unmittelbar einsichtig, wenn man den intertextuellen Verweisen nachgeht, die Borges in diesem Zusammenhang zu Platons Mimesiskonzept und zu Walter Benjamins berühmter kunsttheoretischer Schrift Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit legt (Borges: Ficciones, 31sq.). 85 Cf. hierzu etwa die subtile Gleichsetzung der Verben „exhumar“ und „producir“ im selben Zusammenhang: „[…] los discipulos exhumaron - o produjeron - una máscara de oro, una espada arcaica […]“ (ibid., 32). 86 „El hecho de que toda filosofía sea de antemano un juego dialéctico, una Philosophie des Als Ob (sic! ), ha contribuido a multiplicarlas“(ibid., 25). 87 In seiner Philosophie des Als Ob beschreibt Vaihinger ‚Kultur‘ im Wesentlichen als ein Konglomerat aus Wirklichkeit gewordenen Fiktionen. 88 Cf. Bauer: Romantheorie, 73sq. Irrealisierung und Objektivität bei Borges 201 Performanzstruktur seiner Literatur durchaus geplant ist, macht er an anderen Stellen weitaus expliziter, etwa wenn er in seinem Autobiographischen Essay betont, er wolle mit seiner Literatur „Felsen verrücken“ - sprich: die Welt auch materiell verändern. 89 Nicht nur perspektiviert Borges in Tlön also das literarische Schreiben als eine Form der Objektivierung, sondern richtet die Aufmerksamkeit zugleich auf die Performanz der literarischen Imagination. Doch auch die oben skizzierte Rücknahme dieser Performanz und deren Delegation an die Leser fehlt hier nicht. Das Ende der Erzählung hat die Forschung seit je intrigiert und wird meist als Ausweis für einen problematischen nihilistischen Eskapismus à la Schopenhauer gelesen: Nachdem der Erzähler in einem geschichtlichen Kurzparcours die fundamentale Phantastik aller vorgeführten (in diesem Fall meist idealistischen) Denksysteme aufgewiesen und sich überdies kritisch über die absolutistisch-diktatorische Tendenz vieler Utopien geäußert hat, 90 zieht er sich in sein Landhaus zurück, um an einer ‚nutzlosen‘, da nicht für die Veröffentlichung gedachten spanischen Übersetzung von Sir Thomas Brownes Urn Buriel zu arbeiten. 91 Doch ist es nicht genau umgekehrt? Verklausuliert dieser Rückzug nicht genau die oben skizzierte Logik? Denn wenn der Erzähler ‚Borges‘ sich entscheidet, das damit aufgerufene Denken der Vanitas 92 nicht weiter zu verbreiten, so wurde die Erzählung Tlön mitsamt der damit eröffneten Ficciones sehr wohl publiziert, ebenso wie viele andere, weniger ‚nutzlose‘ Werke (wie etwa die kosmopolitischen Anthologien El libro del Cielo y del Infierno, Historia de la eternidad und Libro de sueños, die besonders sinnfällig das Problem interkultureller Gerechtigkeit behandeln). 93 Zuerst zieht Borges die Leserschaft 89 „Nun, trotz meiner Jahre, gedenke ich der vielen Felsen, die ich nicht verrückt habe, und anderer, die ich von neuem verrücken möchte“ (Borges: Borges über Borges, 62). 90 Cf. hierzu auch Schulz-Buschhaus: „Borges und die Décadence“. 91 „Yo no hago caso, yo sigo revisando en los quietos días del hotel de Adrogué una indecisa traducción quevediana (que no pienso dar a la imprenta) del Urn Buriel de Browne“ (Borges: Ficciones, 40). 92 Vor allem im berühmten fünften Kapitel des Urn Buriel, einer Schrift über antike Totenkulte, äußert sich Sir Thomas Brown sehr eindeutig im Sinne des barocken contemptus mundi. Der Erzähler von Tlön erwähnt im selben Satz zudem Quevedo, den man unstrittig als einen ‚Großmeister‘ des vanitas-Denkens betrachten kann. Angesichts der bereits erwähnten Kritik, die Borges an Quevedos Weltanschauung übt (cf. supra Anm. 75), erhält die oben genannte Entscheidung des Erzählers eine verblüffende Schlüssigkeit. 93 Die oben vorgenommene Gleichsetzung des Erzählers mit dem Autor des Textes scheint mir in diesem Fall durchaus legitim, da die Erzählung durch die Perforierung der Grenze zwischen dem fiktionalen und dem argumentativen Diskurs dezidiert als ein Kippspiel angelegt ist, das eben diese Engführung bewusst herausfordert. Auf die ethische Performanzstruktur der Ficciones als übergeordnete Sinneinheit kann ich hier nicht ausführlich eingehen. Auch mit Blick auf Borges’ Anthologien muss der Hinweis genügen, dass Borges seine Traum- und Jenseitsbücher dezidiert als Apologien von Barbara Ventarola 202 also in ein subtiles Spiel aus Fremd- und Selbstbeobachtung hinein und erzeugt durch die gleichzeitige Irrealisierung aller Denksysteme bei ihnen eine reflexive Volte der kritischen Selbsthinterfragung, um sie sodann - nachdem sie dergestalt gründlich gegen rhetorische Manipulationsstrategien immunisiert sind - sich selbst zu überlassen, damit sie nach der Lektüre mit der Aushandlung neuer Formen von Wissen und Objektivität beginnen, deren Konturen er nicht zuletzt deshalb nicht vorschreiben möchte, da sie noch gar nicht feststehen und immer neu an die Anforderungen globaler Gerechtigkeit angepasst werden müssen. Nicht zufällig fühlt man sich hier an Homi Bhabhas Konzept der ‚iterativen Objektivität‘ erinnert. 94 Und nun wird nachvollziehbar, wie Borges’ Kritik an der littérature engagée seiner Zeit sich hier einfügt: Nicht so sehr ein Verzicht auf jede Form des Engagements ist damit verklausuliert, als vielmehr eine Abkehr von der problematischen zeitgenössischen Verschlingung von Engagement, Ideologie und oft auch doktrinärer Gewalt. Borges hat vielmehr eine Objektivierung und Gewaltreduktion des Engagements selbst im Auge, die nur dadurch zu erreichen sind, dass man sich von ideologischen Vorcodierungen und Wahrnehmungsungerechtigkeiten (vor allem dem Andersdenkenden gegenüber) freimacht, dazu auf Distanz geht und stattdessen polyperspektivisch denkt. 2.2.3. Der Sprung in die Wirklichkeit Zum Schluss möchte ich noch einer letzten Umdrehung in der Spirale von Irrealisierung und Objektivität nachgehen. So fällt auf, dass sich der Erzähler von Tlön so weit zurückzieht, dass er sich sogar jeder appellativen Aufforderung enthält - offenbar in der Gewissheit, dass die folgenden Erzählungen mit ihren Dialogen zwischen den Denksystemen den gewünschten Effekt erbringen und die eröffneten Leerstellen entsprechend gefüllt werden. Doch ist es angebracht, einen solchen optimistischen Utopismus bei Borges anzunehmen? Bedenkt man, dass er sich - in The Telling of the Tale (seiner dritten Harvard-Vorlesung) - selbst als einen Optimisten bezeichnet, der hoffnungsfroh an die möglichen Segnungen der Swedenborgs Konzept des freien Willens und der Wahlfreiheit inszeniert und dass die Historia de la eternidad, die sich insgesamt dem Problem der interkulturellen Übersetzung widmet, mit einer kritischen Analyse sprachlicher Gewalt (vor allem dem Fremden gegenüber) endet - einer dezidiert ethisch-appellativen Wendung also. 94 Cf. etwa Bhabha: Die Verortung, 18, 39sq., 280, 289, 298. In Bhabhas postkolonialer Theorie spielt die interkulturelle Iterativität des Wissens - begriffen als unbeendbare, dialogische Aushandlung - eine zentrale Rolle. Cf. hierzu auch Ventarola: „Weltliteratur(en)“. - In Borges’ Gesamtwerk steht Tlön mit dieser Sinnstruktur keineswegs alleine da. Ganz ähnlich sind beispielsweise auch die Historia de la eternidad und El libro del Cielo y del Infierno aufgebaut (cf. vorangehende Anm.). Irrealisierung und Objektivität bei Borges 203 Zukunft glaubt, 95 dann ist dieser Gedanke gar nicht (mehr) so abwegig. Und ein Blick in die reale Rezeptionsgeschichte seines Werkes gibt diesem Optimismus teilweise durchaus Recht. Niemand wird leugnen wollen, dass es Ecos Theorie des offenen Textes, die Dekonstruktion, die Rezeptionsästhetik, die Romane von Italo Calvino und vielen anderen, sowie schließlich auch die Kultur- und Objektivitätstheorien von Rorty und Bhabha faktisch gibt - alles letzten Endes freie ‚Auffüllungen‘ von Leerstellen bzw. Realisierungen von Virtualitäten, die Borges in seinen Texten so inzitativ eröffnet hat. 96 Viele der virtuellen Bücher, die Borges zunächst nur als Leerstellen ‚schuf‘, 97 haben sich also (auf phantastische Weise) faktisch vergegenständlicht und die Realität somit tatsächlich ‚verbogen‘. Damit entpuppen sich aber all die genannten ‚realen‘ Theoretiker, die den Induktionen seiner Fiktionen folgen, selbst als Figuren eben dieser realitätsausgreifenden Fiktionen - so, wie es in El jardín de senderos que se bifurcan beschrieben wird. 98 Als Figuren zudem, die zwar mit völlig freiem Willen gehandelt haben, aber dennoch und ohne jede Indoktrination Borges’ ästhetische und theoretische Konzepte haben Wirklichkeit werden lassen. Es ist dies eine perfekte Realisierung seiner Konzeption objektiver Performanz, die eine große Ähnlichkeit zu Bhabhas Konzept der ‚objektiven Emergenz‘ aufweist. 99 Denn was sich hier zeigt, ist die Paradoxie einer objektiven und durchaus planbaren Emergenz, die paradoxerweise genau durch die Reduktion des Kontrollmoments gesichert ist. 100 Unverhüllt wird deutlich, 95 „[…], aber ich besitze Optimismus, ich habe Hoffnung; und da die Zukunft viele Dinge enthält - da die Zukunft vielleicht alle Dinge enthält - […]“ (Borges: Das Handwerk des Dichters, 44). 96 Die zahlreichen Rückgriffe der zuerst genannten Autoren auf Borges bedürfen wohl keines eigenen Nachweises mehr. Was die Querbezüge zwischen Rorty und Borges sowie zwischen Bhabha und Borges angeht, stehen diesbezügliche Untersuchungen, wie bereits erwähnt, noch aus. Gleichwohl scheinen sie mir unerlässlich zu sein. 97 Dass es sich hierbei durchaus um ein poetologisches Programm handelt, macht Borges im Vorwort zu seinen Ficciones selbst explizit. Cf. Borges: Ficciones, 12. 98 Die Pointe der Erzählung besteht letztlich in einer invertierenden Metalepse, indem sich die ‚realistische‘ Spionagegeschichte der Rahmenhandlung am Ende unvermittelt als Bestandteil jenes Labyrinths aus Zeichen enthüllt, das die absente Erzählerfigur der Binnenhandlung vor Jahrhunderten projektiert hatte. Auffällig ist auch hier die Isotopie der Wahlfreiheit: Die unendlich vielen möglichen Gegenwarten und Zukünfte, die im Binnenprojekt geplant sind, ergeben sich allererst aus einer unendlichen Verzweigung der Zeit, die genau aufgrund der Wahlfreiheit jeden Augenblick statthat. 99 Vor allem in Kap. 1, 9 und 11 widmet sich Bhabha den emergenten Potentialen seiner Konzeption eines ebenso iterativen wie gleichwohl objektiven Wissens. 100 Mit dem Hinweis auf die paradoxe Verzahnung von Planbarkeit und Indeterminiertheit greife ich auf neuere (naturwissenschaftliche) Emergenzbegriffe zurück, die mehr und mehr von jener strikten Gegenüberstellung von Determination und indeterminierter ‚Freiheit‘ abrücken, wie sie vor allem im literaturwissenschaftlichen Diskurs lange Zeit üblich war. Cf. hierzu etwa Wägenbaur: Blinde Emergenz? ; sowie Greve/ Schnabel: Emergenz. 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Im ersten Teil, der ‚regulären‘ Vorlesung, wird Derridas Kritik am Phonozentrismus durchaus wohlwollend eine Position in der geistesgeschichtlichen Tradition der jüdischen Hermeneutik zugeschrieben, die Heideggers metaphysikkritisches Denken zwar entgegen ihrer Intention nicht überschreite, aber gerade aufgrund ihrer Bezogenheit auf den verborgenen Gott doch eine „die Institutionen und Dogmen bedrohende Kraft der Liquidierung“ besessen habe. 2 Dieser Teil lässt sich also für Habermas in eine Geschichte der Aufklärung integrieren. Der zweite, sich anschließende Teil kassiert dann allerdings diese Verortung, indem er in der Privilegierung des Sprachlich-Rhetorischen gegenüber dem Logischen in der Derridaschen Grammatologie 3 gerade jene anti-aufklärerische Haltlosigkeit ausmacht, die sich mit der begrifflichen Kette ‚Verschwinden der rationalen Diskursivität, Verschwinden des Sinns, Verschwinden der Intersubjektivität anreißen lässt. Habermas’ Exkurs, seine Abschweifung, wird damit zum Zentrum der Kritik und führt in die Ausschweifungen, ja in die angenommenen Irrungen und Abwege einer Philosophie, die nichts mehr wäre als 1 Habermas: Diskurs der Moderne. 2 Ibid., vor allem 211-218. 3 Derrida: De la grammatologie. ’ Markus Messling 208 Literatur. Mit dieser Zweiteilung seines Vorgehens unterstreicht Habermas auch formal, was der Kern seines Arguments sein wird, dass es nämlich eine Domäne der Philosophie gebe, deren Metier das der Problemlösung sei, und eine Domäne der Literatur, deren Metier Welterschließung heiße: Aber das lebensphilosophisch aufgeladene kontextualisierte Sprachkonzept ist unempfindlich für die faktische Kraft des Kontrafaktischen, die sich in den idealisierenden Voraussetzungen kommunikativen Handelns zur Geltung bringt. Deshalb verkennen Derrida und Rorty auch den eigentümlichen Stellenwert der Diskurse, die aus der Alltagskommunikation differenziert und auf jeweils eine Geltungsdimension (der Wahrheit oder der normativen Richtigkeit), auf jeweils einen Problemkomplex (Wahrheitsfragen oder Gerechtigkeitsfragen) zugeschnitten sind. Um diese Argumentationsformen kristallisieren sich in modernen Gesellschaften die Sphären von Wissenschaft, Moral und Recht. Die entsprechenden kulturellen Handlungssysteme verwalten Problemlösungskapazitäten in ähnlicher Weise wie der Literaturbetrieb Kapazitäten der Welterschließung. […] Während die polare Spannung zwischen Welterschließung und Problemlösung im Funktionsbündel der Alltagssprache zusammengehalten wird, spezialisieren sich Kunst und Literatur einerseits, Wissenschaft, Moral und Recht andererseits auf Erfahrungen und Wissensarten, die sich jeweils im Einzugsbereich einer Sprachfunktion und einer Geltungsdimension herausbilden und verarbeiten lassen. 4 Nun mag uns der Begriff der „Welterschließung“ zur Beschreibung der Literaturwissenschaft oder der textuell basierten Kulturwissenschaften gar nicht so problematisch erscheinen. Er könnte nämlich genau jene Konzeption der Literaturwissenschaft transportieren, die der Arbeit an der Literatur eine lebenswissenschaftliche Dimension zuspräche, die als Reflexion der kulturellen Dispositive und Archive gewiss anderer Natur wäre als jene der Biowissenschaften. 5 So aber will Habermas diesen Begriff nicht verstanden wissen. Vielmehr bezieht sich der Begriff der „Welterschließung“ auf „‚Kunstwahrheit‘, auf ästhetische Stimmigkeit, exemplarische Geltung, Innovationskraft und Authentizität“, seine Geltungsdimension beruht letztlich auf „Geschmacksfragen“ 6 . Es geht hier jedoch um mehr als um eine Kritik der Habermasschen Kunstauffassung, die letztlich jener bürgerlichen Vorstellung von der Autonomie der Kunst aufsitzt, die Habermas selbst als moderne Bewegung historisiert. 7 Vor diesem Hintergrund wird nämlich erst begreiflich, warum die Einebnung der „Gattungsunterschiede“ 8 für Haber- 4 Habermas: Diskurs, 242-243. 5 Eine solche Konzeption wird programmatisch von Ottmar Ette vertreten; cf. Ette: ÜberLebenswissen, ders.: „Literaturwissenschaft“ sowie die dokumentierte Diskussion hierzu in Asholt/ Ette (Ed.), Literaturwissenschaft. 6 Habermas: Diskurs, 243. 7 Cf. ibid., 243sq. 8 Habermas zielt mit dem Begriff der „Gattungsunterschiede“ nicht auf verschiedene Genres, sondern auf Regelbereiche von Textgattungen im tiefenstrukturellen Sinne von Diskursdomänen. Objektivierungsstrategien bei Roland Barthes 209 mas das Fanal eines Denkens darstellt, in der die Philosophie ‚Text‘ wird: Von dieser Perspektive aus wird sie dann nämlich zu einem Diskurs, der auf „Geschmacksfragen“ basiert, verliert ihren Charakter als metasprachliche Verständigung und den Anspruch wissenschaftlicher Objektivität. Der erweiterte Textbegriff - Habermas nennt das „ästhetischen Kontextualismus“ 9 - führe zur Willkürlichkeit. Es gehe darin nicht mehr um einen wahren oder normativen Gehalt einer Proposition, sondern um die interpretative Annäherung an diese. Es kann hier nicht ausführlich diskutiert werden, ob Derridas Dekonstruktion tatsächlich auf Willkürlichkeit hinausläuft oder hinaus will - Derrida würde dagegen wohl den Begriff der Aporie starkmachen. 10 Was mich hier interessiert, ist die dahinter liegende allgemeinere Frage, ob die Einebnung der Grenzen zwischen den Diskursen tatsächlich eine vernunftkritische „Ekstase der Subjektivität“ 11 generieren musste, in der das aufklärerische Projekt aufgegeben wurde. 2. V OM A UTORBEGRIFF ZUR W ILLKÜR DES L ESERS ? Die zentrale Bewegung hinter der Einebnung der Diskursdomänen ist jene Verschiebung vom Autor zum Leser, die Ende der 1960er Jahre stattfindet. Denn ohne die Zuordnung eines Textes zu einem Autor-Individuum ist die Funktion ebendieses Textes schwer oder kaum einzugrenzen. Wenn wir einmal von Konzeptionen eines „idealen Lesers“ als Textstrategie, formuliert etwa in Umberto Ecos Literatursemiotik, 12 absehen und den Leser als Rezipienten auffassen, dann steht er für die Aufgabe hermeneutischer Eindeutigkeit und für interpretative Individualität. Aber bedeutet die Betonung des Lesers auch die Aufgabe eines Anspruchs verobjektivierender, wissenschaftlicher Betrachtung? Die unter dem Begriff der Dekonstruktion gebündelten nicht-hermeneutischen Denker haben das nicht, oder zumindest nicht einheitlich so gesehen, jedenfalls nicht Roland Barthes, der den 9 Habermas: Diskurs, 241. 10 Eine solche Untersuchung der Habermasschen Derrida-Lektüre müsste wohl von der Tatsache ausgehen, dass Habermas Derrida in seiner Grammatologie-Besprechung überhaupt nur einmal und das auch nicht sehr signifikant zitiert (Habermas: Diskurs, 228, Fn. 53). Die Begründung hierfür ist mindestens ebenso kurios wie die Tatsache an sich: „Da Derrida nicht zu den argumentationsfreudigen Philosophen gehört, ist es ratsam, seinen im angelsächsischen Argumentationsklima aufgewachsenen literaturkritischen Schülern zu folgen, um zu sehen, ob sich diese These [gemeint ist jene vom „allgemeinen Text“] wirklich halten lässt“ (ibid., 228). Zu dem kulturalistischen Seitenhieb soll hier kein Wort verloren werden. Die Probleme, die auftreten, wenn man über Derrida etwas aussagen will, dabei aber Jonathan Culler und Paul de Man meint, liegen auf der Hand. 11 Gumbrecht: „Tod des Subjekts“. 12 Cf. hierzu vor allem Eco: Lector in fabula. Markus Messling 210 ‚Autor‘ bekanntlich programmatisch zu Grabe getragen hat und zugleich in der biografischen Verbindung von Dichtung, wissenschaftlicher Reflexion und Kritik geradezu als Exemplum für die Einebnung der Grenzen von Philosophie und Literatur stehen kann. In seinem Essay De l’œuvre au texte, den Barthes 1971 in der Revue d’esthétique veröffentlicht, 13 erhebt er die Einebnung der Gattungsgrenzen zum Programm literaturkritischer Arbeit: De la même façon, le Texte ne s’arrête pas à la (bonne) littérature; il ne peut pas être pris dans une hiérarchie ni même un simple découpage des genres. Ce qui le constitue est au contraire (ou précisément) sa force de subversion à l’égard des classements anciens. 14 Um eine Vermutung gleich vorwegzunehmen: Ich möchte nicht auf jenen ‚Roland Barthes‘ hinaus, den frühen nämlich, der oftmals dem Strukturalismus zugeschrieben wird und damit auf einem auf dem Saussureschen Zeichenbegriff basierenden Untersuchungsfeld formalistisch-verobjektivierend operiert. Es geht mir vielmehr gerade um die Frage nach den Konsequenzen der Aufgabe des Autorbegriffs, also um jenen ‚Barthes‘, der sich im Umfeld der Tel Quel-Gruppe bewegt und zunehmend zu einer autobiografischen Form des Schreibens übergeht. Ottmar Ette hat in seiner intellektuellen Biografie des Franzosen gezeigt, dass binäres oder strukturales Denken und dessen Auflösung ohnehin nicht streng chronologisch in Barthes Schriften verortbar sind, sondern von Beginn an Spannungsraum und Dynamik von dessen Projekt ausmachen; 15 das zeigt bereits Barthes’ definitorische Verschiebung von Begriffen wie langue, style und écriture im stark marxistisch-kritisch gefärbten 16 Frühwerk Le Degré zéro de l’écriture (1953) 17 . Der historische Aufriss, in dem Roland Barthes die Zurückdrängung des „empire de l’auteur“ 18 in der Praxis der ästhetischen und wissenschaftlichen Moderne von Mallarmé über Valéry, Proust und die Surrealisten bis hin zur strukturalen Linguistik skizziert, muss hier nicht mehr dargestellt werden. 19 Entscheidend ist, dass Barthes den zurückgedrängten Autorbegriff ersetzt durch den Begriff des scripteurs. 20 Der scripteur ist nicht mehr jenes verstehende Subjekt, das erfindet und bestimmt, sondern eine Schnittstelle, durch die sich etwas äußert, sammelt, sortiert und so zum Text wird; er ist, um mit 13 Barthes: De l’œuvre au texte. 14 Ibid., 73. 15 Cf. Ette: Roland Barthes; s.a. Culler: Dekonstruktion, 25sq. 16 Zum Einfluss des Marxismus auf den jungen Barthes cf. Bannet: Structuralism, 50sq., sowie Ette: Roland Barthes, 67. 17 Cf. hierzu Ette: Roland Barthes, 59-83. 18 Barthes: La mort de l’auteur, 64. 19 Cf. ibid., 64-66. 20 Zum Konzept des scripteur cf. ibid., 66-68. Objektivierungsstrategien bei Roland Barthes 211 Foucaultschen Worten zu sprechen, 21 nicht mehr als eine Autorfunktion. Barthes selbst beschreibt diese Instanz wie folgt: […] l’écrivain ne peut qu’imiter un geste toujours antérieur, jamais originel; son seul pouvoir est de mêler les écritures, de les contrarier les unes par les autres, de façon à ne jamais prendre appui sur l’une d’elles; voudrait-il s’exprimer, du moins devrait-il savoir que la „chose“ intérieure qu’il a la prétention de „traduire“, n’est elle-même qu’un dictionnaire tout composé, dont les mots ne peuvent s’expliquer qu’à travers d’autres mots, et ceci indéfiniment […]. 22 Wenn der scripteur aber keinen ‚genialen‘, das heißt originären und singulären Text erfindet, sondern eine „écriture multiple“ 23 hervorbringt, in der sich verschiedene historisch, politisch und kulturell aufgeladene Sprachformen entäußern, so bedeutet Textverstehen natürlich nicht mehr Nachvollzug der Autorintention, sondern Untersuchung von dessen Funktion durch Auffächerung, ja Entwirrung ebendieser Sprachformen. Der ‚Ort‘ aber, an dem dies geschieht, ist dann nicht mehr der Autor, indem er im hermeneutischen Verfahren verstanden wird, sondern der Leser, dem es zukommt, eben diese verschiedenen écritures nachzuvollziehen und zu strukturieren: Ainsi se dévoile l’être total de l’écriture: un texte est fait d’écritures multiples, issues de plusieurs cultures et qui entrent les unes avec les autres en dialogues, en parodie, en contestation; mais il y a un lieu où cette multiplicité se rassemble, et ce lieu, ce n’est pas l’auteur, comme on l’a dit jusqu’à présent, c’est le lecteur: le lecteur est l’espace même où s’inscrivent, sans qu’aucune ne se perde, toutes les citations dont est faite une écriture; l’unité du texte n’est pas dans son origine, mais dans sa destination, mais cette destination ne peut plus être personnelle: le lecteur est un homme sans histoire, sans biographie, sans psychologie; il est seulement ce quelqu’un qui tient rassemblées dans un même champ toutes les traces dont est constitué l’écrit. 24 Die damit verbundene Polemik gegen eine ‚klassische‘ wissenschaftliche Literaturkritik braucht uns hier nicht weiter interessieren, sie gehört inhaltlich in den Kontext von Roland Barthes’ Disput mit dem Sorbonne- Professor Raymond Picard. 25 Und dass man die Charakteristik des Lesers durchaus anders beschreiben kann - wie das etwa in der Rezeptionsästhetik Jaußscher Provenienz geschehen ist -, zeigt, dass Barthes’ Zerlegung des Autors in der Tat die Züge der Derridaschen Dekonstruktion trägt: Es geht zunächst um Pluralisierung als Prozess, als Vorgang, und nicht um deren Historisierung. An die Stelle des Autors tritt bei Barthes nun nicht der historische Leser, der gar idealtypisch beschrieben werden könnte, sondern allein die Bewegungen des Lesens. Damit sollen gerade die Sinn-Differenzen 21 Cf. Foucault: Qu’est-ce qu’un auteur? 22 Barthes: La mort de l’auteur, 67. 23 Ibid., 68. 24 Ibid., 69 25 Cf. zu dieser Auseinandersetzung Kolesch: Roland Barthes, 12sq. Markus Messling 212 offengehalten und nicht eine neue Interpretationsinstanz starkgemacht werden, was aus Barthes’ Sicht nur der Verlagerung des herkömmlichen, bürgerlichen Wissenschaftsprojektes gleichkäme, nicht aber seiner angestrebten Subversion. Diese Verschiebung zur Offenheit des Lesers hat aber eine klare Stoßrichtung: Par là même, la littérature (il vaudrait mieux dire désormais l’écriture), en refusant d’assigner au texte (et au monde comme texte) un „secret“, c’est-à-dire un sens ultime, libère une activité que l’on pourrait appeler contre-théologique, proprement révolutionnaire, car refuser d’arrêter le sens, c’est finalement refuser Dieu et ses hypostases, la raison, la science, la loi. 26 Natürlich bedient sich Barthes hier nicht nur der umstürzlerischen Rhetorik der Intertextualitätstheorie und Dekonstruktion, in deren Umfeld sein Text ja auch entsteht, sondern er greift auf den darin liegenden Gestus des Aufbrechens des Sinns zurück, um diesem eine klare Wendung des Blicks ins Gesellschaftliche zu geben. 27 Es geht Barthes nicht um ein Alles und Nichts, sondern um einen revolutionären Akt des Entschleierns. 28 De facto gleicht der Lesevorgang einem Akt des Umschreibens bzw. Neuschreibens, indem er die Zementierung von Deutungshoheiten verhindert, den Abschluss der Interpretation unterläuft und so der Beachtung des Nicht-Beachteten, Marginalisierten, der Aufdeckung des Unterdrückten dient. Barthes’ revolutionäre Terminologie macht es schon deutlich: Es geht um ein Verhältnis zu den Machtverhältnissen; Vernunft, Wissenschaft und Gesetz stehen hier nicht ‚nur‘ für eine Tradition des Logozentrismus, sondern eben auch für eine gesellschaftliche Tradition. Der neue, pluralisierte Standort zum Text bedeutet einen neuen, ideologiekritischen Standort zur Macht: Le lecteur, la critique classique ne s’en est jamais occupée; pour elle, il n’y a pas d’autre homme dans la littérature que celui qui écrit. Nous commençons maintenant à ne plus être dupes de ces sortes d’antiphrases, par lesquelles la bonne société récrimine superbement en faveur de ce que précisément elle écarte, ignore, étouffe ou détruit; nous savons que, pour rendre à l’écriture son avenir, il faut en renverser le mythe: la naissance du lecteur doit se payer de la mort de l’Auteur. 29 Indem Barthes aus den Texten gerade das lesen will, was historisch an ihnen von der kulturell hegemonialen Klasse an Erkenntnissen unterdrückt und 26 Barthes: La mort de l’auteur, 68. 27 Dass dieser Vorgang der ‚Anleihe’ geradezu idealtypisch für Barthes Denken und Schreiben ist, hat Ette, „Der Schriftsteller als Sprachendieb“, gezeigt. Andererseits muss an dieser Stelle die Bedeutung hervorgehoben werden, die Jacques Derrida seinerseits, in „Les morts de Roland Barthes“, dem Barthes’schen Schreiben für sein Denken des abwesenden Referenten beigemessen hat. 28 Cf. auch Ette: Roland Barthes, 304. 29 Barthes: La mort de l’auteur, 69. Objektivierungsstrategien bei Roland Barthes 213 verdrängt wurde, zielt seine dekonstruktivistische Verabschiedung des Autor- und Werkbegriffes sowie der Gattungsgrenzen zugunsten eines weiten Textbegriffes zweifelsohne auf epistemologische Fragen: Wahrheit ist relational zur Beschreibungsmacht zu sehen, und Objektivität erwächst daher nur im Bewusstsein vom Interesse der Kritik und der daraus hervorgebrachten Methode. Konkreter: Eine wissenschaftliche Betrachtung entsteht erst in der Aufgabe der Autor-zentrierten Hermeneutik und der Analyse von ihr verdeckter Strukturen. 3. A NALYTIK DER M ACHT UND / ODER RADIKALER S UBJEK - TIVISMUS : S PRACH -E RFAHRUNG ALS VEROBJEKTIVIERENDE A NNÄHERUNG AN DAS L EBEN Ist also das von Barthes vorgeschlagene Projekt der Verobjektivierung der Textbetrachtung nichts anderes als eine Analytik der Macht, die letztlich deckungsgleich mit Foucaults Analyse der Diskurse wäre? Der suggestive Charakter der Frage deutet schon darauf hin, dass dies nicht so ist. Barthes will über die Analyse der diskursiven Macht hinaus, er will die sich im Text entäußernde Macht vielmehr überlisten und die Untersuchung der Sprache dabei zu einer neuen radikalen Erfahrung des Lebens machen, zur Grundlage eines neuen Verständnisses der Subjektivität. Der symbolische ‚Ort‘, an dem Roland Barthes dies theoretisch formuliert, ist eine Lektion (Leçon), seine Antrittsvorlesung vor dem Collège de France im Januar 1977, deren lehrstundenhaften Charakter er selbst unterläuft. Die gesellschaftspolitische Sympathie - Barthes spricht von „solidarité intellectuelle“ 30 - für das Projekt von Michel Foucault ist darin natürlich überdeutlich sichtbar. Roland Barthes dankt diesem in seiner Begründung der sémiologie littéraire nicht nur für dessen Initiative zu seiner Berufung in die altehrwürdige Institution. Indem Barthes das Collège de France als außeruniversitäre Einrichtung zum lieu hors-pouvoir stilisiert, um diesen Topos gleich darauf zu destruieren, schreibt sich der erste Teil seiner Rede durchaus in Fragen der Disziplinierung durch die Diskursmacht ein. Barthes’ Betrachtung des Sprechens in den Institutionen der Erziehung und die Relativierung der eigenen Position darin ist eine Hommage an Foucault. 31 Die Parallele zu Foucaults Analytik besteht im Grunde auch noch in der folgenden entscheidenden Denkbewegung, dass es nämlich nicht die eine Macht gebe, sondern nur verschiedene Mächte, oder besser: Machtentäußerungen überall im sozialen Raum. Wie Foucault 32 verabschiedet Barthes 30 Barthes: Leçon, 9. 31 Cf. ibid., 9-10. 32 Zu Foucaults Begriff der Macht cf. Sarasin: Darwin, 211-221. Markus Messling 214 damit Vorstellungen, die die Machtverhältnisse in einfachen materialistischen oder strukturellen Hierarchien beschreiben - und damit im Grunde auch seine eigenen marxistischen Anfänge: Certains attendent de nous, intellectuels, que nous nous agitons à toute occasion contre le Pouvoir; mais notre vraie guerre est ailleurs; elle est contre les pouvoirs, et ce n’est pas là un combat facile: car, pluriel dans l’espace social, le pouvoir est, symétriquement, perpétuel dans le temps historique: chassé, exténué ici, il reparaît là; il ne dépérit jamais: faites une révolution pour le détruire, il va aussitôt revivre, rebourgeonner dans le nouvel état des choses. 33 Der ‚Ort‘, an dem sich die Macht abspielt, ist die Sprache. 34 Dies allerdings ist nun nicht mehr im Sinne Foucaults gedacht, also so, dass die Macht wesentlich eine diskursive Macht wäre, die sich auf der Ebene der Aussagen entäußert. Denn nun kommt ins Spiel, was man die Lacansche Radikalisierung der Barthes’schen Machtanalyse nennen kann: 35 Foucaults Unterscheidung von Sprache (langue) und Diskurs (discours) wird darin aufgehoben. 36 Als libido dominandi ist die Macht nämlich für Barthes nicht irgendwo ‚außerhalb‘, also im Sozialen oder Politischen angelegt, sondern im Menschen selbst; sie besteht nicht in den Verhältnissen, in denen sie gleichwohl agiert, sondern ist ein Anthropologicum. Sie ist dabei auch nicht einfach der menschliche Trieb, etwa der Aggressionstrieb, sondern, wie Doris Kolesch es formuliert hat, ein „Parasit eben jenes transsozialen Phänomens der Sprache“ 37 . Die sprachliche Ordnung wird damit zur Basis des Sozialen, des Individuellen wie des Gesellschaftlichen. Ganz im Sinne Henri Meschonnics ist hier Sprachtheorie Gesellschaftstheorie. 38 Entscheidend ist dabei das Folgende: Wenn das Unbewusste nach Lacan wie die Sprache gebaut ist, 39 so ist für Barthes die Sprache das Medium, dessen Struktur nicht nur von der Macht geprägt ist, sondern deren Struktur auf materieller Ebene reproduziert, deren Spiel selbst ist. Die Sprache ist (auch) mächtig: 33 Barthes: Leçon, 11-12. 34 Cf. ibid., 12. 35 Zur Stellung der Psychoanalyse in Barthes Semiologie cf. Lindorfer: Roland Barthes. 36 „Ce ne sont pas seulement les phénomènes, les mots et les articulations syntaxiques qui sont soumis à un régime de liberté surveillée, puisqu’on ne peut les combiner n’importe comment; c’est toute la nappe du discours qui est fixée par un réseau de règles, de contraintes, d’oppressions, de répressions, massives et floues au niveau rhétorique, subtiles et aiguës au niveau grammatical: la langue afflue dans le discours, le discours reflue dans la langue, ils persistent l’un sous l’autre, comme au jeu de la main chaude. La distinction entre langue et discours n’apparaît plus alors que comme une opération transitoire - quelque chose, en somme, à ‚abjurer‘“ (Barthes : Leçon, 31). 37 Kolesch: Roland Barthes, 48. 38 Zu dieser Konstatierung cf. Meschonnic: „Realismus“. 39 Zur Analogie der Ordnung der Sprache und der Ordnung des Unbewussten in Lacans Beschreibung des Sozialisierungsprozesses cf. Renner: „Psychoanalyse“, 158sq. Objektivierungsstrategien bei Roland Barthes 215 […] la langue n’est pas épuisée par le message qu’elle engendre; […] elle peut survivre à ce message et faire entendre en lui, dans une résonance souvent terrible, autre chose que ce qu’il dit, surimprimant à la voix consciente, raisonnable du sujet, la voix dominatrice, têtue, implacable de la structure, c’est-àdire de l’espèce en tant qu’elle parle […]. 40 Da die Sprache Struktur und Spiel der Macht folgt, kann sie über die Intention des Sprechers hinaus sprechen, jedes Gesagte ist ihr unfreiwillig unterworfen. Dies hat Barthes zu der viel zitierten und heftig kritisierten Aussage verleitet, dass die Sprache faschistisch sei: „Mais la langue, comme performance de tout langage, n’est ni réactionnaire, ni progressiste; elle est tout simplement: fasciste; car le fascisme, ce n’est pas d’empêcher de dire, c’est obliger à dire.“ 41 Dieser Satz ist oft falsch verstanden worden, zuletzt in der großen, erziehungswissenschaftlich geleiteten Abrechnung mit der pensée 68 von Hélène Merlin-Kajman. 42 Bettina Lindorfer hat gezeigt, 43 dass es Roland Barthes nämlich weit weniger darum geht, die zwingende Kraft der Grammatik, also der formalen Struktur zu betonen - und daher gewiss auch nicht um eine Verweigerung der Sprache. 44 Seine Sprachkritik zielt vielmehr darauf, dass die Sprache mehr als alle anderen Medien Sekundärbedeutungen generiert, geradezu eine Maschine des Sagens im Sagen ist: […] les signes dont la langue est faite, les signes n’existent que pour autant qu’ils sont reconnus, c’est-à-dire pour autant qu’ils se répètent; le signe est suiviste, grégaire; en chaque signe dort ce monstre: un stéréotype: je ne puis jamais parler qu’en ramassant ce qui traîne dans la langue. 45 Der Ort aber, an dem dieser Überschuss zutage tritt, sind die Texte; und der Ort, an dem mit diesem Überschuss gehandelt wird, an dem er funktionalisiert oder hypostasiert wird, ist die Literatur: Mais à nous, qui ne sommes ni des chevaliers de la foi ni des surhommes, il ne reste, si je puis dire, qu’à tricher avec la langue, qu’à tricher la langue. Cette tricherie salutaire, cette esquive, ce leurre magnifique, qui permet d’entendre la langue hors-pouvoir, dans la splendeur d’une révolution permanente du langage, je l’appelle pour ma part: littérature. 46 Damit zeichnen sich langsam die Konturen der Barthes’schen Machtkritik ab: Denn diese Zeilen erheben ja nicht nur den Anspruch auf die Existenz eines Sprach-Orts, der die Macht in der Sprache spielerisch unterhöhlt. Es 40 Barthes, Leçon: 13-14. 41 Ibid., 14. 42 Merlin-Kajman: La Langue. 43 Cf. Lindorfer: „‚Parler‘“, 162-164. 44 Diese hält Barthes auch schlicht für unmöglich; cf. Barthes: Leçon, 15sq. 45 Ibid., 15. 46 Ibid., 16. Markus Messling 216 geht nicht um eine Mystifizierung der Literatur als intellektuelle Institution außerhalb der Macht. Vielmehr wird die Literatur zur Grundlage einer neuen Betrachtung, die dem Funktionieren der Macht auf den Leib rückt, indem die semantischen Überschüsse der Sprache untersucht werden. 47 An den drei großen Kräftefeldern, die er für die Literatur annimmt 48 - die mathesis 49 , die mimesis 50 und die semiosis - und die alle drei ein subversives Potential besitzen, interessiert Barthes also vor allem die letzte: das Spiel der Zeichen, das Aufbrechen eines Mehr an Sinn und sein Aufgreifen, Betonen, Unterlaufen in der Literatur. Genauer genommen: im Text, denn ganz entscheidend an dem vorangegangen Zitat ist die en passant vorgenommene Verschiebung des Literaturbegriffs. Literatur ist nämlich der Vorgang des Schreibens, jeder Schreibvorgang, der Arbeit an der Sprach-Macht ist; denn dieser ist Teil - um es mit Barthes’ pathetischen Worten zu sagen - der „révolution permanente du langage“. Hier zeigt sich noch einmal, wie die Verschiebung vom Autor zum Leser, eine solche zum Leser-Schreiber ist. 51 Wer also gedacht hatte, Barthes’ sémiologie littéraire wäre eine Text-Semiotik im saussureschen Sinne, der hatte sich vertan. Eher ist sie eine macht- 47 Barbara Ventarola zeigt in ihrer Analyse von L’Empire des signes (1970), wie Barthes dort von der Ebene der sprachtheoretischen Zeichenkritik aus, die vor allem auf die Überschüsse der Signifikanten abhebt, eine weitere Verschiebung hin zur ethnografischen Sichtbarkeit vornimmt, in der in Form von unendlichen Details die „Überschüsse“ der Signifikate selbst ins Zentrum rücken: „Nicht der Überschuss textiler Faltungen und Differenzen im Bereich der Logosphäre steht nun im Zentrum, sondern die minimalen Abweichungen auf der Ebene der Signifikate - die unendliche Differenziertheit der empirischen Welt und ihrer ‚Regeln‘ also. Mit dieser Integration empirischer Infinitesimalität denkt Barthes die Parameter einer graduellen Semiotik an, die das dekonstruktivistische Differenzdenken gleichsam an die Welt zurückbindet und damit kulturtheoretisch operationalisierbar macht“ (Ventarola: „Passagen“, 156sq.). Auch hier dient die Analyse der (empirischen) „Überschüsse“ natürlich dem Unterlaufen von determinierten Ordnungskategorien und Stereotypen, in denen sich die Macht als Beschreibungsmacht äußert. 48 Zu den ersten beiden cf. Barthes: Leçon, 17-28, sowie die nachfolgenden Fußnoten; die semiosis steht im Folgenden im Zentrum der Betrachtung. 49 Die mathesis betrifft die Wissensdimension der Texte: „[…] le savoir qu’elle mobilise n’est jamais ni entier ni dernier; la littérature ne dit pas qu’elle sait quelque chose, mais qu’elle sait de quelque chose; ou mieux: qu’elle en sait quelque chose - qu’elle en sait long sur les hommes. […] à travers l’écriture, le savoir réfléchit sans cesse sur le savoir, selon un discours qui n’est plus épistémologique mais dramatique“ (Barthes: Leçon, 18- 19). - Cf. hierzu die Erläuterungen in Kolesch: Roland Barthes, 54sq. 50 Die mimesis betrifft die Darstellungsdimension der Texte: „Je disais à l’instant, à propos du savoir, que la littérature est catégoriquement réaliste, en ce qu’elle n’a jamais que le réel pour objet de désir; et je dirai maintenant, sans me contredire parce que j’emploie ici le mot dans son acception familière, qu’elle est tout aussi obstinément: irréaliste; elle croit sensé le désir de l’impossible. Cette fonction, peut-être perverse, donc heureuse, a un nom: c’est la fonction utopique“ (Barthes: Leçon, 22-23). - Cf. hierzu ebenfalls Kolesch: Roland Barthes, 55-57. 51 Cf. hierzu auch Ette: Roland Barthes, 304sq. Objektivierungsstrategien bei Roland Barthes 217 analytische Anti-Semiotik, die dem Nicht-Referentiellen, Nicht-Denotativen oder aber Überdeterminierten des Texts auf der Spur ist: La sémiologie serait dès lors ce travail qui recueille l’impur de la langue, le rebut de la linguistique, la corruption immédiate du message: rien moins que les désirs, les craintes, les mines, les intimidations, les avances, les tendresses, les protestations, les excuses, les agressions, les musiques, dont est faite la langue active. 52 Wenn Barthes also behauptet, dass seine Semiologie gleichzeitig eine negative und aktive sei, 53 so beschreibt dies den negierenden Aspekt. Im Derridaschen Sinne negiert Barthes eine Tradition linguistischer Zeichen- Betrachtung, die auf das Konzept eindeutiger Denotation abhebt, wodurch die sprachlichen Überschüsse und so das Funktionieren der Macht in der Sprache entblößt werden soll. Das könnte man als verobjektivierenden Anspruch betrachten. Doch verhält sich die Sache schwieriger. Denn wie Derrida überschreitet Barthes genau hier die philosophische Analyse, und es kommt nun tatsächlich zu jener Aufhebung der Unterscheidung von Kritik und Literatur, von Analysierendem und Schreibendem, die der Ausgangspunkt unserer Betrachtungen war. Da es kein ‚Sprach-Außerhalb‘ - und damit auch kein ‚Macht-Außerhalb‘ - gebe, sei die Trennung des Texts von seiner Betrachtung nicht aufrecht zu erhalten. Denn sobald die Reflexion beginne, sei sie Sprache, Produktion, eingewoben in ebensolche Zeichenspiele wie der Text selbst. Barthes geht daher zur Aktivität über. Seine Semiologie ist eine schreibende: La première [conséquence] est que la sémiologie, bien qu’à l’origine tout l’y prédisposât, puisqu’elle est langage sur les langages, ne peut-être elle-même méta-langage. C’est précisément en réfléchissant sur le signe qu’elle découvre que toute relation d’extériorité d’un langage à un autre est, à la longue, insoutenable […] 54 Diese programmatische Aufgabe der Metasprachlichkeit ist natürlich auch der Grund, warum der Semiologe dann für Barthes typologisch ein Künstler und kein Wissenschaftler im traditionellen Verständnis ist: Er begibt sich in das gleiche Spiel der Zeichen wie der Schriftsteller. 55 Befinden wir uns damit nicht genau vis-à-vis mit jenem „ästhetischen Kontextualismus“, den Habermas als erkenntnistheoretischen Hintergrund der Aufgabe des aufklärerischen Projekts betrachtet? Vor dem Hintergrund des sprachkritischen Gangs von Barthes wird deutlich, dass dies nicht so ist. Barthes geht es durchaus im Sinne der rationalistischen europäischen Tradition um die Befragung der Möglichkeiten und Grenzen der Subjek- 52 Barthes: Leçon, 31-32. 53 „La sémiologie dont je parle est à la fois négative et active“ (ibid., 35). 54 Ibid., 36. 55 „Le sémiologue serait en somme un artiste […]“ (ibid., 39). Markus Messling 218 tivität. Diese sieht er in die Struktur der Sprache eingebettet, die alles Denken diskursiv oder machtvoll ermöglicht - und zugleich mit Sekundärbedeutungen belegt und steuert. Diese semantischen Überschüsse werden zwar bereits bei der Lektüre deutlich, aber doch nur begrenzt. In der Arbeit des Schreibens, des Ausschreitens der Sprache aber werden diese Überschüsse in einem performativen Akt hervorgebracht, dadurch nicht nur entäußert und sichtbar, sondern erfahrbar. Subjektivität entfaltet sich dadurch in gewisser Weise real in ihrer Bedingtheit, der Vorgang des Schreibens ist eine performative Analytik der Struktur der Macht. Der Anspruch, der hier formuliert wird, ist kein geringerer als der, einen objektiveren Zugang zur Erkenntnis über das Subjekt zu bahnen. Tzvetan Todorov hat dies in seiner Analyse 56 von Barthes autobiografischer Trilogie Roland BARTHES par roland barthes (1975), Fragments d’un discours amoureux (1977) und La Chambre claire (1980) so formuliert: Il fallait, pour ne plus imposer sa vérité à autrui, restreindre aussi le champ d’application de ses assertions au minimum: à soi. Ce faisant, on n’opte pas pour le subjectif au détriment de l’objectif; je suis tenté de dire: au contraire; car l’„objectif“ n’est souvent qu’un phantasme personnel alors que parler de soi consiste justement à se faire objet. Ni pour le singulier au détriment de l’universel: là encore, le collectif dont on s’autorise communément à parler n’est d’habitude qu’une fiction; et la trilogie finale de Barthes est certainement ce qu’il a écrit de plus universel […]. 57 Todorov liefert auch Aspekte einer Beschreibung der literarischen Mittel, mit denen diese verobjektivierende Annäherung an die Grenzen der Subjektivität vorgenommen werden soll: Dans Roland Barthes, il est bien question de lui; mais pour se désigner, il emploie (principalement) la troisième personne et le temps présent. Fragments d’un discours amoureux adopte la première personne mais garde le présent, et on sent bien la différence: le présent déréalise et généralise en même temps; ce n’est pas l’expérience d’un sujet singulier que nous lisons mais ce qui nous est proposé (même si ce n’est pas: imposé) comme une expérience universelle, ou en tous les cas partageable […]. 58 Vor dem Hintergrund der angenommenen Unmöglichkeit ‚reiner‘ Erkenntnis und objektiver, im Sinne von: metasprachlicher Aussagen über Subjektivität begibt sich Barthes auf die Suche nach einem Erfahrungswissen, das der Subjektivität gerecht werden kann. 59 Er tut dies sehenden 56 Todorov: „Le dernier Barthes“. 57 Ibid., 326. 58 Ibid. 59 In seinen posthum veröffentlichten Vorlesungen La Préparation du Roman, die er in den Jahren 1978-1980 vor dem Collège de France hielt, rekapituliert Barthes diesen Prozess und erhebt ihn nun zum poetologischen Programm: „Ce principe est un principe Objektivierungsstrategien bei Roland Barthes 219 Auges und konzediert, dass seine Semiologie daher einen Bezug zur Wissenschaft habe, aber keine Disziplin sei, also kein durch klare Methoden eingegrenztes Fach. 60 Programmatisch lässt Barthes das „Lehrstundenhafte“ seiner Lektion mit einem autobiografisch gestrickten Fragment zu Thomas Manns Zauberberg ausgehen, das eigentlich eine Liebeserklärung an Jules Michelet ist. Darin ist eine Form des Unterrichtens und Forschens formuliert, die, genährt aus der Erfahrung des Schreibens, freiheitlicher wäre: „Cette expérience a, je crois, un nom illustre et démodé, que j’oserai prendre ici sans complexe, au carrefour même de son étymologie: Sapientia: nul pouvoir, un peu de savoir, un peu de sagesse, et le plus de saveur 61 possible.“ 62 Die hier angestrebte Modalität eines offenen, freien Mit-einander-Sprechens, für die - die etymologische Herleitung zeigt es schon - natürlich ein idealisierter antiker Dialog zwischen Lehrer und Schüler Pate steht, evoziert erneut eine Parallele zu Michel Foucaults Denken, nämlich zum griechischen Begriff der parrhesia („franc-parler“), den Foucault in seinen Vorlesungen zu Le Gouvernement de soi et des autres in den Jahren 1982 bis 1984 vor dem Collège de France entfaltet. 63 Parrhesia ist auch in Foucaults kulturgeschichtlicher Betrachtung eine Modalität des freimütigen, nicht verschleiernden, also nicht-rhetorischen Sprechens, das nicht hegemonial sein will, sondern darauf aus ist, etwas Wahres auszusagen: Es ist ein „direvrai“, in dem sich das Subjekt wahrhaftig artikuliert und erfährt. 64 Dieses offene Sprechen („le franc-parler“) als wichtiger Bestandteil antiker Lebenskunst ist auch für Foucault ein Spiel der Selbst-Erfahrung („un jeu de pratiques de soi“), 65 das in seinem Existenz-Bezug eine andere Wahrheitsfrage aufwirft als die diskursive Ordnung, 66 so dass man annehmen könnte, Barthes untersuche die psycho-lingualen Vorbedingungen dieser Technik des Selbst. Allerdings tritt hier doch ein zentraler Unterschied hervor: Wie Foucault zeigt, erhält die parrhesia, also das offene Aussprechen von etwas Wahrem, ihren ethischen Wert in den kulturgeschichtlichen Konstellationen gerade vor dem Hintergrund asymmetrischer Machtverhältnisse. Ihr Wert liegt in dem Risiko, das der Sprecher - der Schüler gegenüber dem Lehrer, général: la chose à ne pas supporter, c’est de refouler le sujet - quels que soient les risques de la subjectivité“ (Barthes: La Préparation, 25). 60 „La sémiologie a un rapport avec la science, mais ce n’est pas une discipline […]“ (Barthes: Leçon, 37). 61 Der Begriff „saveur“ spielt hier auf die Kraft der mathésis in der Literatur an, mit der Barthes die Charakteristik der Literatur beschreibt, eher den „Geschmack“ der Wörter, mit denen Wissen produziert und tradiert wird, als das Wissen selbst zu repräsentieren. 62 Barthes: Leçon, 46. 63 Foucault: Le Gouvernement und Le Courage. 64 Cf. vor allem Foucault: Le Courage, 4-12. 65 Ibid., 6. 66 Cf. ibid., 4. Markus Messling 220 der Philosoph gegenüber dem Volk, der Denker gegenüber dem Staatsmann usf. - eingeht, wenn er dem Anderen etwas mitteilt. 67 Konsequent denkt Foucault die Überschreitung innerhalb bestehender Interessenskonstellationen, Machtfreiheit gibt es für ihn nicht. Hier zeigt sich umso stärker die utopische Dimension des Barthes’schen Denkens, die gleichwohl als Erfahrung in Momenten realisiert werden will: Das Schreiben, das Spiel mit den sprachlichen Strukturen, das Überschreiten der Zeichenhaftigkeit der Zeichen, das Unterwandern des Stereotypischen gelten ihm als Prozess individueller Befreiung, oder genauer der Erfahrung der eigenen Subjektivität, die sich in der Überschreitung der Strukturen manifestiert und konturiert. Das Schreiben als ‚Ort‘ des Sprach-Spiels ist ein Ort der Selbst-Behauptung, in Momenten ein lieu hors-pouvoir. Und diesen Moment feiert Barthes begeistert: La sémiologie littéraire serait ce voyage qui permet de débarquer dans un paysage libre par déshérence: ni anges ni dragons ne sont plus là pour le défendre; le regard peut alors se porter, non sans perversité, sur des choses anciennes et belles, dont le signifié est abstrait, périmé: moment à la fois décadent et prophétique, moment d’apocalypse douce, moment historique de la plus grande jouissance. 68 Damit lobt Barthes aber nicht nur die Erfahrung des befreit sprechenden Subjekts, sondern auch den historischen Moment, in dem die Institutionen legitimer Literaturdeutung ins Wanken geraten, allen voran die Sorbonne in der Nachfolge der Ereignisse von 1968. 69 Seine Lektion ist dabei auch in seinem eigenen schriftstellerischen Schaffen schon das Resümee seiner Erfahrung mit den in dieser Hinsicht aufschlussreichen Büchern Le Plaisir du texte (1973) und den Fragments d’un discours amoureux (1977). 70 Barthes’ Denken und Schreiben verabschiedet sich also zweifelsohne von einer spezifischen Tradition europäischer Rationalität - und auch von dem Objektivitätsanspruch einer daraus geborenen Wissenschaft; es will aber einen objektiveren, oder vielleicht besser: lebensnäheren Zugang zum Subjekt finden, in dem dessen Bedingtheit und Freiheit ausgelotet wird. 67 Cf. ibid., 12sq., 24sq. - Michael Ruoffs Skizze des Foucaultschen parrhesia-Begriffs ist daher irreführend, wenn er darin ein nicht-rhetorisches Sprechen des Lehrers gegenüber dem Schüler ausmacht (cf. Ruoff: Foucault-Lexikon, 57). Foucault betont von Anfang an den nicht-pädagogischen Charakter der parrhesia (cf. Foucault: Le Gouvernement, 54). Deswegen nimmt er das Sprechen des Lehrers, der etwas Wahres qua Profession sagt, auch explizit von der parrhesia aus (cf. Foucault: Le Courage, 24). 68 Barthes : Leçon, 41. 69 Cf. hierzu die gesellschaftliche Historisierung die Barthes für seine Semiologie gegenüber der Entstehung der Semiotik in der Zeit der „großen Autoren“ (Brecht, Sartre, Saussure) vornimmt (Barthes: Leçon, 32-35). 70 Ottmar Ette zeigt, dass Roland Barthes Schreiben schon in S/ Z (1970) zwischen Objekt- und Metasprache oszilliert und prägt hierfür in Anlehnung an Genettes Begriffe der Diktion und Fiktion den Begriff der Friktion (Ette: Roland Barthes, 308-315). Objektivierungsstrategien bei Roland Barthes 221 Erkenntnis über das ‚Eigentliche‘ des Subjekts, über Subjektivität, kann nur performativ in der Spracharbeit entstehen und erfahren werden. Barthes verlässt daher die reflexive Ebene der Sorge um sich selbst und um andere, die ihm ungenügend, weil machtbehaftet erscheint, und sucht Wege zu ihrer ethisch-ästhetischen Form. 71 Die Vorlesung Comment vivre ensemble: Simulations romanesques de quelques espaces quotidiens 72 , die Barthes nur fünf Tage nach seiner Antrittsvorlesung am Collège de France beginnt, ist in diesem Sinne der lebensbezogene Versuch, eine schwache Ethik zu begründen, die an der Ästhetik des Romans geschult und erprobt wäre. 73 Die Einebnung der Gattungsunterschiede und die Aufgabe der Metasprachlichkeit sind daher keine Ausbrüche aus der Bewegung der europäischen Aufklärung heraus, sie sind ihm geradezu die Bedingungen neu gewonnener Erkenntnis und Befreiung des Subjekts, für die er durchaus den Anspruch wissenschaftlicher Reflexion erhebt. Nichts zeigt dies deutlicher als seine Oppositionsbildung zwischen einem Anspruch der Metasprachlichkeit und seiner Konzeption von Wissenschaft als historischem Prozess erkenntnistheoretischer Brüche: Et si certains profitent de cette condition pour dénier à la sémiologie active, celle qui écrit, tout rapport avec la science, il faut leur suggérer que c’est par un abus épistémologique, qui commence précisément à s’effriter, que nous identifions le métalangage et la science, comme si l’un était la condition obligée de l’autre, alors qu’il n’en est que le signe historique, donc récusable; il est peut-être temps de distinguer le méta-linguistique, qui est une marque comme une autre, du scientifique, dont les critères sont ailleurs (peut-être que, soit dit en passant, ce qui est proprement scientifique, c’est de détruire la science qui précède). 74 In der Tat: Barthes’ Texttheorie und Poetik formuliert den Anspruch, „Welterschließung“ zu sein, aber nicht, um mit Habermas zu sprechen, in der Dimension der „Kunstwahrheit“, sondern in jener der kulturellen Problemlösung. Bereits 1970, in Barthes’ Japan-Buch L’Empire des signes, war dies überdeutlich geworden, indem dort „die Ästhetisierung des wissenschaftlichen Diskurses nicht der Zerschlagung wissenschaftlicher Ordnungsbemühungen, sondern einer Erneuerung der wissenschaftlichen Verhältnissetzung zwischen Ordnung und Freiheit sowie zwischen Empirie und Sprache“ 75 dient. Diesen fundamentalen Grundgedanken einer Praxis der Entgrenzung des Textbegriffs hätte Habermas durchaus in die von ihm 71 Das ist - wenngleich in etwas anderer Perspektivierung - auch die Grundannahme in Peter Bürgers Analyse der Barthes’schen Auseinandersetzung mit der Subjekt-Problematik (cf. Bürger: Das Verschwinden, 209-222). 72 Barthes: Comment vivre ensemble. 73 Cf. Coste: „Préface“ sowie Tholen: „Ästhetik“ und ders.: „Die Literaturwissenschaft“, 109sq. 74 Barthes: Leçon, 37. 75 Ventarola: „Passagen“, 160. Markus Messling 222 dargestellte aufklärerische Bewegung integrieren können. In seiner späten politischen Begegnung mit Jacques Derrida, die insbesondere im Kontext der Diskussion der kulturellen Grundlagen und Verfasstheit Europas stand, hat Habermas allerdings, indem er die ethischen Gemeinsamkeiten betont, die alte Opposition in ihrem Lebensbezug relativiert. 76 L ITERATURVERZEICHNIS Asholt, Wolfgang/ Ette, Ottmar (Ed.): Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft. Programm - Projekte - Perspektiven, Tübingen, Narr, 2010. Bannet, Eve Tavor: Structuralism and the Logic of Dissent. Barthes, Derrida, Foucault, Lacan, London u.a., Macmillan Press, 1989. Barthes, Roland: Le Degré zéro de l’écriture [1953], Paris, Gonthier, 1971. Barthes, Roland: Le Plaisir du texte, Paris, Seuil, 1973. Barthes, Roland: Fragments d’un discours amoureux, Paris, Seuil, 1977. Barthes, Roland: Leçon. Leçon inaugurale de la chaire de sémiologie littéraire du Collège de France prononcée le 7 janvier 1977, Paris, Seuil, 1978. 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Veronika Thiel Von der Selbstzensur zur Selbstbehauptung: Repräsentationskrise und narrative Objektivierungsstrategien in Le Temps de Tamango von Boubacar Boris Diop Im Roman Le Temps de Tamango (1981), dem Erstlingsroman des senegalesischen Schriftstellers und Journalisten Boubacar Boris Diop, beschreibt ein Erzähler, der von seinem Selbstverständnis her als Historiker bezeichnet werden könnte, in seinen Forschungsnotizen die Ankunft eines französischen Schiffs an der westafrikanischen Küste im 18. Jahrhundert. Die Mannschaft erfährt einen recht freundlichen Empfang und die Europäer teilen ihrerseits Geschenke aus: […] ils distribuèrent des miroirs, des colliers de perle, des blue-jeans, quelques appareils photos et beaucoup de barils d’eau-de-vie - là quelques grincheux vont râler, dire que je commence à exagérer, et qu’au XVIII e siècle les blue-jeans, par exemple, n’existaient pas encore. Je me bornerai à répéter que tout s’est passé exactement comme je l’ai dit. Je ne suis pas homme à changer la réalité historique pour complaire aux sceptiques. 1 Wie es in dieser Textstelle zugespitzt zum Ausdruck kommt, sind Objektivitätsbeteuerungen bzw. -ansprüche und das tatsächliche Korrespondenzverhältnis von Darstellung und Realität zwei Dinge, die miteinander gar nichts zu tun haben müssen. Trotzdem - oder eben auch gerade wegen dieser Diskrepanz - sind die verschiedenen Erzähler und Figuren im Roman geradezu besessen von der Frage nach dem Verhältnis zwischen Repräsentation und Realität und der damit eng verbundenen Problematik der Gültigkeit und des Wahrheitsanspruchs ihrer Darstellungen - eine Besessenheit, die wie im oben angeführten Auszug deutlich wird, gelegentlich groteske Züge annehmen kann. Und so zeichnet sich der Roman durch eine ausgeprägte Selbstreflexivität 2 aus: Zunächst wird einer schon fast 1 Diop: Tamango, 173. 2 Selbstreflexivität wird hier nicht im weiten Sinne einer allgemeinen Selbstreferentialität, sondern im engeren, von Werner Wolf vorgeschlagenen Sinne einer „‚(kognitive) Selbstreflexion‘“ verstanden werden, die „auf ein kognitiv-funktionales ‚Sichselbst-Betrachten‘ beschränkt“ wird (Wolf: „Formen literarischer Selbstreferenz“, 58). Veronika Thiel 226 klassischen Darstellungskrise, die auf der Annahme einer für die Sprache konstitutiven Subjektivität beruht, Ausdruck verliehen. Doch die repräsentationstheoretische Selbstschau endet keineswegs mit dieser Absage an Objektivität als Qualität einer Aussage, die sich ausschließlich auf Eigenschaften des Objektes beschränkt und die Eigenschaften des beobachtenden Subjektes eliminiert. Denn die epistemologische Krise, die das Korrespondenzverhältnis von Darstellung und Realität verwirft, ist bei Diop unauflöslich mit der Frage nach der Gültigkeit von Darstellungen verbunden, respektive den Wahrheitsansprüchen, die im Bezug auf sie erhoben und geltend gemacht werden. Somit rücken über das dualistische Verhältnis Darstellung-Realität bzw. Subjekt-Objekt hinaus die pragmatische Dimension in den Vordergrund der repräsentationstheoretischen Selbstreflexion und mit ihr die Machtverhältnisse, in denen letztendlich die Verbindlichkeit von Darstellungen begründet liegt. Aus dieser unweigerlichen Verknüpfung von Darstellungen und Macht ergibt sich auch die Suche nach einer verantwortungsvollen Form und damit nach möglichen Strategien der Objektivierung, die der Roman ausgehend von dieser Selbstschau entwickelt. Und schließlich soll gezeigt werden, dass sich in diesem ersten Roman des Autors auch schon ein Unbehagen an der Selbstzensur des Subjekts abzeichnet, welche angesichts der irreduktiblen Pluralität der Perspektiven als einzig ethisch verantwortbare Schreibpraxis zulässig zu sein scheint. D IE UNMÖGLICHE O BJEKTIVITÄT ODER DIE KONSTITUTIVE S UBJEKTIVITÄT VON D ARSTELLUNGEN Je dirais qu’en tant qu’auteur, depuis mon premier roman, Le Temps de Tamengo [sic! ], je me rends compte assez nettement de la faiblesse des mots pour exprimer la réalité. La réalité est foisonnante, elle [est] trop riche, elle va dans tous les sens. Comment prétendre, avec des mots seulement, capter cela? Mais quelle arrogance! Quelle prétention! 3 Der repräsentationstheoretische Metadiskurs, der sich mittels einer ausgeprägten Selbstreflexivität im Roman Le Temps de Tamango artikuliert, verleiht zunächst einer schon fast klassisch anmutenden, epistemologischsprachkritischen Repräsentationskrise Ausdruck: Wenn zum Beispiel durch die Hauptfigur N’Dongo verschiedentlich die Erfahrung thematisiert wird, dass jeder Versuch die Wirklichkeit mimetisch abzubilden unweigerlich zu einem Komplexitätsverlust und einer die Wirklichkeit verfremdenden Erstarrung führt, 4 so wird man unter anderem an die von Barthes fest- 3 Diop: „Interview by Bouka & Thompson“, s.p. 4 Zum Beispiel wenn N’Dongo seinen Freund Mahécor als ‚Romanfigur‘ beschreibt: „Un personnage de roman. Un vrai, si j’ose dire. Mais qui peut l’immobiliser entre les pages inertes d’un livre ? Il est insaisissable.“ (Diop: Tamango, 82) An einer anderen Stelle wird der Darstellungsprozess überhaupt mit der Vernichtung der dargestellten Von der Selbstzensur zur Selbstbehauptung 227 gestellte „impossibilité topologique“ erinnert: „[...] on ne peut faire coïncider un ordre pluridimensionnel (le réel) et un ordre unidimensionnel (le langage)“. 5 Eben diese ‚topologische Unmöglichkeit‘ wird auch von N’Dongo angesprochen, der sich in einem inneren Monolog gegen die Schreibpraktiken seines Freundes Kader ausspricht: Quand donc t’apercevras-tu de la vanité de ton entreprise? Tu ne réussiras jamais à camper tout le décor, […], parce qu’il existe dans la vie réelle un tas de choses qui ne veulent rien dire, qui ne vont nulle part, qui ne viennent de nulle part, des gestes superflus […], c’est ça, la réalité […], pas comme dans tes romans où, croyant tout réorganiser, tu flanques toute la réalité en l’air. […] Au fond c’est trop riche et complexe, une vie humaine. Si tu veux aller loin, Kader, sache que le vrai roman sera sans ellipse, quelques milliers de pages pour montrer Tamango en train de servir son café au général François Navarro. 6 Der transformierenden, transfigurierenden Auffassung Kaders hält N’Dongo hier eine mimetische Auffassung von Darstellung entgegen: Das Ansinnen einer solchen totalen Abbildung wird jedoch ad absurdum geführt schon auf Grund der Diskrepanz zwischen der Trivialität des Ereignisses (ein Kaffee wird serviert) und dem nötigen Aufwand für dessen Darstellung (mehrere Tausend Seiten). 7 Die Realität erweist sich also sowohl auf Grund ihrer Komplexität als auch ihrer Kontingenz durch die strukturell begrenzten und unweigerlich klassifizierenden wie interpretierenden 8 sprachlichen Mittel als nicht erfassbar. Eine objektive Darstellung der Wirklichkeit, im Sinne einer dem Objekt getreuen Abbildung, erscheint unter diesen Voraussetzungen nicht mehr denkbar. Realität gleichgesetzt: N’Dongo, der selbst, wie so viele der Figuren Diops, Romane, Gedichte, Theaterstücke schreibt, hat beim Durchlesen seiner Texte immer den Eindruck, letztlich nicht das ausdrücken zu können, was er darzustellen versucht: „[…] il éprouve toujours le sentiment de n’avoir pas libéré tous les silences emprisonnés quelque part au fond de lui. Mais, tenace, un espoir: un jour immobiliser les mirages, poignarder le rêve dans le dos…“ (Diop: Tamango, 83) 5 Barthes: Leçon/ Lektion, 32. 6 Diop: Tamango, 158-160. 7 Die Undurchführbarkeit einer solchen Darstellung erinnert an das Dilemma der berühmten Figur Tristram Shandy: „I am this month one whole year older than I was this times twelve-month; and having got, as you perceive, almost into the middle of my fourth volume - and no farther than to my first day’s life - ’tis demonstrative that I have three hundred and sixty-four days more days of life to write just now, than when I first set out; so that instead of advancing, as a common writer, in my work with what I have been doing at it, I am just thrown so many volumes back... It must follow, an’ please your worships that the more I write, the more I shall have to write... “ (Sterne: Tristram Shandy, IV, 286) 8 Cf. hierzu z.B. Coseriu: „Le langage classe la réalité, mais il le fait selon des intérêts et des attitudes humaines. [...]. Dans ce sens la ‚subjectivité‘ est constitutive du langage.“ („Les théories linguistiques“, 188) Veronika Thiel 228 Trotzdem - oder vielleicht auch gerade deswegen - versucht der eingangs erwähnte Erzähler ständig, die Übereinstimmung seiner Ausführungen mit der Wirklichkeit nachzuweisen, doch weder seine wiederholten Beteuerungen die Objektivität seiner Darstellungen betreffend noch so manche andere seiner Objektivierungsstrategien können den nötigen Wahrheitsbeweis liefern bzw. ihm die gewünschte Glaubwürdigkeit verleihen. So versucht er z.B. einen ‚Beweis‘ für den Wahrheitsgehalt seiner Ausführungen in Form von Büchern und somit von Darstellungen zu erbringen, die ebenso konstruiert und relativ sind wie die seine. Der Erzähler gibt außerdem zu, dass die Geschichte Tamangos, die er nachzuweisen sucht, in keinem der einschlägigen Werke erwähnt wird (tatsächlich handelt es sich um eine Figur aus der gleichnamigen Novelle von Prosper Mérimée aus dem Jahr 1829); er lässt aber so lange nicht locker, bis er in den Tiefen einer Bibliothek ein Buch gefunden haben will, das seine Version der Geschichte 9 angeblich belegt - nur, dass sich das besagte Werk leider über weite Strecken als unlesbar erweist. Das Vorgehen dieser Erzählerfigur verdeutlicht, dass über die epistemologisch-sprachkritische Krise hinaus der Fokus der Selbstschau vor allem auf der Willkür von Darstellungen sowie von deren Bezugsrahmen liegt, in Relation zu welchen sie als wahr gelten können, frei nach dem Motto: Wer nach Beweisen für die eigene Darstellung sucht, der findet, genauer gesagt, der er-findet. Die im Roman geführte Selbstreflexion verwirft somit ein mimetisches Verständnis, das Darstellungen als strukturerhaltende Abbildungen eines Objekts bestimmt, und damit letztlich auch die Korrespondenz- oder Adäquationstheorie der Wahrheit: Ersetzt wird es durch eine konstruktivistische Konzeption, die vom performativen Charakter von Darstellungen ausgeht - „performative qualities“, wie es schon bei Iser heißt, „through which the act of representation brings about something that hitherto did not exist as a given object“. 10 Der Konstruktionscharakter seiner Darstellung sowie die Relativität ihrer Wahrheitsansprüche manifestieren sich schließlich ganz wider des Erzählers Willen in folgendem Kommentar: […] j’avais la conviction intérieure qu’il était tout simplement impossible que Tamango n’eût jamais existé nulle part. Je me disais que s’il s’était agi d’un être purement imaginaire, il n’aurait pas trouvé sa place dans ce récit où - on en conviendra aisément - il n’y a pas la moindre fantaisie. 11 Es ist hier nicht länger die Rede davon, dass die Realität an sich als ultimatives Beurteilungskriterium für die Gültigkeit von Darstellungen 9 Anders als in Mérimées Novelle gelingt es Tamango nach dem von ihm geleiteten Aufstand das Schiff der Sklavenhändler, auf dem er nach Amerika gebracht werden soll, zurück nach Afrika zu lenken, wo er sein Leben dem Kampf gegen die Sklaverei widmet und es ihm auch gelingt diese auf weiten Teilen des Kontinents zu verhindern. 10 Iser: Prospecting, 236, meine Hervorhebung. 11 Diop: Tamango, 169. Von der Selbstzensur zur Selbstbehauptung 229 herangezogen wird, sondern die Darstellung selbst wird schlussendlich zum Beweis für die historische Existenz von Tamango. An dieser Stelle wird außerdem deutlich, dass die im Roman geführte Selbstreflexion über die epistemologisch-sprachkritische Überlegung hinaus auch eine ontologische Fragestellung enthält. Die Realität selbst - nicht nur ihre Darstellungen - erweist sich als Konstrukt und damit wird auch die Existenz der Welt der Dinge an sich in Frage gestellt. Und so meint auch der hier bereits verschiedentlich erwähnte Erzähler: „[…] j’ai bien envie de me demander si la réalité existe. À force de ne jamais être elle-même, elle finit par susciter le doute chez les esprits les mieux intentionnés“. 12 Über die Absage an Objektivität im Sinne eines Korrespondenzverhältnisses von Darstellung und dargestelltem Objekt unter Ausschaltung aller Subjektivität (sei es jene des wahrnehmenden Subjekts oder aber die für das Medium konstitutive Funktionsweise) hinaus, wird überhaupt die Existenz der Realität an sich in Frage gestellt. Ausgehend davon ließe sich Objektivität - will man das Konzept nicht gänzlich verwerfen nur noch entweder als eine der Aussage inhärente Strategie auffassen (z.B. die Auslöschung subjektiver Elemente, um den Eindruck der Neutralität zu erwecken, oder eben auch der Offenlegung des subjektiven Standpunkts, um Transparenz zu erzeugen, etc.) oder aber als Urteil der Rezipienten über eben die „adéquation référentielle“, wie es auch Catherine Kerbrat-Orecchioni herausarbeitet. 13 Auf erstgenannte Objektivierungsstrategien im Roman selbst wird anschließend noch kurz einzugehen sein. Zunächst soll aber die im Roman omnipräsente Problematik der Mechanismen und Strategien kurz umrissen werden, mit denen Geltungsansprüche von Darstellungen gestellt und durchgesetzt werden. 14 W AHRHEIT ALS K ONVENTION ODER A LLES EINE F RAGE DER M ACHT Da die Gültigkeit von Darstellungen nicht mit der Qualität des Verhältnisses zwischen Aussage und Realität begründet werden kann, sind Wahrheits- 12 Diop: Tamango, 123. 13 Kerbrat-Orecchioni hebt die Polysemie von Objektivität aus der Sicht der théorie de l’énonciation hervor und unterscheidet zwischen einer der Aussage inhärenten Eigenschaft - „une propriété interne à l’énoncé (absence de marques de l’inscription de L 0 )“ - und dem in den Bereich der Rezeption fallenden Urteils über die Objektivität einer Aussage - „son adéquation réferentielle (évaluée par le récepteur)“ (Kerbrat- Orecchioni: L’Énonciation, 170). 14 In diesem Kontext tritt die Frage der Objektivität allerdings in den Hintergrund, da - bis auf den Historiker, der sich mit seinen Methoden und Behauptungen selbst diskreditiert - keine der verschiedenen Gruppen, die im Roman um die Durchsetzung ihrer Darstellung als verbindliche Version von Geschichte etc. kämpfen, sich je auf die Objektivität ihrer Aussagen beruft, um ihre erhobenen Wahrheitsansprüche zu belegen und zu begründen. Veronika Thiel 230 ansprüche unweigerlich bedingt und relativ von Voraussetzungen abhängig, die ihrerseits keinen Anspruch auf universelle Verbindlichkeit erheben können und deren Festsetzung letztendlich willkürlich erfolgt. Das was als Wahrheit gilt, kann vor diesem Hintergrund lediglich als Ausdruck von besonderen Konstellationen und Machtverhältnissen verstanden werden. Und so steht auch im Vordergrund der repräsentationstheoretischen Selbstreflexion des Romans Le Temps de Tamango der problematische Zusammenhang von Repräsentation und Macht. Verschiedentlich werden in diesem Roman die Relativität und Willkür von Wahrheit und ihren Bezugssystemen sowie die Mechanismen vor Augen geführt, die zur ihrer Durchsetzung eingesetzt werden. So auch zum Beispiel durch die beiläufig erwähnte Episode eines Machtwechsels in der afrikanischen Republik, die Schauplatz der Handlung des Romans ist: Als das pro-europäische neokoloniale Regime durch ein kommunistisches abgelöst wird, wechseln die Straßennamen, die an bedeutungsvolle Ereignisse und Persönlichkeiten erinnern, die alten regimekritischen Historiker werden zu Koryphäen, andere, die der alten Regierung ideologisch nahe standen, gehen ins Exil. Wer als Krimineller und Volksfeind verfolgt worden war, wird zum Held und Märtyrer und vice versa. Ein besonders aussagekräftiges Beispiel für die Relativität von geschichtlichen Wahrheiten, das hier kurz angeführt werden soll, findet sich in Diops viertem Roman, Le Cavalier et son Ombre (1997): In einem afrikanischen Land, einer ehemaligen französischen Kolonie, wird eine Expertenkommission bestehend aus Historikern beauftragt, die Geschichte des Landes auf eine Figur hin zu prüfen, die das Zeug zum Nationalhelden hat. Als nach jahrelangem Palaver und Gezanke der westliche Geldhahn für das Projekt zugedreht wird, kürt die Kommission kurzer Hand den so genannten „Cavalier“ zum strahlenden Held und Beschützer der Witwen und Säuglinge. In der Erinnerung der Menschen hat der Cavalier jedoch ganz andere Spuren hinterlassen: nämlich die eines blutrünstigen Tyrannen, der Kleinkinder auf seiner Lanze aufspießt und Witwen schändet. Eine Statue wird in Auftrag gegeben und der kleine Beamte Dieng Mbaalo, der als Schriftführer der Kommission beigewohnt hat, überwacht den Fortschritt des Künstlers: Er ist schlichtweg begeistert von der erstaunlichen Ähnlichkeit mit dem Cavalier (es gibt wohlgemerkt kein Porträt des längst verstorbenen Helden, aber Dieng Mbaalo liest und deutet die heldenhaften Zügen ‚richtig‘) und will vom Künstler wissen, wie ihm dies gelungen sei. Die Antwort lautet: - Ce n’est pas difficile, dit Silmang Kamara, il m’a suffit de penser à une quelconque canaille, c’est tout. Nous connaissons tous des canailles et j’ai eu l’un d’eux constamment à l’esprit en faisant ce travail. Voilà ma méthode artistique. 15 15 Diop: Cavalier, 127sq. Von der Selbstzensur zur Selbstbehauptung 231 Es wird also das kollektive Gedächtnis der Bevölkerung durch eine konträre, offizielle Variante willkürlich ersetzt und obwohl dem obrigkeitshörigen Beamten die Verhandlungen der Kommission bestens vertraut sind, ist er nicht in der Lage die Manipulation als solche zu erkennen. Er sieht genau das, was man ihm vorschreibt: einen strahlenden, makellosen Helden. Damit ignoriert seine Interpretation nicht nur die überlieferte, im kollektiven Gedächtnis verankerte Version, sondern ebenfalls die Darstellung selbst, wie wir durch den ausdrücklichen Fingerzeig des Bildhauers erfahren, der angibt genau das Gegenteil eines Helden dargestellt zu haben, nämlich einen Schuft. Dergleichen Beispiele sind weniger als Illustration für eine wie auch immer geartete relativistische Weltsicht zu verstehen, sie verdeutlichen vielmehr die Voraussetzungen und Mechanismen, die einer solchen Austauschbarkeit bzw. einer solchen Umdeutung von Geschichte zu Grunde liegen, nämlich die hegemonialen Bestrebungen einer despotisch und totalitär agierenden Gruppe, die mit Hilfe von Gewalt eine Weltsicht durch eine andere ersetzt. Angesichts des unweigerlich konstruierenden und konstruierten Charakters sowie der Instrumentalisierung von Darstellungen erscheint die Praxis des Darstellens zunehmend fragwürdig. Jeder Autor sieht sich mit der Problematik konfrontiert, wie und ob angesichts der Last der Traditionen, der vorhergehenden Verwendungen von Sprache und literarischen Formen selbstbestimmt und verantwortungsvoll dargestellt werden kann, ohne dabei jener der Sprache anhaftenden doppelten Logik der Machtausübung und Unterwerfung anheim zu fallen, die Barthes in seiner berühmten Antrittsvorlesung am Collège de France herausgearbeitet hat: Le langage est une législation, la langue en est le code. Nous ne voyons pas le pouvoir qui est dans la langue, parce que nous oublions que toute langue est un classement, et que tout classement est oppressif: ordo veut dire à la fois répartition et commination. […] par sa structure même, la langue implique une relation fatale d’aliénation. Dès lors que j’énonce […], je suis à la fois maître et esclave. […] Dans la langue, donc, servilité et pouvoir se confondent inéluctablement. Si l’on appelle liberté, non seulement la puissance de se soustraire au pouvoir, mais aussi et surtout celle de ne soumettre personne, il ne peut donc y avoir de liberté que hors du langage. 16 Ähnlich wie Barthes scheint Diop ein solches Außerhalb der Sprache auszuschließen und so bleibt einem Autor nichts anderes übrig, als die Sprache und ihre Machtmechanismen von innen zu bekämpfen und somit seine Verantwortung in der Arbeit an der Form zu suchen. Es sei an dieser Stelle auch hervorgehoben, dass diese Suche nach Ausdrucksformen, die jenseits der bestehenden Machtordnungen stehen, bei Autoren, deren literarische 16 Barthes: Leçon/ Lektion, 16 und 20. Veronika Thiel 232 Produktion sich in einen postkolonialen Kontext einschreibt, und die wie Diop in der Sprache der ehemaligen Kolonialmacht schreiben, eine erhöhte Dringlichkeit und Brisanz erhält. O BJEKTIVIERUNGSSTRATEGIEN Im Allgemeinen wird mit dem Begriff der Objektivierung die Darstellung eines Sachverhalts in einer objektiv - oder zumindest intersubjektiv - nachvollziehbaren Form bezeichnet. Es stellt sich also an dieser Stelle die Frage, mit welchen narrativen Strategien der Roman Le Temps de Tamango versucht der eingangs beschriebenen epistemologisch-sprachkritischen Krise zu begegnen. Wenn auch Diop der sprachlichen Darstellung prinzipiell die Möglichkeit der Objektivität im Sinne einer Korrespondenz mit der dargestellten Realität abspricht und darüber hinaus überhaupt die Existenz einer solchen autonomen Welt der Objekte in Frage stellt, so möchte ich doch behaupten, dass eben die sprachliche Vergegenständlichung bei Diop die erste und wichtigste Strategie der Objektivierung darstellt. An dieser Stelle soll der Begriff der Objektivierung also zunächst im Sinne eines Gegenständlichwerdens durch Versprachlichung verstanden werden: Somit kann auch die ausgeprägte Selbstreflexivität als Strategie gelesen werden, die sonst unsichtbaren Implikationen und pragmatischen Voraussetzungen einer jeden Darstellung materiell zu realisieren somit überhaupt erst zum Objekt einer möglichen Auseinandersetzung zu machen. Dieses Offenlegen ist ohne Zweifel auch im Zusammenhang mit antitotalitären und antiautoritären Bestrebungen zu sehen, die hier später noch einmal aufgegriffen werden sollen. Sowohl die Thematisierung (Metadiskurs im eigentlichen Sinne) als auch die Inszenierung (in Form der fragmentierten und äußerst komplexen Erzählstruktur) der Implikationen von Darstellungen erzeugen eine Erzählhaltung, die sich von der ihre eigene Subjektivität verschleiernden Äußerungshaltung abgrenzt, die Barthes als „l’Homme aux Enoncés“ bezeichnet hat und die er der autoritären und vor allem unbedingten Haltung des Vaters zuschreibt „qui tient des discours hors du faire, coupé de toute production“, denn „[c]elui qui montre, celui qui énonce, celui qui montre l’énonciation, n’est plus le Père“. 17 Mittels der Selbstreflexivität wird auf der Ebene der Aussage (énoncé) offen gelegt, was sonst außerhalb von ihr zu liegen scheint, nämlich ihre konstitutive subjektive, kontextuelle, mediale, etc. Bedingtheit, kurz ihre énonciation: L’énonciation, elle, en exposant la place et l’énergie du sujet, voire son manque (qui n’est pas son absence), vise le réel même du langage; elle reconnaît que le 17 Barthes: „Au séminaire“, 54. Von der Selbstzensur zur Selbstbehauptung 233 langage est un immense halo d’implications, d’effets, de retentissements, de tours, de retours, de redans. 18 Über die allgegenwärtigen Selbstreflexivität hinaus können auch noch andere Erzähltechniken, die im Roman zum Einsatz kommen, in einem weiteren Sinne als Objektivierungsstrategien (also im Sinne einer methodischen Objektivität) verstanden werden, so dass auch die eingangs beschriebene kategorisch antimimetische und antirealistische Repräsentationsauffassung Diops letztendlich relativiert werden muss. So meint Diop in einem Interview: „[S]elon moi, il y a toujours, pour aboutir à la vérité, une multiplicité de points de vue. […] j’avais l’impression que pour exprimer la vérité, j’avais besoin d’essayer d’éprouver les complexités du réel.“ 19 Hier ist zweifelsohne ein Restbestand realistischen Gedankenguts (im Sinne einer Übereinstimmung von Darstellung und Realität) vorhanden, nämlich wenn es darum geht die Komplexität der Strukturen der Realität nachzuempfinden bzw. dem Leser den performativen Konstruktionscharakter von Sinn- und Textproduktion durch die Lektüre als solche erfahrbar zu machen. So werden der Perspektivismus und die damit verbundene Relativität der einzelnen Positionen zur repräsentationsästhetischen Metaposition und damit zum zentralen Darstellungsprinzip erhoben. Auf die äußerst komplexen wie mannigfaltigen Erzählstrategien, die der Roman Le Temps de Tamango aufzuweisen hat, kann hier leider nicht genauer eingegangen werden. Bezeichnungen wie ‚multiperspektivisch‘ oder ‚polyphon‘ vermögen keinen ausreichenden Eindruck von der Struktur des Romans zu vermitteln, denn allein die Koexistenz von zum Teil unvereinbaren Figuren und Erzählerperspektiven festzustellen reicht nicht aus, um den Grad der Indetermination und der Unsicherheit wiederzugeben, den der Roman auf allen erdenklichen Ebenen zu erzeugen sucht: Keine der klassischen Erzählkategorien wird ausgelassen, um Kohärenz und Eindeutigkeit, wenn schon nicht gänzlich zu verhindern, so doch maßgeblich zu erschweren und zu stören. Der Roman besteht aus drei Teilen, die wiederum in nummerierte Kapitel untergliedert sind. Am Ende jedes Teils befindet sich ein pseudoparatextuelles Kapitel mit dem Titel „Notes sur la première [bzw. deuxième respektive troisième] partie“, das sich sowohl durch die Typographie (Kursivschreibung) wie auch durch seine Erzählhaltung von den restlichen nummerierten Kapiteln abhebt. Zwei Erzähler kommen darin vor, die rund hundert Jahre nach den politischen Unruhen in einer afrikanischen Republik in den 60er und 70er Jahre des 20. Jahrhundert, die in den nummerierten Kapiteln des Romans erzählt werden, eben diese Ereignisse aufarbeiten: Der eine Erzähler, von dem hier bereits mehrfach die Rede war, tritt als Historiker auf, der in Archiven recherchiert und Forschungsnotizen anlegt, 18 Barthes: Leçon/ Lektion, 28. 19 Diop: „Interview Bouka“, s.p. Veronika Thiel 234 die der zweite Erzähler nach dessen Tod geordnet haben will und kommentiert. Es lässt sich jedoch nicht eindeutig klären, welcher der beiden Erzähler für die ‚romanhaften‘ nummerierten Kapitel verantwortlich ist. Diese zeichnen sich darüber hinaus durch eine Vielzahl an verschiedenen Perspektiven aber auch Erzählern aus. So werden nicht nur manche Figuren zeitweise zu Erzählern, es taucht auch eine Art auktoriale Instanz auf, die im editorialen Wir spricht, den Text als Roman bezeichnet (was z.B. gegen eine Identifizierung mit dem Historiker der Notizen spricht), Vorausdeutungen macht (die insofern ad absurdum geführt werden, als besagte Informationen bereits durch ein vorausgegangenes Kapitel notes durch einen der beiden Erzähler eingebracht worden sind) und im dritten und letzten Teil des Romans gänzlich verschwindet. An vielen Stellen des Romans ist somit nicht eindeutig klar, wer erzählt, geschweige denn in welchem Verhältnis die verschiedenen Erzählinstanzen und deren Erzählungen zueinander stehen, so dass keine letztverantwortliche, ordnende und Regie führende Instanz festzumachen ist. Bezüglich der Multiperspektivität lässt sich festhalten, dass zwar verschiedene, vor allem in ideologischer Hinsicht konträre Positionen zum Ausdruck kommen, diese aber nicht gänzlich gleichberechtigt nebeneinander stehen, insofern als sehr wohl Sympathie lenkenden Techniken zum Einsatz kommen (z.B. bei der äußerst grotesken und karikaturhaften Darstellung eines französischen Generals), ohne dass aber erkennbar wäre, welche Instanz für dergleichen ironische Distanzierungen und somit für die Wertung der Perspektiven verantwortlich zeichnen würde. Auch die Handlungselemente lassen sich nur schwer in eine Chronologie einordnen und ausgerechnet die Informationen über das Leben der Hauptfigur N’Dongo, das sich als roter Faden durch die zum Teil nur lose verbundenen Kapitel zieht, sind oft unstimmig bis gänzlich widersprüchlich. Dem Leser wird also ein geordnetes Universum, ein vorgefertigter wie eindeutiger Sinn verwehrt, er muss selbst aktiv werden und sich durch das Text-Dickicht kämpfen. Die Erzählstruktur des Romans kann somit insofern als Reaktion auf die doppelte Logik der Machtausübung der Sprache verstanden werden, als sie versucht sich einerseits der Machtausübung der herkömmlichen Strukturen und Erzählformen der franko-europäischen Romantradition zu widersetzen und andererseits der unterwerfenden Funktionsweise der Sprache zu entziehen, indem der Leser zu einem ‚aktiven Element der Fiktion‘ 20 gemacht werden soll. Angesichts sowohl des konstruktivistischen Repräsentationsverständnisses und der daraus resultierenden generellen Relativität der Diskurse, die keine universell gültige Position mehr zulässt, als auch der repressiven Natur absolutistischer 20 „L’écriture est un jeu de pistes de ce point de vue. On s’amuse à se perdre pour mieux se retrouver. […] Le piège consiste à attacher le lecteur au texte jusqu’à la dernière page. L’objectif, c’est de faire du lecteur un élément actif de la fiction, de sorte qu’il se sente concerné jusqu’au bout.“ (Diop: „Entretien avec Mabanckou“, 70sq.) Von der Selbstzensur zur Selbstbehauptung 235 Praktiken scheint in Le Temps de Tamango die einzig verantwortungsvolle, antitotalitäre und antiautoritäre Schreibstrategie im Verzicht zu beruhen: Der Leser wird nicht mit einer weiteren unweigerlich subjektiven Position und ihren Geltungsansprüchen konfrontiert bzw. von letzteren bevormundet, sondern ihm wird stattdessen ein offener, polyvalenter Text angeboten, der ihm keinen vorgefertigten, eindeutigen Sinn aufzwingt. 21 Objektivität ließe sich somit schlussendlich noch als eine Form der Neutralität verstehen, die auf einer Selbstzensur des schreibenden Subjekts beruht, das darauf verzichtet die eigene Subjektivität in seinen Text einzuschreiben; vielmehr lässt es diese bereitwillig hinter einer unermesslichen Vielfalt an Positionen verschwinden und delegiert damit letztlich die Verantwortung für Sinn- und Textproduktion an den Leser. Diese Nivellierung der Perspektiven und Erzählstimmen zu Gunsten einer irreduziblen Vielfalt und Ambivalenz, die keinem Standpunkt mehr universelle Ansprüche gewährt, weist eine unbestreitbare konzeptuelle Nähe zu Lyotards ‚postmodernem Wissen‘ auf - „savoir postmoderne [qui] raffine notre sensibilité aux différences et renforce notre capacité de supporter l’incommensurable“. 22 Angesichts des Scheiterns der großen Erzählungen sieht sich der Schriftsteller, wie es Monique Castillo treffend hervorhebt, mit der Notwendigkeit einer Selbstzensur konfrontiert: Il [l’écrivain] doit renoncer au principe de plaisir intellectuel (qui est le rêve ou l’imaginaire de la totalité, de la réconciliation de l’homme et du monde) pour adopter un nouveau principe de réalité philosophique: accepter l’irréconciliation comme situation critique et ne parler que d’une liberté sublime, mais imprésentable [sic! ], d’une irreprésentable unité. 23 21 Dieses Vorhaben ist zweifelsohne mit Barthes Unterscheidung zwischen lesbaren (lisible) und schreibbaren (scriptible) Texten und der damit verbundenen Leserkonzeption in Beziehung zu bringen: „[…] l’enjeu du travail littéraire (de la littérature comme travail), c’est de faire du lecteur, non plus un consommateur, mais un producteur du texte. Notre littérature est marquée par le divorce impitoyable que l’institution littéraire maintient entre le fabricant et l’usager du texte, son propriétaire et son client, son auteur et son lecteur. Ce lecteur est plongé dans une sorte d’oisiveté, intransitivité […].“ Im Falle des schreibbaren Textes hingegen, „[d]ans ce texte idéal, les réseaux sont multiples et jouent entre eux, sans qu’aucun puisse coiffer les autres; […] on y accède par plusieurs entrées dont aucune ne peut être à coup sûr déclarée principale.“ (Barthes: S/ Z, 10sq.) Und eben diese Offenheit wird auch verschiedentlich im Roman Le Temps de Tamango selbst thematisiert, zum Beispiel wenn es heißt : „Si on entre dans ce texte par la meilleure fissure, Kaba Diané pourrait bien en apparaître comme le personnage principal. […]. Cependant, si on se place à un autre point de vue, on peut trouver Léna au cœur de ces événements.“ (Diop: Tamango, 77) 22 Lyotard: La Condition postmoderne, 8sq. 23 Castillo: „L’individualisme postmoderne“, 7. Veronika Thiel 236 U NBEHAGEN ÜBER DIE RELATIVIERENDE S ELBSTZENSUR Das konstruktivistische Repräsentationsverständnis sowie das perspektivistisch-relativistische Darstellungsprinzip sind jedoch bei Diop, ähnlich wie bei so vielen postkolonialen Autoren, nicht bloß als Ausdruck einer epistemologischen Krise oder als ‚therapeutischer Skeptizismus‘, wie Castillo Lyotards Verständnis der Postmoderne umschreibt, zu verstehen, sondern vor allem auch als eine kritische Methode, als Instrument der Dekonstruktion von absolutistischen Legitimationsdiskursen und Herrschaftsansprüchen. The stratagem of the writers […] is precisely to refuse to the statist discourse of the metropole, to dominant Western discourse, all positional value; to reveal it for what it is - not an interior/ insider discourse privileged by absolute, universal truths, but a discourse based on arbitrary precepts, that like any other discourse is exterior to the other. […] what these writers hold in common is an effort to bring about a levelling, to put all discourses on the same level […]. 24 Mit dieser Nivellierung der Diskurse schießt sich der postkoloniale Autor aber auch selbst ins Bein. Um das Unvereinbare zu ertragen, muss letztlich der Relativismus, der an und für sich keine universell gültige Metaposition zulässt, von einer rein kritischen und kontextualistischen Methode zur Metatheorie bzw. zum maßgebenden Gestaltungsprinzip erhoben werden. Der relativistische Perspektivismus als Metaposition erlaubt es zwar, totalitäre und intolerante Hegemonialbestrebungen und Legitimationsdiskurse in ihrer Konstruiertheit und Bedingtheit aufzudecken, nicht aber sie vollends zu entkräften; darüber hinaus wird auch unweigerlich der postkoloniale Gegendiskurs (das vielzitierte „writing back“) 25 in seiner Gültigkeit in Frage gestellt. Der postkolonialen Literatur wird die Möglichkeit einer unverrückbaren Erwiderung entzogen, da sie nicht nur durch die irreduzible Pluralität relativiert wird, sondern weil auch die Autoren in ihren eigenen Texten nicht umhin kommen, diesen postmodernen Pluralismus einfließen zu lassen, wenn sie sich in einer bestimmten Sparte des europäischen literarischen Marktes behaupten und nicht als ideologische und somit anachronistische Tendenzromane abgetan werden wollen. Somit rücken sowohl die realistisch-universalistischen Tendenzen, die für die Romanproduktion zahlreicher frankophoner postkolonialer Autoren der ersten Generation charakteristisch sind, als auch die für den spätbzw. postmodernen Roman so oft genannte Demontage des zentralen Subjekts, das zu einer Auflösung der Eindeutigkeiten raumzeitlicher und interindividueller Abgrenzungen führt, im Kontext der postkolonialen frankophonen Literatur in ein anderes Licht. Bedenkt man die Brisanz und Allgegenwärtigkeit der Identitätsproblematik in der postkolonialen Litera- 24 Erickson: „Writing Double“, 105. 25 Cf. Ashcroft/ Griffiths/ Tiffin: The Empire Writes Back. Von der Selbstzensur zur Selbstbehauptung 237 tur, so bergen sowohl die Auslöschung der Partikularität zu Gunsten einer universalistisch anmutenden Darstellung als auch die Aufgabe eines Standpunkts zu Gunsten einer irreduziblen Pluralität die Gefahr der Selbstverleugnung, die letztlich die Abwertung der eigenen Subjektivität durch die Diskurse der ehemaligen Kolonialmacht fortschreibt. Und so kommt im Roman Le Temps de Tamango, wenn auch noch etwas zögerlich, ein Unbehagen über eben diese Haltung der Selbstzensur zum Ausdruck. Besonders deutlich zum Vorschein tritt bei Diop das Unbehagen an dieser Selbstzensur, wie sie die „condition postmoderne“ von Lyotard zu erfordern scheint, angesichts der Frage nach Verantwortung und Unschuld, nach Opfern und Tätern in repressiven Konstellationen. In diesem Zusammenhang ist der Umgang mit dem Massaker von Thiaroye in Le Temps de Tamango von besonderem Interesse. Dieses Massaker, das französische Soldaten am 1. Dezember 1944 in der Kaserne bei dem senegalesischen Ort Thiaroye an afrikanischen Kriegsheimkehrern verübt haben, die ihren Sold einforderten, nimmt hier eine Schlüsselposition ein. Auffällig ist die präzise referentielle Verankerung in einem realen Raum- Zeit-Kontinuum, die in einem deutlichen Gegensatz zum Rest der im Roman geschilderten Ereignisse steht: Im Zusammenhang mit dem Massaker ist das einzige Mal ausdrücklich vom Senegal die Rede, und auch die zeitlichen Angaben sind hier unmissverständlich; im Gegensatz dazu lassen sich die sonstigen Handlungselemente des Romans in keine eindeutige Chronologie einordnen oder auf einen genauen Zeitpunkt festlegen. Diese Sonderbehandlung findet eine indirekte Begründung im Roman selbst, nämlich in Form einer Diskussion, die sich zwischen drei jungen Aktivisten über Strategien der Verfilmung eines Theaterstücks über eben dieses Massaker entspinnt. Der Regisseur Mahécor plädiert für einen dokumentaristischen Ansatz, will Fakten sammeln und Zeitzeugen befragen, wohingegen Kaba die dem Massaker zu Grunde liegende kolonialistische Struktur und Logik aufgreifen möchte, um sie im Licht zeitgenössischer Ereignisse in ihrer Aktualität aufzuzeigen. Diop wäre mit seinem antirealistischen Repräsentationsverständnis wohl mehr auf der Seite Kabas, wobei der Roman Mahécor in diesem Fall Recht zu geben scheint. So bemerkt nämlich auch N’Dongo: - Même à l’intérieur de la logique coloniale, cette tragédie garde quelque chose de métaphysique. Les Européens n’étaient pas menacés, ils étaient de loin les plus forts, les tirailleurs n’étaient même pas organisés. D’ailleurs ils les ont tués comme en s’amusant, ils n’avaient absolument pas peur. C’est surtout ça qui est intéressant. 26 Zweierlei fällt bei diesem Zitat auf: Das Massaker von Thiaroye scheint selbst im Bezug auf den kolonialistischen Legitimationsdiskurs außer Relation zu stehen. Zum anderen wird dem Ereignis eine ‚metaphysische‘, wie N’Dongo sagt, oder auch transzendente Dimension zugesprochen, so dass 26 Diop: Tamango, 82. Veronika Thiel 238 seine Bedeutung jenseits der menschlichen Erfahrung und Wahrnehmung angesiedelt wird und sich somit der relativistisch-konstruktivistischen Erkenntnisproblematik zu entziehen scheint. 27 Angesichts der metaphysischen Dimension, die hier dem Ereignis zugesprochen wird, erweist sich jedoch der Perspektivismus als unhaltbar und verlangt nach einer nicht relativierbaren Darstellung: So preist und verehrt auch Kaba - der unerschrockene Anführer der Widerstandsgruppe M.A.R.S., der sich durch eine außergewöhnliche animalische Lebensenergie auszeichnet und sich im Gegensatz zu N’Dongo nicht unentwegt mit Zweifeln über sich und die Welt herumschlägt - das Werk des haitianischen Politikers und Dichters Jacques Roumain, das sich durch eine unmissverständliche Stellungnahme bar jeder Ambivalenzen auszeichne: „Il vouait un véritable culte au poète haïtien car, disait-il, ‚non seulement c’est beau, mais surtout il n’y a pas de confusion possible: on sait qui est le bourreau et qui est la victime‘.“ 28 Dieses Lob steht freilich in einem frappanten Kontrast zum Roman selbst: Weder auf der Ebene des Gesamttextes, noch auf jener der Erzählerrede der verschiedenen Erzählinstanzen ist diese Klarheit in der Darstellung und Positionierung zu finden. Es wäre jedoch zu kurz gegriffen, in der Verehrung von Jacques Roumain eine Nostalgie der großen Erzählungen oder Ideologien zu lesen, die die Welt anhand eines allgemeingültigen und absoluten Erklärungsprinzips mit Sinn erfüllen könnten, sondern vielmehr diejenige nach einem politischen und ethischen Engagement in der Literatur, nach einer eindeutigen und unmissverständlichen Stellungnahme. S CHLUSSBEMERKUNGEN In Le Temps de Tamango halten sich die zwei unvereinbaren Positionen des radikalen Perspektivismus und des ethischen Imperativs, der zum Engagement sowie zur Stellungnahme auffordert, durchaus das Gleichgewicht. Und wenn auch alle Romane Diops von einer äußerst kritischen Auseinandersetzung mit soziopolitischen Themen zeugen, so kommt es erst Ende der 90er Jahre zu einer ausdrücklichen Repositionierung des Autors angesichts dieser repräsentationstheoretischen Fragen, die sein Werk seit dem Erstlingsroman wie einen roten Faden durchziehen: Im Zuge seiner Auseinandersetzung mit dem ruandischen Genozid im Rahmen des Projekts „Ecrire par devoir de mémoire“ 29 distanziert sich Diop teilweise von seinen früheren repräsentationstheoretischen Positionen, Erzähltechniken und auch 27 Diese Bemerkung N’Dongos bezieht sich zweifelsohne auf Maurice Blanchots Bezeichnung des Holocausts als „événement absolu de l’histoire“ (Blanchot: L’Écriture, 80). 28 Diop: Tamango, 137. 29 Zusammen mit zehn anderen Autoren verbrachte Diop 1998 zwei Monate in Ruanda, um vor Ort über den Genozid zu recherchieren; aus dieser Arbeit ging später der Roman Murambi, le livre des ossements (2000) hervor. Von der Selbstzensur zur Selbstbehauptung 239 von manchen Inhalten seiner Romane. 30 Die unmissverständliche Stellungnahme, wie sie in Le Temps de Tamango nur indirekt, zum Beispiel durch den Verweis auf Jacques Roumain oder die Sonderbehandlung des Massakers von Thiaroye, möglich war, wird angesichts des Genozids, der keine Ambiguität und Relativierung mehr duldet, zur ethischen Verpflichtung. Das unermessliche Leid der Opfer sowie die Frage nach der Verantwortung für den Genozid lassen den ethischen Imperativ ‚inkommensurable Positionen zu ertragen‘ un-erträglich werden: Der Genozid, so Diop, habe ihn gelehrt, ‚die Monster beim Namen zu nennen‘. 31 Damit ist keineswegs eine Rückkehr zu einem naiven semantischen Realismus gemeint, sehr wohl aber ein Bekenntnis zu einem engagierten Literaturverständnis sowie zur Verantwortung als Autor Stellung zu beziehen. Der Genozid, so lautet seine Position nach seiner Recherche vor Ort, sei nämlich bar jeglicher Ambiguität, wobei Diop vor allem neokoloniale Interessen und die Rolle Europas bzw. Frankreichs an der Eskalation des Konflikts im Visier hat: On dira: encore un intellectuel qui veut faire de l’Occident son bouc-émissaire. Eh bien, moi je m’en fiche. Exiger des victimes qu’elles plaident l’innocence de leurs bourreaux est le comble de l’arrogance. Je crois que le Rwanda m’a redonné le goût des idées simples, cette tragédie m’a appris à appeler les monstres par leur nom. […] Comme la plupart des intellectuels de ma génération […] j’en étais arrivé à ne même plus oser critiquer le néo-colonialisme. Le communisme était mort et c’était brusquement devenu ringard de parler de ces choses-là. J’ai appris avec le génocide que la seule chose vraiment importante aujourd’hui pour un intellectuel africain est de réfléchir sur l’emprise, souvent terriblement meurtrière, des intérêts étrangers sur le continent. 32 Da aber keine Festsetzung universell gültiger Positionen und Werte mehr möglich ist, kann die Positionierung nur in der eigenen Subjektivität begründet sein. Diese Aufwertung des Subjekts und seines unweigerlich subjektiven und bedingten Verhältnisses zur Welt hat jedoch nichts mit einem Rückzug in einen wie auch immer gearteten Subjektivismus oder 30 Vor allem distanziert sich Diop ausdrücklich von dem Ruandabezug in seinem Roman Le Cavalier et son ombre. Vor seinem Aufenthalt in Ruanda hatte der Autor verschiedentlich die Frage der Verantwortung für den Genozid als nicht entscheidbar bezeichnet und dies durch die Figur des Cavaliers, der das Gute und das Bösen in sich vereint, zum Ausdruck gebracht: Die Figur des Cavaliers weist sowohl heldenhafte als auch mörderische und kriminelle Züge auf; er weiß darüber hinaus auch nicht ‚auf welcher Seite er zuschlagen soll‘ in diesem Krieg zwischen den verfeindeten Ethnien. Und so wird auch der Roman Murambi zu einer Möglichkeit der Wiedergutmachung und der Distanzierung von dem, was er selbst in Le Cavalier et son ombre über den Genozid geschrieben hatte: […] une façon de me racheter et d’aider les autres à bien comprendre qu’il y avait bel et bien eu des victimes et des bourreaux au Rwanda. Bref, cela a été pour moi une façon de guérir de [sic! ] ce que Primo Levi appelle une ‚maladie morale‘, à savoir la tendance à confondre les innocentes victimes et leurs assassins.“ (Diop: „A la découverte“, s.p.) 31 Diop: „Le Rwanda“, s.p. 32 Ibid. Veronika Thiel 240 Solipsismus zu tun und lehnt ebenso dezidiert Strategien der Selbstzensur ab - sei es mittels der Abstraktion der eigenen Eigenschaften zu Gunsten einer Subjekt-Objekt-Spaltung oder einer Dissimulation hinter einem radikalen Pluralismus und Perspektivismus. Trotz der konstitutiven Subjektivität jeder sprachlichen Darstellung kann sich die Literatur ihrem indirekten (und wie Barthes meint ‚wertvollen‘) 33 Bezug auf die Welt nicht entziehen und eben dieses indirekte Verhältnis gilt es zu gestalten, um darin die Subjektivität des eigenen In-der-Welt-Seins einzuschreiben. Und so führt auch die Auseinandersetzung mit dem ruandischen Genozid weit über die inhaltlichpolitische Positionierung, wie sie im obigen Zitat vor allem zum Ausdruck kommt, hinaus zu einer mehr genuin literarischen Neuorientierung. Diop verzichtet in seinem Roman Murambi auf jene indeterminierte, offene Form, die seinen ersten Roman ausgezeichnet hat: „Le récit est dépouillé afin que le lecteur n’ait aucun prétexte pour détourner le regard, je ne voulais pas le distraire du contenu du livre par de vains artifices de style.“ 34 Darüber hinaus entschließt sich der Autor nach seiner Erfahrung in Ruanda, einen Roman in seiner Muttersprache Wolof zu schreiben: 35 „Le fait d’écrire en wolof instaurait une très grande distance par rapport à la francophonie, à la volonté d’hégémonie, aux manipulations politiques“. 36 Nur indem sich ein afrikanischer Autor wieder den Sprachen seines Landes zuwende, könne er, so Diop, tatsächlich eine gesellschaftlich und politisch relevante Rolle spielen, „non en disant aux autres ce qu’ils doivent penser ou faire, mais, bien plus modestement, en leur parlant d’eux-mêmes, au besoin à travers ses propres fantasmes. Il [l’écrivain; V.T.] ne se sert pas seulement de la langue, il la crée également et contribue ainsi à changer la société.“ 37 B IBLIOGRAPHIE Primärliteratur und Interviews Diop, Boubacar Boris: Le Temps de Tamango, Paris, Le Serpent à Plumes, 2002 [1981]. Diop, Boubacar Boris: Le Cavalier et son ombre, Paris, Stock, 1997. 33 „[…] la littérature [...] est absolument, catégoriquement réaliste: elle est la réalité, c’est à dire la lueur du réel. [...] elle leur [les savoirs] donne une place indirecte, et cet indirect est précieux“ (Barthes: Leçon/ Lektion, 26). 34 Diop: „Le Rwanda“, s.p. 35 Doomi Golo, der 2003 im senegalesischen Verlag Editions Papyrus Afrique erschienen ist und der mittlerweile vom Autor selbst ins Französische übersetzt worden ist (Les Petits de la guenon, Philippe Rey, 2009). 36 Diop: „Le français“, s.p. 37 Diop: „Écris et…“, 171. Von der Selbstzensur zur Selbstbehauptung 241 Diop, Boubacar Boris: „Entretien avec Boubacar Boris Diop. Propos recueillis par Alain Mabanckou“, in: Notre Librairie, 136, 1999, 70-73. Diop, Boubacar Boris: „Le Rwanda m’a appris à appeler les monstres par leur nom. Entretien de Boniface Mongo-Mboussa“, in : Africultures, 01.09.2000., s.p. ( http: / / www.africultures.com/ php/ index.php? nav=article&no=1465; 08.07.2010). Diop, Boubacar Boris: „Interview with Boubacar Boris Diop, by Yolande Bouka & Chantal Thompson“, in: Lingua Romana, 2/ 1, 2003, s.p. ( http: / / linguaromana.byu.edu/ diop.html; 08.07.2010). Diop, Boubacar Boris: „Le français n’est pas mon destin. Entretien de Taina Tervonen“, in: Africultures, 26.11.2003, s.p. ( http: / / www.africultures.com/ php/ index.php? nav=article&no=3197; 08.07.2010). Diop, Boubacar Boris: „À la découverte de notre innocence. Entretien de Taina Tervonen“, in: Africultures, 01.06.2004, s.p. ( http: / / www.africultures.com/ php/ index.php? nav=article&no=3376; 08.07.2010). 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Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.narr.de · E-Mail: info@narr.de Es scheint an der Zeit und nachgerade überlebenswichtig zu sein, dass sich die Literaturwissenschaften als Lebenswissenschaften begreifen und im Sinne einer geisteswissenschaftlichen Grundlagenforschung nach dem Nutzen und dem Nachteil der Literaturwissenschaft für das Leben fragen. Von Kunst und Literatur ist keine Art „höheren Lebenswissens“ zu erwarten. Und doch kommt der Literatur das Vermögen zu, normative Formen von Lebenspraxis nicht nur zu simulieren, sondern auch performativ und damit lebensnah und „nacherlebbar“ zur Disposition zu stellen, insofern Literatur stets ein Wissen um die Grenzen der Gültigkeit von Wissensbeständen in einer gegebenen Kultur oder Gesellschaft enthält. Und dieses Wissen der Literatur schließt stets ein Wissen über die Grenzen und Gültigkeiten des in der Literatur selbst verdichteten Lebens- und Zusammenlebenswissens mit ein. Ein solches mit den Mitteln der Literatur experimentell erworbenes Wissen ist auch und gerade in seiner Vieldeutigkeit und Offenheit in der gegenwärtigen Globalisierungsphase von unschätzbarem Wert. Wolfgang Asholt Ottmar Ette (Hrsg.) Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft Programm - Projekte - Perspektiven edition lendemains, Band 20 2010, 290 Seiten, € [D] 58,00/ SFr 98,00 ISBN 978-3-8233-6540-2 Hans Manfred Bock Topographie deutscher Kulturvertretung im Paris des 20. Jahrhunderts edition lendemains, Band 18 2010, 400 Seiten, €[D] 68,00/ SFr 96,90 ISBN 978-3-8233-6551-8 An welchen Orten und mit welchen Motiven, Absichten und Ergebnissen traten deutsche Kulturrepräsentanten im 20. Jahrhundert in Paris in die mehr als episodische, strukturierte Interaktion mit Vertretern der französischen Kultur und Gesellschaft ein? Bedingt durch die internationalen und bilateralen Machtkonstellationen entstanden symbolische Begegnungsorte, in deren Aktivitäten in der Regel außenkulturpolitischer Gestaltungswille und zivilgesellschaftliche Initiativen zusammenwirkten mit dem Ziel der Repräsentation, der Penetration oder der Mediation. Hans Manfred Bock, ausgewiesener Kenner der Materie, stellt erstmals in markanten Fallbeispielen die Entstehung, Entwicklung und Funktion deutsch-französischer Begegnungsorte in Paris vom Ende des Ersten Weltkrieges bis in die Gegenwart dar. Deren Spektrum reicht vom Carnegie-Haus und dem Sitz der Union pour la vérité bis zur Vertretung im Internationalen Institut für geistige Zusammenarbeit und dem Institut d’Etudes germaniques, vom Deutschen Haus in der Cité Universitaire und der Außenstelle des DAAD bis zu den Ursprüngen des DFJW in den Pariser Verständigungsorganisationen der Nachkriegsjahre und zur Gründung des Institut d’Allemand d’Asnières. Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@narr.de • www.narr.de NEUERSCHEINUNG AUGUST 2010 JETZT BESTELLEN! JE