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Zentren und Peripherien - Deutsch und seine interkulturellen Beziehungen in Mitteleuropa

2017
978-3-8233-9075-6
Gunter Narr Verlag 
Csaba Földes

Der Band legt ausgewählte Beiträge vor, die auf dem IV. Kongress des Mitteleuropäischen Germanistenverbandes (MGV) in Erfurt gehalten wurden. Inhaltlich verbunden sind die Beiträge durch das Faktum, dass es neben Deutschland, Österreich und der Schweiz mehrere "Zentren" in Mitteleuropa gibt, in denen die Sprache Deutsch gesprochen wird und/oder reiche deutschsprachige kulturelle Traditionen bestehen. Diese Zentren - im wörtlichen Sinne als Mittelpunkte betrachtet - können somit auch deutschsprachige Kultur- bzw. Traditionsräume oder Sprachinseln bezeichnen. Außerhalb der Zentren befindet sich die jeweilige Peripherie, welcher nur zu häufig eine Randstellung zugesprochen wird. Diese Peripherien stellen aber wichtige Konnexe dar, sie verbinden verschiedene Zentren und stellen so auch Beziehungen zwischen den einzelnen Sprachen Mitteleuropas her. Die deutsche Sprache hat sich dabei im Zentrum Europas in der diachronen wie auch synchronen sprachwissenschaftlichen Betrachtung als Mittlerin zwischen den Kulturen erwiesen. Aber auch weitere Subdisziplinen der Germanistik, wie die Literaturwissenschaft und die Deutschdidaktik, erweitern ihr Portfolio zunehmend um interkulturelle Perspektiven. Der Band bietet zum einen eine Bestandsaufnahme der interkulturell orientierten Germanistik mit Bezug auf Mitteleuropa, zum anderen diskutiert er deren weiterführende Forschungsansätze.

Beiträge zur Interkulturellen Germanistik Herausgegeben von Csaba Földes Band 7 Csaba Földes (Hrsg.) Zentren und Peripherien - Deutsch und seine interkulturellen Beziehungen in Mitteleuropa Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk ist einschließlich aller seiner Teile urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Druck: Universitätsdruckerei der Pannonischen Universität Veszprém Arbeitsnummer: 2016/ 131 Printed in Hungary ISSN: 2190-3425 ISBN: 978-3-8233-9075-6 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Georg Anker | Pannonien - „Deutsch-Westungarn“ - Burgenland. Sprache und Interkulturalität am Südostrand des deutschen Sprachgebietes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Sigita Barniškienė | Nidden als Beschreibungsort in den Aufsätzen von Thomas Mann, Hans Reisiger und Wilhelm Girnus . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Ákos Bitter | Die besondere Rolle des Deutschen in Mitteleuropa als Grundlage für Profilelemente der Didaktik Deutsch als Fremdsprache . 29 Enikő Dácz | Darstellung interethnischer Beziehungen im kulturellen Bereich in siebenbürgischen Zeitungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Julia Genz | „Il wullte bien, mais il ne puffte pas“ - von der Polyglossie zur Polyphonie in Roger Manderscheids Roman „Der sechste Himmel“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Detlef Haberland | Zwischen Heimat und „Heimat“ - zur Fantastik des Schriftstellers Leo Perutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Sigrid Haldenwang | Zum Scheinpartizip (Pseudopartizip, Zirkumfixderivat, Zirkumfixbildung) im Siebenbürgisch-Sächsischen . . . . . 83 Rudolf Helmstetter | Heimat, Diaspora, Exil. Das Elsass und die Elsässer Mundart in der Literatur von Claude Vigée . . . 99 Jürgen Joachimsthaler | Literatur(en) im Identitätsk(r)ampf. Überlegungen zu einer jeden weiteren Literaturgeschichte Mitteleuropas . 127 VI Inhalt Ljudmila Juškova | Germanistik in Udmurtien im Kontext der russischen Germanistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Elisabeth Knipf-Komlósi | Die Minderheitensprache - ein Zusammenspiel dynamischer Prozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Annikki Koskensalo | Eine aktuelle Bestandsaufnahme der Geschichte des Landlerischen - Sprachtod oder Weiterbestehen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Kálman Kovács | „Niklas Zrini oder die Belagerung von Sigeth“ - Gedächtniskämpfe und historische Narrative im zentraleuropäischen Kulturraum um 1800 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Daniela Pelka | Anthroponyme in den deutschen Straßennamen von Oppeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Eszter Propszt | Die Peripherie zum Zentrum erzählt - zur intermedialen Narrativität von Zsuzsa Bánks „Die hellen Tage“ . . . . . . . 219 Rolf Selbmann | Der verhängnisvolle Schlüssel. Ein Gespenst geht um in Europa(s Deutschunterricht) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Gesa Singer | Nicht-Peripherie: Ansätze interkultureller Germanistik in Griechenland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Mari Tarvas | Literatur der Aufklärung in den Tallinner Bibliotheken des 18. Jahrhunderts - am Beispiel der Nachlassinventare von Lehrern . . . . 261 Simon Wirthensohn | An der internen Peripherie: Das späte Jesuitentheater zwischen Latein und Volkssprache . . . . . . . . . . . . 277 Gëzim Xhaferri/ Ferit Rustemi | Zur aktuellen Situation der deutschen Sprache und der Germanistik im albanischsprachigen Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 Herausgeber und Beiträger(innen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 Vorwort Der Mitteleuropäische Germanistenverband (MGV) hat vom 10.-12.04.2014 seinen 4. Kongress mit dem Titel „Zentren und Peripherien - Deutsch und seine interkulturellen Beziehungen in Mitteleuropa“ an der Universität Erfurt veranstaltet. Ausgerichtet wurde der Kongress vom Präsidenten des MGV, Prof. Dr. Dr. Csaba Földes, und seinem Lehrstuhl für Germanistische Sprachwissenschaft. Die Veranstaltung stand unter der Schirmherrschaft von Frau Christine Lieberknecht, Ministerpräsidentin des Freistaates Thüringen. Eingeladen wurden, wie auch schon bei den letzten drei Kongressen in Dresden (2003), Olmütz (2007) und Wien (2010), Germanistinnen und Germanisten aus vielen Regionen Mitteleuropas, aber auch darüber hinaus, die sich mit der Sprache und der Kultur des mitteleuropäischen Raums beschäftigen. Nach dem Grundkonzept der Veranstalter sollte sich der Kongress - dem Selbstverständnis des MGV als interkultureller und grenzüberschreitender Verband entsprechend - nicht nur mit den „Zentren“ der deutschen Sprache und Kultur auseinandersetzen, sondern auch mit den „Peripherien“, welche die harten Sprachgrenzen relativieren und Wechselbeziehungen zwischen diesen ermöglichen. Neben Deutschland, Österreich und der Schweiz gibt es doch mehrere „Zentren“ in Mitteleuropa, in denen Varietäten der Sprache Deutsch gesprochen werden und/ oder reiche deutschsprachige kulturelle Traditionen bestehen. Diese Zentren - im wörtlichen Sinne als Mittelpunkte betrachtet - können somit auch als Sprachinseln oder deutschsprachige Kulturbzw. Traditionsräume bezeichnet werden. Außerhalb der Zentren befindet sich die jeweilige Peripherie, welcher nur zu häufig eine Randstellung zugesprochen wird. Die sogenannten Peripherien sind aber wichtige Konnexe, da sie verschiedene Zentren verbinden und so auch Beziehungen zwischen den einzelnen Sprachen Mitteleuropas herstellen. Die deutsche Sprache, als Sprache im Zentrum Europas, hat sich aus Sicht sowohl der diachronen als auch der synchronen Sprachwissenschaft als Mittlerin zwischen den Kulturen erwiesen. Von Bedeutung ist dabei vor allem die spezifische Dynamik, die vom Spannungsverhältnis zwischen Zentrum und Peripherie ausgeht, wobei Strukturen und Normen von „Zentralität“ von den Peripherien (den „Rändern“) her relativiert bzw. unter Umständen re-interpretiert werden können. VIII Vorwort Nicht nur die Linguistik, sondern auch weitere Bereiche der Germanistik, wie die Literaturwissenschaft und die Fachdidaktik Deutsch bzw. Deutsch als Fremdsprache, erweitern in letzter Zeit ihre Forschungsthemen zunehmend um eine interkulturelle Perspektive. Der 4. Kongress des MGV hatte u.a. das Ziel, eine Bestandsaufnahme der interkulturell orientierten Germanistik mit Bezug auf Mitteleuropa zu bieten, aber auch neue einschlägige Forschungsansätze zur Sprache zu bringen und zu diskutieren. Folglich war der Bogen der Vorträge über die Linguistik hinaus viel weiter gespannt. ‚Deutsch‘ ist bei weitem nicht nur ein sprachliches Phänomen, sondern konnotiert alle historischen, politischen, kulturellen und künstlerischen Zusammenhänge, die in einem politisch-geographischen Raum situiert sind (oder waren), in dem die Ereignisse des 20. Jahrhunderts das gewachsene, aber keineswegs immer spannungsfreie Verhältnis von Deutschen im Kontext der baltischen, slawischen, ungarischen und anderen Kulturen noch weiter zerrütteten. So thematisieren die meisten Beiträge das sich als Kulturraum und als (Groß-)Region begreifbare Mitteleuropa im Hinblick auf seine (kultur-)historischen und sprachlichen Kommunikationsformen sowie Wandlungen, Wechselbzw. Transferbeziehungen, Identitätsprägungen, aber auch Konflikte und Kontroversen. Letztlich geht es darum, Mitteleuropa in gesamteuropäischen und globalen Zusammenhängen aus germanistischer Sicht zu (re-)perspektivieren. In diesem Sinne gab es Vorträge interkulturell und mitteleuropabezogen arbeitender Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu folgenden großen disziplinären Themenkomplexen: - Sprache und Interkulturalität, - Literatur und Interkulturalität, - Lernen, Studieren, Lehren und Forschen im In- und Ausland, - Kulturwissenschaftliche Forschung. Insofern ist es eine genuine Aufgabe des MGV, immer wieder die Frage danach zu stellen, in welcher Weise sich ‚das Deutsche‘ in (Ost-)Mitteleuropa präsentiert und welche Ausformungen es in Sprache und Literatur im Laufe der Jahrhunderte bis heute erfährt. Der vorliegende Band „Zentren und Peripherien - Deutsch und seine interkulturelle Beziehungen in Mitteleuropa“ umfasst einen Teil der thematisch eng an das Generalthema des Kongresses knüpfenden Beiträge. Für die kompetente und vielseitige Unterstützung bei der Realisierung des Kongresses und beim Zustandekommen dieses Bandes danke ich meinem Lehrstuhlteam herzlich, insbesondere Herrn Dr. des. Ronny Schulz (Tagungssekretariat) und Frau Dr. Elke Galgon (Lektorierung und Redaktion). Vorwort IX Die anderen Kongressvorträge, die zur Publikation vorgelegt worden sind, werden in folgenden Bänden veröffentlicht: - Földes, Csaba (Hrsg.): Interkulturelle Linguistik als Forschungsorientierung in der mitteleuropäischen Germanistik. Tübingen: Gunter Narr Verlag 2017 (Beiträge zur Interkulturellen Germanistik; 8). - Földes, Csaba/ Haberland, Detlef (Hrsg.): Nahe Ferne - ferne Nähe. Zentrum und Peripherie in deutschsprachiger Literatur, Kunst und Philosophie. Tübingen: Gunter Narr Verlag 2017 (Beiträge zur Interkulturellen Germanistik; 9). - Földes, Csaba (Hrsg.): Themenfelder, Erkenntnisinteressen und Perspektiven in der Germanistik in Mitteleuropa. Tübingen: Gunter Narr Verlag 2017 (Beiträge zur Interkulturellen Germanistik; 10). Mögen sich diese Publikationen als eine wertvolle Bereicherung für die Reihe „Beiträge zur Interkulturellen Germanistik“ erweisen und die akademische Zusammenarbeit vor allem in mitteleuropäischen Wissenschaftskontexten, aber auch in größerem Rahmen, befruchten. Erfurt, im Herbst 2016 Csaba Földes Pannonien - „Deutsch-Westungarn“ - Burgenland. Sprache und Interkulturalität am Südostrand des deutschen Sprachgebietes Georg Anker (Kramsach/ Innsbruck) Zusammenfassung Die Lage am Ostrand der Alpen und an der Kleinen Ungarischen Tiefebene weist Pannonien auch geografisch als Grenzland aus. In dem nachfolgend beschriebenen Bereich Pannoniens, dem ehemaligen Deutsch-Westungarn, folgte nach der Landnahme der Magyaren überwiegend die Zuwanderung von Deutschen aus dem süddeutschen Raum, später vor allem von Kroaten, aber auch Roma und Juden. Dieser Beitrag gilt einer Region, in der das Zusammenleben mehrerer Ethnien für Jahrhunderte sowohl räumlich als auch kulturell und sprachlich normal war. Durch die Grenzziehungen nach dem Ersten Weltkrieg wurden völlig neue Umstände geschaffen. Dadurch wurden die Minderheiten gespalten oder es entstanden neue, wie die Burgenlandungarn im österreichischen Burgenland. Dass die einzelnen Dörfer deutlich autark waren und keineswegs alle Dörfer zusammen eine Einheit bildeten, wie im Falle der Burgenlandkroaten, soll eine Analyse der Familiennamen zeigen. Dazu habe ich eine Sammlung von rund 30.000 Inschriften von Grabsteinen in den Dörfern der Burgenlandkroaten und der Burgenlandungarn angelegt, die ich selbst fotografiert habe 1 , anhand derer diese Unterschiedlichkeiten aufgezeigt werden sollen. Auch der Nachweis des Zusammenhaltes dieser Dörfer ist dadurch möglich. Beispielhaft soll im vorliegenden Beitrag diese Geschlossenheit der „Sprachinseln“ durch die Darstellung der Namenverhältnisse in den beiden Gebieten rund um Oberwart und im Gegensatz dazu in Oberpullendorf für die ungarische Minderheit unter Punkt 4 deutlich gemacht werden. Das Ziel weiterer Forschungen besteht darin, für alle Gebiete der Minderheiten im Raum der drei Staaten Österreich, Ungarn und Slowakei diese Geschlossenheit anhand von in Grabinschriften vorkommenden Familiennamen nachzuweisen. 1 Grabsteine als „Datenträger“ in der Onomastik Grabsteine bieten eine Fülle von Informationen. Hier stehen Familiennamen und Vornamen, die meistens auch auf die Zugehörigkeit zu einer Volksgruppe hinweisen. Bei Frauen erfährt man oft den Geburtsnamen und manchmal auch die Herkunft. Im Ungarischen sind diese Einträge allerdings oft erheblich kom- 1 September 2011 bis April 2013 sowie Oktober 2013 und Oktober 2014 Hrvatsi Grob, Slowakei. 2 Georg Anker plizierter. Hier stellen Angaben zu Frauen das größte Problem dar, zum Beispiel: ‒ Tuczai család - Gizella, Helene, János (Familie Tuczai, die Geburts-Familiennamen der beiden Frauen fehlen) ‒ Miklós Béláné szül. Müllner Lucia (die Ehefrau des Miklós Bélá, geb. Müllner Lucia) ‒ Kumánovich Jánosné (die Frau des Kumánovich János - ohne Geburts-Familiennamen und ohne Vornamen) ‒ Vlasich Jakab neje Jambrich Ágnes (Vlasich Jakab - und seine - Ehefrau Vlasich Ágnes geb. Jambrich) Grabtafeln tragen Daten wie das Jahr der Geburt und das Todesjahr; so können die einzelnen Personen auch zeitlich eingeordnet werden. Der älteste Eintrag betrifft Laáb Gáspár, 1747-1834 in Bezenye/ Bizonja nahe der ungarischslowakischen Grenze. Manchmal erfährt man die Todesursache. Angaben wie Hier ruht/ Ovdje počiva/ Itt nyugszik oder Familie/ obítelj/ család lassen es zu, die Grabinschriften einer Sprache zuzuordnen. Die Tafeln unterscheiden sich auch in weiteren oft wichtigen Merkmalen. Das Vorhaben, alle Grabsteine mit rund 70.000 Namen in Tabellen vergleichbar zu machen, bereitet somit große Probleme. 2 2 Historische Betrachtungen 2.1 Besiedelung Die erste Einwanderung von Deutschen erfolgte um das Jahr 1000, zur Zeit der Gründung des Königreiches Ungarn durch Stephan I., als Herzogin Gisela von Bayern Königin von Ungarn geworden war. Zur größten Einwanderungswelle deutscher Siedler ins ungarische Tiefland kam es jedoch erst nach der Osmanenherrschaft zwischen 1700 und 1750. Die Burgenland-Kroaten/ Gradišćanski Hrvati waren ab 1526, zum Teil aus wirtschaftlichen Gründen, in die oben genannten Regionen gekommen, teils auf der Flucht vor den Heeren der Osmanen, teils wurden sie von den Grafen Batthyány, Erdődy und weiteren aus dem heutigen Kroatien und aus Teilen 2 Die Grabsteine sind zwar voll ausgezählt, nicht aber die Anzahl der Namen. Bei dem angegebenen Wert handelt es sich um eine Hochrechnung. Pannonien - „Deutsch Westungarn“ - Burgenland 3 Nordbosniens geholt. Angeblich waren es bis zu 100.000; die Angaben darüber schwanken sehr stark. Schon ab dem 7. Jahrhundert haben sich Slawen im späteren Vendvidék, im Gebiet von Szentgotthárd/ Monošter und südlich davon niedergelassen, die Prekmurjer. Die Burgenland-Ungarn in den Bezirken Oberpullendorf und Oberwart sind erst durch die Abtrennung des heutigen österreichischen Bundeslandes Burgenland von Ungarn als Folge des Ersten Weltkrieges zur Minderheit geworden. Über die Burgenland-Roma, die nicht über eigene Orte oder gar über eine eigene Region verfügen, zu berichten, ist zurzeit noch nicht möglich. An einer Einbindung in das Gesamtthema „Pannonien“ wird bereits gearbeitet. Die slowakische Minderheit und die in ihrer Besonderheit verschwundene jüdische Kultur können hier nicht näher besprochen werden. 2.2 Die Grenzziehungen 1920 bis 1922 Ungarn verlor als Ergebnis des Ersten Weltkrieges zwei Drittel seines Hoheitsgebietes u.a. an Rumänien, an die heutige Slowakei und zugleich an Österreich. Das österreichische Bundesland Burgenland erhielt seinen Namen nach den drei Städten Wieselburg/ Moson, Ödenburg/ Sopron und Eisenburg/ Vasvar, die allesamt im heutigen Ungarn und also nicht in Österreich liegen. Einen noch härteren Schnitt brachte der Eiserne Vorhang mit sich, ein Ergebnis auch des Zweiten Weltkrieges. Die Dörfer und Städte mit jahrhundertelangen Gemeinsamkeiten oder zumindest in friedlicher Nachbarschaft zueinander wurden jäh auseinandergerissen. Bei den Burgenland-Kroaten bedeutete das: Aufsplittungen der 84 Dörfer und ein Sich-auseinander-Entwickeln. Nach dem Fall des Eisernen Vorhanges und des später nachfolgenden Beitritts zur Europäischen Union war und ist dieser Prozess nur schwer bzw. kaum umkehrbar. Für die Burgenland-Ungarn bedeutete dies eine Abtrennung vom Mutterland. Die Entwicklung hat gezeigt, dass dieses Abschneiden auch eine weitgehende Loslösung von Ungarn ergeben hat. Eingebettet in die mehrheitlich deutsch- und auch kroatischsprachigen Ortschaften, nehmen sie eine eigenständige Entwicklung, auch ohne starke Bindung zueinander. 4 Georg Anker 3 Von den Burgenland-Kroaten Meine Beschäftigung mit Pannonien hat mit den Burgenland-Kroaten begonnen. Dabei ist zu beachten, dass als Burgenland-Kroaten, kroatisch Gradišćanski Hrvati, die gesamte kroatische Minderheit bezeichnet wird, die im 16. Jahrhundert nach Pannonien bzw. Deutsch-Westungarn eingewandert ist, also auch die im heutigen Ungarn und in der Slowakei ansässige. Es handelt sich dabei um 84 Orte, die als burgenland-kroatisch eingestuft wurden, aufgeteilt in acht Dialektzonen. Um die einzelnen Volksgruppen, die mit der Bezeichnung Burgenland verbunden sind, beim Lesen besser unterscheiden zu können, habe ich die Benennungen Burgenland-Kroaten, Burgenland-Ungarn und Burgenland-Roma gewählt. Die Bezeichnung Burgenland-Deutsche gibt es naturgemäß nicht. 3.1 Woher kommen die Namen der Kroaten? Die Namen lassen sich u.a. einteilen nach von Vornamen hergeleiteten Namen, nach von der Herkunft der Umsiedler hergeleiteten Namen und nach von Berufen hergeleiteten Namen. Auch die unterschiedlichen Schreibweisen sind dabei zu beachten. 3 Der Verschriftlichung der kroatischen Namen liegt das Ungarische der damaligen Zeit zu Grunde: <ts>, <ch>, <cs> und weitere für kroatisch <ć>, <s> für kroatisch <š>. So kommt es auch zur unterschiedlichen Schreibung gleicher Namen. Allerdings überwiegt die Schreibweise <ts>. In letzter Zeit identifizieren sich manche gern mit der modernen standardkroatischen Orthographie und verwenden dann die Buchstaben <š>, <č>, <ć>, <đ> (im Burgenland-Kroatischen eigentlich nicht vorhanden) und <ž>. ‒ Familiennamen, von Vornamen hergeleitet: Jurina, Jurenich, Juraszovich, Vinkovits, Jurinkovits, Markovich, Markovits, Gregorich, Gregorič ‒ Familiennamen, von der Herkunft abgeleitet: Horváth, Horvatits, Horvatics, Buzetski, Rajkovac, Rajkovatz, Rajkovacz, Tallian (den Namen findet man in der Vlahija; er deutet somit auf die ursprünglich romanische Herkunft der Vlahen hin), Czucz, Jugovits, Srba, Belohradsky, 3 Beispiele für unterschiedliche Schreibweisen: Sinkovich, Šinkovits, Heršich, Vlasich, Ivantčits, Jandrisits, Wukits, Kassanits; Schostarits, Schostarich, Schosztarich, Sostarich, Sosztarich, Šostarich, Šostarić. In Kleinwarasdorf findet sich mehrfach der Name Schreiber, aber auch zusammen mit Šostarich und Šreiber, als Bekenntnis zur Volksgruppe der Burgenland-Kroaten. Pannonien - „Deutsch Westungarn“ - Burgenland 5 Krich, Gritsch, Polyak, Nemeth, Deutsch, Vindisch, (Jive) Hafner 4 , (Lovre) Szalay 5 , Hodosi, Wlasits, Wlaschich, Vlaschitz, Vlašić ‒ Familiennamen, von Berufen abgeleitet: Zvonarich, Swonar, Ribarits, Ribarics, Szoldatits, Puskarits, Ratasich, Vojnesich, Zidar, Siderits, Molnár, Krajcsics, Mramor, Schostarich, (Obítelj) Schuster 6 , Šostarich, Šreiber, Csizmadia Als ein Beleg werden dabei Namen mit einer annähernd oder genau gleichen Bedeutung betrachtet, die aus teilweise unterschiedlichen Sprachen stammen, z.B. Szoldatits, Puskarits, Ratasich, Vojnesich. 3.2 Die Dialektzonen der Burgenland-Kroaten Die Burgenland-Kroaten können nach acht Dialektzonen unterteilt werden, von Nord nach Süd: Haci (A, SK, HU), Poljanci (A, HU), Kajkaver (A, HU), Dolinji (A, HU), das I-/ Ekavische von Weingraben (nur 1 Ort, A), Vlahi (A), Štoji (A, HU) und die Čakaver des südlichen Burgenlandes. In den letzten Jahren wurde versucht, die einzelnen Dialekte in Wörterbüchern zusammenfassen, was ohne Normierung nicht möglich war. Dabei hat man sich für die unter den einzelnen Dialekten stark vertretene čakavische Variante entschieden. Die bereits erwähnten Fotos von Grabsteinen sind in zwei Stufen entstanden. In den Jahren von 2008 bis 2010 habe ich auf sämtlichen Friedhöfen der Kroatenorte versucht, alle Grabsteine mit kroatischem Bezug zu erfassen. Diese habe ich 2011 beim Onomastischen Symposium in Kals am Großglockner vorgelegt. Als mir bewusst wurde, dass diese Methode, nur Grabsteine mit kroatischen Namen für die Statistiken zu verwenden, nicht ausreichend zielführend sein konnte, begann ich im September 2011 die Grabsteine sämtlicher Orte der Burgenland-Kroaten und der Burgenland-Ungarn sowie eines Ortes der Prekmurjer und zweier Orte der deutschen Minderheit in Ungarn zu fotografieren - diesmal ohne Einschränkung; das heißt, dass alle Grabsteine, unabhängig von der staatlichen Zugehörigkeit der Orte, erfasst wurden. 4 Jive ist ein kroatischer Vorname, Hafner ein deutscher Familienname; durch den Vornamen wird die Person als kroatisch eingestuft. 5 Lovre ist ein kroatischer Vorname, Szalay ein ungarischer Familienname; durch den Vornamen wird die Person als kroatisch eingestuft. 6 Schuster ist ein deutscher Familienname, die Bezeichnung obítelj für Familie ist kroatisch; durch das Wort obítelj wird die Person als kroatisch eingestuft (Vgl. auch mit dem Namen Schostarich unter Fußnote 3). 6 Georg Anker Die 2011 vorgelegten Listen von rund 12.000 Grabsteinen sind geordnet nach 7 : ‒ Gesamtliste aller bis 2011 erfassten Namen, nach Orten sortiert ‒ Gesamtliste aller bis 2011 erfassten Namen, alphabetisch sortiert, Dialektzonen und Orte farbig markiert ‒ Gesamtliste aller bis 2011 erfassten Namen, nach Dialektzonen sortiert, mit Verteilung der Namen in den einzelnen Dialektzonen Die Einteilung nach Dialektzonen entspricht nur eingeschränkt den Gegebenheiten. Die einzelnen Dörfer waren in der Vergangenheit, also bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges, meist in sich weitgehend abgeschlossene Arbeitsgemeinschaften, in denen nur die Gutsherren, Verwalter und Aufseher oder Fuhrleute das Territorium des Dorfes verließen. Deshalb galt mein Interesse auch der Frage, inwieweit Ehen noch immer innerhalb der Dialektgruppe bzw. der Dorfgemeinschaft geschlossen werden und in welchem Ausmaß dies auch gruppenbzw. dorfübergreifend stattfindet. Es ist also anhand der vorhandenen Namenlisten nur zu prüfen, inwieweit der jeweilige Name ausschließlich in einer Gruppe verbleibt, noch in einer weiteren zu finden ist oder in zweien oder mehreren. Diese Arbeitsweise macht es möglich, in Zahlen festzustellen, inwieweit die Familien „im Dorf geblieben“ sind bzw. inwieweit sich die verschiedenen Mundartgruppen untereinander vermischt haben. Das soll in der nachfolgenden Aufstellung gezeigt werden, und zwar zunächst nach der Anzahl der Grabsteine in folgender Darstellung 8 : Gruppe: Anzahl der Grabsteine - Name nur in der Gruppe - Name in der Gruppe plus in einer weiteren - Name in der Gruppe plus in zwei oder mehreren: ‒ Haci: 776 - 58,25 % - 20,36 % - 21,39 % ‒ Poljanci: 995 - 56,68 % - 23,82 % - 19,50 % ‒ Kajkaver: 168 - 25,59 % - 5,95 % - 6 68,45 % ‒ Dolinji: 1831 - 35,94 % - 32,39 % - 31,68 % ‒ Weingraben: 49 - 61,22 % - 4,08 % - 34,69 % ‒ Vlahi: 391 - 20,72 % - 25,83 % - 53,45 % ‒ Štoji: 871 - 34,90 % - 37,77 % - 27,32 % ‒ Čakaver: 720 - 56,11 % - 28,61 % - 15,28 % 7 Da diese Listen anhand der Fotos der ersten Staffel erstellt worden waren, erschienen sie mir zwar ausreichend repräsentativ, aber noch zu ungenau. Deshalb wurden die 2011er-Listen nicht genutzt. Neue Listen, auf der Grundlage der zweiten, kompletten Staffel, sind zurzeit in Arbeit. 8 Errechnung aus 5801 Grabsteinen. Pannonien - „Deutsch Westungarn“ - Burgenland 7 Darstellung nach Anzahl der verschiedenen Namen 9 : ‒ Haci: 301 - 62,80 % - 18,60 % - 18,60 % ‒ Poljanci: 501 - 57,49 % - 24,95 % - 17,56 % ‒ Kajkaver: 35 - 42,86 % - 14,28 % - 42,86 % ‒ Dolinji: 541 - 42,33 % - 32,9 % - 24,77 % ‒ Weingraben: 19 - 63,16 % - 5,26 % - 31,58 % ‒ Vlahi: 104 - 19,23 % - 35,58 % - 45,19 % ‒ Štoji: 195 - 41,02 % - 30,26 % - 28,72 % ‒ Čakaver: 213 - 52,58 % - 29,11 % - 18,31 % Als Ergebnis ist feststellbar, dass die größeren Dialektzonen der Haci, Poljanci und Čakaver, die an die 60 % heranreichen, gern in ihrer eigenen Zone geblieben sind. Die 61,22 % bzw. 63,16 % für Weingraben deuten darauf hin, dass die Leute überwiegend innerhalb des Dorfes geheiratet haben. Die Dörfer der Vlahia sind teilweise so klein, dass einem Großteil nur das Ausweichen in andere Dörfer blieb. 4 Von den Burgenland-Ungarn 4.1 Das ungarische System der „Warten“ und „Schützen“ Über Jahrhunderte gab es entlang des heutigen Burgenlandes Grenzwächtersiedlungen, in denen die „Grenzbeobachter“ und die „Grenzschützer“ lebten. Dazu gehört ebenso das Gebiet des Őrség im heutigen Ungarn. Die Ortsnamen mit der Konstituente -wart - wie Oberwart, Unterwart, Siget in der Wart - weisen noch auf die Siedlungsräume der „Grenzwarte“ hin, während Ortsnamen wie Oberschützen, Unterschützen oder Deutsch Schützen jenen Raum markieren, in denen die damaligen „Grenzschützer“ lebten. Der Gyepű war ein Grenzschutzsystem der Ungarn im Mittelalter. Er bestand vom 10. Jahrhundert, also beinahe seit der Honfoglalás, der Landnahme, bis Mitte des 13. Jahrhunderts. Zsótér (2014) schreibt dazu: Im Laufe der Geschichte wurde die Grenze zu Österreich und mit ihr der Status des Grenzwächtertums für das ungarische Imperium mehr und mehr bedeutungslos - bewusst wurde ein bevölkerungsleerer Streifen eingerichtet, ungarisch 9 Errechnung aus 1909 Namen. 8 Georg Anker gyepű. 10 Später wurden diese unbewohnten Gebiete allmählich vor allem mit Deutschen und nachfolgend auch mit Juden, Kroaten und Roma besiedelt . Im Jahre 1327 wurde Oberwart als Grenzwächtersiedlung des ungarischen Gyepű-Systems erstmals urkundlich erwähnt: Die Warten (deutsch, ungarisch, kroatisch, romani): ‒ Oberwart, Felsőőr, Gornja Borta, Erba ‒ Unterwart, Alsóőr, Doljna Borta ‒ Siget in der Wart, Őrisziget Gyepű (deutsch, ungarisch, kroatisch): ‒ Oberschützen, Felsőlövő, Gornje Šice ‒ Unterschützen, Alsólö(vő), Dolnje Šice ‒ Deutsch Schützen, Németlövő, Livio ‒ Kroatisch Schützen, Horvátlövő, Hrvatske Šice 4.2 Die zwei Sprachinseln der Burgenland-Ungarn im österreichischen Burgenland Die Orte Oberschützen, Unterschützen und Deutsch-Schützen haben ihren ungarischen Charakter, trotz ihres Zweckes als Basen des ungarischen Schützensystems, nicht bewahren können. Durch die Grenzziehungen nach dem Ersten Weltkrieg ist nur Kroatisch Schützen, das auf der ungarischen Seite liegt, deutlich magyarisiert, auch wenn es als Kroatendorf gilt. Es war für Pannonien bis zum Ende des Ersten Weltkriegs typisch, dass die einzelnen Orte sprachlich unabhängig waren. Gemeinden wie die vier „Schützen“ konnten sich also frei in jede Richtung hin entwickeln. Ein Blick in die Dialektkarten beweist das: Oberpullendorf mit dem (inzwischen) Ortsteil Mitterpullendorf ist ungarisch. Die nächsten Orte, Unterpullendorf, Langental, Groß- und Kleinmutschen und Frankenau u.a., sind kroatisch, Stoob ist deutsch. Ebenso sind die Orte Oberwart, Unterwart, Siget in der Wart und Jabing eingebettet in deutsche und kroatische (vlahische) Ortschaften. Die beiden Sprachinseln Oberpullendorf mit Mitterpullendorf sowie die Orte in der Wart unterscheiden sich grundlegend in ihrem Aufbau und ihrer Stabilität. Als markantes Beispiel sind die fünf Friedhöfe der Achttausend-Einwohner-Gemeinde Oberwart zu nennen: 10 Das ungarische Wort gyepű stammt vom türkischen Wort yapı (deutsch: Palisade) ab. Pannonien - „Deutsch Westungarn“ - Burgenland 9 ‒ der katholische Friedhof (überwiegend Kroaten und Deutsche 11 ) ‒ der evangelische Friedhof AB 12 (überwiegend Deutsche) ‒ der reformierte Friedhof HB (überwiegend Ungarn) ‒ der jüdische Friedhof ‒ der Gemeindefriedhof Wie die Ausstellung 2013 im Stadtpark von Oberwart gezeigt hat, wird zudem der ermordeten Roma mit dem Roma-Denkmal sowie der Leidtragenden der beiden Weltkriege mit dem Kriegerdenkmal und dem „Russenfriedhof“ gedacht. Hier soll das Augenmerk vor allem auf die ungarischen Bewohner gelenkt werden. So ergibt sich für Oberwart das Bild, dass der ungarische Teil der Bevölkerung Oberwarts sich zwar über die ganze Stadt verteilt, jedoch deutlich verstärkt im nord-östlichen Teil nachweisbar ist. 4.3 Die Religionszugehörigkeit der Burgenland-Ungarn Die Angehörigen der ungarischen Ethnie im heutigen österreichischen Bundesland Burgenland gehören seit Jahrhunderten nicht nur ungleichen sozialen Schichten an, sondern genauso verschiedenen Religionsgemeinschaften. Das bewirkt, dass die „ungarischen Orte“ im Burgenland auch heute untereinander wenig Kontakte pflegen: ‒ Oberpullendorf: katholisch ‒ Mitterpullendorf: katholisch ‒ Oberwart: katholisch, reformiert HB, evangelisch AB ‒ Unterwart: katholisch ‒ Siget in der Wart: evangelisch AB, zusammen mit einer Minorität an Katholiken Zsótér (2014) verweist auch auf die Bedeutung der Bezeichnung sziget, das ungarische Wort für Insel. Genau wie eine Insel liegt Őrisziget zwischen den Dörfern anderer Glaubensrichtungen bzw. Sprachgemeinschaften. ‒ Jabing (geringer Ungarnanteil): evangelisch AB; kirchlich betreut von Siget in der Wart 11 „Deutsche“ bedeutet im Burgenland ‚Österreicher mit deutscher Muttersprache‘. 12 Die Bezeichnungen der Religionszugehörigkeit wurden von den Hinweistafeln in Oberwart übernommen. Dabei steht „HB“ für „Helvetisches Bekenntnis“ und „AB“ für „Augsburger Bekenntnis“. 10 Georg Anker 4.4 Die Namenverteilung im Gebiet der Burgenland-Ungarn Alle hier vorgestellten Namen - es handelt sich um eine repräsentative Auswahl - stammen aus meiner kompletten Fotosammlung aller Grabsteine in allen Orten, die als burgenländisch-ungarisch eingestuft sind. Jabing ist auf Grund seines geringen Anteils an Ungarn nicht enthalten. Die Schreibung der Namen entspricht jener auf den Grabsteinen. In Klammern steht der Ort bzw. Friedhof, auf dem der jeweilige Name gehäuft vorkommt 13 : ‒ Adorján: ungarisch für Adrian, von einem Vornamen abgeleitet (OW ref.) ‒ Balikó/ Balika: von einem Vornamen abgeleitet, der Name lässt lt. Zsótér eine Verwandtschaft zu den Siebenbürger Szeklern vermuten (OW ref.) ‒ Böcskör: ungarisch für Bundschuh, von einer Berufsbezeichnung abgeleitet (OW ref.) ‒ Csitkovits: burgenland-kroatischer 14 Name, Beschriftung der Grabtafeln ungarisch (MP) ‒ Farkas: ungarisch für Wolf, Name der in Pannonien ebenso in Ortsbezeichnungen häufig vorkommt (UW) ‒ Fülöp: ungarisch für Philipp, von einem Vornamen abgeleitet (OW ref.) ‒ Gálos/ Galosi: in der Regel sind Namen mit dem Suffix -i oder -y ein Hinweis auf den Ort der Herkunft einer Person (OP) ‒ Gangol/ Gangoly: in der Regel sind Namen mit dem Suffix -i oder -y ein Hinweis auf den Ort der Herkunft einer Person (OW ref.) ‒ Güli/ Gülly: in der Regel sind Namen mit dem Suffix -i oder -y ein Hinweis auf den Ort der Herkunft einer Person (SiW) ‒ Hegedűs: ungarisch für Geiger, von einer Berufsbezeichnung abgeleitet (OW ref.) ‒ Horvath/ Horwath: ungarisch für Kroate, ungarische Bezeichnung für einen Kroaten, diesen Namen verwenden Ungarn, Burgenland-Kroaten und Burgenland-Roma (UW) ‒ Imre: ungarisch für Emmerich, von einem Vornamen abgeleitet, bei den Burgenland-Ungarn zu 80 % in Oberwart/ Felsőőr, reformierter Friedhof HB; der Name lässt lt. Zsótér eine Verwandtschaft zu den Siebenbürger Szeklern vermuten (OW ref., siehe auch Imrék)) ‒ Imrék: Plural von ungarisch Emmerich, von einem Vornamen abgeleitet, bei den Burgenland-Ungarn zu 98 % in Siget in der Wart/ Őrisziget (größtenteils 13 OP = Oberpullendorf, MP = Mitterpullendorf, OW ev. = Oberwart evangelisch AB, OW kath. = Oberwart katholisch, OW ref. = Oberwart reformiert HB, SiW = Siget in der Wart, UW = Unterwart. 14 Als Burgenland-Kroatisch bezeichne ich die Sprache der Burgenland-Kroaten in Österreich, Ungarn und in der Slowakei. Als Burgenländisch-Kroatisch oder Burgenländisch-Ungarisch bezeichne ich die beiden Varianten ausschließlich im österreichischen Bundesland Burgenland (Anker 2015: 7). Pannonien - „Deutsch Westungarn“ - Burgenland 11 römisch-katholisch, sonst evangelisch AB); der Name lässt lt. Zsótér eine Verwandtschaft zu den Siebenbürger Szeklern vermuten (fast nur SiW) ‒ Istvánits: ungarischer Name mit burgenland-kroatischem Suffix, Beschriftung der Grabtafeln ungarisch (OP) ‒ Kálmán: von einem Vornamen abgeleitet; der Name lässt lt. Zsótér eine Verwandtschaft zu den Siebenbürger Szeklern vermuten (Zuordnung nicht erfasst) ‒ Karoly/ Karolya: ungarisch für König, diesen Namen verwenden Ungarn und Roma (MP, in Spitzzicken nahe Siget in der Wart stark vertreten) ‒ Lakatos: ungarisch für Schlosser, von einer Berufsbezeichnung abgeleitet, diesen Namen verwenden Ungarn und Roma (OP und MP) ‒ Maurer/ Mauerer: burgenland-deutscher Name, aber Beschriftung der Grabtafel ungarisch, von einer Berufsbezeichnung abgeleitet (fast nur OP) ‒ Miklós: ungarisch für Nikolaus, von einem Vornamen abgeleitet; der Name lässt lt. Zsótér eine Verwandtschaft zu den Siebenbürger Szeklern vermuten (OW ref.) ‒ Németh: ungarisch für der Deutsche, Hinweis auf die starke Besiedelung mit Deutschen in Pannonien bzw. Deutsch-Westungarn (OW kath. und UW) ‒ Pathy: in der Regel sind Namen mit dem Suffix -i oder -y ein Hinweis auf den Ort der Herkunft einer Person (nur SiW) ‒ Pulay: ungarisch für aus Pullendorf kommend, der Name findet sich dementsprechend nicht in Ober- und Mitterpullendorf, aber fast ausschließlich in Siget in der Wart, in der Regel sind Namen mit dem Suffix -i oder -y ein Hinweis auf den Ort der Herkunft einer Person (fast nur SiW) ‒ Ribarits/ Ribarics/ Ribaritsch: von einer Berufsbezeichnung abgeleitet, burgenland-kroatisch für Fischer, Beschriftung der Grabtafeln ungarisch (MP und OP) ‒ Seper: ungarisch für (Straßen-)Kehrer, von einer Berufsbezeichnung abgeleitet (UW) ‒ Szabó: ungarisch für Schneider, von einer Berufsbezeichnung abgeleitet (OW ref.) ‒ Tóth: ungarisch für Slawe, also Abstammung von Slawen, fallweise auch Slowake (OW ref., OW kath., MP) ‒ Tucai/ Tucsai/ Tucsay: in der Regel sind Namen mit dem Suffix -i oder -y ein Hinweis auf den Ort der Herkunft einer Person (OP) Viele der ungarischen Namen gelten auch für Burgenland-Kroaten, sodass es oft schwierig ist, Burgenland-Kroaten und Burgenland-Ungarn zu unterscheiden. Die einzelnen Schreibweisen variieren je nach Region bzw. sind gemischt, z.B. kroatisch <č> oder <ć> kann mit <ts> oder <ch> oder <cs> dargestellt werden. Ein Grabstein gilt in dieser Darstellung als ungarisch dann, wenn zusätzliche Identifikatoren vorhanden sind, wie das Suffix -ne (‚Ehefrau des‘) oder Be- 12 Georg Anker gleittext, etwa wie Béke hamvaikra! (Ruhe in Frieden! ) oder Itt nyugszik (Hier ruht), und Ähnliches, wie z.B. ein Sinnspruch in ungarischer Sprache. Zsótér (2014) nimmt an, dass die Familiennamen in Siget in der Wart, von denen zahlreiche von Taufnamen abgeleitet sind, wie Balikó, Imre, Imrék, Kálmán, Miklós, einschließlich der Ähnlichkeiten in den Dialektvarianten eine Verwandtschaft mit den Namen der Siebenbürger Szekler vermuten lassen. Interessant dabei ist, dass der Familienname Székey, also eine Bezeichnung für jemanden, der von den Siebenbürger Szeklern abstammt, auf den Friedhöfen der Burgenland-Ungarn nicht vorkommt, wohl aber auf denen der Burgenland- Kroaten. 15 5 Von den Prekmurjern (Slowenen), Deutschen und Kroaten in West-Ungarn In der besprochenen Großregion Pannonien findet man im südwestlichen Ungarn, im Vendvidék, angrenzend an das Burgenland und an Slowenien, die Prekmurjer, Slawen, die bereits im 7. Jh. zugewandert sind. 16 Das betrifft unter anderem die Orte: ‒ Felsőszölnök, Gornji Senik, Oberzemming (ungarisch, slowenisch, deutsch) ‒ Alsószölnök, Doljni Senik, Unterzemming, wo wir als Beleg für die Mehrsprachigkeit ein deutschsprachiges Kriegerdenkmal und eine dreisprachige Aufschrift (ungarisch, slowenisch, deutsch) u.a. am Kindergarten finden. ‒ Szentgotthárd, Monošter (ungarisch, slowenisch) ‒ Rábatótfalu, Slovenska ves, Windischdorf, das römische Villa Sclavorum (ungarisch, slowenisch, deutsch). Heute ist Rábatótfalu ein Ortsteil von Szentgotthárd. Abseits dieses geschlossenen Gebietes, nördlich davon, liegen Ivánc und Szőce (slowenische Gründungen, heute nur noch ungarisch). Die Beispiele lassen sich Richtung Norden fortsetzen: ‒ Rönök, Radling (ungarisch, deutsch) ‒ Szombathely, Steinamanger 17 (ungarisch, deutsch); mitten durch das ungari- 15 Die Szekler sind eine den ungarischen Szekler-Dialekt sprechende Bevölkerungsgruppe im Osten Siebenbürgens im Zentrum Rumäniens. 16 Auch die Burgenland-Roma nennen ihre Leute im Vendvidék Prekmurjer. 17 Die kroatische Bezeichnung Sambotel ist zwar auf Schildern ebenfalls zu finden. Da Szombathely keine nennenswerte kroatische Gemeinde aufweist, wird es hier nicht näher aufgeführt. Pannonien - „Deutsch Westungarn“ - Burgenland 13 sche grenznahe Gebiet fährt der Zug mit der deutschsprachigen Aufschrift „Raaberbahn“ ‒ Kőszeg, Kiseg, Güns (ungarisch, kroatisch, deutsch), hier gibt es eine deutschsprachige Universität ‒ Horvátzsidány (Kiszsidány) Hrvatski Židan, Roggendorf (ungarisch, kroatisch, deutsch) ‒ Csepreg und Tömörd (ungarisch, kroatisch), jeweils auch in altungarischer Schrift ‒ Schilder um Sopron: Sopron/ Ödenburg; Sopron-Balf/ Wolfs; Fertőrákos/ Kroisbach (ungarisch, deutsch) ‒ Kimle, Kemlja, Kimling (ungarisch, kroatisch, deutsch), mit dreisprachiger Schulaufschrift Im ungarischen Őrség, in Őriszentpeter-Templomszer, rund 18 km von Szentgotthárd entfernt, findet man einen alten Friedhof mit 88 noch lesbaren Inschriften. Davon lassen 11 bis 15 einen Hinweis auf Deutsch vermuten, 14 der Namen sind kroatisch, die Vornamen meistens ungarisch, zum Beispiel: Horváth Tóbiás, Kováts Erzsébet, Zsuponics Vendel, Herceg Ilona, Holczmann József, Farkas Julianna, Zrinski Margit, Herczeg Gyula, Karvalics Gizella, Németh Gyula, Zsuponics Erzsébet, Herczeg Zsigmond, Herczeg Zsigmondné, Zsuponics Jenő. 6 Von den Burgenland-Roma Ein Großteil der Burgenland-Roma fiel dem Holocaust zum Opfer. Zurzeit spricht man für das österreichische Bundesland Burgenland von nur noch etwa 2.000 Personen. Diese konzentrieren sich auf den Bezirk Oberwart. Eine Untersuchung nach typischen Namen gestaltet sich schwierig. Hervorstechend ist der Name Horvath, der eigentlich von der ungarischen Bezeichnung Kroate herzuleiten ist. Das bedeutet, dass Burgenland-Roma und Burgenland-Kroaten den Namen gleichermaßen tragen. Weitere Namen, die eingeschränkt auf Burgenland-Roma bzw. die ungarische Gruppe der Lovara hinweisen, sind Lakatos und Karoly. Ein Beleg für eindeutige Roma-Namen kann dies jedoch nicht sein. 7 Von der Mehrsprachigkeit der Ortsnamen Viele der Ortsnamen verraten, wer zuerst da war. Das trifft vor allem dann zu, wenn die Ortsbezeichnung eine bloße Übersetzung des schon vorhandenen Namens ist. Manchmal, wenn es zu Neugründungen gekommen war, fand der 14 Georg Anker alte Name keine Verwendung mehr und es taucht eine neue Benennung auf. Auch Bestandteile in kroatischen Ortsnamen wie -drof, -tof, -štof für -dorf beweisen das schon vorherige Vorhandensein der deutschen Ortsbezeichnung bzw. unter Umständen eine vorhergegangene Übertragung aus dem Ungarischen. Ortsnamen aus der Vlahija (deutsch - burgenland-kroatisch - ungarisch): ‒ Rauhriegel - Rorigljin - Füsthegy ‒ Podler - Poljanci - Polányfalva/ Polánic(z) ‒ Oberpodgoria - Podgorje - Felsőpodgoria/ Hármasfalu ‒ Unterpodgoria - Bošnjakov Brig - Bosnyákhegy/ Alsópodgoria ‒ Allersdorf - Ključarevci - Kulcsárfalu ‒ Allersgraben - Širokani - Sirokány ‒ Parapatitschberg - Parapatićev Brig - Parapatics ‒ Mönchmeierhof - Marof Barátmajor ‒ Nebersdorf - Šuševo - Ligvánd Beispiele für Ortsnamen mit den deutschen Determinata -dorf, -brunn, -garten, -berg, -bach, -stein, -tal, -hof, -graben im Burgenland (deutsch - burgenlandkroatisch - ungarisch): ‒ Parndorf - Pandrof - Pándorfalu ‒ Hornstein - Vorištan - Szarvkő ‒ Steinbrunn - Štikapron - Büdöskút (ursprünglich Stinkenbrunn) ‒ Zillingtal - Celindof - Völgyfalu ‒ Trausdorf - Trajštof - Darászfalu ‒ Wulkaprodersdorf - Vulkaprodrštof - Vulkapordány ‒ Siegendorf - Cindrof - Cinfalva ‒ Klingenbach - Klimpuh - Kelénpatak ‒ Zagersdorf - Cogrštof - Zárány ‒ Baumgarten - Pajngrt - Sopronkertes/ Kertes ‒ Kohlenhof - Koljnof - Kópháza ‒ Weingraben - Bajngrob - Borosd ‒ Kaisersdorf - Kalištrof - Császárfalu ‒ Großwarasdorf - Veliki Borištof - Szabadbáránd ‒ Kleinwarasdorf - Mali Borištof - Borisfalva/ Kisbarom ‒ Langental - Longitolj - Hosszúvölgy ‒ Kroatisch Geresdorf - Gerištof - Gyirot ‒ Miedlingsdorf - Milištrof - Mérem ‒ Neuberg - Nova Gora - Újhegy ‒ Hasendorf - Zajčje Selo - Vasnyúlfalu/ Nyúlfalu ‒ St. Kathrein - Katalena - Szentkatalin Pannonien - „Deutsch Westungarn“ - Burgenland 15 8 Weitere Forschungsansätze Zur sichernden Abklärung der Herkunft der Eigennamen werden Telefonbucheinträge ebenfalls mit Stichjahr 2012 und aus der gesamten Region, also aus dem österreichischen Burgenland, einem Ort in Niederösterreich 18 , aus Ungarn und aus der Slowakei, in die Erschließung der Namen mit einbezogen. Die Daten sind noch in Bearbeitung. Einen zusätzlichen Ansatzpunkt bilden die Nachforschungen nach der Herkunft der Burgenland-Kroaten, die im vorliegenden Beitrag ebenfalls keine Berücksichtigung finden konnten. 9 Literatur Anker, Georg Jure (2015): Pannonien - Spuren einer Exkursion mit Studenten der Universität Innsbruck zu den Gradišćanski Hrvati. Hamburg. (Pannonische Studien; 1). Zsótér, Írisz: Sigeter Hausnamen. Vortrag. Online: http: / / www.umiznet.com/ de / datenbanken/ ddb/ vortraege/ Sigeter_ Hausnamen.pdf (Stand: 12.2.2014). 18 Au am Leithaberge ist der einzige Ort in Niederösterreich, der noch als kroatisch eingestuft ist. Nidden als Beschreibungsort in den Aufsätzen von Thomas Mann, Hans Reisiger und Wilhelm Girnus Sigita Barniškienė (Kaunas) Zusammenfassung Das Ziel des Beitrags ist, aufzuzeigen, wie unterschiedliche Intentionen der Autoren und ihre Identitäten einerseits und sich wiederholende Elemente der Raumkonstellationen andererseits in den Beschreibungen des gleichen realen Orts in den drei ausgewählten Texten zum Ausdruck kommen. Es handelt sich um den Vortrag „Mein Sommerhaus“ von Thomas Mann bei der Zusammenkunft des Rotary-Clubs in München am 1. Dezember 1931, um den Aufsatz „Nidden“ von Hans Reisiger, dem vertrauten Freund Thomas Manns, in der Zeitung „Berliner Tageblatt“ vom 10.08.1932 und um das „Nida“-Kapitel im Aufsatz „Litauische Bilder“ von Wilhelm Girnus in der Zeitschrift „Sinn und Form“ 1970/ 2. Heft. Die theoretische Grundlage zur Untersuchung der Deskriptionen des Orts bilden Debatten der Literaturkritiker über Raumkonzepte in literarischen Texten und die literarische Topographie. Meine eigenen Bemühungen richten sich im Beitrag darauf, die subjektive Darstellungsweise und den variierenden Blick der deutschen Autoren auf das Grenzland am Kurischen Haff herauszustellen und zu verfolgen, mit welchen sprachlichen und textsemantischen Mitteln unterschiedliche Raumkonzepte „Nidden“ konstruiert werden. In den Aufsätzen werden nicht nur Landschaften und Orte beschrieben, sondern auch die Figuren der erzählenden/ beschreibenden Subjekte geschaffen. 1 Der Raum in der Literaturwissenschaft In den letzten Jahren kann man in unterschiedlichen Disziplinen - in der Literatur, in der Geschichte, in den Kultur-, Sozial- und Medienwissenschaften - das wachsende Interesse von Forschern am Raum und an den Raumbeziehungen beobachten. Döring/ Thielmann stellen dazu fest, dass der Terminus s p a ti a l tu r n zum ersten Mal vom nordamerikanischen Humangeographen Edward W. Soja 1989 gebraucht wurde (2008: 7), aber von anderen Geographen nicht unbedingt als relevant betrachtet und nicht einmal in das Nachschlagewerk Blackwells „The Dictionary of Human Geography“ aus dem Jahre 2000 aufgenommen wurde (2008: 33). In Bezug auf die Literaturwissenschaft wird oft der Terminus von Weigel t o p o g r a p hi c a l tu r n , den sie 2002 in ihrem Aufsatz in der Zeitschrift „Kultur 18 Sigita Barniškienė - Poetik“ gebraucht hat, verwendet (Döring/ Thielmann 2008: 15). Für den vorliegenden Beitrag ist der Gedanke vom Zusammenhang zwischen dem Raum und der Bewegung des Individuums darin relevant. Darüber schreiben Hallet/ Neumann (2009: 20) Folgendes: Als eine der Ausgangsbedingungen literaturwissenschaftlicher und zugleich sozial- und kulturwissenschaftlicher Raumkonzepte kann die Einsicht gelten, dass „Raum“ ohne „Bewegung“ nicht denkbar ist. Literaturwissenschaftlich gesehen ergibt sich diese Interdependenz bereits aus dem Umstand, dass Räume in literarischen Texten immer in einer Beziehung zu sich darin bewegenden oder zu wahrnehmenden Individuen stehen . Günzel (2008: 229) betont auch die Rolle des wahrnehmenden Subjekts im Raum und beruft sich dabei auf die Phänomenologie Husserls: Wie der Strukturalismus so zielt auch der phänomenologische Ansatz auf eine Beschreibung topologischer Relationen. Allen voran ist hierbei der Intentionalitätsgedanke zu nennen: Intentionalität besteht nach Husserl in der Bezogenheit des Bewusstseins auf die Welt. Im Zuge dessen wird Wahrnehmung als die Konstitution von Objekten im Feld möglicher Sichtbarkeit verstanden: Unabhängig davon, wo sich ein Ego im Raum befindet, ist dessen Bewusstsein vektoriell verfasst, und das heißt: auf die Objektwelt bezogen. Gegenstände im Blickfeld sind daher abgeschattet, weil sie notwendig perspektivisch gesehen werden. Da es im vorliegenden Beitrag um einen begrenzten kleinen Ort - Nidden - geht, sind die Versuche des Literaturwissenschaftlers Mecklenburg, das Regionale und Lokale gegenüber dem Globalen zu rechtfertigen, auch von Bedeutung. Mecklenburg (2013: 62) ist davon überzeugt, dass der lokale Stoff in einem Werk eine globale Wirkung haben kann: Die poetische Energie, die ein Werk über seine sprachliche, regionale, kulturelle Herkunftswelt hinaus wirken lässt, muss desto stärker sein, je mehr es von dieser Herkunftswelt mimetisch in sich aufgenommen und aufgehoben hat. Spielt nun bei dieser Mimesis-Poiesis-Synthese der territoriale Raum eine besondere Rolle, so könnte man von einer spezifisch poetischen „Glokalisierung“ sprechen: Das „Lokale“ des Stoffs und das „Globale“ der Form verschmelzen miteinander. Der Vergleich der Beschreibungen desselben Orts durch verschiedene Autoren basiert auf einem komparatistischen Ansatz und der These, dass unterschiedliche Subjekte denselben Ort auf unterschiedliche Art und Weise wahrnehmen und beschreiben, weil sich ihre Sicht und ihre Intentionen unterscheiden. Nidden als Beschreibungsort 19 Einen wichtigen Gedanken bezüglich des Vergleichs verschiedener Texte über den gleichen geographischen Ort und die Rolle der Umgebung, in der der Text platziert ist, hat der litauische Literaturforscher Butkus (2008: 17) in seinem Artikel über literarische Topographie ausgedrückt: Wenn das Gedicht „Abend am Vierwaldstättersee“ des litauischen Dichters Maironis in den „Literarischen Atlas Europas“ 1 , der von Barbara Piatti und Lorenz Hurni initiiert wurde, neben Texten anderer namhafter Autoren einbezogen würde, gewönne es in diesem Kontext bestimmt neue Deutungshorizonte und zusätzliche Bedeutungen. So sollen im vorliegenden Beitrag durch den Vergleich dreier Texte über Nidden unterschiedliche Sichtweisen der Autoren herausgestellt werden. Grundlage für die Untersuchung der drei Nidden-Darstellungen sind die theoretischen Einsichten von Klotz (2013: 39-51) über die Modi des perspektivischen Beschreibens: 1) zentralperspektivisches Beschreiben stellt das beschreibende Ich in den Vordergrund; 2) aspektivisches Beschreiben bedeutet, dass als Ausgangspunkt der Raum oder das zu beschreibende Objekt auftritt; 3) systembezogene Beschreibung wird in den fachlichen Textmustern, wie z.B. in einem naturwissenschaftlichen Experiment, einem juristischen Urteil u.a. realisiert. Welche Elemente dieser drei Beschreibungsmodi in den gewählten Texten zum Ausdruck kommen oder vorherrschen, soll bei der Analyse geklärt werden. Dabei soll die Feststellung Klotz‘ (2013: 50) „Beschreibungen formulieren keine ‚Wahrheiten‘ über die Welt, sondern Einsichten und kommunikative Zwecke“ als Leitmotto dienen. 2 Die Beschreibung Niddens in Thomas Manns Vortrag „Mein Sommerhaus“ Thomas Mann (2010: 389) beginnt seinen Vortrag „Mein Sommerhaus“ im Rotary-Club in München am 31. Dezember 1931 mit der Benennung seiner Intention („Zur Unterhaltung und Belehrung“) und des Themas - „die Landschaft, die mir in letzter Zeit besonders ans Herz gewachsen ist: die Kurische Nehrung“. Der Autor bezeichnet sein Unterfangen, optische Eindrücke über einen Ort wiederzugeben als eine Aufgabe, der man nur im reifen Alter gewachsen sei. Diese Anmerkung zeugt von der Hinwendung des schreibenden Ich zu sich selbst, zur Selbstreflexion, die mit den Sympathiegefühlen für das gewählte Beschreibungsobjekt zusammenhängt. Schon im dritten Absatz werden geographische Angaben zur Kurischen Nehrung angeführt, die dem a s p e kti v i s c h e n Beschreibungsmodus eigen sind. Doch diese objektgerichtete Schilderung des Landstreifens zwischen dem Haff 1 www.literaturatlas.eu 20 Sigita Barniškienė und der Ostsee wird gleich durch die Einmischung des beschreibenden Subjekts unterbrochen: Es wendet sich an die Zuhörer mit den die Landschaft bewertenden Ausdrücken „eigenartige Primitivität“ und „der großartige Reiz“: „Meine Worte können Ihnen keine Vorstellung von der eigenartigen Primitivität und dem großartigen Reiz des Landes geben“ (Mann 2010: 390). Die weiter folgende Berufung auf eine Autorität - Wilhelm von Humboldt - stellt ein rhetorisches Mittel dar und ist gleichzeitig ein Merkmal der s y s t e m b e z o g e n e n Beschreibung, und zwar des mündlichen Vortrags, der auf Unterhaltung und Belehrung der Zuhörer abzielt: Ich möchte mich hier auf Wilhelm von Humboldt berufen, der dort war, und speziell von Nidden so erfüllt war, daß er erklärte, man müsse diese Gegend gesehen haben, wie man Italien oder Spanien gesehen haben müsse (Mann 2010: 390). Thomas Mann bringt das Prinzip seiner Beschreibung zum Ausdruck - sein Blick schweift über verschiedene Orte aller Himmelsrichtungen, und er macht die Zuhörer mit den Sehenswürdigkeiten der Kurischen Nehrung bekannt. Vor der Beschreibung wird noch eine narrative Passage eingeschoben, in der erzählt wird, wie die Familie Mann vor ein paar Jahren auf die Idee gekommen ist, ein Sommerhaus in Nidden zu bauen. Es ist offensichtlich, dass in der Narration nicht der Ort, sondern die Zeit den Text vorantreibt. Obwohl die Ortsnamen Rauschen, Nidden, das Kurische Haff, Memel genannt werden, sind sie nur Knotenpunkte an der Kette der Zeit und der sich entwickelnden Ereignisse. Die eigentliche Beschreibung Niddens beginnt Thomas Mann (2010: 391) von Osten her: „Im Osten über dem Haff steigt morgens die Sonne auf“. Dann erfolgt die Beschreibung nach dem Assoziationsprinzip: Das Haff wird mit den Fischern assoziiert, die Nennung der Fischer ruft die Vorstellung ihrer Häuser hervor, deren Verzierungen mit leuchtendem Blau bemalt sind. Auch das eigene Sommerhaus wird als ein den anderen Fischerhäusern ähnliches beschrieben. Der Schriftsteller erinnert sich an die Segelflottillen der Fischer nachmittags auf dem Haff, an ihren Fischfang, an ihre „russisch anmutenden Wägelchen“ und ihre Frauen, an ihre Gesichtszüge mit starken Backenknochen und ihre Dreisprachigkeit: Sie sprechen Deutsch, Litauisch und Kurisch. Das Leben der Fischer wird vom schreibenden Subjekt als „rauh und oft sehr schwer“ (2010: 391) eingeschätzt. Dieses Fragment kann m.E. als a s p e kti v i s c h betrachtet werden, weil es das zu charakterisierende Objekt, das Haff und die Dorfbewohner, in den Vordergrund rückt. Dann richtet sich der Blick des Autors nach Süden, wo die großen Dünen liegen. Im Süden sind sie das einzige Objekt, das beschrieben wird. Doch diese Beschreibung unterscheidet sich von der vorhergehenden durch viele zentral- Nidden als Beschreibungsort 21 perspektivische Merkmale. Das sind wiederholte Erwähnungen Humboldts und dessen Begeisterung für Nidden, die von der Familie Mann als Portofino benannte Bucht und die subjektiven Eindrücke von der Düne, die Thomas Mann als „elementarisch und fast beklemmend“ (2010: 392) bezeichnet. Es ist von Interesse, an dieser Stelle zu erwähnen, dass Thomas Mann auch in seinen Tagebüchern Ähnliches über seine Angstgefühle, die die Sanddünen ihm einflößten, schreibt: Klimatische Überanstrengung und die psychische Einwirkung der blendend verschwimmenden Schneewüste führten zu einer Furcht-Erregung und dem Verlust der Nerven, den ich auch von Nidden her kenne (Arosa, Montag, den 5.III.34) (Mendelssohn 1977: 348). Nach der Darstellung der Faszination von den Pastellfarben des Himmels wird der Blick des Autors nach Norden gewendet. Als Beschreibungsobjekte erscheinen hier der Elchwald, die Erinnerung an die Fahrt mit einem Wagen in den Wald sowie das imposante Aussehen der Elche, ihrer Geweihe, ihr Verhalten den Menschen gegenüber. Wenn auch manche Elemente der Narration in diesem Auszug zum Vorschein kommen, ist dieser Absatz als a s p e kti v i s c h e s Beschreiben zu bezeichnen. Im Westen befindet sich das Hauptobjekt der Beschreibung, und zwar das Meer. Es wird als ein Naturelement mit wechselseitigem Gesicht beschrieben. Thomas Mann macht auf den gefährlichen Sog des Meeres aufmerksam und ermahnt die Zuhörer, den Respekt vor dem Meer nicht zu vergessen. Hier herrscht wieder die zentralperspektivische Beschreibung vor. Der letzte Absatz stellt den Abschluss der Rede dar: Ein wiederholter Ausdruck der Begeisterung von dem beschriebenen Ort, eine Einladung der Zuhörer, Nidden mal zu besuchen, und ein Zweizeiler von Goethe runden ihn ab: Kämen sie getrost herein, Würden wohl empfangen sein (Mann 2010: 394). Dieser Absatz ist keine Beschreibung, sondern ein rhetorisch erforderlicher Teil - Abschluss der öffentlichen Rede. Die vorher behandelten Passagen der vier Himmelsrichtungen haben sich als abwechselnd a s p e kti v i s c h - z e n tr a lp e r s p e kti v i s c h erwiesen, sodass der Gesamteindruck ausgewogen ist und sowohl persönliche Bewertungen durch den Autor als auch sachgemäße Beschreibungen der Sehenswürdigkeiten Niddens impliziert. 22 Sigita Barniškienė 3 Beschreibungsmodi in Hans Reisigers Aufsatz „Nidden“ Eine ähnliche Beschreibung Niddens liefert der Aufsatz „Nidden“ von Hans Reisiger (1884-1968), eines langjährigen vertrauten Freundes von Thomas Mann, der in der Zeitung „Berliner Tageblatt und Handels-Zeitung“ am 10. August 1932 erschien (Reisiger 1932). Hans Reisiger, Schriftsteller und Übersetzer aus dem Englischen und Französischen, hat Thomas Mann im Sommer 1931 und 1932 in Nidden besucht, wie sich die Angehörigen Thomas Manns erinnern (Stepanauskas 2011: 188). In seinem Aufsatz schreibt er über den Besuch 1932, doch im Mittelpunkt des Textes, der als eine Reportage zu bezeichnen ist, steht die Natur Niddens. Der Aufsatz ist in neun Abschnitte eingeteilt, die jeweils eigene Beschreibungsobjekte haben. Der erste Abschnitt besteht aus zwei rhetorischen Fragesätzen, in denen die Kurische Nehrung als „kahles und fahles Weltabseits“ dargestellt wird und einige typische Vertreter dieses Landstreifens - memelländische Fischer, Krähen und Elche im Dickicht - erwähnt werden. Die aspektivische Beschreibung des Raumes wird im zweiten Abschnitt durch die Ich-betonte zentralperspektivische Schilderung abgelöst. Das beschreibende Ich gibt den Ort an, wo es sich zur Zeit der Beschreibung befindet: „Ich stehe auf der höchsten der mächtigen weissen Wanderdünen bei Nidden.“ Der Autor erschafft den Raum dadurch, dass er seine visuellen Eindrücke fixiert und mit Worten wiedergibt. Seine Individualität und seine Einbildungskraft kommen deutlich zum Vorschein: Der Autor vergleicht die Wanderdünen mit Schneegebirge, die Dünenlandschaft schafft in ihm Verwirrung, er gibt vor, nicht zu wissen, ob er im hohen Nordosten, am Mittelmeer oder an der afrikanischen Küste sei. Das rote Segel auf dem blauen Haff ruft in ihm Assoziationen von rot, gelb und blau bemalten Tempeln hervor und lässt das imaginierte Bild des rastenden Götterboten Hermes entstehen. In der Beschreibung taucht plötzlich das nicht näher bestimmte Pronomen wir auf, das nur im sechsten Abschnitt durch die Erwähnung des Sommerhauses von Thomas Mann mit dem Schriftsteller und seiner Familie in Verbindung gebracht werden kann: Eine sanft-klare Bucht unten am Haff, von Dünenweiss umschlungen, von langen schmalen, zierlich geschwungenen Wellen durchglitten, haben wir „Bucht der Galathee“ getauft […]. Der Name „Bucht der Galathee“ verweist auf eine Meeresnymphe der griechischen Mythologie und zeugt von der klassischen Bildung derjenigen, die die Bucht so getauft haben. Der zweite zentralperspektivisch gestaltete Abschnitt offenbart die Phantasie und die Intelligenz des Autors, der dem Leser die eigene originelle Sicht auf die Dünen und das Haff anbietet. Nidden als Beschreibungsort 23 Im dritten zentralperspektivisch gestalteten Abschnitt betrachtet der Beschreibende die Umgebung von der Höhe aus, auf der der Leuchtturm steht. Die Föhrenwälder erscheinen ihm wie ein „goldgrün leuchtender Pelz“, er ist überwältigt vom großartigen Anblick der Natur. Infolgedessen denkt er an den Schöpfer der Welt und führt ein Zitat aus der Bibel an: „Er schied das Feste vom Flüssigen“, das die Ursprünglichkeit der Landschaft wiedergibt. Der vierte und der fünfte Abschnitt sind aspektivische Beschreibungen der Kurischen Nehrung, in deren Mittelpunkt geographische Gegebenheiten und landschaftliche Besonderheiten wie Anpflanzungen auf den Dünen, Siedlungen, Kiefernwald und andere Naturobjekte stehen. Der sechste Abschnitt ist der Beschreibung von Nidden, seiner Häuser, seiner kurischen und litauischen Bewohner und dem Holzhaus Thomas Manns in Purvin gewidmet. Diese Beschreibung ist auch aspektivisch, nur am Ende erscheint die Charakteristik des Monds über den Dünen und dem Haff, versehen mit einem Zitat aus Goethes „Faust“: der Mond steigt „mit feuchter Glut heran“ 2 . Diese intertextuelle Stelle ist auf die zentralperspektivische Beschreibungsart zurückzuführen, weil dadurch der Beschreibende als Literaturkenner herausgehoben wird. Der siebente Abschnitt stellt eine aspektivische Deskription des ruhigen Strands dar, es gibt nur eine subjektive Anmerkung des Autors: „Was mir fehlt, sind die Möwen; man sieht nur dann und wann ein paar.“ Im achten Abschnitt werden die Hitze, Dürre und das schöne Wetter thematisiert, aber diese Beschreibung weist viele Züge der Narration auf. Das sind Zeitadverbiale wie „gestern“, „vor einiger Zeit“, „eines Abends“, „während dieser schwülen Zeit“ und wechselnde Vergangenheitsformen des Verbs - Perfekt, Plusquamperfekt und Präteritum. Die Zeitachse tritt hier deutlich in den Vordergrund, weil sie das Thema „Warten während der schwülen Tage auf den Regen“ bestimmt. Der letzte, neunte, Abschnitt ist einem Ereignis - der Fahrt in den Elchwald - gewidmet; deswegen ist er im Allgemeinen narrativ. Deskriptive Elemente betreffen hier nicht so sehr den Ort, sondern „die seltsamen Urwelttiere“ - die Elche. Der Autor beschreibt das alte und das junge Tier bildhaft, wobei er einen biblischen Vergleich von Abraham und Isaak verwendet: Langsam, ohne Scheu drehen die hochbeinigen Tiere sich zu uns herum: ein alter Schaufler, mit mächtigem Buckel und einem bärtigen Vater Abrahamskopf, und ein schmächtiger, stelziger Bock als junger Isaak daneben. 2 Wie traurig steigt die unvollkommne Scheibe Des späten Monds mit feuchter Glut heran. 24 Sigita Barniškienė Aus diesem Zitat ist ersichtlich, dass die Beschreibung der Elche subjektiv geprägt ist, auf der Einbildungskraft des Schreibenden beruht und daher zentralperspektivisch gestaltet ist. Die durchgeführte Analyse des Aufsatzes „Nidden“ von Hans Reisiger hat das folgende Schema des Textes, der aus neun Abschnitten besteht, ergeben: 1. aspektivische Beschreibung - 2. zentralperspektivische Beschreibung - 3. zentralperspektivische Beschreibung - 4. aspektivische Beschreibung - 5. aspektivische Beschreibung - 6. aspektivische Beschreibung und Elemente der zentralperspektivischen Beschreibung - 7. aspektivische Beschreibung - 8. Narration - 9. Narration und Elemente der zentralperspektivischen Beschreibung. Fünf Abschnitte der aspektivischen Beschreibung, zwei Abschnitte der zentralperspektivischen Beschreibung und zwei narrative Abschnitte zeigen, dass aspektivische Beschreibung des Ortes im behandelten Text vorherrscht; aber die Individualität des Autors ist dank der zentralperspektivischen Beschreibung im Text auch präsent, und der Leser hat die Möglichkeit sich davon zu überzeugen, dass der Verfasser literarisch hoch gebildet und Meister des Ausdrucks ist. 4 Die systembezogene Beschreibung Niddens in der Reportage von Wilhelm Girnus Wilhelm Girnus (1906 Allenstein - 1985 Berlin) war Mitglied der KPD seit 1929, Häftling in den KZ Oranienburg, Sachsenhausen und Flossenbürg (insgesamt etwa elf Jahre), promovierter Literaturwissenschaftler, Staatssekretär für Hoch- und Fachschulwesen der DDR und Chefredakteur der Zeitschrift „Sinn und Form“ (1963-1981) 3 . Diese biographischen Daten zeugen davon, dass Girnus ein überzeugter Kommunist und engagierter Funktionär der DDR gewesen ist. Seine Reise in das sozialistische Litauen 1969 beschreibt er in seiner Reportage „Litauische Bilder“. Diese Reisebeschreibung kann man dem Modus der systembezogenen Beschreibung zuordnen, weil der Autor sich im Prinzip an die Regeln der journalistischen Darstellungsform der Reportage hält: Ausgehend von seinen Reiseeindrücken in den litauischen Städten Rusnė, Šilutė, Nida und Trakai berichtet er über die Errungenschaften des litauischen Volks im sozialistischen System und erinnert sich dabei an seine Kindheitserlebnisse während des Ersten Weltkriegs in Šilutė, an Fakten aus der Geschichte Litauens, an litauische Dainas und an litauische Dichter. Wilhelm Girnus nutzt für seinen Aufsatz das Kontrastprinzip: Die Vergangenheit ist für ihn mit Kriegs- und Schreckenserlebnissen verbunden, die sozialistische Gegenwart aber mit froh- 3 www.stiftung-bg.de/ kz.oranienburg/ index.php? id=330 Nidden als Beschreibungsort 25 lockenden sowjetischen Menschen. Er beginnt seine Reportage mit der Nennung der Namen Jons und Erdme. Die Hauptfiguren einer der „Litauischen Geschichten“ von Hermann Sudermann (1922) sind nicht nur Träger dieser Namen, sondern auch Kolonisten des Rupkalwer Moores, wo sich zur Zeit des Reportagebeginns auch Girnus befindet. Er steht auf einer Brücke, auf der er im September vor 55 Jahren während des Ersten Weltkriegs als neunjähriger Junge gestanden hatte, als er mit seiner Mutter hinter den Fluss Atmata geflüchtet war. Der gleiche Ort ruft Erinnerungen und Vergleiche mit der Schreibgegenwart hervor: Hätte ich damals ahnen können, daß ich genau 55 Jahre danach an gleicher Stelle stehen würde, neben mir der Erste Sekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion des Rayons Šilutė, der Genosse Juozas Balkus? Das ist Geschichte! (Girnus 1970: 312). Girnus beschreibt Ortschaften, seine Begegnungen mit den Menschen, Erinnerungen an die geschichtlichen Ereignisse. Als charakteristisches Merkmal der Reportage dient das unmittelbare Heranbringen der Wirklichkeit des Reporters an den Leser: Formuliert wird aus dem Augenblick des Erlebens des Reporters, der eine bestimmte Perspektive einnimmt und authentische Information an den Leser, Hörer oder Zuschauer aus erster Hand weitergibt. Der Leser erlebt dann gleichsam das Geschehen in unmittelbarer zeitlicher und räumlicher Nähe mit. Genaue Ortsangaben, Detailbeobachtungen, Stimmungs- und Emotionskundgaben, konkrete Anschaulichkeit wie auf sprachlicher Ebene das aktualisierende Präsens oder Temporaldeiktika und Adverbien bestimmen die Geschehensübermittlung (Straßner 2000: 84). Girnus‘ Ortsbeschreibungen sind viel mehr an die Narration und die Zeitachse gebunden als die vorher analysierten Beschreibungen von Thomas Mann und Hans Reisiger. Und noch ein wichtiges Merkmal unterscheidet die Beschreibungsart Girnus‘ von der Manns und Reisigers - seine vielzähligen Deklarationen der ideologischen Gebundenheit und seiner Treue gegenüber den kommunistischen Ideen. Die absichtlich konstruierten Konfrontationen von „ihr, Kapitalisten“ und „wir, Kommunisten“ klingt auch aus dem folgenden imaginierten Streit um Moosbeeren im Rupkalwer Moor: „Unsere Moosbeeren aber! “ tönt‘s zornig vom Ufer des Rheins, so höre ich, „ihr Bolschewiki zerstört mit euren verfluchten Poldern die Lebensgrundlagen der Moosbeere, die ‚natürlichen‘ Zusammenhänge, das biologische Gleichgewicht, das Gewachsene.“ Die Moosbeeren also. Das Althergebrachte, das Ewige, das Unumstößliche! Ihr wollt es wieder in seine „ewgen Rechte“ einsetzen, „die dro- 26 Sigita Barniškienė ben hangen unveräußerlich und unzerbrechlich“ wie die Moosbeeren selbst. Die Moosbeeren in allen Ehren, ich liebe sie vielleicht mehr als ihr, aber habt ihr sie gepflückt einst? […] Und dann: Was schon ist uns die Moosbeere, wenn schon Abschied nehmen von ihr bedeutet, daß heute der litauische Bauer dreimal mehr Milch trinkt als vor dem Krieg? Doppelt so viel Fleisch ißt und dreimal so viel Eier? Und wenn er heute sieben Menschen mit seiner Arbeit ernährt, früher aber kaum zwei! Was also soll euer Gezänk um die Moosbeeren! Zum Teufel mit dieser Romantik! (Girnus 1970: 313). Solch eine Einstellung des Autors zu den zu beschreibenden Orten erlaubt es ihm nicht, die Schönheit der Landschaft ausgiebig zu beschreiben. Er erwähnt zwar „die einsame, stumme Dünenwelt“, den „elfenbeingelbe[n], feinkörnige[n] Sand”, „das unvorstellbar tiefe, transparente Blau des Himmels“ (Girnus 1970: 334) und das berühmte Zitat aus dem Brief Wilhelm von Humboldts vom 10. Oktober 1809 an seine Gattin über die Kurische Nehrung, aber dann wendet er sich dem Erzählen über die Maler Max Pechstein und Karl Schmidt-Rottluff zu. Das sind die Maler, die sich Anfang des 20. Jahrhunderts in Nidden aufgehalten und Bilder gemalt haben. Das Sommerhaus Thomas Manns wird auch zum Beschreibungsobjekt bei Girnus, aber vor allem, um die vorbildliche Pflege des Hauses durch das Kulturministerium der Litauischen Sozialistischen Sowjetrepublik zu loben und um die Leser an die Schrift Thomas Manns „Was wir verlangen müssen“, geschrieben im August 1932, gerichtet gegen die Mordtaten der Nationalsozialisten in Königsberg (Mann 1970: 347-349), zu erinnern. Die Beschreibung von Nidden dient in Girnus‘ Reportage der Transponierung der politischen Ideen. Im Vergleich zu den Beschreibungen Niddens in Thomas Manns Rede und Hans Reisigers Zeitungsartikel erfüllt die Nidden-Beschreibung von Girnus in erster Linie nicht eine ästhetische, sondern eine persuasive Funktion. Der Autor ist bestrebt, die Leser von den Vorzügen des sozialistischen Systems im Litauen der 1960er Jahre zu überzeugen und den deutschen Nationalsozialismus anzuprangern. Historische Rückwendungen, wie z.B. Erinnerungen an Thomas Manns Rede in Wien vor dem Arbeiterpublikum nach der Rückkehr aus Nidden am 22. Oktober 1932 und ideologisch wertende Aussagen über die Schreibgegenwart des Autors scheinen das Kompositionsprinzip des Textes und das Anliegen von Wilhelm Girnus gewesen zu sein. Sein ausgeprägt politisches Engagement spiegelt sich in Verdächtigungen gegen den schwelenden Nationalismus in Westdeutschland, auch in seinen Hinweisen auf die Kriegsereignisse in Vietnam oder auf das IX. Fort in Kaunas: Dort wurden „700 000 litauische Menschen durch Bestien umgebracht, die sich für die Elite Deutschlands hielten“ (Girnus 1970: 340). Das Kapitel über Nida endet mit einem leidenschaftlichen Appell des Autors, die Opfer des Faschismus - Anne Frank, Maria Rolnikaitė und ihre Geschwister - nicht zu vergessen. So dient Girnus in seiner Reportage über das sozialisti- Nidden als Beschreibungsort 27 sche Litauen Nida nur als Erinnerungsort und Impuls für den Ausdruck seiner politischen Überzeugungen und stellt eine systembezogene Beschreibung dar. 5 Schlussfolgerung Die Deskription Niddens in drei ausgewählten Aufsätzen hat gezeigt, dass der Ort als eine objektive Gegebenheit und Landschaft, d.h. aspektivisch beschrieben werden kann. Die zentralperspektivische Beschreibung lässt die Individualität des Schreibenden hervortreten: Thomas Mann und Hans Reisiger demonstrieren in ihren Aufsätzen ihre schriftstellerischen und künstlerischen Fähigkeiten, während Wilhelm Girnus historische Rückwendungen und politische Appelle in den Vordergrund rückt. „Litauische Bilder“ kann als Reportage bezeichnet werden, weil es sich um unmittelbare Erlebnisse Girnus‘ während seiner Fahrt durch Litauen handelt. Im Rahmen der systembezogenen Beschreibung werden zahlreiche wertende und ideologische Ansichten des Autors ausgedrückt. Unterschiedliche Beschreibungsmodi des gleichen Ortes haben verschiedenartige Texte hervorgebracht und zugleich manche Charakteristiken ihrer Autoren skizziert. Der komparatistische Ansatz bei der Analyse des Raumparadigmas „Nidden“ hat sich m.E. als produktiv und gut anwendbar erwiesen. 6 Literatur Butkus, Vigmantas (2008): Literatūros topografija: (poli)metodologinės trajekto-rijos. In: Colloquia 21. S. 11-29. Döring, Jörg/ Thielmann,Tristan (2008): Einleitung: Was lesen wir im Raum? Der Spatial Turn und das geheime Wissen der Geographen. In: Döring, Jörg/ Thielmann, Tristan (Hrsg.): Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Bielefeld. S. 7-45. Günzel, Stephan (2008): Spatial Turn - Topographical Turn - Topological Turn. Über die Unterschiede zwischen den Raumparadigmen. In: Döring, Jörg/ Thielmann, Tristan (Hrsg.): Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Bielefeld. S. 219-237. Hallet, Wolfgang/ Neumann,Birgit (2009): Raum und Bewegung in der Literatur: Zur Einführung. In: Hallet, Wolfgang/ Neumann, Birgit (Hrsg.): Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn. Bielefeld. S. 11-32. Klotz, Peter (2013): Beschreiben. Grundzüge einer Deskriptologie. Berlin. Mann, Thomas (1970): Was wir verlangen müssen. In: Sinn und Form 22. S. 347-349. Mecklenburg, Norbert (2013): Glokalisierung - ein Raumkonzept für interkulturelle Literaturwissenschaft? In: Hess-Lüttich, Ernest W. B./ Watanangura, Pornsan (Hrsg.): 28 Sigita Barniškienė KulturRaum. Zur (inter)kulturellen Bestimmung des Raumes in Sprache, Literatur und Film. Frankfurt am Main. S. 49-69. Mendelssohn, Peter de (Hrsg.) (1977): Thomas Mann. Tagebücher 1933-1934. Frankfurt am Main. Stepanauskas, Leonas (2011): Thomas Mann und Nidden. Vilnius. Straßner, Erich (2000). Journalistische Texte. Tübingen. Sudermann, Hermann (1922): Jons und Erdme. In: Sudermann, Hermann: Litauische Geschichten. Stuttgart/ Berlin. S. 90-224. Quellen Girnus, Wilhelm (1970). Litauische Bilder. In: Sinn und Form 22. S. 311-349. Mann, Thomas (2010): Mein Sommerhaus. In: Mann, Thomas: Über mich selbst. Autobiographische Schriften. Frankfurt am Main. S. 389-394. Reisiger, Hans (1932): Nidden. In: Berliner Tageblatt und Handels-Zeitung, 10. August. [ohne Seitenangaben]. Internetquelle www.stiftung-bg.de/ kz-oranienburg/ index.php? id= 330 (Stand: 02.04.2014). Die besondere Rolle des Deutschen in Mitteleuropa als Grundlage für Profilelemente der Didaktik Deutsch als Fremdsprache Ákos Bitter (Regensburg) Zusammenfassung Die deutsche Sprache und Kultur haben in den letzten Tausend Jahren im östlichen Teil Europas eine wichtige Rolle gespielt. Ihre Einflussnahme auf die hiesigen Sprachen und Kulturen ging zwar im vergangenen Jahrhundert etwas zurück; auch ein kurzer Aufschwung nach der Wende fand zunächst durch eine intensive Hinwendung zum Englischen als l i n g u a f r a n c a ein jähes Ende. Der voranschreitende Integrationsprozess in den neuen EU-Ländern seit 2004 bzw. die Bedeutung der deutschen Wirtschaft für die ganze Region bewirken jedoch erneut ein wachsendes Interesse an Deutsch. Die regionalen DaF-Didaktiken nehmen m.E. vielleicht nur die jüngsten Entwicklungen wahr und verzichten dadurch auf das traditionell vielfach Vorhandene, ganz zu schweigen davon, daraus ein den Deutschunterricht in der Region begünstigendes Profilelement zu entwickeln. Der folgende Beitrag liefert für Letzteres Ansatzpunkte. 1 Ausgangspunkt Der vorliegende Beitrag knüpft an Bitter (2013), meine Dissertationsschrift mit dem Titel „Deutsche Sprachelemente im Ungarischen als Hilfen beim kognitiven Erwerb des Deutschen“, an. Das Problem des kognitiven Erwerbs des Deutschen kann einem oder mehreren Tätigkeitsbereichen der Didaktik Deutsch als Fremdsprache zugeordnet werden. Betrachtet man jedoch den Titelanfang „Deutsche Sprachelemente im Ungarischen“ 1 , so muss man feststellen, dass dieses Thema völlig fachfremd anmutet. Es gehört eigentlich in den Zuständigkeitsbereich der historischen und Kontaktlinguistik. Auch wenn sich durch die kontrastive Linguistik und weiterführend den Sprachvergleich ein Brückenschlag anbietet, so könnte es vielleicht der Mehrheit meiner Fachkollegen nicht ohne weiteres einleuchten, warum gerade eine so ungewöhnliche Art der Interdisziplinarität gewählt wurde. Dies war nicht gewollt, sondern hat sich im Zusammenhang mit meinen Bemühungen um ein aktuelles und relevantes Thema ergeben. Nach einem bereits mehrjährigen Aufenthalt in Deutschland und durch ei- 1 Als Ausgangspunkt der Dissertation diente Bitter (2004). 30 Ákos Bitter nen schon eine Reflexion ermöglichenden Abstand vom Fach in meinem Herkunftsland Ungarn beschäftigte ich mich in den letzten Jahrzehnten mit Erfahrungen von Kollegen deutscher Muttersprache, die sie mit Deutsch sprechenden bzw. lernenden Ungarn sammeln konnten. Öfter wurde die Frage gestellt, warum die meisten Ungarn recht gut Deutsch könnten - gemeint sind natürlich diejenigen, mit denen man ins Gespräch kommen konnte -, obwohl das Ungarische typologisch weit entfernt vom Deutschen sei. Die beiden Sprachen gehörten ja nicht einmal in die gleiche Sprachfamilie, was in Europa eher ungewöhnlich sei. Vielleicht liege es an der K.-u.-k.-Monarchie, lautete oft der vage Lösungsansatz. Dabei musste ich aber einwenden, dass es die Monarchie seit drei Generationen nicht mehr gibt. Einerseits hätte ich gern etwas untersucht, das noch problematisch ist, für das es noch keinen Lösungsansatz gibt, andererseits reizte mich aber auch, zu thematisieren, wie etwas, was bereits erfolgreich umgesetzt wird, ein noch höheres Niveau erreichen kann. Diesen Ansatz fand ich umso zielführender, da seit Jahren auch in Ungarn behauptet wird, Deutsch sei doch - vor allem im Vergleich zum Englischen - schwer. Es sollte zunächst völlig unabhängig von bisher bestehenden interdisziplinären Verknüpfungen im Fach Didaktik Deutsch als Fremdsprache eine Antwort auf die oben gestellte Frage gesucht werden. Der Rückblick auf eine z.T. gemeinsame Vergangenheit des deutschen und ungarischen Sprach- und Kulturgebiets erwies sich schnell als eine richtige Spur mit vielfältigen Implikationen. Letztlich wurden diachrone Sicht, Kontakt- und Areallinguistik samt Kulturwissenschaften einbezogen. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse konnten auch mittels der Soziolinguistik in die einschlägigen Teil- und Hilfsdisziplinen der Didaktik Deutsch als Fremdsprache überführt werden. Bei der Weg- und Antwortsuche wurden zahlreiche weiterführende Fragen angesprochen. Einige beziehen sich auf die Region Mitteleuropa, da die Rolle der deutschen Sprache und Kultur sowohl bis vor etwa hundert Jahren als auch nach der politischen Wende ähnlich war. 2 Spezifische Probleme der Didaktik Deutsch als Fremdsprache im mitteleuropäischen Raum In den letzten zehn bis fünfzehn Jahren ging die Nachfrage nach Deutsch als Fremdsprache nicht nur in der Welt, sondern auch in Ostmittel- und Osteuropa zurück, wobei das Englische weiter an Bedeutung gewann. Dabei fand 2004 und 2007 der Beitritt von vierzehn Staaten überwiegend aus der östlichen Hälfte Europas zur EU statt, von denen die meisten in Mitteleuropa liegen und in denen das Deutsche als Fremdsprache eine traditionell starke Position hatte bzw. die deutsche Kultur und Wirtschaft nach wie vor stark präsent sind. Für Rolle des Deutschen in Mitteleuropa 31 die Germanistik bzw. die Deutschlehrerausbildung in diesen Ländern bzw. Sprachförderung seitens der deutschsprachigen Länder war zunächst nicht klar, welche Perspektiven sich angesichts dieser Entwicklung eröffnen können. Zur Suche nach einer neuen Richtung versucht man verschiedene Erkenntnisse, Konzepte und Impulse aus den Kulturwissenschaften der älteren, neueren und neuesten Geschichte, der Politik und Wirtschaft zu deuten, wobei letztere freilich vordergründig am meisten ins Gewicht fallen. Einerseits redet man seit der Mitte der 80er Jahre v.a. in den (ehemaligen) Ostblockstaaten Polen, Tschechoslowakei (ab 1994 Tschechien und Slowakei) bzw. Ungarn im Bereich der Literatur und der Kulturwissenschaften von einem Erwachen der während der Zeit des Kalten Krieges und des Eisernen Vorhangs tot geglaubten Idee „Mitteleuropa“, in dem das Deutsche und die Deutschen - wenn auch keine klare oder geklärte - eine wichtige Rolle spielten. Auch bestimmte Teildisziplinen der germanistischen Linguistik interessierten sich später für diese Thematik. Der 2003 gegründete Mitteleuropäische Germanistenverband (MGV) erkannte das Gebot der Stunde, wobei sich die Situation heute komplizierter als damals angenommen erweist. Die Deutschlehrerausbildung in dieser Region und Deutschlehrwerke blieben jedoch beinahe unverändert, zumal sie bis vor kurzem den Großteil ihrer Impulse aus der Bundesrepublik Deutschland und in einem geringeren Maße aus Österreich bekommen haben. Beide Länder haben jedoch immer noch ein gespaltenes Verhältnis zum Thema „Mitteleuropa“ (vgl. u.a. Mitteleuropa vs. Zentraleuropa). Einerseits wird behauptet, dass das Deutsche in Mitteleuropa vielfach als Identifikationssprache gehandhabt wurde, die tiefe Spuren in den einzelnen Sprachen und Kulturen hinterlassen hat, was durchaus Zukunftspotential hätte. Andererseits beruft man sich auf eine wirtschaftlich-kulturelle Vereinheitlichung durch die Globalisierung (Pop-Kultur) und allgemeine Mobilität und streitet die Bedeutung spezifischer interkultureller Kommunikation auf regionaler Ebene ab. (Die einzelnen Nationalsprachen und Englisch als lin g u a fr a n c a sollten ausreichen.) Darüber hinaus besteht die Meinung, dass die Frage, ob und welche Zukunftsperspektiven Deutsch in der Region hat, durch den Markt geregelt werde. Ein grundsätzliches und vielleicht auch nicht lösbares Problem ist m.E. jedoch, dass es für diesen sozio-kulturellen Ort „Mitteleuropa“ viele unterschiedliche Definitionen gibt, die nicht systematisch verglichen und reflektiert wurden. Diese interdisziplinäre Arbeit wurde von den unterschiedlichen Vertretern einschlägiger germanistischer Fachrichtungen im Mitteleuropäischen Germanistenverband - v.a. den Literaturwissenschaftlern - in Angriff genommen. Zurzeit befinden sich Erkenntnisse und Konzepte, die sich aus germanistischer Sicht auf die Mitte Europas beziehen und in deren Interesse eingesetzt werden können, noch weitgehend in der Schwebe. Dass aber der Weg nur kaum bis gar 32 Ákos Bitter nicht vorbereitet ist, sollte jedoch DaF-Didaktiker in der Region nicht davon abhalten, von der Praxis ausgehend der Forschung einzelne Impulse zu geben, ja unter Umständen ihre Mitwirkung bei empirischen Erhebungen anzubieten. 3 Anrainer-Germanistiken als Schnittstellen für Kontakte und Kontraste in Mitteleuropa Ein wichtiger Schritt im Prozess der jetzigen Identitätsfindung in mitteleuropäischen Ländern und der Öffnung zur europäischen Integration hin - vor allem bei denen, die an Deutschland und an Österreich angrenzen - ist nach einer kürzeren oder längeren Zeit geschichtlich bedingter Abgrenzung eine von Ideologien freie Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Deutschen vor Ort. In diesen Ländern wirken traditionell Vertreter der sog. Anrainer-Germanistik, deren Aufgabenbereich von dem der sonstigen Auslandgermanistik abweicht. Gegenstand einer Auslandsgermanistik in Mitteleuropa ist nach Grucza (1998: 38) „das Deutsch vor Ort - seine Geschichte, sein gegenwärtiger Zustand, seine Zukunft“, über die Sprache hinaus auch die Kultur. Es gehe hier um die lebenden, die gesprochenen, aber auch um die aussterbenden Mundarten, die auf dem jeweiligen Territorium entstandene deutsche Literatur, ferner alle Spuren des Deutschen, auch die Erinnerung an das Deutsche bzw. sich auf das Deutsche beziehende Mythen. Es bleibt jedoch nicht nur beim Deutschen mit seinen jeweiligen Kontaktsprachen, sondern eine größere Einheit muss in Betracht gezogen werden. Newerkla (2002: 2) deutet auf sprachliche Konvergenzen der besonderen Art zumindest in einem Teilgebiet dieser Region hin: So erweist sich die Lage als noch bunter, denn er meint, dass ein außergewöhnliches Aufeinandertreffen von einer germanischen, slawischen und finnougrischen Sprache im Karpatenbecken einen komplexen und zugleich loseren Begriff eines Sprachareals notwendig mache. So darf man weder von der falschen Vorstellung ausgehen, dass eine Sprache nur zu e i n e r Arealgruppierung gehören kann, noch glauben, dass ein solches Areal in Bezug auf die einzelnen Übereinstimmungen in jedem Fall geschlossen ist (Hervorhebung: Á.B.). Aus seiner integrativen Sicht stellt Mádl (1998: 562) von der Germanistik zur DaF-Didaktik zunächst folgenden Übergang her. Er setzt bei den Anrainer- Germanisten bessere Deutschkenntnisse, eine leichtere Orientierung in Geographie, Geschichte, Kunst- und Kulturgeschichte des deutschen Sprachraums und nur ein Minimum von Fremdheitsgefühl dem Deutschen und Deutsch- Rolle des Deutschen in Mitteleuropa 33 sprachigen gegenüber voraus. Folglich erwartet er von ihnen, im Unterricht und auch in der Forschung zur muttersprachlichen Sprach- und Literaturwissenschaft ständig vergleichend bzw. kontrastiv zu arbeiten, die Popularisierung von deutscher Kultur für die eigene Bevölkerung und die Förderung der Integration in der EU. Zusammenfassend stellt er wieder aufs Ganze bezogen fest, dass diese Germanistik eine mittlere (und auch vielleicht eine vermittelnde) Stelle zwischen der deutschen Germanistik und einer sonstigen Auslandsgermanistik einnimmt. 4 Grundlagen und Impulse für ein aktuelles Konzept für die mitteleuropäische (Schul-)Sprachenpolitik bzw. Deutschdidaktik Oben wurde die v.a. aus historischen Gründen spezielle Rolle der deutschen Sprache und Kultur für die Region in der Mitte Europas mit ihren Implikationen für Germanistik und Deutsch als Fremdsprachenunterricht gezeigt. Der eingangs erwähnte Rückgang der Nachfrage nach Deutsch als Fremdsprache trotz eines anhaltenden Integrationsprozesses der neuen EU-Beitrittsländer aus Ostmitteleuropa und einer unverminderten wirtschaftlichen Präsenz Deutschlands und Österreichs in der Region stimmt Deutschdidaktiker jedoch aktuell nachdenklich. Sprachlernbiographien werden zwar zunehmend individueller. Trotzdem sollte man eine Untersuchung regionaler, den Ort Mitteleuropa betreffender Gegebenheiten hinsichtlich des Gebrauchs, Erwerbs und der Vermittlung des Deutschen - Gemeinsamkeiten wie Unterschiede - nicht unversucht lassen. Földes (2007: 169) fasst Chancen des Deutschen im Vergleich zum Englischen ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit wie folgt zusammen: (a) d e r r e g i o n a l e A s p e k t (die Entfernung vom deutschen Sprachraum); (b) d e r e t h n i s c h e A s p e k t (das Vorhandensein einer deutschsprachigen Minderheit); (c) d e r k u lt u r e l l e A s p e k t (welche Traditionen das Deutsche vor Ort hat); (d) d e r p o l it i s c h ö k o n o m i s c h e A s p e k t (wirtschaftliche Möglichkeiten, die mit der deutschen Sprache verbunden sind). Chancen für die deutsche Sprache ergeben sich aus der Arbeitsbzw. Funktionseinteilung zwischen den beiden Sprachen [Deutsch und Englisch], etwa: „ I n t e r n a ti o n a l - A i r p o r t - E n g l i s h “ f ü r d i e g l o b a l e K o m m u n i k a ti o n und D e u t s c h a l s K o n t a k t s p r a c h e f ü r d i e K o m m u n i k a t i o n z w i s c h e n m itt e l e u r o p ä i s c h e n N a c h b a r n (Hervorhebung: Á.B.). 34 Ákos Bitter Gerade dieser letztere Aspekt der Konkurrenz mit der Weltsprache Englisch stellt in einer Welt zunehmender Globalisierung eine Frage auch an den Ort Mitteleuropa. Welche Sinnzuschreibungen können erhalten bleiben und welche müssen sich ändern und welche Auswirkung wird dies auf die Rolle des Deutschen im Mitbzw. Nebeneinander der hiesigen Sprachen haben? Versuche für Antworten, die aus einer international und interdisziplinär durchgeführten Forschung entstammen, können m.E. der Realität mehr standhalten, als Überlegungen aus einzelnen Disziplinen. Von der Praxis angeregt, könnte jedoch auch mehr Profil gezeigt werden. Deutschunterricht in Mitteleuropa sollte stärker als bisher auf kulturelle Kontakte abheben und sich so ein Stück ganz eigener Legitimation aufbauen. Es wäre im Sinne einer Kontakdidaktik keine Zeitverschwendung, im Deutschunterricht beispielsweise Wörter mit gemeinsamer Wurzel oder Lehnwörter aus der jeweils anderen Sprache zu thematisieren, etwas über die Geschichte und das Schicksal der fremden Sprache im eigenen Land zu erfahren lauten Badstübner-Kiziks (2007: 712) erste Anstöße für die DaF-Didaktik in der Region. Bassola (2007: 18f.) beschreibt detailliert die Zielsetzungen für Ungarn: Parallel [zur Erforschung der Sprache, Kultur und der Volkskunde der heutigen Ungarndeutschen: Á.B.] ist die Sprachkontaktforschung weiterzuführen, wobei auch solche Bereiche zu nennen sind wie die L e h n w o rt f o r s c h u n g in größerem Rahmen u.a. […] K o n t r a s ti v e U n t e r s u c h u n g e n s o l l e n e i n e r s e it s a l s G r u n d l a g e n f o r s c h u n g d i e n e n , a n d e r e r s e it s z u r a n g e w a n d t e n S p r a c h w i s s e n s c h a ft w i e F r e m d s p r a c h e n u n t e r r i c h t o . ä . w i c h t i g e M a t e ri a l i e n l i e f e r n (Hervorhebung: Á.B.). Kontakte und Kontraste im DaF-Unterricht mehr zum Zuge kommen zu lassen verlangt laut Bitter (2013: 412) bei empirisch qualitativ erfassten Meinungen und Erfahrungen sowohl von Lehrenden als auch von Lernenden eine gewisse Affinität zu einer kontrastiven Denkweise. Dies als ein wesentliches Profilelement für den gesamten Deutschunterricht gerade in dieser Region zu betrachten ist übrigens seit längerem auch ein Postulat von Mádl (1998: 565f.): „Da der Unterricht nur auf vergleichender bzw. kontrastiver Ebene möglich ist, müssen spezielle Lehrmaterialien erarbeitet werden“. Da jedoch überwiegend Fachleute wie Lehrwerke aus Deutschland und Österreich prägend wirken, sind eigene Untersuchungen auf kontrastiver Ebene bis heute in den Kinderschuhen stecken geblieben […]. Das hat auch zur Folge, dass man sich gelegentlich auf die eigenen persönlichen Schulerfahrungen verlässt, und der Bereich dadurch manches Substanzielle verliert und zu einer bloßen Vermittlungsinstanz rein methodi- Rolle des Deutschen in Mitteleuropa 35 scher Hinweise herabzusinken droht. An wissenschaftlich qualifizierten Kräften fehlt es hier noch am meisten. 5 Weiterführende Fragen bezüglich möglicher Profilelemente schulischen DaF-Unterrichts in Mitteleuropa Eines der Hauptanliegen meiner Dissertation war es, aufgrund von Erkenntnissen aus Theorie (u.a. Kulturtradition, Sprachtypologie, Spracherwerbsforschung) und Empirie (aktuelle Bedürfnisse infolge jüngster wirtschaftlichpolitischer Entwicklungen) eine mögliche Rolle des Deutschen als erste Schulfremdsprache bzw. seine Eignung als Grundlage für Mehrsprachigkeit in Mitteleuropa zu hinterfragen. Trotz widerstrebender Tendenzen, die v.a. durch die weitere Erstarkung des Alleingeltungsanspruchs des Englischen in beinahe allen Bereichen der internationalen Kommunikation begünstigt werden, sehe ich mit gewissen Einschränkungen unter bestimmten Voraussetzungen Chancen für beide oben genannte Optionen. Eine mögliche Etablierung des Deutschen als erste Schulfremdsprache und ein damit einhergehendes Plädoyer für ihre Eignung als Grundlage für Mehrsprachigkeit in Mitteleuropa gehen den gegenwärtigen Trends entgegen, nach denen in mehreren Ländern Europas das Englische sogar verpflichtend zur ersten Schulfremdsprache erklärt wurde bzw. in der Praxis ohne systematische Reflexion in der Regel das Englische als Brückensprache für das Lernen weiterer Sprachen vorgesehen ist. Dies beweist m.E., dass die Notwendigkeit der Besinnung auf historisch gewachsene Verhältnisse mittlerweile immer weniger ins Gewicht fällt. Der allererste und wichtigste Schritt für die schulische DaF-Didaktik in Ungarn und anderen mitteleuropäischen Ländern in Bezug auf beide oben genannte Optionen wäre m.E., in der Forschung einen Vergleich von L2-Deutsch und L3-Englisch mit L2-Englisch und L3-Deutsch zunächst in den einzelnen Ländern anzuregen und in Gang zu setzen. Dazu gehört sowohl die Analyse von Befragungen zur Sprachenwahl und zum Sprachenlernen wie auch die Untersuchung der Lernersprache. Dadurch könnten zumindest erste Erkenntnisse dazu gewonnen werden, welcher nachweisbare Wahrheitsgehalt der Beobachtung v.a. von Deutschlehrern aus der Region zugeschrieben werden kann, dass Deutschlerner, die mit Englisch anfangen, viel mehr Schwierigkeiten mit dem Lernen des Deutschen haben als umgekehrt, und dass diese schneller mit dem Lernen des Deutschen aufhören und es auf einem niedrigeren Niveau beherrschen als umgekehrt. Von diesen Untersuchungen ausgehend könnte festgestellt werden, welche Profilelemente für den schulischen DaF-Unterricht entwickelt werden können, die nicht nur der historischen Bedeutung des Deut- 36 Ákos Bitter schen in Mitteleuropa Rechnung tragen, sondern nachweisbar auch den Lernaufwand reduzieren oder auf andere Art und Weise die Effektivität des Fremdsprachenlernens (etwa durch Synergien) erhöhen bzw. die Abbruchquote bei Deutschlernern zu vermindern helfen. 6 Literatur Badstübner-Kizik, Camilla (2007): Kontaktdidaktik - ein mögliches Konzept für den DaF-Unterricht in Mitteleuropa? In: Schmitz, Walter (Hrsg.): Zwischeneuropa - Mitteleuropa: Sprache und Literatur in interkultureller Konstellation. Akten des Gründungskongresses des Mitteleuropäischen Germanistenverbandes. Dresden. S. 708-716. Bassola, Péter (2007): Wohin steuert die ungarische Germanistik? In: Tichy, Ellen/ Masát, András (Hrsg.): Jahrbuch der Ungarischen Germanistik. Bonn/ Budapest. S. 18- 20. Bitter, Ákos (2004): Bedeutungswandel und Integrierungsprozess bei Fremd- und Lehnwörtern aus dem Bairisch-Österreichischen im Ungarischen. Auf Spuren eines tausendjährigen bairisch-österreichisch-ungarischen Sprach- und Kulturkontaktes. In: Czicza, Dániel u.a. (Hrsg.): Wertigkeiten, Geschichten und Kontraste. Festschrift für Péter Bassola zum 60. Geburtstag. Szeged. S. 419-434. Bitter, Ákos (2013): Deutsche Sprachelemente im Ungarischen als Hilfen beim kognitiven Erwerb des Deutschen - Einsichten aus Unterrichtseinheiten mit ungarischen Deutschlernern. Hamburg. Földes, Csaba (2007): Deutsch unter den Bedingungen der europäischen Vielsprachigkeit und der Tendenz zur globalen Einsprachigkeit. In: Durrell, Martin/ Földes, Csaba/ Schrodt, Richard/ Siguan, Marisa/ Stickel, Gerhard: Ansprachen - Plenarvorträge - Podiumsdiskussionen - Berichte [etc.]. In: Valentin, Jean-Marie (Hrsg.): Akten des XI. Internationalen Germanistenkongresses Paris 2005. „Germanistik im Konflikt der Kulturen“. Bd. 1. (Jahrbuch für Internationale Germanistik, Reihe A, Kongressberichte; 77). S. 168-170. Grucza, Franciszek (1998): Mitteleuropa - Deutsch - Auslandsgermanistik. In: Grucza, Franciszek (Hrsg.): Deutsch und Auslandsgermanistik in Mitteleuropa. Geschichte - Stand - Ausblicke. Warszawa. S. 27-42. Mádl, Antal (1998): Statement zum Podium „Standortgebundenheit und Rückbezüglichkeit der Germanistik“ In: Grucza, Franciszek (Hrsg.): Deutsch und Auslandsgermanistik in Mitteleuropa. Geschichte - Stand - Ausblicke. Warszawa. S. 561-567. Newerkla, Stefan Michael (2002): Sprachliche Konvergenzprozesse in Mitteleuropa. In: Kakanien Revisited, 17.09.2002. S. 1-10. Darstellung interethnischer Beziehungen im kulturellen Bereich in siebenbürgischen Zeitungen Enikő Dácz (München) Zusammenfassung Die vorliegende Studie bietet einen knappen Einblick in ein umfassenderes Projekt zu interethnischen Beziehungen in Siebenbürgen, indem sie einige zentrale Aspekte aus der semantischen Inhaltsanalyse von Zeitungsartikeln schildert. Das Augenmerk gilt der Darstellung des lokalen kulturellen Lebens in drei repräsentativen Blättern der Ungarn, Sachsen und Rumänen aus unterschiedlichen regionalen Zentren, wobei die Frage zu beantworten ist, wie ethnische Differenzen zu Beginn des 20. Jahrhunderts konstruiert und reproduziert wurden. 1 Theoretische und methodische Voraussetzungen Eine Untersuchung der Darstellung von Kultur in der Presse bedarf der Erläuterung, wie der schillernde zentrale Begriff verstanden wird und welche Gebiete er in der vorliegenden Interpretation abdeckt. Die bestbekannte ethnologische Lesart von Geertz (1987: 9) deutet Kultur als ein selbstgesponnenes Bedeutungsgewebe; und „ihre Untersuchung ist daher keine experimentelle Wissenschaft, die nach Gesetzen sucht, sondern eine interpretierende, die nach Bedeutungen sucht“. Es handelt sich somit um das „Deuten gesellschaftlicher Ausdrucksformen“ (9), und Kultur wird als Rahmen der Interpretation verstanden. Ebenso weit fasst Gellner (1995: 16) Kultur als „ein System von Gedanken, Zeichen, Assoziationen, Verhaltens- und Kommunikationsweisen“ auf. Da analoge Definitionen alle Bereiche des Lebens umfassen können, muss der Terminus für die Zwecke dieser Untersuchung weiter präzisiert werden. Dies kann erfolgen, wenn er mit einem anderen Schlüsselwort verknüpft wird, das im Kontext interethnischer Beziehungen gebraucht wird: dem Nationalismus. Hutchinson (1994: 39-64), der zwischen kulturellem und politischem Nationalismus differenziert, sieht in ersterem einen zentralen Faktor ideologischer Art, der bei der Herausbildung der Nationalstaaten von Relevanz ist. Aufgabe des kulturellen Nationalismus ist die „Regeneration der eigenen Gemeinschaft“ (41), wobei zu betonen ist, dass die zwei Arten des Nationalismus oft schwer zu unterscheiden sind und der kulturelle Nationalismus dazu neigt, zum politi- 38 Enikő Dácz schen zu werden. Da Hutchinson zu sehr die ideologische Seite betont und die Gründung eines nationalen Mythos bei ihm zentral ist, wäre eine Deutung in seinem Sinne für die vorliegende Studie nicht weiterführend. Viel produktiver scheinen die Ansätze, die die Elemente der Kultur einer Nation untersuchen, bei welchen Nation und ethnische Kategorien in der Öffentlichkeit, in Politik, Medien usw. als Konstruktionen betrachtet werden und Ethnizität als sich in den alltäglichen Interaktionen manifestierende Praxis verstanden wird, wie z.B. bei Feischmidt (2003: 15f.). Auf eine Übersicht über die fast unüberschaubare einschlägige Fachliteratur muss in diesem Rahmen verzichtet werden. Es bedarf jedoch des Hinweises, dass der theoretische Hintergrund der Analyse aus der Kombination unterschiedlicher Ansätze besteht. Das hier vertretene Verständnis der Kultur einer Nation geht auf Szpocinskis (1998: 39-46) Deutung zurück, in welcher Kultur aus denjenigen Werten, Gedanken, Normen und Verhaltensmustern besteht, die von der Gemeinschaft akzeptiert werden. Ihre Vermittlung erfolgt in Schulen, Kirchen und kulturellen Institutionen bzw. Vereinen. Wenn also die Untersuchung nach der Darstellung der Kultur fragt, betrachtet sie die Bereiche des Schulwesens, der Kirche, der Vereine, des musikalischen und des Theaterlebens. Gegenstand der Untersuchung sind drei siebenbürgische Zeitungen, bei deren Auswahl darauf geachtet wurde, dass sie zwischen 1900 und 1914 ununterbrochen erschienen, da das Projekt, im Rahmen dessen die vorliegende Untersuchung ausgeführt wird, den interethnischen Beziehungen in der Presse bzw. im Alltag nachgeht und diese Zeitspanne fokussiert. Im Gegensatz zu den vorliegenden Untersuchungen, die sich auf eine oder zwei Nationalitäten beschränken, werden die drei wichtigsten - Rumänen, Ungarn, Deutsche - in die Analyse einbezogen. 1900 gilt als Anfangsjahr, weil die rumänische Schulfrage in Brașov/ Kronstadt/ Brassó ab diesem Zeitpunkt als gelöst betrachtet werden kann 1 , wodurch die rumänisch-ungarischen zwischenstaatlichen Probleme, die sich auch auf die lokale Ebene (hierdurch auf das in den Zeitungen geschilderte Bild der interethnischen Beziehungen) auswirkten, bewältigt wurden. Der Ausbruch des Weltkrieges ist im Rahmenprojekt das abschließende Moment der Zeitspanne, da er eine starke Zäsur darstellt und den interethnischen Beziehungen neue Dimensionen verleiht. Die vorliegende Untersuchung beschränkt sich auf die bis jetzt gänzlich aufgearbeitete erste Hälfte dieser Periode (1900-1907), die laut der Einteilung von Fleisz (2005: 11) eine dynamische Phase der modernen ungarischen Pressegeschichte dokumentiert. 1 Die Finanzierung des rumänischen Kronstädter Gymnasiums, insbesondere die rumänische Unterstützung, war lange Zeit eine ungeklärte und konfliktreiche Angelegenheit. Darstellung interethnischer Beziehungen 39 Die Organe sollten weiterhin ein möglichst breites Gebiet abdecken. In diesem Sinne wurde ein Blatt jeder Nationalität aus unterschiedlichen Zentren der Region in die Analyse einbezogen: aus Kronstadt, Sibiu/ Hermannstadt/ Szeben und Cluj/ Kolozsvár/ Klausenburg. Um mehrere Weltansichten einblenden zu können und nicht den bekannten offiziellen Diskurs zu reproduzieren, wurden Vertreter der maßgebenden regionalen Stimmen (der Sachsen, Ungarn und der Rumänen, die sich für die Aktivität engagierten) aufgenommen. Ebenso sollten unterschiedliche Sparten des sozialen Lebens in Betracht gezogen werden. So ist die rumänische Zeitung eine kirchliche, die sich jedoch stark politisch engagiert und ein maßgebender Faktor im rumänischen Milieu ist. Somit wird der besonders wichtigen Verbindung der kirchlichen und politischen Sphäre bei den Rumänen Rechnung getragen. „Ellenzék“ [„Opposition“], „Telegraful Român“ [„Rumänischer Telegraph“] und „Kronstädter Zeitung“ sind in der hier vertretenen Sicht aufgrund der genannten Aspekte gute Grundlagen für ein nuancenreiches Bild der Problematik. Methodisch greift das Rahmenprojekt und somit die vorliegende Untersuchung auf die sozialwissenschaftliche Verfahrensweise der Inhaltsanalyse zurück. Die ausgewählten Zeitungen werden im Rahmenprojekt einer semantischen Inhaltsanalyse unterzogen, 2 die am Thema der rumänisch-deutschungarischen Beziehungen auf der Ebene der Artikel bzw. Meldungen (welche die Codiereinheiten ergeben) interessiert ist. 3 Die vorgefundenen Themen werden aufgrund von Hypothesen strukturiert und in einem Kategoriensystem zusammengefasst, das als Basis der Analyse dient. Die Hauptkategorien sind die folgenden: politisches Leben, kulturelles Leben, Wirtschaft, Konflikte und Bündnisse, Alltagsleben. Um die Analyse des kulturellen Bereichs vertiefen zu können, kann auf eine nähere Erläuterung der Methodik, die auf Früh (2001) zurückgeht, im vorliegenden beschränkten Rahmen nicht eingegangen werden, ebenso wenig auf eine umfassende Betrachtung der einzelnen Analysekategorien, deren Erläuterung die Autorin andernorts unternahm (Dácz 2013: 29). 2 Wahrnehmungen und Konstruktionen im kulturellen Bereich Die Auswahl des Kulturbereiches lässt sich neben seiner Relevanz in den nationalen Bewegungen auch mit ihrem zweiten Platz bei der Darstellung intereth- 2 Krippendorf (1980: 33ff.) differenziert drei Typen der Inhaltsanalyse: eine pragmatische, eine semantische und eine Zeichenanalyse. 3 Neben Artikeln sind Meldungen, obwohl wesentlich kürzer, als Codiereinheiten von maßgebender Relevanz, da lokale Nachrichten sehr oft in dieser Form verfasst werden. 40 Enikő Dácz nischer Beziehungen in den ausgewählten Medien begründen (Dácz 2013: 29). Die Rivalität zwischen den drei Nationalitäten, die alle Sphären durchdrang, lässt sich natürlich auch hier erfassen und kann als zentrales wiederkehrendes Motiv ausgewiesen werden. Ein Paradebeispiel dafür bietet die „Ellenzék“, die als Verkünderin der ungarischen Suprematie mit der sächsischen Vergangenheit der eigenen Stadt nicht umgehen konnte. Als die „Kronstädter Zeitung“ über die sächsische Gründung von Klausenburg schrieb und in einem Leitartikel über die Bethlen Bastei behauptete, sie sei von Sachsen gebaut worden, reagierte das ungarische Blatt im Artikel „A szászok és a Bethlen bástya“ [„Die Sachsen und die Bethlen Bastei“] im sarkastischen Ton und warf dem Verfasser „Sachsenmanie“ vor, ohne jedoch Argumente anführen zu können (30.5.1900: 3). Ebenso offensiv war der Ton als die „Ellenzék“ die Rolle des EMKE (Erdélyi Magyar Közművelődési Egyesület - Siebenbürgischer Ungarischer Bildungsverein) thematisierte. Aus der Perspektive des ungarischen Blattes war die verfehlte offizielle Kulturpolitik der Grund für die ungünstige Lage der Ungarn in Siebenbürgen, für die der EMKE und sein Scheitern in Erfüllung seiner kulturellen Mission geradezu als Paradebeispiel galten. Als Erfolg wurde dagegen die Aktivität der Bank „Albina“ bezeichnet, die das rumänische kulturelle Leben auch indirekt durch ihre Agraraktivität unterstützte, indem sie den Kauf von Feldern finanzierte. Es zeigt sich in solchen Fällen, dass die Trennung der unterschiedlichen Sphären (Wirtschaft, Kultur, Politik) nicht gänzlich umsetzbar ist. Es ist zu betonen, dass die Kategorisierung analytischen Zwecken dient, jedoch keine Isolation der Bereiche bedeutet. Auf das Scheitern der ungarischen Kulturpolitik gegenüber den Nationalitäten ging auch der „Telegraful Român“ durch den Abdruck des Artikels „Mărturisiri“ [„Geständnisse“] (24.4.1902: 2) aus der „Magyar Hírlap“ [„Ungarisches Nachrichtenblatt“] ein. Darin wurde das stete Wachstum der rumänischen Intelligenz konstatiert, was teilweise auf die Resistenz zurückgeführt wurde, die man durch die Unterdrückung der rumänischen Studentenschaft erzeugt hatte. Das Fazit des Artikels betonte die verstärkte Rolle der Rumänen: Românimea azi nu numai ca massă, ci și ca element cultural pětrunde neîntrerupt nu numai în văile locuite de Magiari, ci și în orașe. [Das Rumänentum drängt heute nicht nur als Masse, sondern auch als kulturelles Element kontinuierlich nicht nur in die von den Ungarn bewohnten Täler, sondern auch in die Städte ein]. Das Ungartum sah sich also zwischen einer sächsisch geprägten Vergangenheit und einer viel versprechenden rumänischen Zukunft gefangen. Das allgemein düstere Bild, das als Resultat der gescheiterten ungarischen Kulturpolitik verstanden wurde, lässt sich nuancieren, wenn man einzelne Bereiche näher be- Darstellung interethnischer Beziehungen 41 trachtet. Eine Differenzierung innerhalb des Terrains zeigt, dass das Interesse der Medien in bedeutendem Maße divergierte. Erwartungsgemäß fokussierte die sonst am wenigsten an kulturellen Angelegenheiten interessierte „Ellenzék“ die Sphären der Kultur 4 , die von der zentralen Macht abhingen: An erster Stelle stand die Kirche (mit 39,6 % der einschlägigen Artikel), gefolgt vom Schulwesen bzw. Universitätsleben (24,5 %). Die Vereine/ Museen und Kasinos waren (mit 14,5 %) auf dem dritten Platz. Das musikalische-, literarische- und Theaterleben waren für die „Ellenzék“ weniger interessant (beide 10,7 %). Andere Prioritäten wies der „Telegraful Român“ auf, in dem innerhalb des kulturellen Bereichs über das Musikleben am häufigsten berichtet wurde (33,8 %), gefolgt von Artikeln über Theater sowie Literatur (26,5 %) und dem Schulbzw. Universitätsleben (23,5 %). Analog dazu beschäftigte sich die „Kronstädter Zeitung“ mit dem Musikleben am meisten (26,6 % der einschlägigen Artikel), wobei auch sehr reges Interesse für das Theaterleben belegt werden kann (25,7 %). Die kirchlichen Fragen standen an dritter Stelle (18,1 %). Eine detaillierte Übersicht der Verteilung der thematischen Schwerpunkte bietet Dácz an (2013: 25ff.). Das Bild der ungarischen Zeitung vom kulturellen Zusammenleben stand aufgrund der obigen Prioritätenliste im Zeichen der, wie es Gellner (1995: 89) bezeichnete, klassischen Habsburg-Form des Nationalismus, in dem die Machthaber privilegierten Zugang zur Hochkultur haben. Folgt man dem Gedankengang von Gellner (1995: 146) weiter, verfügen in der Habsburg-Form des Nationalismus die einzelnen ethnischen Gruppen der machtlosen Schicht über gemeinsame Volkskulturen, die mit einiger Anstrengung und Propaganda in eine rivalisierende Hochkultur verwandelt werden können. Aus dieser Perspektive ist also die Diskrepanz zu sehen, die sich in der Darstellung des kulturellen Lebens im „Telegraful Român“ bzw. in der „Kronstädter Zeitung“ im Vergleich zur „Ellenzék“ beobachten lässt. Die Bereiche des Musiklebens, des Theaters bezeugten den Stand der Entwicklungen in der eigenen Kultur, während die von der Macht abhängigen Sphären die Bestrebungen des Zentrums belegten. In diesem Sinne entspricht es den Erwartungen, dass die am negativsten beurteilte kulturelle Sphäre in allen drei Zeitungen das Unterrichtswesen war (82,1 % der einschlägigen Beiträge in „Ellenzék“, 53,1 % im „Telegraful Român“ und 61,9 % in der „Kronstädter Zeitung“), gefolgt von der Kirche (58,7 % in der 4 In der „Ellenzék“ gibt es 158, im „Telegraful Român“ 132, in der „Kronstädter Zeitung“ 332 einschlägige Beiträge, insgesamt 622. Die niedrigste Zahl im Falle des rumänischen Blattes lässt sich damit erklären, dass diese Zeitung im Unterschied zu den anderen zwei, die täglich erschienen, nur dreimal pro Woche gedruckt wurde. Aus diesem Grunde liegt dem Vergleich die prozentuale Verteilung der Artikel zugrunde. 42 Enikő Dácz „Ellenzék“, 28,6 % im „Telegraful Român“, wobei das lediglich zwei Artikel bedeutet und 37,1 % in der „Kronstädter Zeitung“) bzw. dem Vereinswesen (50 % in der „Ellenzék“, 21,4 % im „Telegraful Român“, d.h. drei Artikel, und 8,5 % in der „Kronstädter Zeitung“). Die übereinstimmende Reihenfolge widerspiegelt das gleiche nationale Denkmuster bezüglich der Kultur, Divergenzen lassen sich allein in der Stärke der Tendenzen aufweisen. Wendet man sich nun näher jenem Bereich der Kultur zu, der am stärksten von der Macht beeinflusst wurde und wie gezeigt, eindeutig am negativsten erschien, dem Schulwesen, kann in der ungarischen Zeitung der Hauptgrund der Kritik in der Einstellung der Lehrerschaft gefunden werden. In der „Ellenzék“ wurde den sächsischen und rumänischen Lehrern mehrfach unpatriotische Gesinnung vorgeworfen, so z.B. einem Lehrer in Kronstadt im Artikel „Egy tanár ellen“ [„Gegen einen Lehrer“] (18.01.1907: 4). Gegen ihn protestierten seine Schüler. Ebenso gab es Fälle, wie es die „Ellenzék“ zu berichten wusste (05.12.1906: 4), bei denen rumänische Schüler gegen ungarische Lehrkräfte auftraten. 1904 wurde über die Wahl einer sächsischen Direktorin in einer ungarischen Schule in Odorheiu Secuiesc/ Székelyudvar/ Oderhellen in derselben Zeitung berichtet und konstatiert, dass in der Stadt die Sachsen immer dominanter werden (02.07.1904: 5). Oft stand im Mittelpunkt der Kritik die Aktivität des Gustav-Adolf-Vereins oder einzelner Schulen der Nationalitäten. Plädiert wurde immer wieder für die Gründung neuer ungarischer Schulen. 1907 berichtete die „Ellenzék“ über den Protest gegen den Entwurf der Lex Apponyi, was die Anzahl der Artikel zu kulturellen Themen generell, wie auch im Falle des Kronstädter Blattes, erhöhte. In der rumänischen Zeitung wiederum wurde das Thema als politischer Angriff gedeutet, wodurch der Anteil der politischen Schriften stieg. Die „Kronstädter Zeitung“ kritisierte in diesem Bereich vor allem die staatlichen Bestrebungen, das Unterrichtswesen der Nationalitäten zu schwächen und selbstverständlich verteidigte sie die in den Medien angegriffenen eigenen Schulen. In diesem Sinne beschäftigte sie sich mit den Vorfällen im Sächsisch- Reener Gymnasium, wo laut ungarischen Pressemeldungen der Direktor den Schülern verboten hatte, am ungarischen Nationalfeiertag Kokarden zu tragen (26.04.1901: 2). Die Meldung wurde dementiert und zugleich als Argument gegen die Vorwürfe betont, dass die Hälfte der Schüler des Instituts ungarisch sei. Den Grund für das grundsätzliche Misstrauen, dass den Schulen entgegengebracht wurde, formulierte der Redakteur der „Ellenzék“, der von der „Kronstädter Zeitung“ zitiert wurde: [S]olche Gymnasien aber, die im Geiste Schillers und Goethes erziehen, mögen geeignet sein, brave Leute zu erziehen, gute Magyaren erziehen sie nicht (27.02. 1901: 2). Darstellung interethnischer Beziehungen 43 Der „Telegraful Român“ zeichnete seinerseits ein düsteres Bild von der ungarischen Schülerschaft, die ausschließlich im negativen Kontext erscheint. In diesem Sinne wurde ironisch über die „patriotische Wut“ der Schülerschaft berichtet, die die Fenster einer rumänischen Bank einschlug (19.03.1901: 3). Ähnliche Meldungen in derselben Zeitung verstärkten gegenseitig die negativen Stereotype (19.05.1904: 2), die so wirkungsvoll waren, dass sie bei einigen Skepsis erweckten, als ein Mitglied der eigenen Gemeinschaft von den anderen Nationalitäten gepriesen wurde. Ein von Ungarn gelobter rumänischer Lehrer rief laut „Telegraful Român“ bei den Rumänen Missmut hervor (16.05.1903: 2). Berichtet wurde immer wieder über Fälle, in denen Schüler wegen ihrer Nationalität diskriminiert oder der Schule verwiesen wurden. Das passierte auch im Falle der Jugendlichen aus einer achten Klasse, die die Schule verlassen mussten, weil sie einen Protestbrief unterschrieben hatten. Sie wurden härter bestraft als ihre ungarischen Kommilitonen. Hierzu bemerkte die Redaktion des orthodoxen Blattes, dass man den Rumänen immer wieder den Vorwurf mache, dass sie sich nicht um die Integration in die ungarische Gesellschaft bemühen würden. Wenn sie dies dennoch täten, wie die rumänischen Schüler der ungarischen Schule, behandle man sie auch anders (16.01.1900: 3). Wenn man das Schulwesen nicht als ein von der Macht abhängiges System betrachtet, sondern auf der Ebene einer kleineren Gemeinschaft, stellt sich heraus, dass die Nationalitäten für die Unterstützung einzelner lokaler Initiativen zusammenarbeiteten. So spendeten sowohl Ungarn als auch Sachsen regelmäßig Geld, wenn für lokale rumänische Schulen gesammelt wurde, wie es u.a. die Spenderlisten im „Telegraful Român“ bezeugen (u.a. 08.03.1902: 3, 13.03.1902: 3, 29.05.1902: 3, 31.05.1902: 3). Wie sehr sich die unterschiedlichen Ebenen (nationale und lokale) des kulturellen Lebens differenzieren, bezeugt auch das Beispiel des Hermannstädter Gymnasialdirektors. Über Professor Szöcs und seine journalistische Tätigkeit berichteten mehrere Artikel des „Telegraful Român“. Der Leiter der Schule verfasste immer wieder Schriften, in denen er für eine Zusammenarbeit mit den Rumänen plädierte oder die oft angegriffene Bank „Albina“ verteidigte. Er betonte auch, dass diese Bank seine Schule regelmäßig unterstütze (04.04.1903: 2). Als Szöcs die Schönheit der orthodoxen Kirche lobte und ein Buch mit dem Titel „Die Suprematie der ungarischen Rasse und die Bestrebungen der Nationalitäten“ veröffentlichte, ging die Zeitung schon in ihrer Ankündigung von einer objektiven Beurteilung der Situation aus (10.08.1905: 2). Der Direktor meldete sich selbst zu Wort und bedankte sich für die Unterstützung des Blattes. Im Falle von Szöcs kann eine bewusste und langfristige Kooperationsstrategie erkannt werden, was auch seine späteren Wortmeldungen in ungarischen Zeitungen bezeugten, die der „Telegraful Român“ regelmäßig, stellenweise auch im Leitartikel reflektierte (11.01.1906: 1). 44 Enikő Dácz Die zweite zu fokussierende Sphäre der Kultur ist die kirchliche, die ebenso von der zentralen Macht abhängt und ein maßgebender Faktor im Nation- Building-Prozess ist. Über die Tätigkeit der Kirche bzw. der Priester unterschiedlicher Konfessionen berichteten die „Ellenzék“ und die „Kronstädter Zeitung“. Der „Telegraful Român“ widmete dem Thema in den untersuchten acht Jahren bloß sieben Artikel, was einerseits bei einem orthodoxen kirchlichen Blatt überraschend wirkt, andererseits als Hinweis darauf zu deuten ist, dass offene Konflikte vermieden wurden; die Angriffe anderer Medien gegen die orthodoxe Kirche reflektierte die Zeitung gar nicht. Das ungarische Blatt war in kirchlichen Angelegenheiten ähnlich offensiv wie bei politischen und neigte zur Verallgemeinerung und Vereinfachung. Der rumänische Pope wurde in der „Ellenzék“ tendenziell negativ dargestellt und passte ins Schema des fanatischen Nationalisten. In diesem Sinne berichtete man unter dem Titel „Oláh fanatizmus“ [„Walachischer Fanatismus“] über einen Popen, der ein rumänisches Kind nicht taufte, weil eine ungarische Hebamme es zu ihm brachte (08.03.1900: 3). Wie in anderen Fällen benutzte die Redaktion mit Vorliebe ein abwertendes Vokabular und bezeichnete die Geste des Popen, ohne die Hintergründe der Geschichte zu kennen, als „barbarisch“. Die orthodoxen Priester wurden in Hetzartikeln der „Ellenzék“, wie z.B. „A magyar-gyülölő pap“ [„Der die Ungarn hassende Priester“] (16.12.1902: 1), als die heftigsten Agitatoren dargestellt, die die Kinder im feindlichen Geist erzogen. Der größte und stets wiederholte Vorwurf gegenüber den rumänischen Pfarrern war, dass sie für rumänische Banken, hauptsächlich die „Albina“, arbeiteten. Der von Stereotypen beladene Typus des rumänischen Priesters erschien nicht allein in den Zeitungen, er war auch das Thema eines Theaterstückes, worüber berichtet wurde und gegen das die Rumänen angeblich demonstrieren wollten. Die Demonstration fand laut „Ellenzék“ nicht statt (06.02.1904: 5), alle Karten wurden aber für das bekannt gewordene Stück verkauft. Die „Kronstädter Zeitung“ berichtete dem ungarischen Organ ähnlich oft über Popen und ihre Prozesse (31.12.1906: 3), vermied jedoch die Bewertung der Vorfälle. Die Tatsache, dass die rumänischen Priester dennoch meistens im Zusammenhang mit negativen Ereignissen erwähnt wurden, mag ein negatives Bild und Vorurteile unterstützt haben. Außerdem griff das Blatt von Zeit zu Zeit die katholische Kirche an und berichtete über einzelne Übertritte aus der katholischen in die evangelische Kirche. Jeder Übertritt wurde als Zeichen der Verstärkung sächsischer Identität betrachtet. In der „Ellenzék“ erschien der rumänische Pfarrer in einigen wenigen Fällen als positive Figur. Gelobt wurde zum Beispiel ein Pope, weil er sich über ihm zugesandte deutsche Kataloge beschwert hatte (19.07.1901: 3). Ebenso wurde der orthodoxe Priester aus Neumarkt wegen seiner ungarischen Gesinnung gelobt und verteidigt, als er von seinem Bischof versetzt wurde (15.08.1902: 3). Darstellung interethnischer Beziehungen 45 Im Unterschied zur orthodoxen Kirche setzte sich die „Ellenzék“ mit der evangelischen Kirche der Sachsen weniger auseinander. Wenn sie erwähnt wurde, ging es um neutrale Berichte oder Lob, wie im Falle des Jubiläums von Adolf Schullerus, dessen Toleranz man in einem Leserbrief würdigte (21.03. 1907: 2). Die einzige explizite Kritik bezog sich auf die evangelische Kirche in Klausenburg, in der der Gebrauch der deutschen Sprache als überflüssig benannt und getadelt wurde (28.12.1907: 4). Trotz der Kritik, die in den Artikeln zu kirchlichen Themen dominierten, bezeugt die Rubrik „Öffentlicher Dank“ des rumänischen Blattes, ähnlich wie bei den Schulen, dass auch Ungarn und Sachsen für rumänische Kirchen spendeten, wenn zu diesem Zweck eine festliche Veranstaltung organisiert wurde. Bezüglich der Darstellung des Kirchen- und Unterrichtwesens lässt sich insgesamt sagen, dass trotz der dominierenden negativen Tendenzen auf lokaler Ebene in beiden Bereichen Kooperation nachgewiesen werden kann. Im folgenden Schritt sollen die Bereiche der kulturellen Sphäre im Mittelpunkt stehen, die dem Einfluss der Macht teilweise oder gänzlich entzogen sind. Das trifft im Falle der Vereine nur mit gewissen Beschränkungen zu. Man muss zwischen den kleinen lokalen Vereinen und solchen unterscheiden, die auf nationaler Ebene tätig waren und kulturpolitische Zwecke verfolgten. Zu denken ist an EMKE, ASTRA (Asociaţiunea Transilvană pentru Literatura Română şi Cultura Poporului Român - Siebenbürgischer Verein für Rumänische Literatur und Volkskultur) und den Verein für Siebenbürgische Landeskunde. Diese Verbände hatten eine eminent politische Rolle und kämpften entweder für (EMKE) oder gegen (die anderen zwei) die ungarische Kulturpolitik. So waren auch die entsprechenden Artikel meistens negativ ausgerichtet. Anders verhielt es sich mit den Verbänden, die lokale oder regionale Relevanz hatten. In diesem Sinne schrieb die „Ellenzék“ (03.01.1900: 2) über eine ethnographische Ausstellung einer Filiale des EKE (Erdélyi Kárpát Egyesület - Siebenbürgischer Karpatenverein). In dem eingerichteten Haus wurde neben einem ungarischen auch ein sächsisches Zimmer gezeigt. Der Bericht ist knapp, objektiv und deutet erneut darauf hin, dass auf der kulturellen Ebene die interethnische Kooperation funktionieren konnte, wenn gemeinsame Ziele verfolgt wurden. Dasselbe bezeugt eine Meldung des „Telegraful Român“ (30.09.1900: 3), die über sächsische Feierlichkeiten und eine Ausstellung berichtete, zu der auch ein rumänischer Künstler eingeladen wurde. Im Unterschied zu den anderen zwei Medien, die dem Thema weniger Relevanz zuschrieben 5 , berichtete die „Kronstädter Zeitung“ regelmäßig über die Tätigkeit der rumänischen Vereine und die rumänischen Vorträge. Sie kündigte 5 In der „Ellenzék“ konnten insgesamt 22, im rumänischen Blatt 14 Artikel gefunden werden. 46 Enikő Dácz alle Veranstaltungen dieser Art an und widmete ebenso viel Aufmerksamkeit den Bällen der unterschiedlichen städtischen Vereine und notierte, lobende Worte nicht vergessend, die Anwesenheit aller drei Nationalitäten. Die Wohltätigkeits- und Frauenvereine wurden in allen drei Medien ausschließlich im positiven Kontext erwähnt, ihre Tätigkeit überwand eindeutig ethnische Grenzen. Die Bälle erwiesen sich auch als gemeinsame Anlässe, der „Telegraful Român“ bemerkt stellenweise die Teilnahme der „Fremden“, was einerseits positiv, andererseits negativ gedeutet werden kann, da durch das Wort străin [Fremde] zugleich eine scharfe Abgrenzung gegenüber Ungarn und Deutschen erfolgte. Ähnlich verhält es sich mit einem Bericht der „Ellenzék“ (26.08.1903: 1) über ein rumänisches Fest in Miereschhall, bei dem auch Ungarn anwesend waren, die jedoch die ungarische Volksmusik und die Fahne vermissten. Ebenso zwiespältig ist ein weiterer eingesandter Brief eines Lesers in derselben Zeitung (30.01.1902: 2), der sich darüber beschwert, dass der lokale Leserklub in Miereschhall deutsche Zeitungen abonniert. Einerseits bezeugt das, dass Ungarn und Sachsen im Klub vertreten waren, andererseits, dass es auch Gegner einer solchen Zusammenarbeit gab. Der „Telegraful Român“ und die „Kronstädter Zeitung“ widmeten nicht nur der Kultur insgesamt mehr Aufmerksamkeit, sie wiesen darüber hinaus weitere Gemeinsamkeiten auf. In beiden Presseorganen war das Musikleben das am meisten erwähnte Gebiet, was auf die florierenden Gesangsvereine zurückgeführt werden kann. Nicht aufgenommen wurden in die Inventarisierung Anzeigen, die regelmäßig, manchmal fast täglich, Konzerte ankündigten, weil sich dadurch die thematische Verteilung wesentlich verändert hätte. Die Übersiedlung von Gheorghe Dima 6 und seiner Frau nach Brașov scheint im Lichte der sächsischen Zeitung ein wichtiger Faktor für die Annäherung aller drei Nationalitäten gewesen zu sein. Der „Telegraful Român“ (06.02.1900: 1) berichtete auch über die Aktivität und den Einfluss Dimas in seiner neuen Stadt und berief sich dabei auf die „Kronstädter Zeitung“. Die Berichte des sächsischen Blattes bezogen sich nicht allein auf die musikalische Produktion, sondern gingen auch auf das Publikum ein. Es wurde immer wieder erwähnt, dass im Publikum Repräsentanten aller drei Nationalitäten vertreten waren. Das sächsische Blatt ließ eine intensive rumänisch-sächsische Kooperation in diesem Bereich nachvollziehen, die sich sowohl auf gemeinsame Auftritte als auch auf gemischte Programme bezog, d.h., rumänische und deutsche Lieder oder Stücke wurden vorgetragen. Die „Kronstädter Zeitung“ (10.01.1907: 3) sprach sogar von einem „musikalischen Zweibund“. Kritische Töne schwangen im selben Organ (16.09.1905: 3) stellenweise mit, als bei 6 Bekannter rumänischer Komponist der Jahrhundertwende, der nach seinen Studien in Graz und Leipzig in Sibiu und Brașov tätig war. Darstellung interethnischer Beziehungen 47 den Berichten darauf hingewiesen wurde, dass die Rumänen ihre Konzerte spärlich besuchten. Die sächsische Zeitung (19.11.1907: 2) bemerkte den Mangel an interessiertem Publikum auch im Falle der ungarischen Musikabende. Die „Ellenzék“ lobte manchmal das musikalische Leben in Kronstadt, wobei über das Lob hinaus im Hintergrund auch negative Töne mitschwangen, wenn etwa einer der Verfasser das Fazit zog, dass das musikalische Leben in Kronstadt von Sachsen geprägt sei. Die Kronstädter seien auch im musikalischen Bereich Chauvinisten, worum man sie nur beneiden könne (16.03.1907: 3). Interessant ist die Reaktion der Leserschaft, als die „Ellenzék“ (11.05.1901: 3) einen ungarischen Kronstädter Lehrer angriff, weil er im sächsischen Chor mitgesungen hatte. Ihm wurde Kollaboration mit den Sachsen vorgeworfen. Wie wichtig dieser Fall war, zeigt die Tatsache, dass die Antwort mehrerer ungarischer Kronstädter, die sich gegen den Angriff wehrten, auf dem Titelblatt erschien (20.05.1901: 1). Bemerkenswert ist die Begründung ihrer Haltung gegenüber den Sachsen. Die Verfasser beriefen sich darauf, dass eine Minderheit auf den „guten Willen und die Liebe der Mehrheit“ angewiesen sei. Die zum Ausdruck gebrachte Ansicht, dass die sächsische Minderheit als ein kleines Kollektiv auf das Wohlwollen der Ungarn angewiesen sei, sowie die Betonung der Zusammenarbeit der Nationalitäten und die Abgrenzung gegenüber dem ersten feindlich gesinnten Artikel bezeugen erneut die verbindende Rolle der Kultur. Die Überheblichkeit, die im Artikel auch mitschwang, wurde auch in der Antwort des angegriffenen Lehrers spürbar (21.05.1901: 2). Über einen ähnlichen Fall berichtete dieselbe Zeitung (21.5.1901: 2) auch aus Odorheiu Secuiesc, wo die ungarischen Mitbürger die dortige deutschsprachige Bevölkerung verteidigten. In allen drei Zeitungen gibt es Artikel oder Meldungen aus dem literarischen Bereich und dem Theaterleben. 7 Der „Telegraful Român“ veröffentlichte relativ selten Berichte über diese Sphäre, ihre absolute Zahl erreichte 35, in der „Ellenzék“ bloß 17. Der „Telegraful Român“ (24.11.1900: 3) referierte unter anderem auch über eine ungarische Konferenz über Vasile Alexandri, ohne der Meldung irgendeinen Kommentar beizufügen. Alle drei Medien gingen von Zeit zu Zeit auf die neuesten Bucherscheinungen ein, weiterhin machte auch die rumänische Zeitung Werbung für die Kulturzeitschrift „Karpathen“ (17.09. 1907: 3). 7 Wie im Falle der musikalischen Veranstaltungen wurden die abgedruckten Programme des Stadttheaters in Sibiu nicht inventarisiert, da es sich um einfache Ankündigungen handelte, die Stücke in anderen Sprachen wurden immer bekannt gemacht. Da auch diese Ankündigungen meistens täglich erschienen, hätte ihre hohe Anzahl ebenso wie im Falle der Musikveranstaltungen das Bild verzerrt. 48 Enikő Dácz Die „Kronstädter Zeitung“ lobte die Theatervorstellungen oder die literarischen Werke am häufigsten. Die „Ellenzék“ würdigte mehrfach (z.B. 01.03.1900: 3) die Stücke von Gergely Moldován, einem „Vorzeigerumänen“ in ungarischen Kreisen, dessen Dramen, durch die er dem ungarischen Publikum die rumänische Kultur näher zu bringen bezweckte, in Cluj oft auf dem Spielplan standen. Über die Tätigkeit von Moldován wird in derselben Zeitung auch sonst referiert, so z.B. als er bei der Siebenbürgischen Literarischen Gesellschaft eine Vorlesung hielt (25.01.1904: 2). Auf den Seiten der „Ellenzék“ verteidigte sich Moldován, als er von Kollegen angegriffen wurde (01.03.1904: 2). Die Zeitung vergaß ebenso nicht über ungarische Gastspiele auf sächsischem Gebiet zu berichten (10.04.1900: 3) und zu unterstreichen, dass die rumänische und die deutsche intellektuelle Schicht vertreten waren. Genauso verhielt sich der „Telegraful Român“, wenn rumänisches Theater in Reps gespielt wurde. Er berichtet (16.05.1903: 2) über den Erfolg und das gemischte Publikum, in dem sowohl Sachsen als auch Ungarn saßen. Der Hinweis belegt zugleich, dass diese Art des interethnischen Austausches auf die Elite begrenzt war. Obwohl das Theater und die Literatur meistens als Verknüpfungspunkte zwischen den Nationalitäten erschienen, gab es auch einige Gegenbeispiele. In dieser Hinsicht ist ein Fall aus Sibiu zu nennen, der gleichzeitig die Vorteile der parallelen Betrachtung der Zeitungen veranschaulicht. Laut einem der „Ellenzék“ vorliegenden Leserbrief wurde ein Schauspieler (Alföldi) vom Publikum wegen seines ungarischen Namens ausgepfiffen (03.01.1901: 2). Die Redaktion schloss sich der Empörung des Verfassers an, sollte die Geschichte tatsächlich stimmen. Die „Kronstädter Zeitung“ berichtete der Leserschaft über den Beitrag der „Ellenzék“, ohne anzuführen, dass es sich um einen Leserbrief handelte. Der feindliche Ton gegenüber den Sachsen wurde jedoch unterstrichen. Die Aufklärung des Vorfalls in der „Kronstädter Zeitung“ (08.01.1907: 2) sagte zuletzt ebenso viel über die sächsische Gemeinschaft wie über die interethnischen Beziehungen aus: Die Sache ist einfach die: Herr Alföldi gefällt manchen Leuten nicht (und zwar auch magyarischen Leuten, wie ich hiermit nachdrücklich betone) und er wäre von ihnen auch ausgepfiffen, wenn er sich statt Desider Alföldi Friedrich Schiller genannt hätte. Der Schauspieler wurde also ausgepfiffen, weil er trotz seiner deutschen Herkunft als Ungar auftrat. Die „Ellenzék“ ging auf die Antwort des „Kronstädter Blattes“ nicht mehr ein, so blieb der ungarische Leser über den Hintergrund der Ereignisse unaufgeklärt. Darstellung interethnischer Beziehungen 49 3 Nationale Deutungsmuster im kulturellen Bereich Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das meiste Interesse für das kulturelle Leben der anderen zwei Nationalitäten die „Kronstädter Zeitung“ zeigte. Sie berichtete (10.05.1907: 2) über die oben genannten Bereiche hinaus auch über Bräuche, so z.B. über den Osterritt der Rumänen, den sie jährlich in Kronstadt veranstalteten, in sehr positivem Ton. Zu Kooperationen im fokussierten Terrain kam es immer wieder, eine ungarisch-sächsische Zusammenarbeit ist belegbar, genauso wie eine sächsisch-rumänische, wobei im zweiten Falle eine gewisse Asymmetrie herrschte. Laut „Kronstädter Zeitung“ (30.07.1901: 1) versuchten die Rumänen in ihrer Kulturentwicklung „nicht zu weit zurückzubleiben“. Das Bedürfnis für Kultur musste sich in deren Sichtweise in den Dörfern noch entwickeln. Kooperationen aller drei Nationalitäten lassen sich meistens aus Danksagungen herauslesen. Ethnische Differenzen wurden in der Darstellung des kulturellen Bereichs konstruiert und reproduziert, indem die Presseorgane gewisse Wahrnehmungsschemata wiederholten. Der „Telegraful Român“ nahm tendenziell positive oder neutrale Bilder in den ungarischen Zeitungen nicht auf und beschränkte sich auf die negativen Inhalte, er bezeichnete die sächsischen und ungarischen Mitbürger mehrfach als Fremde (străini). Die „Ellenzék“ malte mit großer Vorliebe die „Suprematie“ der ungarischen Kultur in Ungarn aus und beschimpfte die Nationalitäten als unpatriotisch. In ihrem Falle bedarf es des Hinweises, dass die spärlichen Meldungen über lokale sächsische Veranstaltungen auch in der niedrigen Zahl der Sachsen in der Stadt begründet sind. Soziale Grenzen wurden im kulturellen Bereich besonders durch jene Fälle verstärkt, in denen Mitglieder der eigenen Gemeinschaft angegriffen wurden, weil sie mit den anderen Gruppen zusammenarbeiteten. Dieses Phänomen lässt sich bei allen drei Organen nachweisen. In diesem Sinne musste zum Beispiel ein rumänischer Pope im „Telegraful Român“ erklären (16.03.1907: 3), warum er Mitglied im ungarischen Kasino war und regelmäßig ungarische Bücher auslieh. Die Kultur erwies sich dennoch auf lokaler Ebene immer wieder als potenzieller Verknüpfungspunkt zwischen den Nationalitäten; zu denken ist an die gemeinsamen bzw. gegenseitig besuchten Veranstaltungen oder die Zusammenarbeit in lokalen Initiativen. Besonders relevant sind in dieser Hinsicht auch die Fälle, wo einzelne Personen der anderen Nationalitäten gelobt wurden. Mit Puttkamer lässt sich also sagen, dass sich ein über Jahrhunderte eingespielter Umgang mit sprachlicher und konfessioneller Vielfalt nicht ohne Weiteres in nationale Deutungsmuster pressen lässt (2003: 20). 50 Enikő Dácz 4 Literatur Dácz, Enikő (2013): Auf der Spur interethnischer Beziehungen in drei siebenbürgischen Zeitungen am Anfang des 20. Jahrhunderts. Donau-Institut. Working Papers. www.andrassyuni.eu/ upload/ File/ Donau%20Institut/ Working%20Papers/ 6DIWPDac zAufderSpurinterethnischerBeziehungenindreisiebenbuergischenZeitungenfinal.pdf (Stand: 25.05.2014). Feischmidt, Margit (2003): Ethnizität als Konstruktion und Erfahrung. Symbolstreit und Alltagskultur im siebenbürgischen Cluj. Münster/ Hamburg/ London. Fleisz, János (2005): Az erdélyi magyar sajtó története 1890-1940. Pécs. Früh, Werner (2001): Inhaltsanalyse. Theorie und Praxis. 5., überarb. Aufl. München. Geertz, Clifford (1987): Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt am Main. Gellner, Ernest (1995): Nationalismus und Moderne. Aus dem Englischen von Meino Büning. Hamburg. Hutchinson, John (1994): Is Nationalism Statist? The Nation as a Cultural Project. In: Hutchinson, John: Modern Nationalism. Glasgow. S. 39-64. Krippendorff, Klaus (1980): Content analysis. An Introduction to its Methodology. Newbury Park/ London/ New Delhi. (The SAGE Commtext Reihe; 5). Puttkamer, Joachim von (2003): Schulalltag und nationale Integration in Ungarn. Slowaken, Rumänen und Siebenbürger Sachsen in der Auseinandersetzung mit der ungarischen Staatsidee 1867-1914. München. (Südosteuropäische Arbeiten; 115). Szpocinski, Andrzej (1998): The National Culture of the Others. In: Balla, Bálint/ Sterbling, Anton (Hrsg.): Ethnicity, Nation, Culture. Central and East Euorpean Perspectives. Hamburg. S. 39-46. Quellen „Ellenzék“ [„Opposition“]. Kolozsvár. Jahrgänge 1900-1907. „Kronstädter Zeitung“. Brassó. Jahrgänge 1900-1907. „Telegraful Român“ [„Der rumänische Telegraph“]. Szeben. Jahrgänge 1900-1907. „Il wullte bien, mais il ne puffte pas“ - von der Polyglossie zur Polyphonie in Roger Manderscheids Roman „Der sechste Himmel“ Julia Genz (Tübingen) Zusammenfassung Roger Manderscheids Roman „feier a flam“, den er zunächst auf Luxemburgisch geschrieben und dann unter dem Titel „Der sechste Himmel“ ins Deutsche übersetzt hat, ist von Mehrsprachigkeit geprägt. Mithilfe von Bachtins und Ducrots Polyphonie- Begriffen soll er auf die Funktion und das Zusammenspiel dieser verschiedenen Sprachen hin untersucht werden. Dabei wird die These überprüft, inwiefern das p o l y g l o t t e Nebeneinander der Sprachen erst in der p o l y p h o n e n Interaktion in einer interkulturellen, scheinbar diskontinuierlichen Lebensweise des Protagonisten zur Ausbildung von Identität führt. Dabei lassen sich in Manderscheids Roman die zwei Varianten des Polyphonie- Begriffs wiederfinden: die Ebene der stilistischen Polyphonie im Sinne Bachtins und die Ebene der linguistischen Polyphonie im Sinne Ducrots, mit deren Hilfe sich der Erzähler in unterschiedliche Standpunkte aufspalten und dennoch trotz unterschiedlicher Geschichten Verantwortung für das Gesagte übernehmen kann. Polyphones Schreiben spiegelt nicht nur die spezifische Mehrsprachigkeit Luxemburgs wider, sondern stellt auch eine Möglichkeit dar, eine eigene Poetik auszubilden. 1 Mehrsprachigkeit in „Der sechste Himmel“ und die sprachliche Situation in Luxemburg Die luxemburgische Literatur ist sicherlich eher an der Peripherie der deutschsprachigen Literaturlandschaft anzusiedeln. Dieser Befund stellt allerdings kein Urteil bezüglich ihrer Relevanz für die Germanistik dar, ist sie doch ein überaus interessantes Feld für Germanisten, die sich mit interkulturellen Themen befassen. Gerade Roger Manderscheids Romantrilogie „schacko klak“ - „de Papagei um käschtebam“ - „feier a flam“, die von 1988 bis 1995 erschien, trug maßgeblich zur Entwicklung einer luxemburgischen Literatursprache bei. Diese Trilogie ist von autobiographischen Elementen geprägt. Sie schildert Kindheit und Jugend von Christian Knapp, genannt Chrëscht, in Luxemburg im Zeitraum von 1935 bis 1958. Manderscheid begann die Trilogie zunächst auf Deutsch und 52 Julia Genz wechselte ins Luxemburgische. In einem Interview mit Kerstin Bastian von 2001 erklärt er die Gründe dieses Wechsels wie folgt: [D]en ersten meiner drei Romane, den Schacko Klak, den wollte ich auf ganz neue Weise auf Deutsch schreiben, und dann bin ich ungefähr bei S. 200 ins Stocken geraten, und ich habe da ganz zufällig gemerkt, dass man nicht so leichtfertig über eine so sensible Zeit für Luxemburg in der deutschen Sprache schreiben kann. Auf meine Jugend zurückblickend habe ich gemerkt, dass diese deutsche Sprache mit den militaristischen Inhalten der Nazis auf den Plakaten usw. mich immer erschreckt hat und dass dann die lëtzebuergesche Sprache so etwas wie ein Zufluchtsort war (Zit. nach Kramer 2004: 33). Dennoch sind die drei Romane von Manderscheid nicht einsprachig, sondern spiegeln die Mehrsprachigkeit in Luxemburg wider. In das Luxemburgische sind Sätze auf Französisch, Deutsch und Englisch eingelassen. Im Folgenden soll es um den letzten Teil dieser Trilogie, „feier a flam“ (1995), auf Deutsch „Der sechste Himmel“ (2006) gehen. In „feier a flam“ sind französische Einsprengsel für Unterhaltungen mit der belgischen und den holländischen Geliebten oder für offizielle Zeugnisse und Berufliches reserviert. Deutsch wird ebenfalls für Berufliches, literarische Zitate, für die Nachfragen der deutschen Lebensgefährtin des Protagonisten und für Zeitdokumente, wie Schulaufsätze, Privatbriefe, Postkarten usw., verwendet. Während die beiden ersten Teile „schacko klak“ und „de papagei um käschtebam“ von Georges Hausemer ins Deutsche übersetzt wurden, hat Manderscheid die deutsche Übersetzung von „feier a flam“ selbst besorgt. Erklärt werden kann die Entscheidung für die deutsche Sprache einerseits inhaltlich, da der dritte Teil in der Nachkriegszeit spielt und die deutschen Besatzer bereits Geschichte geworden sind. Andererseits hat die Entwicklung Chrëschts zum Erwachsenen auch etwas zu tun mit der Öffnung gegenüber den Sprachen. Dies gilt nach Kramer (1986: 247) generell für die Situation in Luxemburg: „Jedes luxemburgische Kind ist einsprachig, jeder luxemburgische Erwachsene dreisprachig“. Überdies ist die Adressatin im letzten Roman die Lebensgefährtin von Christian, Annabell, die aus Bitburg stammt. Annabell beherrscht das Luxemburgische nicht einwandfrei, wie der Erzähler immer wieder bemerkt. Sie fragt auch öfters auf Deutsch nach oder widerspricht. Während die Originalversion „feier a flam“ als deutsch-luxemburgischer Dialog verstanden werden kann (vgl. Honnef-Becker 2010a: 330) oder auch als didaktischer Versuch, Annabells Luxemburgisch zu perfektionieren, wird in der deutschsprachigen Übersetzung „Der sechste Himmel“ eher der Verstehenshorizont von Annabell berücksichtigt. Zusätzlich bedeutet die Übertragung ins Deutsche auch eine Öffnung für eine größere Leserschaft. Durch die Übersetzung wechselt die luxemburgische Von der Polyglossie zur Polyphonie 53 Innenperspektive in eine Außenperspektive, die den Roman mit anderen Assoziationen und Konnotationen anreichert. Die Orientierung an einem ausländischen Publikum führt, wie Honnef- Becker (2010b: 403) für die Deutsch schreibenden Luxemburger Autoren generell feststellt, zu einer „Doppeladressierung“. Bestimmte Lokalitäten oder Motive, die für Luxemburger Leser ein Identifikationsangebot beinhalten, werden von einer deutschen Leserschaft nicht unbedingt erkannt und mit anderen Assoziationen versehen. 2 Polyglossie und Polyphonie Diese Ausgangslage erklärt die Wahl des Untertitels „von der Polyglossie zur Polyphonie“ (vgl. für die folgenden Überlegungen auch die Ausführungen in Genz 2016, im Druck). „feier a flam“ bzw. „Der sechste Himmel“ ist nicht nur ein Roman, der in Luxemburgisch, Deutsch, Französisch oder Englisch geschrieben, also polyglott ist. Vielmehr überlagern sich die Sprachen im Roman, durchdringen sich, erzeugen vielstimmige Sprachräume, die die inhaltliche Vieldeutigkeit des Romans adäquat wiedergeben. Polyglossie meint also das Nebeneinanderbestehen verschiedener Sprachen oder auch einfach Mehrsprachigkeit. Nur unter der Bedingung der Polyphonie vermischen sich diese Sprachen und interagieren miteinander. Polyphonie wird hier also als Überlagerung der Sprachen verstanden. Bevor die Polyphonie im Roman näher untersucht wird, sollen jedoch zunächst die interkulturellen Erfahrungen und die Bewegungen der Figur Chrëscht und des Erzählers Christian nachvollzogen werden: Die Rückkehr von Berlin nach Luxemburg veranlasst den Erzähler, an den Zeitpunkt zurückzudenken, an dem er als 19-Jähriger erstmals aus den engen Grenzen seiner Kindheit ausbricht. Wird die Trilogie häufig als Entwicklungsroman bezeichnet, kann man den dritten Teil auch als Bildungsroman klassifizieren, denn in „Der sechste Himmel“ wird auch die Ausbildung Chrëschts zum Künstler, d.h. zum Schriftsteller und Maler, geschildert. Im Folgenden wird mit „Chrëscht“ der jugendliche Christian als Figur oder Erzähler und mit „Christian“ der ältere nach Luxemburg zurückgekehrte Erzähler bezeichnet. Der Roman beginnt und endet mit einer Reise nach Belgien, beide Reisen sind eng verknüpft mit den ersten sexuellen Erfahrungen Chrëschts. Zwischen diesen Reisen absolviert er eine Ausbildung beim Militär und eine weitere bei der Eisenbahn und wird schließlich Beamter in einem Luxemburger Ministerium. Chrëschts Weg führt von Brüssel über das luxemburgische Consdorf ins belgische Arlon, ins deutsche Bitburg, ins luxemburgische Bettemburg und in den „Bois des amoureux“ im Dreiländereck Luxemburg, Frankreich und Belgien. 54 Julia Genz Die Entwicklung Chrëschts vollzieht sich somit an symptomatischen Orten inner- und außerhalb von Luxemburg. Kauffmann (2007: 43) hat zu Recht angemerkt, dass Orte wie Arlon oder Bitburg historisch gesehen nicht jenseits der luxemburgischen Grenzen liegen, sondern bis ins 19. Jahrhundert hinein zum Herzogtum Luxemburg gehört haben. Allerdings sind die Orte dennoch als global zu bezeichnen, nämlich als „Nicht-Orte“ im Sinne des Ethnologen und Anthropologen Marc Augés (1994: 119-125): Nicht-Orte sind demnach Orte, die gerade nicht durch eine Heimatverbundenheit gekennzeichnet sind, sondern durch eine gewisse Anonymität, Normierung und Standardisierung, sodass sie überall auf der Welt zu finden sind: die Kasernen im belgischen Arlon oder deutschen Bitburg, die Lager und Büros der Eisenbahn in Bettemburg auf dem zweitgrößten Bahnhof des Landes, schließlich ein Büro im Arbeitsministerium der Luxemburger Regierung. Allen diesen Orten eignet eine gewisse Zweideutigkeit hinsichtlich ihrer Bewertung, was dazu führt, das Chrëscht ihre Bedeutung zunächst falsch einschätzt. Die Militärkasernen und das Regierungsbüro verkörpern beispielsweise die Ambivalenzen von Macht und Ohnmacht. Der Pazifist Chrëscht entscheidet sich für eine Karriere als Leutnant der Reserve, weil er die luxemburgische Armee militärstrategisch gesehen als völlig unwichtig beurteilt. Für Chrëscht ist das Ganze nur ein Spiel, ein großer Abenteuer- und Campingurlaub, bis er durch zwei Erlebnisse belehrt wird, wie schnell aus dem Spiel Ernst werden kann: Nicht nur, dass bei einer militärischen Übung ein Soldat verunglückt - auch das Szenario einer Militärintervention durch den ungarischen Volksaufstand von 1956 rückt erschreckend nahe. Als Beamter des Arbeitsministeriums stößt Chrescht schnell an die Grenzen seiner Macht, als er seiner Freundin Astrid helfen will, ihre Arbeitsbedingungen zu verbessern. Der Standort der Eisenbahn in Bettemburg symbolisiert gleichzeitig die Verbindung zur Welt und die Isolation. Einerseits stellt die Eisenbahn eine Verbindung zum Rest der Welt dar, andererseits befindet sich die luxemburgische Eisenbahn wirtschaftlich auf dem Abstellgleis, wie Chrëschts Chef ihm berichtet: „Die Eisenbahn ist am Ende, wenn nicht bald ein anderer Wind bläst“ (Manderscheid 2006: 314). Die ambivalenten Stationen korrespondieren mit der Vorläufigkeit der Berufsbezeichnungen, die Chrëscht erhält oder sich selbst gibt: Ersatzlehrer in Consdorf, Reserveoffizier oder surnuméraire a l’essai, [Überzähliger auf Probe] bei der Eisenbahn. Diese Benennungen signalisieren, dass Chrëschts Identität noch nicht voll ausgebildet ist. Im Folgenden soll versucht werden, die sprachliche Gestaltung der Identitätssuche Chrëschts mit dem Konzept der Polyphonie zu erfassen. Denn das Konzept der Polyphonie, wie es zunächst Bachtin beschrieben hat und wie es danach von Ducrot weiterentwickelt wurde, eignet sich in seinen kulturwissenschaftlichen und linguistischen Strängen besonders gut, um die inhaltliche, Von der Polyglossie zur Polyphonie 55 konzeptionelle und sprachliche Vielschichtigkeit zu beschreiben und die Verbindung von Identitätsbildung und Sprache zu erfassen. Zunächst soll der bachtinsche Polyphoniebegriff erläutert werden. 2.1 Der bachtinsche Polyphonie-Begriff in „Der sechste Himmel“ Polyphonie meint bei Bachtin (1979: 157) eine Stilmischung im literarischen Text, vor allem im Roman. Demnach ist der Roman eine Kombination von Stilen und Stimmen. Erzähler- und Figurenrede durchdringen sich, verschiedene Formen des halbliterarischen, schriftlichen alltäglichen Erzählens (Briefe, Tagebücher) werden eingeflochten, im Roman sind verschiedene Soziolekte, Redeweisen von Gruppen, Berufsjargon, Sprachen von verschiedenen Generationen, Autoritäten, Zirkeln und Moden zu hören. Diese verschiedenen Sprechweisen werden im Roman auf parodistische Weise imitiert, um u.a. Gesellschaftskritik zu üben. Das Zitat „il wullte bien, mais il ne puffte pas“ aus „Der sechste Himmel“ (2006: 222), das für diesen Beitrag titelgebend ist, soll das Konzept der bachtinschen Polyphonie erläutern 1 , denn hier zeigt sich besonders gut der Übergang von der Polyglossie zur bachtinschen Polyphonie: frz. il voulait [vul] bien, mais [mε] il ne pouv ait [puv] pas Orig. il wullte [vul] bien, mä il ne puff - te [puf] pas Übers. il wullte bien, mais il ne puff - te pas dt. er woll te wohl, aber er Ø konnte nicht lux. hien (hie) woll-t wuel, mä awer (ower) hien (hie) Ø konn-t nët (net) Grammatik und Rechtschreibung der luxemburgischen Übersetzung nach LWB 2 (in Klammern Schreibung nach WLM 3 ), siehe Infolux und LUXOGRAMM. 1 Im Original lautet der Satz „il wullte bien, mä il ne puffte pas.“ (Manderscheid 1995: 197). 2 Luxemburgisches Wörterbuch. 3 Wörterbuch der luxemburgischen Mundart. 56 Julia Genz In der Tabelle sind der Originalsatz aus „feier a flam“ und die Übersetzung aus „Der sechste Himmel“ wiedergegeben. Zusätzlich sind die entsprechenden Sätze auf Französisch, Deutsch und Luxemburgisch rekonstruiert, um zu zeigen, um welche Sprachmischung es sich eigentlich handelt. Man erkennt in der Tabelle gut, dass hier Französisch und Deutsch absichtlich miteinander vermischt werden und nicht mehr polyglott nebeneinander bestehen. Die Hybridisierung der Sprache erfolgt in den Modalverben wollen/ vouloir und können/ pouvoir, die einerseits den Übergang von der Lexik zur Grammatik darstellen und andererseits die sichtbarste Verknüpfung von Sprache und Handlung sind. Der Wortstamm ist französisch, die Flexionsendung dagegen deutsch. Dem Satz geht inhaltlich das Geständnis von Chrëschts Freundin Melody voraus, dass sie nun doch nicht mit ihm leben möchte, sondern bei ihrem Freund Charly bleibt. Chrëscht erstickt daraufhin seinen Liebeskummer in aggressiven, vom deutschen Expressionismus beeinflussten Malereien, die er permanent übermalt. Der Satz „Il vullte bien, mais il ne puffte pas“ ist ein Erzählerkommentar, der den Entwicklungsstand des jungen Chrëscht charakterisiert. In den Erzählerkommentar ist mit der Konnotation des Wortes Puff einerseits die Stimme des triebhaften freudianischen „Es“ eingedrungen, denn Chrëscht leidet schwer an seinen sexuellen Bedürfnissen, die nicht erfüllt werden. Andererseits spiegelt sich in der Sprachmischung zugleich eine Stimme des Über-Ichs des jungen Chrëscht, die etwas über seine Ambitionen bezüglich einer höheren Bildung verrät. Diese Stimme steht zugleich für die allgemeine Meinung über den Idealverlauf einer Bildung in Luxemburg: Den Übergang vom Familienleben zur Schulbildung markiert der Wechsel vom Luxemburgischen zum Deutschen. Der Übergang zur höheren Bildung, in diesem Fall zur künstlerischen Ausbildung, ist durch den Wechsel zum Französischen gekennzeichnet, aber noch nicht komplett abgeschlossen, wie die sprachlichen Reste des Deutschen signalisieren. Im Original hat sich mit der Konjunktion „mä“ sogar noch ein luxemburgischer Ausdruck erhalten, der die hybriden Satzteile miteinander verbindet und die Elementarbildung repräsentiert. Lüsebrink (2005: 14) beschreibt die Gemeinsamkeit unterschiedlicher Formen der Kulturmischung als „die kreative Verbindung und Verschmelzung von Elementen aus unterschiedlichen Kulturen, häufig als Konsequenz unmittelbarer interkultureller Kontakte“. In diesem Sinne ist der hybride Satz „il wullte bien, mais il ne puffte pas“ auch als kreative Leistung zu sehen. Er ist Ausdruck der originellen Wege von Chrëscht, die er immer wieder als „Umwege“ bezeichnet, wobei das Wort Umwege im Roman nicht negativ konnotiert ist, sondern Umwege im Gegensatz zu den Hauptwegen als interessanter empfunden werden. Analog dazu vollzieht sich auch Chrëschts autodidaktische Ausbildung Von der Polyglossie zur Polyphonie 57 zum Maler über Stilmischungen: Er imitiert nicht nur den deutschen Expressionismus, sondern auch den französischen Pointilismus, Kubismus etc. Ein weiteres Beispiel für die bachtinsche Polyphonie ist die Auslotung der unterschiedlichen Sprachen für die Liebe, die in verschiedenen sozialen und beruflichen Milieus jeweils anders ausgeprägt ist. Beispielsweise entdeckt Chrëscht in den Kasernen und Amtsstuben die sprachlichen Sexismen der Kollegen, die er als „Luxemburger Sprachakademie aus den puritanischen fünfziger Jahren“ (Manderscheid 2006: 318) bezeichnet. Hinzu kommen Chrëschts eigene, poetischere, wenngleich unbeholfene Versuche, adäquate Beschreibungen der körperlichen Liebe zu finden. Erst durch seine Geliebten, die Belgierin Melody und die Holländerinnen Mea und Rita, lernt er über das Französische und Englische, dass man auch über Liebe sprechen kann, ohne sie direkt zu thematisieren. Zunächst ist das für Chrëscht nicht so einfach: Er hatte in den Augenblicken, in denen er sich überwältigt vor Glück vorkam, […] immer das Maul aufstehen, bekam den feierlichen, weltbekannten, postkoitalen Stotterer: Ich mag dich gern, je t’aime, ek hau feel van ü, I love you, flüsterte er dem Mädchen ins Ohr […]. Sie sagte nie ein Wort, obschon sie unruhig atmete und feuerrote Wangen hatte. Und ihm lieb lachte (Manderscheid 2006: 356). Die Sprachlektion der Holländerinnen zeigt sich erst bei seinen Sprachspielen mit seiner großen Liebe Astrid, mit der er zusammen sprachliche Inventare anlegt, die auch im erotischen Sinne lesbar sind, ohne dies jedoch explizit thematisieren zu wollen: Vor lauter Freude und Ausgelassenheit erfanden sie […] Wörter um das Feuer zu beschreiben. Solche für das, was man hört, dann solche für das, was man sieht. Knistern, knickeln, brodeln, platzen, platschen, knacken […] (Manderscheid 2006: 530). Mit diesen Aufzählungen wird auch der Bogen zu den beiden anderen Romanen der Trilogie geschlagen, in denen, wie Lippert (2008: 77) anmerkt, ebenfalls ganze Listen des luxemburgischen Sprachinventars angelegt werden, um in etwas veränderter Absicht das Luxemburgische aus der Rumpelkammer der Heimatgesänge und kulturellen Minderwertigkeitskomplexe [zu befreien] und es als gleichberechtigte literarische Sprache dem Deutschen und Französischen [entgegenzusetzen]. In „Der Sechste Himmel“ ist es allerdings eher die Ausbildung einer eigenen literarischen Sprache, die Chrëscht als angehender Schriftsteller entwickelt. 58 Julia Genz 2.2 Der ducrotsche Polyphonie-Begriff im Roman Hält man nun Ducrots (1984) Gebrauch des Terminus P o l y p h o ni e gegen den bachtinschen, so hat er laut Ducrot selbst zwar kaum etwas mit dem von Bachtin gemein, von dem er ihn übernommen hat. Definiert man jedoch diesen Terminus hinreichend abstrakt als „Vermengung unterschiedlicher Stimmen oder Standpunkte in einer Äußerung oder einem Text“, kommt man Gévaudan zufolge einer gemeinsamen Definition der Begriffe beider Autoren recht nahe. Laut Gévaudan (2013: 136f.) überträgt Ducrot Bachtins Ausgangskonzept der „Stimme“ auf das Konzept des „Standpunkts“, der einer Äußerungsinstanz zugeordnet ist. Gévaudan interpretiert dabei „Standpunkt“ und „Stimme“ als zwei fundamentale Eigenschaften von Äußerungen, erstens als ihre materiellen und strukturellen Eigenschaften, die sie als Produkt des l o k u ti o n ä r e n S p r e c h a k t s haben, und zweitens als semantische Eigenschaften, die sie als Produkt des ill o k u ti o n ä r e n S pr e c h a k t s haben. 4 Es geht also um einen Sprecher, der seinen Sprechakt als Akt des Sprechens thematisiert und dafür mehr oder weniger Verantwortung übernimmt. Zugleich geht es um den Inhalt dessen, was er mitteilt. Ducrot unterscheidet in der Äußerung die Instanz des Sprechers (l o c ut e u r ) von der Äußerungsinstanz (é n o n c i a t e u r ), wobei die Sprecherinstanz die verschiedenen Äußerungsinstanzen in Szene setzt (vgl. 1984: 204f.) Im folgenden Zitat aus „Der sechste Himmel“ finden sich mit der direkten Wiedergabe der Figurenrede auch Hinweise auf den lokutionären sowie illokutionären Akt des Sprechens: Zwei Freunde fahren nach dem Abitur mit dem Fahrrad in die Schweiz, begann er seine Geschichte und stellte fest, dass die Kinder zuhörten, gespannt wie Regenschirme (Manderscheid 2006: 58). Der Satz, der mit einer direkten Rede beginnt und einer indirekten bzw. mit einem Gedankenbericht endet, beinhaltet verschiedene hierarchisch angeordnete Sprecher- und Äußerungsinstanzen. 1. L l / E l Zwei Freunde fahren nach dem Abitur mit dem Fahrrad in die Schweiz, 2. L o / E o begann er seine Geschichte 3. L o / E o und 4. L o / E o stellte fest, dass 5. L o / E l die Kinder zuhörten, gepannt wie Regenschirme. 4 Zur Verwendung der ursprünglich von Austin eingeführten Termini l o k u t i o n ä r und i ll o k u ti o n ä r vgl. Gévaudan (2010: 41-45 und 48-51). Von der Polyglossie zur Polyphonie 59 Die übergeordnete Ebene des Sprechers (L o ) und der Äußerungsinstanz (E o ) erscheint in den Zeilen 2 bis 4 im Abschnitt „begann er seine Geschichte und stellte fest“, wobei unbestimmt bleibt, wer spricht und wessen Standpunkt wiedergegeben wird. In der Eingangssequenz erscheinen ein Sprecher und eine Äußerungsinstanz, die auf einer untergeordneten Ebene angesiedelt sind, da es sich um direkte Rede handelt: In dem Abschnitt „Zwei Freunde fahren nach dem Abitur mit dem Fahrrad in die Schweiz“ sind Stimme und Standpunkt insofern untergeordnet (L l / E l ), als sie Chrëscht zugeordnet werden müssen und nicht dem Erzähler Christian. Abschließend wird in Zeile 5 eine indirekte Rede präsentiert, die eine Vermischung der Ebenen der Äußerungsinstanz impliziert. Die Stimme ist die eines übergeordneten Erzählers (L o ), während der Standpunkt derjenige Chrëschts ist. Der hier auftretende Erzähler ist also offensichtlich der 19-jährige Chrëscht, der seinen Schulkindern in Consdorf die Geschichte erzählt, wie er mit seinem Freund Gatt gegen den Willen des Vaters in die Schweiz reist, um ihre Freundinnen Juliette und Nadine zu besuchen. Im Laufe der Erzählung stellt sich allerdings heraus, dass die Zuhörerschaft nicht die Schulklasse sein kann, da Chrëscht in seiner Geschichte u.a. die verklemmte Sexualmoral der Luxemburger Gesellschaft der 1950er Jahre anprangert. Mit dem Kommentar von Annabell verschieben sich auch Standpunkt und Stimme des Erzählers: Gib zu, sagt Annabell, du hast den Kindern damals nicht alles erzählt. Sicherlich nicht das von euren Freundinnen. Oder wenn schon, dann alles mit anderen Worten (Manderscheid 2006: 66). Nachträglich erkennt der Leser, dass der Erzähler nicht nur der junge Chrëscht ist, sondern dass der jugendliche Erzähler mit seiner Geschichte wiederum vom älteren Erzähler für Annabell erzählt wird. Gerade der lokutionäre Akt des Erzählens wird auf diese Weise plötzlich ungeheuer vielschichtig: Christian erzählt seiner Lebensgefährtin Annabell auf Luxemburgisch (bzw. in der Übersetzung auf Deutsch) die Geschichte, wie er als junger Hilfslehrer seinen Schülern auf Luxemburgisch eine Geschichte erzählt, die er selbst erlebt hat. Die Polyphonie auf der Satzebene hat sich unmerklich in eine Polyphonie auf der Textebene verschoben. Auf welcher Erzählebene man sich jeweils befindet, muss der Leser selbst herausfinden; auch die Tatsache, wer die Verantwortung für das Erzählte jeweils übernimmt. So behauptet der ältere Erzähler: Es sind immer andere Worte, die einem in den Mund fliegen, das hängt davon ab, wem man die Geschichte erzählt, sage ich. Ich erzähl dir ja heute die Geschichte von der Fahrradreise in die Schweiz. Genau so, wie ich damals den Kindern aus der Consdorfer Schule dieselbe Geschichte erzählte mit anderen Worten, aber ohne zu lügen (Manderscheid 2006: 66). 60 Julia Genz Wie aber kann das Paradox des „Genau so, dieselbe Geschichte erzählen mit anderen Worten“ nun aussehen? Zunächst einmal stellt sich im Roman immer die Frage, wem eigentlich erzählt wird und ob mündlich erzählt oder niedergeschrieben wird. Der Erzähler scheint einerseits an seinen Erinnerungen zu schreiben, andererseits seiner Lebensgefährtin Annabell während des Schreibens die Geschichte zu erzählen. Jedoch hört Annabell an mehreren Stellen nicht zu bzw. ist sie auch einmal verreist. Die Erzählung geht dennoch weiter: Wem erzählt der Erzähler seine Geschichte? Sich selbst? Einem impliziten Leser? Und schreibt er überhaupt oder erzählt er? Gegen Ende des Romans fängt der junge Erzähler Chrëscht noch einmal an, seiner eifersüchtigen Freundin Astrid die Kurzversion seiner vielen Liebesgeschichten zu erzählen. Damit spielt der Roman mit konzeptioneller Mündlichkeit und Nähesprache, wie sie in Kochs und Österreichers Mündlichkeits- Schriftlichkeitskonzept (2011) vorgeschlagen werden. Das erzählende Ich verstößt an dieser Stelle gegen das Gebot der erzählerischen Ökonomie, derzufolge dem Leser etwas, was bereits mitgeteilt wurde, nicht noch einmal auf die gleiche Weise erzählt werden braucht. Diese Doppelung scheint vom Ich-Erzähler nicht geplant, sondern der spontanen nähesprachlichen Situation der mündlichen Unterhaltung mit Astrid geschuldet zu sein. In dieser fingierten Mündlichkeit rückt die Figur Chrëscht ein Stück an den Leser heran, wird lebendiger, authentischer. Die ganzen Anläufe des Erzählens, die verschiedenen Erzählerfiguren und die wechselnden Adressaten dienen dazu, Chrëschts Identität weiterzuentwickeln, und zwar nicht als Festschreibung, sondern als roter Faden in einem Erzählbündel, das immer wieder neu aufgerollt wird. 3 Fazit Identitätsbildung fungiert also auf mehreren Ebenen als polyphon und grenzüberschreitend: Auf inhaltlicher Ebene funktioniert die Abnabelung von der Familie und Kindheit immer auch als Grenzüberschreitung, sei es in sprachlicher Hinsicht, sei es als Überschreitung der Landesgrenzen. Auf der Ebene der stilistischen Polyphonie im Sinne von Bachtin kann Chrëscht seine Identität nur durch und gegen die Gesamtheit dessen, was gesagt werden kann und wird, ausbilden. Dies bewerkstelligt er, indem er die allgemeine Meinung der Moral der fünfziger Jahre entlarvt. Einerseits sind die damit einhergehenden Ängste und Vorurteile auch Bestandteil seiner Identität, andererseits müssen diese Vorurteile von Chrëscht aber immer wieder überwunden werden. Von der Polyglossie zur Polyphonie 61 Im Sinne der linguistischen Polyphonie Ducrots und Gévaudans kann sich der Erzähler in unterschiedliche Standpunkte aufspalten und dennoch trotz unterschiedlicher Geschichten Verantwortung für das Gesagte übernehmen. Gemäß der Devise des älteren Erzählers: „Genau so, wie ich damals den Kindern aus der Consdorfer Schule dieselbe Geschichte erzählte mit anderen Worten, aber ohne zu lügen“. 4 Literatur Augé, Marc (1994): Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit. Aus d. Franz. v. Michael Bischoff. Frankfurt am Main. Bachtin, Michail M. (1979): Die Ästhetik des Wortes. Hrsg. v. Rainer Grübel. Aus dem Russ. übersetzt v. Rainer Grübel u. Sabine Reese. Frankfurt am Main. S. 154-300. Ducrot, Oswald (1984): Le dire et le dit. Paris. 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Zwischen Heimat und „Heimat“ - zur Fantastik des Schriftstellers Leo Perutz Detlef Haberland (Oldenburg) Zusammenfassung Im vorliegenden Beitrag wird Leo Perutz nicht als Schilderer des östlichen Europas mit Prag und Wien als Zentren betrachtet, sondern als ein Autor, der vor dem Hintergrund seiner großen Begabung und Berufserfahrung als Mathematiker eine ganz eigene poetische Begründung für die Handlungsweisen und Schicksale seiner Figuren schafft. Diese Begründung leitet sich aus einem nur scheinbar paradoxen Axiom her, das er am Ende seines Lebens formuliert. Dieses Axiom lässt sich jedoch auflösen und bietet einen neuen Zugang zu Sinnstrukturen und Bedeutungsebenen seiner Prosadichtungen. An einer Reihe von Romanen wird diese These mit exemplarischen Analysen erprobt . 1 Einleitung Leben und Schaffen von Leo Perutz (1882-1957) sind mehrfach von der Oppositionsbegrifflichkeit Z e ntr u m und P e ri p h e ri e geprägt: Geboren wurde er in der böhmischen Metropole Prag, wo er auch seine Jugendzeit verbrachte; von 1899 bis 1902 war er Gymnasiast in Wien, der Hauptstadt der K.-u.-k.-Monarchie. Mit kurzen Unterbrechungen lebte er im Zentrum der österreichischen monarchischen und dann der republikanischen Macht. Nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich 1938 verließ Perutz notgedrungen mit seiner Familie Wien und ging nach Haifa im damaligen Palästina ins Exil. 1 Die Auswirkungen der Emigration waren für ihn wie für viele seiner Leidensgenossen deutlich spürbar: Er sah sich de facto von seiner ursprünglichen Umgebung abgeschnitten, war seiner Kontakte beraubt und wurde praktisch nicht mehr rezipiert. Dies änderte sich auch nach 1945 nicht wesentlich, auch wenn Perutz aus dem Exil nach Europa zurückkehren konnte, da er sich wie viele seiner Kollegen der Tatsache gegenübergestellt sah, dass nicht nahtlos an die Zeit vor der Verfolgung anzuknüpfen war. Mittelpunkt und Randfigur zu sein, spiegelt sich auch in seinem Werk wider: Mit dem Roman „Wohin rollst Du, Äpfelchen…“ etwa, der 1928 in der „Berliner Illustrirten Zeitung“ erschien, gelang es ihm, die „größte Popularität sei- 1 Die biografischen Daten nach Müller (1992). 64 Detlef Haberland ner literarischen Laufbahn“ zu erringen (Müller 1992: 54); spanische Ausgaben einiger seiner Romane in Lateinamerika erzielten gleichfalls „außerordentliche Erfolge“ (Müller 1992: 84), was aufgrund der Themen Perutz‘ (lässt man einmal den in Südamerika spielenden Roman „Die dritte Kugel“ beiseite) keineswegs selbstverständlich war. Andererseits war seine Position als jüdischer exilierter Autor in den Ländern seiner Muttersprache desaströs: „Ich bin für Europa ein forgotten writer“ definiert er schnörkellos sein schriftstellerisches Schicksal (zit. nach Müller 1992: 85), das sich in dieser Form auch nach 1945 fortsetzte. Lediglich mit dem Roman „Nachts unter der steinernen Brücke“ (1953) gelang ihm noch einmal ein Durchbruch, der aber seine Randposition im literarischen Leben nicht grundsätzlich veränderte. Auch was die wissenschaftliche Wahrnehmung von Perutz betrifft, so spiegelt sich in ihr ebenfalls insofern die Begrifflichkeit von zentraler oder peripherer Wahrnehmung, da seine Rezeption recht unterschiedlich verlief. Dank der editorischen Bemühungen von Müller in den 1980er und 1990er Jahren wurde nicht nur die Fachwissenschaft, sondern auch eine breitere Öffentlichkeit auf Perutz aufmerksam: Sein Werk wurde neu verlegt, 2 es erschienen biographische Untersuchungen und Darstellungen 3 und in einer Bibliographie wurde die Wirkung seines Werkes in Ausgaben und Übersetzungen nachvollziehbar. 4 Auch die Forschung begann sich nach und nach für Perutz zu interessieren. 5 Man könnte also - so scheint es - zufrieden sein und sich zurücklehnen. Gleichwohl, sieht man einmal von den Spezialstudien zu Perutz‘ Werken ab, ist andererseits zu konstatieren, dass er in die neuere akademische Literaturgeschichtsschreibung größeren Umfangs offensichtlich noch keinen Eingang gefunden hat, und das hat sich trotz der vorliegenden Ausgaben und Studien zu ihm nicht geändert. Barners „Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart“ von 1994 kennt ihn nicht, 6 in dem von Glaser herausgegebenen Sammelband „Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte“ von 1983 findet Perutz noch nicht einmal in dem Teilband für die Jahre von 1918 bis 1945 einen Platz. Schmidt-Dengler streift in seinem Beitrag zu „Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur“ von 1995 lediglich den Roman „Turlupin“, aber der 2 Etwa Perutz (1985, [1987], 1993, 1994, 1996). Schon vorher erschienen jedoch Werke von ihm, so z.B. Perutz (1975a, 1975b, 1984). 3 Etwa Serke (1987), Müller/ Eckert (1989), Müller (1991), Siebauer (2000), Müller (2007). Der Paul Zsolnay Verlag brachte schon 1975 eine Ausgabe des Romans „Nachts unter der steinernen Brücke“ heraus. 4 Müller/ Schernus (1991). 5 Zum Beispiel Mandelartz (1992), das erste Perutz-Symposium von Forster/ Müller (2002), Rauchenbacher (2006), Becker (2007). 6 Der Band in dieser Reihe für den Zeitraum bis 1945 ist noch nicht erschienen. Zwischen Heimat und „Heimat“ 65 unerhörte Erfolg von „Wohin rollst du, Äpfelchen…“ etwa als Zeichen einer neuen Art von Buchwerbung mit einem signifikanten Leserverhalten, ist ihm keine Erwähnung wert. 7 In dem genannten Werk findet Perutz in dem Teilband zu „Nationalsozialismus und Exil 1933-1945“ gerade einmal drei, inhaltlich ephemere, Erwähnungen - von einer eingehenderen Behandlung seines Exils kann keine Rede sein. 8 Dass Perutz in der maßgeblichen DDR-Literaturgeschichte keinen Platz findet, kann demgegenüber natürlich überhaupt nicht mehr verwundern. 9 Die Zurückhaltung lässt sich allerdings erklären: Noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein war in der etablierten literaturwissenschaftlichen Forschung kein Platz für die Untersuchung von Texten, die insgesamt verdächtig waren, dem Genre der „Unterhaltungsliteratur“ anzugehören. Dies hat sich inzwischen grundlegend geändert, da erkannt wurde, dass letztlich jede Art von Literatur geeignet ist, Aufschlüsse unterschiedlichster Art zu ermöglichen. 10 Lediglich in der Forschungsliteratur zur literarischen Fantastik wird er zum Teil behandelt. 11 Auch die Literaturgeschichtsschreibung der deutschen Literatur in Böhmen kennt Perutz nur zum Teil, seine Behandlung in diesem Kontext ist insgesamt eher enttäuschend. 12 Im „Handbuch der deutschsprachigen Exilliteratur“ (Bannasch/ Rochus 2013) ist ihm ein instruktiver Beitrag gewidmet. Betrachtet man die vorliegenden Arbeiten zu Perutz, so lässt sich ein vorherrschender Zug in ihnen entdecken. Es werden vielfach Zusammenhänge aufgedeckt zwischen den genau konstruierten Plots, den exakt situierten Schauplätzen der Handlungen und der Fantastik, die Perutz über die behandelten Themen in seine Geschichten hineinzubringen versteht. Zu Recht stellen Kindt/ Meister vor diesem Hintergrund die Frage, ob die Literatur des 20. Jahrhunderts nicht eher die „erlebte Innenwelt“, das „illusionskritische Bewusstsein“ oder eine „verstörend-experimentelle Erzählweise“ favorisieren sollte, und 7 Schmidt-Dengler (1995: 483-548, hier S. 522 zu „Turlupin“). Siehe zu diesem Roman Müller (1987). 8 Haefs (2009: 310, 319 - Erwähnung von „Der schwedische Reiter“, 329 - Erwähnung von „Die dritte Kugel“). 9 Kaufmann/ Schiller (1973). 10 Siehe dazu Nusser (2003: 694). 11 Hier seien nur die Erwähnungen Perutz‘ bei Fischer (1978: 115f.), Metzner (1980: 100) und Karbach (1980: 287, 291f.) genannt. 12 Nur am Rande behandeln ihn Mühlberger (1981: 226f., 243), Měštan (1984: 180), Abret (2000: 36-38), nur bibliographisch Fiala-Fürst (1996: 239f.); überhaupt nicht Fiala-Fürst/ Krappmann (2001), Fritz (2005), Binder (1992: 132-134); literaturtopographisch Haasis (1992: 39-44). Einen eigenen Beitrag erhält Perutz in Serke (1987: 258- 281). 66 Detlef Haberland dass deshalb die Romane von Perutz, die „sprachlich von größter Klarheit“ sowie „spannend und handlungsorientiert erzählt“ seien, nicht selten deshalb zu Unrecht als „ästhetische Leichtgewichte“, als „Unterhaltungsliteratur fantastischer Couleur abgetan“ worden seien (Kindt/ Meister 2007: 1f.). Die Forschung bemühte sich aus diesem Grund, die qualitativ höhere Dimension der „spannenden“ und „handlungsorientierten“ Romane von Perutz herauszuarbeiten, indem sie d i e Art des Erzählens untersuchte und diese in Bezug zu sinnstiftenden Bestandteilen der Texte setzte. An einem Beispiel sei dies in gebotener Kürze erläutert. Die „Fantastik“ der Erzählung „Der Meister des Jüngsten Tages“ und ihr gleichzeitiger Charakter als Kriminalfall (Stichwort: Locked room mystery) lassen sich etwa nach Jannidis letztlich als eine „Sublimierung“ deuten, eine Sublimierung „nicht aufgrund verdrängter Sexualität, sondern als Umgangsweise mit der Schuld und Qual“ (Jannidis 2007: 67). Seine Analyse stützt sich in erster Linie auf textimmanente Indizien. Das Ineinander der beiden Ebenen - die fiktionale Welt, in der der Freiherr von Yosch schuldig wurde, sowie die Ebene der Detektivhandlung - ergeben zunächst ein rätselhaftes Ganzes, das gleichwohl durch den scharfsinnigen Nachvollzug des Lesers entschlüsselbar ist. Es kommt Jannidis der Umstand zugute, dass in der handschriftlichen Fassung der Erzählung zwei längere Passagen des fiktiven Herausgeber-Nachwortes existieren, die Perutz noch in den Fahnen gestrichen hat. So zum Beispiel die folgenden Sätze: An einigen Stellen der Erzählung […] gewinnt es den Anschein, als wollte die Wahrheit zum Durchbruch kommen, als könne nun das Bekenntnis der Tat nicht länger auf sich warten lassen. Aber es scheint nur so. Immer wieder gewinnt in dem Bericht das rein phantastische Element die Oberhand“ (Jannidis 2007: 65). 2 Zu Perutz‘ Poetik: Gott als Formel Das poetische Verfahren von Perutz zielt darauf ab, dem Leser ein perfekt strukturiertes und formuliertes Kunstwerk zu bieten, das dieser gleichsam wie ein Suchbild aufschlüsseln muss, um hinter die verborgene „Message“ zu kommen. Müller (1992: 9) schreibt dazu: Leo Perutz war Anhänger einer eingeschränkten These von der Autonomie der Kunst: seine Romane sollten nach ihrer Vollendung gänzlich unabhängig von der kontingenten Person ihres Autors leben, und dieser wollte, wie sein Vorbild Arno Holz, „immer mit seinem Werk und niemals mit seiner Person in den Vordergrund“ treten. […] die unter deutschen Schriftstellern verbreitete Neigung, die Deutung ihrer Werke in die eigenen Hände zu nehmen, war ihm sehr fremd; Zwischen Heimat und „Heimat“ 67 er hat in seinem Leben nicht ein einziges Interview gegeben und weder autobiographische Mitteilungen noch Äußerungen zu seinem Werk veröffentlicht. Wenn Perutz auf eine positive Bemerkung von Walter Benjamin hin entschieden äußert, er „habe niemals einen Kriminalroman geschrieben“, so spricht dies Bände für seine Intentionen, die offensichtlich in ganz andere Richtungen gehen - dies äußerte er jedoch nicht öffentlich, sondern in einem Brief an die Redaktion (zit. nach Müller/ Eckert 1989: 129). Und er fährt fort: Es ist nicht die richtige Art, über einen Autor zu sprechen, der an jedem seiner Romane und an jeder seiner Erzählungen jahrelang sehr mühevoll gearbeitet hat. Zumindest geben diese vier Zeilen [von W. Benjamin: D.H.] Ihren Lesern ein vollständig falsches Bild meiner Art und meiner Ansichten. Dem steht auch nicht die folgende Äußerung über die Prager Judenstadt gegenüber, die Perutz während seiner Prager Gymnasialzeit vertraut war: Mauerlücken und höhlenartige Gewölbe, in denen Trödler ihre Waren feilhielten, Ziehbrunnen und Zisternen, deren Wasser von der Prager Krankheit, dem Typhus, verseucht war, und in jedem Winkel, an jeder Ecke eine Spelunke, in der sich die Prager Unterwelt zusammenfand. Ja, ich kannte das alte Judenviertel. Dreimal in der Woche durchquerte ich es, um in die Zigeunergasse zu gelangen, die von der „breiten Gasse“, der Hauptstraße des einstigen Ghettos, in die Gegend des Moldauufers führte (Perutz 1975b: 265). Die Tatsache, dass diese Passage unter dem Titel „Epilog“ in dem „Roman“ „Nachts unter der steinernen Brücke“ steht, könnte in Verbindung mit dem Testament des Mordechai Meisl, das der Hauslehrer Meisl dem Erzähler zeigt, dem Leser den eindeutigen Wink geben, etwa diesen Roman als Roman der Prager Heimat zu lesen. 13 Es geht Perutz jedoch nicht - oder nur in einem sehr vordergründigen Maße - um die realitätsaffine Beschreibung von Heimat oder Provinz. Denn wenn es in dem genannten Epilog weiter heißt: Und die beiden Ereignisse, die Demolierung des Ghettos und das Auftauchen des legendären Testaments, schienen mir miteinander verknüpft zu sein und zusammen den Schlußpunkt der Geschichte zu bilden, die mir mein Hauslehrer durch viele Winternachmittage hindurch erzählt hat, der Geschichte von „Meisls Gut“ (Perutz 1975b: 267) 13 Strauss (2007: 14f.). 68 Detlef Haberland - dann lässt sich zunächst in der Tat aus des Erzählers Worten auf eine erzähltechnische Raffinesse von Perutz schließen, die auch in seinen anderen Werken zutage tritt: Es ist eine vielfach überraschende Wirklichkeitskonstruktion und die Verbindung von disparaten Bereichen oder Objekten, die Perutz das Etikett eines „fantastischen Schriftstellers“ eingetragen haben. Damit jedoch bleiben noch zu viele Fragen zu seinem Werk offen, vor allem die nach dem Zweck seines „fantastischen“ Schreibens. Überdies lässt sich nicht alles, was nicht einem einsinnigen Erzähl- und Bedeutungsstrang mündet, als „fantastisch“ qualifizieren. Dann müsste jede Erzählung, die Phänomene darbietet, die der Leser wie auch die Figuren nicht durchschauen oder die nicht sofort als zu unserer Realität gehörig erscheinen, als „fantastisch“ bezeichnet werden. Es scheint aber, dass mit dieser Kategorisierung nur ein kleiner Teil von Perutz Werk erklärt werden kann. Im Sinne der Kreativitätsforschung lässt sich seine literarische Methode als B i s o zi a ti o n beschreiben. 14 Das bedeutet, dass der Überraschungseffekt, der durch eine solcherart angewandte Methode eintritt, vor allem Aufschluss über möglicherweise größere Zusammenhänge gibt. Und dies ist wohl das Entscheidende, was zunächst den hermetisch formalen, ästhetischen wie vor allem auch den gehaltlichen Reiz und Wert der Werke von Perutz ausmachen. Insofern ist Jannidis zuzustimmen, wenn er den tieferen Gehalt des Werkes „Der Meister des Jüngsten Tages“ als Sublimierung von Schuld und Qual bezeichnet. Dass sich dies noch mit einem anderen, ebenfalls übergeordneten Wesensaspekt unseres Lebens verbindet, ist dem zweiten Ereignisstrang der Erzählung um das geheimnisvolle Manuskript von Giovansimone Chigi und seine Droge geschuldet. Hierbei geht es um nichts Geringeres als um die Vision vom Jüngsten Gericht. Es bleibt allerdings nicht bei einem theologischen Zusammenhang, sondern dieser wird, wie die Figur Doktor Gorski erläutert, auf den Bereich der menschlichen Psyche übertragen - was letztlich schreckliche Konsequenzen hat: „Ein jeder von uns trägt sein Jüngstes Gericht in sich“ (Perutz 1984: 153). Eine Sentenz dieser Art ist ein starker Hinweis darauf, dass die „Fantastik“ von Perutz einen anderen Hintergrund hat, der, wenn man ihn denn benennen kann, das „spannende“ und „handlungsorientierte“ Werk als wesentlich größer dimensioniert aufdeckt. Um zu einer solchen Perspektive zu gelangen, sei ein Blick auf den intellektuellen Rahmen des Schriftstellers Perutz geworfen. Das 14 B i s o z i a ti o n bezeichnet den kreativen Vorgang der Verknüpfung von Begriffen, Bildern oder Vorstellungen aus unterschiedlichen begrifflichen Bezugsrahmen. Der Begriff wurde von Koestler in seinem Werk „The Act of Creation“ (1964; deutsch: „Der göttliche Funke“, 1966) in Anlehnung an das Wort Assoziation eingeführt und gilt heute als ein Grundbegriff in der Kreativitätssowie in der Humorforschung. Zwischen Heimat und „Heimat“ 69 wohl nicht abgeschlossene Studium der Mathematik und seine zeitweise Tätigkeit als Versicherungsmathematiker sind im Allgemeinen bekannt (Müller 1992: 17-19). Daraus wurde auch mehrfach abgeleitet, dass Perutz‘ Werke ja mathematisch genau kalkuliert seien 15 - ohne allerdings diese Behauptung analytisch zu untermauern. 16 Eine derartige Dekonstruktionslösung wird auch in diesem Kontext nicht vorgestellt werden, weil kaum anzunehmen ist, dass sich ein begabter Mathematiker, der zu gleichen Teilen ein äußerst raffinierter Schriftsteller war, nur mit einer zahlenbasierten Strukturkomposition zufrieden geben könnte. Und diese müsste man, um diesem Verfahren eine gewisse Wahrscheinlichkeit zu verleihen, in mehreren oder allen Texten nachweisen. Ausgangspunkt für die folgenden Überlegungen ist ein Gespräch einer Tochter Perutz‘ mit ihrem Vater: Michaela Stapeles [! ] fragte ihren Vater am 26. Juli 1957: „Glaubst Du an Gott? “ Und ihr Vater antwortete: „Ja, nicht wie Du es meinst und die anderen. Gott ist eine mathematische Formel, die die Welt lenkt.“ (zit. nach Serke 1987: 281). Diese Antwort ist, auf den ersten Blick, ein philosophisches Paradoxon und scheint nichts mit Literatur zu tun zu haben, denn sie bringt außerliterarische und -künstlerische Bereiche miteinander in Verbindung, die man als solche eigentlich zunächst nicht als zusammengehörig ansehen würde: Gott ist ein allmächtiges und undurchschaubares Wesen, das mittels der menschlichen Ratio auf keine Weise erfasst werden kann. Die mathematische Formel hingegen ist in eindeutig definierten Zeichen geschrieben und logisch jederzeit nachvollziehbar. 17 Sie ist eine formalisierte Aussage, deren formale Bestandteile vor- 15 So Neuhaus: „Die historisch-phantastischen Romane Perutz‘ sind mit mathematischer Präzision durchkonstruiert“, ihre Gestaltung sei eine „kompositorische Mathematisierung des Stoffes“ auf der Grundlage der „Rezeption kabbalistischer Traditionen“ (1984: 108f.). Serke nennt Perutz einen „mystischen Mathematiker“ (1987: 279). 16 Die Anordnungsschemata von Becker in ihrer Interpretation von „Nachts unter der steinernen Brücke“ können, wie auch immer sie sonst zu bewerten sind, nicht als Analyse der mathematischen Struktur gelten (Becker 2007). Die nicht zwingende Verbindung mit der Kabbala durch Neuhaus (wie Anm. 14) könnte auch bei einer Reihe anderer Autoren gezeigt werden (Neuhaus 1984: 108-115); auch Karbach (1980: 291f.) bleibt den Nachweis kabbalistischer „Mathematik“ in Perutz‘ Werk schuldig. Meisters strukturelle Analyse von „Nachts unter der steinernen Brücke“ hat gleichfalls nichts mit einer mathematischen Grundkonzeption zu tun (Meister 2007). 17 An dieser Stelle sei Dr. Julian Scheuer, Mathematisches Institut der Universität Heidelberg, herzlich für weiterführende Gespräche gedankt. 70 Detlef Haberland ab definiert sind, so dass über den Inhalt der Aussage kein Zweifel bestehen kann; ihr lässt sich ein alternativer Wahrheitswert (wahr oder falsch) zuordnen (tertium non datur). Dieser Wahrheitswert kann nicht auf unterschiedliche Art und Weise gedeutet werden, da er sich aus der Logik der Formel zwingend und eindeutig ergibt. Er kann nur entweder erkannt werden oder verborgen bleiben. Die Formel besteht aus einem von ihr unabhängigen mathematischen Zeichensystem (Zahlen, Buchstaben, Chiffren), das ebenfalls nicht unterschiedlich interpretiert werden kann, weil seine Bedeutung a priori festgelegt ist. 18 Die Aussage Perutz‘ lässt sich nun selbst als eine ‚Formel‘ verstehen: {Gott} = {mathematische Formel}. 19 Wenn sich Perutz also den unerschöpflichen und unauslotbaren Weltenlenker Gott als eine mathematische Formel vorstellt, ist diese unendlich viel komplexer als 2 + 2 = 4. 20 Daraus folgt: Unsere innerweltliche Wirklichkeit ist im Hinblick auf Plan- und Berechenbarkeit durch keines der beiden Systeme (Glaube oder mathematische Berechenbarkeit) vollständig zu durchschauen: Weder können wir den Plan Gottes verstehen noch gibt es eine „Weltformel“, die alle Phänomene auf physikalischer, geschweige denn auf psychischer oder metaphysischer Ebene vernetzt erklären könnte. Gleichwohl besteht, nach Perutz, eine klare Beziehung zwischen Gott und Welt, das eine kann nicht ohne das andere gedacht werden. 21 18 Siehe hierzu Ebbinghaus/ Flum/ Thomas (2007), die zeigen, dass mathematische Beweisführungen unterschiedlichster Art auf eben dieser Voraussetzung beruhen. 19 Diese Darstellungsform bedeutet, dass Gott oder die Formel nicht aus nur einem einzigen Bestandteil bestehen, sondern von vielfältigster quantitativer und qualitativer Zusammensetzung sind. Vergleiche zu dieser Auffassung von Weltstruktur und Erkenntnis Bertrand Russell: „The existing world consists of many things with many qualities and relations. A complete description of the existing world would require not only a catalogue of the things, but also a mention of all their qualities and relations. We should have to know not only this that, and the other thing, but also which was red, which yellow, which was earlier than which, which was which between two others, and so on” (Leerhoff 2004: 108). 20 Es sei an dieser Stelle auf Kurt Gödels Gottesbeweis hingewiesen, der göttliche Eigenschaften in die mathematische Formelsprache wandelt und der selbst wieder Gegenstand verschiedener Beweise ist (z.B. Benzmüller/ Woltzenlogel 2013). 21 Perutz‘ Auffassung korreliert perfekt mit der des Mathematikers Kurt Gödel (1906- 1978), der in einem Brief von 1950 schrieb: „Denn wir verstehen weder warum diese Welt existiert, noch warum sie gerade so beschaffen ist wie sie ist, noch warum wir in ihr sind, noch warum wir gerade in diese und keine anderen äußeren Verhältnisse hineingeboren wurden“. Auch später noch, 1961, kommt er verschiedentlich auf dieses Thema zurück: „Hat man aber einen Grund anzunehmen, daß die Welt vernünftig eingerichtet ist? Ich glaube ja. Denn sie ist durchaus nicht chaotisch und willkür- Zwischen Heimat und „Heimat“ 71 Er sieht, so ist zusammenfassend aus seinem Satz abzuleiten, am Ende seines Lebens die Welt als ein sinnhaftes System, das durch eine übergeordnete Instanz gelenkt wird. Damit, dass er diese Instanz Gott nennt, stellt er sich in eine bestimmte philosophische Tradition. Zugleich drückt er die Art und Weise des Handelns von Gott dadurch aus, das er ihn mit einer mathematischen Formel gleichsetzt. Das bedeutet: Dass wir als Menschen das Wirken oder die Lenkung Gottes nicht rational zu erklären vermögen, sagt nur etwas über uns selbst aus, nicht aber etwas über seine prinzipielle Erklärbarkeit; uns fehlen schlichtweg die Mittel, diese „Formel“ aufzulösen. Hier nun kommt der Schriftsteller Perutz ins Spiel: Er stellt vielfach äußerst verschlungene und zunächst überhaupt nicht logisch erscheinende Schicksalswege von Figuren dar, an deren Ende sich, wie auch immer ihr Leben ausgeht, herausstellt, dass es entweder nur in sich sinnvoll war oder aber vor dem Hintergrund einer Einbettung in transzendente Zusammenhänge den Figuren selbst als sinnvoll und gotterfüllt erscheint. Perutz hebt damit den für ihn zwingenden, aber nicht „berechenbaren“ Zusammenhang zwischen Gott und Welt auf eine metaphorische Ebene, die allerdings - und das macht seine schriftstellerische Qualität aus - die transzendente Logik irdischen Geschehens für den Leser unmittelbar erfahrbar macht. Dies ist ein Zugang zu Perutz, der alles andere als weit hergeholt ist, sind doch die Verweise auf das Wirken Gottes in seinen Romanen vielfach vorhanden. Und ein solches Denken von Perutz passt, von seiner intellektuellen Sozialisation im Wiener Schriftsteller-, Philosophen- und Mathematikermilieu her lich, sondern es herrscht, wie die Wissenschaft zeigt, in allem die größte Regelmäßigkeit und Ordnung“. „Ich glaube, in der Religion, wenn auch nicht in den Kirchen, liegt viel mehr Vernunft als man gewöhnlich glaubt, aber wir […] werden von frühester Jugend an zum Vorurteil dagegen erzogen, durch die Schule, den schlechten Religionsunterricht, durch Bücher und Erlebnisse.“ „Was ich theologische Weltanschauung nenne, ist die Vorstellung, daß die Welt, und alles in ihr, Sinn und Vernunft hat, und zwar einen guten und zweifellosen Sinn. Daraus folgt unmittelbar, daß unser Erdendasein, da es an sich höchstens einen sehr zweifelhaften Sinn hat, nur Mittel zum Zweck für eine andere Existenz sein kann.“ Hierin klingt an, dass die Durchschaubarkeit der Logik der innerweltlichen Strukturen etwas anderes ist als ihr tatsächliches Vorhandensein. Siehe: Köhler u.a. (2002: 187, 188, 189). Siehe hierzu auch Nagel/ Newman (1964: 96-99), wo die Struktur des gödelschen Beweises erklärt wird. Dieser läuft auf eine ähnliche Erkenntnis hinaus: Selbst wenn man für eine Behauptung x Belege und keinen Gegenbeweis hat, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, ob es nicht doch einen Fall gibt, in dem die Behauptung falsifiziert werden kann. Das heißt, das System ist zwar logisch, aber unendlich. An diesem Punkt wird auch deutlich, warum der argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges großes Interesse an Perutz‘ Arbeiten fand. 72 Detlef Haberland gesehen, perfekt in eine Poetologie, die versucht, einen raffinierten Plot mit einer sinnkritischen oder sinnstiftenden philosophischen Tiefendimension zu verbinden. 22 Perutz gestaltet seine Romanwelten zwar weitgehend analog zu unserer Erfahrungswelt (er schreibt ja keine Science Fiction), aber mit einem feinen Unterschied: Seine Figuren selbst können, das führt er dem Leser sehr deutlich vor Augen, die Kontingenz ihrer Lebenswirklichkeit nicht durchschauen, jedoch ist diese von einem Erzähler gestaltet, der den vollständigen Einblick in alle Zusammenhänge hat. Er ist es, der die den handelnden Figuren nur unvollständig vorliegenden Daten (= Bestandteile der „Formel“) zu Ereignissen oder anderen Figuren so komplettiert, dass für den Leser die „Formel“ erkennbar wird. Perutz‘ Romane sind natürlich keine Texte im Sinne religiöser Literatur als die poetische Demonstration der Wirkung göttlicher Wunder oder dafür, wie ein Verirrter auf den Pfad des Glaubens gebracht wird (man denke etwa an die Romane von Georges Bernanos, Bruce Marshall oder Stefan Andres). Seinem Ansatz liegt vielmehr die Überlegung zugrunde, dass das Leben in seiner unüberschaubaren Struktur nur scheinbar chaotisch und unlogisch ist. Die Sinnstrukturen, die im realen Leben für den Einzelnen kaum je erkennbar sind, können durch eine literarische Konstruktion als zwar weit voneinander getrennte Einheiten aufgezeigt werden, die gleichwohl in einer „höheren“ Beziehung zueinander stehen. 3 Die „Gottesformel“ als literarische Sinngebung Als Einstieg in die Poetologie von Perutz dient der Roman „Der schwedische Reiter“. Es ist die Geschichte Christian von Tornefelds und eines namenlosen Diebes, die sich begegnen. Der Dieb nimmt sich auf raffinierte Weise die Identität Tornefelds, um ein Edelfräulein zu heiraten. Tornefeld, jetzt der Namenlose, kommt, statt im schwedischen Heer zu dienen, in Zwangsarbeit. Nach langen Jahren treffen sich die beiden wieder und wechseln erneut die Identitäten. Der Dieb hatte inzwischen das Edelfräulein geheiratet und war Vater ihrer Tochter. Als er entdeckt zu werden droht, muss er fliehen; er sagt, er gehe zum schwedischen Heer. Nach dem Treffen der beiden Protagonisten geht nun aber der wirkliche Tornefeld zu den Schweden, der Dieb in die Zwangsarbeit. Nacht für Nacht schleicht er sich jedoch aus dem Steinbruch, klopft an das Fenster seiner Tochter und spricht mit ihr. Tornefeld fällt in der Schlacht bei Poltawa, der Dieb kommt bei einem erneuten nächtlichen Ausflug um. Während die 22 Müller/ Eckert (1989: 129-138), Müller (1992: 46-48), Siebauer (2000: 58-60). Zwischen Heimat und „Heimat“ 73 Edelfrau die bereits drei Wochen alte Nachricht vom echten Kriegstod ihres vermeintlichen Mannes erhält, die aber die des echten Tornefeld ist, glaubt die Tochter, dass ihr wirklicher Vater, eigentlich der falsche Tornefeld, doch immer noch wiederkommt. Für sie bleibt es, dass er immer nächtlich zu ihr kam, obwohl er doch schon drei Wochen tot war, ein Wunder. Was für den Leser, der den Weg der beiden Protagonisten verfolgen kann, ganz offensichtlich und eine raffinierte Konstruktion ist, ist für die Figuren selbst kontingent: Sie durchschauen nicht die Logik der Ereignisse, die der Erzähler als gleichsam selbstverständlich aufdeckt. Für sie sind die Ereignisse zwingend und wie ein Ergebnis des geheimnisvollen Wirkens Gottes. Diese Deutung des Gesamtzusammenhangs wird dem Leser nahegelegt, wenn der sterbende Dieb den Engel des Todes erblickt und ihn um Folgendes bittet: „Jetzt mein‘ ich, ich begreif’s. Du hast dereinst für mich gebeten, tu’s heute wiederum. Ich will nur eins: meine junge Tochter soll, wenn ich nicht wiederkomm‘, nicht glauben, ich hätt‘ sie vergessen. Man soll’s ihr sagen, daß ich gestorben bin. Sie soll nicht weinen um meinetwillen, das will ich nicht. Ein Vaterunser soll sie beten für meine Seele.“ Der Engel des Todes blickte zu den Sternen empor. So stand er, schattengleich, und dann senkte er in stummer Gewährung sein strenges und erhabenes Antlitz (Perutz 1988: 216). Und während die Tochter für ihren falschen Vater ein Vaterunser zu beten beginnt, dessen Todesnachricht sie soeben erfahren hat, sieht sie einen Leichenkarren am Haus vorbeiziehen, in dem, unerkannt, ihr leiblicher toter Vater ist - sie betet also das Vaterunser auch für ihn. Das Paradoxon des göttlichen Wirkens wird damit auf natürliche Weise aufgelöst. Perutz stellt für den Leser die scheinbar zufälligen Ereignisse des Lebens als eine komplexe, aber auflösbare Gleichung dar, die zwar von den einzelnen Individuen nicht durchschaut werden kann, aber dennoch Realität ist. Die Variabilität Perutz‘ ist bewundernswert. Was in „Der schwedische Reiter“ als ein Verwechslungsspiel erscheint, ist in anderen Romanen ganz anders konnotiert. In dem Roman „Turlupin“ (1924) erfährt der elternlose Perückenmacher und Barbier, „Träumer und Narr“ (Perutz 2006: 20) von der Möglichkeit, sich eine leibliche Kindschaft durch Klage zu erwerben. Durch ein Missverständnis glaubt er, von der Herzogin von Lavan als ihr Sohn erkannt worden zu sein. Er gelangt verkleidet in den Adelskreis, der im Begriff ist, gegen Richelieu loszuschlagen. Dieser seinerseits mobilisiert das Volk. Und Turlupin stürzt sich, weil ihn ein Nachbar erkannt hat, verzweifelt in den Kampf: Die beiden standen einander gegenüber, Aug‘ in Aug‘, und erkannten einander. Und dennoch erkannten sie einander nicht. Der Vicomte von Saint-Chéron sah den Perückenmacher Turlupin, der ihm alle Wochen den Bart geschoren hatte, 74 Detlef Haberland und ahnte nicht, daß es der Schwertadel Frankreichs war, der vor ihm stand […]. Und Turlupin […] wußte nicht, daß mit dem Mann, dem er jetzt sein Dolchmesser in die Brust stieß, die Revolution zu Boden sank, um sich erst nach hundertfünfzig Jahren wieder zu erheben (Perutz 2006: 158f.). Mit diesem Satz endet der Roman freilich nicht. Turlupin, der falsche Adlige, stirbt unerkannt, er bekommt es nicht mehr mit, dass die blinde Herzogin ihn nicht als ihren Sohn ertastet. Er stirbt in dem Bewusstsein, in dem er gelebt hat, „daß sein Schicksal nicht in seiner Hand allein lag. Es gab gute und böse Mächte, darum war es notwendig, sich des Beistandes Gottes zu versichern“ (Perutz 2006: 19). „Vielleicht“, so mutmaßt der nächste Verehrer der ehemaligen Partnerin von Turlupin, Herr Coquereau, „hat Gott nach Art der großen Herren sich einen guten Tag aus einem einfältigen Menschen gemacht“ (Perutz 2006: 164). Da aber dies keine Aussage des Erzählers, sondern die einer Figur ist, bleibt ihr Wahrheitsgehalt im Bereich einer persönlichen Spekulation; die Wortwahl Coquereaus macht dies augenfällig: Turlupin ist nichts weniger als „einfältig“, er ist vielmehr ein „Narr“, der außerhalb der frühneuzeitlichen Gesellschaft steht. So ist nicht die möglicherweise schon 1642 stattfindende Revolution das eigentliche Thema des Romans, sondern das Agieren eines „Träumers und Narren“, der an die unbedingte Wirkkraft Gottes glaubt. Sein Glaube wird vollständige Wahrheit, jedoch nur in seiner eigenen Vorstellungskraft. Da es ihm allerdings an Demut mangelt - das wird darin deutlich, dass er alle Gebote der Kirche einhält, „um Gott für sich zu gewinnen“; er ist barmherzig, jedoch „aus Vorsicht und aus Klugheit“ (Perutz 2006: 19f.); er gibt zwar den Bettlern Almosen, „am liebsten hätte er sie alle mit seinen beiden Fäusten erwürgt“, denn sie sind nach seiner Auffassung „Spione Gottes, Angeber, elende Verräter“ (20) -, ist sein Narrentum Ausdruck des Vanitas-Gedankens, d.h. der irdischen Nichtigkeit im Angesicht Gottes. 23 Seine „Gleichung“ geht auf, aber nur für ihn. Auch der Roman „Der Meister des Jüngsten Tages“ (1923) bietet eine ähnliche Einsicht in diese poetische Begründung Perutz‘. Das dichte Gewebe von Kriminalroman, von Wahrheit und Verschleierung ist in der Forschung verschiedentlich bearbeitet worden. Letztlich ist es dem Leser aufgegeben, die versteckten Hinweise auf die wirklichen Zusammenhänge zu finden. Die Serie von Selbstmorden ist letztlich einer bewusstseinsverändernden Droge geschuldet, aber es kommt der auslösende Moment hinzu, in diesem Fall der Freiherr von Yosch, der den labilen Schauspieler Bischoff dazu bringt, diese Droge zu nehmen. Ob man dem Bericht über den umnachteten Maler glaubt oder dem 23 Zur Funktion des Narren siehe Mezger (1993: 1025). Zwischen Heimat und „Heimat“ 75 Verfasser des Nachworts - beide zusammengenommen bilden erst das Ganze. Chigi sieht das Jüngste Gericht - was der Nachwortschreiber verneint (Perutz 1984: 155), überhaupt nimmt er einen rein rationalistischen Standpunkt ein. Der Bericht von Yosch ist aus einer anderen Sicht geschrieben, er verheimlicht manches. Aber sein Text läuft auf die Erkenntnis hinaus: „Ein jeder von uns trägt sein Jüngstes Gericht in sich“ (Perutz 1984: 153). Das ist eine teleologische Auffassung von Ich und Welt mit einer finalen Konsequenz: Wenn dies so ist, dann ist die jeweilige Persönlichkeit in einer bestimmten Weise transzendent determiniert, ohne dass sie dies weiß. Auch hier wird die Kontingenz der Figuren nicht aufgelöst. Aber der Leser schaut in das Geschehen wie in ein Labor „von oben“ hinein und hat selbst die Möglichkeit, die Konstruktion des Lebens zu erkennen, die entschieden über kriminelle Beweggründe hinausgeht. Am verstörendsten sind die von dem Erzähler mitgeteilten Verhältnisse in „Sankt Petri-Schnee“ (1933). Zunächst wird, um den Romaninhalt aufs allerknappste zusammenzufassen, nicht deutlich, ob der Icherzähler Amberg im Dorf Morwede bei einem religiösen Fanatiker war, der mittels einer Droge die Aktivierung mystischer Glaubensgewissheit plante, oder auf einem Bahnhofsvorplatz so angefahren wurde, dass er einen Schädelbruch mit innerer Blutung erlitt. Aber nicht nur der Hauptfigur bleiben die Erlebnisse verschleiert, auch für den Leser sind die Ereignis-Varianten „Erhebung um des Glaubens willen“ - „Unfall“ nicht eindeutig auflösbar: Der Umsturz! Der Traum von einer gewaltsamen Neuordnung der Dinge. Hat nicht dieser Glaube, wie jeder Glaube, seine Evangelisten und seine Bibel, seinen Mythos und seine Dogmen […]? Ist sie [die religiöse Lehre des Barons Malchin: D.H.] das Evangelium unserer Tage oder ist sie ihr Moloch? (Perutz 1987: 184). Die Verwirrung der Realitäten im Bewusstsein des paradigmatisch erzählten Protagonisten scheint nicht auflösbar. Einer der Doktoren sagt Amberg, als er im Krankenhaus liegt: Der Traum gibt uns mit verschwenderischen Händen, was uns das karge Leben schuldig bleibt. Und diese sogenannte Wirklichkeit, - was wird aus ihr, was bleibt von ihr? Auch das, was wir erlebt haben, wird blaß und schattenhaft und irgend einmal zerrinnt es, so wie ein Traum zerrinnt (Perutz 1987: 178). Auch dies ist eine Weltkonstruktion: Das Individuum ist zwischen Traum und Wachen gefangen und letztlich dem Vergänglichen ausgeliefert. Allerdings ist das Bewusstsein des Einzelnen abhängig von den Verhältnissen und offenbar von einer „Realität“ abhängig, die nach den eigenen Wünschen geschaffen ist. Das bekommt Amberg, allerdings wieder von einem Arzt, bestätigt: „Du hast das Unmögliche erreicht - im Traum, Amberg, im Fiebertraum, als du dalagst 76 Detlef Haberland und deliriertest“ (Perutz 1987: 177). Amberg ist schon bereit, diese Theorie des Seins anzunehmen, eine „tiefe Mutlosigkeit“ überkommt ihn und er glaubt zu wissen, so beeinflusst, wie er in diesem Moment ist, „niemals war Bibiche meine Geliebte gewesen“ (Perutz 1987: 178). Es gibt jedoch noch eine andere Version der Ereignisse. Diese wird Amberg vom Pfarrer nahegebracht: „Geträumt? […] Das ist alles leider so wirklich und so wahr, wie daß ich jetzt hier vor Ihnen stehe“ (Perutz 1987: 181). Die Ereignisse haben allerdings einen politischen Hintergrund, der die Handelnden dazu bewegt, die Wirklichkeit zu verschleiern: Man wünscht an höherer Stelle nicht, über Ausbrüche einer revolutionären Gesinnung unter der Bauernschaft Bericht abstatten zu müssen. […] und so könnte man über die Sache Gras wachsen lassen, - wenn es nicht hier im Krankenhaus einen sehr unbequemen Zeugen gäbe. Der könnte sich am Ende melden und zu sprechen beginnen, und dann müsste die Untersuchung weitergeführt und vielleicht sogar die Anklage gegen einzelne Personen erhoben werden. Begreifen Sie nun, warum man Ihnen beibringen will, daß alles, was Sie erlebt haben, nur ein Fiebertraum gewesen ist? (Perutz 1987: 181). Der Beweis der Richtigkeit dieser Darstellung liegt in der Figur der Bibiche, die Amberg zum Schluss in Gegenwart ihres Mannes trifft. Sie fleht mit den Augen „Verrat mich nicht! Er ahnt, was zwischen uns gewesen ist“ (Perutz 1987: 188). Da sich dies nicht auf die noch länger zurückliegende Begegnung mit ihr in einem Berliner bakteriologischen Institut beziehen kann, sondern auf die Liebesnacht der beiden in Morwede, ist dies ein externer Beweis dafür, dass die Erinnerung Ambergs richtig ist und ihn nicht trügt. Die „Formel“ von „Sankt Petri-Schnee“ lässt sich dahingehend verstehen, dass das Experiment des Barons Malchin in seinem Sinne - der Wiederherstellung des Glaubens in der Welt - zwar scheitert, aber zugleich dennoch gelingt, weil die Bauern sich durch die Droge erheben. Nur, sie erheben sich im falschen, nämlich im nicht-mystischen, nicht-religiösen Sinne, wie der Pfarrer erklärt: „Jede Zeit hat ihren Glauben, und der Glaube unserer Tage, das wußte ich schon lange, der Glaube unserer Tage ist -.“ Er machte eine hilflose Handbewegung und in seinem Gesicht war Trauer, Müdigkeit und eine tiefe Resignation (Perutz 1987: 183f.). Der jüdische Schriftsteller Perutz spielt mit dieser einen Bemerkung auf die eindeutige Tendenz seiner Gegenwart an, die sich am deutlichsten in der ‚Machtergreifung‘ Hitlers und dem sich schon sehr bald abzeichnenden unseligen Wirken der NSDAP zeigte. In diesem Roman liegt eine Unsicherheit über Zwischen Heimat und „Heimat“ 77 die Wirklichkeit der Erlebnisse vor, sie bewegt sich jedoch nicht im Bereich der Gegenwart, sondern der unmittelbaren Vergangenheit. Vollkommen gegenwärtig ist das verrätselte Geschehen in dem Roman „Zwischen neun und neun“ (1921). Der Student Stanislaus Demba hat Bücher gestohlen und wird von der Polizei in Handschellen abgeführt, als er sie verkaufen will. Ihm gelingt zwar die Flucht, aber nicht, die stählerne Fessel loszuwerden. Schließlich stürzt er sich von einem Dachboden in einen Hinterhof und stirbt. Die einzelnen Kapitel des Romans sind einzelne Stationen seiner Flucht, während derer er versucht, einerseits seine gefesselten Hände zu verstecken und andererseits zu essen, zu zahlen etc. Der Leser trifft Demba kurz nach neun Uhr auf seiner ersten Station, einem Geschäft, in dem er ein Butterbrot kaufen will, an (Perutz 2013: 6). Das Geschehen verläuft linear bis zwischen zwölf und ein Uhr mittags, als Demba seine Bekannte Steffi Prokop trifft (Perutz 2013: 79) und ihr von seinem länger zurückliegenden Diebstahl, dem versuchten Verkauf eines der Bücher, seiner Verhaftung und Flucht erzählt, die „zeitlich“ an diesem erzählten Morgen stattgefunden haben (Perutz 2013: 91). Weiter verläuft nach diesem Treffen die Handlung linear bis halb acht Uhr abends (Perutz 2013: 177). Seine Freundin Sonja kehrt wieder zu ihm zurück, aber er ist ihrer inzwischen vollkommen überdrüssig geworden. Kurz vor neun Uhr (Perutz 2013: 207) kehrt er zu Steffi zurück, die inzwischen einen Schlüssel für die Handschellen besorgt hat - aber dieser passt nicht. Das Zimmer von Steffi verwandelt sich in diesem Moment in die Dachkammer, die in „trübe[m], kalte[m] Dämmerlicht“ liegt (Perutz 2013: 210). Es schlägt neun Uhr, Demba ist verwirrt: „Morgens? Abends? Wo bin ich? Wo war ich? Wie lange steh‘ ich schon hier und hör‘ die Turmuhr schlagen? Zwölf Stunden? Zwölf Stunden? “ (Perutz 2013: 211). Das Dach des Trödlerhauses in der Klettengasse, wo Demba versuchte, das Buch zu verkaufen, „glänzt so fröhlich in der Morgensonne“ (211). Er stürzt sich hinunter und stirbt. De facto hat die zwölfstündige Flucht Dembas nur in seiner Phantasie stattgefunden. Die „Freiheit“, die Demba erringt, ist die des Todes. Er ist frei von der „brausenden Wirrnis des Daseins“, von dem „rastlose[n] Leben des ewig bewegten Tages“ (Perutz 2013: 211f.) Perutz zeigt die Relativität der Zeit und des menschlichen Wollens angesichts der Ewigkeit und steht damit in der Tradition der bekannten Legende vom Mönch von Heisterbach, 24 dessen Quintessenz die Allmacht Gottes ist, wie sie der Psalmist ausdrückt: „Denn tausend Jahre sind vor dir wie der Tag, der gestern vergangen ist“ (Ps. 90,4). Es geht in „Zwischen neun und neun“ nicht um die Frage nach der moralischen Bewertung eines Verbrechens (Bücherdiebstahl) und um die der Schuld, es geht Perutz 24 Siehe dazu Gath (1955: 178-181). 78 Detlef Haberland darum, zu zeigen, wie relativ Begriffe wie ‚Freiheit‘, ‚Bindung‘, ‚Besitz‘ oder ‚Besitzlosigkeit‘ sind. Wirkliche Freiheit existiert demnach nur im Bewusstsein aller Möglichkeiten, nicht in dem Versuch, diese wahrzunehmen. Das 36 Jahre später von Perutz formulierte Axiom „Gott ist eine mathematische Formel, die die Welt lenkt“ findet bereits in diesem Roman seine Ausprägung, indem das menschliche Wollen in der „brausenden Wirrnis“ des Lebens entschieden relativiert wird. Es mag aus diesen sehr knappen Ausführungen deutlich geworden sein, dass Perutz die „Mathematisierung“ seiner Romane weder auf der Basis einer ausgeklügelten Zahlenakrobatik noch auf der Grundlage einer entsprechenden mathematischen Theorie schafft. Auch die exakte Ausführung historischer Details ist für ihn letztlich nur ein Mittel, um die Wahrscheinlichkeit der Handlung aufs Genaueste zu begründen. Entgegen der Komplexität der Ereignisse der wirklichen Welt, die Perutz wie jeder andere Schriftsteller auf eine endliche „Laborsituation“ komprimieren muss, wird sein Axiom in literarischer Hinsicht nachweisbar. Das heißt, er macht den Lesern die an sich für alle vorhandene Kontingenz des Lebens durchsichtig, indem er deren Strukturen aufdeckt. Perutz hat mit seinem Axiom nicht Gott als eine sorgende Vaterfigur vor Augen, es ist für ihn vielmehr ein Prinzip von höchster Komplexität, nach dem alles geordnet ist. Ohne ein solches Prinzip wäre unsere Welt für ihn sinnlos. Der Begriff der literarischen „Heimat“ wird damit als ein sehr relativer Begriff aufgefasst, der sich gerade in diesem Fall nicht als Analysegrundlage eignet. „Heimat“ in großem Maßstab ist für Perutz das Europa seiner Zeit mit den Zentren Prag und Wien. „Heimat“ ist für ihn aber in höchstem Maße die Welt des Geistes und der geistigen und transzendentalen Zusammenhänge, die ihm das Gefühl vermittelt, nicht in einer dunklen Zeit in Sinnlosigkeit unterzugehen. Perutz schreibt in einer Epoche, die zu seiner Lebenszeit gekennzeichnet ist von der Auflösung der physikalischen und philosophischen Systeme - es ließen sich hierzu die viel zitierte Erkenntnis von Ernst Mach aus seiner „Analyse der Empfindungen“ nennen: „Das Ich ist unrettbar“ oder der „Logische Atomismus“ von Bertrand Russell - und dann von dem Verlust des Glaubens und der Rechtstaatlichkeit, die in Form des Nationalsozialismus zu schrecklichsten Formen der Demagogie und Unmenschlichkeit mutierten. In dieser Zeit gestaltet Perutz seine Figuren und deren Lebenszusammenhänge vor dem Hintergrund der im Judentum grundsätzlich angenommenen ‚Schechinah‘, d.h. der Gegenwart Gottes in der Welt. 25 „Indem Perutz geschichtliche Linien entdeckt und verfolgt, tut er es in einer unzeitlichen Denkweise, die durch die Zeit 25 Siehe hierzu allgemein Navè-Levinson (1987). Zwischen Heimat und „Heimat“ 79 führt“ (Serke 1987: 267). 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S. 14-15. Quellen Perutz, Leo (1975a): Der Meister des Jüngsten Tages. Wien/ Hamburg. Perutz, Leo (1975b): Nachts unter der steinernen Brücke. Wien/ Hamburg. (Die phantastischen Romane). Perutz, Leo (1984): Der Meister des Jüngsten Tages. Roman. Berlin/ Weimar. Lizenzausgabe von Perutz (1975a). Perutz, Leo (1985): Herr erbarme dich meiner. Mit einem Nachw. v. Hans-Harald Müller. Wien/ Hamburg. Perutz, Leo (1987): Sankt Petri-Schnee. Roman. Mit einem Nachw. v. Hans-Harald Müller. Wien/ Hamburg. Perutz, Leo (1988): Der schwedische Reiter. Roman. Reinbek bei Hamburg. Perutz, Leo (1993): Der Marques de Bolibar. Hrsg. u. mit einem Nachw. v. Hans-Harald Müller. München. 82 Detlef Haberland Perutz, Leo (1994): Die dritte Kugel. Roman. Hrsg. u. mit einem Nachw. v. Hans-Harald Müller. Wien. Perutz, Leo (1996): Mainacht in Wien. Romanfragmente, Kleine Erzählprosa, Feuilletons. Aus dem Nachlaß. Hrsg. v. Hans-Harald Müller. Wien. Perutz, Leo (2006): Turlupin. Roman. Mit einem Nachw. hrsg. v. Hans-Harald Müller. München. Perutz, Leo (2013): Zwischen neun und neun. Roman. Hrsg. u. mit einem Nachw. v. Hans-Harald Müller. München. Zum Scheinpartizip (Pseudopartizip, Zirkumfixderivat, Zirkumfixbildung) im Siebenbürgisch-Sächsischen Sigrid Haldenwang (Sibiu/ Hermannstadt) Zusammenfassung 1 Der siebenbürgisch-sächsische Dialekt 2 , der in Form von rund 240 Ortsmundarten hauptsächlich in Dörfern gesprochen wurde, gehört zu den fränkischen Mundarten des Mittelrhein-Gebiets. Zur westfränkischen Grundlage kamen im Laufe der Ansiedlung der Siebenbürger Sachsen auch ostmitteldeutsche und oberdeutsche Elemente hinzu. Das „Miteinander“ der Sachsen, Rumänen und Ungarn in der gemeinsamen Heimat widerspiegelt sich auch im Wortschatz. Im Siebenbürgisch-Sächsischen sind für das S c h e i n p a r t i z i p interessante Fallbeispiele belegt. In der Fachliteratur zur deutschen Gegenwartssprache zeigen allgemeine Diskussionen der Begriffe S c h e i n p a r t i z i p und k o m b i n a t o r i s c h e D e r i v a t i o n , dass dafür auch andere Benennungen üblich sind; andererseits wird auch auf den Begriff S c h e i n p a r t i z i p verzichtet, doch der Wortbildungsvorgang dieser Wortbildungsart wird beschrieben und es werden Beispiele dazu gebracht. Die im Beitrag angeführten Auffassungen sollen im Hinblick auf das S c h e i n p a r t i z i p im Siebenbürgisch-Sächsischen konkretisiert und durch aussagekräftige Mundartbeispiele illustriert werden. 1 Vorbemerkungen Zunächst erfolgen Erläuterungen zum Begriffsapparat, der den Ausführungen zugrunde liegt. Es ist hauptsächlich die Terminologie der „Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache“ von Fleischer (1974) 3 und Fleischer/ Barz (1992, 1 Der vorliegende Text geht auf den gleichnamigen Vortrag der Verfasserin in der von Herrn Prof. Ioan Lăzărescu und Herrn Prof. Dr. Hermann Scheuringer geleiteten Sektion 3 unter dem Titel „Varietäten des Deutschen“ zurück. 2 Das siebenbürgisch-sächsische Mundartgebiet lässt sich aufgrund bestimmter Lautgesetze in den südsiebenbürgischen und in den nordsiebenbürgischen Teil gliedern. Gemeinsamkeiten zeigen die grammatische Struktur und der Wortschatz. Der südliche Teil umfasst das Gebiet zwischen der Kleinen Kokel und dem Alt (siehe dazu die Grundkarte des Siebenbürgisch-Sächsischen Wörterbuchs (SSWB), Bd. 9 [Qu-R]). 3 Fleischer ist Strukturalist, der „onomasiologische Aspekt” (d.h. die inhaltliche Seite der Wortbildungsmittel) steht bei ihm im Vordergrund. Die Wortbildungslehre ist 84 Sigrid Haldenwang 2012) 4 , die synchron ausgerichtet ist. Dazu kommen ältere und neuere Erläuterungen zum Begriff S c h e i n p a r t i z i p (auch P s e u d o p a r t i z i p , Z i r k u m f i x d e r i v a t , Z i r k u m f i x b i l d u n g ) im Rahmen der k o m b i n a t o r i s c h e n D e r i v a t i o n (Z i r k u m f i x d e r i v a t i o n , Z i r k u m f i g i e r u n g ) in der Fachliteratur zur deutschen Gegenwartssprache hinzu. Nach der Konkretisierung der Definition des Begriffs S c h e i n p a r t i z i p im Hinblick auf das Siebenbürgisch-Sächsische werden die Fallbeispiele, die dem Siebenbürgisch-Sächsischen Wörterbuch (SSWB) 5 und dem Nordsiebenbürgisch-Sächsischen Wörterbuch (NSSWB) 6 entnommen sind, nach bestimmten Kriterien gruppiert, die D e r i - synchron ausgerichtet. „Diachronische Verfahren” werden als „hilfswissenschaftlich” und „Entwicklungstendenzen” zu „sekundären Phänomenen” erklärt (vgl. Fleischer 1974: 24f.). Diese Wortbildungslehre bringt einen gut definierten Begriffsapparat und eine übersichtliche Gesamtdarstellung der Wortbildungsmodelle der deutschen Gegenwartssprache. 4 Die angeführten Titel von Fleischer/ Barz sind eine Überarbeitung und sinnvolle Erweiterung von Fleischer (1974). Eine Reihe von Grundbegriffen sind neu gefasst worden, z.B die Zusammenfassung von Präfigierung und Suffigierung unter dem Oberbegriff „Explizite Derivation“. Die Aufnahme neuer Forschungsergebnisse wird deutlich, unterschiedliche Positionen werden sichtbar gemacht und ausführlich diskutiert sowie diachronische Erläuterungen gegeben. Die schon von Fleischer (1974: 49ff.) als analytisches Verfahren der morphematischen Segmentierung hervorgehobene K o n s t i t u e n t e n a n a l y s e wird auch von Fleischer/ Barz (1992) als Grundlage für die synchrone Darstellung genutzt und in den folgenden Arbeiten angewendet. 5 Das Wörterbuch will den Allgemeinwortschatz der Siebenbürger Sachsen an zuverlässig belegten, volkstümlich gebrauchten Wörtern aus dem Alltag erfassen; mit eingeschlossen sind die mundartliche Volks- und Kunstdichtung (mit besonderer Berücksichtigung der Redensarten, Sprichwörter, Rätsel), Fachbenennungen der sächsischen Handwerke, Entlehnungen aus dem Rumänischen und Ungarischen, Pflanzenbezeichnungen, toponomastische Bezeichnungen (Flurnamen und Ortsnamen). Dazu kommen deutsche Belege aus der siebenbürgischen Urkundensprache (von der Mitte des 13. Jahrhunderts bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts). Diese Belege werden unter dem Gesichtspunkt ihrer Bedeutung für den mundartlichen Einfluss auf die deutsche Schriftsprache in Siebenbürgen sowie für die Geschichte der deutschen Sprache ausgewertet. Die Bearbeitung erfolgt nach festgelegten wissenschaftlichen Grundsätzen, die Gliederung der einzelnen Wortartikel wird nach lautlichen, grammatikalischen und semantischen Kriterien durchgeführt. 6 Dieses Wörterbuch behandelt eingehend die Mundarten Nordsiebenbürgens, die Mundart der Bewohner von 48 Ortschaften, meist Dörfern, in den Kleinräumen Nösnerland (das Gebiet Bistritz und Umgebung) und dem Reener Ländchen. Für das Nösnerland ist Bistritz, auch Nösen genannt, „die Stadt“ mit starker Ausstrahlung auf die umliegenden Orte, für das südlichere Reener Ländchen ist es Sächsisch- Regen (Reen). Eine Begründung für die Erstellung dieses Wörterbuchs, das nicht als Scheinpartizip im Siebenbürgisch-Sächsischen 85 v a t i o n s b a s i s (DB) der Wortbildungen auch aus historischer Sicht betrachtet sowie die W o r t b i l d u n g s b e d e u t u n g (WBB) der Musterbeispiele angeführt. In den Schlussbetrachtungen werden zusätzliche Aspekte verdeutlicht. 2 Erläuterungen zum Begriffsapparat Der grammatischen Interpretation der Fallbeispiele liegt die Analyse der u n m i t t e l b a r e n K o n s t i t u e n t e n (UK) zugrunde. Im Rahmen der Wortbildung geht man davon aus, dass die morphematische Segmentierung eines komplexen Wortes zu einer linearen Aufreihung der einzelnen Morpheme führt: „Die hierarchische Struktur der Morphemkonstruktion erhellt erst die Analyse nach deren u n m i t t e l b a r e n K o n s t i t u e n t e n ” (Fleischer/ Barz 1992: 42). UK „sind diejenigen Konstituenten [...], aus denen jede Konstruktion unmittelbar gebildet ist, in die sie sich auf der nächstniedrigeren Ebene direkt zerlegen lässt“ (Fleischer 1974: 49f). Die Fachliteratur zur deutschen Gegenwartssprache bringt für Wo rtb ild u n g s a rt e n gleiche sowie verschiedene Einteilungsprinzipien. Auch kann derselbe Begriff verschieden benannt sein (vgl. Lühr 1986: 149; Duden 1995: 392). Fleischer/ Barz (1992: 45ff.) führen an: „[U]nter diesem Oberbegriff werden allgemeine Struktureigenschaften von W o r t b i l d u n g s p r o d u k t e n (bei analytischer Betrachtung) bzw. W o r t b i l d u n g s m o d e l l e n (bei synthetischer Betrachtung) nach der Beschaffenheit und Verknüpfungsweise der UK bzw. dem Fehlen einer UK-Struktur zusammengefaßt“. Im Rahmen der W o r t b i l d u n g s k o n s t r u k t i o n e n (WBK) mit U K - S t r u k t u r soll zunächst auf den Begriff D e r i v a t i o n näher eingegangen werden. Auch der Terminus A b l e i t u n g wird für den Vorgang D e r i v a t i o n gebraucht, das Ergebnis ist das D e r i v a t (vgl. Fleischer/ Barz 1992: 46; Lühr 1986: 165). Diesem Oberbegriff wird die e x p l i z i t e D e r i v a t i o n zugeordnet. Zu den beiden UK eines Derivats (einer Ableitung) gehört zunächst die D e r i v a t i o n s b a s i s (DB), die sein kann: ein freies Morphem [alt] 7 , eine freie Morphemkonstruktion [Haarspalter], eine Wortgruppe [krumme Beine] und das D e r i v a t i o n s a f f i x (Derivatem), das auf die Adjektivbildung bezogen ein Präfix [/ ur/ alt] oder ein Suffix sein kann [kümmelspalter/ isch/ ], [krummbein/ ig] (vgl. Fleischer/ Barz 2012: 86). ein Parallelunternehmen zum SSWB betrachtet werden darf, sondern ein Pendant zu demselben ist, bringt Gisela Richter †, die federführende Kraft des Wörterbuchs, in der Einleitung des 1. Bandes (vgl. NSSWB 1: XVII). 7 In eckigen Klammern stehende Beispiele sind von der Verfasserin eingefügt worden. 86 Sigrid Haldenwang 3 Einige Anmerkungen zum Begriff k o m b i n a t o r i s c h e D e r i v a t i o n (Z i r k u m f i x d e r i v a t i o n ) Es ist festzustellen, dass Lühr (1986: 72) in ihren Ausführungen die k o m b in a t o ri s c h e D e ri v a ti o n ( Z ir k u mfi x d e ri v a ti o n) , bei der die ableitende Konstituente diskontinuierlich als Kombination aus Präfix und Suffix auftritt, weiterhin als Sonderfall der expliziten Ableitung betrachtet. Römer/ Matzke (2004: 92f.) vertreten die Meinung, dass bei dieser Subklasse der expliziten Derivation Präfix und Suffix zusammen eine nicht wortfähige diskontinuierliche unmittelbare Konstituente bilden, d.h., die Bestandteile agieren zwar zusammen, sind aber nicht benachbart, sondern umspannen als Z irk u m fi x die andere unmittelbare Konstituente. Das Präfix hat vorwiegend semantisch modifizierende Funktion. Das Suffix, als rechter Teil, bestimmt die grammatische Kategorie und hat explizierenden Charakter [z.B. ge/ räum/ ig]. Aus der Sicht Kueglers (2007: 35) ist die k o m b i n a t o r i s c h e D e r i v a t i o n eine Wortbildungskonstruktion, bei der zur Derivationsbasis eine sogenannte diskontinuierliche unmittelbare Konstituente gehört. Diese besteht aus einem Präfix und einem Suffix, die zwar zusammengehören, jedoch nicht direkt benachbart auftreten, sie umspannen die Basis und bilden ein Z i r k u m f i x . Die k o m b i n a t o r i s c h e D e r i v a t i o n bringt je nach der Art der diskontinuierlichen unmittelbaren Konstituenten, Substantive, Verben, Adjektive hervor [z.B. un/ ermüd/ lich]. Dem Duden (2009: 750) entsprechend, gehören zu der adjektivischen expliziten Derivation die Suffixderivation, die Präfixderivation und die Z ir k u m fi x d e ri v a ti o n [zur letzteren die Beispiele: be/ jahr/ t, ge/ narb/ t, zer/ narb/ t]. 4 Zum Begriff S c h e i n p a r t i z i p i e n (P s e u d o p a r t i z i p i e n , Z i r k u m f i x d e r i v a t e , Z i r k u m f i x b i l d u n g e n ) - im Rahmen der kombinatorischen Derivation, nach der partizipialen Struktur aufgebaut Die „Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache“ von Fleischer/ Barz (1992: 275) führt zwar den Begriff S c h e i n p a r t i z i p nicht an, doch heißt es: „Als kombinatorische Derivation sind schließlich auch Modelle anzusehen, die nach der partizipialen Struktur aufgebaut sind, ohne daß die Formen als Partizip einem Verbparadigma zuzuordnen wären. Soweit es sich um die Kombination mit den Präfixen ge- und behandelt [...] [z.B. ge/ narb/ t, ge/ ripp/ t, ge/ stiefel/ t]“ (vgl. auch Fleischer/ Barz 2012: 84). Altmann/ Kemmerling (2005: 135) sind der Ansicht, dass im Rahmen der expliziten Derivation auch die kombinatorische Derivation (gleichzeitig Präfigierung und Suffigierung) sowie P s e u d o p a rti zi- Scheinpartizip im Siebenbürgisch-Sächsischen 87 pi e n berücksichtigt werden müssen [z.B. be/ herz/ t, ver/ früh/ t, ent/ geister/ t]. Donalies (2005: 107) ordnet das a d j e k t i v i s c h e Z i r k u m f i x d e r i v a t der expliziten Derivation zu und bemerkt: „Z i r k u m f i g i e r u n g ist [...] bei der Adjektivbildung selten, sie ist auf das Z i r k u m f i x / ge/ .../ ig/ beschränkt [z. B. ge/ läuf/ ig]“. Lohde (2006: 220) stellt klar, dass im Rahmen der kombinatorischen Derivation Formen zu unterscheiden sind, die auf den ersten Blick aus Partizipien abgeleitet sind, aber auf Substantive beziehbar sind. Jene auf S c h e in p a rti zi pi e n basierenden Bildungen verfügen über zwei produktive Strukturmuster: ge- + -t = genaturt (ge/ natur/ t), gestreift (ge- + [Streifen mit Tilgung des -en] + -t; be- + -t = beherzt (be/ herz/ t). Letztlich bemerkt Best (2008: 28), dass das Besondere dieser Z ir k u m fi x b il d u n g ist, dass zugleich vor und hinter dem Ausgangswort, der DB, Wortbildungsaffixe angefügt werden [z.B. Absicht > be/ absicht/ ig/ t], wobei ein neues Wort entsteht. 5 Definition des Begriffes S c h e i n p a r t i z i p im Hinblick auf das Siebenbürgisch-Sächsische Von obigen Erklärungen ausgehend, fasse ich für meine Ausführungen zusammen: Das S c h e i n p a r t i z i p (auch P s e u d o p a r t i z i p , Z i r k u m f i x d e r i v a t , Z i r k u m f i x b i l d u n g genannt) ist der k o m b i n a t o r i s c h e n D e r i v a t i o n zuzuordnen. Diese WBK ist nach der partizipialen Struktur aufgebaut, kann aber nicht einem Verbparadigma zugeordnet werden. Bei dieser Wortbildungsart bilden Präfix und Suffix zusammen eine nicht wortfähige diskontinuierliche UK, d.h., die Bestandteile agieren zwar zusammen, sind aber nicht benachbart, sondern umspannen als Z i r k u m f i x die andere UK. Das Präfix hat vorwiegend semantisch modifizierende Funktion. Das Suffix, als rechter Teil, bestimmt die grammatische Kategorie und hat explizierenden Charakter. Für das Siebenbürgisch-Sächsische lassen sich WBK mit desubstantivischer und deadjektivischer DB belegen. Es handelt sich um Bildungen mit den Präfixen gebzw. be- und dem Suffix -t wie im Hochdeutschen, mit der entsprechenden mundartlichen (mal.) Form: gə-, bə- und -t. Da bei den ausgewählten Fallbeispielen als DB auch Entlehnungen belegt sind, werden sie wie folgt gruppiert: 88 Sigrid Haldenwang 5.1 WBK mit Präfix ge-, mal. gə- + DB + Suffix -t, mal. -t 5.1.1 WBK mit desubstantivischer DB DB: allgemeine Sachbezeichnung gebletzt Adjektiv (Adj.) (SSWB, Bd. 3: 55): ‘getupft, gesprenkelt, mit Tupfen versehen’: prädikativ gebraucht dət šwen y wōr šwarts ux weisz gəplātst (‘das Schwein war schwarz und weiß gefleckt’) [Rs] 8 ; də muasərəš nāgəlblāmən sai gəplātst“ (‘die soldatischen Nägelblumen / Bartnelken/ sind gesprenkelt’) [At] DB: Bletze f. [feminin] (vergleiche [vgl.] Bletze ‘Fleck’ [DWB, Bd. 2: 109]), mal. plāts → gə + plāts + t > gəplātst gekettent Adj. (SSWB, Bd. 3: 115): a) ‘mit Ketten geschmückt’: „gəkatənt dąn“ (‘eine mit Kettenschmuck versehene Tanne’) [Bgbg]; b) kettenartig verziert: „loŋhər wōrn də gəkatnt montsamhemdər mat bērkəlgolər“ (‘vor längerer Zeit waren die kettenartig verzierten Männerhemden mit Spitzenkrägen’) [Lechn]. c) aufeinanderfolgend, in Flüchen: sūl deχ dət gəkātənt danərwädər tsəšmätərn! (‘soll dich das aufeinanderfolgende Donnerwetter zerschmettern’! ) [Mbg/ Schbg] DB: Ketten f. < althochdeutsch k e t i n a < lateinisch c a t e n a ‘eiserne Kette, Fessel’ (vgl. Lexer, Hwb., Bd. 1: 1562), mal. katn → gə + katn bzw. kātn + t >gəkatnt bzw. gəkātənt gescheuert Adj. (SSWB, Bd. 3: 181): ‘breitrandig, groß, einer Scheune ähnlich’, vom Bauernhut: gəšaiərt hāt, əm hāisn hąlij əsu, wel ə əsu grūsz wōr wāi ə šaiərdōr (‘breitrandiger, großer Hut, man nannte ihn wohl so, weil er so groß war wie ein Scheunentor’) [B] DB: Scheuer f. ‘Scheune’, mal. šaiər → gə + šaiər + t > gəšaiərt geschobert Adj. (SSWB, Bd. 3: 187): ‘gehäuft, zum Überlaufen voll’: dət fīərəl kuərə gəšiewərt fōl (‘das Viertel Korn gehäuft, zum Überlaufen voll’) [Maldf] DB: Schober m. [maskulin] ‘geschichteter Getreidehaufen’, mal. šiewər → gə + šiewər + t > gəšiewərt getuppest Adj. (SSWB, Bd. 3: 215): ‘gehäuft’: prädikativ gebraucht dət fīrəl äsz jətüpəszt fōl īartnösz“ (‘das Viertel ist gehäuft, zum Überlaufen voll mit Erdnüssen’) [Kl-L] DB: Tuppes m. ‘Haufen’ (vgl. Tuppes m. ‘Haarknoten der Frauen’ einem Haufen ähnlich [Rhein. Wb., Bd. 8: 1470]), mal. tüpəsz → gə + tüpəsz + t > gətüpəszt gezattert Adj. (SSWB, BD. 3: 234): ‘zerrissen, unordentlich’: prädikativ gebraucht net goaŋ əsi gətsadərt əram (‘nicht gehe so zerrisen, so unordentlich herum’) [Schöbg] DB: Zatter f. ‘Lumpen Fetzen’ (vgl. Zatter, Zadder m. ‘etwas Faseriges, Zerfasertes u. so Hängendes’ [DWB, Bd. 15: 321]), mal. tsadər → gə + tsadər + t > gətsadərt DB: Sachbezeichnung, die der Fachsprache angehört geblecht Adj. (SSWB, BD. 3: 55): ‘mit Eisenblech beschlagen’, in der Stellmacherei: gəblēχt ōszšiŋkəl (‘mit Eisenblech beschlagene Achsenschenkel am Pferdewagen’) [Tra] 8 Siehe Liste der abgekürzten Namen der siebenbürgischen Orte unter Punkt 8. Scheinpartizip im Siebenbürgisch-Sächsischen 89 DB: Blech n. [neutral], mal. blēχ → gə + blēχ + t > gəblēχt gebohlt Adj. (SSWB., BD. 3: 56): ‘aus Bohlen hergestellt’, im Zimmerhandwerk: ən jəbüalt štuf (‘ein aus Bohlen hergestelltes Haus’) [Zu]; gəbelt haisər (‘aus Bohlen hergestellte Häuser’) [B] DB: Bohle f. ‘dickes Brett, Planke’, mal. büal bzw. bel → gə + büal bzw. bel + t > jəbüalt bzw. gəbelt gebörtelt Adj. (SSWB, Bd. 3: 56): ‘mit Börteln versehen’, in der Stickerei: dət jəbērtəlt hemt (‘mit Börteln versehenes Hemd’) [Zu] DB: Börtel m. (mittelhochdeutsch [mhd.] b ö r t e l ī n , Diminutiv zu Borte) ‘gehäkelte Spitze mit Zacken oder wie ein Band, als Zierrat für Leib- oder andere Wäsche’, mal. bērtəl → gə + bērtəl + -t > jəbērtəlt geleuchst Adj. (NSSWB, Bd. 2: 1094): ‘mit Leuchsen versehen’, vom Leiterwagen, in der Stellmacherei: „də gəlīszt weugŋ (‘der mit Leuchsen versehene Wagen’) [Jaad] DB: Leuchse f. ‘Stemmleiste am Leiterwagen’ (vgl. Rhein. Wb., Bd. 5: 413), mal. līsz → gə + līsz + t > gəlīszt geriegelt Adj. (SSWB, BD. 3: 186): aus Balken gebaut, im Zimmerhandwerk: ə gərigəlt häosz (‘ein aus Balken gebautes Haus’) [Pdf/ B] DB: Riegel m. ‘Balken, im Fachwerkbau’, mal. rigəl → gə + rigəl + t > gərigəlt gespänt Adj. (NSSWB, Bd. 2: 1195): ‘mit spänenartigem Muster versehen’, in der Holzschnitzerei: där gašpīnt bitkläpəl (‘Stab aus Holunderholz, der mit scharfem Messer so bearbeitet wurde, dass am ganzen Stab entlang in Abständen geringelte, hobelspanartige Streifchen herabhingen; heute nicht mehr üblich’) [Tkdf] DB: Span m., mal. špō → gə + špīn (Vokalwandlung ō > ī ) + t > gəšpīnt DB: Pflanzenbezeichnung, Bezeichnung eines Pflanzenteils, einer Pflanzenfrucht, einer Pflanzenkrankheit geblühtet Adj. (SSWB, Bd. 3: 50): ‘mit Blüten versehen’: prädikativ gebraucht də kresantenə se greszər gəbläät wäi də katreŋəblamən (‘die Chrysanthemen sind mit größeren Blüten versehen als die Katharinenblumen / Astern/ ’) [Kel] DB: Blühe f. (< mhd. b l ü e , b l u o ) ‘Blüte der Obstbäume’ (DWB, Bd. 2: 154), mal. blää → gə + blää + t > gəbläät gesafrant Adj. (SSWB, BD. 3: 175): ‘Safran enthaltend’: im Flurnamen gəsafərtəsz Ląąwənt 9 (‘Safran enthaltende Suppe’; so genannt, weil eine Frau hier Suppe verschüttet haben soll) [Mschdf] DB: Safran m. ‘Pflanzenname’, mal. safər → gə + safər + t > gəsafərt gekippert Adj. (SSWB, Bd. 3: 115): ‘der Kipper ähnlich sehend, eingetrocknet’: də weimərə wōrə gəkepərt (‘die Weinbeeren waren eingetrocknet, den Kippern ähnlich’) [Rs]; hol mər də gəkipərt waimərn än əm tupərt (‘bring mir die eingetrockneten Weinbeeren in einer Tüte) [Pi] DB: Kipper f. ‘getrocknete Weinbeere’ [Rosine]; (vgl. mhd. k i p e r [ w ī n ] ‘zyprischer Wein’ [Krauss, Pfl.N.: 608]), mal. kepər bzw. kipər→ gə + kepər bzw. kipər + t > gəkepərt bzw. gəkipərt 9 Wohl zu ungarisch lé (Akkusativ levet) ‘Brühe, Saft’. 90 Sigrid Haldenwang gewickent Adj. (SSWB, Bd. 3: 225): ‘mit Wicken behaftet’: prädikativ gebraucht dət kōrn äsz gəwäknt (‘das Korn ist mit Wicken behaftet’ [Kisch 1900: 168]) DB: Wicken (im Plural) ‘Pflanzenname’, mal. wäkn → gə + wäkn + t > gəwäknt gemehltaut Adj. (SSWB, Bd. 3: 136): ‘von Mehltau befallen’: prädikativ gebraucht dət kuirn äsz gəmildāt (‘das Korn ist von Mehltau befallen’) [Gr-Schenk]; wun də apəl əsü šwąrtsštiliχ sen y , se sə gəmīəldāt (‘wenn die Äpfel so schwarzstielig sind, dann sind sie von Mehltau befallen’) [Kl-L] DB: Mehltau m., mal. mildā bzw mīəldā → gə + mildā bzw. mīəldā > + t > gəmildāt bzw. gəmīəldāt DB: Abstraktum, aus dem Rumänischen entlehnt gəharamn y it 10 Adj. (dem Wortschatzarchiv des SSWB entnommen): ‘verwüstet’: prädikativ gebraucht an dər tatərntsait wąr də gəməi fərwāiszt, wąr aləsztər gəharamn y it (‘in der Türkenzeit war die Gemeinde verlassen, war alles verwüstet’ [Jdf/ B] DB: rumänisch (rum.) h a r a m m. ‘Plünderung, Ausraubung’ mal. haram → gə + haram + [n y i] Einschub + t > geharamn y it 5.1.2 WBK mit deadjektivischer DB DB: Adjektiv, explizites Suffixderivat getürkischt Adj. (SSWB, Bd. 3: 215): ‘bunt, rotkörnig oder gestreift’, von Maisähren: də kukərusär esz gətirkəšt (‘die Kukuruzähre ist getürkischt’, d.h. sie hat rote u. gelbe Körner) [Alz]; ən hīš rīd ux grän gətirkəšt kwaszt um halts“ (‘eine schöne rot und grün getürkischte / gestreifte/ Quaste am Hals) [H] DB: türkisch ‘bunt gesprenkelt, auf eine Maisart bezogen’, mal. tirkəš → gə + tirkəš + t > gətirkəšt DB: ein Adjektiv, Simplex, aus dem Rumänischen und Ungarischen entlehnt gətarkəlt 11 Adj. (SSWB, BD. 3: 210): ‘bunt, scheckig’: prädikativ gebraucht ət / eine mehrfarbige Decke/ asz gətarkəlt (‘eine mehrfarbige Decke ist bunt, scheckig’) [Wl]; auch über geflecktes Vieh də getər sen gətarkəlt (‘das Rindvieh ist gefleckt, buntscheckig’) [Pdf/ B]; zur Bezeichung einer Pfirsichsorte: attributiv gebraucht gətarkəlt firžäŋk (‘gesprenkelte Pfirsiche’) [Min, Krauss, Pfl.N.: 464] DB: < ungarisch (ung.) t a r k a ‘bunt, scheckig’; mal. gə + tark [Tilgung von ung. a] + mal. əl- Einschub + t > gətarkəlt gəpisztərtsit 12 Adj. (NSSWB, Bd. 2: 1132): ‘gesprenkelt, bunt’: an gəpisztərtsit är (‘eine gesprenkelte Maisähre’) [Boo] 10 Der WBK entspricht kein etymologisch vertretbares deutsches Lemma, da die DB ein rumänisches Lehnwort ist, das mit deutschem Präfix und Suffix in die Mundart entsprechend integriert wurde, deshalb nur ein mal. Lemma. 11 Siehe Fußnote 8. Hier ist die DB ein ungarisches Lehnwort. 12 Siehe Fußnote 8. Hier ist die DB ein rumänisches Lehnwort. Scheinpartizip im Siebenbürgisch-Sächsischen 91 DB: < rum. p e s t r i ţ ‘gesprenkelt, bunt’; mal. gə + piszt [mal. -i- < rum. e] + mal. ər- Einschub + mal. -ts- Einschub [< rum. ţ] + mal. -i- Einschub + t > gəpisztərtsit 5.2 WBK mit Präfix be-, mal. bə- + DB + -t, mal. -t DB: Sachbezeichnung beklubbert Adj. (NSSWB, Bd. 1: 970): ‘schmutzig vom Straßenschwamm’: prädikativ gebraucht də gāitər sai bəklubərt (‘das Vieh ist vom Straßenschlamm beschmutzt’) [Nd-Wall]. DB: Klubber m. ‘Kot-Schmutzklümpchen’ (zu Klöbbel, Kludde [Rhein. Wb. Bd. 4, 744 u. 790]), mal. klubər → bə + klubər + t > bəklubərt. DB: Güter, im Sinne von ‚Vieh‘ begütert Adj. (NSSWB, Bd. 1: 941): ‘reich an Vieh’, namentlich an Großvieh: prädikativ gebraucht ə äsz bəgetərt (‘er ist begütert, hat viel Vieh, ist reich an Vieh’) [Bra]; ə äsz bəgāitərt iwər’t hīft (‘er ist bis über den Kopf begütert, sehr reich an Vieh’) [Gr-A; auch B] DB: Güter f. ‘(Rind)vieh’ (vgl. Guet ‘das Vieh’ [Schmeller, Bd. 1: 965]), mal. getər bzw. gāitər → bə + getər bzw. gāitər + t > bəgetərt bzw. bəgāitərt DB: Teufel beteufelt Adj. (NSSWB, Bd. 1: 1050): bətaibəlt [Kl-B]), bətaiwəlt [Pdf/ B] ‘verteufelt’, Ausdruck der Bewunderung: ə bətaiwəlt mētχi (‘ein bewundernswertes, mutiges Mädchen’) [Pdf/ B] DB: Teufel m. (hier im positiven Sinn gebraucht), mal. taibəl bzw. taiwəl → bə + taibəl bzw. taiwəl + t > bətaibəlt bzw. bətaiwəlt 5.3 Herkunft der DB der Scheinpartizipien aus historischer Sicht 13 5.3.1 DB, Substantiv, gehört der deutschen Hochsprache an - Scheinpartizip Eigenbildung der Mundart Wortbildungen mit dem Präfix : ge-, mal. gə- + DB + -t, mal. -t geblecht, mal. gəblēχt -zu Blech, mal. blēχ gebohlt, mal. jəbüalt - zu Bohle, mal. büal gebörtelt, mal. jəbērtəlt - zu Börtel, mal. bērtəl 13 Der meiste Wortschatz des Siebenbürgisch-Sächsischen stimmt mit dem Hochdeutschen überein; es gibt aber auch Sonderkategorien, Wortgut, das die Siedler aus dem deutschen Sprachraum mitgebracht haben, das sich in derselben oder ähnlichen Bedeutung, in derselben oder ähnlichen Wortform im Siebenbürgisch-Sächsischen erhalten hat. Dazu kommen Entlehnungen aus den Nachbarsprachen. 92 Sigrid Haldenwang gekettent, mal. gəkātənt - zu Ketten, mal. kātən gemehltaut, mal. gəmildāt - zu Mehltau, mal. mildā geriegelt, mal. gərigəlt - zu Riegel, mal. rigəl gesafrant, mal. gəsafərt - zu Safran, mal. safər gescheuert, mal. gəšaiərt - zu Scheuer, mal. šaiər geschobert, mal. gəšiewərt - zu Schober, mal. šiewər gespänt, mal. gəšpīnt - zu Span, mal. špō gewickent, mal. gəwäknt - zu Wicke, mal. wäk Wortbildung mit dem Präfix be-, mal. bə- + DB + -t, mal. -t beteufelt, mal. bətaibəlt bzw. bətaiwəlt - zu Teufel, mal. taibəl bzw. taiwəl 5.3.2 DB, Substantiv, ist im deutschen Mundartraum in derselben oder ähnlichen Wortform bezeugt und in derselben oder ähnlicher Bedeutung 14 Wortbildungen mit dem Präfix ge-, mal. gə-, Scheinpartizip → DB gebletzt, mal. gəplātst - zu Bletze, mal. plāts geblühtet, mal. gəbläät - zu Blühe, mal. blää gekippert, mal. gəkepərt, gəkipərt - zu Kipper, mal. kepər, kipər geleuchst, mal. gəlīszt - zu Leuchse, mal. līsz getuppest, mal. jətüpəszt - zu Tuppes, mal. tüpəsz gezattert, mal. gətsadərt - zu Zatter, mal. tsadər Wortbildungen mit dem Präfix be-, mal. bə + DB + -t, mal. -t begütert, mal. bəgetərt - zu Güter, mal. getər beklubbert, mal. bəklubərt - zu Klubbern, mal. klubər 14 Zusammengefasst: DB der Scheinpartizipien mit Belegstellen und Bedeutung angeführt: Blühe (mhd. b l ü e , b l u o ) ‘Blüte der Obstbäume’ (DWB, Bd. 2: 154); Bletze (DWB, Bd. 2, 109) in der Bedeutung ‘Fleck’; Güter ‘(Rind)vieh’ (zu vgl. ist Guet ‘das Vieh’ [Schmeller, Bd. 1, 965]; Kipper ‘getrocknete Weinbeere’; wohl zu Zypern, vgl. mhd. k i p e r [ w ī n ] ) ; zu Klubber sind die ähnlichen Wortformen Klöbbel (1c) und Kludde (1b) ‘Kot- Schmutzklümpchen’ (Rhein. Wb., Bd. 4: 744 und 790) zu vergleichen; Leuchse belegt als ‘Stemmleiste am Leiterwagen’ (Rhein. Wb., Bd. 5: 413); Tuppes bezeugt in der Bedeutung ‘Haarknoten der Frauen’ (Rhein. Wb., Bd. 8: 1470); zu Zatter ‘Lumpen Fetzen’ ist ‘Zatter und Zadder’ in der Bedeutung ‘etwas Faseriges, Zerfasertes u. so Hängendes’ zu vergleichen (DWB, Bd. 15: 321). Scheinpartizip im Siebenbürgisch-Sächsischen 93 5.4 Zur Wortbildungsbedeutung (WBB) 15 5.4.1 Scheinpartizipien mit desubstantivischer DB a) Mit dem von der desubstantivischen DB Bezeichneten behaftet, versehen ‘ornativ’ Wortbildungen mit dem Präfix ge-, mal. gəgeblecht, mal. gəblēχt < Blech, mal. blēχ gebletzt, mal. gəplātst < Bletze, mal. plāts geblühtet, mal. gəbläät < Blühe, mal. blää gebörtelt, mal. jəbērtəlt < Börtel, mal. bērtəl gekettent, mal. gəkātənt < Ketten , mal. kātən geleuchst, mal. gəlīszt < Leuchse, mal. līsz gemehltaut, mal. gəmildāt < Mehltau, mal. mildā gesafrant, mal. gəsafərt < Safran, mal. safər gespänt, mal. gəšpīnt< Span, mal. špō gewickent, mal. gəwäknt < Wicken, mal. wäkn Wortbildungen mit dem Präfix be-, mal. bəbegütert, mal. bəgetərt beklubbert, mal. bəklubərt b) Aus dem von der desubstantivischen DB bezeichneten Material gefertigt, bestehend: ‘Material’ gebohlt, mal. jəbüalt < Bohle, mal. büal geriegelt, mal. gərigəlt < Riegel, mal. rigəl c) Auf die Eigenschaften der desubstantivischen DB bezogen, diese zum Ausdruck bringend: ‚in der Art wie‘ DB: Substantiv deutscher Herkunft beteufelt, mal. bətaibəlt bzw. bətaiwəlt < Teufel, mal. taibəl bzw. taiwəl gekettent, mal. gəkātənt < Ketten, mal. kātən geschobert, mal. gəšiewərt < Schober, mal. šiewər getuppest, mal. jətüpəszt < Tuppes, mal. tüpəsz gezattert, mal. gətsadərt < Zatter, mal. tsadər gescheuert, mal. gəšaiərt < Scheuer, mal. šaiər gekippert, mal. gəkepərt bzw. gəkipərt < Kipper, mal. kepər bzw. kipər DB: Substantiv fremder Herkunft gəharamn y it - < rum. h a r a m ‘Plünderung, Ausraubung’ 15 Unter W o r t b i l d u n g s b e d e u t u n g ist die verallgemeinerbare semantische Beziehung zwischen den UK einer WBK (vgl. Fleischer/ Barz 1992: 19) zu verstehen. Erläuternd muss hinzugefügt werden, dass eine WBK nicht nur eine WBB haben kann. 94 Sigrid Haldenwang 5.4.2 Zu Scheinpartizipien mit deadjektivischer DB Auf die Eigenschaften der deadjektivischen DB bezogen: ‚in der Art wie‘ DB: Adj., explizites Suffixderivat, deutscher Herkunft getürkischt, mal. gətirkəšt -< türkisch, mal. tirkəš. DB ein Simplex, fremder Herkunft gətarkəlt - < ung. t a r k a ‘bunt, scheckig’. gəpisztərtsit - < rum. p e s t r i ţ ‘gesprenkelt, bunt’ 6 Schlussbetrachtungen Die Wortbildungsbedeutung einiger Scheinpartizipien ist noch weiter erklärungsbedürftig. Die Lexeme geschobert, mundartlich gəšiewərt, und getuppest, mundartlich jətüpəszt, weisen darauf hin, dass etwas im Übermaß, in übergroßer Menge vorhanden ist: ‚etwas ist zum Überlaufen voll‘. Beide Wortbildungen sind Synonyme. Das Adjektiv gekettent, mundartlich gəkātənt, beinhaltet zwei Wortbildungsbedeutungen: ‚damit behaftet‘ und ‚in der Art wie‘, kommt auch in Flüchen bildlich gebraucht vor, wo das aufeinanderfolgende Donnerwetter mit den Gliedern einer Kette verglichen wird, die ineinandergreifen. Anschaulich sind die Scheinpartizipien mit deadjektivischer Derivationsbasis. Die Derivationsbasis des Adjektivs getürkischt, mal. gətirkəšt, geht auf die Bezeichnung einer Maisart zurück, dem türkischen Mais, der bunt gesprenkelt ist. Die Scheinpartizipien, deren Derivationsbasis ein Lehnwort ist, sind nach dem Wortbildungsmodell der Scheinpartizipien gebildet worden, deren Derivationsbasis Lexeme deutscher Herkunft sind. Die Wortbildungen gətarkəlt und gəpisztərtsit haben die Bedeutungen des fremden Ausgangswortes ‚bunt, scheckig, gesprenkelt‘ beibehalten, sie sind Synonyme. In Bezug auf das rumänische Ausgangswort haram, ‚Plünderung, Ausraubung‘, als Derivationsbasis, bringt das Scheinpartizip gəharamn y it zwar nicht eine deckungsgleiche, doch eine annähernde Bedeutung: ‚verwüstet‘. Die Entlehnungen sind zunächst situationsgebundene, durch den Kontakt mit den Nachbarsprachen zustande gekommene Wortbildungen, die durch besondere Stilfärbung dem morphologisch komplizierten und auch sonst weniger geläufigen muttersprachlichen Synonym im gegebenen Moment von dem Mundartsprecher vorgezogen werden und wohl auch unbewusst nach vorhandenem muttersprachlichen Modell in die Mundart eingegliedert werden. Die Häufigkeit ihrer Verwendung kann zur allmählichen Einbürgerung in den Wortschatz des Mundartsprechers führen. Sie geben der Redeweise eine individuelle, originelle Note. Die Mundartbelege stammen aus dem Zeitraum von ca. 1900 bis ca. 1980, als noch umfassende Mundartaufnahmen in der siebenbürgischen Sprachland- Scheinpartizip im Siebenbürgisch-Sächsischen 95 schaft gemacht werden konnten. Es ist nicht nachzuvollziehen, welche der Scheinpartizipien Momentbildungen sind und welche noch weiterleben. Einzelbelege sind nicht ausschlaggebend. Substantive, die nur Ähnlichkeiten bezüglich Bedeutung und Wortform im Vergleich zum Siebenbürgisch-Sächsischen bringen, aus dem deutschen Sprachraum von den Siedlern mitgebracht wurden und als Dervationsbasis einiger Scheinpartizipien belegt sind (vgl. dazu Blühe, Güter, Klubber, Leuchse, Tuppes, Zatter), deuten auf sprachliche Mischung und Ausgleich im Laufe der Jahrhunderte im siebenbürgischen Mundartgebiet hin. Es sind Vorgänge, die Kolonistenmundarten eigen sind. Betrachtet man die Derivationsbasis der Wortbildungen und diese selbst, erhält man einen Einblick in den Wortschatz des Siebenbürgisch-Sächsischen. Neben Sprachgut, das dem Hochdeutschen angehört, steht Sprachgut, das auch im deutschen Mundartraum bezeugt ist. Dazu kommen die von entlehnten Lexemen aus den Nachbarsprachen gebildeten Scheinpartizipien. Dieses bunte Sprachbild ist für die siebenbürgisch-sächsischen Mundarten kennzeichnend. 7 Schreibkonventionen 16 Lautschrift Vokale Die Lautung der Vokale entspricht im Allgemeinen der hochsprachlichen, kleine Unterschiede werden in der Schreibung nicht berücksichtigt. Abweichend von der Schriftsprache sind zu lesen: ai = a-i ie = i-e äu = ä-u oe = o-e ei = e-i ue = u-e Besondere Lautzeichen ą = dumpfes a ę = offenes e (selten) î = geschlossener Hintergaumenlaut ohne Lippenrundung (Reduktionsvokal zwischen i und ü, wie rumänisch î) ə = Murmel-e (auch in betonten Silben) Kürze wird nicht bezeichnet, Länge durch darübergesetzten geraden Strich (ā); in manchen Fällen, wo das Sonderzeichen nicht gemacht werden kann, wird die Länge auch mit Verdoppelung angegeben (ää). 16 Für die Mundartbeispiele wird die etablierte Lautschrift des SSWBs verwendet. 96 Sigrid Haldenwang Konsonanten p, t, k meist nicht behauchte Fortes b, d, g stimmhafte Lenes χ stimmloser Ich-Laut j stimmhafter Ich-Laut x stimmloser Ach-Laut γ stimmhafter Ach-Laut sz stimmloses s s stimmhaftes s š stimmloses sch ž stimmhaftes sch ts stimmloses z ds stimmhaftes z tš stimmloses tsch dž stimmhaftes tsch ŋ Gutturalnasal ng y vor oder nach den Konsonanten d, t, l, n hochgestellt, zeigt Moullierung an. Auslautendes Endungs-n fällt im Südsiebenbürgischen vor nachfolgendem Konsonanten, außer vor d, t, z, n und h, meist aus (Eifler-Regel). Es werden folgende Zeichen verwendet: < = geworden aus > = geworden zu 8 Liste der abgekürzten siebenbürgischen Ortsnamen Abkürzung = deutsch/ rumänisch = Kreis/ judeţ: deutsch/ rumänisch Alz = Alzen/ Alţina = Hermannstadt/ Sibiu At = Attelsdorf/ Domneşti = Bistritz/ Nassod/ Bistriţa/ Năsăud B = Bistritz/ Bistriţa = Bistritz/ Nassod/ Bistriţa/ Năsăud Bgbg = Burgberg/ Vurpăr = Hermannstadt/ Sibiu Boo = Bootsch/ Batoş = Mureş Bra = Braller/ Bruiu = Hermannstadt/ Sibiu Gr-A = Großalisch/ Seleuşu = Mureş Gr-Schenk = Großschenk/ Cincu = Kronstadt/ Braşov H = Hermannstadt/ Sibiu = Hermannstadt/ Sibiu Jaad = Jaad/ Livezile = Bistritz/ Nassod/ Bistriţa/ Năsăud Jdf/ B = Jakobsdorf/ Bistritz/ Sâniacob = Bistritz/ Nassod/ Bistriţa/ Năsăud Kel = Kelling/ Câlnic = Alba Kl-B = Kleinbistritz/ Dorolea = Bistritz/ Nassod/ Bistriţa/ Năsăud Kl-L = Kleinlasseln/ Laslău Mic = Mureş Lechn = Lechnitz/ Lechniţa = Bistritz/ Nassod/ Bistriţa/ Năsăud Maldf = Maldorf/ Domald = Mureş Min = Minarken/ Monariu = Bistritz/ Nassod/ Bistriţa/ Năsăud Mschdf = Meschendorf/ Meşendorf = Kronstadt/ Braşov Nd-Wall = Niederwallendorf/ suburbie a Bistriţei = Bistritz/ Nassod/ Bistriţa/ Năsăud Pdf/ B = Petersdorf/ Bistritz/ Petriş = Bistritz/ Nassod/ Bistriţa/ Năsăud Pi = Pintak/ Slătiniţa = Bistritz/ Nassod/ Bistriţa/ Năsăud Rs = Reußen/ Ruşi = Hermannstadt/ Sibiu Schöbg = Schönberg/ Dealu Frumos = Hermannstadt/ Sibiu Scheinpartizip im Siebenbürgisch-Sächsischen 97 Tkdf = Tekendorf/ Teaca = Bistritz/ Nassod/ Bistriţa/ Năsăud Tra = Trappold/ Apold = Mureş Wl = Weilau/ Uila = Mureş Zu = Zuckmantel/ Ţigmandru = Mureş 9 Literatur Altmann, Hans/ Kemmerling, Silke (2005): Wortbildung fürs Examen. Göttingen. Best, Karl-Heinz (2008): LinK. Linguistik in Kürze mit einem Ausblick auf die Quantitative Linguistik. Skript. 5. durchges. Aufl. Lüdenscheid. Donalies, Elke (2005): Die Wortbildung des Deutschen. Ein Überblick. 2., überarb. Aufl. Tübingen. (Studien zur deutschen Sprache; 27). Duden - Grammatik der deutschen Gegenwartssprache (1995): Hrsg. u. bearb. v. Günther Drosdowski in Zusammenarb. mit Peter Eisenberg. 5., völlig neu bearb. u. erw. Aufl. Mannheim/ Wien/ Zürich. Duden - Grammatik der deutschen Gegenwartssprache (2009): Hrsg. v. d. Dudenredaktion. 8., überarb. Aufl. Mannheim/ Wien/ Zürich. Fleischer, Wolfgang (1974): Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 3., überarb. Aufl. Leipzig. Fleischer, Wolfgang/ Barz,Irmhild (1992): Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. Tübingen. Fleischer, Wolfgang/ Barz, Irmhild (2012): Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearb. Aufl. Berlin/ Boston. (De Gruyter Studium). Kisch, Gustav (1900): Nösner Wörter und Wendungen. Ein Beitrag zum siebenbürgischsächsischen Wörterbuch (Beilage zum Programm des evang. Obergymnasiums A.B. in Bistritz). Krauss, Friedrich (1943) [abgekürzt: Krauss, Pfl.N.]: Nösnerländische Pflanzennamen. Ein Beitrag zum Wortschatz der Siebenbürger Sachsen. Bistritz. Kuegler, Steffen (2007): Die Strukturen der deutschen Wortbildung und deren Veranschaulichungen in einem elektronischen Wörterbuch. Magisterarbeit. Jena. Lohde, Michael (2006): Wortbildung des modernen Deutsch. Ein Lehr- und Übungsbuch. Tübingen. Lühr, Rosemarie (1986): Neuchochdeutsch. Eine Einführung in die Sprachwissenschaft. München. Römer, Christine/ Matzke, Brigitte (2004): Lexikologie des Deutschen. Eine Einführung. Tübingen. Wörterbücher DWB = Grimm, Jacob/ Grimm, Wilhelm (1984-1999): Deutsches Wörterbuch [16 Bde. plus Quellenverzeichnis = 33 Teile]. Hrsg. v. der Preußischen [später: Deutschen] Akademie der Wissenschaften zu Berlin [später: Akademie der Wissenschaften der DDR. Abgeschlossene Originalausgabe]. Fotomechanischer Nachdruck der Erstausgabe 1854-1971. Leipzig/ München. 98 Sigrid Haldenwang Lexer = Lexer, Mathias (1872-1878): Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. 3 Bde. unveränderter Nachdruck. Stuttgart 1974. NSSWB = Nordsiebenbürgisch-Sächsisches Wörterbuch. Bd. 1 (A-C) von Krauss, Friedrich, bearb. von Richter, Gisela. Köln/ Wien, 1986; Bd. 2 (D-F). Köln/ Wien, 1990; Bd. 3 (H-M). 1993; Bd. 4 (N-Sch). 1995; Bd. 5 (Se-Z). Köln/ Weimar/ Wien, 2006; Bd. 2-4, bearb. von Richter, Gisela aufgrund der nachgelassenen Sammlungen von Krauss, Friedrich; Bd. 5, bearb. von Richter, Gisela (†) und Feßler, Helga aufgrund der nachgelassenen Sammlungen von Krauss, Friedrich. Rhein. Wb = Rheinisches Wörterbuch (1928/ 1971). 9 Bde. Bonn/ Berlin. Schmeller = Schmeller, J[ohann] Andreas (1872/ 1877): Bayerisches Wörterbuch. 2 Bde. 2., mit des Verfassers Nachträgen vermehrte Ausg., bearb. von Georg Karl Fromann. München. SSWB = Siebenbürgisch-Sächsisches Wörterbuch. Bd. 1 (A-C), bearb. von Schullerus, Adolf; Bd. 2 (D-F), bearb. von Schullerus, Adolf; Hofstädter, Friedrich u. Keintzel, Georg. Berlin/ Leipzig 1924, 1926; Bd. 5 [R-Salarist: alte Zählung], bearb. von Roth, Johann; Göckler, Gustav. Berlin/ Leipzig, 1929-1931. Weitergeführt von einem Wörterbuchteam: Bd. 3 (G), Bd. 4 (H-J); Bd. 5 [neue Zählung] (K). Berlin/ Bukarest. 1971- 1975; Bd. 6 (L) 1993; Bd. 7 (M). 1998; Bd. 8 (N-P). 2002; Bd. 9 (Q-R). 2006: Bukarest/ Köln/ Weimar u.a. [wird fortgesetzt]. Heimat, Diaspora, Exil. Das Elsass und die Elsässer Mundart in der Literatur von Claude Vigée Rudolf Helmstetter (Erfurt) Zusammenfassung Das Elsass mit seiner wechselhaften Geschichte oktroyierter politischer Zugehörigkeiten ist ein komplexes Paradigma für Fragen nach den Grenzen, Relationen, Interferenzen und Austauschbeziehungen zwischen (landschaftlichen, politischen, kulturellen, sprachlichen) Zentren und Peripherien. Das literarische Werk von Claude Vigée (*1921), der im Elsass aufgewachsen ist und 1940 vor der nationalsozialistischen Judenverfolgung fliehen musste, dokumentiert und reflektiert Geschichte und sprachliche Situation des Elsass als einen Raum mehrfacher, teils paralleler, teils komplementärer, teils konfligierender kultureller Orientierungen und erinnert an die durch die Shoah ausgelöschte jüdische Binnenkultur des Elsass, eine historische Binnen-Peripherie dieser landschaftlichen und kulturellen Peripherie. Vigées narrativ-essayistische Prosabücher - die über das Autobiographische ins Familien- und Landschaftsgeschichtliche ausgreifen - und seine die Elsässer Mundart evozierende Lyrik bilden ein literarisches Modell gelebter Dibzw. Polyglossie: Vigée evoziert und dokumentiert neben dem Elsässerditsch (als einer Peripherie der französischen und der deutschen Standardsprache) auch das heute verschwundene Elsässer Jiddisch. Darüber hinaus sind das Hebräische und die ex- oder supraterritoriale Tradition der europäischen Literaturen integrale Bezugspunkte für Vigées Poetologie und Schreibart. Zentren und Peripherien erscheinen in seinen Texten in mehrfachen Wechseln und Überlagerungen der Perspektive. 1 Zur Begrifflichkeit von Zentrum und Peripherie Zentrum und Peripherie sind Parameter für geometrische Räume und bestenfalls auf geographische Räume übertragbar, solche aber sind überlagert und strukturiert von geo-politischen Raumordnungen, mit denen in der Regel auch sprach-politische Maßnahmen einhergehen: Standardisierungen, administrative Regulierungen und Normierungen. Zentrum und Peripherie(n) sind immer relativ zu translokalen - politischen, nationalen, staatlichen, administrativen, infrastrukturellen, kulturellen, geographischen, sprachlichen - Ordnungssystemen, die jeden Ort, jede Region in einer übergeordneten Topologie situieren. 100 Rudolf Helmstetter (In topologischen Netzwerken haben Zentrum/ Peripherie-Bestimmungen eher metaphorischen Status. 1 ) Zentren entstehen durch Zentralisierung, durch Prozesse, Prozeduren, Verfügungen der politischen Raumordnung, durch die zugleich auch Peripherien erzeugt werden. In der Innenperspektive der Bewohner (und Sprecher) wird wohl jeder Ort, jede Region (auch jede Sprache) ein Zentrum sein, ein Mittelpunkt mit konzentrischen (oder auch plurizentrischen) Peripherien. „Heimatgefühle“, die sich mit dieser existenziellen, indigenen Zentralität bilden mögen, also die gelebte und affektiv besetzte Zugehörigkeit zu einem primären („natalen“) Identifikationsrahmen, werden geprägt und zugleich gebrochen durch die Relativität der eigenen Lokalität und Lage zu den übergeordneten (politischen, ökonomischen, infrastrukturellen) Ordnungssystemen. Die Relativität von Zentren und Peripherien ist eine Funktion der geschichtlichen Statik oder Dynamik der übergeordneten Bezugsrahmen und Einbettungen. Vor allem exogene (oktroyierte) Wechsel der Zuordnungen und Zugehörigkeiten machen deren Fragilität und Kontingenz bewusst und erzwingen Reflexivität auf die primäre Relativität. Historische Räume sind keine statischen, kontinuierlichen und homogenen und damit keine euklidisch-geometrischen Räume, sondern dynamische, und als solche nicht nur Vorgaben, Grundlagen und Schauplätze von Bewegungen und Mobilisierungen, sie unterliegen selbst exogenen und endogenen Bewegungen. 2 Die Dynamik, von der sie erfasst und durchquert werden, erfasst und durchquert auch die Bewohner, die Populationen historischer Lebens-Räume. Raum-Bewegungen lassen sich als Ereignisse und Sujets im Sinne Lotmans 1 In einem der neueren Diskussionsbeiträge ist allerdings auch zu lesen: „Räumliche Kategorien wie fern oder nah, hier oder dort, drinnen oder draußen, Zentrum oder Peripherie prägen [...] auch den virtuellen Raum“ (Maresch/ Werber 2002: 23). 2 Zur „Ablösung einer euklidischen durch eine dynamische Raumkonzeption“ (im historischen Kontext von Raumtheorien Anfang des 20. Jahrhunderts): s. Dünne (2004: 14); vgl. dort zu neueren Konzeptualisierungen (techno)medialer und medientechnisch basierter sozialer Räume v.a. das Vorwort, die Einleitung zum II. Teil und die Beiträge von Doetsch und Dünne. Dünne entwickelt eine „Trias von Raumbegriffen“, mit deren Hilfe sich auch „die Fülle neuerer raumtheoretischer Theorieansätze“ ordnen lässt: technische Räume, semiotische Räume, kulturpragmatische Räume, „eine medientheoretisch fundierte Anverwandlung der von Morris unterschiedenen drei Dimensionen des Zeichengebrauchs [...]: (Pragmatik = kulturpragmatische Räume / Semantik = semantische Räume / Syntaktik = technische Räume, wobei die synktaktische [...] hier mediengeschichtlich erweitert wird“ (Dünne 2004: 16, Anm. 19); vgl. zur „Raumtheorie“ auch Dünne/ Günzel (2006). Zu den (großen und kleinen) Geschichten als „Durchquerungen des Raumes“ s. auch Certeau (1988: 215). Heimat, Diaspora, Exil 101 beschreiben: Überschreitungen und Verschiebungen von Grenzen in einem topographisch-topologischen Raum. Eine einfache Typik solcher Sujet-Bewegungen ergibt sich anhand der Ereignis-Richtungen: vertikale Revisionen der Grenzen (Grenzziehungen und -verschiebungen, die endogen motiviert oder ab extra oktroyiert sein können), horizontale Überschreitungen der Grenzen von außen nach innen (Invasionen, Eroberungen, Annexionen) und von innen nach außen (Vertreibung, Flucht, Emigration). 1.1 Das Elsass - „Sprachinsel“ mit „Brückenfunktion“ Zu einer Bestandsaufnahme von „Sprachinseln oder deutschsprachige[n] Kulturbzw. Traditionsräume[n]“ und mitteleuropäischen Zentren, „in denen die Sprache Deutsch gesprochen wird [...] und reiche kulturelle Traditionen bestehen“, gehört auch das Elsass, dem in seiner wechselvollen Geschichte lange Zeit das Potenzial einer „Brückenfunktion“ zwischen Deutschland und Frankreich (und der Schweiz) zukam. 3 Auch das Elsass - in dem heute knapp zwei Millionen Menschen leben - ist eine der „Peripherien [des Deutschen], welche die harten Sprachgrenzen relativieren und Wechselbeziehungen zwischen diesen ermöglichen“. 4 Im Zeitraum zwischen 1870 und 1945 hat sich die politische Zuordnung dieses Grenzgebietes zwischen Frankreich und Deutschland und seiner Bewohner zu einem nationalstaatlichen, kulturellen und sprachlichen Zentrum nicht weniger als viermal geändert; die entsprechenden Wechsel der Landes- und Amtssprache betrafen auch den Status der regionalen Mundart. 1.2 Die Elsässer Mundart (das Elsässerditsch) Die Elsässer Mundart ist ein Dialekt des Deutschen (und damit eine Peripherie des Hochdeutschen). Das Elsässerditsch hat sich bis heute erhalten, obwohl 3 Für einen historischen Überblick vgl. Demandt (1990: v.a. 219); zur Sprachsituation Grulich/ Pulte (1975: 25-27) (mit älteren Zahlen, die allerdings mangels einer Unterscheidung zwischen „Deutsch“ und Elsässer Mundart wenig besagen, vgl.: „Im alemanischen [sic] Elsaß ist die Zahl bei etwa 800000 bis 900000, die Deutsch als Muttersprache reden“. Vergleiche auch die Auswertungen der späteren und sehr viel genaueren Erhebungen in Hartweg (1982a) und die neuesten Erhebungen auf der Website von OLCA (http: / / www.olcalsace.org/ de). 4 Alle Zitate in diesem Absatz nach dem Ausschreibungstext der Tagung „Zentren und Peripherien - Deutsch und seine interkulturellen Beziehungen in Mitteleuropa“ (Universität Erfurt, April 2014). 102 Rudolf Helmstetter das Elsass seit dem 17. Jahrhundert zu Frankreich gehört 5 , es hat auch die 1790 von der Nationalversammlung beschlossene Ausrottung der Dialekte 6 überlebt. Erst im 19. Jahrhundert (bis 1870) setzte sich im Elsass das Französische immer mehr durch (v.a. durch Schule und Militärdienst verbreitete und verbesserte sich die Kenntnis der französischen Sprache), spielte aber in der Bevölkerung weiterhin eine untergeordnete Rolle (in den Schulen wurde oft noch auf Deutsch unterrichtet, und das Französisch vieler Lehrer war mangelhaft); in den Kirchen, der Presse, der Familie wurde weiterhin deutsch gesprochen. Zum Politikum wurde die Sprache nach dem Krieg von 1870/ 71 und der Annexion durch das Deutsche Reich. Im öffentlichen Leben wird Französisch nun durch (Hoch-)Deutsch ersetzt. Vor allem die höheren Schichten behalten Französisch als Umgangssprache bei (und markieren damit eine Distanz zu Deutschland), und auch in der Bevölkerung, die weiterhin vor allem Dialekt spricht, gewinnt das Hochdeutsche an Bedeutung. 1914 wird in den meisten Volksschichten fast ausschließlich Elsässisch gesprochen (Hochdeutsch fungiert als Schriftsprache). Nach dem Ersten Weltkrieg kommen das Elsass und die Elsässer wieder zu Frankreich, eine nationalstaatliche Zugehörigkeit, die - unterbrochen durch die vier Jahre der deutschen Okkupation 1940-1944 7 - seither besteht. Nach der „libération“ und der letzten „Rückkehr“ zu Frankreich setzte mit einer verstärkten Ausrichtung des öffentlichen Lebens und des kulturellen Selbstverständnisses an der französischen Kultur auch eine sprachliche Assimilierung ein. Nach der Besetzung Frankreichs durch Nazi-Deutschland war auch im Elsass jede Verbindung zum Deutschen kompromittiert, und mit der verstärkten Bindung an Frankreich, französische Kultur und Sprache ging auch eine Ab- 5 Durch Zuwanderung aus der deutschen Schweiz kam es auch zu einer sprachlichen und kulturellen Annäherung an die Herkunftsgebiete der Einwanderer. Im 18. Jahrhundert wurde die Aneignung der französischen Sprache gefördert (zumindest in den oberen Gesellschaftsschichten), die breite Mehrheit der Bevölkerung aber blieb beim Elsässerditsch, und im täglichen Leben, auch in Kirche und Schule, und vor allem im Schriftverkehr war das Hochdeutsche die vorherrschende Sprache. Noch 1789 wird das Elsass weithin als deutsch betrachtet (auch von seinen Einwohnern). Ein Bild der Epoche vor den Zäsuren der französischen Revolution und der napoleonischen Neuordnung Europas, die in der jüngeren Geschichte auch das kulturelle Leben und die Sprachsituation im Elsass einschneidend geprägt haben, vermittelt „Dichtung und Wahrheit“, 9.-11. Buch (Goethe 1988), das Elsass erscheint hier als landschaftliche, bilinguale und bikulturelle Idylle zwischen Frankreich und den deutschen Ländern. 6 Nach Bausinger (1976: 29). 7 Hartweg (1982a: 1431) bezeichnet die Jahre der Besetzung als „Rückdeutschungsphase“. Heimat, Diaspora, Exil 103 wertung der Mundart einher. Die deutsche Sprache wurde aus dem öffentlichen Leben, der Presse und den Schulen verbannt (und nur noch als Fremdsprache an den höheren Schulen gelehrt), Schulkinder wurden bestraft, wenn sie in der Schule Elsässisch sprachen. Ein Klima der Abwertung und Diffamierung unterbricht die familiale Weitergabe des Dialekts an die nachwachsende Generation. Diese Entwicklung, die am Ende der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts zu einem vielfach konstatierten Kompetenzverlust hinsichtlich Dialekts und Schriftdeutsch (aber auch des Französischen) geführt hatte, rief starke Gegenbewegungen hervor. 8 1993 beschließt der Generalrat die Gründung einer Institution für die Förderung der Zweisprachigkeit: das Regionalamt für Zweisprachigkeit: „Office pour la langue et la culture de l'Alsace“, kurz OLCA. Seit 2001 nennt sich diese Institution nun „Amt für Sprache und Kultur im Elsass“ - oder auch „S‘Amt füer Sproch und Kültür im Elsass“. 9 Am 21. Juni 2008 schließlich wurde ein Artikel 75-1 in die französische Verfassung aufgenommen, dem zufolge „die Regionalsprachen zum Erbe Frankreichs gehören“. Amtssprache bleibt allerdings (nach Artikel 2 der Verfassung) das Französische. In dieser Differenzierung zeigt sich die Gewichtung von Zentrum und Peripherie im außer-geographischen Sinn, die wohl die gesamte Sprachgeschichte durchzieht, in welcher mit politischen Zentralisierungen (Bildung von Territorialstaaten) auch kulturelle und sprachliche Zentralisierungen einhergehen und Einheits- und Standardsprachen entstehen, neben denen die primären lokalen und regionalen Mundarten und Dialekte zu sekundären Idiomen erklärt und damit marginalisiert werden. 10 8 Die 1968 gegründete René-Schickele-Gesellschaft tritt für eine zweisprachige Erziehung ein, und in den folgenden Jahren entstehen neue Organisationen und Zeitschriften, die sich für die Rehabilitierung und aktive Förderung der Mundart einsetzen. In den 70er Jahren setzen sich auch die politischen Vertreter des Elsass beim französischen Bildungsministerium dafür ein, schon ab der Grundschule Deutsch als Schulfach einzuführen. Aber erst 1992 wird der bilinguale Unterricht eingeführt. 9 Das OLCA hat eine überaus informative und lebendige Website, der man eine professionelle sprachwissenschaftliche Betreuung anmerkt, man findet dort auch eine kurze Einführung in die Geschichte der elsässischen Mundarten und die Grundbegriffe der Dialektologie sowie eine Zusammenfassung der jüngsten Erhebungen zum Dialektgebrauch (2008): Als Elsässisch sprechend bezeichneten sich in den Jahren 1900: 95 %, 1946: 90,8 %, 1997: 63 %, 2001: 61 % und 2012: 43 % der Bevölkerung (http: / / www.olcalsace.org/ de/ geschichte-der-regionalsprache, Stand: 15.05.2014). 10 Vergleiche dazu das Konzept des „Vernakularen“, das Illich entwickelt hat; vgl. Illich (1982: 31, 41, 43ff.) sowie Illich/ Sanders (1988: 77ff.); zu den Schwierigkeiten einer Definition der Begriffe Dialekt und Mundart - und damit der Gegenstandskonstitution der Dialektforschung - s. Knoop (1982), Steger (1982) und Löffler (1982). 104 Rudolf Helmstetter Diese verfassungs-offizielle Anerkennung der Regionalsprachen als „kulturelles Erbe“ betrifft auch das Elsässerdeutsch, und damit kommt eine wechselvolle und vor allem im 20. Jahrhundert konfliktreiche Geschichte zu einem (vorläufigen) Abschluss. Durch die Anerkennung und Eingemeindung der dialektalen Peripherien durch das politische Zentrum wird konzediert, dass sprachliche Grenzen nicht mit den nationalstaatlich-territorialen Grenzen kongruieren. 1.3 Divergente Perspektiven Je nach (landschaftlicher oder verwandtschaftlicher) Nähe oder Entfernung, je nach fachlichen Perspektiven oder Erkenntnisinteressen bedeutet „das Elsass“ heute etwas anderes (und das wird für alle Zentren und Peripherien zutreffen). Für Sprachhistoriker und Dialektologen ist das deutsch-französische Elsass ein prägnantes Paradigma (asymmetrischer) binnensprachlicher Diglossie 11 mit relativ typischer Domänen- und Funktionenverteilung, exemplarisch für ein dominantes Muster und für die politische Dimension der jüngeren Sprachgeschichte. Dialektologisch interessant ist das Elsass als eine Zone der Interferenzen und Übergänge zwischen dem Fränkischen und dem Alemannischen 12 - und als ein paradigmatischer Fall der Bedrohung und Wiederbelebung einer gesprochenen Mundart im Spannungsfeld sprachpolitischer Maßnahmen und neoregionalistischer Bewegungen (was zugleich auch eine sprachsoziologische Betrachtung provoziert). Nach dem Ende der deutschen Besatzung und des II. Weltkriegs wurde die Elsässer Mundart jahrzehntelang diskriminiert und delegitimiert und war vom Aussterben bedroht. 13 In den letzten zwanzig Jahren scheint durch „regionalis- 11 Siehe dazu Besch (1982: 1399): „[D]as gegenseitige Verhältnis und den Bezugsbereich von Mundart und Schreibsprachen/ Schriftsprache/ Hochsprache/ Standardsprache darzustellen“, kann als die „vordringlichste Aufgabe der Sprachgeschichtsschreibung des Deutschen“ gelten (Sonderegger 1982: 1527). 12 Zu einer genaueren Kategorisierung (und zu Geschichte und Stand der Einteilung der deutschen Dialekte insgesamt) s. Wiesinger (1982: 835ff.). 13 Vergleiche auch Hartweg 1982a und 1982b. Der Autor charakterisierte damals die „Tendenzen der Entwicklung“ als „Sprachabbau“ und sprach von einem „im Gang befindliche[n] Sprachersetzungsprozeß“: „Die asymmetrische Diglossie [...] verbindet zwei Varietäten, deren frühere komplementäre Verteilung durch eine Konkurrenz in allen Domänen ersetzt wird, wobei der Dialekt seine Funktionalität bereits in mehreren Bereichen weitgehend eingebüßt hat. Dieser Verlust [...] wird durch seine Abkopplung von der [...] Schriftsprache noch potenziert. Obwohl die statistische Menge der Dialektsprecher nur langsam zurückgeht und weiterhin einen hohen Anteil der Gesamtbevölkerung ausmacht, erfüllt der Dialekt noch in das stan- Heimat, Diaspora, Exil 105 tisch“ inspirierte Bewegungen eine Art Renaissance eingesetzt zu haben. 14 Heute sind das Elsass und das Elsässische auch im Internet präsent. 15 „S‘Amt füer Sproch und Kültür im Elsass“ (OLCA) hat eine ausgezeichnete Website, die mit kompakten und kundigen Überblicken über die Geschichte und Gegenwart des Elsass (und seiner Mundart) informiert. 1.4 Das vergessene Elsässer Jiddisch Weder der Website des OLCA - des „Amts füer Sproch und Kültür im Elsass“ - noch dem einschlägigen (und seriösen) Artikel bei Wikipedia ist zu entnehmen, dass einmal Juden, jüdische Gemeinden, jüdische Familien im Elsass gelebt haben - bis 1940, als die nationalsozialistische Verfolgung der europäischen Juden auch ins Elsass vordrang. Auch die Elsässer Juden wurden deportiert und ermordet, die Synagogen zerstört. Schon wenige Jahrzehnte nach der Shoah ist damit auch in Vergessenheit geraten, dass es noch im 20. Jahrhundert auch eine Elsässer Variante des J i d d i s c h e n gab (und das Jiddische zur Sprache oder zu den Sprachen des Elsass gehörte). In populären und offiziösen (Selbst)Darstellungen des Elsass und in den rezenten Bewegungen - die im Zusammenhang stehen mit (Rück-)Besinnungen auf eine regionale Elsässer „Identität“ und Bemühungen um Revitalisierung des Elsässischen Dialekts - sind diese Elsässer Binnenkultur und das zu dieser Binnenkultur gehörende Elsässer Jiddisch so gut wie vergessen. 16 Auch damit gehört das Elsass in den übergreifenden Zusammenhang der gesamteuropäischen Geschichte, sowohl hinsichtlich der Shoah und des Holocaust als auch hinsichtlich der „Erinnerungskultur“, der „Gedächtnispolitik“ und des Vergessens. 17 Es dürfte kaum einen Raum im Europa des 20. Jahrhunderts geben, der dardsprachliche Kommunikationsnetz eingebettete Restfunktionen“ (Hartweg 1982b: 1442); ähnliche Befunde: „Vom Binnendt. isoliert ist das Els. zur dachlosen Mundart ohne sprachliches Hinterland geworden“ (Hartweg 1982a: 1326). 14 Bis hin zu Poetry Slams auf Elsässerdeutsch in den Schulen (vgl.: http: / / www. olcalsace.org/ de/ poetry-slam-auf-elsaessisch, Stand: 15.05.2014). 15 Nachdem Bill Gates/ Microsoft sich zum Anwalt der Regionalsprachen gemacht hat, wurde für das Elsässische sogar eine ‚User-Sprache‘ entwickelt, wie ein Artikel in der FAZ vom 14.07.2006 berichtet: „Webschnuffler“ [sic]: „Bill Gates schwingt sich zum Retter der Regionalsprachen auf“. 16 Vergleiche aber Assall (1984). Der Autor hat auch Vigées Buch „Leben in Jerusalem“ (1990) übersetzt und herausgegeben und ist Gesprächspartner von Vigée in zweien der Gespräche, die in Vigée (1985) abgedruckt sind. 17 Auch wenn diese Problematik hier nur gestreift werden kann, so muss sie zumindest angesprochen werden; weder „peripher“ noch „zentral“, die offenen ethischen Fra- 106 Rudolf Helmstetter nicht von der Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das „III. Reich“ betroffen war und ist; das Verhalten zu diesem historischen Datum und seinen globalen und lokalen Auswirkungen ist in den betroffenen Ländern und Regionen durchaus unterschiedlich. Präsent ist die Shoah in den Büchern des überlebenden jüdischen Elsässers - oder: Elsässer Juden - Claude Vigée, auch dort, wo sie thematisch nicht im Zentrum steht („präsent“ im Sinne einer kontinuierlichen Vergegenwärtigung, eines nicht immer ausdrücklich thematischen Bezugs, einer allgegenwärtigen Erinnerung). Und doch lässt sich Vigée nicht bruchlos der „Literatur der Shoah“ zuordnen, auch nicht der „Elsässer Literatur“ (auch wenn Vigée in all seinen Texten auf das Elsass bezogen ist, ein eindrucksvolles, historisch weit ausgreifendes Bild des Elsass überliefert und Gedichte in der Elsässer Mundart geschrieben hat); solche Rubrizierungen würden die literarische und ethische Leistung und den eigentümlichen Status seiner Bücher verfehlen. Vigée versteht sich und bezeichnet sich als Elsässer und Jude zugleich: „Ich bin ein Elsässer Jude, also doppelt Elsässer und doppelt Jude“ (1985: 142; 2004: 171). 18 Die zwiefältige Identität des Autors, die auch „ein zweifaches Exil“ bedeutet, gibt seinen Büchern ihr eigentümliches Gepräge und bedingt eine Doppelperspektive, den Blick des Überlebenden im Exil auf eine „Heimat“, aus der er vertrieben und die zerstört wurde, eine Heimat, in die es keine Rückkehr mehr gibt. Wenn sich Vigée dennoch zur Herkunftslandschaft des Elsass bekennt, so ist in dieser Zugehörigkeit die jüdische Differenz aufgehoben, aber nicht nivelliert, und das historische Trauma nicht vergessen. Durch die jüdisch-elsässische Identität geht ein „Riss“: der Erlass des „Judenstatuts“ der Vichy-Regierung und die Judenverfolgung, an der sich Frankreich, auch die elsässische Bevölkerung, beteiligt hat. Auch ein großer Teil von Vigées Verwandtschaft fiel der Verfolgung und Deportation zum Opfer. „An die fünfzig Mitglieder meiner Familie aus dem Niederelsaß wurden zwischen 1940 und 1945 deportiert und ermordet“. - „Als ich 1945 die Todesopfer aus der Familie meines Vaters wie aus dem Clan meiner Mutter zählte, kam ich auf dreiundvierzig nahe Verwandte, Männer, Frauen und Kinder: Juden aus dem Elsaß, die durch die Polizei ihres eigenen Landes, auf Anordnung der höchsten politigen des kulturellen Gedenkens und der Gedächtnispolitik sind mit dem eigentlichen Gegenstand meines Beitrags untrennbar verknüpft. 18 Die Frage, die sich hier aufdrängt, hat sich Vigée in seinen Aufzeichnungen von 1945 gestellt: „Selbst wenn ich heute an meinem Geburtsort lebte, könnte er nach so vielen tragischen Vorkommnissen und Übergriffen noch Heimat sein? “ (2004: 171). In dem „Zeitgenossen-Gespräch“ (1981) antwortet er auf die Frage: „‚Haben Sie heute bittere Gefühle gegenüber Frankreich? - von Deutschland gar nicht zu sprechen ...? ‘ - ‚Was heißt bittere Gefühle? Davor [sic] gibt es gar keine Worte, vor diesem Abgrund! Nur Ekel und Abscheu! ‘“ (1985: 136). Heimat, Diaspora, Exil 107 schen und administrativen Instanzen, an die Nazis ausgeliefert worden waren und in den Verbrennungsöfen geendet hatten“ (1998a: 45, 214). 2 Claude Vigée (*1921) - Leben in und zwischen Sprachen Vigées Lebensgeschichte - die auch eine Geschichte des Wohnens in der Sprache und des Durchquerens von Sprachen ist - ist mit der Geschichte des Elsass, der Elsässer Juden und des europäischen Judentums aufs engste verknüpft. Da der Autor im deutschen Sprachraum, im literarischen Bewusstsein und in der deutschen Literaturwissenschaft bisher nahezu unbekannt geblieben ist, hier ein kurzer biographischer Abriss, zumal sich Vigées literarisches Schreiben, auch die späte Mundartdichtung, durchgehend auf seine Lebensgeschichte bezieht. 19 Claude Vigée (*1921, eigentlich Claude Strauss) wuchs als einziger Sohn einer jüdischen Familie in der unterelsässischen Kleinstadt Bischwiller auf; 1937 zog die Familie nach Straßburg. Nach der Besetzung durch das nationalsozialistische „III. Reich“ 1940 floh er mit seiner Familie nach Südfrankreich, das noch nicht von den deutschen Truppen besetzt war. In Toulouse begann er ein Medizinstudium, schloss sich einer jüdischen Widerstandsgruppe an, konnte aber auch schon seine ersten Gedichte veröffentlichen (in der Résistance- Zeitschrift „Poésie 42“). Ende 1942 gelang ihm mit seiner Mutter die Flucht in die USA. 20 Dort schlug er sich zunächst mit Französischunterricht durch, nahm ein literaturwissenschaftliches Studium auf und wurde Professor für Romanistik (an der Brandeis Universität). 1960 wanderte er nach Israel aus, wo er an der Universität von Jerusalem einen Lehrstuhl für Komparatistik innehatte. In Israel lernt er auch Hebräisch - das er als „Vatersprache“ bezeichnet 21 - und beginnt zugleich, auch Gedichte in der Elsässer Mundart seiner Kindheit zu 19 Wenn Vigées Texte im Folgenden eher als Dokumente eines Zeitzeugen dargestellt werden und ihre Literarizität nicht im Zentrum steht, so sollte doch deutlich sein, dass die Form der Geschichtsschreibung und der Zeugenschaft, die er in seinen Büchern entwickelt, eine genuin literarische ist - und so wenig ins Diskursive und Begriffliche zu „übersetzen“ wie das Elsässerditsch seiner Gedichte ins Hochdeutsche. 20 Vergleiche dazu die Aufzeichnungen in Vigee (2004), das „Berliner Gespräch“ mit F. Bondy 1964 in Vigée (1985: 127) sowie Vigée (1990: 32-40). 21 Das Hebräische, so Vigée 1964 im Gespräch mit F. Bondy, bedeute ihm „nicht eine Art Muttersprache, sondern die Vatersprache, die ich erst jetzt, in meinen vierziger Jahren lerne“ in Vigée (1985: 129, vgl. auch 141, 149). 108 Rudolf Helmstetter schreiben. 22 Das Elsass hat Vigée nach dem Ende des II. Weltkriegs regelmäßig, aber immer nur für kurze Zeit besucht. In den achtziger Jahren, also in seinem siebten Lebensjahrzehnt, beginnt er Erinnerungen an seine Elsässer Kindheit aufzuzeichnen (Vigée 1990), die er später in epischer Breite, essayistisch eindringlich und mit regionalgeschichtlichem, ja geradezu ethnographischem Detailreichtum darstellt. Die Sprache seiner Bücher - zahlreiche Gedichtbände, Essays und Erzählwerke - ist Französisch. 23 Vigée wurde mit zahlreichen - französischen, deutschen, europäischen - literarischen Preisen ausgezeichnet. Heute umfasst seine Bibliographie etwa 50 Bücher. 24 Vigée hatte sich bereits als fr a n z ö s i s c h e r (in der Standardsprache schreibender) Autor einen Namen gemacht, als er, biographisch relativ spät, auch Gedichte in der Elsässer Mundart zu schreiben begann; das verleiht dieser Lyrik besonderes Gewicht. 2.1 Vigées lebens- und familiengeschichtliche „Jüdische Komödie“ Die beiden Bände der familienbiographischen „Jüdischen Komödie“, die den Namen von Vigées Herkunftsort im Titel trägt: „Bischweiler“, 25 greifen weit hinter Vigées eigene Lebensgeschichte zurück. In die Lebenszeit der Großelterngeneration fällt die Annexion des französischen Elsass durch das Deutsche Reich, für die nach 1871 geborene Elterngeneration ist das Elsass deutsch, und in Vigées Geburtsjahr ist das Elsass seit wenigen Jahren wieder französisch. Die autobiographische Erzählinstanz der „Jüdischen Komödie“ ist zwar immer präsent, fungiert jedoch weitgehend als Chronist einer Familiengeschichte, in der das schreibende und sich erinnernde „Selbst“ und seine Verwandtschaft in die regionale und staatspolitische Geschichte des Elsass eingebettet und mit 22 Neben seinem eigenen französischsprachigen Werk (Lyrik und Prosa) und Studien zur modernen französischen Lyrik hat er auch deutsche, englische und hebräische Lyrik (Goethe, Rilke, T. S. Eliot u.a.) ins Französische übersetzt. 23 Die Prosabücher liegen in überaus gelungenen Übersetzungen (von Lieselotte Kittenberger) vor. 24 Der Lektor, der sein erstes Buch angenommen hat, war kein geringerer als Albert Camus bei Gallimard (s. Vigée 1990: 35); auch zahlreiche andere sind bei den großen Pariser Literaturverlagen (Flammarion und Grasset) erschienen. Eine ausführliche Bibliographie von Vigée (und von Publikationen über ihn) findet sich im Anhang von Vigée (2008: 171-176); s. dort (168) außerdem eine Liste der Auszeichnungen, die er erhalten hat. 25 Die Gattungsbezeichnung „Jüdische Komödie“ hat keine Entsprechung im französischen Original (dort steht auf dem Titelblatt „Récit“), aber die Übersetzung wurde vom Autor durchgesehen und autorisiert. Heimat, Diaspora, Exil 109 diesen verflochten sind. Der lockeren Chronologie der Erzählung sind konzentrisch, aber auch exzentrisch zum Familienkreis, eine Fülle von Anekdoten, längere deskriptive und essayistische Passagen sowie historische Exkurse ein- und beigefügt. 26 Vigée hat für diese offen autobiographische und dezidiert nicht-fiktionale Schreibart die Bezeichnung „Judan“ geprägt. 27 2.2 Die Sprachsituation: Elsässer Deutsch, Elsässer Jiddisch und „Sonntagsfranzösisch“ „Hinter einer französischen Fassade versteckte sich fröhlich sprudelnd der Dialekt“ (Vigée 2004: 248). Mit diesen Worten hat Vigée gesprächsweise die „berüchtigte Sprachmischung im Elsass“ charakterisiert. „Der Dialekt“ ist jedoch keine kompakte und homogene Größe. Um exemplarisch zu verdeutlichen, wie Vigée Beobachtungen von geradezu ethnographischer Komplexität und soziolinguistischer Präzision integriert, hier einige längere Zitate: In der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen sprachen meine Eltern zu Hause manchmal Französisch, wie es die ganze Familie väterlicherseits sogar zwischen 1870 und 1918, während der deutschen Annexion des Elsaß, getan hatte. Aber meistens wechselte man rasch von der Sprache Voltaires, die etwas Irreales, Entlegenes, bloß Geborgtes hatte, zur braven, soviel authentischeren elsässischen Mundart. [...] Mit den einfachen Leuten auf der Straße, den Kunden [...], mit unserem Dienstmädchen Emma oder dem Verkäufer Willy unterhielt man sich natürlich nur auf elsässisch" (1998a: 312). Hier und an vielen anderen Stellen spricht Vigée auch von einer dialektalen Binnendifferenz, der Elsässer Variante des deutschen Jiddisch oder „Jüdischdeutsch“ 28 , ein Idiom, das keineswegs von allen gesprochen wurde und eher polarisierend als integrierend wirkte. 26 „Kleine jüdische Gemeinden wie die unsere bestanden in den Städten und Dörfern des Elsaß seit mehr als tausend Jahren; sie sind in christlichen Dokumenten des 6. Jahrhunderts erwähnt, die sie bereits aus der neuen Gesellschaft ausgrenzen. Die ersten Spuren jüdischer Besiedlung gehen auf die Römerzeit zurück“ (Vigée 1998a: 337). 27 Siehe zur Erläuterung das Vorwort [Fréderic Hartweg] zu Vigée (2004: 9; 1996: 9). 28 Für Jiddisch oder „Jüdischdeutsch“ im Verhältnis zum Deutschen gibt es in der Forschung verschiedene Bezeichnungen: „‚Tochtersprache‘, ‚Zweigsprache‘, ‚Nebensprache‘, ‚Sondersprache‘, ‚Abstandsprache‘, in theoretischer Perspektive ‚Fusionssprache‘ (oder Schmelzsprache) mit dominierendem deutschem Anteil“ (Polenz 1991: 294); s. außerdem Weinreich (1967); zu „Jiddisch im Ensemble der Judenspra- 110 Rudolf Helmstetter Die jiddische Variante der Umgangssprache wurde nur von den Landjuden gesprochen. Ich lernte sie von meinem Großvater mütterlicherseits zur großen Entrüstung meines Vaters, eines gebürtigen Städters, und meiner Großmutter Coralie, dieser großen Voltairianerin, die meine ausgeprägte Neugier zur jüdischen Archäologie kaum zu schätzen wußte. Unter den Ihren hatte man seit hundert Jahren alles daran gesetzt, um diesen gar zu sperrigen Sprachschatz zu begraben, der den emanzipierten Überlebenden der Pogrome, Ghettos und Kerker der Inquisition ihre einstige unterdrückte Lage schmerzlich in Erinnerung rief (1998a: 312f.). 29 Assimilierte Juden sprachen also in der Regel elsässisch, und griffen nur, wenn sie von Außenstehenden nicht verstanden werden wollten, auf das ansonsten gemiedene und verpönte Jiddisch zurück. Vigée hörte es von seinen Eltern nur, wenn sie sich stritten und beschimpften: „Die wüstesten Beschimpfungen fielen natürlich auf elsässer-jiddisch, Privatidiom der Familie und der Kundschaft weniger zugänglich“ (Vigée 1998b: 10). Leider hat Vigée von diesen innerfamiliären jiddischen Schimpfreden keine Probe überliefert 30 , überhaupt kaum längere syntagmatische Einheiten, dafür aber zahlreiche jiddische Vokabeln: Peimesshändler (Viehhändler, elsässisch Kühjudd), Sargenes (Leichenkittel), Jonteffklaad (Festgewand, Sonntagsanzug), Purimkischlisch, Treiffe usw. Über die verstreute Lexik hinaus gibt es auch einen kurzen Text von Vigée, der ganz im Elsässerjiddisch geschrieben ist: „Chaduchem aus Bariss im Tsarfessm uff Yiddisch-daitsch (Motsei Schawwes Tetsawei 5738)“. 31 chen“ s. auch das erste Kapitel von Simon (1993); zur Dialektologie des Jiddischen s. Katz (1982). 29 Vergleiche auch: „Die Leute redeten eine stereotypisierte, aber pittoreske Sprache. Ihre besonderen Qualitäten zeigten sich unter anderem im saftigen Elsässer-Jiddisch, das damals noch unter den Alten und den Viehhändlern aus dem Umland lebendig war“ (Vigée 1998a: 325). 30 Vergleiche aber: „In meiner Kindheit lebten noch ein gutes halbes Dutzend Viehjuden in unserer kleinen Stadt. [...] Um die verwirrten Tiere zu bändigen, schimpfte der Händler, was das Zeug hielt, in den blumigsten jüdischen Redewendungen: Mammser-benidde, ratz, geih ...Was auf gut deutsch hieße: Du monatsblutgezeugter Bastard, mach weiter, geh ... Unter den Viehhändlern schämte sich keiner, die herkömmliche Mundart der elsässischen Juden zu sprechen. Sie ließen sich noch nicht auf Schneckedänz oder pariserische Kapriolen ein. Ihr jiddisches Idiom schien ihnen naturgegeben, da es seit so vielen Generationen gebräuchlich war; es gehörte zum kräftigen, gesunden Mistgeruch, den man mit dem Duft der Felder, Wiesen, Obst- und Weingärten in unserer niederelsässischen Landschaft einsog“ (Vigée 1998a: 312). 31 Das heisst so viel wie: Nachrichten aus Paris in Frankreich (am Abend des Sabbath Tetsawei im Jahre 5738 des jüdischen Kalenders). Der Text findet sich in Vigée (2008: 134f.), ohne Übersetzung, aber mit beigefügten Worterklärungen. Heimat, Diaspora, Exil 111 Immer wieder verbindet Vigée Beobachtungen zu spontanen und habituellen Differenzierungen beim Gebrauch der unterschiedlichen Idiome (Differenzierungen, die in linguistischer Terminologie als diaphasisch, diastratisch, diasituativ und diatopisch bezeichnet werden): So triumphierte auf der Straße oder in der Fabrik die volkstümliche Mundart, aber die gutbürgerlichen besseri Litt [...] benutzten Französisch, wenn auch ein etwas sonderbares: das berühmte Sonntagsfranzösisch. Man bediente sich seiner, so oft dies in einem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umfeld, in dem noch weitgehend Dialekt gesprochen wurde, möglich war - also recht selten. Manchmal ergaben sich daraus für einen unparteiischen Zuhörer höchst vergnügliche Situationen, vor allem, wenn er ein feines Ohr besaß (1990: 312f.). 32 Dem „feine[n] Ohr“ des „unparteiischen Zuhörers“ sind zahlreiche Beobachtungen zu diesem diffizil differenzierten Sprachgebrauch zu verdanken, die sich zu einem facettenreichen Panorama zusammensetzen. 33 Vigées „feines Ohr“ bewährt sich auch beim „groben“ Sprachgebrauch, dem er gleichermaßen ästhetische Qualitäten abzugewinnen vermag wie der Sprachkunst, die er später im Literaturunterricht kennenlernt. Er erzählt von seiner Vorliebe für die ungezogensten Bengel, die lustigen und großmäuligen Wackess aus den schlechten Vierteln, von denen ich viel zu lernen hatte. Sie brauchten keinen Rhetorikunterricht. Die Mundart von Bischweiler sprachen sie wie Prinzen von Geblüt; die Schimpfwörter perlten über ihre Lippen mit der blitzenden Schärfe von Diamanten. In ihrer edlen Gesellschaft lernte ich bald und besser als in jener Académie française der Mundart, die von acht Uhr morgens bis sechs Uhr abends im Tuchladen meines Vaters tagte, die Nuancen, die Feinheiten, das unvergleichliche Schillern des alemannischen Dialekts von Bischweiler (1998a: 37f.). 32 Vergleiche auch Vigée (2004: 244): „In meiner Familie wurde neben Dialekt 'Sonntagsfranzösisch' gesprochen - ein Produkt der Nostalgie“. - Eine kurze Charakterisierung der Elsässer Sprachsituation findet man auch in dem „Straßburger Gespräch“ (mit Adrien Finck, Winter 1984/ 85): „Mein Vater sprach ein sehr gepflegtes Elsässisch: der Stoff-‚Lààde‘ meiner Großeltern war auf seine Art eine ‚Académie française des Elsässerditsch‘, wo jeden Tag ‚Sprachsitzungen‘ gehalten wurden. [...] Hier pflegte man das reinste und reichste Elsässisch des Kantons“ (Vigée 1985: 155). 33 So z.B. auch spontane Hybridbildungen: Einmal versucht der Großvater in einer unvertrauten Situation mit einem französischen Zimmermädchen zu sprechen: „‚Matmaschell, le vache-labo ne vaut pas gouler.‘ Er war überzeugt, mit dem deutschen Präfix Wasch viel verständlicher zu sein als mit dem simplen französischen lavabo. Wie alle aus Seebach im Elsaß Gebürtigen hatte Leopold eine sehr originelle Auffassung von der französischen Sprache“ (Vigée 1998a: 271). 112 Rudolf Helmstetter Die Bewohner dieses zweisprachigen Raumes verstehen es auch, mit einem Gefälle zwischen Sprachgebrauch und -verstehen zu leben, und unter Umständen (in bestimmten kommunikativen Situationen) schließt die Kluft zwischen Pragmatik und Semantik ein fremd-sprachliches Vergnügen nicht aus: „Wir sangen gemeinsam elsässische Abzählreime und französische Lieder, von denen die meisten unter uns kein einziges Wort verstanden - was aber den Reiz des Ganzen nur erhöhte! “ (1998b: 39). Der Beginn des schulischen Sprachunterrichts bedeutet dann zwar nicht das Ende des ungelenkten, sinnlichen und spielerischen Spracherwerbs, aber doch eine dramatische Zäsur. 2.3 „jetz lehr mr‘ franzeesch“: Französischunterricht im Elsass der Zwischenkriegszeit Ein Glanzstück dieser Erzählungen vom Aufwachsen in einem polyglossischen, situativ und funktional differenzierten Sprachraum bildet die erste Französischstunde (1926), die den fünfjährigen Mundartsprecher schockartig mit einer anderen sprachlichen Welt konfrontiert und die vertraute Welt mit einer Fremd-Sprache verfremdet und dezentriert. Eines Tages kommt die Lehrerin in die Klasse und sagt: ‚Awer numme güet uffgebasst, iehr Kender, jetz lehr mr' franzeesch - e Lapin isch e Haas! ‘ Diese Offenbarung sprachlicher Ordnung war so klar und verstörend, dass meinen Schulkameraden und mir die Kinnlade herunterfiel. Es war nicht zu fassen. Mit zwei Zauberworten erschloss sich unserem jungen Geist eine neue Welt. Als die großartige Madame Zimmermann uns im Chor wiederholen ließ: ‚e Lapin isch e Haas‘, brach die [...] Klasse in helles Lachen aus. Haben wir uns je davon erholt? (2004: 244f.). 34 Mit der Proklamation, dass ein so vertrautes Ding wie der Hase eigentlich (oder auch) ganz anders heißt, entstehen grundstürzende „Zweifel an Wert und Wirklichkeit der Wörter“ (1998b: 151) und an der eigenen sprachlichen „Kompetenz“: „Jetzt war mir, als wäre ich sprachbehindert zur Welt gekommen“ (1998b: 151). Das gemeinsame ungläubige und „bezauberte“ Lachen reagiert auf einen „kollektiven“ Schock, den der sprachempfindliche Vigée auch später nicht vergessen hat. Er erzählt diese Episode auch in einer essayistischen Meditation 34 Diese Episode wird auch in „Bischweiler“ erzählt (Vigée 1998b: 150), in dem hier zitierten Essay „Das Gute daran“ ist sie durch den Übergang vom Elsässer Deutsch zum „Franzeesch“ (also nicht vom Hochdeutschen zum Hochfranzösischen) prägnanter. Heimat, Diaspora, Exil 113 über die Mundart als das erste und fundierende sprachliche Verhältnis zur Welt - oder genauer: über die „ungeschlachte, ungehobelte“ Elsässer Mundart, nicht über „die Mundart“ schlechthin (er stellt das Elsässische nie dem Hochdeutschen gegenüber, sondern dem hochkodifizierten „rationalen“ Standard- Französisch). Diese eindringlichen Überlegungen zum Mundartsprecher im Allgemeinen, aber auch zum dichterischen Wort, sind grundlegend für das Verständnis der späteren Mundartlyrik Vigées, aber auch für sein Eintreten für den Erhalt der Elsässer Mundart. 35 2.4 Literatur und Theater Der Eintritt in die andere sprachliche Welt des Französischen - als einer Sprache, die nicht in der Familie und auf der Straße gelernt und gesprochen wird - beginnt also mit einem Schock und einem Gelächter. Dass nun „Franzeesch“ gelernt wird, beraubt die erste Sprache ihrer Selbstverständlichkeit, doch zugleich familiarisiert die mundartliche Bezeichnung des Französischen als „Franzeesch“ diese neue und fremde Sprache und bestätigt die Mundart als Referenz, als erste sprachliche Instanz und Grundlage. Die neue, als Fremdsprache erlebte Landessprache geht von der Schule und damit vom Staat aus (wird aber von Lehrern gelehrt, die der korrekten Aussprache der Landes-Fremdsprache selbst kaum mächtig sind 36 ). Auf dem Gymnasium lernt der heranwachsende Vigée später aber auch eine weitere zunächst 35 Auf diese profunden Reflexionen zum Verhältnis des primären dialektal geprägten Spracherwerbs, der mentalen und psychischen Prägungen durch eine unelaborierte „archaische“ Mundart gegenüber einer offiziellen, durch ein politisches und kulturelles Zentrum autorisierten, elaborierten Hochsprache kann hier nicht weiter eingegangen werden. „Mein Elsässer-Deutsch ist [...] kaum wirklich eine vollentwickelte, moderne Sprache. Es bleibt fast eine primitive Gestikulation [...] eine Art Keim-Sprache, eine frische Rede, die nicht ganz im Linguistischen ruht, sondern noch mehr im Körperlichen“ (Vigée 1985: 128); er bezeichnet die Elsässer Mundart auch als eine „Vor-Sprache [...], die den erstickt, der sich auf sie beschränkt“, und plädiert damit für Di- (oder Ko-)Glossie. Auch weil sich Vigée von dieser Position später distanziert hat (vgl. 1985: 158), soll es einer eigenen Studie vorbehalten bleiben zu untersuchen, was an Vigées Konzept der Mundart topisch ist oder „stereotyp“ (Haas 1982: 1638) - und was dabei auf der spezifischen Konstellation im „Viereck“: Elsässerditsch - (Hoch)Deutsch - Französisch - Hebräisch beruht. Zudem sind der expositorischen Reflexion auch die poetischen Gefüge in Vigées Gedichten gegenüberzustellen. 36 Für Kostproben des grotesk schlechten Französisch seiner Lehrer vgl. Vigée (1998b: 152-157). 114 Rudolf Helmstetter fremde und ebenfalls von der Lebenswelt abgegrenzte „Sprache“ kennen: die französische Literatur - als kunstvolle „Variante“ des Standard-Französischen sozusagen. Damit tritt die Sprachkunst neben Mundart und Staats- und „Sonntagsfranzösisch“, relativiert die Opposition von Mundart und Hochsprache und erweitert den sprachlichen Kosmos und den kulturellen Horizont. Was nach Maßgabe des „natürlichen“ primären Idioms der Mundart zunächst als „primäre Künstlichkeit“ (des Schulfranzösisch) erlebt wurde - auch wegen der defizienten Aussprache der Lehrer -, erscheint nun als „sekundäre Künstlichkeit“ der Sprachkunst und übt eine prägende Faszination aus. Die künstliche und kunstvolle Sprache des Theaters, die der Heranwachsende in Provinzgastspielen einer Pariser Truppe erlebt 37 , vermittelt ihm zum ersten Mal auch einen „Realitätsbezug“ des mangelhaften Sprachunterrichts: „Es gab also einen Funken Wirklichkeit in dem, was man uns einzutrichtern versuchte - diese so fernliegende, fast imaginäre, französische Kultur, deren Erwerb uns den alemannischen Ursprungsdialekt kostete“ (1998b: 57). In solchen Partien ist „Bischweiler“ auch ein Elsässer Bildungsroman. Mit der anderen, kunstvollen Seite des fremden Französisch eröffnet sich neben der Welt des Sprechens zum ersten Mal auch die Welt des Schreibens. Von einem (hochgebildeten und inspirierenden) neuen Lehrer erzählt Vigée: „[E]r führte mich in die französische Literatur ein, ließ mich zum ersten Mal den strengen Zauber der Sprache kosten und regte mich dadurch zum Schreiben an“ (2004: 245). Der Elsässer Literaturunterricht beschränkte sich nicht auf die französische Literatur. Vigée erzählt, auf dem Gymnasium habe er „hunderte, ja tausende von Versen aus der deutschen Literatur auswendig gelernt“ (1985: 161). Einige dieser Verse, namentlich aus Schillers „Glocke“ kehren dann in zitatcollagierenden Passagen in Vigées umfangreichem „elsässischen Requiem“ wieder. 38 Im biographisch-poetologischen Rückblick erscheint vor allem die elsässische Landschaft als zentrales „Bildungserlebnis“ und Inspiration: „Alle meine Gedichte sind aus diesen Radfahrten durch die Wälder von Marienthal und Gries geschöpft“ (1998a: 15). 37 In Vigées sarkastischem Kommentar liegen diese kultur-missionierenden Gastspiele auf derselben Peripherie-Achse: „Zwei- oder dreimal im Jahr gingen das Theater Borelli und die Schauspieltruppe Georges Chamarat vom Pariser Odéon auf Tournée, um die Eingeborenen der französischen Kolonien jenseits des Ozeans ebenso wie die wilden Ureinwohner der wiedererworbenen Provinzen Elsaß und Lothringen zu unterhalten“ (1998b: 55f.). 38 Vergleiche „Schwàrzi Sengessle flàckere ém Wénd. En elsässisches Requiem“ (Vigée 1985: 88-109) - mit den Schiller-Zitaten wird das Glockengießen dem Matratzenreinigen gegenübergestellt, vgl. Vigée (1985: 100). Heimat, Diaspora, Exil 115 3 Jüdisches Leben im Elsass Aus Radfahrten durch die Wälder des Niederelsass geschöpft - geschrieben aber hat Vigée seine Gedichte und seine Prosa vor allem in Israel. Ort und Datum seines Schreibens (im außergeographischen und außerkalendarischen Sinn) ist eine existenzielle Adresse mit historischem Index: „Zwischen Auschwitz und Jerusalem“. 39 Als Jude geboren, von den Nazis und der Vichy-Regierung zum Juden d e kl a rie rt , ist Vigée erst in Jerusalem aus eigenen Stücken Jude g e w o r d e n . Das Kapitel „1921-1939. Kindheit im Elsaß“ spricht und erzählt davon, wie umwegig und nachträglich er sich seiner jüdischen Abstammung und Identität bewusst wurde: Ich war mir bewußt, daß ich Jude bin, denn weder war ich katholisch noch protestantisch. Aber dieses Etikett, Jude zu sein, konnte mich nicht im geringsten befriedigen, da man mir nicht einmal die elementarsten Dinge beibrachte, von denen sich meine Familie schon längst losgesagt hatte (1990: 15f.). 40 Die in seiner Kindheit noch gepflegten „Elemente des häuslichen Kultes“ bezeichnet Vigée als „schwimmendes Treibgut eines gesunkenen Schiffs“ (1998a: 65f.) und widmet der „Assimilationskomödie“ des „religiös unbedarfte[n] Leben[s]“ (1998a: 65f.), der konventionell verflachten Pflege der jüdischen Riten und Gebräuche viele Seiten - mit zugleich respektvollem und distanziertem Blick für die latente Komik von Ritualhandlungen, denen die Ausübenden längst entfremdet sind. So singt etwa einmal ein Cousin, der das Kiddusch (den Sabbatsegen) sprechen soll, aber kein Hebräisch kann, den Text der Marseillaise dazu (1998b: 355f.). Vigée betont aber auch die trotz aller Fadenscheinigkeit unverminderte Bedeutsamkeit der rituellen Traditionen für ein Volk ohne Territorium, das seine Identität und Zusammengehörigkeit durch das Buch und einen Kodex von Riten und Kulten sichert. 41 39 So eine Kapitelüberschrift von „Leben in Jerusalem“ (Vigée 1990: 227 f.), hier finden sich Vorstufen von „Bischweiler“; ebenso auch Partien in Vigee (2004: 13-22). Zum jüdischen Leben im Elsaß der Kindheit s. auch Vigée (1985: 132f.). 40 „[D]ie Mehrheit der Bevölkerung war damals protestantisch, dazu kam eine katholische Minderheit und eine mittelgroße jüdische Gemeinde, 80 Familien vielleicht, etwa 200 Personen“ (Vigée 1985: 133). 41 „Die guten Familien waren vor dem Krieg schon stark assimiliert [...] Geld und Familienprestige traten bei uns etwas zu rasch an die Stelle des strengen Glaubens und der erworbenen Kenntnis in den heiligen Wissenschaften" (Vigée 1998a: 304). „Trotz ihrer Unkenntnis in religiösen Dingen, trotz ihrer Unkenntnis des Hebräischen, des Talmuds, der Bibel selbst, erhielten sich die Juden unserer Gegend in Form der Ri- 116 Rudolf Helmstetter [U]nsere Juden gehorchten einem besonderen Gesetz. Trotz seiner Alltagsbanalität war ihr Leben von einem eigentümlichen Licht umstrahlt. In dem Maße, wie sie die Riten ihrer Väter noch streng befolgten, lebten sie zwangsläufig abgeschlossen in einer kleinen Welt, der sie durch Geburtsrecht seit dreißig oder vierzig Jahrhunderten angehörten (1998a: 303). Einlässlich schildert er die häuslichen und synagogalen Bräuche, saisonale Festtage und Feiern (mit ihren spezifischen Gerichten und Mahlzeiten), Taufen und Hochzeiten. 42 3.1 Antisemitismus im Elsass Vigées Selbstbezeichnung als „Elsässer Jude, also doppelt Elsässer und doppelt Jude“ besteht aus zwei ungleichen (Doppel-)Größen, die sich gegen simple Addition sperren. Mit dieser zerrissenen und gespaltenen Doppelidentität sind zwei asymmetrische und nicht-komplementäre Zugehörigkeiten verbunden: die Zugehörigkeit zu einer peripheren und minoritären Volksgruppe, die der jüdischen Binnen-Minorität und Binnenperipherie die Zugehörigkeit, Integration und Anerkennung stets verweigert hat. Vielleicht kann man die Haltung, die dieser identitären Paradoxie entspricht, als eine ethische Litotes bezeichnen: Nicht-Unversöhnlichkeit. Unbestechlich, scharf, aber ohne Versöhnlichkeit, spricht Vigée an vielen Stellen vom Antisemitismus im Elsass. Zwar wütete ständig Antisemitismus in den Dörfern und kleinen Städten des Elsaß, aber zwischen den beiden Kriegen manifestierte er sich selten auf aggressive, offen feindselige Art. [...] Offensichtlich waren die elsässischen Nichtjuden - gewiß wegen der Nähe zur teutonischen Welt - antisemitischer als im übrigen Frankreich (1998a: 306). Vigées Darstellungen ergeben ein sehr nuanciertes Bild: Zumindest in der Zwischenkriegszeit wurden die Juden von ihren elsässischen Mitbürgern zwar als eine eigene Volksgruppe wahrgenommen, aber nicht diskriminiert - zumindest die arrivierte Mittelschicht (die ihrerseits so sehr um Assimiliation bemüht war, dass sie nicht-assimilierte Juden verachtete und sich von ihnen distanziertuale, die sie noch streng befolgten, ein historisches und theologisches Gedächtnis von erstaunlicher Tiefe“ (Vigée 1998a: 309). 42 Vergleiche Vigée (1998a: 128ff.); s. zur religiösen Praxis und zur „synagogalen Liturgie“ z.B. Vigée (1998a: 325). Heimat, Diaspora, Exil 117 te). 43 Aber auch Assimilation und Integration bildeten letztlich nur eine brüchige und nicht sehr belastbare Fassade, und Feindseligkeit, Aggression und Gewalt konnten jederzeit hervorbrechen. Bei Prügeleien unter Kindern war noch der alte Spruch zu hören: Druff, s'isch e Judd! . Die ungestrafte Feindseligkeit den Juden gegenüber riß die konfessionelle Barriere ein, die katholische von reformierten und lutherischen Kindern trennte (1998a: 334). Solche anekdotischen Details vergegenwärtigen mentalitäre Voraussetzungen für das Sympathisieren mit dem Faschismus. Als 1936 auch im Elsass die Parole „Lieber Hitler als Blum! “ umgeht, erkennt Vigée, „wie brüchig die ehemals herzliche Übereinkunft zwischen den Konfessionen war, die in Bischwiller kaum vier Jahre vor dem Einmarsch der Nazis im Mai 1940 herrschte“ (1990: 19f.). 44 Als eine Möglichkeitsbedingung des Zivilisationsbruchs, den das im Oktober 1940 erlassene „Judenstatut“ bedeutete, und der dadurch mitgetragenen Judenverfolgung erscheint die Banalität des Opportunismus, die Moral des „Mitmachens“ - auf Elsässisch: „Mr macht ewe mitt! “ 45 Das Elsässer Judentum teilte das Schicksal aller französischen Staatsbürger jüdischer Abstammung und jüdischer Konfession. Durch das „Judenstatut“ der Vichy-Regierung wurde diese Volksgruppe - zuvor weder in der Selbstnoch in 43 Mit Ostjuden wollten auch die Juden der assimilierten Mittelschicht nichts zu tun haben. Vigée erzählt von einem wohlhabenden Geschäftsmann seines Heimatortes, der ungeachtet seines geschäftlichen Erfolgs gemieden wurde, denn er sprach mit „unverbesserlich galizischem Akzent (er hatte vergeblich versucht, während des Vierteljahrhunderts, das er in unserer Gegend zubrachte, den elsässischen Dialekt und das Französische zu erlernen)“ (Vigée 2004: 115f.); zu weiteren Ausgrenzungen s. Vigée (1998a: 300ff.). Das sind nur einige der vielen Details, die ein differenziertes Panorama jüdischen Lebens ergeben; vgl. zum innerjüdischen „Chauvinismus“ auch Vigée (1990: 76). Vergleiche zu einer Art Typologie der elsässischen Juden Vigée (1998b: 103f.). 44 Blum war der Führer der Volksfront (Front populaire), eines Zusammenschlusses der Sozialisten und Kommunisten, die 1936 die Wahlen gewonnen hatte. - Über den Rundfunk drang das „III. Reich“ akustisch schon vor der Besetzung auch in die elsässische Provinz: „Wir hörten am Radio aus Stuttgart die ganze Propaganda der Hitler-Zeit zwischen 33 und 39“ (Vigée 1985: 134). 45 Vergleiche zu diesem Ausspruch, den Vigée als „Losungswort der Geschichte“ bezeichnet: „Blauäugig staunte meine Mutter nach 1945, wie leicht der Nationalsozialismus in Teilen der besten bürgerlichen Gesellschaft im Elsaß Fuß gefaßt hatte, wie schnell sich diese Kreise im zweiten Weltkrieg dem Führer angeschlossen hatten. Eine ihrer Jugendfreundinnen, Tochter eines ehrbaren Fabrikanten, antwortete ihr, ohne mit der Wimper zu zucken: ‚Was witt? Mr macht ewe mitt! ‘“ (1998b: 251 f.). 118 Rudolf Helmstetter der Fremdwahrnehmung eine homogene Gruppe oder integrierte minoritäre Kultur, sondern eine kulturelle und nicht einmal dominant konfessionelle Differenz neben anderen - gewaltsam homogenisiert, der Staatsbürgerschaft beraubt und der nationalsozialistischen Verfolgung preisgegeben - „für vogelfrei erklärt“, wie Vigée schreibt. 46 Damit hat die „Kulturnation“ Frankreich ihre eigenen zivilisatorischen Standards verraten. 3.2 Die Shoah im Elsass Seinem Buch „Wintermond“ („La Lune d'hiver“) hat Vigée folgende Widmung vorangestellt: Dieses Buch ist dem Gedenken / Meiner Verwandten gewidmet: / jener dreiundvierzig Männer, Frauen und Kinder, / die, den Nazis ausgeliefert, / in den Krematorien verbrannten, / weil sie als Juden geboren waren - / im französischen Elsass (2004). 47 An dieser Stelle bildet sich die Relation von Zentrum und Peripherie in der Topologie des Textes als Relation von Text und Paratext (Dedikation) ab. Auch in der erinnernden Vergegenwärtigung und Verklärung der Kindheitswelt waltet in Vigées Schreiben immer das zwiefältige Futurum exactum: Diese elsässische „Heimat“ wird eine unwiederbringliche und unmögliche ge- 46 Vergleiche Vigées Aufzeichnungen zum 19. Oktober 1940, dem Tag, als er in Toulouse die Schlagzeile von „Paris-Soir“ zum „Judenstatut“ liest: „[S]either geht ein Riss durch mein Leben. [...] Hier handelte es sich nicht um einen Erlass des Feindes, sondern um eine Verfügung der Machthaber meines Heimatlands. [...] Durch die rechtmäßige Regierung des französischen Staates (zumindest in den Augen der anderen Nationen war sie das) wurden wir französische Juden in aller Form für vogelfrei erklärt, von der übrigen Bevölkerung abgesondert, auf den Stand von Untermenschen, von Tieren herabgewürdigt, zur Tötung durch die Hand von Mördern freigegeben [...]. Das Urteil lautete auf Ausschluss aus der Gemeinschaft und Auslieferung an den Feind" (2004: 108); vgl. auch im Schlusskapitel: „Auch in meiner Familie, die seit fünf Generationen die französische Staatsbürgerschaft besaß [...], hatten die Erklärung der Menschenrechte von 1789, das Emanzipationsdekret vom 27. September 1791, die Beschlüsse des Napoleonischen Sanhedrin von 1807 hundertfünfzig Jahre lang den Bund Abrahams, die Theophanie am Sinai, das Gesetz und die Prophetie ersetzt. Der Erlass des Judenstatuts [...] stellte einen einseitigen Vertragsbruch dar und rückte den Bund Abrahams wieder an seinen wahren, den ersten Platz“ (Vigée 2004: 268f.). 47 Diese Widmung ist - in französischer und in deutscher Sprache - auch Vigée (1985) vorangestellt. Heimat, Diaspora, Exil 119 worden sein. Mit Konstellationen und Überlagerungen zeitlicher Perspektiven hält Vigée den Wahrnehmungshorizont des Kindes, das er war, fest und konfiguriert ihn zugleich mit dem Einbruch der Geschichte, der die Welt und das Weltvertrauen dieser Kindheit zerstört. 48 Die französische Bevölkerung hat sich auch im Elsass beteiligt an der Vertreibung und Verfolgung der französischen und der elsässischen Juden durch das nationalsozialistische Regime und hat die deutschen Besatzer unterstützt. Auch in Bischweiler wurde die Synagoge abgebrannt und geschleift (vgl. Vigée 1998a: 64, 315; 1998b: 105; 1990: 336). Sehr viel bitterer und schärfer als die späteren Texte dokumentieren die Aufzeichnungen, die Vigée unmittelbar während der Jahre der Verfolgung gemacht hat, die Gleichgültigkeit und Feindseligkeit der französischen „Mitbürger“. 49 Vigées Verbundenheit mit dem Elsass - als einer „Heimat“ -, eine Verbundenheit, die sich nicht zuletzt in seinen Mundartgedichten bekundet, hat nichts mit Nostalgie zu tun, sie entspricht einer ethischen Haltung, die sich zu unversöhnlichem Gedenken und Versöhnung gleichermaßen verpflichtet. 50 3.3 Dekonstruktion der Heimat Vigée schreibt in Jerusalem a u f Französisch v om Elsass (und von seiner Kindheit). Dabei erinnert er immer wieder auch den Ort, den Schauplatz, die 48 „Aus dem glückhaften Stillstand der Kindheitswelt gerissen, fand ich mich in den unumkehrbaren Lauf einer Geschichte geworfen: der Geschichte eines französischen Juden im Sog jenes gewaltigen Wirbelsturms, der in weniger als fünf Jahren das Judentum Europas fast vollständig vernichten sollte. Die kollektive Katastrophe veränderte die gesamte Ausrichtung meines Lebens“ (Vigée 2004: 14). 49 „Sonntag, 20. April (1941): im deutschen Radio den Gruß der Hitlerjugend der annektierten Gebiete zum 52. Geburtstag des Führers gehört. Elsässer Kollaborateure und Patrioten danken ihm dafür, das Elsass aus der Hand der Franzosen befreit zu haben [...] auch meine Großeltern [wurden] 1871 an die Preußen abgetreten, ohne dass man sie oder ihre Landsleute im Elsass und in Lothringen um ihre Meinung gefragt hätte [...]. Heute im Jahr 1941 sind wir als Elsässer wiederum den 'Boches' ausgeliefert, aber darüber hinaus als Juden verraten und verkauft, vom Pétain-Staat der wilden Nazi-Bestie zum Fraß vorgeworfen“ (Vigée 2004: 87). 50 Siehe dazu Vigée (1985: 160). Der Antisemitismus hat auch im Elsass das Ende des „III. Reiches“ überlebt. Vigée erzählt davon, dass sein Gedicht „Les tombeaux dans la forêt“ („Die Gräber im Wald“) entstand, als 1993 in den Zeitungen immer wieder von Schändungen jüdischer Friedhöfe zu lesen war. Im Vorjahr hatte er bei einem Besuch im Elsass mitten im Wald einen verlassenen jüdischen Friedhof gefunden (Vigée 1996: 125). 120 Rudolf Helmstetter Szene des Schreibens - die zweite Heimat des Exils - und überblendet die erinnerte Zeit, den thematischen Schauplatz und die Sprache der Kindheit mit der Zeit der Erinnerung und dem Ort des Schreibens, besonders eindrucksvoll auf den ersten Seiten von „Bischweiler“, die man als eine Art poetologischen Prolog lesen kann. Alle meine Gedichte sind aus diesen Radfahrten durch die Wälder von Marienthal und Gries geschöpft. Über die Lenkstange meines Vorkriegsrades gebeugt, stürmte ich, mächtig in die Pedale tretend, durch die Regennacht - jagte von meinem elsässischen Jerusalem zu jenem helleren, in dem sich das strengere Bergeslicht von Judäa verklärt. Alles Leben, alle Poesie ist nichts als die Rückkehr zum Ursprung, den es nicht gibt. Das über Jerusalem heranströmende Morgenlicht ist heute ebenso nahe, ebenso unfaßbar wie einst der Landregen im Elsaß. Ich habe niemals meine Heimat verlassen. Niemals werde ich sie erreichen (1998a: 15). Dieser Faltung und Dekonstruktion des Heimatbegriffs korrespondieren etliche andere Stellen in Vigées Werk, die sich zu einer Meditation des Exils verbinden. 51 Diatopien, also „diatopische“ Überblendungen von Orten, die eine poetische Mehr-Örtlichkeit erzeugen und die mit der Begrifflichkeit von „Zentrum und Peripherie“ nicht mehr zu erfassen sind, charakterisieren auch die Mundartdichtung Vigées und deren Mehr-Sprachigkeit. So wird das Elsass, das Vigées Mundartgedichte evozieren, in einer poetischen Geographie immer wieder mit Orten und Landschaften in Israel verbunden, etwa in dem Gedicht „Dr Màndelbaum in Ierusalem“ (1985: 120-123) oder auch in dem Prosatext „E Velodür durichs Heiliche Land“ (2004: 123-126). Dort erscheint die oben bereits zitierte Stelle auch in der „Originalsprache“: „I hàb noch niemols mini Haimet verlorn. Niemols kumm i je bis ànne“. 52 Die elsässische Diglossie wird bei Vigée diachron-biographisch und in seinem Œuvre zu einer poetischen Polyglossie, die ein Nebeneinander, Ineinander und Einander-Gegenüber von Sprachen darstellt. 51 Die paradoxe Koinzidenz von Exil und Heimat bezeichnet auch den Ort der Zeugenschaft: „Warten an einem Unort auf der Schwelle zum Exil, im Vorgefühl einer Fahrt von nirgends nach nirgendwo. Als einer, der überlebt hat, lege ich Zeugnis ab von unserer zerschlagenen Jugend; als einer, der gerettet wurde, erzähle ich das Schicksal einer Generation, die restlos dem Untergang geweiht war“ (Vigée 2004: 143). 52 Vergleiche auch Vigée (1985: 162), dort ohne accent grave auf den A-Lauten - „Ich hab noch niemols mini Haimet verlon. Niemols kum i je bis anne.“ - die den dunklen Lautwert markieren, wie die Anmerkungen zu „D'üssschprooch uff underelsässisch“ (2008: 3) erklären: „à wie all uff english“. Heimat, Diaspora, Exil 121 4 Elsässer Mundart in der Lyrik Vigées Die Wendung zur Mundart, die Vigée in seinen späten Gedichten vollzieht, schafft Korrelationen und Korrespondenzen zwischen dem Elsass und Israel, zwischen dem Elsässer Dialekt und der hebräischen Sprache. Israel und das Hebräische bilden einen Fluchtpunkt, eine anachronische Heimat und ein exterritoriales Zentrum, welche die binäre elsässische Konstellation von Zentrum und Peripherie, Hochsprache und Mundart, Standardvariante und Dialekt, noch einmal dezentrieren und im biographischen Rückblick und im poetischen Text zur Peripherie eines anderen Zentrums machen - und die umgekehrt das thematische Zentrum von Vigées Biographie und Œuvre mit einem anderen Zentrum korrelieren, das nun nicht einmal mehr an einer mitteleuropäischen Peripherie situiert ist. Das Gedicht wird zum textuellen Raum, in dem sich Ort, Landschaft und Topologie der Herkunft und Ort, Landschaft und Topologie der Ankunft begegnen. 4.1 Pluri-, inter-, supra-glossische Geographie Eines von Vigées Gedichten in französischer Sprache zeigt die Diatopie von Elsass und Israel schon im Titel an: „Entre la Basse-Alsace et la Haute-Judée“ (1996: 42). Auch Vigées „Elsässisches Requiem“ („Schwàrzi sengessle flàckere em Wénd“) - das man als das bedeutendste Gedicht in der Elsässer Mundart bezeichnet hat - ist in Jerusalem entstanden, mehr als vierzig Jahre nach Vigées Vertreibung aus dem Elsass. 53 Dieses Requiem ist nicht nur Totenfeier und Totengedenken - über Sprachgrenzen hinweg: „ob mir d'grààbschréfte uff franzeesch, / uff hoochditsch odder uff elsässisch läst, / hitt ésch déss àlles eins“ (2008: 22) -, es dient auch der Überlieferung und Weitergabe des sterbenden, vom Aussterben bedrohten Dialekts. Es beginnt mit der Erinnerung an die Mundart der Kindheit - „Mànischmool glaawi, s'hängt mr noch ebbs ém ohr / vun denne gemurmelde werder / wu längscht vergesseni schtémme frihr / ganz lîsli gsààt“ (2008: 8) - um Medium und Gegenstand der Erinnerung weiterzu- 53 In einem Gespräch sagte Vigée dazu: „Was ist mit meiner Generation geschehen [...]? Was ist das Schicksal meiner Generation, einer Generation, die dem Untergang geweiht war? Diese wesentlichen Fragen hatte ich nie auf französisch zu sagen vermocht, ich hatte auch nie die Kraft (und genügend Angst), sie in der Mundart zu sagen. Es bedurfte eines ganzen Lebens [...] und dann des Libanon-Kriegs im Sommer 82“ (1985: 170). Ort und Zeitpunkt sind am Ende des Gedichts vermerkt: „Iérüsalem / ém Krieschsummer, / 1982“ (2006: 39). Teile des Gedichts sind übersetzt in der zweisprachigen Ausgabe „Heimat des Hauches“ (Vigée 1985: 88-109). 122 Rudolf Helmstetter geben an die Kinder des heutigen Elsass : „Séng numme mét, min kénd, / wenn de aa-nix drvun veschtehsch“ („Sing nur mit, mein Kind, / wenn du auch nichts davon verstehst“) (2008: 16). Am Ende wendet sich das Gedicht an die Kinder im Bischwiller Kindergarten und ermutigt sie, ihre Mundart zu sprechen und mit eigenen Worten zu singen: „Jetzt dröje n'ièhr wédder emool / mét éjere ajeni werder singe" (2008: 39). Mit der Ermutigung zu den eigenen Worten („ajeni werder“) endet das Gedicht, zuvor aber sind noch zwei Verse auf Französisch eingefügt 54 , „fremde“ Worte also, die zeigen, dass für den Sprecher des Gedichts das „ajeni“ nicht auf ein bestimmtes Idiom beschränkt ist: „Tu vas, triste et serieux, tel un notaire en deuil, / qui marche, à pas de vieux, derrière son cercueil.“ Dann geht das Gedicht, nach einem Absatz, ins Elsässische über und auf Elsässisch weiter: „Lièwer luschdi un frei [...] uff elsässisch ànnezegàckse, / wie en démm ussgedrawene franzeesche gehrock, / odder gár noch ém verlodderte / painli àngelehrde schüelmaischders-hoochditsch“ (2008: 38). 4.2 M i d r a s c h und Heimat im Wortspiel Um mit einer weiteren Verfremdung und Dekonstruktion des „Eigenen“ und der Heimat zu schließen: Vigées Gedicht „Soufflenheim“ verdankt sich dem Verfahren, das die Rhetorik als Paronomasie kennt. Vigée selbst hat in diesem Zusammenhang ein Konzept des jüdischen Sprachdenkens angeführt, den M id r a s c h . 55 54 An vielen Stellen des elsässischen Gedichts sind deutsche und französische Elemente eingefügt, z.B. „Heil dir im Siegerkrànz“ [sic] / „Edel sey der Mensch, / Hülfreich und gut“, „Frisch, Gesellen, seid zur Hand“, „Der Geist sucht in der Welt überall seine Nahrung“ (2008: 12, 25, 26, 28). In „Terre sans hommes“ erhebt sich nach dem Vers „Les enfants vont luger sur la colline blanche“ auf Deutsch die Frage: „O Schneewelt der Kindheit, / Darfst du noch schweigend singen? “ (1985: 28). Auch in Vigées französischer Lyrik finden sich immer wieder Verse aus einer oder mehreren fremden Sprachen, so z.B. Französisch, Hebräisch und Deutsch in dem Gedicht „Par Hasard“: „ça c'est fait par hasard / Ehéiéh asher éhéiéh / Pour nous depuis Auschwitz / l'holocaust est perpetuel / les corps sont ceux de nos enfants / brulés vifs / soufflés / déchiquetés / ein Tag ein Wort des Gesanges / der steinernen Zukunft / abgerungen“ (1985: 52). 55 Midrasch bedeutet so viel wie ‚andere/ neue Deutung‘ - man wird vermutlich den Subtilitäten der Kabbalistik nicht gerecht, wenn man den Midrasch nur als figura etymologica oder als Paronomasie versteht. Vergleiche Vigées Erläuterung zu „Soufflenheim“: „Von einer völlig imaginären Etymologie ausgehend, indem ich ein wenig mit den Bedeutungen, den Sprachen und Wurzeln selbst der Wörter spielte, konnte ich so nach altbewährter Art der Meister des Talmud einen ganz neuen Mi- Heimat, Diaspora, Exil 123 „Soufflenheim“ ist der Name eines Ortes im Elsass (unweit von Straßburg), dem Vigée eine paronomastische Ausdeutung und Umdeutung angedeihen lässt. Er li e s t den Namen dieses Ortes und hört dabei etwas heraus, was keine realtoponymische Referenz beansprucht: (frz.) Souffle = (dt.) Hauch. Damit wird aus Soufflenheim also Heimat des Hauches - und diese „Übersetzung“ erscheint auch unvermittelt als einzelner erratischer deutscher Vers in der letzten Strophe des Gedichts: „Heimat des Hauches, endlos - / sans rives ni frontières / la rivière du souffle coule / taciturne“ (1985: 66). Mit dieser poetischen Semantisierung, einem paradox-doppelsinnigen Wortspiel, wird die Besetzung von Orten und Worten mit „Heimat“-Gefühlen ad absurdum geführt, denn die Referenzialisierung einer Paronomasie suspendiert zugleich die geographische Referenzialität: Hat der Hauch (oder besser Atem - in der Übersetzung geht die Körperlichkeit des Atems und Atmens zugunsten einer müßigen Alliteration verloren) eine Heimat, könnte ein bestimmter Ort realistischerweise und rechtens Atemheim oder Heimat des Atems heißen - oder nicht vielmehr jeglicher? Dieses Paradox impliziert ein ganz und gar deterritorialisiertes Konzept von Heimat: Heimat als der Ort, wo man atmet, wo Menschen atmen und Atem schöpfen können. Der Atem selbst als Heimat - oder: der Atem hat keine Heimat - oder: die Heimat des Atems ist überall. Der Atem ist vorsprachlich, vor den Wörtern und Sätzen, vor den Sprachen und noch vor den Mundarten, also auch vor- und übernational. Zugleich stellt sich dieser semantische Effekt aber nur in der Interferenz zweier Sprachen ein - oder durch eine poetische Ausdeutung eines toponymischen Fundes, die in einer der Sprachen allein nicht möglich wäre, eine Deutung, die zugleich offen ihre Arbitrarität, ihre wortspielerische Willkür zeigt. Diese ingeniöse Namenshermeneutik hat nur die Autorität der Poesie hinter sich, keine Sprachgemeinschaft, kein Lexikon oder Idiotikon, kein Territorium - sie ist dezidiert idiosynkratisch (und doch ist sie aus dem Zentrum der polyglossischen Sprache gebildet). Die Ausdeutung von Soufflenheim als Heimat des Hauches evoziert Heimat i m W o rt s pi e l und vollzieht auch eine poetische Verabschiedung und Dekonstruktion von „Heimat“ im landläufigen Sinn. Wortspiele setzen allerdings die Beheimatung in mindestens e in e r Sprache voraus. Mit dem auf der Landkarte zu findenden Ort Soufflenheim hat dieser Midrasch nichts mehr zu tun, die „Übersetzung“ als Heim(at) des Atems legt eine andere, nichtgeographische, para- oder transterritoriale Landkarte an, die jenseits von geographischen Zendrash erfinden“ (Vigée 1985: 167). Das Verfahren war - ohne diesen kabbalistischen oder rhetorischen Terminus - auch im Elsass bekannt: Vigée erzählt von einer volksläufigen Namensdeutung von „Bischwiler“ als „bisch wie leer“ (Vigée 1998a: 81). 124 Rudolf Helmstetter tren und Peripherien „Orte des Irrens“ verzeichnet. In Vigées Gedicht „Nachtzug im Elsaß“ finden sich die Verse: „du wirst nicht mehr bei dir zu Haus / im Elsaß leben eines Tages. / Suche dich in Orten des Irrens, / die du nicht kennst! “ (1985: 75). 5 Literatur Assall, Paul (1984): Juden im Elsaß. Moos. Bausinger, Hermann (1976): Deutsch für Deutsche. Dialekte, Sprachbarrieren, Sondersprachen. Frankfurt am Main. Besch, Werner (1982): Entstehung und Ausprägung der binnensprachlichen Diglossie im Deutschen. In: Besch, Werner u.a. (Hrsg.): Dialektologie. Ein Handbuch zur deutschen und allgemeinen Dialektforschung. Berlin/ New York. (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft; 1.2). S. 1399-1411. Certeau, Michel de (1988): Kunst des Handelns. Berlin. Dünne, Jörg/ Günzel, Stephan (Hrsg. in Zusammenarbeit mit Hermann Doetsch und Roger Lüdeke) (2006): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt am Main. Goethe, Johann Wolfgang von (1988): Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. 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Bei Konstantinović/ Rinner (2003) erscheint die Literaturgeschichte Mitteleuropas noch als bloße Ansammlung nebeneinander existierender nationaler Literaturgeschichten, die miteinander v.a. das gemeinsame Eingebundensein in den Herrschaftsverbund der Habsburger verknüpft. Aber ist deren Herrschaftsgebiet so einfach mit „Mitteleuropa“ gleichzusetzen? Müsste dann nicht auch italienische oder belgische Literatur Teil mitteleuropäischer Literaturgeschichte sein, während die Literaturen der Sorben oder der baltischen Völker nichts mit Mitteleuropa zu tun hätten? Falls es eine mitteleuropäische Literatur gibt, muss diese über die Sprachgrenzen hinweg auf literarischen, also inhaltlichen und formalen Gemeinsamkeiten der zugehörigen Literaturen, aber auch ähnlichen Funktionen der Literaturen innerhalb ihres politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Umfeldes beruhen. Diese sollten sich wiederum auf eine gemeinsame Erfahrungsbasis (und natürlich auch wechselseitige Beeinflussung) zurückführen lassen. Dabei kann es nicht so sehr um einzelne Texte als um gemeinsame Muster innerhalb des Gesamtbildes der Literaturen insgesamt gehen: Sind bestimmte Arten von Texten, bestimmte Fragestellungen, bestimmte Formen in hinreichendem Maße in den jeweiligen Literaturen vertreten, um diese derselben Großgruppe „mitteleuropäische Literatur“ zuordnen zu können? Dabei kann keine nach außen abgeschlossene Einheit einer mitteleuropäischen Literatur unterstellt 128 Jürgen Joachimsthaler werden, da die Literaturen Mitteleuropas mit ihren Nachbarliteraturen auch außerhalb eines wie auch immer eingegrenzten Mitteleuropas interagieren, aber man müsste doch ein Feld besonderer Verdichtung spezifischer gemeinsamer Merkmale feststellen können, das es trotz notwendig unscharfer Ränder erlaubt, so etwas wie eine für die Literatur(en) Mitteleuropas spezifische Schnittmenge zu definieren. Im Folgenden soll versucht werden, einen noch ersten Schritt in eine solche Richtung zu gehen und einige solcher Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten - angesichts der Kürze des zur Verfügung stehenden Platzes kann dies nur unvollständig und aus dem Grund auch ungleichgewichtig erfolgen, weil zugleich gezeigt werden soll, dass auch die deutsche Literatur diesem Ensemble zugehört, da sie alle wesentlichen Eigenschaften der anderen Literaturen Mitteleuropas teilt. Im Gegensatz zum methodologisch verdienstvollen, aus pragmatischen Gründen jedoch auf die deutschsprachige Literatur eingeschränkten literatursoziologischen Definitionsversuch von Stüben (2013) soll im vorliegenden Beitrag dabei dennoch versucht werden, von der Vielfalt der Gegenstandsebene, den vielen Literaturen Mitteleuropas auszugehen und diese immer im Blick zu behalten. 2 Koloniale Konfiguration Zu den topoi vieler nationaler Literaturgeschichten Mitteleuropas gehört die Hervorhebung des widerständigen und emanzipativen Wertes der betreffenden Literatur für die jeweilige kulturelle Einheit: Gegen Germanisierungs-, Russifizierungs-, Magyarisierungs- oder Polonisierungsbestrebungen sicherten die polnische, die sorbische, die litauische, die slowakische oder die kaschubische Literatur, um nur einige exemplarisch zu nennen, die jeweilige kulturelle Identität. Dass sie politischer, manchmal auch kultureller Übermacht abgerungen werden mussten, hat sich tief in ihre Verfasstheit eingeschrieben und prägt Handlungen, Textgestalt und Sprache. In dieser Aufzählung ist bewusst eine, die polnische Kultur - aber sie wäre austauschbar gewesen -, auf beiden Seiten platziert, um damit exemplarisch zu zeigen, dass diese Literaturen sich dabei in einer Art „Sandwich“-Lage befanden: Stärkeren Mächten gegenüber mussten sie um Bewahrung ihrer Sprache und Kultur kämpfen, indem sie sich gegen teilweise aggressive Assimilationsforderungen zur Wehr setzten, zugleich waren sie schon um dieser Identitätssicherung willen dazu gezwungen, ihrerseits nach innen, also all denen gegenüber, die sie der jeweils eigenen Nation oder Gruppe zurechneten, mit der Forderung aufzutreten, sich dem jeweiligen Konzept der Nation anzupassen, also z.B. die jeweilige Nationalsprache, ggf. in ihrer als gültig kodifizierten Form, zu gebrauchen. Dies galt verschärft überall dort, wo es „Abweichungen“ gab, die das Potenzial in sich trugen, ihrerseits Literatur(en) im Identitätsk(r)ampf 129 eine eigene kulturelle Identität für sich zu reklamieren wie im Falle Oberschlesiens (vgl. Joachimsthaler 2011: Bd. 2, 264ff.), dessen regionale Besonderheit als kulturelles Mischgebiet deutsche wie polnische Nationalbewegung zu verschärfter kultureller Intervention anregte. Ein anderes Beispiel für die potenzielle Sprengkraft irregulärer Identitätskonzepte böten die Slowaken (vgl. Sedlák 2009, Bd. 1) im damaligen Königreich Ungarn (das sich wiederum innerhalb des Herrschaftsverbundes der Habsburger erst gegen als „deutsch“ empfundene österreichische Übermacht zu konsolidieren hatte, vgl. Gergely 1987). In Livland wurde innerhalb der langsam erst entstehenden, noch staatenlosen lettischen Nation unter dem doppelten Druck von Germanisierungs- und Russifizierungsbestrebungen die bereits existierende lettgallische Schriftsprache delegitimiert, in Litauen teilte die schemaitische dasselbe Schicksal (vgl. Kessler, Stephan 2012), das Verhältnis des Kroatischen zum Serbischen schließlich war gar Gegenstand beständiger sprachpolitischer Reflexion von unterschiedlichen nationalen Selbstdefinitionen aus, vor vereinheitlichenden (oder differenzierenden) Eingriffen in beide Sprachen wurde nicht zurückgescheut (vgl. Kessler, Wolfgang 2012). Die Entscheidung für die Verwendung einer bestimmten Sprache bzw. Sprachvarietät trägt nationalpolitische Bedeutung in den Literaturen Mitteleuropas. Das Verhältnis zwischen machtpolitisch überlegenen und schwächeren kulturellen Gefügen war dabei nicht nur ein bloßes Gegeneinander, sondern aufgrund vielfältiger Kontakte durch Interferenzen in beide Richtungen gekennzeichnet. Viele Autoren wurden sozialisiert zunächst in der überlegenen Kultur, ehe sie von dieser aus, oft gar in dieser, gegen diese opponierten. Der litauische Schriftsteller Vyd ȗ nas z.B. wuchs unter dem Namen Wilhelm Storost vor dem Ersten Weltkrieg im zu Ostpreußen gehörenden Kleinlitauen auf und wurde deutsch sozialisiert, ehe er sich zu einem der bedeutendsten Dichter litauischer Zunge entwickelte. In seinem von autobiographischen Erzählungen angereicherten deutschsprachigen Buch „Sieben Hundert Jahre deutsch-litauischer Beziehungen“ spricht eine Figur: „Meine Eltern waren wohl Litauer, ich aber bin ein Deutscher“ (Vyd ȗ nas 1932: 339). In ähnlicher Weise entwickelte sich die weißrussische Literatur unter maßgeblichem Einfluss der polnischen, während die slowakische sich - zunächst auch sprachlich - an die tschechische anlehnte, um dem Übergewicht der ungarischen Kultur zu entgehen. Gerade Literaturen, deren Sprachen zu Beginn des 18. Jahrhunderts noch nicht umfassend verschriftet waren, waren angewiesen auf Anregungen von außen, die oft gerade aus der Bildungssphäre kamen, gegen die dann kulturelle Autarkie beansprucht wurde unter Rückgriff auf eben die Konzepte von Nation, Volk usw., die die dominante Kultur überhaupt erst zur Verfügung gestellt hatte. Nationen sind Übersetzungen (vgl. Kortländer/ Singh 2011, Boguna 2014), die die Erinnerung an die Vorlage, deren Nachahmung sie sich verdanken, zu til- 130 Jürgen Joachimsthaler gen versuchen (wobei auch diese Vorlage wiederum nur abgeleitet ist: Es gibt kein zugängliches Original einer „ersten“ Kultur). Alle heute existierenden Schriftsprachen Mitteleuropas entstanden ja in Folge der Christianisierung, spätestens der Reformation. Die Literatursprachen entstanden dabei nicht von sich aus, sondern durch Übersetzung heiliger Texte oder Übernahme von Textmustern und -praktiken aus anderen, „fortgeschritteneren“ Ländern. Teilweise vorhandene ältere Traditionen wie germanische Runen oder altungarische Rovásírás wurden funktionslos und starben ab. Im 18. und 19. Jahrhundert traten solche Asymmetrien im Zuge eines beschleunigten Technik- und Wissenstransfers von West (England und Frankreich) nach Ost unter nun nationalen Vorzeichen verschärft auf, weil mit ihm Überlegenheitsansprüche und politische Dominanzbestrebungen einhergehen konnten, die wiederum kulturellen Widerstand auslösten, der vorrangig von Schriftstellern und Gelehrten ausging. Nicht selten wandten diese sich dabei mit deren Mitteln gegen die „fortschrittlichere“ Bildungswelt, in der sie zuvor ausgebildet worden waren. Durch dieses Wechselspiel mit den dominanten Kulturen sind die Literaturen Mitteleuropas gekennzeichnet von einer Hybridisierung, wie sie im Zuge der postcolonial studies als typisches Ergebnis kolonialer Beeinflussung herausgearbeitet wurde (vgl. Bhabha 2000). Dieser als entfremdend erfahrenen „Vermischung“ wird - oft als Lebensauftrag literarischer Helden - die Suche nach einem „Eigenen“ entgegengestellt, die der Suche nach dem auf ewig unzugänglichen transzendentalen Signifikat (Derrida 1983: 38) gleicht und deshalb mit Setzungen und Konstruktionen arbeiten muss, die der Nation, dieser „vorgestellten Gemeinschaft“ (Anderson 1983) und ihrer Mitgliedern überhaupt erst ein Bild ermöglicht von dem, was sie sein soll. Gerade in Mitteleuropa schien deren Existenz aufgrund des zeitweisen Fehlens eines eigenen Staates ja prekär und oft zweifelhaft: Im Jahre 1850 verfügte in Mitteleuropa keine einzige Nation über „ihren“ Staat. Mit umso größerer Inbrunst musste ein „reiner Kern“ der jeweiligen Nation behauptet werden. 3 „Das Volk“ Die erstrebte nationale Eigentlichkeit sollte sich aus alten Überlieferungen ableiten lassen, die in Volksüberlieferungen aufbewahrt seien. Die für Mitteleuropa typische Suche nach Volksliedern, mündlichen Traditionen und Resten eines angeblich verlorenen Nationalepos aus vorchristlicher Zeit zeugt von der eigenartigen Gewissheit, dass, wer über eine nationale Vergangenheit verfüge, auch das Recht auf nationale Gegenwart und Zukunft besitze. Längst funktionslos gewordenes Altes erhielt nun nationale Weihe, sogar für die Runen und die Rovásírás entwickelte sich in völkischen Kreisen identitätspolitisches Inte- Literatur(en) im Identitätsk(r)ampf 131 resse, ohne dass diesen tatsächlich reale Funktion in den modernen Gesellschaften zugewachsen wäre. In Märchen wurden seit den in ganz Mitteleuropa rasch nachgeahmten Brüdern Grimm nicht mehr lustvolle Fabulationen vom sozialen Rand der gebildeten Welt erblickt wie noch bei Basile und Perrault, sondern Zeugnisse nationaler Eigenart, Ausdruck des „Volkes“ in seiner reinsten Form (auch wenn die Märchen der Brüder Grimm tatsächlich großenteils auf französisches Bildungsgut zurückgingen, vgl. Rölleke 2011). Mit diesem Rückgriff auf eine angebliche Dichtung des „Volkes“ wurden - von Land zu Land erstaunlich ähnliche - Bilder desselben konstruiert, dem die realen Bevölkerungen durch Bildungskonzepte, „innere Kolonisation“ (vgl. Sering 1893) und alle Formen pädagogischer und sozialer Bearbeitung noch angepasst werden mussten. In diesen Volkskonzepten, die doch ein „Eigenes“ in ursprünglicher „Reinheit“ freilegen sollten, wiederholte sich letztlich das Dilemma kultureller Überformung, aus dem sie befreien sollten: Die Volksarbeiter selbst standen als dessen Kulturingenieure einem zu bearbeitenden Volk gegenüber, dem sie gerne angehört hätten und dem sie als dessen Bearbeiter doch immer schon so unüberschreitbar anders gegenüberstehen mussten wie jedes Subjekt seinem Objekt. Bereits bei Herder ist dem Begriff „Volk“ eine instrumentelle Dimension einverschrieben: Und doch sind selbst in Europa noch eine Reihe Nationen, auf diese Weise unbenutzt, unbeschrieben. Esten und Letten, Wenden und Slawen, Polen und Russen, Friesen und Preußen - ihre Gesänge der Art sind nicht [...] gesammlet“ (Herder 1777: 382f.). Dieser eigenartige Blick auf „Volk“ als Werkzeug volkskonzeptioneller Benutzung erklärt sich daher, dass Herder im Baltikum auf die Volkslieder gestoßen war, die dort schon länger von den deutschsprachigen Pfarrern gesammelt worden waren, weil diese sich mit der Sprache ihrer Gemeindemitglieder, der leibeigenen lettisch- und estnischsprachigen Bauern in den einst von den Ordensrittern zwangsmissionierten Gebieten, auseinandersetzen und in diese einarbeiten mussten, um überhaupt zu ihnen sprechen und predigen zu können. Die Tradition der Volksliedsammlungen Mitteleuropas ist deshalb so von Anfang an kontaminiert durch einen Blick von oben herab auf „das Volk“ (vgl. Joachimsthaler 2009; 2011: Bd. 1, 235-249). Der litauische Schriftsteller Vydûnas (1932: 308) klagte: Nur daß [...] sich hauptsächlich deutsche Geistliche mit der Abfassung von litauischen Liedern, Gebeten usw. befaßten, könnte dem Litauischen nicht gerade förderlich gewesen sein. [...] Und wenn man Berichte über die Geistlichen in unserer Heimat liest, die Liedertexte prüften, so ist es schwer, sich eines quälenden Gefühles zu erwehren. 132 Jürgen Joachimsthaler Damit war den Volksliedern auf funktionaler Ebene eine koloniale Distanz einverschrieben, die sich mit Herders Romantisierung des Lieder singenden Volkes über ganz Europa ausbreitete. Die Volksliedsammler, Achim von Arnim und Clemens Brentano für den deutschsprachigen Raum, Karel Jaromír Erben für die Tschechen, Jan Arnošt Smoler (deutsch Johann Ernst Schmaler) für die Sorben, Oskar Kolberg für die Polen, Jan bzw. (slowakisch) Ján Kollár mit panslawistischer Intention für alle Slawen, Béla Vikár für die Ungarn usw., wenden sich zwar dem „eigenen“ Volk zu, bleiben dabei aber zugleich dessen ihm überlegene Former und Gestalter (auch wenn sie sich ihm gerne selbst zurechnen würden). Ihre Aufgabe ist ja die Entwicklung eines Volkes, das in ihrem Bewusstsein noch gar nicht richtig existiert. „Volk“ und Nation sind Projekte, müssen erst entwickelt werden. Die für die Tugend des teutschen Geschlechts zunächst wichtigsten Dinge wären für das Innerliche wie das Aeußerliche eine teutsche Sprache und eine teutsche Kleidertracht (Arndt 1814: 49). Aufgrund dieser Entwicklung durchzieht eine mit nationaler Bedeutung aufgeladene folkloristische Schicht alle Literaturgeschichten Mitteleuropas, Textsorten wie Märchen oder Volkslied finden dort ihren Platz durch deren „Entdeckung“ durch die gebildeten Bearbeiter des „Volks“ - nicht die immer schon vorhandene mündlich verbreitete orale Kultur steht im Mittelpunkt des Interesses der jeweiligen Literaturgeschichtsschreibung, sondern die Aufbereitung derselben meist während der „romantischen“ Phase der einzelnen Literaturen. 4 Mitteleuropäische Mythenbildung Diese „Volksdichtung“ wurde gerne betrachtet als letzter Überrest eines durch kulturelle Überformung fast verloren gegangenen Zustandes ursprünglicher kultureller Reinheit, der bis in die Zeit vor der manchmal als Überfremdung dargestellten Christianisierung zurückreichen sollte. Nun gab es - im Gegensatz zur romanischen Welt - nirgendwo schriftliche Überlieferungen, die so weit zurückreichten, was es erleichterte, die Volksüberlieferungen als entsprechende Relikte zu missdeuten. Aus diesen sollte - auch dies ein Konzept Herders (vgl. Graubner 2011) - Spuren eines ursprünglichen, dem jeweiligen Volk eigenen Epos herausgearbeitet werden. In Deutschland wurde deshalb einerseits das Nibelungenlied zum Nationalepos erhoben, andererseits fungierte die Märchensammlung der Brüder Grimm ihrerseits als eine Art nationaler Epos- Ersatz (vgl. Detering 2011). Literatur(en) im Identitätsk(r)ampf 133 Auf Echtheit muss nur pochen, wer Angst haben muss, seiner Kultur beraubt zu werden. Die unter Assimilierungsdruck stehenden literarischen Nationalentwürfe Mitteleuropas sehen einander deshalb so ähnlich, weil sie diese Angst teilten. Eine Rezeptionslinie dieses Konzepts verdient es, als besonders markant (und wirkungsvoll) genauer verfolgt zu werden, auch wenn sie kurz von Mitteleuropa hinwegzuführen scheint: In dem seit 1809 russischen Finnland, das zuvor stark schwedisiert war, setzte eine Finnisierungsbewegung ein, in deren Folge Elias Lönnrot - sein Name war noch selbstverständlich schwedisch -, der mit Jacob Grimm in Kontakt stand, in entlegenen Regionen Volkslieder sammelte, um aus diesen ein finnisches Nationalepos, das Kalevala ([Lönnrot] 1835/ 2005) zu rekonstruieren. Dessen Erfolg war übernational überwältigend (noch Tolkiens „Herr der Ringe“ zehrt von dessen Motiven), in Estland wurde von der „Gelehrten estnischen Gesellschaft“ eigens eine Kommission eingesetzt, die nach finnischem Vorbild ein estnisches Nationalepos gestalten sollte, angeregt von Georg Julius von Schultz, vorangetrieben von Friedrich Robert Fählmann, vollendet von Friedrich Reinhold Kreutzwald, publiziert ohne Nennung des (bekannten) Hauptverfassers in deutscher und estnischer Sprache in den „Verhandlungen der gelehrten Estnischen Gesellschaft“ ([Kreutzwald] 1857). Auch in diesem Fall verraten schon die Namen, dass die Arbeit an der neuen Nation von Menschen vorangetrieben wurde, die noch in der zuvor dominanten Kultur sozialisiert worden waren. Das Konzept wurde weitergereicht zu den Letten, wo Andrejs Pumpurs nach finnischem und estnischem Vorbild mit „Lāčplēsis“ (Pumpurs 1888/ 1995) ein Nationalepos schuf, das seinerseits auch stark beeinflusst war von Garlieb Merkels „Wannem Ymanta“ (1802), einer „lettischen Legende“, mit der Merkel als Gegner der Leibeigenschaft in Livland bereits 1802 eine lettische Vorgeschichte (in deutscher Sprache) zu entwerfen versucht hatte - damals allerdings noch nicht gerichtet an Letten (die noch leibeigene Bauern und in der Regel des Lesens und Schreibens unkundig waren), sondern an den Zaren Alexander I., dem bewusst gemacht werden sollte, dass die Leibeigenschaft im Baltikum nicht „nur“ Bauern beträfe, sondern ein ganzes Volk unterdrücke, dessen stolze Vorgeschichte Merkel in seinen Texten erfand und die dann Jahrzehnte später von den Protagonisten der lettischen Nationalbewegung aufgegriffen und weiterentwickelt wurde (vgl. Boguna 2014). Doch das Kalevala wurde nicht nur im Baltikum rezipiert, in Ungarn z.B. inspirierte es Béla Vikár, der es sogar ins Ungarische übersetzte und seinerseits ungarische Volkslieder sammelte. Jedes Volk glaubte bald, über ein eigenes Nationalepos verfügen zu müssen, auch wenn diese Texte nur symbolische Funktion hatten und oft kaum bzw. nur in verkürzter Form etwa von Einträgen in Enzyklopädien und Lexika des nationalen Wissens gelesen wurden (vgl. Taterka 2011). Nicht überall freilich konnte ein Text sich durchsetzen, nicht überall folgte ein als Nationalepos 134 Jürgen Joachimsthaler durchgesetzter Text schließlich dem mythisch archaisierenden Muster. In einigen Fällen wurden epische Texte mit gegenwartsnaher Handlung von hohem literarischen Wert zu einem solchen Nationalepos erhoben wie im Falle Polens Adam Mickiewiczs „Pan Tadeusz“, für Ungarn plante Liszt Ferencz (außerhalb Ungarns Franz Liszt) ein Nationalepos in Tönen (vgl. Altenburg 1986), nachdem schon Vörösmarty Mihály mit „Zalán futása“ (Vörösmarty 1825) ein ungarisches Nationalepos geschaffen zu haben beanspruchte. Für die Rumänen schrieb Ion Budai-Deleanu mit „Tiganiada sau tabăra ţiganilor“ („Das Zigeunerlager“, 1. Fassung 1800, hier zit. nach der Ausgabe Budai-Deleanu 2001) bereits 1800 ein eher burleskes Epos mit nationalem Anspruch, für die Kaschuben schuf Derdowski 1880 ein ähnliches (Derdowski 1880/ 1975). In Tschechien wurden mangels anderer Texte angeblich sehr alte tschechische Texte (Königinberger Handschrift, Grünberger Handschrift) einfach gefälscht. 5 Dominante vs. minoritäre Literaturen? Das Beispiel Deutschland Aus Sicht des späten 19. und des frühen 20. Jahrhunderts erscheinen die nationalen Bewegungen dabei in steter Abwehr vorrangig gegen Germanisierungs- und Russifizierungsbestrebungen begriffen - Deutschland und Russland wirkten ja tatsächlich als bedrohliche Rand- und Rahmenmächte Mitteleuropas, die dieses, soweit es nicht in der vergleichsweise milden K.-u.-k.-Monarchie verblieb, in Einflusssphären aufgeteilt hatten und die Menschen nun sprachlich und kulturell dem jeweiligen Reich anzupassen versuchten. Darüber wird freilich leicht übersehen, dass die deutsche und zum Teil sogar auch die russische Literatur und Kultur sich nach Ansicht führender Schriftsteller ihrerseits in einem defensiven Abwehrkampf gegen äußere Übermacht wie gegen innere Bedrohung durch nicht assimilierte Angehörige anderer Kulturen befanden. Die Konsolidierungsbestrebungen, die zur Zwangsassimilation aller im eigenen Machtbereich bzw. Staatsgebiet lebenden anderssprachigen Menschen tendierten, gingen auch hier einher mit einer Abwehrhaltung nach außen, die mit dem Bewusstsein verbunden waren, etwas „Eigenes“ verteidigen zu müssen - und zwar nicht nur, wie die „Wacht am Rhein“ beschwor, gegen militärische Bedrohung, sondern auch gegen kulturelle. Für Russland verweise ich hier nur kurz auf den innerrussischen Konflikt zwischen „Westlern“ (Западник, zapadnik) einerseits, Slawophilen andererseits, deren Gegensatz tatsächlich die inneren Spannungen widerspiegelte, die die seit Peter dem Großen teilweise brutal durchgeführte Zwangsmodernisierung mit sich brachte. So wenig Russland real von Westeuropa (zu dem in diesem Fall auch Deutschland zählte) bedroht war - der Sieg über Napoleon hatte ja noch einmal eindringlich die Unmöglichkeit bewiesen, Russland ernsthaft Literatur(en) im Identitätsk(r)ampf 135 vom Westen aus in die Knie zu zwingen -, so sehr empfanden viele Russen den kulturellen Einfluss des Westens als eine Bedrohung, wobei sie als „westlich“ oft alle Zumutungen ablehnten, die Modernisierung und ökonomische Entwicklung unvermeidlich mit sich brachten. Für unsere Zwecke wichtiger ist die in vieler Hinsicht exemplarische deutschsprachige Literatur, die immer schon anders auf den als übermächtig erfahrenen Westen Europas, insbesondere Frankreich, als auf den Osten, insbesondere Polen, reagiert hatte. Zwischen Nachahmungs- und Absonderungswunsch schwankend, orientierte sich Deutschland nach der Ära der Glaubenskriege lange Zeit an der kulturell führenden Nation Europas, an Frankreich. Nicht der wirtschaftliche, ökonomische, kulturelle und wissenschaftliche Vorsprung, den Frankreich gegenüber seinem durch den Dreißigjährigen Krieg um Jahrzehnte zurückgeworfenen östlichen Nachbarn hatte, wurde zum Problem, sondern, durchaus analog zu Russland, dass das französische Vorbild im Zeitalter des Absolutismus auch von den Fürsten in Deutschland auf eine Art und Weise nachgeahmt wurde, die vom Bürgertum langsam als national frustrierend erfahren wurde. Kulturelle Modernisierung erschien auch hier als von oben verordneter Anpassungszwang. Friedrich II., immerhin König von Preußen, warf in seiner viel diskutierten - in französischer Sprache verfassten - Schrift „De la littérature allemande“ (1780) den Deutschen vor, nicht entwickelt genug zum Verfassen eigenständiger Literatur zu sein, solange sie nicht ihr Bildungswesen radikal reformierten - aber dieses Ziel seiner Argumentation ging schon unter im empörten Aufschrei über seine Äußerung. (Bezeichnenderweise war Preußen in Deutschland der Staat, der am konsequentesten auf Bildung, man kann auch sagen: auf bildungstechnische Formierung der eigenen Bevölkerung, Wert legte - zu der dann auch die Germanisierungspolitik gegenüber anderssprachigen Bevölkerungsteilen gehören sollte). Verkürzt auf einige Formulierungen wurde Friedrichs Schrift Anlass heftiger Polemiken, in denen sich bereits älteres Unbehagen über den gerade in Preußen beachtlichen französischen Einfluss (Schopenhauer 1839: 100) ausdrückte. Gottfried August Bürger hatte bereits im Göttinger Musenalmanach auf das Jahr 1773 gedichtet: „Mein Friedrich braucht zu seinem ganzen / Regierungswesen lauter Franzen“ (Bürger 1997: 151). Die Reaktionen auf Friedrich verraten einen verletzten National- und Literaturstolz vorrangig der Schriftsteller selbst, der allein aber den antifranzösischen Impetus der deutschen Literatur seit dem Sturm und Drang nicht zu erklären vermag: Die Ablehnung des französischen Klassizismus trug deutlich antihöfische Züge, was noch keineswegs national gedacht war (Rousseau und zeitweise Diderot fanden ja durchaus Gnade bei der jungen Generation), zum Ersatz wurde Shakespeare eingedeutscht und eine an ihm festgemachte antiklassizistische Ästhetik zum nationalen Merkmal hochstilisiert, die literarische Techniken zu nationalisieren und damit aus einem 136 Jürgen Joachimsthaler angeblichen Nationalcharakter heraus zu erklären erlaubte. Die Versuche, dem Übergewicht der höfischen französischen Kultur ein „Eigenes“ entgegenzusetzen, führten zu Konstruktionen eines „Deutschen“, das eklektisch zusammengesetzt war aus einer Vielzahl „fremder“ Anregungen. Klopstock z.B. versuchte mit „Hermanns Schlacht“ 1769 ein vaterländisches Drama zu schaffen, das unter den Germanen spielte, über die es doch kaum Wissen gab - also bediente er sich bei den reichhaltigeren antiken Überlieferungen ausgerechnet über die Gallier und bastelte sich daraus sein Bild der Germanen (vgl. die Quellenangaben Klopstocks in der Ausgabe Klopstock 1854: 363-376). Herders anonym erschienene, aber wirkungsmächtige Anthologie „Von deutscher Art und Kunst“ ([Herder] 1773) enthält Texte über Shakespeare, Ossian und die Volkslieder anderer Völker; dies alles diente dann als Baustein bei der Konstruktion neuer Vorstellungen davon, was „deutsch“ sein sollte. Nationale Brisanz erhält dies alles im Zuge der napoleonischen Eroberungen und der Befreiungskriege, die von einigen Protagonisten deutscher Literatur als lebensbedrohlich empfunden wurde. Literatur wurde damit zum Überlebensmedium der Nation. Erhebliche Teile der deutschen Literaturszene befanden sich mental in einem Abwehrkampf, in dem es nicht mehr nur um Politisches ging. Fichte beantwortete seine Frage, „[o]b es ein sicheres und durchgreifendes Mittel gebe zur Erhaltung der deutschen Nation“ (Fichte 1808: 390) gäbe, mit der Betonung der Besonderheit der deutschen Sprache und warnte zugleich, ohne eigenen Staat könne auch die deutsche Literatur die deutsche Sprache und damit die Nation nicht vor der Auflösung wahren, verlöre diese doch so ihre Eingriffsmöglichkeiten in Staat und Politik und damit den Kontakt zu allem, worüber im dann in anderer Sprache verwalteten Staat diskutiert werde. Ohne eigenen Staat würde deshalb auch die deutsche Literatur verschwinden. Der Schriftsteller will ursprünglich und aus der Wurzel des geistigen Lebens heraus denken, für diejenigen, die ebenso ursprünglich wirken, d.i. regieren. Er kann deshalb nur in einer solchen Sprache schreiben, in der auch die Regierenden denken, in einer Sprache, in der regiert wird [...]. Wer aber diesen Zwek hat, der muß schreiben in der Sprache des regierenden Volkes (Fichte 1808: 394). Fichte übersieht, dass er selbst gegen dieses Prinzip verstößt, wenn er sich eben nicht in französischer Sprache an die Besatzungsmacht, sondern in deutscher an „das Volk“ bzw. „die Nation“ richtet - freilich mit dem Appell, um einen eigenen Staat zu kämpfen. Dieser Kampf sei auch Aufgabe der deutschen Literatur (solange es noch eine solche gebe). Dies ist genau die Argumentation, mit der dann später unter umgekehrten Machtverhältnissen von deutscher Seite aus von den anderssprachigen Bevöl- Literatur(en) im Identitätsk(r)ampf 137 kerungsteilen in Preußen bzw. im Deutschen Reich gefordert werden konnte, sie sollten sich assimilieren, da ihr Staat sich als nicht lebensfähig erwiesen habe (vgl. Joachimsthaler 2011), was deren Widerstand nur umso mehr anstachelte. Vertreter dieser Minderheiten argumentierten dann ihrerseits sehr ähnlich wie Fichte. Eklatant wird dies bei den Sorben, die sich im 19. Jahrhundert erfolgreich um die Herausbildung einer eigenen Literatur bemühten, ohne doch realistische Aussicht darauf haben zu können, jemals in einem eigenen Staat leben zu können. Dieses Manko ist ihren nationalen Bemühungen von Anfang an einverschrieben und wird auf eine Art und Weise reflektiert, die sie zum unverzichtbaren Bestandteil jeder Reflexion über eine mitteleuropäische Literatur machen: Je mehr auf deutscher Seite der Umfang des Kultur- und Bildungsgutes an Breite und Tiefe zunahm, um so beschränkter mußte die Sprachfähigkeit und Ausdrucksmöglichkeit des Sorbischen erscheinen. Immer wieder hören wir von Klagen sorbischer Prediger und Lehrer über die Armut der Sprache, die an der allgemeinen Kulturbewegung nicht teilnahm, wofür die Schuld weder die Sorben noch die Deutschen trifft. Die niedersorbische Volkssprache war und blieb die Sprache des Hauses, der Familie und des Gemeindeverkehrs; sie ging über die örtliche bäuerliche Interessensphäre wenig hinaus. Nicht gering waren daher die Mühen, mit denen die Geistlichen selbst bei Predigten zu kämpfen hatten, ebenso bei der angestrebten Ausbildung einer Schriftsprache, die dann wiederum von den Dorfbewohnern kaum verstanden wurde. Wenn die Sorben später selbst öfter einen deutschen Unterricht für ihre Kinder verlangten, so deshalb, weil sie von seiner Notwendigkeit überzeugt waren. Das für den Hausgebrauch beibehaltene Sorbisch spielte dann wohl die Rolle einer Art Geheimsprache, der man sich in der Unterhaltung bediente, wenn man von den Deutschen nicht verstanden werden wollte (Lehmann 1963: 684). Nicht umsonst hatte Fichte (1808: 393) selbst bereits warnend auf die Sorben hingewiesen und die Befürchtung geäußert, den Deutschen könnte es wie den Sorben ergehen. In exakt derselben Weise, in der Fichte fast beschwörend versucht, den Charakter der deutschen Sprache als einen besonders „eigentlichen“ herauszuabeiten, den es in seiner Reinheit vor jeder Interferenz zu bewahren gelte, machte sich Jakub Bart-Ćišinski (1981a: 353). Gedanken über die Reinheit des Sorbischen. Lesen wir doch nach: Ganze Seiten kann man fast ohne Änderung und Umstellung ins Deutsche übersetzen. Es ist aber gerade ein Merkmal aller eigenständigen, vom Geist des Volkes geprägten Literatur, daß sie sich nur schwierig in eine andere Sprache übersetzen läßt. Eine gute, volkssprachlich schlichte Redewendung findet man in neueren Schriften nur selten. Die Worte scheinen zwar sor- 138 Jürgen Joachimsthaler bisch, doch der Geist ist deutsch; der Autor schreibt seine deutschen Gedanken auf Sorbisch nieder. Und er setzt dem unter Berufung auf eben jenes „Volk“ entgegen, dessen Konstruktion zu den gemeinamen Merkmalen mitteleuropäischer Literatur gehört: Die Verjüngung unserer Sprache, unseres Schrifttums muß von einem einzigen lebendigen Quell ausgehen − vom Volke selbst. Und diese Quelle entspringt in den Liedern, Märchen und Sprichwörtern des Volkes. Sie spiegeln das Denken und Fühlen des ganzen Volkes, sind das makellose Abbild des Nationalcharakters. Jeder Schriftsteller sollte diese lebendige Grammatik fleißig studieren, bis dieser Geist, der Geist des unverfälscht Sorbischen, völlig von ihm Besitz ergriffen hat, dann werden die Gedanken und Ideen, die seinem Geist entwachsen, sorbisch sein und seine Schriften lebendiger Ausdruck des Nationalcharakters (1981b: 354). Der sorbische Schriftsteller muss also erst sorbisch werden, in dem er sich in seine eigene Konstruktion des sorbischen „Volks“ versenkt und jene identifikatorische Verschmelzung mit ihm erreicht, die dem Subjekt mit seinem Objekt jedoch nie möglich sein wird. Die Arbeit am „Eigenen“ wird zum groß angelegten sprachlichen Arbeitsprogramm (vgl. auch Rostok 1861/ 1981: 256) - nicht nur bei den Sorben oder bei den Völkern, die erst im 19. Jahrhundert ihre eigene Literatursprache herauszubilden beginnen (baltische Völker, Weißrussen, Ukrainer, Kaschuben usw.), sondern auch bei den bereits länger literarisierten Völkern wie den Deutschen oder Polen, die aus dem Gefühl der Bedrohung der eigenen Kultur und Sprache heraus sich diesen mit gesondertem Interesse zuwenden und an großen nationalen Wörterbuchprojekten und Quellensammlungen zu arbeiten beginnen. Die Nation wird ins Buch gebannt. 6 Mimikry und Verrat Mitteleuropäische Literatur ist bei all dem gekennzeichnet durch einen oppositionellen, widerständigen Charakter, Fanatismus ist ihr nicht fremd und auch nicht ein Hass, der sich gleichermaßen gegen übermächtige „Bedroher“ und gegen schwächere „Abweichler“ richten kann. Ihr - aus heutiger Sicht - nach innen kolonialer und nach außen antikolonialer Charakter wird oft besonders deutlich an solchen Beispielen, die als Zeugnisse eines einseitigen Fanatismus in unserer Zeit eher Unbehagen auslösen. Heinrich v. Kleists 1808 verfasste „Hermannsschlacht“ zum Beispiel arbeitet mit dem Motiv innerer Konsolidie- Literatur(en) im Identitätsk(r)ampf 139 rung einerseits, hinterlistig vorgetäuschter Assimilation andererseits: Hermann kooperiert mit den Römern nur, um sie umso sicherer ins Verderben zu führen, und schlüpft deshalb in die Maske des Römerfreundes unter den Germanen. Diese Mimikry entspricht erstaunlich präzise Konzepten antikolonialer Literatur, wie sie die (post)colonial studies für die einstigen überseeischen Kolonien Europas herausgearbeitet haben (vgl. dazu Djoufack 2014). Erstaunlich ähnlich handelt Adam Mickiewiczs Konrad Wallenrod (Mickiewicz 1828/ 1992) im gleichnamigen Versepos, das seinerseits ein Beispiel für Mimikry ist, weil es den mittelalterlichen Konflikt zwischen Litauern und Deutschem Orden dazu nutzt, verschlüsselt die Frage zu stellen, wie national eingestellte Polen mit der russischen Teilungsmacht umgehen sollen. Unter den Augen der Okkupanten wird damit ein Modell für Verrat verhandelt, das sie nicht verstehen (sollen) - wie Wallenrod im Epos selbst in Anwesenheit der Ordensritter mit Litauern über die Vorgehensweise gegen die Ritter spricht, ohne dass diese begreifen, wovon die Rede ist und dass ihr Untergang geplant wird. Dieses Versepos löste in Polen eine Wallenrodyzm-Debatte über die Rolle des (schließlich mehrheitlich abgelehnten) Verrats im nationalen Überlebenskampf aus, die wiederum in Deutschland wahrgenommen wurde und dazu führte, dass nun umgekehrt in der deutschen Literatur das Motiv des verräterischen Polen ein beliebtes Thema wurde. Die Literaturen Mitteleuropas kommunizieren so noch im Gegeneinander miteinander (vgl. Joachimsthaler 2011). Das mitteleuropäisch Besondere an Figuren wie Hermann und Wallenrod besteht darin, dass sie sozialisiert wurden auch in der dominanten Kultur, gegen die sie aufbegehren. Mit solchem Aufbegehren geht in anderen Texten oft einher ein Moment nationaler Erweckung, der solche Figuren u.U. sogar in einen vorübergehenden inneren Zwiespalt treiben kann, ehe sie entschlossen die Partei der Schwächeren ergreifen, der sie ihrer Herkunft nach zugehören, jedoch nicht ihrer Sozialisation nach. Herkunft, ethnische Zugehörigkeit, schlägt dann Bildung, kulturelle Zugehörigkeit. Solche innerfiktionalen Handlungen entsprachen durchaus realen Erfahrungen. Vyd ȗ nas Reflexionen über seinen Wechsel vom Deutschen zum Litauischen gehören ebenso hierher wie Wojciech Kętrzyńskis „Liederbuch eines Germanisierten“ (1938). Noch unter den Bedingungen der Sowjetherrschaft kann Jan Kross die mimikryhaft versteckte Entstehung nationalen estnischen Bewusstseins unter deutscher und russischer Übermacht in seinem historischen Roman „Der Verrückte des Zaren“ (Kross 1988) so thematisieren, dass die Leser damit auch das estnischsowjetische Verhältnis mitassoziieren können (wenn sie wollen). In solchen Fällen erscheint das nationale Bekenntnis als Ergebnis einer Entscheidung, die erst in inneren Kämpfen gegen all das errungen werden konnte, was in der betreffenden Person selbst für die jeweils andere Seite sprach (für das deutsch-tschechische Verhältnis vgl. etwa Mauthner 1887). Der zwischen- 140 Jürgen Joachimsthaler nationale Hass, soweit er in der Literatur greifbar wird, speist sich dort denn auch gerade daraus, dass jeder in der anderen Nation das ablehnt, was er in sich selbst bekämpfen muss, um ganz das Mitglied der Nation sein zu können, das er sein will. Ungetrübt und rein. 7 Ausblick Solche Konstruktionen sind in den mitteleuropäischen Literaturen des 19. und frühen bis mittleren 20. Jahrhunderts weit verbreitet. Seit der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges werden sie jedoch zunehmend abgelehnt, seit der politischen „Wende“ 1989/ 90 systematisch dekonstruiert. Die mitteleuropäische Literatur aller Sprachen erinnert sie heute wieder, um ihr aus neuer, postnationaler Perspektive entgegenzusetzen, was der einstige Zwang zur nationalen Entscheidung verdrängt hat: das enge, von vielen wechselseitigen Interferenzen begleitete Neben- und Miteinander der Sprachen und Kulturen Mitteleuropas, das im nationalen Zeitalter die Form eines auf grausame Weise miteinander verbindenden Gegeneinanders angenommen hatte. Ergebnis waren nationale Konzepte, die, in der Regel narrativ angelegt und in einer national „reinen“ Sprache geschrieben, die Nation als gegen die Beeinflussung der „anderen“ zu bewahrendes, mit nationalen Mythen und „Volks“-Folklore begründetes „Eigentliches“ vorführte. Heute liebt mitteleuropäische Literatur die früher verdrängte Vermischung von Menschen, Kulturen und Codes, nicht mehr das Gegen-, sondern das Mit- und Ineinander (das deshalb keineswegs romantisiert werden muss). Für die Literaturgeschichtsschreibung Mitteleuropas aber bedeutet dies, dass die Literaturen Mitteleuropas mehr als bisher in ihrem Zusammenspiel über viele Sprachen hinweg betrachtet werden müssen. Dadurch erhellen sich die nationalen Literaturgeschichten einander nicht nur wechselseitig; dann zeigt sich auch, dass sie jeweils nur Teile eines größeren gemeinsamen Prozesses sind. 8 Literatur Altenburg, Detlev (1986): Liszts Idee eines ungarischen Nationalepos in Tönen. In: Studia Musicologica Scientiarum Hungaricae 28. S. 213-223. Anderson, Benedict (1983): Imagined communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. London. Arndt, Ernst Moritz (1814): Ueber Sitte, Mode und Kleidertracht. Ein Wort aus der Zeit. Frankfurt am Main. Literatur(en) im Identitätsk(r)ampf 141 Bart-Ćišinski, Jakub (1981a): Unsere Sprache. In: Lorenc, Kito (Hrsg.): Sorbisches Lesebuch. Serbska Čitanka. Leipzig. S. 352-354. Bart-Ćišinski, Jakub (1981b): Eine Bemerkung. 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Germanistik in Udmurtien im Kontext der russischen Germanistik Ljudmila Juškova (Iževsk) Zusammenfassung Das Hauptziel des vorliegenden Beitrags ist es, einen Überblick über die Entwicklung und den aktuellen Zustand der Germanistik in der Udmurtischen Republik zu bieten. Zugleich soll ein systematischer Überblick über die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufgekommene germanistische Forschung an der Udmurtischen Staatlichen Universität gegeben werden. Außerdem werden Perspektiven der Germanistik in Russland, insbesondere in Udmurtien aufgezeigt. 1 Einleitung Ziel dieses Beitrags ist, die Situation der Germanistik in der Udmurtischen Republik, einem der autonomen Teilgebiete der Russischen Föderation, zu beschreiben. Zunächst muss jedoch geklärt werden, was in Russland unter dem Begriff Germanistik verstanden wird. Germanistik wird in russischen Fachlexika und Enzyklopädien durch verschiedene Definitionen konkretisiert, die sich oft nur in Details unterscheiden. Wenn man die verschiedenen Definitionen zu ordnen versucht, so kann man hauptsächlich von zwei Germanistikbegriffen sprechen: von der Germanistik in einem weiteren und in einem engeren Sinn. Im weiteren Sinn ist Germanistik eine Wissenschaft, die sich mit der Sprache, der Geschichte, der Kultur und der Lebensweise der Germanen befasst, im engeren Sinn ist sie ein Teilgebiet der Sprachwissenschaft, dessen Gegenstand die deutsche Sprache und Literatur (manchmal noch die deutsche Geschichte) ist. 1 Im akademischen Bereich bedeutet Germanistik heute weitgehend deutsche Sprachwissenschaft, Literaturwissenschaft und Didaktik des Deutschen als Fremdsprache. An der Urdmutischen Staatlichen Universität (UdSU) gibt es den 1972 gegründeten Lehrstuhl für Weltliteratur und Kultur und mehrere Lehrstühle, an denen Linguistik betrieben wird: den Lehrstuhl für germanische Sprachen, den Lehrstuhl für Phonetik und Lexikologie der englischen Sprache, den Lehrstuhl für Grammatik und Geschichte der englischen Sprache, den Lehrstuhl für Übersetzung und Stilistik der englischen Sprache, den Lehrstuhl für romanische Philologie, eine zweite Fremdsprache und Linguodidaktik, den Lehrstuhl für Linguistik 1 Vergleiche Boľšoj ėnciklopedičeskij slovar’ (2000); Efremova (2010); Komlev (2000). 144 Ljudmila Juškova und Interkulturelle Kommunikation. Obwohl die Literaturwissenschaft nicht in die Lehrstuhlbezeichnungen aufgenommen wurde, gehört auch diese Disziplin zu den Lehrangeboten. 2 2 Die Stellung der deutschen Sprache in Russland vor der Revolution Der Vorsitzende des Deutschen Germanistenverbandes, Professor Konrad Ehlich, hat in seinem Grußwort zum Gründungskongress des Russischen Germanistenverbandes (RGV) besonders betont, dass „die Befassung mit der deutschen Sprache, der deutschen Literatur, der deutschen Kultur in Russland eine lange weit zurückreichende Tradition“ (2004: 9) hat. Die Herausbildung des russischen Universitätssystems im 17. bis 19. Jahrhundert und des Konzepts der Hochschulbildung erfolgte unter dem starken Einfluss der europäischen Idee der Hochschulbildung, die schon bei der Gründung der Russischen Akademie der Wissenschaften 1724 und der ersten Universität in Moskau 1755 übernommen und der russischen Realität angepasst wurde. Das Projekt der Moskauer Universität zeigte eine starke Orientierung an der europäischen Tradition. Dies wurde u.a. auch darin deutlich, dass es an der neu eröffneten Universität drei Fakultäten gab: eine juristische, einschließlich Politologie, eine medizinische und eine philosophische, die auch Naturwissenschaften einschloss. Die meisten Akademiemitglieder, die an der Gründung der Universitäten in Moskau und Sankt Petersburg beteiligt waren, kamen aus Deutschland oder hatten dort studiert (vor allem sei hier Michail Wassiljewitsch Lomonossow, der in Marburg und Freiberg studiert hatte, erwähnt). Insbesondere an der Moskauer Universität haben viele deutsche Professoren gelehrt. Hier sind Philipp Heinrich Dilthey, Johann Matthias Schaden (diese beiden Gelehrten gehörten zu den ersten Philosophieprofessoren der Moskauer Universität), Karl Heinrich Langer, Johann Christian Kerstens, Johann Heinrich Frommann u.a. zu nennen. 3 Angemerkt sei, dass das Deutsche neben dem Lateinischen seit langem eine anerkannte Wissenschaftssprache in Russland war. Die Tatsache, dass heute Englisch als Wissenschaftssprache in Europa und selbst in Deutschland anerkannt ist, ist in Russland noch nicht ohne weiteres selbstverständlich, denn dank der langen Geschichte der wissenschaftlichen Zusammenarbeit mit Deutschland scheint in Russland Deutsch als Wissenschaftssprache diese Rolle eher verdient zu haben. 2 Die Struktur und die Bezeichnungen der Lehrstühle haben sich seit dem Erfurter Kongress 2014 mehrfach geändert. 3 Siehe hierzu: Letopis’ Moskovskogo universiteta. http: / / letopis.msu.ru/ (Stand: 27.11. 2014). Germanistik in Udmurtien 145 Zur Zeit Ekaterinas II. wurden die russischen Hochschulen von Grund auf erneuert. Bei der Modernisierung des Universitätssystems, die von Alexander II. fortgesetzt wurde, orientierte man sich an Modellen anderer europäischer Länder, wobei dem Modell der habsburgischen Universität und den Reformen von Wilhelm von Humboldt eine besonders große Bedeutung zukam. Im 19. Jahrhundert wurde vom damaligen Bildungsminister Sergej Semjonovič Uvarov ein Plan zur Reformierung der Führungsorganisation an einer Universität ausgearbeitet. Als Vorbild diente die 1810 eröffnete Berliner Universität. Uvarovs Reformen der russischen Hochschule basierten auf den grundlegenden Prinzipien der „klassischen“ Universität, insbesondere auf der Idee der „Bildung durch Wissenschaft“, die er bei der Gründung der neuen Universität in Sankt Petersburg durchsetzen wollte. Es sei unterstrichen, dass das russische Universitätssystem dem humboldtschen Bildungsideal und seinem Modell der Universität sehr verpflichtet ist; und so galt für die akademische Ausbildung im zaristischen Russland die Einheit von Forschung und Lehre. Hier beziehe ich mich auf Kemper (2008: 59f.), der feststellt, dass es wohl keine andere Nation in Europa gibt, die in ähnlicher Weise „den emphatischen, hoch aufgeladenen deutschen Bildungsbegriff, wie er um 1800 durch Goethe, Schiller und Wilhelm von Humboldt und andere entwickelt wurde, importiert und inkorporiert hätte wie die russische“. 3 Die Germanistik im sowjetischen Russland und in Udmurtien Das Hauptziel der sowjetischen Hochschulpolitik war die Ausbildung von hoch qualifizierten Fachkräften für alle Zweige der Volkswirtschaft. Die Universitäten wurden mehr als Lehreinrichtungen konzipiert, während die Forschung hauptsächlich an den Akademien der Wissenschaften und an Forschungsinstituten betrieben wurde. Die Zahl der Studienbewerber war stark gestiegen. Am Ende der 30er Jahre wurden in den großen Städten und regionalen Zentren Russlands pädagogische Institute gegründet. 1931 entstand in Iževsk das Udmurtische Staatliche Pädagogische Institut, in dem es vier Fachrichtungen gab. An den pädagogischen Instituten existierten Lehrerbildungsinstitute für Fremdsprachen, die später in die Fakultäten für Fremdsprachen integriert wurden. An diesen Lehrerbildungsinstituten (später Fakultäten für Fremdsprachen) stand Deutsch weit vor Englisch und Französisch an der Spitze. Das ist dadurch zu erklären, dass die sowjetische Regierung in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts einen besonders großen Wert auf Kontakte zu Deutschland gelegt hatte. Der Hauptgrund dafür war die marxistische Ideologie, die den Grundstein des Sozialismus bildete. Deutsch spielte daher eine wesentliche Rolle im Unterricht, sowohl im Schulsystem als auch im Hochschulbereich. Diese Tendenz setzte sich auch in der Kriegszeit fort. 146 Ljudmila Juškova Man kann sagen, dass die udmurtische Germanistik genauso alt ist wie die 1942 am Udmurtischen Pädagogischen Institut gegründete Fakultät für Fremdsprachen. 1972, nach der Errichtung der UdSU, wurde diese Fakultät in Fakultät für Romanisch-Germanische Philologie umbenannt und 1999 in Institut für Fremdsprachen und Fremdliteratur, das heute neben der Germanistik auch Anglistik, Amerikanistik und Romanistik vereint. Zu DDR-Zeiten blieb das Interesse an der deutschen Sprache auch in den vom Zentrum Moskau abgelegenen Regionen sehr stark. Germanistik gehörte zu den begehrtesten und elitären Fächern, neben Anglistik und Romanistik. In den schweren Kriegs- und frühen Nachkriegszeiten hatte sich ein merklicher Rückgang der linguistischen Forschung vollzogen, aber in den 50er und 60er Jahren erlebte die sowjetische Sprachwissenschaft und insbesondere die Germanistik ihre Blüte. Sprache wurde unter strukturalistischem Aspekt von allen Seiten betrachtet. Die Zahl der Germanisten in Udmurtien nahm seit der Gründung der UdSU zu. Dank der vernünftigen Politik des Bildungsministeriums, das die begabten Gelehrten förderte, konnten diejenigen Germanisten ausgebildet werden, die an den führenden Universitäten der Sowjetunion in Moskau, Sankt Petersburg, Kalinin (Twer) und Pjatigorsk promoviert wurden. Der Themenkreis war sehr breit: von der Didaktik des DaF-Unterrichts bis zur Lexikologie und Wortbildung, Pragmalinguistik und Literaturwissenschaft. Das große Interesse an der Erforschung der deutschsprachigen Literatur ist dadurch zu erklären, dass gerade zwischen der deutschen und der russischen Literatur vielfältige Austauschbeziehungen entstanden. Einen bedeutenden Teil der germanistischen Literaturwissenschaft (oder literaturwissenschaftlichen Germanistik) in Russland macht die Goethe-Rezeption aus. Das hat eine sehr lange Tradition: Mit Goethes Schaffen setzte sich schon der Präsident der Russischen Akademie der Wissenschaften und russische Bildungsminister Graf Uvarov, der mit Goethe bekannt war und mit ihm in Briefwechsel stand, auseinander. Udmurtische Wissenschaftler widmeten sich gern dem Thema „Goethes Schaffen“. Hier sind Vladimir A. Avetisjan, Aleksandr V. Erochin, Nadežda K. Aleksandrova zu nennen. Von diesen ist Vladimir Avetisjan dank seiner wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Schaffen Goethes besonders bekannt geworden. Er studierte und wurde promoviert am Lehrstuhl für Fremdliteratur der Moskauer Lomonossow-Universität und habilitierte sich dort 1987 zum Thema „Goethe und das Problem der Weltliteratur“. Im Mittelpunkt seines Forschungsinteresses steht die Genese von Goethes Weltliteraturkonzeption und deren Vermittlung in Goethes Schaffen sowie die Wahrnehmung seines Schaffens in verschiedenen historischen Perioden in Russland. Außerdem hat er bedeutende Publikationen verfasst zu solchen Themen Germanistik in Udmurtien 147 wie Goethes Auseinandersetzung mit der Gedankenwelt des Orients, Martin Luther im Urteil des späten Goethe u.a. (2004; 2012). Einen großen Beitrag zur Entwicklung der germanistischen Literaturwissenschaft leistete Aleksandr V. Erochin, Professor an der UdSU. Zahlreiche Studien widmete er dem Schaffen der Weimarer Klassiker: 2000 hat er sich an der Moskauer Staatlichen Universität zum Thema „Dramaturgie der Weimarer Klassik 1786-1805“ habilitiert. Er behandelt dieses Thema auch in seinen aktuellen Aufsätzen. Im Beitrag „Karl Philipp Moritz und die Weimarer Klassik“ werden z.B. Aspekte der Wechselbeziehungen zwischen Karl Philipp Moritz und den Dichtern der Weimarer Klassik (Goethe und Schiller) beleuchtet (2008). 2009 erscheint Erochins Monografie „Dialog großer Kulturen: Studie zum Zusammenwirken von Literatur und geisteswissenschaftlichem Wissen Russlands, Deutschlands und Österreichs“. In den Vordergrund tritt dabei der Vergleich des Schaffens berühmter deutscher und russischer Dichter. Einen bedeutenden Platz nimmt die Frage der Goethe-Rezeption im Schaffen der russischen Symbolisten ein. Ein weiteres Thema seiner Forschung ist die kritische Stellungnahme zum Schaffen der deutschen Romantiker in Russland (2004). Im Aufsatz „Zur Paradigmatik des ‚spatial turn‘ in der gegenwärtigen deutschen Literaturwissenschaft“ (2010: 34-43) konfrontiert er den Leser mit dem Begriff s p a ti a l tu r n , der im Hinblick auf seine Effizienz für die gegenwärtige deutsche Literaturforschung untersucht wird. Mit der Durchsetzung der Sprechakt-Theorie von Austin und Searle (1969) wandten sich die russischen Germanisten in den 70er Jahren dem Bereich der Linguopragmatik zu. Von großem Interesse für die Semantik und Pragmatik sind die Aufsätze zum pragmatisch-semantischen Aspekt des Dialogs des Dozenten Andrej S. Nedobuch (1990; 1992). Im Bereich der kontrastiven Linguistik befassten sich die Forscher und Forscherinnen mit der synchronen Beschreibung der Ähnlichkeiten von und den Unterschieden zwischen Deutsch und Udmurtisch unter formal-funktionalen Gesichtspunkten. Dieses Ziel wird in den Studien zur kontrastiven Analyse von grammatischen Kategorien im Deutschen und Udmurtischen von Elena A. Bulyčeva und Aleksandra I. Orlova verfolgt (2007: 177-180; 2009: 71-75). 4 Die Germanistik in Udmurtien nach der Umgestaltung der Sowjetunion ab 1985 Nach der „Perestroika“, in den 80er und 90er Jahren, waren der Fremdsprachenunterricht und die germanistische Forschung in einem enormen Aufschwung begriffen. Hier konnten viele Fortschritte verzeichnet werden. Sehr förderlich waren in dieser Hinsicht gemeinsame Sommerschulen oder Sprachlager. Eine der ersten Sprachschulen in der russischen Provinz war das Projekt „Santa Lingua“. Es wurde 148 Ljudmila Juškova von Andrej S. Nedobuch, Dozent der UdSU, und seiner Frau, Vera N. Nedobuch, in Zusammenarbeit mit den Lüneburger Gymnasien Oedeme und Johanneum organisiert. Das Hauptanliegen des Projekts war, eine positive Motivation der lernkognitiven Tätigkeit der Studierenden zu gewährleisten. Es hatte einen unglaublichen Erfolg. Außer den Sommerschulen in Iževsk und Anapa wurde ein Informationsaustausch mit der Universität Lüneburg mittels der Neuen Medien organisiert. Studierende fuhren nicht nur zu einem touristischen Aufenthalt ins Ausland, sondern lernten zusammen mit den deutschen Jugendlichen zwei bis drei Wochen an Gymnasien. Es wurden auch gemeinsame linguistische Seminare durchgeführt und Aufsatzbände veröffentlicht. Das war natürlich ein großer Stimulus, Deutsch gründlich zu studieren. An dem Projekt haben viele Jugendliche teilgenommen, und viele von ihnen haben später Germanistik studiert. Ein weiteres Zeichen dieser Zeit waren die jährlichen Olympiaden und Wettbewerbe. Die Gewinner dieser Olympiaden wurden ohne Aufnahmeprüfungen in die sprachlichen Institute oder Fakultäten aufgenommen. Der Wettbewerb an den Sprachfakultäten war sehr schwer. Die Schüler entwickelten in Sprachkursen oder mit Nachhilfelehrern ihre sprachlichen Fertigkeiten, um in die gewünschte Fakultät aufgenommen zu werden. Besonders gefragt war die Fachrichtung „Übersetzung und Übersetzungswesen“. Die Hochschullehrer suchten nach besseren Methoden, um so stark motivierte Studenten besser auszubilden. Seit dieser Zeit ist an der UdSU die Linguodidaktik fest etabliert. 1997 hat die UdSU den Lehrstuhl für Didaktik und frühes Fremd- und Nationalsprachenlernen gegründet. Die Leiterin des Lehrstuhls, Professor Alla N. Utechina, habilitierte sich im Jahr 2000 zum Problem der Didaktik des frühen Fremdsprachenlernens (am Beispiel DaF). Die zentrale Frage der didaktischen Forschung war die Entwicklung von kommunikativen Kompetenzen. Der Schwerpunkt lag dabei auf der Entwicklung von sozio- und linguokulturellen Kompetenzen. Das lässt sich dadurch erklären, dass früher das Hauptziel des Fremdsprachenunterrichts war, den Schülern möglichst viel lexikalisches und grammatisches Wissen zu vermitteln. Für kulturelle Aspekte blieb wenig Zeit. Jetzt rückten die landeskundlichen und interkulturellen Aspekte in den Vordergrund. Zu erwähnen ist hier das Projekt von Ljudmila M. Ageeva „Sprachvergleiche als Instrument der multikulturellen Sensibilisierung“, in dessen Rahmen sie ihre Erfahrungen aus dem Unterricht an der Universität Köln beschreibt und Entwicklungstendenzen des Deutschen als Fremdsprache (mit besonderem Fokus auf dem Phänomen des interkulturellen Lernens) analysiert. Zahlreiche Beziehungen zwischen Russland und dem Ausland haben dazu geführt, dass solche Gesellschaftswissenschaften entwickelt wurden wie Landeskunde, Interkulturelle Kommunikation, Kulturkunde der anderen Völker und interdisziplinäre Wissenschaften wie Linguokulturologie und Linguolandeskunde. Germanistik in Udmurtien 149 Man gelangte zu der Ansicht, dass eine Fremdsprache ein kognitives Instrument der Selbst- und Fremderkenntnis ist. So wurden kognitive Forschungen sehr aktuell. Im Grenzbereich dieser Wissenschaften standen kognitive und linguokulturelle Konzepte als Forschungsobjekte. Konzepte werden als Schlüssel für das Verständnis der Beziehungen zwischen verschiedenen Kulturen betrachtet und als mentale Einheiten verstanden, die eine generalisierende Funktion haben, wobei sie individuelle Vorstellungen externalisieren. Die linguokulturellen Konzepte sind die Vorstellungen davon, wie die einzelne Entität (oder eine Gruppe von Entitäten) in der Erfahrungswelt eines Volkes dargestellt ist. Zu erwähnen sind hier Aufsätze der Dozentin des Lehrstuhls für deutsche Philologie Taťjana S. Medvedeva (2011). Was die Verfasserin dieses Beitrags angeht, gehöre ich zur vierten Generation der udmurtischen Germanisten. Mein wissenschaftliches Interesse gilt dem Bereich der deutschen kolloquialen Wortbildung. Da die Besonderheiten von Wortbildungsmodellen und Wortbildungsmitteln, die in der deutschen Umgangssprache wirken, sehr vielfältig sind, besteht das primäre Ziel meiner aktuellen Studie darin, wortbildende (strukturelle) und lexikalisch-semantische Besonderheiten von umgangssprachlichen Verben zu beschreiben und Spezifika zu ermitteln, die bislang nicht im Forschungsfokus standen (2013: 92-109). Eines meiner weiteren Forschungsgebiete ist die Untersuchung der konzeptuellen Grundlagen und grundlegenden Merkmale der Entität „Hochschulbildung“ in der deutschen und russischen Kultur. Nach meiner subjektiven Einschätzung hat es in Udmurtien noch nie eine so große Vielfalt von wissenschaftlichen Untersuchungen im Fach Germanistik gegeben wie heute, was zweifelsohne zur weiteren Entwicklung der russischen Germanistik beiträgt. 5 Probleme und Perspektiven der Germanistik an der UdSU angesichts des Bologna-Prozesses und der Globalisierung Seit einigen Jahren wird das gesamte Hochschulsystem in Russland radikal reformiert. Die aktiven Reformen begannen schon 2003, als sich Russland dem Bologna-Vertrag angeschlossen hatte. Deshalb wird zurzeit an den Universitäten alles umgebildet, ausgebaut oder abgeschafft. Das schließt auch die Umgestaltung der Fachbereiche an den Fakultäten ein. Insbesondere werden die geisteswissenschaftlichen Fakultäten umorganisiert, Studienordnungen wurden und werden noch geändert und erneuert. Diese Reformwelle hatte zur Folge, dass die Zahl der Studienplätze an linguistischen Fakultäten sehr stark geschrumpft ist. Dieser Prozess betraf vor allem die Germanistik und die Romanistik. Der Umfang des 150 Ljudmila Juškova Deutschunterrichts (Deutsch als Fremdsprache) wird enorm reduziert. Ein zukünftiger Bachelor, der Germanistik studiert, bekommt in den höheren Semestern nur dreimal in der Woche Unterricht in der entsprechenden Sprache. Seminare in der Lexikologie, Grammatik, Stilistik und Übersetzung werden auf ein Minimum reduziert (eine Doppelstunde pro Woche oder jede zweite Woche). Um Germanistik erfolgreich zu studieren ist das natürlich nicht ausreichend. Die Bachelor-Absolventen beherrschen die Sprache nur in einem gewissen Rahmen: Sie können sich zwar gut verständigen, sie bekommen dank der kommunikativen Lehrmethoden eine gute Vorstellung von soziokulturellen Sprachnormen usw., sie haben aber keine Zeit für die Forschung, was ihr Studium immer mehr zu einer reinen Ausbildung macht. Das nächste Problem, das in diesem Beitrag angesprochen werden soll, besteht auch europaweit. Das Deutsche wird an den Schulen und Hochschulen in Russland zurzeit von der englischen Sprache verdrängt und spielt eine untergeordnete Rolle. Deutschlehrer und Germanistikprofessoren fürchten um ihre Arbeitsplätze, denn die Studierenden glauben, dass sie sprachlich ausgegrenzt werden, wenn sie Deutsch als Fremdsprache wählen würden und nach dem Abschluss keine Stellen in Udmurtien finden können, wo ihre Deutschkenntnisse gebraucht werden. So entscheiden sie sich nicht für Germanistik, sondern für andere Fachrichtungen, auch wenn sie linguistisch begabt sind. Mit dem Übergang auf das zweistufige Bildungssystem droht dieser Prozess sich dramatisch zu beschleunigen. Andererseits ist die Zahl derjenigen, die DaF beherrschen wollen, die zweithöchste nach der Zahl von Englisch- und vor Spanisch-, Italienisch- und Französischstudenten. Diese Tatsache ist nur unter historischer Perspektive zu erklären, und sie beweist, dass die deutsche Sprache in Russland bis heute einen hohen Wert besitzt. Der Einfluss der englischen Sprache ist im akademischen Bereich zwar sehr stark. Die Spezifik der russischen Germanistik besteht aber darin, dass man oft auf Bücher von deutschen und russischen Autoren angewiesen ist, die auch weiterhin meist in deutscher oder russischer Sprache publizieren. So gesehen ist dieser Bereich wirklich international und mehrsprachig. Als durchaus positiv zu bewerten ist auch der Umstand, dass die Forschungsfördermittel an die Universitäten gehen, was für die Forschung etwas mehr Raum lässt. Hier ist die Rolle des DAAD nicht zu unterschätzen, denn das ist die Organisation, die seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts eine konsequente Förderung russischer Germanisten betreibt. Abschließend sei betont, dass die Entwicklung der Germanistik in Udmurtien kritisch gesehen werden muss. Es könnte eine eventuell prekäre Zukunft der udmurtischen Germanistik bevorstehen. In dieser Situation kann nur auf eine vernünftige Sprachpolitik der Udmurtischen Universität und des Bildungsministeriums Udmurtiens gehofft werden. Germanistik in Udmurtien 151 6 Literatur Avetisjan, Vladimir A. (2004): Gëte i otečestvennaja germanistika. In: Russkaja germanistika. Ežegodnik Rossijskogo sojuza germanistov 1. S. 94-107. Avetisjan, Vladimir A. (2007): Koncepcija mirovoj literatury Gëte v ocenke otečestvennoj kritiki. In: Russkaja germanistika. Ežegodnik Rossijskogo sojuza germanistov 3. S. 56- 65. Boľšoj ėnciklopedičeskij slovar’ (1999): Gl. red. Aleksandr M. Prochorov. Izd. 2. pererab. i dop. 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Die Minderheitensprache - ein Zusammenspiel dynamischer Prozesse Elisabeth Knipf-Komlósi (Budapest) Zusammenfassung Der vorliegende Beitrag 1 zeigt exemplarisch anhand konkreter Sprachbelege einen Ausschnitt aus jenen dynamischen Prozessen, die sich im Sprachgebrauch von Sprecherinnen und Sprechern der deutschen Minderheit in Ungarn auf der sprachsystemischen und pragmatischen Ebene, in erster Linie in ihrer spezifischen Varietät, niederschlagen. Eingangs wird auf einige gemeinsame Merkmale der Ausprägung der deutschen Sprache in dieser Region eingegangen, um dann auf saliente Merkmale der deutschen Sprache der Ungarndeutschen einen Blick zu werfen. Zuletzt werden einige offene Fragen bzgl. der Beschreibung dieser Varietät angesprochen. 1 Historischer und soziokommunikativer Kontext Es sollte als ein hoffnungsstimmendes Zeichen verstanden werden, das auch die Relevanz des Themas hervorhebt, dass auf dem Kongress der Mitteleuropäischen Germanisten (MGV) in Erfurt (2014) eine Sektion gezielt den Fragen der Varietäten der in Mittelosteuropa gesprochenen deutschen Sprache, auch die der deutschen Minderheit, gewidmet wurde. Begründet wurde diese Entscheidung auch durch einen dringenden Forschungs- und Diskussionsbedarf. Obwohl in den letzten Jahrzehnten erfreulicherweise mehrere Publikationen zu diversen die Sprache der deutschen Minderheiten in dieser Region Europas betreffenden Forschungsfragen entstanden sind sowie zahlreiche Vorträge zu diesem Thema gehalten wurden, soll in diesem Beitrag eingangs ein kurzer Überblick über einige makro-soziolinguistische Gemeinsamkeiten der mittelosteuropäischen deutschen Minderheiten gegeben werden. Die historischen Umstände der Entstehung und Entwicklung jener deutschen Sprachvarietät, die bislang als „Sprache deutscher Sprachinseln“ bezeichnet wurde, muss hier angesichts der reichhaltigen Fachliteratur nicht weiter ausgeführt werden (vgl. u.a. Földes 2005a, Eichinger u.a. 2008, Scheuringer 2012). Mag der zwar traditionsreiche und verbreitete Terminus „Sprachinsel-Sprache“ noch so archaisch 1 Dieser Text geht auf den gleichnamigen Vortrag der Verfasserin in der von Herrn Prof. Dr. Ion Lăzărescu und Herrn Prof. Dr. Hermann Scheuringer geleiteten Sektion 3 unter dem Titel „Varietäten des Deutschen“ zurück. 154 Elisabeth Knipf-Komlósi anmuten, wird er in diesem Beitrag synonym zu „Minderheitensprache“ angewendet und gleichzeitig als Sammelname für jene Erscheinungsform des Deutschen gebraucht, die aufgrund bestimmter salienter Merkmale für die mittelosteuropäischen Länder typisch ist. In Fachkreisen besteht ein Einvernehmen bzgl. der begrifflichen Unklarheiten 2 und Präzisionsdefiziten, die mit dem Terminus technicus „Sprachinseln“ verbunden sind, gleichzeitig ist es aber auch eine Tatsache, dass dieser Begriff einer inhaltlichen wie methodischen Revision bedarf, die aufgrund der wesentlich veränderten soziohistorischen und wirtschaftlichen Umstände sowie der neueren Forschungsrichtungen und -methoden in der Dialektologie, Kontakt- und Soziolinguistik der letzten Jahre notwendig geworden ist. Die deutsche Sprache hat neben ihrer Hauptfunktion als Muttersprache von etwa 100 Millionen Menschen auf der Welt auch eine - vor allem in letzter Zeit - wichtig gewordene Funktion als Zweit- 3 und als Fremdsprache bzw. sie hatte in der Vergangenheit z.T. auch als Kolonialsprache fungiert (vgl. Namibien). Darüber hinaus hat die deutsche Sprache in den vergangenen zwei bis drei Jahrhunderten bzw. heute noch - leider oft nur in einem Schattendasein - auch als Minderheitensprache einen wichtigen Status und damit verbunden auch Aufgaben, nicht nur im östlichen Teil von Mitteleuropa, sondern verstreut auch in vielen anderen Gebieten weltweit, die in der wissenschaftlichen Forschung im 20. Jahrhundert zu sog. „deutschen Sprachinseln“ bekannt und untersucht wurden. So gibt es heute noch in unterschiedlichen Regionen der Welt eine zahlenmäßig nur schwer oder vielleicht nicht bestimmbare Anzahl von Sprechern, die als Sprachinselsprecher bekannt sind, heute eher Minderheitensprecher genannt werden. Das Verhältnis dieser Sprecher zur deutschen Sprache ist durch eine spezifische Situation gekennzeichnet: Es geht um Sprecher/ Sprechergruppen/ Sprachgemeinschaften mit ehemals deutscher Abstammungssprache, die aus verschiedenen historischen, politischen und auch individuellen Gründen ihre deutsche Heimat verlassen haben und sich in einer anderssprachigen Umgebung und fremden Kultur niedergelassen haben, um eine neue Existenz aufzubauen. Die Sozialisationsprozesse dieser Sprecher erfolgten dann im Laufe ihres Lebens nicht auf deutschem Sprachgebiet, sodass ihre Beziehung zum Deutschen vor allem auf emotionaler Ebene in der Mikrogemeinschaft (Familie) bzw. der Dorfgemeinschaft gründete und meistens in mehrsprachiger Umgebung verlief, infolge dessen ihre Hauptsprache im Laufe der Jahrhunderte die jeweilige Mehrheitssprache ihrer „neuen Heimat“ wurde, dessen Staatsbürger sie geworden waren. 2 Zur terminologischen Diskussion über Sprachinselsprache vs. Minderheitensprache vgl. Földes (2005a), Knipf-Komlósi (2011). 3 Zu Deutsch als Sprache der Migranten vgl. Deppermann (2013). Minderheitensprache 155 Betrachtet man die Vergangenheit dieser von ehemals aus verschiedenen deutschen Gebieten in Richtung Osten ausgewanderten und dort angesiedelten Personen deutscher Muttersprache näher, sind einige makrosoziolinguistische Merkmale an Gemeinsamkeiten ihres Werdegangs festzuhalten. Zu erwähnen wären somit der ungefähr gleiche Ansiedlungszeitpunkt in dieser Region (einige mittelalterliche und mehrheitlich neuzeitliche Ansiedlungen), die Zugehörigkeit der Siedler zu einer bestimmten sozialen Schicht (zum überwiegenden Teil Bauern und Handwerker), der lange und schwere Weg der Integration in die Aufnahmeländer mit fremder Sprache und Kultur, die dabei vollzogenen Ausgleichsprozesse innerhalb der mitgebrachten völlig unterschiedlichen deutschen Mundarten, später dann der Erwerb der jeweiligen Landessprachen und die Akkomodation an diese, ganz zu schweigen von der Überwindung der Diskrepanz zwischen den unterschiedlichen kulturellen Gewohnheiten der schon Ansässigen und der Neuankömmlinge. Selbst im dynamischen 20. Jahrhundert können in diesem Teil der Welt viele gemeinsame historische Ereignisse aufgezählt werden, wie die zwei Weltkriege des 20. Jahrhunderts, die darauf folgenden gesellschaftlichen Umwälzungen, auch Repressalien, von denen fast alle deutschen Minderheiten in dieser Region betroffen waren. Doch auch die neu entstandenen Gesellschaftssysteme sozialistischer Prägung nach 1945, die großangelegte Mobilität, verbunden mit einer rasch abgewickelten Urbanisierung nach dem 2. Weltkrieg in diesen Ländern, die selbstverständlich auch die von der deutschen Minderheit bewohnten ländlichen Ortschaften, Gegenden nicht verschont ließen. Es erfolgte auch für die hier ansässigen Menschen deutscher Muttersprache ein Bruch, eine Diskontinuität in ihren gewohnten Lebensumständen, denn ihre bislang mehr oder weniger intakten dörflichen, ländlichen Gemeinschaften und ihre traditionsreiche deutsch geprägte Lebensweise mitsamt ihrer herkömmlichen Sprache veränderten sich von Grund auf. Aus einer soziolinguistischen Perspektive betrachtet, in deren Fokus die Variationsbreite des Deutschen steht, ist es eine erfreuliche Tatsache, wie Scheuringer (2012: 52) es treffend formuliert: Nach den dunklen Jahrzehnten von Ostblock, Kaltem Krieg und Eisernem Vorhang mag uns insofern durchaus überraschen, - eingeschränkt zwar und in vielem wohl, wie man sagt, ein schwacher Abklatsch dessen, was vorher war - wie breit das Varietätenspektrum des Deutschen in der östlichen Hälfte Mitteleuropas sich weiter gestaltet. Tatsächlich besteht für diese Menschen deutscher Abstammung auch mit einer bröckelnden, ja sogar schwindenden deutschen Muttersprache heute noch eine subjektiv fassbare Verbundenheit mit dem Deutschen, eine positive Einstellung 156 Elisabeth Knipf-Komlósi und Zuwendung zur deutschen Sprache und Kultur, die als Grundlage ihrer - leider - oft missverstandenen Doppelidentität sowie einer bewussten Traditionspflege ihrer deutschen Kultur dient. So lebt diese Minderheit heute noch in Dauerkontaktsituation sowohl individuell - durch die verbreitete Exogamie - als auch beruflich und sozial in einer multikulturellen und multilingualen Mikro-und Makroumgebung. Betrachtet man die Sprache und den Sprachgebrauch der deutschsprachigen Minderheit aus einer mikrosoziolinguistischen Sicht, haben wir es in der Gegenwart - ganz ähnlich wie in vielen Teilen des heutigen Europas und in vielen Teilen der Welt - mit einer großen Alternation der verschiedenen Kodes zu tun, die verbunden sind mit einer Mischung der von den Sprachgemeinschaften gebrauchten Sprachen und Sprachlagen des Deutschen, die selbstverständlich nach Generationen getrennt, aber noch - mindestens bei den älteren Generationen - funktionstüchtig sind. Auch hier lässt sich eine Ähnlichkeit bei diesen Gemeinschaften hinsichtlich der Generationenstruktur und damit eng verbunden auch hinsichtlich des Prozesses und der Stadien des Sprachwandels erkennen, deren Ablauf in diesen Sprachgemeinschaften typisch und voraussagbar ist. So ist die insbesondere seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts rapide abnehmende Dominanz der L1 (Sprache der Minderheit) zugunsten der L2 (Landessprache), die mit dem Verschwinden der Domänen des Sprachgebrauchs und damit auch mit einem großen Funktionsverlust der Minderheitensprache einhergeht, eine typische und leicht prognostizierbare Tendenz. Dieser sich auf der sprachlichen Ebene abspielende Prozess ist - in fast allen mittelosteuropäischen Ländern - als Teil des ganzheitlichen Assimilationsprozesses dieser Minderheiten zu verstehen. Der Kommunikationsraum in diesen Ländern, in denen noch eine durch deutsche Dialekte oder Umgangssprachen beeinflusste deutsche Varietät gebraucht wird, ist fast ausschließlich der private Nähebereich, die familiäre Sphäre, die wie alle anderen Kommunikationsbereiche dieser Sprecher von der dominierenden und funktional ersten und wichtigsten Landessprache überdacht wird. So können in dieser Ausprägung der deutschen Sprache in dieser Region Europas viele ähnlich verlaufende linguistische Prozesse - wie typische Entlehnungsprozesse, verschiedene Formen der Transferenzen - wahrgenommen werden, deren soziolinguistische und kontaktlinguistische Erkenntnisse sowohl für den Sprachwandel als auch für allgemein-linguistische und sprachtheoretische Fragen von großer Relevanz sein können. Mit einem Blick auf den sprachpolitischen Hintergrund dieser sprachlichen Situation können folgende Eckpfeiler festgehalten werden: Zur Minderheit gehört man aufgrund eines freiwilligen Bekenntnisses, das in Ungarn z.B. in einem zehnjährlich stattfindenden Zensus abgefragt wird. Es gibt weder eine gezielte Steuerung noch eine Kontrolle über die ethnische und Minderheitensprache 157 sprachliche Sozialisation der nachfolgenden Generationen; somit obliegt einzig und allein den Familien, ob und in welchem Maße ihre Nachkommen mit der deutschen Sprache und Kultur infiltriert werden, ob eine Erziehung in Bikulturalität und Bilingualität angestrebt wird oder ob eine mit der Landessprache konforme monolinguale Erziehung das Ziel der Familie ist. Hinsichtlich der Gesamtgesellschaft sind bei der deutschen Minderheit in Ungarn zwar nicht generell und nicht auffallend, doch immer noch in vielen Fällen Marginalitätsmerkmale auszumachen 4 , die bei identitätsbewussten Ungarndeutschen als gruppenkonstitutiv wirken und durch eine offene Loyalität, eine Zugehörigkeit zu dieser Minderheit signalisiert werden. Minderheiten laufen in jeder Gesellschaft Gefahr, marginalisiert zu werden. Zum Schutz gegen eine Marginalisierung sind zahlreiche von der Sprachgemeinschaft selbst sowie auch von den Minderheitenselbstverwaltungen auf lokaler und Landesebene initiierte kompensatorische Maßnahmen zu beobachten, wie z.B. die zahlreichen Formen traditionspflegender Vereine in allen Generationen, unabhängig von der Sprachkompetenz des Einzelnen (Chöre, Musikleben, kulturelle Events), die vielfältigen Manifestationen und Ausprägungen des Sprachgebrauchs, direkte oder indirekte Formen der Bewahrung kultureller Werte. All diese Faktoren konstituieren das Selbstimage dieser Minderheit und tragen gleichzeitig zu dessen Erhalt bei. Aus einem externen Blickwinkel wird die Minderheit und ihre Sprachkonstellation anders gesehen: Wenn wir als die deutsche Sprache jene westmitteleuropäische Sprache einer aufgeklärt-modernen Schriftkultur verstehen, ist zumindest die prototypische Sprachinsel nicht in diesem Sinne deutschsprachig. Als deutschsprachig läßt sie sich aus zwei anderen Hinsichten beschreiben: Durch ihre Herkunftsorientierung lassen sich Idiome, welche in der Inselsituation als Distinktheitsmerkmale genutzt werden, auf eine bestimmte historische Sprachform beziehen. Hier wird dann relevant, daß es ich um Zeiten und um soziale Gruppen handelt, für die weder eine schriftnoch gar eine standardsprachliche Ausbauphase angenommen werden kann (Eichinger 1997: 171). Hier werden zwei wichtige Merkmale hervorgehoben, nämlich die Herkunftsorientierung durch den Gebrauch von bestimmten Idiomen, die als Distinktheitsmerkmale gedeutet werden; und eben diese Idiome zeigen, dass es um eine „Sprachtradition“ geht, in der weder eine schriftnoch eine standardsprachliche Ausbauphase stattgefunden hatte. Beide Merkmale, die Herkunfts- 4 Man denke z.B. an bestimmte Feste, bei denen noch die Mundart gesprochen wird, an noch gelebte kulinarische Bräuche, die mit dem Gebrauch der Mundart verbunden sind. 158 Elisabeth Knipf-Komlósi orientierung sowie die Sprachtradition, treffen in der Gegenwart eindeutig nur noch auf Sprecher der ältesten Generation zu, auf die sog. authentischen Sprecher, wahrscheinlich die letzten Mitglieder einer Erlebnisgeneration, deren primäre Sozialisation und deren Spracherwerbsprozess noch in den deutschen Ortsdialekten in einem mehr oder weniger intakten ungarndeutschen Milieu verlaufen sind. Bei Sprechern der mittleren und jüngeren Generation sind o.g. Distinktheitsmerkmale nicht mehr vorhanden, weil sie aufgrund ihrer Spracherwerbsprozesse nicht mehr als Dialektsprecher zu betrachten sind. Mangels einer primären deutschsprachigen Sozialisation - die von der mittleren Generation an nicht mehr vorhanden war - jedoch unter Einfluss einer durch die älteren Generationen tradierten „schwäbischen“ Kultur, eines sekundären schwäbischen Milieus, haben sie im schulischen Deutschunterricht (sog. Minderheitenunterricht) die deutsche Standardvarietät erlernt. Diese wird von dieser Altersgruppe zwar nicht durchgehend und keinesfalls als Ersatz für die Ortsdialekte gebraucht, doch nimmt sie im Sprachrepertoire dieser jungen Generation einen eminent wichtigen Platz ein. Diese Generation kann Deutsch (die Standardvarietät) in allen Kommunikationssituationen partner- und themenbezogen ohne jegliche Schwierigkeiten, als ihre erste Fremdsprache, gebrauchen. Vor diesem Hintergrund kann die Frage gestellt werden, wo sich die oben beschriebenen Varietäten, namentlich die in diesen Gemeinschaften noch gesprochenen Mischdialekte sowie die zwischen den Ortsdialekten und der Standardvarietät stehenden Erscheinungsformen in einem plurizentrischen Modell des Deutschen positionieren lassen. Hinsichtlich der Frage, wie der heute schon als archaisch anmutende komplexe Begriff „Minderheitensprache“ eingegrenzt werden kann, lassen sich m.E. summierend drei Aspekte anführen. Diese sind: a) außerhalb des deutschen Sprachgebiets sind noch - aus historischen Gründen - deutsche Ortsdialekte in Gebrauch, die von Angehörigen einer deutschen (kleinen oder größeren) Sprachgemeinschaft gesprochen werden, b) es sind zahlreiche Substandardvarietäten des Deutschen bekannt, die von nicht auf dem Sprachgebiet sozialisierten und lebenden Individuen deutscher Abstammung noch verwendet werden, c) es gibt ein Set von Dialekt-und Standardkontakterscheinungen und Mischvarietäten, die ein spezifisches Spektrum von Sprachlagen/ Sprachausprägungen ergeben, die von diesen Sprechern als Kommunikationsmittel im Nähebereich gebraucht werden (Knipf-Komlósi 2011: 75). Wenngleich die inhaltlichen Aspekte dieses Begriffs auf den ersten Blick als komplex und heterogen erscheinen, gewähren sie uns dennoch einen Einblick in die Genese dieser schwer zu beschreibenden Varietät(en). Zunächst geht es ja um eine eigenartige Ausprägung der Ortsdialekte, die mit den Ortsdialekten des Sprachgebiets keineswegs gleichzustellen und auch nicht zu vergleichen Minderheitensprache 159 sind, da sie in der Zeit nach der Ansiedlung mindestens zwei Stufen von Ausgleichsprozessen in der neuen Heimat durchgemacht haben (vgl. Hutterer 1991) und in einer viel späteren Phase ihrer Entwicklung kontinuierlich im Kontakt mit einer oder mehreren anderen Sprachen und Kulturen stehen. Darüber hinaus sind in ihrer Entwicklung auch viele sonstige makrosoziolinguistische Faktoren zu berücksichtigen, die zu unterschiedlichen Substandardvarietäten, Dialekt-, Standard- und Mischvarietäten spezifischer Prägung geführt haben, die wir heute - aufgrund der Kenntnisse der jeweiligen Kontakt-Landessprache - als „Russlanddeutsch, Rumäniendeutsch, Ungarndeutsch“ usw. erkennen und einordnen. Da jedoch die Sprachgebrauchsweisen dieser Sprecher sehr variabel, vor allem kontext- und situationsgebunden unterschiedlich sein können, finden sich nicht leicht konstante situativ-soziale Eigenheiten, mit deren Hilfe Merkmale von diesen spezifischen Sprachausprägungen abgeleitet werden können, die das Konglomerat der Minderheitensprache charakterisieren. In dieser Hinsicht bedarf dieser umstrittene, dennoch häufig gebrauchte Begriff der Minderheitensprache weiterer methodischer Überlegungen. 2 Linguistische Konsequenzen einer Dynamik In der Gegenwart sind die deutschen Minderheiten in den einzelnen Ländern Mittelosteuropas in unterschiedlichem Maße integriert, sie haben sich bei einem mehr oder minder noch vorhandenen Bestehen ihrer sprachlichen und ethnisch-kulturellen Charakteristika an die jeweilige Mehrheitssprache und deren Kultur angepasst. Wie aus der Geschichte bekannt ist, verlief dieser Anpassungsprozess nicht immer reibungslos, nicht ohne Einbußen an bestimmten sprachlich-ethnisch-kulturellen Eigenheiten. In der Gegenwart haben die deutschen Minderheitensprecher aufgrund ihrer bilingualen und bikulturellen Kompetenz in den Gesellschaften Mittelosteuropas oft eine Brücken- und Vermittlerfunktion übernommen, sie sind bis heute wichtige Träger des Kulturaustausches und gleichzeitig Repräsentanten eines zwar langwierigen, aber gelungenen Anpassungsprozesses. Wissenschaftliche Untersuchungen zur Sprache und Kultur der deutschen Minderheit in Ungarn gibt es seit Anfang des 20. Jahrhunderts. Sowohl in den früheren als auch in den in jüngster Zeit durchgeführten Sprachanalysen bei Sprechern/ Sprechergruppen der deutschen Minderheit in Ungarn haben ergeben 5 , dass ohne die Kenntnis und die Berücksichtigung von soziokulturellen und soziolinguistischen Faktoren der näheren und weiteren Kommunikationskontexte weder die Wahl der sprachlichen Mittel 5 Vergleiche dazu v.a. Schmidt (1914), Hutterer (1963), Manherz (1977), Földes (2005b), Erb/ Knipf (2000), Wild (2003), Knipf-Komlósi (2011), Müller (2011). 160 Elisabeth Knipf-Komlósi und Strukturen noch die Sprachgebrauchsgewohnheiten entsprechend erläutert und gedeutet werden können. Eine wichtige Rolle spielen darüber hinaus auch die Metadaten, die Sprachreflexionen dieser Sprecher, über ihren eigenen und den Sprachgebrauch ihrer Mitmenschen. Wenden wir uns nun einigen salienten Merkmalen der Minderheitensprache anhand von Beispielen zu. Wie bereits erwähnt, treffen wir in den Erscheinungsformen des Deutschen dieser Region eine große Bandbreite an Variation an, die sich gleichzeitig auf der Systemebene als auch auf der Sprachgebrauchsebene manifestiert. Auf der Systemebene liegt das lexikalische Inventar einer Sprachgemeinschaft im Fokus, teils weil es für Veränderungen am meisten anfällig ist, teils weil die Lexik durch den Sprecher im Sprachgebrauch kommunikativ genutzt wird und gerade durch jede Nutzung potenziell eine Modifizierung, eine Veränderung auftreten kann. Bekanntermaßen erscheint der Prozess des Sprachwandels zunächst und am auffallendsten am Wortschatz, dem Seismographen der Sprache. Entsprechend dem Konzept des kommunikativen Haushalts wandeln sich mit den Lebensumständen und den Einstellungen auch die kommunikativen Bedürfnisse sowie die sprachlichen und außersprachlichen Voraussetzungen der Sprecher. „Die Konkurrenz des Neuen drängt Älteres in den Hintergrund. Der Wandel der Lebenswelt zwingt auch zum Wandel in der Bezeichnung“ schreibt Munske (2005: 1386) über den Wortschatzwandel. Grundsätzlich zeichnen sich zwei scheinbar entgegengesetzte, doch gleichzeitig auch komplementäre Tendenzen des Wandels im Wortbestand der deutschen Minderheit ab: der quantitative Wandel einerseits durch den Wortschwund und andererseits durch die Strategie der Innovation. Für den Wortbestand spielen vor allem die unterschiedlichen innovativen Kräfte der Sprache eine wichtige Rolle, die bei Entlehnungen 6 , Transferenzen und den verbreiteten Hybridisierungen auf der lexikalischen Ebene deutlich werden. 7 Vor diesem Hintergrund kann eine ziemlich rasch voranschreitende Dynamik vor allem im Wortschatz konstatiert werden, die sich in den verschiedenen Modalitäten des Transfers sowie im Wortschwund alter, heute als archaisch geltender Wörter der verschiedenen deutschen Ortsdialekte in Ungarn zeigt, wie z.B.: statt Kaafl jetzt Handvoll, statt des älteren wetterleichte heute eher blitzen, statt afremme eher machen lassen; und die Reihe könnte noch fortgesetzt werden. Die älteren Formen - passiv bekannt und teils auch noch aktiv von älteren Gewährspersonen genutzt - sind heute im Sprachgebrauch der übrigen Generationen fast völlig verschwunden. Der Wortbestand ist somit Schauplatz eines ständigen Kommens und Gehens von lexikalischen Einheiten 6 Entlehnungen von Autosemantika als auch von Synsemantika. 7 Vergleiche die vielfältigen Formen des Codeswitching und der Calquierung. Minderheitensprache 161 geworden, eben genannte althergebrachte Wörter gelangen aus Gründen des Nichtmehrbekanntseins an die Peripherie des Wortschatzes, Transferenzen aus der Landessprache tendieren aufgrund des häufigen Gebrauchs ins Zentrum des Wortschatzes. Am intensivsten zeigt sich die Wortschatzdynamik verständlicherweise - eben wegen der in der modernen Welt entstandenen Bezeichnungsbedürfnisse - gerade in den Transfers von Inhaltswörtern, wie auch folgende Belege zeigen 8 : (1) Un wann ich des gut mérlegelni to, na zahl ich die áfa ei und noch bleibt mir am End nix. (Und wenn ich mir das gut überlege/ erwäge, dann zahle ich noch die Mehrwertsteuer ein und am Ende bleibt mir dann nichts.) (2) Waascht, jetz muss ich des kérvény schreiwe dem polgármester, dass ich des ápolási segély for unsr Vadr krieg. (Weißt du, jetzt muss ich einen Antrag an den Bürgermeister schreiben, dass ich die Pflegeunterstützung für unseren Vater bekomme.) Es geht hier überwiegend um Sachmodernismen, um jene Bezeichnungen, die mit dem modernen urbanisierten Leben verbunden sind, die von den Noch- Dialektsprechern selbst als Defizit im eigenen Vokabular wahrgenommen werden und auch den Kommunikationsfluss beeinträchtigen können, denn typischerweise treten in der laufenden Rede Wortfindungsprobleme auf, wenn der Sprecher nach treffenden deutschen Wörtern sucht. Aus diesem Grunde müssen entsprechende - der Situation, dem Partner usw. angemessene - Überbrückungsstrategien von den Sprechern gesucht werden. Zur Behebung dieser im Alltagswortschatz immer öfter auftretenden Wortschatzlücken wird zu Transferenzen aus dem Ungarischen gegriffen, die aufgrund ihres häufigen Auftretens nunmehr schon zum lexikalischen Inventar des Minderheitensprechers gehören, also einen Integrationsprozess durchlaufen haben. Transferenzen sind aus einer anderen Sicht auch vom Sprechproduktionsaufwand her optimaler und im mentalen Lexikon dieser Sprecher schneller zugänglich, was auch durch die fehlenden Häsitationspausen vor den ungarischen Lexemen signalisiert wird. Die Effizienz der Kommunikation wird in diesen Fällen nicht beeinträchtigt, weil die eingesetzten und schon geläufigen ungarischen Transferenzen für die Gesprächsbeteiligten bereits eine hohe referenzielle Effizienz besitzen, ja, zu ihrem Alltagswortschatz des Nähebereichs gehören. Doch neben den Inhaltswörtern tragen auch die gesprächssteuernden Partikeln in großem Maße 8 Vergleiche dazu auch Németh (2010). 162 Elisabeth Knipf-Komlósi zur Dynamik bei 9 , wie folgende Beispiele von Ausschnitten aus Gesprächen älterer Mundartsprecher zeigen: (3) Na tessék, ich heb’s doch gsagt, dass’s so net geh’ werd. (Na bitte, ich habe es doch gesagt, dass es so nicht gehen wird.) (4) Dai Vadr war awer nimehr drbei, azt hiszem, no war’r schun im Spital. (Dein Vater war aber nicht mehr dabei, ich glaube, da war er schon im Krankenhaus.) Dem Konzept der Generationen entsprechend (vgl. Neuland 2012), kann im untersuchten Fall der Minderheitenkonstellation zwischen Altersgruppen und deren Sprache(n) und Sprachgebrauch eindeutig eine Relation hergestellt werden. Der Sprachgebrauch in Bezug auf Varietäten des Deutschen ist bei der deutschen Minderheit in Mittelosteuropa (vgl. Berend 2006, Riehl 2009) streng nach Generationen gegliedert, d.h., die älteren, insbesondere die sich ihrer Identität bewussten Sprecher gebrauchen ein stark dialektal geprägtes Deutsch (sprich: ihren Ortsdialekt), die mittlere Generation spricht - falls gute Deutschkenntnisse vorhanden - eine umgangssprachenahe Varietät und bei den jüngeren Generationen kann jene, fast ausschließlich durch den gesteuerten Deutschunterricht in der Schule erlernte und geprägte Varietät als DaF- Deutsch bezeichnet werden. Infolge dieser transgenerationell verlaufenden ungleichmäßigen Schichtung der Varietäten im Gebrauch des Deutschen ist das Konzept des bilingualen Sprachmodus (Grosjean 1999) in der täglichen intergenerationellen Kommunikation gar nichts Auffallendes, sondern etwas Selbstverständliches. Hier geht es also um einen Kode, der zu einem brauchbaren, zeitlich, situativ und partnerbezogenen, als optimal eingesetzten Kommunikationsmittel geworden ist. Folgender Gesprächsausschnitt führt so eine Interaktion vor (geführt zwischen A = Frau, 72 Jahre, Dorf in der Baranya und J = Frau, 33 Jahre, zu Besuch im Dorf; Aufnahme 2008): (5) J: Csókolom, Anna néni! (Grüß Gott, Tante Anna! ) A: Á, die Klaine is auch do! Kann sie schun biciklizni? Hát ja, sie is jo schun zwa! (Ach, die Kleine ist auch da! Kann sie schon Rad fahren? Ja, ja sie ist ja schon zwei! ) J: Schon drei! A: Drei? Die hot noch nyáron im babakocsi geschlof. (Drei? Die hat im Sommer noch im Babywagen geschlafen.) J: Können wir Blumen pflücken? 9 Vergleiche Riehl (2009), Knipf-Komlósi (2011). Minderheitensprache 163 A: Wellt ihr virágot szedni? Tessék! Do werd heit noch geöntözt. (Wollt ihr Blumen pflücken? Bitte! Da wird heute noch gegossen.) J: Danke! Es liegt auf der Hand, dass eine im bilingualen Sprachmodus geführte Interaktion gerade durch den abwechselnden Gebrauch der zwei Kodes einen dynamischen Charakter aufweist, insbesondere für Außenstehende. Doch da sich die meisten Minderheitensprecher in beiden Sprachen und Kulturen ohne kommunikative Barrieren ausdrücken und bewegen können, empfinden sie es keinesfalls als eine Bürde, dass sie dauernd zwischen beiden Sprachen wechseln. Der bilinguale Sprachmodus signalisiert in diesem Falle gleichzeitig Ursache und Wirkung einer Minderheitensprachen-Konstellation. Er deutet nicht nur auf einen problemlosen Einsatz der bilingualen Sprachkompetenz der Sprecherinnen hin, sondern kann eben nur deshalb entstehen, weil diese Sprachkompetenz in dieser Sprachgemeinschaft tatsächlich vorhanden ist. Was geschieht in solchen asymmetrischen Kommunikationssituationen? In diesem Falle geht es um eine intensive Annäherung einer L-Varietät, einer diatopisch eingestuften lokalen Varietät mit wenig Kommunikationspotenz und Prestige (Ortsdialekte), an eine H-Varietät, einer prestigeträchtigen und kommunikativ weit ausgedehnten Sprache (Landessprache). Die ältere Sprecherin nimmt an, dass ihre jüngere Gesprächspartnerin sich in Ungarisch besser verständigen kann als in Deutsch. So ist das als eine Annäherung an die Kommunikationspartnerin zu deuten, gleichzeitig signalisiert die ältere Sprecherin auch, dass für sie die Inhaltswörter in Ungarisch geläufiger sind als in Deutsch. In Bezugnahme auf Mattheiers Konzept der Akkomodation (1996) könnte das Konzept im Falle einer Minderheit dahingehend modifiziert werden, dass sich Sprecher aufgrund diverser externer (teils auch zwingender) Umstände - wie z.B. sozialer Aufstieg in der Gesellschaft, notwendige Bezeichnungsbedürfnisse des Individuums und der Sprechergemeinschaft, fehlende sprachliche Norm der lokalen Varietät - einseitig der Landessprache nähern. Diesen Prozess kann man in diesem Falle m.E. als eine spezifische Form der Advergenz 10 betrachten (vgl. auch Berend 2012). Auch hier haben wir es damit zu tun, dass die genannten externen, vor allem sozial bedingten Umstände mit der Zeit bei den einzelnen Individuen auch sozialpsychologisch immer mehr greifen und daher als interne und externe Motivationen zusammen auf die Sprachwahl des Individuums wirken und Einfluss nehmen. Selbstverständlich können diese theoretischen Ausführungen nur als einer von mehreren möglichen Ansätzen zur Erklärung der dynamischen Prozesse im Sprachgebrauch dieser Minderheit herangezogen werden. 10 Das einseitige Nähern eines Dialektes an eine andere Varietät (hier: Standardsprache). 164 Elisabeth Knipf-Komlósi 3 Forschungsdesiderata In diesem Aufsatz wurde ein Aspekt jener Forschungsfrage angesprochen, die sich die linguistische Erfassung und Beschreibung der dynamischen Prozesse in der Varietät der deutschstämmigen Gemeinschaft in Ungarn zum Ziel setzt. In den angeführten Belegen aus Gesprächsausschnitten deutschstämmiger Sprecher und Sprecherinnen aus Ungarn wurde exemplarisch gezeigt, dass in ihrem Gebrauch der deutschen Sprache, der ja in ständigem Kontakt mit der Landessprache steht, intensive Veränderungen, dynamische sprachliche Prozesse wahrzunehmen sind. Neben der Konstatierung und linguistischen Beschreibung dieser Prozesse stellt sich nun die Frage, was für Ursachen diese Dynamik haben kann, wie weit die Dynamik, die Alternation der Kodes noch gehen kann, die sich nicht nur im Wortschatz, sondern auch auf anderen Sprachebenen manifestiert. Diese Frage ist nicht einfach zu beantworten, weil Veränderungsprozesse aus synchroner und diachroner Sicht bzw. vor dem Hintergrund externer und interner Ursachen gleichzeitig betrachtet werden müssen. Es steckt hinter dieser Dynamik ein langer und komplexer Prozess, dessen Anfang sicherlich auf die geschichtliche Entwicklung der Sprachinsel zurückgeht und der bis heute andauert und der ohne theoretische Grundlegungen der Kontaktlinguistik nicht ausreichend untersucht werden kann. Es sind gemeinsam Forschungsdesiderata zu untersuchen, wie den Funktionswandel jener Sprachen und Varietäten, die von diesen Gemeinschaften gebraucht wurden und werden, die sich im Laufe der Zeit geändert haben; und es ist auch wichtig, zu berücksichtigen, welche Wirkungen dies auf die Sprachgemeinschaft ausübte. Damit ist natürlich auch die Frage der Bezugsnorm/ Bezugsvarietät angesprochen, die, wie wir aus der Geschichte und Sozialgeschichte dieser Minderheit wissen, ebenfalls einen komplexen Hintergrund zeigt und von soziohistorischen, sozialpsychologischen und wirtschaftlichen Faktoren mitbestimmt wurde und wird. Auch die Frage, wie die untersuchte Varietät, die ja vordergründig von der älteren und mittleren Generation gebraucht wird, linguistisch zu beschreiben ist, bereitet heute noch Schwierigkeiten. Im Sprachgebrauch der jüngeren, sog. DaF-Generation scheint die Beschreibung ihrer deutschen Varietät einfacher zu sein, da bei ihnen Lernervarietäten erscheinen, deren linguistische Einordnung auf wissenschaftliche Vorbilder zurückgeführt werden kann. Aus diesen Ausführungen geht hervor, dass sich weitere Forschungsfragen ergeben, für deren Untersuchung und Beantwortung sicherlich hilfreich sein kann, dass man die Situation der benachbarten und in vieler Hinsicht vergleichbaren mittelosteuropäischen deutschen Minderheitengruppen und ihren Sprachgebrauch näher kennenlernt bzw. im Rahmen gemeinsamer wissenschaftlicher Untersuchungen mit der deutschen Minderheit in Ungarn und deren Sprachgebrauch vergleicht. Es stehen somit detallierte variations- und kon- Minderheitensprache 165 taktlinguistische Untersuchungen bzgl. des Sprachrepertoires dieser zweisprachigen Sprachgemeinschaften an, ebenso stellt die Bestimmung und Einordnung der betreffenden Varietät im großen Gefüge der plurizentrischen deutschen Sprache eine dringende Aufgabe dar. 4 Literatur Berend, Nina (2006): Zur Geschichte und Gegenwart der deutschen Sprachinseln in Russland und der ehemaligen Sowjetunion. In: Berend, Nina/ Knipf-Komlósi, Elisabeth (Hrsg.): Sprachinselwelten - The World of Language Islands. Frankfurt am Main. (VarioLingua; 27). S. 77-89. Berend, Nina (2012): „Ich habe meine Tage alle planiert“. Eine Longitudinaluntersuchung des Sprachgebrauchs bei russlanddeutschen Zuwanderern in Deutschland. In: Knipf-Komlósi, Elisabeth/ Riehl, Claudia Maria (Hrsg.): Kontaktvarietäten des Deutschen synchron und diachron. Wien. S. 89-107. Deppermann, Arnulf (2012): Das Deutsch der Migranten. Berlin/ Boston. 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(Ed.): Language Processing in the Bilingual. Oxford. Hutterer, Claus J. (1963): Das Ungarische Mittelgebirge als Sprachraum. Halle an der Saale. Hutterer, Claus J. (1991): Hochsprache und Mundart bei den Deutschen in Ungarn. In: Manherz, Karl (Hrsg.): Aufsätze zur deutschen Dialektologie. Budapest. (Ungarndeutsche Studien; 6). S. 31-345. Knipf-Komlósi, Elisabeth (2011): Wandel im Wortschatz der Minderheitensprache. Am Beispiel des Deutschen in Ungarn. Stuttgart. (Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik, Beihefte; 145). Manherz, Karl (1977): Sprachgeographie und Sprachsoziologie der deutschen Mundarten in Westungarn. Budapest. Mattheier, Klaus J. (1996): Varietätenkonvergenz: Überlegungen zu einem Baustein der Theorie der Sprachvariation. In: Sociolinguistica - Internationales Jahrbuch für Eu- 166 Elisabeth Knipf-Komlósi ropäische Soziolinguistik; 10: Konvergenz und Divergenz von Dialekten in Europa. Tübingen. S. 31-52. Munske, Horst Haider (2005): Wortschatzwandel im Deutschen. In: Cruse, David Alan/ Ungeheuer, Gerold/ Burkhardt, Armin (Hrsg.): Lexikologie. Ein internationales Handbuch zur Natur und Struktur von Wörtern und Wortschätzen. Berlin. (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft; 21.2). S. 1385-1398. Müller, Márta (2011): Lexikalisch-semantische Merkmale der Handwerk-Fachwortschätze in Pilisvörösvár/ Werischwar. Budapest. (Ungarndeutsches Archiv; 12). Németh, Attila (2010): Dialekt, Sprachmischung und Spracheinstellungen. Am Beispiel deutscher Dialekte in Ungarn. Tübingen. (Beiträge zur interkulturellen Germanistik; 2). Neuland, Eva (Hrsg.) (2012): Sprache der Generationen. Hrsg. v. d. Dudenredaktion u. d. Gesellschaft für deutsche Sprache. (DUDEN Thema Deutsch; 12). Riehl, Claudia Maria (2009): Sprachkontaktforschung. Eine Einführung. 2., überarb. Aufl. Tübingen. (Narr Studienbücher). Scheuringer, Hermann (2012): Zwischen Sprachinseltod und regionalem Standard - Zur Variationsbreite des Deutschen in Ostmittel-und Südosteuropa. In: Knipf-Komlósi, Elisabeth/ Riehl, Claudia Maria (Hrsg.): Kontaktvarietäten des Deutschen synchron und diachron. Wien. S. 51-61. Schmidt, Heinrich (1914): Die deutschen Mundarten in Südungarn. In: Ungarische Rundschau. S. 656-677. Wild, Katharina (2003): Zur komplexen Analyse der Fuldaer deutschen Mundarten Südungarns. Budapest. (Ungarndeutsches Archiv; 6). Eine aktuelle Bestandsaufnahme der Geschichte des Landlerischen - Sprachtod oder Weiterbestehen? Annikki Koskensalo (Turku) Zusammenfassung Die Zielsetzung des Beitrags besteht darin, die aktuelle Sprach-Kontakt-Situation einer alten Peripherie und zugleich von drei Mini-Sprachinseln bzw. Landler-Dörfern, nämlich Großpold, Großau und Neppendorf, in der ehemalig größeren Sprachinsel der Siebenbürger Sachsen zu beschreiben. Die gegenwärtige bereits dramatische Übergangsphase ist dadurch charakterisiert, dass es einerseits sehr wenige ältere, dort verbleiben und auch dort sterben wollende Landler gibt und andererseits hauptsächlich jüngere, in die alten Herkunftsgebiete bzw. Zentren Rückgewanderte (wenn auch nicht immer deckungsgleich). Der eigene Beitrag zum aktuellen Forschungsstand liegt darin, einen Beleg dafür zu liefern, dass der Sprachinsel-Begriff im Sinne von Knipf-Komlósi umzudefinieren ist. Im Weiteren geht es darum, relevante Desiderata aufzuzeigen, um Ideen für Forschungsprojekte mit einer interkulturellen Perspektive in Mitteleuropa zu liefern. Die Beantwortung der Frage bezüglich Sprachtod oder Weiter-Existenz des Landlerischen hängt maßgeblich von den Landlern selbst ab, davon, ob sie wieder in ihre alten Dörfer rückwandern und/ oder in ihren alten Herkunftsgebieten bzw. neuen Sprachoasen die Sprache und Kultur der Landler weiterhin sprechen, pflegen und weiterentwickeln. 1 Anlass, Entstehung und Sprachkontakt-Situation der Landlerdörfer Der Wiener Kultursoziologe Girtler (2014: 209) 1 konstatiert: „Die […] Bauernkultur der Landler und Sachsen existiert nicht mehr. Sie ist es wert, dass man sich ihrer erinnert.“ Dies soll aber keineswegs ein Requiem für das Landlerische sein. Es muss gefragt werden, ob nun damit zugleich auch dessen Sprachtod verknüpft ist - mitnichten, wie in der Folge gezeigt werden soll. Der sowjetische Zusammenbruch bzw. die Auflösung des Ceauşescu-Regimes löste zwar einen Massenexodus deutscher Volksgruppen wegen jahrzehntelanger Deklassierung und befürchteten Identitätsverlustes am südöstli- 1 Diese Einschätzung hat Prof. Roland Girtler am 20. Oktober 2013 im Café Landtmann in Wien gegeben. 168 Annikki Koskensalo chen Rand Mitteleuropas aus, wie beispielsweise in den Landlergemeinden 2 bzw. -dörfern Groβpold, Neppendorf 3 und Groβau (Schabus 2011: 79-103), wo von 1734 bis 1776 4 unter Kaiser Karl VI. und seiner Tochter Kaiserin Maria Theresia 4000 Krypto-(also Geheim-)Protestanten (Knall 2002: 185, online), davon 2000 aus dem Landl (= Region zwischen Wels, Gmunden und Vöcklabruck, Hausruckviertel und Salzkammergut), anderen Teilen Oberösterreichs und 1100 aus Kärnten (Raum Spittal, Spittal an der Drau, Paternion, Himmelberg/ Bieberstein, Millstatt) (Buchinger 1980: 344) und der Obersteiermark (oberer Murboden zwischen Murau, wie bspw. aus Stadl an der Mur, Murau, und Predlitz, Turrach) glaubenshalber zwangsdeportiert wurden (= Transmigration: Sonderfall von religiös motivierter Migration, d.h. Deportation und Kolonisation innerhalb der Grenzen der Habsburgermonarchie 5 = innerterritoriale Zwangsumsiedlung - Binder 2012: 1, online; Beer 2011: 250ff.; Beer 2002: 44-54). 865 Transmigranten 6 siedelten sich dauerhaft in diesen drei durch Aufstände, Kriege - Kuruzzen- (1690) und Türkenkriege (1736-1739) - und Pest (1738) zerstörten, entvölkerten Dörfern als südlich-peripher-punktuelle Distanz- 2 Die Bezeichnung "Landlergemeinden“ ist wegen der Struktur der Bevölkerung dieser drei Ortschaften unzulässig, weil dort außer den Landlern auch Roma, Rumänen und Siebenbürger Sachsen gelebt haben bzw. leben (Bottesch 2002: 126). Rumänisch wurde 1918 in Siebenbürgen offizielle Landessprache (Schabus 2002: 186). Die Dialekte der Landler und Sachsen sind bis zuletzt von der deutschen Schriftsprache, welche in der evangelischen Kirche, den deutschen Abteilungen der Schulen und letzten deutschen Institutionen in Hermannstadt sowie in anderen siebenbürgischen Städten verwendet wurde, überdacht (Schabus 2002: 185). Der sprachliche Einfluss des Ungarischen auf die Landler-Dialekte ist gering, weil im südlichen Siebenbürgen ja keine direkte räumliche Nachbarschaft zu Ungarn oder Szeklern existierte (Schabus 2002: 187). Eine interkulturelle Perspektive ist hiermit schon seit langem gegeben, um somit einen Mosaikstein für eine Bestandsaufnahme einer interkulturell orientierten Germanistik mit mitteleuropäischem Bezug zu liefern (Földes/ Schulz 2013: 1). 3 Nach Beer (2010: 145) gibt es für Neppendorf keine wissenschaftliche Monographie, einmal abgesehen von der nicht wissenschaftliche Ansprüche stellenden Monographie von Bauinger-Liebhart (2005). Bilder von Neppendorfer Landlern vgl. Sedler (1999), Neppendorf-Bewohner vgl. Bauinger-Liebhart (2006) bzw. deren Familien- Geschichten (Stammbäume) vgl. Bauinger-Liebhart (2008). 4 Das sog. "Landlerfenster” (1908) im nördlichen Kreuzschiff im Chor der Evangelischen Stadtpfarrkirche in Hermannstadt erinnert an die Einwanderung alt-österreichischer Protestanten (= „Landler“) in diesen Jahren (Girtler 2007: 33). Bild v. „Landlerfenster“ vgl. Evangelische Kirche A. B. in Rumänien (o.J.: o.S.). 5 Übersichtskarte über die Habsburgermonarchie vgl. Sonnleitner (1998: o.S.). 6 Vergleiche genauer Beer (2002: 33-37). Geschichte des Landlerischen 169 Sprachinseln 7 in der seit Mitte 12. Jahrhunderts bestehenden großen Sprachinsel der Siebenbürger Sachsen 8 (= Moselfranken, Wallonen u. niederfränkisch sprechende Siedler - Schabus 2002: 185 - mit Herkunft aus Gebieten der Bistümer Köln, Lüttich und Trier, Hunsrück, Westerwald, Luxemburg, Elsass, Lothringen = Sprachinsel in der Sprachinsel! ) an. Die Sachsen wurden schon 600 Jahre früher vom ungarischen König Geisa II. (1141-1162) zum Schutz der ungarischen Krone nach Siebenbürgen gerufen, wo ihnen „Königsboden“ (= grundherrenloses Land) zur Besiedelung zugewiesen wurde (Girtler 2014: 18f.). Das Kronland Siebenbürgen war das einzige evangelisch-protestantische Kronland der Habsburgermonarchie. Denn nachdem das Fürstentum 1691 wieder an Österreich gefallen war, konnte die Gegenreformation politisch nicht mehr durchgesetzt werden, weil auch andere Probleme dringender waren (Kurz o.J.: 149, online). Von 865 Transmigranten ließen sich in Neppendorf 326, Großau 143 und ab 1752 bis 1776 in Großpold 396 Protestanten (Krasser 1870: 56-72, 86- 90) in einem ganzen Straßenzug (= Hintere Reih, Neuu. Hintergasse) (Krasser 1870: 72) nieder. Die Landler 9 erreichten in Großpold wegen ihrer Winzer- Qualitäten gegenüber den Sachsen schnell die Mehrheit (1970er Jahre 85 %). In Neppendorf und Großau war der Landler-Anteil im Vergleich zu Großpold geringer: 70 % (Neppendorf) und 44 % (Großau). So existierten einmalig zwei deutsche, linguistisch weit entfernte Dialekte (= innerdörfliche Diglossie) (Schabus 2002: 187) seit mehr als 260 Jahren und über Generationen trotz Mischehen nebeneinander und wurden je nach Gesprächssituation wechselnd (Code-Switching - Riehl 2009: 20-31) verwendet (Girtler 1997: 635). Zwischen den drei lokalen Landler-Dialekten in Großpold, Großau und Neppendorf bestehen allerdings erhebliche strukturelle Unterschiede, welche von folgenden Faktoren abhängig sind: 1. der Herkunfts-(In-)/ Homogenität der Neuzuwande- 7 Sprachinseln werden hier im Sinne von deutschsprachigen Kultur- und Traditionsräumen verstanden (Földes/ Schulz 2013: 1). 8 Vergleiche Langhans (1890: o.S.). Geographische Verortung: Neppendorf: 3 km westl. von Hermannstadt, heute eingemeindet; Großau: 10 km westl. von Hermannstadt u. Großpold 25 km westl. von Hermannstadt. 9 Der Begriff „Landler“ taucht in der österreichischen Kanzleisprache im frühen 19. Jahrhundert überdachend für alle (neu) angekommenen Kolonisten auf, d.h. fungiert als Sammelbegriff nicht nur für die Transmigranten aus dem besagten Landl ob der Enns, sondern auch für alle Protestanten aus den anderen aufgezählten altösterreichischen Herkunftsgebieten (Österreichische National-Enzyklopedie 1836: 33, 5. Band). Die Bezeichnung „Landler“ setzte sich spätestens in der Zwischenkriegszeit für alle Nachfahren der Transmigranten - auch bei den "Nicht-Landlern“ - als Ausdruck ihres Eigenbewusstseins durch. Das bedeutet, dass sich diese Transmigranten aus den aufgezählten Herkunftsgebieten identitätsmäßig erst im Ansiedlungsgebiet im Laufe der Zeit zur Gruppe der Landler entwickelten (Beer 2002: 37). 170 Annikki Koskensalo rer, 2. der Proportionalität zwischen Landlern und Sachsen, 3. dem jeweilig sächsischen Kontakt-Dialekt und 4. den ökonomischen Konditionen. Diese Faktoren erklären aber immer noch nicht befriedigend, warum sich diese innerdörfliche Diglossie erhalten konnte - noch dazu, als beide Dialekte von der deutschen Standardsprache überdacht werden und es in Großau und Großpold durch Mischehen zu einer genealogischen Durchmischung beider Gruppen gekommen ist. In Neppendorf ist es aufgrund der zahlenmäßigen Dominanz der Landler selten zu landler-sächsischen Verbindungen gekommen. In Großau hingegen wirkte sich die zahlenmäßige Patt-Stellung (ca. 44 % Landler) sehr förderlich in Richtung Mischehen aus. Es gibt hier den erstaunlichen Fall, dass sich zwei deutsche Dialekte trotz konfessioneller Übereinstimmung und sozialer Eingliederung der Zugewanderten mehr als 250 Jahre in ein und demselben Dorf erhalten konnten, ohne dass der eine Dialekt den anderen hätte verdrängen können oder es zu einem vollen Ausgleich zwischen beiden Varietäten gekommen wäre. Vielmehr ist ein gewichtiger Grund für diese sprachliche Beharrlichkeit das von einer rigid-protestantischen Ethik getragene Ordnungsdenken nach der Formel (nachbarschaftliche Ordnung = soziale Ordnung = soziale Gerechtigkeit = Friede = gottgefälliges Wirken), welches im strengen Stammesproporz kirchlicher Selbstverwaltung in diesen drei Dörfern seinen politischen Niederschlag fand, weswegen dann die doppelt-tribalistische Selbstwahrnehmung der Dorfbewohner erhalten blieb bzw. die Dialektverwendung und das Kleidungsverhalten zum wichtigsten ethischen Identitätssymbol wurden (Schabus 2002: 188f., 255f.). In Großpold bildeten die Neuzuwanderer die Majorität. Allerdings waren die aus Kärnten und dem Lande ob der Enns stammenden Zuwanderer herkunftsmäßig inhomogen. Von Beginn an förderte der sich zwischen den zwei Zuwanderergruppen vollziehende sprachliche Varietäten-Ausgleich den Import sächsischer Innovationen, weil in speziellen Bereichen dieser Ausgleichsdynamik der sächsischen Kontaktsprache eine steuernde Funktion zukam. Die ökonomisch günstigeren Voraussetzungen führten in Großpold zu einer größeren landlerisch-sächsischen Annäherung 10 als in Neppendorf oder Großau, weswegen es einerseits zwar in Großpold zu einer größeren Beeinflussung des Landlerischen durch den sächsischen Ortsdialekt gekommen ist, andererseits aber in Großpold der landlerische Dialekt zu einer ortsinternen, stammesübergreifenden Umgangssprache aufsteigen konnte. In Neppendorf waren die Landler wegen ihrer mehrheitlich oberösterreichischsalzkammergutlerischen Abstammung am homogensten, weswegen der dortige 10 Zum Wortschatz (sächsische Entlehnungen), zu satz- und wortphonetischen Besonderheiten, zur lautlichen Form schwachtoniger Partikeln, zu lexikalisch-semantischen Altertümlichkeiten, l-Lauten vgl. ausführlicher Schabus (2002: 256-259; 1997: 116-247). Geschichte des Landlerischen 171 landlerische Dialekt strukturell salzkammergutlerisch geprägt ist. In Großau ist der Landlerdialekt strukturell weit mehr vom Sächsischen beeinflusst und nimmt daher bezüglich des Interferenzverhaltens eine Mittelstellung zwischen dem vom Sächsischen stärker geprägten Großpold und dem autochthoneren Neppendorf ein. Die Transmigrantengruppe in Großau mit ihrem schwächeren salzkammergutlerischen Kern und einer 20 Jahre später erfolgten Nachwanderung aus dem Lande ob der Enns war im Vergleich mit Neppendorf etwas weniger homogen (Schabus 2002: 256). In Neppendorf weist das Landlerische wenig sächsische Importe auf. In Großau wird bei dessen unverkennbar salzkammergutlerischen Geprägtheit in speziellen Teilsystemen eine stärkere Ausrichtung nach der sächsischen Kontaktsprache deutlich. In Großpold entstand als Konsequenz des süd-/ mittelbairischen Varietäten-Ausgleichs innerhalb der Landlergruppe ein neuer Siedlerdialekt, welcher in einem erhöhten Ausmaß von sächsischen Innovationen auf fast allen strukturellen Ebenen gekennzeichnet ist (Schabus 2002: 257). 2 Die Geschichte des Niedergangs des Landlerischen in Siebenbürgen Die Geschichte des Niedergangs des Landlerischen 11 soll hier nur anskizziert werden. Vorweg sei festgestellt, dass Sprachen nicht etwa wegen eines Kome- 11 Das Modell von Abrams/ Strogatz (2003) dient hier nur bedingt als Erklärungsmodell, weil ja das prinzipielle Problem bei der Analyse darin besteht, dass bilinguale Sprecher nicht berücksichtigt werden. Die plausible Annahme des Modells stimmt grundsätzlich, wonach bei Konkurrenz zweier Sprachen, wie ggf. zwischen dem Landlerischen bzw. Sächsischen, das Resultat dieses Wettstreits vom Sprachstatus und der sprachlichen Distanz zwischen den beiden Sprachen abhängig ist. Abrams und Strogatz gingen aber zudem in ihrem Modell von Sprachen mit unterschiedlichem Status und von einer stabilen Sprechersituation aus. Nach ihrem Modell wird eine der Sprachen zwangsmäßig aussterben und die Anwendung auf historische Daten kann diesen Verdrängungswettbewerb reanalysieren (Schlobinski 2014: 159). Dieses Modell muss natürlich mit den spezifischen Konditionen in den drei Landlerdörfern bzw. in der Rücksiedler-Sprachkontakt-Situation konterkariert werden. Es wird spannend, inwiefern es dem Landlerischen etwa in der deutschen Sprachoasen-Situation in dieser Umbruchsphase gelingt, als Minderheitensprache bzw. -dialekt weiterzuleben. Es wäre somit eine Akzentverschiebung erwartbar, wenn man eine Minderheitssprache [wie hier ggf. das Landlerische: A.K.] als Resultat einer durch Sprachkontakt mit der Mehrheitssprache und -gesellschaft entstandenen jahrhundertelangen Entwicklung betrachtet, welche sicherlich noch einerseits auf sprachlich-kulturellen Inventaren der historischen Herkunft basiert, 172 Annikki Koskensalo teneinschlags oder einer Sintflut vom Erdball verschwinden, sondern es waren oder sind vielmehr sozio-ökonomische, politische und kulturelle Faktoren (Schlobinski 2014: 159), welche zum Aussterben oder im Falle des Landlerischen einmal vorsichtig formuliert an den Rand des Aussterbens führten bzw. führen. Bereits 1762 schloss sich ein Teil der Landler den täuferischen Hutterern an, welche zuerst nach Russland und dann nach Nordamerika auswanderten. Die Geschichte der Landler ist sicherlich mit den Sachsen in Siebenbürgen - nicht nur in den besagten drei Dörfern - sondern überhaupt in einer sprichwörtlichen Schicksalsgemeinschaft charakterisiert. Die Magyarisierung, der Österreichisch-Ungarische Ausgleich 1867, der 1. Weltkrieg, die Mediascher Anschlusserklärung der Siebenbürger Sachsen für den rumänischen Staat (8. Januar 1919), die Frage der deutschen Volksgruppen in der Zwischenkriegszeit 12 , das Volksprogramm der Siebenbürger Sachsen vom 1. Oktober 1933, das Schicksal der Rumänen-Deutschen im 2. Weltkrieg, der 2. Wiener Schiedsspruch vom 30. August 1940, das Volksgruppendekret vom 20. November 1940 (= alle rumänischen Staatsbürger mit deutscher Muttersprache = Mitglieder der deutschen Volksgruppe), die Zugehörigkeit von 54.000 rumänischen Volksdeutschen zur Waffen-SS (hauptsächlich SS-Division Prinz Eugen) und von 150.000 rumänischen Volksdeutschen zur Deutschen Wehrmacht 13 , damit verbunden deren jedoch in der Gegenwart nunmehr überwiegend Funktionen zur gruppensichernden Distanz und zum kommunikativen Überleben übernimmt (Eichinger 2003: 90; Knipf-Komlósi 2011: 255, online). Nicht zuletzt - und auch in Fußnote 9 gesagt: Der Erhalt einer funktionstüchtigen Sprache wie derjenigen des Landlerischen setzt eine sprachökologische Balance in der Sprachgemeinschaft voraus, deren Weiterleben nur durch die Sprachgemeinschaft selbst, ihre Intentionen und Aktivitäten gesichert werden kann (Knipf-Komlósi 2011: 255, online). 12 Die Volksgruppe der Landler bzw. deren Sprecherzahl erreichte durch ihr Bevölkerungswachstum in den 1930er Jahren ihren Höhepunkt, so im Jahre 1930: 6.000, davon in Neppendorf 3.000, in Großau 2.000 und in Großpold 1.000. 1977 war deren Zahl nur noch 4.000 und 2002 gar nur noch 250 (Baier u.a. 2007: 19-36; Bottesch 2007). Die traditionellen Leitungs- und Organisationsstrukturen der Siebenbürger Sachsen und auch der Landler, enttäuschende Resultate der Verhandlungen hinsichtlich der Beziehungen zum rumänischen Staat, die prekäre Lage vieler deutscher Volkszugehöriger und speziell die Weltwirtschaftskrise (1929-1933) bewirkten bei diesen deutschsprachigen Minoritäten zwischen 1933 bis 1940 einen Übergang von einer vorerst doppelten Loyalität (zwischen 1933 und 1937: unbedingte Loyalität gegenüber Rumänien und Loyalität gegenüber dem Deutschen Reich) zur primären Loyalität gegenüber dem Deutschen Reich (Trasca 2013: 211-239). 13 Viele männliche Landler wurden als Soldaten in die rumänische Armee eingezogen, wobei die Mehrzahl nach dem Hitler-Antonescu-Abkommen vom 12. Mai 1943 zur Deutschen Wehrmacht wechselte und an der Ostfront eingesetzt wurde, von denen wiederum sich viele mit Truppenteilen der Deutschen Wehrmacht in die Ostmark Geschichte des Landlerischen 173 Enteignung (Dekret Nr. 187 Pkt. c zur rumänischen Agrarreform vom 23. März 1945), der Ausschluss vom Wahlrecht (= Wahlrechtsverordnung vom 14. Juli 1946) und die Zwangsdeportation (Quote der Rückkehrer aus der Sowjetunion 1950/ 51: 15 %! ) und die Flucht, Vertreibung und Aussiedlung deutscher Minderheiten nach dem 2. Weltkrieg 14 zog auch Konsequenzen nicht nur für die Siebenbürger Sachsen, sondern auch für die Landler nach sich (Wassertheurer o.J.: 22-57). Ab dem Zusammenbruch der Sowjetunion bzw. der Auflösung des Ceauşescu-Regimes 15 verringert sich die Zahl der Landler in diesen drei Dörfern 16 dramatisch: 1984 gab es ungefähr 5.000 Landler in Rumänien, davon in Neppendorf 2.800, in Großau 1.200 und in Großpold 1.000 (Sonnleitner 1998: o.S.). 1989 gab es in Großpold noch etwa 1.600 Landler und Sachsen, die sich als Deutsche bezeichneten, im Januar 1991 600, im September 1991 200 - zumeist alte Landler - und 2013 schließlich nur noch 30 Deutsche (Girtler 2014: 3 u. 196). (= heutiges Österreich) und Bayern zurückzogen und in US-Kriegsgefangenschaft gingen. Viele davon kehrten nach der Machtergreifung der Kommunisten 1947 nicht mehr in die alte Heimat zurück, sondern siedelten sich wie andere Volksdeutsche vor allem in Bayern und Baden-Württemberg an. Die Landlerdörfer selbst wurden im August 1944 von der Roten Armee eingenommen. Deren arbeitsfähige Bevölkerung, v.a. Frauen und Mädchen, wurde im Januar 1945 zu fünf Jahren Zwangsarbeit in die Sowjetunion (hauptsächlich Donbass-Region) deportiert (Bottesch 2007: o.S.). 14 In Rumänien blieb die Kultur der Sachsen, Schwaben und Landler nach dem 2. Weltkrieg vorerst bestehen (Wassertheurer o.J.: 52). Nach 1945, nach dem Ende des 2. Weltkriegs, wanderten 200.000 Siebenbürger Sachsen (inkl. Landler) nach West- Deutschland bzw. 18.000 nach Österreich aus (Schuster 2008: 2). Zwischen 1977 und 1989 wanderten 240.000 Deutsch-Rumänen auf Basis einer bilateralen Erklärung zwischen der BRD und Rumänien zwecks Erleichterungen im bilateralen Reiseverkehr und bei der Familienzusammenführung in die BRD aus, wobei diese pro Aussiedler einen Pauschalbetrag von bis zu 5.000 Euro bezahlen musste (= Freikauf der Rumänen-Deutschen) (Wasertheurer o.J.: 56). 15 Aufgrund der Möglichkeit zur freien Ausreise verließen 1990 110.000 Rumänendeutsche ihre alte Heimat. Die deutsche Volksgruppe schrumpfte bis zur Volkszählung 1992 auf 119.436 Angehörige zusammen. Bei der Volkszählung 2002 zählte diese Volksgruppe nur noch 60.000 Personen (Wassertheurer o.J.: 56f.). 16 Diese drei Landler-Dörfer befinden sich am Südrand der großen, aus früher etwa 270 Dörfern bestehenden siebenbürgisch-sächsischen Sprachinsel, wobei deren Proportion vor dem 2. Weltkrieg 250.000 Siebenbürger Sachsen zu kaum jemals mehr als 5.000 Landlern betrug (Schabus 2002: 255), wobei der zahlenmäßige Anteil der Landler nie mehr als zwei Prozent ausmachte (Schabus 2002: 185). Die folgenden Zahlen variieren, weil die jeweiligen Autoren nicht die gleichen Kategorien verwenden [A.K.]. 174 Annikki Koskensalo Vor Beginn des Exodus 1989 lebten in Großpold fast 2.000 Deutsche und im Oktober 2009 nur noch maximal 60 großteils ältere Landler und Sachsen (Schröer 2010: 2). 1994 gab es in Großpold 185 Landler, etwa 350 Rumänen und zirka 1.500 Roma (Glöckler 1994: 87). Auf Basis von Daten aus dem Jahre 1998 (November) sprachen in Großau 16, in Großpold 57 und in Neppendorf 70 Personen noch Landlerisch, wobei es dort keine Familien mehr mit der Sprachkombination "Landlerisch + Sächsisch“ [wie früher in Großpold: A.K.] gibt (Bottesch 2002: 149f.). Mit Stand 2010 lebten in Neppendorf 70, in Großau 20 und in Großpold 30 Landler, wobei die Zahl 200 der meist älteren Daheim-Gebliebenen in ganz Rumänien (1930: 6.000, 1977: 4.000 und 2002: 250) nicht mehr überschritten werden dürfte. 3 Die Rücksiedlung der Landler in die alten Zentren Die Landler haben sich hauptsächlich in Deutschland meist in Sprachoasen der Siebenbürger Sachsen 17 in Franken (Nähe Nürnberg) (Girtler 1997: 645; genauer Inhetveen 1997: 198-219), in der Oberpfalz, in Rosenheim (Großkarolinenfeld), im Raum München bzw. Stuttgart), weniger in der alt-österreichischen 18 Heimat (Goisern, Vöcklabruck, Traun) und anderswo (England, USA, Australien) niedergelassen. Landlerisch als Idiom verschwindet in der zweiten Generation in Deutschland, weil ihn nur noch wenige Ausgewanderte alltäglich im engsten Familienkreis sprechen 19 . In Bayern wird meist in den nah verwandt lokal-bairischen Dialekt bzw. anderswo ins Hochdeutsche gewechselt. 17 Vergleiche Verband der Siebenbürger Sachsen in Deutschland e.V. (2009: o. S.). 18 Im Gegensatz zur Bundesrepublik Deutschland konnte sich das offizielle Österreich nicht dazu entschließen, den rumänischen Volksdeutschen [inkl. Landlern! : A.K.] gleich die Staatsbürgerschaft zu verleihen. 19 Stirbt nun der Landler-Dialekt tatsächlich in der Rücksiedler-Sprachkontakt-Situation bzw. Diaspora-Situation aus? Schlobinski (2014: 161) wendet ein, dass Dialekte Sprachen der Nähe sind, welche im familiären und Freundeskreis große Bedeutung haben und die lokale und soziale Identität symbolisch markieren. Zudem scheint es ein zutiefst menschliches Bedürfnis zu sein, sich sprachlich zu unterscheiden und eine lokale Identität aufzubauen. Es hängt also wesentlich von den Landlern selbst ab, ob sie ihren Dialekt weiter sprechen. Geschichte des Landlerischen 175 4 Forschungsstand, Desiderata und neue Forschungsansätze einer interkulturell orientierten Germanistik mit Bezug auf Mitteleuropa Die Siebenbürger Landler-Dialekte sind ein "rätselhaftes Phänomen“ (Buchinger 1980: 142), ein Stiefkind der Forschung (Beer 2002: 33) bzw. Waisenkind (Capesius 1962: 5) der österreichischen Dialektologie, weil die Mundarten der im 18. Jahrhundert zur Transmigration gezwungenen Protestanten aus dem habsburgischen Österreich nach Siebenbürgen lange unbeachtet blieben. Es blieb aber auch den deutschen Forschern bei ihren dialektologischen Erhebungen in Siebenbürgen das landlerische Element nicht verborgen, wobei logischerweise ihr Schwergewicht beim siebenbürgischen Sächsischen gelegen hat (Schabus 1997: 37). Analog zu Schabus, der sich mit der Herkunftsfrage der Siebenbürger Sachsen beschäftigt hat, ist die Erkenntnis der damit befassten Dialektologen auch auf die Landler in Großau, Großpold und Neppendorf nicht umlegbar, wonach die spezifische Kontaktsituation von Zuwanderern aus diversen Sprachlandschaften zu verschiedenen Zeiten im neuen Siedlungsgebiet zu sprachlichen Entwicklungen führt, welche eine sichere Rückführung eines durch Mischung [teilweise: A.K.] neu entstandenen Kolonisten-Dialekts auf eine punktgenau zu lokalisierende "Urheimat“ 20 nicht zulassen. Gerade dies hat bei den damit befassten Forschern ihren Blick auf kontaktlinguistische Probleme geschärft (Schabus 1997: 38). Seit dem Ende der 80er Jahre wurden die Landler als verschwindende Kultur von österreichischen Volkskundlern, Dialektologen und Soziologen entdeckt (bspw. Girtler 2014; 2010; 1997; 1992). Die kontaktlinguistischen Probleme (s.u.) sind aber trotzdem nach wie vor in den alten Zentren der landlerischen Rücksiedler hochrelevant und ebenso erforschenswert. Prinzipiell ist festzustellen, dass es beim Forschungsstand 21 noch genügend Desiderata gibt. Die bedeutendste sprachwissenschaftliche Forschungsarbeit zum siebenbürgerischen Landlerischen wurde 1992 von den in Großpold gebürtigen und aufgewachsenen Autoren Johanna und Martin Bottesch publiziert, welche sich im Band I mit lexikalischen und im Band 2 mit morphologischen Aspekten, aber auch mit der dortigen Sprach-Kontakt-Situation inmitten eines 20 Das Problem der Urheimat stellt sich bei den siebenbürgischen Landlern nicht, weil deren Herkunft urkundlich eindeutig belegbar ist (Buchinger 1980). 21 Aufgrund immer noch mangelnder Kenntnis des Forschungsstands gibt es Tendenzen, den Einfluss der Enklave bzw. Mini-Sprachinseln der landlerischen Transmigranten auf die weitaus größere siebenbürgisch-sächsische Sprachinsel bzw. -gesellschaft zu überschätzen. Gerade deswegen sind Bemühungen einer systematischen Erforschung der Geschichte der Landler nicht nur in Siebenbürgen, sondern auch in den alten Zentren (s.o.) bzw. Sprachoasen fortzusetzen. 176 Annikki Koskensalo siebenbürgisch-sächsischen und rumänischen Umfelds glücklich verbunden mit einem adäquat-nötigen methodischen Problembewusstsein auseinandergesetzt haben (Bottesch/ Bottesch 1992). Allerdings sind diese beiden Autoren weniger mit den dialektalen Verhältnissen in den kärntnerischen und oberösterreichischen Herkunftsgebieten der Landler in Großpold vertraut. Als Desiderata bestehen noch ähnlich tiefgründige Arbeiten über Großau und Neppendorf (Schabus 1997: 36f.). Was die Sprachkontakt-Situation aufgrund der Rücksiedlung der Landler in die alten Zentren anbelangt, so ist ebenso wie oben angeführt das soziale Verhältnis (Schabus 1997: 40) zwischen den alten (Siebenbürger Sachsen, Zigeuner, Rumänen) und neuen Kontaktpartnern in Deutschland und Österreich (vgl. Kap. 2) als Desideratum erforschenswert, ebenfalls die Frage, wie sich das Landlerische im Sprachkontakt verändert oder auch nicht mehr verwendet wird. Es besteht nach wie vor das Problem der Repräsentativität (Schabus 1997: 40). Die eigentlich gar nicht mehr neuen Forschungsansätze einer interkulturell orientierten kontrastiven Germanistik ergeben sich aus der Methodologie von Földes (2005: 95-298) und Knipf-Komlósi, (2011: 40-72 u. 117-252). 5 Schluss und Ausblick Um auf die Eingangsfrage (= Sprachtod oder Weiterleben) zurückzukommen, sei festgestellt: Die Mini-Sprachinseln (Großpold, Neppendorf und Großau) der Landler im heutigen Siebenbürgen werden in wenigen Jahren biologisch bedingt aufhören zu existieren; es sei denn, dass aus den alten Zentren bzw. Diasporaländern (s.o.) alte wie junge Landler rückwandern und möglicherweise wieder einen Anschluss an die alte Bauernkultur finden. In den alten Zentren bzw. Diaspora-Ländern ist erst dann von einem Sprachtod zu sprechen, wenn die Landler ihre Dialekte im engsten Familienkreis nicht mehr sprechen bzw. nicht mehr benutzen. Hier geht es sicherlich auch darum, bewusst die eigene Identität via Sprache und Kultur zu bewahren bzw. zu behaupten oder gar im schlechtesten Falle aufzugeben. 6 Literatur Abrams, Daniel M./ Strogatz, Steven H. (2003): Modelling the dynamics of language death. In: Nature 424. S. 900. Geschichte des Landlerischen 177 Baier, Hannelore u.a. (2007): Geschichte und Traditionen der deutschen Minderheit in Rumänien (Lehrbuch für die 6. und 7. Klasse der Schulen mit deutscher Unterrichtssprache). Sibiu/ Hermannstadt. Bauinger-Liebhart, Renate (2005): Neppendorf. Monographie eines Ortes. Bd 1. Linz. Bauinger-Liebhart, Renate (2006): Neppendorf-Bewohner. Linz. Bauinger-Liebhart, Renate (2008): Neppendorf-Familiengeschichten (Stammbäume). Neuhofen an der Krems. Beer, Matthias (2002): Die Landler. Versuch eines geschichtlichen Überblicks. In: Bottesch, Martin/ Grieshofer, Franz/ Schabus, Wilhelm (Hrsg.): Die siebenbürgischen Landler. Eine Spurensicherung. Teil 1. Wien/ Köln/ Weimar. S. 23-80. 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Mit seinem Stück „Rudolf von Habspurg“ (1785) beteiligte er sich an dem Diskurs des österreichischen Gründungsvaters, sein historisches Drama „Niklas Zrini oder die Belagerung von Sigeth“ (1790) eröffnete demgegenüber eine Reihe von Schriften über den kroatisch-ungarischen Nationalhelden Graf Nikolaus Zrínyi (Zrinski) IV. (1508-1566), die in der historischen Tragödie „Zriny“ (1812) des späteren preußisch-deutschen Nationalhelden Theodor Körner gipfelte. 2 In der vorliegenden Studie werden die möglichen historischen Narrative im Stück von Werthes untersucht. 1 Historische Narrative Literarische Stoffe, Mythen, symbolische Figuren wie Zrínyi, können mit Assmann (1999: 134) im Spannungsfeld von Speichergedächtnis und Funktionsgedächtnis gesehen werden. Letzteres nennt Assmann ein „bewohntes“ Gedächtnis, das mit einer Trägergruppe (133) verbunden ist, mit deren Gegenwart und mit deren Zukunftsvision. Im Funktionsgedächtnis treten die Erinnerungen „ins Magnetfeld einer bestimmten Sinnstruktur“ (135) ein: „Kollektive Handlungssubjekte wie Staaten oder Nationen konstituieren sich über ein Funktions-Gedächtnis, in dem sie sich eine bestimmte Vergangenheitskonstruktion zurechtlegen“ (137). All das wird auch durch den Umgang mit der Geschichte zu Werthesʼ Zeit bestätigt, unabhängig von dem damaligen Selbstverständnis. Der 1777 eingeführte Geschichtsunterricht in den Schulen des Königreichs Ungarn hatte laut Maria Theresias Bildungsgesetz „Ratio educationis […]“ (1777) die Aufgabe, 1 Mit dem Begriff folge ich Csáky (2010: 38ff., bes. 55). 2 Zur Übersicht siehe Kovács (2015). 182 Kálmán Kovács treue Untertanen zu erziehen (§§ 121, 122), Leben und Dynastie des Königs („historiam Regis“) (204) vorzustellen und ihn 3 als Familienoberhaupt („velut caput familiae“) (204) und als den Vater des Volkes („ut patrem populi“) (205) darzustellen. 4 Schiller, um einen Produzenten zu erwähnen, betrachtete das Theater (und die dramatische Kunst) ebenfalls als eine moralische Anstalt, welche Gesetz und Religion, d.h. b e s ti m mt e Vorstellungen von Gesetz und Religion, durch die Anschaulichkeit der Bühne fassbarer und effektiver macht als „toter Buchstabe“ 5 . Wenn er dabei den freien Umgang des Dichters mit den historischen Fakten im Interesse einer höheren, nichtfaktischen „poetische[n] Wahrheit“ 6 akzeptierte, verwandelt er Geschichte zum Funktionsgedächtnis und zu einem Narrativ im Sinne von Hayden White. „Nebenbei“ soll bemerkt werden, dass Schillers Interesse als Historiker auch den möglichen Gegenwartsbezügen der Geschichte galt (Luserke-Jaqui 2011: 322, Hofmann 2003: 32). Im jesuitischen Schultheater in der Habsburgermonarchie entstand dementsprechend um die Mitte des 18. Jahrhunderts eine Reihe von Stücken mit einem (ungarischen) nationalhistorischen Stoff. Trotz der ursprünglichen reichspatriotischen Intention förderten sie auch die nationale Ausdifferenzierung. 7 Graf Nikolaus Zrínyi 8 IV. (1508-1566) tauchte als literarische Gestalt 1738, nach einem längeren Dornröschenschlaf, im jesuitischen Schuldrama „Zrinius ad Sigethum“ (1738) von Andreas Fri(t)z auf. Der Prager Jesuit Ignaz Cornova (1740-1822) nahm Zrínyi in seine Gedichtsammlung „Die Helden Oesterreichs“ (1777) 9 auf, und zwar als Trägerfigur eines supranationalen österreichischen Narrativs. Auch Joseph Freiherr von Hormayr (1781-1848) behandelt Zrínyi 3 Um die Rede geschlechtlich „politisch korrekt“ zu halten, soll Folgendes erwähnt werden: Bei dem Landtag zur Krönung Maria Theresias in Pressburg (1741) einigten sich die ungarischen Stände auf die Begrüßungsformel „vivat Domina et Rex noster“. Mit der Kombination der weiblichen und männlichen Formen sollte betont werden, dass Maria Theresia t r o t z ihres Geschlechtes über die volle Machtbefugnis verfügt. („neme daczára, teljében bírja a királyi hatalmat“ - zit. nach Marczali 1891). 4 In ungarischer Sprache siehe dazu János-Szatmári (2007: 29f.). 5 „Die Schaubühne als eine Moralische Anstalt betrachtet“, 1784 (Schiller 1968: 94). 6 „Über die tragische Kunst“, 1792 (Schiller 1968: 162). 7 Zum Schuldrama im ehemaligen Königreich Ungarn siehe Tüskés/ Knapp (2007) und Varga/ Pintér (2000). 8 Der kroatisch-ungarische Graf verteidigte im Jahre 1566 die ungarische Burg Szigetvár gegen das Heer von Sultan Süleyman I. dem Prächtigen (1494-1566) im Dienste von Kaiser Maximilian II. (1527-1576), römisch-deutscher Kaiser (1564-1576), König v. Böhmen seit 1562, König v. Ungarn seit 1563. Nach einer einmonatigen Belagerung wurde die Burg unhaltbar und die Verteidiger starben freiwillig bei dem letzten Ausfall. 9 Das Gedicht „Szrini“ siehe Cornova (1777: 49ff.). „Niklas Zrini oder die Belagerung von Sigeth“ 183 ebenfalls als einen Feldherrn „des österreichischen Kaiserstaates“ (Hormayr 1807: 91). Die Universität Pest war eine jesuitische Gründung. Werthes konnte gerade diese jesuitische Tradition für sein Zrínyi-Stück fruchtbar machen, wobei er, ein evangelischer deutscher (schwäbischer) Freimaurer, mit der Absicht eingesetzt wurde, diese Tradition zu bekämpfen. Dieses ‚Recycling‘ und diese Verinnerlichung des fremden Stoffes für das Eigene wird in der Rezeptionsgeschichte immer wieder sichtbar (Ausführlicher s. Kovács 2012a: 106f.). 2 Leben Werthes’ Friedrich August Clemens Werthes (1748-1817), ein evangelischer Pfarrerssohn aus Württemberg, studierte im Tübinger Stift. 1770 tauchte er im Umkreis von Christoph Martin Wieland auf, dem er auch nach Weimar folgte (Herold 1898: 21, Bernauer 2012: 95) und ihm bei der Herausgabe der Zeitschrift „Der Teutsche Merkur“ behilflich war. 10 1774 weilte er in Düsseldorf, wo er im Kreis von Friedrich Heinrich Jacobi (1743-1819) verkehrte (Nenon 2005: 32ff.) und seine Spuren in der Korrespondenz von Goethe und Jacobi 11 hinterließ. 1774 begleitete er Karl Reichsfreiherr von Hompesch (1740-1812) (Herold 1889: 23, Seidel 2009: 271, Bernauer: 2012: 95) auf einer Reise über Basel, Bern nach Venedig und Neapel. Graf Hompesch war ein Agent in jener Verschwörung, durch die die ungarische Krone mit preußischer Hilfe Herzog Karl August angetragen werden sollte. 12 Es ist nicht bekannt, wie lange Werthes im Dienst von Hompesch stand, aber es steht fest, dass er bis 1780 in Italien lebte, wo er Carlo Gozzi (1720-1806) kennenlernte und sein gesamtes Werk übersetzte. Dadurch ist sein Name in der deutschsprachigen Romanistik bis heute bekannt. 1781 wurde er als Lehrer der italienischen Sprache an der Stuttgarter Karlsschule angestellt, wo er bis zu seinem Abgang (1783) der Leiter der Illuminaten war (Riedel 2002: 114). Seine Beziehung zur Freimaurerei war ihm auch bei der Ernennung zum Professor in Pest im Jahre 1784 behilflich. Kaiser Joseph II. verlegte 1784 die im Jahre 1635 in Tyrnau 13 gegründete jesuitische Universität nach Pest und versuchte den Einfluss der Jesuiten einzuschränken. Die Berufung von Werthes 10 Davon zeugt einerseits Wielands Korrespondenz (Herold 1898: 22), andererseits berichtet Werthes in einem Brief an Johann Georg Jacobi über die Angelegenheiten der Zeitschrift. Brief v. 18.09.1772, mitgeteilt in Herold (1889: 157). 11 Goethe an Jacobi, 21.08.1774, Jacobi an Goethe, 26.08.1774, zit. nach Herold (1889: 33). 12 Zur Verschwörung siehe Puttkamer (2008). 13 Trnava, heute in der Slowakischen Republik, ung. Nagyszombat. 184 Kálmán Kovács erfolgte im Rahmen dieser Umgestaltung. Nach dem Tod des Kaisers verschwand Werthes für Jahre in Russland und tauchte erst 1797 in Stuttgart wieder auf, wo er Hofrat und Redakteur der Regierungszeitung wurde. Er erlebte die Befreiungskriege und starb im Jahre 1817. 3 Forschung Von einer Werthes-Forschung können wir kaum sprechen. Die einzige deutsche Monografie von Theodor Herold entstand 1889 im Kontext des Theodor- Körner-Zentenariums (1891) und behandelte Werthesʼ Werk im Rahmen der Körner-Rezeption als deren Vorgeschichte. Die schmale ungarische Monografie von Nyiry legitimiert sich durch die Ungarn-Bezüge des Autors. Darüber hinaus sind einige wenige Arbeiten zu erwähnen, die im Umfeld der Körner-Jubiläen entstanden sind (Heinrich 1892, 1893; Weber 1914), oder die literarische Zrínyi- Tradition unter komparatistischen Aspekten untersuchen (Bischoff 1891: 47f.; Weber 1914: 237). 14 In den letzten Jahren entstanden zwei weitere Studien. Bernauer untersucht das Stück im Rahmen der Multikulturalität der Habsburger Monarchie, Seidel im Rahmen der Zrínyi-Rezeption. Seidel fragt übrigens in seiner sehr gründlichen Studie über Werthes ebenfalls nach dem historischen Narrativ, nach der „überzeitlichen Bedeutung des Geschehens“ im Kontext der Entstehungszeit (2009: 261). Dabei folgt er der Definition des Geschichtsdramas bei Niefanger, der ein wichtiges Merkmal dieser literarischen Form darin sieht, dass das dargestellte historische Geschehen gedeutet, „in den historischen Diskurs „eingeschrieben“, das heißt strukturell und wertend eingebunden wird“ (Niefanger 2005: 38). Dies entspricht m.E. jenem „Magnetfeld einer bestimmten Sinnstruktur“, von dem Assmann spricht. Auch in dieser Studie wird Geschichtsdrama in diesem Sinne verstanden. 15 Symptomatisch zur Forschungslage ist Bernauers Bemerkung am Anfang seiner Studie: „Auf Clemens August Werthes stößt, wer sich mit Christoph Martin Wieland, Wilhelm Heinse oder auch mit der italienischen Literatur in Deutschland beschäftigt“ (Bernauer 2012: 111). Es heißt: Werthes sei nur als „Begleitperson“ im Umkreis von repräsentativen Autoren nennenswert. 14 Zu nennen sind noch die zeitgenössischen Wiener Rezensionen zu Körners „Zriny“, die Werthesʼ Drama als bekannt behandeln und auch besprechen. Dazu Kovács (2009: 291f.). 15 Nach Redaktionsschluss ist die Arbeit von Pintér erschienen, die nicht mehr berücksichtigt werden konnte. „Niklas Zrini oder die Belagerung von Sigeth“ 185 Demgegenüber hatte Werthes, dessen Werk nicht ohne Grund vergessen wurde, ein gutes Gefühl für den Zeitgeist und nahm an wichtigen Diskursen seiner Zeit teil, denen er auch nennenswerte Impulse gab. Drei Beispiele für solche Diskurse sind: (1) Als erstes ist die Übersetzung der dalmatischen Reisebeschreibung von Alberto Fortis „Viaggio in Dalmazia“ (1774) zu erwähnen, in der das Gedicht „Hasanaginica“ (d.i. Hassans Frau, Ginica) erschien. Goethe übersetzte 16 das Gedicht, das im Rahmen der Ossian-Rezeption als eine Art kontinentaler „Ossian“-Text gelesen wurde und später sehr wichtige interkulturelle Diskussionen in der deutschen, österreichischen, südslawischen und auch in der ungarischen Kultur auslöste (siehe Zeman 2013: 73ff.; Jakiša/ Deupmann 2004: 386). (2) Mit seinem Rudolf-Drama beteiligte sich Werthes an dem österreichischen Gründungsmythos, der hier nicht näher erläutert werden soll. (3) Der dritte Diskurs ist der Zrínyi-Mythos. Graf Nikolaus Zrínyi, der in der kroatischen und ungarischen Öffentlichkeit auch heute eine lebendige Symbolfigur ist, ging von Anfang an in die nationalen Funktionsgedächtnisse der kroatischen 17 und ungarischen Kultur ein. Im 18. Jahrhundert wurde er auch als Symbol eines supranationalen österreichischen reichspatriotischen Narrativs wiederverwertet und der Stoff spielte nach Theodor Körners Drama „Zriny“ (1812) auch in der preußisch-deutschen nationalistischen Tradition eine wichtige Rolle. 18 4 Niklas Zrini oder die Belagerung von Sigeth Statt einer Zusammenfassung der Handlung sollen die wichtigsten Handlungsmodule erwähnt werden, die sich in den literarischen Zrínyi-Texten relativ fest etabliert hatten und auch das vorliegende Drama kennzeichnen: (1) Der feierliche Eid Zrínyis, die Vereidigung der Soldaten und der Bürger. (2) Die historisch belegten Phasen der Belagerung. (3) Eine e v e ntu e ll e Meuterei. (4) Eine Liebesgeschichte von Zrínyis Sohn, Tochter oder von anderen jungen Ver- 16 „Klaggesang von den edlen Frauen des Asan Aga“. Aus dem Morlackischen. Goethe (1966: 82, 496ff.). 17 Hier verzichte ich auf die nähere Erörterung der Namenformen. Es soll nur bemerkt werden, dass der Name lateinische, deutsche, kroatische (Nikola Zrinski) und ungarische (Zrínyi Miklós) Formen hatte/ hat und eine gewisse Flexibilität auch innerhalb einer Sprache zeigte. Ich benutze hier eine Form (Nikolaus Zrínyi), die sich in deutschsprachigen Lexika eingebürgert hat. 18 Zur Übersicht der Zrínyi-Texte siehe Kovács (2009: 287f.), zur Rezeptionsgeschichte Kovács (2015). 186 Kálmán Kovács teidigern. (5) Gefangennahme von Zrínyis Sohn, dadurch der Konflikt zwischen der privaten und öffentlichen Funktion der Hauptfigur (Vater vs. Staatsmann). (6) Abgelehnte Angebote der Türken an Zrínyi und/ oder an die Soldaten. (7) Rückzug in den innersten Bereich der Festung, Brand. (8) Die Idee der Ermordung von Kindern, Ehefrauen oder Verlobten, um sie vor türkischer Gefangenschaft und/ oder Misshandlungen zu schützen. (9) Ein letzter Ausfall als kollektiver Selbstmord, gelegentlich mit bewaffneten Frauen. Alle Autoren folgen bekannten Quellen 19 , Werthes vor allem der lateinischen Chronik von Miklós Istvánffy. 20 5 Interpretative Elemente eines möglichen Narrativs Welches Narrativ finden wir in dem Stück? Die österreichische Reichsidee, einen Reichspatriotismus mit aufklärerisch-kosmopolitischer Färbung, oder irgendeine eher exklusiv-nationale Erzählung? Wird dabei die historische (habsburgisch-kroatisch-ungarische) Multikulturalität beachtet? Oder erscheinen eventuell Spuren einer nationalistischen Erzählung mit dem neuen revolutionären Nationsbegriff, wie ihn Körners „Zriny“ verkörpert? Oder bleibt das Ganze im Rahmen einer empfindsamen Familiengeschichte, wie es bei Friedrich Kinds Roman „Die Belagerung von Sigeth“ (1807) der Fall ist? Die beiden erwähnten neueren Studien beurteilen dies unterschiedlich. Bernauer sieht in Werthesʼ „Zrini“ eine reichsnationale Gesinnung: Die „Ungarn erscheinen hier als Bewahrer des Reiches“, „Vaterland und König“, wofür sie kämpfen, „sind die österreichische Monarchie“ (Bernauer 2012: 119). Seidel erblickt demgegenüber im Stück eine „pro-ungarische, zugleich latente kaiserkritische Haltung“ (2009: 272). Im Weiteren sollen interpretative Elemente des Stückes gezeigt werden, die ein historisches Narrativ prägen können. 5.1 Der Hass Als Erstes soll die Frage nach der Rolle des Hasses im Text gestellt werden. Der Hass war bereits in der frühen deutschen patriotischen Literatur der Arminius- Tradition bestimmend (Herrmann 1996: 35ff.), er fehlt aber bei Werthes. Dabei 19 Istvánffy, Budina, Ortel, Reusner. Zu den Quellen siehe Kovács (2011a). 20 Werthes lässt Istvánffy als eine stille Figur auftreten, die von Zrínyi als Lehrer der Nation gelobt wird: „Istvanfi! du wolltest mit Einer Hand dein Vaterland vertheidigen, und belehren“ (1790: 76). Ein Bruder des Chronisten war bei der Verteidigung anwesend und fiel dabei. „Niklas Zrini oder die Belagerung von Sigeth“ 187 hätte er beim Aufbau von kriegerischen Hassfantasien eine einfachere Aufgabe zu lösen gehabt als die Autoren der Arminius-Dramen: Rom bedeutete kulturhistorisch die Zivilisation und war auch für das Heilige Römische Reich ein Vorbild, was sich in der Idee der tr a n s l a ti o i m p e rii manifestierte. Demgegenüber waren die Germanen Barbaren. Werthes hatte diese Schwierigkeit nicht, da die Türken in den Stereotypen seit dem 17. Jahrhundert „blutrünstige […] Barbaren“ (Lepetit 2001: 394) waren: In der christlichen Welt war „der Muselmann […] der Feind par excellence“ (397). Theodor Körner wird seine Türken dementsprechend gestalten und in seinem „Zriny“ redet man von einem tierisch-bewusstlosen Kampf der türkischen Soldaten, die in „trunknem Taumel“ die Festung stürmen (Körner 1893: Bd. 1, 130). 21 Bei Werthes werden zwar die Türken „Unmenschen“ genannt (1790: 19, 30, 36) und die Differenz Hu m a nit ä t vs. In h u m a nit ä t markiert den Unterschied zwischen den Verteidigern und den Osmanen, aber im Vergleich mit den blutrünstigen Arminius-Dramen und mit Kleists „Hermannsschlacht“ wirken die Repliken bei Werthes eher zurückhaltend. An einer Stelle erscheinen die Türken fast wie die edlen Barbaren, als eine Dramenfigur (Alapi) über die dekadente Lebensart der christlichen Ungarn spricht und eine ursprüngliche Natürlichkeit in der türkischen Lebensweise lobt: ALAPI. Verachte sie [die Türken: K.K.] nicht, Georg! Laß uns gerecht seyn. Wir sind vielleicht menschlicher, als sie; aber dafür sind sie kriegerischer, als wir. Wir werden es alle Tage weniger; sie scheinen es immer mehr zu werden. Wahrhaftig, Georg! wir sind nicht mehr die Alten. Jeder Türke ist noch ein Löwe an Stärke und Muth; bey uns sind alle Arten von Löwen eine Seltenheit (1790: 8f.). Dass Werthes den Hass nicht überhöht hat, ist also als eine bewusste Entscheidung zu betrachten. Dies entspricht übrigens dem Kriegskonzept bei Werthes in seinen anderen Schriften, die zu seiner Zeit auch Kritik auslösten. Darauf kann hier aber nicht eingegangen werden. 5.2 Freiheit Die Idee der F r e ih e it steht im Zentrum der Dialoge, und zwar in zwei Bedeutungen. Erstens im politischen und anthropologischen Sinne. Die größte Furcht der Figuren ist eine eventuelle Gefangenschaft. Dies erscheint auch als 21 Im Text wiederholen sich die Variationen des Ausdrucks „trunk’ner“ Mut und „trunk’ne“ Janitscharen etc. (Körner 1893: 137, 142, 147, 170, 184). 188 Kálmán Kovács kollektiver Zustand des ganzen Landes und wird auch metaphysisch erweitert, indem die Hölle als Ort von unfreien Sklaven geschildert wird (Werthes: 1790: I/ 2,6). Die Türken werden von Zrínyi pauschal Sklaven genannt (II/ 5,48) und die Verlobte von Georg, von Zrínyis Sohn, will sich von dem jungen Mann trennen, wenn er gefangen genommen würde (II/ 3,38). Am Ende des Stückes will sie sich von dem Verlobten töten lassen, um nicht in Gefangenschaft zu geraten. Vor dem letzten Ausfall erreicht die Idee der Freiheit im kollektiven Tode ihren Höhepunkt: Es wird beschlossen, dass die Kinder getötet werden, um sie „vor Sclaverey sicher [zu] stellen“ (III/ 4,82). Darauf wird später nochmals eingegangen. Diese Dimension der Freiheit kann als ein aufklärerisches Merkmal betrachtet werden, wofür Werthes in der patriotischen Tradition des 18. Jahrhunderts Beispiele finden konnte. In Johann Elias Schlegels Drama „Hermann, ein Trauerspiel“ (1771) steht ebenfalls die Idee der Freiheit im Zentrum, und zwar als „Vorbedingung für die eigentlichen, die humanistischen Werte der Aufklärung: Sprachfähigkeit, Gesellschaftlichkeit, Selbstbestimmung und Vernunft“ (Hermann 1996: 44). Zweitens erscheint die Idee der F r e ih e it im Sinne von Schillers Tragödientheorie, wie es Seidel (2009: 267f.) überzeugend darstellt. „Nichts ist einem sittlichen Gemüte willkommener“ so Schiller in „Über die tragische Kunst“ (1792), „als nach einem lang anhaltenden Zustand des bloßen Leidens aus der Dienstbarkeit der Sinne zur Selbsttätigkeit geweckt, und in seine Freiheit wieder eingesetzt zu werden“ (zit. nach Seidel 2009: 267). Die Figuren von Werthes überwinden in diesem Sinne die äußeren Zwänge und bewahren nach Seidel ihre „innere Freiheit“ (268) 22 , womit man völlig einverstanden sein kann. 5.3 Kampfziele Über die F r e ih e it hinaus sind durch die übrigen Ziele des Kampfes interpretativ relevant für ein historisches Narrativ. Hierbei ist der Eid der Verteidiger vielsagend. In der wichtigsten Quelle von Werthes, bei Istvánffy, lesen wir einen sehr pragmatischen Eid, in dem neben dem Vaterland, der Freiheit und dem eigenen Leben 23 auch materielle (irdische) Güter erwähnt werden. 24 Werthes gestaltet diese pragmatische Gesinnung um und lässt Zrínyi seine 22 Wir gehen hier auf das Problem, dass Schillers Schriften „Über die tragische Kunst“ (1792) und „Vom Erhabenen“ (1793) nach dem Drama von Werthes (1790) entstanden sind, nicht ein. Seidel (2009: 259) merkt dieses Problem und spricht nicht von Einflüssen Schillers, sondern von einer „zeitliche[n] Nähe zu Schillers Aufsatz“. 23 „pro patria, pro libertate, pro vita“ (Istvánffy 1622: 479). 24 „divitiae, honores, opes, decus, gloria” (Istvánffy 1622: 479) „Niklas Zrini oder die Belagerung von Sigeth“ 189 Rede mit der „heiligen Dreieinigkeit“ Gott-König-Vaterland beginnen (I/ 3,14- 15). Im Eid des Volkes erscheinen auch die Frauen und Kinder, aber innerhalb der hierarchischen Loyalitätsstruktur von Gott, Vaterland und König (I/ 3,15). Dies hat auch eine weitere Bedeutung: Die Verteidiger erscheinen nicht als eine souveräne Kampfgemeinschaft (V o lk ) . Demgegenüber verleiht Werthes dem Volk in seinem Rudolf-Stück eine weitaus größere Bedeutung. Der Herrscher ist dort der erste Diener des Volks, nicht der des Staates, und er wird letzten Endes vom Volk legitimiert. So ist es auch in Johann Elias Schlegels Drama: „Ich wünsche mir ein Volk, das mich nach mir nur schätzet, / Und stets mich in den Rang, den ich verdiene, setzet“ (zit. nach Hermann 1996: 58). In dem „ungarischen“ Zrínyi-Stück von Werthes scheint demgegenüber die hierarchische ständische Ordnung eine größere Rolle zu spielen. Es ist anzunehmen, dass Werthes dabei durch die ungarische Umgebung beeinflusst war. In Ungarn hatte das Wort Volk um 1800 noch die Bedeutung ‚Gesinde‘ und Volk hat sich als Bezeichnung für die moderne politische Nation erst später, in der Zeit des Vormärz etabliert. 25 5.4 Der Heldentod Fokussiert werden soll nochmals der oben erwähnten Kindermord, da die Behandlung des Todes ein interpretativ stark relevantes Element ist. In Klopstocks Drama „Hermanns Schlacht“ (1769) steht an einer Stelle der elegische Satz von Siegmar, von Hermanns Vater: „Wie sanft wird der Mond auf meine Leiche scheinen […]“ (Klopstock 1769/ 2009: 80). Obwohl die Schlacht im Drama eine Siegesgeschichte ist, da die Germanen die römischen Aggressoren vernichten, sieht man auf der Bühne lange Zeit nicht die jungen Helden in oder nach einer siegreichen Schlacht, sondern sieht und hört die Barden, die über den Tod singen, und den alten Vater Hermanns, der sich auf einen kultischtheatralischen Tod vorbereitet. In der patriotischen Tradition zeigt nach Herrmann (1996: 57) die starke Betonung des freiwilligen Todes (für das Vaterland), „daß diese Tugend im 18. Jahrhundert keineswegs selbstverständlich war, sondern propagiert werden musste. Das war historisch gesehen“, so Herrmann, „die politische Aufgabe dieser Dramen“. Auch Mosse bestätigt das in seinem Buch „Gefallen für das Vaterland“. Er stellt die Frage, warum „junge Männer [1792 in Frankreich: K.K.] in großer Zahl zur Fahne“ eilten, während sie dazu vor 1792 nicht bereit gewesen waren (1993: 21). Der Grund dafür liegt nach Mosse vor allem (1) in den 25 Körners Übersetzer, Pál Szemere, ersetzte auch 1826 alle Textstellen mit Volk bei Körner durch die Wörter Nation oder Vaterland. Siehe dazu Kovács (2006). 190 Kálmán Kovács neuen Kriegszielen und (2) in der Etablierung einer neuen Kampfgemeinschaft nach der Idee der É g a lité und schließlich (3) in einer neuen Symbolik in der Literatur, durch welche „die Brutalität des Kampfes und des Todes […] verschleiert werden konnte“ (26). Letzteres gilt auch für die deutsche patriotische Tradition der Aufklärung. Herrmann (1996: 36, 38) spricht von einer ästhetischen „Sublimierung“ in Aufklärung, Klassik und Empfindsamkeit. An diesem Punkt folgt Werthes vollständig der erwähnten Tradition und gestaltet gelegentlich extrem stilisierte Bilder des Todes. Als die Verteidiger einen Knaben töten wollen, um ihn vor den Türken zu r e tt e n , wird, um ein Beispiel zu geben, die Tötung wie folgt umschrieben: „Setzt ihm Flügel an, daß er wie ein neubeflügelter Schmetterling vor uns [in den Himmel: K.K.] herfliege“ (II/ 10,58-59) 26 . 5.5 Ungarische ‚Spezialitäten‘ Das vorher Gesagte war auch in der deutschen literarischen Tradition zu verorten. Im Drama findet man aber einige interpretativ relevante Elemente, die in der ungarischen Situation verwurzelt sind. So das Problem der (1) Nationalität und (2) das Spannungsfeld Kaisertreue oder nationale Unabhängigkeit. Die am Anfang gestellten Fragen nach der Ungarntreue oder dynastischen Verpflichtung sind vor allem in diesen Bereichen zu verorten. 5.5.1 Nationalität Die Reformen von Joseph II. haben in Ungarn eine nationale Widerstandsbewegung ausgelöst, die zum ungarischen „Nation building“ in großem Maße beigetragen haben. In dieser Situation ist es eine interessante Frage, welche nationale Konstellation ein josephinischer Autor konstruiert. Die deutschen Zrínyi-Texte thematisieren die Multikulturalität des Habsburger Reiches und des Königreichs Ungarn kaum. Formell gesehen gestalten sie ein eher ungarisches Narrativ. Auch bei Werthes werden die Figuren Ungarn genannt, der Kampf erfolgt in Ungarn, die Verteidiger haben ein ungarisches Bewusstsein und sie werden von Zrínyi als Ungarn angeredet. Es wird ungarische Musik gespielt und die Verteidiger kämpfen sogar mit ungarischen Waffen. Als Zrínyi 26 Siehe dazu die ganze Szene II/ 10, in der die gegenseitige Tötung der kampfunfähigen Männer als ein freundschaftlicher Liebesakt verstanden wird. Theodor Körner gestaltet die Tötung der Braut als einen Quasi-Geschlechtsakt. Siehe dazu Kovács (2012b: 371f.). „Niklas Zrini oder die Belagerung von Sigeth“ 191 die Meuterer mahnt, wendet er sich rhetorisch an König Stephan I., den Gründungsvater Ungarns, und spricht von der Korruption der Un g a r n : „es giebt keine Ungarn mehr. Weichlinge sind wir, Nichtswürdige, Auswürflinge fremder Nazionen, Bastarde! “ (II/ 5,48; Herv.: K.K.). Diese „Magyarisierung“ ist deswegen bedeutsam, weil die österreichischen Reichsnarrative, wie erwähnt, Zrínyi als einen österreichischen Feldherrn darstellen. Wenn in diesem Kontext die ungarische Identität der Figuren betont wird, wirkt das dem Prinzip des Reichspatriotismus entgegen. 5.5.2 Kaisertreue und nationale Eigenständigkeit Ein wichtiges Element des Deutungsmusters ist die Benutzung der Wörter Kaiser und König. Die Habsburger waren sowohl römisch-deutsche Kaiser als auch Könige von Ungarn (u.a.). Die deutschen Texte ignorieren dieses Problem eher, aber in ihren ungarischen Übersetzungen wird darauf großes Gewicht gelegt. Der bereits erwähnte Chronist Istvánffy benutzte in seinem lateinischen Bericht das Wort Kaiser (Caesar). Bei Werthes lesen wir sowohl König (acht Stellen) als auch Kaiser (fünf Stellen) und die Differenz scheint einen Wertunterschied zu signalisieren. Das Wort König bezeichnet fünfmal den Herrscher, für den die Verteidiger ihr Leben opfern. Die Mannschaft wird auf den König vereidigt, im Gegensatz zum Bericht Istvánffys, wo ausdrücklich Kaiser (Caesar) steht (I/ 3,15). 27 Demgegenüber wird der Herrscher mit Kaiser bezeichnet, wenn er im Kontext eines Konflikts erwähnt wird. Dies betrifft vor allem den neuralgischen Punkt der historischen Grundlage, die verweigerte Hilfe 28 des Kaisers, die von mehreren Figuren angesprochen wird (I/ 2,9, II/ 2,39). Der Feldherr Zrínyi, der die Gesamtperspektive des Stückes vertritt, äußert sich aber mit voller Loyalität über den Kaiser. Zrínyis Perspektive und die Schlussszene mildern die kaiserkritischen Töne und suggerieren eine Versöhnung (Bernauer 2012: 119). Beim letzten Ausfall wird eine Fahne gehisst, die sowohl das kaiserliche als auch das königliche Wappen trägt: „Man trägt eine Fahne, die auf der einen Seite das ungarische, auf der andern das kaiserl. Wappen hat, voraus“ (III/ 4,83). Da auch die Hauptquelle von Werthes, wie die Mehrheit der anderen Chroni- 27 An einer späteren Stelle scheint Werthes seine eigene Begrifflichkeit vergessen zu haben, da Zrínyi seine Leute an ihren Eid an den Kaiser mahnt: „Den Eid, den ihr Gott und dem Kaiser geschworen, habt ihr vergessen? “ (II/ 5, 42). Zuweilen schläft auch der gute Homer? 28 Zur Diskussion über die verweigerte Hilfe siehe Wagner (1996). 192 Kálmán Kovács ken, überwiegend von einer kaiserlichen Fahne sprechen 29 , müssen wir die Stelle als ein konzeptuelles Element betrachten. 30 6 Schluss Insgesamt lässt sich sagen, dass Werthes (1) ein eher aufgeklärtes pränationalistisches Narrativ gestaltete, indem er die Idee der Freiheit in den Mittelpunkt gestellt hat. (2) Ein V o lk als freie, souveräne Kampfgemeinschaft tritt nicht auf. (3) Der Autor folgt den Hassfantasien der patriotischen Tradition in den Arminiusdramen nicht, (4) stilisiert aber die Bilder des Todes zu einem schönen Ereignis, zum Heil und zur Erfüllung. (5) Für sein ungarisches Publikum schuf er ein eher ständisches Gesellschaftsbild. (6) Er zeigt die zeitgenössische Multikulturalität des Königreichs Ungarn nicht, gestaltet die Figuren als Ungarn, (7) schafft zugleich ein Gleichgewicht zwischen der Eigenständigkeit Ungarns und der Loyalität gegenüber dem Haus der Habsburger. Letzteres zeigt sich auch daran, dass (8) der siebenbürgische Gegenkönig abgelehnt wird. 31 Der innovative Transfer von Elementen der patriotischen Arminiustradition in den Zrínyi-Diskurs oder die Anpassung des Volk-Konzepts an das jeweilige politisch-soziale Umfeld des Autors zeigen einerseits die große Flexibilität des Funktionsgedächtnisses. Andererseits zeigen die Prozesse, dass der zentraleuropäische Kulturraum tatsächlich „weder ein ausschließlich geografisch oder physisch-territorial noch ein politisch konnotierter Begriff“ ist, sondern, wie Csáky (2010: 55) es behauptet, „vielmehr ein dynamischer Prozess […], ein Zwischenraum […] mit flüssigen, durchlässigen Grenzen“. 29 „vexillum Caesareum” (Istvánffy 1622: 487), „Caesareae Majestatis vexillum“ (Budina 1568: 43). „Darauf hat der Graf […] dem [sic] Kaeyserlichen Fahnen zu sich genommen“ (Ortel 1665: 112.). Bei Reusner ist von einer Fahne mit beiden Wappen zu lesen: „Nach diesem nahm er die […] Fahn / so an einer Seiten mit seines Prinzen / an der andern / mit des Königreichs Ungarn Wapen“ (Reusner 1694: 190). 30 Es muss jedoch kurz bemerkt werden, dass die historische Situation weder im 16. Jahrhundert noch um 1800 mit der Opposition Österreich vs. Ungarn zu beschreiben ist. Auf dieses Problem kann jedoch hier nicht eingegangen werden. 31 Zrínyi plädiert gegen den siebenbürgischen Gegenkönig Johannes Sigismund (1540- 1571), indem er pejorativ über den „Siebenbürger“ (20) spricht, der „in das Herz seiner Nazion, wie in den Busen seiner Mutter“ (20) einen Dolch gestoßen hat. „Niklas Zrini oder die Belagerung von Sigeth“ 193 7 Literatur Assmann, Aleida (1999): Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München. Bernauer, Markus (2012): Clemens August Werthes’ habsburgisches Theater. In: Wechselwirkungen I. Deutschsprachige Literatur und Kultur im regionalen und internationalen Kontext. Wien. (Pécser Studien für Germanistik; 5). S. 95-104. Bischoff, Heinrich (1891): Th. Körners ‚Zriny‘ nebst einer allgemeinen Übersicht über Th. Körner als Dramatiker. Leipzig. 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Zweitens wird veranschaulicht, welche Personen durch die Straßennamen gewürdigt wurden, wobei auch der Frage nachgegangen wird, ob die Vergabe der Namen nach bestimmten Prinzipien erfolgte und ob bestimmte Namen als semantisch motiviert angesehen werden können. 1 Straßennamen Nach der Klassifizierung von Handke (1970: 60f., 1996: 1480) können unter den Straßennamen im Hinblick auf die Semantik ihrer unterscheidenden Glieder zwei wichtige Gruppen unterschieden werden: Namen aus Eigennamen und Namen aus Appellativen. Namen, die sich keiner der beiden Gruppen zuordnen lassen, werden der Randgruppe unklarer und zweideutiger Namen zugeordnet: A. Namen aus Eigennamen 1. Namen aus Personennamen (aus Vornamen, Familiennamen und Übernamen, von wirklich existierenden sowie fiktiven Personen, z.B. literarischen Gestalten) 2. Namen aus ethnisch-geographischen Namen (von Ethnien, Regionen) 3. Namen aus Ortsnamen 4. Namen aus topographischen Namen (die Topographie umfasst Bestandteile der offenen Terrains: Felder, Wiesen, Wälder, Gewässer, Anhöhen usw. sowie städtische Bebauungselemente: Wälle, Mauern, Basteien, Türme, Tore, Brücken, Bauwerke, Denkmale, Plätze, Parks, Marktplätze, Rondells, Teile des Stadtgebiets usw.) 198 Daniela Pelka B. Namen aus Appellativen 1. Namen aus Benennungen der Menschen (d.h. von Bezeichnungen für Berufe, Fachgebiete, Orden, Innungen, Vereine, Organisationen, soziale Gruppierungen, militärische Formationen, aber auch für Posten, Stellungen, Würden) 2. Kulturnamen (Namen, die Produkte menschlicher Tätigkeit sowie Einrichtungen, Institutionen, Schöpfungen gesellschaftlicher und geistiger Kultur bezeichnen) 3. Topographische Namen (von topographischen Appellativen sowie von Bezeichnungen für topographische Eigenschaften des benannten Objekts) 4. Naturnamen (von Bezeichnungen für Flora und Fauna) 5. Metaphorische Namen (bezeichnen außertopographische Eigenschaften, die den Straßen sekundär hinzugefügt wurden und die nur scheinbar, aber nicht tatsächlich, über Besonderheiten des Designats Auskunft geben) 6. Namen, die an historische Ereignisse erinnern C. Unklare und zweideutige Namen Die Analyse eines Untersuchungskorpus aus den jüngsten deutschen Straßennamen von Oppeln in ihrer letzten Gestalt vor der Umbenennung ins Polnische 1945 bestehend aus 323 Einheiten, welche der Studie von Choroś/ Jarczak (2010) „Ludzie i historia w nazwach ulic Opola“ [„Menschen und Geschichte in den Straßennamen von Oppeln“] entnommen wurden, 1 zeigt, dass man darunter Belege für alle drei Gruppen feststellen kann. Eine ähnliche Anzahl der Hodonyme - nämlich 163 gegenüber 157 - lässt sich dabei den Namen aus Eigennamen und den Namen aus Appellativen zuordnen und nur bei drei Namen ergeben sich Probleme bei der Klassifizierung. Teilt man die Namen den jeweiligen Unterklassen zu, stellt sich heraus, dass hier die Namen aus Personennamen mit 113 Belegen die größte Produktivität aufweisen. 2 Die zweitgrößte Gruppe bilden topographische Namen mit 50 Belegen, weiter Kulturnamen mit 38 Belegen, Naturnamen mit 31 Belegen und Namen aus Ortsnamen mit 26 Belegen. Alle anderen Untergruppen weisen weniger als 20 Belege auf (vgl. Pelka 2012a: 41f.). Die größte Untergruppe - also die Namen aus Personennamen - sollen im Folgenden genauer ins Visier genommen werden. Einer genaueren Betrachtung werden dabei allerdings nicht nur die Namen vor der Umbenennung ins Polni- 1 In der Studie wurden sämtliche nachgewiesenen Straßen- und Platznamen von Oppeln samt ehemaligen Vororten und Dörfern, die heute einen Teil der Stadt bilden, von den Anfängen bis zum Jahr 2010 zusammengetragen. 2 Dies scheint keine Ausnahme zu sein. Ähnliches stellt z.B. Zierhoffer für Ostrowo fest, wo im Jahr 1977 115 von 291 Straßennamen Namen aus Personennamen waren; vgl. Zierhoffer (1989: 65). Anthroponyme in deutschen Straßennamen 199 sche, sondern sämtliche belegte Oppelner Straßennamen aus Personennamen von den Anfängen bis 2010 unterzogen. 3 Das Ziel dabei ist, zu zeigen, wann und unter welchen Umständen die besagten Straßennamen im Stadtbild von Oppeln aufgetaucht sind und welche Personen damit geehrt wurden. 2 Deutsche Straßennamen aus Personennamen in Oppeln 2.1 Entstehungszeit und -umstände Sieht man sich die ältesten Straßennamen von Oppeln an, die auf das 15.-18. Jahrhundert datieren, 4 so hat man es dabei - ähnlich wie in anderen Städten - mit solchen zu tun, die durch die Einwohner selbst geprägt wurden und semantisch motiviert sind. Sie weisen also eine unmittelbare Verbindung mit ihrem Designat auf, indem sie jeweils ein bestimmtes Merkmal der benannten Straße hervorheben, das sie von anderen unterscheidet: Sie deuten bestimmte Richtungen an, berücksichtigen bestimmte Personengruppen, deren Namen man darin finden konnte, beziehen sich auf konkrete Bauwerke, zu denen sie führten oder die daran platziert waren, oder auf die Topographie und andere Charakteristika der Straße, die man mit ihr assoziierte (vgl. Pelka 2012a: 21f.). Den obigen Untergruppen zugeordnet, findet man darunter Namen aus Ortsnamen und aus topographischen Namen sowie Namen aus Benennungen der Menschen, Kulturnamen, topographische Namen und Naturnamen. 5 Straßen- 3 Auch hierfür bilden das Untersuchungskorpus die Straßennamen in der Studie von Choroś/ Jarczak (2010). Darauf gehen auch sämtliche Angaben zu den im Folgenden angeführten Hodonymen zurück. 4 Für das 15. Jahrhundert sind in Oppeln 7 Straßennamen belegt, für das 16. Jahrhundert 14 und für das 18. Jahrhundert 16. 5 Berücksichtigt man die 16 Namen des 18. Jahrhunderts (vgl. den Stadtplan von Oppeln von Daniel Pezold aus dem Jahr 1734 in: Choroś/ Jarczak (2010: X), sieht die Zuordnung wie folgt aus: A. Namen aus Eigennamen: Namen aus Ortsnamen: Goslawitzer-Gasse (heute: Osmańczyka), Beuthenische-Gasse (heute: Krakowska), Namen aus topographischen Namen: Oder-Gasse (heute: Katedralna), B. Namen aus Appellativen: Namen aus Benennungen der Menschen: Jesuiten-Gasse (heute: Świętego Wojciecha), Tuchmacher-Gasse (heute: Książąt Opolskich), Töpfer-Gasse (heute: ein Teil der Katedralna), Kulturnamen: Creutz-Gasse (heute: Bronisława Koraszewskiego), Schloss-Gasse (heute: Zamkowa), Ober-Mühl-Gasse (heute: Młyńska), Unter- Mühl-Gasse (heute: Krupnicza), Lange-Mühl-Gasse (heute: ein Teil der Szpitalna), Spital-Gasse (heute: ein Teil der Szpitalna), Malz-Gasse (heute: Minorytów), topographische Namen: Quer-Gasse (heute: Wąska) und Naturnamen: Vieh-Gasse (heute: Franciszkańska), Rosen-Gasse (heute: Staromiejska). 200 Daniela Pelka namen, die einen Personennamen als unterscheidendes Glied enthalten, kommen in dieser Zeit nicht vor. Die ersten Namen dieser Art tauchen in Oppeln erst im 19. Jahrhundert auf und gehören zu den von Amts wegen verliehenen Namen. Einerseits wurden sie eingeführt, damit sie bereits vorhandene Straßennamen ersetzen, andererseits wurden damit bis dahin namenlose Straßen benannt. Zu der ersten Gruppe gehören die neuen Namen der bereits im 15. bzw. 16. Jahrhundert belegten (und in den folgenden Jahrhunderten mit verschiedenen anderen Namen versehenen) Berg Gasse, Goslawska und Saukenicza, die im 19. Jh. entsprechend die Namen Adalbert Straße, Karl Str. und Nicolai Str. erhielten: 6 • Berg Gasse 1422, Judengasse 1451, na gorny uliczy 1563, na Hornÿ ulicy, na gorni ulicy 1564, Obergasse 1565, Obergassen 1566, Jesuiter-Gasse 1734, Dominicaner Gasse 1815, Regierungs-Gasse 1818, Adalbert Straße 1842, Adalbert Straße (früher Dominicaner Gasse, Jesuiten und Juden Gasse) 1842, Adalbert Str. 1852, Adalbert-Strasse 1859, Adalbert Str. 1865, 1894, Adalbertstr. 1909, Adalbert Straße 1927, 1933, Adalbertstr. 1934/ 1935, 1938, 1943 (heute: Świętego Wojciecha) • Goslawska 1532, 1558, Goslawitzer gasse 1562, na ulicy Goslawsche 1565, Goslawiczergassen 1566, na Goslawske ulizÿ/ na Goslawske ulizy 1589, Goslawitzer Gasse 1607, 1680, 1682, Goslawitzer-Gasse 1716, Goslawitzer Gaße 1722, Goslawitzer-Gasse 1734, Goslawitzer Gasse 1815, Karl Str. 1842, Carls-Strasse 1859, Carls-Straße 1865, Goslawitzer-Weg 1876-1933, Carls-Strasse 1894, Karlsstrasse 1909, Karls-Str. 1927, Karlstr. 1943 (heute: Edmunda Osmańczyka) • Saukenicza 1561, Saukenicka 1562, Tuchmachergasse 1566, Sukeniczka 1576, Sukenicka 1663, Tuchmacher-Gasse 1734, 1750, Pfarr Gasse 1815, Nicolai Str. 1842, 1852, 1859, 1865, Sackrauer Straße (vor dem Königsthor) 1865, Nikolaistr. (und hinter der Stadt: Chaussee nach Carlsruhe) 1894, Nikolaistr. 1909, 1925- 1935, 1936, 1937, Nikolai Str. 1943 (heute: Książąt Opolskich) wie auch die neuen Namen des etwas später, nämlich im 18. bzw. 19. Jahrhundert zum ersten Mal urkundlich belegten ursprünglichen Freien Platzes, der Oberen Töpfergasse und des Garten Gässchens, die entsprechend in Sebastian Platz, Sebastian Strasse und Obere Carls-Strasse umbenannt wurden: • Freier Platz 1734, Töpfer Markt 1750, Der Töpfermarkt 1815, Töpfermarkt 1842, Sebastian Platz 1865, vom Töpfermarkte 1876-1878, Töpfer Markt 1894, Se- 6 In den Belegen werden sämtliche nachgewiesene Formen der Straßennamen von den Anfängen bis zur Umbenennung 1945 angegeben. Durch Fettdruck werden Stellen des Übergangs von einem Namen zu einem anderen markiert. Anthroponyme in deutschen Straßennamen 201 bastian Platz 1895, Sebastiansplatz 1909, Sebastians Platz 1927, 1933, Sebastiansplatz 1943 (heute: Plac św. Sebastiana) • Obere Töpfergasse vor 1842, Sebastian Strasse 1842, 1859, Sebastian-Straße 1865, Sebastianstr. 1937, 1943 (heute: Kazimierza Malczewskiego) • Garten Gässchen 1842, Die obere Carls-Strasse 1859, Oberenkarlsstraße 1876-1878, Garten Str. 1894, 1933, Gartenstr. 1934/ 1935, 1941-1942, 1943 (heute: Henryka Sienkiewicza ) Zwar kommen in den neuen Namen der Straßen bestimmte Personennamen vor, doch kann ihnen neben der Gedächtnisfunktion auch eine Verweisfunktion zugesprochen werden. Sie erinnerten nämlich nicht nur in abstrakter Weise an ehrwürdige Personen, sondern fungierten in erster Linie als „Ortsverweise“ 7 , die die Straßennamen direkt mit ihrem Denotat verbinden, womit sie - ähnlich wie die ursprünglichen Bezeichnungen - als (zumindest mittelbar) semantisch motiviert zu betrachten sind: Adalbert Straße entstand in Anlehnung an die daran stehende St.-Adalbert-Kirche, ähnlich wie Sebastian Platz und Sebastian Strasse in Anlehnung an die hier 1681 erbaute Kirche des hl. Sebastians. 8 Die Karl Str. führte zwar in Richtung Goslawitz, zugleich aber in Richtung Carlsruhe und Karlsmarkt, 9 die Obere Carls-Strasse wiederum erhielt ihren Namen in Anpassung an die Carls-Straße, da der Trakt ihren höher gelegenen Abschnitt bildete. Selbst die Nikolai Str., die - wie die Stadträte in der Begründung schrieben (vgl. Choroś/ Jarczak 2010: 56) - an den Fürsten Nikolaus II. von Oppeln erinnern sollte, 10 führte in Richtung des bereits nach ihm benannten Stadttores, womit auch sie als richtungweisend aufgefasst werden kann. Die zweite Gruppe der Namen aus Personennamen bilden im 19. Jahrhundert die Namen einiger in dieser Zeit erstmalig benannter Straßen. In einzelnen Fällen verwiesen die Namen nur mittelbar auf die Namensträger, wie z.B. der 7 Ähnliches stellen Bering/ Großsteinbeck für das mittelalterliche Köln fest; vgl. Bering/ Großsteinbeck (1994: 105). Problematisch scheint allerdings ihre Beurteilung, das mittelalterliche Namenskorpus der Stadt sei „u n r e fl e k t i e rt e s Produkt der Alltagspraxis und hat viel mit täglichen Bedürfnissen und wenig mit ‚Gedächtnis‘ zu tun“ [Hervorhebung: D.P.] (1994: 107), denn auch wenn es nicht von öffentlichen Instanzen geschaffen wurde und in den meisten Fällen semantisch motiviert war, so war es wohl doch ein Produkt der Reflexion der Stadteinwohner. 8 Die Kirche befand sich an dem Platz, zu dem die Straße führte. 9 Anscheinend war der Name eines Dorfes nicht gut genug für eine der wichtigsten Straßen der Stadt. Carlsruhe wurde 1748 durch Herzog Carl Christian Erdmann von Württemberg-Oels als Jagdsitz gegründet, architektonisch nach dem Vorbild des badischen Karlsruhe; Carlsruhe = pl. Pokój, Karlsmarkt = pl. Karłowice. 10 Nikolaus II. von Oppeln (? -1497): 1476-1497 Herzog von Oppeln, entstammte dem Oppelner Zweig der Schlesischen Piasten, der 1532 mit dem Tod seines Bruders Johann II. erlosch. 202 Daniela Pelka Carls-Platz, der so benannt wurde, da er sich auf der Verlängerung der Carls- Straße befand: • Carls-Platz 1859, 1865, 1894, Karlsplatz 1909, Karls-Platz 1927, Karlsplatz 1934/ 1935, 1937, 1938, 1941-1942 (heute: ein Teil des Plac Kopernika) Im überwiegenden Teil wurden die Straßen aber direkt zu Ehren bestimmter Personen benannt, deren Namen davor noch nicht im topographischen Namenbild der Stadt vertreten waren: Die unterscheidenden Glieder dieser Straßennamen erinnern größtenteils an Gestalten der deutschen Geschichte, wie Kaiser Wilhelm I. (1797-1888), seine Ehefrau Augusta Maria (1811-1890), seine Mutter - Königin Louise von Preußen (1776-1810), Kaiserin Viktoria - Ehefrau Friedrich III. (1840-1901) und den ersten Kanzler des Deutschen Reiches, Otto von Bismarck (1815-1898). Sie sind Denkmälern gleich und dienen der ideologischen Gedächtnisbildung: • Wilhelms-Platz 1894, Wilhelmsplatz 1909, Wilhelms Platz 1927, 1933, Wilhelmsplatz 1934/ 1935, 1937, Platz der SA 1938, 1943 (heute: ein Teil des Plac Kopernika) • Augusten Allee 1859, Augusta Str. 1894, 1902, 1909, 1927, 1933, Augustastr. 1934/ 35, 1937, Augusta Str. 1943 (heute: Księcia Jana Dobrego) • Louisen Str. 1894, Luisenstrasse 1895, Luoisen Str. 1902, 1909, Luisen Str. 1927, 1933, Luisenstr. 1930-1943, 1937, 1943 (heute: 11 Listopada) • Victoria Str. 1894, 1902, Viktoriastr. 1934/ 1935, 1938 (heute: Pasieczna) • Bismarckstr. 1894-1944, 1909, Bismarck Str. 1927, 1933, Bismarckstr. 1935, 1943 (heute: ks. Hugona Kołłątaja) Aber auch weniger bekannte Personen als die genannten Herrscher(-frauen) bzw. Staatsmänner wurden in den Straßennamen geehrt. Neben dem Oppelner Fürsten Bolko wurden hier nämlich auch drei Schlesier jüngerer Zeit bedacht: der Landschaftsmaler Carl Friedrich Seiffert (1809-1891) aus Grünberg, Ludwig Sack - Leiter des Oppelner Verschönerungsvereins, dank dem die Insel Pascheke, auf der die Straße liegt, vorteilhaft umgestaltet wurde, und der Oppelner Stadtrat A. Giesel - Eigentümer der Zementfabrik südlich des Bahnhofs: 11 • Bolko Straße 1865, Bolkostr. 1909, Bolko Str. 1927, Bolkostr. 1933-1938, 1937, Bolko-Str. 1943 (heute: Andrzeja Struga) 11 An der Straße befand sich auch das Elgar-Giesel-Stift, womit der Name als (mittelbar) semantisch motiviert angesehen werden kann. Dass verdiente Bürger der Stadt mit einem Straßennamen honoriert werden, beobachtet man auch in anderen Ortschaften; vgl. Weber (1990: 33, 35). Anthroponyme in deutschen Straßennamen 203 • Seiffertstr. 1894, 1895, Seifert Str. 1902, Seifertstr. 1909, 1943 (heute: Odrowążów) • Ludwig Str. 1894, Ludwigs Str. 1902, Ludwigstr. 1909, Ludwig-Str. 1927, 1933, Ludwigstr. 1934/ 1935, 1943 (heute: Powstańców Śląskich) • Giesel Str. 1894, 1927, 1933, Gieselstr. 1909, 1934/ 35, 1937, 1938, 1943 (heute: Jana Kropidły) Schaut man auf die zuletzt besprochenen Straßennamen, wird deutlich, dass man es dabei im Gegensatz zu den umbenannten Straßennamen in den meisten Fällen mit semantisch nicht motivierten Namen zu tun hat. Noch stärker tritt in ihnen daher neben ihrer primären Orientierungsfunktion die sekundäre - die Erinnerungsfunktion - zu Tage. Die meisten Namen aus Personennamen sind in Oppeln allerdings zum ersten Mal erst im 20. Jahrhundert belegt. Auch unter ihnen findet man solche, die als Bezeichnungen bisher namenloser Straßen neu eingeführt wurden, als auch solche, die infolge der Änderung bereits vorhandener Straßennamen vergeben wurden. Während die erste Gruppe die Mehrheit ausmacht, 12 lassen sich für die zweite nur wenige Belege finden, die größtenteils auf die Dreißigerjahre zurückgehen. Die Gründe für die einzelnen Umbenennungen und die Gruppen der auf diesem Wege ins Straßennamenbild der Stadt eingeführten Personennamen waren dabei recht unterschiedlich: So z.B. erhielt der Nomade Weg den Namen Kriemhildeweg Siedlung, was offenbar in Anlehnung an die Namen der umliegenden Straßen geschah, die auch nach Frauengestalten des „Nibelungenliedes“ benannt wurden: 13 • Nomade Weg 1924, Kriemhildeweg Siedlung 1934/ 1935, Kriemhildeweg 1937, 1938, 1943 (Sakrau; heute: Prudnicka) Auch die Neu-Straße, die Fabrikstraße und die Minoritenstraße erhielten deanthroponymische Namen, in denen allerdings - im Gegensatz zum Kriemhildeweg - realer Personen gedacht wurde, die zudem mit Oppeln verbunden waren, u.a. Wilhelm Porsch (1820-1895) - Pfarrer der Hl.-Kreuz-Pfarrei, Philanthrop, Stifter des Waisenhauses am St.-Adalbert-Hospital, und Friedrich Wil- 12 Zur Semantik ihrer unterscheidenden Glieder vgl. Punkt 2.2. Sämtliche darin angeführte Straßennamen, die nicht im Punkt 2.1 behandelt werden, gehören zu der Gruppe der Namen, die zum ersten Mal im 20. Jahrhundert belegt sind und deren Denotate bis dahin mit keinen anderen Namen verbunden waren. 13 In der gleichen Quelle aus dem Jahr 1943/ 35 sind in der Umgebung noch drei weitere „germanische“ Straßennamen verzeichnet: Gudrunweg Siedlung (heute: Bytomska), Uteweg Siedlung (heute: Tarnogórska) und Siedlung Brunhildenweg (heute: Gliwicka). 204 Daniela Pelka helm Grundmann (1804-1887) - Industrieller und Gründer der ersten Zementfabrik in Oppeln - der Portland Zementwerke: • Neue Str. 1894, Neu-Str. 1895, Porschstr. 1902, 1909, 1933, 1937, 1938, 1943 (heute: dr. Augustyna Kośnego) • Fabrikstr. 1926, Kattowitzer Str. 1926, Kattowitzer Str. und Fabrikstr. 1927, 1933, Fabrikstr. 1938, 1943, Grundmannstraße 1943 (heute: ein Teil der Graniczna) • Na Skotzke ulicý 1563, Skoicka/ Skoiczka 1563, Viehgasse 1566, Skoczka 1577, Vieh Gasse 1607, Skotska 1661, Vieh-Gasse 1734, Viehgaße 1797, Viehweg 1837, Vieh Gasse → Regierungs Str. und Querr Viehgasse (→ Minoriten Gasse) 1842, Minoriten Gasse 1859, Minoriten Str. 1894, 1895, Minoritenstr. 1909, 1938, Karl-Settnik-Strasse 1939 (heute: Franciszkańska) Neben den Oppelner Bürgern, die es durch ihre karitative bzw. gewerbliche Tätigkeit verdient hatten, dass ihnen in den Straßennamen ein Denkmal gesetzt wurde, haben es auch drei Befehlshaber des in Oppeln stationierten 63. Infanterieregiments - Hans Beseler, Walter Schnieber und Oberst Zollern 14 - geschafft, in das Pantheon der Straßennamengeber aufgenommen zu werden. Ihre Namen wurden in die Bezeichnungen dreier Straßen in der Nähe der Kasernen des besagten Regiments eingeführt: • Schütze Str. 1924, Schützen Str. 1927, 1933, Schützenstraße jetzt: Beselerstr. 1934/ 1935, Beselerstr. 1937, 1938 (heute: Jakuba Kani) • Werkstatt Str. 1924, 1927, 1933, Werkstattstraße jetzt: Schnieberstr. 1934/ 1935, Schnieberstr. 1937, 1938 (heute: Kolejowa) • Kasernen Str. 1924, Kasernenstr. 1926, Kasernen Str. 1927, 1933, Kasernenstr. jetzt: Oberst-Zollern-Straße 1934/ 1935, Oberst-Zollern-Straße 1937, 1938 (heute: Jana Kasprowicza) Zwar waren die genannten Heerführer auch zumindest eine Zeit lang mit Oppeln verbunden, doch erkennt man bei der Auswahl ihrer Namen schon bestimmte Ideologien, bei denen der Militarismus eine nicht unwesentliche Rolle gespielt hat. Noch stärker politisch-ideologisch motiviert 15 war die Auswahl der 14 Hans Beseler (? -1918): Kommandant des 63. Infanterieregiments, ausgezeichnet mit dem Orden „Pour le Mérite“; Walter Schnieber (? -1918): Oberleutnant des 63. Infanterieregiments, ausgezeichnet mit dem Orden „Pour le Mérite“; Oberst Zollern: Kommandant des 63. Infanterieregiments. 15 Politisch motivierte Umbenennungen der Straßen beobachtet man z.B. auch bei der Hofer Str., die in Hoeferstr. (heute: Romana Dmowskiego) umbenannt wurde, und bei der Graf Matuschkastrasse, die in Hermann-Göring-Str. (Königlich Neudorf; heute: Mikołaja Reja) umbenannt wurde, da aber in beiden Fällen Namen aus Person- Anthroponyme in deutschen Straßennamen 205 neuen Namen der Krakauerstr. und des Piastendammes, die entsprechend als Helmut Brückner Straße und Schlageterstr. 16 dem Geist des Nationalsozialismus huldigten, indem darin seine „Helden“ geehrt wurden: • Beythenischegasse 1452, na bythomske ulicy 1564, in der Beuthnischen gasse 1564, Bytomska 1565, Beuthnischengassen 1566, na Bytomsku ulicy 1588, na Bytomske ulizy 1589, Beuthnergasse 1723, Beuthnische-Gasse 1734, Beuthnische Straße 1739 Beuthenische oder Groschowitzer Gasse 1750, Groschowitzer gasse 1815, Krakauer Straße 1842, 1865, Krakauerstr. 1869-1924, Helmut Brückner Straße 1933, Hindenburg-Strasse 1935 (heute: Krakowska) • Piastenstr. 1902-1923, Piastendamm 1926, 1927, 1933, 1934/ 1935, 1937, Schlageterstr. 1935, 1938 (heute: Wojciecha Korfantego) Schaut man auf die neuen Paten der umbenannten Straßen, erkennt man, dass mit der Einführung der neuen Straßennamen nicht nur bestimmter Personen gedacht wurde, die in der gegebenen Zeit als ehrenwert betrachtet wurden, sondern z.T. darüber hinaus Namen bestimmter Gruppen (wie der Minoriten oder Piasten) aus dem Straßennamenbild eliminiert wurden, derer zu gedenken als nicht mehr zeitgemäß angesehen wurde. 17 Fasst man die untersuchten Oppelner Straßennamen in Zahlen, so kann festgestellt werden, dass unter den 323 Straßen, deren Namen belegt sind, insgesamt 117 zu finden sind, die mindestens eine Zeit lang einen Namen aus Pernamen bereits vor der Umbenennung vorliegen, werden sie aus der weiteren Betrachtung ausgeklammert; Näheres dazu vgl. Pelka (2012b: 95f.). 16 Helmuth Brückner (1896-1954): Selbstschutz-Kämpfer, NSDAP-Mitglied und Reichstagsabgeordneter, ab März 1933 Oberpräsident der Provinz Niederschlesien in Breslau und zunächst auch kommissarisch für Oberschlesien in Oppeln; Albert Leo Schlageter (1894-1923): Mitglied des deutschen Freikorps, Teilnehmer an den Kämpfen um den Annaberg 1921; wegen Leitung eines Stoßtrupps für Sabotageakte gegen die Besatzungstruppen im Ruhrgebiet durch das französische Militärgericht zum Tode verurteilt und fortan als Märtyrer der nationalsozialistischen Bewegung geehrt. 17 Die ursprünglich überwiegend semantisch motivierten Namen aus Appellativa wurden so durch Namen aus Personennamen ersetzt: In dem Namen Neu-Str. spiegelt sich die Vorgehensweise der Beamten wider, die erst den Verlauf der Straße festlegten, ihr einen Namen gaben und die erst danach gebaut wurde; in Fabrikstr. die Tatsache, dass sie in Richtung der Zementfabrik führte; und in Minoritenstr. die Tatsache, dass sich in ihrer Nähe das Franziskanerkloster und die Franziskanerkirche befanden. Die Namen Schützenstraße und Kasernenstr. entstanden in Anlehnung an die an diesen Straßen gelegenen Kasernen und Werkstattstraße nach den Häusern der Eisenbahner, v.a. Mitarbeiter der Eisenbahnwerkstätten, zu denen die Straße führte. 206 Daniela Pelka sonennamen trugen. 18 10 davon entstanden in dieser Gestalt im 19. Jahrhundert, 6 weitere wurden in dieser Zeit in solche umbenannt. 92 19 Namen aus Personennamen entstanden im 20. Jahrhundert und 9 weitere wurden in dieser Zeit in solche umbenannt. Somit machen Namen aus Personennamen im 19. Jahrhundert insgesamt ca. 26 % aller in dieser Zeit belegten Straßennamen aus, 20 im 20. Jahrhundert steigt ihr Anteil auf ca. 36 %. 2.2 Unterscheidende Glieder Betrachtet man die Art der Anthroponyme, die die unterscheidenden Glieder der Oppelner Straßennamen bilden, 21 so hat man es hier in den allermeisten Fällen mit Nachnamen zu tun. Seltener treten darin Vornamen auf, noch seltener Vor- und Nachnamen. Zur absoluten Ausnahme gehören Personengruppennamen und Namen mit einem Zusatz wie dem wissenschaftlichen Titel oder Militärgrad der darin angeführten Person. Als Beispiele für die selteneren Fälle seien hier genannt: • Sebastianstr. 1943 (heute: Kazimierza Malczewskiego) • Piastenstr. (ohne Datumsangabe) (Groschowitz; heute: Piastów) • Horst-Wessel-Str. 1943 (heute: gen. Walerego Wróblewskiego) • Dr.-Dittel-Str. 1938 (heute: Elizy Orzeszkowej) • Oberst-Zollern-Straße 1938 (heute: Jana Kasprowicza) Abgesehen von einigen fiktiven Gestalten der germanischen Mythen und Sagen gehen die meisten der Namen auf real existierende Personen zurück. Unter allen hier auftretenden Personennamen sind nur 12 % (14) fiktiv und 83,8 % 18 Die hier im Laufe der Jahre durchgeführten Namensänderungen führten dazu, dass bei vier davon der deutsche Name vor der Polonisierung 1945 in Form eines Namens aus einem Gattungsnamen erscheint: Aus den ehemaligen Namen Wilhelms-Platz, Obere Carls-Strasse, Hans-Ramshorn-Straße und Emin-Pascha-Str. wurde entsprechend Platz der SA, Gartenstr., Straße der S.A. und Ritterstr. (heute entsprechend: ein Teil des Plac Kopernika, Henryka Sienkiewicza, Strzelców Bytomskich und gen. Józefa Zajączka). 19 Bei zwei davon wurde im Laufe der Zeit der Name aus einem Personennamen durch einen anderen Namen aus einem Personennamen ersetzt; vgl. Anm. 14. 20 Für 1895 sind 60 Straßennamen belegt; vgl. Jarczak (2007: 115, Anm. 9). 21 Im Laufe der Zeit hat sich in zahlreichen Fällen die Schreibweise der Straßennamen verändert. Sind mehrere Formen belegt, werden im Folgenden nur diejenigen in ihrer letzten Gestalt vor der Umbenennung ins Polnische 1945 angeführt. Anthroponyme in deutschen Straßennamen 207 (98) real existierend, bei 4,2 % (5) ist es nicht eindeutig festzustellen, ob sie mit einem einst lebenden Menschen verbunden werden können oder nicht. Das Problem der o.g. Zuordnung ergibt sich, wenn das unterscheidende Glied nur aus einem Vornamen besteht. In manchen Fällen lässt sich nämlich nicht genau bestimmen, ob er auf eine reale oder fiktive Person zurückzuführen ist, wie z.B. bei: • Heinrichstr. 1943 (heute: Wandy) • Josefstr. 1943 (Königlich Neudorf; heute: Ludwika Solskiego) • Oswaldstr. 1943 (Königlich Neudorf; heute: ks. Józefa Londzina) • Karlstr. 1943 (Königlich Neudorf; heute: Józefa von Eichendorffa) • Wilhelmstr. 1943 (Königlich Neudorf; heute: Jagiellonów) Auffällig ist hier bei den vier Straßen in Königlich Neudorf, dass sie sich in nicht weiter Entfernung voneinander befanden, was die Vermutung nahe legt, dass ihre Namen nach einer gewissen Konvention gebildet wurden. Da es sich bei den unterscheidenden Gliedern allerdings um übliche und weit verbreitete Männernamen handelt, ist es auch möglich, dass sie nach konkreten, wenn auch nicht mehr näher bestimmbaren Personen - vielleicht Einwohnern oder Grundbesitzern in der Gegend - vergeben worden sind. Bei manch anderen Straßennamen, deren unterscheidendes Glied nur aus einem Vornamen besteht, kann man aber relativ leicht die Person identifizieren, die dafür Pate gestanden hat. Die erste Gruppe dieser Namen geht dabei auf fiktive Gestalten zurück, wie Götter der nordischen Mythologie: • Baldurweg 1943 (heute: Słubicka) - nach Baldur: Sohn Wotans, Frühlingsgott, steht für Reinheit, Schönheit, Gerechtigkeit und das Licht, Symbol für Sterben und Auferstehung • Odinweg 1948 († Świdnicka 22 ) - nach Odin: Hauptgott in der nordischen Mythologie, Göttervater, Kriegs- und Totengott • Thorweg 1938 (heute: Pomorska) - nach Thor: nordischer Gewitter- und Wettergott sowie Vegetationsgottheit, Beschützer von Midgard - der Welt der Menschen • Wotanweg 1943 (heute: Poznańska) - nach Wotan: wichtigster Gott der Germanen, Gott des Krieges und der Poesie und Helden germanischer Sagen - des „Nibelungenliedes“, des „Hildebrandsliedes“, des „Parsifal“ und der „Artussage“: 22 Die so markierten Straßen gibt es heute nicht mehr, sie sind aus dem Stadtbild verschwunden. 208 Daniela Pelka • Brunhildeweg 1943 (Sakrau; heute: Gliwicka) - nach Brünhild: Gunters Frau • Gudrunweg 1943 (Sakrau; heute: Bytomska) - nach Gudrun: Schwester von Gunnar und Ehefrau von Siegfried • Kriemhildeweg 1943 (Sakrau; heute: Prudnicka) - nach Kriemhild: Ehefrau von Siegfried, Schwägerin von Brünhild • Uteweg 1943 (Sakrau; heute: Tarnogórska) - nach Ute: Kriemhilds Mutter • Gisellenweg 1943 (heute: Budziszyńska) - nach Giselher: jüngerer Bruder König Gunters • Gunterweg 1943 (heute: Kłodzka) - nach Gunter: König der Burgunder • Hagenweg 1943 (heute: Legnicka) - nach Hagen: Siegfrieds Mörder • Hildebrandweg 1943 (heute: Jeleniogórska) - nach Hildebrand: Waffenmeister Dietrichs von Bern (im Nibelungenlied) • Lohengrinweg 1943 (heute: Zgorzelecka) - nach Lohengrin: Sohn Parsifals, Ritter der Artuslegende • Siegfriedweg 1943 (heute: Głogowska) - nach Siegfried: Held des Nibelungenliedes Interessant ist dabei, dass die genannten Straßen in unmittelbarer Nähe lagen und (mit zwei weiteren Straßen, die an mythologische Orte erinnerten) zwei thematische Straßenkonglomerate im Stadtzentrum und in Sakrau bildeten, die die Auffindbarkeit des jeweiligen Traktes wesentlich erleichterten. 23 Die zweite Gruppe der Vornamen lässt sich real existierenden Personen - Heiligen und Herrschern - zuordnen. Ist es nicht schwierig, den Namen Hedwig in Hedwig Str. auf die Hl. Hedwig (1174-1243) - Tochter des Grafen Berthold V. von Andechs-Meran, Herzogin und spätere Schutzpatronin Schlesiens zurückzuführen: • Hedwig Str. 1943 (heute: Licealna ), so kann man auch im Falle mehrerer anderer Straßennamen die jeweiligen darin enthaltenen Vornamen mit bestimmen Heiligen in Verbindung bringen. Die Namen wurden den Straßen nämlich nicht direkt nach der/ dem jeweiligen Heiligen verliehen, sondern in Anlehnung an bestimmte ihnen geweihte Bauwerke - Kirchen, Kapellen, Klöster -, die an der so benannten Straße situiert waren bzw. zu denen die Straße führte. So z.B. bei den bereits erwähnten Namen Adalbertstr. 1943 (heute: Świętego Wojciecha), Sebastianstr. 1943 (heute: Kazimierza Malczewskiego) und Sebastiansplatz 1943 (heute: Plac św. Sebastiana), aber auch im Falle von: 23 Choroś/ Jarczak (2010) verorten den Siegfriedweg und den Gisellenweg in die Kolonie Goslawitz, was allerdings nicht stimmt. Anthroponyme in deutschen Straßennamen 209 • Johannesstr. 1937 (Groschowitz; heute: Jana) - nach der an ihrem Anfang stehenden Kapelle des Hl. Johannes Nepomuk • Johannesstr. 1943 (Königlich Neudorf; heute: Aleksandra Puszkina) - möglicherweise nach der Kapelle des Hl. Johannes Nepomuk • Josefstr. 1937 (Groschowitz; heute: Józefa) - nach der an ihrem Anfang stehenden Kapelle des Hl. Josef • Katharinenstr. 1937 (Groschowitz; heute: Katarzyny) - vermutlich nach der Patronin der Pfarrkirche - der Hl. Katharina von Alexandria -, zu der die Straße führt • Marienstr. 1943 (heute: ein Teil des Plac Kopernika) - nach der in der Nähe liegenden Kirche Die Gruppe der o.g. Straßennamen, die Namen von Herrschern und Adligen enthalten, 24 erweitern u.a. noch: • Eckehardweg 1943 (heute: Sandomierska) - nach Ekkehard (ca. 960-1002): Sohn des Grafen Gunther von Merseburg und der Dubrawka von Böhmen, Markgraf vom Meißen • Friedrichs Platz 1943 (heute: Plac Daszyńskiego) - nach Friedrich III. (1831- 1888): deutscher Kaiser und preußischer König Verfügte der Namensträger im Gegensatz zu den bisher genannten über einen Vor- und Nachnamen, wurde meist der Nachname (viel seltener: der Vor- und Nachname) als unterscheidendes Glied bei der Benennung der Straße gewählt. Es lassen sich hier aber auch Ausnahmen konstatieren, wie im Falle des bereits erwähnten Namens Ludwigstr. 1943 (heute: Powstańców Śląskich), bei dem angeblich aufgrund der Zweideutigkeit des Nachnamens (Sack) der Vorname als unterscheidendes Glied gewählt wurde (vgl. Choroś/ Jarczak 2010: 98). Enthält der Straßenname einen Nachnamen, so ist die jeweilige Person in den meisten Fällen ohne größere Probleme zu identifizieren, da es sich dabei auch häufig um berühmte Persönlichkeiten handelt. Die in den Oppelner Straßennamen genutzten Personennamen lassen sich dabei mehreren thematischen Wortfeldern zuordnen. Es finden sich darunter Wissenschaftler und Denker: • Damaschkestr. 1943 (heute: Orląt Lwowskich) - nach Adolf Wilhelm Ferdinand Damaschke (1865-1935): Pädagoge und Führer der Bodenreformbewegung in Deutschland 24 Karlstr. 1943 (heute: Edmunda Osmańczyka), Karlsplatz 1941-1942 (heute: ein Teil des Plac Kopernika), Bolko-Str. 1943 (heute: Andrzeja Struga), Nikolai Str. 1943 (heute: Książąt Opolskich), Viktoriastr. 1938 (heute: Pasieczna), Luisenstr. 1943 (heute: 11 Listopada) und Augusta Str. 1943 (heute: Księcia Jana Dobrego). 210 Daniela Pelka • Humboldtplatz 1943 (heute: Plac Stanisława Staszica) - nach Wilhelm Humboldt (1767-1835): Philosoph und Sprachwissenschaftler sowie Alexander Humboldt (1769-1859): Naturwissenschaftler und Geograph • Münzergasse 1945 (heute: Lubiniecka) - nach Thomas Münzer (1483-1525): Theologe, einer der ersten Anführer der Reformation und des Bauernaufstandes 1525 • Erich-Schmidt-Str. 1943 (heute: Jana Matejki) - nach Erich Schmidt (1853- 1913): Philologe, Literaturhistoriker, Goethekenner, Verleger sowie Musik- und bildende Künstler: • Schubertstr. 1943 (Königlich Neudorf; heute: Ignacego Paderewskiego) - nach Franz Schubert (1797-1828): österreichischer Komponist der Romantik • Dürrerstr. [sic] 1943 (Königlich Neudorf; heute: Wyzwolenia) - nach Albrecht Dürer (1471-1528): Maler, Graphiker und Kunsttheoretiker der Renaissance • Seifertstr. [sic] 1943 (heute: Odrowążów) - nach Carl Friedrich Seiffert (1809- 1981): Landschaftsmaler v.a. aber zahlreiche Dichter und Schriftsteller: • Gellert Str. 1938 (heute: Joachima Lelewela) - nach Christian Fürchtegott Gellert (1715-1765): Dichter und Schriftsteller der Aufklärung • Goethestr. 1943 (heute: Adama Mickiewicza) - nach Johann Wolfgang Goethe (1749-1832): Dichter, Vorreiter und wichtigster Vertreter des Sturm und Drang • Gustaw Freytag Str. [sic] 1943 (heute: Józefa Ignacego Kraszewskiego) - nach Gustav Freytag (1816-1895): schlesischer Schriftsteller und Publizist • Hauffstr. 1938 († ks. Piotra Skargi) - nach Wilhelm Hauff (1802-1827): Schriftsteller der Romantik • Hebbelstr. 1938 (heute: Marcina Kasprzaka) - nach Christian Friedrich Hebbel (1813-1863): Dichter, Dramatiker und Theatertheoretiker • Herderstr. 1938 (heute: Jana Długosza) - nach Johann Gottfried Herder (1744- 1803): Schriftsteller und Philosoph • Holteistr. 1943 (heute: Bolesława Prusa) - nach Karl von Holtei (1798-1880): Schriftsteller, Schauspieler und Theaterregisseur • Körnerstr. 1943 (heute: Karola Szymanowskiego) - nach Theodor Körner (1791-1813): Dichter und Dramatiker, Autor zahlreicher patriotischer Lieder • Schillerstr. 1943 (heute: Juliusza Słowackiego) - nach Friedrich Schiller (1759- 1805): Dichter und Dramatiker • Schillerstr. 1938 (Königlich Neudorf; heute: Bolesława Chrobrego) • Uhlandstraße 1943 (heute: Alojzego Dambonia) - Ludwig Uhland (1787-1862): Dichter und Literaturwissenschaftler • Wielandweg 1943 (heute: Światowida) - nach Martin Wieland (1733-1813): Dichter, Übersetzer und Herausgeber der Aufklärung Anthroponyme in deutschen Straßennamen 211 • Hoffmannstr. 1943 (Königlich Neudorf; heute: Henryka Pobożnego) - nach Ernst Theodor Amadeus Hoffmann (1776-1882): Dichter und Schriftsteller der Romantik • Lessingstr. 1938 (Königlich Neudorf; heute: Pionierska) - nach Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781): Dichter und Dramatiker der Aufklärung unter denen Joseph von Eichendorff (1788-1857) - der größte schlesische Vertreter der Romantik - eine besondere Position einnimmt, was man daran sieht, dass ihm hier gleich drei Straßen gewidmet wurden: 25 • Eichendorffstr. 1943 (heute: Juliusza Ligonia) • Eichendorffstr. 1937 (Groschowitz; heute: Podborna) • Eichendorfstr. [sic] 1943 (Königlich Neudorf; heute: Krystiana Minkusa) Zahlreiche Straßen wurden nach deutschen Piloten - oft Jagdfliegern im Ersten Weltkrieg - und Konstrukteuren der Luftfahrt benannt (ähnlich wie die Straßen mit mythologischen Namen lagen sie direkt nebeneinander): • Bertholdstr. 1943 (heute: Wojska Polskiego) - nach Rudolf Berthold (1891- 1920): Jagdflieger im Ersten Weltkrieg und Führer eines Freikorps • Boelckeweg/ Boelckestr. (ohne Datumsangabe) (heute: Jana Styki) - nach Oswald Boelcke (1891-1916): einer der bekanntesten deutschen Jagdflieger im Ersten Weltkrieg • Immelmannweg 1943 (heute: Artura Grottgera) - nach Max Immelmann (1890-1916): deutscher Jagdpilot im Ersten Weltkrieg • Plüschowstr. 1943 (heute: gen. Józefa Hallera) - nach Gunther Plüschow (1886-1931): Pionier der deutschen Luftfahrt, Pilot im Ersten Weltkrieg, Marineoffizier, Weltenbummler, überflog als Erster das Cap Horn und die Kordilleren • Richthofenweg 1943 (heute: Daniela Chodowieckiego) - nach Manfred Albrecht Freiherr von Richthofen (1892-1918): deutscher Jagdflieger im Ersten Weltkrieg • Parsevalweg 1943 (heute: Leona Wyczółkowskiego) - nach August von Parseval (1861-1942): Konstrukteur von Luftschiffen 25 Möglich wurde dies dadurch, dass zwei davon zu dem gegebenen Zeitpunkt nicht innerhalb der Stadtgrenzen von Oppeln lagen. Es ist nämlich wichtig, bei der Namenvergabe darauf zu achten, dass unterschiedliche Straßen einer Ortschaft nicht mit den gleichen Namen versehen werden, auch wenn dieses Prinzip v.a. in größeren Städten nicht immer befolgt wird: Als Beispiel möge Berlin dienen, wo es 1945 21 Berliner, 20 Bahnhof-, 18 Goethe- und 9 Sedanstraßen gab und man 1988 allein im westlichen Teil noch 5 Bismarck- und 4 Königsstraßen fand; vgl. Fuchsberger-Weiß (1996: 1473). 212 Daniela Pelka • Zeppelinweg 1943 (Szczepanowitz, heute: Juliusza Kossaka) - nach Ferdinand von Zeppelin (1838-1917): deutscher Luftschiffkonstrukteur, am 17. Oktober 1929 flog das Luftschiff „Graf Zeppelin“ über Oppeln wie auch nach berühmten Politikern und Staatsmännern: • Bismarckstr. (heute: ks. Hugona Kołłątaja) - nach Otto von Bismarck (1815- 1898): Politiker, erster Reichskanzler des Deutschen Reiches • Hippel Str. 1943 (heute: ks. Konstantego Damrota) - nach Theodor Gottlieb von Hippel (1775-1843): preußischer Staatsmann und eigentlicher Verfasser des Aufrufs Friedrich Wilhelms III. „An Mein Volk“ von 1813, von 1823 bis 1837 Regierungspräsident von Oppeln sowie nach verdienten Kommandanten und Offizieren - häufig Helden der Schlesischen und der Napoleonischen Kriege sowie des Ersten Weltkriegs. Neben den erwähnten Namen Beselerstr. 1938 (heute: Jakuba Kani), Oberst-Zollern-Straße 1938 (heute: Jana Kasprowicza) und Schnieberstr. 1938 (heute: Kolejowa) gehören hierher: • Blücherstr. 1943 (heute: Karola Miarki) - nach Gebhard Leberecht von Blücher (1742-1819): preußischer Generalfeldmarschall, einer der wichtigsten Befehlshaber in den Napoleonischen Kriegen, Befehlshaber in der Schlacht von Waterloo • Clausewitzstr. 1943 (heute: Stanisława Moniuszki) - nach Karl von Clausewitz (1780-1831): preußischer General, Heeresreformer und Militärtheoretiker • Dieskauweg 1943 (Halbendorf; heute: Słowiańska) - nach Karl Wilhelm von Dieskau (1701-1777): Preußischer Artilleriegeneral, Teilnehmer an den Schlesischen Kriegen • Gneisenauplatz 1943 (heute: Plac Ludomira Różyckiego) - nach August Neithard von Gneisenau (1760-1831): preußischer Generalfeldmarschall und Heeresreformer; hatte als Blüchers Stabschef wesentlichen Anteil am Sieg bei Waterloo • Hindenburg-Strasse 1935 (heute: Krakowska) - nach Paul von Beneckendorff und von Hindenburg (1847-1934): Generalfeldmarschall, Reichspräsident der Weimarer Republik • Hindenburgstr. 1937 (Groschowitz; heute: ks. Franciszka Rudzkiego) • Hindenburgstr. 1938 (heute: Władysława Łokietka) 26 26 Ähnlich wie im Falle der Eichendorff-Straßen lagen auch zwei der Hindenburg gewidmeten Straßen zum gegebenen Zeitpunkt außerhalb der Stadtgrenzen von Oppeln. Seine Popularität in Oppeln verdankte er vermutlich auch der Tatsache, dass er Ehrenbürger der Stadt war. Anthroponyme in deutschen Straßennamen 213 • Katzlerweg 1943 (Halbendorf; heute: Ludowa) - nach Nikolaus Andreas Katzler (1696-1760): preußischer General, Teilnehmer an den Schlesischen Kriegen • Litzmannstr. 1943 (heute: ks. Bolesława Domańskiego) - nach Karl von Litzmann (1850-1936): General, Held des Ersten Weltkrieges • Lützowstr. 1943 (heute: Stefana Stoińskiego) - nach Ludwig Adolf Wilhelm von Lützow (1782-1834): preußischer Generalmajor, bekannt geworden durch das nach ihm benannte Freikorps, die „Schwarzen Jäger“ im Napoleonischen Krieg • Moltkestr. 1938 (heute: Tadeusza Kościuszki) - nach Helmuth von Moltke (1800-1891): preußischer Feldmarschall, Militärtheoretiker, Armeereformer • Nettelbeckstr. 1943 (heute: Feliksa Nowowiejskiego) - nach Joachim Christian Nettelbeck (1738-1824): Bürgermeister von Kolberg, durch seine Rolle bei der Verteidigung Kolbergs im Jahre 1807 und seine Autobiographie bekannter deutscher Volksheld • Peuckerweg/ Peukertweg 1943 (Halbendorf; heute: Marzanny) - nach Eduard von Peucker (1791-1876): preußischer General und Kriegsminister, ein in Breslau stationiertes Kürassierregiment trug seinen Namen • Schillstr. 1943 (heute: Fryderyka Chopina) - nach Ferdinand von Schill (1776- 1809): preußischer Offizier, Held der Napoleonischen Kriege • Seydlitz Str./ Seydlitzstr. 1938 (heute: gen. Kazimierza Pułaskiego) - nach Friedrich Wilhelm von Seydlitz (1721-1773): preußischer Kavalleriegeneral, Teilnehmer an den Schlesischen Kriegen • Tauentzienstr. 1938 (heute: ks. Józefa Poniatowskiego) - nach Friedrich von Tauentzien (1710-1791): preußischer General, machte sich verdient während der Schlesischen Kriege • Ziethenstr. 1938 (heute: gen. Józefa Dwernickiego) - nach Hans Joachim von Ziethen (1699-1786): preußischer Husarengeneral im Dienste Friedrichs des Großen, Teilnehmer an den Schlesischen Kriegen Haben sich die erwähnten Personen größtenteils einen bedeutenderen Platz in der Geschichte erworben, wurden einige Straßen auch nach Menschen benannt, die außerhalb von Oberschlesien vielleicht zu keinem besonderen Ruhm gelangt sind, deren Verdienste für die Region allerdings als groß genug angesehen wurden, um sie mit einem Straßennamen zu würdigen. Zu erwähnen wären hier z.B.: • Borsigstr. 1943 (heute: Warsztatowa) - nach August Borsig (1804-1854): Unternehmer, Gründer der Borsig-Werke • Mroßstr. 1943 (heute: Wojciecha Drzymały 27 ) - nach Johann Mross (? -1818) Pfarrer in Friedland in Oberschlesien, während der Napoleonischen Kriege 27 In dem Straßennamen liegt ein Fehler vor, da der aus der polnischen Geschichte bekannte Bauer in Wirklichkeit nicht Wojciech, sondern Michał hieß. 214 Daniela Pelka setzte er sich für die Bauern ein und gegen die ihnen aufgebürdeten Kriegslasten • Redenstr. 1943 (heute: Przemysłowa) - nach Friedrich Wilhelm von Reden (1752-1815): preußischer Oberberghauptmann und Minister, führte den Bergbau in Schlesien zu einer neuen Blüte Außer den erwähnten Straßennnamen Porschstr. 1943 (heute: dr. Augustyna Kośnego), Gieselstr. 1943 (heute: Jana Kropidły) und Grundmannstraße 1943 (heute: ein Teil der Graniczna) enthalten einige weitere Hodonyme Namen von Personen, die direkt mit Oppeln verbunden waren. Es finden sich darunter einfache Einwohner: • Nowacksweg Siedlung 1934/ 35 (Halbendorf; heute: Jasna) - führte in Richtung der Nowaks: Eigentümer des Grundstücks, auf dem die Siedlung entstand aber hauptsächlich anerkannte Persönlichkeiten, wie Bürgermeister von Oppeln, Pfarrer, Ärzte, Juristen und Industrielle, die entweder als Kinder der Stadt in der Welt berühmt geworden sind oder sich um den Ort Verdienste erworben haben, indem sie für die Stadt und ihre Einwohner selbst Großes geleistet haben: • Augustinistr. 1943 (heute: Jana Łangowskiego) - nach Wilhelm Leopold Augustini (1771-1841): Bürgermeister von Oppeln in den Jahren 1818-1841 • Dr.-Dittel-Str. 1938 (heute: Elizy Orzeszkowej) - nach Johannes Dittel (1872- 1927): Chirurg, Chefarzt des Alexiushospitals, langjähriger Stadtratsvorsitzender von Oppeln • Emin-Pascha-Str. jetzt: Ritterstraße 1934/ 1935 (heute: gen. Józefa Zajączka) - nach Eduard Karl Oskar Theodor Schnitzer (1840-1892), auch bekannt als Emin Pascha: Afrikaforscher und Gouverneur der Provinz Äquatoria im Türkisch-Ägyptischen Sudan • Goretzki Str./ Goretzkistr. 1938 (heute: ks. Jana Dzierżona) - nach Franz Goretzki (1807-1872): Oppelns Bürgermeister in den Jahren 1841-1853 und 1855- 1871, Initiator des Stadtausbaus, Förderer der Industrie • Prondzynski Platz 1930 (heute ohne Namen) - nach Alfred von Prondzynski (? -1930): Generaldirektor der Zementfabrik in Groschowitz • von Prondzynski Str. 1930 - nach Mitgliedern der Familie von Prondzynski - Constantin, Ferdinand, Alfred - Generaldirektoren der Zementfabrik in Groschowitz • Vogtstr. 1937 (heute: ein Teil der Katowicka) - nach Paul Vogt (1855-1905): Jurist, Oppelner Gesandter in das Preußische Abgeordnetenhaus Schließlich finden sich unter den Namen in den Straßen auch Namen einiger NSDAP- und SA-Männer. Ähnlich wie in vielen anderen deutschen Städten der Anthroponyme in deutschen Straßennamen 215 Vorkriegs- und Kriegszeit (vgl. Kühn 2001: 307) wurde hier Adolf Hitler und Hermann Göring wie auch den Vorläufern der Bewegung Horst Wessel und Dietrich Eckart ein Denkmal gesetzt: • Adolf Hitler-Str. 1938 (heute: Nysy Łużyckiej) • Hermann-Göring-Str. 1938 (Königlich Neudorf; heute: Mikołaja Reja) • Horst-Wessel-Str. 1943 (heute: gen. Walerego Wróblewskiego) - nach Horst Wessel (1907-1930): SA-Sturmführer und Autor des Horst-Wessel-Liedes, das Parteihymne der NSDAP wurde • Dietrich Eckartstr. 1943 (Szczepanowitz; heute: Walentego Biasa) - nach Dietrich Eckart (1868-1923): Mitbegründer der NSDAP, Freund und Mentor Hitlers aber auch regional „verdiente Patrioten“ der Zwischenkriegszeit und der Abstimmungskämpfe um Oberschlesien und lokale Nationalsozialisten wurden mit einem Straßennamen geehrt, wie z.B. Karl Hoefer, Albert Leo Schlageter, Bruno Schramm und Hans Ramshorn: • Höferstr. 1943 (heute: Romana Dmowskiego) - nach Karl Hoefer/ Höfer (1862- 1939): Hauptführer des Selbstschutzes, hatte als solcher maßgeblichen Anteil an der Erstürmung des Sankt Annaberges 1921 • Schlageterstr. 1938 (heute: Wojciecha Korfantego) - nach Albert Leo Schlageter (1894-1923): Mitglied des Freikorps, Teilnehmer der Kämpfe um den Annaberg 1921 • Bruno-Schramm-Str. 1943 (heute: ks. Piotra Ściegiennego) - nach Bruno Schramm (1903-1932): SA- und Selbstschutz-Mitglied aus Zülz, Teilnehmer der Kämpfe um den Annaberg 1921 • Hans-Ramshorn-Straße jetzt: Fesselstraße 1934/ 1935 (heute: Strzelców Bytomskich) - nach Hans Ramshorn (1892-1934): Mitglied der NSDAP, einer der wichtigsten Führer der schlesischen Sektion der SA Betrachtet man die in den unterscheidenden Gliedern der Oppelner Hodonyme enthaltenen Personennamen, findet man darunter Namen von Persönlichkeiten aus dem militärischen, politischen, kulturellen, wirtschaftlichen und religiösen Bereich. Die größte Gruppe machen dabei Namen von Kommandanten, Offizieren, Jagdpiloten und anderen Kriegshelden aus, die in 23 % der Straßennamen auftreten. Relativ zahlreich sind auch Namen von Dichtern und Schriftstellern vertreten, die 15 % der unterscheidenden Glieder ausmachen, wie auch von Personen aus dem weiter gefassten Bereich Kultur und Wissenschaft (darunter Maler, Musiker, Wissenschaftler, Denker und Konstrukteure) mit zusätzlichen 9,7 %. Namen von Göttern der germanischen Mythologie und Gestalten der germanischen Sagen machen 12,4 % aus, Namen von Vertretern der Herrscher(dynastien) 10,6 % und Heiligengestalten 8 %. Auffällig ist, dass es 216 Daniela Pelka überwiegend Männer sind: Unter allen in den Straßennamen „verewigten“ Persönlichkeiten befinden sich insgesamt nur zehn Frauen, darunter lediglich sechs real existierende (drei Heilige und drei Herrscherfrauen) und vier fiktive Sagenheroen. Neben Namen von Deutschen kommen Namen von Vertretern anderer Nationen, z.B. Polen, nicht vor. Dennoch kann man nur mit Vorsicht behaupten - wie das Jarczak (2007: 116) tut -, dass die von Amts wegen verliehenen Straßennamen, zu denen auch die hier fokussierten gezählt werden, viele „fremde Paten“ in das städtische Namengut Oppelns eingeführt haben. Denn auch wenn viele Personen, an die so erinnert wurde, nicht direkt mit der Region und Stadt verbunden waren, 28 so waren sie doch Vertreter der von den Stadteinwohnern im überwiegenden Teil repräsentierten Nation und der von ihnen vertretenen Kultur und im diesem Sinne nicht „fremd“. Ob sie ihnen als Vorbilder nahe standen oder ihnen fremd waren - darüber können keine Aussagen gemacht werden. Um dies festzustellen, bedürfte es anderer, soziologisch angelegter Untersuchungen. 3 Ausblick Am 24. März 1945 übergab die sowjetische Militärkommandantur ihre Macht in Oppeln in die Hände der polnischen Zivilverwaltung. Bereits im April 1945 entstanden die ersten polnischen Dokumente, die über die Straßennamenänderungen berichten; die ältesten Verzeichnisse, in denen polnische Entsprechungen der deutschen Straßennamen auftreten, gehen auf Juni 1945 zurück. Ende des Jahres lagen schon ca. 170 polnische Straßennamen fest, doch der Prozess der Straßennamenvergabe und -ordnung dauerte noch bis Mitte 1948 an (vgl. Jarczak 2007: 116f.). Verschiedene Quellen dieser Zeit führen für ein und dieselbe Straße häufig mehrere unterschiedliche polnische Namen an. In Anbetracht dessen, dass sich Eigennamen im Gegensatz zu den Gattungsnamen in den meisten Fällen nicht übersetzen lassen, 29 stellt sich die Frage, wie bei der Um- 28 Namen von Schlesiern und mit Schlesien bzw. Oppeln verbundenen Persönlichkeiten (u.a. Dichter, Maler, politische und soziale Aktivisten, Pfarrer, Industrielle, Ärzte, Juristen, Bürgermeister), treten in 26,5 % der untersuchten Straßennamen aus Personennamen auf, was allerdings keine geringe Zahl zu sein scheint. 29 Bei der Übersetzung eines Eigennamens würde von der Funktion der Bezeichnung auf die Erkenntnis der Bedeutung abgelenkt; Ausnahmen wie Schwarzwald/ Black Forest/ Forêt Noire/ Nigra Silva funktionieren nur dann, wenn die Namenfunktion und das Bezugsobjekt in der Sprachgemeinschaft trotz Übersetzung eindeutig klar sind (vgl. Kunze 2002: 149). Ähnlich unproblematisch ist es auch im Falle von Vornamen, die als Entsprechungen in beiden Sprachen fungieren, z.B. Hedwig und Jadwiga. Anthroponyme in deutschen Straßennamen 217 benennung der deutschen Straßennamen aus Personennamen ins Polnische vorgegangen wurde und ob sich dabei bestimmte Regelmäßigkeiten erkennen lassen. Dies wäre allerdings schon ein Thema für eine folgende Untersuchung. 4 Literatur Bering, Dietz/ Großsteinbeck, Klaus (1994): Die Kulturgeschichte von Straßennamen. Neue Perspektiven auf altem Terrain, gewonnen am Beispiel Köln. In: Muttersprache 104. S. 97-117. Choroś, Monika/ Jarczak, Łucja (2010): Ludzie i historia w nazwach ulic Opola. Opole. Fuchsberger-Weiß, Elisabeth (1996): Straßennamen: deutsch. In: Eichler, Ernst u.a. (Hrsg.): Namenforschung. Ein internationales Handbuch zur Onomastik. Berlin/ New York. (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft; 11.2). S. 1468-1475. Handke, Kwiryna (1970): Semantyczne i strukturalne typy nazw ulic Warszawy. Wrocław/ Warszawa/ Kraków. (Prace onomastyczne; 13). Handke, Kwiryna (1996): Straßennamen: slavisch. In: Eichler, Ernst u.a. (Hrsg.): Namenforschung. Ein internationales Handbuch zur Onomastik. Berlin/ New York. (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft; 11.2). S. 1476-1481. Jarczak, Łucja (2007): O powojennych zmianach nazw ulic w Opolu. In: Gajda, Stanisław (red.): Region w świetle nazw miejscowych. W setną rocznicę urodzin Profesora Stanisława Rosponda i w dwudziestą rocznicę śmierci Profesora Henryka Borka. Opole. S. 113-129. Kühn, Ingrid (2001): Umkodierung von öffentlicher Erinnerungskultur am Beispiel von Straßennamen in den neuen Bundesländern. In: Eichhoff, Jürgen/ Seibicke, Wilfried/ Wolffsohn, Michael (Hrsg.): Name und Gesellschaft. Soziale und historische Aspekte der Namengebung und Namenentwicklung. Mannheim/ Leipzig/ Wien/ Zürich. (Duden. Thema Deutsch; 2). S. 303-317. Kunze, Konrad (2002): Wörter als Etiketten. Grundzüge der Namenkunde. In: Dittmann, Jürgen/ Schmidt, Claudia (Hrsg.): Über Wörter. Grundkurs Linguistik. Freiburg im Breisgau. S. 147-166. Pelka, Daniela (2012a): Die deutschen Straßennamen von Oppeln. In: Zeitschrift für Mitteleuropäische Germanistik 2. S. 17-43. Pelka, Daniela (2012b): Straßennamen als Spiegelbild der Geschichte: Zu den Veränderungen im Bereich der Straßennamen in Oppeln von den Anfängen bis zum Zweiten Weltkrieg. In: Studia Germanistica 11. S. 83-99. Weber, Berchtold (1990): Strassen und ihre Namen am Beispiel der Stadt Bern. Bern. Zierhoffer, Karol (1989): Nazwy ulic i placów Ostrowa Wielkopolskiego. In: Urbańczyk, Stanisław (red.): Nazewnictwo miejskie. Warszawa/ Poznań. S. 55-65. Die Peripherie zum Zentrum erzählt - zur intermedialen Narrativität von Zsuzsa Bánks „Die hellen Tage“ Eszter Propszt (Szeged) Zusammenfassung Die zentrale - da bedeutungsschaffende und bedeutungswahrende - Figur in Zsuzsa Bánks „Die hellen Tage“ ist eine Frau, die durch Merkmale zu beschreiben ist, welche gewöhnlich die Peripherie konstituieren. Wie sie von der Erzählerin zum Zentrum erzählt wird (zum Zentrum, das für eine Gemeinschaft als Orientierungsbasis für Denken, Fühlen und Handeln dient), zu untersuchen, soll die Aufgabe dieses Beitrags sein. Fokussiert wird die Bildpraxis der Narration, die die Bildpraxis der zentralen Figur nachzubilden bestrebt ist, eine Repräsentationsweise, die über die Herstellung von stabilen (jedoch flexiblen) Beziehungsgeflechten Begriffe wie Z e n t r u m und P e r i p h e r i e kritisch reflektieren lässt. 1 Erkenntnisinteresse: Vermittlung eines Sinn-Konzeptes Ein Garten in den weizengelben Feldern am Rande der Provinzstadt Kirchblüt, mit hohem Gras, Birnbäumen, mit drei Linden vor dem Zaun, eine Hütte in diesem Garten, die von Brettern und Drähten zusammengehalten wird und an die neue Teile geschraubt werden, wenn der Platz nicht mehr reicht, und eine Frau, die in dieser Hütte, in diesem Garten zu Hause ist, Évi - das ist das Bild, das die Erzählerin in Zsuzsa Bánks „Die hellen Tage“ festzuhalten versucht. Das Bild scheint für sie ein Identitätskonzept zu repräsentieren: Rückblickend versucht die Erzählerin die Sinnzusammenhänge ihres Lebens aus ihrer Kindheit, die durch dieses Bild dominiert war, zu erarbeiten. Ein Sinn-Konzept wird in dem Bild aktualisiert bzw. ein Sinn-Konzept wird durch die Erzählung als Bild aktualisiert, es scheint nämlich, dass die Erzählerin nur erzählt, um das Bild zu re-konstruieren - ihre Erzählung stellt ein „bildgebendes Verfahren“ dar, verfährt intermedial. Das Erzählerische wird für vorliegende Ausführungen - in Anlehnung an Wolfs intermediale Erzähltheorie - als kognitives Schema aufgefasst, das, so die Zusammenfassung von Wolf (2002: 29), als stereotypes verstehens-, kommunikations- und erwartungssteuerndes Konzeptensemble […] medienunabhängig ist und […] in verschiedenen Medien und 220 Eszter Propszt Einzelwerken realisiert, aber auch auf lebensweltliche Erfahrung angewandt werden kann . Im Zeichen dieser Intermedialität, die das Wesen des Erzählerischen nicht (nur) in seinen Realisierungen, sondern in einem mentalen frame ansiedelt, der wahrnehmungspsychologisch unterschiedlich wirksame Repräsentationsweisen auf ähnliche Grundstrukturen und Elemente rückzuführen vermag (2002: 29), werden im Folgenden strukturierende Schemata, die der Text als kognitions- und handlungsleitende Muster der Figuren ausarbeiten lässt (und mit der Erzählung realisiert), und auch visualisierend vermittelt, als B il d bezeichnet, wobei von der zwischen Vorstellung und Darstellung oszillierenden Semantik des Begriffs Gebrauch gemacht wird. (An einigen Stellen, wo die Scheidung der Semantiken ohne weiteres möglich ist, wird aber die konventionelle Bedeutung von B il d beibehalten.) Die Erzählung stellt ein Bild ins Zentrum, dessen Elemente gewöhnlich die Peripherie konstituieren: Eine notdürftige Unterkunft und deren schreib- und leseunkundige Bewohnerin, die der Landessprache auch lange Jahre nach ihrer Ungarn-Flucht nicht wirklich mächtig ist, die Gelegenheitsarbeiten verrichtet u.a.m. Darzustellen, wie die Peripherie zum Zentrum erzählt wird, soll die Aufgabe dieses Beitrages sein. 2 Konstruktion einer Sinn- und Bild-Gemeinschaft 2.1 Die Grundlagen Wesentlich für die Vermittlung bzw. Konstruktion des zentralen Bildes ist die Deskription. Évis Porträt wird durch die Erzählerin, durch Seri, über viele Details erstellt, wobei Évi nicht über Kommentare oder Reflexionen, nicht über begrifflich benennende Passagen charakterisiert, sondern immer nur, auch in ihren Handlungen, beschrieben wird. 1 (Diese Technik der Bild-Erstellung bleibt konstant, auch wenn Seri, wie bereits erwähnt, aus einer Erwachsenen-Perspektive rückblickend erzählt und auch wenn sie mehrfach über Sichtwechsel berichtet.) Seris Deskription weist Évi eine eigentümliche Bildmacht zu. Diese 1 In meinem Beitrag folge ich Ansätzen - resümiert z.B. in Routledge Encyclopedia of Narrative Theory (Herman u.a. 2010) im Artikel „description“ -, die keine scharfen Grenzen zwischen Narration und Beschreibung postulieren. Die Peripherie zum Zentrum erzählt 221 besteht nicht (oder nicht nur) darin, dass Évi Blicke auf sich zieht, da sie von dem Kleinstadtstandard abweicht 2 , sondern darin, dass ihr „ein Augenblick der Ruhe [genügt], um ein Bild einzufangen und nicht mehr zu vergessen“ (85) - so dass sie später, als sie in einem Fotoladen Arbeit findet, sich über die vielen Fotos der Kunden wundert, die „nur das Gleiche zu zeigen schienen“ (85) -, darin, dass sie als Seiltänzerin (Évi ist ursprünglich Zirkusartistin) den Eindruck wecken, „es aussehen lasse[n]“ (151) kann, „als bliebe sie auch ohne Seil in der Luft“ (151), darin, dass sie eine Vorstellung von Leichtigkeit zu vermitteln vermag 3 , und vor allem darin, dass sie durch ihr Haus, ihren Garten und durch alle Straßen der kleinen Stadt [geht], als gebe es keine Hindernisse, als könne nichts in ihrem Weg stehen, als müssten ihr die Dinge weichen und nicht umgekehrt. Als könne sie auch keinen Gedanken daran verschwenden, als seien ihre Gedanken zu kostbar (11), d.h. für mein Verständnis darin, dass sie ihren Blick auf ihre Vorstellungsbilder richten kann. 2 Vergleiche: „Sie war nicht so wie die Mütter, die ich kannte, die in unserer kleinen Stadt, in den schmalen Straßen rund um den großen Platz, im langen spitzen Schatten des Kirchturms lebten, mit ihren bunten Autos und bunten Einkaufsnetzen, die jeden Morgen am Zaun in ihre Briefkästen sahen, während Ajas Mutter die Post an der Tür entgegennahm. Das Erste, was mir an ihr aufgefallen war, waren die lackierten Fußnägel gewesen, weil sie auch die Haut bemalt hatte, als habe sie mit Lack nicht sparen und einen violetten Streifen auf ihre Zehen setzen wollen. Sie war größer als andere Frauen, sogar größer als die meisten Männer, und Aja schien neben ihr zu verschwinden. Sie hatte lange, schmale Beine, von denen sie sagte, wie Holzbeine sähen sie aus, und es stimmte, ein bisschen sahen sie aus wie die Beine des Küchentischs, den sie im Sommer hinaus in den Garten trug, unter die Zweige der Birnbäume, die ihr Geflecht aus Schatten auf die schmutzige Tischplatte warfen. Hinter einem Maschendraht hielt sie Hühner, die ihr jemand überlassen hatte, und Aja und ich durften jedes Mal eine Handvoll Mais ins Gras streuen und die schmale Tür öffnen, bevor Ajas Mutter auf ihren flachen Schuhen hinging und ein Huhn schnappte, seinen Hals umdrehte und dann später, wenn sie es langsam rupfte, weiße und braune Federn ins kniehohe Gras segeln ließ“ (9). 3 Vergleiche: „Évi war mit Aja anders als andere Mütter mit ihren Kindern, wenn sich Évi unter den Platanen des großen Platzes fangen ließ und Aja hinter ihr herlief, in nicht mehr als einem Hemdchen, weil es ihr im Kleid heiß geworden war und Évi sich nicht darum kümmerte, was man deshalb in Kirchblüt über sie hätte denken können. Alles schien leicht, ihre Tage waren hell, wenn sie im Schatten der Bäume Grashalme zupften, wenn sie Hand in Hand an den Geschäften und Auslagen vorbeigingen und redeten, immerzu redeten, bis Évi sich auf eine Bank setzte und Aja zusah, wie sie Tauben verscheuchte“ (31). 222 Eszter Propszt Das Bild von einem Ort, der für sie und die ihren das Zuhause sein sollte und das in dem Garten und in der Hütte Gestalt gewinnt, ist eines der kraftvollsten unter diesen Bildern. Dieses Bild wird in einer Zeit ihrer Unbehaustheit, in dem „Wanderjahr“ (149), dringender 4 , während dessen Évi, ihr Mann, Zigi, mit ihrem Mädchen Aja in einem Tuch auf seinem Rücken gebunden, ohne einen festen Plan durch das Land ziehen, das Seil, auf dem Évi läuft, zwischen zwei Bäumen oder zwei Pfosten ausspannen, unter freiem Himmel schlafen, auch in Kälte und Schnee, und in Kirchen, wenn Évi einen besonders strengen Frost befürchtet. Der Anblick, den Évis Haus - auch in seiner Notdürftigkeit beschaulich - bietet, findet Anschluss an die Bilder seiner Betrachter, auf Évis Bild von dem Ort gründet sich eine Bild-Gemeinschaft. Die Gemeinschaft hat ihren Ursprung in der Freundschaft dreier Kinder. Zuerst lernen sich Seri und Aja kennen und lieben, dann schließt sich ihnen Karl an, und über die Kinder geraten schließlich auch die Eltern miteinander in Verbindung. Für die drei Kinder wird Évis Haus zum Mittelpunkt einer Welt, die sich um sie dreht, in der sie keine Angst erfahren und auf die sie ohne Zweifel sehen dürfen. Sie sind „an keinem anderen Ort lieber als hier“ (88), sie haben gerne Teil an Évis Bildpraxis: Die Feste sind unbedingt zu erwähnen, die Geburtstage, die Wunscherfüllung und Unbekümmertheit zelebrieren, und Ostern, das die Kinder besonders gern mit der tief gläubigen Évi feiern, die sich in dem „Wanderjahr“ vor der Dunkelheit zu fürchten gelernt hat, und deshalb auch tagsüber die Lampen in ihrem Haus leuchten lässt, und die ihre Ängste durch die Lichtfeier, in der das Licht Christi das Dunkel der Herzen vertreibt, zu bewältigen wünscht, auch weil Évi, die in der Fastenzeit nur ein Schatten ihrer selbst ist, mit dem Fest ihre Licht-Gestalt zurückgewinnt. 2.2 Die Gemeinschaft im Wirken Évis Bilder formen die Bildpraxis der Kinder und gestatten auch den Bildpraxen eine Regeneration bzw. eine Erneuerung, in die die Kinder hineingewachsen sind, den Bildpraxen ihrer Eltern. 4 Vergleiche: „Trotzdem überfiel Évi bald der Wunsch, an einem Ort zu bleiben. In den ersten Wochen im Herbst gelang es ihr, ihn zu bändigen, sie hoffte darauf, er würde verschwinden und sie freigeben, genauso wie er sie überfallen hatte, aber um die Weihnachtszeit sagte sie zu Zigi, sie wolle niemandem mehr nachschauen, der in einem Hauseingang verschwinde, sie wolle nicht mehr durch Fenster sehen müssen, hinter denen andere saßen und nicht sie mit Zigi und Aja“ (157). Die Peripherie zum Zentrum erzählt 223 2.2.1 Die Gemeinschaft im Wirken: Karl Karls Familie weist ein geringes bzw. erschöpftes Bildpotenzial auf. Karls Mutter, Ellen, ist regelrecht bildbesessen, allerdings offenbar deshalb, weil ihr Bilder wieder und wieder entgehen, weil sie sich ihr nicht fügen wollen. Nach der Geburt ihres kleineren Sohnes, des kränklichen, schwächlichen Benedikts übersieht sie Karl, über die Sorgen um den Kleineren vergisst sie ihn für Jahre. Als sich das Bild ihres Größeren später durch einen Unfall wieder in ihr Bewusstsein drängt - an einem Tag, an dem sie nicht nach ihren Söhnen schaut, stoßen die beiden das Bügelbrett um, und das heiße Eisen fällt auf Karls Wange -, ändert sich ihr Blick auf Ben. Sie sieht in ihm nur noch den Verursacher des Unfalls, und dieses Bild sollte das Bild ihrer eigenen Verantwortung von ihr fernhalten. Sie fängt an, Karl fotografieren zu lassen, für Kinderkleiderkataloge, sosehr er sich auch sträubt, während Ben zu seinem Vater zieht. Sie fängt an, die Stelle überschminken, das Licht einrichten und Karls Kopf so drehen zu lassen, dass man nicht mehr als einen Schatten sehen konnte, einen Fleck am Haaransatz, der nur noch denen auffiel, die davon wussten (119). Nachdem Ben verschwindet - er steigt in ein fremdes Auto ein und kehrt nie wieder zurück -, gerät sie in Verzweiflung darüber, dass sie sein Bild verlieren wird, und versucht dieses nun zum Standbild einzufrieren, in ihren Gedanken blieb Ben so alt wie an dem Tag, als er verschwunden war, er sah weiter so aus wie auf den Bildern, die im ganzen Haus verteilt […] hingen. Er blieb so klein, und er trug dieselben Kleider (77). Karls Vater verweigert sich nach Bens Verlust den Bildern, er schließt die Läden seines Hauses, und mit diesen auch seine Augen vor der Außenwelt. Karls Bildpraxis leidet unter der seiner Eltern. 5 Wenn er mit Aja und Seri bei Évi sitzt und zeichnet, malt er „auf jedes seiner Blätter ein Kind, das abseits von den anderen stand“ (80). Er sagt, er male seinen Bruder, aber er malt wohl auch sich selbst: Die Erfahrung des emotionellen Abseits teilen die beiden Brüder, sie werden, wie ausgeführt, von ihrer Mutter abwechselnd aus dem Blickfeld geschoben. Évi bietet Karl Bilder an, die ihm ermöglichen, an eigenen Bildern zu arbeiten: „Évi […] tat Karl den Gefallen, vorzugeben, er sei ein Junge wie jeder andere, mit einem Leben wie jeder andere“ (79); Karl darf in Évis Küchenfenster kleine, aufflatternde Vögel fotografieren, wodurch er das Bild des kleinen schwarzen Vogels bekämpft, der an dem letzten gemeinsamen Sonntag mit 5 Siehe dazu auch: „die Blicke seiner Eltern hatten ihn zu dem gemacht, was er war“ (309). 224 Eszter Propszt Ben in das Haus flatterte und nicht hinausfand 6 ; und als Karl später in dem Fotoladen auszuhelfen anfängt, erlaubt ihm Évi, mit abgeschnittenen Fotostücken zu arbeiten, „all die abgetrennten Laternen, Hausdächer und Baumkronen, […] von leeren Stühlen, von Menschen, die ins Bild gelaufen waren, am Rand auftauchten und auf ein anderes, ein nächstes Bild gehörten“ (286) aufzuheben, um sie neu zusammenzufügen, „bis sie ein neues ergaben, in dem nichts passte“ (286), d.h. eine Arbeit an der Peripherie, mit der Karl wohl den mütterlichen Blick zu korrigieren bzw. zurechtzurücken versucht 7 . Die Augen von Karls Mutter, vor die sich in ihrer eigenen Beschreibung eine schwarze Farbe schiebt, „vor ihr Gesicht im Spiegel und vor ihren Blick auf Karl“ (113), schöpfen bei Évi Kraft: Karls Mutter […] sagte, […] sie wolle nur sitzen und schauen, wie sich das Schwarz vor ihren Augen entferne, wie es sich zurückziehe, jedes Mal, wenn sie in Évis Küche sitze, unter ihren Rosen aus Papier, und während wir Kinder uns umschauten, als suchten wir danach, als könnten auch wir es sehen, dieses Schwarz, das Karls Mutter die Sicht nahm, nickte Évi und sagte, sie solle sitzen und warten, sie solle so lange bleiben, bis es ganz verschwunden sei (194). Évi gelingt es auch, die Bildpraxis von Karls Vater wieder zu beleben. Sie engagiert ihn als Lieferer ihrer Kuchen (Seris Mutter organisiert, dass man bei Évi Kuchen bestellen kann.) und Karls Vater, der in seinem „Haus mit den geschlossenen Läden“ (67) „mit dem Schauen aus der Übung gekommen war“ (196), muss sich dabei wieder „ans Licht gewöhnen“ (196), und auch ans verlernte Reden. Évi lässt auch zu, dass der Mann, von Beruf Architekt, die Wände ihres Hauses nach seinen Maßen abtastet (manchmal in der Nacht, da er den Unterschied zwischen Tag und Nacht in seiner Trauer vergessen zu haben scheint), und sich daransetzt, das Häuschen auszubessern. Évis Mann, Zigi, baut zwar alles wieder zurück, und Karls Vater muss auch akzeptieren, dass sein Bild von seiner Bindung zu Évi nicht mit Évis Bild von dieser Bindung übereinstimmt, er fängt aber wieder an, Häuser zu entwerfen. Das erste neue 6 Vergleiche: „Karl wollte den kleinen schwarzen Vogel in einem Bild einfangen, ihn bändigen und daran hindern, weiter durch seinen Kopf und seine Nächte zu jagen, in die Bilder seiner Träume hinein, sie mit lauten Flügelschlägen aufzuscheuchen und durcheinanderzuwirbeln“ (290f.). 7 Allerdings mit wenig Erfolg: „Ellen tat sich schwer mit Karls Bildern, sie mochte es nicht, wenn sie eine verzerrte, verschwommene Figur zeigten, die so an den Rand gedrängt war, als wolle sie aus dem Bild steigen“ (294). Die Peripherie zum Zentrum erzählt 225 Haus, das nach seinen Plänen erbaut wird, ist, in Seris Beschreibung, „groß, es war nicht schief, es hatte ein neues, dichtes Dach und einen Garten ohne Birnbaum, und doch sah es aus wie Évis Haus, ein bisschen so, als würde es schweben“ (228). Durch die rekreative Kraft von Évis Haus gelingt es Karls Vater, sein Haus-Bild zu sanieren und auch sein Haus, dessen Läden er wieder öffnen lässt. Karls Vater lernt (wieder), die Bilder seiner „inneren“ Welt als Werkzeuge zur Gestaltung seiner „äußeren“ 8 Welt zu benutzen. 2.2.2 Die Gemeinschaft im Wirken: Seri Seri und ihre Mutter, Maria, scheinen ein solides Bildpotenzial zu besitzen. Sie bemühen sich um die Haltbarmachung des Bildes des verstorbenen Vaters und Ehemannes: Es gibt Bilder von uns. Mein Vater hält mich hoch und lacht in die Kamera, er liegt mit mir im Gras und spielt mit einer Handpuppe, einem Wolf mit großen schwarzen Augen, er steht mit mir vor einem Sack voller Geschenke und zieht eines an seiner Schleife heraus. Ich kann keine Erinnerung an diese Momente haben, aber ich bilde mir ein, ich hätte sie, ich wüsste, wie es gewesen war, auf dem Arm meines Vaters zu sitzen, vor einem Sack voller Geschenke, oder im Gras mit ihm zu liegen. […] Ich denke an ihn, an jedem Tag denke ich an ihn, wenigstens einmal drängt sich ein Bild dieser winzigen Auswahl in meinen Kopf, schiebt sich vor meine Augen, und wenn ich tags nicht dazu gekommen bin, zeigt es sich, wenn ich am Abend die Augen schließe und in den Schlaf sinke, als könnte mein Tag sonst nicht enden (239f.). Die konservierende Bildpflege hält ihr Dreieck wirksam zusammen, bis Maria, die beinahe ein Vierteljahrhundert lang alles gegen dessen Auflösung getan hat, das Bild plötzlich dem Zerfall überlässt. Sie öffnet den Koffer, mit dem sie seit dem Tod ihres Mannes in ihrem Auto, auf dem Vordersitz neben sich, fährt, den Koffer, den ihr Mann auf seiner letzten Geschäftsreise in Rom vergessen hat und den sie nach seinem plötzlichen Tod am Flughafen übernommen hat. In einem Fach neben der schmutzigen Wäsche findet sie Briefe, die vor ihren Augen eine Skizze von einem zweiten Leben des Mannes aufscheinen lassen, von einem Leben mit einer anderen Frau, Elsa, in Italien, von einem Leben, in dem es sie und Seri nicht gab. Maria erleidet einen Bildverlust, die Tage mit 8 Wie das bisher Gesagte nahe legt, gehe ich davon aus, dass Bilder „innere“ und „äußere“ Welten miteinander verbinden, so dass „innere“ und „äußere“ Bilder nicht scharf voneinander zu trennen sind. Einer besseren Nachvollziehbarkeit zuliebe bediene ich mich jedoch dieser Vereinfachung. 226 Eszter Propszt ihrem Mann, die früher als hell galten, sind nun „in schwarzes Licht getaucht“ (363) - das scheinbar solide Bildpotenzial erweist sich als brüchig. 9 Ihre Bilder neu zu gestalten gelingt Maria in der Bild-Gemeinschaft um Évi. Einen Zugang zu Évis Bildern zu finden fiel ihr indessen nicht leicht. Früher, wenn sie Seri bei Évi abholte, wollte sie den Garten nicht betreten, sie blieb am Tor stehen, „wo sie über alles nur zu staunen schien“ (29), über die schief hängenden Schaukeln, die Stühle ohne Lehnen, die Hühner hinter dem Maschendraht, die schiefe Bude, am meisten aber über die Leichtigkeit, mit der sich Évi zwischen alldem bewegt. „[E]s störte sie“ - hält Seri fest - „dass Évi über all das hinwegsehen konnte, dass es ihr gleich war […], weil sich ihr Blick auf etwas anderes richtete, das für meine Mutter unsichtbar bleiben musste“ (30). Später aber erkennt sie Évis Fähigkeit, durch Bilder einen Weltbezug herzustellen, (nur) das zu besitzen, was Bild ist, und in diesem Besitz Sicherheit zu erfahren. In Seris Zusammenfassung: [Meine Mutter] musste sehen, dass Évi nicht nur dieses Haus bewohnte, das aus Resten zusammengehämmert war und aussah, als könnte es sich vom Boden lösen und über Weizen und Mais zum Bahnwärterhäuschen schweben, sondern dass ihr auch der Weg davor gehörte, auf dem wir Bälle über ein Netz geworfen hatten. Alle Wege gehörten ihr, alle staubigen Pfade, die an den Feldrainen nach Kirchblüt führten. Sobald Évi am Morgen die Läden aufstieß und über die Felsen schaute, gehörten sie ihr, sobald sie über die Steinplatten zum schiefhängenden Tor ging und es beim Öffnen durch den Staub zog, sobald sie den Mais mit ihren Armen streifte, wenn sie zur Brücke über den Klatschmohn ging, mit ihren schnellen, leichten Schritten, die den Boden kaum zu berühren schienen. Meine Mutter fragte nicht mehr, ob Évi keine Angst habe, allein in einem Haus hinter Feldern zu leben (64f.). 9 Marias Bilder geraten durcheinander. Die Sätze und Wendungen aus Elsas Briefen setzen sich zum „Reigen“ (360) an, „der sich in ihrem Kopf gedreht habe“ (360) und folgen ihr „wie ein Mückenschwarm surrend durchs Haus“ (360), ähnlich wie der kleine schwarze Vogel Karl folgt. Ähnlich wie Karl versucht sie diesen Schwarm aus dem Kopf zu verbannen und „den Namen Elsa abzuschütteln, ihn aus dem Haus zu jagen und ihm den Weg zum Schlafzimmer zu versperren, wenn er ihr über die Treppen hoch zu ihrem Bett folgen wollte“ (366), indem sie ein „äußeres“ Bild sucht, an das sie die „inneren“ Bilder verweisen kann, als an einen entlegenen Ort, von dem sie nicht zurückkehren können, indem sie also die quälenden „inneren“ Bilder in einem „äußeren“ Bild zu bezwingen versucht. Um ein solches Bild zu finden fährt sie nach Rom, um in den Gesichtern nach dem einen Gesicht zu suchen, „mit dem sie den Reigen halber Bilder würde vollenden können“ (397), um die vage „Vorstellung“ (362) von der Fremden, die in ihrem Wagen beinahe fünfundzwanzig Jahre mitgefahren war, „scharfzeichnen“ (375), in ein festes Bild umwandeln zu können. Vergebens, Elsa ist nicht aufzufinden. Die Peripherie zum Zentrum erzählt 227 Nachdem sie die Briefe gefunden hat, nehmen Évi und Ellen Maria zu dem Neckarufer mit, wo sie nicht mehr gewesen war, seitdem ihr Mann dort einen tödlichen Herzinfarkt erlitten hat. Die Bilder des tragischen Nachmittags holen sie ein, sie begegnet ihnen aber mit Gefasstheit. Es dauert noch, bis sie sich „den Blick aufs Wasser zurückerobert, auf seine Wellen, die das Licht vor sich hertreiben“ (536), aber sie ist nun bereit, an neuen Bildern zu schaffen: Gleich am Abend nach dem Ausflug fängt sie an, die Bücherwand ihres Mannes abzubauen, um dann seine Bücher zu verkaufen, dann kauft sie sich einen neuen Wagen, dann, im Zuge der Neuordnung ihrer Bild-Landkarte, streicht sie die Italienroute ihrer Spedition und gibt die Geschäftsbeziehungen im Süden auf, sie lässt dort einen weißen Fleck entstehen, und schließlich gestaltet sie auch das Bild der Spedition um, indem sie den Namen ihres Mannes, den sie früher durch die Lastwagen „weiter in die Welt“ (251) tragen lassen wollte, „damit jeder […] ihn lesen und sich einprägen konnte“ (251), durch ihren Namen ersetzt. Wie aus dem bisher Gesagten hervorgeht, fungiert Évis Bild von dem Zu- Hause-Sein für die Bild-Gemeinschaft, für diejenigen, die dieses Bild miteinander teilen, als Halt und Orientierungsbasis für Denken, Fühlen und Handeln, es ist ein zentrales Bild, auf das sich nahezu alle anderen Bilder ausrichten. 2.2.3 Die Gemeinschaft im Wirken: Neukonstruktionen (Aja) Évis Bild vom Ort bleibt ein Bezugspunkt auf der Bindungskarte der drei Kinder, auch wenn sie als Heranwachsende ihren „Kinderblick“ (232) verlieren und mit diesem (einstweilig) auch ihre Kinderbilder 10 , die keine hinreichende Orientierung mehr bieten können. Es bleibt ein Bezugspunkt, auch wenn sie sich an einem anderen Ort versuchen, und nach Rom fahren, wo sie den einen Platz, auf dem sie in Kirchblüt aufgewachsen waren, durch viele Plätze „ersetzen zu können“ (318) glauben. Im Süden wollen sie „Dinge“ erfahren, „die hinter [ihrer] Wahrnehmung“ (429) liegen, sie wollen ihren Blick erweitern - die 10 Vergleiche: „Früher hatten Karl und ich nie gesehen, dass der Weg vom schiefhängenden Tor zur Brücke über den Klatschmohn nichts als Staub und Schlamm war, es hatte uns nie gekümmert, dass an Évis Haus alles krumm und schief war, und wir hatten weggehört, wenn man uns auf dem großen Platz hatte fragen wollen, wie Évi und Aja darin leben konnten. Aber irgendwann fingen selbst wir an zu spüren, wie klamm es dort werden konnte, wenn es im Herbst schneekalt geworden war, wie Aja es nannte, wenn es über Nacht schneien würde. Trotz der Decken, die Aja aus den Zimmern holte und Karl und mir um die Schultern legte, hatten wir begonnen in Évis Küche zu frieren“ (230). Und vgl.: „Etwas löste sich von uns, als wir über die Felder schauten und Évis Haus winzig aussah und fern, wie hinter Folie“ (312). 228 Eszter Propszt „Dinge“ enthüllen sich jedoch stets als Details von den alten Bildern. Das Licht des Südens, das diese Details sichtbar macht, ist gleißend, grell, das bedeutet schonungslos. „Nur hatten wir uns diese Dinge anders ausgemalt, als sie sich jetzt zeigten, so waren sie in unserer Vorstellung nie gewesen“ (429), lautet der Kommentar von Seri. Eine Bild-Krise erleiden die Jugendlichen, als Aja per Post ein Filmband bekommt, durch das sie erfährt, dass sie nicht die leibliche Tochter von Évi ist: Das Bild, das der Projektor an die Wand wirft, zeigt eine andere Zirkuskünstlerin, eine Frau im Libellenkostüm, die lacht wie Aja, sich bewegt wie Aja und aussieht wie Aja. In dem „blendend grellen Licht“ (428), mit dem der Apparat das Bild der Frau an die Wand projiziert, verschwindet Ajas Ähnlichkeit mit Évi „mit einem Mal“ (416), es zeigt sich für die drei, dass das Bild von dieser Ähnlichkeit „nur in [ihrer] Vorstellung“ (417) bestand, „in […] [ihrem] Glauben, Aja und Évi seien ein Fleisch und Blut“ (417). Ajas Bild über ihre Zugehörigkeit zerfällt, sie flüstert geschockt, „meine Mutter ist eine Filmaufnahme, Seri, ich bin die Tochter einer Filmaufnahme“ (426), und hört lange nicht auf, diesen Satz zu wiederholen. 11 Die Bilder des Filmes fügen die alten Bilder auf eine neue Weise zusammen, Aja sträubt sich vergebens, etwas glauben zu müssen, das sie nicht zu glauben bereit war, sie sträubte sich, Zigi und Libelle zu verbinden, Libelle und Évi, sie mit nackten Füßen über Sägespäne tanzen zu lassen, […] alle drei über den einen Weg gehen zu lassen, der am Ende zu ihr selbst führte (418). Um ihre Bilder und mit diesen auch ihre Beziehungskarte wieder zu ordnen, fährt Aja nach Kirchblüt, und Seri begleitet sie. Es sind wieder Évis Bilder, die helfen, eine zerstörte Bild-Matrix neu zu strukturieren, Bilder von auseinander geratenen inneren und äußeren Welten abermals in Beziehung zu setzen. Auf Ajas Wunsch fahren sie (Évi, Aja, Seri und Maria) an den Ort, wo Ajas Leben begonnen hat, zu dem ehemaligen Zirkusgelände, wo eines Tages, mit ihrem großen Bauch auch Zigi überraschend, am großen Tor Libelle erschienen ist, und Évi füllt den Ort für Aja mit Bildern: Évi deutete in die Luft, als könne sie die Hand ausstrecken und uns etwas zeigen, als verschwänden die Stationen unseres Lebens nicht, sondern kämen an einem 11 Der verzweifelt wiederholte Satz macht wiederum die sinngebende und -strukturierende Funktion der Bilder deutlich: Die unbekannte leibliche Mutter ist bloß eine „Filmaufnahme“, während die mütterliche Funktion die von der Ziehmutter zur Verfügung gestellten Bilder innehaben. Die Peripherie zum Zentrum erzählt 229 bestimmten Ort zu einer bestimmten Stunde zusammen, und wir könnten sie wiederfinden, an ihnen vorbeigehen wie an den Bildern einer Ausstellung, und sie anschauen, als stünden die Zirkuswagen noch hier, als könnten wir die wenigen Stufen hochgehen und durch ein Fenster wie in ein Puppenhaus blicken (442f.). Die Welt ihrer ersten Monate wird aufgebaut, damit Aja einen Bezug zu dieser Welt herstellen kann: An diesem Platz konnte sich Aja festhalten, er war nicht unter halben Wahrheiten verschwunden, es gab ihn, hier, vor unseren Augen, aus Kies und Schotter und Staub, er stieß noch immer an die Felder, auf denen der Weizen damals, am heißesten Tag des Jahres, hoch gestanden hatte, und an die Straße, die Évi und Zigi wenig später genommen hatten, als sie durchs Zirkustor gegangen waren und Libelle zurückgelassen hatten (457). Es dauert noch eine Weile, bis Aja ihre Beziehungskarte neu zeichnen kann, bis sie den Kontakt zu Libelle aufnimmt, bis sie sich entscheidet, in Évis Nähe zu bleiben, bis sie ihre Berufung findet, in der Neonatologie, wo sie, so Seris und Karls Bild über Ajas Beruf, „Kinder vor falschen Müttern schützen“ (529) kann, und in dem sie lebt, was ihr Évi vorgelebt hat 12 . Durch die beschriebene Bild-Re-Konstruktion erhält auch Évis Bild neue Züge. Es zeigt sich, dass sie das Bild ihrer Zugehörigkeit gegen Bilder aufrechterhält, in denen sie befürchtet, Libelle könnte auftauchen oder Zigi könnte Aja mit sich nehmen oder Aja könnte sich gegen sie wenden, wenn sie erfahren würde, dass sie nicht ihre leibliche Mutter ist. Und es zeigt sich auch, wie konfliktuös ihre Bildpraxis ist, wie widersprüchlich diejenigen ihrer Bilder sind, die Libelles Gesichtszüge verwischen lassen - „[d]ie Zeiten häuften sich, in denen Évi vergaß, an Libelle zu denken, sich ein Bild von ihr zu machen und sich auszumalen, unter welchem Zirkuszelt sie gerade zu welchen Sprüngen ansetzte“ (454) -, die aber Libelle stets in Ajas Bild aufscheinen lassen - „es wollte ihr nicht gelingen, in Aja nicht auch Libelle zu sehen, wenn Aja durch ihr Zimmer, 12 Vergleiche: „Seit Aja angefangen hatte, im Krankenhaus zu arbeiten, glaubte ich eine Ähnlichkeit zu erkennen zwischen dem, wie Évi mit ihr gewesen war, und wie Aja jetzt mit den Menschen umging, die hier in den Betten lagen. Ich war sicher, all die Jahre, in denen Évi sie in frostkalten Nächten zugedeckt und an sommerheißen Tagen durchs flache Wasser des Waldsees gezogen hatte, hatten damit zu tun, wie Aja jetzt mit anderen sein konnte, all die Jahre, in denen sie ihre bunten Stifte mit dem kleinen Obstmesser gespitzt und still im Türrahmen gestanden hatte, während Aja in ihre Hefte geschrieben hatte, in denen sie sich zurückgenommen hatte, sobald Zigi mit seinem dunklen Koffer am schiefhängenden Tor aufgetaucht und dann über Wochen durch ihren Garten gesprungen war“ (282). 230 Eszter Propszt durch den Flur hinaus in den Garten tanzte“ (454) -, und doch nicht eindeutig erkennen lassen, wer Ajas Mutter ist - „[t]rotzdem fing Évi an, durcheinanderzubringen, wessen Tochter Aja war“ (454). Es zeigt sich, dass Évi aus Erfahrung spricht, wenn sie Aja, Seri und Karl ans Herz legt, einander nicht aus den Augen zu verlieren 13 und sie so zu einem intensiven Bild-Austausch und einer verantwortungsvollen Bild-Kontrolle ermahnt: Zigi hat Libelle nämlich kennen gelernt, als er und Évi sich „aus den Augen verloren“ (439) haben. Aber es zeigt sich auch, dass sich Évis Bild von ihrer Zusammengehörigkeit mit Aja gegen all diese angsterfüllten und verunsichernden Bilder behaupten kann, das Bild, auf dem Aja als ein Kind zu „sehen“ ist, „das nicht ihr Kind war und doch zu ihr gehörte“ (442), und als ein Kind, dem Évi ihre ganze Fürsorge widmet, für das sie ihr Element, die Luft, verlässt und aufhört, sich von der Kuppel von Zirkusmanegen hinabzustürzen, weil sie auf Aja und ihretwegen auch auf sich selbst aufpassen will. Als Aja und Seri nach Rom zurückkehren, zum letzten Mal und für eine kurze Zeit, fasst Seri das Ergebnis ihrer Suche nach einem Ersatzbild für das zentrale Bild zusammen: [W]ir hatten vergeblich nach Évis Garten Ausschau gehalten, nach dem schiefhängenden Tor, das wir anderswo hatten öffnen wollen, um unter Birnbäumen durchs Gras zu laufen - sosehr wir einen Ort für uns gesucht hatten, wir hatten ihn nicht gefunden (476f.). [V]ielleicht war es gar nicht möglich, Kirchblüt zu verlassen, jedenfalls nicht für uns (489), stellt sie fest. 3 Das Vermittelte: Resümee In Kirchblüt werden sie mit Évis Bildverlust, mit ihrem Gedächtnisschwund konfrontiert. Dieser tritt ein, nachdem Évi all ihre Bilder hergegeben hat. Évi, deren Lichtnatur viele Bilder zu erzeichnen geholfen hat, wird selbst zum Bild. Sie ist bereit, den Ort, ihr „Haus des Lichtes“, gegen das Grab, das Zuhause- Sein in dem ewigen Licht zu tauschen. Das kann sie, weil die ihren - durch sie, d.h., dadurch, dass sie von ihr Vor-Bilder bezogen haben - bildmächtig gewor- 13 Vergleiche: „Sie sagte: Verliert euch nicht aus den Augen, nur so viel, […] als habe sie in diesen Julitagen darüber nachgedacht, was sie Aja würde mit auf den Weg geben wollen, und sich diese sechs Worte zurechtgelegt und aufgehoben für den Abschied, um Aja so zu sagen, es war ein Fehler, Zigi jemals aus den Augen gelassen zu haben, als sei das alles, als könne es nur darum gehen, sich nicht aus den Augen zu lassen“ (466f.). Die Peripherie zum Zentrum erzählt 231 den sind, sie sind Orte, die Bilder tragen 14 , auch Évis Bilder und somit auch Évis Licht-Ordnung, die im Bewusstsein der Zusammengehörigkeit und in der Verantwortung für diese Zusammengehörigkeit besteht. Die Bildfähigkeit versichert vor allem das Erzählen selbst, Seris Heliographie, die eine Strahlung einprägen, das Licht festhalten möchte, das von Évi widerscheint und vieles beleuchtet. Die Lichtempfindlichkeit, mit der Seri Bilder erstellt, Erscheinungs-, Denk- und Gefühlsbilder rekonstruiert, und auch die komplexen Zusammenhänge dieser Bilder sichtbar macht, also das Bild- Gefüge, das die Gemeinschaft um Évi abgibt, entwickelt sich (auch) in der Beziehung zu Évi. In dieser Beziehung bekommt Seri ein Muster vermittelt und immer wieder bestätigt, das sie mit dem Erzählen weitergibt: dass Leben das (Er)Leben von Bildern darstellt, von selbst- und fremderschaffenen Bildern, welche wiederum zu eigenen umgeschaffen werden können. Seri erzählt die P e ri p h e ri e dadurch zum Z e ntr u m , dass sie eine krisengeübte Bildpraxis nachbildet, deren sinn- und somit wirklichkeitskonstitutives Potenzial andere Bildpraxen sich selbst reflektieren lässt. Auch die des Lesers. 4 Literatur Belting, Hans (2011): Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft. München. Herman, David/ Jahn, Manfred/ Ryan, Marie-Laure (Ed.) (2010): Routledge Encyclopedia of Narrative Theory. London/ New York. Wolf, Werner (2002): Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik. Ein Beitrag zu einer intermedialen Erzähltheorie. In: Nünning, Vera/ Nünning, Ansgar (Hrsg.): Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär. Trier. S. 23-104. Quelle Bánk, Zsuzsa (2011): Die hellen Tage. Frankfurt am Main. 14 Auch im Sinne Beltings Bild-Anthropologie, vgl.: „Es läuft auf einen Akt der Metamorphose hinaus, wenn sich die gesehenen in erinnerte Bilder verwandeln, die fortan in unserem persönlichen Bildspeicher einen neuen Ort finden. Wir entkörperlichen in einem ersten Akt die äußeren Bilder, die wir zu ‚Gesicht bekommen‘, um sie in einem zweiten Akt neu zu verkörpern: es findet ein Tausch zwischen ihrem Trägermedium und unserem Körper statt, der seinerseits ein natürliches Medium bildet“ (Belting 2011: 21). Der verhängnisvolle Schlüssel. Ein Gespenst geht um in Europa(s Deutschunterricht) Rolf Selbmann (München) Zusammenfassung Ausgangspunkt ist das sich in Deutschunterricht, Literaturdidaktik und Literaturwissenschaft epidemieartig ausbreitende Begriffsfeld S c h l ü s s e l/ E r s c h l i e ß e n . Wir verlangen - ohne groß nachzudenken - von zukünftigen Germanisten den Erwerb von „Schlüsselqualifikationen“ und fordern Schüler zur „Erschließung“ literarischer Texte auf. Die inflationäre Ausbreitung solcher Begrifflichkeiten bleibt nicht nur unreflektiert, unwidersprochen und oftmals unbemerkt; mit dieser überhand nehmenden Ausbreitung setzen sich auch fragwürdige, wenn nicht gar gefährliche Vorstellungen von dem fest und durch, was Literatur (angeblich) ist. Der Beitrag legt zunächst die Entstehungsgeschichte der S c h l ü s s e l/ E r s c h l i e ß e n -Begrifflichkeit frei, um dann vorzuführen, welche unausgesprochenen Denkfiguren dieser unterliegen, warum sich diese Begrifflichkeit in so rasanter Geschwindigkeit ausbreitet, was sie so verführerisch macht; und natürlich auch, welche Alternativen es dazu gibt. Der Untertitel des Beitrags zitiert den ersten Satz des „Kommunistischen Manifests“. Die Lage ist also dramatisch. Der Haupttitel, „Der verhängnisvolle Schlüssel“, spielt auf das 1826 erschienene Lustspiel „Die verhängnisvolle Gabel“ von August von Platen an, in dem dieser sich über die damals modische romantische Schicksalstragödie lustig machte. Der Titel des Theaterstücks enthielt zugleich Programm und Methode. Es gelte, so Platen in seinen Briefen, eine zu bekämpfende Tendenz mit deren eigenen Mitteln zu schlagen, eine Komödie als eine „auf den Kopf gestellte Tragödie“ (Platen 1911ff.: 243 - Brief vom 23. Juli 1826) zu entwerfen, um damit „die Zeit selbst mit ihren Thorheiten“ (190) zu entlarven. Nicht weniger als das haben die folgenden Ausführungen im Sinn. Es geht um ein Feld im Kernbereich von Literaturwissenschaft, Literaturdidaktik und Deutschunterricht, das bislang nur ein Schattendasein beim Prozess fachspezifischer Begriffsprägungen geführt hat und von allen literaturtheoretischen Auseinandersetzungen verschont geblieben ist. Gerade diese Nichtbeachtung hat aber dafür gesorgt, dass sich gleichsam unter der Hand und unkontrolliert fehlerhafte Begriffe einzunisten beginnen, verfestigen 234 Rolf Selbmann und schließlich sogar den Eindruck erwecken können, sie seien Teil einer unverzichtbaren Terminologie. Die Rede ist von einem metaphorischen Feld, das sich schon längst ins Zentrum literaturwissenschaftlicher Begrifflichkeit eingeschlichen hat und sich anschickt, es ganz zu besetzen und endgültig zu beherrschen. Wir bemerken kaum mehr, in welchen Bildbereichen wir operieren, wenn wir uns aufmachen, Texte zu e r s c hli e ß e n oder wenn wir S c hlü s s e lq u a lifik a ti o n e n als das Nonplusultra der Germanistikausbildung einfordern. In ihrer unreflektierten Verwendung hat sich diese S c hlü s s e l/ E r s c hli e ß e n - Begrifflichkeit längst inflationär ausgebreitet. Sie ist im Sinne des Beitragstitels sogar als verhängnisvoll anzusehen und geistert als ein Gespenst erst durch Deutschland, dann durch Europa, indem sich von ihr aus klammheimlich ein falsches Verständnis von Literatur in die Literaturwissenschaft einschleicht, das es wieder auszutreiben gilt. Um so schwerwiegende Behauptungen zu belegen, ist zunächst aufzuzeigen, wie diese inkriminierte Terminologie entstanden ist, worauf sie fußt und auf welchen Wegen sie sich in unsere fachsprachliche Begrifflichkeit eingenistet hat (1); sodann ist zu demonstrieren, dass und in welcher Weise sie sowohl den bislang gültigen Vorstellungen von Literatur als auch neueren literaturtheoretischen Einsichten zuwiderläuft und welche fatalen Wirkungen dadurch ausgelöst werden (2). Zuletzt gilt es, diesem wenig ermunternden Befund doch noch ein paar positive Seiten abzugewinnen und weiterführende Folgerungen zu ziehen (3). 1 Der falsche Schlüssel Das S c hlü s s e l/ E r s c hli eß e n -Begriffsfeld ist - so meine erste These - aus Vermeidungsangst entstanden, dem zwanghaften Zurückweichen vor einer angeblichen oder tatsächlichen Gefahr, der man keinesfalls zum Opfer fallen möchte. Der Nachweis soll in der Schule begonnen werden, weil der gegenwärtige Deutschunterricht wie im Brennspiegel bündelt, was in den literaturwissenschaftlichen Diskussionen zerstreut und ungefiltert herumschwirrt. „Erschließen Sie folgenden Text“ heißen die Aufgabenstellungen seit mehreren Jahren stereotyp und konform im Deutschabitur vieler Bundesländer. In den Lehrplänen - das Bundesland Bayern ist hier übrigens Vorreiter - erscheinen solche Erschließungsaufträge für Texte beiläufig schon seit der 7. Jahrgangsstufe, um dann ab der 10. Jahrgangsstufe als „Erschließung eines poetischen Textes“ zur Regelformulierung zu werden. Für die gesamte Oberstufe wird das Der verhängnisvolle Schlüssel 235 Erschließen dann geradezu programmatisch eingefordert. 1 Was also sollen die Schüler liefern, was sollen sie vermeiden? Offensichtlich möchte die schlaue „Erschließen Sie“-Formulierung genau der eindeutigen Festlegung ausweichen, welche Form, welcher Intensitätsgrad und welche Zielrichtung der Textarbeit erwartet wird. Scylla und Charybdis sind hier „Interpretation“ und „Analyse“, zwischen denen der Text(be)arbeiter als neuer Odysseus hindurchschiffen soll, wobei beiden gefährlichen Klippen gleichweit auszuweichen wäre. Warum wird eigentlich keine „Interpretation“ gefordert? Weil Begriff und Sache der „Interpretation“ obsolet geworden sind. Denn in ihr steckt der Anspruch auf eine schlüssige und geschlossene, eine umfassende, literaturgeschichtlich und kontextuell eingebettete Textbearbeitung, mithin eine Maximalleistung, die dem Prüfling in Form der punktuell, ohne Hilfsmittel, unter Zeitdruck und Prüfungsstress zu erbringenden Aufgabe einer Klausur natürlich nicht abverlangt werden kann. Außerdem spukt Emil Staigers „Die Kunst der Interpretation“ (zuerst 1955) durch den Vorstellungsraum. Mit der Nennung dieses berühmten Titels geraten Erinnerungen an die Interpretationskunst der Werkimmanenz ins Schwingen, es gelte die Größe und innere Harmonie eines Kunstwerks und seine einmalige Stimmigkeit mit jeder neuen „Interpretation“ jeweils neu zu demonstrieren. Warum geben sich die Aufgabenstellungen, wenn sie schon keine Interpretation fordern wollen, dann nicht mit einer „Textanalyse“ zufrieden, der bescheidenen Beschreibung von Textstrukturen, der Mechanismen des Funktionierens von Redestrategien, dem Aufzeigen von Verfugungen, Bezugnahmen, Zeichensetzungen? Klingt „Analyse“ zu unambitioniert, zu wenig auf das bestaunenswerte Ergebnis ausgerichtet, zu technizistisch, zu naturwissenschaftsanalog, zu handwerklich, zu sehr nach Bastelarbeit? Dabei wissen wir doch längst, dass Analyse den Texten nicht schadet, sondern im Gegenteil ihre ästhetische Komplexität erst richtig verstehbar macht. Spätestens seit Bertolt Brechts Gedanken „Über das Zerpflücken von Gedichten“, in denen es heißt: „Zerpflücke eine Rose und jedes Blatt ist schön“ (Brecht 1967: 392), ist die Analyse von Kunstwerken zum Prüfstand ihres ästhetischen Mehrwerts aufgerückt. Im Vorwort zu seinem Sammelband „Das Wasserzeichen der Poesie oder Die Kunst und das Vergnügen, Gedichte zu lesen“ ist Hans Magnus Enzensberger 1985 sogar noch weiter gegangen: „Lesen heißt immer auch: zerstören [...]; zerstören und wieder zusammensetzen. Dabei entsteht allemal etwas neues [sic]. Ein Klassiker ist ein Autor, der das nicht nur verträgt; er verlangt es“ (Thalmayr 1985: VIII). Gelungene, ergiebige „Analyse“ wäre dann sogar mehr als nur ein 1 Lehrplan für das bayerische Gymnasium. Fachlehrplan Deutsch. In: Amtsblatt des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht, Kultus, Wissenschaft und Kunst. Teil I. Sondernummer 7 vom 06.02.1992. S. 301-372. 236 Rolf Selbmann Messinstrument für literarische Qualität. Sie wäre Gradmesser, ja geradezu Bedingung für das dauerhafte Einrücken eines Textes in den Literaturkanon. Statt dessen soll also „erschlossen“ werden, als könne dieser Zentralbegriff in Analogie zur po liti c a l c o rr e c tn e s s sowohl der alten „Interpretation“ als auch der neuen „Lektüre“ ausweichen. Vorbehalte gegen diese Terminologie wollen beileibe nicht im Sinne einer sprachkonservatorischen Hygiene verstanden sein. Sie richten sich auch nicht gegen bloße Sprachschluderei, wenn im Deutschunterricht der Oberstufe Aufsatzarten wie die „Literarische Erörterung“ oder die „Literarische Charakteristik“ eingefordert werden. Mitnichten ist darin eine irgendwie „literarische“ Leistung des Schülers beim Erörtern oder Charakterisieren verlangt, sondern natürlich die Erörterung bzw. die Charakterisierung von Problemen oder Figuren aus dem Bereich der Literatur. Die Kombination von Adjektiv und Nomen ist einfach bloß falsch; sie verweist nur scheinbar an die poetische Höhenlage, statt an einen Schulaufsatz. Sie ist schlampig, vielleicht auch peinlich (für die Begriffspräger), gefährlich ist sie nicht. Das S c hlü s s e l/ E r s c hli eß e n -Begriffsfeld ist jedoch gefährlich, weil es mit dem hehren Anspruch auftritt, einen Ausweg aus dem Dschungel literaturtheoretisch strittiger und methodisch umstrittener Begrifflichkeiten anzubieten, indem es in den (falschen) Euphemismus ausweicht. Mehr noch: Die aus Vermeidungsangst geborene Ausweichstrategie verkauft sich als elegante Lösung. Das ist sie freilich nicht, sondern die feige Flucht vor dem eindeutigen Bekenntnis, was denn ein literarischer Text sei. Woher stammt diese S c hlü s s e l/ E r s c hli e ß e n -Begrifflichkeit? Sie lässt sich als im Anspruch reduzierte Denkfigur der E nt s c hlü s s e l u n g / D e c hiff ri e r u n g rekonstruieren, die bis zur freien Verfügbarkeit deshalb so inflationiert worden ist, weil sie so verführerisch plausibel klingt. Dabei gerät man fast unbemerkt in gefährliche Nachbarschaften: e nt schlüsselt wird, was vorher v e r schlüsselt wurde; die politische Grundierung liefert die Entwicklung von Waffensystemen mit ihrem Höhepunkt im Kalten Krieg (vgl. Türcke 2005: 211). Impliziert wird also ein Vorgang, der die Benutzung durch Unbefugte ausschließen soll und - auf Texte übertragen - diese erst einmal „unlesbar“ macht und dann sogar zum Feind werden lässt (226). Schon immer gab es Verschlüsselungen „geheimer Botschaften“ (vgl. Singh 1999) und ihre Entschlüsselung; die Literaturgeschichte bezeichnet eine ganze Gattung als sogenannte „Schlüsselliteratur“ (vgl. auch Rösch 2003). So meint man an verwandte Denkformen anderer Wissenschaftsdiskurse fugenlos anschließen zu können. Nicht nur die elektronische Kommunikation arbeitet mit der Codierung und Decodierung von Zeichen. Bekanntlich steht man kurz vor dem Ziel, das menschliche Erbgut zu entschlüsseln. Was in den Naturwissenschaften jedoch als eine offene Metaphorik gebraucht wird, um zu veranschaulichen, dass die Anordnung der Ami- Der verhängnisvolle Schlüssel 237 nosäuren wie ein kryptischer Text zu lesen ist, führt in den Textwissenschaften auf einen Holzweg. Auf viel bescheidenerem Niveau als die Genetiker mit ihren Basteleien an der DNA soll der Interpret nur erschließen, statt entschlüsseln, also irgendwie lesbar machen, was umgekehrt heißt, dass Texte zunächst kryptisch angelegt sind. Das klingt so verführerisch plausibel, dass niemand nachfragt, woher diese Gedankenfigur ihren Ursprung hat. In der Literaturwissenschaft und ihren populären Auswucherungen in den Verlagsproduktionen taucht das S c hlü s s e l/ E r s c hli e ß e n -Begriffsfeld zuerst in den späten 80er Jahren auf; es verstärkt sich in den frühen 90er Jahren und hat sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt vollständig durch- und festgesetzt. Zuerst las man z.B. von einer „Poetik der Schlüsselwörter“ oder Aufsatztitel wie: „Möglichkeiten der Sinnerschließung poetischer Texte auf der Basis von Schlüsselwörtern“ (Eppelsheimer/ Köttelwesch 1986: Register). Im Jahr 2000, um nur noch ein mittlerweile historisch gewordenes Beispiel herauszugreifen, ist die Dokumentation einer Ringvorlesung an der Universität Würzburg erschienen, die eigentlich die Kanondiskussion bereichern sollte, denn der Titel der Vortragsreihe hieß ursprünglich „Lektüreempfehlungen für das 21. Jahrhundert: Hauptwerke und Hauptautoren der deutschen Literatur“. Im Buchtitel heißt es nun „Schlüsseltexte der deutschen Literatur von 1200 bis 1990“ (Klein/ Schneider 2000: V). Seit den frühen 90er Jahren bietet ein Verlag Bange in Hohlfeld - nomen est omen? - den vor der eigenen Textarbeit bangenden Lesern im hohlen Feld der Lektüre sogenannte „Erschließungshilfen“ an, eine Art literarischen Schlüsseldienst für die noch ausgesperrten Leser. Im Reclam-Verlag gibt es schon seit längerer Zeit eine Reihe „Lektüreschlüssel für Schüler“. Der Gipfel ist also erreicht, wann ist er überschritten? Was den staatlich kontrollierten Teil des Deutschunterrichts betrifft, so ist Bayern übrigens der Hort dieser interpretatorischen Schlüsselgewalt. Doch die anderen Bundesländer haben längst nachgezogen und die Texterschließung als verbindliche Klausur- oder Abituraufgabenformulierung eingeführt (Knoche 2000). Von hier aus breitet sich das Erschließen wie ein Pilzgeflecht aus und befällt mittlerweile sogar andere Aufsatzarten. Bei den seit 2013/ 14 von den Ländern Sachsen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Hamburg, Schleswig-Holstein und Bayern eingeführten gemeinsamen Aufgaben für das Deutsch-Abitur gibt es schon eine Art Steigerung aller Aufsatzarten, nämlich ein „Erörterndes Erschließen“. 2 Die Deutschdidaktik folgt solchen Exzessen auf dem Fuß und biedert sich den ministeriellen Vorgaben an; sie hat natürlich schon längst eine „Texterschließungskompetenz“ entdeckt (Abraham/ Kepser 2005: 58). Was diese genau meint, verrät die dazu gehörige Argumentationsfi- 2 Schreiben des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus KMS Nr. VI.8 - 5 S 5500 - 6. 16488 vom 27.02.2012. S. 3. 238 Rolf Selbmann gur: Das Erschließen von Texten ziele nicht etwa auf ein besseres Textverständnis, sondern auf die (angebliche) Fähigkeit der Schüler, „sich über diesen Text mitzuteilen“ (191). Eingeschlichen und festgesetzt hat sich die S c hl ü s s e l/ E r s c hli e ß e n -Begrifflichkeit als Denkform überall dort, wo literarische Texte nicht gewürdigt, sondern für den Alltag zugerichtet werden. „Handy statt Heine? Gameboy statt Goethe? “, fragt die Textreihe eines einstmals renommierten Schulbuchverlags, jetzt „Verlag für Bildungsmedien“. Die Reihe, in der klassische Texte für den Schulunterricht verstümmelt werden, um angeblich für die Gegenwart tauglich zu sein, heißt „einfach klassisch“. Bei diesem besonders abstoßenden Versuch geht es nicht nur um die orthografische Anpassung an die neueste Rechtschreibreform, sondern auch um massive Texteingriffe wie Kürzungen, Satzumbau, modernisierten Wortschatz und die Zerstörung von Metren. Auf den Protest von Deutschlehrern und Literaturwissenschaftlern gegen ein solches Vorgehen reagiert der Verlag mit einem verräterischen Rechtfertigungsschreiben - verräterisch deshalb, weil in ihm ein Literaturunterricht als allgemeingültig ausgegeben wird, bei dem es um nichts anderes geht, als „klassische Texte mit den Schülern zu entschlüsseln“ (Behütuns 2003: 449). Der wahre Wilhelm Tell Schillers zieht seinen Pfeil natürlich aus dem „Goller“ und nicht aus dem „Halsausschnitt“, wie es in der bereinigten Fassung heißt. Er sagt auch nicht: „Nun denn, o Herr, / ich will Euch die Wahrheit ganz genau sagen.“, sondern: „Wohlan, o Herr, / Weil ihr mich meines Lebens habt gesichert, / So will ich euch die Wahrheit gründlich sagen.“ Der Sündenfall beginnt mit der Umstellung auf die neue Rechtschreibung und dem Ersatz veralteter Wörter, er endet mit sinnentstellenden Umformungen und verkürzenden Auslassungen und gipfelt schließlich in der Herstellung einer bereinigten Textfassung, die zum virtuellen Drehbuch eines nie produzierten Films verkommt: Schillers „Geisterseher“ ist dann tatsächlich weniger phantasy-trächtig als „Der Herr der Ringe“. Wer die Gestalten in Schillers „Wilhelm Tell“ wie Figuren aus Seifenopern reden lässt, trägt nichts zum Verständnis der klassischen Literatur bei - im Gegenteil, er schadet ihr. „Kleine Veränderungen - große Wirkung! “ rühmt sich der Verlagsprospekt da mit Recht. Was in der Schule fast schon Standard geworden ist, gilt es wenigstens für die wissenschaftliche Arbeit mit aller Macht abzuwehren. Klassische Texte wollen nicht entschlüsselt oder erschlossen, sondern gelesen und verstanden werden, nicht o b w o hl sie alt sind, sondern gerade deshalb, w e il sie es sind. Das gut gemeinte Angebot, man könne ja zum besseren Verständnis die historische Patina abkratzen, auf dass „dann die Farben wieder frisch“ werden (Ott 2003: 6), bleibt fatale Oberflächenkosmetik, wenn mit dem Ablösen der angeblichen Verkrustungen von den Klassikern gemeint sein sollte, deren fremde Gestalt so zu bereinigen, dass sie bequem erschlossen werden können. Denn nur im Abstand zu unserer Gegenwart, erst Der verhängnisvolle Schlüssel 239 durch diesen fremden, ver- oder entfremdenden Blick entsteht jener literarische Mehrwert, der zu Literaturgeschichte gewordene Texte von gegenwärtigen unterscheidet. 2 Der goldene Schlüssel Wenn man näher untersucht, welche Vorstellungen von Literatur sich unausgesprochen hinter der S c hlü s s e l/ E r s c hli e ß e n -Metaphorik verstecken, dann ergeben sich Fragen über Fragen: Ist der Text das Schloss, das man mit einem nachgelieferten Schlüssel aufsperrt? Oder öffnet der Schlüssel erst ein Tor, hinter dem der Text lauert? Wer liefert den Schlüssel? Wo ist der Schlüssel vor und nach dem Vorgang des Aufschließens? Wer hat die Schlüsselgewalt, sprich Autorität, und wer entscheidet über das rechte Aufschließen? Etwa der, der über einen „Korrekturschlüssel“ verfügt? Ein solches Denken kann eigentlich nur bedeuten, dass Texte letztlich v e r s c hlü s s e lt e Botschaften sind, dass es eine Art Klartext dahinter gibt, der erst nach einem Dechiffrierungsvorgang richtig oder vollständig zu verstehen ist. Die S c hlüs s e l/ E r s c hli e ß e n -Begriffe zwingen das Textverstehen unter einen verkürzten Literaturbegriff, hinter dem ein am Stimmigkeitskonzept der Textimmanenz orientierter Literaturbegriff steckt. Den hatten schon der Strukturalismus angezweifelt, die Ideologiekritik und die Sozialgeschichte ausgehebelt und die Dekonstruktion endgültig verabschiedet. Die „Schlüssigkeit“ einer Interpretation führt übrigens auf sehr verschlungene Pfade, nämlich ganz von literarischen Texten weg und zu Sigmund Freuds Libidotheorie hin (Bogdal 2000: 50). Wer Texte erschließen will, gibt sich als Vertreter einer Literaturvorstellung zu erkennen, die entweder die poststrukturalistischen Theoriediskussionen nicht zur Kenntnis genommen hat oder ihnen ausgewichen ist. Das S c hlü s s e l/ E r s c hli e ß e n - Begriffsfeld scheint da in der Orientierungslosigkeit zwischen strittigen Erklärungsansätzen einen verführerisch einfachen, weil theorielosen Haltepunkt zu bieten. Der Exkurs hierzu soll nicht ausgespart bleiben. Angefangen hatte alles beim Begriff des „Paradigmawechsels“, den Thomas S. Kuhn in seinem bekannten Buch „Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“ Ende der 50er Jahre geprägt hatte, dann kam schon der populär gewordene Begriff „Quantensprung“; er entglitt der Kontrolle, denn ein Quantensprung ist bekanntlich das Gegenteil von dem, was man meist damit bezeichnen will. Dann folgen schon „Algorithmus“ und „Rhizom“ oder andere „Aufpfropfungen“ wie der einfach nur falsch-wörtlich aus dem Französischen übersetzte Begriff der „Repräsentation“ oder die Anleihen bei der medizinischen Körpersprache zwischen dem „Wuchern“ von Text- Metastasen, der „Lust“ oder dem „Begehren“ des Textes. Hierzu haben Sokal/ Bricmont (1999) allein schon mit dem Titel ihres Buches das Nötige gesagt: 240 Rolf Selbmann „Eleganter Unsinn“ oder mit dem englischen Originaltitel: „Fashionable Nonsens“. Dabei existiert die S c hlüs s e l/ E r s c hli e ß e n -Metaphorik keineswegs ohne Theorie, sie blendet sie nur aus und setzt auf einem anderen Niveau an. Sie bedarf nämlich keiner Einbürgerung, weil sie ihre Unverzichtbarkeit bereits durchgesetzt hat. Längst werden „Schlüsselqualifikationen“ zur Beschreibung eines Berufsbilds für den Literaturwissenschaftler gefordert, die ihn befähigen sollen, in der hereinbrechenden Informationsgesellschaft einen Arbeitsplatz zu finden. 3 Mit Schaudern bleibt zu registrieren, wie schnell sich Verfestigungen breit machen. Ging es in den „Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes“ 1997 noch (mindestens) um die Gleichrangigkeit von „Schlüsselqualifikation“ und „philologischer Kompetenz“ (Schönert 1997), in Gänsefüßchen und mit Fragezeichen, so hat sich zwei Jahre später die „Schlüsselqualifikation“ bereits durchgesetzt - „trotz oder wegen der semantischen Unschärfe dieses Begriffs“, wie sogar ihre Verfechter eingestehen (Neuland 1999: 189). Doch es regt sich auch Widerspruch. Mancher Literaturwissenschaftler formuliert seine „Einwände“ sogar noch schärfer und spricht ganz einfach von einem „Ärgernis“, das einem „die Zornesröte ins Gesicht treibt“ (Braungart 2013: 49). Andere bezeichnen die Herrschaft der „Schlüsselbesitzer“ ironisch als „Neue Gelehrsamkeit“ und fordern, den Gebrauch der Schlüsselmetaphorik „endgültig aus dem Vokabular der Literaturwissenschaft zu streichen“, weil er nicht nur einen (ungerechtfertigten) „Herrschaftsanspruch gegenüber Konkurrenten“ postuliere (Mandelkow 1999: 73), sondern Textarbeit zur „Totgeburt“ werden lasse: „Entschlüsselte Texte sind jedoch tote Texte“ (74). Nach so viel Schelte und theoretischer Kritik soll die Literatur selbst zu Wort kommen. Die Literaturgeschichte liefert in allen Epochen mehr als genug Beispiele dafür, dass Texte eben nicht erschlossen werden können. Bei Goethe, um mit ihm zu beginnen, ist fast immer Ironie im Spiel, wenn er einen Schlüssel zur (scheinbar) eindeutigen Erklärung eines Sachverhalts mitliefert. Im ersten Akt des „Faust II“ will und muss Faust bekanntlich zu den „Müttern“ (V. 6217) hinabsteigen, um Helena und Paris wieder ans Licht zu bringen. Gegen den Schauder vor einer Unterwelt, die selbst für den Höllenbewohner Mephisto „ein fremdestes Bereich“ (V. 6195) darstellt, bietet Mephisto ein Hilfsmittel an, nämlich einen Schlüssel: 3 Vergleiche die Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes, Heft 4/ 1997: „Kompetenzen und Schlüsselqualifikationen“ und Heft 2/ 1999: „Deutschunterricht und Germanistikstudium: Schlüsselqualifikationen“. Der verhängnisvolle Schlüssel 241 M EPHISTOPHELES : Hier diesen Schlüssel nimm. F AUST : Das kleine Ding! M EPHISTOPHELES : Erst faß ihn an und acht ihn nicht gering. F AUST : Er wächst in meiner Hand! Er leuchtet, blitzt! M EPHISTOPHELES : Merkst du nun bald, was man an ihm besitzt? Der Schlüssel wird die rechte Stelle wittern, folg ihm hinab, er führt dich zu den Müttern (V. 6258-6264). Ohne die gesamte Szene „Finstere Galerie“ als versteckte Interpretationsanweisung lesen zu wollen: Was Mephisto mit seinem Schlüssel zur Verfügung stellt, als könne man eine übermächtige Gefährdung einfach so bewältigen, führt sich selbst ad absurdum. Dennoch unterstützt und bestätigt Mephisto Fausts „entschieden gebietende Attitüde mit dem Schlüssel“, wie es in der Regieanweisung ironisch heißt, als sei der Schlüssel das Instrument, mit dem Faust nichts widerfahren kann. Dabei ist Mephisto, als Faust „versinkt“, selbst gar nicht so sicher, ob die Höllenfahrt erfolgreich endet: Wenn ihm der Schlüssel nur zum besten frommt! Neugierig bin ich, ob er wieder kommt (V.6305f). Ein solcher Schlüssel ist nicht nur des Teufels; Mephistos, besser Goethes Schlüssel passt in kein Schloss, er schließt nichts auf, sondern entfaltet seine symbolische Macht allein im Vorhandensein, im einschüchternden Vorzeigen durch den, der ihn besitzt. Ein zweites Beispiel: Was den Interpreten so schwer fällt, haben die Liebe und die Poesie immer schon gewusst: dass nämlich ein Schlüssel erst dann Bedeutung gewinnt, wenn er fehlt. Ein berühmtes Lied steht am Eingang zu „Minnesangs Frühling“ und eröffnet unsere wichtigste Sammlung mittelalterlicher Lyrik: Dû bist mîn, ich bin dîn: des solt dû gewis sîn. dû bist beslozzen in mînem herzen: verlorn ist daz slüzzelîn: dû muost immer drinne sîn (MSF 3,1). Für jeden Liebenden ergibt sich eine reizvolle Situation, im Gehäuse seines Liebesziels eingeschlossen zu sein und sicher zu wissen, niemals mehr entfliehen zu können. Ist diese klaustrophobische Situation auch ein erstrebenswertes Ideal für den Literaturwissenschaftler im Umgang mit Texten? Zumindest ein Schlüssel hilft ihm nichts, denn der ist unauffindbar. 242 Rolf Selbmann Das dritte Beispiel ist ein Märchen aus der Sammlung der Brüder Grimm, immerhin die Stammväter unserer Wissenschaft. Das Märchen Nr. 200 mit dem Titel „Der goldene Schlüssel“ rundet ihre „Kinder- und Hausmärchen“ ab. Es liefert ein Sinnbild für beides, für die methodische Naivität der Schlüssel- Metaphorik wie für die Konsequenzen, die sich ergeben, wenn Texte unter allen Umständen erschlossen werden sollen: Zur Winterszeit, als einmal ein tiefer Schnee lag, mußte ein armer Junge hinausgehen und Holz auf einem Schlitten holen. Wie er es nun zusammengesucht und aufgeladen hatte, wollte er, weil er so erfroren war, noch nicht nach Haus gehen, sondern erst Feuer anmachen und sich ein bißchen wärmen. Da scharrte er den Schnee weg, und wie er so den Erdboden aufräumte, fand er einen kleinen goldenen Schlüssel. Nun glaubte er, wo der Schlüssel wäre, müßte auch das Schloß dazu sein, grub in der Erde und fand ein eisernes Kästchen. ‚Wenn der Schlüssel nur paßt! ‘ dachte er, ‚es sind gewiß kostbare Sachen in dem Kästchen.‘ Er suchte, aber es war kein Schlüsselloch da, endlich entdeckte er eins, aber so klein, daß man es kaum sehen konnte. Er probierte und der Schlüssel paßte glücklich. Da drehte er einmal herum, und nun müssen wir warten, bis er vollends aufgeschlossen und den Deckel aufgemacht hat, dann werden wir erfahren, was für wunderbare Sachen in dem Kästchen lagen. 4 Der Texterschließer als „armer Junge“ und Holzsucher, eine Art umgekehrter Hermeneutiker, der die Antwort schon parat hat und nur noch nach der passenden Frage dazu sucht, ausgesetzt der Interpretationskälte und halb erfroren; er beginnt zu scharren und findet einen Schlüssel, zu dem er sich gleichsam zwangsläufig und folgerichtig erst das Schatzkästlein und dann das Schloss hinzuerfindet. Ein solches Wunder klappt bekanntlich nur im Märchen, nicht in der rauhen Wirklichkeit des Geschäfts der Texterschließung. Ob tatsächlich kostbare Sachen in dem Kästchen enthalten sind, ist fast gleichgültig geworden gegenüber der befriedigenden Mühsal einer erfolgreichen Erschließungsarbeit. Zuletzt schildert Franz Kafkas Parabel „Vor dem Gesetz“ bekanntlich die Situation eines „Mannes vom Lande“, der einen Zugang zum Gesetz sucht, diesen aber nicht erhält, weil ihm ein Türhüter den Zutritt versagt. Lebenslang verharrt dieser Mann vor der offenen Tür, um an seinem Lebensende vom Türhüter zu erfahren: „dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn“ (Kafka 1975: 132). Hier gibt es keine zugesperrte Tür und keinen Schlüssel, dessen Besitz den Eintritt garantieren könnte. Auch hier hilft kein E r s c hli e ß e n , denn es ist alles offen, trotzdem ist der Zugang nicht möglich. Der Mann vom Lande scheitert wie die Interpreten, da es beiden nicht gelingt, 4 Kinder- und Hausmärchen (1983: 809). Der verhängnisvolle Schlüssel 243 eine Strategie zu entwickeln, die (eigenen? ) Behinderungen zu überwinden und die (eventuell) fremden Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Ja, aber: Gibt es nicht doch Texte, die erfolgreich aufgeschlossen werden können und sollen? Die immer noch nicht überzeugten Texterschließer verweisen gern auf ein bekanntes Novalis-Gedicht aus der Fortsetzung seines Romans „Heinrich von Ofterdingen“, das sich scheinbar genau dieses S c hlü s s e l/ E r s c hli e ß e n - Bildfeldes bedient: Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren Sind Schlüssel aller Kreaturen Wenn die so singen oder küssen, Mehr als die Tiefgelehrten wissen, Wenn sich die Welt ins freye Leben Und in die Welt wird zurück begeben, Wenn dann sich wieder Licht und Schatten Zu ächter Klarheit wieder gatten, Und man in Mährchen und Gedichten Erkennt die wahren Weltgeschichten, Dann fliegt vor Einem geheimen Wort Das ganze verkehrte Wesen fort (Novalis 1978: 395). Übersehen wird dabei jedoch der negative Gestus, nämlich die Ablehnung mathematischer Zeichen und Symbole als Erklärungshilfsmittel der Welt, paradoxerweise aus der Feder eines Dichters, der sich aus Beruf und Neigung intensiv mit Mathematik beschäftigt hat. Zum Zweiten werden statt der abgelehnten Schlüssel ja keine anderen gefordert, sondern es wird gleichsam zirkulär auf die magische Leistungsfähigkeit der Sprache zurückgegriffen (Valk 2003). Die Hoffnung, dass das richtige Schlüsselwort die Rettung bringe, ist romantische Utopie und Topos zugleich, wie man auch an Joseph von Eichendorffs kurzem Gedicht „Wünschelrute“ von 1838 ablesen kann: Schläft ein Lied in allen Dingen, Die da träumen fort und fort, Und die Welt hebt an zu singen, Triffst du nur das Zauberwort (Eichendorff 1987: 328). Dieses „Eine geheime Wort“, dieses Zauberwort ist übrigens alles Mögliche, bloß kein Schlüssel; es schließt nichts auf und passt in kein Schloss hinein, sondern versetzt durch die Magie der Sprache die Welt in einen anderen Aggregatszustand. 244 Rolf Selbmann 3 Erschließungskommando Welche Schlussfolgerungen sind aus den genannten Beobachtungen zu ziehen? Es sind m.E. sechs. 1. Die S c hlü s s e l/ E r s c hli eß e n -Metaphorik gaukelt eine Interpretationssicherheit vor, die es nicht gibt. Sie weicht der notwendigen Methodendiskussion aus, ja schlimmer noch: Sie nimmt sie gar nicht zur Kenntnis und setzt an ihre Stelle die falsche Autorität eines verführerischen Allheilmittels mit mittlerweile fast schon institutionalisiertem Charakter. 2. Die S c hlü s s e l/ E r s c hli eß e n -Metaphorik verrät auch, was sie antreibt. Es geht letztlich um das Überstülpen von Machtordnungen: Wer verfügt über den richtigen Schlüssel und hat also Recht mit seiner Deutung? Wer muss sich anpassen, wer unterwerfen? Konkret für Literaturtheorie wie Interpretationspraxis: Die Vereindeutigung, welche Lesart richtig ist, weist auf eine obrigkeitliche Geste hin, die beim Verstehen von Texten nichts zu suchen hat. 3. Durch die S c hlü s s e l/ E r s c hli e ß e n - Metaphorik besteht die Gefahr einer Vergewaltigung der Texte. Während die poststrukturalistischen Lektüren die Texte aus dem Korsett der traditionellen Hermeneutik befreien wollten, unterwirft sie die E r s c hlie ß u n g s - Technologie einer neuen Gewalt. 4. Wenn es keine einfachen Lösungen gibt, keinen S c hl ü s s e l , kein eindeutiges E r s c hli e ß e n von Bedeutungen, dann öffnet sich nicht automatisch das Tor zur Interpretationsbeliebigkeit; gefragt sind vielmehr Findigkeit, Methodenvielfalt und Methodenvarianz. Man sollte als Interpret den Leser nicht mit simplen Lösungen/ Lesungen verlocken, als sei das heutige Leben kompliziert und undurchschaubar, Texte hingegen seien eindeutig erschließbar. Literatur sei eine Art „light“-Version von Wirklichkeit, eine Spielwiese des Verstehens. Wer sich mit Texten beschäftigt, wählt den begradigten Kinderweg abseits der wirklichen Probleme der harten Realität. 5. Für den praktischen Gebrauch in Schule und Hochschule könnte man sich dann vorläufig darauf zurückziehen, die bislang benutzten Formulierungen wie: „Untersuchen Sie“ weiterhin zu verwenden oder konkrete Analyseaufgaben zu stellen, etwa: „Zeigen Sie dies oder jenes“, die eine präzise Frageführung erlauben. 6. Zuletzt liefert das Schlüssel-Desaster aber auch ein Lehrstück über die Vielfalt, die Komplexität und die Interpretationsherausforderung von Texten, vom (manchmal sogar fruchtbaren) Scheitern der Interpretation, von unendlichen Interpretationsmühen und Zweifeln. Es demonstriert unfreiwillig die Stärke und Leistung einer Literaturwissenschaft, die für ihre Gegenstände eben keinen Generalschlüssel hat und dennoch plausibel machen kann, wie sie funktionieren. Der verhängnisvolle Schlüssel 245 4 Literatur Abraham, Ulf/ Kepser, Matthis (2005): Literaturdidaktik Deutsch. Eine Einführung. Berlin. (Grundlagen der Germanistik; 42). Behütuns, Georg (2003): „einfach klassisch“ - Klassik light? In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 50. S. 448-452. Bogdal, Klaus-Michael (2000): Auskunftsbüro, Prag. „Der Prozess“ und seine Leser. In: Förster, Jürgen (Hrsg.): Schulklassiker lesen in der Medienkultur. Stuttgart. S. 41-49. Braungart, Wolfgang (2013): „Wirf aus den Armen die Leere“. Eine literaturethische und literaturdidaktische Anmerkung zur Lyrik. Am Beispiel einer Stelle in Rilkes erster Duineser Elegie. In: Kupczyńska, Kalina/ Pełka, Artur (Hrsg.): Repräsentationen des Ethischen. Frankfurt am Main u.a. (Lodzer Arbeiten zur Literatur- und Kulturwissenschaft; 2). S. 49-59. Brecht, Bertolt (1967): Gesammelte Werke in 20 Bänden. Bd. 19. Frankfurt am Main. Eichendorff, Joseph von (1987): Werke in sechs Bänden. Hrsg. v. Wolfgang Frühwald, Brigitte Schillbach u. Hartwig Schultz. Bd. 1. Frankfurt am Main. (Bibliothek deutscher Klassiker; 21). Eppelsheimer, Hans Wilhelm/ Köttelwesch, Clemens (1986): Bibliographie der deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft. Frankfurt am Main. Kafka, Franz (1975): Sämtliche Erzählungen. Hrsg. v. Paul Raabe. Frankfurt am Main. Kinder- und Hausmärchen (1983). Gesammelt durch die Brüder Grimm. Darmstadt. Klein, Dorothea/ Schneider, Sabine M. (Hrsg.) (2000): Lektüren für das 21. Jahrhundert. Schlüsseltexte der deutschen Literatur von 1200 bis 1990. Würzburg. Knoche, Susanne (2000): Abiturprüfungen und Aufgabenarten im Fach Deutsch in den Bundesländern. Eine Umfrage des „Deutschunterrichts“ an die Kultusministerien der Länder. In: Deutschunterricht. Sonderheft 2000. S. 69-76. Mandelkow, Robert (1999): Neue Gelehrsamkeit. Zum Paradigmawechsel in der Goetheforschung an der Wende von den siebziger zu den achtziger Jahren. In: Berg, Henk de/ Prangel, Matthias (Hrsg.): Interpretation 2000. Positionen und Kontroversen. Festschrift zum 65. Geburtstag von Horst Steinmetz. Heidelberg. S. 71-82. Neuland, Eva (1999): Deutschunterricht und Germanistikstudium: Schlüsselqualifikationen. Zur Einführung. In: Mitteilungen des deutschen Germanistenverbandes 2. S. 178-303. Novalis (1978): Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs. Hrsg. v. Hans-Joachim Mähl u. Richard Samuel. Bd. 1. München. Ott, Ulrich (2003): Schiller - aktuell? Vorbemerkung zu einer Diskussion im Hinblick auf den 200. Todestag. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 47. S. 3-8. Platen, August Graf von: Der Briefwechsel des Grafen August von Platen. Hrsg. v. Paul Bornstein. 1911ff. Bd. 4. München / Leipzig. Rösch, Gertrud Maria (2003): Clavis Scientiae. Studien zum Verhältnis von Faktizität und Fiktionalität am Fall der Schlüsselliteratur. Tübingen. (Studien zur deutschen Literatur; 170). Schönert, Jörg (1997): ‚Philologische Kompetenz‘ als ‚Schlüsselqualifikation‘ für den Arbeitsmarkt der ‚Informationsgesellschaft‘? In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 44.4. S. 56-64. 246 Rolf Selbmann Singh, Simon (1999): Geheime Botschaften. Die Kunst der Verschlüsselung von der Antike bis in die Zeiten des Internet. München. Sokal, Alan/ Bricmont, Jean (1999): Eleganter Unsinn. Wie die Denker der Postmoderne die Wissenschaften mißbrauchen. München. Türcke, Christoph (2005): Vom Kainszeichen zum genetischen Code. Kritische Theoerie der Schrift. München. Thalmayr, Andreas (1985): Das Wasserzeichen der Poesie oder die Kunst und das Vergnügen, Gedichte zu lesen. Nördlingen. (Die andere Bilbliothek). Valk, Thorsten (2003): Der Dichter als Erlöser. Poetischer Messianismus in einem späten Gedicht des Novalis. In: Hildebrand, Olaf (Hrsg.): Poetologische Lyrik von Klopstock bis Grünbein. Gedichte und Interpretationen. Köln/ Weimar/ Wien. (UTB; 2383). S. 70-80. Nicht Peripherie: Ansätze interkultureller Germanistik in Griechenland Gesa Singer (Flensburg) Zusammenfassung Trotz der von einigen Seiten problematisierten Stellung Griechenlands in Europa ist die Geschichte der deutsch-griechischen Beziehungen dauerhaft und fruchtbar. So sind auch Ansätze interkulturellen Lehrens und Lernens in manchen Bereichen des Fremdsprachenunterrichts in Griechenland zu beobachten (Röttger 2004, 2010). Die folgenden Ausführungen sollen veranschaulichen, wie die Perspektive der interkulturellen Germanistik zu einer Neubelebung der deutsch-griechischen Kulturbeziehungen beitragen und wechselseitig sowohl im Bereich Deutsch als Fremdsprache als auch Literaturwissenschaft nutzbar gemacht werden kann. Es soll damit ein Beitrag zur Untersuchung interkultureller Aspekte in der neueren deutschen Literatur geleistet und ein Ausblick auf die Bedeutung interkultureller Kommunikation in einem Europa der Vielfalt gegeben werden. 1 Germanistik in Griechenland: Geschichte, Tendenzen „Wo im kulturellen Europa liegt das moderne Griechenland? “, könnte man mit Eideneier (2010) fragen und müsste zur Verortung nicht zwangsläufig mit dem Fach Germanistik beginnen, obgleich die Kultur- und auch Wirtschaftsbeziehungen zwischen Deutschland und Griechenland spätestens mit dem Philhellenismus zu blühen begannen. 1 1 Eideneier (2010: 40f.) weist in seinem gleichnamigen Aufsatz darauf hin, dass aber gerade die reale Beteiligung der Philhellenen an den griechischen Befreiungskämpfen zu Beginn des 19. Jahrhunderts einige grundlegende Enttäuschungen und Missverständnisse hervorgebracht hätte: „Statt einer Brücke zum Verständnis eines zeitgenössischen Griechenlands in Mitteleuropa vertiefte sich hier also der Graben des Unverständnisses bis hin zur aktiven Ablehnung“. Vergleiche Singer (2009b: 95f.): „Die wenigsten Griechenlandreisenden des 19. Jahrhunderst scheinen sich auf die kulturellen Besonderheiten des Landes einstellen zu können, zumal es ihnen auch an Fähigkeit oder Bereitschaft mangelt, ihre eigenen Vorstellungen kritisch zu reflektieren und die Bedingungen dieser interkulturellen Begegnung zu berücksichtigen“. 248 Gesa Singer Heutzutage sind Deutschland und Griechenland eng durch den Tourismus sowie wirtschaftliche Beziehungen miteinander verbunden, aber auch im kulturellen Bereich gibt es gegenseitige Einflüsse und Interessen. Im 19. Jahrhundert bestanden ebenfalls intensive Kulturbeziehungen zwischen Deutschland und Griechenland, die allerdings in vielen Fällen nicht aus eigener Anschauung und Teilnahme, sondern aus Idealisierung hervorgingen (Singer 2009a: 219). Die Germanistik hat in Griechenland eine lange Tradition, deren Anfänge bis in die Phase der deutschen Einflussnahme auf den griechischen Bildungssektor im 19. Jahrhundert zurückreichen. Das Studium der deutschen Sprache genoss dann nach dem 2. Weltkrieg wieder ein hohes Ansehen; durch Wirtschaft, Tourismus und Arbeitsmigration wurden die wechselseitigen Beziehungen ausgebaut, bis in der Folge der europäischen Wirtschaftskrise das Verhältnis zwischen Deutschland und Griechenland zumindest seit 2008 erheblich beeinträchtigt wurde und in der öffentlichen Wahrnehmung beiderseits durch politische und mediale Verfehlungen eine Stimmung der gegenseitigen Ablehnung geschürt wurde, von der man sich derzeit langsam wieder erholt. 2 Interkulturelle Ansätze in Deutschland In Deutschland sind interkulturelle Ansätze im Bildungssektor heute zumindest auf der Ebene der wissenschaftlichen Reflexion sowie in vereinzelten didaktischen Ansätzen 2 verbreitet: Interkulturelle Erziehung, interkulturelle Pädagogik, später interkulturelle Bildung und auch interkulturelle Erziehungswissenschaft, sind in Westeuropa seit etwa 1975 Gegenstand von Publikationen und wissenschaftlichen Tagungen (Allemann-Ghionda 2007: 31). Dabei ist eine Entwicklung von der Ausländerpädagogik zur Pädagogik der Vielfalt (vgl. Röttger 2004: 57ff.) zu beobachten, die sich den jeweils historischen und (wirtschafts-)politischen Gegebenheiten und deren sozialpädagogischen Konsequenzen anzugleichen bestrebt war: Anfang der 70er Jahre entwickelte sich als Folge der Arbeitskräfteanwerbung, des Familiennachzugs und der damit verbundenen sozialen Probleme die Auslän- 2 In der Forschungsliteratur sind Bhabha (2000) und andere Autoren zwar intensiv rezipiert worden. Didaktische Ansätze gehen jedoch meist über eine Definitionsfrage wie bei Stratthaus (2005) kaum hinaus. Die Verfasserin wird dies an anderer Stelle ausführlich darlegen. Nicht Peripherie 249 derpädagogik, die auf der Annahme basierte, daß [sic] die ausländischen Kinder im Bereich der Sprachkompetenz, der schulischen Leistungen und der allgemeinen Sozialisation Defizite hätten, die durch kompensatorische Maßnahmen behoben werden könnten (Röttger 2004: 57). Dies war die Entstehung der Defizit-Hypothese, die von Differenzen ausgeht und in weiten Teilen immer noch den Unterricht bestimmt, wenn auf die Bedürfnisse von Teilnehmern mit Migrationshintergrund Rücksicht genommen werden soll. Die deutsche Erziehungswissenschaft - wie auch die der europäischen Nachbarländer - hat sich mit dem Phänomen der Zuwanderung und der Internationalisierung der Schule verhältnismäßig spät auseinandergesetzt. Erst Anfang der siebziger Jahre entstand innerhalb der Pädagogik eine Teildisziplin, die sich mit den „Ausländern“ und d.h. insbesondere mit den in Süd- und Südosteuropa und in der Türkei angeworbenen „Gastarbeitern“ beschäftigte (Knoll 2005: 1). Das Spektrum der Einwanderung nach Deutschland hat sich indessen in den vergangenen Jahrzehnten verändert und erweitert. Verschiedene Gruppen werden hierbei genannt: • Arbeitsmigranten, • deutschstämmige Aussiedler, • Asylanten und Bürgerkriegsflüchtlinge, • Zuwanderer aus der EU und anderen Staaten (nach Knoll 2005). Auf der Ebene der Theorien sowie der Selbstdarstellung von Institutionen gehören interkulturelle Zugänge inzwischen zum selbstverständlichen Inventar moderner Pädagogik. Vergleiche Allemann-Ghionda (2010: 8): So propagieren europäische Institutionen und Gremien seit Jahrzehnten die Idee, dass die Vielfalt aller Sprachen und Kulturen (einschließlich derer, die von Migranten gesprochen und gelebt werden) die Identität Europas ausmachen und zu integrieren - nicht zu assimilieren - seien. Dieser Gedanke der Integration im Gegensatz zur Assimilation prägte die Debatte um die Eingliederung von Zuwanderern sowie die Frage nach den jeweiligen Angeboten und Forderungen des Aufnahmelandes in den vergangenen Jahren zunehmend. 3 Allemann-Ghionda (2007: 30) konstatiert kritisch: 3 Vergleiche hierzu z.B die Publikationen von Gogolin (2009, 2011), Belke (2012) u.a. 250 Gesa Singer [D]ie Forderung nach Assimilation der sogenannten Ausländer gehört zum Denkrepertoire der fünfziger/ sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts und heutiger Stammtischfloskeln. Der Dialog mit der Diskurssphäre der Bildungspolitik und der Bildungspraxis zeigt immer wieder: Die Argumente der interkulturellen Pädagogik sind kaum bis zu den Akteuren, die im Alltag die Bildungspolitik in Taten umsetzen, vorgedrungen. 4 Im Bereich der Wirtschaft und der Personalführung hat hingegen das Konzept der Interkulturellen Kommunikation eine Aufwertung erfahren, nicht zuletzt deshalb, weil man sich bei erfolgreichem Einsatz von Führungs- und Gesprächstechniken mehr wirtschaftlichen Gewinn erhofft. Allerdings muss Auernheimers (2005: 1)Einwand gelten: „Für psychosoziale Berufe ist ein instrumentelles Verständnis von interkultureller Kompetenz, wie es manchen Trainingskonzepten zugrunde liegt, ungeeignet“. 5 In der Fremdsprachendidaktik ist das Spannungsverhältnis zwischen Eigen- und Fremdwahrnehmung erst im zweiten Drittel des 20. Jahrhunderts zum Untersuchungsgegenstand geworden: Der Bewusstmachung eigenkultureller Wissensbestände bei gleichzeitigem Verstehen der Fremdkultur wurde mehr Raum gegeben; aber auch emotionale Aspekte von Fremdwahrnehmung wie etwa die Rolle der Vorurteile rückten mehr in den Mittelpunkt der fremdsprachendidaktischen Forschung (Hallet/ Königs 2010: 76). Interkulturelle Kommunikation soll demnach eine kulturelle Mittlerfunktion übernehmen, wobei Stereotype erkannt und abgebaut werden können. Konfliktsituationen und Missverständnisse sollen durch Perspektivwechsel, Bewusstmachung von eigenkulturellen Wahrnehmungsmustern und Rollendistanz bewältigt werden. 4 Vergleiche Knoll (2005: 1f.): „Die Erkenntnis, in einem Einwanderungsland, aber auch in einem expandierten Europa und in einer globalisierten Welt zu leben, entfachte eine heftige pädagogische - und politische Diskussion, die komplex und noch lange nicht abgeschlossen ist“. 5 Vergleiche Auernheimer (2005: 1): „Fragwürdig ist es vermutlich auch, und zwar auch nach wissenschaftlichen Maßstäben, die Spezifika interkultureller Kommunikation auf den Unterschied der kulturellen Bezugssysteme zu reduzieren, wie es in der Cross-Cultural-Psychology bzw. der so genannten Austauschforschung überwiegend noch geschieht“. Nicht Peripherie 251 3 Interkulturelle Ansätze in Griechenland Laut Storch (1988: 277) weist die Tradition des Fremdsprachenunterrichts in Griechenland folgende Züge auf: stark grammatikorientierter Sprachunterricht, Übersetzung der Texte ins Griechische, Semantisierung von Wortschatz durch Übersetzung, Griechisch als Unterrichtssprache, Auswendiglernen von Paradigmen, Vokabeln etc. sowie Drillübungen. Die Unterrichtsmethoden, die ausgewählten Sozialformen und das vermittelte Unterrichtsmaterial sind eher konservativ. Im Allgemeinen handelt es sich um ein glossozentrisches und ethnozentrisches Unterrichtsmodell, das kaum Raum für freies Denken und interkulturellen Dialog lässt. Hierbei ist natürlich zu berücksichtigen, dass es in jedem Land unterschiedliche Lernkulturen und Unterrichtsformen gibt, die sich auch im Fremdsprachenunterricht äußern. Röttger (2004: 100) bestätigt ebenfalls, dass auch im Unterricht mit interkulturellen Lehrwerken, einer Bevorzugung traditioneller Lehrverfahren und einem Desinteresse an interkulturellen Fragestellungen gerechnet werden kann. Die Autorin (Röttger 2010: 10) untersuchte die Konzeption und den Einsatz von zwei Lehrwerken, die damit werben, interkulturelle Aspekte zu berücksichtigen: „Sichtwechsel“ und „Sprachbrücke“ (im Folgenden SW und SB genannt). SB und SW setzen sich zum Ziel, sprachlich-kulturelle Unterschiede bewusst zu machen, für potentielle Missverständnisse zu sensibilisieren und damit kommunikative Kompetenz im interkulturellen Dialog zu schaffen. Röttger (2010: 10) konnte aufgrund von Umfragen unter Lehrenden unterschiedliche Bewertungen gegenüber diesen Lehrwerken konstatieren: Die unterschiedlichen Einschätzungen von SB und SW in der deutschen Fachdidaktik und der griechischen Unterrichtspraxis geben zudem einen Hinweis darauf, dass landeskundlich-kulturbezogene Konzepte keine universale Geltung beanspruchen können, sondern im Hinblick auf regionale Gegebenheiten überprüft und „angemessen“ werden müssen. Doch in eben diesem kulturvergleichenden Ansatz liegt zugleich auch eine Problematik der interkulturellen Herangehensweise. Röttger (2004: 78) stellte zusammenfassend fest: 252 Gesa Singer daß [sic] den Lehrwerken SW und SB überwiegend eine kulturalistische, differenzorientierte Sichtweise unterliegt, die partiell in statische Beschreibung von Kulturen abgleitet. In beiden Lehrwerken, mehr noch in SB, werden jedoch auch Versuche unternommen die (teils radikale) Differenzorientierung durch die Möglichkeit der Erkenntnis kultureller Gemeinsamkeiten sowie durch den Einbezug interkultureller Polyphonie und multikultureller Diversität zu durchbrechen. Der Kulturvergleich kann somit eher zur Verfestigung von Differenzwahrnehmungen und Vorurteilen führen, wenn er nicht auch eine Perspektive der Generalisierung und Pluralisierung enthält. Anhand ihrer Interviewstudie konnte Röttger (2004) allerdings nachweisen, dass der Kulturvergleich bereits einen selbstverständlichen Bestandteil der griechischen Unterrichtspraxis darstellt. Die Bewusstheit für die sprachlichen Probleme interkultureller Kommunikation, z.B. für kommunikative Missverständnisse oder die Vermittlung von Strategien für interkulturelle Kommunikationssituationen, ist bei vielen Lehrkräften jedoch wenig ausgebildet, so dass die kommunikationsorientierten Lernziele der Lehrwerke nur eingeschränkt verfolgt werden können (2010: 10). Es ist festzustellen, dass Lehrwerke mit interkulturellen Ansätzen, zumal wenn sie kontrastiv ausgerichtet sind, den jeweiligen kulturellen Gegebenheiten angepasst werden müssen und spezifische kulturelle Bedingungen berücksichtigen sollten. Dies birgt allerdings wiederum die Gefahr der Festschreibung von Stereotypen und Differenzen. 6 Laut Röttger (2004: 36) handelt es sich beim interkulturellen Lernen 6 Aktuell wird das neu erschienene Lehrwerk „EndStation C2“ des Praxis Verlags Athen (2013) von mir unter der interkulturellen didaktischen Perspektive untersucht. Mitteilung eines der Autoren, Spiros Koukidis: „Der interkulturelle Ansatz des Buches hat uns - Hand aufs Herz - theoretisch nicht beschäftigt, er hat sich quasi von alleine ergeben, geprägt von der Zusammensetzung des internationalen Autorenteams (einer seit vielen Jahren in Athen lebenden Deutschen, einer Österreicherin, die ebenfalls etliche Jahre in Athen verbracht hat, eines deutschen Globetrotter-DaF-Lehrers mit ebenfalls langjähriger Griechenland-Erfahrung und eines Griechen mit deutscher Bildung) - ohne Zwänge und ohne Absprachen. Allen vier Autor(inn)en lag sehr daran, das Leben im D-A-CH-Raum vorurteilslos aus möglichst vielen verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten und dem gebildeten (C2! ) ausländischen Publikum zu vermitteln. Das ist uns hoffentlich gelungen. ‚EndStation C2‘ ist, wenn Sie so wollen, außerhalb Deutschlands für die deutsche Sprache entstanden. Im ‚Normalfall‘ ist es bei DaF-Lehrwerken ja gerade umgekehrt“. Nicht Peripherie 253 um einen wechselseitigen Prozess, der den Wissenserwerb über die fremde Kultur (Landeskunde), die Bewusstmachung eigenkultureller Wissensbestände sowie die Reflexion und Relativierung dieses Wissens über das Eigene und das Fremde umschließt. Allerdings bietet sich hinsichtlich der Akzeptanz von offenen Lernformen, die mehr ungesteuerte Dialoge ermöglichen können, sowohl bei griechischen als auch nicht-griechischen Lehrkräften in Griechenland laut Röttger (2004: 15) kein einheitlicher Befund: Die Auffassungen der Lehrenden über Möglichkeiten bei der Umsetzung offener und unkonventioneller Lernformen sind sehr unterschiedlich, bei den Lehrenden existieren verschiedene Haltungen nebeneinander. Hierzu die Einschätzung einer griechischen Studierenden im Masterprogramm „Interkulturelle Germanistik“ der Georg-August-Universität Göttingen (im Folgenden als E.Z. zitiert): Der griechische Staat und der staatliche Interventionismus in die Bildungspolitik spielen eine entscheidende Rolle für die Gestaltung des Fremdsprachenunterrichts. 7 Für diese Entwicklungsrückstände ist aber nicht nur der griechische Staat verantwortlich, sondern auch die Individuen, die direkt oder indirekt an dem Unterrichtsprozess beteiligt sind. Lehrende bevorzugen den traditionellen Weg und verzichten auf alle Formen einer modernen Fremdsprachendidaktik. Aber auch Eltern sind den neuen Unterrichtskonzepten gegenüber eher zurückhaltend. Man müsste an dieser Stelle weiter diskutieren, was im Detail unter n e u e n , in n o v a ti v e n und a lt e r n a ti v e n Un t e rri c ht s k o n z e pt e n zu verstehen ist und ob deren Einführung zwangsläufig einen besseren Unterrichtserfolg oder auch nur eine günstigere Motivationslage bedingen würde, dies kann aber hier nicht geschehen 8 . 7 Vergleiche Lamnias (2002: 22). Ins Deutsche übersetzt von Eleana Zacharaki. 8 Es soll aber eine kollegiale Einschätzung aus Griechenland wiedergegeben werden: „Auch wenn von Seiten der Institution alle Facetten gedeckt sind, also dem Lehrer ermöglicht wird, super handlungsorientierten Unterricht zu machen, kann es jedoch passieren, dass die Familien der Schüler sich beschweren, dass der Lehrer keinen ‚vernünftigen‘ Unterricht macht. Griechische Eltern betrachten diesen Unterricht als reine Zeitverschwendung“ (referiert von E.Z.). 254 Gesa Singer 4 Ausblick: Probleme und Chancen bilateral Die Ergebnisse, zu denen Röttger in ihrer Arbeit kommt, geben nicht nur die Situation des interkulturellen Lernens in der Unterrichtpraxis DaF in Griechenland wieder. Ähnliche Probleme, Grenzen und Schwierigkeiten im Hinblick auf interkulturelle Zugänge sind auch in anderen Ländern (sowie auch in Deutschland) anzutreffen. Die didaktischen Resultate dieser Studie gelten zum einen für den interkulturellen DaF-Unterricht in Griechenland und zum anderen für die interkulturelle Fremdsprachendidaktik im Allgemeinen. Was aber die spezifische Situation in Griechenland angeht, ist festzuhalten, dass vor allem drei Faktoren die Entwicklung des interkulturellen Lernens hindern: die starke Prüfungsorientierung griechischer Deutschlerner, der Gräcozentrismus und die Form des Frontalunterrichts (E. Z.). 9 Die Studiensituation in Griechenland heute, zumindest für das Fach Germanistik, erweist sich einerseits stark von äußeren Prüfungsanforderungen dominiert und andererseits für die Studierenden ganz konkret als mögliche Perspektive für die (akademische) Arbeitsmigration ins deutschsprachige Ausland: Die Germanistik Fakultät der Aristoteles Universität in Thessaloniki ist die älteste Griechenlands. Bislang studiert die Mehrheit der Studenten für ein Lehramt und einen sicheren Job beim Staat. Jetzt studiert man Germanistik, um sich auf seine Auswanderung in ein deutschsprachiges Land vorzubereiten (Mavroidis 2012: 1). Anstatt also Lehrer auszubilden, die auf die bereits existierende und weiterhin bevorstehende Multikulturalität und Heterogenität in griechischen Schulklassen (durch Rumänen und Albaner, die inzwischen in der zweiten Generation in Griechenland leben, sowie Flüchtlinge und Migranten aus arabischen und afrikanischen Ländern) vorbereitet werden, entlassen die Universitäten etliche Hochschulabsolventen in die Arbeits- und Perspektivlosigkeit. Für gelingende interkulturelle Ansätze in der Didaktik bedarf es vieler Faktoren, die personenbezogen sind, aber auch durch Fortbildungen angeregt werden können: Hierzu gehört die Rücksichtnahme auf spezifische Lerngewohnheiten, die Erstellung kontrastiver sprachlich-kultureller Zusatzmaterialien durch bilinguale, bikulturelle und zudem interkulturell kompetente Personen, die Sensibilisierung 9 Die Prüfungsorientierung bestimmt allerdings nicht zuletzt in der Folge von PISA und dem Bologna-Prozess zunehmend auch die Bildungslandschaft in Deutschland. Nicht Peripherie 255 der Lehrkräfte für die Wahrnehmung kultureller und sprachlich-kultureller Unterschiede, der Blick auf dominanzkulturelle Ungleichheiten und schließlich der Einbezug biographischer Selbstreflexion in die Fortbildung (Röttger 2010: 20). Meine persönliche Erfahrung als DAAD-Lektorin an der Abteilung für Deutsche Sprache und Literatur der Aristoteles-Universität Thessaloniki hat mir u.a. Folgendes gezeigt: Durch die Teilnahme einiger Remigranten sowie älterer Studierender erhalten die Seminare die - auch den für den in Griechenland immer stärker werdenden plurilingualen und interkulturellen Unterrichtszusammenhang - nützliche Vielfalt. Hier mit didaktischen Mitteln sowie Forschungsansätzen anzuknüpfen, verspricht nicht nur in der Spracharbeit Erfolge, sondern könnte auch im komparatistischen Sinne der Linguistik und Literaturwissenschaft fruchtbar gemacht werden (Singer 2009a: 229f.). Interkulturelle Literaturvermittlung kann im Bereich der Philologien dazu beitragen, die Wahrnehmung von Interpretationsmodi, Kulturgebundenheit und Konstruiertheit von Bedeutungszusammenhängen zu schärfen und somit zu einer differenzierten Auseinandersetzung mit Sprache und Text beitragen, die nicht nur die Zielkultur im Blick hat, sondern auch einen Anstoß zur Selbstevaluierung und kritischen Wertschätzung eigenkultureller Realien und Denkkategorien bietet (vgl. Singer 2010). Die Gründung einer „Griechischen Gesellschaft für Germanistische Studien“ im Jahr 2011 lässt zumindest hoffen, dass die interkulturellen Kontakte weiter bestehen und fruchtbar gemacht werden können. Was den Umgang mit Heterogenität betrifft, die in vielen Fällen neben dem Phänomen des Migrationshintergrunds von Lernenden existiert und nicht unausweichlich und nicht ausschließlich damit verbunden ist, sind allerdings im Bereich der deutschen Schuldidaktik offenbar noch weitere Anstrengungen zu unternehmen: Laut Allemann-Ghionda (2007: 39) hätten die Ergebnisse von PISA 10 und IGLU gezeigt, 10 Man muss allerdings die Schwierigkeiten bzw. jeweiligen Auslegungsabsichten in Rechnung stellen, die eine sachgemäße Deutung der PISA-Ergebnisse oft behindern. Vergleiche die Übersicht bei Brügelmann: PISA & Co: Nutzen und Grenzen von Leistungsvergleichen - Wie Tests durch eigene Ansprüche und öffentliche Erwartungen leicht überfordert werden. Vortext für: Enzyklopädie Erziehungswissenschaft Online. http: / / dl.dropbox.com/ u/ 21116330/ Lit-Homepage/ brue.pisa.enzyklop%C3%A4die_ online.dippelhofer.MS_layout_EEO.110813.pdf (Stand: 10.08.2016). 256 Gesa Singer dass das deutsche Bildungswesen im internationalen Vergleich am wenigsten integrationsfähig ist, und zwar nicht nur im Bezug auf Schüler mit einem Migrationshintergrund, sondern allgemeiner gegenüber Schülern, die vom familiären Bildungsniveau her bei ihrer Einschulung nicht die sprachlichen Voraussetzungen und die Vorbildung mitbringen, die von der schulischen Institution erwartet wird. Dabei ist nicht die Sprache „an sich“, sondern der sozioökonomische Hintergrund maßgebend. Dies sei auch ein wichtiger Grund für das nicht zu übersehende Gefälle zwischen dem Bildungserfolg der Schüler mit und ohne Migrationshintergrund in der bisher nicht ausreichenden Vorbereitung der Lehrpersonen auf das Unterrichten und Beurteilen in mehrsprachigen, multikulturellen Klassen. Die Vergleichbarkeit von Schulleistungen ist demnach nicht nur durch die Gleichheit homogen-kultureller Kontexte zu erzielen. „Gleichheit“ nach Allemann-Ghionda (2007: 32) würde vielmehr „Chancengleichheit“ und „Gleichberechtigung“ auch und gerade bei kultureller Differenz bedeuten: Bei einer interkulturellen Bildung ist das Prinzip der Gleichheit und Anerkennung leitend. Auf die Behandlung von Minderheiten und Differenz angewandt, ist die Position „Gleichheit und Anerkennung“ die Gegenposition zur Praxis der Ungleichheit und Verkennung oder Ausgrenzung, die wiederum Theorien und Alltagstheorien im Hintergrund hat. Interkulturelle Bildung wird in der einschlägigen Literatur vielfach als Anlass zur Selbstreflexion beschrieben: Die bei interkultureller Kommunikation geforderte Selbstreflexion bezieht sich im übrigen nicht nur auf individuelle Motive, Vorurteile etc., sondern auf die eigenen Kulturmuster einschließlich der in der eigenen Gesellschaft oder Gruppe gehandelten Stereotypen und Vorurteile (Auernheimer 2005: 17). Chancen und Probleme der interkulturellen Erziehung im deutschen Schulsystem beschreibt Knoll (2005: 4) jedoch wie folgt: Mit seiner Mehrgliedrigkeit wirkt das deutsche Schulsystem selektiv und trägt mit seinem Zwang zu frühen Schullaufbahnentscheidungen dazu bei, dass besonders Minderheiten und Migranten in ihrer individuellen Entwicklung und sozialen Integration benachteiligt werden. [...] Die äußere Differenzierung nach dem Ende der Grundschul- und Orientierungszeit lässt Klassen und Lerngruppen entstehen, die nur scheinbar homogen und einheitlich sind. Für die tatsächliche Vielfalt und Heterogenität ihrer Klientel sind vor allem die Lehrerinnen/ Lehrer der weiterführenden Schulen und Bildungseinrichtungen nicht ausgebildet worden. Nicht Peripherie 257 Zudem hebt Knoll (2005: 4) - allerdings sehr allgemein und plakativ - auf den Vormittagsunterricht ab, der wenig Spielraum für Interaktionen biete: […] Die deutsche Schule ist auf den Vormittag konzentriert und vergibt somit viele Gelegenheiten, auf die Bedürfnisse der deutschen wie der zugewanderten Kinder einzugehen und sprachliche Kompetenz, interkulturelle Kommunikation und soziale Interaktion zu fördern. Mehr Kooperation zwischen dem Hochschul- und dem Schulsektor ist nötig, um didaktische Forschung und Unterrichtsdidaktik miteinander in Beziehung zu setzen 11 und eine „anwendungsorientierte Germanistik“ zu fördern (vgl. Karg 2012). Interkulturalität kann und soll kein eigenes Unterrichtsfach sein, sondern integraler Bestandteil von Lernsituationen in Schule und Universität sowie in Berufsfeldern, in denen Beteiligte verschiedener Kulturen miteinander kooperieren und Lösungen auch im Konflikt ausgehandelt werden. Die Beziehungen zwischen Griechenland und Deutschland sollten nicht an die Peripherie Europas verbannt sein, sondern könnten - nicht nur in didaktischer Hinsicht - eines der zentralen Erfahrungs- und Forschungsfelder für den innereuropäischen Dialog bilden. 5 Literatur Allemann-Ghionda, Cristina (2007): Warum war es nötig, eine ‚interkulturelle‘ Bildung zu erfinden (II) und welche Bedingungen müssen erfüllt werden, um sie im Unterricht umzusetzen? In: Antor, Heinz (Hrsg.): Fremde Kulturen verstehen - fremde Kulturen lehren. Theorie und Praxis der Vermittlung interkultureller Kompetenz. Heidelberg. S. 29-57. Allemann-Ghionda u.a. (Hrsg.) (2010): Migration, Identität, Sprache und Bildungserfolg. Zeitschrift für Pädagogik 55. Auernheimer Georg (2005): Interkulturelle Kommunikation und Kompetenz. S. 1-15. http: / / www.georg-auernheimer.de/ downloads/ Interkult.%20Kompetenz.pdf (Stand: 17.05.2014). Belke, Gerlind (2012): Mehr Sprache(n) für alle. Sprachunterricht in einer vielsprachigen Gesellschaft. Hohengehren. 11 Vergleiche Rupps Fazit (2011: 270): „An mehreren Stellen ihres überaus lesenswerten Buches weist Winkler darauf hin, dass es ein Desiderat der künftigen deutschdidaktischen Forschungsprojekte sein muss, die Kluft zwischen Universität und Schule zu überwinden, anstatt die Einstellungen der Lehrkräfte aus der Außenperspektive abzuwerten“. 258 Gesa Singer Bhabha, Homi K. (2000): Die Verortung der Kultur. (Original: The location of culture. 1994. Übersetzt v. M. Schiffmann u. J. Freudl.). Tübingen. Eideneier, Hans (2010): Wo im kulturellen Europa liegt das moderne Griechenland? In: Kambas, Chryssoula/ Mitsiou, Marilisa (Hrsg.): Hellas verstehen. Deutsch-griechischer Kulturtransfer im 20. Jahrhundert. Köln u.a. S. 35-50. Gogolin, Ingrid/ Neumann, Ursula (Hrsg.) (2009): Streitfall Zweisprachigkeit - The Bilingualism Controversy. Wiesbaden. Gogolin, Ingrid (2011): Sprachliche Bildung von Anfang an. Beitrag zum 3. IFP-Fachkongress in München. Hallet, Wolfgang/ Königs, Frank G. (Hrsg.) (2010): Handbuch Fremdsprachendidaktik. Seelze-Velber. Karg, Ina (2012): Vermittlung. Ein Arbeitsbuch für eine anwendungsorientierte Germanistik. Frankfurt am Main u.a. Knoll, Michael (2005): Interkulturelle Erziehung zwischen Anspruch und Wirklichkeit. http: / / www.schule-bw.de/ unterricht/ paedagogik/ sprachfoerderung/ wissenschaft/ 4-8. pdf (Stand: 17.05.2014). [Lamnias, Kostas] Λαμνιάς, Κώστας (2002): Κοινωνιολογική θεωρία και εκπαίδευση, Διακριτές προσεγγίσεις. Αθήνα. Mavroidis, Andrea (2012): Ein Germanistik-Studium für die Auswanderung. 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Beantwortet werden sollen die Fragen, was den gebildeten Lesern im Tallinn jener Zeit als Lektürestoff zur Verfügung stand, welche Werke besonders intensiv rezipiert wurden und inwieweit die geistigen Erneuerungen jener Zeit, die mit der Aufklärung und der sog. Leserevolution in Verbindung stehen, die Ostseeregion erreichten. 1 1 Quellen Die hier untersuchten Bibliotheken sind als Sammlungen nicht erhalten geblieben, doch etliche Kataloge sind damals als Teile von Nachlassverzeichnissen bzw. Inventarien niedergeschrieben worden und bestehen daher virtuell weiter. Diese Archivalien werden heute im Stadtarchiv Tallinn (Tallinna Linnaarhiiv) aufbewahrt. Ein Teil der Tallinner Nachlassverzeichnisse bzw. der darin enthaltenen Bibliothekskataloge ist ediert worden. Etliche Bände mit Nachlassverzeichnissen hat der Historiker Raimo Pullat herausgegeben (Pullat 1997, 2002, 2004, 2006, 2007), später edierte er auch einen Sammelband, der sich auf die Bücherlisten aus den Inventarien beschränkt, doch dabei neben den Bücherbeständen von Handwerkern, Kaufleuten und Literaten aus Tallinn auch die aus Pärnu berücksichtigt (Pullat 2009). Ein kürzlich erschienener Band (Tarvas 2014) konzentriert sich hingegen auf die Bücher der Tallinner Literaten. Die Menge der noch nicht edierten Tallinner Nachlassverzeichnisse ist aber weiterhin groß. Die Nachlassinventare sind juristische Dokumente und daher relativ zuverlässige Quellen, obwohl auch hier stets Vorbehalte angebracht sind (vgl. Adam 1 Die Arbeit an diesem Beitrag wurde finanziert durch den Estnischen Wissenschaftsfonds (Grant Nr. 9026). 262 Mari Tarvas 1990: 133). Diese Unterlagen sind aus praktischen und primär wirtschaftlichen Gründen erstellt worden. Der Hauptgrund für die Erfassung der Besitztümer einer Person war die Sicherstellung der Vermögenserhaltung für unmündige Kinder nach dem Tod der Eltern (erbrechtliche Gründe); in Einzelfällen wurde auf Verlangen von Gläubigern auch zu Lebzeiten inventarisiert. Die Inventare listen alle (verwertbaren) Gegenstände im Besitz der Person auf und bieten damit für die heutige Forschung ein vielseitiges Bild der Alltagskultur jener Zeit. Aufgrund der in den Inventaren enthaltenen Bücherverzeichnisse vermitteln sie auch Einblicke in das Leseverhalten der betreffenden Person und damit mittelbar auch in die geistige Kultur jener Zeit. Damit geben die Listen Hinweise auf die Bedingungen im literarischen Feld einer Region und dokumentieren die in privaten Händen befindlichen Texte, die neben den Beständen der öffentlichen Bibliotheken und Leihbibliotheken als eine Voraussetzung für die damalige Kultur gelten können. Der Gesamtumfang aller bisher edierten Privatbibliothekskataloge Tallinns beträgt etwa 8000 Einträge in den Nachlassverzeichnissen, was die Menge der Bücher in den kommunalen und öffentlichen Bibliotheken nach jetzigem Wissensstand übersteigt. Es gab im 18. Jahrhundert in der Provinz Estland keine entscheidenden Entwicklungen im Bereich der kommunalen Bibliotheken (Garber 2007: 119) und auch die Formen der gemeinschaftlichen Bücher- und Zeitschriftenbenutzung, wie die Lesegesellschaften, entstanden erst in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts (Jürjo 1990: 550). Genaue Angaben über die Größe der öffentlichen und institutionellen Bücherbestände im Aufklärungsjahrhundert fehlen jedoch, was als Hinweis darauf gewertet werden kann, dass umfangreiche und besondere Sammlungen, wie sie z.B. Reisende, die in Tallinn zu Besuch waren, in ihren Reiseberichten erwähnt hätten, wohl nicht vorhanden waren. Am Anfang des 19. Jahrhunderts behauptet zum Beispiel Johann Christoph Petri, der 1784-96 in Estland, Livland, Ingermanland und in St. Petersburg als Hauslehrer gearbeitet hatte und später in Erfurt tätig war, über ganz Estland: „Oeffentliche Bibliotheken aber, oder andere Kunst- oder NaturalienKabinette finden sich in Ehstland nicht“ (Petri 1801: 1091). Andererseits weist er gleichzeitig auf ansehnliche private Bestände hin (1091). Ganz ohne öffentliche Bibliotheken war Tallinn jedoch nicht, denn neben dem Stadtrat besaßen auch Kirchen und Schulen (Gymnasium, Domschule) unterschiedliche Sammlungen, darüber hinaus verfügten unterschiedliche Organisationen wie Zünfte über Bücher (Jürjo 2011: 136ff.). Aus bibliotheksgeschichtlicher Perspektive kann also behauptet werden, dass die Untersuchung der privaten Bestände für das Tallinn dieser Periode von besonderer Bedeutung ist. Literatur der Aufklärung 263 2 Buchkundliche Ziele der Auseinandersetzung mit den Nachlassverzeichnissen Das Ziel der Auswertung der Bibliotheksverzeichnisse aus den Nachlassinventarien besteht darin, zumindest ansatzweise herauszufinden, was Leser im 17. und 18. Jahrhundert tatsächlich gelesen haben. Mittelbar ist es zugleich eine Möglichkeit zu überprüfen, inwieweit das Bild, das wir in den Literaturgeschichten präsentiert bekommen, auch dem eigentlichen Leseverhalten jener Zeit entsprach (vgl. genauer Tarvas 2014: 8). In Bezug auf die konkrete Materie bedeutet dies die Auseinandersetzung mit der Epoche der Aufklärung und dem Leseverhalten im 18. Jahrhundert, zumal die sog. Leserevolution auch in diese Zeitperiode fällt. Für Tallinn ist aus Sicht der deutschen Literatur insbesondere die lange Periode der regelmäßigen Aufenthalte von August von Kotzebue (seit 1783 immer wieder) wichtig, die zugleich den Beginn der Theatertradition markiert (vgl. z.B. Wistinghausen 1995). Es stellt sich also die Frage, ob diese aus der heutigen Sicht so entscheidenden Prozesse auch damals für die Leser von Bedeutung waren bzw. von ihnen wahrgenommen wurden. Die Entstehung der Theatertradition kann anhand der Bibliotheken der Lehrer allerdings nicht verfolgt werden, da in den letzten beiden Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts keine Lehrerbibliotheken aufgezeichnet wurden und da Nachlassverzeichnisse als Urkunden die Entwicklungen stets mit einer gewissen Verspätung festhalten. 3 Lehrer als Bibliotheksinhaber Da viele der Eigentümer der größeren und vielseitigeren Bibliotheken Lehrer waren, wird im vorliegenden Beitrag diese Personengruppe betrachtet. Die Lehrer der Schulen - neben dem Gymnasium existierten in Tallinn damals noch eine Trivialschule, eine Stadtschule und eine Jungfernschule - bildeten neben den Ärzten, Apothekern, Juristen (Notaren), Sekretären und Geistlichen die gebildete Elite der Stadt. Eine Universität gab es in jener Zeit in der Region nicht. Folgende im 18. Jahrhundert niedergeschriebene Kataloge der Lehrerprivatbibliotheken sind bisher ediert worden (Pullat 2009; Tarvas 2014) und können an dieser Stelle berücksichtigt werden. Manche der Bibliotheken sind dabei erst nach dem Tod der Witwe verzeichnet worden und sind aller Wahrscheinlichkeit nach nicht vollständig. 264 Mari Tarvas Aufstellungsjahr des Inventars Name Amtsbezeichnung Anzahl der im Inventar erfassten Bücher 1728 Johann Laurentius Hesse Schul-College 185 1728 Johann Christian Schindler Schul-College 158 1738 Christian Pfützner Professor 284 1739 Andrea[s] Bartholomäi Professor 129 1750 Christoph Erdmann Bieck Lehrer 203 1756 Johann Friedrich Herlin Professor 248 1757 Adolf Florian Sigismundi Professor 8 1766 Heinrich Benjamin Hessler Professor 289 1768 Peter Joh. Nyberg (Nieberg) Grundschullehrer 210 1768 George Salomo[n] Professor 473 1770 Anton Mickwitz Professor 239 1772 Carl Gottfried Neumann Lehrer an der Jungfernschule 89 1777 Christoph Scheffel Schul-College 95 1782 Johann Conrad Greve Arithmeticus gymnasii 283 2 4 Bücher in den Nachlassverzeichnissen Die analysierten Buchkataloge sind Teile von Inventarien bzw. Nachlassverzeichnissen. Bücher machen also nur einen Teil der aufgezeichneten materiellen Wertgegenstände aus. Die Nachlassverzeichnisse sind juristische Unterlagen und Auflistungen dessen, was der Sekretär, der die Inventur durchgeführt hat, im Haushalt des Verstorbenen gefunden hat. Die Benennung der Gegenstände kann bei der Verzeichnung auch durch genauere Angaben zu diesen ergänzt werden. Die Bücher stehen im Inventar meist am Ende des jeweiligen Dokuments und werden oft präziser beschrieben als zum Beispiel Gegenstände aus Leinen oder Eisen, wobei allerdings festzuhalten ist, dass die Genauigkeit der Angaben sehr stark variiert. Werden an einigen Stellen der Erscheinungsort und die Erscheinungszeit angegeben („Friedlibri Medulla Theologiae. Stetini 1673” - Inventarium Schindler 1728), fügt der Schreiber an anderen Orten ge- 2 Der Doppelkatalog umfasst laut Angaben des Inventars auch die Bücher des abwesenden Sohnes, 70 Bücher sind konkret als Bücher von Johan Conrad Greve bezeichnet. Literatur der Aufklärung 265 nauere Angaben zum Text hinzu („Sturms Anweisung zu der Civil Bau Kunst mit Kupffern“ - Inventarium Bartholomäi 1739). Gelegentlich werden nur der Autor und der Titel genannt („Mevii Decisiones Juris” - Inventarium Mickwitz 1770). Manchmal steht in der Liste sogar lediglich „Ein französisches Buch ohne TitelBlat“ (Inventarium Bartholomäi 1739) oder „Ein Band mit kleinen Land Charten” (Inventarium Mickwitz 1770) ohne genauere Angabe. Die Bücher werden in den Nachlassverzeichnissen meistens nach Formaten geordnet angegeben, andere Ordnungsprinzipien (inhaltlich, alphabetisch o.ä.) sind in den meisten Fällen nicht erkennbar. Trotz des Eindrucks der Vollständigkeit, den die umfangreichen Auflistungen der Inventare vermitteln, ist bei der Analyse zu berücksichtigen, dass möglicherweise nicht alle Bücher in die Bücherkataloge aufgenommen wurden. Die Entscheidung, wie gründlich der Besitz des Verstorbenen aufgezeichnet wurde und welche Daten notiert wurden, scheint u.a. von dem konkreten Schreiber abhängig gewesen zu sein. Die unterschiedliche Ausführlichkeit der Angaben zu den notierten Büchern in den einzelnen Nachlassverzeichnissen zeugt davon, dass hier unterschiedliche Vorgehensweisen möglich waren. Aufgrund der rein materiellen Funktion des Inventarisierens kann davon ausgegangen werden, dass vor allem Verwertbares aufgenommen wurde. Darauf weist u.a. die Tatsache hin, dass zum Teil sogar bei den Lehrern der Trivialschule keine ABC- Bücher aufgelistet sind (es gibt sehr wenige Fibeln), auch Katechismen und Kalender sind eher selten aufgezeichnet. Immer wieder gibt es auch Fälle der Aufzeichnung „en bloc“ 3 . Die Größenordnungen der Buchbestände innerhalb eines Verzeichnisses variieren stark. Es gibt viele Nachlassverzeichnisse, die gar keine oder nur einzelne Bücher enthalten. Bei vielen kleineren Buchsammlungen der Handwerker und Kaufleute ist die Auswahl der Literatur auf Bibel, Gesangbuch, Erbauungsliteratur sowie verschiedene Haushaltungs-Bücher beschränkt. So besaß auch die Witwe des Professors Adolf Florian Sigismundi (1757) nur wenige Bücher religiösen Inhalts - es kann davon ausgegangen werden, dass es sich hier um eine Restbibliothek handelt und der Großteil der zu Lebzeiten des Professors vorhandenen Bücher schon vor der Verzeichnung des Vermögens in andere Hände gekommen ist. An gedruckten Büchern: Die Hallische Biebel in 4 to 3 Es wird genannt, wie viele Bücher es der Anzahl nach noch gab, z.B. „50 alte Bücher“ (Tarvas 2014: 122), oder wo sich diese Texte befinden, z.B. „1 Kästchen mit alten Dissertationen, Programmatibus, Calendern, kleinen uneingebundenen piecen und carminibus“ (Tarvas 2014: 66). 266 Mari Tarvas Rambachs Evangelische Betrachtungen über die Sonn= und Festtags Evangelia in 4 to Ejusdem Betrachtungen über die Leidens=Historie Christi in Groß 8 vo Joh. Arends Wahres Christenthum. Gottfried Arnolds Hauß und Reise=Postill. Franckens kleine Postill. Schmolckens Gebet Buch. das große Hallische Gesangs Buch (Tarvas 2014: 74f.). Viele Lehrerbibliotheken enthalten um 100 Werke, so wie es bei der Bibliothek des Professors Andrea Bartholomäi (1739) mit ihren 129 Einträgen der Fall ist. Es gibt jedoch auch mehrere Buchsammlungen, die noch größer sind. Bei etlichen Lehrern liegt die Größenordnung des Bücherbestandes bei über 200 Titeln. So besaß der 1768 verstorbene College an der Trivialschule Peter Joh. Nyberg (Nieberg) 210 genauer beschriebene gedruckte Bücher; auch der unvollständig überlieferte „Catalogus über des seel. Herrn Professoris Christian Pfützners Bibliotheque“ (es fehlt in diesem Katalog das übliche Duodezformat 12˚) aus dem Jahre 1738 enthält 284 Einträge (siehe detaillierter Tarvas 2014: 48), und in der Liste der Bücher von Professor Anton Mickwitz aus dem Jahre 1770 sind 239 Einträge enthalten. Die größte Bibliotheksliste eines Lehrers aus dem 18. Jahrhundert in Tallinn, die von Professor George Salomo aus dem Jahre 1768, enthält knapp 500 Einträge (Pullat 2009: 35-47). Die größte aller Tallinner Büchersammlungen ist allerdings einem Juristen zuzuordnen. 5 Sprachliche Dimensionen Die Bücherverzeichnisse der Lehrer geben Hinweise auf die damalige Mehrsprachigkeit in der Region. Der Großteil der Bücher ist auf Lateinisch und Deutsch, also in der damaligen „lingua franca“ der Wissenschaft sowie in der Muttersprache der meisten Intellektuellen im Tallinn jener Zeit. Der Anteil des Lateinischen sinkt im Laufe des 18. Jahrhunderts allerdings kontinuierlich. In den Bücherlisten ist eine deutliche Dominanz (nord)deutscher Einflüsse festzustellen. Zu dieser Zeit war das literarische Feld in Tallinn vorwiegend von deutsch(sprachig)en Intellektuellen geprägt, die in vielen Fällen aus Deutschland stammten und oft weiterhin intensive Beziehungen zum kulturellen Mutterland unterhielten. So war Professor Andreas Bartholomäi aus Königsberg gebürtig, der Arithmeticus Johann Conrad Greve stammte aus Lübeck. Die Kontakte nach Deutschland scheinen aber auch bei den in Tallinn Geborenen intensiv gewesen zu sein, wie es z.B. bei den Professoren Christian Pfützner und Anton Mickwitz der Fall ist. Es fand ein aktiver kultureller Transfer vor allem Literatur der Aufklärung 267 aus dem Kulturkreis Westbzw. Mittel-Europas, insbesondere aus dem deutschen protestantischen Raum statt, der sich in den Beständen der Bibliotheken zeigt. Neben diesen Sprachen kommt in manchen Katalogen auch Französisch vor. Es gibt in vielen Bibliotheken der ersten Hälfte des Jahrhunderts Wörterbücher und Grammatiken des Französischen; vor allem die Grammatik von Jean Robert des Pepliers ist mit vielen Exemplaren belegt. Später gibt es auch Bibliotheken, in denen der Anteil des Französischen beträchtlich ist, so sind z.B. im Nachlassverzeichnis des Arithmeticus Greve (1782) viele Werke auf Französisch verzeichnet. Man kann daraus schließen, dass Informationen über die philosophische Aufklärung durchaus auch die dem Russischen Reich zugehörige Provinz Estland erreicht hatten. Kulturtransfer fand also auch aus dem frankophonen Bereich statt. Ebenfalls weisen Bücherlisten auf die Kenntnis der estnischen Sprache hin. In den Sammlungen finden sich sowohl estnische (bzw. „undeutsche“) Grammatiken - z.B. bei Bartholomäi (1739) Gutzleffs „Ehstnische Grammatique“ - und Vokabulare als auch Katechismen und Hausbücher. Dennoch ist die Auswahl der Texte in der Sprache der subalternen Kolonisierten klein und thematisch mit der christlichen Missionierung verbunden. Analog dazu gibt es auch einzelne Bücher auf Lettisch. Ganz gering ist der Anteil der Literatur aus Schweden und insbesondere des russischen Materials, das nur sehr vereinzelt vorliegt. Die staatliche Zugehörigkeit scheint das Leseverhalten somit erstaunlich wenig beeinflusst zu haben. 6 Inhaltliche Gruppen Während in den kleineren Büchersammlungen die religiösen Texte sowie Erbauungsliteratur die zentrale Rolle spielten (vgl. oben die Sammlung Sigismundi), dominiert in den umfangreicheren Listen die Sachliteratur, so auch bei den Lehrern. Dem Beruf entsprechend besaßen die Lehrenden an den Schulen viele Lehrwerke. Die Bevorzugung der Sachliteratur korreliert vermutlich mit dem hohen Preis der Bücher, was die potenziellen Leser zu einer pragmatischen, oft eben berufsbezogenen Auswahl von Büchern gezwungen hat, daneben ist das Interesse oft auf die Sachliteratur im Allgemeinen ausgerichtet. Es ist aber auch möglich, dass durch eine stillschweigende Selektion bei der Verzeichnung die religiös gebundenen Texte sowie die Sachliteratur bevorzugt aufgenommen wurden. Zugleich spiegelt die Dominanz der Sachliteratur natürlich das Sortiment der im 18. Jahrhundert gedruckten Bücher wider (vgl. z.B. Wehler 1989: 304). Die Auswahl der Lehrwerke in den Inventaren entspricht 268 Mari Tarvas weitgehend der, die damals auch in Norddeutschland in den Schulen benutzt wurde (vgl. Tiisel 2001: 55) - ein Hinweis auf die kulturelle Verbundenheit mit dieser Region. Neben den Lehrwerken von Joachim Lange (z.B. ist seine lateinische Grammatik vielfach vertreten) sind Hieronymos Freyers Geschichtswerke und Orthografien ebenso Bestandteil der Bibliotheken wie etwa die juristischen Handbücher von Samuel Pufendorf, religionstheoretische Schriften von Johann Anastasius Freylinghausen und die Werke zu Geografie, Geschichte und Latein von Christoph Cellarius. Dabei spielt die auf dem Pietismus fußende Halle’sche pädagogische Tradition im Sinne August Hermann Franckes eine wichtige Rolle, wie etliche mit dieser Tradition verbundene Lehrbücher belegen. Neben Texten von Francke gibt es in Tallinn etwa auch viele Texte des zweiten Direktors der Halle’schen Schule, Johann Anastasius Freylinghausen. Die pietistische Frömmigkeit und die progressive Pädagogik schienen die Tallinner Lehrer beeindruckt zu haben. Im Inventarium des Lehrers Christoph Erdmann Bieck gibt es beispielsweise mindestens 28 Texte, die mit den eben genannten Traditionslinien, dem Pietismus, der Herrnhuter und der Halle’schen Pädagogik, in Verbindung stehen, darunter viele zentrale Texte von Spener, Zinzendorf, Arnold und Freylinghausen (vgl. Pullat 2009: 17-21). Als Beispiel der Berufsbezogenheit kann die Bibliothek des aus Königsberg stammenden Professors der Mathematik und Rechte Andrea Bartholomäi (1739) dienen. Sie enthält etliche Bücher aus den Fachgebieten Mathematik, Physik, Recht, Astronomie, Bauwesen, also u.a. aus unterschiedlichen Zweigen der Naturwissenschaften, wie der folgende Auszug zeigt: In Octavo. 1). Christian Wolffens Physica in dreyen Bänden 2). [Gestrichenes] ejusdem Auszug der Mathematischen Wißenschaften. 3). ejusdem Mathematische Wißenschaften in 4 Bändern. 4). ejusdem Methaphysica. 5). dictionaire francoise 6). [Gestrichenes] Grubers Mathematische Friedens und Krieges Schule. 7). Wiedeburgs Mathesis in 2 Bändern 8). Mosheims Heilige Reden. 9). Müllers Teutsche Mathematique. 10). Sturmii Mathesis in 2 Tomis (Tarvas 2014: 69). Freilich gibt es bei Professor Bartholomäi auch andere Texte, so etwa Erbauungsliteratur und die üblichen antiken Autoren, wie etwa Ovids „Metamorphosis“ oder Texte Ciceros, doch spielen diese im Vergleich zu obigen eine geringere Rolle. Neben Sachliteratur und den Lehrbüchern findet sich auch bei den Lehrern eine umfangreiche Sammlung religiöser Texte (Bibeln, Exegesen, Gesangbü- Literatur der Aufklärung 269 cher) sowie der Erbauungsliteratur: In den meisten Sammlungen sind nicht nur eine Bibel und ein Gesangbuch vorhanden, sondern auch eine reichliche Auswahl an Erbauungsliteratur, insbesondere bis zur Mitte des Jahrhunderts. So besaß der 1738 verstorbene Professor für Theologie Christian Pfützner folgende Bücher: 60. Johann Arendts deutsche Theologie 61. Pauli Röberi Tractatus Theologicus de omnibus Christianae Religionis articulis 62. Conradi Schlüsselburgii proba sacramentarii spiritus. 63. Augusti Pfeiffers Gerechte Sache wieder Philipp Jacob Spenern. 64. Lucae Osiandri Engirideon Controversiarum Augustianae Confessionis cum Calvinianis 65. ejusdem Engirideon Controversiarum Religionis contra Pontificios. 66. Johannis Hülsemannii Calvinismus irreconsiliabilis. 67. Johannis Anastasius Freÿlingshausens Entdeckung der falschen Theologie item anonÿmi [Pomarius, Samuel] abgenöthigte Lehr und Schulschrift wieder der Guttmannischen Offenbarungs Patron 68. Johannis Hornbecks Summa Controversiaru[m] religionis (Tarvas 2014: 59). Aber auch in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts ist etwa beim 1777 verstorbenen Collegen der Jungfernschule Christoph Scheffler eine Fülle von Erbauungsliteratur bzw. von theologischen Texten vorhanden: Reinbecks Betrachtungen göttlicher Wahrheiten 9 Theile in 3 fr. Bänden Heinrich Schuberts Predigten über die Sonn- und Festtags Evangelien, deßelben Zeugnis von der Gnade und Wahrheit in Predigten über die Ewangelien und Episteln in den Fasten, deßelben Gedancken vom Gnaden Rufe, Georg Ernst Stahl Theorien medico vera Petri Dan. Huetii Demonstratia evangelica (Tarvas 2014: 207). Diese Texte machen deutlich, wie stark der Einfluss des Pietismus in der Region gewesen sein muss. Es ist öfter hervorgehoben worden, dass eben gerade die Gebildeten, die an den protestantischen Universitäten studiert hatten, den Pietismus sowie den Geist der Aufklärung in die Region trugen (Gottzmann 2007, Bd. 1: 10) . Sowohl die Werke des wichtigsten Theoretikers des Pietismus, Philipp Jacob Spener, als auch die seines Vorgängers Johann Arndt, dessen Predigtsammlung Spener edierte und mit seinem bekannten Vorwort „Pia desideria“ versah, sind in Tallinn in sehr vielen Exemplaren vorhanden. In manchen Bibliotheken gibt es Dutzende von Texten dieser Autoren. Ebenfalls stark, doch mit einer kleineren Anzahl an Büchern belegt, scheint die Tradition der Herrnhuter zu sein. 270 Mari Tarvas Auf die eingangs gestellte Frage, inwieweit Texte der Aufklärung in den edierten Bücherlisten erscheinen, kann keine eindeutige Antwort gegeben werden. Während zum Beispiel von Christian Thomasius viele Texte vorliegen, sind andere für die Aufklärung wichtige Autoren erheblich weniger repräsentiert. Etliche für die Aufklärung wichtige Autoren sind in Tallinn kaum oder gar nicht vertreten, wie Gottfried Wilhelm Leibniz oder René Descartes, David Hume, Johann Jacob Breitinger oder Alexander Gottlieb Baumgarten. Von anderen Autoren liegen hingegen viele Texte vor, etwa von Christian Wolff. Von den für das 18. Jahrhundert wichtigen Autoren, die in den baltischen Provinzen tätig waren, fehlt zum Beispiel Johann Gottlieb von Herder. Die Dichter der frühen Aufklärung sind vertreten durch Texte von Barthold Heinrich Brockes und Karl Wilhelm Ramler, aber auch Anakreonteen Friedrich von Hagedorns und Johann Wilhelm Ludwig Gleims sind vertreten. Die Erwähnung der letztgenannten Autoren weist darauf hin, wie komplex die Rolle der Belletristik in den Listen einzuschätzen ist. Das Zeitalter der Aufklärung wird in der deutschen Kulturgeschichte oft mit der sog. Leserevolution in Verbindung gebracht. Es ist eine Periode, in der neue Bevölkerungsschichten zunehmend Bücher lasen und in der auch eine Verschiebung der Lesestoffe stattfand: Der Anteil der Andachtsliteratur ging zurück; insbesondere in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts stieg der Anteil der fiktionalen Texte (Romane, Schauspiele, weltliche Gedichte) (vgl. z.B. Schön 2001: 95). Jürjo hat auch in Bezug auf das Baltikum von einer Leserevolution gesprochen und festgehalten, dass auch hier die Buchproduktion sowie die Anzahl der Leser in der Bevölkerung enorm stiegen, sowie darüber hinaus die Verschiebung von der intensiven Lektüre auf die extensive betont. Allerdings datiert er diese in die Periode nach 1770 (vgl. Jürjo 2011: 20). Auch in den Bücherverzeichnissen der Lehrer kann eine Veränderung in der beschriebenen Richtung festgestellt werden. In den Verzeichnissen der ersten Hälfte des Jahrhunderts ist der Anteil der sog. schönen Literatur sehr gering, Literatur zum theologischen Denken ist dagegen in vielseitiger Weise vertreten. So besaß der Lehrer Johann Christian Schindler (1728? ) nur einzelne Texte, die im Sinne der heutigen Auffassung als schöne Literatur gelten würden, die meisten dieser Texte stehen mit der Antike (und so mit dem gängigen Bildungskanon) in Verbindung (z.B. die Fabeln von Aesop, Briefe Ciceros, Dramen von Terentius). Zeitgenössische Literatur ist hier kaum vertreten, immerhin besaß er aber eine Gedichtsammlung Christian Hoffmanns von Hoffmannswaldau (erschienen in Breslau 1696) und Molières „Tartuffe“ auf Französisch. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts steigt in den Katalogen der Anteil der Belletristik wie etwa auch des philosophischen Diskurses. Dennoch bleibt der Umfang der schöngeistigen Texte im Vergleich mit der Textauswahl in den Lesebibliotheken, die in der Region gegen Ende des Jahrhunderts aufgezeichnet Literatur der Aufklärung 271 wurden (vgl. Jürjo 2011: 158), sowie zu den Büchern, die in Tallinn zum Verkauf standen (vgl. Jürjo 2000: 29, 35 u.a.), weiterhin gering. Auch in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts gibt es erstaunlich viel Erbauungsliteratur und bemerkenswert wenig Texte, die der Veränderung des literarischen Paradigmas jener Zeit entsprechen würden. So gibt es im Katalog der Bücher des Professors für Dichtkunst und griechische Sprache Anton Mickwitz (1770) neben den antiken Autoren (Seneca, Cicero, Vergil, Horaz und Homer) auch die poetologischen Texte von Gottsched sowie einige Sammlungen an Lyrik und Schauspiele. Dennoch dominieren hier weiterhin die Erbauungsliteratur und die Sachtexte über die schöne Literatur, was der folgende Auszug aus dem Nachlassinventar veranschaulicht: Rambachs Wunder der Liebe. Comödien. Die Hahnrey-Probe, ein Lust-Spiel nebst einigen anderen kleinen Piéces. Gottscheden Vorübungen der Dicht-Kunst. Heine parabolisches Spruch=Buch. Krügers Anmerckungen über Wolffens Auszug aus der Rechenkunst. […] Martons [= Tyssot de Patot, Simon] Lebensbeschreibung. [Gottsched, Johann Christoph] Beiträge zur critischen Historie der deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit 29 u. 30 ster Stück des achten Bandes ungebunden. Donatus latino-germanicus. Michaëlis biblische Spruch=Register. Strubberg harmonia evangelia manualis (Tarvas 2014: 156). Der Durchbruch der schöngeistigen Literatur als eines wichtigen Bestandteils der privaten Bibliotheken wird anhand der Nachlassverzeichnisse erst im 19. Jahrhundert sichtbar. In dieser Zeit ist das gründliche Aufzeichnen der Bibliotheken nicht mehr üblich, kommt gelegentlich jedoch noch vor. Einer der wenigen im 19. Jahrhundert aufgezeichneten Bücherbestände, die Bibliothek des Titularraths Carl Johann Backmann aus dem Jahre 1831 4 , unterscheidet sich grundlegend von denen des 18. Jahrhunderts, sowohl was die jetzt stark vertretene Belletristik betrifft als auch die Autorenauswahl: Kotzebue und Goethe sind hier gleichermaßen sehr stark vertreten, aber auch Cooper, Walter Scott, Lichtenberg, Wieland, Lessing und Merkel. 4 Stadtarchiv Tallinn, Bestand 230, Verzeichnis 1, B.t. 18I, B, Bl. 1-13. 272 Mari Tarvas 7 Historische Dimensionen Viele der oben behandelten Diskurse beruhen auf früheren Entwicklungen, u.a. aus dem 17. Jahrhundert. So ist der Anteil der Texte aus dem 17. Jahrhundert in den Bibliothekskatalogen beträchtlich. Was die schöne Literatur betrifft, so zeigt sich eine relativ starke Rezeption der Gedichte des Barock (Fleming, Opitz, Gryphius usw.) auch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Davon, dass die Literatur früherer Epochen weiterhin aktiv rezipiert worden ist, zeugt aber auch die Tradition der Gelegenheitsdichtung, die auch im 18. Jahrhundert im gymnasialen Kreis gepflegt wurde (Panegyrik, Epicedien usw.). Die Autoren mit der größten Zahl notierter Werke unter den insgesamt etwa 2000 Autoren der Nachlassverzeichnisse in allen Bibliotheken, die im 18. Jahrhundert in Tallinn inventarisiert wurden, sind einerseits das größte stilistische Vorbild der Antike, Cicero, und andererseits der Naturrechtsphilosoph und Historiker Samuel Freiherr von Pufendorf. Was die weiteren stark rezipierten Autoren betrifft, also Autoren, von denen es in Tallinn viele Texte gab, so sieht die Aufteilung anders aus als oben ausgeführt. Neben den antiken Autoren, die damals auch im Gymnasialunterricht eine wichtige Rolle spielten (Caesar, Cicero, Curtius Rufus, Livius, Cornelius Nepos, Ovid, Plinius, Tacitus, Terentius), den Reformatoren (Luther, Melanchthon), den Pietisten und den Herrnhutern (Spener, Zinzendorf) sowie Erasmus von Rotterdam und Thomas a Kempis stammen nur 14 stark rezipierte Autoren aus dem 17. Jahrhundert (Johann Arndt, Johann Brunnemann, Anton Friedrich Büsching, Johann Amos Comenius, Conrad Dieterich, Hugo Grotius, Daniel Georg Morhof, August Pfeiffer, Samuel Freiherr von Pufendorf, Johann Rhenius, Johannes Scheffer, Cornelis Schrevel, Christian Scriver). Um eine eindeutige Zuordnung zu ermöglichen, werden die Autoren an dieser Stelle anhand ihres Todesdatums kategoriesiert. Insgesamt 30 Autoren sind dem 18. Jahrhundert zuzuordnen: Neben den bereits genannten Autoren sind dies Gottfried Arnold, Siegmund Jakob Baumgarten, August Bohse bzw. Talander, Joachim Just Breithaupt, Barthold Heinrich Brockes, Franz Johann Buddeus, Anton Friedrich Büsching, Christophorus Cellarius, Jean Robert des Pepliers, Johann Konrad Dippel bzw. Christianus Democritus, August Hermann Francke, Hieronymus Freyer, Johann Anastasius Freylinghausen, Johann Christoph Gottsched, Johann Gottlieb Heineccius, Ludvig Baron Holberg, Johann Hübner, Johann Daniel Intelmann, Johann Gottlob Krüger, Joachim Lange, Johann Friedrich Mayer, Georg Friedrich Meier, Johann Jakob Rambach, François Roux, Benjamin Schmolck, Jakob Philipp Spener, Christian Thomasius, Voltaire, Christian Wolff und Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf. Neben den Autoren aus sehr unterschiedlichen Fachgebieten, die zu der Zeit auch in Deutschland eine wichtige Rolle spielten, fällt Johann Daniel In- Literatur der Aufklärung 273 telmann auf, der Autor eines Rechenlehrbuchs aus Tallinn, dessen „Arithmetischer Wegweiser, Oder nach Ehst- und Liefländischer Handlung gründlich eingerichtetes Erstes Revalsches Rechenbuch“ in vielen Bibliotheken in Tallinn vertreten war, in der Sammlung des Arithmeticus Greve ist sogar ein Klassensatz vorhanden. Die lokale Tradition wurde in der Stadt somit hoch geschätzt. Auch wenn ihr Umfang gering ist, soll in demselben Kontext ebenso auf die Bücher hingewiesen werden, die die Geschichte der Region behandeln, darüber hinaus gibt es z.T. handschriftliche auf die Region bezogene Gesetzessammlungen. Die Rezeption der zentral- und westeuropäischen Strömungen des 18. Jahrhunderts spielte daher im Tallinn dieser Zeit durchaus eine wichtige Rolle, wie auch die Forschungen von Jürjo (1990) gezeigt haben, doch findet sie erst mit einer gewissen Verspätung statt. Die Rezeption früherer Jahrhunderte ist vor allem breiter und konzentriert sich nicht so stark auf einige wenige Autoren, sondern umfasst eine Vielzahl von sehr unterschiedlichen Texten. Ein möglicher Grund für diese Verspätung liegt in den Eigenschaften der ausgewerteten Quellen: Die in den Nachlässen notierte Literatur dokumentiert wahrscheinlich nicht den zum Zeitpunkt des Aufzeichnens bestehenden Stand der Lektüre, sondern einen früheren. Die Bibliotheken sind ja Teil der Erbmasse gewesen, die Bücher wurden von einer Generation zur nächsten übermittelt und wahrscheinlich war die Anschaffung von Büchern vor allem in der jeweiligen Studienzeit des Besitzers intensiv gewesen. Es fällt auf, dass in vielen Bibliotheken kaum Bücher aus den letzten Jahren vor der Inventarisierung zu finden sind. Zur genaueren Bewertung dieses Befundes sollen in der Zukunft auch die Listen der Leihbibliotheken und Lesegesellschaften ausgewertet werden. 8 Ausblick Die Bücher in den privaten Sammlungen bildeten im 18. Jahrhundert in Tallinn einen wesentlichen Teil der kulturellen Substanz der Stadt. Sie widerspiegeln die (bescheidenen) wirtschaftlichen Möglichkeiten der Literaten in dieser Region, dokumentieren jedoch auch die Verbundenheit der lokalen mit der europäischen Kultur, insbesondere mit den Entwicklungen im deutschen protestantischen Raum. Die Bücherauswahl weist auf eine gewisse Verspätung der Rezeption der Literatur der Aufklärung hin, anhand der Nachlassverzeichnisse reicht der Einfluss mancher Traditionslinien des 17. Jahrhunderts tief in das 18. Jahrhundert hinein. Um das Leseverhalten in der Region jener Zeit genauer nachzeichnen zu können, sollten weitere Textsorten in die Forschung einbezogen werden; meistens würde es sich dabei um Texte handeln, die die Leser der folgenden Jahrhunderte selten gelesen haben. Dazu gehören neben der im 18. 274 Mari Tarvas Jahrhundert weiterhin gepflegten Gelegenheitsdichtung auch etwa panegyrische Texte, Tagebücher, Autobiographien und vor allem Publizistik. Aber dies führt schon weit über die Grenzen dieses Beitrags hinaus. 9 Literatur Adam, Wolfgang (1990): Privatbibliotheken im 17. und 18. Jahrhundert. Forschungsbericht (1975-1988). In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 15.1. S. 123-173. Garber, Klaus (2007): Schatzhäuser des Geistes. Alte Bibliotheken und Büchersammlungen im Baltikum. Köln/ Weimar/ Wien. Gottzmann, Carola L./ Hörner, Petra (2007): Lexikon der deutschsprachigen Literatur des Baltikums und St. Petersburgs. 3 Bde. Berlin/ New York. Jürjo, Indrek (1990): Lesegesellschaften in den baltischen Provinzen im Zeitalter der Aufklärung. Mit besonderer Berücksichtigung der Lesegesellschaft von Hupel in Oberpahlen. In: Zeitschrift für Ostforschung. Länder und Völker im östlichen Mitteleuropa 39. S. 540-571. Jürjo, Indrek (2000): Raamatukaubandus Tallinnas valgustussajandil. In: Tuna 3.2. S. 20-41. Jürjo, Indrek (2011): Ideed ja ühiskond. Balti provintside mõtteja kultuuriloost 18.-19. sajandil. Koostanud Inna Põltsam-Jürjo ja Tõnu Tannberg. Tartu. Petri, Johann Christoph (1801): Über den neuesten Zustand der Gelehrsamkeit, Litteratur, Künste und Wissenschaften in Lief- und Ehstland. In: Allgemeiner Litterarischer Anzeiger. Nr. 113-115. Pullat, Raimo (Hrsg.) (1997): Die Nachlaßverzeichnisse der deutschen Kaufleute in Tallinn 1702-1750. Bd. 1. Tallinn. Pullat, Raimo (Hrsg.) (2002): Die Nachlassverzeichnisse der deutschen Kaufleute in Tallinn 1752-1775. Bd. 2. Tallinn. Pullat, Raimo (Hrsg.) (2004): Die Nachlassverzeichnisse der deutschen Kaufleute in Tallinn. Bd. 3. 1777-1800. Tallinn. Pullat, Raimo (Hrsg.) (2006): Die Nachlassverzeichnisse der Handwerker in Tallinn 1706-1803. Tallinn. Pullat, Raimo (Hrsg.) (2007): Die Nachlassverzeichnisse der Literaten in Tallinn 1710- 1805. Red.: Elias, Otto-Heinrich/ Jaritz, Gerhard/ Suurmaa, Lauri. Tallinn. Pullat, Raimo (Hrsg.) (2009): Die Privatbibliotheken in Tallinn und Pärnu im 18. Jahrhundert. Tallinn. Schön, Erich (2001): Lesestoffe, Leseorte, Leserschichten. In: Glaser, Horst Albert/ Vajda, György M. (Hrsg.): Die Wende von der Aufklärung zur Romantik 1760-1820. Amsterdam/ Philadelphia. S. 77-113. Tarvas, Mari (2014): Bibliothekskataloge der Tallinner Literaten des 18. Jahrhunderts. Quellenedition aufgrund überlieferter Nachlassverzeichnisse. Hrsg., kommentiert u. mit einer Einführung u. einem Index versehen von M. Tarvas. Würzburg. Literatur der Aufklärung 275 Tiisel, Kaja (2001): Tallinna toomkooli raamatukogu arengulugu ja koostis. In: Vana Tallinn 11(15). Tallinn. S. 9-144. Wistinghausen, Henning von (1995): Die Kotzebue-Zeit in Reval. Tartu. Wehler, Hans Ulrich (1989): Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 1. Vom Feudalismus des Alten Reiches bis zur defensiven Modernisierung der Reformära: 1700-1815. München. An der internen Peripherie: Das späte Jesuitentheater zwischen Latein und Volkssprache Simon Wirthensohn (Innsbruck) Zusammenfassung Für die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts muss man in den katholisch geprägten deutschsprachigen Gebieten noch von einer funktionalen Zweisprachigkeit ausgehen, zumindest was die Schriftsprache betrifft; Deutsch und Latein sind nach wie vor nebeneinander existierende produktive Codes. Erst in der zweiten Jahrhunderthälfte kommt es zu einem Einbruch der gesellschaftlichen Relevanz des Lateinischen. Der Artikel setzt sich mit diesem Umbruch auseinander, indem er die Ablösung des Lateinischen als Literatursprache in einem besonders repräsentativen Feld belichtet: dem Schultheater der Jesuiten. Das Jesuitentheater hatte sich 200 Jahre lang so gut wie ausschließlich des Lateinischen bedient. Noch in den 1750er Jahren stand das Deutsche auf der jesuitischen Schulbühne vorwiegend im Dienst barbarolektischer Komik. Der Bruch ist in den 1760er Jahren anzunehmen. Fortan erschienen erstmals Dramensammlungen in deutscher Übersetzung, vereinzelt wurden Stücke auch in deutscher Sprache aufgeführt. Es ist folglich von einer kulturellen Peripheriesituation auszugehen, in der die lateinisch geprägte Jesuitenkultur unter dem Druck der Aufklärung marginalisiert und schließlich zur Assimilation gezwungen wurde. 1 Einführende Bemerkungen Dass es in Mitteleuropa ab dem späten 17. Jahrhundert zu einer folgenschweren Verschiebung im Machtverhältnis zwischen deutscher und lateinischer Sprache kommt, ist bekannt. Latein, das nicht erst seit dem Humanismus auch als Literatursprache der Volkssprache zumindest ebenbürtig gewesen war, ja genauer, eine produktive literarische Zweisprachigkeit gewährleistet hatte, trat seine Position als hegemonialer Code gelehrter Kommunikation an das Deutsche ab. 1 Der Prozess, der in den protestantischen Gebieten schon durch die Reformati- 1 Zum Verhältnis zwischen deutscher und lateinischer Sprache in der Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts vgl. neben den in die Jahre gekommenen, gleichwohl immer noch lesenswerten Aufsätzen von Wehrli (1963), Forster (1977), Breuer (1979) und v.a. Kühlmann (1989) und Seidel (2003). 278 Simon Wirthensohn on in Gang gesetzt worden war, 2 nahm nun auch in den katholischen Gebieten Fahrt auf. Waren im deutschsprachigen Raum noch bis weit in die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts mehr lateinische Bücher verlegt worden als volkssprachliche, so sind lateinische Publikationen am Ende des 18. Jahrhunderts bereits minoritär (vgl. Ijsewijn 1990: 184). Das bedeutet jedoch nicht, dass das Neulateinische seine Bedeutung als Medium gelehrter und literarischer Kommunikation schon rasch nach dem Scheitelpunkt im Jahr 1681 - dem Jahr, in dem auf der Frankfurter Buchmesse die Produktion volkssprachlicher Bücher zum ersten Mal diejenige lateinischer Bücher überstieg (Würgler 2009: 40) - sozusagen im Handumdrehen eingebüßt hätte. Vielmehr muss man von einem langwierigen Prozess ausgehen. Noch 1735 entfiel ein Viertel der Neuerscheinungen auf der Frankfurter Buchmesse auf lateinischsprachige Bücher. Zumindest in den katholischen Gebieten hatte Latein auch noch zu Beginn der zweiten Jahrhunderthälfte eine bedeutende Rolle als Bildungs-, aber auch als Literatur- und Gelehrtensprache. In Österreich und Bayern verblieb das Bildungsmonopol bis über die Jahrhundertmitte hinaus fest in der Hand des Jesuitenordens, und damit des wichtigsten und beharrlichsten institutionalisierten Trägers der mitteleuropäischen Neolatinität. Erst ab dem Jahr 1760 ist für diese Gebiete von einem Einbruch der gesellschaftlichen Relevanz des Lateinischen und damit von der endgültigen Monopolisierung des Deutschen als Sprache der schriftlichen Kommunikation auszugehen. Im vorliegenden Aufsatz soll diese Entwicklung anhand des Jesuitendramas nachgezeichnet werden und damit anhand einer Textgruppe, die gerade aufgrund ihrer Traditionsgebundenheit repräsentativ veranschaulicht, ab wann Latein als Sprache einer Literatur, die gesellschaftlich wirksam sein wollte, schlicht nicht mehr verwendet werden konnte. Damit liegt insofern eine etwas paradoxe Situation vor, als das späte Jesuitentheater gesamtgesellschaftliche Tendenzen abbilden kann, obwohl es selbst in zweifacher Hinsicht als Peripherieerscheinung gelten muss: Zum einen ist es - zeitlich gesehen - ein Randphänomen der bedeutenden neulateinischen Literatur im deutschsprachigen Raum, zum anderen ist es eine intern periphere literarische Einrichtung, die sich am Rand der aufstrebenden bürgerlichen Literatur bis zur Auflösung der alten „Gesellschaft Jesu“ 1773 gehalten hat. Fokussiert wird in erster Linie die Sprachsituation auf der Jesuitenbühne zwischen 1750 und 1770. Um die Überlegungen zu kontextualisieren, soll einlei- 2 Dass die Reformation langfristig große Bedeutung für die „Nobilitierung“ der Volkssprache hatte, ist unbestritten. Man darf aber nicht vergessen, dass Luther selbst sowohl Deutsch als auch Latein schrieb und zudem viele der bedeutendsten neulateinischen Dichter des 16. Jahrhunderts Reformierte waren (vgl. Ijsewijn 1990: 48). Das späte Jesuitentheater 279 tend die Bedeutung des Lateinischen für das Jesuitentheater von dessen Anfängen her skizziert werden. 2 Das Jesuitendrama als Erbe des lateinischen Humanismus Als sich das Jesuitentheater rasch nach der Gründung des Ordens im 16. Jahrhundert als Kulturform etablierte, war die Wahl der lateinischen Sprache eine Selbstverständlichkeit. Erstens war die gegenreformatorische Gelehrtenkultur, nicht zuletzt aus ideologischen Gründen, eng an das Lateinische gebunden; zweitens lag das Humanistendrama, das literarische Vorbild der Jesuiten, in dieser Sprache vor und drittens war ja die vorrangige Funktion jesuitischen Theaterspielens eine sprachdidaktische, nämlich die, durch Memorieren und Vortragen lateinischer Dramentexte die lateinische Sprachkompetenz der Schüler der Jesuitenschulen zu fördern. 3 Als bereits in der Frühzeit 4 des Jesuitentheaters ein breites Publikum an dieser Theaterform Gefallen zu finden begann und die Verantwortlichen erkannten, dass die Jesuitenkollegien aus diesem Interesse selbst profitieren konnten, wurde die lateinische Sprache zusehends als Hindernis begriffen. Viele Zuschauer konnten nicht ausreichend Latein, um die Handlung angemessen verstehen zu können. 5 Man verschaffte dem Problem vorerst Abhilfe, indem man den lateinischen Sprechpartien burleske, oft derb-komische Zwischenspiele in der Volkssprache zwischenschaltete und das Publikum so bei Laune hielt (Rädle 1994: 858). Der jesuitischen Obrigkeit war dies freilich ein Dorn im Auge, weshalb in der „Ratio studiorum“, der offiziellen und für alle jesuitischen Bildungseinrichtungen verbindlichen Studienordnung von 1599, der Gebrauch der Volkssprache ausdrücklich untersagt wurde. Den Volkssprachen war offensichtlich die Schuld für die unerwünschten derben Späße angelastet worden: Tragoediarum et comoediarum, quas non nisi latinas ac rarissimas esse oportet, argumentum sacrum sit, ac pium; neque quicquam actibus interponatur, quod non latinum sit et decorum (Lukács 1986: 371). 3 Vergleiche Abel (2015). An Literatur zu Praxis und Funktionen des Jesuitentheaters herrscht kein Mangel. Aus jüngerer Zeit beachtenswert sind vor allem die Überblicksdarstellungen von Pohle (2010) und Rädle (2013). Vergleiche daneben v.a. Flemming (1923), Valentin (1977), Wimmer (1982) und Bauer (1986). 4 Die älteste nachweisbare Theateraufführung in jesuitischem Kontext ist die Aufführung von Livinus Brechtus̕ „Euripus“ 1555 in Wien (vgl. Rädle 2013: 191). 5 Man muss mit Rädle (2013: 220) davon ausgehen, dass die nicht lateinkundigen Teile des Publikums in der Regel die Mehrheit darstellten, manchmal handelte sich wohl um mehrere tausend Personen. 280 Simon Wirthensohn [Tragödien und Komödien dürfen ausschließlich auf Latein und nur höchst selten aufgeführt werden. Ihr Gegenstand hat religiös und erbaulich zu sein; den Akten darf nichts zwischengeschaltet sein, was nicht Lateinisch oder nicht anständig ist.] Neben dem Kampf gegen obszöne Zwischenspiele ging es den Jesuitenoberen dabei darum, auf die ursprüngliche Bestimmung des Theaterspielens als sprachdidaktische Übung hinzuweisen. Der Unterricht der klassischen Sprachen stand schließlich im ganz auf Rhetorik hin ausgelegten Bildungssystem des Barock im Zentrum der Ausbildung, weshalb der Gebrauch der Muttersprache in den meisten Klassen grundsätzlich untersagt war: Latine loquendi usus severe in primis custodiatur, iis scholis exceptis, in quibus discipuli latine nesciunt; ita ut in omnibus, quae ad scholam pertinent, nunquam liceat uti patrio sermone; notis etiam adscriptis, si qui neglexerint (Lukács 1986: 418). [Insbesondere streng darauf zu achten ist, dass Latein gesprochen wird - ausgenommen sind nur Klassen, in denen die Schüler noch nicht Latein können - und zwar derart, dass es in allen Situationen, die die Schule betreffen, niemals erlaubt ist, die Muttersprache zu verwenden, und bei Nichtbeachtung auch ein Vermerk eingetragen wird.] Die barocke Studienordnung der „Ratio studiorum“ blieb bis weit ins 18. Jahrhundert hinein in Kraft. Dem Jesuitendrama des 17., aber auch dem des 18. Jahrhunderts stand daher de iure nur die lateinische Sprache zu Gebote. Verständnishilfe für die des Lateinischen unkundigen Teile des Publikums konnte in Form der sogenannten Periochen geboten werden, d.h. der gedruckten Programmhefte, die noch vor der Aufführung in der Stadt verteilt wurden und in der Regel zweisprachig (Lateinisch - Deutsch) abgefasst waren (Rädle 2013: 223). Nichtsdestoweniger war den Aufführungen ein hoher Publikumszuspruch beschieden. Genaue Zahlen sind zwar nur für wenige Darbietungen erhalten und die hohen Schätzungen der älteren Forschung müssen hinterfragt werden (Pohle 2010: 489ff.), die gesellschaftliche Relevanz dürfte aber auf alle Fälle hoch gewesen sein. Man kann die Faszination einer jesuitischen Theateraufführung des 17. Jahrhunderts wohl am ehesten dann nachvollziehen, wenn man sie mit der einer modernen Opernaufführung vergleicht, in der der Text zwar in einer nur mit Mühe verständlichen Fremdsprache vorliegt, diese Beeinträchtigung aber durch das Einbetten der Handlung in ein synästhetisches Gesamtkunstwerk, bestehend aus den Komponenten Handlung, Musik, Tanz und Bühneneffekte, wettgemacht wird. Das späte Jesuitentheater 281 3 Tendenzen bis 1760 Im 18. Jahrhundert änderte sich der Charakter der Stücke. 6 Die „Ratio studiorum“ hatte zwar weiterhin Gültigkeit, die Choragen der Jesuitenschulen scheinen sich aber nicht mehr strikt an sie gehalten zu haben. Paul Aler, der um die Jahrhundertwende in Köln als Stückeschreiber und Dramaturg tätig war, führte die deutschsprachigen Interludien wieder ein - allerdings nicht in Gestalt komischer Einschübe, sondern als gesungene Partien ernsthaften Inhalts, meist in Form von Arien. Rädle hat das Deutsche in diesen Stücken als Vehikel einer im Lateinischen nicht so leicht zu bewerkstelligenden sprachlichen Musikalität gedeutet. Die Endreime und die akzentrhythmische Textstruktur, die die deutsche Sprache leistet, sind ihm zufolge Charakteristika, die die Vertonung des Texts erleichtern (Rädle 1994: 857ff.). Aler dürfte es allerdings nicht nur um die Musikalität der Sprache, sondern vor allem auch darum gegangen sein, seinem Publikum ein besseres Verständnis der Texte zu ermöglichen. Jedenfalls ließ er 1710 seine Tragödie „Ursula“ gänzlich in deutscher Sprache aufführen. Im Panorama des frühen 18. Jahrhunderts stellte Aler jedoch eine Ausnahme dar. Von seinem Bühnenschaffen abgesehen blieb das Jesuitentheater in der ersten Jahrhunderthälfte auch im Rheinland lateinischsprachig. Im oberdeutschen Raum finden sich erste Ansätze einer volkssprachlichen Schulkomödie erst wesentlich später. 7 Die Stücke, die ab den 1730er Jahren von oberdeutschen Jesuiten im Druck herausgegeben wurden, sind zunächst durchweg lateinisch, nur vereinzelt begegnen deutsche Einsprengsel. Welchen Status das Deutsche in diesen Stücken hatte, wird anhand entsprechender Ausschnitte aus Komödien des bedeutenden Kemptner Dramatikers Anton Claus (1691- 1754) 8 manifest. Im ersten Akt der Komödie „Tonsiastrus“, die der Autor 1750 in 6 Szarota (1979-1987: Bd. 1., 57-89) hat auf Grundlage der auf die Bühne gebrachten Stoffe fünf Phasen in der Geschichte des Jesuitendramas angenommen. In der Tat lassen sich für derartige Entwicklungsschritte Argumente finden, die Grenzziehung ist aber problematisch. Der radikalste Einschnitt in das Entwicklungskontinuum des Jesuitendrama ist meines Erachtens die „rationalistische Wende“ in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die in Form (Orientierung am klassizistischen Regeldrama) und Inhalt (Bevorzugung weltlicher Sujets) in gleicher Weise Niederschlag gefunden hat. 7 Relativ früh scheinen sich die oberdeutschen Jesuiten des Deutschen im Fastnachtsspiel bedient zu haben und damit für eine Gattung, in der es bereits eine lange Tradition in deutscher Sprache gab. Vergleiche z.B. „Der Engelsturz. Fastnachtspiel in Tyroler Bauernreimen“, aufgef. Innsbruck 1727 bis 1738, verzeichnet bei Reisinger (1964: 53). 8 Claus war zwischen 1722 und 1734 in Pruntrut, Freiburg i.Üe., Freiburg i.Br., Straubing, München und Innsbruck als Rhetoriklehrer tätig. Aus all diesen Städten sind 282 Simon Wirthensohn einer Sammlung von Übungsstücken veröffentlichte, huldigen drei Studenten in satirischer Absicht einem geizigen, stubengelehrten Gastwirt: Es lebe der Herr Würth! Der so hoch gestudirt, er ist fürwahr ein glehrter Mann, der Wein aus Wasser machen kann. Es lebe der Herr Würth! (Claus 1750: 24). Es ist offenkundig, dass der Wahl der deutschen Sprache hier die Intention, Komik zu generieren, zugrunde liegt. Das wird zumal aus der dramatischen Situation, in die die fünf satirischen Verse eingelassen sind, deutlich. Der Wirt Tonsiastrus, Protagonist der fünfaktigen Komödie, hält große Stücke auf sich, weil er sich mithilfe eines Lehrbuchs in kurzer Zeit selbst beigebracht hat, in komplex verschachtelten ciceronianischen Perioden zu sprechen. Dass dieser eitle, spießbürgerliche Cicero nun ausgerechnet mit einem Enkomion in plumpen deutschen Knittelversen begrüßt wird, ist hochgradig komisch. Ein zweites Beispiel kann veranschaulichen, dass Komik auf Basis der Sprachwahl bei Claus auf verschiedenen Ebenen wirksam wird. In „Oleum divae Catharinae“, einem in derselben Sammlung veröffentlichten Einakter, ist die Sprachwahl ebenfalls funktional motiviert. Deutsch wird nur an einer Stelle eingesetzt, und zwar zu Beginn der dritten Szene, als Danistrus, ein fahrender Händler aus Tirol, seine Waren feilbietet: Hat hat - hat - guts gerechtes Stein=Oel / Ranger=Oel / Därsten=Oel / Balsam Sulfuris, und Allemontharnisch - und allerley Oel! kauffts in der Zeit / so habt ihrs in der Noth / hilfft richtig Vich / und Leuth / hilfft nicht / so helff euch Gott - Probatum est (Claus 1750: 24). Der gereimte, aber weitgehend unrhythmische Passus ist schon per se komisch, zumal aus der Werberede von Danistrus (das schon bei Plautus belegte Wort danista bedeutet Wucherer 9 ) bereits hervorgeht, dass die angepriesenen Heilöle keine besonders verlässlichen Pharmaka sind. Welcher komische Effekt von der Wahl des Deutschen ausgeht, wird jedoch auch hier erst deutlich, wenn man den Kontext mitberücksichtigt: Die Protagonisten des Stücks, die beiden faulen Schüler Poastrus und Pigrinus, fassen den Plan, Katharinenöl als „Do- auch von ihm inszenierte Aufführungen seiner Stücke belegt (vgl. Valentin 1983/ 84: 1036f.). 1741 erschienen vier seiner Tragödien in einer Sammlung mit dem Titel „Tragoediae ludis autumnalibus datae“, 1750 erschien eine Sammlung von Komödien, Übungsstücken und Meditationsdramen unter dem Titel „Exercitationes theatrales“. 9 Vergleiche z.B. Plaut. Epid. 53; Most. 537; Pseud. 286. Das späte Jesuitentheater 283 pingmittel“ zur Erledigung ihrer Hausübung - dem Verfassen eines lateinischen Gedichts - zu verwenden, so, wie sie es beim Klassenprimus gesehen zu haben glauben. Als ihnen mitgeteilt wird, dass Katharinenöl nur am Sinai zu bekommen ist, sind sie ratlos. Doch sie haben (scheinbar) Glück, denn in diesem Augenblick tritt der Tiroler Ölhändler auf, den sie nicht zuletzt aufgrund seiner fremdländischen Redeweise - der deutsche Passus muss bei der Aufführung in Tiroler Dialekt gesprochen worden sein - als Araber identifizieren und dessen Produkt auch prompt kaufen. Allein das ist komisch genug. Die Pointe des Sprachwitzes besteht schließlich darin, dass die beiden Schüler in der Folge versuchen, ihre lateinischen Gedichte ausgerechnet mithilfe eines Heilmittels der einzigen Deutsch sprechenden Figur des Stücks zu verfassen - und natürlich damit scheitern. Komik wird in diesem Abschnitt also in zweifacher Hinsicht über die Sprachwahl generiert: zum einen mittels dialektaler Sprachverwendung im Deutschen (in lateinischer Sprache wäre fremdländische Couleur nur über den Akzent möglich), zum anderen über den Kontrast zwischen Deutsch und Latein bzw. den unterschiedlichen Kommunikationssituationen, denen die Sprachen zugeordnet sind. Claus, der vor allem in den 1720er und 1730er Jahren als Stückeschreiber tätig war, ist mit seinen vier gesammelt herausgegebenen Tragödien und seinen zwei Bänden Übungsstücken eine der wichtigsten Quellen für das späte Ordenstheater. Seine Texte können als Gratmesser für den Entwicklungsstand des Jesuitendramas in dieser Zeit gelten. Gegen die Stücke des 17. Jahrhunderts heben sie sich inhaltlich und formal deutlich ab. Bei Claus treten religiöse Stoffe zugunsten weltlicher Inhalte zurück, die mehrheitlich aus der Geschichte des paganen Altertums stammen. Nicht mehr der christliche Glaube, sondern ein humanistisches, bürgerliches Ethos wird nun propagiert. Was die Form anbelangt, konzipiert Claus seine Tragödien in bewusster Ablehnung der barocken Ordenstraditionen auf der Grundlage klassizistischer Poetiken. Nicht die jesuitischen Dramentheoretiker Pontanus oder Masen, sondern Corneille und Racine sind seine poetischen Autoritäten. 10 Anhand dieser Ausrichtung und Charakteristika seiner Texte wird deutlich, dass Claus offensiv als Erneuerer des Jesuitendramas aufgetreten ist. Damit haben seine Texte auch hinsichtlich der Sprachwahl Aussagekraft und beweisen, dass die Zeit für das Deutsche, zumindest in der oberdeutschen Provinz, noch nicht reif war. Die bei Claus deutlich spürbare Tendenz, das Deutsche nur 10 Vergleiche z.B. das Vorwort der „Tragoediae ludis autumnalibus datae“ in dem Claus angibt: „Petrum Cornelium […] sequi conatus sum“. (Ich habe versucht, Pierre Corneille […] zu folgen.) Auch in den poetologischen Kommentaren, die er den Tragödien nachgestellt hat, nimmt Claus stets auf das französische Barockdrama Bezug. 284 Simon Wirthensohn in den Dienst barbarolektischer Komik zu nehmen, darf für diese Zeit noch als repräsentativ gelten. 11 Latein ist nach wie vor d i e Sprache des Jesuitendramas. Das beweisen auch andere gedruckte Sammlungen von Stücken wichtiger Dramatiker der Gesellschaft Jesu bis 1760. 12 4 Entwicklungen der 60er Jahre In eine dieser Publikationen, Franz Neumayrs 1760 erschienene Sammlung „Theatrum politicum“, ist jedoch erstmals auch ein deutschsprachiges Stück aufgenommen, und zwar die von Ignaz Weitenauer besorgte Übersetzung von Neumayrs vielleicht größtem Erfolg als Dramatiker: das Singspiel „Tobias et Sara“, das Neumayr 1747 anlässlich der Hochzeit des bayrischen Kurfürsten Maximilian III. Joseph mit Anna Maria von Sachsen hatte aufführen lassen. In der oberdeutschen Ordensprovinz handelt es sich bei diesem Stück, das schon im Jahr der Aufführung in einem Einzeldruck erschienen war, um den ersten Druck eines deutschsprachigen Jesuitendramas seit Andreas Brunners 1684 erschienenen „Dramata sacra“. Bezeichnenderweise hatte es sich auch bei Brunners Stücken nicht um Schuldramen im eigentlichen Sinn, sondern um meditative Volksspiele gehandelt. Für den letzten oberdeutschen Druck eines jesuitischen Schuldramas in deutscher Sprache vor 1747 muss man sogar bis zu Joachim Meichels 1635 erschienener „Cenodoxus“-Übersetzung (Bidermann 1986) zurückblicken. Ähnlich wie Meichels „Cenodoxus“ dürfte auch Weitenauers Neumayr-Übersetzung noch als Lesedrama intendiert gewesen sein. Die deutsche Fassung von „Tobias et Sara“ darf als Präludium für die weitere Entwicklung gelten. In den sechziger Jahren kommt es nämlich zum Einschnitt. 1762 erscheinen in Wien die gesammelten Trauerspiele des Andreas Friz, die fünf Jahre zuvor auf Latein herausgekommen waren, in deutscher Sprache. 13 Die vom Autor selbst mitgestaltete Übersetzung ist in diesem Fall eindeutig für eine Bühnenaufführung intendiert, wie die Anmerkungen zu den Chören in „Penelope“ beweisen (Friz 1762: 471ff.). Schon aus dem Jahr 1760 ist die Aufführung seines „Cyrus“ in deutscher Sprache vor versammeltem Hofstaat dokumentiert (Nagl 1899-1937: Bd. 1, 678). 1765 ließ Friz sein Märtyrerdrama „Julius“ 11 Zur komischen Funktion des Deutschen vgl. u.a. die Prologe zu Franz Neumayrs „Sepulchrum concupiscientiae“ (1732) und „Processus iudicialis“ (1735). Die Stücke sind abgedruckt in „Theatrum asceticum“ (1747). 12 Vergleiche neben Franz Neumayrs „Theatrum asceticum“ auch Ignaz Weitenauers „Tragoediae autumnales“ aus dem Jahr 1758. 13 „Andreas Friz der Gesellschaft Jesu Priesters Trauerspiele, von einigen bemeldter Gesellschaft aus dem Lateinischen übersetzet“. Das späte Jesuitentheater 285 vor Maria Theresia und Joseph II. aufführen (Nagl 1899-1937: Bd. 2, 474). Auch diese Aufführung muss auf Deutsch erfolgt sein. Denn inzwischen hatten sich die Zeiten, zumindest in Österreich, geändert. Im Jahr zuvor, d.h. 1764, war ein neuer Lehrplan verordnet worden, der in allen österreichischen Gymnasien die jesuitische „Ratio studiorum“ ablöste. In diesem neuen, utilitaristischen Lehrplan waren nicht nur die Schulschlussaufführungen untersagt, sondern auch das Primat der Muttersprache festgeschrieben (Tilg 2008: 196f.). Lateinische Schulaufführungen waren daher von diesem Augenblick an in Österreich kaum noch möglich. 14 Auch in Süddeutschland und der Schweiz dürften nun vermehrt Aufführungen in deutscher Sprache erfolgt sein. Definitive Aussagen zu treffen ist angesichts der dürftigen Quellenlage schwierig. Die Periochen, die in Valentins Repertorium für diese Zeit verzeichnet sind, führen nun mehrheitlich keinen lateinischen Titel mehr, was keineswegs als Beleg, vielleicht aber doch als Indiz dafür gelten darf, dass nun vermehrt Stücke auf Deutsch gespielt wurden. Relativ früh scheint sich diese Entwicklung im Singspiel durchgesetzt zu haben. 15 Regionale Unterschiede und Eigenheiten müssen aber bis zuletzt angenommen werden. In Luzern z.B. waren lateinische Theateraufführungen seit 1768 per Gesetzesbeschluss verboten (Valentin 1976: 573). In den rheinischen Kollegien dürften Stücke schon seit den fünfziger Jahren in deutscher Sprache gespielt worden sein, möglicherweise in der Tradition des Kölners Aler. 16 5 Deutschsprachiges Jesuitentheater als Assimilationsbestrebung Der Wechsel zur deutschen Sprache muss als Anpassung an die Zeitumstände, insbesondere als Zugeständnis an die aufgeklärte Politik gesehen werden. Indem die Jesuiten das Theaterspielen in die Volkssprache übertrugen, ließ es sich als Übung mit unmittelbar praktischem Nutzen darstellen. Denn mit der Schulung der volkssprachlichen Kompetenz lag der Orden ganz im bildungspolitischen Trend und konnte Bereitschaft signalisieren, sein Bildungssystem aufklärerischen Forderungen entsprechend zu modernisieren. Die Vernachlässi- 14 Wir müssen aber davon ausgehen, dass nach Möglichkeiten gesucht wurde, die Verordnung zu umgehen, und es weiterhin lateinisches Schultheater in Österreich gegeben hat (vgl. Tilg 2008: 197). 15 Dafür sprechen jedenfalls die Prager Singspiel-Periochen, die sich im Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften befinden. Sie bezeugen, dass in Prag schon zu Beginn des 18. Jahrhunderts Singspiele in deutscher Sprache aufgeführt wurden. 16 Das Düsseldorfer Herbstspiel „Jephte“ von 1755 ist nur in einem deutschen Spieltext überliefert (vgl. Pohle 2010: 324). 286 Simon Wirthensohn gung der volkssprachlichen Ausbildung hatten die Aufklärer dem jesuitischen Bildungssystem zuvor massiv vorgeworfen (vgl. Müller 1993: 232). Die Aufgeschlossenheit einzelner Jesuiten gegenüber der aufgeklärten Sprachenpolitik wird auch daraus deutlich, dass ab den 1760er Jahren Mitglieder des Ordens bewusst als Förderer der deutschen Sprachdidaktik hervortraten. Innerhalb weniger Jahre entstanden nun mehrere Grammatiken und Orthographielehren (vgl. Jahreiß 1990). Am bedeutendsten ist die 1764 veröffentlichte Sprachlehre „Zweifel von der deutschen Sprache“ von Ignaz Weitenauer, in der der Autor für die Vereinheitlichung der deutschen Schreibsprache Position bezieht. Zur gleichen Zeit veröffentlichten Weitenauer, Michael Denis und einige Jahre später Leonhard Bayrer Anthologien deutscher Belletristik, die sie der Jugend als Lektüre empfahlen. 17 Das unterstreicht, dass den Jesuiten inzwischen deutlich geworden war, dass die Förderung der deutschen Sprachkompetenz mittlerweile unerlässlich war. Diese Lesebücher sind aber auch aus einem weiteren Grund interessant. Bemerkenswerterweise scheinen konfessionelle Vorbehalte in ihnen keine Rolle mehr zu spielen. In Denis̕ ab 1762 veröffentlichten Gedichtanthologien sind ausschließlich Texte protestantischer Schriftsteller aufgenommen. Band 1 enthält vor allem Werke von Gellert, Hagedorn, Lichtwer, Kleist und Lessing, der zweite Band bietet ausschließlich Texte von Klopstock und Gessner. Weitenauers Publikation bietet Texte vergleichbarer Autoren. Das lässt für die Spätphase des alten „Gesellschaft Jesu“ interessante Schlüsse zu: Ganz offensichtlich hatten sich Teile des als aufklärungsfeindlich und reaktionär geltenden Jesuitenordens ab den 1760er Jahren nicht nur der deutschen Sprache als Bildungssprache geöffnet und angenommen, sondern auch konfessionell bedingte kulturelle Vorurteile bis zu einem bestimmten Grad überwunden. Zwar sind die in den Lesebüchern abgedruckten Texte keinesfalls konfessionell geprägt, aber allein die Vorstellung, Schriften protestantischer Autoren an Kinder weiterzugeben, wäre für die Jesuiten wenige Jahre zuvor noch unvorstellbar gewesen. 18 17 Denis, Michael (1762-1776): Sammlung kürzerer Gedichte aus den neuern Dichtern Deutschlandes für die Jugend. Wien; Weitenauer, Ignaz (1768): Sammlung kürzerer Gedichte meistens aus neuern deutschen Dichtern sammt einer Anleitung zu deutschen Versen. Augsburg; Bayrer, Leonhard (1791-1794): Poetisches Magazin, zum Gebrauche für junge Liebhaber der deutschen Dichtkunst. Augsburg. Bayrer stellt sich im Vorwort explizit in die Tradition von Weitenauer und Denis. 18 Wie ablehnend die Jesuiten noch wenige Jahre zuvor gegenüber von Protestanten verfassten Schriften eingestellt waren, beweist u.a. der massive Widerstand, den Vertreter des Ordens bei der Reformierung der Universität Ingolstadt der Einführung von Rechtsmaterialien aus dem protestantischen Raum entgegenbrachten (Müller 1985: 298). Das späte Jesuitentheater 287 Angesichts dieser Erneuerungsbestrebungen verwundert es auch nicht, dass das Deutsche, das die Jesuiten für ihre Dramen nun verwendeten, nicht mehr die alte oberdeutsche Schreibsprache, das sogenannte Jesuitendeutsch, war, sondern eine am Gottsched-Deutsch orientierte Einheitssprache. Joseph Schenkl, der Exjesuit, der 1776 die Tragödien von Anton Claus in deutscher Übersetzung herausgab 19 , bemühte sich offenkundig um ein modernes, von oberdeutschen Regionalismen weitgehend gereinigtes Hochdeutsch. Typische Merkmale des Oberdeutschen wie die Unterscheidung zwischen / ai/ und / ei/ sowie die Adverbendung {-en} sind in seiner Übersetzung nicht, / e/ -Apokopen kaum zu finden. Der Satzbau unterscheidet sich deutlich von der am lateinischen Wissenschaftsstil und der barocken Kanzleisprache orientierten Syntax der oberdeutschen Schreibsprache. Schon Mitte der 1770er Jahre ist also nicht nur eine Öffnung in Richtung des Deutschen, sondern mehr noch die Übernahme der lange Zeit als protestantisch abgelehnten ostmitteldeutschen Varietät als Schreibsprache zu beobachten. 6 Die Durchsetzung des Deutschen auf der jesuitischen Bühne Zum Schluss soll noch einmal zum Verhältnis von Deutsch und Latein auf der Jesuitenbühne zurückgekehrt werden. Es ist deutlich geworden, dass das Jesuitendrama in Süddeutschland und Österreich noch bis in die frühen 1760er Jahre fast durchweg in lateinischer Sprache aufgeführt wurde, und das selbst von Autoren wie Weitenauer und Denis, die der Verwendung des Deutschen als Bildungssprache gegenüber aufgeschlossen waren und als aufklärungswillig und liberal gelten können. Insbesondere aussagekräftig ist dieses Festhalten am Lateinischen im Fall des Denis, 20 der schon in den fünfziger Jahren als deutscher Dichter in Erscheinung getreten war und am aufgeklärten Habsburger Hof in Ehren stand. 21 Vergleicht man die Situation dieses aufgeklärten lateinischen Dramatikers um 1760 mit der seines Ordenskollegen Franz Xaver Jann Anfang der siebziger Jahre, so wird deutlich, wie grundlegend sich das Verhältnis zwischen Deutsch 19 „Die Trauerspiele des Claus. Aus dem Lateinischen übersetzt.“ 20 Von Denis sind in der Sammlung „Carmina queadam“ sieben lateinische Dramen überliefert. Sein Theaterschaffen in der Volkssprache beschränkt sich auf eine Übertragung von Plautus̕ „Menaechmi“, die 1753 in Klagenfurt aufgeführt wurde (vgl. Fladerer 2012: 99). 21 Die frühesten volkssprachlichen Publikationen von Denis sind „Empfindungen bei Betrachtung der Werke des Schöpfers“ (1751) und „Poetische Bilder der meisten kriegerischen Vorgänge in Europa: seit dem Jahr 1756“ (1760). 288 Simon Wirthensohn und Latein in diesen zehn Jahren geändert hat. Bei Franz Xaver Jann (1750- 1828) handelt es sich im Gegensatz zu den aufgeklärten Denkern Weitenauer und Denis um einen Vertreter jener reaktionär-rechtskatholischen Geisteshaltung, die vielfach undifferenziert dem gesamten Orden zur Last gelegt wurde. Die Vorworte zu den sieben Bänden seines Werks „Etwas wider die Mode. Gedichte und Schauspiele ohne Caressen, und Heurathen; für die studirende Jugend“ weisen ihn als bigotten Moralisten aus, der polemisch gegen die Aufklärung, insbesondere gegen die aus seiner Sicht sittenverderbliche neuere deutsche Literatur, d.h. die Literatur des Sturm und Drang, Stellung bezog. 22 Jann trat wie Denis im Rahmen seiner Tätigkeit als Rhetorikprofessor am Gymnasium als Dramatiker in Erscheinung. Anders als der um zwanzig Jahre ältere Denis fand Jann für seine lateinischen Stücke kein Publikum mehr. Der Nachruf aus der Feder eines Bekannten macht dies hinlänglich deutlich: Jann wurde Theaterdirektor, und verfaßte dann selbst einige Schauspiele in lateinischer Sprache; allein er bedauerte sehr, daß das Publikum diese Sprache nicht verstand, und dabei also keinen Gewinn hatte; die damals neuen deutschen Theaterstücke konnte er aus mehreren Gründen nicht benützen, und so entschloß er sich, neue Schauspiele, Singstücke u.s.w. zu verfassen, um sie von den Schülern aufführen zu lassen (Leinfelder 1832: 25f.). Der Abschnitt macht deutlich, dass sich die Rahmenbedingungen von der Zeit der Rhetorentätigkeit des Denis von Anfang der fünfziger Jahre bis 1761 bis zu derjenigen Janns Mitte der siebziger Jahre radikal verändert hatten. Hatte Denis - obgleich der Aufklärung und der Verwendung des Gottsched-Deutsch gegenüber aufgeschlossen - noch aus freien Stücken lateinische Stücke zur Aufführung gebracht, so war Jann die Aufführung lateinischer Stücke gar nicht mehr möglich, obwohl er als Traditionalist Interesse daran gehabt hätte. Es fand sich schlicht kein Publikum mehr, das die Texte verstanden hätte. 22 Im Vorwort des fünften Bandes von „Etwas wider die Mode“ charakterisiert er sich selbst als „immer noch meinen alten Gesinnungen getreu, immer noch der alte steife römischkatholische Christ, immer noch der abgesagteste Feind der heutigen Afteraufklärung […] und jeder Schauspiele […], die mit ärgerlichen Buhlschaften angefangen, fortgesetzet, und endlich mit eben so ärgerlichen Heurathen beschlossen werden, und guten Sitten, und der altdeutschen Ehrbarkeit, und der Religion selbst so tiefe, so jämmerliche Wunden schlagen“ (Jann 1800: [IV]-[V.]). 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Weitenauer, Ignaz (1758): Tragoediae autumnales, cum animadversionibus. Augsburg/ Freiburg i.Br. Zur aktuellen Situation der deutschen Sprache und der Germanistik im albanischsprachigen Raum Gëzim Xhaferri/ Ferit Rustemi (Tetovo) Zusammenfassung Während mindestens seit zehn bis fünfzehn Jahren, insbesondere in den westeuropäischen Ländern, von der Krise des Deutschen als Fremdsprache gesprochen wird, steigt - erstaunlicherweise - in südosteuropäischen Ländern, so auch im albanischsprachigen Raum (in Albanien, im Kosovo und im westlichen Teil Mazedoniens, das überwiegend von Albanern bewohnt wird), die Anzahl der Deutsch lernenden Schüler und Studierenden, so dass immer mehr neue Germanistikinstitute eingerichtet werden. Dieser Beitrag befasst sich in erster Linie mit der fremdsprachenpolitischen Entwicklung im albanischsprachigen Raum und der aktuellen Situation des Deutschen als Fremdsprache sowohl in den Grund- und Mittelschulen als auch im universitären Bereich. Darüber hinaus soll im vorliegenden Beitrag insbesondere auf die Entstehung und Verbreitung der Germanistik im albanischsprachigen Raum sowie auf die Zukunftsperspektiven des Deutschen und der Germanistik in Südosteuropa, speziell in Albanien, im Kosovo und im westlichen Teil Mazedoniens, eingegangen werden. 1 Einleitung Das Ziel dieses Beitrages 1 ist es, einen Überblick über die Situation, den Stellenwert und die Tendenzen des Deutschen und der Germanistik im albanischsprachigen Raum (in Albanien, im Kosovo und hauptsächlich im westlichen Teil Mazedoniens) zu geben. Darüber hinaus wird auf die historischen, politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Umstände eingegangen. Dabei soll besondere Aufmerksamkeit auf die Motive gerichtet werden, aufgrund derer sich eine Fremdsprachenpolitik entwickelte, die insbesondere zur Etablierung des Deutschen als erste und zweite bzw. dritte Fremdsprache auf allen Bildungsstufen geführt hat. 1 Der vorliegende Text geht auf den gleichnamigen Vortrag der Verfasser in der von Herrn Prof. Dr. Ioan Lăzărescu und Herrn Prof. Dr. Hermann Scheuringer geleiteten Sektion 3 unter dem Titel „Varietäten des Deutschen“ zurück. 294 Gëzim Xhaferri/ Ferit Rustemi 2 Der Status des Deutschen als nationale und offizielle Sprache Das Deutsche wird heute von rund 82 Millionen Muttersprachlern gesprochen und ist somit die meistgesprochene Muttersprache in der EU. Es beschränkt sich auf folgende mitteleuropäische Staaten: Deutschland, Österreich, Liechtenstein, Schweiz und Luxemburg sowie kleine Teile von Belgien (deutschsprachige Gemeinschaft im Osten) und Italien (Provinz Bozen-Südtirol), vgl. Ammon (2010). Deutsch als Fremdsprache wird weltweit von ca. 15 Millionen Menschen gelernt. Ebenso laut Ammon (2010) hängt dies einerseits mit der Nachwirkung seiner historischen Bedeutung zusammen, vor allem als Wissenschaftssprache, und andererseits ist das große Interesse an Deutsch auf die wirtschaftliche Stärke Deutschlands, das politische Gewicht, die führende Stellung in wichtigen Technologien und nicht zuletzt im attraktiven Bildungswesen zurückzuführen: Die Wirtschaftskraft eines Landes spielt eine wesentliche Rolle für die Bedeutung bzw. Ausbreitung einer Sprache als Fremdsprache. Die Zahl der Menschen weltweit, die Deutsch als Fremdsprache sprechen, wird auf ca. 100 Millionen geschätzt. Es ist jedoch unbekannt, auf welchem Niveau sich ihre Sprachkompetenzen bewegen. Dies zeigt, dass das Deutsche weltweit eine bedeutende Rolle als internationale Sprache spielt. 3 Die Verbreitung des Deutschen als Fremdsprache im südosteuropäischen Raum - historischer Hintergrund Historisch gesehen, gehen die ersten Spuren des Einflusses der deutschen Kultur und Sprache auf Zeiten zurück, als ehemalige jugoslawische Teilrepubliken wie Slowenien, Kroatien, Bosnien und Herzegowina und die autonome Provinz Wojwodina der österreichisch-ungarischen Monarchie angehörten. Während dieser Zeitperiode wurde das Deutsche als offizielle Sprache in Verwaltung, Justiz und Bildung in den oben erwähnten Gebieten verwendet. Nach dem Ersten Weltkrieg bzw. nach dem Zerfall des Reiches und der Gründung des Königreiches der Serben, Kroaten und Slowenen verlor das Deutsche seinen soziopolitischen Status und gleichzeitig wurde es durch das Slowenische und Serbokroatische ersetzt. Im neu geschaffenen Königreich wurde von einer großen ethnischen Gemeinschaft im Banat und in einer Region der Wojwodina, die heute eine autonome Provinz Serbiens ist, die deutsche Sprache als Muttersprache gesprochen. In den Gymnasien des neuen Königreichs wurden zwei Fremdsprachen als Pflichtfächer unterrichtet: Deutsch und Französisch. Zur aktuellen Situation der deutschen Sprache 295 Den Einfluss der deutschen Kultur und Sprache zeigen beispielsweise Wörter aus dem Bereich des Handwerks und der Technologie, die während der österreichischen Habsburgermonarchie in die südslawischen Sprachen eingeführt wurden. Diese wurden nun vom Albanischen (vor allem im Kosovo und in Mazedonien) indirekt übernommen, wie z.B.: auspuh (Auspuff), rikverc (Rückwärtsgang - bei Fahrzeugen), shteker (Stecker), shrafciger (Schraubenzieher), fugë (Fuge), shall (Schal), dozë (Dose), feder (Feder), kumplung (Kupplung), fllashë (Flasche), farbë (Farbe), anllaser (Anlasser), bormashinë (Bohrmaschine), kofer (Koffer), ferije (Ferien), felga (Felge) usw. 4 Deutsch im albanischsprachigen Raum Fremdsprachliche Kompetenz ist auch in den südosteuropäischen Ländern nach wie vor hoch angesehen und wird als berufliche Schlüsselqualifikation vorausgesetzt. Deshalb wird ihr ein wichtiger Platz im Schulcurriculum eingeräumt. Was die Erlernung der deutsche Sprache im albanischsprachigen Raum anbetrifft, so hat sie im Gegensatz zu anderen Fremdsprachen, wie z.B. Französisch, Englisch und Russisch, keine lange Tradition. Heutzutage wird Englisch wie überall in allen südosteuropäischen Ländern als erste Fremdsprache angeboten, in der Regel ab der ersten Klasse. Mit der zweiten Fremdsprache beginnt man häufig ab der sechsten Klasse. Da haben die Schüler die Möglichkeit, zwischen Deutsch und Französisch zu wählen, selten Russisch oder Italienisch - abgesehen vom Kosovo, wo man die zweite Fremdsprache noch nicht eingeführt hat. 4.1 Deutschunterricht in Albanien In den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg gab es - aus Ressentimentgründen - keinen Deutschunterricht an den Grund- und Mittelschulen sowohl in Albanien als auch im damaligen Jugoslawien (im Kosovo und im westlichen Teil Mazedoniens). Zu dieser Zeit unterrichtete man in Albanien anfangs Russisch und später, in den 1960er Jahren, kamen Englisch und Französisch dazu. Deutsch konnte sich, neben Italienisch und Spanisch, zum ersten Mal in den Jahren 1979 bis 1983 in der Fremdsprachenmittelschule „Sami Frashëri” in Tirana durchsetzen, d.h., die letzte dieser Schulklassen endete 1983 mit dem Abitur (Kadzadej 2014). Bouthier (2005: 89) weist darauf hin, dass diese vier Schuljahrgänge bzw. Abiturienten von 1983 bis 1992 die Möglichkeit hatten, Albanologie und Geschichte in Kombination mit Deutsch als Nebenfach zu 296 Gëzim Xhaferri/ Ferit Rustemi studieren. Es waren gerade diese Absolventen, die nach der Wende entweder an den Fremdsprachenmittelschulen oder an der im Jahre 1992 mit Unterstützung der deutschen Botschaft und dem DAAD neu gegründeten Deutschen Abteilung an der Universität Tirana Deutsch unterrichteten. Neben der Deutschen Abteilung dieser Universität (ca. 370 Studierende) wurden ebenso im Jahre 1992 an der Universität Elbasan (ca. 90 Studierende) und 1996 an der Universität Shkodra (ca. 70 Studierende) mit Unterstützung der Universität Graz Abteilungen für Deutsch eröffnet. Mit dem Anstieg der Deutschstudierenden wuchs auch die Anzahl der Schüler und Schülerinnen in der Grundausbildung und in den Mittelschulen. Heutzutage wird Deutsch in allen Schulstufen des albanischen Bildungssystems als erste (aber nur selten), zweite und dritte Fremdsprache - neben Englisch, Französisch und Italienisch - angeboten. Außer in den öffentlichen Schulen wurde in Shkodra/ Albanien im Jahre 2007 die Österreichische Höhere Technische Schule für Informationstechnologie „Peter Mahringer“ gegründet. Sie finanziert sich aus Mitteln des Österreichischen Unterrichtsministeriums und aus Mitteln der Schülereltern. Unterrichtssprache in dieser Schule ist Deutsch. Darüber hinaus darf nicht vergessen werden, dass neben der Nachfrage an den öffentlichen Schulen und Universitäten auch am Verbindungsbüro des Goethe-Instituts die Nachfrage nach Deutsch sehr groß ist. Im Folgenden werden die statistischen Angaben zur Fremdsprachenlernerzahl der albanischen Grund- und Mittelschüler dargestellt (laut Angaben des albanischen Ministeriums für Bildung und Sport) 2 : Erste FS Englisch Italienisch Französisch Deutsch Σ 283.420 239.239 9.296 34.844 41 Zweite FS Englisch Italienisch Französisch Deutsch Σ 73.179 18.631 22.888 29.504 1.078 Tab. 1: Fremdsprachenunterricht in der Grundschulausbildung (3.-9. Klasse) im Schuljahr 2012/ 2013, erste und zweite Fremdsprache (FS) 2 An dieser Stelle bedanken wir uns herzlich bei Frau Tatjana Vuçani vom albanischen Ministerium für Bildung und Sport für die Übersendung der statistischen Angaben zur Fremdsprachenlernerzahl für die albanische Grund- und Mittelschulausbildung. Zur aktuellen Situation der deutschen Sprache 297 Erste FS Englisch Italienisch Französisch Deutsch Σ 139.756 115.218 6.679 17.734 125 Zweite FS Englisch Italienisch Französisch Deutsch Σ 57.851 14.413 25.177 13.958 4.303 Tab. 2: Fremdsprachenunterricht in der Mittelschulausbildung (10.-12. Klasse) im Schuljahr 2012/ 2013, erste und zweite FS Englisch Französisch Italienisch Deutsch Σ 8.616 1.490 956 752 1.265 Erste FS 597 108 174 195 Zweite FS 583 453 286 658 Dritte FS 0 395 292 412 Tab. 3: Fremdsprachenunterricht an den albanischen Fremdsprachenmittelschulen (10.- 12. Klasse) im Schuljahr 2012/ 2013, erste, zweite und dritte FS Aus den oben genannten statistischen Angaben des albanischen Ministeriums für Bildung und Sport (2012/ 13) geht hervor, dass Englisch sowohl an den Grundals auch an den Mittelschulen - wie in allen europäischen Ländern - auch in Albanien eindeutig an erster Stelle steht, gefolgt von Französisch, Italienisch und Deutsch. In den letzten zehn Jahren ist zu beobachten, dass das Interesse für Deutsch vor allem als zweite Fremdsprache allmählich gestiegen ist, jedoch noch nicht zu vergleichen ist mit den oben erwähnten Fremdsprachen. Die dominierende Rolle des Italienischen und Französischen (im Vergleich zu der des Deutschen) als zweite Fremdsprachen im albanischen Schulsystem ist auf die geografische Nähe, die intensiven politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und historischen Beziehungen zwischen Albanien und Italien sowie auf die lange Tradition des Französischen als internationale Fremdsprache im albanischen Schulsystem zurückzuführen. 4.2 Deutschunterricht in Mazedonien Was das Lernen des Deutschen als Fremdsprache (DaF) in Mazedonien betrifft, hat sie leider keine lange Tradition. In den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg gab es in der damaligen jugoslawischen Republik Mazedonien sowohl an den Grundals auch an den Mittelschulen keinen Deutschunterricht. Zu dieser Zeit unterrichtete man nur zwei Fremdsprachen: Russisch (aus ideologischen Gründen) als erste Fremdsprache von der Grundbis zur Mittelschu- 298 Gëzim Xhaferri/ Ferit Rustemi le und Französisch als zweite Fremdsprache in der Mittelschule. Einige Jahre später wurde Englisch bzw. Deutsch angeboten. In den aktuellen Lehrplänen des mazedonischen Bildungsministeriums haben die Fremdsprachen an den Grundschulen den Status der ersten und der zweiten europäischen Fremdsprache, während an den Gymnasien und an den Mittelschulen die erste und die zweite Fremdsprache als obligatorische Fächer und an den Sprachgymnasien die dritte Fremdsprache als Wahlfach angeboten werden. Englisch wird in der Regel als erste Fremdsprache ab der ersten Klasse unterrichtet, während man ab der sechsten Klasse die zweite Fremdsprache unterrichtet. Was die zweite Fremdsprache betrifft, haben die Schüler die Möglichkeit, ab der sechsten Klasse Deutsch oder Französisch zu lernen. Laut Angaben des Statistischen Amtes der Republik Mazedonien (2013/ 2014) für die Grund- und Mittelschulen steht Englisch - wie in allen europäischen Ländern - auch in Mazedonien an erster Stelle, gefolgt von Französisch und Deutsch. Während der letzten fünfzehn Jahre ist zu beobachten, dass das Interesse für die deutsche Sprache - vor allem dort, wo sie das Französische als zweite Fremdsprache bereits verdrängt hat - sehr stark zugenommen hat. Deshalb ist die sehr optimistische Prognose möglich, dass in den kommenden fünf Jahren in Mazedonien das Deutsche an zweiter Stelle rangieren wird, denn das Interesse für die französische Sprache nimmt in der Region in letzter Zeit drastisch ab. Was das Interesse an der deutschen Sprache an den mazedonischen Hochschulen betrifft, so ist eine ständig steigende Anzahl der Germanistikstudierenden und derer, die Deutschkurse als Wahlfach besuchen, festzustellen. Diese Nachfrage führte dazu, dass man neben dem ältesten Germanistikinstitut (gegründet 1958, zählt ca. 500 Studierende) an der Universität „Kyrill und Method“ in Skopje, damals unterstützt von der Universität in Belgrad, noch weitere Germanistikintitute gründete, wie z.B. im Jahre 1996 an der Staatlichen Universität in Tetovo (mit ca. 250 Studierenden). Seit 2001 besteht ebenso in Tetovo an der Südosteuropäischen Universität ein weiteres Germanistikinstitut (ca. 90 Studierende); seit 2005 gibt es den Doppelstudiengang Deutsch in Kombination mit Mazedonisch an der Universität „Kliment Ohridski“ in Bitola (mit 25 Studierenden), der ausschließlich Deutschlehrer für die Grundschulen ausbildet, jedoch Ende dieses akademischen Jahres durch das Bildungsministerium eingestellt werden soll. Zudem wurde 2007 im ostmazedonischen Stip an der Universität „Goce Delcev“ das neueste Germanistikinstitut gegründet. Es zählt ca. 100 Studierende. Darüber hinaus wird Deutsch an fast allen Hochschulen als Wahlfach für Hörer aller Fakultäten gelehrt. Deutsch nimmt in Mazedonien im universitären Bereich nach Englisch die zweite Stelle ein. Die steigende Zahl der Deutschlernenden ist nicht nur in den Schulen und Universitäten, sondern auch im privaten Bereich zu beobachten, sei es an den Zur aktuellen Situation der deutschen Sprache 299 Sprachschulen oder im Selbststudium. Es konnte beobachtet werden, dass in Mazedonien das Deutsche sowohl bei den albanischsprachigen als auch bei den mazedonischsprachigen Lernenden immer stärker an Beliebtheit zunimmt. Im Folgenden werden die statistischen Angaben zur Fremdsprachenlernerzahl in der mazedonischen Grund- und Mittelschulausbildung veranschaulicht (laut Angaben des Staatlichen Statistikamtes der Republik Mazedonien): Erste FS Englisch Französisch Deutsch Russisch Σ 191.770 191.034 588 132 16 Zweite FS Englisch Französisch Deutsch Russisch Σ 81.035 736 39.228 40.335 739 Tab. 4: Fremdsprachenunterricht an den mazedonischen Grundschulen (1.-9. Klasse) im Schuljahr 2013/ 2014, erste und zweite FS Erste FS Englisch Französisch Deutsch Russisch Italienisch Türkisch Σ 86.418 83.941 2.046 271 160 0 0 Zweite FS Englisch Französisch Deutsch Russisch Italienisch Türkisch Σ 44.152 1.241 19.734 20.519 404 1353 901 Fakultativ bzw. dritte FS Englisch Französisch Deutsch Russisch Italienisch Türkisch Σ 1369 535 13 58 32 731 0 Tab. 5: Fremdsprachenunterricht an den mazedonischen Mittelschulen (10.-13. Klasse) im Schuljahr 2013/ 2014, erste, zweite FS und als fakultatives Fach bzw. als dritte FS Die oben obengenannten statistischen Angaben des Staatlichen Statistikamtes der Republik Mazedonien zeigen, dass das Englische - wie in allen anderen Ländern - auch in Mazedonien eindeutig an erster Stelle steht, während Französisch (mit insgesamt nur 1.752 Französischlernenden mehr) die zweite und Deutsch die dritte Stelle einnehmen. Obwohl das Französische im mazedonischen Schulsystem eine lange Tradition als internationale Fremdsprache genießt, ist in den letzten 20 Jahren festzustellen, dass die Nachfrage nach Deutsch, insbesondere als zweite Fremdsprache, sehr stark zugenommen hat. Ausgehend von diesem positiven Trend kann prognostiziert werden, dass Deutsch in den kommenden fünf Jahren an zweiter Stelle rangieren bzw. das 300 Gëzim Xhaferri/ Ferit Rustemi Französische verdrängen wird. Für das große Interesse am Deutschunterricht gibt es mehrere Gründe: • Deutsch ist die am häufigsten gesprochene Muttersprache in der EU. • Deutsch ist eine der drei EU-Arbeitssprachen. • Die Rolle der deutschen Sprache nach der EU-Osterweiterung hat sich verändert. • Nach dem erklärten Ziel des Europarates soll in Zukunft jeder EU-Bürger mindestens zwei Fremdsprachen beherrschen. • Es bestehen intensive politische, wirtschaftliche und kulturelle Kontakte zwischen Deutschland und Mazedonien. • Deutschland ist einer der größte Wirtschafts- und Handelspartner der Republik Mazedonien. • Es bestehen Kontakte zu den Familienangehörigen in Deutschland, in der Schweiz und in Österreich (vor allem bei der albanischen Bevölkerung in Westmazedonien und im Kosovo). 4.3 Deutsch im Kosovo In der damaligen jugoslawischen autonomen Provinz Kosovo hat der Deutschunterricht genauso wie in Mazedonien keine lange Tradition. In den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg unterrichtete man hauptsächlich Russisch (aus ideologischen Gründen) und Französisch. Einige Jahre später wurde Englisch und, überwiegend an einigen technischen Schulen, selten Deutsch zugelassen. In den 1980er Jahren konnte man an der Universität Prishtina Deutschkurse als Wahlfach besuchen. Die erste Deutsche Abteilung, wo man Germanistik studieren konnte, wurde an der Universität in Prishtina im Jahre 1992 eröffnet. Diese Germanistikabsolventen sorgten dafür, dass der Deutschunterricht in den 1990er Jahren, vor allem an philologischen Gymnasien und an einigen Mittelschulen, als zweite Fremdsprache eingeführt wurde. Genaue Angaben zur Anzahl der Schüler, die Deutsch als Fremdsprache an den Mittelschulen lernen, konnte uns weder das Statistische Amt noch das Bildungsministerium übermitteln, mit der Begründung sie seien dabei, die statistischen Angaben zusammenzustellen. Obwohl das Interesse für den Deutschunterricht im Kosovo sehr groß ist, hat das kosovarische Bildungsministerium das Deutsche als zweite Fremdsprache noch nicht an den Grundschulen eingeführt, wie es z.B. in Mazedonien der Fall ist, wo man das Deutsche und das Französische ab der sechsten Klasse als zweite Fremdsprache unterrichtet. Man kann zuversichtlich sein, dass dies in einer nahen Zukunft geschieht. Außer an den öffentlichen Schulen und Universitäten ist das Interesse für Deutsch auch am Verbindungsbüro des Goethe-Instituts in Prishtina sehr groß. Zur aktuellen Situation der deutschen Sprache 301 Neben der Deutschen Abteilung an der Universität in Prishtina, wo 589 Germanistikstudierende eingeschrieben sind, wurde im Jahre 2010 im Rahmen der neugegründeten Universität in Prizren die zweite Deutsche Abteilung eröffnet. Die öffentliche Universität in Prizren zählt ca. 320 Germanistikstudierende. Darüber hinaus wird Deutsch an fast allen Hochschulen als Wahl-Lehrveranstaltung für Hörer aller Fakultäten angeboten. 5 Schlussfolgerung Zusammenfassend kann Folgendes festgestellt werden: • Die Anzahl der Deutschlerner im albanischsprachigen Raum ist insbesondere seit den 90er Jahren gestiegen. • Die deutsche Sprache hat sich im Schulsystem aller drei untersuchten Länder als zweite Fremdsprache etabliert, vor allem in Mazedonien und im Kosovo, während in Albanien das Französische und Italienische nach dem Englischen bzw. vor dem Deutschen rangieren. • Das Interesse am Germanistikstudium und an der Erlernung des Deutschen sowohl an den Schulen als auch an allen germanistischen Abteilungen ist gestiegen, zum Teil auch deswegen, weil viele Schüler bzw. Abiturienten einige Zeit in einem deutschsprachigen Land gelebt haben und somit über die zum Studium notwendigen Grundkenntnisse der deutschen Sprache verfügen. Die meisten Studierenden wählen das Germanistikstudium, um bessere Arbeitschancen auf dem deutschsprachigen Arbeitsmarkt sowie bei den deutschen Investoren in der Region zu haben. • Es gibt Kontakte zu den Familienangehörigen in Deutschland, in der Schweiz und in Österreich (vor allem bei der albanischen Bevölkerung im Kosovo und in Westmazedonien). • Außer an den öffentlichen Schulen und Universitäten ist die Nachfrage nach Deutsch auch an den in Skopje, Prishtina und Tirana gegründeten Verbindungsbüros des Goethe-Instituts sehr groß. • Der Deutschunterricht sollte durch ständige Fortbildung der Deutschlehrer, sei es durch deutschsprachige oder einheimische Institutionen, verbessert werden. • Die Neugründungen der deutschen Abteilungen sowie die Eröffnung zahlreicher Filialen im westlichen Teil Mazedoniens seitens der Staatlichen Universität in Tetovo wären normalerweise zu begrüßen, wenn sie über genug qualifizierte Lehrkräfte verfügten. Dies ist leider nicht der Fall. Meistens haben sie je einen, selten zwei Promovierte, die den universitären Lehrbetrieb in Linguistik und Literaturwissenschaft abdecken müssen. Aus diesem 302 Gëzim Xhaferri/ Ferit Rustemi Grund sind die neu gegründeten Abteilungen auf Gastdozenturen aus den benachbarten Ländern angewiesen. • Zu einer besseren Stellung der deutschen Sprache und Kultur können auch die deutschen Institutionen, deutschsprachige Unternehmen und Investoren wesentlich beitragen, wenn sie sich für die Pflege und die Verwendung ihrer Muttersprache einsetzen und sich des Deutschen (statt des Englischen) nicht nur in ihrem eigenen Land, sondern auch im Ausland bedienen. 6 Literatur Ammon, Ulrich (2010): Welche Rolle spielt Deutsch international? www.deutschland.de/ de/ topic/ kultur/ kommunikation-medien/ welche-rolle-spielt-deutsch-international (Stand: 01.04.2014). Bouthier, Rita (2005): Deutschlernen in Albanien. In: Roloff, Hans-Gert (Hrsg.): Jahrbuch für Internationale Germanistik 37.1. Bern u.a. S. 87-94. Staatliches Statistikamt der Republik Mazedonien. www.stat.gov.mk/ pdf/ 2014/ 2.1.14.07. pdf (Stand: 02.04.2014). Kadzadej, Brikena (2014): Historiku. www.unitir.edu.al/ index.php/ 2014-07-09-10-56-45/ fakultetet/ fakulteti-i-gjuheve-te-huaja/ departamenti-i-gjuhes-gjermane (Stand: 03.04. 2014). Herausgeber und Beiträger(innen) Georg Anker | Zentrum 92, A-6233 Kramsach/ Österreich; E-Mail: anker.pannon.studien@gmail.com Prof. Dr. Sigita Barniškienė | Vytautas-Magnus-Universität Kaunas, Lehrstuhl für Germanistik und Romanistik, Donelaičio 52, LT-44244 Kaunas/ Litauen; E-Mail: s.barniskiene@hmf.vdu.lt Dr. Ákos Bitter | Universität Regensburg, Fakultät für Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften, Forschungszentrum Deutsch in Mittel-, Ost- und Südosteuropa, Landshuter Str. 4, D-93047 Regensburg/ Deutschland; E-Mail: Akos.Bitter@sprachlit.uni-regensburg.de Dr. Enikő Dácz | Ludwig-Maximilians-Universität München, Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Halskestr. 15, D-81379 München/ Deutschland; E-Mail: Dacz@ikgs.de Prof. Dr. Dr. Csaba Földes | Universität Erfurt, Philosophische Fakultät, Lehrstuhl für Germanistische Sprachwissenschaft, Nordhäuser Str. 63, D-99089 Erfurt/ Deutschland; E-Mail: csaba.foeldes@uni-erfurt.de Prof. Dr. Julia Genz | Eberhard-Karls-Universität Tübingen, Philosophische Fakultät, Deutsches Seminar, Wilhelmstr. 50, D-72074 Tübingen/ Deutschland; E-Mail: julia.genz@uni-tuebingen.de apl. Prof. Dr. Detlef Haberland | Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, Johann-Justus-Weg 147a, D-26127 Oldenburg/ Deutschland; E-Mail: detlef.haberland@bkge.uni-oldenburg.de Dr. Sigrid Haldenwang | Forschungsinstitut für Geisteswissenschaft, Bdul Victoriei 40, RO-550024 Sibiu/ Rumänien; E-Mail: sigridhaldenwang@yahoo.de 304 Herausgeber und Beiträger(innen) Prof. Dr. Rudolf Helmstetter | Universität Erfurt, Philosophische Fakultät, Neuere deutsche Literaturwissenschaft, Nordhäuser Str. 63, D-99089 Erfurt/ Deutschland; E-Mail: rudolf.helmstetter@uni-erfurt.de Prof. Dr. Jürgen Joachimsthaler | Philipps-Universität Marburg, FB 09: Germanistik und Kunstwissenschaften, Institut für Neuere deutsche Literatur, Wilhelm-Röpke-Str. 6, D-35032 Marburg/ Deutschland; E-Mail: juergen.joachimsthaler@uni-marburg.de Dr. Ljudmila Juškova | Udmurtische Staatliche Universität, Institut für Sprache und Literatur, Lehrstuhl für Linguistik und Interkulturelle Kommunikation, Universitetskaja-Str. 1, RU-426034 Iževsk/ Russland; E-Mail: jushkova1@yandex.ru Prof. Dr. Elisabeth Knipf-Komlósi | Eötvös-Loránd-Universität Budapest, Philosophische Fakultät, Germanistisches Institut, Lehrstuhl für Sprachwissenschaft, Rakóczi-Str. 5, H-1088 Budapest/ Ungarn; E-Mail: knipfe@freemail.hu Prof. Dr. Annikki Koskensalo | Universität Turku, Erziehungswissenschaftliche Fakultät, Abteilung für Lehrerausbildung, Assistentinkatu 5, FIN-20014 Turku/ Finnland; E-Mail: ankoske@utu.fi Doz. Dr. habil. Kálmán Kovács |Universität Debrecen, Institut für Germanistik, Postfach 400, H-4002 Debrecen/ Ungarn; E-Mail: kovacs.kalman@arts.unideb.hu Dr. habil. Daniela Pelka | Universität Oppeln, Institut für Germanistik, Pl. Staszica 1, PL-45-052 Opole/ Polen; E-Mail: Daniela.Pelka@uni.opole.pl Dr. habil. Eszter Propszt | Universität Szeged, Lehrstuhl für Deutsch und Deutsch als Minderheitenkultur, Hattyas-Str. 10, H-6725 Szeged/ Ungarn; E-Mail: propszt@jgypk.u-szeged.hu Assoc. Prof. Dr. Ferit Rustemi | Hasan-Pristina-Universität Pristina, Philologische Fakultät, Lehrstuhl für englische Sprache, Mutter-Teresa-Str., 10000 Pristina/ Kosov0; E-Mail: f.rustemi@seeu.edu.mk Prof. Dr. Rolf Selbmann | Ludwig-Maximilians-Universität München, Department für Germanistik, Komparatistik, Nordistik, Deutsch als Fremdsprache, Institut für Deutsche Philologie, Schellingstr. 3, D-80799 München/ Deutschland; E-Mail: rolf.selbmann@germanistik.uni-muenchen.de Herausgeber und Beiträger(innen) 305 Dr. Gesa Singer | Europa-Universität Flensburg, Institut für Sprache, Literatur und Medien, Seminar für Germanistik, Auf dem Campus 1, D-24943 Flensburg/ Deutschland; E-Mail: Gesa.Singer@t-online.de Prof. Dr. Mari Tarvas | Universität Tallinn, Institut für Geisteswissenschaften, Narva mnt 25, EE-10120 Tallinn/ Estland; E-Mail: tarvas@tlu.ee Dr. Simon Wirthensohn | Ludwig Boltzmann Institut für Neulateinische Studien, Langer Weg 11, A-6020 Innsbruck/ Österreich; E-Mail: simon.wirthensohn@neolatin.lbg.ac.at Prof. Dr. Gëzim Xhaferri | Südosteuropäische Universität, Fakultät für Sprachen, Kulturen und Kommunikation, Lehrstuhl für deutsche Sprache, Ilindenska 335, MK-1200 Tetovo/ Mazedonien; E-Mail: g.xhaferi@seeu.edu.mk B EITRÄGE ZUR I NTERKULTURELLEN G ERMANISTIK (BIG) Hrsg. von Csaba Földes ISSN 2190-3425 Bd. 1: Földes, Csaba (Hrsg.): Deutsch in soziolinguistischer Sicht. Sprachverwendung in Interkulturalitätskontexten. 2010 (BIG-Sammelbände); VIII + 158 S.; ISBN 978-3-8233-6571-6. Bd. 2: Németh, Attila: Dialekt, Sprachmischung und Spracheinstellungen. Am Beispiel deutscher Dialekte in Ungarn. 2010 (BIG-Monographien); VI + 246 S.; ISBN 978-3-8233-6572-3. Bd. 3: Földes, Csaba (Hrsg.): Interkulturelle Linguistik im Aufbruch. Das Verhältnis von Theorie, Empirie und Methode. 2011 (BIG-Sammelbände); VIII + 359 S.; ISBN 978-3-8233-6682-9. Bd. 4: Fáy, Tamás: Sekundäre Formen des Foreigner Talk im Deutschen aus übersetzungswissenschaftlicher Sicht. 2012 (BIG-Monographien); VIII + 176 S.; ISBN 978-3-8233-6714-7. Bd. 5: Földes, Csaba (Hrsg.): Interkulturalität unter dem Blickwinkel von Semantik und Pragmatik. 2014 (BIG-Sammelbände); IX + 279 S.; ISBN 978-3-8233-6905-9. Bd. 6: Burka, Bianka: Manifestationen der Mehrsprachigkeit und Ausdrucksformen des ‚Fremden‘ in deutschsprachigen literarischen Texten. Exemplifiziert am Beispiel von Terézia Moras Werken. 2016 (BIG-Monographien); XI + 230 S.; ISBN 978-3-8233-8013-9. Bd. 7: Földes, Csaba (Hrsg.): Zentren und Peripherien - Deutsch und seine interkulturellen Beziehungen in Mitteleuropa. 2017 (BIG-Sammelbände); IX + 305 S.; ISBN: 978-3-8233-8075-7. Bd. 8: Földes, Csaba (Hrsg.): Interkulturelle Linguistik als Forschungsorientierung in der mitteleuropäischen Germanistik. 2017 (BIG-Sammelbände); IX + 285 S.; ISBN: 978-3-8233-8076-4. Bd. 9: Földes, Csaba/ Haberland, Detlef (Hrsg.): Nahe Ferne - ferne Nähe. Zentrum und Peripherie in deutschsprachiger Literatur, Kunst und Philosophie. 2017 (BIG-Sammelbände); IX + 223 S.; ISBN: 978-3-8233-8077-1. Bd. 10: Földes, Csaba (Hrsg.): Themenfelder, Erkenntnisinteressen und Perspektiven in der Germanistik in Mitteleuropa. 2017 (BIG-Sammelbände); ISBN: 978-3-8233-8078-8.