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Resurrection. Die Christustrilogie von Patrick Roth

2008
978-3-7720-5267-5
A. Francke Verlag 
Gerhard Kaiser

Patrick Roth ist ein Autor, der sich in Extremen bewegt. Er ist 1953 in Deutschland geboren und da aufgewachsen, wohnt aber seit 1975 in Los Angeles. Er arbeitet in Amerika in der Filmproduktion, schreibt aber deutschsprachige Literatur so erfolgreich, daß er hier eine der herausragenden Figuren des literarischen Lebens geworden ist. Er ist im amerikanischen Film und gleichermaßen in der Bibel, in der Lyrik Hölderlins oder der Psychologie C. G. Jungs zu Hause und bringt sie als geistige Kräfte in Spannung zueinander. Kaisers wissenschaftliche Darstellung erschließt in minutiös textnaher Interpretation und in ständig durchgehaltenem Bezug auf Bibel und Psychologie den bisherigen Hauptblock in Patrick Roths Werk, die drei Erzählungen "Riverside. Christusnovelle" (1991), "Johnny Shines oder die Wiedererweckung der Toten. Seelenrede" (1993) und "Corpus Christi" (1996), die Roth 2003 unter dem Titel "Resurrection. Die Christustrilogie." zusammengefasst hat. Dabei arbeitet Kaiser die Sonderstellung Roths im heutigen Literaturbetrieb heraus, indem er sein Werk ebenso gegen traditionell bekentnishafte christliche Dichtung wie gegen die gängigen säkularisierenden Transformationen oder Kontrafakturen religiöser Formen und Gehalte absetzt. Ebenso wehrt Kaiser das Missverständnis ab, Roths Rückgriff auf die Tiefenpsychologie erzeuge eine literarische Illustration von C. G. Jungs psychologischer Theorie. Kaiser legt vielmehr einen Spagat Roths offen: In souveräner Handhabung moderner Erzähltechniken und psychologischer Innensicht sowie in Adaption filmischer Techniken stellt er eine Christusfigur ins geistige Zentrum seiner perspektivischen Darstellungen, die mit vollem Anspruch dargeboten wird. Im Horizont der drei Erzählungen ist diese Gestalt nicht ein Jesus incognito oder ein sozialer Utopist, sondern soteriologischer Christus: Gottessohn, Messias und Erlöser. Aber er ist zugleich aus dem kirchlich-bekenntnismäßig tradierten theologischen und Glaubenszusammenhang freigesprengt und gerade dadurch von einer überwältigenden Provokation und Präsenz. Die Psychologie Jungs dient bei Roth ebenso als Sicherung für Gratwanderungen der Emotion und Imagination wie als strukturierendes Widerlager, das die Dynamik des Erzählens hochtreibt. Weit davon entfernt, Literatur in den Dienst der Theologie oder Psychologie zu stellen, macht Roth Theologie und Psychologie zum Anstoss einer Dichtung, die jeden engagierten Leser herausfordert, sich vorbehaltlos individuell einzulassen und aus seinen eingefahrenen Weltwahrnehmungsmustern herauszubewegen.

Gerhard Kaiser Resurrection Die Christus-Trilogie von Patrick Roth A. Francke Verlag Tübingen und Basel Der Mörder wird der Erlöser sein Resurrection. Die Christus-Trilogie von Patrick Roth Inge gewidmet als Dank für ein Leben im Gespräch. Zum 11. Oktober 2007 Gerhard Kaiser RResurrection . Die Christus-Trilogie von Patrick Roth Der Mörder wird der Erlöser sein A. Francke Verlag Tübingen und Basel Gerhard Kaiser, emeritierter Ordinarius für Neuere Deutsche Literaturgeschichte an der Albert Ludwigs- Universität Freiburg im Breisgau, Dr. phil. Dr. phil. h.c. Dr. theol. h.c. (Evangelisch Theologische Fakultät der Universität Tübingen) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. © 2008 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.francke.de E-mail: info@francke.de Satz: NagelSatz, Reutlingen Druck und Bindung: Laupp & Göbel, Nehren Printed in Germany ISBN 978-3-7720-8267-2 „Es war ein Spinnen und Weben der Phantasie, von dem sich nicht leicht ein Begriff geben lässt.“ Conrad Ferdinand Meyer über Gottfried Keller Inhalt Ein Autor, der sich in Extremen bewegt . . . . . . . . 11 Teil I: Johnny Shines Die schwarze Legende von der Löwengrube . . . . . 17 Der Kontext der Legende: Johnnies Imitatio Christi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Ethan Jaynes: Totenerweckung gegen Gott? . . . . . 33 Postfigurationen der Schwester: Die Reporterin und die Wachtraumfigur Hallie . . 36 Totenerweckung als Lustmord Eine skandalöse Verschmelzung traditioneller Bilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Die Erzählweise und der Name Hallie Doniphan sprechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 Eine Auferstehungsgeschichte paraphrasiert einen Westernklassiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 Hallie Doniphan - Mnemosyne und Muse . . . . . . 55 Teil II: Riverside Trilogie und Triptychon. Das verfremdete Zentrum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Das Heilungswunder wird zur Therapie . . . . . . . . 69 Nicht Urgemeinde, Familie ist der Bezugspunkt des geheilten Diastasimos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 Erzählweise. Vom Reden schreiben . . . . . . . . . . . . 85 Teil III: Corpus Christi Der Krisenweg der Seelenführerin Tirza . . . . . . . . 95 Vergewaltigung als Taufe im Jordan . . . . . . . . . . . . 99 Tirza im Grab. Apokatastasis panton . . . . . . . . . . . 104 Wie Thomas Christus findet . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 8 Der falsche Leib Christi wird zum wahren Leib Christi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 Tirza in Thomas. Innenwelt und Außenwelt, Monolog und Dialog . . 121 Produktive Beunruhigungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 Die „Thomassekunde“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 Noch einmal: Christentum und Tiefenpsychologie . . . . . . . . . . . 145 Zu den Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 9 Ein Autor, der sich in Extremen bewegt „Patrick Roth - Erzähler zwischen Bibel und Hollywood“ - ein Titel wie dieser liegt nahe bei einem Autor, der sich in Extremen bewegt. 1 Er ist 1953 in Deutschland geboren und da aufgewachsen, wohnt aber seit 1975 in Los Angeles. Er arbeitet in Amerika in der Filmproduktion, schreibt aber deutschsprachige Literatur so erfolgreich, dass er hier eine der herausragenden Figuren des literarischen Lebens geworden ist. Er ist im amerikanischen Film und gleichermaßen in der Bibel, der Psychologie C.G. Jungs und den Gedichten Hölderlins zu Hause. Dieser Lebensstil lässt an die Unverbindlichkeit des Überall und Nirgends denken, aber ein Blick in einen Text Roths genügt, um diese Erwägung als abwegig zu erweisen. Denn diese Texte sind in sich selbst von äußerster Verbindlichkeit, und sie wird gerade im Spannungsbogen der Extreme erzielt. Roth erzählt etwa von der szenischen Darstellung der Begegnung am Grabe zwischen Maria Magdalena und dem auferstandenen Christus aus dem Johannesevangelium 20,11ff., einer halb privat bleibenden Probe von zwei Filmstudenten in einer leer stehenden Villa in Los Angeles. Dabei tritt hervor, wie die unausgesprochene erotische Affizierung des regieführenden Studenten - er 11 ist auch der Ich-Erzähler - durch die ihm nur ganz flüchtig bekannte Darstellerin der Maria Magdalena dazu beiträgt, den Text zum Leben zu erwecken. Die Wirkungskraft der szenischen Vergegenwärtigung lässt schon bei einer bloßen Stellprobe die Ungeheuerlichkeit der Auferstehung ‚wirklich‘ werden. Und zugleich kann Roth diese Filmprobe in einem ausgeräumten fremden Haus einer an Hitchcock gemahnenden Atmosphäre unausgesprochener und ungreifbarer, ja, nicht einmal sicher gegebener Bedrohung dergestalt einbetten, dass sich dem Ich-Erzähler das Bibel-Spiel mit Angst und Erregung überlagert, ohne dass er recht weiß, ob seine szenische Partnerin diese Gefühle teilt oder er sie nur ihr zuschreibt. Jedenfalls wird die vieldeutige Situation zum Anstoß, dass die Darstellerin der Maria Magdalena einen bisher im Text übersehenen Wendepunkt der biblischen Erzählung plötzlich spürt und aktiviert. Die private Konstellation und der Bibeltext treiben sich so gegenseitig auf die Spitze. 2 Vergleichbar dem Spannungsübersprung zwischen Bibel und Film-Milieu ist das Verhältnis Deutschland - Amerika, in dem dieser Autor lebt: In seinem 2006 im ZDF ausgestrahlten elektronischen Tagebuch „In My Life - 12 Places I Remember“, das Roth als residierender Stadtschreiber von Mainz gedreht hat, gibt es eine Szenenfolge, in der er, langsam Straßenzüge seiner Lebenswelt im amerikanischen Westen mit der auf dem Auto montierten Kamera abfahrend, hymnische Verse des späten Hölderlin vom Band laufen lässt. Durch nichts könnte dieses Amerika amerikanischer wirken als 12 durch die Hölderlin vergegenwärtigende Stimme, durch nichts dieser Hölderlin deutscher als durch dieses Amerika. Und durch nichts könnte deutlicher werden, wie sehr Patrick Roth überhaupt durch Amerika deutsch ist und durch Deutschland amerikanisch; wie sehr er mit filmischen Mitteln literarisch und mit literarischen Mitteln filmisch wirkt, wie eindringlich er etwas uns heute anspringen lassen kann, gerade indem er dessen große historische Ferne ins Spiel bringt. Bei Patrick Roth gibt es keine Mittelwege, keine Entschärfungen, kein Sowohl als Auch. Sondern einander überlagernde, überkreuzende und steigernde Sehnsuchts- und Erfahrungsströme, Infragestellungen, Deutungslinien. Der Leser steht in diesen Werken vor Herausforderungen eines Autors, der sich selbst ständig herausfordert. Anmerkungen 1 Siehe Georg Langenhorst (Hg.): Patrick Roth - Erzähler zwischen Bibel und Hollywood. Münster 2005. 2 Siehe Patrick Roth: Ins Tal der Schatten. Frankfurter Poetikvorlesungen. Frankfurt 2002. III: Mulholland Drive Magdalena am Grab. S. 79-111. 13 Johnny Shines Teil I Caravaggio, Salome mit dem Haupt des Johannes, ca. 1609. Titelbild zu „Johnny Shines“ Die schwarze Legende von der Löwengrube Patrick Roth hat erstaunlich oft biblische Themen, Stoffe, Motive und Bilder aufgegriffen. Ein Knotenpunkt dieses Bibelbezugs entstand, als er 2003 einen Hauptkomplex seines bisherigen Werks unter dem Titel „Resurrection. Die Christus-Trilogie“ zusammenfasste - die drei in sich geschlossenen Erzählungen: „Riverside. Christusnovelle“ (1991), „Johnny Shines oder Die Wiedererweckung der Toten. Seelenrede“ (1993) und „Corpus Christi.“ (1996). Der Titel der Trilogie liegt wie ein erratischer Block in der heutigen säkularen Literaturlandschaft. 1 Durch das Mittelstück des Gesamtwerks, die Erzählung „Johnny Shines“, zieht sich, etappenweise mit Rückgriffen und unter Wechsel des Erzählers fortgesetzt, eine schwarze Legende, von deren Überlieferer, einem amerikanischen Prediger, „Löwengrube“ genannt, im Anschluss an die alttestamentliche Geschichte von Daniel in der Löwengrube (Dan 6). Sie sagt, die heiligen Drei Könige seien in Wirklichkeit vier gewesen, von denen einer den „Auftrag“ gehabt habe, Reich, Besitz und Familie zu verlassen und inkognito in Nazareth Wohnung zu nehmen (21), wo ein Jahr später die Heilige Familie mit dem neugeborenen Jesuskind zuzog. Der dreizehn Jahre unerkannt unter den Dorfgenossen 17 lebende König habe weisungsgemäß nach Ablauf dieser Zeit den jungen Jesus am „Brechtentag“ (S. 102) 2 , das heißt dem Dreikönigstag, mithin dem 6. Januar, unter Beihilfe der anderen drei Könige entführt und in eine Grube vorerst ohne Entkommen geworfen. Wie wichtig für Roth die biblische Erzählung von den Königen aus dem Morgenland ist (Mt 2,1-12), wird daran kenntlich, dass er, entgegen der herrschenden Annahme eines Lebensalters von 30 Jahren, 37 Jahre als „Kreuzigungsalter“ Jesu angibt, „das Alter der ungerechten Tode“ (37). Er folgt dabei einer Nebentradition der Geburts- Datierung nach der astronomischen Konstellation, der die heiligen Drei Könige als Stern von Bethlehem bei ihrem Zug aus dem Morgenland nachgezogen sein sollen. Ist doch auch an Epiphanias, eben dem 6. Januar unseres Kalenders, in der alten Ostkirche die Geburt Jesu mit der Anbetung der Weisen begangen worden. Weihnachten als Geburtsfest zu feiern, ist westkirchliche Tradition. Für die Ostkirche vollendet sich die Epiphanie, die Erscheinung Christi in der Welt, im Huldigungsakt der drei Könige. Tatsächlich huldigen in Patrick Roths Legende die Könige dem von ihnen entführten und gefangen gehaltenen jungen Christus kniend als „zukünftigem Heiland“ mit „priesterlich-tiefer“ Verneigung (103), nachdem sie über der Gefängnisgrube ein Zelt errichtet haben, das den Sternenhimmel verschwinden lässt. Dann aber wird er mit dem gleichaltrigen Judas zum Zweikampf auf Leben und Tod konfrontiert. Dabei geht es keineswegs nur um das Überleben. Jesus muss den Kampf überleben, 18 er muss Judas töten, denn „[…] der Heiland, der du werden sollst, der wirst du der Welt nicht werden, […] hier […] durchkreuzt er dein Leben […]“ (105). Ein Messer wird zwischen die beiden Jungen geworfen, dann, nachdem Judas es ergriffen und im ersten am Rippenkorb abgleitenden Zustich auf Jesus in die Lehmwand gerammt hat, ein zweites ihm zugespielt, das allerdings, wie erst nach dem Gegenangriff Jesu erkennbar wird, tatsächlich keine Waffe, sondern ein blitzender Kelch ist (112). Nachdem Judas, taub für die Fragen und Friedensworte Jesu, vergeblich versucht hat, ihn zu erstechen, hat ihn Jesus nun mit dem aus der Wand gerissenen Messer tödlich getroffen, so dass Judas „sterbend in der Grubenmitte lag, gekreuzt vom Fackelschattenschein“ (112), der Kelch ihm aus der Hand gerollt. Er heißt nun „der Mann“ und ist durch den ihm zugeordneten Kelch aus dem wilden Angreifer zum waffenlosen eucharistischen Opfer umcodiert. Nach Beendigung seiner Tötungs-„Arbeit“ fordern „die Stimmen der vier [Könige] mitsammen“, als zweiten Teil der Probe müsse Jesus, der „löwengleiche König der Mörder“ (154) 3 , nun Judas „wieder lebendig machen.“ (107) In einem späteren imaginären Dialog, den der Held der Rahmengeschichte mit einer halluzinierten Frau, einer Wiedergängerin seiner getöteten Schwester, führt, wird diese Paradoxie zugespitzt: Es wird „der Mörder - der Erlöser sein.“ (159) Und doch ist sie in der Legende selbst noch weiter getrieben: Jesus muss der Mörder werden, damit er der Heiland werden kann. Er ist der, „ders erst wurde, als er tötete. Getötet hatte.“ 19 (151) Er muss Judas opfern, damit später Judas Jesus opfern kann. Denn Jesus wird Erlöser nicht als triumphaler Messias und König der Juden werden, sondern der, der jetzt geopfert hat, wird Opfer werden. Der ‚Mord‘ an Judas, den Christus jetzt zu vollbringen hat, öffnet ihm nur eine Spanne für sein Messiaswerk zwischen zwei Toden. „Er wird dich morden, oder verraten, auf daß sie dich morden.“ (105) Das heißt, er wird dich jetzt oder später töten. Und es impliziert: Du musst ihn jetzt töten und auferwecken, damit er dich später, in deinem Wirken als Messias, wenn es an der Zeit ist, dem Tod ausliefern kann. Der letzte Abschnitt der Legende eröffnet sich erst gegen Ende von Roths Erzählung, und zwar in einem Dialog, in dem die Worte Erlöser - Mörder miteinander verstrickt werden. Die gesamte Vorgeschichte ist notwendig, damit dieser Dialog stattfinden und das Legenden-Ende aus sich hervorbringen kann, das der Vater, eben der erzählende Prediger, stets verweigert hatte. Der Ausgang der Geschichte tritt hervor als offenbares Geheimnis. Es wird derart offenbar, dass sein Geheimnischarakter erhalten bleibt, also symbolisch, und zugleich so, dass ein innerer aneignender Nachvollzug im Leser hervorgerufen wird: Drei Jahre oder drei Tage liegt Finsternis über der Mördergrube „wie später auch am Kreuz“ (154) - die Zeit zwischen Kreuzestod und Auferstehung. „Drei Stunden Finsternis für uns, um unsere Krankheit, unsre Morde, unsern Hunger, unsern Haß zu säugen, stillen, bergen“. (155) Und zugleich ist das Zeit für eine Neuschöpfung des Menschen: „[…] nachgeschaf- 20 fen, neu: in Eins gemacht, aus diesen Drei[Stunden]-in- Dunkelheit das Leben neu zu geben“. Diese Neuerschaffung des Menschen durch Christus ist - das Abendmahl, die Kommunion, hinübergezogen aus der biblischen Einsetzungsgeschichte in diese schwarze Legende, vollzogen mit dem Kelch aus Judas’ Hand. Der junge Christus nimmt das Messer, mit dem er Judas getötet hat, zerteilt den Leib des Judas in sieben Teile (eine heilige Zahl der Ganzheit und Erfüllung): „Und sammelte das Blut im Kelch; und tauchte seine Lippen und trank hinein: und war wie er: so Er. Und Er verstand des Judas Herz und aß. Bis beide eins, verstanden und lebendig: auferstanden. Und Judas, aufgestanden aus dem Jesus, von Ihm: jetzt vor Ihm stand.“ (155f.) Es zerreißt das Tuch, das über der Löwengrube lag - das entspricht dem in den synoptischen Evangelien berichteten Zerreißen des Vorhangs im Tempel nach dem Kreuzestod Christi, wodurch das im Judentum immer verborgene Allerheiligste offenbar und der Welt-Aion der Erlösung eröffnet wird. Das heißt: In der Mitte der Christus-Trilogie Roths steht nicht eine wie auch immer geartete Nacherzählung von Passion, Tod und Auferstehung Christi als in christlicher Tradition unlösbarem Zusammenhang, Ziel und Mitte der Evangelienberichte, sondern die Öffnung dieser Geschichte und dieses Zusammenhangs, zusamt der Abendmahlseinsetzung, zu einer Judas-und-Christus-Passions-, Todes- und Auferstehungsgeschichte. In ihr wird Judas auch Christus, sein Tod Christi Tod, sein Leib Christi Leib, Corpus Christi, Brot und Wein. Das zentrale biblische Christusgesche- 21 hen, Kern der christlichen Verkündigung, ist bei Roth zugleich Judasgeschehen. Diese Geschichte ist bei Roth nicht eine Postfiguration, sondern die Präfiguration der biblischen Erzählungen. Denn dieser so „auferstandene“ Judas ist es, der aus der Mördergrube steigt und vergisst. „[…] daher kannte der Andere [nämlich Christus] ihn und wußte, wer ihn, noch Jahre später, aus Finsternis, mit einer Fackel in der Hand, zu küssen kam.“ (156) Die Covertexte zur Christus-Trilogie und ihren Einzelgeschichten zitieren, wie auf dem Cover üblich, rühmende Kritiken. Sigrid Löffler, statt ihre Kritik auf den Punkt zu bringen, schießt mit der Schrotflinte, wenn sie im „Spiegel“ anlässlich „Johnny Shines“ von dem „wie neu zu Gebote“ stehenden „Genre der biblischen Legende“ und zugleich von einem „Seelen-Thriller“ mit frischen „Suspense-Reizen“ spricht. Bei solcher Streuung des Schusses kann gar nicht alles daneben gehen. Die „Stimmen der Zeit“ nennen „Corpus Christi“ ziemlich behende „die ungeheuerste Auferstehungsgeschichte, die jemals in deutscher Sprache geschrieben wurde.“ Doch mit diesem Attribut der Ungeheuerlichkeit mögen sie Recht haben, auch für die Löwengrubengeschichte, die Mitte der Trilogie. Die zentrale Legende ist auch eine Antilegende. Sie enthält, von ihrem christlichen Ermöglichungsgrund und Hintergrund her gesehen, fünf Ungeheuerlichkeiten. Die erste gegenüber dem Zeitgeist, der auch weitgehend die christliche Erwartung an moderne Literatur ergriffen hat: Dieser Jesus - und ich sage vorgreifend der Jesus der Rothschen Christus- Trilogie insgesamt - ist nicht, wie allenfalls in der 22 Moderne noch gebräuchlich und geduldet und christlicherseits empfohlen, literarisch zusammengeschrumpft nahe herangeholt zum Jesus incognito, dessen Gesicht man überall unter den Leidenden und Entrechteten dieser Erde erkennen kann 4 ; er steht vielmehr für einen soteriologischen Anspruch auf Rettung der Welt. Die zweite Ungeheuerlichkeit ist: Der Jesus dieser Legende nimmt nicht nur, gemäß dem Glauben der großen christlichen Bekenntnisse, als sündenreiner Gottessohn im Selbstopfer stellvertretend die Sünden der Welt auf sich, um die Menschheit zu erlösen; sondern er ist der Reine, der aus seiner Reinheit heraustreten und in seinem ihm zugehörigen Gegenbild Judas an sich selbst die Spaltung der Welt erfahren muss. „Es war das Töten selbst, das Schuldigwerden.“ (152) Er tritt selber in den Schuldzusammenhang des Lebendigen ein bis zur Tötung des Judas, um als Messias retten zu können. Die dritte Ungeheuerlichkeit: In der Tötung und Auferweckung des Judas wird Christus eins mit ihm, und das ist die Auferstehung - beider in einem, als Einheit. In allem erweist sich Judas zwar als Schatten und dunkler Bruder Jesu - er führt den ersten Messerangriff, er ist taub für Jesu Worte - ; aber eben doch als sein Schatten und brüderliches Gegenbild. Taucht Jesus in das Dunkel ein, so taucht Judas in gleichem Maße daraus auf. Wut - doch wohl auf Gott - kommt in Jesus auf, die laut Text bis in die Verlassenheitsworte am Kreuz „Eli, eli, lama asabtani? “ (Mt 27,46, Mk 15 34) nachklingt, als er in der Löwengrube am sterbenden Judas erkennt, dass seine Ohren mit Wachs verstopft waren (112), so dass er den 23 jungen Jesus nicht verstehen konnte, als der ihn vor Beginn des Kampfes ansprach, wahrscheinlich in der unbewussten Einsicht, dass, wer redet, nicht tötet. Hatte Judas aber gar seine Ohren selbst mit Wachs verstopft, um gerade so Gottes Auftrag vernehmen und ausführen zu können (114f.), den Auftrag, im Mordversuch sterbend, die Erweckung, die Vereinigung, die Auferstehung möglich zu machen? 5 Christus und Judas wären dann gleicherweise Erfüller des Willens Gottes. Der Held der Gesamterzählung, Johnny Shines, der sich als Heranwachsender wie Judas die Ohren verstopft, tut es jedenfalls, um Gott zu hören. Die vierte Ungeheuerlichkeit der Legende besteht darin, dass die Vorstellung der Sünde, die letzten Endes immer Sünde gegen Gott ist, zur immanenten Welt- und Seelenverfinsterung verschoben wird. Der Mensch ist entzweit in sich in eine helle und eine dunkle Hälfte und deshalb im Konflikt mit sich und der Welt bis zur Tödlichkeit und Brutalität, solange er die dunkle Seite in sich auszulöschen sucht. Es gilt aber, sie wahrzunehmen, sich ihr bis zum Äußersten zu stellen und auszusetzen und sie in einer integralen Ganzheit ‚aufzuheben‘, das heißt, sie durch Wandlung zu überwinden und verwandelt zu bewahren. Im Durchgang durch diese bis zur Tödlichkeit gehende Konfrontation mit sich selbst nimmt der Mensch das drohende andere, das er außer sich fürchten und bekämpfen musste, in sich hinein und als sein eigenes an. Alles Unheil außer ihm wird ihm als Unheil in ihm gegenwärtig und umgekehrt. In diesem Seelenkampf wird der Mensch heil und nimmt Christuszüge 24 an. Das ist Auferstehung. Durch den Tod geht der Weg zum Leben. Dafür ist Christus das Menschheitsmodell und darin der Erlöser, Totenerwecker zur Auferstehung des Menschen in der Selbst- und Weltakzeptanz. Für diese Einung mit sich selbst ist in der Tiefenpsychologie die Kommunion ein Topos. Patrick Roth zitiert in seinen Heidelberger Poetik-Vorlesungen „Zur Stadt am Meer“ (2005) eine Äußerung C.G. Jungs: „Wenn der projizierte Konflikt geheilt werden soll, so muß er in die Seele des Einzelnen zurückkehren, wo er unbewußterweise seinen Anfang genommen hat. Wer dieses Unterganges Herr werden will, der muß ein Abendmahl mit sich selber feiern und sein eigenes Fleisch und Blut essen und trinken, das heißt in sich den anderen erkennen und annehmen können. Bleibt er aber bei seiner Einseitigkeit, so werden sich zwei Löwen gegenseitig zerreißen.“ 6 Der biblische Ausgangspunkt ist die Christusrede Jh 6, 48ff. mit dem Kernsatz: „Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, der bleibt in mir und ich in ihm.“ (6,56) Die fünfte Ungeheuerlichkeit der Legende ist, dass sie für das gesamte erzählte Geschehen eine rätselhafte, schicksalhafte Fügung annimmt - vom anonymen „Auftrag“ an den vierten König bis zu den - von wem auch immer - wachsverklebten Ohren des jungen Judas, die ihn Jesu Wort nicht hören lassen können. Biblisch ist Judas der Mensch, von dem Christus Mt 26,24 sagt: „Der Menschensohn geht zwar dahin, wie von ihm geschrieben steht; doch weh dem Menschen, durch den der Menschensohn verraten wird! Es wäre für diesen Menschen besser, wenn er nie geboren wäre.“ Das be- 25 sagt: mit seiner Geburt schon ist der Verrat des Judas unabwendbar geworden. Aber dass Judas geboren wurde, dafür ist nicht er verantwortlich, sondern Gott. Er hat ihn in die Welt gerufen. Gemäß der Schrift sieht sich Jesus in den Verbrechertod gehen. Der Verrat des Judas ist zugleich der Vollzug der Schrift. Dieses furchtbare, schon im biblischen Christuswort sich andeutende zwingende Dunkel Gottes, das bis in Judas’ Freiwilligkeit hineinreicht, dieses Dunkel ist es in Roths Anti-Legende, das Christi bis in die Kreuzesworte „Eli, Eli“ nachklingende „Wut“ erweckt haben soll. Damit taucht hinter dem Schicksalsbegriff ein Gottesbegriff auf. Roths Legende öffnet unerbittlich den Blick in dieses Dunkel. Wo in der Christus-Trilogie die Schicksalsfrage der Vorherbestimmung vorkommt - und das ist mehrfach intensiv gegeben -, enthält sie diese Wendung zur Gottesfrage. Sie beantwortet sich implizit aus der spezifischen Christologie der Trilogie, und damit schließt sich der Riss allerdings auch bei Roth wieder. Indem in der Legende Jesus Judas morden muss, damit er der Erlöser werden kann, ist dieses schrecklichen Muss auch auf Judas geöffnet. Jesus muss Judas töten, er muss sein Mörder sein, damit er auch ihn erlösen kann. Und da, wie gesagt, dieser Judas bei Roth primär eine innere Wirklichkeit und nach außen abgespaltene Gestalt Jesu ist, gilt es sogar, ihn an erster Stelle zu erlösen. So erschreckend der Riss der Welt in der Legende aufgerissen wird, und das geschieht tatsächlich in einer atemberaubenden emotionalen Eindringlichkeit, so relativ leicht schließt er sich gedanklich darin, dass dieser 26 Weltkampf zuerst ein innerseelischer Kampf, ein Seelenkampf ist. Wenn es für den Menschen zentral darum geht, sein eignes dunkles Ich, seinen dunklen Bruder anzunehmen und sich mit ihm zu identifizieren, wenn das Dunkle, Unbegreifliche in der Welt draußen das Außenbild des Innenbildes ist, dann löst sich das Problem der Dunkelheit Gottes als Schicksalsmacht auf: Das ‚Schicksal‘ sind dann wir in unserer Vorgegebenheit, die uns von außen als Schicksal oder Dunkel Gottes entgegentritt. Indem wir das Dunkle in uns im kämpfenden und leidenden Durchgang durch es anzunehmen und aufzuheben vermögen, heben wir auch den dunklen Gott des Verhängnisses in der Befreiung unseres integralen Selbstwerdens und damit in Christus auf. Mit dem interpretatorischen Herausarbeiten dieser Modellstruktur aus dem schmalen Text der Löwengruben-Legende unter fast gänzlicher Absehung vom Kontext hat sich die Gefahr eingestellt, dass die benannte Ungeheuerlichkeit zugleich hinweggeredet ist. Aber mag auch die tiefenpsychologische Grundvorstellung eine Entschärfung des neutestamentlichen Gott-Mensch- Geschehens zum Seelendrama mit sich führen, so muss umgekehrt gesehen werden, dass damit aus einer modernen Sicht eine äußerste Intensivierung des psychischen Geschehens mit seinen aus der Bibel aufgegriffenen Situationen und insgesamt ein Sog zur Einfühlung in das Geschehen einhergeht, wie er als Frömmigkeitspraxis der seelischen Imitatio Christi den christlichen Glauben tief geprägt hat. Es ist eines, die Ersetzung der biblischen Passions- und Auferstehungsgeschichte durch 27 eine Lesart festzustellen, in der die biblische Theologie an Komplexität und Profil verliert. Es ist ein anderes, als Leser die enorme Wucht zu erfahren, die mit der Umorientierung des geläufigen Geschehens in dieser Kreuzigungs- und Auferstehungsgeschichte freigesetzt wird. Die Darstellung vermeidet auch den geringsten Eindruck einer Spielerei oder Parodie; sie setzt alles auf suggestive Eindringlichkeit. Vor allem aber muss jetzt der Kontext ins Auge gefasst werden, in dem diese schwarze Legende steht. 28 Der Kontext der Legende: Johnnies Imitatio Christi Es ist schon erwähnt worden, dass sich die Erzählung des Endes der Legende, die der Vater ohnehin nur bis zur Tötung des Judas durch Jesus und zum Auferweckungsgebot der Könige geführt hatte, aus imaginären Dialogen entwickelt. Das geschieht in Wechselbeziehung mit der Handlung der Rahmengeschichte. Sie spielt im halb wüstenhaften und ganz armseligen amerikanischen Westen vor allem der 1990er Jahre. Ihr Held ist ein von vagen Mordgerüchten umgebener Landstreicher mit Vorstrafenregister, der sich unter Berufung auf Christi Aussendungsbefehl an die Jünger Mt 10,8 „Macht Kranke gesund, weckt Tote auf“ von Weiler zu Weiler, anscheinend erfolglos, als Totenerwecker betätigt. Zweimal im Lauf der kurzen Handlung wird er verhaftet. Seine Bezugsfiguren sind in erster Linie Frauen - lebende, wie die waitress in der schäbigen Bar in dem Nest Shinbone, die er als „Zeichensetzerin und Botin“ erlebt (47); eine tote, nämlich seine ein Jahr jüngere Schwester (die er als Kind versehentlich erschossen hat); eine imaginäre, nämlich Hallie Doniphan (eine halluzinierte Freundin seiner toten Schwester, die ihm zuletzt zu deren Wiedergängerin wird), und eine weitere Frau, deren Status gleitet - von der befragenden Reporterin 29 zur Projektionsfigur, die ebenfalls zur toten Schwester führt. Dass die Eltern über alle Jahre hin die schreckliche Tötung ihrer Tochter durch Johnny verschwiegen haben und dass mit der Tötung der Schwester die einzige, ihn von Zeit zu Zeit mit Geheimnisverrat bedrohende Zeugin einer noch weiter zurückliegenden Verirrung Johnnies verschwunden ist - er hat nämlich in einem kindlichen religiösen Selbsterfahrungsexperiment die Kirche seines Predigervaters und damit der Herkunftsgemeinde unwillentlich in Flammen aufgehen lassen -, das alles hat in Johnny einen enormen Schulddruck und auch eine Gewissensfrage nach verdeckten Motiven für seinen versehentlichen Schuss entstehen lassen. Zumal er nach diesen Katastrophen auch noch vom Vater mit einer stummen Aufforderung aus dem Haus gewiesen worden ist (149), haben ihn seine Erlebnisse überfordert und aus der Bahn geworfen. Sie sind ein entscheidendes Motiv für seine Fixierung auf Totenerweckungen. Im Hintergrund steht eine frühe, seit der Tötung der Schwester bewusste Selbstidentifikation Johnnies, der ein ungemein phantasievolles und sensibles Kind gewesen sein muss, mit dem jungen Jesus, die ihm sein Vater besonders tief eingedrückt hat, als er beim Erzählen der Löwengruben-Legende unterstrich, zum Zeitpunkt der Entführung sei Jesus genau gleich alt wie der zuhörende Johnny gewesen, nämlich dreizehn Jahre (21; noch einmal 117). Dieses psychologisch komplizierte Umbruchsalter bringt die Wendung in Johnnies Leben. Dem Krisenhaften seiner Lebenssituation gemäß sind seine Identifikationsphantasien mit dem Pubertätsgenossen 30 Jesus vor allem bedrückend. Bei der imaginativen Vergegenwärtigung eines jahrelang in scheinbarer Gutnachbarlichkeit versteckten Entführers erfährt das Kind Johnny, sich an Jesu Stelle versetzend, eine grauenvolle, auch rückwirkende Verrätselung seiner früher als heimisch erlebten Umgebung und ihrer Menschen, die sicher dazu beiträgt, dass er später zum Einzelgänger wird. Und als er selbst die Schwester getötet hat, stellt sich Johnny in Parallele zu dem Jesus, der Judas getötet hat: „Es war das Töten selbst, das Schuldigwerden. Das hatte er mit mir gleich.“ (152) Als psychischer Entlastungsversuch wäre das eine geläufige Reaktion; es zeigt aber bei Johnny in der Verzweiflung ein Bewusstsein von Auserwähltheit. Auf eine dementsprechende, wohl noch hinter die Katastrophe zurückreichende Aura deutet eine unscheinbare Bemerkung am Anfang der Erzählung, die auf eine verborgene Lebenserweckungsenergie Johnnies bereits als Kind weist: Er pflegte am Fluss aus nassem Lehm Figuren zu formen, „bis Sperlinge aufflogen“ (9). Das ist die Allusion einer apokryphen Legende über die Kindheit Jesu, er habe aus feuchtem Lehm lebendig auffliegende Sperlinge gebildet. Ganz leise klingt das schöpferische Moment solchen Bildens noch an, wenn Johnny bei seinem hybriden Kindheitsversuch, eine Einung mit Gott als Einung mit dem Gekreuzigten zu erzwingen, Wachskügelchen zum Verstopfen seiner Ohren herstellt und das weiche Wachs „mit den Fingern formte, wie Lehm, rundend den gewordenen Ball [aus Wachs] wieder wärmte […].“ (118) In der Auswirkung ist 31 dieses fromme Experiment dadurch verhängnisvoll, dass der Junge, der sich zwecks Konzentration auf die Stimme Gottes künstlich die Sinne verschlossen hat, den Übersprung des Feuers von der zum Wachsschmelzen entzündeten Kerze auf das Interieur nicht bemerkt und beinahe, ‚vereint‘ mit dem brennenden Kruzifix, umkommt - die Vorgeschichte zur späteren Katastrophe mit dem tödlichen Schuss auf die Schwester. Feuer ist, wie die Kommunion, wiederum ein altes mystisches Symbol für die Liebeseinung mit Gott, die Johnny hier knapp verfehlt, wobei im Wachsverstopfen der Ohren zugleich eine Entsprechung zu Judas vorliegt, der wohl in der Löwengruben-Legende sich selbst die Ohren verstopft hat, um sich gegen Christus zu verschließen und gerade darin dem Befehl Gottes zu folgen. Jedenfalls wird diese Brücke im Text geschlagen (114f.), ohne dass allerdings erörtert würde, wann überhaupt Johnny diesen vom Vater verschwiegenen Teil der Legende kennengelernt haben dürfte. 32 Ethan Jaynes: Totenerweckung gegen Gott? Der Namenspatron des liebenswürdig-unheilschwangeren Träumers und Tolpatschs Johnny ist Johannes der Täufer, der Zeigefinger, der auf Jesus deutet. Die Beziehung wird unterstrichen durch das Caravaggio-Gemälde von Salome mit dem Haupt Johannes des Täufers, das als Titelbild der Buchausgabe der Erzählung dient (s. Seite 16). An einem Johannistag lässt Johnny als Johannisfeuer die Kirche in Flammen aufgehen. Mit seinem Johannes- Namen ist er als Wegbereiter Jesu ausgewiesen, und in der Berufung auf Mt 10,8 sieht er sich zudem als nachfolgenden Jünger Jesu, der wie der Meister heilen und erwecken soll. Aber - die Frage stellt sich und taucht auf (81) - soll er das wie jeder, der zu Christus gehört? Oder gilt dieser Auftrag speziell ihm? Sie beantwortet sich daraus, dass in Johnnies Versuchen der Totenerweckung, die nach dem Weggang aus dem Heimatdorf einsetzen, die Tendenz zur unmittelbaren Christusidentifikation durchschlägt. Das zeigt sich zuletzt darin, dass Johnny die radikale Zuspitzung seiner Lebenskrise bei seiner Heimkehr in das Heimatdorf Blade mit genau siebenunddreißig Jahren erlebt - in dem von Roth angenommenen Todesalter Jesu mithin, beim Versuch, die 33 Schwester zu erwecken, die dort begraben liegt. Voraus geht am Vortag im Nachbardorf Shinbone der scheiternde Erweckungsversuch an dem Cowboy Ethan Jaynes, auch er siebenunddreißig Jahre alt, also gleichaltrig wie Jesus und Johnny (37), und nicht nur das. In die von Johnny festgestellten Ähnlichkeiten mit ihm fließen ihm spontan Ähnlichkeiten Ethans mit Christus ein, so dass in der Imagination Johnnies etwas wie eine Dreieinigkeit Jesus-Johnny-Ethan entsteht, umfassend die Erlebnisgemeinsamkeit von Angst, Hinterhalt, Zusammenleben mit dem späteren Mörder, der sie „einst binden, […] durchkreuzen würde“ (42). Und immer noch mehr: Johnny ist’s, „als würd ich mich und meinen Tod erkennen“ (42), als wollte er „mehr als den Toten zu erwecken“ (42), in der Konsequenz nämlich: gegen den Fluch Gottes auf Ethan anzugehen, darin gegen den Fluch Gottes auf ihn, Johnny, selbst. Damit ist die Schicksalsthematik, schon vorher angespielt und später immer wieder auftauchend, in Johnnies Kern angekommen. Der junge Jesus erlebt sie an Judas, der ihn morden wollen muss, damit Jesus ihn töten muss, damit er als Mörder Erlöser werden - kann. Hier hört die Kette des Verhängnisses auf, aber Johnny erkennt das noch nicht. Er ist in der Gefahr, mehr als Totenerweckung zu wollen, denn Totenerweckung hieße, den dunklen Bruder und damit das dunkle Muss zu versöhnen und in sich aufzunehmen. Einstimmung in das göttliche Muss als ein inneres Muss ist es, die zur Auferstehung führt. Johnny aber sieht sich im Kampf gegen das göttliche Muss, in dem er unterliegt, weil er - so sieht er 34 es - noch dieses Muss muss. Gott will sein Scheitern, und in dieses Scheitern verstrickt sich Johnny; er verliert sich an das dunkle Muss Gottes im dunklen Bruder, und das ist das Gegenteil von Auferstehung durch Annahme des anderen in sich, wie Jesus es mit Judas gelingt. Aber dieses über ihn verhängte Scheitern ist nur vorläufig. Johnny muss zum Scheitern gebracht werden, damit er so endlich dahin kommt, auferwecken zu können, in und mit dem anderen in die Freiheit der Selbstannahme eintreten zu können. Und so ist das Scheitern der Erweckung Ethans der Anfang seiner tiefsten inneren Umwälzung, die in seinen letzten Erweckungsversuch mündet. 7 Wirklich entscheidend für Johnny ist, ob die Schwester ihm auferstehen wird. Die Sehnsucht nach ihr hat sich ihm verdichtet in der imaginären Stellvertreterfigur Hallie Doniphan. Rückwirkend macht eine wachsende sexuelle Spannung zu Hallie einen geheimen inzestuösen Zug an der früheren Beziehung Johnnies zur Schwester sichtbar. Wenn er eins mit Hallie werden wird, wird ihm in ihr die Schwester auferstehen, wird er eins mit dem Totenerwecker Jesus sein und den Schicksalszusammenhang aufgebrochen haben. Von Ethan allerdings kann man sagen, dass er wenigstens in Johnnies Erzählen von den Toten erweckt ist. 35 Postfigurationen der Schwester: Die Reporterin und die Wachtraumfigur Hallie Worin sind Hallie Doniphan, und in ihrem Vorfeld die namenlose Reporterin und Gespächspartnerin, die als erste Frau in dieser Erzählung mit ihm spricht, Postfigurationen von Johnnies erschossener Schwester? Bei seiner zweiten Polizeivernehmung in Shinbone laufen - im Gegensatz zu seinem früheren Mordgeständnis - Johnnies Aussagen darauf hinaus, Hallie Doniphan habe ihn „in einer Art Wach-Traum begleitet“ (13). Darin liegt das Argument: Als eine Wachtraumfigur habe er sie gar nicht real töten können. Und die Journalistin? Auf den ersten Blick ist sie der Journalistengruppe in dem Film „The Man Who Shot Liberty Valance“ entsprungen, auf dessen Bedeutung für Roths Erzählung später noch eingegangen werden wird. Ihre Rede: „Ich will nur die Story“ (27), auch ihre zunächst noch häufig hervortretende Neigung zu schnöden Formulierungen weisen dorthin. Aber ihr Verhalten dementiert den bloßen Fakten- und Sensationshunger. Während Johnny nach seiner Verhaftung wegen Störung der Totenruhe in der Polizeihaftzelle von Shinbone einsam auf dem Boden liegt, beginnt die Journalistin das Gespräch mit ihm, um „Licht auf sein Geheimnis zu werfen“ (15), wobei er so tut, als habe er ihre schon seit früher bestehende 36 Bekanntschaft vergessen (15). Ihr Wortwechsel: „- Ich kann dich immer wieder erinnern. - Ich immer wieder vergessen.“ (18) markiert seine Verdrängungstendenz. Sie stellt nicht nur fest, dass Johnny ihre Rede mit der anderer Frauen „zu vertauschen-vermischen“ wusste; sondern dass auch ihre Positionen als Fragende und Antwortende, Mann und Frau sich „häufig vertauschten“, ja „kreisgeschlossen: ineinsfielen - was der Wahrheit ebenfalls nahe kam.“ (15) Sie kennt seinen Traum der letzten Nacht (20), den er schon vergessen hatte, und führt Hallie Doniphan mit Namen in die Geschichte ein (26). In Hallie tritt in diesem Gespräch die viel intimere, auch zu sexuellen Anzüglichkeiten und versteckten Angeboten neigende Figur auf und führt wiederum mit Johnny ein Gespräch, das sie konsequent auf ihr Ziel hin steuert, Johnny, der heftig widerstrebt, möge ihre vor langem verstorbene Freundin von den Toten auferwecken. Die Journalistin erzählt in direkter Rede von ihrem Gespräch mit Johnny, und sie erzählt gleichermaßen, was Johnny ihr in direkter Rede in der Haftzelle erzählt, einschließlich seiner in direkter Rede erzählten Dialoge mit Hallie und ihrer Erzählungen in direkter Rede zu Johnny. Dieses Gleitschienensystem des Erzählens in direkter Rede formiert die Gesamtgeschichte so lange und intensiv, dass man als Leser schließlich gar nicht bemerkt, wo genau die Erzählschiene der Journalistin verschwunden ist. Derart verschwindet die Journalistin letztendlich in der Imaginationsfigur Hallie. Diese Hallie führt nicht nur den duettähnlichen Dauerdialog Johnnies mit der Reporterin weiter, in dem Johnnies 37 kindheitliches Dauergespräch mit der Schwester wiederauflebt, sie erzählt auch Johnny mit vielen Details die intimsten Dinge aus seiner Kindheit, darunter von ihm Vergessenes und vor allem solches, was er weiß, aber nicht an sich heranlassen will, weil es ihm zu nahe geht. Denn es handelt sich in ihrer Rede, die um ihre Freundin kreist, um seine eigene tote Schwester, die vor zwölf Jahren bei einem Raubüberfall erschossen worden sei. Hallie erzählt Johnny sogar die Löwenlegende weiter, deren ersten Teil Johnny der Journalistin erzählt hat, und währenddessen - erzählt er später der Journalistin - fahren sie in Hallies Buick auf einem Wüstenhighway in Richtung seines nahen Heimatorts Blade, wo die Schwester begraben liegt. Es wird beider Passionsweg. Der so erzählten erzählenden Hallie erzählt Johnny die Katastrophe des von ihm verschuldeten Kirchenbrands, dessen einzige Zeugin die Schwester war, immer geliebt und seitdem auch, wegen der Möglichkeit des Verrats, gefürchtet. Schließlich saugt Hallie geradezu die verdeckte letzte Wahrheit, den verborgenen Kern von Johnnies Biographie ans Licht, dass der angebliche nächtliche Raubüberfall eine Auschweifung seiner kindlichen Phantasie war, in der befangen er im Dunkeln seine Schwester als vermeintlichen Räuber mit der Pistole seines Vaters erschoss. Es ist die zweite ‚Untat‘ Johnnies. Die erste blieb unbekannt, weil die nun tote Zeugin schwieg. Die zweite wird von der Familie vertuscht und hinter der Erfindung des Raubüberfalls auf die Kirchenkasse im Pfarrhaus mit der Geldsumme für den Kirchenneubau versteckt. Es ist das Geld, das die Kirchenge- 38 meinde zum Wiederaufbau der von Johnny abgefackelten Kirche gesammelt hat, so dass er doppelt verstrickt ist. Zur Erinnerung will schon die Journalistin Johnny führen. „Erinner dich“ (127), ist auch Hallies suggestiver Befehl an Johnny, und er erinnert sich Schritt für Schritt. „Wer bist du, Hallie, daß du die Geschichte zu Ende weißt? Und bis zu Ende? “ fragt Johnny schließlich, nachdem sie den Schluss der Löwengrubenlegende, verschlungen in das Ende von Johnnies Weg zur Wahrheit, erzählt hat (156). Sie erklärt: „Ich habe ein Talent: ich kann mich an alles erinnern, und ich schaff alles aus dem Erinnern.“ (117). Johnny erkennt zuletzt im Erinnern: „Die Schuld, die ich mir ganz eindeutig gab, […], die band mich […] an Gott.“ Gott hat ihn, wie Judas, aber auch wie Jesus, zum Mörder werden lassen (150, 152), damit Johnny, wie sich jetzt das Drängen auf die Erweckung der „Schwester“ von Grund auf motiviert, sie auferstehen lassen kann, so wie Christus den von ihm getöteten Judas in der Legende auferstehen lässt und darin selbst aufersteht. Hier öffnet sich die Tür aus dem schicksalhaften Muss heraus. Hallie Doniphan formuliert ihre Aufforderung an Johnny, die getötete Schwester aufzuerwecken, im Anklang an das Gebot der Könige für Jesus in der Löwengrubenlegende: „Getötet hast du sie. Jetzt mach sie mir wieder lebendig.“ (127) An späterer Stelle des Dauergesprächs zwischen ihr und Johnny kommt es zu der Wechselrede: „Und die ich auferwecken sollte, nach dir, und lange vor dir getötet hab? - Wird auferstehen. - Der Mörder… - Der Erlöser sein.“ (159) Unter diesem 39 - schon zitierten - Dialog haben Hallie und Johnny den tief verschlammten Highway von Shinbone, dem Ort der gescheiterten Totenerweckung, nach seinem Heimatort Blade, dem Begräbnisort der Schwester, verlassen, den Buick zum Stehen gebracht und im leerstehenden Zelt eines Wanderpredigers, einer Parodie von Heiliger Stätte, am Wegrand Schutz vor dem Unwetter gesucht, das über sie hereingebrochen ist. Das Stoffdach des Zelts wird reißen, wenn Johnny mit Hallie, der Stellvertreterfigur der Schwester, Kommunion, Tod und Auferstehung zelebrieren wird - wie beim analogen Akt Jesu mit Judas in der Löwengrubenlegende und im Augenblick von Jesu Tod bei den Synoptikern der Vorhang im Tempel vor dem Allerheiligsten zerreißt: „Da spliß das Zeltdach, fiel der Regen, der im Stoffkelch drüber sich gedrängt, und wusch ihn [nämlich Johnny], der im Blut da auf der Erde lag.“ (160) Ein Toter? Ein Neugeborener? 40 Totenerweckung als Lustmord Eine skandalöse Verschmelzung traditioneller Bilder „[…] die ich auferwecken sollte, nach dir, und lange vor dir getötet hab“ - In diesen Worten Johnnies liegt ein furchtbarer Doppelsinn, denn indem er eine Aussage über die Schwester macht, macht er auch eine Aussage über Hallie: Johnny wird nach der Schwester Hallie töten, und nach Hallie und in ihr die Schwester auferwecken. In brutaler Rede gesteht Johnny am Anfang seines Gesprächs mit der Reporterin, er habe eine Frau „auseinandergenommen. Geschlachtet hab ich sie. Und einiges mehr“ (16), nachdem er schon der Polizei in Blade einen Mord an Hallie Doniphan „und einiges mehr“ - nämlich einen Lustmord und Leichenverzehr - gestanden hat. Bei seinem Lustmord folgt Johnny wie magisch gezogen Lockworten Hallies, seines Opfers, und die Erzählung spielt noch einmal auf Jesu Tun in der „Löwenlegende“ an, nämlich die siebenfache Teilung der Leiche des Judas. Nach Hallies Verheißung, sie werde „Offen, ganz offen, dir erkannt“ sein (159) 8 und nach ihrer ekstatischen Aufforderung „Komm her, zerbrich! “ (160), kommt Johnny „vorwärts auf sie zu. In Wiederholung, sieben mal. Und als er sie gebrochen hatte, siebenmalig, fiel hin und hielt ihr Herz. Erhob es, trank aus ihm, und aß.“ (160) 41 Die symbolische Bedeutung des Essens und Trinkens in der Kommunion als radikale Einung und ihre psychologische Wendung bei C.G. Jung ist schon anlässlich der Kommunion Jesu mit Judas erörtert worden. Auch die sexuelle Verschmelzung von Mann und Frau ist christlich seit der Hoheliedexegese des Mittelalters und der Minne-Allegorik der Mystik ein geläufiges Bild für die Vereinigung der Seele mit dem Himmelsbräutigam Christus und so mit Gott und stand für das psychologische Modell der Integration der dunklen und hellen Seelenanteile bereit. Das gilt sogar für die Kombination der Motive Abendmahl und sexuelle Vereinigung. Eine besonders krasse dichterische Durchführung findet sich am Eingang der Moderne in der „Hymne“ aus den „Geistlichen Liedern“ des Frühromantikers Novalis (postum 1802) mit der Strophe: Wer hat des irdischen Leibes Hohen Sinn erraten? Wer kann sagen, Daß er das Blut versteht? Einst ist alles Leib, Ein Leib, In himmlischem Blute Schwimmt das selige Paar. - 9 Der deutlich eschatologische Horizont des Gedichts weist auf Novalis’ gleichfalls sexuell getönte Todesmystik. Hier könnte ein Anknüpfungspunkt Patrick Roths bei der schockierenden Abwandlung der Motivik 42 in den Lustmord liegen. 10 Das Titelbild zu „Johnny Shines“ - Caravaggios Gemälde Salomes mit dem abgeschlagenen Haupt Johannes des Täufers - stellt auch einen Handlungszusammenhang zwischen Sexualität und Mord her, wie er in „Johnny Shines“ herrscht. Er ist vor allem durch die Kunst der Décadence aus der von Mt 14 und Mk 6,14-29 ausgehenden Leidensgeschichte des Johannes herausgefiltert worden. Sie erreicht ihre Pointe in Oscar Wildes von Richard Strauss vertonter Tragödie „Salome“, wo die Prinzessin, von Johannes dem Täufer in prophetischem Zorn verflucht und verschmäht, vorhersagt: „Ich werde deinen Mund küssen, Jochanaan“ - nämlich den Mund des auf ihr Betreiben Ermordeten, dessen abgeschlagenes Haupt sie bei Caravaggio auf dem Präsentierteller trägt. Auf die Symbolik der Geschlechterliebe für die Gottesliebe führt schon eines der Motti von „Johnny Shines“, das aus Sohar, einem der Hauptbücher der Kabbala, stammt: „Wer einen Pfad geht, wo Männliches und Weibliches sich nicht zusammenfinden, von dem sondert sich die Schechina.“ Kabbalistisch ist die Schechina der Ereignisort der göttlichen Offenbarung in der Welt, oft vorgestellt als eine Art weiblicher Empfängnisraum dafür. Auch die Totenerweckung nimmt in der Christus-Trilogie schon anfangs durch einen wirren, aber wiederholten Analogiebezug Johnnies auf den Propheten Elisa (bei Roth: Elischa 10, 90, 147f.) Züge der körperlichen Vereinigung an. Hat doch Elisa die erste im AT berichtete Totenerweckung vollbracht (s. 2. Kön 4, 27, 32ff.), indem er sich wärmend ganzkörperlich auf den gestorbenen Sohn der 43 Schunemiterin legt, Mund auf Mund, Auge auf Auge, Hände auf Hände. Da die getötete Schwester Johnnies Sharon hieß, bezieht er sie auf die biblische Landschaft Scharon: „Und wie Scharon lag vor dem Berg [Karmel], lag eine Schunemiterin auf Karmel […] vor den Füßen des Propheten [Elisa].“ Sie fleht ihn um den stillen Sohn an, und ist selbst „wie stille Landschaft geworden“, also wie der tote Sohn, auf den der Prophet sich legen wird (147f.). Bedeutungsvoll schließlich findet der geschilderte Auferweckungsversuch des Johnny Shines an Ethan Jaynes in einer Kirche statt, die St. Thomas geweiht ist (36), und in der Nacht des folgenden Tages, des 21. Dezembers, des Thomastages, ereignet sich die von Johnny als Lustmord erlebte Kommunion mit Hallie Doniphan. 11 Biblisch will Thomas über die bloße körperliche Berührung hinaus seinen Finger in die Seitenwunde Christi legen, der, nach weiter zurück reichenden Ansätzen, nicht von ungefähr in der sogenannten Sichtungszeit der Herrnhutischen Brüdergemeine des Grafen Zinzendorf eine kultische Verehrung mit sexuellen Anklängen galt. 12 Die Datierung von Johnnies Vereinigung mit Hallie auf den Thomastag steht im Zeichen der sexuellen Konnotation des in die Seitenwunde gelegten Thomas-Fingers und arbeitet diese reziprok heraus. Johnnies Binnenerzählung von diesem Tag stellt sie unter die astrologische Konstellation von Saturn und Venus am 21.12.1992 (74) und überdeterminiert damit Johnny, die Johannes- und Christusfigur, generell auch noch zur Thomasfigur im Zeichen dieser Planeten: als depressiven Melancholi- 44 ker (Saturn) mit ausgeprägter Libido und Beziehungsfähigkeit (Venus) 13 . Im Übrigen hat schon der Jesus der Evangelien eine besondere emotionale Nähe zu Jüngerinnen bis hin zu den Frauen am Grabe, und die eindrucksvollste der biblischen Auferstehungsgeschichten mit Maria Magdalena am Grabe im Johannesevangelium hat, kurz nach ihrer bereits zitierten Skizzierung in den Frankfurter Poetikvorlesungen von 2002, eine eigene Erzählung von Patrick Roth „Magdalena am Grab“ (2003) mit einem „Dissolve“ von schauspielerisch dargestellter Glaubensüberwältigung und privater Angsterotik herausgefordert. Johnny Shines tritt auf von der Fama umgeben, er erwecke mit Vorliebe Frauen, weil er sich am besten in ihr Leben einfühlen könne (91). Die durchgehenden Verknüpfungen von Sexualität, Mord und Totenerweckung, schließlich auch Leichenverspeisung als Einungserfahrungen sind in „Johnny Shines“ so dicht, dass sie hier nicht im einzelnen angeführt werden müssen. Sie beginnen eingangs der Erzählung mit dem Geschrei „Hat er nicht Blut an Mund und Händen? “ (10) Johnny wird von der Reporterin verhüllt auf Vergewaltigung angesprochen (32). Er hingegen spricht vom „Lebendigmachen“ als „dem Trieb, der Leben will, lebendigst zu gehorchen. Das tu ich für mein Leben gern.“ (33) Dafür zitiert er verdeckt das Abendmahl: „vor allem bist du Leib“ (33), während seine Dialogpartnerin, nochmals die Erweckungsgeschichte des Elischa erinnernd, der sich auf den Sohn der Schunemiterin gelegt hat, von Johnnies „Gefahr“ spricht, „daß es dich an- 45 kommt, sie zu besteigen. Und du verhaftet wirst.“ (90) Als Zielpunkt dieses zentralen Motivstrangs erschließt sich zuletzt der imaginäre Schlüsseldialog zwischen Johnny und Hallie vor und während des halluzinierten Lustmords, der vor dem Hintergrund der früher erzählten Judas-Erweckungsgeschichte zu lesen ist. Er wurde abschnittweise bereits zitiert und lautet im Ganzen: „ - Du, brich mein Brot und iß. So sag ich dir. - Dein Brot? - Das ist mein Leib. - Und wenn ich esse? - Erkennen wirst du mich, verstehen. - Was ist das? - Auferstehen. - Und die ich auferwecken sollte, nach dir, und lange vor dir getötet hab? - Wird auferstehen. - Der Mörder… - Der Erlöser sein.“ (158f.) Johnny vermag jedoch diese Ekstase - oder diesen Wahnsinn? - nicht durchzuhalten. „Und doch im letzten, es war schon alles getan, […] da fuhrs ihn an und eine Stimme sprach: ‚Wahnsinniger! Was hast du getan? Wo ist deine Schwester? Da war der verlassen, der sich bergen wollte, und schrie und fand sie nicht.“ (160) Es ist der Nachhall der Rede Gottes zu dem Brudermörder Kain (Gen 4,9). „Und wußte nicht, wie Judas aus der Grube steigend, was ihm geschehen war […].“ (160) Das 46 knüpft wieder bei der Löwengrubenlegende an, ihrem Ende: Judas, dort als anderes Ich Jesu der Auferstandene, steigt aus der Grube und vergisst, um später durch Verrat zum Jesusmörder werden zu können. Insofern er aber in der Legende als Jesusmörder das andere Ich Jesu und wie dieser Erfüller des Gotteswillens bleiben wird, steht dieser Schluss der Hallie-Tötungsgeschichte von der Löwenlegende her wie sie in einem Doppellicht. So auch vom Schluss der Johnny-Handlung in seinem Heimatdorf Blade her, was auf Deutsch ‚Halm‘ heißt (worauf mehrfach in der Erzählung angespielt wird (24, 47 u.ö.): Wie ein Halm schwankt Johnny hin und her zwischen Triumph des Gelingens („Auferstanden! “ schreit er in der Eingangspartie der Erzählung, wenn er am Morgen nach dem Ereignis in Blade auftaucht [11]), Geständnis eines Lustmords, Widerruf seines Geständnisses und Widerruf des Widerrufs. Die Polizei von Blade jedenfalls lässt ihn laufen, nachdem sie zwar das von Johnny als Tatort angegebene Predigerzelt am Highway in der Mojave-Wüste findet, aber keinerlei Spur eines Verbrechens. 47 Die Erzählweise und der Name Hallie Doniphan sprechen Dreierlei aber ist klar: Johnnies Drang zur Totenerweckung ist gestillt, darin wenigstens scheint er doch nach dem Erweckungsversuch an der Schwester mit Hilfe Hallie Doniphans seinen Frieden mit ihr, letztendlich Versöhnung und Selbstversöhnung, gefunden zu haben (162). Oder ist nur der manische Wahn in den depressiven umgeschlagen? Weiter führt der Bericht, „sieben Jahre nach seiner [Johnnies] Ankunft in Blade [wieder die heilige Zahl], am Tag der Jahrtausendwende“ - „Zu einer Zeit also, da viele, in Erwartung des Weltendes, aus den großen kalifornischen Städten in die Mojave gezogen waren“ - habe eine Folge von Erdbeben das Land erschüttert (162). 14 Das ist abermals ein Anklang an den biblischen Passionsbericht bei Mt (27,52), nach dem beim Tod Jesu ein Erdbeben, ein eschatologisches Zeichen, stattgefunden habe. Bei einem dieser Erdbeben, das Blade betraf, werden Särge ans Licht gehoben - Mt 27,52: die Gräber taten sich auf! -, darunter ein leerer Sarg, der nie benutzt worden war und nur einen kleinen silbernen Löffel mit eingraviertem Vornamen der Schwester Johnnies und Datum, ein unverwendetes Totenhemd und eine größere Summe Geldnoten enthielt (163) - der von den Eltern, um die Raub- 48 überfallbehauptung zu stützen, versteckte neu gesammelte Kirchenschatz. Daraus entstand eine „Legende“ um Johnny (162). „Manche sprachen von einem Wunder. Die schrieben es meinem Bruder zu“, sind die letzten Worte der Geschichte (163). Meinem Bruder - das ist die Stimme der ermordeten Schwester. Wie ist das möglich? Der Höhe- und Schlusspunkt der Kommunionsszene zwischen Johnny und Hallie (160) ist, wie der Eingang der Gesamterzählung, von jemandem erzählt, der auf den ersten Blick weder Johnny noch Hallie ist und nur die wieder erschienene Reporterin sein kann. Sie spricht zunächst rätselhaft überhöht aus einer auktorialen Allwissenheit, die sich in den lakonischen Schlussabschnitten wieder zum nüchternen Berichtsgestus verengt. Von der Schwester wird in dritter Person gesprochen. Doch diese Reportersprache wiederum verwandelt sich im letzten Wort in die Stimme der Schwester, die in Johnny auferstanden ist und - nur sie kann das! - Bruder sagt. 15 Auch auf der Erzählebene spielt sich damit die Engführung Johnnies mit den Postfigurationen seiner Schwester ab. Den letzten Ermöglichungsgrund dafür werden wir später erörtern. Hier stellt sich vorab die andere Frage: Hallie - auferstanden? Auch in den Evangelienberichten ist schließlich ein leeres Grab das letzte greifbare Faktum. Der Rest ist Glaubenszeugnis. Jedenfalls hat Johnny die Totenerweckung, die er außer sich bewirken wollte, in einem ekstatischen Moment als innere Totenerweckung an sich erlebt, und als Rede der Schwester vom Bruder ist sie außer ihm, intersubjektiv, manifest geworden. 49 Mit dem Ende der Löwengrubenlegende und dem damit verschlungenen Ende von Johnnies Zurücktasten zu seiner Geschichte, noch genauer gesagt, mit dem letzten Wort der Erzählung, „Bruder“, ist auch der „Dissolve“ der Schwester und Hallie Doniphans am Ziel. Was inhaltlich einen Rest von Ambivalenz behält, ist im Erzählen gelungen, die Auferweckung der Schwester, die Bruder sagt. Die Löwengrubenlegende ist in der Außenerzählung mit der im Nachhinein entstandenen Legende von Johnny beantwortet. Schon vom Namen her gehört Hallie, die Stellvertreterfigur der Schwester, mit Johnny zusammen. In Johnny „Shines“ leuchtet wenigstens ein Abglanz des Angesichts des Herrn. „The Lord […] makes his face to shine upon him […]“, ist der im Text zitierte Segen des Pfarrers in der Beerdingungsliturgie, während derer Johnny seinen skandalösen Totenerweckungsversuch an Ethan Jaynes unternimmt (64). Hallie Doniphans Name ist zwar von Patrick Roth einem Filmklassiker entliehen - davon gleich anschließend -; aber dieses Namenszitat als Huldigung an den Regisseur John Ford verdeckt einen Subtext. Im „Doni“ ihres Nachnamens steckt das lateinische „Donum“, „Geschenk“, in „phan „das griechische „phainesthai“ = „[er]scheinen“. Sie ist die ihm, über dem Gottes Angesicht scheinen möge, geschenkte Erscheinung der Schwester. Und ihr Vorname? Sie nennt sich in einem der letzten Dialoge kurz vor der Tötung „Seele“ = Anima; seine „Begleiterin, […] Erinnerin, Muse“. Mnemosyne ist die Göttin der Erinnerung, Mutter der Musen, jener Erinnerung nämlich, die in ihm zu wecken 50 das Ziel Hallies und ihrer Vorläuferin, der Journalistin, war. Schließlich bezeichnet sich Hallie noch als „Echo des Holers“, „die du riefst“ (alles 156f.) Der Holer, dunkler Bruder des Erlösers - wie er in „Corpus Christi“ auftreten wird -, ist auch der Schrei aller Verlorenen, die er in einen (zuletzt rettenden) Untergang holt. Hallie zitiert diesen Schrei kurz vorher ausdrücklich im Kreuzeswort: „‚Eli, Eli‘, schrie er, warum hast du mich verlassen? “ Und als Echo dieses Schreis bestimmt sie sich selber. Alle Schmerzen der Welt hallen in ihr wider. Das gilt auch auf der Wortebene: „Hallie“ ist das Echo von „Eli“, Echo auch der wahren und wirklichen Schmerzen, die in Johnnies geschundenem Leben laut werden wollen. Denn noch gewisser als das Gelingen der Auferstehung in Verschmelzung mit Hallie und der Schwester ist, dass der Weg dahin für den Schmerzensmann Johnny eine Höllenfahrt war. 51 Eine Auferstehungsgeschichte paraphrasiert einen Westernklassiker Gewiss steckt in dieser Rahmengeschichte von Johnny und seiner Schwester und ihrem durchgehenden Verweis auf die schwarze Löwengrubenlegende von Jesus und Judas ein Skandal. Entsteht hier doch eine Parallele zwischen Heilsgeschichte - sei es auch in Inversion, so doch als Inversion mit einer unwiderstehlichen Aufforderung zum identifikatorischen emotionalen Nachvollzug - und Pathographie, um eine Parallelisierung zwischen jahrtausendealten traditionsgegebenen heilsgeschichtlichen Zentralfiguren wie Jesus und Judas einerseits, einem Landstreicher mit sexuellen Wahnideen und seinem Wahngebilde andererseits. Es ist ein Skandal, der in der Zusammenstellung der beiden letzten Motti vorbereitet ist, einer feierlichen Paulusaussage aus 1. Kor 15,36 und dem Song einer amerikanischen Formation, die beide eine Lebenszusage durch den Tod hindurch formulieren, einmal im hohen, einmal im niederen Stil, entsprechend dem Kontrast zwischen Legende und umrahmender Handlung. Bei Paulus: „Was du säest, wird nicht lebendig, es sterbe denn“; bei der Gruppe „Alice in Chains“: Sie jagen den Gockel, aber er wird nicht sterben - eine Anspielung auf die Kriegserfahrung eines Vietnamveteranen: „You know he ain’t gonna die“. 16 Die Provokation 52 wird weiter entfaltet durch den paraphrasierenden Rückbezug der Rahmenerzählung auf den Westernklassiker „The Man who Shot Liberty Valance“ 17 mit seinen Handlungsorten, seinem Milieu und seiner zentralen Handlung: der ‚Auferweckung‘ des bis zum Schäbigen heruntergekommenen Helden in einer auf sein Leben rückblickenden Erzählung. Im Film wird sie am Ende wieder zugedeckt, weil die geschönte Vergangenheit inzwischen so sehr zur unentbehrlichen Legende vom Sieg des Guten über das Böse und damit zum Begründungsmythos einer scheinheiligen Gesellschaft geworden ist, dass sie die desillusionistische Wahrheit über den Mann, der wirklich Liberty Valance erschoss, verdrängt. Es fällt der berühmt gewordene Journalisten-Satz „When the legend becomes fact, print the legend! “ Die Reporterin bei Roth, solange sie nur Reporterin ist, will nur die Story, nicht die Wahrheit. Roths Erzählung ist wie eine Antwort auf den Film: Dort wird die triste Wirklichkeit zur Legende umgelogen. Bei Roth wird die triste Wirklichkeit auf die Legende rückbezogen. Hier wie da geht es um ein Verhältnis von Legende und ‚Wirklichkeit‘. Bei genauer Überlegung erweist sich jedoch dieses interpretatorische Zwischenergebnis als durchaus ambivalent. Denn so wie die bereits in sich verwirrende, den Leser brutal anspringende Jesuslegende durch die Rahmenhandlung quasi mit einer Wüstenstaubschicht überzogen und in Distanz gerückt wird, gewinnt umgekehrt auch die Rahmengeschichte in all ihren banalen, pathologischen und bis ins Grässliche und Abstoßende reichenden Zügen von der zentralen, den Fluchtpunkt des 53 ganzen Texts bildenden, alle Linien in sich ziehenden Löwengrubenlegende her einen düsteren Glanz, eine schwarze Großartigkeit, Tiefenbedeutung und - Wahrheit. Dieses Wahrheitsmoment blitzt auf, wenn Johnny schildert, wie er bei seinem Versuch in Shinbone, Ethan Jaynes zu erwecken, Gottes Hand spürt „einen Hand- Ruck lang“ (68), ehe er sie wieder von ihm abzieht; das Wahrheitsmoment wird auch angesprochen im Streit zwischen Johnny und Hallie um Betrug und Wahrheit bei der Totenerweckung: Im Verlangen der Totenerweckung steckt ein Sehnsuchtskern jeder wahren Liebe nach Unsterblichkeit. „Der Wiedererwecker tut wahr, selbst wenn er ‚betrügt‘, denn es geht um eine heilige Wirklichkeit, die er sieht und die er davor retten will, in Vergessenheit zu geraten.“ (96). Die Pathographie des Outlaws, die bis zur inzestuösen sexuellen und leichenfresserischen Gewalttätigkeit reicht, erhält etwas von der Würde einer Passion und der Bedeutung einer Menschheitsgeschichte mit tiefen Zügen des Schmerzes über die Leiden eines ausweglos verstrickten Kindes und die bohrende Erlösungssehnsucht eines Ausgestoßenen, die Ganzheits- und Heilssehnsucht ist. Das Gedankenspiel um Wort oder Sache ‚lebendig‘ zwischen der Journalistin und Johnny, das mehrfach zwischen Hallie und Johnny wiederaufgenommene Wortspiel um Wiederholen und Wiederholen steckt ein Feld ab. Nicht nur das Wort „lebendig“ hat Johnny im Traum gehört (19f.), sondern den Auftrag in der Sache, lebendig zu machen. Nicht nur sinnlos wiederholt hat Johnny, sondern spurenhaft darin auch wiedergeholt (75 u.ö.). 54 Hallie Doniphan - Mnemosyne und Muse Doch die Auswirkung des Handlungsrahmens ist damit nicht erschöpft. Schon das Filmzitat hat einen weiteren Sinn. Es legt, wie bereits das erste Motto aus John Fords Film, über das Ganze etwas von der Ästhetik und dem Pathos des alten Schwarz-Weiß-Kinos. Die grandiose Eingangsszene Roths zeigt das, die ganz filmisch gebaut ist. Aus dem Off erzählt eine ungreifbare Stimme: In dem armseligen Kaff Blade sind kesselpaukengroße, im Regen dampfende Filmscheinwerfer für Dreharbeiten einer am Vortag angereisten Produktionsgesellschaft aufgebaut und eingeschaltet, in deren grelles Licht die übel zugerichtete Hauptfigur hineintaumelt. Er bezieht die technischen Vorbereitungen für Filmaufnahmen eines Western auf sich, die grölende Menge der Dorfbewohner verhöhnt ihn: „Wir hatten Licht für dich gemacht! “, sieht ihn blutverschmiert, zusammenbrechend, will ihn weghaben. So der Einzug Johnnies in sein Jerusalem Blade, die Parodie einer Passionsszene; zugleich eine erste, erst von später her verständlich werdende Anspielung auf die Löwengrubenlegende: „Man rief ihm zu, von einem Dach herab, als stünde er in einer Grube.“ (alles 10) Hier ist gewiss ein wüstes Milieu gegeben, aber deutlich artistisch interpretiert-stilisiert. Es ist eine 55 immanente Auseinandersetzung von Filmästhetik und literarischer Ästhetik zudem - denn die literarisch umgesetzte Filmszene bedient sich eines epischen Vermittlers aus dem Off, und der Film selbst wird eine filmisch umgesetzte Erzählung als ihre zentrale, wenigstens vorübergehend Wirklichkeit erschaffende Handlung in den Mittelpunkt stellen. Roths Geschichte zeigt sich so zuletzt perspektiviert durch eine durchgehende poetologische Selbstreflexivität, die sich als Schwelle vor eine zu direkt religiöse oder tiefenpsychologische Lesung legt. Roths Erzählung illustriert nicht vorgegebene Wahrheiten, sie schöpft ihre Kraft auch nicht aus der schwarzen Übermalung christlicher Goldgründe. Sein Text spricht in eigener Sache und will nicht nur auf Theologie oder tiefenpsychologische Theorie abgeklopft sein. 18 Es deutete sich bereits an, welche Rolle das Ich- Erzählen in „Johnny Shines“ spielt, und zwar, wie häufig bei Roth, in mehrfacher Überschichtung, so dass in die Erzählung einer Person die Erzählungen anderer Personen in direkter Rede aufgenommen sind. Und nicht nur das, diese Erzählungen entfalten jeweils aus sich Dialoge, die zwar episch sind, sofern sie jeweils perspektivisch vom dahinter stehenden Ich-Erzähler abhängen, aber sich - als direkte Rede - darin auch verselbständigen, von ihrem Erzähler lösen. Oft ist in der stichomythischen Wechselrede nicht einmal der jeweilige Sprecher benannt, und bei den eingeschalteten Erzählungen gerät er leicht aus dem Blick. Unabhängig von einem personalen Erzähler, faktisch beglaubigt und wahr innerhalb der Erzählung, aus „olympian view-point“ berichtet ist so 56 gut wie nichts. Aber alles Erzählte ist wirklich im Sinn der Wirksamkeit, es bewirkt etwas, meist in anderen Figuren. Der Totenerwecker Johnny Shines arbeitet ausdrücklich mit diesem Wirklichkeitsbegriff. Er will wirken, bis „die Wirklichkeit erfunden ist, in der wir wirken können“ (96). Dadurch, dass Patrick Roth in „Johnny Shines“ als Epiker mit imaginären und halb imaginären Figuren umgeht, die entweder Produkt von Johnnies Vorstellungskraft sind oder deren reales personales Substrat mit Johnnies Projektionen überzogen ist, entsteht ein besonders hoher Grad von Relativität des Erzählten. Es ist zwar von höchster Eindringlichkeit, aber auch hier gilt: man kann es ‚glauben‘ oder auch lassen. Der Leser behält, was Schiller ästhetische Freiheit nennen würde, bei gleichzeitiger extremer emotionaler Inanspruchnahme. Denn ästhetische Freiheit heißt bei Schiller nicht etwa, nach drei Stunden „Wallenstein“ in der Pause ungerührt wie Georg Kreislers berühmte Dame fragen zu sollen oder auch nur zu dürfen: „Wie finden Sie mein neues Kleid? “; es heißt bei Schiller und so bei Roth, gerade auch frei gesetzt zu sein bis an die Grenze des Selbstverlusts, vor dem der Werkcharakter des Werks bewahrt, zu einer Erfahrung und Erkundung auch der eigenen Grenzmöglichkeiten und Letztentscheidungen. Da die Dialoge bei Patrick Roth sehr kreisend geführt werden, wobei die Positionen - wie schon ganz am Anfang von der Journalistin ausdrücklich bemerkt wird - ineinander übergehen, entsteht eine starke Dynamik und Antithetik, da ja Johnnies Projektionsfiguren, speziell 57 Hallie, seinem Personenkern gegenübergestellte, aus ihm herausgestellte Gegenpositionen bezeichnen. Aber sie bleiben dabei Exponate seiner selbst, darin ihm ähnlich und auf ihn orientiert. Dadurch sind Antithetik und Dynamik eigentümlich schweifend und instabil; der Leser schlingert förmlich zwischen verschiedenen Sogrichtungen des Erzählens und ist zu höchster Konzentration und Anstrengung zugleich des Begreifens und Einfühlens gezwungen. Dieses Schweifen steigert sich an den wenigen Stellen, wo quasi aus dem Off gesprochen wird. Denn auch hier übernimmt ja kein übergeordneter auktorialer Erzähler durchgehende Verantwortung, wie schon die Eingangspartie zeigt, die zwischen neutralem Bericht, personal-perspektivischer Wahrnehmung Johnnies vielleicht mit den Augen der Reporterin und visionärer Vergegenwärtigung quasi durch einen „Geist der Erzählung“ 19 schwebt - so die Schlusspassage der Einleitung von dem Mädchen, das aus einem silbernen „Airstream“ steigt. Der Name lässt ein Luftgefährt assoziieren wie den Himmelfahrtswagen des Propheten Elia; der Sache nach handelt es sich um das im Lauf der Jahre in den Vereinigten Staaten zum Kultobjekt gewordene, mit einer Aluminiumhaut versehene Wohnwagenmodell einer Firma dieses Namens, Symbol der kleinbürgerlichen Glücksvorstellung grenzenlos mobiler Schneckenhausgeborgenheit. Und so spannt denn auch das Mädchen einen schützenden Regenschirm über dem Landstreicher Johnny aus, während er ihre Füsse umfasst und „Auferstanden! “ schreit - noch einmal ein Verschnitt von Banalem mit Sakralem, Wunschtraum und bedrohlich- 58 bösartiger Grundstimmung, die an Lynchjustiz erinnert. Mit diesem kaleidoskopartigen Wechsel divergierender Eindrücke knüpft die Erzählweise nicht an die stabile Wirklichkeit realistischen Erzählens an, vielmehr an die entfesselten und bewirkenden Wirklichkeiten etwa innerhalb eines therapeutischen Prozesses, dieser Prozess aber als inneres Gespräch einer Person geführt, die Stimmen hört, eben als das, was Patrick Roth im Untertitel „Seelengespräch“ nennt: monologische Dialogie. Ein solches Seelengespräch als Prozess entspricht der schon entwickelten tiefenpsychologischen Umdeutung der Gehalte christlicher Tradition und biblischer Erzählung. Es wäre aber ein Missverständnis, sähe man dadurch, quasi durch die Hintertür, nun doch eine autoritäre tiefenpsychologische Erklärung der gesamten Erzählung etabliert. Mitnichten. Der therapeutische Prozesscharakter ist hier vielmehr ein artistisches literarisches Mittel einer äußerst kunstvollen und kunstvoll verschachtelten Komposition, die, wie gezeigt, auch stärkste Verfremdungseffekte einsetzt, um ästhetische Freiheit der Identifikation und Auseinandersetzung zu erzeugen und zu wahren. Dabei fesselt der Text umso mehr, als die innertextuelle Verweisungsdichte bei Roth extrem hoch und komplex ist und hier auch bei weitem nicht voll durchleuchtet werden kann. Die Erörterung mancher weitgespannter innerer Erwägungen und minutiöser Vergegenwärtigungsversuche, die doch sehr viel über das träumerische Denken des Helden sagen, habe ich hier unterlassen und gebe nur ein Beispiel: Nach der Tötung der Schwester sieht Johnny sie aufgebahrt und erinnert 59 sich später seines damaligen halb kindlichen Eindrucks: „Ich sah nicht ihr Gesicht. Oder vielmehr: so Unfaßbares lag hier, dass ich nicht Gesicht, sondern Landschaft sah. Ich sahs als heilige Landschaft […]“ (147), nämlich als biblische Landschaft Scharon, als die er sich seine Schwester Sharon denkt. Von hier erklärt sich rückgreifend das seltsame Verfahren Johnnies bei seinen Erweckungshandlungen, das er „Landnahmen“ nennt und das viel früher im Text geschildert wird (58ff). Es besteht in der Allegorisierung der dabei Anwesenden zu palästinensischen Landschafts-Topoi. Wohl unbewusst lässt er damit die tote Schwester in der Verklärung an seinem Vorhaben teilnehmen, wie er sie als aufgebahrte Leiche einst gesehen hat, sie, die doch ohnehin das letzte Ziel seiner Totenerweckungen ist. Und noch in dieser hieratischen Idolisierung der Leiche macht sich leise, als Subtext der Neutralisierung zur Landschaft, die verdeckte und verbotene Sexualisierung der Schwester bemerkbar. Dafür steht die schon erwähnte Assoziationsreihenbildung: Sharon - Scharon - Schunemiterin zu Füßen des Propheten - Totenerweckung des Elisa - seine eigene, von der Reporterin flapsig benannte „Gefahr, daß es dich ankommt, zu besteigen.“ (90) Man sieht: Es darf, soll und muss in der Lektüre ein vielstrahliger Suchvorgang stattfinden angesichts einer Komposition, wo jeder Verweisungs- und Bedeutungskomplex auf weitere Unterkomplexe und noch einmal Minikomplexe ähnlicher Bauart zurückweist, eine Struktur, die an die Architektur von Gewächsen erinnert, aber eine Kunststruktur. 60 Unter den Namen, die Hallie sich gibt, ist deshalb mit größtem Recht der, dass sie sich auch Johnnies Muse nennt (156). Sie ist es nicht nur als Tochter der Mnemosyne, der Erinnerung, an der er sich entlang tastet, sie ist es auch als Muse der Dichtkunst. Und in ihrer Eigenschaft, Muse der Dichtkunst zu sein, ist sie die, „Die Deine Geschichten weiß, übers Ende hinaus.“ (156) - damit auch über ihr eigenes Ende als Handlungsfigur hinaus, das seinem Ende ja noch voraus liegt. In und mit Johnny darf sie als Schwester auferstehen. Als Muse der Dichtung ist sie immer schon unsterblich. Deshalb kann sie auch stellenweise wie der „Geist der Erzählung“ aus Vogelperspektive berichten und, obwohl sie doch als Schwester noch viel mehr gestorben ist denn als Hallie Doniphan, das letzte Wort der Erzählung sprechen: „Bruder“. Es ist das Wort der Reporterin, die in Hallie, die in der Schwester Sharon, die in der Muse aufgegangen ist. Als Seelenrede und Botschaft nimmt „Johnny Shines“ gefangen. Als musisches Echo einer Seelenrede setzt es frei. Diese Seelenrede ist ein Text. Johnnies Vater, der ihm eine Erklärung seiner Löwengrubenlegende verweigert, zeigt ihm zur Begründung seiner Weigerung einen Satz in einem Buch, das er gerade las. Es ist das Dictum: „Am Anfang war das Universum kleiner als der Punkt am Ende dieses Satzes.“ (23) Seine Pointe besteht darin, dass er zur Illustration einer innertextuellen Behauptung aus dem Text heraus auf das Medium, Zeichen aus Druckerschwärze auf Papier, deutet, in dem der Satz erscheint. Das ist innerhalb des Satzes ein Sprung aus einem Bezugssystem 61 in ein anderes. Eine solche Metabasis eis allo genos wäre eine Reduktion von Roths Dichtung auf Bezugssysteme der außertextuellen Wirklichkeit. Eine Interpretation stattdessen hat ihren allerletzten Bezug im Rückverweis des Lesers mit seiner Wirklichkeit auf den Text. Er sagt, was er sagt, nicht mehr und nicht weniger. Anmerkungen 1 Natürlich liegt der Gedanke an Tolstois Roman „Voskresenie“ (1899) nahe, in Deutschland unter dem Titel „Auferstehung“ erschienen. Es ist denkbar, dass Roths Wahl eines englischen Titels diese Assoziation überdecken sollte; jedenfalls stellt der Untertitel „Die Christus-Trilogie“ sicher, dass es bei Roth tatsächlich um Christus als Mitte der Trilogie geht, wogegen Tolstoi mit der Inanspruchnahme des Titels für einen Menschen seiner Epoche und Gesellschaftsschicht sich vom Christentum distanziert. Er stellt der Christus-Auferstehung, die für ihn Mythologie ist, die sittliche Auferstehung eines Menschen als reale Lebensmöglichkeit gegenüber. In Fjodor Dostojewskijs Roman „Prestuplenie i Nakazanie“ („Vergehen und Strafe“ bzw. „Schuld und Sühne“) gewinnt die Auferweckung der Toten einen ähnlich moralisch-sozialkritischen Sinn wie bei Tolstoi. Im 4. Kapitel des 4. Teils liest die Prostituierte Sonja dem Mörder und heruntergekommenen Jura-Studenten Raskolnikow die biblische Geschichte von der Auferweckung des Lazarus vor, und das ist der erste Funke für die Auferweckung Raskolnikows aus seiner entsetzlichen Selbstverfangenheit und Verstrickung. 2 Durch Metathese aus Perchtentag. Die Perchtennacht ist die Nacht vor Epiphanias, volkstümlich dem Tag der heiligen Drei Könige. - Die Gestalt eines vierten Heiligen Königs hat auch Edzard Schaper (Die Legende vom vierten König. 1961) und Michel Tournier (Gaspard, Melchior & Balthazar. 1980) beschäftigt. 62 3 Biblisch ist Christus der Löwe von Juda (Offb 5,5), in dieser Hinsicht ist er in Patrick Roths Legende der Löwe in der Löwengrube. 4 Die bekanntesten Stimmen: Dorothee Sölle: Realisation. Studien zum Verhältnis von Theologie und Dichtung nach der Aufklärung. Darmstadt/ Neuwied 1973. Karl-Josef Kuschel: Jesus in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Mit einem Vorwort von Walter Jens. Zürich u.a. 1978. Theologie und Literatur. Zum Stand des Dialogs. Hg. Walter Jens, Hans Küng, Karl-Josef Kuschel. München 1986. Meine hier vorliegende Untersuchung steht in der Perspektive meines Buchs: Christus im Spiegel der Dichtung. Exemplarische Interpretationen vom Barock bis zur Gegenwart. Freiburg i. Br. 1.A 1997; 2.A. 2000. 5 Das Verstopfen der Ohren durch Gott ist ein biblisches Motiv, s. Jes 6,10 und Mk 4,12; aber dort ist es eine Strafe Gottes, nicht eine Öffnung für die innere Stimme Gottes. 6 S. 103, s. C.G. Jung: Mysterium Conjunctionis. In: ders.: G.W. Solothurn, Düsseldorf 1995. Bd. 14/ 2, S. 119-120. 7 Vielleicht verweist der Name des Cowboys auf den alttestamentlich als Verfasser des 81. Psalms genannten Weisen Ethan. Dieser Psalm besingt Ethans frühere Herrlichkeit im Glanz der Gnade Gottes und sein nunmehriges tiefes Elend, aus dem er zu Gott schreit. Auch Johnnies Aufruhr schreit zu Gott. 8 Durch den Kontext ist klar, dass „erkannt“ hier im biblischen Sinne des Liebesakts zwischen Mann und Frau zu verstehen ist. 9 Novalis: Schriften. Hg. P. Kluckhohn ( ✝ ), R. Samuel. Bd. 1. 2. A. Darmstadt 1960. S. 166ff. 10 Noch näher am Motiv, aber unabhängig von christlichen Bezügen bei der kultischen Darbietung des Lustmords ist dagegen das seinerzeit Aufruhr erregende Kurzdrama „Mörder, Hoffnung der Frauen“ von Oskar Kokoschka (1907/ 10), 1920 vertont von Paul Hindemith („Wer säugt mich mit Blut? Ich freß Dein Blut, ich verzehre Deinen tropfenden Leib“) = O.K.: Das schriftliche Werk. Hg. H. Spielmann. Bd. 1 Hamburg 1973. S. 35-41. 11 Zur zeitlichen Strukturierung von „Johnny Shines“ beziehe ich mich auf Andreas Mauz: „Johnny Shines oder die Wiedererweckung der Toten“. Ein Close reading. In: Georg Langenhorst (Hg.): Patrick Roth - Erzähler zwischen Bibel und Hollywood. Münster 2005. S. 89-108 12 Vgl. August Langen: Der Wortschatz des deutschen Pietismus. 2.A. Tübingen 1968. S. 287: „Bekanntlich steht der Kult des ‚Sei- 63 tenhöhlgens‘ im Mittelpunkt der pathologischen Frömmigkeit Zinzendorfs, namentlich in seiner ‚Eruptionsperiode‘ (1741-1749). [Oskar] Pfister [: Die Frömmigkeit des Grafen Zinzendorf. Eine psychoanalytische Studie. 2.A. Leipzig und Wien 1925.] (62f.) verzeichnet hier als Lieblingsvorstellungen: […] in die Wunden ‚kriechen‘ […], ‚sich einnisten‘ […], in Christi Seite ‚wühlen‘ […], ‚spielen‘, die Wunden ‚belecken‘ […].“ 13 Die Information zur Planetenkonstellation verdanke ich Michaela Kopp-Marx. 14 Roth bezieht sich immer wieder im Werk auch auf die Erdbebennacht vom 17. Januar 1994 als Ausgangspunkt eines „Bewusstseinswechsels“ (P.R.: Zur Stadt am Meer. Heidelberger Poetikvorlesungen S. 23). Frankfurt a.M. 2005. 15 Man könnte an Akira Kurosawas Film „Rashomon“ (1950) denken, wo ebenfalls der Geist einer Toten spricht. Vergleichbar ist auch die Auflösung der Wirklichkeit in Wahrnehmungsperspektiven bei Patrick Roth und Kurosawa. 16 Laut einem RIP-Interview mit Jerry Cantrell vom Februar 1993: Alice in Chains - Digging Dirt. 17 Ich verwende zum Film-Bezug Hinweise, die ich einem noch ungedruckten, mir freundlich zur Verfügung gestellten Referat „Erinnerung und Mythos in Patrick Roths ‚Seelenrede‘ Johnny Shines“ von Michael Braun verdanke. Es wurde gehalten im Rahmen der Wissenschaftlichen Tagung „‚Ins Tal der Schatten‘. Patrick Roths Schreiben zwischen Hölderlin und Hollywood“, die unter Leitung von PD Dr. Michaela Kopp-Marx vom Germanistischen Seminar der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg und dem Deutschen Literaturarchiv Marbach am 29./ 30. 2007 in Marbach veranstaltet wurde, und wird in einer Sammelveröffentlichung der dort gehaltenen Beiträge enthalten sein. 18 Ob Patrick Roth Anstöße von Antonin Artauds Theater der Grausamkeit oder aus der Tendenz des neuen amerikanischen Films zur provokativen Kreuzung von brillanter Intellektualität und exzessiver Gewalt und Sexualität aufgenommen hat, kann ich als Frage hier nicht verfolgen. Jedenfalls unterscheidet er sich durch die Vermeidung von schockierenden Detaildarbietungen. 19 Den Thomas Mann in „Der Erwählte“ die Glocken von Rom läuten lässt. 64 Riverside Teil II Trilogie und Triptychon. Das verfremdete Zentrum Die schwarze Legende von der „Löwengrube“ steht als eine inverse Passionsgeschichte in der Mitte von „Johnny Shines“. Sie spricht vom Einswerden Jesu mit Judas durch Totenerweckung und Kommunion, Tod und Auferstehung. Jesus ist der Heilsbringer als vorher verstrickter Täter, nicht nur als sich selbst darbringendes Opfer - das bleibt zentrale Deutungsfigur in der gesamten Trilogie. Diese Legende nimmt die maßgeblichen Glaubensbestände des Christentums aus ihrem dort unlösbaren Zusammenhang heraus und konstelliert sie in frappierender Weise neu. Das macht „Johnny Shines“, die mittlere Erzählung, zugleich zum Zentrum der Christus-Trilogie; man könnte sagen, es macht die Trilogie zu einem Triptychon. 1 In der Mitte steht das Hauptstück. Das linke Seitenstück, die erste Geschichte, „Riverside“, erzählt Vorgeschichte: 2 von einem Heilungswunder des lebenden und lehrenden Jesus. Das rechte Seitenstück, die letzte Geschichte, erzählt Nachgeschichte: von der Auferstehung des Jüngers Thomas im Corpus Christi und durch ihn. Liest man die Erzählungen als Trilogie, dann erzählen sie von einer Steigerungsreihe: Krankenheilung - Totenerweckung - Auferstehung, alles Bilder für die Erlösung des Menschen 67 durch Vereinigung mit sich selbst im Einswerden mit Christus. Er ist der Psychopompos und das Modell der Göttlichkeit des Menschen in der Versöhnung mit sich. Die Lesung als Triptychon ist ein Subtext, oder, wenn man will ein Dissolve: das zentrale Heilsereignis mittig, verfremdet zu Psychopathographie und Filmzitat eines Westernklassikers, aber in der Verfremdungsgestalt doppelt provokativ und bezwingend, wobei die Verfremdung in das gesamte Textcorpus ausstrahlt. Der englischsprachige Titel „Riverside“ und der englischsprachige Glaubensbegriff „Resurrection“ über einem deutschsprachigen Text transponieren die Verfremdungstendenz ins Sprachliche. Eine Dialektik von Annäherung durch Entfernung vom Ursprung und Ausgangspunkt wird hier in Gang gesetzt, die auch eine Lebensspannung und Grundfigur des Autors ist - ein Deutscher in Amerika, der dort Englisch spricht und Deutsch schreibt, mit Hilfe von filmischen Mitteln erzählt und mit Hilfe von erzählerischen Mitteln Filme macht: Patrick Roth. 68 Das Heilungswunder wird zur Therapie Die inneren Dialoge als „Seelenrede“ in „Johnny Shines“ haben sich als Vollzug eines selbsttherapeutischen Prozesses erwiesen, der sich im modernen Rahmen um die Löwengrube von Jesus und Judas herumlegt. Die „Christusnovelle“ „Riverside“ hat einen Helden namens Diastasimos, den der historische Jesus Christus selbst vom Aussatz geheilt haben soll, und zwar wiederum - in Stationen eines Ganges der Identifikationen, des Ganzwerdens aus gespaltenen Teilen, der Integration des Gegenbildes. Auf innere Gespaltenheit als Ausgangsverfassung deutet schon der Name Diastasimos, was griechisch der Auseinanderstehende, in sich Geteilte heißen kann. Christus in eigener Person weist ihn auf die Spur, gerade indem ihm das direkte Heilungswunder nach biblischem Modell - also durch den frontalen Heilungsspruch des göttlich bevollmächtigten Heilands - versagt wird. Christus sagt zu Diastasimos bei einem Besuch in dessen Wohnhöhle in Bezug auf den Aussatz, der alttestamentlich als Gottesstrafe gilt: „Zeig aber nicht mir, Diastasimos. Denn du willst nicht von mir, was zu geben ist. Sondern wer hat dich gesehn? […] Zeig dem, mit dem dus geteilt. Geh zu ihm, laß dich heilen.“ (53f.) Dieses von Diastasimos nicht verstandene Jesuswort 69 deutet zurück auf ein für ihn lebenswendendes Erlebnis am Tempelberg in Jerusalem, wo Diastasimos, der gläubige Jude - unter Bruch des strengen Gesetzes, das die Aussätzigen radikal aus dem Gottesvolk aussonderte - gleich nach Ausbruch der Krankheit mit dem Opfer zweier Tauben Heilung bei seinem Gott suchen wollte. Mitgerissen von einer gerade gegen die römische Besatzung revoltierenden Menge, war er durch den Geißelhieb eines römischen Agent provocateur getroffen worden, wogegen der mit dessen anderer Hand geführte tödliche Schwertstreich abgelenkt wurde durch die in diesem Moment dem Diastasimos entgleitenden und aufflatternden Opfertauben. Der Geißel- und Schwertschwung, bei dem die jüdische Verkleidung des Römers zurückgeglitten war, und der Geißelhieb, der Diastasimos’ Kleid zerrissen und die vom Aussatz gezeichnete Schulter entblößt hatte, machen für einen blitzhaften Blickwechsel den Römer und den Aussätzigen einander in ihrer Außenseiterposition erkennbar; dann wird Diastasimos in der Masse weitergetrieben. Der Römer ist es, der den Diastasimos in seiner Krankheit gesehen hat, wie dieser ihn als jüdisch verkleideten Römer gesehen hat. Mit ihm hat er den Erkennungsblick auf die ‚Blöße‘ des anderen geteilt. An ihm, bei ihm, durch ihn soll er nach dem Christuswort Heilung finden. Denn, so Christus: „Der mit dir teilt, der ist in dir. Mit ihm teilst du dich.“ (55) Aber auch: Mit ihm vereinigst du dich, wirst du einig mit dir. Und so liegt schon in dieser verstörenden Versagung Gottes ein Keim von Rettung: Diastasimos ist nicht durch ein Opfer geheilt, aber gerade durch die 70 Caravaggio, Johannes der Täufer, ca. 1605 Titelbild zu „Riverside“ Opfertiere vor dem Tod durchs Schwert bewahrt worden. Der Römer und der Jude, der Täter und das Opfer, sind Teile, zwei getrennte Seiten eines Ganzen. Erkennen sie sich und nehmen sie einander an als zusammengehörig eins, sind sie ganz und heil. Doch zur Heilung des Diastasimos sind weitere Erfahrungen nötig. Die erste ist, dass Christus, begleitet von den Jüngern Johannes und Judas, ihn in der entlegenen Höhle aufstört, in die er sich nach dem Fehlschlag am Tempelberg verkrochen hat und wo er nun mit seinem Gott hadert wie Hiob. Dieser Gott ist ihm stumm und feindlich, sowohl in der Verhängung der Krankheit wie in der Verhinderung des Opfers auf dem Tempelberg, das Diastasimos für seine Genesung bringen wollte. Er ist ihm stumm, weil er ihn als Fernen und Gegenüberstehenden, Unnennbaren gemäß jüdischer Tradition erlebt. Aber er sucht ihn heim in seinem Unglauben, der ihn, einen anderen gefallenen Adam, ins Höhlenversteck hat fliehen lassen - so das erste Motto der Erzählung aus Gen 3,9f., verschränkt mit einem Gospel-Zitat, in dem der adamgleiche Sünder sich in einer Felsspalte der Ewigkeit verstecken möchte. Diese Heimsuchung geschieht in Jesus, dem Nahen, doch auch ihn nimmt Diastasimos nicht an, jedenfalls nicht nach dem Schema der biblischen Heilungsgeschichten, in denen Kranke oder deren Fürsprecher sich um Heilung bittend an den Meister wenden. Hier sucht der Meister den Kranken auf, und dieser fragt: „Was wollt ihr? “, wobei er nicht einmal direkt Jesus, sondern die Besuchergruppe anredet (47). 72 Jesus aber schweigt, und in seiner schweigenden körperlichen Präsenz, vom Anstieg zur Höhle des Diastasimos „den Schweiß noch im Angesicht“ (48), liegt so viel Macht und Aussagekraft, dass diesem die Sinnlosigkeit seines Ausweichens vor ihm, ja seines ganzen Lebens aufgeht. Jesu Blick sagt ihm, dass sein, Diastasimos’, Leben zerstreut, verloren, in der Verlorenheit nun vor Jesus versammelt ist und in Ordnung gebracht sein will. Dann packt Jesus ihn, den Aussätzigen, Unberührbaren, mit der Hand an der Schulter, und diese Berührung geht bis in den Lebenskern. Aber wie in einem inneren Machtkampf, auch mit sich selbst, weist der Kranke den Heiland, nachdem der Augenblick der Unmittelbarkeit verstrichen ist, zurück, obwohl - oder weil - Jesus jetzt erstmals spricht und auf den Heilungsauftrag des „Vaters“ hinweist (52). Diastasimos trotzt: Mit einem Heilungsauftrag, sagt er, „bist du hier falsch“ (52), denn der Vater, Gott, sei es ja, der ihn, obwohl schuldlos, krank gemacht und verworfen habe. „Wie kann ich dem glauben, der Menschen so zeichnet - und grundlos.“ (53) Es ist die uralte Theodizeefrage, und eben sie schiebt Christus, indirekt aber radikal, von sich ab. Als Diastasimos ihm seinen Aussatz zeigen will, will er ihn nicht sehen (53). Diastasimos soll nicht Objekt von Heilshandlungen werden. Christus ist kein Gutmacher von angeblichen Übeltaten Gottes, die dem Heiler demonstrativ vorgewiesen werden. Vielmehr soll der Versehrte dazu geführt werden, Subjekt eines Verstehens zu werden. Nicht Gott über ihm, sondern sein Gegenüber ist sein Feind, und dieser Feind ist das 73 von ihm unerkannte, zu erkennende andere seines Ich. Erkennt er es, ist er geheilt und die Theodizeefrage erloschen. Aber Diastasimos versteht nicht, versteht auch Christi Gleichnis nicht von zweien, die im Dunkeln teilen, weil sie im Dunkeln sich gar nicht als zwei empfinden. „Der Blitz aber wird die teilen, die sehen.“ (54). Der Blitz ist die Krankheit, die Diastasimos aus seinem Dunkel herausgerissen und zum in sich Auseinanderstehenden, zum Entzweiten gemacht hat. Aber trotzdem hat die Erschütterung den Boden bei Diastasimos gelockert. Er warnt seine Besucher, die nach dem, was wie ein Fehlschlag der Heilung aussieht, auf dem Weg über Bethanien nach Jerusalem weiterziehen wollen, vor einer nächtlichen Straßensperre der Römer, die vermutlich Jesus suchen und als Aufrührer festzunehmen beabsichtigen. Jesus lehnt eine Umgehung ab, und im Zusammenspiel zwischen Diastasimos und Judas entsteht der Vorschlag zu einem Täuschungsmanöver - Jesus soll, um der Aufmerksamkeit der Wachen zu entgehen, den beiden Jüngern als ihr Knecht folgen, verkleidet in die Lumpen des Diastasimos und beladen mit einem dem Diastasimos gehörenden schweren, kostbar geschnitzten, vormals zur Schwelle bestimmten Balken, unter dem er zu Boden gebückt gehen muss. Diese Überlegung akzeptiert Jesus mit den Worten: „Laß mich tragen die Schwelle, die du in deine Wohnung einzulegen versäumt hast“ (58). Sie sind hintergründig, denn was wie eine List aussieht, wird von Jesus, dem Herrn der Welt in Knechtsgestalt, zur symbolischen Handlung gemacht: Sein von Diastasimos verschmähtes Heilshandeln ist die kostbare 74 Schwelle zum Heil, die nun weitergetragen wird. Indem Christus den Knecht darstellt, erfüllt er die Gottesknechtsverheißung des Deuterojesaia (Jes 49ff.). Indem Christus das von Diastasimos als entbehrlich eingeschätzte Holz auf sich nimmt, präformiert er, der verschmähte Messias, die Kreuztragung. Diastasimos ist den Jüngern heimlich gefolgt, halb weil er Christus gedemütigt sehen will, halb, weil er ihm Gelingen wünscht (69), und beobachtet nun Folgendes: Der Hauptmann der römischen Wache ist misstrauisch und führt ein strenges Verhör der beiden Jünger im Blick auf den Knecht durch. Johannes stellt sich bekenntnishaft und klug zu Jesus und preist ihn als Messias, beruft sich sogar auf einen römischen Hauptmann, der an Jesus glaubt (76) - gerücht- und andeutungsweise ist schon vorher vom Hauptmann von Kapernaum die Rede, der Jesus umarmt haben soll (64; Mt 8,5ff.). Johannes bemüht sich aber zu vertuschen, dass der als Knecht beladene dritte Mann eben dieser Jesus ist. Das abstrakte Bekenntnis ist somit eine konkrete Verleugnung. Während solcher Reden sinkt Jesus unter der Last des Holzes zusammen, Judas entreißt blitzschnell einem Soldaten die Bleikugelpeitsche und beginnt, den Darniederliegenden, weil er das kostbare Holz fallen gelassen und dadurch beschädigt habe, wild auszupeitschen - ein äußerster Versuch, durch diese Handlungsweise glaubhaft zu machen, dass der zusammengebrochene Mann tatsächlich ein Knecht, nicht der Herr und Messias sei. Der Hauptmann jedoch, der längst im Knecht den gesuchten Jesus erkannt und nur noch ein Spiel mit den 75 dreien getrieben hat, wird gerade durch das Peitschen des Judas - nicht getäuscht, sondern „bewegt von solch gotteserbärmlicher, äußerster Liebe des Juden“ (82). Er bringt die Geißelung zum Einhalt, von dem Schmerzensmann angesogen „wie ein Verlorener“ (84). Mit der Rechten reißt er, Judas bedrohend, sein Schwert empor, entreißt ihm die Geißel und - hat ein déjà-vu-Erlebnis. Er ‚erkennt‘ in dem vor ihm liegenden Christus den aussätzigen Juden im Tempel, den er damals, selber als Jude getarnt, mit der Geißel niedergeschlagen und mit dem Schwert verfehlt hat, und weicht zurück - in einer Bewegung vor dem aussätzigen Diastasimos von damals, vor dem gegeißelten Jesus hier und vor dem „Ausgepeitschten, dem Gott“ (83), vor diesen dreien in einer Person. Er umarmt in ihr, wie ein paar Tage vorher der römische Hauptmann von Kapernaum den Heiler seines Knechts, den „Jesus-und-Diastasimos“, während doch Diastasimos tatsächlich in der Ferne als Beobachter steht. Erschüttert durch die vorhergehende Jesusbegegnung, fühlt er dort, dass „diese Umarmung, die eine und einzige, wahre“ ist (84). Unter dem bei der Geißelung zerrissenen Lumpenkleid Jesu sieht er seine eigenen Lumpen, am Körper des Herrn seinen eigenen Aussatz, in seiner Holzlast seine Last - und ist geheilt. „Geheilt! Könnt ihrs ermessen? Geheilt! ! “ (84) Noch einmal: das ist eine seelische Handlung und ein Erlebnis des Beobachters Diastasimos, der im Beobachten assoziativ-imaginativ versteht, welche seelischen Handlungen im Hauptmann ablaufen. Auch in dieser Hinsicht ist er Diastasimos, der Hier- und Da-Stehende. 76 Der Kern der Szene ist die von ihm erlebte Überblendung und der Zusammenfall der beiden Geschehnisse am Tempelberg und hier bei der römischen Straßensperre, darin die heilende Doppelidentifikation mit Jesus als dem unter der Geißel zusammengesunkenen Opfer, das für ihn seine Schmerzen und Sünden trägt, und mit dem römischen Hauptmann, dem Agent provocateur und Täter von damals, dem hier und jetzt endgültig das Licht des Glaubens aufgeht. Diastasimos weiß sich eins mit Jesus, er weiß sich eins mit dem Römer, der Jesus auf Diastasimos projiziert - er ist ganz in der Vereinigung des Getrennten, und er ist darin jesusförmig, wie Jesus diastasimosförmig für ihn geworden ist. Im Entspringen des Heilungswunders aus dieser Konstellierung unterscheidet sich diese Wunderheilung grundlegend von den Wunderheilungen des Neuen Testaments, bei denen Jesus allein als der Herr und Vollmachtträger handelt und noch die biblisch geläufige Erklärung „Dein Glaube hat dir geholfen“ souverän von ihm und nur von ihm getroffen wird. 3 Das Beziehungsgeflecht hat die Heilung ermöglicht, die ohne weitere Zeugen bleibt. Man könnte die Ereignisfolge von der Tempelszene, dem Besuch Christi in der Höhle des Aussätzigen bis zum Zusammenstoß mit der römischen Wache wiederum therapeutisch nennen, allerdings nicht ganz als Selbsttherapie wie die des unter äußerstem Leidensdruck stehenden Johnny Shines, der sich in den imaginären Schwester-Postfigurationen quasi Helfer selbst erzeugt, sondern mit Jesus als Therapeuten, von dem man dieser Funktion entsprechend keine Innensicht 77 gewinnt. Diastasimos als Binnenerzähler kann alle Handlungsfiguren in ihren psychischen Bewegungen deuten, aber den Christus nicht; der bleibt als Katalysator draußen. So stößt Christus bei Diastasimos den Vorgang an, doch gelingen kann er nur in der Mitwirkung des zu Heilenden, der den Weg tatsächlich gehen muss. Diastasimos tut es, indem er sich mit Jesus und dem Hauptmann identifiziert, der sich mit dem Gottesknecht identifiziert. Solches Zusammenwirken von Therapeut und Patient ist nötig, aber auch die ohne ihr Wissen beteiligten Personen sind es, vorab Judas, dessen Erhebung zur Christusebenbildlichkeit in der Löwengrubenlegende bei Roth hier beginnt. Schon dass ausgerechnet Judas nur mit dem Lieblingsjünger Johannes zusammen Christus bei der letzten Wanderung nach Jerusalem soll begleitet haben dürfen (41f.), stößt auf Unglauben und Verdruss der beiden Zuhörer von Diastasimos’ Erzählung. Anstößig ist auch, dass Johannes an Judas in Bethanien eine rituelle Fußwaschung vorgenommen haben soll (65). Vor allem aber rückt Judas in die Mitte der Episode bei der römischen Wache. Bereits Johannes wird hier dreimal zum Verräter Jesu, gerade indem er dessen Identität leugnet und ihn damit vergeblich zu schützen versucht - ein Verrat aus Treue also im Gegensatz zu dem anklingenden des Petrus („Und Johannes leugnet abermals, vielleicht ein drittes Mal“ 79), der aus Feigheit stattfindet. Erst recht aber treibt Judas den Verrat aus Treue ins äußerste, indem er Jesus brutal geißelt, um ihn zu retten. 4 Noch durch die biblische Verratsgeschichte hindurch wird der 78 identifikatorische Bezug zwischen Judas und Christus, sei es in der Negation, festgehalten. Diastasimos erwähnt eine in der Apostelgeschichte 1,18 festgehaltene Überlieferung, nach der Judas als Selbstmörder in zwei Teile auseinander gebrochen sein soll (20). Auch als Auseinandergebrochener verweist er, in der Löwengrubenlegende schon einmal auf dem Schattenkreuz gestorben, auf die sein sollende integrale Ganzheit des Menschen, der in dieser Ganzheit Christuszüge trägt. Wo Jesus ist, ist Judas. Und umgekehrt. 79 Nicht Urgemeinde, Familie ist der Bezugspunkt des geheilten Diastasimos Der Held von „Riverside“ Diastasimos erzählt diese seine Geschichte zwei Jüngern, die vom Apostel Thomas ausgesandt worden sind, demselben, der schon als Kirchenpatron bei Johnnies Heilungsversuch in Shinbone begegnet ist und als ungläubiger Thomas der Held der letzten Geschichte der Trilogie, „Corpus Christi“, sein wird. Die Jünger sollen aus Diastasimos einen Bericht über seine Jesusbegegnung herausholen, der in die schriftliche Jesusüberlieferung der Gemeinde aufzunehmen ist. Ein Gerücht vom Scheitern der Heilung des Aussätzigen ist nach außen gedrungen, und die einsiedlerische menschenferne Lebensweise des Alten scheint das zu bestätigen. Umso mehr sind sie überrascht, als sie aus dem Widerstrebenden schubweise und dann immer flüssiger hervorlocken, dass er letztendlich doch geheilt worden ist, und auch noch einen Beweis dafür bekommen. Das geschieht durch eine Inszenierung des Diastasimos, der von Anfang an handelt, als sehe er den Besuch der Jünger voraus. Er hängt seinen Rock von früher, den er als gesunder Bauer getragen hat, an einen eigens von ihm eingeschlagenen Nagel ziemlich hoch in die Felswand seiner Höhle. Diastasimos hat durch seine Erkrankung an Aussatz seinen familiären Zusammenhang fallen 80 gelassen und verloren, und das schien von vornherein wichtiger als der kultische Zusammenhang mit der Gemeinde, in der ein frommer Jude sich als Glied des Gottesvolks sieht. Jedenfalls kehrt er am Ende als Geheilter demonstrativ in die Familie zurück, indem er einen der beiden Jünger, die zu ihm als Christuszeugen gekommen sind, als Sohn dem zu erneuernden Familienverband eingliedert, damit aber auch den zweiten an sich zieht, der dessen Bruder ist. Zwar bleibt Diastasimos insofern nicht am Ufer des Geschehensflusses („Riverside“) stehen, als er aus seiner Mimikry als Aussätziger hervorkommt und sich vor den Jüngern offen zu seiner bis dahin von ihm geheim gehaltenen Heilung und damit zu Christus als Heiland bekennt, aber er strebt auch nicht zum Anschluss an die Jüngergemeinde, die doch die Arme nach ihm ausgestreckt hat und missionarisch wirkt. Die Familie ist dazu ein Gegenpol; auch darin ist er ein Diastasimos, der zwischen zwei Positionen stehen bleibt. Früher, als er noch gesund war, hatte ihm sein neunjähriger Sohn in einem kleinen Alltagsritual am Morgen das Kleid gereicht. Am Ende ‚adoptiert‘ Diastasimos den Andreas symbolisch als dieses Kind, indem er sich als nunmehr Gesundeter von ihm abermals das Kleid holen lässt. Es hängt so in der Wand seiner Höhle, dass sich Andreas wie ein Kind danach ausstrecken muss, und diese Bewegung ist so machtvoll, dass er sich tatsächlich in diesem Augenblick als Kind fühlt und Diastasimos als Vater erkennt: „[…] und er erinnert sich, wer früher so sprang, als Neunjähriger nämlich, am Eingang des Hauses, das 81 Kleid zu holen dem Vater. Und sein Bruder, den die Griechen Tabeas nennen […], der hat es auch so gesehen und hat verstanden den Weg und erkannt den Vater: neu beginnend, wo sie sich einst getrennt.“ (92f.) Das ist Einholung nicht der Familie in die Gemeinde, sondern der Jünger in die Familie. Dann hebt Diastasimos die Sichel aus dem Wassertrog, die er damals geputzt hatte, als er im Wasserspiegel des Brunnens seinen Aussatz erkannte (24), „und siehe, sie glänzt.“ (93) Diese bedeutungsschweren letzten Worte des Texts, Schilderung der letzten Handlung des Diastasimos in der Erzählung, schließen wie die Wiederholung des Kleiderdarreichens einen Kreis der Gegenwart mit der Vergangenheit und ihrer familiär-bäuerlichen Prägung. Die Kreisfigur entspricht der Zyklik von Saat und Ernte, nicht einer lineare Ausstrahlung im Sinne des Missionsbefehls des auferstandenen Christus. Es liegt sehr nahe, dass in diesem Zusammenhang die glänzende Sichel auch den geläufigen Symbolverweis auf den Mond, damit Weiblichkeit und Fruchtbarkeit enthält und so auch die Ganzheit von Mann und Frau und damit der Familie anklingt. Auf dieser Position wird auch der geheilte Diastasimos bleiben, hierher hat er seelisch die Jünger herübergezogen, während draußen die Geschichte der christlichen Gemeindebildung in Gang kommt. Was er von ihr hält, ergibt sich aus seiner Geringschätzung des Petrus, der nach Christi Worten doch der Felsen sein soll, auf den er seine Kirche baut (Mt 16, 17ff.), und aus seinem Urteil: „Von Jahr zu Jahr wird die ‚Unerfahrenheit‘, auf die ihr euch da beruft, größer wer- 82 Caravaggio, Auferweckung des Lazarus, 1609 Titelbild zu „Corpus Christi“ den, denn der als Herr euch gelebt hat und starb, wird ferner euch sein.“ (63) Warum wird Diastasimos kein Jünger? Auffällig ist von der eben gewonnenen Position her, dass in der Christus-Trilogie durchgehend der heilsgeschichtliche Zusammenhang, in dem Israel als Gottesvolk steht, aus dem heraus sich auch der biblische Christus versteht und den die Urgemeinde der Kirche einprägt, eine sehr geringe Rolle spielt. Diastasimos ist wie Johnny Shines ein Einzelgänger, Johnny hat als Totenerwecker die tote Schwester zum letzten Bezugspunkt, und auch der Jünger Thomas, Held von „Corpus Christi“, hält sich bis zum Ende von den Jüngern isoliert. 5 Diastasimos lebt wie Christus und die Jünger als Jude unter Juden und römischen Besatzern, aber nicht in einem Selbstverständnis als Angehöriger des auserwählten Volkes, das seinen endzeitlichen Messias erwartet, vielmehr in einem familiären Rahmen, der der tiefenpsychologischen Dimension der Christus-Trilogie entspricht. Deshalb gibt es auch in der Christus-Trilogie in der Symbolbedeutung von Totenerweckung und Auferstehung kaum die geläufige Unterscheidung, dass die erstere individuelle Wiederkehr ins irdische Leben bedeutet, die letztere hingegen als durch Christus errungener Sieg über den Tod zumindest keimhaft ein endzeitliches Ereignis ist. Bei Roth sind beide gleichermaßen Symbole des neuen Lebens in der Ganzheit des Menschen, die in Christus hervorgebracht ist. 6 84 Erzählweise. Vom Reden schreiben In „Riverside“ spitzt sich die Gemeindeferne des Diastasimos in der Erzählweise zu. Zunächst einmal zeigt sich analog zu „Johnny Shines“ auch hier, dass Wirklichkeit als Objektivierbarkeit von Sachverhalten nicht greifbar wird, vielmehr volle Wirklichkeit erst im Gefüge des Sprechens als Wirksamkeit entsteht. Im Unterschied zu „Jonny Shines“ gibt es in „Riverside“ einen alle Positionen umfassenden Haupterzähler, den Jünger Tabeas, der ebenso wie sein Bruder und Begleiter, der zuletzt von Diastasimos adoptierte Andreas Markus, 7 keiner aus der Jesus zu Lebzeiten begleitenden Jüngerschar ist. Sie sind von Thomas ausgesandt, der einer der Zwölf gewesen war, am Ende der dritten Erzählung aber im absoluten Augenblick der Ekstase die Jünger aus dem Blick verliert, dann wohl doch in die Jüngergemeinde zurückgekehrt oder zurückgesunken ist und dort eine maßgebliche Rolle übernommen hat. Hat er einst den toten Christus durch Faktenbezug festnageln wollen, so nun die Zeugnisse über ihn durch Schriftlichkeit. Tabeas erzählt vom ersten bis zum letzten Wort aus einer rückblickenden Überschau und mit zwar subjektiver, aber souveräner Deutung, die auch die Deutungen des Binnenerzählers Diastasimos übergreift. Wenn Tabeas als Anfang seiner Erzählung den einsamen Alten 85 in seiner Höhle höchst anschaulich und auch symbolträchtig schildert (die Leiter zum Nageleinschlagen als Pflug, der auf das Kommende wie eine Saat vorbereitet), wie Diastasimos sich auf den Besuch rüstet, von dem er doch normalerweise gar kein Vorwissen haben kann, dann steht hiermit kein religiöser „Seher“ vor uns, den die noch verborgene Heilung geheiligt und über menschliches Normalmaß herausgehoben hat, sondern Tabeas gibt eine Exposition, indem er als wirkungssicherer Erzähler aus dem übermächtigen Eindruck extrapoliert, den er aus dem folgenden Besuch von dem Alten empfangen hat. Der Eindruck der Besucher, dem Diastasimos als überlegenem Regisseur geradezu ausgeliefert zu sein, verlängert sich dem Tabeas gleichsam nach vorn. Mit dieser Perspektivierung der Situation führt der als Handlungsfigur so schwächliche Tabeas als nachträglicher Erzähler eine poetisch vollmächtige Rede vor, die auch die eigene frühere Hilflosigkeit noch vollgültig zum Ausdruck bringen kann. Am Ende bekennt er sich als Tabeas, „der dies aufgeschrieben“, wie er es gesehen und verstanden hat (93) und nimmt damit die von ihm gewählte überpersönliche Redeweise, in der er auch von sich selbst in dritter Person spricht, in die personale Perspektive zurück. Diese Erzählweise schließt eigene und fremde direkte Rede ebenso ein wie direkte Rede seines Genossen Andreas und des Diastasimos, ferner Dialoge, personale Erzählungen des Diastasimos und die darin enthaltenen Dialoge. Nichts bleibt außerhalb dieser Sicht des Erzählers Tabeas. Und wie sehr das Erzählen Wirklichkeit im Sinne von Wirksamkeit erzeugt, beweist dieser 86 übergeordnete Erzähler am Ende der Erzählung des Diastasimos mit einem Schlag - es ist die Pointe auch seines eigenen Erzählens: Stattgefunden hat ja die Heilung vom Aussatz schon längst, als Diastasimos von fern den gegeißelten und unterm Holz niedergerbochenen Chistus gesehen hat; aber sie hat nichts nach außen bewirkt. Ja, noch mehr: Wenn Diastasimos in seiner Erzählung vom Auftritt Jesu mit Johannes und Judas in der Höhle spricht, illustriert er geradezu sein Widerstreben gegen den damalige Besuch Jesu mit seiner heutigen Widerborstigkeit gegen den Jüngerbesuch. Es ist zwar eine provokatorische Inszenierung, dass er gegenüber Andreas und Tabeas den Nichtgeheilten spielt, sie verhöhnt, weil sie nichts „Größeres“ als Jesus leisten können (61f.), von ihm als „göttlichem Schwächling“ spricht (62) und ihm unterstellt, er habe, wie sie auch, Angst gehabt, bei dem Aussätzigen länger zu verweilen (63f.), aber es ist doch sehr auffällig, wie leicht er in diese Rolle des unerlösten Empörers schlüpft, wie nahe sie ihm noch liegt, wie begierig er noch einmal die Szene eines Fehlschlags durchspielen möchte. Tabeas als Außenerzähler mag die Binnenerzählung hier so stilisiert haben, aber ihr Sinn kann doch nur darin bestehen zu verdeutlichen, wie sehr noch Jahre nach der Heilung Diastasimos diese Heilung von sich selbst weghält. Warum auch hätte er nach der Heilung die Rolle des Aussätzigen weiterspielen sollen, wenn er nicht innerlich an seinem damaligen, die Heilung bewirkenden blitzhaften Verstehen noch später hart und langwierig und einsam hätte arbeiten müssen. Und wie 87 kommt diese Arbeit zum Abschluss? Durch das Auftreten von leidenschaftlichen, aber begriffsstutzigen Zuhörern, die ihn zum Erzählen bringen. In diesem Erzählen erst versteht Diastasimos völlig sein damaliges Verstehen, indem er es, nachdem es lange in ihm gereift ist, nach außen treten lässt. Darin potenziert sich, was damals geschehen ist. Wie das Ereignis des Heilungswunders vorab nicht auf Taten, sondern auf deren Verständnis und Deutung durch Diastasimos, also auf psychische Handlungen, zurückgeht, genauso wird die Wirklichkeit der Heilung erst voll wirklich, indem sie in seinem Erzählen wirksam wird. Er hat sein Leben als Aussätziger nicht als Maskerade weitergeführt, einsam, in der Höhle, fern der Familie, in den Lumpen des Aussätzigen, sondern als Verpuppung gelebt. Jetzt, als Ergebnis und ‚Frucht‘ seiner eindringlichst vergegenwärtigenden Rede, macht er seine reine nackte Haut als Zeugnis sichtbar und kehrt als heil und ganz Gewordener ins Leben zurück. Innerhalb dieser auch sonst bei Roth herrschenden, Wirklichkeit hervorbringenden Erzählweise ist nun in „Riverside“ eine Erzählproblematik streithaft zwischen Diastasimos und den beiden besuchenden Jüngern entfaltet, die mit dem Einzelgängertum der Hauptfiguren der Christus-Trilogie zusammenhängt. Sie wirft auch ein Licht auf die Positionierung des Rothschens Erzählens über Gegenstände der christlichen Tradition im Verhältnis zum biblischen Erzählen, speziell der Evangelien. Ich meine das Verhältnis von Schriftlichkeit und Mündlichkeit. Die Sperrigkeit des Diastasimos gegen seine Besucher resultiert zu einem guten Teil aus seiner Ableh- 88 nung ihres Chronistenauftrags, der aufs ergebnishafte Aufschreiben hinausläuft. Den beiden Jüngern und der ganzen Jüngergemeinde fehle die Kraft und Unmittelbarkeit des Glaubens und der sinnenhaften Erfahrung, ja, es scheint ihm, als hätten sie Angst davor; deshalb zögen sie sich hinter das zurück, was man getrost nach Hause tragen kann, existierten im Protokollieren und Tradieren, statt aus dem Glauben zu leben und zu handeln. Deshalb verstünden sie nichts bei allem, was sie zur Kenntnis nehmen. Beweis: Sie wollen gerade in dem Augenblick das nach ihrer Meinung ergebnislose Gespräch abbrechen, in dem er zum Zentrum der Heilungsgeschichte kommen will (63). Diastasimos triumphiert nach der Erzählung seines Heilungswunders: „Ja, ihr wißt gar nicht was, ihr habt keine Worte dafür, und aufgeschrieben hast du nichts, Tabeas. Aber wenn dus behältst, ja selbst nur für dich aufbewahrst und nur dir, wars tausendmal mehr als die Schrift, die niemand erlebt mehr.“ (85) So treibt nun Diastasimos in seinem mündlichen Erzählen das heraus, was man nimmermehr aufschreiben könne, von einem knorrigen Beharren auf genauer Topographie einer Örtlichkeit und darin der Choreographie der Bewegungen über die minutiöse Vergegenwärtigung von Abläufen, sinnlichen Eindrücken der Berührung oder der Stofflichkeit, Gegenläufigkeiten der Ereignisse, Handlungen und Gefühle bis schließlich hin zu einer fulminanten Darbietung von Gesamtatmosphäre und Stimmung. Dabei erweist er sich als begnadeter Erzähler, dessen Fähigkeit sich vielleicht am stärksten in seinem Erzählprogramm bekundet: „Erst muß verwirrt sein, verworren sich im 89 Altgelernten nicht mehr kennen, der etwas finden will.“ (68) Der Text will auf eine Weise verstanden sein, die Arbeit ist. Die objektive Ironie liegt nun aber darin, dass das übergreifende Erzählen des Tabeas diesen ganzen Streit zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit so wunderbar vergegenwärtigt, dass man als Leser dabei zu sein meint. Erst das nachträgliche schriftliche Erzählen des Tabeas macht ja den genialen mündlichen Erzähler Diastasimos gegenwärtig. Das Schreiben, speziell das erinnernde und überblickende Schreiben, erweist in dem Text der Erzählung seine ganze Kraft und gewinnt seine volle Rechtfertigung daraus, dass es sogar die umfassende und radikale Kritik der Mündlichkeit an der Schriftlichkeit in sich bergen und lebendig bis in die Spontaneität der Streitreden wiedergeben kann. 8 Vor allem aber ist es die Leistung dieses schriftlichen Texts und damit natürlich in letzter Instanz des Autors, dass es im Medium der Schriftlichkeit das mündliche Erzählen mit seinem ganzen Reichtum, seinem Charme, seinen Ober- und Untertönen zum Tragen bringen kann. Und wie die Anfangsszene von „Johnny Shines“ die meisterhafte Indienstnahme der filmischen Technik für die Erzählung demonstriert, so demonstriert der schriftliche Erzähleingang von „Riverside“ die Fülle der Vergegenwärtigungsmöglichkeiten der Schriftlichkeit. Allerdings: so wenig Diastasimos sich der Gemeinde der Jünger anschließt, so wenig ist der Bericht des Tabeas über Diastasimos in den Kanon der neutestamentlichen Schriften eingegangen. Er ist eine Apokryphe, 90 die ein Kunstprodukt der Autorschaft Patrick Roths ist, der sich als Tabeas ‚inkarniert‘ hat. Die Erzählungen des Evangeliums sind freilich keineswegs solche Protokolle, wie sie Diastasimos zuwider sind; sie haben, neben der vollen Kraft der Mitteilung in Komposition, Symbol und Verweis, die Größe des Ausdrucks durch Aussparen. Und sie sind Glaubensbotschaften im Ensemble, gerichtet an eine Gemeinde der Gläubigen. Roths Erzählungen sind dagegen moderne, bewusst artistische Prosa, imaginative Eigenwelten, die den individuellen Leser in sich hineinziehen. Anmerkungen 1 Dieser Vergleich findet sich in der Forschung zu Patrick Roth wiederholt in verschiedenen Varianten. 2 Von dieser Erzählung gibt es eine durch Grete Lübbe-Grothues hilfreich kommentierte Einzelausgabe: P.R.: Christusnovelle. Text und Kommentar. Kommentar von G.L.-G. Frankfurt a.M. 2005. 3 Das ist eine verdeutlichende Stilisierung .Bei genauem Hinsehen zeigt sich, dass auch biblische Heilungsgeschichten die Aktivität des zu Heilenden oder Geheilten einfordern und wahrnehmen, etwa bei der Blindenheilung Joh. 9. Wie oft greift Roth auch hier bei seinen Weiter- und Umbildungen biblischer Motive Ansätze der Ausgangsgeschichten auf und entfaltet sie, freilich eigenwillig. 4 In der Verlängerung läge ein bei Roth unausgeführtes Motiv, wie es sich etwa in „Der Fall Judas“ von Walter Jens (1975) findet: dass Judas Jesus durch den Verrat dazu bringen will, sich als Messias triumphal zu offenbaren. Allerdings zu einem Messianismus der herrschenden jüdischen Tradition, nicht auf der Spur der Deuterojesaianischen Gottesknechtsprophezeiungen, auf der Jesus sich sieht. 5 Vermutlich begründet sich von hier aus auch der ausdrückliche Gattungshinweis „Christusnovelle“ als Untertitel des ersten 91 Stücks der Trilogie. Konzentriert sich doch die Novelle gemäss Goethes nachwirkungsstarkem Diktum auf eine „sich ereignete unerhörte Begebenheit“ im Gegensatz zum Roman, der seine Handlung aus einem breiten, meist gesellschaftlich bestimmten Feld entwickelt. 6 Es ist kennzeichnend, dass der Band „Corpus Christi“, der ja von Auferstehung (s. der Gesamttitel „Resurrection“) handelt, als Titelbild ein Gemälde von Caravaggio mit dem Titel „Resurrezione di Lazzaro“ trägt, das im deutschen Bildnachweis der Suhrkamp-Ausgabe aber korrekt „Die Auferweckung des Lazarus“ heißt. Zwar hat in „Corpus Christi“ Tirza in der Gruft Christi eine eschatologische Vision, aber wenig später sagt Tirza von Christus - und das ist das Gegenteil von heilsgeschichtlichem Denken: „Nicht gestern war er oder wird morgen sein. […] Sondern jetzt und in dir ist er.“ Der einzelne hier und jetzt ist der Erscheinungsort Jesu Christi, das Heilsdrama ist individuell. 7 Markus bedeutet lat. der ‚Hammer‘, wohl deshalb kommentiert Diastasimos „Auch kein schöner Name“ (14f.). 8 Damit befinde ich mich im Gegensatz zu Knut Backhaus, der anlässlich der Kritik des Diastasimos an der Protokolliererei der Jünger in „Riverside“ schreibt, Patrick Roths Erzählungen der Jesustrilogie kündeten „wie Meteoriten der Mündlichkeitskultur von weit entfernten Welten“. Er vergisst, dass er einen Text liest, der - mit allen Raffinessen der Moderne - ausdrücklich als schriftlicher Bericht des Jüngers Tabeas fingiert ist. (K. B.: „Nur ist das Tauchen in die Spur nicht schon das Ziel“ - Ein Neutestamentler liest Patrick Roth. In: Georg Langenhorst (Hg.): Patrick Roth - Erzähler zwischen Bibel und Hollywood. Münster 2005. S. 31-47. Dort S. 38). 92 Corpus Christi Teil III Der Krisenweg der Seelenführerin Tirza Das Mittelstück der Trilogie, „Johnny Shines“, handelt von einer Totenerweckung, die - vielleicht - gelungen ist, als sie fehlschlug, und einem leeren Sarg. Das letzte Stück der Trilogie, „Corpus Christi“, handelt von der Auferstehung und - von einem leeren Grab. Der Jünger Thomas aufersteht in der Einung mit einem Corpus Christi, das nicht Corpus Christi ist. Fast alle Hauptmotive, die in den beiden ersten Stücken der Trilogie aufgetaucht sind, werden im letzten Stück wieder aufgegriffen. Zwei Vorstellungen aber erfahren eine besonders breite und eindringliche Entfaltung: Die der Seelenführerin und die einer radikalen Selbstkonfrontation, die in der Selbstfindung durchlaufen werden muss. Die Seelenführerin Hallie Doniphan und ihre Vorläuferin, die befragende Reporterin, als Projektionsfiguren und Projektionsträger von Johnny Shines, die ihn in die Krise führen, treten als von vornherein Endgültige in seinen Blick. Sie haben einen Sitz im gelebten Leben der toten Schwester Johnnies, sind aber innerseelische Gehalte. Die junge Frau Tirza, die von den Römern verhaftet und gefoltert wird, weil sie am Diebstahl der Leiche des Gekreuzigten beteiligt oder zumindest mitwissend sein soll, erscheint dem Jünger Thomas gleichfalls als von 95 vornherein Wissende und Geheimnisträgerin, aber das Fakten- und Fertigwissen, das er ihr unterstellt, hat sie nicht, weil es dieses Fertigwissen nicht gibt, und ihr Geheimnis hat sie auf einem Weg gewonnen, den sie ihm zeigen, den er aber nicht gehen will, weil er, obwohl Jünger, nicht einmal die Art dieses Geheimnisses ahnt, geschweige denn seinen Inhalt. Auf der Suche nach dem Verbleib der Leiche Jesu, an dessen Auferstehung er nicht glaubt, erhofft er sich von ihr Aufklärung eines rätselhaften Sachverhalts, und erst im Lauf ihrer Gespräche beginnt er zu ahnen, dass ihr Geheimnis etwas anderes ist als ein Rätsel und dass sie dieses Geheimnis mit Leib und Leben entziffert hat, während es ihr eingefleischt wurde - immer nur einen Schritt ihm voraus, wenn auch den entscheidenden. Tirza ist eingeweiht, aber erst seit kurzem. Sie stellt sich vor als Pilgerin aus Damaskus, also als Fremde im jüdischen Land und unter den Jesusanhängern, aber im Unterschied zu dem auch völlig von außen, ja, von Verfolgerseite in den Jüngerkreis eintretenden Paulus, der nach biblischem Bericht seine Bekehrung auf der Reise von Jerusalem nach Damaskus erlebt (Apg 9), hat sie ihre Bekehrung in zwei Krisen während der Pilgerfahrt von Damaskus nach Jerusalem erfahren. Paulus repräsentiert die von Jerusalem ausgehende Missionswendung der Christusbewegung, die letzten Endes auf Kirche zielt; Tirza repräsentiert die Konzentrationswendung zur „Seelenrede“ mit und in Christus im Passions- und Auferstehungsgeschehen in Jerusalem, die für die Christus- Trilogie kennzeichnend ist. 96 Nach der ersten Krise beginnt Tirza, Jesus leidenschaftlich als Lebenden zu suchen, und findet ihn als Gekreuzigten. Unterwegs mit ihrer Familie nach Jerusalem, um dort das Passah-Fest und anschließend die Hochzeit mit ihrem seit Kindheit ihr vorherbestimmten, aber unbekannt gewordenen Bräutigam zu begehen, begegnet sie Christus auf seinem letzten Weg in die heilige Stadt, seiner Bestimmung entgegen. Schon diese ihre erste und zu seinen Lebzeiten einzige, von außen gesehen ganz flüchtige Begegnung mit ihm wird von ihr als Ausnahmesituation erlebt. Ohne rechten Halt angstvoll im dunklen Blättergewirr eines Baumes hängend, in den sie wie der biblische Zöllner Zachäus geklettert ist (82ff.), um Sicht auf Jesus zu bekommen, erblickt sie ihn plötzlich und kurz, als ein Windstoß die Zweige beiseite weht, und fängt einen Beinaheblick von ihm auf, der intensiver ist als der volle Blick, weil er nach Ergänzung durch den Angeblickten, damit seiner ‚Mitarbeit‘ an der Begegnung verlangt - ein Motiv der Mitarbeit am Heil, das wir von Diastasimos kennen und das in „Corpus Christi“ immer wieder umspielt wird. Von Jesu Blick sagt sie: „So, durch das Abgeschnittensein, wie rasend trafen sie auf mich, mit ungeheurer Gewalt, die Augen.“ (85), kurz vorher spricht sie vom „Herkommen der Augen“. Auch dieses Motiv der quasi Verselbständigung der Augen oder eines Auges (etwa das alte Bild des in Gottes Schöpferhand eingesetzten Auges), steigerbar zu einem Geben der Augen (vgl. Eph 1,18: „Und er gebe euch erleuchtete Augen des Herzens, damit ihr erkennt […]“) 97 tritt noch mehrfach als Symbol geistigen, dem Lebensvollzug vorauseilenden Sehens in „Corpus Christi“ auf. 1 98 Vergewaltigung als Taufe im Jordan Liebe zu Jesus erschüttert seit diesem Begegnungsaugenblick Tirza, die mit der Gruppe ihrer Mitreisenden an einer Jordanfurt Rast zur Übernachtung macht. Nach dem Wasserholen schläft sie erschöpft ein und hat einen Weltentzweiungstraum, der von dem das Land durchschneidenden Fluss ausgeht. Die Erde spaltet sich mit dem Fluss, am tiefsten Grund der Erdspaltung erscheinen eine verlassene Stadt, der Tempel, die Bundeslade als Orte des Allerheiligsten und Geheimsten. Von hier kommt das Symbol des Kastens, „ob Schatz, ob Grab“ (95), das im folgenden mehrfach auftritt; etwa als leerer Urnenkasten in der Gruft Christi oder als Kasten, in dem die präparierte Leiche des Christusdoubles befördert wird. Auch soll ein Wächter in der Gruft Christi einen Kasten bemerkt haben, zu dem der fragende Thomas in Anlehnung an den Traum Tirzas die Assoziationsreihe ‚verschlossene Heilige Stadt, verschlossener Tempel, die heilige Lade‘ bildet (94). Das Allerheiligste muss demnach auf dem Grunde der Zerrissenheit gefunden werden. Ein nach diesem Traum von Tirza belauschtes Dämonengespräch anonymer Stimmen in den Dünen am Fluss (96ff.) spielt zwischen Liebes- und Lebensverheißung und Vernichtungsdrohung. Beim nochmaligen 99 abendlichen Wasserholen wird sie von einem dämonischen Unbekannten gepackt, mit dem Kopf brutal unter Wasser gedrückt, bis ihr die Luft ausgeht, und vergewaltigt. Dann erschlägt er sie mit einem Stein - körperlich (105). Der Dämon sucht im erschlagenen Körper, in ihrem „roten, toten Stoff“, ein Geheimnis, das er nicht findet, und stimmt darüber eine „große, schamlose Klage“ (107) und ihre Beschimpfung an. Währenddessen schwebt ihr Geist, vom toten Körper getrennt, über der Szene. „Aber sein Aufsehn, sein Hinaufsehen, weil er immer schon wußte, wo ich war, […] sein Aufsehn sprengte mich“ und stieß die, „die ich immer noch war,“ (108) in unermessliche Räume. Sie sieht visionär ein großes Rad, das an das in der Berufungsvision des Propheten Hesekiel 1,16 beschriebene Rad am Gefährt des Allerheiligsten Gottes erinnert. Es verwandelt sich bei Tirza in einen Riesenblock, in dem der Kasten, die Bundeslade, der Tempel des vorhergehenden Traums, in Umwälzung versetzt, wiederkehrt. Er zerstört alles, auch Raum und Zeit, zuletzt ihr „eitles Ich-bin-ich“ (111). Diese Formel meint jenes starre, in sich und seiner Selbstkontrolle verfestigte Vernunft-Ich, das seine ihm innewohnenden dunklen Kräfte ausgrenzt, noch nicht angenommen hat, so dass ihm das Dunkle von außen als anonyme dämonische Macht begegnet. Das Schrecklichste ist auch das Allerheiligste, das in der tiefsten Tiefe der Weltspaltung die Starrheit des Ich zertrümmert und vernichtet. Nun erst, als Tirza nach Vorstufen der Ohnmachtserfahrung radikal machtlos und Ich-los geworden ist, greift 100 eine Hand nach ihr, die sie ins Leben zieht. Es ist die Hand Jesu, der blutverschmiert, erschöpft, weinend, auch er machtlos wie sie, rituell dreimal von ihr fordert: „Wach über mir“ (118). Da steht sie wieder auf und lebt, indem sie über Jesus wacht - das Gegenbild zum dreimal durch den Weckruf Jesu unterbrochenen Schlaf der Jünger in Gethsemane (Mt 26,36ff.). Jesus macht Tirza zur „Erinnerin“ (119), wie es die andere Seelenführerin Hallie Doniphan ist, aber darüber hinaus in dem weiteren Sinn, dass sie lernt, das ihr vermeintlich äußere Dunkle nach innen zu nehmen, zu ‚verinnern‘. So ‚erinnert‘ Tirza schrittweise, dass letzten Endes Jesus nicht nur eine der beiden anonymen Stimmen ist, die sie in den Dünen belauscht hat, sondern beide Stimmen, das Ganze, auch der Dämon, der Vergewaltiger, ‚aufgehoben‘ in ihm. Auf das Geheime, im Zerstörerischen doch letztendlich rettend dem Menschen Zugewandte deutet bereits der Augen-Mythos, den der Dämon seinem noch anonymen Gesprächspartner in den Dünen erzählt hatte und der wie ein Pendant zum Schweben ihres Geistes über dem Körper wirkt: „Dein Vater“, sagt er (und lässt damit erstmals ahnen, dass der Sohn Gottes dieser adressierte Anonyme ist 98), also Gott, habe eines seiner Augen aus seinem Kopf genommen, und dieses Auge sei anfänglich er, der Dämon gewesen, „damit er auf den Grund des Abgrunds säh durch mich, sein Aug“ (98). Bei seiner Rückkehr aber habe ein Menschenauge „an seiner Statt im Licht“ gesessen (98), und im Menschenauge habe gesessen: das Leben und im Leben das Bewusstsein des Menschen, dass er lebt. Dieses Bewusstsein „in sei- 101 ner grauenhaften Unschuld“ straft der Dämon dafür, dass es das Dämonische ‚verdrängt‘ hat und deshalb im tieferen Sinne doch bewusstlos ist. Diese Strafe ist es, was Tirza als Vergewaltigung erlebt. Und so behütet und bewacht sie in dem blutverschmierten, abgekämpften, fiebernden, erschöpften Jesus auch die Umkehrgestalt des Erlösers, ihren Vergewaltiger. Von Tränen aufgestoßen, öffnen sich ihre Augen, und sie sieht: die weinenden Augen Jesu (117). „[…] daß er machtlos wurde, völlig erschöpft zusammenbrach im Fieber, das war es, was mir das Leben auch als Leben wiedergab.“ So Tirza. Und Jesus lässt sie in ihrer Machtlosigkeit auch das tiefste Geheimnis des Kreuzes erfahren: dass erst die völlige Machtlosigkeit des Erlösers am Kreuz ihn zum Erlöser macht. Erst im Vergehen der unmittelbaren Vollmacht des Messiaskönigs tritt die wahre Vollmacht des Erlösers heraus, den Menschen freizulassen, id est: im ursprünglichen Wortsinn zu ‚erlösen‘. Denn ein herrscherliches Geschenk des Lebens und der Freiheit wäre ein Abhängigmachen gewesen. Erst das Geschenk des göttlichen Machtverzichts und aus dem göttlichen Machtverzicht heraus, das der Mensch seinerseits sich aus seiner tiefsten Hinfälligkeit heraus nehmen muss, ist das äußerste aller Geschenke. „Du nimmst, du läßt es dir nicht geben. Nur so wird’s dein.“ (124, Zitat 126) Am Ende dieses lebensbedrohlichen und lebensermöglichenden Ringens, auch Verständnisringens um das Geschehene, geht die Sonne auf. Offensichtlich ist in dieser Ereignisfolge der Kampf Jakobs vom Abend bis zum Morgen an der Furt des Flusses Jabbok mit dem unbe- 102 kannten Gott, in der Urschicht der Erzählung wohl einem Flussdämon, erinnert, aus dem er als Gezeichneter und Gesegneter hervorgeht (Gen 32,23-31). In der Bilderflut der Visionen wirkt die vorhin schon zitierte Initiationsvision des Propheten Hesekiel am Fluss Kebar nach (1,1ff.). Vor allem aber ist die Vergewaltigung und Rettung eine ingeniöse Transformation des Taufsakraments, das im Wasser Tod und Leben, im Untertauchen Sterben und Wiedergeburt vergegenwärtigt. Als auf Christus Getaufte geht Tirza aus diesem Ereignis hervor, das im Zusammenhang der Trilogie wie eine Innensicht vom Geopferten her auf jene Kommunion wirkt, die Christus in der Löwengrube an und mit dem von ihm zerteilten Judas zelebriert. Ein Messer jedenfalls wie das, mit dem er Judas erstochen und später geteilt hat, wird uns in einer Steigerung dieser Vergewaltigungserfahrung Tirzas wiederbegegnen. 103 Tirza im Grab. Apokatastasis panton Nach dieser Heimsuchung kann Tirza nicht in ihren Alltag zurück; Familie und Bräutigam sind entschwunden. Sie muss der Spur Jesu folgen, sucht ihn neun Tage lang, bis sie ihn in Jerusalem, dem Ziel ihrer Reise, wiedersieht - am Kreuz. Sie weiß aus ihrem Leid heraus plötzlich, dass sie ihn in der Totengruft nahebei erreichen wird, die offen steht. Eine Annäherung an die Jünger kommt ihr nicht in den Sinn. Tirza versteckt sich in einer hinteren leeren Grabkammer, wird Ohrenzeugin der Grablegung, und als sie eine der Frauen „Die Augen. Die Augen! “ rufen hört (143), fühlt sie, die doch Unsichtbare, ihre Augen gemeint - zum zweitenmal das Motiv der wandernden Augen. Sie bleibt allein in der Gruft mit dem toten, von der Qual der Folter glühenden Corpus Christi - ihre zweite Wache bei Jesus nach der am Fluss Jordan, bei der sie einen zweiten Durchgang von Visionen erlebt, beginnend wieder mit dem fürchterlichen Kasten (148), der, rotierend, in den Dimensionen gewaltig wie der Tempel, kriechendes Gewürm, Raum, Zeit, auch die Visionärin zu zerquetschen droht. Doch diesmal bringt Tirza es fertig, sich mit letzter Kraft an der Kante des Christusgrabes hochzuziehen (148), während bei der früheren Umwälzung des Kastens 104 die Hand Christi nach ihr, der dort noch Passiven, greift (113). Sie verliert an Christi Seite die Angst (149), sinkt in ihn, der für sie, weil er Angstbesieger ist, lebt, obwohl er tot ist, und fällt damit in eine andere, noch tiefere Visionsschicht, nun nicht mehr in der Tiefe des Raums, sondern in der Tiefe des Inneren Christi. Wiederkehrt die Vergewaltigung als grässliche Tötung, jetzt mit dem Messer (151), das an jenes ominöse Messer Christi in der Löwengrubenlegende erinnert. Die Gewalt geschieht ihr durch einen, der aus dem Dunkeln kommt, noch ihren zerstörten Körper misshandelt, als letzter Töter seinen Toten, also Tirza (152), nacheinander vor drei ihm verschlossene und zunächst verschlossen bleibende Stadttore wirft - offensichtlich der Heiligen Stadt Jerusalem in ihrer symbolischen Bedeutung als apokalyptische Stadt Gottes. (Die Nähe des Bildsinnes zur vergeblichen Suche des Vergewaltigers im Fluss nach ihrem verschlossen bleibenden Innersten, überhaupt die gesteigerte Wiederkehr der Motive von dort drängt sich auf.) Schließlich fügt der Töter ihr eines seiner Augen ein. Das ist die Umkehrvariante der Dämonengeschichte vom herausgenommenen Auge Gottes (wobei auch hier wieder Jesus, der seine Augen auf Tiza ‚wirft‘, während sie im Baum hängt, im Hintergrund steht), und dieses Auge des Geheimwissens in ihr dringt wie ein Rauch durchs verschlossene Stadttor des eschatologisch verklärten Jerusalem, schafft den ‚Durchbruch‘, der dem Vergewaltiger im Fluss nicht gelungen war, und gewinnt letzten apokalyptischen Aufschluss: abermals - als ihr Sehen mit dem Auge des Dämons - die notwendige Mit- 105 wirkung des zu Heilenden am Heil. Darin ist schon die andere Steigerung über die erste Vergewaltigungsszene im Fluss hinaus vorbereitet, dass sie, dort nur Opfer, sich bei dieser zweiten Untat so fühlt, „als sei ich, die zerrissen wurde, der wahre Mörder, ich, die hier lag: die über ihn Gebeugte, mein messerwunder Arm: der fahrendreißende, der jenes Messer hielt.“ Der Gebeugte, das ist der Vergewaltiger, in dem verborgen der Erlöser ist (152). „Der stach und schlug, der wars, der schrie mit jedem Schlag und spuckte Blut […]“. Der Stechende ist auch der vom Stich getroffene. Mit dem spirituellen, rauchförmigen Durchdringen des Tors ist die Visionärin im „Kasten“, im Allerheiligsten, so wie es beim Zerreißen des Vorhangs im Tempel offen liegt. Es ist erfüllt von einer überwältigenden visionären Szene der Apokatastasin panton, der letzten Wiederbringung und Heimholung aller Sünder und Verlorenen bis hin zu Satan - dem tiefsten Traum vieler großer Häresien des Christentums, während es die Ewigkeit der Höllenstrafen eisern verteidigte. Im Traum Tirzas sitzen alle Täter zusammen mit allen Opfern, die je gewesen sind, an einem Tisch „unzertrennlich ineinandergerückt“ (155). Die letzte Angst und Dissonanz, die rätselhafte Finsternis des bis dahin herrschenden Lichts (154) lösen sich auf, als „der Herr des Fests“ (156; wohl eine Reminiszenz an den „Fürsten des Fests“ in Hölderlins „Friedensfeier“) schließlich auf Tirzas nun auch hereingelassenen Vergewaltiger und Mörder zutritt, der sich zum „Entzweier“ (155), „dem Töter, dem Lügner, Versucher und Satan“ (156) verallgemeinert. Christus „[…] umarmt 106 ihn so gewaltig, daß sich ein Schrei erhebt aus allen Mündern, als würden in der Umarmung alle umgebracht. [noch einmal die Gewalt in der Umarmung]. Die Arme des Herrn aber durchhalten die Angst. Die Arme des Herrn halten fest den Gefundenen. Bis die Schreie verhallen, jedes, in der Umarmung erweckt, wiedererwacht, immer gehalten und nie verloren ist. Denn wo der Verlorene wiederkehrt, wird nie mehr verloren.“ (156) Die Vereinigung Christi mit Judas in der Löwengrubenlegende in „Johnny Shines“ überhöht sich hier gegen Ende der Trilogie zur Vereinigung Christi mit Satan als seinem Gegenbild. Nun erwacht Tirza aus ihrer letzten Vision. Vor ihr ist der Auferstandene, und sie jubelt: „Und ging durchs offene Felsengrab hinaus. Ich sah, ich sahs.“ (157) Im Weltendtraum der Apokatastasis panton, die auch für sie, die Gemordete und Mörderin, die Vergewaltigte und Vergewaltigerin, stattgefunden hat, ist Christus ihr auferstanden. Auferstehung und Wiederkehr Christi als König und Weltherrscher, nach dem heilsgeschichtlichen Denken des Christentums in der heilsgeschichtlichen Zeitrechnung auseinanderstehend, fallen hier zusammen. Es ist nicht schwer, in Tirzas Erlebnissen die Stationen der schon erörterten Einung des Menschen mit sich wiederzuerkennen. In einem oder mehreren Schocks wacht der Initiant auf: Der junge Jesus wird in die Grube geworfen; Johnny der Löwengrubenlegende ausgesetzt; Diastasimos von Aussatz befallen. Tirza begegnet Christus, wird von Liebe zu ihm ergriffen und belauscht das Dämonengespräch. Anschließend wird der Mensch 107 in eine zerreißende Auseinandersetzung geführt: Jesu Kampf mit Judas; Johnnies Brandstiftung der Kirche, Tötung der Schwester und scheiternde Totenerweckung Ethans; Diastasimos’ Geißelung im Tempel und Hader mit Gott und Jesus; Tirzas Vergewaltigung und ‚Tod‘. Am Grund der Zerreißung liegt das Geheimnis - drohend und vernichtend, solange es verschlossen ist, heilend, sobald offen. Es werden erlebt Machtlosigkeit, Zerfall des begrenzten Ich, Metanoia. Das Vernichtende bin reziprok auch ich in meiner Dunkelheit, der Täter ist auch das Opfer und umgekehrt, das Zerstört-Werden ist auch Tun und Wiedergeburt, Auferstehung, Vereinigung mit dem anderen und darin meiner selbst mit mir. Die Erfüllungsbilder dafür sind: Christi Kommunion und Vereinigung mit Judas in der Grube; Johnnies imaginäre Auferstehung und Kommunion mit Hallie; Diastasimos’ seelisches Eintauchen in die Szene zwischen Christus, Judas und dem römischen Hauptmann; Tirzas Wachen bei dem abgekämpften Jesus nach der ersten Vergewaltigung, Tirzas Traum von der Apokatastasis panton, Jesu Auferstehung in ihr. 108 Wie Thomas Christus findet Diese Tirza-Handlung gewinnt große Selbständigkeit, bleibt aber doch der Thomas-Handlung darin streng zugeordnet, dass Tirzas Seelenweg zu Jesus und darin zu sich notwendig ist auch für Thomas. Sie muss Jesus finden bis zur Auferstehung in ihm, damit sie Thomas diesen Seelenweg bis zur Auferstehung in ihm finden lassen kann. Weil sie stärker nach innen gewandt ist, ist ihr Weg mehr ein innerer Weg der Visionen und personbezogenen Erfahrungen. Thomas, der neben Judas dem ‚Verräter‘ als der Zweifler durch alle drei Erzählungen der „Christus“-Trilogie geht - er sendet die Jünger aus, die bei Diastasimos Handgreifliches über Jesus erkunden sollen, er ist Patron der Kirche, in der Johnny eine ‚reale‘ Totenerweckung vollziehen will und daran scheitert. Dieser Thomas, der Held auch von „Corpus Christi“, hat mehr Zugriff und Ausgriff als Tirza. Im Unterschied zu den anderen Jüngern glaubt er nicht an die Auferstehung und hält sie für ein Phantasieprodukt der Selbsttröstung. Er will die Leiche sehen und berühren und Jesus nachsterben - eine Weise, vom Glauben verschont bleiben zu wollen, wie ihm Tirza klarmacht. Er sieht in Tirza die Augenzeugin, die ihn den verschwundenen Christus als handgreifliches Corpus Christi finden lassen 109 soll. Sie ist jedoch die Glaubenszeugin, die ihm vorleben will, dass er seine Suchrichtung nach innen umkehren muss, um Christus zu finden. Sein Weg auf ihrer Spur führt durch die gleichen Stationen, die Tirza durchlaufen hat. Das fast unendliche, Himmel und Hölle durchwandernde Gespräch mit Tirza im Vorhof des Tempels bringt ihn ab von seiner linearen, aufs Ergebnis losgehenden Zielrichtung und führt ihn in eine zwölfmalige, also der Zahl der Tierkreiszeichen im Jahresgang entsprechende Wanderung mit ihr im Kreis dieses Hofes, der sich in ein Kreisen des Dialogs umsetzt. Weitergehend, wird er dabei immer wieder auf sich zurückgeführt, bis Tirza schließlich stehen bleibt, ihm Erde zu essen reicht (160) zum Zeichen der völligen Hingabe an seinen Tod, an seine Schwäche und Machtlosigkeit. Er weist die Gabe zurück, aber sie setzt ihm unter furchtbarem Schmerz das Auge ein, das, vom Dämon ihr eingedrückt, ihr die Vision der Apokatastasis panton, der All-Einung, zugebracht hatte - die letzte Variation des Motivs der wandernden Augen. Damit kommt nun Thomas zu sich. Der Kreis reflexiv rückwärts zu sich führt jetzt vorwärts zum Finden Christi, zur Auferstehung ins Eigene, durch Christus. Wie aber Thomas’ Suchrichtung so entschieden aufs Handgreifliche zielt, ist sein Weg auch viel mehr Auseinandersetzung mit Äußerem und Anstoß durch Äußeres als bei Tirza, der Seelenführerin und Anima, bei der selbst das scheinbar brutal von außen Einbrechende, die Vergewaltigung, ins Visionäre mündet. Der Tod Christi ist Thomas’ Dekompositionserlebnis, aber dann sucht er 110 außen, in der Faktenwelt, nach der Leiche - bei den Römern, die eine vermeintliche Mitwisserin unter der Folter gefangen halten. Weil er Christus außen, als totes Corpus Christi sucht, bricht er zusammen unter der gezielten Falschmeldung, der von den Jüngern gestohlene Leichnam Jesu sei gefunden worden und solle auf einem Scheiterhaufen öffentlich verbrannt werden. So von außen her wird auch die Gespaltenheit virulent, die er schon im Namen trägt - dem Beinamen Didymos, was Zwilling heißt, und dem Doppelnamen Thomas Judas, weil ein angeblich gestorbener Zwilling Judas geheißen habe. Mit diesem Zwillingsnamen vertieft sich das Motiv der Ich-Spaltung bei ihm direkt zum Judas-Motiv. Tirza bringt ihn dazu, sich an seinen kindlichen Umgang mit dem vermeintlich toten kleinen Judas, seine Spiele, seine Gespräche mit ihm und sein lebenslanges Schuldgefühl zu erinnern, weil er sich ganz irrational an seinem Tod schuldig fühlt - hier liegt eine Parallele zu Johnny Shines mit seiner von ihm schuldig-unschuldig getöteten Schwester als zugehörigem Gegenbild. Aber Thomas bleibt vorerst bei einer Negativbeziehung: „Sein Körper fehlte mir, mich von ihm abzugrenzen. Und weil er fehlte, war er auch überall und immerzwei.“ (78) Von außen muss dem Thomas sein Zwillingsbruder wieder entgegenkommen, um Thomas aus innerer Verstörtheit in Richtung auf Selbstfindung anzustoßen - eben vom angeblichen Leichnam Christi her, dessen Auftauchen ihn so tief beunruhigt. Es ist nämlich in Wirklichkeit der Leichnam seines Zwillingsbruders Judas, der mitnichten gestorben, sondern von seinen 111 Eltern schon ganz früh ausgesetzt worden war. Der Tempeldiener Samuel hatte einst den Winzling gefunden, unter dem Namen Boas (von Roth gedeutet als ‚Trotzgewalt‘ 179) adoptiert und mit seinem einzigen leiblichen Sohn Jakin als Bruder aufgezogen. Jetzt, nach der Aufregung, die der Christusprozess bis zum Verschwinden der Leiche unter dem jüdischen Volk ausgelöst hat, sieht Samuel im Traum den Herodestempel in Jerusalem, das zentrale Heiligtum der Juden, verwüstet und weiß sich zum Abrahamsopfer des Boas gerufen, seines Findlings, den er im Tempel als Geschenk Gottes gefunden hatte (61ff.), so wie dem Abraham Isaak durch unmittelbares Eingreifen Gottes geschenkt worden war. Er flieht vor der Zumutung, den Sohn in den Tod zu geben, aber die herangewachsenen Söhne, die Brüder Jakin und Judas alias Boas, setzen durch, dass, um die Ausstrahlung des falschen Messias Christus, der auferstanden sein soll, zu brechen, Boas sein Leben für frommen Betrug hingibt: Mit Hilfe des überlebenden Bruders Jakin wird ein Täuschungsmanöver eingeleitet. Die Leiche des geopferten Boas wird als Leiche des verschwundenen gekreuzigten Christus präpariert und den Römern in die Hände gespielt, die sie, versteckt in einer jüdischen Karawane nach Jericho, erwartungsgemäß aufspüren und zur Widerlegung aller Messiasgerüchte einer öffentlichen Verbrennung auf dem Scheiterhaufen zuführen. Die Spiegelung dieses Zwillings Judas/ Boas in Christus ist als Zusammengehörigkeit des Geteilten und Entgegengesetzten verständlich - hier wie dort ein freiwilliger Opfertod eines Sohns zu Ehren Gottes (hier 112 natürlich des jüdischen Jahwe) und zur Rettung des Glaubens - hier der Väter, dort des neuen Glaubens an den Vater im Sohn. Ebenso offensichtlich ist, dass dieser Handlungsstrang zunächst dem Thomas Judas äußerlich ist - er muss erst aufgeklärt werden, dass der getötete Boas sein verlorener Bruder Judas ist, und erst Tirza, die ihm diese Geschichte - als ihr zugetragen - erzählt und ihm Samuel gezeigt hat, muss ihm die Entsprechung zwischen Jesus und Judas/ Boas klar machen und ihn fragen, „ob, was sich nach oben hin bekämpft und sich im Gegensatz zum andern stellt, das andere nicht von unten her ergänzt, […] durch seine Gegensätzlichkeit verbunden auf ein engstes. Aufs Ganze hin […]“ (70). Das ist am Tiefpunkt der Zerreißung die Wendung, der Beginn der Einung von falschem Christus und wahrem Christus, altem und neuem Glauben, aber zunächst an Thomas vorbei. Er erlebt die Einung nicht - wie alle anderen schon genannten Parallelfiguren der Trilogie in diesem Bewegungsmodell es tun - als prozessuale Krise in sich. Vielmehr empfindet er den mit Tirza immer wieder durchmessenen Gesprächskreis zunächst als Irrkreis, als Fieber, als Ohnmacht (71). Vergeblich erinnert Tirza ihn an die seelische Ohnmacht, die er laut seiner eigenen Erzählung innerlich während des letzten Abendmahls bei der Verratsankündigung Jesu erlebt hat. Sie ergriff ihn, als Judas sich als der Verräter erwies und in diesem Moment jeder von den Jüngern auch in sich die Möglichkeit zum Verrat spürte. Indem Thomas wie alle fragt: „Bin ich es? “ erleidet er völligen Selbstverlust, tiefste Hilflosigkeit: „Und da bin 113 ich es. Da war das Leben des anderen, des Bruders, meines geworden. Denn ich wars: Judas, der Zwilling, Judas Thomas, der Verräter.“ (75) Das ist, ohne dass Thomas es zu erkennen vermöchte, sein dunkler Durchgang zur Vereinigung mit dem Judas in sich, deren triumphale Vollendung noch aussteht, die aber das dunkle Geschehen zur Voraussetzung hat. Ergebnislos versucht Tirza, Thomas darauf zu führen, dass diese von ihm isoliert erlebte und wahrgenommene Ohnmacht das Moment der Kehre in sich trägt, wie sie schon von ihr erlebt worden ist, als sie beim erschöpften Christus wachte, als Chance vergleichbar der Machtlosigkeit Christi am Kreuz. Tirza sieht in solcher Blindheit, wie Thomas sie auch jetzt und hier noch zeigt, die Nähe zum verzweifelten Schlaf der Jünger in Gethsemane; aber sie sieht auch die Möglichkeit, in diesem Schlaf dem Thomas beizukommen (127), nämlich von seinem Unbewussten her. Denn: „Für dich hab ich gesehen. […] Daß du dir einig wirst, Zwilling.“ (158) Für diese dem Thomas noch bevorstehende umfassende Selbstfindung im anderen gebraucht nun auch Tirza das Bild der Kommunion, übrigens in der gleichen reflexiven Wendung, wie sie früher in einem C.G. Jung-Zitat begegnet ist: Auf Thomas’ Frage „Wie werde ich einig? “ antwortet sie: „Iß, was ich dir gegeben. Iß das Eigene.“ (158) Nach dieser Basismarkierung des Wegs nach innen, der dann noch Tirzas Erzählung von der Auferstehung Christi und der Apokatastasis panton folgt, kann sie aus Thomas’ Leben verschwinden. Er sieht sie später nur noch einmal, nicht ganz sicher, ob sie es wirklich war (164), 114 von weitem auf der Straße. Dann gerät er in die große Menge der Schaulustigen, die zur öffentlichen Verbrennung des angeblichen Corpus Christi durch die Römer strömen. Es geht dem Ende seines Erfahrungsganges zu. 115 Der falsche Leib Christi wird zum wahren Leib Christi Die große Integration, je länger aufgeschoben, umso gewaltiger, bricht über Thomas herein mit einem Ereignis, in dem nun plötzlich alle Motive der Selbsteinigung und damit Auferstehung zusammenschießen, die bisher in ihm isoliert und keimhaft geblieben waren. Vorher geht noch eine Niederdrückung, Niedertrampelung, Gewalterfahrung durch die Menge der zum Scheiterhaufen Herbeigeströmten, von fern an Tirzas Vergewaltigung erinnernd, ein hilfloses Mitgerissen- und Hochgerissenwerden in der Strömung der Schaulustigen, ein letzter Durchgang durch Ratlosigkeit, Machtlosigkeit, Lähmung und Zweifel an allem und jedem - am Wahrheitsgehalt von Tirzas Visionen, besonders der von der Apokatastasis Panton, worin Thomas momenthaft eine Eingebung Satans selbst zu erkennen glaubt, an seiner eigenen Motivation, die ihn zum Jünger Christi machte, am Sinn seiner dreijährigen Christusjüngerschaft (174), am Sinn seiner Suche nach dem Corpus Christi, die ihn - wie es scheint, auch wiederum sinnlos - hierher geführt hat, wo, wie er durch Tirzas Erzählung weiß, ja ein Fake Christi verbrannt werden soll. Doch während in seinem Judas-Christus-Erlebnis beim Abendmahl ihn Machtlosigkeit gelähmt hatte, bewährt sie sich nun auch ihm 116 als Ausgangspunkt, wie ihn Tirza in Christi Ausgesetztheit am Kreuz erkannt hat, als der Punkt, an dem aus der Ohnmacht die Freiheit und damit die Kraft strömen kann. Er „läuft, frei - und jetzt mit vollem Willen, voller Macht“ auf den brennenden Scheithaufen zu (176), auf den Leichnam zu, der ihm jetzt schon „Dein Leichnam“ heißt (176), obwohl er doch vom Betrug dieser Inszenierung weiß. Er drängt sich durch Gestrüpp, Äste, Rauch, Flammenzüngeln des langsam sich entfaltenden Brandes, kann schließlich „den Körper meines Herrn berühren“, ihn sehen und - erlebt eine überwältigende Überraschung. Er erblickt sich selbst (178). Sich in Christus, sich und Christus eins im Aberwitz dieser Inszenierung, in die sich auch der Judasstrang der Handlung einflicht: Ein alter Mann ist nämlich dem Thomas in der Menge nahe gekommen, schreit ihn immer wieder um Vergebung an, die Thomas ihm durch Zuruf gewährt, ohne zu wissen warum, bis ihm in Erinnerung an Tirzas kreisende Erzählungen im Tempelhof und ihren Hinweis auf diesen Mann (60ff.) das Licht aufgeht: Es ist der alte Tempelwächter Samuel, der ihn wegen der Zwillingsähnlichkeit für eine Erscheinung seines toten Adoptivsohns Boas hält, desselben, den der Alte nicht von seinem Selbstopfer als Christusdouble hat abhalten können. Und weil Thomas diesen Zusammenhang begreift, kann er, indem er in Christus sich erkennt, in ihm auch seinen Zwilling Judas/ Boas erkennen und damit im Zwilling, im Double, auch Christus, so wie: alle in Christus. 117 „Im Körper Gottes sahen wir uns. Einander ohne Schuld. Und ich berühre seine Seite und küßte ihn, den ich gefunden. […] Geboren war ich, frei.“ (179) Das ist nach Tirzas Auferstehung die Auferstehung des Thomas in der Auferstehung Christi, vollzogen in der freudigen Identifizierung des Thomas mit seinem ‚dunklen‘ Zwilling Judas, in die auch die Identifizierung des Thomas mit dem Jünger Judas, des falschen Christus mit dem wahren Christus, damit des Judentums mit dem Christentum einfließt. Die innere Wahrheit dieses Ereignisses, seine Wirklichkeit als Wirkungsmacht ist so stark, das sie das Gewebe der faktischen Fälschungen und Irrtümer nicht nur einfach durchbricht, sondern in Wahrheit und Wirklichkeit verwandelt. Und doch ist das noch nicht die letzte Wendung der Handlung: Thomas geht nicht in der Ekstase eines Flammentodes der Alleinung mit Christus auf, in dem die mystische Flammensymbolik der Liebeseinung am Ende der Trilogie noch einmal erscheint; Thomas springt vielmehr zuletzt vom Flammenhaufen herab in die Menge. „Und riß mich zu Dir durch. Und halte die Hand in deine Seite, mein Bruder, Herr und Gott. Ich halt sie in den Anfang. Hier.“ (180) Das ist mit in der Anrede Christi eine Paraphrase des biblischen Thomaswunders. Thomas hat, geführt durch Tirza, nicht das tote Corpus Christus gefunden, auch nicht den Auferstandenen als ihm vorgegebenes Gegenüber, sondern sich in Christus und damit Christus in sich. Aber Thomas gelangt ans Ziel, nämlich einen neuen Anfang, indem er den brennenden Leichnam hinter sich zurück- 118 lässt. Er hat im falschen Körper mit geistigen Augen den wahren Körper gefunden. Aber er übersteigt das noch. Der ungläubige Thomas mit seinem Dringen auf Körperlichkeit der Berührung braucht nun den Körper Christi als Substrat gar nicht mehr. Ekstatisch kann ihm in der anonymen Menge, der er sich zuwendet, Christus als der Mensch so gegeben sein, dass er ihm, diesem kollektiven Christus, seine wirkliche Hand in die imaginäre Seite legen kann. Hier. Das ist, reduziert auf die Dimensionen des innerweltlich Lebbaren, die Einlösung und Realisierung von Tirzas Apokatastasis-Panton-Vision. Thomas ist, wie sie ihm verheißen hat, durch das Feuer gegangen, verbrannt (132). Indem er die Auferstehung Christi im Eigenen gefunden hat, ist er in der Spur Christi durch sie hindurch gegangen, aber noch einen Schritt weiter als Tirza - denn sie glaubt er zuletzt in der Wiederbegegnung mit ihrer Schwester und ihrem Bräutigam gesehen zu haben (164f.) Darin zeigt sich am Ende der Trilogie noch einmal der Bezugsrahmen der Familie, wie wir ihn auch bei Diastasimos und Johnny Shines gefunden haben. In Thomas’ letzte Integrationserfahrung ist die Familie zwar einbezogen, im Zwilling, im Tempeldiener Samuel, der die Hand nach Thomas ausgestreckt hat, aber die Menge, die Thomas zuletzt annimmt, ist: Alle Menschen. Und dieses: Alle, ist wiederum auch: Jeder als einzelner. Übersprungen ist hier wie da: die Jüngergemeinde. Thomas sieht beim Vorstoß zum Scheiterhaufen flüchtig seinen Mitjünger Johannes, aber als Weggeduckten (172). Die Zwölf spielen für Thomas im Rahmen dieser Erzählung keine Rolle mehr, 119 sie sind Schläfer; sein Corpus Christi ist nicht die Kirche, sondern die Menschheit als Menschsein. Thomas geht in die Menge, aber nicht in die Kirche, die bei Roth wohl eher - dezent - durch die Jünger als Schläfer bezeichnet ist. In der Christus-Trilogie ist das Christentum inhaltlich Menschwerdung des Menschen. 120 Tirza in Thomas. Innenwelt und Außenwelt, Monolog und Dialog Bei Hallie Doniphan war leicht zu sehen, dass sie eine Halluzinationsfigur von Johnny Shines ist. Tirza kommt zunächst als reale Gestalt zur Sprache, wenn auch nur durch Reden über sie als Gefangene der Römer, Komplizin der Jünger usw. Erst nach 160 Seiten der Erzählung, zwanzig Seiten vor ihrem Ende, wird unausweichlich klar, dass die längste Strecke der Erzählung ein in tiefer Bewusstlosigkeit geträumter Fiebertraum des Thomas ist, der auch sein erstes, nur vermeintliches Aufwachen aus diesem Traum nur geträumt hat (30f.). Lediglich zwei Kürzesteinfügungen in den Erzählfluss an dieser Gelenkstelle der Erzählung - „schien mir“ (30, 31) - deuten das an, aber dergestalt, dass sie geradezu einladen, es zu überlesen. Erst innerhalb dieses Traums tritt Tirza als handelnde und sprechende Figur auf, vorher nur im Medium des Hörensagens. Nach diesem sehr langen Traum erscheint Tirza in der Tagwelt lediglich noch ein einziges Mal so flüchtig, dass ihre Identität dem Thomas ungewiss bleibt. Das heißt, dass alle direkten Reden und Erzählungen Tirzas einschließlich der Visionen Trauminhalte des Thomas sind. Ihre Umrissschärfe als Seelenführerin des Thomas und in den von ihr be- 121 richteten Geschehnissen, die sie dazu gemacht haben, wird irritiert durch das innertextuelle Gefüge, ja, ihre Umrissschärfe, wo sie doch tatsächlich nur eine geträumte Figur ist, wird selbst zum Grund der Irritation. Ihre scheinbare Eigenständigkeit, ihre Gegenpositionen zu Thomas und ihre Führerrolle ihm gegenüber - das sagt nun viel über die innere Dynamik und Dialektik der Seelenbewegungen des Thomas; es ist ein fulminanter Beitrag zu seiner indirekten Charakteristik. Aber es setzt vor allem den Leser einer abgründigen Entzugsbewegung der Geschichte in ihrem vermeintlich faktischen Gehalt aus. Es ist auch bei dieser Erzählung wieder, als lege sich ein - zwar durchsichtiges - Gewebe über sie und hülle sie ein. Dieser Eindruck wird dadurch gesteigert, dass gemäß dem nun schon mehrfach herausgehobenen Grundzug von Patrick Roths Epik ja auch die Welt des Thomas einschließlich dieser enormen Einbuchtungen des Tirza- Geschehens in seinen Erlebnisraum personal erzählte Welt ist. Die so intensiv gegenwärtige Tirza mit all ihren Träumen und Visionen und ihr zuteil gewordenen Erzählungen ist ein Fiebertrauminhalt des Thomas - das ist der erste Schock. Und dieser Fiebertraum ist gleicherweise wie Thomas’ Erlebnisse in der Nichtfieberwelt vergegenwärtigt durch das Medium von Thomas’ Erzählen, das also zwei völlig verschiedenartige Sphären zusammenschmilzt, als wären sie eins, und auch alle von Tirza erzählten Inhalte durch seine personale Perspektive filtert. Thomas ist demnach wie Tabeas in „Riverside“ als Ich-Erzähler der Herr der Gesamtgeschichte, 122 nichts fließt in sie ein, was er nicht einlässt, nichts wird in letzter Instanz beurteilt, auch er nicht von Tirza, außer durch ihn und seine Zulassung. In „Johnny Shines“ sind wir auf ein kleinräumiges Ineinandergeschiebe verschiedener Erzählbewegungen gestoßen. Im Unterschied dazu scheint in „Corpus Christi“, wie schon in „Riverside“, eine relativ einfachere Erzählweise mit einem übergreifenden Erzähler zu herrschen. Integriert Tabeas in „Riverside“ das Erzählen des Diastasimos, so hier Thomas das Erzählen der Tirza, und während das Binnenerzählen des Diastasimos sich gleichsam gegen den Erzählfluß des Tabeas anstemmt, konvergieren nun sogar, trotz sehr verschiedner Ausgangspunkte, die Erzählbewegungen des Thomas und seiner von Thomas miterzählten Seelenführerin, nämlich dergestalt, dass Thomas auf andere Weise Ergebnisse einholt, die zuerst Tirza gewonnen hat. Doch trotz dieses Scheins von Übersichtlichkeit der Erzählstruktur, ja, durch den Schein von Einsinnigkeit geradezu verleitet, fällt der Leser in dieser Staffel noch tiefer in Ungewissheiten als in den bisherigen Geschichten. Denn nicht nur wird der Leser verführt, sich noch lange in der erzählten Handlungswelt des Thomas zu wähnen, wo er doch längst in die erzählte Traumwelt des Thomas und durch diese hindurch in die Traumwelt der Tirza geglitten ist, die ja nicht ‚real‘, sondern Seelenfigur, Seeleninhalt des Thomas, Anima ist. Im Erzählen des Thomas sind sogar ihre Visionen noch Visionen des Thomas von ihren Visionen geworden! Darüber hinaus ist in „Corpus Christi“ - im Gegensatz zu „Riverside“ - der äußere Ich-Erzähler 123 zugleich der tief verstrickte, im Erzählen an sein Erleben heranrückende Held der Geschichte, was die von ihm erzählte Figur Tirza viel mehr als dort den Diastasimos vom Erzähler abhängig macht. Nicht ein übergeordneter, aus Distanz frei disponierender Regisseur, vielmehr ein engagierter und dadurch befangener Mitspieler weist der Frau seines Lebens, im wahrsten Wortsinn seiner Traumfrau, ihren Part zu. Das Spiel der Irritationen geht weiter: Einerseits setzen in „Corpus Christi“ die Motti einen großen Abstand zu den Ereignissen. Das Augustin-Motto weist auf ein weit zurückliegendes, abgestreiftes Geschehen, wie Augustin in seinen „Confessiones“ denn ja auch aus dem Zustand des in Christus Geretteten von seinem vorherigen Irrleben erzählt: „Aber laß mich jene Zeit übergehen: was hätt ich noch mit ihr zu schaffen, von der ich keine Spur mehr finde.“ Jene Zeit ist Vorgeschichte des Lebensanfangs, der aus der Wiedergeburt entsprungen ist. Das Motto aus dem Song einer Band namens „Live“ 2 weist in Umkehr von Augustins Rückwärtsblick nach vorwärts, denn es spielt derweise auf die Taufsymbolik von Tod und Wiedergeburt an, dass es nur vom Untertauchen spricht, während der Name der Band den über diesen Tod hinausweisenden Imperativ: du sollst leben! verkündet: We took the dead man in sheets to the river flanked by love Deep enough to dive Deep enough to dive. 124 Auch das Johannes-Motto 14,5 („Herr, wir wissen nicht, wo du hingehst; und wie können wir den Weg wissen? “) richtet sich weit nach vorn, nun in letzte Erfüllungen. Das William-Blake-Motto redet sogar von einem prophetischen Blick in die Zukunft mit der Verheißung, dass die Erde aus ihrem Schlaf erwachen werde. „In futurity/ I prophetic see/ That the earth from sleep/ (Grave the sentence deep)/ Shall arise…“ Aber dieser Blick kommt selbst ja noch aus dem Schlaf der Welt, ist dessen Traum, so wie im „Live“-Song die Unterwasserwelt nur negativ auf die Lebenswelt des Aufgetauchten verweist. An den Leser ergeht bei Blake zusätzlich die Aufforderung: „Grave the sentence deep“, wobei dieses ‚Graben‘ im Englischen den Doppelsinn von ‚einprägen‘ und ‚begraben‘ hat. Die einzuprägende Botschaft soll also auch Geheimwissen bleiben. Gegenläufig zu dieser Entrückung und Verfremdung in zwei Zeitrichtungen zieht die Ich-Erzählung in „Corpus Christi“ durchgehend intensiv in das Erleben hinein. Diastasimos ist sperrig. Tirza verlockt Thomas in ihr Unbekanntes, ja, ihr Unbekanntes, ihn Befremdendes ist ihre tiefste Verlockung. Und sein Erzählen terminiert schließlich in einem zur Identifikation mitreißenden, in die Verabsolutierung seiner personalen Erzählperspektive geradezu hineinreißenden Abschlussmonolog. In diesem Monolog des Thomas rückt das Erzählen hautnah an das unmittelbare Erleben heran, gibt allen Überblick auf, verengt sich in ein glühendes Jetzt - „Hier“. Mit diesem letzten Wort der Erzählung münden auch noch die Erzähl- und Schreiblinie in die Erlebnislinie 125 ein, flammt der schreibend Erzählende in Präsenz auf, ist sogar noch dem Leser die Geheimtür eröffnet, in diese Simultaneität einzutreten. Ich habe an anderer Stelle von der wirklichkeitsstiftenden Kraft des Erzählens bei Patrick Roth gesprochen. 3 Sie hat sich auch hier darin gezeigt, dass das letztinstanzliche Erzählen des Thomas entscheidet, was wie wirklich wird, zuletzt für den hingerissenen Leser - ‚Tatsachen‘, Visionen, Träume. Sogar in der personalen und durch ekstatische Intensität verengten Perspektive des Thomas wird klar, dass das von ihm zuletzt „hier“ angefasste Corpus Christi eine visionäre Erscheinung ist, denn Thomas gegenüber ist ja - die ‚reale‘ Menge der Gaffer, so wie hinter ihm der brennende Scheiterhaufen liegt, in der Fluchtlinie der Bedeutungsperspektive das leere Grab. Aber ist nicht dieser Hintergrund der Vision nun auch Teil der Vision, eben als in der Umarmung von Thomas dem Thomas verbrüderte Menge? Jedenfalls ist hier, in der Erzählung zwingend hervorgebracht - der Anfang eines neuen Lebens des Thomas. Der Monolog als verabsolutierte Subjektivität erweist sich so als Grenzsituation des wirklichkeitserzeugenden Erzählens, denn die von ihm hervorgebrachte bewirkende Wirklichkeit ist unhintergehbar - aber eben doch in ihrer Eigenschaft als Subjektivität kenntlich bleibend durch äußerste punktuelle Zuspitzung. Poetologisch ermöglicht der Schluss von „Corpus Christi“ noch einen weiteren Schritt der Verallgemeinerung. Er lässt deutlich werden, dass das ekstatische monologische Aufbrechen mit der epischen Dialogie bei 126 Roth zusammengehört, denn beide sind entgegengesetzte Grenzwerte seines Ich-Erzählens. Der Monolog ist es, in dem er die Subjektivität der Ich-Erzählung so weit extremiert, dass die ohnehin fragwürdige Faktizität des Vorhandenen dahinter verschwindet. Der epische Dialog ist der entgegengesetzte Grenzwert, weil er die Vergegenwärtigungskraft des Erzählens so weit extremiert, dass der Dialog sich zu verselbständigen scheint. Der subjektive erzählerische Vermittlungsakt erreicht darin sein Äußerstes, dass er sich selbst zum Verschwinden bringt, ohne doch tatsächlich aufgehoben zu sein; er verzichtet nur auf seine ausdrückliche Markierung. Eine vom Jünger Thomas erzählend erzeugte Dialogie ist eine andere als eine von Tirza erzeugte. Und dabei ist auch dieser Unterschied zwischen Thomas-Dialog und Tirza- Dialog indirekt ein von Thomas erzählend erzeugter, weil er die von seiner Erzählfigur Tirza vollzogene Freilassung des von ihr erzählten Dialogs ja erst in seinem Erzählen bewirken und ratifizieren muss. Es findet also ein innererzählerischer Emanzipationsakt des Dialogs in zweiter Potenz statt. Diese Feststellung zum epischen Dialog gilt gleichermaßen für die Hörspiele Patrick Roths, weil auch deren Dialogie - der dramaturgischen Anlage der Gattung Hörspiel gemäß - fast durchgehend nicht dramatisch objektiv, sondern episch perspektiviert ist. Damit erweist sich das wirklichkeitskonstitutive Erzählen umfassend als Matrix von Patrick Roths Dichtung. 4 127 Produktive Beunruhigungen Die von der Eigenart der personalen Erzählstruktur bei Roth ausgehende Öffnung von Such- und Schweifräumen der Emotion und Imagination wird auch in „Corpus Christi“ noch dadurch gesteigert, dass in die größeren Strukturen in hoher Dichte analog gebaute Kleinstrukturen mit gleichem Appell an den Leser eingewebt sind. Ein fast unausschöpfliches Verweisungs- und Beziehungsspiel, das die durchgehenden linearen Verläufe fortlaufend verwirbelt, fordert ein tentakelhaftes Abtasten des Texts durch den Leser, der so auch noch tiefer in die Lektüre hineingerät. Wollte die Interpretation diesen Kleinelementen minutiös und umfassend nachgehen, müsste sie, weil zahlreiche Erklärungen und Hin- und Her-Verweise notwendig wären, ausführlicher werden als der dichterische Text selbst. Ich beschränke mich deshalb auf zwei Beispiele. Das erste: Bei Tirzas Baumbesteigung, die ihr den Blick auf den vorbeiziehenden Jesus verschaffen soll, fühlt sie sich verstrickt. „Ich hatte Schwierigkeiten, zwischen den unteren Astwindungen durchzufinden, so daß ich beim Höhersteigen nicht mehr wußte, in welche Richtung ich zu klettern hätte und wo das Büschel Zweige dann zu öffnen, hinauszusehen wäre auf den, um den sich alle scharten. […] ein Rascheln von überallher, ein Biegen der Äste im Wind […] ein Schleifen und raschelndes Zischen […] die Sicht 128 von Laub und Astgewirr verstellt […]“ (82f.) Dieses Stimmungsbild kehrt im Erzählverlauf mehrfach in Variationen wieder, die jeweils einzeln zu erörtern wären. Beim Eintritt in die Gruft Jesu fühlt Tirza sich, „als sei ich […] hochgestiegen, befänd mich noch in jenem Baum […] Auch hört ich etwas um mich schließen und schleifend sich mir nähern […]“ (139). Beim Anblick des toten gegeißelten Christuskörpers sieht Tirza in den Peitschenspuren „Sternflut des Nachthimmels, die sich vergossen, vielverzweigt glänzend über das Land gelegt […] nicht Zweige, vielverzweigt, sondern geronnenes Blut […]“(145f.]. Vom qualvollen Erklettern des Scheiterhaufens sagt Thomas: „Hin durchs gespaltene Gestrüpp der Äste zieh ich mich […] Es ist, als spiele über mir in diesem Feuer ein Baum mit seinem windgetriebenen Laub […]“ (178) Hier zeigt sich eine weitgreifende Bildausstrahlung, die ein ober- und untertonreiches Assoziationsschwingungsfeld von Baum des Lebens, der Erkenntnis, des Sündenfalls (das Zischen der Schlange? ) in Bewegung setzt. Seine Ausläufer und Verflechtungen verlieren sich im Unidentifizierbaren. An anderer Stelle wird das Schillern der Bedeutungen durch Tiefenperspektivierung des Wortsinns erreicht. So, wenn der Folterknecht der Römer die Paradoxie der Rede über Christus als Mensch und Gott pervertiert in der Anwendung auf die Jesusimitation, die entstellte Leiche des Boas: Bei dem Satz „Wir haben den Menschen gefunden, wo du den Gott gesucht hast“ (174), klingt in der beabsichtigten Blasphemie eben auch die - von Sprecher, Hörer und vielleicht sogar dem Erzähler 129 Thomas nicht begriffene - letzte Wahrheit auf, dass Boas wirklich Korrespondenzfigur zu Christus ist, dem Mensch gewordenen Gott. Der Folterknecht ist das Sprachrohr eines ihn übersteigenden Wissens. Ich breche hier ab, indem ich darauf verweise, dass sich in „Corpus Christi“ die explizite Infragestellung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit aus „Riverside“ verallgemeinert zur Frage nach der Grenze der Sprache überhaupt, also zum alten poetologischen Problem der Unaussprechlichkeit. Es wird, wie alle poetologischen Fragen in der Dichtung von Patrick Roth, nicht auf der Ebene des abstrakten Kommentars, sondern auf Figurenebene angesprochen. Tirza ist sich vor ihrer letzten Visionsschilderung, die zur Vergegenwärtigung der Apokatastasis führt, dessen bewusst, dass sie zu etwas vordringt, „was gar nicht mehr verständlich ist und aller Sprache fern. In den Bereichen ist kein Sprechen mehr, das überbrücken könnte, und wenn ich sage ‚und‘, dann lüg ich schon.“ (150) Die Kohärenz des Sprachraums löst sich auf, schon die bloße Kopula wird dort zur Illusion von Zusammenhang, wo der Mensch aus seinem Erlebnisraum hinausgetragen wird. So wird Tirza „erzählen wie aus einem Traum“, was auch kein Traum mehr ist, also auf einer Sprechebene des ‚Als ob‘ (138). Sie weiß nicht; sie überlässt sich vielmehr, frei nach Kleist formuliert, einem „gewissen Zustand ihrer, welcher weiß“. 5 Bereits vorher deutet sie die Zusammengehörigkeit der Sprachüberschreitung mit der psychischen Entgrenzung in der Einheitserfahrung an. Es ist „[…] das Tauchen in die Spur nicht schon das Ziel. Dahinter mußt du, in sie 130 hinein, durch sie hindurch. Hinter die Schrift, mit der sie schreibt, nicht in den Staben hängen bleiben.“ (132) Derart wirkt die Sprache des Erzählens nicht einbürgernd auf den Leser, vielmehr geheimnisvoll und oft befremdlich. Traditionelle historische Romane und Erzählungen, besonders wenn sie in weit zurückliegenden Epochen spielen, stehen vor einem Dilemma. Sie müssen ihren Figuren einen Alltag und psychische Alltagsreaktionen geben, die dem modernen Leser plausibel und einfühlbar sind. Sie müssen aber auch die psychische Beschaffenheit der Figuren und die historischen Umstände in ihrer Befremdlichkeit und in ihrem dadurch entstehenden exotischen Reiz belassen, abgesehen von der seit dem Realismus des 19. Jahrhunderts bestehenden Erwartung historischer Treue. Die Figuren der „Christus-Trilogie“ haben keinen Alltag; selbst wo er einmal Raum zu gewinnen scheint, etwa bei Johnnies Barbesuch in Shinbone, treten alsbald letzte Fragen heraus und werden beherrschend. Aus der Mischung von Kaffee und Milch geht Tiefsinniges über Providenz hervor. Weil die Figuren keinen Alltag haben, bleiben sie aber auch weit entfernt von Alltagssprache, wie eben schon das etymologische Zurückgehen von ‚Buchstaben‘ auf „Staben“, also Stäbe, zeigt, das die Sprache unter den Aspekt des Gitterwerks, einer Eingitterung der seelischen Strömungen rückt. Sogar wo einmal Slang-Elemente aufgenommen werden, dienen sie der Zuspitzung der Aussage und fügen sich dem dialektisch-erörternden Sprachduktus ein. „Wann hat sie die Farm gekauft, ihre Chips eingecasht, Mr. Jordan getroffen? “ fragt Johnny 131 Shines (79) abfällig nach der Toten, die, was er noch nicht weiß, seine Schwester ist. ‚Über den Jordan gehen‘ ist ein zur frivolen Redensart verkommenes alttestamentliches Bild der pietistischen Frommen vergangener Jahrhunderte für: wie die Israeliten nach ihrem Wüstenzug über den Jordan ins gelobte Land = ins Himmelreich eingehen = selig sterben. Diese von ihm unselig gemordete Tote ist das gelobte Land für Johnny! Immer wieder auch archaisiert Roths Sprache, etwa: „Uns wurde […] grausam getan“ (9); immer ist sie - bis ins Schriftbild - stark stilisiert, zuweilen auch mit Hilfe von Umgangssprachlichem wie Mundartanklängen und apokopierten Formen, die nicht, wie üblich, zur Erzielung eines naturalistischen, sondern eines markant artifiziellen Sprachcharakters verwendet werden. Diese Sprache will Eigensprache sein, weil sie eine Eigenwelt ausspricht, die sich ungewöhnlich weit von den heute gängigen Übereinkünften über Wirklichkeit und ihre Kriterien entfernt: Nach innen, ins verriegelte Haus, drang uns, von Vorbeilaufenden zwischen die Ritzen gespieen, von heimkehrenden Frauen geflüstert, leis unter die Unsrigen verteilt: Bericht. (9f.) Dieses Druckbild selbst spricht. Auf diese - hier nur angedeutete - Weise, unter Hochdruck der Ausdrucksenergie gleichsam, entsteht ein stark expressiver Stil, der auch mit vielen Wort- und Wortstammwiederholungen 132 arbeiten kann: „[…] durchs Unterirdische brach sich ein Bruch hindurch, es fraß sich auf und brach in zwei die ganze Welt. Denn dort, wo sichs gebrochen hatte, da war ein anderes sichtbar, und war von neuem aufgebrochen. Als sei die Welt wie rasend, sich immer neu zu brechen unter dieser Sonne, die immer neu mit ihren Strahlen in die Tiefe brach, in immer neue aufgebrochene Teile.“ (93) Solche Redeweise reicht bis in Neologismen wie „Ohrenherzkammer“ (10), „Namennamer“ (114), „Ausvergessenheit“ (114), „immerzwei“ (78), „Herangeräusche“ („Johnny Shines“ 57), eine Tätigkeit des „Seelens“ und „Landnahmens“ („Johnny Shines“ 52, 58) usw. Die Wortschatz-Ausuferungen entsprechen der von vornherein als Stilzug auffälligen, schon erwähnten hochgehenden Wogenfolge von Bildern, Visionen, Traumvorstellungen in Patrick Roths Erzählen, die geradezu wegschwemmend und bewusstseinsüberflutend wirken können. Vor allem die beherrschende Bild- und Geschichtenwelt der Bibel mit ihren prophetischen Büchern erzielt eine faszinierende und konsternierende Wirkung, zumal biblische Motive und Gestalten häufig selbständig, ja eigenwillig umgeformt, erweitert, verkürzt und gegen ihre ursprünglichen Sinn gewendet werden (Beispiel: die Kommunion). Und trotzdem, oder gerade deshalb, tauchen häufig biblische Szenen bei Roth auf, die in neuen Zusammenhängen doch eine eminente, literarisch kaum mit anderem vergleichbare Kraft und Eindringlichkeit auch der religiösen Evokation erreichen. Das gilt gleichermaßen - und gleichermaßen intendiert irritierend -, ob nun das biblische Gedanken- 133 und Vorstellungsgut in Konsequenzen hineingetrieben wird, die in der christlichen Tradition zwar angelegt, aber nicht entfaltet sind (Beispiel: der Judas-Komplex), oder ob tiefenpsychologische Bilder und Motive mit biblischen Visionen enggeführt werden. Jedenfalls scheint mir Patrick Roths Kraft und Originalität mythischen und metaphorischen Sprechens einzigartig in der deutschen Epik unserer Zeit. Es ist unmöglich, sich der Suggestion und zusammenhangstiftenden Potenz zum Beispiel der Mythe vom herausgenommenen und wieder eingesetzten Auge in ihrer mehrfachen Wendung zu entziehen. Zum inhaltlichen Anspruch dieses Erzählens kommt hinzu die ungemein reiche dialogische, häufig kreisende oder schraubenförmige Durcharbeitung der Massen des Erzählstoffs durch die Figuren, dabei der weitgehend imaginäre Status der Dialoge, das Ineinander von Projektionsgestalten oder Verkörperungen psychischer Kräfte und primären Gestalten. Zuguterletzt ist die Darbietung einer Großkonzeption, wie sie in der „Christus-Trilogie“ vorliegt, nicht in einer Großgattung wie Roman oder Drama 6 und auch nicht in einem in sich geschlossenen stofflichen Gefüge, sondern in drei thematisch und stofflich zwar durch Querverweise verbundenen, aber von einander unabhängigen Erzählungen präformierend für die Lektüre. Der Leser sieht sich genötigt, konzeptionelle Bögen über inhaltliche Abbruchstellen hinweg zu ziehen, etwa sich die schon angeklungene Frage zu stellen, wieso wohl der Jünger Thomas, der in „Corpus Christi“ sich von der Jüngergemeinde ablöst, in „Riverside“ als eine Autorität des nachjesuanischen Jüngerkreises 134 genannt wird. Wir sollen nicht zur Ruhe kommen angesichts unendlich beunruhigender Vorgaben. Alles das zieht in Gedankenbewegungen hinein, die im heutigen intellektuellen Milieu extrem ungewohnt und im Ergebnis unabsehbar sind. Und gegen diese Entfesselung, von der emotionalen Spreng- und Durchschlagskraft der biblischen Motive bis zu Schub und Umwälzungsenergie der Dialoge, bilden nun die aus der Tiefenpsychologie stammenden, durch die Erzählungen, wie gezeigt, sich durchziehenden Ordnungs- und Reduktionsmuster ein massives Widerlager. Sie sind jedoch nicht einfach ein Raster von starker Organisationskraft oder ein unhinterfragbar gegebenes Koordinatensystem, das klare Verhältnisse schafft und den Überschwang bändigt, sondern werden bei Patrick Roth selbst Teil der Dynamik, spannungserzeugende und -steigernde Elemente, die das Anbrandende, indem sie es zu bändigen unternehmen, auch in seiner Eigenbewegung hochtreiben. Speziell am tiefenpsychologischen Modell der Zusammengehörigkeit einer hellen und dunklen Seelenseite kann man sich die Fähigkeit solcher Denkmuster vergegenwärtigen, die traditionsgeprägte Vorstellungswelt des Christentums durcheinanderzuwirbeln und Neukonstellationen zu erzeugen. 135 Die „Thomassekunde“ Insgesamt entsteht jedenfalls der Eindruck von dichterischen Weltkonstruktionen, denen das Widerspiel zwischen Flutungen der Imagination und Emotion und Stabilität des textimmanenten Deutungstragwerks eigentümlicher und wichtiger ist als die endgültige Lösung von Lebensfragen. In dieser sehr besonderen Weise verstehe ich Patrick Roths Dichtung eher als experimentelle Literatur denn als Bekenntnisdichtung, eine experimentelle Literatur allerdings, die nichts von Distanzsetzen und kühlem Ausprobieren an sich hat, sondern alles aufs Spiel setzt. Ich münde damit wieder in frühere Überlegungen ein, die Dichtung generell weniger als Antwort denn als Herausforderung zu individuellen Antworten zu verstehen. Rilkes archaischer Torso Apolls sagt nur, dass ich mein Leben ändern muss; nicht aber, wie. Das mindert nicht die Stoßkraft seiner Anfrage. Und selbst wenn er sagte, wie ich mein Leben ändern muss, müsste ich noch immer entscheiden, wie weit diese Antwort mich trägt. Rückgreifend auf die spezielle Prozessgestalt von „Corpus Christi“ könnte ich auch sagen: Der Leser wird hier als Sucher und Frager so in Anspruch genommen und in Aufruhr versetzt wie der ungläubige Thomas. Er wird der Desintegration und Provokation ausgeliefert, damit er sich die Integration nicht schenken lässt, sondern durch einen krisenhaften Prozess, 136 der bis zum Augenblick der Ohnmacht vor dem Text führt, sich nimmt. Ginge es nicht - und zwar letztendlich immer bei Dichtung - um diesen Prozess der Lektüre, der bei jeder Wiederholung und interpretatorischen Reflexion dieser Wiederholung in neue Schichten des Texts vorzustoßen die Möglichkeit hat, könnte die Interpretation das Werk ersetzen. Das kann sie aber zur Freude des Interpreten nicht. Die Unauslotbarkeit und Offenheit des Werks lässt sich gerade am Schluss von „Corpus Christi“ noch einmal von Patrick Roths eigener Poetik her exemplarisch aufzeigen. In den Frankfurter Poetikvorlesungen „Ins Tal der Schatten“ (2002), sechs Jahre nach Erscheinen von „Corpus Christi“ und ein Jahr vor der Zusammenfassung dieser Erzählung mit zwei anderen zur Trilogie „Resurrection“, spricht Patrick Roth in eigener Sache von der „Thomassekunde“ des Autors (13) und vollzieht dabei einen ähnlichen Umkippvorgang wie in „Johnny Shines“ mit der alternativen Kennzeichnung der „Anima“ Hallie Doniphan als „Muse“. Die Thomassekunde fixiert das Eintauchen des Thomasfingers in die imaginäre Seitenwunde Christi. Das „läßt Jesus ihm auferstehen, macht Jesus dem Thomas lebendig.“ (14) Das ist für Thomas der ekstatische Anfang eines neuen Lebens in Christus. Aber genau dieses Geschehen dient Patrick Roth in den Poetikvorlesungen auch als Metapher für den Eingang des Autors in die dichterische Produktivität und somit als Eingang zu einem anderen neuen Leben, nämlich dem der Dichtung. „In den Detektivromanen weist ein Corpus delicti meist auf ein 137 anderes Corpus hin - auf die Leiche. In ‚Corpus Christi‘, dem letzten Roman meiner Christus-Trilogie, ist das wörtlich genommen. Thomas, der Zweifler, der nach der abhanden gekommenen Leiche des Jesus sucht, ist Detektiv und Schriftsteller in einem.“ (13) Es ist dieses Kippmoment - hier explizit ausargumentiert, weil im Rahmen einer Poetik -, das definitiv davor bewahren sollte, einen fiktionalen Text als Medium einer Botschaft, sei sie christlich, sei sie tiefenpsychologisch, misszuverstehen - einen Text, der umgekehrt mit gleicher Radikalität Christentum und Tiefenpsychologie zum Medium der Dichtung macht. Der Heilige Thomas als Schriftsteller, die „tintenblutige“ Seitenwunde Christi als sein Tintenfass (14) - das ist ein starkes Gegengift gegen außerliterarische Vereinnahmungen. Auf den ersten Blick geht Patrick Roth hier mit dem dichterischen Produktionsvorgang in schockierender Weise handwerklich und damit ernüchternd um. Bei genauerem Zusehen zeigt sich aber, dass er den Schock nicht als Knalleffekt einsetzt, sondern als radikales existentielles Zeichen, mit dem er das Schreiben primär als Selbstexploration des Autors, den Autor als Detektiv seiner Seele fasst. Nicht die Produktion von Literatur im Blick auf ein Publikum und gemäß literarischen Kriterien, vielmehr der Selbstausdruck, der Durchgang zwischen Bewusstem und Unbewusstem, dieses „Hier“ hat es ihm angetan „Er sucht nicht für uns, nicht für […] Leser. Sich will er schreiben, für sich sucht er, sich liest er zusammen. Wenn man Bilder von ‚Thomas dem Zweifler‘ betrachtet, sieht man, daß ursprünglich das 138 Schreiben des Stoffs, das Stellen des Stoffs, das Aufrichten, Heben des Stoffs und damit die Beschreibung des Funds: eins war mit seiner Findung […] eins mit dem Finder, eins mit dem Fund. Sein muß, da gefunden wird […] in dieser Thomassekunde.“ (13) Die Thomassekunde ist ein Verschmelzungsaugenblick, in dem das Ich zur Welt und die Welt zum Ich wird, das Unbewusste zum Bewussten und das Bewusste zum Unbewussten; die Thomasekunde ist der Urknall der dichterischen Produktivität, und das handwerkliche Vokabular dient nicht der Ausnüchterung der Inspirationsvorstellung, sondern umgekehrt: der spirituellen Aufladung des Schriftstellerhandwerks. Der da so parlando von Technischem spricht, macht kenntlich, dass ihm hinter allem Technischem Inspiration steht und ein inspiriertes Ich, ein Orpheus. Nichts da von der modischen Vorstellung des Machers, sei es von Filmen, Gedichten oder epischen Texten. Dieser Ausgangspunkt ist so anachronistisch in unserem Literaturbetrieb, dass man ihn schon wieder avantgardistisch und postmodern nennen könnte. Und er fixiert programmatisch deutlich, dass hier ein Ich sich zur Welt formt und nicht ein Programm. Ein Autor, der sich ausspricht, sollte ebenso wenig als Bastler und Techniker wie als Verkündiger gelesen werden. Er verführt uns in die großartig sperrige und unbequeme Welt eines radikalen Ich. Er steht für eine individualistische Produktionsästhetik, für eine Schöpfungsästhetik. Er beharrt darauf, dass er sich aufs Spiel setzt, wenn er alles aufs Spiel setzt. Damit ruft Patrick Roth den Interpreten zur Ordnung, der seinen Blick zuerst und zuletzt auf das Werk 139 richtet, wie ich das hier getan habe. Trotzdem scheint es mir als Interpreten erlaubt, den Text, wie er denn am Ende dasteht, auch gegenüber dem Autor stark zu machen. Schreiben ist eo ipso Mitteilung; selbst das noch so intime Tagebuch ist Mitteilung. Bewundernswert, wenn ein Autor die Kraft und den Mut zum Nonkonformismus hat, wie ihn Patrick Roth zeigt, indem er sich zum unbedingten Selbstausdruck als dichterischem Ausgangsimpuls bekennt. Wie glühend und elementar unter diesem Anspruch Dichtung immer noch und immer wieder werden kann, liegt in Patrick Roths Werk vor Augen. Aber am Ende hat er, auch er, und auch das ist zu bewundern, einen als Text adressierten, in konstruktiver Arbeit gehärteten und bis zum Erkalten durchgehämmerten Selbstausdruck hervorgebracht, in dem der Autor sich auch wieder zum Material geworden ist. Und das so von ihm abgelöste Werk ist es gerade, das den Leser radikal ‚angeht‘. Der Gesamtduktus dieser Poetikvorlesungen zeigt es. Mag Patrick Roth den Apostel Thomas als Detektiv und Schriftsteller seiner selbst gesehen haben; vor uns, den Lesern und Interpreten steht er als Kunstfigur eines Christusjüngers, die ein Schriftsteller erzeugt hat und episch vermittelt. Im epischen Text ist er ein erzählter Erzähler. Der Charakter seiner Welt, Selbstausdruck zu sein, ist umgesetzt in eine Erzählweise, die versteckt offen legt, dass seine Gegen- und Entsprechungsfigur Tirza eine Extrapolation seiner selbst ist, noch wo sie klüger ist als er. Aber ebenso sagt die Erzählweise, dass der Selbstausdruck in dieser Ich-Erzählung zwar absolut in seiner Radikalität, aber relativ zur Welt, und 140 das heißt auch zum Publikum ist. Schon von der Thomassekunde sagt Roth: „Der zeigend-tunkende Schreibe-Finger des Thomas - im Moment, da er ihn in die Wunde hält - liest und schreibt in einem.“ (14) Der seine eigene Schrift lesende, ins Tintenfaß eintauchend auch schon zeigende Schreibefinger ist ein paradoxes Bild des Schriftstellers, der nichts so nah und intensiv liest, wie sein eigenes Schreiben, und dessen Schreiben immer auch schon Zeigen ist. Wer so schreibt, entwirft, indem er sich selbst liest, immer auch schon ein Publikum, sein Publikum. Ein Autor, der so intensiv wie Roth Erzählsituationen als Hörsituationen darstellt, weiß das bereits im Ursprung seiner Produktion, oder besser: ein etwas in ihm weiß das. Um so schöner, dass dieser Autor es vermag, seinen Leser so tief in die Abenteuer seines produktiven Ich hineinzuziehen, dass er sich eingeladen fühlen darf, wenigstens spurenhaft an seiner Produktivität Anteil zu gewinnen. Am Ende enthält Patrick Roths Rückgriff auf die Thomassekunde „Hier“ als Eingang in ein anderes Leben im Zusammenhang der „Frankfurter Poetikvorlesungen“ noch einen weiteren Aufschluss. Das „Hier“ des Thomas bezeichnet nämlich in letzter Instanz - und bereits der Titel der „Poetikvorlesungen“ sagt das - den Eingang zur imaginären Welt der Dichtung, und zwar als Hadeseingang zum „Tal der Schatten“. Es ist der Eingang, den Orpheus nahm, um die ihm gestorbene Eurydike wiederzufinden (123). Aber Orpheus kann Eurydike, die dem Schattenreich gehört, zwar beschwören, jedoch nicht festhalten. Darin liegt eine Ein- 141 sicht in die Grenze des Autors. Gerade ein Autor, der sich so aufs Spiel setzt wie Patrick Roth, der so tief eintaucht, weiß: „[…] der Stoff gehört uns nicht. Und das heißt eben auch: wir müssen wissen, daß wir fehlgehen und von ihm überwältigt werden. Mit diesem Vorwissen - einem größten Konflikt im Verstand und im Herzen - müssen wir leben.“ (170) Wir - das sind nicht nur die Autoren, sondern auch die Leser und Hörer, die Roth mit seiner Vorlesung anspricht. „Hier“ als das letzte Wort von „Corpus Christi“ fixiert eine Schlussapotheose poetisch transitorisch und von innen, nicht als stabiles Ergebnis einer therapierten oder selbsttherapierten Lebenspraxis. Auch darin erhebt sich noch einmal die Warnung vor inhaltlich ergebnishafter, gar missionarischer Auslegung dieser Texte. Vorbildlich nüchtern und minimalistisch beschreibt der Schluss der Poetikvorlesungen das Fazit der empfohlenen Selbstbescheidung als: „Mit dem Wissen vom Bösen leben, sich am Guten bescheiden.“ Fiction produzieren und lesen. Aber no fiction leben (170). Doch noch dieses schlichte Ergebnis ist bei Patrick Roth dialektisch bewegt, nicht als Ergebnis stillzustellen. Denn es steht als Schlussfolgerung am Ende der letzten Stunde der Poetikvorlesungen, in der Patrick Roth den Hörern vormacht, wie ein Stoff gegenüber dem Autor Eigenmächtigkeit gewinnt. Allerdings: indem Roth die Eigenmächtigkeit des Stoffs erzählerisch vorführt, wird der Stoff ja de facto gezähmt, in diese erzählte Geschichte verwandelt. Es ist die Geschichte von einer Geschichte, die sich selbständig macht. Nur das gezähmte 142 Raubtier kann man im Zirkus Freiheit vorführen lassen. Und die Dichtung ist nicht freie Wildbahn. Sie ist Hades. Sie ist Zirkus, Theater, „ernsthafte Scherze“, wie der sehr alte Goethe über seinen „Faust“ gesagt hat. Sie ist eben - fiction. Wenn man Dichten vormacht, auch die Unbeherrschbarkeit von Dichten, dichtet man, und darin liegt ein Restbestand von Herrschaftsausübung gegenüber dem Stoff. Aber gerade in der Manifestation dieses Restbestands von Autorverfügung äußert sich gegenläufig das andere Moment, in dem Dichtung nun wirklich am tiefsten eigengesetzlich ist, am hartnäckigsten ihre phänomenale Eigenart bewahrt, auch gegenüber dem Dichter, der sie doch bildet und - sei es an der längsten Leine - in der Hand hält: Er mag sie zeigen lassen, dass sie diese oder jene Wendung der Handlung und der Figuren quasi autonom aus sich entfaltet. Doch selbst wenn der Dichter es will, kann er die phänomenale Eigenständigkeit von Dichtung, nämlich ihr prinzipielles Vermögen und Verfahren, alles ihr Inhaltliche kategorial zu verwandeln, nicht hintergehen. Diese kategoriale Eigenständigkeit besteht in ihrem Weltspielmodus, in ihrem ‚Als ob‘, in ihrem experimentellen Charakter. In Gipfelwerken ist er sogar thematisiert: Das Buch Hiob erdichtet ein Experiment Satans unter den Augen Gottes mit dem Menschen; es bleibt allerdings dabei Glaubensverkündigung, denn Gott selbst durchbricht schließlich die Experimentalanordnung durch seine Offenbarung. In der Neuzeit aber, mit der Autonomsetzung der Dichtung, wird auch ihr Experimentalcharakter autonom. Goethes „Faust“ oder „Die Wahlverwandtschaften“ - diese Werke 143 bieten sich ausdrücklich als Experimente mit dem Menschen dar. Sogar der Faustschluss behält ein Moment von Vorbehaltlichkeit, will nur ein „Gleichnis“ des Gleichnischarakters sein, der allem Vergänglichen anhaftet. Vollends „Die Wahlverwandtschaften“: „Eduard - so nennen wir einen reichen Baron im besten Mannesalter -“ Dieser Satzanfang, der wie zur Beschreibung einer Versuchsanordnung einsetzt, ist der Eingang des Werks, der seinen Gesamtcharakter exponiert. Autonome Dichtung ist unumgänglich experimentell, aber sie ist auch die einzige legitime Weise, mit dem Menschen und seiner Welterfahrung zu experimentieren. Der Erzähler der „Wahlverwandtschaften“ kann und darf mit seinen Figuren experimentieren; die in den „Wahlverwandtschaften“ dargestellten Figuren begehen einen Frevel, indem sie es miteinander zu tun unternehmen. 144 Noch einmal: Christentum und Tiefenpsychologie Aus dem Rückblick stellt sich noch einmal die Frage nach dem Verhältnis von Christentum und Tiefenpsychologie in diesem Werk und zu diesem Werk. Das Christentum ist ein kirchlich und theologisch über Jahrtausende formierter Glaube; die von Sigmund Freud ausgehende Psychoanalyse aber versteht sich als moderne Wissenschaft, und diesen Ausgangspunkt teilt auch der Freud-Häretiker C.G. Jung, dem Patrick Roth näher steht als den Freud-Schulen. Dichtung tritt seit Lessing in Deutschland in ihrer Leitströmung mit dem Anspruch auf, autonom und säkular zu sein. Wenn autonome säkulare Dichtung Gehalte des Christentums rezipiert, findet eine tiefgreifende Transformation statt. Sie werden ihres Glaubenscharakters entkleidet und inhaltlich neu bestimmt. Der Schluß von Goethes „Faust II“ zum Beispiel nimmt die christliche Erlösungsvorstellung und christliche Bildvorstellungen - Mater dolorosa, Engel usw. - auf, formt sie aber im Sinn einer weltimmanenten göttlichen Liebenskraft als Subjekt der Erlösung um. Wenn dagegen säkulare autonome Dichtung Gehalte der modernen, von Freud ausgehenden Psychologie aufnimmt, geschieht das auf dem Boden eines gemeinsamen säkularen Weltverständnisses. Daran ändert sich auch 145 nichts dadurch, dass C.G. Jung Begriffe und Vorstellungskomplexe wie Gott, die in unserem Kulturkreis einen jüdisch-christlichen Kontext haben, aufgreift und zur Formulierung seiner Lehre verwendet, und dass diese Lehre Jungs eine Tendenz hat, Züge einer die Theorie übersteigenden Weltanschauung anzunehmen. Das zeigt sich etwa an einem von Patrick Roth innerhalb seiner „Frankfurter Poetikvorlesungen“ (Kapitel „No fiction“) verwendeten Jung-Zitat: „Bis zu diesem Tag ist Gott der Name, mit dem ich alle Dinge bezeichne, die meine vorsätzlichen Wege gewalttätig und rücksichtslos durchkreuzen; alle Dinge, die meine subjektive Sicht, meine Pläne und Absichten umwerfen und die den Lauf meines Lebens zum Guten oder Schlechten ändern.“ (140) Nichts würde an diesen Gegebenheiten anders, wenn Jung sich entschlossen hätte, sie nicht Gott zu nennen. Christentum und Judentum haben als Glaube und Theologie ein hörendes Verhältnis zu ihrem Gott. Er ist ihnen als sich selbst offenbarender vorgegeben. C.G. Jung dagegen bestimmt autonom, was an seinen Welterfahrungen er Gott nennen will. Diesen fundamentalen Unterschied vorausgesetzt, haben Christentum und Tiefenpsychologie eine wichtige Gemeinsamkeit. Beide vollziehen sie ihre Weltauslegung mit Hilfe literarischer Komponenten. Doch auch dieses tun sie wieder in grundsätzlich verschiedener Weise. Schon die Psychoanalyse Sigmund Freuds bezieht sich ja gern auf Literatur und Mythologie als Belegmaterial, aber auch als Formulierungsvorgabe für ihre Terminologie, so etwa beim weltberühmten Ödipuskomplex, und 146 sie hat, wie besonders neuere Tendenzen der Psychoanalyse deutlich erkennen lassen und auch reflektieren, weithin einen hermeneutischen Charakter. Aber Freud selbst hat seine Psychoanalyse am Anspruch und Selbstverständnis der Naturwissenschaften gemessen. Er hat die Psychoanalyse als Vorläuferin einer exakt naturwissenschaftlichen Deutung der Psyche und wiederum Dichtung und Mythologie als Vorläuferinnen der Psychoanalyse gesehen. Die Dichter haben in Freuds Sicht intuitiv Einsichten vorweggenommen, die die Psychoanalyse später rational-analytisch gewonnen und ausargumentiert hat. C.G. Jung, der abtrünnige Freudianer, hat dagegen im Mythos und der Dichtung ursprüngliches Menschheitswissen, ursprüngliches Menschheitsbewusstsein und kollektives Unbewusstes durch die Zeiten ragen sehen, die von der Psychologie eingeholt werden müssen. Aber einmal theoretisch angeeignet, werden sie auch bei ihm zu verfügbaren Beständen einer umfassenden psychologischen Theorie. Die Tiefenpsychologie sieht Mythen und Dichtung als Träger tiefen Wissens vom Menschen. Dieses Wissen muß wissenschaftlich rezipiert werden; ist es aber einmal wissenschaftlich rezipiert, sind die Erfahrungen von Mythos und Dichtung in Theorie eingegangen und umgesetzt. Völlig anders gehen Christentum und Judentum mit literarischen Möglichkeiten um. Wichtige und überaus wirkungsmächtige Texte der Bibel sind selbst Dichtungen - zwar als Verkündigung und Offenbarung, aber doch in dem spezifischen Sinn, dass ihr letzter Offenbarungsgehalt und theologischer Horizont erst in ihrer 147 dichterischen Komposition aufleuchtet - ich verweise dafür etwa auf das Buch Hiob oder auf die Abraham- Isaak-Opferungsgeschichte. 7 Vor allem aber sind die zentralen Bücher des Neuen Testaments, nämlich die Evangelien, Erzählungen, sogar Parallel-Erzählungen von Gott und können dichterische Partien einschließen, etwa die lukanische Weihnachtsgeschichte (Luk 2) oder große Parabeln wie die Geschichte vom verlorenen Sohn (Luk 15,11-32). Diese Geschichten sind theologisch unausschöpflich, weil und indem sie - statt Lehrtexte, Predigten, Gesetze, Vorschriften zu sein wie etwa der Großteil der Suren des Korans, Geschichtserzählungen sind und nur und gerade darin der Unaussagbarkeit des jüdischchristlichen Gottes und der geschichtlich-temporalen Struktur seines Offenbarungshandelns entsprechen. Die Passionsgeschichte als Mitte des Neuen Testaments ist in dieser Weise unauslotbar und kann in keiner argumentativ-systematischen theologischen Christologie ‚ausgesagt‘ werden. Mit dieser Stoßrichtung hat der Theologe Eberhard Jüngel gesagt, „daß Gott selbst erzählt zu werden verlangt.“ 8 Autonome Dichtung und Tiefenpsychologie haben zwar gleichermaßen ein säkulares Weltverhältnis, auf diesem Boden aber stehen sie nicht von gleich zu gleich; vielmehr spricht sich die Psychologie prinzipiell Deutungshoheit über Dichtung zu. Autonome Dichtung und Theologie hingegen haben zwar ein kategorial verschiedenes Weltverständnis, aber die Gemeinsamkeit, dass es in Geschichten artikuliert ist, die argumentativ nicht ausgeschöpft werden können. C.G. Jung hat für ihn 148 grundlegende Einsichten und Erfahrungen an Mythos und Dichtung gewonnen, doch eine jung-gemäße Textauslegung wird immer im Text der Dichtung oder im Mythos eine Bestätigung oder die Illustration der eigenen vorgegebenen Theorie finden. Sie ist darin sogar enger als die Psychoanalyse Freuds, die von ihrem therapeutischen Ansatz her primär auf diagnostische Aussagen über die individuelle Psyche des Autors abzielt und das Werk als Manifestation seines Unbewussten in seinen neurotischen Störungen behandelt, ähnlich wie die freie Assoziation oder den Traum. Die analytische Psychologie Jungs dagegen neigt zum Einbau ihrer Befunde in anthropologische und ontologische Allgemeinaussagen und von daher zur Wahrnehmung des dichterischen Werks als Weltanschauung und Weltdeutung, das rückzubeziehen ist auf die Weltanschauung und Weltdeutung, zu der sich Jungs Psychologie ausweitet. Die Freudsche Psychoanalyse analysiert Dichtung aspekthaft; die Jungsche total; in beiden Hinsichten ist sie als Objekt von Betrachtung stillgestellt. Wenn sich dagegen Dichtung mit dem Christentum einlässt, tritt sie in ein Wechselspiel mit der Bibel und ihrer kirchlichen Tradition ein. Das gilt selbstverständlich für Literatur, die die christliche Botschaft verkündigen will; doch brisant und darin höchst ertragreich wird die Beziehung vor allem dann, wenn sich die Dichtung als autonom und säkular setzt oder gar von vornherein polemisch gegen das Christentum steht. Denn - mag literarische Epik oder Dramatik noch so entschieden gegen die biblisch erzählte Heilsgeschichte 149 Gottes mit den Menschen streiten, bleiben dennoch literarische Geschichten texturgleich mit biblischen Geschichten, durchmischen sich bis in die Tiefe und wie durch Osmose je mit der anderen Geschichte und sind in ihrem Verhältnis zueinander so unausschöpflich wie in sich selbst. Der Fächer der Begegnungsmöglichkeiten reicht von der wilden Attacke bis zur transformierenden Aneignung, sogar bis zur Sprengung des säkularen literarischen Ansatzes durch die Kraft der eingesetzten Spolien des Glaubens. Die stumme Kattrin in Brechts „Mutter Courage“ entfaltet in ihrer Passion eine Unbedingtheit der Menschenliebe, die alle marxistisch-behavioristischen Theorieversatzstücke Brechts von der Bedingtheit des Menschen durch die Verhältnisse zerbröseln lässt. „Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so“ - dieser Brechtsche Leitsatz wird von Kattrin zertrommelt, wenn sie, bis sie von der Soldateska heruntergeschossen wird, vom Dach einer Bauernkate herab die schlafenden Einwohner der Stadt Halle vor dem Überfall der kaiserlichen Truppen durch Trommelwirbel weckt und warnt. Von der Tiefenpsychologie her gesehen kann eine literarische Geschichte gar nicht sinnvoll dieser Theorie gegenübertreten, denn die Theorie, als letzte Deutungsinstanz verstanden, bleibt der Dichtung vorgeschaltet. Eine literarische Geschichte dagegen kann sehr wohl zur Destruktion, Dekonstruktion oder Spiegelung biblischer Geschichten ansetzen, setzt sich damit aber auch der Gegenbewegung der biblischen Geschichte aus. Kann der Vertreter der Tiefenpsychologie durch Dichtung in Frage gestellt werden? Er kann es nicht. Entweder ist sie 150 gut, weil sie in seine Theorie passt, oder sie passt nicht hinein, dann ist sie eben schlecht oder für ihn belanglos. Kann der Christ durch Dichtung in Frage gestellt werden? Er kann, auch wenn er in praxi zu selten dazu bereit ist, es darauf ankommen zu lassen. Wie gut es ihm täte, kann er an Patrick Roths „Christus-Trilogie“ erproben. Bei alledem ist noch zweierlei zu bedenken: Erstens speist sich Dichtung nicht nur aus dem Bewusstsein, sondern auch aus dem Unbewussten der Autoren, das allemal reicher, häufig aber auch in sich widerspruchsvoller ist als das Autorbewusstsein. Gewiss hat Brecht mit der „Mutter Courage“ nicht zuletzt ein antichristliches Lehrstück schreiben wollen. Sein Pathos liegt auch darin, dass die Christen mit ihrer göttlichen Sendung zur Nächstenliebe in diesem Stück versagen, während die gedemütigte Kreatur Kattrin völlig unideologisch und selbstverständlich eine bedingungslose Menschliebe lebt. Es kann aber nicht Brechts Absicht gewesen sein, damit zugleich den eigenen behavioristisch-marxistischen Ansatz zu widerlegen. Und gerade diese Gegenläufigkeit trägt zur Fülle und Wirkungsmächtigkeit dieses Theaterstücks bei. Sogar wenn Dichtung sich als christliche Verkündigung versteht, kann ihr Weltbild abgründiger sein als das christliche Bewusstsein des Autors. So erreicht z.B. das barocke Weihnachtsdrama „Leo Armenius“ von Andreas Gryphius eine paradoxe Zuspitzung der Weihnachtsverkündigung, die in Gryphius’ christlich-erbaulicher Rhetorik keine Entsprechung hat. 9 Die zweite - bereits anvisierte - Grundsatzüberlegung: Allein die Hinwendung des Autors zur Dichtung 151 als eigenständiger Erkenntnis- und Weltdeutungsweise entscheidet auch darüber, dass damit grundsätzlich ein Darstellungs- und Aussagemodus der Fiktion und Virtualität einhergeht. 10 Geschichten sind Geschichten, hier liegt die Gemeinsamkeit mit der Heilsgeschichtserzählung des Judentums-Christentums; aber fiktionale Geschichten sind keine Tatsachenberichte und erst recht keine Offenbarungen oder Bekenntnisse. Neuzeitliche Dichtung ist - wie schon gesagt - ein ‚Als ob‘ für ein Publikum, das als ein miterlebendes vom Druck der Lebensunmittelbarkeit temporal suspendiert ist. Auch wo der Autor Bekenntnisse abzulegen beabsichtigt, wird das Bekenntnis zur These, die sich zur Diskussion stellt, oder die Dichtung hört auf, Dichtung in ihrem Eigenrecht zu sein. Deshalb nimmt Dichtung, sogar wo sie dazu vom Autor bestimmt wird, keine Lebensentscheidungen ab, aber sie kann zu Lebensentscheidungen fähiger machen. Ins Unbewusste reichende Tiefe und sinnliche Konkretheit der Weltwahrnehmung/ Weltdeutung einerseits, Virtualität, Entwurfscharakter andererseits - eben diese beiden Eigenschaften begründen es, dass die Dichtung die reichste, freilich auch spannungs- und widerspruchreichste Erkenntnis- und Äußerungsweise des auf sich gestellten Menschen sein kann. Was aber bedeuten diese in ihrer Allgemeinheit und Abstraktheit gewiss problematischen Überlegungen für die Einschätzung Patrick Roths und seiner Christus- Trilogie? Sie lassen erkennen, worin das, wie mir scheint, Einzigartige seiner dichterischen Verarbeitung christlicher Gehalte und psychologischer Theoreme besteht. 152 Zunächst im Verhältnis zur Tiefenpsychologie C.G. Jungs: Dabei sehe ich von seinen Poetikvorlesungen ab, eben weil auch für einen offensichtlich so reflektierten, allerdings ebenso offensichtlich auch unter großen emotionalen und imaginativen Schüben produzierenden Autor wie Roth gilt, dass die dichterischen Texte selbst, und nicht die theoretischen Äußerungen für den Interpreten - bei all seiner Irrtumsausgesetztheit, die ich natürlich auch bei mir konstatiere - das letzte Wort haben. An Patrick Roths primären literarischen Texten zeigt sich mir, dass ihm die Tiefenpsychologie zwar ein bedeutendes, von ihr in Deutungen erschlossenes Material der Phantasie zuführt und aufschließt - von der Astrologie bis zur Alchimie, - dass aber die Hauptleistung der Tiefenpsychologie bei ihm in der innerliterarischen Bereitstellung von Ordnungsvorstellungen und Deutungsmustern liegt. Aber bestimmend scheint mir dabei, dass sie seine dichterische Produktivität nicht definitiv an die Leine legen, sondern als Sicherungen dienen, die es ihm erlauben, in Extreme des Denkens auszuschweifen, an äußerste Grenzen der Emotion und Imagination zu gehen. Diese Theorie wird eingesetzt und aufs Spiel gesetzt, sogar der Unterspülung durch die Eigendynamik der Phantasie und Imagination ausgeliefert. Eine Interpretation der Rothschen Texte, die darauf hinausläuft, sie auf C.G. Jungs Psychologie zurückzuführen, kann zwar eine gewisse Plausibilität erreichen, aber doch nur um den Preis der Wahrnehmungsselektion, vor allem um den Preis der Ausblendung der filigranen Gefügtheit, Komplexion und Eigengesetzlichkeit 153 dieses Erzählens. Es ist kein Vehikel; es ist an jedem Punkt am Ziel, denn dieses Erzählen ist der Weg als Ziel. Und es ist nie lediglich Erzählen von etwas, das dann analysiert werden könnte, sondern immer zugleich selbstreflexiv Erzählen vom Erzählen. Dass Patrick Roth den Theorieanspruch der Jungschen Tiefenpsychologie in praxi unterläuft, ist verschränkt mit der gleichfalls völlig eigenartigen Weise, in der er mit dem Christentum umgeht. Roth nutzt die Offenheit und darin literarische Verfügbarkeit des Christentums als Erzählung der Geschichte Gottes mit den Menschen radikal aus, aber fern von Parodie, Satire oder Polemik, vielmehr im Zugriff genau auf das Zentrum des Neuen Testaments, die Geschichte von Gott in Christus, dem Erlöser und Retter. Sie wird nicht neutralisiert zum beliebigen Stoff oder Plot, sondern ohne Umschweife in ihrem Anspruch, als Geschichte vom soteriologischen Christus Geschichte von Gott zu sein, beim Wort genommen. Und auf gleicher Ebene - als Geschichte von Gott, und nicht nur von irgendwelchen Leuten, die aus irgendwelchen Gründen an Gott glauben, - weitergedichtet, umgedichtet, umgestülpt. Roth fragt nicht, ob Christus auferstanden ist; das wird vorausgesetzt; er macht Auferstehung erfahrbar. Sein „Corpus Christi“ ist als Gesamttext der Durchbruch der Tirza-Erfahrung von Auferstehung in Thomas. Insofern ist Thomas tatsächlich, wie in den „Frankfurter Poetikvorlesungen“ einfach hingesagt, der Dichter, aber einer, der sich aus dem Detektiv in den Visionär verwandelt. Wegen dieses beim Wort Nehmens ist Patrick Roths 154 Dichtung zwar - vom Christentum der Theologie und der Bekenntnisse der Kirchen her gesehen - hochgradig häretisch, aber nirgends blasphemisch. Indem Roth die biblischen Geschichten weitererzählt, umerzählt, gegenerzählt, bleiben sie unbedingt Geschichten von Gott. Dass es seine Geschichten von Gott sind, die Geschichten eines frei und für sich stehenden Individuums, dass also ein Autor diese Verbindlichkeit setzt ohne Rückendeckung durch eine außerliterarische Letztautorität, macht sein Dichtung so herausfordernd. Dabei gewinnt er in der Tiefenpsychologie den archimedischen Punkt, von dem aus er den traditionellen dogmatischen Zusammenhang des Erzählten aufbricht. Er setzt damit eine enorme Dynamik frei. Taufe, Auferstehung, Kommunion, Erlösung, Passion, Kernbestände des Christentums gewinnen die glühende Intensität von Partikeln einer nuklearen Sprengung, aber nicht deren Zerstörungseffekt. Nimm und lies, ist der Appell; nimm und lies zusammen. Lies dir deine Welt aus diesem in sich radikal bewegten Weltentwurf zusammen. Nimm das von dir Zusammengelesene in deine individuelle Verantwortung. Dieser Appell zu individuellen Lesungen und Lösungen entspringt nicht einer Lösungs-Verweigerung des Texts, wie sie etwa in Kafkas „Schloss“ vom Entzug der Schlossherrschaft ausgeht, auf die doch alles, was geschieht, bezogen ist. Er entspringt nicht einmal nur der Überflutung der textimpliziten Ordnungsmuster durch die enormen, aus ihrem primären Zusammenhang im Christentum-Judentum herausgesprengten Problem- 155 potentiale und emotionalen Energien. Er entspringt letztendlich schon dem konzeptionellen Ansatz dieser Rothschen Texte. Indem sie die religiöse Energie der rezipierten christlichen Vorstellungen und Motive bei der Übernahme und ‚De-Konstruktion‘ nicht löschen, sondern vielmehr gerade durch die literarische Neukonstellierung intensivieren, operieren sie mit Kräften, die nicht literarisch beherrscht werden können und sollen, weil sie der Literatur vorausliegen, dabei sich aber nicht mit Theorieanspruch zwingend ihr vorschalten. Patrick Roths „Christus-Trilogie“ eröffnet so eine andere und neue Dimension der Literatur über biblische Themen und Gegenstände, jenseits der Alternative von Säkularisation und christlicher Verkündigung. Sie entfesselt biblisch oder theologisch oder kirchlich definierte und zugeordnete, unverkürzt religiöse Elemente aus ihren vorgegebenen Bindungen zu extremen Konstellationsspielen auf gleicher literarischer Ebene wie die biblischen Texte, nämlich des Erzählens hier und dort. Sie überrollen intentional die Grenze der literarischen Beherrschbarkeit und Verfügbarkeit, rühren provokativ an Letztüberzeugungen und erwecken Letztbeunruhigungen. Man könnte an den „Zauberlehrling“ denken, aber dieser Zauberlehrling Patrick Roth weiß, was er tut. Er macht sich bewusst zum Lehrling von Spielen, in denen auch der Meister immer nur ein Lehrling bleiben kann. Und jeder Leser ein Lehrling dieses Lehrlings. 156 Anmerkungen 1 Die mobile Verfügbarkeit des Auges ist ein Märchenmotiv, das sowohl im griechischen Märchen vorkommt wie in den Märchen nord- und südamerikanischer Indianer. Vgl. den Artikel ‚Auge‘ von Josef R. Klima in der Enzyklopädie des Märchens. Hg. K. Ranke. Bd. 1. Berlin, New York 1977 2 Aus dem Song „The Dam At Otter Creek“, enthalten im zweiten Album der Band „Live“ mit dem Titel „Throwing Copper“. Information von Michaela Kopp-Marx. 3 Das Erzählen ist die Handlung. Zu Patrick Roths Erzählung „Der Blick aus Noah’s Fenster“ in „Starlite Terrace.“ Referat im Rahmen der Wissenschaftlichen Tagung „‚Ins Tal der Schatten‘. Patrick Roths Schreiben zwischen Hölderlin und Hollywood“, die unter Leitung von PD Dr. Michaela Kopp-Marx vom Germanistischen Seminar der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg und dem Deutschen Literaturarchiv Marbach am 29./ 30. 2007 in Marbach veranstaltet wurde. Es wird in einer Sammelveröffentlichung der dort gehaltenen Beiträge enthalten sein. 4 Erzählen ist hier als ein der Scheidung von Schriftlichkeit und Mündlichkeit vorausliegender Modus von Sprachlichkeit gedacht. Natürlich sind auch das mündliche Erzählen und der Dialog beim Schriftsteller Roth durch Schriftlichkeit vermittelt. 5 Heinrich von Kleist: Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden. 6 Allerdings spricht Patrick Roth einmal von „Corpus Christi“ als „Roman“ s. „Ins Tal der Schatten. Frankfurter Poetikvorlesungen“. Frankfurt a.M. 2002. S. 13. 7 Zur Erläuterung s. Gerhard Kaiser, Hans-Peter Mathys: Das Buch Hiob. Dichtung als Theologie. Neukirchen-Vluyn 2006 (= Biblisch-theologische Studien 81). 8 Eberhard Jüngel: Gott als Geheimnis der Welt. Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus. 6.A. Tübingen 1992. S. 415. Zu meiner Sicht s. G.K.: Theodizee als biblisch erzählte Geschichte. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche. 102. Jg. H. 1. Februar 2005. S. 115-142. Ders.: Warum ist der Gott der Bibel ein erzählter Gott? In: Quatember. Vierteljahreshefte für Erneuerung und Einheit der Kirche. 70. Jg. 2006. H. 1. S. 4-25. 157 9 Siehe Gerhard Kaiser: Leo Armenius Oder Fürsten=Mord. In: G.K. (Hg): Die Dramen des Andreas Gryphius. Eine Sammlung von Einzelinterpretationen. Stuttgart 1968. S. 3-34. 10 Das gilt allerdings nicht so ohne weiteres für Lyrik, aber sie kann beim Blick auf Patrick Roth beiseite bleiben. 158 Zu den Abbildungen Dass alle drei durch Patrick Roth selbst ausgesuchten Titelbilder zur Christus-Trilogie, abgebildet S. 16, 71, 83, von Caravaggio stammen, deutet auf eine Wahlverwandtschaft. Der italienische Manierist leuchtet grell Bedeutungsschwerpunkte aus dunklen Hintergründen heraus. Dabei treten die beleuchteten Körper oder Körperteile umso plastischer hervor, als der Bildfonds in seiner dunklen Unergründlichkeit unräumlich wirkt. Die Figuren sind wie in einem endlosen Moment gefroren. Nacktheitspartien und Gewandpartien - der rote Umhang des Täufers, der noch leuchtender rote der Prinzessin Salome, beide von üppigem Faltenwurf, die farblich gedämpften Gewänder von Maria und Martha - unterstreichen die Entblößtheiten der Körper. Die Gesichter sind, gegensätzlich zur markanten Körpersprache, wie im Traum verloren. Die Bilder offenbaren eine Balance wie auf des Messers Schneide zwischen artistischer Raffinesse und komprimierter Emotion. Die Beziehung der Motive Caravaggios zu den Erzählungen Roths läuft untergründig. Johannes der Täufer, Titelblatt zu „Riverside“, ist nicht in der missionarischen Wegbereitung, sondern in der Einsamkeit gezeigt, in sich versunken, fast brütend. Das Kreuz als auf Passion und Tod Christi vorweisendes Symbol liegt in einer wie abwägenden Hand. Der Täufer erscheint als 159 einer, der in der Einsamkeit seine Mitte sucht. Salome, das abgeschlagene Haupt des Täufers wie eine kostbare Speise auf einer Vorlegeplatte präsentierend, die linke, fast bis zur Brustwarze entblößte helle Brust in einer Linie mit der Stirn des Täufers, auch die Prinzessin träumerisch, verweist auf eine Nachbarschaft von Tötung, Sexualität und Kommunion. Die zärtlich-intime Annäherung des Gesichts der Martha an das Gesicht des wie schlafenden Lazarus, aus einem figurenreichen Gemälde Caravaggios herausgeschnitten, deutet in die gleiche Richtung: Vereinigung der Seele in Tod und Auferstehung mit Christus als Liebeshingabe. 160